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Title: Briefe aus dem hohen Norden
Author: Haffter, Elias
Language: German
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produced from images generously made available by The
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                      Briefe aus dem hohen Norden

          Eine Fahrt nach Spitzbergen mit dem ~HAPAG~-Dampfer
                    „Auguste Viktoria“ im Juli 1899

                                  Von
                           ~Dr.~ E. Haffter

                      Mit zahlreichen Abbildungen

                      Zweite unveränderte Auflage

                            [Illustration]

                                 1900
                   Verlag von J. Huber in Frauenfeld



Vorwort.


Das kleine Buch enthält in der ersten Hälfte Briefe, welche ich während
einer Fahrt längs der norwegischen Küste mit dem Endziel Spitzbergen --
auf dem Hamburger Prachtsdampfer „Auguste Viktoria“ im Juli 1899 -- an
die „Thurgauer Zeitung“ sandte, um mit meinen Freunden und Bekannten
in der Heimat in Kontakt zu bleiben. Die zweite Hälfte besteht aus
den Reiseerinnerungen, welche ich, nach Hause zurückgekehrt, für
das gleiche Blatt zu Papier brachte. Das kleine Buch zeigt, als
unveränderter Abdruck jener Feuilleton-Artikel, die Schwächen rasch
hingeworfener Reminiscenzen.

Die Clichés sind zum Teil Eigentum der
Hamburg-Amerika-Packetfahrt-Aktien-Gesellschaft und teilweise nach
eigenen photographischen Aufnahmen hergestellt. Die Bilder auf pag. 49,
74, 89, 108, 161 und 193 -- ebenfalls Originalphotographien -- verdanke
ich der Liebenswürdigkeit von zwei Mitreisenden, Herrn und Frau Baurat
_Waltz_ aus Konstanz.

Ich grüße Norge, das herrliche Land, und alle diejenigen, in deren
Gesellschaft wir seine Schönheiten bewundern durften: die Mitpassagiere
und Führer der „Auguste Viktoria“ und den lieben gastlichen Landsmann
in Yttre-Arne.

  Frauenfeld, November 1899.

          =~Dr.~ E. Haffter.=



Inhaltsverzeichnis.


                              Unterwegs.

                                                                  Seite

                                 ~I.~

    Einleitung. -- Von Frauenfeld nach Hamburg. -- Krankenhaus
    in Eppendorf. -- Besuch in Friedrichsruh. --
    Einschiffung auf der „Auguste Viktoria“                        3-11

                                 ~II.~

    Erste Stunden an Bord. -- Bau der „Auguste Viktoria“.
    -- Verpflegung. -- Toiletten. -- Schiffskapelle. --
    Norwegische Küste in Sicht. -- Ankunft                        12-18

                                ~III.~

    Fjorde und Schären. -- Hardangerfjord. -- Ankunft in
    Odde. -- Buarbrae. -- Unglücksfall bei der Abfahrt. --
    Molde. -- Naes. -- Romsdal. -- Ball an Bord. --
    Abendstimmung. -- Ankunft in Drontheim                        19-36

                                 ~IV.~

    Drontheim. -- Effekt des Polarstromes. -- Lerfos. --
    Verspätete zur Abfahrt. -- Erste Wale. -- Polarkreis          37-45

                                 ~V.~

    Lofoten. -- Mitternachtssonne. -- Sonntag zur See. --
    Walfischdampfer. -- Hammerfest. -- Vogelriff. -- Das
    Nordkap und seine Besteiger                                   46-57

                                 ~VI.~

    Bäreninsel. -- Eisberge -- Fahrt durch das nördliche
    Eismeer. -- Gang durch das Schiff. -- Passagiere. --
    Tageseinteilung                                               58-76

                                ~VII.~

    Spitzbergen. -- Gletscher- und Eiszeit. -- Einfahrt in
    den Eisfjord. -- Ankunft in Adventbay. -- Erster
    Besuch der Küste                                              77-82


                                Daheim.

                                ~VIII.~

    ~Hapag.~ -- Patriotische Feststimmung. -- Gräber an der
    Adventbay. -- Im Eise gefangen. -- Jagd auf Spitzbergen.
    -- Walfischfang                                               85-98

                                 ~IX.~

    „Malerische Gruppe“. -- Beutezug an der Küste. --
    Fischerzelt. -- Die Yacht des italienischen Kronprinzen.
    -- Hotel Spitzbergen                                         99-112

                                 ~X.~

    Abfahrt aus der Adventbay. -- Polarnebel. -- Seekrankheit.
    -- Herrliche Einfahrt in den Fjord von Tromsoe              113-120

                                 ~XI.~

    Ankunft in Tromsoe. -- Besuch im Lappenlager. -- Die
    Stadt Tromsoe. -- Küstenlappen. -- Musikabend an
    Bord. -- Spaziergang beim Schein der Mitternachtssonne      121-137

                                ~XII.~

    Nach Süden. -- Lofoten. -- Digermulen. -- ~Pro patria.~
    -- Besteigung des Digermulenkollen. -- Boot in Gefahr.
    -- Kranker in einsamer Fischerhütte. -- Der
    schwermütige Schimmel. -- Abfahrt von Digermulen.
    -- Einladungstelegramm von Kaiser Wilhelm                   138-154

                                ~XIII.~

    Maschinen- und Vorratsräume der „Auguste Viktoria“. --
    Die Welt -- ein Dorf. -- Maraak. -- Vorbereitung
    für den Kaiserbesuch. -- Ankunft in Aalesund bei „S. M.
    Y. Hohenzollern“. -- Der Kaiser an Bord. -- Besuch
    der „Hohenzollern“                                          155-171

                                ~XIV.~

    Durch den Sognefjord. -- Genrebilder in Naeröfjord. --
    Gudwangen. -- Naerödal und Stahlheim. -- Hungersnot.
    -- Oell und Musöst. -- Sprachverwirrung                     172-184

                                 ~XV.~

    An der Stätte der Frithjofssage. -- Ankunft in Bergen. --
    Das norwegische Hamburg. -- Im Leprahospital. --
    Fahrt nach Yttre-Arne. -- Heimat in fremdem Lande.
    -- Mange tak                                                185-205

                                ~XVI.~

    Abfahrt von Bergen. -- Abschied der Lotsen. -- Letzter
    Tag zur See. -- Brahmskultus mit Schwierigkeiten.
    -- Zollrevision in der Elbe. -- Abschied von der
    „Auguste Viktoria“. -- Zum letzten Male die norwegische
    Nationalhymne                                               206-216



Verzeichnis der Abbildungen.


                                           Seite

    Buarbrae                        (Titelseite)
    Bismarck-Mausoleum                         9
    Odde (Hardanger)                          22
    Buarbrae                                  25
    Norwegerinnen                             27
    Straße in Molde                           29
    Stolkjärre                                32
    Oberer Lerfos                             41
    Dom in Drontheim                          42
    Mitternachtssonne                         47
    Walfischdampfer                           49
    Das Nordkap                               53
    Deckscenen                          66 u. 74
    Gletscherpartie (Spitzbergen)             78
    Einfahrt in Adventbay                     79
    Nothütte                                  89
    Gletschereis                              92
    Yacht des italienischen Kronprinzen      108
    Hotel Adventbay                          111
    Lappen                                   126
    Digermulen                               143
    Digermulkollen                           147
    Maraak                                   161
    Stahlheim                                179
    Bergen                                   193



Unterwegs.



~I.~

     Einleitung. -- Von Frauenfeld nach Hamburg. -- Krankenhaus in
     Eppendorf. -- Besuch in Friedrichsruh. -- Einschiffung auf der
     „Auguste Viktoria“.


                          An Bord der „Auguste Viktoria“, 4. Juli 1899.

... Soll ich? Oder soll ich nicht? Schreiben nämlich. Ich will’s
probieren, obschon es kaum möglich sein wird, in dem Gewirr von
plaudernden Damen (es sind ihrer gegen 200 an Bord), herumflanierenden
Yankees, schnarrenden Berlinern etc. seine Gedanken zu konzentrieren.

Also nach Spitzbergen geht unsere Fahrt. Ueber dieses Reiseziel
werde ich erst sprechen, nachdem wir es gesehen haben. Vorläufig
sind wir auf unserm schwimmenden Palaste an der norwegischen Küste
eingetroffen und liegen seit gestern abend 10 Uhr in dem tiefsten
Punkte des herrlichen Hardangerfjords -- bei Odde -- vor Anker. -- Die
Bucht ist so tief ins Land hineingeschnitten, daß unser Schnelldampfer
sieben Stunden brauchte, um sie zu durchfahren; hier hat sie noch die
halbe Breite des Zürchersees. An den Ufern des tiefgrünen Wassers
erheben sich steil bis zu imposanter Höhe, die mit 1500 bis zu 2000
Meter wohl nicht überschätzt ist, Gebirgsstöcke aus grauem Urgestein,
teilweise mit Wald bedeckt, oben voll blendend weißen Schnees, überall
zu abschüssig, um menschlichen Wohnungen Platz zu bieten. Zwischen
den Bergkuppen erscheinen aus dem Hintergrunde mächtige Gletscher,
deren Wässer als riesige -- von oben bis unten zu verfolgende Fälle
-- zur See herniederstürzen. Gegen das satte Grün der Wälder sticht
ihr Weiß ab wie flüssiger karrarischer Marmor. Im Ganzen erinnert
das Landschaftsbild außerordentlich an den Urnersee, und der Lage
von Flüelen entspricht das freundliche norwegische Städtchen Odde,
hinter welchem sich nach einer sachten Erhebung von zirka 200 Meter
-- wohl einer alten Gletschermoräne -- ein breites Thal öffnet,
dessen Hintergrund durch eine Kaskade von der dreifachen Größe des
Staubbaches etwas besonders Malerisches erhält. Ueber diesem herrlichen
Landschaftsbilde wölbt sich zur Zeit ein tiefblauer Himmel, und ich
glaube, weder bei uns noch in südlichen Ländern je so gesättigte Farben
gesehen zu haben. Das Grün der See, sowie von Wald und Wiese auf dem
hellgrauen Gestein, das Blau des Himmels und das Weiß der Gletscher
und Schneefelder und der fallenden Wässer bilden geradezu entzückende
Kontraste und in das farbige Landschaftsbild sind -- ein freundliches
Idyll -- eingebettet die schlichten Holzhäuser von Odde.

Den Mittelpunkt dieser Szenerie bildet also zur Zeit die „Auguste
Viktoria“, das stolze Schiff der Hamburg-Amerika-Linie, das --
etwa einen Kilometer vom Ufer -- mitten im Fjord vor Anker liegt.
Drei mitgeführte Benzin-Motorschiffe zu je 40 Plätzen vermitteln
ununterbrochen den Verkehr mit dem Festlande, so daß es für unsere
zirka 400 Passagiere gar keine Schwierigkeiten hat, jeden Augenblick
nach Odde zu fahren, aber auch jederzeit wieder an Bord zu sein.

Doch -- eine richtige Reisebeschreibung sollte vorne anfangen -- wie
kamen wir hieher?

Die Strecke von Frauenfeld nach Hamburg ist bei den jetzigen
ausgezeichneten Zugsverbindungen in 20½ Stunden zurückgelegt. In
Frankfurt a. M. bestiegen wir nachts 8 Uhr einen direkten Wagen nach
Hamburg und richteten uns im bequemen Coupé häuslich ein; auch das
Nachtessen wurde nicht vergessen und dem Reiseungewohnten mag es fast
wunderbar erscheinen, daß man -- während der Zug in rasender Eile
dahinsaust, nur auf einen elektrischen Knopf zu drücken braucht, um
einen dienstbeflissenen Geist dahereilen zu sehen, welcher aus der
mitfahrenden Küche serviert, was das Herz begehrt -- das wirkliche
„Tischlein deck’ dich“.

Endlich war die reisende Welt satt; um 11 Uhr knallte der Pfropf der
letzten Bierflasche im Nachbarcoupé; dann trat Ruhe ein im Lande;
wer schlafen konnte, schlief. Stadt um Stadt huschte geisterhaft an
uns vorbei; nach Mitternacht brauste, von hundert frischen Kehlen
gesungen, die „alte Burschenherrlichkeit“ an mein eben dem Dasein
entrücktes Ohr und ließ mich durch geweckte Erinnerungen lange nicht
wieder einschlafen: Göttingen hatte den schlaftrunkenen alten Studenten
gegrüßt. -- Um 4 Uhr erhob sich die Sonne über der Lüneburger Haide
und Punkt 6 Uhr 30 Minuten -- wie vorgeschrieben -- fuhr der lange Zug
über die Elbbrücke in Hamburg. Ebenso programmgemäß stellte sich auf
die Minute ein lieber Neffe ein, den ich zur Ueberraschung für meine
Reisegefährtinnen von Berlin her zitiert hatte, und so machten wir denn
-- vier Köpfe stark -- einige Tage lang die alte Hansastadt unsicher.

Ueber Hamburg ließe sich vieles sagen; zu den größten
Sehenswürdigkeiten gehört der mit Hunderten von Millionen erstellte
Hafen, in dem alle Schiffe der Welt verkehren. Ein bewunderungswürdiges
Monument des Hamburger Kunstgewerbes, aber auch des Hamburger
Bürgerfleißes und -- Reichtums bildet das dortige Rathaus, das an
Geschmack und Gediegenheit seiner innern Ausstattung alle ähnlichen
mir bekannten Gebäude übertrifft, so namentlich auch das prunkvolle
neue Reichstagsgebäude in Berlin. Der Hamburger ist aber auch stolz auf
seine Vaterstadt und trägt bei jeder Gelegenheit seine republikanische
Unabhängigkeit zur Schau. Dem politischen Oberhaupte, dem deutschen
Kaiser, scheint von Arm und Reich so ziemlich das erlaubte Mindestmaß
von Majestätsfurcht entgegengebracht zu werden; unter anderm zitierte
unser Bootführer seine kaiserliche Majestät, wenn er bei Erklärung
verschiedener öffentlicher Bauten darauf zu sprechen kam, stets einfach
als „Wilhelm zwei“.

Großartig hat die Stadt Hamburg für ihre _Kranken_ gesorgt. Das neue
Krankenhaus in Eppendorf, das wir besuchten, besteht aus 90 Gebäuden,
die in einen herrlichen Park eingelagert sind. 2000 Kranke finden
dort Unterkunft und werden durch 220 Schwestern, 80 Laienwärterinnen
und 32 Aerzte verpflegt. Die Anlage der zentralen Institute --
Küche, Wäsche (pro Tag müssen 8000 Stück Linge gewaschen werden!),
Desinfektionsanstalt, Sektionsgebäude (1300 Sektionen pro Jahr; während
der Cholerazeit 1336 in 4 Wochen!), Operationsgebäude, Badehaus,
Schwesternhaus etc. -- ist erstaunlich!

Einen Vormittag widmeten wir dem „Alten im Sachsenwalde“. Nach
halbstündiger Fahrt auf der Linie Hamburg-Berlin erreicht man die
Station Friedrichsruh. Wer aber dort etwas zu sehen erwartet, ist
geleimt. Der Park des Bismarckschen Schlosses stößt zwar direkt an
die Eisenbahnlinie; Mauern und dichte Baumschläge verbieten aber dem
Auge jeden Einblick, und wo dem suchenden Wanderer sich ein Eingang zu
öffnen scheint, hemmt eine mächtige Verbottafel den Eintritt.

Wir umkreisten im Dunkel eines Eichwaldes das große Gut, klommen längs
der Einfriedigung in die Höhe; aber nirgends bot sich eine Möglichkeit,
etwas zu sehen. Endlich aber erreichten wir eine unverschlossene Pforte
im Waldesdickicht, an welcher eine Verbotstafel fehlte. Unter meiner
Führung drang die kleine unverschämte Schweizerkarawane ein und nach
etwa 5 Minuten stehen wir plötzlich auf freiem Rasenplatze, direkt
dem Bismarckschen Schlosse gegenüber und nur durch einen schmutzigen
Teich von ihm getrennt. Das Gebäude sieht sehr anspruchslos aus, mit
verschiedenen häßlichen Kaminen eigentlich eher wie ein Fabrikgebäude,
denn ein fürstliches Palais.

Nun aber kam die Strafe: „n’No, n’No, n’No, n’No, n’No! Was soll
denn do wer’n?“ erschallte eine Stimme aus der Nähe, und es erschien
ein wütender Gärtner, der mit erhobenen Armen und einer Sense unserm
Vordringen wehrte, unterstützt durch eine keifende Frau, welche die
Hände über dem Kopf zusammenschlug. „„Ja, wo sind wir denn? Wem gehört
das Haus?““ „Das ist den Fürst’n sein Palä; da darf kein Mensch
hin!“ „„Aber wir sind doch durch eine offene Thüre ohne Verbottafel
eingetreten.““ „Da haben natürlich diese ekligen Hamburger wieder die
Tafel weggerissen.“

Wir wurden per Schub -- unsrerseits in sehr vergnügter Stimmung --
durch das nächste Thor „entleert“ und setzten unsern Rundgang weiter
fort.

Auf der andern Seite der Eisenbahnlinie, auf waldiger Anhöhe dem
Schloßgarten gegenüber, liegt das Mausoleum, in welchem die irdischen
Ueberreste des Gewaltigen ruhen. Eine steile Böschung verhindert den
Zutritt. Trotz überall angebrachter Verbote finden sich aber doch
ausgetretene Wege, denen wir folgten, so daß uns auch die von einer
kleinen romanischen Kirche überbaute Gruft zu Gesichte kam und sogar
photographisch von uns fixiert werden konnte.

Ein halbstündiger Spaziergang durch herrlichen Eichwald -- ein Stück
des berühmten Sachsenwaldes -- führte uns nach Station Aumühle, wo wir
der heimatlichen Reminiscenz[1] und einer schönen Naturszenerie zuliebe
in schattiger Veranda uns erfrischten, um dann mit dem nächsten Zuge
nach Hamburg zurückzukehren.

[Illustration: Bismarck-Mausoleum.]

Sonntag, den 2. Juli, mittags 1½ Uhr hatten wir uns, so lautete
die Ordre, an Bord des Dampfers „Blankenese“ einzufinden, welcher
uns auf die einige Stunden elbabwärts, bei Brunshausen verankerte
„Auguste Viktoria“ führen sollte. Wir waren frühzeitig da und sahen sie
nun in Scharen anrücken, welche für drei Wochen unsere Gesellschaft
zur See sein sollten: Damen schienen vorherrschend, übrigens alle
Altersstufen vertreten, vom „Säugling“ (zehnjährige Jungen) bis zum
„Meergreise“ und vom Backfisch bis zur Urgroßmutter; laut ausgeteilter
Passagierliste waren wir 360 Personen, in der Mehrzahl Amerikaner und
Deutsche, wenig Franzosen, Engländer, an Eidgenossen außer uns noch
drei Baslerherren. Auch das „Volk Gottes“ zeigte sich zahlreich und in
ausgeprägtesten Formen, hauptsächlich Berliner Ursprungs. Immerhin soll
auf der vorjährigen Fahrt das jüdische Element weit mehr vorgeherrscht
haben, was folgende Anekdote illustriert: Ein deutscher Familienvater
durchsucht die Weinkarte, ruft den Kellner und bestellt „für sich eine
Flasche Laubenheimer, für seine Frau eine halbe Flasche Ingelheimer und
für seinen Sohn eine halbe Flasche Hochheimer.“ „„Entschuldigen Sie,
mein Herr; Sie haben da die Passagierliste erwischt,““ war die Antwort
des Stewards.

Punkt 1½ Uhr setzte sich der dichtgefüllte und buntbewimpelte
Dampfer in Bewegung und führte uns vorbei an Hunderten von Seglern und
Dampf-Seefahrzeugen aller Größen in die freie Elbe. Etwa zwei Kilometer
von Hamburg entfernt war die Route gesperrt durch einen stolzen
schwedischen Dreimaster, den ein Wörmannscher Frachtdampfer Abends
zuvor angerannt und zum Sinken gebracht hatte. Masten und Steuerteil
des schwer befrachteten Schiffes überragten noch die gelbliche
Wasserfläche, während der Vorderteil auf dem Grunde ruhte.

Nach zweistündiger Fahrt erschien vor unsern Augen die majestätische
„Auguste Viktoria“, mit Flaggen und Wimpeln reich und malerisch
geschmückt; 200 Stewards und sonntäglich gekleidete Matrosen stunden
in Reih und Glied; eine Kanonensalve erschütterte die Luft und unter
dem Begrüßungsmarsche einer Blechmusikkapelle hielten wir unsern Einzug
auf dem mächtigen Schiffe, das nun für drei Wochen unsere Wohnung sein
sollte. Jedermann suchte seine Kabine, wo die Tags zuvor abgelieferten
Koffer schon ihren Platz gefunden hatten, und nach weniger als
einer halben Stunde hatte sich aus dem Wirrwarr eines aufgestörten
Ameisenhaufens ein geordnetes Dasein entwickelt und man konnte dem
schwimmenden Kolosse kaum mehr ansehen, daß ein Heer von fast 400
Menschen mit Kisten und Koffern und Plaids und Apparaten sich hinein
ergossen hatte.

Die Falltreppe wurde aufgezogen; das Kommando des Kapitäns ertönte;
das eiserne Herz des Riesen fing zu schlagen an und unter den Klängen
einer flotten Blechmusik setzte er sich in Bewegung, nordwärts,
nordwärts dem Meere zu.

[1] Aumühle -- idyllischer Platz bei Frauenfeld.



~II.~

     Erste Stunden an Bord. -- Bau der „Auguste Viktoria“. --
     Verpflegung. -- Toiletten. -- Schiffskapelle. -- Norwegische Küste
     in Sicht. -- Ankunft.


                            An Bord der „Auguste Viktoria“ im Fjord von
                                      Romsdal vor Naes, 6. Juli Abends.

Bei herrlichstem Wetter liegen wir hier vor Anker, um in zwei Stunden
nach Trondhjem, der Wiege und Krönungsstadt des norwegischen Reiches,
abzudampfen. Zurück nach der Elbemündung, wo mein erster Brief stehen
geblieben ist!

Die ersten Stunden an Bord entbehrten der Komik nicht. Allerdings
waren zuvorkommende Stewards in Menge da, um den Passagieren die
Kabinen anzuweisen; aber sobald man seinen Schlupfwinkel verlassen,
sah man sich in einem wahren Labyrinth von Kreuz- und Quergängen, in
welchen eine Orientierung vorläufig nicht möglich schien. Die Kabinen
sind in drei Etagen über einander angebracht; steile Treppen stellen
die Verbindung her und wer in den engen Korridoren umherirrt, täuscht
sich anfänglich nach allen Richtungen der Windrose, ist rat- und
thatlos. Letzteres eigentlich nicht, denn bald pufft er energisch
mit einer daherstürmenden Lady zusammen oder fällt einem um die Ecke
fliegenden Steward in die Arme -- oder aber er sieht sich plötzlich
in einer Sackgasse und muß ärgerlich den Rückzug antreten. Ich kenne
Menschen, die im erhebenden Bewußtsein, ihre Sache trefflich zu machen
und ausgezeichnete Pfadfinder zu sein, im Vorderteil des Schiffsrumpfes
herumsuchten, während ihr Daheim doch 100 Meter davon entfernt gegen
das Steuer zu lag.

Einige Angaben über die Dimensionen unseres Schiffskolosses werden
dies begreiflich erscheinen lassen. Die „Auguste Viktoria“ wurde seiner
Zeit mit einem Aufwand von sieben Millionen Mark erbaut und hat in
den letzten Jahren eine vollständige Umgestaltung erfahren, indem das
gewaltige Schiff in der Mitte geteilt und durch Einfügung eines 15
Meter langen Mittelbaues vergrößert wurde -- eine Ausgabe von weiteren
2 Millionen Mark. Sie ist ein sogenannter Doppelschraubendampfer, d.
h. die bewegende Kraft ist auf _zwei_ getrennte Maschinen und _zwei_
Schrauben verteilt, sodaß bei etwaigem Schaden an einer Maschine
die Bewegungs- und Manövrierfähigkeit des Schiffes nicht aufhört.
Maschinen- und Kesselräume sind durch einen starken Längsschott unter
der Wasserlinie in zwei Hälften geschieden, so zwar, daß wenn auch der
eine Maschinenraum bei einer Kollision oder Explosion sich mit Wasser
füllt, das Schiff deshalb weder sinken, noch unlenksam werden kann.
Wasserdichte Querschotten, welche im Momente der Gefahr geschlossen
werden, so daß dann das ganze Schiff aus 11 wasserdichten Abteilungen
besteht, erhöhen die Sicherheit -- auch für den Fall einer Kollision --
außerordentlich. Aber auch die Steuerfähigkeit des Schiffes wird durch
dieses Doppelschraubensystem in wunderbarer Weise vermehrt; arbeitet
die eine Schraube vorwärts, die andere rückwärts, so dreht sich der
Koloß auf der Stelle, ohne einen Meter sich vorwärts zu bewegen. Dieses
Manöver sehen wir in den engen nordischen Fjords täglich ausführen;
aber auch bei schnellster Fahrt soll es möglich sein, ganz rasch zu
wenden und dann einer drohenden Kollisionsgefahr zu entgehen. Die
Länge unseres Schiffes beträgt 530 Fuß, die Breite 60 Fuß, die Tiefe
35 Fuß; 125 Heizer schleudern Tag um Tag 6000 Zentner Kohlen in die
56 Feuerstellen. Die übrige Bemannung besteht aus 35 Bootsleuten und
Matrosen, 24 Maschinisten, 3 Offizieren, 30 Köchen und Handwerkern und
96 Stewards und Stewardessen und -- extra für diese Nordlandsfahrt --
aus den 20 Berufsmusikern, welche unsere Schiffskapelle bilden. Drei
mächtige Kamine von 10 Meter Umfang senden ihre dunkeln Rauchwolken
zum Himmel; 18 Sicherheitsboote für je 40 bis 50 Menschen werden
mitgeführt; alles Vorhandene geht in riesige Dimensionen, und dabei
ist die innere Ausstattung des Schiffes von einer Pracht und einem
Komfort, wie ich sie zur See noch nirgends angetroffen habe. Die
Kabinen sind mit polierter Ahorn- und Mahagoniarbeit versehen; überall
-- in jedes Waschbecken -- läuft ein Hahn mit fließendem Wasser;
jeder Winkel ist elektrisch beleuchtet und neben den Schlafstellen
sind sogar Kontakte für elektrische -- Haarkräuselungsapparate
angebracht, von welchen ich allerdings bis jetzt noch keinen Gebrauch
gemacht habe. Außer den zwei gewaltigen Hauptmaschinen funktionieren
Tag und Nacht -- auch bei Ruhe des Schiffes -- noch Extramaschinen
für elektrisches Licht, für Eisbereitung und für Herstellung von
Süßwasser. Die luxuriöse Wasserversorgung in den Kabinen, Badezimmern
und Aborten ist ein Hauptfortschritt der neuesten Passagierdampfer. Die
Speise-, Konversations-, Musik- und Rauchsalons sind mit übertriebenem
Luxus ausgestattet; an allen Ecken sorgen elektromotorische Fächer
geräuschlos für Lufterneuerung. Ist man im Verlaufe einiger Tage
einmal in den labyrinthischen Gängen und Abteilungen des Schiffsinnern
orientiert, so kann man nur staunen über die vortreffliche, auf
alles bedachte, jeden Raum ausnützende und doch einheitliche und
durchsichtige Einteilung des schwimmenden Gebäudes.

Der Qualität der Dampfer entsprechend ist auch die Verpflegung. Man
glaubt, in einer Mastkuranstalt zu leben. Von 6 Uhr morgens bis nachts
12 Uhr ist ununterbrochen Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme, und sind
wir einmal im Gebiete der Mitternachtssonne, so wird das Tafeln auch
während der bisher beobachteten Schonzeit kein Ende nehmen. Morgens
6 bis 8 Uhr wird Thee, Chokolade, Kaffee mit Zuthaten serviert; 8
Uhr ist erstes Frühstück, 1 Uhr zweites Frühstück, 7 Uhr Diner, alle
Mahlzeiten von der Reichhaltigkeit eines Festessens erster Güte.
Zwischenhinein aber zirkulieren überall Stewards mit Thee, Kaffee,
Limonade, Kakao, Sandwiches aller Art, Früchten etc. -- alles gratis;
nur die alkoholischen Getränke (Pschorr, Zacherl, Münchner Bürgerbräu
und Pilsner Hofbräu vom Faß etc. etc.) müssen extra vergütet und --
getrunken werden.

Man verzeihe diesen materiellen Exkurs; er gehörte zur Schilderung
des Schlaraffenlebens auf dem Nordlandfahrer „Auguste Viktoria“;
übrigens erhält das so stark betonte und prosaische Verdauungsgeschäft
einen künstlerischen, fast poetischen Anstrich dadurch, daß durch das
bekannte Trompetensignal aus dem Beethoven’schen „Fidelio“ jeweils dazu
eingeladen wird. Den zu diesem Eß-Signal beorderten Stabstrompeter
bezeichnete der Witz der letztjährigen Nordlandsfahrer als „Trompeter
von Eß-lingen“. Er wird von den herumliegenden Passagieren --
wenigstens denjenigen der Rauchkabine -- meist mit einem Geheul
begrüßt, das an die Töne einer Menagerie in der Nähe der Fütterungszeit
erinnert.

Schon nach einer Stunde, welche durch Vorträge der Kapelle auf Deck
gekürzt wurde, ließen wir Cuxhaven links liegen, grüßten die „Alte
Liebe“ -- jene so benannte altehrwürdige Landungsbrücke, welche die
Auswanderer auf ihr Schiff leitet, und als das Diner vorüber war,
sahen wir uns dicht an der Ostküste von Helgoland, dessen Häuser hell
beleuchtet erschienen.

Ein Spaziergang auf Deck zeigte uns ein wunderbares Völkergemisch
und eine wahre Ausstellung von schönen und absurden Toiletten.
Speziell durfte die Kopfbedeckung der Damen auf Vielseitigkeit
und Originalität Anspruch machen; von der deutschen Infanterie-
und Artillerie-Offiziersmütze auf den Köpfen einiger koketten
Amerikanerinnen bis zur Lootsen-Kappe fehlte keine Variation. Ich bin
glücklich zu sagen, daß auch ich, dem die eigene Toilette sonst leider
zu sehr „wurst ist“, etwas Aufsehen erregte durch einen Lodenmantel,
den ich mir in Hamburg gekauft, um gegen die Unbill der arktischen
Witterung und gegen die Eisbärentatzen geschützt zu sein. Die beim
Kaufe im Dunkel der Nacht mir als grau erschienene Farbe entpuppte sich
nämlich bei dem Glanze der Tagessonne als spinat- oder bohnengrün, so
daß ich von meinen zwei Lebens-, Leidens- und Reisegefährtinnen bei
meinem ersten gloriosen Auftreten mit diesem Kunstwerk der Schneider-
und Färbekunst als „Grüner Heinrich“ begrüßt wurde.

Das Meer blieb die ganze Nacht ziemlich ruhig; Seekranke gab es
kaum. Abends war flottes Konzert von unseren zu komplettem Orchester
umgewandelten Blechmusikkünstlern, die wirklich vortrefflich spielten
-- Heiteres und Ernstes, zum Schlusse natürlich den Meyer-Polka, den
die zahlreichen anwesenden „Meyers“ mit stürmischem Applaus lohnten.

Am Morgen des 3. Juli kam bei 58° Breite die inselreiche norwegische
Küste zu Gesicht; einige Segler belebten das Meer in malerischer
Weise; mittags näherte sich bei Kopervik der Lootse unserm Schiff,
das er durch die vielgestaltigen Fjorde lenken soll. Immer näher und
deutlicher traten die Ufer -- graue Klippen mit eingestreutem Busch-
und Grasgrün und einzelnen freundlichen Häusergruppen, im Hintergrund
Berg an Berg, wunderbar geformte Linien, und als Abschluß des
Horizontes blendend weiße Schneegipfel, hie und da auch ein mächtiger
Gletscher.

Böllerschüsse ertönen; unsere Kapelle spielt die norwegische
Nationalhymne; der Lootse steigt an Bord, salutiert, besteigt die
Kommandobrücke; die Falltreppe wird unter dem bekannten rhythmischen
Gesang des leitenden Matrosen aufgezogen; das Schiff dreht nach Osten
ab; eben bricht die Sonne durch die Wolken und vorwärts geht’s in die
zauberhaften Schönheiten der nordischen Schärenlandschaften.



~III.~

     Fjorde und Schären. -- Hardangerfjord. -- Ankunft in Odde. --
     Buarbrae. -- Unglücksfall bei der Abfahrt. -- Molde. -- Naes.
     -- Romsdal. -- Ball an Bord. -- Abendstimmung. -- Ankunft in
     Drontheim.


                   Nördliches Eismeer 76° nördl. Breite, 11. Juli 1899.

Vor 30 Stunden haben wir dem alten Europa an seinem nördlichen
Markstein, dem Nordkap, Valet gesagt und steuern dem Endziele unserer
Fahrt, Spitzbergen, zu. Die Temperatur ist auf 2° C. gesunken; Himmel
und Meer sind unheimlich grau und düster; undurchdringliches Gewölk
verbirgt die Sonne und mit stark verminderter Geschwindigkeit sucht
unser Schiff seinen Weg durch Nebel und spärliches Treibeis, geführt
von zwei im Dienst ergrauten norwegischen Lootsen. Ein gelegentlich zu
Gesicht kommender schwimmender Eisberg zeigt uns, wie wohlbegründet die
reduzierte Fahrgeschwindigkeit und die vermehrte Vorsicht sind. Bei
einem Zusammenstoß mit einem derartigen nordischen Riesen könnten alle
technischen Vollkommenheiten unseres Schiffes zu Schanden werden.

Ueber das mit heute eingetretene schlechte Wetter dürfen wir nicht
ungehalten sein; denn bis jetzt ging alles nach Wunsch und wir konnten
die Schönheiten der norwegischen Küstenlandschaften bei herrlichstem
Sonnenlichte genießen, das nordische Meer und die Mitternachtssonne in
einer Pracht, wie sie wohl wenigen Reisenden zu Teil wird.

Es war vom Süden Norwegens bis zum nördlichen Ende _eine_ Lustreise
durch herrlichen sonnenwarmen Frühling. Den glänzenden Anfang bildete
die Fahrt durch den vielbesungenen Hardanger Fjord. Fjorde heißt man
bekanntlich die Meeresbuchten, in welche die norwegische Westküste
gegliedert ist. Sie zeichnen sich vor andern Golfen dadurch aus, daß
sie außerordentlich tief -- bis über 200 Kilometer weit -- und vielfach
verzweigt in das Land eindringen. Im Verhältnis zu ihrer Länge sind
sie schmal, überall von mächtigen, steilen Bergwänden eingefaßt; ihre
innersten und engsten Endpunkte, bei welchen dieser Charakter am
meisten ausgeprägt erscheint, gleichen auffallend unsern Alpenseen. Sie
schneiden in die höchsten Teile des Landes ein; Felswände bis zu 1500
Meter fallen senkrecht und unnahbar in den dunkeln, ruhigen Golfspiegel
ab; sie sind von den Gletschern der Eiszeit glatt gescheuert und
wo an ihren Leisten und Absätzen die Verwitterung etwas lockere
Erde geschaffen, sproßt üppiges, strotzendes Rasengrün. Blendend
weiße Wasserfälle stürzen über diese von lebendig grünen Bändern
durchzogenen, dunkeln Urgesteinswände und gekrönt sind sie durch flache
Firnfelder; dazwischen in schwindelnder Höhe zeigt sich ab und zu ein
blauer Gletscherabbruch.

Nirgends öffnet sich der Fjord direkt ins Meer; nirgends bespült der
atlantische Ozean direkt das norwegische Festland, sondern die ganze
über 3000 Kilometer lange Küste ist von zahllosen Inseln und Klippen --
den sogenannten Schären -- eingehüllt, die -- groß und klein, niedrig
und gebirgig, die meisten aber trostlos kahl -- zu Tausenden in Gruppen
beisammen liegen und die brandenden Wogen des Ozeans brechen, so daß
die Dampfer in ruhiger Fahrt zwischen ihnen und der Küste nordwärts
gelangen können.

Die Fahrt durch den Hardanger Fjord zeigte uns die Steigerung
der Schönheiten dieser norwegischen Buchten vom Meere gegen das
Landesinnere in auffälligster Weise. Erst graue, kahle Inseln und
Klippen, in welche nur die weiße Brandung etwas lebendigere Farbentöne
bringt und zwischen welchen sich nirgends ein Weg für unser Schiff zu
öffnen scheint. Bald aber gleiten wir in das ruhige Wasser des Golfes.
Die Küsten werden höher und steiler: als hellgraue, kahle Gneisfelsen
entsteigen sie der dunkeln Flut, nur unten -- soweit in periodischer
Wiederkehr die Flut sie berührt -- schiefergrauschwarz gefärbt. Auf der
Höhe liegt noch Schnee; wo er haften kann auch auf dem Gefälle, und aus
der Ferne strahlen glänzende Firnflächen und blaue Gletscher.

Immer mächtiger werden die begrenzenden Berge, und je weiter wir
landeinwärts fahren, desto mehr Vegetation stellt sich ein; Wälder
und Wiesen unterbrechen das einförmige Gesteinsgrau; am Fuße der
steilen Felswände sind fruchtbare Gelände, spärlich bewohnt zwar, aber
doch sieht man hie und da in freundliche Baumgruppen gebettet eine
Ansiedlung, schmucklose, aber saubere Holzhäuser, einzeln oder als
kleines Dorf um eine Kirche gelagert. Auch weidendes Vieh belebt die
steinigen und grüngefleckten Abhänge und im Hintergrunde fehlt nie das
Bild eines hoch herabstürzenden Staubbaches.

[Illustration: Odde (Hardanger)]

Nach sechsstündiger Fahrt nordostwärts biegt der Fjord plötzlich
steil nach Süden und nach weitern zwei Stunden liegt an seinem Ende
Odde vor unsern Augen. Die Aehnlichkeit der Szenerie mit dem Urnersee
ist hier eine ganz auffällige; sogar die Axenstraße fehlt nicht;
der Hauptunterschied besteht in der enormen Ausdehnung der hiesigen
Landschaft und dem Reichtum der prächtigen Wasserfälle, welche aus
höchster Höhe der firngekrönten Felswände herniederstürzen, oft sich
vielfach teilen, wieder vereinigen, in Staub aufwirbeln und schließlich
als klarer grüner Bergstrom im Spiegel des Fjord aufgehen.

Böllerschüsse ertönen, widerhallen mächtig an den Gebirgswänden und
kehren nach einer halben Minute noch als kräftiges Echo zurück. Die
Flagge wird aufgezogen; die Ankerkette rasselt; alles ist auf Deck, um
die schöne Welt zu sehen. -- Die Kapelle grüßt das nordische Land mit
seiner Nationalhymne.

Drei Stunden später -- 10 Uhr abends, aber bei noch hellstem
Tageslichte -- lief ein mit englischen Touristen gefüllter Dampfer ein,
die von Cook gecharterte „Midnightsun“, eine Schnecke im Vergleich
zu unserm stolzen Schnellfahrer. Wir hatten sie nachmittags 4 Uhr
beim Maurangerfjord -- einem der vielen malerischen Nebenarme des
Hardangerfjords -- überholt und sie dann rasch aus den Augen verloren.
Es ist dasselbe mehr als mittelmäßige Schiff, auf welchem Cook im
Frühjahr seine Touristen zum Kaiserbesuch in Jerusalem geführt hat und
an dessen Bord Buchhändler Kober aus Basel im Hafen von Alexandrien
gestorben ist.

Die verschiedenen kleinen Landausflüge, welche in der knapp
zubemessenen Zeit möglich waren, hatte die Reisefirma Beyer in Bergen
sorgfältig vorbereitet; ein Vertreter befand sich schon von Hamburg her
an Bord, und die Mehrzahl der Passagiere -- wohl über 300 -- hatte sich
durch Bezahlung einer Pauschalsumme von 60 Mark das Recht gesichert,
ohne eigene Mühe an die sehenswerten Punkte befördert zu werden. _Wir_
zogen vor, auf eigene Faust zu schwärmen, zu laufen oder zu fahren, wie
und wann es uns beliebte, und haben es nicht bereut.

So begaben wir uns dann andern Morgens im herrlichsten Sonnenschein
ans Land und besahen uns das kleine freundliche Städtchen, dessen
Kirche und Häuser wie überall in Norwegen aus Holzriegeln aufgebaut
und mit einer Art Krallengetäfer eingekleidet und hübsch bemalt sind.
Kaum ein Fenster ohne saubere Vorhänge und freundlichen Blumenschmuck.
Deutsch wird nirgends gesprochen, wohl aber englisch, namentlich auch
von Kutschern und Blumen offerierenden Kindern, und jeder Fremdling
wird von vorneherein als Sohn Albions betrachtet.

Das Ziel unseres Ausfluges bildet Buarbrae, der östliche Abfall eines
36 Kilometer langen und 6-15 Kilometer breiten Firngletschers von
seltener Schönheit und Reinheit, weil keine überragenden Gebirge durch
Verwitterung seine Oberfläche verunreinigen. Eine gute Straße führt von
Odde zirka 25 Minuten weit in sanfter Steigung in die Höhe; nebenan
stürzt ein Bergstrom in malerischen Fällen zu Thal; auch wo er kleine
Strecken ruhiger läuft, ist sein Wasser ein weißer Gischt, und man
begreift sehr gut, daß Lieutenant Hahnke, der Begleiter des deutschen
Kaisers auf seiner letzten Nordlandsfahrt, absolut verloren war, als er
auf seinem Velo in diesen wilden Strom stürzte.

Der Rückblick auf Odde und den zu Füßen liegenden Fjord ist
entzückend. Die Vegetation zeigt lauter alte Bekannte; wo der Boden
bebaut ist, trägt er Kartoffeln und Gerste, auch Gemüse mancher Art.
Die Straße führt aber großenteils durch Weiden; das Gras wird mit einer
sichelartigen, nur mit der rechten Hand geführten Sense geschnitten und
dann an zu diesem Zwecke erstellten Holzhecken aufgehängt und gedörrt.
Das Heu duftete auffallend aromatisch. Von Blumen erfreuten uns am
meisten zahllose wilde Rosen, die in großen Büschen am Wege stunden,
sowie besonders farbenschöne und zahlreiche Exemplare von purpurrotem
Fingerhut. Auch Stein- und Kernobstbäume sind vorhanden. Birken und
Buchen und massenhafte Wachholderbüsche bringen Abwechslung in das
Naturgemälde.

[Illustration: Buarbrae.]

Auf der Höhe -- offenbar einer großen alten Moräne -- öffnet sich
plötzlich die Aussicht auf einen prächtigen See; die Straße führt auf
einer eisernen Brücke über seinen ausmündenden, zu Thal stürzenden
Strom und dann nach wenigen Minuten zur Landungsstelle eines kleinen
Dampfers, wo schon eine Anzahl unserer Mitreisenden der Abfahrt
harrten. Freundliche blauäugige Landeskinder boten Erdbeeren und Blumen
zum Verkauf, höflich und nicht zudringlich; für kleine Geschenke
dankten sie mit Händedruck. Bei Kindern wie bei Erwachsenen fiel uns
auf, wie viel ungeschickter und schwerfälliger sie im Erraten der durch
Zeichensprache ausgedrückten Absicht der Fremdlinge sich erweisen als
die südlichen Nationen, z. B. die leichtbeweglichen Italiener.

In kleinem Dampfer dicht zusammengepfercht fuhren wir auf die andere
Seite des Sees, wo zwischen mächtigen Bergen ein Thal sich öffnet, das
berühmte Jordal. An seinem Ende liegt, schon vom See her sichtbar und
vom grünen Vordergrund prachtvoll abgehoben, der östliche Gletscher
des Buarbrae. Der Weg dorthin steigt zirka 1½ Stunden lang und ist
ziemlich beschwerlich; aber die reiche Vegetation -- Birken, Ulmen,
Ahorne -- neben dem schäumenden Gletscherbach, eingerahmt von schroffen
Felswänden und hie und da wie ein Gemälde auf dem blaugrünen Grunde
des den Horizont abschließenden Gletschers, bot so viel schöne und
überraschende Bilder, daß wir im Schweiße unseres Angesichtes vorwärts
pilgerten, über Stock und Stein und Bergwässer; die Sonne brannte wie
bei uns im Sommer -- ein Hohn auf unsere Winterkleider.

