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Title: Zwischen den Rassen - Roman
Author: Mann, Heinrich, 1871-1950
Language: German
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                             Heinrich Mann
                          Zwischen den Rassen
                                 Roman


                             Albert Langen
                    Verlag für Litteratur und Kunst
                             München 1907



Erster Teil



I


Die Schwarzen, die das Pferd am Zaum geführt hatten, mußten ihre Herrin
auffangen: ihr ward schwach; -- und dann lag sie in Farren versteckt; ein
Palmenblatt ward bewegt über ihrem dunkeln Scheitel; der große, hellhaarige
Mann beugte sich zu seiner bleichen Gefährtin; und das Kind kam zur Welt.
Die Bäume des Urwaldes standen starr und übermächtig daneben. Dorther, wo
er sich lichtete, kam das Schlagen des Ozeans, und von drüben, aus der
Finsternis, das wilde Geschrei der Papageien und der Brüllaffen.

Das Kind lernte sprechen von seiner schwarzen Amme und laufen auf dem Sand
zwischen Wald und Meer. Vom Rande des Meeres holte es Muscheln, die es von
großen Steinen löste; und am Waldsaum erntete es abgefallene Kokosnüsse:
daraus zogen ihm die Diener mit glühenden Spießen die süße Milch. Große,
zuckerige Früchte hingen überall bei seinen Händchen; im Garten ertrank es
in Blumen; und als goldene Funken schossen Kolibris um seinen Kopf.

Dann ward Brüderchen Nene groß genug, daß sich mit ihm spielen ließ. Man
suchte zwischen Mauerritzen nach den winzigen runden Eidechseneiern und den
Natterneiern, rund und weich. Vom Schwanz des Gürteltieres brachten einem
die Neger die kleinsten Ringe: damit schmückte Nene der Schwester und sich
selbst alle Finger; und dann fuhr man in einem Zuber den Bach hinab, und
die schwarzen Kurubus auf ihren Büschen sahen einem, über ihre feuerroten
Krummschnäbel hinweg, hoheitsvoll nach.

Und man erlebte in der Hauptstadt den Tropenregen: in den Straßen fuhren
Kanoes, und unablässig mußten die Schwarzen mit Schaufeln das Wasser aus
den Zimmern stoßen; -- und den Karneval! An der Jalousietür saß man auf
einem Stühlchen, über dem Gewimmel der Masken, und die schöne Mama warf
Wachsbälle hinab: die platzten und tränkten die bunten Trachten mit
flüssigem Duft. Aber aus einer Muschel, die ein ganz roter Mann an den Mund
setzte, fuhr ein so schrecklicher Ton, daß man ihn nicht ertragen konnte,
sondern sich mit seinem Stuhl zurückwarf und auch Nene mit umriß.

Und auf der Großen Insel -- das Haus der Großeltern schwamm im Duft der
Orangenblüten -- sog man inmitten eines Heeres erntender Neger an einem
Stückchen Zuckerrohr. Und zitternden, schreienden Laufes kam man von einer
Begegnung mit der Boa heim! Und schaute, mit allen schwarzen, gelben und
weißen Kindern der Pflanzung, erregten Auges und jubelnd zu, wie der
Großvater viele Papierröllchen anzündete und sie in weiten, leuchtenden und
zischenden Bögen über das Meer schoß. Das Meer schob einem lange, laue
Schlangen über die bloßen Füßchen; im Hemdchen, das ein Gürtel enger
schloß, fing sich ein Stoß warmen Nachtwindes; und hob man den Blick,
schwindelte es einem, so voll war er auf einmal von Sternen!

Es war herrlich: man war wie alle andern Kinder -- und doch nicht ganz so.
Vornehmer war man. Man hatte blondes Haar; nicht einmal Nene hatte es; und
die schwarze Anna war sehr stolz darauf und konnte nicht genug Locken
daraus wickeln. Man hatte auch einen blonden Papa: wer hatte den noch? Und
kam er zu Besuch auf die Insel der Großeltern, und ging man an seiner Hand
umher: viel größer war er als alle Menschen und immer ernst, -- und sah man
alle ihn bewundern, dann durchrann einen selbst ein Schauer von stolzer und
ehrfürchtiger Liebe.

Da aber -- was bedeutete dies? -- saß eines nachmittags im Saal, wo
Großmutter klöppelte, Mama, die schöne Mama und weinte: ja, weinte laut.
Kaum aber hatte sie ihr kleines Mädchen erblickt, stürzte sie darauf los,
riß es an sich, fiel vor ihm auf die Knie, rief und rang das Schluchzen
nieder:

»Lola! Meine Lola! Sag: bist du nicht mein?«

Mit einem Finger vor den Lippen, erschrocken fragend sah das Kind nach der
Großmutter: die saß da, grade und streng wie immer, und klöppelte.

»Bist du nicht mein?« flehte die Mutter.

»Ja, Mai.«

»Man will dich mir wegnehmen. Sag', daß du nicht willst! Hörst du? Du
willst doch nicht fort von mir, von uns Allen?«

»Nein, Mai. O Gott! Wohin soll ich? Ich will dableiben: bei Pai, bei dir,
bei Anna! Die Luiziana hat mir ein kleines Kanoe versprochen; morgen bringt
sie es!«

Aber schon am Abend wartete auf die kleine Lola ein großes Kanoe. Die
schöne Mai lag in einer Ohnmacht; Nene hing schreiend an Lolas Kleid; --
aber ein Schwarzer machte sie los, trug sie, und die Ärmchen der
Geängsteten würgten ihn, ans Wasser, setzte vorsichtig seinen nackten Fuß
von einem der großen überfluteten Steine auf den nächsten . . . Das Meer
brandete wütend; zerrissene Finsternis flatterte umher; und manchmal warf
ein Stern ein böses Auge herein. Nun ward das Kind ins Boot gelegt; es
hatte nicht geschrieen, es weinte unhörbar im Finstern; die Schwarzen
ruderten schweigend; und das Kielwasser leuchtete fahl, als sei es die Spur
eines Verbrechens.



II


An Bord des großen Dampfschiffes, auf das Lola gebracht ward, standen Pai
und die schwarze Anna. Welch Wiedersehen! Dann:

»Pai, ist es wahr, daß wir ganz wegfahren? Und Mai? Und Nene? Und wohin
fahren wir denn?«

Herr Gustav Gabriel fuhr mit seiner kleinen Tochter nach Hause, weil sie
eine Deutsche werden sollte.

Mit neunzehn Jahren war er herübergekommen und hatte sich begeistert
eingelebt. Bis zu seinem dreißigsten Jahre berührte ihn niemals Sehnsucht
nach seinem Vaterland. Er dachte seiner wie an etwas Kleinliches und
Bedrücktes; machte ihm auf einer Europareise einen spöttischen Besuch;
fühlte sich mit Stolz als Brasilianer . . . Eines Tages bekam er zu spüren,
daß er's nicht sei. Er hatte geschäftliche Einbußen erlitten: was zu
Demütigungen führte von seiten seiner Freunde und der Familie seiner Frau.
Er sah sich plötzlich allein und ihm gegenüber eine ganze Rasse, deren für
immer unzugängliche Fremdheit er auf einmal begriff. Nun fing er an, auf
das Land seiner Herkunft als auf eine Macht zu pochen, sich selbst als
Erzeugnis einer Kultur zu fühlen, von deren Höhe seine Umgebung nichts
ahnte. Bei der Umschau nach Bundesgenossen begegnete er den Blicken seiner
Kinder. Auch diese sollten in Sitten und Sprache eines niedrigeren Volkes
erwachsen? Seine Feinde werden? Die Laute, die ihm in herzlichen Stunden
kamen, die er von seiner Mutter erlernt hatte, sie sollten sie nie
verstehen? Er hatte sie, wenn er ihnen deutsche Kosenamen gab, sich
anblicken und lächeln gesehen . . . Das sollte anders werden! Ihr Vaterland
war nicht dieses, und er wollte sie ihm zurückgeben! Mit dem Jungen würde
es vielleicht schwer gehen: die Nachfolge im hiesigen Geschäft ward ihm
bereitet; -- aber seine Tochter! Er erblickte sich schon mit ihr in dem
Garten, worin sein Elternhaus stand. Dort wollte er einst enden. Er sah
sich den Weg zum Tor des Städtchens gehen, und an seiner Seite ein blondes
junges Mädchen: seine Tochter. Sie war blond; sie war sein Kind und eine
Deutsche. Er nahm sie für sich allein; mochte seine Frau -- wie fremd sie
ihm eigentlich geblieben war! -- sich an dem Jungen schadlos halten: seine
Tochter sollte ihn verstehen lernen, sollte in solcher Reinheit und
Gediegenheit leben, wie man nur zu Hause lebte. Sie sollte nach Haus.

Nie war Pai so zärtlich gewesen mit Lola! Übrigens sollte sie bald zurück;
und Mai und Nene würden sie besuchen, dort, wohin sie fuhren. Solche Fahrt
war lustig: sie sollte sehen.

Vorläufig ward ihr sehr übel; es dauerte drei Tage; aber Pai selbst pflegte
sie; er selbst tat alles, was Anna hätte tun müssen. Zwischen ihren Krisen
lag Lola in aller Erschöpfung ganz glücklich da; und wenn sie ihre Hand in
Pais schob, war ihr's, als sei sie selbst ganz in Pais Hand geschlüpft.

Dann konnte sie aufstehen und zusehen, wie die Matrosen Fische heraufzogen:
einen Fisch sogar mit einem langen Säbel an der Nase!

Da aber nahte jemand mit einem Wasserschlauch und bespritzte alle Kinder.
Man mochte sich hinter den Schornstein verstecken oder in einer Taurolle:
überall trieb der Strahl einen wieder hervor: es war ein angstvolles
Vergnügen. Die durchnäßten kleinen Mädchen kreischten, und die Damen und
Herren freuten sich laut, daß sie trocken waren. Überhaupt war es zum
Erstaunen, wie lustig alle waren, wie freundlich miteinander und mit Lola.
Es schien, sie hatten nichts anderes zu denken, als wen sie jetzt erfreuen
wollten. Nie hatte Lola so viele liebe Menschen gesehen. Einer war da, der
allen Kindern Schokolade schenkte und ordentlich flehte, bis man sie nahm.
Selbst Pai war selten mehr ernst. Und Meer und Himmel strahlten
unauslöschlich.

Dennoch geriet man nochmals in graues Wasser mit Wolken darüber und ward
arg geschaukelt. Doch Lola focht das nicht mehr an; und Pais Mantel, unter
dem sie auf Deck lag, war, wenn sie mit ihren Knieen ein Dach machte, so
gut wie ein eigenes Haus: die Sturzwellen mochten darüber hingehen. Auch
ward bald ausgestiegen; alle waren viel ernster geworden; -- und Lola fand
sich mit Pai und Anna in einer großen, nicht schönen Stadt, in deren
Straßen man sich müde lief. Immerhin gab es Spielsachen, wie sie daheim nie
welche gesehen hatte, und Pai kaufte ihr so viele, daß sie sich wunderte.
Eines Morgens dann eine Fahrt mit der Bahn: und da waren sie in einem
seltsamen Städtchen mit höckrigen Häusern und mit Gassen, die über Berge
kletterten und rutschten, -- und gelangten in einem riesigen, schaukelnden
Wagen vors Tor und an ein Haus, daraus sprang hurtig eine kleine alte Frau
hervor, lief auf Pai zu und hüpfte ihm an den Hals. Lola war erschrocken:
denn Pai weinte. Wie war das möglich? Da griff aber die alte Frau ihr
selbst unters Kinn und zog Lolas Gesicht ganz dicht zu ihrem, bis in das
Wimpernfächeln ihrer Augen, -- die sehr gütig blickten. Aber was wollte
sie? Sie redete so viel Unverständliches. Lola sah fragend auf Pai; und
indes sie ins Haus gingen, erklärte Pai ihr, dies sei seine Mama, und heute
feiere sie ihren Geburtstag, und er bringe ihr Lola zum Geschenk.

Im Hause roch es nach Kuchen und Blumen; Pais Brüder waren da und umarmten
ihn. Sie gaben Lola die Hand; einer ließ sich von Pai etwas ins Ohr sagen,
und dann wünschte er Lola in ihrer Sprache Willkommen. Sie lachte über ihn;
alles wäre gut gewesen: da aber kam die neue Großmama, aus lauter
Herzlichkeit, auf den Gedanken, die Arme um Lolas Hüften zu legen und vor
ihr auf die Kniee zu fallen. Lola hatte plötzlich ein zum Weinen verzerrtes
Gesicht. Alle stießen Fragen aus, und Pai übersetzte:

»Was ist dir?«

»Nichts, Pai.«

Lächelnd und stammelnd:

»Ich dachte an etwas.«

Grade so hatte, am letzten Tage, die schöne Mai vor Lola gelegen: aber in
Tränen und Jammer. Lola dachte: »Ist es wahr, daß ich bald zu ihr zurück
darf?«

Einer der Onkel heiterte sie auf: er klatschte in die Hände, und sie mußte
vor ihm davon laufen. Sie tat es aus Gefälligkeit, und lächelte höflich,
wie er sie fing. Nun spielten alle mit und wollten sich verstecken, und der
lustige Onkel sollte sie suchen. Man zeigte Lola einen sehr guten Versteck:
hinter einem kleinen Gartenhause und unter einem dunkeln Baum. Da stand sie
lange, und niemand fand sie. Kein Geräusch im Garten. »Sollten sie mich
vergessen haben?« Eine hastige Angst überfiel sie: »Pai ist fort, Anna ist
fort: sie haben mich allein gelassen!« Sie senkte, betäubt, den Kopf und
legte die Hände vors Gesicht. Ganz allein! Da kamen Schritte herbei; Lola
nahm sich zusammen und gab einen kleinen hellen Vogellaut von sich. Es
dauerte etwas; sie lauschte atemlos, zwitscherte nochmals, und dann fand
man sie.

»Damit du mich nicht zu lange suchen solltest,« erklärte sie, obwohl der
Onkel doch nichts verstand.

Beim Abendessen ward sie lebhaft und sang sogar ein Lied, näselnd wie die
Schwarzen, von denen sie es gelernt hatte. Mitten in aller Vergnügen aber,
und wie auch Pai gerade lachte, nahm sie seine Hand und flüsterte ihm, als
überrumpelte sie ihn, eilig zu:

»Nicht wahr, Pai, wir reisen bald nach Haus?«

Pai nickte; aber er war nun wieder ernst, und Lola hatte gesehen, daß er
beinahe ärgerlich geworden wäre. Verstört schwieg sie: war's möglich, daß
man sich auf Pai nicht mehr verlassen konnte?

»Weißt du nicht, wann wir nach Haus reisen?« fragte sie nachher im
Schlafzimmer die schwarze Anna.

Nein, Anna wußte es nicht, und ihr glaubte Lola. Anna sah sich, mit kleinem
tierischen Kopfrücken, im Zimmer um, wie in einem Käfig; Lolas Augen
folgten ihr; -- und dann betrachteten die beiden einander ratlos.

Aber die neue Großmutter war so heiter! Man konnte nicht an ihrer Hand
durchs Haus laufen: in den Saal, wo die Äpfel lagen, auf den Boden, woher
sie bunte Kleider und alte, seltsame Puppen holte, -- ohne daß irgend etwas
Lustiges vorfiel. Der zweite Onkel brachte seinerseits viel Leben mit; --
und dann war es ziemlich spaßhaft, mit Anna auszugehen, unter die hiesigen
Kinder, die scheinbar noch nie eine Schwarze erblickt hatten. Da ward man
angesehen! Manchmal zwar liefen einem zu viele nach und machten sich
lästig: da half nur, daß man ihnen Bonbons hinwarf, um zu entkommen,
während sie sich rauften . . . Ferner war unter den freundlichen Menschen,
die Lola kennen lernte, ein schwarzgekleideter Herr mit weißem Bart, der
eines Tages in Großmamas Zimmer saß und Lola etwas fragte. Pai bedeutete
ihr, es handle sich darum, ob sie zum protestantischen Glauben übertreten
wolle; er rate ihr dazu. Sie sagte ja, bekam von dem alten Herrn einige
glatte bunte Bildchen und ward am Abend in den Zirkus geführt . . . So viel
hatte man erlebt, daß gewiß schon ein Jahr herum war.

»Nicht wahr, ein Jahr sind wir bald hier?« fragte sie eines Abends. Pai
erwiderte:

»Was denkst du. Sechs Wochen erst.«

»Erst? Aber es ist doch schon wieder Winter?«

»Nein, Kind, so ist hier der Sommer.«

Sie hätte sich gern einmal wieder nach der Heimreise erkundigt; aber Pai
schien nicht aufgelegt; er hatte die schon lange nicht mehr gesehene Falte
zwischen den Augen. Auch die Andern sprachen heute viel weniger. Sogar
Großmama lächelte nur halb. Lola ging bedrückt zu Bett.

In der Nacht träumte ihr etwas Trauriges: sie sah einen Neger -- welchen,
wußte sie nicht, aber es war einer, den sie gern hatte -- von einem
Aufseher grausam prügeln, hörte sein Winseln, brach selbst in Weinen aus
und lief, es dem Großvater zu klagen: weinte und lief. Da erwachte sie,
noch immer schluchzend, -- und auch das andere Schluchzen ging weiter. Die
schwarze Anna kauerte, über das Bett gebeugt, und jammerte erstickt:

»Kleine Herrin, ich muß fort. Schon morgen reisen der Herr und Anna mit dem
Dampfschiff fort, zurück in unser Land; die kleine Herrin aber bleibt
hier.«

Und da Lola, auffahrend, in Geschrei ausbrach:

»Ganz leise! Anna darf nichts sagen: der Herr hat es verboten. Anna sollte
ohne Abschied weggehen: sie kann doch nicht!«

»Du sollst nicht weggehen! Hörst du, du tust es nicht! Ich befehle es dir!«

Des Kindes Stimme brach sich vor Zorn.

»Pai läßt mich nicht hier zurück; das sind alles Lügen.«

Die Amme wiederholte nur, eintönig klagend:

»Ganz leise! Anna muß fort.«

Und in ihrem Gemurmel ging der Zorn der Kleinen allmählich unter. Sie ließ
sich auf Annas Schulter fallen, gebrochen, mit Schluchzen und Bitten.

»Geh nicht fort!«

»Anna muß gehen.«

»Wenn du fortgehst, dann --«

Der Schmerz schüttelte das Kind. Es preßte sein Gesicht auf die nackte
schwarze Schulter; -- und mit dem öligen Geruch dieser Haut, an der es
einst die ersten Atemzüge getan hatte, erhob sich die dunkle Flut seiner
frühesten Erinnerungen und überschwemmte es. Lola sah, in einem aufgeregten
Gedränge von Bildern, zuerst einen Palmenwald, dann viele grimassierende
Negergestalten, die ihr namenlos schön erschienen, um Fleischtöpfe hocken,
in die sie oft ihre Händchen getaucht hatte; sah ein Stück schäumenden,
heftig blauen Meeres und die buschigen Wedel des Zuckerrohrs davor; sah
Nene, den Bach und die Kurubus . . .

»Wenn du fortgehst,« wimmerte sie, »dann --«

Es entstand ein Wogen großer Blumen hinter ihren an Annas Schulter
gedrückten Lidern; und tief in den Blumen hing die Hängematte mit der
schönen Mai, die ihr zunickte und langsam und wie von einer nicht mehr
Anwesenden das Gesicht wegwandte.

»Wenn du fortgehst, dann ist . . . alles aus!«

                   *       *       *       *       *

Am Morgen trat Pai ins Zimmer und sagte:

»Meine kleine Lola, Pai muß nun auf kurze Zeit zurückreisen, und bis er
wiederkommt, läßt er dich hier.«

Da das Kind nur den Kopf senkte:

»Es wäre für dich nicht gut, schon wieder so weit zu reisen.«

Lola schlug die Augen auf und sagte hell, wie eine verzweifelte Schelmerei:

»Pai, nimm mich mit?«

»Meine kleine Tochter ist vernünftig, nicht wahr,« erwiderte Pai, ohne
Frage im Ton; und Lolas kleines gespieltes Lächeln brach ab. Pai nahm sie
bei der Hand und führte sie zur Stadt, über einen Marktplatz und in ein
altes Haus, an dessen gläserner Flurtür die Glocke lange klapperte.

»Hier wohnt,« sagte Pai, »eine gute Dame, die sich meiner Lola annehmen
will, solange Pai nicht da ist.«

Der Flur war weit; auf seinen Steinfliesen gingen Arm in Arm, zu zweien
oder in langen Reihen, viele Mädchen umher. Andere hüpften zwischen den
Flügeln einer Tür, in der buntes Glas war, in den Garten hinab. Es waren
große und kleine; aber die kleinste, sah Lola gleich, war sie selbst. Sie
sah es aus dem Zimmer, worin Pai mit ihr wartete. Es hatte weiße Tapeten
mit goldenen Blumen darauf, eine goldene Stutzuhr, sehr hohe Fenster mit
den Bäumen des Gartens dahinter; und Lola wandte sich, beklommen seufzend,
von einem Gegenstand zum andern. Gleich war's nun so weit: Pai war fort.
Noch hielt er sie doch an der Hand: und war schon fast fort! O, o, was für
eine drängende Menge von Dingen hätte sie ihm zu sagen gehabt; er mußte
doch einsehen. Mit zuckender Lippe brachte sie hervor:

»Pai, sieh, was für ein komischer Mann ist auf der Uhr.«

Und fieberhaft dachte sie: »Das war's doch nicht, was ich wollte.«

Hatte Pai wirklich gar kein Erbarmen? Sie lugte zu ihm auf, mit
unverstelltem Jammer. Pai sah gradaus; er hatte den Mund fest geschlossen,
die Falte zwischen den Augen; -- und zum ersten Male fühlte Lola, daß er
ein strenges Gesicht mache, weil er traurig sei; daß er sich streng stelle,
weil er sie lieb habe. Es ward ihr ganz warm und glücklich; sie drückte
Pais Hand; Pai sah hinab, ihr in die Augen: da aber ward es draußen bei den
Mädchen viel stiller, und eine kleine Dame im schwarzen Kleid lief eilig an
dem gelben Treppengeländer entlang. Schon war sie unten, und nun kam sie
auf das offene Zimmer zu. Gab es denn keine Rettung? Pai tat nichts? Die
kleine Dame trug die eine ihrer schmalen Schultern höher als die andere,
sie hielt die Arme gekrümmt zu den Seiten ihres zerknitterten
Trauerkleides, und ihr blasses, langes Gesicht bekam vom Lächeln eine
krause Nase: Lola sah das alles mit schreckensvoller Genauigkeit. Ihr war
wie in einem Traum, worin man davonlaufen möchte und kann sich nicht regen.
Da fühlte sie schon die dünnen langen Finger der Dame kühl um ihre Hand.
Was sagte nun die Dame? Ratlos wandte Lola sich nach Pai um.

»Fräulein Erneste begrüßt dich,« erklärte Pai, »und verspricht dir, sie
wolle dich lieb haben und dich alles Gute lehren. Du mußt ihr danken.«

»Danke,« sagte Lola, mit Anstrengung.

Darauf begann das Fräulein unter Lauten freudiger Erregung überall in Lolas
Gesicht Küsse zu werfen, die hart waren und schmerzten. Lola begriff nicht;
sie erschrak; und inzwischen hatte das Fräulein schon wieder eine Menge
geredet, und alles klang fragend. Allmählich hörte Lola, daß sie immer
dasselbe sagte, und immer langsamer und deutlicher sprach sie es aus.
Wieder suchte Lola Hilfe bei Pai, aber Pai hatte sich in einen Stuhl
gesetzt und bekümmerte sich nicht um sie. Und das Fräulein drang immer
strenger auf sie ein, mit steil aufgerichtetem Zeigefinger. Lola hielt sich
nicht länger; sie brach, und sah dem Fräulein dabei immer starr in die
Augen, in entsetztes Schluchzen aus. Da geschah etwas sehr Seltsames. Die
eifrige, Gehorsam heischende Miene des Fräuleins fiel jäh in sich zusammen
und ward ganz unsicher und hilflos. Das Fräulein war auch anfangs nicht
groß gewesen: jetzt aber war es nicht mehr viel höher als Lola, und es
tastete schüchtern, während es den Kopf zum Bitten schief legte, nach Lolas
Hand. Darüber erschrak Lola nochmals: aber nicht für sich selbst. Was hatte
das Fräulein? Ein verlegnes Mitleid berührte ihr Herz, und sie lächelte
zart. Ein wenig höher noch hob sie des Fräuleins Hand, die um ihre lag:
zögernd, -- und plötzlich legte sie die Lippen darauf. Sogleich aber
trennten sie sich, und Lola lief auf Pai zu, fiel ihm um den Hals und rief,
um Pai von dem Fräulein und seiner Verwirrung abzulenken: was für ein
herrlicher Apfelbaum da zum Fenster hereingreife. Pai hob, da das Fräulein
ihm etwas zurief, Lola hoch empor, und sie konnte eine Frucht brechen.

Alle drei gingen nun in den Garten; Lola fühlte sich irgendwie beglückt;
und ehe jemand es sich versah, saß sie droben im Apfelbaum. Pai schalt,
aber sie hörte, daß es Spaß sei; das Fräulein lachte von Herzen, und aus
allen Ecken des Gartens liefen Mädchen herbei, sich die kleine Wilde
anzusehen. Sie tanzten um den Baum, schrieen und streckten die Hände aus.
Pai sagte hinauf, das Fräulein erlaube, daß Lola zur Feier ihrer Ankunft
den Mädchen Äpfel pflücke. Lola warf sie ihnen zu; sie kletterte von Ast zu
Ast, suchte sich mit ernster Miene eine aus und warf ihr die Frucht in die
Schürze. Als sie herunterstieg, umringten die Größeren sie und liebkosten
sie. Aber eine Glocke läutete, und alle eilten ins Haus. Pai und Lola
folgten dem Fräulein zu einer Laube, wo ein Frühstück bereitstand.

Lola bekam zum Essen ein halbes Gläschen Wein; dann nahm Pai sie auf sein
Knie, küßte sie und sagte: »Nun lauf umher.«

Trotzdem behielt er sie im Arm und sah sie an. Sie entschlüpfte.

»Einen Kuß noch, kleine Tochter,« rief Pai ihr nach.

»Gleich!«

Und sie sprang hinter einem Schmetterling her. Ihr war lustig zu Sinn, sie
dachte: »Solche großen Klatschrosen! . . . Ich muß sehen, was dort in der
Mauer für ein dunkles, dunkles Loch ist . . . Pai ist gut, auch das
Fräulein ist gut . . . Eine Eidechse, husch . . . Ob die Mädchen nicht
wiederkommen? . . . Der schöne Tag!«

»Pai!« jauchzte sie.

»Er kann mich nicht hören, so groß ist der Garten. Wo ist denn die Laube
geblieben? Ah, um diese Hecken muß ich herum . . . Nun aber: Pai!« Und sie
lief.

Plötzlich hielt sie an: vor der Laube stand das Fräulein allein.

»Pai?«

Lola kam langsam näher. Ihre Augen durchforschten die Laube, überflogen den
Garten und hafteten, verzagend, am Blick des Fräuleins. Was sagte er? Doch
nicht das? Er konnte nicht! Lola nahm sich zusammen und fragte:

»Wo ist Pai, Fräulein?«

Das Fräulein sagte etwas, wieder mehrmals dasselbe, aber garnicht langsam
und deutlich wie vorhin: und doch verstand Lola. Sie warf, haltlos
jammernd, die Arme in die Höhe.

»Er wollte noch einen Kuß von mir! Wie kann er fort sein, wenn ich ihm doch
noch den Kuß geben soll!«

Sie taumelte einmal um sich selbst und schlug, unsicheren Laufs, den Weg
zum Hause ein. Mitten darauf blieb sie stehen, ließ die Arme fallen, senkte
den Kopf; und die rinnenden Tränen wuschen ihr von den Lippen den Kuß, den
sie nicht hatte geben dürfen.



III


Lola war allein.

Sie weinte auf einer Bank, zusammengekrümmt, lange und wild. Das Fräulein
stand anfangs dabei und flüsterte hier und da ein Trostwort, das fragend
klang, als wisse sie es selbst nicht genau. Dann machte sie einige
Schritte, sah sich wartend um, verschwand im Hause. Bald kam sie wieder und
rief sehr munter, ob Lola diesen schönen Pfirsich möge. Als aber das Kind
zornig den Kopf schüttelte und wilder schluchzte, zog das Fräulein sich so
rasch zurück, als flöhe sie.

Die Glocke läutete wieder, und Lola ließ sich fortführen, weil das Fräulein
ihr sagte, nun würden die Mädchen kommen und sie weinen sehen. Das Fräulein
öffnete die Tür zu ihrem eigenen Zimmer: da sprang kläffend ein kleiner
weißer Spitz auf Lola zu, und Lola, die daheim vor Großpais riesigen Hunden
keine Furcht gehabt hatte, wich mit einem Aufschrei zurück.

»Ami!« rief das Fräulein und redete, zu ihm niedergebeugt, ernsthaft auf
den Spitz ein. Es half nicht; das Kind und das Tier hatten sich gegenseitig
erschreckt; und der Hund mußte hinaus, -- wo er winselte.

Nun kramte das Fräulein in einem Schrank, zog ein großes buntes Buch hervor
und hielt es Lola entgegen. Sie wollte Lola auf einen Schemel setzen; Lola
glitt damit aus, griff um sich und warf ein Glas Wasser über die
Handarbeit, neben der es gestanden hatte. Das Fräulein strich ihr die Wange
und lächelte. Dann schlug sie das bunte Buch bei der ersten Seite auf; es
war ein Affe darauf, ein Ast und noch mehrere Dinge; und wiederholte, auf
den Affen zeigend, ein Wort: immer nur das eine. Zuerst beachtete Lola es
nicht; dann merkte sie wohl, daß sie es nachsprechen solle: aber sie
schwieg; und diese Rache für alles, was mit ihr geschah, tat ihr wohl.
Trotzdem richtete das Fräulein seinen Finger jetzt auf den Ast und sagte
dazu ein anderes Wort, viele Male. Sie führte Lola auch zu einem weißen
Turm, der in einer Ecke des Zimmers ragte, und zu dem Schirm, der
davorstand: darauf waren aus bunten Perlen eine Dame und ein Kind, und zu
beider Füßen ein Tier, das Lola nicht kannte. Es schien ihr sanft,
zärtlich, zum Zerbrechen sein; und seine großen Augen glitzerten, als seien
sie voll Tränen. Mitleid durchschauerte Lola, mit dem Tier, mit sich
selbst, -- und da stammelte sie das Wort nach, das das Fräulein ihr schon
längst vorsagte: »Reh«, und weinte, leise und ohne Trotz.

Wie die Tränen gestillt waren, nahm das Fräulein sie mit zum Essen, an eine
lange Tafel, wo viele Mädchen schwatzten und klapperten. Lola aß nichts,
aus Traurigkeit; sie saß betäubt da, erschrak, wenn ihr Name genannt ward,
und dachte, weh und wund: »Was wollt ihr alle? Was tue ich hier? Warum hat
Pai mich nicht mitgenommen?« Nach Tisch ward sie in den Garten gebracht,
aber sie schüttelte den Kopf und ging dem Fräulein nach, bis sie wieder im
Zimmer und bei dem Reh war: denn das war hier ihr einziger Freund. »Reh,
Reh,« flüsterte sie ihm zu. Das Fräulein küßte sie leise auf die Locken und
ließ sie mit ihrem Kameraden allein. Als Lola später zu Bett gelegt werden
sollte, hatte sie sich schon in Schlaf geweint.

Beim Erwachen in heller Sonne fiel ihr als erstes das Reh ein; dann der
Spitz Ami. Sie bedachte vieles Erlebte und auch, ob sie dies Zimmer schon
kenne. Neugierig sah sie sich darin um. Noch ein anderes Bett stand da,
aber es war schon verlassen. Sie ließ sich aus dem ihren gleiten und
trippelte umher: da trat das Fräulein herein, hob Lola auf ihren Arm,
zeigte sich auf die Brust und sagte mehrmals:

»Erneste«.

Lola hatte in ihrem rotgeschlafenen Gesichtchen große, aufmerksame braune
Augen, die, auf den Mund des Fräuleins gerichtet, ganz leise seitwärts hin
und her rückten; ihre blonden Locken hingen wirr geringelt, die leichten
Linien ihrer Lippen fügten sich fein ineinander; und am Saume ihres
Hemdchens streichelten sich ihre rosigen kleinen Füße. Sie äußerte nichts;
aber als sie fand, das Fräulein habe genug »Erneste« gesagt, nickte sie
bedächtig, zum Zeichen, daß sie verstanden habe.

Sie bekam ihren Kakao, grub im Garten, ward, wie die Glocke geläutet hatte,
von den Mädchen in einem Ringelreihen geschwenkt und dann wieder von
Fräulein Erneste in das Zimmer des Rehes geholt. Der Spitz Ami knurrte nur,
und er wedelte dabei. Lola sollte auch heute »Affe« und »Ast« nachsprechen.
Sie tat es zerstreut, sah dabei immer das Reh an: sie hatte keinen Sinn für
die Dinge, auf die Erneste sie jetzt noch hinzulenken wünschte; und nur
zufällig bemerkte sie, daß es sich um die zweite Seite des bunten Buches
handelte, und daß dort jedes Bild mit einer Marzipanscheibe bedeckt war.
Nahm man sie weg, kamen darunter zum Vorschein: ein Baum, ein Bäcker, ein
Bottich. Sie erlernte diese Worte in großer Eile, um zu erfahren, was auf
der dritten Seite wäre.

Von diesen Erlebnissen, die sie interessiert hatten, wollte sie bei Tisch
-- war nicht heute alles lustiger bei Tisch? -- ihrer Nachbarin erzählen,
einem Mädchen, daß nur wenige Jahre älter sein konnte. Sie erzählte
ausführlich, die andere aber lachte nur und stieß eine dritte an. Lola, in
Eifer, kam von dem Reh auf die Tiere daheim; sprach von daheim und von Nene
und Mai. Plötzlich ward sie inne, daß alle still waren, zu beiden Seiten
des Tisches, und sie ansahen: die meisten mit Neugier, einige spöttisch; --
und keine, erinnerte sie sich nun, keine einzige hatte sie verstanden!
Errötet, ratlos beschämt, sah sie die Reihen entlang, konnte, zitternden
Gesichtes, die Tränen noch gerade hinunterschlucken und beugte sich mit
einem kleinen einsamen Lächeln über ihren Teller.

Nun kam eine Stunde, in der alles durchs Haus sprang und sang. Auch Lola
sollte singen, sie tat nur so, als begriffe sie nicht. Da faßte aber
Erneste ihre beiden Arme, und die Nase kraus vor Freundlichkeit und während
alle umherstanden, sagte sie ihr mehrere Worte, deren jedes ungefähr klang
wie »singen«: nur nicht ganz. Schließlich aber fand sie's wirklich: singen;
und da sang Lola. Sie sang näselnd: »Ihr Negerknaben meines Vaters . . .«,
schloß dabei halb die Lider und sah nun alles, was sie sang, sah die Heimat
. . . Noch wie sie schwieg, war sie aus dem Schwarm der auf sie Einredenden
weit fort.

Eine Weile darauf fiel ihr ein, daß sie dieses Lied einmal bei der
deutschen Großmama gesungen hatte. Seltsam: an den Aufenthalt bei der
Großmama hatte sie noch gar nicht wieder gedacht; ihr war, als sei sie von
der großen Insel gradeswegs hierher verschlagen, und alles dazwischen war
verworren wie ein Schiffbruch. Nun kam ihr eine Fratze in den Sinn, die der
lustige Onkel einmal geschnitten hatte: und von da aus fand sie sich in
allem wieder zurecht. Ach! Das war doch Lolas Großmama, denn Pai war ihr
Sohn, und sie hatte ihn lieb. Eine aufzuckende Hoffnung: Ob Pai nicht bei
ihr war? Daß Lola daran nicht früher gedacht hatte! Pai war nicht
abgereist, er war bei seiner Mama! Lola ging zu Fräulein Erneste und sagte
»Großmama«: nur das eine, bittende Wort; und Erneste verstand es, sie ließ
Lola hinführen.

Die Großmama breitete die Arme aus, Lola aber lief, ohne ihrer zu achten,
um sie herum: »Pai! Pai!« -- in sein Zimmer, in das Wohngemach, in den
Garten: »Pai! Pai!« Sie kehrte von ihrer vergeblichen Runde wieder.

»Wo ist Pai?«

Die Großmama bedeutete ihr etwas, Lola wußte wohl, was, aber sie glaubte
ihr nicht. Einer der Onkel kam, die Magd ward gerufen, und alle
wiederholten dasselbe. Lola schüttelte nicht mehr den Kopf, aber ihre
Meinung stand fest. Zuletzt erschien der lustige Onkel und wünschte ihr
Guten Tag in ihrer Sprache. Immer die zwei Worte, die er sich einst von Pai
hatte ins Ohr sagen lassen. »Dummer Papagei,« dachte sie, und sie verlangte
fort.

Sie spähte in jedes Haustor, zerrte ihre Begleiterin in die Läden, die sie
mit Pai besucht hatte, und auf einem leeren Platz, wo es wehte, blieb sie
stehen und rief flehentlich »Pai!« Keins der trägen Fenster öffnete sich;
es fror Lola bitterlich; und die Magd zog sie fort.

Aber für das bunte Buch war sie nicht mehr zu haben, nicht mehr für den
Garten und kaum noch für das Reh. Sie sah jeden mit Mißtrauen an, der ein
Wort zu ihr sprach: eins dieser unverständlichen Worte, deren Geräusch um
sie her war. Zu Fräulein Erneste sagte sie: »das ist nicht wahr,« obwohl
sie gar nicht wußte, was das Fräulein gemeint hatte; bei Berührungen brach
sie in Geschrei aus; und ihr Drang war immer: auf die Straße, durch die
Stadt, und in die Häuser spähen. Sie schrie, bis das Fräulein ängstlich
ward und sie hinausließ. Das dauerte mehrere Tage.

Dann wich Lolas Glaube. Sie hatte gewiß in jedem Winkel nachgesehen und
überall ihr »Pai!« gerufen. So wollte Pai sie wohl nicht hören, oder er war
wirklich fort. Ja, er war fort: die Leute hatten recht. Aber dann hatte Pai
selbst sie verraten und unter diesen Fremden zurückgelassen. Wem also war
noch zu trauen? Scheu sah das Kind sich um. In diesen Tagen brach ein
Gewitter aus; und Lola -- wie hatte sie daheim zu urweltlichen Unwettern
gejauchzt! -- ward von jedem dieser Blitze in eine andere Zimmerecke
gescheucht: bleich und mit geschlossenen Lippen; denn niemandes Hilfe wußte
sie anzurufen.

Ward Lola jetzt um ihr Lied gebeten, schüttelte sie, mürrisch und verlegen,
die Schultern. Auch sprach sie nicht mehr; und sie dachte ganz
Ungewöhnliches. »Ich werde vielleicht sehr krank werden und kann dann
niemandem sagen, wo es weh tut, und muß immer so schreien, wie damals der
Neger schrie, der ein Loch im Magen hatte.« Wenn sie allein im Zimmer war
und mit sich selbst und ihren Puppen plauderte, mußte sie manchmal
lauschen: so seltsam klein und allein klang ihr die eigene Stimme; -- und
sie fühlte es plötzlich, tief in ihrem erschauernden Herzen, es gäbe im
Hause und in der ganzen Stadt und auf allen Straßen die hinausführten,
keinen Menschen, der, wie die daheim, zu ihr sagen könne: »Meine kleine
Lola, meine liebe kleine Lola.« Sie flüsterte die ersehnten Worte vor sich
hin und sah dabei ihre Puppen an. Da bemerkte sie, daß auch die Puppen sie
ihr nie sagen und, was sie ihnen vorplauderte, nie verstehen würden: waren
doch auch sie aus diesem fremden Lande. Sie schob sie weg. Und selbst das
Reh! Daheim gab es kein solches Tier, und es wußte nichts von Lola. »Hörst
du denn nicht?« bat sie, mit Tränen. »Reh! Reh!« Aber das Reh sah sie fremd
an.

Lola war allein.

                   *       *       *       *       *

Am Sonntag ward sie wieder zur Großmama gebracht. Sie benahm sich scheu und
verdrossen; man verlor endlich die Geduld und überließ sie nach dem Essen
sich selbst. Unzufrieden, weil niemand mehr sich um sie bekümmerte, drückte
sie sich im Garten umher. Wie es kalt war in diesem Lande! Ängstlich und
feindselig sah sie zu den grauen Wolken hinauf, die herabdrohten. Der
Pavillon, der sie am ersten Tage versteckt hatte, damals, als sie schon
vorausgeahnt hatte, Pai werde sie allein lassen: heute stand er offen, und
Lola betrat ihn. Es waren wunderliche alte Möbel darin; sie bemühte sich,
einen Wandschrank zu öffnen: -- da geschah ein Poltern unter ihr. Sie fuhr
zusammen. Es polterte stärker, es schlug sogar gegen den Boden, auf dem sie
stand. Erstarrt, horchte sie. Ein furchtbarer Krach: nun drang es gleich zu
ihr ein; und Lola schrie los, mit allen Kräften höchster Not:

»Der Teufel! Der Teufel!«

Sofort hörte das Poltern auf, und im nächsten Augenblick stand in der Tür
der lustige Onkel, ganz bleich, und blickte Lola zornig an. Sie schrie, zu
ihrer Rechtfertigung und aus Eigensinn, noch einmal: »Der Teufel!« Da
stürzte aber der Onkel auf sie zu und legte sie über sein Knie . . . Und
nachdem Lola dies durchgemacht hatte, war es ihr viel leichter und sanfter.
Der Onkel nahm sie bei der Hand und führte sie in das Kellergewölbe, unter
dem Gartenhaus. Er zeigte ihr, wie er Holz gehackt habe, und wie die
geschwungene Axt manchmal gegen die niedrige Decke gestoßen sei. Was er
dazu redete, hatte einen guten, tröstlichen Ton; -- und Lola ward betroffen
und sehr nachdenklich. Denn es war klar, daß dies gegen alle ihre
bisherigen Erfahrungen ging. Wenn daheim aus dem Urwald heraus irgend eine
ungewohnte Stimme erscholl, lief es bei den Schwarzen von Mund zu Mund:
»Der Teufel«; und blinzelte irgendwo ein Licht, das niemand kannte, ward
geraunt: »Der Teufel«. Als der Onkel Holz hackte, hätte die schwarze Anna
nur bei Lola sein sollen: ganz sicher würde sie gewimmert haben: »Der
Teufel«. Er war es also nicht? Wenigstens nicht immer? Das war tröstlich,
und der Onkel war gut, daß er Lola dies gelehrt hatte. Sie lächelte ihm zu.
Sie hatte auf einmal alle Menschen lieber, ging ins Zimmer, umarmte die
Großmama und klatschte in die Hände bei dem Gedanken, daß sie auch dem
Fräulein Erneste etwas recht Liebes antun wolle. Eifrig verglich sie im
Innern die schwarze Anna mit Fräulein Erneste und wunderte sich, wie viel
näher ihr Erneste sei. Die schwarze Anna war dumm, mit ihrem Teufel; Lola
schämte sich ihrer ein wenig. Wie sie nach Haus kam, stellte sie sich vor
Erneste hin, sammelte sich und sagte zutraulich:

»Ast, Boot, Reh, Erneste.«

Dabei lächelte sie entschuldigend, denn für ein achtjähriges Mädchen war
dies natürlich kindisch; aber was sollte sie sagen? Erneste verstand Lola;
vor Rührung bekam sie ein bekümmertes Gesicht und Tränen in die Augen.

Einige Wochen später schlug sie Lola vor, einen Brief an Pai zu schreiben.

»Schreibe in deiner Sprache.«

Lola tat es; aber sie fügte mit Genugtuung eine Anzahl ihrer deutschen
Wörter hinein: alle waren in einem Brief schon nicht mehr unterzubringen.
Die Antwort kam. Auch Herr Gabriel hatte auf portugiesisch geschrieben; nur
am Schluß stand der Satz: »Ich habe dich lieb«; und diese Worte, die er
noch nie in seiner eigenen Sprache hatte äußern dürfen, waren von ihm mit
einer Süßigkeit erfüllt worden, die Lolas schwache Hände noch nicht
herauspressen konnten. Erneste sah diese Zeilen lange an und sagte dann:

»Bewahre den Brief gut auf, Kind.«

Den nächsten schrieb Lola -- sie war vier Monate bei Erneste -- ganz
deutsch, und ihr Vater antwortete ebenso. Inzwischen aber war ein Brief
angekommen; Lola wußte nicht gleich, wer ihn abgeschickt habe. Sie war sehr
gespannt.

»Ah!«

»Nun?« fragte Erneste.

»Von Mai!« -- und sie betrachtete ihn angestrengt.

»Was schreibt dir deine Mama?«

»Ja, ja«, machte Lola, und: »Gleich komme ich wieder.«

Sie lief ins Schlafzimmer und buchstabierte. Mais Schrift sah Lola zum
erstenmal; die schöne Mai lag immer nur in der Hängematte. Wie mußte sie
Lola lieb haben, daß sie ihr schrieb! Lola küßte den Brief. Dann versuchte
sie es nochmals: nein; wirklich, sie verstand nichts, oder nur hier und da
ein paar Worte. »Mai, Mai«, stammelte sie, und plötzlich weinte sie.
Kleinlaut berichtete sie später Erneste:

»Jetzt ist es sehr heiß in Rio, schreibt Mai, und hier ist es so kalt.«

Tags darauf wußte sie:

»Nene war krank und ist nun wieder gesund.«

Sie las immer in dem Brief; er hatte schon Risse, Fettflecke und
Tränenspuren. Eines Morgens beim Erwachen fand Lola ihr Händchen hoch in
der Luft. Im Traum hatte sie's nach einer Frucht ausgestreckt, die Mai ihr
hinhielt, -- und zog es nun leer zurück. Noch sah sie Mais Gesicht: und da
verstand sie plötzlich einige von Mais Worten in ihrem Brief. Schon war
Lolas erste Sprache, Wort für Wort, zurückgedrängt von ihrer zweiten; neue
Gesichter schoben sich ihr vor die alten; und eine neue Luft malte alle
Dinge anders. Draußen schneite es; das erste Mal hatte Lola den Schnee für
Zucker gehalten; und Mai kannte ihn noch immer nicht. Mai lag in großer
Wärme in ihrer Hängematte und kannte, obwohl sie Mai war, nichts von allem,
was Lola sah. Wie rätselhaft das war! Lola dachte sich darin fest; sie saß
am Boden, den Blick nach innen, die Lippen leise gelöst, und hielt mit
allen Kräften den Geschmack solches Gedankens fest. Manchmal war es nur ein
Wort, ein Name, den sie in solcher Weise ganz auszukosten suchte: Erneste,
wie konnte jemand so heißen; Er--ne--ste, wie jede der Silben plötzlich
verwunderlich und komisch war. Jeden Augenblick wurden sie fremder! Im
Frühling, auf einem Ausflug, ward Lola vermißt und allein zwischen
Waldhügeln bei einer Quelle gefunden. Das nasse Laub hing um sie her, es
roch herb nach Kräutern, die Quelle rann, Lola saß ohne Regung. Worüber sie
nachgedacht habe. »Über die Quelle.« Im Sommer lag sie oft am Rande eines
Heliotropbeetes auf dem Bauch, schob den Kopf zwischen die Blumen und
lauschte in die große Tiefe dieses Duftes.

Ein Gesicht, das sie lange schon kannte, ward ihr auf einmal wie
durchleuchtet: nun fühlte sie's. Einmal, im Schulzimmer, sah sie, anstatt
nachzuschreiben, unverwandt auf ihre Lieblingslehrerin, auf die raschen
kleinen Mienen und die flinken, pickenden Bewegungen des Fräuleins.

»Lola, warum siehst du mich immerfort an?« fragte Fräulein Mina. Lola
erklärte:

»Du aussiehst wie ein klein Vogel.«

Die französische Lehrerin ward gehaßt von Lola: besonders seit sie Lola
gedroht hatte, wenn sie noch länger die Kirschkerne verschlucke, werde ihr
ein Kirschbaum aus dem Halse wachsen. Lola wühlte sich mit dem Blick in
dieses fette, graue, schnüffelnasige Geschöpf hinein, bis sie in dem
Fräulein deutlich eine große, dicke Ratte sah und bei einer zufälligen
Berührung besinnungslos aufschrie!

In eine Vorstellung, eine Begierde konnte sie sich rettungslos festrennen,
bis zu kleinen Verbrechen. Einmal log sie, in dem unvermittelten Drange,
eine Sache ganz für sich zu haben. Nun hatte sie's: ein Geheimnis; und
kostete tagelang aus, daß niemand wisse, was sie wußte. Das war ein neues
Leben, eine eigene Welt! Etwas später stiftete sie, um des Abenteuers
willen, eine große Verschwörung an, verbunden mit Diebstahl. Zwar handelte
es sich um die »Ratte«, die ohnehin jeden Streich verdiente. Mittlerweile
nannten alle sie so; Lola hatte den Namen durchgesetzt und in Vielen
Widerwillen erregt gegen die Lehrerin. Es war nicht schwer, die Mädchen zu
überzeugen, daß sie der Ratte eine große, scheußliche Puppe ins Bett legen
müßten. Man brauchte eine Maske, eine Haube, eine Jacke, eine Brille. Das
Geld? Man wußte doch, wo die Ratte ihres aufbewahrte. Es war nur gerecht,
daß sie selbst sich die Puppe kaufte. So geschah es. Die Ratte fiel zuerst
in Ohnmacht, und wie der Verlust des Geldes herauskam, erlitt sie einen
Weinkrampf. Lola sah ihn mit an: sie sah den Schmerz des häßlichen und
geizigen Geschöpfes, ward hineingezogen und lebte ihn mit, außer sich vor
Reue. Sie sah eine dicke Ratte sich ängstigen, die sie vergiftet hatte, und
hätte gern, wenn es noch möglich gewesen wäre, das Gift selbst gegessen.
Sie bat um Verzeihung, nahm sogar, mit leidenschaftlicher
Selbstüberwindung, die Hand der Ratte. Denselben Ekel empfand sie auch
jetzt noch; aber sie sah dieses Wesen leiden; sah unendlich mehr davon, als
die andern sahen; und begriff nicht mehr, wie sie solch Leiden hatte
zufügen mögen! Viel lieber statt anderer leiden! In mancher Nacht kam ihr
die Frage: »Wenn ich mich lebendig begraben lassen sollte, oder Erneste
sollte sterben, oder Mai: was würde ich wählen?« Sie warf sich seufzend und
heiß umher: nun hieß es sich entscheiden, das Furchtbarste auf sich nehmen.
Und plötzlich war sie hindurch, sah Licht, war sanft und süß durchronnen
und hatte sich dargebracht: »O, lieber, viel lieber will ich lebendig
begraben werden!«

Sie war erschüttert; ein Drang nach Güte, eine schmerzliche Wallung von
Liebenwollen hob ihr Herz auf; -- und da kam rechtzeitig der neue
Geschichtslehrer, Herr Dietrich. Er war schüchtern und ironisch, und er
sprach immer wie zu erwachsenen Damen. Alle interessierten sich für ihn,
einige erkundeten seine Lebensumstände. Er wohnte mit seiner Mutter und
seinen jungen Geschwistern zusammen und unterhielt sie. Wie Lola von seinem
Leben träumte! Liebreich mußte es dahinfließen, voll sanfter, gütiger,
edler Gedanken. Mit zwei andern, die für ihn schwärmten, wagte sie es unter
einem Vorwand, ihn aufzusuchen. Kein Teppich lag auf den weißen Dielen
seines Zimmers. Herr Dietrich stand von seinem Schreibtisch auf, der dabei
ins Wanken kam, und deckte verlegen ein Kissen auf einen Riß im Ledersofa.
Das ganze Haus roch nach saurer Milch. Tagelang erbitterte Lola sich gegen
Erneste, die ihn nicht besser bezahlte. Alle hätten hingehen sollen und es
ihr vorhalten. Lola sonderte sich ab, so oft sie konnte, lernte den
Leitfaden der Geschichte auswendig, und wenn sie ihn sich wiederholte, war
es ihr, als sagte sie ihm etwas Liebes. Als sie an einem Märztag, es lag
noch Schnee, allein im Garten gewesen war, kam sie erregt zu Erneste
gelaufen.

»Erneste, ich weiß jetzt, wie der Frühling aussieht!«

»Wieso?«

»Wie Herr Dietrich sieht er aus!«

Lola leuchtete. Die Offenbarung, die sie soeben empfangen hatte, war
einfach und tiefwahr.

Erneste dachte: »Mit zwölf Jahren schon? . . .« Sie faßte sich und äußerte:

»Aber Kind, für ein Mädchen, das bald dreizehn wird, ist das doch zu
kindisch. Herr Dietrich ist natürlich ein Mensch wie wir alle.«

Lola stutzte; war er das? Warum mußte sie dann soviel an ihn denken? Immer
hatte sie jenen leichten Geruch von saurer Milch in der Nase: soviel dachte
sie an Herrn Dietrich. »Ich will ihn mir ganz genau ansehen.« Gerade heute
war Herrn Dietrich sein gelber Strumpf über seinen schwarzen Schuh
gerutscht. Lola starrte finster und nachdenklich darauf hin. Ähnliches
konnte man auch bei andern Lehrern sehen: aber Herr Dietrich, der so edel
war! an den Lola so viel denken mußte! Nun bemerkte sie auch, wie Herr
Dietrich sich mit Jenny abgab; wie die dicke, freche Jenny, das Kinn auf
der geziert ausgespreizten Hand, ihn anschmachtete; wie er errötend wegsah
und, nachdem er ein wenig an seinem Kneifer gerückt hatte, ihr zulächelte.
Da ward es Lola kalt und zornig zu Sinn; es trieb sie, Herrn Dietrich zu
zeigen, daß er für sie durchaus kein Ideal sei. Er stand grade vor ihr;
seine rötliche, knochige Hand lag auf ihrem Tisch; und in seiner Manschette
konnte sie Haare sehen. Vorsichtig führte sie zwei Finger hinein, erfaßte
ein Haar, machte »Kieks!« -- und da hatte sie's. Herr Dietrich zuckte
zusammen; dann rief er mit roter, entrüsteter Miene:

»So etwas tut man nicht!«

Lola, ziemlich erschrocken über ihre Tat, aber trotzig, betrachtete das
Haar.

»Gib's her!« -- und Herr Dietrich nahm es ihr weg.

Als er sie später etwas fragte, antwortete sie nicht, obwohl sie's wußte.
Sie beschloß ihm brieflich ihre Verachtung auszusprechen; den ganzen
Nachmittag arbeitete sie daran. »Wenn ich einen Menschen gern habe,
verlange ich mehr von ihm als von andern, Sie haben mich sehr enttäuscht,«
wollte sie ihm sagen, und: »Ich bin viel zu stolz, um jemand noch gern zu
haben, der eine andere liebt.« Indes fiel ihr ein, daß Herr Dietrich von
ihrer Neigung nichts gewußt habe, und daß ihn darum auch ihre Enttäuschung
nichts angehe. Wahrscheinlich würde er ihr mit seiner entrüsteten Miene den
Brief zurückgeben und dazu schreien: »So etwas tut man nicht!«

Sie hielt sich nun für fertig mit der Liebe Dennoch verlor sie den Winter
darauf ihr Herz an einen italienischen Leierkastenmann. Sie lag im Fenster
und lebte in seinen Augen. Bleich und traurig schmachtete er herauf. Lola
sagte:

»Wie ist er schön! Ich habe noch nie einen schönen Mann gesehen.«

Die dicke Jenny störte sie diesmal nicht: im Gegenteil, sie fragte, ob Lola
seine Bekanntschaft machen wolle, sie begleite sie gern. Lola schrak
zurück, sie wußte noch nicht, wovor. Aber am Sonntag wartete sie mit ihrem
ganzen Wochengeld. Der Italiener kam, nur war er betrunken und
kotbespritzt, fing Streit an und ward verhaftet. Lola warf aufs Geratewohl
ihre zehn Mark hinunter und rettete sich.

Die Trennung von dieser Liebe war hart. Wochenlang zuckte Lola schmerzlich
zusammen, pfiff jemand auf der Straße eine von des Italieners Arien. Bei
der Ankündigung der Oper, aus der sie stammten, geriet Lola in Erregung und
verlangte hin. Sogar die Begleitung der Ratte nahm sie mit in den Kauf. Auf
ihrem Balkonplatz bekam sie Herzklopfen; aber wie sie sich den
Leierkastenmann vor Augen rufen wollte, bemerkte sie, daß sein Bild
unauffindbar war, und daß nur die Klänge und Gebärden von dort drüben sie
erfüllten und bewegten. Ihr schien es der erste Theaterbesuch; und alles
mutete sie wie eigene tiefe Erinnerungen an. Woran sie jemals ahnungsvoll
gerührt hatte, das war hier aufgeschlossen und entzaubert. Der letzte Duft
schöner Blumen, Namen, Gesichter schien hier herausgepreßt. Die Worte
klangen alle voller und sinnreicher, die Dinge hatten höhere Farben, die
Mienen erglänzten inniger. Hier wiederholte sich, hätte man meinen sollen,
das Leben Lolas in stärkerem Licht: als habe sie dort auf der Bühne ihr
eigenes Herz, höher schlagend, vor Augen. Alles, wofür man sonst keine
Verwendung wußte, konnte hier spielen. Man konnte sich ganz geben, wie man
war; denn die Menschen hielten endlich das, was man sich von ihnen
versprach. Der Held dieser Oper war so edel, wie Herr Dietrich hätte
bleiben sollen, und so schön wie der Italiener, ohne sich dabei zu
betrinken.

Bei der Heimkehr war es Lola, als habe sie nun ein Zauberwort erfahren:
Schauspielerin, und sei dadurch erlöst und mit sich selbst bekannt gemacht.

»Wie sonderbar!« dachte sie im Bett und starrte zur dunklen Decke hinauf;
»das also bin ich!« Erneste rührte sich, und Lola hätte sie fast, in
rascher Regung, aufgeweckt und ihr Schicksal Erneste offenbart. Noch hielt
sie zurück; sie hatte sich erst selbst an seine Erkenntnis zu gewöhnen.
Beim Aufwachen aber erschütterte sie sogleich ein großer Jubel; sie machte
sich schnell fertig und lief zu Erneste, gerade so herzhaft und ohne Arg,
wie damals, als sie mit der Nachricht kam, der Frühling sehe aus wie Herr
Dietrich.

»Erneste!« rief Lola, »weißt du, was ich werden will? Schauspielerin!«

»Auch gut,« erwiderte Erneste und befestigte gelassen den Papierdeckel auf
einem Glas mit Eingemachtem. Lola erklärte freudig:

»Gestern im Theater habe ich es gemerkt, und jetzt weiß ich es ganz genau.«

»Dummes Kind; trinke lieber deinen Kakao.«

»Warum, dumm? Ich glaube, daß ich Talent habe.«

»Das glaube ich auch: du rezitierst sehr niedlich; deswegen verfällt aber
doch kein verständiges Mädchen auf solches dumme Zeug. Möchtest du wohl
einen Löffel Gichtbeerenkompott?«

Verwirrt ließ Lola sich den Löffel in den Mund schieben.

»Nun geh, Kind,« sagte Erneste, und Lola ging, den Kopf gesenkt. Vor der
Tür zum Frühstückszimmer richtete sie sich auf und kehrte nach der
Speisekammer zurück.

»Erneste!«

Lola war blaß, ihre Stimme hatte gezittert; Erneste sah sie sprachlos an.

»Erneste, du hast so getan, als ob es Scherz wäre. Es ist mir aber ganz
ernst.«

»Um so schlimmer,« sagte Erneste, polternd vor Schrecken. »Geh ins
Klassenzimmer und erwarte, welche Strafarbeit ich dir aufgeben werde!«

»Ich will alle Strafarbeiten machen, die du mir aufgibst, Erneste. Aber ich
bin fest entschlossen, Schauspielerin zu werden.«

Lola redete das wie ein Diktat; irgend eine Macht weihte sie zum Sprechen.

»Es ist das erste Mal, daß ich so zu dir spreche, Erneste: daraus kannst du
ersehen, wie wichtig dies ist,« sagte sie sanft, mit feuchten Augen; denn
Erneste tat ihr leid. Erneste war auf einen Holzschemel gefallen; ihre von
Fruchtsaft blauen Finger lagen wie tote kleine Soldaten durcheinander im
Schoß; ihr Gesicht war ganz lang und über alle Maßen verstört.

»Was kannst du denn auch dagegen haben,« meinte Lola, »wenn ich es nun
einmal als meinen Beruf erkannt habe.«

Da aber kam alles wieder zu Leben an Erneste; sie sprang auf.

»Dein Beruf? Eine unanständige Person zu werden, das soll dein Beruf sein?
Dazu habe ich dich durch sieben Jahre auf Gottes Wegen erhalten? Du weißt
nicht, was du redest: das ist das einzige, was mir noch Hoffnung läßt.
Jenny, mein Kind, sie weiß nicht, was sie redet; schweige um Gotteswillen
über das was du gehört hast!«

Lola wandte sich um: in der Tür stand die dicke Jenny und sah sie mit
heuchlerischem Entsetzen an.

»Du begreifst, Jenny, wenn sie dabei bliebe, das wäre noch schlimmer als
das mit Susanne, und davon habe ich doch schon graue Haare. Versprich mir,
mein Kind, daß niemand etwas erfahren soll!«

Jenny versprach es artig. Dann entließ Erneste sie; und da sie unbeachtet
stand, ging auch Lola. Ernestes Aufregung begriff sie nicht. Lola wollte
zur Bühne und möglichenfalls dieselben Stücke spielen, die in der Klasse
gelesen wurden. Was hatte das mit Susanne zu tun, die weggeschickt war,
weil sie irgend etwas, nicht recht verständliches, mit dem Gärtner zu tun
gehabt haben sollte? Lola saß in Rätseln; aber schon nach der ersten
Unterrichtsstunde fing sie neugierige Blicke auf, die sogleich, mit
künstlicher Fremdheit, weggelenkt wurden; und auch die Lehrerin, die jetzt
darankam, starrte erst einmal Lola recht unverschämt forschend ins Gesicht,
und dann richtete sie plötzlich das Wort an eine andere. In der Pause
bemerkte Lola, daß manche ihr auswichen, und daß einem harmlosen Mädchen,
mit dem sie sprach, von Jenny und mehreren andern so lange bedeutsam
gewinkt ward, bis es sich verlegen von Lola losmachte. Lola ging gradeswegs
auf Jenny zu: was das eigentlich heiße. Jenny wendete sich gepeinigt hin
und her, murmelte, als sei sie um Lolas willen in Sorge, daß nur keine es
höre: das wisse Lola wohl selbst am besten; und rasch tauchte sie in einen
Kreis Schwatzender.

Ernestes Benehmen war noch viel auffallender. Lola erinnerte sich nicht,
daß Erneste jemals länger als eine Nacht mit ihr böse gewesen war. Am
Morgen hatte sie sich immer anmerken lassen, daß sie gern versöhnt werden
wolle. Dabei ging sie beinahe bittend zu Werke; infolge jeder von Lolas
Ungezogenheiten war Erneste es, die gewissermaßen Vergebung suchte, und
deren Miene um ein gutes Wort warb. Lola bat schwer um Verzeihung. Wenn sie
sich dazu entschloß, tat sie's aus Mitleid mit Erneste. Das junge Mädchen
dachte dann an des Kindes erste Begegnung mit Erneste: als Erneste zuerst
streng auf sie eingedrungen und plötzlich, wie sie Lolas Tränen sah, ganz
aus der Fassung geraten war. So ging es immer. Erneste schien sich manchmal
viel zu dünken, und plötzlich fiel sie in Schüchternheit. Nachdem sie
anfangs ihre gnädige Gesinnung als Belohnung hingestellt hatte, bemühte sie
sich schließlich um Lolas Zuneigung. Was sie bekam, war eine etwas
geringschätzige Freundlichkeit.

Jetzt aber gebärdete sich Erneste, Tag um Tag, traurig und behutsam gegen
Lola: wie wenn Lola schwer krank sei und man könne mit ihr nur noch wenig
und leise reden. Lola sah: auch die wohlwollenden Mitschülerinnen bekamen
davon die Empfindung, Lola sei aufgegeben; -- und sie selbst geriet über
sich ins Unklare. Hätte Erneste ihr Szenen gemacht! Lola würde sich
versteift, sich behauptet haben. So erschien, was sie gewagt hatte,
allmählich ihr selbst als etwas Ungeheuerliches. Keine andere also war
dessen fähig! Lola fühlte sich abgesondert, ihre Schritte unheimlich
gedämpft, ihr ganzes Dasein fragwürdig. »Bin ich denn anders als alle?«

Da erinnerte sie sich gewisser Träume, gewisser ahnender, grübelnder
Gefühle, für die sie, kam sie damit heraus, nirgends Verständnis gefunden
hatte. Befremdet und etwas peinlich berührt, hatte man sie stehen gelassen.
Die besten hatten gutmütig gelacht. Auch das mit Herrn Dietrich und dem
Frühling fiel Lola wieder ein: und nun bedeckte sie, im verschlossenen
Schlafzimmer, die Augen mit den Händen, glühend rot durch diese vor Jahren
gesprochenen Worte. Plötzlich richtete sie sich auf.

»Und ich bin doch so!« sagte sie laut vor sich hin, und:

»Auch ich habe mein Recht!«

Sie überlegte:

»Sollte alles daher kommen, daß ich aus einem andern Lande bin? Wenn im
Sommer alle stöhnen, dann wird mir erst wohl. Natürlich: ich gehöre gar
nicht hierher! O, zu Hause, wie viel schöner war es zu Hause!«

Irgend ein glänzendes Bild aus Kindertagen war ihr unvermutet durch den
Sinn geschossen; sie hielt den Atem an: es war fort. Durch Nachdenken
wollte sie ihre Gefühle von einst zurückbannen: es kam nichts; und als sie
endlich eins zu halten meinte, war es nur die Erinnerung an eine Ansicht
aus den Tropen, die sie kürzlich in einer Zeitschrift gesehen hatte.
Klagend trat sie ans Fenster, die Schultern hochgezogen, als träfe sie der
kalte Regen, der gegen die Scheibe schlug.

»Hier bin ich nicht heimisch geworden; und das, was meine Heimat war, habe
ich vergessen. Wohin gehöre ich denn?«

»Drüben hatte ich meine Familie und meine Freunde. Drüben verstanden alle
mich. Drüben war ich glücklich.«

Und bittere Gedanken richteten sich gegen den Vater, der sie losgerissen
und verbannt hatte.

»Warum grade mich? Nene hat dort bleiben dürfen. Pai kann mich niemals lieb
gehabt haben!«

Lola überdachte seine Briefe und fand sie kalt. Gleichwohl schrieb Herr
Gabriel ihr jeden zweiten Monat; und nur sein besonnener kaufmännischer
Stil war schuld, daß seine Sätze kühl klangen. Lola war nicht gestimmt, die
Liebe zu fühlen, die hinter den Worten bebte.

»Niemals hat er mich besucht, in all den Jahren!«

»Und wie grausam ist er gegen Mai gewesen! Mai, die weinte und mich
festhalten wollte, als der große Schwarze mich forttrug!«

Das ganze phantastische Grausen jener Sturmnacht entstand noch einmal in
Lola; und mit der Kinderangst von einst wallte Sehnsucht auf:

»Mai!«

Die Arme ausgestreckt:

»Mai! Mai!«

Ein weißer, glänzender Nebel erschien vor Lolas Augen und, weich darum
gelegt, ein Rahmen aus dunklem Haar. Lola wollte Züge hervorlocken: der
Nebel blieb leer; er drohte wegzufließen. Sie flüsterte bange Koseworte,
hielt in ekstatischer Beschwörung dem Phantom ihrer Mutter die Lippen hin:
umsonst. Lolas Kraft war aus und das Bild zerronnen.

Sie ergab sich nicht; sie suchte, mit einem Blick der Not, nach Hilfe
umher, nach einem Anhalt -- und traf auf eine alte Schreibmappe. »Mais
Brief!« Sie wühlte ihn heraus, legte aufschluchzend ihre Wange in das alte
Papier. »Das kommt von Mai!« Jeder dieser kleinen flüchtigen Buchstaben war
ein Geschenk von Mai an Lola. Sie las darüber hin, lange Zeit. Dann
enträtselte sie, mit Hilfe des Französischen, einige Worte. Dann sprach sie
sie laut, fügte andere hinzu und horchte jedem nach, mit offenem Mund und
seitwärts gewendeten Augen. Dazwischen erregtes Lachen: ja, so klang es.
Ein Jubelruf: das war Mais Stimme! So sagte Mai dies! O, und dies war die
schwarze Anna; und dies --. Die Namen ehemaliger Freundinnen klangen mit;
ein Gesicht sprang aus einer Silbe, eine Begebenheit. Lola wußte nicht
mehr, wohin sie lauschen sollte. Ihr Geist stürzte hinter alledem her, nach
allen Seiten, wie ein Kind hinter Schmetterlingen. Minutenlang war sie
glücklich. Schließlich zerflatterte alles; -- aber Lola war nun gewiß: »Ich
muß hinüber! O, gleich, gleich an Pai schreiben!« Sie setzte sich daran,
wollte schmeicheln, Pai günstig stimmen und fand vor fieberhaftem Drängen
keine Worte. »Kann ich nicht telegraphieren? Kann ich nicht fliehen?
Sofort? Sofort?« Sie irrte, hochatmend, durchs Zimmer. Notdürftig
gesammelt, schrieb sie:

»Lieber Pai, darf ich jetzt nicht bald zu Euch zurück? Du wolltest wohl,
daß ich hier etwas lernen sollte. Ich kann Dir versichern, ich habe schon
viel gelernt.«

Was sagte dies! Gegenüber erblickte sie ihr Spiegelbild in einem fremden
Raum: in dem Raum, der sie seit sieben Jahren umfing und nun aussah wie ein
Zufallsquartier zum Übernachten. Sie dachte ihr Gesicht neben denen
draußen, ringsumher: lauter Gesichter mit anderen Wesenszügen, geformt von
einem fremden Blut. Im Geist hörte sie die Stimmen: anders fallende
Stimmen, Künderinnen fremder innerer Gewohnheiten. Sie schrieb:

»Ich hätte Dir noch viel zu sagen; aber ich kann mich nicht recht
ausdrücken, da ich ja keine Sprache ganz beherrsche. Bitte, erlaube mir,
daß ich kommen darf. Ich grüße Nene und Mai. Wäre es nicht möglich, daß ich
ein Bild von Mai bekäme?«

Im Gefühl, sich gerächt zu haben, ging Lola zu den andern. Sie benahm sich
so entschieden und selbstbewußt, daß Jenny mit ihr reden mußte und Erneste
sie nicht länger durch leises Sprechen für krank ausgeben konnte. Am Abend
fing sie sogar mit einer Streit an und, entgegen ihrer Alltagsnatur,
bereute sie nichts von dem, was sie im Zorn gesagt hatte.

Sie blieb hochgemut: wie konnte Pai ihre Bitte abschlagen! -- und
inzwischen sammelte sie Anhängerinnen, denen sie den Ton angab, denen sie
half, am Sonntag, bei den lebenden Bildern, in Kostümen und Kunst der
Stellung die andern zu besiegen. Die Pension spaltete sich; die eine der
Parteien scharte sich um Jenny, die andere um Lola, und jede warb mit
Leidenschaft um die draußen wohnenden Schülerinnen. Erbitterte und
wortlose. Kämpfe wurden bestanden. Einmal ward das Ziel des Ehrgeizes darin
entdeckt, als erste beim Frühstück zu sein; aber mochten Jennys Freundinnen
bei kaum grauendem Tag hinabschleichen: Lola mit den Ihren saß doch schon
am Tisch. Am Abend hatte sie von sich zu den andern, unter den Stubentüren
hindurch, einen Bindfaden geleitet. Jede war mit der Nächsten verbunden;
regte sich eine, erwachten alle; und geschlafen hatte keine. Dafür genoß
man nun Triumphgefühle, die einen sprengten.

Zu Lolas Hochgefühl wirkte Verachtung mit. Sie übte ihre Macht als
Parteiführerin und dachte dabei: »Was ihr alle mich angeht! Wie lange
dauert dies überhaupt noch! In vierzehn Tagen ist Pais Brief da!« Manchmal
sah sie Erneste an, die nichts ahnte, und konnte ihr Frohlocken kaum
niederringen. Einmal verriet sie sich. Am Sonntag nachmittag hatte Jenny
gesungen: etwas peinlich Sentimentales, wobei sie himmelte und die
Fingerspitzen auf die Brust setzte. Lola rief aus tiefster Seele:

»Das ist aber über alle Maßen geschmacklos!«

Jennys Anhängerinnen gaben dies nicht zu; nicht einmal unter ihren eigenen
waren viele der Meinung Lolas. Die Tochter eines Reichstagsabgeordneten
sagte:

»Es war so deutsch.«

»Es war geschmacklos!« stieß Lola hervor. »Wenn es deutsch war, dann war es
eben eine deutsche Geschmacklosigkeit!«

Darauf ward es still; und wie Lola sich bei den Ihren nach Beistand umsah,
wichen die Blicke ihr aus, und die Schultern drehten sich hin und her, bis
sie aus Lolas Nähe waren. Drüben versetzte eine spitz:

»Du bist eben eine Brasilianerin!«

»Wenn sie das noch wäre,« entgegnete die Tochter des Abgeordneten. »Aber
sie ist nichts: sie ist --«

Mit gekrümmten Lippen, die das Wort unter Selbstüberwindung hervorbrachten:

»International!«

Der Ekel im Gesicht der Sprechenden steckte alle übrigen Mienen an; und als
habe man neben sich eine Schande, wandte man sich schweigend zu etwas
Anderem. Ein Dienstmädchen trat ein:

»Fräulein Lola, ein Brief für Sie!«

Von Pai! Lola stürzte damit hinaus, schloß sich ein. Sie zitterte; und im
jähen Gefühl, in einer äußersten Minute ihres Schicksals zu stehen,
murmelte sie: »Mein Gott! Mein Gott!«

Dann erfuhr sie:

»Meine liebe Tochter! Deine Nachrichten habe ich erhalten und ihnen zu
meinem Bedauern entnommen, daß die dortigen Verhältnisse Dir nicht mehr so
zuzusagen scheinen, wie ich gewünscht und erwartet hätte. Es ist jederzeit
für uns von Nutzen, unserer Umgebung Wohlwollen entgegenzubringen; um so
mehr aber erscheint dies geboten, wenn wir, menschlicher Berechnung nach,
einen großen Teil unseres Lebens am fraglichen Platze verbringen werden.
Übrigens denke ich mich in einiger Zeit persönlich nach Dir umzusehen und
verspreche ich mir von diesem, nicht durch meine Schuld so lange
verschobenen Wiedersehen eine bedeutende Genugtuung. Somit halte ich ein
Herkommen deinerseits zurzeit nicht für angezeigt. Du darfst versichert
sein, daß wir nicht mehr allzu lange getrennt bleiben werden, und daß, wenn
ich einst in der Lage sein werde, meinen Wohnsitz ganz nach dort zu
verlegen, auch Deine Mutter mit hinüberkommen wird. Deine Mutter grüßt
Dich, kann Dir jedoch das gewünschte Bild nicht schicken, da sie sich
neuerdings auf keiner Photographie mehr getroffen findet.«

Ȇber das, mein liebes Kind, was wir im Leben sein werden, entscheidet das
Blut, welches wir bei unserer Geburt mitbekommen. Unter einem nicht
blutsverwandten Volk werden wir uns niemals vollkommen wohl und heimisch
fühlen. In Dir, meine Tochter, fließt, wie ich hoffe und glaube, ein
vorwiegend deutsches Blut, und als deutsches Mädchen gedenke ich Dich
dereinst wiederzufinden. Es wird Deine Aufgabe sein, Dich dort mehr und
mehr heimisch zu machen.«

»Nimm diese Worte von Deinem Vater mit Liebe auf. Es ist und kann ja nur
mein einziger Wunsch sein, Dich glücklich und zufrieden durchs Leben
schreiten zu sehen.«

Lola war fertig und nahm doch das Blatt nicht von den Augen. Kein Bild von
Mai: nicht einmal das! Nicht nach Hause, kein Bild, kein gutes Wort. Denn
diese alle hörten sich hart und verständnislos an. Sich heimisch machen!
Hier, wo sie noch soeben beschimpft und geächtet war! Pai wußte nichts;
niemand wollte etwas wissen von Lola. Alles aus, alles aus.

»Was ist dir?« fragte, als es zum Essen geläutet hatte, teilnahmsvoll
Erneste. »Du hast doch keine schlechten Nachrichten von den Deinen?«

»O nein, es geht ihnen gut; aber mir selbst ist nicht wohl.«

Sie bekam die Erlaubnis, sich sogleich niederzulegen, und war froh, als der
Arzt ein wenig Fieber feststellte. Im Bett bleiben, niemand sehen, nur
nicht den Blicken der Fremden ausgesetzt sein. Lola fühlte gar keinen Mut,
sich zu behaupten. Wie sie, drei Tage später, sich wieder zeigte, genoß sie
die Vorrechte der Genesenden, durfte schweigen und Launen nachgeben. Sie
saß bleich und schwach da, und anstatt einer Lehrerin zu antworten,
musterte sie sie, als erblickte sie sie zum erstenmal. Was für ein Gesicht
war doch dies; wie viel Unschönes enthielt es! Diese immer geärgerten
Augen, die gelben Schläfen, die kleinlichen Falten, die den Mund
zerkniffen! Vor Lolas starrem Blick ward es älter, immer älter und endlich
zur Mumie. Erschreckt riß sie sich los. Wenig später aber sah sie sich im
Gesicht einer rezitierenden Mitschülerin fest, dessen Leere sich Lola
plötzlich auftat wie ein Abgrund.

Das ward zur Sucht. Sie las aus einem der vielen Gesichter, die ihr jetzt
abstoßend schienen, alle in der Familie möglichen Abweichungen des Typus
heraus, und ward bedrängt von Fratzen. Die Dummheit oder Gewöhnlichkeit
gewisser Züge überwältigte sie täglich wieder, wuchs ihr entgegen, wie eine
Sonne, in die man fällt. Lola atmete dann kürzer und meinte zu verblöden.

Sie bekam einen quälend feinen Sinn für das Alberne eines Tonfalls und das
Untergeordnete einer Gebärde. Sie frohlockte und litt bei jeder
Geschmacklosigkeit, die jemand beging. Sie legte eine Liste der
Armseligkeiten an, die um sie her geschahen und geredet wurden, und las
darin mit bitteren Rachegefühlen. So waren ihre Feindinnen! Denn Lola war
überzeugt, daß alle sie haßten, und sie erwiderte es ihnen. Aus jeder
Gruppe von Mädchen glaubte sie ihren Namen zu hören; sie trat herzu:
»sprecht weiter, bitte«; und ihre Stimme, die sie aus ihrer Einsamkeit
unter die Feinde schickte, wollte höhnisch sein und war unsicher. Eines
Abends beim Teemachen explodierte die Spiritusmaschine und überschüttete
Lola mit blauen Flämmchen. Während sie noch mit einer Serviette ihr Kleid
abtupfte, rief sie schon:

»Das warst du, Berta! Du wußtest wohl, daß ich heute an der Reihe war, Tee
zu machen: eigens deswegen hast du vorher aufgegossen und hast den Docht
falsch eingeschraubt!«

»Um des Himmels willen, Lola, ich habe dich doch nicht verbrennen wollen!«

»Wer hat mir neulich die glühend heiße Schüssel in die Hand gegeben?«

»Ich wußte es doch nicht! Auf der andern Seite war sie kalt!«

Das gutmütige Mädchen weinte fast. Erneste bemerkte kummervoll:

»Du bist mißtrauisch, Lola: das ist keine schöne Eigenschaft.«

Lola war mißtrauisch, weil sie sich verraten fühlte. Sie war empfindlich,
weil sie allein und immer auf der Wacht war. Andere hatten Stützen: das
Ansehen eines Vaters, einen Namen, jemand der sie besuchte. Eine kleine
plumpe Person mit Eulenaugen und Brillen davor, ging, so oft sie sich
irgendwie blamiert hatte, umher und wiederholte: »Ich habe das Wörtchen
von. Du hast es nicht, ich aber habe es.« Lola suchte vergeblich nach einer
Rache dafür. Da aber begegnete ihr in der Zeitung, daß der
Reichstagsabgeordnete, der Vater ihrer ärgsten Feindin, Bankerott gemacht
habe. Das Herz klopfte ihr bis an den Hals vor Freude. War's eine Schande,
»international« zu sein, war's hoffentlich auch eine, Bankerott zu machen!
Mit dem Zeitungsblatt lief Lola von einer zur andern, gefolgt von der
Tochter des Abgeordneten, die jammerte: »Es ist nicht wahr« und endlich zu
Erneste floh: sie möge Lola Einhalt tun. Aber Lola war unerbittlich. Dafür
konnte sie's, als unerwartet Jennys rote, spießige Mutter bei Tisch saß und
das Wort führte, vor Erbitterung und Gram nicht bis zu Ende aushalten,
mußte sich in ihr Zimmer retten und einen Weinkrampf durchmachen. »Nie wird
Mai kommen! Die häßlichen, gewöhnlichen Menschen sind wenigstens gut mit
ihren Kindern!«

Erneste sah den Krisen Lolas unschlüssig zu. Sie, die Lola liebte,
beschämte es, daß sie sie nicht verstand. Manchmal ward sie ungeduldig und
wollte mit Erzieherinnenderbheit dazwischenfahren. Aber ihre
altjungferliche Achtung vor den Dingen des Herzens hielt sie zurück. »Es
muß etwas sein . . . Sie wird damit fertig werden.« Eine Frage drückte
Erneste; sie fürchtete sich, sie zu stellen. Jetzt sprach sie zu Lola vor
anderen in freudig ermunterndem Ton; waren sie aber allein, ward Ernestes
Stimme, was sie auch sagen mochte, mitfühlend und beruhigend. Lola entzog
sich ihrer Teilnahme, stellte sich früh und abends schlafend und verließ,
kaum daß Erneste sie vertraulich zu stimmen suchte, das Zimmer. Endlich
wagte Erneste, ohne Vorbereitung, ihre Frage:

»Möchtest du noch zum Theater?«

»Zum Theater?« machte Lola, die Brauen gefaltet; und mit gehobenen
Schultern:

»Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«

Auch dort waren die Menschen schwerlich anders, und Lola wußte sich so
wenig zur Bühne gehörig wie sonst irgend wohin. Aber Erneste hatte den Atem
angehalten; nun traten ihr Tränen der Erleichterung in die Augen.

»Gott sei Dank, Kind! Mein liebes Kind, Gott sei Dank!«

Sie reckte sich an Lola hinauf und küßte sie auf den Mund. Eine ihrer Hände
ließ sie segnend über Lolas Kopf schweben.

»Das andere wird alles gut werden,« verhieß sie innig. Lola, in Wut, weil
sie gleich weinen mußte, sah kalt zu ihr hinunter. Erneste trat von ihr
weg.

»Du sollst auch eine Belohnung haben,« -- ganz lustig, nur nicht mehr
sentimental. »Wohin möchtest du diesen Sommer lieber: ins Gebirge oder an
die See?«

»Ich weiß wirklich nicht.«

»Du wirst dich schon besinnen.«

Aber Lola setzte ihren Ehrgeiz darauf, keine Vorliebe zu verraten; Erneste
mußte schließlich selbst wählen; und zu Beginn der Ferien, als die andern
alle daheim waren, fuhren Erneste und Lola ins Gebirge.

»Wir müssen viel zusammen spazieren gehen,« hatte Erneste gesagt; aber dann
zeigte sich's, daß sie vom Steigen ihre Herzbeschwerden bekam. Lola ließ
sie auf einer Bank zurück und eilte weiter, den Passionsweg mit den
Bildstöcken hinauf, an der geweihten Quelle und der Einsiedelei vorüber und
in den Wald, wo er recht tief, recht wild und menschenfern war, wo im
Tannendickicht die kaum ausgetretenen Graspfade und über Schluchten der
morsche Steg zu einsamen, schmerzlich stillen Zielen führten. Denn Lola war
so glücklos, daß der Anblick eines Menschen sie unsinnig erbitterte.

Sie fühlte sich häßlich: unablässig peinigte sie die Empfindung ihrer zu
hohen Stirn, ihres bleichsüchtigen Mundes, ihrer langen Glieder, die in den
Gelenken nicht recht heimisch schienen. Ungeschickt und in ihrer Haut
unbehaglich, mußte sie sich immerfort betasten, immer wieder feststellen,
daß an ihrem in falschen Verhältnissen aufgeschossenen Körper kein Rock und
keine Bluse richtig sitze. Sie fühlte ihre Häßlichkeit noch gehoben durch
die Begleitung Ernestes, in ihrem Kapotthut, ihren schwarzen
Zwirnhandschuhen, ihrem alten Mantel, der schief von ihrer zu hohen
Schulter hing. Waren sie beide nicht ein lächerliches Paar? Lola sträubte
sich gegen die Verwechslung mit Erneste, und dabei mußte sie gestehen, man
könne sie äußerlich ganz gut zur gleichen Klasse rechnen: sie, die nicht
von Erneste nur, nein, von allen so weit Getrennte! Begegnete sie Leuten,
sah sie entweder scheu weg, oder sie musterte sie frech, wie eine für immer
Draußenstehende, die sich ihrer Ungezogenheit nie zu schämen haben wird.
Dennoch hätte sie bei Tisch, wo Erneste sie mit ihren Nachbarn zu reden
nötigte, in den ersten jungen Menschen sich fast verliebt. Ihr Stolz
verhinderte es: weil sie sich häßlich wußte; und die Erinnerung, daß kein
Geschöpf liebenswert sei, keins sie angehe und jede Gemeinschaft nur wieder
Gram bringe. In der Einsamkeit ward ihrer freier; sie konnte in ein Buch
aufgehen, ihr qualvolles Ich darin aufgehen lassen. Um so schlimmer war's,
wenn die Feinde sie auch hier erreichten. Einmal -- sie glaubte an einer
Stelle zu sein, wohin nie ein Mensch den Fuß gesetzt habe -- erhob sich
plötzlich der Lärm zahlreicher Stimmen, die auf Sächsisch voneinander
Abschied nahmen. Die Gesellschaft verteilte sich auf zwei Wege, die fünfzig
Schritte weiter unten wieder zusammenstießen; bei den unverhofft nochmals
Vereinigten ging eine freudige Begrüßung an; und Lola, der das vorkam wie
eine ihr zum Hohn aufgeführte Komödie, rang die Hände im Schoß. Darauf
blieb es still: bis ein Knacken im Gebüsch und ein kleiner wilder Schrei
sie erschreckten. Sie warf einen Stein nach dem Tier. Gleich darauf stürzte
sie ins Gras und schluchzte heftig und unstillbar auf ihre erschlafften
Arme nieder. Ihre Tränen flossen dem, was sie getan hatte und allem, was
sein mußte: flossen ihr selbst.

Wenn es andern zu heiß war, oder beim Nahen eines Gewitters, stieg Lola in
den Wald. Bei sich hatte sie Lamartines Meditationen. »Die Freundschaft
verrät dich, das Mitleid läßt dich im Stich, und allein schreitest du den
Pfad der Gräber abwärts,« las sie auf dem Weg mit den Bildstöcken; -- und
trat sie dann am Ende der fahl bläulichen Steige an den Rand der Bergwand
und sah hinaus in ein grenzenloses Land, dessen Wellen schwarze Gehölze,
grelle Wiesen, rostrote Kornfelder in tiefhangende Wetterwolken
hineintrugen -- im unheimlichen Flackerlicht solcher Stunde durfte Lola
verzweifelt frohlocken: »Ich durcheile mit dem Blick alle Punkte der
ungeheuren Weite und sage: Nirgends erwartet mich Glück.« Mochte doch in
jenem getürmten Grau die Sonne für immer untergehen; Lola wußte im Ernst:
»Ich wünsche mir nichts von allem was sie bescheint; vom ungeheuren All
verlange ich nichts!«

Aber die Verse selbst, in denen diese äußersten Schmerzen laut wurden,
bargen in sich den Balsam dagegen; »Akzente, der Erde unbekannt«, regten
sich in ihnen; und sie trugen einen, indes man sich hoffnungslos wähnte,
unversehens in gütigere Welten. Nun saß Lola geborgen unter dem Dach des
Holzfällerhüttchens aus Reisern und Moos, und beim Geprassel des Regens
flog ihre Seele nach einem fernen, sanften und einsamen Gestade. Wie die
Wogen sangen! Welche Harfenakkorde die klare, duftlose Luft durchperlten!
Lola stieg in eine Barke, und mit ihr einer, der zu ihr sprach: »Sieh
mitleidigen Auges auf die gemeine Jugend, die von Schönheit glänzt und sich
mit Lust berauscht: Wenn sie ihren Zauberkelch geleert haben wird, was
bleibt von ihr? Kaum eine Erinnerung: das Grab, das ihrer wartet,
verschlingt sie ganz, ewiges Schweigen folgt auf ihr Lieben; über deinen
Staub aber, Lola, werden Jahrhunderte dahingegangen sein, und noch immer
lebst du!«

Der Dichter war's, der dies gesprochen hatte. Lola erwachte; sie kauerte
und bohrte die Handknöchel in ihre von Scham und Glück roten Wangen; und
sie erbebte von der Ahnung jener liebreichen Ewigkeit, die ihr verheißen
war. Lieben und geliebt werden bis zur Unsterblichkeit! War es zu ermessen?
Dennoch fühlte sie, ihr sei's bestimmt; und aufgehoben und erstarkt,
entwand endlich ihr sehnsüchtiges Herz sich dem Menschenhaß. Lolas Gefühle
und die Verse, die sie trugen, hatten einen Gang, der nicht der Gang
irdischer Menschen war. Menschen, die einer bestimmten Nation und eines
Standes waren, die Dialekt sprachen, Vorurteile hatten, an Erde und Metall
klebten: solche Menschen hatten wohl nie in solchen Versen gefühlt. Es
mußten andere leben, lustigere, gütigere und reinere, die man lieben
konnte. Sie waren auf anderen Sternen: gewiß, es gab überirdische
Lebensstufen, und Gott -- o, er war also da! -- erlaubte uns, von Stern zu
Stern uns zu veredeln! Ihrer häßlichen Hülle ledig, schwebte Lola in
Gemeinschaft einer seelenhaften Menschheit durch die Unendlichkeiten der
Poesie; und kehrte sie nach dem Gewitter heim, war sie trunken von der
wetterleuchtenden Weite, dem Jubel der befreiten Natur, von Menschengüte,
Tugend und Alliebe.

Dann sagte Erneste:

»Nein aber, du triefst; du verdirbst noch alle deine Kleider!«

Und Lola mußte herabsteigen und sich mit den Wesen behelfen, zu denen eine
mürrische Wirklichkeit sie gesellt hatte.

Erneste war vor dem Gewitter ins Zimmer geflüchtet und hatte an ihrem Buch
keine Freude gefunden, weil sie immer denken mußte, daß sie nun doch allzu
wenig Gutes habe von ihrem Liebling, von dieser Lola, die sie, ganz
insgeheim, ihr Kind nannte. Dies Berghotel war ein teurer Aufenthalt, und
wenn er für Lola ohne Schwierigkeit bezahlt ward, Erneste fiel's nicht
leicht. Sie wohnte sonst den Sommer in einem Dorf nahe ihrer Stadt, mit
andern Lehrerinnen und mit Lola. Um Lola zu erfreuen, hatte sie dies Jahr
die Reise gemacht; und auch, weil das Kind groß ward und es nicht mehr
lange dauern konnte, bis man es ihr wegnahm. Vorher noch eine Zeitlang es
ganz für sich haben, noch einmal so vertraut mit ihm leben wie einst, als
es klein war: danach hatte Erneste sich gesehnt. Nun aber saß sie meist
allein, immer in der Stube, bei dem ewigen Regen hier im Gebirge, und Lola
hatte noch nie daran gedacht, ihr Gesellschaft zu leisten. »So junge
Menschen sind zu sehr mit sich beschäftigt und sehen in andere nicht
hinein. Daß sie wegläuft, ist kein Mangel an Zartgefühl, bewahre. Warum
kann ich ihr nicht sagen, wie gern ich mit ihr beisammen wäre? Es ist meine
Schuld.« Dabei errötete Erneste, sogar hier im verschwiegenen Zimmer.

Wieviel verschämtes Leid hatte ihr die Liebe zu diesem Kinde bereitet! Bis
in das erste Jahr zurück wußte sie noch alle Strafen, die sie Lola hatte
erteilen müssen: so schwer waren sie ihr geworden. Schmerzensworte, zornige
Ausrufe der Kleinen, die Lola selbst längst vergessen hatte, fielen Erneste
oft wieder ein, und noch immer erschrak sie darüber. War sie nicht zart
genug gewesen mit dem einsamen Kinde? Wohl hatte sie es über die
empfangenen Strafen zu trösten gesucht: indem sie ihm das Fleisch, das es
nicht gern aß, wie einen Kuchen herrichtete; oder dadurch, daß der Spitz
Ami, der Lola angeknurrt hatte, vor ihr schön machen mußte. Ami war nun
tot: Alles war verändert. Nie mehr saß Lola wie damals, als sie noch nicht
Deutsch konnte, zu Ernestes Füßen und gab ihr die wenigen Worte, die sie
kannte, als Schmeichelnamen. Nie mehr schlüpfte sie am Morgen zu Erneste
ins Bett und weckte sie mit einem Gedicht, daß die Anrede »Herzmama«
enthielt! »Wenn die Kinder klein sind, brauchen sie uns.« War das wirklich
alles in der Liebe der Kinder? Nein, nein! Und doch war Erneste von einer
verdrießlichen Ahnung erfaßt worden, als eines Tages Lola nicht mehr unter
ihrem wagerecht ausgestreckten Arm stehen konnte.

Ganz leicht machte nun die Herangewachsene sich los: so leicht, als habe
sie sich innerlich nie bei Erneste gefühlt! Zwar durfte man nicht ungerecht
werden: sie hatte das Leben vor sich und wandte sich ihm zu; und dann war
wirklich viel Fremdes in ihr, das man nicht begriff, und das einem Sorge
machen konnte. Schon immer war Erneste ängstlich berührt, beinahe
eingeschüchtert worden durch die Anzeichen der fremden Herkunft bei Lola.
Die auffallenden Äußerungen des Kindes zuerst, seine eigenartigen Vergehen,
und daß es eigentlich niemals Kameraden gehabt hatte. Dann seine etwas
frühen kleinen Verliebtheiten; nun, sie waren schwärmerisch und rein und
mochten hingehen. Endlich aber diese schlimme Lust nach dem Theater: o,
etwas ganz Schlimmes war da in Lola entstanden, aus Keimen, die Erneste
trotz aller Pflege dieser Seele nicht hatte ersticken können. Wie
unheimlich ihr's damals zu Mut gewesen war! -- und wie kummerschwer sie nun
die Entfremdung zwischen ihnen beiden wachsen und die Trennung sich nähern
sah!

»Warum ist sie so? Was hat sie mir vorzuwerfen? Denkt sie doch noch ans
Theater?« Auch andere Mädchen in Lolas Alter und gerade die Besseren, wußte
Erneste, hatten ihre scheuen und eigenwilligen Zeiten, standen immer im
Begriff, in Ohnmacht zu fallen -- dies geschah Lola nie --, waren schwach,
erregbar und tief. Lola aber war gar zu unergründlich, und in ihrer
Verschlossenheit spürte man etwas Bitteres, Feindseliges. Hatte sie zu
klagen: warum eröffnete sie sich nicht ihrer alten Freundin? »Früh genug
bleiben wir allein im Leben. Noch hat sie eine, der sie alles ist. Aber die
Jugend trumpft auf ihre Selbständigkeit. Später wird sie an mich denken.«
Gereizt vom einsamen Grübeln, war Erneste nahe daran, Lola ein recht
schlimmes Später zu wünschen, damit sie an sie denke. Dann wurden Lolas
Schritte vernehmlich, und noch bevor sie in der Tür stand, hatte Erneste
ihr alles abgebeten.

»Bist du nun genug umhergelaufen?« fragte sie munter. »Setzt du dich nun
gemütlich zur alten Erneste?«

Dabei stellte sie sich ganz mit ihrer Häkelei beschäftigt und sprach nur in
Pausen.

»Weißt du wohl, woran ich eben erinnert wurde? An das seidene Kleidchen, in
dem du damals aus Amerika kamst. Dies da hat eine ähnliche Farbe, und die
Ärmel sind auch wieder so. Was alles zwischen den beiden Kleidern liegt,
nicht?«

Lola sah mit einer Falte zwischen den Augen vom Buch auf, wartete, was sie
solle, und las weiter.

»Du kamst zu einer Zeit, als ich sehr einsam und traurig war,« sagte
Erneste nach einer Weile.

»Beliebt?« fragte Lola; und Erneste sprach, trotz ihrer Scham, den Satz
noch einmal.

»So?« machte Lola, ungeduldig, weil sie einen Augenblick von sich selbst
fort und über jemand anderen nachdenken mußte.

»Ach ja, du warst das erste Jahr immer in Trauer.«

Sie sah noch in die Luft: ob sie weiterfragen müsse. Wozu; und sie kehrte
zum Buch zurück.

»Wenn man so allein geblieben ist, wie ich damals, dann ist das Herz
vorbereitet. Drum gewann ich dich, die du auch allein warst, gleich sehr
lieb,« sagte Erneste einfach. Nach einer Pause, da Lola sich nicht regte:

»Nun, ganz vergessen wirst du die alte Erneste wohl niemals!«

Ein stockendes Selbstgespräch.

»Solltest du einst ein Kind zu erziehen haben: Ja, dann denkst du gewiß an
mich . . . Du mußt es selbst erziehen . . . Bei Rousseau -- hier den Emile
wollen wir zusammen lesen -- steht folgendes: >Wenn ein Vater Kinder zeugt
und ernährt, leistet er damit erst ein Drittel seiner Aufgabe . . . Wer die
Vaterpflichten nicht erfüllen kann, hat kein Recht, Vater zu werden. Weder
Armut noch Arbeiten noch menschliche Rücksichten entheben ihn der Pflicht,
seine Kinder selbst zu ernähren und zu erziehen. Leser, ihr könnt mir
glauben, jedem, der ein Herz hat und so heilige Pflichten versäumt, sage
ich voraus, daß er über seinen Fehler lange Zeit bittere Tränen vergießen
und sich nie trösten wird.<«

Erneste sah vom Buch auf: Lola saß blaß da und sah sie durchdringend an.
Plötzlich, klar, rasch und eintönig:

»Meinst du etwa meinen Vater?«

Erneste öffnete erschreckt den Mund und konnte nicht sprechen. Sie wehrte
mit der Hand ab.

»Meinst du etwa meinen Vater?« wiederholte Lola. Rosig bis über die Stirn
brachte Erneste hervor:

»Um Gottes willen, Kind, was fällt dir ein! Ich habe von uns gesprochen,
von dir und mir. Ich halte dich in meinen Gedanken ja immer für mein
eigen!«

Lola prüfte sie noch immer: nein, Erneste hatte wohl nicht an Pai gedacht.
Wie sie sich aufregte! Welch seltsamer Ton: ich halte dich für mein eigen.
Lola stutzte; aber dann verglich sie unwillkürlich das an Ernestes
verwachsenem Körper schlechtsitzende Kleid mit ihrem eigenen, das sie auch
immer vergeblich zurechtzog; und sie sah weg.

Erneste beugte sich über ihre Häkelei und sann erschüttert: »Sie kann
glauben, daß ich ihr wehe tun will? Armes Kind! Armes Kind!«

Etwas später stellte sie eine Frage, und als Lola nicht verstanden hatte,
klopfte Erneste auf den Tisch und bemerkte streng:

»Wenn du beim Lesen die Finger in die Ohren steckst, kannst du mich
allerdings nicht verstehen. Sprich übrigens französisch!«

Und sie führten zur Übung ein langes, gleichgültiges Gespräch.

Nein, wahrhaft liebenswerte Wesen gab es nur auf andern Sternen; in ihrer
Nähe suchte Lola sie nicht. Eines Tages aber fand sie einen jungen Vogel,
der vergeblich ins Gebüsch zu flattern versuchte, und nahm den aus dem Nest
Gefallenen mit nach Hause.

»Was ist das überhaupt für ein Tier?« sagte Erneste.

»Das ist ganz gleich,« erklärte Lola. »Ich habe ihn gern.«

»In der Stadt wollen wir gleich im Buch nachsehen.«

»Nein, bitte nicht! Von welcher Gattung er ist, und alles übrige kümmert
mich nicht. Vielleicht ist er ein kleiner Fremder: ich habe ihn gern.«

»Kind, du bist sonderbar; aber wie du willst.«

Nun saß Lola halbe Tage mit dem Vogel in ihrem Zimmer, ließ ihn über ihre
Finger steigen, auf ihre Schulter flattern und bot ihm, mit einem Körnchen
zum Picken, ihre Lippen. Als er zu fliegen anfing, schloß sie das Fenster,
setzte ihn vor sich hin auf den Tisch, betrachtete ihn, den Kopf in der
Hand, wie er pickte, eckig den Kopf rückte, sie ansah und einen kleinen
hellen, einsamen Laut ausstieß; und stellte sich vor, dies sei ein Käfig
und sie beide seien darin eingesperrt.

