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Title: Briefe aus dem hohen Norden Author: Haffter, Elias Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Briefe aus dem hohen Norden" *** produced from images generously made available by The Internet Archive) Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert. Im Original in Antiqua gedruckter Text wurde mit ~ markiert. Im Original fett gedruckter Text wurde mit = markiert. Briefe aus dem hohen Norden Eine Fahrt nach Spitzbergen mit dem ~HAPAG~-Dampfer „Auguste Viktoria“ im Juli 1899 Von ~Dr.~ E. Haffter Mit zahlreichen Abbildungen Zweite unveränderte Auflage [Illustration] 1900 Verlag von J. Huber in Frauenfeld Vorwort. Das kleine Buch enthält in der ersten Hälfte Briefe, welche ich während einer Fahrt längs der norwegischen Küste mit dem Endziel Spitzbergen -- auf dem Hamburger Prachtsdampfer „Auguste Viktoria“ im Juli 1899 -- an die „Thurgauer Zeitung“ sandte, um mit meinen Freunden und Bekannten in der Heimat in Kontakt zu bleiben. Die zweite Hälfte besteht aus den Reiseerinnerungen, welche ich, nach Hause zurückgekehrt, für das gleiche Blatt zu Papier brachte. Das kleine Buch zeigt, als unveränderter Abdruck jener Feuilleton-Artikel, die Schwächen rasch hingeworfener Reminiscenzen. Die Clichés sind zum Teil Eigentum der Hamburg-Amerika-Packetfahrt-Aktien-Gesellschaft und teilweise nach eigenen photographischen Aufnahmen hergestellt. Die Bilder auf pag. 49, 74, 89, 108, 161 und 193 -- ebenfalls Originalphotographien -- verdanke ich der Liebenswürdigkeit von zwei Mitreisenden, Herrn und Frau Baurat _Waltz_ aus Konstanz. Ich grüße Norge, das herrliche Land, und alle diejenigen, in deren Gesellschaft wir seine Schönheiten bewundern durften: die Mitpassagiere und Führer der „Auguste Viktoria“ und den lieben gastlichen Landsmann in Yttre-Arne. Frauenfeld, November 1899. =~Dr.~ E. Haffter.= Inhaltsverzeichnis. Unterwegs. Seite ~I.~ Einleitung. -- Von Frauenfeld nach Hamburg. -- Krankenhaus in Eppendorf. -- Besuch in Friedrichsruh. -- Einschiffung auf der „Auguste Viktoria“ 3-11 ~II.~ Erste Stunden an Bord. -- Bau der „Auguste Viktoria“. -- Verpflegung. -- Toiletten. -- Schiffskapelle. -- Norwegische Küste in Sicht. -- Ankunft 12-18 ~III.~ Fjorde und Schären. -- Hardangerfjord. -- Ankunft in Odde. -- Buarbrae. -- Unglücksfall bei der Abfahrt. -- Molde. -- Naes. -- Romsdal. -- Ball an Bord. -- Abendstimmung. -- Ankunft in Drontheim 19-36 ~IV.~ Drontheim. -- Effekt des Polarstromes. -- Lerfos. -- Verspätete zur Abfahrt. -- Erste Wale. -- Polarkreis 37-45 ~V.~ Lofoten. -- Mitternachtssonne. -- Sonntag zur See. -- Walfischdampfer. -- Hammerfest. -- Vogelriff. -- Das Nordkap und seine Besteiger 46-57 ~VI.~ Bäreninsel. -- Eisberge -- Fahrt durch das nördliche Eismeer. -- Gang durch das Schiff. -- Passagiere. -- Tageseinteilung 58-76 ~VII.~ Spitzbergen. -- Gletscher- und Eiszeit. -- Einfahrt in den Eisfjord. -- Ankunft in Adventbay. -- Erster Besuch der Küste 77-82 Daheim. ~VIII.~ ~Hapag.~ -- Patriotische Feststimmung. -- Gräber an der Adventbay. -- Im Eise gefangen. -- Jagd auf Spitzbergen. -- Walfischfang 85-98 ~IX.~ „Malerische Gruppe“. -- Beutezug an der Küste. -- Fischerzelt. -- Die Yacht des italienischen Kronprinzen. -- Hotel Spitzbergen 99-112 ~X.~ Abfahrt aus der Adventbay. -- Polarnebel. -- Seekrankheit. -- Herrliche Einfahrt in den Fjord von Tromsoe 113-120 ~XI.~ Ankunft in Tromsoe. -- Besuch im Lappenlager. -- Die Stadt Tromsoe. -- Küstenlappen. -- Musikabend an Bord. -- Spaziergang beim Schein der Mitternachtssonne 121-137 ~XII.~ Nach Süden. -- Lofoten. -- Digermulen. -- ~Pro patria.~ -- Besteigung des Digermulenkollen. -- Boot in Gefahr. -- Kranker in einsamer Fischerhütte. -- Der schwermütige Schimmel. -- Abfahrt von Digermulen. -- Einladungstelegramm von Kaiser Wilhelm 138-154 ~XIII.~ Maschinen- und Vorratsräume der „Auguste Viktoria“. -- Die Welt -- ein Dorf. -- Maraak. -- Vorbereitung für den Kaiserbesuch. -- Ankunft in Aalesund bei „S. M. Y. Hohenzollern“. -- Der Kaiser an Bord. -- Besuch der „Hohenzollern“ 155-171 ~XIV.~ Durch den Sognefjord. -- Genrebilder in Naeröfjord. -- Gudwangen. -- Naerödal und Stahlheim. -- Hungersnot. -- Oell und Musöst. -- Sprachverwirrung 172-184 ~XV.~ An der Stätte der Frithjofssage. -- Ankunft in Bergen. -- Das norwegische Hamburg. -- Im Leprahospital. -- Fahrt nach Yttre-Arne. -- Heimat in fremdem Lande. -- Mange tak 185-205 ~XVI.~ Abfahrt von Bergen. -- Abschied der Lotsen. -- Letzter Tag zur See. -- Brahmskultus mit Schwierigkeiten. -- Zollrevision in der Elbe. -- Abschied von der „Auguste Viktoria“. -- Zum letzten Male die norwegische Nationalhymne 206-216 Verzeichnis der Abbildungen. Seite Buarbrae (Titelseite) Bismarck-Mausoleum 9 Odde (Hardanger) 22 Buarbrae 25 Norwegerinnen 27 Straße in Molde 29 Stolkjärre 32 Oberer Lerfos 41 Dom in Drontheim 42 Mitternachtssonne 47 Walfischdampfer 49 Das Nordkap 53 Deckscenen 66 u. 74 Gletscherpartie (Spitzbergen) 78 Einfahrt in Adventbay 79 Nothütte 89 Gletschereis 92 Yacht des italienischen Kronprinzen 108 Hotel Adventbay 111 Lappen 126 Digermulen 143 Digermulkollen 147 Maraak 161 Stahlheim 179 Bergen 193 Unterwegs. ~I.~ Einleitung. -- Von Frauenfeld nach Hamburg. -- Krankenhaus in Eppendorf. -- Besuch in Friedrichsruh. -- Einschiffung auf der „Auguste Viktoria“. An Bord der „Auguste Viktoria“, 4. Juli 1899. ... Soll ich? Oder soll ich nicht? Schreiben nämlich. Ich will’s probieren, obschon es kaum möglich sein wird, in dem Gewirr von plaudernden Damen (es sind ihrer gegen 200 an Bord), herumflanierenden Yankees, schnarrenden Berlinern etc. seine Gedanken zu konzentrieren. Also nach Spitzbergen geht unsere Fahrt. Ueber dieses Reiseziel werde ich erst sprechen, nachdem wir es gesehen haben. Vorläufig sind wir auf unserm schwimmenden Palaste an der norwegischen Küste eingetroffen und liegen seit gestern abend 10 Uhr in dem tiefsten Punkte des herrlichen Hardangerfjords -- bei Odde -- vor Anker. -- Die Bucht ist so tief ins Land hineingeschnitten, daß unser Schnelldampfer sieben Stunden brauchte, um sie zu durchfahren; hier hat sie noch die halbe Breite des Zürchersees. An den Ufern des tiefgrünen Wassers erheben sich steil bis zu imposanter Höhe, die mit 1500 bis zu 2000 Meter wohl nicht überschätzt ist, Gebirgsstöcke aus grauem Urgestein, teilweise mit Wald bedeckt, oben voll blendend weißen Schnees, überall zu abschüssig, um menschlichen Wohnungen Platz zu bieten. Zwischen den Bergkuppen erscheinen aus dem Hintergrunde mächtige Gletscher, deren Wässer als riesige -- von oben bis unten zu verfolgende Fälle -- zur See herniederstürzen. Gegen das satte Grün der Wälder sticht ihr Weiß ab wie flüssiger karrarischer Marmor. Im Ganzen erinnert das Landschaftsbild außerordentlich an den Urnersee, und der Lage von Flüelen entspricht das freundliche norwegische Städtchen Odde, hinter welchem sich nach einer sachten Erhebung von zirka 200 Meter -- wohl einer alten Gletschermoräne -- ein breites Thal öffnet, dessen Hintergrund durch eine Kaskade von der dreifachen Größe des Staubbaches etwas besonders Malerisches erhält. Ueber diesem herrlichen Landschaftsbilde wölbt sich zur Zeit ein tiefblauer Himmel, und ich glaube, weder bei uns noch in südlichen Ländern je so gesättigte Farben gesehen zu haben. Das Grün der See, sowie von Wald und Wiese auf dem hellgrauen Gestein, das Blau des Himmels und das Weiß der Gletscher und Schneefelder und der fallenden Wässer bilden geradezu entzückende Kontraste und in das farbige Landschaftsbild sind -- ein freundliches Idyll -- eingebettet die schlichten Holzhäuser von Odde. Den Mittelpunkt dieser Szenerie bildet also zur Zeit die „Auguste Viktoria“, das stolze Schiff der Hamburg-Amerika-Linie, das -- etwa einen Kilometer vom Ufer -- mitten im Fjord vor Anker liegt. Drei mitgeführte Benzin-Motorschiffe zu je 40 Plätzen vermitteln ununterbrochen den Verkehr mit dem Festlande, so daß es für unsere zirka 400 Passagiere gar keine Schwierigkeiten hat, jeden Augenblick nach Odde zu fahren, aber auch jederzeit wieder an Bord zu sein. Doch -- eine richtige Reisebeschreibung sollte vorne anfangen -- wie kamen wir hieher? Die Strecke von Frauenfeld nach Hamburg ist bei den jetzigen ausgezeichneten Zugsverbindungen in 20½ Stunden zurückgelegt. In Frankfurt a. M. bestiegen wir nachts 8 Uhr einen direkten Wagen nach Hamburg und richteten uns im bequemen Coupé häuslich ein; auch das Nachtessen wurde nicht vergessen und dem Reiseungewohnten mag es fast wunderbar erscheinen, daß man -- während der Zug in rasender Eile dahinsaust, nur auf einen elektrischen Knopf zu drücken braucht, um einen dienstbeflissenen Geist dahereilen zu sehen, welcher aus der mitfahrenden Küche serviert, was das Herz begehrt -- das wirkliche „Tischlein deck’ dich“. Endlich war die reisende Welt satt; um 11 Uhr knallte der Pfropf der letzten Bierflasche im Nachbarcoupé; dann trat Ruhe ein im Lande; wer schlafen konnte, schlief. Stadt um Stadt huschte geisterhaft an uns vorbei; nach Mitternacht brauste, von hundert frischen Kehlen gesungen, die „alte Burschenherrlichkeit“ an mein eben dem Dasein entrücktes Ohr und ließ mich durch geweckte Erinnerungen lange nicht wieder einschlafen: Göttingen hatte den schlaftrunkenen alten Studenten gegrüßt. -- Um 4 Uhr erhob sich die Sonne über der Lüneburger Haide und Punkt 6 Uhr 30 Minuten -- wie vorgeschrieben -- fuhr der lange Zug über die Elbbrücke in Hamburg. Ebenso programmgemäß stellte sich auf die Minute ein lieber Neffe ein, den ich zur Ueberraschung für meine Reisegefährtinnen von Berlin her zitiert hatte, und so machten wir denn -- vier Köpfe stark -- einige Tage lang die alte Hansastadt unsicher. Ueber Hamburg ließe sich vieles sagen; zu den größten Sehenswürdigkeiten gehört der mit Hunderten von Millionen erstellte Hafen, in dem alle Schiffe der Welt verkehren. Ein bewunderungswürdiges Monument des Hamburger Kunstgewerbes, aber auch des Hamburger Bürgerfleißes und -- Reichtums bildet das dortige Rathaus, das an Geschmack und Gediegenheit seiner innern Ausstattung alle ähnlichen mir bekannten Gebäude übertrifft, so namentlich auch das prunkvolle neue Reichstagsgebäude in Berlin. Der Hamburger ist aber auch stolz auf seine Vaterstadt und trägt bei jeder Gelegenheit seine republikanische Unabhängigkeit zur Schau. Dem politischen Oberhaupte, dem deutschen Kaiser, scheint von Arm und Reich so ziemlich das erlaubte Mindestmaß von Majestätsfurcht entgegengebracht zu werden; unter anderm zitierte unser Bootführer seine kaiserliche Majestät, wenn er bei Erklärung verschiedener öffentlicher Bauten darauf zu sprechen kam, stets einfach als „Wilhelm zwei“. Großartig hat die Stadt Hamburg für ihre _Kranken_ gesorgt. Das neue Krankenhaus in Eppendorf, das wir besuchten, besteht aus 90 Gebäuden, die in einen herrlichen Park eingelagert sind. 2000 Kranke finden dort Unterkunft und werden durch 220 Schwestern, 80 Laienwärterinnen und 32 Aerzte verpflegt. Die Anlage der zentralen Institute -- Küche, Wäsche (pro Tag müssen 8000 Stück Linge gewaschen werden!), Desinfektionsanstalt, Sektionsgebäude (1300 Sektionen pro Jahr; während der Cholerazeit 1336 in 4 Wochen!), Operationsgebäude, Badehaus, Schwesternhaus etc. -- ist erstaunlich! Einen Vormittag widmeten wir dem „Alten im Sachsenwalde“. Nach halbstündiger Fahrt auf der Linie Hamburg-Berlin erreicht man die Station Friedrichsruh. Wer aber dort etwas zu sehen erwartet, ist geleimt. Der Park des Bismarckschen Schlosses stößt zwar direkt an die Eisenbahnlinie; Mauern und dichte Baumschläge verbieten aber dem Auge jeden Einblick, und wo dem suchenden Wanderer sich ein Eingang zu öffnen scheint, hemmt eine mächtige Verbottafel den Eintritt. Wir umkreisten im Dunkel eines Eichwaldes das große Gut, klommen längs der Einfriedigung in die Höhe; aber nirgends bot sich eine Möglichkeit, etwas zu sehen. Endlich aber erreichten wir eine unverschlossene Pforte im Waldesdickicht, an welcher eine Verbotstafel fehlte. Unter meiner Führung drang die kleine unverschämte Schweizerkarawane ein und nach etwa 5 Minuten stehen wir plötzlich auf freiem Rasenplatze, direkt dem Bismarckschen Schlosse gegenüber und nur durch einen schmutzigen Teich von ihm getrennt. Das Gebäude sieht sehr anspruchslos aus, mit verschiedenen häßlichen Kaminen eigentlich eher wie ein Fabrikgebäude, denn ein fürstliches Palais. Nun aber kam die Strafe: „n’No, n’No, n’No, n’No, n’No! Was soll denn do wer’n?“ erschallte eine Stimme aus der Nähe, und es erschien ein wütender Gärtner, der mit erhobenen Armen und einer Sense unserm Vordringen wehrte, unterstützt durch eine keifende Frau, welche die Hände über dem Kopf zusammenschlug. „„Ja, wo sind wir denn? Wem gehört das Haus?““ „Das ist den Fürst’n sein Palä; da darf kein Mensch hin!“ „„Aber wir sind doch durch eine offene Thüre ohne Verbottafel eingetreten.““ „Da haben natürlich diese ekligen Hamburger wieder die Tafel weggerissen.“ Wir wurden per Schub -- unsrerseits in sehr vergnügter Stimmung -- durch das nächste Thor „entleert“ und setzten unsern Rundgang weiter fort. Auf der andern Seite der Eisenbahnlinie, auf waldiger Anhöhe dem Schloßgarten gegenüber, liegt das Mausoleum, in welchem die irdischen Ueberreste des Gewaltigen ruhen. Eine steile Böschung verhindert den Zutritt. Trotz überall angebrachter Verbote finden sich aber doch ausgetretene Wege, denen wir folgten, so daß uns auch die von einer kleinen romanischen Kirche überbaute Gruft zu Gesichte kam und sogar photographisch von uns fixiert werden konnte. Ein halbstündiger Spaziergang durch herrlichen Eichwald -- ein Stück des berühmten Sachsenwaldes -- führte uns nach Station Aumühle, wo wir der heimatlichen Reminiscenz[1] und einer schönen Naturszenerie zuliebe in schattiger Veranda uns erfrischten, um dann mit dem nächsten Zuge nach Hamburg zurückzukehren. [Illustration: Bismarck-Mausoleum.] Sonntag, den 2. Juli, mittags 1½ Uhr hatten wir uns, so lautete die Ordre, an Bord des Dampfers „Blankenese“ einzufinden, welcher uns auf die einige Stunden elbabwärts, bei Brunshausen verankerte „Auguste Viktoria“ führen sollte. Wir waren frühzeitig da und sahen sie nun in Scharen anrücken, welche für drei Wochen unsere Gesellschaft zur See sein sollten: Damen schienen vorherrschend, übrigens alle Altersstufen vertreten, vom „Säugling“ (zehnjährige Jungen) bis zum „Meergreise“ und vom Backfisch bis zur Urgroßmutter; laut ausgeteilter Passagierliste waren wir 360 Personen, in der Mehrzahl Amerikaner und Deutsche, wenig Franzosen, Engländer, an Eidgenossen außer uns noch drei Baslerherren. Auch das „Volk Gottes“ zeigte sich zahlreich und in ausgeprägtesten Formen, hauptsächlich Berliner Ursprungs. Immerhin soll auf der vorjährigen Fahrt das jüdische Element weit mehr vorgeherrscht haben, was folgende Anekdote illustriert: Ein deutscher Familienvater durchsucht die Weinkarte, ruft den Kellner und bestellt „für sich eine Flasche Laubenheimer, für seine Frau eine halbe Flasche Ingelheimer und für seinen Sohn eine halbe Flasche Hochheimer.“ „„Entschuldigen Sie, mein Herr; Sie haben da die Passagierliste erwischt,““ war die Antwort des Stewards. Punkt 1½ Uhr setzte sich der dichtgefüllte und buntbewimpelte Dampfer in Bewegung und führte uns vorbei an Hunderten von Seglern und Dampf-Seefahrzeugen aller Größen in die freie Elbe. Etwa zwei Kilometer von Hamburg entfernt war die Route gesperrt durch einen stolzen schwedischen Dreimaster, den ein Wörmannscher Frachtdampfer Abends zuvor angerannt und zum Sinken gebracht hatte. Masten und Steuerteil des schwer befrachteten Schiffes überragten noch die gelbliche Wasserfläche, während der Vorderteil auf dem Grunde ruhte. Nach zweistündiger Fahrt erschien vor unsern Augen die majestätische „Auguste Viktoria“, mit Flaggen und Wimpeln reich und malerisch geschmückt; 200 Stewards und sonntäglich gekleidete Matrosen stunden in Reih und Glied; eine Kanonensalve erschütterte die Luft und unter dem Begrüßungsmarsche einer Blechmusikkapelle hielten wir unsern Einzug auf dem mächtigen Schiffe, das nun für drei Wochen unsere Wohnung sein sollte. Jedermann suchte seine Kabine, wo die Tags zuvor abgelieferten Koffer schon ihren Platz gefunden hatten, und nach weniger als einer halben Stunde hatte sich aus dem Wirrwarr eines aufgestörten Ameisenhaufens ein geordnetes Dasein entwickelt und man konnte dem schwimmenden Kolosse kaum mehr ansehen, daß ein Heer von fast 400 Menschen mit Kisten und Koffern und Plaids und Apparaten sich hinein ergossen hatte. Die Falltreppe wurde aufgezogen; das Kommando des Kapitäns ertönte; das eiserne Herz des Riesen fing zu schlagen an und unter den Klängen einer flotten Blechmusik setzte er sich in Bewegung, nordwärts, nordwärts dem Meere zu. [1] Aumühle -- idyllischer Platz bei Frauenfeld. ~II.~ Erste Stunden an Bord. -- Bau der „Auguste Viktoria“. -- Verpflegung. -- Toiletten. -- Schiffskapelle. -- Norwegische Küste in Sicht. -- Ankunft. An Bord der „Auguste Viktoria“ im Fjord von Romsdal vor Naes, 6. Juli Abends. Bei herrlichstem Wetter liegen wir hier vor Anker, um in zwei Stunden nach Trondhjem, der Wiege und Krönungsstadt des norwegischen Reiches, abzudampfen. Zurück nach der Elbemündung, wo mein erster Brief stehen geblieben ist! Die ersten Stunden an Bord entbehrten der Komik nicht. Allerdings waren zuvorkommende Stewards in Menge da, um den Passagieren die Kabinen anzuweisen; aber sobald man seinen Schlupfwinkel verlassen, sah man sich in einem wahren Labyrinth von Kreuz- und Quergängen, in welchen eine Orientierung vorläufig nicht möglich schien. Die Kabinen sind in drei Etagen über einander angebracht; steile Treppen stellen die Verbindung her und wer in den engen Korridoren umherirrt, täuscht sich anfänglich nach allen Richtungen der Windrose, ist rat- und thatlos. Letzteres eigentlich nicht, denn bald pufft er energisch mit einer daherstürmenden Lady zusammen oder fällt einem um die Ecke fliegenden Steward in die Arme -- oder aber er sieht sich plötzlich in einer Sackgasse und muß ärgerlich den Rückzug antreten. Ich kenne Menschen, die im erhebenden Bewußtsein, ihre Sache trefflich zu machen und ausgezeichnete Pfadfinder zu sein, im Vorderteil des Schiffsrumpfes herumsuchten, während ihr Daheim doch 100 Meter davon entfernt gegen das Steuer zu lag. Einige Angaben über die Dimensionen unseres Schiffskolosses werden dies begreiflich erscheinen lassen. Die „Auguste Viktoria“ wurde seiner Zeit mit einem Aufwand von sieben Millionen Mark erbaut und hat in den letzten Jahren eine vollständige Umgestaltung erfahren, indem das gewaltige Schiff in der Mitte geteilt und durch Einfügung eines 15 Meter langen Mittelbaues vergrößert wurde -- eine Ausgabe von weiteren 2 Millionen Mark. Sie ist ein sogenannter Doppelschraubendampfer, d. h. die bewegende Kraft ist auf _zwei_ getrennte Maschinen und _zwei_ Schrauben verteilt, sodaß bei etwaigem Schaden an einer Maschine die Bewegungs- und Manövrierfähigkeit des Schiffes nicht aufhört. Maschinen- und Kesselräume sind durch einen starken Längsschott unter der Wasserlinie in zwei Hälften geschieden, so zwar, daß wenn auch der eine Maschinenraum bei einer Kollision oder Explosion sich mit Wasser füllt, das Schiff deshalb weder sinken, noch unlenksam werden kann. Wasserdichte Querschotten, welche im Momente der Gefahr geschlossen werden, so daß dann das ganze Schiff aus 11 wasserdichten Abteilungen besteht, erhöhen die Sicherheit -- auch für den Fall einer Kollision -- außerordentlich. Aber auch die Steuerfähigkeit des Schiffes wird durch dieses Doppelschraubensystem in wunderbarer Weise vermehrt; arbeitet die eine Schraube vorwärts, die andere rückwärts, so dreht sich der Koloß auf der Stelle, ohne einen Meter sich vorwärts zu bewegen. Dieses Manöver sehen wir in den engen nordischen Fjords täglich ausführen; aber auch bei schnellster Fahrt soll es möglich sein, ganz rasch zu wenden und dann einer drohenden Kollisionsgefahr zu entgehen. Die Länge unseres Schiffes beträgt 530 Fuß, die Breite 60 Fuß, die Tiefe 35 Fuß; 125 Heizer schleudern Tag um Tag 6000 Zentner Kohlen in die 56 Feuerstellen. Die übrige Bemannung besteht aus 35 Bootsleuten und Matrosen, 24 Maschinisten, 3 Offizieren, 30 Köchen und Handwerkern und 96 Stewards und Stewardessen und -- extra für diese Nordlandsfahrt -- aus den 20 Berufsmusikern, welche unsere Schiffskapelle bilden. Drei mächtige Kamine von 10 Meter Umfang senden ihre dunkeln Rauchwolken zum Himmel; 18 Sicherheitsboote für je 40 bis 50 Menschen werden mitgeführt; alles Vorhandene geht in riesige Dimensionen, und dabei ist die innere Ausstattung des Schiffes von einer Pracht und einem Komfort, wie ich sie zur See noch nirgends angetroffen habe. Die Kabinen sind mit polierter Ahorn- und Mahagoniarbeit versehen; überall -- in jedes Waschbecken -- läuft ein Hahn mit fließendem Wasser; jeder Winkel ist elektrisch beleuchtet und neben den Schlafstellen sind sogar Kontakte für elektrische -- Haarkräuselungsapparate angebracht, von welchen ich allerdings bis jetzt noch keinen Gebrauch gemacht habe. Außer den zwei gewaltigen Hauptmaschinen funktionieren Tag und Nacht -- auch bei Ruhe des Schiffes -- noch Extramaschinen für elektrisches Licht, für Eisbereitung und für Herstellung von Süßwasser. Die luxuriöse Wasserversorgung in den Kabinen, Badezimmern und Aborten ist ein Hauptfortschritt der neuesten Passagierdampfer. Die Speise-, Konversations-, Musik- und Rauchsalons sind mit übertriebenem Luxus ausgestattet; an allen Ecken sorgen elektromotorische Fächer geräuschlos für Lufterneuerung. Ist man im Verlaufe einiger Tage einmal in den labyrinthischen Gängen und Abteilungen des Schiffsinnern orientiert, so kann man nur staunen über die vortreffliche, auf alles bedachte, jeden Raum ausnützende und doch einheitliche und durchsichtige Einteilung des schwimmenden Gebäudes. Der Qualität der Dampfer entsprechend ist auch die Verpflegung. Man glaubt, in einer Mastkuranstalt zu leben. Von 6 Uhr morgens bis nachts 12 Uhr ist ununterbrochen Gelegenheit zur Nahrungsaufnahme, und sind wir einmal im Gebiete der Mitternachtssonne, so wird das Tafeln auch während der bisher beobachteten Schonzeit kein Ende nehmen. Morgens 6 bis 8 Uhr wird Thee, Chokolade, Kaffee mit Zuthaten serviert; 8 Uhr ist erstes Frühstück, 1 Uhr zweites Frühstück, 7 Uhr Diner, alle Mahlzeiten von der Reichhaltigkeit eines Festessens erster Güte. Zwischenhinein aber zirkulieren überall Stewards mit Thee, Kaffee, Limonade, Kakao, Sandwiches aller Art, Früchten etc. -- alles gratis; nur die alkoholischen Getränke (Pschorr, Zacherl, Münchner Bürgerbräu und Pilsner Hofbräu vom Faß etc. etc.) müssen extra vergütet und -- getrunken werden. Man verzeihe diesen materiellen Exkurs; er gehörte zur Schilderung des Schlaraffenlebens auf dem Nordlandfahrer „Auguste Viktoria“; übrigens erhält das so stark betonte und prosaische Verdauungsgeschäft einen künstlerischen, fast poetischen Anstrich dadurch, daß durch das bekannte Trompetensignal aus dem Beethoven’schen „Fidelio“ jeweils dazu eingeladen wird. Den zu diesem Eß-Signal beorderten Stabstrompeter bezeichnete der Witz der letztjährigen Nordlandsfahrer als „Trompeter von Eß-lingen“. Er wird von den herumliegenden Passagieren -- wenigstens denjenigen der Rauchkabine -- meist mit einem Geheul begrüßt, das an die Töne einer Menagerie in der Nähe der Fütterungszeit erinnert. Schon nach einer Stunde, welche durch Vorträge der Kapelle auf Deck gekürzt wurde, ließen wir Cuxhaven links liegen, grüßten die „Alte Liebe“ -- jene so benannte altehrwürdige Landungsbrücke, welche die Auswanderer auf ihr Schiff leitet, und als das Diner vorüber war, sahen wir uns dicht an der Ostküste von Helgoland, dessen Häuser hell beleuchtet erschienen. Ein Spaziergang auf Deck zeigte uns ein wunderbares Völkergemisch und eine wahre Ausstellung von schönen und absurden Toiletten. Speziell durfte die Kopfbedeckung der Damen auf Vielseitigkeit und Originalität Anspruch machen; von der deutschen Infanterie- und Artillerie-Offiziersmütze auf den Köpfen einiger koketten Amerikanerinnen bis zur Lootsen-Kappe fehlte keine Variation. Ich bin glücklich zu sagen, daß auch ich, dem die eigene Toilette sonst leider zu sehr „wurst ist“, etwas Aufsehen erregte durch einen Lodenmantel, den ich mir in Hamburg gekauft, um gegen die Unbill der arktischen Witterung und gegen die Eisbärentatzen geschützt zu sein. Die beim Kaufe im Dunkel der Nacht mir als grau erschienene Farbe entpuppte sich nämlich bei dem Glanze der Tagessonne als spinat- oder bohnengrün, so daß ich von meinen zwei Lebens-, Leidens- und Reisegefährtinnen bei meinem ersten gloriosen Auftreten mit diesem Kunstwerk der Schneider- und Färbekunst als „Grüner Heinrich“ begrüßt wurde. Das Meer blieb die ganze Nacht ziemlich ruhig; Seekranke gab es kaum. Abends war flottes Konzert von unseren zu komplettem Orchester umgewandelten Blechmusikkünstlern, die wirklich vortrefflich spielten -- Heiteres und Ernstes, zum Schlusse natürlich den Meyer-Polka, den die zahlreichen anwesenden „Meyers“ mit stürmischem Applaus lohnten. Am Morgen des 3. Juli kam bei 58° Breite die inselreiche norwegische Küste zu Gesicht; einige Segler belebten das Meer in malerischer Weise; mittags näherte sich bei Kopervik der Lootse unserm Schiff, das er durch die vielgestaltigen Fjorde lenken soll. Immer näher und deutlicher traten die Ufer -- graue Klippen mit eingestreutem Busch- und Grasgrün und einzelnen freundlichen Häusergruppen, im Hintergrund Berg an Berg, wunderbar geformte Linien, und als Abschluß des Horizontes blendend weiße Schneegipfel, hie und da auch ein mächtiger Gletscher. Böllerschüsse ertönen; unsere Kapelle spielt die norwegische Nationalhymne; der Lootse steigt an Bord, salutiert, besteigt die Kommandobrücke; die Falltreppe wird unter dem bekannten rhythmischen Gesang des leitenden Matrosen aufgezogen; das Schiff dreht nach Osten ab; eben bricht die Sonne durch die Wolken und vorwärts geht’s in die zauberhaften Schönheiten der nordischen Schärenlandschaften. ~III.~ Fjorde und Schären. -- Hardangerfjord. -- Ankunft in Odde. -- Buarbrae. -- Unglücksfall bei der Abfahrt. -- Molde. -- Naes. -- Romsdal. -- Ball an Bord. -- Abendstimmung. -- Ankunft in Drontheim. Nördliches Eismeer 76° nördl. Breite, 11. Juli 1899. Vor 30 Stunden haben wir dem alten Europa an seinem nördlichen Markstein, dem Nordkap, Valet gesagt und steuern dem Endziele unserer Fahrt, Spitzbergen, zu. Die Temperatur ist auf 2° C. gesunken; Himmel und Meer sind unheimlich grau und düster; undurchdringliches Gewölk verbirgt die Sonne und mit stark verminderter Geschwindigkeit sucht unser Schiff seinen Weg durch Nebel und spärliches Treibeis, geführt von zwei im Dienst ergrauten norwegischen Lootsen. Ein gelegentlich zu Gesicht kommender schwimmender Eisberg zeigt uns, wie wohlbegründet die reduzierte Fahrgeschwindigkeit und die vermehrte Vorsicht sind. Bei einem Zusammenstoß mit einem derartigen nordischen Riesen könnten alle technischen Vollkommenheiten unseres Schiffes zu Schanden werden. Ueber das mit heute eingetretene schlechte Wetter dürfen wir nicht ungehalten sein; denn bis jetzt ging alles nach Wunsch und wir konnten die Schönheiten der norwegischen Küstenlandschaften bei herrlichstem Sonnenlichte genießen, das nordische Meer und die Mitternachtssonne in einer Pracht, wie sie wohl wenigen Reisenden zu Teil wird. Es war vom Süden Norwegens bis zum nördlichen Ende _eine_ Lustreise durch herrlichen sonnenwarmen Frühling. Den glänzenden Anfang bildete die Fahrt durch den vielbesungenen Hardanger Fjord. Fjorde heißt man bekanntlich die Meeresbuchten, in welche die norwegische Westküste gegliedert ist. Sie zeichnen sich vor andern Golfen dadurch aus, daß sie außerordentlich tief -- bis über 200 Kilometer weit -- und vielfach verzweigt in das Land eindringen. Im Verhältnis zu ihrer Länge sind sie schmal, überall von mächtigen, steilen Bergwänden eingefaßt; ihre innersten und engsten Endpunkte, bei welchen dieser Charakter am meisten ausgeprägt erscheint, gleichen auffallend unsern Alpenseen. Sie schneiden in die höchsten Teile des Landes ein; Felswände bis zu 1500 Meter fallen senkrecht und unnahbar in den dunkeln, ruhigen Golfspiegel ab; sie sind von den Gletschern der Eiszeit glatt gescheuert und wo an ihren Leisten und Absätzen die Verwitterung etwas lockere Erde geschaffen, sproßt üppiges, strotzendes Rasengrün. Blendend weiße Wasserfälle stürzen über diese von lebendig grünen Bändern durchzogenen, dunkeln Urgesteinswände und gekrönt sind sie durch flache Firnfelder; dazwischen in schwindelnder Höhe zeigt sich ab und zu ein blauer Gletscherabbruch. Nirgends öffnet sich der Fjord direkt ins Meer; nirgends bespült der atlantische Ozean direkt das norwegische Festland, sondern die ganze über 3000 Kilometer lange Küste ist von zahllosen Inseln und Klippen -- den sogenannten Schären -- eingehüllt, die -- groß und klein, niedrig und gebirgig, die meisten aber trostlos kahl -- zu Tausenden in Gruppen beisammen liegen und die brandenden Wogen des Ozeans brechen, so daß die Dampfer in ruhiger Fahrt zwischen ihnen und der Küste nordwärts gelangen können. Die Fahrt durch den Hardanger Fjord zeigte uns die Steigerung der Schönheiten dieser norwegischen Buchten vom Meere gegen das Landesinnere in auffälligster Weise. Erst graue, kahle Inseln und Klippen, in welche nur die weiße Brandung etwas lebendigere Farbentöne bringt und zwischen welchen sich nirgends ein Weg für unser Schiff zu öffnen scheint. Bald aber gleiten wir in das ruhige Wasser des Golfes. Die Küsten werden höher und steiler: als hellgraue, kahle Gneisfelsen entsteigen sie der dunkeln Flut, nur unten -- soweit in periodischer Wiederkehr die Flut sie berührt -- schiefergrauschwarz gefärbt. Auf der Höhe liegt noch Schnee; wo er haften kann auch auf dem Gefälle, und aus der Ferne strahlen glänzende Firnflächen und blaue Gletscher. Immer mächtiger werden die begrenzenden Berge, und je weiter wir landeinwärts fahren, desto mehr Vegetation stellt sich ein; Wälder und Wiesen unterbrechen das einförmige Gesteinsgrau; am Fuße der steilen Felswände sind fruchtbare Gelände, spärlich bewohnt zwar, aber doch sieht man hie und da in freundliche Baumgruppen gebettet eine Ansiedlung, schmucklose, aber saubere Holzhäuser, einzeln oder als kleines Dorf um eine Kirche gelagert. Auch weidendes Vieh belebt die steinigen und grüngefleckten Abhänge und im Hintergrunde fehlt nie das Bild eines hoch herabstürzenden Staubbaches. [Illustration: Odde (Hardanger)] Nach sechsstündiger Fahrt nordostwärts biegt der Fjord plötzlich steil nach Süden und nach weitern zwei Stunden liegt an seinem Ende Odde vor unsern Augen. Die Aehnlichkeit der Szenerie mit dem Urnersee ist hier eine ganz auffällige; sogar die Axenstraße fehlt nicht; der Hauptunterschied besteht in der enormen Ausdehnung der hiesigen Landschaft und dem Reichtum der prächtigen Wasserfälle, welche aus höchster Höhe der firngekrönten Felswände herniederstürzen, oft sich vielfach teilen, wieder vereinigen, in Staub aufwirbeln und schließlich als klarer grüner Bergstrom im Spiegel des Fjord aufgehen. Böllerschüsse ertönen, widerhallen mächtig an den Gebirgswänden und kehren nach einer halben Minute noch als kräftiges Echo zurück. Die Flagge wird aufgezogen; die Ankerkette rasselt; alles ist auf Deck, um die schöne Welt zu sehen. -- Die Kapelle grüßt das nordische Land mit seiner Nationalhymne. Drei Stunden später -- 10 Uhr abends, aber bei noch hellstem Tageslichte -- lief ein mit englischen Touristen gefüllter Dampfer ein, die von Cook gecharterte „Midnightsun“, eine Schnecke im Vergleich zu unserm stolzen Schnellfahrer. Wir hatten sie nachmittags 4 Uhr beim Maurangerfjord -- einem der vielen malerischen Nebenarme des Hardangerfjords -- überholt und sie dann rasch aus den Augen verloren. Es ist dasselbe mehr als mittelmäßige Schiff, auf welchem Cook im Frühjahr seine Touristen zum Kaiserbesuch in Jerusalem geführt hat und an dessen Bord Buchhändler Kober aus Basel im Hafen von Alexandrien gestorben ist. Die verschiedenen kleinen Landausflüge, welche in der knapp zubemessenen Zeit möglich waren, hatte die Reisefirma Beyer in Bergen sorgfältig vorbereitet; ein Vertreter befand sich schon von Hamburg her an Bord, und die Mehrzahl der Passagiere -- wohl über 300 -- hatte sich durch Bezahlung einer Pauschalsumme von 60 Mark das Recht gesichert, ohne eigene Mühe an die sehenswerten Punkte befördert zu werden. _Wir_ zogen vor, auf eigene Faust zu schwärmen, zu laufen oder zu fahren, wie und wann es uns beliebte, und haben es nicht bereut. So begaben wir uns dann andern Morgens im herrlichsten Sonnenschein ans Land und besahen uns das kleine freundliche Städtchen, dessen Kirche und Häuser wie überall in Norwegen aus Holzriegeln aufgebaut und mit einer Art Krallengetäfer eingekleidet und hübsch bemalt sind. Kaum ein Fenster ohne saubere Vorhänge und freundlichen Blumenschmuck. Deutsch wird nirgends gesprochen, wohl aber englisch, namentlich auch von Kutschern und Blumen offerierenden Kindern, und jeder Fremdling wird von vorneherein als Sohn Albions betrachtet. Das Ziel unseres Ausfluges bildet Buarbrae, der östliche Abfall eines 36 Kilometer langen und 6-15 Kilometer breiten Firngletschers von seltener Schönheit und Reinheit, weil keine überragenden Gebirge durch Verwitterung seine Oberfläche verunreinigen. Eine gute Straße führt von Odde zirka 25 Minuten weit in sanfter Steigung in die Höhe; nebenan stürzt ein Bergstrom in malerischen Fällen zu Thal; auch wo er kleine Strecken ruhiger läuft, ist sein Wasser ein weißer Gischt, und man begreift sehr gut, daß Lieutenant Hahnke, der Begleiter des deutschen Kaisers auf seiner letzten Nordlandsfahrt, absolut verloren war, als er auf seinem Velo in diesen wilden Strom stürzte. Der Rückblick auf Odde und den zu Füßen liegenden Fjord ist entzückend. Die Vegetation zeigt lauter alte Bekannte; wo der Boden bebaut ist, trägt er Kartoffeln und Gerste, auch Gemüse mancher Art. Die Straße führt aber großenteils durch Weiden; das Gras wird mit einer sichelartigen, nur mit der rechten Hand geführten Sense geschnitten und dann an zu diesem Zwecke erstellten Holzhecken aufgehängt und gedörrt. Das Heu duftete auffallend aromatisch. Von Blumen erfreuten uns am meisten zahllose wilde Rosen, die in großen Büschen am Wege stunden, sowie besonders farbenschöne und zahlreiche Exemplare von purpurrotem Fingerhut. Auch Stein- und Kernobstbäume sind vorhanden. Birken und Buchen und massenhafte Wachholderbüsche bringen Abwechslung in das Naturgemälde. [Illustration: Buarbrae.] Auf der Höhe -- offenbar einer großen alten Moräne -- öffnet sich plötzlich die Aussicht auf einen prächtigen See; die Straße führt auf einer eisernen Brücke über seinen ausmündenden, zu Thal stürzenden Strom und dann nach wenigen Minuten zur Landungsstelle eines kleinen Dampfers, wo schon eine Anzahl unserer Mitreisenden der Abfahrt harrten. Freundliche blauäugige Landeskinder boten Erdbeeren und Blumen zum Verkauf, höflich und nicht zudringlich; für kleine Geschenke dankten sie mit Händedruck. Bei Kindern wie bei Erwachsenen fiel uns auf, wie viel ungeschickter und schwerfälliger sie im Erraten der durch Zeichensprache ausgedrückten Absicht der Fremdlinge sich erweisen als die südlichen Nationen, z. B. die leichtbeweglichen Italiener. In kleinem Dampfer dicht zusammengepfercht fuhren wir auf die andere Seite des Sees, wo zwischen mächtigen Bergen ein Thal sich öffnet, das berühmte Jordal. An seinem Ende liegt, schon vom See her sichtbar und vom grünen Vordergrund prachtvoll abgehoben, der östliche Gletscher des Buarbrae. Der Weg dorthin steigt zirka 1½ Stunden lang und ist ziemlich beschwerlich; aber die reiche Vegetation -- Birken, Ulmen, Ahorne -- neben dem schäumenden Gletscherbach, eingerahmt von schroffen Felswänden und hie und da wie ein Gemälde auf dem blaugrünen Grunde des den Horizont abschließenden Gletschers, bot so viel schöne und überraschende Bilder, daß wir im Schweiße unseres Angesichtes vorwärts pilgerten, über Stock und Stein und Bergwässer; die Sonne brannte wie bei uns im Sommer -- ein Hohn auf unsere Winterkleider. Das kleine, auf felsigem Hügel unmittelbar am Gletscher liegende Restaurant war von Erquickungsbedürftigen bereits angefüllt und umlagert, als wir ankamen. Auf blumigem Rasen ausgestreckt labten auch wir uns und sahen dem ungewohnten Getriebe in diesem stillen Bergthale zu. Die guten Wirtsleute konnten den an sie gestellten Anforderungen kaum gerecht werden und schossen planlos hin und her; nur die Tochter des Hauses, in der malerischen Hardangertracht -- weißes Hemd, rotes Mieder mit perlengesticktem Bruststück, gefaltete, gesteifte weiße Linnenhaube, weiße Schürze -- verlor den Kopf nicht und hielt den ungestüm andrängenden hungrigen und durstigen Fremdenstrom im Zaume. [Illustration: Norwegerinnen] Die Hardangertracht ist außerordentlich kleidsam, es scheint aber, daß die Volkstrachten wie bei uns so auch in Norwegen, wenigstens an den Haupttouristenplätzen, im Rückgang begriffen sind. Ein liebliches und auch farbenschönes Genrebild, das ich bei der Rückkehr aus dem Jordal sah, bleibt mir unvergeßlich: Eine stolzgewachsene junge Frau, nach der Landessitte gekleidet, hielt von einem kleinen grünen Hügel herab Auslug -- wohl nach ihrem Mann -- die Augen mit der rechten Hand beschattend, während die linke ein Kind schützte, das zu ihren Füßen mit einem anderen spielte. Gegen Abend war alles wieder an Bord; punkt 6 sollte die Abfahrt erfolgen. Leider ereignete sich dabei ein