Das kleine, auf felsigem Hügel unmittelbar am Gletscher liegende
Restaurant war von Erquickungsbedürftigen bereits angefüllt und
umlagert, als wir ankamen. Auf blumigem Rasen ausgestreckt labten auch
wir uns und sahen dem ungewohnten Getriebe in diesem stillen Bergthale
zu. Die guten Wirtsleute konnten den an sie gestellten Anforderungen
kaum gerecht werden und schossen planlos hin und her; nur die Tochter
des Hauses, in der malerischen Hardangertracht -- weißes Hemd, rotes
Mieder mit perlengesticktem Bruststück, gefaltete, gesteifte weiße
Linnenhaube, weiße Schürze -- verlor den Kopf nicht und hielt den
ungestüm andrängenden hungrigen und durstigen Fremdenstrom im Zaume.

[Illustration: Norwegerinnen]

Die Hardangertracht ist außerordentlich kleidsam, es scheint aber, daß
die Volkstrachten wie bei uns so auch in Norwegen, wenigstens an den
Haupttouristenplätzen, im Rückgang begriffen sind.

Ein liebliches und auch farbenschönes Genrebild, das ich bei
der Rückkehr aus dem Jordal sah, bleibt mir unvergeßlich: Eine
stolzgewachsene junge Frau, nach der Landessitte gekleidet, hielt von
einem kleinen grünen Hügel herab Auslug -- wohl nach ihrem Mann -- die
Augen mit der rechten Hand beschattend, während die linke ein Kind
schützte, das zu ihren Füßen mit einem anderen spielte.

Gegen Abend war alles wieder an Bord; punkt 6 sollte die Abfahrt
erfolgen. Leider ereignete sich dabei ein Unglücksfall, der unsere
Stimmung lange trübte. Bei den üblichen Salutschüssen wurde ein
24jähriger Matrose verletzt und ins Meer geschleudert. Er hatte, wie
sich herausstellte, versäumt, den Lauf der Kanone nach dem ersten
Schusse feucht auszuwischen, und als er die zweite Patrone einführte,
entzündete sie sich an den noch vorhandenen Funken und fegte den
unvorsichtigen Lader rücklings ins Meer. Hätte nicht ein norwegischer
Schifferjunge von seinem kleinen Kahn aus das Unglück beobachtet und
sofort Meldung gemacht, so wäre es unbemerkt geblieben. Aber alles
Suchen an der blutgeröteten Stelle war erfolglos; der Bursche, der
seine erste Fahrt auf der „Auguste Viktoria“ gemacht, kam auf die
Verlustliste, und mit einer Stunde Verspätung, deren Grund den meisten
Passagieren lange Zeit unbekannt blieb, fuhren wir ab, während die
Musikkapelle die Wissenden über die traurige Situation hinwegzutäuschen
suchte. Eine Sammlung unter den Schiffspassagieren, angeregt durch die
Amerikaner bei der Feier ihres Unabhängigkeitsfestes, zu Gunsten der
Eltern des Verunglückten ergab über 2000 Mark.

In der Nacht glitten wir in die offene, etwas unruhige See;
die Ahnungslosen in den Kabinen der Steuerbordseite, welche aus
Luftbedürfnis die Lucke offen gelassen -- so auch meine beiden
Gefährtinnen -- konnten ihre Tücke erfahren; sie wurden in ihren Betten
bald gehörig mit Salzwasser begossen. Trotzdem gab es wenig sichtbare
Seekranke und im Verlauf des folgenden Tages, des 5. Juli, lenkten wir
bei Aalesund bereits wieder in die ruhige Wasserfläche des Moldefjords
ein, an dessen Nordwestufer das nordische Nizza, das Städtchen Molde,
reizend im Grünen liegt. Unsere Ankunft daselbst erregte Sensation;
vieles Volk strömte zum Landungsplatz und vier im Hafen verankerte
englische Kriegsschulschiffe salutierten, während von unserem Deck
herab die englische Nationalhymne ertönte.

[Illustration: Straße in Molde.]

Wir ließen uns sofort auf einer der unterdessen flott gemachten
„Dampfsparkassen“, wie die Barkassen in unserem Kreise scherzhaft
benannt werden, ausbooten und besahen uns Land und Leute. In Molde
herrscht ziemlicher Fremdenverkehr, und verschiedene große Hotels,
nebenbei auch ein in prächtigem Park gelagertes Sanatorium für
Lungenkranke, geben der kleinen Stadt das Gepräge eines Kurortes.
Beherrscher der Situation sind wie überall die Engländer; alles Volk
spricht ein bißchen englisch; Plakate und Affichen sind in englischer
Sprache abgefaßt, und auf den Straßen begegnet man radelnden Ladies.

Klima und Vegetation sind überraschend südlich; inmitten eines
herrlichen Frühlings voll blühenden Flieders mit duftenden Gaisblatt-
und Rosenlauben konnte man kaum glauben, sich bereits drei Breitegrade
nördlicher als St. Petersburg, d. h. schon auf der Höhe des eisigen
Grönland zu befinden. Zwischen freundlichen Holzhäusern mit zum Teil
gut gehaltenen und üppigen Gärtchen führte uns der Weg auf die Anhöhe,
wo die stattliche, ebenfalls aus Holz erbaute lutherische Kirche steht.
Auch ihr Inneres ist sehenswert; der dreischiffige Bau enthält außer
einer schönen Orgel als Hauptschmuck ein farbenreiches Altargemälde des
norwegischen Künstlers Alex Ender, eine rührende Darstellung der Frauen
am Grabe des Auferstandenen.

Eine Ahornallee führte uns westlich zu einem Friedhofe; die Gräber
sind alle mit Liebe gepflegt und bilden blumenbesäete Hügel. Auffallend
ist die Nüchternheit der Inschriften auf den Grabmonumenten, die außer
Namen, Geburts- und Todesdatum gar nichts enthalten. Eine benachbarte
Privatbesitzung zeichnet sich durch einen ungewöhnlich üppigen Garten
aus; das Gaisblatt rankte üppig bis zum Dache der hölzernen Villa;
Rosen, Flieder und Rotdorn blühten in baumstarken Exemplaren und
auf grünem Rasenplatze sahen wir sogar eine mindestens 5 Meter hohe
Araucaria. Ueberall in Molde finden sich Kastanien, Linden, Rotbuchen,
Bergahorn und auch Kirschbäume in großer Menge. Den Hauptreiz der
Gegend bildet aber wohl die unvergleichliche Aussicht von einem mit
Anlagen versehenen kaum 80 Meter hohen Hügel auf die ins Grün gebettete
Stadt hinab, den weiten tiefblauen Fjord mit seiner Inselwelt und den
schneebedeckten Gipfeln der den Horizont abschließenden Bergketten.

An Bord zurückgekehrt wanderten wir noch lange deckauf und deckab; die
Nacht war taghell; ununterbrochen flogen unsere Barkassen hin und her,
brachten und holten -- wer Lust hatte, zwischen Land und Deck hin und
herzuwandern. Um 10 Uhr fuhr mit klingendem Spiel unsere Kapelle ans
Land und konzertierte auf freiem Platze, wo Alt und Jung aus der Stadt
zusammenlief. Erst nach Mitternacht schloß das improvisierte Volksfest
mit der Nationalhymne, Umzug von Fremden und Einheimischen -- Männlein
und Weiblein -- die Musik an der Spitze, durch die Straßen der Stadt;
war auch die Sonne nach halb 11 Uhr noch unter den Horizont gestiegen,
so blieb doch bis zum Wiederaufgang morgens halb 3 Uhr eine helle
Dämmerung, welche jedes künstliche Licht überflüssig machte.

Donnerstag, 7. Juli, 6 Uhr morgens lichteten wir die Anker; vom
Strande her wehten weiße Tücher zum Abschied; auch die vier englischen
Schiffe waren zur Abfahrt bereit und in dem Takelwerk der Dreimaster
stand, des Kommandos harrend, die Mannschaft -- ein überaus malerischer
Anblick.

[Illustration: Stolkjaerre.]

In mehrstündiger Fahrt, auf welcher das Auge von einem Entzücken ins
andere geriet, erreichten wir das südöstlich von Molde in verstecktem
Fjord gelegene Naes, den Ausgangspunkt für den Besuch des Romsdals
(d. h. Thal der Rauma), eines von hohen Bergen überragten und durch
schönen Baumwuchs ausgezeichneten Wiesenthales, das uns außerordentlich
an das Engelbergerthal von Stans bis Wolfenschießen erinnerte. Was
Naes und weitere Umgebung an Fuhrwerken auftreiben konnten, stund --
von Beyer aufgeboten -- am Strande bereit, außer einigen Landauern
hauptsächlich das charakteristische Vehikel Norwegens, die von den
Bauern gestellte Stolkjaerre (Stuhlkarre), welche Platz für zwei
Reisende und einen hinterhalb angebrachten Kutschersitz hat, sowie
das zweirädrige einplätzige Kariol, auf welchem der Reisende in einer
Art Sessel mit ausgestreckten Beinen sitzt, wobei die Füße in festen
Steigbügeln ruhen; dabei kutschiert er selbst oder aber ein hinten
aufsitzender Kutscher. Auch hier konnte man sich nur in englischer
Sprache verständlich machen.

Wir mieteten einen Zweispänner und fort ging’s, bergauf und bergab,
leider auf schrecklich staubiger Landstraße durch die malerische
Gebirgslandschaft, welche durch die 5000 bis 6000 Fuß über der
Thalsohle sich erhebende schneebedeckte Hexenzinne und das Romsdalshorn
beherrscht wird. Die wenigen am Wege liegenden und oft in wilden
Rosenbüschen verborgenen Bauernhäuser zeigen als Eigentümlichkeit mit
Erde bedeckte flache Giebeldächer, auf welchen üppiges Buschwerk und
Gras gedeiht -- allerdings eine bessere Garantie gegen Feuersgefahr als
die sonst hier auch üblichen Strohdächer.

Leider sind die blauäugigen wegelagernden Kinder hier -- dank dem
englischen Fremdenstrome -- schon weiter in der Kultur als anderswo
in Norwegen; man glaubt im Berner Oberland zu sein; kleine Sträußchen
werden in die Wagen geworfen, sofern man sie nicht freiwillig kauft,
und der blumenschleudernde Knirps bleibt mit großer Beharrlichkeit
an der Seite des Dahinrollenden, bis sein Geschoß oder ein Geldstück
wieder zurückfliegt. Auch strecken die kleinen Hände fremdes Geld her
mit dem Imperativ: „Change!“ und kennen ganz genau den entsprechenden
Münzwert.

Vierzehn Kilometer von Naes entfernt öffnet sich das Thal plötzlich zu
einer weiten grünen Mulde, an deren nördlichem Abhang ein freundliches
Wirtshaus liegt -- Horgheim. Hier hatte sich bereits ein buntes Leben
entfaltet. Dutzende von Amateurphotographen unseres Schiffes stunden
mit ihren Apparaten wie Jäger auf dem Anstand und fingen und fixierten,
was irgend möglich war, und mancher wird ahnungslos -- nicht immer
in der gerade gewünschten vorteilhaftesten Situation -- auf dem
lichtempfindlichen Papier eines Mitpassagiers mit diesem nach Hause
wandern und dort das Licht der Welt wieder erblicken.

Staubbedeckt kehrten wir Mittags an Bord unseres Schiffes zurück,
das uns nun schon als unsere zweite vertraute Heimat erschien, auf
deren reinen, seefrischen Gründen wir uns mit Behagen herumtrieben.
Nachmittags gab’s allerlei zu sehen, u. a. die Vorbereitungen zu einem
Ball, der abends auf Promenadendeck stattfinden sollte. Der Hauptraum
des Decks wurde mit Segeln gegen Wind und See abgeschlossen, mit bunten
Flaggen und Tüchern recht geschmackvoll und seemäßig dekoriert und
durch mächtige transportable elektrische Lichtreflektoren erhellt.

Die Schiffsbemannung wurde zur Ausfüllung der Muße dazu kommandiert,
die Rettungsboote ins Wasser zu lassen und unter der Führung je eines
Schiffsoffiziers Ruderübungen zu machen. Die fielen bei den Ungewohnten
komisch genug aus. Die achtrudrigen Boote bewegten sich wie Maikäfer,
die abwechslungsweise mit der Hälfte ihrer Beine an klebriger Unterlage
stecken bleiben. Es war nicht gerade sehr ermutigend, daß von zum Teil
offenbar ganz ungeübten Händen uns im Ernstfall die Hilfe kommen sollte.

Die Abfahrt von Naes, aus dem herrlichen Bergsee Romsdalfjord,
erfolgte abends gegen 9 Uhr mit dem gewohnten, aber immer wieder
packenden Abschiedsradau. Die Welt war in einer Farbenpracht, wie
ich sie nie zuvor gesehen. Dieses Grün der Wiesen und Wälder, dieses
glänzende Grau und Schwarz der mit Schnee bedeckten und teilweise
auch noch schwarz gefleckten Felswände und dieses Marmorweiß der
zu Thal stürzenden Bäche! Es muß in physikalischen Eigenschaften
der hiesigen Luft liegen, daß alle die Farben so überaus viel
intensiver ins Auge fallen als bei uns oder im Süden, sogar im
Orient; dieselben Eigenschaften bedingen wohl auch die Thatsache,
daß alle Distanzschätzungen hier viel zu knapp gemacht werden.
Gletscherabbrüche, die 15 Kilometer zurückliegen, scheinen in einer
halben Stunde erreichbar.

Bald nach der Abfahrt bewölkte sich der Himmel dicht und ganz bis
auf eine lichte Zone über dem westlichen Horizont, an welcher
das Wolkengewölbe wie ein steiler Wall abschloß. Die Sonne stund
noch hinter dem Gewölk, vergoldete aber deren Saum und warf einen
nordlichtartigen, gewaltigen Fächerschein auf die leichtgekräuselte
See. Jetzt senkt sie sich als mächtige Scheibe in die lichte Zone des
Horizonts; es sieht aus -- nicht wie Abendrot, sondern als ob ein
glänzender Tag anbrechen wollte.

Wir saßen auf Vorderdeck, in diesen herrlichen Anblick versunken. Was
kümmerten uns die im Tanz sich drehenden reichen Toiletten, Frack und
Seide, mit welchen, wie wir zu unserm Erstaunen gesehen, ein großer
Teil unserer „Polarreisenden“ plötzlich zuvor bei Tisch erschienen war!
Was kümmerte uns Tanzmusik und Champagner-Pfropfenknallen!

Die Beleuchtung wurde immer magischer. Auf die nun pechschwarz
dräuenden Gebirgspyramiden fiel durch Wolkenlücken das Licht in
goldenen Streifen, und diese wunderbar mit Schnee gekrönten Bilder
spiegelten sich in der dunkeln, tintigglänzenden Flut wie auf poliertem
Metalle.

Nochmals sahen wir auf der Rückfahrt durch den Moldefjord das
liebliche Molde; dann ging’s zwischen der Insel Otterö und dem
Festlande hinaus in die offene See und morgens 7. Juli früh in den
Trondhjemfjord, wo wir angesichts der alten norwegischen Königs- und
Krönungsstadt uns vor Anker legten. Vom Lande her tönte als freudig
applaudierter Gruß der seit Hamburg vermißte Pfiff einer Lokomotive.
Ich hätte nie geglaubt, daß dieses so prosaische und unmusikalische
Geräusch -- natürlich nur bei Landratten -- so heimatliche Gefühle
wecken könnte. Die in Drontheim (norwegisch: Trondhjem) endende
Eisenbahnlinie beginnt bei Kristiania und ist, fast 600 Kilometer lang,
die bisher einzig in Betracht kommende Bahnstrecke Norwegens.



~IV.~

     Drontheim. -- Effekt des Polarstromes. -- Lerfos. -- Verspätete
     zur Abfahrt. -- Erste Wale. -- Polarkreis.


Drontheim ist unter 63° 25′ nördlicher Breite weitaus die nördlichste
der größern Städte Europas; sie liegt auf einer vom Flusse Nid
gebildeten Halbinsel am Fjord gleichen Namens. Bedenkt man, daß die
genannte geographische Breite dem eisbegrabenen Grönland entspricht
und jenen Inseln des nordamerikanischen Archipels, in welcher seiner
Zeit die Franklin-Expedition zu Grunde ging -- Gegenden, in welchen im
Winter das Quecksilber gefriert --, so ist man erstaunt über die reiche
Vegetation dieser nordischen Stadt, wie der norwegischen Westküste
überhaupt. Der Sommer Drontheims entspricht dem des südlichen Irland,
der Winter dem milden von Dresden; der Fjord bleibt immer eisfrei und
auch der einmündende Süßwasserfluß gefriert äußerst selten.

Diese geographische Abnormität verdankt Norwegen einer
Warmwasserheizung (System und Qualität Gebrüder Sulzer, Winterthur),
deren Heizkessel sich im mexikanischen Meerbusen befindet und deren
Hauptröhre eine Breite von 400 Meilen, eine Tiefe von 1000 Fuß und
eine Länge von vielen hundert Stunden hat und durch welche sie in der
Sekunde 18 Millionen Kubikmeter warmen Wassers nach dem Norden wälzt.
Zur Zeit Karls des Großen und bis fast vor 500 Jahren noch wälzte sich
dieser tropische Warmwasserstrom auch noch nach Grönland, welches
dazumal, wie auch der Name deutet, ein grünes Weidenland war. Noch vor
einem halben Jahrtausend wohnte dort in 40 Dörfern eine Bevölkerung,
welcher ein eigener Bischof vorstand, und nun ist das gewaltige Land
völlig vereist und, wie der kühne Durchquerer Nansen zeigte, bedecken
300 Meter dicke Eisschichten die einst blumigen Triften. Die Ursache
dieser unerhörten Veränderung soll darin zu suchen sein, daß die im
Laufe der Jahrhunderte ins Meer vorgeschobene Korallenbank von Florida
den Golfstrom von seiner ursprünglichen nördlicheren Richtung abgelenkt
und Grönland vollständig entzogen hat. Für Norwegen aber bildet er den
Träger alles Lebens und Keimens und seine Wirkungen erstrecken sich bis
weit hinauf nach Spitzbergen und Nowaja Semlja -- wie lange noch, wird
man kaum mit Sicherheit sagen, aber doch mit einiger Wahrscheinlichkeit
berechnen können. Die hohe Temperatur des Golfstromes in nördlichen
Breiten war den Schiffahrern lange vor Entdeckung des Seethermometers
aus dem Umstande bekannt, daß die Getränke im Kielraume der Schiffe
warm wurden.

Ueber die Richtung des Stromes bekehrten anfänglich zufällige Befunde:
Treibholz aus dem tropischen Amerika an der grönländischen Küste,
Mahagoni- und Campechebäume in Spitzbergen etc. etc. Daß auch eine
Strömung in entgegengesetzter Richtung stattfindet, beweisen die
alljährlich zu Tausenden dem sibirischen Stromsystem entstammenden, an
der Nord- und Ostküste Spitzbergens und anderer baumlosen Polarländer
angeschwemmten Baumstämme.

Drontheim ist die Wiege des norwegischen Reiches. Hier wurden die
Könige gewählt und auf den Schild gehoben. Der Kultus des heiligen
Olaf, des Königs, dessen Leiche in silbernem Schrein hier bestattet
lag, zog jährlich Tausende von Anbetern herbei, und vor der
Reformation, welche diesen Pilgerzügen ein Ende machte, war Drontheim
die reichste Stadt Norwegens. 15 mal ist sie -- fast ganz aus Holz
erbaut -- im Laufe der letzten Jahrhunderte niedergebrannt. Jetzt zählt
sie noch 35,000 Einwohner.

Wir fuhren sofort ans Land, wo wieder die lange Wagenreihe der
Beyerschen Mietfuhrwerke bereit stund. Ein strammer Norwege, der auch
~yes~ und ~no~ sagen konnte, führte uns in seinem Zweispänner zuerst
nach der landschaftlichen Hauptsehenswürdigkeit dieser Gegend, den
Fällen des Nid, den sogen. Lerfos. Erst ging’s quer durch die Stadt,
deren Straßen alle eine auffällige Breite -- 30 bis 36 Meter -- haben,
zur Verminderung der Feuersgefahr; denn außer einigen öffentlichen
Hauptgebäuden sind auch wieder alle Häuser aus Holz erstellt. Dann
führte der Weg dem klaren Bergstrome nach, der zwischen dichtbewaldeten
steilen Böschungen fließt, landeinwärts. Ab und zu nützt eine Mühle
einen Bruchteil dieser mächtigen Wasserkraft; an einer Stelle sind
drei riesige Steinpfeiler in Keilform im Flußbette aufgemauert, um die
Wucht der Stromschnelle zu mildern. Die Ufer sind nicht durch Faschinen
geschützt, sondern durch eine Vorrichtung, welche ich sonst nirgends
gesehen: mächtige Balken sind durch eiserne Bindeglieder zu einer
fortlaufenden, am obern Ende verankerten Kette verbunden, welche nun
als beweglicher schwimmender Wall dem Uferrand, wo dies nötig schien,
einen Schutz gewährt.

Die norwegischen Pferde, welche uns zogen, sind leistungsfähige,
fettarme, aber sehr muskulöse kleine Tiere mit prachtvollem,
unverkürztem Schweife und einer ungewöhnlich dichten Mähne.
Tierquälerei wie im Süden haben wir nirgends gesehen und die Fürsorge
für die Tiere zeigte sich in wohlthuender Weise vor einer stärkern
Steigung der Straße, etwa eine Stunde hinter Drontheim -- ungefähr
unserm „Aumühlestich“ entsprechend -- wo die Fahrenden durch eine Tafel
am Wege zum Aussteigen aufgefordert werden. Hier war die Inschrift
nicht nur norwegisch und englisch, sondern ausnahmsweise auch deutsch
und lautete: „Man bittet das reisende Publikum, selbst den Berg zu
spazieren, um die Pferde zu schonen.“ Das thaten wir denn auch gerne
und freuten uns über die tierfreundliche Maßregel.

Die beiden Fälle des Stromes, bekränzt von schönem lichtem Laub- und
Nadelholzwalde, sind wirklich sehenswert, namentlich der obere, wo die
gewaltige Wassermasse, ähnlich wie der Rheinfall, durch einen Felsen in
zwei Teile geteilt über 100 Fuß herunterstürzt und zum Teil als weißer
Gischt wieder in die Höhe steigt. Wo oben die Fluten sich zum Falle
anschicken, lassen sie in kristallklarer Tiefe wunderlich geformte und
grell gefärbte Felsen in überraschender Schärfe erkennen, ein Bild, wie
es Boecklin zu malen versteht.

[Illustration: Oberer Lerfos.]

Nach Drontheim zurückgekehrt, besuchten wir vor allem den Dom, wohl
das herrlichste Bauwerk des Nordens, von König Olaf Kyrre im elften
Jahrhundert über dem Grabe Olafs des Heiligen gegründet und später
bedeutend erweitert. Brand und Blitzschlag haben das Gotteshaus
vielfach geschädigt und die 1869 begonnene und mit einem jährlichen
Aufwand von 100,000 Kronen (ca. 140,000 Franken), beschlossene
Restauration wird noch Jahrzehnte dauern. Aber was zu sehen ist, ist
von überwältigender Schönheit. Durch ein romanisches Kapitelhaus
gelangt man in das in reichster Gothik ausgeführte Kuppelachteck, das
durchbrochene, schlanke Säulengänge von in diesem gebirgigen nordischen
Lande unerwarteter Zierlichkeit zeigt. Daran anschließend ist die in
Kreuzform gebaute Hauptkirche. Die Wände sind aus graublauem Saponit,
die Säulen -- ein sehr wirkungsvoller Kontrast -- aus hellem Marmor.
Das Hauptschiff ist leider zur Zeit noch abgeschlossen und dient als
Werkstätte. Um die Domkirche, die auch von außen einen erhabenen
Eindruck macht, liegt ein freundlicher Kirchhof mit blumengeschmückten
Gräbern.

[Illustration: Dom in Drontheim.]

Bevor wir auf unser Schiff zurückkehrten, kreuzten wir ein bißchen die
Straßen der Stadt, freuten uns über eine in flottem Stile aus Stein
erbaute höhere technische Schule und über die prächtigen Straßenalleen
aus der vollkronigen nordamerikanischen Pappel („~Bobbulus balsamifera~
mid’n hardden ~B~“ erklärte ein liebenswürdiger Botaniker den
Mitreisenden, und „Ich bin Se nämlich aus Leibz’g“ fügte er als
Entschuldigung für die Orthographie gemütlich bei.)

Punkt 6 Uhr sollten wir abfahren; die Falltreppe war aufgezogen, der
Anker los; der Kapitän ließ das Schiff langsam wenden und die Kapelle
spielte auf Oberdeck einen Abschiedsmarsch. Da kam aber noch ein
verspäteter Nachzügler per Extraboot, dem man warten mußte. „Herr
Kapellmeister, lassen Sie doch spielen: ’s kommt a Vogel geflogen!“
rief’s vom Promenadendeck herauf. Endlich war der Spätling geborgen,
das Schiff gedreht und die zwei Schrauben arbeiteten vorwärts.
Plötzlich wird aber nochmals Halt kommandiert; das Auge des Kapitäns
hatte ein weiteres Hindernis erkannt und zehn Minuten später kam es
auch uns gewöhnlichen Menschenkindern zu Gesicht: eine mit dem Nastuch
winkende Dame, welche von zwei Norwegern mit Aufwand aller Kräfte zum
Schiffe gerudert wurde. Von 400 wütenden Augenpaaren fixiert, stieg die
Dame an Bord; es war eine wegen ihrer Rücksichtslosigkeit berüchtigte
Wienerin, die „Jungfrau mit 16 Koffern und 30 Hüten“, die täglich
zweimal in ganz neuer Toilette bei Tisch erschien und alltäglich --
zur Qual des Stewards -- Tischplatz und Kabine zu wechseln wünschte
und gewöhnlich zu nachtschlafender Zeit um Thee und belegte Brötchen
klingelte. Was den Passagieren aus Zoologie, Botanik und Meereskunde
geläufig war, erhielt die Unglückliche als Titulatur, und man rechnete
aus, daß die dreiviertelstündige Verspätung, welche sie dem Schiffe
verursachte, genau für 300 Mark Mehrverbrauch an Kohlen bedeute.

Nun aber ging’s vorwärts, unausgesetzt nach Norden. Als ich am andern
Morgen um halb 7 das Verdeck betrat, schwammen wir bei herrlichstem
Wetter auf offenem Meere, und das Erste, was ich erblickte, waren zwei
Wale in unmittelbarer Nähe des Schiffes, deren Rücken und die mächtige
Schwanzflosse über Wasser guckten und die nach jeweiligem Tauchen das
bekannte Schauspiel des aufspritzenden Wassersprudels in deutlichster
Weise gewährten.

Um halb 9 Uhr passierten wir den _Polarkreis_ -- mit einem deutlichen
Ruck, wie einige Herren den Grünen weißmachen wollten. Einem naiven
Schiffsjungen führte man den Polarkreis durch einen dem Objektiv eines
Fernrohres vorgespannten Faden in überzeugendster Weise zu Gesichte.
Ein Kanonenschuß gab Kunde von dem wichtigen Moment, den einige
Amerikaner wieder mit Sekt feiern zu müssen glaubten.

Möven und kräftige schwarzweiße Enten belebten das Meer; die letzteren,
sogen. Lummen, tauchen so gewandt, bleiben so lange unter Wasser und
bewegen sich nachher durch Schlagen des Wassers mit den Flügeln, wobei
sie eine deutliche Bahn zurücklassen, so nach Art der fliegenden Fische
vorwärts, daß es einige Zeit dauerte, bis ich sie in ihrer richtigen
Eigenschaft erkannte. Sie sind so dick, daß sie nur bei Windströmungen
weitere Strecken fliegen können.

Da das Wetter tadellos, ist alles an Bord in bester Laune.
Selbstverständlich sieht männiglich nach großen Seetieren aus und der
Ruf „Wale, Wale!“ schreckt auch die behaglich Schlummernden aus ihrer
Ruhe. Alt und jung rennt zur Brüstung, die meisten, um nachher mit dem
erhabenen Bewußtsein sich wieder zu legen, daß irgendwo ein Walfisch in
der Tiefe der Salzflut vorbeigerudert sei.

„Sie Unterländer, kommen Sie doch mal ruff; hier oben ist’s viel
schöner!“ ruft ein gemütlicher Süddeutscher den ein Stockwerk
tiefer Weilenden vom Bootsdeck herab zu. „„Ne, Herr Notarius;
kommen Sie sofort ’runter; wir trinken Cognäkker!““ schallt’s aus
der Tiefe. „Ne, da finden Sie keine Gegenliebe; ich widme mich der
Temperenz!“ Derartige Dialoge sind so die Durchschnittsqualität der
Polarkreis-Konversation an Bord der „Auguste Viktoria“.



~V.~

     Lofoten. -- Mitternachtssonne. -- Sonntag zur See. --
     Walfischdampfer. -- Hammerfest. -- Vogelriff. -- Das Nordkap und
     seine Besteiger.


Gegen Mittag kam die südlichste der _Lofoten_ zu Gesicht -- die
Insel Vaerö. Der Kapitän lenkte von der Kommandobrücke her unsere
Aufmerksamkeit auf die den Fischerbooten oft so gefährliche
Meeresströmung -- Malström -- zwischen Vaerö und der großen Insel
Moskenaesö; die Strömung machte sich sogar dem Steuer unseres
Kolossaldampfers bemerkbar.

Die malerischen, zum Teil noch schneebedeckten Gebirgsinseln der
Lofoten und der Westeraalen ließen wir in mehrstündiger Fahrt rechts
liegen. Das Küstengebirgspanorama wurde nachher von Stunde zu
Stunde interessanter; bald passierten wir in der Nähe vorgelagerte
Inselgruppen mit senkrecht abfallenden Felswänden, bald öffneten sich
tief einschneidende Fjorde und mächtige schneebedeckte Gebirgszüge im
Innern. Von unbeschreiblichem Reize war das Farbenspiel auf Wasser und
Land.

Aber das Beste des Tages kam noch. Heute ging sie zum erstenmal
nicht unter, die liebe Sonne; um Mitternacht stund sie als goldene
Riesenscheibe noch 2° über dem Horizont und spiegelte ihr Bild im
Meere, um sofort wieder den Kreislauf des kommenden Tages anzutreten.
Der erhabene Moment wurde mit Musik und allgemeinem Umzug auf Deck und
von den Amerikanern mit -- Champagner gefeiert.

    Mitternachtsonn auf den Bergen lag,
    Blutrot anzuschauen.
    Es war nicht Nacht, es war nicht Tag,
    Es war ein seltsam Grauen.

sagt Esaias Tegner.

Die Beleuchtungseffekte der um Mitternacht über dem Horizonte stehenden
Sonne sind allerdings ungewohnte; aber das Entzücken vieler Reisenden
über diese Erscheinung beruht, wie mir scheint, doch hauptsächlich
auf einem Kontrastbewußtsein; wüßte man nicht an der Hand der Uhr,
daß die zwölfte Stunde der Nacht da ist, so wäre das Schauspiel von
einem gewöhnlichen Sonnenuntergange in nordischen Landen kaum zu
unterscheiden.

[Illustration: Mitternachtssonne.]

Für uns Reisende brachte die taghelle Nacht den Uebelstand, daß keine
gleichmäßige Trennung von Schlafen und Wachen mehr stattfand. Man
konnte lange sich rechtzeitig zu Bette legen; dutzend Andere zogen vor,
beim Schein der nächtlichen Sonne fröhlich und munter zu bleiben und
tagsüber zu schlafen; die armen Stewards mußten großenteils 24 Stunden
per Tag auf den Beinen sein und die „nachtschlafenden“ Passagiere
fanden auch keine Ruhe.

Am 9. Juli brach ein herrlicher Sonntag an. Um 6 Uhr ertönte vom Deck
der Choral: „Wie schön leucht’ uns der Morgenstern!“ -- Hinauf in
die reine, sonnige Meerluft! Die Kapelle hatte sich unterdessen auf
Vorderdeck neben der Kapitänskajüte aufgestellt. „Lobet den Herrn,
den mächtigen König der Ehren!“ schallte es vom Meer zum Himmel. Da
kein Nebel und keine Wolke den Horizont trübte, ließ der Kapitän unser
Schiff seinen Kurs über Hammerfest nehmen, was bei trübem Wetter
ein Wagnis gewesen wäre. Auf diese Weise wurde uns der Anblick der
nördlichsten Stadt der Erde (70° 40′) zu teil.

Eine Stunde vor erreichtem Ziele holten wir einen Walfischdampfer
ein, der vier mächtige tote Wale nachschleppte. Unser Schiff hielt an
und ließ das Fahrzeug dicht an uns herankommen. Da konnten wir die
interessante Beute nicht nur sehen, sondern auch riechen; denn der
eine der Riesen war schon stark in Verwesung übergegangen und durch
Fäulnisgase zu einer unförmlichen Masse aufgetrieben. Ein zweiter trug
noch die mächtige Harpune im Leib. Auffallend ist die regelmäßige
parallele tiefe Längsfaltenbildung am Bauche des Tieres. Der kleine
schwarze Dampfer, der wohl seit Wochen mit der Unbill des nördlichen
Eismeeres gekämpft hatte, sah sehr mitgenommen aus; die Bemannung
-- ein halbes Dutzend bärtiger Norweger und zwei Jungens -- stak in
Ruß und Fett. Aber als unsere Kapelle ihre Nationalhymne spielte,
da entblößten alle das Haupt und horchten unbeweglich und ergriffen
den geliebten Tönen. Das dreifache Hurrah, das sie mit Schwenken
ihrer geschwärzten Mützen zum Dank in die Luft hinaus schmetterten,
entstammte -- das fühlte man -- der Tiefe ihrer Seele. An einem Seile
wurden den Leuten, die wohl viele Entbehrungen durchgemacht, Brot,
Fleisch und Pomeranzen hinübergeschleudert, und nachdem sämtliche an
unserm Bord befindlichen photographischen Apparate sich des seltsamen
Bildes bemächtigt, fuhr unser Koloß stolz von dannen und hatte den
kleinen tapfern Rivalen bald aus dem Auge verloren.

[Illustration: Walfischdampfer.]

Unmittelbar gegenüber Hammerfest wurde dann ein halbstündiger Halt
gemacht, so daß man das seltene landschaftliche Bild gehörig in sich
aufnehmen konnte. Die Umgebung der Stadt ist trostlos kahl. Kein Baum
wächst da. Vom 18. November bis zum 23. Januar herrscht absolute
Nacht; die Sonne erscheint während dieser Zeit nie und das Licht wird
dann elektrisch produziert. Aber im Sommer ist reges Leben im Hafen,
welcher den Hauptplatz für den Handel nach Rußland bildet. Auch die
Fischerflotten nach dem Eismeer gehen von hier aus, und seit drei
Jahren wird im Juli und August -- sofern das Meer offen -- alle acht
Tage ein Postdampfer nach Nordkap und Spitzbergen geschickt, an welch’
letzterem Platze, in Eisfjord, die betreffende Gesellschaft sogar ein
hölzernes Unterkunftshaus für Jäger und Touristen hat aufstellen lassen.

Die Häuser Hammerfests sind alle aus Holz gebaut und heben sich
gegen das graue Gestein des Gebirges nicht sehr deutlich ab. Immerhin
machen die Kirche und ein auf der Höhe liegendes großes Gasthaus, zu
dem ein Zickzackweg führt, einen freundlichen Eindruck. Eine weithin
sichtbare Granitsäule im Norden der Stadt trägt eine bronzene Erdkugel
und erinnert an die russisch-skandinavische Meridianmessung der
Jahre 1818-1852, welche in einer Ausdehnung von 25° 21′ vom Eismeer
(Hammerfest) bis zur Donau (Ismail) durch Norwegen, Schweden und
Rußland auf Befehl des Königs Oskar ~I.~ und der Kaiser Alexander ~I.~
und Nikolaus ~I.~ in ununterbrochener Arbeit ausgeführt wurde.

Daß Hammerfest auch den Ruf der kinderreichsten Stadt verdient, konnten
wir bald sehen; der ganze Quai stund dicht voll kleiner Norweger und
Norwegerinnen, welche das ferne Schiff anstaunten und die Weisen
unserer Musikkapelle mit Applaus lohnten. Zuerst stieg die norwegische,
dann die russische (Rußlands Grenze ist nicht weit entfernt und ein
Vertreter der Nation offiziell in Hammerfest), dann die deutsche und
endlich die amerikanische Nationalhymne. Lauter als alles aber tönte
das markige Sempacherlied in meinem Herzen.

Unter Hurrah der ganzen Bevölkerung -- die vielen hohen Kinderstimmen
gaben aber entschieden den Ausschlag -- schieden wir von der einsamen
Stätte und wendeten unsern Kiel noch größerer Einöde zu. Die Landschaft
wurde immer dürftiger. Gebirgsstöcke von auffällig regelmäßiger
Pyramidenformation begrenzen den Fjord; eine Felswand zeigt die ganz
überraschenden Züge eines menschlichen Gesichtes: einer riesigen,
fragend und drohend nach dem ungewissen Norden schauenden Sphinx.
Ueber die knapp mit Moos bewachsenen Felsabhänge und über steile
Schneefelder eilten Herden von Rentieren mit der Gewandtheit von Gemsen
und wurden durch das Nebelhorn unseres Schiffes zu raschester Gangart
aufgeschreckt. In der steinigen Einöde sah man zur Seltenheit einmal
die Hütte einer Lappenfamilie. Dann brachte etwa der Ruf „Wale! Wale!“
Abwechslung in die Einförmigkeit; alles stürzte nach der entsprechenden
Schiffsseite, um mit allgemeinem Gelächter der Enttäuschung ein paar
harmlose, in elendem Nachen vorbeirudernde Lappen zu begrüßen.

In dieser Situation gedieh der Kalauer und wuchsen die Vermutungen
über Andrees Schicksal im Quadrate der Annäherung an den Punkt seines
kühnen Aufstieges. „Glauben Sie nicht, daß wir Andree suchen wollen,
Herr Doktor?“ meinte ich zu dem gemütlichen, stets von seiner Gattin
begleiteten Botaniker aus Leipzig. „„Nee, meine Frau leidet es nischt,
daß ich And’re nachlaufe.““

Eine große und interessante Abwechslung brachte die Vorbeifahrt an
dem steilen Vogelriff Svaerholt-Klubben. Dort nisten zu Millionen
Eiderenten, Alken und Möwen, und durch hingeschleuderte Raketen
aufgescheucht schwebten sie als kreischende, mächtige Wolke in die
Luft, wo sie im Glanze der Sonnenstrahlen die Erscheinung eines
dichten Schneegestöbers vortäuschten, oder stürzten sich lärmend in
die mit weißer Brandung aufspritzenden Fluten, um bald wieder zu
ihren häuslichen Pflichten zurückzukehren. Die Felswand ist siebartig
mit Nestern bedeckt. Angelehnte Leitern ermöglichen den herfahrenden
Fischern, einen Teil der Eier wie auch die kostbaren Flaumfedern zu
erbeuten.

Abends gegen halb 9 Uhr stund es vor uns, „der Grenzstein der
Schöpfung“, wie Tacitus es nannte, das nördliche Ende Europas, der
schwarze, unheimliche, zerrissene Koloß des _Nordkaps_. Wir ankerten
in einer Bucht der Ostseite, wo im Sommer ein Fischer in elender
Hütte wohnt und ein wackeliger Landungssteg den Zutritt zum Lande
ermöglicht. Der von dort ausgehende Weg war schon vom Schiff aus zu
erkennen, zuerst als unregelmäßige, steil aufsteigende Linie, dann als
Zickzacklinie über Felsen und Schneefelder, als ob der Blitz die Spuren
gezeichnet hätte.

[Illustration: Das Nordkap.]

Nun ging’s ans Ausbooten. Der Erste, der nach oben wanderte, war
der vielgeplagte Postmeister, der u. a. 4000 -- sage viertausend --
Ansichtspostkarten auf die Spitze des Kaps zu schleppen hatte, um
sie dort abzustempeln. Der arme Mann zeigte mir nachher seine mit
Druckblasen bedeckte rechte Hand. Die Ansichtskartenwut erreicht
überhaupt auf der „Auguste Viktoria“ den höchsten Grad. Vor jeder
Station werden ihrer zu Tausenden gekauft und beschrieben, und die
Gesamtziffer der auf dieser Fahrt versandten Kartengrüße dürfte 20,000
wohl übersteigen. Hinter dem Postmeister kletterten die tapfern
Musikanten, die sogar die große Pauke mit in die Höhe schleppten.
Als wir ans Land fuhren, war der Weg bis oben schon durch wandernde
schwarze Punkte gekennzeichnet, die sich namentlich auf dem Schnee mit
geradezu komischer Deutlichtkeit abhoben, unten sehr dicht, nach oben
zu aber immer dünner gesäet erschienen.

Ich hatte die Fürsorge über fünf Damen übernommen; drei verzichteten
nach einer Viertelstunde, zwei brachten es bis zur Schneegrenze! Dort
kämpfte in mir die Lust, den Spaziergang nach oben fortzusetzen,
mit dem ritterlichen Gefühle der Verantwortlichkeit für meine
Schutzbefohlenen. Das letztere siegte und ich zog -- als schützender
und stützender Bergführer, welche Eigenschaft nicht hinderte, daß ich
einigemal sehr unsanft auf den nassen, steilen Weg zu sitzen kam -- den
Rückzug an. Der Weg war aber auch unter aller Kanone. Ein Seil, das
an den schlimmsten Strecken Stütze gewähren sollte, war so miserabel
befestigt, daß es an den meisten Stellen als loses Tau am Boden lag,
und oben, wo der kritischste Aufstieg begann, hörte es überhaupt auf.

So lagerten wir uns denn, glücklich unten angelangt, auf
moosigem Grunde, freuten uns über die bunte darin wurzelnde Flora
und sahen nicht ohne Behagen den alpenklubbistischen Versuchen
unserer Mitpassagiere zu. Da gab’s zu lachen! Manch’ Einer, der mit
welterobernder Miene an uns vorbeizog und im Sturmschritt die ersten
300 Meter durchschritt, kam eine halbe Stunde später als geknickte
Rose mit demütigster Miene oder auch polternd und fluchend zurück.
Spezielles Vergnügen machte uns ein Hüne von Gestalt, der im sichern
Bewußtsein, den Grenzstein Europas spielend zu ersteigen, wie ein
Sieger an uns vorüberschritt. Aber wie kehrte er über ein Kleines
zurück! Ich habe schon Menschen auf einem und auf zwei Beinen und in
allen möglichen Gangarten marschieren sehen, auch auf allen Vieren;
ich sah die Species ~homo sapiens~ schon hüpfen, tanzen, kriechen
etc. -- aber diese hier vor Augen geführte Gangart war mir völlig
neu. Im Gesichte den Ausdruck von Angst und Entsetzen, den Körper
in Rückenlage, als ob er sich gegen einen aus der Luft anstürmenden
Drachen kampfbereit stellen wollte, rutschte der Unglückliche auf drei
Extremitäten Zoll um Zoll vorwärts, während die vierte krampfhaft
das am morastigen Boden liegende, schlaffe Seil hielt, von dem alles
eher als irgend ein Halt zu erwarten war. So kroch die Jammergestalt
zu Thal, die Rockschöße im Schlamme nachschleppend, und mag wohl
Gott gedankt haben, als sie wieder horizontalen Boden unter den
Füßen fühlte. -- Wenig bessern Erfolg zeigte ein sehr trinkbarer und
korpulenter Weinbaron, der sich die Seitentaschen mit Rheinweinflaschen
vollgepfropft hatte. Von fünf zu fünf Minuten schuf er eine Labestation
und ehe die Mitte des Aufstiegs erreicht war, ging der Vorrat an
„Stärkungsmaterial“ und der Thatendrang zu Ende; schweißtriefend und
pustend kehrte Sir Falstaff nach dem sichern Ufer zurück. Als einer der
letzten kam der Schiffsdoktor und machte meine Prophezeiung, er werde
die obern Stufen des Parnassos nicht erreichen, glänzend zu Schanden.
-- Von den 360 Passagieren gelangten kaum 100 bis zur Spitze des Kaps.
Dort wurde in einer Hütte Champagner ausgeschenkt. Der Wirt soll an dem
Abend 2000 Kronen eingenommen haben.