Zurück in der Pension, sehnte sie sich keinen Augenblick nach ihrem Walde,
nach den Gewittern und der Holzfällerhütte; sie hatte ihren kleinen
Genossen, der zwischen den Stäben seines Bauers, in ihrem Zimmer auf sie
wartete. Sie dachte immer an ihn, ließ es sich aber nie anmerken und bekam
ein hartes, abweisendes Gesicht, wenn jemand von ihm sprach.

Niemand übte Kritik an ihren Seltsamkeiten; man konnte Lola nur anstaunen:
denn in diesem Winter verwandelte sie sich und ward schön. Die große Natur,
der sie im Sommer sich hingegeben hatte, schien in ihr fortzublühen und
Ebenmaß und Vollendung zu wirken. Lola tastete nach ihren Schultern, deren
Spitzen nicht mehr zu spüren waren, nach ihren Gliedern, die sich formten
und ihr nicht mehr den Eindruck machten, als seien sie zu lang und
schlenkerten locker umher; und sie fragte sich mit gerunzelten Brauen, was
werden solle. Ihr Schicksal war doch schon fertig gewesen? Auf einmal
befiel sie eine betäubende Freude, eine neue entzückende Selbsterkenntnis.
»Das also bin ich!« So oft sie konnte, zog sie sich in ihr Schlafzimmer
zurück: »um nach meinem Vogel zu sehen;« aber sie sah nicht mehr nach ihm,
sie sah nur nach sich selbst; und des abends ging sie früher hinauf als die
übrigen, um allein mit ihrem Spiegel zu sein. Er zeigte ihr eine
goldblonde, große Haarwelle von nie geahnter Weichheit über einer Stirn,
deren Höhe nicht mehr auffiel; zeigte ihr so genau und zart hingezeichnete
Brauen über so warm glänzenden Augen, so fein gefügte Lippen, schmal und
feuchtrot; die Wangen, die sie noch ein wenig voller wünschte, füllten sich
genau in der Linie, die sie wünschte; färbten sich, wie sie's verlangt
hatte; und war diese weich gebogene Nase jemals häßlich und zu groß
gewesen? Lola erfuhr, sie könne ein sehr damenhaftes Gesicht annehmen, das
sie fast selbst verlegen machte, und, wenn sie das Haar auflöste, ein ganz
kindliches. Beim Öffnen der Bluse freute sie sich auf die schlanke, weiße
Biegung ihres Halses, beim Ablegen des Mieders auf ihre Brust. Sie hätte
sich gern ganz gesehen: aber Erneste konnte eintreten; und als Lola es
dennoch gewagt und den Spiegel auf den Fußboden gestellt hatte, lag sie
gleich darauf im rasch verdunkelten Zimmer mit Herzklopfen unter der Decke,
und ihr war zumut, als kehre sie zurück von einem heimlichen Ausgange, sie
wußte nicht wohin.

Wer war so schön und vermochte so viel? Natürlich: jetzt drängten alle
heran, ihre Freundinnen zu werden! Lola legte ihnen Prüfungen auf, ließ
sich einen Gegenstand schenken, an dem der andern viel lag: nur um ihre
Macht zu fühlen. Dann gab sie das Geschenk zurück und sagte, sie könne
niemandes Freundin sein; die Freundin mehrerer am wenigsten. Freundschaft:
ihr sagte das Wort zu viel. Nachdem die Ihren sie verlassen hatten, konnte
ihr Freund, wenn sie einen hatte, nur auf einem andern Sterne leben! und
vieler Schmerzen, eines Lebens voller Schmerzen bedurfte es sicherlich, bis
sie zusammentrafen. Die Gefühle dieser Menschen hier waren zu billig. Lola
horchte nicht mehr argwöhnisch, ob von ihr gesprochen wurde. Häßlich und
fremd, hatte sie die Menschen gehaßt. Fremd und schön, sah sie von ihnen
weg. Freundinnen? Diese Berta, diese Grete, die sich noch gestern Abend um
einen Pfannkuchen gestritten hatten, bis beide weinten?

Wenn Lola jetzt an einen Aufsatz gehen wollte, fand sie den fertigen
Entwurf, von einer Hand, die sie nicht kannte, schon in ihrem Heft liegen.
Von derselben Hand bekam sie Briefe voll schmachtender Freundschaft.
Anfangs warf sie sie weg; dann spürte sie Lust, eine Probe zu machen. Sie
tat kund, sie habe etwas Merkwürdiges, und versammelte alle Pensionärinnen
um sich. Unvermutet zog sie einen der Briefe hervor, hielt ihn empor: »Wer
hat das geschrieben?« und sah dabei fest in die Gesichter. Alle reckten
sich neugierig: nur das der langen Asta sah nicht den Brief an, sondern
Lola, und blinzelte befangen. Lola steckte den Brief wieder ein. »Danke,«
sagte sie und drehte sich um.

Am Nachmittag lag zwischen ihren Schulbüchern ein neuer Brief: diesmal in
Astas Schrift. Asta bat sie, um sechs in die Gartenlaube zu kommen, sie
werde alles erfahren. Lola war entschlossen, nicht hinzugehen. Als es
dämmerte, saß sie am Fenster ihres Zimmers. Drunten stapfte Asta, lang und
gebückt, in Gummischuhen durch den Schnee. Lola sah nachdenklich zu.
Plötzlich nahm sie ihren Mantel und stieg hinab.

»Nun?« fragte sie und trat unversehens hinter den Lebensbäumen hervor. Asta
schnellte von der Bank auf.

»Verzeih,« stammelte sie. »Verzeih! Ich wollte dich nicht belügen, aber im
Beisein der andern konnte ich dir's nicht sagen.«

»Es tut nichts,« entgegnete Lola. Dieser kleine magere Kopf mit dem dünnen
Haar und der Nase wie bei einem Totenschädel erbarmte sie. Sie stellte sich
vor, sie hätte ihn küssen sollen, und ihr schauderte. Noch mehr aber
fürchtete sie sich davor, diesem Wesen weh zu tun.

»Wer hat denn für dich geschrieben?« fragte sie sanft. Asta schlug die
Augen nieder.

»Ich habe meine Briefe einem der Dienstmädchen mitgegeben, und sie hat sie
in der Stadt abschreiben lassen.«

Sie atmete beklommen.

»Wie du gütig bist, Lola, daß du kommst. Ich verdiene das nicht.«

»Warum nicht?« fragte Lola, und fand ihre Frage nicht ganz ehrlich.

»Weil du so schön bist und so reizend. Alle möchten dich zur Freundin: wie
komme gerade ich dazu, mich dir aufzudrängen. Aber sieh, ich kann nicht
anders. Ich weiß bestimmt, daß kein anderer Mensch mir je so nahe stehen
wird wie du. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich meine Mutter und meinen
kleinen Bruder noch lieb habe. Aber wenn ich an dich denke -- und wann
dächte ich nicht an dich? -- dann habe ich Mutter und Bruder nicht mehr
lieb. Hörst du? nicht mehr lieb.«

»Was willst du denn von mir?«

»O! Lola!«

Und Lola, die nicht abzuwehren wagte, fühlte sich umschlungen. Sie bog den
Kopf zurück, um aus Astas Atem zu entkommen; aber ein paar Hände schlichen
fieberhaft um ihren Leib, unter ihrer Brust hin.

»Fühlst du gar nicht, was ich meine? Gar nicht?« Vorwurfsvoll und flehend.

»Gar nicht!« sagte Lola mit Nachdruck; denn Angst stieg in ihr auf. Im
Begriff, sich loszumachen, meinte sie ein Kichern zu hören. Der Gedanke an
Lauscher empörte sie. »Ich bin nicht gekommen,« dachte sie, »diese hier zu
verhöhnen. Ich habe nichts mit ihr gemein; aber auf seiten der andern stehe
ich erst recht nicht.« Sie sagte laut, wie für Zuhörer:

»Aber dies kann ich trotzdem tun.«

Und rasch küßte sie Asta auf die Wange. Wie sie ging, schluchzte es hinter
ihr auf. Oft noch hörte sie, wenn sie allein war, dies Schluchzen und
spürte wieder die Angst, die die fieberhaften Hände jenes Mädchens ihr
beigebracht hatten: sie begriff nicht, warum.

Jenny klärte sie auf. Ostern war nahe, und Jenny, die konfirmiert werden
sollte, ging im voraus mit einem feierlichen Gesicht umher. Es war schon so
rot und nur noch wenig kleiner als das ihrer Mutter. Wie sie Lola einst im
Garten traf, faßte sie sie unter den Arm und sagte:

»Lola, du bist manchmal recht unvorsichtig: ich als die Ältere möchte dich
warnen. Ja, sieh mich nur an! Du kannst von Glück sagen, daß ich neulich
hinter den Lebensbäumen stand. Wenn Asta mich nicht hätte husten hören, wer
weiß, was sie mit dir angestellt hätte.«

»Du hast nicht gehustet, du hast gekichert; und Asta hat es gar nicht
gehört.«

»Du glaubst nicht, wie schlecht manche Mädchen sind. Und die Herren . . .«

Ein Instinkt benachrichtigte Lola, es komme etwas Peinliches, und sie
wollte einfallen. Aber Jenny war nicht aufzuhalten. Sie hatte keine Zeit zu
verlieren: bald verließ sie die Pension. Sie bot Lola nicht mehr an, sie
mit einem Leierkastenmann bekannt zu machen: solche Scherze lagen hinter
ihr. Aber Lolas Naivetät war doch nicht mit anzusehen.

»Ich glaube dir einen wirklichen Dienst geleistet zu haben;« so schloß sie
ihre deutlichen Ausführungen.

»Nun ja,« machte Lola und hob die Schultern. Ihr war beklommen; um so
hochmütiger sagte sie sich: »Ich habe mir die Menschen ganz richtig
vorgestellt: Dies setzt allem die Krone auf.« Sie äußerte:

»Du entschuldigst wohl, ich muß meinem Vogel Futter geben.«

Aber den Vogel, der sie langweilte, vergaß sie gleich wieder und dachte
einige Tage an nichts so inständig, wie an Jennys Aufschlüsse. Sie riefen
phantastische Bilder hervor; und so oft Lola sich über diesen Vorstellungen
ertappte, ekelten sie sie. Allmählich zogen sie sich zurück und warfen nur
manchmal noch melancholische Schatten herauf. »Ach, daß es keine reine
Liebe gibt.«

Ein Brief von Pai brachte sie davon ab. Pai schrieb aus Argentinien, wohin
seine Geschäfte ihn genötigt hatten.

»Es geht alles nach Wunsch, und ich darf hoffen, mich bald an dem Ziel zu
sehen, das ich mir vorgesteckt habe: die Meinen sicher zu stellen und sie
in meinem Lande zu vereinigen. Vorerst denke ich Dich, mein Kind, in
nächster Zukunft dort aufzusuchen. Nur eine kurze Rückkehr nach Rio ist
geboten.«

»Und dort hält dann wieder irgend etwas ihn fest,« dachte Lola. »Das kennen
wir doch.«

Sie glaubte Pai nicht mehr. Vielleicht hatte er die besten Absichten; aber
so vieles war ihm wichtiger als Lola und lenkte ihn von ihr ab. Nach all
den Jahren konnte er sich höchstens sagen: Ich habe eine Tochter, und den
Gedanken an seine Tochter gern haben. Lola gern haben konnte er schwerlich:
kannte er sie doch gar nicht.

»Nicht von Belang«; damit legte sie den Brief zu den übrigen. Aber bei der
Arbeit ertappte sie sich plötzlich auf einer freudigen Unruhe und darauf,
daß sie schon während der ganzen letzten Seite nur an Pais Kommen gedacht
und alles falsch gemacht hatte. Vergebens ermahnte sie sich: »Als ich klein
war, hat Pai sehr schlecht an mir gehandelt; nie kann ich das vergessen«:
-- so oft sie an Pais Besuch dachte, bekam sie Herzklopfen. Und allmählich
dachte sie nur daran. Unter allen anderen lächelte dieser eine Gedanke, und
Lola selbst hatte beständig ein Lächeln zu unterdrücken. In ihr begann ein
Steigen und Fallen von Plänen, wie ein Springbrunnen, den man aufschließt:
immer höher, immer zuversichtlicher schnellt er empor. Anfangs wagte sie zu
hoffen: »Wenn Pai kommt, vielleicht kann ich mit ihm zusammen wohnen?
Einmal doch von den Fremden weg und bei meinem Vater wohnen!« Dann fiel ihr
ein: »Aber warum denn hier bleiben? Warum nicht eine Reise machen?« Viele
Orte, die sie gern gesehen hätte, sprangen ihr durch den Sinn. Auf einmal
stand alles andere still, und eine kleine schüchterne Stimme fragte: »Und
Rio?« Zuerst war Lola fassungslos; plötzlich entschloß sie sich: »Ja, Rio!
Was ist dabei? Wenn ich Pai bitte, wird er mir doch erlauben, Mai
wiederzusehen. Die Reise ist jetzt so kurz. Und für ihn ist es das
bequemste: er bleibt dann gleich dort, wenn ich zurückfahre.« Endlich, auf
dem Gipfel des Springstrahls: »Nein! Ich fahre nicht wieder zurück. Bin ich
dort, will ich's schon durchsetzen. Was kann denn Pai dabei tun, wenn ich
ihm um den Hals falle und nicht loslasse? Mündlich ist das alles ganz
anders als in diesen dummen Briefen. Und schlimmsten Falles stecke ich mich
hinter Mai oder hinter die Großeltern auf der großen Insel -- ach nein, sie
sind tot! -- oder ich laufe davon: lieber als daß ich zurückkehre! O, jetzt
hab' ich's!«

Sie klatschte in die Hände: zum erstenmal seit den Kinderzeiten. Dann lief
sie zu Erneste, ihrem Glücke Luft zu machen. Im Schwatzen bat sie
plötzlich, ausgehen zu dürfen. Zu viel blühte in ihr auf, das Haus ward ihr
zu eng. Nun schwatzte und lachte sie mit allen, wahllos und gedankenlos.
Keinen Augenblick konnte sie stillhalten. Immer: »Wie seid ihr langweilig!«
Und: »Geht heute niemand aus?« Im Gehen, im durch die Straßen Irren schien
ihr's, als komme sie ihren Wünschen näher. Zu Hause versank man in der
Zeit, wie in Lehm. »Vorwärts, o Gott, nur vorwärts!«

Eines Tages wie sie heimkam, trat Bertha ihr verstörten Gesichts entgegen.

»Dein Vogel ist tot,« sagte sie vorwurfsvoll; und Lola, kopflos:

»Wieso?«

»Ich sollte für Erneste etwas aus eurem Zimmer holen und da hab' ich
gesehen, daß er tot ist.«

Lola schüttelte den Kopf. Sie ging hinein: wirklich, da lag er auf der
Seite. Sie streckte mit Widerwillen einen Finger durch die Stäbe und zog
ihn rasch wieder zurück. »Im Näpfchen sind noch viele Körner, er hat schon
lange nichts mehr gefressen. Und gestern Abend sang er noch; ich mußte ihn
zudecken. Nun, diese Art lebt vielleicht nicht länger: tröste dich.« Sie
hatte das Bedürfnis, rasch weiterzukommen. Ihr nach Glück jagender Sinn
wußte mit dem Tod, der ihr in den Weg trat, nichts anzufangen und erkannte
ihn kaum. Wie sie die Tür öffnete, stand jemand davor mit einem
schwarzgeränderten Brief. Erstaunt nahm sie ihn und trat zurück ins Zimmer.
Die Schrift kannte sie nicht; die ersten Worte hießen:

»Liebe Lola! Ein großes Unglück ist geschehen, unser Vater ist gestorben.«

»Wessen Vater?« Sie sah nach der Unterschrift: »Dein Bruder Paolo.« »Paolo?
Welch Unsinn! Mein Bruder hieß Nene.« Sie las weiter.

»Unser Vater reiste, wie dir vielleicht bekannt ist, die letzte Zeit in
Argentinien und kaum zurückgekehrt, nahm er das Gelbe Fieber: so wahr ist
es, daß kein nicht in Rio Geborener sich entfernen darf ohne Gefahr, bei
seiner Heimkunft ein Opfer der schrecklichen Krankheit zu werden.«

»Es scheint doch Pai zu sein.« Sie las noch:

»Unsere liebe Mama weint mit mir. Weine mit uns, Schwester!«

»Pai ist tot?« dachte Lola. »Er wollte doch herkommen!« Ihr planloser Blick
durchsuchte das Vogelbauer; da bemerkte sie:

»Das sind nur leere Hülsen! Wahrhaftig, kein einziges Korn. Dann ist er
verhungert! Ich habe ihn verhungern lassen! Mein Gott! Und ich hatte ihn
doch lieb!«

Sie gedachte und rang dabei die Hände, der Zeit, da sie den kleinen Vogel
fand und zu sich nahm, und der Zärtlichkeit, die sie auf dies rührende,
jetzt so kalte Gefieder gehäuft hatte: all das Gefühl, dessen sie nur die
luftigeren, gütigeren, reineren Geschöpfe höherer Sterne wert gehalten
hatte. Wie hatte es geschehen können, daß ihr diese große Liebe nach und
nach ganz aus dem Sinn gekommen war: so sehr, daß dies arme Tier sie
langweilte und sie's verhungern ließ? Wir waren also unseres Herzens nicht
sicher? Wie schrecklich! »Nur aus Eigennutz liebte ich ihn. Ich hätte ihn
in seinem Walde lassen sollen. Aber auch er hatte mich lieb: lieber als ich
ihn. Er pfiff, wenn ich ins Zimmer trat, und sobald ich die Lippen
hinhielt, legte er den Schnabel dazwischen. Gestern Abend hat er noch
gesungen: vielleicht um mir zu sagen, er sei mir nicht böse.«

Und unter dem Bewußtsein versäumter Liebe brach sie in die Knie und
schluchzte: »Pai ist tot!« Alles was sie bis dahin gedacht hatte, war nur
wie das Keuchen, bevor die schweren Tränen kommen. Jetzt erst wußte Lola:
»Pai ist tot;« und von allen Seiten fiel's über sie her: »Du hast ihn nicht
lieb gehabt. Du bist ihm böse gewesen, hast ihn nicht verstanden. Er wollte
dein Bestes und hat nur dafür gearbeitet. Lies seine Briefe!«

Sie las den letzten und erkannte plötzlich, welche wichtige Sache es für
ihn gewesen war, sie wiederzusehen. Die Zeilen zitterten auf einmal von
Sehnsucht und Ungeduld: »Daß ich das nicht gemerkt habe! Ich nannte ihn
kalt. Die Kalte war ich: ich wollte nach Hause zurück, vielleicht mehr aus
Eigenwillen, aus Hochmut. Das Zusammensein mit ihm genügte mir nicht; er
aber sehnte sich nur danach. Wie er deswegen gelitten haben muß, ehe er
starb!«

Ihr Schmerz entriß ihr selbst alles Herz und gab es dem Toten. So zärtlich
war er gewesen! »Es kann ja nur mein einziger Wunsch sein, dich glücklich
und zufrieden durchs Leben schreiten zu sehen.« Dies stand in dem Brief,
worin er ihr die erbetene Heimreise abgeschlagen hatte; den sie für den
liebeleersten gehalten, wegen dessen sie ihn fast gehaßt hatte! Jetzt
lernte sie, in die Worte hineinzuhorchen. »Ich habe dich lieb,« sagten
alle, wie einst Pais erste deutsche Worte in seinem ersten Brief es Lola
gesagt hatten.

Pais schweren, ruhigen Schritt vernahm sie aus seinen Worten, fühlte seine
starke, gute Hand, sah die verhaltene Empfindung in seinem ernsten Gesicht.
»Auf der Großen Insel! Pai besuchte mich; ich war ganz klein, er so groß
und blond, viel größer als alle Menschen. Alle bewunderten ihn und
beneideten mich, wenn ich an seiner Hand ging. Wie stolz war ich auf ihn!«
Bei dieser Erinnerung warf Lola sich, aufschreiend, zu Boden.

Erneste kam und wagte lange nichts zu sagen. Lola lag da, reichte Erneste,
ohne das mit den Armen verhüllte Gesicht zu erheben, den Brief hin,
schüttelte sich aber, sobald Erneste, über ihren Nacken gebeugt, nur
flüsterte. Plötzlich fuhr sie empor.

»Ich bin eine schlechte Tochter gewesen!«

»Wie magst du das sagen!« stammelte Erneste. »Seit früher Kindheit hast du
deinen guten Vater nicht mehr gesehen.«

Lola stampfte auf.

»Ich habe ihn gehaßt! Eine schlechte Tochter!«

»Der Schmerz verwirrt dich, Kind;« und Erneste, die schluchzte, umarmte
Lolas Kopf und drückte ihn an sich. Lola wollte sich losreißen; aber
Erneste nahm alle Kraft zusammen; und allmählich ließ Lola sich schlaff
werden, sinken und weinen.

»Du mußt an Mutter und Bruder schreiben,« sagte schließlich Erneste im Ton
der höchsten Eile, froh, eine Tätigkeit für Lola gefunden zu haben, die aus
ihrem Schmerze selbst hervorging, und in die er sich ergießen konnte. Wie
Lola dann ihre blutenden Gedanken sammelte, kamen auch unerwartete. »Was
soll ich ihnen schreiben? Daß ich kommen möchte! Jetzt kann ich kommen,
denn Pai ist tot.« Mit Entsetzen: »Das ist ja, als ob ich mich freute!
Nein! nein! Ich werde nicht nach Hause reisen: er hat es nicht gewollt, und
ich verdiene es nicht.«

Sie schrieb, sie müsse hier noch ihre Ausbildung beenden, und fühlte sich,
als sie aufstand, gewachsen.

Nachts weinte sie; über den dahingegangenen Vater, über das Verbot, an das
er sie noch als Toter band, über die verlorene Heimat: über alles weinte
sie dieselben Tränen. Erneste hörte sie die ganze Nacht und lag ganz still.
Am Tage aber tat die Buße, die sie sich auferlegt hatte, Lola wohl. Die
Schmerzen und der Verzicht, um Pais willen erduldet, waren etwas wie eine
Familie, waren ein Stück Heimat.

Auf einmal stand sie wieder ganz am Anfang: als sie mit Erstaunen den
Trauerbrief erbrach. »Es ist nicht möglich, daß er tot ist! Vor ein paar
Tagen lebte er doch. Auch noch, als der Brief schon unterwegs war, lebte er
doch! Hätte ich diesen schwarzgeränderten Brief nicht gelesen, er lebte
noch immer. Es wäre alles wie sonst. Ich habe ihn nicht leben gesehen und
sah ihn auch nicht sterben. Was weiß ich? Pai! Pai!«

Und da sah sie sich als Kind, wie sie auf ihren Irrwegen durch die Stadt,
inmitten eines leeren Platzes, wo es wehte, stehen blieb und flehentlich
ihr »Pai!« rief. Auch damals hatte er sie allein gelassen, und sie hatte es
nicht glauben wollen! Jetzt war er noch viel weiter fortgegangen, und der
Glaube war noch schwerer. »Er wollte doch herkommen!« Ja: auch damals hatte
er gerufen »noch einen Kuß, kleine Tochter«; und indes sie einem
Schmetterling nachlief, war er verschwunden.

»Warum kommt auch kein Brief mehr! Ich habe sie noch so viel zu fragen!«

Sie schrieb Briefe über Briefe, und in jeden wollte sich die Bitte
hineindrängen: »darf ich zu euch?« »Nein, nein! Ich darf nicht. Am Ende
würde auch Mai sterben. Pai ist gestorben, weil er zu mir wollte. Auf mir
ist ein Verhängnis: ich soll allein bleiben.« Und aus solchem feierlichen
Schicksal machte sie sich einen Halt für das Leben, das sie zu bestehen
hatte. Gleich zu Anfang des Herbstes vertrat sie den Wunsch,
Konfirmationsstunden zu nehmen.

»Schon?« fragte Erneste bestürzt. »Ich wußte wohl, Kind, daß ich dich würde
hergeben müssen; aber so früh!«

»Was willst du, ich bin sechzehn,« versetzte Lola, ohne Ernestes Aufregung
zu beachten: kaltblütig, wie jemand, der sich mit allem Kommenden
abgefunden hat.

»Und was wirst du dann tun, Kind? Nach Hause reisen?«

»Keinesfalls. Alles muß sich finden.«

Wieder begann Lola Pläne zu machen; und diesmal hielt sie sie für
unangreifbar: denn sie rechnete auf sich selbst allein. »Ich werde von
niemand abhängen. Niemand kann mich verlassen, keinem werde ich mehr
nachzutrauern haben. Allein werde ich meines Weges ziehen.«

An einem Nachmittag des nächsten Frühlings saß Lola mit einigen
Altersgenossinnen beim Tee. Erneste gab den Herangewachsenen die Erlaubnis,
sich Kameradinnen aus der Stadt einzuladen, und sie ließ die Mädchen unter
sich. Schwarz und sehr elegant -- denn die Schneiderin der Pension
bestellte ihr gegen Vergütung und ohne Ernestes Wissen manche Sachen aus
Paris -- lag Lola im Schaukelstuhl und blies ihren Zigarettenrauch, damit
man ihn nachher nicht rieche, aus dem Fenster. Ein blühender Apfelbaum
griff mit seinen Ästen herein; es war dasselbe Zimmer, worin einst die
kleine Lola mit ihrem Vater von Erneste begrüßt worden war.

»Ja ja, wer weiß, was jeder bevorsteht. Die meisten von euch werden
zweifellos im Geleise bleiben und heiraten.«

»Rede nur nicht, Lola. Als ob es bei dir nicht aufs selbe hinauskäme.«

»Schwerlich. Ich kann mir nicht gut einen Mann denken, zu dem ich gehören
würde. Ich habe ein eigentümliches Schicksal, meine Lieben. Vor mehreren
Jahren -- Gott, wir waren noch halbe Kinder -- nanntet ihr mich mal aus
Bosheit international. In eurer Bosheit hattet ihr aber ganz recht. Ich
gehöre nicht hierher, und anderswohin vermutlich auch nicht.«

»Na, du bildest dir aber was ein!«

»Ich denke mir die Sache anzusehen. Wenn ich hier glücklich heraus bin,
gehe ich, vermutlich mit einer Gesellschafterin, auf Reisen. Spanien und
Portugal nehme ich mir besonders vor.«

»Wie willst du als junges Mädchen denn durchkommen? Schon die Sprache!«

»Meine Muttersprache ist Portugiesisch!«

»Du hast längst alles vergessen.«

»Ich kann schon noch etwas.«

»Sprich mal!«

Lola blies Rauch aus dem Fenster. Die Tür ward geöffnet, und Ernestes
Stimme sagte französisch:

»Ein Besuch, meine Damen.«

Süßes Parfüm drang herein, und eine schöne Dame, schwarz und sehr elegant,
noch jung, mit glänzend weißem Gesicht und glänzend schwarzen Haarbandeaus
trat rasch in den Kreis der jungen Mädchen, die aufstanden. Sie erhob das
Lorgnon und sah umher.

»Da ist sie,« sagte Erneste und zeigte auf Lola. Die Dame ließ das Lorgnon
los; vom Anblick Lolas schien sie betroffen.

»Die Kinder werden groß,« bemerkte Erneste. Die Dame lächelte. Lola, die
erblaßt war, murmelte zitternd:

»Mai?«

Die Dame sprach, ganz schnell, etwas Unverständliches; Lola konnte, mit
stockender Stimme, nichts erwidern als »Mai, Mai«; und beide standen, die
Arme unschlüssig ein Stück erhoben, einander gegenüber. Erneste sagte in
ihrem korrekten Französisch:

»Ist das seltsam, gnädige Frau! Als Ihre Tochter ehemals in dieses Haus
eintrat, konnte sie nicht mit mir sprechen; und jetzt nicht mit Ihnen.«



Zweiter Teil



I


Mit glänzend glatten Bandeaus und einem rohseidenen Schlafrock, creme und
pfauenblau, kam Frau Gabriel ins Zimmer und fragte:

»Sind die Sachen da?«

Lola las, hing dabei aus dem Fenster und hörte nicht. Ermattet seufzend
lehnte Frau Gabriel sich in einen Sessel.

Lolas schlanker, kräftiger Nacken dahinten lag pflaumig blond im Licht. Um
ihr Haar her war ein goldiges Geflimmer. Die ungeheure blaue und
durchgoldete Weite trug Lolas Schattenriß in sich, bereit ihn
dahinzuraffen, aufzuzehren. Drei Palmenblätter nickten mit ihren Spitzen
über den Fensterrahmen hinweg. Die Hotelglocke ging. Nun schnaubte ein
Dampfer. Von Gesprächen, Musik und Gelächter flatterten Bruchstücke durch
Wind und Sonne herbei.

Frau Gabriel saß und polierte mit dem Taschentuch ihre Nägel. Lola sah sich
plötzlich um und fuhr zusammen.

»Sind die Sachen da?« fragte Mai geduldig.

»Da stehen sie doch!«

Nicht einmal den Kopf konnte Mai wenden: lieber saß sie eine halbe Stunde
und wartete. Wenn jemand aber auch gar keine Nerven hatte! Lola stellte die
geöffneten Schachteln dicht neben Mai hin.

»Grade habe ich sie noch bezahlen können. Aber es war fast das Letzte.«

»Schreibe doch an Nene.«

»Das sagst du immer. O! Wäre ich erst ausgebildet und selbständig! . . .
Weißt du, wieviel wir schon voraus haben? Die Zinsen eines halben Jahres.«

»Nene verdient aber auch; er wird mit uns teilen.«

»Er hat schon mit uns geteilt. Mir ist's sonderbar genug, daß dort drüben
ein junger Mann für mich arbeitet, den ich kaum kenne.«

»Versündige dich nicht, er ist dein Bruder.«

»Erinnerst du dich, wie ich anfangs, nachdem du herübergekommen warst,
nicht wußte, wer Paolo war? Als Kind hatte ich nie gehört, daß er Paolo
hieß und daß Nene nur Baby bedeutet.«

»Der gute Nene.«

»Wir lassen ihn also für uns verdienen; nur dürfen wir ihn nicht zugrunde
richten. Hörst du?«

»Ihr werdet das schon zusammen ausmachen: ihr seid klüger als ich. Ach,
unsere jetzigen Verlegenheiten hat Paolo mir vorausgesagt. Er wollte mich
durchaus nicht reisen lassen.«

»Zum Glück scheint er energisch; sonst könnte es schlimm enden. Ich selbst
vergesse mich manchmal. Zum Beispiel war's sehr unnötig, daß wir hierher
kamen. Wir sind genug hinter der Branzilla hergereist. Da sie nun in der
Nervenheilanstalt sitzt und für meine Stimmbildung nichts mehr tun kann,
hätten wir in Paris bleiben sollen.«

»Paris war schön!«

»Unser Leben in Paris kostete schließlich weniger: wir saßen doch manchen
Abend zu Hause. Hier läßt man uns nicht.«

»Du hast recht, es ist schrecklich; nun, Gott wird helfen. Kann ich jetzt
die Sachen sehen?«

»Aber -- sie liegen dir doch vor der Nase!«

»Muß ich sie selbst herausnehmen?«

Frau Gabriel lächelte zaghaft; die Lippe mit dem Leberfleck im Winkel
kräuselte sich und zerstörte die reine Linie der graden Nase; die Augen
baten; in das gelassene Madonnengesicht kamen Furcht und Unbeholfenheit
eines Schulmädchens. Um ihren guten Willen zu beweisen, tauchte sie eine
ihrer kleinen weichen, ungeübten Hände in die Schachtel. Gerührt hob Lola
die Kostüme heraus; sah ein wenig von oben herab zu, wie Mai sie
bewunderte; faßte selbst Teilnahme; -- und bald waren sie im Verein ganz
hingegeben an diese Stoffe, an die neuen Erfindungen dieser Töne, dieser
Schnitte, die ihnen versprachen, ihre Schönheit umzutauschen und ihnen eine
noch nicht gekostete Form von Leben und von Glück zu vermitteln. Zum Schluß
verriet Frau Gabriel, welche Züge ihr Glück heute trug; denn sie fragte:

»Meinst du, daß der Herzog von Fingado mich liebt?«

Ihre Stimme und ihr Blick waren voll kindlicher Erwartung. Lola sagte
tröstend:

»Gewiß, Mai.«

»Tatsache ist, daß er neulich auf der Garden-Party sich fast nur um mich
kümmerte. Die Bricheau versicherte mir, seine Verlobung sei ins Wanken
gekommen. Das wäre mir wahrhaft unangenehm.«

Aber es klang stolz. Dann, behutsam:

»Sage mir eins, mein liebes Kind: gibt dir der Herzog kein Gefühl ein?
. . . Du brauchst es nur zu sagen.«

»Nicht das geringste . . . obwohl ich ihn sympathisch finde,« setzte Lola
höflich hinzu. Und Mai, zitternd:

»Ich würde seine Liebe nicht wollen, wenn du sie wolltest. Gott ist mein
Zeuge, daß dein Glück mir höher steht als meins.«

»Gute Mai, mache dir keine Sorgen!«

Lola wollte sich entfernen; Mai hielt sie, tränenden Auges, am Rock fest.

»Ich würde mich dir opfern, weißt du . . . Also du liebst ihn nicht?
Schwöre es mir!«

»Ich schwöre es;« und Lola lächelte nachsichtig. Man mußte ein Kind sein
wie Mai, um sich in den Titel dieses kümmerlichen Jünglings zu verlieben.

»Aber auf dem Heimwege,« bemerkte Mai, »ist er mit dir gegangen. Ihr habt
euch sogar abgesondert.«

»Er wollte mir aus der Ferne seine Yacht zeigen, -- auf der er nicht fahren
kann, weil er seekrank wird.«

»Wovon spracht ihr noch?«

»Von Karl dem Zweiten.«

»Wer ist das?«

»Ein König von Spanien -- es ist lange her, es würde dich nicht
interessieren. Mich interessiert's auch nur manchmal. Aber mit Fingado weiß
ich nichts anderes zu reden.«

»Wirklich nicht?«

»Tatsächlich.«

Mai nickte beruhigt. Mit einem unaufhaltsamen Lächeln des Triumphes:

»Mit mir redet er anderes!«

»Würdest du ihn heiraten, Mai?« fragte Lola, kniete neben ihrer Mutter hin
und strich ihr schmeichelnd über Hals und Arm.

»Ich sehe meine Mai schon als Herzogin, in ihrem Schloß in der Sierra; sie
geht auf die Jagd nach Wölfen, Adlern und ähnlichen Wappentieren.«

Mai hatte ernsthaft nachgedacht.

»Alles wohl überlegt,« sagte sie, »hat auch Herr Aguirre seine Vorzüge. Er
ist Abgeordneter, sehr einflußreich, und Spanien wird vielleicht Republik
werden.«

»Wie weit du denkst, Mai! Aguirre, dies ungesund rosige Baby, denkt nur an
das Nächste: er will unser Geld, das Geld, das er uns zutraut. Zu viel
Ehre!«

»Du siehst zu trübe, Lola. Und ferner ist er in gesetztem Alter, und ich
bin, ach, nicht mehr ganz jung.«

»Im Gegenteil«; dabei herzte Lola ihre Mutter eifriger; »du bist so jung,
daß ich mich neben dir meines Alters schäme. Schon als du mich aus der
Pension abholtest, war ich, glaub' ich, weiter im Leben als du. Die zwei
Jahre aber, die wir in der Welt umhergereist sind, haben meinem Alter zehn
hinzugefügt. Ich fange sogar an, häßlich zu werden.«

»Das ist nicht wahr! Du bist die Frische selbst. Dein Alter bildest du dir
ein, weil du zu viel denkst. Das könnte deine Stirn falten: gib acht. Du
bist zerstreut bei der Toilette und gerade sie verlangt unsere ganze
Geisteskraft. Dann hättest du dir nicht die Stirnhaare abgebrannt und
wärest jetzt nicht so schwer zu frisieren.«

Lola griff seufzend nach den krausen Härchen.

»Ich habe schließlich doch meinen Beruf verfehlt. Oft komme ich mir vor wie
ein verkleideter Mann.«

»Das wird vergehen, wenn du heiratest. Findest du es noch nicht an der
Zeit? Welche schönen Gelegenheiten hast du vorübergehen lassen! Ich weiß
nicht: du bist doch so klug; aber eine Schwarze hat mehr Geschick, sich
einen Mann einzufangen. Halt, gefällt dir etwa Herr Aguirre? Er scheint
mich zu lieben. Meinst du nicht?«

»Gewiß, Mai.«

»Tatsache ist, daß er während der Regatta nicht von meiner Seite wich. Wenn
du ihm aber irgend ein Gefühl entgegenbringst . . .«

Mais Stimme bebte schon wieder; Mai war schon wieder zu einem Opfer bereit
und ängstigte sich davor. Lola wehrte ab; sie lachte befangen, tat ein paar
Schritte; dann, ernsthaft, mit verhaltenem Zorn:

»Du sprachst von meiner Verheiratung, und doch verlierst du sie zu oft aus
dem Auge. Die Tochter einer Mutter, die sich zu gut unterhält, wird nicht
leicht einen Mann finden.«

Mai sah tief erschrocken aus; Lola schloß verzeihend:

»Ich weiß, du verdienst keinen ernsten Tadel. Erinnere dich nur, bitte, wie
leicht man sich unschuldig kompromittiert, und verspäte dich abends mit
keinem der Herren mehr!«

»Du bist streng wie dein Vater,« sagte Mai und erschauerte. »Weißt du wohl,
daß ich ihn wieder gesehen habe? Ja, gerade in der Nacht, von der du
sprichst, erschien er mir.«

Demütig bittend:

»Willst du nicht sein Bild in dein Zimmer nehmen?«

»Das geht nicht, Mai: es würde ihn noch mehr erzürnen.«

Lola ging ans Fenster und sah hinaus. Frau Gabriel murmelte vor sich hin
und seufzte. Eine junge Männerstimme kam von unten:

»Fräulein Lola, ich habe alles, was Sie wünschten.«

»Gut,« antwortete Lola.

»Sie bestehen im Ernst darauf?«

»Ohne Zweifel. Wann kommen Sie?«

»Sehr bald. In einer Stunde werden die beiden Kavaliere Ihrer Mama da sein.
Empfehlen Sie mich ihr!«

»Auf Wiedersehen!«

»In einer Stunde: und ich bin nicht angezogen!« rief Frau Gabriel und
sprang auf. »Lola beeile dich! Welch Glück, daß wir frisiert sind.«

Bei der Tür kehrte sie um.

»Was denkst du über unsern Landsmann?«

»Da Silva Dolenha?« -- und Lola fühlte sich unfrei.

»Ja. Hältst du es für unmöglich, daß er eine von uns liebt? Er kommt
täglich.«

Da Lola schwieg:

»Anzeichen gäbe es wohl, daß ich es bin, die er liebt.«

Lola kam plötzlich in Bewegung.

»Nein, Mai, diesmal irrst du. Sei versichert, der denkt nicht an dich!«

»Ach;« Mai war gekränkt; »wie kannst du das beurteilen. Du bist in solchen
Dingen ein Kind.«

»Mag sein. In diesem Fall aber weiß ich, wen Da Silva liebt. Wir sind
Freunde, und er hat es mir gesagt.«

»Wen denn? Mein Gott!«

Mai stammelte, heftig enttäuscht. Lola, überlegen:

»Das verrät man nicht unter Freunden.«

»Freunde: was ist denn das?«

»Du wirst es sehen. Geh, Mai, zieh dich an! Du wirst es sehen.«

Dann rief sie nochmals:

»Mai! . . Glaubst du wohl, daß ich leidenschaftlich bin?«

»Du? Warum, Kind?«

»Ich meine, weil wir von solchen Dingen sprechen . . . Nein, ich weiß
gewiß, ich bin es nicht.«

»Wie sonderbar du bist!«

Lolas bewegte Miene blieb noch auf die Tür gerichtet, die sich geschlossen
hatte. Allmählich ward ihr Blick sinnend, und sie setzte sich auf einen
Koffer. Mais Mädchen trat ein und holte die Sachen ihrer Herrin. Lolas
eigene lagen auf Bett und Stühlen verstreut, mit Büchern und Notenblättern
dazwischen. Ein Glas mit Rosen war umgefallen; Lola erhob sich unbewußt und
richtete es auf. Dann sah sie sich nach einem freien Sitz um, fand keinen
und kehrte auf den Koffer zurück.

»Mai hat's gut,« sann Lola. »Täglich andere Kleider: und merkt nicht, daß
es eigentlich alles eins ist. So hat sie auch alle Tage eine neue Liebe;
und wem immer sie gelten mag: daß es Liebe, richtige Liebe ist, daran
zweifelt sie nie. Wenn ich wüßte, ob ich Da Silva liebe! Manchmal ist's nur
zu klar. Kurz darauf komme ich nach Haus und denke an etwas anderes. Aber
das Manchmal ist schlimm genug: es ist beschämend. Ich werde dann
melancholisch, wie in der Pensionszeit, als die dicke Jenny mir gewisse
Aufschlüsse gegeben hatte . . . Ich glaube, nur äußerlich halte ich mich
fester; innerlich bin ich viel lockerer als Mai. Ich glaube jetzt, sie ist
die bei weitem Unschuldigere. Anfangs habe ich sie ungerecht beurteilt: es
war verzeihlich. Aus der anständigen Welt Ernestes plötzlich heraus -- an
diese südlichen Allerweltsplätze, in ein erhitzendes Durcheinander
flüchtiger Begierden: jeden Tag, den ich mich nicht amüsierte, sah ich als
verloren an; nur der Ehrgeiz, durch meine so plötzlich entdeckte Stimme
groß zu werden, erhob mich noch; (und auch er schwindet schon, und ich will
mit dem Singen heute fast nichts mehr erreichen als meine Unabhängigkeit
. . .) Und nun die Frau neben mir, die ebensolch taumelndes Instinktwesen
war wie die andern, ohne die Würde eines Geistes, das war meine
Beschützerin, meine Freundin, meine ganze Familie, das war Mai, die schöne
Mai, die ich in allen meinen Kindheitserinnerungen so poetisch in ihrer
Hängematte liegen sah! Der einzige Mensch, an den ich geglaubt hatte! Ich
weiß noch, wie empört ich war. Davon also hatte sie geträumt in ihrer
Hängematte! Kaum ist Pai tot, stürzt sie sich, ihrer Freiheit froh, in die
dümmste Unenthaltsamkeit! Um Pais willen war ich empört und bereit, sie zu
hassen. Wie argwöhnisch solch ganz junges, unerfahrenes Mädchen das Leben
einer Frau durchspürt: das Leben der Mutter! Als ich damals in Trouville
meiner Sache endlich ganz sicher zu sein glaubte: welche Katastrophe! Mai
hat einen Geliebten! In dem Gedanken saß ich wie in einem betäubenden
Getöse, wie in einem Weltuntergang. Das Furchtbare, sagte ich mir, ist, daß
auch ich das in mir habe und so werden muß! Was wußte ich damals? Heute
habe ich fast einen Geliebten, könnte ihn jeden Augenblick haben, und
wundere mich alle Morgen beim Erwachen, daß es noch nicht eingetreten ist.«

»Seitdem muß ich Mai wohl milder beurteilen. Sie ist ein Kind und wird über
die gefährlichen Stellen immer nur spielend hinhuschen. Geht sie einen
Schritt zu weit, erscheint ihr alsbald der tote Pai; und ich bestärke sie
in ihren Gesichten. Warum eigentlich? Doch nicht mehr um Pais willen. Auch
nicht, weil Mais Aufführung mich hindern könnte, einen Mann zu finden. Das
ist mir gleich. Aber ich weiß wohl warum: ich selbst bin in Gefahr und
brauche Reinheit um mich her . . . Bin ich in Gefahr? Sobald ich's
ausdenke, glaube ich's nicht mehr. Ich! Ich bin doch eine ganz andere! Auf
Wesen wie die arme Mai blicke ich doch, deucht mir, ein gutes Stück hinab!«

»Jedenfalls hab' ich sie gern. Wir sind grade im richtigen Verhältnis: dem
von einem Paar Schwestern, die einander eifersüchtig schmeicheln. Ob wir
uns schwer entbehren würden, ist nicht sicher. Wie schwärmte Mai die erste
Zeit von Nene! Jetzt erwähnt sie ihn gemächlich und fast nur, wenn von Geld
die Rede ist. Jetzt bin ich daran, die Mutterliebe zu genießen. Es tut doch
wohl, wenn spät abends, nachdem man sich gekämmt hat und die Decke über
sich gezogen hat, eine Mutter hereinkommt und einem küßt. Sie herzt mich
lange; mir wird ganz kindlich und weich zu Sinn; dann spricht sie mir mit
kleiner süßer, entzückter Stimme von ihren Erfolgen, fragt mich nach
meinen: und wir sind wie zwei Kleine unterm Weihnachtsbaum.«

»Nein: für Pai nehme ich nicht mehr Partei. Ich stehe, wenn ich's bedenke,
sogar entschlossen auf Mais Seite. Erstens wohl, weil ich fühle, daß auch
mit mir, wie ich geworden bin, Pai nicht sehr einverstanden wäre.
Hauptsächlich aber, weil er ein Mann war und Mai unterdrückt hat. Und
schließlich, mein Gott, haben die Lebenden recht. Wenn einer stirbt,
versäumt er das weitere und darf nicht mehr dreinreden. Käme Pai wieder, er
fände gar keine Anknüpfung mehr mit uns, glaube ich. Mai ließe sich nicht
mehr so leicht in die Hängematte legen; und ich -- ach, ich bin wohl auch
nicht sein rechtes Kind: wie hätten wir sonst, kaum daß er tot war, den
ganzen bürgerlichen Boden unter den Füßen verlieren können? Denn das taten
wir doch . . .«

Lola sah sich im Zimmer um.

»So sieht's überall aus, wo wir kampieren. Und ich sitze auf einem Koffer.
Nie kommen die Koffer aus den Zimmern, und sind immer nur halb ausgepackt.
Die Jahreszeit wird staubig, der Liebhaber fade: fort von hier! Wohin am
Ende? Dort stehen die Ansichten von zu Hause, die Mai mitgebracht hat. Zu
Hause! Wenn wir Lust bekämen, einen Ausflug dorthin zu machen, würde ich
vor dem Blick auf Rio denken, daß er tatsächlich unvergleichlich schöner
ist als der auf Neapel; würde von einem Hotel, wo alles wäre wie in diesem
hier, auf Sehenswürdigkeiten ausgehen, die Hitze unerträglich finden und
gelassenen Abschied nehmen. Etwas anderes wäre es vielleicht mit der Großen
Insel; aber die Pflanzung ist verkauft . . . Wohin also am Ende? Danach
frage ich, scheint mir, zum erstenmal. Fange ich etwa an, zu ermüden? Mais
Kindernerven hab' ich nicht grade. Aber das Ende bekommt wohl nur Interesse
für mich, weil ich wissen möchte, wo das enden soll, was ich jetzt erlebe.«

»Sehen wir doch nach: geht mich der Mensch wirklich so viel an? Wäre er in
Venedig noch so unentbehrlich, wie er's hier in Barcelona ist? Die Grimani
hat uns für Juli eingeladen. Oder was meine ich zu Paris? Das ist noch
immer das Amüsanteste . . . Ich glaube, es ginge.«

Eine junge Männerstimme ward hörbar. Lola erhob sich hastig.

»Nein, es geht nicht.«

Leicht vorgeneigt, mit fiebrigem Spiel der Finger an der langen Halskette,
blickte sie auf die Tür. Es klopfte.

»Gehen Sie in den Salon, bitte. Ich komme gleich.«

Sie machte einige zornige Schritte.

»Warum muß ich auch grübeln! Jedesmal, wenn ich gegrübelt habe, bin ich
schwach und gebe ihm dann Anlaß, sich einzubilden, was doch nicht wahr ist
. . . O, heute abend soll er keinen Vorteil davontragen!«

                   *       *       *       *       *

Sie hatte sich beruhigt und ging hinüber. Mit offenem Lächeln begrüßte sie
den Besucher.

»Gnädiges Fräulein -- da ist alles;« und er zeigte nach dem Paket auf dem
Klavier. »Der Bote ist gleich mit mir gekommen.«

»Ist alles darin . . . und wird es mir passen?«

Anstatt nach dem Paket zu sehen, betrachtete sie, und ihr Lächeln ward
wider ihren Willen noch glücklicher, sein schönes, groß gemeißeltes, fast
bartloses Gesicht, in dem die Brauen sich berührten. Auch er gebrauchte
seine Worte nur als einen Vorwand, sie anzusehen.

»Ich bin überzeugt . . . Es sind genau die Maße, die Sie mir genannt
haben.«

Sie bewegte leise, wie verwundert, ihren lächelnden Kopf. Endlich, sich
losreißend:

»Es ist gut.«

Rasch ergriff sie das Paket. Er stürzte sich darauf.

»Ich trage es Ihnen hinüber.«

»Doch nicht;« ihr Lächeln ward schlau. »Sie bleiben hier . . . und . . .«

Sie legte, unter der Tür, den Finger auf die Lippen.

                   *       *       *       *       *

In ihrem Zimmer zog sie die Männerkleider an, die Da Silva mitgebracht
hatte. Sie verbarg die Brust in den Falten des weichen Piquéhemdes, das
Haar unter der halblangen Jünglingsperücke, setzte den runden Hut auf,
hängte das Stöckchen über den Arm und trat vom Spiegel zurück, um sich zu
mustern. Da stand im gutsitzenden Abendanzug etwas wie ein eleganter
Student, mit duftigen Gesichtsfarben und glänzenden braunen Augen, ein
sanft verwegenes Lächeln auf den roten Lippen, und die jugendlich raschen
Wendungen einer schiken Müdigkeit zuliebe ein wenig verhalten: ein Wesen
von beunruhigendem Reiz.

»Aber wie bin ich schön!« sagte Lola einmal übers andere. »Ich bin keine
Frau mehr! Jetzt erst sehe ich, wozu meine große Nase gut ist. Die hohe
Stirn kommt mir jetzt auch zustatten. Ach! ich kann mir Pais Falte zwischen
den Brauen machen. Ob Pai jemals so ausgesehen hat? Nicht ganz so, glaube
ich. Der dort im Spiegel erinnert mich an eine Frau; aber nicht sehr
lebhaft. Man wird denken: »Er muß eine hübsche Schwester haben.« Für ein
verkleidetes Mädchen hält so leicht keiner ihn.«

Sie räusperte sich, führte zwei Finger an den Hutrand und sprach mit tiefer
Stimme:

»Sie gehen in den Klub? Ich habe seit gestern nacht keinen Heller mehr.
Nachdem ich alles verspielt hatte, bin ich noch in die Schuld der Gelida
gekommen . . .«

Dies gefiel ihr. Sie lief hinüber, und in der Tür des Salons begann sie
sofort dasselbe:

»Sie gehen in den Klub? Ich habe seit gestern nacht . . .«

Da Silva hörte sie, ans Klavier gelehnt und die Stirn in Falten, bis zu
Ende an. Er ließ sie näherkommen und sich wenden.

»Es ist ziemlich in Ordnung.«

Er warf noch die von Verachtung schweren Worte hin:

»Bis auf die Krawatte natürlich.«

»Also binden Sie sie mir!«

Er machte sich daran.

»Halten Sie's so für besser gelungen?«

»Nein, von vorn kann ich's nicht. Ich kann's nur, wenn ich die Krawatte
grade so halte wie bei mir selbst. So also, wenn Sie gestatten.«

Er trat hinter sie und schob die Arme über ihre Schultern. Seine Arme
berührten sie kaum, und doch war sie darin eingeschlossen und spürte einen
angstvollen Kitzel. Sie mußte auf seine weißen, starken Hände hinabsehen,
die gleich unter ihrem Kinn sich bewegten. Wie er den Knoten anzog,
streifte seine Wange ihre Schläfe.

»Rascher!« verlangte sie, zwischen den Zähnen.

Er ließ los, ging um sie herum und sah ihr in die Augen. Die seinen hatten
wieder das Düstere, Besinnungslose, das sie kannte, und das ihr so
gefährlich war. Seine Zähne waren in die Unterlippe gedrückt. Da begann er
unvermutet weich:

»Ihr Anblick tut mir weh! Nicht zwanzig Stunden sind's, daß wir in diesem
selben Raum beieinander waren, allein wie jetzt, und der Mond schien
herein. Wir hatten musiziert, Ihre märchenhaften Alttöne waren verhallt,
ich hatte mich in großer Bewegung vom Klavier erhoben, und den Kopf in der
Hand betrachtete ich Sie, die Sie, ein Knie auf den Stuhlrand gestützt, das
Gesicht nach dem offenen Fenster gewendet hielten. Ich war im Schatten,
Ihre Gestalt entlang floß Mondlicht; es rann Ihnen über die Lippen, die
sich, Ihnen unbewußt, voneinander lösten; es füllte Ihre Augen; -- und mit
der beglänzten Hand, die Sie mir überließen, zog ich zu mir hin, in mein
Dunkel und an mein Herz, die ganze tiefe nächtliche Süßigkeit, die durch
Sie atmete, o Lola!«

Der junge Brasilianer hatte beim Sprechen den Hals hin und her gerückt, wie
ein vom eigenen Gesang berauschter Vogel. Nun stand er noch und hörte die
Tenorarie seiner Sinnlichkeit ausklingen. Lola machte sich von seinem
Gesicht los. Sie sah an ihrem Dreß hinab -- und erleichtert auflachend,
warf sie sich ins Sofa.

»Nicht übel, mein Lieber. Etwas kitschig zwar, und auf ein modernes Mädchen
werden Sie, fürchte ich, damit nicht wirken . . . Sehen Sie, die Krawatte
muß ich mir nun doch selbst binden!«

In der Tür zeigten sich der Herzog von Fingado und Herr Aguirre. Beim
Anblick des Eindringlings blieben sie mit zurückhaltenden Mienen stehen.
Lola versuchte ihre feindselig abwartende Haltung nachzuahmen: da platzte
sie aus. Die beiden starrten sie an; dann wandte ihr der massige Vierziger
mit angewiderter Miene den Rücken. Der unjunge Zwanziger überwand seinen
Schrecken und machte, den spitzen, gelblich gefiederten Schädel
herausfordernd im Nacken, zwei Schritte gegen den Feind. Lola lachte
heftiger, und Da Silva klärte die Herren auf, die in Ratlosigkeit
umschlugen und dann in Bewunderung. Aber hinter ihnen rauschte es, und Frau
Gabriel brach, kaum daß sie ein wenig gestutzt hatte, in Jammern aus.

»Wie siehst du aus! Wer hat mir mein Kind so verunstaltet? Sie, Herr Da
Silva? Ihnen habe ich auch sonst Vorwürfe zu machen! Dazu hat man nun eine
hübsche Tochter!«

Die Herren erklärten sich im Gegenteil ganz einverstanden mit Lolas
Verwandlung. Fingado hatte einen Gedanken.

»Wenn der künftige Gatte des gnädigen Fräuleins Sie so sähe . . .«

»Was dann?« forschte Da Silva drohend.

Hinter den leeren blauen Augen des Herzogs geschah eine müde, vergebliche
Arbeit.

»Ich weiß wirklich nicht,« schloß er, mit einem Lächeln des Verzichtes.

Indes Frau Gabriel ihren jungen Landsmann mit den Vorwürfen bekannt machte,
die er verdiente, widmete der Abgeordnete sich Lola. Er türmte seine fein
bekleidete Fettmasse vor sie hin und plauderte, wie er allein es konnte:
nur ohne seine gewohnte Unerschütterlichkeit. Seine rosigen Wangen zuckten;
die Wulstfinger betasteten unruhig die Hüften; die launigen Augen vergaßen
sich bis zu einem verdächtigen Gefunkel, -- das Aguirre fühlte und durch
Unterwürfigkeit gut zu machen suchte. »Ganz wie ein ungesundes Baby!«
dachte Lola. Sie hörte Mai sagen:

»Ich beklage mich über Ihren Mangel an Offenheit gegen mich . . .«

»Das ist wahr, Herr Da Silva: warum sagen Sie Mai nicht, wen Sie lieben?«
rief sie hinüber, gekitzelt durch ihre Wirkung, durch das neue Wesen das
sie vorstellte, und die Erwartungen, die man ihm sichtlich entgegenbrachte.

»Sie gehen in den Klub?« begann sie gegen Aguirre. »Ich habe seit gestern
nacht keinen Heller mehr . . .«

Sie brach ab, drehte sich einmal um sich selbst und sagte in einem Atemzug:

»Pumpen Sie mir was! Wer so viel gestohlen hat wie Sie!«

Der Politiker kroch noch tiefer. Lola lächelte plötzlich zaghaft.

»Gehen wir? Bitte, gehen wir!« verlangte sie hastig. Und man ging.

»Zu Fuß, Mai! Mir zu Gefallen! Wohin? Ganz gleich: eine Irrfahrt.«

Sie atmete tief die matte Luft der Dämmerungsstunde. Zu Da Silva, der mit
ihr hinter den anderen zurückblieb, sagte sie:

»Es gibt Gelegenheiten, bei denen ich mich nach -- fast hätte ich gesagt:
nach Hause sehne, ich meine nach dem reichlich kalten Ort, wo ich erzogen
wurde, und dem feuchten Nordostwind, der den Geruch eines nordischen Meeres
mitbrachte.«

Und unvermittelt:

»Wie ich die Männer verachte!«

»Sie haben doch noch soeben einen großen Erfolg bei ihnen gehabt,« bemerkte
Da Silva, mit beißender Stimme; »und ich beglückwünsche Sie. Den Aguirre
überläßt man Ihnen; dem Herzog allerdings hat Mistreß Job bereits einen
Teil seiner Schulden bezahlt, und Sie würden sich mit der Dame
auseinanderzusetzen haben.«

»Ich verbiete Ihnen, verstehen Sie, über Frauen schlecht zu reden! Solche
Geschichten erfinden die Männer, um für sich Reklame zu machen.«

»Wie Sie gleich aufgebracht sind! Ich spreche doch zu einer Frau, die
weniger abhängig von ihrem Geschlecht ist als die anderen -- und es heute
abend zeigt.«

»Merken Sie sich: wer, um mir zu schmeicheln, eine andere Frau herabsetzt,
mit dem bin ich schon fertig. Nichts kann kränkender für mich selbst sein.«

»Böse im Ernst?«

»Nein; denn ich will mir den Spaß nicht verderben . . . Mai! Nicht wahr,
wir treffen uns zum Essen bei Durieu? Ich gehe mit Herrn Da Silva einen
andern Weg.«

»Allein mit Herrn --?«

Lola erklärte, in Gesellschaft Mais erkenne man sie. Auch habe sie als
Amerikanerin das anerkannte Recht, zu gehen mit wem und wohin sie wolle.

»Und dann siehst du doch, daß ich ein Freund des Herrn Da Silva bin. Ja,
Mai, Herr Da Silva und ich, wir sind richtige Freunde.«

»Sind wir Freunde,« sagte Da Silva im Weitergehen, »so müssen Sie mir eine
Warnung erlauben. Gestern sind Sie wieder allein ausgegangen. Ich achte Sie
zu hoch, um --«

»Ja: früher haben Sie mir wegen solcher Dinge Szenen gemacht. Sie bessern
sich;« und sie wußte: »Er achtet mich höher, seit er mich für seine Braut
hält. Ist das echt männlich!«

Er schwieg unzufrieden. Sie richteten sich nach der Musik, die herscholl.
Wie sie auf den Platz einbogen, über dessen Palmenhain der Kirchengiebel
mächtig ausgriff und der Bronzereiter dahinsprengte, war das Stück zu Ende.
Viele fächelnde, die Hüften wiegende junge Frauen mit ihren Mägden und
Anbetern, viele prall gekleidete, rauchende junge Männer begannen langsam
zu kreisen.

»Sie kennen wohl die Frau gar nicht, die eine Dueña und eine Magd bei sich
hat und die Ihnen zulächelt? Das ist die, in deren Schuld sie vorgeblich
seit gestern nacht sind.«

»La Gelida? Aber die habe ich schon oft gesehen und wußte nicht . . . Wie
gut ihr die Dämmerung steht! Ihr grau und unsicher gebogenes Profil scheint
von dem Auge, das ein großes schwarzes Loch ist, ganz aufgezehrt zu werden.
Ihr Lächeln -- sehen Sie, ich möchte es erwidern, aber es schüchtert mich
ein.«

»So?« machte Da Silva zornig. »Ich aber rate Ihnen zu der Gelida nicht,
denn ich war zugegen, als sie operiert ward. Das nimmt einem manche Lust.«

»Wirklich?«

Aus tiefem Herzen:

»Dann möchte ich Ihren Beruf haben!«

Der junge Mann hieb seinen Stock durch die Luft. Gereizt:

»O, andere entbrennen nur noch heftiger. Einer von uns sezierte seine
eigene Geliebte, und als er in ihrem Magen eine unverdaute Speise fand, aß
er sie.«

Lola schwieg. Entsetzen, Scham und Vergnügen stritten sich um ihr Herz, und
es klopfte. Mit Frohlocken in der Stimme sagte sie dann:

»Würden Sie mir das auch erzählt haben, wenn ich Röcke an hätte?«

»Wenn wir erst verheiratet sind,« verhieß er, herablassend aus Ärger,
»erfahren Sie mehr.«

Sie lachte auf.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich für die freie Liebe eingenommen bin?«

Er schob gequält die Schultern hin und her.

»Ich verstehe Sie nicht. Sind Sie raffiniert, oder was sind Sie?«

»Ach was: ich bin ein junger Mann, wie Sie sehen können, dem alle Frauen
zulächeln. Sehen Sie, welch Erfolg? Warum stehe ich, die doch alle hübsch
nennen, sonst immer hinter Mai zurück, heute aber errege ich Aufsehen? Ich
bin eigentlich ein verkleideter Mann, und jetzt habe ich mich demaskiert.
Man hat kaum Zeit, jeder dieser Schönen mit den Wimpern zu winken.«

Da Silva sah rundum.

»Wer ist schön? Wenn ich Schönheit noch sehen könnte!« -- und seine Stimme
fuhr auf. Nun, mit schmerzlich erbittertem Tonfall:

»Aber Sie halten mich so besessen mit Ihrem Gesicht, mit Ihrer Gestalt, daß
ich für die anderen Maß und Sinn verloren habe. Sind sie schön, sind sie
häßlich? Ich verstehe nichts, ich sehe nur dies eine kleine unerbittliche
Geschöpf, und es erstickt in mir alles, was nicht sein eigen ist.«

Lola bückte sich ein wenig, mit einem Schauer im Nacken, als werde gleich
eine Hand hineingreifen. »Immer das Gesicht, immer die Gestalt: immer der
Körper,« dachte sie, auf einmal matt von Widerwillen und Traurigkeit. Er
sagte stürmisch:

»Sie sind über alle Vergleiche schön!«

»Ach, wie reizend wär's,« meinte sie und ermunterte sich, »wenn alle so
dächten! Tatsache ist, daß jeder sich zuerst um mich bemüht; dann erst
besinnt er sich und geht zu Mai.«

»Gut für ihn.«

»Danke. Warum blicken Sie mit solcher Wut auf dies arme hübsche Mädchen?«

»Kommen Sie auf die andere Seite: Sie werden sehen.«

Das Mädchen, das ohne Begleitung war, trat in das weitoffene, erhellte
Gewölbe eines Tabakladens. Alle Männer wandten den Kopf nach ihr; die
Stutzer, die am Ladentisch lehnten, wichen keinen Schritt breit. Das
Mädchen verlangte etwas; aber so oft sie den Mund öffnete, ward gepfiffen.

»Sie will Räucherkerzen, man sieht es,« sagte Lola. »Was hat sie denn
begangen, mein Gott?«

Das Mädchen errötete plötzlich tief; die Männer lachten schadenfroh; der,
der den Witz gemacht hatte, blähte sich. Das Mädchen stürzte, die Augen
verwirrt und naß, ins Freie. Wie sie nahe kam, stieß Da Silva einen Pfiff
aus. Sie floh weiter. Lola rief:

»Das ist abscheulich! Ich will Sie nicht mehr kennen! Wenn die Ärmste
niemand hat, schließe ich mich ihr an: ich!«

»Vergessen Sie, daß Sie ein Mann sind? Reden Sie sie an, ists grade solche
Beleidigung, wie wenn Sie pfeifen.«

Lola blieb ratlos stehen. Zwei blonde Damen mit Spazierstöcken stelzten
über das Pflaster und betraten gelassen denselben Laden, -- wo alles ihnen
Platz machte. Lola sagte sich, daß jeder sie auf die Stufe dieser beiden
stellen, ihr die gleichen Rechte einräumen werde; und doch war sie der
Mißhandlung jener anderen mit einer Angst gefolgt, als sei's eine Drohung,
die auch ihr gelte.

»Es ist furchtbar,« sagte sie, »unter euch eine Frau zu sein. Bei uns ist
der Mann unser Kamerad.«

»Bei euch? Sie sind keine Nordländerin. Sie haben etwas von jenem uns so
erbitternden Reiz, gewiß. Wir Männer des Südens folgen allzu gern der
zweideutigen Herausforderung, die von der befreiten Frau ausgeht. Wozu
kommt ihr her? Ihr verderbt unsere Frauen, daß sie sich ohne unseren Schutz
auf die Straße wagen und, wenn wir sie ließen, sich im Café mitten unter
uns setzen würden. Ihr verderbt auch uns, daß wir den schlaffen Kitzel der
Kameradschaft mit euch fühlen möchten, wie eure heruntergekommenen Männer.
Ich will's nicht. Ich will Ihr Herr werden.«

»Manchmal reden Sie wie das Alter, das Sie wirklich haben;« und Lola lachte
gezwungen.

»Nicht nur meine Worte, auch meine Muskeln sind die eines
Fünfundzwanzigjährigen. Sie werden es fühlen.«

Lola hob schweigend die Schultern. Nach einer Weile:

»Jetzt gehen wir drüben in das Café: ich will mich mitten unter euch
setzen.«

»Ich bin Ihr Begleiter, aber ich verlasse mich darauf, daß Sie selbst
wissen, wie weit Sie gehen dürfen.«

»Sie werden mich als einen jungen Polen vorstellen, der in Paris studiert.«

»Ich werde mich Ihnen empfehlen und es Ihnen überlassen, sich zu
kompromittieren.«

Aber er trat mit ein.

»Welch Glück: da sitzt die Gelida. Machen Sie mich sofort mit ihr bekannt!«

»Und der Kreis um sie her? Dabei sind Leute, die Sie kennen.«

»Sie werden keinen Skandal erleben. Mut, armer Freund!«

Sie wurden aufgenommen und setzten sich. Die Unterhaltung ward zu Ehren der
schönen Kurtisane geführt, die, hinter sich ihre Dueña und ihre Magd,
denen, die gut sprachen, ein wenig von ihrem Lächeln zuteilte. Lola begann
darum zu werben. Man wendete die Stühle, um diesen jungen Menschen sprechen
zu sehen. Wenn sie seine kleine kokette Hand weich durch die Luft streichen
und bei einer seiner leichten, raschen Bewegungen seine Taille sich biegen
sahen, schien den Männern ringsum sein Geist frischer, belebender. Er gab
stürmische, junge Meinungen zum besten: »Die Liebe ist etwas sehr
Einseitiges und eigentlich ein Mangel an Selbstzucht;« -- wobei alle die
zuhörten, sich, sie wußten nicht warum, beglückt fühlten. Lola sah die
Mienen, die sie bewegte, das schöne Gesicht der Gelida, aus dem ihr
freundliche, wohlklingende Zustimmungen kamen; und sie hatte eine
Empfindung von Leichtigkeit und Freiheit wie nie im Leben. Nie hatte sie Da
Silva so ruhig ansehen können. Was kümmerten sie nun seine gefalteten
Brauen. Bei allem was sie sagte, fühlte sie ihn neben sich als Besiegten;
der Genuß, den sie von ihren Worten hatte, kam daher, daß sie gut waren,
und daß er es hätte leugnen wollen; und diese Schauer des Sicherhebens, des
Fliegens und Besonntseins daher, daß er so tief unten blieb.

Das Diner war hergerichtet. Da Silva behauptete, er und sein Freund hätten
eine dringende Verabredung. Warum er heute so mürrisch sei, ward er
gefragt. Lola forderte ihn auf, zu gehen und sie zu entschuldigen. Sie saß
bei Tisch neben der Gelida. Ein Dichter rezitierte. Da Silva versuchte
ungeschickt, ihn zu kritisieren. Lola lächelte und sprach der Gelida von
dem Jüngling, dem in seinen arbeitsamen Nächten manchmal die Phantome von
Frauen über die aufgeschlagenen Seiten tänzelten, und der solchen
beklommenen Stolz genieße, wenn er die Augen wegwende. Sie sah Da Silva
seine Lippe kauen und in sich versinken. Wie alle durcheinander redeten,
der Nachtwind an der Tür lauter mit dem Perlenvorhang klimperte und eine
Glocke elfmal dröhnte, sprang Lola auf, ließ die Freiheit leben; und mit
dem letzten Ruf war sie entschlüpft.

Sie befand sich in einem Gäßchen und sah am Ende der schmalen Häuserflucht,
wie durch ein Rohr, die große Gestalt des Kolumbus von Sternen umwogt. In
trunkener Wallung erhob sie beide Arme. Wie aber hinter ihr der Schritt,
den sie kannte, vernehmlich ward, verwirrte es sie panisch, als breche auf
einmal ein künstlicher Turmbau in ihr zusammen. Ernüchtert, kalt vor
Furcht, versteckte sie sich in einem Portal; aber Da Silva fand sie. Wie
unvorsichtig sie sei. Ob sie glaube, daß es den Helden der Nacht auf einen
Mord ankomme. Lola, die an Da Silvas Seite weiterging, wünschte sich
inständig, daß aus dem nächsten Schatten ein Befreier springe und sie töte.

Denn sie hatte erkannt: Alles war umsonst. Begeistert meinte sie zu sein,
und war nur berauscht gewesen. Den Geist, der sie von ihm erlösen sollte:
eben der Drang nach ihm hatte ihn ihr eingegeben; und nie hatte er fester
seine Hand auf ihr gehalten, als da sie ihn tief unter sich glaubte.

Dabei durchmaßen sie den Quai.

»Wohin geht's?« dachte Lola verstört; und: »Wenn ich den nächsten
Straßenrand mit dem rechten Fuß erreiche, entkomme ich ihm heute noch.
Sonst nicht. Sonst nicht.«

Aber noch vor dem Ziel, das sie meinte, rückten ihre beiden Schatten nach
vorn, und beim Heraufkommen seiner breiten Schultern schloß Lola die Augen.
Das Schweigen folterte sie. Wie entsetzlich nervenstark und seiner sicher
er war! »Ich zähle bis zwanzig, und hat er dann noch nichts gesagt, rufe
ich um Hilfe.«

Gleichwohl rauschte der Brunnen auf der Plaza del Palacio inmitten seines
und ihres Schweigens. Hier, unter der grellsten Helle, folgten sie beide
auf einmal dem Zwang, einander anzusehen. Lola sah etwas düster
Schmachtendes, tierisch Leidendes, das sie schrecklicher erschütterte als
die Siegerhärte, die sie sich vorgestellt hatte. Langsam von ihm wegsehend:
»Ja, das ist er. Er ist ein beschränkter Gewaltmensch, und ich liebe ihn
mit Widerwillen: aber er ist der Typus, dem ich unterliegen soll. Die
vorigen, in Paris und in Rom, waren vom selben. Dieselben
zusammentreffenden Brauen, die harte Marmorfarbe wie hier, woraus jede
Wimper, jeder Blutstropfen der Lippen drohend hervorstarrt. Wozu sich
quälen? Er liebt mich, so gut er's versteht. Mit dem, was zu ihm gehört,
liebe auch ich ihn. Ich habe noch mehr, -- wovon er nicht weiß: aber wer
wird je davon wissen. Wozu auf dem Unmöglichen bestehen, wozu so viel
kämpfen; warum nicht ein einziges Mal ganz unvernünftig glücklich sein.«

Sie nahm tiefere Züge Meerwindes; und inzwischen stiegen sie kaum
beleuchtete Gassen hinan, erreichten einen Gartenplatz und tasteten sich
durch das Dunkel eines bitter duftenden Gebüsches. »Wo ist denn der Weg?«
Und statt des Weges suchten sie einer des andern Hand. Lola zuckte
zusammen, als sie die ihre gefangen fühlte; aber sie fühlte auch, daß er in
diesem Augenblick mit Zartheit an sie denke; und während des Lächelns, das
langsam über ihr Gesicht hinging, war ihr's, als lächele das ganze Dunkel.
Sie dachte unbestimmt an weit Vergangenes: an ihre Kindheit. Wie sie eine
Balustrade trafen, stützten sich beide darauf; ihre Unterarme lagen, ohne
sich zu berühren, einander so nahe, daß jeder des andern Wärme spürte; und
drunten über dem nächtlichen Gitter aus Masten und Schlöten suchten sie das
Meer: lange und beklommen von Sehnsucht. »Der Mond muß bald aufgehen.«

Lola sagte:

»Daheim auf der Großen Insel war's das Schönste, wenn das Meer leuchtete.
Ach nun weiß ich wieder: mein Großvater zündete viele Papierröllchen an und
schoß sie in weiten, leuchtenden und zischenden Bogen über das Meer.«

Der junge Mann lachte kindlich und sprach von seiner Meerfahrt, derselben,
die einst auch Lola gemacht hatte. Ob sie sich nicht jenes Inselkönigs
erinnere, den man für zwei Franken sehen konnte. Abwechselnd riefen sie
zurück, was ihnen beiden begegnet war; und bei jedem Zusammentreffen ihrer
Erlebnisse durchrann Lola der Schauer des Vorherbestimmten.

»Gleich wird der Mond aufgehen,« murmelte sie, mit süßer Angst. Jenes
Kinderglück auf der Großen Insel bewegte sich leise unter allen ihren
Einfällen; und die heimliche Gewißheit, nie werde es wieder so gut werden,
ließ sie, sie wußte nicht warum, von erlittenen Schmerzen sprechen, von
ihrer Einsamkeit, von der Müdigkeit, die in ihr zunehme. Schweres Drängen
nach Gemeinschaft, nach Menschennähe zitterte in ihrer Stimme und machte
ihre Arme flugbereit: bereit um einen Nacken zu fliegen.

Er sah sie mehrmals unruhig von der Seite an.

Plötzlich: »Woran denken wir?« -- mit einer Bewegung, die er sofort
zurücknahm. Aber sie war nun wieder erinnert, daß er sie haben wolle und
nichts weiter; daß sie nicht seine Gefährtin sei, nur eine Geliebte; daß
irgend eine der flüchtigen Begierden, in deren Wirbeln sie dahinlebte, sie
an diese Stelle geweht habe und die nächste sie weitertreiben werde; und
daß alles dies nicht mehr sei als ein heißer Windstoß über die nackte Haut.
Das Entsetzen des Verirrtseins packte sie, und sie wagte sich nicht zu
rühren.

Er sagte:

»Ich habe über Sie nachgedacht: ich durchschaue Sie vollkommen. Nehmen Sie
gegen Ihre Zustände dies: nie mehr als einen Tropfen und nur wenn sie in
Gesellschaft gehen wollen.«

Seine Stimme war ihr nun verdächtig. Unter einem eisigen Mißtrauen zog sie
sich innerlich zusammen. Was hatte dieser Mensch mit ihr vor? »Noch niemand
hat Gutes mit mir vorgehabt!« Er war ein Feind. »Mein Gott, in wessen
Gewalt bin ich geraten!« Sie stieß zurück, was er ihr hinhielt. Er bemerkte
plötzlich ihre Veränderung, bereute ungestüm, an Schwärmerei und Regungen
der Güte eine gelegene Zeit vergeudet zu haben, und tat einen harten Griff
nach ihr. Sie wich aus, bückte sich und entkam in die Finsternis der
Steige. Der Mond war nicht aufgegangen.

Sie stieß auf die Treppe, stürzte vorwärts, durch das Netz der leeren
Gassen, immer darauf gefaßt, die Schultern unter seiner zufassenden Hand zu
ducken. Drunten auf dem weiten, grellen Platz schien ihr der Anblick
einiger Bummler unbegreiflich, ein rettendes Wunder. Alles hatte sich doch
schon aufgelöst, alles war doch schon verloren gewesen. Sie sprang, noch
fliegenden Atems, in einen vorüberfahrenden Wagen. Während der Fahrt
erlebte sie immer aufs neue den Augenblick, als er nach ihr griff. Sie wand
sich vor Angst und Haß.

Wie sie in ihrem Zimmer das Licht aufdrehte, stand vor ihr im Spiegel der
elegante, selbstsichere junge Mann, den sie, schien es, hier zurückgelassen
hatte. »Was ist seither aus mir geworden! Mein Gott!« Sie ließ sich in den
Sessel fallen und weinte.

Sie wachte auf und saß noch immer in ihren Männerkleidern da. Im offnen
Fenster lag grauer Halbtag; drunten knirschten die ersten Karren. Lola fror
es; sie fühlte sich müde und verlassen. »Wenn ich's nun getan hätte?«
dachte sie, starren Blicke. »Ich hätte jetzt einen Herrn. Vielleicht wäre
ich glücklich.« Dann: »Wenn er jetzt käme? Wenn er jetzt drunten stände?«
Sie sah hinab: nein; und sie seufzte.

Beim Auskleiden fand sie in der Westentasche das Fläschchen, das sie
zurückgestoßen hatte. Also war's ihm gelungen, es ihr aufzudrängen! Sie
stellte es weit weg, wanderte ein paarmal ratlos in die Runde, zog
schließlich ein Morgenkleid an und ging hinüber in den Salon. Vor der Tür
zu Mais Schlafzimmer kehrte sie um, machte den Weg noch einmal und holte
das Fläschchen. Es ließ sich in der hohlen Hand verstecken, ohne daß sie
die Finger schloß. Dann trat sie bei Mai ein.

Mai schlief; Lola sah ihr zu, wie sie kindlich atmete, wie ihr schönes,
faltenloses Gesicht sich glücklich ausruhte. Einmal lächelte sie, wie bei
einem Siege. Was träumte ihr? Gewiß, daß man sie anbete. Lola stand und
sann sich fest in Mai. »Wie seltsam, daß ich zu ihr gehöre! Ich habe doch
Welten für mich, von denen die arme Mai nichts ahnt; aber dann falle ich,
ob ich will oder nicht, wieder auf die ihre zurück und spüre in meinem Blut
diesen schönen, dummen Männertypus, den ich verachte. Ist es nicht, als ob
ich manchmal das Bewußtsein verlöre, in Mai zurückkehrte, aus der ich einst
hervorgegangen bin, und sie für mich fühlen und handeln ließe? Da geht man
dahin und ist nicht man selbst. Was kann alles auch in dem Namen stecken,
den einem andere gegeben haben. Lola: . . . Lo--la . . . Ich höre etwas
unheimlich Schmelzendes, Willenloses darin. Lola: nein, es kann auch sehr
frisch und mutig klingen . . .«

Da erwachte Mai, und beide erschraken.

»Du bist also doch gekommen?« stammelte Mai. »Ich habe dich nicht gehört.
Du hast mir schreckliche Sorge gemacht. Ich konnte doch niemand nach dir
fragen: was hätte man gedacht!«

Lola erkannte, nun Mai zu Sorgen erwacht war, plötzlich Spuren des Alterns
an ihr. Sie erinnerte sich: auch dies Kinderwesen mußte kämpfen und leiden.

Zärtliche Reue hob Lolas Herz auf; sie warf sich vor dem Bett auf die Knie,
schob die Arme unter Mais Nacken.

»Ich habe dich lieb, Mai. Wir wollen fort von hier!«

»Fort? Warum?« fragte Mai erschrocken.

»Weil . . . Siehst du: man hat mich erkannt. Was ich getan habe, war dumm.
Nun ist's besser, wir gehen. Ja, so: der Herzog und Aguirre. Denen tragen
wir auf, zu erzählen, wir seien schon gestern abgereist. Sie werden diskret
sein, niemand wird beweisen können, daß er mich heute nacht gesehen hat.«

»Und Da Silva?«

Lola fuhr zurück, mit plötzlich verschlossener Miene.

»Wie ist's mit Da Silva?« wiederholte Mai unsicher. Lola näherte sich ihr
wieder.

»Er ist ein guter Freund,« sagte sie sanft. »Gegen meine Schmerzen und
Müdigkeiten hat er mir dies gegeben. Meinst du, daß ich's versuchen soll?«

Sie nahm Mais goldenen Arzneilöffel und ließ einen Tropfen hineinfallen.

»Soll ich?«

Zögernd:

»Soll ich?«

Und dann:

»So; nun werden wir sehen.«

Wenn es nun ein Gift war, das sie wahnsinnig machte und ihm in die Arme
trieb: sie hatte es genommen, es war geschehen. Ihre Züge waren besänftigt;
sie neigte sich tief auf Mai, deren Gesicht dem Weinen nahe war.

»Arme Mai, ich bin schlecht: ich bedachte nicht, daß du dich schwer
trennst. Immer lege ich dir Opfer auf. Aber dort, wohin wir gehen, sollst
du dich anbeten lassen . . .«

Sie streichelte und tröstete. Mai schluchzte und schlief ein. Lola schloß
sich in ihr Zimmer, setzte sich vor ein Buch und verstopfte, wie als Kind,
mit den Fingern die Ohren. Sie genoß, was sie las, mit immer hellerem
Geist. Eine Stunde später bemerkte sie, daß Teppich und Tisch voll Sonne
waren. Sie lehnte sich zurück, atmete tief auf und fühlte, wie weit nun die
Nacht zurückliege. »Von hier --« sie sah das Buch an -- »bis zu ihm ist's
endlos weit. Was geht er mich an? Ganz leicht werde ich ihn entbehren.«

Als sie fertig angezogen den Salon betrat, kniete Mais Mädchen vor einem
Koffer.

»Hast du auch schon angefangen?« fragte Mai.

»Ach, packen . . .« Und ein Angstschauer überraschte sie.

»Willst du denn nicht mehr reisen?«

»Ich . . . will . . . reisen;« dabei ließ sie den Kopf sinken. Dann:

»Das heißt . . .«

»Ja,« dachte sie, »ich will's darauf ankommen lassen.«

»Das heißt, selbst zu packen habe ich heute keine Lust. Wenn Germaine Zeit
hat . . .«

Ja: Mai gab Germaine frei; Lola war gerettet.



II


Haie begleiteten das Schiff. Lola sah zu, wie Matrosen sie an Angeln
herauszogen und ihnen, kaum daß der Kopf den Schiffsrand erreicht hatte,
Stöcke in den Rachen und durch den ganzen Leib trieben. Als die wehrlosen
Ungeheuer das Deck mit den Schwänzen peitschten und die Matrosen sich vor
Freude auf die Kniee klatschten, fühlte sie lähmende Traurigkeit. Die
Passagiere versammelten sich; dies war ein Fest; -- und da sah Lola im
Geist ein Kind zwischen die Leute drängen und mit ihnen in Freude
ausbrechen: erkannte sich selbst, wie sie einst auf ihrer ersten Meerfahrt
gewesen war und belauschte sich, dies unwissende, heitere und grausame
Kind, mit Verachtung, Sehnsucht und einer Spur von Grauen. Nicht wahr,
jetzt wird das Messer genommen und das Tier zerstückt? Richtig: sie hatte
dies also auch damals erlebt. Damals gehörte es nicht zum
Außerordentlichen; die Neger daheim hatten ganz ebenso grausam gehandelt an
den Tieren, die sie fingen; und Lola selbst, hatte sie nicht einst eine
Schlange, von der sie erschreckt worden war, ganz langsam zerschnitten, in
lauter Ringe, und die Schlange lebte immer noch? Sie besah die Hand, die es
getan hatte: diese selbe Hand. »Und ich denke, wenn ich der Großen Insel
gedenke, nur an feurige Papierröllchen, die übers Wasser schnellten, und an
den Duft der Orangenblüten! Das ist ein Irrtum. Als ich nach Europa reiste,
schienen es an Bord lauter liebe Menschen, die nur darauf sannen, einander
Freude zu machen. Die Wahrheit ist anders; o, was alles lese ich jetzt in
den Gesichtern, die die Haie sterben sehen!«

Sie zog die Kapuze ihres Regenmantels in die Schläfen und hatte nun, über
das Geländer gebeugt, nur noch ein kurzes Stück braunen Wassers vor Augen,
beprickelt von Regen. »Der gute alte Herr, der auf jener Reise allen
Kindern Schokolade schenkte und fast weinte, wenn man sie nicht nahm: was
für ein Schuft er vielleicht war!« Darauf bemerkte sie: »Schrecklich
mißtrauisch und menschenfeindlich bin ich geworden! Wie lange lebt man auch
schon!« Ihr Mantel ward steif von Wasser; die braune, stockende Luft ließ
sich schwer atmen. »So, deucht mich, ist's jetzt immer. Als ich von Rio
kam, strahlten Meer und Himmel unauslöschlich.«

Mai hatte es leichter. Mit allen war sie befreundet, erfreute sich des
besten Appetits und vieler Anbeter. »Warum hältst du dich immer zurück?«
fragte sie oft. »Wie sympathisch ist Herr Soundso!« Und Lola gab dies zu,
weil die Worte, die ihre Verachtung des Herrn Soundso enthielten, ihr
selbst den Hals zuschnürten. Aber war es möglich, etwas anderes zu fühlen
für jemand, der unter allen Damen nur einer die Hand küßte, und zwar der,
die den höchsten Titel führte? Oder für einen andern Herrn Soundso, der
auch sympathisch sein sollte, und der dem Kellner nur zwei Glas Kognak
eingestand, wenn er drei getrunken hatte? So war die Menschheit; um so
schlimmer für den, der nicht die Gabe hatte, davon abzusehen.

»Du hast dich schwer getrennt,« meinte Mai herzlich. »Warum warst du nicht
aufrichtig mit mir? Sage doch, bitte, bitte, an wen du denkst!«

»An niemand besonders, ich versichere dich.«

Und sie versank in immer trüberen Zorn. Wär's noch ein einzelner gewesen,
an dem sie litt! Aber der, den sie zurückgelassen hatte, war nichts. Nicht
seinetwegen erduldete sie nun dieselbe schwere Einsamkeit, die ihre frühen
Mädchenjahre verbittert hatte. Nur erinnert hatte er sie daran, wie vor ihm
andere seiner Rasse und Art, daß allein ihre Sinne einen Gefährten finden
konnten; daß in keinem Lande Menschen erwüchsen, die ganz ihresgleichen
waren; daß sie in der Seele allein war . . . Sie sah ins Wasser und sehnte
sich: »Wer einer Heimat entgegenführe!«

Sie hatte eine gehabt: eine Wahlheimat, die Schritt für Schritt zu erobern
gewesen war: ihre Kunst. Und auch aus der war sie verstoßen; denn die
Branzilla saß in der Nervenheilanstalt.

Die Branzilla war eine der allerletzten Lehrerinnen des bel canto. Ein
berühmter Geiger hatte zufällig Lolas Altstimme entdeckt, den Umfang und
die Stärke der Stimme bestaunt; hatte Lola eine unermeßliche Zukunft
verheißen und nicht geruht, bis sie zur Branzilla reiste. Wie Lola ins
Zimmer trat, machte die Alte gerade ihrem Mann eine Szene: dem angebeteten
Tenor von einst, der nun fett, leer und ängstlich umherschlich. Sie warf
ihm seine alten Geliebten vor, das Unrecht, das er ihr bei dem und dem, vor
dreißig Jahren gesungenen Duo getan habe, und daß er ihr zur Last liege. So
oft Lola das Paar beisammen traf, war's das gleiche; der Alte flüchtete,
die Augen gen Himmel gerollt; -- und als Lola einmal nach Beendigung der
Stunde das Vorzimmer öffnete, da hing er an der Decke . . . Und nun ihre
Bosheit sich auf den Mann nicht mehr ausleeren konnte, bespie die Alte
damit alle Welt, vertrieb die letzten Schülerinnen, brachte Lola bis zu
Tränenkrisen. Aber mochte Mai sich empören, Lola blieb ihrer Tyrannin treu,
folgte ihr blindlings in alle die Hauptstädte, wo die Branzilla ehemals
gefeiert worden war, und wo sie nun das unbekannte Dahinleben nicht ertrug;
schlichtete die Streitigkeiten, die die Alte in den Hotels, den Geschäften
und überall anzettelte; sorgte für sie; ließ sie ihre kopflosen
Ungerechtigkeiten herunterkeifen und schloß den Auftritt mit einem festen
und doch geduldigen »Adieu, Madame«, -- worauf sie zur genauen Stunde
wiederkehrte. Statt einem Gesetz, einem Befehl, die ihr Leben nicht kannte,
unterwarf sie sich den Launen einer Hexe; und ihre Zickzackfahrten durch
Europa waren nicht planlos, da sie hinter der herführten, in der, wie in
einer Ruine, der Geist einer großen, fast schon entschwundenen Kunst
hauste.

Denn das arme, täglich verwirrtere Gehirn der Branzilla schien wunderbar
genesen, wenn sie den Stoff unter den Händen hatte, aus dem sie schuf. Der
Stoff war die Stimme der Schülerin. Lola war sich bewußt, sie selbst sei
nichts, sei nicht mehr als ein dumpfes Werkzeug, und was aus ihr werden
solle, sei im Geist der Lehrerin schon aufgebaut, wie ein Tempel aus Luft,
unfaßbar für jeden, vertraut nur ihr, die ihn durch eine Gebärde, ein Wort,
durch einen der kindlich mystischen Ausdrücke, die die Seher finden, für
eine Sekunde vor die Schülerin hinzaubern konnte, so daß Lola sah: dort
hinan! Wer vermochte das noch: durch ein Wort, ein eigenes, dem nichts
Wirkliches entsprach, das richtige Spiel eines Kehlkopfes bewirken! Niemand
wußte mehr von dieser Kunst. Bei den Heutigen waren Lehrerinnen unbeliebt,
die zwei Jahre brauchten; und die Ausbildung währte ehemals acht. Lola
hätte es, einmal in der Schule der Branzilla, nicht mehr ausgehalten, sich
mit einem Ungefähr zu begnügen. Sie war fremd überall, und nur mit einer
alten halb Irren hielt sie Gemeinschaft; -- aber eines Tages wollte sie im
Besitz einer unerhörten Kunst vor die Welt hintreten!

Und in jedes Gasthaus brachte sie eine eigene Luft mit, machte jedes
flüchtige Quartier heimisch, in das sie ihre Gesänge, die seit Jahren
geübten, schickte. Aus der Unordnung der hastig umhergeworfenen
Gegenstände, der zerstreuten Stunden, der regellosen Vergnügungen und der
zufälligen Menschen rettete sie sich in den Winkel, wo das Klavier stand,
wie auf ihr eigenes Stück Erde. Von hier würde sie alles Land erobern!
Würde unabhängig, würde Fürstin sein, der die Herzen schlagen. Wie
hochgemut und stark sie, indes die anderen, alle zum Untergang bestimmt,
leere Worte redeten, Ränke, Liebeleien vergeudeten, mit sich selbst
umgingen wie mit Wertlosigkeiten: wie hochgemut, stark und voll Verachtung
sie an sich arbeitete! Ihre Heimat erweiterte! . . . Aber man lockte sie
daraus fort; die Überflüssigen umschwärmten sie. Umsonst übte sie tagelang
mit ihrem Taktzähler: der Schwarm der Festlichen übertäubte das Ticken der
kleinen strengen Maschine. Eine Wallung von Leichtsinn, und Lola war mitten
darin, ging unter in der Jagd der nach Freude Fiebernden. Dann trat der
Mann auf: einer derer, die sie im Blut hatte, die sie nicht vermeiden
konnte; -- und die Kunst lag unbegreiflich dahinten . . . Eines Tages stand
sie dann wieder am Klavier neben der Alten, deren Stimme hart und böse war;
und der Tag hatte bleiches, schmerzendes Licht, wie einer nach durchtobter
Nacht, der reuebeladen ist, und den man lieber verschliefe. Und oft, wenn
so ihre Tage in einer luxuriösen Landstreicherei zerflossen, dachte sie mit
Neid aller Angebundenen, Behüteten, in einen engen Kreis von Pflicht und
Gemeinschaft Geschlossenen. An ihrer Stimme, die so kostbar war, trug Lola,
wie jemand an einem Klumpen Gold in einer Wüste. Andere saßen in heimlicher
Werkstatt und bearbeiteten ihn . . .

Und dann war die Branzilla verschwunden. Es war geschehen, wie Lola das
letzte Mal sie wochenlang allein gelassen hatte. Lola hatte es mit Zorn
erfahren. War denn der Rest Kraft, den die Alte ihr noch zu geben hatte,
schon verbraucht? Die Branzilla mochte verrückt sein, wie sie wollte: sie
blieb die einzige, die Lolas Stimme beherrschte, die ihre Stimme sah. Dazu
taugte sie noch, dazu sammelte sich noch ihre Vernunft. Lola sagte dies den
Leuten, die sie ihr weggenommen hatten. »Laßt sie doch verrückt sein: es
ist meine Sache! Ich bin sie gewohnt, wie sie ist, und werde sie behüten.
Gebt sie mir zurück!« Umsonst: die Lehrerin blieb verloren; -- und Lola
wußte sogleich, nun sei's zu Ende. Die Methode der Branzilla ließ einen
unselbständig bis zuletzt. Lola war ohnmächtig ohne ihre Führerin. Der Weg
zur Kunst, in diese neue Heimat, war verloren.

So, aus Ratlosigkeit, Haltlosigkeit geriet sie nach Barcelona, wieder in
einen Schwarm, wieder an einen Mann; -- und fuhr nun, enttäuscht und zum
ersten Mal ganz hilflos, planlose Fahrten.

»Wer einer Heimat entgegenführe!«

                   *       *       *       *       *

Vom Denken, vom Begreifen und vom Sehnen war sie heiß und erregt.
Aufseufzend blickte sie um sich, ohne etwas zu erkennen. Der Schiffsarzt
strich in gleichen Pausen an ihr vorbei. Endlich, wie sie sich umwandte,
blieb er stehen und sie mußte in seine schwermütigen Augen sehen. Ob auch
sie die Gesellschaft fliehe, fragte er. Er war häßlich, und wieder nicht
häßlich genug, um zu reizen. Das war, schloß Lola, sein ganzes Unglück und
verschaffte seinen Augen den Anschein von Seele. Sie verlangte das Hospital
zu sehen. Es sei zu traurig dort, erwiderte er, für eine junge Dame, die
selbst nicht heiteren Gemütes scheine. Ob er sie unterhalten dürfe. Er
begann von sich selbst zu erzählen, einfache und wahre Dinge, denen sie mit
Achtung zuhören konnte. Noch mehrmals im Lauf des Abends näherte er sich,
tat ihr wohl durch gütige und gelassene Rede; und so oft Lola ihn bat, ihr
seine Kranken zu zeigen, weigerte er sich.

Aber das Wetter ward heller; nun stürmte es. Mai lachte mit den Fröhlichen;
dann schlich sie zu Lola und flüsterte:

»Glaubst du, daß es gefährlich ist?«

Und Lola ging mit ihr, damit Mai sähe, man habe das Recht, lustig zu sein.

Die Nacht ward ausgelassen. Die Nähe Italiens, die Befriedigung, wieder in
den heimischen Gewässern zu fahren, die leichte Furcht bei dem bedrohlichen
Schwanken und inmitten der gemeinsamen Gefahr die Aussicht, schon morgen
auseinanderzustieben, sich nie wiederzusehen: das bewirkte in allen
Wohlwollen und Leichtsinn. In der Kajüte fielen die Stühle um; man taumelte
einander in die Arme, um sich im Kreise zu drehen zu dem Gekratz der
wackelnden Musikanten. Lola erhob ihren Kelch und trank einem zu, einem mit
einer großen Habichtsnase und lustig blinzelnden Augen -- einem all derer,
die Mai sympathisch fand und gegen die jetzt auch Lola nichts mehr
einwandte: da sah sie einen Schatten auf der Treppe. Sie ließ den Arm
sinken. Das freudlose Gesicht des Doktors kam auf sie zu; mit einem Vorwurf
in der Stimme und einem um Entschuldigung bittenden Lächeln fragte er:

»Wollen Sie jetzt das Hospital sehen?«

Lola fuhr zusammen, wie ertappt, wie auf einem Verrat betroffen. »Er
erinnert mich daran,« bemerkte sie, »daß wir zusammen traurig waren.« Sie
senkte den Kopf und folgte ihm. Dann, empört: »Wie darf er verlangen, daß
ich es bleibe! Damit er mich trösten, mir wohltun kann. O! Alles auf dieser
Welt ist Eigennutz und Grausamkeit.«

Draußen peitschte sie der Wind; das endlose Dunkel heulte um sie her; es
griff nach ihr, mit den gespenstisch heraufschießenden Armen seiner
Gischtwellen. Ihr Führer nahm sie bei der Hand und ließ sie über Staffeln
hinabsteigen, tief in das Schiff hinein. »Da sind wir;« und in der Tür, die
er aufstieß, mischte sich Karboldunst mit dem Schiffsgeruch. »Kommen Sie
nicht?« Aber Lola spähte von der Schwelle mit Furcht durch die Kabine, die
einem Schacht glich, zu den Menschen hin, die in ihren Betten, eng wie
Särge, umhergeschüttelt stöhnten, und zu denen, die in Lumpen am Boden
hockend, erloschene Blicke zu ihr aufhoben. Jener eine Blick aber glänzte
so, daß von ihm der Raum voll eines flackernden Lichtes schien. Diese
beiden Augen brannten auf unbegreifliche Weise in einem Gesicht, so alt und
müde, daß vielleicht nur das rote Tuch, womit es umwickelt war, seinen
auseinanderstrebenden Staub zusammenhielt.

»Wer ist das? Mein Gott?«

Der Arzt hörte sie nicht; er neigte sich über den Alten, lauschte in sein
Gewimmer hinein; dann beschrieb er, langsam aufgerichtet, eine feierliche
Gebärde.

»Sie werden Ihre Heimat wiedersehen. Ich werde machen, daß Sie es erleben.«

Rasch wandte er sich ab.

»Gehen wir.«

Draußen:

»Dieser Alte ist jung nach Amerika gegangen. Die Arbeit seines Lebens hat
ihm so viel eingetragen, daß er vor seinem Tode nochmals die Überfahrt
bezahlen konnte. Er will auf seiner Heimaterde sterben. Das ist sein Ziel.
Dafür meint er nun gelebt zu haben.«

»Wird er's erreichen, wird er?«

»Nein,« entschied der Doktor, mit leiserer Stimme und Schultern, die sich
beugten. »Wir werden morgen in Genua landen, im majestätischen Genua; aber
er wird es nicht sehen. Ich kann es nicht machen. In diesem Augenblick lebt
er nur noch durch den einen Gedanken in seinem Kopf: in seiner Heimat zu
sterben.«

Vor der Treppe zu den Gesellschaftsräumen nahm er plötzlich Abschied und
tauchte ins Dunkel. Lola sah mit Verwunderung, daß dort innen noch der
gleiche kopflose Jubel tobe, und ging in ihre Kabine. Sie lag im Dunkeln;
-- und das Wimmern dahinten, sie wußte nicht, war es das der Geigen oder
das jenes Sterbenden. Seine Augen verließen sie nicht, ihre Stirn war
erfüllt von diesem übermenschlichen Feuer, das mit Überwindung eines
absterbenden Leibes ganz frei dahinbrannte, das nur ein Gedanke, ein Wille,
eine Sehnsucht war: die Sehnsucht nach der Heimat.

Und sie sah ihn, wie er jung aufs Schiff stieg. Die Jacke über der
Schulter, den Hut im Nacken, übermütig trotz der Rührung, küßte er ein
letzesmal Eltern, Geschwister und das Mädchen, das ihm treu bleiben wollte.
Hatte Lola ihn nicht drüben aussteigen gesehen, oder einen, der ihm glich?
Italiener in roten Hemden, die Jacke über der Schulter, waren so viele dort
umhergegangen. Sie hörte ihn seine Früchte ausschreien, sah ihn an einem
Kanoe zimmern und stand am Wege, wie er sein Maultier mit Waren
vorbeitrieb. Denn er handelte mit allem, hielt keine Arbeit für zu
schlecht, lebte nüchtern und schrieb Briefe, worin ein wenig Geld lag:
»Mut! Bald kann ich euch nachkommen lassen. Carlotta, ich seh' uns schon in
der Kirche.« Darüber sterben die Eltern; aber er hat noch die Geschwister,
und Carlotta wartet auf ihn. Er spricht nicht mehr vom Nachkommen; es geht
nicht alles, wie er dachte; nur zurücklegen möchte er eine Kleinigkeit, und
dann heimkommen . . . Wie? Wäre es möglich? Carlotta nimmt nun doch den
andern? Sie ist imstande, ihn zu verraten? Wozu kann dann alles noch
dienen! . . Ach, ein Kind hat sein Bruder? Wie hübsch! Er wird ihm etwas
mitbringen, wird es einst ausstatten. Die Geschäfte gehen besser, sie
sollen sich wundern . . . Und von Jahr zu Jahr: Der Bortolo schon tot? Und
Don Felice?

