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Title: Pfarre und Schule. Erster Band. - Eine Dorfgeschichte.
Author: Gerstäcker, Friedrich
Language: German
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  Pfarre und Schule.

  Eine Dorfgeschichte
  von
  Friedrich Gerstäcker.

  Erster Band.

  Leipzig,
  Georg Wigand's Verlag.
  1849.



_Vorwort._


Wenn der Leser auf kurze Zeit Lust hat mir zu folgen, so will ich ihn
auf ein ganz nahe liegendes und ihm doch vielleicht vollkommen fremdes
Terrain führen -- mag er dann aber nicht zürnen, wenn er die Gestalten,
die er sich vielleicht idealisirt gedacht, nicht auch idealisirt wieder
findet. Rechts und links habe ich in das Leben hineingegriffen und
hingestellt was und wie ich es fand -- wir Menschen sind nun einmal
keine Ideale, und selbst aus dem Romane müssen diese verschwinden, wenn
er der Wirklichkeit gehören soll.

Auch kein vollendetes Ganzes war ich im Stande ihm zu bieten --
diese Blätter haben _Deutschland_ zum Schauplatz, und spielen in der
_Jetztzeit_ -- _könnte_ der Leser da ein vollendetes Ganzes auch nur
verlangen? Gewiß nicht, wenn er Wahrheit dabei haben will.

Ich bin aber kein Freund von langen Vorreden, die Einleitung mag daher
den Leser auf den Schauplatz vorbereiten, und das Buch selbst ihm sagen,
was er zu erwarten hat. Ich habe geschrieben, wie mir's aus dem Herzen
kam -- möge er es in dem Sinne nehmen und verstehn.

  _Der Verfasser._



Inhalt des ersten Bandes.


                Erstes Kapitel.              Seite
  Einleitung                                     1

                Zweites Kapitel.
  Flucht und Verfolgung                         12

                Drittes Kapitel.
  Diaconus und Hülfslehrer                      39

                Viertes Kapitel.
  Parterre und erste Etage                      57

                Fünftes Kapitel.
  Der alte Jäger                                75

                Sechstes Kapitel.
  Die Hornecker Schenke                        101

                Siebentes Kapitel.
  Die Pfarre                                   128

                Achtes Kapitel.
  Jägers Fritz und Schulmeisters Lieschen      160

                Neuntes Kapitel.
  Die Schule                                   182

                Zehntes Kapitel.
  Die Schulmeister                             214

                Elftes Kapitel.
  Des Musikanten Tochter                       245

                Zwölftes Kapitel.
  Die Gutsherrschaft                           270



Erstes Kapitel.

Einleitung.


Der Frühling des Jahres 1848 war gar außergewöhnlich früh und mild durch
die starren, kalttrüben Winterwolken hereingebrochen, und hatte Felder
und Fluren zu einer Zeit mit Grün bekleidet, wo diese sonst noch
gewöhnlich unter bergender Schneedecke gleich sicher gegen bittere
Nachtfröste wie eisige Nordweste geschützt lagen. Der Thau reinigte
selbst die Gebirgsschluchten, in denen bei anhaltenderen Wintern
manchmal wohl bis Anfang Mai frostige und schmutzig braune
Schneeschichten gelegen, von jedem Nachzügler nordischen Herrscherthums,
und Schneeglöckchen und Primeln küßten sich im Thal, und weinten
perlende Freudenthränen, als die Lerche über ihren Häuptern emporstieg
und dem sonnigen Himmelsblau ihre schmetternden Jubellieder entgegen
wirbelte.

Aus dem Süden kam der ernste Storch und eilte mit raschem und immer
rascherem Flügelschlag der Stelle zu, wo er im vorigen Jahre sein Nest
gebaut und der jungen Brut das Fliegen gelehrt, und die Staare strichen
von allen Seiten herbei, erzählten sich die bestandenen Abenteuer, die
überstandenen Gefahren und Beschwerden, und schwatzten und zwitscherten
und flatterten und schwirrten, daß die Sperlinge auf den Dächern ganz
eifersüchtig wurden, und der ernste Rabe, der oben in der am Weiher
stehenden Fichte saß, erst eine lange Weile mit dem Kopfe schüttelte,
rechts und links hinunterschaute auf die lärmende Schaar, und dann mit
langsam scharfem Flügelschlag dem stilleren Felde zustrebte, wo er mit
den Brüdern gravitätisch hinter dem einsamen Pfluge herschritt, und sich
aufmerksam die frischgewühlten Furchen betrachtete, was sie ihm neues
und wohlschmeckendes zum Mahle böten.

Draußen im Raps lockte mit dem wehmüthigen Rufe das Rebhuhn; über die
Raine und Feldflächen jagten sich spielend die Hasen; der Finke sang
seine schmelzenden Melodieen im keimenden Wald; Huhn und Taube scharrten
sich nicht mehr die kleinen Füße auf dem harten Erdboden wund und
blutig, und über die Teichwiesen und den von Felsen umdämmten Fluß
strich schwirrend und blitzschnell die Wildente hin, und suchte unter
den dichten Zweigen und Dornen, die den kleinen Wald umhingen, Schutz
und Verborgenheit.

Aber auch die Pflanzenwelt war nicht müßig; in gewaltiger Kraft brach
sich das junge quellende Leben die freie fröhliche Bahn aus dem starren
Holze; überall sproßten und schossen Halme und Gräser empor, die Blüthen
schwollen in farbenduftiger Fülle und Tulpe und Hyacinthe, das stille
Veilchen und die schüchterne Aurikel, und vor allen anderen das
neugierig muthige Leberblümchen, das sich mit seinen herzig rothen
Lippen oft schon Bahn selbst durch die Schneedecke bricht, erschlossen
die würzigen Kelche und sandten Weihrauchopfer zu der freundlich über
sie hingebeugten heiligen Pfirsichblüthe empor.

Und der Mensch?

Im Norden und Süden, im Osten und Westen der schönen deutschen Gauen,
zwischen der erwachenden lächelnden Natur, unter den duftigen Blüthen
und Knospen der Frucht- und Waldesbäume -- strömte Blut; Barrikaden
füllten die Straßen der sonst so friedlichen Städte, und hemmten den
Verkehr -- zerfleischte Leichen sahen stieren glanzlosen Blicks in die
warme sonnige Luft hinauf, die für ihre Wange keinen fächelnden Hauch
mehr hatte, und Verwundete mischten ihr Stöhnen und Schmerzenswinseln
mit dem freudigen Jubelrufe der Frühlingsboten. Heeresmassen mit
blitzenden Waffen füllten die Straßen, und Flammensäulen lodernder
Gebäude leuchteten weit in die Nacht hinaus.

Auch in den Geistern der Menschen war es Frühling geworden, aber der
Winter des kalten Zwangs und der starren Willkür hatte so lange, lange
Jahre gedauert, daß es Gewalt brauchte, die übereisten Knospen zu
brechen und die Banden zu lösen, mit denen die nach Freiheit Strebenden,
Drängenden, so fest, ach so gar fest und streng umschlossen waren. Und
die Glieder bluteten in der rasenden Kraftanstrengung, mit der sie
sich dem, ihnen nur einmal dämmernden Lichte entgegen arbeiteten; aber
»_durch Nacht zum Sieg_« tönte der Freiheitschrei, die Männer der Gewalt
erbebten und die eiserne Bande, die Herzen und Arme des Volkes bis dahin
gefesselt gehalten -- borst.

In Deutschland war Frühling; aus Süden und Westen her wehte die frische
belebende Luft herüber und vom nordischen und adriatischen Meer, vom
Rhein und von der Donau zogen mit den fröhlichen Farben des Reichs,
mit dem so lang verpönten und verschmähten Schwarz, Roth und Gold
geschmückt, die Vertreter der Stämme zur Vorberathung des ersten
deutschen Parlaments.

In Deutschland war Frühling, und in den Sitzen der bedeutenderen
Intelligenz, in den größeren und bevölkerteren Städten, kochte und
gährte es in Versammlungen und sich anschließenden Vereinen, in
Ausbrüchen des Zorns und Ingrimms gegen verhaßte, des Jubels und Dankes
gegen beliebte Bürger; wo die Waffen ruhten, nahm die befreite Presse
den Kampf von Neuem auf, und jedes andere Interesse schwand in dem
einzigen Worte _Politik_.

Anders und ruhiger zeigte sich dagegen noch die Wirkung in den
kleineren, besonders den vom Hauptverkehr mit der geschäftigen wirkenden
Welt mehr abgesonderten Städtchen und Flecken. Die Tagespresse hielt
dort nicht den ruhigen Arbeiter in steter peinlicher Spannung des
Kommenden, und imponirende Massen vermochten nicht von seinen Geschäften
ihn loszureißen; wohl las er die Zeitung, aber meistens fand er hier nur
wöchentliche Berichte, die das _Geschehene_ ruhig erzählten, und deren
enge Spalten keinen Raum ließen für weitere ausführliche Besprechungen
und Pläne. Allerdings drang auch bis zu ihm der Ruf, einen Abgeordneten
für das deutsche Parlament zu wählen, um auch ihre Stimme in Frankfurt,
wo Deutschland stark und einig tagte, vertreten zu sehen, um auch
ihren Wünschen, Forderungen und Beschwerden Worte zu geben, die nicht
wirkungslos mehr im Papierkorb der Minister schlummern sollten. Aber sie
begriffen größtentheils noch nicht die Wichtigkeit solcher Vertretung,
sie wußten nicht, was man in Frankfurt, von woher ihnen bis dahin
noch nie etwas Gutes gekommen, großes für sie ausrichten könne, und
gleichgültig und schläfrig betrieben sie eine Sache, die ihrer ganzen
ausschließlichen Energie bedurft hätte, um nicht als Fluch, statt als
Segen auf sie zurückzuwirken.

Desto eifriger wurde aber dafür das, hier so plötzlich dem Ehrgeiz
geöffnete Feld von allen denen benutzt, die nun, ob Beruf, oder nicht
dafür im Herzen, Hoffnung zu haben glaubten, irgend einen Winkel
Deutschlands für ihre Wahl bestimmen zu können. Besonders galt dies von
einer Klasse Menschen, die sich gleich von vorn herein in den größeren
Städten, oder da, wo man ihre bisherige Thätigkeit kannte, unmöglich
wußten; diese stoben nach allen Seiten in kleine Städte und Ortschaften
hinaus, stifteten Vereine, hielten Reden, haranguirten das Volk mit den
Schlagwörtern des Tages und stürzten in Bierstuben und Tanzsälen Throne
um und vernichteten Fürstenthümer.

Und war die Reaction so ganz müßig? That sie gar Nichts, dem Feuereifer
der Republikaner entgegen zu wirken? Nein, wahrlich nicht; müßig
keinen Augenblick, aber noch zu schüchtern, in der ersten Zeit wilder
Begeisterung den Kampf auf offene unerschrockene Art zu beginnen. Der
Begriff einer Reaction war auch noch zu wenig festgestellt worden, ja
die meisten, dem _zu_ raschen Fortschritt _nicht_ geneigten, schienen
sich kaum klar darüber zu sein, wie weit die Männer der Zeit eigentlich
zu gehen beabsichtigten, und wie stark daher der Gegendruck sein
müsse, sie zurück zu halten, ja ob nicht doch das Ganze am Ende nur
ein einfacher Aufstand sei, der von dem Militair bald und rasch wieder
unterdrückt werden könne, und dann -- aber Berlin -- Berlin -- die
dort umsonst abgefeuerten Kartätschen machten einen höchst unangenehmen
Eindruck auf Jeden, der bis dahin an die Wiederherstellung des alten
stillen Friedens geglaubt, und die höchst ungewisse Lage, in der man
sich befand, ja wo sogar noch der Zweifel aufstieg, ob man die wirklich
dagewesene Revolution auch eben so wirklich anerkennen solle oder nicht,
vereiteltete jedes entschiedene und planmäßige Handeln. Nur die einzige
Hoffnung blieb noch, im Geheimen und mit stillem unbeobachteten Wirken
einen künftigen Sieg anzubahnen, und das schien um so nöthiger,
da selbst ein großer Theil der Beamten, die große Majorität des
Mittelstandes, ja sogar eine nicht unbedeutende Zahl der reicheren
und intelligenten Bürger, zwar dem Wühlen der Hitzköpfe und unreifen
Politiker nicht geneigt, aber doch zugleich auch fest entschlossen
schien, sich die gegenwärtigen Errungenschaften zu wahren und gleich
stark der Anarchie von unten wie von oben zu begegnen.

So lebendig nun also die Zeitverhältnisse in der Residenz des kleinen
Landes, das ich mir zum Schauplatz dieser Erzählung ausersehen,
besprochen wurden, wo Katzenmusiken und Fackelzüge anfingen zu den
allergewöhnlichsten Begebenheiten zu gehören, so still und ruhig
verhandelte man in dem, nur wenige Stunden davon entfernten Dorfe
Horneck die Tagesfragen. Der ganze März war verflossen, und noch kein
einziger Verein gegründet worden, die Nachrichten aus den benachbarten
Reichen klangen den friedlichen Bewohnern wie Mährchen aus tausend und
eine Nacht und sie hätten das Ganze am Ende nur ebenfalls wie eine
Fabel und nicht einmal für möglich gehalten, wären nicht der Schulze
und Gerichtsschreiber -- Beides sonst ein paar sehr ernste und furchtbar
strenge Gestalten, plötzlich so ganz unerklärbar freundlich geworden, ja
selbst der Rittergutsbesitzer, ein unerhörter Fall, zweimal in eigener
Person in die Schenke zu Biere gekommen.

Richtig war's nicht in der Welt, so viel stand fest, und umsonst
steckten der Pastor und ihr Gerichtsherr auch nicht immer die Köpfe
zusammen und lasen in Zeitungen, die sonst zu Horneck gar nicht gehalten
wurden. Die Bauern fingen daher, durch dies Alles neugierig gemacht,
selbst ein wenig mehr an, die sonst ziemlich vernachlässigten Berichte
»von draußen her«, von Frankreich und Berlin und von Leipzig und der
Türkei zu lesen, und in der Schenke gab dann ein Wort das andere. Die
Köpfe wurden heiß, die Gemüther erregt, die Worte hitzig -- Partheien
bildeten sich und Leute traten auf, die mit donnernden Fäusten den
erstaunten Zuhörern die Beweise auf den Tisch schlugen. Aber es blieb
auch nur bei den hausbackenen einfachen Reden der Leute selber und die
konnten weiter keine aufreizende oder bedenkliche Folgen haben, denn
besonders der Landmann hält sich gern für eben so klug, als sein
Nachbar, und glaubt das, was der ihm sagen kann, erst recht schon, und
wer weiß wie lange, besser zu wissen.

Dem konnte auch der Pastor Scheidler, der sich überhaupt gleich
von seinem ersten Amtsantritt her, viel um das Familienleben seiner
Beichtkinder bekümmert hatte, leicht begegnen, und jedes Unheil und jede
Störung durch Predigt und Wort abwenden, und nur erst, als die Zeitungen
immer unaufhaltsamer kamen und die »Preßfreiheit« dem guten besorgten
Mann doch etwas bedenklich wurde, da gründete er einen »Lesezirkel« und
schickte seinen Diaconus hinein, um den Leuten die einzelnen Artikel
auszulegen und ihnen, gleich an Ort und Stelle über verfängliche oder
solche Sätze, die sie zu längerem Nachdenken zwingen könnten, Aufklärung
zu geben.