Einen ergreifenden Eindruck auf die oben Versammelten machte es, als
die Musikanten im Glanze der zum Horizonte sich senkenden Sonne das
Kreutzersche: „Das ist der Tag des Herrn“ intonierten. Ein kleines
Intermezzo schuf die übermütige Champagnerlaune eines Amerikaners,
der auf der zu Ehren seines Besuches von Kaiser Wilhelm errichteten
Steinpyramide eine leere Champagnerflasche mit der amerikanischen
Flagge aufpflanzte. Kurz besonnen fegte eine kleine deutsche Dame
das taktlose Zeug herunter; der Uebelthäter aber machte seine
Unbesonnenheit dadurch gut, daß er -- von ältern Herren aufgefordert --
der Germanin ordentlich Abbitte leistete.

Um 12 Uhr waren wir an Bord und genossen das Schauspiel der
Mitternachtssonne nochmals in glänzendster Weise. Drohend stieg vor
uns das grausige schwarze Gestein des Nordkaps in die Höhe, am Fuße in
glänzend grüne Vegetation gebettet. Das Meer war wie wogende Tinte und
der Reflex der Sonne in der bewegten Flut gewährte ein zauberhaftes
Bild. Der lichte Horizont grenzte mit eigentümlicher Schärfe gegen das
schwarze Meer ab. Bis gegen 2 Uhr sah man sie -- die das Kap besiegt
-- die Zickzackwege herunterkrabbeln; zwei Matrosen begingen sogar
die Tollkühnheit, über die steilen Schneeflächen mit Blitzesschnelle
herunterzurutschen.

Noch näherte sich ein kleines Fischerboot unserm Schiffe; zwei frisch
gefangene Halibutten, von welchen jeder 100 Kilo wog, wurden für 80
Kronen als Nahrungsmittel für uns erstanden. Um 2 Uhr ertönten die
letzten Weisen unserer unermüdlichen Schiffsmusik; dann wurde der Anker
gelichtet, vorwärts ging’s -- im taghellen Lichte der Nachtsonne -- dem
Eismeere zu.



~VI.~

     Bäreninsel. -- Eisberge. -- Fahrt durch das nördliche Eismeer. --
     Gang durch das Schiff. -- Passagiere. -- Tageseinteilung.


            Offene See zwischen Digermulen und Aalesund, 18. Juli 1899.

Unser Kurs geht wieder nach Süden. _Spitzbergen_ liegt hinter uns.
Wir haben allerdings die Tücke des nördlichen Eismeeres erfahren
müssen, indem ein plötzlich auftretender dichter Nebel, der die
Fahrt in jenen Gewässern zu einer äußerst gefährlichen gestaltet
hätte, uns zu früherer Rückkehr zwang, als beabsichtigt war; aber ein
hochinteressantes Stück des merkwürdigen Länder- und Meeresstriches
haben wir doch gesehen.

Im Sonnenglanze und unter den Klängen unserer Schiffskapelle setzte
sich die „Auguste Viktoria“ um 2 Uhr am Morgen des 10. Juli vom Nordkap
weg in Bewegung; ihr nächstes Ziel war die Bäreninsel. Erst gegen 4
Uhr gab’s Ruhe an Bord; so lange ließen mich das vom Promenadendeck
her schallende frohe Lachen und die auf unsern Köpfen promenierenden
Nachtwandler und -Schwärmer nicht einschlafen. Der folgende Tag
machte ein düsteres Gesicht: bleigrau der Himmel und grau, ohne
Glanz, das Meer; dazu eine Temperatur von 5° ~C~. Fröstelnd und in
alle verfügbaren Mäntel und Teppiche gehüllt saß man auf Deck oder in
geheizten Gesellschaftsräumen. Nachmittags blies ein eisiger Wind;
die Luftwärme sank auf 2°; jetzt erst kam uns die Anwesenheit im
nördlichen Eismeere zum Bewußtsein. Seevögel und zur Seltenheit der
mächtige Rücken eines Wales brachten etwas Leben in die sonst trostlose
Meereinsamkeit; einmal glitt auch eine Gruppe von sechs solcher Kolosse
an uns vorüber -- es waren wohlgezählt ihrer sechs --, aber als ich
nach 10 Minuten auf die andere Bordseite kam, hörte ich schon von
zwölfen erzählen und bei der Tafel sprach man manchenorts von der
Walfischherde von „mindestens zwanzig Stück“, während ein jugendlicher
Nimrod im Rauchzimmer nachher „gegen hundert“ beisammen gesehen haben
wollte.

Gegen 5 Uhr kam die Bäreninsel in Sicht, ausnahmsweise einmal
nebelfrei, aber von dichtem Gewölk überlagert. Dieses unter 74° 30′
n. Br. liegende Eiland wurde 1596 entdeckt und nach einem daselbst
erlegten über 12 Fuß langen Eisbären so benannt. Jetzt paßt dieser Name
nicht mehr, da kein einziges jener wilden Tiere dort mehr zu finden
ist. Das unbewohnbare, 68 Quadratkilometer große Gebirgsland gehört
ausschließlich der Vogel- und Fischwelt und den Walrossen, von welchen
Ungeheuern einstens von einer englischen Expedition unter Bennet innert
sieben Stunden nahezu 1000 Stück erlegt worden sein sollen. Die Insel
besteht aus einem 50-100 Meter hohen felsigen Plateau, über welche sich
am südlichen Ende der 400 Meter hohe Elendsberg erhebt, so benannt,
weil von seinem Gipfel herab ein Schiffer die Zerstörung des ihn
abholenden Bootes mitansehen mußte. Daß auch dieses vergletscherte Land
einst bessere Zeiten gesehen, beweisen die Steinkohlenlager, welche
in mächtigen Schichten zwischen Thonschiefer, Sand- und Kalkstein
zu finden sind und die wohl hauptsächlich Deutschland den Besitz
der Insel als wünschenswert erscheinen ließen. Bei der Annäherung
entdeckten wir starke Treibeismassen, die auffallend -- schon auf große
Distanz -- gegen die Meeresfläche abstachen, und einen prachtvollen
Eisberg von Pyramidenform. Sein Ursprung von einem der grandiosen
Gletscher Spitzbergens war schon aus seiner durchsichtig blaugrünen
Farbe und seiner absoluten Schneefreiheit ersichtlich. Wenn man sich
vergegenwärtigte, daß das, was man über dem Wasser schwimmen sah,
nur ⅛ der Größe des Kolosses ausmachte, so erhielt man Respekt vor
diesem schwimmenden Riesen und vermied es gerne, in seine unmittelbare
Nähe zu kommen. Beim Drehen des Schiffes zeigte der Eisberg die ganz
unverkennbare Form eines schwimmenden -- Kameles, was von uns als zarte
Anspielung aufgefaßt wurde auf uns Passagiere, die wir, wie dieser
Wüstenbewohner, den warmen Süden verlassen hatten, um im unbehaglichen
Norden zu frieren. Walrosse, welche einige Beobachter am Fuße des
Eisberges zu sehen versicherten, konnte ich mit unbewaffnetem Auge
nicht als solche qualifizieren; wir wollen hoffen, daß es solche
gewesen sind, sonst hätten wir auf der ganzen Reise keine andern
als bis auf die glotzäugige Fratze im Wasser verborgene zu Gesichte
bekommen. Ein zweiter Eisberg war dicht mit Vögeln besetzt, die beim
Ertönen unserer Dampfpfeife mit Gekreisch in die Luft flogen.

Als wir uns dem nordwestlichen Ende der Insel näherten, zerriß
plötzlich die Wolkendecke und in voller Schönheit erglänzten die
sonnbestrahlten vergletscherten Flächen und Abbrüche des Hochplateaus.
Auftauchende Masten erwiesen sich als einem deutschen Schiffe
angehörig, dessen Flaggengruß von uns erwidert wurde.

Bald hatten wir die phantastischen Formen der felsigen Insel mit den
zahllosen durch das Meer benagten Klippen aus dem Auge verloren und
uns empfing wieder die trostlose Einöde des bewölkten Eismeeres. Diese
Situation, bei der doch weiter nichts zu sehen ist, benütze ich, um
dich, lieber Leser, zu einem Gang durch das Schiff einzuladen, bei
welcher Gelegenheit du auch einige der Mitreisenden kennen lernen
sollst.

Beginnen wir in der Morgenfrühe in meiner Klause, der Kabine oder
Schiffskammer, wie das Ding seit der deutschen Sprachreinigung genannt
wird. So früh als möglich, meist aber erst nach 6 Uhr, schwinge ich
mich, eine kleine akrobatische Leistung, aus der Apfelhurde, hier
Bett genannt, und erfülle die Pflichten eines zivilisierten Menschen
zur Erzielung einer gewissen Salonfähigkeit. Der Begriff ist Gottlob
dehnbar; ich lebe nach dem landläufigen vaterländischen und kümmere
mich wenig um Gehrock und Lackschuhe, wie sie unter den mitreisenden
„Touristen“ der „Auguste Viktoria“ allerdings überraschend zahlreich
vertreten sind; ja sogar Frack und Cylinder und weiße Weste fehlen
nicht, für den Aufenthalt auf Spitzbergen besonders nützliche
Gegenstände. Nachdem ich mich durch Poltern an der Wand über den Grad
der kulturellen Entwicklung meiner lieben Nachbarinnen informiert,
lass’ uns auf Deck steigen. Der Weg führt eine Treppe in die Höhe,
dann zwischen den wuchtig arbeitenden Maschinen hindurch in das
Gebiet der Oberdeckkabinen; dort liegen auch Bäckerei, Konditorei und
Küchenlokalitäten; durch die geöffneten Thüren sehen wir Köche und
Bäcker in voller Arbeit; in mächtigen Kesseln wird Fleisch gesotten
-- die Passagiere wollen ja täglich zweimal frische Bouillon haben
--; auch Nase und Ohr bekommen ihr Teil; aus der Konditorei strömt
Vanilleduft, und in der Hauptküche keift der Oberkoch mit einer
durchdringenden, so phänomenalen Tenorstimme, daß ich Lust hätte, ihn
für den O.-G.-V.[2] zu werben, wobei allerdings seine kulinarischen
Fähigkeiten Einbuße erleiden müßten.

Eine weitere Treppe führt uns auf den Mittelpunkt des an Bord
pulsierenden Lebens, auf das Promenadendeck. Die vornehme Welt schläft
noch und unbenützt stehen vorläufig die 400 eleganten, mit Plaids und
Büchern belegten Liegestühle in langen Reihen neben einander, um im
Laufe des Tages nach allen möglichen Plätzen des Schiffes geschleppt
zu werden. Wie schön ist doch die Welt vom Stand- oder vielmehr
Liegepunkte einer solchen Lagerstätte aus! Sind Beine, Arme, Kopf und
Augen in der zweckmäßigsten Position, um ja nichts Interessantes sich
entgehen zu lassen, so ist man nach wenig Minuten eingeschlafen und
läßt schnarchend die malerischsten Fjords und die größten Walfische an
sich vorüberziehen.

Während Schiffsjungen und Deckstewards das Deck durch Wasserströme und
Putzlappen unsicher machen, steigen wir noch eine Treppe höher, auf
Bootsdeck. Von dort herab beherrscht der Blick die ganze Umgebung des
Schiffes; dort steht auch die elegante Kapitänskajüte und vor ihr das
Navigationszimmer, mit Karten und wissenschaftlichen Apparaten, über
welchem die Kommandobrücke aufgebaut ist. Unablässig promeniert dort
oben, mit bewaffnetem Auge den Horizont musternd, einer der beiden
Lotsen; im Mastkorb ist außerdem ein ausschauender Matrose und bei
schlechter See oder trübem Wetter noch ein zweiter an der vordersten
Spitze des Schiffes.

Hier, auf dem Vorderteile des Bootsdeckes, um Kapitänkabine und
Kommandobrücke, ist der Lieblingsplatz derjenigen, welche gern viel
sehen und, ungestört vom Menschengetriebe, die Naturwunder genießen
möchten und welche es nicht fürchten, wenn ihnen ein bißchen Seewind
um die Ohren pfeift. Zu diesen gehört das kleine Trüpplein Schweizer
an Bord der „Auguste Viktoria“. Nur Küchendunst und die Donnerwetter
des Tenoristen am Bratspieße stören gelegentlich den Frieden dieses
Hochplateaus. Dafür kann man sich den Spaß machen, durch die offenen
Lücken aus der Vogelperspektive das Leben und Treiben der Köche zu
beobachten und vor allem ihre fabelhafte Gewandtheit im Tranchieren von
Fleisch und Geflügel bewundern.

Unterdessen fängt das Promenadendeck an sich zu beleben. Ein’s nach
dem andern erscheint; man erzählt sich die Erlebnisse der vergangenen
Nacht; es gibt Leute, die immer gerade dann etwas ganz besonders
Interessantes und Merkwürdiges gesehen haben wollen, wenn andere zu
Bett lagen. Darüber allmorgendlich schmerzliches Lamento: „Sieh’ste
Aujust, ich sachte ja doch, wir wollten noch en bischen auf Deck
bleiben; da haben wir nun wieder die janze schöne Jeschichte verpaßt!“

Allem Ärger und Geplauder macht das um 8 Uhr ertönende Trompetensignal
ein Ende. Es ist die deutsche Infanterie-Tagwacht. Der beauftragte
Bläser rennt wie besessen im ganzen Schiff herum, bis die Schläfer
wach und die Hungrigen am Frühstückstisch versammelt sind. Gespeist
wird in drei großen Sälen, von welchen die zwei übereinanderliegenden
auf Vorderdeck mit fürstlichem Luxus ausgerüstet sind, während der
Speisesaal auf Hinterdeck -- bei den Fahrten über den atlantischen
Ozean den Passagieren zweiter Kajüte dienend -- etwas weniger
prunkvoll, aber sehr behaglich aussieht. Uns führte das Los in den
sogenannten weißen Saal auf Vorderdeck; dort ist man zu je zehn
Personen auf bequemen Drehfauteuils an einem Tische gruppiert, und
selbstverständlich waren wir anläßlich der ersten Mahlzeit begierig
zu wissen, mit welchen Menschen uns das Schicksal zusammengewürfelt
hätte. Unterdessen aber, im Laufe der seither verflossenen Wochen,
haben wir uns gegenseitig kennen gelernt und ich habe die Ehre dir
vorzustellen: Herrn und Frau ~Dr.~ K. aus San Remo, eigentlich aus
Leipzig, ein unter seinen Fachgenossen sehr bekannter Botaniker, wohl
der meistgereiste Mann an Bord; er hat zweimal die Erde umkreist, war
jahrelang in Südamerika, kennt Afrika vom Süden bis zum Norden und
ist in Asien unheimlich zu Hause; nur Australien blieb ihm bis heute
fremd; aber „das machen wir in zwei Jahren“ versichert der reiselustige
Pflanzenkundige, der nebenbei die fabelhafte Kunst versteht, ohne
Gepäck zu reisen und doch alles, dessen man etwa bedürftig sein
könnte, vom Thermometer bis zur Konvexlinse, aus seinen Rocktaschen
hervorzuzaubern. Ein unverwüstlicher Humor und ein köstlicher Appetit
machen dieses lebendige botanische Konversationslexikon zu einem sehr
angenehmen Tischgesellschafter; wir sind Konkurrenten im Vertilgen von
Butterbrötchen und verachten manches Feine, was die Speisekarte bringt,
so vor allem die ewigen gebratenen Puter oder Gebrüder Puter, wie wir
die Firma nennen, weil sie stets als „Gebr. Puter“ auf dem Menu stehen.
Unsere weiteren Tischgenossen sind zwei feine und liebenswürdige
Familien aus Tönning (Schleswig-Holstein): ein königlicher Landrat
mit seiner Frau, „aus Magdeburg an die Waterkant versetzt“, und ein
holstein’scher Gutsbesitzer, Nimrod in allen Fibern, dem es gehörig in
den Fingern juckte, als er auf Spitzbergen den Fürsten Metternich und
Gefolge zur Jagd ausziehen sah und der, Besucher und Kenner unseres
lieben Vaterlandes, mit seiner feingebildeten, vortrefflichen Frau
uns Schweizern gleich zu Anfang mit kräftigen Sympathien begegnete.
Vergessen darf ich nicht eine ihrer Obhut unterstellte junge Dame,
welche, stets Sonnenschein auf dem Gesichte, durch ihr frohes Lachen
und ihre natürliche Fröhlichkeit wesentlich zur Erhöhung der richtigen
Tafelstimmung beiträgt.

[Illustration: Deckszene.]

Zum Frühstück liefert die Küche -- außer Thee, Kaffee und Chokolade
mit Zubehör, täglich frischen Brötchen und Hörnchen etc. -- noch
alles Mögliche an kalten und warmen Fleisch-, Mehl- und Eierspeisen.
Der Gewohnheit treu begnügen wir uns mit dem „Ordinäri“: Kaffee und
Butterbrot, freuen uns, des Staunens voll, über den riesigen Appetit
anderer, speziell der Amerikaner, die des Morgens schon Unglaubliches
leisten, und eilen sobald als möglich, vielleicht noch mit einigen
Orangen oder andern Früchten der Tafel ausgerüstet, hinaus auf Deck, an
die frische Luft. Dort, auf Promenadendeck, ist’s unterdessen lebhafter
geworden; viele der Liegestühle sind in Beschlag genommen, und es wäre
gute Gelegenheit, physiognomische Charakter- und, wer dazu Lust hat,
auch Toilettenstudien zu machen; es ist namentlich die amerikanische
Nation, welche die vielgestaltigsten Typen jedes Alters, vom Kinde bis
zum Greise, liefert und aus ihren riesigen Koffern das Unglaubliche an
Prunkgewändern hervorholt. Der Finanzlöwe an Bord ist der Amerikaner
Wanamaker (Wonnemacher heißen wir ihn); er hat für sich und seine
Familienangehörigen die besten Luxuskammern gemietet und soll die
Kleinigkeit von 175 Millionen besitzen. Jener elegante Herr dort, mit
schwarz und graukarierter Reisemütze, das pomadisierte Haar sorgfältig
gescheitelt, das tropengebräunte, eigentümlich scharfe Gesicht
glatt rasiert wie ein englischer Lord, mit elegant geschnittenem
dunkelfarbigem Rock, enganliegender schwarzer Hose und Lackstiefeln,
den ich jeden Morgen in aller Frühe bei „Wonnemachers“ heraustreten
sah, mußte der unheimliche Millionär sein; ich betrachtete ihn volle
acht Tage als solchen und machte ihn im Stillen verantwortlich für
einige Prozent des sozialen Mißverhältnisses auf unserm Planeten, bis
ich eines Morgens zu meinem Erstaunen den eleganten Erzmillionär --
durch eine halbgeöffnete Kabinenthüre beim Stiefelwichsen beschäftigt
sah, was meine Achtung vor ihm keineswegs verminderte, aber immerhin
bei weiteren Begegnungen meinen Gedanken eine andere Richtung gab. Ich
hatte eben den Diener für den Herrn angesehen; aber -- beim Zeus! --
Hosen- und Gesichtsschnitt waren auch darnach und rechtfertigten den
Irrtum.

Dort in jener Ecke wird schweizerdeutsch gesprochen; da lass’ uns
hingehen; es sind drei Herren aus Basel: der alte Junggeselle ~Dr.
jur.~ L., der seit Jahren die Welt nach allen Richtungen der Windrose
bereist, kein Schnelläufer zwar, aber ein sehr gewester Mann und
gemütlicher Gesellschafter; an seiner Seite der zur Spezies der
Rentiere übergetretene ehemalige Kaufmann R. (von uns in naheliegender
Verballhornisierung seines Namens Respini genannt), stets tadellos
vom Scheitel bis zur Sohle, und endlich -- die Gelehrsamkeit zum
Schlusse -- der wohlbekannte Professor der Theologie, Herr Pfarrer
B., ein flotter Läufer, der in nachtschlafender Zeit schon von Bord
geht, um Land und Leute zu studieren, nebenbei ein geistreicher
und humorvoller Plauderer. Die elegante Römerin, welche sich in
unverfälschtem Züridütsch mit ihnen unterhält, ist die Gattin eines
bedeutenden italienischen Ingenieurs, eine Frau, welche in der
ewigen Stadt als Initiantin und unermüdliche Arbeiterin in allen
menschenfreundlichen Bestrebungen eine hervorragende Rolle spielt. Sie,
die gleich gewandt in allen modernen Sprachen, doch mit Vorliebe ihre
Muttersprache spricht, rechnen wir auch zu den Unsrigen, wie auch ihren
liebenswürdigen Mann, den Waldenser und alten Zürcher-Polytechniker,
dessen Ohr unsere heimatlichen Laute sehr gut versteht. Es ist eine
vornehme Erscheinung, Voll Geist und Gemüt und behaglich prickelndem
Witze. „Das Schweizerdeutsch ist doch gewiß eine sehr schwere Sprache,“
wandte sich kürzlich ein Deutscher an ihn. „„Man sollte es kaum
glauben; meine Frau spricht es nun seit 1½ Stunden ununterbrochen,““
meinte der mit Ungeduld dem Ende der vaterländischen Konversation
seiner Frau mit meiner Schwester entgegensehende Gatte.

Weiter auf Deck! Da liegen sie schon in allen möglichen Positionen
auf ihren Rohrstühlen, die Einen lesend, die Andern plaudernd und Ulk
treibend, Einige bereits wieder in süßen Schlaf versunken. Du wirst mir
zugeben, daß Gott Morpheus nicht immer die Züge verklärt; jedenfalls
bin ich überzeugt, daß jener sonst so martialisch aussehende und
gewöhnlich wie ein junger Kriegsgott über Deck steuernde Herr mit dem
jetzt herabhängenden Unterkiefer und den entsetzlich nichtssagenden
Gesichtszügen sich nicht als „schlafender Krieger“ möchte porträtieren
lassen.

Von „Hoheiten“ sind an Bord: außer einigen deutschen Baronen ein
italienischer Fürst mit seinem Leibarzt; dann der preußische Gesandte
und bevollmächtigte Minister in Hamburg, Graf Metternich, dem der
Damensalon der zweiten Kajüte als Wohn- und Schlafraum eingerichtet
wurde und der immer allein speist, ein vornehm sich abschließender,
aber in seiner äußern Erscheinung sehr einfacher Herr! -- Von den
übrigen Sterblichen stelle ich dir als freundnachbarlich Gesinnte noch
vor ein prächtiges junges Ehepaar aus Konstanz, das Bild von Kraft und
Gesundheit und frohem Lebensmut, das überall tapfer mitmacht, Nordkap
und andere Hindernisse spielend besiegte und photographisch fixiert,
was immer zu haben ist.

Der Gewalthaufen der Reisenden gehört Amerika und Deutschland;
England ist gar nicht vertreten. Dagegen hört man einigenorts die
gemütliche Wiener Sprache; u. a. ist anwesend Baron von Suttner (Onkel
der Friedensfürstin) mit einer Tochter, der schon vor 45 Jahren mit
seinem Erzieher ganz Norwegen bereist hat und ein damals angefertigtes
Skizzenbuch zur Vergleichung mit der Gegenwart bei sich trägt -- ein
äußerst jovialer alter Herr und köstlicher Erzähler, bei dem allerdings
das jetzige Norwegen gegenüber dem der guten alten Zeit bös wegkommt.
„Früher verstanden die Leute wenigstens norwegisch; jetzt aber, seit so
viel Englisches im Land ist, verstehen sie gar nichts mehr und glotzen
Einen nur so an, wenn man in ihrer Muttersprache zu ihnen spricht.“

Vom langen Deckspaziergang ermüdet, und um angesichts des vielen
Absurden und Unglaublichen, was die menschliche Kreatur zur Schau
trägt, nicht ein loses M--und zu bekommen, lade ich dich zum Besuche
der Gesellschaftsräume unseres Schiffes ein. Da thront über den
Speisesälen erster Klasse ein Schreibesalon in goldüberladenem
Roccocostil, Wände und Plafond künstlerisch bemalt, und in Verbindung
damit eine wohlgeordnete Bibliothek, jede Ecke, wie überhaupt das ganze
Schiff, vornehm elektrisch beleuchtet. Ein Druck auf den elektrischen
Knopf und es kommt angesaust der Library-Steward und präsentiert dir,
was du aus dem aufliegenden Bücherkataloge ausgewählt hast. Auch alle
Schreibrequisiten, vor allem hochelegantes Briefpapier und Enveloppen,
stehen zu freier Verfügung und werden in unglaublicher Quantität, in
tausenden von Bogen, beansprucht, großenteils auch verschleudert.

Da die Tische alle von schreibenden und whistspielenden Ladies
besetzt sind, wandern wir weiter gegen die Mitte des Schiffes; dort
liegt der Konversations- und Musiksalon, in seiner Ausstattung eine
Sehenswürdigkeit für sich; in der Mitte ein herrlicher Flügel von
Steinweg, extra für die „Auguste Viktoria“ gebaut und dem Stil des
Raumes angepaßt. Zehn Schritte weiter betreten wir das Eldorado des
Mannes, den Bier- und Rauchsalon ~I.~ Klasse, ein Wunder der Holzarbeit
und Malerei, durch vier elektromotorische Ventilatoren gelüftet.
Belegte Brötchen aller Art, vom Caviar bis zum geräucherten Lachs,
liegen ~à discrétion~ bereit, und frisches Münchner, Pilsener und
Lagerbier vom Faß ist jederzeit zu haben und wird sowohl zur Bekämpfung
der Hitze wie zur Überwindung der Kälte gehörig genossen. Die Frage
nach „frischem Anstich“ wird von dem Biersteward als persönliche
Beleidigung aufgefaßt: „Was glob’n Sie denn! Wo’s Tag und Nacht so
läuft wie bei uns, da soll’s ein lackes Bier geben?“

Von hier aus, in bequemem Rauchstuhl ausgestreckt, oder aber, wenn
du es vorziehst, auf offenem Deck genießen wir das von 10-11 Uhr
stattfindende Frühkonzert unserer Schiffskapelle. Ob’s windet und
bläst, ob’s schwankt und rollt -- die Kapelle thut ihre Pflicht; es
soll sogar einmal vorgekommen sein, daß die beiden Clarinettisten
abwechslungsweise je einige Takte ihre Stimme spielten und -- über Bord
seekrank waren, ohne je das Instrument aus der Hand zu legen. _Allers_,
der Humorist, hat die Szene illustriert.

Um 11 Uhr ist große Prozession zu den bouillonspendenden Deckstewards;
wer zu bequem ist, sich die Kraftbrühe selbst zu holen, dem wird
sie auf einen Wink zum Liegesessel gebracht; der Zustand des
Schlaraffenlandes, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund
fliegen, ist hier also ziemlich erreicht. Mit Erstaunen sehe ich
einzelne Menschen von einer Mahlzeit zur andern laufen, immer
hungrig und verdauungsfähig; kein Gericht überspringen sie, und wo
allenfalls im Tage eine kleine Eßpause eintritt, füllen sie sie beim
Bierglase mit Knuspern aus. Ich persönlich spüre gar nichts von
diesem appetiterregenden Effekte der Meerluft, und es gibt kaum eine
Gelegenheit, wo ich mich nicht von diesen Fleischtöpfen der „Auguste
Viktoria“ zu der heimatlichen einfachen Küche zurücksehne.

Kaum ist der Bouillonspaziergang zu Ende, so tutet wieder der
Trompeter von Eß-lingen, diesmal das bekannte Motiv aus Fidelio.
„Meine Herren, es hat zum erstenmal geblasen“, ruft der Biersteward
mit Stentorstimme in die lärmenden Tafelrunden. Ist das zweite Signal
ertönt, so tritt Bewegung in die zu festen Gruppen kristallisierten auf
und unter Deck. Jedes strebt seinem Speisesalon zu; der Tischsteward
dreht deinen Stuhl, so daß Ew. Hoheit nur eine Sitzbewegung
auszuführen brauchen, um ohne irgendwelche Mitbethätigung der Hände
ernährungsbereit vor dem Teller zu thronen. Ist die Qual dieses zweiten
Frühstücks vorüber, so tragen wir unsere durch den Konversationslärm
geschädigten Ohren gerne wieder an die frische Luft, wo schwarzer
Kaffee serviert wird und woselbst bei einem Deckspaziergang die erste
Tagescigarre vortrefflich schmeckt.

Die Nachmittagsstunden werden verschieden ausgefüllt; Amerika treibt
gerne allerhand Kurzweil mit Deckspielen, z. B. Ringwerfen und
Plattenschieben; Deutschland spielt Skat, liest und schreibt oder
politisiert, kalauert auch gruppenweise; denn bald explodiert’s
da, bald dort mit unbändigem Gelächter, das auch Unbeteiligte mit
fortreißt. Allerorts aber wird wieder fleißig geschnarcht und
geschlafen, und manch Einer liegt, dem Irdischen entrückt, auf der
Chaise-longue, die Quelle der Bildung aber, aus welcher er schöpfen
wollte, das Buch, nebenan am Boden, oder dem zufrieden und gesättigt
lächelnden Munde, der eben versicherte, nachmittags nie zu schlafen,
entfällt die noch glimmende Cigarre, so daß der Entseelte erschreckt
zusammenfährt und zu allererst sich umsieht, ob er wenigstens von
niemanden beobachtet werde. „Jetzt hatten Sie aber ein Auge voll
geschlafen, Herr X.!“ „„Was fällt Ihnen ein, Sie Jeheimspitzel! Sehen
Sie denn nicht, daß ich mir eben was überlegte? Aber natürlich von so
’ne Jeistesarbeit haben Sie keene blasse Ahnung.““

Wem’s um ungestörte Arbeit oder Lektüre zu thun ist, der findet ganz
oben, auf Bootsdeck, wohl ein verborgenes Plätzchen im Schutz und
Schatten eines der vielen Rettungsboote; dort hat man den weitesten
Ausblick aufs Meer und sieht auch im internen Schiffsleben allerlei
ergötzliche Szenen. Zum Malen deutlich bleibt mir u. a. ein kleines
Genrebild in Erinnerung. Zwischen zwei Booten geschützt sitzt bequem
auf ihrem Rohrsessel zurückgelehnt die kleine Gouvernante von zwei
amerikanischen Jungen und liest ihren Schutzbefohlenen vor. Der größere
der Jungens liegt, das Kinn auf beide Hände gestützt und durch die
vorgelesene Erzählung vollständig gefangen, auf der Segeltuchblahe
des einen hochgelagerten Bootes und sieht unverwandt hinunter auf
die Leserin; der andere aber, ein kleiner Schlingel, der auch die
Pflicht hätte, zuzuhorchen, treibt hinter dem Rücken der ahnungslosen
kleinen Erzieherin allerlei Unfug und sucht vor allem durch Grimassen
und Gesten und Rupfen die Aufmerksamkeit seines Kameraden auf sich
abzulenken.

[Illustration: Deckszene.]

Wo man steht und geht hat man Gelegenheit, die freundliche
Zuvorkommenheit aller Schiffsangestellten -- vom Kapitän bis zum
Schiffsjungen -- zu erfahren. Nur der Zahlmeister macht gelegentlich
eine Ausnahme, je nach dem Goldgehalte der Passagiere; das liegt eben
wohl in seinem Berufe.

Um 7 Uhr ist wieder große Fütterung, an welcher wir Eß-kimos (der
sächsische Botaniker belohnt diesen Kalauer mit einem Pfennig)
unter den Klängen der Tafelmusik nochmals mindestens eine Stunde
uns beschäftigen. Die jeden Tag originellen und dem jeweiligen
Aufenthaltsorte angepaßten Menus sind künstlerische Leistungen des
Farbendrucks, welche in Hamburg extra für diese Fahrt angefertigt
wurden. Eine eigene Druckerei an Bord besorgt alltäglich das Weitere,
auch die Herstellung der Konzertprogramme etc.

Um halb 9 Uhr ist auch die zweite Tortur des Tages, das Diner,
glücklich vorüber, und wir können als freie Bürger uns wieder auf Deck
tummeln und die Schönheiten der taghellen nordischen Nacht genießen. 10
bis 12 Uhr ist nochmals Konzert für die Bier- und Musikbedürftigen, 12
Uhr sogenannte Polizeistunde, aber stets ohne Erfolg. Sind wir endlich
in unsere Koje gekrochen und haben uns nach Abdrehen der elektrischen
Glühflamme schlafgerecht gelagert, so schwinden unter dem einförmigen
Pulsschlag der Maschine bald unsere Sinne, und in unlogischer
Verwirrung umgaukeln den Träumenden die Bilder des vergangenen Tages --
meist auf heimatlichen Boden verpflanzt.

Alles in allem, lieber Leser, ist unser Schiff, wie du siehst, eine
kleine abgeschlossene Welt für sich, in welcher die Menschen (abgesehen
von dem Zwange der gemeinschaftlichen „frugalen“ Abfütterungen)
nach ihrer Individualität leben, arbeiten und genießen, Bier oder
Wasser trinken, nachts schlafen oder schwärmen, als Einsiedler oder
als „Gesellschaftstier“ die Tage vollbringen, mit vollen Zügen die
Naturwunder in sich aufnehmen oder aber sich langweilen. Daß einige
Damen beim Passieren der herrlichsten Szenerien, wo aller Andern
Auge mit Entzücken auf Gottes schöner Welt ruht, derselben blasiert
den Rücken kehren und ihre Aufmerksamkeit auf den Stickrahmen
konzentrieren, habe ich mit heimlichem Ärger hier oft gesehen. Zu Hause
hat ihr Stickrahmen wohl gute Ruhe.

Nun aber weiter nach Spitzbergen!

[2] Oratorien-Gesangverein Frauenfeld -- eine ausschließlich der Pflege
ernster Musik lebende Vereinigung.



~VII.~

     Spitzbergen. -- Gletscher- und Eiszeit. -- Einfahrt in den
     Eisfjord. -- Ankunft in Adventbay. -- Erster Besuch der Küste.


Gegen Mittag des 11. Juli kam Land in Sicht, und um 1 Uhr waren
wir der Küste so nahe, daß Einzelheiten deutlich unterschieden
werden konnten. Zwischen den mächtigen, zum Teil schneebedeckten,
oft aber als dunkle Felswände jäh abstürzenden Pyramiden erschienen
großartige Gletscher, als nach unten breiter werdende Eisströme ins
Meer sich ergießend. Die bläulich schimmernden Abbruchflächen werden
direkt von der dunklen Meeresflut bespült. Unter dem fürchterlichen
Drucke, welcher die gletscherbelasteten Felsgebirge zu glatten Mulden
ausschleift, drängen diese Eiswelten dem Meere zu und brechen ab,
sobald die stützende Unterlage fehlt, um als Eisberge dem Polarstrome
folgend Amerika zuzusteuern und allmählich unter der auflösenden Kraft
der Sonne zu verschwinden. Es ist etwas Erhabenes, diesen Prozeß, der
sich ungezählte Jahrtausende zurück u. a. auch von den Alpen gegen
die deutschen Ebenen zu abspielte und dessen Spuren und Wegweiser die
mächtigen erratischen Blöcke bilden, hier in natura sich vollziehen zu
sehen. Gegenüber diesen Pulsschlägen der Ewigkeit zerstiebt die Sekunde
Menschenleben in Nichts. -- Die Breite des größten Gletschers von
Westspitzbergen, mit welcher derselbe gegen die Meeresfläche abstürzt,
beträgt 20 Kilometer. Es wurden Eisberge, d. h. isolierte Abbrüche
desselben beobachtet, deren Gesamtvolumen auf 4000 Millionen Kubikmeter
berechnet werden konnte. Scoresby sah eine Eismasse von der Größe einer
Kathedrale aus einer Höhe von 400 Fuß ins Wasser fallen.

[Illustration: Gletscherpartie (Spitzbergen).]

Um 4 Uhr erreichten wir bei aufgehelltem Himmel die Einfahrt in
den Eisfjord (78° 11′ nördl. Breite); die so benannte Meeresbucht
ist beidseitig mit Gebirgsstöcken von auffallend gleichmäßiger Form
begrenzt. Alle zeigen ein Hochplateau, das enorm steil zum Meere
abfällt; dazwischen liegen tief eingeschnittene Thäler. Die steilen
Abhänge sind merkwürdig regelmäßig parallel gerifft. In den parallelen
Schrunden liegt wie auch oben blendend weißer Schnee, in grellem
Kontrast zu dem dunkeln Gestein, so daß die Gebirgszüge wie sorgfältig
vom Konditor kandierte Kuchen aussehen.

[Illustration: Einfahrt in Adventbay.]

Wir biegen ab in eine Seitenbucht, die sogenannte Adventbay. Dort
hat sich, teils durch Anschwemmung, wesentlich aber wohl durch
Abwitterung, welche durch Ebbe und Flut geglättet wurde, auf der
südlichen Seite ein ziemlich ausgedehntes, flaches und nachher sanft
bis zu den Hauptgebirgsstöcken ansteigendes Gelände gebildet, das
größtenteils schneefrei ist und auf welches die Strahlen der Sonne
bereits einen Blumenteppich gezaubert haben. Plötzlich entdeckt das
Auge, als einziges Symptom menschlichen Daseins, ein Fischerzelt und
200 Meter davon entfernt ein dunkles Holzgebäude, welches 1896 von der
Westeraalen Dampfschiffgesellschaft als Unterkunftshaus für Jäger und
Touristen erstellt wurde. Aus der Entfernung machte es den trostlosen
Eindruck einer im Torfmoor stehenden einsamen Köhlerhütte. Wir fanden
es geschlossen und leer, da der acht Tage zuvor nach Spitzbergen
fahrende Dampfer, welcher Proviant und den Wirt bringen sollte, wegen
ungünstiger Eisverhältnisse sich dem Inselreiche gar nicht hatte nähern
können.

Nirgends ist ein Baum oder Strauch zu erblicken; aber wo der Schnee weg
ist, so auf der Küstenniederung und in den Thälern grünt und blüht es
um die Wette. Viele der Thäler sind aber noch mit mächtigen Gletschern
ausgefüllt und werden noch Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte lang zu
thun haben, bis ihr Eisdepot ins Meer gesunken ist. Im Hintergrunde
aber, gegen das Innere der Insel, sieht man über den 2000 Fuß hohen
Bergen Eisfelder von unermeßlicher Ausdehnung.

Langsam und vorsichtig drang unser braver Dampfer mit einem Tiefgang
von zirka 10 Metern in dem fremden Fjorde vorwärts, während von 5 zu 5
Minuten ein alter Matrose Lothungen vornahm und mit lauter Stimme dem
Kapitän das Ergebnis auf die Kommandobrücke zuschleuderte. „20 Faden --
kein Grund!“ (1 Faden = 6 Fuß). „33 Faden -- kein Grund!“ „39 Faden --
Grund!“ Jetzt rasselte die Ankerkette nieder und fest saßen wir. Alles,
was Beine hatte, stund auf Deck, um den ungewohnten Anblick dieses
vergletscherten Polarlandes in sich aufzunehmen. Hunderte von Vögeln
umkreisten schreiend unser Schiff; ab und zu tauchte ein neugieriger
Seehund auf, um sofort wieder in dem salzigen Elemente zu verschwinden,
einmal auch die grauenhafte Fratze eines Walrosses.

In unglaublich kurzer Zeit waren die drei Benzinbarkassen unseres
Schiffes flott gemacht und luden durch ihren puffenden Atem zur Fahrt
ans Ufer ein, das immerhin noch einen Kilometer entfernt von uns lag.
Das Meer war etwas unruhig, so daß nur die weniger zaghafte meiner
Reisegefährtinnen sich zu sofortiger Ausbootung entschloß. Am Land
besuchten wir zuerst das Fischerzelt, in welchem eine Frau, zwei
Männer und ein Kind überwintert hatten. Das Ergebnis ihres Jagdfleißes
war vor ihrer Behausung aufgespeichert: getrocknete und eingesalzene
Fische in Menge, einige Fässer voll Thran, in Meersalzlauge gebettet
auch Kopf und Fell eines riesigen Eisbären, den sie zwei Monate vorher
geschossen, als er die Hütte zu beschnuppern kam; von der Menge
erlegter Rentiere und Seehunde, deren Geweihe und Felle herumlagen, gar
nicht zu reden.

Als wir den flachen Küstenstreifen durchwanderten, wollte unser
Erstaunen und Entzücken über die Fülle und den Farbenglanz reizender
Blumen kein Ende nehmen. Arktischer Mohn, zahlreiche Steinbrecharten,
Löffelkraut entsprießen zu Millionen dem bemoosten Boden. Von
besonderer Lieblichkeit ist eine Erica-Art, deren Blüten die Form
unserer Maiglöckchen haben. Als einzigen Strauch, der aber die
Moosfläche nicht überragt, fanden wir eine arktische Weidenart.
Ueberreste von Walen und Walrossen, ungeheure Knochen aller Art, Fisch-
und Vogelleichen zu Dutzenden lagen da, in Gestein und Grün gebettet,
merkwürdigerweise ohne allen und jeden Fäulnisgeruch; das Organische
fault in dieser nördlichen Breite auch unter dem Einfluß der Sonne
nicht, da die sie bedingenden Spaltpilze hier nicht fortkommen.

Mit Blumen seltenster Art und allerlei Trophäen (Mineralien, Knochen)
beladen, traten wir den Rückzug an, der nicht ohne ein kleines
Abenteuer verlaufen sollte. Bei der Abfahrt wurde nämlich unser Boot
auf eine seichte Stelle geworfen, saß dort fest und war nun ein
Spielball des unruhigen Meeres. Durchnäßt von den überschäumenden
Wellen und elend hin- und hergeschaukelt harrten wir der Erlösung.
Aber ein Versuch, uns durch eine andere Barkasse flott zu machen,
hätte beinahe unser Schiff zum Kentern gebracht und mußte aufgegeben
werden. So blieb nichts übrig, als in den auf- und abtanzenden Kahn
überzusteigen -- eine der Komik und unfreiwilliger Akrobatensprünge und
Körperverdrehungen nicht entbehrende Handlung -- welcher uns dann naß
zwar, aber in bester Stimmung an Bord brachte.

Ueber Spitzbergen ist noch Vieles zu erzählen; ebenso über die
herrliche Rückfahrt an der norwegischen Küste, über die Wunder
der Mitternachtssonne bei der Einfahrt in Tromsoe und das dortige
Lappenlager, über die Pracht der nordischen Welt bei Gudwangen und
Marak, über den Besuch von und bei dem deutschen Kaiser in Aalesund und
den Aufenthalt in Bergen, der durch die Freundlichkeit unseres dort
domizilierten Landsmanns, Herrn Herzog aus dem Pfarrhause Güttingen,
besonders genußreich sich gestaltete, und über vieles Andere mehr. Aber
unser Schiff eilt dem Endziele, Hamburg zu, und unser Verlangen geht
nach der Heimat und nach dem Berufe.



Daheim.



~VIII.~

     Hapag. -- Patriotische Feststimmung. -- Gräber an der Adventbay.
     -- Im Eise gefangen. -- Jagd auf Spitzbergen. -- Walfischfang.


Hapag! Wie anders wirkt dies Zeichen jetzt auf mich ein als noch
vor wenig Monaten! -- Dazumal glitt mein Auge nichtsachtend an
den fünf Buchstaben vorbei; heute zaubert das kleine Wort eine
Flut von Erinnerungen hervor; ich sehe die Wunder der nordischen
Schärenlandschaften und des Polarmeeres; auf letzterm gleitet die
stolze „Auguste Viktoria“, das prunkvolle kleine Universum; auf der
Kommandobrücke steht die Hünengestalt des braven Kapitäns Kaempff, dem
das Leben von nahezu 700 Menschen anvertraut ist. Keiner zaudert, ihm
volles Vertrauen zu schenken, dem schönen Typus eines pflichttreuen,
kaltblütig überlegenden Seemannes, der, ein Bär von Postur, mit
gleicher Sicherheit sein stolzes Schiff leitet, wie er mit ritterlicher
Grazie den Damenhandkuß zu applizieren weiß.

Vom Promenadendeck her tönt fröhliches Leben; dazwischen die flotten
Weisen der Schiffskapelle, vor allem die bergfrische Nationalhymne
Norwegens. Und an allen Ecken und Enden steht das Zauberwort ~Hapag~,
auf jedem großen und kleinen Schiffsteile -- vom Rettungsboote
bis zum Zahnstocher, auf dem Schilde der Kapitänsmütze und jedem
Kleidungsstücke, das der Steward und der Matrose am Leibe trägt.
Den jungen, frischen Schiffsjungen, der auf jedes Signal von der
Kommandobrücke her die Treppen hinauffliegt, um die Befehle „des
Königs“ entgegenzunehmen, hatten wir deshalb in naheliegender
Erweiterung seiner Signatur schon am ersten Tage Harpagon getauft und
ihn auf diesen Ruf folgen gelehrt.