Unglücksfall, der unsere Stimmung lange trübte. Bei den üblichen Salutschüssen wurde ein 24jähriger Matrose verletzt und ins Meer geschleudert. Er hatte, wie sich herausstellte, versäumt, den Lauf der Kanone nach dem ersten Schusse feucht auszuwischen, und als er die zweite Patrone einführte, entzündete sie sich an den noch vorhandenen Funken und fegte den unvorsichtigen Lader rücklings ins Meer. Hätte nicht ein norwegischer Schifferjunge von seinem kleinen Kahn aus das Unglück beobachtet und sofort Meldung gemacht, so wäre es unbemerkt geblieben. Aber alles Suchen an der blutgeröteten Stelle war erfolglos; der Bursche, der seine erste Fahrt auf der „Auguste Viktoria“ gemacht, kam auf die Verlustliste, und mit einer Stunde Verspätung, deren Grund den meisten Passagieren lange Zeit unbekannt blieb, fuhren wir ab, während die Musikkapelle die Wissenden über die traurige Situation hinwegzutäuschen suchte. Eine Sammlung unter den Schiffspassagieren, angeregt durch die Amerikaner bei der Feier ihres Unabhängigkeitsfestes, zu Gunsten der Eltern des Verunglückten ergab über 2000 Mark. In der Nacht glitten wir in die offene, etwas unruhige See; die Ahnungslosen in den Kabinen der Steuerbordseite, welche aus Luftbedürfnis die Lucke offen gelassen -- so auch meine beiden Gefährtinnen -- konnten ihre Tücke erfahren; sie wurden in ihren Betten bald gehörig mit Salzwasser begossen. Trotzdem gab es wenig sichtbare Seekranke und im Verlauf des folgenden Tages, des 5. Juli, lenkten wir bei Aalesund bereits wieder in die ruhige Wasserfläche des Moldefjords ein, an dessen Nordwestufer das nordische Nizza, das Städtchen Molde, reizend im Grünen liegt. Unsere Ankunft daselbst erregte Sensation; vieles Volk strömte zum Landungsplatz und vier im Hafen verankerte englische Kriegsschulschiffe salutierten, während von unserem Deck herab die englische Nationalhymne ertönte. [Illustration: Straße in Molde.] Wir ließen uns sofort auf einer der unterdessen flott gemachten „Dampfsparkassen“, wie die Barkassen in unserem Kreise scherzhaft benannt werden, ausbooten und besahen uns Land und Leute. In Molde herrscht ziemlicher Fremdenverkehr, und verschiedene große Hotels, nebenbei auch ein in prächtigem Park gelagertes Sanatorium für Lungenkranke, geben der kleinen Stadt das Gepräge eines Kurortes. Beherrscher der Situation sind wie überall die Engländer; alles Volk spricht ein bißchen englisch; Plakate und Affichen sind in englischer Sprache abgefaßt, und auf den Straßen begegnet man radelnden Ladies. Klima und Vegetation sind überraschend südlich; inmitten eines herrlichen Frühlings voll blühenden Flieders mit duftenden Gaisblatt- und Rosenlauben konnte man kaum glauben, sich bereits drei Breitegrade nördlicher als St. Petersburg, d. h. schon auf der Höhe des eisigen Grönland zu befinden. Zwischen freundlichen Holzhäusern mit zum Teil gut gehaltenen und üppigen Gärtchen führte uns der Weg auf die Anhöhe, wo die stattliche, ebenfalls aus Holz erbaute lutherische Kirche steht. Auch ihr Inneres ist sehenswert; der dreischiffige Bau enthält außer einer schönen Orgel als Hauptschmuck ein farbenreiches Altargemälde des norwegischen Künstlers Alex Ender, eine rührende Darstellung der Frauen am Grabe des Auferstandenen. Eine Ahornallee führte uns westlich zu einem Friedhofe; die Gräber sind alle mit Liebe gepflegt und bilden blumenbesäete Hügel. Auffallend ist die Nüchternheit der Inschriften auf den Grabmonumenten, die außer Namen, Geburts- und Todesdatum gar nichts enthalten. Eine benachbarte Privatbesitzung zeichnet sich durch einen ungewöhnlich üppigen Garten aus; das Gaisblatt rankte üppig bis zum Dache der hölzernen Villa; Rosen, Flieder und Rotdorn blühten in baumstarken Exemplaren und auf grünem Rasenplatze sahen wir sogar eine mindestens 5 Meter hohe Araucaria. Ueberall in Molde finden sich Kastanien, Linden, Rotbuchen, Bergahorn und auch Kirschbäume in großer Menge. Den Hauptreiz der Gegend bildet aber wohl die unvergleichliche Aussicht von einem mit Anlagen versehenen kaum 80 Meter hohen Hügel auf die ins Grün gebettete Stadt hinab, den weiten tiefblauen Fjord mit seiner Inselwelt und den schneebedeckten Gipfeln der den Horizont abschließenden Bergketten. An Bord zurückgekehrt wanderten wir noch lange deckauf und deckab; die Nacht war taghell; ununterbrochen flogen unsere Barkassen hin und her, brachten und holten -- wer Lust hatte, zwischen Land und Deck hin und herzuwandern. Um 10 Uhr fuhr mit klingendem Spiel unsere Kapelle ans Land und konzertierte auf freiem Platze, wo Alt und Jung aus der Stadt zusammenlief. Erst nach Mitternacht schloß das improvisierte Volksfest mit der Nationalhymne, Umzug von Fremden und Einheimischen -- Männlein und Weiblein -- die Musik an der Spitze, durch die Straßen der Stadt; war auch die Sonne nach halb 11 Uhr noch unter den Horizont gestiegen, so blieb doch bis zum Wiederaufgang morgens halb 3 Uhr eine helle Dämmerung, welche jedes künstliche Licht überflüssig machte. Donnerstag, 7. Juli, 6 Uhr morgens lichteten wir die Anker; vom Strande her wehten weiße Tücher zum Abschied; auch die vier englischen Schiffe waren zur Abfahrt bereit und in dem Takelwerk der Dreimaster stand, des Kommandos harrend, die Mannschaft -- ein überaus malerischer Anblick. [Illustration: Stolkjaerre.] In mehrstündiger Fahrt, auf welcher das Auge von einem Entzücken ins andere geriet, erreichten wir das südöstlich von Molde in verstecktem Fjord gelegene Naes, den Ausgangspunkt für den Besuch des Romsdals (d. h. Thal der Rauma), eines von hohen Bergen überragten und durch schönen Baumwuchs ausgezeichneten Wiesenthales, das uns außerordentlich an das Engelbergerthal von Stans bis Wolfenschießen erinnerte. Was Naes und weitere Umgebung an Fuhrwerken auftreiben konnten, stund -- von Beyer aufgeboten -- am Strande bereit, außer einigen Landauern hauptsächlich das charakteristische Vehikel Norwegens, die von den Bauern gestellte Stolkjaerre (Stuhlkarre), welche Platz für zwei Reisende und einen hinterhalb angebrachten Kutschersitz hat, sowie das zweirädrige einplätzige Kariol, auf welchem der Reisende in einer Art Sessel mit ausgestreckten Beinen sitzt, wobei die Füße in festen Steigbügeln ruhen; dabei kutschiert er selbst oder aber ein hinten aufsitzender Kutscher. Auch hier konnte man sich nur in englischer Sprache verständlich machen. Wir mieteten einen Zweispänner und fort ging’s, bergauf und bergab, leider auf schrecklich staubiger Landstraße durch die malerische Gebirgslandschaft, welche durch die 5000 bis 6000 Fuß über der Thalsohle sich erhebende schneebedeckte Hexenzinne und das Romsdalshorn beherrscht wird. Die wenigen am Wege liegenden und oft in wilden Rosenbüschen verborgenen Bauernhäuser zeigen als Eigentümlichkeit mit Erde bedeckte flache Giebeldächer, auf welchen üppiges Buschwerk und Gras gedeiht -- allerdings eine bessere Garantie gegen Feuersgefahr als die sonst hier auch üblichen Strohdächer. Leider sind die blauäugigen wegelagernden Kinder hier -- dank dem englischen Fremdenstrome -- schon weiter in der Kultur als anderswo in Norwegen; man glaubt im Berner Oberland zu sein; kleine Sträußchen werden in die Wagen geworfen, sofern man sie nicht freiwillig kauft, und der blumenschleudernde Knirps bleibt mit großer Beharrlichkeit an der Seite des Dahinrollenden, bis sein Geschoß oder ein Geldstück wieder zurückfliegt. Auch strecken die kleinen Hände fremdes Geld her mit dem Imperativ: „Change!“ und kennen ganz genau den entsprechenden Münzwert. Vierzehn Kilometer von Naes entfernt öffnet sich das Thal plötzlich zu einer weiten grünen Mulde, an deren nördlichem Abhang ein freundliches Wirtshaus liegt -- Horgheim. Hier hatte sich bereits ein buntes Leben entfaltet. Dutzende von Amateurphotographen unseres Schiffes stunden mit ihren Apparaten wie Jäger auf dem Anstand und fingen und fixierten, was irgend möglich war, und mancher wird ahnungslos -- nicht immer in der gerade gewünschten vorteilhaftesten Situation -- auf dem lichtempfindlichen Papier eines Mitpassagiers mit diesem nach Hause wandern und dort das Licht der Welt wieder erblicken. Staubbedeckt kehrten wir Mittags an Bord unseres Schiffes zurück, das uns nun schon als unsere zweite vertraute Heimat erschien, auf deren reinen, seefrischen Gründen wir uns mit Behagen herumtrieben. Nachmittags gab’s allerlei zu sehen, u. a. die Vorbereitungen zu einem Ball, der abends auf Promenadendeck stattfinden sollte. Der Hauptraum des Decks wurde mit Segeln gegen Wind und See abgeschlossen, mit bunten Flaggen und Tüchern recht geschmackvoll und seemäßig dekoriert und durch mächtige transportable elektrische Lichtreflektoren erhellt. Die Schiffsbemannung wurde zur Ausfüllung der Muße dazu kommandiert, die Rettungsboote ins Wasser zu lassen und unter der Führung je eines Schiffsoffiziers Ruderübungen zu machen. Die fielen bei den Ungewohnten komisch genug aus. Die achtrudrigen Boote bewegten sich wie Maikäfer, die abwechslungsweise mit der Hälfte ihrer Beine an klebriger Unterlage stecken bleiben. Es war nicht gerade sehr ermutigend, daß von zum Teil offenbar ganz ungeübten Händen uns im Ernstfall die Hilfe kommen sollte. Die Abfahrt von Naes, aus dem herrlichen Bergsee Romsdalfjord, erfolgte abends gegen 9 Uhr mit dem gewohnten, aber immer wieder packenden Abschiedsradau. Die Welt war in einer Farbenpracht, wie ich sie nie zuvor gesehen. Dieses Grün der Wiesen und Wälder, dieses glänzende Grau und Schwarz der mit Schnee bedeckten und teilweise auch noch schwarz gefleckten Felswände und dieses Marmorweiß der zu Thal stürzenden Bäche! Es muß in physikalischen Eigenschaften der hiesigen Luft liegen, daß alle die Farben so überaus viel intensiver ins Auge fallen als bei uns oder im Süden, sogar im Orient; dieselben Eigenschaften bedingen wohl auch die Thatsache, daß alle Distanzschätzungen hier viel zu knapp gemacht werden. Gletscherabbrüche, die 15 Kilometer zurückliegen, scheinen in einer halben Stunde erreichbar. Bald nach der Abfahrt bewölkte sich der Himmel dicht und ganz bis auf eine lichte Zone über dem westlichen Horizont, an welcher das Wolkengewölbe wie ein steiler Wall abschloß. Die Sonne stund noch hinter dem Gewölk, vergoldete aber deren Saum und warf einen nordlichtartigen, gewaltigen Fächerschein auf die leichtgekräuselte See. Jetzt senkt sie sich als mächtige Scheibe in die lichte Zone des Horizonts; es sieht aus -- nicht wie Abendrot, sondern als ob ein glänzender Tag anbrechen wollte. Wir saßen auf Vorderdeck, in diesen herrlichen Anblick versunken. Was kümmerten uns die im Tanz sich drehenden reichen Toiletten, Frack und Seide, mit welchen, wie wir zu unserm Erstaunen gesehen, ein großer Teil unserer „Polarreisenden“ plötzlich zuvor bei Tisch erschienen war! Was kümmerte uns Tanzmusik und Champagner-Pfropfenknallen! Die Beleuchtung wurde immer magischer. Auf die nun pechschwarz dräuenden Gebirgspyramiden fiel durch Wolkenlücken das Licht in goldenen Streifen, und diese wunderbar mit Schnee gekrönten Bilder spiegelten sich in der dunkeln, tintigglänzenden Flut wie auf poliertem Metalle. Nochmals sahen wir auf der Rückfahrt durch den Moldefjord das liebliche Molde; dann ging’s zwischen der Insel Otterö und dem Festlande hinaus in die offene See und morgens 7. Juli früh in den Trondhjemfjord, wo wir angesichts der alten norwegischen Königs- und Krönungsstadt uns vor Anker legten. Vom Lande her tönte als freudig applaudierter Gruß der seit Hamburg vermißte Pfiff einer Lokomotive. Ich hätte nie geglaubt, daß dieses so prosaische und unmusikalische Geräusch -- natürlich nur bei Landratten -- so heimatliche Gefühle wecken könnte. Die in Drontheim (norwegisch: Trondhjem) endende Eisenbahnlinie beginnt bei Kristiania und ist, fast 600 Kilometer lang, die bisher einzig in Betracht kommende Bahnstrecke Norwegens. ~IV.~ Drontheim. -- Effekt des Polarstromes. -- Lerfos. -- Verspätete zur Abfahrt. -- Erste Wale. -- Polarkreis. Drontheim ist unter 63° 25′ nördlicher Breite weitaus die nördlichste der größern Städte Europas; sie liegt auf einer vom Flusse Nid gebildeten Halbinsel am Fjord gleichen Namens. Bedenkt man, daß die genannte geographische Breite dem eisbegrabenen Grönland entspricht und jenen Inseln des nordamerikanischen Archipels, in welcher seiner Zeit die Franklin-Expedition zu Grunde ging -- Gegenden, in welchen im Winter das Quecksilber gefriert --, so ist man erstaunt über die reiche Vegetation dieser nordischen Stadt, wie der norwegischen Westküste überhaupt. Der Sommer Drontheims entspricht dem des südlichen Irland, der Winter dem milden von Dresden; der Fjord bleibt immer eisfrei und auch der einmündende Süßwasserfluß gefriert äußerst selten. Diese geographische Abnormität verdankt Norwegen einer Warmwasserheizung (System und Qualität Gebrüder Sulzer, Winterthur), deren Heizkessel sich im mexikanischen Meerbusen befindet und deren Hauptröhre eine Breite von 400 Meilen, eine Tiefe von 1000 Fuß und eine Länge von vielen hundert Stunden hat und durch welche sie in der Sekunde 18 Millionen Kubikmeter warmen Wassers nach dem Norden wälzt. Zur Zeit Karls des Großen und bis fast vor 500 Jahren noch wälzte sich dieser tropische Warmwasserstrom auch noch nach Grönland, welches dazumal, wie auch der Name deutet, ein grünes Weidenland war. Noch vor einem halben Jahrtausend wohnte dort in 40 Dörfern eine Bevölkerung, welcher ein eigener Bischof vorstand, und nun ist das gewaltige Land völlig vereist und, wie der kühne Durchquerer Nansen zeigte, bedecken 300 Meter dicke Eisschichten die einst blumigen Triften. Die Ursache dieser unerhörten Veränderung soll darin zu suchen sein, daß die im Laufe der Jahrhunderte ins Meer vorgeschobene Korallenbank von Florida den Golfstrom von seiner ursprünglichen nördlicheren Richtung abgelenkt und Grönland vollständig entzogen hat. Für Norwegen aber bildet er den Träger alles Lebens und Keimens und seine Wirkungen erstrecken sich bis weit hinauf nach Spitzbergen und Nowaja Semlja -- wie lange noch, wird man kaum mit Sicherheit sagen, aber doch mit einiger Wahrscheinlichkeit berechnen können. Die hohe Temperatur des Golfstromes in nördlichen Breiten war den Schiffahrern lange vor Entdeckung des Seethermometers aus dem Umstande bekannt, daß die Getränke im Kielraume der Schiffe warm wurden. Ueber die Richtung des Stromes bekehrten anfänglich zufällige Befunde: Treibholz aus dem tropischen Amerika an der grönländischen Küste, Mahagoni- und Campechebäume in Spitzbergen etc. etc. Daß auch eine Strömung in entgegengesetzter Richtung stattfindet, beweisen die alljährlich zu Tausenden dem sibirischen Stromsystem entstammenden, an der Nord- und Ostküste Spitzbergens und anderer baumlosen Polarländer angeschwemmten Baumstämme. Drontheim ist die Wiege des norwegischen Reiches. Hier wurden die Könige gewählt und auf den Schild gehoben. Der Kultus des heiligen Olaf, des Königs, dessen Leiche in silbernem Schrein hier bestattet lag, zog jährlich Tausende von Anbetern herbei, und vor der Reformation, welche diesen Pilgerzügen ein Ende machte, war Drontheim die reichste Stadt Norwegens. 15 mal ist sie -- fast ganz aus Holz erbaut -- im Laufe der letzten Jahrhunderte niedergebrannt. Jetzt zählt sie noch 35,000 Einwohner. Wir fuhren sofort ans Land, wo wieder die lange Wagenreihe der Beyerschen Mietfuhrwerke bereit stund. Ein strammer Norwege, der auch ~yes~ und ~no~ sagen konnte, führte uns in seinem Zweispänner zuerst nach der landschaftlichen Hauptsehenswürdigkeit dieser Gegend, den Fällen des Nid, den sogen. Lerfos. Erst ging’s quer durch die Stadt, deren Straßen alle eine auffällige Breite -- 30 bis 36 Meter -- haben, zur Verminderung der Feuersgefahr; denn außer einigen öffentlichen Hauptgebäuden sind auch wieder alle Häuser aus Holz erstellt. Dann führte der Weg dem klaren Bergstrome nach, der zwischen dichtbewaldeten steilen Böschungen fließt, landeinwärts. Ab und zu nützt eine Mühle einen Bruchteil dieser mächtigen Wasserkraft; an einer Stelle sind drei riesige Steinpfeiler in Keilform im Flußbette aufgemauert, um die Wucht der Stromschnelle zu mildern. Die Ufer sind nicht durch Faschinen geschützt, sondern durch eine Vorrichtung, welche ich sonst nirgends gesehen: mächtige Balken sind durch eiserne Bindeglieder zu einer fortlaufenden, am obern Ende verankerten Kette verbunden, welche nun als beweglicher schwimmender Wall dem Uferrand, wo dies nötig schien, einen Schutz gewährt. Die norwegischen Pferde, welche uns zogen, sind leistungsfähige, fettarme, aber sehr muskulöse kleine Tiere mit prachtvollem, unverkürztem Schweife und einer ungewöhnlich dichten Mähne. Tierquälerei wie im Süden haben wir nirgends gesehen und die Fürsorge für die Tiere zeigte sich in wohlthuender Weise vor einer stärkern Steigung der Straße, etwa eine Stunde hinter Drontheim -- ungefähr unserm „Aumühlestich“ entsprechend -- wo die Fahrenden durch eine Tafel am Wege zum Aussteigen aufgefordert werden. Hier war die Inschrift nicht nur norwegisch und englisch, sondern ausnahmsweise auch deutsch und lautete: „Man bittet das reisende Publikum, selbst den Berg zu spazieren, um die Pferde zu schonen.“ Das thaten wir denn auch gerne und freuten uns über die tierfreundliche Maßregel. Die beiden Fälle des Stromes, bekränzt von schönem lichtem Laub- und Nadelholzwalde, sind wirklich sehenswert, namentlich der obere, wo die gewaltige Wassermasse, ähnlich wie der Rheinfall, durch einen Felsen in zwei Teile geteilt über 100 Fuß herunterstürzt und zum Teil als weißer Gischt wieder in die Höhe steigt. Wo oben die Fluten sich zum Falle anschicken, lassen sie in kristallklarer Tiefe wunderlich geformte und grell gefärbte Felsen in überraschender Schärfe erkennen, ein Bild, wie es Boecklin zu malen versteht. [Illustration: Oberer Lerfos.] Nach Drontheim zurückgekehrt, besuchten wir vor allem den Dom, wohl das herrlichste Bauwerk des Nordens, von König Olaf Kyrre im elften Jahrhundert über dem Grabe Olafs des Heiligen gegründet und später bedeutend erweitert. Brand und Blitzschlag haben das Gotteshaus vielfach geschädigt und die 1869 begonnene und mit einem jährlichen Aufwand von 100,000 Kronen (ca. 140,000 Franken), beschlossene Restauration wird noch Jahrzehnte dauern. Aber was zu sehen ist, ist von überwältigender Schönheit. Durch ein romanisches Kapitelhaus gelangt man in das in reichster Gothik ausgeführte Kuppelachteck, das durchbrochene, schlanke Säulengänge von in diesem gebirgigen nordischen Lande unerwarteter Zierlichkeit zeigt. Daran anschließend ist die in Kreuzform gebaute Hauptkirche. Die Wände sind aus graublauem Saponit, die Säulen -- ein sehr wirkungsvoller Kontrast -- aus hellem Marmor. Das Hauptschiff ist leider zur Zeit noch abgeschlossen und dient als Werkstätte. Um die Domkirche, die auch von außen einen erhabenen Eindruck macht, liegt ein freundlicher Kirchhof mit blumengeschmückten Gräbern. [Illustration: Dom in Drontheim.] Bevor wir auf unser Schiff zurückkehrten, kreuzten wir ein bißchen die Straßen der Stadt, freuten uns über eine in flottem Stile aus Stein erbaute höhere technische Schule und über die prächtigen Straßenalleen aus der vollkronigen nordamerikanischen Pappel („~Bobbulus balsamifera~ mid’n hardden ~B~“ erklärte ein liebenswürdiger Botaniker den Mitreisenden, und „Ich bin Se nämlich aus Leibz’g“ fügte er als Entschuldigung für die Orthographie gemütlich bei.) Punkt 6 Uhr sollten wir abfahren; die Falltreppe war aufgezogen, der Anker los; der Kapitän ließ das Schiff langsam wenden und die Kapelle spielte auf Oberdeck einen Abschiedsmarsch. Da kam aber noch ein verspäteter Nachzügler per Extraboot, dem man warten mußte. „Herr Kapellmeister, lassen Sie doch spielen: ’s kommt a Vogel geflogen!“ rief’s vom Promenadendeck herauf. Endlich war der Spätling geborgen, das Schiff gedreht und die zwei Schrauben arbeiteten vorwärts. Plötzlich wird aber nochmals Halt kommandiert; das Auge des Kapitäns hatte ein weiteres Hindernis erkannt und zehn Minuten später kam es auch uns gewöhnlichen Menschenkindern zu Gesicht: eine mit dem Nastuch winkende Dame, welche von zwei Norwegern mit Aufwand aller Kräfte zum Schiffe gerudert wurde. Von 400 wütenden Augenpaaren fixiert, stieg die Dame an Bord; es war eine wegen ihrer Rücksichtslosigkeit berüchtigte Wienerin, die „Jungfrau mit 16 Koffern und 30 Hüten“, die täglich zweimal in ganz neuer Toilette bei Tisch erschien und alltäglich -- zur Qual des Stewards -- Tischplatz und Kabine zu wechseln wünschte und gewöhnlich zu nachtschlafender Zeit um Thee und belegte Brötchen klingelte. Was den Passagieren aus Zoologie, Botanik und Meereskunde geläufig war, erhielt die Unglückliche als Titulatur, und man rechnete aus, daß die dreiviertelstündige Verspätung, welche sie dem Schiffe verursachte, genau für 300 Mark Mehrverbrauch an Kohlen bedeute. Nun aber ging’s vorwärts, unausgesetzt nach Norden. Als ich am andern Morgen um halb 7 das Verdeck betrat, schwammen wir bei herrlichstem Wetter auf offenem Meere, und das Erste, was ich erblickte, waren zwei Wale in unmittelbarer Nähe des Schiffes, deren Rücken und die mächtige Schwanzflosse über Wasser guckten und die nach jeweiligem Tauchen das bekannte Schauspiel des aufspritzenden Wassersprudels in deutlichster Weise gewährten. Um halb 9 Uhr passierten wir den _Polarkreis_ -- mit einem deutlichen Ruck, wie einige Herren den Grünen weißmachen wollten. Einem naiven Schiffsjungen führte man den Polarkreis durch einen dem Objektiv eines Fernrohres vorgespannten Faden in überzeugendster Weise zu Gesichte. Ein Kanonenschuß gab Kunde von dem wichtigen Moment, den einige Amerikaner wieder mit Sekt feiern zu müssen glaubten. Möven und kräftige schwarzweiße Enten belebten das Meer; die letzteren, sogen. Lummen, tauchen so gewandt, bleiben so lange unter Wasser und bewegen sich nachher durch Schlagen des Wassers mit den Flügeln, wobei sie eine deutliche Bahn zurücklassen, so nach Art der fliegenden Fische vorwärts, daß es einige Zeit dauerte, bis ich sie in ihrer richtigen Eigenschaft erkannte. Sie sind so dick, daß sie nur bei Windströmungen weitere Strecken fliegen können. Da das Wetter tadellos, ist alles an Bord in bester Laune. Selbstverständlich sieht männiglich nach großen Seetieren aus und der Ruf „Wale, Wale!“ schreckt auch die behaglich Schlummernden aus ihrer Ruhe. Alt und jung rennt zur Brüstung, die meisten, um nachher mit dem erhabenen Bewußtsein sich wieder zu legen, daß irgendwo ein Walfisch in der Tiefe der Salzflut vorbeigerudert sei. „Sie Unterländer, kommen Sie doch mal ruff; hier oben ist’s viel schöner!“ ruft ein gemütlicher Süddeutscher den ein Stockwerk tiefer Weilenden vom Bootsdeck herab zu. „„Ne, Herr Notarius; kommen Sie sofort ’runter; wir trinken Cognäkker!““ schallt’s aus der Tiefe. „Ne, da finden Sie keine Gegenliebe; ich widme mich der Temperenz!“ Derartige Dialoge sind so die Durchschnittsqualität der Polarkreis-Konversation an Bord der „Auguste Viktoria“. ~V.~ Lofoten. -- Mitternachtssonne. -- Sonntag zur See. -- Walfischdampfer. -- Hammerfest. -- Vogelriff. -- Das Nordkap und seine Besteiger. Gegen Mittag kam die südlichste der _Lofoten_ zu Gesicht -- die Insel Vaerö. Der Kapitän lenkte von der Kommandobrücke her unsere Aufmerksamkeit auf die den Fischerbooten oft so gefährliche Meeresströmung -- Malström -- zwischen Vaerö und der großen Insel Moskenaesö; die Strömung machte sich sogar dem Steuer unseres Kolossaldampfers bemerkbar. Die malerischen, zum Teil noch schneebedeckten Gebirgsinseln der Lofoten und der Westeraalen ließen wir in mehrstündiger Fahrt rechts liegen. Das Küstengebirgspanorama wurde nachher von Stunde zu Stunde interessanter; bald passierten wir in der Nähe vorgelagerte Inselgruppen mit senkrecht abfallenden Felswänden, bald öffneten sich tief einschneidende Fjorde und mächtige schneebedeckte Gebirgszüge im Innern. Von unbeschreiblichem Reize war das Farbenspiel auf Wasser und Land. Aber das Beste des Tages kam noch. Heute ging sie zum erstenmal nicht unter, die liebe Sonne; um Mitternacht stund sie als goldene Riesenscheibe noch 2° über dem Horizont und spiegelte ihr Bild im Meere, um sofort wieder den Kreislauf des kommenden Tages anzutreten. Der erhabene Moment wurde mit Musik und allgemeinem Umzug auf Deck und von den Amerikanern mit -- Champagner gefeiert. Mitternachtsonn auf den Bergen lag, Blutrot anzuschauen. Es war nicht Nacht, es war nicht Tag, Es war ein seltsam Grauen. sagt Esaias Tegner. Die Beleuchtungseffekte der um Mitternacht über dem Horizonte stehenden Sonne sind allerdings ungewohnte; aber das Entzücken vieler Reisenden über diese Erscheinung beruht, wie mir scheint, doch hauptsächlich auf einem Kontrastbewußtsein; wüßte man nicht an der Hand der Uhr, daß die zwölfte Stunde der Nacht da ist, so wäre das Schauspiel von einem gewöhnlichen Sonnenuntergange in nordischen Landen kaum zu unterscheiden. [Illustration: Mitternachtssonne.] Für uns Reisende brachte die taghelle Nacht den Uebelstand, daß keine gleichmäßige Trennung von Schlafen und Wachen mehr stattfand. Man konnte lange sich rechtzeitig zu Bette legen; dutzend Andere zogen vor, beim Schein der nächtlichen Sonne fröhlich und munter zu bleiben und tagsüber zu schlafen; die armen Stewards mußten großenteils 24 Stunden per Tag auf den Beinen sein und die „nachtschlafenden“ Passagiere fanden auch keine Ruhe. Am 9. Juli brach ein herrlicher Sonntag an. Um 6 Uhr ertönte vom Deck der Choral: „Wie schön leucht’ uns der Morgenstern!“ -- Hinauf in die reine, sonnige Meerluft! Die Kapelle hatte sich unterdessen auf Vorderdeck neben der Kapitänskajüte aufgestellt. „Lobet den Herrn, den mächtigen König der Ehren!“ schallte es vom Meer zum Himmel. Da kein Nebel und keine Wolke den Horizont trübte, ließ der Kapitän unser Schiff seinen Kurs über Hammerfest nehmen, was bei trübem Wetter ein Wagnis gewesen wäre. Auf diese Weise wurde uns der Anblick der nördlichsten Stadt der Erde (70° 40′) zu teil. Eine Stunde vor erreichtem Ziele holten wir einen Walfischdampfer ein, der vier mächtige tote Wale nachschleppte. Unser Schiff hielt an und ließ das Fahrzeug dicht an uns herankommen. Da konnten wir die interessante Beute nicht nur sehen, sondern auch riechen; denn der eine der Riesen war schon stark in Verwesung übergegangen und durch Fäulnisgase zu einer unförmlichen Masse aufgetrieben. Ein zweiter trug noch die mächtige Harpune im Leib. Auffallend ist die regelmäßige parallele tiefe Längsfaltenbildung am Bauche des Tieres. Der kleine schwarze Dampfer, der wohl seit Wochen mit der Unbill des nördlichen Eismeeres gekämpft hatte, sah sehr mitgenommen aus; die Bemannung -- ein halbes Dutzend bärtiger Norweger und zwei Jungens -- stak in Ruß und Fett. Aber als unsere Kapelle ihre Nationalhymne spielte, da entblößten alle das Haupt und horchten unbeweglich und ergriffen den geliebten Tönen. Das dreifache Hurrah, das sie mit Schwenken ihrer geschwärzten Mützen zum Dank in die Luft hinaus schmetterten, entstammte -- das fühlte man -- der Tiefe ihrer Seele. An einem Seile wurden den Leuten, die wohl viele Entbehrungen durchgemacht, Brot, Fleisch und Pomeranzen hinübergeschleudert, und nachdem sämtliche an unserm Bord befindlichen photographischen Apparate sich des seltsamen Bildes bemächtigt, fuhr unser Koloß stolz von dannen und hatte den kleinen tapfern Rivalen bald aus dem Auge verloren. [Illustration: Walfischdampfer.] Unmittelbar gegenüber Hammerfest wurde dann ein halbstündiger Halt gemacht, so daß man das seltene landschaftliche Bild gehörig in sich aufnehmen konnte. Die Umgebung der Stadt ist trostlos kahl. Kein Baum wächst da. Vom 18. November bis zum 23. Januar herrscht absolute Nacht; die Sonne erscheint während dieser Zeit nie und das Licht wird dann elektrisch produziert. Aber im Sommer ist reges Leben im Hafen, welcher den Hauptplatz für den Handel nach Rußland bildet. Auch die Fischerflotten nach dem Eismeer gehen von hier aus, und seit drei Jahren wird im Juli und August -- sofern das Meer offen -- alle acht Tage ein Postdampfer nach Nordkap und Spitzbergen geschickt, an welch’ letzterem Platze, in Eisfjord, die betreffende Gesellschaft sogar ein hölzernes Unterkunftshaus für Jäger und Touristen hat aufstellen lassen. Die Häuser Hammerfests sind alle aus Holz gebaut und heben sich gegen das graue Gestein des Gebirges nicht sehr deutlich ab. Immerhin machen die Kirche und ein auf der Höhe liegendes großes Gasthaus, zu dem ein Zickzackweg führt, einen freundlichen Eindruck. Eine weithin sichtbare Granitsäule im Norden der Stadt trägt eine bronzene Erdkugel und erinnert an die russisch-skandinavische Meridianmessung der Jahre 1818-1852, welche in einer Ausdehnung von 25° 21′ vom Eismeer (Hammerfest) bis zur Donau (Ismail) durch Norwegen, Schweden und Rußland auf Befehl des Königs Oskar ~I.~ und der Kaiser Alexander ~I.~ und Nikolaus ~I.~ in ununterbrochener Arbeit ausgeführt wurde. Daß Hammerfest auch den Ruf der kinderreichsten Stadt verdient, konnten wir bald sehen; der ganze Quai stund dicht voll kleiner Norweger und Norwegerinnen, welche das ferne Schiff anstaunten und die Weisen unserer Musikkapelle mit Applaus lohnten. Zuerst stieg die norwegische, dann die russische (Rußlands Grenze ist nicht weit entfernt und ein Vertreter der Nation offiziell in Hammerfest), dann die deutsche und endlich die amerikanische Nationalhymne. Lauter als alles aber tönte das markige Sempacherlied in meinem Herzen. Unter Hurrah der ganzen Bevölkerung -- die vielen hohen Kinderstimmen gaben aber entschieden den Ausschlag -- schieden wir von der einsamen Stätte und wendeten unsern Kiel noch größerer Einöde zu. Die Landschaft wurde immer dürftiger. Gebirgsstöcke von auffällig regelmäßiger Pyramidenformation begrenzen den Fjord; eine Felswand zeigt die ganz überraschenden Züge eines menschlichen Gesichtes: einer riesigen, fragend und drohend nach dem ungewissen Norden schauenden Sphinx. Ueber die knapp mit Moos bewachsenen Felsabhänge und über steile Schneefelder eilten Herden von Rentieren mit der Gewandtheit von Gemsen und wurden durch das Nebelhorn unseres Schiffes zu raschester Gangart aufgeschreckt. In der steinigen Einöde sah man zur Seltenheit einmal die Hütte einer Lappenfamilie. Dann brachte etwa der Ruf „Wale! Wale!“ Abwechslung in die Einförmigkeit; alles stürzte nach der entsprechenden Schiffsseite, um mit allgemeinem Gelächter der Enttäuschung ein paar harmlose, in elendem Nachen vorbeirudernde Lappen zu begrüßen. In dieser Situation gedieh der Kalauer und wuchsen die Vermutungen über Andrees Schicksal im Quadrate der Annäherung an den Punkt seines kühnen Aufstieges. „Glauben Sie nicht, daß wir Andree suchen wollen, Herr Doktor?“ meinte ich zu dem gemütlichen, stets von seiner Gattin begleiteten Botaniker aus Leipzig. „„Nee, meine Frau leidet es nischt, daß ich And’re nachlaufe.““ Eine große und interessante Abwechslung brachte die Vorbeifahrt an dem steilen Vogelriff Svaerholt-Klubben. Dort nisten zu Millionen Eiderenten, Alken und Möwen, und durch hingeschleuderte Raketen aufgescheucht schwebten sie als kreischende, mächtige Wolke in die Luft, wo sie im Glanze der Sonnenstrahlen die Erscheinung eines dichten Schneegestöbers vortäuschten, oder stürzten sich lärmend in die mit weißer Brandung aufspritzenden Fluten, um bald wieder zu ihren häuslichen Pflichten zurückzukehren. Die Felswand ist siebartig mit Nestern bedeckt. Angelehnte Leitern ermöglichen den herfahrenden Fischern, einen Teil der Eier wie auch die kostbaren Flaumfedern zu erbeuten. Abends gegen halb 9 Uhr stund es vor uns, „der Grenzstein der Schöpfung“, wie Tacitus es nannte, das nördliche Ende Europas, der schwarze, unheimliche, zerrissene Koloß des _Nordkaps_. Wir ankerten in einer Bucht der Ostseite, wo im Sommer ein Fischer in elender Hütte wohnt und ein wackeliger Landungssteg den Zutritt zum Lande ermöglicht. Der von dort ausgehende Weg war schon vom Schiff aus zu erkennen, zuerst als unregelmäßige, steil aufsteigende Linie, dann als Zickzacklinie über Felsen und Schneefelder, als ob der Blitz die Spuren gezeichnet hätte. [Illustration: Das Nordkap.] Nun ging’s ans Ausbooten. Der Erste, der nach oben wanderte, war der vielgeplagte Postmeister, der u. a. 4000 -- sage viertausend -- Ansichtspostkarten auf die Spitze des Kaps zu schleppen hatte, um sie dort abzustempeln. Der arme Mann zeigte mir nachher seine mit Druckblasen bedeckte rechte Hand. Die Ansichtskartenwut erreicht überhaupt auf der „Auguste Viktoria“ den höchsten Grad. Vor jeder Station werden ihrer zu Tausenden gekauft und beschrieben, und die Gesamtziffer der auf dieser Fahrt versandten Kartengrüße dürfte 20,000 wohl übersteigen. Hinter dem Postmeister kletterten die tapfern Musikanten, die sogar die große Pauke mit in die Höhe schleppten. Als wir ans Land fuhren, war der Weg bis oben schon durch wandernde schwarze Punkte gekennzeichnet, die sich namentlich auf dem Schnee mit geradezu komischer Deutlichtkeit abhoben, unten sehr dicht, nach oben zu aber immer dünner gesäet erschienen. Ich hatte die Fürsorge über fünf Damen übernommen; drei verzichteten nach einer Viertelstunde, zwei brachten es bis zur Schneegrenze! Dort kämpfte in mir die Lust, den Spaziergang nach oben fortzusetzen, mit dem ritterlichen Gefühle der Verantwortlichkeit für meine Schutzbefohlenen. Das letztere siegte und ich zog -- als schützender und stützender Bergführer, welche Eigenschaft nicht hinderte, daß ich einigemal sehr unsanft auf den nassen, steilen Weg zu sitzen kam -- den Rückzug an. Der Weg war aber auch unter aller Kanone. Ein Seil, das an den schlimmsten Strecken Stütze gewähren sollte, war so miserabel befestigt, daß es an den meisten Stellen als loses Tau am Boden lag, und oben, wo der kritischste Aufstieg begann, hörte es überhaupt auf. So lagerten wir uns denn, glücklich unten angelangt, auf moosigem Grunde, freuten uns über die bunte darin wurzelnde Flora und sahen nicht ohne Behagen den alpenklubbistischen Versuchen unserer Mitpassagiere zu. Da gab’s zu lachen! Manch’ Einer, der mit welterobernder Miene an uns vorbeizog und im Sturmschritt die ersten 300 Meter durchschritt, kam eine halbe Stunde später als geknickte Rose mit demütigster Miene oder auch polternd und fluchend zurück. Spezielles Vergnügen machte uns ein Hüne von Gestalt, der im sichern Bewußtsein, den Grenzstein Europas spielend zu ersteigen, wie ein Sieger an uns vorüberschritt. Aber wie kehrte er über ein Kleines zurück! Ich habe schon Menschen auf einem und auf zwei Beinen und in allen möglichen Gangarten marschieren sehen, auch auf allen Vieren; ich sah die Species ~homo sapiens~ schon hüpfen, tanzen, kriechen etc. -- aber diese hier vor Augen geführte Gangart war mir völlig neu. Im Gesichte den Ausdruck von Angst und Entsetzen, den Körper in Rückenlage, als ob er sich gegen einen aus der Luft anstürmenden Drachen kampfbereit stellen wollte, rutschte der Unglückliche auf drei Extremitäten Zoll um Zoll vorwärts, während die vierte krampfhaft das am morastigen Boden liegende, schlaffe Seil hielt, von dem alles eher als irgend ein Halt zu erwarten war. So kroch die Jammergestalt zu Thal, die Rockschöße im Schlamme nachschleppend, und mag wohl Gott gedankt haben, als sie wieder horizontalen Boden unter den Füßen fühlte. -- Wenig bessern Erfolg zeigte ein sehr trinkbarer und korpulenter Weinbaron, der sich die Seitentaschen mit Rheinweinflaschen vollgepfropft hatte. Von fünf zu fünf Minuten schuf er eine Labestation und ehe die Mitte des Aufstiegs erreicht war, ging der Vorrat an „Stärkungsmaterial“ und der Thatendrang zu Ende; schweißtriefend und pustend kehrte Sir Falstaff nach dem sichern Ufer zurück. Als einer der letzten kam der Schiffsdoktor und machte meine Prophezeiung, er werde die obern Stufen des Parnassos nicht erreichen, glänzend zu Schanden. -- Von den 360 Passagieren gelangten kaum 100 bis zur Spitze des Kaps. Dort wurde in einer Hütte Champagner ausgeschenkt. Der Wirt soll an dem Abend 2000 Kronen eingenommen haben. Einen ergreifenden Eindruck auf die oben Versammelten machte es, als die Musikanten im Glanze der zum Horizonte sich senkenden Sonne das Kreutzersche: „Das ist der Tag des Herrn“ intonierten. Ein kleines Intermezzo schuf die übermütige Champagnerlaune eines Amerikaners, der auf der zu Ehren seines Besuches von Kaiser Wilhelm errichteten Steinpyramide eine leere Champagnerflasche mit der amerikanischen Flagge aufpflanzte. Kurz besonnen fegte eine kleine deutsche Dame das taktlose Zeug herunter; der Uebelthäter aber machte seine Unbesonnenheit dadurch gut, daß er -- von ältern Herren aufgefordert -- der Germanin ordentlich Abbitte leistete. Um 12 Uhr waren wir an Bord und genossen das Schauspiel der Mitternachtssonne nochmals in glänzendster Weise. Drohend stieg vor uns das grausige schwarze Gestein des Nordkaps in die Höhe, am Fuße in glänzend grüne Vegetation gebettet. Das Meer war wie wogende Tinte und der Reflex der Sonne in der bewegten Flut gewährte ein zauberhaftes Bild. Der lichte Horizont grenzte mit eigentümlicher Schärfe gegen das schwarze Meer ab. Bis gegen 2 Uhr sah man sie -- die das Kap besiegt -- die Zickzackwege herunterkrabbeln; zwei Matrosen begingen sogar die Tollkühnheit, über die steilen Schneeflächen mit Blitzesschnelle herunterzurutschen. Noch näherte sich ein kleines Fischerboot unserm Schiffe; zwei frisch gefangene Halibutten, von welchen jeder 100 Kilo wog, wurden für 80 Kronen als Nahrungsmittel für uns erstanden. Um 2 Uhr ertönten die letzten Weisen unserer unermüdlichen Schiffsmusik; dann wurde der Anker gelichtet, vorwärts ging’s -- im taghellen Lichte der Nachtsonne -- dem Eismeere zu. ~VI.