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Title: Kino und Kunst - Lichtbühnen-Bibliothek Nr. 2
Author: Häfker, Hermann
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Kino und Kunst - Lichtbühnen-Bibliothek Nr. 2" ***


                      Hinweise zur Transkription
                      ##########################

Der vorliegende Text wurde anhand der 1913 erschienenen Ausgabe nahezu
originalgetreu wiedergegeben. Lediglich ganz offensichtlich falsch
gesetzte Satzzeichen wurden stillschweigend korrigiert. In heutiger
Zeit seltene und unübliche Schreibweisen (z.B. „größern“ anstatt
„größeren“; „der Kino“) wurden dagegen durchgehend beibehalten.

Die Buchausgabe erschien in Frakturschrift; zur Heraushebung einiger
Passagen wurden diese dort gesperrt gesetzt. Im obigen Text sind
solche Stellen mit Tilde-Symbolen umgeben (~gesperrt~). Insbesondere
fremdsprachige Ausdrücke wurden im Original in Antiqua-Schrift
gesetzt, was hier mit Unterstrichen wiedergegeben wurde (_Antiqua_);
Einzelbuchstaben in Aufzählungen und Überschriften sind hiervon
aber ausdrücklich ausgenommen.

Gegenüber dem Original wurden die folgenden Korrekturen vorgenommen:

    # p. 11: „kinemotographische“ → „kinematographische“
    # p. 14: „von denn“ → „von denen“
    # p. 28: „da man sich“ → „daß man sich“
    # p. 30: „des brandenen“ → „des brandenden“
    # p. 33: „dieser Zweiges“ → „dieses Zweiges“
    # p. 36: „wiederspiegeln“ → „widerspiegeln“
    # p. 40: „nüchterne“ → „nüchterner“; „entsprechender“ →
             „entsprechenden“
    # p. 42: „Hauptflicht“ → „Hauptpflicht“; „lang am“ → „langsam“
    # p. 47: „Handgeberden“ → „Handgebärden“
    # p. 53: „zuempfehlen“ → „zu empfehlen“
    # p. 54: „menschlich-künstlischer“ → „menschlich-künstlicher“
    # p. 61: „einen unsichtbare“ → „eine unsichtbare“
    # p. 63: „Ganze“ → „Ganzes“
    # p. 64: „daß“ → „das“
    # p. 66: „ales“ → „alles“; „diese“ → „diesen“



                 [Illustration: Lichtbühnen-Bibliothek

                            Kino und Kunst

                          Von Hermann Häfker

                            [Illustration]

                  ~Zweites Heft~:: ~Preis eine Mark~]



                            Kino und Kunst

                          von Hermann Häfker

                     Lichtbühnen-Bibliothek Nr. 2
                  Herausgegeben von der Lichtbilderei
              Volksvereins-Verlag GmbH., M.Gladbach 1913



Inhalt


    A. ~Allgemeines:~

    1. Der Ruf nach Kunst                                              5

    2. Das Wesen der Kinematographie                                  11

    3. Die künstlerische Aufgabe                                      16


    B. ~Die Herstellung des Films:~

    1. Die künstlerischen Gesichtspunkte in der technischen
    Filmherstellung                                                   19

    2. Technische, industrielle usw. Lehr- und
    Verdeutlichungsaufnahmen                                          24

    3. Geschichtliche und kulturgeschichtliche
    Aufnahmen, Bildnisse                                              27

    4. Die Schönheit der natürlichen Bewegung                         32

    5. Gestellte Bilder                                               41

    Die Schönheit der menschlichen Bewegung (Tanz, Gebärde)

    Kino und Humor

    Das Drama


    C. ~Die Vorführung:~

    1. Kinematographie oder Kinetographie                             49

    2. Das „Programm“                                                 55

    3. Einzelheiten                                                   62

    4. Wege                                                           70



A. Allgemeines


1. Der Ruf nach Kunst

Die gewaltige Bewegung, der von viel tausend Stimmen aufgenommene Ruf
nach „ästhetischer Kultur“, nach „Kunst überall“ ist hervorgegangen
aus der eigentümlichen Not einer Zeit, die anders ist als eine je
vordem dagewesene. Ehedem thronten in ihren Tempeln erhabener Würde
die Künste: Musik, Malerei, Bildhauerei, Dichtkunst, Baukunst. Der
Widerschein der Schönheiten, die sie schufen, fiel spärlich und
milden Glanzes auf das ganze Alltagsleben, seine Gebrauchsgegenstände
und seine geistigen Äußerungen. Gelehrte stritten sich um höchste
Schönheit und echten Stil, Kirchen, Fürsten und Reiche führten den
„Geschmack“. Wo Kunst war, war eine große Idee, großes Wollen,
großes Können, Lebensverdichtung. Aus den Werken der Kunst strömten
große Empfindungen, stark bewegend und doch fern von allen
Alltagsleidenschaften in den Beschauer über. Der Anblick von Kunst war
ein Fest, weil er selten wie ein Festtag war.

Heute ist diese Zeit auf Niewiedergewinn verloren. Bildmäßiges und
Plastisches, Wort und Klang, Farben und Linien, früher die Wahrzeichen
jener Festtagskunst, strömen wie Hagelwetter auf die Nerven des
modernen Menschen -- besonders, aber nicht allein, in der Großstadt
-- ein. Beim Aufstehen begrüßt ihn neben dem Frühstück ein dickes
neues Buch: die „Zeitung“. Lauter zu uns gesprochene Worte, geistige
Beeinflussung mannigfacher und auf Nervenaufpeitschung berechneter
Ordnung, die sich durchaus der Mittel der Literatur bedient. Aus
unserm Hausrat, bis hin zu unserer Tapete spricht die malerische und
plastische Phantasie vieler Menschen, ja vieler und großer Zeiten
zu uns. Ein Gang durch die Straße führt uns an Ankündigungssäulen,
Wandflächen voller Bilder und lauten Reden vorbei. Die Ladenfenster
entfalten alle Kräfte der Seelengewinnung, die ihre Hersteller den
raffiniertesten Erzeugnissen der Künste abgesehen haben. Die Buchläden
locken und reden mit tausend Zungen auf uns ein. Im Café warten unserer
-- und selbst in der volkstümlichen Lesehalle -- Hunderte von glänzend
„illustrierten“ Zeitschriften und Zeitungen. Musikkapellen spielen
dazu. Abends verwandelt sich die Großstadtstraße in ein Feuerwerk,
dessen jähe und blendende Pracht unsere Sinne und Gedanken lange
abzieht und im Banne hält. Man darf sagen: Wer überhaupt für diese
Dinge noch Sinne hat (dem in der Großstadt gesund Aufgewachsenen wächst
in der Tat, wie mir scheint, bald eine Art Schutzhaut, aber die reifend
von draußen hereinkommen, sind die Opfer) -- ich sage: Wer diese Dinge
ernst nimmt, naiv zu verarbeiten sucht als das, als was sie sich doch
durchaus geben, als ~Künste~ -- der braucht kostbare Entwicklungsjahre,
um sich überhaupt hindurch zu finden. Um hindurchzukommen, vom ersten
Begeisterungsrausch durch erwachende innere Gegenwehr bis zur nötigen
Abgebrühtheit. Denn alles, was ~hier~ mit den Mitteln der Künste
arbeitet, erzeugt nicht reine, sondern Fuselrauschstimmung, wenn es
nicht hohen und reinen Dingen dient, aus hohem und reinem Geiste
hervorgegangen ist. Es ist nicht nur die ständige Aufpeitschung der
Sinne, die an all dem liegt, durch kitzelnde Genüsse -- es ist alles
auch „Ausdruck“. „Ausdruck“ von einer Wirklichkeitswelt und einer
Gesinnung, die dahinter liegt.

Die Gesinnung, die sich durch dies alles ausdrücken will, die Ideen,
die dies alles suggerieren will, sind nicht selten, nicht menschlich
hoch und echt. Vom einfachen Anpreisen und Einredenwollen mehr
oder weniger zweifelhafter Bedürfnisse bis zum zwecklosen Spiel
mit Ausdrucksformen vergangener Zeiten, ist dies alles gemeine
Alltäglichkeit. Gemeine Alltäglichkeit in aufregende festliche
Gebärden gekleidet. Massenhaft -- nicht selten und echt -- ist
schon die ~Erfindung~, die dem meisten dieser Art zugrunde liegt.
Das ist das eine Eigentümliche. Und diese Massenerfindung wird nun
-- das ist das zweite -- mit einem geringsten von Menschenmühe,
automatisch-chemisch-maschinell ~vervielfältigt~. Nicht, wie die Platte
des Holzschneiders, langsam und mühevoll einige hundert Male -- sondern
Tausende und Hunderttausende von Malen, mühelos, schnell und billig. So
kommt es, daß ein einziger Einfall, etwas Gemeines mit künstlerischem
Mittel (bildlich, musikalisch, dichterisch) „auszudrücken“, morgen
nicht ~eine~ Verkehrsecke in einer Stadt schändet, sondern von den
Wänden, Läden, Schaufenstern und Lichtgerüsten ~aller~ Städte und
vieler Dörfer -- nicht Deutschlands, sondern ganz Europas, oft der
ganzen Welt -- herunterschreit. Und jeder Tag bringt Neues. Noch nie,
solange es eine Geschichte gibt, hat jeder einzelne Mensch, er mag
wollen oder nicht, so viele eindringliche, mit den wirkungsvollen und
oft gewandt gehandhabten Mitteln der Künste hämmernde Eindrücke auf
Sinne, Herz und Denken aushalten müssen, wie der, der heute mittags aus
Bureau und Geschäft tausend Schritte bis zu seiner Mahlzeit geht.

Lange Zeit war der ~Buchstabendruck~ die einzige herrschende Form,
Kunstähnliches -- in Worte geprägte Gedanken -- in Massen zu verbreiten
und zwangsweise, unausweichlich, dem Menschen aufzudrängen. Die
literarischen Künste waren die einzigen, die darunter leiden mußten.
Wer Musik oder ein gutes Drama hören wollte, wen’s nach Bildern oder
plastischen Werken gelüstete, der mußte sich noch extra rüsten, mußte
Konzerte oder Theatersaal, Ausstellung oder Museum aufsuchen.

Da kamen neue Erfindungen herzu, die auch alle andern Künste wehrlos
machten. Von denen, die billige Vervielfältigung architektonischer
und neuerdings plastischer Werke ermöglichten, schweige ich hier.
Aber man kam jetzt auf den Weg, diejenigen Sinneseindrücke, die durch
„Wellen“ physikalischer Natur erzeugt werden, dadurch festzuhalten und
zu vertausendfachen, daß man diese Wellen -- die optischen und die
akustischen -- sich selbst in festem Stoffe fangen und „aufschreiben“
ließ. Von dieser so gewonnenen „Naturmatrize“ konnte man nun so viel
„Abdrücke“ nehmen, wie man wollte. Der Stoff zum Auffangen optischer
(Gesichts-) Eindrücke (Lichtwellen) war die photographische Schicht,
der zum Auffangen phonetischer (Gehörs-) Eindrücke (Klangwellen),
war die -- verschieden zusammengesetzte -- Walze oder Platte der
Phonographen und die Schablonen automatischer Musikinstrumente.
Phonograph (Grammophon, Pianola) und Photographie waren die neu
gewonnenen Techniken. Von ihnen hat zuerst die Photographie mit ihrer
immer größern Vervollkommnung einen Siegeszug durch die ganze Welt
genommen. Infolge ihres bescheidenen und gewissenhaften, hingebenden
Automatismus wurde sie zu einer wertvollen Helferin ästhetischer Kultur
durch massenhafte Verbreitung künstlerischer Einzelvorlagen und eine
selbständige Deuterin und Weiserin der Natur durch fälschungslose
Wiedergabe gewisser Seiten von ihr. Sie ist es, die -- vielen noch
unbewußt -- uns auch aus den meisten bildlichen Eindrücken der
Straße und des öffentlichen Lebens anspricht, die scheinbar Werke
ursprünglicher Handkunst sind.

In ihrer einfachen Gestalt als Augenblicksaufnahme hat die Photographie
gewiß mehr Segen als Unheil gestiftet. Dann aber arbeitete der
Erfindungssinn einen Weg zu ihrer Anwendung aus, durch den sie
plötzlich eine unheimliche und verheerende Macht über menschliche
Gemüter und menschliche Kultur gewann. Sie wurde zur ~Kinematographie~.
An sich nichts als eine planmäßige, durch einen wunderbaren Mechanismus
ermöglichte Vorführung tausender von Augenblicksaufnahmen nacheinander,
ahmte doch ~diese~ Photographie nicht nur Licht und Schatten eines
toten Bildes nach, sondern selbst Plastik und Bewegung lebendiger
Wirklichkeit. So trat sie mit einemmal als Nebenbuhlerin nicht nur
der Malerei, sondern selbst des Schauspiels, in einem gewissen Grade
selbst der Plastik, und in Verbindung mit der Grammophonie selbst
der Oper und der Vortragskunst auf. Mit den verdichteten Reizen
dieser seelenaufrüttelnden Künste verband sie etwas von der trockenen
Stilisierung des Puppentheaters und fügte hinzu die -- äußerste
Wohlfeilheit sensationeller Jahrmarktsgenüsse.

Sie fügte den automatisch erzeugten und vervielfältigten kunstähnlichen
Eindrücken, die sich dem Straßenmenschen heute aufdrängen, ihn
zauberhaft locken, vielleicht den mächtigsten hinzu. Auch um deswegen
den mächtigsten, weil sie schon von allen am kunstähnlichsten ist,
will sagen, ihre Gebärden von einer ganzen Reihe und von den an sich
schon eindrucksvollsten Künsten borgt. Sie hat dadurch wirklich
Theatern „Konkurrenz“ gemacht, das beweist doch: sie hat Zuschauer
an sich gezogen, die „Kunst“ gesucht haben, und denen die Kunst der
Schaubühne mindestens zu umständlich zugänglich und -- zu teuer war.
Die Eindrücke, die sie bot, waren allerdings jetzt fast ausnahmslos das
Gegenteil künstlerischer: sie waren nicht „rein“, sondern beruhten auf
einem Aufschäumen solcher Instinkte, deren gemeinste auch die Hunde
am Prellstein erregen: Geschlechtsgefühle, Angst, Gier, Eitelkeit,
erkitzeltes Gelächter, fuselhafte, anstrengungs- und maßlose,
begeisterungsüßliche Rührsamkeit. Und das „Große“, das durch sie zu den
Besuchern sprechen wollte, denen diese Kunst „Ausdruck“ wurde, war nur
oder fast nur das großgeschriebene „Verdienen“!

Unter dieser Sintflut von „Ausdrucks“-Techniken, die die Welt seit
wenigen Jahrzehnten -- auf Niewiedervergehen -- überschwemmten,
bäumte sich, nach anfänglichem Versagen, die gesunde Widerstandskraft
des menschlichen Geistes auf. Große Bewegungen strebten, unter
verschiedenen Namen, in diese neue Welt von Geisteseinwirkungen das
hineinzubringen, was ihr fehlte: ~Gewissenhaftigkeit~. Aber mit
„moralischen“ Schlagworten wäre man hier nicht weit gekommen.

Denn wer um ~Moral~ prozessiert, hat die Last des Beweises zu tragen.
Wer aber jemandem nachweisen will, daß er irgendetwas getan oder
geschaffen habe aus „unmoralischer“ Gesinnung, der müßte in den Herzen
lesen können. Die Behauptung, moralisch in gutem Glauben gewesen zu
sein, ist schwer zu widerlegen. Es kann auch eine Tat oder ein Werk als
Leistung durchaus moralisch sein, das in der Wirkung, wenigstens auf
einen Teil der Beeinflußten, unmoralisch ist. Wer einen Mann oder ein
Werk als „unmoralisch“ verklagt, muß den objektiven Beweis der Unmoral
führen: Moral aber ist zumeist Gesinnungssache.

Unter den kinematographierten „Dramen“ befinden sich viele, die
von „Moral“ nur so triefen, und die doch das Verwerflichste und
Verbildendste sind, das erdacht werden kann. Anderseits haben nicht nur
„Schund“-Werke, sondern es haben auch Goethes „Werther“ Selbstmorde,
Schillers „Räuber“ Totschläge angeregt. Von einem Schaffenden „Moral“
fordern, heißt seine Gewissenhaftigkeit ansprechen -- sie nachzumessen
gibt es keinen menschlichen Maßstab. Die moralische Forderung ist
kein Schutz gegen das Verderbliche in Literatur, Kunst und denjenigen
Tätigkeiten, die sich künstlerischer oder kunstähnlicher Mittel
bedienen.

Die ~künstlerische~ Forderung aber wendet sich nicht an den
Schaffenden -- dem kann sie nach getaner Arbeit oder bei mangelnder
persönlicher Veranlagung nichts nützen -- sondern sie wendet sich an
den Empfangenden. Sie öffnet ihm Sinne und Bewußtsein, um das Echte,
das im ungeweihten Ohr von jedem Lärm übertönt wird, zu vernehmen, sie
gibt ihm Schutz, Gegengift und das Mittel zu bewußter Ablehnung des aus
fauler Quelle Geflossenen. Die „künstlerische“ Forderung umschließt
die moralische: weil das künstlerische ~Sehen~ etwas erschauen läßt,
das Widerstandskraft und einen Widerwillen gegen jede Sinnenreizung
niedrigerer, „unmoralischer“ Natur erzeugt. Was wir als schmutzig und
gemein erkennen, ist niemals Kunst,-- nicht weil es schmutzig und
gemein ist, sondern weil es andere Nerven in Mitschwingung versetzt
als die, durch die wir das Künstlerische erkennen. Wohl können auch
künstlerische und gemeine, schmutzige Bestandteile in einem Werke
vereint sein, aber eben sie sofort zu unterscheiden, die einen
anzunehmen, gegen die andern immun zu bleiben, das ist wesentlicher
Segen der „ästhetischen Kultur“, d. i. „Sinnenschulung“.

Diese Einsicht hat gewiß sehr dazu beigetragen, die von verdienstvollen
Stellen gepredigte „Ausdruckskultur“ so allgemein angenommen werden zu
lassen, aber es wäre ein Irrtum, sie nur um dieser, ihrer „moralischen“
Wirkung willen, fordern und pflegen zu helfen. Man kann ebensogut
den künstlerischen Charakter eines Erzeugnisses darin erblicken, daß
es die ~Gesundheit~ des Genießens wie des Schaffens, oder daß es den
~wirtschaftlichsten Kraftverbrauch~ auf beiden Seiten im stofflichen
wie im geistigen Sinne verbürgt. Beides sind Werte, deren sich der
einzelne wie die Gemeinsamkeit praktisch nur dadurch vergewissern kann,
daß sie all ihr Tun wie ihr Genießen zur Kunst erheben. Suchen wir aber
die Bedeutung der künstlerischen Forderung und ihre innere Kraft ganz
allgemein gerade für die unserer Zeit eigentümliche Not zu erfassen,
so kommen wir immer wieder darauf, daß sie auf eine ~Eindämmung~ des
Vielzuvielen, auf die Wiederunterwerfung der herbeigerufenen Maschinen-
und Automaten-Massenproduktionsgeister unter den wollenden menschlichen
Geist hinausläuft. An die Stelle der Herrschaft mechanischer
Bequemlichkeiten und automatisch-stofflicher Sinnenreizungen setzt sie
wieder den wählenden und ablehnenden Menschen, an die Stelle passiven
Leben-über-sich-ergehen-Lassens setzt sie das Tun, das Schaffen, das
Eigen- und Selbstsein, die Bejahung und Erhöhung des Lebendigen in uns.
Sie setzt ~uns selber~ an die Stelle unserer Lebensverzierungen und
Nervenkitzelmaschinen.

In diesem Sinne ist’s, daß angesichts der besondern Not der Zeit die
alte Forderung wieder allgemein wurde, ja erst eigentlich feste Gestalt
und tiefere Begründung erhalten hat, daß wir ~alles~, was wir tun, ~als
Kunst tun sollen~. Eine Sache künstlerisch machen, heißt aber, nach
Schiller, in letzter Linie nichts anderes, als sie „vollkommen“ machen:
sie so innerhalb der durch ihre stoffliche und technische Eigenart,
ihrer wirtschaftlichen und Zweckbedingungen gesteckten Grenzen bis zum
Rande mit eigengefühltem ~Leben~ anfüllen, daß das Ergebnis in jedem
einzelnen Falle das ~höchsterreichbare~ ist.

Die Kinematographie zur Kunst erheben, sie als Kunst ausüben,
läuft also darauf hinaus, sich zunächst einmal so ehrlich und
unvoreingenommen wie möglich in ihr Wesen und ihre Bedingungen zu
vertiefen, sich ihrer Grenzen wie ihrer Aufgaben und Möglichkeiten
bewußt zu werden. Zu zweit ist dann die Aufgabe, diese gegebenen
Möglichkeiten innerhalb des Gebots des ~Echtbleibens~ so mit Leben zu
erfüllen, daß das fertige Lichtschauspiel, wie irgendeine andere Kunst,
der lebendigste „~Ausdruck~“ eines hinter ihm stehenden menschlichen
Wollens, menschlichen Empfindens, Freuens und Leidens wird. Von diesem
Drange nach ~Fülle~ erfüllt, wird auch der Kinokünstler von selber
seine Arbeit nicht Wertlosem oder Alltäglichem widmen, sondern das
~Beste~ und Gehaltvollste hineinlegen wollen, das der Tag dem Tage
geben mag.

Stellen wir uns das Kinoschauspiel so von Seichtheit, Schmutz,
Geschmacklosigkeit, gehaltlosem Sinnenkitzel, vor allem von aller
Kräfteverschwendung und -verzappelung, von allem ~Zuviel~ gereinigt
vor, und erinnern uns dann an die geschäftliche Organisation auf
der es beruht, und an die es gebunden ist, so muß uns das Herz
höherschlagen. Dann würde allwöchentlich in aller weiten Welt aus
tausend weiten Stätten heitern, jedermann zugänglichen Genusses
eine Fülle reiner stärkender Geistesnahrung in alle Volksschichten
hineindringen, würden Volksschichten und Völker der Erde in einem
gewissen Grade in gleichen Empfindungen, Gedanken und Anschauungen, in
gleichem Wissen und ausgleichender Bildung zu einer Kulturmenschheit
zusammengewöhnt werden können. Das Kinoschauspiel vermöchte da mehr
als das gedruckte Wort, weil es seinen wirtschaftlichen Bedingungen
nach -- im Gegensatz zum Wort -- an eine sehr beschränkte und sehr
zentralisierte Erzeugung und an einige nur wenig zu vermehrende,
großartige Verbreitungsorganisationen gebunden ist. Und weil es, wie
schon bemerkt, vermöge seiner unmittelbaren Anschaulichkeit, seiner
sinnenpackenden Lebensähnlichkeit und seiner Voraussetzungslosigkeit
seltener, aber unvergeßlicher auf den Menschen, besonders den weniger
vorgebildeten wirkt.


2. Wesen der Kinematographie

Wir sprachen vom „Kinoschauspiel“, von dem wir hohe Wirkungen
erwarteten. Da werden wir von vielen mißverstanden worden sein. Im
gewöhnten Wortsinn versteht man unter einem „Kino-Schauspiel“ das,
woran die meisten unter „Kinematographie“ überhaupt zuerst und fast
ausschließlich denken: nämlich nicht das „Schauspiel“ besonderer Art,
das durch die kinematographische Bildervorführung und ihr Zubehör
-- Vortrag, Musik usw. -- im Kinotheater auf der Leinwand zustande
kommt, sondern ein der Bühnendichtung nachgeahmtes „Schauspiel“ --
eine Posse oder ein „Drama“ usw. --, dessen optische Erscheinung
zum Teil (ohne die Farben u. a.) vom Kinematographen aufgenommen,
vervielfältigt und zu einem Bilde verflacht wiedergegeben wird. Ein
wenig Nachdenken zeigt uns, daß diese Art von Kinoschauspiel in unsere
Auseinandersetzungen nur zum Teil und in einem besondern Sinne gehört.
Wir wollen im wesentlichen überlegen, wie wir die ~Kinematographie
selbst zur Kunst~ erheben können, und nur nebenbei fragen, in welchem
Verhältnis sie (als Dienende und Vermittelnde, als Aufbewahrerin und
Vervielfältigerin) zu andern Künsten steht. Zum ~Kinodrama~ (wie
wir’s mal nennen wollen) steht die Kinematographie in zweierlei
ganz verschiedenem Verhältnis. ~Entweder~ sie will nur dazu dienen,
dramatische Darstellungen, schauspielerische Leistungen von besonderm
Erinnerungswert der Nachwelt aufzubewahren: sie soll besondere
Regieleistungen, Glanzszenen berühmter Schauspieler, Bühnenvorschriften
usw. für Archive zu fachlichen oder kultur- und kunstgeschichtlichen
Zwecken festhalten. Dann kann sie ~selber~ „künstlerisch“ nur sein
durch eine besonders vollkommene Erfüllung ihrer technischen Aufgabe,
das Gewünschte dokumentarisch getreu, automatisch widerzuspiegeln.
Sie kann zu künstlerischem Werte steigen dadurch, daß sie hinter
das dramatische Kunstwerk völlig zurücktritt. Niemals aber würde
man die betreffende schauspielerische, dichterische Leistung selber
„kinematographische Kunst“ nennen. ~Oder~ es kann ein Schauspiel
erdacht, eine Szene gespielt werden nur zu dem Zwecke, in der
kinematographischen Wiedergabe zu wirken: zu dieser Art gehört oder
sollte gehören das meiste, was in Kinotheatern an „Dramen“ usw. gezeigt
wird. Hier ist weder das Spiel selber noch die kinematographische
Aufnahme das „Kunstwerk“, sondern das Kunstwerk ist erst die
Verschmelzung von beiden, das fertige Bild auf der Projektionsleinwand.
Man kann hier eigentlich weder von einem „Schauspiel“ (im gewohnten
Sinne) wenigstens nicht von einem „Drama“ sprechen noch von „zur
Kunst erhobener Kinematographie“, sondern man müßte einen ganz neuen
Namen suchen, wie es denn ja auch geschehen ist: kinematographische
Bilderspiele, Kino-Schattenspiele, lebende Bilder, Licht-Pantomimen o.
dgl. In der Hauptsache unterliegen solche Spiele dem Gesetzgebiet der
Dramaturgie, die ja angibt, wie ein Schauspiel aufgebaut, ein Spiel
beschaffen sein muß, je nachdem es etwa auf einer modernen Bühne,
einem antiken Theater, in einem Zirkus oder einem Puppentheater usw.,
kurz unter bestimmten Zweckgesichtspunkten zur Geltung kommen soll.
Mit diesen Fragen wird sich ja ein anderes Bändchen dieser Sammlung
ausführlich befassen. Wir werden an seiner Stelle nur insoweit darauf
zurückkommen, wie wir es von ~unserm~ Gesichtspunkt -- „Kinematographie
selbst zur Kunst erhoben“ -- zu streifen haben. Das allerwichtigste
aber ist für unsere Freunde, sich dies scharf vor Augen zu halten:
daß just die Wiedergabe oder auch Schaffung (in gewissem Sinne) von
bühnenähnlichen „Stücken“ wie überhaupt die Wiedergabe von „gestellten“
Bewegungsvorgängen weder die einzige, noch die wichtigste Aufgabe der
Kinematographie ist, und daß am allerwenigsten gerade da das Gebiet
ihres „Künstlerischwerdens“ liegt. Die Wiedergabe von dramatischen
„Sujets“, sei’s für Archive, sei’s für Belustigungszwecke ist vielmehr
nur eine (wenn auch ausdehnungsfähige und zurzeit besonders begehrte)
Betätigung ihrer Wesensaufgabe (in der allein sie auch ihr Emporsteigen
zu einer Kunst suchen kann): der durch Menschenhand und -nerv möglichst
wenig gefälschten, möglichst wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe von
natürlichen Bewegungen, auf Grund ihrer chemisch-automatischen
Selbstaufzeichnung.