Der einzige Mann vielleicht im ganzen Orte, der sich _gar_ nicht um
Politik bekümmerte und vollkommen damit zufrieden schien, wenn ihm der
Hülfslehrer, der ihm im letzten Jahre beigegeben worden, nur manchmal
Abends die »Neuigkeiten aus der Stadt« erzählte, das war der alte
Schulmeister von Horneck, Sebastian Kleinholz, der seinen Jungen nach
wie vor die zehn Gebote und das Ein mal Eins einprägte, und das Jahr
1848 mit einer wahrhaft gründlichen Verachtung behandelte. Mit der
Revolution schien er aber nicht besonders einverstanden; der Pastor --
sein Vorgesetzter, so lange er denken konnte -- schüttelte stets, wenn
er davon sprach, sehr bedenklich mit dem Kopfe, und der wußte was er
that, denn der las _alle_ Zeitungen von A bis Z und legte die Bibel aus,
wie noch keiner vor ihm. Papa Kleinholz kümmerte sich übrigens nur wenig
um die Außenwelt und mußte oft förmlich dazu gezwungen werden, wichtige
neu eingelaufene Berichte mit anzuhören; ihm genügte es, daß in
Horneck die Alten -- noch die Alten blieben, und mit den Jungen -- ei
sapperment, da wollte er allein -- heißt das mit dem Hülfslehrer --
schon fertig werden.



Zweites Kapitel.

Flucht und Verfolgung.


Horneck lag in einer reizenden Gegend unseres schönen deutschen
Gaues, an einem kleinen, aber malerisch gebetteten Strome, den wir die
_Rausche_ nennen wollen. Von hoher Bergeskuppe überschaute es weit und
breit die benachbarten Thäler und die ausgedehnte Niederung, die sich
gen Süden in flache fruchtbare Felder hinabzog, und dichte schützende
Kieferkämme umdrängten den kleinen Ort gegen Norden, wo sie festen
Schirm und Hort gegen die kalten Winterstürme bildeten. Tief unten aber
rauschte und brauste der Strom über künstliches Wehr hinweg in das Bett
hinein, das ihn der klappernden Mühle entgegenführte, und drüben am
anderen Ufer, wo der Kahn so dicht und schaurig versteckt unter der
frisch ausschlagenden Trauerweide lag, stand, von Buchen und jungem
Eichenschlag fast verdeckt, die stille kleine Försterwohnung, mit
dem blendendweißen Anwurf und dem schindelgrauen Dach, den mächtigen
Hirschgeweihen über der Thür, zu denen der alte Forstmann bei jedem
eine lange prächtige Geschichte erzählen konnte, und dem schmalen
freundlichen Garten vor der Schwelle, in dem schon Tulpe und Aurikel
blühte und die duftenden Veilchen das enge Rundtheil in der Mitte mit
blauem reizenden Kranz umzogen.

Unten am Fuß des Berges, auf dem Horneck lag, standen von fruchtbaren
Feldern und Wiesen gleich umschlossen und von dichten Obstgärten
begrenzt, die Wirthschaftsgebäude des Rittergutes, das denselben Namen
trug, oben aber, auf der höchsten Kuppe, ja selbst auf einem theilweis
als Steinbruch benutzten Felskegel gebaut, der ihr auch großentheils
aus seinem eigenen Selbst das Material zu den starken Mauern geliefert,
ragte die kleine Kirche mit dem stumpfen abgerundeten Thurme hervor, und
gewährte einen Fernblick selbst über die spitzen dunkelgrünen Wipfel des
Nadelholzes hin nach den blauen zackigen Gebirgsrücken gen Norden, in
denen die Rausche ihren Ursprung fand.

Die Pastorwohnung lag dicht unter der Kirche an der Nordseite, und eine
enge in den Stein gehauene Treppe führte zu der kleinen Thür hinauf,
durch die der Pastor das heilige Gebäude gewöhnlich betrat; an der
Südseite dagegen schmiegte sich die Schulwohnung an und vor dieser
vorbei führte auch der breite steile Fuhrweg selbst bis vor die
Hauptthür der Kirche.

Der Diaconus wohnte mit in der Pfarre, der Hülfslehrer in einem kleinen
Dachstübchen der Schule, das die Aussicht, über die unter ihr liegenden
Dächer der Nachbarhäuser hinweg, gerade nach dem schattigen düsteren
Schwarzholze hatte. Von der Schulwohnung aus führte ein kleiner schmaler
Pfad dicht an einem niederen Kieferdickicht hin, wo sich die stachlichen
Nadelzweige fest in einander schoben und ein Durchbrechen derselben fast
zur Unmöglichkeit machten.

Auf dem Wege nun, der über die Felder bis weit an die oben gen Norden
ziehende Straße lief, schritt, am Morgen des ersten April, wo die
Sonne so recht warm und freundlich auf die Erde herniederschien, Vater
Kleinholz, einen Spaten auf der Schulter, und für sein Alter noch
rüstig genug, vorwärts, und rastete nicht eher, bis er an einen kleinen
schmalen Streifen Feld kam in dessen einer Ecke, und dicht am Wege, ein
mächtiger Steinblock wohl zwei Schuh hoch aus der Erde emporragte. An
diesen lehnte er seinen Spaten, setzte sich selbst auf den Stein, und
legte für einen Augenblick, wie ausruhend, die beiden zusammengefalteten
Hände in den Schooß; sein Blick schweifte dabei prüfend über das kleine
Stückchen Erde hinüber, das er sein nannte, und das noch starr und
ungelockert, wie es der Winter gelassen, mitten zwischen den bestellten
und wohl hergerichteten Feldern der Nachbarn lag.

»Ja ja,« sagte er da nach langer Pause, während er langsam und bedächtig
dazu mit dem Kopfe nickte -- »ja ja, ich kann es Meiers Frieden nicht
verdenken, daß er mir den Zwickel hier nicht aufpflügen will -- oder
nicht kann, wie er meint; so mitten in Gräben drinn und hier noch
den Stein, und da drüben den Wegweiser, da bleibt in der That kein
Plätzchen, wo man Kuh oder Pferd umlenken könnte, und am Rande ist man
auch immer gleich wieder. Nun mit Gott, dieß Jahr werden diese alten
Knochen wohl noch im Stande sein, das bischen Arbeit zu thun, und im
nächsten -- na da laß ich vielleicht dem Hülfslehrer seinen Willen, der
mich lange d'rum gequält hat -- eigene Passion das -- wer weiß -- hm,
ja -- wer weiß, ob er's im nächsten Jahr nicht ohnedieß für sich selber
bestellen muß.«

Der alte Mann zog seinen schwarzen, schon sehr abgetragenen Rock aus,
faltete ihn sauber zusammen und wollte ihn eben neben sich auf den Stein
legen, als sein Blick auf die deutlich hervortretenden hellblauen
Näthe fiel, die dem sonst ganz schwarzen und ehrwürdigen Kleide ein
eigenthümliches Ansehn gaben.

»Hm« sagte er, und betrachtete aufmerksam das abgenutzte Kleidungsstück
-- »der Färber hat mir die Montur doch nicht so recht ächt in der Kur
gehabt, und der Müller guckt überall durch -- das Blau muß eine
sehr gute Farbe gewesen sein, daß es sich so durch das Schwarz
hindurcharbeitet -- ich wollte ich hätte den Rock gehabt, wie er neu
war; mein Samuel soll mir doch einmal ein Bischen wieder mit Tinte
nachhelfen -- das hält eine lange Weile und sieht ordentlich gut aus;
aber komm Sebastian, komm, der schöne Sonnabend vergeht und ich darf
doch nicht wieder zu Hause gehen, ohne mich wenigstens ein Stückchen in
die Ecke hier hineingestochen zu haben.«

Und vorsichtig, als ob er bange wäre von dem verwitterten Kleidungsstück
vielleicht eine Ecke abzubrechen, legte er den Rock auf den Stein, griff
nach dem Spaten, und war bald beschäftigt den, durch den letzten
Regen ziemlich locker gewordenen und überdieß etwas sandigen Boden
umzustechen.

Noch nicht lange hatte er so, dem Waldpfad den Rücken zukehrend,
gearbeitet, als zwei Personen den kleinen Weg entlang kamen, und ruhig,
von ihm unbemerkt, den eben erst verlassenen Platz auf dem Steine
einnahmen. Es war ein Greis und ein junges Mädchen; beide bleich, und in
anscheinend ärmlichen Verhältnissen, -- das Mädchen aber auch noch von
kränklichem Aussehn, mit blassen eingefallenen Wangen und glanzlosen
Augen.

Sie mußte einmal recht schön gewesen sein, die arme Maid, weich und
seidendicht schmiegten sich die langen nußbraunen Haare um die weiße,
hohe und edelgeformte Stirn, dunkle und lange Wimpern überschatteten den
Blick; auch ihre Gestalt war schlank und zart gebaut, und die Hand klein
und zierlich wie der Fuß, aber die Elasticität der Jugend war aus der
jugendlichen Form gewichen, und ernst und schwermüthig neigte sich das
schöne bleiche Haupt.

Keines von beiden sprach ein Wort, der Alte aber, der eine in ein
braunes Tuch gewickelte Violine unter dem Arme trug, stemmte diese jetzt
vor sich auf den Stein, umklammerte sie mit beiden Händen, stützte dann
sein Kinn oben darauf, schaute dem greisen Schulmeister eine ganze Weile
schweigend zu und sagte mehr mit sich selbst redend, als zu dem Anderen
gewandt:

»Auch ein sauer Stück Brod für weiße Haare -- aber doch besser wie gar
keins -- ich kenne Leute, die recht gern grüben, wenn ihnen nur auch der
Boden Kartoffeln trüge.«

Der Schulmeister richtete sich auf, schaute sich um, und blieb, die
Rechte auf den Spaten stemmend, in eben der Stellung stehn.

»Guten Morgen, ihr Leute -- woher des Weges?« sagte er tief Athem holend
-- »Ihr müßt früh aufgebrochen sein, wenn Ihr schon von Sockwitz kommt,
und es liegt doch kein anderes Dorf mehr da hinüber zu.«

»Wir brauchten nicht zu warten bis der Kaffee fertig war« erwiederte ihm
trocken und mürrisch der Alte, »da hält's nicht auf, wenn man morgens
rasch fort will, das Frühstück hat uns auch nicht am Gehn gehindert.«

Es lag so viel Bitterkeit in dem Tone, mit dem der Fremde diese Worte
sprach, daß der Schulmeister ihn lange mitleidig betrachtete; endlich
ging er auf den Stein zu, auf dem sie saßen, nahm seinen Rock herunter,
griff in die eine Rocktasche und frug, während er aus dieser irgend
etwas in Papier gewickeltes herausnahm:

»Ihr seid wohl noch nüchtern liebe Leute? -- ja, die Zeiten sind
schlecht, und ein armer Mann muß sehn wie er sich durchschlägt; nun
nehmt nur, ich finde was wenn ich wieder zu Hause komme.«

»Ihr seid der Schulmeister?« frug der Bettler, und schaute während er
das Dargebotene zögernd annahm, etwas mißtrauisch nach dem schwarzen
Rock hinüber, den Jener noch in der linken Hand hielt.

»Von Horneck,« bestätigte der Greis.

»Heißt Ihr Horneck?«

»Seh' ich aus wie ein Adelicher?« lächelte der alte Mann.

»Ih nun« brummte der Fremde, und warf einen finsteren Blick nach der
Häusermasse des kleinen Orts hinüber; »nach einer Weile könnte das
wahr werden -- jetzt ist's freilich noch nicht -- wenn Ihr aber der
Schulmeister vom Dorfe seid, und uns Euer Frühstück schenkt, so muß ich
mich wohl, und das recht herzlich dafür bedanken; die Schulmeister haben
sonst auch gewöhnlich nicht viel wegzuschenken.«

»Besonders der von Horneck,« sagte Papa Kleinholz mit einem wehmüthigen
Zug um die Lippen, der in diesem Fall wohl eben wieder zu einem Lächeln
werden sollte, es aber doch nicht im Stande war, und nur zu einer
leisen, kaum bemerkbaren Bewegung der Lippenmuskeln wurde, -- »nun, es
hat jeder sein Bündel Leid und Noth zu tragen, und da darf man nicht
murren, wenn unseres vielleicht ein klein Bischen größer ist, als das
des Nachbars; der Eine vermag auch mehr zu tragen, als der Andere, und
der liebe Gott theilt das eben jedem nach seinen Kräften zu.«

»Herr Gott, was müssen wir doch für Riesen sein, Marie;« lachte der
Alte, und wandte sich nach seiner Tochter um; die aber antwortete
Nichts, nahm ihm nur das vom Schulmeister erhaltene Frühstück -- ein
Stück trockenes Brod -- aus der Hand, brach sich einen kleinen Theil
davon ab, und verzehrte es schweigend. -- Ihr Blick heftete in dem Thale
unten an irgend einem Gegenstand -- sie sprach kein Wort und verzog
keine Miene.

»Eure Tochter ist wohl stumm?« frug mit mitleidigem Blicke der
Schulmeister.

»Stumm? nein,« lautete die Antwort, »nur maulfaul -- sie denkt
wahrscheinlich viel, aber sie hat die Gabe nicht, es von sich zu geben.
Schade drum, die Welt wird viel verlieren.«

Ein vorwurfsvoller Blick des Mädchens fiel auf den Vater, als er die
Worte sprach, doch es war nur ein Blick, und es wandte rasch wieder
den Kopf. Dem Schulmeister fing es aber an unheimlich bei den Beiden zu
werden. Das Mädchen hatte augenscheinlich schon bessere Tage gesehn;
ihr Anstand war edel und selbst die Züge verriethen einen Grad von
Ueberlegenheit, der um so auffallender gegen das gleichgültige Wesen
ihres Begleiters abstach. Auch ihr Anzug gab Zeugniß einer besseren
Zeit und ganz verschiedener Verhältnisse, wenn nicht die Ueberreste der
Kleider von mitleidiger Hand kamen, und jetzt nur, wie zu Spott und Hohn
die hageren Glieder mehr verhüllten als bedeckten.

Marie, wie sie der Alte nannte, trug ein zerrissenes, beschmutztes Kleid
von schwerer schwarzer Seide, das an mehreren Stellen durch Stücken
bunten gewöhnlichen Kattuns, ja über dem linken Aermel sogar mit
Bindfaden zusammengehalten wurde. Die bloßen Füße staken in zerrissenen,
aber feinen, mit Pelz noch hie und da verbrämten Lederschuhen, und den
Kopf bedeckte ein sonngebleichter blauer Atlashut, von dem jedoch jeder
Zierrath, der ihn sonst vielleicht bedeckte, heruntergeschnitten war,
während darunter einzelne unordentliche Locken des üppigen Haares
hervorquollen. Die Arme trug sie bloß, und einen in früherer Zeit
vielleicht schön gewesenen Shawl, der aber jetzt durch Straßenschmutz
und Regen höchst unansehnlich geworden, hatte sie, als sie mit ihrem
Vater an dem jetzigen Ruheplatze angekommen, fest um sich hergeschlagen,
jetzt aber, durch was nun auch ihre Aufmerksamkeit abgelenkt sein
mochte, nachlässig niederfallen lassen, daß der bleiche Nacken, unter
dessen durchsichtiger Haut die blauen Adern schimmerten, und die eine
Schulter hervorschaute.