Und auch der, und auch der? Warum schreibst nun du selbst nicht mehr?
. . Schweigen. Und der alte Einsame vergißt die Todesfälle, von denen ihm
einst berichtet ward; wenn er von der Rückkehr träumt, stehen alle
unverwandelt am Ufer, und Carlotta trägt noch die rote Schürze, die er ihr
gab. Sein Geist geht zwischen Gebäuden um, die abgetragen sind, und bei
Menschen, die unter Kreuzen liegen. Zuletzt tritt er dennoch die Reise an,
für die er fünfzig Jahre arbeitete und lebte. Nun fährt er dahin -- werden
die Atemzüge ausreichen? -- fährt, seherisch vor Angst und Drang, dem
unmöglichen Ziel seines Lebens zu, dem, was es für ihn nicht gibt, dem
Phantom einer Heimat!

. . . Lola schluchzte noch immer. Sie beweinte in fremden Schicksalen das
Sinnbild der eigenen; und eine besänftigende Brüderlichkeit floß ihr aus
jenen zu. Sie schämte sich ihrer Menschenfeindschaft; verachtete die Gabe,
die sie bis dort hinabblicken lehrte, wo niemand mehr dem Erkanntwerden
gewachsen ist; entsetzte sich: »Hab' ich denn nicht immer lieben, nur
lieben wollen? Einst war ich doch entschlossen, mich eher lebendig begraben
zu lassen als daß Erneste oder Mai stürbe! Wie ist es möglich, daß Menschen
dies je aus dem Sinn verlieren: einander helfen, einander lieben!«



III


In Verona, nach dem Übernachten und wie der Omnibus schon vor dem Gasthof
stand, sagte Lola plötzlich:

»Jetzt wieder nach Venedig? Geht es wirklich nicht anders?«

»Uns zwingt doch niemand?« fragte Mai verdutzt.

»Das ist es. Uns zwingt nie jemand. Hierhin, dorthin: für uns ist alles
gleich.«

Und Lola ließ sich müde auf einen Stuhl nieder.

»Daß du auch grade in diesem Augenblick deine Nerven kriegst!«

Mai sah erschreckt hin und her zwischen Lola und dem Kellner, der zur
Abfahrt mahnte.

»Es scheint, wir reisen nicht.«

»Wozu?« seufzte Lola. »Um wieder einen Fingado zu treffen und einen Aguirre
und einen --?«

Sie besann sich.

»-- und alle die andern? . . . Weißt du noch nicht im voraus, wie deine
Verehrer aussehen werden, was sie dir sagen werden? Man kennt sie
auswendig, und es bleiben doch Fremde. Wir sollten lieber zu Pais
bayerischen Verwandten fahren. Nach deiner Ankunft in Europa sahen wir sie
nur so flüchtig; aber es schienen -- was weiß ich -- es schienen herzliche
Menschen.«

»Aber die Grimani erwartet uns.«

»Wir telegraphieren ihr ab.«

Sie telegraphierten auch nach München. Gugigls waren auf dem Lande; und
zwei Tage später, auf der kleinen Station zwischen Kufstein und Rosenheim,
jauchzte den Ankommenden ein ganzer Trupp festlich erregter Sommerfrischler
entgegen. Frau Gugigl und die Baroneß Utting schrien in einer Tonlage mit
der Lokomotive. Die eine schüttelte dabei ihre offenen Haare, die andere
ihre Zöpfe. Die Baroneß trat sofort an die Damen heran, zeigte auf ihr
Bauernkostüm und sagte stolz:

»I bin d'Oberdirn.«

Gugigl schwenkte noch, als Frau Gabriel schon vor ihm stand, auf die Zehen
gehißt, sein grünes Hütchen. Er war rotfleckig, hatte geblähte Nüstern, und
seine Kinnhaare wehten wirr. Die kleine Schwester seiner Frau ließ, als sie
Lola und Mai erblickte, seinen Arm los; ihr Geschrei brach ab; und mit
großen Augen, ganz entgeistert, sah sie den beiden eleganten Damen
entgegen. Gwinner küßte ihnen die Hand und führte von unten sein freundlich
freches Lächeln im Kreise umher, als hätte er einen Witz gemacht.

Frau Gugigl rühmte zuerst ihren Lodenkragen.

»Da schaut, wie er naß ist. Regenschirme gibt's bei uns nicht, meine
Lieben, und wenn man so daherkommt wie ihr . . .«

»Aber was ist denn hier los?« fragte Lola, da sie gleich hinter dem Bahnhof
in ein bäurisches Gedränge und Geschrei, in Jahrmarktsgerüche und
Blechmusik gerieten.

»Das ist das Gaufest.«

Und zu der gespannt horchenden Frau Gabriel:

»Ja, auf französisch, Tante, kann ich das Wort nicht sagen. Die Bauern
zeigen ihr Vieh und sich selbst her, in den alten Trachten.«

»Das Vieh in den Trachten,« ergänzte Gwinner und gab Lola durch
unterwürfiges Grinsen zu verstehen, daß er bei Gott nicht über sie sich
lustig mache; nur könne er nicht gegen seine Natur. Er umtastete die
Spinnenfinger der einen Hand leise mit denen der andern. Den runden,
schwarz und gelben Kopf trug er eigen vorsichtig zwischen den hohen
Schultern, als sei sein Nacken leicht zerbrechlich. Lola wandte sich weg.

Gugigl krähte in das Gebrüll der beim Wirtshaus Tafelnden hinein:

»A Bier! Cehn--zi! A Bier kriag' i!«

»Grüß Gott, Spezi!« rief die Baroneß.

»Dees is nämlich mein Oberknecht,« erklärte sie, lief hin und schwang sich,
rotbackig, mit dicken, fliegenden Zöpfen in die Bank zu den Bauern, die sie
feierten. »Ihre Zöpfe sind fast von der Farbe meines Haars,« dachte Lola;
und: »Wenn ich mich zu den Bauern setzen sollte! Wie wäre einem zu Mut,
wenn man hier heimisch wäre?«

Da begegnete sie dem bewundernden Blick der kleinen Tini.

»Wir haben uns noch gar nicht recht begrüßt. Sie sind groß geworden.«

»Wie geht es Ihnen?« stammelte das junge Mädchen.

»So nennt's euch doch du!« schrie Gugigl und drängte der Kellnerin nach.

»Gut. Und -- also, und dir?« fragte Lola, lächelnd. Tini errötete; dann
entschloß sie sich:

»Du hast Ähnlichkeit mit deinem Papa.«

»Ach! Hast du ihn gekannt?«

»Sehr gut; und nie hab' ich ihn vergessen. Er hat mir meine Lieblingspuppe
mitgebracht. Nach ihm hieß sie Gustl, weil er Gustav hieß, nicht? Jetzt ist
sie zwar kaputt . . .«

Lola dachte: »Und Pai tot.«

»Spielst du noch mit Puppen?« fragte sie mühsam.

»O nein . . .«

Und, als sei endlich das Eigentliche herbeigeführt:

»Lola, du bist wunderschön!«

»Du sagst das? Du wirst viel schöner werden als ich; man sieht es schon
jetzt.«

Sie liebkoste das schwarz eingerahmte, sentimentale Gesichtchen. »Noch
etwas zu lang und zu blaß ist es,« dachte sie zärtlich. Da drehte sie rasch
den Kopf.

»Mai! Mai! Die Tini hat Pai gekannt!«

Mais Miene, die ganz Befremdung und Verlassenheit war, ward auf einmal
kindlich beglückt; und Lola nickte ihr strahlend zu: »Wie schön, nicht
wahr, daß wir hergekommen sind!«

Da waren nun Wesen, die Pai gekannt hatten, die mit Lola verbunden waren,
vielleicht denselben Menschen lieb gehabt hatten wie sie!

»Hast du meinen Papa gern gehabt?« fragte sie.

»Sehr,« sagte Tini; und sie setzte nochmals an: »Und auch --«; aber dann
schwieg sie, ganz rosig.

»Sage, wie du ihn gefunden hast? Als er mich nach Europa brachte, trug er
meist einen grauen Anzug . . .«

»Ach, was für Dummheiten!« merkte sie selbst. Mai, die dazwischenschwatzte,
konnte sich nicht naiver gebärden. Wie das belebte! Wie einem warm ward!
Sie sah sich um, sie hatte Lust, diese Menschen zusammenzurufen, die Pai
gekannt hatten, die ihr du sagten, die ein wenig Blut mit ihr gemeinsam
hatten. Gugigl trank ihr zu. Er stand dahinten, auf gespreizte Beine
gestemmt, hob das endlich eroberte Glas Bier nervig an sein Gesicht, das es
mit geblähten Nüstern erwartete, und führte Lola, den Blick fest und ernst
in ihrem, seine Schluckkunst vor. Seine Frau hatte ihren Lodenkragen
abgeworfen, hatte flatternden Haares die tannenbekränzte Estrade der
Schuhplattler erstürmt, die Dirn weggestoßen und sich statt ihrer gegen den
beleibten Balzer geschmiegt. Aber von ihrem Tanzdämon überzeugt, kam sie
seinen Bewegungen zuvor, brachte die Äußerungen seiner gravitätischen
Brunst in Verwirrung, zappelte in der Luft, wie er sie emporstemmte: -- und
ohne vorherige Ankündigung, im Zorn noch mit gelassener Kraft, setzte er
die enttäuschte Mänade über das bekränzte Geländer. Frau Gugigl mußte
einige Pfiffe hören, trotzte aber der Menge und holte sich ihren Mann, um
ihn herumzuschwenken.

Mehrere Paare drehten sich, zwischen den Püffen der Vorbeidrängenden. Die
meisten saßen indessen unter den tropfenden Kastanien, Rücken an Rücken,
die Arme auf die Tischkanten gewälzt; und so oft die Musik sich von ihrem
Knarren und Meckern ausruhte, sangen sie sich gegenseitig in die Münder. In
ziehenden Tönen, deren Ende sie vor Gefühl nicht fanden, stimmten die
Burschen unwahrscheinlich schmutzige Verse an; und die Madln unter ihren
Zopfkränzen fielen herzhaft ein, wie in der Kirche. Aus dem Winkel beim
Hause wurden sie beobachtet von der eleganten Gesellschaft, deren ragender
offener Reisewagen aus dem Verschlage hervorstand. Die Dame hob das Lorgnon
vor ihre aufgerissenen Morphinistinnenaugen und führte ihre unbewegte,
schlaffe, perlfeine Miene langsam umher. Ein dürftig gewachsener Mensch,
der ihr den Rücken im Sonntagsrock halb zudrehte, fesselte sie länger als
die übrigen. Niemand fand an ihm vorbei, ohne die Faust, als solle sie das
biedere »Grüeß Gott, Schuasta«, verstärken, auf seinen eingedrückten
Nasenrücken fallen zu lassen. Der Schuster lachte verlegen, und von Zeit zu
Zeit wischte er mit dem Handrücken das Blut weg, das ihm sonst ins Bier
tropfte. Sichtlich war er's gewohnt, war dies ein durch lange Jahre
geweihter Brauch, dem sich zu entziehen er selbst am unpassendsten gefunden
hätte.

Das Lorgnon der Dame zielte unbewegt in dieselbe Richtung. Nun aber folgte
Mai ihm; und Mai begann, die Hand an der Wange, kleine entsetzte Schreie
auszustoßen. Gugigl, seine Frau und die Baroneß Utting liefen herbei:

»Ja, was gibt's? Der Schuster? Aber ihr seht doch, daß es ihm selber Spaß
macht. Seid ihr zartbesaitet!«

»Mir san derbes Volk,« erklärte die Baroneß.

Mai schrie auf: wieder war dem Schuster eine Faust auf die blutige Nase
gefallen; und Mai beruhigte sich nicht mehr, hörte auf kein Zureden,
verfiel, außer sich, in ihre heimische Sprache und wiederholte ihre Meinung
den um sie her feixenden Bauern auf französisch. Dies alles sei abscheulich
roh; sie sollten nicht trinken: nur die Neger tränken; sie sollten einander
wie Menschen behandeln.

»Sei still, Mai,« bat Lola, leise vor Scham. Ihr war, als trage sie ein
Stück Verantwortlichkeit für dies Volk, das Pais Sprache hatte, und zu dem
sie Mai hergeführt hatte wie zu den Ihren.

Aber Mai drang, erbittert durch die Grimassen, denen sie begegnete, auf
Gugigl ein. Ob er meine, sie kenne so etwas nicht. Auch zu Hause die Neger
begängen ihre Feste, tanzten -- nicht häßlicher als diese hier -- betränken
sich, schlügen einander blutig. Aber man gittere sie ein, stelle Wachen
herum, und kein anständiger Mensch sehe den schmutzigen Dingen zu. Lola war
sehr froh, daß Frau Gugigl und die Baroneß schon wieder in den Armen zweier
Knechte dahintollten. Gugigl verstand nichts; er äffte Mais erregte
Gebärden nach, klappte mit den Kiefern und parodierte, ihr vor den Füßen
hüpfend, irgend einen Laut, den sie grade gesprochen hatte: ganz stolz, daß
er, als studierter Beamter, nicht zwei französische Worte wußte. Mai brach
ab; die Augen naß vor Zorn in ihrem beleidigten Kindergesicht, drehte sie
ihm den Rücken. Gwinner kam -- und er trug den Kopf noch vorsichtiger --
mit dem gewaltigen Schuhplattler herbei. Vor der Ankunft machte er noch
einen Bogen, führte, demütig und frech grinsend, den ernsten Koloß den
Damen von allen Seiten vor, wie einen Preisochsen.

»Diese Damen,« äußerte er, »sind aus Amerika gekommen, um Sie zu sehen.«

»Viel Ehr', viel Ehr',« sagte der Mann, mit einer Stimme, der er eine
erbärmlich wirkende Zurückhaltung auferlegte. Gwinner hielt lächelnd die
Hand neben seinem Arm, wie um eine unsichtbare Kette. Er wies hinüber, von
wo die eingepferchten Tiere brüllten.

»Warum lehren Sie nicht auch die andern Ochsen das Schuhplatteln?«

Sein begütigendes Nicken hieß: »Es ging doch nicht anders.« Die kleinen
tückischen Augen des Riesen wanderten auf dem bleichen Gesicht umher, das
nach Frechheit rang; und unentschieden zwischen Drohung und Respekt, fragte
er:

»Ja, wie moanen's denn jetzt dös?«

Die kleine Tini trat energisch vor.

»Er meint, wer nicht tanzen kann, ist ein dummer Mensch; und jetzt müssen
wir nach Haus, es ist höchste Zeit. Benno! Thekla! Marie!«

Sie beruhigte sich nicht eher, als bis alle aus dem Biergarten heraus
waren. Auf der Straße zwischen den großen Fußspuren voll braunen
Regenwassers hieß es einen Eiertanz aufführen. Vor den vier Jahrmarktsbuden
lungerten einige Buben, ein paar Weiber mit den Schürzen über dem Kopf. Mit
starrem Gesicht führte ein verwittertes Mädchen eine Moritat vor.

»Haben Sie das verbrochen?« sagte Gwinner zu Gugigl, und zeigte auf das
Bild. Frau Gugigl sprang vor Freude in eine Pfütze.

»Aber Benno! Das ist ja eine Idee! ich mal' eine Moritat! Künstlerische
Moritaten gibt's noch nicht.«

»Mehr als genug,« meinte Gwinner; aber Frau Gugigl verlangte:

»Ohne Witz! Dem muß man künstlerisch nähertreten.«

Sie besprach dies im Weitergehen mit ihrem Mann und der Baroneß Thekla.
Gwinner bemühte sich, für Frau Gabriel französische Wortspiele zu erfinden.
Tini nahm plötzlich ihren Lodenkragen ab und legte ihn Lola um.

»Es regnet nicht mehr, dein Schirm nützt nichts: aber die Luft ist so
feucht.«

Lola sträubte sich vergebens.

»Bitte bitte! Du bist das nicht gewohnt Dort, woher du kommst, ist immer
blauer Himmel, nicht?«

»Was meinst du? Ich war ja die längste Zeit meines Lebens in Deutschland.«

»Ach! Du siehst ganz aus wie eine Fremde; und so elegant. Du mußt diesen
Kragen entschuldigen. Bei dir ist gewiß alles aus Paris?«

»O gar nicht; und ich finde deine Bluse sehr gut gemacht. Meine Mama und
ich haben zuletzt in Genua bestellt. Wenn es kommt, sollst du's sehen. Die
Schneiderin arbeitet für die halbe italienische Aristokratie sie kennt uns
schon . . .«

Und Lola dachte hinzu: »So wird sie uns hoffentlich für die Bezahlung Zeit
lassen.«

»Ein Gesellschaftskleid ist dabei, Empire, was wieder das Allerneueste ist.
Schwarze Gaze mit Chantillyspitze besetzt; und im Ausschnitt ist dicke
Silberspitze, unterlegt mit . . . Aber willst du mich nicht einhaken?«

»Unterlegt mit?« -- in seliger Erwartung.

»Mit türkisblauem, metallischem Stoff.«

»Wie wundervoll!«

»Auch unter der Chantillyspitze liegt er.«

»Ja. Aber --«

Tini hielt sich grader und sammelte sich; denn jetzt kam das, was sie Lolas
Toiletten entgegenzusetzen hatte.

»Hast du schon von der Umwertung aller Werte gehört?«

»Ich muß gestehen: nein. Und wer hat dir davon erzählt? Herr Gwinner?«

»Woher --«

»Erschrick nicht! Woher ich das weiß? Du sahst grade nach ihm hin.«

Tinis Blick hatte mit solcher schwermütigen Schwärmerei an seinen hohen
Schultern gehangen. »Darum,« erkannte Lola, »ihre Angst, vorhin bei dem
Riesen, als sie ihn in Gefahr sah.«

»Das muß interessant sein,« sagte sie. Da trennte die Baroneß Thekla sich
von ihren Freunden, lief -- und ihr kurzer roter Rock flatterte -- Lola
entgegen und schwang den Arm über ein entferntes Kornfeld hin.

»Morgen in der Früh gehts da droben wieder an die Arbeit!«

»Was für eine Arbeit?«

»Ans Kornschneiden. Ich bin allweil draußen mit die Knecht' und Mägd'. Mich
nennen's die Oberdirn . . . Ja, das wundert Sie. Aber meine Großmutter war
ja eine Bäuerin und hat drunt im Mühltal ihren Hof gehabt. Ich bin ein
richtiges Bauernblut, und in der Stadt freut's mich nicht.«

»Renommiert die Baroneß schon wieder?« fragte Gwinner, der sich umdrehte.

»Mir ist's ernst,« erklärte sie; und er, nachgiebig:

»Ich weiß, bei Ihnen kommt's von Herzen.«

Tini lachte Beifall:

»Schon wieder!« flüsterte sie, vor Stolz errötet, Lola zu. »Ist er
geistreich! Sie hat ja eine unglückliche Liebe; darum kommt bei ihr das
Bauerngetue >von HerzenMenschen, seid
menschlich! Welche Weisheit gibt's für euch außerhalb der Menschlichkeit.<
Ein törichter Stolz auf eine von Träumereien unberührte Härte verführt die
meisten von uns; eine dem wahren Zustande unserer Körper und unserer
Geister ganz unangemessene Vorliebe für die nackte Macht. Die Frage ist, ob
wir nicht in unserm richtigen Element wären, wenn wir ein wenig Güte übten
und erwarteten: ob wir uns nicht wohler dabei fühlen und mehr damit
erreichen würden.«

»Das Trumpfen auf Illusionslosigkeit ist natürlich geschmacklos; aber Güte
erwarten? Mir scheint --«

Sie dachte an ihre Erfahrungen mit Menschen, mit Männern, an die Lehren
ihrer zwei letzten Jahre, und sie lächelte bitter. Arnold entgegnete:

»Heute gilt eine hoffnungslose Auffassung der menschlichen Zukunft. Dennoch
ist es klar, daß mit der Abnahme der rohen Kraft auch die Grausamkeit an
Gebiet verloren hat. Was hindert mich zu glauben, daß der Geist, der die
Folterkammern sprengte: daß der Geist auch die Waffenmagazine sprengen
wird.«

»Es wäre wohl noch wenig getan . . .«

»Ich weiß, ich weiß. Aber vermögen Sie einzusehen, warum man auf der Gewalt
besteht und die Macht um keinen Preis abdanken möchte, nicht einmal um den
Frieden der Seele? Auch ich gehöre zu den Besitzenden: aber wenn ich in
eine wahre menschliche Gemeinschaft den Weg finden könnte vermöge einiger
Stunden körperlicher Arbeit, die überdies ein mir nützliches Gegengewicht
zu denen am Schreibtisch wären --«

Er belebte sich; seine Stimme ward erst jetzt freier und stärker.

»Ich wäre mit Freuden ein Bürger des neuen Staates! Welcher Genuß des
Gewissens: nicht länger den Anteil derer mitzuessen, die vergeblich
arbeiten! Und welcher Zuwachs an Würde im Menschengeschlecht, wenn es sich
vor keinen schwindelhaften Größen mehr bücken wird, vor dem Zufall des
Eigentums so wenig wie vor dem der Geburt! Viel verspreche ich mir von dem
Sturz der Könige. Wären sie auch schon machtlos: ihr Dasein bleibt das am
höchsten ragende Denkmal menschlicher Würdelosigkeit. Wie können
Kulturmenschen, wie kann der Geist eine Macht ertragen, die nicht vom
Geiste ist! . . . Da die gleiche Verteilung der Leiden und Freuden des
Körpers und des Geistes, da die Nivellierung der Menschheit unser aller
heimliche Forderung ist, die wir nur mit Trug zum Schweigen bringen, von
der wir nur mit Scham absehen: warum schrecken wir vor dem Wege zurück, der
hinführt? Es wird keinen einsam leidenden Genius mehr geben, und keine
darbende Masse. Der Paria der Höhe wird verschwunden sein mit denen der
Tiefe. Welche Erleichterung, welche neue Unschuld!«

Lola hörte mit Spannung und dunkler Sehnsucht seine erregten Worte zu
Entzücken ansteigen, und sah Schmerz herausblicken. Sie empfand, daß auf
fester Erde sein Traum keine Stätte habe. »Ist er denn so selten enttäuscht
worden?« dachte sie, und sie fühlte sich alt.

»Sie sind vertrauensvoller als ich,« sagte sie und betrachtete ihn von der
Seite. Er sah ihr in die Augen.

»Vorhin waren Sie die Gläubigere . . . Erinnern Sie sich, daß es schon
einmal genügt hat, an die irdische Vervollkommnung des Menschengeschlechtes
zu glauben: und es machte einen stürmischen Schritt auf sie zu. Die
glücklichen Menschen des achtzehnten Jahrhunderts glaubten. Das Jahr 1789
war ihr Lohn. Dies Jahr war da. Dies arkadische Verbrüderungsfest ist
gefeiert worden. Sein Gedächtnis ist unser Trost. Seit diesem Ausbruch des
Besseren im Menschen ist alles möglich . . .«

Er schien stolz, daß nun auch er einen Glauben bekennen durfte. Ihr war's,
als lauschte sie einer Werbung, der sie sich immer schwächer
entgegenstemmte. Und ohne der Verwirklichung seines Glaubens nachzudenken,
empfand sie bei seinen von innerer Kraft federnden Worten, daß es sich
leichter und höher durch das Mondgespinst dieser Nacht gehe.

Da bemerkten sie, daß das Haus vor ihnen lag, und daß sie allein waren.

»Die andern müssen nach dem Dorfe abgebogen sein, vielleicht um den
Fabrikanten zur Bahn zu bringen.«

»Und was tun wir? Folgen wir ihnen?«

Aber sie blieben am Wege stehen, schauten in alle Richtungen, nannten
einander die Ortschaften auf fernen Hügeln, horchten auf den Pfiff einer
Lokomotive.

»Gehen wir ins Haus?«

Aber Lola bückte sich nach einer Blume; und nun pflückte er vom Feldrain
eine Hand voll der Blumen, deren Rot und deren Blau blaß vom Mond war. Sie
meinte, er werde sie ihr bringen; aber er ließ sie, als dachte er schon
nicht mehr an sie, herabhängen. Stimmen kamen weither, -- und plötzlich
setzten sie sich in Bewegung. Hinter dem schwarzen Laubgang, wie am Ende
eines Schachtes, schien das still beglänzte Haus sein eigenes, verlassenes
Leben zu führen. Die Tür zur Stube stand offen, auf der Diele drinnen lagen
weiße Vierecke. An den hölzernen Pfeilern der Veranda unterschied man jede
der kleinen Weinbeeren.

»Wie schön!« sagte Lola, indes sie in die Helle traten. »Man möchte in
diesem Licht einen neuen Tag anfangen.«

»Werden wir im Laufe des morgigen wieder einer solchen Stunde begegnen?«

Überrascht sah sie sich nach dem Gesicht um, aus dem diese fassungslos
klingende Frage kam, und fand Tränen darin. Ihr Blick verwirrte sich von
Mitleid, und sie sagte rasch:

»Gegen Abend mache ich meinen Spaziergang.«

»Ich bin menschlicher Gemeinschaft etwas entwöhnt . . .«

Wie er noch stammelte, schloß sie:

»Gehen wir also hinein?«

Bevor sie in ihr Zimmer trat, reichte sie ihm die Hand. Dann ging sie
gradeswegs auf das Fenster zu, schaute nach der Landschaft dahinten aus,
durch die sie erst eben mit Arnold geschritten war, und schüttelte den
Kopf, als sei sie erstaunt, sie unverändert zu finden, in der gleichen
bläulichen Verzauberung. Da fiel ihr die Nacht ein, in der sie über dem
Hafen von Barcelona auf einer einsamen und dunkeln Terrasse gelehnt hatte,
neben Da Silva. Der Mond, den sie mit einer seltsamen Inbrunst erwartet
hatten, war nicht aufgegangen. Hier lag er; jeder von ihren und Arnolds
Schritten hatte durch seinen Schein geführt. Sie fühlte sich umgeben und
erfüllt von Bedeutungen; unruhvoll schlang sie die Finger ineinander,
wendete sich ab und seufzte auf. Da war nun das kleine Zimmer, in das sie
eingezogen war, wie in ein gleichgültiges und unzulängliches Quartier.
Jetzt hatte jedes Möbel Wichtigkeit: sie sah den Stuhl an, den Schrank
. . . Dann glitten ihre Blicke an den unsicheren Umrissen der Berge hin, an
denen der Kirche dorthinten . . . Nun hatte sie alles in ihrem Kopf, durfte
ihn ans Fensterkreuz lehnen und die Augen schließen. Aber unter den Lidern
drängten Tränen hervor; -- und wie Lola, trunken von einer unbekannten,
lieben Müdigkeit, auf den Wangen ihr Rinnen spürte, meinte sie eine Weile,
es seien dieselben, die sie vorhin in Arnolds Gesicht erblickt hatte.

                   *       *       *       *       *

Als sie vom Frühstück in ihr Zimmer zurückkehrte, standen Kornblumen und
Mohn auf dem Tisch.

»Es sind dieselben, die er mir gestern nicht geben mochte.«

Sie ging rasch darauf zu -- und sah sie dann mit unschlüssig ablehnendem
Lächeln an . . . Sie waren nicht mehr vom Monde blaß und absonderlich; sie
hatten gewöhnliche, gesunde Tagesfarben. Lola blickte hinaus. Garten und
Land trugen in der mäßigen Alltagssonne hoffnungslos nüchterne Mienen. Lola
hob die Schultern.

Tini kam und warf auf die Blumen einen Blick, der Lola verwirrte. Tini
erinnerte sie daran, daß sie ihr Zimmer hatte besichtigen wollen. An den
Wänden war Manches zu sehen. »Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen«
stak, auf Stramei gestickt, in einem Rahmen, und daneben hing, als wenig
bekleidete Salome, eine Schauspielerin, für die Tini schwärmte. Sie zeigte
Lola ein Album mit Lesefrüchten und bemerkte bei jeder:

»Darüber möchte ich gerade deine Meinung hören.«

»Ich fand das vorige richtiger,« sagte Lola; und Tini, sofort:

»Dann mag ich es auch lieber.«

Nachdem sie hinausgehorcht hatte:

»Rauchst du vielleicht eine Zigarette? Aber du mußt es nicht meiner
Schwester sagen.«

»Die Marie raucht doch selbst.«

»Aber von mir findet sie's unpassend. Weißt du, im Grunde, im Grunde findet
sie eigentlich alles unpassend.«

Beide lachten.

»Blase den Rauch aus dem Fenster, bitte.«

»Ja, so machten wir's auch.«

»Im Ernst ist doch nichts dabei. Herr Gwinner sagt sogar, daß es mir
steht.«

»Herr Gwinner ist wohl immer auf deiner Seite?«

»Nein, gar nicht immer. Aber das macht mir nichts . . .«

Ein paar Sekunden hatte Tini die haltlos kreuzenden Augen eines wilden
jungen Vogels. Dann, bevor Lola sich hatte wundern können:

»Ach, Lola, ich wollte, ich hätte eine Freundin. Die, die ich habe, hat
keinen Zweck mehr. Ich kann dir sagen --«

Tini mußte hinunterschlucken.

»Du bist einfach mein Ideal.«

»Ja warum denn, Tini?«

»Erstens bist du modern und doch chik: das hab' ich noch nie
zusammengesehen. Dann bist du so gescheit, daß du über alles deine Meinung
hast. Du brauchst nicht zu denken, daß ich es nicht sehe, wenn du dich mit
dem Arnold über uns alle lustig machst.«

»Aber Tini! Du bist ja schrecklich.«

»Das nicht; aber ich bin nicht von gestern . . . Den Arnold, sage ich dir
offen, kann ich nicht ausstehen. Er ist mir gradezu widerwärtig -- und auch
unheimlich. Aber du wirst die Menschen wohl besser kennen. Du hast's gut:
kannst hingehen, wohin du magst, kannst alles vergleichen und dir die
Menschen aussuchen . . . Ich möchte dich wohl etwas fragen, aber du darfst
es nicht übel nehmen.«

»Sag's nur!«

Tini paffte und sah an Lola vorbei.

»An was erkennt man's eigentlich, wenn man sich verliebt hat?«

»Das ist aber wirklich eine Frage!«

»Siehst du, nun nimmst du's übel!«

»Durchaus nicht. Aber darüber . . . denkt man wohl überhaupt nicht nach
. . . Ich sollte meinen: wenn man das Gefühl hat, daß man jemand nicht mehr
entbehren kann.«

»Aber in Wirklichkeit kann man doch jeden entbehren!«

»Mag sein. Oder vielleicht doch nicht?«

»Ich habe keinen nötig, keiner braucht sich was einzubilden . . . Warum
sollte man überhaupt jemanden nicht entbehren können?«

»Was weiß ich. Wenn man einen höher achtet als die andern . . . Wenn er
einem Dinge sagt, die man selbst schon gefühlt hat . . . Wenn uns in seiner
Nähe ruhiger wird . . .«

»Pah!« machte Tini.

»Marie? Was ist?« rief sie aus dem Fenster. Und zu Lola:

»Wir sollen vor dem Essen noch ausgehen. Ach tu mit den Gefallen, geh schon
hinunter. Ich bürst' mir nach dem Rauchen doch lieber erst die Zähne.«

Drunten fand Lola Frau Gugigl nicht mehr. Aber im Vorübergehen bemerkte sie
durch einen Spalt in der Tür zur großen Stube, wie Arnold seinen Hut an den
Nagel hängte und sich unschlüssig umsah. Ehe sie's wollte, war sie
zurückgekehrt und stehen geblieben. »Was er wohl für ein Gesicht macht,«
dachte sie, »wenn er sich allein glaubt . . . Jetzt wird er etwas tun,
wobei er nicht an mich denkt, etwas, das nicht für mich bestimmt ist.«

Er saß auf der Bank, den Arm am Fenster und sah hinaus. Allmählich wendete
sein Kopf sich, die breiten Schläfen vorgeneigt, ins Zimmer, sank tiefer in
die Hand, die ihn hielt. Die andere hing von der Bank. Der Körper
erschlaffte zusehends. Der Blick schwamm am Boden.

»So ist er,« dachte Lola, »wenn er alle vergessen hat. Wenn er mich
vergessen hat. Ganz zeigt er sich uns andern nie.« Denn dies schien, mit
Ergebung in sich selbst, nur noch eine Seele. Sie war stark hinter ihren
Siegeln. Lola konnte nicht an sie hinan; -- und sie fühlte sich, hier
draußen, in beklemmender Einsamkeit. Ehrgeiz und Eifersucht zitterten
herauf. »Was will ich?« Und, ganz unvorhergesehen: »will ich ihn heiraten?«

Da polterte Tini über die Treppe; Frau Gugigl rief aus dem Garten; und Lola
ging, sehr erstaunt.

                   *       *       *       *       *

Bei Tisch mußte sie ihn sich ansehen und denken: »Da ißt er nun harmlos
seine Suppe. Wenn er wüßte, was ich vorhin für einen Einfall gehabt habe!
Er würde sich bedanken, Mann einer Virtuosin zu werden, mit ihr
herumzufahren und Impresario zu spielen. Lassen wir ihn nur in Frieden,
diesen Menschen der Einsamkeit!« Und sie lächelte spöttisch vor sich hin.
Frau Gugigl hatte etwas bemerkt und raunte:

»Hat er sich wieder eine Verrücktheit geleistet?«

»Wer denn? Aber nein!«

Und Lola bereute. »Ich habe ihn ausspioniert!«

Sie versprach ihm innerlich große Aufrichtigkeit und Güte. Als er eine
Stunde später bei ihr anklopfte, war sie zum Ausgehen fertig.

»Sie sind sehr zuverlässig,« sagte sie.

Er war befangen. Wie sie das Haus hinter sich hatten, fing er an:

»Sie haben mir mein gestriges Benehmen hoffentlich verziehen. Ich darf
versichern, daß ich es bedauere und nicht mehr ganz begreife. Die Stimmung
der Nacht war schuld, meine Nerven, und das so ungewöhnliche Zusammensein,
das sie als Vorwand für eine Entladung nahmen.«

»Ich bitte Sie: wem wäre es anders ergangen. Man müßte schon Nerven haben
wie der Fabrikant. Sie mögen mir's glauben oder nicht, aber ich selbst habe
noch eine Stunde lang am Fenster gestanden und den Mond angeschwärmt
. . . Übrigens, darf ich Ihnen einen Rat geben? Sie sollten nie um
Entschuldigung bitten. Sie sind zu bescheiden. Sie müssen die Leute fühlen
lassen, daß Sie Ihren Wert kennen, und daß, wer ihn bezweifelt, sich eine
Blöße gibt. Je mehr man aus sich macht, desto mehr ist man.«

»Zweifellos . . . Wenn nun aber das Urteil derer, denen ich erst imponieren
müßte, mich gleichgültig läßt.«

»Dann -- allerdings.«

Und sie wußte nicht, ob sie bewundern oder zweifeln sollte. Er hatte wohl
mehr Mut, indem er die Meinungen verachtete, als wenn er sie zu erobern
getrachtet hätte. Vielleicht aber machte er aus der Not eine Tugend? Bei
ihm wußte man nie, was Stärke, was Schwäche war; und wenn er schwach
schien, hatte sie schon erfahren, war er manchmal grade stark . . .

»Sie sagten gestern, ich glaube, Sie seien menschlicher Gemeinschaft
entwöhnt; und das können Sie nicht leugnen, daß Sie schüchtern sind.«

»Ich bin schüchtern, war es immer. Heute aber bin ich auf eine merkwürdige
Weise schüchtern. Nehmen Sie an, eine der ersten Persönlichkeiten eines
Landes reise in der Fremde, während bei ihr zu Hause alles drunter und
drüber geht. Nun ist plötzlich sein Geld wertlos, der Titel, den er sich
gibt, lächerlich; mit Sprache und Geistesart dieser Menschen weiß er nichts
anzufangen; in sein Gebiet ist der Weg abgeschnitten; und er ist hier
nichts und dort nichts. In dieser Lage, beiläufig, sehen Sie mich.«

»Der Heimweg abgeschnitten,« hörte Lola und fühlte sich mitgetroffen. Ihr
war's, als ahnte sie alles voraus, was er sagen konnte; als hebe der Geist
des Ortes, den sie betraten, eine Schwermut aus ihren Seelen, die bei ihr
und bei ihm mit den gleichen Erinnerungen genährt sei.

Sie waren, lässig von der Wärme, den verwischten Wiesenweg zu Ende
gegangen; und nun verfing sich und erstickte der Tag in diesem violetten
Moor. Wald umkränzte es, lichtete sich, zog, Stamm für Stamm, von dannen
. . . In dem Gewebe von Zweigen, abgehalten, besänftigt, schimmerte
silberiger Himmel, und fern, ganz draußen, blauten Berge. Man stand, senkte
die Hände und ließ sich betäuben vom Zirpen. Lola sah sich um, wo es gut zu
ruhen sei.

»Erzählen Sie weiter?«

»Sobald ich frei war, schon mit zwanzig Jahren, zog ich mich in die
Einsamkeit des Reiselebens zurück. Ich hatte genug von meiner Jugend, von
ihrem Elend, ihrer Scham; hatte mich genug verstecken müssen, der falschen
Gemeinschaft übergenug ertragen. War ich nicht über Versen gelegen, deren
Entdeckung mich zum Selbstmord gezwungen hätte? Hatte ich nicht, auf Gängen
über den Stadtwall, Visionen meiner künftigen Größe erlitten, die mir
solche Wahnsinnsschwindel durch den Kopf jagten, daß meine Knie schwankten?
Hatte ich nicht, um mehrerer Frauen willen, starr, wie mit heißem Sand
gefüllt, die Nächte und die Tage vorübergeschickt, tränenlos vor Ohnmacht,
und mein Leben nur zurückgerungen, um es aufs neue der Fieberlust der Liebe
aussetzen zu dürfen? . . . Das beste, wenn ich meiner Kindheit und ihrer
alten Stadt gedenke, war zwischen grauen leeren Häusern ein Garten: Neben
meinem Buch standen Maiglöckchen, über ihm schaukelten Fliederdolden; und
wenn ich die Stirn zurücklegte und die Lider schloß, brannte auf ihnen die
Sonne. O wie tief, tief ging's da in Sonne und Duft! Und das Gemurmel der
Quelle vorm Tor: ich blieb bei ihr zurück, wenn man über Land zog, und
nasses Laub hing mir in die Schläfen: wie wunderbar öffnete sich mir das
Gemurmel! Wie eine Muschel, in deren perlhelle Windungen ich hineinfand!«

»Ganz dasselbe!« sagte Lola, und ein Schauer überlief sie. In der
Verbannung erwachsen und inmitten vieles Elends manchmal eine Stunde der
einsamen, geheimnisvollen Süßigkeit: Das war sie selbst, und ihr graute vor
solcher Beschwörung ihres Eigensten. Dort auf dem Moor, in dem dünnen
Sonnenhusch tänzelten dort nicht einige kleine Mädchen -- sie und wieder
sie --? und verneigten sich vor ihr, gelenkt von den Fäden in der Hand des
Fremden neben ihr, den sie nicht ansah? . . . Sie hörte:

»Ich fand nach Italien; -- und da war mir's, als hätte ich nach Haus
gefunden. Welch ein Jubel! Ich erkannte mich selbst in den Bildern, die
alle auf Größe und Lust aus sind, in den Landschaften der Helden, worin
keine Träne lange hängen bleibt, in dem ewig jünglinghaften Volk. Hier war
eine heftigere Welt wie aus meinem Herzen ans Licht getreten. Die ersten
vier Wochen in Rom ging ich umher im ununterbrochenen Zustand dessen, den
der erste Liebesblick trifft: in seinem ungläubigen Entzücken. Ich ging
planlos; die Erwartung einer Straßenbiegung machte mir Herzklopfen; ein
Monument war ein Abenteuer. Durch die Campagna, unabsehbar, trugen mich
grade Straßen und durchsonnter Wind; und mir war zumut wie in einer
Verzauberung, worin ich angemessene Kräfte hatte. Ich ward freigebig mit
mir, froh der schwersten Hitze, trank ohne Vorsicht und liebte mit
Leidenschaft. Dies alles in Untergangsmut und, wie vom Frühdämmern,
manchmal von dem fahlen Erstaunen betroffen, daß es dauere.«

»Es dauerte bis zu einem nervösen Zusammenbruch; -- und in dem Dunkel, in
das ich mich nun zurückziehen mußte, sah ich plötzlich aus meinem Kopf ein
grelles Licht fallen und darin umhertaumeln, was mir je begegnet, je mit
mir geschehen war: aber in viel größeren Gesten, schneidenderen, weit
bedeutsameren, von unverschämterem Schmutz, wilderer Groteske oder
schmelzenderer Zärtlichkeit. Nicht rasch genug konnte ich alles in Sätze
bringen. Ich war plötzlich vom Talent ergriffen. Es war ein Rausch, allein
vergleichbar dem, als ich Rom entdeckte.«

»Ein Visionär, dem seine Höhle in Flammen steht, dem jedes Schneckenhaus
zum Feenpalast aufschießt, hinter jedem Felsblock Satan hervorschnellt und
lechzende schwarze Blicke aus allen Morgennebeln brechen: Das war ich
sieben Jahre lang. Ich haftete nirgends, fing nur im unbemerkten
Vorbeikommen Leben auf; und jedes der Zufallsquartiere, wo ich mich vor
einen Haufen Papier setzte, war umtobt von einer Welt, die ich zu bändigen
hatte. Ich lebte, erhielt mich nur, um zu schreiben; alle Sinne darbten;
und über jedes Bild, das halbfertig auf einer Seite stand, erwartete ich,
daß sich der schwarze Vorhang senke.«

Lola horchte, was ihr eigenes Leben zu ihr spreche: ihr Wanderleben mit
seinen Lockungen, seinem Taumel und, mitten darin, dem entrückten, gefeiten
Flecken, den das vertrackte Genie der Branzilla mit Zauber geschlagen
hatte. Aber Lola war fortgerissen worden; etwas wie ein schwarzer Vorhang
hatte sich gesenkt; und man wußte nicht mehr, was kam.

»Ich verstehe,« sagte sie, -- indes er schloß:

»Und eines Tages war's aus. Mein Trieb, zu gestalten, ward lahm; das Chaos,
dem ich hätte Formen entreißen sollen, hob sich dampfend, und tote Wände
umstanden mich. Ich ging hinaus . . . Wohin? Wo ist ein Elixier, stark
genug zur Belebung eines so sehr Ernüchterten? Nicht mehr in dem Italien,
das ich einst feierte. Ich gehe noch hin, weil ich Erinnerungen und
Gewohnheiten habe; aber mir ist, als hätte ich im geheimen immer ein wenig
Verachtung bewahrt für die schwungvolle Sinnlichkeit dort unten. Sehe ich
jetzt Bilder der Venetianer wieder, befremden sie mich: in einigen Monaten
haben sie mehr gealtert, als während der vierhundert Jahre seit ihrer
Erschaffung. In ihnen ist niemand mit sich allein; kein Leiden geschieht
darin ohne Zuschauer: was gehen sie einen an, der bei Festtafeln und
geschmückten Freunden kein Genügen fände? Das kunstlose Träumen meiner
Kindheit verlockt mich wieder. Die Sehnsucht nach innerer Gemeinschaft
entfaltet sich wieder in mir. Ich suche Menschen auf, ohne Arg, nicht um
sie zu belauschen, sondern weil ich mit ihnen leben möchte. Aber ich errege
Verdacht. Man fühlt: hier ist ein abnormes Leben verbracht worden. Ich gebe
der Neugier nach, berichte das einzige Interessante, das ich erlebt habe:
mich selbst; -- und nun ist der Waldmensch ausgefragt und ohne Reiz.
Beginnt er noch von seiner Marotte, fährt man ihm über den Mund. Er ist
durch langes Alleinsein allzu gutmütig gemacht, hat auf nichts eine rasche
Antwort; und wenn alles vorüber ist, erbittert ihn seine Vernachlässigung
und das Andenken seiner starken Vergangenheit. Er ist wahrhaftig die große
Persönlichkeit, bei der zu Hause alles drunter und drüber ging, und die
übel behandelt und voll ungültiger Ansprüche, in der Fremde fortlebt.«

Lola lächelte, weil er es tat; aber sie fühlte sich lahm und schmerzhaft,
als habe er sie stundenlang schlimme, zerrissene Wege geführt. Das Gewebe
der Zweige überzog jetzt einen schwach rosigen Himmel, und hier drinnen um
das Moor dunkelte es dumpf. Lola erschauerte und stand auf.

Draußen war's weit, bewegt und goldig; und Lola sah ihren Begleiter
aufatmend an, als seien sie zusammen entronnen. Ein wenig Stolz, ein leises
Glück sogar spürte sie, weil sie ihn herausgeholt hatte und ihm all dies
helle Land anbot.

»Ist das nicht eine Farbe, die man trinken möchte?« fragte er und zeigte
nach dem Rotgelb von Ähren, worin durchsonnte Mohnfähnchen flatterten.

»Obenauf wenigstens,« sagte Lola, »ist die Welt schön.«

»Aber die blühende Scholle ist das Erzeugnis der lichtlosen Tiefe. Wo
Schönheit ist, ist Tiefe.«

Sie begriff es. Sie legte den Kopf in den Nacken, sah Schwalben die von
Gold flimmernde Luft durchstreichen und empfand, es sei eine Lust zu denken
an solchem Tage. Er wies in die Weite, auf Schnitter, die hintereinander,
Sensen und Rechen über den Schultern, in langsamen Bogen zwischen den
Äckern hinzogen.

»Sie scheinen sich kaum zu bewegen, so groß ist die Erde um sie her: und
doch, wo immer ein Mensch sichtbar wird, können wir schwer noch von ihm
absehen. Er stört uns aus unserer Naturversunkenheit; wir merken: ihm
entkommen wir nicht, und ihn vor allem brauchen wir.«

»Besonders Sie, der so große Hoffnungen auf die Menschheit setzt! Und dabei
haben Sie den wichtigsten Teil Ihres Lebens dazu benutzt, sich in Ihrer
Verschlossenheit von den Phantomen der Menschheit etwas vorspielen zu
lassen: etwas Bösartiges, so viel ich verstehe . . . Sie sind eigentlich
sehr naiv.«

»Das sagt auch die hiesige Gesellschaft. Sie aber sagen es anders . . .
Sagen Sie übrigens ruhig kindisch. Ich muß Ihnen erzählen, wie sehr. Auf
einem Wege, den ich täglich ging, ward ich eines Nachts angefallen und
entkam durch einen Zufall. Die Aussicht auf eine zweite Begegnung mit
meinen Mördern zwang mich, die Anschaffung einer Waffe zu erwägen. Es ist
schwer zu sagen, mit welchem Widerwillen ich an dieses Handwerkzeug
heranging. Ich hatte es so ganz andern Lebenskreisen zu entnehmen! Endlich
trat ich dem Waffenschmied unter die Augen. Die Augen des Mannes waren
finster, und ich höre noch sein >Ach so<, als ich nach umständlicher
Prüfung des Revolvers die Frage gewagt hatte, wie man abschieße. Nun trug
ich ihn über die Straße und kann versichern, daß ich hinkte: so sehr war
ich darauf gefaßt, das Unding werde in meiner Tasche losgehen. Die
Schießübungen zu Hause waren aufreibend. Nie hatte ich rasch genug die
Sicherung heruntergedrückt und den Hahn gespannt. Die beiden Abenteurer
zückten schon unter meiner Nase ihre Messer, wenn ich noch den Kolben aus
den Taschenfalten zerrte. Ehe ich dann wirklich den Gang über die
verhängnisvolle Wiese antrat, saß ich im Dunkeln und nahm mit einer
Phantasie, die mich zehn Tode erleiden ließ, alle Einzelheiten der
Begegnung vorweg. Sehr merkwürdig war's, welche Erleichterung ich spürte,
als die Stunde zu handeln da war. Ich riß den Revolver aus der Schieblade
und lief.«

Er lachte hell auf; dann:

»Jetzt lachen wir; aber Sie wissen noch nicht, welche beschämenden
Neuigkeiten mich mein Revolver über unsere Seele lehrte. Ich erfuhr, daß
ich ungerecht und hart sein könne; daß Mut und ritterliches Ehrgefühl
vorwiegend in einem Stahlklotz stecken; und daß unschwer Gewaltmensch wird,
wer das Mittel zur Gewalt in der Tasche fühlt. Nur mit Ekel an mir ging ich
noch umher. Es war wirklich die einzige Zeit, wo ich mich lieber nicht mehr
hätte leben gesehen. Wie ich eines Nachts mich dem einen meiner zerlumpten
Angreifer gegenüberfand, hielt ich ihn an, schenkte ihm den Revolver und
wartete. Er dankte aber und ging weiter . . . Nun, ich war befreit . . .
Laufen wir diesen Hügel hinauf?«

Sie liefen; -- und von oben ließen sie sich, stärker atmend, von ihren
Blicken über viele Wiesen und Felder tragen, durch tiefes Waldgrün zu
blauem Wald, und jenseits des Luftblaus der ersten Alpen bis in Alpen, die
am Abendrot zerflossen.

»Das Verwunderlichste war, daß ich in all meinem Überdruß kindisch blieb:
mir in einem Theatersaal die Wirkung vorstellte, wenn plötzlich in meiner
Tasche ein Knall geschähe, und am Teetisch die Damen darauf ansah, was sie
für Gesichter machen würden, wenn ich ihnen die Tasse vom Munde wegschösse.
Begreifen Sie das?«

»Sehr gut,« sagte Lola und lachte mit. »Wozu sind wir den Hügel
heraufgelaufen, den wir gleich wieder hinunter müssen? Sehen Sie? Weil Sie
eigentlich ein Junge sind.«

»Nehmen Sie einmal an, daß Herr Gwinner für jeden Witz, den er macht, eine
Schrotladung bekäme!«

»Oder Frau Gugigl für jedes >künstlerischSie< anredet und sogar den
Kopf vor ihnen entblößt?«

Lola sah ihn rasch an, -- und dann konnte sie ihr Gelächter nicht mehr
dämmen. Er war zornig erstaunt.

»Auch Sie? Lachen Sie doch nicht! Sie kennen diese Leute noch nicht. Alles
Sozialisten und Schlechterzogene! Man braucht nur ihre Kleidung anzusehen.
Die Schuhe und die Nase dieses Gugigl: beide krümmen sich nach oben.
Verkommen sind alle, überzeugungslos und feige. Sind das noch Männer, die
ihren Frauen diese Sitten gestatten und diesen Ton? Wer stopft hier die
Socken? Mulier subiecta viro. Leugnen Sie es nicht! Ich weiß, welche Ideen
Ihnen jener Hölzerne, Furchtsame, einzuimpfen trachtet. Aber sehen Sie nur
seine Hände an, die immer weich werden und anschwellen . . .«

Lolas Lachen brach ab.

»Sie sind zu klug: Sie lassen sich nicht unglücklich machen. Glauben Sie
mir: die Frauen hier sind sämtlich unglücklich. Man hat ihnen die Zügel
abgenommen, und allein wissen Sie nicht wohin und wie sich wehren . . . Sie
aber, was tun Sie hier? Sie sind doch stärker als alle diese.«

Er ließ ihr den Vortritt auf das Brett über einer sumpfigen Stelle. Aber am
Ende des Brettes trat sie in Wasser und wandte sich um. Auch er blieb
stehen.

»Sie sind doch stärker!« wiederholte er und warf sich dabei selbst in die
Brust; und durch seinen leichten, engen Leinenärmel hindurch sah sie, daß
er die Muskeln anspannte. Feindselig, auf ihrer Hut, führte sie ihren Blick
hinauf, bis in seine Augen; -- und in den sprachlosen Sekunden, die sie
einander musterten, war es ihr auf einmal heftig erleuchtet, nicht mit den
Hiesigen und nicht mit Arnold habe sie Zusammenhang . . . Sie erschrak über
den Leichtsinn, mit dem sie zu dieser Begegnung ausgegangen war, und
darüber, daß sie noch soeben gelacht hatte.

»Also kehren wir um!«

»Haben Sie Furcht?«

»Wovor denn? Die Wiese ist ungangbar. Vor Ihnen doch nicht? Sie sind ja
noch einer von den Rittern.«

»Ein Jäger, sagen Sie! Der Mann ist Jäger.«

Da sie schwieg:

»Ihre Mama spricht davon, nach Italien zu gehen. Sie werden mir hoffentlich
bald nachkommen. Denn Sie begreifen, daß ich nach dem Vorgefallenen nur
noch der Form wegen zwei Tage mit der Abreise warte. Wir müssen uns aber
wiedersehen!«

»Es wird mich freuen, wenn es sich so macht.«

»Nein! Wir selbst müssen es machen! Ich gehe nach Viareggio; aber ein
Telegramm, und ich fahre Ihnen entgegen, wie weit Sie wollen!«

»Ich begreife gar nicht . . .«

»Sie begreifen vollkommen, daß Sie zu uns gehören. Warum? Warum? Erstens
haben Sie eine gute Schneiderin.«

»Das allerdings.«

»Und dann viel Leidenschaft.«

»Das ist nicht wahr!«

»Das Temperament, womit Sie's leugnen! So viel bringt man hierzulande
höchstens auf, wenn man getrunken hat.«

Er neigte den Kopf auf die Schulter.

»Sie sind anbetungswürdig.«

»Sagten Sie nicht, daß Sie Jäger seien? Wirtlich, manchmal sind Sie wie ein
Jäger, der sein Wild gerührt bewundert, bevor er es totschießt.«

                   *       *       *       *       *

Sie waren bei der Pforte. Lola dachte daran, wie sie ihn los werde, bevor
man sie sähe: da verabschiedete er sich; er gehe noch nach dem Walde.

Hinter einem Busch rief Tinis Stimme, und sie klang erstickt:

»Komm her, Lola, ich muß mit dir reden!«

»Was ist denn, Tini? Wie hast du dich komisch hingesetzt?«

Tini saß neben einer Bank, fast unter ihr; griff mit ihren langen Armen um
das Sitzbrett herum und hielt den Mund in die Arme gepreßt.

»Lola, wie ist nun alles schrecklich!« jammerte sie und hob nur die Augen
auf. »Warum mußten sie in Streit kommen! Jetzt hab' ich gesehen, daß
Gwinner ein Feigling ist.«

Lola ließ sich rasch neben Tini auf die Knie, zog Tini in ihre Arme, hielt
ihr den Mund mit ihren Lippen zu.

»Er ist kein Feigling, arme Tini! Wie kannst du nur glauben! Er will keine
Gewalttat begehen, weil er sie ungerecht und unschön findet.«

»Du willst mich trösten.« Aufschluchzend: »Du bist gut. Aber das ist doch
klar, daß Pardi ein stärkerer Mann ist. Und dann kann mir die moderne
Weltanschauung auch nichts nützen, wenn einer sich nicht schlägt. Denke
dir, man wird beleidigt, und er schlägt sich nicht für mich. Schrecklich!
Schrecklich!«

Der Schmerz schüttelte Tinis Kopf, und das Weinen verzerrte ihr Gesicht zu
einer Kindergrimasse.

»Du hast ihn wohl sehr lieb gehabt, Tini?«

Tini schrak auf, -- und plötzlich fiel sie in Zorn.

»Nicht die Spur! Nur mit Reden hat er mir imponiert, gerade wie -- na, ich
kann's wohl sagen: gerade wie der Arnold dir!«

Lola ließ Tini los; schnell, ehe sie die Kränkung, die sie fühlte, bedacht
hatte:

»Der taugt doch wohl mehr, Tini.«

»Wieso?«

Beide senkten die Hände bis zur Erde, und, Tini sitzend, Lola auf den
Knien, sahen sie einander ganz nahe in die Augen.

»Hat er vor Pardi nicht Reißaus genommen? Meinst du, ich merke nicht, was
du durchmachst? . . . Und ich mit Gwinner! Du weißt noch gar nicht: ich
wollte Diakonissin werden, so fromm war ich. Immer hab' ich mich geschämt,
es dir zu sagen. Er aber hat mir Nietzsche zu lesen gegeben und mir soviel
Sprüche gemacht, bis ich glücklich ein modernes Weib war. Da hab' ich nicht
mehr gewußt, bin ich in ihn verliebt? Ich fragte dich doch, an was man's
kennt! Und wollte, daß er mich entführen sollte. Er sagte natürlich, es sei
nicht modern. Das sagt er immer; damit redet er sich aus allem heraus:
gerade wie dein Arnold. So sind sie jetzt. Ich aber bin anders!«

Und Lola sah wieder in die haltlos kreuzenden Augen eines wilden jungen
Vogels. Sie wich ein wenig zurück.

»Da kam der Pardi,« sagte Tini und nickte heftig. »Das ist einer, der täte
es. Aber meinst du, daß ich ihn mag? Er macht mir einen so gemeinen
Eindruck, Lola! Ich kann dich nicht genug vor ihm warnen!«

»Du bist noch sehr jung, Tini.«

»Aber schon furchtbar verdorben!«

Mit einem großen Ruck:

»Ich muß knien, ich!«

»Du, verdorben?« -- und Lola streckte wieder die Arme aus. »Durch was denn?
Nichts ist geschehen, arme Tini. Mit dir nicht und mit mir nicht . . .«

Ganz neues, durchdringendes Mitleid fiel Lola an, mit Tini, mit sich: als
seien sie beide verschmäht worden; und sie fühlte sich demselben haltlosen
Kinderweinen nahe, das vorhin Tini erschüttert hatte. Gern hätte sie Tini
wieder an ihrer Brust gehabt; aber Tini machte sich steif, und sie war
stärker.

»Was soll denn geschehen?« fragte sie mit ganz leerem Jungfrauengesicht.
»Wir haben doch unsere Gedanken, nicht? Und die sind nun anders und kommen
nicht mehr so wieder wie einst . . . Ich wollte, ich könnte noch
Diakonissin werden!«

Und bekennerhaft zurückgeworfen, mit leidenschaftlichem Atem:

»Es ist nicht wahr, daß ich Pardi nicht möchte. Ich hab' dich gehaßt, und
deine Mama auch, und die anderen auch: weil ihr mir ihn wegnehmt!«

»Ich nehme ihn dir nicht weg, Tini.«

»Doch! Gerade du! Paß auf, du wirst ihm folgen, wenn er fortgeht!«

Wie Lola sie mit Grauen ansah, warf Tini sich über sie.

»Und ich --« krampfhaft, erstickt: »-- werde dir dazu helfen. Du sollst
sehen! Denn dich will ich nicht hassen, Lola. Du bist die einzige, die ich
wirklich liebe, Lola: du bist mein Ideal . . . Mit den Männern ist es
nichts . . .«

Durch Tränen befreit, begann sie ein Liebkosen.

»Warum liebst du mich nicht?«

»Ich habe dich so lieb wie meine liebste Schwester.«

»Wirklich? Ich dich aber viel mehr! Schwester: was heißt das? . . . Und
warum hast du mir nie ein Wort des Dankes für meine Blumen gesagt?«

»Deine Blumen?«

»Die ich dir fast jeden Tag hingestellt habe.«

»Du hast --. Das warst du?«

»Wer sonst? . . . Ach! Arnold? Du dachtest? . . . O! Mach nicht solch
Gesicht! Das ist entsetzlich! Ich wollte, ich hätte nichts gesagt.
Vielleicht hat auch er welche hingestellt . . . Bist du mir nun böse?«

Lola faßte sich.

»Es macht gar nichts. Ich dachte wahrhaftig, er sei verliebt in mich; --
und wenn man dann merkt, er ist es nicht, ist man blamiert, weißt du.«

Tini hielt Lolas Gesicht zwischen den Handflächen fest und ging mit den
Augen darauf los.

»Und du liebst ihn nicht?«

»Nein!«

»Das ist recht: du hast nicht gezuckt . . . Hab' ich dir nicht längst
gesagt, daß er mir widerwärtig ist? Und auch unheimlich? Das ist nichts für
dich, meine Lola. Ich habe jetzt meine Erfahrungen, und wenn du einen Mann
willst, nimm schon lieber den Pardi!«

»Ich will mir's überlegen.«

Lola stand auf. Tini fiel vornüber auf die Hände.

»Au au! Hilf mir auf, Lola! Hast du dir nicht auch die Steine in die Knie
gedrückt?«

Mit wehmütigem Rückblick auf die Stelle, wo sie gelegen hatten, und
aufseufzend:

»Wenigstens hab' ich Hunger gekriegt.«

                   *       *       *       *       *

Auf der Schwelle, wie sie schon wieder die gewohnten Menschen um denselben
Tisch sitzen sah, merkte Lola, daß sie am liebsten umgekehrt wäre. Alle
Anstrengungen, unbefangen zu scheinen, ermöglichten ihr kaum, höflich zu
bleiben; und es ward ihr zur Qual, beim Sprechen den Leuten ins Gesicht zu
sehen. Zum Glück war die Verstimmung allgemein. Jeder nahm sich sichtlich
zusammen, um nicht auszubrechen gegen jeden. Mai sagte plötzlich etwas
Unliebsames zu Arnold. Pardi legte sich geschmeidig ins Mittel: er war der
einzige, der sich nichts anmerken ließ; und Lola war ihm dankbar dafür, daß
er sich in der Gewalt hatte. Wenn er sie anredete, atmete sie auf.

Er unterhielt die Gesellschaft von Monte Carlo, erklärte ihnen sein System,
glitt allmählich von den anderen ab und trachtete nur noch Lola zu
überzeugen. Überrascht, da sie zurückblieb:

»Sie haben nie gespielt?«

»Ich traue mir kein Glück zu.«

»Das müssen Sie: sonst verlieren Sie.«

»Drum habe ich nie auch nur das einfachste Kartenspiel gelernt.«

»Ich zeige Ihnen eins. Wollen Sie? Sie werden gewinnen!«

Sie richteten sich im Winkel ein. Aber die Regeln des Whist machten Lola
hoffnungslose Langeweile; sie mußte dazwischen nach Gwinner hinhören, der
wieder einmal Schriftzüge und Handflächen deutete. Tini hielt ihm ihre hin
und machte sich dabei, weit von ihm weggebeugt, ganz steif.

»Bei mir muß sich manches gründlich verändert haben,« sagte sie fast
ausdruckslos, vielleicht mit leiser Trauer und entferntem Hohn.

Er stotterte, fand nichts zu sagen; und von der Hand aufzusehen, wagte er
auch nicht.

»Doch, ich weiß eins,« entdeckte Lola plötzlich. »Ein sehr altes, ganz
einfaches: als Kind lernte ich es von meiner Großmutter, drüben auf der
Großen Insel. Lassen Sie mich's wiedersuchen!«

Sie warf die Karten durcheinander, teilte sie neu aus, probierte, dachte
nach . . . Ihr war, als zöge sie ein Stück Kindheit wieder an sich,
abhanden gekommenes Glück und verlernte Zuversicht. Ein etwas mißgelauntes
altes Gesicht unter einer Faltenhaube erschien ihr. Erregt lachte sie vor
sich hin. »Damals gewann ich immer! Alle Orangen gewann ich Großmama ab. O,
in diesem Spiel werde ich auch heute noch gewinnen!«

»So, also so: passen Sie auf! . . . Sie haben begriffen? Einen Pfennig die
Partie.«

Pardi lachte, erklärte das Spiel für sehr schwierig und verlor. Er verlor
mehrmals.

»Ich bin unglücklich, solange das Glück keinen Gegenstand hat. Haben Sie
etwas dagegen, daß wir diesem Pfennig den Wert einer Million beilegen?«

Lola erschrak.

»Aber -- das ist etwas ganz anderes. Und ich habe nicht so viel Geld.«

Pardi wollte sich ausschütten.

»Was denken Sie! Wenn das Spiel aus ist, wird der Pfennig wieder zum
Pfennig und verpflichtet zu nichts.«

»Also gut.«

Sie schämte sich ihrer Furcht. Lachend verlor sie die erste Partie, lachend
die zweite.

»Drei Millionen!« sagte Pardi nach der dritten und sah sie, beim Geben, von
unten an. Sie stutzte. Seine Stimme klang ihr weicher und gefährlicher als
sonst. Unter dem Überfall eines kindischen Entsetzens glaubte sie seinen
Mund teuflisch verzogen zu sehen.

Sie verlor weiter. Betäubt ließ sie's geschehen und sah zu, wie seine allzu
geschickten, weißen und starken Hände mit Karten hantierten, das Kettchen
am Gelenk erklirren ließen, auf ein Papier ungeheure Zahlen setzten, die
sie verloren hatte . . .

»Sind wir nicht Kinder?«

»Ja -- aber ich habe genug, ich bin müde.«

»Also sieben Millionen: merken Sie sich's. Vielleicht, daß ich später meine
Forderung einziehe.«

Sie versuchte, noch im Weggehen, zu lachen. Aber in ihrem Zimmer schloß sie
die Läden, kämmte sich langsam und mochte noch lange das Licht nicht
löschen.

»Wenn es nicht das alte Kinderspiel gewesen wäre, in dem ich immer gewonnen
hatte!«

Aber erklärte dies wirklich ihr Grauen vor dem Scherz, der ihr eine Schuld
an Pardi auferlegte: eine untilgbare, lebenslängliche?

                   *       *       *       *       *

Aus unruhigen Morgenträumen fuhr sie auf, unzufrieden, weil es schon so
spät war. Vor Tag, erinnerte sie sich, war sie schon einmal aufgestanden,
hatte das Fenster geöffnet und sich versprochen, in der stillsten Frühe in
den Tau hinauszuwandern. Welche Erfrischung ihr das bringen sollte! Nun
lasteten Sonne und Leben schon wieder schwer. Um nicht mit Pardi
zusammenzutreffen, verzichtete sie auf das Frühstück, ging gleich ins Freie
und war froh, den Gugigls mit Tini und Gwinner zu begegnen, sich in den
Haufen bergen zu können. Auch Arnold war dabei, und wie die andern unter
sich beschäftigt waren, begann er schon:

»Sie sind dieser Tage in Unruhe . . .«

Und das klang, als ob er Aufklärung, Ordnung für alles wisse; und Lola
hielt sich schon vor, mit welchem Recht sie ihn verachten wolle, ihn
abgetan glaube. Die Blumen? Wann hatte er vorgegeben, ihr zu huldigen?

Da kam aber Frau Gugigl dazwischen. Etwas Wichtiges war im Gange. Gugigl
keuchte unter einem Sack: darin waren leere Farbentuben, deren Blei er
einschmelzen wollte. Den Kessel trug Gwinner. Er stellte ihn auf den
Grashügel. Tini und Frau Gugigl liefen nach Reisig. Gugigl leerte, unter
Kommandorufen an die Helfer, den Sack in den Kessel, beaufsichtigte,
entschlossenen Blickes, den Vorgang des Schmelzens, rührte in dem Brei,
entfaltete, indes ihm die Frauen achtungsvoll zusahen, eine ernste und
gespannte Tätigkeit.

»Einen Klump gibt's, einen großartigen!« verhieß er, heimlich fiebernd.

Gwinner fragte ihn wohlwollend und nicht besonders sachlich, wie einen
talentvollen Knaben:

»Und wozu brauchen Sie eigentlich den Klumpen?«

Gugigl wandte sich rasch und kühn nach ihm um.

»No -- damit i halt an Klump hab'!«

Der Kübel Wasser, den er verlangt hatte, ward von zwei Mägden
herbeigeschleppt. Gugigl setzte ihn auf den Rand des Kessels. Alle reckten
im Kreise die Hälse.

»Jetzt abkühlen!« -- und er stülpte den Kübel um.

Im nächsten Augenblick taumelte Lola, die Augen zugedrückt, mit Tini
zusammen. Es hatte furchtbar geknallt, und noch immer flogen Bleistücke
umher. Mit Grauen kam man näher. Gugigl stand sprachlos da und zupfte sich
das Metall aus den Kleidern. Sein erstes Wort war:

»O damisch!«

Und das Gwinners:

»Hat zufällig einer der Herrschaften noch seine beiden Augen?«

Dann brach große Heiterkeit an; -- und Lola war glücklich über alles: daß
es Menschen gab, die solchen Unsinn betrieben; daß man lachen konnte, und
daß man in Gefahr war; daß etwas geschah und nicht in ihrem Innern geschah
. . .

                   *       *       *       *       *

Gegen Abend wollte sie, um auszugehen, wie immer, durch die Stube. Noch
rechtzeitig sah sie durch den Spalt und schrak zurück: da stand er. Wartete
er? Langweilte er sich einfach? Er nahm eine Zeitung, warf sie wieder hin,
ging zum Fenster und zurück, mit den Augen auf der Tür, hinter der Lola ihn
belauschte. Einen Moment fürchtete sie, er bemerke sie: so wach war sein
Blick. Er wendete sich, streckte elegant die Büste, tat keine Bewegung, der
nicht eine Gesellschaft hätte zusehen dürfen. Lola dachte an Arnold,
damals, wie sie ihn mit sich selbst belauscht hatte. Pardi -- sie erkannte
es mit einer Art Grauen -- war nicht allein: war offenbar nie allein; war
immer in Gegenwart seiner Menschen, seiner -- Opfer, mußte sie denken; war
immer sprungbereit. Keinen Augenblick vergaß er einen, und immer mußte man
vor ihm auf der Hut sein . . . Vorsichtig ging sie von außen um die Stube
herum.

Von einem hohen Acker vor der Sonne, auf dem Heu gebunden ward, rief ihr
jemand nach, und wie sie noch umsonst hinaufblinzelte, lief die Baroneß
Thekla ihr entgegen. Droben kreischten die Dirnen; eine schrie hinter der
Laufenden her:

»So eine reine Jungfrau als wie du!«

»Ich schwatze mit ihnen über ihre Liebesgeschichten und stelle mich naiv,«
sagte die Baroneß Thekla zu Lola. »Dabei haben sie keine Ahnung, was ich
durchgemacht habe.« Und sie begann von einem Leutnant . . . Vielleicht
hatten die Ereignisse, hatte die wühlerische Stimmung des Hauses sie in
Fluß gebracht. Vielleicht trieb es sie, Lola vorzuführen, daß es ihr mit
Pardi nicht Ernst sei und sein Verschwinden an ihr nichts ändern werde.
Ausführlich klagte sie. Der Leutnant war zart und fein; auf einem Hofball
hatten sie sich kennen gelernt. Er konnte Schnadahüpfln singen. Aber er
hatte kein Geld, und um sie zu trennen, war er in die Provinz versetzt
worden. Die Baroneß Thekla mochte keinen andern, sie haßte die Gesellschaft
und wäre lieber eine Bauernmagd gewesen.

Lola hörte dem zu und verachtete es. Sie verachtete die Trägerin dieser
landläufigen, billigen Schmerzen, und aus der Ferne beneidete sie sie auch.
Lieben, nicht glücklich werden dürfen und sich trösten, wie es geht: damit
war man in der Ordnung und hatte es leicht. Aber zu einem Manne hingezogen
sein und ihn dabei höhnisch durchschauen! Aber seinem Gegner sich so nahe
fühlen als ihm! Aber nie wissen, ob man für die Liebe gemacht ist, die doch
bereit wäre, in einem aufzustehen! Sich selbst nicht trauen dürfen! Geteilt
sein! Nirgends ganz zu Hause, seines Eigensten nicht habhaft, fragwürdig
und der Antwort auf immer unmächtig!

                   *       *       *       *       *

So ward es Abend. »Glücklich der letzte Abend: und morgen ist er fort, und
ich werde aufatmen.« Lola war lauter als sonst, weil sie Befangenheit
verbarg. Im Lauf des Pfänderspiels zog sie den Stuhl weg, auf den Gwinner
sich eben setzte, hob Gwinner mit erschrecktem Gelächter vom Boden auf und
lachte, indes er vor verwundeter Eitelkeit knirschte, haltlos weiter.

Dann sollte sie draußen ihre Aufgabe erwarten. Sie stand auf der Veranda,
vor dem Dunkel, das sternenlos und schwül war; -- und wie drinnen die
Beratung ein wenig lange währte, näherte sich ihr die Versuchung, da hinaus
zu wandern, plötzlich alles abzuschütteln. Sie dachte daran nur wie an eine
bezaubernde Unmöglichkeit, eine Entführung durch den Widderwagen, den,
schlimmer Werbungen müde, Prinzessin Eselshaut besteigt. Nur im Spiel ging
sie die Stufen hinunter, tastete einige Schritte durch den Garten . . . Sie
lauschte rückwärts: Stille; -- und lächelnd über ihre unsinnige Tat und
immer noch als sei's nur Probe und ohne Belang, stieß sie die Pforte auf,
machte ein Stück der Straße, die sie nicht sah . . . Nochmals blieb sie
stehen; ihr war's, sie werde gerufen; -- und da lief sie geradeaus, stürzte
sich in das Dunkel, das so unwiderstehlich lockte mit seiner großen
Freiheit und Unempfindlichkeit.

»Sollen sie denken, was sie mögen! Für heute bin ich alles los!«

Aber das Dunkel regte sich. Wie es zirpte und duftete! Welche lauen,
schwarzen Wellen einen umspülten! »Warum habe ich nicht alle vorigen Nächte
solchen Spaziergang gemacht? Nie ist man wacher und nimmt freier auf als
wenn man allein ist. Ich will keine Menschen . . .« Sie hielt eine Weile
an, um einen einzelnen Glockenschlag zu genießen. Langsam, berauschend
erfüllte er ihr den Kopf. »Wenn ich die ganze Nacht wandern würde, wo mich
wohl die Sonne träfe? Seltsam, nichts erkenne ich wieder. Bin ich auf einen
unbekannten Weg geraten?« Eine riesige Mannesgestalt stand vor ihr auf. Mit
dem nächsten Blick und noch zitternd unterschied sie einen Heuhaufen.
Häufiger blieb sie stehen und lauschte auf etwas Unbekanntes. Wenn nun
Schritte kamen? Jemand konnte ihr nacheilen. Nur natürlich war's, wenn man
sie suchte. »Wer wird es sein?« Und plötzlich: »Wer jetzt zu mir stößt, der
ist es!«

Vor einem Walde zögerte sie lange. Dort innen ward ihr armer Weg vollends
erstickt. Jene regungslose Finsternis mußte einem den Atem nehmen! Man fand
nicht mehr heraus! Aber der Wald war unerbittlich: er zog Lola an sich,
legte Arme um sie . . . Da, rasche Schritte: rasche und starke Schritte,
quer übers Feld. Und einer kam auf sie zu, das Dunkel durchbrechend.

»Fräulein Lola?«

Pardi, selbstverständlich. »Der andere wird sich doch nicht aufraffen. Ich
konnte voraus wissen, wer von ihnen zu mir stoßen würde. Das bedeutet
natürlich nichts. Was für eine dumme Wette das war!«

Er war da.

»Fräulein Lola --«

Er gab ihr, hier zuerst, ihren Namen. Sie griff sofort ein.

»Sie haben es so eilig? Was gibt's denn?«

»Alle suchen Sie! Die anderen sind nach den übrigen Richtungen.«

»Suchen mich? Ich begreife nicht, was man will. Wie oft bin ich des Abends
auf einige Minuten allein hinausgegangen.«

»Einige Minuten! Eine Stunde sind Sie fort, und niemand weiß, was Ihnen
zugestoßen ist.«

»So hat mir's heute mehr Spaß gemacht als sonst. Und zustoßen? Was denn?
Die Gegend ist sehr friedlich. Überdies kenne ich jedes Haus am Wege.
Warten Sie: wenn wir durch den Wald sind, kommt links ein Holzhaufen und
dann ein Weg und ein Kruzifix.«

Entschlossen betrat sie den Wald.

»Auf diesem Baumstumpf habe ich oft genug gesessen. Die Form dort hinter
den Zweigen ist eine Holzfällerhütte. In dieser Zeit übernachtet meist
jemand darin . . .« Alles sehr sicher und umsichtig. Sie ging, die Arme auf
den Rücken verschränkt, dahin, indes Pardi stolperte, sich nicht zurecht
fand, auf nichts vorbereitet war. Und so oft er ihr mit einem Wort näher zu
kommen drohte:

»Achten Sie auf den Weg!«

Sie selbst war sich bewußt, einen höchst gewagten zu gehen, fast schon
durch leere Luft; -- und in Gegenwart der wirklichen Gefahr sah sie keine
Phantome mehr, hatte den Traum abgeschüttelt, das Spiel weggeworfen und
beaufsichtigte mit trockenem Mißtrauen, was geschah.

»Der Wald ist noch lang. Sie kennen ihn nicht, er ermüdet Sie. Ich habe die
Absicht, bis ans nächste Dorf zu gehen: kehren Sie um, ich werde es nicht
übelnehmen.«

In völliger Finsternis standen sie sich gegenüber; aber Lola klopfte das
Herz vor bangem Stolz, weil sie ihn in dieser Minute so sehr unterlegen
wußte, daß er zögerte und ihren Vorschlag vielleicht annahm . . . Plötzlich
sah sie sein Gesicht aufschimmern. Beide wandten sich: ein Licht schwankte
um die Bäume, Stimmen und Schritte waren unvermittelt da, eine rote Lache
lief über den Weg herbei, und große, dumpfe Schatten kamen mit.

»Hinter mich!« raunte Pardi und faßte Lolas Arm. Sie hatte Furcht; und ihre
plötzliche Einschüchterung und ihr Schutzbedürfnis genoß sie lautlos, wie
ein schimpfliches Glücksgefühl.

Die Kommenden wurden kenntlich. Ein Greis hielt einen Mann aufrecht, der
ein blasses, wütendes Gesicht und Blut unter den Haaren und am Hemd hatte.
Eine Frau trug die Laterne und zog ein Kind nach. Da, ehe der Alte zugriff,
war der Mann gegen einen Baum getaumelt und stöhnte auf. Pardi trat an sie
hinan. Lola ward sich bewußt, außer Gefahr und in Menschennähe zu sein; und
sie zitterte ganz vom Nachlassen der Spannung, worin dieser Gang zu zweien
und im Finstern sie erhalten hatte.

Sie mußte hin und die Erklärungen der Leute zu verstehen trachten. Der
Bauer sollte mit seinen Messerstichen zum Arzt geschafft werden. Seine
Betrunkenheit erschwerte das Vorwärtskommen nicht weniger als seine
Verletzungen. Der Alte war erschöpft . . . Pardi machte seine Handbewegung,
zog das Jackett aus, warf es der Frau zu, -- und mit einem Ruck hatte er
den Mann auf den Schultern.

»Vorwärts!« Und munter, ohne Keuchen: »Gnädiges Fräulein, Sie können mir
glauben, daß es mir lieber gewesen wäre, den Rückweg allein mit Ihnen zu
machen -- und im Dunkeln.«

»Wirklich? Aber Sie machen so eine viel bessere Figur!«

Sie fand es selbstverständlich, was er tat, mit solcher Leichtigkeit tat
er's, -- und doch sehr schön. Die schweißigen Ärmel des betrunkenen
Raufboldes engten ihm den Hals ein, verdarben ihm die Weste; die großen
schwarzen Hände fuhren ihm übers Gesicht; die steifen Knochen des Bauern
rutschten, Pardi mußte sie überall anpacken, stützen, mußte machen, daß sie
mit seinen geschmeidigen Bewegungen mitglitten. Lola lachte auf.

»Sie erinnern an einen Tiger, der den Bacchus trägt!«

Er antwortete fröhlich:

»Ich will die Frau Gugigl bitten, uns zu malen.«

Und sie bewunderte ihn vollends. O, er konnte auch Lachen vertragen: er
fühlte sich viel zu sehr in Tätigkeit und Kraft. Menschliche Schmerzen,
menschlicher Schmutz ekelten ihn nicht; er scheute nicht das feste Anpacken
menschlicher Körper. Er war selbst ein ganzer Mensch. Der andere war
keiner. Sie stellte sich vor, wie der sich hier benommen haben würde. »Ja:
den darf ich wirklich verachten!« Dieser aber war stark, eigentlich war
nichts gegen ihn zu machen. Mit einer Art von Begeisterung erkannte sie es
an. Sie sagte zu den Leuten, daß sie froh sein könnten, diesen Herrn
getroffen zu haben.

»Wollen Sie denn nicht ausruhen?« fragte sie ihn. Er brachte ein Nein
hervor, das sie wieder bewunderte. Dazwischen drang die Erkenntnis durch,
wie gefährlich ihr zu Sinn sei. Sie wollte glauben: »Er setzt sich in
Szene.« Aber er führte nur vor, was ihm stand. Übrigens galt es gleich. Die
dunkle Masse des Dorfes wuchs schon heran. Jetzt war noch das Wiedersehen
mit den andern zu überstehen, die Erklärungen des Abenteuers, die
öffentlichen Belobungen für Pardi, -- und morgen, Gott sei Dank, war's
ohnehin aus. »Wenn ich aufwache, ist er fort.«

                   *       *       *       *       *

Sie wachte auf, erinnerte sich und erschrak. Nun war er also fort. »Während
ich geschlafen habe.« Fast war's, als sei sie eingeschlafen, indes jemand
starb, und nun war er tot. Er war fort und so gut wie tot. Und sie fühlte
sich beklommen und unheimlich, wie nach einem Sterbefall, hatte keine Lust
aufzustehen und die Zimmer und die Wege wiederzusehen, in denen es jetzt
verlassen und gedrückt zugehen mußte.

Sie trat sogleich ins Freie, sie mochte niemand treffen, von niemand
bestätigt hören, daß er fort sei. Vielleicht war er noch da? Es war schwer
zu glauben, daß dies so rasch und glatt verlaufen sollte. »Kaum, daß wir
uns noch die Hand gedrückt haben. O, er war sehr aufrichtig, als er, erregt
und halblaut, noch einmal in mich drang, ihm zu schreiben, sobald ich nach
Italien käme. Ich bin überzeugt, er führe mir entgegen. Aber wird denn
etwas aus solchen Vorsätzen? Immer kommt anderes dazwischen, gleitet einem
auch wieder unter den Händen weg, und nichts bleibt übrig von all den
unterbrochenen Freundschaften als Bitterkeit. Immer vergeblicher erscheint
mir alles. Ist mir denn kein anderes Leben erreichbar als dieses
Reiseleben?«

Sie sann auch: »Was wäre gestern daraus geworden, wenn nicht der verwundete
Bauer dazwischengekommen wäre?« Aber sie brach ab. »Da er dazwischen kam,
mußte es wohl sein und ist es wohl besser.«

Bei Tisch trank Gugigl ihr zu.

»Gelt? Jetzt sind wir wieder unter uns. Diese Welschen sind ganz ein
hübscher Menschenschlag, aber trauen derf man keinem, und keine
Gemütlichkeit ham's.«

Selbst der alte Utting gab zu, daß ihm bei Pardi niemals recht warm
geworden sei. Alle verstanden sie sich! Ganz aufgeräumt waren sie jetzt!
Lola trennte sich in ihrem Sinn von Ihnen mit Heftigkeit, rechnete sich
ganz dem Abwesenden zu, verachtete in seinem Namen diese alle. Wie er sich
über die täppischen Bewegungen der Männer lustig gemacht haben mußte, er,
der ein Fechter war! Und über die Frauen in ihrem selbst erdichteten
Plunder! Lola verglich sich angstvoll mit ihnen: ob gar keine Ähnlichkeit
da sei. Nein: dies war eine andere Rasse von Frauen, mit schmalen Schultern
und breiten Hüften; und damit sie noch breiter würden, trugen sie riesige
Gürtel. »Doch! Den schlechten Haaransatz habe ich von ihnen.« Und sie
beugte sich, unter der Scham, über ihren Teller.

»Künstlerisch!« hörte sie Frau Gugigl sagen; und dann war von dem
Kitschgeschmack der Italiener die Rede. Lola fuhr auf. Ihr sei etwas
eingefallen; und sie bat Gugigl, ihr ein Fenster der Münchner Frauenkirche
genau aufzuzeichnen.

»So aus dem Kopf? Ja, das kann man doch nicht. Wie schauens denn aus, die
Fenster?«

Seine Frau dachte nach, die andern dachten nach.

»Das kann überhaupt kein Mensch!«

Lola lächelte und sagte, es sei gut. Das konnte kein Mensch: aber Pardi, --
wie einst Arnold den Florentinern vorgeworfen hatte, die Fassade ihres
Domes weiche in manchem vom Vorbild des Glockenturmes ab: Pardi hatte in
den Sand gezeichnet und gefunden:

»Es ist wahr: die Terrassen auf den Pfeilern des Turmes sind achteckig, und
die der Fassade haben nur vier Seiten.«

Und Pardi war kein Künstler. Aber er hatte das Blut von Menschen, die mit
einem Griff durch die Luft mehr Kunst machten als diese hier, wenn sie
malten! Menschen mit einer Erziehung des Auges, aller Sinne, des ganzen
Körpers, die weit zurückreichte. Sie stellte sich Pardis gewölbte Augen
vor. Er sah, -- sah so stark, daß er, ohne daran zu denken, zum Seelenleser
ward . . . Bei diesen hier war das Leibliche lange vernachlässigt, das Auge
fast schon tot. Gewaltsam sollte es sich nun ermuntern, und über Nacht
mußte alles »künstlerisch« werden . . . Da begegnete sie Arnolds Blick und
verstand: was sie dachte, kam von ihm. Er hatte erraten, weshalb sie nach
den Fenstern der Frauenkirche gefragt hatte. Das Gefühl erbitterte sie, daß
sie kaum noch ihre Gedanken vor ihm wahren könne. Hundert Gespräche mit ihm
hatten sie ihm bloßgelegt, und sie hatte den Kopf, sie mußte es wohl gelten
lassen, voll von Dingen, die ohne ihn nicht darin entstanden wären. Er
durchschaute auch, was sie zu Pardi zog, was Pardi vor ihm selbst
auszeichnete, Lolas Kämpfe, und daß sie in diesem Augenblick wieder
vergebens danach lechzte, ihn verachten zu können, ihn in den Haufen der
übrigen zurückstoßen zu können. Er wußte alles; und sein großes Wissen um
sie gab ihm selbst das Recht, sie zu verachten: sie, die einen Geist wie
ihm hätte auf seine Höhe folgen können, und die sich zu einem baren
Sinnlichen hinabließ. Es war ihr, als lebte sie unter dem Auge eines Herrn.
Sie liebte ihn nicht, gab ihm kein Recht auf sich: und doch -- so groß war
die Macht des Geistes -- fühlte sie sich ohnmächtig vor ihn hingebreitet!
»Wäre ich ihm erst entronnen!« Der Trieb brannte sie, aufzuspringen und
davonzulaufen.

Sie suchte sich ihn im Kampf mit Pardi vorzustellen und in der kläglichen
Rolle, die ihm dabei bestimmt gewesen wäre. Und sie mußte sehen, daß Pardis
Manneskraft sich an diesem brach, der kein tüchtiger Mann, aber vielleicht
mehr als Mann war? Sie fühlte: Pardi und er konnten sich nicht nahe kommen,
auch nicht zum Kampf. Dieser bot einem Pardi keine Angriffsstelle, -- so
wenig wie er ihr gestattete, ihm seine Untüchtigkeit anzurechnen, die er im
voraus gerechtfertigt, vermöge vieler Sophismen in Tugend umgewandelt
hatte. Wenn er sich eine Blöße gegeben hätte! Wenn er mit den anderen auf
den Abwesenden gescholten hätte! Nein: er hütete sich. Er war ja ein Mensch
von Geschmack. Hatte er nicht die ganze Moral, wenn sie selbsterworben sei,
für ein Ergebnis ästhetischen Sinnes erklärt? Ihm war nicht beizukommen,
man mußte ihn laufen lassen.

Sie wich ihm nicht aus; eher erwartete sie ihn, erwartete, daß er sich um
die freigewordene Stelle nun wieder bewerbe, ein wenig Würdelosigkeit
zeige, -- und litt, weil er's nicht tat. Es zog sie zu Tini, sie hätte sich
mit ihr verbünden wollen; denn auch Tini fand Arnold unheimlich und haßte
ihn. Aber Tini verhielt sich jetzt herbe und scheu. Launisch ging sie Lola
aus dem Wege. Waren sie zusammen im Zimmer, fühlte Lola die großen Augen
beunruhigend hart auf sich haften, -- und wenn sie hinsah, waren sie schon
gesenkt. »Ist sie nachträglich wieder eifersüchtig? Sie könnte sich's
sparen.« Wie unwichtig Lola diese Backfischnöte erschienen neben ihrer
eigenen Qual!

Schlimmer war's, daß sie auch mit Mai nicht sprechen konnte. Den ersten Tag
hatte Mai sich in der Gesellschaft so betragen, als sei durch Pardis
Fortgang ihr ein besonderes Unrecht angetan, als habe man ihn vertrieben,
um ihn ihr wegzunehmen. Bald hatte sie sich zurückgewinnen lassen: nur mit
Lola schmollte sie noch, bot ihr keins von den mitgebrachten Handtüchern an
und kam nicht zum Gutenachtkuß. Und wäre sie gekommen: an das
Unausgesprochene hätte Lola sich nicht gewagt. Wie stand Mai mit Pardi?
Sehnen mußte sie sich. Dann aber sann sie auf die Abreise nach Italien, --
auf die auch Lola sann. Nur aus Befangenheit voreinander taten beide, als
gäbe es nichts zu beschließen, und ließen dies Dasein fortdauern, das doch
bloß noch Last war. Denn Lola ward gedemütigt von ihren herabsetzenden
Entdeckungen an diesen Menschen, deren Gast sie war. Jeder Tag vermehrte
ihren Widerwillen und ihre Scham.

                   *       *       *       *       *

Am dritten Morgen aber fand sie auf ihrem Tisch wieder Blumen; zwei Tage
lang hatte Tini sie vernachlässigt; -- und darin steckte ein Briefchen.

»Heute mittag,« schrieb Tini, »wirst du nämlich mit der Post einen Brief
aus Mantua bekommen, von einer Pensionsfreundin. Sie hat zufällig erfahren,
daß du hier bist, und möchte, daß du rasch hinkommst, denn lange bleibt sie
nicht. In Wirklichkeit aber ist der Brief von mir. Ich habe es mir schon
längst ausgedacht und habe mir dazu den Umschlag von einem Brief an Pardi
aufgehoben, den er aus Mantua gekriegt hatte. Da mußte ich denn aus seinem
Namen deinen machen, mir ganz genau dieselbe Schrift einüben und auch das
Kuvert wieder heil machen. Das war eine ziemliche Geduldprobe, daher mußt
du entschuldigen, daß ich mich die letzten Tage so wenig um dich bekümmern
konnte. Du siehst nun doch, wie lieb ich dich habe, Lola, daß ich dies für
dich getan habe! Jetzt ist der Brief mir sehr gelungen, du kannst ihn allen
zeigen, sie werden es dir gewiß glauben: und dann kannst du hinreisen.
Italien muß herrlich sein. Du wirst gewiß noch einmal sehr, sehr glücklich
werden. Vergiß nicht deine Tini.«

»Welche heroische Kinderei!« dachte Lola und wollte die Achseln zucken.
Aber ihr kamen Tränen. Sie ließ das Blatt sinken, verschloß die Tür und
drängte sich in einen Winkel, um, vor sich selbst versteckt, diese Tränen
zu weinen, ohne zu wissen wem? Sich? Tini? Den Dingen?

Bei Tisch blieb Tinis Stuhl frei, aber auf Lolas Platz lag der Brief. Frau
Gugigl hatte schon gesehen, daß er aus Italien kam. Niemand nahm Anstoß an
dem, was darin stand: auch Mai nicht. Wie sie von der Einladung hörte,
erhob sie schon die Hände, um hineinzuklatschen, besann sich aber
rechtzeitig und machte ein trauriges Gesicht.

»Wir sollen also fort? O!«

»Es wird nicht anders gehen,« erklärte Lola. »Meine Freundin erwartet uns
übermorgen. Morgen müssen wir reisen: morgen mit dem ersten Zug.«

Gugigl wollte beweisen, es sei auch abends noch rechtzeitig. Ein Streit
über das Kursbuch entstand.

»Und der Tini geht's wirklich nicht gut?« fragte Lola. »Kann ich sie nicht
sehen?«

Frau Gugigl ging mit. Tini habe Fieber: es komme bei ihr plötzlich und
verschwinde wieder; sie sei noch wie ein Kind.

Als sie, mit aufwärts verdrehten Augen, Lola am Kopfende ihres Bettes sah,
fuhr sie aus den Decken.

»Was hast du, Tini?« -- und Lola warf sich auf die Knie und nahm Tini in
die Arme.

»Mir hat geträumt, Lola, du gingst weg.«

»Nein! Wenn du lieber möchtest, daß ich dableibe, bleibe ich.«

Tini hielt sich ganz steif in Lolas Armen. Sie rückte mit dem Gesicht ein
Stück fort; ihre dunkeln Blicke erweiterten sich gespenstisch; und mit
ihren blassen Lippen, tonlos bewegt, daß ihre Schwester hinter ihr nichts
hören konnte, sagte sie:

»Geh nur hin!«

Lola mußte die Augen niederschlagen.

                   *       *       *       *       *

Sie packte, ohne zu wissen, was ihr bevorstehe, was sie wähle. Nur erst
hier heraus, wo so viel Wirrnis erlitten war und alles verbrauchte,
zwecklose Gesichter trug. »Wenn ich ihn wiedersehe, soll mir's recht sein;
wenn nicht, ist's auch gut,« dachte sie im Einschlafen; und bei
Tagesanbruch, unlustig und mit Gähnen, vor den fertigen Koffern: »Wie
unwahrscheinlich ist das Wiedersehen! Ich werde ihm doch nicht nachreisen.
Und bis der Zufall es einrichtet, ist er vielleicht wieder in Afrika.«

Der Wagen mit dem Gepäck stand auf der Landstraße. Mai hatte noch mit ihrem
Schleier zu tun gehabt. Niemand war aufgestanden: Lola hatte es sich
dringend verbeten. Fröstelnd durcheilte sie den grauen Garten. »Dieselbe
unwirtliche Stunde, zu der vor drei Tagen er fortging.« Im Laubgang roch es
nach Nebel. Der Sommer war fast zu Ende, merkte sie plötzlich. Sie blieb
stehen: eine solche Trostlosigkeit durchdrang sie bei diesem Gedanken, daß
ihr der Mut zum nächsten Schritt fehlte. Dahinten, über dem Lande, wallte
es weißlich und ohne Grenze. So ging man denn wieder allein, allein
dahinaus.

Wie sie die Hand auf die Pforte legte, tat von der andern Seite Arnold es.

»Sie -- schon auf?« stammelte Lola.

»Ich konnte nicht schlafen,« erklärte er. Sie sah ihm ungläubig in die
Augen und fand sie übernächtig.

»Dann bin ich froh, Ihnen nochmals Lebewohl wünschen zu können,« äußerte
sie, unschlüssig. Er schien zu wissen, was er sagen wollte.

»Ich habe Ihnen für einige der besten Stunden zu danken, die Menschen mir
gewähren konnten. Ich hatte so viel nicht erwartet;« -- ganz ohne
Bitterkeit: was ihr Staunen machte. Er senkte kurz die Lider. Dann:

»Daß mehr Glück als dieses nicht an meinem Wege liege, daran habe ich
keinen Tag gezweifelt. Aber auch in Ihr Schicksal glaube ich einen Blick
getan zu haben und fürchte, daß Sie heute noch im Irrtum sind. Könnte ich
Sie für eine Minute so sehen machen, wie Sie nach einiger Zeit sehen
werden!«

»Sie geben mir ein Orakel mit auf den Weg?« -- und Lola suchte hochmütig zu
lächeln. »Ich kenne Sie auch: Ihnen verwickelt sich das Einfachste.«

Wie es schal und hassenswert war, dieses Zweifeln, dieses Zögern! Jetzt
quälte ihn die verdiente Eisersucht auf den, der glücklicher war und sie
glücklicher machen würde. Er hätte sie so ratlos und an allem unteilhaftig
gewollt, wie er selbst war! . . . Vor Zorn und Kummer war sie bleich. Er
war bleich von den Worten, die er gesagt hatte.

Und er konnte recht haben! Jener andere lebte jetzt schon wieder darauflos,
wie je. Was war sie ihm? Was änderte sie an ihm? . . . Und an diesem hier?
Nichts, als daß er nicht schlief. »Und wenn er tiefer leiden kann: was habe
ich davon!«

Sie wandte sich ab. Sein Gesicht glitt langsam an ihrem vorüber. Nun sah
sie es nicht mehr. Ein äußerster Zweifel schnürte ihr die Brust zu. Sie
schluckte ihn hinunter. »Wenn es bestimmt wäre, käme es.« Und mit
Grausamkeit gegen ihn und gegen sich: »Das Leben ist nicht anders.«



V


Nachts stiegen sie in Mantua aus, aber es war schwül wie bei Tage. Am
Morgen erschrak Mai über Lolas Aussehen. Sie habe kaum atmen können, sagte
Lola; Mücken seien unter ihren Bettschleier gedrungen. Und Mai:

»Ah! Du verträgst nichts. Drüben bei uns würdest du etwas erleben.«

Kaum aufgestanden, streckte sie sich wieder aus. Von den geschlossenen
Läden war ein grünlicher Schimmer auf ihrem weißen, runden Arm, den sie mit
kindlicher Genugtuung betrachtete.

»Jetzt ist's ganz wie zu Hause.«

Nie hatte Lola sich weniger heimisch gefühlt. Sie überlegte, daß sie
hierher nur wegen einer Persönlichkeit geraten sei, die es gar nicht gab.

»Nun muß ich mich wohl nach meiner Freundin umsehen,« äußerte sie.

»Es ist wahr, du bist schon wieder angezogen. Eine richtige Deutsche bist
du!«

Lola überließ Mai der Einschläferung durch die träumerischen Geräusche im
Hof und ging aus. Die Straße war von Hitze wie verzaubert. Unter dem alten
Urturm hatte ein kleines, von Zeltdächern beschirmtes Marktgedränge etwas
künstlich Aufgewecktes: als würden diese paar munteren Wesen dem ungeheuren
Druck der leeren, heißen Stadt auf einmal nicht mehr widerstehen können,
sich aneinander lehnen und einschlafen. Am Ende der nächsten Gasse galt es,
sich in einen Platz zu stürzen, über dem das Licht wogte und blendete, wie
auf einem Meer. Dort weit hinten, am schmalen Schattenufer von kaum
durchdringlicher Schwärze, begegneten zwei schwarze Gestalten sich, neigten
mit groteskem Ruck die großen Priesterhüte gegeneinander, -- und plötzlich
klappte die Matratze der Domtür über ihnen zu.

Lola eilte mit angehaltenem Atem durch die Sonne. Ein Arkadenhof nahm sie
auf, überlieferte sie einem zweiten mit einer feurig geschweiften
Kirchenfassade, -- und dann fand sie sich in einem, um den die Säulen
zerbrechlicher tänzelten und, wie unter Komplimenten, zu einem kleinen
gezierten Theater geleiteten, das geborsten, bemoost, mit Schutt auf seinen
rosigen Marmorschwellen, noch zu lächeln schien, galant und schmerzlich,
wie ein Rokokogesicht, worauf die Schminke eintrocknet in Staub. Gras wuchs
aus den feinen Fliesen; darüber flimmerte die Luft; und ging man, wandte
man rasch noch den Kopf nach einem gespenstischen Kichern und
Fächerschlagen . . . Da starrte aber, im nächsten Hof, eine riesige dunkle
Burg einen an. Hinter ihrem Tor setzte eine graue Brücke ein, um, ein
endloser Trauermarsch, durch Sümpfe zu ziehen.

Wie Lola sich in ihre Straße zurückgefunden hatte, ward vor einem Café,
dessen Tür Karyatiden bewachten und worin niemand saß, ein sehr alter Herr
von Wirt und Kellner an eine ungetüme schwarze Karrosse begleitet. Der
Kutscher nahm die schwarze Peitsche in seinen schwarzen, faltigen
Handschuh, und knarrend bewegte sich das Gefährt.

Im Hotel hing Mais Hand noch über dieselbe Armlehne.

»Meine Freundin ist --«

Lola hatte sagen wollen: »Abgereist,« schrak aber vor einer ganzen Lüge
zurück.

»-- ist nicht zu finden,« sagte sie.

Mai erstaunte nur leicht.

»Wirst du sie noch einmal suchen?« fragte sie.

Lola suchte sie bis zum Abend noch mehrmals. Dann erklärte sie die Wohnung
der Freundin für gefunden, sie selbst aber kehre erst in mehreren Tagen von
einer Reise zurück.

»Wir haben nichts Besonderes vor, wollen wir nicht hier warten?«

Mai wandte nichts ein. Wenigstens war Zeit gewonnen.

Und Lola, die im Zimmer nicht Ruhe fand, durchirrte weiter die tote Stadt,
betrat hinter verlassenen Haustoren, über denen die schöne Palastmauer
barst, feuchte Höfe mit schmuckreichen und zerbrochenen Brunnen -- und
mußte denken: wenn die müde, ausgestorbene Treppe nun in all seiner
Lebendigkeit Pardi herabliefe! Da drückte die Sonne noch dumpfer auf das
leere Pflaster. Alle hatten sie sich selbst überlassen!

Auf der Flucht vor der nahenden Sehnsucht fuhr sie, ganz allein, in das
braune, traurige Land hinaus. Weiß stand darin, auf ihren groben Säulen,
eine kleine Gnadenkirche: innen bäurisch bunt und die Wände umringt von
Holzfiguren in den schweren Stoffen und Rüstungen von einst, von den
Bildern Geretteter. Jener Ritter war aus der Schlacht bei Pavia heil
hervorgegangen, diese Dame von einem Pestgeschwür gesundet, und der
verdächtige Gauch dort in Schnürkittel und schütterem Bart hatte schon im
Block gelegen, mit Feuer an den Füßen, und doch hatte die Madonna ihn
freigemacht. Und Lola erschien sich auf einmal als die Beute einer
Leidenschaft, einer Krankheit, eines barbarischen Übels; wünschte sich,
gleich diesen die Madonna anrufen zu können; sank, vernichtet von der
Einsamkeit dessen, den keine Götter mehr hören, auf eine Bank.