Denn wenn wir uns fragen: was in aller Welt ist denn nun wohl dasjenige
an der Kinematographie, worin ihre ~Eigenart~ besteht, worin sie sich
also von allem andern verwandten -- Malerei und Zeichnung, Bühne und
Puppentheater, Augenblicksphotographie und Lichtbild, Beschreibung und
allgemeine Stimmungserregung, Schattenspiele und Kaleidoskop, und was
man sonst alles zum Vergleich heranziehen könnte -- unterscheidet,
das, was ihr keine andere Kunst oder Technik nachmacht, das, was ihr
unsere Herzen gewonnen hat, woran die Kulturmenschheit ihre stolzesten
Empfindungen und ihre höchsten Hoffnungen geknüpft hat -- so wird
doch keiner zur Antwort geben: dies Höchste und Eigenartige ist das
„Theaterstück“. Jede Bühne, jedes Puppen-, ja Kasperltheater hat
(sobald man vom künstlerischen Standpunkt daran tritt) unendlich
viel vorm Kinodrama voraus. Die Pantomime muß sich auf sehr wenige
Wirkungsmittel beschränken, um kinematographisch feststellbar zu sein,
und von dem wenigen kommt im fertigen Bilde wieder nur ein Bruchteil
zur Geltung. Wir werden ja darüber noch ausführlicher sprechen. Auf
jeden Fall brauchte nicht der ~Kinematograph~ erfunden zu werden, um
Theaterkunstwerke oder auch nur ihre Vorführung in weitern Kreisen
zu ermöglichen; und soweit er das letztere tut, tut er’s in denkbar
unvollkommenster Weise.

Nein, das vorerst unübertreffliche Neue und Eigene der Kinematographie
ist dies, daß sie -- innerhalb der ihr gesteckten Grenzen -- ~das
Schwarzweiß-Bild wirklicher Vorgänge~ (nicht nur Augenblickszustände)
~mit dokumentarischer Treue festhält, vervielfältigt und wieder
sichtbar~ macht. Wer die Kinematographie zur Kunst erheben, ein
kinematographischer Künstler sein will, kann es nur werden, indem er
diesem Ziele mit immer steigender Vollkommenheit durch Ausnutzung aller
in der Technik liegenden Möglichkeiten und ihre weitere Steigerung
nachstrebt. Das ist die neue Welt, die sich uns geöffnet hat, seit
die Kinematographie Wirklichkeit geworden ist. Vor 30 Jahren las ich
eine Novelle von einem Manne, der eine Muschel erfunden hatte, die
die im Äther umherirrenden Lichter und Klangwellen längst vergangener
Ereignisse auffing und wieder ordnete, so daß ihr Besitzer Cäsar
wandeln sah und Beethoven spielen hörte. Es war nur eine Illusion,
die Verzückung eines Wahnsinnigen gewesen. Künftige Zeiten werden
vermittels der Kinematographie und ihrer grammophonischen Schwester
Cäsaren und Beethoven von heute wieder erstehen lassen können, und wir
können’s bereits. Meere, die an meilenfernen Küsten wogten, sehen wir
wiederwogen, Raum und Zeit vergessend. Aber, das eben ist das Wertvolle
der Kinematographie: wir sehen sie nicht wogen, wie die Phantasie
des Malers oder die des Theater-Miedings sie sich und uns vorstellt,
sondern so, wie sie es wirklich zu einer bestimmten Zeit an einem
bestimmten Orte taten. Sie haben sich selber gemalt, keine Menschenhand
hat zitternde Striche hinzugefügt, dies Bild hat Beweiskraft.

~Das~ kann der Maler nicht, noch irgendein anderer Künstler. Der
Wert menschlicher Hand- und Körperkunstwerke beruht auf ihrer
Vereinfachung der wirklichen oder gedachten Naturmodelle zu „Motiven“.
Ist der Maler „Naturalist“ oder „Impressionist“, will er also von
den Sinnen Wahrgenommenes, recht „wirklich“ wiedergeben, so tut er
es indem er von den einzelnen körperlichen Erscheinungen, die den
festzuhaltenden Sinneneindruck ausmachten, „Abbildungen“ im möglichst
naturentsprechenden Mengenverhältnis nebeneinandersetzt. Wie dem
richtigen Dramatiker immer noch ein Baum „Wald“, dem Zeichner
einiges blätterähnliche Gekritzel einen „Baum“ „bedeutet“ -- so ist
dies „Mit-Bedeutungen-Spielen“ doch zuletzt das Handwerkszeug aller
Handkünste. Der Maler, der nachahmen wollte, was die Kinematographie
kann, nämlich „alles“ wenn auch nur in ~einem~ Ausdrucksmittel, dem
„Schwarz-Weiß“, wiederzugeben -- der wäre kein Künstler; er wäre
vielleicht ein Narr. Das kann nur die Natur selbst,-- sich selber
nachahmen, ein erstarrtes Spiegelbild von sich machen. Umgekehrt:
im Auswählenwollen, im Betonen bestimmter Empfindungserreger, im
„Komponieren“ und „Stellen“ von Bildern, da ist der Kinematographie wie
der Photographie überhaupt ein sehr enges Feld gesteckt. Da liegt ihre
Stärke nicht: und dann kann sie sich da auch nicht oder nur in enger
Grenze als ~Kunst~ bewähren. Die Wesensaufgabe der Kinematographie ist
nicht nur, „Wirklichkeit“ wiederzugeben, sondern vor allem auch ~die~
Wirklichkeit, die eben keine andere Technik oder Kunst wiedergeben
kann: die der freien, unbefangenen Bewegung in der Natur und all ihrem
Reichtum an Einzelheiten.

Bevor wir den Reizen und Möglichkeiten dieser Aufgabe nachgehen, müssen
wir das Wesen „der Kinematographie“ weiter betrachten. Es wird Zeit,
uns nun zu fragen: was ~ist~ nun die „Kinematographie“ -- ~was~ ist das
Enderzeugnis, der „Gegenstand“ unseres Kunstbestrebens?

Vor dieser Betrachtung geht’s uns wie vor einem blühenden Baume, dessen
Schönheit uns fesselte. Treten wir näher heran, so sehen wir seine
lichtgraue Wolke sich in eine wimmelnde Menge von Blüten, Blättern und
Zweigen auflösen, von denen jedes einzelne so schön, so vollkommen und
in sich abgeschlossen ist, wie uns vorher das Ganze erschien. Auch
„die Kinematographie“ besteht ja aus einer reichen Reihe einzelner
Betätigungen menschlichen Könnens, einzelner, von Menschen angeregter
mehr oder minder automatischer Vorgänge. Jede einzelne dieser
menschlichen Betätigungen, Anregungen und Überwachungen chemischer
Vorgänge ist, vollkommen ausgeübt, in ihrer Art eine Kunst. Und in fast
jeder einzelnen betätigen sich ja meist auch eine oder mehrere andere
Personen.

Da haben wir zuerst die kinematographischen Handarbeiten: das
~Aufnehmen~, das ~Festhalten~, das ~Vervielfältigen~ und das
~Wiedergeben~ des Bildes. Zum ~Aufnehmen~ gehört: die Vorüberlegung und
Wahl des Bildes, die Einstellung und Bewegung des Films im richtigen
Augenblick, die gleichmäßige Bewegung der Kurbel im richtigen Zeitmaß,
nachdem der Film richtig eingefügt und die Blende gewählt ist, die
gleichzeitige Beobachtung der Vorgänge (die der Film festhält), das
richtige Verstehen, auch Studium des Gegenstandes, seine Feststellung,
die Bezeichnung und Ordnung, der Schutz und die Versendung der
-- vom rohen Film in nichts zu unterscheidenden -- Negative. Das
~Festhalten~ des Bildes ist, bei allem Automatismus des Grundvorgangs,
doch ebenfalls in hohem Grade vom Verständnis und der Aufmerksamkeit
des Menschen abhängig: das Entwickeln bis zum richtig getönten, nicht
zu scharfen, noch weniger unscharfen Negativbilde, das Fixieren, das
Trocknen. Die ~Vervielfältigung~, das ein- oder hundertmalige Kopieren
„macht“ zwar eine Maschine, aber „besorgen“ muß es doch der Mensch,
der durch Regelung der Belichtung Schwächen des Negativs ausgleicht
usw. Das ~Wiedergeben~ endlich eröffnet eine verwirrende Fülle von
Möglichkeiten: die rein technische Führung des Films hinterm Objektiv
vorbei, die Wahl und Ausstattung der Bildfläche, die Unterstützung der
Bildwirkung durch das gesprochene Wort, begleitende oder umrahmende
Musik, Nachahmung von Naturgeräuschen, Vereinigung mit Lichtbildern
und anderm einschließlich beleuchteter Pausen zu einem harmonischen
Ganzen (Programmgestaltung) eben der „Vorstellung“, endlich die
Raumausstattung.

In etwas weiterm Sinne, und doch nicht unbeteiligt zuletzt auch
am künstlerischen Werte des Endergebnisses ist sogar der riesige
geschäftliche Apparat, der von zentraler Stelle aus das Programm
des kleinsten Vorstadttheaters regeln hilft. Das aber führt uns von
den beeinflußbaren, von dem ein Kunstwerk wollenden Menschenwillen
eingeschlossenen, zu denjenigen elementaren Bedingungen hinüber, die
-- wie die finanzielle und soziale Lage der Theaterbesitzer und ihres
Publikums -- einfach gegeben sind -- ohne deren Berücksichtigung aber
gleichfalls ein Kinoschauspiel etwas Unvollkommenes und daher auch
Unkünstlerisches sein würde.

All diese beeinflußbaren und unbeeinflußbaren Einzelheiten aber
haben alle nur (in unserm Sinne gedacht) ~ein~ Ziel, wenigstens
ein allen andern vorangehendes Ziel: ~die künstlerisch vollkommene
Gesamt-Kinovorführung~, das, was ich eingangs ~das zur Kunst erhobene
Kinoschauspiel~ nannte. Dieses Schauspiel, im höchsten Sinne des
Wortes, kann nicht zustande kommen, wenn auch nur eine einzige der
aufgezählten Handhabungen versagt hat, eine einzige der elementaren
Bedingungen unberücksichtigt geblieben ist. Genauer: das Endergebnis
kann nicht ein künstlerisch einwandfreies sein, wenn auch nur einer
der vielen, die an seinen Bedingungen mitgearbeitet haben, irgend
etwas anderes gewollt, an anders gedacht hat, als in erster Linie an
das Gesamtziel: das künstlerische Kinoschauspiel. Es gibt vor allem
~einen~ Gesichtspunkt, der namentlich in industrieller Arbeit den des
künstlerischen Wollens in den meisten Instanzen weit in den Schatten
zu stellen pflegt, nämlich bei den Angestellten den: wie kriege ich
am bequemsten so viel wie möglich Lohn, und bei den Leitern den: wie
machen wir soviel wie möglich Geld? Diese Frage und das sie begründende
Streben ist vollkommen berechtigt, wenn es sich dem unterordnet:
wie mache ich meine Sache so vollkommen wie möglich? Eine Erwägung,
die ja wohl an sich mit der erstern nur bei kurzsichtigen Leuten in
Widerspruch steht. Und die selber wieder in die Frage ausläuft: wie muß
ich’s machen, um zu meinem Teile dazu beizutragen, daß das Endergebnis,
das Gesamtprogramm im festlichen, menschenerfüllten Kinotheater ein
vollendetes Kunstwerk sei!


3. ~Der künstlerische Gegenstand~

Der „Zweck“ aller Kinematographie, und also der Gegenstand auch all
ihrer künstlerischen Bestrebungen ist -- wie dem Maler das Bild, dem
Baumeister das Haus -- die wirkliche ~vollendete Gesamtaufführung~.
Ihre Ermöglichung teilt sich in zwei sehr verschiedene Tätigkeiten:
erstens die ~Herstellung~ der nötigen Bilder und Apparate, zweitens
ihre Zusammenstellung unter sich und mit andern (Lichtbildervortrag
usw.) und ihre Vorführung, kurz die ~Vorstellung~. Wir wollen
dementsprechend die künstlerischen Aufgaben der ~Aufnahme~ und der
Wiedergabe getrennt besprechen. Sie werden von verschiedenen Personen
und Berufskreisen ausgeübt, ihre Mittel und Aufgaben sind verschieden,
das Gemeinsame an ihnen ist aber dies, daß die Aufnahme und Herstellung
der Bilder lediglich dem Endzweck der Wiedergabe dient.

Der Kinoaufnahmekünstler muß sich von zweierlei Gesichtspunkten leiten
lassen. Einerseits schwebt ihm die ~Vorstellung~ vor, zu der er einen
möglichst herrlichen, naturgetreuen und wirkungsvollen Beitrag liefern
will -- auf der andern Seite ist er sich der engen Grenzen bewußt, die
ihm in seinem Streben sein Stoff und seine Technik weisen. Künstlerisch
wertvoll kann nur ein Kinobild sein, das eben auf kinematographischem
Wege auch das vollendet wiedergibt, worauf es ankommt: nicht also
ein schönes Stück kinematographierter Natur, sondern ein schön
kinematographiertes Stück Natur. Diese technischen Grenzen der
Kinematographie sehen wir aber sehr häufig außer acht gelassen, und
daher wollen wir sie uns, soweit sie für die Aufnahme in Betracht
kommen, recht klar vor Augen halten.

Der Kinematograph gibt weder alles sich Bewegende wieder, noch gibt
er es so wieder, wie das Auge es sieht. Er ist zunächst an sehr enge
Beleuchtungsgrenzen gebunden, wodurch neun Zehntel aller Gegenstände
für uns von selber wegfallen, darunter fast alle Aufnahmen in
geschlossen Gebäuden, selbst wenn sie sehr licht sind. Für unsere
Breiten kommen ferner Frühling und Herbst sowie trübe Wintertage
kaum in Betracht, und von den übrigbleibenden nur die hellsten
Tagesstunden. (Von Atelieraufnahmen mit künstlichem Licht usw. sprechen
wir am besondern Orte.) Sodann sieht unser Apparat nicht wie wir,
frei in die Landschaft hinein, er kann nicht sein Auge rechts und
links schweifen lassen, noch weniger es abwechselnd auf Nähe und Ferne
einstellen. So gibt er also nur einen kleinen, keilförmigen Ausschnitt
aus einer Naturszenerie. Ist er auf weit eingestellt (d. h. ein
„weitsichtiges“ Glas genommen), so ist der Ausschnitt um so schmaler
und spitzer; ist er dagegen nahsichtig (von kurzer Brennweite), so gibt
er nur nahe Gegenstände richtig, ferne dagegen verschwommen wieder. Da
er nur mit ~einem~ Auge blickt, so zeigt er die Gegenstände auch nicht
körperlich (plastisch), wie wir sie sehen, sondern bildhaft flach.
Er gibt auch ihr scheinbares Größenverhältnis (Perspektive) nicht
falsch, aber anders als das Auge, und die Nähe und Ferne verschieden,
je nach der Brennweite des Objektivs (Aufnahmeglases) wieder. Meist
sind die Gegenstände im Vordergrunde zu groß und hinten zu klein.
Dieser Übelstand wirkt besonders auffällig an sich bewegenden Dingen
oder Personen, die aus dem Hintergrunde nahend, unnatürlich schnell an
Größe wachsen. Auch durch andere Umstände ist die Zahl der Bewegungen,
die der Kinematograph „richtig“ wiedergibt, beschränkt. Wie die zum
Beschauer senkrechten, so gibt er auch schnelle Querbewegungen,
besonders aus der Nähe, falsch wieder: sie lösen sich in ihre
einzelnen Augenblicksaufnahmen auf, und erscheinen grob flimmernd. Da
ferner der Apparat seine Schaufläche nur mühsam und begrenzt ändern
kann, so kann er auch einer ununterbrochenen Fortbewegung in ~einer~
Richtung schlecht folgen. Bleiben also als mögliche, mindestens als
kinematographisch vollendet wiederzugebende Bewegungen aus technischen
Gründen solche übrig, die sich bei genügendem Licht in bestimmter,
einigermaßen gleichmäßiger Entfernung auf beschränktem Bildfelde
abspielen und auch bei Wegfall der plastischen Erkennbarkeit gut
unterscheiden lassen. Diese Bedingungen ändern sich nur wenig, wenn der
Apparat selber, z. B. von einem fahrenden Zuge aus, bewegt wird.

Aufs neue schmilzt die Zahl der in Betracht kommenden Aufnahmen
gewaltig zusammen infolge des Verhaltens der lichtempfindlichen Schicht
gegen Farbenunterschiede. Der Kinematograph gibt Farben an sich
überhaupt nicht wieder. Deshalb müssen wir auf all die Naturbilder
verzichten, deren Reiz und Herrlichkeit wesentlich in ihrer Farbe
liegt. Diese ebenso wie die minder farbigen muß der Aufnehmende im
Geiste gleichsam in die „Schwarz-Weiß“-oder Licht- und Schattenwirkung
übersetzen, um sich vorzustellen, wie der Anblick im fertigen Bilde
sein wird. Der Kinematograph gibt zwar nicht die Farben, aber an
ihrer Stelle den Farben~wert~ in verschiedenerlei Grau „ausgedrückt“
wieder,-- und zwar diesen anders als unser Auge. Uns leuchtend
erscheinende Farben, wie rot und gelb, wirken dunkel, dunkle, wie blau,
dagegen licht, und das im Kinematographen noch mehr wie sonst in der
Photographie, weil hier der Ausgleich mittels besonderer Filmschichten,
Gelbscheibe und Entwicklung unmöglich oder doch selten und nur zum
Teil möglich ist. Mit Rücksicht darauf muß sich also der Aufnehmende
mehr als „Zeichner“ denn als „Maler“ fühlen. Was einem Bilde Ausdruck
und Deutlichkeit verleiht, sind große deutliche Umrisse und große
gleichmäßig getönte oder gleichsam getuschte Flecken. Jenes reizvolle
Vielerlei und Durcheinander in der Natur, wenn es auf Farben oder
blendendem Glanz beruht, ist nichts für ihn. Nur dann, wenn es sich auf
eine reizvolle „Zeichnung“ zurückführen läßt, wenn ein Vielerlei von
„Formen“ ist, wird es auch in seinem Bilde als reizvoller und deutlich
erkennbarer Reichtum wiedererscheinen.

Die verschiedenen Verfahren, ~Naturfarben~ zu kinematographieren,
leiden noch an zu großen Mängeln, und soweit sie überhaupt praktisch
verwertbar sind, sind sie noch -- wie Urbans „Kinemacolor“ -- Monopole
einzelner Firmen. Gewiß wird auch hier eines Tages etwas Vollendetes
hervortreten; einzelne Kinemacolorbilder sind sogar schon mit Vergnügen
zu betrachten. Aber noch sind die technischen Mängel -- besonders
falsche Wiedergabe der Farbenwerte und das Flimmern -- zu groß, um
diese Vorführungen in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen zu können.

Wir müssen uns ferner bewußt bleiben, daß das kinematographische
Bild, eben weil es ja in Wirklichkeit aus Tausenden von Bildchen
zusammengesetzt ist, all der individuellen Behandlung in Entwicklung,
Fixage und Vervielfältigung, aller Retouche und Nachhilfe unfähig
ist, durch die man in eine Augenblicksaufnahme oft eine ganze Menge
persönlicher Auffassung hineinzulegen vermag. Selbst in Beziehung auf
die Wahl des Bildausschnitts läßt es nicht so viel Freiheit wie das
Einzelbild, da eben Rahmen und „Komposition“ des Gegenstandes sich
während der Aufnahme in unvorhergesehener Weise ändern können.

Endlich liegt eine Beschränkung, die zwar in jeder Kunst mitspielt,
in der Kinematographie besonders nahe: unter all den prächtigen
und herzbewegenden Bewegungsbildern in der Natur muß man auf die
verzichten, die -- zu lange dauern. Der Grund liegt nicht nur darin,
daß eben doch die Mängel eines Kinobildes im Vergleich mit einem
Naturvorgang so groß sind, daß auch die beste Aufnahme auf die Dauer
langweilen würde. Wenn nicht nur Farbe, Plastik, Perspektive und
Ausdehnung fehlen oder unvollkommen sind, sondern auch alles, was
nebenbei das Ohr hört, Vogelgesang und Donnerrollen, Wasserrauschen
und Käfersummen, und was wir fühlen und riechen: Blumenduft, Luft
und Winde -- da werden wir uns doch bewußt, daß wir auch im Besitz
der Kunst, „die Natur sich selbst aufschreiben zu lassen“, nicht
glauben dürfen, sie meistern zu können. Außerdem wirkt aber hier die
ökonomische Frage besonders stark mit. Filme sind so teuer, daß eine
stundenlange Aufnahme ein kleines Vermögen verschlingt und daher
nur gewagt werden kann, wo das Ergebnis etwas von Anfang bis Ende
Fesselndes hat. Immerhin sind lange dauernde Aufnahmen technisch nicht
unmöglich und finden zuletzt ihre Grenze nur im Hinblick auf die
fertige Herstellung, die weder zu lang noch zu eintönig sein darf.



B. Herstellung des Films


1. ~Die künstlerischen Gesichtspunkte in der technischen
Filmherstellung~

Die ~rein technische~ Tätigkeit von der Aufnahme bis zur Herstellung
des fertigen Bildes ist zwar im wesentlichen auf die Anregung
und Überwachung automatischer Naturvorgänge, ihr vollkommenes
Auswirkenlassen und die Auswahl unter ihren Ergebnissen beschränkt,
bietet aber eine Menge Möglichkeiten, auch auf das künstlerische
Endergebnis einzuwirken. Der Grundsatz muß hier sein, die Echtheit und
Wahrheit der Naturselbstwiedergabe in allem zu wahren und zu fördern,
und nur da, wo man ohne Verletzung dieser Bedingung die Wahl hat
zwischen dem, „wie der Mensch es sieht“ und dem, „wie die Glaslinse es
sieht“, sich geschmackvoll nach der Seite des erstern zu entscheiden.
Unwahr darf das Kinobild auf keinen Fall werden, aber in allem muß
seine Wirkung in der ~Vorführung~ als Maßstab vorschweben. Da müssen
wir allerdings auf einzelne, an eine vollkommene Vorstellung zu
stellende Anforderungen vorgreifen.

Soviel ist klar, daß das bloße Abrollen nach einer guten Naturaufnahme
noch kein Kino-Schauspiel ist, oder doch in den seltensten Fällen.
Der Vorführer oder Regisseur der Vorstellung muß in der Lage sein,
einen Unterschied des Kinobildes von der Wirklichkeit auszugleichen:
die Plötzlichkeit und Unvorbereitetheit, mit der es sich abrollt,
und die Undeutlichkeit mancher Einzelheiten. Mit andern Worten: ein
kinematographisches Bild muß psychologisch vorbereitet und erläutert
sowie szenisch ergänzt werden können. (Vortrag, Lichtbilder,
Naturgeräusche usw.) Dazu gehört aber vor allen Dingen, daß der
Vorführer oder Erläuterer selber weiß, was er darstellt, und daß er
~mehr~ davon weiß, als das Bild selbst verrät. So merkwürdig es klingt:
trotz zahlreicher geschwätziger oder schwungvoller gedruckter Beigaben
und Erläuterungen von Filmfirmen, fehlt doch zu den meisten Bildern
so gut wie alles, um dieses Bedürfnis der Regie zu befriedigen. ~Es
bleiben nicht nur fast alle Einzelheiten, die ein Bild interessant
und wertvoll machen, in den meisten Fällen unvermerkt und unerläutert,
es sind nicht nur viele der gegebenen Erläuterungen falsch, sondern
es sind sehr häufig selbst die Bezeichnungen ganzer Bilder und Szenen
falsch~. Das liegt nur zum Teil an der Verwechslung der Negative auf
dem Wege von der Aufnahme durch die Entwicklungsräume zum Bureau,
an ihrer mangelhaften Bezeichnung und unordentlichen Aufbewahrung,
an Mißverständnissen und Übersetzungsfehlern oder gar absichtlicher
Sucht des Namengebers nach Sensation und Aktualität. Es liegt in der
Hauptsache in Versäumnissen bei der Aufnahme, und diese wieder zum
Teil in mangelnder Vorbereitung der Aufnahme. Zunächst einmal müßte
es selbstverständlicher und eiserner Brauch bei jeder Naturaufnahme
(worunter ich jede nicht gestellte geographische, geschichtliche,
sonst wissenschaftliche usw. verstehe) sein, daß sich dabei außer dem
Kurbeldreher („Operateur“) und seinem etwaigen technischen Gehilfen
jemand befindet, dessen einzige Aufmerksamkeit darauf gerichtet
ist, den Gegenstand der Aufnahme scharf zu beobachten, über jedes
einzelne Vorkommnis genaue Notizen zu machen oder nötigenfalls einem
Stenographen zu diktieren. Das letztere wird z. B. nötig, wenn etwa
ein Zug von Militär oder hervorragenden Persönlichkeiten, eine
ethnographisch interessante Straßenszene, das mikroskopische Gewimmel
in einem Wassertropfen usw. aufgenommen wird, oder Naturszenen, die
starke Überraschungen und eine Menge interessanter Einzelheiten bieten,
wie etwa Vulkanausbrüche o. dgl. Da ist ~ein~ Mann, unter Umständen
mehrere, vollauf beschäftigt, zu ~sehen~, und können nicht auch noch
schreiben. Die Notizen müssen sich auf alles Beachtenswerte erstrecken,
und etwa enthalten:

Genaue Angabe von Ort, Datum und Tagesstunde der Szene,

Sinn und Bedeutung des Gesamtvorgangs,

Namen und Kennzeichen aller Einzelheiten, der Örtlichkeit (Berge,
Wasser, Ansiedlungen, Bäume, Tiere) und Personen (Name, Aussprache[!],
Stand, Tätigkeit im Bilde, Kennzeichen, Einzelheiten der Tracht usw.),

Alle Abschnitte (Phasen) der Szene, Bewegungsvorgänge.

Dabei wahrgenommene, im Bilde nicht wiedererscheinende, daher in der
Vorstellung zu ergänzende Nebenerscheinungen, wie vor allem ~Geräusche~
(genaue Angaben), Farbenerscheinungen, Reden, Ausrufe, Gespräche,
Liedertexte, Tanz- und andere Musik usw.

Bei physikalischen und technischen Aufnahmen außerdem Maßangaben
(Messungen), wissenschaftlich nötige oder interessante Einzelheiten,
endlich (eventuell):

Metronomische Angaben über das Zeitmaß der Kurbeldrehung bei der
Aufnahme, für den Entwickler nötige Angaben über Beleuchtung und
technische Einzelheiten der Teilaufnahmen.

Es ist außerdem nötig, daß auf dem Rohfilm selbst an den Stellen, wo
ein Bild umspringt (Szenenwechsel), wenn Zeit dazu ist, nicht nur ein
Strich, sondern auch eine Notiz (eventuell Zahl) gemacht wird, so daß
Verwechslungen ausgeschlossen sind.