»Nun, kannst du den Mund nicht aufmachen, Mamsell?« fuhr sie nach kurzer
Pause der Alte noch einmal an, »oder ist die _Madame_ vielleicht heute
Morgen nicht zu sprechen, und läßt sich absagen?«

Das Mädchen erwiederte keine Silbe, schien auch den Hohn, der in den
Worten lag, gar nicht zu beachten oder zu bemerken, und deutete jetzt
nur schweigend, mit der rechten, abgemagerten Hand nach dem Thale
hinunter, wo sich eine Gruppe bewegte, die auch die Aufmerksamkeit
der Männer, sobald sie ihrer nur ansichtig wurden, im höchsten Grade
fesselte, und jedes weitere Gespräch für den Augenblick abschnitt.

Das Thal, durch welches sich ein schmaler Fußpfad links hinüberwand,
und der, nach dieser Richtung hin etwa eine halbe Stunde entfernten, zur
Residenz führenden breiten Chaussee zulief, war ziemlich offen und nur
größtentheils von nackten Feldern und Wiesenstrichen durchkreuzt; erst
gegen den Fuß der Anhöhe hin bildeten sich kleine, der Höhe zustrebende
Schluchten, die mit niederem aber dichtem Gebüsch bewachsen, schon
gewissermaßen die Vorpostenkette der stattlicheren Waldmassen bildeten,
welche nachher von der Kuppe des Berges aus weit hin gen Norden und
Osten zogen.

Zwischen diesen Schluchten lagen immer wieder freie Feldstrecken, und
gegen den Kamm des Hügels hin, wo wir gerade den Schulmeister mit den
beiden Fremden verlassen haben, verschwanden auch die Büsche, so daß
hier eine einzige ununterbrochene Fläche diese von dem Walde selber
vollkommen abschnitt. Nur ein kleines Weidendickicht lag gerade mitten
auf der Kuppe, und dahinter hin dehnte sich, durch mehrere hier
kräftig vorsprudelnde Quellen erzeugt, ein schmaler Streifen sumpfigen
Moorgrundes aus.

Ueber das offene Feld aber, das noch unterhalb der Schluchten, und
von dem Fußpfad durchzogen lag, lief, als die Dreie eben dort
hinüberschauten, ein Mann, und schien mit aller nur möglichen
Kraftanstrengung den nächsten Büschen zuzustreben. Hinter ihm aber, in
kaum zweihundert Schritten Entfernung, sprengte ein Reiter, und
trieb mit Peitsche und Sporn sein Pferd zu wildester Eile an, um den
Flüchtigen einzuholen, oder ihn doch wenigstens von dem schützenden
Dickicht abzuschneiden, wo Verfolgung im Sattel unmöglich gewesen wäre,
und ihn aufzuhalten, bis ein anderer Hülfstrupp, der aus vier Fußgängern
bestand, und ebenfalls so rasch als möglich, aber schon anscheinend
erschöpft, herbeistürmte, die Anstrengungen des Berittenen zu
unterstützen vermochte.

Der Flüchtling zeigte übrigens, wenn er Grund und Boden, auf dem er sich
befand, nicht schon von früher kannte, einen so richtigen Blick in der
Richtung, die er einschlug, und der Bahn, der er folgte, daß er nicht
allein die für den Reiter schwierigsten Stellen rasch nach einander
benutzte, sondern auch den alten Musikus durch seine Kraft und
Gewandtheit zu lauter Bewunderung hinriß.

»Bei Gott!« rief dieser, »das ist nicht das erste Mal, wo der einem
Gensdarmen aus dem Wege geht -- hurrah mein Junge -- nur noch ein paar
Minuten ausgehalten, und der Schnurrbart mag nachher sehn, wo er zuerst
in den Büschen hängen bleibt -- hurrah mein Herzchen -- das ist recht
-- ha ha ha -- wie der die kleine Hecke und den Dornenbusch benutzt --
jetzt links mein Schatz -- noch mehr links, nachher kommen die Steine,
und in denen bricht er Hals und Bein, wenn er sich hineinwagt -- so brav
-- so brav, hol' mich der Teufel, das war ein kapitaler Sprung -- jetzt
hinein in's Dickicht -- ha ha ha ha das thuts, das war famos ausgeführt:

  »Heißa juchheißa, die Hetze ist aus,
  Guten Morgen Herr Förster, itzt gehn mer zu Haus;
  Itzt gehn mer zu Haus und itzt gehn mer zu Bett,
  Und wer z'erst in den Federn liegt, g'winnet die Wett'!«

Der Alte schwang sein eingewickeltes Instrument jubelnd um den Kopf
und sprang dann auf den Stein, um den weiteren Verfolg der Sache besser
übersehn zu können.

Der Gehetzte hatte auch wirklich, wie es ihm der Alte in eigenthümlicher
Theilnahme, obgleich weit außer Rufsweite, mit lauter ängstlicher Stimme
angerathen, eine kleine Spitze dürren Haidelandes, auf dem scharfe
Felsblöcke wild zerstreut umherlagen, gewonnen, und endlich, indem
er diese zwischen sich und dem Reiter ließ, die Schlucht gerade in
demselben Moment erreicht, als der Gensdarm eine Pistole aus der Holfter
zog und nach ihm feuern wollte. Gählings aber in das tiefe Geröll
hinabspringend tauchte er in dem maigrünen Laube unter, und verschwand
den Blicken der auf dem Hügel Stehenden, wie auch wahrscheinlich denen
des Gensdarmen, denn dieser wandte sich jetzt nach einigen vergeblichen
Versuchen, mit dem Pferde in das Dickicht zu dringen, gegen seine
herankeuchenden Genossen, winkte ihnen, den bewachsenen Platz zu
umzingeln und sprengte dann selbst, um den Rand des Busches hin, der
Höhe zu.

Die Dreie am Stein aber, standen wieder schweigend und in gespannter
Erwartung da, und erharreten ängstlich das Resultat dieser merkwürdigen
Jagd; ja selbst der Schulmeister, obschon sonst ein abgesagter Feind
jeder Ungesetzlichkeit, ertappte sich zu seiner eigenen Ueberraschung
auf dem Wunsch, _den_ Menschen, der doch sicherlich irgend ein
Verbrechen begangen hatte und Strafe verdiente, entwischen zu sehn -- es
ist das jenes eigene Gefühl, das unsere Theilnahme stets dem schwachen,
anscheinend unterdrückten Theile zuwendet, und der Vernunft nicht Raum
gewährt, kalt vorher zu entscheiden, auf welcher Seite das Recht, auf
welcher das Unrecht sei.

Die Jagd nahte sich aber auch jetzt ihrer Entscheidung; denn hielt sich
der Verfolgte, wie das auch das wahrscheinlichste war, da er jedenfalls
einer kurzen Rast bedurfte, in dem Gebüsch, so konnte der Berittene
leicht den oberen Theil der Schlucht besetzt halten, und ihm dadurch die
Flucht zu dem dichten Wald vollkommen abschneiden; die anderen Verfolger
aber hätten zu dreien das noch lichte und durchsichtige Gebüsch mit
leichter Mühe abgetrieben, so daß er entweder diesen, die leichte
Jagdflinten auf den Schultern trugen, in die Hände gefallen, oder von
dem Gensdarmen, hätte er den Ausbruch erzwingen wollen, auf dem nun
ebenen Boden eingeholt wäre, und was konnte der arme Teufel dann gegen
den vollkommen Bewaffneten ausrichten?

»Wenn er nur nicht in dem verdammten Loch da unten stecken bleibt!« rief
der Musikus, und hob sich hoch auf die Fußzehen, um den ganzen Umfang
der buschbewachsenen Schlucht so weit als möglich zu übersehn --
»Wetter noch einmal! wenn er den Wald erreichte, ehe der Himmelhund von
Gensdarmen nachkommt, ich gäb' meiner Seel' --«

Er schwieg plötzlich, denn entweder fiel ihm ein, daß er gar nichts
zu geben hatte, oder er war sich auch vielleicht nicht so ganz klar
darüber, ob er in der That der Sicherheit eines Anderen, Fremden wegen,
irgend etwas geben sollte -- wenn er es hätte.

»Vater«, sagte da das Mädchen -- »wenn er wirklich bis hier oben
her kommt, so fürchtet er sich vielleicht, so lange wir hier stehen,
herauszubrechen, weil er nicht wissen kann, ob wir Freunde oder Feinde
sind. Sind wir hier nicht gerade zwischen ihm und dem Wald? -- wir
wollen auf die Seite treten!«

»O, geh' zum Teufel!« brummte der Alte, »da drüben kann man Nichts
sehen, und glaubst Du etwa, der würde sich vor uns geniren, wenn er dort
hinten in's Dickicht wollte? -- Bist Du dumm, das ist ein alter Fuchs,
und spürt mit einem Blick, ob wir Ehrenmänner oder Polizeigeschmeiß
sind. -- Bei Gott, da kommt der vermaledeite Hegereiter um die Spitze
herum, wenn er doch den Hals bräche, der Lump!«

»Aber lieber Freund,« fiel ihm hier der Schulmeister, dem das doch
zu arg werden mochte, in's Wort, »der Mann ist nur ein Vollzieher des
Gesetzes, und was sollte _ohne_ Gesetze aus uns werden? Wer weiß, was
der Mensch, den sie da einfangen wollen, verbrochen hat; es sind jetzt
schlimme Zeiten, und vieles böse Volk treibt sich im Lande herum.«

Der Musikant warf ihm einen halb verächtlichen, halb ärgerlichen Blick
zu.

»Verbrochen?« brummte er -- »ja, ein großes Verbrechen wird der begangen
haben -- vielleicht hat er im Wald ein trockenes Stück Holz abgebrochen,
um daheim die Kinder nicht erfrieren zu lassen, oder gar einen
hochfürstlichen Hasen erschossen, dem der liebe Gott das erlaubt hatte,
was ihm versagt war, in Feld und Wald sein tägliches Brod zu suchen.
Schreckliche Verbrechen das, aber -- he he he he he -- seht den
Hegereiter:

  »Holter polter alle zwei,
  Wir fielen den Berg hinunter,
  Das Rößlein streckt die Bein empor,
  Der Reiter der liegt drunter,
  Das Rößlein streckt sich einmal aus,
  Und wie sie den Reiter suchen,
  Da liegt er unter Rößleins Bauch
  So flach als wie ein Kuchen.«

Sein jubelndes Lied war nicht ohne Grund; das Pferd des Gendarmen mußte
mit dem einen Vorderbeine in eins der vielen Löcher, die hier den
rauhen Boden überall zerrissen, getreten haben und dadurch plötzlich
einknickend, schleuderte es den Reiter weit über sich weg zur Erde.
Dieser aber, wenn er auch in die scharfen Steine hinein keineswegs sanft
gebettet fiel und an Stirn und Händen blutete, raffte sich doch
rasch empor, hob seine Mütze auf, sprang in den Sattel des zitternden
schweißtriefenden Thieres und strebte schon nach wenigen Secunden mit
fest zusammengebissenen Zähnen und zornfunkelnden Augen seinem Ziele
wieder zu. So gering aber auch der Aufenthalt gewesen sein mochte, der
durch den Sturz herbei geführt worden, so hatte er doch genügt, dem
Verfolgten einen kleinen Vorsprung und so viel Zeit zu geben, das obere
Dickicht, das er indessen erreicht, ohne Säumen zu verlassen, um vor
allen Dingen den wirklichen Wald zu gewinnen, wo er dann, erst einmal
dort, nicht zu fürchten brauchte, so rasch entdeckt zu werden.

Wie der Musikant vermuthet, kümmerte sich jener auch wenig um die
drei Menschen, die er bald als harmlos erkannt hatte, ja er floh sogar
stracks auf sie zu, da gerade hinter ihnen die ihm nächste Waldecke lag.
Seine Lage wurde aber eine sehr mißliche, denn das Pferd war nur noch
eine kurze Strecke von dem Kamm des Hügels, der Wald aber wenigstens
vierhundert Schritte entfernt, und konnte der Reiter erst den
obenliegenden verhältnißmäßig ebenen Grund benutzen, wo er den
Verfolgten augenblicklich entdecken mußte, so war nur geringe Hoffnung,
daß dieser mit seinen fast erschöpften Kräften aushalten würde gegen das
kräftige Thier, das seinen Verfolger trug.

Jetzt flog dieses, mit kühnem Sprung, und von dem Sporn des Reiters
gestachelt, auf den letzten, wohl zwei Fuß hohen Rain hinauf, der schräg
am Rande des Hügels hinlief und kaum erblickte hier der, durch den Sturz
nur noch mehr erbitterte und angereizte Mann den Flüchtigen, der mit
raschen Sätzen über das holprige Feld dahin sprang, als er seinem
Gaul fast die Schenkel in die Flanken drückte und zugleich, mit lautem
Triumphruf den Arm emporwarf; denn auf der offenen Fläche sah er den
Flüchtigen schon rettungslos in seine Hand gegeben.

Der also Gehetzte befand sich jetzt kaum funfzig Schritte von da, wo der
Schulmeister mit dem Musikanten und seinem Kinde stand, ein niederer,
flacher Graben aber, der auf der einen Seite mit Schlehen bewachsen war,
und den er hier annahm, um die Sturzäcker zu vermeiden, die seine Flucht
aufhalten mußten, entzog ihn auf etwa hundert Schritte ihren Blicken.
Als er wieder daraus emportauchte und jetzt von ihnen fortfloh, führte
ihn seine Richtung gerade auf den kleinen Weidenbusch zu, der, wie schon
erwähnt, inmitten dies offenen Feldes stand, der Schulmeister aber,
der, die Hände gefaltet und mit ängstlich klopfendem Herzen diesem
eigenthümlichen Schauspiele zugeschaut, sagte halblaut und fast
unwillkürlich:

»Großer Gott! in den Weiden ist er verloren -- dort sinkt er ein.«

»Vermeidet den Busch!« rief da rasch entschlossen das Weib, und der
Flüchtige, der die Worte nicht zu verstehen schien, wandte den Kopf nach
ihr um -- »in den Weiden ist Sumpf!« wiederholte eben mit noch lauterer
Stimme die Frau, und das letzte Wort wenigstens mußte jener begriffen
haben, denn ohne Weiteres rechts abbiegend, blieb er auf dem Raine, der
die nächste Feldgrenze bildete. Dadurch aber beschrieb er einen kleinen
Bogen um den moorigen Busch, und so nah kam ihm dadurch der Verfolger,
daß dieser, in voller Hast und der freudigen Gewißheit, den Flüchtigen
endlich erreicht zu haben, die eine Pistole wieder aus der Holfter riß,
und, mit den Verhältnissen des Bodens hier unbekannt, gerade auf den
Busch zu sprengte, über dessen niedere Sträucher hin, und anscheinend
dicht vor sich er den nun wieder gerade dem Walde zu Fliehenden sehen
konnte.

»Dort ist ein Sumpf!« wollte auch jetzt, fast unwillkürlich, der
Schulmeister rufen, die breite Hand des Musikanten lag ihm jedoch bei
der ersten Sylbe auf den Lippen, und gleich darauf betrat das Roß den
gefährlichen Boden.