=H=amburg-=A=merika-=P=acketboot-=A=ktien-=G=esellschaft ist der Sinn
des kleinen Wortes, das in der ganzen Welt so bekannt ist, daß ein mit
~Hapag~ adressierter Brief sicher seinen Weg findet, und ein Zufall,
der soeben meinen Blick auf die fünf Buchstaben fallen ließ, macht
mir plötzlich Mut und Lust, die in der „Thurgauer Zeitung“ begonnene
Schilderung unserer nordischen Reiseerlebnisse zu Ende zu führen.

Also zurück nach Spitzbergen! Auf Flügeln des Gedankens ist der Weg im
Nu zurückgelegt, obschon die Distanz ungefähr derjenigen zwischen Rio
Janeiro oder Kapstadt oder Tibet und unserer Heimat entspricht.

Am Morgen des zweiten Tages wurde bei Zeiten wieder und als
vollzähliges Trio das zauberhafte Land betreten. Dort erfuhr ich
eine heimelige Ueberraschung. Als wir an geschützter Stelle, in
das blumige Moos gelagert, die großartige Moos-, Gebirgs- und
Gletscherlandschaft bewunderten, packten meine Gefährtinnen aus: eine
veritable Schweizerfahne samt Stock und eine Flasche -- Sonnenberger[3]
1895er, von Paul Bartholdi.[4] Nun wurde ein echt vaterländisches
Fest gefeiert, wohl das erste Schweizerfest auf Spitzbergen, und
unter Schwenken der Fahne, ergötzlichen Reden und lautem Hoch auf
die liebe Heimat der Tropfen geleert, den die Sonne unseres Thurgaus
gezeitigt hatte und der mir in meinem Leben noch nie so vortrefflich
gemundet hat wie dazumal, am 12. Juli, unterm 78° nördl. Breite. Die
Flaschen-Etiquette trägt nun die Aufschrift: „Sonnenberger 1895 von P.
Bartholdi, am 12. Juli 1899 unter hochgehenden vaterländischen Gefühlen
geleert auf das Wohl der lieben Heimat von etc. etc. etc.“ In der
linken obern Ecke stehen groß und deutlich die Buchstaben O. G. V.,[5]
ein für spätere Polarfahrer, welche die Flasche entdecken, jedenfalls
unlösbares Rätsel.

Nach der patriotischen Fahnenweihe durchstreiften wir, soweit nicht
Sumpf und Morast uns hinderten, kreuz und quer das Gelände und jeder
Schritt führte zu etwas Außergewöhnlichem und Interessantem. Vor allem
erregte unsere Aufmerksamkeit ein Abhang aus Geröll, den ein starker
Gletscherbach im Laufe der Jahrzehnte angespült haben mochte, und auf
welchem verschiedene auffällige Erhebungen zu erblicken waren. Bei
der Annäherung fanden wir zwei schmucklose Grabzeichen aus Holz und
gemaltem Blech; das eine trug die Inschrift: Andrees Holm, Tromsoe;
födt 7. April 1896; das andere: Jakob Hansen af Hammerfest, födt 28.
August 1878, letzterer ein während der sommerlichen Jagdzeit hier
verunglückter Fischer, der erstere aber Teilnehmer einer nordischen
Tragödie, deren weitere Spuren in unmittelbarer Nähe zu finden waren
und mit der wir uns gleich beschäftigen werden. Wir schmückten die
rührenden Zeugen menschlichen Daseins und Kampfes in dieser nordischen
Einöde -- die schlichten Gräber -- mit den schönsten Blumen, welche der
Boden spendete.

Was hätte dieser Andrees Holm alles erzählen können! Im Sommer 1895
hatte er mit drei andern Norwegern, Klaus Thue, Anton Nils und Nils
Olsen, an den Küsten von Westspitzbergen dem Fischfang obgelegen, und
als sie auf ihrem kleinen, einmastigen Fangschiffe heimkehren wollten,
verlegte ihnen das unerwartet früh um die Südspitze herschwimmende
Eis den Weg. Ein starker Schneesturm trieb sie wieder nordwärts, und
wo immer sie Eingang in einen schützenden Fjord suchten, fanden sie
denselben bereits mit Eis gefüllt. Im nördlichen Eisfjord endlich, der
unter der Einwirkung des Golfstromes am längsten offen bleibt, und zwar
in dem Teil, in dem wir eben vor Anker lagen, der Adventbay, fanden sie
Zuflucht, und dort fror ihr Schiffchen, die „Ellida“, rasch ein, so
daß die Insassen sehr bald die traurige Gewissheit hatten, sieben bis
acht Monate in dieser trostlosen Eiswüste verweilen zu müssen, fern von
jeder menschlichen Hülfe.

An Bord zu bleiben war unmöglich. Die vier Männer errichteten daher
auf der nächstgelegenen Anhöhe eine Notbehausung, deren Konstruktion
und Überreste noch deutlich zu sehen sind. Etwa einen Meter tief ist
der Grund ausgehoben und die Grube mit Schiffsbrettern verschalt;
darüber findet sich aus Treibholz, Mast und Rudern ein Dach erstellt,
das noch teilweise mit Zinkblech vernagelt ist und das dazumal von
den Insassen mit Rentierhäuten,[6] Rasen- und Moospolstern bedeckt
wurde. Zum Eintritt diente die noch vorhandene Kajütenthüre. In der
jetzt großenteils abgedeckten Hütte, in welche ich hineinkroch,
waren als weitere Zeugen des dort verlebten Winters noch zu finden:
ein Bretterverschlag, der mit Rentierfellen ausgekleidet die
Schlafstätte gebildet hatte; dann ein verrosteter, zertrümmerter
Herd, der ehemalige Kochherd des Schiffes, ein niedriger Tisch, eine
Kiste mit Handwerkzeug; ferner zerrissene Strümpfe, Handschuhe und
Kleidungsstücke anderer Art; Knochen von Rentieren, Fischen, Vögeln --
die Überreste der winterlichen Mahlzeiten -- lagen ringsherum zerstreut.

[Illustration: Nothütte.]

Den langen Polarwinter brachten die Eingeschneiten und Vereisten mit
Jagd und dem Suchen nach Kohlen in möglichst entfernten Lagern zu, um
der Hauptgefahr der Unthätigkeit in der permanenten Dunkelheit, dem
Scorbut, möglichst zu entgehen. Bis 22 Grad Reaumur Kälte hatten sie zu
ertragen, so daß Anton Nils die Nase abfror; trotzdem ging er acht Tage
nachher wohlgemut und fröhlich singend auf die Jagd -- um nicht mehr
zurückzukehren. Wahrscheinlich hat ihn ein Eisbär verzehrt. Das zweite
Opfer war Andrees Holm, der am 30. März am Scorbut starb und, da die
Erde hart gefroren war, zum Schutz gegen Füchse und Bären einstweilen
in zwei Fässer gesteckt wurde. Sobald das Eis des Fjords -- im Juni
1896 -- in Bewegung kam, wagten sich die zwei Ueberlebenden auf kleinem
Boote hinaus, um Fischerschiffe aufzufinden; aber fünf Tage lang wurden
sie auf offenem Meere umhergeschlagen und hatten nur rohe Vögel als
Nahrung, und als endlich ein Fischer sie rettete, waren sie beide
auch am Scorbut erkrankt. Trotzdem fuhren die treuen Gesellen, bevor
sie heimwärts strebten, nochmals nach der Adventbay zurück, um ihren
Kameraden zu beerdigen, und das Grab, neben dem wir standen, war das
Werk ihrer matten und kranken Hände.

Ähnliche Unglücksfälle ereignen sich von Zeit zu Zeit und auch dem
größten Touristenschiffe kann es passieren, sofern es zur Unzeit,
später als Ende August, Spitzbergen aufsucht, daß es sich plötzlich und
unerwartet in einem Fjord durch Eis festgebannt sieht. -- Plötzliche
dichte Nebel, entsetzliche Stürme und unerwartete Treibeisblockade sind
die Gefahren des Polarmeeres für die Schiffahrt.

Einen Versuch, an den schneefreien Abhängen des nächstliegenden Berges
in die Höhe zu steigen oder eines der sich öffnenden Thäler zu begehen,
mußten wir bald aufgeben, weil der Boden infolge des herabrieselnden
Schneewassers überall morastig durchweicht war, so daß wir bis über
die Knöchel einsanken. Wie’s in dieser Beziehung weiter landeinwärts
beschaffen sein mochte, ersahen wir an Schuhwerk und Kleidern von Graf
Metternich und einigen andern Jagdfreunden, welche morgens 2 Uhr unter
der Führung von zwei norwegischen Fischern sich einige Stunden weit ins
Innere begeben hatten und nachmittags mit reicher Beute zurückkehrten.
Die Menge des angetroffenen Wildes stand zwar hinter ihren Erwartungen
zurück; einige Tage zuvor war der Kronprinz von Italien mit seiner
jungen Frau, die dem nordpolfahrenden Herzog der Abruzzen das Geleit
gaben, hier gewesen, und die jagdlustigen Italiener sollen innert
zweimal 24 Stunden gegen 200 Rentiere an der Adventbay erlegt haben;
nicht der geringste Teil fiel vor dem treffsicheren Rohre der
Montenegrinerin. Von der Beute wurden einfach die Geweihe mitgenommen;
das Übrige blieb liegen. Daß ein solch grausames Schützenfest die
harmlosen Rentierherden für die nächsten paar Wochen verscheuchte und
in entferntere Regionen trieb, liegt auf der Hand. Indes waren die
Spuren des Tieres überall so reichlich vorhanden, daß man glauben
konnte, sich auf einem ihrer Hauptweideplätze zu befinden. Auch
brauchte man nicht sehr weit zu gehen, um schön ausgebildete Geweihe
zu finden, welche von den Tieren jeweils im Dezember oder Januar
abgestoßen werden.

[Illustration: Gletschereis.]

Eingedenk der vortrefflichen Eigenschaften des Rentieres, seiner
Anspruchslosigkeit betreffs Ernährung, seiner universellen Nützlichkeit
und seiner absoluten Unschädlichkeit und in Erinnerung an die
Thatsache, daß es, wie fossile Reste -- sogar fossile von Menschenhand
bearbeitete Rentiergeweihe -- es beweisen, einst über den größern
Teil Mitteleuropas verbreitet gewesen sein muß, fragte ich mich oft,
warum es wohl noch niemandem eingefallen sei, unsere Alpen mit diesen
trefflichen Tieren zu bevölkern. Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß
sie sich ganz gut akklimatisieren würden.

Die Nimrode unter den Schiffspassagieren, welche zu bequem waren,
stundenweit bergauf- und thaleinwärts zu laufen, ließen ihre Mordlust
an den arglos herumfliegenden Strandvögeln aus. Piff, paff, puff
knallte es allerorten, und Dutzende von zwecklos getöteten oder
verwundeten Enten, Möven und Eidergänsen fielen zur Erde oder zuckten
im letzten Kampfe auf der glatten Meeresfläche. Ich freute mich stets
königlich, wenn ein mit selbstbewußter Sicherheit abgegebener Schuß zum
Ärger des Schützen und unter Halloh der Zuschauer den einzigen Effekt
hatte, die Flug- oder Schwimmgeschwindigkeit des Zielobjektes um 100
pCt. zu beschleunigen, oder wenn eine Taucherente, welcher der tödliche
Schuß galt, blitzschnell unter dem Wasser verschwand, um sehr vergnügt
hundert Meter davon entfernt wieder aufzutauchen. Da in Spitzbergen
kein Jagdschein notwendig ist, bleibt es vorläufig das Eldorado aller
Jäger, bis die dortige Tierwelt so vernichtet sein wird, daß es sich
nicht mehr lohnt, Pulver und Blei dorthin zu tragen. Allerdings sind
ja nur einige Küstenstriche zugänglich und das mit 1000 Fuß dicker
Eisschicht bedeckte Landesinnere wird den Eisbären und Polarfüchsen
vorläufig noch ein sicherer Hort bleiben; aber wer weiß, mit welchen
Mitteln sich das raffinierteste aller Raubtiere, der Mensch, in Zukunft
auch diese unzugänglichen Einöden begehbar machen wird!

Die großartigste Jagdepoche Spitzbergens fällt in das siebenzehnte
Jahrhundert. Anno 1607 lenkte der berühmte Seefahrer Hudson die
Aufmerksamkeit der Welt auf die ungeheure Menge von Walfischen,
Walrossen, Robben und wertvollen Pelztieren, welche jene noch wenig
bekannte -- zehn Jahre vorher durch den Holländer Barents entdeckte --
Inselgruppe bevölkerte. Daraufhin fuhren alle seefahrenden Nationen hin
und lagen sich zwanzig Jahre lang tüchtig in den Haaren, bis endlich
durch einen Vertrag die Jagdgründe geregelt und verteilt wurden.

Die intensivste Fangthätigkeit entfaltete Holland. In der Smeerenberg
(Smeer = Fett; bergen = verwahren) auf der Amsterdaminsel waren
oft gleichzeitig gegen 300 holländische Schiffe anwesend; während
der kurzen Sommermonate bevölkerten über 12,000 Menschen die öde
Landschaft und die Mitternachtssonne war Jahrzehnte lang Zeuge aller
nur denkbaren Laster; das spielend leicht verdiente Geld wanderte in
Spiel- und Trinkhöllen und schuf ein arktisches Sodom und Gomorrha.
Der Walfischfang blieb zweihundert Jahre eine so ergiebige Quelle
des Reichtums, daß man in Holland unschlüssig war, ob dem Hafen von
Smeerenberg oder demjenigen von Batavia größere Bedeutung beizumessen
sei und welcher im Ernstfalle zuerst zu verteidigen wäre. Einige Zahlen
mögen diese unglaublichen Thatsachen erhärten:

Der grönländische Wal, der bis 3000 Zentner schwer wird, bildete
früher das Hauptwild der Gewässer Spitzbergens, hat sich jetzt aber
infolge Jahrhunderte langen rücksichtslosesten Vernichtungskrieges
fast ganz weiter nach Norden verzogen. Ein einziges Exemplar konnte
20,000 Mark an Wert abwerfen. Der Hauptwert liegt in der bis zu 40
Centimeter dicken Speckschichte zwischen Oberhaut und Muskelfleisch,
welche zu Thran ausgesotten wird, und in den sogenannten Barten,
jenen hornigen Kiefergebilden, aus welchen man das Fischbein gewinnt
(2500 Kilogramm per Tier und mehr). Die Barten dienen dem Tiere dazu,
seine Nahrung zu fangen; mit geöffnetem Maule von sechs Meter Länge
und vier Meter Breite durchschwimmt es den Ozean, wobei Millionen
kleinster gallertartiger Meertierchen des durchströmenden Wassers an
den Bartenhaaren hängen bleiben und verschluckt werden, sobald sie
sich in größerer Menge angesammelt haben. Wenn man erwägt, welche
Billionen dieser kleinsten Organismen tagtäglich nötig sind, um einen
derartigen Riesen zu ernähren, so kann man sich eine Vorstellung
machen, in welcher Zahl sie im Ozean enthalten sein müssen. Sie machen
das Polarmeer oft auf meilenweite Entfernung mißfarbig, und das
sogenannte „schwarze Wasser“ wird aus naheliegenden Gründen von den
Walfischfängern besonders gerne aufgesucht.

Die Holländer haben seiner Zeit jeden Sommer zu Hunderten dieser
kostbaren Tiere erlegt, also buchstäblich Gold aus dem Meere gehoben.
Genaue Zahlen aus jener Zeit sind mir nicht bekannt; dagegen erfuhr
ich, daß eine amerikanische Walfischfanggesellschaft noch 1858 eine
Jagdbeute von 20 Millionen Mark gemacht hat, und daß in den letzten
Jahren von den verschiedenen norwegischen Walfischstationen (die wegen
des entsetzlichen Gestankes, den die verwesenden Reste der Riesenleiber
ausströmen, alle auf Inseln oder von menschlichen Ansiedelungen
entfernten Küsten sich befinden) durchschnittlich 2 bis 3 Millionen
Mark per Jahr und per Station umgesetzt wurden.

Auch hier an der Küste der Adventbay trafen wir allerlei Ueberreste
von Walfischleibern, unter anderm riesige, von der Sonne gebleichte
Rücken-Wirbel, deren einer ein ganz respektables Gewicht repräsentierte.

Der Grönlandwal ist, wie oben erwähnt, in den Gewässern Norwegens
und Spitzbergens fast ganz ausgestorben und in die vom Eise
verbarrikadierten Zonen des höchsten Polarmeeres vertrieben. Die
Arten, die dort noch gejagt werden, sind: der massige und wertvolle
Blauwal, der Finnwal, das längste Tier der Erde, bis 100 Fuß lang, aber
bedeutend schlanker als der Grönwal, und einige kleinere Walarten,
alles sogenannte Furchenwale, weil ihre Bauchhaut im Gegensatz zum
grönländischen Wale in Längsfurchen gelegt ist. Der Schrift von Georg
Wegener entnehme ich, daß es auch eine Walart mit Zähnen giebt, von
den Seeleuten „Speckhugger“ genannt, weil sie, nach berühmten Mustern,
zu mehreren vereint ihre größten Vettern angreifen und große Stücke
Speck aus ihrem Leibe herausreißen. Es sind Kämpfe beobachtet worden,
bei welchen der geängstigte Großkapitalist in seiner Not weit über das
Wasser hinaussprang, ohne das er die fest an seinem Bauche hängenden
Schmarotzer abschütteln konnte.

Die Jagd auf Wale ist vier Seemeilen von der Küste entfernt für
jedermann frei; dagegen darf die Verwertung der Beute nur auf
norwegischem Gebiete stattfinden, weshalb ausländische Fänger nur
im Dienste einer norwegischen Gesellschaft fischen dürfen oder aber
einer Aktiengesellschaft angehören müssen, die auch Norweger zu ihren
Mitgliedern zählt.

In frühern Zeiten war der Walfischfang ein Geschäft voll Romantik und
Gefahr. Auf ausgesetztem kleinem Ruderboote mußte man sich dem Tiere
so weit zu nähern suchen, daß der Harpunier ihm den Widerhaken in den
Leib schleudern konnte; da galt es denn, im gleichen Momente das Boot
aus dem Bereiche der Schwanzflossenschläge des wütenden Tieres zu
bringen, und nachher kamen die kritischen Minuten, wo der davonrasende
verwundete Wal durch Abwickeln der Harpunenleine das Boot in Gefahr
brachte. Oftmals hat eine Störung des blitzschnellen Ablaufes der Rolle
Schiff und Leute in die Tiefe gerissen. Heutzutage bedient man sich zum
Walfischfange jener kleinen Dampfboote, deren wir eines vor Hammerfest
gekreuzt hatten. Es sind eiserne Dampfer von 70-80 Fuß Länge, die
äußerst schnell fahren und am Bug eine drehbare Kanone tragen. Die
Harpune, welche dieses Feuerrohr schleudert, ist an langer Leine am
Schiff befestigt und enthält in ihrem Kopfe ein Sprenggeschoß, das im
Momente des Eindringens in den Walfischkörper explodiert und lange
Widerhaken hervorschnellen läßt; das furchtbar verwundete Tier schießt
mit der Geschwindigkeit eines Blitzzuges in die Tiefe -- gefolgt
von der rasch sich abwickelnden Leine, kommt aber bald wieder zum
Vorschein, um zu atmen oder aber -- bereits verendet. Der Todeskampf
ist zuweilen so furchtbar, daß er die ganze See in Aufruhr bringt.
Mit Jubel wird es begrüßt, wenn das Tier nach dem Harpunenschuß Blut
bläst, „die rote Flagge zeigt“; das bedeutet eine ganz rasch tödliche
Verletzung von Herz und Lungen.

Es giebt wohl kein Tier, das für die Erforschung unserer Erde
eine solche Rolle gespielt hat, wie der Walfisch. Seinen Spuren
folgend drangen Walfischfänger schon in frühen Jahrhunderten bis in
die nördlichen Meere, und lange vor Kolumbus haben baskische und
normannische Walfischer den Weg nach Amerika zurückgelegt.

[3] Thurgauer Rotwein.

[4] Frauenfelder Geschäftsfirma.

[5] Oratorien-Gesang-Verein Frauenfeld, dessen Präsident der Verfasser
ist.

[6] Die Schreibart Rentier -- mit einem =n= -- ist die einzig richtige;
der Name stammt nicht etwa von rennen, sondern von reen, d. h. rein,
also eigentlich _Rein_tier.



~IX.~

     „Malerische Gruppe“. -- Beutezug an der Küste. -- Fischerzelt. --
     Die Yacht des italienischen Kronprinzen. -- Hotel Spitzbergen.


Unterdessen hatte sich der größte Teil der Schiffspassagiere ans
Land gemacht, und wir bemerkten aus der Entfernung, wie sie sich zu
einem Zuge ordneten, voraus einige Matrosen mit der deutschen, der
amerikanischen und der Hamburger Flagge, dann die Schiffsoffiziere
und die Musik; unter klingendem Spiele bewegte sich der Gewalthaufen
landeinwärts. Da giebt’s was zu sehen; also im Trab über Stock
und Stein und quatschende Pfützen, die Hände voll friedlichen
Raubs: Pflanzen, Knochen und Steine, in der rechten die flatternde
Schweizerfahne!

Vor einer sachten Erhebung machte der aus allen denkbaren Kostümen und
Toiletten zusammengesetzte Zug Halt, und es wurde zu den vorjährigen
Gedenkzeichen der Anwesenheit der „Auguste Viktoria“ auf Spitzbergen
ein neues gesetzt, eine hübsch ausgestattete eiserne Tafel mit der
Inschrift: „S. S. Auguste Viktoria, Hamburg; 12. Juli 1899.“ Ueber der
Tafel thronte ein Schild

    ~H~ ~A~
  mit ~P~, getragen von einem Schiffsanker. Das Ganze
    ~A~ ~G~

wurde auf einem eisernen Stativ in den Boden gestoßen, mit Steinen
malerisch blockiert und von den Matrosen mit Moosplatten und Blumen
dekoriert. Unter dem Klange der verschiedenen Nationalhymnen (~n. b.~
das „Rufst du mein Vaterland“ der Schweizerkehlen ging in dem „Heil
dir im Siegeskranz“ nicht etwa unter; denn die Eidgenossen stunden,
wie in der Schlacht bei Sempach, dicht beisammen) und Schwenken der
Banner erhielt das Wahrzeichen unserer Nordlandsfahrt seine Weihe.
Dann ordnete man sich (es war in der Person des Herrn Dreesen aus
Flensburg ein vortrefflicher und weltbekannter Berufs-Photograph
anwesend) zu einer „malerischen Gruppe“, um durch die nordische
Sonne sich verewigen zu lassen. Ahnungslos stunden wir mit unserm
Schweizerfähnlein in vorderer Reihe. „Die Flagge muss wech!“ rief’s aus
der Hinterphalanx -- nicht etwa aus Animosität gegen das weiße Kreuz
im roten Feld, sondern weil der Reklamant mit Recht es sich verbitten
konnte, daß seine Gesichtszüge durch ein Stück -- wenn auch noch so
patriotisch flatternden -- Tuches zugedeckt würden. Wir marschierten
also unverwundet in die hinterste Reihe; von dort her aber fällt
die hochgehaltene Schweizerfahne auf der gelungenen Photographie
zu allererst in die Augen: in der Mitte der Fähnrich, vor ihm die
beiden getreuen Lebensgefährtinnen, rechts und links als Stützen des
Vaterlandes Papa Laroche und Professor Böhringer.

Da wurde dann gleich die patriotische Erregung weiter ausgeschmiedet:
Im Glockensund wollten wir am folgenden Tage offiziell das
eidgenössische Banner aufpflanzen und von dem Lande für Mutter
Helvetia Besitz ergreifen; Professor B. übernahm die Festrede, und
Papa L. wurde einstimmig zum Admiral der schweizerischen Marine
ernannt. In das schöne Projekt fiel _ein_ bitterer Tropfen: Die
Flasche Sonnenberger-Thurgauer war bis auf die Nagelprobe geleert;
wir hatten „keine zweite zu versenden“, und für den Festredner und
den Admiral blieb als einziger bescheidener Genuß das Riechen an der
leeren Flasche, deren Duft aber noch genügte, ihre Züge freundlich
zu verklären. Ein tückischer Polarnebel hat aber den Plan vereitelt
und damit auch die Gefahr einer politischen Intervention des übrigen
Europas abgewendet.

Nachdem die Zehntels-Sekunde Ruhe und freundliches Lächeln, welche
der Photograph verlangt hatte, glücklich überstanden war, zerstreute
sich das Volk nach allen Richtungen, und bald bot das fremdartige
Gelände ein recht malerisches und bewegtes Bild: Ueberall kleinere
Gruppen von entzückten Blumensammlern, da und dort ein blutdürstiger
Jäger zum Schuß bereit, an allen Ecken Amateurphotographen männlichen,
namentlich aber weiblichen und sogar sächlichen Geschlechts. Einzelne,
vorab die Schiffsbemannung, stürmten, ohne Rücksicht auf bodenlosen
Sumpf, landeinwärts und bergaufwärts, und männiglich kehrte mit
zusammengelesenen Rentiergeweihen und andern Raritäten zurück. Einen
Bären brachte Keiner; auch die größten Blagueure mußten gestehen,
keinen solchen, nicht einmal von weitem, erblickt oder gewittert zu
haben. Auch das ersehnte Walroß ließ sich nirgends sehen.

Wir begnügten uns mit dem leicht Erreichbaren, und unser Schatz wuchs
zusehends. Abgesehen von reizenden Pflanzen erbeuteten wir seltene
Mineralien, Steinkohlen, prächtige Versteinerungen von Kryptogamen und
allerlei Blattpflanzen. Dann erregte unser Interesse die Menge und
Verschiedenartigkeit des herumliegenden Treibholzes; teilweise zeigte
sich dasselbe bearbeitet, entstammte also Fahrzeugen, die vielleicht
in Westindien Schiffbruch gelitten hatten und deren Fragmente durch
den Golfstrom hieher geführt worden waren. Andere Stücke entpuppten
sich als Lerchen- und Erlenholz, und ich ließ mir erzählen, daß an
der Ostküste Spitzbergens erstaunliche Mengen dieser Stämme mit
Regelmäßigkeit angeschwemmt werden und oft ganze Buchten ausfüllen.
Sie wurzelten einst in dem großen sibirischen Stromgebiete, wurden
durch die im Sommer hochanschwellenden Gewässer ihrem Stammorte
entführt, ins Meer geschwemmt und gelangten mit dem Polarstrom endlich
an Spitzbergens eisumgürtete Küste. Es ist ja bekannt, daß diese
Treibhölzer den Bewohnern der baumlosen Gegenden Grönlands, Islands --
überhaupt der Polarländer -- seit Jahrhunderten ihr Nutz- und Brennholz
liefern, und die Kenntnis der arktischen Meere und ihrer Strömungen
ist nicht zum mindesten durch das großartige Phänomen des Treibholzes
erweitert worden.

Eine überaus interessante Thatsache ist es, daß man in Spitzbergen
oft stundenweit im Innern und auf beträchtlicher Höhe über dem
Meeresspiegel, zu welcher die größte Springflut niemals gelangen kann,
Treibholz und Walfischknochen findet. Daraus zieht man den Schluß,
daß im Laufe der Jahrhunderte entweder das Land sich gehoben oder
das Meer sich gesenkt haben muß. Diese Niveauveränderung wird auch
in Skandinavien beobachtet. Eingehauene Klippenzeichen haben sich
innert 40 Jahren um nahezu 50 Centimeter gehoben, und eiserne Ringe,
die vor vielen Jahren zum Anbinden der Kähne dienten und welche durch
einen umgemalten weißen Kreis weithin sichtbar gemacht sind, stehen
jetzt so hoch, daß sie nicht mehr gebraucht werden können. Da man
die alten Strandlinien weder unter sich, noch mit dem Meeresspiegel
parallel findet, wird eher an eine Bodenerhebung, als an ein Sinken der
Wasserfläche zu denken sein.

Einige der von mir gesammelten Treibholzstücke mögen seit Jahrhunderten
dort gelegen haben, ohne zu faulen; ihr Volumen ist unverändert,
und die Holzfaserung ist deutlich zu sehen; aber man glaubt zuerst,
ein helles _Mineral_ zu finden, und ist erstaunt über das geringe,
jedenfalls noch unter demjenigen des Korkholzes stehende spezifische
Gewicht. Auch Ueberreste von Tieren schleppten wir mit, unter anderm
einen Rentierschädel, in dessen Höhlungen sich allerlei arktische Moose
und Blütenpflänzchen angesiedelt hatten; dann Mövenflügel, Knochen,
Geweihe und andere Herrlichkeiten mehr.

Es war sehr unterhaltend, nachher an Bord die vom Lande her
Zurückkehrenden zu beobachten; die unglaublichsten Dinge wurden
hergebracht, und in mancher Kabine sah es gegen das Ende der Fahrt,
namentlich als in Tromsö die Lappen ihre duftenden Gegenstände
noch an den Mann und die Frau gebracht hatten, aus wie in einem
Naturalienkabinett; auch die Atmosphäre stimmte, und ich will hier
verraten, daß verschiedene Passagiere einige von ihren mit Stolz
gezeigten und mit Liebe geborgenen Trophäen -- des zunehmenden Aromas
halber -- nächtlicher Weise dem verschwiegenen Ozean anvertrauten. Das
Aroma aber blieb, wie das Phlegma beim Spiritus.

Einen besondern Anziehungspunkt bildete die kleine Ansiedlung der
norwegischen Fischerfamilie, welche im hölzernen Touristenhaus der
Vesteraalen-Dampfschiffgesellschaft überwintert, nun aber ihre Zelte
bezogen hatte und eifrig der Jagd oblag. Ihre edelste Beute war ein
Eisbär, dessen Pelz samt Kopf sie zur Konservierung der Haare in
ein Faß mit Salzlauge gesteckt hatten. 180 Kronen d. h. zirka 250
Franken sollte das Prachtstück kosten (in Bergen wurde für einen
ausgearbeiteten Pelz gleicher Größe das 2½fache verlangt), und um
150 Kronen erstand es schließlich ein Herr kurz vor der Abfahrt der
„Auguste Viktoria“, von Vielen beneidet um den Kauf, zu dem sie die
Courage nicht gehabt hatten. Da wiederholte sich dann die Geschichte
vom Fuchs und den sauren Trauben; „die Farbe des Pelzes war nicht
schön; wahrscheinlich ließen die Haare sehr bald; das Ausmachen würde
ein Heidengeld kosten“ etc. etc. „„Aber ein Esel war ich doch, daß ich
den Prachtskerl nicht gekauft habe; so ’n Fell! und dazu direkt ab
Spitzbergen!““ meinte ein Ehrlicher.

So lange der Eisbär keinen festen Besitzer hatte, wurde er gehörig
ausgenützt. Die zartesten Damen ließen sich an der Seite des grausamen
Tieres, dessen Kopf allerdings kaum mehr blutdürstig aus der Salzlauge
hervorguckte, photographieren. Einige von Photograph Dreesen
arrangierte Gruppen vor der Fischerhütte, inmitten der mannigfachen
Beute um den mächtigen Kopf des nordischen Eiskönigs gelagert und
durch die schlichten Fischersleute verstärkt, verdienten das Attribut
malerisch im höchsten Grade.

Als wir wissensdurstige (neugierige?) Schweizer unsere Köpfe ins Innere
des Hauptzeltes steckten, lagen die Männer noch schnarchend unter ihren
Fellen am Boden, während die Frauen und ein zirka sechsjähriges Kind
sehr munter die vielen Fremdlinge musterten. Der Haus- und Familienhund
-- ein langhaariger Spitz -- hatte längst das Weite gesucht; auf zirka
200 Meter Distanz bellte er die „Auguste Viktoria“ und ihre am Land
promenierenden Insaßen an und beantwortete jeden Lockruf und jede
Annäherung damit, daß er davon und wie verrückt in weiten Kreisen
herumrannte.

Das niedrige Zelt enthielt außer den Schlaflagern die unerläßlichsten
Haushaltungs- und Küchengegenstände; neben der Kaffeemühle thronte
eine Guitarre, die wohl einst die mehrmonatliche Polarnacht kürzen
half. Wie melancholisch mögen ihre Saiten in die nordlichtdämmernde
Eiswüste hinausgeklungen und was werden sich die lauschenden Bären und
Blaufüchse dabei gedacht haben!

Unterdessen erhoben sich auch die Väter des Fischerzeltes und
eröffneten sofort einen kleinen Markt; außer der mannigfachen
Jagdbeute: kostbaren Fuchsbälgen -- bis 100 Kronen pro Stück gewertet
-- Rentier- und Robbenfellen und Geweihen, getrockneten und frischen
Fischen und Vögeln aller Arten wurden namentlich auch sehr schöne
Versteinerungen feilgeboten, welche sie bei Jagdstreifzügen in den
nächstliegenden Thälern und Gebirgsstöcken gesammelt hatten.

Einige Säcke voll Eiderdaunen stunden verkaufsbereit, jener feinsten
Flaumfedern, mit welchen die Eidergänse ihre Brutnester dicht und
warm polstern und welche ihnen von den Sammlern unter dem Leibe und
den Eiern weggeraubt werden, meist mit samt einem Teil der letztern.
Ich beobachtete eben einen originellen Handel, den der eine unserer
norwegischen Lotsen abschloß, als Hochzeitsgeschenk für seine drei
im kommenden Monat gleichzeitig sich verheiratenden Töchter, wie er
mir sagte. Die zwei Fischer offerierten ihm einen mit Eiderdaunen
vollgestopften Sack zu 50 Mark. Das Gewicht taxierten sie -- da eine
Wage fehlte -- aus freier Schätzung auf 50 Kilo, „Wägung vorbehalten“.
Der Käufer bezweifelte die Richtigkeit der Taxation, und als ich, als
Unparteiischer darum ersucht, die Last auf höchstens 40 Kilo schätzte,
wurde ohne weiteres von den Fischern _dieses_ Gewicht in Rechnung
gesetzt und der Preis auf 40 Mark reduziert. Der Käufer machte ein
gutes Geschäft. Beim Reinigen der Daunen gehen allerdings fast zwei
Drittel verloren, so daß ihn schließlich -- die Reinigungsspesen
mitberücksichtigt -- das Kilo auf 4 Mark zu stehen kommen wird. Aber
schon in Tromsoe bezahlt man 36 Mark pro Kilo, und weiter südwärts
sind die Preise noch höher. Alles in allem wird also der Vater seinen
Töchtern je ein Geschenk im Werte von 180 Mark machen, für welches er
nur 20 Mark zu bezahlen brauchte.

Gegen Abend -- als wir schon die Hauptmahlzeit hinter uns hatten --
also zirka 9 Uhr, tauchte plötzlich eine Yacht auf, die vom Eisfjord
her sich unserer Bay näherte. Wer mochte das sein? Bald erkannte
das Auge des Kapitäns die italienische Flagge und signalisierte den
Kronprinzen von Italien mit Gemahlin und Gefolge. Rasch wanderte das
grüßende Flaggenzeichen auf die Mastspitze; die Kapelle erhielt Ordre,
die königlichen Gäste anzublasen und sich zur Empfangshymne bereit zu
stellen, und -- was Beine hatte -- stund auf Promenadendeck, um die
Ankömmlinge zu sehen. Jetzt -- ein mächtig widerhallender Salutschuß.
Die kronprinzliche Yacht ist in unmittelbarer Nähe und beginnt grüßend
unsern Schiffskoloß zu umkreisen. In diesem Moment intoniert unsere
wackere Schiffskapelle im Bewußtsein, ganz das Richtige getroffen zu
haben -- den Garibaldimarsch. Potz Wetter, gab das eine Aufregung!
Der erste Schiffsoffizier kam im Galopp gerannt und benannte den
Kapellmeister mit dem obersten Bestandteil einer nützlichen und
sonst harmlosen zoologischen Spezies; die Harmonien brachen bei dem
zirka siebenten Takte jäh ab und „es kam umgehend zum Vortrag“ die
regelrechte königlich italienische Nationalhymne. Ob der Kronprinz
den Lapsus bemerkt, weiß ich nicht; eingedenk der guten Freundschaft
zwischen seinem Großvater und dem Manne, der ihm die Krone brachte,
Garibaldi, hätte er sich jedenfalls nicht darüber zu ärgern brauchen.

Neben der Junogestalt seiner montenegrinischen Gattin sah der kleinere
und schwächliche italienische Thronfolger nicht gerade imponierend aus.
In dem gebrechlichen Körper soll aber, wie zuverlässige italienische
Berichterstatter uns sagten, ein feingebildeter Geist und trefflicher
Charakter wohnen.

[Illustration: Yacht des Kronprinzen von Italien vor Spitzbergen.]

Die Yacht war -- nachdem sie dem Herzog der Abruzzen das Geleit
gegeben -- hieher gekommen, um wo möglich Proviant aufzunehmen; da das
Adventbayunterkunftshaus aber noch leer stund, mußte sie unverrichteter
Sache weiterfahren. Selbstverständlich hatte es sich unser italienische
Fürst nicht nehmen lassen, die königlichen Hoheiten rasch an Bord
ihres Fahrzeuges zu besuchen. Dreimal umkreiste dasselbe unsere stolze
„Auguste Viktoria“; dann richtete es seinen Kurs unter gegenseitigem
Winken und Tücherwehen und Abschiedsrufen nach Süden.

Als Nansen am 26. Juli 1896 nach dreijähriger Abwesenheit im
Polareise auf Franz Josephsland zum erstenmal wieder mit Menschen
zusammentraf, erfüllte ihn keine aus der Heimat eingehende Nachricht
mit solchem Staunen, wie die Kunde von dem Touristenhotel, welches
die Vesteraalen-Dampfergesellschaft auf Spitzbergen errichtet hatte.
Es war auch wirklich eine ~fin de siècle~-That, in dem einsamen
nordischen Inselreiche, das bisher nur von Walfischfängern und
Nordpolfahrern berührt worden, ein Unterkunftshaus für Touristen zu
schaffen, dasselbe während der zwei Sommermonate durch regelmäßigen
zehntägigen Dampferverkehr mit dem norwegischen Festlande zu verbinden
und sogar -- ein Postamt, natürlich mit Ansichtspostkarten, daselbst
zu installieren. Kommandant des zwischen Spitzbergen und Hammerfest
zirkulierenden Dampfers ist Otto Sverdrup, der berühmte Kapitän der
„Fram“ Nansens; als Wirt auf Spitzbergen funktioniert jener Bernt
Bentsen, welcher von Nansen seinerzeit noch in letzter Stunde vor
Abfahrt der „Fram“ in Tromsoe für die Nordpolexpedition angeworben war.
Sportsleute haben nun Gelegenheit, mit Retourbillet nach Spitzbergen zu
fahren und nach Belieben einige Wochen in der Adventbay zu verweilen.
Alles zur Meer- und Küstenjagd Notwendige steht dort zu ihrer
Verfügung, und für 10 Kronen (zirka 14 Franken) per Tag finden sie in
dem „Hotel“ reichliche und gute Verpflegung und Unterkunft.

Wie schon gemeldet, war die Bude während unserer Anwesenheit noch
geschlossen, da der Dampfer, welcher Wirt und Proviant und die ganze
Installation bringen sollte, das blockierende Eis nicht zu durchdringen
vermochte. Die Gesellschaft hat allen Grund, dies zu bedauern; denn die
350 Passagiere der „Auguste Viktoria“, von den durstigen Musikanten
und Schiffsleuten nicht zu sprechen, hätten ihr eine reiche Einnahme
gesichert. Einen Schoppen auf Spitzbergen hätte jeder getrunken und
der Rarität halber wohl auch ein bißchen Walfischragout oder Ähnliches
gekostet.

Das kleine Hotel macht, aus der Nähe gesehen, einen ganz freundlichen
Eindruck; es ist ein einstöckiges Holzhaus im Chaletstil mit geräumiger
Veranda. An ein größeres Speisezimmer mit Wiener Sesseln reihen
sich beidseitig kleine schmucklose Schlafräume an mit je 4-6 nach
Art der Schiffskojen übereinander angebrachten Holzpritschen. Ein
Miniatureckzimmerchen war, wie einzelne rudimentäre Utensilien erkennen
ließen, Postoffice und „Schreibsalon“. Sogar ein halbvollendeter
norwegischer Brief lag auf dem tintenbeklexten Löschpapier.

Wir umstöberten das einsame Haus wie Einbrecher, probierten jede
Klinke, suchten jeden Laden, dessen Jalousien dürftigen Einblick
gewährte, zu öffnen, und einige junge Amerikaner erstiegen unter
Führung des Schiffsposthalters sogar das Dach, von wo sie sich Eingang
verschaffen konnten. Ihre Beute waren einige sehr leere Champagner- und
Bierflaschen.

Zum Schlusse postierten sich die 10 Mitglieder unserer
Tischgesellschaft möglichst malerisch auf der Veranda und ließen sich,
um ein bleibendes Andenken an den mehrwöchentlichen gemütlichen Verkehr
auf der „Auguste Viktoria“ zu haben, photographieren. Der Zahlmeister
des Schiffes -- gar nicht unser Freund -- hatte die Unverfrorenheit,
sich uneingeladen der Gruppe auch einzuverleiben; wir rächten uns
dadurch, daß wir beschlossen, den gutgenährten, etwas protzigen Herrn
in Uniform auf unserm Bilde als -- Hotelportier zu deklarieren.

[Illustration: Hotel Adventbay (Spitzbergen).]

Die ganze Nacht -- sie war ja taghell, flogen die Dampfbarkassen
zwischen Schiff und Küste hin und her. Immer wieder zog’s einen ans
Land, um nochmals die Wunder der nordischen Blütenwelt aus der Nähe zu
sehen oder noch irgend etwas Interessantes zu erleben oder zu erbeuten.

Und an Bord herrschte die allerbeste Stimmung. Die sonnige Nacht
war so lau, daß man ohne Überzieher auf Deck lustwandeln oder
bequem ausgestreckt die wunderbare Szenerie genießen konnte. Mit
überraschender Schärfe stachen die Konturen der Gebirge und Firnfelder
gegen den blauen Himmel ab, und die auf der Uferlandschaft noch
herumkrabbelnden Touristlein sah man in all’ ihren Bewegungen
lächerlich deutlich. Der Kontrast zwischen der Eintagsfliege Mensch
und den grandiosen Marksteinen der Ewigkeit ist mir kaum je so zum
Bewußtsein gekommen.

Zu Bett mochte niemand; das erhebende Gefühl, glücklich am Endziel der
Fahrt angelangt zu sein, und eine Flut ganz neuer, ungeahnter Eindrücke
verscheuchte allen Schlaf. Im Biersalon wurde -- ohne Respekt vor der
Polizeistunde -- stramm konzertiert; nach Mitternacht zog’s auch uns
solide Naturkneiper noch zu Pschorr und belegten Brötchen, und wir
erwischten als Zugemüse gerade noch den geistreichen Berliner-Walzer:
„Ist denn kein Stuhl da, Stuhl da, Stuhl da für meine Hulda, Hulda,
Hulda?“, der von der ganzen fröhlichen Gesellschaft -- in allen
Stimmlagen und Geschlechtern -- gleichviel ob leer der Mund oder
proviantvoll -- mit der nötigen Inbrunst mitgesungen wurde.

Endlich gab’s Ruhe und Frieden; der größte Teil der Menschheit
schlief, unbekümmert um die nachtschwärmenden Ausnahmen, und erwachte
erst, als andern Morgens in aller Frühe die Ankerkette rasselte und
unser Meerriese wieder zu atmen und sich zu recken begann.



~X.~

     Abfahrt aus der Adventbay. -- Polarnebel. -- Seekrankheit. --
     Herrliche Einfahrt in den Fjord von Tromsoe.


Der Morgen des 13. Juli war nicht von tadelloser Schönheit. Nebel und
Wolken verhüllten den größern Teil der majestätischen Gebirgs- und
Gletscherlandschaft; aber das Gewölk war in Bewegung und wer während
der Ausfahrt aus dem Eisfjord auf Deck stund und rückwärts schaute,
konnte abteilungsweise nochmals alle die Herrlichkeiten genießen,
welche sich tags zuvor ihm eingeprägt hatten. Bald erschien ein
imposanter schneebedeckter Gebirgsstock in der Wolkenlücke, bald ein
sonnenglänzender Gletscher, dessen Ende nicht abzusehen war, bald ein
grünender, schneefleckiger Abhang, und oft glaubte man, die Strahlen
der Sonne müßten im nächsten Augenblicke den Schleier zerreißen, der
über der nordischen Landschaft hing. Aber wenn eben die Konturen
erscheinen wollten und man im Begriff war, das malerische Gesamtbild
der Küste Spitzbergens nochmals in sich aufzunehmen, so verschwand es
wieder in dem neckischen Naturspiel, und man mußte zufrieden sein,
in irgend einem Teile des Gesichtsfeldes ein kleines Stück Welt zu
erblicken.