Erst eine so vorbereitete Aufnahme kann zum wertvollen Bestandteil
einer künstlerisch vollendeten, d. h. hier einfach sachgemäß
durchführten und individuell ergänzten Endaufführung werden. Nur sie
bietet die genügende Unterlage zum Erläuterungsvortrag, ermöglicht die
Vorbereitung der Zuschauer auf wichtige auftauchende Einzelheiten,
ihre Einführung in den Wert des Bildes, die intensive Anfeuerung ihres
Interesses und Belebung ihrer Phantasie, die Vervollkommnung der
Illusion durch Geräuschnachahmung, die Herbeischaffung ergänzender
Lichtbilder, die Vorführung im richtigen Zeitmaß. Sie erhöht aber auch
den wissenschaftlichen und Sammelwert des Bildes um ein Vielfaches,
ja macht es unter Umständen zu einem Unikum. Man glaubt nicht,
wie schwierig, ja unmöglich es ist, in vielen, ja in den meisten
Fällen auch gute Kinonaturaufnahmen nur einigermaßen ihrem Inhalt
nach zu bezeichnen, besonders wenn man in Betracht zieht, daß ein
Kinobesitzer endlich nicht die Professoren aller Fakultäten zu Rate
ziehen kann. Wer hat alle Städte des Orients gesehen, wer kennt die
abergläubischen Zeremonien aller Wilden Polynesiens. Wer ist zugleich
mit allen wichtigen Persönlichkeiten einer Staatsaktion, mit jedem
Protoplasmaklümpchen im Wassertropfen vertraut, und wer findet sich
wiederum ohne weiteres in schwierige Kolbengänge und Räderspiele
von Maschinen hinein? Geradezu unmöglich ist diese Forderung dem
Kinobesucher selbst gegenüber, der ein Bild, noch dazu mit all seinen
optischen Mängeln, zum erstenmal an sich vorbeihuschen sieht. Aber
ebenso praktisch unmöglich, mindestens wochen- und monatelange Arbeit
erfordernd, ist es in den meisten Fällen auch für den vielseitig
gebildeten Berufsmenschen. Dennoch wissen wir alle, daß gerade
Natur- und technische Vorgänge, so fesselnd sie rein sinnenmäßig
als Bewegung einen Augenblick sein mögen, brennendes Interesse doch
erst erhalten, wenn uns gerade jene Wissenseinzelheiten dazu bekannt
werden. Jedenfalls kann ein nicht oder nur halb verstandenes Bild nie
harmonisch, also künstlerisch wirken. Zum ~Verständnis~ aber bedarf
jedes Kinobild der Vorbereitung, Erläuterung und Ergänzung, die nur auf
Grund von an Ort und Stelle gemachten Notizen möglich sind.

Freilich ist bei wenigem Nachdenken einzusehen, daß es nichts weniger
als einfach ist, diese Beobachtungen und Notizen zu machen. Vielmehr
kann das überhaupt nur ein fachmäßig und zugleich vielseitig gebildeter
Kenner des Aufnahmegegenstandes. Und dieser wieder wird in den meisten
Fällen von den aufzunehmenden Ereignissen einfach überrannt werden,
wenn er sich nicht lange vorher eingehend und gewissenhaft aus
Fachwerken und Vorstudien auf das zu Erwartende vorbereitet hat.

Nur natürlich ist’s und weiterhin im Interesse des Endzwecks gelegen,
wenn eben dieser wissenschaftliche Begleiter auch zugleich der
vorbereitende und mitwählende ~Beirat~ ist, der ~vor~ jeder Aufnahme,
ja vor ihrer Vorbereitung gehört wird. Unglaublich viel Film wird an
höchst wert- und geschmackloses Zeug verschwendet, und die Firmen
wundern sich dann nachher, wenn weder das „Publikum“ sich dafür
interessiert, noch auch der so heiß umworbene Gebildete (Schulmann,
Fachgelehrte usw.) darauf eingeht. Natürlich kann eine Kinoaufnahme
nur vollkommen und dauernd wertvoll sein, die das vom Standpunkt
des Kenners Schöne und Wissenswerte aus einem Vorgang -- nicht aber
irgendwelches mehr oder minder bewegliche Drum und Dran -- umfaßt. Das
kann aber einer, der der beste „Operateur“ sein mag, nicht beurteilen.
Es ist auch eine körperlich unmögliche Aufgabe, zugleich die technische
und die künstlerische Seite einer Aufnahme in Beziehung auf Zeitpunkt,
Dauer usw. zu beherrschen oder gar sich noch Einzelheiten zu merken und
zu notieren.

Von der weitern technischen Behandlung der Aufnahme interessiert uns
zunächst die ~Entwicklung~. Diese geht meist sehr schematisch vor
sich. Das eingelaufene Negativ wird, vielleicht nach einer kleinen
Probeentwicklung, in ganzer Länge vielgewunden um einen Rahmen
gewickelt und nun der allgemeinen Lösung ausgesetzt. In Wirklichkeit
besteht aber ein solches Filmband meist aus einer Reihe von
Einzelszenen, die eine ganz besondere technische Behandlung verlangen.
Selbst wenn diese Szenen auseinandergeschnitten und besonders
behandelt werden, so ist das doch meistens zu spät, wenn erst die
ersten Bilder auftauchen. Gewissenhaft gemachte und beachtete Notizen
des Aufnehmenden selbst wären da von größtem Wert. Gerade bei der
Entwicklung eines Negativs sollte die Schablone und die Massenarbeit
ganz beiseite gelassen werden. Es ist Hand- und Qualitätsarbeit im
höchsten Sinne.

Eine Eigenart der meisten Bilder, unter denen die ~englischen~ eine
rühmliche Ausnahme machen, ist die ~Härte~ der Entwicklung. „Schärfe“
zwar -- die ja nur vom Aufnehmer abhängt -- halte ich für unerläßlich
in jedem Falle; künstliche Unschärfe zugunsten irgendeines Effekts wäre
unnatürlich. Aber Härte und Grellheit sind zu vermeiden: Lichter und
Schatten müssen übergehen, es muß Mitteltöne und nicht nur Gegensätze
geben. Das ist vor allem ein Gebot der Schönheit und Vollkommenheit
einer Aufnahme und deren Entwicklung, denn nur so kommen reiche
und zarte Einzelheiten zur Geltung. Es ist aber auch ein Gebot der
Gesundheit. Jede Vorstellung stellt an sich sehr starke Ansprüche an
die Augen, und schon bei der Aufnahme, mehr noch bei der Herstellung
der Bilder muß alles willkommen geheißen werden, was zur Schonung
der Augen beiträgt. In diesem Sinne kann man auch die sogenannten
~Tönungen~ gutheißen -- wenn sie diesen und keinen andern Zweck
verfolgen. Grelle oder dicke, als „Farben“ wirkende Tönungen, um
übertriebene, wunderbare oder gar gefälschte „Effekte“ hervorzubringen,
sind Greuel und verderben die schönsten Aufnahmen. Wer kennt nicht
tintenrote „Sonnenuntergänge überm Meer“ oder erdigblaue „Mondnächte“?
Tönungen müssen sich in zarten, unaufdringlichen Übergängen zwischen
den Grundfarben halten. Ein wenig Anklingen an eine im wirklichen
Bilde vorherrschende Farbe (grün für Waldlandschaft, blau für Meer und
Himmel,) mag ja nicht unter allen Umständen zu verbieten sein, ist aber
durchaus überflüssig. Die Tönung ist nichts anderes, als was das Papier
für die Zeichnung ist: das gesunde Auge rechnet es nicht mit zum Bilde.
Zurückhaltung! Tönungen sollen nur mal eine Abwechslung fürs Auge
bieten; sie müssen selten bleiben.

Über farbige Bilder muß ich offen reden. Die Farbengebung der meisten
Kinobilder ist Handschablonenarbeit; unendlich mühsam und kostspielig.
An eine naturalistische Ausmalung der Einzelheiten ist natürlich nicht
zu denken. Es handelt sich nur darum, einige Grundfarbentöne über den
Film zu verteilen: grün für Laub, blau für Wasser und Himmel, gelb für
Gebäude usw. Bei der Kleinheit des Gegenstandes kann’s nicht fehlen,
daß auch mal blaue Menschen und rote Hunde mit durchlaufen. Die ganze
Bemalung ist lediglich vom dekorativen Standpunkt aus zu werten: Farben
zu sehen, erfrischt nach so viel Grau in Grau das Auge, erleichtert
die Unterscheidung und ruht dadurch auch aus. Insofern mag man sich’s
dazwischen einmal gefallen lassen, sofern die dekorative stilisierende
Absicht deutlich erkennbar ist. Verbrechen gegen den Geschmack sind
aber Bilder, die, wie gewisse Varieteeszenen, ein an sich scheußliches
Farbengemengsel zeigen, das den Anspruch macht, „malerisch“ zu
sein. Das sind farbige Filme niemals, und Firmen, die sich achten,
sollten dergleichen ebensowenig wie liederliche, oberflächliche oder
aufdringlich kolorierte Sachen herausbringen.

Von größter Bedeutung für das Endergebnis ist nun noch die Tätigkeit
des oder der Film~verwalter~. Das fertige Negativ wird zunächst dem
Chef oder einem Vertreter vorgelegt, die damit wertsteigernd oder
entwertend umgehen können. Entwertend, wenn sie mit den einzelnen
Szenen herumspielen, die Reihenfolge in unnatürlicher Weise ändern,
fremde Bestandteile hinzufügen, zum Verständnis wichtige Einzelheiten
wegschneiden, (mit der bekannten Begründung: „Das interessiert unser
Publikum nicht“) ausführliche Szenen kürzen, sensationelle Titel und
Erläuterungsphrasen ersinnen, kurz in irgendeiner Weise die Aufnahme
fälschen. Sehr den Wert der Aufnahme steigern können sie aber, wenn
sie sich mit Hilfe des ersten Positivs, den Sinn des Dargestellten
an der Hand der Aufnahmenotizen vergewärtigen, technisch mißlungene
Szenen, auch wenn der Inhalt noch so schön ist, unbarmherzig streichen
(darunter mindestens alle, die weniger als 10 Sekunden laufen!), und
nun ein reichliches Tatsachenmaterial für verständnisvolle Vorführung
zur freien Benutzung der Interessenten ausarbeiten lassen. Daß die
einzelnen Szenen der zur Aufbewahrung aufgerollten Negative durch
zwischengesteckte, herausstehende, kleine Titelblättchen (angeklebt)
bezeichnet sein sollten, um später die Stellen für Teilkopien leicht
wiederzufinden, erwähne ich nur als besonders bemerkenswertes
Kennzeichen der allgemein zu wünschenden Ordnung in der Aufbewahrung.
Denn für künstlerische Musteraufführungen ist es oft auch von
ausschlaggebender Bedeutung, ob man bestimmte Szenen bestimmter
Aufnahmen jederzeit ohne Zeitverlust auffinden und kopiert erhalten
kann.

Die ~Positive~ sollten zwischen je zwei Szenen (Bildumsprung) einige
Zentimeter toten Film (unbrauchbarer Rohfilm oder schichtloser Film,
nicht aber bebilderter!) enthalten. Denn es ist, wie wir sehen werden,
für eine geschmackvolle Aufführung eiserne Regel, zwischen zwei
Bildszenen eine, wenn auch kurze Verdunklungspause zu machen. Das
ist aber, besonders ehe der Vorführer sein Bild auswendig weiß, fast
unmöglich, wenn die Szenen unmittelbar aneinander geflickt sind.


2. Technische und industrielle Lehr- und Verdeutlichungsaufnahmen

Von den Aufnahme~gegenständen~ fassen wir zunächst diejenigen ins
Auge, denen gegenüber sich der Kinematograph rein als Berichterstatter
zu verhalten hat: Aufnahmen von Gegenständen und Experimenten zu
Zwecken wissenschaftlicher, technischer, schulmäßiger Belehrung
oder Bekanntmachung, zu Archiv- oder Propagandazwecken. Ein
Vergleich mit der Augenblicksphotographie erinnert uns, daß auch
diese Aufgabe ~künstlerisch~ gelöst werden kann und muß. So gut wie
die Photographie von Maschinen, Waren, Innenräumen, Kunstwerken
usw. heute das Alleingebiet von Photographen ist, die in ihrer Art
Künstler sein müssen, so und noch mehr muß es die kinematographische
Wiedergabe entsprechender Sachen sein. Die schaudernde Erinnerung
an so manche pomphaft angekündigte kinematographische Abbildung von
Maschinen und Werkstätten im Betriebe, von Fabrikationsvorgängen oder
landwirtschaftlichen Arbeiten, selbst von Trachten und Moden genügt zum
Verständnis unserer Forderung. Was nützt uns ein Tohuwabohu riesiger
Hände, die im Wahnsinnstempo allerlei rätselhafte Manipulationen
ausüben, was ein Durcheinander von Rädern und Stangen, von denen einige
mal da und mal da verschwunden sind, wir wissen nicht warum?

Der Hauptfehler, der hier gemacht wird, ist die ungenügende
Berücksichtigung der Tatsache, daß die Rundheit (Plastik) der
Gegenstände in der Kinematographie verloren geht, und daß sich Hinter-
und Vordergrund nicht voneinander abheben. Ein weiterer Fehler, daß
man nicht bedacht hat, daß das Auge nicht mehrerlei zugleich zu
sehen und zu deuten vermag, und daß es nicht darauf ankommt, das zu
photographieren, was sich am meisten und sichtbarsten bewegt, sondern
diejenigen sich bewegenden Teile, die die eigentliche Arbeit tun. Es
trägt nichts zum Verständnis einer Nähmaschine bei, daß der Fußtritt
auf- und abwippt, und das Rad sich dreht, während die Nadel einen
rasenden Tanz vollführt.

Bei allen derartigen Aufnahmen ist die Herausschälung und
Heraustrennung des jeweils einen Arbeitsvorganges, auf den es ankommt,
erste Bedingung. Zunächst muß dabei (in der Regel; feste Vorschriften
lassen sich nicht geben, nur Hinweise) der natürliche Hintergrund
völlig abgetrennt werden. An seiner Stelle ist eine gleichmäßige Fläche
anzubringen, deren Schattenwert sich von dem der in Betracht kommenden
Gegenstände möglichst gleichmäßig unterscheidet. Desgleichen wird es
sich empfehlen, etwa bei Maschinen, die abzubildenden arbeitenden Teile
so zu umkleiden oder zu überstreichen, daß sie ebenfalls bestimmte,
ruhige, die Unterscheidung erleichternde Tonwerte im Bilde erhalten;
vor allem sind blendende Teile so zu behandeln, die im Bilde geradezu
hypnotisierend wirken. Nun sind diejenigen Bewegungen auszuwählen, die
sich, nötigenfalls unter Verlangsamung, kinematographisch deutlich
wiedergeben lassen. Alles andere ist überhaupt wegzulassen; zu seiner
Darstellung muß man entweder besondere Modelle machen, oder es dem
ergänzenden Lichtbild oder der Worterklärung überlassen. Einer der
verwerflichsten Fehler solcher Bilder (manchmal allerdings nur auf
der Wiedergabe beruhend) ist das übertriebene Zeitmaß entweder der
Aufnahme oder der Bewegungen selbst. Es entsteht, indem entweder die
Aufnahme zu schnell oder die Wiedergabe zu langsam gemacht wird. Mag
das den Zweck haben, Film zu sparen, oder will man dem Beschauer
imponieren, oder hält man überhaupt den Vorgang in seiner natürlichen
Abwicklung für zu langweilig: in jedem Falle ist es liederliche Arbeit,
die auf künstlerischen Wert keinen Anspruch hat. Ein weiterer hier
beliebter Fehler ist die viel zu kurze Dauer der einzelnen Aufnahmen.
Das Auge muß sich an das kinematographische Bewegungsbild noch viel
mehr als an das wirkliche gewöhnen, ehe es etwas davon versteht, ja
es überhaupt erfaßt. Bei Bildern von 2 oder 3 Sekunden Dauer, wie man
sie häufig zählen kann, ist das unmöglich. Dieser Sparsamkeit steht
auf der andern Seite viel zu große Ausführlichkeit in der Wahl der
Szenen gegenüber. Der Aufnehmende hat nicht das künstlerische Endziel
-- das Bild auf der Leinwand -- im Geiste vor sich, nicht was da
wirkt, ist für ihn maßgebend. Vielmehr zählt er sich auf, aus welchen
Einzelheiten theoretisch ein Fabrikationsvorgang o. dgl. besteht,
und glaubt nun, er müsse von jeder dieser Einzelheiten ein wenn auch
völlig unverständliches Pröbchen zeigen. Das ist natürlich Unsinn. So
wie ein Redner, um einen Vorgang klarzumachen, ihn nicht weitschweifig
von Anfang bis zu Ende erzählt, sondern das Wichtigste und am besten
Darstellbare herausgreift, das aber auch gründlich, deutlich und
eindringlich behandelt -- so muß es der Kinokünstler angesichts solcher
Aufgaben tun. Natürlich muß er sich da von Sachverständigen beraten
lassen.

Ein nicht auszurottender Aberglaube scheint es endlich zu sein,
daß derartige Ausnahmen nicht anders eingeleitet, beschlossen und
zwischendurch geziert sein dürfen als mit irgendwelchen Mätzchen:
komisch sein sollende Grimassen von Arbeitern, kokette Blicke
weiblichen Ursprungs, Possen und Albernheiten oder auch Scherze, die
~erzählt~ vielleicht nicht unwirksam sein würden, kinematographiert
aber widerwärtig sind. So sah ich z. B. einen Film, der die Entwicklung
-- ich glaube von Käsemaden -- zeigte und eingeleitet wurde durch
den überlebensgroßen Kopf eines Mannes, der höchst affektiert ein
Käsebutterbrot kaute, und es dann durch eine Lupe besah. Der Hersteller
hatte an die zu einer Einleitung passenden Worte gedacht. „Wenn
mancher wüßte, was er alles mit und in einem Käsebutterbrot verzehrt,
so würde er wohl.... usw.“ Er hatte aber nicht Stilgefühl, Geschmack,
künstlerische Sicherheit genug, um zu bemerken, daß eben dieser Gedanke
literarisch-rednerischer Verwertung vorbehalten bleiben muß, nicht aber
sich kinematographieren läßt. Aus dem einfachen Grunde, weil er sich in
einem wenige Sekunden dauernden Satze klar und appetitlich ausdrücken
läßt, während man ihn aus einem langen, quälenden Kinobild, wie aus
einem Bilderrätsel, doch nur mühsam und unsicher errät.

Das ist ein Gesetz für alle Kinoaufnahmen, daß man sich auf Bilder
beschränken muß, die etwas ausdrücken, was sich eben nicht auf
anderm Wege -- Wort, Lichtbild, Musik usw. -- etwa kürzer, besser
und verständlicher machen läßt. So besagt das Augenblicksbild einer
ruhenden Maschine (Diapositiv) in den meisten Fällen für ihre
Gesamtanlage viel mehr als eine Kinoaufnahme, in der die großen,
ganz äußerlichen, unruhigen Bewegungen eher stören. Um etwas
~klar~zumachen, ist die Kinematographie unter allen Umständen nur
ein ~Hilfs~mittel, und nicht das vollkommenste. Dessen muß sich der
Aufnahmekünstler bei technischen Aufnahmen besonders bewußt sein und in
der ~Beschränkung~ seine Meisterschaft suchen.


3. Geschichtliche und kulturgeschichtliche Aufnahmen, Bildnisse

Alle kinematographischen Bilder, die nicht „Dramen“ u. dgl.
Szenisches darstellen, führen auf dem Programm und in der Sprache der
Kinofachleute den seltsamen Namen „~Aktuelles~“. Damit pflegt man in
der Zeitungssprache Sachen zu benennen, die nur eine Bedeutung für
den ~Augenblick~ haben, Tagesereignisse usw., die morgen vergessen
sind, für „heute“ aber um so brennenderes Interesse haben. Die
Kinoleute verstehen darunter aber nicht nur Tagesereignisse, wie
Paraden, Besichtigungen, Morde, Unglücksfälle, oder die Stelle davon,
„wo es gewesen ist“, Modeschöpfungen usw., sondern überhaupt alle
„Natur-“, technischen, industriellen, gewerblichen, geographischen,
ethnographischen, zoologischen, botanischen und sonstigen
naturwissenschaftlichen Bilder, Sport- und Militärszenen usw. Diese
Benennung, die die Verhältnisse, wie sie sein sollten, umdreht, ist
bezeichnend für den Geist oder die Gedankenlosigkeit, die heute die
kinematographische Erzeugung und Vorführung beherrscht. Denn „aktuelle“
reine Tagessachen sind doch in Wirklichkeit die szenischen Bilder,
besonders die „Dramen“ und Possen, die eine Woche lang das künstlich
aufgestachelte Interesse des Publikums reizen und danach weder mehr
verlangt werden noch irgendwelchen Wert haben. Es sind Feuerwerke,
sensationell, kostspielig, aber vergessen wie verpufft. Gerade die
andern Aufnahmen aber, die in den Programmen wie in den Prospekten der
Filmfirmen etwa ein Zehntel bis ein Achtel der Gesamtbilder ausmachen,
gegen neun Zehntel bis sieben Achtel der „Dramen“, sind diejenigen, von
denen selbst die geringsten, einigermaßen richtig behandelt, geradezu
Ewigkeitswert haben würden -- weil doch selbst die geringsten davon
Dokumente von ~Wirklichkeiten~ sind. Es ist überaus bezeichnend, daß
die Kinoleute gerade diese Bilder nur unter der in den meisten Fällen
sogar unzutreffenden Etikette der „Aktualität“ in ihr Programm spärlich
einzuschmuggeln wagen. Nur darin, daß sie wirklich oder angeblich an
irgendein Tagesereignis anknüpfen, erblickt man ihren Wert, und nur
darum setzt man sie den Leuten vor. Und wer diese Bilder ansieht,
findet denn auch meistens: sie sind danach. Es sind zum großen Teile
flüchtig und verständnislos aufgenommene Bilder, die dem Namen nach mit
irgendeinem Tagesinteresse zusammenhängen. In Wirklichkeit sucht man
oft vergebens nach dem tatsächlichen Zusammenhang, oder man findet ihn
in einer lächerlichen oder ärgerlichen Nebensache. Wohl das albernste
dieser Art, worin sich aber das Kino auf den wenig entschuldbaren
Vorgang gewisser illustrierter Blätter berufen kann -- sind die Bilder
zu solchen Ankündigungen wie: „Das große Eisenbahnunglück bei X.“,
„Das Erdbeben zu Y.“ usw. Das Bild zeigt in Wirklichkeit nichts von
diesen Ereignissen als ihre ~Nachwirkung~, oder auch bloß den Ort,
wo sie stattgefunden haben. Das wäre schon minder lächerlich, wenn
es dementsprechend ehrlich angekündigt würde. Dann aber würde es
allerdings wenig mehr „ziehen“, weil sich die Besucher mit Recht sagen
würden, daß man sich eine tote Trümmerstätte -- falls sie überhaupt
Interesse biete -- am wenigsten in einem ~Kinematographen~ ansehen wird.

Ähnlich oberflächlich und äußerlich ist das Verhältnis des
Kinematographen zu andern Tagesereignissen -- wie sich schon in der
Auswahl kundtut. Was davon kinematographiert wird, ist fast ausnahmslos
nur der mehr oder weniger glänzende ~Schaum~ des Tages. Aufzüge,
Paraden, Fürstenbesuche, Begräbnisse, Rennen, Unglücksfälle -- jede
Woche aus einem andern Teile der Welt, und jede Woche dasselbe. Und
immer ~aus~ all diesen Ereignissen, unter denen gewiß manches auch
sein tieferes Interesse hat, die langweiligsten und von ihnen die
nebensächlichsten Dinge ausgewählt. Gewiß, es interessiert uns, die
Staatsoberhäupter mal zu sehen -- aber es interessiert uns nicht im
geringsten, immer wieder auch ihre Sonderzüge, geschmückte Bahnhöfe,
wartende Frackmenschen, begleitende Uniformen zu sehen. Ja, wenn wir
mit den bedeutendern darunter befindlichen Persönlichkeiten ~bekannt~
gemacht würden! Aber davon ist meist keine Rede. Oder wenn uns bei der
Gelegenheit ein Einblick in fremde Länder und Großstädte, Volks- und
Gesellschaftsszenen gegeben würde, wenn wir sähen, was derlei Dinge
in London, Paris, Neuyork, Bombay, Yokohama, aber auch in den Dörfern
oder Kleinstädten der Bretagne oder Schottlands von denen in Berlin
oder Tangermünde unterscheidet! Aber gerade das wird uns ängstlich
unterschlagen. Nur was sich an international gleichförmigen Untiefen
an den großen, leicht zugänglichen Verkehrsorten ansammelt, zeigt
uns der Kino. Das Bezeichnende, dauernd Wertvolle fehlt. Die Bilder
sind von äußerst geringem ~aktuellen~ Wert, gerade weil der Sinn für
den ~dauernden~, geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Wert der
Tagesereignisse fehlt.

Gerade hier liegt aber wieder einer der Schwerpunkte der
Kinematographie versteckt, gerade hier harren ihrer die stolzesten und
dankbarsten Aufgaben. Gerade hier vermag sie auch um künstlerischen
Lorbeer zu ringen, den ihr keine andere Darstellungstechnik streitig
machen kann.

Um Tagesaufnahmen dieser Art wertvoll zu gestalten, sie zu
künstlerischen Leistungen hohen Ranges zu erheben, muß man sie „_sub
specie aeternitatis_“, „unter dem Gesichtswinkel der Ewigkeit“ oder
doch wenigstens des spätern Geschichts- und Kulturgeschichtsschreibers
zu sehen suchen. Da schmilzt das Pomphafteste und Glänzendste oft zu
einem Nichts zusammen, und das Geringfügigste schwillt zu leuchtender
Bedeutung. Was aber ist’s, das alle Dinge glänzend oder unscheinbar,
zu geschichtlicher oder kulturgeschichtlicher Bedeutung erhebt? Ihre
innere Wahrhaftigkeit, ihre Echtheit, Unmittelbarkeit, vermöge deren
sie der Ausdruck der großen Gedanken, Gesinnungen und Interessen sind,
die das ~Leben~ eines Volkes im öffentlichen und im häuslichen Kreise
zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt ausmachen. Das Begräbnis
eines großen Volksführers, der blumenbeladene Sarg, die schwarzen
Pferde, der billig und geschmacklos verzierte Leichenwagen, die langen
Reihen wandelnder Hüte und Schirme -- was ~daran~ „Ausdruck“ einer
Zeitströmung, was ~daran~ kulturgeschichtlich interessant ist, dafür
genügt irgendein alltägliches Beispiel als Beitrag zu dem Stoffgebiet:
Begräbnissitten bei den Deutschen des 20. Jahrhunderts. Wonach wird
aber das Auge des Beschauers nach einigen Jahrhunderten einmal suchen?
Nach Zeichen dessen, was ~echt~ hierin ist, nach mehr oder minder
großem Ernst, innerer Ergriffenheit Beteiligter, vielleicht auch
nach dem Auftauchen von Persönlichkeiten, die eine über ihre Zeit
hinaus als wichtig empfundene Rolle spielen. Warum also lange Bilder
von Sargträgern und Türöffnern, Droschken und Regenschirmreihen? Der
Aufnehmende suche einen Platz, von dem aus vor allem ~Erkennbares~ zu
erfassen ist, und wähle einige wenige, aber bezeichnende Szenen aus.
Dasselbe bei Paraden, Prunkzügen, Fürsteneinholungen usw. Gewiß, es
gibt da stets einiges brennend Interessante. Aber das, nur das muß aufs
Bild kommen, ~das~ aber auch groß und deutlich, möglichst frei von
störendem Beiwerk. Jede Gegenwart hat den Drang, ihre Lebenserscheinung
durch Pomp und suggestives Beiwerk zu fälschen, das Echte und
Ursprüngliche zu überdecken, den erwünschten ~Schein~ durch Gebärden
und kostspielige Pracht übermächtig zu machen. ~Der~ Kinematograph
ist nur ein Stümper, der ~darauf~ hereinfällt. Und vor allem: das dem
Auge der Nachwelt zu erhaltende Leben beschränkt sich überhaupt nicht
auf die Vorgänge, von denen die Zeitung unter „Politik“, „Lokalem“
oder „Vermischtem“ breit und wichtig berichtet. Schon unendlich viel
wichtiger, weil ~ehrlicher~, ist das ganz gewöhnliche, sich unbeachtet
wähnende Alltagsleben. Haben nicht die Maler und Zeichner aller Zeiten
sich heiß bemüht, gerade dies festzuhalten: das Leben des Alltags in
Arbeit und Erholung, in Dorf und Stadt? Sitzt man nicht stundenlang
an der Kreuzung zweier jener Großstadthauptstraßen, oder an einem
Dampferlandeplatz, in einer Markthalle, vor einer Schmiede oder dem
Dampfkrahn in einem Hafen, um das „Leben und Treiben“ zu beobachten?
Macht nicht jeder Neuankömmling in Berlin, London oder Paris ein
oder mehreremal seine Fahrt auf dem Omnibusverdeck über das Meer des
brandenden Lebens hinweg? Und nun stellen wir uns einmal vor: wir
hätten heute ein Bild vom Töpfermarkt in Athen oder von der Promenade
bei den Tuilerien zur Zeit von 1789 oder die Aufnahme einer stillen,
sonnigen Stunde vor Goethes Gartenhäuschen bei Weimar. Ein paar
Gestalten in der idyllischen Tracht jener Tage wandelten vorüber, und
es käme vielleicht ein kleiner Mann daher, von seinen Hunden begleitet,
und verschwände in jener umlaubten Tür -- wir hätten einen Besuch des
Großherzogs bei Goethe belauscht. Was wären wir wohl bereit, Eintritt
zu zahlen, wenn wir so manchen Großen oder Kleinen, dessen Name heute
unser Herz höher schwellen macht vor Ehrfurcht oder es durch seine
Liebenswürdigkeit gefangen nimmt, ~sehen~ könnten? All jene Helden der
Künste und Wissenschaften, der Arbeit und des Krieges, die zu ihrer
Zeit doch nicht in Denkmals- oder Photographiepose, dafür aber echt und
lebendig im Kulturrahmen ihrer Zeit wandelten?