Als ihr dann wieder die Sonne ins Gesicht schien, war sie beschämt, als
habe sie sich dort innen eine Komödie vorgespielt.

»Dieses Leben macht mich verrückt. Warum laß ich ihn nicht kommen: alles
wäre so einfach, wäre freundschaftlich abzumachen.«

Zwar bedachte sie sogleich, er sei kein Freund: er, der mit jedem Tage
schwerer zu Vermeidende . . . Und auch Mai hatte Lola hierbei nicht zur
Freundin. Das erbitterte sie. Wie oft hatte Mai sich, wenn's nicht not tat,
zu einem Opfer erboten. Jetzt kam's darauf an, -- und Mai schwieg. Sie
hütete sich, noch einmal, wie am Anfang der Bekanntschaft, Lola zu fragen,
ob sie Pardi heiraten wolle; denn diesmal fürchtete sie eine andere Antwort
zu bekommen. Sie tat, als sei nichts los, und nötigte Lola, zu heucheln.
Die Unaufrichtigkeit und die geheime Spannung zwischen ihnen beiden lagen,
fand Lola, nur an Mais bösem Willen.

Genug, ein Ende mußte gemacht werden; und wie Lola eintrat, sagte sie
sofort heraus:

»Also sie kommt nicht mehr zurück nach Mantua. Damit wir nun nicht ganz
umsonst gewartet haben, könnten wir wenigstens Pardi kommen lassen. Er hat
es mir angeboten.«

Gelassen antwortete Mai:

»Mir auch. Ich dachte sogar, wenn wir ankämen, würde er schon da sein. Du
würdest dafür gesorgt haben.«

Lola starrte Mai an. Da hatte sie die ganze Zeit gelegen, hatte Lola
gewähren lassen und sich ihr Teil gedacht!

»Dann haben wir wohl Verstecken miteinander gespielt?« fragte sie. Mai
erwiderte:

»Komm her, ich will dich umarmen.«

Aber während der Liebkosungen errötete Lola. Sie ging hinaus. »O, sie hat
sich gehütet, zu fragen, ob ich ihn liebe!«

                   *       *       *       *       *

Bei seiner Ankunft waren sie am Bahnhof. Lola dachte: »Das erstemal, daß
Mai sich angezogen hat.« Er begrüßte Lola zuerst mit den Augen und Mai
zuerst mit der Hand. Lola achtete peinlich darauf. Keine Einzelheit seines
Verhaltens gegen sie und Mai entging ihr. Den Champagner bestellte er,
nachdem Lola ihn abgelehnt und Mai ihn angenommen hatte. Lola trank keinen
Tropfen. Er wünschte noch in Mantua zu bleiben.

»Wir haben es genossen,« erklärte Lola. Mai war's recht.

»Wunder romantischer Versunkenheit werde ich Ihnen zeigen,« verhieß er.

»Wir bekommen noch das Fieber,« meinte Lola; und Mai:

»Bisher hast du dich gar nicht gefürchtet und warst immer unterwegs.«

Im Palazzo del Tè, unter dem Schwall der Fleischlichkeiten, die nach
Jahrhunderten noch aus Decken und Wänden überquollen, beneidete und
verachtete Lola Mais unbefangene Freude. Sie selbst konnte Pardi nicht in
die Augen sehen und gab zornige Antworten. Er neckte sie anfangs mit ihrer
Übellaunigkeit, dann zeigte er sich um ihr Befinden besorgt, und auch Mai
äußerte Besorgnis. »Sie weiß ganz gut --« dachte Lola und verlor vollends
die Herrschaft über ihre Nerven. Als man sich in der Stadt eine Kapelle
zeigen ließ, stand sie teilnahmslos neben dem Sakristan, der den Stock mit
der Kerze über die Wände hinführte. Pardi drehte ihr, auf Mai geneigt, den
Rücken. »Ich werde ihnen nicht im Wege sein,« sagte Lola sich; »aber zu
ihrer Bedeckung gebe ich mich auch nicht her!« Und wie der Sakristan den
Schrein aufschloß, machte sie sich leise davon, schmerzlich berauscht von
ihrer Rache. Sie erwartete, Mai werde an ihr Bett kommen, und war
entschlossen, sich schlafend zu stellen. Aber Mai blieb aus.

Am Morgen beschäftigte Pardi sich nur mit Lola. Ihr schien's, daß Mai sich
zurückhalte; und sie argwöhnte, dies sei Verabredung, er habe Mai im voraus
um Entschuldigung gebeten. Sie sah ihn plötzlich fest an.

»Sie brauchen nicht so viel Rücksicht auf mich zu nehmen, wissen Sie.«

Wie er etwas einwandte, hob sie die Schultern.

»Nachgrade habe ich doch schon Erfahrung darin, daß meine Mutter besser
gefällt als ich; und ich kann Ihnen versichern, daß mich das nicht
beleidigt.«

»Sie sind kokett.«

»Gar nicht. Ich brauche niemand. Jeden gönne ich meiner Mutter.«

Er sagte zuredend:

»Sie werden doch begreifen, daß ich Ihrer Mama den Hof machen muß.«

Lola fand nichts mehr. Wie lag es nun? O, grundfalsch! Sie erschrak tief,
wie schlimm sie sich schon verrannt habe. Am zweiten Tage! »Was soll daraus
werden. Wenn ich mich nicht zusammennehmen kann, bin ich verloren.« Von der
Minute an war sie ruhig. Und aus der Genugtuung, daß sie nichts mehr
durchblicken ließ, ward allmählich wirkliche Überlegenheit.

Sie brachen nach Viareggio auf. Pardi hielt sie noch einen Abend in Florenz
zurück, obwohl Mai gern ihre Sachen ausgepackt und Lola lieber am Meer als
in der heißen Stadt geschlafen hätte. Aber er erklärte, es würde nicht gut
aussehen, wenn er mit fremden Damen so spät noch ankäme. Auch das Hotel zum
Übernachten wählte er ohne Rücksicht auf ihre Wünsche. Zuvorkommend und
bestimmt brachte er sie in eins, wo sie bessere Bedienung und ein
gediegeneres Publikum finden würden. Bevor er sich verabschiedete, um in
sein eignes Haus schlafen zu gehen, empfahl er sie dem Hotelier. Er, der
Conte Pardi, sei verantwortlich für die Damen.

»Hast du nicht auch den Eindruck?« sagte Lola nachher zu Mai. »Wenn wir
jetzt abreisen wollten, würde man ihn holen und uns vorher gar nicht
fortlassen.«

»Eigentlich ist es ganz hübsch hier,« antwortete Mai; und Lola dachte,
klarer als Mai: »Einmal nicht allein über sich bestimmen; nicht mehr gar so
frei sein und überall hingehen dürfen, ohne daß etwas darauf ankommt:
beinahe tut es wohl . . .«

Dennoch geriet sie noch vor der Weiterfahrt mit Pardi aneinander. Sie mußte
aus einem Coupé wieder aussteigen; ein Paar hatte darin gesessen, dessen
gesetzliche Zusammengehörigkeit Pardi leugnete.

»Aber Sie werden jetzt schrecklich!«

»Ich bin für Sie verantwortlich! Sie kompromittieren mich!«

Lola war fassungslos. Mai äußerte schüchtern:

»Auch ich habe dir so etwas schon manchmal verweisen wollen, Lola.«

Plötzlich fuhr Lola auf, als habe sie nun verstanden.

»Wie kann ich denn Sie --«

Aber sie nahm sich zusammen und sah lächelnd und mit Kopfschütteln zum
Fenster hinaus.

Bei der Ankunft wollte sie zu Fuß gehen, mußte aber, denn ein Auftritt
drohte, in den Omnibus steigen. Die Hotelzimmer, die Pardi seinen Damen
zugedacht hatte, waren am Abend vergeben. Lola sah ihn bei der Gelegenheit
zum erstenmal in Wut; sie dachte: »Gut, daß ich ihn kennen lerne.« Der Wirt
war trostlos, die Kellner traten mit den Zehen auf. Mai und Lola saßen, von
neugierigen Badegästen umringt, im Salon, wie feindliche Fürstinnen, denen
ihr Marschall die Unterwerfung der Völker erzwang, und die ihm mit
ebensoviel Angst wie Stolz dabei zusahen.

Er erreichte, daß die Fremden die Zimmer räumten. Dafür wurden Mai und Lola
beim Lunch mißbilligend gemustert. Pardi sah den Männern nacheinander in
die Augen, die auf einmal unbeteiligt dreinblickten. Er erklärte, man habe
die Leute nicht nötig, und bestellte die Gedecke künftig an eigenem
Tischchen.

Dann führte er seine Damen in ihre Zimmer, mit einer anmutigen Größe, als
vertrete er eroberte Provinzen. Die weißen Vorhänge flatterten von Stößen
blauer Luft. Die großen eisernen Betten sahen kühl aus unter ihren
Musselinzelten. In dem kleinen Salon standen die Theaterstühle in zwei
Reihen an den Wänden. Überall Spiegel: und wenn sie schräge hingen, rollten
Wellen darin und sprang Schaum.

»Mit Verlaub« -- in vier Stimmen; und vier Herren ließen sich vorstellen,
hatten schlechterdings nicht länger warten können, machten Pardi Vorwürfe,
daß er ihnen die Damen drei Tage vorenthalten habe, und fingen gleich an:

»Du weißt nicht, daß die kleine Miß Edith . . .«

Mai und Lola wurden auf das Laufende gebracht. Die ganze Gesellschaft zog
an ihnen vorbei, jedem war eine Bosheit angeheftet. Ihnen wurden alle
geopfert; sie brauchten nur fragend einen Namen nachzusprechen, und
sogleich beleuchteten ihn Geschichten. Die einzigen Unanfechtbaren blieben
sie selbst; und eine Ergebenheit ohne Grenzen, die rückhaltloseste
Zutraulichkeit und eine spontane Verehrung drangen in knabenhaft ehrlichen
Lauten und Gesten von vier Seiten auf sie ein. Nutini zog gleich seine
leeren Taschen ans Licht: alles verspielt. Der Leutnant Cavà handhabte
seinen Säbel mit so glücklichem Gesicht, als habe er ihn soeben geschenkt
bekommen; und seine Ballhandschuhe, errötend mußte er's gestehen, trug er
schon aus Vorfreude auf heute abend. Deneris sprach mit etwas schwächerer
Stimme als die andern; aber Botta wippte beim Reden mit den Absätzen und
schlug sich auf die fette, straff bekleidete Brust. Allen saßen die Anzüge
nach der Mode vom nächsten Jahr und ohne eine Falte, wie auf guten Bühnen.

Sobald Nutini zu Lola ein unbemerktes Wort sprechen konnte:

»Er hat Sie nicht früher herbringen wollen, wie? Und er hat recht gehabt:
denn die Damen Arletti sind erst heute früh fort.«

»Was machen uns die Damen Arletti?«

»O -- Ihnen, nichts. Aber ihm!«

Und Nutinis Miene stellte so viele Enthüllungen in Aussicht, daß Lola etwas
wie Schrecken kam.

»Sind Sie nicht sein Freund?« fragte sie.

»Versteht sich . . . Und weil ich sein Freund bin, freut mich's, daß die
Arletti fort sind. Ich glaube, es waren Abenteurerinnen. Er läßt sich zu
leicht ein. Sein Temperament ist sein Unglück. Ah, bitte, so viel Geld als
er nötig hätte, kann ihm auch der beste Freund nicht geben. Darum habe ich
vorhin meine Taschen sehen lassen.«

Lola lachte mit; aber indes sie Nutinis Augen funkeln sah in seinem
eingefallenen Gesicht, nahm sie sich, unter einer Wallung von Freundschaft,
vor, Pardi über diesen Feind aufzuklären. Pardi spähte schon herüber. Noch
bevor er da war, zeigte Nutini vom Balkon nach Badenden. Cavà rief über
Lolas Schultern, unaufhaltsam:

»Ist sie schön, die Mistreß Nicholson!«

»Bravo!« machte Pardi. »Sicher ist sie die längste der gelben Stangen.«

Nutini klopfte Cavà auf die Schulter.

»Mich hat er einmal mit meiner sechzigjährigen Sprachlehrerin gehen sehen,
und dann fragte er mich: Du, sag, wer war die wunderschöne Amerikanerin?«

Lola wandte sich lächelnd nach dem Leutnant um. Er lachte wehrlos. Seine
Augen in ihren sorgfältigen Wimpernhecken blickten aus seinem rosigen
Gesicht, wie aus einem Öldruck. Lola erinnerte sich, daß er vorhin nur den
harmlosen Klatsch mitgemacht habe.

»Sie haben alle in Italien diese Vorliebe für die Amerikanerinnen, und über
Ihre eigenen Damen wissen Sie nur Unvorteilhaftes. Wie kommt das?«

»Ja, sie sind nicht so schön,« erklärte Cavà. »Sie sind nicht blond.« Botta
wußte mehr.

»Wenn wir uns mit einem unserer jungen Mädchen sehen lassen, heißt es
sofort; wir sind verlobt.«

»Mit jungen Mädchen ist hier nicht zu verkehren,« bestätigte Nutini; und
Botta setzte hinzu:

»Auch haben andere mehr Herz.«

»Schon wieder deine Olimpia? Dieser Gigi hat nämlich hier im Walde an einem
Teich einen halben Sommer mit einer Balletteuse verbracht.«

»Ach ja,« seufzte Botta und schlug sich auf die Brust, daß sein fetter
Tenor ins Zittern kam. Nutini störte ihn: schließlich sei sie ihm doch
davongelaufen; und Botta fuhr verwundet gegen ihn los.

Deneris seufzte laut. Er lehnte rückwärts auf den Balkon und schmachtete
von unten Mai an. Seit seinem Eintritt hatte er sich keinen Augenblick von
Mai getrennt. Es gäbe wertvollere Frauen, versicherte er in gezogenem Ton,
als die Balletteuse Olimpia.

»Wenn die Mühe, die man sich ihretwegen gibt, ihren Wert bestimmt --«
meinte Pardi. Nutini klopfte nun Deneris.

»Ja, du hast das Talent, unglücklich zu lieben.«

»Könnten Sie das?« sagte Cavà kindlich zu Lola. Sie mußte lächeln.

»Ich habe in der Liebe keine Erfahrung.«

Sogleich begann Botta, um Lola die Liebe zu erläutern, wieder von seiner
Olimpia. Und auf Lolas ungläubiges Lächeln:

»Denken Sie nur an die Lieblingspuppe, die Sie gewiß gehabt haben, und wenn
Sie sich die Arme Ihres kleinen Lieblings um den Hals legten. Auch wir
jungen Leute spielen gern mit Puppen, aber ach! nicht selten werden sie uns
gefährlich.«

»Wirklich?« machte Lola, dankbar. Botta sprach mit dicker Zunge,
schmatzend, und rollte in seinem massigen Gesicht selbstzufriedene
Kuhaugen. Aber Deneris wartete nur, daß er fertig sei. Er hatte sich
aufgerichtet, das Monokel eingesetzt und trachtete mit Gesten, die beiden
Damen um sich zu versammeln. Auf seinem kleinen blassen Kopf lagen die
kanariengelben Härchen seiden wie Kinderhaare. Seine blauen Augen starrten
ängstlich.

»Wissen Sie wohl, daß ich um die, die ich liebte, zu sehen: jawohl, nur um
sie zu sehen, täglich sechs Stunden mit der Bahn gefahren bin? So ist es:
dreiundeinenhalben Monat täglich nach Pisa und unter ihrem Fenster vorbei.
Selten ließ sie sich sehen; aber im Salon eines Photographen stand ihr
lebensgroßes Porträt, -- vor dem ich mich eines Tages fast erschossen
hätte. Wäre nicht gerade der Photograph gekommen --«

»Er spricht wahr,« sagte Cavà, mit Achtung. »Der Photograph hat es überall
erzählt.«

»Dein Tod, mein Lieber,« sagte Nutini und klopfte Deneris, »wäre zu
öffentlich gewesen. Viel zartfühlender handelte doch die Contessa Gavazzo,
als sie um meinetwillen Gift nahm. Eigens reiste sie nach der Schweiz.«

»Sie war eine Morphinistin, mein Lieber,« wandte Botta ein.

»Mein Lieber --« und Nutini nickte dringlich, »ich weiß wie jene Frau mich
liebte.«

»Ich aber weiß,« entgegnete Botta, von sich erfüllt, »wie es war, als ich
die Olimpia liebte; und ich werde es Ihnen erklären, mein Fräulein.«

Pardi unterbrach ihn:

»Ich könnte Liebe nicht erklären: ich vergesse jedesmal wieder, wie es war.
Ist sie aber da, weiß ich's, und handle!«

Als er der Wirkung ein wenig Zeit gelassen hatte:

»Wir holen die Damen ab, nachdem sie sich angezogen haben.«

Von der Schwelle mußte er noch mahnen:

»Marchese, komm!«

Denn Deneris konnte sich von Mai nicht trennen. Sie strahlte.

»Ist das nicht ein reizender Mensch? Sage, Lola! Es scheint, daß er mich
liebt?«

Und Lola, voll Freude:

»Gewiß, Mai! Das muß jeder sehen!«

Die Dazwischenkunft all dieser Männer hatte ihre Spannung unterbrochen. Zum
erstenmal konnten sie einander wieder unbefangen und mit Wohlwollen ins
Gesicht sehen.

»Ich freue mich eigentlich auf das Ausgehen. Es ist doch schön, daß wir
hergekommen sind!« sagte Lola. Und Mai:

»Heute abend werden wir also tanzen! Was soll ich nur anziehen?«

Lola ging mit in Mais Zimmer. Wie sie zurückkehrte, stieß sie im Korridor
auf Nutini. Sie blieb unschlüssig auf der Schwelle des Salons.

»Dieser Botta macht mich lachen,« sagte Nutini. »Wissen Sie wohl, daß er
von seiner Olimpia ganz einfach ausgehalten worden ist?«

»Nicht möglich --« und Lola brach ab. Sie hatte sagen wollen, Botta mache
ihr gerade den Eindruck des vollkommenen Liebhabers. Nutini zuckte die
Achseln.

»Aber nicht dies führt mich her. Sondern ich möchte Sie bitten, mir doch
gleich jetzt Ihre Noten zu geben. Im Augenblick habe ich Zeit, die
Begleitung zu üben. Denn das Geschwätz der andern zieht mich nicht an.«

»Wohin sind die andern gegangen?«

»Ich weiß es nicht einmal.«

»Aber die Noten sind unten im Koffer, und er steht in meinem Zimmer.«

»Mein Fräulein! Ein guter Freund spricht mit Ihnen, -- wenn er's auch erst
seit kurzem ist. Wären Sie eins unserer Püppchen, ich würde mich Ihnen zum
Auspacken Ihres Koffers nicht anbieten. Aber Sie sind eine Amerikanerin
. . .«

Lola erinnerte sich, daß nicht sie, sondern Germaine die Sachen
hineingelegt habe: sie lagen sicher sehr ordentlich. Sie öffnete Nutini ihr
Zimmer.

Er schob zuerst die Jalousietür weg, half ihr dann geschickt und diskret
und trat mit den Noten ans Licht, auf den Balkon. Er schien sich in die
Musik zu vertiefen und stieß nur seltene Worte der Bewunderung aus. Lola
mußte auf die Stimmen hören, die aus der Nähe kamen. Zuerst war's die
kindliche des Leutnants Cavà; Lola wollte es nicht glauben, daß sie diese
Dinge sagte; dann, bevor Lola sich gefaßt hatte, die schmatzende Bottas und
Deneris' näselnde. Eins seiner Worte ward von Gelächter zugedeckt. Dann
beglückwünschten sie Pardi. Er antwortete:

»Mich reizte es, sie einem Deutschen wegzunehmen.«

Bei seinem verächtlichen Auflachen errötete Lola und erblaßte wieder. Sie
hielt sich am Pfosten, begriff nicht, daß sie noch dastand, und starrte
angstvoll auf Nutini, der über die Noten geneigt blieb und manchmal
entzückt den Hals bewegte. Lola dachte in einem Atem und im Wechsel ihres
Errötens und Erblassens: »Wenn er hört!« und »Er hat mich herausgeholt,
damit ich hören sollte!«

»Was ist Ihnen?« fragte plötzlich Nutini und warf alles hin. Sie brachte
nichts hervor; und deutlich kamen Bottas Worte herauf:

»Wenn ich wählen sollte: Teufel. Vielleicht beide -- auf einmal.«

»Prahlhans!« rief Pardi scharf. »Handeln ist alles!«

»Wovon redet man? Mein Gott! Doch nicht --«

Nutini schlug sich vor die Stirn.

»Ich Unseliger! Konnte ich aber ahnen, daß diese Leute drunten bei offenem
Fenster solche Abscheulichkeiten von sich geben würden? Halte ich selbst
mich doch meist von ihnen zurück. Aber dieser Art Menschen ist nie zu
trauen . . .«

Und drinnen, flüsternd:

»Dem Pardi noch weniger als den anderen. Wenn ich Ihnen erzählen wollte,
wie er's mit den Damen Arletti getrieben hat . . .«

»Lassen Sie's!« stieß Lola aus. Sie warf die Balkontür zu.

»Sie haben gehört, wie er über Sie und Ihre Frau Mutter spricht. Denn so
ungeheuerlich es mir vorkommt, er meinte offenbar Sie! Ich kann nur
wiederholen, wie schmerzlich ich bedauere --«

»Ich vermute,« sagte Lola kalt, »daß so über alle gesprochen wird.«

»In der Tat, es gibt Männer: die Mehrzahl sogar, kann man sagen, ändert,
kaum daß sie die Damen verlassen hat, durchaus den Ton. Die Damen, die all
die Achtung und Rücksicht um sich sehen, ahnen nicht --«

»Es ist auch nicht nötig.«

Unvermittelt kam ihr Wut auf sich selbst, daß sie diesen Menschen nicht
hinauswies. Vorgebeugt, ihre dicke Falte zwischen den Brauen, sagte sie in
unheimlich hellem Frageton:

»Wollen Sie mich jetzt nicht allein lassen? Ich habe etwas Kopfschmerzen.«

»Tatsächlich sind Sie sehr blaß,« stammelte Nutini, und sein eingefallenes
Gesicht erblaßte selbst noch mehr. Er verbeugte sich. Lola sah, immer in
derselben Haltung, seinen weichlich geschweiften Rücken sich dem Ausgang
zuwiegen. Als sein Händchen in dem nach vorne weibisch erweiterten Ärmel
die Tür geöffnet und geschlossen hatte, fiel Lola auf einen Stuhl, gelähmt
von Ekel. So war nun hier die Welt! Weil sie gerade aus einer anderen kam,
hatte sie sich eine Stunde lang täuschen lassen können. Sonnig, elegant und
herzlich hatte es sich ausgenommen: alles gerade entgegengesetzt den
schlecht gekleideten, geistig hochmütigen Menschen dort hinten in ihrem
Nebel. Aber wäre jener Arnold fähig gewesen, mit allen Leuten und zum
offenen Fenster hinaus über ihren Körper zu verhandeln? Die Frage demütigte
sie so, daß sie das Gesicht in die gerungenen Hände drückte . . . Auch
Gugigl hätte das nicht fertig gebracht, und nicht einmal Gwinner! So aber
war man hier. So war der Mann, den sie vielleicht lieben wollte. Ach! es
hatte keinen Sinn, sich ihm befreundet zu fühlen, ihn vor diesem Nutini zu
warnen. Der Intrigant und der Brutale waren einander wert.

                   *       *       *       *       *

Mai wußte schon durch Germaine, Lola sei schlechter Laune. Zögernd kam sie
herein.

»Bist du fertig? Mein Gott, hast du mit den Sachen herumgeworfen! Die
letzten Haare wirst du dir noch abbrennen!«

»Mach mich nicht ganz verrückt, ich bitte dich, Mai!«

»Dort liegen diese dummen Bücher! Du hast gewiß wieder gelesen, und dann
kommen die Kopfschmerzen.«

»Ja, ich habe gelesen.«

»Sie liest, Pardi! Kommen Sie doch herein und schelten sie! Sie ist ein
wahres Kind.«

»Sie sind schlecht angezogen,« sagte Pardi sofort. »Sie müssen sich noch
einmal umziehen.«

Lola fuhr auf.

»Was fällt Ihnen ein!«

»Wenigstens müssen Sie das Halsband anders stecken, es liegt in Falten. Auf
den Schultern haben Sie übrigens zu viel Puder.«

»Das ist nicht Ihre Sache. Erwarten Sie mich im Salon! Hätten Sie sich
früher vielleicht erlaubt, mein Zimmer zu betreten?«

»Hier ist es etwas anderes. Ich bin für Sie verantwortlich.«

»Ach ja, ich kompromittiere Sie! Warum aber sagen Sie Mai niemals etwas?«

»Ihre Mama ist tadellos angezogen.«

Mai konnte ihren frohlockenden Blick nicht mehr zurückholen. Lola hatte ihn
aufgefangen und wandte sich stumm weg.

Beim Aufbruch hatte sie noch etwas gefunden, was ihn treffen sollte.

»Jetzt sagen Sie mir, was Sie auf der Reise ausgelegt haben!«

»Das hat Zeit, gehen wir!«

»Ich will Ihnen nichts schuldig sein.«

»Gehen wir! Die Herren warten.«

»Ich soll gehen, ich? Weil die Herren warten?«

»Aber Lola!« sagte Mai, ganz erschrocken über so viel heftigen Widerstand.
Pardi nickte ihr zu.

»Ihre Tochter ist tatsächlich noch ein Kind.«

Aber er rechnete zusammen. Lola gab ihm das Geld, mit vielem Geklapper der
Münzen. Pardi schloß kaltblütig:

»Ehrlich sind Sie.«

Lola war sprachlos. »Hat er das nicht erwartet?« dachte sie. »Er tut, als
wäre ich eine Kokotte . . . Das stimmt mit dem Gespräch beim offenen
Fenster. Wenigstens ist er konsequent.«

Und mochte sie's noch zu leugnen versuchen, seine Art, sie zu nehmen, ohne
Rücksicht auf ihre Stimmungen, ohne Verzärtelung: seine Art besiegte sie
und erleichterte sie. Auf der Treppe bemerkte sie, daß sie sich hätte
weigern sollen, mitzukommen, und ärgerte sich, weil sie keine Lust hatte,
umzukehren.

Den ganzen Abend unterhielt sie sich, und nicht schlechter am nächsten. Die
Tage vergingen mit Baden und Nichtstun. Das Bad dauerte Stunden. Man lebte
in diesem durchsonnten, blauen und weichen Wasser. Mai lachte vor Glück,
wenn sie ihre Hand hineintauchte, und sagte, es sei, wie wenn sie durch den
Stoff eines Ballkleides gleite. Man schwamm, so weit man mochte; und
ermüdete man, waren immer Herren mit einem Boot da. Man kletterte hinein;
-- und indes man recht unbeteiligt und träumerisch die Augen schloß,
gewahrte man durch ihren Spalt doch die hungrigen und diskreten Blicke des
halbnackten Ruderers. Sie prickelten einem auf der Haut. Pardi verbot ihnen
diese Rast im Boot; Lola hatte, in aller Beisein, einen Auftritt mit ihm.
Er hielt ihr Mai als Beispiel vor.

»Ihre Mama ist noch eine der wirklich weiblichen Frauen, die gehorchen
können. In Ihnen ist etwas Feindliches.«

»Glücklicherweise,« sagte Lola höhnisch.

Denn dies Feindliche reizte ihn! Lola sah immer deutlicher: »Mai gefällt
ihm. Zu mir zieht ihn seine Herrschsucht.«

»Eines Tages,« verhieß er, »werden wir uns auseinandersetzen müssen: ich
sage es Ihnen voraus.«

»Ich glaube, wir haben uns gar nichts zu sagen.«

»Zu sagen vielleicht nicht viel.«

Er lachte, und sie drehte ihm den Rücken. In dieser Minute hätte sie keine
heftige Antwort gewußt. Sie war erschlafft und einem weichen Weinen nahe.
Manchmal spürte sie so, inmitten seiner Unverschämtheiten, eine begehrliche
Wärme von ihm her, etwas wie einen jähen Stoß Südwind, daß einem der Atem
stockt; oder wie den heißen Brodem aus einem Tigerrachen, die Sekunde,
bevor er zuschnappt.

Tags darauf schwamm sie wie gewöhnlich hinaus.

Mai hatte ihr zugerufen, sie dürfe nicht weiter. Wie sie ins Boot wollte,
war keins zu sehen. »Diese Feiglinge!« Lola kehrte um. In immer kürzeren
Pausen mußte sie sich auf dem Rücken ausruhen. Solange sie noch einen
Überschuß an Kraft fühlte, dachte sie mit befriedigter Rachsucht daran, daß
sie nun vielleicht umkommen werde. In dem Augenblick, als es ihr ängstlich
ward, tauchte neben ihr Pardis Kopf auf. Wie lange war er denn unter Wasser
geschwommen?

»Rühren Sie mich nicht an!«

Auf der Stelle hatte sie ihre Kraft zurück und schoß in großen Zügen dem
Strande zu. Mai winkte mit dem Sonnenschirm.

»Kind, mein Kind! Hat er dich gerettet?«

Und sie fiel Lola um den Hals. Lola mußte erst zu Luft kommen. Sobald sie's
hervorbringen konnte:

»Wie käme ich dazu, mich von diesem Herrn retten zu lassen?«

Aber sie fühlte sich dennoch von Pardi überrumpelt und in ihrer Niederlage
glücklicher als Mai. Auch Mai mußte es fühlen. Sie sah von Lola zu Pardi,
der stumm blieb und ruhig atmete. Darauf betrachtete sie besorgt ihr
eigenes Kleid und dann die beiden in ihren triefenden, um die Körperformen
geklatschten Kostümen. Plötzlich wandte sie sich ab.

»Ich bin nicht schuld, wenn sie sich schlecht benimmt. Man hat mit nicht
erlaubt, sie zu erziehen.«

»Wir werden es nachholen,« sagte Pardi, -- indes Lola schon von dannen war.

                   *       *       *       *       *

Und es ward Mittag, und man flüchtete auf die Hotelveranda, an den
Frühstückstisch. Sah man hinaus, ward das Auge verbrannt von Sand und See;
von dem frechen Wirrwarr der roten, grünen, gelben Karren vor dem wütenden
Meerblau; von den weißen Flammen der Zelte, der Anzüge. Die Gäste traten
aufatmend in den Schatten, oder sie schlichen an seiner Grenze vorbei, die
Häuserreihe hin, in deren grausame Helle die Balkone scharf, dünn und
schwarz hineinschnitten. Ermattete, schöne Frauen, die sich rückwärts
bogen, willenlos und doch in einer Linie, als hätten sie Ballett tanzen
gelernt, riefen mit sehr häßlicher Stimme einen Namen, streckten, ohne
umzublicken, einen Arm nach hinten, -- und eins dieser Kinder hängte sich
daran, die nie ganz Kinder waren, die schon kokett waren, keine
Ungeschicklichkeit begingen, und deren schmelzend blasse Gesichter
manchmal, wie von Strapazen, die erst noch auszuhalten waren, unter den
Augen bräunlich dunkelten. Matronen flankierten, mit erfahrenem Lächeln,
Töchter, deren weißes Gesicht wie ein schmales Stück aus dem der Mutter
aussah. Näherten sie sich, lagen beide, das der Mutter und das der Tochter,
unter einem Teig von Schminke. Die alternden Männer bekamen Säcke unter die
gewölbten Augen; den sehr alten entleerte sich das Gesicht von Blut; --
aber sie blieben schlank, behielten den aufrechten, raschen Gang des
Jünglings und trugen, wie er, ihre silbernen und goldenen Stockgriffe, über
den Arm gehängt, spazieren. Die aristokratische Gruppe auffallender, lauter
Damen und verlebter Herren in großgewürfelten Anzügen streifte an eine
Bande von Lastträgern und Schiffern; und beide sprachen mit schleierlosen
Stimmen und Gebärden von Liebe und von Geld. Alle waren aus einem Blut; und
wie sie gleichmäßig schritten und sich kleideten, war sicher, meinte Lola,
auch die Art, zu denken und zu lieben, bei allen dieselbe. Lola gedachte
der Menschen im Norden, die sie verlassen hatte, wie an Sonderlinge, von
denen jeder seinen kleinen verrückten Kreis lief. Der alte Baron Utting
übertrieb nur ein wenig die Sucht der übrigen. Hier ließ sich keiner aus
der Masse reißen: er wäre verloren und sinnlos gewesen. Die Amerikanerinnen
allein kreuzten dazwischen in gelben Winkeln, zu scharf von Umriß, um von
der Sonne gedämpft zu werden. Die anderen alle schwammen ohne Mühe und
jeder für sich fast unbemerkt, in dieser Atmosphäre, die sie getönt hatte
und ineinander mischte.

Die Sonne tränkte gleichmäßig alles, berauschte, erschlaffte und
verzauberte alles und einen selbst. Hohe, dünne Gerten mit Blumen, die
nicht daran gewachsen waren, umstanden einen als Hecken, man lehnte sich in
grell lackierte Sessel, hörte springenden oder schmachtenden Noten zu,
fühlte sich, in seiner gewagteren Strandkleidung, freier und dreister als
sonst, trank mehr, lachte mehr, ließ losere Worte zu, glaubte halb, man
träume, und empfand bei allem, was geschah und was man tat, daß nichts
darauf ankomme. Mit Cavà hatte Lola Freundschaft geschlossen. Seine rohen
Worte von neulich deuchten ihr kaum noch wirklich, wenn sie seine
Knabenaugen ansah. »Man vergißt hier so rasch. Übrigens würde man mit
niemand leben können, wollte man daran denken, was die Leute sagen und tun,
wenn man nicht dabei ist.«

An Mais und Lolas Tisch war ein Hin und Her von Herren: Nutini, Botta und
Deneris führten Freunde ein. Der Dichter Merluzzo war dabei, mit den
Puppenaugen in seinem Modellkopf, auf seinem langen, nackten Halse. Er
huldigte Lola mit seiner Altweiberstimme und versprach ihr, vorzulesen,
wenn sie singe. Sie sang, ohne ihn um das Seine zu bitten: sang
leichtfertig darauf los und freute sich des Beifalls, ob er verdient oder
unverdient war. Sie lachte.

»Klatschen Sie! Sie klatschen doch auch, wenn der kleine Beppo aus Neapel
uns in seinem weiten Frack und seinem Riesenzylinder Späße vormacht. Fragt
man das Kind, ob es auch in Rom auftreten werde, schneidet es eine
betretene Fratze und sagt: >O nein, so stolz sind wir nicht.< Auch ich bin
nicht so stolz . . .«

In aller Ausgelassenheit fühlte sie sich eifersüchtig bewacht von Pardi.
Mai, harmloser, vergaß; einmal hörte sie Deneris zu lange an. In seiner
schwermütigen Schwärmerei war er eben dahin gelangt, daß er nach Afrika
wollte, um sich von der Schlaffliege den rätselhaften Tod geben zu lassen.
Da erklärte ihm Pardi, daß diese Dame unter seinem Schutze stehe! -- und
verblüfft, des Widerstandes unfähig wich unter seinem Ansturm Deneris vom
Tisch. Nur noch heimlich wagte er sich, dem Verbot zum Trotz, an Mai. Sie
ergab sich dann zum voraus in das Geschick, die Seufzer des einen mit der
barschen Rüge des anderen zu büßen. Lola versuchte umsonst, sie
aufzuhetzen.

»Du kennst das nicht: so sind sie. Auch dein Vater war so.«

Pardi faltete die Brauen, und Mai senkte die Stirn.

Den und jenen schloß er von der Vorstellung aus: sie hatten sich mit einer
zweifelhaften Person gezeigt!

»Und sie sind wohl nicht langweilig genug?« fragte Lola, kampfbegierig.
Dann:

»Warum machen Sie uns mit keiner Dame bekannt? Fürchten Sie, daß uns
Geschichten über Sie zu Ohren kommen? Wie sind die beiden puppenhaften
Blonden mit den rotgeschminkten Lidern?«

Cavà antwortete statt Pardis:

»Die Contessa Bernabei und ihre Schwester.«

»Eher die hätte ich für zweifelhaft gehalten.«

»Bedenken Sie, was Sie sagen!« heischte Pardi.

»Ach! Sie sind sehr befreundet mit ihnen?«

Lola lag nichts an Frauen. Dennoch warf sie es Pardi immer wieder vor, daß
er gleich bei der Ankunft durch seine rücksichtslose Eroberung der Zimmer
alle Damen des Hotels zu ihren Feindinnen gemacht habe. Einmal, im Wasser,
hoffte sie eine für sich gewonnen zu haben, eine noch Unbekannte. Als
nachher Pardi ihnen entgegenkam, ward die neue Freundin verlegen, Pardi
verhielt sich unleidlich abweisend und Lola brach, als die Fremde sich
ängstlich entschuldigt hatte, in ernste Wut aus. Er wartete mit steinernem
Gesicht, bis sie ihn sprechen ließ.

»Sie ist eine Chanteuse.«

Erst als Lola sich durch diese Enthüllung nicht geschlagen zeigte: was das
schade, im Wasser habe die Dame keine schlüpfrigen Lieder gesungen, -- da
verfiel auch er in Sturm. Lola habe haarsträubende Begriffe; er werde sich
von ihr trennen oder sie einschließen müssen. Er verstieg sich zu der
Frage:

»Warum sind Sie hergekommen, wenn Sie eine Wilde bleiben wollen?«

»Ich werde abreisen, um Sie nicht länger zu kompromittieren,« entschied sie
mit Leidenschaft. Statt dessen hielt sie sich bei Tische heftig über Pardis
Lächerlichkeit auf; denn er habe ein hübsches Mädchen nur darum vom
Blumenkorso ausgeschlossen, weil sie eine Schneiderstochter sei. Woher
sie's wisse, fragte er; und kaum, daß sie einen Namen genannt hatte, stand
er auf. Man sah dort hinten ihn und den andern gegeneinander fuchteln.
Pardi verlangte, daß ein Gericht sich bilde und sofort über seine
Handlungsweise entscheide. Als er recht bekommen hatte, forderte er seinen
Kritiker. Mit Mühe besänftigte man ihn; -- und wie er dann, entladen,
heiter, bezaubernd, unter lauter bewundernden Blicken an den Tisch
zurückkehrte, begann Lolas Herz nachträglich zu klopfen. Was sie nun fast
angerichtet hätte! Sie kannte ihn doch: er verlor mitunter die Besinnung.
Einen Engländer hatte er aus dem Spielzimmer weisen wollen, weil ihm sein
Tabak nicht gut roch. Der Engländer aber hatte Humor gehabt, und jetzt
spielte Pardi mit ihm und rauchte aus seinem Beutel. Lola bemerkte
erstaunt, daß er, der sich mit hundert Dummheiten aufhielt, sich an die
Leitung von hundert Festen verzettelte, hundert Ehrenhändel erregte, bei
alledem nicht kleinlich wirkte. Denn er trat für jede Nichtigkeit mit
ganzer Persönlichkeit ein: immer bereit zur Verantwortung, immer im
Begriff, sich zu verfinstern, sich mit dem Zweifler zu messen. Lola dachte
an seine Erzählungen aus Afrika. Im Großen, das ihm bekannt war, blieb er
derselbe, wie hier im Flüchtigsten. Er war das Kind, das das Meer vor sich
hat, und doch darauf besteht, aus einem Sandloch, worin das Wasser
versickert, ein zweites Meer zu machen.

Sie ging umher und sann ihm nach. So war er. Er war etwas Ganzes, -- und
dies Ganze war vielleicht nicht weit von einem Helden. Die Frau, die ihn
geliebt hätte, wäre beinahe gerechtfertigt gewesen. Und eigentlich war's
von einer weniger starken Natur unnütze, peinliche Streitsucht, sich ihm zu
widersetzen . . . Da schrak sie auf. Lieben? Diesen Abenteurer, der nur
nach außen und nach allen Seiten lebte? Der sich nie hätte zusammenhalten
können für eine? Diesen unzuverlässigen Spieler, für den kein Gewinn,
nichts in Spiel oder Leben endgültig war? Diesen immer von seinen Launen
gequälten Mann aller Frauen?

»Mai will er gerade so sehr wie mich! Mehr vielleicht!«

Das war das Schlimmste. Darüber hätte man die Augen schließen mögen und gar
nicht mehr aufstehen. Aber Lola wollte alles wegwerfen. »Sollen sie tun,
was sie wollen!« Und sie kam nicht zu Tisch; war gleich nach dem Bade in
den Pinienwald gelaufen und durchstrich ihn weiter und weiter. Er nahm kein
Ende. Man konnte sich verirren: wie das kitzelte! Sie drehte sich mit
geschlossenen Augen mehrmals um und wußte nun die Richtung nicht mehr. Das
weiße Schloß lag tief, tief in den Bäumen: so gedämpft blaß, als hätte nie
Sonne es beschienen. Daß nun der Wald sich wie mit Schleiern füllte! War
das Dämmerung? Schon? Man konnte hier sitzen und sich in den fremden,
gelben Geruch all dieses Gestrüpps hineindenken, bis man weit fort war und
die Zeit vergaß. Zwar hatte man den ganzen Tag nichts gegessen, -- und
dort, auf der Lichtung, packten Holzfäller ihr Gerät zusammen und legten
Brote auf den Baumstamm . . . Nein, noch weiter: jetzt gerade, nun man
schon sehr, sehr müde war und die Nacht kam . . . Da sah mit Eulenaugen das
Meer zwischen die Stämme; die Richtung war wiedergefunden, die Stelle
erkannt. »Eine halbe Stunde höchstens nach Haus! War ich dumm!«

Sie kam zurück und fühlte sich ganz fremd und verachtend. Sie brauchte von
dem hellen, lauten Tisch nur wegzublicken, -- und ins Dunkel, jenseits der
Terrasse, waren friedevolle Bäume gezeichnet und Waldwege, die stumm
verrannen. Ganz erfüllt war sie noch von ihrem schönen Tag in Einsamkeit,
und das zwischen Menschen galt ihr gleich.

Erst Tags darauf fühlte sie, daß ihre Abwesenheit Mai und Pardi einander
irgendwie näher gebracht habe. Mai hatte ihr nur laue, etwas künstliche
Besorgnis gezeigt, Pardi ihr keinen Auftritt gemacht. Als die andern von
einer gestrigen Ruderpartie anfingen, schwiegen sie. Waren sie allein
geblieben? Mai sah an Lola, die sie prüfte, vorbei. Lola tat keine Frage.
Sie sprach mit vom Rudern. Pardi fiel ein:

»Sie wären gern dabei gewesen? Dann gehen Sie also heute mit! Ihre Mama
verträgt die See nicht, ich leiste ihr Gesellschaft.«

Lola sah von ihm zu Mai. Sie suchte nach einer spöttischen Ablehnung.
Plötzlich aber stieß sie hervor:

»Gut denn!«

Sie hatte sich geschämt! Als sie ins Boot stieg, bereute sie's. Mai gab den
Herren lauter Empfehlungen mit, zu Lolas Wohl. »Wie sie heuchelt!« Lola
dachte weiter: »Warum erlaube ich ihr, daß sie ihn mir wegnimmt! Gebe ich
mich denn auf? Ich habe doch mein Recht aufs Glück!« Sie beschloß: »Ich
werde mich nicht mehr fortdrängen lassen! Ich kann ihn gerade so gut haben
wie Mai. Er hat mir sogar gesagt, daß er Mai nur meinetwegen den Hof
macht.« Sie verlangte nach einer Bucht weit dort hinten; und wie
eingewendet ward, ihr Vormund werde böse sein:

»Meinen Vormund nennen Sie ihn? Es fehlte noch, daß er's wäre! Finden Sie
ihn nicht, im Ernst, ziemlich anmaßend?«

»Wenn man einen unverschämten Menschen sucht,« sagte Cavà frisch, »da hat
man ihn.«

»Er geht so weit, daß er mir manchmal unsympathisch wird,« sagte Botta.

»Das ist recht!« -- und Lolas üble Laune hob sich -- »schimpfen wir ein
bißchen auf ihn! Was wissen Sie von ihm, Marchese?«

Deneris antwortete:

»Als junger Mann hat er sich einmal selbstmorden wollen.«

»Das -- wollten Sie doch selbst schon.«

Deneris, tief erstaunt:

»Das ist doch etwas anderes. Übrigens hatte er keine unglückliche Liebe.
Höchstens Schulden.«

»Die sind ihm treu geblieben,« begann Nutini. »Trotz seinem großen
Familienbesitz kann man den Zeitpunkt seines Ruins schon berechnen. Leute
wie er, enden immer schlimm.«

»Tatsächlich hat er zusammengewachsene Brauen,« bemerkte Cavà. Botta
bedauerte das Haus Pardi.

»So altadelig!«

Deneris widersprach:

»Alt wohl, aber nicht lange adelig. Diese florentiner Bürgerhäuser sind
spät geadelt.«

Nutini wollte auf die Geldsachen zurückkommen, aber Lola verlangte:

»Lassen wir ihn gehen!«

Sie ertrug es auf einmal nicht mehr, hier draußen, abgesondert von ihm,
gemeinsame Sache zu machen mit seinen Feinden, von denen keiner sich an ihn
wagte. Auf einmal fühlte sie sich voll Angst: beklommen und gereizt durch
all das feindliche, leere Blau um sie her, durch die Gesichter, die sie
ansahen. Er liebte Mai: man mußte schnell ans Land, -- liebte Mai. Und Mai
ihn.

                   *       *       *       *       *

Sie begann Mai neu zu beobachten, mit Blicken, die sie selbst schmerzten,
und unter denen Mai sich verwandelte. Ihre liebenswürdigen kleinen
Torheiten bekamen etwas Untergeordnetes, ihre Kindlichkeit ward albern. Bei
jeder von Mais Äußerungen sah Lola in den Schoß, schämte sich und empfand
Genugtuung in einem. »Wie kann man so dumm sein!« Diese verbrauchten
Listen! Daß eine Mutter die Tochter, die sie fürchtete, als Kind
behandelte: es war so alt, so alt. Nur ein wenig Geschmack, und man ließ
es. Aber Mai wäre, in ihrer Eifersucht, nicht einmal davor
zurückgeschreckt, Lola schlecht anzuziehen! Mais Ratschläge empfing Lola
nur noch mit Mißtrauen. Einmal machte sie die Probe: frisierte sich
absichtlich sehr unvorteilhaft und fragte Mai, wie es ihr stehe. Mai war
entzückt: Lola wußte nun Bescheid. Zum Schein ging sie ein Stück mit; --
aber unten auf der Treppe blieb Mai stehen, ihr Gesicht war verwirrt und
errötet, und sie sagte:

»Laß dich noch einmal ansehen: nein, ich glaube, es geht doch nicht.«

Mais Kampf rührte Lola nicht. Es verdroß sie, daß sie nun weniger harte
Gedanken hegen mußte. Sie wollte jetzt wirklich, wie sie war, unter die
Leute. Aber Mai flehte und jammerte, bis sie Lola wieder oben im Zimmer
hatte und sie eigenhändig, mit eifrigen, reuigen Händen, von neuem
frisieren konnte. »Ist es Verstellung? Was hat sie vor?« dachte Lola und
haßte sich selbst dafür. Aber sie konnte nicht dagegen, daß Mais Hände auf
ihrem Kopf ihr widerstrebten. Sie konnte nicht hindern, daß Mais Art mit
den Männern sie erbitterte, ihr schließlich übel machte. Dieses Schnurren
und Schmachten, diese singende, lispelnde Sprechweise, diese seitwärts
geneigten Köpfe, unenthaltsamen Blicke, und dies ironische Lächeln einer
gedämpften Wollust, womit ein Mann und eine Frau sich verständigten! Und
der Mann war irgendeiner, -- nicht bloß Pardi: früher auch Deneris,
neuerdings auch Botta; und die Frau, das lockende Weibchen, war Lolas
Mutter, ihre eigene Mutter! Die Kokotten nebenan mochten dasselbe treiben,
und die Aristokratinnen; Lola mochte umringt sein von unreiner
Weiblichkeit; -- erst in Mai aber bekam sie etwas Groteskes und etwas, das
Grauen machte. Eine Mutter hatte nicht das Recht, noch Weib zu sein!

Je länger sie sich hineindachte, um so überwältigender deuchte ihr das
Unrecht, das sie von Mai erfuhr. »Als ich sie damals für gefallen hielt,
war's weniger schlimm. Es war wirr wie ein Weltuntergang; es peinigte
nicht, denn alles war auf einmal aus; -- und es war eigentlich nur, weil
ich Romane gelesen hatte. Ich wußte nichts, ich stand draußen. Jetzt sehe
ich von innen, wie alles geschieht. Ich liebe einen der Männer, mit dem sie
kokettiert: denn so würde sie es nennen, und doch ist es entsetzlicher, als
wenn sie ihn mir einfach wegnähme. Dann würde ich mich vielleicht töten! So
aber äfft sie, mit allen und ihm, die Liebe nach, die ich fühle, zeigt mir,
namenlos verzerrt, was eine Frau ist, macht mir Grauen, daß ich eine bin.
Ich liebe einen, mit dem meine Mutter solche Blicke wechselt! Bin ich nicht
beschimpft und ganz beschmutzt durch das, was ich in mir trage? Ich will
nicht Frau sein! Ich will nicht lieben!«

Sie machte sich jungfräulich steif, hörte von den Reden weg, die auf allen
Wegen zur Liebe glitten, und verlangte, daß man in ihrem Dabeisein von
ernsten Dingen spreche.

»Ich begreife nicht, daß man hier in einer Gesellschaft von Männern und
Frauen sich immer nur miteinander, nie mit unpersönlichen Fragen
beschäftigen kann.«

»Ja, Sie sind eine Amerikanerin,« sagte Cavà . . . Lola sah von allen
Seiten Komplimente für die Amerikanerinnen kommen, fiel nervös ein und
erklärte die Stellung der Frau in Italien für unwürdig und vollkommen
veraltet.

»Glücklicherweise wollen Ihre Minister endlich die Ehescheidung einführen.«

Botta bat:

»Nur das nicht. Wenn die Scheidung, was Gott verhüte, Gesetz wird, sind wir
verloren.«

»Sie machen wirklich ein ganz betretenes Gesicht. Solche Angst haben Sie
vor den Frauen?«

»Im Gegenteil,« versicherte Botta. »Ich habe Angst für sie. Denn sie zuerst
werden unter dem Gesetz leiden: haben sie doch wenig Urteil, die Armen. Sie
werden, kaum daß etwas sie ärgert, aus der Ehe laufen. Dann meiden alle
sie, und sie verkommen.«

»Schon jetzt,« begann Deneris, »sitzt die Caputi allein in den
Konditoreien, und sie ist nur getrennt. Was werden erst die Geschiedenen
tun!«

Nutini bemerkte:

»Ein Sodom und Gomorra wird entstehen. Wir jungen Leute werden uns nicht
darüber zu beklagen haben.«

Deneris aber klagte:

»Uns wird die poetischste Sache verloren gehen, nämlich unsere unbedingte
Ehrfurcht vor der Frau, die in der Ehe unantastbar und die Erste ist.«

»Ich hätte meine Mutter nicht achten können, wenn mein Vater sie hätte
entlassen dürfen!« rief Botta.

»Gut, Advokat!« machte Nutini.

»Die Frau, die geschieden werden kann, wird man vielleicht nicht einmal
mehr zuerst grüßen,« fürchtete Deneris. Cavà rief entschlossen:

»Ich werde sie grüßen!«

»Genug,« folgerte Botta, »wir haben die Pflicht, die Frauen vor sich selbst
zu schützen.«

Lola hätte gern erwidert: »Und wie schützt ihr sie jetzt? Indem ihr
möglichst viele von ihnen zum Ehebruch verführt?« Aber Pardi kam über den
Sand herbei.

»Und Sie? Sie sind natürlich für die Scheidung?« fragte Lola ihn. Er
antwortete:

»Ich bin der unversöhnliche Gegner jeder Regierung, die sie uns aufzwingen
will!«

Cavà bedeutete Lola mit einem Blick, daß sie auf ihn sich verlassen könne.

»Warum soll unser Land das letzte von allen sein?« rief er hell. »Die
Amerikanerinnen sind meistens geschieden, und sie sind reizend . . .«

Botta unterbrach.

»Der Fortschritt! Das ist euer Wort. Wenn es nun aber bewiesen ist, daß die
Scheidung geschichtlich und etnographisch eine tiefstehende Einrichtung ist
und sich in direkter Verbindung mit allen Entartungserscheinungen der
menschlichen Psyche befindet, als da sind Verbrechen, Selbstmord, Wahnsinn
und -- noch mit einer, die ich vor Damen nicht nennen kann?«

»Gut, Advokat,« sagte Nutini. Cavà behauptete frisch:

»Die Ehe ist das Grab der Liebe!«

Seine drei Widersacher fielen zugleich über ihn her. Pardi verschränkte die
Arme und wartete. Als er sprechen konnte:

»Die Ehe ist das Grab der Liebe, wenn man von Liebe einen falschen Begriff
hat, wenn man für Liebe hält, was nichts weiter ist als tierische
Fleischlichkeit, nichts als die Berührung zweier Epidermen. Die echte Liebe
aber, die in der Seele wohnt und gereinigt, vergeistigt und von den Launen
der Sinne unabhängig ist, kann nur eine einzige Person angehen und nirgends
vorkommen als in der unlösbaren Ehe! Nur sie ist der ganz reine Herd dieser
Liebe!«

Lola betrachtete ihn: da stand er, der Idealist, und glaubte an sich! Unter
denen, die ihm so leidenschaftlich zustimmten, hätten vielleicht noch
einige Ehefrauen sein sollen, deren reiner Herd dank ihm etwas weniger rein
war, und ein paar Gatten, die er halbtot gestochen hatte.

»O!« machte sie. »Was Sie da sagen, ist die Logik eines Dichters. Wenn nun
die Wirklichkeit nicht immer so logisch wäre? Dann würde man, Ihrer Poesie
zuliebe, unglücklich!«

Er merkte gar nicht ihren Spott. Mit Strenge entgegnete er:

»Auf diese oder jene, vielleicht vorschnell geschlossene Ehe kann nicht
Rücksicht genommen werden, wo es sich um die Ehe als Grundstein des
gesamten gesellschaftlichen Gebäudes handelt.«

»Sehr richtig!« bemerkte Botta. »In der Ehe befiehlt der Staat.«

»Besteht der Staat nicht aus Menschen?« fragte Lola. Pardi erklärte:

»Sie haben sich zu opfern. Nicht ihr Glück ist das Wesentliche. Das Wohl
der Kinder geht ihm vor, der Bestand der Gesellschaft. Wer mit seinem
freien Willen gewisse Pflichten eingegangen ist, hat, was nachkommt, nur
sich zuzuschreiben und kein Recht, sich zu beklagen. Ich würde mich nicht
beklagen,« schloß er, durchdrungen.

»Und er ist ein Mensch,« dachte Lola, »der noch keine Handlung mit ruhigem
Blut und Voraussicht der Folgen begangen hat!« Sie äußerte:

»Wie Sie von Pflicht zu sprechen wissen! Sie sind förmlich ehrwürdig!«

»Tatsache ist,« sagte Botta, »daß Sie einen ausgezeichneten Verteidiger der
guten Sache geben würden; -- und Gott weiß, daß sie Verteidiger braucht
. . .«

Er wartete, ob man nicht ihn selbst auffordern werde. Dann beschied er
sich:

»Stellen Sie doch Ihre Kandidatur auf!«

Deneris und Cavà stimmten ein. Lola bestätigte:

»Sie müssen ins Parlament und die Ehe retten.«

Er sah ihr spähend in die Augen. »Sein Tigergesicht,« dachte sie.

»Von diesem Augenblick bin ich entschlossen, -- und Sie werden sehen, wer
recht behält!«

»Also wetten wir: für und gegen die unlösbare Ehe?« schlug Lola vor.

»Nein! Dafür ist es zu ernst. Aber Sie können schreiben, Nutini, daß ich
kandidiere. Bereiten wir doch gleich das Nötige vor . . .«

Schon ward er umringt, im voraus beglückwünscht und begann einem Kreise
Neugieriger sein Programm zu entwickeln. Die Hotelgäste kamen die Terrasse
herunter, und von weither sah man laufen. Die aristokratische Gesellschaft
mit ihren gewürfelten Anzügen und riesigen Schleiern drängte sich, warf
skeptische Bravos in die Rede, fächelte, plapperte; und während der Kopf
nach der andern Seite lächelte, betasteten unten sich irgendwelche Hände.

Pardi ließ keinen einzigen Scheidungsgrund zu, nicht Zuchthausstrafe, nicht
Wahnsinn.

»Wenn erst Bresche gelegt ist, gibt's kein Halten, und man endet dabei, daß
der Wunsch des einen Gatten genügt! Eher bin ich dafür, daß das Band noch
fester geknüpft wird, daß wir, meine Herren, die Verantwortung für unsere
Frauen übernehmen und sogar ihre Verbrechen büßen!«

»Welch wilder Romantiker!« dachte Lola, auf ihrem Sesselchen im Schatten
des Badekarrens.

»Dafür muß unsere Herrschaft nicht lockerer, sondern noch fester werden.
Meine Herren, es haben sich Richter gefunden, die entgegen dem Gesetz eine
Frau der Verpflichtung enthoben haben, ihren Mann zu begleiten, wohin immer
er befiehlt . . .«

Eine der beiden puppenhaften Blonden mit den rot geschminkten Lidern, die
Contessa Bernabei, wandte sich Lola zu, machte einen Schritt aus der Masse,
daß ihr Schatten darauf fiel, und hob, mit angeregter Miene, nochmals den
Fuß. Als Lola gleichgültig sitzen blieb, trat sie ärgerlich zurück, sprach
nach links und nach rechts, als rührte sie in einem Sandhaufen, -- und auf
einmal waren drei, vier Lorgnons auf Lola gerichtet.

Aber eine Stimme, Deneris' Stimme, zog die Aufmerksamkeit ins Innere des
Kreises zurück.

»Die Furcht vor der Scheidung würde keine Frau vom Ehebruch abhalten und
keinen Liebhaber. Denn in der Leidenschaft fürchten wir nichts.«

»Meine Meinung!« rief Pardi; und die beiden streckten einander die Hände
hin.

»Mag der Gatte aufpassen!« höhnte Cavà, knabenhaft hell; und der Chor
erklärte sich fürs Aufpassen.

Die Versammlung bröckelte ab; auch Mai löste sich heraus, mit Deneris
hinter sich.

»Hat er reizend für die Scheidung gesprochen, und auch Sie, Marchese! O!
ich schwärme für die Scheidung. Meine Tochter übrigens auch: Nicht wahr,
Lola?« -- und Mai lief trippelnd herbei, ganz unbefangen, wie immer, wenn
Leute dabei waren. Deneris hielt sie zurück; er hatte ihr etwas
zuzuflüstern. Mai schüttelte auf alles den Kopf. Schließlich sagte sie:

»Gut, daß Sie mit Pardi versöhnt sind; jetzt können Sie wieder mit uns
reden. Sonst aber: lieber Marchese, Sie dürfen es nicht übelnehmen, eine
glückliche Liebe würde Ihnen nicht stehen. Ihnen steht eine unglückliche.
Als Sie täglich sechs Stunden gereist sind und sich bei einem Photographen
haben erschießen wollen, da müssen Sie schön gewesen sein . . . Sollen wir
jetzt nicht baden, Lola?« -- und Mai ließ Deneris zurück.

Lola dachte: »Sie ist so dumm, daß sie keine zwei Worte versteht, die etwas
Allgemeines sagen. Gleich darauf aber, wenn es sich um ihren Körper handelt
und um die Sinne eines Mannes, wird sie beinahe geistreich. Muß man als
Frau so sein? Dann bin ich ein verfehlter Mann. Wenn ich hätte auftreten
dürfen: wie ich denen dort die Wahrheit gesagt hätte! Was für eine
Gesellschaft! Sie sind schlaff und unmenschlich zugleich; frivol und
philisterhaft, alles beides. Pardi ist das alles auch: nur heftiger als die
anderen. Ich kenne ihn: sich würde er alle Freiheiten nehmen und seine Frau
würde er einsperren. Draußen würde er wie ein wildes Tier herumstreichen
oder wie ein Narr, und in seinem Hause würde er alles abgezirkelt und
niedlich wie in einem Vogelbauer wollen. Kann man so abscheulich ungerecht
sein! Nein, ich möchte kein Mann sein. Oder ich wäre einer wie Arnold
. . .«

Zornig riß sie sich die Bluse auf, -- da erschien um die Ecke des Karrens
auf nacktem Hals der Modellkopf des Dichters Merluzzo. Seine Puppenaugen
spähten hinein.

»Was wollen Sie, mein Gott!«

Mai, schon halb entkleidet, schrie und stürzte umher.

»Endlich treffe ich Sie allein. Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen eine
Novelle vorlesen wollte?«

Es mußte sofort sein. Lola ließ ihn sich auf die Karrentreppe setzen und
versprach, hinter dem Vorhang genau zuzuhören. Aber die weichliche Stimme
reizte sie noch mehr. Zum Schluß sagte sie:

»Recht hübsch. Aber den Gedanken, daß an der Untreue der Frau auch der
Gatte schuld haben kann, finde ich sehr kühn.«

»Nicht wahr?« -- ganz stolz. »Das sagten mir schon andere: die Idee sei neu
und vielleicht zu kühn. Auch der Conte Pardi sagte es.«

»Das dachte ich mir,« -- Lola schlug den Vorhang zurück und ging in ihrem
Mantel an Merluzzo vorbei. Im Wasser erklärte Mai:

»Ich mag diese Dichter nicht. Dieser ähnelt wieder dem vorigen, dem in
Deutschland.«

Lola antwortete:

»Liebe Mai, solche Leute wie Deneris verstehst du sehr gut;« -- und dann
schwamm sie unter Wasser davon.

Mai sprach sie nicht wieder an. Am Abend ward Lola von Pardi zur Rede
gestellt. Sie sei so unartig, daß ihre Mutter geweint habe, und dabei
verschwende sie das Geld ihrer Mutter. Wie sie dazu komme, die ganze
Familie des Stubenmädchens zu unterhalten. Ob sie nicht sehe, daß der Mann
ein Lump sei, der nicht arbeiten wolle und sie belüge. Sie wisse es, sagte
Lola; da er aber einmal so sei und die Familie Not leide --

»Das ist unmoralisch!« behauptete Pardi.

»Wenn ich fragen wollte, wem ich helfe, käme ich nie zum Helfen. Glauben
Sie, daß der betrunkene Bauer in Deutschland, den Sie ins Dorf trugen und
so reich beschenkten, würdiger war?«

»Er war ein sehr guter Mann, ich habe mit den Leuten gesprochen.«

»Ich auch. Und er hatte die Messerstiche, weil er gestohlen hatte. Aber Ihr
Geld verdiente er darum, meine ich, nicht weniger.«

Da Pardi nur fuchtelte:

»Sehen Sie, Sie waren in Afrika, haben so vieles hinter sich: ich aber, die
ich nichts erlebt habe, bin enttäuschter als Sie. Sie brauchten mich
wirklich nicht so oft zu belehren.«

                   *       *       *       *       *

Das war ein Triumph! Auch daß er Merluzzos Albernheiten kühn gefunden
hatte, war einer; und daß die süßlichen Bilder im Saal ihn entzückten. Für
alles, was süßlich und veraltet war, für jeden Kitsch war er zu haben. Er
mußte als Held in älteren Romanen vorkommen. Seine Abenteuer, sein
Ehrbegriff, seine Ideen, seine Lebensanschauung und sein Urteil über
Menschen rührten von solchem Helden her. Für ihn gab es natürlich nur Gute
und Böse, Ehrenmänner und Schufte, und wer das Fechten verstand, erhielt
sich stets auf der Seite der Ehrenmänner. Eine Welt, so einfach in ihrer
Wildheit, daß es nicht zu glauben war. Eine Naivität, die manchmal rührte,
manchmal empörte: nur Achtung konnte sie nicht eingeben.

Ihre Beobachtungen rieben sie auf, sie erschrak bei jeder neuen Waffe, die
sie gegen ihn in die Hand bekam, denn mit allen traf sie sich selbst. Sie
schlief nicht mehr, verbarg mit Mühe ihre ständige Gereiztheit, und von
früh bis spät war sie in der Angst, einen Zug an ihm zu bemerken, der ihn
entstellte, der ihn vervollständigte. Nutini war ihr Schrecken; bei jeder
Begegnung lüftete er, feixend oder unter Freundschaftsbeteuerungen, wieder
ein Stück von Pardis Vergangenheit. Pardi hatte die Chiarini, als sie von
ihm in anderen Umständen war, mit dem Wagen umgeworfen, wobei sie umkam
. . . Nutini verhehlte nie, Lola auf den Mut hinzuweisen, womit er sie über
den gefürchteten Duellanten aufkläre. Sie hielt trotzdem das meiste für
Verleumdung; aber ein ruheloses Mißtrauen und eine verzweifelte Lust an
seinem Gezischel trieben sie zu Nutini. Sie standen zusammen abseits,
wiesen nach dem Horizont, lachten laut, und dabei sagte Nutini:

»Sie wissen wohl nicht, warum die Bernabei Sie so viel durchs Lorgnon
ansieht?«

»Die mit dem zusammengedrückten Gesicht und den roten Lidern? Nein.«

»Weil sie Pardis Geliebte ist . . . Ja, man spricht seit zwei Tagen davon,
aber ich habe mich erst überzeugen wollen . . .«

Lola hörte gierig die Einzelheiten von Nutinis Entdeckung an.

»Sie begreifen nun, die Bernabei ist auf Sie eifersüchtig.«

»Aber neulich, als Pardi seine Rede gegen die Scheidung hielt, schien sie
sich mir ganz freundlich nähern zu wollen.«

»Das glaub ich!« -- und Nutini lachte auf, mit großen Falten neben dem
Munde; »Sie wissen wohl, was Eifersucht ist: man muß die Gegnerin kennen
lernen!«

»Nein, ich weiß das nicht. Und ich bin nicht die Gegnerin der Frau
Bernabei.«

»Im Ernst? . . . Ich will aufrichtig sein. Die Gräfin hat mich beauftragt,
zu machen, daß Sie beide sich kennen lernen.«

»Mich verlangt nicht nach der Bekanntschaft.«

»O! Sie sind nicht eifersüchtig. Sie sind ein bewundernswertes Geschöpf, in
das auch ein ernster Mann sich verlieben könnte. Unglaublich, wie viel
Seele in den Augen dieses Mädchens ist . . .«

Lola dachte: »Für alles andere habe ich Blick, nur nicht für Liebessachen
. . . Jetzt begrüßen sie sich: ja, es ist wahr. Daß ich das nicht früher
gesehen habe! Und doch war sie mir unsympathisch vom ersten Augenblick, und
ich habe mich ihretwegen mit ihm gestritten! Also hat er eine Geliebte:
hier gleich neben mir, die er doch behandelt, als ob ich ihm gehörte
. . .«

Gegen die Liebe in ihr vermochte das alles nichts; nur die Last dieser
Liebe konnte es vermehren. Ihr Wachstum war nicht mehr aufzuhalten. Kein
Tag, der ihr nicht Nahrung gab. Noch mit der Verachtung des Geliebten
nährte sie sich!

Und ihr Dasein glich jetzt ganz jenem Spaziergang, die letzte Nacht in
Deutschland, als sie in die Luft schlug, aus blinder Angst vor seiner
Berührung. Immer war sie in Angst, sich zu verraten: mochten ihre Worte
noch so gehalten sein, sich mit Blicken zu verraten, wie die Bernabei, mit
einer Betonung, die ihr, sie merkte es, ausglitt, mit einer Bewegung, die
entschlüpfte. Stand ihr nicht der Traum der vergangenen Nacht noch in den
Augen, als sie sich, einen steilen Weg hinab, fest auf ihn gestützt und
sich abgespannt und genesen gefühlt hatte? Konnte er nicht in sie
hineinsehen? Drang nicht ihre Leidenschaft ihr durch die Haut? Sie drang
doch bei allen durch, so lang die Terrasse war, so viele Menschen hier
gehäuft saßen, so viele Gesichter sich aufeinander zuneigten, so viele
Hände nacheinander tasteten. Lola sah jetzt dies alles und fühlte es, ohne
hinzusehen. Ein neuer Sinn war ihr gekommen für den Strom, der um diese
Tische und durch diese Menschen lief und von dem der Blick jedes Mannes und
jeder Frau, die sich ansahen, dieses ironisch gedämpfte Einverständnis
empfing. Sie fragte nicht mehr, warum hier zwischen Frauen und Männern kein
Gespräch über irgend eine draußen liegende Sache aufkam. Sie selbst konnte
nur noch darauflos schwatzen, schlaff lachen und, nun Nutini ihr den Hof
machte, sinnlos herausfordernd an seinen Augen haften. Dazwischen empörte
sie sich gegen ihren Zustand, begriff nicht, wie er hereingebrochen sei,
schrieb ihn dem Scirocco zu, der einem den Atem nahm, einen gedankenlos,
matt und nach Schauern gierig machte. Man zog die Mahlzeiten hin, trank,
rauchte, -- und wenn man die heiße, schlaffe Hand über das Geländer hängte,
traf Regen sie, der nicht kühlte. Die Gerüche dieser eleganten Menge
standen still in der Luft. Das Meer sandte bleierne Reflexe. Die Blicke
erschienen fiebrig, die Gesichter fahl, gedunsen und von aufstachelnder
Zerrüttung.

Lola fand jetzt viele beneidenswert schön. Manche dieser Frauen schminkten
sich Masken wie Kokotten. Man mußte das herausbekommen. Man mußte ihren
lauten Chic erlernen. Sie probierte des Nachts. Mai, sah sie, hatte täglich
breitere Kohleränder. Wenn sie zusammen die Terrasse betraten und von der
Bernabei und den anderen gemessen wurden, spürte Lola von weitem den
Erfolg. Mais dunkle, weiche Schönheit und Lolas herbere blonde Eleganz
hoben einander. Sie sprachen unter sich kaum ein Wort, sie hielten beim
Ankleiden die Tür zwischen sich geschlossen, gaben sich keinen Rat mehr: --
am Fuß der Treppe aber blieb Mai stehen, um Lola an ihre Seite zu nehmen;
und am Strande legten sie einander die Hand in den Arm und lachten sich zu.

»Wir sind eigentlich wie ein Paar Abenteurerinnen,« dachte Lola. »Wer uns
nicht kennt --.« Mit der Wucht des Schreckens vertiefte sie sich dahinein.
»Wir sind immer, ohne irgendwo hinzugehören, durch Europa gezogen, haben
nur an Plätzen gelebt, wo sich Abenteuer finden lassen, -- und haben wir
keine gefunden? Womit habe ich, wenn ich die Branzilla abziehe, meine Zeit
verbracht? Auch hatten wir nur unregelmäßig Geld . . .« Und da hatte sie
ihr Dasein umgesehen, verstand sich, sehr befremdet, auf einmal ganz
anders. »Ich bin es! Ich bin eine Abenteurerin! . . . Die anderen, die es
sind, wissen es vielleicht auch nicht. Man merkt das wohl selbst erst, wenn
die Leute es schon längst sehen . . .«

Sie wehrte sich: »Ich habe doch so viel gelesen; durch meinen Kopf, der
jetzt wohl leer ist, sind doch Gedanken gegangen, wie gewiß niemals durch
diese Köpfe hier. Wenn ich jetzt in diese Gesellschaft gehöre, -- noch vor
kurzem war ich doch mit ganz anderen Menschen fast verwandt. Wie war mir
zumut, als ich mit Arnold war? Alles war anders. Frauen, wie diese, die ich
jetzt nachahme, hätten mich gedemütigt durch ihre bloße Gegenwart.« Dann:
»Aber vorher war ich mit Da Silva. Auch das habe ich in mir. Und das bricht
jedesmal mehr durch. Jetzt bin ich hier und bin so.«

Einen halben Tag lag sie gelähmt von ihren Entdeckungen; und als sie
aufstand, hatte ihre Rolle einen tragischen Sinn bekommen. Wie Mai, die
nichts ahnte, es kläglich gut hatte! Für sie war, sobald Paolo einmal
wieder ein paar tausend Francs schickte, alles in Ordnung. Man mußte
sanfter mit ihr sein . . . Beim Anblick der Bernabei schnellte in ihr ein
Stolz auf, der sie erschütterte. »Diese Frau,« dachte sie, »wird sich mir
vorstellen! Sie wird in das Palais der Contessa Pardi kommen und sich ihr
vorstellen!« Sie ließ kein Erstaunen über den Einfall in sich aufkommen.
»Ah! Diese Leute halten mich für eine Abenteurerin. Der Geliebte solcher
Weltdame hat nebenher noch eine etwas verdächtige Bekanntschaft, die er in
die Gesellschaft nicht einführen kann. Denn er hält mich von ihnen
getrennt, er behandelt mich wie eine Kokotte. Aber sie sollen sehen! Er
soll sehen!«

Sie verachtete diese Menschen! Und dabei gab die Aufgabe, sich unter ihnen
Platz zu machen, ihr Begeisterung. Nun wußte sie sich wieder unangreifbar,
suchte keinen Schutz mehr vor Pardi, nahm ihn sogar mit auf ihre einsamen
Spazierwege.

»Nicht in den langweiligen Wald, bitte: nach den Bergen zu.«

»Es wird sehr heiß sein -- und weit.«

»Sie sehen ganz nahe aus, und droben geht gewiß Wind.«

»Wie Sie meinen . . . Übrigens wiederhole ich Ihnen, daß Sie verschwenden.
Ihre Mama weiß nicht mehr, wie sie die Kleider bezahlen soll, die jetzt
wieder für Sie da sind.«

»Möchten Sie, daß ich hinter der Bernabei zurückstehe?«

»Warum vergleichen Sie sich der Bernabei?«

Lola hörte, wie er stammelte. Sie fühlte sich, da sie den Namen seiner
Geliebten nannte, im Genuß einer Überlegenheit; fühlte, daß ihr kühles
Lächeln ihm unheimlich sei, wie gewissen Wilden eine Jungfrau.

»Ich kenne Sie schon,« sagte sie. »Sie gehören zu den Männern, die ihrer
Freundin etwas Festes im Monat geben und von ihr verlangen, daß sie darüber
abrechnet. Man kann, denke ich mir, ganz gut eine Menge Geld verspielen und
dann in Kleinigkeiten geizig sein. Nicht?«

»Was Sie sagen, schickt sich nicht für Sie!«

»Nehmen wir an, es wäre eine Frau, eine ältere Frau, die es Ihnen sagte.«

»Sie sind viel zu klug für eine Frau! Übrigens: wozu reden wir. Lange genug
haben wir getan, als ob nichts wäre zwischen uns, als ob wir nicht wüßten,
daß ich Sie besitzen werde, und daß Sie darauf warten. Ihre Klugheit ändert
daran nichts. Was Sie reden, sind bloß Worte; und im stillen wissen wir
mehr. Ist es nicht so?«

Seine Stimme fühlte sich an, wie eine Hand, die im Würgen noch schmeichelt.

»Was Sie sagen, schickt sich nicht für Sie,« erklärte Lola.

»Sie bringen mich zum äußersten!«

Halb ihr zugewendet, hielt er seine beiden, bebenden Fäuste vor sie hin.
Sie ging weiter, ohne hinzusehen.

»Was hindert mich: was? Wenn Sie die Contessa Dingsda wären oder auch das
Stubenmädchen --«

Er zischte nur noch; aber sie verstand ganz gut: man behandelte sie nicht
wie eins jener Weibchen. Eine Scheu benachrichtigte selbst diesen, daß das
nicht ging. Sehr hochgemut, mit Auflachen:

»Ich nehme an, daß dies alles einen Heiratsantrag bedeutet.«

»Nein!« -- ganz brutal. Lola duckte den Nacken, sie konnte nicht anders.
Sie versuchte zu trotzen:

»Einen Gegner der Ehescheidung könnte ich auch nicht brauchen.«

Aber sie dachte in Panik: »Soll ich sagen: wenn es keinen Antrag bedeutete,
war's Unverschämtheit? . . . Darf ich das noch? Ich hatte mich ihm
gleichgestellt! Plötzlich schlägt der Mann dann zu: so ist es immer. Dies
Nein werde ich nie vergessen.« Sie setzte sich hin.

»Gehen Sie, bitte, allein weiter. Ich will hier bleiben.«

»Auf der Mauer, in der Sonne? Ich warte natürlich, bis Sie sich ausgeruht
haben.«

Lola sah nach den Bergen und dachte: »In was für einer Lage! Mai wäre nie
in solcher: sie, die ich so oft dumm finde.« Sie lachte gewaltsam:

»Wissen Sie wohl, daß Sie ziemlich grob waren? Aber ich verzeihe Ihnen. Für
die dummen Frauen hat man die Galanterie; aber was tut man mit den Klugen.
Da ist man ratlos.«

Dann:

»Die Berge kommen aber gar nicht näher. Kehren wir also um.«

»Sehen Sie, daß Sie nachzugeben verstehen?« sagte Pardi.

                   *       *       *       *       *

Er trällernd im Tenor, Lola mit Kopfschmerzen: so kamen sie zurück. In
ihrem Zimmer schloß sie sich ein, fand aber keine Ruhe.

»Wenn er mich nicht heiratet, -- ich muß mich erschießen! Dies geht nicht
einfach vorüber, das weiß ich. O! wie ich ihn hasse.«

Im Umherirren gab sie ein leises Wimmern von sich. Plötzlich, stehen
bleibend:

»Oder -- ist das Haß? . . . Was tut er jetzt? Ist er bei der Bernabei?«

Sie horchte an Mais Tür, öffnete leise: Mai war nicht da.

»Und was tut Mai?«

Fieberhaft trieb es sie nach allen Seiten. Keinen Augenblick konnte sie
länger allein bleiben. Da kam Mai, und hatte wieder dies verdächtig
Unsichere.

»Woher kommst du?« fragte Lola hastig. Mai stutzte, und ihr Blick, der um
Teilnahme gebeten hatte, verschloß sich. Lola mußte sich erst sanft machen;
dann erfuhr sie, Mai habe wieder einmal Pai erblickt, vorhin, während ihrer
Nachmittagsruhe, -- aber noch seien ihre Augen offen gewesen; Pai sei von
links gekommen und habe ein schrecklich ernstes Gesicht gehabt.

Mais sklavische Angst entrüstete Lola auch diesmal. Sie wollte sagen: »Wenn
du mit vollem Magen schläfst --« Aber sie sagte:

»Pai ist offenbar nicht zufrieden mit dir. Wundert dich das?«

Mai sah vor sich hin. Ihre Brust ging immer heftiger. Da fiel sie Lola,
ohne ihr in die Augen zu sehen, um den Hals.

»Willst du Pardi? Ich lasse ihn dir. Ich begnüge mich mit Botta.«

Lola vermochte nichts gegen die eigene Gereiztheit. Sie erwehrte sich Mais.

»Du weinst mir das ganze Gesicht naß, und ich hatte mich eben gepudert
. . . Wie willst du mir Pardi lassen? Gehört er dir?«

Und Mai, enttäuscht, aus der Stimmung gerissen und auf einmal voll
Feindschaft:

»Also dann wirst du's sehen!«

»Was werde ich sehen, Mai?«

Sie maßen sich; -- und wie Lola dies haltlos und kindlich böse Gesicht
dringend betrachtete, brach ein Schauer von Mitleid über sie herein. »Das
ist doch Mai,« dachte sie. Da umfaßte sie Mai, drückte sie auf den Stuhl
nieder, legte, vor sie hingekniet, Stirn und Augen in ihren Schoß.
Dunkelheit: die tat wohl. Was sich noch eben so wild angefühlt hatte, war
nun abgeschafft. »Es ist doch gar nicht nötig,« dachte Lola.

»Ich brauche ihn gar nicht,« sagte sie und hielt die Augen geschlossen;
»ich liebe ihn gar nicht.«

Mai legte ihr die kleinen weichen Hände um das Gesicht.

»Das kennen wir,« flüsterte sie nur. Und wie Lola die Lider öffnete:

»Sagte ich's nicht?«

»Was sieht sie in meinen Augen?« dachte Lola und ging zum Spiegel.

»Ich habe wohl etwas Fieber, Mai. Meinst du, daß ich heute abend zu Hause
bleiben soll?«

»Ich meine, daß wir jetzt keine Zeit mehr verlieren, sondern dich
verheiraten müssen,« antwortete Mai wichtig. »Ich muß für dich handeln,
sonst kommen wir zu nichts. Du bist so klug, aber ich sagte dir's schon
oft, eine Negerin weiß die Männer geschickter zu nehmen als du. Auch betest
du zu keinem Heiligen. An welchen Gott glaubst du eigentlich?«

»Wie willst du handeln, Mai? Daß du ihm kein Wort sagst, du würdest mich
sehr böse machen.«

»Ich habe das Recht, ihm zu verbieten, daß er meine Tochter noch länger
kompromittiert. Man bleibt nicht mit einem jungen Mädchen drei Stunden vom
Hause fort. Laß mich nur machen, ich bin erfahrener.«

Lola wendete sich hin und her.

»Warum muß ich denn heiraten?«

»Damit du einmal zur Ruhe kommst. Weißt du das nicht? Und die Geldsachen
aufhören. Seit Paolo all unser Geld in dieses Ansiedelungsunternehmen
gesteckt hat, kriegen wir immer weniger.«

Mai war ganz Gesetztheit, ganz Vernunft.

»Aber wenn das Geschäft gelingt, sind wir reich.«

»Du selbst hast noch gestern gezweifelt. Besser, wir versorgen dich
gleich.«

»Mir widerstrebt es, Mai. Ich werde Pardi nur heiraten, wenn unser Geschäft
gelungen ist. Jetzt mußt du dich wohl anziehen,« setzte sie rasch hinzu.

»Nein,« sagte Mai ebenso rasch, und als habe sie darauf gewartet. »Ich
werde mich gar nicht anziehen. Ich bin gut genug, wie ich bin. Aber ich
werde dir helfen.«

»Was fällt dir jetzt ein? Irgend etwas mußt du doch anhaben.«

»Dann ziehe ich das grüne Kleid an.«

»Das die Schneiderin ganz verdorben hat? Und Grün steht dir nie!«

Mai wiederholte mit einer Festigkeit, unter der es zitterte:

»Ich ziehe das grüne Kleid an.«

»Du bist schrecklich!« -- und Lola sah sich verzweifelt nach allen Seiten
um. Daß Mai sich häßlich machen wollte, war ein peinlicheres Opfer, als
wenn sie ihr Pardi freiließ.

»Zu dem grünen mußt du wenigstens Rot auflegen, hörst du?«

»Ich werde mich überhaupt nicht schminken: nur Eau végétale.«

Und Mai ging, von sich selbst erschüttert, hinaus.

                   *       *       *       *       *

An diesem Abend schickte Mai alle Tänzer fort, machte Bekanntschaften unter
den Müttern einiger kleinen Provinzlerinnen und führte sorgenvolle
Gespräche über die Kinder. Dafür ließ sie sich das nächste Mal zu ihrer
silberbestickten weißen Empirerobe überreden; und jedesmal, wenn sie in
Pardis Arm an den Wänden hinglitt, trieb es Lola ihr nach. Sie gab dem
eigenen Begleiter keine Antwort, hing nur an Mais und Pardis Mienen, die zu
süß, zu vertieft waren, quälte sich um die Worte, die er in Mais Corsage
sprach, litt unter dem weichen Seidenfluß um Mais Gestalt, unter den
blaßbunten Palmen darauf aus altem Kaschmir, unter Mais Flimmern und
üppigen Gleiten und der nie gestörten Weiße ihres Gesichts in den breiten
schwarzen Haarwellen. Sie selbst erhitzte sich, ihren Fächer bewegte sie
nicht so melodisch, und nie würde sie es verstehen, solche Hingebung zu
spielen! »Diese Männer hier wollen nichts, als daß man ihren Augen
schmeichelt, und allen ihren Sinnen. Das ist alles, was sie kennen.« Sie
ließ sich ins Freie führen, ans Buffet, von einem Raum zum andern; in aller
Hitze klapperten ihr plötzlich die Zähne; und sie begann wahllos zu
schwatzen. »Wie ich mich schäme!« dachte sie dazwischen.

»Was haben Sie mit Mai gesprochen?« fragte sie Pardi und lachte.

»Wir haben uns gestritten. Ihre Mama will nicht, daß ich mit Ihnen
spazieren gehe. Sie wissen, daß ich darauf nicht verzichte: eher auf alles
andere,« sagte er mit dieser sengenden Süße. Sie lachte schwächer, schloß
eine Sekunde die Augen; -- und in der Sekunde war alles gut.

Beim Hinaufgehen verhielt Mai sich kleinlaut. Am Morgen sah sie verweint
aus, hatte eine Stimme voll Mitleid mit sich selbst, war einfach angezogen
und wollte, nur mit Botta, an den unbelebten Strand unter der Pineta. »Bis
zum nächsten Mal,« dachte Lola. Denn sie wußte jetzt: Mai opferte sich
stückweise. Immer noch blieb ein Rest Selbstsucht zu bezwingen. Aber ihre
unerklärten Abwesenheiten mit Pardi wurden seltener, und nach ihnen war's,
als flüchtete sie sich, verstört, zu Lola, als wollte sie nie mehr von
ihrer Seite, mit Blicken und Bewegungen, wie um Schutz und um Verzeihung
. . . Lola erinnerte sich seines furchtbaren »Was hindert mich --«
Vielleicht daß ihn bei Mai nichts hinderte? Nicht die Scheu, die sie selbst
umgab? Nein! Bei Mai nichts. Und Bilder brachen herein . . .

Kein Mittel gab es, ruhig zu atmen, als wenn man aus jeder Stunde wußte,
was sie getan hatten, sie und er. Lola verbündete sich enger mit Nutini.

»Wir betragen uns zu sehr als Amerikanerinnen, nicht? Mai ist wieder mit
jemand allein fort, ich glaube mit Pardi. Gestern auch, glaube ich.«

»Nein, gestern mit Botta. Sie haben droben an der Düne gelegen. Aber jemand
lag auf der andern Seite und hat sie belauscht. Botta hat zuerst von seiner
Balleteuse geseufzt, dann hat er Ihrer Mama einen Antrag gemacht, und
nachdem er abgelehnt war, hat er sie um Geld gebeten. Es scheint, er
steckt, von der Balleteuse her, noch immer in Schulden.«

»Wie man hier, bei allem Gefühl, praktisch ist. Das gefällt mir. Also Geld
sucht man bei uns? Aber hält man uns denn nicht für Abenteurerinnen? Sagen
Sie's nur!«

»Mein Gott, manche geben vor, es zu glauben. Wer Ihnen schadet, ist Pardi.
Hat er nicht geprahlt, er werde Sie beide zu seinen Geliebten machen? Ihre
Mama und Sie?«

Lola sah ihm in die Augen: sie waren lügnerisch. »Und doch könnte Pardi das
sagen!« mußte sie denken.

»Wo und wann hat er das geäußert?«

»Vor aller Welt, noch gestern. Sie und Ihre Mama brauchen nur den Rücken zu
wenden.«

Lola bebte vor Zorn.

»Das lassen Sie ihn sagen? Und Sie behaupten manchmal, Sie lieben mich.«

»Ich liebe Sie,« wiederholte Nutini, durchdrungen. Gleich darauf nahm sein
Gesicht einen anderen Faltenwurf an.

»Was den Herrn Pardi betrifft, verachte ich ihn zu tief, um seine
Prahlereien wichtig zu nehmen. Niemand nimmt sie wichtig. Übrigens macht er
mich nicht eifersüchtig, denn ich habe die Überzeugung, daß er es viel mehr
auf Ihre Mama absieht.«

Lola zuckte zusammen. Vergebens hielt sie sich vor: »Nur aus Feigheit
spricht er so.« Sie fühlte sich tief niedergeschlagen und rätselhaft
gefangen, wie mit Stricken aus Luft. Nutinis Ränke, Pardis
Unzuverlässigkeit, Mais Schwäche und Lolas eigene Ängste würden immer so
weiter gehen. Eine atemlose Ungeduld quälte sie auf einmal. Keinen
Augenblick länger durfte dies alles dauern. Sie machte eine Bewegung, als
risse sie sich los.

»Daß ihr Männer, kaum daß ihr unter euch seid, von uns Frauen so redet, das
ist mir nichts Neues. Sie erinnern sich, was ich einmal, auf meinem Balkon,
von euch zu hören bekam.«

Nutini legte die Hand aufs Herz.

»Ich war nicht dabei: vergessen Sie das nicht.«

»Auch Sie hätten dabei sein können. Was würde das ändern. Nur von Pardi
glaube ich nichts.«

»Damals haben Sie seine Stimme wohl erkannt; und was seine Worte von
gestern betrifft --«

»Nichts glaube ich, und dürfte es auch nicht; denn --«

Laut:

»Ich liebe ihn!«

Aufatmend, mit Stolz:

»Ja: ich liebe ihn. So ist es. Was wollen Sie dabei tun.«

Sie grüßte und ging. Das tat wohl: etwas Unwiderrufliches war geschehen.
Zurück ging's nun nicht mehr. Nutini würde dies herumschwatzen. Pardi
erfuhr es . . . Er konnte sie auslachen -- oder sie heiraten. »Wenn nicht,
erschieße ich mich.« Das Mitwissen aller konnte auch einen Druck auf ihn
bewirken, konnte ihn nötigen, sie zu heiraten. »Wie ich berechne! Ich werde
wirklich zur Abenteurerin.« Gleichviel: wer alles wagte, hatte Rechte auf
alles. »Werde ich mich nicht erschießen?«

                   *       *       *       *       *

Pardi holte sie ein; er war ganz in Flammen.

»Wissen Sie, daß ich den Nutini zur Rede stellen werde? Ihre Duos mit ihm
gefallen mir nicht mehr.«

»Wenn sie aber mir gefallen?«

»Das genügt nicht --« und sie zankten schon wieder, vorgeneigt, mit
leidenden Gesichtern, aufeinander ein. Lola verfiel in die Furcht, er
möchte schon wissen, was sie erst eben gesagt hatte; der Lauscher, der hier
hinter jedem Baume stand, hatte wohl schon gesprochen! Und jetzt, da sie
ihm in die Augen sah, begriff sie nicht mehr, daß sie's hatte sagen können.
»Ich habe mich aufgegeben, ich habe ihn zu meinem Herrn gemacht!« In
Verzweiflung:

»Was geht Sie's an: ich liebe Nutini!«

Pardi war plötzlich still. Lola sah verstört beiseite. Er erholte sich.

»Das ist natürlich wieder eine Lüge.«

»Wie kommen Sie dazu --«

»Sonst würde es ihm schlecht ergehen. Aber Sie werden ihn nicht
wiedersehen. Sie werden ihn wegschicken, wenn er Sie anredet!«

»Sie sind verrückt. Sie vielmehr: Sie werde ich besser einige Tage nicht
sehen. Heute Abend fahren wir nach dem Hause, wo Botta die Balleteuse
geliebt hat. Ich bitte Sie, hierzubleiben.«

»Heute Abend überreiche ich dem Kommandanten der >Savoia< im Namen des
Komitees die Fahne. Sie werden mit mir auf das Schiff kommen.«

»Ich werde im Hause der Balleteuse dinieren.«

»Sie werden mit mir auf das Schiff kommen!«

»Gute Unterhaltung!«

»Ich befehle Ihnen . . .«

»Bitte?«

»Sie werden nicht mit Nutini gehen! Sie werden ihn nicht lieben!«

»Ich liebe, wen ich will.«

»Hüten Sie sich!«

»Morgen reise ich, und er folgt mir.«

»Schweigen Sie! Ich befehle es!«

»Sie befehlen mir? Gehen Sie!«

Die lange Halskette, die von ihren vorgestreckten Schultern
herabschaukelte, knirschte unter Lolas Fingern: sie hatten eine Perle
zerrieben. Die andern rannen auf den Teppich, ein dünner, bunter Regen.
Pardi sah zuerst ihn, dann Lolas dicke Falte, die bewußtlose Wut ihrer
Augen, die ganz leise und ohne die seinen loszulassen, hin und herrückten.
Und da gewahrte Lola, wie er rückwärts ging. Kein Wort mehr sagte er,
tastete hinter sich nach dem Türgriff und verschwand. Lola erstaunte; aber
im Begriff, sich aufzurichten, erkannte sie im Spiegel den ganzen irren
Schwung des Hasses, den ihr Körper ausdrückte. Sie setzte sich, strich sich
über die Stirn. »Er hat wohl geglaubt, ich würde ihm in die Augen
springen?« Die Wonne der Freiheit begann plötzlich in ihr zu strömen. »Ich
bin ihn los! Er ist vor mir davongelaufen! Ich kann tun, was ich will!«

Sie stellte sich mit einer Zigarette auf den Balkon. Dann:

»Mai! Mai! Heute abend wird an den See gefahren, den Kanal hinauf. Wir
wollen uns furchtbar amüsieren!«

Und als Mai die Fahne und Pardi einwendete:

»Er ist vor mir davongelaufen! Wir sind ihn los! Mai! wir wollen tanzen!«

Ohne Mai Fragen zu erlauben, drehte sie sie herum. Als Mai endlich,
atemlos, zu Wort kam:

»Ich muß aber hier bleiben.«

Dabei verharrte sie, weinerlich und feindlich.

»Mai! du kannst mir nicht in die Augen sehen. Das ist nicht recht. Das ist
nicht recht.«

Und Lola ging aufgebracht durch das Zimmer. Mai klagte:

»Was soll ich denn tun?«

»Wählen!« antwortete Lola, den Türgriff in der Hand.

»Also . . . fahren wir an . . . diesen dummen See?«

»Und inzwischen packt Germaine! Und wir werden Pardi nie wiedersehen!«

»Das glaubst du selbst nicht,« sagte Mai.

                   *       *       *       *       *

Sie behandelte den Ausflug mit Verachtung, lehnte es ab, sich dafür
anzuziehen und fragte schon wie man ins Boot stieg, ob es lange dauere.
Lola erklärte sich zu allem aufgelegt. Sie warf den Kindern, die am Ufer
des Kanals mitliefen, Süßigkeiten zu. Nutini hatte eine Gitarre, Cavà
setzte sich, seiner Uniform ungeachtet, eine künstliche Nase auf. Die
kreischenden Kleinen blieben allmählich zurück. Mai nahm die Hände von den
Ohren und sagte »Gott sei Dank«. Die große Stille der leeren Wiesen, der
grenzenlos umblauten Kornfelder ward fühlbar. Mochte Botta ihn verhöhnen:
Deneris seufzte ergriffen. Als Lola zu singen begann, nahm Cavà seine Nase
wieder ab. Ihr Lied galt der rosigen Wasserbahn, die man, ohne je zu
landen, ohne je mit Menschen Gemeinschaft zu wollen, einsam entlang gleite.
Nur fremd und gleich wieder entrückt, konnte man die Menschen lieben,
konnte von ihrer Liebe träumen, wie die blauen Pfade dem Walde
entgegenträumen.

Sie sang dies am Boden ausgestreckt, den Kopf im Arm, der sich auf die Bank
stützte. Mai fragte, widerspenstig:

»Riechst du denn nicht die Füße des Ruderers? Was für eine ekle Hitze!
Während wir in unserm kühlen Salon liegen könnten!«

Aber Lola verlangte ein kleines Mädchen ins Boot zu nehmen, das im dünnen
Schatten der seltenen Pappeln ein Lamm vor sich hertrieb. Sofort flüchtete
Mai vor dem Lamm an das Ende des Bootes. Die Herren bewunderten es. Unter
Lolas Augen überboten sie sich mit Zärtlichkeiten an die Kleine. Deneris
küßte sie, Cavà schenkte ihr seine Nase, Botta gab ihr, im fetten Tenor,
väterliche Ratschläge, Nutini schnitt ihr Fratzen. Dann sahen alle sie mit
wehmütigen Köpfen an, wie Lola sie in den Armen hielt.

»Ich dachte, Ihr würdet viel lustiger sein,« bemerkte Mai boshaft.

Und Lola gestand sich, daß sie Komödie spiele; daß der schöne Abend ihr
verloren sei; daß nicht auf der rosigsten Bahn das Glück mitfahre, wenn sie
abgewendet sei von ihm. Leere und Verlassenheit ängsteten Lola. Das Kind
fing an zu weinen: es war an seinem Hause vorüber und glaubte, es solle
entführt werden. Es ward ausgesetzt; -- und nun glitt das Boot in den lang
vorgeschobenen Schatten des Waldes. Der dunkle Wasserweg blinkte tief
drinnen auf. Das nasse alte Grün duftete wild und einsam; die Ruderschläge
hörten sich an wie ein Wagnis.

»Ihr habt alle fahlgrüne Gesichter,« sagte Botta.

»Die Fahrt zur Unterwelt!« sagte Cavà.

Mai klagte, sie werde sich erkälten. Da wichen die Laubmauern zurück; und
unbewegt, dreieckig, und voll abgründiger Schatten, öffnete sich der See.
Das Haus drüben im letzten Licht sah, über sein Spiegelbild hinweg, weiß
und sehnsüchtig her, wie eine Gefangene, deren Kleid im Wasser schleppte.

»Ich kann nicht glauben, daß sie fort ist,« sagte Botta, durchdrungen,
indes er die Tür aufschloß.

»Olimpia!« rief Cavà, unter ein Sofa und schlug sich dabei lockend aufs
Knie.

»Zeige uns die Küche!« verlangte Deneris. »Die gnädige Frau will die Güte
haben, uns eine süße Speise zu bereiten.«

Er sah, die Hand am Herzen, in Mais schmollendes Gesicht.

Dann kehrte Botta mit Lola vor eine noch verschlossene Tür zurück. Er
sperrte auf.

»Das Schlafzimmer!« -- und er seufzte, aus fetter Brust. Lola lächelte
trübselig. Sie gingen hindurch, traten auf den Balkon und lehnten sich über
das Wasser. Botta seufzte nochmals: »Wie oft habe ich hier mit ihr
gebadet!« -- und er spuckte hinab. Aus jener Bucht kam mit Nutinis
Geklimper Cavàs frische Stimme gesprungen.

»Da nun Succi bewiesen hat, daß man ohne Essen leben kann, liebe Nina, will
ich dich heiraten: dann können wir zusammen fasten.«

»Was ist der Mensch,« sagte Botta. »Ein wenig Gesang, einen Sommerabend am
Wasser, -- und ein Herz, das sich alt glaubte, wird wieder ungestüm.
Fräulein Lola, haben Sie Mitleid mit einem, der leidet: holen Sie Deneris
aus der Küche, ich muß mit Ihrer Mama sprechen. Alles hängt davon ab!«

»Ich glaube,« sagte Lola, »Deneris spricht schon mit ihr: er tut es, so oft
er kann.«

»Ein hochherziges Geschöpf wie Sie kann nicht den gemeinen Eitelkeiten des
Weibes verfallen: ich weiß, Sie sind nicht eifersüchtig auf Ihre Mama. Auch
werden Sie es angenehm finden, wenn ein ehrenhafter Mann Ihre Mama
heiratet. Die Sorge um sie, die von Ihnen beiden das Kind ist, nimmt er
Ihnen ab . . .«

Lola dachte: »Er hat recht: ich würde sie nicht mehr vor all den Männern
behüten müssen.« Aber darunter, insgeheim: »Sie würde mir nicht mehr ihn
wegnehmen!«

»Sind Sie meine Bundesgenossin?« fragte Botta vertraulich. »O, natürlich
erwarten Sie auch Ihren Nutzen davon.«

Da sie errötete:

»Das ist billig . . . Seien wir offen. Mag das dumme Volk hier glauben, was
es will: ich habe mich nach Ihnen erkundigt und weiß, daß Ihr Herr Bruder
sehr aussichtsreiche Geschäfte in Händen hat. Sie werden einmal reich sein.
Aber Ihnen persönlich nützt dies nichts, bevor Sie heiraten, und (ich kenne
die Sitten Ihres Landes) nur wenig, bis zum Tode Ihrer Mama. Machen wir
einen Pakt: Sie begünstigen meine Werbung um Ihre Mama; und im Fall, daß
ich sie bekomme, verpflichte ich mich Ihnen zur Abzahlung eines noch zu
bestimmenden Kapitals . . .«

Lola dachte, ohne sich zu regen: »O mein Gott, und eben wünsche ich mir,
Mai möchte ihn nehmen!« Sie wandte ihm das Gesicht zu.

»Aber ich habe meine Mutter nicht zu verkaufen.«

Botta sagte im selben väterlich vertraulichen Ton, wie das übrige:

»Sie sind noch sehr jung.«

»Dann warten wir also, bis ich älter bin.«

Sie richtete sich auf. Drinnen war's nun ganz finster. Cavà und Nutini
riefen nach Licht. Wie man die Speisekörbe auf den Tisch leerte, trat Mai
ein, lächelnd, als brächte sie ein Versöhnungsgeschenk, -- und Deneris trug
hinter ihr das süße Gericht. Es ward bestaunt; jeder verlangte gleich eine
Probe.