Die dem Flüchtenden gegebene Warnung schien aber keineswegs unnütz
gewesen; schon bei den ersten Sätzen sprang das Pferd bis über die
Fesseln in den weichen Moor; der Gensdarm übrigens, anstatt es rasch
herumzuwerfen, glaubte durch Schnelle des Bodens Schwierigkeiten am
Besten besiegen zu können, preßte noch einmal mit den Sporen nach,
und fand sich wenige Secunden später bis an den Sattelgurt in einem
schlammigen Graben, aus dem sich sein erschöpftes Thier nur nach langer
mühseliger Anstrengung wieder heraus und auf festen Grund arbeiten
konnte.

Der Verfolgte warf, als er das plätschernde Geräusch so dicht hinter
sich hörte, einen scheuen Blick zurück, setzte aber seine Flucht
ununterbrochen fort. Wohl sprengte der Reiter, als er sein Thier
wieder befreit sah, ihm noch einmal nach, und wäre der Wald nur hundert
Schritte weiter entfernt gewesen, so müßte er den zum Tode Ermatteten
dennoch eingeholt haben, so aber erreichte dieser das schützende
Dickicht und verschwand gerade, als der Gensdarme in vollem Ingrimm
seinem Pferde in die Zügel griff und beide Pistolen hinter ihm her
feuerte, zwischen dem dichten Nadelholzanwuchs, dem sich gleich dahinter
ein noch weit undurchdringlicher Eichenschlag anschmiegte.

»Ha ha!« lachte und jubelte aber jetzt der Musikant.

  Wirst mer's net so ibel nehme,
  Wenn i net zerückkomm heut',
  Denn i bin in schenster Arbeit
  Und da han i, Schatz, kei Zeit.

»Ha ha ha! Se. Excellenz der Herr Gensdarme haben sich umsonst bemüht;
kleine Bewegung schadet dem Pferdchen gar Nichts -- wird doch blos
gefüttert, um einen Faullenzer zu tragen, daß er keine Hühneraugen
kriegt.«

»Ihr werdet uns den Gensdarmen auf den Hals ziehen,« sagte der
Schulmeister und schaute sich etwas ängstlich nach dem Reiter um, der
auch wirklich jetzt, während er zugleich frische Patronen in seine
Pistolen hinunterschob, auf die kleine Gruppe zu trabte.

»Hallo da!« rief er, sobald er sich den Dreien gegenüber sah, und sein
in Schweiß gebadetes keuchendes Thier einzügelte, »wer von Euch hat dem
entwischten Schuft da etwas zugerufen? -- nun? -- könnt Ihr die Zähne
nicht auseinander bringen? oder soll ich Euch erst gesprächig machen?«

»_Ich_ war's!« sagte das Mädchen, und schaute dabei dem zornigen
Soldaten fest und unerschrocken in das finster auf sie niederblickende
Auge.

»Und was hast _Du_ mit einem entflohenen Sträfling zu verkehren,
Mamsell?« fuhr sie der ingrimmig an -- »willst Du gestehen, Du -- Ding
Du? oder --«

»Bitt' um Verzeihung, Euer Gestrengen,« schnitt hier der alte Musikant
rasch, aber mit einem eigenthümlichen Gemisch von Trotz, Unverschämtheit
und Scheu der Tochter die Antwort ab -- »Sie wissen wohl, die Weiber
sind neugierig und wollen immer gern mehr wissen, als sie vertragen und
behalten können, und da frug mein dummes Ding von Mädchen da den jungen
Menschen, der in solcher Eile war, was er denn so liefe, und weshalb die
anderen Herren hinter ihm drein rennten.«

»Du Lügenhund verdammter! hab' ich Dich schon gefragt?« schnauzte der
Gensdarme den Alten an -- »wer bist Du überhaupt, und wo kommst Du her?
wo ist Dein Paß?«

»Hm« brummte der Musikant und fuhr sich langsam mit der rechten Hand
in die Brusttasche, »Lügenhund werd' ich eigentlich gewöhnlich
nicht gerufen -- aber was thuts -- hier Herr Lieutenant -- bitt' um
Verzeihung, wenn die Anrede nicht klappt -- am Verdienst wird's nicht
fehlen -- hier ist der Paß -- wird wohl Alles in Richtigkeit sein.«

Der Gensdarme riß das zerknitterte, beschmutzte und vielmal
zusammengefaltete Papier, das ihm der Alte reichte, an sich, öffnete und
durchflog es mürrisch, denn nicht freundlicher schien ihm das gerade zu
stimmen, daß er keinen Halt an dem Musikanten fand, um seinem _Zorne_
Luft zu machen.

»Jacob Meier,« las er halb laut, und verglich dabei mit rasch und
mißtrauisch hinüberschweifenden Blicken die Figur mit dem in dem Paß
befindlichen Signalement -- »Alter 53 Jahr -- Haare grau gesprenkelt --
Nase kurz -- Backenknochen vorstehend -- Pockennarben -- mit Tochter
-- Marie Meier -- Haare schwarz -- Augen dunkel -- Zähne vollständig --
Gesichtsfarbe gesund -- nun, das ist _die_ doch nicht?« und er deutete
dabei auf das Mädchen, in deren Wangen bei den rohen Worten ein
leichter Hauch stieg und auf wenige Secunden zwei rothe eckige Flecken
zurückließ, dann aber eben so rasch wieder verschwand, wie er gekommen.

»Das Kind sieht jetzt krank und angegriffen aus,« sagte hier der
Schulmeister, dem es doch weh that, daß die armen und überdies schon so
unglücklichen Leute so barsch und rauh angefahren wurden -- »es wird ihr
nicht wohl sein.«

»Wer ist _Er_, und was hat er hier d'rein zu reden?« fuhr der gewaltige
Mann des Gesetzes grob genug den erschreckt Zusammenfahrenden an.

»Ich bin der Schulmeister aus Horneck,« sagte dieser fast unwillkürlich,
aber selbst der schüchterne Greis fühlte sich entrüstet über das
Entehrende solcher Behandlung, und mit etwas schärferer Betonung setzte
er gleich darauf hinzu: »auch steh' ich hier auf meinem eigenen Grund
und Boden und habe keinen Menschen beleidigt, daß ich verdiente, so
angefahren zu werden.«

»Dann kümmern Sie sich auch um ihre Schule und stecken Sie die Nase
lieber in ihre Bücher und nicht in anderer Leute Geschäfte,« entgegnete
ihm, wohl nicht mehr so herrisch, aber doch noch immer ärgerlich und
trotzig genug der Gensdarme, und wandte sich wieder von ihm ab. Den Paß
dann dem alten Musikanten vor die Füße werfend, und, die Dreie weiter
keines Blickes oder Wortes würdigend, sprengte er rasch seitwärts den
Hügel hinab und der Stelle zu, wo jetzt seine den Berg heraufklimmenden
und nicht berittenen Begleiter sichtbar wurden.

»Ist das ein rauher grober Mensch,« sagte Kleinholz und sah
kopfschüttelnd dem Davongallopirenden nach, »und doch eigentlich weiter
Nichts als ein berittener Polizeidiener, und das muß man sich gefallen
lassen.«

»Wird schon zahm werden, Alterchen,« lachte der Musikant, »wird schon
zahm werden, und lange kann's nicht mehr dauern; in Wien und Berlin sind
sie mit Kolben gelaufen, und wenn wir hier ihnen noch nicht den Daumen
auf's Auge gesetzt, so -- aber komm Marie, 'swird spät und ich muß noch
gehörig herumlaufen, daß ich auch morgen die Erlaubniß auftreibe --
guten Tag Schulmeister, guten Tag, schönen Dank für den Imbiß und
bessere Zeiten für den Morgen -- Morgen? 'sist ein komischer Trost;

  Und wenn wir am Morgen zusammenkommen,
  Und denken zurück an das Heute,
  Dann finden wir, daß wir zum Nutzen und Frommen
  Der alten und jüngeren Leute
  Gehofft und geharret, gewünscht und geträumt
  Von nächst zu erhaschendem Glücke;
  Und was ist uns worden -- wir waren geleimt --
  Der Bettler behielt seine Krücke.
  Der Morgen bleibt morgen, wir aber wir harren
  Und hoffen und träumen -- wie Allerweltsnarren.«

Und mit dem Liede noch auf den Lippen wandte er sich, von seiner Tochter
gefolgt, dem Dorfe zu, und verschwand bald darauf hinter den Hecken und
Obstgärten, die dasselbe rings umschlossen.



Drittes Kapitel.

Der Diaconus und der Hülfslehrer.


Es war gegen Mittag desselben Sonnabends, mit dem ich diese Erzählung
begonnen, als Pastor Scheidler in seiner Studierstube saß und sich gar
eifrig für die morgende Predigt vorbereitete. Um ihn her lagen eine
Masse Bücher, Hefte und Zettel, und er selber stand oft auf, ging mit
auf den Rücken gefalteten Händen eine Zeit lang rasch im Zimmer auf und
ab und memorirte laut und heftig.

Es mußte aber heute etwas ganz Wichtiges sein, was ihm bei seinem
Studium so schwere Sorge machte, denn sonst wurden ihm die Predigten gar
nicht so sauer, und ein paar Candidaten hatten in der benachbarten Stadt
schon ausgesprengt, er wisse genau, wo er in alten staubigen Büchern
nagelneue Sermone auffinden und benutzen könne. War das wirklich einmal
der Fall, so durfte es sicherlich auf diese keine Anwendung finden,
denn die ganze Nacht hatte er geschrieben, wieder ausgestrichen,
wieder geschrieben, und endlich schon mit Tagesdämmerung den zu Papiere
gebrachten Entwurf auswendig gelernt.

In derselben Etage, aber dicht an der Treppe und nach der Kirchmauer
zugewandt, die nur wenig Licht und Wärme in das kleine Gemach ließ,
hatte der Diaconus Brauer sein Arbeitszimmerchen, und hier saß er heute
mit dem Hülfslehrer Hennig traulich auf dem Sopha, und Beide studierten
die eben durch die Botenfrau aus der Stadt gebrachte Zeitung, in der sie
des Neuen wohl viel, des Erquicklichen aber gar wenig fanden.

»Ich wollte, ich wäre jetzt Soldat,« seufzte Hennig endlich, und warf
das Blatt unmuthig vor sich nieder auf den Tisch, »in der Welt giebt's
nichts als Krieg und Aufruhr, und _wir_ sollen hier indessen den Jungen
noch die alte Geduld und Christenliebe einbläuen, während ihre Brüder
und Vettern draußen, und ohne beides, in's Feld laufen. Es giebt doch in
solcher Zeit nichts Elenderes, als einen Schulmeister.«

»Einen Diaconus vielleicht ausgenommen,« sagte Brauer trocken, und blies
eine dichte Wolke blauen Tabacksdampfes in Ringeln gegen den Wachsstock
hin, der vor ihm auf dem Tische stand.

Hennig sah ihn verwundert an, schüttelte aber dann mit einem halb
gezwungenen Lächeln den Kopf und sagte leise:

»Ihr Geistlichen solltet gerade am wenigsten klagen! Ihr spielt hier,
und besonders auf dem Lande, immer die erste Rolle, habt Euer gutes
Auskommen und geltet bei den Bauern als was ganz Besonderes. Dazu haltet
ihr Sonntags einfach Euere Predigt und geht dann die übrige Zeit
blos mit feierlichem Ernst in den Zügen im Dorfe herum -- es ist 'was
Erhebliches, so ein Geistlicher zu sein.«

»Und gerade bei Ihrem Scherz haben sie den wunden Fleck getroffen,«
sagte der Diaconus und strich sich mit der Hand ein paar Mal über die
Stirn, als ob er Bahn machen wollte den freien Gedanken, die jetzt
von Unmuth und Trübsinn umnachtet und verdüstert wurden, »Ihr haltet
Sonntags die Predigt und geht dann die übrige Zeit blos mit feierlichem
Ernst in den Zügen im Dorfe herum. Ja, ja, in dem feierlichen Ernst
liegt Alles, was ich nur gegen Ihr Lob und Preisen erwidern könnte.«

»In dem feierlichen Ernst?« sagte der Hülfslehrer erstaunt, »nun ich
dächte doch, das wäre die geringste Unbequemlichkeit, die eine Stellung
mit sich bringen könnte.«

»Sehen Sie, Hennig,« fuhr Brauer, ohne des Freundes Einwurf zu beachten,
fort und legte ihm die linke Hand leise auf den Arm, »der >feierliche
Ernst<, von dem Sie sprachen, und den das Landvolk auch im Allgemeinen
von einem Geistlichen erwartet, ja fordert, das ist die _Heuchelei_ des
Standes, die mir in der letzten Zeit und seit ich darüber zum klaren
Bewußtsein gekommen, am Leben nagt und meinen Frohsinn zerstört, die
Heuchelei sich zu geben, wie man nicht ist. Und nicht blos im Dorfe und
außer der Kirche, das ließe sich ertragen -- wenn es mir auch früher ein
bischen schwer angekommen ist, nur weil ich ein Geistlicher war, Tanz
und Jugendlust entsagen zu müssen, jetzt denk' ich überdies nicht mehr
daran -- nein, auf der Kanzel oben, da wo ich manchmal so recht aus dem
Herzen heraus den Leuten sagen möchte, wie _ich_ mir den lieben Gott
denke, wie _ich_ das Leben und Wesen der Religion empfinde, begreife,
fühle, da, da müßt' ich mit dem >feierlichen Ernst< zu Dogmen schwören,
die ich im Herzen für Unsinn halten muß, von ewigen Strafen sprechen,
wo mir die Brust von ewiger Liebe voll ist, muß Jesus Christus zu einem
Gott _erniedrigen_, während er als Mensch so hoch, so unerreichbar
stände. Und der Firlefanz dann, der unseren Stand umgiebt, der
Priesterrock, die Krause, der bunte Fastnachtstant auf dem Altar, o
Hennig, ich schwör' es Ihnen zu, ich komm' mir immer, wenn ich von
dem verzerrten Bild des Gekreuzigten, und von all' den Quälereien der
Märtyrer und Heiligen, mit ihren Sinnbildern, den Ochsen und Eseln,
umgeben stehe, wie ein Indischer Bramine, Buddhapriester, oder sonst ein
fremdländisches Ungethüm vor, und muß mich manchmal ordentlich umsehen,
ob es denn auch wirklich wahr ist, daß ich als Christ in der >allein
selig machenden Religion< einen solchen Rang bekleide, wie der Bramine
und Feuerpriester, wie der Bonze und Fetischmacher, und daß nur der
einzige Unterschied in dem Fleckchen Erde liegt, auf das uns das
Schicksal gerade zufällig hingeschleudert hat.«

»Nun bitt' ich Sie um Gottes Willen,« rief Hennig verwundert, »was fällt
Ihnen denn auf einmal ein? Sie wollen doch nicht etwa unsere christliche
Religion mit dem wilden Heidenthum der Brama- und Buddha-Anbeter, oder
wie die langarmigen Götzen alle heißen, vergleichen? na, wenn _das_ der
Pastor hörte, das Bischen Strafpredigt!«