Freilich, hier brennt’s uns allen auf den Lippen: ein
Wachsfigurenkabinett der Vergangenheit würden wir keineswegs sehen
wollen. Das, was solchen kinematographischen Bildern einzig und
allein Wert verleihen würde, dann aber auch unausdenkbaren Wert, das
wäre: ihre ~Echtheit~. Ihre Ungewolltheit, das Fernsein jeder Pose
und jedes Photographierbewußtseins. Das allein ist ja wieder die
~Stärke~ unserer Kunst, während Malerei und Photographie, Bühne und
Geschichtsschreibung, Selbstbiographie und Memoirenliteratur in der
Herausarbeitung feiner oder grober ~Pose~ doch unübertreffbar sind.

Hier erkennen wir eine weitere Grundforderung an den
„Aktualitäten“-Kinematographen: ~belausche~ deine Opfer, photographiere
sie, ohne daß sie es wissen. ~Wenn~ sie es wissen, sind sie alle aus
ihrer eignen Haut heraus. Die einen schreiten, statt zu gehen, rollen
die Augen und streichen den Schnurrbart, lächeln und winken -- die
andern sind nervös und finster, gereizt und ablehnend; und wenn einer
sich noch so sehr bemüht, unbefangen zu bleiben, so wird’s doch um
so mehr „gewollte Unbefangenheit“. Hat man Erlaubnis nötig, so hole
man sie ~nachträglich~ ein. Wenn man vorher die Gelegenheiten genau
studiert und nötigenfalls Mittelspersonen ins Vertrauen zieht, so gibt
es Mittel genug, um dem Kinematographen ausgiebig zu erlauben, was sein
gutes Recht, seine Kultur- und Geschmackspflicht ist: das unbefangene
Leben zu belauschen.

Es erweitere also der Tageskinematographist sein Gebiet und fasse
nicht nur die äußerlichsten Prunk- und Sensationsereignisse des Tages,
die „Haupt- und Staatsaktionen, Unglücksfälle und Verbrechen“ ins
Auge, sondern auch das Leben von Künsten und Wissenschaften, Geschäft
und Börse, Handel und Wandel, Sitten und Ideen. Das erfasse er so
heimlich wie möglich da, wo es sich in packenden, lebensvollen Szenen
verdichtet, und trete da nahe genug heran, um das auch auf den Film zu
bekommen, worauf es ankommt: seelischen Gehalt und feinen Ausdruck. Er
kinematographiere den „Zeitgeist“.

Aber, erwidert man mir, wir kinematographieren nicht für die Nachwelt,
sondern für die Gegenwart. Die bezahlt uns bar; was nützen uns die
Liebhaber und Interessenten nach hundert oder tausend Jahren?

Sie nützen uns. Sie lehren uns nicht nur, schärfen nicht nur unsern
Blick für das, was nach Jahrhunderten „wissenschaftlich wertvoll“
sein wird, sondern damit zugleich für das heute wahrhaft Packende und
Wirksame. Was macht uns denn unsern Alltag interessant? Das Alltägliche
drin, was wir beständig sehen, was uns zum Gewohnten geworden ist?
Nein: nichts als eben jene Züge, die die flüchtige Gegenwart zu einem
Bestandteil des unaufhörlich unter ihr hinrauschenden Stromes der
Geschichte und Kulturgeschichte machen. Wir selber sehen so nur hinein,
wie man in das Plätschern auflaufender Wellen an einem Uferwinkel
blickt. Erst dadurch, daß unsere Augen für das die Zeit Überdauernde
in diesen Dingen geöffnet werden, erst ~dadurch, daß wir ihn mit den
Augen unserer Nachfahren sehen lernen~, wird unser Alltag uns zu
einem Bilde von brennendem Interesse. Das eben muß der Kinematograph
uns zeigen -- dann dient er sich, indem er ~uns~ zu einem dankbaren
Publikum macht. Indem sich der Aufnehmende in die Rolle des großzügigen
Geschichtsschreibers für künftige Geschlechter denkt, wird er zum
hinreißenden Schilderungskünstler für die Gegenwart.

Dann erweitert sich ihm auch sein Gebiet noch mehr. Unser öffentliches
Leben, das so uniform scheint, zusammengesetzt aus Geschrei und
Gebärden, die an allen Stellen des Erdballs gleich sind, wo sich
„zivilisierte“ Menschen zusammengeballt haben, ist nur ein dünner
Firnis über dem wirklichen, intimen Volksleben. Das gärt und wirrt
darunter -- ein unübersehbares Leben voller eigenartiger Sitten und
Gebräuche, Trachten und Feste, uralter, oft zu unbewußt gewordenen
Alltäglichkeiten erstarrter, seltsamer Überlieferungen voll einstiger
tiefer Bedeutung. Da leben alle Zeitschichten der Kulturentwicklung
von der germanischen Urzeit bis zur weltstädtischen Überfeinerung, von
durchsichtiger Lasur überdeckt, auf den verschiedenen Bodenarten des
Landes nebeneinander. Da haben alle einzelnen Berufe in Dorf und Stadt
eine Menge Eigentümlichkeiten, aus alter oder neuerer Zeit stammend,
die alle einst verschwinden werden. Die Tänze, die Familien-, Jahres-
und Ortsfeste schälen sich, je mehr man sie in ihrer Unberührtheit
aufsuchen gelernt hat, immer reiner und glänzender in überlieferter
Schönheit und altem Sinne unter Biergärten- und „Restaurant“-Betrieb
heraus. Noch das Botenfuhrwerk zwischen Stadt und Land würde,
getreulich kinematographiert, in seiner ausgeprägten Eigenart seltsam
erscheinen, wie ein Bild aus einer andern Welt.

All diese Dinge, denen sich noch viele anreihen ließen, wären,
verständnisvoll und mit künstlerischer Vollendung kinematographiert,
im heutigen Kino von ebenso hinreißender Wirkung wie für eine Zukunft
von oft unberechenbarem Werte. Künstlerisch vollendet würde auch darum
schon ihr Wert steigen, weil ~dann~, aber auch nur dann, Sammlungen und
Archive, vor allem auch sammelnde Liebhaber, sie zu erwerben trachten
würden. Denn daß ihr Sammelwert unbedingt steigen würde, das dürfte ja
wohl keinem Zweifel unterliegen. Auch hier harrt der Kinematographie
noch eine große, kaum im rohesten in Angriff genommene Aufgabe.

Was hier gesagt worden ist, gilt natürlich entsprechend für
völkerkundliche (ethnographische) u. dgl. Aufnahmen in allen Landen.
Das blöde „Aufnehmen“ des ersten besten, was dem Gesellschaftsreisenden
an Sichbewegendem vor Augen kommt, hat da gar keinen Wert. Hier kommt
in erhöhtem Grade noch die Kunst in Geltung, Aufnahmen ohne Wissen
der Betreffenden zu machen oder aber -- vielfach unvermeidbar -- eine
solche Anordnung zu treffen, daß die unbefangene Wirklichkeit aufs Bild
kommt. Die allein hat Wert.


4. Die Schönheit der natürlichen Bewegung

Was wir im bisherigen immer wieder betonen und im einzelnen deutlich
zu machen bestrebt sein mußten: die Pflicht der Sachlichkeit,
Deutlichkeit, Großzügigkeit, des Suchens nach dem geistigen Gehalt,
dem „Bedeutenden“ in einem Vorgang, die Pflicht der vornehmen
Selbstbeschränkung als Voraussetzung auch des künstlerischen Wertes
aller Kinoaufnahmen -- das gilt im selben Grade natürlich auch für die
Menge der „naturwissenschaftlichen“ Filme. Und es ist für sie ebenso,
wenn nicht noch mehr, nötig, an diese Forderungen zu erinnern. Was man
in Kinos an geographischen, ethnographischen, zoologischen, botanischen
usw. Bildern sieht, hat in den meisten Fällen -- im Gegensatz zum
hochpreisenden Titel -- schon sachlich einen sehr geringen Wert. Es
beunruhigt den Kenner und stößt ihn zuletzt ab, weil es selten oder nie
Darstellungen dessen sind, was an dem Gegenstand für den Kenner und
den denkenden Menschen das Wertvolle und Wesentliche ist -- sondern
irgendeine, vom Schiffbord oder der Heerstraße der Cook-Reisenden aus
leicht „mitzunehmende“, sich bewegende Nebensache. Was hier zu fordern
ist, ~worauf~ es ankommt, werden wir Gelegenheit haben, in einem andern
Bändchen dieser Reihe darzustellen. Jetzt wollen wir diesen Punkt
verlassen und uns dem zuwenden, was wohl den reizvollsten Gegenstand
der Kinematographie ausmacht, worin sie ihre mächtigsten künstlerischen
Wirkungen zu erzielen vermag: der Darstellung der ~Schönheit der
natürlichen Bewegung an sich~.

Ja, das ist ja das Eigenste unserer Kunst: die ~Bewegung~ der Dinge
in ihrem vollen Reichtum und ihrer unverfälschten, unbefangenen
Schönheit bildlich festzuhalten! Das ist ja das unerhörte ~Können~
in der Hand des menschlichen Geschlechtes von nun an: dieses Alles-,
Echt- und Lebendig-Malen! Dies das verheißungsvolle, sinn-, herz-
und hirnbildende: Millionen die Augen öffnen zu helfen, ihrem Gemüt
nahe zu bringen diese unerschöpfliche Schönheit des Alltäglichen
um uns: dies millionenfache Leben und Sichregen in Form und Farbe,
Licht und Linie, dies Schwellen und Breiten, Hasten und Flimmern,
das erschütternd Große und das nervbebende Kleine! Was für ein Feld
eröffnet sich da dem Aufnahmekünstler, zu ~sehen~, zu ~wählen~, zu
~verkünden~, zu ~begeistern~! Wenn das Leben eines Michelangelo nicht
reicht, um die Fülle des Formenspiels auf dem menschlichen Körper zu
fassen, wenn Max Liebermann nie auslernen wird, das Spiel von Licht
und Farbe auf Kohlfeldern und badenden Knaben nachzutasten -- wird es
künftig die nicht zu erschöpfende Lebensaufgabe von Generationen von
Kamerakünstlern sein, die ~Schönheit der natürlichen Bewegung~ auf dem
Filmbande zu fangen und zu entwickeln. Um so weniger können wir hoffen,
mit der Feder irgendetwas mehr davon zu geben, als den ~Weg~ zu zeigen,
um auch auf diesem Gebiete vom Pfuschen und Patzen, vom Kleben am
Stoff und an der „Sensation“ zum künstlerischen Schaffen zu gelangen.
Als ein Haupthindernis für das bisherige Gedeihen dieses Zweiges der
Kinokunst muß das Vorurteil bezeichnet werden, daß reine Naturaufnahmen
„erfahrungsgemäß“ „unser Publikum“ nicht interessieren. Dem können
wir hier nur entgegensetzen: „Erfahrungen“ in dieser Frage gibt es
außerordentlich wenige, und diese wenigen beweisen das Gegenteil. Wo
wirklich -- sei es durch die ausnahmsweise kostspielige und mühsame
Bemühung eines Begeisterten, sei es als mit-„untergelaufenes“ Endchen
Film etwa in einem in freier Natur gestellten Schauspiel -- Zuschauer
einmal Gelegenheit hatten, Naturaufnahmen, die die „Schönheit der
natürlichen Bewegung an sich“ darstellen, zu sehen, da habe ich
stets nur Ausrufe des Entzückens, bei einigermaßen zulänglicher
Dauer jubelnde Begeisterung bemerkt. Dafür hat ~jedermann~ Sinn --
nicht nur „Gebildete“, sondern ebenso Bauern, Arbeiter, Kinder und
Dienstmädchen. Allerdings liegt es auch an der Vorführung, d. h. der
Programmzusammenstellung. Ein Film voll feiner Schönheit darf nicht von
vor- und nachkommenden „Radau“-Bildern totgemacht werden. Er muß sich
auswirken können. Von dem hierzu Nötigen sprechen wir später.

Naturaufnahmen der in Rede stehenden Art, mit vollem künstlerischen
Bewußtsein zum genannten Zweck gemacht, sind freilich so selten, daß
man sagen kann, sie laufen nur zufällig mal mit unter. Das Beste
der Art, das man zu sehen bekommt, ist unter einem ganz andern
Gesichtspunkt gemacht: dem der „Sensation“. Der Titel spricht allemal
von „den größten ...“, „den schönsten ...“ (nicht „schönen“!), von
„gigantischen ...“, „weltberühmten ...“ usw. Naturschauspielen. Nur
unter diesem Gesichtspunkte bekommt man einmal die Niagara- oder
Viktoriafälle, die Geiser Neuseelands, Meeresbrandungen am Golf von
Biskaya, Eisberge u. dgl. zu sehen.

Wenn man aber recht beobachtet, so wird man finden, daß es -- wie
auch in der Natur selbst -- gar nicht die räumliche Ausdehnung, die
Außergewöhnlichkeit ist, durch die so ein Schauspiel die Zuschauer
fesselt, sondern im Gegenteil: gerade das Gewöhnliche, das Typische,
die Regelmäßigkeit, das in aller Welt sich Gleichbleibende, Intime
daran. Was mitwirkt, wenn wir gerade die Niagarafälle im Bilde sehen,
ist nicht ihre ~Größe~ -- für die uns dem Kinobild gegenüber der
richtige Maßstab fehlt -- und nicht ihre ~Weltberühmtheit~ -- die den
meisten heutigen Kinobesuchern ein Geheimnis ist --, wohl aber ihre
größere ~Deutlichkeit~ und ~Übersicht~. Zeigt mit gleicher Deutlichkeit
und Übersicht (wozu allerdings die eigenste Gabe des Kinokünstlers,
das ~Wahl~talent, brennend nötig ist), den einfachsten Wasserfall in
eurem nahen Walde, das Auflaufen der Wellen auf den Uferkieseln eures
Flusses oder Dorfbaches, das Spielen des Lichts im Blätterwerk eurer
Garteneinsamkeit, laßt statt linkisch erhaschter Tiger und Elefanten
Rehe, junge Hasen, Amseln im Blätterteppich, Schmetterlinge um Blumen,
Bachstelzen und Möven über den Wellen als „Staffage“ auftreten, und
-- wenn ihr’s mit künstlerischer Sicherheit gemacht habt -- wird die
Wirkung gleich, oft größer sein. Denn die Natur ist im Kleinsten wie
im Größten gleich reich, gleich wahr, von den gleichen, gewaltigen
Gesetzen beherrscht,-- gleich schön.

Es ist nicht die ~Größe~ der Bewegungsträger in der Natur, wodurch sie
fesselt, sondern das all ihre Bewegungen gleichmäßig beherrschende,
ahnungsvolle Gesetz der Schönheit. Der ~Rhythmus~ ist das Geheimnis
dieses Gesetzes. Der Rhythmus, der gleich packend zu uns spricht aus
dem regelmäßigen Anschlagen der Meereswellen an das Ufer -- gleichsam
in immer wiederkehrenden gleichen Strophen -- im unzerlegbaren
unendlichen Herniedersinken weiter Wassermassen und Nebelstaubsprühen
großer und kleiner Wasserfälle -- einem epischen Gesang vergleichbar
-- wie im stoßweisen Erzittern, langsamen Sichneigen, schnellen und
immer schnellern Hinsinken der gefällten Tanne und dem nachfolgenden
Hochemporsteigen einer Wolke von Staub und Erde. Das ist das ~Drama~,
die „Handlungs“-Dichtung der „Bewegung an sich“. Nichts Willkürliches
darin, das Sichtbarwerden eines Gesetzes, von Ketten kosmischer
Ursachen, Schritt für Schritt erwartet und doch erstaunend, ungeheuer
packend, in seiner majestätischen Wirklichwerdung.

Die Schönheit dieser Bewegung fließt aus zweierlei Quellen,
deren beider Darstellung Eigenrecht des Kinematographen ist: der
~körperlichen~ Bewegung der Dinge selbst und dem Spiele des ~Lichtes~
auf und in ihnen. Beide sind unberechenbar, obgleich beide durch das
Gesetz des Rhythmus gebändigt; und durch beider Zusammenwirken entsteht
im kleinsten Wassertropfen, auf dem einfachsten Blätterzweig selbst
in scheinbarer „Ruhe“ eine Welt von Bewegungsschönheit. Wer den Blick
dafür erworben hat, kann ihr in der Wirklichkeit stundenlang zuschauen.
Warum nicht auch ihrem Abbild auf der Projektionsleinwand?!

Diese „~Ruhe~“ ist geradezu das andere Wort, womit ich ebenfalls das
Schönheitsgeheimnis der natürlichen Bewegung auszudrücken vermöchte.
Auch das ist etwas, das von den meisten Aufnehmern nicht begriffen
wird. Je unruhiger, zappeliger, unübersichtlicher, dem ~gewöhnlichen~
Auge aber ~auffälliger~ eine Bewegung ist, für desto geeigneter
zur Aufnahme halten sie sie. Das ist gleich falsch vom Standpunkte
des Beschauers wie des Kinotechnikers. Hastige Bewegungen „kommen“
im Bilde gar nicht als solche, man denkt sie sich (Schornstein im
Höhepunkt des Falles, plötzliche Armbewegung!) in Wirklichkeit bloß
dazu. Unverarbeitete, regellose, grelle Bewegungen werden im Bilde nur
zum Teil vom Auge erfaßt, vom Gehirn aber nicht verarbeitet, nicht
„begriffen“. In der Natur aber suchen wir derartige Bewegungen nicht.
Sie haben etwas Beunruhigendes, Erschreckendes, Unbefriedigendes,
Abstoßendes für uns. Nicht weil sie nicht an sich ebenfalls durchaus
gesetzmäßig wären, sondern weil wir infolge der Mängel von Auge und
Hirn diese Gesetzmäßigkeit schwer oder gar nicht zu übersehen vermögen.
Worauf unser Auge verweilt, was wir auf Wanderungen und Reisen, in
unsern Gärten und Springbrunnen um seiner Schönheit willen ~suchen~,
das ist das ~ruhige~, immer sicht- und erkennbare und dabei immer
geheimnisumhüllte und unerschöpfliche Sichregen der Dinge.

Es birgt ja auch dies Sichregen „Sinn“ nicht nur in seiner rhythmischen
Regelmäßigkeit, sondern auch insofern, als es unmittelbarer ~Ausdruck~
von etwas ist oder zu sein scheint. Gerade dadurch, daß sich elementare
Vorgänge -- das Ansteigen und Abflauen des Windes, das Aufglühen und
Verdämmern des Lichtes, selber Vorgänge von übergroßem Rhythmus --
in den Bewegungen getroffener Dinge widerspiegeln, gewinnen sie für
uns etwas Seelisches. Die Bewegungen in der Natur scheinen, wie jeder
Dichter sie ausnutzt, Erregungen in unserm Innern zu entsprechen.
Ruhiges Dahinfluten und trotziges Sichaufbäumen, glückseliges Glasten
im Sonnenlicht und felsenerschütterndes Aufflammen befreiter Massen --
in alledem erblicken wir uns selber wieder. Es sind zuletzt dieselben
Rhythmen, in denen Wogen und Herzen schlagen. Die Natur selber ist eine
fertige Dichtung -- es fehlte uns bisher nur das Handwerkszeug, sie
unverfälscht nachzudrucken.

Vor meinem Fenster, wo ich dies schreibe, schiebt sich der Strom dahin.
Undurchsichtig und spiegelnd sein Wasser, seine eignen Wellengekräusel
wie Eisschollen oder abgerissene Büsche dahintreibend. Drüben das
aufsteigende Ufer mit seinen Villen, Straßen und dem Himmel drüber her
badete sich in der Wintermittagssonne. Von Zeit zu Zeit hastete ein
Straßenbahnwägelchen dahin und ein anderes zurück. Menschen wanderten
und stiegen. Der Wind blies kleine Staubwolken auf. Diesseits, im
Garten, bogen sich, wogten und wackelten knospendicke kahle Zweige. Das
alles war Staffage. Verloren beobachtete es das Auge und kehrte immer
wieder, immer wieder zu dem blinkenden Strombande hin. Die lichten
Spiegelbilder der Häuser, die zerreißenden Schatten der Waldstämme
waren das Bleibende. Die Wellengekräusel, die Blinklichtflöße trieben
und trieben vorbei. Immer andere und immer dasselbe. Warum verweilte
das Auge so gerne darauf? Warum wurde es nicht satt, das zu sehen?
Warum stieg gerade aus diesem Bilde, gerade aus dem Bilde des
beständig laufenden Flusses soviel Ruhe, Frieden, innere Heiterkeit
ins Herz hinein, während die erregten Punkte und Flecke der Ufer die
Unruhe bedeuteten? Und nun trat das ~Drama~ der Bewegung ein. Vom
Fensterrahmen her schob sich der Bug eines beladenen Lastschiffs
her. Sein Körper folgte nach: groß, licht, bunt. An seinen Planken
schlängelten sich die Spiegellichter des Stromes. Die Menschen standen
regungslos ans Steuer gelehnt. Langsam -- oder schnell -- so langsam
oder so schnell wie das Herz das Strömen des Wassers deutete -- schob
sich das große Schiff vorbei, und hinterm Fensterrahmen kräuselten sich
wieder die kleinen, feinen Wellengeriesel.

Eine halbe Stunde darauf war das Wasser überkämmt von lauter größern,
aufstechenden, gleichmäßigen Wellen, alle im Aufbäumen und Versinken
gleich schnell vom Strome mit davongetragen. Das kahle Gezweige, das
ins Bild hineinragte, schien ängstlicher ineinander zu wirren.

Jetzt teilte sich das Licht. Große Flächen voll warmer Farben -- im
Bilde würden es Helligkeitsunterschiede sein -- leuchteten weit an den
Ufern überm Spiegel. Der Tag rüstete sich, Abschied zu nehmen. Unser
Apparat hätte sein Auge sehr groß auftun müssen, um davon noch etwas zu
erhaschen, und doch: es wäre gegangen.

Etwas, das sich unsere Aufnahmekünstler ebenfalls weniger entgehen
lassen sollten, sind atmosphärische Feinheiten -- dasjenige,
was der Maler Luftperspektive nennt. Es ist vielfach dasjenige,
was ein Bild vermeintlich „undeutlich“ macht, in Wirklichkeit
ihm die ~Schärfe~ nimmt. Aber diese Schärfe ist ja unwahr und
daher unschön, wo sie unwirklich ist. Im Photographieren solcher
Feinheiten sind die ~Engländer~ am meisten voran; sie haben es von
ihren Augenblicksphotographen gelernt. So wie die Engländer die
einzigen sind, die künstlerische Naturaufnahmen um ihrer selbst
willen als Lichtbilder in größerm Umfange und regelmäßig in den
Verkehr bringen (welcher deutsche Lichtbilderkatalog verzeichnete
dergleichen?!), so wie die englischen illustrierten Blätter, z. B.
Country Life, („Landleben“), Naturaufnahmen zeigen, in denen die
schwierigsten atmosphärischen Aufgaben glänzend gelöst sind, so
haben sie kinematographische Naturaufnahmen dieser Art, die zum
schönsten gehören. Es klingt lächerlich, ist aber wahr, der Silberduft
der Seeluft umspielt sichtbar die Strandblumen dieser Bilder; der
graue Glanz der Winterluft liegt über diesen Aufnahmen von Eis und
Schneelandschaften. Wenn man einem deutschen „Operateur“ mit der
Zumutung kommt, vor einem derartigen Gegenstand, bei irgendeiner
andern Witterung als „grellem Sonnenschein“, zu irgendeiner andern
Stunde als „von 10 bis 4“ seinen Apparat aufzustellen, so kann man
sicher sein, mit „fachmännischer“ Entrüstung zurückgewiesen zu
werden, weil solche Bilder: a) „technisch unmöglich sind,“ b) „unser
Publikum langweilen“. Von beiden weiß aber unser Kinomann gar nichts,
weil er: a) niemals die technischen Möglichkeiten ~versucht~ hat, b)
(wovon ich schon gesprochen), nie ein Publikum vor solchen Bildern
gesehen hat, weil es sie -- fast nie gibt. Er hält sich dafür an jene
berüchtigten „Mondschein“-Bilder, für die der ganze Film dunkelblau,
und die „Sonnenuntergangs“-Bilder, für die er dunkelrot gefärbt wird.
Wenn aber einerseits jeder gute Geschmack aufhört, wo der Aufnehmende
die Grenzen seiner technischen Möglichkeiten ~wirklich~ überschreitet
(und dann eben Fälschungen obiger Art liefert), so beginnen anderseits
die künstlerischen Reize einer Kinoaufnahme eben gerade da, wo der
Aufnehmende mit seinen technischen Möglichkeiten zu ~ringen~ anfängt.
Das ist’s ja gerade, das den Künstler ausmacht, daß er das Unmögliche
möglich zu machen, daß er die weichen Formen des Menschenleibes in
Stein und Bronze, das rieselnde Spiel von Sonnenlicht und Schatten mit
ölvermengten Erden, die zartesten Bewegungsvorgänge mit der Filmschicht
festzuhalten sucht. Nebelglanz und Wolkenzug sind aber gerade darum so
schön, weil sie ~leben~, weil sie Bewegung sind oder sich an bewegten
Dingen kundgeben. Es ist ja wahr, daß man, um wertvolle Bilder dieser
Art zustande zu bringen, manche Studien machen und verwerfen, manches
Lehrgeld wird zahlen müssen. Auch der Maler muß ja jahrelang arbeiten
und verwerfen, ehe er zu Meisterleistungen gelangt; wenn auch seine
Skizzen immer Interesse haben. Und Films sind freilich ein teures
Versuchsmaterial. Aber sie bringen ja auch, wenn gelungen, teures
Geld ein; und auch hier haben Skizzen, die von ehrenhaftem Bemühen
zeugen, ihren Wert. Diese Art Bilder würden ebenfalls neben denen von
geschichtlichem und anderm inhaltlichen Werte, um ihrer Schönheit
willen, leicht hohen Sammlerwert gewinnen. Kunstmuseen und einzelne
Liebhaber würden sich um sie bewerben, Schulen und Vereine sie ihren
Schätzen einverleiben. Daneben würden sie durch die Kinotheater wie
andere ausgenützt werden.