~ Bäreninsel. -- Eisberge. -- Fahrt durch das nördliche Eismeer. -- Gang durch das Schiff. -- Passagiere. -- Tageseinteilung. Offene See zwischen Digermulen und Aalesund, 18. Juli 1899. Unser Kurs geht wieder nach Süden. _Spitzbergen_ liegt hinter uns. Wir haben allerdings die Tücke des nördlichen Eismeeres erfahren müssen, indem ein plötzlich auftretender dichter Nebel, der die Fahrt in jenen Gewässern zu einer äußerst gefährlichen gestaltet hätte, uns zu früherer Rückkehr zwang, als beabsichtigt war; aber ein hochinteressantes Stück des merkwürdigen Länder- und Meeresstriches haben wir doch gesehen. Im Sonnenglanze und unter den Klängen unserer Schiffskapelle setzte sich die „Auguste Viktoria“ um 2 Uhr am Morgen des 10. Juli vom Nordkap weg in Bewegung; ihr nächstes Ziel war die Bäreninsel. Erst gegen 4 Uhr gab’s Ruhe an Bord; so lange ließen mich das vom Promenadendeck her schallende frohe Lachen und die auf unsern Köpfen promenierenden Nachtwandler und -Schwärmer nicht einschlafen. Der folgende Tag machte ein düsteres Gesicht: bleigrau der Himmel und grau, ohne Glanz, das Meer; dazu eine Temperatur von 5° ~C~. Fröstelnd und in alle verfügbaren Mäntel und Teppiche gehüllt saß man auf Deck oder in geheizten Gesellschaftsräumen. Nachmittags blies ein eisiger Wind; die Luftwärme sank auf 2°; jetzt erst kam uns die Anwesenheit im nördlichen Eismeere zum Bewußtsein. Seevögel und zur Seltenheit der mächtige Rücken eines Wales brachten etwas Leben in die sonst trostlose Meereinsamkeit; einmal glitt auch eine Gruppe von sechs solcher Kolosse an uns vorüber -- es waren wohlgezählt ihrer sechs --, aber als ich nach 10 Minuten auf die andere Bordseite kam, hörte ich schon von zwölfen erzählen und bei der Tafel sprach man manchenorts von der Walfischherde von „mindestens zwanzig Stück“, während ein jugendlicher Nimrod im Rauchzimmer nachher „gegen hundert“ beisammen gesehen haben wollte. Gegen 5 Uhr kam die Bäreninsel in Sicht, ausnahmsweise einmal nebelfrei, aber von dichtem Gewölk überlagert. Dieses unter 74° 30′ n. Br. liegende Eiland wurde 1596 entdeckt und nach einem daselbst erlegten über 12 Fuß langen Eisbären so benannt. Jetzt paßt dieser Name nicht mehr, da kein einziges jener wilden Tiere dort mehr zu finden ist. Das unbewohnbare, 68 Quadratkilometer große Gebirgsland gehört ausschließlich der Vogel- und Fischwelt und den Walrossen, von welchen Ungeheuern einstens von einer englischen Expedition unter Bennet innert sieben Stunden nahezu 1000 Stück erlegt worden sein sollen. Die Insel besteht aus einem 50-100 Meter hohen felsigen Plateau, über welche sich am südlichen Ende der 400 Meter hohe Elendsberg erhebt, so benannt, weil von seinem Gipfel herab ein Schiffer die Zerstörung des ihn abholenden Bootes mitansehen mußte. Daß auch dieses vergletscherte Land einst bessere Zeiten gesehen, beweisen die Steinkohlenlager, welche in mächtigen Schichten zwischen Thonschiefer, Sand- und Kalkstein zu finden sind und die wohl hauptsächlich Deutschland den Besitz der Insel als wünschenswert erscheinen ließen. Bei der Annäherung entdeckten wir starke Treibeismassen, die auffallend -- schon auf große Distanz -- gegen die Meeresfläche abstachen, und einen prachtvollen Eisberg von Pyramidenform. Sein Ursprung von einem der grandiosen Gletscher Spitzbergens war schon aus seiner durchsichtig blaugrünen Farbe und seiner absoluten Schneefreiheit ersichtlich. Wenn man sich vergegenwärtigte, daß das, was man über dem Wasser schwimmen sah, nur ⅛ der Größe des Kolosses ausmachte, so erhielt man Respekt vor diesem schwimmenden Riesen und vermied es gerne, in seine unmittelbare Nähe zu kommen. Beim Drehen des Schiffes zeigte der Eisberg die ganz unverkennbare Form eines schwimmenden -- Kameles, was von uns als zarte Anspielung aufgefaßt wurde auf uns Passagiere, die wir, wie dieser Wüstenbewohner, den warmen Süden verlassen hatten, um im unbehaglichen Norden zu frieren. Walrosse, welche einige Beobachter am Fuße des Eisberges zu sehen versicherten, konnte ich mit unbewaffnetem Auge nicht als solche qualifizieren; wir wollen hoffen, daß es solche gewesen sind, sonst hätten wir auf der ganzen Reise keine andern als bis auf die glotzäugige Fratze im Wasser verborgene zu Gesichte bekommen. Ein zweiter Eisberg war dicht mit Vögeln besetzt, die beim Ertönen unserer Dampfpfeife mit Gekreisch in die Luft flogen. Als wir uns dem nordwestlichen Ende der Insel näherten, zerriß plötzlich die Wolkendecke und in voller Schönheit erglänzten die sonnbestrahlten vergletscherten Flächen und Abbrüche des Hochplateaus. Auftauchende Masten erwiesen sich als einem deutschen Schiffe angehörig, dessen Flaggengruß von uns erwidert wurde. Bald hatten wir die phantastischen Formen der felsigen Insel mit den zahllosen durch das Meer benagten Klippen aus dem Auge verloren und uns empfing wieder die trostlose Einöde des bewölkten Eismeeres. Diese Situation, bei der doch weiter nichts zu sehen ist, benütze ich, um dich, lieber Leser, zu einem Gang durch das Schiff einzuladen, bei welcher Gelegenheit du auch einige der Mitreisenden kennen lernen sollst. Beginnen wir in der Morgenfrühe in meiner Klause, der Kabine oder Schiffskammer, wie das Ding seit der deutschen Sprachreinigung genannt wird. So früh als möglich, meist aber erst nach 6 Uhr, schwinge ich mich, eine kleine akrobatische Leistung, aus der Apfelhurde, hier Bett genannt, und erfülle die Pflichten eines zivilisierten Menschen zur Erzielung einer gewissen Salonfähigkeit. Der Begriff ist Gottlob dehnbar; ich lebe nach dem landläufigen vaterländischen und kümmere mich wenig um Gehrock und Lackschuhe, wie sie unter den mitreisenden „Touristen“ der „Auguste Viktoria“ allerdings überraschend zahlreich vertreten sind; ja sogar Frack und Cylinder und weiße Weste fehlen nicht, für den Aufenthalt auf Spitzbergen besonders nützliche Gegenstände. Nachdem ich mich durch Poltern an der Wand über den Grad der kulturellen Entwicklung meiner lieben Nachbarinnen informiert, lass’ uns auf Deck steigen. Der Weg führt eine Treppe in die Höhe, dann zwischen den wuchtig arbeitenden Maschinen hindurch in das Gebiet der Oberdeckkabinen; dort liegen auch Bäckerei, Konditorei und Küchenlokalitäten; durch die geöffneten Thüren sehen wir Köche und Bäcker in voller Arbeit; in mächtigen Kesseln wird Fleisch gesotten -- die Passagiere wollen ja täglich zweimal frische Bouillon haben --; auch Nase und Ohr bekommen ihr Teil; aus der Konditorei strömt Vanilleduft, und in der Hauptküche keift der Oberkoch mit einer durchdringenden, so phänomenalen Tenorstimme, daß ich Lust hätte, ihn für den O.-G.-V.[2] zu werben, wobei allerdings seine kulinarischen Fähigkeiten Einbuße erleiden müßten. Eine weitere Treppe führt uns auf den Mittelpunkt des an Bord pulsierenden Lebens, auf das Promenadendeck. Die vornehme Welt schläft noch und unbenützt stehen vorläufig die 400 eleganten, mit Plaids und Büchern belegten Liegestühle in langen Reihen neben einander, um im Laufe des Tages nach allen möglichen Plätzen des Schiffes geschleppt zu werden. Wie schön ist doch die Welt vom Stand- oder vielmehr Liegepunkte einer solchen Lagerstätte aus! Sind Beine, Arme, Kopf und Augen in der zweckmäßigsten Position, um ja nichts Interessantes sich entgehen zu lassen, so ist man nach wenig Minuten eingeschlafen und läßt schnarchend die malerischsten Fjords und die größten Walfische an sich vorüberziehen. Während Schiffsjungen und Deckstewards das Deck durch Wasserströme und Putzlappen unsicher machen, steigen wir noch eine Treppe höher, auf Bootsdeck. Von dort herab beherrscht der Blick die ganze Umgebung des Schiffes; dort steht auch die elegante Kapitänskajüte und vor ihr das Navigationszimmer, mit Karten und wissenschaftlichen Apparaten, über welchem die Kommandobrücke aufgebaut ist. Unablässig promeniert dort oben, mit bewaffnetem Auge den Horizont musternd, einer der beiden Lotsen; im Mastkorb ist außerdem ein ausschauender Matrose und bei schlechter See oder trübem Wetter noch ein zweiter an der vordersten Spitze des Schiffes. Hier, auf dem Vorderteile des Bootsdeckes, um Kapitänkabine und Kommandobrücke, ist der Lieblingsplatz derjenigen, welche gern viel sehen und, ungestört vom Menschengetriebe, die Naturwunder genießen möchten und welche es nicht fürchten, wenn ihnen ein bißchen Seewind um die Ohren pfeift. Zu diesen gehört das kleine Trüpplein Schweizer an Bord der „Auguste Viktoria“. Nur Küchendunst und die Donnerwetter des Tenoristen am Bratspieße stören gelegentlich den Frieden dieses Hochplateaus. Dafür kann man sich den Spaß machen, durch die offenen Lücken aus der Vogelperspektive das Leben und Treiben der Köche zu beobachten und vor allem ihre fabelhafte Gewandtheit im Tranchieren von Fleisch und Geflügel bewundern. Unterdessen fängt das Promenadendeck an sich zu beleben. Ein’s nach dem andern erscheint; man erzählt sich die Erlebnisse der vergangenen Nacht; es gibt Leute, die immer gerade dann etwas ganz besonders Interessantes und Merkwürdiges gesehen haben wollen, wenn andere zu Bett lagen. Darüber allmorgendlich schmerzliches Lamento: „Sieh’ste Aujust, ich sachte ja doch, wir wollten noch en bischen auf Deck bleiben; da haben wir nun wieder die janze schöne Jeschichte verpaßt!“ Allem Ärger und Geplauder macht das um 8 Uhr ertönende Trompetensignal ein Ende. Es ist die deutsche Infanterie-Tagwacht. Der beauftragte Bläser rennt wie besessen im ganzen Schiff herum, bis die Schläfer wach und die Hungrigen am Frühstückstisch versammelt sind. Gespeist wird in drei großen Sälen, von welchen die zwei übereinanderliegenden auf Vorderdeck mit fürstlichem Luxus ausgerüstet sind, während der Speisesaal auf Hinterdeck -- bei den Fahrten über den atlantischen Ozean den Passagieren zweiter Kajüte dienend -- etwas weniger prunkvoll, aber sehr behaglich aussieht. Uns führte das Los in den sogenannten weißen Saal auf Vorderdeck; dort ist man zu je zehn Personen auf bequemen Drehfauteuils an einem Tische gruppiert, und selbstverständlich waren wir anläßlich der ersten Mahlzeit begierig zu wissen, mit welchen Menschen uns das Schicksal zusammengewürfelt hätte. Unterdessen aber, im Laufe der seither verflossenen Wochen, haben wir uns gegenseitig kennen gelernt und ich habe die Ehre dir vorzustellen: Herrn und Frau ~Dr.~ K. aus San Remo, eigentlich aus Leipzig, ein unter seinen Fachgenossen sehr bekannter Botaniker, wohl der meistgereiste Mann an Bord; er hat zweimal die Erde umkreist, war jahrelang in Südamerika, kennt Afrika vom Süden bis zum Norden und ist in Asien unheimlich zu Hause; nur Australien blieb ihm bis heute fremd; aber „das machen wir in zwei Jahren“ versichert der reiselustige Pflanzenkundige, der nebenbei die fabelhafte Kunst versteht, ohne Gepäck zu reisen und doch alles, dessen man etwa bedürftig sein könnte, vom Thermometer bis zur Konvexlinse, aus seinen Rocktaschen hervorzuzaubern. Ein unverwüstlicher Humor und ein köstlicher Appetit machen dieses lebendige botanische Konversationslexikon zu einem sehr angenehmen Tischgesellschafter; wir sind Konkurrenten im Vertilgen von Butterbrötchen und verachten manches Feine, was die Speisekarte bringt, so vor allem die ewigen gebratenen Puter oder Gebrüder Puter, wie wir die Firma nennen, weil sie stets als „Gebr. Puter“ auf dem Menu stehen. Unsere weiteren Tischgenossen sind zwei feine und liebenswürdige Familien aus Tönning (Schleswig-Holstein): ein königlicher Landrat mit seiner Frau, „aus Magdeburg an die Waterkant versetzt“, und ein holstein’scher Gutsbesitzer, Nimrod in allen Fibern, dem es gehörig in den Fingern juckte, als er auf Spitzbergen den Fürsten Metternich und Gefolge zur Jagd ausziehen sah und der, Besucher und Kenner unseres lieben Vaterlandes, mit seiner feingebildeten, vortrefflichen Frau uns Schweizern gleich zu Anfang mit kräftigen Sympathien begegnete. Vergessen darf ich nicht eine ihrer Obhut unterstellte junge Dame, welche, stets Sonnenschein auf dem Gesichte, durch ihr frohes Lachen und ihre natürliche Fröhlichkeit wesentlich zur Erhöhung der richtigen Tafelstimmung beiträgt. [Illustration: Deckszene.] Zum Frühstück liefert die Küche -- außer Thee, Kaffee und Chokolade mit Zubehör, täglich frischen Brötchen und Hörnchen etc. -- noch alles Mögliche an kalten und warmen Fleisch-, Mehl- und Eierspeisen. Der Gewohnheit treu begnügen wir uns mit dem „Ordinäri“: Kaffee und Butterbrot, freuen uns, des Staunens voll, über den riesigen Appetit anderer, speziell der Amerikaner, die des Morgens schon Unglaubliches leisten, und eilen sobald als möglich, vielleicht noch mit einigen Orangen oder andern Früchten der Tafel ausgerüstet, hinaus auf Deck, an die frische Luft. Dort, auf Promenadendeck, ist’s unterdessen lebhafter geworden; viele der Liegestühle sind in Beschlag genommen, und es wäre gute Gelegenheit, physiognomische Charakter- und, wer dazu Lust hat, auch Toilettenstudien zu machen; es ist namentlich die amerikanische Nation, welche die vielgestaltigsten Typen jedes Alters, vom Kinde bis zum Greise, liefert und aus ihren riesigen Koffern das Unglaubliche an Prunkgewändern hervorholt. Der Finanzlöwe an Bord ist der Amerikaner Wanamaker (Wonnemacher heißen wir ihn); er hat für sich und seine Familienangehörigen die besten Luxuskammern gemietet und soll die Kleinigkeit von 175 Millionen besitzen. Jener elegante Herr dort, mit schwarz und graukarierter Reisemütze, das pomadisierte Haar sorgfältig gescheitelt, das tropengebräunte, eigentümlich scharfe Gesicht glatt rasiert wie ein englischer Lord, mit elegant geschnittenem dunkelfarbigem Rock, enganliegender schwarzer Hose und Lackstiefeln, den ich jeden Morgen in aller Frühe bei „Wonnemachers“ heraustreten sah, mußte der unheimliche Millionär sein; ich betrachtete ihn volle acht Tage als solchen und machte ihn im Stillen verantwortlich für einige Prozent des sozialen Mißverhältnisses auf unserm Planeten, bis ich eines Morgens zu meinem Erstaunen den eleganten Erzmillionär -- durch eine halbgeöffnete Kabinenthüre beim Stiefelwichsen beschäftigt sah, was meine Achtung vor ihm keineswegs verminderte, aber immerhin bei weiteren Begegnungen meinen Gedanken eine andere Richtung gab. Ich hatte eben den Diener für den Herrn angesehen; aber -- beim Zeus! -- Hosen- und Gesichtsschnitt waren auch darnach und rechtfertigten den Irrtum. Dort in jener Ecke wird schweizerdeutsch gesprochen; da lass’ uns hingehen; es sind drei Herren aus Basel: der alte Junggeselle ~Dr. jur.~ L., der seit Jahren die Welt nach allen Richtungen der Windrose bereist, kein Schnelläufer zwar, aber ein sehr gewester Mann und gemütlicher Gesellschafter; an seiner Seite der zur Spezies der Rentiere übergetretene ehemalige Kaufmann R. (von uns in naheliegender Verballhornisierung seines Namens Respini genannt), stets tadellos vom Scheitel bis zur Sohle, und endlich -- die Gelehrsamkeit zum Schlusse -- der wohlbekannte Professor der Theologie, Herr Pfarrer B., ein flotter Läufer, der in nachtschlafender Zeit schon von Bord geht, um Land und Leute zu studieren, nebenbei ein geistreicher und humorvoller Plauderer. Die elegante Römerin, welche sich in unverfälschtem Züridütsch mit ihnen unterhält, ist die Gattin eines bedeutenden italienischen Ingenieurs, eine Frau, welche in der ewigen Stadt als Initiantin und unermüdliche Arbeiterin in allen menschenfreundlichen Bestrebungen eine hervorragende Rolle spielt. Sie, die gleich gewandt in allen modernen Sprachen, doch mit Vorliebe ihre Muttersprache spricht, rechnen wir auch zu den Unsrigen, wie auch ihren liebenswürdigen Mann, den Waldenser und alten Zürcher-Polytechniker, dessen Ohr unsere heimatlichen Laute sehr gut versteht. Es ist eine vornehme Erscheinung, Voll Geist und Gemüt und behaglich prickelndem Witze. „Das Schweizerdeutsch ist doch gewiß eine sehr schwere Sprache,“ wandte sich kürzlich ein Deutscher an ihn. „„Man sollte es kaum glauben; meine Frau spricht es nun seit 1½ Stunden ununterbrochen,““ meinte der mit Ungeduld dem Ende der vaterländischen Konversation seiner Frau mit meiner Schwester entgegensehende Gatte. Weiter auf Deck! Da liegen sie schon in allen möglichen Positionen auf ihren Rohrstühlen, die Einen lesend, die Andern plaudernd und Ulk treibend, Einige bereits wieder in süßen Schlaf versunken. Du wirst mir zugeben, daß Gott Morpheus nicht immer die Züge verklärt; jedenfalls bin ich überzeugt, daß jener sonst so martialisch aussehende und gewöhnlich wie ein junger Kriegsgott über Deck steuernde Herr mit dem jetzt herabhängenden Unterkiefer und den entsetzlich nichtssagenden Gesichtszügen sich nicht als „schlafender Krieger“ möchte porträtieren lassen. Von „Hoheiten“ sind an Bord: außer einigen deutschen Baronen ein italienischer Fürst mit seinem Leibarzt; dann der preußische Gesandte und bevollmächtigte Minister in Hamburg, Graf Metternich, dem der Damensalon der zweiten Kajüte als Wohn- und Schlafraum eingerichtet wurde und der immer allein speist, ein vornehm sich abschließender, aber in seiner äußern Erscheinung sehr einfacher Herr! -- Von den übrigen Sterblichen stelle ich dir als freundnachbarlich Gesinnte noch vor ein prächtiges junges Ehepaar aus Konstanz, das Bild von Kraft und Gesundheit und frohem Lebensmut, das überall tapfer mitmacht, Nordkap und andere Hindernisse spielend besiegte und photographisch fixiert, was immer zu haben ist. Der Gewalthaufen der Reisenden gehört Amerika und Deutschland; England ist gar nicht vertreten. Dagegen hört man einigenorts die gemütliche Wiener Sprache; u. a. ist anwesend Baron von Suttner (Onkel der Friedensfürstin) mit einer Tochter, der schon vor 45 Jahren mit seinem Erzieher ganz Norwegen bereist hat und ein damals angefertigtes Skizzenbuch zur Vergleichung mit der Gegenwart bei sich trägt -- ein äußerst jovialer alter Herr und köstlicher Erzähler, bei dem allerdings das jetzige Norwegen gegenüber dem der guten alten Zeit bös wegkommt. „Früher verstanden die Leute wenigstens norwegisch; jetzt aber, seit so viel Englisches im Land ist, verstehen sie gar nichts mehr und glotzen Einen nur so an, wenn man in ihrer Muttersprache zu ihnen spricht.“ Vom langen Deckspaziergang ermüdet, und um angesichts des vielen Absurden und Unglaublichen, was die menschliche Kreatur zur Schau trägt, nicht ein loses M--und zu bekommen, lade ich dich zum Besuche der Gesellschaftsräume unseres Schiffes ein. Da thront über den Speisesälen erster Klasse ein Schreibesalon in goldüberladenem Roccocostil, Wände und Plafond künstlerisch bemalt, und in Verbindung damit eine wohlgeordnete Bibliothek, jede Ecke, wie überhaupt das ganze Schiff, vornehm elektrisch beleuchtet. Ein Druck auf den elektrischen Knopf und es kommt angesaust der Library-Steward und präsentiert dir, was du aus dem aufliegenden Bücherkataloge ausgewählt hast. Auch alle Schreibrequisiten, vor allem hochelegantes Briefpapier und Enveloppen, stehen zu freier Verfügung und werden in unglaublicher Quantität, in tausenden von Bogen, beansprucht, großenteils auch verschleudert. Da die Tische alle von schreibenden und whistspielenden Ladies besetzt sind, wandern wir weiter gegen die Mitte des Schiffes; dort liegt der Konversations- und Musiksalon, in seiner Ausstattung eine Sehenswürdigkeit für sich; in der Mitte ein herrlicher Flügel von Steinweg, extra für die „Auguste Viktoria“ gebaut und dem Stil des Raumes angepaßt. Zehn Schritte weiter betreten wir das Eldorado des Mannes, den Bier- und Rauchsalon ~I.~ Klasse, ein Wunder der Holzarbeit und Malerei, durch vier elektromotorische Ventilatoren gelüftet. Belegte Brötchen aller Art, vom Caviar bis zum geräucherten Lachs, liegen ~à discrétion~ bereit, und frisches Münchner, Pilsener und Lagerbier vom Faß ist jederzeit zu haben und wird sowohl zur Bekämpfung der Hitze wie zur Überwindung der Kälte gehörig genossen. Die Frage nach „frischem Anstich“ wird von dem Biersteward als persönliche Beleidigung aufgefaßt: „Was glob’n Sie denn! Wo’s Tag und Nacht so läuft wie bei uns, da soll’s ein lackes Bier geben?“ Von hier aus, in bequemem Rauchstuhl ausgestreckt, oder aber, wenn du es vorziehst, auf offenem Deck genießen wir das von 10-11 Uhr stattfindende Frühkonzert unserer Schiffskapelle. Ob’s windet und bläst, ob’s schwankt und rollt -- die Kapelle thut ihre Pflicht; es soll sogar einmal vorgekommen sein, daß die beiden Clarinettisten abwechslungsweise je einige Takte ihre Stimme spielten und -- über Bord seekrank waren, ohne je das Instrument aus der Hand zu legen. _Allers_, der Humorist, hat die Szene illustriert. Um 11 Uhr ist große Prozession zu den bouillonspendenden Deckstewards; wer zu bequem ist, sich die Kraftbrühe selbst zu holen, dem wird sie auf einen Wink zum Liegesessel gebracht; der Zustand des Schlaraffenlandes, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, ist hier also ziemlich erreicht. Mit Erstaunen sehe ich einzelne Menschen von einer Mahlzeit zur andern laufen, immer hungrig und verdauungsfähig; kein Gericht überspringen sie, und wo allenfalls im Tage eine kleine Eßpause eintritt, füllen sie sie beim Bierglase mit Knuspern aus. Ich persönlich spüre gar nichts von diesem appetiterregenden Effekte der Meerluft, und es gibt kaum eine Gelegenheit, wo ich mich nicht von diesen Fleischtöpfen der „Auguste Viktoria“ zu der heimatlichen einfachen Küche zurücksehne. Kaum ist der Bouillonspaziergang zu Ende, so tutet wieder der Trompeter von Eß-lingen, diesmal das bekannte Motiv aus Fidelio. „Meine Herren, es hat zum erstenmal geblasen“, ruft der Biersteward mit Stentorstimme in die lärmenden Tafelrunden. Ist das zweite Signal ertönt, so tritt Bewegung in die zu festen Gruppen kristallisierten auf und unter Deck. Jedes strebt seinem Speisesalon zu; der Tischsteward dreht deinen Stuhl, so daß Ew. Hoheit nur eine Sitzbewegung auszuführen brauchen, um ohne irgendwelche Mitbethätigung der Hände ernährungsbereit vor dem Teller zu thronen. Ist die Qual dieses zweiten Frühstücks vorüber, so tragen wir unsere durch den Konversationslärm geschädigten Ohren gerne wieder an die frische Luft, wo schwarzer Kaffee serviert wird und woselbst bei einem Deckspaziergang die erste Tagescigarre vortrefflich schmeckt. Die Nachmittagsstunden werden verschieden ausgefüllt; Amerika treibt gerne allerhand Kurzweil mit Deckspielen, z. B. Ringwerfen und Plattenschieben; Deutschland spielt Skat, liest und schreibt oder politisiert, kalauert auch gruppenweise; denn bald explodiert’s da, bald dort mit unbändigem Gelächter, das auch Unbeteiligte mit fortreißt. Allerorts aber wird wieder fleißig geschnarcht und geschlafen, und manch Einer liegt, dem Irdischen entrückt, auf der Chaise-longue, die Quelle der Bildung aber, aus welcher er schöpfen wollte, das Buch, nebenan am Boden, oder dem zufrieden und gesättigt lächelnden Munde, der eben versicherte, nachmittags nie zu schlafen, entfällt die noch glimmende Cigarre, so daß der Entseelte erschreckt zusammenfährt und zu allererst sich umsieht, ob er wenigstens von niemanden beobachtet werde. „Jetzt hatten Sie aber ein Auge voll geschlafen, Herr X.!“ „„Was fällt Ihnen ein, Sie Jeheimspitzel! Sehen Sie denn nicht, daß ich mir eben was überlegte? Aber natürlich von so ’ne Jeistesarbeit haben Sie keene blasse Ahnung.““ Wem’s um ungestörte Arbeit oder Lektüre zu thun ist, der findet ganz oben, auf Bootsdeck, wohl ein verborgenes Plätzchen im Schutz und Schatten eines der vielen Rettungsboote; dort hat man den weitesten Ausblick aufs Meer und sieht auch im internen Schiffsleben allerlei ergötzliche Szenen. Zum Malen deutlich bleibt mir u. a. ein kleines Genrebild in Erinnerung. Zwischen zwei Booten geschützt sitzt bequem auf ihrem Rohrsessel zurückgelehnt die kleine Gouvernante von zwei amerikanischen Jungen und liest ihren Schutzbefohlenen vor. Der größere der Jungens liegt, das Kinn auf beide Hände gestützt und durch die vorgelesene Erzählung vollständig gefangen, auf der Segeltuchblahe des einen hochgelagerten Bootes und sieht unverwandt hinunter auf die Leserin; der andere aber, ein kleiner Schlingel, der auch die Pflicht hätte, zuzuhorchen, treibt hinter dem Rücken der ahnungslosen kleinen Erzieherin allerlei Unfug und sucht vor allem durch Grimassen und Gesten und Rupfen die Aufmerksamkeit seines Kameraden auf sich abzulenken. [Illustration: Deckszene.] Wo man steht und geht hat man Gelegenheit, die freundliche Zuvorkommenheit aller Schiffsangestellten -- vom Kapitän bis zum Schiffsjungen -- zu erfahren. Nur der Zahlmeister macht gelegentlich eine Ausnahme, je nach dem Goldgehalte der Passagiere; das liegt eben wohl in seinem Berufe. Um 7 Uhr ist wieder große Fütterung, an welcher wir Eß-kimos (der sächsische Botaniker belohnt diesen Kalauer mit einem Pfennig) unter den Klängen der Tafelmusik nochmals mindestens eine Stunde uns beschäftigen. Die jeden Tag originellen und dem jeweiligen Aufenthaltsorte angepaßten Menus sind künstlerische Leistungen des Farbendrucks, welche in Hamburg extra für diese Fahrt angefertigt wurden. Eine eigene Druckerei an Bord besorgt alltäglich das Weitere, auch die Herstellung der Konzertprogramme etc. Um halb 9 Uhr ist auch die zweite Tortur des Tages, das Diner, glücklich vorüber, und wir können als freie Bürger uns wieder auf Deck tummeln und die Schönheiten der taghellen nordischen Nacht genießen. 10 bis 12 Uhr ist nochmals Konzert für die Bier- und Musikbedürftigen, 12 Uhr sogenannte Polizeistunde, aber stets ohne Erfolg. Sind wir endlich in unsere Koje gekrochen und haben uns nach Abdrehen der elektrischen Glühflamme schlafgerecht gelagert, so schwinden unter dem einförmigen Pulsschlag der Maschine bald unsere Sinne, und in unlogischer Verwirrung umgaukeln den Träumenden die Bilder des vergangenen Tages -- meist auf heimatlichen Boden verpflanzt. Alles in allem, lieber Leser, ist unser Schiff, wie du siehst, eine kleine abgeschlossene Welt für sich, in welcher die Menschen (abgesehen von dem Zwange der gemeinschaftlichen „frugalen“ Abfütterungen) nach ihrer Individualität leben, arbeiten und genießen, Bier oder Wasser trinken, nachts schlafen oder schwärmen, als Einsiedler oder als „Gesellschaftstier“ die Tage vollbringen, mit vollen Zügen die Naturwunder in sich aufnehmen oder aber sich langweilen. Daß einige Damen beim Passieren der herrlichsten Szenerien, wo aller Andern Auge mit Entzücken auf Gottes schöner Welt ruht, derselben blasiert den Rücken kehren und ihre Aufmerksamkeit auf den Stickrahmen konzentrieren, habe ich mit heimlichem Ärger hier oft gesehen. Zu Hause hat ihr Stickrahmen wohl gute Ruhe. Nun aber weiter nach Spitzbergen! [2] Oratorien-Gesangverein Frauenfeld -- eine ausschließlich der Pflege ernster Musik lebende Vereinigung. ~VII.~ Spitzbergen. -- Gletscher- und Eiszeit. -- Einfahrt in den Eisfjord. -- Ankunft in Adventbay. -- Erster Besuch der Küste. Gegen Mittag des 11. Juli kam Land in Sicht, und um 1 Uhr waren wir der Küste so nahe, daß Einzelheiten deutlich unterschieden werden konnten. Zwischen den mächtigen, zum Teil schneebedeckten, oft aber als dunkle Felswände jäh abstürzenden Pyramiden erschienen großartige Gletscher, als nach unten breiter werdende Eisströme ins Meer sich ergießend. Die bläulich schimmernden Abbruchflächen werden direkt von der dunklen Meeresflut bespült. Unter dem fürchterlichen Drucke, welcher die gletscherbelasteten Felsgebirge zu glatten Mulden ausschleift, drängen diese Eiswelten dem Meere zu und brechen ab, sobald die stützende Unterlage fehlt, um als Eisberge dem Polarstrome folgend Amerika zuzusteuern und allmählich unter der auflösenden Kraft der Sonne zu verschwinden. Es ist etwas Erhabenes, diesen Prozeß, der sich ungezählte Jahrtausende zurück u. a. auch von den Alpen gegen die deutschen Ebenen zu abspielte und dessen Spuren und Wegweiser die mächtigen erratischen Blöcke bilden, hier in natura sich vollziehen zu sehen. Gegenüber diesen Pulsschlägen der Ewigkeit zerstiebt die Sekunde Menschenleben in Nichts. -- Die Breite des größten Gletschers von Westspitzbergen, mit welcher derselbe gegen die Meeresfläche abstürzt, beträgt 20 Kilometer. Es wurden Eisberge, d. h. isolierte Abbrüche desselben beobachtet, deren Gesamtvolumen auf 4000 Millionen Kubikmeter berechnet werden konnte. Scoresby sah eine Eismasse von der Größe einer Kathedrale aus einer Höhe von 400 Fuß ins Wasser fallen. [Illustration: Gletscherpartie (Spitzbergen).] Um 4 Uhr erreichten wir bei aufgehelltem Himmel die Einfahrt in den Eisfjord (78° 11′ nördl. Breite); die so benannte Meeresbucht ist beidseitig mit Gebirgsstöcken von auffallend gleichmäßiger Form begrenzt. Alle zeigen ein Hochplateau, das enorm steil zum Meere abfällt; dazwischen liegen tief eingeschnittene Thäler. Die steilen Abhänge sind merkwürdig regelmäßig parallel gerifft. In den parallelen Schrunden liegt wie auch oben blendend weißer Schnee, in grellem Kontrast zu dem dunkeln Gestein, so daß die Gebirgszüge wie sorgfältig vom Konditor kandierte Kuchen aussehen. [Illustration: Einfahrt in Adventbay.] Wir biegen ab in eine Seitenbucht, die sogenannte Adventbay. Dort hat sich, teils durch Anschwemmung, wesentlich aber wohl durch Abwitterung, welche durch Ebbe und Flut geglättet wurde, auf der südlichen Seite ein ziemlich ausgedehntes, flaches und nachher sanft bis zu den Hauptgebirgsstöcken ansteigendes Gelände gebildet, das größtenteils schneefrei ist und auf welches die Strahlen der Sonne bereits einen Blumenteppich gezaubert haben. Plötzlich entdeckt das Auge, als einziges Symptom menschlichen Daseins, ein Fischerzelt und 200 Meter davon entfernt ein dunkles Holzgebäude, welches 1896 von der Westeraalen Dampfschiffgesellschaft als Unterkunftshaus für Jäger und Touristen erstellt wurde. Aus der Entfernung machte es den trostlosen Eindruck einer im Torfmoor stehenden einsamen Köhlerhütte. Wir fanden es geschlossen und leer, da der acht Tage zuvor nach Spitzbergen fahrende Dampfer, welcher Proviant und den Wirt bringen sollte, wegen ungünstiger Eisverhältnisse sich dem Inselreiche gar nicht hatte nähern können. Nirgends ist ein Baum oder Strauch zu erblicken; aber wo der Schnee weg ist, so auf der Küstenniederung und in den Thälern grünt und blüht es um die Wette. Viele der Thäler sind aber noch mit mächtigen Gletschern ausgefüllt und werden noch Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte lang zu thun haben, bis ihr Eisdepot ins Meer gesunken ist. Im Hintergrunde aber, gegen das Innere der Insel, sieht man über den 2000 Fuß hohen Bergen Eisfelder von unermeßlicher Ausdehnung. Langsam und vorsichtig drang unser braver Dampfer mit einem Tiefgang von zirka 10 Metern in dem fremden Fjorde vorwärts, während von 5 zu 5 Minuten ein alter Matrose Lothungen vornahm und mit lauter Stimme dem Kapitän das Ergebnis auf die Kommandobrücke zuschleuderte. „20 Faden -- kein Grund!“ (1 Faden = 6 Fuß). „33 Faden -- kein Grund!“ „39 Faden -- Grund!“ Jetzt rasselte die Ankerkette nieder und fest saßen wir. Alles, was Beine hatte, stund auf Deck, um den ungewohnten Anblick dieses vergletscherten Polarlandes in sich aufzunehmen. Hunderte von Vögeln umkreisten schreiend unser Schiff; ab und zu tauchte ein neugieriger Seehund auf, um sofort wieder in dem salzigen Elemente zu verschwinden, einmal auch die grauenhafte Fratze eines Walrosses. In unglaublich kurzer Zeit waren die drei Benzinbarkassen unseres Schiffes flott gemacht und luden durch ihren puffenden Atem zur Fahrt ans Ufer ein, das immerhin noch einen Kilometer entfernt von uns lag. Das Meer war etwas unruhig, so daß nur die weniger zaghafte meiner Reisegefährtinnen sich zu sofortiger Ausbootung entschloß. Am Land besuchten wir zuerst das Fischerzelt, in welchem eine Frau, zwei Männer und ein Kind überwintert hatten. Das Ergebnis ihres Jagdfleißes war vor ihrer Behausung aufgespeichert: getrocknete und eingesalzene Fische in Menge, einige Fässer voll Thran, in Meersalzlauge gebettet auch Kopf und Fell eines riesigen Eisbären, den sie zwei Monate vorher geschossen, als er die Hütte zu beschnuppern kam; von der Menge erlegter Rentiere und Seehunde, deren Geweihe und Felle herumlagen, gar nicht zu reden. Als wir den flachen Küstenstreifen durchwanderten, wollte unser Erstaunen und Entzücken über die Fülle und den Farbenglanz reizender Blumen kein Ende nehmen. Arktischer Mohn, zahlreiche Steinbrecharten, Löffelkraut entsprießen zu Millionen dem bemoosten Boden. Von besonderer Lieblichkeit ist eine Erica-Art, deren Blüten die Form unserer Maiglöckchen haben. Als einzigen Strauch, der aber die Moosfläche nicht überragt, fanden wir eine arktische Weidenart. Ueberreste von Walen und Walrossen, ungeheure Knochen aller Art, Fisch- und Vogelleichen zu Dutzenden lagen da, in Gestein und Grün gebettet, merkwürdigerweise ohne allen und jeden Fäulnisgeruch; das Organische fault in dieser nördlichen Breite auch unter dem Einfluß der Sonne nicht, da die sie bedingenden Spaltpilze hier nicht fortkommen. Mit Blumen seltenster Art und allerlei Trophäen (Mineralien, Knochen) beladen, traten wir den Rückzug an, der nicht ohne ein kleines Abenteuer verlaufen sollte. Bei der Abfahrt wurde nämlich unser Boot auf eine seichte Stelle geworfen, saß dort fest und war nun ein Spielball des unruhigen Meeres. Durchnäßt von den überschäumenden Wellen und elend hin- und hergeschaukelt harrten wir der Erlösung. Aber ein Versuch, uns durch eine andere Barkasse flott zu machen, hätte beinahe unser Schiff zum Kentern gebracht und mußte aufgegeben werden. So blieb nichts übrig, als in den auf- und abtanzenden Kahn überzusteigen -- eine der Komik und unfreiwilliger Akrobatensprünge und Körperverdrehungen nicht entbehrende Handlung -- welcher uns dann naß zwar, aber in bester Stimmung an Bord brachte. Ueber Spitzbergen ist noch Vieles zu erzählen; ebenso über die herrliche Rückfahrt an der norwegischen Küste, über die Wunder der Mitternachtssonne bei der Einfahrt in Tromsoe und das dortige Lappenlager, über die Pracht der nordischen Welt bei Gudwangen und Marak, über den Besuch von und bei dem deutschen Kaiser in Aalesund und den Aufenthalt in Bergen, der durch die Freundlichkeit unseres dort domizilierten Landsmanns, Herrn Herzog aus dem Pfarrhause Güttingen, besonders genußreich sich gestaltete, und über vieles Andere mehr. Aber unser Schiff eilt dem Endziele, Hamburg zu, und unser Verlangen geht nach der Heimat und nach dem Berufe. Daheim. ~VIII.~ Hapag. -- Patriotische Feststimmung. -- Gräber an der Adventbay. -- Im Eise gefangen. -- Jagd auf Spitzbergen. -- Walfischfang. Hapag! Wie anders wirkt dies Zeichen jetzt auf mich ein als noch vor wenig Monaten! -- Dazumal glitt mein Auge nichtsachtend an den fünf Buchstaben vorbei; heute zaubert das kleine Wort eine Flut von Erinnerungen hervor; ich sehe die Wunder der nordischen Schärenlandschaften und des Polarmeeres; auf letzterm gleitet die stolze „Auguste Viktoria“, das prunkvolle kleine Universum; auf der Kommandobrücke steht die Hünengestalt des braven Kapitäns Kaempff, dem das Leben von nahezu 700 Menschen anvertraut ist. Keiner zaudert, ihm volles Vertrauen zu schenken, dem schönen Typus eines pflichttreuen, kaltblütig überlegenden Seemannes, der, ein Bär von Postur, mit gleicher Sicherheit sein stolzes Schiff leitet, wie er mit ritterlicher Grazie den Damenhandkuß zu applizieren weiß. Vom Promenadendeck her tönt fröhliches Leben; dazwischen die flotten Weisen der Schiffskapelle, vor allem die bergfrische Nationalhymne Norwegens. Und an allen Ecken und Enden steht das Zauberwort ~Hapag~, auf jedem großen und kleinen Schiffsteile -- vom Rettungsboote bis zum Zahnstocher, auf dem Schilde der Kapitänsmütze und jedem Kleidungsstücke, das der Steward und der Matrose am Leibe trägt. Den jungen, frischen Schiffsjungen, der auf jedes Signal von der Kommandobrücke her die Treppen hinauffliegt, um die Befehle „des Königs“ entgegenzunehmen, hatten wir deshalb in naheliegender Erweiterung seiner Signatur schon am ersten Tage Harpagon getauft und ihn auf diesen Ruf folgen gelehrt. =H=amburg-=A=merika-=P=acketboot-=A=ktien-=G=esellschaft ist der Sinn des kleinen Wortes, das in der ganzen Welt so bekannt ist, daß ein mit ~Hapag~ adressierter Brief sicher seinen Weg findet, und ein Zufall, der soeben meinen Blick auf die fünf Buchstaben fallen ließ, macht mir plötzlich Mut und Lust, die in der „Thurgauer Zeitung“ begonnene Schilderung unserer nordischen Reiseerlebnisse zu Ende zu führen. Also zurück nach Spitzbergen! Auf Flügeln des Gedankens ist der Weg im Nu zurückgelegt, obschon die Distanz ungefähr derjenigen zwischen Rio Janeiro oder Kapstadt oder Tibet und unserer Heimat entspricht. Am Morgen des zweiten Tages wurde bei Zeiten wieder und als vollzähliges Trio das zauberhafte Land betreten. Dort erfuhr ich eine heimelige Ueberraschung. Als wir an geschützter Stelle, in das blumige Moos gelagert, die großartige Moos-, Gebirgs- und Gletscherlandschaft bewunderten, packten meine Gefährtinnen aus: eine veritable Schweizerfahne samt Stock und eine Flasche -- Sonnenberger[3] 1895er, von Paul Bartholdi.[4] Nun wurde ein echt vaterländisches Fest gefeiert, wohl das erste Schweizerfest auf Spitzbergen, und unter Schwenken der Fahne, ergötzlichen Reden und lautem Hoch auf die liebe Heimat der Tropfen geleert, den die Sonne unseres Thurgaus gezeitigt hatte und der mir in meinem Leben noch nie so vortrefflich gemundet hat wie dazumal, am 12. Juli, unterm 78° nördl. Breite. Die Flaschen-Etiquette trägt nun die Aufschrift: „Sonnenberger 1895 von P. Bartholdi, am 12. Juli 1899 unter hochgehenden vaterländischen Gefühlen geleert auf das Wohl der lieben Heimat von etc. etc. etc.