»Ich weiß es« sagte der Diaconus mürrisch, »und das gerade macht mich
so erbittert, daß ich hier etwas gegen meine Ueberzeugung für das
vorzüglichste ausgeben soll, was, wenn wir das Nämliche nur mit anderem
Namen belegen, und in ein anderes Land versetzen, von uns verlacht und
verachtet wird. Unsere Religion ist schön und herrlich, Christi Lehre
in ihrer Einfachheit und Größe unübertroffen in der Geschichte, aber
weshalb dürfen wir sie dem Volk nun nicht so rein und herrlich geben,
wie wir sie von _ihm_ empfangen? warum muß sie erst noch, mit alle
dem, was spätere Schreiber und Pfaffen dazugethan, unkenntlich und
ungenießbar gemacht werden? Die Schriftgelehrten sagen: was thut das,
der Kern ist die Hauptsache, der ist gut und vortrefflich, an den wollen
wir uns halten, und das was Schaale ist, weiß man zu sondern; ja, aber
der gemeine Mann nimmt die Schaale für den Kern; ihm ist der Firlefanz
so lange vorgehalten, bis er ihn für die Hauptsache, und das Andere
Alles für Nebensache hält. Ein Löffel Cichorie kann, meinem Geschmack
nach, den besten Kaffee ungenießbar machen, und hat man nun gar einen
ganzen Topf voll Cichorie, und nur ein paar ächte Bohnen darin, so
gehört ein Kenner dazu, das herauszufinden. Der Bauer sieht auch die
Kirche in der That mehr als etwas Aeußeres an, und wie sollte er anders,
da er von Jugend auf darauf hingewiesen wurde. Er geht nicht hinein,
weil ihn Herz und Seele hineinzieht, weil er eben nicht draußen bleiben
kann, wie es mich in die Natur, unter Gottes freien, herrlichen Tempel
zieht, sondern, weil er sich vor dem Pastor fürchtet, und seinen Namen
nicht gern, käme er nach längerer Zeit einmal wieder, von der Kanzel
herunter hören möchte. Auch die Gewohnheit trägt viel dazu bei; er sitzt
gern am Sonntag Morgen, wo er zu Hause doch nichts anderes anfangen
könnte, auf seinem Platz im >Gotteshaus,< aber nicht aufmerksam und
gespannt den Worten lauschend -- dem Sinn der Predigt folgend, sondern
mehr in einer Art Halbschlaf, mit nur theilweis hinlänglich wachem
Bewußtsein, um einzelne Worte und Sätze zu verstehen. Nur dann, wenn
der Pastor von der Kanzel herab über irgend einen Mißbrauch, oder noch
lieber über eine bestimmte, ja am liebsten namhaft gemachte Person, die
er nur nicht selbst sein darf, loszieht, nimmt er die schlaffen Sinne
zusammen, und schon der Beifall, den er solcher Predigt spendet, wenn er
zu Hause kommt, beweist, in welchem Geist er das Ganze aufgefaßt. >Der
hat's en aber heute mal gesagt< spricht er, und freut sich dabei über
seinen Pastor, wie er so tüchtige >Haare auf den Zähnen< hätte.«

»Aber weshalb sind Sie dann, und wenn Sie _so_ denken, überhaupt
Geistlicher geworden?« frug ihn Hennig erstaunt.

»Weshalb?« sagte Brauer, »dieselbe Frage könnte ich Ihnen zurückgeben,
denn glauben _Sie_ das Alles selber, was Sie Ihrem Amtseid nach
gezwungen sind, den Kindern im Religionsunterricht zu lehren? -- nein,
aber Sie wissen auch, wie wir im Anfang und von Jugend auf erzogen
werden, und wie sich unser Leben fast stets so, daß unser freier Wille
nur dem Namen nach dabei in's Spiel kommt, gestaltet und heranbildet.
Schon mit der Taufe, unserer ersten Aufnahme in den Bund der Christen,
fangen wir an; das schreiende Kind wird mit lauwarmem Wasser begossen,
und seine Pathen bestätigen in seinem Namen, wohl häufig selbst
ungläubig, den >festen Glauben< des neuen Erdenbürgers. Das aber geht
noch an; es ist eine symbolische Handlung, und manche Leute hängen am
Formellen; aber nun ist der Junge vierzehn Jahr alt, also in den besten
Flegeljahren, hat von einem selbstständigen Gedanken noch keine Idee,
plappert nach, was ihm vorgebetet wird, und legt nun auf einmal, mit
dem _ersten_ Eid, den er leistet, und _wie_ oft ein Meineid, sein
Glaubensbekenntniß ab. Welche Erinnerung bleibt ihm in späteren Jahren
von dieser so feierlich gehaltenen Handlung? -- daß er sich da zum
ersten Mal höchst unbehaglich in einem langschössigen schwarzen Frack
gefühlt, und ungeheure Angst gehabt habe, die Oblate bliebe ihm auf
der Zunge sitzen -- weiter Nichts. Entschließt sich nun der Knabe, nach
allen diesen Vorbereitungen dazu, Theologie zu studieren, so begreift er
gewöhnlich erst dann so recht aus innerster Tiefe heraus, welchen Stand
er gewählt -- wenn es _zu spät_ ist. Schritt nach Schritt wird er seinem
neuen Berufe näher gezogen, das zweite Examen befestigt ihn endlich
unwiderruflich darin, und wenn er sich auch mit Sophismen beschwichtigen
und einschläfern will, der Geist in ihm wacht doch und ist lebendig, und
raunt ihm Tag und Nacht in's Ohr: einen Priester der Wahrheit willst
Du Dich nennen, und zweifelst selber an den Worten, die dir die todte
Schrift auf die Lippen legt. --

Aber fort mit den Gedanken, sie quälen uns umsonst, und die Sache bleibt
doch wie vorher, die Ketten, die unser Leben fest und unerbittlich
umschlossen halten.«

»Sie mögen bei Manchen recht haben« sagte Hennig, und schien ebenfalls
plötzlich weit ernster geworden zu sein, -- »das hat dann freilich Jeder
mit seinem Gewissen auszumachen, was aber das äußere Leben betrifft,
so sind die Geistlichen doch unbedingt vor uns Lehrern auf das
ungerechteste bevorzugt. Sie bilden auf dem Lande die alleinige
Aristokratie, und werden von den Bauern geachtet und geehrt; wie aber
steht dies dagegen mit dem Schulmeister? -- so ein armes Thier von
Dorfschul--«

Ein lautes Pochen am Hausthor unterbrach ihn hier, und der Diaconus, der
eben aufgestanden, und ein paar Mal im Zimmer auf und abgegangen war,
öffnete seine Thür, ging die Treppe hinab, und schob den Riegel zurück,
der den Eingang verschlossen hielt.

»Is der Herr Paster uaben?« frug ihn hier eine vierschrötige
Bauerngestalt, die einen derben, etwa elfjährigen Jungen an der Hand,
gerade vor dem Eingange stand. Der Mann sah böse und gereizt aus, die
Pelzmütze stak ihm seitwärts auf dem struppigen blonden Haar, und mit
der linken, breiten, sehnigen Faust hielt er fest des Jungen rechten Arm
gepackt, der seinerseits ebenfalls dickverweinten Angesichts und Trotz
und Angst in den schmutzig geschwollenen Zügen, mit dem anderen freien
Ellbogen die Spuren der letzten Thränen zu verwischen suchte.

»Der Herr Pastor studiert« sagte der Diaconus ruhig, »Ihr wißt wohl, es
ist heute Sonnabend, und da läßt er sich nicht gern stören.«

»Ich muß ihn aber emol sprächen« beharrte der Unabweisbare -- »'sis von
wägen mein Jungen do, den hat mir der Schulmaistr verschlahn.«

»Der Schulmeister?«

»Jo, der Ole -- blitzeblau is der Junge auf'm >Setz Dich druff,< un der
Rücken hat Striemen, wie meine Finger dick; soll mich der Böse bei Nacht
besuche, wenn ich mer mein Jungen verschlahn lasse, wenn er keene Schuld
nich hat.«

»Keine Schuld? aber woher wißt Ihr das schon? wird der Schulmeister ein
Kind unverdient strafen? Vater Kleinholz ist doch sonst nicht so hart
und grausam.«

»Ah was, grausam hin un her!« knurrte der gekränkte Vater, »mein Junge
hot mer de ganze Geschichte verzählt, und gor nix hot er gethan, sein
Hingermann is es gewäsen, der hot die ganze Suppe verdient, denn des is
dem Klausmichel sein Crischan, das Raupenluder, un den hab' ich schon
lange uff'm Striche.«

»Aber lieber Freund --«

»Ah, papperlapapp, mit dem Pastor will ich räden, wu is er, der hot noch
Zeit gening zum Studieren!« und ohne eine weitere Antwort oder Erlaubniß
abzuwarten, schleppte er seinen Jungen, der sich übrigens bei der ganzen
Sache nicht wohl zu befinden schien, die Treppe hinauf, bis vor des
Pastors Zimmer, klopfte hier rasch an, und trat, ohne selbst das
gewöhnliche »Herein« abzuwarten, zu ihm ein.

Der Diaconus ging in seine eigene kleine Stube zurück, wo der
Hülfslehrer noch sinnend auf dem Sopha saß, und die beiden hörten jetzt,
wie der Bauer mit lauter ärgerlicher Stimme wahrscheinlich das ihm, in
seinem Sohne widerfahrene Unrecht dem Pastor klagte.

»Hat denn Kleinholz Meinhardts Gottlieb so geschlagen?« frug der
Diaconus den Hülfslehrer endlich, als auch jetzt des Jungen winselnde
Stimme, sicherlich erst auf gestrenge Aufforderung, laut wurde, »er soll
dicke Striemen haben.«

»Der Meinhardt ist ein böser, durchtriebener Bube« sagte mürrisch der
Hülfslehrer, »hätte _ich_ hier zu befehlen, die Range bekäme täglich
dreimal Schläge, und das derbe, sonst wird aus dem nichts. Der alte
Kleinholz hat aber die Kräfte kaum mehr, Striemen zu schlagen. Wenn er
den Bengel übrigens doch gezüchtigt, so muß das schon gestern Nachmittag
geschehen sein, denn heute Morgen ist er auf sein Feld hinaus, und ich
begreife dann nicht, weshalb der Mann nicht gleich auf frischer That
herüber kam.«

Des Pastors Thür ging drüben auf, und Sr. Ehrwürden rief heraus:

»Herr Diaconus -- Herr Diaconus!«

»Herr Pastor?« sagte der Gerufene, und trat in die Thür.

»Bitte, bestellen Sie doch einmal, daß der Schulmeister herübergerufen
werde -- er soll aber den Augenblick kommen! Hören Sie?«

Der Diaconus, gerade nicht in der Laune sehr bereitwillig zu sein,
brummte eine Art Antwort, schickte unten aus dem Haus das Mädchen nach
der Schule hinüber, und kehrte in sein Zimmer zurück, der Hülfslehrer
hatte dieses aber indessen verlassen, und war in das Dorf hinunter
gegangen.

Etwa zehn Minuten mochten so verflossen sein, als der langsame Schritt
des alten Keilholz auf der Treppe gehört wurde, und dieser gleich darauf
leise und ehrfurchtsvoll an die Thüre des Herrn Pastors anklopfte.
Drinnen die Leute waren aber im eifrigen Gespräch, und hörten nicht, wie
der ängstliche Finger des Greises die Thüre berührte, dem geistlichen
Herrn mochte aber indessen die Zeit zu lange dauern, der Bauer mit
seinem Salbader hatte ihn so zu höchst unwillkommener Stunde in seinem
Studium gestört, und rasch und ungeduldig, riß er die Thüre plötzlich
auf, so daß er im nächsten Augenblick vor der eben zum Klopfen wieder
niedergebeugten und jetzt ängstlich zurückfahrenden Gestalt des greisen
Schullehrers stand.

»Halloh Herr, _horchen_ Sie?« frug er scharf und überrascht.

»Bitte -- bitte tau -- tausendmal um Verzeihung,« stotterte, blutroth
vor Schaam über die ungerechte Beschuldigung, der also Angeredete --
»ich hatte schon zweimal angeklopft, aber der Herr Pastor --«

»Schon gut, Schulmeister,« fiel ihm der Seelsorger mit Autorität in's
Wort, »kommt einmal auf ein paar Minuten herein -- bringt nur Euren Hut
mit -- Schulmeister --« und er zog dabei die Thür hinter dem, durch
die ernste Anrede etwas erschreckten kleinen Mann zu. -- »Schulmeister,
Meinhardt hier beklagt sich, daß Ihr seinen Jungen so unbarmherzig
geschlagen haben sollt.«

»Die Striamen werd mer der Junge vier Wochen mit 'rim tragen,« fiel ihm
der Bauer heftig in die Rede --

»Herr Pastor« sagte aber Kleinholz, der jetzt wohl merkte, um was es
sich handele, »der Gottlieb hat eine kleine Strafe verdient gehabt, und
meine Hand ist nicht mehr so schwer, daß sie einem Kinde Schaden zufügen
könnte; von Striemen kann da wohl keine Rede sein.«

»Keine Rede sein?« rief der Bauer, »Gottlieb, gleich noch emol mit der
Jacke ringer -- keene Striemen nich -- so? -- ei da --«

Der erzürnte Vater legte schon selbst mit Hand an, die geläugnete
Thatsache durch das =corpus delicti=, den geprügelten Körpertheil, zu
Tage zu fördern, der Pastor unterbrach ihn aber darin, faßte ihn am
Arme, und bat ihn, die Sache ruhen zu lassen, und jetzt still nach Hause
zu gehen, er wolle schon mit dem Schulmeister sprechen, »_es solle nicht
wieder geschehen!_«

Der Bauer wollte noch Einiges bemerken, kam aber nicht mehr zu Wort,
und verließ bald darauf, den verdrossenen Jungen, wie bei der Ankunft,
hinter sich herschleppend, das Zimmer. Draußen aber blieb er stehen, und
die Unterredung im Innern wurde, wenigstens von der einen Seite, so laut
geführt, daß er deutlich jedes Wort verstehen konnte.

»Schulmeister, Ihr dürft mir die Kinder nicht so mishandeln!« sagte die
gereizte Stimme des geistlichen Herrn, »es sind schon mehrfach Klagen
eingelaufen, und _ich_ habe denn doch wahrhaftig keine Zeit, mich mit
solchen Sachen fortwährend aufzuhalten; die halbe Nacht sitz' ich
und arbeite, und muß mich jetzt wegen Euch und Eures unverzeihlichen
Betragens wegen, mitten aus meinen Studien herausreißen.«

Es entstand hier eine kleine Pause, und wahrscheinlich erwiederte der
Schulmeister etwas, denn der Pastor fiel gleich darauf, und mit fast
noch größerer Hitze wieder ein:

»Schulmeister, macht mit Leugnen Euer Vergehen nicht noch schlimmer;
ich habe den Rücken des Jungen selbst gesehen, und von drei leichten
Streichen kriegt so ein derber Bengel nicht fünf oder sechs Schwielen
über die Schultern -- schon gut, schon gut, ich habe mehr zu thun,
als mich mit Euch hier herum zu streiten -- ich bin fest überzeugt,
es geschieht mir nicht wieder, oder -- ich müßte mich genöthigt sehen,
ernstere Maaßregeln zu ergreifen -- guten Morgen, Schulmeister, guten
Morgen, die Sache ist für heute abgemacht.«

Das Geräusch drinn in der Stube ließ darauf schließen, daß die
Unterredung beendet sei, und der Bauer, der doch nicht gern beim Horchen
ertappt werden wollte, zog sich rasch nach der Treppe zurück, war aber
nicht im Stande sie zu erreichen, ehe Kleinholz heraustrat. Dieser
begriff leicht, daß der Mann alles in des Pastors Zimmer Verhandelte,
gehört haben mußte, und ein tiefes Roth färbte für einen Augenblick
seine Wangen, aber er sagte Nichts, und wollte grüßend an dem Bauer
vorüber gehen, Meinhardt gab ihm fast unwillkührlich Raum, als er aber
dicht bei ihm war, und er das bleiche abgemagerte Gesicht, und die
_Schaamröthe_ auf den fahlen Zügen sah, da fing er selbst an, sich bis
in die Seele hinein zu schämen.