Je mehr wir uns dem offenen Meere näherten, desto dichter wurden Gewölk
und Nebel; schließlich sah man kaum mehr zehn Schritte vorwärts; der
Nachbar auf Deck erschien, auch wenn man fast Schulter an Schulter
mit ihm stund, in ziemlicher Entfernung, und man konversierte wie
Schwerhörige oder durch Hauslängen Getrennte.

Vom Kapitän erging der Befehl, die wasserdichte Schotte zu schließen
und die Rettungsboote klar zu machen. Dann ertönte jede Minute das
schreckliche Getöse des Nebelhorns. Diese Maßregeln hatten für Nervöse
und Zaghafte etwas Beunruhigendes; dem ruhig Überlegenden gaben sie ein
Gefühl von Sicherheit. Immerhin mag da und dort einer die Querschotte
zum Kuckuck gewünscht haben, wenn er -- vielleicht in sehr pressanten
Geschäften -- von seiner Kabine aus eine kleine Exkursion unternehmen
wollte und die altgewohnten Wege plötzlich durch eine eiserne Wand
verrammelt sah.

Langsam, langsam durchschnitt unser Schiff Nebel und Wellen; Kapitän
und Lotsen verließen die Kommandobrücke nie, und auf jedem Auslugposten
spähte ein Matrose in die graue Ungewißheit hinaus. Das Bewußtsein,
möglicherweise in unmittelbarer Nähe der Yacht des italienischen
Kronprinzen zu sein und sie gelegentlich anzurennen, mag wohl die
Aufmerksamkeit und Vorsicht noch vermehrt haben.

Nach 2 Uhr mußten wir auf der Höhe des Bellsund sein, in den wir
einlaufen sollten. Das war nun allerdings in dem Nebel eine absolute
Unmöglichkeit. Der Kapitän ließ anhalten; in fast lautloser Stille,
welche nur das grauenhafte Heulen des Nebelhorns unterbrach, hob und
senkte sich unser mächtiges Schiff auf der nebelbedeckten Flut und in
gespannter Erwartung harrten wir des Momentes, wo der Nebel zerreißen
und wir die Riesengletscher des Glockensundes erblicken könnten. Aber
er kam nicht und nach 1½-stündigem Warten meldete ein Anschlag, „daß
ein Anlaufen des Bellsundes leider unmöglich sei und die Fahrt nach
Tromsoe fortgesetzt werden müsse.“ Dann begann wieder das rhythmische
Geräusch der Maschinen; unser Schiff drehte nach Süden und wir
schwenkten die Hüte und riefen dem naheliegenden, aber unsichtbaren
Spitzbergen unser Lebewohl zu -- alle, trotz der Enttäuschung, in ganz
vergnügter Stimmung, nach und nach sogar Professor B., der doch seine
zweifellos schöne, für den Bellsund bestimmte Schützenfestrede nicht
hatte ablassen können.

Der Nebel wich nicht bis zum späten Abend, und wir fuhren nur mit
halber Geschwindigkeit, die übrigens, um Kohlen zu sparen, bis
Tromsoe beibehalten wurde, auch nachdem die Welt wieder durchsichtig
geworden war. Auf Deck blieb noch alles vollzählig, während die
Reihen an der Tafel bedenkliche Lücken aufwiesen. Das Drama, blaß und
angstschweißtriefend mit zugehaltenem Munde plötzlich bei der besten
Nummer des Menus vom Tische aufzustehen und -- von hundert mitleidlosen
Augenpaaren verfolgt -- hinauszuwanken, mochten Vorsichtige nicht
riskieren; wenn man zu spät kommt, ist’s für alle Beteiligten
unangenehm. Aber auch unter den Tapfern, die mutig vor ihrem
beladenen Teller saßen, gab’s einige Opfer, und ich sah k. k. höhere
Staatsbeamte, deren sonst blühende Gesichtsfarbe wachsbleich geworden
und deren Gangart beim plötzlichen Verlassen des Speisesaales von ihrer
gewohnten Gravität auffallend eingebüßt hatte. Oben schimpften sie
dann über das elende Sodawasser, mit dem sie sich gestern den Magen
verdorben hätten.

Probiert wurde wohl alles gegen die Seekrankheit: Fasten, wenig essen
und trinken, viel essen und trinken (das zuletzt genannte Verfahren
fand die meisten Liebhaber), Tropfen, Zeltli, Pulver, Cognac, Sekt
etc., und eine Lady schützte sich gegen den gefürchteten Zustand durch
das Aufsetzen einer -- dunkelroten Brille. Die Sache ist nicht so ganz
widersinnig, als sie auf den ersten Blick aussieht. Der Ausgangspunkt
der Krankheit ist das Gehirn, nicht der Magen, und es mag wohl sein,
daß die Eintrittspforten des Gesichtsorganes dabei eine wichtige Rolle
spielen. Wenigstens erleichtert das Schließen der Augen die Pein
um etwas. Geistige Ablenkung thut auch gut; die Skater und Jasser
brauchten keine „Brechschüsseln“, und eine Dame, die der Krankheit sehr
unterworfen ist, erzählte mir, daß sie und ihr Mann vollständig gefeit
die Fahrt über das sehr stürmische mittelländische Meer gemacht hätten,
nachdem sie bei der Ausfahrt aus Alexandrien zu ihrem großen und
nachhaltigen Schrecken die Thatsache entdeckt, daß ihnen eine Tasche
mit 6000 Franken in Gold beim Einbooten gestohlen worden war.

Unser Trio blieb vorläufig gesund -- meine Wenigkeit für alle Zeiten
-- und nach Tisch musterte ich fröhlich rauchend die verschiedenen
Situationen auf dem Promenadendeck. Wie zum Hohne spielte die Kapelle
einen Straußwalzer: Wein, Weib und Gesang: „Was soll die Angst,
was soll die Pein?“ Diese Reminiscenz an das letzte Konzert des
Oratorien-Gesang-Vereins im neuen Saale des Hotels Bahnhof trieb dem
Präses fast das Wasser in die Augen.

Am heutigen Abend stieg nun allerdings jeder und jede sehr rasch in die
Klappe; das Meer wurde recht unangenehm, und von Schlafen war nicht
die Rede. Geächz rechts und links und gegenüber in den Kabinen, und
noch prägnantere Geräusche bildeten die musikalische Unterhaltung.
Mein ~Vis-à-vis~ -- ein strammer Rittmeister -- wurde als hülflose
Jammergestalt von dem braven Steward zu Bett gebracht und mit wahrhaft
mütterlicher Sorgfalt und Ratschlägen zugedeckt: „So jetzt legen Sie
sich ’mal steif auf den Rücken, den Kopf tief und schließen Sie die
Augen und schnaufen Sie, was das Zeug hält, und wenn’s was gibt, so
ist hier gleich beim Kopfende ein Aschenbecher.“ Von dieser Form sind
die blechernen Behälter, welche die vorsorgliche „Auguste Viktoria“
ihren Gästen bei zweifelhaften Zuständen empfangsbereit an das
Schmerzenslager steckt.

Na nu! Das Ding wird aber ungemütlich! Das hob sich und senkte sich
und legte sich ein bißchen nach rechts und ein bißchen nach links,
bald der Vorsteven höher, bald der Hintersteven, und hie und da hatte
man die schwer zu beschreibende Empfindung, als ob alle Bewegungen
auf einmal sich vollzögen und im Innern des Körpers die entsprechende
spiralige Verkrümmung der Seele hervorriefen. Sogar meine hinter den
Spiegel gesteckte Schweizerfahne verlor das Gleichgewicht und fiel nach
Mitternacht mit Gepolter zu Boden.

Frühzeitig und gerne verließ man seine Lagerstätte, an deren Holzwerk
sich bald die rechten, bald die linken Rippen gescheuert hatten, und
bestieg etwas gerädert das Deck, wo’s wenigstens herrlich frische Luft
gab und das wiederholte Schauspiel spritzender Wale. Das Wetter hatte
sich gebessert. Der Nebel war ganz gewichen; richtiger -- wir waren
indessen in nebelfreie südlichere Breiten gekommen. Spitzbergen selbst
mag noch länger in seinem undurchsichtigen und kalten Gewand gesteckt
haben.

Unsere Kapelle blies zu ungewohnter Stunde -- schon vor dem ersten
Frühstück -- eine choralartige Melodie; darüber befragt, gab unser
überaus höfliche und deshalb eine Antwort nie versagende Tischsteward
die Auskunft, es sei heute deutscher Buß-, Dank- und Bettag. Unsere
darauf eingestellte Stimmung geriet aber ins Wanken, sobald als Nr. 2
des musikalischen Programmes „die Holzauk’tschon im Grunewald“ ertönte,
und der nie verlegene Kellner berichtigte dann sofort den Buß- und
Bettag in das Geburtsfest Wanamakers, welchem die Kapelle ein Ständchen
brachte, und das stimmte denn auch.

Gegen Abend waren wir schon wieder im Bereich der norwegischen
Schären und glitten ruhig und bei herrlichstem klarem Himmel durch die
spiegelglatten Fluten, jeden Augenblick durch ein neues Landschaftsbild
entzückt. Alles war wieder gesund und vergnügt. Wir schienen innert
Tagesfrist in eine ganz andere Welt versetzt. Das Schauspiel der
Mitternachtssonne erlebten wir hier in einer Pracht, wie es wohl
Nordlandsfahrern selten so zu teil wird. Solche Farbengluten hatte
ich nie zuvor gesehen, und wenn man im Übermaß des Entzückens das
Allerschönste zu sehen und zu genießen glaubte, so brachte eine
Wendung des Schiffes -- eine Biegung um eine Landzunge -- das vorher
Unglaubliche -- eine nochmalige Steigerung der prachtvollen Szenerie.
Die photographischen Apparate waren die ganze Nacht in Thätigkeit und
einzelne Passagiergruppen ließen sich der Kuriosität halber beim Glanze
der Mitternachtssonne abkonterfeien.

Bis halb 3 Uhr saßen und stunden wir dann, ein weihevoll, ja dieser
göttlichen Naturoffenbarung gegenüber fromm gestimmtes Volk, dicht
gedrängt auf dem Vorderdeck und ließen die Wunder Gottes an uns
vorüberziehen. Die nach Tromsoe leitenden Fjords zeigen saftig grüne
Ufer am Fuße schnee- und gletschergekrönter, steilaufsteigender
Berginseln; ab und zu erblickt man eine menschliche Niederlassung,
eine kleine freundliche Kirche, umgeben von Fischerhütten. Trotz der
vorgerückten Stunde war das Wasser sehr belebt. Malerische Segler,
Fischerboote kreuzten, während die Insassen die Netze auswarfen. Einmal
grüßten wir auch einen Walfischdampfer, und wo das Ufer bewohnt war,
nahten sich kleine Kähne mit neugierigen Mädchen unserm langsam und
ruhig dahingleitenden Riesen. -- Diese kleinen Fahrzeuge sind nach
Art der Wikingerschiffe vorn und hinten hoch aufgebaut und gewähren,
namentlich wenn bunt gekleidete Norwegerinnen am Ruder und Steuer
sitzen, einen äußerst malerischen Anblick. Da ereignete es sich dann
allerdings, daß die weihevolle Stille plötzlich durch lautes Zurufen
und Grüßen unterbrochen wurde, und die freundlichen Wikingerinnen
ließen mit Winken nicht nach, bis wir um eine Ecke ihrem Gesichtskreis
entschwunden waren.

Gegen halb 3 Uhr erfüllte ich die schwere Pflicht, die märchenhaft
schöne Welt zu verlassen und mich für einige Stunden zu Bett zu
legen. Aber das ging nicht leicht; kaum hatte ich einige Schritte in
der Richtung meiner 80 Meter weiter zurückliegenden Kabine gethan,
so wurden sie durch neue Ausrufe des Entzückens der staunenden Menge
gehemmt, und ich _mußte_ mich immer wieder umdrehen und immer wieder
nochmals beide Augen voll nehmen von der Pracht und Herrlichkeit.

Endlich lag ich und -- schlief nicht, aber ruhte und zehrte an
dem Bewußtsein, daß diese Einfahrt nach Tromsoe im Glanze der
Mitternachtssonne und im Gegensatze zu der kurz vorher erlebten
Polarnebelöde wohl das Schönste an der ganzen Reise sein und bleiben
werde. Und doch gab’s noch weitere Steigerungen!



~XI.~

     Ankunft in Tromsoe. -- Besuch im Lappenlager. -- Die Stadt
     Tromsoe. -- Küstenlappen. -- Musikabend an Bord. -- Spaziergang
     beim Schein der Mitternachtssonne.


Gegen 8 Uhr fuhren wir in den eigentlichen Tromsoesund, welcher,
zirka 500 Meter breit, die Insel mit der gleichnamigen Stadt von dem
norwegischen Festlande trennt. Die Temperatur war eine so unerwartet
hohe, sommerlich schwüle, daß sie einen schweißtriefenden Berliner
Kommerzienrat zu dem Reime entflammte:

    „Gestern in Spitzbergen,
    Heute in Schwitzbergen“

Tromsoe ist eine Stadt von 6300 Einwohnern, mit lebhaftem Fisch-,
Thran- und Pelzhandel; sie nimmt sich vom Sund her ganz stattlich aus.
Die großen, der Fischereiindustrie dienenden Strandhäuser -- Magazine,
Dörranstalten, Schiffswerften etc. -- stehen auf hohen Pfählen, die
je nach Ebbe oder Flut mehr oder weniger im Wasser verschwinden. Man
glaubt eine Pfahlbaustation vor sich zu haben. Aus dem Hauptstadtbilde,
das im wesentlichen aus Holzhäusern besteht, springen einige Kirchen
und als größere Bauten das neue Museum, das Gymnasium und ein
Lehrerseminar in die Augen.

Der Abhang des Berges, an dessen Fuß Tromsoe liegt, ist teilweise mit
Birken und Ebereschen bewachsen und in den größern Lichtungen des
Dünen-Waldes liegen recht hübsche Villen mit gaisblattumrankten
Altanen; zu oberst auf dem Berge ist der Abend-Korso von ganz Tromsoe
-- ein Vergnügungsgarten, in welchem nur alkoholfreie Getränke zu haben
sind. Der würde bei uns leer stehen; in Norwegen aber bildet er den
Mittelpunkt einer fröhlichen und -- wie man mir sagte -- niemals ins
Rohe ausartenden Geselligkeit.

Sehr interessant ist das Leben im _Hafen_ von Tromsoe; dort liegen
außer Frachtdampfern und Seglern verschiedener Nationen namentlich auch
die für den Fang von Walrossen, Robben und Walfischen ausgerüsteten
Jagdschiffe. Mitten im Sund ankerte die weißglänzende Yacht des Fürsten
von Monaco, die wohl mit dem Ertrag des prunkvollen Elendes in Monte
Carlo erbaut und unterhalten wurde. Von unserm Schiffe aus bemerkten
wir während der Einfahrt ein äußerst bewegtes Leben auf dem weithin
sichtbaren Hauptplatze der Stadt -- eine bunte Volksmenge, welche
mit Fahnen und Blechmusik sich vorwärts schob. Wir vermuteten eine
kirchliche Prozession; es handelte sich aber, wie wir nachher erfuhren
-- um ein Schützenfest. Also auch hier wie bei uns.

Unter den Klängen der norwegischen Hymne und Grüßen vom Strande zum
Deck und umgekehrt fiel der Anker. Der erste, der nun in Funktion
trat, war unser wackerer Postmeister. Die in Tromsoe auf uns wartenden
Postsendungen wurden an Bord geschafft und im Konversationssaal zu
Händen ihrer Adressaten unter die Stewards verteilt -- bei sorgfältig
verschlossenen Thüren, um die ungeduldig harrenden und andrängenden
briefgierigen Passagiere fernzuhalten. Vierzehn Tage waren wir nun
ohne Nachrichten aus der Heimat, wenn auch nicht ohne alle Kunde von
der Welt; denn an jeder Haltestation, wo Telegraph und Zeitungen sich
fanden, wurde von einem Vertreter der Hapag in englischer und deutscher
Sprache ein Extrakt der wichtigsten Weltereignisse angefertigt und
jeweils am „schwarzen Brette“ unseres Schiffes angeschlagen, wo’s dann
nachher zirka eine Stunde lang her- und zuging wie auf einer Börse.

Das allgemeine Programm für den heutigen Tag lautete: Vormittags
Sehenswürdigkeiten in Tromsoe, nachmittags Besuch des Lappenlagers
in Tromsdal auf dem gegenüberliegenden Festlande. Wir drei machten
die Sache in umgekehrter Reihenfolge, um dem Gedränge zu entgehen und
ungestört beobachten und genießen zu können. Während die Dampfbarkassen
Gruppe um Gruppe nach Westen ans Land führten, suchte ich mir unter
den unser Schiff umkreisenden norwegischen und lappischen Booten ein
passendes heraus, dem ich die Leiber von drei Eidgenossen anvertrauen
durfte. Es war ein wetterharter, muskelstarker Frithjof, der uns auf
kleinem Nachen ostwärts über den Sund ruderte. Wir benützten die
stille Ueberfahrt, um ungestört durch das nahe Getriebe der Welt die
eingegangenen Briefe zu lesen, ersehnte Nachrichten aus der Heimat,
gottlob von allen Seiten nur Gutes. Das hob unsere Reisestimmung.

Nach halbstündiger Fahrt erreichten wir Storstennaes (Naes = Nase,
eine in Norwegen immer wiederkehrende Ortsbezeichnung für auf
Landzungen gelegene Ortschaften), wo einige Bauernhöfe und auch ein
kleines Gasthaus den Eingang in das grüne Romsdal hüten. Ein breiter
Fußweg führt durch Wiesen und dann durch einen lichten Wald von 3-5
Meter hohen Birken sanft aufsteigend thalaufwärts, während in der
Tiefe ein rauschender Strom dem Fjorde zueilt. Die Luft war heiß
und schwül und zahllose Mücken peinigten die Wanderer, fast wie in
tropischem Lande; hie und da war auch ein den Pfad kreuzender Bergbach
zu durchwaten. Aber was focht uns das alles an? Rechts und links vom
Wege duftete es wunderbar -- reizende Waldblumen in allen Farben;
gradaus fiel der Blick auf den unten lichtgrünen, oben schneebedeckten
Tromsdalstind, der das Thal gegen Osten abschließt, rückwärts glänzte
der blaue Fjord und seitwärts in der Tiefe schäumte ein ungestümes,
breites Schneewasser. Ab und zu begegneten wir bereits einigen Lappen,
die mit selbstverfertigten Artikeln zu Markte zogen, in Rentierfelle
oder blaue Kittel gekleidet, schmutzig und unsagbar duftig, jeder, wie
der Erdball, mit und in seiner eigenen Atmosphäre kreisend. Wehe dem,
der sie kreuzte! Aber die Gesichtsbildung fanden wir durchaus nicht
häßlich, wie man sie sonst schildert, weder beim weiblichen noch beim
männlichen Geschlechte, und wenn wir einen Jungen oder Alten mit unserm
stereotypen Gruß: „Grüetzi Lappi“ anredeten, ging sogar etwas recht
Freundliches, fast Anmutiges über seine Züge.

Nach ¾stündigem Marsche und einigen schließlichen Seufzern über
Hitze und Schnacken hatten wir das Ziel erreicht und befanden uns
inmitten des Lappenlagers, einer zerstreuten Gruppe von Stein- und
Lehmhütten; auch einige durch Birkenstämme gestützte Leinwandzelte
liegen dazwischen, bevölkert durch Lappen aller Lebensalter und durch
Ziegen, Kühe und Hunde, welche in friedlichem Durcheinander sich in die
herrlich grünen, aber stellenweise morastigen Rasenplätze teilten.

Die Lappen im Norden Schwedens, Norwegens und Rußlands -- deren Zahl
sich gegenwärtig auf 30,000 beläuft -- sind der letzte Ueberrest des
großen Stammes, der einst ganz Skandinavien beherrschte. Nach einem
Grenzvertrag vom Jahre 1751 haben die schwedischen Lappen das Recht,
mit ihren Rentieren im Sommer nach der norwegischen Meeresküste zu
ziehen und dort zu weiden, wogegen den norwegischen Lappen und ihren
Herden im Winter das waldigere, geschütztere schwedische Land offen
steht. Zur Zeit sind es nur noch gegen 2000 der in Skandinavien
lebenden Lappen, welche nomadisieren, während die übrigen, also die
Mehrzahl, sich im Laufe der letzten Jahrhunderte wesentlich unter
dem Einflusse der auch nach Norden drängenden seßhaften Norweger als
Fischer und Handwerker in schmutzigen Hütten angesiedelt hat, ohne
aber ihre ethnographischen Eigentümlichkeiten einzubüßen. Der einzige
Reichtum der nomadisierenden Lappen besteht in ihren Rentierherden;
vom Rentier entnehmen sie alles, was sie zu ihrer Nahrung und Kleidung
bedürfen. Aber für den Unterhalt einer einzigen Familie ist eine
beträchtliche Zahl notwendig; wer nicht mehr als 100 Tiere besitzt, muß
sich schon einem größeren Besitzer anschließen, zu welchem er dann in
ein Dienstverhältnis tritt.

Das von uns besuchte Lappenlager zählt zirka 10 associerte Familien, zu
welchen Rentierherden von insgesamt 3000 Stück gehören.

[Illustration: Lappen.]

Während aber ein paar milchliefernde Kühe und Ziegen getreulich
im Lager bleiben, streifen die Rentiere stundenweit über Berge und
Schneefelder und müssen im Bedürfnisfalle oder für die Weiterwanderung
erst mit Hülfe der zahlreich vorhandenen langhaarigen kleinen
Wolfshunde mühsam aufgesucht und zusammengetrieben werden. So auch
heute, wo die Touristenfirma Beyer durch eine Extraauslage von 50 Mark
auf nachmittags 4 Uhr einige hundert Rentiere durch die lappischen
Besitzer ins Lager schaffen ließ, um den auf jenen Zeitpunkt beorderten
Passagieren der „Auguste Viktoria“ ein möglichst buntes und lebendiges
Bild darbieten zu können.

Wir näherten uns den kegelförmigen Stein- und Lehmhütten (Gammen
genannt), aus welchen ein bläuliches Räuchlein zum Himmel stieg.
Alsbald kamen ihre Insassen uns entgegengelaufen, die Hände voll
Verkaufsgegenstände verschiedenster Art, alle aber vom Rentier
stammend: Felle, Geweihe; Löffel, Messer, aus Knochen und Gehörn
gearbeitet und mit naiver Kunst verziert; bunte Puppen aus Fellen und
Läppchen von so greulichem Geruch, daß man sie gerne und hastig wieder
zurückgab, wenn nach dem ersten Ausruf des Entzückens die Nase in
Funktion getreten war.

Mit Todesverachtung betraten wir durch Morast und eine nicht zu
schildernde Atmosphäre verschiedene der originellen Wohnstätten; sie
sind aus Steinen, Lehm und Rasenstücken in flacher Kegelform erbaut
und einige rohe Balken geben dem losen Gefüge den nötigen Halt. Auf
der holperigen und grünenden Steinbedachung lagern und weiden die
Ziegen; ab und zu sonnt sich Körper an Körper mit ihnen auch ein
Hund. Im Zeltinnern hängt in der Mitte ein großer Kochtopf an einer
Kette über dem am Boden glimmenden Holzfeuer; der Rauch zieht durch
eine Oeffnung an der Spitze des Daches hinaus; durch eben dieselbe
dringen Licht und Regen hinein und vielleicht auch ein bißchen Luft
-- wenig genug allerdings; wir hielten es höchstens eine halbe Minute
nacheinander aus in der brodelnden Brühe, die dort Atmungsluft heißt,
und rannten mehrmals mitten aus der Gestenkonversation durch das als
Thüre funktionierende Schlupfloch wie von Furien verfolgt ins Freie, um
nach ein paar gesunden Atemzügen wieder rückwärts zu kriechen und den
Kampf aufs neue aufzunehmen. Wer uns von draußen her aus der Entfernung
beobachtet hätte, wäre jedenfalls über unser Thun und Treiben nicht
sofort klug geworden. -- Um die Feuerstelle sind im Kreise die
Lagerstätten aus Rentierfellen angebracht und darauf kauerten, trotz
der entsetzlichen Hitze vom Kopf bis zu den Füßen in Felle und warme
Tücher verpackt, Frauen und Kinder, letztere von allen Altersstufen
und abgesehen vom Lappenduft ganz nette Geschöpfe, welche Geschenke --
Eßwaren vom Schiff -- zuerst mißtrauisch und zögernd entgegennahmen,
dann aber auf Geheiß der Mutter recht brav dafür dankten und sittsam
sie zu verzehren begannen. -- Das vornehmste Hausrecht haben die Hunde;
sie lagern überall -- zu Dutzenden, im und um das Zelt, meist ruhend,
aber mit ihren klugen Augen die Fremdlinge verfolgend. Angeknurrt
haben sie uns gar nicht; aber als im zuführenden Wege ein Stadthund
auftauchte, da ging die ganze Meute mit Gebelfer über den Aristokraten
her, so daß er heulend mit eingezogenem Schweife und nur ab und zu
ängstlich nach seinen Verfolgern schielend Tromsoe zurannte.

Der Hund ist der älteste Freund der Lappen; er ist das einzige Tier,
das mit einem echt lappischen Wort (Baednagg) bezeichnet wird, während
die Namen aller andern Haustiere germanischen und finnischen Ursprunges
sind. Daraus hat man geschlossen, daß die Lappen erst in historischer
Zeit aus ausschließlichen Jägern Nomaden geworden sind und also auch
erst dann das Rentier -- bis dahin nur Jagdwild -- gezähmt haben. Der
Gestalt und Größe nach steht der lappische Hund zwischen Spitz- und
Wolfshund; es giebt deren rot-, gelb- und schwarzhaarige; sie sehen
alle sehr intelligent aus, und ihre Treue ist sprichwörtlich.

Den auffälligsten Gegenstand unter dem Inventar der Lappenhütten bildet
die Kinderwiege. Sie ist aus einem Holzstamm ausgehöhlt, und zwar
so, daß das Kopfende durch ein kleines Vordach geschützt bleibt, mit
Rentierleder ausgeschlagen und mit getrocknetem Moos ausgepolstert.
So hängt sie mit ihrem kleinen Einwohner an einem knorrigen Ast im
Zeltinnern oder wird von der Mutter durch ein Band am Leibe getragen.
-- Von andern Dingen erregten unsere Aufmerksamkeit bunt bemalte und
originell verschlossene Holzkistchen zur Aufbewahrung von allerlei
Gebrauchsgegenständen und, wie diese, ebenfalls von den Lappen selbst
verfertigt; auch das Eßgeschirr, besonders metallene runde Löffel nach
Art der alten Apostellöffel. Verkauft hätten die Leute alles -- sogar
die Wiege; um ein Zehntel des verlangten Preises machen sie ja wieder
zwei neue.

Ohne Schmerz verließen wir das fremdartige Zelt-, eigentlich richtiger
Höhlenlager, nachdem wir uns im unglaublichsten Kauderwelsch von der
kulturarmen, aber gewiß ganz zufriedenen Gesellschaft verabschiedet
hatten. -- Derselbe blumenreiche, lichte Waldweg führte uns in einer
halben Stunde wieder zum Fjord zurück, wo unser Kahnführer in derselben
Stellung unser harrte, wie wir ihn zwei Stunden zuvor verlassen
hatten. Verfolgt von Möven und begleitet von großen über die glänzende
Wasserfläche schnellenden Fischen glitten wir nach unserm Schiffe
zurück, um uns an dessen Tafel für die Arbeit des Nachmittags zu
stärken. An Bord promenierte unterdessen halb Tromsoe; familienweise
waren die großen Kaufleute der Stadt hergekommen, um mit Erlaubnis des
Kapitäns den stolzen Bau zu sehen.

Da entzückten uns die prächtigen norwegischen Kindergestalten. Speziell
bildete ein zehnjähriger Junge mit seinen zwei kleinern Schwesterchen
den Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit -- alle drei blauäugig und
flachshaarig und von seltenem Liebreiz, daneben das Bild naturwüchsiger
Kraft und Gesundheit.

In der großen blonden Mutter, welche die Kinder führte, kämpfte der
mütterliche Stolz mit dem Unbehagen über die gar zu übertriebene
Liebenswürdigkeit, mit der die Fremden sich an ihre Kleinen
heranmachten, und als photographierende Amerikanerinnen sie kurzer Hand
auf die Seite nahmen, als Gruppe aufstellten und der Reihe nach mit
ihren Momentapparaten beschossen, wurde ihr die Sache zu bunt; sie rief
ihr unten harrendes vornehmes Privatboot, beförderte ihren lebendigen
Schatz hinein und gab sich offenbar auf der Rückfahrt Mühe, das bißchen
Eitelkeit, das sich allenfalls auf die kindlichen Herzen hatte lagern
wollen, mit sorgsamer und liebevoller Hand abzuwischen.

Nachmittags fuhr das Gros der Schiffsgesellschaft zu den Lappen,
während wir die Stadt Tromsoe besuchten. Schön ist ihr Inneres kaum
zu nennen. Eine außerordentlich breite, nicht gepflasterte, aber
mit Trottoirs versehene Straße durchzieht parallel der Küste den
langgestreckten Ort; die Häuser sind niedrige Holzbauten ohne irgend
welches künstlerische Charakteristikum; vor jeder Hausthüre führt eine
primitive Holztreppe auf das Niveau des Trottoirs; aber _ein_ Schmuck
fehlt kaum irgendwo, und das sind herrliche Blumen, namentlich auch
Rosen von besonders schönen Farben, hinter den mit saubern Gardinen
verhängten Fenstern.

Auch ein musikalischer Genuß wurde uns zu teil; fünf Bettelmusikanten
spielten erschütternd das „Ach, wie ist’s möglich dann!“ und als wir
zusahen, waren es Rheinpfälzer, die mit ihrem Blech durch ganz Norwegen
sich durchbettelten und erst in Vadsoe, nördlich von Hammerfest,
ihren Fuß wieder südwärts zu wenden gedachten. Zweck der Reise? „Sich
ein bißchen die Welt anzusehen.“ Und wie steht’s mit den Einnahmen?
„Schlecht genug; die Norweger haben kein Geld, weil dieses Jahr der
Fischfang wenig abgeworfen hat; aber man ißt sich so durch.“ Wo immer
wir im Verlaufe des Nachmittags in einer Straße auftauchten, stießen
wir auf die unglückliche lufterschütternde Musikbande, deren Leistungen
die Qualität ihres vaterländischen Tabakes nur um ein Geringes
überragten.

Sehr lebhaft war das Leben und Treiben auf Tromsoes Straßen und Gassen
an jenem Nachmittag nicht gerade. Nur Kinder begegneten uns in großer
Zahl und darunter viele, die mit ihrem reichen hellblonden Haarschmuck
und den klarblauen Augen prächtige Modelle für „Frithjof und Ingeborg
in der Jugend“ gewesen wären. An dem bescheidenen Schaufenster
einer Buchhandlung fanden wir neben norwegischen Originalwerken
von den modernen ausländischen Autoren Sudermann und Dostojewski
in die Landessprache übersetzt -- kein schlechtes Zeugnis für den
litterarischen Geschmack des nordischen Volkes. Daneben prangte aber
auch ein Dreyfus-Bildebog (Bilderbuch); also bis gegen das Nordkap
hatte der schändliche Lügenprozeß seine Wellen geworfen.

Die zu vielen Häusern gehörigen kleinen Gärten sind meist sehr
unordentlich gehalten und von Unkraut überwuchert. Auffallend ist das
überall gepflegte Bärenklauenkraut (~Heracleum sibiricum~), das, 3
Meter hoch und mit 80 Centimeter messenden Dolden, üppig gedeiht und
abgebrüht als Futter Verwendung findet.

Das Interessanteste in den Straßen Tromsoes sind seine Kaufläden;
da ist alles, was die arktische Zone erzeugt, in reichen Exemplaren
ausgestellt, meist vor den Häusern, um die Aufmerksamkeit der Fremden
direkt zu erregen: Felle aller Arten, unter denen einige Eisbären durch
ihre ganz außerordentliche Größe und diejenigen der Polarfüchse durch
ihre eis- und dunkelblaue weiche Farbe auffallen; dann Walroßzähne und
-Schädel, Elch- und Rentiergeweihe, Walfischohren, Kieferfortsätze
-- bis zwei Meter lange -- des Schwertfisches (mit welchen das Tier
in der Wut Schiffsplanken wie Walfischleiber anzubohren imstande
ist); dann seltene Petrefakten und Edelsteine, Lappenartikel, --
Holzschnitzereien, nationale Silber- und Filigranarbeiten und hundert
andere Dinge. Zahlreiche kostbare Felle und Geweihe, die in keiner
Kabine Platz fanden, wanderten auf unser Schiff; im Zwischendeck sah es
nachher aus wie in einem naturhistorischen Museum.

Leider versäumte ich es, in Tromsoe allerlei einzukaufen, weil
mir verschiedene Schiffsangestellte versicherten, in Bergen, der
norwegischen Schlußstation unserer Reise, sei bei der Reisefirma Beyer
alles und jedes in größerer Auswahl und bester Qualität zu haben, und
so könne man sich die Mühe des Mitschleppens ersparen. Das war ein
Leim (vielleicht ein durch den mitreisenden Agenten Beyers gekochter),
vor dem ich spätere Nordlandfahrer warnen möchte. Die lappischen
und arktischen Artikel sind nirgends in solcher Auswahl zu finden
wie in Tromsoe, auch nirgends billiger (billig ist überhaupt nichts
in Norwegen); einiges, das ich gar nicht missen wollte, konnte ich
südwärts durchaus nicht mehr auftreiben und mußte es nun mit größeren
Unkosten von Tromsoe nachkommen lassen.

Von den drei Kirchen der Stadt sind zwei lutherisch und eine
katholisch, alles einfache Holzbauten, die auch im Innern nichts
Besonderes bieten; Altäre und Stationen der letztern sind schmuck- und
geschmackloser als bei uns in mancher kleinen Dorfkirche.

Gegen Abend wurden Straßen und Hauptplätze etwas belebter; natürlich
fehlten auch hier die Radler nicht, so wenig als die Hunde, welche
sie mit Gebell verfolgten. -- Den Rückweg zur Landungsbrücke suchten
wir durch die kleinen und schmutzigen Gassen, welche von Fischer-
und Strandlappenwohnungen begrenzt unten am Sunde liegen. Durch eine
schreckliche Fisch- und Thranatmosphäre unter sorgfältiger Vermeidung
des ärgsten Bodenmorastes turnten wir vorwärts, guckten hinein, wo
irgend eine Thür- oder Fensteröffnung dazu einlud, krabbelten heimelige
Hauskatzen von ganz ungewöhnlicher Größe in ihrem dicken Balge, was
mit schnurrendem Wohlbehagen und mit sofortiger Positur in Rückenlage
entgegengenommen wurde, und versuchten auch wohl, uns durch Zeichen und
allerlei sprachliche Kühnheiten mit den Eingeborenen zu unterhalten.
Die Häuschen dieser Quartiere sind klein und schmutzig, oft ganz
baufällig, die Dächer meist mit Erde gedeckt, auf welcher fröhlich
allerlei Grün gedeiht. Nirgends fehlt eine angelegte Notleiter für den
Fall einer Feuersbrunst. Derartige Katastrophen treten in Tromsoe, wie
in all’ den norwegischen Städten, sehr häufig auf und nehmen meist
große Ausdehnung an. An allen Straßenecken sind deshalb elektrische
Feueralarmapparate angebracht. Seit der Einführung der elektrischen
Beleuchtung, welche in Norwegen wie kaum in einem andern Lande
verbreitet ist, mag aber die Zahl der Feuersbrünste abgenommen haben.

Am Landungsstege, wo wir eine halbe Stunde auf unser Boot warten
mußten, sahen wir unter der bunten versammelten Menge nochmals
zahlreiche Vertreter des Lappenstammes, und zwar jener Sorte, die
den Namen Fischer- oder Küstenlappen trägt (im Gegensatze zu den
nomadisierenden Berg- oder Rentierlappen); sie haben im Laufe der
Jahrhunderte, durch die Macht der Notwendigkeit gezwungen, ihr
Hirtenwanderleben gegen andere Berufsarten vertauscht und sind ansäßig
geworden. Aber trotz der unausgesetzten Berührung mit der Kultur
blieb ihre Originalität in Kleidung, Sitten und Gewohnheiten, wie
auch im Körperbau vollständig erhalten. Daß sie auffallend dünne,
kurze und krumme Beine und sehr starke, muskulöse Arme haben, führte
s. Z. Bastian in einer etwas gewagten Hypothese auf Vererbung dieser
durch das beständige Sitzen und Rudern erworbenen anatomischen
Eigenschaften zurück. Aber die Rentierlappen, die nie fischten und
ruderten, sind ganz gleich gebaut. Wie oben erwähnt, ist der Gegensatz
zwischen Norwegern und Lappen, auch denjenigen, die nun seit einem
Jahrhundert dort seßhaft sind, ein ganz außerordentlicher, und man
sieht auf den ersten Blick, daß man zwei ganz verschiedene Rassen vor
sich hat, die sich nicht vermischen. Inmitten der hohen norwegischen
Kultur machen diese Naturmenschen den Eindruck eines Überbleibsels
aus vorhistorischer Zeit. Gelernt haben sie aber von ihrer Umgebung
wenigstens das Handeln und Überfordern. Wir wurden förmlich belagert
von Männern, Frauen und Kindern, die uns selbstverfertigte Dinge
anboten, und da ihr Seelenduft sehr an die Gammen in Tromsdal
erinnerte, setzten wir Wert darauf, sie uns stets auf einige Meter
Distanz vom Leibe zu halten. Ihre Kleidung, auch wenn sie zerfetzt
und abgetragen ist, hat etwas Malerisches. Aus dem Kopfe tragen die
Frauen eine grell gefärbte blaue oder rote, unter dem Kinn gebundene
Kappe und um den Oberkörper ein rot karriertes Umschlagstuch.
Das Hauptbekleidungsstück für Mann und Frau bildet ein Rock aus
Rentierfell, der durch einen mit Silberschnallen gezierten Gürtel
befestigt wird; die Beine sind mit bunten Lappen eingewickelt und die
Füße tragen mit roter Schleife am Gelenke befestigt, Rentierleder- oder
Pelzschuhe.

Mit welchem Behagen kehrten wir in die sauberen und komfortablen Räume
unseres Schiffes zurück und atmeten die herrliche reine Seeluft! --
Da kamen sie eben auch von der andern Seite angeschwommen, die über
300 Besucher des Lappenlagers, schweißtriefend, pustend, von Mücken
zerstochen und mit Raritäten beladen, und bei Tische erzählte man sich
unter Lachen und vielleicht ein bißchen Aufschneiden die gegenseitigen
Erlebnisse.

Einen schönen Abschluß des Tages bildete der Besuch einer jungen
Künstlerin aus Tromsoe an Bord, welche mit ganz wunderbarer Stimme und
mit spezifisch nordischer (aber nicht arktischer) Auffassung einige
Schumann’sche Lieder sang und eine kleine andächtige Gemeinde durch
ihr musikalisches Können entzückte. Die Stimme besaß jene seltene
Klangfarbe, die in jedem gesungenen Ton und sogar im gesprochenen Worte
so eigentümlich ergreifend zum Herzen spricht, daß man unausgesetzt mit
innerer Rührung zu kämpfen hat. Als Gegenmittel stieg dann zum ~x~ten
(aber noch nicht letzten) Male der „holde Abendstern“ mit sehr viel
subjektivem und objektivem Gefühle aus dem Munde eines mitreisenden
jungen Barden zum Himmel.

Von Abends 9 Uhr an konzertierte unsere Schiffskapelle, wie
zweibeinige, mit Blaustift improvisierte Plakate nachmittags durch
die Straßen eilend verkündigt hatten, gegen ein Entree von 1 Krone im
„Grand Hotel“ in Tromsoe. Das ließ uns kalt; wohl aber zog es mich nach
11 Uhr nachts nochmals mit Macht nach dem nordischen Städtchen, aus
welchem fröhliches Leben über den Sund zu uns herübertönte. Vorbei an
dem dicht vollgepfropften Konzerthotel, durch dessen geöffnete Fenster
wir die bekannten Gesichter unserer braven Schiffsmusikanten blasend,
geigend und schweißtriefend wie ein lebendiges Genrebild erblickten,
wanderten Professor B. und ich in die Lichtfülle der polaren
Mitternacht. Auf den Straßen tummelten sich kleine Kinder mit Ball und
Reif noch scharenweise. Wann schlafen denn diese Tromsöer überhaupt?

Bald hatten wir das Weichbild der Stadt hinter uns und folgten dem
Ufer des Fjord, einer Starkstromleitung entlang. In herrlichen Farben
lag die Meereslandschaft vor uns; kein Lärm störte mehr den erhabenen
Genuß; nur aus dem offenen Fenster einer in der Höhe gelegenen Villa
trug uns ein leichter Wind die Klavierklänge des Ständchens aus Don
Juan zu. Schwarze Wikingerböte, welche die Phantasie und unser Gespräch
um tausend Jahre zurückversetzten, lagen in kleinen malerischen
Buchten vor Anker oder wiegten sich träumerisch zwischen dem Pfahlwerk
einer Fischerhütte. Gerade vor Mitternacht trat die Sonne, die eine
Stunde hinter dem Berge sich verborgen hatte, zum Vorschein und legte
flüssiges Gold auf Wasser und Land.

Damit schlossen unsere Tromsöer-Erlebnisse. Vorbei an den originellen
Kaufläden, wo Auguste-Viktoria-Leute auch nach Mitternacht noch um
Bärenfelle feilschten, stiegen wir -- nochmals durch Lappen und
norwegische Fischerleute -- zur Landungsbrücke und ließen uns, durch
die Schönheit der Welt stumm geworden, zu unserm Schiffe zurückfahren.
Von 2½ Uhr an erst wurde das Schlummergeschäft besorgt, bis 5
Stunden später die Schiffskapelle uns mit „Ein feste Burg ist unser
Gott“ zu herrlichem Sonntagsmorgen weckte.



~XII.~

     Nach Süden. -- Lofoten. -- Digermulen. -- ~Pro patria.~ --
     Besteigung des Digermulenkollen. -- Boot in Gefahr. -- Kranker in
     einsamer Fischerhütte. -- Der schwermütige Schimmel. -- Abfahrt
     von Digermulen. -- Einladungstelegramm von Kaiser Wilhelm.


Im Tromsoesund herrscht eine starke Strömung, die je nach Ebbe
und Flut nord- oder südwärts flutet. Begünstigt durch die letztere
eilte unser Kiel nach Süden und erreichte nach einer Stunde den
Malangerfjord. Links ragt der gewaltige Bensjordtind mit seinen
Schneefeldern zum Himmel, rechter Hand liegt das große Eiland Kralö,
auf welchem eine besonders wilde, schneebedeckte Felswand in die
Augen fällt, der Lille Bramand. Nach Mittag erreichten wir das offene
Meer und genossen nun die herrliche Fahrt längs der Vesteraalen und
Lofoten. Letztere sind eine Inselkette, welche sich in weitem Bogen
fast parallel dem Festlande 150 Kilometer weit nach Süden erstreckt.
Die Inseln werden südwärts immer kleiner und endigen schließlich mit
einigen unbewohnbaren Klippen. Die ganze lange Kette ist ein Gewirr von
Höhen, Tiefen und Sunden; die Berge haben alpine Formen und steigen
meist direkt aus der blauen Meeresflut auf, oder aber sie erheben sich
auf freundlichem Gelände. So weit die kraterähnlichen Spitzen nicht
mit Schnee bedeckt sind, erscheinen sie mit grünem Moos bekleidet, das
weithin leuchtet und zu dem blendend weißen Schnee einen herrlichen
Kontrast bildet. Aber auch kahle, graue Felspartien liegen dazwischen.
Ueberall öffnen sich Häfen; neben den mehreren tausend Fuß hohen, sie
begrenzenden Felswänden erscheinen die dort ankernden Dampfer wie
Nußschalen.