“ In der linken obern Ecke stehen groß und deutlich die Buchstaben O. G. V.,[5] ein für spätere Polarfahrer, welche die Flasche entdecken, jedenfalls unlösbares Rätsel. Nach der patriotischen Fahnenweihe durchstreiften wir, soweit nicht Sumpf und Morast uns hinderten, kreuz und quer das Gelände und jeder Schritt führte zu etwas Außergewöhnlichem und Interessantem. Vor allem erregte unsere Aufmerksamkeit ein Abhang aus Geröll, den ein starker Gletscherbach im Laufe der Jahrzehnte angespült haben mochte, und auf welchem verschiedene auffällige Erhebungen zu erblicken waren. Bei der Annäherung fanden wir zwei schmucklose Grabzeichen aus Holz und gemaltem Blech; das eine trug die Inschrift: Andrees Holm, Tromsoe; födt 7. April 1896; das andere: Jakob Hansen af Hammerfest, födt 28. August 1878, letzterer ein während der sommerlichen Jagdzeit hier verunglückter Fischer, der erstere aber Teilnehmer einer nordischen Tragödie, deren weitere Spuren in unmittelbarer Nähe zu finden waren und mit der wir uns gleich beschäftigen werden. Wir schmückten die rührenden Zeugen menschlichen Daseins und Kampfes in dieser nordischen Einöde -- die schlichten Gräber -- mit den schönsten Blumen, welche der Boden spendete. Was hätte dieser Andrees Holm alles erzählen können! Im Sommer 1895 hatte er mit drei andern Norwegern, Klaus Thue, Anton Nils und Nils Olsen, an den Küsten von Westspitzbergen dem Fischfang obgelegen, und als sie auf ihrem kleinen, einmastigen Fangschiffe heimkehren wollten, verlegte ihnen das unerwartet früh um die Südspitze herschwimmende Eis den Weg. Ein starker Schneesturm trieb sie wieder nordwärts, und wo immer sie Eingang in einen schützenden Fjord suchten, fanden sie denselben bereits mit Eis gefüllt. Im nördlichen Eisfjord endlich, der unter der Einwirkung des Golfstromes am längsten offen bleibt, und zwar in dem Teil, in dem wir eben vor Anker lagen, der Adventbay, fanden sie Zuflucht, und dort fror ihr Schiffchen, die „Ellida“, rasch ein, so daß die Insassen sehr bald die traurige Gewissheit hatten, sieben bis acht Monate in dieser trostlosen Eiswüste verweilen zu müssen, fern von jeder menschlichen Hülfe. An Bord zu bleiben war unmöglich. Die vier Männer errichteten daher auf der nächstgelegenen Anhöhe eine Notbehausung, deren Konstruktion und Überreste noch deutlich zu sehen sind. Etwa einen Meter tief ist der Grund ausgehoben und die Grube mit Schiffsbrettern verschalt; darüber findet sich aus Treibholz, Mast und Rudern ein Dach erstellt, das noch teilweise mit Zinkblech vernagelt ist und das dazumal von den Insassen mit Rentierhäuten,[6] Rasen- und Moospolstern bedeckt wurde. Zum Eintritt diente die noch vorhandene Kajütenthüre. In der jetzt großenteils abgedeckten Hütte, in welche ich hineinkroch, waren als weitere Zeugen des dort verlebten Winters noch zu finden: ein Bretterverschlag, der mit Rentierfellen ausgekleidet die Schlafstätte gebildet hatte; dann ein verrosteter, zertrümmerter Herd, der ehemalige Kochherd des Schiffes, ein niedriger Tisch, eine Kiste mit Handwerkzeug; ferner zerrissene Strümpfe, Handschuhe und Kleidungsstücke anderer Art; Knochen von Rentieren, Fischen, Vögeln -- die Überreste der winterlichen Mahlzeiten -- lagen ringsherum zerstreut. [Illustration: Nothütte.] Den langen Polarwinter brachten die Eingeschneiten und Vereisten mit Jagd und dem Suchen nach Kohlen in möglichst entfernten Lagern zu, um der Hauptgefahr der Unthätigkeit in der permanenten Dunkelheit, dem Scorbut, möglichst zu entgehen. Bis 22 Grad Reaumur Kälte hatten sie zu ertragen, so daß Anton Nils die Nase abfror; trotzdem ging er acht Tage nachher wohlgemut und fröhlich singend auf die Jagd -- um nicht mehr zurückzukehren. Wahrscheinlich hat ihn ein Eisbär verzehrt. Das zweite Opfer war Andrees Holm, der am 30. März am Scorbut starb und, da die Erde hart gefroren war, zum Schutz gegen Füchse und Bären einstweilen in zwei Fässer gesteckt wurde. Sobald das Eis des Fjords -- im Juni 1896 -- in Bewegung kam, wagten sich die zwei Ueberlebenden auf kleinem Boote hinaus, um Fischerschiffe aufzufinden; aber fünf Tage lang wurden sie auf offenem Meere umhergeschlagen und hatten nur rohe Vögel als Nahrung, und als endlich ein Fischer sie rettete, waren sie beide auch am Scorbut erkrankt. Trotzdem fuhren die treuen Gesellen, bevor sie heimwärts strebten, nochmals nach der Adventbay zurück, um ihren Kameraden zu beerdigen, und das Grab, neben dem wir standen, war das Werk ihrer matten und kranken Hände. Ähnliche Unglücksfälle ereignen sich von Zeit zu Zeit und auch dem größten Touristenschiffe kann es passieren, sofern es zur Unzeit, später als Ende August, Spitzbergen aufsucht, daß es sich plötzlich und unerwartet in einem Fjord durch Eis festgebannt sieht. -- Plötzliche dichte Nebel, entsetzliche Stürme und unerwartete Treibeisblockade sind die Gefahren des Polarmeeres für die Schiffahrt. Einen Versuch, an den schneefreien Abhängen des nächstliegenden Berges in die Höhe zu steigen oder eines der sich öffnenden Thäler zu begehen, mußten wir bald aufgeben, weil der Boden infolge des herabrieselnden Schneewassers überall morastig durchweicht war, so daß wir bis über die Knöchel einsanken. Wie’s in dieser Beziehung weiter landeinwärts beschaffen sein mochte, ersahen wir an Schuhwerk und Kleidern von Graf Metternich und einigen andern Jagdfreunden, welche morgens 2 Uhr unter der Führung von zwei norwegischen Fischern sich einige Stunden weit ins Innere begeben hatten und nachmittags mit reicher Beute zurückkehrten. Die Menge des angetroffenen Wildes stand zwar hinter ihren Erwartungen zurück; einige Tage zuvor war der Kronprinz von Italien mit seiner jungen Frau, die dem nordpolfahrenden Herzog der Abruzzen das Geleit gaben, hier gewesen, und die jagdlustigen Italiener sollen innert zweimal 24 Stunden gegen 200 Rentiere an der Adventbay erlegt haben; nicht der geringste Teil fiel vor dem treffsicheren Rohre der Montenegrinerin. Von der Beute wurden einfach die Geweihe mitgenommen; das Übrige blieb liegen. Daß ein solch grausames Schützenfest die harmlosen Rentierherden für die nächsten paar Wochen verscheuchte und in entferntere Regionen trieb, liegt auf der Hand. Indes waren die Spuren des Tieres überall so reichlich vorhanden, daß man glauben konnte, sich auf einem ihrer Hauptweideplätze zu befinden. Auch brauchte man nicht sehr weit zu gehen, um schön ausgebildete Geweihe zu finden, welche von den Tieren jeweils im Dezember oder Januar abgestoßen werden. [Illustration: Gletschereis.] Eingedenk der vortrefflichen Eigenschaften des Rentieres, seiner Anspruchslosigkeit betreffs Ernährung, seiner universellen Nützlichkeit und seiner absoluten Unschädlichkeit und in Erinnerung an die Thatsache, daß es, wie fossile Reste -- sogar fossile von Menschenhand bearbeitete Rentiergeweihe -- es beweisen, einst über den größern Teil Mitteleuropas verbreitet gewesen sein muß, fragte ich mich oft, warum es wohl noch niemandem eingefallen sei, unsere Alpen mit diesen trefflichen Tieren zu bevölkern. Es ist doch sehr wahrscheinlich, daß sie sich ganz gut akklimatisieren würden. Die Nimrode unter den Schiffspassagieren, welche zu bequem waren, stundenweit bergauf- und thaleinwärts zu laufen, ließen ihre Mordlust an den arglos herumfliegenden Strandvögeln aus. Piff, paff, puff knallte es allerorten, und Dutzende von zwecklos getöteten oder verwundeten Enten, Möven und Eidergänsen fielen zur Erde oder zuckten im letzten Kampfe auf der glatten Meeresfläche. Ich freute mich stets königlich, wenn ein mit selbstbewußter Sicherheit abgegebener Schuß zum Ärger des Schützen und unter Halloh der Zuschauer den einzigen Effekt hatte, die Flug- oder Schwimmgeschwindigkeit des Zielobjektes um 100 pCt. zu beschleunigen, oder wenn eine Taucherente, welcher der tödliche Schuß galt, blitzschnell unter dem Wasser verschwand, um sehr vergnügt hundert Meter davon entfernt wieder aufzutauchen. Da in Spitzbergen kein Jagdschein notwendig ist, bleibt es vorläufig das Eldorado aller Jäger, bis die dortige Tierwelt so vernichtet sein wird, daß es sich nicht mehr lohnt, Pulver und Blei dorthin zu tragen. Allerdings sind ja nur einige Küstenstriche zugänglich und das mit 1000 Fuß dicker Eisschicht bedeckte Landesinnere wird den Eisbären und Polarfüchsen vorläufig noch ein sicherer Hort bleiben; aber wer weiß, mit welchen Mitteln sich das raffinierteste aller Raubtiere, der Mensch, in Zukunft auch diese unzugänglichen Einöden begehbar machen wird! Die großartigste Jagdepoche Spitzbergens fällt in das siebenzehnte Jahrhundert. Anno 1607 lenkte der berühmte Seefahrer Hudson die Aufmerksamkeit der Welt auf die ungeheure Menge von Walfischen, Walrossen, Robben und wertvollen Pelztieren, welche jene noch wenig bekannte -- zehn Jahre vorher durch den Holländer Barents entdeckte -- Inselgruppe bevölkerte. Daraufhin fuhren alle seefahrenden Nationen hin und lagen sich zwanzig Jahre lang tüchtig in den Haaren, bis endlich durch einen Vertrag die Jagdgründe geregelt und verteilt wurden. Die intensivste Fangthätigkeit entfaltete Holland. In der Smeerenberg (Smeer = Fett; bergen = verwahren) auf der Amsterdaminsel waren oft gleichzeitig gegen 300 holländische Schiffe anwesend; während der kurzen Sommermonate bevölkerten über 12,000 Menschen die öde Landschaft und die Mitternachtssonne war Jahrzehnte lang Zeuge aller nur denkbaren Laster; das spielend leicht verdiente Geld wanderte in Spiel- und Trinkhöllen und schuf ein arktisches Sodom und Gomorrha. Der Walfischfang blieb zweihundert Jahre eine so ergiebige Quelle des Reichtums, daß man in Holland unschlüssig war, ob dem Hafen von Smeerenberg oder demjenigen von Batavia größere Bedeutung beizumessen sei und welcher im Ernstfalle zuerst zu verteidigen wäre. Einige Zahlen mögen diese unglaublichen Thatsachen erhärten: Der grönländische Wal, der bis 3000 Zentner schwer wird, bildete früher das Hauptwild der Gewässer Spitzbergens, hat sich jetzt aber infolge Jahrhunderte langen rücksichtslosesten Vernichtungskrieges fast ganz weiter nach Norden verzogen. Ein einziges Exemplar konnte 20,000 Mark an Wert abwerfen. Der Hauptwert liegt in der bis zu 40 Centimeter dicken Speckschichte zwischen Oberhaut und Muskelfleisch, welche zu Thran ausgesotten wird, und in den sogenannten Barten, jenen hornigen Kiefergebilden, aus welchen man das Fischbein gewinnt (2500 Kilogramm per Tier und mehr). Die Barten dienen dem Tiere dazu, seine Nahrung zu fangen; mit geöffnetem Maule von sechs Meter Länge und vier Meter Breite durchschwimmt es den Ozean, wobei Millionen kleinster gallertartiger Meertierchen des durchströmenden Wassers an den Bartenhaaren hängen bleiben und verschluckt werden, sobald sie sich in größerer Menge angesammelt haben. Wenn man erwägt, welche Billionen dieser kleinsten Organismen tagtäglich nötig sind, um einen derartigen Riesen zu ernähren, so kann man sich eine Vorstellung machen, in welcher Zahl sie im Ozean enthalten sein müssen. Sie machen das Polarmeer oft auf meilenweite Entfernung mißfarbig, und das sogenannte „schwarze Wasser“ wird aus naheliegenden Gründen von den Walfischfängern besonders gerne aufgesucht. Die Holländer haben seiner Zeit jeden Sommer zu Hunderten dieser kostbaren Tiere erlegt, also buchstäblich Gold aus dem Meere gehoben. Genaue Zahlen aus jener Zeit sind mir nicht bekannt; dagegen erfuhr ich, daß eine amerikanische Walfischfanggesellschaft noch 1858 eine Jagdbeute von 20 Millionen Mark gemacht hat, und daß in den letzten Jahren von den verschiedenen norwegischen Walfischstationen (die wegen des entsetzlichen Gestankes, den die verwesenden Reste der Riesenleiber ausströmen, alle auf Inseln oder von menschlichen Ansiedelungen entfernten Küsten sich befinden) durchschnittlich 2 bis 3 Millionen Mark per Jahr und per Station umgesetzt wurden. Auch hier an der Küste der Adventbay trafen wir allerlei Ueberreste von Walfischleibern, unter anderm riesige, von der Sonne gebleichte Rücken-Wirbel, deren einer ein ganz respektables Gewicht repräsentierte. Der Grönlandwal ist, wie oben erwähnt, in den Gewässern Norwegens und Spitzbergens fast ganz ausgestorben und in die vom Eise verbarrikadierten Zonen des höchsten Polarmeeres vertrieben. Die Arten, die dort noch gejagt werden, sind: der massige und wertvolle Blauwal, der Finnwal, das längste Tier der Erde, bis 100 Fuß lang, aber bedeutend schlanker als der Grönwal, und einige kleinere Walarten, alles sogenannte Furchenwale, weil ihre Bauchhaut im Gegensatz zum grönländischen Wale in Längsfurchen gelegt ist. Der Schrift von Georg Wegener entnehme ich, daß es auch eine Walart mit Zähnen giebt, von den Seeleuten „Speckhugger“ genannt, weil sie, nach berühmten Mustern, zu mehreren vereint ihre größten Vettern angreifen und große Stücke Speck aus ihrem Leibe herausreißen. Es sind Kämpfe beobachtet worden, bei welchen der geängstigte Großkapitalist in seiner Not weit über das Wasser hinaussprang, ohne das er die fest an seinem Bauche hängenden Schmarotzer abschütteln konnte. Die Jagd auf Wale ist vier Seemeilen von der Küste entfernt für jedermann frei; dagegen darf die Verwertung der Beute nur auf norwegischem Gebiete stattfinden, weshalb ausländische Fänger nur im Dienste einer norwegischen Gesellschaft fischen dürfen oder aber einer Aktiengesellschaft angehören müssen, die auch Norweger zu ihren Mitgliedern zählt. In frühern Zeiten war der Walfischfang ein Geschäft voll Romantik und Gefahr. Auf ausgesetztem kleinem Ruderboote mußte man sich dem Tiere so weit zu nähern suchen, daß der Harpunier ihm den Widerhaken in den Leib schleudern konnte; da galt es denn, im gleichen Momente das Boot aus dem Bereiche der Schwanzflossenschläge des wütenden Tieres zu bringen, und nachher kamen die kritischen Minuten, wo der davonrasende verwundete Wal durch Abwickeln der Harpunenleine das Boot in Gefahr brachte. Oftmals hat eine Störung des blitzschnellen Ablaufes der Rolle Schiff und Leute in die Tiefe gerissen. Heutzutage bedient man sich zum Walfischfange jener kleinen Dampfboote, deren wir eines vor Hammerfest gekreuzt hatten. Es sind eiserne Dampfer von 70-80 Fuß Länge, die äußerst schnell fahren und am Bug eine drehbare Kanone tragen. Die Harpune, welche dieses Feuerrohr schleudert, ist an langer Leine am Schiff befestigt und enthält in ihrem Kopfe ein Sprenggeschoß, das im Momente des Eindringens in den Walfischkörper explodiert und lange Widerhaken hervorschnellen läßt; das furchtbar verwundete Tier schießt mit der Geschwindigkeit eines Blitzzuges in die Tiefe -- gefolgt von der rasch sich abwickelnden Leine, kommt aber bald wieder zum Vorschein, um zu atmen oder aber -- bereits verendet. Der Todeskampf ist zuweilen so furchtbar, daß er die ganze See in Aufruhr bringt. Mit Jubel wird es begrüßt, wenn das Tier nach dem Harpunenschuß Blut bläst, „die rote Flagge zeigt“; das bedeutet eine ganz rasch tödliche Verletzung von Herz und Lungen. Es giebt wohl kein Tier, das für die Erforschung unserer Erde eine solche Rolle gespielt hat, wie der Walfisch. Seinen Spuren folgend drangen Walfischfänger schon in frühen Jahrhunderten bis in die nördlichen Meere, und lange vor Kolumbus haben baskische und normannische Walfischer den Weg nach Amerika zurückgelegt. [3] Thurgauer Rotwein. [4] Frauenfelder Geschäftsfirma. [5] Oratorien-Gesang-Verein Frauenfeld, dessen Präsident der Verfasser ist. [6] Die Schreibart Rentier -- mit einem =n= -- ist die einzig richtige; der Name stammt nicht etwa von rennen, sondern von reen, d. h. rein, also eigentlich _Rein_tier. ~IX.~ „Malerische Gruppe“. -- Beutezug an der Küste. -- Fischerzelt. -- Die Yacht des italienischen Kronprinzen. -- Hotel Spitzbergen. Unterdessen hatte sich der größte Teil der Schiffspassagiere ans Land gemacht, und wir bemerkten aus der Entfernung, wie sie sich zu einem Zuge ordneten, voraus einige Matrosen mit der deutschen, der amerikanischen und der Hamburger Flagge, dann die Schiffsoffiziere und die Musik; unter klingendem Spiele bewegte sich der Gewalthaufen landeinwärts. Da giebt’s was zu sehen; also im Trab über Stock und Stein und quatschende Pfützen, die Hände voll friedlichen Raubs: Pflanzen, Knochen und Steine, in der rechten die flatternde Schweizerfahne! Vor einer sachten Erhebung machte der aus allen denkbaren Kostümen und Toiletten zusammengesetzte Zug Halt, und es wurde zu den vorjährigen Gedenkzeichen der Anwesenheit der „Auguste Viktoria“ auf Spitzbergen ein neues gesetzt, eine hübsch ausgestattete eiserne Tafel mit der Inschrift: „S. S. Auguste Viktoria, Hamburg; 12. Juli 1899.“ Ueber der Tafel thronte ein Schild ~H~ ~A~ mit ~P~, getragen von einem Schiffsanker. Das Ganze ~A~ ~G~ wurde auf einem eisernen Stativ in den Boden gestoßen, mit Steinen malerisch blockiert und von den Matrosen mit Moosplatten und Blumen dekoriert. Unter dem Klange der verschiedenen Nationalhymnen (~n. b.~ das „Rufst du mein Vaterland“ der Schweizerkehlen ging in dem „Heil dir im Siegeskranz“ nicht etwa unter; denn die Eidgenossen stunden, wie in der Schlacht bei Sempach, dicht beisammen) und Schwenken der Banner erhielt das Wahrzeichen unserer Nordlandsfahrt seine Weihe. Dann ordnete man sich (es war in der Person des Herrn Dreesen aus Flensburg ein vortrefflicher und weltbekannter Berufs-Photograph anwesend) zu einer „malerischen Gruppe“, um durch die nordische Sonne sich verewigen zu lassen. Ahnungslos stunden wir mit unserm Schweizerfähnlein in vorderer Reihe. „Die Flagge muss wech!“ rief’s aus der Hinterphalanx -- nicht etwa aus Animosität gegen das weiße Kreuz im roten Feld, sondern weil der Reklamant mit Recht es sich verbitten konnte, daß seine Gesichtszüge durch ein Stück -- wenn auch noch so patriotisch flatternden -- Tuches zugedeckt würden. Wir marschierten also unverwundet in die hinterste Reihe; von dort her aber fällt die hochgehaltene Schweizerfahne auf der gelungenen Photographie zu allererst in die Augen: in der Mitte der Fähnrich, vor ihm die beiden getreuen Lebensgefährtinnen, rechts und links als Stützen des Vaterlandes Papa Laroche und Professor Böhringer. Da wurde dann gleich die patriotische Erregung weiter ausgeschmiedet: Im Glockensund wollten wir am folgenden Tage offiziell das eidgenössische Banner aufpflanzen und von dem Lande für Mutter Helvetia Besitz ergreifen; Professor B. übernahm die Festrede, und Papa L. wurde einstimmig zum Admiral der schweizerischen Marine ernannt. In das schöne Projekt fiel _ein_ bitterer Tropfen: Die Flasche Sonnenberger-Thurgauer war bis auf die Nagelprobe geleert; wir hatten „keine zweite zu versenden“, und für den Festredner und den Admiral blieb als einziger bescheidener Genuß das Riechen an der leeren Flasche, deren Duft aber noch genügte, ihre Züge freundlich zu verklären. Ein tückischer Polarnebel hat aber den Plan vereitelt und damit auch die Gefahr einer politischen Intervention des übrigen Europas abgewendet. Nachdem die Zehntels-Sekunde Ruhe und freundliches Lächeln, welche der Photograph verlangt hatte, glücklich überstanden war, zerstreute sich das Volk nach allen Richtungen, und bald bot das fremdartige Gelände ein recht malerisches und bewegtes Bild: Ueberall kleinere Gruppen von entzückten Blumensammlern, da und dort ein blutdürstiger Jäger zum Schuß bereit, an allen Ecken Amateurphotographen männlichen, namentlich aber weiblichen und sogar sächlichen Geschlechts. Einzelne, vorab die Schiffsbemannung, stürmten, ohne Rücksicht auf bodenlosen Sumpf, landeinwärts und bergaufwärts, und männiglich kehrte mit zusammengelesenen Rentiergeweihen und andern Raritäten zurück. Einen Bären brachte Keiner; auch die größten Blagueure mußten gestehen, keinen solchen, nicht einmal von weitem, erblickt oder gewittert zu haben. Auch das ersehnte Walroß ließ sich nirgends sehen. Wir begnügten uns mit dem leicht Erreichbaren, und unser Schatz wuchs zusehends. Abgesehen von reizenden Pflanzen erbeuteten wir seltene Mineralien, Steinkohlen, prächtige Versteinerungen von Kryptogamen und allerlei Blattpflanzen. Dann erregte unser Interesse die Menge und Verschiedenartigkeit des herumliegenden Treibholzes; teilweise zeigte sich dasselbe bearbeitet, entstammte also Fahrzeugen, die vielleicht in Westindien Schiffbruch gelitten hatten und deren Fragmente durch den Golfstrom hieher geführt worden waren. Andere Stücke entpuppten sich als Lerchen- und Erlenholz, und ich ließ mir erzählen, daß an der Ostküste Spitzbergens erstaunliche Mengen dieser Stämme mit Regelmäßigkeit angeschwemmt werden und oft ganze Buchten ausfüllen. Sie wurzelten einst in dem großen sibirischen Stromgebiete, wurden durch die im Sommer hochanschwellenden Gewässer ihrem Stammorte entführt, ins Meer geschwemmt und gelangten mit dem Polarstrom endlich an Spitzbergens eisumgürtete Küste. Es ist ja bekannt, daß diese Treibhölzer den Bewohnern der baumlosen Gegenden Grönlands, Islands -- überhaupt der Polarländer -- seit Jahrhunderten ihr Nutz- und Brennholz liefern, und die Kenntnis der arktischen Meere und ihrer Strömungen ist nicht zum mindesten durch das großartige Phänomen des Treibholzes erweitert worden. Eine überaus interessante Thatsache ist es, daß man in Spitzbergen oft stundenweit im Innern und auf beträchtlicher Höhe über dem Meeresspiegel, zu welcher die größte Springflut niemals gelangen kann, Treibholz und Walfischknochen findet. Daraus zieht man den Schluß, daß im Laufe der Jahrhunderte entweder das Land sich gehoben oder das Meer sich gesenkt haben muß. Diese Niveauveränderung wird auch in Skandinavien beobachtet. Eingehauene Klippenzeichen haben sich innert 40 Jahren um nahezu 50 Centimeter gehoben, und eiserne Ringe, die vor vielen Jahren zum Anbinden der Kähne dienten und welche durch einen umgemalten weißen Kreis weithin sichtbar gemacht sind, stehen jetzt so hoch, daß sie nicht mehr gebraucht werden können. Da man die alten Strandlinien weder unter sich, noch mit dem Meeresspiegel parallel findet, wird eher an eine Bodenerhebung, als an ein Sinken der Wasserfläche zu denken sein. Einige der von mir gesammelten Treibholzstücke mögen seit Jahrhunderten dort gelegen haben, ohne zu faulen; ihr Volumen ist unverändert, und die Holzfaserung ist deutlich zu sehen; aber man glaubt zuerst, ein helles _Mineral_ zu finden, und ist erstaunt über das geringe, jedenfalls noch unter demjenigen des Korkholzes stehende spezifische Gewicht. Auch Ueberreste von Tieren schleppten wir mit, unter anderm einen Rentierschädel, in dessen Höhlungen sich allerlei arktische Moose und Blütenpflänzchen angesiedelt hatten; dann Mövenflügel, Knochen, Geweihe und andere Herrlichkeiten mehr. Es war sehr unterhaltend, nachher an Bord die vom Lande her Zurückkehrenden zu beobachten; die unglaublichsten Dinge wurden hergebracht, und in mancher Kabine sah es gegen das Ende der Fahrt, namentlich als in Tromsö die Lappen ihre duftenden Gegenstände noch an den Mann und die Frau gebracht hatten, aus wie in einem Naturalienkabinett; auch die Atmosphäre stimmte, und ich will hier verraten, daß verschiedene Passagiere einige von ihren mit Stolz gezeigten und mit Liebe geborgenen Trophäen -- des zunehmenden Aromas halber -- nächtlicher Weise dem verschwiegenen Ozean anvertrauten. Das Aroma aber blieb, wie das Phlegma beim Spiritus. Einen besondern Anziehungspunkt bildete die kleine Ansiedlung der norwegischen Fischerfamilie, welche im hölzernen Touristenhaus der Vesteraalen-Dampfschiffgesellschaft überwintert, nun aber ihre Zelte bezogen hatte und eifrig der Jagd oblag. Ihre edelste Beute war ein Eisbär, dessen Pelz samt Kopf sie zur Konservierung der Haare in ein Faß mit Salzlauge gesteckt hatten. 180 Kronen d. h. zirka 250 Franken sollte das Prachtstück kosten (in Bergen wurde für einen ausgearbeiteten Pelz gleicher Größe das 2½fache verlangt), und um 150 Kronen erstand es schließlich ein Herr kurz vor der Abfahrt der „Auguste Viktoria“, von Vielen beneidet um den Kauf, zu dem sie die Courage nicht gehabt hatten. Da wiederholte sich dann die Geschichte vom Fuchs und den sauren Trauben; „die Farbe des Pelzes war nicht schön; wahrscheinlich ließen die Haare sehr bald; das Ausmachen würde ein Heidengeld kosten“ etc. etc. „„Aber ein Esel war ich doch, daß ich den Prachtskerl nicht gekauft habe; so ’n Fell! und dazu direkt ab Spitzbergen!““ meinte ein Ehrlicher. So lange der Eisbär keinen festen Besitzer hatte, wurde er gehörig ausgenützt. Die zartesten Damen ließen sich an der Seite des grausamen Tieres, dessen Kopf allerdings kaum mehr blutdürstig aus der Salzlauge hervorguckte, photographieren. Einige von Photograph Dreesen arrangierte Gruppen vor der Fischerhütte, inmitten der mannigfachen Beute um den mächtigen Kopf des nordischen Eiskönigs gelagert und durch die schlichten Fischersleute verstärkt, verdienten das Attribut malerisch im höchsten Grade. Als wir wissensdurstige (neugierige?) Schweizer unsere Köpfe ins Innere des Hauptzeltes steckten, lagen die Männer noch schnarchend unter ihren Fellen am Boden, während die Frauen und ein zirka sechsjähriges Kind sehr munter die vielen Fremdlinge musterten. Der Haus- und Familienhund -- ein langhaariger Spitz -- hatte längst das Weite gesucht; auf zirka 200 Meter Distanz bellte er die „Auguste Viktoria“ und ihre am Land promenierenden Insaßen an und beantwortete jeden Lockruf und jede Annäherung damit, daß er davon und wie verrückt in weiten Kreisen herumrannte. Das niedrige Zelt enthielt außer den Schlaflagern die unerläßlichsten Haushaltungs- und Küchengegenstände; neben der Kaffeemühle thronte eine Guitarre, die wohl einst die mehrmonatliche Polarnacht kürzen half. Wie melancholisch mögen ihre Saiten in die nordlichtdämmernde Eiswüste hinausgeklungen und was werden sich die lauschenden Bären und Blaufüchse dabei gedacht haben! Unterdessen erhoben sich auch die Väter des Fischerzeltes und eröffneten sofort einen kleinen Markt; außer der mannigfachen Jagdbeute: kostbaren Fuchsbälgen -- bis 100 Kronen pro Stück gewertet -- Rentier- und Robbenfellen und Geweihen, getrockneten und frischen Fischen und Vögeln aller Arten wurden namentlich auch sehr schöne Versteinerungen feilgeboten, welche sie bei Jagdstreifzügen in den nächstliegenden Thälern und Gebirgsstöcken gesammelt hatten. Einige Säcke voll Eiderdaunen stunden verkaufsbereit, jener feinsten Flaumfedern, mit welchen die Eidergänse ihre Brutnester dicht und warm polstern und welche ihnen von den Sammlern unter dem Leibe und den Eiern weggeraubt werden, meist mit samt einem Teil der letztern. Ich beobachtete eben einen originellen Handel, den der eine unserer norwegischen Lotsen abschloß, als Hochzeitsgeschenk für seine drei im kommenden Monat gleichzeitig sich verheiratenden Töchter, wie er mir sagte. Die zwei Fischer offerierten ihm einen mit Eiderdaunen vollgestopften Sack zu 50 Mark. Das Gewicht taxierten sie -- da eine Wage fehlte -- aus freier Schätzung auf 50 Kilo, „Wägung vorbehalten“. Der Käufer bezweifelte die Richtigkeit der Taxation, und als ich, als Unparteiischer darum ersucht, die Last auf höchstens 40 Kilo schätzte, wurde ohne weiteres von den Fischern _dieses_ Gewicht in Rechnung gesetzt und der Preis auf 40 Mark reduziert. Der Käufer machte ein gutes Geschäft. Beim Reinigen der Daunen gehen allerdings fast zwei Drittel verloren, so daß ihn schließlich -- die Reinigungsspesen mitberücksichtigt -- das Kilo auf 4 Mark zu stehen kommen wird. Aber schon in Tromsoe bezahlt man 36 Mark pro Kilo, und weiter südwärts sind die Preise noch höher. Alles in allem wird also der Vater seinen Töchtern je ein Geschenk im Werte von 180 Mark machen, für welches er nur 20 Mark zu bezahlen brauchte. Gegen Abend -- als wir schon die Hauptmahlzeit hinter uns hatten -- also zirka 9 Uhr, tauchte plötzlich eine Yacht auf, die vom Eisfjord her sich unserer Bay näherte. Wer mochte das sein? Bald erkannte das Auge des Kapitäns die italienische Flagge und signalisierte den Kronprinzen von Italien mit Gemahlin und Gefolge. Rasch wanderte das grüßende Flaggenzeichen auf die Mastspitze; die Kapelle erhielt Ordre, die königlichen Gäste anzublasen und sich zur Empfangshymne bereit zu stellen, und -- was Beine hatte -- stund auf Promenadendeck, um die Ankömmlinge zu sehen. Jetzt -- ein mächtig widerhallender Salutschuß. Die kronprinzliche Yacht ist in unmittelbarer Nähe und beginnt grüßend unsern Schiffskoloß zu umkreisen. In diesem Moment intoniert unsere wackere Schiffskapelle im Bewußtsein, ganz das Richtige getroffen zu haben -- den Garibaldimarsch. Potz Wetter, gab das eine Aufregung! Der erste Schiffsoffizier kam im Galopp gerannt und benannte den Kapellmeister mit dem obersten Bestandteil einer nützlichen und sonst harmlosen zoologischen Spezies; die Harmonien brachen bei dem zirka siebenten Takte jäh ab und „es kam umgehend zum Vortrag“ die regelrechte königlich italienische Nationalhymne. Ob der Kronprinz den Lapsus bemerkt, weiß ich nicht; eingedenk der guten Freundschaft zwischen seinem Großvater und dem Manne, der ihm die Krone brachte, Garibaldi, hätte er sich jedenfalls nicht darüber zu ärgern brauchen. Neben der Junogestalt seiner montenegrinischen Gattin sah der kleinere und schwächliche italienische Thronfolger nicht gerade imponierend aus. In dem gebrechlichen Körper soll aber, wie zuverlässige italienische Berichterstatter uns sagten, ein feingebildeter Geist und trefflicher Charakter wohnen. [Illustration: Yacht des Kronprinzen von Italien vor Spitzbergen.] Die Yacht war -- nachdem sie dem Herzog der Abruzzen das Geleit gegeben -- hieher gekommen, um wo möglich Proviant aufzunehmen; da das Adventbayunterkunftshaus aber noch leer stund, mußte sie unverrichteter Sache weiterfahren. Selbstverständlich hatte es sich unser italienische Fürst nicht nehmen lassen, die königlichen Hoheiten rasch an Bord ihres Fahrzeuges zu besuchen. Dreimal umkreiste dasselbe unsere stolze „Auguste Viktoria“; dann richtete es seinen Kurs unter gegenseitigem Winken und Tücherwehen und Abschiedsrufen nach Süden. Als Nansen am 26. Juli 1896 nach dreijähriger Abwesenheit im Polareise auf Franz Josephsland zum erstenmal wieder mit Menschen zusammentraf, erfüllte ihn keine aus der Heimat eingehende Nachricht mit solchem Staunen, wie die Kunde von dem Touristenhotel, welches die Vesteraalen-Dampfergesellschaft auf Spitzbergen errichtet hatte. Es war auch wirklich eine ~fin de siècle~-That, in dem einsamen nordischen Inselreiche, das bisher nur von Walfischfängern und Nordpolfahrern berührt worden, ein Unterkunftshaus für Touristen zu schaffen, dasselbe während der zwei Sommermonate durch regelmäßigen zehntägigen Dampferverkehr mit dem norwegischen Festlande zu verbinden und sogar -- ein Postamt, natürlich mit Ansichtspostkarten, daselbst zu installieren. Kommandant des zwischen Spitzbergen und Hammerfest zirkulierenden Dampfers ist Otto Sverdrup, der berühmte Kapitän der „Fram“ Nansens; als Wirt auf Spitzbergen funktioniert jener Bernt Bentsen, welcher von Nansen seinerzeit noch in letzter Stunde vor Abfahrt der „Fram“ in Tromsoe für die Nordpolexpedition angeworben war. Sportsleute haben nun Gelegenheit, mit Retourbillet nach Spitzbergen zu fahren und nach Belieben einige Wochen in der Adventbay zu verweilen. Alles zur Meer- und Küstenjagd Notwendige steht dort zu ihrer Verfügung, und für 10 Kronen (zirka 14 Franken) per Tag finden sie in dem „Hotel“ reichliche und gute Verpflegung und Unterkunft. Wie schon gemeldet, war die Bude während unserer Anwesenheit noch geschlossen, da der Dampfer, welcher Wirt und Proviant und die ganze Installation bringen sollte, das blockierende Eis nicht zu durchdringen vermochte. Die Gesellschaft hat allen Grund, dies zu bedauern; denn die 350 Passagiere der „Auguste Viktoria“, von den durstigen Musikanten und Schiffsleuten nicht zu sprechen, hätten ihr eine reiche Einnahme gesichert. Einen Schoppen auf Spitzbergen hätte jeder getrunken und der Rarität halber wohl auch ein bißchen Walfischragout oder Ähnliches gekostet. Das kleine Hotel macht, aus der Nähe gesehen, einen ganz freundlichen Eindruck; es ist ein einstöckiges Holzhaus im Chaletstil mit geräumiger Veranda. An ein größeres Speisezimmer mit Wiener Sesseln reihen sich beidseitig kleine schmucklose Schlafräume an mit je 4-6 nach Art der Schiffskojen übereinander angebrachten Holzpritschen. Ein Miniatureckzimmerchen war, wie einzelne rudimentäre Utensilien erkennen ließen, Postoffice und „Schreibsalon“. Sogar ein halbvollendeter norwegischer Brief lag auf dem tintenbeklexten Löschpapier. Wir umstöberten das einsame Haus wie Einbrecher, probierten jede Klinke, suchten jeden Laden, dessen Jalousien dürftigen Einblick gewährte, zu öffnen, und einige junge Amerikaner erstiegen unter Führung des Schiffsposthalters sogar das Dach, von wo sie sich Eingang verschaffen konnten. Ihre Beute waren einige sehr leere Champagner- und Bierflaschen. Zum Schlusse postierten sich die 10 Mitglieder unserer Tischgesellschaft möglichst malerisch auf der Veranda und ließen sich, um ein bleibendes Andenken an den mehrwöchentlichen gemütlichen Verkehr auf der „Auguste Viktoria“ zu haben, photographieren. Der Zahlmeister des Schiffes -- gar nicht unser Freund -- hatte die Unverfrorenheit, sich uneingeladen der Gruppe auch einzuverleiben; wir rächten uns dadurch, daß wir beschlossen, den gutgenährten, etwas protzigen Herrn in Uniform auf unserm Bilde als -- Hotelportier zu deklarieren. [Illustration: Hotel Adventbay (Spitzbergen).] Die ganze Nacht -- sie war ja taghell, flogen die Dampfbarkassen zwischen Schiff und Küste hin und her. Immer wieder zog’s einen ans Land, um nochmals die Wunder der nordischen Blütenwelt aus der Nähe zu sehen oder noch irgend etwas Interessantes zu erleben oder zu erbeuten. Und an Bord herrschte die allerbeste Stimmung. Die sonnige Nacht war so lau, daß man ohne Überzieher auf Deck lustwandeln oder bequem ausgestreckt die wunderbare Szenerie genießen konnte. Mit überraschender Schärfe stachen die Konturen der Gebirge und Firnfelder gegen den blauen Himmel ab, und die auf der Uferlandschaft noch herumkrabbelnden Touristlein sah man in all’ ihren Bewegungen lächerlich deutlich. Der Kontrast zwischen der Eintagsfliege Mensch und den grandiosen Marksteinen der Ewigkeit ist mir kaum je so zum Bewußtsein gekommen. Zu Bett mochte niemand; das erhebende Gefühl, glücklich am Endziel der Fahrt angelangt zu sein, und eine Flut ganz neuer, ungeahnter Eindrücke verscheuchte allen Schlaf. Im Biersalon wurde -- ohne Respekt vor der Polizeistunde -- stramm konzertiert; nach Mitternacht zog’s auch uns solide Naturkneiper noch zu Pschorr und belegten Brötchen, und wir erwischten als Zugemüse gerade noch den geistreichen Berliner-Walzer: „Ist denn kein Stuhl da, Stuhl da, Stuhl da für meine Hulda, Hulda, Hulda?“, der von der ganzen fröhlichen Gesellschaft -- in allen Stimmlagen und Geschlechtern -- gleichviel ob leer der Mund oder proviantvoll -- mit der nötigen Inbrunst mitgesungen wurde. Endlich gab’s Ruhe und Frieden; der größte Teil der Menschheit schlief, unbekümmert um die nachtschwärmenden Ausnahmen, und erwachte erst, als andern Morgens in aller Frühe die Ankerkette rasselte und unser Meerriese wieder zu atmen und sich zu recken begann. ~X.~ Abfahrt aus der Adventbay. -- Polarnebel. -- Seekrankheit. -- Herrliche Einfahrt in den Fjord von Tromsoe. Der Morgen des 13. Juli war nicht von tadelloser Schönheit. Nebel und Wolken verhüllten den größern Teil der majestätischen Gebirgs- und Gletscherlandschaft; aber das Gewölk war in Bewegung und wer während der Ausfahrt aus dem Eisfjord auf Deck stund und rückwärts schaute, konnte abteilungsweise nochmals alle die Herrlichkeiten genießen, welche sich tags zuvor ihm eingeprägt hatten. Bald erschien ein imposanter schneebedeckter Gebirgsstock in der Wolkenlücke, bald ein sonnenglänzender Gletscher, dessen Ende nicht abzusehen war, bald ein grünender, schneefleckiger Abhang, und oft glaubte man, die Strahlen der Sonne müßten im nächsten Augenblicke den Schleier zerreißen, der über der nordischen Landschaft hing. Aber wenn eben die Konturen erscheinen wollten und man im Begriff war, das malerische Gesamtbild der Küste Spitzbergens nochmals in sich aufzunehmen, so verschwand es wieder in dem neckischen Naturspiel, und man mußte zufrieden sein, in irgend einem Teile des Gesichtsfeldes ein kleines Stück Welt zu erblicken. Je mehr wir uns dem offenen Meere näherten, desto dichter wurden Gewölk und Nebel; schließlich sah man kaum mehr zehn Schritte vorwärts; der Nachbar auf Deck erschien, auch wenn man fast Schulter an Schulter mit ihm stund, in ziemlicher Entfernung, und man konversierte wie Schwerhörige oder durch Hauslängen Getrennte. Vom Kapitän erging der Befehl, die wasserdichte Schotte zu schließen und die Rettungsboote klar zu machen. Dann ertönte jede Minute das schreckliche Getöse des Nebelhorns. Diese Maßregeln hatten für Nervöse und Zaghafte etwas Beunruhigendes; dem ruhig Überlegenden gaben sie ein Gefühl von Sicherheit. Immerhin mag da und dort einer die Querschotte zum Kuckuck gewünscht haben, wenn er -- vielleicht in sehr pressanten Geschäften -- von seiner Kabine aus eine kleine Exkursion unternehmen wollte und die altgewohnten Wege plötzlich durch eine eiserne Wand verrammelt sah. Langsam, langsam durchschnitt unser Schiff Nebel und Wellen; Kapitän und Lotsen verließen die Kommandobrücke nie, und auf jedem Auslugposten spähte ein Matrose in die graue Ungewißheit hinaus. Das Bewußtsein, möglicherweise in unmittelbarer Nähe der Yacht des italienischen Kronprinzen zu sein und sie gelegentlich anzurennen, mag wohl die Aufmerksamkeit und Vorsicht noch vermehrt haben. Nach 2 Uhr mußten wir auf der Höhe des Bellsund sein, in den wir einlaufen sollten. Das war nun allerdings in dem Nebel eine absolute Unmöglichkeit. Der Kapitän ließ anhalten; in fast lautloser Stille, welche nur das grauenhafte Heulen des Nebelhorns unterbrach, hob und senkte sich unser mächtiges Schiff auf der nebelbedeckten Flut und in gespannter Erwartung harrten wir des Momentes, wo der Nebel zerreißen und wir die Riesengletscher des Glockensundes erblicken könnten. Aber er kam nicht und nach 1½-stündigem Warten meldete ein Anschlag, „daß ein Anlaufen des Bellsundes leider unmöglich sei und die Fahrt nach Tromsoe fortgesetzt werden müsse.