Er nahm den Schulmeister, trotz dem daß sich dieser leise dem Griffe zu
entziehen suchte, fest bei der Hand, führte ihn die Treppe hinunter,
und blieb dort einen Augenblick, wie um einen Anfang verlegen stehen.
Endlich, da er das, was ihm eigentlich auf dem Herzen lag, gar nicht
recht ausdrücken und zu Tage bringen konnte, ja vielleicht auch fühlte,
daß mit Worten, die ihm selten zu Gebote standen, unverhältnißmäßig
schwieriger sein würde, als durch die That selber, drehte er sich
urplötzlich, und um diesem, ihm fatal werdenden Zustand ein Ende zu
machen, nach seinem Jungen um, gab dem auf's Aeußerste Erstaunten links
und rechts ein paar tüchtige Ohrfeigen, daß der sich schreiend und
zurückprallend mit beiden Händen den mißhandelten Schädel hielt, und
rief, indem er noch zum dritten Mal ausholte, was Gottlieb aber gar
nicht abzuwarten gedachte, hinter dem jetzt sporenstreichs dem Thor
zuspringenden Jungen her:

»Da, Du Kriate Du, Du bist auch su en nixnutziger Bengel, där seinen
Lehrer de Galle in eine furt im Ufruhr hält -- kumm mer wieder mit
Striamen uf'm Hintern haim, un ich mach' der de Quärstriche driber, daß
der der >Setz Dich druff< wie'n Damenbrät aussähn sull.«

Jetzt, wo seiner Ansicht nach der Schulmeister eine glänzende
Genugthuung erhalten hatte, wandte er sich noch einmal zu diesem,
drückte ihm die Hand und sagte lächelnd:

»Där märkt sich's, Schulmeister -- Dunnerwätter! was mer seine Noth mit
den Kingern hat.«

Und damit schlug er sich den Hut fest in die Stirn, und verließ mit
vieler Selbstzufriedenheit rasch, -- wenn auch nicht so rasch wie sein
ihm vorangegangener Sohn -- die Pfarre.



Viertes Kapitel.

Parterre und erste Etage.


In Horneck, und zwar im westlichen Theile des kleinen Fleckens, gerade
da, wo Försters Fähre von jenseits landete, und dicht an die malerischen
Ufer der toll vorbeisprudelnden Rausche stoßend, stand eine Reihe
städtisch aussehender Häuser, die auch größtentheils durch Bewohner der
nicht fernen Residenz angelegt worden waren, und den des Stadtlebens
Müden im Sommer zum Lieblingsaufenthalt dienten. In diesem Jahre waren
sie denn auch wieder, und zwar außergewöhnlich früh, aus der Stadt hier
eingetroffen, und hatten die so lang vernachlässigten Wohnungen bezogen;
aber nicht das Frühjahr mochte die Ursache sein, obgleich dieses
ebenfalls gar ungewöhnlich zeitig seine lieben duftenden Boten gesandt
und den Wald mit Grün geschmückt, nicht die warmen Südwinde mochten
die Schuld tragen, obgleich sie wie Sommerhauch durch die moosigen
Schluchten und Thalgründe strichen, nicht der enteiste Strom schien die
Stadtleute hervorgelockt zu haben, aus ihren engen düsteren Straßen,
wenn auch er gleich so munter und lebensfroh unter den saftgrünen
Weidenruthen und zwischen dem aufkeimenden Wiesensammet, ja von mancher
stillen Waldblume geküßt und gegrüßt, vorüber tanzte, sondern die rauhe
unruhige Zeit war es, die auf Sturmesfittigen über dem verschlafenen,
schlafsüchtigen Deutschland die Lärmglocke erdröhnen machte, daß im
Norden und Süden, im Osten und Westen, die Völker zu gleicher Zeit aus
dem Traume auffuhren, und nun erstaunt, überrascht erkannten, wie hoch
die Sonne stehe, wie lange sie im Schlummer gelegen hätten, und -- wie
stark, wie furchtbar stark sie selber seien.

Auch in der Residenz hatte nämlich _der_ Schall seinen Wiederklang
gefunden, und das sonst so gemüthliche, vergnügungssüchtige Völkchen
derselben verließ Bälle und Theater; in unzähligen Vereinen traten
donnernde Sprecher auf und hielten stundenlange unverständliche Reden,
die so einer endlosen Wüste glichen, daß das Volk, wenn es nur
ein einziges Mal zu einer Oase, das heißt, zu einem einigermaßen
verständlichen Satz kam, rauschend applaudirte; andere sprangen dann
hinter ihnen mit Feuereifer auf die Tribüne, die Schlagwörter des Tages
folgten in rascher Reihenfolge, stürmischer Jubelruf begleitete fast
jeden einzelnen Satz, das Wort »Freiheit« wurde zu einer Geißel gedreht,
mit der man die »Reactionaire« blutig peitschte, das souveraine Volk
schrie jeden mißliebigen Redner von dem Rednerstand hinunter,
und heitere Katzenmusiken mit obligater Fensterscheibenbegleitung
beschlossen dann gewöhnlich die freudig erregten Versammlungen. Um aber
auch den ruhigeren oder vielmehr gleichgültigeren Bürgern, die trotz
aller Aufmunterungen an solchen Vereinen nicht Theil nehmen wollten,
oder gar, was noch weit schlimmer war, anderen, natürlich reactionair
gesinnten Vereinen angehörten, eine ihnen höchst zuträgliche Bewegung zu
verschaffen, oder auch zu bewirken, daß sie die so wichtigen Tagesfragen
ordentlich bedächten, schlug man gewöhnlich, wenn die Männer der
Freiheit um 10 Uhr zu Hause gegangen waren, Generalmarsch, und ließ
dann die übrigen bis um ½1 Uhr Nachts die Vorgänge des Tages auf dem
Marktplatz besprechen.

Sehr Vielen behagte eine solche abwechselnde und gewiß interessante
Lebensweise, Andere aber sehnten sich auch wieder nach thatenloser
Ruhe, nahmen es übel, daß sie, wenn sie sich kaum um zehn Uhr Abends
niedergelegt, gleich wieder von einem Höllenlärm begrüßt wurden, von dem
sie nie wußten, ob er ihnen, oder dem Nachbar galt (was sich übrigens
auch gleich blieb, da immer Einer wie der Andere denselben Antheil
empfing) und verließen, sobald die warme Frühlingsluft Blumen und
Gräser aus der starren Erde lockte, die Stadt mit ihrem regen, ruhelosen
Treiben.

Dieser Theil nun von Horneck, der sich sowohl an Eleganz der Wohnungen,
als auch an Reinlichkeit vor dem übrigen Dorfe sehr vortheilhaft
auszeichnete, wurde übrigens nicht von allen Bewohnern mit günstigen
Augen angesehen, obgleich gerade die Besitzer desselben viel dazu
beigetragen hatten, den Wohlstand des kleinen Ortes zu verbessern.
Die »Stadtleute«, wie dessen Insassen in Horneck hießen, galten für
entsetzlich »stolz« und die Dorfmädchen steckten immer die Köpfe
zusammen und kicherten nach Herzenslust, wenn die »Stadtmamsells« in
vollem Glanze durch die Kirchgasse strichen und mit den »Schleppen« den
Fußweg »sauber fegten«.

Die Stadtleute kümmerten sich aber ihrerseits wenig um die »guten
Bauern«, mit welchem Namen sie alle Landbewohner, trotz des gewaltigen
Unterschiedes, den dieselben in solcher Benennung machen, belegten;
erfreuten sich an der reizenden Umgegend, an der Lage des ganzen kleinen
Ortes, an dem düstern Nadelholze und dem rauschenden Strome, an den
wellenförmigen Feldern und »weichen Grasplätzen«, wie sie die Wiesen
nannten, an den blökenden Heerden und dem melodischen Getön der
Schafglocken, am Springen der Ziegen und dem komischen Gange und
Schritten der bedeutenden Gänseheerden, kurz, von Allem was sie umgab,
betrachteten sie nur die »Bauern« eben als eine nothwendige Zugabe zu
diesem allen, um die landwirthschaftlichen »lebenden Bilder« in Gang
zu halten, und verkehrten nicht weiter mit ihnen, als sie nothgedrungen
mußten.

Unter den verschiedenen Familien, die ebenfalls und zwar schon Ende
März ihre Sommerwohnungen in Horneck bezogen, befand sich auch eine alte
Kommerzienräthin Schütte mit ihrer Tochter, die besonders freundlichen
Umgang mit Pastors gesucht und gefunden hatte. Anna Schütte, ihre etwa
vierundzwanzigjährige Tochter, war besonders die Liebenswürdigkeit
selber; der Frau Pastorin hielt sie das Garn und half ihr mit nach den
Kühen sehen, setzte sich zu ihr, und erzählte ihr tausend und
tausend Geschichten, alle natürlich auf den Buchstaben wahr, aus dem
Residenzleben (und wer hätte das nicht besser gekannt, als Anna Schütte,
deren ganzes Leben _in_ der Residenz eine ununterbrochene Kaffeevisite
bildete) lobte ihre vortreffliche Butter und den delikaten Käse,
versicherte selbst, in Itzingen keinen so guten Kaffee getrunken zu
haben, und die Kinder -- nein _die_ Kinder, so 'was Herziges existirte
auf der weiten Gotteswelt nicht mehr, mein himmlisches Louischen,
meine Göttermimmi, mein Götterkind, mein Seelenplätzchen, mein
Engelsgesichtchen -- und wie gelehrig die »lieben herzigen Dinger«
waren. Lieder lernten sie singen, merkwürdig schnell brachte sie die
Melodie zum »Graf von Luxemburg« dem fünfjährigen Mädchen in drei
gewöhnlichen Unterrichtsstunden bei, und zu Gesichterschneiden
u. s. w. zeigten die lieben Dinger eine für ihr Alter ungewöhnliche
Geschicklichkeit. Besonders in einer Sache wußte sie die »herzigen
Kinder« zu wirklicher Vollkommenheit zu bringen, und diese war, daß
sie den Namen irgend einer Person über die Straße hinüber, oder Etagen
herauf oder hinunter, mit unverwüstlicher Geduld anriefen. Stand z. B.
ihr Vater über dem Weg drüben und sprach mit Jemandem, so mußten die
Kleinen rufen Va--ter, und die letzte Sylbe immer eine Quinte höher als
die erste -- Va--ter -- Va--ter, bis der Vater, oder wer es nur war, der
zu solchem Anruf als Opfer ausersehen worden, in voller Verzweiflung,
denn seinem Schicksal entging er nicht, Folge leistete.

Daß das unartig oder unschicklich sei, konnte man den Kindern ebenfalls
nicht gut sagen, denn Fräulein Schütte hatte es sie ja gelehrt, und die
kleinen Dinger trugen ihr jedes Wort zu, was gesprochen wurde.

Fräulein Schütte hatte aber noch eine andere Eigenschaft -- sie _sang_,
und zwar fast stets -- auch bei nicht außergewöhnlichen Gelegenheiten
-- =fortissimo=, als ob sie auf einer sehr großen Bühne stände und
contractlich verpflichtet wäre, bis in die entferntesten Räume der
Galerien verständlich hineinzuschreien. Allerdings klang ihre
Stimme, bei leisem Gesange, keineswegs unangenehm, bei solchen
Kraftanstrengungen wurden die Töne aber scharf und -- etwas
Entsetzliches bei jedem Gesange -- _unrein_.

In diesem Frühjahr war auch ein junger Mann aus der Residenz ganz allein
hier in Horneck eingetroffen, den man früher dort noch nicht gesehen.
Es war ein »Schriftsteller«, wie er sich selber nannte, und ein
»sunderbares Gestell!« wie ihn die Landleute titulirten. Was er
eigentlich in Horneck wolle oder treibe, wußte man nicht, seiner Aussage
nach, wünschte er »eine _Arbeit_ zu beenden«, die Bauern schüttelten
aber dazu den Kopf und sagten, »wenn der eine _Arbeit fertig_ machen
wolle, so müsse er auch erst dazu anfangen, jetzt sei er aber schon
vierzehn Tage im Orte, und habe nicht d'ran gegedacht, zu arbeiten,
sondern nur in einem fort geschrieben.«

Dieser Literat, Strohwisch mit Namen, wohnte in demselben Hause mit
der Commerzienräthin Schütte, und zwar unten Parterre. Anstatt aber mit
denen, die gleich ihm hier an »ferne Küste« verschlagen worden, in recht
freundschaftlichem Verhältnisse zu stehen, schien er wunderbarer Weise
und ohne etwa vorhergegangenen Streit, auf sehr gespanntem Fuße mit
den Damen zu leben, ja selber eine Art Ingrimm gegen sie im Herzen
zu tragen. Konnte das verschmähte Liebe sein? »Pastors Sophie«, ein
liebenswürdiges junges Mädchen von 19 Jahren, hatte ihn deshalb im
Anfang stark im Verdacht -- heißt das _ihn_ -- denn wenn auch Anna die
Kinderschuhe schon lange ausgetreten haben mochte, wäre sie doch noch
immer zu hübsch für den wirklich häßlichen Fremden gewesen.

Um aber auch unseren jungen Schriftsteller mit wenigen Worten bei
dem Leser einzuführen, wird es vielleicht gut sein, ihn kurz und
oberflächlich, das heißt sein eigenes liebenswürdiges Aeußeres, zu
schildern und abzuconterfeien.

Feodor Strohwisch war ein Mann nahe an sechs Fuß hoch, mit starkem
grobknochigen Gestell, sehr hervorstehenden Backenknochen und etwas
stumpfer Nase, die Stirne dabei niedrig und eher eingedrückt als
vorstehend, die Lippen aufgeworfen, der Teint braun, das Haar struppig
braun und ganz kurz, =à la malcontent=, abgeschnitten, die Augen groß
und stier, auch die Gehörsorgane sehr »ausgearbeitet«, einen schmalen
dunklen Schnurrbart von der Mitte des Nasenknorpels hoch an der
Oberlippe bis zu den Mundwinkeln niederlaufend, kurz ein Gesicht, wie es
Jedermann, wenn es ihm in New-Orleans oder Rio de Janeiro begegnete,
für einem Mulatten gehörig, oder doch von Negerrace abstammend, halten
würde. Dennoch wäre diese merkwürdige Menschengestalt in der gewöhnlich
schlichten Modetracht vielleicht unbemerkt vorübergegangen; aber nein,
daran lag dem Eigenthümer des Angesichts nichts; er wollte gesehen, und
mit dem Sehen auch -- bewundert sein. Ein fast weißer, roth gefütterter
Burnus floß, afrikanisch gearbeitet, um seine Glieder, großcarrirte
Unflüsterbare deckten die langen Unflüsterbaren, an den Stiefeln
klirrten ein paar mächtige Sporen, und die Hand trug malerisch eine
fischbeinerne Reitgerte mit elfenbeinernem Griff, der einen Fuß und ein
zartgebogenes Mädchenknie bildete, was er auf der Straße stets
sinnend und schwärmerisch an die dicken Lippen drückte. Papageigrüne
Glacéhandschuh vollendeten die Toilette des »Gelehrten«. Feodor
Strohwisch war auch musikalisch, spielte gar nicht übel Pianoforte, und
schwärmte oft bis tief in die Nacht hinein, wenn -- ihn Anna Schütte
nicht daran verhinderte -- doch davon später.