Die Lofoten sind das Dorado und die Sammelstation der Fischer vom
Norden und Westen Norwegens. Mitte Januar bis Mitte April sind ihrer
über 30,000 dort beisammen mit zirka 8000 Booten, um den Dorsch zu
fangen. Die Ausbeute beträgt bis 40 Millionen Stück, 5-6000 per Boot.
Der Dorsch, der für gewöhnlich die Tiefen des atlantischen Ozeans
bewohnt, bildet zur Laichzeit ungeheure, bewegungslose Schichten am
Ufer, wo er so zu sagen einfach ausgeschöpft werden kann, und auf den
großen Bänken, welche in einer Tiefe von 50-200 Meter bei den Lofoten
liegen. Dort geschieht der Fang mit Netzen und langen Leinen, an
welchen Angelschnüre befestigt sind. Am Lande werden die gefangenen
Fische gespalten, auf den Felsen ausgebreitet oder auf Holzgestellen
aufgehängt und an der Luft getrocknet, um dann später als Fracht, die
genau wie Holzscheiter aussieht, nach Bergen zu wandern. Obschon es
schwer hält, die große Menschenmenge, das Heer der Fischer, am Land
unterzubringen und oftmals ein unheimliches Gedränge herrscht, soll
doch Alles in Ruhe und Frieden vor sich gehen, und zwar deshalb, weil
das früher beliebte Branntweintrinken durch strenge Gesetze unmöglich
gemacht ist.

Wenn ein plötzlicher Weststurm eintritt und die Rückkehr der
Fischerboote nach den Lofoten ein Ding der Unmöglichkeit wird, dann
sind die Insaßen gezwungen, über den breiten Vestfjord nach dem
Festlande zu fahren und dort sich zu bergen. Dabei ereignen sich
alljährlich schwere Unglücksfälle. Viele Boote kentern, und da gilt
es dann, die am Kiel angebrachten Griffe (Stropper) zu erwischen und
sich daran festzuhalten. Oder aber, wo die Griffe fehlen, klammert sich
der Schiffbrüchige an sein großes ins Kielholz geschlagenes Messer.
Bei den später ans Land getriebenen gekenterten Booten melden die im
Kiel steckenden Messer dann in trauriger Weise die ungefähre Zahl der
Verunglückten.

Während der Fahrt längs der malerischen Lofoteninseln saß ich längere
Zeit an einsamer aussichtsreicher Stelle des Hauptdeckes mit dem einen
unserer norwegischen Lotsen beisammen, der dort behaglich seine Pfeife
rauchte und unterhielt mich mit ihm über die Nordpolfahrt Nansens. Mit
größter Begeisterung sprach er in erster Linie von Sverdrup, dem Führer
der Fram, während Nansen erst in zweiter Linie kam. „Und was glauben
Sie über das Schicksal Andrees?“ fragte ich den alten Seemann. „„O, der
ist längst alle!““ meinte er mit entsprechender Geste und reduzierte
dadurch und durch die einläßliche Begründung seiner Ansicht meine stets
noch genährte Hoffnung auf die Wiederkehr des kühnen Ballonhelden um
viele Grade. Um Mitternacht nahm unsere liebe Sonne ein Fußbad im
Meere, d. h. sie tauchte den tiefsten Teil ihrer goldenen Scheibe unter
den Horizont und begann -- als ob sie sich plötzlich eines besseren
besonnen -- wieder zu steigen; der neue Tag war angebrochen, und zum
letzten Male hatte uns die Mitternachtsstunde das Sonnengestirn gezeigt.

Unser Schiff begann nach Osten zu drehen und erreichte, einem Ausläufer
des Polarstromes, dem die Fischerboote oft gefährdenden berüchtigten
Malström folgend, den mächtigen Vestfjord, wo es, nun auf der Ostseite
der Lofoten, seinen Kurs nordwärts nahm.

Es war ein wunderschöner Morgen, als wir _Digermulen_, die kleine, auf
der Insel Hindö gelegene Dampferstation, vor uns liegen sahen. Felsige
Eilande mit sprießendem Grün scheinen die Einfahrt zu wehren; rechts
und links steigen senkrechte Felswände mit schneegefüllten Schluchten
in die Höhe. Ein originelles Gepräge erhält aber die Landschaft
hauptsächlich durch den Digermulkollen, einen zirka 1300 Fuß hohen
breit abgerundeten Kegel, an dessen Fuß die paar Häuser der kleinen
Station reizend ins Grüne gelagert sind. Nachdem wir unter den Klängen
des Preußenmarsches -- ich höre ihn stets mit unbehaglicher Empfindung,
weil mir die Melodie des „Heil dir im Siegeskranz“ (also auch unsere
Nationalmelodie) in unerlaubter Weise darin verwurstet scheint -- unser
Schiff verankert, wiederholten sich die längst bekannten Szenen des
blitzschnellen Klarmachens unserer Barkassen (sie schwammen, bevor
der Anker festsaß) und des Gedränges nach diesen Beförderungsmitteln.
Das entwickelte sich aber stets in bester Ordnung; oben auf der
Schiffstreppe stund ein Schiffsoffizier, und wenn die erlaubte Zahl
eingestiegen war, so hieß es Halt, gleichviel ob der Gatte von der
Gattin getrennt blieb oder nicht. In einer Minute fuhr ja wieder eine
Barkasse.

Die Erinnerung an Digermulen gehört zu den schönsten unserer Reise. Das
ganze freundliche Nest besteht aus einigen Häusern der Familie Normann,
welche hier einen Kramladen mit allen für die Nordlandbewohner nötigen
Waren hält und Fisch- und Thranhandel treibt, sowie aus fünf oder sechs
Fischerhütten. Während der große Passagierstrom sich bergaufwärts
wälzte, durchstreiften wir die reizende Küstenlandschaft. Auf einer
grünen Erhebung, kaum 200 Schritte von der Landungsstelle entfernt, ist
ein kleiner Friedhof, in welchem, von Blumen, aber auch von Unkraut
bedeckt, die hier verstorbenen Fischer neben einer Familiengruft der
Normanns ruhen.

Unser Weg führte uns durch Wiesen und Gebüsch; bald kletterten wir auf
felsige Abstürze, welche im Laufe der Jahrhunderte zu wilden Gärten
umgewandelt worden, und wo eine reiche Flora uns entzückte; bald hemmte
unsere Schritte eine tief ins Land geschnittene kleine Bucht, am
Strande übersäet mit Muscheln und Meertieren, lebendigen und toten.

Lerchen stiegen eine nach der andern und schmetterten ihr Morgenlied in
die Luft und uns wurde ganz frühlingsmäßig zu Mute.

Etwas landeinwärts arbeiteten einige Männer an einer neuen Straße --
der ersten, die nach Digermulen führen wird -- und ihre Sprengschüsse
fanden in den Bergen ein gewaltig rollendes vielfaches Echo. Mit einer
freundlichen alten Frau, welche, ihren Enkel an der Hand, den Männern
das „Z’nüni“ zutrug, hatten wir eine längere Unterhaltung, deren
Inhalt aber beiden Parteien größtenteils unklar geblieben ist; aber
auch hier konnten wir uns freuen über den wohlerzogenen, folgsamen
kleinen Norweger, der zuerst ein bißchen scheu sich zur Hälfte hinter
den Rockschößen der Großmutter verbarg und dann folgsam uns ein
freundliches Lachen und die Hand gab.

[Illustration: Digermulen.]

Vom Laufen, Klettern, Blumensammeln, Norwegisch Parlieren und
entzücktem Ah-rufen ermüdet, suchten wir eine Ruhestätte. Uns winkte
eine nahe Bucht, die in wahrhaft Böcklinschen Farben glänzte;
hellgraues, vielfach zerklüftetes und ausgewaschenes Felsgestein, ein
zu Stein erstarrtes Spiel der Wellen vortäuschend, begrenzte seitlich
den kleinen Sund, dessen wenig tiefes Wasser alle Schattierungen
von Blau und Grün zeigte. Wo das Meer die Felsen bespülte, haftete
an ihnen, teils direkt, teils durch Vermittlung von festgekalkten
Muscheltieren, glänzender Meertang, dessen beblätterte, auf dem Wasser
schwimmende Teile die ruhelose Wellenbewegung, hin- und herwiegend,
mitmachten. Dazwischen lebte und webte allerlei wunderbares Meergetier,
viele Kreaturen, die mir in der Zoologie noch nicht vorgestellt waren.
Landwärts lag herrlich glatter, trockener weißer Sand, auf dem wir
uns ausstreckten. Ueber den tiefblauen Fjord hinaus, in welchen unser
kleiner Sund sich öffnete, fiel der Blick auf die gegenüberliegenden
grünbewachsenen Felsengebirge herrlichster Formation, in welchen wir
alte Bekannte, namentlich den Pilatus und Titlis, erkannten; noch
weiter zurück, aber auch sie dem Auge scheinbar ganz nahe, begrenzten
mächtige Gletscher und Firnfelder den Horizont. Eben kam ein schwarzes
Wikingerboot mit geblähten Segeln in unser Gesichtsfeld und über ihm
kreiste eine Schaar schneeweißer Möven in ruhigem Fluge.

Wo uns immer die Fremde am schönsten erschien, da gedachten wir am
heißesten der geliebten Heimat, und so geschah denn auch hier eine
leisem Heimweh entspringende impulsive That, über welche allerdings
einige vom Berge herab uns musternde Feldstecher nicht klug werden
konnten. Im Schweiße unseres Angesichtes trampelten wir ein mächtiges
eidgenössisches Kreuz in den weichen sandigen Strand und schmückten
es mit frischem Grün. Dann galt es in kühnem Satze, ohne die Umrisse
des vaterländischen Zeichens zu verletzen, seinen Mittelpunkt zu
erreichen; der Akrobatensprung gelang zwar nicht allen Dreien gleich
gut, wurde aber ohne Widerrede als selbstverständliche Notwendigkeit
ausgeführt und so stunden wir denn nun, wie einst die drei Eidgenossen,
auf dem Rütli, aber mit dem Anachronismus unserer Spitzbergenfahne,
und brachten ein lautes, ein sehr lautes Hoch aus auf unser liebes
Vaterland, den Inbegriff alles dessen, was uns zu Hause lieb und teuer
war, und weil nun doch einmal der Sitte gemäß ein Trunk dazu gehört und
der Genuß von Meerwasser für ein patriotisches Fest nicht zu empfehlen
ist, wurde die kleine Cognacration, welche ich in der Tasche führte,
ohne weitere Rücksicht um drei mal zwei bis fünf Gramm gemindert.
Was thut man nicht alles dem Vaterlande zu Liebe! Nun folgte aber
ein ergötzliches Nachspiel. Kaum war unser Hoch ertönt, das offenbar
für nordische Ohren wie ein Wehgeschrei geklungen hatte, so kamen
die benachbarten Straßenarbeiter menschenfreundlich herzugerannt, um
die Hülferufenden aus drohender Gefahr zu erretten, und sie schauten
sehr verdutzt drein, als sie statt Ertrinkenden eine gar nicht
oder wenigstens nur durch ein Minimum von Cognac sehr unbedeutend
beschädigte, lachende Gesellschaft vorfanden.

Mein Blick fiel immer und immer wieder auf den mächtigen, wie ein
Sturmhut dem grünen Berge aufgesetzten Basaltkegel des Digermulkollen,
an welchem eine große Zahl der Auguste-Viktoria-Passagiere wie Ameisen
herumkrabbelten. Von oben herab winkte eine norwegische und eine
deutsche Flagge, und mit dem Feldstecher erkannte man Scharen von
Menschen, welche am Rande des Hochplateaus stehend oder lagernd sich
die Welt aus der Vogelperspektive ansahen und photographierten. Der
Berggeist lockte und ich folgte ihm, während meine Begleiterinnen in
der blumigen Ebene zu bleiben vorzogen.

Querfeldein ging’s über eine morastige Wiese, ohne Weg und Steg, wobei
ich manchen Schuh voll herauszog, aber auch eine Pflanze in größter
Menge antraf, den (norwegischen) Sonnentau (~Drosera~), der mit seinen
drüsig behaarten, reizbaren Blättern Insekten zu fangen und zu verdauen
im Stande ist. Wenn ein kleines Tier eines dieser Blätter berührt, so
bleibt es an dem klebrigen Safte der Drüsen hängen. Das Blatt faltet
sich rasch zusammen und öffnet sich erst wieder, wenn der Gefangene tot
und verdaut ist.

In gerader Luftlinie über Stock und Stein, namentlich über felsiges
Geröll kletternd, wobei wilde Weichselkirschbäume mir Halt und Stütze
boten, erreichte ich keuchend und schweißdurchnäßt den in sanfter
Steigung nach oben führenden Fußpfad und hatte schließlich den Weg
bis auf die Spitze in wenig mehr als einer Stunde zurückgelegt. Die
letzten 20 Minuten steigt man über runde Felsen, in deren Spalten
und verwitterten Plätzen herrliche Ericaceen und zahlreiche alpine
Pflanzen blühen. Hier fand ich auch massenhaft die reizende Blüte der
norwegischen Cornelskirsche und dann vor allem eine Pflanze, welche
für ganz Skandinavien, Finnland und Sibirien als Nahrungsmittel von
großer Bedeutung ist -- die Multebeere (~Rubus chamaemorus~), eine
Himbeersorte, krautartig, mit einzelstehenden weißen Blüten und
prachtvollen, großen roten Früchten, die gekocht und eingemacht sehr
gerne gegessen werden, namentlich auch als Präservativ gegen Scorbut.
Auf den Menus der Nansenschen Fram spielte die Multebeere eine sehr
große Rolle und eine Bowle aus dieser Frucht und etwas Brennspiritus
gehörten zu den festlichsten Genüssen der Framleute.

[Illustration: Digermulkollen.]

Die Aussicht vom Digermulkollen soll die erhabenste und malerischste
des ganzen Nordlandes sein und ist hauptsächlich auch durch den
Besuch Kaiser Wilhelms ~II.~ anno 1889 weithin bekannt geworden.
Zu Füßen liegt der Sund; die „Auguste Viktoria“ -- obschon man sie
mit der Hand erreichen zu können glaubte -- hatte die Größe eines
bescheidenen Walfischbootes. Imposant ist der Blick über den ganzen
Vestfjord bis ins offene Meer; östlich thronen die Gebirgsstöcke des
Festlandes, westlich steigen die schluchtenzerrissenen Massive des
herrlichen Rastsundes auf, die reichlich mit Eis und Schnee bedeckten
mehrgipfeligen Troldtinder. Das ganze Panorama ist überwältigend schön.

In einer mehrfach im Felsen verankerten Holzhütte, welche schon manchen
Sturm ausgehalten hat, aber sicher doch eines Tages weggeblasen sein
wird, war Bier, Limonade und Sect zu haben. Als ich ankam, lebten aber
nur noch zwei kleine Flaschen Mineralwasser, welche ich gern einer
erschöpften Dame überließ.

Um rasch unten und wieder „bei Muttern“ zu sein, wählte ich die
Luftlinie am Westabhang des Berges. Das war ein böses Stück Arbeit.
Eine halbe Stunde kletterte ich über die aufgetürmten Felsen eines
mächtigen Absturzes thalwärts, einige Male an den Händen hängend, ohne
mit den Fußspitzen eine tiefere Etage zu erreichen oder auch unter
zusammengelehnten Steinblöcken durchkriechend. Mit lottrigen Knien
legte ich dann die letzte Etappe bis zur Landungsbrücke zurück, einen
wenig steilen, aber holperigen Wiesenweg, und an Bord der „Auguste
Viktoria“ war durch ein Bad und neue Gewandung der frühere Mensch bald
wieder hergestellt. Immerhin vermied ich während der nächsten drei Tage
unnötiges Treppensteigen aufs ängstlichste, und meine Gangart erweckte
einiges Mitleid.

Die Hälfte unserer Mitreisenden hatte vormittags auf den Dampfbarkassen
und angehängten Schleppbooten eine Fahrt in den prächtigen Raftsund
unternommen; die andere Hälfte sollte nachmittags an die Reihe kommen.
Eben kehrte die erste Expedition zurück; aber nahe am Ziele ereignete
sich eine aufregende Szene. Dicht bei einem bis auf den letzten Platz
gefüllten Schleppschiffe tauchte plötzlich ein mächtiger Wal auf,
länger als das Boot selbst. Die Insassen hatten keine Zeit, sich über
die Situation zu besinnen; aber an Bord der „Auguste Viktoria“ wurde
sie von den Schiffsoffizieren mit Herzklopfen beobachtet, und es
hieß nachher, daß das gewaltige Tier, einige Meter näher, das Schiff
zum Kentern gebracht und ein schreckliches Unglück veranlaßt haben
müßte. Noch drei-, viermal sahen wir es auftauchen, spritzen und
wieder verschwinden. Unter den von dem Abenteuer Betroffenen herrschte
nachher, als ihnen die Augen geöffnet wurden, ungefähr die Stimmung von
Gustav Schwabs Reiter über den Bodensee.

Während ich die Meinigen an Bord in allen Winkeln unseres Schiffes
suchte, spähten sie immer noch am Lande nach dem Bergbesteiger aus.
Schließlich aber einigte uns das, was die ganze Welt zusammenhält --
der Hunger. Beim Mittagstische fanden wir uns und erzählten gegenseitig
unsere Erlebnisse. Während ich bergkraxelte, waren meine Beiden kreuz
und quer umhergestreift und schließlich hatte sie ihr Forschungstrieb
in eine am Strand gelegene Fischerhütte geführt, in welcher ein
todkranker, ärztlicher Hülfe barer Mann, verpflegt von seiner
bekümmerten Frau, zu Bette lag. Der nächste Arzt wohnte zehn Stunden
weit entfernt in Svolvaer auf den Lofoten. Ein menschenfreundlicher
norwegischer Maler, der in Digermulen sich aufhält, um Studien
zu machen, funktionierte als Dolmetscher, und so wurde denn der
Fischerfamilie versprochen, den Doktor aus der Schweiz, der jetzt grad
oben auf dem Berge sei, herzuschaffen, damit er dem armen Kranken rate.
Damit war unser Nachmittagsprogramm festgestellt; wir verzichteten
auf den Ausflug nach dem Raftsund und ließen uns nach Tisch wieder
an die Küste von Digermulen zurückfahren. Dort stand auch schon der
liebenswürdige Maler, Thorolf Holmboe aus Christiania, ein in Norwegen
wohlbekannter Künstler, mit seinem flachshaarigen, bildschönen Jungen
Erich bereit, uns zu begleiten. Als wir in die Hütte traten, war ich
erstaunt über die Reinlichkeit und häusliche Behaglichkeit, mit welcher
die bescheidenen Räume ausgestattet erschienen. In einer freundlich
mit Epheu, Fuchsien und Rosen geschmückten, ganz einfach, aber sauber
möblierten Stube stand das Bett des Kranken. Neben ihm an der Wand
hingen zwei Bilder, das Porträt von König Oskar in Galauniform und das
Pendant -- Wilhelm Tell, wie er das Schiff Geßlers in die wilden Wellen
des Vierwaldstättersees zurückstößt.

Am Kopfende des Bettes war ein sorgfältig eingerahmter Bibelspruch
in norwegischer Sprache: „Rufe mich an in der Not und ich will dich
erretten und du sollst mich preisen!“ Der, dem das Wort galt, lag
fahlgelb, abgemagert und hustend auf seinem Schmerzenslager, ein
zirka 60 Jahre alter Mann, zeitlebens gesund, aber seit vier Monaten
siechend. Leider handelte es sich, wie mich näheres Zusehen lehrte, um
eine unheilbare bösartige Lebergeschwulst, welche in dem benachbarten
Brustfellraum bereits eine frische Entzündung zu setzen begonnen
hatte. Als ich mit der Untersuchung zu Ende war, brachte die schlichte
Fischersfrau ohne weiteres ein sauberes Zinngeschirr mit Wasser,
Handtuch und Seife und ich dachte im Stillen, daß hie und da sozial
viel höher gestellte Leute hier etwas lernen könnten. Dem gepeinigten
Kranken, der bei vollständiger Appetitlosigkeit entsetzlichen Durst
litt und nichts hatte, um ihn zu stillen, mußte vor allem für saftige
Früchte und ein Mittel gegen seinen qualvollen Husten gesorgt werden.
Zu kaufen war das alles nirgends, wohl aber zu erbitten. Ich eilte
zurück aufs Schiff und fand da Gelegenheit, den gutherzigen Sinn
unseres Kapitäns kennen zu lernen. Obschon er, umgeben von einer
vornehmen Herren- und Damengesellschaft, in seiner Kajüte behaglich
beim schwarzen Kaffee saß, ließ er sich doch, ohne ungehalten zu sein,
von mir stören und erfüllte meinen Wunsch nach ein paar Orangen für
den armen Lazarus und den nötigen Medikamenten aus der Schiffsapotheke
in weitestgehender Weise. Ein Druck auf den elektrischen Knopf und
der uns von früher her bekannte „Harpagon“ kam angesaust. Der Kapitän
übermittelte ihm ein kleines, hastig geschriebenes Billet, und
eine Viertelstunde später flog ich mit einem mächtigen Korbe voll
Ananas, Apfelsinen, frischen Kirschen und anderen Herrlichkeiten
freudestrahlend der Schiffstreppe zu. Auch die Schiffsapotheke hatte
ich unterdessen, da der Arzt nicht zu finden war, auf eigene Rechnung
und Gefahr durchstöbert und schließlich glücklich etwas gefunden und
in einer Quantität mitgenommen, daß es dem Kranken wohl für zwei
Monate als Hustenlinderungsmittel dienen konnte. Was machte der für
ein zufriedenes Gesicht, als ich ihm ein Stück saftige Ananas auf die
Zunge legte! Es war ihm, „als sei er schon halb gesund“, ließ er durch
den Dolmetscher sagen, und seine Frau mußte durchaus auch ein bißchen
probieren. Und erst die Orangen und Kirschen! Die guten Leute wußten
des Dankes kein Ende, und schließlich nahm die Frau den Stolz des
Hauses, ein eingerahmtes Bild von Digermulen, ab der Wand und bat so
dringlich, es als Geschenk anzunehmen, daß ich mich dieser unbequemen
Freundlichkeit nicht entziehen konnte. Das Bild ist denn auch, so
lästig es zu verpacken war, getreulich mit nach Frauenfeld genommen
worden. Als wir die Fischerhütte verließen, war uns zu Mute, als seien
wir in einer Kirche gewesen, und nach herzlichem Abschied von dem uns
begleitenden Maler und seiner Familie streiften wir seelenvergnügt noch
ein Stündchen über Klippen und Strandwiesen.

Ein kleines Plaisir bereitete uns ein Schimmel, der auch jetzt noch,
wie heute früh, in derselben unbeweglichen Haltung, den Kopf halb zu
Boden gesenkt, in einer sumpfigen Mulde stund und zwei beleibte Herren
von der „Auguste Viktoria“, welche sich krümmten vor unbändigem Lachen
über das eigentümliche Gebahren des Tieres. „Es hat die Schwermut
oder ist gar bloß ausgestopft“, lautete die Diagnose. Das letztere
stimmte nicht, sondern der Gaul trug am Hinterfuß eine in den Boden
gerammte Fessel und schlief, gesenkten Hauptes und stehenden Fußes.
Als ich ihm den Hals klopfte und einige Schiffszucker offerierte,
geruhte er sie, leise schwanzend, zu kauen, versank aber sofort wieder
in kopfhängerisches Brüten. Der „schwermütige Schimmel“ gehört für
uns zum Landschaftsbilde von Digermulen; deshalb habe ich ihn hier
festgenagelt. -- Abends 7 Uhr war alles wieder an Bord.

„Ja, vi elsker dette landet“ (ja, wir lieben dieses Land) ertönte es
aus dem ehernen Munde unserer Schiffskapelle, und die Klänge dieser
norwegischen Nationalhymne waren uns schon so vertraut, daß wir sie
laut und sogar bewegten Herzens mitsangen.

Unterdessen drehte unser Koloß und begann südwärts zu fahren. Mit
Winken und Rufen verabschiedete man sich von dem heimeligen und
schönen Fleck Erde. Da tauchte ein kleiner, über und über mit Menschen
besetzter Passagierdampfer auf, der von den Lofoten hergefahren
kam, um der „Auguste Viktoria“ zu begegnen. Das war ein Grüßen und
Tücherwehen und fast berührte das Steuerbord des nordischen Schiffes
den Meeresspiegel, als alles nach jener Seite hinüberdrängte, um uns zu
sehen. Sogar eine Musik hatten sie auf Deck, und so wurde denn hinüber
und herüber konzertiert. Etwa zehn Minuten lang blieb der tapfere
Knirps unter Volldampf auf gleicher Höhe mit unserm dahineilenden
stolzen Schiffe; dann aber mußte er, über und über mit Wogen bespritzt,
zurückbleiben, und bald hatten wir ihn aus dem Auge verloren.

Nicht geringes Aufsehen erregte an diesem Abend folgender Anschlag des
Kapitäns am „schwarzen Brette“:

„Kaisertelegramm: Hohenzollern befindet sich am 19. nachmittags in
Aalesund. Seine Majestät würden sich freuen, wenn ausgehend dort kurzer
Aufenthalt genommen wird. Passagieren ist Besichtigung des Schiffes
gestattet.

        Kommando Hohenzollern.

Demgemäß wird die „Auguste Viktoria“ am 19. Juli zwischen 4 und 7 Uhr
abends in Aalesund stehen.

        Kämpff, Kommandant der A. V.“

Diese Nachricht gab nun den Gesprächen und Gedanken der Menschheit auf
der „Auguste Viktoria“ -- vom Schiffsjungen bis zum Fürsten -- längere
Zeit eine ganz bestimmte Richtung, und wo immer ihrer einige beisammen
stunden, wurde der Besuch bei Kaiser Wilhelm verhandelt und die
wichtige Toilettenfrage einläßlich besprochen, so daß die Pracht der
nördlichen Lofoten, welche wir bei Beginn unserer Rückfahrt passierten,
für viele vollständig verloren gegangen sein mag.



~XIII.~

     Maschinen- und Vorratsräume der „Auguste Viktoria“. -- Die Welt
     -- ein Dorf. -- Maraak. -- Vorbereitung für den Kaiserbesuch. --
     Ankunft in Aalesund bei „S. M. Y. Hohenzollern“. -- Der Kaiser an
     Bord. -- Besuch der „Hohenzollern“.


Das ist eine merkwürdige Welt, diese langgestreckte, wildzackige
Lofotenkette; bei Abend- und Mitternachtsbeleuchtung bot sie uns die
herrlichsten Landschaftsbilder. In Flammen strahlend zeichneten sich
die Umrisse der Berge außerordentlich scharf am Horizont ab, und Meer
wie Land erschienen in märchenhafter Farbenpracht.

Lange Zeit stritten wir uns und waren im Unklaren, ob eine nach
Mitternacht fern im Osten sichtbare ungeheure weiße Fläche, die nur
von einzelnen schwarzen Gipfeln überragt auf den Gebirgszügen lagerte,
ein Nebelmeer sei oder aber ein Schneefeld. Nach und nach aber konnte
kein Zweifel mehr herrschen; wir sahen den grandiosen Firn des
_Svartisen_; er bedeckt gegen 60 Kilometer lang und 16 Kilometer breit
eine durchschnittlich 1200 Meter hohe Fläche, aus der vereinzelte Höhen
aufragen, während nach allen Seiten mächtige Gletscher zu den Fjorden
absteigen. Stundenlang beherrschte die gespensterhaft weiße, erhabene
Riesenfläche das Landschaftsbild; sie wird in ihrem südlichen Teil vom
Polarkreis geschnitten. (Mein Nachbar auf Deck stellte sich auf die
Fußspitzen, um das besser zu sehen.)

Den folgenden Tag, 18. Juli, brachten wir auf offenem Meere zu und
hatten Zeit und Gelegenheit, allerlei Interessantes von den Eingeweiden
unseres Schiffes zu betrachten. Unter der Führung eines Maschinisten
war es gestattet, in die Maschinenräumlichkeiten hinabzusteigen. Wie
das alles glänzte und glitzerte und ruhelos arbeitete in diesen taghell
elektrisch beleuchteten eisernen Kammern! Und weiter unten, wo der
Heizer, halbnackt und schweißtriefend Kohlenberge ins Feuer warf,
glaubte man in eine Hölle zu schauen.

In ganz kleiner Gesellschaft, nur fünf Köpfe stark, besuchten wir
auch die Vorratsspeicher, welche rückwärts am Schiff, in der Nähe der
Schrauben, tief unter dem Hauptdeck unterhalb der Wasserlinie gelegen
sind. Eine Tag und Nacht funktionierende Dampfmaschine -- wie oft
hatte ich sie und ihre Kollegin, die elektrische Lichterzeugerin, zum
Kuckuck gewünscht, wenn ich Nachts zu schlafen versuchte! -- besorgt
die Abkühlung der Provianträume unter den Nullpunkt und alles, was an
Fleisch da hing und lag, Dutzende von halben Rindern, Kälbern, Schafen
und Schweinen, Tausende von gerupften und ausgeweideten Kapaunen und
Truthähnen, zirka 50,000 Pfund, war steinhart gefroren. Das für einen
Tag notwendige Quantum wurde je 24 Stunden vor der Verarbeitung in der
Küche aus der Gefrierkammer in einen Vorraum gelegt, um dort langsam
aufzutauen. Andere Abteilungen dieses unterseeischen Schiffsquartiers
enthielten erstaunliche Mengen von Konserven und Früchten aller Art,
worunter namentlich riesige Ananas und Hunderte von aufgehängten,
schwer mit Früchten beladenen Bananenstauden auffielen; Vorräte
von Butter, Käse, Eier, Milch, letztere teils als kondensierte,
hauptsächlich aber als einfach sterilisierte Mecklenburger Milch in
Büchsen von 6 Litern zugeschmolzen. Ich erfuhr erst hier, daß unsere
schweizerische Milchexportindustrie im Lande Fritz Reuters eine so
leistungsfähige Rivalin hat. Von dem Blick in die Bierlager und in die
Flaschenkeller, wo die vielen Tausende von Wein- und Champagnerflaschen
wohlgeordnet, jede in besonderm kleinem Holzlager, ruhen, will ich
lieber gar nicht weiter erzählen.

In jeder Ecke dieses aus Speis und Trank zusammengesetzten Labyrinths
zündet bei Bedarf ein elektrisches Glühlicht und über jedes nach
oben abgelieferte Gramm wird exakt Buch geführt. Was nun von den für
einen Tag bestimmten und an Koch, Bäcker und Konditor übermittelten
Konsumartikeln innerhalb dieses Tages nicht verzehrt wurde, wandert
ins Meer. Alltäglich, nachdem Passagiere und Schiffsangestellte
sich satt gegessen, bleiben große Quantitäten von „Gesottenem und
Gebratenem“ übrig, und es besteht strenge Vorschrift, daß nichts davon
weitere Verwendung für die Schiffstafel finden darf. Jeden Morgen
wurden unglaubliche Quantitäten von Fleisch und Brot, oft Hunderte der
appetitlichsten Kleinbrotartikel in die salzige Flut geschmissen, und
der Zahlmeister behauptete, daß mit diesem Fischfutter dreißig Familien
reichlich ernährt werden könnten. Wo immer wir vor Anker lagen, da
kreisten beständig einige armselige Boote um unser Schiff und suchten
„die Brosamen vom Tische der Reichen“ aufzufischen.

Der Zweck der verschwenderischen Vorschrift ist zwar klar: die
Gesellschaft will ihren Passagieren die Garantie für ausschließlich
frische und prima Nahrung bieten; aber es erscheint uns eben doch als
protziges Unrecht, daß man sich nicht die Mühe nimmt, diese wertvollen
Ueberbleibsel zu sammeln, zu konservieren und nachher an Unbemittelte
zu verschenken.

Mit jedem Tage kam sich die Reisegesellschaft etwas näher; Menschen,
die ursprünglich sich als wildfremd angeglotzt, fanden plötzlich
gemeinschaftliche Anknüpfungspunkte, und gegen das Ende der Fahrt gab’s
überhaupt kaum mehr absolute Fremdlinge. „Die Welt ist ein Dorf“ hörte
man zu wiederholten malen ausrufen, wenn zwei bis dahin Unbekannte
sich plötzlich als gemeinschaftliche Freunde oder gar Vettern eines
Dritten entpuppten. In einer feinen ältern Dame entdeckte ich durch
Zufall die Witwe eines mir sehr lieben Herrn, mit dem ich s. Z. in
Engelberg köstliche Stunden verlebt habe und der -- nun seit langem tot
-- dort als Papa G. in bester Erinnerung geblieben ist. Was freute sich
die, am Polarkreis von ihrem verstorbenen Gatten allerlei Heimeliges
erzählen zu hören; es war für sie wie eine kleine Auferstehung, und
als ich den freundlichen Graubart in einigen kleinen, ihr vielleicht
entschwundenen äußerlichen Zügen schilderte, z. B. wie er seine
Havannah nie abzuschneiden, sondern durch einen kräftigen Biß zugfähig
zu machen gewohnt war, da übernahm sie die Rührung und wir mußten das
Thema abbrechen.

Der weibliche Teil der Passagiere erfreute sich seitens der Hapag
bei verschiedenen Anlässen besonderer Aufmerksamkeiten. Schon am
ersten Tage auf hoher See hatte jede Dame eine elegante weiße
Schiffsmütze, die in Golddruck den Namen „Auguste Viktoria“ trug, als
Geschenk erhalten; nachher kamen bei Bevorzugten Hapag-Brochen und
andere Schmucksachen an die Reihe. Der blasse Neid der Männerwelt
konnte an der Sache nichts ändern. Aber als heute beim Diner neben
jedem weiblichen Couvert eine reizende gefüllte Silber-Bonbonniere
mit eingravierter Dedikation lag und wir armen Männer wieder leer
ausgingen, da drohte -- an unserm Tisch wenigstens -- heller Aufruhr,
und der Brust entrann der Schmerzensschrei: „Ach, wäre ich doch als
Jungfrau geboren!“

Das hat vielleicht jener amerikanische Ehe- und Ehrenmann auch
geseufzt, der am nämlichen Abend auf Deck und ~coram publico~ sich
geduldig von seiner rabiaten Gattin beohrfeigen lassen mußte.

Nächstes Ziel unserer Fahrt war Maraak (auch Marok oder Merok
genannt); der Weg dorthin ist reich an landschaftlichen Schönheiten,
die sich steigern, je weiter man in den zuführenden Fjorden vordringt.
Durch den Slyngs- und Sunelvsfjord erreicht man den weltberühmten
Geirangerfjord mit seinen schroffen Felsgebirgen und den zahlreichen
und wunderbar geformten Wasserfällen. Namentlich schön und merkwürdig
ist der Fall der „sieben Schwestern“; sie stürzen ganz oben als sieben,
weiter unten nur noch als vier milchweiße Bäche über eine senkrechte
Felswand herab, die sich auch im Wasser noch senkrecht weiter
fortsetzt, so daß das Schiff ganz dicht an die Fälle heranfahren kann.

Die Felsen der andern Seite zeigen seltsame Profile; bald glaubt man
eine Kanzel zu sehen, bald eine Ritterburg oder auch ein menschliches
Antlitz, und ein langgezogenes zerklüftetes Massiv sieht genau so aus
wie ein schartiges Rasiermesser unter dem Mikroskop. Immer enger treten
die Berge zusammen; immer mächtiger und vielgestaltiger werden die zu
Thal stürzenden Wassermassen. Ab und zu belebt ein malerischer Segler
den sonst menschenleeren Sund.

Unser Naturgenuß wurde erhöht durch ein ganz besonders ausgezeichnetes
Konzertprogramm, das die flotte und unermüdliche Schiffskapelle
abwickelte. Die Tannhäuser-Ouvertüre spielte sie mit einer Bravour,
die mich zu einem Bon für 50 Glas Münchner begeisterte. Das hatten die
braven Musikanten wohl verdient.

Plötzlich wird der Fjord abgeschlossen durch einen Bergkessel von
unbeschreiblicher Großartigkeit; aus einer Höhe von fast 2000 Meter
glänzt ein schneebedeckter Gletscher; alle Reize der Fjordlandschaft
vereinigen sich zu einem prächtigen Bilde; wir liegen vor Maraak.

Der kleine freundliche Ort besteht aus einfachen Häusern, die sich
an den Fjord schmiegen; auf der Höhe steht eine weithin grüßende
Holzkirche. Hinter Maraak steigt es steil empor zum Geiranger
Bergkessel, durch welchen an einer Ueberfülle von Wasserfällen vorbei
die großartigste Bergstraße Norwegens landeinwärts führt. Einige
Hotels, von welchen das höchstgelegene zirka 300 Meter direkt über
der Kirchturmspitze vom Meere aus zu sehen ist, signalisieren die
Fremdenstation. Es sind wieder fast ausschließlich Engländer, welche
sich diesen Platz zu längerm Aufenthalte wählen.

[Illustration: Maraak.]

Wir fuhren in aller Morgenfrühe ans Land, wo zahlreiche Karren für
die Alten und Faulen bereitstunden. Da wir aber zu keinen von beiden
gehören wollten, fußten wir stolz daran vorbei und rekognoszierten auf
heimeligen Wiesenpfaden Land und Leute. Ein herrlicher Heuduft ersetzte
in angenehmer Weise das Fisch- und Thranaroma, das uns vom Norden her
noch in der Nase lag. Unser erster Gang galt der freundlichen, auf
einem Hügel gelegenen Holzkirche. Sie ist von einem kleinen Friedhofe
umgeben, über dessen Steinmauern wir zuerst klettern mußten, um ins
Innere zu gelangen. Von dieser Stätte des Todes fällt der Blick auf
eine prächtige, lebenswarme, sonnige Welt. Die Kirche selbst ist ein
schlichter, achteckiger Holzbau, lose auf schlecht gemauerte Pfeiler
gestellt und mit Holzläden versehen. Der malerische Turm ist der Mitte
aufgesetzt, wie bei dem bekannten Kinderspielzeug. Der Straße bergan
folgend, die sich bis weit hinauf durch Staubwolken kennzeichnete,
erreichten wir nach zirka 15 Minuten das vom Hafen aus unsichtbare
Hotel Union; auf einer Seite desselben stürzt der wasserreiche Storfos,
als weißer Gischt, brausend über eine Felswand; auf der andern Seite
gleiten die Gewässer des Geirangerbergthales in klarem Strome zu Thal,
und vereint eilen beide dem Fjorde zu. Eine üppige grüne Vegetation --
auch stattlicher Baumwuchs, Birken, Erlen, Eschen -- bedeckt den ganzen
Bergabhang, und bis weit hinauf sind Hütten sichtbar und weidende
Herden, denen auch die Glocken nicht fehlen. Zu den Füßen liegt der
enge, scheinbar rings abgeschlossene Bergsee und hoch in die Lüfte
ragen gewaltige Gebirgsstöcke und Schneefelder. Das Hotel, aus Holz im
Chaletstil erbaut, sah recht einladend aus; an den Veranden blühten
Gaisblatt, Kapuziner und wilder Hopfen.

Je nach Wanderlust und verfügbarer Kraft wurde die Straße mehr oder
weniger nach oben fortgesetzt; viele ließen sich zum obern Hotel
(H. Udsigten = Bellevue) hinaufführen, wo der Blick auf die eisige
Gebirgswelt landeinwärts und im Gegensatz zu der wilden Fjordlandschaft
zu Füßen ein großartiger gewesen sein muß. Einen weiß ich -- ein
gelehrtes Haus -- der einsam noch weiterstrebte und in adamischem
Kostüm sich unter den Wasserschleier des schönsten Staubbaches stellte.
Das sei ein nicht zu beschreibendes Vergnügen und eine herrliche
Erquickung gewesen, rühmte er, als er halb tot, im Schweiß gebadet und
mit Straßenstaub gepudert, als einer der letzten an Bord zurückkehrte.

Um 12 Uhr mittags, als eben ein kleiner, sich vor Neugierde ganz auf
unsere Seite neigender Touristendampfer einfuhr, verließen wir Maraak
und kehrten auf demselben Wege zurück, die Schönheiten des Fjords
nochmals und in ganz anderer Beleuchtung genießend.

Den Jörundfjord, der noch auf unserem Programm gestanden hatte, ließen
wir links liegen, um rechtzeitig bei Kaiser Wilhelm anzukommen. Wir
nannten ihn übrigens nicht mehr Jörund- sondern Böhringer-Fjord, weil
ein Mitpassagier den Namen fälschlich so verstanden hatte; motiviert
wurde die Benennung durch uns mit der interessanten historischen Notiz,
daß der Großvater von Professor B. ihn vor genau 47 Jahren entdeckt
habe. Der Schiffsunsinn gedeiht unter allen Breitegraden.

An Bord herrschte während dieser Fahrt reges Leben. Ueberall wurde
gefegt und geputzt; die Böden sahen ganz jungfräulich aus und die
Metallbeschläge glänzten wie Spiegel. Inspizierende Schiffsoffiziere
durchwanderten alle Räume und der Verkehrston mit den Untergebenen
war heute ein auffallend strammer und militärischer. Ich saß allein
in dem Rauchsalon und schrieb an die „Thurgauer Zeitung“, als der
erste Offizier eintrat, jeden Winkel musterte und schließlich, als
er am Plafond ein bescheidenes Spinnengewebchen entdeckte, den
verantwortlichen Steward folgendermaßen apostrophierte: „Sie, Steward!
Machen Sie den Dreck ’runter! Glauben Sie, die Decke gehört nicht zum
Rauchzimmer? Wenn unser Kaiser kommt und sieht den Mist, so sagt er: No
was sind denn das für Schweinekerls, diese Rauchstewards!“

Scheinbar zerknirscht machte sich der gescheitelte Jüngling an die
Reinigungsarbeit; aber das Selbstgespräch, dessen Zeuge ich war,
nachdem der gestrenge Inspektor das Lokal verlassen, enthielt Worte
und Satzwendungen, die ich bisher aus der deutschen Litteratur nicht
gekannt hatte.

Alles, vom Kapitän bis zum Schiffsjungen, prangte im glänzenden
Sonntagsgewande; die hundert Stewards sahen geradezu imposant aus.
Aber auch die Passagiere blieben nicht zurück und hingen ihr Bestes
und Schönstes um. Gerne hätte ich mit meinem bohnengrünen Polarmantel
geprunkt; da dies aber aus koloristischen und klimatischen Gründen
nicht anging, mußte ich mich auf mein gewöhnliches Habit beschränken,
ehrte den hohen Gast aber durch den Luxus einer neuen, blendend weißen
Kravatte, und doch nahm er nachher nicht einmal Notiz davon.

Es war nachmittags 3¼ Uhr, als man sich Aalesund näherte. Was
Beine hatte, stund auf Deck, die Stewards in langen Reihen auf den
Blahen der Rettungsboote. Unsere Kapelle hielt sich spielbereit; die
ganze Welt zeigte die größte Spannung; nur einige junge Amerikanerinnen
beschäftigten sich mit ihren Stickrahmen. Hunderte von bunten Wimpeln
flatterten lustig als festliche Dekoration auf unserm Schiff, das
sich in langsamem, würdevollem Tempo dem Bestimmungsorte näherte.
Jetzt erscheint die weite Bucht von Aalesund, von auf grünem Teppich
aufgebauten Gebirgen umschlossen. Im Hintergrunde liegen blaue, mit
Schnee gekrönte Berge. Die aufblühende Stadt zählt bereits 9000
Einwohner und ist ein Hauptstapel- und Handelsplatz. Zahlreiche
Segler und Dampfer bevölkern den Hafen. Aber aller Augen sind auf
seinen Mittelpunkt gerichtet, wo die stolze „Hohenzollern“ vor
Anker liegt, in ihrer Nähe das begleitende Kriegsschiff „Hela“ und
ein schwarzes Torpedoboot. Eine gewisse nervöse Hast war in diesem
Moment auf unserer „Auguste Viktoria“ für einen nüchternen Beobachter
nicht zu verkennen, und sie stieg im Quadrat der Annäherung an das
Kaiserschiff. Sogar der wackere Kapellmeister zeigte sich davon
ergriffen und gab mehrfach Ordre und Contreordre, und die Musikanten
hatten Mühe, bei der scharfen Brise, die wehte, die hastig geänderten
Programmnummern rechtzeitig aufzulegen. Im Zufahren stieg erst
der Präsentiermarsch, dann der Wachparademarsch und endlich nahe
am Ziele der Hoch-Kaiser-Wilhelm-Marsch. Jetzt sind deutlich die
einzelnen Persönlichkeiten zu erkennen; der Kaiser steht in grauem
Civilanzug auf der Kommandobrücke und grüßt anhaltend mit seiner
dunkeln Tellermütze, was unsrerseits mit Hurrahrufen und Hüteschwenken
erwidert wird. Während die Musik den Preußenmarsch spielt, dreht unser
Schiff und bewegt sich -- eine mächtige, weiße Gischtstraße bildend
-- in großem Kreise um die „Hohenzollern“. Unter den Klängen des
Hohen-Friedberger-Marsches fällt endlich der Anker, und wir harren der
Dinge, der kaiserlichen, die da kommen sollen.