»Du tust ja, als wäre es dein!« sagte Botta zu Deneris.

»Wer weiß,« machte er, bedeutsam, und starrte glücklich auf Mai, die an ihm
vorbeilächelte.

»Wie du heute gesund aussiehst!« bemerkte Cavà.

»Und ich?« fragte Nutini an Lolas Ohr. »Werden Sie den gesund machen, dem
ihretwegen die Wangen einfallen?«

Bei Tisch, neben ihr:

»Ich kann Ihnen versichern, daß Sie heute ungewöhnlich schön sind. Der
andere schadet Ihnen. Sie haben förmlich etwas Beruhigtes. Eine Frau mit
Ihren Nerven braucht einen bequemen Gatten. Ich würde einer sein: Sie
dürfen es glauben. Ich liebe Sie so sehr, so sehr, daß ich sogar bereit
wäre, wegzusehen, wenn einmal eine Laune Sie ankäme . . .«

»Das ist mehr, als ich erwartete,« sagte Lola.

»Nein,« dachte sie, »Pardi würde nicht wegsehen. Weder Bottas Vorschlag
wäre ihm eingefallen, noch das, was ich nun gehört habe . . .«

Cavà sah mit knabenhaftem Spott herüber, indes er seinen Uniformrock
aufknöpfte und ihm eine Photographie entnahm. Er stellte sie vor Lola hin:
Pardi!

Alle lachten: da ging die Haustür. »Nun?« Jemand tastete die Treppe herauf.
Noch rührte sich keiner; man sah einander in die Augen. Cavà lachte laut
auf:

»Er wird uns doch nicht alle umbringen!«

Und auf einmal sprangen alle Männer an die Tür. Lola erschauerte vor Grauen
und Stolz. »Welche Furcht haben sie alle vor ihm!« Sie leuchteten in den
Gang; und auf die Schwelle trat in dürftiger Eleganz ein blasser Kellner
aus dem Hotel und hielt einen Brief hin. »Wer? Wer? . . . Nutini!« Die
andern zogen sich ein wenig von ihm zurück, wie von einem, den's getroffen
hatte. Er hatte gelesen und sah erbleicht umher.

»Er fordert mich. Pah!«

»Gratuliere,« sagte Cavà.

»Endlich!« -- und Nutini schielte hastig nach den Damen. In die Brust
geworfen, fuchtelnd: »Ich habe ihn erwartet! O! ich triumphiere. Zu spät
wird er erkennen, daß er diesmal an den Rechten kam.«

Er schrie den Kellner an:

»Sage dem, der dich schickt, daß er's bereuen wird! Daß dies sein letztes
Duell sein wird!«

»Beachte die Formen!« sagte Botta. »Du sprichst mit Pardis Sekundanten.«

»Er sieht verhungert aus, der Sekundant. Er soll essen!«

Nutini drückte ihm, gewaltsam lachend, die Schüssel mit Mais süßer Speise
in die Hand und schob ihn zur Tür hinaus. Mai griff nicht ein; sie hielt
eine angstvoll geballte Faust an den Mund und wimmerte. Lola saß reglos da,
mit erweiterten Augen und ineinander gepreßten Fingern. Nutini nahm den
Brief vom Boden auf, schien ihn nochmals lesen zu wollen. Plötzlich zerriß
er ihn in zackige Fetzen und stampfte darauf. Dann fiel er gegen den
Türpfosten, griff sich, rasch atmend, ans Herz und zerdrückte, unter
krampfigen Grimassen, Tränen zwischen den Lidern. Stockend murmelte er:

»Was will er übrigens von mir . . .«

Sogleich, wie gehetzt, fuhr er wieder auf, schielte wild nach den Damen,
gab sich verzweifelt Haltung.

»Laß nur!« -- und Cavà reichte ihm ein Glas Champagner. »Das würde jedem
passieren. Im ersten Augenblick macht solche Forderung uns stolz, im
zweiten besinnen wir uns. Der Pardi ist ja wirklich ein furchtbarer Gegner.
Wer aber seinen Schrecken sehen läßt --«

Cavà, wandte sich den Damen zu.

»-- schlägt sich nachher oft am besten.«

Botta bemerkte:

»Aber schön siehst du nicht aus.«

»Schweige!« schrie Nutini. »Oder ich fordere auch dich und schone dich
ebensowenig!«

»Armer Kerl, _seine_ Forderung geht ja vor; und nachher, wo bist du dann?«

»Sst!« machte Cavà; -- und zu Mai und Lola:

»Die Damen begreifen, daß es in diesem Augenblick unter uns Männern einiges
zu besprechen gibt. Da Sie leider Zeuginnen der peinlichen Sache geworden
sind, darf ich Ihnen sagen, daß sie wohl schon bei Tagesanbruch geordnet
werden wird, und daß wir ein wenig Eile haben . . .«

Deneris bot Mai den Arm, Botta Lola. Sie machten ihnen im Schlafzimmer
Licht und ließen sie allein. Lola ging in einen Winkel, Mai in einen
andern. Ein erregtes Schweigen; -- plötzlich, unterdrückt:

»Lola!«

»Mai!«

Und Mai lief Lola entgegen, drängte sich in ihre Arme, die sie empfingen.

»Das darf doch nicht geschehen,« sagte Lola mehrmals, indes Mai nur
wimmerte. Da entquoll ihr alles auf einmal.

»Mit welchem gefährlichen Menschen haben wir uns eingelassen! O, Lola! Das
hättest du nicht tun sollen . . .«

Ohne auf Lolas Widerspruch zu hören:

»Wir sind viel zu weit mit ihm gegangen; jetzt schießt er, damit er uns
allein hat, um uns her die Leute tot. Warum hast du dich ihm auch
widersetzt! Bist nicht dageblieben, wegen dieser Fahne, wie er's wollte!
Einem solchen Mann darf man sich nicht widersetzen. Ich habe mehr Erfahrung
als du, aber du glaubst mir nicht. Wird er dich heiraten? Welche Ängste!
Was soll ich tun?«

»Beruhige dich, Mai, ich werde verhindern, daß er ihn tötet!«

»Was soll ich tun! Dein Vater erscheint mir, -- aber auch Pardi! Nur durch
den finstern Korridor brauche ich zu gehen, und mir ist's, als hätte ich
ihn hinter mir. Ich bin zwischen ihnen beiden, die mich ängstigen! Aber ein
Ende muß gemacht werden. Wir entkommen nicht anders: er muß dich heiraten.
Dein Vater verzeihe mir, aber ich werde alles tun, damit er dich heiratet:
ich werde mich opfern.«

Lola hörte das nur von fern, ohne einzudringen.

»Mai! Mai! Gib doch acht: ich muß verhindern, daß er diesen Menschen tötet.
Ich könnte das nicht aushalten: es wäre durch meinen Leichtsinn geschehen.
Denn ich habe ihm gesagt, daß ich Nutini liebe. Verstehst du: weil ich
kokett und widerspenstig und kleinlich bin und gelogen habe, stirbt ein
Mensch. Das ist furchtbar, das ist das äußerste. Davor muß ich mich retten!
Zu allem bin ich bereit. Soll ich mich ihm hingeben?«

»Nein! Was denkst du denn!«

Eine Pause. Mai löste sich aus Lolas Armen und nahm sie selbst in die
ihren.

»Du bist unpraktisch,« sagte sie mütterlich; und schmerzlich stolz: »Ich
bin viel praktischer.«

»Wie denn, Mai?«

Lola suchte, durch ihre Tränen hindurch, vergebens in Mais Gesicht. In
diesem Augenblick kam Mai ihr befremdend groß vor. Sie selbst fühlte sich
wie ein kleines Mädchen.

Wie sie den Kopf gegen Mais Schulter senkte, traten die Herren ein, sie
abzuholen: alle zusammen, mit Nutini an der Spitze, der Haltung zeigte. Er
beteiligte sich mit Maß und freiem Kopf an der Unterhaltung, die nichts
Kriegerisches hatte. Lola mußte immer nach ihm hinsehen, gequält von
nichtiger Neugier und unablässig versucht, von seiner schlimmen
Angelegenheit anzufangen, wie eine Verbrecherin, die nicht schweigen kann.

»Haben Sie nicht das Bedürfnis, sich zu betäuben?« fragte sie endlich,
durchschauert. Nein; Nutini war nüchtern und besonnen; er beabsichtigte
noch einige Stunden zu schlafen. Man stieg ins Boot. Vor dem Gesicht des
Schiffers, das plötzlich aus dem Dunkel trat, schrak Lola zurück. Nutini
war's, der sie festhielt, als ihr Fuß schon das Wasser berührte. Sie haßte
dies kurzatmige Klappen der Ruderschläge; es klang nach Flucht; -- und doch
wartete, wohin immer sie ins Dunkel die Augen richtete, kurz und
geisterhaft aufflammend, Pardis bleiches, drohendes Gesicht. Was die
anderen ihr sagten, machte ihr Ungeduld. Mai hatte ganz recht, daß sie
Deneris Geflüster abschnitt und ihn bat, er möge vergessen, was sie vorhin
verabredet hätten. Alles sei verändert; sie könne ihn nicht mehr heiraten.
»Natürlich,« dachte Lola. »Ist nicht alles in Auflösung?«

Sofort schickte sie nach Pardi. »Wäre ich nur die erste, mit der er
spräche!« Vom Balkon sah sie ihren Boten von Hotel zu Hotel irren und ohne
Eile in die schlafende Stadt biegen. Lola ging bis in den Winkel bei der
Tür, übersah das helle, heitere Zimmer, suchte den Stuhl aus, auf dem er
sitzen würde, und nahm sich zusammen: »Was werde ich ihm sagen?« »Damit er
den Nutini nicht tötet, mich ihm hingeben? Wie bin ich zu der
Überschwenglichkeit nur gekommen? Das dunkle, moderige Haus muß Schuld
haben, an dem unheimlichen See. Ich habe Phantasie, wie ein Mann. Nutini,
den es doch am nächsten angeht, ist viel nüchterner geblieben. Wie die
Menschen hier, trotz ihrem Feuer, eigentlich mäßig und vernünftig sind! Im
rechten Augenblick bekommen sie immer ihre Nerven in die Gewalt. Ich bin
sicher, Gugigl hätte sich betrunken. Er fing damals schon damit an . . .
Woran denke ich denn? Gleich wird er da sein. Was will ich? Ohne
Umschweife: ich will, daß er mich heiratet. Und hat er meinetwillen jemand
umgebracht, dann werden vielleicht alle und sein Gewissen ihn drängen, zu
tun, was ich will? Ich müßte also Nutinis Tod wünschen. Das bring' ich
nicht fertig. Dann muß ich ihm sagen: Es war eine Lüge, ich liebe nicht
Nutini. Und da er mir nicht glauben wird, muß ich hinzusetzen: Ich liebe
niemand und gleich morgen reise ich ab . . . Auch das kann ich nicht. Aber
es ist furchtbar, dort, wo man liebt, keinen Augenblick mit Rechtlichkeit
und Sanftmut rechnen zu dürfen, immer nur mit unbedingtem Drang . . .«
Wieder sah sie auf den Platz, den er einnehmen würde, und dachte sich dort
statt seiner eine verhaltene, befangene Geste, eine nachdenkliche,
verläßliche Freundesmiene: Arnold. Sie seufzte und schüttelte den Kopf.
»Das ist abgetan. Der Zwang und das Leiden der Sinne sind gegeben und
erprobt. Ich kämpfe nicht mehr. Besser ist's, ich beruhige ihn und stimme
ihn menschlich . . .«

Da schrak sie auf; es klopfte heftig. Erregt trat sie ihm entgegen; der
Vorsatz der Milde war ihr schon entfallen; und sie sagte drohend:

»Wenn Sie sich mit Nutini schlagen, ist zwischen uns alles aus.«

»Ah! wie Sie ihn lieben. Aber lange genug haben Sie mich genarrt: ich werde
ihn töten.«

»Hören Sie die Wahrheit! Ich liebe ihn nicht. Erst wenn Sie ihn getroffen
haben, werde ich ihn lieben. Hüten Sie sich, ihn nicht ganz zu töten! Sie
werden sehen, wie ich ihn lieben werde!«

»O, ich treffe!« -- und sein Gesicht war zerfahren von Haß. Sie rief,
hingerissen, voll Not:

»Was wollen Sie! Sie lieben mich doch nicht!«

»Doch.«

»Dann heiraten Sie mich! Begreifen Sie nicht, daß Sie es mir längst
schulden? Was hält Sie ab? Ich bin aus angesehener Familie, die künftig
reich sein wird. Glauben Sie, sich meiner schämen zu müssen? Nein nein:
gerade aus Eitelkeit lieben Sie mich! und irgend eine zieht Sie von mir ab,
die Sie anders lieben.«

»Sie irren sich . . .«

»Sprechen Sie doch!«

Wie dies hassenswert und trostlos aussah: das Schwanken, die Unehrlichkeit
und Unzuverlässigkeit dieses von seinen Launen gequälten Mannes aller
Frauen! Und das mußte man begehren: gerade das!

»Was sage ich, irgend eine: alle vielmehr! Sie sind eine männliche Dirne!
Gehen Sie!«

Pardi zischte:

»Danken Sie Gott, daß Sie kein Mann sind!«

»Danken _Sie_ Gott dafür!«

Er rang sich nieder.

»Ich würde mich vergessen; lieber verlasse ich Sie. Ihre Mama hat mich
gerufen.«

Lola, über die Schulter:

»Mai heiratet Deneris.«

»Das ist nicht wahr! Ich werde es verhindern!«

»Gut, auch das noch.«

»Und dann sehen Sie mich wieder!«

Die Tür krachte. Lola ging, die Hände vor der Brust, rasch hin und her.
»Was geschieht nun! Mai wollte ihn mir lassen. Aber im äußersten Augenblick
vergißt man die andern. Mai ist schwach. Wenn er sie statt meiner will, sie
heiratet ihn!« Sie warf sich in Kissen, drückte das Gesicht weg. »Es ist
klar, war immer klar: sie liebt er, nicht mich!« Tiefer in die Kissen, weit
fort. »Was tun sie nun!« Nein: auf! Das Haar ordnen! Sich bereit halten,
stolz zu lächeln, wenn er eintrat und die erwarteten Worte sprach.

Da flog, ohne Klopfen, die Tür auf. Er stand da, stürmisches Glück auf
seinem schönen Gesicht. Wie er Lola ansah, kam ihm eine Falte; mit
wiedergekehrter Gereiztheit in der Stimme fragte er:

»Wollen Sie mich also heiraten?«

Sie antwortete, zornig nach vorn geworfen:

»Ja!«



Dritter Teil



I


So leise Lola, ohne Licht zu machen, ihr Schlafzimmer betrat, Mai hörte sie
doch, kam zögernd herein, -- und plötzlich, schluchzend im Dunkeln, hängte
sie sich an Lola, die den Atem anhielt und mit schlechtem Gewissen auf dies
Schluchzen hörte.

»Werde glücklich!« brachte Mai hervor.

»Darum handelt es sich nicht,« murmelte Lola. »Aber du weißt, man muß
vernünftig sein.«

Und sie übte sich in Vernunft und Nachgiebigkeit. Sie durfte jetzt nicht
mehr das Damenbad verlassen. Pardis Augenrunzeln begegnete sie, wenn sie,
ohne ihn zu erwarten, zu Tisch gegangen war. Er fand es unverschämt, fragte
sie nur, wo er mit Mai den halben Tag verbracht habe. Denn sie verschwanden
aufs Meer, in das Land . . . Dafür machte er aus Lolas Eintritt jedesmal
etwas wie das Erscheinen einer Fürstin. Ein Fest, mit Regatta, Ball und
Feuerwerk, das er plante, sollte ihm dazu dienen, seine Verlobte mit Größe
in die Gesellschaft einzuführen. Lola erklärte aber, wegen ihrer
Ausstattung nach Florenz zu müssen. Am Morgen ihrer Abreise, noch bevor der
Strand sich belebte, sah sie die Bernabei und sah, daß sie auswich. Lola
machte einen Bogen und grüßte: mädchenhaft, mit Unterordnung. Sie schämte
sich, zu triumphieren. In diesem Augenblick trat Pardi auf und stellte vor.
Seine Geste war blühend, voll des Genusses der Lage. Lola zog die Brauen
zusammen. Sie reichte der Bernabei die Hand, mit einer raschen Regung, die
sagte: »Er rühmt Ihnen seine Braut und prahlt vor mir mit seiner Geliebten:
muß uns diese brutale Manneseitelkeit nicht zu Verbündeten machen?« Und sie
erstaunte einfach, als die Hand der andern nicht kam und in dem
zusammengedrückten Gesicht die blassen Augen vor Haß dunkler wurden.

In der letzten Minute sagte Pardi:

»Nein, Sie können nicht allein reisen, ich komme mit Ihnen.«

Mai erwiderte:

»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich es nicht wünsche.«

Er erklärte Mais Bedenken für lächerlich; Lola selbst gab zu, sie nicht
einzusehen. Aber Mai zeigte sich, zum ersten Male, stark; sie trotzte dem
drohenden Auftritt.

»Sie werden Lola immer für sich allein haben. Ich werde mich nach Amerika
zurückziehen.«

Pardi lief plötzlich davon. Er erschien nicht am Bahnhof.

»Was hat er?« fragte Lola.

Mai weinte schon wieder.

»O, mir macht es nichts;« -- und Lola, zart gestimmt, tröstete. »Mich freut
es, daß du erreicht hast, was du wolltest.«

Mai sah sie, durch ihre Tränen, mit rätselhaftem Entsetzen an.

                   *       *       *       *       *

Zu der Bossi sagte Lola:

»Jetzt brauchen Sie mir keine Rastaquouèrepreise mehr zu machen: ich werde
zu den Damen der Stadt gehören.«

Die Schneiderin riet sofort richtig.

»Contessa Pardi! Da wäre es aber eine Beleidigung, wenn ich meine Preise
herabsetzen wollte.«

Das Glück, in Stoffen zu wühlen, sich im Geiste mit ihnen zu schmücken, sie
vor dem Spiegel um sich her zu legen, belebte Mai. Sie sprach nicht mehr
klagend, sie gestand, Lust nach einem sehr guten Diner zu haben. Am
nächsten Morgen ließ Lola sich Paolos ungewöhnlich hohen Check auszahlen.
Allein spazierte sie durch die helle, feine Stadt, die ihr zulächelte, ihr
all ihre Eleganz, all ihre unbesorgte Sonne anbot. »Die Tosca! Schon jetzt,
anfang September: welch Glück! Also heute Abend die Tosca.« Ein Romantitel
lockte sie an; und auf der Hotelterrasse, zwischen zwei Sitzungen bei der
Bossi, las sie. Unter ihr wurden Blumen ausgerufen und warmer Duft stieg
herauf. Der Fluß wiegte sich, hinter den im Dunst zerschmolzenen Brücken,
golden und frei, zu glücklichen Hügeln hinaus. Glücklich war doch jener
Sommer gewesen, dort zwischen den Hügeln! Straßen, einst fröhlich
beschritten, fielen Lola ein; eine mündete plötzlich bei einem Landhause in
Fontainebleau, mit einem jungen Menschen, von dem sie geliebt worden war.
Der Arme! Wie leidenschaftlich hatte sie selbst eine Woche lang die
Giannoli geliebt, nach jenem Abend in Brüssel, als sie die Euridike sang!
Sie hatte sie besucht . . . Die Blumen, die sie ihr brachte, ähnelten
einer, die am Rande eines Abgrunds in den Pyrenäen stand. Ein ganz schmaler
Pfad führte hinab, und vor dem letzten Schritt war Lola entsetzt umgekehrt
. . . Sie lächelte, ohne zu wissen, wo sie war, in die Sonne hinaus.
Aufschreckend: »Aber ich bin wahnsinnig, daß ich heirate! Will ich denn
alles, alles aufgeben? Was habe ich heute mit meiner Zeit getan? Ich bin
gewohnt, sie zu verschwenden, und künftig soll ich unter Vormundschaft
stehen. Es ist so selbstverständlich, daß es schlimm werden muß. Ja: und
grade, wenn etwas gar zu selbstverständlich ist, kommt ein Zeitpunkt, wo
man davon absieht . . . Pardi ist mir bekannt; aus dem, was ich mit ihm
schon erlebt habe, kann ich alles Kommende ableiten. Über nichts werde ich
mich zu beklagen haben, ich werde es gewollt haben . . .« Und in Hast:
»noch kann ich mich retten!«

Aber sie zerriß den begonnenen Absagebrief. Denn wie sie ihm den Irrtum des
Geschehenen klar zu machen suchte, fand sie vielmehr auf den
unvermeidlichen Weg zurück, der hierher geführt hatte. Da Silva und die vor
ihm, waren an diesem Wege die Leidensstationen. Bei dem ersten biß man noch
die Zähne zusammen und kam durch. Pardi war grade dort, wo man hinfiel.
»Sein Unglück: auch seins; denn natürlich brauchte er eine Frau, die ihm
schmeichelt und ihn betrügt. Aber ich kann ihm nicht helfen. So wenig wie
mir. Wirklich, ich gehe sehend in alles hinein. Ich habe mein Blut zu
büßen.«

                   *       *       *       *       *

Mai ließ sie zu sich bitten. Es war die flaue Vorabendstunde; man ist vom
Tage verbraucht und entbehrt noch die Anregungen des Abends. »Um diese Zeit
sollten wir uns in Ruhe lassen. Aber Mai begreift nicht, warum sie sich
schlecht fühlt, und muß mit allem heraus.«

Mai lag auf dem Diwan und hatte wieder geweint.

»Ich habe nachgedacht,« sagte sie wichtig, »und gefunden, daß du nicht für
ihn paßt. Meine Mutterpflicht will, Lola, daß ich dir von dieser Heirat
abrate.«

»Danke für deine gute Absicht, Mai, aber es ist zu spät.«

»Soll ich ihm schreiben?« -- ganz rasch; und da Lola stutzte, mit leidender
Stimme:

»Ich sehe nämlich voraus, daß ihr beide unglücklich werdet.«

»Das ist wohl niemals ausgeschlossen, Mai.«

»Bei euch aber ist es beinahe sicher . . . und --«

Mais Stimme hörte sich plötzlich gereizt an.

»Die Schuld wirst du haben mit deinen modernen Ansichten.«

»Oder er mit seinen veralteten. Aber vielleicht geht es auch gut.«

»Er ist so wie ein Mann sein muß . . . Aber du brauchst einen, der sich zu
deinem Kameraden hergibt. Denn, nicht wahr, du möchtest seine Kameradin
sein? Sage, wie wäre es denn mit jenem Deutschen: du weißt schon, welchen
ich meine. Ich bin sehr betrübt, daß ich nicht früher daran gedacht habe.«

»Du kannst sicher sein,« -- und Lola lächelte, »daß ich auch das bedacht
habe. Pardi ist trotz allem der, den ich brauche.«

»Du willst also deinen Entschluß nicht ändern?« -- mit flehendem
Augenaufschlag und gerungenen Händen. »Ich rede zu deinem Besten. Du
verstehst nicht viel. Du hast nicht viel Talent, eine Frau zu sein. Ich
rede zu deinem Besten . . .«

Aber Mais Ton ward immer rachsüchtiger.

»Du glaubst wohl, in der Ehe erweise man sich Gefälligkeiten. Du weißt also
nicht, daß sie ein genaues Geschäft ist, bei dem der Mann sein Vergnügen
von uns möglichst billig zu bekommen sucht. Dein Vater hat mich um das
Meinige betrogen. Ich hätte von ihm viel, viel mehr Diamanten und Pariser
Hüte verlangen sollen. Reisen hätte er mich machen lassen sollen. Ich war
unerfahren und er nutzte mich aus. Jetzt hasse ich ihn: daß du's weißt, ich
hasse ihn! Es reut mich, daß ich ihn damals nicht betrogen habe. Er würde
verdienen, daß ich ihn noch jetzt betrüge, -- mag er mir auch erscheinen.«

Und aus verzerrtem Gesicht, grotesk wie ein böses Kind, stieß Mai mit ihren
ganz schwarzen Blicken nach Lola.

»Schade,« sagte Lola und zog sich zurück. »Ich konnte das wohl vermuten;
aber daß du es aussprichst, macht mir's noch schwerer, eine Frau zu sein.«

Plötzlich schluchzte Mai krampfhaft in ihre beiden Hände.

»Geh' nicht fort! Du ahnst nicht, was ich leide!«

»Was denn, Mai?« -- aufzuckend von Mißtrauen. »Was hast du?«

Mai nahm die Hände vom Gesicht, das tief errötet war.

»Du wirst hoffentlich nie erfahren, wie sehr ich leiden muß, weil ich deine
Mutter bin.«

Lola prüfte sie, ungläubig. Mais schmerzvolles Nicken fand sie theatralisch
und hob leise die Schultern. Mai, die die Liebhaber mit den Badeorten
wechselte!

»Der Verzicht sollte dich wirklich so viel kosten?«

»Es gibt etwas, das mich mehr kostet,« sagte Mai, noch rätselhafter.

Und nach einer Pause, sehr bedeutsam und mit Stolz:

»Was ich getan habe, geschah alles für dich, und was du künftig bist, wirst
du alles durch mich sein!«

Lola sah zu so viel Feierlichkeit keinen Grund. Sie brach ab.

»Wir müssen zur Bossi.«

»Gut,« sagte Mai und schmollte schon wieder; »aber ich begreife nicht, was
dies schöne teure Brautkleid soll. Niemand wird es sehen, außer den jungen
Leuten, die euch als Zeugen dienen. Warum mit der Hochzeit nicht warten,
bis die Gesellschaft wieder in der Stadt ist. Wozu diese Heimlichkeit und
Eile.«

»Ich weiß nicht . . .«

Lola sah verwirrt umher.

»Vielleicht habe ich genug gewartet?«

                   *       *       *       *       *

Sie ward getrieben von der Hast des schlechten Gewissens. Wie sie endlich
mit Pardi allein im Schnellzug saß, fürchtete sie, von Bekannten ertappt zu
werden, und zugleich forderte sie den Zufall heraus. »So,« dachte sie, »muß
einem anständigen jungen Menschen zumut sein, dem es einmal passiert, daß
er mit einer Dirne auf Reisen geht.« Sie hätte Champagner verlangen, den
Mann dort küssen mögen, und wagte vor Befangenheit kaum den Kopf zu wenden.
Pardi rauchte und lächelte ihr siegesgewiß zu.

Als sie sich von ihm in den Wagen heben ließ, dessen kleines Pferd nicht
stehen wollte, schlugen ihr die Zähne aufeinander. Unter dem Mantel des
Mannes, in seinem Arm: so jagte sie in die dunkle Campagna hinein. Manchmal
flirrte fieberhaft in nächtlichen Gärten ein Haus, von Sternenlicht weiß.
Manchmal fiel einen, wie ein Räuber, ein schwüler Duft an und blieb, wie
von einem Hufschlag getroffen, am Wege liegen. Jetzt hingen nur noch wenige
schwere Gestirne tief herab auf das verödete Land, -- dessen ganze wilde
und schlaffe Schwüle Lola durchdrang, wie die Lippen des Mannes sich auf
ihrem Hals zerdrückten.

Pardi und der Kutscher stiegen ab; ein Büffel lag auf die Straße gewälzt.
Dann hallte über ihnen der Bogen eines Aquäduktes und dröhnten unter ihren
Rädern die römischen Lavaquadern. Bei einem Brunnen, der seinen
geschweiften Giebel, sein Muschelbecken und seine trinkenden Putten, wie
ein heroischer Dandy, gegen die Einöde behauptete, rasteten sie. Pardi
befahl, das nasse Pferd zu bewegen. Als hinter dem Wagen die Dunkelheit
zusammenfiel, fing Lolas Herz zu klopfen an. Sie wartete. Ihre und des
Mannes Hände trafen sich und erschraken. Da riß er sie an sich.

Lola atmete ungeregelt und lachte, als sie wieder einstiegen.

»Können wir nicht bis ans Meer fahren, Liebling? Jetzt möchte ich das Meer
sehen.«

»Ans Meer? Wir sind gleich zu Hause.«

»Zu Hause? Wo?«

Wie durch ein dunkles Abenteuer taste man dahin, liebte einander, ohne
einer des anderen Augen erkennen zu können, und hatte in aller
Überreiztheit das Gefühl, man schlafe.

Was kam nun? Langsam stieg es in dicke Mauern hinein. Ein Städtchen hängte
darüber seine langen, wilden alten Häuser, schickte sie, schlaftrunken und
voll Wirrsal, den Berg hinan. Auf einem gewalttätig gewinkelten Platz hielt
ihr Wagen; düster wuchtete der Dom herab; -- und sie stiegen, der Arm des
Mannes um Lola, zwischen lagernden Ziegen über die Treppengassen. Aus einem
verschlossenen Hause ein Lachen machte, daß sie auseinanderfuhren und, noch
fester beisammen, auf der niederen Mauer die Gesichter ins Weinlaub
drückten. In schattig erstickten Kissen sahen sie es sich hinabbiegen und
zergehen in der heißen und schweren Tiefe, deren Atem mit verhaltenen
Stößen an ihre Lippen prallte.

Und ganz oben -- der Mann trug sie über die letzten Häuser hinaus -- der
vergitterte Palast, von Greisen bewacht, in seiner Verwilderung und seinen
Wunden. Und jenseits der bröckelnden Schwelle das Echo aus weitem Dunkel,
und dahinten am Fuß der Treppe ein Licht, so dünn, daß nur des Alten, der
es hielt, magere Halssehne aus dem massigen Schatten sprang. Und über ihren
Mosaikböden die leeren Säle, in deren Wänden einmal ein bleiches Gesicht
sich entblößte, als heulte es auf; aus deren Decken einmal ein dunkles
Gefunkel fiel, wie ein vergangener Dolchstoß. Und, am Ende, das Gemach,
eingeengt von mächtigen, ineinander verfleischten Leibern, deren es voll
schien, die durch die weiten Fenster und zur Tür hinausquollen und die
Wildnis des schwarzen Gartens durchtobten . . . Schwindlig von Gesichten,
fühlte Lola ihre Kleider gelöst, sich umgewendet, gezogen, hingerafft.

»Laß, daß ich mein Haar öffne!«

»Meine Göttin!«

»Wer sieht uns zu, hinter der Bettsäule, am Spalt des Teppichs?«

»Warum erschrickst du? Ich bin da. Fühlst du mich?«

Aber nach Stunden, jenseits der Traumgrenze, funkelten wieder die gelben
Augen der Faune, die mit ihren gespaltenen Hufen über die Schwelle der
Gartentür stapften und das Bett umstellten.

                   *       *       *       *       *

Sie stand auf, bevor er wach war, wagte nicht das Zimmer zu verlassen, sich
nicht zu zeigen, und saß, mit der Schulter nach dem Bett, unbehaglich auf
dem zerrissenen Gobelin eines Prunksessels. Ohne darauf zu achten, hatte
sie ihre Toilettesachen wieder in die Tasche gelegt und hielt die Hand
darauf. Sie sann verstört. Hinter ihr gähnte es und warf sich's herum.

»Komm!« lallte er.

Sie sprang auf und flüchtete in den Garten. In kurzem, sah sie, verlief er
auf den kahlen Berg. »Ich möchte fort,« dachte sie. Da erinnerte sie sich
jener Nacht in Deutschland, als sie, wie spielend, auf und davongegangen
war und er sie eingeholt hatte. Sie ging das Haus entlang und betrat durch
eine zweite Tür eine Galerie, worin der Alte von gestern den Tisch deckte.
Er legte langsam hin, was er hielt, und verneigte sich; und während sein
Kopf auf der Brust lag, errötete Lola. Sie nahm einen Korbstuhl, verließ
ihn wieder, wechselte mehrmals den Platz. Ihr Kleid, merkte sie plötzlich,
bekam einen roten Saum vom Fußboden! Sie wollte sich auf eine der seidenen
Bänke setzen, sich an eine der goldenen Konsolen lehnen: und Staub flog
auf. Unter dem Sofa drüben sah sie ihn geballt, wie Watte.

»Das Schloß ist wohl sehr alt?« fragte sie den Diener.

Sofort setzte er ein mit einer Aufzählung von Daten, Namen, Gegenständen,
als führte er Fremde umher.

»Auch ein römisches Mosaik? Das will ich sehen.«

Sie erreichte nicht die Tür: eine Frau in schwarzem Kleid trat ein, groß
und dunkelhaarig, noch schön trotz gelber, müder Haut, und starrte Lola
finster an, -- bevor sie, als besänne sie sich, sehr freundlich ihre
Dienste anbot. Lola antwortete, aus Verwirrung, mit entgegenkommendem
Lächeln. Durcheinander fragte sie die Frau, wie sich's hier lebe, was denn
ihr Mann jage, wie alt ihre Kinder seien . . . Da sah sie über dem Kamin,
auf der Lockenperrücke des bronzenen Reiters, eine ganz in Staub gewickelte
Haarnadel. In ihr zuckte es auf. »Natürlich! Sie gehört zu seinen
Geliebten. Eine andere hätte das gleich gesehen.«

»Nein, ich brauche gar nichts, Sie können gehen.«

Auch der Alte ging: rückwärts, und sah dabei fragend auf Lola. Sie reinigte
mit der Serviette einen der Korbsessel, bevor sie sich hineinwagte. Sie hob
ein Knie auf das andere, beugte sich darüber, faltete dick die Brauen: »Da
sitze ich nun; das habe ich davon.« Wo war die leidenschaftliche Poesie der
Nacht? Schmutzig, nüchtern und gemein war's jetzt. Der Garten lag voller
Abfälle, die schwerlich von Faunen herrührten.

Pardi stieß die Tür auf.

»Guten Tag, Cesare Augusto,« sagte Lola, mit einem Lächeln aus gesenkten
Augen, angewidert und entzückt in einem.

»In Hut und Schleier, als ob sie mir durchgehen wollte! In ihrem großen
blauen Schleier, unter dem ihre goldenen Haare schimmern wie ein versenkter
Feenschatz.«

Sie blieb regungslos, bis sie seine Hände spürte: da stieß sie, entsetzt,
um sich.

»Was gibt's? . . . Ach so, auch vorhin bist du mir davongelaufen. Habe ich
etwas nicht recht gemacht? Aber mir scheint --«

Er tätschelte, und Lola bebte.

»-- daß diese Kleine mit mir ganz wohl zufrieden war.«

»Ich habe lange gewartet. Der Hunger macht mich nervös.«

»O! essen wir! Ich meinerseits bin hier auf dem Lande oft den ganzen
Vormittag draußen, nur mit einer Tasse Kaffee im Magen. Stört dich's, daß
ich rauche?«

»Nein . . . Und dann finde ich's hier langweilig.«

»Schon? Wohin möchtest du? Was sollen wir vor Oktober in Florenz?«

»Bleiben wir also! Ich muß das Schloß kennen lernen. Wo hast du als Knabe
dein Zimmer gehabt? Denn du warst doch schon als Knabe hier?«

»Nein. Ein Großonkel, der als Kardinal in Rom lebte, hat es gekauft. Ich
habe es erst mit zwanzig Jahren betreten, nachdem ich es geerbt hatte.«

»Und das bleiche Bild von gestern Abend?«

»Alles fremde Leute. Wir sind jünger; wir sind keine Feudalen. Unser
einziger Kardinal war nur ein Snob. Wir sind Florentiner Bürger und durch
Fellhandel reich geworden. Glücklicherweise sind es bald hundert Jahre,
seit wir das letzte Fell verkauft haben.«

»Aber seither seid ihr Grundbesitzer. Eine Meile im Umkreis, sagtest du
gestern, gehört dir?«

»Und meinen Gläubigern!«

»Wie kommt das? Dein Vater --«

»-- war ein Geizhals.«

»Also du allein. Und auch in Toskana warst du reich. Sage, was hast du mit
alledem getan?«

Da er nur lachte:

»Du hast gespielt?«

»Auch.«

Sie drängte ihre Brust gegen seinen Arm. Mit Kinderstimme:

»Und sonst?«

Sie duldete seine Liebkosungen, sah dabei angestrengt zur Seite. Plötzlich
schroff:

»Laß!«

Mit wiedererlangter Verführung:

»Und sonst? Wer hat dein Geld bekommen?«

Er umfaßte sie, mit Armen und Knien, ruhig und fest, küßte sie, wo es ihm
beliebte, und lachte in ihre zornigen Augen, die ihren Mund und sein süßes
Lächeln verleugneten.

»Wie dies Kind neugierig ist!«

»Ich bin kein Kind; ich möchte deine Freundin sein.«

»Glücklicherweise eine Freundin, die kein Glied rühren kann.«

»Ich muß wissen, wie du gelebt hast. Bin ich denn eine Fremde? Bin ich eine
Untergebene?«

Sie sah gespannt hin: sein Lachen ward zusehends zu einem stummen Feixen
der Verachtung, -- das sie begriff. »Ich habe dich gehabt,« sagte es.
»Worauf pochst du noch? Was kannst du noch?«

Sie war dunkelrot, und ihr lockendes Lächeln zitterte, aus Verstörtheit,
noch immer um die entblößten Zähne. Er küßte sie darauf und ließ sie los.
Sie floh in den Kaminwinkel.

»Sie beleidigen mich! Sie verhöhnen mich!«

Sie stand vorgebeugt zum Kampf, das Gesicht verzerrt von Wut. Er
verschränkte die Arme.

»Sie haben eine Vergangenheit. Sie haben mit Frauen gelebt. Ich weiß es.«

»Wenn Sie's wissen. Aber ich versichere Ihnen, daß Sie sich irren;« -- sehr
höflich. Und mit nicht nachweisbarer Ironie:

»Sie sind die erste Frau, die ich liebe.«

»Und wenn ich selbst Ihnen manches verheimlicht hätte?«

Er wehrte gelassen ab.

»O! Nicht nötig. Ich habe mich überzeugt, daß ich keinen Vorgänger gehabt
habe.«

»Sie sind gemein!«

»So liebe ich dich!« -- und er kam rasch auf sie zu. Vergebens wand sie
sich unter seinem Griff; er schleifte sie aus dem Winkel hervor, stieß sie
aufs Sofa. Sie fiel auf die Brust und klammerte sich an die Lehnen.

»Sei artig!« -- und er machte, ohne ihr weh zu tun, einen ihrer Arme los.

»Ich will Ihre Vergangenheit wissen,« wiederholte sie, störrisch und
ratlos. Er ließ sie.

»Nun, Sie sind schlechter Laune. Also kümmere ich mich jetzt um meine
Geschäfte. Auf Wiedersehen.«

Als draußen seine Schritte verhallt waren, richtete Lola sich auf, stützte
die Hände auf den Sitz und sah mit Ekel an sich hinunter. »Wie der Mensch
mich zugerichtet hat! Warum führe ich auch eine Lage herbei, in der ich ihm
Widerstand leisten muß. Häßlich war ich dabei. Die Frauen macht echter
Widerstand häßlich. Nur der geheuchelte steht ihnen. Und ich kann nicht
heucheln. Ist es lästig, ein halber Mann zu sein! Wenn man ihm doch nicht
mehr damit imponiert. Ich war in gerade solcher Wut, wie neulich in
Viareggio, als er rückwärts aus der Tür ging. Das fällt ihm jetzt nicht
mehr ein, denn er hat sich genau überzeugt, daß ich eine gewöhnliche Frau
bin, daß alles in Ordnung ist. Wie sagte er? Nicht nötig; ich habe mich
überzeugt --. O, sehr gemein; aber wußte ich's nicht? Den eifersüchtig
machen zu wollen mit Gefühlen, aus denen nichts geworden ist! Schläft er
denn mit meiner Seele?«

Lässig stand sie auf, strich an ihrem Rock hinunter, ordnete das Haar.

»Er ist stark: er braucht mich gar nicht. Ein anderer wäre mein Freund
gewesen. Aber --« und sie spähte in sich hinein, nach dem verschwimmenden
Bilde eines Gesichtes, »hätte ich ihn dafür nicht verachtet? . . . O, wir
sind erbärmlich, wir Weiber; wir kennen nur Verachten oder Verachtetwerden.
Dies hab' ich nun. Für's erste hänge ich an ihm. Ist das erst vorüber,
bleibt nur noch der Haß; und dann werd' ich ihn wohl betrügen? So sind wir
Weiber doch?«

Sie verließ die Galerie, schlenderte, die Röcke mit beiden Händen
aufgerafft, durch mehrere Säle. Am Ende des letzten sah sie in einen
Arkadenhof. In einer sonnigen Ecke, an die zierliche Doppelsäule gelehnt
und mit hängenden Rosen auf ihrer Nachtjacke, saß eine Alte und spann.

»Guten Tag, wie geht es?« sagte Lola und blieb müßig stehen.

»Ihr seid hübsch, unser Herr hat recht gehabt,« sagte die Alte und fuhr mit
ihren wilden schwarzen Augen um Lolas Formen. Lola errötete. Sie bemerkte,
daß das trockene weiße Gezottel der Alten so aussah, als hätte sie's
gesponnen.

»Das ist eine Handspindel? Wie macht man's?«

»Laßt doch! Ihr seid ungeschickt. Zu anderem werdet Ihr geschickter sein:
unser Herr wird schon wissen, wozu.«

Die Alte begann mit tiefer Stimme zu summen, wiegte sich und bewegte
spinnend, wie im Reigen, die Arme. Ein wenig ängstlich, als müßte sie nun
gleich den Zauber der Hexe wirken fühlen, sah Lola ihr zu. Die Alte brach
ab; plötzlich sog sie ihre beiden Lippen ganz ins Innere des zahnlosen
Mundes. Dann:

»Ihr seid wahrhaftig die hübscheste seit der allerersten, die er
herbrachte.«

»Wann war das?«

»Als er das erstemal kam. Viele Jahre sind's.

Mein Sohn hatte noch den Hof von ihm in Pacht, drunten in Spello, bis er am
Fieber starb, auch er, der Arme.«

»Ja. Aber jene Erste: wie hieß sie?«

»Ich weiß nicht mehr. Er brachte seither so viele mit.«

»Immer war er mit Frauen hier?«

»Auch mit Freunden. Sie tranken und jagten. Einmal im Winter haben sie
droben auf der Akropolis einen Wolf erlegt.«

»War auch damals eine Frau hier?«

»Da sieh! Ihr scheint eifersüchtig!«

Das tiefe Gelächter der Alten klapperte in allen Winkeln nach.

»Ihr liebt ihn wohl sehr, Kleine? Er ist ein Mann, wie? ein tüchtiger. Ah!
Das sieht man: Ihr liebt ihn. Da würdet Ihr ihn also nicht betrügen, wie
jene Erste tat: -- verdammt sei ihr Name, der mir nicht einfällt. Denn Ihr
müßt wissen, daß ein junger Herr mit ihm hier war, der auch mir gefallen
hätte. Als aber er, der unsere, dahinterkam, daß sie jedesmal, wenn er
betrunken war, zu jenem ging, da meinten wir draußen, es gebe Mord. Doch
einigten sie sich und ließen alles am Mädchen aus. Nackt jagten sie es hier
heraus -- zu viel Wein hatten alle -- und mit erhobenen Peitschen um den
Hof herum, viele Male, bis die Knie ihr zitterten und ihr Geschrei rauh
klang. Ich war's, die dort aus der Kirchentür lugte und sie ihr aus Mitleid
öffnete, daß sie hineinschlüpfen konnte. Da kommt! Da seht!«

Die Alte glitt von der Mauer, packte Lolas Hand und strebte, vorgebeugt,
eilig schlürfend, über den Hof.

»Helft mir doch, die Tür zu öffnen! Ich habe nicht mehr genug Kraft. Ach,
ach!«

Und Lola:

»O!«

Von der Schwelle des Hofes voll abgefallener Kalkbrocken sah sie
unvermittelt in eine Welt spiegelnden Marmors. Die Stufen zum Hochaltar
hielten den Abglanz seiner gelben Wand in ihrer schwarzen Marmorkaskade.
Blau, voll goldener Augen, schwangen marmorne Vorhänge ihre Falten um die
Pfeiler der Kapellen, um die Balkone.

»Dort auf den Stufen warf sie sich nieder: ja, seht, genau hier; und grub
das Gesicht in dieses Silbertuch, das vom Altar hängt. Wie Tolle stürzten
jene hinterdrein. Ich konnte die Tür nicht rasch genug schließen, aber ich
rief mit erhobenen Armen: Tötet sie nicht! Tötet nicht die schöne Gida!
. . . Denn ja, jetzt ist's mir einfallen, Brigida hieß sie, wir nannten sie
Gida, und er und seine Freunde sagten Gigi . . . Da liegt sie nun, seht
doch! ganz nackt, mandel- und rosenfarben, hell und rund gekrümmt auf dem
schwarzen Stein, und sie wollen über sie herfallen! Mit unserm Herrn ist
der schlimmste der, um dessentwillen ihr's so schlecht geht. Gibt es Dank
unter den Menschen? Und wäre nicht einer gewesen, der sie am Arm festhielt
-- Er sagte: Wie ist das schön! und dann standen sie und betrachteten. Und
unser Herr neigte sich ganz zärtlich -- Aber was habt Ihr, daß Ihr
erbleicht? Fürchtet nichts, solche Dinge können nicht mehr vorkommen; er
ist jetzt älter und frömmer; er betrinkt sich nicht mehr wie die Jungen;
auch sagt man, daß er weniger Geld hat. Reichere Herren gibt's in der
Gegend. Beim Heraufkommen werdet Ihr die Villa des Herrn Catelli gesehen
haben, die unterste, mit den Erdstufen und dem roten Hause. Er ist ein
freigebiger Herr. Schon mehreren unserer Mädchen habe ich, indem ich sie zu
ihm führte, eine gute Einnahme verschafft; und wenn Ihr wollt --«

»Nein.« sagte Lola, »ich will nicht.«

»Natürlich. Ich vergaß: Ihr liebt zu sehr unsern Herrn.«

»Und ich bin seine Frau.«

Da die Alte ratlos zu ihr aufblinzelte:

»Ich bin die Contessa Pardi, und ich verzeihe Ihnen, daß sie mich nicht
kannten.«

Sie wollte gehen, aber die Alte hing ihr an den Röcken; sie weinte:

»O Herrin, gute Herrin, übt Mitleid! Seht, ich arme Alte lebe in jenem Turm
allein. Meine Söhne, die Eurem Gemahl dienten, sind nun alle gestorben, ich
habe keine Zuflucht als diese. Meine Nudeln koche ich mir, spinne und sehe
niemand. Was wußte ich? Übt Mitleid und verratet mich nicht unserm Herrn!
Wohin mit mir, wenn er mich vertreibt?«

»Bleiben Sie, bitte, hier,« sagte Lola, höflich und etwas verlegen, wie zu
einer Dame, die sich wegen einer Taktlosigkeit entschuldigte. »Ihre
Erzählung war sehr unterhaltend.«

In einem der Säle begegnete Lola dem alten Benedetto, ließ sich von ihm das
römische Mosaik zeigen und dachte dabei: »Was ich da gehört habe, konnte
ich eigentlich erfinden. Ich fing eben an, es mir so zu denken. Er war mit
allen seinen Frauen hier: warum nicht auch mit mir. Wie das stimmt! Die Ehe
ist heilig, wie eine Zwingburg, und darf nicht abbröckeln: Das ist
Grundsatz und gilt für die andern. Wir selbst aber fühlen uns stark genug,
auch die Freiheit zu ertragen, das Leben nicht als Pflicht zu nehmen,
sondern als Vergnügen. Ein einzelner verdirbt wohl nichts am Grundsatz
. . .«

»Eine Nilüberschwemmung ist es?« fragte sie. Der Diener sah sie verdutzt
an; er sprach seit fünf Minuten.

»Also gut. Wenn der Herr kommt, sagen Sie ihm --. Nein, es ist nicht
nötig.«

Nicht ausgehen: lieber noch allein durch diese Höfe, diese halb
verschütteten Kammern irren, zwischen Wänden mit herabhängenden
Lederfetzen. Zu mühsam selbst das. »Ich bin träge. Auch die anderen, die
vorigen werden's hier gewesen sein -- nach solcher Nacht. Eigentlich muß
er, indes er mich küßt, auch jene, die auf denselben Kissen lagen, unter
den Lippen haben. Von jeder das beste. Es war geschickt, mich hierher zu
bringen. Er versteht sein Vergnügen.«

Beim Betreten des Schlafzimmers sah sie die Frau in Schwarz das Bett
machen. Lola ward rot. Die Frau sagte, über das Bett gebeugt, im sachlichen
Ton einer Mitwisserin:

»Die gnädige Frau wird viel Vergnügen gehabt haben.«

Lola dachte: »Mein Gott, was tun?« Die andere sagte noch:

»Die Frauen lieben ihn sehr, und der Herr verdient es wohl. Befiehlt die
gnädige Frau noch etwas? Die Kleider habe ich dort hineingehängt. Wenn Sie
möchten, daß ich helfe, rufen Sie aus der Tür nach Maria. Hier gibt es
keine Klingeln. Was wollen Sie, man muß Geduld haben.«

Lola dachte, allein: »Haßt sie mich nicht? Ist es ihr nicht zuwider, mir
von dem zu sprechen, was sie selbst genossen hat? Möchte sie mich durch
ihre Schamlosigkeit erniedrigen? Oder ist sie einfach sicher, daß er zu ihr
zurückkehrt?«

Ihr Blick ward starr. Sie sah die starkknochigen Arme der Frau wie matt
spiegelnden gelben Marmor um den Mann gelegt und seine Lippen, von brutaler
Röte, auf ihr breites, schmachtendes Gesicht zukommen. Die dumpfgeistige
Begierde der schweren Augen, in diesem schwarz umsträhnten, halbwelken,
blaßlippigen Gesicht machte Lola erschauern. Die beiden Leiber vor ihr
bebten, und sie bebte selbst. Sie stieß die Vision fort, wandte sich
seufzend ab: »Ich will nicht!« Dann: »Aber da ich ihn nahm? . . . War denn
er der Mensch, den ich nicht entbehren konnte? Ach, das ist müßig. Schon
hat er gemacht, daß alles, wonach es mich verlangt, in ihm ist. Jetzt habe
ich zu machen, daß er gar nicht mehr von mir wegsehen kann. Viele mag er
geliebt haben; jetzt aber ist die Reihe an mir.«

Sie legte Hut und Schleier ab, vertauschte ihr Reisekostüm mit einer
Matinee aus Schleierstoff, lockerte ihre Frisur, legte leises Rot auf, half
dem Glanz der Augen nach, schminkte die Fingernägel. Sie entblößte die Hand
von Ringen und prüfte die Wirkung. Dann bettete sie sich auf den Diwan und
wartete.

                   *       *       *       *       *

Zwei Tage lang gingen sie nicht aus. Lola wünschte, in der Galerie die
Mahlzeiten hergerichtet zu finden, ohne daß jemand aufwartete. Die
Dienerschaft durfte sich nicht an den Fenstern nach dem Garten zeigen. Am
dritten Abend beschlossen sie Luft zu schöpfen; und als nach der von Lust
durchbebten Stille das Tor vor ihnen aufging, warteten davor vier oder fünf
bettelnde Greise. Lolas Blick traf eine Zwergin mit Kropf und Triefaugen.
Schaudernd sah sie weg, machte schnellere Schritte, und Tränen des Zorns
kamen ihr. Wie durfte in das erlesene Reich der Zärtlichkeiten, worin sie
lebte, dies einbrechen! Plötzlich kehrte sie um, und in dem Gefühl, das
werde sie der Störung, der Mahnung ledig machen, schüttete sie der Elenden
all ihr Geld in die Hände. Dann, an Pardis Arm, mit zugedrückten Lidern:

»Sag' ihr, daß sie zurückbleibt!«

Trotzdem folgte ihnen die Verkrüppelte noch bis an die erste Treppe. Mit
heulender Stimme betete sie für ihre Wohltäterin. Einige Jungen überrannten
sie, schlugen Purzelbäume und streckten schwarze kleine Handflächen hin,
Pardi hieb mit dem Stock darauf. Sie lachten. Aus allen Häusern schallten
Grüße. In die Türen, aus deren rauchiger Nacht die Kupferkessel blinkten,
traten die Weiber mit den Säuglingen, reckten den freien Arm nach den
Herren und wünschten Glück. Die Nachbarinnen gellten aus den Fenstern
einander Lobsprüche zu, auf die Schönheit der jungen Frau. »Zu viel Schmutz
für so schöne Füße!« rief ein Mädchen und räumte eilends, mit vollen Armen,
einen Haufen leerer Maiskolben von den Stufen, die Lola betreten sollte.
Dann blieb sie hocken, den Blick über sich, auf Lolas Gesicht, mit einer
leidenschaftlichen Schwärmerei, die Lola kannte: aus dem Blick der kleinen
Tini.

Auf dem Platz am Fuß der Treppengassen schrie der bunte Kram der Händler in
der letzten Sonne noch einmal bäurisch auf. An der geebneten Straße den
Berg hinab, schnatterten in ihrem offenen Waschhaus die Wäscherinnen. Der
Himmel war von einem warmen, reichen Blau, und jede der goldenen Weinbeeren
in all den Laubnestern trug seinen Abglanz auf ihrer kleinen Kugel. In
ihren Augen, die sie aufeinander richteten, fanden die Frau und der Mann
wieder ihn. Lola blieb unversehends stehen, öffnete die Arme und küßte den
Mann auf den Mund. Gleich darauf begriff sie, sehr rot, nicht mehr, wie
sie's vermocht hatte, und sah ängstlich nach Zuschauern umher. Droben am
Bergabhang lehnte unter einer Pinie ein junger Hirt, aber er behielt ganz
ernste Augen. Pardi zog sie zärtlich von der Hecke fort.

»Du wirst dein Kleid zerreißen.«

»Ich weiß nicht, warum,« sagte Lola, »aber mir ist, als wäre es sehr
lächerlich, darauf zu achten. Die Dornen --« sie faltete sinnend die Brauen
-- »sind so viel wichtiger als mein Kleid.«

Ihre Lust, Tage und Nächte in enge Zimmer zusammengepreßt, breitete sich
auf einmal aus. Das Glück ihres Körpers ergriff alle Körper und kam zurück
von allen. Das Rund der Baumkronen wiegte ihr Freuden in die Augen, vor
deren Unermeßlichkeit sie nur Tränen fand. Das leiseste Lüftchen fühlte
sich stark genug an, sie bis in das rote Sonnengestirn zu tragen.

Die Arme einer um des andern Schulter, durchschritten sie ein stolzes Tor,
einen langen Zypressengang, der seine feierlichen Schatten über die hellen
Weingärten warf; und am Ende hielten sie vor einem verwahrlosten
Bauernhaus. Pardi rief in ein scheibenloses Fenster. Frau und Kinder kamen
heraus, eins mußte nach dem Vater laufen. Die Frau legte, unter
Glückwünschen, ein Tuch auf den Tisch. Sie brachte Trauben. Lola sagte,
noch bevor sie davon gekostet hatte, sie seien gut. Dann langte der Mann
an, reichte dem jungen Paar vertraulich die Hand und setzte sich mit ihnen
zum Wein. Lola lächelte fortwährend; sie suchte nach Freundlichkeiten und
fühlte doch, daß sie nicht gegenständlich klangen, sich auf kein
gemeinsames Ding stützten. Pardi schwatzte breit und von gleich zu gleich;
er lag über dem Tisch, einer seiner Arme stand darauf, und er hatte die
Wange in der Hand: grade wie drüben der Bauer. Lola betrachtete ihn; sie
spürte das Aufstachelnde in der Mischung von Eleganz und Roheit. Sie hielt
ihre Ringe gegen das Licht, raschelte auf dem Strohstuhl mit ihrer Seide.
Schon auf den schmutzigen Treppen hatte sie, unbemerkt von sich selbst, den
Kitzel des eleganten Vergnügens genossen, das aufs Land geht, in Spitzen
Schäfer spielt und die Armut des Volkes zum Mitwirkenden macht bei seinem
Spiel . . . Da hörte sie die Stimmen der Männer anschwellen und verstand,
daß es um Geld ging. Der Bauer beteuerte, dies Jahr das Pachtgeld nicht
aufzubringen, und Pardi schlug auf den Tisch.

»Exzellenz! ich sage die Wahrheit. Der Pächter, den Sie weggejagt haben,
hat mir aus Rache die besten Weinstöcke abgeschnitten, heimlich, dicht am
Boden. Erst als er längst fort war, habe ich's bemerkt. Sie wissen, was er
für ein Rüpel war, und daß die Carabinieri kommen mußten, ihn
hinauszuschaffen . . .«

Die Frau sprach alle Worte des Mannes mit; jedes klappte nach, wie ein
Echo. Lola sah sie an: plötzlich entdeckte sie das ganze Elend des
fiebergelben Gesichtes mit den tiefen schwarzen Strichen darin; verstand
auf dem dürren schwarzen Arm den welken Säugling und im Haufen der größeren
Kinder die kranke, glühende Tiefe der Augen. Reue schüttelte sie. Sie haßte
sich. Auf diesem Elend als Hintergrund erging sich ihr gepflegtes Glück,
und ihm verdankte sie es! So mußte hier gelebt werden, damit alle ihre
Sinne blühen und sich sättigen konnten! Der Gedanke an den kleinlich
lasterhaften Kitzel, den sie noch eben diesem selben Elend entnommen hatte,
schlug sie mit Entsetzen. Sie begriff nicht, wie ein Herz dies
hervorbringen konnte, in derselben Stunde, in der es dort draußen sich
allen Wesen, ja der Sonne selbst, verbunden gefühlt hatte.

Die Frau antwortete Lolas entsetztem Blick.

»Ja, wir haben alle das Fieber. Es ist nicht wie im Winter, da lebt man.
Aber der Sommer war hart, und wir hatten kein Geld, in die Berge zu gehen.«

»Exzellenz!« schrie der Bauer in seiner ungebärdigen Art. »Sie sollen mit
Ihren Augen die abgeschnittenen Weinstöcke sehen. Sie werden nicht sagen,
daß ich es selbst getan habe.«

»Ach was,« machte Pardi. »Ich kenne euch, ihr seid Spaßvögel.«

»Ich bitte dich,« wagte Lola: mit feuchter Stimme und ganz leise, damit
niemand höre, daß sie sich ihres Mannes schämte. Er erwiderte barsch:

»In was mengst du dich?«

Zu dem Bauern:

»Sonntag bringst du mir den Rest; sonst wehe!«

Und zu Lola:

»Komm!«

»Sprechen Sie für uns!« jammerte die Frau ihr nach. Lola ging gesenkten
Kopfes einen halben Schritt hinter Pardi; sie dachte: »Warum kann ich ihnen
nicht sagen, daß ich sie liebe? Mein Bestes bleibt immer ganz stumm.« Pardi
kehrte unversehens um, rief einen Scherz, schlug dem Bauern, der lachte,
auf die Schulter und gab der Frau die Hand. »Es ist doch ein guter Herr,«
sagte sie. Pardi wiederholte zum Abschied noch:

»Also Sonntag. Sonst habt ihr's mit dem Gericht zu tun.«

»Sie werden bedient werden,« sagte die Frau. Und Pardi schob, voll
mitteilsamer guter Laune seinen Arm in Lolas.

Sobald man sie nicht mehr sehen konnte, machte sie sich los.

»Gekränkt?« fragte er, mit ironischer Zärtlichkeit. »Ich habe dich
angeschrien: ich weiß, es ist infam. Aber was willst du, du warst im
Begriff, mir das Geschäft zu verderben. Jetzt hast du gesehen, wie man die
Leute nehmen muß. Also komm, sei lieb!«

Bei seiner Berührung fuhr sie auf:

»Laß mich!«

Er pfiff durch die Zähne. Kurze Zeit hielt er ihren Arm gepackt, der sich
wand; dann ließ er ihn mit einem kleinen Ruck fahren und ging weiter. Lola
atmete kürzer vor Wut. Der Weg zwischen den Hecken war lang und schwül. Er
deuchte einem dunkel; und jenseits der Himmel blendete mit seinem dick und
glatt aufgetragenen Gold. Sie gerieten in den Staub und das Getrappel einer
Schafherde. Das kindliche Geplärr der Lämmer, der gute, friedliche Geruch
all dieser langwolligen Leiber feuchtete Lolas Augen. Rasch gab sie ihren
Arm hin; und sehr sanft:

»Lieber, diese Leute sind arm.«

»Teufel, auch wir brauchen Geld.«

»Die kleine Summe, die sie uns schulden, nützt uns wenig.«

»Wenn wir das bei jedem Schuldner sagen wollen --. Außerdem lügen sie.«

»Aber sie bezahlen mit ihrer Gesundheit.«

»Dafür sind sie römische Campagnabauern.«

»Ist nicht jeder zuerst Mensch? Erlaß ihnen die Pacht!«

»Nein, meine Liebe; ich habe Grundsätze . . . Guten Abend, Advokat!«

Der beleibte, aufgewichste Herr in Schwalbenschwanz und weißen Gamaschen
wartete bei dem geschwärzten, rauhen Stadttor. Er machte Kratzfüße und
sagte der jungen Gräfin mit heiserer Flüsterstimme Artigkeiten. Auf dem
Platz, vor dem Café, erhoben sich der Apotheker und der Brigadiere der
Gendarmen und grüßten. Pardi bestellte Vermouth, machte Lola mit allen
Honoratioren bekannt und brachte die belebteste Stimmung hervor. Nachdem
sie sich verabschiedet hatten:

»Aber wenn man so menschenfreundlich ist, darf man nicht so steif sein.«

»Verzeih! Ich kann oft nicht, wie ich möchte. Aber du: habe jetzt Nachsicht
mit jenen armen Leuten. Mir zu Liebe.«

»Was täte ich nicht dir zu Liebe?«

»Also du erläßt ihnen die Pacht?«

»Wir werden sehen. Wenn du sehr artig bist.«

»Was soll ich tun?«

Er lachte. Über die letzte Treppe trug er sie, wie das erstemal. Eine Frau,
die auf ihrer Schwelle dem Kinde das Haar durchsuchte, rief fröhlich
hinterdrein. Lola zerrte an seinem Arm, damit er sie niedersetze. Aber sie
konnte nichts dagegen, daß die Stärke des Mannes, seine Unempfindlichkeit
selbst und seine Unverführbarkeit zum Weichmut, sie begehrlich erregten.
Oben strichen Fledermäuse, stießen eckig aus dem Dunkel, und mit üblem
Zwitschern vergruben sie sich wieder darin. Wirr abwärts entwich die Schar
der Dächer; und im kahlen Nachtblau behauptete sich, allein und ungeheuer,
der Palast. Mit verwischten Rändern breitete er in die Dämmerung seine
geschweiften Drachenflügel. Sein schwarzes, leeres Tor schnappte ins
Ungewisse. Alles fühlte sich hungrig, atemlos und voll Reiz an. Die Hände,
an denen sie einander hineinführten, waren heiß und trocken.

                   *       *       *       *       *

Plötzlich ging der Mond auf. Lola löste ihre Zähne aus seinen Lippen und
sagte lockend:

»Du erläßt ihnen die Pacht?«

Er fuhr auf.

»Daß ich verrückt wäre!«

Ihre Münder rangen von neuem miteinander: all ihr Fleisch. Er, endlich:

»Mach mich müde, dann erlaß ich ihnen die Pacht.«

Als er am Morgen, zum Ausgehen bereit, vor ihr, die noch dalag, seine
Zigarette anzündete:

»Bin ich müde? Nein? Dann werden sie also bezahlen.«

Das Zimmer ward ihnen schwüler mit jeder Nacht. Sie trugen ihre Decken in
den Garten hinaus. Das feuchte Gras löschte ihr Fieber. In der Hand, die
sich, nach dem Geliebten schmachtend, aufreckte, blieb eine Granatfrucht
zurück. Ein unsichtbarer Zweig mischte sich in ihre Umarmung. Aus dem
schwarzen Dickicht funkelten wilde, grüne Augen und strömte strenger,
erbitternder Duft.

Schlaff verdehnte Lola die Stunden, die er draußen war, in der kühlen
Galerie, ließ die Zigarette herabhangen und genoß ein langsames Lächeln der
Erinnerung. Unter ihren Augen der Alkoven und der Garten: das war die Welt;
sie mochte nicht hinausdenken und faßte nicht, was jenseits sie hätte heiß
oder kalt machen können. War sie selbst es, die lange gekämpft, gelitten
hatte, bis sie dies Glück, gleich einer Schande, sich abgewandten Gesichtes
gewährt hatte? Jetzt erwies sich das Sinnenglück als das allein
vollkommene, als das einzige ungetrübte, mühelose, immer erreichbare. Kein
quälender Gedanke, an Schicksal und Zukunft keiner, unterbrach es. Man
hatte keine andere Bestimmung und erwartete nichts, als das Beben der
letzten Lust.

Mit Zuneigung gedachte sie des jungen Hirten, der ernst auf sie
herabgesehen hatte, als sie, an der Straße, den Mann auf den Mund küßte.
Die ernste Schamlosigkeit der Natur füllte ihr die Augen mit Tränen der
Zärtlichkeit. Zum erstenmal fühlte sie sich, kraft der Lust, allen Wesen
gleich und nahe. Maria, die am ersten Morgen, über ihr Bett gebeugt, nach
dem Vergnügen der Nacht gefragt hatte, war ihr kein Rätsel mehr. Lola
redete die Frau an, wenn sie eintrat, behielt sie bei sich und plauderte.
Sie brachte Maria zum Geständnis ihrer Liebe mit Pardi. Zwei Jahre war's
her, und ihr jüngstes Kind war von ihm. Ihr Mann wußte es; sie hatte zu
büßen. Aber sie bereute nichts, denn viel hatte sie genossen. Schwachrote
Wolken zogen auf der Höhe ihrer mürben Wangen zusammen, unter den schweren
Augen, die erwachten. Die Arme auf den Knien verschränkt und die Büste
darübergebeugt, kraftvoll bei ihrer Welkheit, saß sie vor Lola, die lässig
lehnte in ihrer auf den Stacheln der Lust über sich selbst erhobenen
Schwäche. Und sie sprachen einander von dem Manne, der sie beide erweckt
und erfüllt hatte: genußsüchtige, nachschmeckende, hellseherische Worte,
unter deren Tasten plötzlich der Schauer selbst wieder auflebte; die
manchmal auffuhren zu einem Schrei der Eifersucht, und nun hinabsanken in
ein Geflüster, das die Augen erweiterte. Maria hatte mehr erfahren, und sie
flüsterte davon . . . Aber draußen klappte der Schritt des Mannes, und die
Dienerin verschwand ohne Laut.

Sie hatte den Auftrag, die Bettler vor dem Tor täglich zu bewirten und zu
beschenken. Oft überzeugte Lola selbst sich, ob es geschah. Nur die eine
Sorge fand zu ihr hin. Aus einem brennenden Traum schrak sie empor, ging
hinaus und legte sich den Anblick der triefäugigen Zwergin wie eine Buße
auf, die den Bestand ihres Glückes verbürgte. Sie lebte im Sinnenrausch wie
in einem Garten roter, abenteuerlicher Kelche, deren Duft die Vernunft
betäubte. Abergläubisch durch die Fülle des Glücks, gab Lola der Verführung
Marias nach und ließ sich von der Zwergin wahrsagen. Die Zwergin ward ins
Zimmer gelassen. Die entzückenden Visionen, von denen es voll war,
durchbrach ihr Kropf, und ihre entzündeten Augen hefteten sich an alle
. . War das nicht genug? Lola überließ ihr auch noch ihre Hand. Indes sie
das Scheusal kichern hörte, bedrängte ein Gedanke sie. »Wenn ich's nicht
tue, bin ich verloren!« Da schnellte sie vor und küßte die Zwergin gerade
auf den überfließenden Mund.

Auch die Bitten um das Pachtgeld jener Bauern stieß sie unter dem Brennen
einer Sucht aus; sie weckte den Mann dazu auf.

»Was soll ich tun, damit du es ihnen zurückgibst?«

Seine Nachsicht gegen diese Armen verlockte sie in dem Taumel, der sie
dahinraffte, wie eine letzte Erfüllung, wie der Sieg im Zweikampf der
Liebe, der äußerste Gipfel der Lust. »Was soll ich noch tun?« --
verheißend, mit geheimer Begierde, zu erfahren, was sie verhieß. Maria
hatte davon angedeutet. Er weihte sie ein.

»Ich dachte nicht, daß Ihr dahinten zu solchen Sachen zu brauchen seid. Das
war sogar der Hauptgrund, weshalb ich einige Zeit zögerte, dich zu
heiraten.«

Sie hatte sich zu den letzten Würzen des Vergnügens herbeigelassen. Ob eine
andere ihm so gefällig gewesen sei?

»Vielleicht Gigì?«

Sie gestand nicht, was sie wisse. Aber sie machte sich, in seinen Armen,
hinter ihren geschlossenen Augen zu dem Mädchen, das nackt in der Kirche,
auf den Stufen des Altars, den Mann erwartet.

»Nenne mich Gigì!«

Dann:

»Was hast du mich noch zu lehren? Nichts mehr? Gar nichts? So gib mir das
Pachtgeld!«

Aber er brach lachend sein Wort. Auch ihre erbitterten Vorwürfe verlachte
er.

»Gegen euch Weiber ist alles erlaubt.«

Dies Unerreichbare ließ ihr einen Durst und eine Unruhe zurück, als sei die
süßeste Frucht des Gartens nicht in ihren Mund geflossen, als stehe
irgendwo im Palast ein unzugängliches Zimmer voller Seltsamkeiten. Sie
hatte, sobald er fort war, den Kopf in Bilder verstrickt, in zehrende, nie
ganz vollendete. Auf unbestimmter Suche machte sie manchmal einige Schritte
allein vors Haus. Am Ende der Schloßterrasse das Kloster lockte sie an:
dies Frauenkloster mit seinem vergitterten Schalter. In der Sonne stand sie
und schmachtete mit Haß zu der dunkeln, kühlen Mauer hinauf. Einmal fand
sie daneben die Kirche offen. Hinten sangen im Halbkreis die Nonnen. Von
fern betrachtete Lola sie mit Hohn. Wenn jetzt eine kam, wollte sie ihr im
Vorüberstreifen solche Dinge ins Ohr sagen, daß sie für den Rest ihrer Tage
ihren kläglichen Frieden verlieren sollte.

Vor dem Palasttor lungerten schon wieder die Bettler. Die Zwergin zerrte
die anderen weg, drängte sich vor.

»Laßt sie, ihr Pack, meine Herrin ist's. Mich kennt sie, und sie liebt
mich, denn ich leiste ihr nützliche Dienste.«

Lola ging kalt an ihr vorbei. Sie sah noch die Verkrüppelte von ihren
Gefährten unter Spott zu Boden gestoßen, und es befriedigte sie. Ihre
Gelüste verkehrten sich ins Böse. Der Schmerz der anderen barg vielleicht
noch unbekannte Genüsse? Sie stritt mit der Versuchung, Marias Kinder, die
in den Gängen lärmten, vom Diener schlagen zu lassen. Jene Bauernfamilie,
der ihr Mann das Pachtgeld abgepreßt hatte, hungerte jetzt wohl? Lola
dachte sich das verfallene Gesicht der Frau, einen Kreis fiebriger
Kinderaugen um einen leeren Tisch. Als das nächstemal die Zwergin sich an
sie hängte, rief sie einem Jungen zu: »Hol' den Gendarmen dort!« Beim
Geklirr des Säbels und dem Zetern der Zwergin zauderte sie noch, abgewandt,
auf der Schwelle; Scham nur hielt sie ab, den Befehl zurückzunehmen. Aber
dann ging sie weiter. »Dafür ist sie eine Bettlerin!« Pardi, fiel ihr ein,
hatte gesagt: »Dafür sind sie römische Campagnabauern.« »Jetzt bin ich
selbst dort angelangt! . . . Und wenn schon, jeder leidet das Seine. Auch
das Genießen führt, ganz in der Tiefe, zum Leiden . . .«

Der erste, schwüle Herbstregen fiel, als sie die Abreise beschlossen. Lola
atmete schwer in der Luft, die braun durchs Land schlich. Sie hatte mit dem
Manne allein, eng beisammen, unter dem Lederdach des zweirädrigen
Wägelchens, hinabgewollt. »Rascher!« Mit zugedrückten Lidern, in wonnigem
Schwindel. Als sie sie einmal öffnete, hockte dort unten bei einem Busch
die Zwergin. Sie schloß sie wieder, lächelnd. Da, gelles Hennengeschrei,
der Fall von Steinen, Pardis wütende Drohungen, und das Krachen und
Schwanken des Wagens, den das Pferd, gestreckt, dahinriß. Auf einmal
Stille.

»Bist du verletzt?« fragte der Mann, unter ihr.

Lola antwortete nicht. Dies war fast der Tod gewesen. Und die Angst selbst
seines Vorüberstreifens war zu Wollust geworden. Sie lebte in so tiefen
Schauern, daß keiner mehr sie schreckte.

Er hob sie aus dem Graben. Er wollte der Übeltäterin nach; Lola hielt ihn
zurück.

»Du hast den Wagen umgeworfen? Hast gemacht, daß ich auf dich fiel, und
dein Leben für mich gewagt?«

Sie gedachte dessen, was Nutini von ihm geflüstert hatte: er habe die
Chiarini, als sie von ihm in anderen Umständen gewesen sei, mit dem Wagen
umgeworfen, habe sie getötet . . . Vielleicht war die glücklicher gewesen?
Denn sicher: der Gipfel der Lust war hier gewesen. Und im Weiterfahren sah
sie beklommen rückwärts.

»Schade!«

                   *       *       *       *       *

Auf der Fahrt vom Bahnhof, aus dem Wagen des Hauses Pardi, sah Lola mit
nachdenklicher Geringschätzung die Rücken der Leute an, die durch den Regen
trabten und nicht wußten. Denn die Abgründe, in denen Lola heimisch war,
hatten jene nie berührt. Mit dem Manne zusammen war sie in eine eigene Luft
geschlossen, in eine stärkere, durch die man höher atmete und rascher
verbrannte. Sie hatte keinen Blick für das Haus, in das sie einzog, für die
Diener, die sie begrüßten. Wozu standen sie noch da? Schickte er sie nicht
weg? Endlich: die Arme durften sich öffnen.

Aber Pardi bemerkte Blumen mit Karten, der Haushofmeister meldete das
Diner, und wie sie sich setzten, kam ein Fremder.

»Mein Freund Valdomini,« sagte Pardi.

Lola erstaunte: »Sein Freund?« Glückwünsche und Komplimente nahm sie hin
und dachte: »Also gut, das ist abgemacht. Was noch?« Der Fremde setzte sich
mit zu Tische, man mußte ihm zuhören, sich an eine Menge verschollener
Personen, dahinten gebliebener Angelegenheiten erinnern lassen. Was konnte
dieser auch wissen? Doch sprach er gut; Lola lachte mehrmals; unwillkürlich
trat sie einige Schritte aus ihrer Welt heraus.

Wie er dann in Pardis Begleitung fort war, besann sie sich auf die
Wirklichkeit, auf das einzige Wirkliche. In zwei Minuten hatte sie das
Kostüm gewechselt, und die Hände verschränkt im Nacken, während die
Schleierfalten um sie her schaukelten, ließ sie sich auf die Ottomane
fallen. Bereit. Jetzt schloß das Tor sich hinter dem Fremden, Pardi war
schon auf der Treppe, schon vor der Schwelle. Sie war bereit. Sie lächelte.
Horch! . . . Nein, noch nicht . . . Immer noch nicht? Das Kammermädchen gab
Antwort:

»Der Herr Graf ist mit dem Herrn Fürsten fortgegangen.«

»Ach so, ich weiß . . .«

Sie überlegte: »Er muß ihn eine Straße weit begleiten . . . Der andere
sagte, seine Frau sei leidend. Er wird ihm in seinem Hause eine
Viertelstunde Gesellschaft leisten.« Eine halbe Stunde war vorbei. »Das Tor
geht! Ah!«

»Sagen Sie dem Herrn, ich sei im Schlafzimmer.«

»Der Herr Graf ist noch nicht zurück«

Wieder allein: verwunderlich allein. So waren sie wohl an Valdominis Hause
vorbeigegangen. Jener hatte gesagt: »Meine Frau ist krank, ich langweile
mich, machen wir einen Rundgang.« Aber eine Stunde dauerte der Rundgang?
Wohin konnten sie spazieren? Lola folgte ihnen im Geiste. Vor dem Klub der
Via Tornabuoni standen Herren; sie hatte sie oft dort stehen gesehen. Sie
verdauten, überlegten, ob sich's noch lohne, in ein Theater zu gehen, und
wenn fremde Damen vorüberkamen, sagten sie »der Hut« oder »die Schuhe«, um
bekannt zu geben, was ihrem Geschmack nicht genüge. Gesellte sich Pardi zu
diesen? Vermochte er, den Klub zu ertragen, die Reden, die Gesichter? »In
seinem Kopf bin doch ich, so wie ich hier liege, die Arme nach den
Schultern hingebogen, und ihn erwarte!« »Zwei Stunden! Das ist unmöglich,
ein Unglück muß geschehen sein.« Und sie sprang auf. In der Sekunde, da sie
sich bewegt und nicht hingehorcht hatte, konnte das Tor gegangen sein. Ja?
Ja! Rasch sich wieder hingelegt und gelächelt! . . . Nein, nichts. Aber
natürlich hielten sie ihn fest. Die von Viareggio waren dabei, er mußte
ihnen die Geschichte seiner Verlobung geben. »Er denkt nur an mich!« Lola
schloß die Augen, in ihre Lippen drückten sich seine . . . Sie seufzte und
sah sich allein.

Auf einmal hörte sie ihn laut, mit seiner schleierlosen, sicheren Stimme,
ein sehr schmutziges Wort sagen, und wußte, es galt ihr. Sie zuckte
zusammen, lauschte entsetzt. Die anderen lachten. Pardi berichtete weiter
von ihr. Er zergliederte, ganz sachlich, ihren Körper, rühmte ihre
Gelehrigkeit. Lola fühlte ihr Gesicht brennen und versteckte es; sie warf
sich umher und stöhnte; -- aber Pardis unerbittliche Stimme ging weiter.
Hatte er damals, als Nutini sie zur Lauscherin gemacht hatte, etwa
geschwiegen?

Sie wanderte durch das Zimmer. »Mein elendes Mißtrauen! Heute liebt er
mich. Überdies, sobald wir verlobt waren, fing er an, mich zu achten.
Alles, was ich soeben phantasiert habe, ist bare Unmöglichkeit, da ich
seine Frau bin. Man muß die Männer kennen . . .« Aber sie litt, weil sie
ihn zu prüfen hatte. Als ihre Gedanken sich endlich verlangsamten, merkte
sie, daß es sie fror. Die Uhr zeigte drei. Lola ging zu Bett.

Sie erwachte, es war hell, und neben ihr schlief Pardi. Sie richtete sich
auf und betrachtete sein unbewegtes, schönes Gesicht. Der Mund, leicht
offen, stand fleischig und feuchtrot aus der kraftvollen Blässe hervor
. . . Die Mundwinkel beleidigten sie mit ihrer satten Senkung. Aber bevor
sie es sich gestanden hatte, war ihr Blick auf seinen Lidern, auf seiner
breiten Stirn. Dahinter weilten nun Gesichte, die nicht auch ihre waren,
Erinnerungen, die ihre gemeinsamen zu verschütten drohten. Sie überlegte,
in Angst, wie sie ihn ausfragen solle. »Schweigen und ihn zurückholen,«
stellte sie schließlich fest.

Er verlangte, daß sie zur Promenade führen. In den Cascine stellte er sie
vor. Die Bernabei winkte aus ihrem Wagen; sie mußten den Abend bei ihr
verbringen. Als Pardi ihr zu Hause den Pelz abnahm, hatte Lola noch seine
Lippen auf der Schulter gespürt; und wie sie sich umwandte, war er fort.
Seine Rückkehr weckte sie. Er kam mit zusammengebissenen Zähnen auf sie zu;
das Düstere, Gewalttätige seiner Begierde machte ihr solche Furcht, daß sie
über den Bettrand zurückwich und er sie auffangen mußte. Die folgenden Tage
ging er über ihre Zärtlichkeiten leicht hin. Er schien den Kopf bei anderem
zu haben, sie fragte nicht wo. Sie hatte beschlossen, das Haus so wohnlich
zu machen, daß es ihn keinen Abend mehr fortverlangte. Bei ihrem Einzuge
hatte sie es nicht angesehen, es war nur für die Zuflucht und den Verschluß
ihrer Liebe bestimmt. Jetzt ließ sie es säubern, ordnete eigenhändig die
Sitze an, die alle, wie in Schlössern oder Wartezimmern, die Wände entlang
prangten, entfernte den Überfluß an schlechten Bildern, verstaubten Festons
und Teppichen, samt den großen venetianischen Mohren aus bemaltem Blech und
den Pfauenfedern hinter den Spiegeln. Diese plunderhafte Pracht mochte das
untere Stockwerk verschönen, das aus der engen Gasse noch weniger Licht und
von hinten, wo steil der Garten nach der Hügelstraße anstieg, schon im
Oktober keine Sonne mehr traf. Oben sollte es hell und lustig werden. Pardi
spottete über das Schlafzimmer, worin kaum mehr anderes als das Bett übrig
blieb. Als ob nicht Raum für seine ausgestopften Vögel, seine Säbel und
seine Schuhsammlung gewesen wäre! Der Vermehrung der elektrischen Lampen
sah er schweigend zu, herrschte die Arbeiter, die die Wände hell
bekleideten, unvermittelt an, drehte ihnen aber gleich wieder den Rücken,
-- und erst als er eines Abends Lola in einem ganz fremden Zimmer fand,
brach er los. Sie verschwende seine Einkünfte. Zweitausend Francs diese
paar grauen Lackmöbel?

»Damit spiele ich eine Woche!«

Er biß sich auf die Lippen und setzte hinzu:

»Und verdoppele sie, verzehnfache sie!«

»Aber ich hatte kein Boudoir,« sagte Lola. »Und mein Bruder schickt doch
schon wieder zweitausend Francs.«

»Und da habe ich die unbezahlte Rechnung der Bossi.«

»Du willst, daß ich mir immer neue Toiletten anschaffe.«

»Werfe ich's dir vor? Eine Dame muß angezogen sein: ein Boudoir braucht sie
nicht. Das ist für jene Frauen dahinten in Deutschland, in ihren
lächerlichen Phantasiegewändern: die können sich auf der Straße nicht sehen
lassen.«

»Auch ich verbringe mein Leben nicht auf der Straße.«

»Zu Hause hast du genug in deinem Ankleidezimmer zu tun.«

»Ich brauche auch einen Raum, um zu lesen.«

»Das ist unnötig! Das ist schuld an deinem ganzen verrückten Wesen! Wie ich
dies Zeug hasse!«

Er hielt ein Buch in der Hand und warf die Augen leidenschaftlich umher. Da
flog es in den Kamin. Durch die Tat erleichtert, sprach er mit Wohlwollen
weiter.

»Siehst du, wir sind dem Gesellschaftsleben bestimmt. Von unserer Wohnung
sind nur die Räume wichtig, die die Leute zu sehen bekommen. Und die müssen
nicht wie bei Bürgern sein, sondern unserm Range entsprechen. Ich werde die
Decke im Saal neu vergolden lassen. Auch die Fresken lasse ich
restaurieren, -- wenn ich Geld habe. Diese Künstler können nie warten.«

»Die Fresken werden verlieren, sie sind von Luca Giordano.«

»Aber sie müssen wieder glänzen.«

Lola fügte sich. Ihre von Menschen freien Stunden verloren sich im
Ankleideraum der Schneiderin und in ihrem eigenen. Die Mahlzeiten ohne
Gäste wurden so einfach, wie er sie wünschte. Sie hatte seine Miene
gedeutet und seinen Kammerdiener befragt. Wenn sie nach dem Theater, Lola
in großer Toilette, im »Gambrinus« soupierten oder Valdomini mitbrachten,
kosteten die Getränke mehr, als die Einkäufe zum Diner betragen hatten. Was
tat es? Es galt, mit ihm einig zu sein. Es galt festzuhalten, was
entgleiten wollte, die Zeit zusammenzuraffen, damit sie nicht
weiterströmte; galt, zu machen, daß auf einer selben Straße, unter dem
Verdeck eines Wägelchens, sie und der Mann ohne Ende dahinjagten. Denn in
jene Fahrt, das letzte ganz enge Beieinander, träumte sie sich oft zurück
und wünschte sich, sie wäre nie ausgestiegen. Nun kreischte die Zwergin,
nun fühlte sie sich dahingerissen, ins Ungewisse fliegen und, nochmals
vereinigt mit dem Geliebten, an ihm vergehen. Welch gutes Ende es gewesen
wäre, das Ende in jenem Straßengraben! Dem Kommenden wagte sie manchmal
kaum die Augen zu öffnen . . . Aber Pardis Schritt ward hörbar, und von
Dankbarkeit heiß, schoß ihr das Blut zum Herzen. Ihr schien es sein Blut.
Ihr schien's, er habe sie mit seinem Blut erfüllt, sie lebensstärker,
zuversichtlicher gemacht, daß jetzt auch sie sein mutiges Leben ohne
Selbstüberwachung würde leben können. Auf dem großen Ball im Casino
Borghese fühlte sie's ganz deutlich, wie ihr Körper und ihr Wesen
geschliffener und glänzender waren durch eine neue Anmut, von ihm ihr
eingetränkt; daß sie gefallen müsse dank ihm. Die Verführungen ihres
Geistes sah sie weich zusammenfließen mit denen ihres Anzuges; ihre Augen
wußten zu spielen wie ihre Antworten; und umringt und in aller königlichen
Lässigkeit bis zu den Fingerspitzen durchpulst von Sieg, suchte sie
dahinten ihn und liebte, schien ihr's, zum erstenmal das Frauenleben, zu
dem er sie erweckt hatte.

Sie war reich. Dieser eine Mensch hatte sie so mit Liebe beschenkt, daß sie
davon der Menschheit mitteilen konnte. Auf der Promenade, unter huldigenden
Blicken, bemerkte sie plötzlich das Gesicht des Elends, verließ ihren
Wagen, winkte das Geschöpf in eine Seitengasse, fragte aus, half,
verschaffte Verdienst: Alles mit Heiterkeit, in Sicherheit, ohne das
zweifelhafte Gewissen des Gebenden, aus einfacher Wärme, fern von dem
düsteren, menschenfeindlichen Bewußtsein der Vergeblichkeit, das sonst ihre
hingestreckte Hand erkältet hatte. Durch Valdomini lernte sie einen
sozialistischen Abgeordneten kennen. Zum Schluß des Gespräches sagte er
ihr:

»Sie sind die erste und einzige Dame von Florenz, die nicht im Mittelalter
lebt.«

Sie lachte: ein so übermütiges Vertrauen war in ihr. Der Bernabei hatte sie
schon einen Beitrag zur Volksuniversität abgerungen. Die beiden kleinen
Niccoli wollten sogar in die Vorlesungen. Und Claudia Grilli nahm an allem
teil, was sie selbst bewegte. Claudia war eine Freundin! Sie brachte Lola
Blumen mit. Welch rasche Stunden, wenn ihre eigenen liebsten Wünsche und
Gedanken aus Claudias großen, bräunlich weißen Tieraugen in weicherem Glanz
zurückglänzten; wenn Claudia mit ihrer gewandten Hand, die gleitend, leicht
und fest war wie ihr Schritt, wie ihr Lächeln, über ihre schwarzen Bandeaus
strich; wenn sie die einfach und sanft gebogenen Lippen leise von den
kleinen Zähnen zog und aus den Winkeln nach Pardi aussah: was er nun noch
vorbringen werde. Er verließ, so lange die Freundinnen sich unterredeten,
nicht das Haus, lief, die Schultern schüttelnd, vor ihnen auf und ab, hielt
plötzlich an und rief sie, mit Gesten, als wollte er sie überwältigen, auf
die bewährten Standpunkte zurück. Konnten sie wirklich vergessen, daß sie
ohne den Mann keinen Zweck auf der Welt hatten? Er griff sich an die
Schläfen, wie in einem Traum, worin eine Schar Puppen ihn anfiele. Lola
redete, vor Verlangen stürmisch, auf ihn ein. Welche Vereinigung, welche
Umarmung, wenn sie ihn gewänne! Claudia lächelte zu ihm auf; sie
wiederholte Lolas Gründe in spitzbübischem Neapolitanisch, und ihre
beweglichen kleinen Mienen überkugelten sich vor Spott. Er traf ihre Augen,
blieb darin haften und brach seine Widerrede ab. Lola sprach eine Zeitlang
allein. Plötzlich, ein wenig zerstreut trotz seiner Heftigkeit, fing er
wieder zu streiten an.

Er würde gewonnen werden! Er war seelisch ein Kind; sie spürte, stritt sie
mit ihm, Regungen von Mutterzärtlichkeit. Er verspielte Tausende, und dann
machte er ihr einen Auftritt, weil sie die Wäscherin um einige Pfennige zu
teuer entlohnt hatte. Seine Härte gegen die Dienstboten glich ganz dem
Hochmut eines verwöhnten Kindes. Sie gab ihm das Beispiel, die Leute mit
Güte anzusprechen, ihre Dienste zu erbitten und ihnen dafür zu danken.

»Wozu unsere zufällig günstigere Stellung mißbrauchen? So viel wie sie für
uns, leisten wir niemals für sie; ein Danke ist nicht zu viel.«

Er behauptete die strenge Zucht.

»Das ist eine andere Gattung Menschen: sie verstehen nur die volle
Ausnutzung der Gewalt; sobald wir nachlassen, sind wir verloren. Wenn wir
die Herren nicht mehr zeigen, sind wir's nicht mehr.«

Lola meinte:

»Das ist wohl allen Menschen gemeinsam: nicht mehr zu geben, als gefordert
wird. Aber warum mehr fordern, als wir brauchen? Wozu überhaupt herrschen?
Mich verletzt die Demütigung anderer in meiner eigenen Menschenwürde.«

Er nannte das sträflichen Unsinn. Als ihr eine Spange fehlte, mußten, trotz
Lolas Widerspruch, Gepäck und Kleidung der Dienerschaft durchsucht werden.
Es blieb umsonst; -- und Pardi bestand nun darauf, Germaine verantwortlich
zu machen. Sie allein betrete das Schlafzimmer; ob sie die Spange habe oder
nicht, sie müsse fort. Lola sah, daß vor allem seine Herrschsucht ihn
aufbrachte. Sie selbst, die sich ihre Untergebenen zu Freunden wünschte,
sollte gestraft werden in der, die ihr am nächsten war. Germaine hatte
nicht mit Mai nach Amerika gewollt, sie war Lola gefolgt. Sie drohte, den
Herrn Grafen wegen Verleumdung zu verklagen. Lola zuliebe stand sie davon
ab; sie willigte sogar ein, das Ende des Monats im Hause abzuwarten.
Inzwischen bat und kämpfte Lola täglich für sie. Pardis Antwort war:

»Ich bin der Herr.«

Lola lebte in Angst um der Ungerechtigkeit willen, die er ihr auflud.
Unvorsichtig aus Erregung, setzte sie sich eines Abends in der Pergola für
den Schutz der unverheirateten Mütter ein. Ihre Loge war voll Menschen.
Botta war darunter und vertrat in seiner schmatzenden Art die Ansprüche der
Gesellschaft. Lola versteifte sich. Zwei Herren sahen sich an und
lächelten. Pardi, der eintrat, warf einen Blick über die Lage und sprang
Lola bei. Er trumpfte mit den ritterlichsten Gründen. Er arbeitete sich ab
in verzweifelter Donquichotterie, vor den anderen, die ruhig wie die dumpfe
Mauer des Vorurteils selbst, ihm lächelnd zusahen. Seine Tigermiene und
eine Anspielung auf seinen Degen wischten das Lächeln weg. Lola hatte
gesiegt. Er hatte sich mit ihr durchgefochten. Sie atmete schwer und
glücklich, als habe er sie wirklich auf seinen Armen durch Feinde
hindurchgetragen. Er war bei ihr: o, sie hatte gewußt, sie werde ihn
gewinnen! Wie wäre es möglich gewesen, daß in zwei Körpern, die kraft so
vieler Umarmungen fast zu Zwillingskörpern geworden waren, nicht auch die
Seelen sich verstehen lernten, sich umarmten!

Sie hatte Tränen in den Augen und nahm, indes alle nach der Bühne sahen,
seine Hand. Er entzog sie ihr. Im Wagen verbot er ihr zu sprechen; es
dringe Nebel ein; -- und dann kam er plötzlich aufgereckt, entschlossen
durch das Ankleidekabinett herbei. Auf der Schwelle des Schlafzimmers hielt
er an, die Hand an der Brust. Sie erschrak über sein Gesicht. Auf ihn zu:

»Was hast du? Lieber?«

»Keine Komödie! Wir wissen, woran wir miteinander sind. Madame, ich erkläre
Ihnen, daß Sie mich nicht länger kompromittieren werden!«

»Ich -- dich? Ich wollte dir danken, dich so lieb haben wie noch nie. Du
hast meine Partei genommen! . . .«

»Jawohl: ich habe Ihre Partei genommen! Was weiter? Sie sind meine Frau:
Sie könnten gestohlen haben, und ich würde Sie freilügen. Aber merken Sie
sich, daß ich Sie darum nicht weniger verachten würde!«

»Ich habe unsere Freunde um ein wenig Menschlichkeit gebeten für gewisse
Ausgestoßene. Ich verdanke dir so viel Liebe, daß ich kein Wesen ganz
ungeliebt sehen kann.«

»Schwelgen Sie in Ihren unpassenden Utopien, solange wir allein sind. Aber
hüten Sie sich, die Ehre meines Hauses den Leuten zum Spiel hinzuwerfen!«

»Ich begreife nicht, was die Ehre Ihres Hauses --«

»Sie stellen mein Haus auf den Kopf, moralisch noch mehr als materiell, und
ich habe zu lange zugesehen. Sie suchen den beiden kleinen Niccoli den
Glauben an die Hölle auszureden: gottlob umsonst. Meine Dienerschaft
verliert den Respekt. Sie dulden eine Diebin im Hause . . .«

»Germaine ist keine Diebin!«

»Sie dulden eine Diebin! Und dank Ihnen hat einer dieser infamen
Sozialisten hier Zutritt gefunden.«

»Der arme Ricchetti! Er leidet unter der Gewißheit, daß in diesem Lande
seine Ideen niemals Wurzel fassen werden. Mag sein, daß er sich durch
Gewalthandlungen manchmal darüber hinwegtäuscht. Doch weiß ich von ihm, daß
er den Generalstreik nur zugelassen hat, weil er mußte, und hoffnungslos.
Ein unglücklicher Messias -- vielleicht. Und, wie man sagt, ein armer
Epileptiker . . .«

»Ein schwächlicher Hallunke, ganz einfach,« entschied Pardi -- und schnitt
Lola die prüfenden Gedanken ab. Da er sie durch sein entschlossenes Urteil
eingeschüchtert sah:

»Du hast ihn für morgen eingeladen: du wirst ihm abschreiben.«

»Geht denn das?« murmelte sie. »Überlege es dir, bitte!«

»Ich soll überlegen?« Er schäumte wieder auf. »Du mißverstehst die Lage:
ich habe nicht zu überlegen und nicht zu bitten. Ich verbiete dem Ricchetti
mein Haus. Wer hat dich übrigens berechtigt, dem Cesco monatlich fünf
Francs mehr zu versprechen?«

»Unsere Empfänge erschweren ihm den Dienst . . .«

»Du wirfst mein Geld hinaus!«

»Besinne dich! Sieh deine Hand an und denke dir, du habest fünf Francs
darin. Was tust du damit? Du gibst sie irgendwem als Trinkgeld . . . Sei
gut!«

Er schüttelte sie ab, getroffen und erbittert.

»Zu solcher Wirtschaft habe ich dich nicht hergebracht. Woher kommst du
überhaupt? Gehorche, sonst magst du in Gesellschaft deines Kammermädchens
zu dem Stadttor wieder hinausgehen, durch das du hereingekommen bist!«

Mit Schrecken erkannte sie in seiner Miene den Haß. Es konnte nicht sein,
sie wollte nicht glauben: er irrte sich, er war krank! Eindringlich und
mütterlich, mit einem Lächeln, als habe er gescherzt, und doch mit leise
beschwörenden Händen:

»Im Ernst, du schickst mich fort? Also dann bitte ich den hartherzigen Mann
für zwei, statt einer. Laß mich bleiben, und erlaube, daß auch Germaine
bleibt!«

»Erlaube, daß Germaine bleibt! Das ist der Refrain: wenn ich ihn höre, gehe
ich. Adieu. Erlaube, daß Germaine bleibt! Das ist wie: Erlaß dem Bauern das
Pachtgeld. Wir wissen auch, welche schönen Dinge du mir statt des
Pachtgeldes gewährtest. Auch Germaines Entlassung möchtest du mir gewiß mit
diesen Späßen abkaufen? Also komm, Gigi!«

Sie taumelte zurück. Er lachte auf und war fort. Lola blieb ans Bett
gestützt und hörte dies Lachen im leeren Zimmer weiterlachen. »Er verachtet
mich!« Sie sah starr, aus geröteten Augen vor sich hin, hatte die Hand am
Herzen und dachte: »Er verachtet mich!« Die Knie zitterten ihr; sie ließ
sich, am Fleck, wo sie stand, zu Boden gleiten. Kauernd dachte sie: »Daß
ich mir's nicht gesagt habe! Ein Mann sollte von einer Frau solche Bilder
im Kopf tragen, wie er von mir, und sie noch achten? Wie darf sie, die so
tief mit ihm durch Schmutz ging, irgend eine reine Sache berühren wollen!
Es ist wahr: das Mitleid selbst habe ich damals mißbraucht zum Dienst der
Lust. Ich bin unrein für immer. Nicht er dürfte mir's vorwerfen: Alle, nur
er nicht, mein Mitschuldiger; aber die Wahrheit ist's, und meine Sehnsucht,
ihn dem zu gewinnen, was ich als höheres Menschentum empfinde, steht doch
mit beiden Füßen im mehr als Tierischen, und seine Seele zu umarmen, drängt
es mich nur darum so sehr, weil ich bis in Verirrungen und ohne meine
letzte Scham zu hüten, seinen Körper geliebt habe!«

Immer neue Blutwellen stürzten ihr in die Wangen. Zitternd hob sie sich vom
Boden, voll Bangens danach, ihre Schande zu betrachten und ganz zu
ermessen, durch ihren Anblick sich zu kasteien. Sie warf sich, mit gierigem
Ekel, dem Spiegel entgegen. Da waren diese Augen, die endlose Züge
unzüchtiger Träume erblickt hatten: da waren sie! Da war dieser entweihte
Mund! . . . Plötzlich hielt sie ihre beiden Hände vor sich hin, wie etwas
Neuentdecktes, Furchtbares. Ihre Hände zuckten zusammen, als sie einen
heißen Tropfen empfingen. Lola erkannte:

»Was habe ich getan! Ich habe mich selbst verraten an das Fleisch! Jetzt
hält es mich, ich bin seine Gefangene, ich darf nicht mehr aus ihm
hinausdenken. Nichts weiter mehr, solange ich leben mag, liegt vor mir, als
die düstere Wut dieser hoffnungslosen Umarmungen. Ich hasse mich und werde
von ihm, der sie genießt, verachtet für meine Dienste, wie eine schmutzige
Magd.«

Sie setzte sich auf den Bettrand.

»Mein Gott! ich bin verloren.«



II


Sie weigerte sich, am Abend darauf die Gäste zu empfangen. Trotz Pardis
Drohungen schrieb sie nicht nur Ricchetti, sondern allen ab. Pardi rächte
sich durch die Herausforderung des Abgeordneten. Als er ihn leicht
verwundet hatte, erklärte er Lola, sein Haus und sie seien wieder
fleckenlos, jetzt könnten die Leute kommen.

»Du irrst dich,« sagte sie, »ich werde vorläufig niemand sehen.«

Er wollte losfahren, erkannte aber ihre Miene: diese feindlich
verschlossene Miene, der er seit ihrer Heirat nicht mehr begegnet war.
»Verrückt,« sagte er und ging.

Lola blieb allein mit dem Gefühl, ringsum wispere es von ihr, deute auf
sie. Es war wie das Jucken eines unsichtbaren Ausschlages. Sie konnte nicht
mehr ausgehen, seit ein begehrlicher Männerblick ihr begegnet war. Der
hatte gewußt! Das Laster spürte das Laster heraus! Die Frauen: die reinen
Frauen, denen man zutuschelte über sie! . . . Und ihr Mann, ihr Genosse,
dem das alles vielleicht zu seiner Ehre diente, der sich damit rühmte, trat
bei ihr ein, wie es ihm beifiel: ohne sie zu bemerken, oder scheltend, oder
mit einer flüchtigen Liebkosung, unter der sie sich kalt und stachlich
überschauert fühlte. Das war das Unerträglichste: keinen Fuß breit zu
haben, wo sie allein sein konnte, wo keine fremde Haut an ihre streifte und
kein feindlicher Atem ging! Wie sie die Menschen haßte! Es dürstete sie
nach jener Mädchenzeit und nach der scheuen Einsamkeit der Gewittertage im
Bergwald, da sie sich, durch Blitze und Regenströme vor Menschen sicher,
mit Versen von anderen Sternen in eine Reisighütte barg. Allein und rein,
allein und rein sein! Immer wieder stieg ganz frisches Entsetzen herauf.
»Wie ist es geschehen? Wie komme ich hierher? Was war ich vorher! Welche
Kluft!« Und sie dachte an Arnold. Wenn er wüßte! Wenn er ihr je begegnete!
O, sich nicht zeigen, sich niemals mehr zeigen.