“ Dann begann wieder das rhythmische Geräusch der Maschinen; unser Schiff drehte nach Süden und wir schwenkten die Hüte und riefen dem naheliegenden, aber unsichtbaren Spitzbergen unser Lebewohl zu -- alle, trotz der Enttäuschung, in ganz vergnügter Stimmung, nach und nach sogar Professor B., der doch seine zweifellos schöne, für den Bellsund bestimmte Schützenfestrede nicht hatte ablassen können. Der Nebel wich nicht bis zum späten Abend, und wir fuhren nur mit halber Geschwindigkeit, die übrigens, um Kohlen zu sparen, bis Tromsoe beibehalten wurde, auch nachdem die Welt wieder durchsichtig geworden war. Auf Deck blieb noch alles vollzählig, während die Reihen an der Tafel bedenkliche Lücken aufwiesen. Das Drama, blaß und angstschweißtriefend mit zugehaltenem Munde plötzlich bei der besten Nummer des Menus vom Tische aufzustehen und -- von hundert mitleidlosen Augenpaaren verfolgt -- hinauszuwanken, mochten Vorsichtige nicht riskieren; wenn man zu spät kommt, ist’s für alle Beteiligten unangenehm. Aber auch unter den Tapfern, die mutig vor ihrem beladenen Teller saßen, gab’s einige Opfer, und ich sah k. k. höhere Staatsbeamte, deren sonst blühende Gesichtsfarbe wachsbleich geworden und deren Gangart beim plötzlichen Verlassen des Speisesaales von ihrer gewohnten Gravität auffallend eingebüßt hatte. Oben schimpften sie dann über das elende Sodawasser, mit dem sie sich gestern den Magen verdorben hätten. Probiert wurde wohl alles gegen die Seekrankheit: Fasten, wenig essen und trinken, viel essen und trinken (das zuletzt genannte Verfahren fand die meisten Liebhaber), Tropfen, Zeltli, Pulver, Cognac, Sekt etc., und eine Lady schützte sich gegen den gefürchteten Zustand durch das Aufsetzen einer -- dunkelroten Brille. Die Sache ist nicht so ganz widersinnig, als sie auf den ersten Blick aussieht. Der Ausgangspunkt der Krankheit ist das Gehirn, nicht der Magen, und es mag wohl sein, daß die Eintrittspforten des Gesichtsorganes dabei eine wichtige Rolle spielen. Wenigstens erleichtert das Schließen der Augen die Pein um etwas. Geistige Ablenkung thut auch gut; die Skater und Jasser brauchten keine „Brechschüsseln“, und eine Dame, die der Krankheit sehr unterworfen ist, erzählte mir, daß sie und ihr Mann vollständig gefeit die Fahrt über das sehr stürmische mittelländische Meer gemacht hätten, nachdem sie bei der Ausfahrt aus Alexandrien zu ihrem großen und nachhaltigen Schrecken die Thatsache entdeckt, daß ihnen eine Tasche mit 6000 Franken in Gold beim Einbooten gestohlen worden war. Unser Trio blieb vorläufig gesund -- meine Wenigkeit für alle Zeiten -- und nach Tisch musterte ich fröhlich rauchend die verschiedenen Situationen auf dem Promenadendeck. Wie zum Hohne spielte die Kapelle einen Straußwalzer: Wein, Weib und Gesang: „Was soll die Angst, was soll die Pein?“ Diese Reminiscenz an das letzte Konzert des Oratorien-Gesang-Vereins im neuen Saale des Hotels Bahnhof trieb dem Präses fast das Wasser in die Augen. Am heutigen Abend stieg nun allerdings jeder und jede sehr rasch in die Klappe; das Meer wurde recht unangenehm, und von Schlafen war nicht die Rede. Geächz rechts und links und gegenüber in den Kabinen, und noch prägnantere Geräusche bildeten die musikalische Unterhaltung. Mein ~Vis-à-vis~ -- ein strammer Rittmeister -- wurde als hülflose Jammergestalt von dem braven Steward zu Bett gebracht und mit wahrhaft mütterlicher Sorgfalt und Ratschlägen zugedeckt: „So jetzt legen Sie sich ’mal steif auf den Rücken, den Kopf tief und schließen Sie die Augen und schnaufen Sie, was das Zeug hält, und wenn’s was gibt, so ist hier gleich beim Kopfende ein Aschenbecher.“ Von dieser Form sind die blechernen Behälter, welche die vorsorgliche „Auguste Viktoria“ ihren Gästen bei zweifelhaften Zuständen empfangsbereit an das Schmerzenslager steckt. Na nu! Das Ding wird aber ungemütlich! Das hob sich und senkte sich und legte sich ein bißchen nach rechts und ein bißchen nach links, bald der Vorsteven höher, bald der Hintersteven, und hie und da hatte man die schwer zu beschreibende Empfindung, als ob alle Bewegungen auf einmal sich vollzögen und im Innern des Körpers die entsprechende spiralige Verkrümmung der Seele hervorriefen. Sogar meine hinter den Spiegel gesteckte Schweizerfahne verlor das Gleichgewicht und fiel nach Mitternacht mit Gepolter zu Boden. Frühzeitig und gerne verließ man seine Lagerstätte, an deren Holzwerk sich bald die rechten, bald die linken Rippen gescheuert hatten, und bestieg etwas gerädert das Deck, wo’s wenigstens herrlich frische Luft gab und das wiederholte Schauspiel spritzender Wale. Das Wetter hatte sich gebessert. Der Nebel war ganz gewichen; richtiger -- wir waren indessen in nebelfreie südlichere Breiten gekommen. Spitzbergen selbst mag noch länger in seinem undurchsichtigen und kalten Gewand gesteckt haben. Unsere Kapelle blies zu ungewohnter Stunde -- schon vor dem ersten Frühstück -- eine choralartige Melodie; darüber befragt, gab unser überaus höfliche und deshalb eine Antwort nie versagende Tischsteward die Auskunft, es sei heute deutscher Buß-, Dank- und Bettag. Unsere darauf eingestellte Stimmung geriet aber ins Wanken, sobald als Nr. 2 des musikalischen Programmes „die Holzauk’tschon im Grunewald“ ertönte, und der nie verlegene Kellner berichtigte dann sofort den Buß- und Bettag in das Geburtsfest Wanamakers, welchem die Kapelle ein Ständchen brachte, und das stimmte denn auch. Gegen Abend waren wir schon wieder im Bereich der norwegischen Schären und glitten ruhig und bei herrlichstem klarem Himmel durch die spiegelglatten Fluten, jeden Augenblick durch ein neues Landschaftsbild entzückt. Alles war wieder gesund und vergnügt. Wir schienen innert Tagesfrist in eine ganz andere Welt versetzt. Das Schauspiel der Mitternachtssonne erlebten wir hier in einer Pracht, wie es wohl Nordlandsfahrern selten so zu teil wird. Solche Farbengluten hatte ich nie zuvor gesehen, und wenn man im Übermaß des Entzückens das Allerschönste zu sehen und zu genießen glaubte, so brachte eine Wendung des Schiffes -- eine Biegung um eine Landzunge -- das vorher Unglaubliche -- eine nochmalige Steigerung der prachtvollen Szenerie. Die photographischen Apparate waren die ganze Nacht in Thätigkeit und einzelne Passagiergruppen ließen sich der Kuriosität halber beim Glanze der Mitternachtssonne abkonterfeien. Bis halb 3 Uhr saßen und stunden wir dann, ein weihevoll, ja dieser göttlichen Naturoffenbarung gegenüber fromm gestimmtes Volk, dicht gedrängt auf dem Vorderdeck und ließen die Wunder Gottes an uns vorüberziehen. Die nach Tromsoe leitenden Fjords zeigen saftig grüne Ufer am Fuße schnee- und gletschergekrönter, steilaufsteigender Berginseln; ab und zu erblickt man eine menschliche Niederlassung, eine kleine freundliche Kirche, umgeben von Fischerhütten. Trotz der vorgerückten Stunde war das Wasser sehr belebt. Malerische Segler, Fischerboote kreuzten, während die Insassen die Netze auswarfen. Einmal grüßten wir auch einen Walfischdampfer, und wo das Ufer bewohnt war, nahten sich kleine Kähne mit neugierigen Mädchen unserm langsam und ruhig dahingleitenden Riesen. -- Diese kleinen Fahrzeuge sind nach Art der Wikingerschiffe vorn und hinten hoch aufgebaut und gewähren, namentlich wenn bunt gekleidete Norwegerinnen am Ruder und Steuer sitzen, einen äußerst malerischen Anblick. Da ereignete es sich dann allerdings, daß die weihevolle Stille plötzlich durch lautes Zurufen und Grüßen unterbrochen wurde, und die freundlichen Wikingerinnen ließen mit Winken nicht nach, bis wir um eine Ecke ihrem Gesichtskreis entschwunden waren. Gegen halb 3 Uhr erfüllte ich die schwere Pflicht, die märchenhaft schöne Welt zu verlassen und mich für einige Stunden zu Bett zu legen. Aber das ging nicht leicht; kaum hatte ich einige Schritte in der Richtung meiner 80 Meter weiter zurückliegenden Kabine gethan, so wurden sie durch neue Ausrufe des Entzückens der staunenden Menge gehemmt, und ich _mußte_ mich immer wieder umdrehen und immer wieder nochmals beide Augen voll nehmen von der Pracht und Herrlichkeit. Endlich lag ich und -- schlief nicht, aber ruhte und zehrte an dem Bewußtsein, daß diese Einfahrt nach Tromsoe im Glanze der Mitternachtssonne und im Gegensatze zu der kurz vorher erlebten Polarnebelöde wohl das Schönste an der ganzen Reise sein und bleiben werde. Und doch gab’s noch weitere Steigerungen! ~XI.~ Ankunft in Tromsoe. -- Besuch im Lappenlager. -- Die Stadt Tromsoe. -- Küstenlappen. -- Musikabend an Bord. -- Spaziergang beim Schein der Mitternachtssonne. Gegen 8 Uhr fuhren wir in den eigentlichen Tromsoesund, welcher, zirka 500 Meter breit, die Insel mit der gleichnamigen Stadt von dem norwegischen Festlande trennt. Die Temperatur war eine so unerwartet hohe, sommerlich schwüle, daß sie einen schweißtriefenden Berliner Kommerzienrat zu dem Reime entflammte: „Gestern in Spitzbergen, Heute in Schwitzbergen“ Tromsoe ist eine Stadt von 6300 Einwohnern, mit lebhaftem Fisch-, Thran- und Pelzhandel; sie nimmt sich vom Sund her ganz stattlich aus. Die großen, der Fischereiindustrie dienenden Strandhäuser -- Magazine, Dörranstalten, Schiffswerften etc. -- stehen auf hohen Pfählen, die je nach Ebbe oder Flut mehr oder weniger im Wasser verschwinden. Man glaubt eine Pfahlbaustation vor sich zu haben. Aus dem Hauptstadtbilde, das im wesentlichen aus Holzhäusern besteht, springen einige Kirchen und als größere Bauten das neue Museum, das Gymnasium und ein Lehrerseminar in die Augen. Der Abhang des Berges, an dessen Fuß Tromsoe liegt, ist teilweise mit Birken und Ebereschen bewachsen und in den größern Lichtungen des Dünen-Waldes liegen recht hübsche Villen mit gaisblattumrankten Altanen; zu oberst auf dem Berge ist der Abend-Korso von ganz Tromsoe -- ein Vergnügungsgarten, in welchem nur alkoholfreie Getränke zu haben sind. Der würde bei uns leer stehen; in Norwegen aber bildet er den Mittelpunkt einer fröhlichen und -- wie man mir sagte -- niemals ins Rohe ausartenden Geselligkeit. Sehr interessant ist das Leben im _Hafen_ von Tromsoe; dort liegen außer Frachtdampfern und Seglern verschiedener Nationen namentlich auch die für den Fang von Walrossen, Robben und Walfischen ausgerüsteten Jagdschiffe. Mitten im Sund ankerte die weißglänzende Yacht des Fürsten von Monaco, die wohl mit dem Ertrag des prunkvollen Elendes in Monte Carlo erbaut und unterhalten wurde. Von unserm Schiffe aus bemerkten wir während der Einfahrt ein äußerst bewegtes Leben auf dem weithin sichtbaren Hauptplatze der Stadt -- eine bunte Volksmenge, welche mit Fahnen und Blechmusik sich vorwärts schob. Wir vermuteten eine kirchliche Prozession; es handelte sich aber, wie wir nachher erfuhren -- um ein Schützenfest. Also auch hier wie bei uns. Unter den Klängen der norwegischen Hymne und Grüßen vom Strande zum Deck und umgekehrt fiel der Anker. Der erste, der nun in Funktion trat, war unser wackerer Postmeister. Die in Tromsoe auf uns wartenden Postsendungen wurden an Bord geschafft und im Konversationssaal zu Händen ihrer Adressaten unter die Stewards verteilt -- bei sorgfältig verschlossenen Thüren, um die ungeduldig harrenden und andrängenden briefgierigen Passagiere fernzuhalten. Vierzehn Tage waren wir nun ohne Nachrichten aus der Heimat, wenn auch nicht ohne alle Kunde von der Welt; denn an jeder Haltestation, wo Telegraph und Zeitungen sich fanden, wurde von einem Vertreter der Hapag in englischer und deutscher Sprache ein Extrakt der wichtigsten Weltereignisse angefertigt und jeweils am „schwarzen Brette“ unseres Schiffes angeschlagen, wo’s dann nachher zirka eine Stunde lang her- und zuging wie auf einer Börse. Das allgemeine Programm für den heutigen Tag lautete: Vormittags Sehenswürdigkeiten in Tromsoe, nachmittags Besuch des Lappenlagers in Tromsdal auf dem gegenüberliegenden Festlande. Wir drei machten die Sache in umgekehrter Reihenfolge, um dem Gedränge zu entgehen und ungestört beobachten und genießen zu können. Während die Dampfbarkassen Gruppe um Gruppe nach Westen ans Land führten, suchte ich mir unter den unser Schiff umkreisenden norwegischen und lappischen Booten ein passendes heraus, dem ich die Leiber von drei Eidgenossen anvertrauen durfte. Es war ein wetterharter, muskelstarker Frithjof, der uns auf kleinem Nachen ostwärts über den Sund ruderte. Wir benützten die stille Ueberfahrt, um ungestört durch das nahe Getriebe der Welt die eingegangenen Briefe zu lesen, ersehnte Nachrichten aus der Heimat, gottlob von allen Seiten nur Gutes. Das hob unsere Reisestimmung. Nach halbstündiger Fahrt erreichten wir Storstennaes (Naes = Nase, eine in Norwegen immer wiederkehrende Ortsbezeichnung für auf Landzungen gelegene Ortschaften), wo einige Bauernhöfe und auch ein kleines Gasthaus den Eingang in das grüne Romsdal hüten. Ein breiter Fußweg führt durch Wiesen und dann durch einen lichten Wald von 3-5 Meter hohen Birken sanft aufsteigend thalaufwärts, während in der Tiefe ein rauschender Strom dem Fjorde zueilt. Die Luft war heiß und schwül und zahllose Mücken peinigten die Wanderer, fast wie in tropischem Lande; hie und da war auch ein den Pfad kreuzender Bergbach zu durchwaten. Aber was focht uns das alles an? Rechts und links vom Wege duftete es wunderbar -- reizende Waldblumen in allen Farben; gradaus fiel der Blick auf den unten lichtgrünen, oben schneebedeckten Tromsdalstind, der das Thal gegen Osten abschließt, rückwärts glänzte der blaue Fjord und seitwärts in der Tiefe schäumte ein ungestümes, breites Schneewasser. Ab und zu begegneten wir bereits einigen Lappen, die mit selbstverfertigten Artikeln zu Markte zogen, in Rentierfelle oder blaue Kittel gekleidet, schmutzig und unsagbar duftig, jeder, wie der Erdball, mit und in seiner eigenen Atmosphäre kreisend. Wehe dem, der sie kreuzte! Aber die Gesichtsbildung fanden wir durchaus nicht häßlich, wie man sie sonst schildert, weder beim weiblichen noch beim männlichen Geschlechte, und wenn wir einen Jungen oder Alten mit unserm stereotypen Gruß: „Grüetzi Lappi“ anredeten, ging sogar etwas recht Freundliches, fast Anmutiges über seine Züge. Nach ¾stündigem Marsche und einigen schließlichen Seufzern über Hitze und Schnacken hatten wir das Ziel erreicht und befanden uns inmitten des Lappenlagers, einer zerstreuten Gruppe von Stein- und Lehmhütten; auch einige durch Birkenstämme gestützte Leinwandzelte liegen dazwischen, bevölkert durch Lappen aller Lebensalter und durch Ziegen, Kühe und Hunde, welche in friedlichem Durcheinander sich in die herrlich grünen, aber stellenweise morastigen Rasenplätze teilten. Die Lappen im Norden Schwedens, Norwegens und Rußlands -- deren Zahl sich gegenwärtig auf 30,000 beläuft -- sind der letzte Ueberrest des großen Stammes, der einst ganz Skandinavien beherrschte. Nach einem Grenzvertrag vom Jahre 1751 haben die schwedischen Lappen das Recht, mit ihren Rentieren im Sommer nach der norwegischen Meeresküste zu ziehen und dort zu weiden, wogegen den norwegischen Lappen und ihren Herden im Winter das waldigere, geschütztere schwedische Land offen steht. Zur Zeit sind es nur noch gegen 2000 der in Skandinavien lebenden Lappen, welche nomadisieren, während die übrigen, also die Mehrzahl, sich im Laufe der letzten Jahrhunderte wesentlich unter dem Einflusse der auch nach Norden drängenden seßhaften Norweger als Fischer und Handwerker in schmutzigen Hütten angesiedelt hat, ohne aber ihre ethnographischen Eigentümlichkeiten einzubüßen. Der einzige Reichtum der nomadisierenden Lappen besteht in ihren Rentierherden; vom Rentier entnehmen sie alles, was sie zu ihrer Nahrung und Kleidung bedürfen. Aber für den Unterhalt einer einzigen Familie ist eine beträchtliche Zahl notwendig; wer nicht mehr als 100 Tiere besitzt, muß sich schon einem größeren Besitzer anschließen, zu welchem er dann in ein Dienstverhältnis tritt. Das von uns besuchte Lappenlager zählt zirka 10 associerte Familien, zu welchen Rentierherden von insgesamt 3000 Stück gehören. [Illustration: Lappen.] Während aber ein paar milchliefernde Kühe und Ziegen getreulich im Lager bleiben, streifen die Rentiere stundenweit über Berge und Schneefelder und müssen im Bedürfnisfalle oder für die Weiterwanderung erst mit Hülfe der zahlreich vorhandenen langhaarigen kleinen Wolfshunde mühsam aufgesucht und zusammengetrieben werden. So auch heute, wo die Touristenfirma Beyer durch eine Extraauslage von 50 Mark auf nachmittags 4 Uhr einige hundert Rentiere durch die lappischen Besitzer ins Lager schaffen ließ, um den auf jenen Zeitpunkt beorderten Passagieren der „Auguste Viktoria“ ein möglichst buntes und lebendiges Bild darbieten zu können. Wir näherten uns den kegelförmigen Stein- und Lehmhütten (Gammen genannt), aus welchen ein bläuliches Räuchlein zum Himmel stieg. Alsbald kamen ihre Insassen uns entgegengelaufen, die Hände voll Verkaufsgegenstände verschiedenster Art, alle aber vom Rentier stammend: Felle, Geweihe; Löffel, Messer, aus Knochen und Gehörn gearbeitet und mit naiver Kunst verziert; bunte Puppen aus Fellen und Läppchen von so greulichem Geruch, daß man sie gerne und hastig wieder zurückgab, wenn nach dem ersten Ausruf des Entzückens die Nase in Funktion getreten war. Mit Todesverachtung betraten wir durch Morast und eine nicht zu schildernde Atmosphäre verschiedene der originellen Wohnstätten; sie sind aus Steinen, Lehm und Rasenstücken in flacher Kegelform erbaut und einige rohe Balken geben dem losen Gefüge den nötigen Halt. Auf der holperigen und grünenden Steinbedachung lagern und weiden die Ziegen; ab und zu sonnt sich Körper an Körper mit ihnen auch ein Hund. Im Zeltinnern hängt in der Mitte ein großer Kochtopf an einer Kette über dem am Boden glimmenden Holzfeuer; der Rauch zieht durch eine Oeffnung an der Spitze des Daches hinaus; durch eben dieselbe dringen Licht und Regen hinein und vielleicht auch ein bißchen Luft -- wenig genug allerdings; wir hielten es höchstens eine halbe Minute nacheinander aus in der brodelnden Brühe, die dort Atmungsluft heißt, und rannten mehrmals mitten aus der Gestenkonversation durch das als Thüre funktionierende Schlupfloch wie von Furien verfolgt ins Freie, um nach ein paar gesunden Atemzügen wieder rückwärts zu kriechen und den Kampf aufs neue aufzunehmen. Wer uns von draußen her aus der Entfernung beobachtet hätte, wäre jedenfalls über unser Thun und Treiben nicht sofort klug geworden. -- Um die Feuerstelle sind im Kreise die Lagerstätten aus Rentierfellen angebracht und darauf kauerten, trotz der entsetzlichen Hitze vom Kopf bis zu den Füßen in Felle und warme Tücher verpackt, Frauen und Kinder, letztere von allen Altersstufen und abgesehen vom Lappenduft ganz nette Geschöpfe, welche Geschenke -- Eßwaren vom Schiff -- zuerst mißtrauisch und zögernd entgegennahmen, dann aber auf Geheiß der Mutter recht brav dafür dankten und sittsam sie zu verzehren begannen. -- Das vornehmste Hausrecht haben die Hunde; sie lagern überall -- zu Dutzenden, im und um das Zelt, meist ruhend, aber mit ihren klugen Augen die Fremdlinge verfolgend. Angeknurrt haben sie uns gar nicht; aber als im zuführenden Wege ein Stadthund auftauchte, da ging die ganze Meute mit Gebelfer über den Aristokraten her, so daß er heulend mit eingezogenem Schweife und nur ab und zu ängstlich nach seinen Verfolgern schielend Tromsoe zurannte. Der Hund ist der älteste Freund der Lappen; er ist das einzige Tier, das mit einem echt lappischen Wort (Baednagg) bezeichnet wird, während die Namen aller andern Haustiere germanischen und finnischen Ursprunges sind. Daraus hat man geschlossen, daß die Lappen erst in historischer Zeit aus ausschließlichen Jägern Nomaden geworden sind und also auch erst dann das Rentier -- bis dahin nur Jagdwild -- gezähmt haben. Der Gestalt und Größe nach steht der lappische Hund zwischen Spitz- und Wolfshund; es giebt deren rot-, gelb- und schwarzhaarige; sie sehen alle sehr intelligent aus, und ihre Treue ist sprichwörtlich. Den auffälligsten Gegenstand unter dem Inventar der Lappenhütten bildet die Kinderwiege. Sie ist aus einem Holzstamm ausgehöhlt, und zwar so, daß das Kopfende durch ein kleines Vordach geschützt bleibt, mit Rentierleder ausgeschlagen und mit getrocknetem Moos ausgepolstert. So hängt sie mit ihrem kleinen Einwohner an einem knorrigen Ast im Zeltinnern oder wird von der Mutter durch ein Band am Leibe getragen. -- Von andern Dingen erregten unsere Aufmerksamkeit bunt bemalte und originell verschlossene Holzkistchen zur Aufbewahrung von allerlei Gebrauchsgegenständen und, wie diese, ebenfalls von den Lappen selbst verfertigt; auch das Eßgeschirr, besonders metallene runde Löffel nach Art der alten Apostellöffel. Verkauft hätten die Leute alles -- sogar die Wiege; um ein Zehntel des verlangten Preises machen sie ja wieder zwei neue. Ohne Schmerz verließen wir das fremdartige Zelt-, eigentlich richtiger Höhlenlager, nachdem wir uns im unglaublichsten Kauderwelsch von der kulturarmen, aber gewiß ganz zufriedenen Gesellschaft verabschiedet hatten. -- Derselbe blumenreiche, lichte Waldweg führte uns in einer halben Stunde wieder zum Fjord zurück, wo unser Kahnführer in derselben Stellung unser harrte, wie wir ihn zwei Stunden zuvor verlassen hatten. Verfolgt von Möven und begleitet von großen über die glänzende Wasserfläche schnellenden Fischen glitten wir nach unserm Schiffe zurück, um uns an dessen Tafel für die Arbeit des Nachmittags zu stärken. An Bord promenierte unterdessen halb Tromsoe; familienweise waren die großen Kaufleute der Stadt hergekommen, um mit Erlaubnis des Kapitäns den stolzen Bau zu sehen. Da entzückten uns die prächtigen norwegischen Kindergestalten. Speziell bildete ein zehnjähriger Junge mit seinen zwei kleinern Schwesterchen den Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit -- alle drei blauäugig und flachshaarig und von seltenem Liebreiz, daneben das Bild naturwüchsiger Kraft und Gesundheit. In der großen blonden Mutter, welche die Kinder führte, kämpfte der mütterliche Stolz mit dem Unbehagen über die gar zu übertriebene Liebenswürdigkeit, mit der die Fremden sich an ihre Kleinen heranmachten, und als photographierende Amerikanerinnen sie kurzer Hand auf die Seite nahmen, als Gruppe aufstellten und der Reihe nach mit ihren Momentapparaten beschossen, wurde ihr die Sache zu bunt; sie rief ihr unten harrendes vornehmes Privatboot, beförderte ihren lebendigen Schatz hinein und gab sich offenbar auf der Rückfahrt Mühe, das bißchen Eitelkeit, das sich allenfalls auf die kindlichen Herzen hatte lagern wollen, mit sorgsamer und liebevoller Hand abzuwischen. Nachmittags fuhr das Gros der Schiffsgesellschaft zu den Lappen, während wir die Stadt Tromsoe besuchten. Schön ist ihr Inneres kaum zu nennen. Eine außerordentlich breite, nicht gepflasterte, aber mit Trottoirs versehene Straße durchzieht parallel der Küste den langgestreckten Ort; die Häuser sind niedrige Holzbauten ohne irgend welches künstlerische Charakteristikum; vor jeder Hausthüre führt eine primitive Holztreppe auf das Niveau des Trottoirs; aber _ein_ Schmuck fehlt kaum irgendwo, und das sind herrliche Blumen, namentlich auch Rosen von besonders schönen Farben, hinter den mit saubern Gardinen verhängten Fenstern. Auch ein musikalischer Genuß wurde uns zu teil; fünf Bettelmusikanten spielten erschütternd das „Ach, wie ist’s möglich dann!“ und als wir zusahen, waren es Rheinpfälzer, die mit ihrem Blech durch ganz Norwegen sich durchbettelten und erst in Vadsoe, nördlich von Hammerfest, ihren Fuß wieder südwärts zu wenden gedachten. Zweck der Reise? „Sich ein bißchen die Welt anzusehen.“ Und wie steht’s mit den Einnahmen? „Schlecht genug; die Norweger haben kein Geld, weil dieses Jahr der Fischfang wenig abgeworfen hat; aber man ißt sich so durch.“ Wo immer wir im Verlaufe des Nachmittags in einer Straße auftauchten, stießen wir auf die unglückliche lufterschütternde Musikbande, deren Leistungen die Qualität ihres vaterländischen Tabakes nur um ein Geringes überragten. Sehr lebhaft war das Leben und Treiben auf Tromsoes Straßen und Gassen an jenem Nachmittag nicht gerade. Nur Kinder begegneten uns in großer Zahl und darunter viele, die mit ihrem reichen hellblonden Haarschmuck und den klarblauen Augen prächtige Modelle für „Frithjof und Ingeborg in der Jugend“ gewesen wären. An dem bescheidenen Schaufenster einer Buchhandlung fanden wir neben norwegischen Originalwerken von den modernen ausländischen Autoren Sudermann und Dostojewski in die Landessprache übersetzt -- kein schlechtes Zeugnis für den litterarischen Geschmack des nordischen Volkes. Daneben prangte aber auch ein Dreyfus-Bildebog (Bilderbuch); also bis gegen das Nordkap hatte der schändliche Lügenprozeß seine Wellen geworfen. Die zu vielen Häusern gehörigen kleinen Gärten sind meist sehr unordentlich gehalten und von Unkraut überwuchert. Auffallend ist das überall gepflegte Bärenklauenkraut (~Heracleum sibiricum~), das, 3 Meter hoch und mit 80 Centimeter messenden Dolden, üppig gedeiht und abgebrüht als Futter Verwendung findet. Das Interessanteste in den Straßen Tromsoes sind seine Kaufläden; da ist alles, was die arktische Zone erzeugt, in reichen Exemplaren ausgestellt, meist vor den Häusern, um die Aufmerksamkeit der Fremden direkt zu erregen: Felle aller Arten, unter denen einige Eisbären durch ihre ganz außerordentliche Größe und diejenigen der Polarfüchse durch ihre eis- und dunkelblaue weiche Farbe auffallen; dann Walroßzähne und -Schädel, Elch- und Rentiergeweihe, Walfischohren, Kieferfortsätze -- bis zwei Meter lange -- des Schwertfisches (mit welchen das Tier in der Wut Schiffsplanken wie Walfischleiber anzubohren imstande ist); dann seltene Petrefakten und Edelsteine, Lappenartikel, -- Holzschnitzereien, nationale Silber- und Filigranarbeiten und hundert andere Dinge. Zahlreiche kostbare Felle und Geweihe, die in keiner Kabine Platz fanden, wanderten auf unser Schiff; im Zwischendeck sah es nachher aus wie in einem naturhistorischen Museum. Leider versäumte ich es, in Tromsoe allerlei einzukaufen, weil mir verschiedene Schiffsangestellte versicherten, in Bergen, der norwegischen Schlußstation unserer Reise, sei bei der Reisefirma Beyer alles und jedes in größerer Auswahl und bester Qualität zu haben, und so könne man sich die Mühe des Mitschleppens ersparen. Das war ein Leim (vielleicht ein durch den mitreisenden Agenten Beyers gekochter), vor dem ich spätere Nordlandfahrer warnen möchte. Die lappischen und arktischen Artikel sind nirgends in solcher Auswahl zu finden wie in Tromsoe, auch nirgends billiger (billig ist überhaupt nichts in Norwegen); einiges, das ich gar nicht missen wollte, konnte ich südwärts durchaus nicht mehr auftreiben und mußte es nun mit größeren Unkosten von Tromsoe nachkommen lassen. Von den drei Kirchen der Stadt sind zwei lutherisch und eine katholisch, alles einfache Holzbauten, die auch im Innern nichts Besonderes bieten; Altäre und Stationen der letztern sind schmuck- und geschmackloser als bei uns in mancher kleinen Dorfkirche. Gegen Abend wurden Straßen und Hauptplätze etwas belebter; natürlich fehlten auch hier die Radler nicht, so wenig als die Hunde, welche sie mit Gebell verfolgten. -- Den Rückweg zur Landungsbrücke suchten wir durch die kleinen und schmutzigen Gassen, welche von Fischer- und Strandlappenwohnungen begrenzt unten am Sunde liegen. Durch eine schreckliche Fisch- und Thranatmosphäre unter sorgfältiger Vermeidung des ärgsten Bodenmorastes turnten wir vorwärts, guckten hinein, wo irgend eine Thür- oder Fensteröffnung dazu einlud, krabbelten heimelige Hauskatzen von ganz ungewöhnlicher Größe in ihrem dicken Balge, was mit schnurrendem Wohlbehagen und mit sofortiger Positur in Rückenlage entgegengenommen wurde, und versuchten auch wohl, uns durch Zeichen und allerlei sprachliche Kühnheiten mit den Eingeborenen zu unterhalten. Die Häuschen dieser Quartiere sind klein und schmutzig, oft ganz baufällig, die Dächer meist mit Erde gedeckt, auf welcher fröhlich allerlei Grün gedeiht. Nirgends fehlt eine angelegte Notleiter für den Fall einer Feuersbrunst. Derartige Katastrophen treten in Tromsoe, wie in all’ den norwegischen Städten, sehr häufig auf und nehmen meist große Ausdehnung an. An allen Straßenecken sind deshalb elektrische Feueralarmapparate angebracht. Seit der Einführung der elektrischen Beleuchtung, welche in Norwegen wie kaum in einem andern Lande verbreitet ist, mag aber die Zahl der Feuersbrünste abgenommen haben. Am Landungsstege, wo wir eine halbe Stunde auf unser Boot warten mußten, sahen wir unter der bunten versammelten Menge nochmals zahlreiche Vertreter des Lappenstammes, und zwar jener Sorte, die den Namen Fischer- oder Küstenlappen trägt (im Gegensatze zu den nomadisierenden Berg- oder Rentierlappen); sie haben im Laufe der Jahrhunderte, durch die Macht der Notwendigkeit gezwungen, ihr Hirtenwanderleben gegen andere Berufsarten vertauscht und sind ansäßig geworden. Aber trotz der unausgesetzten Berührung mit der Kultur blieb ihre Originalität in Kleidung, Sitten und Gewohnheiten, wie auch im Körperbau vollständig erhalten. Daß sie auffallend dünne, kurze und krumme Beine und sehr starke, muskulöse Arme haben, führte s. Z. Bastian in einer etwas gewagten Hypothese auf Vererbung dieser durch das beständige Sitzen und Rudern erworbenen anatomischen Eigenschaften zurück. Aber die Rentierlappen, die nie fischten und ruderten, sind ganz gleich gebaut. Wie oben erwähnt, ist der Gegensatz zwischen Norwegern und Lappen, auch denjenigen, die nun seit einem Jahrhundert dort seßhaft sind, ein ganz außerordentlicher, und man sieht auf den ersten Blick, daß man zwei ganz verschiedene Rassen vor sich hat, die sich nicht vermischen. Inmitten der hohen norwegischen Kultur machen diese Naturmenschen den Eindruck eines Überbleibsels aus vorhistorischer Zeit. Gelernt haben sie aber von ihrer Umgebung wenigstens das Handeln und Überfordern. Wir wurden förmlich belagert von Männern, Frauen und Kindern, die uns selbstverfertigte Dinge anboten, und da ihr Seelenduft sehr an die Gammen in Tromsdal erinnerte, setzten wir Wert darauf, sie uns stets auf einige Meter Distanz vom Leibe zu halten. Ihre Kleidung, auch wenn sie zerfetzt und abgetragen ist, hat etwas Malerisches. Aus dem Kopfe tragen die Frauen eine grell gefärbte blaue oder rote, unter dem Kinn gebundene Kappe und um den Oberkörper ein rot karriertes Umschlagstuch. Das Hauptbekleidungsstück für Mann und Frau bildet ein Rock aus Rentierfell, der durch einen mit Silberschnallen gezierten Gürtel befestigt wird; die Beine sind mit bunten Lappen eingewickelt und die Füße tragen mit roter Schleife am Gelenke befestigt, Rentierleder- oder Pelzschuhe. Mit welchem Behagen kehrten wir in die sauberen und komfortablen Räume unseres Schiffes zurück und atmeten die herrliche reine Seeluft! -- Da kamen sie eben auch von der andern Seite angeschwommen, die über 300 Besucher des Lappenlagers, schweißtriefend, pustend, von Mücken zerstochen und mit Raritäten beladen, und bei Tische erzählte man sich unter Lachen und vielleicht ein bißchen Aufschneiden die gegenseitigen Erlebnisse. Einen schönen Abschluß des Tages bildete der Besuch einer jungen Künstlerin aus Tromsoe an Bord, welche mit ganz wunderbarer Stimme und mit spezifisch nordischer (aber nicht arktischer) Auffassung einige Schumann’sche Lieder sang und eine kleine andächtige Gemeinde durch ihr musikalisches Können entzückte. Die Stimme besaß jene seltene Klangfarbe, die in jedem gesungenen Ton und sogar im gesprochenen Worte so eigentümlich ergreifend zum Herzen spricht, daß man unausgesetzt mit innerer Rührung zu kämpfen hat. Als Gegenmittel stieg dann zum ~x~ten (aber noch nicht letzten) Male der „holde Abendstern“ mit sehr viel subjektivem und objektivem Gefühle aus dem Munde eines mitreisenden jungen Barden zum Himmel. Von Abends 9 Uhr an konzertierte unsere Schiffskapelle, wie zweibeinige, mit Blaustift improvisierte Plakate nachmittags durch die Straßen eilend verkündigt hatten, gegen ein Entree von 1 Krone im „Grand Hotel“ in Tromsoe. Das ließ uns kalt; wohl aber zog es mich nach 11 Uhr nachts nochmals mit Macht nach dem nordischen Städtchen, aus welchem fröhliches Leben über den Sund zu uns herübertönte. Vorbei an dem dicht vollgepfropften Konzerthotel, durch dessen geöffnete Fenster wir die bekannten Gesichter unserer braven Schiffsmusikanten blasend, geigend und schweißtriefend wie ein lebendiges Genrebild erblickten, wanderten Professor B. und ich in die Lichtfülle der polaren Mitternacht. Auf den Straßen tummelten sich kleine Kinder mit Ball und Reif noch scharenweise. Wann schlafen denn diese Tromsöer überhaupt? Bald hatten wir das Weichbild der Stadt hinter uns und folgten dem Ufer des Fjord, einer Starkstromleitung entlang. In herrlichen Farben lag die Meereslandschaft vor uns; kein Lärm störte mehr den erhabenen Genuß; nur aus dem offenen Fenster einer in der Höhe gelegenen Villa trug uns ein leichter Wind die Klavierklänge des Ständchens aus Don Juan zu. Schwarze Wikingerböte, welche die Phantasie und unser Gespräch um tausend Jahre zurückversetzten, lagen in kleinen malerischen Buchten vor Anker oder wiegten sich träumerisch zwischen dem Pfahlwerk einer Fischerhütte. Gerade vor Mitternacht trat die Sonne, die eine Stunde hinter dem Berge sich verborgen hatte, zum Vorschein und legte flüssiges Gold auf Wasser und Land. Damit schlossen unsere Tromsöer-Erlebnisse. Vorbei an den originellen Kaufläden, wo Auguste-Viktoria-Leute auch nach Mitternacht noch um Bärenfelle feilschten, stiegen wir -- nochmals durch Lappen und norwegische Fischerleute -- zur Landungsbrücke und ließen uns, durch die Schönheit der Welt stumm geworden, zu unserm Schiffe zurückfahren. Von 2½ Uhr an erst wurde das Schlummergeschäft besorgt, bis 5 Stunden später die Schiffskapelle uns mit „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu herrlichem Sonntagsmorgen weckte. ~XII.~ Nach Süden. -- Lofoten. -- Digermulen. -- ~Pro patria.~ -- Besteigung des Digermulenkollen. -- Boot in Gefahr. -- Kranker in einsamer Fischerhütte. -- Der schwermütige Schimmel. -- Abfahrt von Digermulen. -- Einladungstelegramm von Kaiser Wilhelm. Im Tromsoesund herrscht eine starke Strömung, die je nach Ebbe und Flut nord- oder südwärts flutet. Begünstigt durch die letztere eilte unser Kiel nach Süden und erreichte nach einer Stunde den Malangerfjord. Links ragt der gewaltige Bensjordtind mit seinen Schneefeldern zum Himmel, rechter Hand liegt das große Eiland Kralö, auf welchem eine besonders wilde, schneebedeckte Felswand in die Augen fällt, der Lille Bramand. Nach Mittag erreichten wir das offene Meer und genossen nun die herrliche Fahrt längs der Vesteraalen und Lofoten. Letztere sind eine Inselkette, welche sich in weitem Bogen fast parallel dem Festlande 150 Kilometer weit nach Süden erstreckt. Die Inseln werden südwärts immer kleiner und endigen schließlich mit einigen unbewohnbaren Klippen. Die ganze lange Kette ist ein Gewirr von Höhen, Tiefen und Sunden; die Berge haben alpine Formen und steigen meist direkt aus der blauen Meeresflut auf, oder aber sie erheben sich auf freundlichem Gelände. So weit die kraterähnlichen Spitzen nicht mit Schnee bedeckt sind, erscheinen sie mit grünem Moos bekleidet, das weithin leuchtet und zu dem blendend weißen Schnee einen herrlichen Kontrast bildet. Aber auch kahle, graue Felspartien liegen dazwischen. Ueberall öffnen sich Häfen; neben den mehreren tausend Fuß hohen, sie begrenzenden Felswänden erscheinen die dort ankernden Dampfer wie Nußschalen. Die Lofoten sind das Dorado und die Sammelstation der Fischer vom Norden und Westen Norwegens. Mitte Januar bis Mitte April sind ihrer über 30,000 dort beisammen mit zirka 8000 Booten, um den Dorsch zu fangen. Die Ausbeute beträgt bis 40 Millionen Stück, 5-6000 per Boot. Der Dorsch, der für gewöhnlich die Tiefen des atlantischen Ozeans bewohnt, bildet zur Laichzeit ungeheure, bewegungslose Schichten am Ufer, wo er so zu sagen einfach ausgeschöpft werden kann, und auf den großen Bänken, welche in einer Tiefe von 50-200 Meter bei den Lofoten liegen. Dort geschieht der Fang mit Netzen und langen Leinen, an welchen Angelschnüre befestigt sind. Am Lande werden die gefangenen Fische gespalten, auf den Felsen ausgebreitet oder auf Holzgestellen aufgehängt und an der Luft getrocknet, um dann später als Fracht, die genau wie Holzscheiter aussieht, nach Bergen zu wandern. Obschon es schwer hält, die große Menschenmenge, das Heer der Fischer, am Land unterzubringen und oftmals ein unheimliches Gedränge herrscht, soll doch Alles in Ruhe und Frieden vor sich gehen, und zwar deshalb, weil das früher beliebte Branntweintrinken durch strenge Gesetze unmöglich gemacht ist. Wenn ein plötzlicher Weststurm eintritt und die Rückkehr der Fischerboote nach den Lofoten ein Ding der Unmöglichkeit wird, dann sind die Insaßen gezwungen, über den breiten Vestfjord nach dem Festlande zu fahren und dort sich zu bergen. Dabei ereignen sich alljährlich schwere Unglücksfälle. Viele Boote kentern, und da gilt es dann, die am Kiel angebrachten Griffe (Stropper) zu erwischen und sich daran festzuhalten. Oder aber, wo die Griffe fehlen, klammert sich der Schiffbrüchige an sein großes ins Kielholz geschlagenes Messer. Bei den später ans Land getriebenen gekenterten Booten melden die im Kiel steckenden Messer dann in trauriger Weise die ungefähre Zahl der Verunglückten. Während der Fahrt längs der malerischen Lofoteninseln saß ich längere Zeit an einsamer aussichtsreicher Stelle des Hauptdeckes mit dem einen unserer norwegischen Lotsen beisammen, der dort behaglich seine Pfeife rauchte und unterhielt mich mit ihm über die Nordpolfahrt Nansens. Mit größter Begeisterung sprach er in erster Linie von Sverdrup, dem Führer der Fram, während Nansen erst in zweiter Linie kam. „Und was glauben Sie über das Schicksal Andrees?