Wer es in diesen Dingen zur Kunst bringen will, muß beim ~Maler~ und
beim ~Augenblicksphotographen~ in die Schule gehen. Sein eigentlicher
Lehrsaal aber ist das ~Kinotheater~: was hier wirkt und wie es
wirkt, muß er unablässig studieren. Denn nicht schöne Natur, sondern
ein schönes Bilderspiel soll er ja schaffen. Seine unerschöpfliche
Fundgrube aber ist die ~Natur~ selbst. Darin muß er täglich mehr
sehen und ins Kinematographische übersetzen lernen. Feste Regeln
zu geben ist natürlich unmöglich, denn hier ist dem persönlichen
Geschmack unermeßlicher Spielraum gelassen. Einige Gesichtspunkte
aber, die zum Richtigen führen können, wollen wir andeuten. Es handelt
sich namentlich um drei Dinge, die wir die Wahl des ~Motivs~, des
~Ausschnitts~ und der ~Komposition~ nennen wollen. Die drei dem Gebiete
der Malerei entnommenen Bezeichnungen gewinnen, auf Kinematographie
angewendet, eine etwas veränderte Bedeutung, da eben der Kinematograph
etwas zeitlich Fortdauerndes, ein Hintereinander, der Maler aber ein
Nebeneinander darstellt.

Das ~Motiv~ des Kinokünstlers ist natürlich ein ~Bewegungs~vorgang.
Wie die Wahl desselben durch ~technische~ Bedingungen begrenzt wird,
haben wir schon in einem frühern Abschnitt angedeutet. Im Hinblick
auf die Vorführung kann der Aufnehmende aber auch solche Aufnahmen
wählen, an denen sich das Mangelnde bei der Wiedergabe durch Wort,
Geräuschnachahmung u. a. ergänzen läßt. Nicht ergänzen lassen sich
~Farben~spiele. Plötzliche Vorgänge können aber für den Beschauer
durch den Vortrag vorbereitet werden. Undeutliche Einzelheiten kann
ein vorangehendes Lichtbild deutlich machen. Mit Rauschen, Donnern,
Explosionen begleitete Bewegungen können zum Teil -- wenn sie
vereinzelt auftreten und die Geräusche deutlich und einfach sind --
mechanisch andeutend in diesem Sinne ergänzt werden. Zarte Geräusche
aber -- wie Blättersausen -- lang dauernde -- Meeresbrandung -- oder
individuelle -- Vogelgesang -- kommen meist für Wiedergabe nicht in
Betracht. „Waldweben“ als solches ist kein kinematographisches Motiv.
Was nicht „_al fresco_“ im groben, in großen Zügen, wirkt, hat seine
Grenzen in der Wiedergabe.

Die Bewegung selber aber, die das „Motiv“ bilden soll, werde nicht
auf ihren Umfang oder ihre Heftigkeit, sondern auf ihre innere
Schönheit geprüft. Es kommt in Frage, ob der Apparat so weit oder so
nahe herangestellt werden kann, daß das, was uns in der lebendigen
Wirklichkeit fesselt, im Bilde wieder deutlich sichtbar wird. Es
ist ferner zu erwägen, ~wie lange~ das Bild wirken muß, damit es
allmählich über den Beschauer Macht gewinnt, seine Seele gefangen
nimmt, ihm seine feinen Reize enthüllt, ihm die ~Stimmung~ bringt.
Hiergegen sündigen fast alle derartigen Aufnahmen. Kaum fängt das Auge
an, sich in die Pracht zu vertiefen, da springt das Bild um. Der im
Stofflichen befangene Aufnehmende glaubt, er müsse den Zuschauern nur
ja alle drei oder fünf Sekunden etwas „Neues“ bieten, damit sie sich
nicht „langweilen“. Eben darum aber wirken die meisten dieser Bilder
langweilig und lösen Unruhe im Publikum aus -- weil es ja eben „nichts
ist“! Weil das Auge nicht einen einzigen Augenblick Zeit gewinnt,
sich zu vertiefen, weil das Bild einem weggezerrt wird, gerade wie
man zu „schauen“ beginnen wollte. In den meisten Bewegungen wird man
einen wirklichen Rhythmus bemerken, etwas wie das Hin- und Hergehen
unzähliger kleiner, vieler mittlerer und weniger größerer Pendel.
Diesen Rhythmus muß man erkennen und sich auswirken lassen. Auf großen
Wogen schwanken und rieseln zahlreiche kleine, und nach drei oder
vier großen Wogen kommt eine riesenhafte, als wolle sie alle vorigen
überbieten. Diese größte muß Zeit haben, einige Male zu erscheinen:
dadurch kommt der Beschauer hinter die großartige Schönheit dieser
Bilder.

Was den „~Rahmen~“ des Bildes angeht, den „Bildausschnitt“, so muß sich
der Kinomann nach andern Gesichtspunkten richten als der Maler. Dieser
kann kleine Fehler des wirklichen Bildes ändern, er hat die richtige
~Augen~perspektive, er berücksichtigt die Beweglichkeit des Auges,
indem er Vorder- und Hintergrund gleich scharf malt, für ihn sind ganz
andere Dinge Hauptsache als für uns. Ein naher Vordergrund, z. B. ein
Blick durch eine Baumlücke, oder aus einer Felsenhöhle heraus auf die
See, kommt, wenn das Motiv selbst in der Ferne (auf unendlich) liegt,
meist unscharf oder dunkel, ohne Einzelheiten heraus. Namentlich im
letztern Falle wirkt es, als gehörte es nicht zum Bilde. Wo also Rahmen
und Motiv nicht annähernd in eine Ebene zu bringen sind, werden wir
auf erstern meist lieber verzichten. Ein ins Bild hinein wischender,
überlebensgroßer Zweig z. B. ist nur störend. Wir müssen ihn vorher
wegbinden o. dgl. Man muß darauf sehen, daß die das Motiv bildenden --
die an einer bestimmten Bewegung teilhabenden -- Gegenstände entweder
im ganzen zu übersehen sind, oder aber ein solcher Überblick vom Auge
nicht verlangt wird. Habe ich z. B. das oben abgeschnittene Bild eines
Wasserfalls, so stört mich das, weil ich im unklaren bin, ob das Wasser
vielleicht doppelt so hoch, wie im Bilde sichtbar, oder etwa eben über
der abgeschnittenen Stelle herunterfällt. Zeigt man nun aber nur eine
kleine Stelle des Falles aus nächster Nähe, so komme ich gar nicht auf
den Gedanken, nach der Höhe des ganzen Falles zu fragen. Man muß eine
vollständige ~Bewegungseinheit~ auf das Bild zu bekommen suchen -- d.
h. ein „geschlossenes“ Bild, ein Motiv, das die Phantasie befriedigt
und nicht Fragen übrig läßt.

Die „~Komposition~“ in einem Kinobilde bezieht sich auf das Nach-,
nicht das Nebeneinander. Sie ist die schwierigste Aufgabe, weil eben
hier der Aufnehmende ja wenig „machen“, sondern nur klug auswählen und
abpassen kann. Man kann eben nicht, wie jener Operateur, angesichts
einer Wüste so lange drehen, bis irgendwoher ein Kamel ins Bild
kommt. Trotzdem erhöht es den Reiz eines Bildes ums Vielfache, wenn
es auch in dieser Hinsicht Komposition hat, wenn die Bewegung nicht
nur episch ist, sondern sich zum Dramatischen steigert. Ein Beispiel
davon bot ich in der Schilderung des Stromes von meinem Fenster
aus. Zuerst muß der Beschauer Zeit haben, sich in das unscheinbare
Spiel von Wellen, Wind, Wolken und Menschlein zu vertiefen. ~Dann~
sucht nun das Auge nach Abwechslung, nach einem ~Gegensatz~ an
diesem Idyll, und den bildet das groß und ruhig auftauchende, durch-
und abfahrende Schiff. Wie dramatisch ein solcher scheinbar so
nüchterner Vorgang ist, wie er die Phantasie anregt, wissen wir ja
aus entsprechenden _Laterna-magica_-Bildern. Da erscheint zuerst
die starre, grobkolorierte Landschaft und dann das ebenso starre
hindurchgeschobene Schiff. Das packt uns, weil in der Einfachheit etwas
Typisches, ich möchte sagen ein Symbol steckt. Oder man stelle sich ein
Stück Waldinneres, einen lauschigen Seitenpfad vor. Das Sonnenlicht
spielt in den leise atmenden Blättern. Im Sonnenstrahl tauchen goldene
Lichtfünkchen auf, sammeln sich und tanzen auf und ab: die Waldmücken.
Das Ballet tritt ab; wir atmen förmlich die Waldesstille. Da erscheint
ein Kopf auf schwankem Hals. Ein Reh äugt uns an. Es tritt vor auf
den Weg und schaut lange zu uns her. Plötzlich ein Zucken; es springt
seitwärts und verschwindet im Gebüsch. Es wäre ein Meisterwerk,
nämlich eine große Schwierigkeit, die vielleicht wochenlange Vorarbeit
erforderte, das Bild zu erlangen. Aber es würde überall, bei den
Feinsten wie bei den Kleinsten ungemessenen Jubel erregen. Wir hätten
die Schönheit der Bewegung der Natur in dramatischer Steigerung vom
Mückentanz und Blättersäuseln bis zum zierlichen Schritt und jähen
Sprung des großen Waldtieres belauscht.

So schwierig eine derartige Komposition mit „lebendiger“ Staffage ist,
so leicht ist sie, technisch genommen, reiner Landschaft gegenüber,
weil es da ja nur gilt, den richtigen Rhythmus zu belauschen, richtig
einzusetzen und wieder aufzuhören und -- unvorhergesehene Ereignisse
zu vermeiden. Auch kann man ja hier Dramatik ins Gesamtbild bringen,
indem man verschiedene Motive aneinanderfügt; z. B. zeigt man das Meer
in alltäglichem Wogenatmen. Dann an anderer Stelle und zu anderer Zeit,
wenn die weißmähnigen Rosse ungestüm furchend die Hälse aus dem Wasser
heben. Nun steigernd das Meer bis zur Sturmbrandung -- -- und wieder
abflauend bis zum regungslosen Blinken.

Den Höhepunkt der Kunst bildet die Komposition solcher Bilder mit
~Menschen~ darin. Der Greuel greulichster ist der Mensch in seiner
Pose. Jemanden, der’s weiß, dazu verwenden, ist jedem sich achtenden
Aufnahmekünstler verboten. Ich ging mal mit einem Maler spazieren und
wollte ein bestimmtes Motiv aufnehmen. Ich bat ihn, doch mal „des Weges
herzukommen“. Er ging ganz vergnügt weg und kam als ein anderer wieder.
Die Brust herausgeworfen, die Augen blitzend, den Hut schief, den
Mantel zurückgeschlagen, die Beine als wollt’ er Menuett tanzen -- ich
lachte grimmig und verzichtete. Hübsche Mädchen und Kinder pflegen zu
lachen -- kurz der Mensch, der sich photographiert weiß, verdirbt jedes
Bild.

Übrigens auch jeder, der sich gemalt weiß. Und darum muß es der
Kinokünstler wie der Maler machen: er muß den Menschen belauschen.
Vielleicht hat er gerade den Apparat vor einem Kornfeld aufgestellt,
über das halmbiegend die Wölfe der Mittagshexe rennen. Da kommt
ein Schnitter daher, und nach umständlichen Vorbereitungen -- sein
Selbstgespräch beweist, daß er sich unbelauscht glaubt -- beginnt er
die Sense zu schwingen. ~Der~ sieht uns nicht: aber gierig sucht unser
Apparat die Lichtwellen, die von ihm herfluten. So mit tausend Listen
und vollem Herzen die ganze Geschichte unsres täglichen Brotes, von der
Pflugschar bis zum Frühstück, mit Selbstbeschränkung kinematographisch
gezeigt: das könnte ein Kunstwerk werden.

~Der Rhythmus der körperlichen Arbeit~, der bildet selber ein Stück
Schönheit der natürlichen Bewegung. Unermeßlich ist hier das Gebiet des
Kinokünstlers. Wenn ich mit diesen Ausführungen erreiche, daß nur in
diesem und jenem der Mut geweckt wird, sich überhaupt um diesen Preis
zu bewerben, dann soll mir’s genügen. Ein großer Blick für das Leben,
seine Echtheiten und seine Schönheiten ist für den Aufnahmekünstler
unerläßlich.


5. „Gestellte“ Bilder

Wir haben im bisherigen aus dem Wesen der Kinematographie ihre
künstlerischen Gesetze entwickelt. Als Kernpunkt ihres Wesens
erkannten wir ihre Fähigkeit, mit bis dahin nichtgekannten Mitteln neue
Seiten der Wirklichkeit im Bilde zu zeigen, im besondern die Schönheit
der natürlichen Bewegung zum Gegenstand unseres Studiums zu machen.
Als Hauptbedingung, Hauptpflicht betonten wir immer wieder die, diese
widergespiegelte Wirklichkeit nicht zu fälschen, sie ~so~ aufzunehmen
und weiterzugeben, daß sie auf der Leinwand in völlig entsprechenden
Verhältnissen wiederkomme. Dies zu erzielen, war die eigentliche
~Kunst~ des Kinematographen. Eine hohe und strenge Kunst, die der
Willkür des Ausübenden scheinbar sehr enge Grenzen setzt, die sich
an eine enge Gruppe von Empfindungen wendet, eine ~Augen~kunst recht
eigentlich. Eine ~feine~ Kunst auch, die zu ihrer Wirkung der Sammlung
und Vorbereitung, der mittätigen Phantasie, geschulter Sinne und guten
Geschmacks bedarf. Und eine mühsame Kunst, deren Werke nur das Ergebnis
einer langen Reihe, aus verschiedenen Händen hervorgegangener oft
kostspieliger, sorgfältiger Arbeiten sind. Eine Kunst endlich, die zu
ihrem höchsten Erfolge eine langsame Gesamtentwicklung erfordert.

Kein Wunder, daß eine solche zwar tiefster, aber mühsam
heraufzuholender Wirkungen fähige Kunst dem Heere derer, die von der
Kinematographie in erster Linie einen reichen, aber mühelosen ~Gewinn~
erwarteten, ohne sich im geringsten um das seelische Wohlbefinden
derer zu beunruhigen, die ihnen das Geld herbeitragen sollten -- kein
Wunder, sage ich, daß denen diese Kunst viel zu langsam ging. „Die
Kinematographie selbst zur Höhe einer Kunst zu erheben“, das versuchten
sie gar nicht erst. Statt dessen verkuppelten sie die mit einer andern,
an sich hohen Kunst, der des Schauspiels. Sie erniedrigten beides,
Schauspielkunst und Kinematographie, und brachten dadurch jenen
Wechselbalg zustande, der als „Kinodrama“ seine Erfolge unseligen
Andenkens gefeiert hat. Der tatkräftige Widerspruch, den diese Schande
der Zeit bei den wahren Freunden und Erziehern des Volkes so gut wie
bei denen der Theaterkunst und der echten Kinematographie fand, hat,
scheint es, den Erfolg gehabt, den Stachel nur immer tiefer ins Fleisch
zu treiben, statt ihn zum Ausfallen zu bringen. Mit dem steigenden
Widerspruch der Gegner stieg der Reklameaufwand der Filmfirmen, mit
denen sie ihre Erzeugnisse erst recht als „höchste Kunst“, „_films
d’art_“, „dramatische Meisterwerke“, „künstlerische Volkserziehung“,
das Kinotheater als das „Theater des kleinen Mannes“ anpriesen. Je
widerwärtiger die Bilder inhaltlich wurden, desto lauter schrien die
Ankündigungen: „Erzieherisch! Dezent! Für Kinder freigegeben!“, und je
entschiedener sie sich ihrem ganzen Wesen nach von dem der dramatischen
wie der Kinokunst entfernten, mit desto raffiniertern Mitteln --
zuletzt unter genauer Nachahmung aller für Theateraufführungen
üblichen Ankündigungsformen, wie „Erstaufführung für X. reserviert“,
„A. N. in der Titelrolle“ mit Personenverzeichnissen usw. -- wurde die
Täuschung unterstrichen. Es sind geradezu gigantische Anstrengungen
von den großen Firmen gemacht worden, es sind besonders riesige
Kapitalien -- Hunderttausende von Franken -- in die Herstellung dieser,
der Sensation einer einzigen Woche dienenden, dann von ihren Urhebern
selbst zur Vergessenheit verurteilten Nichtigkeiten, Albernheiten und
Geschmacklosigkeiten verpufft worden. Zugleich aber, wenn auch äußerst
langsam und widerstrebend, wurden so wenigstens einzelne Firmen auf
einen Weg gedrängt, der ~doch~ endlich so oder so zu einer Besserung
führen muß. Es ist zwar heute noch nicht viel mehr als Reklame, auf die
man nicht viel geben darf, wenn neben den Namen vereinzelter wirklich
bedeutender, d. h. auch als Kulturerscheinung bedeutender Schauspieler
und Schauspielerinnen auch solche von ~Dichtern~ als künftiger
Film-„Text“-Verfasser auftauchen, von denen wir doch -- wie von Gerhard
Hauptmann -- wissen, daß sie endlich ihrer Natur nach gar nicht anders
~können~, als auch auf diesem Gebiete, wenn sie sich dort einmal
betätigen, zum Gediegenen und in irgendeinem Sinne auch künstlerisch
zu Rechtfertigenden zurückkehren. Hoffen wir nur, daß gerade diese
Entscheidenden erstens auch wirklich zum Schaffen kommen, nicht nur
ihre Namen als „Anreißer“ in Rundschreiben und Zeitungsnotizen prunken,
und daß sie zweitens Vorsicht, Rückgrat und -- ~Handwerk~ genug
wahren, um sich nicht übertölpeln zu lassen. Sonst können sie erleben,
eines Tages auf der Leinwand unter ihrem Namen „Dramen“ erscheinen zu
sehen, die ihnen die Röte ins Gesicht treiben. Mögen sie vor allem
nicht vergessen, daß auf diesem Gebiete mit dem Textbuche ~nichts~
getan ist. Der eigentliche „Kinodichter“ ist der, der die Regie hat
-- und seiner harren Aufgaben, die schwieriger sind als manchmal die
des Bühnenregisseurs. Denn er soll neue Wege pflügen, wo der andere
Überlieferung, Schule und Vorbild vorfindet.

Die Frage „Kino und Bühne“ -- die übrigens mehr Seiten als die hier
angedeutete hat -- ist in einem andern Bändchen dieser Sammlung
behandelt worden. Ich sehe daher hier von allem ab, was sie besonders
betrifft, und beschränke mich darauf, auf meinem eignen Wege
fortschreitend, die Frage des „gestellten“ Kinobildes und seiner
Erhebung zu einem Kunstwerk überhaupt und ganz allgemein zu behandeln.

Wir können ja nicht leugnen, daß der Kinematograph, wenn auch sein
Eigenruhm die Wiedergabe unbefangener und unbewußter Wirklichkeit
ist, doch ~fähig~ ist, auch Bilder zu erzeugen, die von denen der
Wirklichkeit abweichen. Auch diese Bilder haben zweifellos ihren
Reiz, und eben dadurch tritt auch für sie die Forderung auf, sie, wenn
überhaupt, zu Kunstwerken zu machen. Solche Bilder können entstehen,
indem wir entweder an Stelle natürlicher Gegenstände menschliche
Arrangements, vor allem also menschliche Pantomimen aufnehmen, oder
indem wir natürliche Vorgänge durch eine besondere Art von Aufnahmen
ganz verändert und in nicht mehr natürlicher Weise auf der Leinwand
erscheinen lassen.

Bilder letzterer Art werden „Trickszenen“ genannt, und es kommen da
eine ganze Menge von „Tricks“ in Betracht. Der häufigste ist die zu
schnelle oder zu langsame Aufnahme eines Vorgangs, wodurch dieser
umgekehrt entstellt im Bilde widerscheint. Wenn ich z. B. vor einem
laufenden Automobil die Aufnahmekurbel zu langsam drehe, das fertige
Bild aber im gewöhnlichen Zeitmaß abrolle, so läuft das ~Bild~automobil
mit einer ganz unmöglichen Schnelligkeit. Das wirkt natürlich sehr
lustig, wenn man’s nicht zu oft sieht. Umgekehrt kann ich von einem
langsamen Vorgange -- z. B. dem Erblühen einer Blume -- Einzelaufnahmen
in langen Abständen machen, die bei gewöhnlicher Vorführung dann ein
beschleunigtes Bild des Vorgangs geben. Zu solchem Zwecke angewendet
-- d. h. wenn das wahre Verhältnis nicht, wie oben, verschleiert wird
-- handelt es sich um eine vollkommen „richtige“ und oft lehrreiche
Naturaufnahme. Wird aber ein derartiges Bild beispielsweise in ein
anderes, im gewöhnlichen Zeitmaß aufgenommenes hineinkomponiert, so daß
es z. B. so aussieht, als blühe die Blume auf, während gleichzeitig ein
Mensch eine beschwörende Gebärde macht, dann wirkt das Bild märchen-
oder zauberhaft. Wird, wie man es häufig erlebt, ein Wasserfall oder
eine Eisenbahnfahrt durch eine Landschaft in so beschleunigter Weise
vorgeführt (damit das Programm eher zu Ende ist), so ist das durchaus
unkünstlerisch. Wird es aber absichtlich zu Zwecken der Illusion, zur
Erregung von Heiterkeit oder Märchenstaunen gebracht, so kann sich
eine ganz hübsche, unter Umständen auch künstlerisch einwandfreie
Unterhaltung daraus ergeben.

So betrachtet, sind wir geradezu wieder einem Wirkungsmittel auf die
Spur gekommen, das ~nur~ das Kino in gleicher Vollendung besitzt: die
Einflechtung zauberhaft erscheinender, durchaus wirklichkeitsfremder
Szenen und Übergänge in ein im übrigen alle Kennzeichen höchster
Naturwirklichkeit tragendes, ja sie verbürgendes Bild. Besonders das
Ineinanderkomponieren zweier in Wirklichkeit getrennt aufgenommener
Bilder bietet da eine Fülle reizvoller Möglichkeiten: fingergliedgroße
Zwerge tanzen unter Menschen, Visionen erscheinen und verschwinden, ein
Gulliverautomobil fährt durch Zwergenstädte usw. Ein geschmackvoller
Kinodichter wird bei der Wahl seiner Stoffe und in der Art ihrer
Behandlung ~nicht von den Möglichkeiten~ und ~Vollkommenheiten der
Schaubühne, sondern von denen der Kinoleinwand ausgehen~. Er wird im
Berührten sofort -- wie es ja viele getan haben -- die Anregung finden,
für das Kinoschauspiel zunächst an Stoffe zu denken, deren Wirkung auf
dem Ineinanderflechten von Wirklichkeit und Unwirklichkeit besteht. Vor
allem also Märchen und Zauberpossen! Das Märchen vom Tischlein deck
dich wäre so recht ein Kinomärchen. Aber wichtiger, als anzuregen, ist
es hier zu ~warnen~. Denn es haben schon viele für das Kino-„Märchen“
bearbeitet, und fast alle diese Märchen sind -- Greuel geworden. Das
lag und liegt vor allem daran, daß nichts schwieriger ist, als im
Bilde gerade den guten ~Übergang~ vom „Wirklichen“ zum „Unwirklichen“
zu finden. Unserer Märchen Reiz und Wert liegt gerade in dem
fortwährenden, unmerklichen, unabgrenzbaren, im Kunstmärchen -- schon
verschlechtert -- mehr oder minder „traumhaften“ Ineinanderspielen
von beidem. Diese Zauberereignisse sind nicht zauberhaft. Wie auch
in der Götter- und Heldensage spielen sich auch die über- und
unternatürlichen Vorgänge in Verhältnissen und Übergängen ab, die
beides, Natur- und Geisterwelt „organisch richtig“ erscheinen lassen.
Gerade diese Fähigkeit fehlt aber dem Kinematographen. Natürliches und
„Zauberhaftes“ stehen schroff nebeneinander. Die „Geister“ sind nur
kleiner oder größer, ferner oder näher, vielleicht auch durchsichtig;
im übrigen aber haben sie nichts Geisterhaftes, sondern sind Menschen
mit zu scharfen Umrissen, zu harten Einzelheiten, zu menschlichen
Größenverhältnissen. Die Masken, Schleier und Maschinen, die auf der
Bühne so ganz anders wirken können, erscheinen hier brutal wieder als
Masken, Schleier und Maschinen. Und ebenso ist es mit dem Einsetzen und
Vergehen derartiger Visionen. In die lebendige Natur hängt plötzlich
etwas Künstliches hinein, und das ist immer häßlich. Hier muß die
Regiekunst vereint mit der Technik äußerste Anstrengungen machen.
Der Kinodichter aber erwarte nicht, hier „traumhafte“ Wirkungen,
überhaupt nichts „Zartes“ verwirklichen zu können. Vielmehr ergibt
sich für ihn ein harter, etwas eckiger, hölzerner Stil, wie er sich
auch für das Kasperle und das mechanische Theater herausgebildet hat,
etwas wie eine ruckweise Stilisierung der Vorgänge. Das hat ja auch
seinen eignen, ich möchte sagen humoristisch-melancholischen Reiz. Das
Material -- der Film -- nimmt gewissermaßen die lebendigen Gebärden mit
sich, übersetzt sie in seine eigne Sprache ruckweiser und ungelenker
Fortbewegung. Die vom Dichter hineinzutragende Stilisierung ist
vielleicht das Vermittelnde zwischen der im „gestellten“ Bild schroff
nebeneinanderstehenden Natur und Unnatur.

Diese tritt noch in etwas anderm zutage: in dem nicht zu überbrückenden
Gegensatz zwischen dem Naturmilieu und den sich darin bewegenden
Schauspielern. Dem kann man natürlich entgehen, indem man die Szene in
ein Kulissen-Interieur verlegt. Hier wirkt das Unnatürliche weniger
störend, weil eben ~alles~ Unnatur ist. Auf der andern Seite liegt aber
eben wieder in dieser Möglichkeit, wirkliche und angestrebte Natur --
Natur und Mimik in einem Bilde zu vereinen, ein neuer Reiz und damit
eine neue, eigne Quelle künstlerischer Wirkungen für den Kinodichter.
In dieser Hinsicht „kann“ der Kinematograph zweifellos wieder mehr als
etwa die wirkliche „Naturbühne“. Denn deren Wirkung, ja bloßes Dasein
ist an eine Menge selten zusammentreffender Bedingungen geknüpft, und
die Illusionsstörungen sind bis zur Unüberwindlichkeit groß. Ja, da,
wo das Drama doch endlich seinen Höhepunkt hat, beim gesprochenen
Wort, wird die ~natürliche~ Umgebung geradezu überflüssig, daher
stilwidrig. Der Kinematograph hat da manches voraus. Aber auch hier
ist der genannte Gegensatz kaum zu überbrücken. Vielmehr scheint alles
mehr darauf hinzuweisen, Natur und Spiel mehr hinter- als nebeneinander
wirken zu lassen. So wie wir innere und Naturvorgänge gern dichterisch
vergleichen und eins durch das andere illustrieren, so würde gewiß
zwischen zwei pantomimischen Szenen unter Umständen ein reines
Naturschauspiel wunderbar stimmungbannend wirken. Denken wir uns so aus
einem „Liede vom Meer“ eine Szenenfolge; nach langem, innern Kampfe
hat die Frau den Liebenden in die Welt fahren lassen. Wir lassen ihre
sinnend zusammengesunkene Gestalt im Zimmer, in das sich die Dunkelheit
senkt. Das Bild wechselt nach kurzer Pause, und wir sehen am Strande,
wo sie in einer frühern Szene mit dem Geliebten gewandelt ist, die
Wogen des Meeres unruhig heranbrausen und zurückfallen, ohne daß eine
Figur mit dramatischer Pose die Sprache der Natur stört.