Kaum lag unser Schiff ruhig, so kam auch schon eine elegante Barkasse
von der „Hohenzollern“ hergedampft, um die Passagiere auf die
kaiserliche Yacht hinüberführen zu helfen, und in Gruppen von 30 bis
40 begann nun die Wanderung zwischen den beiden stolzen Dampfern,
wobei abwechslungsweise von der 40 Köpfe starken trefflichen Kapelle
an Bord der „Hohenzollern“ und von der unsrigen gespielt wurde.
Vorsichtigerweise pressierten wir drei nicht mit der Ueberfahrt; der
Kaiser sollte ja der „Auguste Viktoria“ einen Besuch abstatten, und die
Gelegenheit, ihn aus unmittelbarer Nähe und nachhaltig zu beobachten,
wollten wir uns doch nicht entgehen lassen. Und richtig -- dort kam er
ja; ein schlankes, von zweimal vier Ruderern in blauem Matrosenkostüm
pfeilschnell durch die Wogen gejagtes Boot trug vorne die kaiserliche
Standarte, und hinten am Steuer saß und lenkte das eilende Fahrzeug
Kaiser Wilhelm ~II~.

Das war ein Rennen und ein Jagen auf unserm Schiff. Atemlos kamen
die Amateurphotographen mit ihren Apparaten hergeeilt und postierten
sich, um das gekrönte Oberhaupt des deutschen Reiches im Momente, da
es an Bord trat, möglichst günstig zu erwischen. „Haben Sie ihn?“
hieß es kreuz und quer; „und von welcher Seite?“ Haarscharf schnitt
das kaiserliche Boot unsere Schiffstreppe; in derselben Sekunde hielt
es an; in der nächsten sprang der hohe Steuermann gewandt und sicher
auf den ersten Tritt, wo er vom Kapitän und einem Vertreter der
Schiffsgesellschaft bewillkommt wurde. Dann gings unter Hurrah und
gegenseitiger Begrüßung die Treppe hinauf auf Deck, wo sich der Kaiser,
geführt vom Kapitän, alles, aber auch alles ansah und durch vielerlei
Fragen sein Interesse an dem stolzen Schiffe bekundete. Auffälliger
Weise schritt der Kapitän stets zu seiner Rechten, und ich wurde nicht
klug, ob dies aus Versehen oder aber einem Wunsche des Kaisers zufolge
geschah, der ja bekanntlich links durch eine Lähmung und auffällige
Verkürzung des Oberarmes verstümmelt ist und auch, wie die Fama weiß,
am linken Gehörorgan krank sein soll. Im Rauch- und Konversationssalon
war ich ganz allein, als die beiden Herren eintraten; besondere Freude
zeigte der Kaiser an den Wandmalereien des ersteren, welches mit
künstlerischem Humor die verschiedenen Rauchertypen, vom Lotsen bis zur
Studentin, darstellen.

Nachdem uns auf diese Weise die vielgerühmte und vielgehaßte, aber
sicher geniale und wohlwollende Verkörperung des deutschen Reiches
menschlich näher getreten war und uns ganz sympathisch berührt hatte,
machten auch wir uns daran, seinen schwimmenden Palast kennen zu
lernen. So was behaglich Schönes, einfach Vornehmes hatten wir noch nie
gesehen. Bekanntlich hat die „Hohenzollern“, die ja verschiedene Male
kleiner ist als die „Auguste Viktoria“, 27 Millionen Mark gekostet,
die Vergoldung des Kieladlers allein 80,000 Mark, und doch ist das
Innere nicht so prunkvoll und überladen wie bei den großen Hamburger
Personen-Dampfern. Aber jeder Planke und jeder Niete sieht man die
hervorragende Qualität an, und es giebt nichts an dieser kaiserlichen
Yacht, das nicht das Attribut absoluter Vollkommenheit verdiente.
Eine breite, mit Teppichen belegte Treppe führt in bequemen Stufen
zu dem Verdeck, das in seiner ganzen Ausdehnung mit Linoleum bedeckt
ist und weite Spaziergänge erlaubt. Auf Vorderdeck war in Galauniform
die 40 Mann starke vortreffliche Kapelle postiert, welche die Gäste
auf Befehl des gastfreundlichen Kaisers zu begrüßen hatte. Jedenfalls
nicht in seinem Sinne und seiner nobeln Denkweise handelten ein paar
vollgegessene, abgelebte Byzantiner, welche, über die Brüstung gelehnt,
mit den fadesten Berliner Witzen und unter knabenhaftem Gelächter sich
über die Ankömmlinge „~minorum gentium~“ lustig machten. Nachdem ich
sie mit einem feindeidgenössischen Blicke vernichtet, freilich ohne
durchschlagenden Erfolg, durchwanderten wir, in Gruppen von 30 bis
40 geführt, die herrlichen Räume des Schiffes. Besonders schön ist
der große Speisesaal, der reich mit Blumen geschmückt war (der Kaiser
führt stets einen Gärtner mit an Bord). An der Stirnseite prangt in
großer Ausstattung das alte Familienwappen mit der Inschrift: „Hie guet
Zollere alleweg!“ Stilvolle künstlerische Wanddekorationen erfreuten
das Auge, z. B. geist- und humorvoll ausgestattete eingerahmte Menus
zur Erinnerung an besonders ereignisreiche Tage früherer Fahrten.

Im Rauchzimmer möchte man sich am liebsten gleich hinsetzen, die langen
Beine ausstrecken und eine Havannah veraschen; auch dort ist wie in
sämtlichen Räumen alles Große und Kleine auf die See abgestimmt; sogar
die reizenden wandständigen Aschenbecher sind silberne Schiffsteile ~en
miniature~, und die Asche wird an kleinen niedlichen Schiffsschrauben
abgestreift. Auch in das Arbeitszimmer des Kaisers wurden wir geführt;
dort sahen wir eben zu, wie eine Amerikanerin von dem goldgeränderten
kaiserlichen Briefpapier einen Bogen in ihre Tasche wandern ließ. In
einem danebenliegenden Salon hört der Fürst täglich die Vorträge der
mitreisenden Minister. Auch auf Deck hat er einen äußerst behaglich
ausgestatteten Privatraum, der mit wissenschaftlicher Schiffslitteratur
und allen möglichen Instrumenten vollgepfropft ist. Auf dem Tische
lagen ausschließlich französische Zeitungen und Werke.

In die Schlafräume gelangten wir nicht; dagegen konnten wir von der
Schiffstreppe aus in einige größere Kabinen einen Blick werfen und uns
überzeugen, daß auch dort ganz ungewöhnlich große Dimensionen vorhanden
sind mit behaglich schöner, nicht überladener Ausstattung. Licht und
Luft tritt nicht wie bei den Kammern der Passagierdampfer durch runde
Lucken, sog. Ochsenaugen, ein, sondern durch größere, mit in Messing
gefaßtem Glas verschließbare viereckige Fenster.

Wunderbar sind die Apparate für den elektrischen Signaldienst
und die Maschinen. Was der menschliche Geist je ersann, um eine
Meerfahrt sicher und genußreich zu gestalten, das hat die deutsche
Schiffsbaukunst sich für die Yacht ihres Kaisers zu nutze gemacht.

Entzückt von dem Geschauten kehrte nach und nach alles wieder zur
„Auguste Viktoria“ zurück, die uns im Vergleich zur „Hohenzollern“,
der wahrhaft Vornehmen, zuerst wie eine pompös ausgestattete
Straßenriesendame vorkommen wollte. Die letzten, die an Bord stiegen --
von den kaiserlichen Ruderern hergebracht -- waren Graf v. Metternich,
Herr Wanamaker und ein Hapag-Vertreter, Konsul Weber aus Hamburg,
welche der Kaiser zu sich zum Thee geladen hatte.

Eben fuhr die glänzende Yacht des amerikanischen Krösus Gould an uns
vorüber; die soll im Innern so raffiniert ausgestattet sein, daß der
deutsche Kaiser, der sie besuchte, das Wort sprach: „So was habe ich in
meinem Leben noch nicht gesehen.“

Um 7 Uhr abends fuhren wir weg von Aalesund. Nochmals umkreisten wir
zum Abschied die „Hohenzollern“; unsere Kapelle spielte das „Heil dir
im Siegeskranz“; der Kaiser winkte vom Verdeck her, unser Kapitän
salutierte, die Wimpel wurden grüßend aufgezogen; alle Welt rief Hurrah
und schwenkte Hüte und Tücher, und wieder ging’s hinaus gegen die hohe
See.

Nach einer halben Stunde sahen wir weit zurückliegend den Aalesund,
mitten drin in der blauen Fläche einen grauen Punkt -- die märchenhafte
„Hohenzollern“.

Abends an der Tafel bildete natürlich das zuletzt Erlebte den
Mittelpunkt des Gespräches, und als Kommerzienrat Schubart aus
Berlin sich erhob und ein Hoch auf den gastfreundlichen deutschen
Kaiser ausbrachte, erfüllten auch wir Nichtdeutsche gern und aus
innerm Antrieb diese Pflicht der Dankbarkeit und beteiligten uns,
wenn auch mit den anderen, unserem Herzen geläufigeren Worten, beim
gemeinschaftlichen Gesange der Nationalhymne.

Aber noch ein anderes freundliches Ereignis beschäftigte die
Gemüter; der kleine Schalk Amor hatte, wie -- ~dicitur~ -- auf jeder
Nordlandsfahrt, einige Herzen verwundet und zusammengeführt. Dort am
Ecktische unseres Saales sitzt das glückliche Paar, und eben erhebt
sich der Tischpräses, um ganz ~en famille~ eine kleine Verlobungsrede
zu halten, was in dem Lärm des Speisesaales, wie er dachte, ohne
weiteres Aufsehen möglich sein sollte. Aber kaum hatte er sich erhoben,
so schwieg der Konversationssturm, als ob ein Engel durch den Raum
schritte; erschrocken drehte der werdende Orator sich um und setzte
sich sprachlos und verblüfft, die Rede im Halse, wieder auf seinen
Stuhl -- eine kurze Scene voll unbeschreiblicher Komik, die ein
schallendes Chorgelächter hervorrief. Die Verlobung ging aber eineweg
ihren Gang.



~XIV.~

     Durch den Sognefjord. -- Genrebilder im Naeröfjord. -- Gudwangen.
     -- Naerödal und Stahlheim. -- Hungersnot. -- Oell und Musöst. --
     Sprachverwirrung.


Erst am Ende des Tages, nachdem die Erlebnisse mit der „Hohenzollern“
längst vorbei waren, erfuhren wir, daß der Kaiser kurze Zeit vor
unserer Ankunft das Telegramm erhalten hatte, welches ihm die -- wie
es darin hieß -- nicht unbedeutende Verletzung der in Berchtesgaden
weilenden Kaiserin meldete. Er soll sehr konsterniert gewesen sein, und
daß er trotzdem das Tagesprogramm nicht änderte, sondern die Passagiere
der „Auguste Viktoria“ doch empfing, wurde ihm von denselben doppelt
hoch angerechnet.

Ohne ein Opfer unsererseits, d. h. von Seiten der Hapag, ging übrigens
diese kaiserliche Einladung nicht ab. Der zweistündige Aufenthalt vor
Anker bei Aalesund kostete unser Schiff die Kleinigkeit von 560 Kronen
(zirka 800 Franken) Hafengeld.

Es schien in der Nacht stürmisch und regnerisch werden zu wollen
und die Vorsichtigen legten sich rechtzeitig zu Bette, um auf alles
gefaßt zu sein. Aber die Witterung blieb günstig; kaum spürte man die
offene See, und morgens beim Aufwachen glitt unser Schiff längst wieder
über die glatte Fläche eines Fjords. Es war der Sognefjord, durch den
wir fuhren; 200 Kilometer weit schneidet er ins Land ein bei einer
Wassertiefe von 1200 Meter und einer Breite von durchschnittlich kaum
6 Kilometer. Der Hauptarm teilt sich in verschiedene ganz schmale, von
ungeheuern, bis 5000 Fuß hohen Steilwänden begrenzte Spalten, über
welche Wasserfall an Wasserfall stürzt, während an den Enden blaugrüne
Gletscher nach dem Fjord hereinblicken. Im Norden ist das größte
Firnfeld Europas, der fast 1000 Quadratkilometer große Jostedalsbrae.
An den Ufern des Sognefjords liegen die ältesten Kulturstätten
Norwegens; sie sind auch der Boden der herrlichen Frithjofssage. --
Bei nachtschlafender Zeit passierten wir ohne Gewissensbisse Ingeborgs
Königspalast und Frithjofs Hof; wir mußten ja im Rückweg nochmals
Gelegenheit finden, diese klassischen Orte zu grüßen.

Immer näher rückten die Felsen zusammen; oft war kein Ausweg zu
sehen, und es schien unmöglich, mit unserm Schiff vorwärts zu kommen;
dann öffnete sich plötzlich um die Ecke eine neue Spalte mit neuen
überraschenden Ausblicken. Wir befanden uns in dem südwestlichen
Endarme des Sognefjords, im Naeröfjord. Das ist die erhabenste Gebirgs-
und Meerlandschaft, die wir in Norwegen gesehen, und an Großartigkeit
von keinem der mir bekannten Bergseen erreicht. Und auch das Liebliche
fehlt nicht in dieser gigantischen Felsenwelt. Wo sich am Fuße der
himmelhohen Wände durch Absturz oder als Delta eines der Schlucht
entspringenden Bergbaches ein Stück flacher Küste gebildet hat, da
glänzt sie im saftigsten Wiesengrün und trägt ein paar freundliche
Häuser, hie und da auch ein Kirchlein, um das sie sich scharen.

Zuletzt schienen wir aber doch am Ende des schmalen Fjords zu sein;
in einem wilden, kahlen Felsenkessel mit steilen und unbewohnbaren
Ufern hielten wir an und warfen den Anker aus. Wunderbarerweise belebte
sich die Umgebung unseres Schiffes alsbald; kleine Boote -- meist mit
Frauen und Kindern angefüllt -- tauchten plötzlich auf, wie der See
entstiegen; denn eine menschliche Wohnstätte oder ein Ausweg aus den
geschlossenen Felskoulissen war nirgends zu erblicken. Sie lauschten
andächtig unserer Kapelle und staunten das mächtige Schiff an. Da
gab’s reizende Genrebilder für unsere Photographen, und die Apparate
klappten sehr geschäftig nach allen Seiten. Hier sitzt eine Mutter,
die Ruder eingezogen, mit dem jüngsten Kind auf dem Schoß, drei ältere
neben sich, und belehrt ihre Kleinen, wie sie mit ihren ärmlichen,
schmutzigen Nastüchern unsere winkenden Grüße erwidern sollen. Dort
füllt ein ganzes Rudel rotwangiger Buben und Mädchen ein Boot, dessen
Ruder ein Backfisch handhabt, während sich die übrigen Insassen sehr
seevertraut in dem schwankenden Fahrzeug lustig machen und oft mit
halbem Körper nach dem Wasser überragen, um ein schwimmendes Stück Brot
oder eine leere Konservenbüchse zu erhaschen. Sprach- und stimmlos vor
Erstaunen war ein schwarzer Hund, der als Mittelpunkt einer fröhlich
lachenden und winkenden Familie mit offenbar gespanntem Interesse das
fremde Schauspiel musterte und unverwandt nach unserm Schiffe sah.

Noch waren wir 10 Kilometer vom Ziele des heutigen Tages, von
Gudwangen, entfernt; aber weiter durfte und konnte unser großer
Oceandampfer nicht mehr in dem schmalen, vielfach gewundenen
Meeresarme. Ein kleineres, aber schmuckes norwegisches Dampfboot, der
„Kommandören“, war für den heutigen Tag von der Hapag gechartert;
bald lag er an unserer Seite und auf breiter Verbindungsbrücke ergoß
sich der Passagierstrom in wenigen Minuten herüber. Wir hatten einen
prachtvollen Platz auf dem aussichtsreichen hohen Verdeck erobert
und konnten nun die herrliche Fahrt vollauf genießen. Als das Schiff
sich in Bewegung setzte, erschien eben die Sonne über den Bergen und
spiegelte sich in der leicht gekräuselten Flut. Der Fjord verengte sich
gegen Gudwangen zu flußartig; die Entfernung der Ufer beträgt kaum mehr
200 Meter und wenig fehlt, so berührt sich in der Luft der Staub der
auf beiden Seiten herabstürzenden Schleierfälle.

Rechts liegt eine reizende kleine Kirche, umgeben von Bauernhöfen,
das Örtchen Bakke. Dahinter ein mächtig rauschender Wasserfall.
Dort biegen wir nochmals um die Ecke; dann erscheint vor den Augen
Gudwangen, ein paar Häuser und einige Hotels, von gewaltig aufragenden
Bergen eingeschlossen; man begreift, daß sie im Winter monatelang die
Sonne nicht zu sehen bekommen. Im Hafen lag bereits ein englischer
Touristendampfer vor Anker, eine schlechte Vorbedeutung für den
heutigen Tag; wir mußten erwarten, alles „abgeweidet“ zu finden, wo wir
hinkamen, und das stimmte denn auch so ziemlich.

Reiseziel war für alle das herrlich gelegene Stahlheim; von dort
sollte ein Teil der Passagiere auf dem Landweg über Vossewangen nach
Bergen fahren, während ein anderer Teil, abends per „Kommandören“
wieder auf die „Auguste Viktoria“ zurückgebracht, zur See die genannte
Stadt erreichen wollte.

Vom Landungsplatze längs der durch die kleine Ortschaft führenden
Straße waren wohl an die hundert norwegische Karren und Kutschen
aufgestellt, und man fragte sich, wo und wie dieses Heer von Wagen und
Pferden eigentlich hergekommen sei. Die Reisefirma Beyer hatte offenbar
alle Bauern von nah und fern mit ihrem Fuhrwerk für den heutigen
Tag aufgeboten. Im Sturme wurde die Wagenburg genommen; glücklich
diejenigen, welche sich einen Sitz zu erobern wußten; manch’ Einer, den
das Schicksal zu einem Kariol verurteilte, wird sich nach mehrstündiger
Fahrt auf der holprigen Bergstraße schmerzlich daran erinnert haben,
daß sogar die Sitzgegend mit Empfindungsnerven bedacht ist. Für
uns, die wir nicht unter Beyers Obhut, sondern als Wilde reisten,
kam diesmal nur Schusters Rappen in Frage. Wir marschierten tapfer
vorwärts, trotz der zu überwindenden 3½ Wegstunden; oft sauste dann
die lange Wagenreihe an uns vorbei, gar nicht von uns beneidet, die wir
den oft komischen Anstrengungen zur Erhaltung des Gleichgewichts und
zur Entlastung des Sitzes auf staubiger Straße von grünen Wiesenpfaden
aus zusehen konnten. Wo aber der Weg anstieg, da gewannen wir immer
wieder einen Vorsprung, und schließlich waren wir nicht einmal die
Letzten am Ziele.

Wenig außerhalb Gudwangen war ein norwegischer Polizeiposten vor
einem Schlagbaum aufgestellt, der jedes Fuhrwerk mit Bespannung genau
musterte und nur passieren ließ, wenn die Beschaffenheit alle Garantie
für ungefährdete Beförderung der Reisenden bot. Brüchiges Leder,
geflickte Riemen und beschädigte Achsen wurden abgeschätzt. Diese
Fürsorge der heiligen Hermandad hat uns sehr wohlthätig berührt.

Unser Weg führte in das malerische _Naerödal_, welches als Fortsetzung
des Fjords sich landeinwärts zieht und dessen wilden Charakter
beibehält. Nach starker halbstündiger Steigung schritten wir durch ein
mächtiges „Ur“, ein durch Absturz gebildetes Felsenmeer; dann gings
durch eine wunderbare und großartige Thallandschaft meist an der Seite
eines schäumenden Bergstromes und diesen mehrfach überbrückend. Die
Szenerie beherrscht der aus weißlich-grauem Labradorstein mächtig
aufgetürmte stumpfe Felskegel des Jordalsunt (1100 Meter).

Endlich -- nach 2½ Stunden -- zeigte sich dem entzückten Auge das
hochgelegene Stahlheimhotel; die „Klev“, der grüne Bergrücken, auf
dessen Höhe es erbaut ist, schließt das Thal wie eine Riesenmauer
vollständig ab, und in mächtigen, weithin sichtbaren Serpentinen steigt
die Straße daran empor. Zwei Staubfälle stürzen rechts und links -- das
Hotel zwischen sich lassend -- durch den grünen lichten Wald zu Thal
und vereinigen sich unten zum ruhigen, aber immer noch ungestüm weiter
fließenden Bergstrome.

Einen prachtvollen Anblick gewährten frische Abbruchstellen an den
dunkeln, senkrecht aufsteigenden Felsen, welche das Naerödal begrenzen
und die wie carrarischer Marmor aussehen, bis auch sie im Laufe der
Jahrzehnte durch Nässe und Moosansatz geschwärzt sein werden. -- Viele
Fuhrwerke ließen unten an der Klev ihre Passagiere aussteigen und
erwarteten, während die Pferde frei herumgrasten, deren Rückkehr. Nur
diejenigen, welche nach Vossewangen weiter zu fahren gedachten, mußten
ihre Wagen mit nach oben nehmen.

Das war nun ein schöner, aber mühseliger Aufstieg zu diesem
Stahlheimhotel; unter die entzückten Ausrufe über die jeder
Beschreibung spottende herrliche Gegend mischten sich Weh und Ach von
allen Seiten; denn die Sonne brannte fürchterlich, und der Durst wurde
geradezu phänomenal; wo man sich erschöpft in kleineren und größeren
Gruppen ins Gras oder auch glatt an den staubigen Wegrand geworfen,
fiel aller Blick hülfesuchend nach oben -- zum Hotel; -- dort malte man
sich kühle Räume und jedes ersehnte Labsal aus. -- Endlich waren wir
oben. Aber o Schreck! Den großen Speisesaal fanden wir dicht besetzt
bis auf den letzten Platz mit den zuerst eingetroffenen Unsrigen und
mit den Engländern, deren Schiff wir in Gudwangen gesehen hatten.

[Illustration: Stahlheim.]

All’ unser Stürmen und Drängen und Schreien nach Brot und Trank
nützte nichts; die Hotelleitung und Bedienung war in größter
Verlegenheit, und schließlich sah sie sich genötigt, die Thüre zum
Speisesaal einfach abzuschließen. Draußen tobte und polterte die
„hungrige Bestie“; von drinnen her ertönte Eß- und Trinkgeräusch „der
sich Sättigenden“, und so oft ein Pfropfen knallte, ging uns draußen
ein Stich durchs Herz. Übrigens war die Verlegenheit eine beidseitige.
Manch’ Einer kam im Sturmschritt von der Tafel zur Thüre gerannt, um
eine dringliche Exkursion zu unternehmen, und wir Ausgeschlossenen
amüsierten uns über die hastige Wut, mit welcher er erfolglos das
Thor zu öffnen suchte, und bombardierten ihn durchs Schlüsselloch mit
kleinen Aufmunterungen. Nach dreiviertelstündigem, mit Galgenhumor
ausgefülltem Warten hieß es, daß bis in frühestens einer halben Stunde
zum zweitenmal gedeckt würde. Das konnten wir nicht erleben; wir
mußten ja rechtzeitig wieder in Gudwangen sein; also frisch hinein
ins Unvermeidliche! Mit leerem Magen traten wir den Rückweg an; doch
nein, unten im Hotel gelang es uns ja, eine halbe Flasche Sodawasser
zu erstehen und in einer Art Verkaufslokal über den Pferdestallungen
entdeckten wir neben Thongeschirr, Leder- und Eisenwaren in
schmierigem Sacke etwas Eßbares, eine Art süßen Kleinbrots, das wir
gierig verschlungen, während wir die Serpentine der Stahlheimklev
hinuntereilten. Der Ausblick auf das zu Füßen liegende, dunkle
Naerödal mit den beidseitig gewaltig aufsteigenden Bergen ist ein so
großartiger, daß wir Hunger und Durst darüber vergaßen und meinten,
hier sei wohl das Erhabenste, was wir in Norwegen gesehen. Aber die
armen Beine! Bis jetzt hatte sie noch die sichere Hoffnung gestärkt,
unten am Berg eine Rückfahrtgelegenheit nach Gudwangen zu finden --
Täuschungen und Trugbilder! Das letzte Pferd war mit Beschlag belegt.
Da gab’s kein Besinnen. Tapfer und unverdrossen -- ja sogar in bester
Laune -- fußten wir die drei Stunden zu Thal; als Lohn der That winkte
uns ja im Haupthotel daselbst kühles Oell (Bier) und ein tüchtiges
Abendessen. Doch auch das erwies sich als ~fata morgana~!

Als wir endlich -- endlich Gudwangen und den blauen Fjord unmittelbar
vor uns liegen sahen, da verdoppelten sich unsere Schritte und im Tempo
des Gauls, der sich seiner Stallung und seinem Futtertroge nähert,
langten wir beim Vikingwanghotel an. Kaum vermochte die lechzende Zunge
das „Oell, Oell“ (Bier, Bier) noch herauszuschleudern; aber es gab
kein Oell und auch nichts Vernünftiges zu essen; die bösen Engländer
hatten, wie die Heuschrecken, mit allem aufgeräumt. Eine mitleidige
Seele verkündete uns, daß eine Strecke weiter zurück im kleinen Gasthof
bei Hansen Bier und allerlei zu haben sei. Also ohne Besinnen zurück zu
Vater Hansen! Im kleinen, behaglichen Speisesaal, dessen leere Tafel
noch die Überbleibsel der vorhergehenden Mahlzeit aufwies, däuchten wir
uns bei Oell, Smoerrebroed (Butterbrot) und Ost (Käse) wie Könige, und
die gestärkten Seelen gerieten sehr bald in jene fröhliche Stimmung,
wie sie nach überwundenen Schwierigkeiten gerne sich einstellt. Bald
kamen auch andere Naerödaler angelaufen, alle, wie wir, hungrig
und durstig und nach Speis und Trank rufend; aber es gelang nur
mit Mühe und oft auf komischen Umwegen, sich den zwei dienstbaren
Geistern, ehrsamen Töchtern des Hauses, doch fürchterlich schwer von
Begriffen, verständlich zu machen, und die Sprachverwirrung schuf
die unglaublichsten Szenen. Daß die korpulente Frau Baronin X. Käse
präsentiert erhielt, als sie zu wiederholten Malen Ansichtspostkarten
verlangt hatte, brachte sie zwar ganz aus dem Häuschen, war aber
begreiflich, denn ihre norwegischen Worte tönten ganz arabisch und aus
den begleitenden Gesten konnte man ebensogut auf Limburgerkäse wie auf
ein postalisches Kunstprodukt schließen.

Das Norwegische muß eben in seinen Feinheiten verstanden und gekannt
sein, wie ich gleich an einem Beispiel zeigen werde. Als nämlich --
durch das offene Fenster hereingewunken -- unsere Reisefreunde, Herr
und Frau ~Dr.~ T. aus Rom, sich zu uns gesellten, mit viel Geschick
beim Biertrinken mithalfen und über Hunger klagten, da suchte und
fand ich unter den Ueberresten der Tafel einen offenbar eßbaren,
nach Käse aussehenden gelblichen Kuchen, den ich sofort an unsern
kleinen Tisch herüberholte. Mit gespannter Erwartung kosteten wir
den Fremdkörper, um ihn sofort wieder unter den Zeichen des größten
Abscheues -- das gemütliche Gesicht von Frau ~Dr.~ T. war geradezu
in Angst und Entsetzen verzogen -- auf dem kürzesten Wege und mit
entsprechenden Begleittönen durch das Fenster herauszubefördern --
das Gericht schmeckte abscheulich, bittersauersüß und weckte bei
Katzenfreundinnen lebhafte Reminiscenzen an ihre Lieblinge. Nun galt es
aber, Ursprung und Namen des schrecklichen Nahrungsmittels zu erfahren.
Also: Norwegerinnen her! Sie kamen, die zwei Heben; indes war keine
Möglichkeit, ihnen unsere Absicht irgendwie begreiflich zu machen;
sie leisteten sehr bereitwillig und freundlich die unglaublichsten
und verkehrtesten Dinge auf alle gestellten Fragen, ohne unser wahres
Begehr zu ahnen, so daß schließlich unsere an die beweglichen und
geistig regsamen Italiener gewohnte schweizerische Römerin die Geduld
verlor und ihnen eine ganze Stufenleiter von der „Appele“ bis zur
„Schneegans“ an den Kopf warf, mit halb wohlwollendem, halb ärgerlichem
Lachen. Nun mußte der Vater Hansen her, um aus der Verlegenheit zu
helfen; der alte, graue, gemütliche Kerl trat vor, und unter Anspannung
der ganzen im Saale vorhandenen Intelligenz wurde ermittelt, daß
das Gericht Museost heißt und ein Käse ist. Aber was für Käse? Der
ernste Familienvater, ~Dr.~ T. aus Rom, setzte seine Arme als Geweih
auf seinen Kopf und springt nach Art der Rentiere im Zimmer herum.
Hansen winkt ab. Also kein Rentierkäs. Die stolze Römerin, Frau ~Dr.~
T., versieht sich ebenfalls mit Hörnern und ahmt den Gesang einer
Kuh erschütternd ähnlich nach. Das scheint nun eher zu stimmen; doch
deutet Vater Hansen mit seiner tief gehaltenen Hand, daß es sich um ein
_kleineres_ gehörntes Tier handelt. Eine meiner Begleiterinnen fängt
an zu meckern wie eine Ziege, worauf ein verklärtes Lächeln über das
bärtige Gesicht des alten Hansen gleitet; mitmeckernd und kopfnickend
bestätigt er die Vermutung.

So hatten wir denn mit allseitiger geistiger und körperlicher
Anstrengung und unter Aufwand all’ unserer norwegischen
Sprachkenntnisse, vor allem aber unter fröhlichem und anhaltendem
Lachen herausgebracht, daß das entsetzenerregende Gebilde „Geißkäs“ sei.

Schließlich wurden wir noch recht familiär mit dem alten Wirte und
ließen uns das ganze Haus und seine Angehörigen von ihm zeigen; Mutter
Hansen saß -- eine gichtbrüchige Matrone -- im Sorgenstuhl; aber
ihre Augen leuchteten so freundlich und in dem Stübchen war alles so
voll Blumen, daß ein Gedanke an Krankheit und Schmerz hier gar nicht
aufkommen konnte.

Der Museost hat uns sofort noch ein weiteres kleines Vergnügen
bereitet. Wir waren schon am Strande, neben übermütig spielenden
Schafen ins Grün gelagert, um den uns abholenden Kommandören zu
erwarten, als noch Einer der Unsrigen staubschwer, schweißtriefend
und erquickungsbedürftig dort anlangte. Sein Verlangen nach Speis und
Trank steigerten wir aufs höchste durch die Schilderung des kühlen
Biers bei Vater Hansen und vor allem „des ganz deliciösen norwegischen
Nationalgerichts“, des Museost. Es war grausam, den müden Wanderer so
hungern zu lassen, und so machten ~Dr.~ T’s. und ich uns nochmals auf
die Strümpfe als Wegweiser und Zeugen für den zu vollziehenden Eßakt.
Das arme hungrige Opfer unserer Grausamkeit führte sich sofort ein
tüchtiges Stück des köstlichen „Nationalgerichtes“ zum Munde und war
in Erinnerung an das uneingeschränkte Lob, das wir ihm gezollt, zu
höflich, um sofort seine wahre Empfindung zu zeigen und das Gegenteil
zu behaupten; er kaute also mit Todesverachtung, während ~Dr.~ T’s.
Gesicht im Kampf mit dem Lachen wetterleuchtende Grimassen schnitt,
als ob ihn das Zahnweh plagte, und seine Gattin unsagbar gleichgültig
im Zimmer umherschaute. Aber plötzlich ging’s nicht mehr; man platzte
los mit Lachen, und in der nämlichen Sekunde war unser Museostkoster,
die Situation begreifend, vom Stuhle auf und zum Fenster geflogen,
und uns blieb nachher die Pflicht, einige Flaschen kühlen Oells als
geschmackverbesserndes Heilmittel und zur Sühne für unsere Bosheit zu
stiften.

Um halb 8 Uhr waren wieder alle, welche den Seeweg nach Bergen der
Ueberlandtour vorzogen, an Bord des Kommandören, der uns durch die
wilde Pracht des Naerofjords nach unserer schwimmenden Heimat, der
„Auguste Viktoria“, zurückführte. Ein besonders nettes Bild boten bei
der Wegfahrt von Gudwangen einige Pferde, welche ohne Führung sich auf
dem malerischen Küstenpfade nach Bakke ihren Heimweg suchten, ab und zu
ein Maul voll grasend, hie und da auch einen erstaunten Blick auf den
vorbeirauschenden Dampfer werfend.

Erst um halb 10 Uhr waren wir wieder in unsern gewohnten
Schiffsräumen; dort wurde uns -- als Lohn des mühevollen Tages -- trotz
der späten Stunde noch ein vorzügliches Essen serviert, und während
wir uns sättigten, steuerte unser schwimmendes Hotel sicher zwischen
drohenden Felswänden dem Ausgange des Sognefjords zu.



~XV.~

     An der Stätte der Frithjofssage. -- Ankunft in Bergen. --
     Das norwegische Hamburg. -- Im Leprahospital. -- Fahrt nach
     Yttre-Arne. -- Heimat in fremdem Lande. -- Mange tak.


Es konnte nach Mitternacht werden, bis wir die klassischen Stätten
der Frithjofssage berührten; aber diesmal wollten wir sie uns nicht
entgehen lassen. In Esaias Tegners herrliche Dichtung versunken
saßen wir an einsamer Stelle unseres Schiffes. Die Sonne war nach
10 Uhr untergegangen und eine laue, helle Nacht lagerte über der
Fjordlandschaft. Zum erstenmal nach 14 Tagen grüßte uns wieder ein
alter lieber Freund, der silberne Mond, dessen bisher aschgrauer
Umriß im Glanze der Mitternachtssonne vollständig außer Beobachtung
gefallen war. In erwartungsvoller Stille glitt unser Schiff auf der
dunkelglänzenden Flut vorwärts, und eine fast andächtige Gemeinde
saß auf Deck versammelt, die Augen vorwärts gerichtet. Da taucht
am südlichen Ufer eine tiefgrüne, weit in den Fjord vorgeschobene
Landzunge auf, die etwas zurückliegend auf der Höhe ein freundliches
weißes Kirchlein zeigt. Hier ist Vangnaes, das klassische Framnaes,
und hieher verlegt die Sage den Wohnsitz des Wikingssprossen Frithjof.
Von gegenüber grüßte vielfacher Lichterschein; einige große Hotels und
reizend im Grünen liegende Villen kündeten den herrlichen Balestrand,
wo einst Ingeborg in ihres Vaters Königspalast wohnte. Und nun folgte
ein Intermezzo, das der sinnige Kapitän für uns ausgedacht und das
allen Teilnehmern in freundlicher, ja erhebender Erinnerung bleiben
wird. Das Schiff hielt an mitten im Fjord angesichts der beiden
klassischen Stätten, deren auch in der Dämmerung auffallend lebendiges
Grün ein herrliches Schneegebirgspanorama als Hintergrund hatte. Sechs
Böllerschüsse erschütterten die Luft und fanden ein mächtiges Echo,
das über die Flut zu rollen schien. Dann stiegen Raketen auf, die
Strandbewohner zu grüßen, und während unsere Kapelle die ergreifende
norwegische Nationalhymne spielte, zündeten bengalische Feuergarben
vom Bootsdeck unseres Schiffes herab weit ins Meer und Land hinein und
erzeugten einen wunderbaren Farbeneffekt in dem nachtträumerischen
Naturgemälde.

In Balestrand wurde es alsbald lebendig; dutzende von Booten kamen
hergefahren und jubelten uns zu, in richtigem Verständnis dessen, was
wir hier hatten feiern wollen. Das war eine erhabene und von allem
Gewöhnlichen und Alltäglichen unberührte Seelenstimmung, da wir um
Mitternacht im Sognefjord die Bautasteine von Bele und Thorsten und
die Schatten Frithjofs und Ingeborgs grüßten, und ich erwachte wie aus
schönem Traume, als unser Dampfer plötzlich wieder vorwärtszurauschen
begann. Lange noch tönten -- immer schwächer werdend -- die
Abschiedsrufe der Balestrander an unser Ohr.

Zwischen 3 und 4 Uhr erreichten wir das offene Meer, wobei wir die vor
der Mündung des Fjords liegende gebirgige Inselgruppe Sulenör -- die
Solundar-Oe der Frithjofssage -- rechts liegen ließen.

    „Fern hebt aus der Flut
    Sich Solundar-Oe;
    Sturmgeborgen ruht
    In der Bucht die See.“

In aller Morgenfrühe des 21. Juli waren wir wieder auf Deck, um die
Einfahrt nach Bergen zu sehen. Durch ein wahres Chaos von Inseln,
die meisten als kahle, aber unendlich vielgestaltige Felsen sich
über die Meeresfläche erhebend, sucht das Schiff seinen Weg gegen
das Festland. Die Küste ist anfänglich fast ohne alle Vegetation;
auf den niedrigen, durch die Gletscher der Eiszeit abgeschliffenen
Vorbergen sieht man nur hie und da ein weithin leuchtendes Fischer-
und Schifferzeichen. Bei weiterm Vordringen werden die Berge höher,
zum Teil bewaldet, die Küsten zeigen Ansiedlungen; auf der Höhe sind
die Festungswerke sichtbar und allerlei ungewohnte Bauten: mächtige,
nach Art der Gasometer erstellte Petroleumreservoirs, Fabrikkamine,
elektrische Starkstromanlagen lassen die Nähe einer größern Stadt
vermuten. Plötzlich, da wir um eine Ecke biegen, liegt sie vor uns,
hüllt sich aber, um ihren alten Ruf als Regennest zu wahren, sofort in
ein Wasserfäden- und Nebelgewand. Schon glaubten wir, zum erstenmal
auf unserer Reise vom Regenschirm Gebrauch machen zu müssen, als das
Wetter plötzlich änderte und eine herrliche, lichte Sonne auf die
regenglänzende Stadt herabzuscheinen begann; sie ist uns während des
ganzen Aufenthaltes in Bergen treu geblieben, und das sei -- so hieß
es -- das größte Wunder der ganzen Nordlandfahrt; denn „in Bergen
regnet’s so beharrlich, daß dort die Kinder mit dem Regenschirm zur
Welt kommen“, sagt der nordische Volksmund.

Das „norwegische Hamburg“ grüßte die „Auguste Viktoria“ beim Einfahren
mit weithin dröhnenden Kanonenschüssen aus der Bergenhusfestung, die
in sechs- bis siebenfachem Echo widerhallten. Unser Schiff kreuzte
einige Zeit vor dem Hafeneingang, um den Anblick des wirklich schönen
Städtebildes recht ausgiebig zu gewähren, und lenkte dann vorüber
an der grünen Halbinsel Nordnaes mit prächtigen, terrassenförmig
ansteigenden Gärten in den Buddefjord, wo der Anker ausgeworfen wurde.
Sofort begann das Ausbooten; da wir aber bis zum folgenden Abend in
Bergen liegen sollten, blieben wir Drei ruhig noch einige Stunden an
Bord, wo uns in den menschenleeren Räumen keine plaudernde Gesellschaft
am Lesen und Schreiben störte. Von Zeit zu Zeit stürmten wir dann
wieder aufs Verdeck, um den interessanten Leben und Treiben im Hafen
zuzusehen und unser Auge an dem malerischen Landschaftsbilde zu
sättigen.

Bergen ist eine der ältesten, aber auch der schönsten Städte
Norwegens. Ihre Einwohnerzahl beträgt 70,000. Trotz der nördlichen
Lage -- es liegt etwas nördlicher als die Südspitze von Grönland
und Petersburg -- findet man hier fast alle Laubbäume Deutschlands
und einen herrlichen Blumenflor. Dadurch, daß die reiche Kultur des
Stadtbezirkes unmittelbar an die Gebirgswüsten grenzt, entsteht
eine sofort in die Augen fallende Kontrastwirkung, welche einen das
Landschaftsbild nicht so bald vergessen läßt. Die Häuser Bergens
liegen um den Haupthafen, die sog. Vaagen, herum, einerseits die
langgestreckte Landzunge Nordnaes bedeckend, auf der andern Seite über
die Felshöhen unter dem steilen Flöifjeld ansteigend.

Ich wußte, daß der Sprößling eines thurgauischen Pfarrhauses und
Bruder eines meiner Studienkameraden seit langen Jahren in der Nähe
von Bergen lebte, und hatte ihm deshalb lange zuvor die Ankunft von
engeren Landsleuten auf der „Auguste Viktoria“ mitgeteilt und ihn
gebeten, uns einige Stunden zu widmen. Persönlich kannte ich den
thurgauischen Norweger nicht; ich hatte ihn in meinem Leben nie
gesehen; aber als ich so gegen 11 Uhr wieder einmal auf Deck trat,
um die Augen voll nordischer Welt zu schöpfen, da sah ich über die
Brüstung unseres Schiffes gelehnt das Ebenbild eines gemütvollen
Geistlichen, mit welchem ich s. Z. zwei Jahre im Kantonsspital in
Münsterlingen zusammen geatmet hatte und der mir in freundlichem und
lebhaftem Andenken geblieben ist. Ich klopfte ihm ohne weiteres auf die
biedere Thurgauerschulter und wir begrüßten uns wie alte Bekannte, die
sofort in gemeinschaftliche Erinnerungen sich zu versenken begannen.
Ein Glas Münchner frisch vom Faß -- dem norwegisch Gewöhnten ein ganz
besonderer und seltener Genuß -- wurde auf unser erstes Zusammentreffen
genossen; nachher saßen wir vergnügt an der Schiffstafel und plauderten
von der Heimat, daß die Stunden nur so dahinflogen und wir später
als alle anderen Schiffspassagiere uns endlich aufmachten, um ans
Land zu fahren und Bergen aus der Nähe kennen zu lernen. Dabei wurde
denn nun allerdings unser freundlicher Führer mit Fragen bombardiert
und ausgequetscht wie eine Zitrone; er hat uns zahllose interessante
Auskünfte über Land und Leute in Norwegen gegeben und meine vorläufig
gefaßte Meinung bestätigt, daß die Bewohner dieses nordischen
harten Gebirgslandes mit uns Schweizern in vielen Beziehungen die
größte Aehnlichkeit haben, u. a. auch hinsichtlich ihres nationalen
Unabhängigkeitsgefühls.

Bekanntlich wurde im Jahre 1814 durch Beschluß der in Christiania
versammelten Reichsvertretung die bisherige Union Norwegens mit
Dänemark gelöst und der schwedische König, nachdem er das norwegische
Grundgesetz beschworen, zum König von Norwegen gewählt. Seit
Jahrzehnten aber geht eine immer stärker werdende politische Strömung
durch das Land, welche die völlige Lösung der Union zum Ziele hat. Als
äußerliches Zeichen dieser erstrebten Unabhängigkeit verlangen die
Norweger die Entfernung des Unionszeichens aus ihrer Landesflagge,
die sogenannte „reine Flagge“. Dreimal hat die Volksvertretung,
der Storthing, dieselbe beschlossen; zum drittenmal hat der König,
von seinem Rechte Gebrauch machend, sein Veto dagegen eingelegt;
nachdem auch nach dem dritten Veto der neugewählte Storthing auf
den Beschlüssen des frühern beharrt, hat der König nichts mehr zu
verbieten, und vom Herbst 1899 an wird es nicht nur wie bis jetzt
geduldet, sondern gesetzlich geboten sein, das in der obern äußeren
Ecke sitzende Unionszeichen auszumerzen und die reine Flagge zu führen.
Im Norden sahen wir lauter reine Flaggen ausgehängt; in Bergen aber war
ab und zu noch die Unionsflagge zu sehen.

Norwegen hat den Ruf, im Kampfe gegen den Alkoholismus gesetzgeberisch
am meisten gethan und auch am meisten erreicht zu haben. Das
Alkoholmonopol, das im ganzen Lande herrscht, ist nicht staatlich,
sondern kommunal. Jede Gemeinde hat sich das Recht des Verkaufs
geistiger Getränke gewahrt, und da die Zahl der konzessionierten
Verkaufsstellen eine geringe ist, stolpert man nicht wie bei uns jedes
zweite Haus über eine Kneipe. Betrunkene haben wir sehr wenige gesehen;
doch sagte unser Führer, daß die Trunksucht immer noch als nationales
Uebel gelte, wenn auch anderseits die Abstinenzbewegung größere
Fortschritte aufweise als in jedem andern Lande. Der beträchtliche
Gewinn, welcher den Gemeindekassen aus dem Alkoholverkauf erwächst,
darf nur zu wohlthätigen Zwecken verwendet werden.