Feodor saß unten im Parterre in seinem Zimmerchen und schrieb; er mußte
augenscheinlich Gedichte machen, denn er kaute sehr viel dabei an den
Federn herum, sah manchmal ganz vergnügt vor sich hin, schrieb vier
Zeilen, strich drei davon wieder aus, und fing dann mit denselben
Experimenten von vorne an. Das Singen aber schien ihn auch nicht
zu stören, es hatte wenigstens keinen äußerlichen Einfluß auf seine
Bewegungen, und seine Arbeit hatte ihren Fortgang, nur wenn ein falscher
Ton kam, fuhr er wie Einer in die Höhe, der plötzlich und unerwartet mit
einer Stecknadel gestochen wird, schüttelte dann mit dem Kopfe, biß wie
verzweifelt in die Feder hinein, daß die hätte laut aufschreien mögen,
und fuhr wieder in seiner Beschäftigung fort.

Anders war es mit dem über die Straße Rufen des Fräuleins -- _das_
brachte ihn in der That oft der Verzweiflung nahe, und wenn die hohe
Quinte auf der letzten Sylbe manchmal unverdrossen zehn, zwanzig Mal
hintereinander durch das Haus schallte, begann er nicht selten die
wunderbarsten Experimente, um seinem inneren Grimme Luft zu machen. Wie
das aber geschah, werden wir im weiteren Fortgange der Erzählung sehen.

Da glitt plötzlich eine schlanke Mädchengestalt dicht an seinem Fenster
vorüber, blitzesschnell fuhr er mit dem Kopfe nach und hinaus, doch
-- schon zu spät, die Gestalt war in das Haus geschlüpft und Feodor
Strohwisch zog sein tief gerunzeltes Haupt wieder unverrichteter Sache
zurück. Wenige Minuten später aber klopfte es oben bei Schütte's an
und Anna flog mit einem lautschmetternden »Sie ist's -- sie ist's,
die Flagge der Liebe soll wehen!« das den Dichter unten um so mehr
zur Verzweiflung brachte, da _er_ nicht einmal wußte, wer es war, der
Freundin, »Pastors Sophiechen«, entgegen.

»Ei du holder süßer Engel, das ist ja prächtig, daß Du mich heute
besuchst,« rief sie nach der ersten Begrüßung, »ich habe schon gar nicht
gewußt, womit ich den verzweifelt langen Nachmittag heute hinbringen
würde; nun bleibst Du ein bischen bei mir und da plaudern --«

»Nein, liebe Anna,« fiel ihr hier lächelnd Fräulein Scheidler in die
Rede, »der Nachmittag ist so herrlich, daß wir, so gut es mir bei Euch
gefällt, unmöglich hier im engen Stübchen bleiben dürfen; deshalb komm'
ich, Dich zu einem kleinen Spaziergang abzuholen.«

»Aber wohin, Soph'chen,« frug Anna, und ließ schon im Geist ihre
Garderobe an sich vorbei defiliren, um die »Eingeborenen« wieder mit
einer neuen Toilette in staunende Bewunderung zu versetzen; »wohin,
unten am Fluß hin und her? Da wohnt ja Niemand, wie drüben über der
Rausche etwa Försters.«

»Du närrisches Kind,« lachte das holde Mädchen, »wenn wir blos spazieren
gehen wollen, kann es uns auch einerlein sein, ob da Jemand wohnt oder
nicht; doch am Flusse sind wir schon so oft gewesen, und ich dächte
deshalb, wir wollten heute einmal auf der Straße nach Sockwitz zu
durch den Fichtenwald gehen. Du sollst nur einmal dort die herrlichen
wunderschönen Bäume sehen, es ist ein reizender Spaziergang. Nur das
einzige Unangenehme hat es, daß wir, von hier aus, hin und zurück durch
das ganze Dorf der Länge nach durchmüssen, sonst --«

Anna's Zweifel schwanden mit einem Male.

»Das schadet Nichts,« sagte sie rasch, »es ist jetzt trocken und am
Sonnabend Nachmittag besonders werden auch nicht die vielen fatalen
Düngerwagen hinaus auf's Feld gefahren; ist Dir's also recht, so brechen
wir gleich auf, und an mir soll es dann auch nicht liegen, wenn
wir lange aufgehalten werden; -- ich will mir nur ein anderes Kleid
überwerfen.« --

»Ein anderes Kleid?« frug Sophie erstaunt, »aber warum denn das, um
draußen im Wald spazieren zu gehen? Liebes Kind, Du bist für das
Dorf viel zu hübsch angezogen, _das_ Kleid, versichere ich Dich, ist
vollkommen gut genug!«

»Ach bewahre,« lachte Anna naiv, »sieh nur, hier unten hat es ja gar
einen kleinen Riß, wo ich neulich einmal an einem von den häßlichen
Dingern mit Holzzacken, die an den Häusern aufgerichtet sind, hängen
geblieben bin -- laß mich nur, ich bin den Augenblick fertig --
Friederi--_keh_ -- Friederi--_keh_!« Die hohe Quinte lag wieder auf der
letzten Sylbe und der Ton schallte durch das ganze Haus.

»Was soll denn das Mädchen?« frug Sophie, »ich kann Dir ja wohl helfen
das Kleid anziehen, wenn es denn einmal sein muß -- was hast Du denn?«

»Laß mich nur,« sagte Fräulein Schütte, »weiß der liebe Himmel, wo das
Mädchen wieder steckt, immer ist sie nicht da, wenn sie gebraucht wird,
und schwatzen thut das Geschöpf, ich sage Dir, Sophie, das ist zum
Verzweifeln; der Mund steht ihr nicht einen Augenblick stille. Nein,
was man für eine Noth mit den Dienstleuten hat.« Sie trat an's offene
Fenster und sah hinaus.

»Ja,« lachte Sophie, »das läßt sich nun nicht ändern und muß ertragen
werden; uns ist es kaum besser gegangen, auch wir haben erst heute
unser Mädchen abziehen lassen, und wissen nun noch nicht einmal, wie die
einschlägt, die heute bei uns angezogen.«

»Das bleibt sich Alles gleich,« sagte Fräulein Schütte, »_einen_ Satan
schickt man fort und einen _andern_ kriegt man wieder. Aber ich sehe
unsere Friederike auch gar nicht auf der Straße, die muß dort um die
Ecke gegangen sein -- Friederi--_keh_! -- Friederi--_keh_!«

Feodor Strohwisch unten that einen herzhaften Biß in die Feder, sprang
von seinem Stuhle auf und lief wie ein Besessener in dem engen Zimmer
auf und ab. Wunderbare Gesticulationen machte er dabei, und Einer, der
ihn nicht näher kannte, wäre, wenn er das hätte unbemerkt beobachten
können, sicher auf die sonderbarsten Gedanken gekommen.

In seinem Arbeitszimmer nämlich, und dicht neben dem Ofen, auf einem
niederen braunlackirten Eckschranke, stand ein, wahrscheinlich der
Wirthin gehörender alter hölzerner Haubenkopf, mit sehr roth gemalten
Wangen und sehr dicht anliegenden Locken; einem ganz von Stecknadeln
durchlöcherten Scheitel, ein paar dünnen, fest zusammengekniffenen
ziegelfarbigen Lippen und sehr großen stieren blauen Augen, denen ein
paar hochgestrichene rabenschwarze Brauen einen ganz eigenthümlichen
Ausdruck gaben. Es sah fortwährend so aus, als ob der obere Theil des
Gesichts ununterbrochen über irgend etwas auf das Aeußerste erstaunt
wäre, und der untere Theil sich das unter keiner Bedingung wolle merken
lassen.

Dieser Kopf nun war der Gegenstand, mit dem Feodor Strohwisch bei
solchen Gelegenheiten, und zwar auf das lebhafteste verkehrte. Zuerst
warf er dem Kopfe nur ein paar wüthende Blicke zu, die dieser auf das
erstaunteste erwiederte, schoß dann noch einmal durch's Zimmer, und als
die Friederi--_keh_ von oben noch immer nicht kam, und der entsetzliche
Ruf mit einer fabelhaften Geduld und Ausdauer hernieder schallte, da
blieb er endlich vor dem Kopfe stehen, streckte ihm die eine geballte
Faust entgegen und sagte mit dumpfer drohender Stimme:

»Fräulein Schütte, ich bin auch nur ein sterblicher sündhafter Mensch,
und meine Geduld ist, wenn auch von Gummi elasticum, doch deshalb
nichtsdestoweniger zerreißbar; ich hoffe, daß Sie jetzt --«

»Friederi--_keh_!«

Feodor sah in grimmer Wuth zu dem Kopfe auf; es war fast, als ob er eine
Gewaltthat beabsichtige, so dunkel und drohend glühten seine Augen.

»Fräulein Schütte,« begann er noch einmal, »wenn Sie glauben, daß ich
bei _solchem_ Lärm, der Einem wie glühende Schwerter durch Leib und
Seele dringt, humoristische Gedichte machen kann, so erlauben Sie
mir nur, ihnen die Bemerkung zu Füßen zu legen, daß das eine reine
Unmöglichkeit ist: ich kann viel ertragen, ich _habe_ schon viel
ertragen, Fräulein Schütte, aber ich verbitte mir von jetzt an alle
dergleichen Barbarismen. Schon das _Friederike_, mit ihrer lauten
gellenden Stimme gerufen, ist grausam, das _keh_ aber hinten dran, mit
der hohen Quinte, ist kannibalisch. Ich sage Ihnen --«

»Friederi--_keh_! Friederi--_keh_!«

Das war zu viel, Feodor Strohwisch schoß, wie aus einer Pistole
geschossen, auf den Kopf los, ergriff ihn mit der Linken an dem langen
dünnen Halse, und legte ihm die breite Rechte fest und entschlossen
auf den Mund. Der Ausdruck des Gesichts, dessen untere Parthien so
zugehalten wurden, daß nur der vollständig erstaunte obere Theil
desselben sichtbar blieb, nahm einen wahrhaft beunruhigenden Charakter
an, der Gereizte blieb aber unerbittlich und sagte nun nach wohl
minutenlanger Pause, in der übrigens der Ruf nicht wiederholt wurde:

»Sehen Sie, mein Fräulein, sehen Sie? -- Sie haben es nicht anders haben
wollen, Sie haben mich förmlich zu Zwangsmaßregeln genöthigt; ich bitte
Sie inständigst, ich bitte Sie um ihrer selbst willen, uns Beiden das
nächste Mal solche unangenehme Auftritte zu ersparen.«

Und damit schob er den Kopf auf seine Stelle zurück, ging wieder an
sein Schreibpult und war bald auf's Neue vollkommen in sein Sinnen und
Grübeln vertieft. Aber auch Fräulein Schütte hatte die Genugthuung,
daß ihre Friederi_keh_ endlich, nach so unermüdlicher Anstrengung der
Lungen, erschien, das gewünschte Kleid wurde gebracht und angezogen,
saß ausgezeichnet, und Arm in Arm wandelten die beiden Freundinnen bald
darauf den Berg hinauf, an der Pfarre und Schenke, die Sonnabends und
Sonntags besonders stark besucht war, vorüber, folgten dabei immer nur
dem ziemlich breiten und mit gelbem Kies beworfenen Fuhrweg, der bis zu
den letzten Häusern des Dorfes sich erstreckte, und betraten nicht
lange nachher den herrlichen grünen Wald, in welchem sich die Straße,
allerdings immer schmäler werdend, hinschlängelte, bis sie zuletzt zu
einem gewöhnlichen Holzfuhrweg wurde, der durch lange schmale Streifen
Gras und alte, lange nicht aufgefrischte Wagenspuren verrieth, wie
selten er befahren, wie wenig er überhaupt benutzt wurde, indem der
Hauptweg nach Sockwitz schon früher rechts abzweigte, und in die große,
im zweiten Kapitel erwähnte Chaussee auslief.



Fünftes Kapitel.

Der alte Jäger.


Indessen war Hennig, aus dessen innerstem Herzensschacht das Gespräch
mit dem Diaconus wohl auch manch trüben Gedanken zu Tage gefördert haben
mochte, ebenfalls aus dem Dorf heraus und durch den Wald geschlendert.
Ihn trieb es, allein zu sein, denn das was _ihm_ auf dem Herzen lag war
zu schwer, zu freudlos als daß er es mit dem armen Mann, der schon für
sich ein so tüchtiges Bündel zu tragen hatte, hätte theilen mögen.
Es wurde Mittag, und er wußte, daß sie daheim auf ihn mit dem Essen
warteten, aber er konnte sich jetzt nicht gleich wieder unter Menschen
setzen, jetzt nicht gleich wieder über alltägliche Dinge plaudern oder
»wichtige Schulberichte« mit anhören, wo ihm das ganze Leben so schal
und nichtig vorkam, daß er sich ordentlich nach freier Luft und nach
stillen grünen Waldesbäumen sehnte. Denen konnte er sein Leid klagen,
ohne von ihnen verhöhnt zu werden, ja die nickten wohl auch mitleidig
dazu mit dem Kopfe und schienen in ihrem stillen geheimnißvollen
Rauschen mit ihm trauern, mit ihm zu dulden.

Es war etwa drei Uhr Nachmittags, als er erst wieder an die Rückkehr
dachte; lange schon hatte er den Fuhrweg verlassen und die Biegung einer
Waldwiese beibehalten, die sich wohl eine gute Stunde Weges lang am
Bergeshang hinzog und erst oben wieder durch einen schmalen Fußpfad
mit der Straße zusammen hing, die auch die beiden Mädchen eingeschlagen
hatten, und die sonst nur gewöhnlich benutzt wurde, um die oben auf dem
Bergeskamm gehauenen Stämme hinunter nach der Thalmühle zu schaffen.

Anstatt aber gleich den kleineren Pfad einzuschlagen, wandte er sich
ein wenig links drei hohen Eichen zu, die hier stolz aufragend über
die niederen düsteren Fichtenstämme emporschauten. Dort quoll aus dem
weichen lauschigen Moos ein klarer Quell hervor, und rieselte mit leisem
Murmeln durch die weiche, torfige Rasendecke hin in das Thal hinab, wo
er sich -- anstatt bedächtig, wie es der größere und verständigere Bach
that, an der Abdachung hin zu gleiten und unten, in der weidenumgürteten
Schlucht langsam in die Rausche hinaus zu treten -- in tollem Muthwillen
ordentlich die steilsten und schroffsten Felsenhänge aufzusuchen schien
und in jähen kecken Sprüngen, über moosigen Stein und starre Lehmbank
weg, wild und sprudelnd und weißen Schaum jubelnd um sich her sprühend,
in den unten froh vorbeibrausenden Fluß sprang.