Vergebens oder vielmehr enttäuschend hat sich bisher die naheliegende
Hoffnung gezeigt, daß die Kinematographie vielleicht die Erweckerin
einer neuen, in sich reifen ~mimischen~ Kunst werden würde. Gewiß,
es haben sich viele Schauspieler gefunden, die ihre Gebärdensprache
erfolgreich in den Dienst des Kinos gestellt haben. Aber wohl alle (mir
ist wenigstens keine Ausnahme begegnet) haben mehr oder minder nur
die übliche ~Bühnen~gebärden- und -mienensprache dem Kino angepaßt.
Sie haben sich vor allem auf diejenige auf der Bühne übliche Mimik
beschränkt, die im Kinobilde überhaupt zur Geltung kommt -- und das
sind nur die übertriebenen, heftigen, fratzenhaften Begleitgebärden
zu Worten. Da aber das Kinoschauspiel keine Worte kennt, so würden
die meisten dieser Gebärden unverständlich bleiben, wenn nicht ein
sogenannter „Rezitator“ oder „Humorist“ -- die Erklärung dazu verläse.
Da diese Erklärung weder an sich künstlerisch erträglich ist, noch mit
der photographierten Mimik zu einem Ganzen verschmilzt, so bleibt das
Ganze eine Geschmacksungeheuerlichkeit. Wer für das Kinobild spielt,
kann das als ~Künstler~ nur tun, indem er eine für sich sprechende,
stumm-deutliche Gebärden„sprache“ erfindet und sich auf das beschränkt,
was sich mit Gebärden aussprechen läßt. Da im Bilde ja noch von der
wirklichen Mimik vieles verloren geht, so ist der Kinoschauspieler in
der Tat auf einen geringen Formenschatz angewiesen, und auch von diesem
Gesichtspunkte her empfiehlt sich der Ausweg einer mechanikartigen
Stilisierung und einer mit wenigen übereingekommenen Handgebärden _al
fresco_ wirkenden Körpersprache. Da, wie schon bemerkt, dem Kinobilde
Plastik und richtige Perspektive fehlen, so empfiehlt sich hier
vielleicht die Komposition in ein flaches Bühnenbild hinein. Alles dies
muß auch der Kinodichter berücksichtigen. ~Worte~ dürfen auf keinen
Fall die Gebärde stören, weder als „Erläuterungen“ noch als „Dialog“.
Zwischen Worten und Bildgebärden ist so wenig Übergang wie zwischen
Naturmilieu und Mimik oder Wirklichkeit und „Traum“ im Kinobilde.
Sollen Worte mitwirken, so müssen sie ~zwischen~ die Bilder verlegt
werden. Vielleicht kann man auch wagen, einzelne Motive nach Art
lebender Bilder durch erläuternde Verse begleiten zu lassen, doch kann
das nur zur Verdeckung minderwertigen Spieles geschehen.

Jene Eigenfähigkeit des Kinos aber, Natur und Spiel räumlich
und mit gleicher Realistik zu vereinigen, weist wieder auf ein
besonderes Gebiet hin, wo es Meister sein könnte: die pantomimische
Wiederherstellung geschichtlicher Vorgänge auf natürlichem Schauplatz.
Zweifellos würden solche Vorgänge in dramatische Form gebracht werden.
Ihr eigentlicher Wert wäre aber nicht der dramatische, sondern der
archäologisch-geschichtliche. Es hat nicht nur Neugierreiz, sondern
einen die Phantasie berichtigenden, das Wirklichkeitsgefühl besonders
für geschichtliche und kulturgeschichtliche Verhältnisse stärkenden
Wert, Menschen und Szenen der Vergangenheit mal nicht in der Verzerrung
durch Maler und Dichter, sondern sozusagen „_in natura_“, in ihrem
natürlichen Verhältnis und ihrer natürlichen Wirkung wiedererstehen
zu sehen. Natürlich hätte bei solchen Dingen der Gelehrte mehr als
der Dichter mitzusprechen, denn höchste, dem Stand unserer Erkenntnis
entsprechende Echtheit wäre ja hier die Hauptforderung. Ich brauche
nicht besonders zu betonen, daß ich mit dieser Anregung nicht Schrecken
wie die Verkinematisierung Homers, Dantes oder Schillers wieder
heraufbeschwören oder beschönigen will.

Vielmehr ist eine der wichtigsten Tugenden, die dem mimenden
Kinematographen anzuempfehlen ist, Ehrfurcht und abermals scheue
Ehrfurcht vor allen geistigen Höhenleistungen, die er durch plumpes
Mitmachenwollen so leicht verballhornen kann. Wo er sich an Märchen,
geschichtliche, religiöse oder dergleichen Szenen wagt, zittere er
davor, etwas von dem zarten Duft, der geistigen Bedeutung und Größe
dieser Dinge anzutasten. Er wähle nur Szenen, die Realismus, Drastik
und puppenhafte Stilisierung vertragen. Es ist seine Eigenart, mit
Dingen, die auf der Bühne illusionfördernd wirken, wie Schminke,
Kostüme, Maschinen und Posen, illusionzerstörend bis zur Lächerlichkeit
zu wirken. Besonders mache ich aber auf die Darstellung religiöser
Szenen aufmerksam. Es ist nicht zu leugnen, und besonders von
katholischer Seite begriffen worden, daß die kinematographische
Vorführung, z. B. von „Szenen aus dem Leben Jesu“, namentlich zu
Festzeiten und besonders auf illusionsfrische Zuschauer von oft
erschütternder Wirkung ist. Zu dem eigentümlichen Reiz der Schilderung,
der ja auch in gewissen Volksspielen mitwirkt, tritt hier der Eindruck
der verblüffenden, so selbstverständlich erscheinenden Einfügung
von Dingen erlesenster Seltenheit in eine vollkommen natürliche und
vertraute Umgebung. Sogar manche ungeschickte, manche unzulängliche
Mimik verwischt ja gar der Kinematograph. Aber dann kann eine einzige
Unzulänglichkeit, eine einzige Geschmack- und Taktlosigkeit alles
wieder verderben. So wirkt ein grobgemalter Papierstern über der Hütte
von Bethlehem ebenso abstoßend, wie das plötzliche Hochheben eines
nackten Säuglings aus der Krippe unästhetisch, illusionstörend und
pietätlos. Mit weniger als den Summen, die an derartige Bilder gewagt
werden, ließe sich viel Edleres und künstlerisch Wertvolleres schaffen,
als was man gewöhnlich zu sehen bekommt.

Versucht man, sich weiter in oben entwickeltem Sinne auszumalen, in
welcher Richtung ~die echte Kinopantomime~ ihre Entwicklung suchen
könnte, so kommt man von selber auf den Gedanken an den Kunst- und
Ausdrucks~tanz~. Dieser bildet um so mehr eine dankbare Aufgabe
für das Kino, als ja auch geschmackvoller Musikbegleitung bei der
Vorführung nichts im Wege steht. Doch steht auch hier am Ende drohend
und warnend das Schreckgespenst des sogenannten „~Tonbildes~“, soll
heißen der Verbindung von Kinematographie und Phonographie. Diese ist
gewiß eine Sache der Zukunft. Aber solange noch Bild und Musik (Rede)
~getrennt~ aufgenommen werden müssen, und die Tonwiedergabe nicht von
jenem quakenden Nebengeräusch zu befreien ist, kommen diese Tonbilder
künstlerisch nur so weit in Betracht, wie es sich um derbe oder
humoristische Wirkungen handelt, und auch da nur ausnahmsweise.

Der ~Humor~ aber ist ein unbestrittenes Sondergebiet des
Kinematographen. Wir mögen ihn um so weniger missen, als die
Kinovorführung an sich ein spröder Gegenstand ist. Was wir aber
sehr gern missen würden, sind all diejenigen Szenen, deren Humor
stofflicher Natur ist: Fratzenziehen, sinnlose „Verfolgungen“, dumme,
freche oder widerwärtige Streiche. Humor ist nicht Lachkitzel,
sondern Lustigkeitserregung. Der Humor besteht nicht in zerbrochenen
Töpfen oder ins Wasser gefallenen Menschen, -- in Anblicken, die
augenblicklich lachenerregend wirken -- sondern in heitern ~Gedanken~
und über Erdenschwere emporhebenden Empfindungen, die in uns erregt
werden. Ich rege die ~Vermenschlichung~ der Kinoposse an; man bringe
~Begriffe~ hinein. Das Kasperle- und Puppentheater bieten hier Anregung
und Vorbild. Man zeige uns nicht Narren, Gecken und Krüppel, denen
etwas Unerwartetes passiert, sondern lustige Menschen, die Spaß
„machen“. Man gebe der Pantomime humoristischen ~Stil~. Und vergesse
vor allem nicht, daß in fortwährenden „Lachsalven“, in „toller
Heiterkeit“ in einem ununterbrochenen Fortissimo von Knalleffekten
jeder ~feinere~ Humor zugrunde geht, unbemerkt und wirkungslos bleibt.
Guter Kinohumor wird überhaupt nicht eher eine Statt finden, als bis
-- die übliche ~Programm~gestaltung Raum und Aufnahmefähigkeit für ihn
überläßt. Dieser Frage wenden wir uns nun zu.



C. Die Vorführung


1. Kinematographie oder Kinetographie

Alle Anregungen, die wir bisher -- statt irgendwelcher fester
Vorschriften -- geben konnten, dienten nur dem Zwecke, den
hauptsächlichen Rohbestandteil kinematographischer Aufführungen, die
~Filme~, auf eine solche Höhe zu erheben, daß sich ~überhaupt~ auf
ihnen künstlerisch annehmbare Aufführungen aufbauen ließen. Um das
noch einmal in einem Satze zusammenzufassen: wir forderten im Grunde
nichts, als daß erstens jeder einzelne Film in der größten Vollendung,
der er sachlich fähig sei, hergestellt und behandelt werde, und daß
dies zweitens stets im Hinblick auf die Gesamtvorstellung geschehen
solle, in der er einst zu wirken hat, daß die Wirkung in dieser
Gesamtvorstellung den ~Maßstab~ der anzustrebenden Vollkommenheit
bilden solle. So wie also der Dichter eines Dramas z. B. nicht
daran denke, wie hübsch sich etwa sein Werk am Kaffeetisch ~lesen~
lasse, oder wie geschmeichelt sich etwa ein Gönner oder eine Schöne
dadurch finden werde,-- sondern wie er immer nur das ~Bühnenbild~ als
Erstrebenswertes vor seinem geistigen Auge stehen hat, so soll auch
der Kinokünstler beispielsweise nicht daran denken, wie interessant
oder schön an sich ein Vorgang sei, oder welches Aufsehen sein Titel
in Zeitungsnotizen machen werde, oder wie belehrend oder moralisch
sein Gegenstand an sich sei, sondern nur, ob und wieweit er all diese
lobenswerten Eigenschaften haben werde, wenn er als Bild, im Rahmen
einer Kinovorstellung unmittelbar zu dem Publikum sprechen werde, das
dort in Betracht komme. Wir müssen uns daher nun genaue Rechenschaft
davon zu geben suchen, erstens wie eine solche Kinovorstellung
notwendig ist, d. h. welches ihre bleibenden und unabänderlichen
Bedingungen sind, die also auch für den Filmhersteller Gebote sind
-- zweitens was nun zu geschehen übrig bleibt, um aus dem gegebenen
Stoff, eben einer „Kinovorstellung“ ein harmonisch wirkendes, echtes
~Gesamtkunstwerk~ zu machen.

Die Bedingungen einer Kinovorstellung sind infolge der technischen
und wirtschaftlichen, zum Teil auch sozialen Verhältnisse, die
ihnen zugrunde liegen, enger und unverrückbarer als die mancher
andern Kunst. Sowohl Theater wie Lichtbildervorträge lassen
sich in den mannigfaltigsten Formen und Zusammenstellungen
denken, Kinovorstellungen aber werden stets in erster Linie
~Massenveranstaltungen~ sein. Das kommt daher, daß ihr Stoff --
besonders die Filme -- selber sehr kostspielig herzustellen ist, auch
die Vorrichtungen zur Vorführung usw. ziemlichen Aufwand erfordern,
während gleichzeitig die Darbietungen doch einer Art angehören und
so massenhaft auftreten und auftreten müssen, daß der einzelne im
allgemeinen nur geringe Preise dafür zahlen wird. Die Vorführungen
lohnen sich also -- und zwar je vollkommener sie sind, desto mehr --
immer nur, wenn sie vor großen Versammlungen und regelmäßig stattfinden
-- und eben dies ist wieder ein Grund, weswegen es vergebliche
Liebesmüh ist, diesen Darbietungen einen „exklusiven“, künstlerisch
oder sozial „vornehmen“ Charakter geben zu wollen. Mag auch das „beste“
Publikum in Kinotheater oder Einzelvorstellungen gehen und in ersterm
Stammpublikum werden, und mögen ihm auch die gediegensten Genüsse
geboten werden: immer ist doch das Kinotheater wirtschaftlich darauf
angewiesen, den geistigen Stand „jedermanns“ zu berücksichtigen, d. h.
„voraussetzungslos“ zu wirken. Das bedeutet: es muß im besten Sinne
~volkstümlich~ sein. Besonders ist es durchaus zu verneinen, daß die
Kinematographie ernstlich entweder ~literarischen~ oder (anders als
ausnahmsweise) ~wissenschaftlichen~ Zwecken dienen kann. Über den
erstern Punkt haben wir uns schon im Kapitel von den „gestellten
Bildern“ ausgelassen. Das Kinobild, und also die Kinovorstellung
kann und wird, gerade je künstlerisch wertvoller es gestaltet ist,
im dramatischen Sinne nur eine neue Art von Jahrmarkts-, Puppen-
oder mechanischem Theater, eine unter Umständen sehr reizvolle neue
volkstümliche Belustigung schaffen, nie aber etwas, das „literarische“
Ansprüche oder die des Schaubühnenfreundes befriedigte. Soweit aber
die Kinematographie ~wissenschaftliche~ Hilfsarbeit leistet (im
wirklichen Sinne des Wortes) kommt sie als Schaustück kaum, jedenfalls
wirtschaftlich nicht in Betracht. Denn „wissenschaftlich“ sind ihre
Leistungen nur da, wo sie wie ein neues, die Sinne übertreffendes
Beobachtungsinstrument wirkt, z. B. als Ultramikroskop oder zur
Zerlegung schneller Bewegungen usw. in ihre Einzelteile. In diesem
Falle interessieren den Forscher ihre Einzelbilder in langsamer
Betrachtung meist mehr als deren eigentliche kinematographische
Vorführung. Das zur finanziellen Rentabilität nötige Publikum finden
solche Bilder naturgemäß nicht; sie kommen für „Kinovorstellungen“ als
solche nicht in Betracht.

Wo kinematographische Bilder als „wissenschaftlich“ gepriesen
werden, sind sie meistens etwas ganz anderes, nämlich „~lehrreich~“.
Natürlich können nur Bilder lehrreich, zu Lehrzwecken brauchbar
sein, die mit der Wissenschaft, d. h. Betrachtungsweise und Methode,
nicht im ~Widerspruch~ stehen, und in diesem Sinne sind sie ja auch
„wissenschaftlich“. Solche Filme aber, die wir lieber „Lehrfilme“
nennen wollen, bedürfen eben zu ihrer „wissenschaftlichen“, d. h.
unmißverständlichen Vorführung derselben Behandlung wie alle andern.
Sie müssen „künstlerisch vollendet“ dargeboten werden, einerlei,
ob sie vor Schulkindern, Studenten oder gemischter Zuhörerschaft
erscheinen sollen. Auch die wissenschaftlich vorbereitetern Beschauer
müssen ja in der Lage sein, diese Bilder erst wieder gleichsam aus
dem Kinematographischen ins „Augenrichtige“ zu übersetzen. Auch
ihre Phantasie muß richtig eingestellt und geleitet werden: aus der
„Vorführung“ muß eine „Vorstellung“ gemacht werden. Auch wenn wir
-- wohl mit Recht -- annehmen, daß zu den heute üblichen Kino- und
Saalvorstellungen sich als neuer mächtiger Zweig der Kinematographie
~Unterrichtsvorstellungen~, vielleicht in den Schulen selber,
gesellen werden; so unterliegen diese den gleichen technischen,
wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. Ja erst deren vollkommene
Berücksichtigung durch eine vollendet ausgebildete Vortragskunst wird
dem Kinematographen den bisher vergeblich erstrebten Eingang in die
Schulen öffnen.

Aus der so bedingten Eigenart aller Kinovorstellungen ergeben sich
vor allem eine Anzahl Forderungen, die wir als ~gesundheitliche~
zusammenfassen können, deren Berücksichtigung das ästhetische Bild
einer Kinovorführung beeinflußt. Von diesen werden wir zum Teil später
sprechen; zunächst überlegen wir uns, welchen Einfluß sie auf die
Gliederung der Vorstellung, die ~Programmgestaltung~ haben werden.

Ein kinematographisches Bild allein und ganz für sich betrachtet,
oder auch eine ununterbrochene Reihe davon ist in jeder Hinsicht ein
Unding -- ist überhaupt ~nichts~. Es dürfte kaum einen Film geben,
der, so vorgeführt, überhaupt inhaltlich verständlich, geschweige denn
ästhetisch erträglich wäre. Ein Film gibt, wie schon öfter erwähnt,
rein technisch genommen weder ein Bild der Wirklichkeit, noch gibt
er, was er gibt, optisch vollkommen. Selbst das beste Kinobild greift
anfangs und wieder auf die Dauer die Augen stark an. Das liegt nicht
nur daran, daß die Augen durch Überbrückung der Tausende von wirklichen
Bildunterbrechungen, die wir als „Flimmern“ stets wahrnehmen (kein
Kinobild ist vollkommen flimmerfrei), viel stärker als von einem Bilde
mit ~stetiger~ Bewegung in Anspruch genommen werden. Sie strengen sich
auch unbewußt gleichsam fortwährend an, zu entdecken, was sie in der
Wirklichkeit zu finden gewohnt sind. Farbe, Plastik, richtige Linien
und deutliche Luftperspektive. Sie kämpfen fortwährend gegen die
unscharfen und unerkennbaren, gleichsam unentzifferbaren Einzelheiten,
auf die wir vor der Wirklichkeit unser hin und her wandelndes Auge
„fixieren“ -- was hier nichts hilft. Auch das helle Licht der Natur
entbehrt das Auge; hier geht ja alles gleichsam in einem Schattenreiche
mit arg gedämpften und gleichsam totem, kreidigem Lichte vor sich. Die
Natur selber erläutert uns, was wir sehen, zugleich durch eine Menge
von Geräuschen und Klängen, Düften und Berührungen. All dies Fehlende
vermißt gleichsam die Phantasie des Kinobesuchers, und die allein
von allen Sinnen gebrauchten Augen bemühen sich vergebens, es ihr zu
ersetzen. An ihre Stelle muß das Denken treten. So kommt es aber, daß
beides, Augen und Hirn vor dem Kinobilde bald erlahmen und das um so
eher, je weniger sie vor dem Kinobilde durch andere Mittel unterstützt
und ausgeruht werden.

Aus dem Gesagten ergibt sich ohne weiteres, daß es eine künstlerische
Anforderung an die Kinovorstellung ist, den Beschauern im weitest
möglichem Maße das Fehlende zu ersetzen. Seine Grenze findet dies
Bestreben wieder nur in dem Gebote, den Vorzug des Kinobildes, seine
automatische Naturechtheit, nicht zu zerstören. Dies geschieht
überhaupt nicht durch Erläuterungen usw., die offenkundig gar nicht
den Anspruch machen, selber unmittelbare Naturkundgebungen zu sein,
und ebensowenig durch technische Ergänzungen, die, wenn auch nicht
auf automatischer Naturwiedergabe beruhend, doch Naturgeräusche usw.
~echt~ oder stilisiert wiedergeben. Denn durch das letztere Mittel
werden sie ja auch wieder als das gekennzeichnet, was sie sind:
menschliche, nicht naturautomatische Erzeugnisse, die zwar ~hinter der
Wirklichkeit zurückbleiben~ (sie nur andeuten), ~aber auch nicht über
sie hinausgehen~. Nur das letztere ist geschmacklos.

Diese Hilfsmittel der Kinovorstellung müssen sich gleichzeitig in
der andern Richtung bewegen, neben der Erhöhung des Verständnisses
der Kinobilder auch dem ~Ausruhen~ der Augen zwischen ihnen zu
dienen. Zum letztern Zwecke dienen in erster Linie die ~Pausen~
zwischen den einzelnen Bildern. Es ist unerträglich, ein Bild nach
dem andern herunterhasten zu sehen, womöglich wie ein Negerdorftanz
begleitet gleichzeitig von ununterbrochenem Klavierhämmern,
Grammophonquarren, Erläuterungsgeschrei und Spässen. Und zwar müssen
nicht nur die einzelnen Bilder, sondern auch die Szenen, aus denen sie
zusammengesetzt sind, durch deutliche Pausen, in denen Auge und Hirn
sich erholen, getrennt sein. Zu diesem Zwecke muß sich zwischen je zwei
Filmteilen, wie schon erwähnt, ein Stück grauer oder einfarbiger Film
befinden, mit dessen Eintreten ins Gesichtsfeld sofort ein ruhiges,
wohltuendes Licht auf der Leinwand ist; hierauf kann die Objektivklappe
ganz herabgelassen werden, worauf das neue Bild „fertig“ und schon
im Rollen wieder auf der Leinwand erscheint. Eine gute Augenerholung
bilden auch an sich schon ~Lichtbilder~, wenn sie deutlich und schön
sind. Besonders aber sehnt sich nach langem Grau in Grau das Auge
wieder nach ~Farben~, ja nach etwas ~ganz anderm~ als dem Erlebten.
Aus diesem Grunde ist’s, weswegen ich wiederholt geradezu empfohlen
habe, als ~kurze~ Programmteile mit vor- und nachheriger Pause
kaleidoskopartige Farbenspiele, farbige Nebelbilder, Schattenspiele und
andere anmutige optische Scherze und Experimente einzulegen. Jedenfalls
wären derartige „Pausenausfüllungen“ weit mehr zu empfehlen als die
üblichen meist scheußlichen Lichtbilderreklamen. Auf jeden Fall aber
müssen außerdem von Zeit zu Zeit größere Pausen im ~erhellten~ Raume
eintreten. Auch dieser aber sollte nur am Anfang und am Schlusse ~voll~
erleuchtet und ~allmählich~ verdunkelt oder erhellt werden. Während
der Vorstellung als Ganzem aber vermeide man auch hierin alle grellen
Gegensätze. Man halte den Saal während des Spieles so hell, während der
Pausen so halbdunkel, wie es mit dem jeweiligen Zwecke zu vereinigen
ist.

Ebenso der Augen- und Nervenerholung wie der Ergänzung der Filme dienen
die durch ~Vortrag~ und ~Lichtbilder~ hervorgerufenen Pausen.

Die ~Begleitgeräusche~ und die ~Begleitmusik~. Sie entlasten die
Nerven und die Phantasie von einer geradezu übermenschlichen Arbeit,
regen die ~Stimmung~ an, stellen die Übergänge her, schließen Irrtümer
und Täuschungen aus, schaffen Abwechslung und Gegensätze. Wer die
Dinge einigermaßen eindringend beurteilt, wird uns zugeben, daß eine
Filmvorführung an sich überhaupt nicht Gegenstand einer Vorstellung,
geschweige denn einer ~Vorstellung als Gesamtkunstwerk~ sein kann.
Vielmehr haben wir es mit einer ganzen Gruppe ihrem Wesen und Kern
nach neuer Naturveranschaulichungsmittel zu tun, die einander nebst
gewissen Hilfsmitteln alle ergänzen, und eine ohne die andere einfach
sinnlos sind. Das wird uns noch mehr klar, wenn wir uns diese neue
Welt vorausschauend nicht nach ihrem jetzigen Entwicklungszustande
zu vergegenwärtigen suchen, sondern nach der idealen Vollendung,
auf die alle vorhandenen Ansätze hinweisen. Dann ist es offenbar,
daß zur Kinematographie, wie technisch so auch ästhetisch jene
andere Gruppe von Erfindungen gerechnet werden muß: die mechanische
Selbstaufzeichnung, Vervielfältigung und Wiedergabe von natürlichen
~Klang~erscheinungen: Ton, Geräusch und Wort, ~Grammophonie~ oder
~Phonographie~. Das dem Menschengeist heute vorschwebende, im
Kinotheater zum Teil schon verwirklichte Ideal ist (um nun gleich ganz
vollständig zu sein): die mechanische Selbstwiedergabe vollständiger
Gruppen von Naturerscheinungen, wie wir sie mit Zeichnung, Farbe,
Plastik, Bewegung, Klang, Geräusch und vielleicht eines Tages sogar
mit Geruchseindrücken mit den Sinnen wahrnehmen. Zwar wird auch eine
solche Vorführung niemals menschlich-willkürlicher Erläuterungs- und
Ergänzungsmittel, besonders des Wortes, niemals menschlich-künstlicher
Durcharbeitung zur Erzielung einer befriedigenden Gesamtwirkung, kurz
niemals der „Vermenschlichung“ im Sinne guten Geschmacks entbehren
können. Aber in ihrem Wesen wird sie ein neues Werkzeug menschlichen
Geistes, eine neue Mehrerin und Wahrerin menschlichen Glückes,
Ausbreiterin und Verallgemeinerin menschlichen Wissens, menschlicher
Anschauung, menschlicher Kultur, ein Wahrzeichen und Mittel
menschlicher Verständigung und Veredlung sein.

Wollen wir aber diese Gesamttechnik -- diese Gruppe technischer Künste
-- im Gegensatz zur Kinematographie im engern Sinne bezeichnen,
so müssen wir uns nach einem neuen treffenden Namen umsehen. Er
liegt im Worte „Kinematographie“ eigentlich angedeutet. Es besagt
„Bewegungs(selbst)niederschrift“, und soll sich eigentlich auf die
Festhaltung sichtbarer körperlicher Bewegungen im Bilde beziehen.
Wie es aber oft mit solchen Erfindungsbezeichnungen geht, ist auch
diese eigentlich schief. Denn Bewegungen im genannten Sinne fängt
ja der Kinematograph eigentlich gar nicht auf und gibt sie nicht
wieder: er entnimmt ihnen im Gegenteil bewegungslose Augenblicke und
hält diese fest. Die Zusammenvorführung dieser Bilder gibt nur den
~Schein~ der Bewegung wieder. -- Aber eine andere Bewegung hält der
kinematographische Film ebenso wie die Photographie überhaupt und auch
die Grammophonie fest, und auf dieser „Bewegungsniederschrift“ beruht
Wirkung und Wert dieser ~ganzen~ Gruppe von Techniken: ich meine die
~Bewegung der Licht- und Tonwellen, die von den Gegenständen des Sehens
oder des Hörens ausgehen~. Diese ununterbrochene Bewegung selber
schreibt sich auf chemisch-physikalischem Wege in der Film- wie in der
Wachsschicht usw. auf, und sie selber oder doch die Erweckung ihres
automatisch genauen Wiederbildes ist die Ursache des auf Papier oder
Leinwand wieder sichtbar werdenden Bildes, wie des wiederklingenden
Tongefüges. In ~diesem~ Sinne haben wir also das Recht, all diese
Techniken als auf „Bewegungsselbstaufzeichnung“ beruhend zu bezeichnen.
Zum Unterschiede von dem leider schon „verbrauchten“, etwas schief
vorweggenommenen Worte „Kinematographie“ -- womit ich nach wie vor die
Technik des „lebenden Bildes“ meine -- habe ich drum vorgeschlagen,
die ~ganze Gruppe~ mit dem -- überdies richtiger oder doch besser
gebildeten -- Worte „~Kinetographie~“ zu bezeichnen. Die Silbe „ma“ in
diesem Worte ist mindestens überflüssig, es kommt von κινέω, κίνησις
(Stamm κιν Verbindung -ετ-). Wenn ich nun von Kinetographie als
~Vorstellung~ spreche, so verstehe ich darunter eine solche, die im
Kern aus dem Zusammenwirken aller oder mehrerer der genannten Techniken
(also auch Lichtbild und später einmal Grammophonie) besteht, die
durch Wort, Musik, einstweilen künstlich-mechanische Begleitgeräusche
usw. als unentbehrlichen, aber den kinetographischen untergeordneten
Bestandteilen gebildet wird.