Im geschlossenen Wagen fuhr sie vor der Stadt die ödesten Wege. Pardi
verbot es.

»Weil du verrückt bist, dürfen meine Pferde noch nicht leiden. Vernünftige
Leute fahren die Wege, die dafür da sind, in den Cascine. Auch den Viale
de'Colli fährt niemand: er ist zu steil und überanstrengt die Pferde.«

Sein Geiz und seine geistlose Härte, seine unbeherrschten Begierden, sein
elastisches, unbefangenes Hin und Her zwischen einer engen Mannesehre und
jovialer Lockerheit bedrückten sie jetzt mit ihrer Nähe wie eine unheilbare
Krankheit. Und sie hatte es für ein Spiel gehalten, sie zu heilen; war
glücklich gewesen, daß es etwas an ihm zu heilen gab! Von demselben Cesco,
dessen Monatslohn er nicht um fünf Francs hatte erhöhen wollen, hörte sie
ihn fünfzig Francs leihen. Cesco schien geschmeichelt: er eilte lebhaft
nach dem Gelde und bat freudig zum Diner. Lola konnte die Augen nicht von
den Schüsseln heben, die der Diener ihr hinhielt. Pardi plauderte mit ihm.
Dann schien ihm aus der Zigarrenkiste etwas zu fehlen, und Cesco ward des
Diebstahls beschuldigt und in schnell herabgewürdigtem Zustand
hinausgeschickt. Als die Notwendigkeit näher kam, wieder einen Besitz zu
verkaufen, erklärte Pardi den grünen Spieltisch für das fruchtbarste
Landgut. Während derselben Mahlzeit entrüstete er sich aufrichtig über den
alten Niccoli, der nun auch seine zweite Frau ruiniert hatte und noch den
Verlobten der mittellosen Tochter durch seine Tyrannei aus dem Hause trieb.

»Kein Gewissen! Unwürdig, eine Familie zu regieren!«

Dazwischen warf sie es sich vor, daß sie ihn allzu klar, ungetrübt durch
ihr Herz, beurteile. »Er ahnt nicht, daß er ein Paar feindlicher Augen auf
sich hat. Auch verdient er's nicht: vor unserer Heirat war er derselbe, und
ich wußte es. Ich wußte, er sei brutal, ein Lump und der Gerechtigkeit
unfähig. Verklärt, beinahe durchgeistigt ward das alles durch eine Art
Heldentum: durch eine großartige Eitelkeit und die Bereitschaft, für jedes
Nichts mit ganzer Persönlichkeit einzustehen. Sein Heldentum war eins mit
seinem Temperament: und das habe ich durchgemacht, er hat es an mir
abgenutzt, es ist mir verächtlich geworden. Mit dem, was übrig bleibt,
heißt es nun leben . . .

Nicht er hat die Schuld. Manche andere hätte er zufriedengestellt: manches
der unbewußten Wesen, denen er gleicht. Die Verantwortung ist bei mir, die
voraussah. Welches meiner heutigen Leiden überrascht mich denn? Nur der
fleischliche Irrsinn konnte mich vergeßlich machen; aber damals entschloß
ich mich sehend zu meinem Verderben . . . Andere dürfen klagen, daß es
keinen Ausweg, keine Scheidung gibt: ich nicht; ich verdiene sie nicht. Ich
darf ihn auch nicht hassen: nur er mich. Er ist, und ich wußte es, der
hochmütige, dumme Rassemensch, ohne Verständnis für irgend etwas, das nicht
sein kleines, überlebtes Herrenrecht ist. Ich hafte nirgends (wie konnte
ich mich vermessen, hier zu haften!), habe einen Fuß in jeder Welt, in
jedem Volk, habe Fühler für alles, bin allem verwandt. Daß ich ihn verstehe
und er mich nicht, das macht mich rechtlos . . .«

Sie hielt sich zur Geduld an, nahm seinen Zorn hin und die Geschenke, mit
denen er sie, gutmütig, entschädigte.

»Du bringst mir Glück,« sagte er. »Ich habe bemerkt: wenn ich von dir
komme, gewinne ich.«

Und er forderte eine Umarmung. Er war warmherziger: seine Liebe, anders als
ihre, vertrug sich mit Verachtung; vertrug sich damit, daß er, den Geruch
anderer Frauen noch in der Haut, sich zu ihr legte. Er schlief; sie mußte
wachen und diesem fremden Geruch gramvoll nachgrübeln. Endlich: »Was will
ich? Habe ich nicht gewußt, er werde sich nicht zusammenhalten können für
mich? Er sei ein Abenteurer, der nach allen Seiten lebe, ein
unzuverlässiger Spieler, für den nichts in Spiel oder Leben endgültig sei,
und ein immer von seinen Launen gequälter Mann aller Frauen?« Als sie ihn
zum erstenmal betrunken sah, sprang eine Erinnerung in ihr auf: der
Leierkastenmann, der einst mit seiner feurigen Blässe den Geschichtslehrer
Herrn Dietrich in ihren Backfischträumen abgelöst hatte, dem sie all ihr
Taschengeld zugeworfen hatte, und der betrunken gewesen und verhaftet
worden war. »Alles wiederholt sich oder erfüllt sich. Es ist bestimmt; ich
muß es aushalten.« Er war gerade so unwissend wie der Leierkastenmann;
manchmal rührte er sie. Er begriff nicht, warum sie für ihn erloschen sei,
kämpfte knirschend, damit sie sich wieder entzünde, konnte eigens aus
seinem Toilettezimmer treten, um ihr seine Muskeln und seinen Torso
vorzuführen. Von einer Reise schickte er ihr sein Bildnis, nackt, mit
gespreizten Beinen und die Hände auf den Hüften. Dazwischen forderte er
einen Sohn von ihr. »Wo bleibt Giovannino?« Und im Frühling: »Wehe, wenn
das Jahr vergeht, ohne daß Giovannino kommt!« Aber jedesmal vergaß er's
wieder für lange.

Sie dachte mit Befremden und mit Widerwillen an die Möglichkeit. Ein Kind,
von diesem fremden Manne? Sie konnte sich nicht vorstellen, daß durch
dieses ihr gleichgültige Haus ein Kind von ihr laufen solle, ihr wahres
Kind. »Es würde nicht meins sein, es würde mich nicht kennen, mich nicht
lieben. Die Rasse des Mannes ist so viel stärker, sie würde mich
überwältigen, noch in dem Geschöpf, das ich hervorbrächte. Es wäre seins,
es würde zu diesen Fremden hier gehören. Ich will es nicht: ich will nicht
die Fremden bis in meinen Leib . . .«

Kaum ertrug sie noch diese Menschen: ihre lauten, schleierlosen Gebärden
und Stimmen, all das gierige Leben in den gewölbten Augen. Durch einen
Salon sandte sie einen trostlosen Blick über das heimliche
Aneinanderstreifen der Hände, der Wünsche, über die spöttelnde Wollust der
Lippen, die sich anlächelten, über das in allen wache Geschlecht, -- und
plötzlich entwich aus diesen Toiletten, diesen schlanken Fräcken ein Qualm
tierischer Gerüche und erstickte sie. Und an diesem Getriebe sollte sie
noch in Viareggio beteiligt gewesen sein, es durch Leidenschaft vergoldet
gesehen haben? Jetzt sah sie's ohne Glorie und nüchtern. Sie mußte sehen;
ihre Beobachtungen sprangen sie an, wie böse Hunde. Dem kleinen Sandrini
drückte alles die Hand, und alles wußte, daß er falsch spielte. Aber seine
Frau war die Tochter des Präfekten. Lola dachte: »Wenn Pardi nicht seinen
Degen hätte --« Der Trappola zeigte eine Zigarettendose umher, und seine
Schwester bewegte den Fächer vom Baron Bergmann, dem auch die Dose gehört
hatte. Gastgeschenke. Für mehr als eine Familie waren Gastgeschenke der
sicherste Teil ihres Einkommens; die Unehre der Frauen ergänzte das Glück
im Spiel. Jeder gewährte allen Nachsicht. Kein Mensch fühlte hier die
Nötigung, vor sich selbst ohne Flecken zu sein. Die äußere Geltung, das
Übereinkommen war alles. Sie machten, bei ihrer animalischen Tüchtigkeit,
den Eindruck moralisch unendlich Ermatteter. Die Spitzbüberei war bei
diesen Enkeln großer Bankiers blutarm und kleinlich. In ihrem Geist
schienen die Federn verbraucht; er wiegte sich, hart und platt, wie die
Chaise einer zu alten Staatskutsche, auf den verjährten Ideen aus ihrer
großen Zeit. Man glaubte ihnen nicht, daß sie anderswo noch dachten, als in
Gesellschaft, um »Figur zu machen«, des Pompes wegen. Auch geistig waren
sie arme Dandys, die zu Hause nicht aßen. Nichts erneuerte sich hier; kein
Vermögen, kein Ideenvorrat. Und im Wegsehen von allem Zeitgemäßen eignete
ihnen dieselbe klägliche Einmütigkeit, wie im Vertuschen ihrer
Schmutzereien. Eins nur war unverzeihlich: anders zu sein. Ricchetti, dem
Abgeordneten, der aus gutem Hause war, sagte man Verbrechen nach. Mußten
sie nicht in Lola die Kritik spüren? »Wenn Pardi stürbe, würde man
aufbringen, daß ich ihn vergiftet habe.«

Plötzlich ward die Bernabei von ihrem Gatten erwischt: mit dem Leutnant
Cavà. Die Männer schossen sich ergebnislos, Cavà ward nach Sizilien
versetzt. Von der Bernabei, deren elf Liebhaber jeder herzählen konnte, zog
sich von heute auf morgen alles zurück, ihre Eltern mit den übrigen, samt
ihrer Schwester, die genau aussah wie sie und statt elf nur neun Liebhaber
gehabt hatte. Ihr Mann setzte ihr ein Monatsgeld aus, unter der Bedingung,
daß sie auf dem Lande lebe. Lola ging zu ihr: so sehr empörte sie die
allgemeine Heuchelei. Diese Frau war die letzte Geliebte Pardis vor seiner
Heirat gewesen; sie und Lola hatten eine feindliche Anziehung füreinander
gehabt: -- nun schämte Lola sich, sie am Boden zu sehen. Sie konnte nicht
ganz schlecht sein, wenn Cavà, der anständigste von allen, sie geliebt
hatte. Cavà kam, um Abschied zu nehmen. Lola fragte ihn geradeaus:

»Sie müssen die Gräfin sehr geliebt haben.«

Er schlug die Augen nieder.

»Und wenn auch nicht,« sagte er dann. »Jetzt muß ich ihretwegen in die
Verbannung, mehr kann sie nicht verlangen.«

Schmollend und mit knabenhaftem Erröten:

»Leid tut sie mir . . .«

»Mir auch, -- und ich möchte es ihr sagen.«

»Um Gottes willen! Wie können Sie mit der Frau noch verkehren!«

. . . Und der war der Anständigste! Lola ging sogleich zu ihr, hinter die
Ringallee, in die halbbebaute Vorstadtstraße, am Rande eines
Scherbenfeldes. Alles stand weit offen; niemand zeigte sich; und mit Mühe
gelangte Lola durch das wackelnde Gerümpel über den Flur. Ein armer Salon,
die Wände volkstümlich bemalt, wie in einer Kneipe; und nichts darin als
ein Damenschreibtisch, eingelegt, bedeckt mit Gegenständen aus Silber, und
auf einem Samtkissen darunter ein Mops: der Mops des Hauses Bernabei. Lola
mußte husten von dem scharfen Mauergeruch.

»Contessa!« sagte darauf eine einladende Stimme. Die arme Verwandte der
Hausfrau watschelte herein, mit demselben schiefen Kopf, mit dem sie die
Honneurs des Palazzo Bernabei gemacht hatte.

»Setzen Sie sich doch, Contessa . . . Ach Gott, kein Stuhl!« -- und
bestürzt ließ sie ihre frisch gestärkte Frisierjacke los, die sich auftat.
Ein wulstiges Gewoge, in ergraute Leinwand gewickelt, ward sichtbar. Sie
eilte nach Sitzen. Lola trug selbst einen Strohstuhl herbei.

»Wir wissen es sehr zu schätzen,« sagte die Alte, »daß Sie sich für unser
neues home interessieren. Auch meine kleine Nichte weiß es zu schätzen. Da
kommt sie.«

Die Bernabei blieb in ihrer eleganten Matinee vor der Tür stehen.

»Stefano! Diomira!« rief sie rückwärts ins Dunkel. »Hier versperren Sachen
den Weg.«

Da niemand antwortete, trat sie mit Achselzucken ein.

»Sie wissen wohl, Contessa, die Dienstboten . . .«

Lola stimmte rasch und verlegen bei. Es eilte ihr, über dieses,
wahrscheinlich gar nicht vorhandene Gesinde hinwegzukommen. Aber die
Bernabei fuhr fort und ordnete, wie sie sich auf den Strohstuhl setzte,
sorgfältig ihre Falten:

»Was sagen Sie zu der Wohnung? Mein Gott, die Auswahl war in diesem
Augenblick natürlich nicht groß.«

»Sehr hübsch,« brachte Lola hervor.

»Ich hoffe, ich werde hier meinen Kreis empfangen können.«

Lola verstummte. Die Lider der Bernabei klappten, auch heute rot
geschminkt, auf und zu über den kleinlich besorgten Augen.

»Wer hat Ihnen das Kleid gemacht?« fragte sie.

Und Lola sah entsetzt von ihr zu der Verwandten. War diese Frau durch ihr
Unglück verstört? Nein: sie hatte dieselben Augen; jedes blaßblonde Haar
lag an seinem Platze. Diese ärmliche Korrektheit, während Empörung sie
hätte zerreißen müssen! »Du mußt doch fühlen . . .« wollte Lola sagen.
»Heuchle nicht mit mir! Was liegt daran. Du denkst weder an mein Kleid noch
an deinen Kreis.« Sie entschloß sich:

»Ich komme, Ihnen zu sagen, wie ungerecht ich Sie behandelt finde.«

Die Bernabei sah sie zwinkernd an. Weinerlich:

»Sagen Sie das nur! Eine Unschuldige so zu verfolgen!«

»Wenn das nicht abscheulich ist!« ergänzte die Verwandte. Lola, betroffen:

»Sie hätten sich nichts vorzuwerfen?«

»Aber gar nichts. Ich werde verleumdet.«

Die Verwandte half nach:

»Schändlich verleumdet. Das Kind ist rein wie ein Engel.«

Der künstlich in die Länge gezogene Ton der Bernabei, das falsche Gegreine
der Alten widerten Lola an.

»Immerhin erzählt man manche Einzelheiten. Auch sollen Sie alles
eingestanden haben.«

»Was man mir abgepreßt hat. Konnte ich mir denn noch helfen?«

»Eine wehrlose Frau!« klagte die Verwandte.

»Ich möchte Ihnen glauben. Ob Cavà lügt? Wozu aber? Ich sage Ihnen offen:
er war bei mir, um Abschied zu nehmen.«

Die Bernabei fuhr auf.

»Ah! er geht umher und schwatzt.«

Und sie brach in unschönes Weinen aus. Der Mops unter dem Schreibtisch
stand auf und knurrte. Die Verwandte tröstete:

»Arme Kleine, sieh mich an, du hast noch Freunde.«

Die Bernabei hob das Gesicht aus den Händen.

»Wie gut, daß wir sein Kissen mitgenommen haben!«

Sie sah sich im leeren Zimmer um.

»Wenn nur er sein Kissen hat!«

Der Mops schien sich dasselbe zu sagen. Er drehte sich mehrmals auf seinem
Samtpolster um und ließ sich darauf zurückfallen. Die Verwandte schüttelte
den Kopf.

»Wir werden hart bestraft, unser Unglück will es. Und doch hätte es gut
ablaufen können.«

»Ob es gekonnt hätte!« -- und die Bernabei belebte sich. »Ich bin ein Opfer
der Männer, ihrer Dummheit und ihres Eigennutzes. Wegen einer Zigarre,
verstehen Sie: wegen einer Zigarre verfeindet mein Mann sich mit Attilio
und beschließt, uns zu überraschen! Als er dann mit der Polizei
herbeirückt, will der Himmel, daß meine Jungfer ihn rechtzeitig erblickt
und uns warnt. Ich verlor nicht die Besinnung, ich habe mir nichts
vorzuwerfen! Gleich wußte ich, was zu tun sei, und wäre man mir gefolgt,
wäre alles gut gegangen. Ich befahl der Diomira, ins Kabinett zu treten.
>Der Leutnant<, sagte ich, >wird mit dir gehen. Du schließt ab, und
verlangt man, daß du öffnest, zeigst du dich mit emporgehobenen Röcken im
Türspalt. Man wird deine Zurückgezogenheit achten . . .< Es war die
Rettung, und es war so einfach. Werden Sie glauben, daß dieser Cavà sich
weigerte? Er fürchtete, sie möchten ihn dennoch entdecken, und lieber als
an solchem Orte, wollte er in meinem Schlafzimmer gefunden werden! Die
Lächerlichkeit scheute er, und doch handelte sich's um die Ehre einer
Frau!«

Die Verwandte verdrehte die Augen.

»Was für Männer heutzutage! Ihr wäret so sicher durchgekommen . . .«

Sie verbreitete sich über die Lage der Örtlichkeit, an die die Rettung
gebunden gewesen war. Lola hielt nicht mehr aus.

»Und wenn schon. Wären Sie auch durchgekommen: Sie wären doch nicht weniger
schuldig, als Sie sind! Und heute, da man Sie überrascht hat, sind Sie doch
nicht verwerflicher, als gestern, da man noch tat, als wüßte man nichts.«

»Das ist ein Unterschied,« sagte die Bernabei, mit gedrücktem Lächeln.

»Ihr Gatte wußte darum!« rief Lola. »Ist es nicht empörend, daß er Sie
opferte, nur weil er sich mit Ihrem Liebhaber gezankt hatte?«

Die beiden Frauen wehrten mit kundigen Mienen ab. Aber Lola war im Zuge.

»Empört Sie's denn nicht, daß jetzt plötzlich alle jene Frauen Sie
verleugnen, die Ihre Schuld längst kannten, und deren eigene Vergehen jedem
bekannt sind?«

Die beiden warfen sich einen Blick zu.

»Wen meinen Sie?« fragte zögernd die Verwandte.

»Wen sollte ich meinen? O! mich ersticken hier Ungerechtigkeit und
Heuchelei.«

Und da sie sich von den kalten Augen der Bernabei beobachtet sah, als
redete sie irre:

»Sie fühlen wirklich nicht Menschenwürde genug, um sich zu empören?«

Unvermittelt fiel jene wieder in Heulen. Der Mops knurrte wieder, aber ohne
sich vom Kissen zu bemühen. Die Bernabei wimmerte:

»Bedenken Sie, wie wenig fehlte, und alles wäre gut gegangen!«

»Allerdings«, sagte Lola, beschämt, weil sie hier saß. Die Bernabei ordnete
ihre beringten Finger im Schoß, lehnte sich zurück und vernichtete in ihrer
Miene jeden Ausdruck. »Richtig: man muß vor allem sein Gesicht schonen,«
dachte Lola. »Solange es hübsch bleibt, ist nichts verloren. Man hat keinen
Erfolg gehabt und ist dafür mit Recht bestraft worden. Aber was kann man am
Ende mehr wünschen, als eine gute Schneiderin und ein Zimmer voll von
Anbetern. Schließlich darf es auch dies Zimmer sein. War man im Grunde
nicht immer schon, was man jetzt ist? Die Veränderung ist fast nur
äußerlich . . . Da sitzt sie, zurechtgemacht, als wartete sie auf Männer.
Die andere hat schon jetzt etwas von einer Kupplerin.« Plötzlich fiel ihr
ein, daß die Bernabei dorthinten Kinder zurückgelassen habe. Sie fühlte
Tränen kommen und stand hastig auf.

»Sie gehen also nicht aufs Land, Contessa?«

»Es wäre nicht der Mühe wert. Mein Mann ist im Begriff, sich zu ruinieren;
er würde mir die Pension nicht lange auszahlen. Lieber vermiete ich gleich
Zimmer.«

Die Verwandte sagte:

»Sie, Contessa, die Sie viele Fremde kennen, bitte, empfehlen Sie uns!«

                   *       *       *       *       *

Schon tags darauf kamen aus ihrem Gespräch mit der Bernabei entstellte
Bruchstücke zu Lola zurück. Sie hatte der Verurteilten recht gegeben. Sie
hatte Namen von solchen genannt, die auch nicht besser seien, und erklärt,
daß sie die Geopferte rächen wolle. Am Nachmittag, im Salon Valdomini,
begegnete sie entsetzten Blicken. Sie ward umschmeichelt: auch von Männern;
und nicht nur von den Liebhabern, auch von den Gatten derer, die Enthüllung
zu fürchten hatten. Ganz übel vor Verachtung, schloß sie sich ein. »Ich
werde mich nicht hineinfinden,« sah sie. »In der Fremde ist alles Feind,
und ich bin in jedem Lande fremd.« Sie hatte Tränenkrisen. Sie fühlte sich
erstickt, riß das Fenster auf; die dumpfe, schmutzige Regenluft schlich ihr
entgegen, und sie meinte, Ungerechtigkeit und Heuchelei griffen ihr an den
Hals. »Und ich hatte, den gestrigen Schritt zu tun, kein Recht. Ich bin
Pardis Frau, er muß aufkommen für das, was ich mir erlaube. Habe ich nicht,
als ich ihn heiratete, seine Welt zu meiner gemacht? Wie will ich, ein
losgelöstes Geschöpf, durch keine Gemeinschaft gerechtfertigt, diese Welt
hier richten! Sei sie, wie immer, sie ruht doch in sich und ist zufrieden.
Die Miene der Bernabei! Ich hätte ihr von den Gebräuchen ferner, wilder
Inseln sprechen können . . . Ich will allein bleiben, allein.«

Pardi begriff nicht, warum sie ihn nicht sehen wolle:

»Ich bitte dich, Lieber, laß mir das Schlafzimmer allein! Mir ist nicht
wohl. Siehst du nicht, wie ich häßlich geworden bin?«

Er fuhr auf.

»Schon wieder Launen?«

»Ich versichere dir: ich bin krankhaft gereizt; ich habe Übelkeiten. Ich
würde dich stören.«

Und er, plötzlich sehr sanft:

»Ist es so weit? Giovannino?«

Sie griff sich ans Herz.

»Nein! Das nicht!« stammelte sie, entsetzt und flehend.

Er sagte überzeugt:

»Schämst du dich nicht? Dieser Ton ist empörend von seiten einer Mutter,
oder von einer, die es sein sollte!«

Er faßte hinter sich, durchs offene Fenster, nach der Grafenkrone, die an
der Hauswand schwebte. Er klopfte den runden Arm des Majolikaengels, der
sie hielt. Mit Nachdruck:

»Nur über dem Haupte einer Mutter tragt ihr sie! Andernfalls --«

Im Fortgehen, über die Schulter hinweg, stieß er den Refrain aus:

»-- geh nur zu dem Tor wieder hinaus, durch das du gekommen bist!«

Sie lehnte sich ans Fenster und sah starr hinunter auf den blanken, frommen
Kopf der Madonna, die die Verkündigung vernahm. Eine wehmütige Eifersucht
beschlich Lola . . . Sie schüttelte sich, sie trat vom Fenster weg. Aber
ein Drang ängstete sie heimlich, nach der Frau, die die Botschaft empfing.
Zu Fuß verließ sie das Haus, nur um gegenüber sich ungesehen in einen Flur
zu stürzen und hinzuspähen. Da knieten sie, links und rechts des
Torgiebels, in ihren spiegelnden Gewändern und beide mit zusammengestellten
Handflächen, die Jungfrau und der Engel: er stürmisch hingeworfen, sie
geordnet und still, als habe sie ihn erwartet. Die Lilien und die Rosen
waren ihrer Mutterschaft zu Ehren schon entsprossen, die bunten Vögel
sangen ihr schon, und schon hoben die Kinderengel über ihr Haupt die Krone.
Bis unter die Fenster des zweiten Stockwerkes war das weite alte Haus
bedeckt mit der Schaustellung der Mutterschaft, mit ihrer Verklärung. Ihr,
der Mutter, gehörte es. In ihr vereinigten sich alle die Frauen, die je in
diesem Hause ein Kind erwartet hatten. Und noch immer erfüllten und
bewachten sie es, waren sie seine Herrinnen. Nicht die Einsame,
Unfruchtbare war's, die sich sträubte, zu empfangen und allein bleiben
mußte. Als sei sie daraus vertrieben, mied Lola das Haus. Im Dämmern erst
schlich sie sich hinein, tastete durch die dunkeln, dumpfen Säle des ersten
Stockwerkes und öffnete die Tür nach dem schmalen Balkon. Da stand sie nun
zwischen den beiden, die größer waren als sie, deren Züge und Gebärden so
viel kerniger waren, und die ihrer nicht achteten. Lola mußte die gesenkten
Lider der Jungfrau mit dem Finger bestreichen, mußte in das kleine tiefe
Ohr spähen, durch das die Botschaft ging . . . Ganz still war's in der
alten Straße. Die Rosen und Lilien sprossen umher, um sie drei; die Flügel
des Engels zitterten noch vom Fluge. Da setzte seine Stimme ein: seine
glockenhafte, unerbittliche Stimme, und verkündete. Wild erschreckt warf
Lola die Tür zu.

Sie lehnte an dunkler Wand, und ihr Herz schlug laut. Die eiserne Laterne
zu Füßen der Jungfrau knarrte. Ihr ward Licht gemacht, indes Lola im
Dunkeln Furcht litt. Dann fiel von drüben ein weißer Schein in den Saal.
Lola seufzte auf und wandte sich. Da waren sie! Da blickten sie von den
Wänden, die Frauen, die in diesem Hause ein Kind erwartet hatten!
Feindliche Neugier zog Lola zu ihnen. Welche ruhigen Tieraugen, immer
dieselben: in gepuderten Locken oder zwischen glatten Haarbändern, immer
dieselben. Aus so vielen Häusern der Stadt diese Frauen in dies Haus
gezogen waren, sie glichen einander im Blut. Umringt von ihren
Blutsverwandten, hatten sie ihr Kind geboren und aufgezogen, hatten es in
ein anderes Haus verheiratet, und der Strom unverfälschten Blutes war
gelassen ein- und ausgeströmt. Von den Männern trug keiner die Schönheit
Pardis. Aber ihre härteren Gesichter waren nur das strenger bewahrte
Gefängnis derselben Leidenschaften; und wenn Lola ihnen lange in die Augen
sah, traten in alle die Begierden, die sie kannte. Sie atmete bedrängt.
Diese alle wollten sie überwältigen; sie forderten von ihr das Kind: das
Kind, das sie dem Hause schuldete! . . .

Da sah einer sie an: ein Jüngling, fast ein Knabe, mit weichen, traurigen
Haaren über dem hohen weitoffenen Tuchkragen, den gepufften Ärmeln des
Fracks. Auch aus dieses Knaben weißem Gesicht stand, wie bei den andern,
der Mund feuchtrot hervor und fleischig; aber dies Fleisch schien zu
seufzen über sich selbst. Die braunen, gewölbten Augen betrauerten es,
untröstlich. Und die Stirn, die sanfte Wange neigten sich dem Schatten zu,
als wollten sie sich ganz von ihm überziehen lassen. Lola sah ihn in
Schatten dahin gehen, den Kopf noch halb zurückgewendet, und doch schon
fremd dem Hause, über dessen Schwelle er hinwegtrat, und der Straße, ihren
Fenstergittern, Fackelringen und Steinbildern, und den Brücken mit dem
Geräusch der Buden, und dem Domplatz und den schön geschminkten Frauen
darauf, deren Augen ihm winkten und die er nicht ansah. Letztes Abendgold
beglänzte schwach die Hügel; und zwischen ihnen, auf Steinen, an einem Pfad
den niemand schritt, fand er eine arme Frau, eine arme, häßliche und fremde
Frau, die keine Gemeinschaft hatte und ihres Weges müde war. Er legte sich
zu ihr auf die Steine; er folgte ihrem Weg mit ihr; und er bekam ein
schönes Kind von ihr: ein schönes, heiteres Kind von der traurigen und
häßlichen Frau. Lola gab ihm, ohne darum zu wissen, einen Namen: dem Kinde
und seinem Vater, -- indes sie, den Kopf gesenkt, aus dem Saal, die Treppe
hinauf und in ihr Zimmer ging.

                   *       *       *       *       *

Seit sie sich nicht mehr blicken ließ, suchten täglich Freundinnen bei ihr
einzudringen. »Sie fürchten mich. Claudia ist die einzige, der an mir
liegt. Nur sie will ich sehen.«

Claudia kam zögernd herein.

»Hast du etwas gegen mich?«

Und als Lola lächelnd den Kopf schüttelte, schnellte Claudia ihr,
aufjubelnd, an die Brust, drängte, rieb und schmiegte sich, ein warmes,
liebebedürftiges Tier. Ihr Gesicht hatte vor Traurigkeit in lauter kleinen
matten Polstern herabgehangen, und auf einmal war es ganz fest und klar vor
Glück.

»Wie schön, daß du mir nicht böse bist! Ich habe dich so lieb!«

»Und ich bin froh, daß ich dich habe, Claudia. Ich fühle mich oft sehr
allein und traurig.«

»Und dann liest du und machst dich damit noch trauriger. Man soll nicht
lesen: noch dazu dies.«

Mit tiefem Mißtrauen in jedem ihrer Kinderfinger, faßte Claudia das Buch
an.

»Das ist deutsch? Du verschließt also deine Tür und liest deutsch. Das
heißt, du willst mit uns allen nichts mehr zu tun haben. Du bist mit uns
fertig, du findest uns falsch und äußerlich.«

Von unten, schlau und ruhig:

»Ist es nicht so?«

Lola zog die Wange der Freundin an ihre.

»Ah, du willst nicht, daß man dir in die Augen sieht! Aber ich weiß alles.
Das Unglück der Bernabei hat dich empört, denn du bist eine ehrliche
Deutsche. Du stehst nicht, wie sie sagt, auf ihrer Seite: hat sie doch
ihren Mann betrogen, und das ist schlimm. Aber wir dürfen keinen Stein
aufheben, meinst du. Wir sollen selbst erst ehrlich sein, meinst du, sollen
uns von unserm Manne trennen, bevor wir einen Liebhaber nehmen. Ist es
nicht so?«

»Was du alles weißt!« -- und Lola liebkoste das eifrige Gesichtchen. Unter
ihrer Hand bewegte es sich, wechselte, und was Claudia so feierlich
enthüllt hatte, sah nun aus wie ein Witz.

»Wie du mich verstanden hast! Und wie du es gut sagst, mit deinem rollenden
und singenden neapolitanischen Munde!«

Dies hübsche, gelehrige Äffchen, von dem nachgesprochen, Lolas Gedanken
weniger untröstlich klangen: wie eine etwas triste Posse nur! Dessen
nächste Miene sich immer über die vorige lustig machte, bis keine mehr
galt! »Wer sich auch so rasch abtun könnte! Man müßte sich ein wenig
geringer achten, und man hätte es so viel leichter« . . . Aber Claudias
Mundwinkel hingen schon wieder. Die Augen, unter schwer fallenden Lidern,
starrten aus den Winkeln.

»Eine Sünderin: ja. Aber bedenke auch, wie furchtbar das Frauenleben ist!
Welche Schrecken uns drohen jeden Tag! Hast du gehört, was der Beamte in
Via del Mezzo mit seiner Frau getan hat? Nun siehst du! Er kommt, mit einem
Fiasco unter dem Arm, die Treppe herauf.«

Claudia ahmte seinen Schritt nach. Sie ließ sich breit am Tisch nieder.

»Er will weitertrinken; die Frau rät ihm ab, sie wirft ihm sein Laster vor.
Er antwortet nicht; er schweigt und trinkt. Als er fertig ist --«

Claudia wischte sich mit der Handfläche den Mund.

»-- steht er auf, holt einen Strick und --«

Claudia stand, von Grausen erkältet, sehr steif, die Arme am Leib. Ihre
Augen sahen den Mörder kommen.

»-- schnürt ihr den Hals zu, wie einem Spatz. Dann hängt er sie auch noch
an die Decke.«

Und Claudia machte sich, dumpf stöhnend, noch starrer, verdrehte die Augen
und streckte die Zunge aus. Plötzlich fiel sie auf einen Stuhl. Nach vorn
geworfen, heftig flüsternd:

»Und das ist ganz der Typus meines Mannes! Auch mein Mann ist ein
Neurastheniker, auch er trinkt, schreit mich an . . . und eines Tages wird
er schweigen und --«

Claudia führte mit der geballten Hand rasche Kreise um ihren Hals. Dann zog
sich ihr Gesicht zusammen, und laute Tränen kamen. Lola ließ sich,
erschreckt, vor ihr auf die Knie.

»Aber Claudia, jene Frau hatte einen Liebhaber.«

Claudia klammerte sich an.

»Ich habe solche Angst!«

»Wovor, Liebling? Du bist nicht wie jene.«

»Doch!« -- mit großen, nassen Sünderinnenaugen. Und schwer nickend:

»Ich habe einen Geliebten. O, frage mich nicht, wen! Aber glaube nur, wenn
du's noch nicht weißt: unsere Männer sind von einer Art, daß wir einen
Trost brauchen.«

»Ich weiß es schon.«

»Wie du nun aussiehst. An wen denkst du jetzt? Verrate mir dein Geheimnis,
Lolina?«

Lola schrak auf und machte sich los.

»An niemand denke ich, sei versichert. Aber auch wenn ich meinen Mann nicht
mehr lieben würde, ich nähme doch nie einen Geliebten. O, ich verurteile
euch nicht; ihr seid anders. Nur ich habe nicht das Recht dazu.«

Claudia richtete ihre kleine elegante Gestalt auf. Tragisch:

»Wir bezahlen dafür. Möblierte Zimmer oder . . . so.«

Sie ließ nochmals die ganze Zunge hängen. Und leichtsinnig zärtlich:

»Aber Spaß macht's doch. Sage, Lolina, warum könntest nicht auch du --?
Hast du nicht gemerkt, daß Valdomini in dich verliebt ist? Übrigens sind
viele es, nur daß du sie entmutigst. Aber wie ich lachen wollte, wenn Pardi
--«

Sie stellte zwei Finger über ihrer Stirn auf.

»Er, der so viele verführt hat! Alle könntest du rächen. Meinst du nicht,
daß er dich betrügt?«

»Ich wußte es, bevor ich ihn nahm;« -- und Lola schlug die Augen nieder.
»Ich habe ihn genommen, wie er ist.«

»Seid ihr ehrlich! Weißt du, daß das schließlich zum Lachen ist?«

Und sie krümmte sich. Gleich nachher, demütig abbittend, voll Bewunderung:

»Nicht wahr, wenn du einen liebtest, würdest du dich ganz und gar trennen
von deinem Mann? Ihn nie mehr zu dir lassen?«

Gramvoll und ohne Mut sagte Lola:

»Ich wollte, ich könnte immer, immer allein bleiben.«

Claudia sprang auf.

»So sehr zuwider ist er dir?«

Sogleich löschte sie ihre Miene wieder aus, machte sich ganz sanft und
farblos.

»Dann tu's doch, arme Kleine! Wie glücklich wärest du!«

Aber Lola war aufmerksam geworden.

»Warum? Du möchtest es?«

Ein Schritt ward laut: Pardi. Angstvoll wendete Claudia sich umher.

»O Gott! ich muß fort.«

»Warum? Bleibe!«

Claudia zuckte, in fliegendem Schrecken, an der Hand, die sie festhielt.
Sie drückte die Zähne in die Lippe, sah nicht vom Boden auf und drehte
Pardi, wohin er sich immer stellte, den Rücken. Lolas Blick ging von ihr zu
ihm. Plötzlich ließ sie Claudia los.

»Adieu,« sagte Claudia, ohne den Mund zu öffnen. Sie lief hinaus.

»Was hat sie?« -- und Pardi war erblaßt. Lola, am Fenster, kämpfte ihren
Atem zur Ruhe. Mit einer langsamen Wendung:

»Ich weiß es nicht.«

Er wanderte umher und stellte Fragen, nach denen er suchte.

»Du antwortest sehr kurz. Bin an deiner schlechten Laune ich schuld?«

»Nein.«

»Du hast mir nichts vorzuwerfen?«

»Nein.«

»Um so besser. Ich sehe, daß du Ruhe brauchst.«

                   *       *       *       *       *

»Das war eine Freundin! Dies kleine schlaue Tier, das sich mit seinen
Gazellenaugen in mich eingeschlichen hat, mein Empfinden und meine Stimme
nachgeäfft hat! Sie wußte, was sie wollte: vom ersten Tage an! Wir
disputierten; ich dachte, Pardi zu gewinnen; ich glaubte, zwei Körper
könnten nicht, wie unsere, durch Liebe verschwistert sein, ohne daß auch
die Seelen sich umarmten. Sie unterstützte mich, schelmisch, schmiegsam. Im
selben Atem -- wie abstoßend häßlich! -- nahm sie mir den Mann! Daß solch
Geschöpf sich leben sehen mag!«

Lola ertrug sich selbst nicht, weil sie dies erlebt hatte. Sie irrte umher,
vergrub sich in Winkel.

»Werde ich nie mißtrauisch genug werden? Werde ich nie Weib werden und
weiblichen Schlichen zu begegnen lernen? Warum muß mich jeder Mensch, nach
dem ich die Hand ausstrecke, in noch tiefere Einsamkeit stoßen? Mein Gott,
gib mir Verachtung!«

Sie weinte. Dann sah sie:

»Das alles ist falsch. Sie hat mich betrogen, aber sie liebte mich. Habe
ich nicht ihre Reue und ihr schlechtes Gewissen vor Augen gehabt? Sie war
wie ein verderbtes Kind, dem plötzlich vor ihm selbst bange wird, und das
lieber gut wäre. O, das wäre leicht und einfach: dumm sein und sie hassen!
Aber ich fühle, wenn ich mich besinne, von ihr und ihrer Welt gerade selbst
genug, daß ich ihr Recht lassen muß. Sie wird schuldig und sie büßt. Unter
Gefahren genießen, sich durch einen Tag bringen und durch noch einen,
täuschen, siegen, geschlagen werden: es wäre doch eine starke, schöne Welt.
Man dürfte keine andere kennen. Auch ich trage sie in mir -- neben der
anderen, die ich auch in mir trage. Und immer, wenn die eine mich haben
sollte, fühle ich das Gewicht der anderen, die mich fortzieht . . .«

Da sprang sie auf, stürzte sich auf die Klingel.

»Ich bitte den Herrn Grafen, sofort zu mir zu kommen.«

»Der Herr Graf ist nicht zu Hause.«

Lola sah sich im Spiegel entstellt von Zorn. »Recht so! Ich werde einen
Skandal machen, an den Florenz denken soll! Er ist bei ihr, ich habe ihn
sicher gemacht. Sie überraschen, mich rächen, sie beide ganz klein sehen
und dann fort: leicht und frei, wieder frei sein!«

. . . Sie merkte, daß sie sich, anstatt die Tür zu öffnen, dagegengelehnt
und geträumt hatte.

»Für wen will ich frei sein? Welchen Namen habe ich schon wieder gedacht?
Auch Claudia sah, daß ich einen Namen dachte . . . O, ich bin schlechter
als sie beide, als sie alle! Heuchlerischer bin ich! Sie bilden sich keine
Reinheit ein. Sie sind nicht selbstgerecht. Ich liebte Arnold, als ich, um
meiner Sinne willen, Pardi heiratete. Das ist die Wahrheit, die schlimme
Wahrheit!«

Sie sah leer vor sich hin . . . Von der Dämmerung beschlichen, schrak sie
auf.

»Ich wußte, was ich tat, und daß er noch andere begehren und nehmen würde.
Er und sie: es ist so selbstverständlich; wie konnte ich mißverstehen, wie
durfte ich mich auflehnen. Bei mir ist kein Recht, keins; und ich schäme
mich, ihnen im Wege zu sein.«

                   *       *       *       *       *

Kaum ward es Mai, und schon erklärte sie, nach San Gregorio zu wollen. An
den Ort, wo ihre Sinne geschwelgt hatten, trieb es sie jetzt, um Buße zu
tun. Pardis Blick flammte auf.

»Weißt du noch, der Garten, nachts, wenn wir in den Büschen lagen, und es
wetterleuchtete? Du möchtest wieder anfangen; und ich sage nicht nein. Aber
. . .«

»Du irrst dich. Ich will allein hin.«

»Ohne mich? Was soll nun das wieder? . . . Ach ja, ich weiß, du bist krank.
Du bist immer krank, ohne daß der Teufel begreift, woran. Von Giovannino
kommt er nicht, dein Zustand: so viel ist sicher, wie? Und nun mußt du aufs
Land . . . Aber wenn ich dir befehlen würde, bis Mitte Juni hierzubleiben?
Du hast dich, nach unserem Gesetz, dort aufzuhalten, wo es deinem Mann
beliebt.«

Sie ließ ihn ohne Antwort. »Ihm ist's bequem, daß ich gehe,« dachte sie. Er
schloß:

»Nehmen wir an, daß du unser Klima nicht verträgst. Aber ich kann dir
sagen, daß man es zuweilen bereut, wenn man eine Fremde geheiratet hat.«

Und Lola:

»Ich hätte daran denken sollen. Ich bitte dich um Verzeihung.«

Ein Aber ließ er dennoch bestehen. Lola erstaunte über seine geringe Eile,
sie loszuwerden. Schließlich schlug er ihr einen anderen Landsitz vor. Als
sie auf San Gregorio bestand, brach er in Wut aus. Dann verbrachte er den
vollen Nachmittag in seinem Arbeitszimmer, schrieb und telephonierte. Tags
darauf eröffnete er ihr, sie könne reisen. Er bot ihr an, sie bis Rom zu
begleiten; aber sie dankte ihm.

Draußen blühten Mandel und Pfirsich. Die rosigen Blütenschleier glitten
auseinander auf Lolas Wege, wehten ihr nach, hochzeitlich. Droben im
Städtchen leuchteten, wie sie sich zeigte, alle Gesichter auf: Lolas Glück
von damals glänzte noch einmal auf sie ab. »Das Glück, von dem ich selbst
nichts mehr weiß!« Das Herz zog sich ihr zusammen, wie sie, ganz klein, dem
Riesenleib des Palastes entgegenging. Auf kahler Höhe breitete er seine
morschen Fledermausflügel nach ihr aus. Die Dächer alle flohen wirr den
Berg hinab, als striche ein Angstwind über sie hin. Lola duckte die
Schultern; kalt lag es darauf; und begab sich, zwischen der gellend
betenden Zwergin und den Alten, die um Barmherzigkeit murmelten, in das
Greifenportal, wie in einen Rachen.

Die Zimmer waren verdunkelt und noch kalt. Lola mußte sich anstrengen, um
den Befehl zu geben, man solle die warme Luft hereinlassen. Gern hätte sie
die Lider gesenkt vor den Dienern, diesen Zeugen dessen, was sie hier einst
gewesen war. Des Kastellans kalte Greisenaugen forschten unerträglich. Und
das gelbe, mürbe Fleisch der schwarzen Maria erinnerte sich noch immer, mit
melancholischem Stolz und Gleichgültigkeit gegen alles, was kommen mochte,
jener Wonnen, die sie mit Lola geteilt hatte; kraft deren sie zu Lolas
Vertrauter, fast zu ihrer Schwester geworden war; von denen sie ihr, indes
ihre schweren Augen erwachten, mit solchen Worten geflüstert hatte, daß
plötzlich der Schauer selbst wieder auflebte.

Mit langsamen Schritten, deren jeder eine Welt von Angst durchmaß, gelangte
sie an der Frau vorbei, -- hörte sie nicht, sogleich, im Nacken eins jener
Worte? -- vor die Schwelle des Schlafzimmers und hinüber. Ein kopfloser
Griff: die Tür fiel zu. Darangelehnt, die Hände vors Gesicht gedrückt: »Zu
viel Demütigung, zu viel!« Mit geschlossenen Augen fand sie zwischen den
Möbeln und am Bett vorbei -- »O, ich kenne dies Zimmer, und es kennt mich!«
-- und dennoch strauchelte sie, glitt, und meinte, wie ekle Tiere, die
Bilder von damals, die sie mit ganzer Seele niederstieß, unter ihren Füßen
zu spüren.

Nach allem hatte sie irgendwie den Garten erreicht, ein Versteck und
Finsternis. Ermattet und gleichgültig sah sie vor sich hin. Es
wetterleuchtete -- wie damals. Ins Dunkel, neu gesammelt und mit Beben:
»Muß ich mich noch länger quälen? Arnold?«

Jetzt enthielt die dunkle Luft diesen Namen, war erlöst und leichter zu
atmen.

»Bist du genug gerächt? Siehst du, ich bin hergekommen, weil ich mich
deiner Verachtung ganz ausliefern wollte; weil ich deine Verachtung nötig
hatte, wie ein Bad.«

Sie schrak zusammen. »Mein Gott! wenn er käme: wohin mit mir!«

Sie griff sich ans Herz, lauschte -- und fühlte das bange Lächeln wieder
zergehen. Mit Seufzen:

»Wozu alles? Er hört nicht und hat längst verwunden. Man muß krank sein, um
sich aus seiner eigenen Natur eine Marter zu machen. Ich habe nichts getan,
was gegen meine Natur wäre.«

»Doch. Ich bin nicht Maria, die breit in ihrem Fleische lebt; der seine
Freuden rein sind. Sie gehört nur ihm: die Glückliche . . . Ach nein, ich
will nicht lästern, mich nicht selbst verleugnen.«

Sie atmete tief ein; ihr schwindelte; und sie fühlte sich aufgehoben.

»O Arnold! weißt du nicht mehr? Wir liebten uns, als wären wir schon auf
einen jener späteren Sterne entrückt gewesen, wo das Höhere in uns sich
einen eigenen Körper schaffen soll.«

Staunend bewegte sie den Kopf.

»Ich bin, denke ich deiner, ganz erfüllt vom Licht jener Mondnacht, durch
die wir gingen.«

Sie hielt das Gesicht, die geschlossenen Lider einem milchigen Glanze hin.

Und sie besann sich wieder auf das Dunkel.

                   *       *       *       *       *

Nach kurzem Schlaf trat sie aus dem Hause, in einen frischen, perlfeinen
Morgen. Zum flimmernden Himmel duftete der weiche Kranz der Berge; klar
schossen die Türme hinein; und Glockenklänge wandelten den reinen Raum
entlang und sprangen durch ihn hin. Aus der Pforte von Blumen, am Rande der
Treppengasse, quoll Blau. Unter betendem Gemurmel entstiegen grelle
Standarten der Tiefe und schlangen ihre Flammen in den blauen Tanz des
Lichtes. Kleine weiße Mädchen mit wippenden Flügelchen trippelten durch die
Blumenpforte; die Sandalen der Mönche schlürften unter ihr hin; der
Baldachin des Bischofs neigte sich vor ihr; und Volk in seinem Herdenstaub
drängte nach und stieß seine grobfrommen Stimmen durcheinander. Am Ende der
Terrasse, im Tor der Klosterkirche, warteten die Nonnen, mit
lichtergestirntem Dunkel hinter ihren blassen Gestalten. Die Orgel schnob
und grollte. Plötzlich ward sie von Stille geschlagen; -- und das Meer
ihres Tobens hinterließ nichts, als das Rinnsel eines Kindersingens.

Wie alles, was diese Luft bespülte, rein, wie die Menschen makellos waren!
Diese glockentonsatte Luft, worin Seelen badeten, hatte Lola -- schrecklich
fiel es ihr aufs Herz -- einst mit frechen Liebesschreien zerrissen! Sie
drückte sich in die hohle Wand des Portals, empfing Staub auf Schultern und
Haar, spähte von fern, als eine Unwürdige, nach dem Segen jener Gebärden
und Worte und sah, darbenden Gesichtes, den Füßen der Fortziehenden zu, die
an ihr Kleid stießen. Dann klappte das Tor; und wie Lola den Kopf hob,
bannte sie die dunkle, fensterlose Mauer des Klosters. Kühl war sie und
starr; vor unergründlicher, starrer Kühle wachte sie. Wen sie aufgenommen
hätte! Wer hinter ihr vergangen wäre! Einst hatte Lola mit Haß zu ihr
hinaufgeschmachtet; hätte sie stürmen wollen; hätte aus ihrem schamlosen
Blut jenen eingeschlossenen Frauen solche Dinge ins Ohr sagen wollen, daß
sie für den Rest ihrer Tage ihren kläglichen Frieden verlieren sollten.
Jetzt wünschte sie sich selbst, so streng und unversucht unter jenen
Gewölben zu enden, den Hauch des Geistes kühl auf dem Scheitel. Die
Gedanken gebunden, in Gesänge und Gebete gemessen, das Träumen selbst der
Nacht durch eine gebieterische Glocke zerschreckt, Stacheln in der Haut und
leeres Herz: das lockte. Das Nichts lockte. Noch leben, noch am Leben sein
-- und dennoch den aus der Seele verstoßen haben, dessen man sich unwürdig
gemacht hatte! Den letzten Atem nach einer Richtung seufzen, wo er nicht
weilte! War's Buße genug? Dann sollte es vollbracht werden.

Der Mittag drückte. Sie hielt sich kaum aufrecht und hatte doch den Kopf
voll brennenden Dranges. Das Gehirn brachte die Gedanken hervor, wie aus
Wunden. Die Glieder wurden, die Terrasse hin und her, durch Sonne
geschleppt und durften nicht ruhen. Manchmal wandte der Blick sich,
lechzend, nach dem glitzernden Streifen am Horizont, in der Lücke zwischen
zwei Bergzügen. Das Meer! Es war der Ausgang und war unerreichbar. »Ich bin
gestrandet. Bin ich bestimmt, hier zu enden? Ich mag nicht in das Haus
dort, und kenne doch kein anderes, in das ich gehörte. Vielleicht werde ich
nie mehr menschliche Gesichter sehen? Wie sollte ich dazu kommen, sie
aufzusuchen!« Plötzlich schwindelte ihr's, und heftige Angst durchflog sie.
»Es ist aus,« dachte sie und lehnte sich an den Pfeiler beim Haustor. Die
Schwäche des Herzens dauerte noch. Lola rief nach Hilfe; aber der kraftlose
Ton verging ungehört. Überwältigend weit umwogte blaue Luft ihr
geängstigtes Gesicht; Quadern blendeten hart; und wie sie über sich
blickte, sah ihr, vom Torgiebel herab, das entfleischte, gierige Gesicht
eines Fabelvogels aus schwarzen Höhlen in die Augen. Sie ließ sich gleiten
und hing, die Lider geschlossen, am Hals des Greifen, der das Tor hütete.
»Also hier. Hier sterben. Warum nicht? Wohin hätte dies noch führen sollen.
Nur steinerne Geschöpfe umher, und ein Himmel, der von mir nichts weiß.
Genug.«

Und als sie sich ergeben hatte, kehrte ihr Kraft zurück. Sie konnte
aufstehen und den Torflügel fortschieben. Ungesehen kam sie in ihr Zimmer.
Lange Tage ging sie nicht aus, vermied den Anblick der Hausgenossen, sann
im Halbdunkel, matt und verstrickt, den Wegen nach, die hierhergeführt
hatten und den Schicksalen, die irgend einmal an ihres gerührt hatten. Mai
war nun drüben, hatte Europa, die »Fremden« und auch Lola gewiß vergessen
und schrieb niemals. Für Mai gab es nur körperliche Beziehungen; der Geist
war nie, wo nicht auch der Körper weilte. Mai lebte im Stoff und im
Augenblick; ihre Persönlichkeit zerflatterte mit den Dingen; sie war
glücklich. In Lolas Leben hatte sie, nach der zweiten Trennung, gar keine
Lücke gelassen; Lola dachte, da sie sich Mais erinnerte, nacheinander an
ein Reiseabenteuer, an die Miene eines Mannes, an ein Kleid. Eine Masse
Auftritte kehrten ihr wieder, hastige Vergnügungen, Müdigkeiten, Drang der
Sinne, Zuflucht zum Gesang, das Gesicht der Branzilla, gelb und irr, mit
den schwarzen Augenhöhlen des steinernen Vogels draußen überm Tor . . .
Lola strich die Vision von den Lidern Sie sann beschwerlich weiter. Da war
Paolo, ihr Bruder: ein Name nur, kein Gesicht, nichts, was sich vor die
Seele hinstellte und befreundet lächelte. Sie verstand seine Sprache nicht,
er verdiente ihr Geld, und sie hatte ihm nichts dafür zu sagen. Von anderen
Verwandten, dort drüben, anderen Wesen, mit denen sie Blut gemein hatte,
waren ihr sogar die Namen unbekannt. Vielleicht nannten sie zufällig einmal
den ihren? . . . Auch näher bei ihr lebten Menschen, denen sie sich
zurechnen durfte; die Pai lieb gehabt hatten, und um seinetwillen auch
Lola! Eins nach dem andern, rief sie die Gesichter herbei: die Brüder ihres
Vaters, dann jene Vettern in München. Zögernd folgten sie; und verschwanden
rasch, wie unlustige Besucher, die festzuhalten man sich schämt. Lola sah
bitter ins Leere. Keine Gemeinschaft. Nichts übrig, von allem Erlebten
nichts, worauf sich bauen ließe. Sand rings umher: heimtückisch
herabrieselnder Sand; und in der Wüste ihres Lebens nichts Menschliches.
Einer war darin begraben: der, an den sie nicht denken wollte.

Kein Gesicht? . . . Da kam ein ungerufenes, schüchtern und herzlich: ein
kleines gefälteltes, bittend lächelndes Altjungferngesicht. Erneste, ach
ja: die war immer da. Die, der Lola die längste Zeit ihres Lebens hatte ins
Gesicht sehen müssen, war ein gutes, unbeträchtliches Geschöpf aus ganz
anderer Empfindungswelt, eine Bezahlte, bei der nur äußerer Zwang Lola
festgehalten hatte. Sogar jetzt noch, da Erneste tot war, trug Lola es ihr
nach, daß sie so viel mit ihr allein geblieben war, sich unter den immer
ängstlichen, beschränkten Blicken dieser Verkümmerten hatte entwickeln
müssen. »Wie viel freier und glücklicher könnte ich jetzt sein, wenn ich
hätte Schauspielerin werden dürfen! O! man hat sich sehr an mir
versündigt.« Die kleine Tini war's geworden, ihr war das Schicksal
günstiger. Marie Gugigls kleine Schwester, die schon fast Diakonissin
gewesen war, jetzt spielte sie irgendwo in der Welt Komödie. Neugier kam
Lola an, nach Kunde aus solch einem Leben, aus dem, das auch ihres hätte
sein können. »Und wir fühlten uns doch zueinander hingezogen. Wir
verstanden uns doch.« Das schrieb sie Tini; und daß sie sie um ihre
Laufbahn fast beneide. Es kämen Zeiten, wo man wünschte, man wäre wieder
auf sich selbst gestellt. Übrigens sei sie mit ihren Verhältnissen ganz
zufrieden, setzte sie, aus Scham, hinzu. Plötzlich fiel ihr die sonderbare
Dankesschuld ein, die sie an Tini band. Tinis verstellter Brief, der es
Lola ermöglicht hatte, Pardi entgegenzureisen. »Mein Gott, wie vieles liegt
dazwischen! Und Tini opferte mir ihre große Backfischleidenschaft! Mit
schweren Seufzern des Verzichtes hat das Kind mir nachgeblickt, wie ich dem
Glück in die Arme eilte. Und nach drei Tagen ist sie damit fertig gewesen,
mit dem großen Ereignis, woran ich den Rest meines Daseins zehren werde. Zu
denken, daß ich beneidet worden bin!« Sie schrieb: »Und ich beneide andere
nicht mehr, als sie mich beneiden. Scheint nicht jedem das wünschenswerter,
was er verfehlen mußte, um zu erlangen, was ihm beschieden war?«

Der Brief ging in die Welt. Lola sann, in ihren menschenlosen Zimmern,
hinter ihm her. Nun kam er an, ward Tini in die Probe getragen. Tini las
ihn in der Erwartung ihres Stichwortes, steckte ihn weg und hatte ihn,
bevor sie hinaus mußte, schon vergessen . . . Nein: ihre Antwort kam, am
ersten Morgen, da sie kommen konnte. Tini schrieb:

»Liebe Lola. Beneide mich lieber nicht. Damit ist nicht gesagt, daß ich
nicht zufrieden bin. Aber was für mich paßt, könnte Dir doch sehr wenig
erfreulich vorkommen. Man darf in meiner Lage nämlich nicht so große
Ansprüche an das Glück machen, wie Du, glaube ich, tust. Dir würde es, wie
ich Dich kenne, nirgends genügen. Von Leuten, die in Florenz waren, hörte
ich, daß Deine Ehe nicht für besonders glücklich gilt. Ich darf Dir dies,
obwohl Du versuchst, Dir nichts merken zu lassen, wohl verraten: denn, wie
mir scheint, unterschätzt Du doch sehr den Preis, den es mich damals
gekostet hat, Dir dies Glück zu lassen. Ich hätte nämlich selbst darum
kämpfen mögen und fühlte mich ganz gut dazu imstande. Denn ich bin nicht
das unbeträchtliche kleine Mädchen, von dem Du Dir damals ein bißchen
Gefühl schenken ließest, und an das Du sogar noch jetzt Deinen Brief
richtest. Das bin ich nicht. Ich habe schwer genug gelitten Deinetwegen.
Heute kann ich Dir sogar sagen, daß ich in dem See, worin Gugigl einmal bei
Mondschein so schön badete, an einem nebeligen Oktobermorgen beinahe
ertrunken wäre. Wozu das alles, wenn ich nicht Dich noch viel heftiger
geliebt hätte, viel hingebender als ihn? Du hast darauf nicht acht gegeben,
oder nur, um ein wenig mit mir zu spielen. Wir hätten uns verstanden,
meinst Du? Nein, ich Dich damals auch noch nicht. Inzwischen habe ich
freilich über Dich nachgedacht und mir gesagt, daß Du ein anständiger, aber
liebloser Charakter bist . . . So, Lola, das konnte ich Dir nicht ersparen.
Im übrigen wünsche ich Dir, daß Du Dich einlebst. Das dauert wohl manchmal
lange. Auch ich habe Zeit gebraucht, bis ich ganz entschlossen meine Kunst
allem, aber allem voranstellte. Wenn ich heute noch einen Mann liebe, nehme
ich ihn doch durchaus leicht. Und sobald er meiner Kunst gefährlich wird,
mache ich mich unerbittlich von ihm los. Die moderne Frau hat
glücklicherweise ihr Schicksal selbst in Händen, und Klagen wären
überflüssig. Möge es Dir wohlergehen. Mit Gruß.

Tini.«

Empört warf Lola den Brief hin. War ihre Annäherung nichts Besseres wert
als dies? Dann erinnerte sie sich: »Ach ja, so waren sie dort hinten! Etwas
hart vor Tapferkeit und Selbständigkeit, etwas anspruchsvoll. Noch ein
wenig neu in der Freiheit und darum nicht ganz sicher im Geschmack: so
waren die Frauen dort alle und natürlich auch Marie Gugigls kleine
Schwester. Die hiesigen haben sich mir von solchen Seiten gezeigt, daß ich
die Nachteile jenes anderen Typus beinahe schon vergessen hatte . . . Aber
sie wäre fast gestorben?«

Lola nahm den Brief wieder auf.

»Das war also mehr als Kinderei? Sie hat mich so sehr geliebt, daß sie
lieber sterben, als mir mein Glück wegnehmen wollte? Als ich abreiste, lag
sie krank im Bett: ich war selbst so verstört, daß es mich bloß flüchtig
ergriff, daß ich darüber hinweggehen konnte. Und die Tage vorher: so
fieberhaft und zerrissen war sie! Ihre Blicke, die darum rangen, mich nicht
zu hassen! Wie sie sich gequält hat! Das konnte ich vergessen? Das konnte
mir verschwimmen und seine Kraft verlieren?«

Lola richtete sich im Bett auf, als träte ein Unerwarteter ins Zimmer.

»Dann bin ich also blind und undankbar! Sie hat recht: ich verlange alles;
ich wundere mich, daß ich nicht von Liebe umringt bin; und ich gebe nichts.
Habe ich Erneste gegeben? Habe ich Pai gegeben? Mein Gott, also lieblos?
Wirklich lieblos?«

Sie ließ sich sinken, drückte das Gesicht weg.

»Und ich habe doch so viel Liebe erträumt, für so viele! Als Kind war ich
bereit, für Mai, für Erneste zu sterben. Ich ersehnte der Menschheit einen
bessern Stern. Nur mir? Wer sagt das? Nicht auch jenem die Heimat suchenden
Auswanderer, dessen Schicksal meinem glich, und allen, allen? Ich litt,
noch voriges Jahr, mit jenen Bauern, denen mein Mann ihr Geld nahm. Auch
Tini habe ich lieb gehabt, lieber als sie meint . . . Wen aber habe ich's
je fühlen lassen? Wem ist wohler geworden durch mich? Ich bin eine
Unfruchtbare! Mein Gefühl war nie mehr als selbstsüchtige Spielerei. Die
wirklichen Menschen berührte ich damit nicht. Konnte ich denn zu ihnen? Ich
war allein und einzig und litt, meinte ich, so viel mehr als alle! Sie
waren in meiner Schuld; sie hatten mich so einsam gemacht, hatten mir die
Heimat genommen.«

Sie stand auf, riß den Vorhang von der Gartentür und spähte
leidenschaftlich in die Ferne.

»Pai tat das! Er war der Erste, der mir die Liebe verbitterte. Ich glaube
an keinen Menschen mehr, seit er mich, sein kleines Mädchen, in einem
fremden Garten heimlich verließ. Er hat mir Mißtrauen und Menschenhaß fürs
Leben mitgegeben. Durch seine Schuld habe ich alle Liebe, die mir je
entgegenkam, verkannt und versäumt: seine eigene und Ernestes . . .
Erneste!«

Das alte kleine Gesicht kehrte wieder, voll schüchterner Mütterlichkeit. Es
machte sich künstlich streng, weil es in ein ablehnendes Kindergesicht sah.

»Immer habe ich mich zurückgehalten, habe die Arme steif gehalten, damit
sie sich ihr nicht von selbst um den Hals legten. Warum? O! der Tag im
Gebirge . . .«

Sie fühlte sich wieder, als Herangewachsene, jenen Sommer vor der Trennung,
bei ihrer alten Gefährtin. Draußen im Bergwald hatte unter Stürmen Allliebe
sie geschüttelt; und vor dem menschlichen Herzen dort hinterm Tisch,
verstopfte sie die Ohren und las. Dennoch fielen wieder, durch Ernestes
Scham getrennt, die zart werbenden Worte. Lola atmete rascher. O,
zugreifen! »Ich bin nicht taub, nicht fühllos!«

Zu spät. Erneste war tot. So war Pai tot gewesen, bevor Lola ihn hatte
lieben können. Die Arme trostlos erhoben, warf sie sich auf die Schwelle.
Der Wind schlich ihr über den Rücken, er fingerte geisterhaft schwach in
den Falten ihres Hemdes, wie Hände von ehemals.

»Und auch er, auch er ist versäumt! Arnold!«

Sie schrak auf; Blut stieg ihr ins Gesicht; und als habe mit dem Klang
seines verbannten Namens der Mann selbst an die Scheibe geklopft, bedeckte
Lola sich.

                   *       *       *       *       *

Sie verlangte den Wagen, trieb zur Eile, stieg zitternd über die
Treppengassen auf den Platz hinab. Nur diesen Gedanken nicht! »Ich bin
seiner zu unwürdig, ich beflecke ihn, wenn ich mich nach ihm sehne. Und mir
selbst nehme ich das letzte Recht, mich zu achten.« Auf den Karren und
»Fahr zu!« Sich betäuben mit Wind und Schnelligkeit. Aber an der Straße,
hinter einer Pforte und den Hut in der Hand, stand Arnold, wie er bei ihrer
letzten Begegnung hinter der Pforte gestanden hatte, die sie öffnen wollte.
Sie schloß die Augen. Umsonst; sein schmerzliches, unsicheres Lächeln war
hinter ihr: dies Lächeln, das zurücktrat und sie aufgab . . . Und den Weg
zwischen Zypressen von einem kühlen alten Landhause her, kam er, und sie
stieg aus und ging ihm entgegen: denn dort wohnten sie beide, die sich
gehörten.

Wie beißend in seiner Süßigkeit war dies Gesicht! Es hätte sein können!
Unter Liebe, wie im Grunde ewigen Sommerlaubes, versteckt und geborgen; Tau
und Gezwitscher in Augen und Ohren; und in der Melodie des frischen,
lebendigen Morgens vereint, wie ein Paar sorgloser Klänge. Lola sehnte sich
nach dem schönen Morgen, durch den sie fuhr. Ihr war, als erlebte sie ihn
nicht und hätte ihn doch erleben können.

»Da ich eine Heimat suchte: wie begehrenswert war die, die unsere beiden
Seelen uns erbauen konnten! Ich habe eine ganz äußerliche vorgezogen, weil
sie üppiger schien, und habe mich in Schande und Lüge finden müssen. Wie er
mich klein gesehen hat! Kein Mensch sah mich so, und ihn muß ich lieben! Er
hatte recht, daß er stolz war und mir nicht nachreiste. Wozu? Wenn eine
einen Pardi vorzieht, überläßt man sie ihrem albernen Schicksal. Aber mag
es albern sein, dennoch schmerzt es, Lieber! Könnte ich dir manches
erklären! Wüßtest du, was ich leide, und daß ich doch für mein Schicksal
nicht klein genug bin! Ach! meine Sühne ist, daß du's nicht weißt, und daß
ich schweige . . .«

Mit verzweifelnden Augen sah sie durchs Land nach Hilfe aus. Der
Meilenstein, der sich näherte, machte ihr Lust, sich ihm entgegen zu
werfen. Unter dem Druck der äußersten Not stieg es in ihr auf: »Ich will
dir alles sagen, was ich bin und wodurch ich es wurde. Alles, was ich
gelitten habe, warum ich dich gehen ließ, wie ich gekämpft und verloren
habe, beschmutzt, krank und ganz verlassen ward. Du sollst es nicht hören,
aber ich will es dir sagen. Es wird sein, als schriebe ich's auf die Mauer
zwischen unseren beiden Gärten, und du wirst sie nie übersteigen. Es wird
sein, als sagte ich meine Beichte dem Meer, das uns trennt, und das sie
überschreit. Sei ruhig, du vernimmst keinen Hauch meines Geflüsters. Ist es
nicht verzeihlich, da ich sonst stürbe?«

Zu Hause, unter Tränen, schrieb sie ihre Kinderjahre auf. Sie führte sie
ihm zu, wie einen Zug kleiner dahingeschiedener Mädchen, die er noch einmal
segnen und bedauern sollte. Als sie, aufatmend, in den Nachtwind trat,
schien der Tag, der vorüber war, ihr voll und tröstlich.

Sie wollte weiterschreiben, ließ Wochen ohne einen Satz und glaubte doch,
träumend, die dunkeln und die lichten Tage an ihm vorübergeschickt zu
haben: noch die schlimmsten mit unverhülltem Haupt. Er kannte sie ganz. Sie
hatte, um sich ihm ganz zu entdecken, namenlose Scham bestanden. Sie hatte
durch Tränen nach seinem Verständnis gebangt. Sie hatte sich, wieder wie
einst, von seiner Seele durchdringen lassen und hatte zu seinen Füßen sich
in Schlaf geschluchzt. Nun sah sie mit Staunen den Garten welken. Der
Sommer war zu Ende? Und sie war nie müßig, nie einsam gewesen! Immer war er
gegenwärtig gewesen, zuerst als Geist, der ihr zweiflerisch und bitter über
die Schulter sah; und endlich wie ein Hausgenosse, dessen Atem sie manchmal
beim Lesen auf ihrer Schläfe spürte, und dem sie die durchlaufene Seite
hinhielt, damit auch er sie beende. In ihre Augen trat noch, so oft ihr
Inneres ihn ansah, Demut. Ihre Schuld war um nichts kleiner. Aber sie
konnte fortan mit ihm in Frieden leben. Er wollte nicht, daß sie sich um
ihn ängstigen, zu seiner Versöhnung sich quälen sollte. Sie durfte Ruhe
genießen. Sie fühlte sich weit gesunder, zuversichtlicher, besser gewappnet
gegen die kommenden Alltage. Ihre Spaziergänge wurden lang; der
Herbstregen, der schwül einsetzte, erschlaffte sie nicht. »Vertrage ich
endlich das Klima eines Landes ganz?« Pardi verlangte sie zurück. »Warum
nicht? Auch mit jenen Menschen wird sich leben lassen. Ich muß sehr krank
gewesen sein, um dem, was ich bei ihnen erfuhr, so völlig zu erliegen.
Bleibe nicht, wo ich auch sein mag, ich selbst mir? Und nun bin ich
gesichert, da ich den zurückhabe, den ich liebe. Unter all den Fremden
werde ich mich oft nach einem Vertrauten umwenden, den sie nicht sehen, und
mich mit ihm verständigen.«

                   *       *       *       *       *

Jeder fragte Lola:

»Contessa, was haben Sie für eine Kur gebraucht? Sie sind schöner geworden,
wissen Sie. Am Ende des Winters sahen Sie nicht gut aus, jetzt aber sind
Sie wieder vollkommen schön.«

Sie ging aus, so viel man wollte, gab sorglos ihre Kraft und Anmut hin. Die
Triumphe im Casino Borghese kehrten wieder; sie fühlte um sich her den
Wettlauf der Männer, angespannter als damals, und ihre unbedingte
Sicherheit, einer werde bei ihr ans Ziel kommen. Allen schien der kritische
Zeitpunkt da; in aller Augen war sie reif für den Liebhaber, auch in
Pardis. Überall im Ballsaal begegnete sie seinem drohenden Blick. Sie
verhielt sich gelassen weltlich, ein wenig kokett sogar, in der Empfindung,
sie müsse diese armen Leute dafür entschädigen, daß sie im Herzen so weit,
weit von ihnen weg sei; und auch in der Scham dessen, den eine geheime,
innige Religion erquickt, und der den Spöttern ringsum ihre leichten
Freuden nicht verleiden möchte. Das lauteste Fest fiel, verließ sie es,
ganz plötzlich hinter ihr zusammen, wie eine bunte Drahtpuppe, und Lola in
ihrer Wagenecke lächelte still und schwärmerisch. Pardi sagte, als ein
Laternenschein sie getroffen hatte:

»Du hast zu oft mit Valdomini getanzt.«

»So? Ich habe nicht darauf geachtet.«

»Aber andere achten darauf . . . übrigens verstehe ich den guten Valdomini
nicht. Er ist hinter dir her in einer für sein Alter gradezu lächerlichen
Art. Weißt du, daß er ein sans-ventre-Korsett trägt? Tatsächlich; sein
Bauch würde sonst hängen.«

»Ich habe ihn mir noch nicht so genau angesehen.«

»Er ist mein Freund, und ich werde niemals leugnen, daß er früher große
Erfolge bei Frauen gehabt hat. Trotzdem scheint es, daß er neulich bei der
Baldelli abgefallen ist.«

»Wer kann das wissen,« meinte Lola leichthin; und Pardi, gespannt bei der
Sache:

»Wenn sie umhergeht und es erzählt! Schade um ihn: der Takt, rechtzeitig
aufzuhören, hat ihm gefehlt. Jetzt wird keine ihn mehr wollen, da schon die
Frau eines kleinen Advokaten ihn abgelehnt hat.«

»Sie ist sehr hübsch,« sagte Lola, um etwas zu sagen; aber sie spürte, wie
jede ihrer Antworten ihn heftiger reizte.

Im Theater in Lolas Loge fing am Abend darauf Deneris an:

»Valdomini ist in der Klubloge. Ich weiß nicht, mir gefällt sein Frack
nicht. Dabei soll er früher von allen den elegantesten gehabt haben.«

»Das war vor unserer Geburt,« sagte Nutini.

Lola erwiderte Valdominis Gruß. Er trat, die schlanken Schultern weit
zurückgeschoben, die Hände in den Hosentaschen, nachlässig an die Brüstung
und überflog die Bühne. Botta bemerkte, fett und phlegmatisch:

»Der Tenor ist gemacht: Valdomini hat ihm zwei Minuten lang in den Mund
gesehen.«

Alle lachten, bis gezischt ward. Im Hintergrund flüsterte einer
durchdringend:

»Tatsächlich hat er die Calzolai gemacht, aber nicht die kleine Lisa,
sondern Tisa, ihre Mutter. Er verwechselt das; er hält sich für einen
Zeitgenossen der Lisa.«

»Sein Irrtum bleibt nicht ohne Folgen,« erklärte Botta. »Die Baldelli --«

Und er erzählte von der Baldelli.

»Sie wird rechtzeitig gefühlt haben, daß er ein Korsett sans-ventre trägt,«
meinte Nutini. Lola lächelte ihm in die Augen. Sie dachte an die Zeit, als
er bei ihr gegen Pardi arbeitete. Jetzt, angesichts einer neuen Gefahr,
verbündete er sich ihm. Sie schüttelte leise den Kopf, und indes sie das
Gesicht nach der Bühne wandte, kehrte sie innerlich zu ihrem Eigensten
heim. Von Klatschen und Geschrei aufgeschreckt, mußte sie sich besinnen;
die Begehrlichkeiten, die Intriguen um sie her sahen sich wie Spuk an,
geschahen kaum auf festem Boden.

Valdomini kam und unterhielt sie während der Pause. Er teilte in der Loge
Händedrücke aus, die mit Hingabe erwidert wurden. Als er fort war, ahmte
Botta ihm nach.

»Ich brauche wohl Sie und mich nicht anzustrengen und aufzuregen, Contessa.
Sie wissen, wer ich bin und daß ich bereit bin.«

»Und,« fuhr Nutini fort, »meinen Bart behalte ich, wenn jetzt auch alle
rasiert sind. Ich behalte ihn aus Pietät für die Vielen, die ihn geliebt
haben. Manche sind schon im Jenseits und lieben nur noch Gott, der ihren
armen Seelen gnädig sei.«

Er bekreuzte sich, ließ in seinem ausgemergelten Gesicht den Mund stumm
betend auf und nieder steigen und schielte dabei auf seine Nasenspitze. In
das Gassenjungengelächter trat Pardi; seine Augen stießen, mit bösem
Mißtrauen, nach jedem. Beim ersten Wort gegen Valdomini:

»Vergessen Sie nicht, daß er mein Freund ist!«

                   *       *       *       *       *

Er befreundete sich ihm sogar noch enger; er ließ ihn kaum mehr von seiner
Seite; er begleitete ihn in die Häuser, wo er Lola treffen konnte. Und die
übrige Zeit blieb er bei ihr. Er hatte wieder angefangen, ihr Blumen und
Geschenke mitzubringen, ging selbst, ihr ein Band, eine Feder zu besorgen,
-- und aus den Büchern, die er früher in die Ecke geschleudert hatte,
wollte er ihr jetzt vorlesen. Er unterbrach sich, um ihr seine alten
Triumphe zu erzählen. Früher hatte er davon geschwiegen. Sie war am Morgen
noch nicht fertig angekleidet, und er klopfte schon, fragte, wie sie
geschlafen habe, und wiederholte seine ironischen und zarten Werbungen.
Endlich:

»Wir sollten wirklich wieder im selben Zimmer schlafen.«

»Wie geschmacklos, mein Herr! So alte Gatten wie wir!«

»Ich versichere dir: wenn ich am Morgen vor deine Tür gehe, ist mir zu Mut,
als hätte ich bei dir erst noch alles zu erreichen; als wäre ich dir kaum
bekannt.«

Und Lola, über die Schulter weg, vor Selbstsicherheit kokett:

»Dann betragen Sie sich auch so, bitte . . . Und was hat man Ihnen soeben
für ein Billet gebracht? Ich rieche es bis hierher. Sie denken es nicht
einmal zu lesen?«

Er errötete, erbrach trotzig das Siegel. Lola sah, es war Claudias. Sie
ging dreist an ihm vorbei und hinaus. Sie fürchtete ihn nicht. Ihr war
Geistesgegenwart gekommen, Ruhe und die Fähigkeit, die Lage zu überblicken
und mit der Schwäche des Gegners zu rechnen. In frischer Luft fühlte sie
sich und alle Organe frei zum Kampf. Früher, schien ihr, war sie
traumbeschwert, unsicher von Begehren, von Grübeln, durch die Welt hier
gegangen. Jetzt hatte sie die Gewißheit, sie zu beherrschen, mit keinem
Schleier ihrer Seele, die immer um einen Entfernten schwebte, mehr in sie
verstrickt zu sein. »Ich gehöre nicht hinein, aber sie genießen, rasch und
ohne Verpflichtung, wie eine Vorüberreisende, warum nicht?«

Und sie nahm, stürmisch und mit Dankbarkeit, diesen Winter in sich auf, der
sie der erste ganz reine deuchte, dies Land, das sich ihr verjüngt hatte.
Oben auf dem Piazzale war sie aus dem Wagen gestiegen. Durchblaute Wolken
zogen über ihr, und unten, durch die Stadt, unter sonnigen Brücken hervor,
der Fluß, in goldblauen Strängen. Der goldene Wind warf seine Arme um den
großen bronzenen David, um die von Licht bebenden Hügel ringsum, -- und er
stürzte sich in die Stadt, in ihre wilden kleinen Gassen, auf ihre grellen
Quais und ihre Plätze mit großen, von Zinnen, Giebeln, Statuen ausgezackten
Schatten. Glück leuchtend, boten in schwarzen Laubmassen, auf den Hügeln,
Villen sich dar . . . Und nun der Wind abbrach, der Himmel sich bezog und
sich dämpfte, lockte jenes erloschene Haus, im Steingrau sanfter Bäume,
noch dringlicher. Die Glocken klangen gehaltener, ernster; und fern,
jenseits der Gartenwellen der letzten Hügel, dunkelte im grauen Horizont
das starke Blau der Berge, wie Augen, die Sehnsucht verdüstert.

»Und ich habe kein Recht, mich zu sehnen. Jenes Haus, oder vielleicht das
dort, gehört mir selbst; Pardi spekuliert mit dem Öl des Hügels. Er spricht
zu hitzig davon, ich bin besorgt um ihn . . .«

Plötzlich wandte sie sich weg und winkte dem Kutscher.

Dieser Winter schmückte sich mit einer Kette zeitloser Tage; sie waren da
wie eine Spiegelung märchenhafter Küsten. Eine blaue Flut von Jugend wallte
einem in Augen und Mund. Mit entzücktem Staunen horchte man auf irgend
etwas Köstliches, das unverhofft zurückkehrte, leise wieder anschlug. Nun
mitten im Januar der Himmel ganz weich zwischen den glitzernden
Eichenkronen floß, die Statuen auf den Palästen zerschmolzen im Blau, und
dies Blau sich in Säulenhöfe und Hallen wie seidene Fahnen schlang: da hob
eine Melodie, die geschlafen hatte, in einem die Lider auf. Lola hatte in
der Luft, die sie ein wenig erstickte, vor sich die Augen Pardis. Sie waren
der höchste Aufstieg dieser Melodie gewesen. Sie mußte man gefühlt haben,
um dies alles zu fühlen.

Wie bei einstigen Gefährten, denen sie unverhofft nochmals begegnete, blieb
sie wieder vor den Statuen stehen. Sie waren überall; die Stadt war erfüllt
und beherrscht von Statuen, die sich in Hallen und auf Plätzen
versammelten, wie ein Haufe schönen, sinnlichen Volkes; die von Brunnen,
aus Nischen ihre lauten Gebärden ins Marktgewühl mischten; deren starken,
frechen Mündern man die schleierlosen Stimmen der ganzen Menschenmenge
entquellen hörte; und von deren göttlicher Nacktheit all dies Leben nackt
schien.

»Die Kunstwerke! Es ist wahr, sie alle sind Fleisch, sind die
Verherrlichung des Fleisches. Aber nur in der Kunst ist es Herr und ist
edel. Die Künstler -- wir --« dachte sie ohne ihren Willen, »erhöhen es
über alle menschlichen Maße, über alle menschliche Kraft; und finden doch
Kraft und Maß in uns selbst! Dann --«

Mit einen Blick auf das dunkle Gewimmel, das zusammenschrumpfte.

»-- kriechen wieder Menschen, klein wie je, darunter hin, und wir selbst
haben die Augenblicke unserer Größe vergessen und begreifen sie nicht
mehr.«

In sich versunken die volle Straße forttreibend:

»Wie liebte ich doch Pardi! Welche schwärmerische Lust! Manchmal erlebte
ich's, daß die Sinne mich auf ausgebreiteten Flügeln in den reinsten Äther
trugen. Und dann gruben sie mich in Morast. Ich habe ihre Anbetung und die
Kraft zu ihrer Verherrlichung in mir. Aber ich bin auch geboren, sie zu
verachten. Ein ganz anderes Blut steigt mir auf einmal ins Hirn. Ich fühle
anders, sehe anders, und mir schaudert vor dem, was ich gewesen bin.«

Aufschreckend und sich zusammenziehend, wie verloren unter Feinden:

»Nicht noch einmal möchte ich solch Schaudern erleben.«

                   *       *       *       *       *

Am Ende des Winters dann ein rätselhaft trüber Abend, voll des Gefühles von
verlornem Leben. Sie sehnte sich fort, hinauf, hinaus aus einem Schacht.
»Ich kann nicht länger --« sie wußte nicht, was. Ward nicht noch immer die
Tosca gegeben? Niemand ging mehr hin; gleichviel. Und als die kleine
Logentür hinter ihr dumpf zuklappte und harfend, mit verbleichenden Sternen
und erster Morgenröte ein Garten von Tönen, ja plötzlich ein klingendes
Paradies sie aufnahm, da stand sie, bebte, verschluckte Tränen, fühlte die
Brust sich spannen und das Flügelrauschen der Erlösung über ihren
zugedrückten Lidern. Das Glück! Diese Töne waren das Glück. Zwei Stimmen,
zwei liebende Stimmen erhoben sich über Knechtschaft, Folter, Richtstätte,
als zwei liebesbleiche, feurig gewappnete Engel. Alle Schranken fielen.
Mächtig glänzend öffneten sich Himmel, die ganz Liebe waren. Lola fühlte,
und hatte kein Bewußtsein davon, Pardi sei eingetreten. Sie lächelte, ohne
ihn anzusehen, ein Lächeln, das ihm bestimmt war. O! sie fand endlich
zurück an die Schwelle jener Freuden mit ihm. Nichts machte ihr mehr
Schaudern, denn alles war Liebe gewesen. Noch die Verirrungen: kannten
nicht auch die beiden liebesbleichen Engel jener Himmel sie? Das Fleisch
konnte heilig sein. Diese Musik heiligte es. »Ich liebe dich! Ich liebe
dich!«

Da, ein Rachen, der ein einziges Mal zuschnappte, schlang Stille alles
hinab. Man hatte verloren, wo man war, man hatte den Atem verloren, mußte
sich herauskämpfen . . . »Was habe ich getan? Mein Gott, er hat mich
verstanden!« Er sprach, und seine Stimme machte ihr kalt und heiß. »Allein,
mit ihm allein im leeren Haus. Ganz ihm überantwortet. Wenn er jetzt
zugreift, ist es der Tod. Er weiß, daß er's darf: wie soll ich noch leben!«

Dabei wand sie sich unter den weichen Griffen seiner Stimme, die den
Nachhall jener Musik beschwor, ihn aus der Stille zurückbannte.

»Ich bin so glücklich, mich einmal ganz allein mit dir zu finden. Du bist
schöner als je, ich liebe dich mehr als je. Hast du gehört, wie viel Liebe
in dieser Musik? Für uns, du Engel, für uns! Komm, ich will dir Dinge sagen
--«

Sie sprang auf; ihr Stuhl fiel um.

»Ich habe Beängstigungen, laß mich fort, ich werde wieder krank, schon
wieder. O, wohin?«

Er folgte ihr bis in ihr Zimmer; er entwand ihr den Türgriff.

»Wozu, wozu. Sei endlich ehrlich! Du liebst mich. Und ich liebe dich.«

Sie riß sich los, sie flüchtete hinter das Bett.

»Was willst du? Ich kenne dich nicht! Sind wir nicht fertig?«

»Es scheint nicht. Und du entsinnst dich wohl noch meiner.«

»Du hast andere Frauen, nicht wahr? Laß mich gehen, ich bitte dich. Ich
will fort. Alles war Irrtum, ich könnte dir's erklären. Ich verliere den
Kopf. Mein Gott, ich will fort.«

Da er auf den Bettpfosten gestützt blieb, mit einem langsamen Lächeln, das
seine Macht auskostete, bevor er zugriff:

»Den ganzen Winter habe ich dich von mir abgehalten, dadurch, daß ich dich
habe merken lassen, ich kenne deinen Betrug. Ein Rest Scham machte, daß du
mich verschontest. Behalte ihn! Laß dir nichts einfallen gegen mich! Ich
bin verzweifelt!«

»Du bist verliebt: ich habe es gesehen. Ich brauche nicht auf mein Recht zu
pochen; du liebst mich, das genügt. Was täte es noch, wenn ich andere
gehabt hätte? Du würdest verzeihen. Übrigens ist es nicht wahr; ich liebe
nur dich!«

Seine Augen flammten auf, sein Lächeln war fort; er stieß sich vom
Bettpfosten ab, er setzte schon an, loszubrechen gegen sie. Da stockte er:
sie stand auf der Fensterbank. Von unten kam das Klirren und Splittern der
zerbrochenen Scheibe. Lola schrie:

»Nicht dich liebe ich! Ich liebe einen anderen; -- und rührst du mich an,
spring' ich hinab!«

Nochmals, gehaucht:

»Ich liebe einen anderen.«

Er hielt sich knirschend zurück. Er schüttelte die Fäuste.

»Das ist nicht wahr! Ich werde dich holen, ich nehme dich!«

Aber er kam nicht. Lola hatte den Kopf im Nacken. Langsam:

»Ich bin nicht deine Gefangene. Ich kann sterben.«

Sie sah auf ihn nieder, der sich ohnmächtig abarbeitete.

»Und ihm, den ich liebe, verdanke ich meine Rettung. Du hast mich gemein
und elend gemacht, weißt du das nicht? Ich war deine schmutzige Magd: er
aber hat mich gereinigt und zu seiner Gefährtin erhoben. Das darfst du
wissen: ich bin rein!«

Er keuchte:

»Wer ist es? Ich werde ihn töten!«

»Du wirst ihn nie sehen. Auch ich sehe ihn nie.«

Er starrte sie an. Plötzlich sich abspannend, verachtungsvoll:

»Du bist wahnsinnig, das ist alles. Ich habe die Pflicht, dich da herunter
zu holen.«

Und er machte einen besonnenen Schritt. Aber sie hing am Fensterkreuz,
schon halb draußen. Ihr Blick war irr und wild.

»Zurück, oder ich lasse mich fallen! An dem Tage, wo du mich anrührst,
sterbe ich!«

Er hob Schultern und Arme, deutete sich auf die Stirn -- und ging
rückwärts, leise auftretend, hinaus.

                   *       *       *       *       *

Die Tür hatte sich geschlossen; Lola fühlte sich auf einmal schwach werden.
Entsetzt sah sie unter sich, ins leere Dunkel. Die Knie zitterten; ihr
schwindelte. Sie ließ sich, die Augen geschlossen, am Fensterkreuz hinab,
tastete nach dem Boden. Zurückblickend:

»Wie bin ich dort hinaufgekommen?«

Sie schleppte sich zur Tür, verriegelte sie. Und sie fand noch die Kraft,
sich aufs Bett zu werfen.

»Noch einmal gerettet, noch einmal! Auf wie lange? Und ich glaubte mich
geheilt! Ich kann mich also nicht auf mich verlassen? In allem lauert,
unmerklich, die Verführung, in den Landschaften, in den Bildern, den Tönen:
Alles ist geschaffen, mich schwach zu machen, mich zu erniedrigen; in allem
ist der Mann, der mich erniedrigt. Die Luft selbst, diese Luft verdirbt
mich. Ich habe nicht das Recht, sie zu atmen. Hätte ich vorhin mich fallen
gelassen! Er, dem ich mich schulde, würde mir dann verzeihen können. Jetzt
darf ich nicht zu ihm sprechen, ihm nie wieder das Gesicht zuwenden. Er
weiß nun, daß ich lüge! Meine Lust nach dem andern ist Diebstahl an ihm, an
ihm! Ihm bin ich verantwortlich für meine Seele, und bald wird sie nicht
Kraft genug mehr haben, ihn zu lieben. Immer neue Zusammenbrüche des
Fleisches werden sie abnützen. In meinem Laster wird meine Vernunft
erlöschen, und ich werde mich nicht mehr hinaussehnen können, mich nicht
einmal mehr sehnen können.«

Sie fuhr auf.

»Das soll nicht geschehen. Ein Gedanke noch an den andern, und es geht da
hinab!«

Sie lief zum Fenster, sie maß die Höhe der schwarzen Quadern. Ihr
schwindelte schon wieder. Das Haus deuchte sie ein düsterer Riese, der sie
auf loser Hand trug, bereit, die Hand umzukehren.

»Ich werde es nicht können. Ich bin feige. Zu viel Begehren macht auch
feige.«

Im Umherirren, vor einem alten Schmuckkasten:

»Der? Vielleicht der!«

Und sie zog den winzigen Revolver hervor: ein galantes Geschenk von einst,
ein Scherz, weil damals ein Landstreicher sie frech angeblickt hatte.

»Ich habe Begierden erregt und geteilt, wo ich vorbeikam, überall. Ich mag
mich nicht mehr leben fühlen.«

Sie sank aufs Bett zurück. Lange blieb sie erschlafft. Dann, hastig an der
Waffe fingernd, zu ihr flüsternd:

»Also ich schwör' dir's! Da liegst du und bewachst mich. Und den ersten
niedrigen Gedanken sollst du mir -- hörst du's? -- aus der Stirn schießen!«

Sie warf den Revolver auf den Bettisch. Die eine der Kerzen verlosch, die
andere flackerte. Lola sah an der Wand ihre Geste grotesk vergrößert.

»Bin ich ehrlich? Mein Gott, darf ich mir glauben? Wann bin ich denn ich
selbst: jetzt, oder vorhin in der Loge? Kann solch Entzücken lügen? Mag
sein, ich werde gequält um nichts; das Glück der Sinne wäre dennoch das
wahre; und jener Abwesende, mein böses Gewissen, ist nur dazu eingesetzt,
mich zu quälen. Dies zu wissen! Wissen, wohin ich gehöre! Ich liebe doch
Pardi. Noch an dem Kreuz liebe ich ihn, an das der andere mich schlägt!
Sich gehen lassen können, nachgeben können: wie leicht wäre das Leben!
. . . Klopft er?«

Sie lauschte . . . Nein: sie hatte sich's nur gewünscht! Sie schlug die
Hände vors Gesicht. Pardis Lippen erschienen ihr, rot hervorstehend aus
seiner Blässe. Plötzlich redete sie Arnold an:

»Jetzt verlangst du wohl, daß ich mich töte? Ich tu's nicht. Ich hasse
dich!«

Laut:

»Ich hasse dich!«

Von dem Schall erschrak sie, begann zu zittern, und Tränen kamen.

»Verzeih mir! Sieh, wie ich elend bin! Es waren die höchsten Freuden, als
ich dich hatte.«

Und sie sah sich, einsam und doch mit ihm, dem Freund, in der reinen Ruhe
des vorigen Sommers. Sie spürte beim Lesen seinen Atem auf der Schläfe und
hielt ihm, bevor sie es wendete, das Blatt hin, damit auch er es beende.
Unvermittelt trat in dieselben Räume der andere. Ihr Atem vermischte sich
mit dem des andern, ihre Glieder verschränkten sich mit seinen. Sie atmete
schwer; sie warf das Bild der Lust von ihrer Brust hinab, sie streckte die
bittende Hand aus nach dem der Liebe.

»O! wärest du da. Rette mich! Komm!«

Es tagte, und sie schluchzte noch:

»Komm!«



III


Am Nachmittag erinnerte sie sich, daß Claudia empfange. Sie haßte Claudia
nicht: fast war sie ihr ein Trost, die Gefährtin, die derselbe Mann schwach
gemacht hatte und quälte. Sie fühlte sich von Claudia beneidet und mit
schlechtem Gewissen geliebt. Sobald sie sie sahen, durchforschten Claudias
Augen sie eifersüchtig. Dann hatte sie, in Gegenwart Fremder, diesen Ton,
der um Harmlosigkeit bat; und kaum waren sie allein, ward sie fast demütig.
»Arme Claudia! Als ob du vor mir dich niedrig fühlen müßtest. Vor mir!«

Wie Claudias Salon ihr geöffnet ward, schnellte dahinten vom Teetisch etwas
Schwarzes, Gelbes Zappelndes auf sie zu.

»Ah! Guidacci.«

Der kleine Priester trat zwischen sie und die anderen, tanzte vor
Freundlichkeit, zwang seine großen kranken Hundeaugen, an den ihren
festzuhalten, -- indes seine nervigen Hände nicht wußten, ob sie ihre Hand
drücken oder durch die Luft fahren sollten, sein gelenkiger Mund alle die
engen gelben Falten seines Gesichtchens auf und niederriß und sein Atem,
mit dem Geruch von Kellerluft, ihr ins Gesicht fuhr. Plötzlich:

»Wen habe ich Ihnen mitgebracht, Contessa?«

Und er machte ihr Platz. In diesem Augenblick bekam der Teetisch einen
kopflosen Stoß, eine Tasse fiel über Claudia, die aufschrie, -- und Lola,
die sich bleich werden fühlte, sah in ein Gesicht, das bleich war und
zuckte. Sie fand keinen Atem, ein inneres Stammeln geschah: »Arnold, Arnold
--«; und ihr Herz, mochte sie selbst ohne Regung stehen, beschrieb die
weite, zitternde Gebärde des Armen, der nach langem Darben und Nöten des
Todes an einer Straßenwendung auf seinen Wohltäter stößt. Sie dachte: »Nun
ist alles gut. Jetzt weiß ich, warum ich solche Nacht bestehen mußte. Ich
habe ihn gerufen, er ist gekommen. O! jetzt wird sich's leben lassen.« Ganz
hingegeben war sie der Güte des Schicksals; ihr Leben flößte ihr, wie einen
neuen Atem, unverletzliches Vertrauen ein; -- und wie sie wach gerufen
ward, war's die eine Minute gewesen, in der Claudia sich das Kleid
getrocknet hatte. Claudia umarmte sie.

»Das ist wohl eine angenehme Überraschung, Lolina?« -- flüsternd, mit
zaghafter Andeutung, daß sie verstehe. Die Augen des Priesters lächelten
fiebrig; er preßte die Mundwinkel und fand den Platz nicht für Lolas Stuhl.
Sie suchte, in plötzlicher Hast, ihr Tuch hervor und machte sich über
Claudias Kleid her.

»Er hat eine Tasse umgeworfen? Ja, ich erinnere mich, er warf immer Tassen
um . . .«

Alle lachten, erlöst und gutherzig. Unvermutet fing Lola, als entschädigte
sie ihn für das Gelächter, auf deutsch an:

»Und wo waren Sie seitdem? Haben Sie kürzlich meine Verwandten gesehn? Ich
hatte einen Brief von Tini: sie ist jetzt Schauspielerin . . . Meine kleine
Cousine wollte Diakonissin werden und ist jetzt Schauspielerin,«
wiederholte sie den beiden anderen; und deutsch weiter: »Was für Schicksale
eigentlich! Wer alles hätte voraussehen können!«

Claudia bemerkte, tief erstaunt:

»Ich verstehe kein Wort.«

»Sie auch nicht, Herr Guidacci? Aber Sie kommen doch aus Deutschland?«

Ja, Guidacci kam aus Deutschland. Ihm gefiel das Bier. Überhaupt das
eigentümliche Leben der Länder dort oben. »Ah! reisen, etwas unternehmen.
Er hatte London bei Nacht durchforscht.«

»Er kennt keine Furcht!« rief Claudia. »So allein!«

»Ich habe immer meinen Freund in der Tasche;« und er griff hin.

»Ich weiß,« sagte Lola, »Sie sind tapfer. In Prato,« erzählte sie Arnold,
»vor zwei Jahren bei den Wahlen --«

Und, ein wenig leiser, auf deutsch:

»Sie wissen, in Prato sind viele Arbeiter. Herrn Guidaccis Besitzung liegt
in der Nähe. Er hat sich einmal mit dem Revolver gegen den ganzen Haufen
behauptet . . . Man spricht noch jetzt davon,« setzte sie hinzu und kehrte,
mit einer keuschen Wendung, zur Sprache der anderen zurück. Der Blick des
kleinen Priesters hatte, gespannt wie ein Hund bei der Fütterung, seinen
Ruhm, Wort für Wort, von ihren Lippen geschnappt. Kaum schien sie fertig,
zeigte er eine bescheidene Miene.

»Das ist nicht der Rede wert. Jeder gute Bürger kann jeden Tag in die Lage
kommen. Da, noch gestern: bei San Lorenzo sehe ich einen Kutscher nach
einem Kinde schlagen. Ich habe das Pferd zum Stehen gebracht, und der Mann
wird bestraft werden.«

»Ein Pferd zum Stehen gebracht?« rief Claudia. »Er hat sich darangehängt,
er ist geschleift worden, hat die Zähne zusammengebissen, und mit dem
Schaum des Tieres ganz bedeckt, hat er gesiegt!«

Und mit ihren kleinen weichen Händen malte sie alles in die Luft.

»Was für ein Held Sie sind, Guidacci! Werden Sie Ihre Tat nicht in Ihre
Zeitung bringen?«

Nein: in der Zeitung berichtete Guidacci nur über kirchliche Dinge; und es
störte ihn nicht, wenn in einem anderen Teil des Blattes die Priester
angegriffen wurden, übrigens hatte er, als jener rohe Kutscher daherkam,
grade die Kirche San Lorenzo im Geist mit ihrer künftigen Fassade
geschmückt. Er hatte die Sache in Händen, der Plan der Fassade war bei ihm
zu Hause, man konnte ihn ansehen.

»Auch werde ich Ihnen sehr schöne alte Stoffe zeigen, die ich aufgetrieben
habe.«

Er bestätigte Lolas Bemerkung: ja, in Tätigkeit war er immer; -- und er
hatte die geplagten Finger um den Sitz: nur bereit zum Aufspringen! So
viele fremde Freunde, denen er Florenz zu zeigen hatte!

»Mein lieber Freund Arnold zwar kennt es besser als ich selbst. Wie froh
bin ich, daß er mich nach Italien begleitet hat. Er selbst schien, als ich
ihn in Berlin wiedersah, traurig. Er werde Florenz nicht mehr betreten,
sagte er; wer weiß, warum. Dann stellte sich heraus, daß ich wie er Ihre
Freunde waren, Contessa . . . Ich hoffe, wir werden einmal alle zusammen
bei Digerini die Musik anhören? Lieber würde ich Ihnen ein Theater
vorschlagen, aber das Kleid, das ich trage, verbietet es mir. Auswärts bin
ich frei; nur hier, wo man mich kennt --. Ah! von allem am schwersten
entbehre ich das Theater.«

»Und die Frauen?« fragte Claudia begierig.

Der Priester hatte plötzlich ein tief stilles Gesicht. Aber die Finger, am
Stuhl, wanden sich angstvoll.

»Den ganzen Tag ist er mit Frauen; die schönsten Fremden kennt er. Ich
glaube ihm nicht, daß er das alles für nichts tut. Es wird wohl manches
dahinter stecken. Ein Genie wie er, ist so tief. Nicht umsonst heißt er der
galante Priester.«

Er hob nachsichtig die Hand. Dann, fest:

»Man muß verzichtet haben: und man ist fertig; alles ist gut.«

Claudia seufzte.

Lola sah ihn an.

»Sie sagen das, als ob es vom Willen abhinge.«

Der Priester antwortete mit Schultern, Händen und einem geduckten stummen
Lachen, daß er nichts dafür könne, wenn die anderen sich nicht
beherrschten. Er begreife sie; sich nehme er aus. Er verurteile sie nicht;
einer wie er, habe zu leiden.

Lola verstand ihn. Heute war sie durch eigenes Leiden geschärft genug, in
ihn einzudringen. Einfachen Wesen konnte er wie ein gequältes Genie
aussehen. Aber er war nur einer, der sein Blut hatte unterdrücken, seine
Rasse hatte verkehren müssen. Alle diese, deren Geschlecht allzu wach war,
verlangten von ihm, daß er seins abtöte. Sie brauchten ihn zu ihrer
Ergänzung und Rechtfertigung. Er sollte statt ihrer fasten und rein sein.
Er war's; -- und da er vom Geschlecht nicht weniger erfüllt gewesen war als
sie alle, war, was er erwarb, ein sehr leeres Glück. Er floh vor dem
Alleinsein, vor dem Stumm- und Müßigsein. Er reiste zwecklos, brach
Abenteuer vom Zaun, betäubte sich ohne Geschmack an den Mitteln: nur um
sich leben zu fühlen, sich noch leben zu fühlen, nachdem das eine, größte
geopfert war.