Unser Streifzug durch die Straßen Bergens führte uns zu manch’
Interessantem. Ein auffälliger, mit Säulen gezierter -- im übrigen
schlichter -- Holzbau ist das Nationaltheater, das der berühmte Geiger
Ole Bull (ich hörte ihn 1878 als siebenzigjährigen Greis in Wien noch
konzertieren) in den Vierziger Jahren aus eigenen Mitteln erstellen
ließ, in der Absicht, seinem geliebten norwegischen Volke den Sinn für
dramatische Kunst zu wecken. Schön modelliert ist das auf großem freiem
Platze erstellte Standbild Christiés, des Befreiers der Norweger von
Dänemark und Präsidenten des ersten Storthings (1814).

Nicht nur als hervorragender Handels- und Hafenplatz läßt sich
Bergen mit Hamburg vergleichen, sondern auch im Städtebild liegt --
die Dimensionen natürlich außer Betracht gelassen -- eine gewisse
Aehnlichkeit, indem, gleich wie in Hamburg das große und das kleine
Alsterbassin, hier zwei Wasserbecken, von Gärten und Neubauten
bekränzt, zum Weichbild der norwegischen Stadt gehören. Dagegen hat
Bergen -- im Gegensatz zu Hamburg -- fast gar keine Juden; denn bis
vor kurzer Zeit konnten israelitische Kaufleute in Norwegen nicht
niederlassungsberechtigt werden, und erst der geistreiche politische
Poet und Satyriker und radikale Umstürzler Wergeland hat dem Volk
Israel die nordischen Thore geöffnet.

Das interessanteste Stück von Bergen sind der Fischmarkt und die
Tydskebryggen (deutsche Brücke) an der Vorderseite des Vaagen-Hafens,
letztere ein Quai mit einer langen Reihe jener altdeutschen
Giebelhäuser, wie sie von den Hansastädten her bekannt sind, die
einstigen Wohn- und Geschäftsräume der hanseatischen Kaufleute aus
Lübeck, Bremen und Hamburg. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts haben
nämlich die Hanseaten den ganzen Bergischen Handel an sich gerissen;
dies war gleichbedeutend mit kommerzieller Beschlagnahme vom ganzen
Norden Norwegens, denn ein Privileg zwang das gesamte Nordland, den
Ertrag der Fischerei nur nach Bergen zu bringen. Der Fischhandel war
von jeher und ist auch heute noch die Grundlage des Reichtums von
Bergen, und die Gründung des „hanseatischen Kontors“ bedeutete einen
mächtigen Aufschwung für den Handel der Stadt, der sich auch nach der
Aufhebung dieses Monopols auf gleicher Höhe erhalten hat. In das Leben
und Treiben der hanseatischen Zeit gewährt ein Besuch des sogenannten
hanseatischen Museums einen höchst interessanten und lebendigen, aber
keineswegs wohlthuenden Einblick. Das eine der alten Häuser an der
Tydskebryggen ist nämlich noch vollständig im ursprünglichen Zustande
erhalten. Im Erdgeschoß befinden sich weite Räume, Magazine, in welchen
die Warenvorräte lagerten. Im ersten Stock betritt man durch einen
Vorsaal mit alter, origineller Zugglocke die Hauptstube, das Kontor des
Vertreters der Firma; dort wurde gehandelt; nach welchen Grundsätzen,
ist ersichtlich aus zwei vorgewiesenen mächtigen Gewichtssteinen, ganz
gleich in der Größe, aber durch angeschmolzenes Blei sehr ungleich im
Gewichte; der leichtere fand beim Verkaufe, der schwerere beim Einkaufe
Verwendung.

[Illustration: Bergen.]

Alle Möbel und Gebrauchsgegenstände sind die originalen, in vergangenen
Jahrhunderten gebrauchten. So auch im Speisezimmer, wo vor allem
riesige Zinnhumpen, mehrere Liter haltend, auffallen. Diese Herren
Hanseaten, respektive die hier wohnenden Vertreter, meist jüngere
Leute, die nicht verheiratet sein durften, müssen fürchterlich gekneipt
haben; der herumführende norwegische Wächter schloß wenigstens fast
jeden Abschnitt seiner in sehr holperigem Deutsch gegebenen Erklärung
mit dem Nachsatze: „denn sie waren immer besoffen.“ Jedenfalls wurde
in diesen Handelshäfen, namentlich im Winter, wo jede Arbeit ruhte,
ein zügelloses Lasterleben geführt; viele Vergehen gegen Recht
und Sitte konnten einfach mit Geld gesühnt werden, und wenn die
aufgestellten eisernen Strafenbüchsen voll waren, so wurde der Inhalt
gemeinschaftlich in Bier und Wein und Schnaps umgesetzt.

Sehr wenig einladend sind die Schlafstellen dieser Kaufleute; man
öffnet eine Kastenthüre, und in dem Kasten liegt ein schmales Bett,
in welchem sich ein erwachsener Mensch kaum rühren kann; ist die
Thüre geschlossen, so liegt man wie in einem Sarge. Ein kleiner
geheimer Schieber im Bettkasten des Chefs ermöglichte demselben von
der Schlafstätte aus die Kontrolle seiner Gesellen im nebenanliegenden
Kontor. Hier traute keiner dem andern. Eine geheime Treppe, die vom
Speisezimmer nach oben und auf Umwegen ins Freie führte, wird auch kaum
ehrlichen und anständigen Zwecken gedient haben. Im zweiten Stock der
Häuser lagen dann die Kläven (Konklave), d. h. die Schlafkasten der
Gesellen und Diener. Licht oder Feuer durfte im Hauptgebäude während
des ganzen langen Winters nie angezündet werden; „denn sie waren immer
besoffen“ motivierte der Führer. Deshalb befand sich dann weiter zurück
im Hofe, in der Nähe des zugehörigen Gemüsegartens, die sogenannte
Schüttstube, ein gemeinschaftliches Versammlungshaus für sämtliche
Bewohner eines Geschäftes; noch weiter zurück, aber unmittelbar
anstoßend, lagen Quartiere für liederliches Gesindel. So war jeder
der vielen dicht neben einander liegenden Verkaufshöfe beschaffen,
und feste Palissaden, durch gefürchtete Bulldoggen verstärkt, hielten
Unberufene von diesem Nachtleben der hanseatischen Kontoristen fern.
Das Ganze bildete für sich einen Staat im Staate, der zirka 3000 Seelen
zählte. Dem papierenen Gesetz nach mußten alle männlichen Geschlechtes
sein und auch weibliche Bedienung war verboten.

Die Bürgerschaft von Bergen hatte manchen schlimmen Akt der Willkür
von der deutschen Hansa zu ertragen; aber von Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts an wurde ihre Macht im Norden gebrochen und 1763 ging die
letzte „Stube“ durch Kauf an einen Norweger über.

Ebenfalls in ursprünglicher Form erhalten sind die zu jedem
Hanseatenhaus gehörigen hölzernen Landungsbrücken, jede mit einem
primitiven mächtigen Vippebom (Wippenbaum) -- eine Art hölzernen
Krahnens -- versehen, zum Ausladen der Fische, welche von den
nordländischen Schiffen hiehergebracht werden. Da sahen wir denn ein
außerordentlich interessantes Treiben, überall geschäftige Fischer und
Händler und eine Menge von fremden und ungewohnten Produkten, alle dem
Meere entstammend. Zu Millionen wird hier der getrocknete Stockfisch
ausgeladen, in den über der Quaistraße liegenden Magazinen sortiert und
in Büscheln zusammengebunden, die genau wie dürres Holz aussehen. Die
gewöhnliche Jahreszufuhr beträgt 25 bis 30 Millionen Stück; dieses Jahr
war die Ausbeute viel geringer, weshalb der Preis per größern Fisch
sich auf 50 Oere = zirka 70 Rappen stellt gegenüber 25 Oere vom letzten
Jahre.

An anderer Stelle waren Männer beschäftigt, die zirka handtellergroßen
Eierstöcke vom Dorsch in große Fässer zu verpacken und einzusalzen;
dieselben wandern alle nach der französischen Küste, wo sie zum
Sardinenfang benützt werden. Ins seichte Küstenmeer geworfen, locken
sie die kostbaren Fische in Scharen herbei.

Auch alle Produkte der Thranindustrie waren hier zu sehen, z. B.
Thran in allen Reinigungsphasen. Der sorgfältigst mit Dampf gereinigte
Medizinalthran wurde vom Verkäufer auf 50 Kronen, zirka 70 Franken, per
Faß (116 Liter inklusive Doppelfaß) gewertet. Alle derartigen Auskünfte
besorgte uns bereitwilligst unser zuvorkommende Landsmann, der den
ganzen Nachmittag als trefflicher Dolmetsch unermüdlich funktionierte
und bei den Eingeborenen offenbar als waschechter Norweger galt; ihre
Landessprache ist ihm natürlich vollkommen geläufig, während das liebe
„Schwyzerdütsch“, so sehr er sich freute, es sprechen zu können, ihm
ab und zu kleine Verlegenheiten brachte -- begreiflicherweise; denn
er ist, wie er uns sagte, der einzige niedergelassene Schweizer in
Bergen, ja in ganz Norwegen, findet also nie Anlaß, sich in seiner
Muttersprache auszudrücken, und wenn er seinen Buben vom alten
Heimatlande und vom Tell und Winkelried erzählt, so thut er’s auf gut
norwegisch.

Ermüdet von Kreuz- und Quergängen durch die interessantesten
Stadtquartiere und vom Durchstöbern manches Kaufladens, wobei wir
namentlich in Pelzwaren wunderbare Dinge sahen, kehrten wir schon am
frühen Abend auf unser Schiff zurück, nachdem wir unser Programm für
den folgenden Tag festgesetzt hatten. Einer freundlichen Aufforderung
unseres Landsmannes folgend verabredeten wir, uns vormittags 11 Uhr an
der Landungsstelle der Dampfbarkassen zu treffen und per Wagen nach
Yttre-Arne, seinem Wohnort, zu fahren.

Unterdessen kehrten auch allmählich unsere Mitpassagiere auf der
„Auguste Viktoria“, welche von Stahlheim über Vossevangen, d. h. auf
dem Landwege Bergen erreicht hatten, an Bord zurück, und abends waren
wir wieder vollzählig an der Tafel, unsere lieben Holsteiner und das
botanische Ehepaar voll Entzücken über die Reize ihrer Überlandpartie.
Die Menschen, die man vor drei Wochen noch scheu und fremd von der
Seite angesehen, grüßte man jetzt nach vierundzwanzigstündiger Trennung
bereits als alte Bekannte, und man empfand schon hier und noch mehr
zwei Tage später bei dem definitiven Abschiede, daß die Erinnerung an
das gemeinschaftlich erlebte Schöne und Erhabene ein Band fürs Leben
bleiben wird.

Bei der Abendtafel spielte unsere Kapelle u. a. des deutschen Kaisers
„Gesang an Aegir“, und gleichzeitig wurden elegant (an Bord) gedruckte
Karten verteilt mit dem Wortlaute des Einladungstelegramms von Wilhelm
~II.~ und einer eben als Antwort auf eine Dankesadresse eingegangenen
in Drontheim aufgegebenen Depesche folgenden Inhalts:

„Es ist mir eine Freude gewesen, den Passagieren die Besichtigung des
„Hohenzollern“ gewähren zu können, und bitte denselben meinen Dank
für das freundliche Telegramm auszusprechen. Ich wünsche der „Auguste
Viktoria“ glückliche Fahrt und Heimkehr.

                                                      Wilhelm. ~I. R.~“

Das „schwache Geschlecht“ wurde neuerdings mit einer Gabe der
galanten Hapag erfreut; jede Dame erhielt in elegantem Etui mit dem
aufgedruckten Bilde von der „Auguste Viktoria“ und ihrem wackern
Kapitän eine Kollektion feiner Chokoladebonbons und außerdem die
ganze Sammlung der während unserer Fahrt verwendeten, künstlerisch
ausgestatteten Menus.

Die späten Abendstunden waren zauberhaft schön; in herrlicher
Beleuchtung der sinkenden Sonne kreisten malerische Segler und
Boote aller Arten um unser Schiff; aus manchen ertönten, von hellen
Stimmen gesungen, nordische Weisen an unser Ohr; von andern schallten
fröhliches Lachen und freundliche Grüße herauf, und erst spät in der
Nacht mochte man sich von dem schönen Schauspiel trennen.

Am andern Morgen besuchten wir in aller Frühe den Fischmarkt, der
höchst interessant ist. Was da für merkwürdige Gebilde des Meeres
in den mächtigen Verkaufseimern herumzappeln! Aber die gutmütigsten
norwegischen Gesichter haben sich bei diesem Verkaufsgeschäfte eine
gewohnheitsgemäße Grausamkeit angeeignet, die auch einem nicht
sentimentalen Ungewohnten peinlich auffällt. Was der Käufer oder
vielleicht eine sonst zart besaitete junge Bergerin sich an lebender
Ware auswählt, das wird -- während harmlosen Geplauders -- mit einigen
Messerhieben bewegungs- und fluchtunfähig gemacht, um wo möglich noch
lebend im Korb in die Küche zu kommen. Unter den lebenden Fischen
fielen uns besonders ganz intensiv blaugefärbte von forellenähnlichem
Bau auf. Manche Fische sind so groß, daß sie kilo- und zehnkiloweise
mit breitem Haumesser auf der Fleischbank ausgewogen werden.

Den übrigen Teil des Vormittags verwendete ich dazu, ein Stück
menschlichen Elendes zu sehen. Im Südosten der Stadt liegt, mit
elektrischem Tram bequem erreichbar, zwischen der Hauptstraße und
dem großen Lungegaardssee, durch einen schattigen Garten an den
letztern grenzend, das Spital für Aussätzige. Der Aussatz -- diese
schreckliche, schon Moses bekannte Krankheit -- kommt in Norwegen noch
relativ häufig vor, ist aber glücklicherweise doch in stetem Abnehmen
begriffen. 1870 zählte man daselbst (auf nicht ganz zwei Millionen
Einwohner) noch 2526 Lepröse (~lepra~ = Aussatz), 1880: 1795, 1890:
954, und jetzt beträgt die Zahl der Beklagenswerten nur noch 5-600.
Strenge sanitätspolizeiliche Maßregeln und vor allem das Heiratsverbot
für Aussätzige tragen wohl das Wesentliche zu der Verminderung dieser
schrecklichen Krankheit bei. Wo Mittel und Verhältnisse eine Isolierung
des Kranken nicht gestatten, muss derselbe in das Lepraspital gebracht
und zeitlebens dort versorgt werden, sofern eine vorübergehende
Besserung, resp. ein Stillstand des Leidens nicht eine temporäre
Entlassung gestattet. Das von mir besuchte Haus ist ein älteres
geräumiges Holzgebäude, das allerdings kaum den jetzigen Anforderungen
an ein Hospital entspricht. Obschon die Zimmer groß sind, war die Luft
oft entsetzlich verpestet und manchen Anforderungen an Reinlichkeit und
gesundheitliche Vorkehren nicht Genüge gethan. Die Krankheitsbilder,
die man hier sieht, sind zum Teil entsetzliche; ich will die Leser mit
Schilderungen verschonen. Aber auch junge, frische, kräftige Leute
saßen da, an welchen die ersten Spuren des Verderbens kaum in Form
einiger blaßroter Knötchen zu erkennen waren. Vertreten sind unter
den zirka 250 Kranken alle Altersstufen, vom 10jährigen Kinde bis zur
84jährigen Greisin, letztere seit 60 Jahren krank und in der Anstalt.
Entsetzlich ist folgende Familientragödie: Ein Mann, aus gesunder
Familie war kurze Zeit mit einer Frau verheiratet, bei welcher sich
Spuren der Lepra zeigten. Sie starb. In zweiter Ehe heiratete er eine
ganz gesunde Bauerntochter. Während er selbst gesund blieb, erkrankte
seine zweite Frau und sämtliche vier Kinder, die sie ihm gebar, an der
schrecklichen Krankheit. Drei davon sah ich beisammen in der Anstalt,
zwei bereits mit Knötchenbildung im Auge, was mit mathematischer
Sicherheit allmähliche Erblindung bedeutet. -- Chef des Lepra-Hauses
ist der berühmte ~Dr.~ Armauer Hansen, der 1881 den Leprabacillus
entdeckte, leider bisher ohne Erfolg für die Bekämpfung der Seuche.

Gerne entfloh ich dem Hause des menschlichen Elends, immerhin die
Überzeugung mit mir nehmend, daß dort das Schicksal der Armen so
erträglich als möglich gestaltet ist. Sie schienen sogar zum größern
Teil ganz sorglos und getrost zu sein; aber die Erinnerung an einige
besonders Elende mit leeren Augenhöhlen, zum Teil abgefallenen Fingern
und Zehen und geschwärig verengter Stimmritze, so daß sie nur durch von
außen in die Luftröhre geschnittene Kanüle atmen können, geht mir doch
heute noch nach.

Neben dem Lepraspital liegt ein großer Friedhof; dort harrten meiner
neben dem Grabe Ole Bulls meine Gefährtinnen, und -- unter dem
Eindrucke meiner Erzählungen etwas weniger froh, als wir gekommen,
-- kehrten wir nochmals auf unser Schiff zurück, um uns für den
freundlicheren Teil des Tages, die Fahrt nach Yttre-Arne, bereit zu
machen.

Da stund er ja schon, unser Landsmann, und hielt einen bequemen
Zweispänner für uns in Bereitschaft, und vorwärts ging’s quer durch
die Stadt und dann durch die ganze Länge der nördlichen Vorstadt
Sandviken. Von dort an steigt die schöne Straße in ungeheuren Windungen
steil am Felsengebirge in die Höhe und läßt bald die neue Bergensche
Irrenanstalt unmittelbar links liegen. Während wir den erhabenen
Ausblick auf die zu Füßen liegende Stadt und das Meer genossen, tönte
das Schreien Wahnsinniger an unser Ohr, und von oben herab sah man die
verschiedenartigsten Formen Geisteskranker in den ummauerten Gärten
umherschleichen oder -- toben.

Endlich waren wir, entfernt von allem menschlichen Elend, auf der Höhe
des Berges; nochmals grüßte der Blick das wunderbare Panorama; dann
führte die Straße auf einem öden, steinigen und wenig bewachsenen
Hochplateau vorwärts, vorbei an einigen kleinen Bergseen, zu Füßen
steil aufsteigender Gebirgsstöcke. Oft unterbrechen Nadelholzgruppen
oder glühend rote Ericafelder die monotone Felsenlandschaft; hie und
da sprießen auch spärliche Weiden und dann zeigen sich menschliche
Wohnstätten in der Nähe; an den meisten Stellen war das niedrige
Berggras abgeschnitten und an den früher beschriebenen Holzhecken zum
Dörren aufgehängt, was bei dem häufigen Regen nach Aussage unseres
Begleiters oft 2-3 Wochen in Anspruch nimmt.

In zwei Stunden sollten wir am Bestimmungsorte sein; aber schon
waren fast drei Stunden vorüber und das Ziel noch nicht sichtbar. Das
versetzte uns in eine äußerst unbehagliche Stimmung; wir _mußten_ ja
spätestens halb 7 Uhr wieder in Bergen sein, um die Abfahrt unseres
Schiffes nicht zu verfehlen, und wenn wir uns vergegenwärtigten, daß
wir -- vielleicht durch irgend ein Mißgeschick mit unserm Vehikel
-- den Zeitpunkt nicht innehalten könnten, so lief’s uns ganz heiß
über den Rücken. Das wäre gleichbedeutend gewesen mit achttägiger
Verspätung, ganz abgesehen davon, daß wir ja alles zum Dasein Nötige
in unseren Kabinen liegen hatten. Aber endlich senkte sich die Straße,
vorbei an einem See, dem Wasserreservoir für die Baumwollfabriken
unseres Landsmannes, hinunter zu einem dunkelblauen Fjord, und
kurze Zeit darauf führte uns der liebenswürdige Gastfreund in sein
behagliches Heim, eine ganz heimelig unter Bäumen gelegene Holzvilla.
Erfreut sprangen uns entgegen die Kinder des Hauses, drei fröhliche
Jungen, die mit norwegischen Knixen uns begrüßten, und der prächtige,
treue Haushund Nero, der vor Vergnügen über die Rückkehr seines Herrn
die ausgelassensten Sprünge machte.

In dem geräumigen Wohnzimmer wartete unser eine behaglich gedeckte
und blumengeschmückte Tafel; von den Wänden und Ecken grüßten lauter
heimatliche Erinnerungen, an dem Ehrenplatze das Pfarrhaus in Güttingen
und die einstigen Insassen; auf dem Rauchtische lag neben Pfeife und
Aschenbecher die „Thurgauer Zeitung“. So waren wir denn daheim, und
nach dem Essen setzte man sich plaudernd zum Kaffee auf die anstoßende
Veranda, welche ganz direkt über dem Wasserspiegel des Fjords liegt und
zwischen dem Grün der Gartenbäume einen Ausblick voll wohlthuender Ruhe
und Stille gewährt.

Kleine Geschenke, welche wir den drei braven Jungen von Verwandten
aus der Schweiz zu überbringen hatten, wurden von denselben mit
rascher Beugung des Kopfes und freundlichem Mange tak (Vielen Dank)
entgegengenommen. Nachher ging’s unter der Führung von Vater und Söhnen
(die Mama war leider abwesend) in jeden Winkel von Haus und Garten, in
dem uns unter anderm mit Stolz ein früchtetragender Kirschbaum gezeigt
wurde.

Yttre-Arne existierte vor 40 Jahren noch gar nicht. Damals kam der
Schwiegervater unsers Landsmannes aus Schleswig-Holstein ins Land und
fing an, eine vorhandene Wasserkraft durch Erstellung einer kleinen
Baumwollspinnerei auszunützen. Und heute ist der Platz eine stattliche
Kolonie: verschiedene Fabrikgebäude, zahlreiche Arbeiterhäuser, Villen,
Kirche, Schulhaus; das Ganze macht vom Fjord aus den Eindruck einer
kleinen Stadt, und alles hat die Energie eines einzigen Mannes aus dem
Boden gezaubert. Die Fabrikarbeiter verdienen hier bei 61 Wochenstunden
3 bis 4 Franken per Tag und haben recht nette Wohnungen mit kleinem
Grundbesitz.

Zu diesem wohlthuenden Bilde stimmt die einfache und schlichte
Lebensführung der Besitzer des Ganzen, zu welchen auch unser Gastfreund
gehört. Außer Arbeit und Naturgenüssen ist in Yttre-Arne nichts
zu wollen, die freien Stunden und Tage durchstreift der Vater mit
seinen Buben Berg und Busch, im Winter auf Skis, skandinavischen
Schneeschuhen, oder sie rudern und fischen auf dem Wasser des Fjords.

Rascher als uns lieb war, mußten wir von dem freundlichen Platze
Abschied nehmen. Vater, Söhne und Nero begleiteten uns die steile
Bergstraße hinauf. Im Weggehen kreuzten wir eine norwegische Hochzeit,
die sich in langem Zuge von der Kirche zu einem der Arbeiterhäuser
verfügte -- voraus einer, der die Handharmonika mit Gefühl spielte;
dann Bräutigam und Braut, der erstere trotz des sonnigen Wetters mit
gewaltigem Regenschirm bewaffnet, hernach die Gäste -- alt und jung
bunt durcheinander.

Oben am Berge holten wir unsern vorausgeschickten Wagen ein; nicht
ohne gegenseitige Rührung nahmen wir Abschied von dem Stück Thurgau in
Skandinavien, und lange noch sah uns der biedere Landsmann nach, als
wir mit dem letzten „Mange tak“ dem Ufer eines kleinen Bergsees folgend
davonrollten.

Trotz der schönen Rückfahrt -- in welche wir ab und zu, die
Straßenwindungen abkürzend, kleine Spaziergänge über buntbewachsenes
Geröll einschalteten -- empfanden wir doch ein Gefühl der
Erleichterung, als wir die Häuser Bergens wieder zu unsern Füßen liegen
sahen. Es war ein Genuß -- angesichts des herrlichen Panoramas, welches
den Blick bis ins offene Meer gleiten ließ -- thalwärts zu fahren,
und fast zu rasch hatte unser Wagen das holperige Pflaster der Stadt
erreicht und ließ uns beim Postgebäude aussteigen. Noch blieb uns eine
Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Schiffes, gerade genug, um in einigen
Kaufläden unsere Geldbeutel um verschiedene Kronen zu erleichtern;
überall trafen wir ähnlich Beflissene der „Auguste Viktoria“, denn
Bergen war ja der letzte Platz, der die Gelegenheit zur Erwerbung
norwegischer Spezialitäten bot, und allerlei, das im Norden um ½
Krone zu teuer erschienen war, wurde hier gierig um den doppelten Preis
zusammengekauft.

Die letzte Barkassenfahrt nach unserem Schiffe war fast
lebensgefährlich, so wimmelte es von Gehörnten, d. h. Passagieren,
welche erstandene Rentier- und Elchgeweihe bei sich trugen und aus
Platzersparnis hoch in die Luft hielten.



~XVI.~

     Abfahrt von Bergen. -- Abschied der Lotsen. -- Letzter Tag zur
     See. -- Brahmskultus mit Schwierigkeiten. -- Zollrevision in der
     Elbe. -- Abschied von der „Auguste Viktoria“. -- Zum letzten Male
     die norwegische Nationalhymne. -- Heimkehr.


Die Ausfahrt aus dem Hafen von Bergen wird allen Beteiligten in
unauslöschlicher Erinnerung bleiben. Unser Schiff war umschwärmt von
Booten aller Art. An der Küste stunden Hunderte und winkten. Aus
der Festung grüßte es mit Kanonendonner, und als sich die „Auguste
Viktoria“ unter den Klängen der norwegischen Nationalhymne in Bewegung
setzte, da begann ein Tücherwehen und Abschiedsrufen von allen Seiten.
Herrlich ging die Sonne unter und vergoldete mit breitem Saume Meer
und Gebirge; mit dem erlöschenden Glanze des Tagesgestirnes kämpfte
das silberne Licht des Vollmondes. Alle Linien, namentlich die Umrisse
der felsigen Inseln, zwischen denen wir dahinglitten, erschienen in
radierter Schärfe; einmal winkte von geisterhaftem Riffe herab eine
jugendliche Norwegerin dem stolz vorbeisteuernden Schiffe, während sie
mit der rechten Hand die Augen gegen den glänzenden Abendsonnenreflex
schützte -- ein überaus reizendes Schattenbild, das Konewka geschnitten
haben konnte.

Und nun kam eine kleine Szene, die manche Augen feucht machte.
Zur Rechten hatten wir die letzte Insel, welche gegen das offene
Meer vorgeschoben ist, und beim Glanze des Vollmondes sahen wir
das unendliche majestätisch vor uns ausgebreitet. Da hielt unser
Schiff; ein kleines Boot näherte sich ihm, vom Wogengange gehoben
und gesenkt. Die Strickleiter wurde vom Hauptdecke zur Wasserfläche
heruntergelassen, und auf ihr schieden von uns die beiden prächtigen
Grauköpfe, die norwegischen Lotsen, welche seit drei Wochen unser
Schiff sicher durch all’ die Fährlichkeiten der nordischen Schärenwelt
gelenkt hatten. Als sie in dem schwankenden kleinen Boote saßen,
der eine sofort am Steuer, und ihre Hüte zum Abschiede schwenkten,
da ertönte nochmals von unserer braven Schiffskapelle die Hymne des
norwegischen Volkes, und ein brausendes Hurrah ging wie ein Sturmwind
durch die ganze Länge des Schiffes. Alles rief, winkte und dankte, und
alles war gerührt bei den Klängen des liebgewonnenen Landes und im
Bewußtsein, daß wir nun -- vielleicht für immer -- ihm Lebewohl gesagt
hatten.

Bald war das Lotsenboot unseren spähenden Blicken entschwunden, und uns
empfing der Ocean, die gewaltige, wogende Wasserfläche, die uns vom
europäischen Festlande trennte.

Der folgende Tag -- der letzte ganze unserer Meerreise -- war
ein herrlicher Sonntag; ruhig und glatt die See und über ihr die
strahlende Sonne an wolkenlosem Himmel. Man genoß die Ruhe in vollen
Zügen, bequem auf Deck ausgestreckt, das zum Lesen mitgebrachte Buch
unbenutzt auf dem Schoß oder am Boden, denn die Augen hatten anderes
zu thun; sie spähten über die endlose Wasserfläche und erhaschten da
und dort einen Segler oder einen rauchenden Dampfer am Horizonte; sie
suchten rückwärts Norge, das herrliche Land, oder aber -- geschlossen
-- versenkten sie sich vorwärts in den Zauber der Heimat, die wir nun
bald wieder begrüßen sollten. Einige Stunden des Tages waren allerdings
unruhiger Arbeit gewidmet; alles packte und räumte in den Kabinen und
ordnete seine Siebensachen, denn am andern Morgen sollte bei Zeiten
in der Elbe die Uebersiedlung mit Hab und Gut auf kleinere Dampfer
stattfinden, um nach Hamburg befördert zu werden.

Abends war noch ein üppiges Abschiedsdiner, als Glanznummer ~glace
illuminée~. Es wurden plötzlich die elektrischen Lampen ausgelöscht
und wir saßen einen Moment unter augenblicklichem Stocken der
Konversation und allgemeinem Ah! im Dunkeln. Aber das Licht kam sofort
in origineller Gestalt. Es stürzte herein das Heer der Stewards: jeder
trug auf eleganter Servierplatte eine kristallhelle, dicke Eisscheibe,
welche in einer mittleren Höhlung eine leuchtende Flamme enthielt;
an den Rand der Scheibe angelehnt lag Gefrorenes in allen Farben
und reflektierte außerordentlich hübsch in dem spiegelglatten Eise.
Diese wandelnden bunten Lichtquellen, von welchen man sich allerorten
seinen Bedarf an Glace wegschnitt, machten einen sehr originellen
Effekt. Unterdessen hatte sich ein mächtiges Gewitter zusammengezogen;
eine drohende schwarze Wand war schon längst gegen Süden aufgetürmt
und grelle Blitze zuckten darin, deren Donnern erst nach Minuten zu
uns gelangte. (In Hamburg und Berlin hatte das Unwetter, wie wir
hernach erfuhren, übel gehaust.) Immer näher kam die großartige
Naturerscheinung und unsere Masten wurden schleunigst mit ins Meer
tauchenden Blitzableitern versehen.

Bei dieser Gelegenheit bot die tintenschwarze Flut den Anblick des
Meerleuchtens, wenn auch lange nicht in der Intensität, wie ich es von
tropischen Gewässern her in Erinnerung hatte.

Auf 9 Uhr war ein Dankgottesdienst im großen Speisesaal angesagt.
Als Prediger funktionierte der amerikanische Krösus; die Sache war
gut gemeint, aber fürchterlich lang, und statt der Befriedigung
eines innern Verlangens, der Dankbarkeit für die so genußreich und
ohne Unfall zurückgelegte Fahrt irgendwie und -wo Ausdruck verliehen
zu sehen, empfand ich schließlich -- wahrscheinlich ein schlimmes
Selbstzeugnis -- entsetzliche Langeweile und ärgerte mich über jede
Minute, die ich länger unter Deck sein mußte, während ja draußen Gott
in der Natur zu uns sprach. Aber nicht wahr, Frau Landrat, Ihnen ging’s
auch so?

Schließlich ergriff, von Herrn Wanamaker, der natürlich englisch resp.
angloamerikanisch gesprochen hatte, eingeladen, noch ein Deutscher
oder Deutschamerikaner das Wort und schilderte sehr beredt, was für
ein ausgezeichneter Mann der Herr Vorredner sei und wie ihm die ganze
Gesellschaft für die Veranstaltung des heutigen Dankopfers zu Dank
verpflichtet bleibe. Und damit schloß der „Dankgottesdienst“, wofür
denn endlich auch noch ich von Herzen dankbar sein konnte.

Das Finale des heutigen Tages bildete ein Kunstgenuß im Musiksalon,
eine kleine Brahmsfeier. Wir hatten nämlich in letzter Stunde eine
eminente Klavierspielerin entdeckt in der Persönlichkeit einer
jugendlichen Berlinerin. Die schwärmte für Bach, Schumann und Brahms --
aber sie _kannte_ sie auch, ihre Angebeteten, und ich war im höchsten
Grade überrascht, als ich tags zuvor als unbemerkter Zuhörer Zeuge sein
konnte nicht nur einer hervorragenden Technik, sondern einer vollendet
künstlerischen Auffassung und eines phänomenalen musikalischen
Gedächtnisses, über welche die aus dem Vollen spendende junge Dame
verfügte. Heute Abend wollte sie uns Brahms spielen, so hatte sie
freundlich und ohne sich lange bitten zu lassen versprochen. Aber dazu
brauchte es die Weihe eines stillen Ortes und einer kleinen andächtigen
Zuhörerschaft. Wir pilgerten so gegen 11 Uhr zum Konversationssalon,
wo der Steinwegflügel stand und wo’s in jenem Momente leer und ruhig
schien. Aber die Eintretenden empfing ein Herr, der wohl nur auf
Zuhörerschaft gewartet hatte, mit gräßlichem Klaviergehack: halb
Straußwalzer, halb Volkslied, halb freie Phantasie, dazu immer den
unrichtigen Baß, als ob rechte und linke Hand auf Kriegsfuß mit
einander lebten. Nachdem wir einige Minuten so gelitten, lenkte der
freie Vortrag, der sich eben noch im Gewühle einer Schlacht oder auf
einer unmusikalischen Bauernhochzeit bewegt haben mochte und dem
plötzlich der Atem ausgegangen, ganz genial unvermittelt ein in ~la
prière d’une vierge~; aber nachdem das _einmal_ und unter ständiger
Zuhülfenahme des Pedals heruntergezittert war und nochmals an die Reihe
kommen sollte, da schwand unsere Kraft und Selbstverleugnung, und ich
erklärte dem ~Orlando furioso~ die Situation, in der Meinung, auch ihm
damit einen Dienst zu erweisen. Die Voraussetzung war falsch. Der gute
Mann war tödlich beleidigt, entfernte sich mit Ostentation und erschien
sehr bald wieder als Störefried in unserer kleinen Brahmsgemeinde, und
als ich, dem Wunsche der um Ruhe bittenden Künstlerin folgend, mich
als Hindernis vor die geschlossene Thüre setzte, da ging der Wütende
und wiegelte das Volk auf, und nun kamen sie in Scharen und verlangten
stürmisch freie Passage, wobei ich, von Blicken durchbohrt, ruhig
sitzen blieb. So wäre es beinahe zu einem zweiten kleinen Schwabenkrieg
gekommen; aber schließlich gab einer nach, diesmal ich, und zwar
wieder auf Wunsch der Spielenden, und als das Flugloch wieder offen
stand, war unterdessen dem Paar wilder Vögel das Fliegen verleidet,
und wir konnten nach und nach in Ruhe unsern Brahms genießen, bis der
vernünftige Papa kam und sagte: „Liebes Kind, jetzt mußt du aber zu
Bette; sonst schläfst du mir vor lauter Brahms wieder die ganze Nacht
nicht.“

Thatsächlich konnten auch wir Zuhörer lange nicht einschlafen; denn
das vergeistigte Spiel der schwärmerischen Künstlerin, die ihr Bestes
gegeben, hatte uns in ganzer Seele bewegt und uns ein paar neue
Einblicke in die Tiefe der Brahmsschen Kunst geöffnet.

Es schien kaum der Mühe wert, das ärgerliche Intermezzo dieser
weihevollen Stunde hier überhaupt zu erzählen; aber ich wollte mich
dadurch rechtfertigen gegenüber einigen sonst sehr anständigen
Mitpassagieren, welche damals, falsch unterrichtet, vor dem
geschlossenen Musikthor auch über den „arroganten Schweizer“
mittobten, ohne zu wissen, daß die Arroganz in diesem Falle eine
selbstverständliche höfliche Rücksicht war.

Vor Mitternacht passierten wir Helgoland, dessen Leuchtturm und
Strandlichter weithin glänzten und lange sichtbar blieben, und
einige Stunden später fuhr unser Schiff -- mondbestrahlt -- in die
Elbemündung, um am ehemaligen Ausgangspunkte, bei Brunshausen, sich
vor Anker zu legen. Da schlief denn wohl ausnahmsweise einmal alles an
Bord, vom Kapitän bis zum Heizer, einige Stunden.

Am andern Morgen steckten wir in dichtem Nebel und vernahmen die
tröstliche Kunde, daß bei solchem Wetter an ein Ausbooten nicht zu
denken sei. Ein Steward erzählte mir als Aufmunterung, wie die „Auguste
Viktoria“ von Amerika zurückkehrend einst fast dreimal 24 Stunden vor
der Elbemündung im Nebel liegen mußte, eine rechte Geduldsprobe für
die sich nach dem nahen Festlande sehnenden überseeischen Passagiere.
Aber gegen 9 Uhr wurde das Nebelmeer dünner und durchsichtiger; schon
erschienen die Häuser Brunshausens am Strande in geisterhaften Formen
und Umrissen, und endlich wurde die liebe Sonne gänzlich Meister
und die Elbufer glänzten weithin bis gegen Hamburg in vollkommener
Klarheit. Da sahen wir denn auch die „Blankenese“ und einen
Frachtdampfer auf uns zusteuern, welche Menschen und Legionen von
Koffern nach Hamburg schaffen sollten.

Unterdessen aber entwickelte sich an Bord der „Auguste Viktoria“
ein interessantes Leben und Treiben. Was an Kisten und Koffern und
Taschen den Passagieren gehörte, wurde von den Stewards aufs Hauptdeck
geschleppt, um von der unterdessen eingetroffenen Zollbehörde
revidiert zu werden. Mächtige Gepäckstücke waren schließlich dort der
ganzen Schiffslänge nach auf beiden Bordseiten aufgetürmt, und die
endlose Barrikade krönten Dutzende von Geweihen und andere unbequeme
Naturalien, während man sich die kleinern norwegischen Sachen längst
durch den Schiffsschreiner in solide Holzkisten hatte zusammenpacken
lassen. Da hielt denn jeder Wacht bei seiner Bagage; kaum blieb ein
schmaler Gang des Hauptdeckes frei, durch welchen man mit einigen
Hindernissen passieren konnte, und doch wurden immer noch neue
Koffer und Dinge von ganz unheimlichen Dimensionen heraufgeschafft
und -- teilweise über unsern bedrängten Köpfen -- weiter befördert.
Diese Situation, die etwa eine Stunde, d. h. bis zur Erledigung der
Zollrevision, dauerte, zeitigte eine ganz besondere Art von Humor, und
unter fast unausgesetztem und rasch sich ausbreitendem Gelächter fügte
man sich in die komischen Unzulänglichkeiten derselben.

Eben wird ein Tisch für den Sekretär der Zollbehörde mit Mühe und die
Ecken in drohender Nachbarschaft unserer vorsichtig zurückgelegten
Häupter vorbeigetragen. „Jetzt fehlt nur noch eine Nähmaschine und ein
Fortepiano“ meint unser Nachbar. „Bitte genieren Sie sich gar nicht“
sagt ein dicker, zwischen Gepäckstücken eingezwängter Herr, vor dessen
Nase sie eben eine Riesenkiste vorbeischieben, während die Träger
seine Hühneraugen als Unterlagen benutzen. „Habe soeben die Front
abgeritten“, meldet ein jovialer Bayer, welcher sich mit den Ellbogen
und einer sehr ungenierten Schnauze an der Koffer-Allee vorbeigedrückt
und bis zu unserem Standorte durchgearbeitet hatte.

Was zollrevidiert war, wurde sofort auf den Frachtdampfer geschafft,
während die Besitzer sich auf der „Blankenese“ einen guten Platz
suchten. Endlich kam die Reihe auch an uns. Am meisten Verzögerung
veranlaßte die Wienerin mit den 32 (oder waren es 22?) Hüten, welche
17, wohlgezählt siebzehn mächtige Koffer und Körbe an Bord hatte und
so der Schreck der ganzen Schiffsmannschaft geworden war, daß ihr
Verlangen, mit der „Auguste Viktoria“ nach Amerika zu fahren, von der
zuständigen Verwaltung rundweg abgewiesen wurde.

Als der letzte Passagier das herrliche Schiff verlassen, da fiel
die Brücke zwischen ihm und der kleinen „Blankenese“, und nun ging’s
ans Abschiednehmen von dem stolzen schwimmenden Gebäude, das uns
während 22 Tagen Heimat in schönen fremden Landen und Meeren gewesen
war. Buntbewimpelt grüßte es seine scheidenden Insassen; Stewards
und Matrosen standen in langen Reihen und winkten. Auf dem Hauptdeck
waren die Schiffsoffiziere plaziert, und was zum Schiffe gehörte,
stimmte mit ein in das dreifache Hoch, das der erste Offizier zu Ehren
der Reisegesellschaft ausbrachte. Oben auf dem Promenadendeck aber
harrte, ebenfalls Abschied winkend, die wackere Schiffskapelle des
Taktstockzeichens ihres Dirigenten; jetzt erhebt er den Arm und senkt
ihn rasch, und nochmals -- zum letztenmal -- erklingt die uns so lieb
gewordene norwegische Nationalhymne („Ja, wir lieben dieses Land“),
und die Wirkung, welche dieser letzte Gruß Norges in unseren Seelen
erzeugte, brachte es uns zum Bewußtsein, daß auch _wir_ dieses Land
lieben gelernt haben.

Langsam umkreiste die Blankenese den ruhig daliegenden Riesen; aller
Blicke blieben unverwandt auf ihn gerichtet und suchten nochmals die
Plätze, auf welchen man gewöhnlich geweilt und von denen aus man so
viel Schönes hatte sehen dürfen.

Dann aber ging’s elbaufwärts Hamburg zu. Unterwegs verabschiedete man
sich von seinen Schiffsbekannten, ein Abschied ohne Thränen und Seufzer
zwar, aber von den lieben Holsteinern, unsern Tafelgenossen, doch mit
dem Gefühle aufrichtigen Bedauerns.

Bald nachher saßen wir in Hamburg an aussichtsreichem Fenster unseres
Gasthofes und schwelgten -- den Blick halb verloren auf das bewegte
Straßenleben gerichtet -- in der Erinnerung an die schönen Reisetage.
Plötzlich warf sich meine Schwester fast aus dem Fenster und wir
folgten nach. Was war’s? Eine amerikanische Familie, welche zu den
Passagieren der „Auguste Viktoria“ gehört, mit welcher wir aber nie
ein Wort gewechselt und die wir nicht einmal dem Namen nach kannten,
fuhr vorbei, und wir begrüßten uns mit so intimem Gebärdenspiel, als
ob vertraute Freunde nach jahrelanger Trennung sich unerwartet wieder
getroffen hätten.

Dieses Schauspiel wiederholte sich noch verschiedene mal, denn die
Stadt Hamburg wimmelte an jenem Tage von Auguste Viktoria-Leuten, und
wir erfuhren, daß in der That gemeinschaftlich verlebte Reisewunder ein
Kitt sind, der die heterogensten Menschen sich näher bringen und etwas
zusammenhalten kann.

Von Hamburg ging’s über Berlin, Dresden, Karlsbad, München nach
Hause und mit Lust wieder an die Arbeit. Daheim wurde mit aller
Sorgfalt die in Spitzbergen erbeutete Flora in den Garten versetzt und
seither tagtäglich begossen und behütet, so daß sie nun -- zaghaft
zwar, doch hoffnungserweckend -- zu grünen beginnt. An anderer Stelle
aber -- im Herzen -- grünen und blühen die von unserer Nordlandsfahrt
mitgenommenen Erinnerungen, und die haben lebenskräftige Wurzeln gefaßt.


Von demselben Verfasser ist im Verlage von _J. Huber in Frauenfeld_
ferner erschienen und liegt bereits in =fünfter Auflage= vor:

                    =Briefe aus dem fernen Osten.=
                      Hübsch gebunden Preis 5 Fr.

Ebenfalls die Buchausgabe in der „Thurgauer Zeitung“ erschienener
Briefe, diesmal von einer Reise nach Hinter-Indien, China und Japan
und, wie das vorliegende Buch, zerfallend in die Abschnitte „Unterwegs“
und „Daheim.“

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen.





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