2. Das „Programm“

Aus dem vorigen haben sich schon einige Hinweise auf die ~äußere~
Gestaltung eines Programms ergeben. Um aber einem Irrtum vorzubeugen,
betone ich nun, daß trotz der Heranziehung aller möglichen Hilfsmittel
ein Programm weder seine ~Einheitlichkeit~ noch seine ~Ruhe~ verlieren,
noch ungebührlich ~lang~ werden darf. Die erlaubte ~Länge~ eines
Programms richtet sich allein nach der Aufnahmefähigkeit der Zuschauer,
diese aber wieder ganz nach Inhalt und Gliederung des Programms. Je
länger es ist, einen desto kunstvollern Aufbau und desto feinere
Gliederung erfordert es. Ein Programm mag kurz oder lang sein, es
muß in all seinen Teilen eine Steigerung oder doch Wachhaltung und
Neubelebung des Interesses bewirken. So wie aber der schönste Ton
zuletzt aus Mangel an Atem in Töne zerlegt werden muß, so kann
ein langes Programm nicht von einem fortwährenden Sichüberbieten,
immer noch heftigern und lebhaftern Eindrücken leben, sondern es
muß in Teile zerlegt werden, die jedes in sich selber wieder ein
abgeschlossenes Ganze bilden. Aber auch das kürzeste Programm ist
verpfuscht, wenn es aus lauter „Schlagern“, aus lauter Bildern
höchster Erregung und Verblüffung besteht. Im Gegenteil. Die Kunst
besteht darin, nicht nur „tolle Effekte“, mit denen ja leicht zu wirken
ist, unterzubringen, sondern eben auch die feinern und nüchternen
Programmbestandteile in Wirkung zu bringen. Das ist ja der größte
Fehler fast aller Kinoprogramme, ja der ganzen Kinematographie,
daß sie gleichsam aus einem fortwährenden Gebrüll, einem ständigen
Sichüberbieten, dem „Totschreien“ aller feinen Wirkungen bestehen.
Feine, gute, künstlerische Aufnahmen, die für sich selber und im
passenden Rahmen, z. B. einzeln nach dem Vortrag eines Gelehrten
angebracht, Stürme von Begeisterung erregen, kommen im Kinotheater
gar nicht zur Geltung. Die Beschauer sind durch vorangehende Possen
und nachfolgende Schauerdramen in Nervenerregung, sind so starke
und grobe Effekte gewohnt, daß sie für die Stimme der schlichten
Naturwahrheit, und wär’s in den großartigsten Schauspielen, die die
Erde bietet, einfach keinen Sinn haben. Die Mittel, auf denen die
Wirkung jedes ~zeitlichen~ (Hintereinander-) Kunstwerks, also auch der
Kinetographie beruht, sind ~Steigerung~ und ~Gegensätze~. Was ich an
einem gedachten Meeresfilm skizzierte, das Anheben mit Szenen ruhig
schöner Bewegung, die Steigerung nach und nach bis zum Höhepunkte
elementarer Erregung, dann das mehr oder minder schnelle Abklingen bis
an die Grenze völliger Ruhe -- das, mit allen Abwandlungen, muß auch
das Gesetz jedes ~Gesamtprogramms~ sein. Natürlich kann man’s auch
anders machen. Man kann mit einem lustigen „Fortissimo“ einsetzen, mit
einem kinematographischen „Galopp“ schließen und dazwischen schwere,
langsame Wirkungen verlegen. Man kann auch auf ein „Idyll“ unmittelbar
einen „Sturm“ folgen lassen und umgekehrt (wobei ich nicht nur an
Idyll und Sturm dem ~Inhalt~ sondern auch der Sinnenwirkung nach
denke; z. B. auf ein zart gehaltenes Schwarz-Weiß-Lichtbild folgt ein
bunter Kinemacolorfilm). Man kann in einen Teil alle ruhigen, mehr
belehrenden, oder alle schwarz-weißen Aufnahmen, in einen zweiten alle
heitern, bunten oder rein künstlerischen Bilder verlegen usw. Die
Hauptsache ist, ~daß~ die Programmgestaltung durchdacht ist, und zwar
immer nicht „am grünen Tische“, sondern lediglich in Berücksichtigung
der lebendigen Wirkung.

Was die Interpunktionszeichen im Aufsatz, das sind die Pausen in einem
Programm: Mittel feinster unmittelbarer Kunstwirkung. Es gibt da
Kommas, Semikolons, Punkte, Ausrufungs- und Fragezeichen, je nachdem
ob es kurze Trennungen zwischen umspringenden Filmteilen oder lange
trennende Einlagen sind, ob es allmählich und halb oder plötzlich und
ganz hell wird, ob die Pause leer bleibt oder ablenkend ausgefüllt wird
usw. Vor allem muß jede Pause auch wirklich eine ~sein~ -- ebenso wie
jedes Bild eins ~sein~ muß. Das heißt (und hiergegen wird sehr viel
gesündigt), daß jedes Bild genügend Zeit haben muß, deutlich erkannt
zu werden und zu wirken, und jede Pause ausreichen muß, auch wirklich
die jeweils bezweckte Ausruhung, Sammlung usw. zu bewirken. Von beiden
hängt in erster Linie die ~Ruhe~ der Gesamtvorstellung ab, und die ist
eine der ersten Bedingungen für ihre künstlerische Vollkommenheit.

Weiter gehört dazu, daß auch die zur gegenseitigen ~Ergänzung~
dienlichen Techniken und Hilfsmittel nicht zu ihrer ~Erdrückung~
mißbraucht werden. Auch das ist eine der gewöhnlichsten Erscheinungen
im Kino. Es ist ein grober Unfug, Bilder von Musik begleiten zu
lassen, außer in Ausnahmefällen, wo diese Musik eigens, mit feinstem
musikalischen Verständnis und völliger Unterordnung dem Bilde angepaßt
und zu seiner Ergänzung oder Erläuterung unentbehrlich ist. Das ist
z. B. bei ~Tänzen~ der Fall, die ja der Seele entbehren, wenn man die
dazu gehörige Musik nicht hört. Noch schlimmer ist die Begleitung der
kinematographischen Bilder mit ~Worten~. Der Versuch, ihnen erläuternde
„Dialoge“ unterzuschieben, ist ja verständlich, solange schlechte,
d. h. für sich unverständliche „dramatische“ Pantomimen das Programm
beherrschen. Dann ist eben das Hilfsmittel mehr das in Worte gebrachte
„Begleitgeräusch“ (ohne das solche Bilder manchmal unerträglich sind);
das unkünstlerische sind die Filme selber. Wovon ich aber spreche, das
ist der erläuternde ~Vortrag~. Zum Verständnis gesprochener Worte sind
ganz andere Gehirnteile in uns tätig als zur Aufnahme von Bildern durch
das Auge. Beide Arbeiten strengen die Nerven an und erfordern unsere
ganze Aufmerksamkeit. Auf Erläuterungsworte achten zu müssen, während
man gleichzeitig schnell vorbeiwandernde Bilder entziffern soll, das
ist daher eine noch größere Qual als diese Zumutung bei Lichtbildern,
die wenigstens stillestehen. Eben darum sollte man alle Erläuterungen
mit und ohne Hilfe von Lichtbildern (Landkarten, Tabellen, Schemen
usw.) unmittelbar ~vor~ das Kinobild verlegen, die letzten Sekunden vor
diesem aber ~nur~ noch, eindringlich und kurz, ~sprechen~. ~Während~
des Bildes sollte man sich jeder Störung, selbst des geringsten
Hinweises enthalten. Dauert ein Bild länger, und ist es innerlich ohne
Steigerung usw. (z. B. eine an sich schöne Fahrt auf schaukelndem
Boote durch eine idyllische Landschaft), so mag eine zweite Verwendung
von Begleitmusik, nämlich nun zu „melodramatischen“ Zwecken, zur
Hebung der Stimmung und Unterstreichung des Rhythmus, gleichzeitig
zur Beruhigung der optischen Sinne, in ihr Recht treten. Was von der
hier selbstverständlich vorausgesetzten Handmusik gilt, gilt erst
recht von der automatischen, soweit diese überhaupt in Betracht kommt.
Vielleicht sollte man, um ~vereinzelt~ auf besonders wichtige Vorgänge
in Kinobildern aufmerksam machen zu können (da doch manchmal das
stoffliche Interesse noch gebieterischer als das stets durch solche
Mittel beeinträchtigte ästhetische), kleine ~Lichtsignale~ einführen.
Es könnten etwa rings um die Leinwand verteilte oder verschiedenfarbige
Glühlämpchen sein, die kurz vor überraschend auftretenden, schwierig
zu beobachtenden Einzelheiten aufleuchten und während dieser brennen.
Durch ihre Lage und Verteilung, auf die vorher aufmerksam gemacht wird,
könnten sie auch auf die ~Stelle~ der erwarteten Erscheinung hinweisen.

Begleitworte usw. werden um so störender, je mehr wir daran denken,
die Gesichtserscheinungen im Bilde auch durch „Begleitgeräusche“ zu
ergänzen. Auch diese Geräusche (von denen wir noch sprechen) dürfen
aber nur da eintreten, wo sie zum Verständnis oder zur Erhaltung der
Phantasie in den richtigen Bahnen ~unentbehrlich~ (und natürlich:
„richtig“) sind. Sie dürfen weder gewohnheitsmäßig noch aufdringlich
werden: nur Begleitung; aber eben auch nicht unwahr zurückhaltend.

Endlich kommt es noch darauf an, den ganzen zur Vorführung nötigen
Apparat in einer Weise zu ordnen, daß er den künstlerischen Genuß und
Zweck nicht stört, sondern fördert. Da wir immer im Auge behalten,
vor allem das kinetographische Wirklichkeitsbild durch sich selber
sprechen lassen zu wollen, so ist nötig, alle Hilfsmittel, alles
rein technische und besonders das nicht kinetographische, das in
Wirklichkeit bei guter Ausführung großen Raum einnimmt, unsichtbar
werden zu lassen. Es ist dasjenige, was dem Faden im Puppentheater,
der Komparserie auf der Bühne entspricht. Was wir zeigen, sind auf
sachgemäß und angenehm ausgestatteter Fläche unsere Bilder, und hin und
wieder lassen wir den leitenden Menschenwillen persönlich erscheinen.
Wie das alles zu machen ist, erläutert wohl am besten eine Beschreibung
der Mustervorstellungen, wie sie seinerzeit der Verfasser mit reichen
Hilfskräften und großem Apparat in Dresden und anderswo gab. Sie haben
-- von einem großen Kreise Gebildeter unterstützt und lediglich dem
gemeinnützigen Zwecke dienend, zum erstenmal und bisher nicht wieder
erreicht noch nachgeahmt, einer breitern Öffentlichkeit gezeigt, was
man mit den damaligen Mitteln (um 1910) erreichen konnte. Ihr Mangel
war nun der, daß man sich an die gegebenen Films, wenn auch an die
besten der vorhandenen, halten mußte, die aber noch ganz „im alten
Stile“ hergestellt waren. Sie sind heute noch ebenso. Wir hoffen durch
unsere Schrift dazu beizutragen, daß eines Tages mehr inhaltlich
vollendete, formell geschlossene -- künstlerisch einwandfreie Bilder
zur Verfügung stehen. -- Wie wir’s dort machten, läßt es sich in
Kinotheatern entsprechend, vielleicht noch besser, weil weniger
kostspielig und durch die Dauer ertragbringender, einrichten.

Eine große und tiefe, erhöhte, gegen das Publikum durch Leinwand und
Proszenium abgekleidete Bühne bildete den Schauplatz unserer Taten.
~Hinter~ ihr stand der Kinovorführungsapparat, selbstverständlich
eine tadellose Präzisionsmaschine, in dem bekannten eisernen, mit
Asbest ausgeschlagenen Vorführerhäuschen. Je nach den Verhältnissen
war ihm eine Tür geöffnet, oder (am liebsten) nur ein Loch für den
Lichtstrahl durch die Wand geschlagen. Wir projizierten also „von
hinten“, wodurch die Ablenkung der Neugierde und Aufmerksamkeit durch
den den Saal durchschwebenden Lichtstrahl und alle seine Zufälligkeiten
vermieden wurde. Auch war nun der Apparat durch Eisengehäuse,
Glasfenster, Bühnenwand und Proszenium so isoliert, daß so gut wie
~gar~ kein Geräusch mehr hörbar wurde. Die Verständigung mit dem
Vorführer wurde anfangs durch verabredete, im Zuhörerraum unhörbare
Klingelzeichen bewirkt, später durch Vermittlung von Gehilfen, die den
Vortrag hörten und bald die Stellen, wo die Bilder usw. einzusetzen
hatten, von selber kannten. Von da an ging alles lautlos, wie durch
ein Wunder. Ich bemerke noch, daß wir natürlich Gleichstrom oder
Umformer benutzten. Vor und unter dem Kinoapparat stand auf der Bühne
der Lichtbilderapparat. Wir hatten drei Vorführer. Zwei -- von denen
der eine die Verantwortung für den ganzen technischen Apparat, die
Bühne, das Personal usw. hatte, also der „technische Leiter“ war --
wechselten in der Bedienung des Kinematographen ab, der dritte --
ebenfalls gelegentlich von einem andern Mitwirkenden abgelöst -- war
der Lichtbildermann. Unter diesen „andern Mitwirkenden“ befanden
sich stets ein oder zwei Freunde, die mit Vergnügen und Eifer die
~Geräuschapparate~ handhabten. Regen zu machen, Wasser rauschen, Züge
über Brücken rumpeln, den Sturm heulen, den Donner pumpeln und die
Geiser zischen zu lassen, sie ist auch eine Kunst, aber eine dankbare.
An der Seite der Bühne saß ferner nicht weniger als ein dreiköpfiges
Orchester mit seinen Instrumenten. Klavier, Harmonium, Cello und
Geige. Ich wäre unvollständig, wollte ich nicht den schmunzelnden
Feuerwehrmann erwähnen, den uns die Polizei nicht aufzunötigen vergaß.

Von diesem kleinen „Wallensteins Lager“ ahnte aber niemand etwas von
den edlen Herren und schönen Damen, sowie dem „Volk“ der Großen und der
Kleinen, die ehrfurchts- und andachtsvoll, von den pompös betreßten
Dienern zwischen polizeivorschriftsmäßig breite, mit den Füßen
festgeklemmte Stuhlreihen wandelten, und sich von da aus am Anblick
eines prächtigen „Proszeniums“ weideten, oder -- wenn’s Kritiker oder
„Konkurrenten“ waren -- giftige Bemerkungen austauschten. (Wobei aber
festzustellen ist, daß bei weitem die meisten der ~erstern~ das, was
wir fertig brachten, mit großem Verständnis und warmer Anerkennung
empfahlen.) Das, was sie da sahen, war in der Tat so schön, wie’s
jemand machen kann, der eben von Vorhandenem ~auswählen~ muß. Um die
ganze Bühne herum zog sich ein hohes Proszenium aus dunkelrotem, wenig
geziertem Plüsch. In der Mitte wies ein leicht angedeuteter Rahmen
und ein Samtvorhang von der Farbe des Proszeniums auf die Stelle der
lichtdicht abgeschlossen dahinter angebrachten Leinwand hin. Diese
Einrichtung hatte nicht nur den Vorzug, geschlossen die Erwartung
der Zuschauer auf festliche Geheimnisse zu richten und derweil ihren
Augen einen geschmackvollen Ruhepunkt zu geben, (wozu noch vier grüne
Lorbeerbäume mitwirkten). Sie lenkte gleichzeitig die Blicke auf
die Stelle des eigentlichen Schauspiels, umrahmte diese in schönen
Verhältnissen und verhinderte jeden störenden Eindruck ringsum. Sie
grenzte einen weiten Raum für die Mitwirkenden ab und verdeckte
diese, Instrumente und Apparate, sie dämpfte die Geräusche und fing
verirrte Lichtstrahlen und Reflexlichter ab. Seitlich neben dem Vorhang
stand, in gleicher Höhe mit der Bildfläche das Rednerpult, von wo der
Vortragende frei sprach. Zur Erläuterung an Lichtbildern (Karten usw.)
hatte er einen Zeigestock zur Verfügung. Während der Bilder verschwand
er ganz im Dunkel. Sein Zu- und Abgang und seine Verbindungen mit der
Bühne war, um jede Augenstörung zu vermeiden, durch spanische Wände
usw. verdeckt.

Die Vorstellung begann bei hellem Saal mit einem kurzen freien
Vortrag. Dieser wendete sich nach kaum merklicher Pause dem ersten
Bilde zu und gab eine Beschreibung dessen, was zu erwarten war, in
welchem Sinne es aufzufassen, und was darin besonders zu beachten
sei. Derweil verdunkelte sich der Saal; die Kohlen in den Apparaten
aber glühten zischend auf. Die Vorführer stellten ihre Bilder ein
-- die Zuschauer merkten nichts von alledem, da der schwere Vorhang
die bereits beginnenden Bilder verdeckte. Jetzt ging er auseinander,
und der Eisenbahnzug setzte sich durch die Alpenlandschaft hindurch
in Bewegung. Dazu ertönte das Rütteln der Wagen, hin und wieder das
Pfeifen der Lokomotive. Die Geräusche veränderten ihren Klang, wenn’s
über Brücken, durch Tunnel ging. Die Geräusche, anfangs munter und
anregend einsetzend, wurden schwächer, nachdem man sie in die Phantasie
der Zuschauer eingeführt glauben konnte. Stellenweise wurden sie ganz
unterlassen. Trotz gewisser Mängel, die nicht weniger an den (ewig
nervös umspringenden) Filmen wie an unserer Unerfahrenheit und der
Unzulänglichkeit unserer Maschinen lagen, gewöhnte man sich doch
sofort so an sie als an Notwendiges und Selbstverständliches, daß
ihr gelegentliches Fortbleiben von ernsthaften Besuchern peinlich
bemerkt wurde. Bevor das Bild „umsprang“, wurde es unsichtbar, und
ebenso blieben dem Auge, infolge der geschilderten Einrichtung die
unerfreulichen Anfänge des neuen Bildes erspart, es floß gleich fertig
aus dem Dunkel hervor. Am Schlusse sprang wieder jene kurze dunkle
Pause ein -- und an Stelle des Filmbildes stand ein landschaftliches
Lichtbild von ruhiger Schönheit da.

Nachdem das lebhafte, von Beifall zeugende und zuerst von
Händeklatschen usw. begleitete -- Gemurmel sich gelegt hatte, diente
nun eine Reihe Lichtbilder der Erläuterung des Vorhergegangenen und
der Vorbereitung des Folgenden, zugleich der Augenerholung. Auch
die Lichtbilder wechselten so, daß sich zwischen allen die Leinwand
einen Augenblick verdunkelte, daher das häßliche Ab- und Anschieben,
gelegentlich auch Stocken und Probieren unsichtbar blieb. Dieser
Wechsel geschah aber mit der Zeit so prompt, daß wie durch einen
Zauber ein Bild an der Stelle des andern stand. Dann wurde es wieder
dunkel. Man hörte Wasser rauschen, und als der Zwischenvorhang wieder
auseinanderging, sah man einen Wasserfall in Tätigkeit usw. Am Schlusse
dieses Teils wurde ein wunderschönes Bild -- eins der wenigen auch
künstlerisch fast völlig einwandfreien, die es gibt,[1] gespielt. Die
Zuschauer wußten erst nicht recht, wo sie waren, als wie ein Zauber zu
diesem Bilde eine unsichtbare, zarte und doch in Rhythmus und Melodie
wie dazu gemachte (und natürlich angepaßte) Musik dazu erklang, die
das Bild bis zu seinem Ausgang begleitete. Der rauschende Beifall,
der sich erhob, während sich überm geschlossenen Vorhang der Saal
wieder erhellte, galt nicht nur dem ganzen bisher gesehenen, sondern
ebenso dem letzten Bilde und dem echten musikalischen Genuß, der
damit verbunden gewesen war. Das Proszenium schien eine Sphäre von
Zaubergeistern zu sein, ein geheimnisvolles Land von Licht, Leben und
Musik.

Auf den ersten Teil folgte ein zweiter, kürzerer. Er bestand aus
lauter kurzen (vielfach leider, aber notgedrungen viel zu kurzen)
völkerkundlichen Szenen, die im Gegensatz zu den längern und ernstern
Landschaften, natürlich besonders munter wirkten. Und hinreißend wirkte
es auf jedermann, wenn nun endlich mal die jungen Japanerinnen und
nachher die Tiroler nicht zu einer der üblichen Klavierpaukereien,
sondern zu einer unsichtbaren, scheinbar von ihren eignen Instrumenten
kommenden, nach Möglichkeit „echten“ Musik tanzten! (In diesen Dingen
~ganz~ echt zu sein, ist dem Kinotheaterbesitzer leichter, als es uns
damals war, wie ich zeigen werde.)

Der dritte Teil war nun derjenige, der die mächtigsten Eindrücke
bringen mußte, sollte er gegen die vorigen nicht abfallen. Daher
hatten wir ihm (das Gesamtprogramm hieß: „~Schauspiele der Erde~“),
die „Tausend Spiele des Wassers“ vorbehalten, und ließen es hier
nun wirklich am Großartigsten, das die Erde zeigt, nicht fehlen.
All unsere Künste mußten sich, nachdem die Rede den gröbsten zu
erwartenden Mißverständnissen vorgebeugt hatte, zu kräftiger Wirkung
vereinigen, und so rauschten vor unsern Augen die Wasserfälle der
„Welt“, donnerten die „Geiser Neuseelands“, brauste die Brandung des
Meeres. (Wir hätten auch andere als die „größten“ dieser Schauspiele
genommen, wenn sie -- zu haben gewesen wären.) Um, worauf es uns ankam,
vor allem den sinnlichen Eindruck jener gewaltigen Naturerscheinungen,
ihre seelische Wirkung zu erreichen, nahmen wir ganz keck alles, was
wir von „Viktoria“-und „Niagara“fällen erreichen konnten, zusammen,
und ließen die Wassermassen nur immer stürzen und nebeln, brausen und
wirbeln. Dies nach dem Vorurteil gewisser Leute höchst „langweilige“
Schauspiel fesselte ebenso wie die den Schluß bildenden langandauernden
Bilder vom Meereswogen alle unsere Zuschauer, selbst kleine Kinder
und die einfachsten Leute bis zur Starrheit. Zuletzt, angesichts des
beruhigten Meeres, setzte die Melodie von „Das Meer erglänzte weit
hinaus“ (Harmonium) ein, und es ging ein Aufatmen aus einem Banne durch
die Reihen, als die Vorstellung zu Ende war.


3. Einzelheiten

Was wir in dem als Beispiel angeführten Programm „Schauspiele der
Erde“ durchzusetzen versuchten, litt unter den Mängeln des uns zur
Verfügung stehenden Filmstoffs, zu deren Abhilfe den Weg zu weisen, wir
im ersten Teile dieser Schrift versucht hatten. Wir mußten aus bunt
zusammengewürfelten, zufällig und meist ohne viel sachliches oder gar
künstlerisches Verständnis hergestellten, aus unzähligen unzulänglichen
Teilen zusammengeflickten, gar nicht oder unbrauchbar oder gar
falsch und irreführend erläuterten Filmen und zufällig auftreibbaren
Lichtbildern unser Programm zusammensetzen, ihm danach Namen, Gestalt
und Gliederung geben. Wie glücklich werden unsere Nachfolger sein,
die einmal den umgekehrten, vernünftigen Weg beschreiten können: sich
zuerst eine sachlich begründete, geschlossene Vortragsidee ausarbeiten,
danach die richtigen, vollendet hergestellten Filme und Filmteile frei
auswählen, wo nicht ihre Herstellung selber bewirken, die geeigneten,
an Ort und Stelle gemachten Lichtbilder gleich mit erhalten, die
erwähnten ausführlichen Angaben und Beschreibungen, einschließlich
Aussprache und Geräuschbeobachtungen usw. fertig vorfinden! Uns hat
das alles, obgleich ein kleines Heer von Professoren und gelehrten
Fachmännern uns nebst zahlreichen Büchern unterstützten, eine
unendliche und doch schlechterdings nicht völlig zum Ziele führende
Arbeit gekostet. Noch heute sind uns einzelne der Filme, die wir
damals selber aus London und Paris holten, (im Vertrauen auf die
Zuverlässigkeit der Beschreibungen und deren leichte Ergänzung durch
Literatur), in Beziehung auf ihren nackten Inhalt ein Buch mit sieben
Siegeln geblieben. Eine große Menge Filme haben wir als unerklärbar
oder völlig falsch bezeichnet, unbenutzt lassen müssen. Monatelange
Arbeit hat uns, unterstützt vom Zufall, zum Verständnis und zur
richtigen Bezeichnung gerade der allerschönsten und wertvollsten
Bilder verholfen. Dabei ist noch der Schwierigkeit ihrer Erlangung zu
gedenken, die bei der auf diesem Gebiete herrschenden Unordnung und den
eigentümlichen Interessen der Filmfirmen, in der Tat zuletzt nur durch
gefälliges Entgegenkommen ermöglicht wurde. Dies alles war für uns eine
gute Schule, deren wertvollste Früchte wir in den vorigen Abschnitten
geborgen haben. ~Eine gute Kinovorstellung wird in der Hauptsache von
den Aufnahmeoperateuren und in den Filmateliers gemacht.~ Ist da gut
und richtig Hand in Hand gearbeitet worden, so ist alles weitere für
den Vorführungsleiter leicht. Nicht ist im allgemeinen zu erwarten, daß
die Bilder zu ganzen abendfüllenden usw. Programmen an einen vorher
auszuarbeitenden Vortrag gereiht, zu diesem einzigen Zwecke hergestellt
werden. Dazu ist die Kinoaufnahme zu sehr von Zufällen abhängig, und
die mannigfache Verwendung und wechselnde Zusammenstellung der Bilder
ein zu großer Vorzug. Ich möchte das Erstrebenswerte vielmehr so
bezeichnen, daß gleichsam an jeder Kinoaufnahme ~Verbindungsfäden~
stehen bleiben, mittels deren sie leicht und passend in jedes Programm
hinein verknüpft und wieder daraus gelöst werden kann. Sie muß so
gemacht sein, daß sie überallhin paßt. D. h. sie braucht nicht immer
für sich selber ein abgeschlossenes, für sich allein den Gegenstand
erschöpfendes Ganzes zu sein, aber sie muß den höchsten Anforderungen
der Art entsprechen, zu denen sie gehört. Sie muß ferner so erläutert,
eingeordnet und zugänglich sein, daß sie für sich selber keine neue
Identifizierungs- und Zurichtungsarbeit erfordert.