»Was ist's denn auch,« sagte er, »was ich opfere. Einmal habe ich einen
Hund aufgezogen: es machte mir wahre Leidenschaft; aber ich wurde darum
nicht zum Hundezüchter. Alle diese Tiere gleichen sich.«

Claudia lachte betroffen.

»Sie vergleichen uns Frauen den Hunden?«

Die Augen des Priesters funkelten, weil er sich rächte. Lola sagte
schlicht:

»Sie vergessen, daß die Seelen sich nicht gleichen.«

Und er, überlegen:

»Die Seele sehnt sich fort und wird erst im Himmel ihre Flügel entfalten.
Hier sind alle gleich. Der Leib ist ein Tyrann, der nicht nachgibt, der
keine Konstitution gewährt und keinen Pakt eingeht. Jeder Mann will von
Ihnen dasselbe.«

Lolas Blick verließ ruhig den Priester, ging zu Arnold und fragte ihn. Er
wollte sprechen; aber Claudia murmelte stürmisch:

»Es ist zu wahr, es ist zu wahr.«

»Und darum,« fuhr der Priester fort, »hat die Kirche recht, daß sie keine
Scheidung zuläßt. Mögen die Seelen sich scheiden; wer will sie hindern?
Aber den Körpern darf nicht ihr Wille geschehen, sie müssen sich beugen.
Damit das Fleisch demütig sei, darf es keine Scheidung geben.«

Claudia sagte und nickte schwer:

»Wir würden sie nicht verdienen, Reverendo.«

Erschüttert goß sie Tee ein. Wie sie Lola die Tasse gab, flüsterte sie ihr,
mit erweiterten Augen, ins Gesicht:

»Er wird mich umbringen; er hat mir gesagt, daß er's tun wird. Aber er ist
mein Mann.«

Guidacci fragte:

»Wollte nicht ihr Gatte, Contessa, sich zum Abgeordneten wählen lassen, vor
zwei Jahren, als man meinte, uns drohe eine Ehescheidungsvorlage? Jetzt
kommt sie sicher; und er sollte sich seiner edlen Absicht erinnern.«

Bei der Erwähnung Pardis sah Lola weg und errötete. Arnolds Blick machte
ihr Scham; sie fühlte sich ihm bloßgestellt.

Arnold räusperte sich, er begann mit bedeckter Stimme:

»In Italien ist die Ehescheidung wohl wirklich nicht wünschenswert. Die
Leidenschaft würde hier, trotz der Möglichkeit, sich zu scheiden,
Verbrechen zeitigen; vielleicht mehr als vorher. Diese Frauen wären der
unverhofften Freiheit möglicherweise nicht gewachsen . . .«

»Sie haben recht!« sagte Claudia stürmisch. »Schlecht würde es uns
ergehen.«

Der Priester nickte wissend. Lola sagte, ernst lächelnd, zu Arnold:

»Auch Sie?«

Er verwirrte sich.

»Sie, Contessa, vertreten in diesen Fragen natürlich das Land Ihrer
Erziehung und den Fortschritt Ihres Geschlechtes. Bedenken Sie nur, bitte,
daß dem Fortschritt sein Weg von der Rasse gewiesen wird. Ein Teil der
italienischen Frauen wird vielleicht, lange vor den deutschen, das
politische Wahlrecht erlangt haben; und im Hause werden noch immer alle
Odalisken sein.«

Claudia verwahrte sich. Nicht alles müsse die Frau erdulden. Führe der Mann
eine Geliebte unter ihr Dach ein, dürfe sie's verlassen.

»Das ist doch viel, Lolina,« setzte sie hinzu, »daß wir das dürfen?«

»Zu viel,« erklärte spöttisch der Priester. Er konnte nicht länger
stillhalten. Er schürzte sein enges Kleid, ließ sich vor dem Kamin nieder
und blies hinein.

»Gleichviel,« meinte Arnold, »in dieser geselligen, vor allem öffentlich
empfindenden Rasse bleibt die öffentliche Freiheit immer wichtiger als die
private. Wir Deutschen reden uns, wenn wir an politischen Rechten ärmer
sind, als irgend ein anderes Volk Europas, gern auf unsere innere Freiheit
hinaus. Was tut's uns, daß wir in der rohen Welt der Erscheinungen Herren
haben, da wir ja innerlich über alles hinaus sind und jeder für sich, im
Kämmerlein, ein kleiner König, wohl gar ein großer, sind. Diese hier aber
sind selten im Kämmerlein. Sie steigen auf die Plätze hinab, reden
durcheinander, denken nur gemeinsam und durch Ansteckung und kennen, als
rechte Jünglinge, die noch mit Vernunft und Auge leben, keinen Unterschied
zwischen Gefühltem und Sichtbarem.«

Claudia sah, fassungslos, auf Lola.

»Wie diese Deutschen klug sind!«

Guidacci kehrte mit tränenden Augen vom Kamin zurück und wiegte,
Kennerschaft heuchelnd, den Kopf.

»Denn sie sind Jünglinge,« wiederholte Arnold mit Liebe; »ewige Jünglinge.«

Lola lehnte sich zurück, sah irgendwohin, wo kein Blick den ihren kreuzen
konnte, und lauschte seiner Stimme, die sich befreite.

»Geblüht haben sie ein für alle Male zur Zeit der Renaissance, als es galt,
jung zu sein, für Freiheit, Schönheit und Liebe zu schwärmen. Darüber kamen
sie nie hinaus. Nie konnten sie sich moralisch spalten und vertiefen. Von
unserer neuen Kultur geht nur die Technik sie an, nicht das Sittliche.
Skepsis erlernt sich nicht unter dem Hochdruck des Geschlechts. Sie macht
Leidenschaft hart; und macht sie hochherzig und romantisch. Voll
jugendlicher Widersprüche sind sie, die uns rühren. Sie, denen auf ein
Leben so wenig ankommt, haben die Todesstrafe abgeschafft.«

»Spricht dieser Herr gegen uns?« fragte Claudia.

»Im Gegenteil,« sagte Lola, er gibt Euch so viel Gutes, daß ich's nicht
verantworten könnte.

Guidacci erklärte:

»Diese Deutschen sind alle Philosophen und wissen stets zu beweisen, daß
sie die ersten sind. Hat mir nicht in Berlin einer klargelegt, daß von
jeher nur die Völker Erfolg gehabt haben, die tüchtig tranken?«

Und Arnold:

»Sie irren, mein Lieber: nicht uns wollte ich herausstreichen. Das
Wünschenswerte ist, jung zu sein, und Ihr seid es. Ich habe Euch zu danken,
denn der Aufenthalt unter Euch erleichtert und erfrischt mich. Und ich bin
überzeugt, Euch steht die Aufgabe bevor, unsern übermüdeten Erdteil zu
erleichtern und zu erfrischen. Er wird genug bekommen von Innerlichkeit und
von Tiefe. Im Begriffe, am Geist zugrunde zu gehen, wird die Menschheit des
Nordens sich erneuern müssen durch die des Südens: durch ihre gesündere
Animalität, die sie vor den Verführungen und Lastern des Geistes bewahrt
hat. Es ist nicht wahr, daß Ihr nur eine Blüte gehabt haben sollt. Ihr
werdet nochmals blühen, sobald die Zeit Euch nochmals braucht. Und die
Menschheit wird glücklicher sein, wenn ihr repräsentativer Typus wieder der
Jüngling ist!«

Claudia gähnte. Sie entschuldigte sich.

»Es ist so heiß, daß man müde wird. Was haben Sie denn für einen Holzstoß
errichtet, Reverendo? Bei dieser Frühlingsluft! Gleich zerstören Sie ihn!«

Guidacci schürzte schon wieder sein Kleid.

»Ich wollte nur zwei Scheite anzünden,« erklärte Claudia, »zum Anblick für
meine Besucher. Nun scheinen wir heute allein zu bleiben.«

Aber da meldeten jugendliche Stimmen sich, und mit Botta an der Spitze,
brachen vier junge Leute herein. Claudia erwachte und begann, mit der
Kuchenschüssel von einem zum andern, zu zwitschern und kleine weiche Mienen
zu rollen.

»Und Sie, Cipriani, wann malen Sie mich?«

Und aufs Fenster gestützt, nahm sie eine Pose ein. Im schief gelegten
Köpfchen gab zum Gefunkel der Augen, die ihres eigenen Schmachtens
spotteten, der große mürbe Mund kindischen neapolitanischen Singsang von
sich, den Cipriani nachahmte. Seine fleischige Nase rückte dabei hin und
her. Zwei leichte, ungeduldige Vögel hüpften und girrten, eine halbe Minute
lang, auf demselben Zweig.

»Cipriani ist noch bei der Lippi,« sagte Botta; »er malt gern reiche
Konditorsfrauen; das Bild wird dann süß und verschafft ihm Aufträge.«

»Ich bin nicht Landrini,« sagte Cipriani; und er machte den süßen,
zitterigen Mund des alten Malers und seine gezierte Jünglingsmanier.

»Sie kennen ihn doch, Contessa? . . . Was er am besten malt? Sich selbst:
aber in Natur . . . O, er war in London, hat alle Engländerinnen
porträtiert und viel Geld mitgebracht.«

Botta schob ein, Landrini sei geizig. Er spare die Droschken und wische
sich, bevor er ein Haus betrete, mit einem Lappen die Schuhe ab. »Neulich,
bei Valdomini, kam ich mit zwei andern darüber zu, und, mein Wort, er war
so gefällig, auch uns die Schuhe abzuwischen. Ich ermahnte ihn, er solle
nur nicht drinnen statt seines Taschentuches den Lappen hervorziehen.«

»Und kennen Sie Musso?«

Lola erfuhr, Musso sei ein Eisenbahnbeamter mit Leidenschaft für
Geselligkeit. Jeden Unbekannten fragte er nach der Adresse und gab noch am
Abend seine Karte ab. Alle verschwanden, wenn er kam.

»Aber auch vor Ihnen, Herr Cipriani,« sagte Lola, »läuft man davon. Die
Prinzipessa Dora hat mir erklärt, wo Sie seien, werde sie keine Gedichte
mehr lesen.«

»Und seitdem werde ich zu jeder Gesellschaft geladen.«

»Merluzzo, lesen Sie uns Ihre neueste Novelle vor!« verlangte Claudia,
hinterhältig. »Sie haben sie nicht da? Daß Sie auch nie Ihre Sachen bei
sich haben!«

Cipriani raunte:

»Aber gleich wird seine Mama kommen und die Novelle zufällig bei sich
haben.«

Guidacci fing von seinem Freunde an, dem Leutnant Cavà. Er schreibe
trostlose Briefe aus Sizilien. Allmählich müsse er ganz verwildert sein,
meinte Cipriani.

»Gewiß geht er mit einem langen Hirtenstab vor seinen Soldaten her.«

Lola spottete lustig mit. »Sie sind eigentlich sympathisch,« dachte sie.
»Sobald man sich nicht dazu zu rechnen braucht . . .« Diese flüchtige
kleine Menschheit umflatterte sie wie ein leichter, raschelnder Schleier.
Dahinter war sie mit Arnold allein. »Seltsam,« dachte sie, »wir sitzen
unter lauter Freunden, im Lärm, sehen einander nicht an, und uns ist so
heimlich zu Sinn . . . Aber was ich jetzt fühle, kann doch nur sein Blick
sein?« Rasch sah sie hin. Nein: er suchte unruhig und verlegen am Boden; er
sann darauf, wie er fortkäme. Erschrocken schlug sie die Augen nieder. »Ich
werde ihm vieles zu erklären haben!«

Guidacci nahm Abschied; Arnold schloß sich ihm hastig an. Claudia wollte
Arnold nicht weglassen vor Herzlichkeit. Dann kam sie zu Lola; und als sie
Lola umarmte, sagten ihr Auge, ihr ganzer Körper, wie demütig froh sie sei,
daß sie Lolas Nachsicht vergelten dürfe. Sie drückte noch, ganz rasch und
heimlich, Lolas Hand sich aufs Herz und auf den Mund. Wie Mund und Herz
verschwiegen sein sollten!

Arnold stand vor Lola. Sie schluckte hinunter und brachte es nicht fertig,
ihn zu sich zu bitten, in das Haus des andern . . . Unschlüssig ging sie
mit Guidacci zur Tür.

»Ich werde Sie besuchen, wissen Sie, und mir den Plan der Fassade ansehen,
und Ihre alten Stoffe. Wann paßt es Ihnen?«

»Zu jeder Stunde, Contessa, bei Tage und bei Nacht. Sie wissen, ich schlafe
nicht.«

»Ach, Sie können nicht schlafen?« -- und weil sie dadurch Arnold noch
hielt: damit er nicht ohne ein Zeichen, ein Wort der Hoffnung verschwinde,
ließ sie sich ausführlich Guidaccis nervöse Erscheinungen berichten.
Plötzlich:

»Ich habe nachgedacht. Um halb fünf bin ich morgen bei Ihnen.«

Schnell, mit einem vollen, ganzen offenen Blick, reichte sie Arnold die
Hand.

»Nun weiß er, daß ich ihn liebe!«

                   *       *       *       *       *

Sie erstaunte, zu Hause und allein, wie sehr sie ihn liebte. Sie hatte das
nicht gewußt. Ihre Liebe war wie ein Gebet gewesen zu einem Gott, an dessen
Dasein man nicht fest glaubt. Die Wirklichkeit ihrer Liebe überwältigte
sie. Arnold war gekommen! Ihr Rufen in der Nacht, ihr »Komm!« -- ein Wort
nur in die Luft, ein qualgeborenes Wort in dunkle Luft: und er war
gekommen; das Wunder war geschehen. Viel größer war's, als auf den ersten
Blick! Welten mußten verlassen und gefunden werden, damit sie beide sich
treffen konnten. Er kam aus solcher Weite, daß er wohl durch luftlosen Raum
kam. »Wie ganz verloren war ich schon!« Und dennoch: da er nun da war,
war's also bestimmt? War zuletzt ganz selbstverständlich? -- »und indes ich
so vieles litt, in denselben Stunden, ward in ihm der Gedanke an mich immer
größer, immer größer --, bis er kommen mußte? . . . Alles war gut? Die
Qualen waren gut? Es ist zum Weinen und zum Lachen! Nein: zum Staunen
. . . Und jetzt weiß er, daß ich ihn liebe. Und ich sitze hier in
Sicherheit und Ruhe.«

                   *       *       *       *       *

An Guidaccis Tür war die kleine Pierina. Ihr Bruder müsse gleich kommen.
Aber sie zögerte, sein Arbeitszimmer für Lola zu öffnen.

»Ein Herr ist drin.«

»Es tut nichts,« sagte Lola; und:

»Ah! Sie!«

Sie reichten sich die Hände und blieben einander gegenüber, ohne ein Wort.
Lola fühlte, daß Pierinas schwermütig spöttischer Blick schon begriffen
habe. Sie wandte sich zu ihr, um nach ihren neuesten Zeichnungen zu fragen,
und sah in ein rasch verschlossenes Gesicht. Die schwarzen Brauen unter dem
harten schwarzen Haarkamm zogen sich zusammen, finster und einsam; der
schwere Mund stand fühllos etwas offen; in der grobkörnigen Haut sah eine
kleine weiße Narbe aus wie die Verletzung eines Steines. Das Mädchen neigte
fragend das Ohr hin. Endlich, beglückt, sich aufschließend: ihre
Zeichnungen -- o ja! Und sie ging, sie zu holen.

Sie saßen zu beiden Seiten des Schreibtisches, eines geistlos geschnitzten
Möbels mit vielen Frauenbildnissen darauf. Die Photographien warfen sich in
einer Garbe die Wand hinan; unter dem Porträt des Papstes hing eine weit
ausgeschnittene und lächelte, wie er. Hellgrüne, schmalblätterige Gerten
stiegen aus Töpfen lustig durch den engen Raum; und zwischen ihnen am Boden
lagen leere Strohflaschen übereinander gestürzt. »Ist es nicht ein
reizendes Zimmer?« dachte Lola. »Darin sitzen nun wir beide, ganz allein.
Die Sonne scheint herein. So ist es gekommen.« Sie sah nichts mehr; die
Augen standen ihr voll Tränen. Rasch verließ sie den Stuhl und kehrte sich
nach dem Fenster.

»Warum so stumm?« fragte sie, ohne ihr Lächeln ihm zuzuwenden.

»Contessa --« mit ungefälliger Stimme.

»Lassen Sie den albernen Titel!«

Sie sah ihn an. Auch er war aufgestanden; er verneigte sich und wich ihrem
Blick aus.

»Ich bin froh, Sie unter Freunden, so glücklich zu finden.«

Sie schluckte angstvoll hinunter. Dann lächelte sie stärker. Natürlich! er
glaubte ihr noch nicht. Zweifelmütig und unsicher war er, wie je. »Ich
werde ihn zur Vernunft bringen müssen. Diesmal ist's meine Sache allein.«

Da kam die Kleine mit den Zeichnungen; dann Guidacci. Er entschuldigte sich
inständig, zählte seine Beschäftigungen her, kehrte immer zu einer
österreichischen Baronin zurück, die ihn Florenz erst kennen lehre.
»Besser, als aus den Büchern.« »Ach ja,« -- und Lola fiel es auf, daß in
diesem priesterlichen Arbeitszimmer kaum ein Buch lag. Guidacci schickte
seine Schwester mit Aufträgen fort; er sprach mit ihr nicht lauter, sie
mußte ihm auf den Mund sehen und verstehen. Dann holte er den Plan der
Kirchenfassade hervor und, mitten in den Erklärungen, die alten Stoffe.
Dazwischen: er war seit heute ganz gesund; er nahm Brom, und alles war gut.

»Etwas Wunderbares! Wenn ich's früher gekannt hätte!«

Man mußte die Stoffe über seinem Bett sehen.

»Warum lassen Sie keine Decke daraus machen?«

Das ging nun wieder nicht.

»Das Kleid, das ich trage --«

Und er führte seine Gäste in den Salon. Pierina hatte das Tischchen
hergerichtet.

»Wie? Der Vino Santo! Ja, ich bereite ihn selbst, er ist von Monte Turno.
Sie müssen mich dort besuchen, wir fahren eines Tages zusammen hin, alle
vier. Versprechen Sie's mir? Beide?«

Da Lola das Gebäck mit erhobener Stimme lobte, lächelte er unzufrieden, und
Lola verstand. Niemand hatte zu merken, daß Pierina nicht gut hörte. Es war
ungesellig, taub zu sein, und darum schändete es fast . . . Und zwischen
den weltlichen, hellblumigen Möbeln sprang die schlanke Soutane hin und
her, öffnete ein Fenster, zeigte im grauen Hof den Rosenschleier, pries das
Haus, seine Wärme im Winter, seine sommerliche Kühle, und trieb die
Besucher durch die Räume. Aus einem sah man das schmale Gäßchen, aus dem
nächsten in einen Mauerwinkel von San Lorenzo. Kellerig frisch lagen ein
paar stille Zimmer am Rande des Rosenhofes. Sie waren zu vermieten: der
Priester rühmte sie Arnold, der ihm recht gab. Wie so wohl diese
klösterliche Ruhe tue, sagte er zu Lola. Sie empfand Eifersucht. Nicht dazu
sollte er hergekommen sein! Sollte nicht im Bereich von Menschen wohnen,
die ihn ihr nehmen würden! Sie lenkte ihn auf die kleinen, sonnenleeren
Fenster, auf die Feuchtigkeit des Steinbodens; -- und sie lächelte für
sich: jetzt fürchtete er Krankheit.

Guidacci hatte keine Zeit, enttäuscht zu sein; er tummelte sich zwischen
den Rosen. Für Lola brach er einen Strauß, und steckte Arnold eine ins
Knopfloch. Dann führte er sie in das Eßzimmer, vor seinen Heiligen, den
Lorenzo des Donatello, aus der Sakristei seiner Kirche.

»Würde man glauben, daß es eine Kopie ist?«

Arnold neben Lola, standen sie vor dem Heiligen. Von seiner Truhe herab sah
sein menschlich gefärbtes Gesicht, etwas höher als ihre beiden sie an. Es
war schön: frei und mild, mit braunen Augen, die einen erkannten. Rosen an
der Brust, waren sie vor ihn hingetreten; -- und würde nun nicht die Büste
ihre verlorenen Arme, ihre Hände, die fest und gut sein mußten, aus dem
Leeren heben, und sie segnen? . . . Lola ward zu Guidacci zurückgenötigt.
Seine fiebrig lächelnden Augen hielten die Andacht keine Minute länger aus.
Er hatte seine altjungferlichen Herrlichkeiten zu zeigen, seine
Ansichtskarten, seine Sammlung künstlicher Blumen. Und immer spürte Lola,
zwischen sich und Arnold, den schwermütig spottenden Blick Pierinas.

                   *       *       *       *       *

Als Lola aufbrach, reichte sie Arnold als letztem die Hand.

»Wie kommt es eigentlich, daß Sie mir, Ihrer ältesten Freundin, noch keinen
Besuch gemacht haben? . . . Sie sind erst seit gestern da? Mag sein. Aber
ich muß Ihnen doch mein Haus zeigen, mein Mann wird sich freuen. Übrigens
-- wie viel ist die Uhr? In diesem Augenblick treffen wir ihn. Wenn Sie
gleich mitkämen?«

Sie stiegen in den Wagen; ihr klopfte das Herz; die Minute vorher hatte sie
nicht gewußt, daß sie so viel wagen werde.

»Was haben Sie seitdem getan?« fragte sie, kaum daß der Schlag geschlossen
war, in Angst vor einem Schweigen. Er sagte mühsam:

»Ich bin gereist . . .«

Und plötzlich begann er zu erzählen, irgend etwas, als schlüge er ein Buch
bei einer zufälligen Seite auf.

Sie kamen an.

»Mein Mann nicht zu Hause? Das wundert mich. Eine Stunde vor dem Essen ist
er immer in seinem Zimmer zu finden.«

Seit jenem Auftritt aß er nicht mehr zu Hause. Lola war rot von ihrer Lüge.
Wie Arnold noch immer in der Haltung eines Fremden durch die Zimmer
mitging, empörte sie sich. »Er sollte doch fühlen, daß ich's hier sehr
schwer gehabt habe! Denkt er nicht daran? Wozu ist er gekommen?« Sie hatte
Lust, die Tür zum Schlafzimmer aufzureißen: »Aus dem Fenster dort wäre ich,
zwei Nächte sind's her, fast hinausgesprungen: um deinetwillen!« Er begann
wieder von dem großen Bildwerk, draußen am Hause. Sie mußte ruhig
antworten, mußte ihm vom dieser Jungfrau, diesem Engel sprechen, als ob sie
ihr nicht furchtbar gewesen wären, als habe sie unter der Botschaft, die
jene brachten und empfingen, wie unter einer Drohung und einem Hohn, nicht
bitter geweint. Sie fragte schroff:

»Wollen Sie hin, sie aus der Nähe sehen?«

In der raschen Dämmerung ging sie ihm voran, hinab in den Saal, öffnete die
Fenstertür und blieb wortlos stehen. Er trat hinaus, kehrte zurück, sprach
Abbrechendes, schwieg ganz und wendete ihr, mit einem Ruck, die Augen zu.
Sie sahen sich in die verschlossenen Gesichter. Lola dachte: »Es war
Irrtum; wir haben uns zu viel vorzuwerfen. Zu spät. Das Leben ist nicht
anders . . . Sagte ich ihm das nicht schon einmal? Damals?«

»Auch von den Porträts sind manche sehenswert. Ich werde Licht bringen
lassen.«

»Aber diese Beleuchtung ist sehr interessant, sehr eindrucksvoll. Noch den
Kopf dort werde ich ansehen und dann gehen.«

Wieder fiel, wie in ihrer ersten Abendstunde bei diesen Bildern, von drüben
der weiße Schein auf die Wand, und wieder sahen jenes vergangenen Knaben
braune gewölbte Augen herüber, die sein Fleisch betrauerten. Die Stirn, die
sanfte Wange neigten sich dem Schatten zu, als wollten sie sich ganz von
ihm überziehen lassen. Lola war ihm einst begegnet, dort draußen, zwischen
den Hügeln im letzten schwachen Glanz, auf Steinen. Er hatte sich ihr
geneigt, die arm, häßlich und fremd war; hatte sich zu ihr gelegt . . . Sie
senkte die Stirn. Ungesehen im Dunkeln errötete sie. Da stand er vor seinem
Bilde, vor dem Bild seiner Seele! Noch stand er und gleich wendete er sich.
Sie hatte ihn erträumt. Sie hatte von ihm die äußerste Freude erträumt: ein
Kind. Das war geschehen: so sehr gehörte er ihr. Und er würde gehen, nichts
wissen, wortlos sollte alles vorüber sein. Die Angst vor dem ewigen Dunkel
packte sie. Sie erzwang sich Atem. Fast stimmlos:

»Ich bin nicht glücklich. Sie hatten recht, mir abzuraten.«

Er machte einen Schritt, hielt an.

»Ich fürchtete es,« sagte er gepreßt.

»Konnte ich anders? Vielleicht, ja. Ich bekenne; ich mußte die bessere
Liebe wählen. Nun bin ich unrein geworden und büße.«

Sie beugte sich tief über sich selbst. Die Tränen brachen brennend aus. Er
ließ sie in den Sessel nieder und stammelte, vor ihren Knien, Bitten um
Verzeihung.

»Ich bin schuldig, daß wir uns versäumten. Ich mußte stärker sein. Wie Sie
gelitten haben! Ich schmecke Ihre Tränen. Alles Eitle ist hinter mir. Ich
war eitel: aber nun habe ich in mir nur Ihre Tränen. Was ich selbst litt,
ist nichts mehr. Wie ich Ihre Tränen stillen kann, ist alles. Vertrauen Sie
mir denn noch? Verachten mich nicht?«

»Verachten, Sie? Glauben Sie mir also meine Reue nicht? Wie soll ich sie
Ihnen beweisen? Soll ich Ihnen die Hände küssen?«

Er entriß sie ihr und schlug sie vor sein Gesicht. Er neigte den Kopf, und
sie neigte ihn; ihre Stirnen berührten sich zitternd; sie weinten.

. . . »Daß ich dich wiederhabe!« sagte sie, die Hände mit Leidenschaft um
seine Schläfen. »Nur wissen will ich, daß du an mich denkst. In deiner Hut
sein. Sage mir, ob du mich nie vergessen hast. O! du konntest es nicht. Du
warst bei mir, ich fühlte es!«

»Ja. Denn ich bin gar nicht gereist, es waren Lügen. Die weite Welt, die
Sie mir vorgezogen hatten, schien mir hassenswert. Sie waren meine letzte
Enttäuschung, und meine tiefste. Das einzige Geschöpf, das meine Sprache
verstanden hatte, verschmähte es, mir in ihr zu antworten. Ich war allein
wie nie vorher. Die Einsamkeit war auszuschlürfen, wie ein eisiger Bergsee.
So wollte ich's. Ich wollte nicht reisen, mich nicht zerstreuen. Ich hatte
doch nur Wert, meinte ich, wenn ich bei mir blieb, den Schmerz und die
Sehnsucht, die ich von Ihnen hatte, gesammelt ließ. Die feenhafte Pracht
des einsamen Leidens, die Eisgrotten und Schneefelder, durch die Sie mich
schickten, waren zu erproben, zu genießen. Sie sehen, daß ich eitel war.
Mich ekelt's, gedenke ich dieser Selbstsucht. Ich war nur darauf aus, von
Ihnen, vor der ich demütig gewesen war, den Nutzen großer Gefühle zu
ziehen, und nun Sie zu demütigen vor meiner Seele. Ich dachte, mich an
Ihnen zu rächen. Meine Kunstgebilde waren allzuoft Rache . . . Aber ich
konnte nicht; was mich rettet, mich Ihrer Verzeihung würdig macht, ist nur
dies: daß ich nicht konnte, weil ich Sie liebte. Denn ich liebe dich!«

Sie erriet diese Worte; er sprach sie mit versagender Stimme, bewegte den
Kehlkopf, als sei er ausgetrocknet; und in seinen Augen stand Angst.

»Mit Ihnen zum erstenmal ward ich nicht fertig, ich habe aus Ihnen meine
Sache, mein Werk nicht machen können. Sie erfüllten mich zu sehr und
machten meine Hand zittern. Mein Blick ward verdunkelt von Ihrem Schatten.
Sie waren in mir, faßten mein Herz an, und der Arm, der bilden sollte, sank
mir. Ich konnte nur zu Ihnen sprechen, in meine Tiefe hinabsprechen, mit
Ihnen kämpfen, Ihnen erliegen, Sie um Gnade bitten und endlich, gebrochen,
mich Ihnen hingeben und Sie lieben. Dich nur lieben.«

»Und ich! Gerade so, gerade so habe ich dich in mir gefunden und habe zu
dir gesprochen. Gefürchtet habe ich dich, einmal gehaßt. Und doch, ohne
dich, der mir verzieh, mit seinem Hauch mich umgab, auf seinen Gedanken
mich trug, wäre ich verdorben und untergegangen. Lieber! weißt du nicht,
daß ich viele Monate allein mit dir gelebt habe? Du mußt es wissen.«

»Vielleicht war's die Zeit, da ich dir so viele Briefe schrieb. Schrieb ich
sie? Oder erträumte sie nur mit wachen Augen?«

»Wie ich deine! So empfingst du sie doch! Hast mich nie verlassen! Wie ich
dir danken muß! Was wäre ich jetzt ohne dich? Nie werde ich dir alles sagen
können. Ich bin deiner nicht würdig.«

Sie neigte das Gesicht in die Hände. Hastig, mit Beben richtete er sie auf.

»Ich habe mich zu beugen, ich, und allen Stolz gutzumachen. Denn ich war
stolz auf meine Einsamkeit, die doch nur Schwäche war. Nicht aus Stärke
stehen wir allein, ohne über ein anderes Wesen unsere Hand auszustrecken.
Jetzt bin ich gebrochen und dennoch erstarkt. Sehnsucht tat es. Ich bin
dein. Mache aus mir, was du willst!«

Unter seinem zitternden Geflüster zog sie sich weiter in den Sessel zurück,
machte sich steif und drückte die Lider zu, als erleide sie Gewalt. Sein
Kopf sank auf ihre Knie.

. . . Aufschreckend trennten sie sich. Er tat ein paar Schritte, blieb
stehen und sah umher.

»Seltsam!«

»Ist nicht das Damals seltsamer?« fragte Lola. »Damals, als wir uns trafen?
Wie seltsam ist alles, was war! Die alten Bilder dort, bedenken Sie, waren
Menschen, lebten und hatten eine Welt, die von uns nichts wußte. Und so
wenig wußten wir, wußten die, die damals wir waren, von uns, von dem, was
wir nun doch sind. Ist es zu glauben, wie blind, wie fremd uns selbst wir
waren? O! die unwissende, die grauenhaft kindische Vergangenheit.«

Aufatmend:

»Sagen Sie mir noch einmal, daß ich Sie nie verlieren werde!«

Er kam und nahm ihre Hand. Lange hielten sie ganz still.

»Jetzt müssen Sie gehen,« sagte Lola, ohne sich zu bewegen.

Als er fort war, schloß sie die Augen. Ihre Hand fühlte noch immer seine.
Sie lächelte furchtsam: »ist das möglich? war es wirklich?« und wünschte
sich, nie mehr die Lider zu heben.

                   *       *       *       *       *

»Haben Sie gewußt, wie es mit mir stehe?« fragte Lola tags darauf. »Wußten
Sie, daß ich Sie erwartete? O, ich wagte wohl nicht zu hoffen; -- aber daß
ich Sie doch erwartete?«

Er wehrte ab.

»So stark fühlte ich mich nicht. Ich nahm nicht an, daß mir über Sie noch
Macht zustände. Ich glaubte mich von Ihnen verurteilt und unterwarf mich.
Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich niemandem zumute, mich sehr lange zu
ertragen? Schon längst ertrage ich selbst mich bloß noch, weil ich muß. Und
ich verstehe nur schwer, wie andere sich nicht satt, in Jahrzehnten nicht
satt bekommen, wie sie sich herumführen, sich immer wieder den Leuten
anbieten, ihre seelischen Gebärden immer wieder abspielen mögen vor
Menschen, denen sie schon bekannt, von denen sie einmal durchschaut und
erledigt sind. Was hatten Sie noch in mir zu entdecken?«

»Daß Sie mein sind,« sagte Lola.

Er atmete auf.

»Ja. Daß ich nicht mehr mir gehöre: nicht mehr diesem nie abgelösten
Tyrannen, den man endlich nicht ohne Empörung sehen kann. In Qual und Kampf
hat man ihm gedient, mit dieser Kunst, die Verherrlichung ist des Ichs; --
und nun, welche Erlösung wird man des Herren Herr. Er dankt ab; frei wählt
man einen anderen. Man liebt.«

Von Scham verwirrt, sah sie zu Boden.

»Ich verdiene es nicht.«

»Aber Hoffnung?« -- und er lächelte erstaunt. »Hatten Sie mich nicht
schwach gesehen? Und -- andere so viel stärker?«

Sie sah, mit ihrem hastig bittenden Blick, daß er errötet war. »Wie ich ihn
liebe für diese Scham!«

»Ich glaubte, Sie hätten nun bei anderen die Heimat gefunden, die Sie
suchten. Ohne die sinnlose Dringlichkeit Guidaccis hätte ich Sie schwerlich
wieder gesehen.«

Sie erschrak.

»Sie konnten glauben, ich sei hier zu Hause? Sehen Sie mich doch an: sitze
ich nicht wie in der Halle eines Hotels? Sitze ich nicht auf meinem Koffer?
Sie wußten doch, daß --«

Auch sie hielt jenen Namen zurück.

»-- diese anderen mir innerlich nichts zu geben hatten.«

Den Kopf gesenkt:

»Nichts als Schande.«

Und aufgerichtet, blaß vor Zorn über sich, vor Drang, zu offenbaren, sich
preiszugeben:

»Sich bei Menschen, die nur das Betastbare, nur Körper kennen, zur Sklavin,
zu einer Sache zu machen --!«

Sie sahen sich in die Augen; Arnold zuerst schlug sie nieder.

»Und in Nachteil zu kommen gegen alle,« sagte Lola bitter, »weil alle
weniger Gewissen haben. Mein Mann betrügt mich, aber kann ich's ihm
erwidern? Ich wußte voraus, was ich tat, mein Trieb zu ihm war nicht blind
wie seiner zu mir. Was diese hier nicht bindet, mich bindet es. Und ich
habe den Sinnen ein für alle Male das Ihre gewährt; ich verachte sie. Mir
ist oftmals, als verachtete ich das Glück selbst; als wünschte ich mir auch
von Ihnen nur Leiden.«

Er sagte mit wankender Stimme:

»Sie sind krank; könnte ich Sie heilen!«

Sie schwiegen. Ein Glockenton sprang munter herbei; barsch holte ein
anderer ihn ein; und singend und drohend stürmten viele durcheinander. In
den englischen Gruß hinein sprach Lola, leise und klar:

»Wir wissen beide, nicht wahr, daß wir uns nie gehören werden.«

Das Getümmel der Klänge lichtete sich; der letzte ging dröhnend unter.
Beide bleich, saßen Lola und Arnold, aus ihren Sesseln ein wenig
vorgeneigt, in einer schneidenden Stille sich gegenüber.

Da, Lola zuckte leicht auf, stand im Türvorhang Pardi und sah ihnen zu. Er
trat heraus, den Blick noch immer vom Spähen fest. Bei seinem Lächeln, sah
Lola, hatte er die Zähne hart geschlossen; -- und dann sagte er, als
bedächte er's nicht, und dennoch höhnisch:

»Ein alter Bekannter! Sie haben den Weg zu uns gefunden, mein Herr?«

»Und wie geht es meinem Freunde Gugigl? Ich bedaure noch immer, daß aus
unserm Duell nichts geworden ist.«

Er lachte.

»Nächst ihm erinnere ich mich am liebsten eines schönen Mädchens im Dorf.
Wie leicht man diese deutschen Weiber bekommt!«

Er klopfte Arnold aufs Knie.

»Sie müßten sehr ungeschickt sein, mein Lieber, wenn Sie jemals mit einer
lange vergeblich beisammen säßen.«

Arnold stand auf; er verbeugte sich vor Lola, die starr dasaß.

»Sie gehen?« fragte Pardi. »Ich begleite Sie. Ich erzähle Ihnen eine ganz
frische Skandalgeschichte. Der Leichnam des Liebhabers ist noch warm: Sie
sind grade rechtzeitig zu uns gekommen . . .«

                   *       *       *       *       *

Bei Arnolds nächstem Besuch trat Pardi laut und rasch dazwischen.

»Hier sprach man von Napoleon? Ah! Napoleon, welch großer Mann!« Und die
Hand am Kragen, der ihm zu eng ward: »Wäre diese Zeit nicht so klein!«

Arnold sagte prüfend:

»Ich bewundere den Kaiser nicht. Viel eher den General Bonaparte, da er,
ein strenger Befreier, durch entzückt erwachende Länder stürmte. Damals
krönte ihn ein Ideal. Später, als verfetteter Schauspieler der eigenen
Größe, hatte er nur mehr sich selbst. Das ist wenig, sei das Ich noch so
groß. Man muß den Helden hinter sich haben und verstehen, daß er wichtig
erst durch Liebe wird.«

Arnold saß sinnend. Pardi überflog ihn mißtrauisch; dann legte er sich, die
Hände in den Taschen, im Stuhl hintüber und summte zur Decke. Lola fand
Arnold beleidigt durch des anderen Haltung, durch seine Gedanken; sie
fühlte sich schambeschwert, weil beide vor ihr beisammen waren. Sie wagte
Arnold nicht anzusehen; der andere war die greifbare Mahnung ihres
Unwertes. Und alles, was in Arnold entstand, war Liebe! Seine Worte hatten
nicht sich und sie gemeint: und doch war jedes gefärbt von seinem Gefühl.
Pardi spürte es heraus; er ahnte sich dunkel gefährdet, fand nichts, worauf
er die Hand hätte fallen lassen dürfen, und rächte sich durch kindische
Unart. Er fing von Leuten an, die Arnold nicht kannte, griff zu
Angelegenheiten des Hauses und verlangte eine Rechnung zu sehen. Wie Arnold
ging, tat Pardi erstaunt, als habe er ihn längst fort geglaubt.

Mehrmals überwachte er ihr Zusammensein und zerstörte es. Lola vermutete,
er habe Spione im Hause; sonst hätte er nicht so pünktlich da sein können.
Sie sah ihn gähnen bei diesen Dingen, zu denen er keine Beziehungen hatte,
sein Auge argwöhnisch aufschrecken, -- und dann mischte er sich plump ein.
Er wurde fast plump in seiner falschen Rolle. Lola rief ihn sich zurück,
wie er gewesen war, als er ihr glänzend schien, fand ihn nicht wieder und
bemitleidete ihn: wie man ein Tier bemitleidet, weil es nicht weiß,
wahllos, ohne Widerstand gegen sich selbst ist, unter seinem Blute leidet
und keine Seele hat. Aber helfen konnte sie ihm nicht, konnte ihn nicht
lehren, daß er für das, was sein war, ihren Körper, nichts zu fürchten
hatte. Sie wandte ihm ein kaltes Gesicht zu: er mußte dulden, denn sie war
ihm treu. Und sie ließ ihn unterbrechen, das Gespräch an sich reißen, ohne
daß ihr Ungeduld kam. Es war genug, daß dort, gleich vor ihren Knien,
Arnold saß. Er wußte von ihr! Ohne nur mit dem Blick sich zu berühren,
waren sie tief ineinander versenkt, -- indes der andere sich abarbeitete,
sie getrennt zu halten.

Eines Tages war er früher da als Arnold und verlangte, daß sie sich für ein
Konzert fertig mache.

»Ich gehe nicht, ich erwarte Arnold.«

»Als ob das ein Grund wäre! Vielmehr ist's einer, auszugehen. Seine Besuche
fangen an, aufzufallen. Du tust, als könntest du dir das gar nicht denken.«

»Bist du nicht der Mann, eine falsche Meinung zu beseitigen? So tapfer, und
einer Meinung gegenüber feige? Denn du weißt, was ist, und daß ich ihn nur
unter deinen Augen sehe.«

»Weiß ich's?«

Sie trat heftig vor.

»Wage nicht, diese Sache zu verdächtigen! Er ist zu gut, als daß ich ihn
--«

Sie maß den Mann. Sie hatte sagen wollen: »-- als daß ich ihn dir zum
Nachfolger geben möchte.«

»Du kannst das nicht verstehen,« sagte sie kühl; »aber sei ruhig: du darfst
es sein.«

»Ich werde euch zeigen, wie ich ruhig bin!«

Er keuchte; seine niedergestoßene Faust zitterte. Auf einmal spaltete und
krümmte sich sein Mund, vor Wut leidend, wie das Maul einer pfauchenden
Katze; den Augen entwich die Besinnung; alles zu lange Verhaltene brach aus
den plötzlich zerrissenen Zügen.

»Ich werde so ruhig sein, daß ich euch beiden den Hals umdrehe!«

Er nahm vom Tisch eine Tonfigur, schloß die Faust, -- und zu Boden rann
Staub.

»Ah! Du hast geglaubt, das gehe mit mir? Sie hat es geglaubt! Ich bin dir
nicht recht, du magst nicht mit mir schlafen: deine Sache, ich tröste mich.
Aber wehe, nimmst du einen Liebhaber! Er ist einer; sage nicht, daß er's
nicht werden soll! O, ich weiß, du bist eine verlogene Fremde. Eine Frau
meiner Rasse würde wohl mir, aber nicht sich selbst vorlügen, daß dieser
nicht ihr Liebhaber werden soll. Wenigstens wäre sie eine grade Dirne, und
du bist eine krumme. Ich, ein Ehrenmann, verachte dich! Was nicht hindert,
daß ich meinen guten Ruf verteidige und mit Euch beiden, treffe ich Euch
das nächste Mal beisammen, ein Ende mache!«

Er war hinaus. Lola zitterte und wußte sich bleich. Er tötete sie und ihn!
Sein Gesicht war furchtbar gewesen. Wie sollten sie ihm entgehen. Welche
Worte konnten ihn beschwichtigen. Sie fühlte sich feige. Sterben? Jetzt, da
Arnold gekommen war, sterben? Ihn nur wieder gefunden haben, um ihn und das
Leben zu verlieren? »Ich kann nicht! Ich kann nicht ein Leben lassen, in
dem er ist! Hin zu ihm! Fliehen!«

»Vergesse ich? Ich bin gebunden. Es wäre vergeblich, zu fliehen; ich würde
nicht ertragen, feige gewesen zu sein und verraten zu haben. Und ich habe
kein Recht, keins. Er, der uns töten will, hat Rechte: ich nicht. Es ist
nicht genug, daß ich treu bin; ich darf ihm nicht den Verdacht auferlegen,
ich sei schuldig. Nicht einmal fälschlich darf ich ihn entehren. Ich muß
leben, wie die unreine Beschränktheit um mich her es will; denn ich habe
mich ihr verkauft für Lüste; und ich darf Arnold nicht wiedersehen.«

Sie rang.

»Aber ich leide tödlich. Arnold wird mir nicht glauben, wird mich für
falsch und wankelmütig halten und mich verachten. Ich selbst soll mich ihm
verleumden? Das ist mehr, als jener von mir fordern darf. Ich nehme ihm
einen Ruf, den er nicht verdient; er aber nimmt mir das Leben, wenn er mir
Arnold nimmt!«

Aber sie wußte, unerbittlich:

»Ich darf ihn nicht wiedersehen.«

                   *       *       *       *       *

Sie schrieb es ihm; -- und unfähig, den Tag zu sehen, in den er nicht
treten sollte, schluchzte sie in ihrem verdunkelten Zimmer. Angst, lebendig
begraben zu sein, erstickte sie.

»Und ich hielt es für ein Glück, als er kam! Hierher führte das Glück! Wäre
er nicht gekommen ich wäre gesunken, hätte vergessen und litte nicht mehr.
Wäre er nicht gekommen!«

Claudia war da und ließ sich nicht abweisen. Sie sah hinter alle Türen;
dann leise, und wichtig:

»Ich habe einen Brief.«

Lola stieg steif im Bett auf.

»Du scherzest? Tue es nicht!«

»Lolina! Kleine! Sieh her!«

Die Hand, die Lola hinstreckte, griff daneben; beim Lesen mußte sie die
Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht klapperten. Plötzlich ließ sie sich,
aufseufzend, zurückfallen.

»Du lächelst wie ein kleines Mädchen,« sagte Claudia. »Er liebt dich wohl
sehr?«

»O, sehr.«

Die Augen geschlossen:

»Willst du mich für heute allein lassen, liebe Claudia? Ich bin von der
Aufregung noch schwach.«

Er glaubte ihr! Er verstand, daß sie jenem andern gehorchen konnte und
dennoch ihn lieben, nur ihn. Und er war bereit, sie zu lieben: von fern,
ohne Hoffnung auf einen Druck, einen Blick, ohne noch in die Welt
hinauszugehen, deren Bild er nicht in ihrem Auge auffangen durfte, --
eingeschlossen für den Rest seines Lebens mit dem Gedanken an sie! Sie
sollte, war auch sein Leib verschwunden, für immer mit seinem Worte leben.
Schon hatte sein Wort ihr Licht und Atem zurückgegeben.

Seine Briefe zu holen, ging sie zu Claudia.

»Er schreibt und schreibt,« sagte Claudia. »Was bleibt euch noch zu
sprechen, wenn ihr euch seht?«

»Ich sagte dir doch, daß wir uns niemals sehen.«

»Aber seine Briefe kommen aus der Stadt!«

»Und doch sehen wir uns nie, nie. Wenn du seine Sprache verständest,
könntest du's in seinen Briefen lesen.«

Claudia ließ die Lippe fallen; sie sah aus, wie ein zurückgesetztes Kind.
Plötzlich warf sie Lola die Arme um den Hals.

»Also, ich glaube es!«

Wenn sie das Vertrauen der Freundin nicht genießen sollte: sie fügte sich!
Sie diente ihr dennoch! Das kam ihr zu, und Vertrauen war sie nicht wert,
sie, die der Freundin den Gatten genommen hatte! Lola verstand; sie umarmte
Claudia schweigend, wie ein unschuldiges Tier, das einen liebt, und dem man
sich nicht erklären kann.

»Es ist sehr gut,« sagte Claudia, »daß du deine Briefe nicht bei dir
aufbewahrst.«

»Da ich täglich meinen Schreibtisch durchsucht finde! Da Pardi sogar auf
der Post nach Briefen fragt, die für mich lagern! Da meine Jungfer das
Futter meiner Kleider auftrennt und ich mich nicht ausziehen kann ohne das
Auge eines Spions am Schlüsselloch!«

»So sind sie,« bestätigte Claudia; »so ist auch meiner. Und darum, Lola,
sind deine Briefe auch bei mir nicht sicher. Mein Mann wird mich töten, ich
weiß es. Sieh hier meinen Hals: das Rote, Geschwollene ist die Spur seiner
Finger. Es war nur ein Verdacht, ich habe ihn noch besänftigt. Aber einmal
wird er nicht wieder loslassen . . .«

Claudias Gesicht war von Schicksal steinern.

»Und wenn dann nicht er das Versteck mit deinen Briefen findet, finden's
die anderen, die nach solchem Unglücksfall in ein Haus kommen . . . Lolina,
du mußt die Briefe verbrennen.«

Lola senkte klagend die Stirn.

Aber als das Opfer vollzogen war, ward ihr, inmitten des Schmerzes, fast
heiter. Das letzte Sichtbare, den Fremden Greifbare war aufgelöst. In
diesem täglich verbrannten Stück Papier, auf dem seine Hand gelegen hatte,
ward täglich der Körper überwunden. Was blieb, war Geheimnis und Seele. Von
einem Entrückten wußte Lola Worte, die seine Stimme nicht gesprochen hatte,
und die kein Auge erspähen konnte. Wieder floß eine Geisterwelt lautlos
durch die wirkliche. Im Park der Cascine kreuzten sich die Wagen, immer
dieselben, immer der Vitali, zwischen seine zwei Damen eingeklemmt, zwei im
Vorüberjagen aufwehende, leichtfarbige Gebilde aus Federn und Spitzen;
immer die reichgewordenen Ladenbesitzer mit ihren dicken Frauen auf ihren
Karren und die jungen Leute auf den ihren, mit ihren Kokotten; immer in den
stattlichsten Karrossen ein safrangelbes Gesicht, böse aus Pelz heraus. Und
immer Lola, dunkel gegen den perlgrauen steilen Fonds, den leidenden Glanz
des Blickes unbeteiligt vor sich hin, auf die Rücken ihrer schwarzen
Livreen. Nie mischte ihr Blick sich in das Durcheinander der Fußgänger. Der
eine, wußte sie, war nicht darunter. Unter alten Bäumen, in einem
verlassenen Gartenhause am Ende des ödesten der bröckelnden Plätze dort
überm Fluß: in einer Welt, zu der kein Steg führte, die Lola nie betreten
würde und aus der sie dennoch ihren Atem herleitete, weilte er und wußte
von ihr. Nun hinter seinen Bäumen die Sonne zerfloß, erblickte sie ihn auf
seiner Schwelle. Sein Kopf, die breiten Schläfen vorgeneigt, sank tiefer in
die Hand, die ihn hielt. Sein Körper erschlaffte: sein Blick schwamm am
Boden. Aber da zitterte über der Spitze der Zypresse der erste Stern; blaue
Pfade entlang tänzelten Mondfüße; -- und er hob die Augen, und in weißem
Mondlicht zeigten sie ihr Bild. Er sah in Lolas Gesicht und sagte: »Auch
du? Leidest auch du?« -- »Ich leide; aber ich bin stolz darauf. Schreibe
mir nicht mehr, du Lieber! Ich will dir nicht mehr schreiben; will nicht
mehr die Hand auf ein Stück Papier legen, das du küssen kannst, und deine
Schriftzüge nicht mehr an Augen und Lippen führen. Es ist zu viel, es ist
Sünde. War nicht reiner, unser würdiger, jener geisterhafte Sommer, als
wir, die Seelen voll voneinander, uns sogar der Hoffnung auf ein Zeichen
enthielten?«

Musik schreckte sie auf. Auf dem runden Platz hielten alle Wagen. Junge
Leute traten an ihren Schlag.

»Contessa, man sieht Sie wenig. Wieder die Nerven? Sonderbar, daß Sie unser
Klima nicht vertragen . . . Aber Sie wissen doch, daß Ihr Gatte dem Brocca
hunderttausend Franken abgewonnen hat? Gestern nacht. Und dem alten
Geizhals geschieht recht. Jetzt ist's an ihm, die Taschen aufzuknöpfen. Vor
kaum acht Tagen hat er Ihren Gatten wegen lumpiger Fünftausend auf offener
Straße bedrängt. Er soll unhöfliche Ausdrücke gebraucht haben, -- und Pardi
sah die Damen Vitali kommen. Ein Glück, daß er Geistesgegenwart hat, Ihr
Gatte. Wenn der Alte schrie: >Das ist nicht ehrenhaft!< fragte Pardi:
>Sagten Sie ihm?< >Spielschulden zahlt man oder man wird ausgestoßen.<
>Sagten Sie ihm?< So haben die Damen geglaubt, man spreche von einem
dritten. Ah! Ihr Gatte, Contessa: der erste Herr von Florenz!«

Sie fingen an, ihr Winke zu geben. Solange sie Valdomini bevorzugt
glaubten, hatten sie Pardi geschont. Jetzt, da wieder jeder sich Hoffnungen
machte, gaben sie ihr zu verstehen, daß sie einen Liebhaber brauchen, ihn
bald schon wegen ihrer Modistin und ihres Blumenhändlers brauchen werde.
Lola erfuhr von jedem Pachthof, den Pardi verkaufte. Sie ward darüber
aufgeklärt, daß das Schloß San Gregorio, als sie den vorigen Sommer darin
gewohnt habe, nicht mehr Eigentum ihres Mannes gewesen sei; er habe es ihr
gemietet; -- und sie mußte es glauben, wenn sie sich die Vorbereitungen
zurückrief, die er damals nötig gehabt hatte. Sein Untergang kündigte sich
ihr manchmal greifbar an. Eines Abends fehlte, als sie ihn bestellte, ihr
Wagen. Er sei zerbrochen. Tags darauf erschien der junge Vitali und pries
sich glücklich, ihr den Wagen zurückzubringen; Pardi habe ihn verloren und
wiedergewonnen.

Ein Augenblick völligen Geldmangels. Aber wäre sein Spiel selbst immer
glücklich gewesen: gleich hinter ihm stand die Sarrida und verlangte mehr.
Man hatte dafür gesorgt, daß Lola auch sie sehe. Auf der Bühne der
Alhambra, unter dem Licht tausend begehrlicher Augen wendete das
götterähnliche Tier sein nur mit Juwelen bekleidetes Fleisch langsam hin
und her, gab ihm alle Stellungen der Wollust, zeigte es Begierde dünstend,
wie eine Himmlische, die zu den Männern der Erde herabsteigt, und Sattheit
atmend, wie eine lagernde Kuh. Abseits saß Pardi; seine drohenden Augen
beherrschten die Sarrida und den Saal. Diese Juwelen hatte er zu
beschaffen, dies Fleisch zu bewachen. Lola hörte, daß er Duelle habe und
Wucherern zufalle. Man sprach von seiner Prügelei mit einem Amerikaner, in
der Wohnung der Sarrida. Lola war, sah sie ihn bleich von wütendem Gram,
versucht, an ihn hinzutreten und ihm zu sagen, sie wisse wohl, er liebe die
Sarrida nicht mehr als jede andere: aber sein Ehrgeiz und seine Phantasie
hielten ihn besessen, zwängen ihn, sich zu behaupten gegen Jüngere und
Reichere, legten ihm wieder einmal ein sinnloses, verkommenes Heldentum
auf. »Sei sicher,« hätte sie gern gesagt, »von allen bin noch ich es, die
dich am besten zu würdigen weiß.« Von der Höhe ihres entfleischten,
hoffnungslosen Leidens bemitleidete sie sein einfach sinnliches, das ein
hoher Haufen Metall hätte stillen können. Sie verhandelte mit den
Gläubigern, die hereindrängten, half an den lautesten Forderungen mit ihrem
Gelde vorbei, suchte aus der Wildnis von Zetteln auf seinem Schreibtisch
seine Lage zu verstehen.

Paolo schickte etwas; und sie betrat Pardis Arbeitszimmer, hob eine
handvoll Papiere auf und mischte einige Banknoten darunter: er würde
vielleicht glauben, sie hier vergessen zu haben. Da blieb ein Blatt ihr
zwischen den Fingern, ein Brief -- mit einer Schrift, die sie im Leben drei
oder vier Mal gesehen hatte und doch in jedem Zuge kannte: Mais Schrift. Am
Schluß die Adresse eines Hotels in Genua. Lola hatte von Mai seit ihrer
Abreise nach Amerika keine Zeile bekommen; und was hatte sie Pardi zu
schreiben gehabt? Die vierte Seite enthielt Danksagungen für ein
empfangenes Glück. Für welches? Dann Lolas Namen.

»Sei gut mit ihr, so werde ich nicht bereuen, was ich für dich getan habe!«

»Und sie nennt ihn du?«

Lola wandte den Bogen; oben trug er: »Mein Geliebter!«

Alles in ihr stand still. Sie war vor sich selbst erschrocken, vor der,
deren Geist die beiden Worte wiederholt hatte. Zögernd weiter: -- sie warf
den Brief hin und sagte laut:

»Er war ihr Geliebter.«

Sie fiel auf einen Stuhl und hielt sich die Ohren zu.

»Ich will es nicht glauben! Es ist nicht wahr; ich bin krankhaft
mißtrauisch!«

Aber da lag der Brief. Mai schwur ihrem Geliebten, daß von diesem einzigen,
so kurzen Glück den ganzen Rest ihres Lebens ihr Herz sich nähren sollte.
Und plötzlich warf Lola die Arme in die Luft, haltlos, zwischen Abgründen,
mit einem Schauder vor dem Schicksal, das stumm gewesen war und auf einmal
mit verfaultem Atem ein scheußliches Wort ausstieß.

»Sie hat mich verkauft: schlimmer, sie hat mich mit in den Kauf gegeben,
bei dem sie ihn bekam! Er wollte uns beide! Ich wußte das und war so blind?
Immer noch gibt es Schleier wegzuziehen? Mein Gott! was wird noch kommen
. . . Bin ich denn ganz anders als alle? Auf den Gedanken, der der erste
jeder Frau wäre, verfalle ich nie . . . Und sie hat mir, nun sehe ich's,
den Verdacht fast aufgedrängt: gleich vor meiner Hochzeit, als sie ein
letztes Mal um ihn kämpfte. Wie hat sie mich gehaßt! Als sie verlangte, ich
solle ihn lassen! Natürlich: ihren Geliebten! Eine Mutter ist das, eine
Mutter!«

Neuaufwallend:

»Und ich hätte ihn ihr lassen können! Ein Wort von ihr, und alles war
unnötig, alles seither Erlittene! Das Glück wäre möglich gewesen. Ja, ganz
frei lag es da!«

Sie drückte die Fäuste vor die Augen und schluchzte aus Zorn.

»Ich wäre entronnen. Ein kurzer, verächtlicher Schmerz, und es war hinter
mir. Alles Elend umsonst, eine gräßliche Posse. Da: sie dankt ihm auch
dafür, daß er sie auf ihrer Bootfahrt geliebt hat, obwohl sie so krank war.
Man liebt und erbricht sich, durcheinander. Um solches Lebens willen sitze
ich hier.«

Wild sprang sie auf.

»Nein! Nicht länger. Zu lange war ich schwach. Auch ich will endlich
rücksichtslos glücklich sein. Dahinten ist Arnold, den ich liebe. Ich weiß
das Haus und den Weg, kenne sein Herz und meins, -- und was dazwischen
stand, ist alles gesprengt. Ich erkenne nichts mehr an, will nichts mehr
wissen. Ich gehöre wieder mir und gebe mich ihm. Ich will zu ihm!«

                   *       *       *       *       *

Der Weg war weit; sie schwankte vor Erschöpfung und dachte doch nicht
daran, in einen der vorüberfahrenden Wagen zu steigen. Die Häuserreihen
ringelten sich fahl dahin im erlöschenden Blau. Alles hastete bestürzt
durcheinander, und man kam nicht weiter, wie in einem Traum. Die Welt war
in Verwirrung und suchte einen Retter. »Zu ihm, der handeln wird, handeln
und mich retten wird!« Sie erkannte die Straßen nicht wieder, fragte einen
Menschen -- sein Gesicht deuchte ihr unheilvoll -- und hörte sich sprechen,
wie eine andere. »Ich bin krank,« dachte sie deutlich; »ich weiß es wohl.
Aber was kommt darauf an. Vorwärts!«

Über der Mauer schwebten Baumkronen: die Kronen seiner Bäume. Das Tor
erwartete sie, unverschlossen. Er saß dorthinten, vor der Schwelle seines
niedrigen Hauses, die Schläfe in der Hand, zu Boden sinnend. Dies alles gab
es nicht nur in ihren Gesichten? Die Sonne schmolz hinter jenen Zypressen,
wie in alten, süßen Erinnerungen. In Lolas Kopf klopfte es wirr und heiß.
Bemooste Gartengötter streiften sie, den Gang entlang, mit schiefen Blicken
»Seht nur zu!« -- und sie schlug den Mantel zurück, als würfe sie alles von
sich und böte sich ihm. Der Kies spritzte von ihren gehetzten Füßen. Arnold
sah auf, bewegte eine ungläubige Hand und erstarrte. Sie lag vor ihm.

»Es ist aus. Wir sind frei. Ich bin dein. O ja, nimm mich nur in deine
Arme, frage mich nur! Du sollst alles wissen, du bist der, den ich habe.
Einen Menschen muß man doch haben, einen. Ich war immer allein. Ich weiß
noch, wie mein Vater mich in dem fremden Garten zurückließ. Keinen verstand
ich. Nie habe ich eine Sprache ganz erlernt. Die Mädchen dort beschimpften
mich einst, weil ich nirgends hingehörte. Als ich groß war, hielt man mich
für eine Abenteurerin. Und behandelte mich wie eine.

Fremde in allen Ländern, Feinde. Weißt du, daß sie hier mich kaufen wollen,
mich zu ihrer Dirne machen wollen? Kein Volk, dem ich zugehöre, keine
Sprache, die mich ganz ausdrückt, -- und kein Mensch, an dessen Herzen ich
daheim bin? Du! O, du!«

»Meine Lola. Meine liebe kleine Lola.«

»Sag mir das! Sag es mir oft. Ich habe es so lange entbehrt. Ich bin
schlimm daran. Du weißt nicht: hier ist's so still, aber draußen geht alles
drunter und drüber. Du mußt mich retten.«

»Meine arme Lola, du fieberst.«

»Es ist möglich, ich verliere den Kopf. Aber bedenke, was sie mir getan
haben, und daß meine Mutter seine Geliebte war. Ja: seine, meines Mannes.
Ist das nicht mehr, als alles was ich zu tragen verpflichtet war. Soll ich
so viel Buße zahlen? O! ich ersticke. Es soll endlich aus sein. Hörst du?
ich will, daß es aus sei!«

»Gib mir deine Hände, lege den Kopf hierher, an meine Schulter. Halte
still, höre zu. Ich habe dich so lieb, daß ich wollte, an deinem Leid
stürben wir augenblicklich, alle beide. Wir sind arm, und ich denke schon
längst an den Tod mit dir, als an das Beste. Vielleicht, daß wir nachher
uns haben würden?«

»Sterben? Ja, mag sein, daß es das war, was ich wollte. Ich wußte nicht
. . . Gib vorher deinen Mund!«

. . . da schrak sie aus der Umarmung.

»Nein! Nicht das. Ich kann es nicht.«

»Wenn du mich liebst? Ich weiß nicht, wie es kam, -- aber liebst du mich
dafür denn nicht genug?«

»Sei nicht traurig! Ich schwöre dir --«

»Du liebst mich also nicht genug. Ich wußte es.«

Ganz voneinander gelöst, standen sie da. Lola führte die Hand zwischen die
Augen. »Warum kann ich es nicht? Warum bereue ich fast, daß ich ihn liebe?
Was erwartete ich denn anderes von ihm! Sollte er mich fortreißen aus den
Feinden und um sich schlagen? Heldentaten? -- ich bin kindisch. Ein Held
ist der andere, ich kenne den Helden. Dieser ist ein Mensch -- und zu fein,
zu sehr mir gleich, um es mit dem Leben aufzunehmen, das lügt und
vergewaltigt. Bei ihm ruhen. Nur ruhen. Den Hals nicht wenden; nicht
zurückdenken.«

»Kannst du mich nicht so lieben? So? Ohne das andere?«

Und sie lehnte sich an ihn, ohne die Arme zu erheben.

»Ich werde trotzdem nur dir gehören. Wir werden uns immer sehen, ich
verspreche es dir. Gern will ich mein Leben wagen, für wenige Minuten mit
dir! Aber das andere -- siehst du, wir könnens nicht. Auch dir wäre gleich
wieder eingefallen, daß wir's nicht können. Lügen und betrügen: wir! Lieber
das Schlimmste erleiden. Im Grunde, was ist geschehen. Er und meine Mutter
sind wie alle. Auch das hab' ich verschuldet und muß es tragen. Warum
verlor ich mich? . . . Siehst du, nun senkst du die Stirn und siehst wieder
alles ein. Du bist gut, du bist mein Trost. Alle Not will ich vergessen,
wenn ich bei dir bin. Versprichst du, daß dir das genügen wird?«

Er hob ihre Hand an seine Lippen. Sie standen lange im Dunkeln. Mehrmals,
nach verträumten Pausen, fragte Lola:

»Wirst du mich immer lieben?«

Und er hob ihre Hand an seine Lippen.

Ganz erwachend, unter einem Seufzer, sagte sie:

»Ja, es ist schön. Aber --«

Mit einer kleinen gefrorenen Stimme, an deren Decke ein leiser Spott
pochte:

»-- wir werden uns nie gehören!«



IV


Sehr früh war Claudia bei ihr.

»Schon in vollem Anzug und unterwegs?« fragte Lola. Es sei solch schöner
Morgen, sie habe ihr Veilchen bringen wollen; -- aber Claudia schien
besorgt. Endlich, ganz leise, erschloß sie sich. Im Vorbeigehen habe sie
Pardis Zimmer weitoffen gesehen. Die Schiebfächer seien herausgezogen.
Vieles liege am Boden, wie nach einer Abreise. Lola war erstaunt.

»Vielleicht ist er wirklich fort?« fragte Claudia, und ihr Blick bat um
Nachsicht.

»Wir stehen uns grade sehr schlecht, er und ich: drum hat er mir wohl
nichts gesagt. Solltest du nicht mehr wissen als ich, Claudia?«

Claudia errötete. Allerdings hatte sie den aufräumenden Diener gefragt. Er
konnte keine Auskunft geben, -- das heißt, ja --. Ihr Mund zuckte. »Er ist
fort. Und ich wußte es schon! Mit der Sarrida ist er fort.«

Lola dachte: »Welch Glück!«

Claudia sprach starr weiter. Er begleitete die Sarrida und hatte acht
Fechter mit, acht Händelsucher wie er selbst, um der Sarrida Erfolg zu
erzwingen. Denn die eintönige Ausstellung ihres Fleisches langweilte vom
dritten Abend ab.

Befremdet fühlte Lola eine Regung von Eifersucht: o, nicht auf Pardis
Liebe, aber vielleicht auf die acht Fechter, mit denen er seine Geliebte
beschützte? Hier ward gehandelt. Man schickte sich nicht in etwas, das
bestimmt schien; man verzichtete nicht: man handelte.

»Woran denkst du?« fragte Claudia.

»Daß wir dann nach Monte Turno könnten: du, Arnold, ich. Da du schon
unterwegs bist: willst du mit Guidacci sprechen?«

Mittags trafen sich alle bei der Trambahn nach Prato. Der kleine Priester
frohlockte; er faßte das schöne Wetter als persönlichen Erfolg auf.

»Jetzt werden Sie mein Landhäuschen sehen!« wiederholte er.

Dem groben, schwermütigen Gesicht Pierinas standen die Veilchen. Lola
steckte sie ihr an; Arnold hatte welche für Claudia. Alle lachten aufgeregt
durcheinander, man wußte nicht warum: weil es in den Frühling hinausging,
weil die Frauen bunte Schleier und Blumen trugen, weil man sich
abenteuerlich frei fühlte, in der schmutzigen, lärmenden kleinen Dampfbahn
durch das weite, sonnig durchwogte Land hin. Es war braun; die Glockentürme
mit dem Umriß alter Zeiten, alten seltsamen Menschensinnes, sanken grau
darin ein; rosig und weiß überspülten es Obstblüten; und der Himmel öffnete
sich immer weiter, immer mächtiger, bereit, einen Hineinstarrenden zu
verschlingen.

Lola stand allein auf der Plattform und sah in den Himmel. Arnold trat
neben sie. Nach einer Weile zeigte sie ihm die Pappeln, die zurückblieben.

»Wie sie fein und durchblaut sind! Hören Sie's nicht, als ob sie sängen?
. . . Auf der Großen Insel, bei meinen Großeltern waren welche. Es ist mein
Lieblingsbaum.«

Guidacci kam heraus. Sie sprachen beide so herzlich zu ihm, daß er sie ganz
beglückt ansah.

Es ward heiß. An den Halteplätzen holten Arnold und Guidacci Erfrischungen
unter den Zeltdächern der Cafés hervor, aus den schwarzgelben Reihen der
Bauern mit kühn zerdrückten Hüten. Die Kutscher burlesker Landwagen spaßten
und knallten. Wild schnaubend riß einen die Lokomotive -- noch warf ein
Mädchen eine Rose nach -- aus dem sonnigen kleinen Haufen Leben.

Und man bestaunte in Prato, wie ein Kind, die Kanzel am Dom, mit dem
geheimen Wunsch, da hinaufzuklettern, zu spielen. Und man atmete, im
Stellwagen, die Luft vom Gebirge, erstieg Hügel, die sich,
weinlaubüberzogen, um helle Häuser schmiegten, verlor sich in Laub,
Quellenfrische, Duft verjüngter Erde . . . Das letzte Stück Weges ging's
steil. Guidacci lief es, die Soutane gerafft, zu Fuß hinauf. Wie sie oben
abstiegen, sprang aus einer Pforte ein gelbes, mageres Männchen in einer
Pumphose, fuchtelnd aus seiner zu weiten Jacke. Man bewunderte den
Priester; Claudia tat es nicht ohne Bedenken. Er wollte ihnen seinen Garten
zeigen; nein, das Haus; nein, vor allem sollten sie seinen Wein kosten: er
wußte selbst nicht, was er am wenigsten erwarten konnte. Und er erklärte,
daß er in zwei Jahren, vielleicht in einem, sich hierher zurückziehen,
seine Rosen pflegen und seinen Wein keltern wolle. Er sagte es stolz, als
vermesse er sich einer Heldentat.

»Das Alleinsein fürchte ich nicht,« -- und er tat, mit gespreizten Fingern,
einen entschlossenen Streich durch die Luft. Ȇbrigens habe ich hier meinen
alten Lehrer. Sie müssen ihn sehen.«

Er führte sie um das Dorf und durch den verwilderten Pfarrgarten in die
Sakristei der Kirche. Ein großer, gebückter Greis empfing sie. Das
Chorhemd, das er eben ablegen wollte, ließ er auf die Schultern
zurückgleiten, lud mit einer weichen Bewegung die Damen in das
altersschwarze Wandgestühl und begann sogleich, als habe er sie erwartet,
mit ihrer Unterhaltung.

»Hier vernehmen Sie mehr, als in Guidaccis Hause, vom Geräusch unseres
Festes.«

Ein Schuß, der Schrei eines Verkäufers drangen über den stillen Garten her.

»Es ist das jährliche Fest unseres Heiligen. Ich will Ihnen seine
Geschichte erzählen.«

Er rief hinaus nach der Magd, die süßen Wein brachte. Guidacci verhieß
eifersüchtig, sein eigener Vino Santo, den er ihnen vorsetzen werde, sei
besser. O, der Alte höre nicht!

Der alte Priester erzählte, auf seine Knie gestützt, Sachlichkeit und Ruhe
im langen, blutleeren Gesicht, seine Wunderlegende. Claudias Augen, sah
Lola, erweiterte leidenschaftliche Sehnsucht. Die kleine Pierina sah mit
schwermütigem Spott von einem zum anderen. Guidacci, unfähig,
stillzuhalten, sagte zu Lola:

»Wie frisch er ist, nicht? Und er wird achtzig. Aber er hat auch seit
fünfzig Jahren dies Dorf nicht verlassen.«

Lola traf die Augen Arnolds. Im Drang, wohlzutun, glücklich zu machen,
antwortete sie Guidacci:

»Sie werden denselben Frieden finden: ich glaube es.«

Und sie betrachtete die dunkeln Möbel: wie viele Hände, die nacheinander
gelebt und daran hingetastet hatten, mochten diese Ecken abgerundet haben!
Die Türfüllung war ausgebuchtet, wie von den hundert Rücken vergangener
Priester, die sich plaudernd hineingelehnt hatten. Der Frühlingswind eilte
nur wie ein fremder junger Gast durch den alten Raum, unvermischt mit
seiner eigenen Luft, dem stillen Greisenatem der Wände, der schwarzen
Bilder, der Stoffe, die mit verjährtem Weihrauch gesättigt, auf den
Schultern des Achtzigjährigen und in den leisen Schränken ruhten.

»Wir aber dürfen hinaus,« dachte Lola: »er und ich! Wie weit und hell es
dahinten ist!«

Schon im Garten, sahen sie drinnen den Alten die kleine Pierina an der Hand
halten. Er berührte ihr Ohr und seins.

»Nicht undankbar sein,« sagte er. »Das ist ein Glück. Wir beide hören
nichts Böses, und fern davon, uns in uns selbst zu verschließen, wollen wir
den Menschen viel Gutes sagen.«

Pierina kam mit betretener Miene heraus. Lola nahm sie zwischen sich und
Arnold, und plötzlich fand sie ihr eine Menge zu sagen, fühlte sich bei
einer Freundin, die Zeugin ihrer glücklichsten Augenblicke gewesen war und
der sie sie dankte, wie Geschenke. Das Mädchen erhellte sich, vergaß zu
beobachten, plauderte . . . Aber Lola bemerkte Claudias gequältes Gesicht.
Sie zog sie fort.

»O, wenn ich jenem alten Priester beichten könnte!« sagte Claudia; und
Lola:

»Beichte mir!«

Claudia erhob große, schuldige Augen zu ihr.

»Dir möchte ich zu Füßen fallen, Lolina,« sagte sie, leise und wild. »Wie!
ich habe dir deinen Mann genommen: ich zuerst, -- und du magst mich noch
ansehen, ohne mir ins Gesicht zu schlagen? Du hörst meine Stimme und
erwürgst mich nicht? Ich begreife dich nicht, aber ich will dich lieben wie
ein Hund!«

»Du hast mir nichts genommen, arme Claudia. Er machte mich nicht glücklich:
er zog mich in Schmutz. Daß ich ihn, der mich mit allen betrügt, einst
geliebt habe, demütigt mich.«

»Demütigen! Schmutz! Weißt du, daß ich im Straßenkot, zwischen den Rädern
aller Familien von Florenz, ihm nachkriechen würde? Er soll mir
zurückkehren von der Sarrida; von der letzten Dirne soll er mir
zurückkehren! Weniger als das, er soll mich zu ihr rufen, an ihr Bett: hier
bin ich! Demütigen? Ich werde um ihn in Schande kommen, ganz tief, und für
ihn sterben: hast du neulich im Palazzo Pozzi die Blicke meines Mannes
gesehen? -- werde für ihn sterben, und das macht mich stolz. O! ich weiß
alles voraus; ich habe meine Zukunft da --«

Mit ihrer kleinen behandschuhten Hand schlug sie sich auf die Spitzen vor
der Brust, auf den Leib . . .

»-- und da und da: überall wo Blut fließt! Weißt du das nicht? Dann weißt
du wenig von Liebe!«

Sie schüttelte den Kopf, daß an ihrem Hut die Straußenfeder aufflog.
Plötzlich lachte sie laut Guidacci entgegen, ergriff Pierina am Arm und
lief mit den Geschwistern die Straße hinab. Arnold und Lola stießen
zueinander und folgten, langsam und allein.

»Was ist Ihnen?« fragte er. »Sie sehen erschreckt aus.«

»Haben Sie nicht gehört, was sie sagte? . . . Lassen wir's! Das ist das
eine Schicksal, -- und das andere gehört dem Alten in seiner Sakristei. Mit
uns aber ist's nun so geworden, daß wir diese schöne Waldstraße dahingehen
und uns haben. Du darfst meine Hand nehmen. Stelle dir vor, daß wir nie
aufhören, zu wandern. Hat dich schon einmal eine Ebene so verlockt, wie die
dort, worin wir Pistoja sehen? Vor dem Tor ist ein Garten: immer, wenn ich
vorbeifuhr, dachte ich an dich.«

»Bei vielen Dingen dachte ich an dich, -- und noch immer glaub' ich's
nicht, daß ich nun dich selbst sehe. Werden wir uns immer lieben?«

»Wenn du zweifeln kannst, liebst du mich nicht.«

»Ich liebe dich so sehr, daß ich für immer auf dich verzichtet habe. Keine
Schwäche soll mich mehr überraschen.«

»Sie war meine Schuld. Ich klage mich an! Als ich gestern zu dir lief,
wollte ich mich rächen; ich nahm, was ich nun erfahren hatte, zum Vorwand,
mich loszureißen. Aber der Vorwand war schlecht, und die Rache war
schlecht. Sie hätte uns beide entwürdigt. Ist unsere Liebe nicht weit fort
von allem?«

Sie standen und sahen, die Finger lose verschränkt, ins Tal.

»Ich glaube,« sagte Arnold langsam, »daß deine Mutter sehr gelitten hat.«

Lola wendete ihm ein verklärtes Lächeln zu.

»O! du mußt mich wohl lieben, -- da du so tief blickst.«

»Sie erscheint mir, wenn ich sie mir zurückrufe, als armes, unwissendes
kleines Wesen, gelockert und nicht befreit, ein ratloses, entflogenes
Vögelchen.«

»War sie nicht eigentlich achtbar, daß sie erst dann unterlag, als sie es
dringlich fand, mich zu verheiraten? Er hätte mich anders nicht genommen:
er wollte uns beide . . . Liebte sie ihn? Aber um meinetwillen gab sie sich
ihm! Um seinet- und um meinetwillen hat sie einem anderen, der es schon
hatte, ihr Wort zurückgenommen und ist allein fortgezogen in Langeweile und
Gefangenschaft. Denn nun ist sie wieder im Käfig; mein Bruder Paolo hält
ihn jetzt so gut verschlossen, wie früher Pai. Und sie sieht sich ungenützt
altern. Was ich für Verrat hielt, war Opfer!«

»Muß man sich dir nicht opfern? Muß nicht deine Mutter gut sein?«

»Wie viele Augenblicke mit ihr kehren mir nun wieder, wie viele ihrer
Worte! Gestern kamen nur die, in denen sie mich haßte. Heute höre ich sie,
wenn ihr Kampf sich zum guten wendete. Ich möchte sie um Verzeihung bitten
für meine Kälte! Das Schicksal der anderen kommt mir so oft nicht nahe
genug. Ich muß besser werden.«

Arnold wiederholte:

»Wir müssen besser werden.«

Sie hörten die andern zurückkommen und sahen sie nicht: geblendet von der
Abendsonne, in die sie so tief ihre Blicke geschickt hatten.

Man ging ins Haus. Das kleine Zimmer, wo sie sich zwischen leeren Mauern an
den gedeckten Tisch setzten, schien Lola das gastlichste, das sie je
aufgenommen hatte. Claudia, Guidacci, Pierina: Jedem hörte sie mit
Entzücken zu. »Im Grunde wußte ich's immer,« dachte sie, »daß jeder Mensch
sein Interessantes und seine Schönheit hat, und daß ich einmal lernen
werde, es zu finden. Jetzt kann ich's. Alle Menschen würde ich verstehen
und lieben.« Dennoch pries sie sich glücklich, grade mit diesen zu sein.
Ihr Wohlwollen strahlte ihr aus aller Augen zurück, ihr Glück machte alle
fröhlich. Manchmal, rasch den Kopf gewendet, ein neckendes Wort zu Arnold;
-- und in jedem Ja und Nein jubelte es und sie fühlte es jubeln:

»Ich bin nicht mehr allein!« Guidacci hatte neben sie Arnold gesetzt: als
er seine Ansichtskarten hervorholte, machte Pierina, daß Arnolds Name
zusammenkam mit Lolas; und beim Fortgehen, dem Wagen entgegen, ließ Claudia
sie allein.

»Wie ich dich liebe!« sagte Arnold und stützte sie. »Jetzt im Dunkeln zieht
sich der ganze Geist zusammen auf den einen Gedanken. Man weiß erst jetzt;
man begreift erst jetzt.«

»Wie ich dich liebe!« sagte Lola. »Ich denke mich in eine Stunde des Elends
und der Einsamkeit zurück und sehe von dort aus uns beide, jetzt im
Dunkeln, und staune.«

                   *       *       *       *       *

Am Morgen kam, durch Vermittelung Claudias, ein Brief von ihm.

»Noch lange war ich auf; es regnete; ich ging unter den tropfenden Bäumen
meines Gartens und war glücklich, zu atmen. Sonst, wenn ich in Regennächten
allein saß, in mich selbst verbannt, ohne Ausweg aus mir, fühlte ich oft
die Welt zu Schatten werden und fürchtete mich, wie vor dem Erlöschen einer
Flamme, die kein Stoff mehr nährt, vor dem Einschlafen meines vereinsamten
Geistes. Wie gut ist's jetzt! Nicht mehr an einem Fleck festzusitzen, wie
eine Spinne immer nur im eigenen Netz. Sich hinwegdenken zu dürfen über
Räume, an einen Ort, wo man liebt und geliebt wird, also wichtiger ist und
höher lebt, als hier am Aufenthalte des Körpers!«

. . . »Ich habe noch keiner geglaubt, die mich halten wollte. Ich traute
meinem Gesicht nicht zu, es könne geliebt werden, und der Frau nicht, sie
durchschaue und verstehe es. Du erst hast das dichterische Auge der
höchsten Frauen, die nach dem Bilde der Seele, die sie geschaut haben, ein
Gesicht erkennen und es lieben können, weil es die Form dieser Seele ist.
Ihr seid wenige, -- aber welcher Mann vermöchte dies? Wer kann von dem, was
seinen Sinnen genehm ist, absehen, einer Seele zuliebe?«

. . . »Haben wir uns aber in jedem Augenblick lieb genug gehabt, gestern,
in jedem? Sobald ich dich nicht mehr sehe, fallen mir versäumte Minuten
aufs Herz, zerstreute, matte. Das Glück müßte fortwährend neu die Augen
aufschlagen. Das Leben ist ungewiß, und es vergeht. Dich lieben!«

Lola hatte ihm vieles zu antworten.

»Ich habe selbst als junges Kind nie ganz im Ernst an einen Gott geglaubt
und später die Frage nach ihm immer nur für zweiten Ranges gehalten. Ich
sah, und ich erlebte in mir, die himmlische Liebe diene allzu sehr als
Entschuldigung dafür, daß wir uns auf Erden nicht lieb genug haben . . .
Auch hatte ich nie ein Vaterland. Du und ich: wir sind allein. Das legt uns
vielleicht die Bestimmung auf, uns der Menschheit zu erinnern, die über den
Vaterländern vergessen wird?«

»Seit gestern verzehrt es mich, die Güte zu äußern, zu der ich nun gekommen
bin. Durch eine Tat, das Opfer seiner selbst alle umarmen zu können! Aber
ich weiß keinen Weg zu ihnen; ich schäme mich, ihnen Dankbarkeit
aufzuerlegen, mich an sie zu drängen. Was soll ich tun? Meine Allliebe
vereinigen auf einen. Dich lieben!«

»Du wirst es mir nicht vergelten können. So viele Wesen hast du zu lieben,
die du schaffst, um die du Sorge trägst, denen du von deiner Seele gibst.
Ich bin eifersüchtig. Du darfst nicht müde sein, weißt du, wenn du zu mir
kommst!«

Und Arnold:

»Du irrst: ich habe geschrieben, um mich leben zu fühlen. Aber lebe ich
jetzt nicht durch dich? Ich habe geschrieben, um groß zu werden: aber
welche Macht hätte ich nicht von dir! Einem Dichter erschließt Liebe alle
Schicksale. Früher trieb starre Herrschsucht die Welt durch meine Visionen.
Jetzt ist, was sie in Bewegung setzt, Liebe. Das große Getriebe meiner
Gesichte hat einen innigeren Gang. Plötzlich steht alles still: steht und
neigt sich vor dir.«

Nach diesen Sätzen öffnete Lola, zum erstenmal seit zwei Jahren, das
Klavier, stellte ihre alten Lieder darauf und sang. Saß die Stimme nicht
mehr am Fleck? War sie schwächer geworden? Fehlte ihr der frühere Glanz?
Lola hörte eins nur sicher: daß ein Klang darin war, der ihm gefallen
mußte, weil er ihr von ihm kam; ein Klang, der ihr betäubend aus der Brust
quoll, daß sie die Augen schloß; ein Klang, mit dem sie nicht allein
bleiben konnte, den sie ihm bringen mußte.

Sie eilte hin; er war nicht zu Hause; aber sie ließ es sich öffnen, setzte
sich in seinen Stuhl, schlug sein Buch an der Stelle auf, wo er es
verlassen hatte, stützte den Kopf, führte ihr entzücktes Lächeln über die
Wände, in den Garten und dachte sich daheim. Dann fand sie das Klavier und
sang. Auf einmal kam ihr Kraft. Woher? wenn nicht er hinter ihr stand. Auf
diesen Tönen stieg sie über sich hinaus . . . Als sie sich wiederfand,
hielt sie ihn in den Armen.

»Wie ist es gekommen? Mir war schwindlich; ich muß mich setzen . . . Aber
du hast geweint?«

»Nie hast du so gesungen. Du bist eine große Künstlerin geworden.«

»Nein; aber ich liebe dich!«

»Weißt du noch deine ehrgeizigen Träume? Jetzt könntest du dich berühmt
machen.«

»Nur einer soll mich hören. Wir lieben uns. Was könnte unsere Kunst anderes
sein als unsere Verklärung.«

»Ich wußte, daß du kommen würdest! Wie lange, lange haben wir uns nicht
gesehen!«

»Endlos lange. Warte: einen Tag erst?«

»Und warum?« fragte er. »Warum haben wir gestern versäumt?«

»Versäumt? Findest du? Hatten wir nicht genug Glück für einen Tag? Ich war
voll davon; es stieg mir jeden Augenblick blendend in Stirn und Augen.
Vielleicht mußte ich allein sein? Du hättest mich getötet.«

Sie schwiegen, hielten sich umschlungen und atmeten kaum. Plötzlich:

»Aber jetzt haben wir uns wieder, haben uns, und die Sonne scheint, und wir
können gehen, wohin wir mögen!«

Sie staunten heimlich, daß Pardi nicht zurückkomme; daß keiner von ihnen
erkranke; daß der Himmel ihnen das Glück noch lasse.

Jeder allein, fuhren sie bis vor die Stadt, trafen zusammen und erstiegen
die alte Straße nach Fiesole.

»Wie leicht sich's steigt! Wie merkwürdig hell der Kopf sich anfühlt! Ich
war lange nicht so.«

»Ich habe lange nicht diese Blütenfarbe gesehen. Sah ich sie je? . . . Die
immergrünen Eichen schieben solche hohen, schimmernden Dächer über unsern
Weg; hinter dem Gitter -- o, wie neu es drinnen duftet! -- geht der
Laubgang so groß gewölbt zu Dornröschens Schloß; Rosen, ja Rosen schlagen
um die Halle: wo sah ich das alles? Vielleicht als Kind? Wenn ich in die
Ferne sann?«

»Vielleicht sind wir wieder sehr jung?«

»Nun sieh hinab! Aus dem Dunst der Stadt hebt sich kaum noch die Kuppel.
Wir sind darüber und allein.«

Sie richteten sich auf und faßten sich bei den Händen. Welt und Sinne
sollten sie nicht hinabziehen; sie gingen hoch durch reine Luft. Stolz
lächelten sie sich zu. Ein Vergnügen trug sie, über die Triebe aller erhöht
zu sein, ein künstlerhafter Genuß ihrer Keuschheit.

Auf der Terrasse des Hotels Aurora mischten sie sich unter die Fremden,
traten, wie jene, in den Dom und besuchten die Ruinen. Unter einem Baum,
vor einem Bauernhause, vergaßen sie die Stunde und brachen erst auf, als
aus dem erbleichten Blau leise ein erster Stern hervorbebte. Sie fuhren
hinab durch Nachtwind, mit Angst in der Kehle, weil dort im Himmel schon
die weite Pinie lag, bei der Arnold aussteigen sollte.

»Bald wieder! Morgen: warum nicht morgen!«

Sie verweilten in Landwirtshäusern und Klostergärten. Sie erfanden, wenn es
regnete, Verstecke in der Stadt: den Hof eines entlegenen Hauses, eine
unbesuchte kleine Kirche. Und sie machten, da es schön ward, den einsamen
Weg von Settignano nach Fiesole, mit dem rauhen Profil jenes Schlosses, den
Tälern ohne Herden und, auf der Lohe des Sonnenunterganges, dem schwarz
verkohlenden Walde. Die Kräuter, in denen sie geruht hatten, dufteten noch
aus ihren Händen. Sie sagten sich, es sei schade, daß dieser Duft
verfliegen solle; und sie hielten dabei einer des andern Schulter umfaßt,
vor der Wendung in die Dorfgasse, in der äußersten Minute ihres
Alleinseins. Lola konnte Arnolds Augen nicht loslassen.

»Daß ich mich jeden Abend von dir trennen muß! Du weißt nicht, welche Angst
ich davor habe, schon stundenlang vorher, und wie ich mich des Nachts nach
dir sehne! Könnten wir immer beisammen sein! Uns nie trennen! Sich trennen
ist furchtbar! Du fühlst es nicht wie ich. O! du liebst mich nicht, wie ich
dich. Sehnst du dich nach mir?«

Sie gingen ein Stück Weges zurück, damit er es ihr beteuern konnte. Sie
überlegten das Wagnis, aufs Land zu fahren, einige Tage sich ganz zu haben,
sich keine Minute zu lassen.

»Keine Minute! Ich werde keine verlieren, ich werde nicht schlafen!«

Sie besprachen es täglich, nannten immer neue Winkel im Lande, die sie
verbergen konnten, berieten über die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu
werden. Lolas Jungfer mußte wohl an Pardi berichten; er hatte geschrieben
und Andeutungen gemacht, als ob er etwas wisse. Vielleicht drohte er aufs
Geratewohl? Er verhieß auch längst sein Kommen, und kam nicht. Ende Juni
fand sie ihn plötzlich, wie er im Zimmer auf- und abging. Die Dienstboten
hatten sie heimkehren gesehen und geschwiegen; sie erschrak heftig. Er
erklärte auffahrend, einmal Ordnung schaffen zu wollen. Eine Frau, die
nachts ausgehe, sei nicht auf guten Wegen. Lola erwiderte, noch mit
Herzklopfen, sie sei keine dieser Frauen hier; ihre Freiheit, sich zu
bewegen, habe sie seit der Heirat nicht aufgegeben. Er hatte plötzlich die
Fäuste an den Schläfen; er krümmte sich und pfauchte.

»Wenn ich wüßte! Wenn ihr nicht so schlau, so kalt und schlau wäret! Jemand
fassen! Ich weiß wohl, wen. Zweifle nicht! Aber du bist eine Fremde: du
versteckst die Deinen gut. Immer greift man bei ihr in Luft! Immer ist sie
gewappnet!«

Er ließ sie zwei Tage nicht aus den Augen, durchwühlte alles, verhieß ihr
den Tod, wenn er je Beweise finde; und mitten aus wütender Wachsamkeit
heraus, war er wieder verschwunden. Die Sarrida gab ihm wohl noch zu viel
zu tun; seine eheliche Ehre hatte nur nebenbei und in Eile ein wenig
befestigt werden können.

Lola eilte sofort zu Arnold: nun wollten sie reisen! Pardis Dazwischenkunft
hatte ihr erst gezeigt, was sie versäumt haben würden. Er hatte sie empört
und verwegen gemacht.

»Was kommt, ist alles gleich; aber diese Tage in Abetone wollen wir haben!«

Am Morgen folgte sie Arnold, der in Pracchia übernachtet hatte. Sie stieg
aus, bevor er sie sehen konnte, und im Vorbeistreifen flüsterte sie ihm zu:

»Keine Bewegung! Ein Bekannter ist in der Bahn!«

Sie fühlte sich sicher in aller Erregung; erhöht, über alles hinaus, und
dennoch dankbar und ihm hingegeben bis zu Tränen. Im kühlen Saal des
Gasthauses, hinter ihrem gefärbten Eiswasser, bewegte sie leise den Kopf.

»Daß ich dich wiedersehe!«

Lachend mit feuchten Augen:

»Seit gestern abend nicht! Die ganze Stadt ohne dich!«

In den Korbsesseln der Halle fächelten sich feucht beperlte Frauen, und
weißgekleidete junge Leute versahen sie, bei aller Hitze, mit Komplimenten,
als entschlüpfte ihnen das Herz. Draußen auf den Bänken lungerten andere,
in der weißen Sonne, dem Bahnhof gegenüber, am Fuß des grünen Appennins,
den sie unbestiegen ließen.

Lola und Arnold fuhren hinauf. Ihre Straße umschlang weite Täler mit
Dörfern, laubversunken, beschrieb den Rand rauschender Mühltäler, ließ
Täler zurück, die kahl zu Füßen eines Trümmerschlosses schmachteten. Die
leichten Schritte der Esel erstiegen, zum Geschrei derer, die sie trugen,
drüben den Schlangenpfad; Staub fegte auf vor grellen Wirtshäusern; und am
stumpfen Grün der Waldzinnen brach sich die heiße Himmelsflut. »Dort oben
werden wir glücklich sein!« Von der Höhe rieselte manchmal, mitten durch
die Mittagsluft, ein dünner, kalter Hauch. Dann schlossen sich
Fichtenmauern, hoch, still. Von den Hufen klappte ein Echo nach.

»Im Hotel lassen wir nur unsere Sachen; noch sind wenige Leute hier; nun
haben wir den großen Wald: wir wollen ganz bis in die Tiefe . . . O! die
Quelle! Wir wollen uns hinlegen: deinen Kopf in meinen Schoß. Hast du mich
lieb? Nun sind wir hier. Heute abend brauchen wir uns nicht zu trennen.
Dieser Tag hat kein Ende.«

. . . »Ich mag nicht essen: wollen wir weitergehen? Ich habe solche Unruhe;
mir ist immer, keine Minute sei so lang, wie sie sein müßte. Bleib stehen,
sieh mir in die Augen! O! wohin sind wir gelangt? Dies ist der Appennin aus
den Geschichten, dies ist das Räubergebirge. Schleicht es nicht durch die
Schlucht? Farren und Fichten: ein Drunter und Drüber. So war es hier auch
vor tausend Jahren. Laufen wir hinab? Lauf! O, du läufst schlecht! Hol' mir
die rote Blume, willst du? Die einzige kleine rote Blume am Abhang. Nein,
du kannst es nicht. Laß! Verzeih, daß ich so dumm gebeten habe!«

»Kehren wir um? Schon dämmert es . . . Da ist eine Bank: erzählst du mir
etwas? . . . Du quälst dich, glaube ich, recht sehr, um etwas für mich zu
finden. Ich höre nicht zu? Ja, diese Unruhe. Ist es die hohe Luft? Dort bei
den Obelisken steht es geschrieben, wie hoch wir sind. Denke dir den
kleinen Florentiner Tyrannen, der seinen Namen auf die Obelisken gesetzt
hat, der in Perrücke und gesticktem Frack hier auf dem wilden grünen Rücken
gestanden und ihn eingeweiht hat. Da lies! Die Straße führt in die
Lombardei. Es dunkelt, und wir gehen nun in die Lombardei. Wie das klingt!
Nach ganz alten, merkwürdigen Gefahren und Abenteuern. Und wir haben kein
Geld, kein Dach, sind allein auf der Welt und müssen uns durchbetteln.
Möchtest du's? Sag'! für mich?«

»Alles möchte ich für dich tragen: ohne dich zu besitzen. Ich liebe dich zu
sehr, um dich besitzen zu wollen.«

Lola lies seinen Arm los; sie senkte die Stirn. Nach einer Weile:

». . . Nun ist's Nacht. Wohin nun mit uns?«

»Lausche, Lola! Lausche auf das Wogen der Schatten im Tal, und auf das
leise, mondleise Geläut der Gipfel, die fern daraus aufschweben! Wir
hören's, weil wir uns lieben. Und hebe das Gesicht zum Himmel, zu diesem
Becken voll weißen Sternenfeuers, woraus Funken spritzen! Vergehen wir
nicht darin, wir, die vom selben Feuer sind? Fühlst du dich nicht
aufgelöst? Schwinden dir nicht Sinne und Kraft?«

»Mir ist bange. Wie wird's sein, wenn wir uns nicht mehr lieben?«

»Kannst du dir's denken?«

»Dann müssen wir uns doch trennen? Wir wollen aufrichtig sein, hörst du?«

»Lieben wir uns denn nicht? Du weichst zurück? Besinne dich! Lola!«

»Ist das Liebe? Die geschwisterliche Zusammengehörigkeit, die wir fühlen?
Warum liebst du mich? Was willst du? . . . Ach nein, ich quäle dich. Komm
lieber hier hinab, wo das Wasser rauscht. Da hört man seine Gedanken nicht.
Mitten in den Bach: die Steine sind schlüpfrig, wir können stürzen und
fortgerissen werden. Sage: würdest du für mich sterben? Ja? Ganz sicher?
Ach ja, du würdest dich vielleicht fallen lassen, dich vom Wasser ergreifen
lassen. Aber würdest du dich erschießen? Sage auch das! Die Waffen liebst
du nicht, wie? . . . Oder würdest du . . .?«

Sie schüttelte sich; neugierig und böse, überschlichen lauter Bilder seines
Sterbens sie. Hilfesuchend, drängte sie sich an ihn.

»Lieber! Ach, verzeih! Ich will keinen Helden. Du brauchst nicht, wenn
einmal unser Pferd scheut, den Wagen umzuwerfen, damit ich auf dich falle
und gerettet bin. Ich verachte den Helden! Ich verachte den Mann, der an
meinen Körper denkt und an das Kind aus meinem Körper. Wir wollen keins.
Wir haben beide in der Liebe nicht die Einfachheit derer, die eine Rasse
fortzusetzen haben.«

»Lola, ich liebe dich.«

»Mir ist auf einmal das Wort so fremd. Worauf soll ich mich verlassen? Wäre
die Welt nicht so weit und treulos. Was heißt's, daß wir uns lieben? Sieh,
jenen blauen Berg umkränzen weißliche, und steigen wir hinüber, erwartet
uns das Meer. Vorgebirge entschleiern sich, eins ums andre, dem, der
wandert; den Küsten folgen Küsten; die Vogelschwärme ziehen, und die Städte
liegen versammelt unter Wolken, die sich auflösen, wie die Schwärme sich
auflösen werden, wie die Städte sich auflösen werden . . . Warum liebst du
mich, und nicht eine Fremde, dort hinten?«

»Lola, welch kläglich einsames Lächeln! Du tust mir sehr weh. Deine Augen
zucken so voll Angst hin und her, als grüben sie sich, leise und stumm,
durch meine hinab. Dringst du endlich bis zu meinem Herzen vor? Öffnet es
sich dir? Nein? Du seufzest? Es ist unmöglich? . . . Was murmelst du?«

»Ich liebe zu sehr. Wie solltest du so lieben können? Diese Welt, in der
ich keine Heimat habe, kennt solche Liebe nicht. Ich verstehe, daß Frauen
meinesgleichen sich Christus verlobten. Nur ihm durften sie trauen. Ich,
die nicht gläubig bin, sollte ein Bild, eine abwesende Seele lieben . . .
Sieh, gerade unter uns, mitten im Hasten des Baches, schließen große Steine
einen Spiegel ein. Wie still er ist! Das Mondlicht zaudert an seinem Rande.
Unsere aneinander gelehnten Gesichter haben in ihm keine Augen mehr: nur
Schatten, die verfließen. So war neben dem Schiff, das mich vor langer Zeit
herüberfuhr, in den Wellen ein Gesicht: ja, und manchmal schleifte bläulich
ein Mantel heraus. Die Gottesmutter, sagten die Matrosen; sie begleite uns.
Fast wünschte ich, du wärest nur ein Bild, das im Meer neben mir herzieht.«

Sie stiegen zur Straße zurück, wanderten schweigend weiter. Da hielt Lola
an und legte ihm, schweigend, die Arme um den Hals.

»Was ist dir, meine Lola? Weinst du? Lachst du?«

»Alles war nicht wahr. Du hast es doch nicht geglaubt? Wir lieben uns: das
ist immer der Schluß.«

»Der Schluß des Schicksals. Denn in der weiten, weiten Welt hat es mich
planvoll auf dich zugeführt, Lola. Mein Leben war Vorbereitung auf dich;
mit allem, was mein war, hingst du von je zusammen, warst mein Gedanke und
mein Werk. Ich denke daran, daß einmal eine Idee in mir sich klärte
gemeinsam mit dem Bild einer Wiese. Viele Blumen trug die Wiese; keine von
ihnen hatte ich zuvor gesehen; aber ich wußte: diese da, nur diese ist
verbunden mit dem, was jetzt mein Hirn gebiert, kommt aus verwandtem Stoff
und liebt mich. Lola, deinen Mund?«

Die Straße hatte sich gesenkt, sie stiegen sie wieder hinan. Lola ließ sich
von ihm stützen. Sie ließ ihn seinen Mantel auch um sie breiten. Der Mond
war fort, und schon strich der Bergwind her. Sie setzten sich jenem
Ausschnitt im Gebirge gegenüber, worin ein Schein empordämmerte; und unter
dem Mantel, der unbewegt blieb, drängten sie sich fester zusammen.

»Meine Lola.«

»Ja, ganz dein«; -- inbrünstig. Aber seltsam hoch und süß, wie mit
entrücktem Spott:

»Nein: doch nicht ganz.«

Nun sickerte Röte in die tiefsten Wolken. Vogelstimmen versuchten sich.
Lola und Arnold streiften ihre in Glück und Gram ermüdeten Hände durch
betautes Gras. An den Stämmen des Waldes züngelten die ersten roten
Tagesflammen: sie traten ein, betteten sich aufs Moos und sagten einander,
die Augen geschlossen, daß sie daheim seien.

Sie erwachten; und wirklich, sie sahen sich daheim im Walde: in seinen
Verstecken, vor dem Ungewissen seiner langen Schattenlauben, in seiner
grünen Tiefe, zu der hier und da Sonne hereinglitzerte, als flackere sie
auf allen Seiten und verbrenne den Wald und die in ihm sich liebten. Hier
genossen sie etwas wie Ruhe auf der Flucht, blickten bedächtig ihren
seltsamen Gefühlen in die unerforschlichen Augen und hofften fast, zu
vergessen und dahinzuschwinden . . . Sie traten hinaus: und da hatten die
Berge schon sich aufgelöst ins Licht, und beugte schon die Welt sich unter
einem blau brennenden Himmel.