“ fragte ich den alten Seemann. „„O, der ist längst alle!““ meinte er mit entsprechender Geste und reduzierte dadurch und durch die einläßliche Begründung seiner Ansicht meine stets noch genährte Hoffnung auf die Wiederkehr des kühnen Ballonhelden um viele Grade. Um Mitternacht nahm unsere liebe Sonne ein Fußbad im Meere, d. h. sie tauchte den tiefsten Teil ihrer goldenen Scheibe unter den Horizont und begann -- als ob sie sich plötzlich eines besseren besonnen -- wieder zu steigen; der neue Tag war angebrochen, und zum letzten Male hatte uns die Mitternachtsstunde das Sonnengestirn gezeigt. Unser Schiff begann nach Osten zu drehen und erreichte, einem Ausläufer des Polarstromes, dem die Fischerboote oft gefährdenden berüchtigten Malström folgend, den mächtigen Vestfjord, wo es, nun auf der Ostseite der Lofoten, seinen Kurs nordwärts nahm. Es war ein wunderschöner Morgen, als wir _Digermulen_, die kleine, auf der Insel Hindö gelegene Dampferstation, vor uns liegen sahen. Felsige Eilande mit sprießendem Grün scheinen die Einfahrt zu wehren; rechts und links steigen senkrechte Felswände mit schneegefüllten Schluchten in die Höhe. Ein originelles Gepräge erhält aber die Landschaft hauptsächlich durch den Digermulkollen, einen zirka 1300 Fuß hohen breit abgerundeten Kegel, an dessen Fuß die paar Häuser der kleinen Station reizend ins Grüne gelagert sind. Nachdem wir unter den Klängen des Preußenmarsches -- ich höre ihn stets mit unbehaglicher Empfindung, weil mir die Melodie des „Heil dir im Siegeskranz“ (also auch unsere Nationalmelodie) in unerlaubter Weise darin verwurstet scheint -- unser Schiff verankert, wiederholten sich die längst bekannten Szenen des blitzschnellen Klarmachens unserer Barkassen (sie schwammen, bevor der Anker festsaß) und des Gedränges nach diesen Beförderungsmitteln. Das entwickelte sich aber stets in bester Ordnung; oben auf der Schiffstreppe stund ein Schiffsoffizier, und wenn die erlaubte Zahl eingestiegen war, so hieß es Halt, gleichviel ob der Gatte von der Gattin getrennt blieb oder nicht. In einer Minute fuhr ja wieder eine Barkasse. Die Erinnerung an Digermulen gehört zu den schönsten unserer Reise. Das ganze freundliche Nest besteht aus einigen Häusern der Familie Normann, welche hier einen Kramladen mit allen für die Nordlandbewohner nötigen Waren hält und Fisch- und Thranhandel treibt, sowie aus fünf oder sechs Fischerhütten. Während der große Passagierstrom sich bergaufwärts wälzte, durchstreiften wir die reizende Küstenlandschaft. Auf einer grünen Erhebung, kaum 200 Schritte von der Landungsstelle entfernt, ist ein kleiner Friedhof, in welchem, von Blumen, aber auch von Unkraut bedeckt, die hier verstorbenen Fischer neben einer Familiengruft der Normanns ruhen. Unser Weg führte uns durch Wiesen und Gebüsch; bald kletterten wir auf felsige Abstürze, welche im Laufe der Jahrhunderte zu wilden Gärten umgewandelt worden, und wo eine reiche Flora uns entzückte; bald hemmte unsere Schritte eine tief ins Land geschnittene kleine Bucht, am Strande übersäet mit Muscheln und Meertieren, lebendigen und toten. Lerchen stiegen eine nach der andern und schmetterten ihr Morgenlied in die Luft und uns wurde ganz frühlingsmäßig zu Mute. Etwas landeinwärts arbeiteten einige Männer an einer neuen Straße -- der ersten, die nach Digermulen führen wird -- und ihre Sprengschüsse fanden in den Bergen ein gewaltig rollendes vielfaches Echo. Mit einer freundlichen alten Frau, welche, ihren Enkel an der Hand, den Männern das „Z’nüni“ zutrug, hatten wir eine längere Unterhaltung, deren Inhalt aber beiden Parteien größtenteils unklar geblieben ist; aber auch hier konnten wir uns freuen über den wohlerzogenen, folgsamen kleinen Norweger, der zuerst ein bißchen scheu sich zur Hälfte hinter den Rockschößen der Großmutter verbarg und dann folgsam uns ein freundliches Lachen und die Hand gab. [Illustration: Digermulen.] Vom Laufen, Klettern, Blumensammeln, Norwegisch Parlieren und entzücktem Ah-rufen ermüdet, suchten wir eine Ruhestätte. Uns winkte eine nahe Bucht, die in wahrhaft Böcklinschen Farben glänzte; hellgraues, vielfach zerklüftetes und ausgewaschenes Felsgestein, ein zu Stein erstarrtes Spiel der Wellen vortäuschend, begrenzte seitlich den kleinen Sund, dessen wenig tiefes Wasser alle Schattierungen von Blau und Grün zeigte. Wo das Meer die Felsen bespülte, haftete an ihnen, teils direkt, teils durch Vermittlung von festgekalkten Muscheltieren, glänzender Meertang, dessen beblätterte, auf dem Wasser schwimmende Teile die ruhelose Wellenbewegung, hin- und herwiegend, mitmachten. Dazwischen lebte und webte allerlei wunderbares Meergetier, viele Kreaturen, die mir in der Zoologie noch nicht vorgestellt waren. Landwärts lag herrlich glatter, trockener weißer Sand, auf dem wir uns ausstreckten. Ueber den tiefblauen Fjord hinaus, in welchen unser kleiner Sund sich öffnete, fiel der Blick auf die gegenüberliegenden grünbewachsenen Felsengebirge herrlichster Formation, in welchen wir alte Bekannte, namentlich den Pilatus und Titlis, erkannten; noch weiter zurück, aber auch sie dem Auge scheinbar ganz nahe, begrenzten mächtige Gletscher und Firnfelder den Horizont. Eben kam ein schwarzes Wikingerboot mit geblähten Segeln in unser Gesichtsfeld und über ihm kreiste eine Schaar schneeweißer Möven in ruhigem Fluge. Wo uns immer die Fremde am schönsten erschien, da gedachten wir am heißesten der geliebten Heimat, und so geschah denn auch hier eine leisem Heimweh entspringende impulsive That, über welche allerdings einige vom Berge herab uns musternde Feldstecher nicht klug werden konnten. Im Schweiße unseres Angesichtes trampelten wir ein mächtiges eidgenössisches Kreuz in den weichen sandigen Strand und schmückten es mit frischem Grün. Dann galt es in kühnem Satze, ohne die Umrisse des vaterländischen Zeichens zu verletzen, seinen Mittelpunkt zu erreichen; der Akrobatensprung gelang zwar nicht allen Dreien gleich gut, wurde aber ohne Widerrede als selbstverständliche Notwendigkeit ausgeführt und so stunden wir denn nun, wie einst die drei Eidgenossen, auf dem Rütli, aber mit dem Anachronismus unserer Spitzbergenfahne, und brachten ein lautes, ein sehr lautes Hoch aus auf unser liebes Vaterland, den Inbegriff alles dessen, was uns zu Hause lieb und teuer war, und weil nun doch einmal der Sitte gemäß ein Trunk dazu gehört und der Genuß von Meerwasser für ein patriotisches Fest nicht zu empfehlen ist, wurde die kleine Cognacration, welche ich in der Tasche führte, ohne weitere Rücksicht um drei mal zwei bis fünf Gramm gemindert. Was thut man nicht alles dem Vaterlande zu Liebe! Nun folgte aber ein ergötzliches Nachspiel. Kaum war unser Hoch ertönt, das offenbar für nordische Ohren wie ein Wehgeschrei geklungen hatte, so kamen die benachbarten Straßenarbeiter menschenfreundlich herzugerannt, um die Hülferufenden aus drohender Gefahr zu erretten, und sie schauten sehr verdutzt drein, als sie statt Ertrinkenden eine gar nicht oder wenigstens nur durch ein Minimum von Cognac sehr unbedeutend beschädigte, lachende Gesellschaft vorfanden. Mein Blick fiel immer und immer wieder auf den mächtigen, wie ein Sturmhut dem grünen Berge aufgesetzten Basaltkegel des Digermulkollen, an welchem eine große Zahl der Auguste-Viktoria-Passagiere wie Ameisen herumkrabbelten. Von oben herab winkte eine norwegische und eine deutsche Flagge, und mit dem Feldstecher erkannte man Scharen von Menschen, welche am Rande des Hochplateaus stehend oder lagernd sich die Welt aus der Vogelperspektive ansahen und photographierten. Der Berggeist lockte und ich folgte ihm, während meine Begleiterinnen in der blumigen Ebene zu bleiben vorzogen. Querfeldein ging’s über eine morastige Wiese, ohne Weg und Steg, wobei ich manchen Schuh voll herauszog, aber auch eine Pflanze in größter Menge antraf, den (norwegischen) Sonnentau (~Drosera~), der mit seinen drüsig behaarten, reizbaren Blättern Insekten zu fangen und zu verdauen im Stande ist. Wenn ein kleines Tier eines dieser Blätter berührt, so bleibt es an dem klebrigen Safte der Drüsen hängen. Das Blatt faltet sich rasch zusammen und öffnet sich erst wieder, wenn der Gefangene tot und verdaut ist. In gerader Luftlinie über Stock und Stein, namentlich über felsiges Geröll kletternd, wobei wilde Weichselkirschbäume mir Halt und Stütze boten, erreichte ich keuchend und schweißdurchnäßt den in sanfter Steigung nach oben führenden Fußpfad und hatte schließlich den Weg bis auf die Spitze in wenig mehr als einer Stunde zurückgelegt. Die letzten 20 Minuten steigt man über runde Felsen, in deren Spalten und verwitterten Plätzen herrliche Ericaceen und zahlreiche alpine Pflanzen blühen. Hier fand ich auch massenhaft die reizende Blüte der norwegischen Cornelskirsche und dann vor allem eine Pflanze, welche für ganz Skandinavien, Finnland und Sibirien als Nahrungsmittel von großer Bedeutung ist -- die Multebeere (~Rubus chamaemorus~), eine Himbeersorte, krautartig, mit einzelstehenden weißen Blüten und prachtvollen, großen roten Früchten, die gekocht und eingemacht sehr gerne gegessen werden, namentlich auch als Präservativ gegen Scorbut. Auf den Menus der Nansenschen Fram spielte die Multebeere eine sehr große Rolle und eine Bowle aus dieser Frucht und etwas Brennspiritus gehörten zu den festlichsten Genüssen der Framleute. [Illustration: Digermulkollen.] Die Aussicht vom Digermulkollen soll die erhabenste und malerischste des ganzen Nordlandes sein und ist hauptsächlich auch durch den Besuch Kaiser Wilhelms ~II.~ anno 1889 weithin bekannt geworden. Zu Füßen liegt der Sund; die „Auguste Viktoria“ -- obschon man sie mit der Hand erreichen zu können glaubte -- hatte die Größe eines bescheidenen Walfischbootes. Imposant ist der Blick über den ganzen Vestfjord bis ins offene Meer; östlich thronen die Gebirgsstöcke des Festlandes, westlich steigen die schluchtenzerrissenen Massive des herrlichen Rastsundes auf, die reichlich mit Eis und Schnee bedeckten mehrgipfeligen Troldtinder. Das ganze Panorama ist überwältigend schön. In einer mehrfach im Felsen verankerten Holzhütte, welche schon manchen Sturm ausgehalten hat, aber sicher doch eines Tages weggeblasen sein wird, war Bier, Limonade und Sect zu haben. Als ich ankam, lebten aber nur noch zwei kleine Flaschen Mineralwasser, welche ich gern einer erschöpften Dame überließ. Um rasch unten und wieder „bei Muttern“ zu sein, wählte ich die Luftlinie am Westabhang des Berges. Das war ein böses Stück Arbeit. Eine halbe Stunde kletterte ich über die aufgetürmten Felsen eines mächtigen Absturzes thalwärts, einige Male an den Händen hängend, ohne mit den Fußspitzen eine tiefere Etage zu erreichen oder auch unter zusammengelehnten Steinblöcken durchkriechend. Mit lottrigen Knien legte ich dann die letzte Etappe bis zur Landungsbrücke zurück, einen wenig steilen, aber holperigen Wiesenweg, und an Bord der „Auguste Viktoria“ war durch ein Bad und neue Gewandung der frühere Mensch bald wieder hergestellt. Immerhin vermied ich während der nächsten drei Tage unnötiges Treppensteigen aufs ängstlichste, und meine Gangart erweckte einiges Mitleid. Die Hälfte unserer Mitreisenden hatte vormittags auf den Dampfbarkassen und angehängten Schleppbooten eine Fahrt in den prächtigen Raftsund unternommen; die andere Hälfte sollte nachmittags an die Reihe kommen. Eben kehrte die erste Expedition zurück; aber nahe am Ziele ereignete sich eine aufregende Szene. Dicht bei einem bis auf den letzten Platz gefüllten Schleppschiffe tauchte plötzlich ein mächtiger Wal auf, länger als das Boot selbst. Die Insassen hatten keine Zeit, sich über die Situation zu besinnen; aber an Bord der „Auguste Viktoria“ wurde sie von den Schiffsoffizieren mit Herzklopfen beobachtet, und es hieß nachher, daß das gewaltige Tier, einige Meter näher, das Schiff zum Kentern gebracht und ein schreckliches Unglück veranlaßt haben müßte. Noch drei-, viermal sahen wir es auftauchen, spritzen und wieder verschwinden. Unter den von dem Abenteuer Betroffenen herrschte nachher, als ihnen die Augen geöffnet wurden, ungefähr die Stimmung von Gustav Schwabs Reiter über den Bodensee. Während ich die Meinigen an Bord in allen Winkeln unseres Schiffes suchte, spähten sie immer noch am Lande nach dem Bergbesteiger aus. Schließlich aber einigte uns das, was die ganze Welt zusammenhält -- der Hunger. Beim Mittagstische fanden wir uns und erzählten gegenseitig unsere Erlebnisse. Während ich bergkraxelte, waren meine Beiden kreuz und quer umhergestreift und schließlich hatte sie ihr Forschungstrieb in eine am Strand gelegene Fischerhütte geführt, in welcher ein todkranker, ärztlicher Hülfe barer Mann, verpflegt von seiner bekümmerten Frau, zu Bette lag. Der nächste Arzt wohnte zehn Stunden weit entfernt in Svolvaer auf den Lofoten. Ein menschenfreundlicher norwegischer Maler, der in Digermulen sich aufhält, um Studien zu machen, funktionierte als Dolmetscher, und so wurde denn der Fischerfamilie versprochen, den Doktor aus der Schweiz, der jetzt grad oben auf dem Berge sei, herzuschaffen, damit er dem armen Kranken rate. Damit war unser Nachmittagsprogramm festgestellt; wir verzichteten auf den Ausflug nach dem Raftsund und ließen uns nach Tisch wieder an die Küste von Digermulen zurückfahren. Dort stand auch schon der liebenswürdige Maler, Thorolf Holmboe aus Christiania, ein in Norwegen wohlbekannter Künstler, mit seinem flachshaarigen, bildschönen Jungen Erich bereit, uns zu begleiten. Als wir in die Hütte traten, war ich erstaunt über die Reinlichkeit und häusliche Behaglichkeit, mit welcher die bescheidenen Räume ausgestattet erschienen. In einer freundlich mit Epheu, Fuchsien und Rosen geschmückten, ganz einfach, aber sauber möblierten Stube stand das Bett des Kranken. Neben ihm an der Wand hingen zwei Bilder, das Porträt von König Oskar in Galauniform und das Pendant -- Wilhelm Tell, wie er das Schiff Geßlers in die wilden Wellen des Vierwaldstättersees zurückstößt. Am Kopfende des Bettes war ein sorgfältig eingerahmter Bibelspruch in norwegischer Sprache: „Rufe mich an in der Not und ich will dich erretten und du sollst mich preisen!“ Der, dem das Wort galt, lag fahlgelb, abgemagert und hustend auf seinem Schmerzenslager, ein zirka 60 Jahre alter Mann, zeitlebens gesund, aber seit vier Monaten siechend. Leider handelte es sich, wie mich näheres Zusehen lehrte, um eine unheilbare bösartige Lebergeschwulst, welche in dem benachbarten Brustfellraum bereits eine frische Entzündung zu setzen begonnen hatte. Als ich mit der Untersuchung zu Ende war, brachte die schlichte Fischersfrau ohne weiteres ein sauberes Zinngeschirr mit Wasser, Handtuch und Seife und ich dachte im Stillen, daß hie und da sozial viel höher gestellte Leute hier etwas lernen könnten. Dem gepeinigten Kranken, der bei vollständiger Appetitlosigkeit entsetzlichen Durst litt und nichts hatte, um ihn zu stillen, mußte vor allem für saftige Früchte und ein Mittel gegen seinen qualvollen Husten gesorgt werden. Zu kaufen war das alles nirgends, wohl aber zu erbitten. Ich eilte zurück aufs Schiff und fand da Gelegenheit, den gutherzigen Sinn unseres Kapitäns kennen zu lernen. Obschon er, umgeben von einer vornehmen Herren- und Damengesellschaft, in seiner Kajüte behaglich beim schwarzen Kaffee saß, ließ er sich doch, ohne ungehalten zu sein, von mir stören und erfüllte meinen Wunsch nach ein paar Orangen für den armen Lazarus und den nötigen Medikamenten aus der Schiffsapotheke in weitestgehender Weise. Ein Druck auf den elektrischen Knopf und der uns von früher her bekannte „Harpagon“ kam angesaust. Der Kapitän übermittelte ihm ein kleines, hastig geschriebenes Billet, und eine Viertelstunde später flog ich mit einem mächtigen Korbe voll Ananas, Apfelsinen, frischen Kirschen und anderen Herrlichkeiten freudestrahlend der Schiffstreppe zu. Auch die Schiffsapotheke hatte ich unterdessen, da der Arzt nicht zu finden war, auf eigene Rechnung und Gefahr durchstöbert und schließlich glücklich etwas gefunden und in einer Quantität mitgenommen, daß es dem Kranken wohl für zwei Monate als Hustenlinderungsmittel dienen konnte. Was machte der für ein zufriedenes Gesicht, als ich ihm ein Stück saftige Ananas auf die Zunge legte! Es war ihm, „als sei er schon halb gesund“, ließ er durch den Dolmetscher sagen, und seine Frau mußte durchaus auch ein bißchen probieren. Und erst die Orangen und Kirschen! Die guten Leute wußten des Dankes kein Ende, und schließlich nahm die Frau den Stolz des Hauses, ein eingerahmtes Bild von Digermulen, ab der Wand und bat so dringlich, es als Geschenk anzunehmen, daß ich mich dieser unbequemen Freundlichkeit nicht entziehen konnte. Das Bild ist denn auch, so lästig es zu verpacken war, getreulich mit nach Frauenfeld genommen worden. Als wir die Fischerhütte verließen, war uns zu Mute, als seien wir in einer Kirche gewesen, und nach herzlichem Abschied von dem uns begleitenden Maler und seiner Familie streiften wir seelenvergnügt noch ein Stündchen über Klippen und Strandwiesen. Ein kleines Plaisir bereitete uns ein Schimmel, der auch jetzt noch, wie heute früh, in derselben unbeweglichen Haltung, den Kopf halb zu Boden gesenkt, in einer sumpfigen Mulde stund und zwei beleibte Herren von der „Auguste Viktoria“, welche sich krümmten vor unbändigem Lachen über das eigentümliche Gebahren des Tieres. „Es hat die Schwermut oder ist gar bloß ausgestopft“, lautete die Diagnose. Das letztere stimmte nicht, sondern der Gaul trug am Hinterfuß eine in den Boden gerammte Fessel und schlief, gesenkten Hauptes und stehenden Fußes. Als ich ihm den Hals klopfte und einige Schiffszucker offerierte, geruhte er sie, leise schwanzend, zu kauen, versank aber sofort wieder in kopfhängerisches Brüten. Der „schwermütige Schimmel“ gehört für uns zum Landschaftsbilde von Digermulen; deshalb habe ich ihn hier festgenagelt. -- Abends 7 Uhr war alles wieder an Bord. „Ja, vi elsker dette landet“ (ja, wir lieben dieses Land) ertönte es aus dem ehernen Munde unserer Schiffskapelle, und die Klänge dieser norwegischen Nationalhymne waren uns schon so vertraut, daß wir sie laut und sogar bewegten Herzens mitsangen. Unterdessen drehte unser Koloß und begann südwärts zu fahren. Mit Winken und Rufen verabschiedete man sich von dem heimeligen und schönen Fleck Erde. Da tauchte ein kleiner, über und über mit Menschen besetzter Passagierdampfer auf, der von den Lofoten hergefahren kam, um der „Auguste Viktoria“ zu begegnen. Das war ein Grüßen und Tücherwehen und fast berührte das Steuerbord des nordischen Schiffes den Meeresspiegel, als alles nach jener Seite hinüberdrängte, um uns zu sehen. Sogar eine Musik hatten sie auf Deck, und so wurde denn hinüber und herüber konzertiert. Etwa zehn Minuten lang blieb der tapfere Knirps unter Volldampf auf gleicher Höhe mit unserm dahineilenden stolzen Schiffe; dann aber mußte er, über und über mit Wogen bespritzt, zurückbleiben, und bald hatten wir ihn aus dem Auge verloren. Nicht geringes Aufsehen erregte an diesem Abend folgender Anschlag des Kapitäns am „schwarzen Brette“: „Kaisertelegramm: Hohenzollern befindet sich am 19. nachmittags in Aalesund. Seine Majestät würden sich freuen, wenn ausgehend dort kurzer Aufenthalt genommen wird. Passagieren ist Besichtigung des Schiffes gestattet. Kommando Hohenzollern. Demgemäß wird die „Auguste Viktoria“ am 19. Juli zwischen 4 und 7 Uhr abends in Aalesund stehen. Kämpff, Kommandant der A. V.“ Diese Nachricht gab nun den Gesprächen und Gedanken der Menschheit auf der „Auguste Viktoria“ -- vom Schiffsjungen bis zum Fürsten -- längere Zeit eine ganz bestimmte Richtung, und wo immer ihrer einige beisammen stunden, wurde der Besuch bei Kaiser Wilhelm verhandelt und die wichtige Toilettenfrage einläßlich besprochen, so daß die Pracht der nördlichen Lofoten, welche wir bei Beginn unserer Rückfahrt passierten, für viele vollständig verloren gegangen sein mag. ~XIII.~ Maschinen- und Vorratsräume der „Auguste Viktoria“. -- Die Welt -- ein Dorf. -- Maraak. -- Vorbereitung für den Kaiserbesuch. -- Ankunft in Aalesund bei „S. M. Y. Hohenzollern“. -- Der Kaiser an Bord. -- Besuch der „Hohenzollern“. Das ist eine merkwürdige Welt, diese langgestreckte, wildzackige Lofotenkette; bei Abend- und Mitternachtsbeleuchtung bot sie uns die herrlichsten Landschaftsbilder. In Flammen strahlend zeichneten sich die Umrisse der Berge außerordentlich scharf am Horizont ab, und Meer wie Land erschienen in märchenhafter Farbenpracht. Lange Zeit stritten wir uns und waren im Unklaren, ob eine nach Mitternacht fern im Osten sichtbare ungeheure weiße Fläche, die nur von einzelnen schwarzen Gipfeln überragt auf den Gebirgszügen lagerte, ein Nebelmeer sei oder aber ein Schneefeld. Nach und nach aber konnte kein Zweifel mehr herrschen; wir sahen den grandiosen Firn des _Svartisen_; er bedeckt gegen 60 Kilometer lang und 16 Kilometer breit eine durchschnittlich 1200 Meter hohe Fläche, aus der vereinzelte Höhen aufragen, während nach allen Seiten mächtige Gletscher zu den Fjorden absteigen. Stundenlang beherrschte die gespensterhaft weiße, erhabene Riesenfläche das Landschaftsbild; sie wird in ihrem südlichen Teil vom Polarkreis geschnitten. (Mein Nachbar auf Deck stellte sich auf die Fußspitzen, um das besser zu sehen.) Den folgenden Tag, 18. Juli, brachten wir auf offenem Meere zu und hatten Zeit und Gelegenheit, allerlei Interessantes von den Eingeweiden unseres Schiffes zu betrachten. Unter der Führung eines Maschinisten war es gestattet, in die Maschinenräumlichkeiten hinabzusteigen. Wie das alles glänzte und glitzerte und ruhelos arbeitete in diesen taghell elektrisch beleuchteten eisernen Kammern! Und weiter unten, wo der Heizer, halbnackt und schweißtriefend Kohlenberge ins Feuer warf, glaubte man in eine Hölle zu schauen. In ganz kleiner Gesellschaft, nur fünf Köpfe stark, besuchten wir auch die Vorratsspeicher, welche rückwärts am Schiff, in der Nähe der Schrauben, tief unter dem Hauptdeck unterhalb der Wasserlinie gelegen sind. Eine Tag und Nacht funktionierende Dampfmaschine -- wie oft hatte ich sie und ihre Kollegin, die elektrische Lichterzeugerin, zum Kuckuck gewünscht, wenn ich Nachts zu schlafen versuchte! -- besorgt die Abkühlung der Provianträume unter den Nullpunkt und alles, was an Fleisch da hing und lag, Dutzende von halben Rindern, Kälbern, Schafen und Schweinen, Tausende von gerupften und ausgeweideten Kapaunen und Truthähnen, zirka 50,000 Pfund, war steinhart gefroren. Das für einen Tag notwendige Quantum wurde je 24 Stunden vor der Verarbeitung in der Küche aus der Gefrierkammer in einen Vorraum gelegt, um dort langsam aufzutauen. Andere Abteilungen dieses unterseeischen Schiffsquartiers enthielten erstaunliche Mengen von Konserven und Früchten aller Art, worunter namentlich riesige Ananas und Hunderte von aufgehängten, schwer mit Früchten beladenen Bananenstauden auffielen; Vorräte von Butter, Käse, Eier, Milch, letztere teils als kondensierte, hauptsächlich aber als einfach sterilisierte Mecklenburger Milch in Büchsen von 6 Litern zugeschmolzen. Ich erfuhr erst hier, daß unsere schweizerische Milchexportindustrie im Lande Fritz Reuters eine so leistungsfähige Rivalin hat. Von dem Blick in die Bierlager und in die Flaschenkeller, wo die vielen Tausende von Wein- und Champagnerflaschen wohlgeordnet, jede in besonderm kleinem Holzlager, ruhen, will ich lieber gar nicht weiter erzählen. In jeder Ecke dieses aus Speis und Trank zusammengesetzten Labyrinths zündet bei Bedarf ein elektrisches Glühlicht und über jedes nach oben abgelieferte Gramm wird exakt Buch geführt. Was nun von den für einen Tag bestimmten und an Koch, Bäcker und Konditor übermittelten Konsumartikeln innerhalb dieses Tages nicht verzehrt wurde, wandert ins Meer. Alltäglich, nachdem Passagiere und Schiffsangestellte sich satt gegessen, bleiben große Quantitäten von „Gesottenem und Gebratenem“ übrig, und es besteht strenge Vorschrift, daß nichts davon weitere Verwendung für die Schiffstafel finden darf. Jeden Morgen wurden unglaubliche Quantitäten von Fleisch und Brot, oft Hunderte der appetitlichsten Kleinbrotartikel in die salzige Flut geschmissen, und der Zahlmeister behauptete, daß mit diesem Fischfutter dreißig Familien reichlich ernährt werden könnten. Wo immer wir vor Anker lagen, da kreisten beständig einige armselige Boote um unser Schiff und suchten „die Brosamen vom Tische der Reichen“ aufzufischen. Der Zweck der verschwenderischen Vorschrift ist zwar klar: die Gesellschaft will ihren Passagieren die Garantie für ausschließlich frische und prima Nahrung bieten; aber es erscheint uns eben doch als protziges Unrecht, daß man sich nicht die Mühe nimmt, diese wertvollen Ueberbleibsel zu sammeln, zu konservieren und nachher an Unbemittelte zu verschenken. Mit jedem Tage kam sich die Reisegesellschaft etwas näher; Menschen, die ursprünglich sich als wildfremd angeglotzt, fanden plötzlich gemeinschaftliche Anknüpfungspunkte, und gegen das Ende der Fahrt gab’s überhaupt kaum mehr absolute Fremdlinge. „Die Welt ist ein Dorf“ hörte man zu wiederholten malen ausrufen, wenn zwei bis dahin Unbekannte sich plötzlich als gemeinschaftliche Freunde oder gar Vettern eines Dritten entpuppten. In einer feinen ältern Dame entdeckte ich durch Zufall die Witwe eines mir sehr lieben Herrn, mit dem ich s. Z. in Engelberg köstliche Stunden verlebt habe und der -- nun seit langem tot -- dort als Papa G. in bester Erinnerung geblieben ist. Was freute sich die, am Polarkreis von ihrem verstorbenen Gatten allerlei Heimeliges erzählen zu hören; es war für sie wie eine kleine Auferstehung, und als ich den freundlichen Graubart in einigen kleinen, ihr vielleicht entschwundenen äußerlichen Zügen schilderte, z. B. wie er seine Havannah nie abzuschneiden, sondern durch einen kräftigen Biß zugfähig zu machen gewohnt war, da übernahm sie die Rührung und wir mußten das Thema abbrechen. Der weibliche Teil der Passagiere erfreute sich seitens der Hapag bei verschiedenen Anlässen besonderer Aufmerksamkeiten. Schon am ersten Tage auf hoher See hatte jede Dame eine elegante weiße Schiffsmütze, die in Golddruck den Namen „Auguste Viktoria“ trug, als Geschenk erhalten; nachher kamen bei Bevorzugten Hapag-Brochen und andere Schmucksachen an die Reihe. Der blasse Neid der Männerwelt konnte an der Sache nichts ändern. Aber als heute beim Diner neben jedem weiblichen Couvert eine reizende gefüllte Silber-Bonbonniere mit eingravierter Dedikation lag und wir armen Männer wieder leer ausgingen, da drohte -- an unserm Tisch wenigstens -- heller Aufruhr, und der Brust entrann der Schmerzensschrei: „Ach, wäre ich doch als Jungfrau geboren!“ Das hat vielleicht jener amerikanische Ehe- und Ehrenmann auch geseufzt, der am nämlichen Abend auf Deck und ~coram publico~ sich geduldig von seiner rabiaten Gattin beohrfeigen lassen mußte. Nächstes Ziel unserer Fahrt war Maraak (auch Marok oder Merok genannt); der Weg dorthin ist reich an landschaftlichen Schönheiten, die sich steigern, je weiter man in den zuführenden Fjorden vordringt. Durch den Slyngs- und Sunelvsfjord erreicht man den weltberühmten Geirangerfjord mit seinen schroffen Felsgebirgen und den zahlreichen und wunderbar geformten Wasserfällen. Namentlich schön und merkwürdig ist der Fall der „sieben Schwestern“; sie stürzen ganz oben als sieben, weiter unten nur noch als vier milchweiße Bäche über eine senkrechte Felswand herab, die sich auch im Wasser noch senkrecht weiter fortsetzt, so daß das Schiff ganz dicht an die Fälle heranfahren kann. Die Felsen der andern Seite zeigen seltsame Profile; bald glaubt man eine Kanzel zu sehen, bald eine Ritterburg oder auch ein menschliches Antlitz, und ein langgezogenes zerklüftetes Massiv sieht genau so aus wie ein schartiges Rasiermesser unter dem Mikroskop. Immer enger treten die Berge zusammen; immer mächtiger und vielgestaltiger werden die zu Thal stürzenden Wassermassen. Ab und zu belebt ein malerischer Segler den sonst menschenleeren Sund. Unser Naturgenuß wurde erhöht durch ein ganz besonders ausgezeichnetes Konzertprogramm, das die flotte und unermüdliche Schiffskapelle abwickelte. Die Tannhäuser-Ouvertüre spielte sie mit einer Bravour, die mich zu einem Bon für 50 Glas Münchner begeisterte. Das hatten die braven Musikanten wohl verdient. Plötzlich wird der Fjord abgeschlossen durch einen Bergkessel von unbeschreiblicher Großartigkeit; aus einer Höhe von fast 2000 Meter glänzt ein schneebedeckter Gletscher; alle Reize der Fjordlandschaft vereinigen sich zu einem prächtigen Bilde; wir liegen vor Maraak. Der kleine freundliche Ort besteht aus einfachen Häusern, die sich an den Fjord schmiegen; auf der Höhe steht eine weithin grüßende Holzkirche. Hinter Maraak steigt es steil empor zum Geiranger Bergkessel, durch welchen an einer Ueberfülle von Wasserfällen vorbei die großartigste Bergstraße Norwegens landeinwärts führt. Einige Hotels, von welchen das höchstgelegene zirka 300 Meter direkt über der Kirchturmspitze vom Meere aus zu sehen ist, signalisieren die Fremdenstation. Es sind wieder fast ausschließlich Engländer, welche sich diesen Platz zu längerm Aufenthalte wählen. [Illustration: Maraak.] Wir fuhren in aller Morgenfrühe ans Land, wo zahlreiche Karren für die Alten und Faulen bereitstunden. Da wir aber zu keinen von beiden gehören wollten, fußten wir stolz daran vorbei und rekognoszierten auf heimeligen Wiesenpfaden Land und Leute. Ein herrlicher Heuduft ersetzte in angenehmer Weise das Fisch- und Thranaroma, das uns vom Norden her noch in der Nase lag. Unser erster Gang galt der freundlichen, auf einem Hügel gelegenen Holzkirche. Sie ist von einem kleinen Friedhofe umgeben, über dessen Steinmauern wir zuerst klettern mußten, um ins Innere zu gelangen. Von dieser Stätte des Todes fällt der Blick auf eine prächtige, lebenswarme, sonnige Welt. Die Kirche selbst ist ein schlichter, achteckiger Holzbau, lose auf schlecht gemauerte Pfeiler gestellt und mit Holzläden versehen. Der malerische Turm ist der Mitte aufgesetzt, wie bei dem bekannten Kinderspielzeug. Der Straße bergan folgend, die sich bis weit hinauf durch Staubwolken kennzeichnete, erreichten wir nach zirka 15 Minuten das vom Hafen aus unsichtbare Hotel Union; auf einer Seite desselben stürzt der wasserreiche Storfos, als weißer Gischt, brausend über eine Felswand; auf der andern Seite gleiten die Gewässer des Geirangerbergthales in klarem Strome zu Thal, und vereint eilen beide dem Fjorde zu. Eine üppige grüne Vegetation -- auch stattlicher Baumwuchs, Birken, Erlen, Eschen -- bedeckt den ganzen Bergabhang, und bis weit hinauf sind Hütten sichtbar und weidende Herden, denen auch die Glocken nicht fehlen. Zu den Füßen liegt der enge, scheinbar rings abgeschlossene Bergsee und hoch in die Lüfte ragen gewaltige Gebirgsstöcke und Schneefelder. Das Hotel, aus Holz im Chaletstil erbaut, sah recht einladend aus; an den Veranden blühten Gaisblatt, Kapuziner und wilder Hopfen. Je nach Wanderlust und verfügbarer Kraft wurde die Straße mehr oder weniger nach oben fortgesetzt; viele ließen sich zum obern Hotel (H. Udsigten = Bellevue) hinaufführen, wo der Blick auf die eisige Gebirgswelt landeinwärts und im Gegensatz zu der wilden Fjordlandschaft zu Füßen ein großartiger gewesen sein muß. Einen weiß ich -- ein gelehrtes Haus -- der einsam noch weiterstrebte und in adamischem Kostüm sich unter den Wasserschleier des schönsten Staubbaches stellte. Das sei ein nicht zu beschreibendes Vergnügen und eine herrliche Erquickung gewesen, rühmte er, als er halb tot, im Schweiß gebadet und mit Straßenstaub gepudert, als einer der letzten an Bord zurückkehrte. Um 12 Uhr mittags, als eben ein kleiner, sich vor Neugierde ganz auf unsere Seite neigender Touristendampfer einfuhr, verließen wir Maraak und kehrten auf demselben Wege zurück, die Schönheiten des Fjords nochmals und in ganz anderer Beleuchtung genießend. Den Jörundfjord, der noch auf unserem Programm gestanden hatte, ließen wir links liegen, um rechtzeitig bei Kaiser Wilhelm anzukommen. Wir nannten ihn übrigens nicht mehr Jörund- sondern Böhringer-Fjord, weil ein Mitpassagier den Namen fälschlich so verstanden hatte; motiviert wurde die Benennung durch uns mit der interessanten historischen Notiz, daß der Großvater von Professor B. ihn vor genau 47 Jahren entdeckt habe. Der Schiffsunsinn gedeiht unter allen Breitegraden. An Bord herrschte während dieser Fahrt reges Leben. Ueberall wurde gefegt und geputzt; die Böden sahen ganz jungfräulich aus und die Metallbeschläge glänzten wie Spiegel. Inspizierende Schiffsoffiziere durchwanderten alle Räume und der Verkehrston mit den Untergebenen war heute ein auffallend strammer und militärischer. Ich saß allein in dem Rauchsalon und schrieb an die „Thurgauer Zeitung“, als der erste Offizier eintrat, jeden Winkel musterte und schließlich, als er am Plafond ein bescheidenes Spinnengewebchen entdeckte, den verantwortlichen Steward folgendermaßen apostrophierte: „Sie, Steward! Machen Sie den Dreck ’runter! Glauben Sie, die Decke gehört nicht zum Rauchzimmer? Wenn unser Kaiser kommt und sieht den Mist, so sagt er: No was sind denn das für Schweinekerls, diese Rauchstewards!“ Scheinbar zerknirscht machte sich der gescheitelte Jüngling an die Reinigungsarbeit; aber das Selbstgespräch, dessen Zeuge ich war, nachdem der gestrenge Inspektor das Lokal verlassen, enthielt Worte und Satzwendungen, die ich bisher aus der deutschen Litteratur nicht gekannt hatte. Alles, vom Kapitän bis zum Schiffsjungen, prangte im glänzenden Sonntagsgewande; die hundert Stewards sahen geradezu imposant aus. Aber auch die Passagiere blieben nicht zurück und hingen ihr Bestes und Schönstes um. Gerne hätte ich mit meinem bohnengrünen Polarmantel geprunkt; da dies aber aus koloristischen und klimatischen Gründen nicht anging, mußte ich mich auf mein gewöhnliches Habit beschränken, ehrte den hohen Gast aber durch den Luxus einer neuen, blendend weißen Kravatte, und doch nahm er nachher nicht einmal Notiz davon. Es war nachmittags 3¼ Uhr, als man sich Aalesund näherte. Was Beine hatte, stund auf Deck, die Stewards in langen Reihen auf den Blahen der Rettungsboote. Unsere Kapelle hielt sich spielbereit; die ganze Welt zeigte die größte Spannung; nur einige junge Amerikanerinnen beschäftigten sich mit ihren Stickrahmen. Hunderte von bunten Wimpeln flatterten lustig als festliche Dekoration auf unserm Schiff, das sich in langsamem, würdevollem Tempo dem Bestimmungsorte näherte. Jetzt erscheint die weite Bucht von Aalesund, von auf grünem Teppich aufgebauten Gebirgen umschlossen. Im Hintergrunde liegen blaue, mit Schnee gekrönte Berge. Die aufblühende Stadt zählt bereits 9000 Einwohner und ist ein Hauptstapel- und Handelsplatz. Zahlreiche Segler und Dampfer bevölkern den Hafen. Aber aller Augen sind auf seinen Mittelpunkt gerichtet, wo die stolze „Hohenzollern“ vor Anker liegt, in ihrer Nähe das begleitende Kriegsschiff „Hela“ und ein schwarzes Torpedoboot. Eine gewisse nervöse Hast war in diesem Moment auf unserer „Auguste Viktoria“ für einen nüchternen Beobachter nicht zu verkennen, und sie stieg im Quadrat der Annäherung an das Kaiserschiff. Sogar der wackere Kapellmeister zeigte sich davon ergriffen und gab mehrfach Ordre und Contreordre, und die Musikanten hatten Mühe, bei der scharfen Brise, die wehte, die hastig geänderten Programmnummern rechtzeitig aufzulegen. Im Zufahren stieg erst der Präsentiermarsch, dann der Wachparademarsch und endlich nahe am Ziele der Hoch-Kaiser-Wilhelm-Marsch. Jetzt sind deutlich die einzelnen Persönlichkeiten zu erkennen; der Kaiser steht in grauem Civilanzug auf der Kommandobrücke und grüßt anhaltend mit seiner dunkeln Tellermütze, was unsrerseits mit Hurrahrufen und Hüteschwenken erwidert wird. Während die Musik den Preußenmarsch spielt, dreht unser Schiff und bewegt sich -- eine mächtige, weiße Gischtstraße bildend -- in großem Kreise um die „Hohenzollern“. Unter den Klängen des Hohen-Friedberger-Marsches fällt endlich der Anker, und wir harren der Dinge, der kaiserlichen, die da kommen sollen. Kaum lag unser Schiff ruhig, so kam auch schon eine elegante Barkasse von der „Hohenzollern“ hergedampft, um die Passagiere auf die kaiserliche Yacht hinüberführen zu helfen, und in Gruppen von 30 bis 40 begann nun die Wanderung zwischen den beiden stolzen Dampfern, wobei abwechslungsweise von der 40 Köpfe starken trefflichen Kapelle an Bord der „Hohenzollern“ und von der unsrigen gespielt wurde. Vorsichtigerweise pressierten wir drei nicht mit der Ueberfahrt; der Kaiser sollte ja der „Auguste Viktoria“ einen Besuch abstatten, und die Gelegenheit, ihn aus unmittelbarer Nähe und nachhaltig zu beobachten, wollten wir uns doch nicht entgehen lassen. Und richtig -- dort kam er ja; ein schlankes, von zweimal vier Ruderern in blauem Matrosenkostüm pfeilschnell durch die Wogen gejagtes Boot trug vorne die kaiserliche Standarte, und hinten am Steuer saß und lenkte das eilende Fahrzeug Kaiser Wilhelm ~II~. Das war ein Rennen und ein Jagen auf unserm Schiff. Atemlos kamen die Amateurphotographen mit ihren Apparaten hergeeilt und postierten sich, um das gekrönte Oberhaupt des deutschen Reiches im Momente, da es an Bord trat, möglichst günstig zu erwischen. „Haben Sie ihn?