Solange das nicht der Fall ist, bleibt die Herstellung eines
„Musterprogramms“, einer „künstlerisch vollendeten“ Vorstellung eine
Gigantenarbeit, und es wird immer noch etwas zu wünschen übrig bleiben.
Wir wollen, so gut es geht, die einzelnen Elemente einer solchen
Vorstellung sichtend durchgehen.

Noch ehe wir unsere Filme endgültig als Hauptteile in das nach den
entwickelten Gesichtspunkten entworfene Gesamtprogramm einfügen,
beschäftigt uns die ~Feststellung ihres Inhalts~. Das ist, wie
bemerkt, heute noch eine Arbeit, die oft ans Unmögliche grenzt, in
den Kinotheatern usw. aber meist -- ganz unbekannt ist. Geboten ist
grundsätzliches Mißtrauen gegen die Angaben der beigegebenen gedruckten
„Beschreibungen“. Allein die darin enthaltenen Namen sind oft, infolge
der fremden Herkunft der meisten Filme, ganz unbrauchbar. Man suche
sie an der Hand von Fachwerken, die man in öffentlichen Büchereien
findet, in ihrer deutschen Form festzustellen, nötigenfalls fragt
man Lehrer und Fachleute. Häufig gelangt man da zu höchst einfachen
und bekannten Bezeichnungen allbekannter Dinge, die einem mit ihrem
lateinischen, englischen usw. Namen höchst exotisch vorkamen. Sodann
verschaffe man sich selbst durch Lesen, Abbildungen usw. ein möglichst
genaues und umfangreiches Bild des betreffenden geographischen,
naturwissenschaftlichen usw. Gegenstandes. Man wird oft erstaunen,
was für ein brennendes Interesse da manche Bilder gewinnen, die man
vorher als langweilig ansah. Oft freilich wird man dann auch seinen
Film verwerfen müssen, weil er entweder nur Nebensachen des Themas oder
auch -- etwas ganz anderes zeigt. Nur wenn man selber so etwas von dem
Gegenstande kennt, kann man Wert oder Unwert eines Films wenigstens
ungefähr beurteilen, und wissen, wo sein Interesse liegt, und in
welchem Zusammenhang er unterzubringen ist. Fast alle Filme, belehrende
wie unterhaltende, haben „Beziehungen“ zu irgendwelchen Gedankengängen,
die Kennern und Gebildeten bekannt sind, beim Anblick der Bilder sofort
einfallen und für deren Wert oder Unwert oft entscheidend mitsprechen.
Wer diese Beziehungen nicht kennt, tappt im Dunkeln, und kann nie ein
Programm zusammenstellen, das geschmackvolle Leute befriedigt. Er suche
sich eine Hilfe; auch wenn er ein Universalgelehrter wäre, würde er
ohne solche Hilfe nicht auskommen.

Zu den so für würdig befundenen Filmen gilt es nun zunächst, die etwa
zum Verständnis unentbehrlichen ~Lichtbilder~ herauszufinden. Das ist
für den einzelnen schwer, aber solange es die Filmfirmen nicht gleich
selber tun, muß man sich an der Hand der Kataloge der Lichtbilderfirmen
zu helfen suchen.

Für diesen Zweck wie für den der Filmwahl (für letztere nur unter
gewissen, früher erörterten Bedingungen in Betracht kommend) wäre ein
von einer Zentralauskunftsstelle anzulegender und zu verwaltender
~Realkatalog~ mit Inhalts- und Wertangaben usw. sehr wünschenswert, und
auch die Firmen hätten gewiß das größte Interesse daran.

Ich will hier nur darauf aufmerksam machen, daß neben den großen
deutschen Firmen wie Unger & Hoffmann in Dresden, Liesegang in
Düsseldorf, Vereinen wie der M.Gladbacher und der Berliner
Volksbildungsverein, der Dürerbund usw. auch die Sammlungen des
Auslandes in Betracht kommen. Besonders sind die englischen Lichtbilder
zum Teil wegen ihres künstlerischen Wertes hervorragend. Zur Belebung
und künstlerischen Erhöhung kinetographischer Vorstellungen möchte ich
aber besonders auch auf die Verwendung naturfarbiger Einzelaufnahmen
(Lumière-Verfahren u. a.) hinweisen. Sie erfordern das hier vorhandene
sehr starke Licht, bringen aber das so sehr entbehrte farbige Element
in die Vorstellung. Es gibt unter ihnen ebenfalls bereits Kunst und
„Kitsch“. Kitsch sind diejenigen Bilder, die um ihrer Buntheit willen
gemacht sind. Kunst sind diejenigen, deren ~Farbenwerte richtig~
wenigstens ~angestrebt~ sind (weder „richtige“ Farben noch „vollkommen
richtige“ Farbenwerte sind hier überhaupt möglich, da beides subjektive
Begriffe sind) ~und~ die eine -- soweit sie willkürlich ist --
~geschmackvolle~ Farbenzusammenstellung oder Wahl zeigen. Auch hier
geht aber oft das stoffliche Interesse mit Recht über das „rein“
ästhetische.

Für die Projektion von Lichtbildern empfiehlt es sich, die häßlichen
Bilderwechsel zu verdecken, die Bilder lange genug und ruhig stehen
zu lassen und je schöner sie sind, desto weniger durch Reden zu
stören, zwischen allen eine genügende Pause zu machen. Die farbigen
Lichtbilder sah ich von Courtellemont in Paris sehr wirkungsvoll mit
einer Nebelbildereinrichtung (zwei verbundene Cameras) vorgeführt,
dergestalt, daß eins durch das neu auftauchende, noch unerkennbare neue
verblaßt und unkenntlich wird, unter Rückgang der Helligkeit wechseln
beide, und das neue taucht immer heller werdend auf. Freilich waren es
prächtige und abwechslungsreiche Bilder, die so vorgeführt wurden.

Auch der ~Vortrag~ erhält seinen meisten Stoff aus den zur
Inhaltsfeststellung der erwählten Bilder gepflogenen eignen Studien.
Hier gilt es nun, in die Tiefe der Erkenntnis, die man sich in aller
Eile angeeignet hat, nicht Meter für Meter den Zuhörer hineintauchen,
sondern sich hinterher wieder ganz und gar in die Seele jener
Unwissenden hineinversetzen, die nur unser Bild sehen werden, und
nur das zu seinem Verständnis Nötige wissen wollen. Worte, wenn auch
unentbehrlich, sind ein fremder Bestandteil in einer kinetographischen
Vorstellung. Wenigstens sind sie hier nicht in ihrer ~literarischen~
Kunstanwendung am Platze, sondern nur als kurze, _al fresco_ gegebene
eindringliche Erläuterungen. Will man seine Vorstellung mit einem
für sich wertvollen Vortrag abwechseln lassen, so setze man ihn eben
gänzlich für sich, am besten an den Anfang oder in die Mitte.

So kurz der Vortrag und so wenig und den Nagel auf den Kopf treffend
die Worte sein sollen, um so mehr sollte dennoch und gerade deshalb
der Vortragende die Redekunst beherrschen. Er sollte vor allen
Dingen völlig über den Schauspieler- wie den Predigerton, über das
Deklamieren wie über das Singen hinaus sein. Er soll langsam, deutlich
und eindringlich sprechen. Er hat nur kurze Minuten der Aufmerksamkeit
vor sich, in ihnen hat er wichtige Gedankenbrücken zu schlagen, Augen
zu öffnen, die Geister zu leiten. Er muß darum seine Zeit nutzen. Er
muß, solange er spricht, die Aufmerksamkeit voll auf sich lenken,
während der Bilder aber völlig untertauchen und alles weiter Nötige mit
mechanischen Mitteln zu erzielen suchen.

Sind die Grundzüge von Filmen, Lichtbildern und Vortragsinhalt
festgestellt, so kommt die endgültige Ausarbeitung des Programms. Über
seine äußere Gliederung und das Spiel von Steigerungen, Ruhepunkten,
Abwechslungen, Gegensatzwirkungen haben wir schon gesprochen. In den
meisten Kinotheatern ist das Programm ein „rollendes“ -- es beginnt
für jeden Eintretenden dann, wann er eben kommt. Mindestens wäre es
wünschenswert, auch um des ästhetischen Eindrucks willen auf den
Ankömmling selbst, die Neueintretenden sich bis zur Beendigung der
eben laufenden Szene in einem Vorraum sammeln zu lassen. Im übrigen
allerdings wird es für das Programm genug sein müssen, die einzelnen
Nummern abwechslungs- oder beziehungsreich aneinanderzureihen und für
hübsche Übergänge zu sorgen. Man kann es auch in eine Anzahl kleinere
Abteilungen, die ein kleines geschlossenes Ganze bilden, zerlegen.
Immer aber läßt sich auch solchem Programm ~Einheit~, nämlich ein
einheitlicher Grundgedanke geben. Dieser braucht nicht stets im
Stofflichen zu liegen -- er kann ganz weit wie ganz eng gefaßt sein.
Selbst die Parole „Buntes Allerlei“, nach der einmal alles Erdenkliche
zusammengereiht werden kann, kann doch diesen „einheitlichen
Grundgedanken“ bilden. Es ist dann mehr eine einheitliche „Stimmung“
oder Stimmungsmischung, die zugrunde liegt. Jedenfalls ist nicht jedes
„Bunte Allerlei“ eine künstlerische Einheit, sondern nur eins, dem man
anmerkt, daß es Stück für Stück aus einer bestimmten Stimmung oder
einem bestimmten Gedankenkreise heraus erwählt ist.

Höher steht, aber auch schwerer zu beschaffen ist ein Programm, das
einen einheitlichen Grund~inhalt~ in logischer oder doch sachlicher
Folge abhandelt. Da wird man zurzeit noch seine Pläne möglichst
allgemein halten müssen. „Der deutsche Wald“, „Englisches Volksleben“,
„Von der Spinne“, „Die Töpferei“, „Wie das Brot entsteht“ -- so
unglaublich es klingt, und auf so viele anklingende Kataloge und
Filmtitel der Uneingeweihte mich verweisen wird; man wird kaum die
zu irgend einer abgeschlossenen, rein nach dem sachlichen Interesse
entworfenen Vorstellung dieser Art die nötigen guten, richtigen,
geschmackvollen, sachlichen, geschweige denn künstlerisch vollendeten
Bilder auch nur ~nennen~ -- und man wird sie noch viel weniger
~erhalten~ können! Der Filmmarkt ist zurzeit nur auf die Erfüllung des
wöchentlichen Neuigkeitenbedürfnisses der Kinotheater eingerichtet,
darüber hinaus versagt seine Organisation völlig. Eher findet sich
schon was, wenn man sein Thema faßt: „Vegetationsbilder der Erde“,
„Aus dem Leben unterm Mikroskop“, „Von fremden Völkern“ u. dgl.
allgemeinen, im Grunde nichtssagenden Titeln. Da findet sich schon
was; ob man es kriegt, ist zurzeit Glückssache. Will man ernst zu
nehmende Vorstellungen dieser Art zurzeit machen, so ist man schon
auf reichliche Zuhilfenahme von Lichtbildern, Vortrag und -- Pausen
angewiesen.

Wie soll man denn aber zurzeit „künstlerische“ kinetographische
Vorstellungen machen? Es gibt nur einen Weg: man besuche, mit dem
genügenden Kapital ausgerüstet, die Berliner Filmfirmenvertreter,
und passe dort auf die wöchentlich erscheinenden Neuheiten auf. Da
hat man wenigstens den Vorteil, die Filme zu ~sehen~. Nun kaufe man
auf gut Glück die besten unter ihnen auf und sammle sie an, bis man
zu verschiedenen Themen -- die man sich unter Berücksichtigung der
Gelegenheit zurechtmacht -- einigermaßen Stoff beisammen hat. Hierzu
kaufe man, indem man sich das Gedächtnis hervorragender Filmkenner
und in zweiter Linie die Katalogbeschreibungen der Firmen zunutze
macht, ältere gute Filme zur Ergänzung -- ~sehen~ wird man sie
allerdings erst, nachdem man sie bezahlt hat und besitzt. Den so
gewonnenen Filmvorrat macht man durch Abtrennung der minderwertigen
und mißlungenen, aller zu kurzen, undeutlichen, albernen oder sonst
geschmacklosen Abschnitte und durch Umstellung der einzelnen Szenen
zurecht, bis die Sache ein Gesicht gewinnt. Man fahnde dazu eifrig
nach Lichtbildern und wissenschaftlichem Material usw. -- und gehe
dann an die Herausgabe der einzelnen Vorstellungen. Wie man schon aus
dieser keineswegs pessimistischen Beschreibung sieht, ist das Ganze
eine Aufgabe, die für den ~einzelnen~ überhaupt geradezu unmöglich ist.
Es muß daher ein besonderer Weg zur Verwirklichung gefunden werden --
hiervon später.

Die Feststellung der ~Naturgeräusche~ ist in vielen Fällen leicht,
in den meisten sehr schwer, wenn sie nicht geschmacklos ausfallen
sollen; die Ausführung ist meist leicht und wohlfeil. Theaterpraktiker
sind darin die besten Ratgeber. Wasserrauschen und Regnen wird oft
schon ausgezeichnet durch das Wischen von Papierbüscheln auf der
Erde nachgeahmt. Zum Windrauschen läßt man einfach gebaute Kammräder
an gespannten Schirtingbahnen schleifen. Erbsen, in einem Sieb
geschüttelt, ein großes geschütteltes Blech, eine genial auf Fell oder
Rahmen gehandhabte Trommel für Donner usw., eine Mundpfeife u. dgl.
wirken schon Wunder. Wer aber will, kann seine Instrumente mit wenigen
Kosten auf noch größere Höhe bringen. Viel schwieriger ist die richtige
~Beobachtung~ der Geräusche. Es ist aber doch wohl selbstverständlich,
daß ein lautlos fallender Baum, eine lautlos abgeschossene Kanone, ein
lautlos aufkochender Geiser nicht nur ein geradezu peinliches Bild
geben, sondern auch den Zuschauer, namentlich den unerfahrenen, über
die stattfindenden Vorgänge und ihre Kraftverhältnisse völlig irre
führen. Ebenso offenbar ist es aber, daß falsch und bloß nach der
Phantasie eines gleichfalls unerfahrenen Vorführers gegebene Geräusche
nicht minder irreführen und für den Geschmack nicht minder peinlich
sind. Das Studium von Naturgeräuschen und ihrer Wiedergabe, an sich
ein nicht uninteressanter Zweig der Naturwissenschaften, sollte daher
durch die Kinetographie geradezu zu einer Hilfswissenschaft entwickelt
werden. Vor allem sollten hier einmal die Grammophonie-Fachmänner
einsetzen. Sollte es nicht möglich sein, den unzerlegbaren und
doch so reizvollen und bezeichnenden Lärm des Volkslebens in einer
Londoner Straße grammophonisch aufzunehmen, während gleichzeitig der
Kinematograph den ~Anblick~ festhält? Wenn vorläufig beide Aufnahmen
noch nicht gleichzeitig aufgenommen werden können, so kann doch beider
Zeitmaß mit dem Metronom bestimmt und danach gleichzeitig wiedergegeben
werden. Das wäre meines Erachtens das ~nächste~ Ziel zur anzustrebenden
vollkommenen mechanisch-automatischen Kinematographie. Inzwischen
müssen wir uns mit den mehrfach angedeuteten Hilfsmitteln begnügen.

Die ~Musik~! Sie hat ihre Stätte im Kinotheater aus mehrfach genannten
Gründen. Gewiß ~kann~ sie wegbleiben. Unter allen Umständen ist sie
viel mehr einzuschränken, als jetzt im Kinotheater üblich. Auch sie
gehört nur dahin, wo sie ~unentbehrlich~ ist. Das ist sie vor allen
Dingen bei Tänzen und wo irgend im Bilde Musik gemacht wird. Ihre
weitere Anwendung ist Geschmackssache. Sie muß der Bildervorführung
~untergeordnet~ bleiben, daher ist -- wo nicht das Bild selber anderes
~zeigt~ -- vor allem Streichmusik geeignet. Sie wirkt am feinsten
im geschlossenen Raum. Klavier allein ist zu hart und individuell,
es drängt sich vor, ist auch zu eintönig. Klavier oder Harmonium
zusammen mit Violine und Cello, auch gelegentlich Flöte ist diejenige
Zusammenstellung, die sich allen Zwecken am feinsten anpassen läßt
und sich am wenigsten vordrängt. Und vor allem nicht vergessen: jede
Musik hat einen ~Sinn~! Nicht nur den, den sie dem musikalisch Hörenden
unmittelbar ausspricht, den Stimmungsgehalt, sondern gelegentlich
oft auch einen recht unerwarteten, durch Textworte festgelegten
konventionellen Sinn. Achtung, daß der nicht zum Bilde wie „die Faust
aufs Auge“ paßt! Für Musik gilt ganz besonders die Regel: so wenig wie
möglich, aber so vollendet wie möglich und -- sinnvoll.

Wohl hauptsächlich aus dem Gefühl der technischen Zusammengehörigkeit
heraus, dem auch wir ja schon Ausdruck gaben, findet man besonders in
Kinotheatern sehr häufig das Grammophon. Es spielt eine besondere Rolle
bei den schon erwähnten „Tonbildern“, die wir mindestens so selten
wie möglich im Kinotheater sehen möchten. Wenn diese Art noch nicht
vollendet im höchsten ~technischen~ Sinne hergestellt werden kann, so
sollte wenigstens die künstlerische Wahl und Darstellung einwandfrei
sein. Zu gesungenen Liedern einen Mann im Frack hinzustellen, der im
Takt dazu die Kinnladen und die Arme bewegt, ist durchaus überflüssig.
Der Genuß des Gesanges wird dadurch so wenig wie sein Verständnis
gehoben. Anders wär’s, wenn Lieder durch kleine Kostümszenen
illustriert würden. Dann aber möchte man diese Szenen wenigstens gut
gespielt sehen. Kein „grammophonischer“ Sänger oder Chor sollte sich’s
gefallen lassen, daß an seiner Stelle ein Schauspieler dritten oder
geringern Ranges mit Maske und Gebärde den Mund auf und zu klappenden
Caruso mimt. Da sowohl Kinematographie wie Grammophon noch ihre großen
Mängel haben, sollte man sich darauf beschränken, ganz einfache,
leichte, mehr im Groben wirkende Stücke festzuhalten, jedenfalls sich
nicht an die zartesten oder schwierigsten Meisterwerke der Gesangskunst
wagen. Ein von Kinderstimmen gesungenes und schlicht gespieltes
Weihnachtslied kann unter Umständen eine niedliche „Tonbild“einlage
geben; eine Meisterarie nie.

Will man Grammophon oder Phonographen mitwirken lassen, so ist es
geschmackvoller, ihn mit ausgewählten Stücken ~allein~ zu Gehör kommen
zu lassen. Da aber eine aus unsichtbarem Munde oder vielmehr aus einem
Schalltrichter kommende Stimme eine von jedermann peinlich empfundene
Unnatürlichkeit darstellt, so hat man von jeher nach einer Maskierung
gesucht. Für diese gibt es nur zwei Auswege. Entweder man stellt den
Apparat wie er ist, mit einer einfachen, nicht „verzierten“ Trompete
weithin sichtbar mitten vor die Zuschauer hin und sagt damit gleichsam:
„Jetzt kommt das kinetographische Wunder: der grammophonierte Gesang.“
Das ist am ehrlichsten und ästhetisch einwandfrei. Oder man stellt den
Apparat irgendwo hinter der Szene auf, so daß die Klänge gedämpft und
wohlberechnet in den Zuhörerraum dringen, wo nichts inzwischen die
Aufmerksamkeit ablenkt. Das hat u. a. den Vorteil, Mängel, z. B. die
Nebengeräusche, zu verdecken und die Zuhörer nicht abzulenken. Will
man mehrere Stücke geben, so vereinige man sie zu einem Programmteil,
zerreiße aber nicht alle Augenblicke durch sie den Zusammenhang der
sonstigen Vorstellung.

Für alles andere, besonders die Ausstattung des Bühnenbildes und des
Zuschauerraumes gelten die allgemeinen Regeln des guten Geschmacks.
D. h.: maßgebend ist vor allem die ~Zweckmäßigkeit~, verboten alles
Unehrliche, aller Pomp und Flitter, der etwas anderes vortäuschen soll,
als was da ist: eine Stätte gediegener volkstümlicher Unterhaltung.
Verboten alles Flimmer- und Zierratenwerk, das die Aufmerksamkeit
ablenkt, Auge und Nerven beunruhigt. Nicht die Sinne kitzeln, die
Nerven aufregen, die Phantasie erschöpfen, das Denken verwirren soll
die Kinetographie. Sondern wenn sie künstlerisch gewesen ist, so
erkennt man sie daran, daß man mit erfrischten Sinnen, bereichertem
Wissen, gereinigtem Fühlen, klarem Denken und voll deutlicher,
erhebender Erinnerungen von ihr nach Hause geht. Das zu erreichen, sei
das Ziel aller künstlerischen Kinetographie.


4. Wege

Das zu erreichen, wird sich zwar noch vieles wandeln, mancher gute
Kampf wird gekämpft werden müssen. Nicht nur die Kinetographie selbst,
sondern unser Gesamtheitsempfinden von dem, was schön und gut ist,
wird von Grund auf umgewälzt -- oder vielleicht nur vom Alpdruck
eines bis zum Wahnsinn überhitzten öffentlichen „Genuß“lebens befreit
werden müssen. Mächtige Interessen großer Kreise, die zur Befriedigung
ihrer persönlichen Wünsche gewissenlos an den geistigen Kräften
der ihnen immer wieder in Scharen als Beute zuwachsenden Jugend
schmarotzen, werden unschädlich gemacht werden müssen. ~Niemals kann
die Kinetographie zu künstlerischem Werte gelangen, solange nicht ein
Übel unseres heutigen öffentlichen Lebens eingedämmt ist: das Übermaß
an ganz oder fast unfreiwilligen geistigen Eindrücken überhaupt, die
stündlich auf uns herstürmen.~ Deren Eindämmung wird wohl am nächsten
die Aufgabe der allgemeinen Erziehung, der Aufklärung jedes einzelnen
schon von der Schule an sein. Und diese Erziehung und Aufklärung wird
an sich kein besseres Mittel benutzen können als den Sinn für das,
was wirklich und echt künstlerisch ist, zu stärken. Was wirklich und
echt künstlerisch ist, ist auch einfach und selten, sei’s in der
Erscheinung, sei’s im Genuß.

Inzwischen aber darf es auch am guten Beispiel, am Bessermachen
nicht fehlen. Wie sehr das durch die heutigen Verhältnisse auf dem
Gebiete der Kinetographie erschwert ist, habe ich nur andeuten, nicht
erschöpfen können. Wenn es sich aber darum handelt, einstweilen
das Beste zu tun, was möglich ist, und so die Kräfte zu gewinnen,
allmählich das Vollkommene anzuregen und zu erzwingen, so sei nur
dieser Fingerzeig gegeben. Ein einzelner kann wohl künstlerische
Musterprogramme schaffen und vorführen, aber er kann sie wirtschaftlich
nicht halten. Um das in einem kinetographischen Programm festgelegte
Kapital herauszuholen und gar fruchtbar zu machen, muß stets ein Ring
(Turnus) von regelmäßigen Verwertern vorhanden sein. Solche Ringe
müssen auch die bilden, die die Kinetographie durch Beispiele zur Höhe
einer Kunst erheben wollen. Solange eigne Vorstellungen, eigne Theater
für den Zweck nicht lohnen, müssen geistig rege Kinotheaterbesitzer
zur Einlegung solcher Vorstellungen angeregt werden. Regelmäßige
Wochenprogramme dieser Art werden wir ihnen vorläufig noch nicht bieten
können, aber vielleicht monatlich eins. Und wir werden erreichen
können, daß sie mit diesen Programmen, folgerichtig und streng allen
künstlerischen Ansprüchen entsprechend durchgeführt, volle Häuser
haben. Volle Häuser aber sind dasjenige, was selbst die Kinowelt mit
der Kunst versöhnen wird.



[Illustration: BILD & FILM

ZEITSCHRIFT FÜR LICHTBILDEREI UND KINEMATOGRAPHIE VERLAG DER
LICHTBILDEREI / GmbH / M.GLADBACH]

Eines der Haupthindernisse edler Volksbildung ist der Abweg, auf den
heute der Kino, dieses an sich so wundervolle Volksbildungsmittel,
gekommen ist. Eine Besserung mit allen Kräften zu erkämpfen, ist
eine der dringlichsten Aufgaben für jeden, der es mit der sittlichen
und künstlerischen Hebung unseres deutschen Volkes ernst meint.
Vorzügliche Dienste dabei leistet die im Interesse einer energischen
Kinoreform gegründete Zeitschrift „Bild und Film“. Das Abonnement
dieser Zeitschrift ist vor allem zu empfehlen den zahlreichen,
weitverästelten Volksbildungsorganisationen, der Presse, den Kommunen,
Polizeiverwaltungen, Lehrerkreisen, Volks-, Fach-, Fortbildungs- und
Hochschulen, den kirchlichen Kreisen der verschiedenen Konfessionen,
den verschiedenen Standesorganisationen, die ja alle auch die
Volksbildung auf ihre Fahne geschrieben haben: den Arbeitervereinen,
Gewerkschaften, Jugendvereinen, Gesellenvereinen, kaufmännischen
Vereinen, Beamtenvereinigungen, Frauenorganisationen usw. Ebensosehr
aber sind interessiert die Kinobesitzer selbst, denen an der
allseitigen Hebung des Kinowesens gelegen ist.

    Der I. Jahrgang 1912 von „Bild und Film“ liegt ~gebunden~ vor
    (128 Seiten in gr. 4º), ~Preis~ M. 3.20, und ist durch alle
    Buchhandlungen sowie direkt vom Verlag der Lichtbilderei in
    M.Gladbach zu beziehen. Der II. Jahrgang läuft von Oktober 1912;
    monatlich erscheint ein Heft zu 40 Pf., halbjährlich M. 2.40. Das
    Abonnement kann durch jede Buchhandlung, durch die Post und auch
    direkt durch den Verlag in M.Gladbach bewirkt werden; im letztern
    Falle liefert der Verlag im Postüberweisungsverfahren, läßt
    Bezugsgebühr und Bestellgeld durch die Post einfordern und liefert
    an diese.

Die von der Zeitschrift „Bild und Film“ vertretenen Reformziele sucht
in die Praxis umzusetzen die

Filmverleih-Zentrale der Lichtbilderei GmbH., M.Gladbach, Waldhausener
Straße 100, Telephon 2095

Über das außerordentlich reiche Lager von Filmen unterrichtet ein
gratis zu beziehender „Allgemeiner Katalog“ und ein Spezialkatalog:
„Belehrende Filme für Schule und Volk“. Es werden geliefert: Sonntags-,
Wochen-, Schüler- und wissenschaftliche Programme, dezent, belehrend
und erheiternd für alle Volkskreise zu den billigsten Preisen.
Spezial-Offerte gratis und postfrei. Ferner:

Lichtbilder- und kinematographische Apparate sowie komplette
Einrichtungen für Theater.

FUSSNOTEN:

[Fußnote 1: Fahrt auf dem Avonfluß in Neuseeland, Urbanora Haus, London
(s. Katalog der Firma Eclipse, Berlin.)]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Kino und Kunst - Lichtbühnen-Bibliothek Nr. 2" ***

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