»Ein neuer Tag!«

Sie merkten erst jetzt, daß sie eine Nacht beieinander gewesen waren: die
erste. Und sie lachten, fielen sich in die Arme und küßten sich Tränen von
den Wangen.

»Wir haben uns nicht getrennt, noch lange nicht trennen wir uns, noch lange
nicht. Wir genießen doch viel Gutes!«

Sie suchten das Gasthaus auf; und da, allein im Zimmer und indes sie ihr
Haar kämmte, mußte Lola denken:

»Wie Pardi ihn jetzt verachten würde!«

Die ganze Nacht unter seinem Mantel, und er hatte sie nicht genommen. Sie
hörte Pardis Auflachen und kämmte, die Zähne zusammengebissen. Der Kopf
schmerzte ihr; sie schrak auf; und im Spiegel sah sie sich rot von Scham.

»Wie? Ich habe mich seiner geschämt? Arnolds? Meines Geliebten? Weil ein
Mensch von niedrigerer Gattung ihn nicht verstehen würde? Versteht er denn
mich? O!«

Nicht schnell genug ließ sich das gutmachen. Hinunter, -- er wartete am
Tisch -- und noch ehe sie sich setzte, ihm die Hand geben und unter den
Blicken des Saales ihm leise und stolz in die Augen sprechen:

»Mein Geliebter!«

                   *       *       *       *       *

Nach fünf solcher Tage, schon im Wagen, der sie forttrug:

»Ach! sieh noch einmal das Haus an, -- und die Obelisken! Werden wir je
wieder diese Straße gehen? Zusammen gewiß nicht. Die Straße in die
Lombardei. Das ist nun aus. Was wird kommen? Mir ahnt nur Trübes.«

»Warum, Lola? Da wir uns lieben?«

Sie senkte den Kopf. Verstand er denn nicht? »Wir haben nun doch gesehen,
daß unsere Liebe uns nicht wohltut, mitten im Glück nicht wohltut.« Aber
sie schwieg. Wie er sie drunten in Pracchia zur Bahn brachte, war sie
unaufmerksam und reizbar. Endlich, noch aus dem Fenster:

»Lieber, komme mir nicht nach! Fahre nach Deutschland! Es ist besser, wir
trennen uns.«

Aber da sie ihn fassungslos erschreckt sah, stieß sie die Tür auf und war
bei ihm.

»Nein! nein! Wie könnte ich's ertragen! Du glaubst doch nicht? Ich sagte
das, weil ich hier so glücklich war. Nimm meinen Fächer! Und daß du ihn mir
morgen zurückbringst! Nicht später als morgen!«

Von ganz fern winkte sie nochmals. Er erwartete es nicht mehr, stand
versunken und atmete das Parfüm ihres Fächers. Lola ließ sich auf den Sitz
fallen und schloß die Augen. Die schwere Luft des Tunnels ängstete sie. Ihr
war's, sie führe dem Verfall entgegen: ihrem und seinem.

Aber sie trafen sich, wie früher, in Vorstädten, bei entlegenen
Landwirtshäusern; schlenderten Hand in Hand durch Schafherden, kleine
Abendbäche entlang und lasen im Schatten von Klostermauern, vor gewellten
Olivenfeldern, in Dichtern. Manchmal überschlug Lola eine Seite und
wartete, daß Arnold nach Pardi frage. »Hat er ihn vergessen? Er nimmt
unsere Freiheit hin, als sei sie verdient. Aber wem verdanken wir sie? Wenn
Pardi zurückkäme --. Wenn er mich zu sich riefe --.« Und etwas Zorniges hob
sich auf in ihr gegen diesen Träumer und sein über dem Buch gesammeltes
Gesicht.

Der Herbsthimmel hatte sich weich und trübe um die Stadt geschlossen: da
kam Pardi.

»Wie wir es nun wieder schwer haben,« klagte Arnold. Nach ihrem
unzufriedenen Schweigen sagte Lola:

»Wir wenigstens machen es ihm nicht schwer. Er darf sich trösten, wie er
mag, für die Sarrida.«

Arnold merkte nichts.

»Ich bin ihm begegnet; mir klopft, ich gestehe es, immer ein wenig das
Herz: als ob ich nahe an einen Raubtierkäfig hinträte. Dennoch sehe ich ihm
gern zu, gestatte mir bei seinem Anblick oft auch eine leichte Sehnsucht,
-- wenn er sich so bewegt und spielen läßt, immer ein Ziel vor Augen, immer
gespannt und bereit. Ich erkenne dann in ihm den Mars von der Treppe der
Uffizien.«

»Das ist wohl interessant?« -- ganz leise; und ausbrechend:

»Aber daß er mein Leben zerstört hat, vergessen Sie! Sie sind kalt! Lassen
Sie mich allein!«

»Ich bitte dich!« Er stammelte, und er lief weiter mit durch den Nebel, wie
ein Hündchen. »Wie magst du auf einmal alles verkennen? Haben wir uns
nicht? Sind wir nicht eigentlich besser daran, unser sicherer, als der, der
sich mit einem unverstandenen Schicksal herumschlägt? Ich liebe dich nicht
weniger, weil ich ihn nicht hassen kann.«

»Doch.«

»Weil ich ihn ansehe, wie ein böses Bild.«

»Sagen Sie das ihm! Sie werden erfahren, daß er kein Bild ist. Kann sein,
daß er Sie tötet. Er wäre durchaus nicht zu fein und bedenklich, Sie zu
töten -- und auch mich. Ach! haben Sie denn kein Blut? Ist es denn nicht
möglich, Sie zum Äußersten zu treiben? Nie könnten Sie etwas tun, was Sie
bei kalter Vernunft nicht billigen würden: etwas Abschließendes, etwas
Gewaltsames?«

»Wenn ich es vorauswüßte, würde ich es nicht tun.«

»Sie haben Recht Sie sind immer klar und vernünftig. Wie sollten Sie etwas
Dummes tun. Gewalt ist natürlich dumm.«

»Ich bin so sehr dein, daß ich auch etwas tun würde, das mich Ehre und
Leben kosten würde, und das ich ohne Überzeugung, nur in deinem Namen täte.
Ich verachte die Gewalt; ich glaube, daß sie uns schlecht macht und die
Dinge nicht bessert. Durch das Tragen einer Waffe fühlte ich mich einst
schlechter werden -- und lächerlich. Denn alles Schlechte, Rückständige ist
lächerlich. Der Gewaltmensch, der Krieger ist eine Karikatur . . .«

»Vorhin begeistertest du dich für den Mars.«

Seine Erregung, seine Widersprüche und seine trotzige Übertreibung
versöhnten sie. Nun seine Stirn zornig gerunzelt war, zerging zwischen
ihren Brauen die Falte. Sie atmete ruhiger, fast glücklich, weil sie ihn
hatte reizen können. Nur nicht immer dieses nüchterne Gleichgewicht, diese
künstliche Ruhe des Schwachen!

Da haschte sie nach seinem Arm.

»Um Gottes willen, wir müssen ausweichen. Siehst du ihn nicht kommen?
Drüben, hinter dem Wagen?«

Aber er stieß hervor:

»Nun geschieht, was geschehen will. Mein Weg geht hier.«

»Du bist kindisch;« und zitternd, die Augen gradaus, folgte sie. Der Nebel
zog sich noch dichter zusammen; sie kamen vorbei.

Lange nachher:

»Du wünschtest den Zusammenstoß?«

»Ja.«

»Wünschest du ihn noch?«

»Nein.«

»Das ist gut. Wir müssen vernünftig sein.«

»Du findest?« fragte er mit einem langen, bitteren Blick. Sie senkte die
Stirn. Ja: was er sagen wollte, war wahr; sie schwächte ihn, wie er sie.
Sie glichen sich, konnten einander nicht helfen, und schleppten einander
nach.

Und zu Hause beweinte sie sich und ihn.

»So redlich er seine Liebe meint: wie lange wird's dauern, und alles ist
nur gewesen, damit er ein Werk daraus macht. Er ist nicht, wie ich, dazu
geboren, von der Liebe sein Schicksal hinzunehmen: sondern damit er innere
Spiele aus ihr gestalte. Er kann nichts im Leben ganz und für immer ernst
nehmen. Noch im äußersten Elend der Seele bleibt er ein spielender Knabe.
Vielleicht, daß eine Tat, eine große Schuld ihn reifen und ernst machen
würde? . . . Aber weiß ich, ob ich sie ihm verzeihen würde? . . . Keine
Hilfe. Ich bin noch immer allein.«

Was tun? Dies hatte schon wieder an eine Stelle geführt, wo es nicht
vorwärts noch zurück ging. Wie oft im Leben hatte sie solche
Aussichtslosigkeit erlitten! Überdruß machte einem alles zweifelhaft: jede
Zukunft, die Liebe selbst. Wozu diente das eine? Warum nicht ebensogut das
andere tun? Lola ward krankhaft unentschlossen, versäumte Zusammenkünfte,
weil sie das Kleid nicht fand, das zum Wetter paßte, und grübelte gramvoll
durch den Tag hin:

»Was ist's: er fühlt diesen Dichter nicht, den ich doch fühle? Dies haben
wir also nicht gemein. Was eigentlich haben wir gemein?«

Rastlos durchforschte sie sich: »Kann ich ihm nicht entkommen?« -- »Nein:
denn ich liebe ihn; trotz allem muß ich ihn lieben.«

»Wollte er mich doch betrügen! Ich würde zu stolz sein, ihn noch zu lieben.
Und auch ihm wäre besser, wir wären uns los. Denn auch er fängt an, mich zu
hassen.«

Er sagte ihr jetzt:

»Du hast wenig an mir: ich weiß es. Du bist sinnlich. Wäre auch nicht deine
Vergangenheit, ich spüre doch immer deine Verachtung, weil du mir nicht
gehörst. Die Verachtung des Weibes für jeden, der sie nicht umwirft und
nimmt. Welche Selbstverachtung!«

Seine Härte erleichterte sie; sie haschte demütig nach einem Blick des
Grams und des Zorns; sie antwortete zart:

»Ich quäle dich, Lieber.«

Und sie verziehen einander.

»Daß wir uns zanken müssen! Als ich dich wiederfand, glaubte ich, nun wäre
auf immer Friede. Du Lieber, wir verstehen uns nicht, selbst wir nicht.
Noch lieben wir uns; jetzt sollten wir uns trennen. Noch würden wir
einander nur Gutes hinterlassen.«

Sie hielten einer des andern beide Handgelenke, und sie sahen sich bleich
und bebend in die Gesichter.

»Ich will nicht, daß du noch länger leidest. Ich will, daß du mich lieb
behältst. Wir wollen uns trennen.«

Mit Wildheit sagten sie sich, wie glücklich sie einander wissen würden,
fern voneinander. Und endlich mußte jeder an des Gefährten Schulter seine
Tränen verstecken.

»Ich habe keine Geistesgegenwart,« sagte Arnold, »und mißverstehe dich oft.
Nachher, allein, sehe ich eine deiner Gebärden wieder und weiß, was sie,
trotz deinen Worten, sagten.«

Lola erwiderte:

»Ich bin ein schwieriger Charakter; ich werde dich sehr unglücklich
machen.«

Und er:

»Gleichviel: du brauchst Liebe; und ich will lieber für einen andern
leiden, als durch und für mich selbst.«

Seufzend sahen sie auf. Der Sonnenuntergang türmte sich als geröteter Rauch
wild über den Hügeln. Sie wandten sich und fanden drüben, in
monddurchträumtem Nebel, andere, müde und gütige. Hinter den leisen
Lichtern dort war wohl Friede. »Wir werden Frieden haben. Wir müssen ihn
finden, denn wir werden voneinander nie loskommen.«

Das Schicksal, das sie verband, hatten sie immer neu zu begreifen, mußten
einander durch schlimme Wetter schleppen, vor allen Blicken ihre Liebe
bergen und dabei an ihr zweifeln und am Grunde der Glücksstunde schon die
Tränen rinnen hören.

Manchmal versuchten sie es, einander auszuweichen. Lola betrat tagelang
nicht die Straße. In einer Dämmerstunde vor Weihnacht fand sie ihn neben
ihrer Tür.

»Verzeih' mir, daß ich mich an dein Haus gelehnt habe. Es ist schon dunkel
genug; und ich war so müde. Aber ich wäre bis morgen auf deiner Schwelle
geblieben: bis du gekommen wärest. Warum kommst du nicht mehr?«

Sie vergaß alles; sie zog ihn hinter das Tor und faltete die Hände um
seinen Hals. Geräusch auf der Treppe scheuchte sie von seiner Brust auf;
sie entwichen.

Unter den starken, schwarzen Häuserfesten der hallenden Straße schlichen
sie hin, trennten sich, bevor das Gewimmel der Alten Brücke sie über den
Fluß trug, und führten jenseits einander durch ein Kreuz und Quer von
Gäßchen, die Plätze zu umschreiben, den Hauptwegen auszuweichen. Sie gingen
einsam und mitten auf dem engen Pflaster, das kein Trottoir säumte. Im
Licht armer Läden streifte manchmal einer verlangend und traurig das
Gesicht des andern. Die Tür einer Kneipe flog auf, und sie hielten den
Schirm zwischen sich und jene Augen . . . Unter dem Schwebebogen der Via
della Morte:

»Sollen wir nicht ein wenig ausruhen dürfen? Wir sind durchnäßt.« Sie
wagten sich in ein dürftiges Café. Die Glastür wankte klirrend; drei
Kartenspieler sahen ihnen gespannt entgegen; und sie drückten sich hinter
den Pfeiler.

»Wir haben Ruhe, wir sind geborgen. Draußen ist's schlimm für uns.«

Er trocknete ihr Gesicht und Haar, -- und er erzählte ihr, daß eine andere
Frau vor langen Jahrhunderten eben hier durch solche schlimme Nacht, wie
sie, gegangen sei: Ginevra degli Amieri, die im Dom auf einer Bahre
erwachte, in ihrem Totenhemd zu den Menschen zurückwollte, aber nicht bei
Gatte und Eltern Einlaß fand, nur bei ihrem Geliebten.

»Sie hatte sich ihm immer versagt?« wiederholte Lola. »Auch ihnen also
fehlte der Mut? Aber nach ihrem Tode war er ihre Zuflucht. O! du würdest
mich lieben, wenn ich tot wäre.«

Er sagte zitternd, wie sehr er sie liebe, und sie lächelte trübe an ihm
vorbei.

»Wir haben das Gute gehabt, das uns bestimmt war. Denke an unsern Frühling,
an den Tag in Monte Turno. Mein Gott, daß das Leben einmal so süß und rein
war! Wären wir damals gestorben! Wie nun alles sich unheilvoll anfühlt! Ist
jemand an der Tür? Ach, mein Herz klopft bei jedem Windstoß.«

Und Arnold, tonlos:

»Es ist wohl wahr, wir haben ein gehetztes Dasein.«

Räderrollen ward lauter; sie unterschieden den Hufschlag zweier Pferde. Der
Wagen hielt vor der Tür; Wirt und Kellner sprangen auf der Straße umher.
Aus dem Wagen kam undeutlich eine Stimme, man solle dem Kutscher ein Glas
Punsch bringen. Er bekam ihn; und draußen -- die feuchte Luft strich herein
-- blieb es still, stockende Minuten still. Lola hatte die Hand auf dem
Herzen. Die andere hielt Arnolds Arm gepackt; und Lola beugte sich, hinter
dem Pfeiler hervor, langsam und bebend, bis in die Tür.

»Ich kann nicht mehr, ich muß sehen --«

Da riß sie sich zurück; er fand ihre Augen wie Geister blaß und irr; -- und
dann sah auch er: dort stand der Wagen des Hauses Pardi.

Lola hob sich, zagend, vom Sitz; Arnold legte ein Geldstück hin; und ohne
einander loszulassen, glitten sie hinaus. Das Fenster des Wagens war
verhängt. Der Kutscher schlürfte und sah gradaus. Sie hatten den Wagen
umgangen, sie konnten fliehen . . . Das Fenster war verhängt? Lola stand
und zauderte, halb gewendet. Dann sagte ihrem Genossen ihr krank
herbeischleichender Blick, daß sie sich ergebe. Jener dort solle
zuschlagen, endlich zuschlagen. Die Neugier des Opfers war über sie
gekommen, die Lust nach dem Opfer. Er sah sie an und erbleichte.

Sie setzte den Fuß an; sie erreichten drüben das Fenster: es stand offen;
lautlos neigten ihre beiden Gesichter sich darauf. Und ihre beiden
Gesichter empfingen die Atemstöße derer, die dort innen umkrampft lagen,
sich wanden und zuckten. Lola bewegte die Wimpern nicht. Ohne Eile richtete
sie sich auf; Claudias von Lust gebrochene Augen waren noch immer, ohne zu
verstehen, an ihr; -- und Lola und Arnold gingen ungedämpften Schrittes von
dannen, hinaus in Regen, zeitlose Stille und totes Menschengewühl, durch
Vorstädte mit elendem Lichtflimmern im Pflaster und endlos weiter auf einer
braunen, müden Landstraße ohne Lampe, ohne Stern . . . Arnold tastete nach
Lolas Arm und stützte ihn. Ihre Schultern sanken im Gehen zueinander. Sie
empfingen mit ihren Schläfen den Regen, stießen fremd an Steine und gaben
ihre willenlosen Stimmen der leeren Weite hin, die sie trank.

»Meine arme Geliebte!«

»Mein armer Geliebter!«



V


Lola fieberte, schon die zweite Nacht. Sie fühlte sich als Kind und auf der
Großen Insel. Feenlicht in stiller Runde, über Meer und Garten; und hielt
man ihm nur das Gesicht hin, war's einem, man lächele. Weite Blumenkelche
schwankten bedächtig, und Lola gab ihnen Namen: jedem einen längst
befreundeten Menschennamen. Da tat aber ihr Herz einen Sprung, die schöne
Luft ward schwer; Lola wollte laufen, laufen, und blieb stecken in der
Luft; wollte schreien und hörte sich nicht. Sie atmete auf: dort saßen um
ihren Suppenkessel die Schwarzen. Alles war gut, die Boa war verschwunden,
Lola war ihr entronnen. Ein starker Schwarzer hob sie den Kessel hinan, sie
tauchte ihren Löffel ein und sah stolz umher, wie alle ihre blonden Locken
bewunderten. Und nun schlug eine Stimme an: o, jene Stimme, bei der man vor
Liebe zitterte und sprang; und aus den Bäumen trat die große, ernste
Gestalt. »Pai! Pai!«

Sie erwachte, die Hände hingestreckt und auf den Lippen ein Lächeln. Aber
ein fremdes Gesicht bewegte sich auf ihres zu; sie schrak zurück:
»Claudia!« -- und sie bedeckte die Augen und stöhnte.

»Ich erschrecke dich wohl, Lolina? Ach, sieh mich an, ich flehe darum!
Wirklich? Ich mache dir Grauen. O, du hast recht, ich bin grauenhaft, und
ich will gehen.«

Alles war wieder da; nichts half es, die Lider zuzudrücken. Dahinter
schimmerte dennoch, wie aus dem Dunkel eines Wagens, Claudias Gesicht, mit
den von Lust gebrochenen Augen. Und auch er war zurückgekehrt, der
unfruchtbar Geliebte. Das Schicksal war zurückgekehrt.

»Du bringst mir Nachricht von ihm?«

Claudia blieb scheu dorthinten gegen die Wand gedrängt, als wollte sie
hindurch. Sie stammelte:

»Warum bist du krank geworden? O! ich bin eine Verbrecherin. Wollte doch
Tullio mich umbringen, mich endlich umbringen! Ich habe dich gesehen, Lola,
als eine Erscheinung: ich darf dir nicht sagen, wann. Du erscheinst mir
oft: ich darf dir nicht sagen, wann.«

»Bin ich dir erschienen, Claudia? Ach, laß das! Es wird nicht wahr sein;
denn ich glaube nicht, daß meine Seele von mir fortschweifen kann. Sie
sitzt immer über sich selbst gebeugt. Du verstehst das nicht. Hat er dir
Aufträge gegeben?«

»Nur, daß er sich sehr um dich ängstet. Er hat es nicht gesagt: ich sah es.
Aber nun wirst du genesen, Lolina. Ich will ihm sagen, wie gut du
aussiehst.«

»Tu' es nicht! Sage ihm, ich werde sterben . . .«

Sie sann müde. »Er verdient es. Wenn ich tot bin, wird er bereuen. Dann
wird er mir alles geben wollen, als lebte ich. Jetzt liebt er mich nur so,
wie man eine Tote liebt. Vielleicht gibt es ein Jenseits? Dort sehe ich
seiner Liebe zu und freue mich meines Todes.«

»Ja,« sagte sie, »ich wünsche mir sehr, zu sterben. Niemand weiß, wie gut
das wäre.«

Claudia kauerte am Boden und haschte mit den Lippen nach Lolas Hand.

»Du bist weich und unschuldig, meine Claudia; ich habe dich gern. Aber geh'
nun, ich bitte dich, -- und sei unbesorgt. Ich werde wohl nicht sterben: es
wäre zu viel Glück. Nur träumen darf ich. Vorhin träumte ich, und da war's,
als sei noch nichts geschehen, von allem Schlimmen noch nichts.«

Noch wachte sie, und fühlte sich doch ganz deutlich aus dem Meer steigen:
über große flache Steine und auf den Strand. Er war nun leer; und das
schwarze Laubdach, unter dem sie hinging, blitzte oben weiß vom Mond. Sie
wußte sich allein auf der Großen Insel: die Blumen im Mondlicht sahen aus
wie Seelen, -- und da erinnerte Lola sich, sie sei gestorben. Dies war das
Jenseits; und doch lag es auf Erden, und wer sie sehr liebte, konnte sie
einholen und es ihr sagen. Sie vermochte nicht zu sprechen, aber sie
erriet, was drüben geschah: erriet seine Sehnsucht und lauschte lächelnd
übers Meer hin . . . Nun war er da. Noch fand er sie nicht, sie aber spähte
schon bis in sein Herz und sah es bereit, mit ihrem auch den Tod zu teilen.
Sie dachte: Hier bin ich! Komm! -- und da war er unter ihrer Palme; ihre
Hände streiften sich, seine Wärme rann ihr ins Herz und erweckte sie. Ein
Schrei: sie schrak auf.

Er liebte sie! Das Glück dehnte in ihr seine großen Flügel. Weich ward sie
gehoben, schloß wieder die Augen und ließ sich tragen. »Nun bin ich seiner
gewiß, -- da er mir bis hierher gefolgt ist. Nun liebt er mich mehr als
sein Leben.«

Träume mußten es ihr beweisen; -- und sie erhielt sich im Traum von ihm,
fand es süß, seiner zu denken und ihn nicht zu sehen. Längst ging sie
wieder umher und wollte doch den Brief, den Claudia für ihn verlangte,
nicht schreiben. Ihr Traumgespinst wäre durch Worte zerrissen worden. Er
hätte sie enttäuscht. Als sie ihn wiedersah, war's Zufall, und sie
erschrak. Er begegnete ihr sanft und reuevoll, -- und in ihr wallten Tränen
auf. Warum schalt er sie nicht? Er mußte wissen, daß sie gestern große
Gesellschaft bei sich gehabt hatte. Sie sah alle Welt, nur ihn nicht; er
aber blieb gütig.

»Mein Mann ließ mir keine Ruhe,« sagte sie, und da sah sie ihn aufzucken.
Also brauchte jetzt nur Pardis Name zu fallen, und er war getroffen und
sank in eifersüchtiges Grübeln?

»Er ist ruiniert,« sagte Lola mit Herzklopfen; »um sich zu halten, bleibt
ihm nur, daß er sich wählen läßt. Und da die Kammer aufgelöst ist --. Aber
du hörst nicht zu?«

Er stammelte. Nein: sein Zorn, sein Haß waren wieder ausgewichen. Die
Eifersucht machte ihn nur noch verlegen. Lola sagte gereizt:

»Warum schiltst du nicht? Ich bin schlecht.«

»Du warst krank. Ich habe dich zu lieb . . .«

Immer diese Gerechtigkeit. Hätte er den Herrn gezeigt -- wie der andere! In
ihrem Zimmer träumte sie davon: auch davon. Er befahl ihr, und sie
arbeitete für ihn. Denn sie waren arm, waren entflohen und lebten in einer
Hütte: sie seine Magd. »Wie ich dich liebe! Schlage mich!« Sie saß, in
ihrem Sinn, zu seinen Füßen; und wie sie zu ihm aufsah, schob seinem
Gesicht sich, und sie wußte es kaum, Pardis unter. Als sie es merkte,
vertrieb sie's. Noch oft kehrte es wieder, statt des gerufenen. Und
mehrmals erwachte sie und bebte noch davon, daß sie in Armen gelegen hatte,
die der Geliebte ihr geöffnet und der Gehaßte um sie geschlossen hatte.

»Warum suche ich nach allem Leiden, das jener mir auferlegt hat, in Arnold
doch wieder den anderen? Bin ich denn wirklich unheilbar? Ach, wollte mein
Geliebter mich erlösen! Eine Tat! Ein Zugreifen!« Sie wußte nicht, wie,
wollte es nicht wissen. Es war seine, des Mannes, Sache. Er hätte handeln
sollen trotz ihr, und wenn sie selbst ihm auch die Hände festhielt. Sie
irrte durchs Zimmer. Vielleicht lag alles daran, daß er sie nicht nahm? Er
verstand sie nicht, er war ein schlechter Seelenkenner. Sie sträubte sich,
sie hatte Bedenken: welche Frau hatte sie nicht. »Ich bin eine gewöhnliche
Frau!« Er ließ sich täuschen, er war lächerlich vor Zartgefühl. Wäre er
einen Augenblick ganz Mann gewesen! Es blieb wider die Natur, daß sie, die
sich alles gegeben hatten, einander die Körper versagten. Daraus kam diese
Sucht, einander zu quälen, diese Feindseligkeit im Sehnen, diese Träume,
die ins Irre und Verderbte schweiften. Sie legte Claudia eine zornige
Beichte ab.

»Wir Frauen erfinden Gott weiß was, zu unserer Verteidigung. Du weißt
selbst, daß wir's übel nehmen, wenn man es gelten läßt. Er aber läßt alles
gelten. Ich bin noch immer nicht seine Geliebte. Du hast es mir früher nie
geglaubt und wirst es auch jetzt nicht glauben: wie könntest du. Aber es
ist so.«

Claudia spähte in Lolas Augen, ob dies die Wahrheit sei. Sie war sprachlos.
Dann schob sie den Mund vor; die anstürmenden Worte blähten ihn; und
plötzlich erbrachen sie ihn. Arnold war ein elender Feigling; er sollte
eine Schürze vorbekommen; Lola konnte sich von ihm ihr Schlafzimmer
aufräumen lassen. »Ah! auch dies laß ihn tun, --« und Claudia machte eine
Gebärde. Vor Entrüstung ward sie unanständig. Übrigens beteuerte sie, sie
habe Arnold nie getraut. Er sei kein Mann. Seine Augen mißfielen ihr.
Erschreckt griff Lola ein, erklärte und suchte gutzumachen.

»Ich wußte wohl,« gab Claudia zu, »daß ihr anders seid, als wir: du eine
andere Frau, er ein Mann, nicht wie die unseren. Ich verstehe eure Sachen
nicht, ihr müßt selbst zusehen.«

Aber ihre Phantasie war nun umgelenkt. Claudia bewegte langsam ihren
kleinen Kopf und verdrehte, vor schmerzlicher Bewunderung, die großen
bräunlichweißen Tieraugen.

»Ihr seid Engel. Wir gewöhnlichen Menschen können euch nicht nachahmen, ihr
aber seid Engel. Tröste dich, Lola: deine Leiden werden dir mit himmlischen
Freuden vergolten werden, für meine aber bin ich verdammt. Ach! weine
nicht, Lolina. Was soll dann ich tun?«

Lola wandte sich ab. Sie erkannte das Leiden anderer nicht mehr: ihr
eigenes hatte alles verdunkelt. »Und wenn es ein Jenseits gäbe,« dachte
sie, »es wäre dennoch leichter, sich mit allen anderen verdammen zu lassen,
als ganz einsam selig zu werden.«

                   *       *       *       *       *

Sie forderte von Arnold:

»Sei ein einziges Mal leichtsinnig! Bist du mir nie untreu gewesen? Hast du
dich je geschlagen? Ach nein, -- aber so verschwende doch irgend etwas!«

Er war gar zu sparsam: mit dem Seinen und mit sich. Sie warf ihm, wenn sie
grübelte, vor, daß er ihr nie ein Geschenk gemacht habe. Pardi hatte für
die Sarrida Hunderttausende fortgeworfen, -- »aber auch für mich war er
immer bereit: ich brauchte nur Launen zu zeigen. Ein Gericht zu viel machte
ihn wütend; aber er hätte mir eine Yacht gekauft. Wem eine Frau nicht das
Geld wert ist, dem ist sie schwerlich das Leben wert. Arnold ist mäßig und
vernünftig; seine Tugenden sind sehr bürgerlich . . .«

Und hingen nicht ebenso bürgerliche Untugenden mit ihnen zusammen? »Seine
Kälte und seine Art, Menschen anzusehen! Ach! er wird niemandem unrecht
tun: nicht durch blindes Lob und nicht durch Verleumdung. Er zerlegt und
begreift. Er kennt nicht Freund noch Feind: nur das kleine selbstsüchtige
Vergnügen des Durchschauens. In dem Gerechtigkeitssinn dieser Schwachen,
wie viel kleinliche Bosheit! Pardi: o, dem wird's heiß, der liebt und haßt;
und wen er nicht ersticht, den hält er gradaus für einen Ehrenmann. Bei dem
würde man selbst wissen, wer man ist, würde seiner selbst sicher und
geborgen sein . . .«

Und sie dachte der Zeit, da sie's war. »Das einzige Gute war doch das
Sinnenglück: damals, wie ich jung war.« Das schien Jahrzehnte her. Sie saß
in wehmütigen Erinnerungen, wie eine Greisin. Plötzlich eine Wallung, daß
die Luft zu flimmern schien, -- und sie bebte vom Gefühl abenteuernder
Jugend, vom Gefühl des Lebens von damals. Noch immer war's da, ging aus und
ein mit dem Mann, und war toller als je. Ein Schritt nur! Das andere
vergessen können! Pardis Untergang mitmachen! Sein ganz und für immer
verwirrtes Schicksal teilen, dies von jeder Verantwortung, allem Denken
befreite; lieben und betrügen, sich durchschlagen, Hunger haben wie ein
Tier und tafeln wie die Götter, gehetzt werden und atemlos lachen. »War ich
nicht schon früher etwas wie eine Abenteurerin? Ich gehöre zu ihm. Was er
mir zu bieten hat, kommt mir zu.«

Dann fing sie einen Männerblick ab, der sich auf eine Frau niederließ, und
ihr ward kalt. Die unkeusche Wirkung dieser Frau, die Unkeuschheit unter
ihren Kleidern, hinter ihren Augen, die Unkeuschheit, die ihr Gedanke, ihr
Zweck, ihre Funktion war, machte Lola erstarren vor Ekel und Grauen. Sie
selbst war, in ihrem Bewußtsein und Willen, diese Frau gewesen! Sie fühlte
sich nackt unter allen Menschen und verlor den Kopf.

Der Spalt, der von jeher durch ihr Leben schnitt, war weit aufgerissen, und
Flammen schlugen heraus. Ihr verstörtes Innere warf, durcheinander, alle
Triebe empor, brachte alle Bilder zurück. Sie hätte auf einem kalten Meer
mit Arnold Schiffbruch erleiden mögen. Aber das Polster eines Wagens
erschien ihr und zwei Gestalten, die sich umkrampft hielten und zuckten.
Sie töten! Ach! dies erlösende Wort. Wie kam es denn, daß diese Claudia
noch lebte, daß Lola ihr die Hand reichte, ihr ihren Namen gab -- »Claudia«
-- als dürfe sie leben? Beide töten! Gereinigt war dann alles und still.

Wie sie sich im Qualm ihres blutigen Traumes betraf, fielen ihre Züge
zusammen, und sie schloß, sich zu fliehen, die Augen. Sie verachtete ihr
Wüten, das Wüten der Ohnmacht, und verachtete die Stunden der Sehnsucht,
rein zu sein; denn immer schlugen tierische Dämpfe hinein. Sie litt Abscheu
vor jeder ihrer Regungen; alle deuchten ihr uralt, verbraucht und
vorauszusehen; die Gedanken abgespielt, die Empfindungen schal und
verderbt. Sich los sein! »Da ich nie wissen werde, wozu ich geboren bin:
lieber nichts mehr wissen!«

Ein Ausweg: sich beschränken, Ansprüche und Gedanken abwerfen, ihre Kraft
nur mehr gebrauchen, um zu erhalten, was im Zusammensturz aller Dinge,
ihrer Liebe und ihres bürgerlichen Daseins, noch stand. Sie machte sich an
eine genaue Beaufsichtigung des Haushaltes, wollte sparen, kleinlich
sparen. Was half's, da Pardi die letzte Habe zu Geld machte und es
verstreute. Ein Fremder kam ins Haus und verhandelte über den Preis der
Verkündigung, draußen an der Fassade. Lola sprach lachend davon zur Tochter
des Präfekten und fühlte sich gerettet, als am Abend drunten eine Wache
stand. Pardi deklamierte vor den Freunden, die hereinströmten. Ob die
Verkündigung sein sei, oder der Nation. Warum die Nation, anstatt nur den
Verkauf zu verbieten, ihm das Kunstwerk nicht lieber gleich wegnehme. Lola
mischte sich heiter ein.

»Was er für Einfälle hat, wie, meine Herren? Wenn du das Bild nicht sehen
magst -- auch ich habe es satt --: warum muß dieser Amerikaner es haben?
Warum nicht das Museum?«

»Einfalt! Weil es nur die Hälfte dafür gibt. Und meinst du, eine Wahl sei
umsonst? Zehntausend Wähler wollen bezahlt sein, jeder mit fünf Lire, und
die großen kosten mehr. Aber ich mache es; wir haben gewettet: wie, Marco,
Carlino? Ihr sollt sehen, ob ich noch der Alte bin.«

Er verbreitete sich, lockeren Herzens, nach allen Seiten, feuerte
Sympathien an, zauberte einen ganzen Garten von Leichtsinn und guter Laune
aus all diesen Gesichtern. Musik näherte sich, und eine Schar Volkes, vom
Fürsten Valdomini geführt, schrie zu den Fenstern herauf, daß Pardi leben
solle, und daß seine Feinde sterben sollten. Und sie machten sich über die
beiden Carabinieri her, die die Verkündigung bewachten. Pardi war schon
unten und fiel den Angreifern in den Arm. Er sprang auf die Stufen zum Tor
und redete: etwas wesenlos Begeisterndes, wovon die Augen ringsum zu
blitzen begannen. Dann, die Hand nach der Hausecke gestreckt:

»Dort in meinem Keller wird euch mein Wein für fünf Soldi verkauft. Ihr
wißt, daß das wenig ist. Von heute ab aber sollt ihr ihn für drei haben.«

Er war auf einmal in einem Sturm von Händedrücken, ward auf Schultern
gehoben und zum Weinkeller getragen. Das Gelage dauerte lange; Lola sah,
allein zurückgeblieben, daß auch die Wächter sich hinziehen ließen. Und am
Morgen gafften Bürger die nackte Hauswand hinan. Die Verkündigung war fort.

Pardi stand inmitten aller Diener und lachte, daß es ihn bis auf die Knie
beugte.

»Ah! Geld wollt ihr?« rief er den aufgeregten Eindringlingen zu. »Ich habe
keins: weniger als gestern. Denn meine Madonna hat man mir gestohlen.«

Er hatte keins. Längst waren die Summen, die er noch erraffte, nutzlos
dahin, bevor sie eingingen. Pardi focht nur noch, um zu fechten und mit dem
Bewußtsein, auch den Fußbreit Boden, worauf er sein Florett führte, werde
er aufgeben müssen. Er scheute nicht mehr Ungesetzlichkeiten noch
Unzartheiten: blieb ihm nur die furchterregende Gebärde, die große Maske,
der alles erschütternde Abgang. Er war dabei, seinen Rest bürgerlicher Ehre
abzustreifen, und behauptete um so wuchtiger die des Helden. Wegen eines
Hemdes, das er einem Freunde aus der Kommode genommen und sich angezogen
hatte, kämpfte er ein Duell. Und am Abend vorher war er bei erhöhter Laune,
versprach Lola eine Reise nach Paris und lobte sein Leben. »Wie viel
Tätigkeit! Wie viel Bewegung!« Indes er in Versammlungen auftrat, mit dem
Waffenkasten vors Tor fuhr und täglich Frauen kraft seines ganzen Feuers,
als brenne es nur dafür, in allen Winkeln der Stadt Frauen im Dahinstürzen
mit sich riß, hatte er durch Laufen, Lungern, Kartenspiel und Drohungen den
Sturz seines Hauses hinzufristen, zwölf Stunden noch, und noch zwölf.

Lola kam, wie sie ihm zusah, in zitternde Bewegung. Sie konnte nicht
schlafen, dachte sie an das feurige Leben, das er Tag und Nacht unterhielt.
In welchem trüben Grau schlich man mit Arnold dahin! Pardi war
bewundernswert. Mit einer todverachtenden Freude sah sie ihn alles, was er
war, wie ein Feuerwerk in die Luft schicken. Gleich war das letzte
abgebrannt; der Rest war Pulverdampf und Nacht. Inzwischen aber genoß man
einen berauschenden Jubel, einen glänzenden Leichtsinn. Und man empfand
sich vergrößert und stärker beleuchtet, wie auf einer Bühne. Aus Lola
lösten sich, indes sie dies miterlebte, Akzente und Gebärden, die sie in
sich nicht gekannt hatte.

»Sie, Botta, unser alter Freund, unterstützen die Kandidatur meines Mannes.
Ich habe es nicht anders erwartet, aber werden Sie ihn durchbringen?«

Botta schmatzte; und die Tischnachbarn wandten sich her nach Lolas lauten
Worten.

»Contessa, wir haben viel für uns, vor allem seine Gläubiger. Jawohl, das
Konsortium seiner Gläubiger, denen wir klargemacht haben, daß nur seine
Wahl ihnen zu ihrem Gelde helfen kann. Sie sind von Eifer erfüllt.«

»Warum nicht,« sagte Lola. »Auch niedrige Interessen müssen dienen, damit
Hohes erreicht wird.«

Gegenüber begann Nutini:

»Jeder tut das Seine, damit die gute Sache siegt. Wissen Sie schon das von
der Linda Vitali? Also, der Vitali hatte, vom Klub her, eine Forderung an
Ihren Gatten, Contessa, und bekommt sie durch Scheck vom Juwelier
Spontelli. Er geht der Sache nach und entdeckt -- niemals raten Sie, was er
entdeckt: daß er mit den Juwelen der Linda bezahlt ist, mit den Colliers
seiner eigenen Frau.«

Links und rechts lachte es diskret. Nutini schielte auf seine Nase.

»Und der Vitali schweigt. Was opfert man, als Gatte der Linda, nicht alles,
um einen Kandidaten in die Kammer zu bringen, der die Ehescheidung
verhindert. Auch Sie, Contessa, werden schwerlich einen größeren Wunsch
haben.«

Die anderen wiederholten:

»Jeder tut das Seine, um Pardi durchzubringen.«

Lola hob die Tafel auf; und im Aufstehen, mit großartiger Handbewegung:

»Ich mache kein Hehl daraus, daß ich Geldopfer gering anschlage und das
Geld verachte. Die Geschichte hat erhabene Bettler gekannt. Niemand kann
dem Conte Pardi ein Opfer bringen, das er ihm nicht im voraus hundertfach
bezahlt hätte: als er sich für Italien in Afrika schlug.«

Sie stand aufgerichtet und den Kopf im Nacken, im glitzernden Fluß ihrer
Schleppe. Die Gestalten um sie her bückten sich unbewußt ein wenig, die
Blicke wurden verehrend. Lola sah, daß es alle antreibe, ihr »Brava!«
zuzurufen. Sie biß sich auf die Lippe, und sie fürchtete, zu erröten.
Gleich darauf war sie um so glücklicher: ganz Heldin, diesem allen
gewachsen und verbündet mit Pardi. Er kam herbei. Von drüben hatte er
bemerkt, daß sie Wirkung übte: noch eine Wirkung, die sich mitnehmen ließ.
Lola sagte »Mein Freund --«, und sie gaben sich die Hand, beide stolz und
bewundert.

Sie wußten kaum noch, wie sie es miteinander meinten. Was sie der
Öffentlichkeit vorführten, spielten sie nun auch unter vier Augen. Erst
wenn er fort war, erschrak Lola. »Habe ich denn keine eigenen Gefühle mehr?
Was soll diese Komödie: zwei Schritte vom Abgrund? Ich wollte uns doch
aufhalten, ihn aufhalten; -- und jetzt treibe ich ihn vorwärts. Mein Gott,
welche Angst! Ich muß etwas tun, ich muß ihn warnen.«

Sein Schritt war, als er heimkam, schwerer als sonst; sie hörte ihn auf den
Sitz fallen. Sie legte die Hand ans Herz, das klopfte; dann trat sie ein.

»Guten Abend, mein Lieber. Stehen unsere Sachen nicht gut?«

»Unsere Sachen?«

»Nicht die Stirn falten!«

Sie berührte sie mit dem Finger.

»Wir haben doch, trotz allem, dieselben Interessen. Laß mich ein wenig für
dich denken. Der Trubel, in dem du lebst, erlaubt es dir nicht. Aber wie
soll dies alles enden. Magst du gewählt werden oder nicht, -- ein Spiel ist
auch dies dir nur: nicht wahr, ich kenne dich? Und was bleibt dir vom
Gewinn? Vielleicht ist alles Geld, das in den Spielsälen von Florenz
umläuft, schon durch deine Hände geflossen; was aber hast du nun? Und wenn
die letzte Frau dir gehört hat, was wirst du noch haben? Werde ruhiger,
Freund, widerstehe deinen Wünschen!« Und leiser, mit Zittern: »Wir sind
nicht geboren, um glücklich zu sein: gewöhne auch du dich an den Gedanken.«

Er schüttelte ihre Hand von seiner Schulter; er sah sie knirschend an.
Erschreckt murmelte sie noch:

»Ich sage es aus Sorge um dich, um mich selbst. Wir haben doch dieselben
Interessen.«

Und er brach aus.

»Die Erkenntnis kommt dir also? Sie kommt nicht zu früh! Andern Frauen
kommt sie vielleicht ein wenig früher. Ich habe gehört, daß der Untergang
eines Hauses durch die Frau verhindert worden ist. Aber wahrscheinlich sah
sie etwas anders aus als du. Die Cupola hat ihrem Mann das Trinken und die
Weiber abgewöhnt: alles beides. Sie hat ihn sich zurückgeholt, sie hat ihn
mit ihren Umschlingungen erweicht, sie hat sich, für ihn, so lasterhaft
gemacht, daß sie ihm zwei Laster ersetzte. Vernunft brauchte sie ihm nicht
zu predigen: ihre Vernunft war in ihrer Liebe. Aber die hast du nicht. Das
ist es: du hast keine Liebe!«

Sie wendete ihm die Flächen ihrer gesenkten Hände zu und hielt seinen von
Verachtung schweren Blick aus.

»Ah! jetzt findet sie Tränen: jetzt, da es auch ihr an den Hals geht. Und
doch schien dir an diesem Hause nie viel gelegen. Ich sah dich in diesen
Zimmern immer sitzen, wie eine Gefangene; wie eine Reisende, die in einem
Hafenhotel warten muß, weil der Dampfer beschädigt ist. Als ob du auf
deinem Koffer saßest. Wir alle waren dir unheimlich -- und du uns. Nie hast
du aufgehört, in einer fremden Sprache zu denken; und was du dachtest, war
uns fremd: fremd und nicht befreundet. Du warst unsere Feindin: ja, ich
hatte eine Feindin im Haus. Was Wunder, wenn ich nicht darin blieb?«

Lolas Brust ging rascher, ihr Blick ward hart; sie stieß hervor:

»Du warst mit allen verbündet gegen mich. Ich war allein -- und wäre es
überall. Was ich gelitten habe, gibt mir am Ende mehr Recht, darauf stolz
zu sein.«

»Ach ja -- und selbstgerecht. Du warst immer die Überlegene, weil du die
Kalte warst. Ich bin so unbesonnen gewesen, hier eine Fremde einzuführen,
die uns in aller Ruhe ausspionieren durfte.«

»Wir waren beide unbesonnen. Aber ich habe nicht spioniert; ich habe vor
manchem, was ihr mich sehen ließt, die Augen geschlossen.«

»Mit jenem andern Fremden, deinem Freunde, mußt du sehr geistreich über uns
philosophiert haben. Du hast einen Freund, einen Liebhaber gehabt. Du hast
ihn vielleicht noch. Ich sehe ihn nicht, aber was beweist das bei euch.
Sieht man euch und eure Taten? Ihr treibt gewiß aus der Ferne mit eurem
Gedanken mehr Unzucht, als wir, wenn wir zusammen im Bett liegen. Ich mußte
es zulassen. In deinen Kopf hineingreifen zu können, dafür hätte ich
manchmal mein Leben gegeben. Man greift nicht in einen Kopf wie den deinen,
man kommt dir nicht bei. Da: wenn ich so um dich kreise, gibt es immer
einen Strich, über den ich nicht hinweg kann: nicht hinein zu dir und dich
totschlagen. Ach! hätte ich dich damals aus dem Fenster fallen lassen! Du
wagtest mir ins Gesicht zu sagen, daß du den andern liebtest; du drohtest
mir, wenn ich dich anrührte, und du hingst halb hinaus: wie kam's, daß ich
dich nicht ganz hinabwarf? Ich begreife es nicht.«

»Ja: warum nicht. Du hättest es tun sollen!«

Sie nickten beide wild. Sie standen einander entgegengeworfen und hielten
sich keuchend ihre Wunden vor. Pardi schrie auf, als seien alle seine
Verbände fortgerissen.

»Denke ich an dein geheimes Leben mit dem andern, dann entschuldige ich
jeden Verrat, den je eine Frau beging: sehne mich nach jedem. Es gibt
Frauen, die im Verrat groß waren. Die Cupola hat, um ihren Mann zu retten,
auch das getan; sie hat sich verkauft. Ah! dir hätte deine hohe
Selbstachtung das verboten: ich weiß. Wie solltest du dienen? Bist du eine
Frau wie die unseren? Ich aber schwöre dir: du hättest, wie die unseren,
zehn Liebhaber haben können und mein Weib sein; ich hätte dich gejagt und
erlegt; dann aber hätte ich geweint auf deinem Sarg vor Liebe. Und jetzt
werde ich darauf speien.«

»Töte mich!«

Sie warf die Hände empor.

»So töte mich doch!«

»Damit ich Mörder bin und durch dich vollends verderbe? Hoffe das nicht!
Wir werden zusammen weiterleben. Mein Haus scheint mir nicht mehr meins.
Kein Kind ist darin. Du hast mein Geschlecht getötet; wo ist Giovannino?
Nun am Haus die Verkündigung fehlt, kommt er nie mehr hinein. Ich fühle
mich daraus vertrieben, ich bin wie in Reisehast. Du, eine Heimatlose, hast
mich heimatlos gemacht! Und jetzt möchtest du mich allein lassen? Das
Schiff räumen, da es sinkt? Hoffe das nicht! Wir sind untrennbar. Weißt du
nicht, warum ich gewählt werden will? Aus Haß auf dich! Damit ich das
Gesetz der Scheidung verhindern kann! Damit unsere Hölle ewig ist!«

Lola stand, Kopf und Schultern gebeugt. Er wütete.

»Vielleicht wirst du mit mir in einem Ministerpalast wohnen, wirst zusehen,
wie ich mir die Banken dienstbar mache, Gold in Barren verdiene, gefürchtet
und gefeiert, von den Frauen begehrt werde, und wirst von meiner Übermacht
erdrückt, dahinleben. Vielleicht auch werde ich mich, ausgepfiffen und als
Bettler, in meine letzte schmutzige Kate werfen, nach scharfem Käse
stinken, ein Schwein züchten, das ich am nächsten Markt verhandele, und mit
der Magd schlafen. Du wirst niedriger sein als sie! Denn du bist dabei:
zweifle nicht. Das Gesetz zwingt dich zu mir, wohin ich auch gehe; und ich
denke es auszunützen. Nur darauf noch werde ich aus sein, dich, meine
Verderberin, zu erniedrigen und mit Schande zu beladen . . .«

Stimme und Atem blieben ihm aus; er stand, verzerrt, und würgte. Lola
flüsterte:

»Tu's! Ich nehme es hin.«

Er fuchtelte haltlos; er krümmte sich.

»Die Heuchlerin! Die schmutzige Heuchlerin! Wie soll man sie fassen? Könnte
ich dich nackt durch die Straßen jagen! Eine solche Schande erfinden, daß
du endlich einen Seufzer tätest, der nicht lügt: und wäre es dein letzter!«

Die Faust an der Stirn, taumelte er hinaus. Lola ließ sich mit dem Arm, der
die Augen bedeckte, gegen die Wand fallen. Sie dachte, von Schrecken dumpf:
»Es ist, wie er sagt: ich bin schuld. Ich wollte nur mein eigenes Elend
fühlen, aber auch seins fällt mir zur Last, -- und unter ihrer Wucht werde
ich nicht mehr aufstehen. Liegen bleiben und abbüßen! Er sah fahl und alt
aus: zum erstenmal; und ich habe das gemacht, ich selbst. O räche dich! Daß
du mich leben läßt, ist zu wenig!«

Am Morgen erfuhr sie, daß eine Geliebte ihres Mannes im Hause sei. Die
Kammerfrau wußte von Cesco, daß der Herr Graf sie nachts in seinem Zimmer
gehabt habe. Jetzt war sie fort; -- aber am Nachmittag flog Clotilde, von
Neuigkeiten außer Atem, ins Boudoir. Ob die Frau Gräfin nichts höre: das
Haus sei in Aufruhr, die Treppe verstellt mit Möbeln. Man schaffe Möbel ins
untere Stockwerk; der Herr Graf und jene Frau seien drunten; es scheine,
sie solle dort wohnen . . . Die Kammerfrau war hinaus und wieder zurück.
Cesco hole Stühle aus dem Speisezimmer. Ob das nicht eine Schande sei, der
Frau Gräfin ihre Sachen wegzunehmen und sie einer solchen Person zu geben.

»Die Möbel gehören dem Herrn,« sagte Lola.

»Aber wenn die gnädige Frau hinunterginge und jene davonjagte: es wäre nur
Ihr Recht; der Herr Graf könnte es nicht hindern. Das Gesetz ist für die
Frau Gräfin: der Koch weiß es bestimmt.«

Lola dachte daran, daß einst Claudia sie belehrt hatte, die Konkubine im
Hause sei ein Trennungsgrund. Vielleicht war's der einzige. Er brachte
sogar die Dienstboten auf ihre Seite, sie, die Pardis Spione gewesen waren.
Sie sagte:

»Laß! Der Herr bleibt der Herr.«

Clotilde behielt den Mund offen.

»Die Frau Gräfin ist eine Heilige,« schloß sie dann. Lola fuhr auf.

»Daß du das nie wieder sagst! Mir geschieht recht. An dem, was der Herr
jetzt tut, bin ich schuld. Sage das den andern: ich will, daß sie es
wissen.«

Die Kammerfrau antwortete nicht; rückwärts und ohne ihre starren,
ängstlichen Augen von denen der Herrin zu trennen, ging sie durch die Tür.
Am Abend, wie sie Lola das Haar löste, hatte sie die Lippen fest
aufeinander, eine streng behutsame Miene und die Art, als bediene sie eine
Kranke. Im Spiegel warf sie nach Lola manchmal den traurig überlegenen
Blick der Wärterin. Lola hielt die Augen gesenkt und zog unter den
Kammstrichen des Mädchens den Kopf in die Schultern. Endlich, leise
bittend:

»Sprich doch!«

Clotilde zauderte; dann begann sie im Ton eines schonenden Vorwurfs. Der
Herr Graf hatte eine seltsame Frau ins Haus gebracht, eine, die seiner
augenscheinlich nicht würdig war. Es sollte eine Französin sein, nun ja.
Aber Carlotta hatte ihre Kleider gesehen: und wenn sie seidenes Futter
hatten, war doch keins heil und keins recht sauber. Und die Wäsche! Es gab
Dinge, die man der Frau Gräfin nicht sagen konnte . . . Den Morgen darauf
fing Clotilde von selbst an. Inzwischen hatte Leopoldo, der Kutscher, die
Frau zu Gesicht bekommen, und alles war erklärt. Sie war eine von jenen,
die des Abends auf den Straßen umhergehen. Leopoldo kannte sie; erst vor
vierzehn Tagen war er selbst bei ihr gewesen. Cesco, der ihm übelwollte,
hatte dies sofort dem Herrn Grafen berichtet, während er ihn rasierte; aber
der Herr Graf -- es war unbegreiflich -- hatte nur gelacht.

»Es ist eine rechte Schande, in ein Haus wie dieses, eine solche Frau
einzuquartieren. Wer will ihr das Bett machen? Noch ist es nicht gemacht,
und es ist in einem schönen Zustand. Der Herr Graf sollte bedenken, daß
auch Dienstboten anständige Leute sind, -- wenn er schon nicht an die Frau
Gräfin denkt. Wir haben in der Küche beraten, ob wir alle sofort kündigen
wollten. Cesco wollte es: aber mehr, weil er den Kutscher haßt. Wir anderen
haben ihn beredet, dazubleiben, aus Liebe zur Frau Gräfin.«

»Wer gehen will, soll gehen,« sagte Lola.

Und am Abend ließ sie die Fenster offen, um besser den Lärm des Festes zu
hören, das Pardi drunten seinen Freunden gab. Sie waren gekommen; sie
hatten sich eine Treppe erspart und waren zu der Dirne gekommen, anstatt zu
der Hausherrin. Lola unterschied Stimmen. Sie lehnte sich hinaus, horchte,
und ihr rauschendes Blut formte aus dem Gelächter der Männer schmutzige
Worte, die ihr galten. Schon einmal, in dem Sommer vor ihrer Verlobung, war
sie von oben Zeuge gewesen, wie jene sie mit Worten auszogen. Pardi hatte
ihnen damals nicht ins Gesicht geschlagen, und jetzt überbot er sie: er
war's, der die Dirne zu diesem gellenden Lachen brachte. Er gab seine Frau
einer Dirne preis. Zwischen dieser Schändung und jener lag Lolas Ehe. »Und
es ist gut so. Nur weiter! Ganz mit ihm zugrunde gehen und im Elend seine
Magd sein! Ich wäre Arnolds Magd gewesen, wenn er gewollt hätte. Aber er
läßt mich allein. Dieser hält die Hand auf mir, ihm entrinne ich nicht. So
sei es! Ich kenne nun mein Schicksal; und so schlimm es immer werden mag,
ich lobe es, darum daß ich's kenne.«

Sie hatte die Furcht, die Dirne möchte sich von ihr verachtet glauben. Jene
hätte erfahren sollen, daß Lola ihre Anwesenheit guthieß, sich ihr
unterwarf und nicht Dame noch Märtyrerin sein wollte. Immer, wenn Clotilde
um sie war, drängten sich Lola Worte auf die Lippen, die das Mädchen der
andern hätte bestellen sollen; und immer riß Lola, im Schrecken, das
Geständnis zurück. Zehnmal am Tage trieb es sie, auszugehen, nur um drunten
die offene Tür zu streifen und hineinzuspähen. Schon zitterte auf ihrem
Gesicht das Lächeln, mit dem sie vor der Dirne den Kopf geneigt hätte
. . . Da sprang eine Tür auf; Lola drängte sich in den Winkel beim Schrank;
und eine Frau mit gelben Haaren lief im Halbdunkel vorbei, drehte sich
plötzlich um und fing Nutini auf, der sie küßte. Lola dachte zornig: »Er
hätte mich ihm wegnehmen wollen, und jetzt nimmt er ihm diese!« Sie
schlich, wie die beiden fort waren, zurück, voll Reue, daß sie gesehen
hatte, was Pardi vor ihr demütigte.

Ein einziges Opfer brachte sie zaudernd: das Bild drunten im Saal, das Bild
jenes Knaben in alter Tracht, mit dem weichen, traurigen Goldgeriesel des
Haars; aus dessen weißem Gesicht der Mund feuchtrot hervorstand und
fleischig. Aber dies Fleisch, das vom Blute Pardis war, schien zu seufzen
über sich selbst. Die braunen, gewölbten Augen betrauerten es, untröstlich.
Und die Stirn, die sanfte Wange neigten sich dem Schatten zu, als wollten
sie sich ganz von ihm überziehen lassen. Die Augen Pardis in ihn selbst
zurückschauend, in eine Seele, die nicht seine, sondern Arnolds war; seine
Stirn durch Arnolds Güte und Sehnsucht gereinigt: Das war jener Tote, der
Lola ihre mildesten Träume geschenkt hatte. »In ihm konnte ich beide
lieben. Nur bei ihm war ich gestillt. Es ist sehr schwer, zu denken, auf
welche Dinge jetzt seine Augen blicken, die zuletzt mich sahen. Pardi weiß
nicht, wie gut er sich rächt. Er zerreißt in meinem Herzen den letzten
Wohllaut.«

Oft fuhr sie auf und wollte das Bild fordern. Andere Stunden weinte sie
darum. Und jedesmal neu hatte sie sich der darzubringen, die ihr als
Henkerin bestimmt war. Sie stellte sich die Dirne kalt und frech vor, voll
der Sucht, die Frau, deren Mann sie besaß, mit Füßen zu treten, ihre
Erinnerungen zu schänden. Auf der einsamen Folter ihrer Gedanken fühlte
Lola dort unter sich einen schmutzentstiegenen Dämon, der erst aus den
Trümmern dieses Hauses, gell auflachend, entflattern würde. Und eines Tages
traf dies Lachen sie so nahe, daß sie sich verloren glaubte. Sie wollte
ihren Wagen besteigen; hinter ihr im Hause rief es, herbeilaufend: »Schön!
Der Wagen für mich;« -- und plötzlich standen sie voreinander. Lola hatte
im Schrecken nur grelle Flecken vor Augen: die gelben Haare, das kreidige
Gesicht. Da hörte sie stammeln:

»Ich habe mich wohl geirrt, der Wagen ist wohl nicht für mich?«

Lola brachte hervor:

»Ich bitte, bedienen Sie sich!«

Aber die andere tat einen tastenden Schritt rückwärts.

»Ich möchte doch nicht die gnädige Frau --«

Lolas Blick klärte sich; sie entdeckte große blaue Augen, die vor ihr
erschrocken waren.

»Ich werde zu Fuß gehen,« -- und das Mädchen verneigte sich scheu.

»Nein!« sagte Lola. »Fahren Sie mit mir!«

Jene zögerte, senkte die Stirn und gehorchte. Der Kutscher sah sich empört
nach ihr um. Lola fiel es ein, daß die beiden sich kannten. Sobald sie das
Mädchen neben sich hatte, sagte sie dringend:

»Glauben Sie nicht, ich wolle Sie demütigen! . . .«

Sie fürchtete, zu schluchzen, und schwieg. Leopoldo peitschte aus Zorn; sie
jagten über die Brücke. Männer starrten zu ihnen herein; die Dirne sah
willenlos hin; und dann zuckte sie zurück und tat, mit geducktem Blick, bei
Lola Abbitte. Lola roch das unelegante Parfüm, bemerkte unter dem
Spitzensaum einen rauhen Schuh und fühlte sich nüchtern und übel werden.
Diese Arme hätte nichts verstanden von allem, was vorging; empfand nichts
und wollte nichts. Lola hatte den dürftigen Dingen Geist und Phantasie
geliehen, hatte Schicksalsgötter gegen sich am Werk geglaubt. »Das
Schwerste ist immer wieder, durch das Unglück nicht hochmütig zu werden.
Kein Schicksal, auch meins nicht, darf uns glauben machen, wir seien einzig
und erlitten Ungeheures. Sich bücken unters Gewöhnliche!« Sie grüßte die
alte Marchesa Triborghi, und der Gruß blieb unerwidert. »Was tue ich auch?
Ich weiß nicht mehr, in welcher Welt ich lebe. Nur mir, scheint es,
geschehen solche Vergeßlichkeiten.« Sie fragte das Mädchen, wo es
abzusteigen wünsche. Es hatte, in der Fassungslosigkeit, all sein
Italienisch vergessen.

                   *       *       *       *       *

Den selben Abend mußte sie im Palazzo Valdomini sein und Anspielungen
hören.

»Sie haben Ihr unteres Stockwerk vermietet, meine Liebe?«

»Es werden Verwandte sein?«

»Denn Sie verbringen dort, scheint es, Ihre Abende. Ich fuhr vorbei; und
dort war's hell; bei Ihnen droben sah man kein Licht.«

»Ach! die Belfatti will Sie mit einer noch unbekannten Cousine im Wagen
gesehen haben . . .«

Die Männer lächelten und sahen weg. Claudia entfernte sich.

»Du weichst mir aus, Claudia?«

»Wozu brauchst du noch mich? Hast du nicht eine neue Freundin? Ich muß dir
sagen, Lola, daß du entsetzlich taktlos bist. Es scheint, ihr Fremden seid
es nun einmal. Aber ein Kind kann wissen, daß uns die Maitressen unserer
Männer nichts angehen.«

Noch beim Sprechen fiel ihr ein, was sie selbst sei; und sie ward rot.
Immer zorniger, stieß sie hervor:

»Aber du bist schlecht und willst ihm schaden. Vielleicht hast du jetzt
erreicht, daß er nicht gewählt wird.«

Lola murmelte, erblaßt:

»Ich hatte nur den Kopf verloren.«

Aber Claudia ließ sie stehen. Lola sah sich nach Hilfe um; sie ertrug diese
Vereinsamung nicht. Unvermittelt zeigte sie sich gegen die Männer
liebenswürdig, ließ sich umringen, erweckte Hoffnungen. Dabei dachte sie
krampfhaft: »Ich bin feige: er darf nicht wissen, was geschehen ist.«

Das letzte fühlte sie dahingehen: ihre Selbstachtung. Nichts blieb, als ein
Tumult von Stimmungen und Gedanken, ganz unnütz, ganz machtlos im Wirrwarr
der Ereignisse, der Gesichter, der offenen Türen. Der Wahltag war da; das
Haus gehörte jedem, der eine Stimme hatte. Sie standen, kauend und mit
schaukelnden Weingläsern, bis in Lolas Zimmer hinein. Pardi drückte alle
Hände. Seine Augen, seine Gesten beherrschten die Menschenflut, schienen
sie zu beherrschen bis ans Ende der Stadt. Lola sah ihn bleich -- aber jung
und gefährlich, wie einst. Sie zeigte sich zuvorkommend, schmeichelte
denen, die er bevorzugt hatte, erriet demütig seinen Willen. Gegen Mittag
lichteten sich die Haufen. Mit dem letzten entfernte Pardi selbst sich.

Lola stand einen Augenblick und atmete schwer. Plötzlich schmeckte sie den
Dunst und den Qualm, die von der Menge übriggeblieben waren; sah den
Schmutz und das Drunterunddrüber. Sie fürchtete, zur Besinnung zu kommen.
Nur nicht denken, nicht voraussehen! Heute war ein guter Tag, ein leichter
Tag: man trieb so fort in Gedränge und Lärm; man trug nicht mehr an sich,
fühlte sich nicht mehr. Zurück in die Menge! Hinaus: gleichviel, wohin!

An den Mauern klebten riesige Zettel, weiße, rote und gelbe; dahinten auf
dem Platz vor der Brücke drängte es sich, unter Fahnen, bei einer Schenke;
und wie vor Lola die Gasse sich öffnete, deuchten Brücke und Ufer ihr
munterer, weiter und heller als sonst: als sei der erste Frühlingstag
aufgegangen.

Die bei der Schenke fuchtelten vor roten Plakaten und schrien jedem, der
kam, den Namen des Sozialisten Ricchetti ins Gesicht. Zwei Arbeiter sahen
Lola entgegen, und wie sie vorbeiging, seufzte der eine:

»Ah! die Frauen.«

Sie war erkannt; Rufe stiegen aus dem Haufen:

»Nieder mit Pardi!«

»Aber es lebe die Contessa!« schrie der Arbeiter.

Die Brücke entlang dufteten Veilchenkörbe in der Sonne. Drüben am Fluß hin,
zwischen den Wagen und den Plakaten, über den Köpfen derer, die,
Zeitungsblätter in den Händen, aufeinander einredeten, schwankten die
Veilchen. Mädchen mit Veilchen am Hals störten im Vorbeigehen mit ihrem
Duft aus Frau und Blume ganze Rotten Politisierender auseinander, und der
Eifer der Gesichter zerteilte sich zum Lächeln.

Die lange offene Säulenhalle der Uffizien toste von Volk. Es spritzte seine
Wellen die Säulen hinan: auf den Sockeln, den Schranken wiegten sich
stürmisch junge Leute, streckten die Arme über die heraufgewendeten
Gesichter aus und redeten. Andere Studenten, Kokarden an den Hüten und die
Taschen voll Zeitungen, legten Hand an die Wähler, hängten sich in den Arm
ländlicher Bürger, die noch abwarteten, setzten mit dem Feuer ihrer Mienen
endlich auch die der Männer in Bewegung, -- und die weißen Hände lagen in
den braunen. Plötzlich flogen alle auf, um zu klatschen. Von da vorn
stürmte Händeklatschen beflügelt herbei. Hinten klatschte man im Galopp und
strebte hervor: was es sei, das man beklatschte. Der Alte Palast der
Republik schob seinen Turm ins Blaue hinaus, als reckte sich der Hals eines
großen alten Wächters voll drohender Ruhe; und auf seinem greisen Profil
erblaßte die Sonne. Gegenüber, unter dem Bogen der Bilderhalle, sah Judith,
klein und furchtbar, auf den Kopf dessen, an dem sie ihr Volk gerächt
hatte. Und zwischen dem Wächter und der Heldin leuchteten auf einmal drei
rote Mützen auf. »Garibaldiner!« Die Menge schlug ihnen entgegen eine
einzige Woge. Man führte die drei Alten ihr zu, ihren tausend Armen zu,
ihren tausend zum Jubeln offenen Gesichtern. An allen Festtagen begegnete
man ihnen: heute aber wollte jeder das rote Wollhemd dieser armen Leute
berühren, als gäbe es Kraft; und ihre altersbleichen, altersernsten Mienen
waren umsprüht von Liebesblicken. Eine Frau küßte den einen. Das Volk
klatschte. Es klatschte, als die drei vor ihm ihre Köpfe entblößten. Man
sah sich an, man sah einander weinen.

Lola spürte Tränen; -- und da traf sie die Augen eines berußten Menschen
und fand sie voll Stolz. Welche Feier! Ein Volk rief sich, irgendwie dazu
eingeladen, die Größe seiner Väter zurück, besann sich, beim Anblick der
Größe von Niederen, auf sich selbst. Bis in die ältesten Tage erkannte es
an den Wahrzeichen sich selbst, und seine eigene Unendlichkeit erschütterte
es. Lola atmete tiefer in dieser bewegten Luft: bewegt von der ungeheuren
Güte der Demokratie, ihrer Kraft, Würde zu wecken, Menschlichkeit zu
reifen, Frieden zu verbreiten. Sie fühlte es wie eine Hand, die sie
befreien wollte: auch sie. Allem Volk sollte sie gleich werden, sollte
erlöst sein. Ringsum sahen alle sie frei und derb an, ohne Vorbehalt, ohne
jede höfliche Fremdheit. Sie war keine Fremde; sie war eine Frau wie die
anderen; wie die Mädchen mit den Veilchen unter der Wange, konnte jeder sie
begehren.

Da erinnerte sie sich, wie einst, vor Jahren, Arnold in seiner Einsamkeit
und auszehrenden Geistigkeit ihr von Menschennähe, vom warmen und tätigen
Bündnis mit Menschen vorgeschwärmt hatte; -- und ihr innerer Flug brach ab,
und sie fühlte sich zu Boden geschlagen. Was er erlebt hatte, erlebte auch
sie. Nur ihm glich sie, und sie konnten einander nicht helfen, und sie
schleppten einander nach. Stand er nicht dort im Hintergrunde der Halle?
Eine Sekunde hatte sich der Wald von Köpfen vor seinem Gesicht geöffnet.
Dort schwärmte er nun wohl, wie sie geschwärmt hatte. Aber er ließ sie des
anderen willenlose Sache sein und mit dem anderen untergehen. Sie sah
bitter fort. Er konnte nichts für sie tun; denn er sah zu tief -- gleich
ihr selbst. Sie kannten einander: so sehr, daß sie sich fast schon verloren
hatten. »Habe ich diese ganze letzte Zeit je an ihn gedacht? Wir lebten
zusammen immer nur wie auf einem anderen Stern, und ich stecke jetzt so
angstvoll tief im Irdischen. Habe ich neulich seinen Brief gelesen?
Vielleicht; aber ich weiß nicht mehr, was er schrieb. Es war keine Zeit
dafür . . .«

Der volle Platz machte ihr Widerwillen; sie schob sich bis in die Gasse
nach dem Neuen Markt. Ein Wagen hielt festgerannt im Gedränge.

»Lola!«

Claudia stieg aus.

»Ich gehe mit dir. Bist du mir noch böse, Lolina? Ich war so unglücklich,
als ich dich wegen der Französin schalt. Es war Eifersucht. Vergiß es! Nimm
diese Veilchen und vergiß es! Willst du?«

Sie drängte sich kindlich an Lolas Arm.

»Du verzeihst mir? Auch das noch? Ach, du bist unbegreiflich gut, Lolina.
Ich zweifle nicht, daß uns drüben die Madonna erwartet; denn von dir bis zu
zu ihr ist's nicht mehr weit.«

»Wohin gehst du, Claudia?«

»Ich weiß nicht.«

Ihre Tränen blinkten noch, und schon lachte sie.

»Es ist gleich. Welch schöner, schöner Tag! Nun ist's Frühling: darum
steigen alle auf die Straße hinab. Sieh, die Nase dort! Sieh, jene Frau:
sie hat einen Liebhaber, man sieht es ihr an . . . Aber hier sind
schrecklich viel Leute: was haben sie?«

»Sie wählen!«

»Ach ja! Ich dachte nicht daran. Er läßt sich wählen: gerade heute. Und
doch, und doch --«

Sie jauchzte leise; -- und plötzlich nachdenklich und spöttisch:

»Da sieh, wie sie diese Papiere anstarren, die Männer! Es scheint, daß sie
das interessiert, was daraufsteht. Sind diese beiden aufgeregt! Ach nein,
man darf sie nicht beachten: gleich fangen sie an, sich mit uns zu
beschäftigen.«

Und sie sah unbeteiligt gradaus. Auf dem Domplatz trieben Gruppen umher.
Die beiden Frauen steuerten hindurch. Manchmal folgte ihnen ein Blick.
Wohin gingen sie? An was dachten sie, -- da alles Feuer, das die Welt der
Männer hervorwarf, ihnen nicht wärmer machte, an der ruhigen Blässe ihrer
Gesichter nichts änderte?

»Dort hinein müssen wir,« sagte Claudia, und sie nickte hinüber nach der
engsten der Straßen. Plötzlich zuckte sie zurück.

»Was hast du?« -- aber Lola hatte schon den fiebrig Lauernden bemerkt, dort
an der Hausecke. Er war bleich; die eine Hälfte seines Gesichts verzerrte
sich jede Sekunde. Er fingerte am Kragen, am Bart, tat zwei Schritte
vorwärts und zwei zurück. Eine Hand hielt er in der Tasche; und sein Blick
brannte unauslöschlich auf Claudia.

»Dein Mann,« murmelte Lola.

»Ja, er,« -- und Claudia sah ihn unverwandt an. »Er ist schlimm heute, er
hat, glaube ich, einen Brief bekommen.«

»Laß uns in ein Café treten, Claudia?«

Claudia atmete auf.

»Siehst du? Er ist weg, zurück in die Gasse, verschwunden in der Menge. Ich
wußte es.«

Sie lachte erregt.

»Er wird nichts tun. Warum heute? Da er noch nie etwas getan hat . . .«

Sie mußte stehen bleiben, um ihre Lustigkeit zu dämpfen.

»Ah! der kleine Konditor. Er macht die süßesten Kuchen von allen. Ich
möchte wieder von seinen Kuchen essen.«

Und drinnen:

»Du bist so ernst, Lolina. Bist du besorgt um mich? Dann liebst du mich
also wirklich? Ja, du liebst mich.«

Claudia seufzte schwer auf. Sie kaute; dann, mit Flüstern, tief feierlich:

»Dich hätte ich gehaßt, wärst du eine der unseren gewesen. Ich weiß es
gewiß, ich hätte dich getötet. Nun aber sind wir Freundinnen gewesen. Denn
du bist so edel, daß man dich nicht fürchtet. Ach! und dennoch liebt er nur
dich. Er hat mir's gesagt: nicht länger als acht Tage ist's her, und ich
war in Wut gegen ihn wegen der Französin. Er hob nur die Schultern; und
dann sagte er, dich allein liebe er. Mich aber verachtet er so sehr, daß er
mir das sagt.«

»Aber du bist durch ihn glücklich gewesen, und ich unglücklich.«

»Er sagte auch, nur du könntest ihn retten.«

»Mit ihm zugrunde gehen kann ich: sonst nichts.«

Draußen strich Claudia sich mit dem Finger über die Stirn.

»Was reden wir da? Was gestehe ich dir alles? O, ich schäme mich! Aber mir
ist es, als sei es das letzte, das ich zu dir spreche. Warum? Ich bin
abergläubisch; und mir scheint irgend etwas Großes bevorzustehen. Ich werde
ihn verlieren! Er hat mir gesagt, wenn er nicht gewählt werde, wolle er
sich mit dir auf dem Lande vergraben. Lolina, sei gut mit ihm! Du, die du
so gut bist! . . . Gott! da ist wieder jener.«

»Laß uns umkehren!«

»Nein, nein! Er würde uns nachlaufen.«

Sie mußte die Augen, die sich vergrößerten, auf ihm haben, mußte ihm
entgegengehen. Er stand jetzt vor dem Café Bottegone, war noch bleicher,
noch fratzenhafter, öffnete und schloß unaufhörlich über der Brust die
Knöpfe und schien zu keuchen, als sei er gelaufen.

»Ich habe Angst, ich habe furchtbare Angst,« jammerte Claudia. »Warum hält
er die Hand in der Tasche? . . . Und nun wir näher kommen, sieht er weg. Er
müßte uns doch begrüßen . . .«

»Kein Wagen hier: es ist Wahltag. Fürchte dich nicht, arme Claudia! Ich bin
bei dir. Er wendet sich zur Ecke; er ist nicht mehr zu sehen. Machen wir,
daß wir fortkommen!«

Sie hasteten die breite Straße hinauf: fast liefen sie. Junge Leute zogen
daher und wechselten, angeregt lächelnd, ihre Meinung über diese beiden
eleganten und hübschen Frauen, die inmitten des Männergetriebes auf ihren
klappenden hohen Absätzen irgend einem süßen Ziel zustrebten.

»Die Kleine ist die Schönste,« sagte einer, und lächelte dringlicher in
Claudias Augen. Sie streiften ihn, mit ihren schweren, feuchten Pupillen im
bräunlichen Weiß, -- und glitten weiter. »Du kannst mir nicht helfen.« Er
wendete sich noch, um die von ihr durchschrittene Luft einzuatmen, die nach
Veilchen roch.

»Soll ich sie ansprechen?« fragte Lola, ratlos, und blieb stehen.

Da erhob sich Geschrei und Singen; aus der Seitengasse vor ihnen brachen
Laufende; geballt wälzte sich's hinterher; und die Pferde der Gendarmen
stiegen und sanken über der Menge, wie Schiffe im Sturm. Er brauste gegen
die beiden Frauen heran; sie sahen in schwarz geöffnete Münder, in
Gesichter, die von nichts wußten, als von dem Schrei, den sie ausstießen.
Sie schrien:

»Es lebe Ricchetti!«

Und Claudia, in ein Tor gedrückt, mit ihrer kleinen gellen Vogelstimme:

»Nein! Es lebe Pardi!«

Vorüber. Betäubt kehrten die Frauen auf die Straße zurück: sie lag breit
und leer, mit dem Dreimaster eines Carabiniere mitten auf dem Pflaster.

»Ich höre einen Wagen,« sagte Lola. »Komm rasch!«

Aber Claudia entgegnete starr:

»Es ist unnötig. Dort steht er.«

Und Lola stammelte:

»Wie ist er dort hingekommen? Ich begreife nicht . . .«

»Es soll sein,« sagte Claudia. »Heute früh sind sechs Haarnadeln von meinem
Tisch gefallen, und alle lagen kreuzweise. Also hier.«

»Halte doch an, Claudia! Wer weiß, was er vorhat.«

»Ich weiß es. Sein Gesicht hat nie so gezuckt; es ist schrecklich, wie das
Zucken ihm die Zähne entblößt, auf der einen Seite nur . . .«

»Du sprichst, als schliefst du. Empöre dich doch! Was wir immer getan
haben, wir sind Menschen. Darf man uns jagen, wie ein Tier? O! ich hasse
sie alle, ich will nicht dabei sein. Du kommst mit mir, Claudia: oder ich
lasse dich allein.«

»Adieu, Lola. Und sage ihm -- du weißt wem --, ich wäre so gern, so gern
noch --. O! der dort zieht die Hand aus der Tasche.«

»Er sieht aus wie ein Verrückter. Warum sind wir ihm so nahe gekommen?
Hilfe! Kutscher! Hilfe!«

Da krachte schon der Schuß, und Claudia taumelte gegen das Haus.

»Ich bin getroffen. Noch lebe ich. Aber er ist nicht zufrieden; er kommt,
er will's fertig machen. Seine Zähne!«

Aufschreiend:

»Nein! ich will nicht sterben. Rette mich, Lola! Ich muß zu ihm: du weißt,
zu wem. Er hat mich bestellt, er wartet schon. Wenn ich zurückkomme, will
ich sterben: nicht jetzt . . . Gib mir doch Zeit!«

Sie krümmte sich, und sie spreizte die Hand gegen den, der mit
ausgestrecktem Arm und schwankend herbeikam. Lola stürzte vor, sie packte
die Waffe. Er drückte wild zu; Lola sah ihre Hand voll Blut und sah Claudia
sinken. Claudia wand sich empor und lief, ohne einen Laut, davon. Sie lief
mitten auf der Straße, mit ungleichmäßigen Schritten und mit Händen, die
durch die Luft tasteten: als liefe sie über Wurzeln und Steine, in einem
halbdunkeln Wald. Drei Schüsse noch folgten ihr. Aus den Seitengassen links
und rechts rannten gleichzeitig vier Sicherheitswächter, versperrten die
Straße und griffen Claudia auf. Sie wies hinter sich; darauf ließen alle
sie los, daß sie hinfiel, und warfen sich auf den Mann. Er lehnte an der
Mauer; neben seinem Fuß lag der Revolver; und er hatte die Augen
geschlossen.

Lola kniete, über Claudia gebeugt.

»Sage etwas, Claudia, nur ein Wort: ich bitte dich, ich bitte dich!«

Claudias kleine weiß bekleidete Hand regte sich leise in dem Kot, um den
sie gegriffen hatte.

»Ach! du weinst. Nicht wahr, du weinst noch?« -- und Lola haschte mit den
Lippen nach der Träne an Claudias Lid. Aber die Träne war kühl, und
Claudias Augen erstarrten schon.

»Contessa! Was ist geschehen? Atmet sie noch? . . . Lassen Sie doch mich,
Contessa!«

Lola erkannte Guidaccis kellerigen Atem und richtete sich auf. Der kleine
Priester war aufs äußerste belebt. Seine Hundeaugen fieberten von dem
Hochgefühl, an einem Ereignis teilzunehmen.

»Eine furchtbare Sache! Ich trete aus San Lorenzo und höre schießen. Ich
laufe; nur durch jene Straße brauche ich zu laufen, und da bin ich. Laßt
mich machen!« -- er wehrte den Polizisten mit seinem erregten gelben
Händchen, -- »ich kenne die Dame.«

Und er raffte die Soutane, kniete hin und legte das Ohr an Claudias Herz.
Alle bückten sich; die Herbeigelaufenen ringsum hielten den Atem an.

»Tot,« entschied der Priester, mit einer abschneidenden Geste. Lola
bedeckte mit der Linken die Augen. Die Rechte stieß sie unsicher ins Leere.

»Ich will fort. Den Wagen!«

Man hatte darin den Mörder fortgeschafft. Guidacci schickte nach einem
andern. Inzwischen nahten Eilschritte; und wie Lola die Hand von den Augen
nahm, schrak sie zusammen vor den Vermummten der Misericordia. Sie hoben
die Tote geräuschlos auf ihren federnden Karren, und schon machten die
beiden hohen gelben Räder die erste Drehung. Lola wollte sich nachstürzen,
aber Guidacci hielt sie nervig zurück.

»Nur einmal unter das Verdeck sehen! Waren denn ihre Augen geschlossen?
Sicher?«

Sie hatte vor sich immer Claudias erstarrtes Auge und an seinem Rande die
letzte Träne, die es hatte weinen dürfen.

Ein Wagen war da. Guidacci setzte sich zu ihr. Er zappelte noch und sah und
hörte nur sich.

»Wäre ich bei Ihnen gewesen: ah! Contessa, Ihre unglückliche Freundin lebte
noch. Mein Freund hier,« -- und er griff in die Tasche -- »hätte sie
beschützt. Und zu denken, daß es hätte sein können. Denn ich ging ernstlich
mit der Absicht um, heute die Kirche schon um halb ein Uhr zu verlassen!
Fragen Sie Bussoletti, unsern dicken Erzpriester!«

»Lassen Sie sehen!« sagte Lola, und nahm den Revolver in die Hand. Sie
spielte mit der Sicherung, sah nach den Patronen.

»Den also muß man gebrauchen, -- damit nicht der andere ihn gebraucht.«

Erst kurz vor der Ankunft gab sie, aufschreckend, die Waffe zurück.

»Bleiben Sie hier! Danke: ich brauche keine Hilfe. Das Blut an meiner Hand?
Es ist nicht der Rede wert. Aber ich möchte ruhen.«

Sie verband sich selbst; nur niemand sehen! -- und fand nun, ausgestreckt,
hinter ihren Lidern alles wieder, und ihre Adern pochten unaufhörlich die
Worte: »Den also muß man gebrauchen, damit nicht der andere ihn gebraucht.«

Sie warf sich auf dem Polster umher.

»Claudia hat ihm gehört, wie seine Sache; und weil sie sich widersetzte,
hat er sie zerbrochen. Er durfte es; er geht dafür mit ihr unter. Und so
werde auch ich mit dem untergehen, dessen Sache ich bin . . . Ich will
nicht! Wer hat auf mich ein Recht? Alles ist Lüge. Ich bin als mein eigen
geboren, und kein Mensch konnte je auf mich ein Recht erwerben. Ich bin in
seiner Schuld? Ich habe gewußt, was mir mit ihm bevorstand? Ich habe ihn
unglücklich gemacht? Ach! das alles zählt nicht, wenn es um mich selbst
geht. Ich will nicht so gerecht sein! Mag er zusehen! Er hat mir schlimme
Jahre gemacht, wir sind quitt. Ich will nicht in die Tiefe denken, wo seine
Schuld aufhört und alles Schicksal wird, das man stumm weiterschleppt. Ich
will leben! Ich habe Claudias Tod gesehen: er war schimpflich. Ich will
leben!«

Ihr war schwindlich von dem ungeheuren Flügelrauschen in ihr. Plötzlich
fuhr sie empor; und aufgestützt, die Lippen geöffnet, mit einem irren
Lächeln lauschte sie.

Nein. Schwer seufzend sank sie zurück. Es war Pardi.

Er trat ein; sein Schritt war lastend; und er ging, ohne sie anzusehen, zum
Fenster. Mit dem Rücken nach dem Zimmer:

»Es steht schlecht: ich fühle, daß ich heute kein Glück habe. Bereite dich
auf das Landleben vor.«

Er wanderte umher und murmelte zwischen den Zähnen. Anhaltend, mit einem
scharfen Blick:

»War Claudia nicht hier?«

Lola schwieg. Er kam unruhig näher. Sie richtete sich auf; sie sagte ihm in
die Augen, langsam und stark:

»Claudia ist tot. Um deinetwillen ist sie umgekommen, und auf dem Wege zu
dir.«

Er schwankte, er griff sich ins Haar.

»Es ist nicht wahr!«

Da ihre Wimpern sich nicht bewegten, schlug er die Augen nieder. Er sah
plötzlich kleiner aus, und alt, zerzaust, übernächtig: fahl von zahllosen
Nächten.

Und er wanderte weiter: den Kopf auf der Brust, mit stammelnden Bewegungen
der Lippen und, von Zeit zu Zeit, einem unfreiwilligen Stöhnen. Lola
wendete das Gesicht, wohin immer er ging. Sie fühlte ihren Mund gekrampft
vom Haß. Sie haßte ihn! Er hatte Claudia dorthinten in irgend ein
Rendezvouszimmer bestellt. Claudia war durch die Stadt gegangen, in der an
jeder Ecke der Tod lauerte: durch eine Hecke von Mördern. Er hatte sie
kommen lassen: denn die Umarmung einer Frau konnte ihm Glück bringen zur
Wahl. Ganz Florenz schrie seinen Namen, kämpfte um ihn: und er pfiff darauf
und umarmte, abseits vom Lärm, eine Frau. Das war reizvoll; es war eine
starke, verachtende Geste. Für sie war Claudia gestorben. Und ihr Tod traf
ihn peinlich, denn er brachte vielleicht Unglück. »O! ich hasse ihn, ich
hasse ihn! Da schleicht er hin, weiß sich verloren und wird nie mehr
aufkommen. Ich freue mich. Ich will es nie bereuen, mich jetzt gefreut zu
haben. Zu allem wäre ich in diesem Augenblick stark genug: zu allem.« Sie
suchte seufzend. »Eine Waffe! In diesem Augenblick eine Waffe!«

Aber der Augenblick verstrich! Das leblose Schweigen des Hauses machte ihr
Fieber. Pardi richtete sich auf. Er sprach rauh.

»Also retten, was zu retten ist. Auf die Quästur.

Den Zeitungen muß gedroht werden, falls sie in den Bericht meinen Namen
mischen.«

Er nahm seinen Hut.

»Wie lange ist's her? Ist ihr Mann verhaftet?«

Nach einer Stille:

»Wirst du antworten, Hündin?«

Lola lag da, und die Wange in der Hand, sah sie ihn an, mit Augen, die,
leise hin und her rückend, im Haß grübelten. Sein Blick irrte ab; er
zerdrückte den Hut, er machte kehrt . . . Ein stürmender Schritt kam über
die Treppe und durch den Vorsaal; die Tür flog auf; Lola verhielt ihren
Schrei: da stand Arnold. Er atmete rasch; sein Blick traf sicher, erst
Pardi, dann sie; und mit wachem, festem Schritt trat er vor ihr Lager.

»Sie sind verwundet?«

Er bemerkte ihre Hand und zuckte auf. Halb gewendet:

»Sie haben sie töten wollen: ich verlange Ihr Leben.«

Pardi setzte die Fäuste an die Brust.

»Sie sind verrückt; aber da Sie sich endlich zeigen, da Sie endlich aus dem
Nebel tauchen, sollen Sie haben, was Sie sich wünschen.«

Er lachte auf. Arnold machte zwei schlanke, kühne Schritte. Lola sah ihn
jung und gespannt, wie einen Knaben, der zum erstenmal aus dem Jugendgehege
und vor den ersten Feind hintritt; der die Spiele hinter sich gelassen hat
und vor Ernst bebt. Er sagte hell:

»Sie haben die Waffe zu wählen; aber wählen Sie nicht die Pistole, sind Sie
ein Feigling. Und bestehen Sie nicht mit mir darauf, daß einer von uns am
Platze bleibt, sind Sie ein Feigling.«

»Sie hoffen, mich dazu zu machen?« sagte Pardi, die Zähne entblößend.

Arnold verbeugte sich vor Lola und ging.

»Erwarten Sie mich!« sagte sie laut, und sie stand auf. Ihr Hut, ihr
Jackett lagen noch da; sie machte sich fertig. Arnold öffnete ihr die Tür.

»Träume ich?« sagte Pardi. Lola kam zurück. Dicht vor ihm:

»Claudia hat dir Sieg gewünscht: es war ihr letzter Ausruf. Aber sie ist
nicht die Tote, die dir Glück bringt.«

Und sie wandte sich langsam.

                   *       *       *       *       *

»Soll ich dem Kutscher winken?« fragte Arnold.

»Nein.«

»Wozu auch: da wir nicht fliehen, sondern frei dahingehen.«

Lola sah vor sich nieder.

»Nicht er hat mich verwundet. Claudias Mann tat es, als er sie tötete.«

Da er schwieg:

»Ändert das deinen Sinn?«

»Nein.«

Sie hob die Stirn; beglückt sah sie ihn an.

»O nein!« wiederholte er. »Hat er's nicht getan? So hätte er's doch tun
können. Ich habe dein Blut gesehen. Man sprach mir von deiner Verwundung;
Guidacci sprach -- ich weiß nicht was. Kaum hörte ich, dein Blut sei
geflossen, da betäubte meins mich mit seiner Wallung. Ich fühlte, daß der,
der dich anrühren könne, nicht länger leben dürfe. Du bist mein. Ich habe
genug um dich gelitten.«

»Wir haben genug umeinander gelitten;« und sie nahm seinen Arm.

»Laß uns langsam gehen: jetzt, da wir immer, immer denselben Weg gehen
werden.«

Diese armen Straßen links vom Fluß waren voll Volks, das wimmelnd, zur
Harmonika, Guitarre und dem Fettgeruch aus den Pfannen der Gassenköche, das
Fest der Wahl beging. Ihr Kandidat war so gut wie gewählt; in den engen
Schaufenstern stand sein Bild; sie stellten Kerzen davor; die Schenkwirte
hängten Lampions hinaus. Die Glocken läuteten das Ave, als feierten sie den
Sieg der Armen.

»Wie?« sagte Arnold. »Längst ist mein ganzes Leben auf dich
zusammengezogen. Alles hab' ich an dich gewendet, alles Denken, alles
Leiden, dessen ich fähig bin. Das soll irgend einer mir wegtragen, es aus
dem Leben schaffen dürfen? Wozu habe ich gelebt, wenn du verschwunden bist?
Alles konnten Geschick und Menschen uns auferlegen, jeden Verzicht, das
ganze gehetzte Dasein, das wir gehabt haben: aber wir müssen leben.
Zusammen leben oder zusammen sterben.«

»Zusammen leben,« sagte Lola, mit rascher Zuversicht.

»Durch mein Herz fließt längst nur noch dein Blut. Mit deinen Stimmungen,
die mich unbewußt mitergreifen, deiner Unruhe, die auch mich verzehrt, und
deiner süßen Liebe, an der ich trage, fließt mir stündlich dein Blut zum
Herzen. Wer dich trifft, trifft mich: und ich will leben. Heute hab' ich
erfahren, daß ich's will.«

»Auch ich. Wärst du nicht gekommen, ich hätte ihn getötet! . . . Aber du
bist gekommen. Zum zweitenmal hast du mich aus der Ferne gehört, als ich
dich beschwor. Und diesmal brachtest du die Tat mit!«

Sie sann: »Die Tat, an die ich nicht glaubte, die ich von mir wies, und
nach der mich im Grunde immer verlangt hat. Die verachtete Tat, die alles
löst.«

Da sagte er:

»Mir ist es nun, als hätte ich mich längst nach dieser Tat gesehnt.«

. . . Sie langten an. Der leere Platz mit seinen kleinen alten Häusern, um
den riesigen, bröckelnden Kirchengiebel geschart, stand fahlblau in
Dämmerung. Sie gingen die geschweifte Mauer zu Ende; schon neigten sich
über Lola die stillen Bäume ihres Geliebten. Arnold schob die Pforte
zurück: -- da entstürzte der Gasse drüben eine schreiende Fratze.

»Gewählt ist Pardi!«

Der Schreier wütete an den schläfrigen Häuschen hin, zwang ihnen, mit
Läuten und Stampfen, seine Zeitungsblätter auf, zog aus den letzten Winkeln
alles was lebte, an sich, um sich her, und teilte seine Kunde aus.

»Gewählt ist Pardi!«

Sie schlossen hinter sich die Pforte. Zwischen den Steinbildern in ihren
schwarzen Laubnischen gingen sie auf das Haus zu. Es lag am Ende dieses
Schattenganges rosig in Abendluft und umstanden von seiner Wache steiler
blauer Schwertlilien. Lola brach das Schweigen.

»Er wird das Parlament nicht betreten. O! ich habe den Mut, es zu wollen
und auszusprechen. Er soll sterben, damit wir leben können. Wir wollen
nicht länger schlecht, als seine Knechte leben. Denn das waren wir. Denken
und Zweifeln hatten uns rechtlos gemacht. Durch Verstehen waren wir unfähig
geworden, eine Hand zu erheben, sei es nur, um uns vor Schmutz zu behüten.
Wir glaubten uns edel kraft unserer Reinheit: und wurden doch von ihr durch
Verwirrung in Niedrigkeit geführt. Allzu gerecht, wird man Sklave. Ein Volk
von Würde und Menschlichkeit ist ungerecht gegen seine Herren und befreit
sich.«

Der Blick jenes berußten Menschen erschien ihr, der in der Säulenhalle der
Uffizien, stolz auf sein Volk, ihr in die Augen gesehen hatte. In ihr
zitterte sein Stolz. Sie sah ein Aufleuchten von tausend Gesichtern, die
Geste der Denkmäler, die klatschenden Hände, den Ruhm eines Volkes. Und
plötzlich ein anderes Auge: bräunlich weiß, schon starr, und an seinem
Rande die tote Träne.

»Was erschreckt dich, Lola? Du bist bleich. Dir wird schwach?«

»Claudia ist tot. Ich hatte sie lieb: warum mußte sie schimpflich sterben?«

»Lehne dich an mich! Nimm einen tiefen Atemzug aus dieser Luft; der Abend
hat so viel Ruhe und Kraft. Sieh, wie stark um uns her die Schwertlilien
stehen!«

»Du bist stark! Ich breche nachträglich zusammen. Ja, stütze mich! Ich weiß
nicht, was mich mehr ängstigt von allem Erlebten: der Freiheitsstolz so
vieler, oder der Tod einer armen kleinen Sklavin.«

»Laß dich über die Stufen heben, meine Lola. Wir sind frei und ruhig.
Bleibe in Ruhe auf dieser Terrasse, die uns lieb ist, stütze deinen schönen
Kopf an das Haus, das uns kennt, und warte, bis ich zurück bin.«

»Du gehst?«

Da er schwieg:

»Nun weiß ich's wieder.«

Tränen entstürzten ihr.

»Das Schwerste steht noch bevor, und ich versage schon.«

Er sah zu Boden.

»Wenn ich ausbleibe --«

Da sprang sie auf.

»Du kannst zweifeln? Nein! Du weißt: in derselben Stunde stürbe auch ich.«

Sie sanken, die Augen geschlossen, gegen einander.

Lola schob ihn sanft zurück.

»Laß, ich habe meine Kraft wieder. Du wirst siegen!«

»Deine Augen entzünden so meinen Geist und mein Blut, daß ich alles glaube,
allem vertraue.«

»Du wirst siegen, weil er gerichtet ist. Er hat es gefühlt: hätte er mich
sonst gehen lassen?«

»Welch Leben, Lola! Wir sind gemeinsam wiedergeboren.«

Sie reckte sich, breitete die Arme aus. Den Kopf im Nacken:

»Nimm mich! Ich bin frei . . . Nein: warte! Du bist zu stürmisch: ganz
Held. Ich bewundere dich; auch das habe ich von dir gewollt. Aber ich will
auch das andere nicht verlieren, das du warst.«

Er kniete hin. Sie lehnte auf seinem Kopf ihre Hände aneinander und beugte
sich sanft, bis ihr Mund seine Stirn traf. Mit kleiner, süßer Traumstimme
redete sie.

»So bleibe noch! Ich sehe über dich hinweg in das Dunkel, das
heranschwillt. Die Steige waren blau und sind nun schwarz. Das Leuchten der
Gartengötter ist vergangen, zugleich mit den Vogelstimmen. Das Leben ist
tief, fühlst du's? Ich höre Schattenfüße auf dem Rasen. Ein letzter Strahl
biegt sich um deinen Kopf. Du gehst nun und kämpfst um mich. So brauche ich
dich; denn ich bin nur eine Frau. Dann kehrt mein Held heim zu mir, legt
seine Stirn in meine Hände und ist sanft und mein Gefährte. So brauche ich
dich; denn ich bin nur eine Frau . . . Wirst du Geduld mit mir haben,
Lieber?«

Er flüsterte:

»Die Prüfung liegt hinter uns. Jeder von uns weiß, was er sagt, wenn er
sagt: Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich,« sagte Lola.

Albert Langen Verlag für Litteratur und Kunst München

Heinrich Mann

Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy

I. Diana, II. Minerva, III. Venus

Wohlfeile Ausgabe in einem Bande (1006 Seiten) Umschlagzeichnung von _Th.
Steinlen_ Preis geheftet 5 Mark, gebunden 6 Mark 50 Pf.

Das litterarische Echo, Berlin: Heinrich Manns Romantrilogie ist eine
Dichtung von unerhörter Gewalt, die aus unserer epischen Litteratur einsam
emporragt; es ist eine Kunst ohne Vorfahren. Oberflächlicher Betrachtung
mögen Gabriele D'Annunzios Schriften für die »Göttinnen« vorbildlich
erscheinen. Aber niemals sind dem Italiener Charaktere von solch
plastischer Schärfe gelungen, niemals Schilderungen von so glühender
Farbenpracht, wie sie uns aus jeder Seite dieses Buches entgegen leuchten.
Bei D'Annunzio die prasselnden Fronten eines kunstreichen Feuerwerks --
hier der himmellodernde Brand unverlöschlicher Leidenschaft. . . . »Die
Göttinnen« ist das Meisterwerk eines ganz Großen.

Hermann Bahr im Neuen Wiener Tagblatt: . . . Ein wunderbares Buch, so
reich, so fein, so klug!

Die Zeit, Wiener Tageszeitung: Es ist schon lange kein Buch geschrieben
worden, das der Herzogin von Assy gliche. In Deutschland vielleicht
überhaupt noch keines. . . . Von Anfang an reißt einen dieses Buch im
Taumel mit sich fort. Es steigt einem zu Kopf. Man genießt es,
vertrauensvoll, wie edlen alten Wein, der die Lippen kühlt und süßer Düfte
voll ist, der aber, kaum getrunken, heiß ins Blut schießt und es wild durch
die Adern jagt. Man ist bezaubert und berauscht.

Druck von Hesse & Becker in Leipzig



Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [p. 65]:
   ... munter. »Setzst du dich nun gemütlich zur alten ...
   ... munter. »Setzt du dich nun gemütlich zur alten ...

   [p. 88]:
   ... »Schreibe doch an, Nene.« ...
   ... »Schreibe doch an Nene.« ...

   [p. 93]:
   ... Schritte; dann, ernhaft, mit verhaltenem Zorn: ...
   ... Schritte; dann, ernsthaft, mit verhaltenem Zorn: ...

   [p. 117]:
   ... Halbtag; drunten knirrschten die ersten Karren. Lola ...
   ... Halbtag; drunten knirschten die ersten Karren. Lola ...

   [p. 156]:
   ... Selbstbewußtsein. Eine geheime Leidenschaft war zu ererkennen ...
   ... Selbstbewußtsein. Eine geheime Leidenschaft war zu erkennen ...

   [p. 241]:
   ... »Doch! Gerade du! Paß auf, du wirst im folgen, ...
   ... »Doch! Gerade du! Paß auf, du wirst ihm folgen, ...

   [p. 244]:
   ... Insel. Lassen Sie mich's wiedersucheu!« ...
   ... Insel. Lassen Sie mich's wiedersuchen!« ...

   [p. 281]:
   ... Uud drinnen, flüsternd: ...
   ... Und drinnen, flüsternd: ...

   [p. 347]:
   ... »Ich sehe nämlich voraus, das ihr beide unglücklich ...
   ... »Ich sehe nämlich voraus, daß ihr beide unglücklich ...

   [p. 365]:
   ... sie für ihre Woltäterin. Einige Jungen überrannten ...
   ... sie für ihre Wohltäterin. Einige Jungen überrannten ...

   [p. 403]:
   ... Die Bernabei sah sie zwinkernd au. Weinerlich: ...
   ... Die Bernabei sah sie zwinkernd an. Weinerlich: ...

   [p. 444]:
   ... Lola fühlte, und hatte kein Bewußsein davon, Pardi ...
   ... Lola fühlte, und hatte kein Bewußtsein davon, Pardi ...

   [p. 572]:
   ... auf. Ihr Hut, ihr Jakett lagen noch da; sie machte ...
   ... auf. Ihr Hut, ihr Jackett lagen noch da; sie machte ...

   [p. 579]:
   ... Schriften für die »Göttinen« vorbildlich erscheinen. ...
   ... Schriften für die »Göttinnen« vorbildlich erscheinen. ...





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