“ hieß es kreuz und quer; „und von welcher Seite?“ Haarscharf schnitt das kaiserliche Boot unsere Schiffstreppe; in derselben Sekunde hielt es an; in der nächsten sprang der hohe Steuermann gewandt und sicher auf den ersten Tritt, wo er vom Kapitän und einem Vertreter der Schiffsgesellschaft bewillkommt wurde. Dann gings unter Hurrah und gegenseitiger Begrüßung die Treppe hinauf auf Deck, wo sich der Kaiser, geführt vom Kapitän, alles, aber auch alles ansah und durch vielerlei Fragen sein Interesse an dem stolzen Schiffe bekundete. Auffälliger Weise schritt der Kapitän stets zu seiner Rechten, und ich wurde nicht klug, ob dies aus Versehen oder aber einem Wunsche des Kaisers zufolge geschah, der ja bekanntlich links durch eine Lähmung und auffällige Verkürzung des Oberarmes verstümmelt ist und auch, wie die Fama weiß, am linken Gehörorgan krank sein soll. Im Rauch- und Konversationssalon war ich ganz allein, als die beiden Herren eintraten; besondere Freude zeigte der Kaiser an den Wandmalereien des ersteren, welches mit künstlerischem Humor die verschiedenen Rauchertypen, vom Lotsen bis zur Studentin, darstellen. Nachdem uns auf diese Weise die vielgerühmte und vielgehaßte, aber sicher geniale und wohlwollende Verkörperung des deutschen Reiches menschlich näher getreten war und uns ganz sympathisch berührt hatte, machten auch wir uns daran, seinen schwimmenden Palast kennen zu lernen. So was behaglich Schönes, einfach Vornehmes hatten wir noch nie gesehen. Bekanntlich hat die „Hohenzollern“, die ja verschiedene Male kleiner ist als die „Auguste Viktoria“, 27 Millionen Mark gekostet, die Vergoldung des Kieladlers allein 80,000 Mark, und doch ist das Innere nicht so prunkvoll und überladen wie bei den großen Hamburger Personen-Dampfern. Aber jeder Planke und jeder Niete sieht man die hervorragende Qualität an, und es giebt nichts an dieser kaiserlichen Yacht, das nicht das Attribut absoluter Vollkommenheit verdiente. Eine breite, mit Teppichen belegte Treppe führt in bequemen Stufen zu dem Verdeck, das in seiner ganzen Ausdehnung mit Linoleum bedeckt ist und weite Spaziergänge erlaubt. Auf Vorderdeck war in Galauniform die 40 Mann starke vortreffliche Kapelle postiert, welche die Gäste auf Befehl des gastfreundlichen Kaisers zu begrüßen hatte. Jedenfalls nicht in seinem Sinne und seiner nobeln Denkweise handelten ein paar vollgegessene, abgelebte Byzantiner, welche, über die Brüstung gelehnt, mit den fadesten Berliner Witzen und unter knabenhaftem Gelächter sich über die Ankömmlinge „~minorum gentium~“ lustig machten. Nachdem ich sie mit einem feindeidgenössischen Blicke vernichtet, freilich ohne durchschlagenden Erfolg, durchwanderten wir, in Gruppen von 30 bis 40 geführt, die herrlichen Räume des Schiffes. Besonders schön ist der große Speisesaal, der reich mit Blumen geschmückt war (der Kaiser führt stets einen Gärtner mit an Bord). An der Stirnseite prangt in großer Ausstattung das alte Familienwappen mit der Inschrift: „Hie guet Zollere alleweg!“ Stilvolle künstlerische Wanddekorationen erfreuten das Auge, z. B. geist- und humorvoll ausgestattete eingerahmte Menus zur Erinnerung an besonders ereignisreiche Tage früherer Fahrten. Im Rauchzimmer möchte man sich am liebsten gleich hinsetzen, die langen Beine ausstrecken und eine Havannah veraschen; auch dort ist wie in sämtlichen Räumen alles Große und Kleine auf die See abgestimmt; sogar die reizenden wandständigen Aschenbecher sind silberne Schiffsteile ~en miniature~, und die Asche wird an kleinen niedlichen Schiffsschrauben abgestreift. Auch in das Arbeitszimmer des Kaisers wurden wir geführt; dort sahen wir eben zu, wie eine Amerikanerin von dem goldgeränderten kaiserlichen Briefpapier einen Bogen in ihre Tasche wandern ließ. In einem danebenliegenden Salon hört der Fürst täglich die Vorträge der mitreisenden Minister. Auch auf Deck hat er einen äußerst behaglich ausgestatteten Privatraum, der mit wissenschaftlicher Schiffslitteratur und allen möglichen Instrumenten vollgepfropft ist. Auf dem Tische lagen ausschließlich französische Zeitungen und Werke. In die Schlafräume gelangten wir nicht; dagegen konnten wir von der Schiffstreppe aus in einige größere Kabinen einen Blick werfen und uns überzeugen, daß auch dort ganz ungewöhnlich große Dimensionen vorhanden sind mit behaglich schöner, nicht überladener Ausstattung. Licht und Luft tritt nicht wie bei den Kammern der Passagierdampfer durch runde Lucken, sog. Ochsenaugen, ein, sondern durch größere, mit in Messing gefaßtem Glas verschließbare viereckige Fenster. Wunderbar sind die Apparate für den elektrischen Signaldienst und die Maschinen. Was der menschliche Geist je ersann, um eine Meerfahrt sicher und genußreich zu gestalten, das hat die deutsche Schiffsbaukunst sich für die Yacht ihres Kaisers zu nutze gemacht. Entzückt von dem Geschauten kehrte nach und nach alles wieder zur „Auguste Viktoria“ zurück, die uns im Vergleich zur „Hohenzollern“, der wahrhaft Vornehmen, zuerst wie eine pompös ausgestattete Straßenriesendame vorkommen wollte. Die letzten, die an Bord stiegen -- von den kaiserlichen Ruderern hergebracht -- waren Graf v. Metternich, Herr Wanamaker und ein Hapag-Vertreter, Konsul Weber aus Hamburg, welche der Kaiser zu sich zum Thee geladen hatte. Eben fuhr die glänzende Yacht des amerikanischen Krösus Gould an uns vorüber; die soll im Innern so raffiniert ausgestattet sein, daß der deutsche Kaiser, der sie besuchte, das Wort sprach: „So was habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.“ Um 7 Uhr abends fuhren wir weg von Aalesund. Nochmals umkreisten wir zum Abschied die „Hohenzollern“; unsere Kapelle spielte das „Heil dir im Siegeskranz“; der Kaiser winkte vom Verdeck her, unser Kapitän salutierte, die Wimpel wurden grüßend aufgezogen; alle Welt rief Hurrah und schwenkte Hüte und Tücher, und wieder ging’s hinaus gegen die hohe See. Nach einer halben Stunde sahen wir weit zurückliegend den Aalesund, mitten drin in der blauen Fläche einen grauen Punkt -- die märchenhafte „Hohenzollern“. Abends an der Tafel bildete natürlich das zuletzt Erlebte den Mittelpunkt des Gespräches, und als Kommerzienrat Schubart aus Berlin sich erhob und ein Hoch auf den gastfreundlichen deutschen Kaiser ausbrachte, erfüllten auch wir Nichtdeutsche gern und aus innerm Antrieb diese Pflicht der Dankbarkeit und beteiligten uns, wenn auch mit den anderen, unserem Herzen geläufigeren Worten, beim gemeinschaftlichen Gesange der Nationalhymne. Aber noch ein anderes freundliches Ereignis beschäftigte die Gemüter; der kleine Schalk Amor hatte, wie -- ~dicitur~ -- auf jeder Nordlandsfahrt, einige Herzen verwundet und zusammengeführt. Dort am Ecktische unseres Saales sitzt das glückliche Paar, und eben erhebt sich der Tischpräses, um ganz ~en famille~ eine kleine Verlobungsrede zu halten, was in dem Lärm des Speisesaales, wie er dachte, ohne weiteres Aufsehen möglich sein sollte. Aber kaum hatte er sich erhoben, so schwieg der Konversationssturm, als ob ein Engel durch den Raum schritte; erschrocken drehte der werdende Orator sich um und setzte sich sprachlos und verblüfft, die Rede im Halse, wieder auf seinen Stuhl -- eine kurze Scene voll unbeschreiblicher Komik, die ein schallendes Chorgelächter hervorrief. Die Verlobung ging aber eineweg ihren Gang. ~XIV.~ Durch den Sognefjord. -- Genrebilder im Naeröfjord. -- Gudwangen. -- Naerödal und Stahlheim. -- Hungersnot. -- Oell und Musöst. -- Sprachverwirrung. Erst am Ende des Tages, nachdem die Erlebnisse mit der „Hohenzollern“ längst vorbei waren, erfuhren wir, daß der Kaiser kurze Zeit vor unserer Ankunft das Telegramm erhalten hatte, welches ihm die -- wie es darin hieß -- nicht unbedeutende Verletzung der in Berchtesgaden weilenden Kaiserin meldete. Er soll sehr konsterniert gewesen sein, und daß er trotzdem das Tagesprogramm nicht änderte, sondern die Passagiere der „Auguste Viktoria“ doch empfing, wurde ihm von denselben doppelt hoch angerechnet. Ohne ein Opfer unsererseits, d. h. von Seiten der Hapag, ging übrigens diese kaiserliche Einladung nicht ab. Der zweistündige Aufenthalt vor Anker bei Aalesund kostete unser Schiff die Kleinigkeit von 560 Kronen (zirka 800 Franken) Hafengeld. Es schien in der Nacht stürmisch und regnerisch werden zu wollen und die Vorsichtigen legten sich rechtzeitig zu Bette, um auf alles gefaßt zu sein. Aber die Witterung blieb günstig; kaum spürte man die offene See, und morgens beim Aufwachen glitt unser Schiff längst wieder über die glatte Fläche eines Fjords. Es war der Sognefjord, durch den wir fuhren; 200 Kilometer weit schneidet er ins Land ein bei einer Wassertiefe von 1200 Meter und einer Breite von durchschnittlich kaum 6 Kilometer. Der Hauptarm teilt sich in verschiedene ganz schmale, von ungeheuern, bis 5000 Fuß hohen Steilwänden begrenzte Spalten, über welche Wasserfall an Wasserfall stürzt, während an den Enden blaugrüne Gletscher nach dem Fjord hereinblicken. Im Norden ist das größte Firnfeld Europas, der fast 1000 Quadratkilometer große Jostedalsbrae. An den Ufern des Sognefjords liegen die ältesten Kulturstätten Norwegens; sie sind auch der Boden der herrlichen Frithjofssage. -- Bei nachtschlafender Zeit passierten wir ohne Gewissensbisse Ingeborgs Königspalast und Frithjofs Hof; wir mußten ja im Rückweg nochmals Gelegenheit finden, diese klassischen Orte zu grüßen. Immer näher rückten die Felsen zusammen; oft war kein Ausweg zu sehen, und es schien unmöglich, mit unserm Schiff vorwärts zu kommen; dann öffnete sich plötzlich um die Ecke eine neue Spalte mit neuen überraschenden Ausblicken. Wir befanden uns in dem südwestlichen Endarme des Sognefjords, im Naeröfjord. Das ist die erhabenste Gebirgs- und Meerlandschaft, die wir in Norwegen gesehen, und an Großartigkeit von keinem der mir bekannten Bergseen erreicht. Und auch das Liebliche fehlt nicht in dieser gigantischen Felsenwelt. Wo sich am Fuße der himmelhohen Wände durch Absturz oder als Delta eines der Schlucht entspringenden Bergbaches ein Stück flacher Küste gebildet hat, da glänzt sie im saftigsten Wiesengrün und trägt ein paar freundliche Häuser, hie und da auch ein Kirchlein, um das sie sich scharen. Zuletzt schienen wir aber doch am Ende des schmalen Fjords zu sein; in einem wilden, kahlen Felsenkessel mit steilen und unbewohnbaren Ufern hielten wir an und warfen den Anker aus. Wunderbarerweise belebte sich die Umgebung unseres Schiffes alsbald; kleine Boote -- meist mit Frauen und Kindern angefüllt -- tauchten plötzlich auf, wie der See entstiegen; denn eine menschliche Wohnstätte oder ein Ausweg aus den geschlossenen Felskoulissen war nirgends zu erblicken. Sie lauschten andächtig unserer Kapelle und staunten das mächtige Schiff an. Da gab’s reizende Genrebilder für unsere Photographen, und die Apparate klappten sehr geschäftig nach allen Seiten. Hier sitzt eine Mutter, die Ruder eingezogen, mit dem jüngsten Kind auf dem Schoß, drei ältere neben sich, und belehrt ihre Kleinen, wie sie mit ihren ärmlichen, schmutzigen Nastüchern unsere winkenden Grüße erwidern sollen. Dort füllt ein ganzes Rudel rotwangiger Buben und Mädchen ein Boot, dessen Ruder ein Backfisch handhabt, während sich die übrigen Insassen sehr seevertraut in dem schwankenden Fahrzeug lustig machen und oft mit halbem Körper nach dem Wasser überragen, um ein schwimmendes Stück Brot oder eine leere Konservenbüchse zu erhaschen. Sprach- und stimmlos vor Erstaunen war ein schwarzer Hund, der als Mittelpunkt einer fröhlich lachenden und winkenden Familie mit offenbar gespanntem Interesse das fremde Schauspiel musterte und unverwandt nach unserm Schiffe sah. Noch waren wir 10 Kilometer vom Ziele des heutigen Tages, von Gudwangen, entfernt; aber weiter durfte und konnte unser großer Oceandampfer nicht mehr in dem schmalen, vielfach gewundenen Meeresarme. Ein kleineres, aber schmuckes norwegisches Dampfboot, der „Kommandören“, war für den heutigen Tag von der Hapag gechartert; bald lag er an unserer Seite und auf breiter Verbindungsbrücke ergoß sich der Passagierstrom in wenigen Minuten herüber. Wir hatten einen prachtvollen Platz auf dem aussichtsreichen hohen Verdeck erobert und konnten nun die herrliche Fahrt vollauf genießen. Als das Schiff sich in Bewegung setzte, erschien eben die Sonne über den Bergen und spiegelte sich in der leicht gekräuselten Flut. Der Fjord verengte sich gegen Gudwangen zu flußartig; die Entfernung der Ufer beträgt kaum mehr 200 Meter und wenig fehlt, so berührt sich in der Luft der Staub der auf beiden Seiten herabstürzenden Schleierfälle. Rechts liegt eine reizende kleine Kirche, umgeben von Bauernhöfen, das Örtchen Bakke. Dahinter ein mächtig rauschender Wasserfall. Dort biegen wir nochmals um die Ecke; dann erscheint vor den Augen Gudwangen, ein paar Häuser und einige Hotels, von gewaltig aufragenden Bergen eingeschlossen; man begreift, daß sie im Winter monatelang die Sonne nicht zu sehen bekommen. Im Hafen lag bereits ein englischer Touristendampfer vor Anker, eine schlechte Vorbedeutung für den heutigen Tag; wir mußten erwarten, alles „abgeweidet“ zu finden, wo wir hinkamen, und das stimmte denn auch so ziemlich. Reiseziel war für alle das herrlich gelegene Stahlheim; von dort sollte ein Teil der Passagiere auf dem Landweg über Vossewangen nach Bergen fahren, während ein anderer Teil, abends per „Kommandören“ wieder auf die „Auguste Viktoria“ zurückgebracht, zur See die genannte Stadt erreichen wollte. Vom Landungsplatze längs der durch die kleine Ortschaft führenden Straße waren wohl an die hundert norwegische Karren und Kutschen aufgestellt, und man fragte sich, wo und wie dieses Heer von Wagen und Pferden eigentlich hergekommen sei. Die Reisefirma Beyer hatte offenbar alle Bauern von nah und fern mit ihrem Fuhrwerk für den heutigen Tag aufgeboten. Im Sturme wurde die Wagenburg genommen; glücklich diejenigen, welche sich einen Sitz zu erobern wußten; manch’ Einer, den das Schicksal zu einem Kariol verurteilte, wird sich nach mehrstündiger Fahrt auf der holprigen Bergstraße schmerzlich daran erinnert haben, daß sogar die Sitzgegend mit Empfindungsnerven bedacht ist. Für uns, die wir nicht unter Beyers Obhut, sondern als Wilde reisten, kam diesmal nur Schusters Rappen in Frage. Wir marschierten tapfer vorwärts, trotz der zu überwindenden 3½ Wegstunden; oft sauste dann die lange Wagenreihe an uns vorbei, gar nicht von uns beneidet, die wir den oft komischen Anstrengungen zur Erhaltung des Gleichgewichts und zur Entlastung des Sitzes auf staubiger Straße von grünen Wiesenpfaden aus zusehen konnten. Wo aber der Weg anstieg, da gewannen wir immer wieder einen Vorsprung, und schließlich waren wir nicht einmal die Letzten am Ziele. Wenig außerhalb Gudwangen war ein norwegischer Polizeiposten vor einem Schlagbaum aufgestellt, der jedes Fuhrwerk mit Bespannung genau musterte und nur passieren ließ, wenn die Beschaffenheit alle Garantie für ungefährdete Beförderung der Reisenden bot. Brüchiges Leder, geflickte Riemen und beschädigte Achsen wurden abgeschätzt. Diese Fürsorge der heiligen Hermandad hat uns sehr wohlthätig berührt. Unser Weg führte in das malerische _Naerödal_, welches als Fortsetzung des Fjords sich landeinwärts zieht und dessen wilden Charakter beibehält. Nach starker halbstündiger Steigung schritten wir durch ein mächtiges „Ur“, ein durch Absturz gebildetes Felsenmeer; dann gings durch eine wunderbare und großartige Thallandschaft meist an der Seite eines schäumenden Bergstromes und diesen mehrfach überbrückend. Die Szenerie beherrscht der aus weißlich-grauem Labradorstein mächtig aufgetürmte stumpfe Felskegel des Jordalsunt (1100 Meter). Endlich -- nach 2½ Stunden -- zeigte sich dem entzückten Auge das hochgelegene Stahlheimhotel; die „Klev“, der grüne Bergrücken, auf dessen Höhe es erbaut ist, schließt das Thal wie eine Riesenmauer vollständig ab, und in mächtigen, weithin sichtbaren Serpentinen steigt die Straße daran empor. Zwei Staubfälle stürzen rechts und links -- das Hotel zwischen sich lassend -- durch den grünen lichten Wald zu Thal und vereinigen sich unten zum ruhigen, aber immer noch ungestüm weiter fließenden Bergstrome. Einen prachtvollen Anblick gewährten frische Abbruchstellen an den dunkeln, senkrecht aufsteigenden Felsen, welche das Naerödal begrenzen und die wie carrarischer Marmor aussehen, bis auch sie im Laufe der Jahrzehnte durch Nässe und Moosansatz geschwärzt sein werden. -- Viele Fuhrwerke ließen unten an der Klev ihre Passagiere aussteigen und erwarteten, während die Pferde frei herumgrasten, deren Rückkehr. Nur diejenigen, welche nach Vossewangen weiter zu fahren gedachten, mußten ihre Wagen mit nach oben nehmen. Das war nun ein schöner, aber mühseliger Aufstieg zu diesem Stahlheimhotel; unter die entzückten Ausrufe über die jeder Beschreibung spottende herrliche Gegend mischten sich Weh und Ach von allen Seiten; denn die Sonne brannte fürchterlich, und der Durst wurde geradezu phänomenal; wo man sich erschöpft in kleineren und größeren Gruppen ins Gras oder auch glatt an den staubigen Wegrand geworfen, fiel aller Blick hülfesuchend nach oben -- zum Hotel; -- dort malte man sich kühle Räume und jedes ersehnte Labsal aus. -- Endlich waren wir oben. Aber o Schreck! Den großen Speisesaal fanden wir dicht besetzt bis auf den letzten Platz mit den zuerst eingetroffenen Unsrigen und mit den Engländern, deren Schiff wir in Gudwangen gesehen hatten. [Illustration: Stahlheim.] All’ unser Stürmen und Drängen und Schreien nach Brot und Trank nützte nichts; die Hotelleitung und Bedienung war in größter Verlegenheit, und schließlich sah sie sich genötigt, die Thüre zum Speisesaal einfach abzuschließen. Draußen tobte und polterte die „hungrige Bestie“; von drinnen her ertönte Eß- und Trinkgeräusch „der sich Sättigenden“, und so oft ein Pfropfen knallte, ging uns draußen ein Stich durchs Herz. Übrigens war die Verlegenheit eine beidseitige. Manch’ Einer kam im Sturmschritt von der Tafel zur Thüre gerannt, um eine dringliche Exkursion zu unternehmen, und wir Ausgeschlossenen amüsierten uns über die hastige Wut, mit welcher er erfolglos das Thor zu öffnen suchte, und bombardierten ihn durchs Schlüsselloch mit kleinen Aufmunterungen. Nach dreiviertelstündigem, mit Galgenhumor ausgefülltem Warten hieß es, daß bis in frühestens einer halben Stunde zum zweitenmal gedeckt würde. Das konnten wir nicht erleben; wir mußten ja rechtzeitig wieder in Gudwangen sein; also frisch hinein ins Unvermeidliche! Mit leerem Magen traten wir den Rückweg an; doch nein, unten im Hotel gelang es uns ja, eine halbe Flasche Sodawasser zu erstehen und in einer Art Verkaufslokal über den Pferdestallungen entdeckten wir neben Thongeschirr, Leder- und Eisenwaren in schmierigem Sacke etwas Eßbares, eine Art süßen Kleinbrots, das wir gierig verschlungen, während wir die Serpentine der Stahlheimklev hinuntereilten. Der Ausblick auf das zu Füßen liegende, dunkle Naerödal mit den beidseitig gewaltig aufsteigenden Bergen ist ein so großartiger, daß wir Hunger und Durst darüber vergaßen und meinten, hier sei wohl das Erhabenste, was wir in Norwegen gesehen. Aber die armen Beine! Bis jetzt hatte sie noch die sichere Hoffnung gestärkt, unten am Berg eine Rückfahrtgelegenheit nach Gudwangen zu finden -- Täuschungen und Trugbilder! Das letzte Pferd war mit Beschlag belegt. Da gab’s kein Besinnen. Tapfer und unverdrossen -- ja sogar in bester Laune -- fußten wir die drei Stunden zu Thal; als Lohn der That winkte uns ja im Haupthotel daselbst kühles Oell (Bier) und ein tüchtiges Abendessen. Doch auch das erwies sich als ~fata morgana~! Als wir endlich -- endlich Gudwangen und den blauen Fjord unmittelbar vor uns liegen sahen, da verdoppelten sich unsere Schritte und im Tempo des Gauls, der sich seiner Stallung und seinem Futtertroge nähert, langten wir beim Vikingwanghotel an. Kaum vermochte die lechzende Zunge das „Oell, Oell“ (Bier, Bier) noch herauszuschleudern; aber es gab kein Oell und auch nichts Vernünftiges zu essen; die bösen Engländer hatten, wie die Heuschrecken, mit allem aufgeräumt. Eine mitleidige Seele verkündete uns, daß eine Strecke weiter zurück im kleinen Gasthof bei Hansen Bier und allerlei zu haben sei. Also ohne Besinnen zurück zu Vater Hansen! Im kleinen, behaglichen Speisesaal, dessen leere Tafel noch die Überbleibsel der vorhergehenden Mahlzeit aufwies, däuchten wir uns bei Oell, Smoerrebroed (Butterbrot) und Ost (Käse) wie Könige, und die gestärkten Seelen gerieten sehr bald in jene fröhliche Stimmung, wie sie nach überwundenen Schwierigkeiten gerne sich einstellt. Bald kamen auch andere Naerödaler angelaufen, alle, wie wir, hungrig und durstig und nach Speis und Trank rufend; aber es gelang nur mit Mühe und oft auf komischen Umwegen, sich den zwei dienstbaren Geistern, ehrsamen Töchtern des Hauses, doch fürchterlich schwer von Begriffen, verständlich zu machen, und die Sprachverwirrung schuf die unglaublichsten Szenen. Daß die korpulente Frau Baronin X. Käse präsentiert erhielt, als sie zu wiederholten Malen Ansichtspostkarten verlangt hatte, brachte sie zwar ganz aus dem Häuschen, war aber begreiflich, denn ihre norwegischen Worte tönten ganz arabisch und aus den begleitenden Gesten konnte man ebensogut auf Limburgerkäse wie auf ein postalisches Kunstprodukt schließen. Das Norwegische muß eben in seinen Feinheiten verstanden und gekannt sein, wie ich gleich an einem Beispiel zeigen werde. Als nämlich -- durch das offene Fenster hereingewunken -- unsere Reisefreunde, Herr und Frau ~Dr.~ T. aus Rom, sich zu uns gesellten, mit viel Geschick beim Biertrinken mithalfen und über Hunger klagten, da suchte und fand ich unter den Ueberresten der Tafel einen offenbar eßbaren, nach Käse aussehenden gelblichen Kuchen, den ich sofort an unsern kleinen Tisch herüberholte. Mit gespannter Erwartung kosteten wir den Fremdkörper, um ihn sofort wieder unter den Zeichen des größten Abscheues -- das gemütliche Gesicht von Frau ~Dr.~ T. war geradezu in Angst und Entsetzen verzogen -- auf dem kürzesten Wege und mit entsprechenden Begleittönen durch das Fenster herauszubefördern -- das Gericht schmeckte abscheulich, bittersauersüß und weckte bei Katzenfreundinnen lebhafte Reminiscenzen an ihre Lieblinge. Nun galt es aber, Ursprung und Namen des schrecklichen Nahrungsmittels zu erfahren. Also: Norwegerinnen her! Sie kamen, die zwei Heben; indes war keine Möglichkeit, ihnen unsere Absicht irgendwie begreiflich zu machen; sie leisteten sehr bereitwillig und freundlich die unglaublichsten und verkehrtesten Dinge auf alle gestellten Fragen, ohne unser wahres Begehr zu ahnen, so daß schließlich unsere an die beweglichen und geistig regsamen Italiener gewohnte schweizerische Römerin die Geduld verlor und ihnen eine ganze Stufenleiter von der „Appele“ bis zur „Schneegans“ an den Kopf warf, mit halb wohlwollendem, halb ärgerlichem Lachen. Nun mußte der Vater Hansen her, um aus der Verlegenheit zu helfen; der alte, graue, gemütliche Kerl trat vor, und unter Anspannung der ganzen im Saale vorhandenen Intelligenz wurde ermittelt, daß das Gericht Museost heißt und ein Käse ist. Aber was für Käse? Der ernste Familienvater, ~Dr.~ T. aus Rom, setzte seine Arme als Geweih auf seinen Kopf und springt nach Art der Rentiere im Zimmer herum. Hansen winkt ab. Also kein Rentierkäs. Die stolze Römerin, Frau ~Dr.~ T., versieht sich ebenfalls mit Hörnern und ahmt den Gesang einer Kuh erschütternd ähnlich nach. Das scheint nun eher zu stimmen; doch deutet Vater Hansen mit seiner tief gehaltenen Hand, daß es sich um ein _kleineres_ gehörntes Tier handelt. Eine meiner Begleiterinnen fängt an zu meckern wie eine Ziege, worauf ein verklärtes Lächeln über das bärtige Gesicht des alten Hansen gleitet; mitmeckernd und kopfnickend bestätigt er die Vermutung. So hatten wir denn mit allseitiger geistiger und körperlicher Anstrengung und unter Aufwand all’ unserer norwegischen Sprachkenntnisse, vor allem aber unter fröhlichem und anhaltendem Lachen herausgebracht, daß das entsetzenerregende Gebilde „Geißkäs“ sei. Schließlich wurden wir noch recht familiär mit dem alten Wirte und ließen uns das ganze Haus und seine Angehörigen von ihm zeigen; Mutter Hansen saß -- eine gichtbrüchige Matrone -- im Sorgenstuhl; aber ihre Augen leuchteten so freundlich und in dem Stübchen war alles so voll Blumen, daß ein Gedanke an Krankheit und Schmerz hier gar nicht aufkommen konnte. Der Museost hat uns sofort noch ein weiteres kleines Vergnügen bereitet. Wir waren schon am Strande, neben übermütig spielenden Schafen ins Grün gelagert, um den uns abholenden Kommandören zu erwarten, als noch Einer der Unsrigen staubschwer, schweißtriefend und erquickungsbedürftig dort anlangte. Sein Verlangen nach Speis und Trank steigerten wir aufs höchste durch die Schilderung des kühlen Biers bei Vater Hansen und vor allem „des ganz deliciösen norwegischen Nationalgerichts“, des Museost. Es war grausam, den müden Wanderer so hungern zu lassen, und so machten ~Dr.~ T’s. und ich uns nochmals auf die Strümpfe als Wegweiser und Zeugen für den zu vollziehenden Eßakt. Das arme hungrige Opfer unserer Grausamkeit führte sich sofort ein tüchtiges Stück des köstlichen „Nationalgerichtes“ zum Munde und war in Erinnerung an das uneingeschränkte Lob, das wir ihm gezollt, zu höflich, um sofort seine wahre Empfindung zu zeigen und das Gegenteil zu behaupten; er kaute also mit Todesverachtung, während ~Dr.~ T’s. Gesicht im Kampf mit dem Lachen wetterleuchtende Grimassen schnitt, als ob ihn das Zahnweh plagte, und seine Gattin unsagbar gleichgültig im Zimmer umherschaute. Aber plötzlich ging’s nicht mehr; man platzte los mit Lachen, und in der nämlichen Sekunde war unser Museostkoster, die Situation begreifend, vom Stuhle auf und zum Fenster geflogen, und uns blieb nachher die Pflicht, einige Flaschen kühlen Oells als geschmackverbesserndes Heilmittel und zur Sühne für unsere Bosheit zu stiften. Um halb 8 Uhr waren wieder alle, welche den Seeweg nach Bergen der Ueberlandtour vorzogen, an Bord des Kommandören, der uns durch die wilde Pracht des Naerofjords nach unserer schwimmenden Heimat, der „Auguste Viktoria“, zurückführte. Ein besonders nettes Bild boten bei der Wegfahrt von Gudwangen einige Pferde, welche ohne Führung sich auf dem malerischen Küstenpfade nach Bakke ihren Heimweg suchten, ab und zu ein Maul voll grasend, hie und da auch einen erstaunten Blick auf den vorbeirauschenden Dampfer werfend. Erst um halb 10 Uhr waren wir wieder in unsern gewohnten Schiffsräumen; dort wurde uns -- als Lohn des mühevollen Tages -- trotz der späten Stunde noch ein vorzügliches Essen serviert, und während wir uns sättigten, steuerte unser schwimmendes Hotel sicher zwischen drohenden Felswänden dem Ausgange des Sognefjords zu. ~XV.~ An der Stätte der Frithjofssage. -- Ankunft in Bergen. -- Das norwegische Hamburg. -- Im Leprahospital. -- Fahrt nach Yttre-Arne. -- Heimat in fremdem Lande. -- Mange tak. Es konnte nach Mitternacht werden, bis wir die klassischen Stätten der Frithjofssage berührten; aber diesmal wollten wir sie uns nicht entgehen lassen. In Esaias Tegners herrliche Dichtung versunken saßen wir an einsamer Stelle unseres Schiffes. Die Sonne war nach 10 Uhr untergegangen und eine laue, helle Nacht lagerte über der Fjordlandschaft. Zum erstenmal nach 14 Tagen grüßte uns wieder ein alter lieber Freund, der silberne Mond, dessen bisher aschgrauer Umriß im Glanze der Mitternachtssonne vollständig außer Beobachtung gefallen war. In erwartungsvoller Stille glitt unser Schiff auf der dunkelglänzenden Flut vorwärts, und eine fast andächtige Gemeinde saß auf Deck versammelt, die Augen vorwärts gerichtet. Da taucht am südlichen Ufer eine tiefgrüne, weit in den Fjord vorgeschobene Landzunge auf, die etwas zurückliegend auf der Höhe ein freundliches weißes Kirchlein zeigt. Hier ist Vangnaes, das klassische Framnaes, und hieher verlegt die Sage den Wohnsitz des Wikingssprossen Frithjof. Von gegenüber grüßte vielfacher Lichterschein; einige große Hotels und reizend im Grünen liegende Villen kündeten den herrlichen Balestrand, wo einst Ingeborg in ihres Vaters Königspalast wohnte. Und nun folgte ein Intermezzo, das der sinnige Kapitän für uns ausgedacht und das allen Teilnehmern in freundlicher, ja erhebender Erinnerung bleiben wird. Das Schiff hielt an mitten im Fjord angesichts der beiden klassischen Stätten, deren auch in der Dämmerung auffallend lebendiges Grün ein herrliches Schneegebirgspanorama als Hintergrund hatte. Sechs Böllerschüsse erschütterten die Luft und fanden ein mächtiges Echo, das über die Flut zu rollen schien. Dann stiegen Raketen auf, die Strandbewohner zu grüßen, und während unsere Kapelle die ergreifende norwegische Nationalhymne spielte, zündeten bengalische Feuergarben vom Bootsdeck unseres Schiffes herab weit ins Meer und Land hinein und erzeugten einen wunderbaren Farbeneffekt in dem nachtträumerischen Naturgemälde. In Balestrand wurde es alsbald lebendig; dutzende von Booten kamen hergefahren und jubelten uns zu, in richtigem Verständnis dessen, was wir hier hatten feiern wollen. Das war eine erhabene und von allem Gewöhnlichen und Alltäglichen unberührte Seelenstimmung, da wir um Mitternacht im Sognefjord die Bautasteine von Bele und Thorsten und die Schatten Frithjofs und Ingeborgs grüßten, und ich erwachte wie aus schönem Traume, als unser Dampfer plötzlich wieder vorwärtszurauschen begann. Lange noch tönten -- immer schwächer werdend -- die Abschiedsrufe der Balestrander an unser Ohr. Zwischen 3 und 4 Uhr erreichten wir das offene Meer, wobei wir die vor der Mündung des Fjords liegende gebirgige Inselgruppe Sulenör -- die Solundar-Oe der Frithjofssage -- rechts liegen ließen. „Fern hebt aus der Flut Sich Solundar-Oe; Sturmgeborgen ruht In der Bucht die See.“ In aller Morgenfrühe des 21. Juli waren wir wieder auf Deck, um die Einfahrt nach Bergen zu sehen. Durch ein wahres Chaos von Inseln, die meisten als kahle, aber unendlich vielgestaltige Felsen sich über die Meeresfläche erhebend, sucht das Schiff seinen Weg gegen das Festland. Die Küste ist anfänglich fast ohne alle Vegetation; auf den niedrigen, durch die Gletscher der Eiszeit abgeschliffenen Vorbergen sieht man nur hie und da ein weithin leuchtendes Fischer- und Schifferzeichen. Bei weiterm Vordringen werden die Berge höher, zum Teil bewaldet, die Küsten zeigen Ansiedlungen; auf der Höhe sind die Festungswerke sichtbar und allerlei ungewohnte Bauten: mächtige, nach Art der Gasometer erstellte Petroleumreservoirs, Fabrikkamine, elektrische Starkstromanlagen lassen die Nähe einer größern Stadt vermuten. Plötzlich, da wir um eine Ecke biegen, liegt sie vor uns, hüllt sich aber, um ihren alten Ruf als Regennest zu wahren, sofort in ein Wasserfäden- und Nebelgewand. Schon glaubten wir, zum erstenmal auf unserer Reise vom Regenschirm Gebrauch machen zu müssen, als das Wetter plötzlich änderte und eine herrliche, lichte Sonne auf die regenglänzende Stadt herabzuscheinen begann; sie ist uns während des ganzen Aufenthaltes in Bergen treu geblieben, und das sei -- so hieß es -- das größte Wunder der ganzen Nordlandfahrt; denn „in Bergen regnet’s so beharrlich, daß dort die Kinder mit dem Regenschirm zur Welt kommen“, sagt der nordische Volksmund. Das „norwegische Hamburg“ grüßte die „Auguste Viktoria“ beim Einfahren mit weithin dröhnenden Kanonenschüssen aus der Bergenhusfestung, die in sechs- bis siebenfachem Echo widerhallten. Unser Schiff kreuzte einige Zeit vor dem Hafeneingang, um den Anblick des wirklich schönen Städtebildes recht ausgiebig zu gewähren, und lenkte dann vorüber an der grünen Halbinsel Nordnaes mit prächtigen, terrassenförmig ansteigenden Gärten in den Buddefjord, wo der Anker ausgeworfen wurde. Sofort begann das Ausbooten; da wir aber bis zum folgenden Abend in Bergen liegen sollten, blieben wir Drei ruhig noch einige Stunden an Bord, wo uns in den menschenleeren Räumen keine plaudernde Gesellschaft am Lesen und Schreiben störte. Von Zeit zu Zeit stürmten wir dann wieder aufs Verdeck, um den interessanten Leben und Treiben im Hafen zuzusehen und unser Auge an dem malerischen Landschaftsbilde zu sättigen. Bergen ist eine der ältesten, aber auch der schönsten Städte Norwegens. Ihre Einwohnerzahl beträgt 70,000. Trotz der nördlichen Lage -- es liegt etwas nördlicher als die Südspitze von Grönland und Petersburg -- findet man hier fast alle Laubbäume Deutschlands und einen herrlichen Blumenflor. Dadurch, daß die reiche Kultur des Stadtbezirkes unmittelbar an die Gebirgswüsten grenzt, entsteht eine sofort in die Augen fallende Kontrastwirkung, welche einen das Landschaftsbild nicht so bald vergessen läßt. Die Häuser Bergens liegen um den Haupthafen, die sog. Vaagen, herum, einerseits die langgestreckte Landzunge Nordnaes bedeckend, auf der andern Seite über die Felshöhen unter dem steilen Flöifjeld ansteigend. Ich wußte, daß der Sprößling eines thurgauischen Pfarrhauses und Bruder eines meiner Studienkameraden seit langen Jahren in der Nähe von Bergen lebte, und hatte ihm deshalb lange zuvor die Ankunft von engeren Landsleuten auf der „Auguste Viktoria“ mitgeteilt und ihn gebeten, uns einige Stunden zu widmen. Persönlich kannte ich den thurgauischen Norweger nicht; ich hatte ihn in meinem Leben nie gesehen; aber als ich so gegen 11 Uhr wieder einmal auf Deck trat, um die Augen voll nordischer Welt zu schöpfen, da sah ich über die Brüstung unseres Schiffes gelehnt das Ebenbild eines gemütvollen Geistlichen, mit welchem ich s. Z. zwei Jahre im Kantonsspital in Münsterlingen zusammen geatmet hatte und der mir in freundlichem und lebhaftem Andenken geblieben ist. Ich klopfte ihm ohne weiteres auf die biedere Thurgauerschulter und wir begrüßten uns wie alte Bekannte, die sofort in gemeinschaftliche Erinnerungen sich zu versenken begannen. Ein Glas Münchner frisch vom Faß -- dem norwegisch Gewöhnten ein ganz besonderer und seltener Genuß -- wurde auf unser erstes Zusammentreffen genossen; nachher saßen wir vergnügt an der Schiffstafel und plauderten von der Heimat, daß die Stunden nur so dahinflogen und wir später als alle anderen Schiffspassagiere uns endlich aufmachten, um ans Land zu fahren und Bergen aus der Nähe kennen zu lernen. Dabei wurde denn nun allerdings unser freundlicher Führer mit Fragen bombardiert und ausgequetscht wie eine Zitrone; er hat uns zahllose interessante Auskünfte über Land und Leute in Norwegen gegeben und meine vorläufig gefaßte Meinung bestätigt, daß die Bewohner dieses nordischen harten Gebirgslandes mit uns Schweizern in vielen Beziehungen die größte Aehnlichkeit haben, u. a. auch hinsichtlich ihres nationalen Unabhängigkeitsgefühls. Bekanntlich wurde im Jahre 1814 durch Beschluß der in Christiania versammelten Reichsvertretung die bisherige Union Norwegens mit Dänemark gelöst und der schwedische König, nachdem er das norwegische Grundgesetz beschworen, zum König von Norwegen gewählt. Seit Jahrzehnten aber geht eine immer stärker werdende politische Strömung durch das Land, welche die völlige Lösung der Union zum Ziele hat. Als äußerliches Zeichen dieser erstrebten Unabhängigkeit verlangen die Norweger die Entfernung des Unionszeichens aus ihrer Landesflagge, die sogenannte „reine Flagge“. Dreimal hat die Volksvertretung, der Storthing, dieselbe beschlossen; zum drittenmal hat der König, von seinem Rechte Gebrauch machend, sein Veto dagegen eingelegt; nachdem auch nach dem dritten Veto der neugewählte Storthing auf den Beschlüssen des frühern beharrt, hat der König nichts mehr zu verbieten, und vom Herbst 1899 an wird es nicht nur wie bis jetzt geduldet, sondern gesetzlich geboten sein, das in der obern äußeren Ecke sitzende Unionszeichen auszumerzen und die reine Flagge zu führen. Im Norden sahen wir lauter reine Flaggen ausgehängt; in Bergen aber war ab und zu noch die Unionsflagge zu sehen. Norwegen hat den Ruf, im Kampfe gegen den Alkoholismus gesetzgeberisch am meisten gethan und auch am meisten erreicht zu haben. Das Alkoholmonopol, das im ganzen Lande herrscht, ist nicht staatlich, sondern kommunal. Jede Gemeinde hat sich das Recht des Verkaufs geistiger Getränke gewahrt, und da die Zahl der konzessionierten Verkaufsstellen eine geringe ist, stolpert man nicht wie bei uns jedes zweite Haus über eine Kneipe. Betrunkene haben wir sehr wenige gesehen; doch sagte unser Führer, daß die Trunksucht immer noch als nationales Uebel gelte, wenn auch anderseits die Abstinenzbewegung größere Fortschritte aufweise als in jedem andern Lande. Der beträchtliche Gewinn, welcher den Gemeindekassen aus dem Alkoholverkauf erwächst, darf nur zu wohlthätigen Zwecken verwendet werden. Unser Streifzug durch die Straßen Bergens führte uns zu manch’ Interessantem. Ein auffälliger, mit Säulen gezierter -- im übrigen schlichter -- Holzbau ist das Nationaltheater, das der berühmte Geiger Ole Bull (ich hörte ihn 1878 als siebenzigjährigen Greis in Wien noch konzertieren) in den Vierziger Jahren aus eigenen Mitteln erstellen ließ, in der Absicht, seinem geliebten norwegischen Volke den Sinn für dramatische Kunst zu wecken. Schön modelliert ist das auf großem freiem Platze erstellte Standbild Christiés, des Befreiers der Norweger von Dänemark und Präsidenten des ersten Storthings (1814). Nicht nur als hervorragender Handels- und Hafenplatz läßt sich Bergen mit Hamburg vergleichen, sondern auch im Städtebild liegt -- die Dimensionen natürlich außer Betracht gelassen -- eine gewisse Aehnlichkeit, indem, gleich wie in Hamburg das große und das kleine Alsterbassin, hier zwei Wasserbecken, von Gärten und Neubauten bekränzt, zum Weichbild der norwegischen Stadt gehören. Dagegen hat Bergen -- im Gegensatz zu Hamburg -- fast gar keine Juden; denn bis vor kurzer Zeit konnten israelitische Kaufleute in Norwegen nicht niederlassungsberechtigt werden, und erst der geistreiche politische Poet und Satyriker und radikale Umstürzler Wergeland hat dem Volk Israel die nordischen Thore geöffnet. Das interessanteste Stück von Bergen sind der Fischmarkt und die Tydskebryggen (deutsche Brücke) an der Vorderseite des Vaagen-Hafens, letztere ein Quai mit einer langen Reihe jener altdeutschen Giebelhäuser, wie sie von den Hansastädten her bekannt sind, die einstigen Wohn- und Geschäftsräume der hanseatischen Kaufleute aus Lübeck, Bremen und Hamburg. Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts haben nämlich die Hanseaten den ganzen Bergischen Handel an sich gerissen; dies war gleichbedeutend mit kommerzieller Beschlagnahme vom ganzen Norden Norwegens, denn ein Privileg zwang das gesamte Nordland, den Ertrag der Fischerei nur nach Bergen zu bringen. Der Fischhandel war von jeher und ist auch heute noch die Grundlage des Reichtums von Bergen, und die Gründung des „hanseatischen Kontors“ bedeutete einen mächtigen Aufschwung für den Handel der Stadt, der sich auch nach der Aufhebung dieses Monopols auf gleicher Höhe erhalten hat. In das Leben und Treiben der hanseatischen Zeit gewährt ein Besuch des sogenannten hanseatischen Museums einen höchst interessanten und lebendigen, aber keineswegs wohlthuenden Einblick. Das eine der alten Häuser an der Tydskebryggen ist nämlich noch vollständig im ursprünglichen Zustande erhalten. Im Erdgeschoß befinden sich weite Räume, Magazine, in welchen die Warenvorräte lagerten. Im ersten Stock betritt man durch einen Vorsaal mit alter, origineller Zugglocke die Hauptstube, das Kontor des Vertreters der Firma; dort wurde gehandelt; nach welchen Grundsätzen, ist ersichtlich aus zwei vorgewiesenen mächtigen Gewichtssteinen, ganz gleich in der Größe, aber durch angeschmolzenes Blei sehr ungleich im Gewichte; der leichtere fand beim Verkaufe, der schwerere beim Einkaufe Verwendung. [Illustration: Bergen.] Alle Möbel und Gebrauchsgegenstände sind die originalen, in vergangenen Jahrhunderten gebrauchten. So auch im Speisezimmer, wo vor allem riesige Zinnhumpen, mehrere Liter haltend, auffallen. Diese Herren Hanseaten, respektive die hier wohnenden Vertreter, meist jüngere Leute, die nicht verheiratet sein durften, müssen fürchterlich gekneipt haben; der herumführende norwegische Wächter schloß wenigstens fast jeden Abschnitt seiner in sehr holperigem Deutsch gegebenen Erklärung mit dem Nachsatze: „denn sie waren immer besoffen.“ Jedenfalls wurde in diesen Handelshäfen, namentlich im Winter, wo jede Arbeit ruhte, ein zügelloses Lasterleben geführt; viele Vergehen gegen Recht und Sitte konnten einfach mit Geld gesühnt werden, und wenn die aufgestellten eisernen Strafenbüchsen voll waren, so wurde der Inhalt gemeinschaftlich in Bier und Wein und Schnaps umgesetzt. Sehr wenig einladend sind die Schlafstellen dieser Kaufleute; man öffnet eine Kastenthüre, und in dem Kasten liegt ein schmales Bett, in welchem sich ein erwachsener Mensch kaum rühren kann; ist die Thüre geschlossen, so liegt man wie in einem Sarge. Ein kleiner geheimer Schieber im Bettkasten des Chefs ermöglichte demselben von der Schlafstätte aus die Kontrolle seiner Gesellen im nebenanliegenden Kontor. Hier traute keiner dem andern. Eine geheime Treppe, die vom Speisezimmer nach oben und auf Umwegen ins Freie führte, wird auch kaum ehrlichen und anständigen Zwecken gedient haben. Im zweiten Stock der Häuser lagen dann die Kläven (Konklave), d. h. die Schlafkasten der Gesellen und Diener. Licht oder Feuer durfte im Hauptgebäude während des ganzen langen Winters nie angezündet werden; „denn sie waren immer besoffen“ motivierte der Führer. Deshalb befand sich dann weiter zurück im Hofe, in der Nähe des zugehörigen Gemüsegartens, die sogenannte Schüttstube, ein gemeinschaftliches Versammlungshaus für sämtliche Bewohner eines Geschäftes; noch weiter zurück, aber unmittelbar anstoßend, lagen Quartiere für liederliches Gesindel. So war jeder der vielen dicht neben einander liegenden Verkaufshöfe beschaffen, und feste Palissaden, durch gefürchtete Bulldoggen verstärkt, hielten Unberufene von diesem Nachtleben der hanseatischen Kontoristen fern. Das Ganze bildete für sich einen Staat im Staate, der zirka 3000 Seelen zählte. Dem papierenen Gesetz nach mußten alle männlichen Geschlechtes sein und auch weibliche Bedienung war verboten. Die Bürgerschaft von Bergen hatte manchen schlimmen Akt der Willkür von der deutschen Hansa zu ertragen; aber von Mitte des sechzehnten Jahrhunderts an wurde ihre Macht im Norden gebrochen und 1763 ging die letzte „Stube“ durch Kauf an einen Norweger über. Ebenfalls in ursprünglicher Form erhalten sind die zu jedem Hanseatenhaus gehörigen hölzernen Landungsbrücken, jede mit einem primitiven mächtigen Vippebom (Wippenbaum) -- eine Art hölzernen Krahnens -- versehen, zum Ausladen der Fische, welche von den nordländischen Schiffen hiehergebracht werden. Da sahen wir denn ein außerordentlich interessantes Treiben, überall geschäftige Fischer und Händler und eine Menge von fremden und ungewohnten Produkten, alle dem Meere entstammend. Zu Millionen wird hier der getrocknete Stockfisch ausgeladen, in den über der Quaistraße liegenden Magazinen sortiert und in Büscheln zusammengebunden, die genau wie dürres Holz aussehen. Die gewöhnliche Jahreszufuhr beträgt 25 bis 30 Millionen Stück; dieses Jahr war die Ausbeute viel geringer, weshalb der Preis per größern Fisch sich auf 50 Oere = zirka 70 Rappen stellt gegenüber 25 Oere vom letzten Jahre. An anderer Stelle waren Männer beschäftigt, die zirka handtellergroßen Eierstöcke vom Dorsch in große Fässer zu verpacken und einzusalzen; dieselben wandern alle nach der französischen Küste, wo sie zum Sardinenfang benützt werden. Ins seichte Küstenmeer geworfen, locken sie die kostbaren Fische in Scharen herbei. Auch alle Produkte der Thranindustrie waren hier zu sehen, z. B. Thran in allen Reinigungsphasen. Der sorgfältigst mit Dampf gereinigte Medizinalthran wurde vom Verkäufer auf 50 Kronen, zirka 70 Franken, per Faß (116 Liter inklusive Doppelfaß) gewertet. Alle derartigen Auskünfte besorgte uns bereitwilligst unser zuvorkommende Landsmann, der den ganzen Nachmittag als trefflicher Dolmetsch unermüdlich funktionierte und bei den Eingeborenen offenbar als waschechter Norweger galt; ihre Landessprache ist ihm natürlich vollkommen geläufig, während das liebe „Schwyzerdütsch“, so sehr er sich freute, es sprechen zu können, ihm ab und zu kleine Verlegenheiten brachte -- begreiflicherweise; denn er ist, wie er uns sagte, der einzige niedergelassene Schweizer in Bergen, ja in ganz Norwegen, findet also nie Anlaß, sich in seiner Muttersprache auszudrücken, und wenn er seinen Buben vom alten Heimatlande und vom Tell und Winkelried erzählt, so thut er’s auf gut norwegisch. Ermüdet von Kreuz- und Quergängen durch die interessantesten Stadtquartiere und vom Durchstöbern manches Kaufladens, wobei wir namentlich in Pelzwaren wunderbare Dinge sahen, kehrten wir schon am frühen Abend auf unser Schiff zurück, nachdem wir unser Programm für den folgenden Tag festgesetzt hatten. Einer freundlichen Aufforderung unseres Landsmannes folgend verabredeten wir, uns vormittags 11 Uhr an der Landungsstelle der Dampfbarkassen zu treffen und per Wagen nach Yttre-Arne, seinem Wohnort, zu fahren. Unterdessen kehrten auch allmählich unsere Mitpassagiere auf der „Auguste Viktoria“, welche von Stahlheim über Vossevangen, d. h. auf dem Landwege Bergen erreicht hatten, an Bord zurück, und abends waren wir wieder vollzählig an der Tafel, unsere lieben Holsteiner und das botanische Ehepaar voll Entzücken über die Reize ihrer Überlandpartie. Die Menschen, die man vor drei Wochen noch scheu und fremd von der Seite angesehen, grüßte man jetzt nach vierundzwanzigstündiger Trennung bereits als alte Bekannte, und man empfand schon hier und noch mehr zwei Tage später bei dem definitiven Abschiede, daß die Erinnerung an das gemeinschaftlich erlebte Schöne und Erhabene ein Band fürs Leben bleiben wird. Bei der Abendtafel spielte unsere Kapelle u. a. des deutschen Kaisers „Gesang an Aegir“, und gleichzeitig wurden elegant (an Bord) gedruckte Karten verteilt mit dem Wortlaute des Einladungstelegramms von Wilhelm ~II.~ und einer eben als Antwort auf eine Dankesadresse eingegangenen in Drontheim aufgegebenen Depesche folgenden Inhalts: „Es ist mir eine Freude gewesen, den Passagieren die Besichtigung des „Hohenzollern“ gewähren zu können, und bitte denselben meinen Dank für das freundliche Telegramm auszusprechen. Ich wünsche der „Auguste Viktoria“ glückliche Fahrt und Heimkehr. Wilhelm. ~I. R.~“ Das „schwache Geschlecht“ wurde neuerdings mit einer Gabe der galanten Hapag erfreut; jede Dame erhielt in elegantem Etui mit dem aufgedruckten Bilde von der „Auguste Viktoria“ und ihrem wackern Kapitän eine Kollektion feiner Chokoladebonbons und außerdem die ganze Sammlung der während unserer Fahrt verwendeten, künstlerisch ausgestatteten Menus. Die späten Abendstunden waren zauberhaft schön; in herrlicher Beleuchtung der sinkenden Sonne kreisten malerische Segler und Boote aller Arten um unser Schiff; aus manchen ertönten, von hellen Stimmen gesungen, nordische Weisen an unser Ohr; von andern schallten fröhliches Lachen und freundliche Grüße herauf, und erst spät in der Nacht mochte man sich von dem schönen Schauspiel trennen. Am andern Morgen besuchten wir in aller Frühe den Fischmarkt, der höchst interessant ist. Was da für merkwürdige Gebilde des Meeres in den mächtigen Verkaufseimern herumzappeln! Aber die gutmütigsten norwegischen Gesichter haben sich bei diesem Verkaufsgeschäfte eine gewohnheitsgemäße Grausamkeit angeeignet, die auch einem nicht sentimentalen Ungewohnten peinlich auffällt. Was der Käufer oder vielleicht eine sonst zart besaitete junge Bergerin sich an lebender Ware auswählt, das wird -- während harmlosen Geplauders -- mit einigen Messerhieben bewegungs- und fluchtunfähig gemacht, um wo möglich noch lebend im Korb in die Küche zu kommen. Unter den lebenden Fischen fielen uns besonders ganz intensiv blaugefärbte von forellenähnlichem Bau auf. Manche Fische sind so groß, daß sie kilo- und zehnkiloweise mit breitem Haumesser auf der Fleischbank ausgewogen werden. Den übrigen Teil des Vormittags verwendete ich dazu, ein Stück menschlichen Elendes zu sehen. Im Südosten der Stadt liegt, mit elektrischem Tram bequem erreichbar, zwischen der Hauptstraße und dem großen Lungegaardssee, durch einen schattigen Garten an den letztern grenzend, das Spital für Aussätzige. Der Aussatz -- diese schreckliche, schon Moses bekannte Krankheit -- kommt in Norwegen noch relativ häufig vor, ist aber glücklicherweise doch in stetem Abnehmen begriffen. 1870 zählte man daselbst (auf nicht ganz zwei Millionen Einwohner) noch 2526 Lepröse (~lepra~ = Aussatz), 1880: 1795, 1890: 954, und jetzt beträgt die Zahl der Beklagenswerten nur noch 5-600. Strenge sanitätspolizeiliche Maßregeln und vor allem das Heiratsverbot für Aussätzige tragen wohl das Wesentliche zu der Verminderung dieser schrecklichen Krankheit bei. Wo Mittel und Verhältnisse eine Isolierung des Kranken nicht gestatten, muss derselbe in das Lepraspital gebracht und zeitlebens dort versorgt werden, sofern eine vorübergehende Besserung, resp. ein Stillstand des Leidens nicht eine temporäre Entlassung gestattet. Das von mir besuchte Haus ist ein älteres geräumiges Holzgebäude, das allerdings kaum den jetzigen Anforderungen an ein Hospital entspricht. Obschon die Zimmer groß sind, war die Luft oft entsetzlich verpestet und manchen Anforderungen an Reinlichkeit und gesundheitliche Vorkehren nicht Genüge gethan. Die Krankheitsbilder, die man hier sieht, sind zum Teil entsetzliche; ich will die Leser mit Schilderungen verschonen. Aber auch junge, frische, kräftige Leute saßen da, an welchen die ersten Spuren des Verderbens kaum in Form einiger blaßroter Knötchen zu erkennen waren. Vertreten sind unter den zirka 250 Kranken alle Altersstufen, vom 10jährigen Kinde bis zur 84jährigen Greisin, letztere seit 60 Jahren krank und in der Anstalt. Entsetzlich ist folgende Familientragödie: Ein Mann, aus gesunder Familie war kurze Zeit mit einer Frau verheiratet, bei welcher sich Spuren der Lepra zeigten. Sie starb. In zweiter Ehe heiratete er eine ganz gesunde Bauerntochter. Während er selbst gesund blieb, erkrankte seine zweite Frau und sämtliche vier Kinder, die sie ihm gebar, an der schrecklichen Krankheit. Drei davon sah ich beisammen in der Anstalt, zwei bereits mit Knötchenbildung im Auge, was mit mathematischer Sicherheit allmähliche Erblindung bedeutet. -- Chef des Lepra-Hauses ist der berühmte ~Dr.~ Armauer Hansen, der 1881 den Leprabacillus entdeckte, leider bisher ohne Erfolg für die Bekämpfung der Seuche. Gerne entfloh ich dem Hause des menschlichen Elends, immerhin die Überzeugung mit mir nehmend, daß dort das Schicksal der Armen so erträglich als möglich gestaltet ist. Sie schienen sogar zum größern Teil ganz sorglos und getrost zu sein; aber die Erinnerung an einige besonders Elende mit leeren Augenhöhlen, zum Teil abgefallenen Fingern und Zehen und geschwärig verengter Stimmritze, so daß sie nur durch von außen in die Luftröhre geschnittene Kanüle atmen können, geht mir doch heute noch nach. Neben dem Lepraspital liegt ein großer Friedhof; dort harrten meiner neben dem Grabe Ole Bulls meine Gefährtinnen, und -- unter dem Eindrucke meiner Erzählungen etwas weniger froh, als wir gekommen, -- kehrten wir nochmals auf unser Schiff zurück, um uns für den freundlicheren Teil des Tages, die Fahrt nach Yttre-Arne, bereit zu machen. Da stund er ja schon, unser Landsmann, und hielt einen bequemen Zweispänner für uns in Bereitschaft, und vorwärts ging’s quer durch die Stadt und dann durch die ganze Länge der nördlichen Vorstadt Sandviken. Von dort an steigt die schöne Straße in ungeheuren Windungen steil am Felsengebirge in die Höhe und läßt bald die neue Bergensche Irrenanstalt unmittelbar links liegen. Während wir den erhabenen Ausblick auf die zu Füßen liegende Stadt und das Meer genossen, tönte das Schreien Wahnsinniger an unser Ohr, und von oben herab sah man die verschiedenartigsten Formen Geisteskranker in den ummauerten Gärten umherschleichen oder -- toben. Endlich waren wir, entfernt von allem menschlichen Elend, auf der Höhe des Berges; nochmals grüßte der Blick das wunderbare Panorama; dann führte die Straße auf einem öden, steinigen und wenig bewachsenen Hochplateau vorwärts, vorbei an einigen kleinen Bergseen, zu Füßen steil aufsteigender Gebirgsstöcke. Oft unterbrechen Nadelholzgruppen oder glühend rote Ericafelder die monotone Felsenlandschaft; hie und da sprießen auch spärliche Weiden und dann zeigen sich menschliche Wohnstätten in der Nähe; an den meisten Stellen war das niedrige Berggras abgeschnitten und an den früher beschriebenen Holzhecken zum Dörren aufgehängt, was bei dem häufigen Regen nach Aussage unseres Begleiters oft 2-3 Wochen in Anspruch nimmt. In zwei Stunden sollten wir am Bestimmungsorte sein; aber schon waren fast drei Stunden vorüber und das Ziel noch nicht sichtbar. Das versetzte uns in eine äußerst unbehagliche Stimmung; wir _mußten_ ja spätestens halb 7 Uhr wieder in Bergen sein, um die Abfahrt unseres Schiffes nicht zu verfehlen, und wenn wir uns vergegenwärtigten, daß wir -- vielleicht durch irgend ein Mißgeschick mit unserm Vehikel -- den Zeitpunkt nicht innehalten könnten, so lief’s uns ganz heiß über den Rücken. Das wäre gleichbedeutend gewesen mit achttägiger Verspätung, ganz abgesehen davon, daß wir ja alles zum Dasein Nötige in unseren Kabinen liegen hatten. Aber endlich senkte sich die Straße, vorbei an einem See, dem Wasserreservoir für die Baumwollfabriken unseres Landsmannes, hinunter zu einem dunkelblauen Fjord, und kurze Zeit darauf führte uns der liebenswürdige Gastfreund in sein behagliches Heim, eine ganz heimelig unter Bäumen gelegene Holzvilla. Erfreut sprangen uns entgegen die Kinder des Hauses, drei fröhliche Jungen, die mit norwegischen Knixen uns begrüßten, und der prächtige, treue Haushund Nero, der vor Vergnügen über die Rückkehr seines Herrn die ausgelassensten Sprünge machte. In dem geräumigen Wohnzimmer wartete unser eine behaglich gedeckte und blumengeschmückte Tafel; von den Wänden und Ecken grüßten lauter heimatliche Erinnerungen, an dem Ehrenplatze das Pfarrhaus in Güttingen und die einstigen Insassen; auf dem Rauchtische lag neben Pfeife und Aschenbecher die „Thurgauer Zeitung“. So waren wir denn daheim, und nach dem Essen setzte man sich plaudernd zum Kaffee auf die anstoßende Veranda, welche ganz direkt über dem Wasserspiegel des Fjords liegt und zwischen dem Grün der Gartenbäume einen Ausblick voll wohlthuender Ruhe und Stille gewährt. Kleine Geschenke, welche wir den drei braven Jungen von Verwandten aus der Schweiz zu überbringen hatten, wurden von denselben mit rascher Beugung des Kopfes und freundlichem Mange tak (Vielen Dank) entgegengenommen. Nachher ging’s unter der Führung von Vater und Söhnen (die Mama war leider abwesend) in jeden Winkel von Haus und Garten, in dem uns unter anderm mit Stolz ein früchtetragender Kirschbaum gezeigt wurde. Yttre-Arne existierte vor 40 Jahren noch gar nicht. Damals kam der Schwiegervater unsers Landsmannes aus Schleswig-Holstein ins Land und fing an, eine vorhandene Wasserkraft durch Erstellung einer kleinen Baumwollspinnerei auszunützen. Und heute ist der Platz eine stattliche Kolonie: verschiedene Fabrikgebäude, zahlreiche Arbeiterhäuser, Villen, Kirche, Schulhaus; das Ganze macht vom Fjord aus den Eindruck einer kleinen Stadt, und alles hat die Energie eines einzigen Mannes aus dem Boden gezaubert. Die Fabrikarbeiter verdienen hier bei 61 Wochenstunden 3 bis 4 Franken per Tag und haben recht nette Wohnungen mit kleinem Grundbesitz. Zu diesem wohlthuenden Bilde stimmt die einfache und schlichte Lebensführung der Besitzer des Ganzen, zu welchen auch unser Gastfreund gehört. Außer Arbeit und Naturgenüssen ist in Yttre-Arne nichts zu wollen, die freien Stunden und Tage durchstreift der Vater mit seinen Buben Berg und Busch, im Winter auf Skis, skandinavischen Schneeschuhen, oder sie rudern und fischen auf dem Wasser des Fjords. Rascher als uns lieb war, mußten wir von dem freundlichen Platze Abschied nehmen. Vater, Söhne und Nero begleiteten uns die steile Bergstraße hinauf. Im Weggehen kreuzten wir eine norwegische Hochzeit, die sich in langem Zuge von der Kirche zu einem der Arbeiterhäuser verfügte -- voraus einer, der die Handharmonika mit Gefühl spielte; dann Bräutigam und Braut, der erstere trotz des sonnigen Wetters mit gewaltigem Regenschirm bewaffnet, hernach die Gäste -- alt und jung bunt durcheinander. Oben am Berge holten wir unsern vorausgeschickten Wagen ein; nicht ohne gegenseitige Rührung nahmen wir Abschied von dem Stück Thurgau in Skandinavien, und lange noch sah uns der biedere Landsmann nach, als wir mit dem letzten „Mange tak“ dem Ufer eines kleinen Bergsees folgend davonrollten. Trotz der schönen Rückfahrt -- in welche wir ab und zu, die Straßenwindungen abkürzend, kleine Spaziergänge über buntbewachsenes Geröll einschalteten -- empfanden wir doch ein Gefühl der Erleichterung, als wir die Häuser Bergens wieder zu unsern Füßen liegen sahen. Es war ein Genuß -- angesichts des herrlichen Panoramas, welches den Blick bis ins offene Meer gleiten ließ -- thalwärts zu fahren, und fast zu rasch hatte unser Wagen das holperige Pflaster der Stadt erreicht und ließ uns beim Postgebäude aussteigen. Noch blieb uns eine Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Schiffes, gerade genug, um in einigen Kaufläden unsere Geldbeutel um verschiedene Kronen zu erleichtern; überall trafen wir ähnlich Beflissene der „Auguste Viktoria“, denn Bergen war ja der letzte Platz, der die Gelegenheit zur Erwerbung norwegischer Spezialitäten bot, und allerlei, das im Norden um ½ Krone zu teuer erschienen war, wurde hier gierig um den doppelten Preis zusammengekauft. Die letzte Barkassenfahrt nach unserem Schiffe war fast lebensgefährlich, so wimmelte es von Gehörnten, d. h. Passagieren, welche erstandene Rentier- und Elchgeweihe bei sich trugen und aus Platzersparnis hoch in die Luft hielten. ~XVI.~ Abfahrt von Bergen. -- Abschied der Lotsen. -- Letzter Tag zur See. -- Brahmskultus mit Schwierigkeiten. -- Zollrevision in der Elbe. -- Abschied von der „Auguste Viktoria“. -- Zum letzten Male die norwegische Nationalhymne. -- Heimkehr. Die Ausfahrt aus dem Hafen von Bergen wird allen Beteiligten in unauslöschlicher Erinnerung bleiben. Unser Schiff war umschwärmt von Booten aller Art. An der Küste stunden Hunderte und winkten. Aus der Festung grüßte es mit Kanonendonner, und als sich die „Auguste Viktoria“ unter den Klängen der norwegischen Nationalhymne in Bewegung setzte, da begann ein Tücherwehen und Abschiedsrufen von allen Seiten. Herrlich ging die Sonne unter und vergoldete mit breitem Saume Meer und Gebirge; mit dem erlöschenden Glanze des Tagesgestirnes kämpfte das silberne Licht des Vollmondes. Alle Linien, namentlich die Umrisse der felsigen Inseln, zwischen denen wir dahinglitten, erschienen in radierter Schärfe; einmal winkte von geisterhaftem Riffe herab eine jugendliche Norwegerin dem stolz vorbeisteuernden Schiffe, während sie mit der rechten Hand die Augen gegen den glänzenden Abendsonnenreflex schützte -- ein überaus reizendes Schattenbild, das Konewka geschnitten haben konnte. Und nun kam eine kleine Szene, die manche Augen feucht machte. Zur Rechten hatten wir die letzte Insel, welche gegen das offene Meer vorgeschoben ist, und beim Glanze des Vollmondes sahen wir das unendliche majestätisch vor uns ausgebreitet. Da hielt unser Schiff; ein kleines Boot näherte sich ihm, vom Wogengange gehoben und gesenkt. Die Strickleiter wurde vom Hauptdecke zur Wasserfläche heruntergelassen, und auf ihr schieden von uns die beiden prächtigen Grauköpfe, die norwegischen Lotsen, welche seit drei Wochen unser Schiff sicher durch all’ die Fährlichkeiten der nordischen Schärenwelt gelenkt hatten. Als sie in dem schwankenden kleinen Boote saßen, der eine sofort am Steuer, und ihre Hüte zum Abschiede schwenkten, da ertönte nochmals von unserer braven Schiffskapelle die Hymne des norwegischen Volkes, und ein brausendes Hurrah ging wie ein Sturmwind durch die ganze Länge des Schiffes. Alles rief, winkte und dankte, und alles war gerührt bei den Klängen des liebgewonnenen Landes und im Bewußtsein, daß wir nun -- vielleicht für immer -- ihm Lebewohl gesagt hatten. Bald war das Lotsenboot unseren spähenden Blicken entschwunden, und uns empfing der Ocean, die gewaltige, wogende Wasserfläche, die uns vom europäischen Festlande trennte. Der folgende Tag -- der letzte ganze unserer Meerreise -- war ein herrlicher Sonntag; ruhig und glatt die See und über ihr die strahlende Sonne an wolkenlosem Himmel. Man genoß die Ruhe in vollen Zügen, bequem auf Deck ausgestreckt, das zum Lesen mitgebrachte Buch unbenutzt auf dem Schoß oder am Boden, denn die Augen hatten anderes zu thun; sie spähten über die endlose Wasserfläche und erhaschten da und dort einen Segler oder einen rauchenden Dampfer am Horizonte; sie suchten rückwärts Norge, das herrliche Land, oder aber -- geschlossen -- versenkten sie sich vorwärts in den Zauber der Heimat, die wir nun bald wieder begrüßen sollten. Einige Stunden des Tages waren allerdings unruhiger Arbeit gewidmet; alles packte und räumte in den Kabinen und ordnete seine Siebensachen, denn am andern Morgen sollte bei Zeiten in der Elbe die Uebersiedlung mit Hab und Gut auf kleinere Dampfer stattfinden, um nach Hamburg befördert zu werden. Abends war noch ein üppiges Abschiedsdiner, als Glanznummer ~glace illuminée~. Es wurden plötzlich die elektrischen Lampen ausgelöscht und wir saßen einen Moment unter augenblicklichem Stocken der Konversation und allgemeinem Ah! im Dunkeln. Aber das Licht kam sofort in origineller Gestalt. Es stürzte herein das Heer der Stewards: jeder trug auf eleganter Servierplatte eine kristallhelle, dicke Eisscheibe, welche in einer mittleren Höhlung eine leuchtende Flamme enthielt; an den Rand der Scheibe angelehnt lag Gefrorenes in allen Farben und reflektierte außerordentlich hübsch in dem spiegelglatten Eise. Diese wandelnden bunten Lichtquellen, von welchen man sich allerorten seinen Bedarf an Glace wegschnitt, machten einen sehr originellen Effekt. Unterdessen hatte sich ein mächtiges Gewitter zusammengezogen; eine drohende schwarze Wand war schon längst gegen Süden aufgetürmt und grelle Blitze zuckten darin, deren Donnern erst nach Minuten zu uns gelangte. (In Hamburg und Berlin hatte das Unwetter, wie wir hernach erfuhren, übel gehaust.) Immer näher kam die großartige Naturerscheinung und unsere Masten wurden schleunigst mit ins Meer tauchenden Blitzableitern versehen. Bei dieser Gelegenheit bot die tintenschwarze Flut den Anblick des Meerleuchtens, wenn auch lange nicht in der Intensität, wie ich es von tropischen Gewässern her in Erinnerung hatte. Auf 9 Uhr war ein Dankgottesdienst im großen Speisesaal angesagt. Als Prediger funktionierte der amerikanische Krösus; die Sache war gut gemeint, aber fürchterlich lang, und statt der Befriedigung eines innern Verlangens, der Dankbarkeit für die so genußreich und ohne Unfall zurückgelegte Fahrt irgendwie und -wo Ausdruck verliehen zu sehen, empfand ich schließlich -- wahrscheinlich ein schlimmes Selbstzeugnis -- entsetzliche Langeweile und ärgerte mich über jede Minute, die ich länger unter Deck sein mußte, während ja draußen Gott in der Natur zu uns sprach. Aber nicht wahr, Frau Landrat, Ihnen ging’s auch so? Schließlich ergriff, von Herrn Wanamaker, der natürlich englisch resp. angloamerikanisch gesprochen hatte, eingeladen, noch ein Deutscher oder Deutschamerikaner das Wort und schilderte sehr beredt, was für ein ausgezeichneter Mann der Herr Vorredner sei und wie ihm die ganze Gesellschaft für die Veranstaltung des heutigen Dankopfers zu Dank verpflichtet bleibe. Und damit schloß der „Dankgottesdienst“, wofür denn endlich auch noch ich von Herzen dankbar sein konnte. Das Finale des heutigen Tages bildete ein Kunstgenuß im Musiksalon, eine kleine Brahmsfeier. Wir hatten nämlich in letzter Stunde eine eminente Klavierspielerin entdeckt in der Persönlichkeit einer jugendlichen Berlinerin. Die schwärmte für Bach, Schumann und Brahms -- aber sie _kannte_ sie auch, ihre Angebeteten, und ich war im höchsten Grade überrascht, als ich tags zuvor als unbemerkter Zuhörer Zeuge sein konnte nicht nur einer hervorragenden Technik, sondern einer vollendet künstlerischen Auffassung und eines phänomenalen musikalischen Gedächtnisses, über welche die aus dem Vollen spendende junge Dame verfügte. Heute Abend wollte sie uns Brahms spielen, so hatte sie freundlich und ohne sich lange bitten zu lassen versprochen. Aber dazu brauchte es die Weihe eines stillen Ortes und einer kleinen andächtigen Zuhörerschaft. Wir pilgerten so gegen 11 Uhr zum Konversationssalon, wo der Steinwegflügel stand und wo’s in jenem Momente leer und ruhig schien. Aber die Eintretenden empfing ein Herr, der wohl nur auf Zuhörerschaft gewartet hatte, mit gräßlichem Klaviergehack: halb Straußwalzer, halb Volkslied, halb freie Phantasie, dazu immer den unrichtigen Baß, als ob rechte und linke Hand auf Kriegsfuß mit einander lebten. Nachdem wir einige Minuten so gelitten, lenkte der freie Vortrag, der sich eben noch im Gewühle einer Schlacht oder auf einer unmusikalischen Bauernhochzeit bewegt haben mochte und dem plötzlich der Atem ausgegangen, ganz genial unvermittelt ein in ~la prière d’une vierge~; aber nachdem das _einmal_ und unter ständiger Zuhülfenahme des Pedals heruntergezittert war und nochmals an die Reihe kommen sollte, da schwand unsere Kraft und Selbstverleugnung, und ich erklärte dem ~Orlando furioso~ die Situation, in der Meinung, auch ihm damit einen Dienst zu erweisen. Die Voraussetzung war falsch. Der gute Mann war tödlich beleidigt, entfernte sich mit Ostentation und erschien sehr bald wieder als Störefried in unserer kleinen Brahmsgemeinde, und als ich, dem Wunsche der um Ruhe bittenden Künstlerin folgend, mich als Hindernis vor die geschlossene Thüre setzte, da ging der Wütende und wiegelte das Volk auf, und nun kamen sie in Scharen und verlangten stürmisch freie Passage, wobei ich, von Blicken durchbohrt, ruhig sitzen blieb. So wäre es beinahe zu einem zweiten kleinen Schwabenkrieg gekommen; aber schließlich gab einer nach, diesmal ich, und zwar wieder auf Wunsch der Spielenden, und als das Flugloch wieder offen stand, war unterdessen dem Paar wilder Vögel das Fliegen verleidet, und wir konnten nach und nach in Ruhe unsern Brahms genießen, bis der vernünftige Papa kam und sagte: „Liebes Kind, jetzt mußt du aber zu Bette; sonst schläfst du mir vor lauter Brahms wieder die ganze Nacht nicht.“ Thatsächlich konnten auch wir Zuhörer lange nicht einschlafen; denn das vergeistigte Spiel der schwärmerischen Künstlerin, die ihr Bestes gegeben, hatte uns in ganzer Seele bewegt und uns ein paar neue Einblicke in die Tiefe der Brahmsschen Kunst geöffnet. Es schien kaum der Mühe wert, das ärgerliche Intermezzo dieser weihevollen Stunde hier überhaupt zu erzählen; aber ich wollte mich dadurch rechtfertigen gegenüber einigen sonst sehr anständigen Mitpassagieren, welche damals, falsch unterrichtet, vor dem geschlossenen Musikthor auch über den „arroganten Schweizer“ mittobten, ohne zu wissen, daß die Arroganz in diesem Falle eine selbstverständliche höfliche Rücksicht war. Vor Mitternacht passierten wir Helgoland, dessen Leuchtturm und Strandlichter weithin glänzten und lange sichtbar blieben, und einige Stunden später fuhr unser Schiff -- mondbestrahlt -- in die Elbemündung, um am ehemaligen Ausgangspunkte, bei Brunshausen, sich vor Anker zu legen. Da schlief denn wohl ausnahmsweise einmal alles an Bord, vom Kapitän bis zum Heizer, einige Stunden. Am andern Morgen steckten wir in dichtem Nebel und vernahmen die tröstliche Kunde, daß bei solchem Wetter an ein Ausbooten nicht zu denken sei. Ein Steward erzählte mir als Aufmunterung, wie die „Auguste Viktoria“ von Amerika zurückkehrend einst fast dreimal 24 Stunden vor der Elbemündung im Nebel liegen mußte, eine rechte Geduldsprobe für die sich nach dem nahen Festlande sehnenden überseeischen Passagiere. Aber gegen 9 Uhr wurde das Nebelmeer dünner und durchsichtiger; schon erschienen die Häuser Brunshausens am Strande in geisterhaften Formen und Umrissen, und endlich wurde die liebe Sonne gänzlich Meister und die Elbufer glänzten weithin bis gegen Hamburg in vollkommener Klarheit. Da sahen wir denn auch die „Blankenese“ und einen Frachtdampfer auf uns zusteuern, welche Menschen und Legionen von Koffern nach Hamburg schaffen sollten. Unterdessen aber entwickelte sich an Bord der „Auguste Viktoria“ ein interessantes Leben und Treiben. Was an Kisten und Koffern und Taschen den Passagieren gehörte, wurde von den Stewards aufs Hauptdeck geschleppt, um von der unterdessen eingetroffenen Zollbehörde revidiert zu werden. Mächtige Gepäckstücke waren schließlich dort der ganzen Schiffslänge nach auf beiden Bordseiten aufgetürmt, und die endlose Barrikade krönten Dutzende von Geweihen und andere unbequeme Naturalien, während man sich die kleinern norwegischen Sachen längst durch den Schiffsschreiner in solide Holzkisten hatte zusammenpacken lassen. Da hielt denn jeder Wacht bei seiner Bagage; kaum blieb ein schmaler Gang des Hauptdeckes frei, durch welchen man mit einigen Hindernissen passieren konnte, und doch wurden immer noch neue Koffer und Dinge von ganz unheimlichen Dimensionen heraufgeschafft und -- teilweise über unsern bedrängten Köpfen -- weiter befördert. Diese Situation, die etwa eine Stunde, d. h. bis zur Erledigung der Zollrevision, dauerte, zeitigte eine ganz besondere Art von Humor, und unter fast unausgesetztem und rasch sich ausbreitendem Gelächter fügte man sich in die komischen Unzulänglichkeiten derselben. Eben wird ein Tisch für den Sekretär der Zollbehörde mit Mühe und die Ecken in drohender Nachbarschaft unserer vorsichtig zurückgelegten Häupter vorbeigetragen. „Jetzt fehlt nur noch eine Nähmaschine und ein Fortepiano“ meint unser Nachbar. „Bitte genieren Sie sich gar nicht“ sagt ein dicker, zwischen Gepäckstücken eingezwängter Herr, vor dessen Nase sie eben eine Riesenkiste vorbeischieben, während die Träger seine Hühneraugen als Unterlagen benutzen. „Habe soeben die Front abgeritten“, meldet ein jovialer Bayer, welcher sich mit den Ellbogen und einer sehr ungenierten Schnauze an der Koffer-Allee vorbeigedrückt und bis zu unserem Standorte durchgearbeitet hatte. Was zollrevidiert war, wurde sofort auf den Frachtdampfer geschafft, während die Besitzer sich auf der „Blankenese“ einen guten Platz suchten. Endlich kam die Reihe auch an uns. Am meisten Verzögerung veranlaßte die Wienerin mit den 32 (oder waren es 22?) Hüten, welche 17, wohlgezählt siebzehn mächtige Koffer und Körbe an Bord hatte und so der Schreck der ganzen Schiffsmannschaft geworden war, daß ihr Verlangen, mit der „Auguste Viktoria“ nach Amerika zu fahren, von der zuständigen Verwaltung rundweg abgewiesen wurde. Als der letzte Passagier das herrliche Schiff verlassen, da fiel die Brücke zwischen ihm und der kleinen „Blankenese“, und nun ging’s ans Abschiednehmen von dem stolzen schwimmenden Gebäude, das uns während 22 Tagen Heimat in schönen fremden Landen und Meeren gewesen war. Buntbewimpelt grüßte es seine scheidenden Insassen; Stewards und Matrosen standen in langen Reihen und winkten. Auf dem Hauptdeck waren die Schiffsoffiziere plaziert, und was zum Schiffe gehörte, stimmte mit ein in das dreifache Hoch, das der erste Offizier zu Ehren der Reisegesellschaft ausbrachte. Oben auf dem Promenadendeck aber harrte, ebenfalls Abschied winkend, die wackere Schiffskapelle des Taktstockzeichens ihres Dirigenten; jetzt erhebt er den Arm und senkt ihn rasch, und nochmals -- zum letztenmal -- erklingt die uns so lieb gewordene norwegische Nationalhymne („Ja, wir lieben dieses Land“), und die Wirkung, welche dieser letzte Gruß Norges in unseren Seelen erzeugte, brachte es uns zum Bewußtsein, daß auch _wir_ dieses Land lieben gelernt haben. Langsam umkreiste die Blankenese den ruhig daliegenden Riesen; aller Blicke blieben unverwandt auf ihn gerichtet und suchten nochmals die Plätze, auf welchen man gewöhnlich geweilt und von denen aus man so viel Schönes hatte sehen dürfen. Dann aber ging’s elbaufwärts Hamburg zu. Unterwegs verabschiedete man sich von seinen Schiffsbekannten, ein Abschied ohne Thränen und Seufzer zwar, aber von den lieben Holsteinern, unsern Tafelgenossen, doch mit dem Gefühle aufrichtigen Bedauerns. Bald nachher saßen wir in Hamburg an aussichtsreichem Fenster unseres Gasthofes und schwelgten -- den Blick halb verloren auf das bewegte Straßenleben gerichtet -- in der Erinnerung an die schönen Reisetage. Plötzlich warf sich meine Schwester fast aus dem Fenster und wir folgten nach. Was war’s? Eine amerikanische Familie, welche zu den Passagieren der „Auguste Viktoria“ gehört, mit welcher wir aber nie ein Wort gewechselt und die wir nicht einmal dem Namen nach kannten, fuhr vorbei, und wir begrüßten uns mit so intimem Gebärdenspiel, als ob vertraute Freunde nach jahrelanger Trennung sich unerwartet wieder getroffen hätten. Dieses Schauspiel wiederholte sich noch verschiedene mal, denn die Stadt Hamburg wimmelte an jenem Tage von Auguste Viktoria-Leuten, und wir erfuhren, daß in der That gemeinschaftlich verlebte Reisewunder ein Kitt sind, der die heterogensten Menschen sich näher bringen und etwas zusammenhalten kann. Von Hamburg ging’s über Berlin, Dresden, Karlsbad, München nach Hause und mit Lust wieder an die Arbeit. Daheim wurde mit aller Sorgfalt die in Spitzbergen erbeutete Flora in den Garten versetzt und seither tagtäglich begossen und behütet, so daß sie nun -- zaghaft zwar, doch hoffnungserweckend -- zu grünen beginnt. An anderer Stelle aber -- im Herzen -- grünen und blühen die von unserer Nordlandsfahrt mitgenommenen Erinnerungen, und die haben lebenskräftige Wurzeln gefaßt. Von demselben Verfasser ist im Verlage von _J. Huber in Frauenfeld_ ferner erschienen und liegt bereits in =fünfter Auflage= vor: =Briefe aus dem fernen Osten.= Hübsch gebunden Preis 5 Fr. Ebenfalls die Buchausgabe in der „Thurgauer Zeitung“ erschienener Briefe, diesmal von einer Reise nach Hinter-Indien, China und Japan und, wie das vorliegende Buch, zerfallend in die Abschnitte „Unterwegs“ und „Daheim.“ Zu beziehen durch alle Buchhandlungen. *** End of this LibraryBlog Digital Book "Briefe aus dem hohen Norden" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.