Diese Quelle suchte Hennig auf, denn ihn dürstete, als er aber den Fuß
der Eichen erreichte, sah er, wie sich dort eine menschliche Gestalt
bewegte; gleich darauf schlug ein Hund an und er erkannte näher tretend,
den alten Jäger Holke, der hier beschäftigt war, ein anscheinend erst
verendetes Reh aufzubrechen. Sobald der aber die Schritte hinter sich
und das Bellen des Hundes hörte, hatte er, rasch auffahrend, nach der
Flinte gegriffen, jetzt jedoch, als er sah wer es war, lehnte er diese
wieder an den Baum, und fuhr, sich nur halb nach Hennig umwendend, in
seiner Arbeit fort.

»Halloh Schulmeister« rief er dabei und stieß, um den Schlund des Rehes
einzuknüpfen, den Genickfänger neben sich in eine der moosbewachsenen
Eichenwurzeln -- »was zum Blitz und Hagel treibt Euch denn zur Schulzeit
mitten in den Wald hinein? es ist Euch doch nicht irgend ein Junge
entlaufen, den Ihr wieder suchen wollt? Das ist schwere Arbeit ohne
Spurschnee!«

»Guten Tag, Förster« sagte Hennig und ließ sich langsam zwischen diesem
und der Quelle, aber dicht neben der letzteren nieder; er war durch das
lange einsame Umherstreifen wieder ruhig, ja fast heiter geworden, und
freute sich den alten Mann hier gefunden zu haben, den sie alle im Dorfe
lieb hatten und der, wenn auch ein Bischen derb, ja oftmals grob in
seinem Wesen, doch treu und aufrichtig war, und Niemandem etwas in den
Weg legte oder zu Leide that -- »man sieht es daß Ihr schon lange aus
der Schule seid, Ihr müßtet sonst wissen, daß die Sonnabende frei sind,
und an ihnen keine Schule gehalten wird.«

»Das ist eine neuere Mode,« brummte der Alte, »zu meiner Zeit waren nur
die Nachmittage frei, in den Vormittagen quälten sich aber die Lehrer
auch ein Bischen mit den Bälgern, und ließen sie nicht den ganzen lieben
ausgeschlagenen Tag den Eltern über dem Hals.«

»Die paar Vormittagsstunden« erwiederte ihm lächelnd der Lehrer, »die
wir am Sonnabend Morgen gewinnen, geben wir reichlich in der Woche zu,
wo wir mehr Unterrichtsstunden halten, als uns das Gesetz eigentlich für
den ganzen Zeitraum der Woche vorschreibt. -- Doch wenn habt Ihr denn
das Reh geschossen, es scheint noch ganz frisch und es hat doch, seitdem
ich hier in der Nähe bin, nicht ein einziges Mal geknallt.«

»Werd' es wohl mit Baumwolle oder Hanfleinen geschossen haben,« brummte
der Jäger -- »das knallt nicht und macht auch keinen Rauch -- ist eine
kostbare Erfindung -- ich wollte daß die verdammten Stubenhocker in der
Stadt, die derlei Geschichten ausbrüten, sich und ihren nichtswürdigen
Krimskram bis in die Mitte nächster Woche hineinsprengten, nachher würde
die liebe Seele wohl einmal auf eine Weile Ruhe haben.«

»Halloh Förster, Ihr seid ja entsetzlich böse und brummig heute, was ist
denn vorgefallen? -- wieder einmal Streit mit dem Pastor gehabt? --«

»Der Pastor soll zu -- Grase gehn, wie's mir d'ran liegt«, knurrte der
Jäger, »hab' ihn Gott sei Dank seit acht Tagen gar nicht zu Gesicht
gekriegt. So lange wir so weit auseinander wohnen, sind wir uns auch
recht herzlich grün; hm --«

»Ihr seid merkwürdig übler Laune heute« sagte Hennig und richtete sich
von der Quelle, an der er eben getrunken wieder auf -- »ist denn irgend
etwas geschehn, was Euch geärgert hat?«

»Aergern?« wiederholte der Jäger und drückte mit geschickter und starker
Hand die feste Klinge in das Schloß des Rehes, »da soll sich auch Einer
nicht dabei ärgern, wenn er in _der_ Jahreszeit eine Rikke aufbrechen
muß, die ein paar Wochen später das schönste junge Kalb in den Wald
gesetzt hätte, das einmal tüchtiges Gehörn getragen. Geärgert? -- Das
Herz im Leibe drehte sich Einem bei solcher Arbeit um, und man möchte
sich wahrhaftig lieber wünschen unter Kannibalen, als unter einer
solchen verdammten Aasjägerrace zu leben, die das Kind im Mutterleibe
nicht verschonen. Wer in der Jahreszeit nach einer Rikke schießen kann,
der schlägt auch seinen eigenen Bruder um acht alte Groschen todt.«

»Also Ihr habt das Reh _nicht_ geschossen?« frug Hennig, der wenig oder
gar Nichts von der Jagd verstand, ruhig.

»Wer? -- ich?« -- schrie der alte Mann, und warf dem Lehrer einen
ingrimmig wilden Blick zu, sich plötzlich aber besinnend, daß der da,
der eben _die_ Frage an ihn gerichtet, seinem eigenen Ausdruck nach »ein
Stück Wild kaum von einer Windmühle zu unterscheiden vermochte,« warf
er seufzend das Gescheide mit dem jungen Kalbe bei Seite, hob das jetzt
fertig ausgeworfene Reh an die Quelle, wo er es mit dem klaren Wasser
derselben rein auswusch, und sagte dann, nachher seine eigenen Hände und
den Genickfänger ebenfalls darin abspülend.

»Man darf's Euch nicht so übel nehmen, Ihr verstehts nicht besser. Das
laßt Euch aber gesagt sein, und es wäre gut Ihr prügeltet das jetzt
schon Eueren Jungen ein, wenn's die Flegel auch später wieder vergessen
-- daß es Sünde und Mord ist überhaupt eine Rikke, besonders aber noch
dazu im Frühjahr, zu schießen. Verstanden?«

»Eine Rikke ist das Weibchen vom Rehbock?« frug der Schulmeister den
Jäger.

»Ja!« sagte der Forstmann, und warf einen halb spöttischen, halb
mürrischen Blick nach dem Frager -- »die Sie'n.«

»Aber wer hat denn die Rikke geschossen?« fuhr Jener, sich überall
umschauend, fort, »sind etwa Wilddiebe hier im Holz?«

»Wilddiebe?« wiederholte der alte Jäger mit vieler Bitterkeit,
»Wilddiebe? nein bei Gott, der Name ist noch viel zu ehrlich, und klingt
zu rechtschaffen für solch nichtsnützige miserable Bande. Ich habe auch
gewilddiebt zu meiner Zeit, und ich kenne ganz respektabele Leute, die
ebenfalls Wilddiebe sind -- wenn ich auch nicht etwa den Schuften das
Wort reden will, die heimlicher Weise und bei Nacht und Nebel auf's
Revier kommen, und Einem die paar Rehe, die noch dastehen, über den
Haufen legen, daß man nicht einmal Schießgeld davon bekommt, die aber,
die solch ein armes Geschöpf und zu solcher Zeit mit dünnem lumpigen
Hühnerschrot waidewund schießen, oder vielmehr bloß im Wald herum liegen
und nach allem plaffen, was rauch ist, und bei denen es nachher heißt,
>krieg ich's so ist's gut; und krieg ich's nicht, so hab' ich nichts
verloren,< das ist eine gottverfluchte Mörderbande, die man bei den
Beinen aufhängen sollte, daß sie nur einmal erfährt, wie es thut, wenn
man rothes warmes Blut im Herzen hat.«

»Es scheint als ob das ungesetzliche Schießen jetzt überhaupt hier
Ueberhand nehme« sagte Hennig; »die Leute benutzen die im
Lande herrschende Aufregung und denken gerade in dieser Zeit am
allerleichtesten ungestraft davon zu kommen.«

»Ungestraft? -- nun ich wünsche mir nur, daß ich einen von den
vermaledeiten Aasjägern einmal zum Schuß bekomme, ob der nachher davon
reden wird, daß er _ungestraft_ im Frühjahr eine Rikke angeflickt hätte,
daß das arme Geschöpf helle Tage lang mit dem zerschossenen Kalb im
Walde herumächzen muß.«

»Wenn die Leute aber nun das _Recht_ dazu bekommen, Förster?« frug der
Schullehrer -- »wir leben jetzt in einer gewaltigen Zeit, wo der lang
Unterdrückte endlich das Haupt erhebt und zu fühlen anfängt, daß er auch
ein Mensch ist wie der, der ihm bis dahin die Ferse im eigenen Nacken
gehalten; ja wenn sie sich das _Recht_ wirklich _nehmen_, auf ihrem
eigenen Lande jagen zu dürfen, was, ihnen zu verwehren auch, meiner
Ansicht nach, eine reine Ungerechtigkeit ist, wie dann? wie wirds
nachher mit der Jagd aussehen?«

»Unsinn!« knurrte der alte Jäger und schlug sich rasch wieder Feuer an,
was er, während der Schulmeister mit dem eben Gesagten eine Masse höchst
fataler Bilder vor ihm heraufbeschworen, indessen eingestellt hatte --
»Unsinn -- fragt doch lieber wie's im Monde aussehn wird, wenn die Erde
einmal aus Versehen zusammenfällt. Ein _Recht_, hochbeschlagene arme
Geschöpfe Gottes krank zu schießen? Ein _Mord_ bliebe das, ob die
verdammten Tintenklekser in der Stadt auch ganze Schreibstuben voll
Bände und Akten darüber schmierten. -- Und dann das Schießen nachher;
ei wenn sie Jedem verstatteten auf seinem eigenen Grund und Boden zu
schießen -- hahahaha -- dann möchts nachher schön im Lande aussehen. Wer
sollte denn da noch riskiren auf die Landstraße, oder überhaupt in den
Busch zu gehn? Wäre man wohl seines Lebens sicher, und könnte einem
nicht hinter jeder Hecke so ein blinder Bauer eine Ladung Schrot in den
Pelz schicken? Und was würde nachher aus dem Wild, wer sollte denn da
schonen, heh, wenn man Nichts wie Grenze hat; und ein Huhn ließe sich ja
fast gar nicht mehr auf eignem Lande schießen, das wäre immer und ewig
über anderer Leute Feld. Auch -- Unsinn, ich habe wohl davon gehört, daß
sie in Berlin und Wien, oder wie die Städte heißen, Revolution gemacht
und das unterste zu oberst gekehrt haben sollen, und daß jetzt besonders
der Bauer und Handwerkerstand an die Reihe kommt, sein Fett oben
abzuschöpfen, aber die _Jagd_ frei, ne Schulmeister, da haben sie Euch
was aufgebunden, damit wird's Nichts -- _hoffentlich_ Nichts, so lange
wenigstens diese alten Knochen noch im Walde herumlaufen. Wenn _die_
erst einmal unter der Erde liegen -- nun dann meinetwegen, dann mag mein
Fritz sehen wie er anders durch die Welt kömmt, mit der Jagd ist's
ja auch ohnedieß schon, selbst wenn sie _keine_ Jagdfreiheit geben,
vorbei.«

Der alte Mann war ganz schwermüthig geworden, und zog, finster dabei
vor sich nieder schauend, die dichten blauen Wolken aus dem kleinen
unbeschlagenen Maserkopf.

»Und was wollt Ihr mit dem Reh da jetzt anfangen?« frug Hennig, als
der Jäger endlich mit einem plötzlichen Ruck seinen Genickfänger in
die Scheide zurückstieß, die Jagdtasche umwarf, die Mütze fester in
die Stirn drückte, und nach der neben ihm lehnenden Doppelflinte griff,
»werden sie's hier nicht stehlen?«

»Ich werd's ihnen vertreiben;« brummte der Alte, »nein wahrlich,
_anvertrauen_ möcht ich's der Bande keinen Augenblick, denn die Schufte
wissen gar prächtig, daß ein Rehrücken gut schmeckt, und daß es sich
wohl der Mühe lohnte ihn nach Hause zu tragen; aber mein Fritz ist schon
nach den Holzschlägern gegangen, die unten im >Buchentrog< die Stöcke
ausroden, einer von denen mag das Reh in's >Stadtviertel< tragen, dort
wollten sie gern Wild haben, die wissen's auch nicht besser, und ich
bin froh wenn ich von dem armen Ding da gar nichts weiter mehr zu sehn
bekomme.«

»So geht Ihr also jetzt mit mir nach Horneck zurück?« frug Hennig. --

»Habe Nichts dawider« lautete die Antwort »mit meiner Runde bin ich
durch, und -- zu schießen giebts auch Nichts mehr im Wald heute, da mag
ich eben so gut heimtraben.«

Und damit warf er noch einen halb mitleidigen, halb mürrischen Blick auf
das zerwirkte Reh zurück, hing sich die Flinte über die Schulter, und
schritt rasch, und von Hennig gefolgt, auf dem schmalen Fußwege hin, der
sie der breiteren Straße zuführte. Noch waren sie nicht lange gegangen,
als sie diese auch erreichten, und nun langsamer, um die milde Luft
besser genießen zu können, die ihnen warm und labend aus Süden her
entgegenströmte, ihren Weg dem noch etwa eine gute Stunde entfernten
Horneck zu fortsetzten.

»Wie still das hier zwischen den Bäumen,« sagte Hennig endlich, als sie
eine ganze Zeit lang schweigend neben einander hingeschritten waren; »es
rührt und regt sich Nichts, und wenn nicht manchmal ein Holzhehr oder
eine alte Krähe ihre rauhen Laute durch den Wald schickten, so sollte
man glauben, der ganze Forst sei ausgestorben. Ich weiß, früher, als ich
noch in der Stadt auf der Schule war, da glaubte ich immer, wo Wald
sei, da müsse es auch Hirsche und wilde Thiere geben, und in dem kleinen
Hölzchen dicht an der Stadt, durch das wir Sonntags Nachmittags immer
nach Weinhausen zu spazieren gingen, sah ich mich, sobald wir in den
dunkeln Schatten traten, eben so regelmäßig nach irgend einer reißenden
Bestie um, und war dann sehr bestürzt, wenn ich >nicht einmal einen
Hirsch< zu sehen bekam.«

»Die Zeiten sind vorbei,« sagte der Jäger traurig, und mit einem tiefen
Seufzer, »ja vor zwanzig und fünf und zwanzig Jahren, wo Schwarz- und
Edelwild hier in jeder Schlucht seine Fährten eindrückte, wo in der
Brunftzeit die alten Zwölf- und Sechzehenender wie besessen herumliefen,
und ich schon in meinem sechzehnten Jahre mit eigener Hand drei
Hauptschweine erschossen hatte, ja da war es noch eine Freude, ein
Waidmann zu sein, damals war der Jägerstand auch noch geehrt, und mit
Horn, mit Meute und Büchse zog man zur fröhlichen Lust in den Wald.
Jetzt -- ist der Name _Jäger_ fast nur noch zum Hohne geworden; eine
Flinte auf der Schulter und Blei darin, gerade stark genug, Sperlinge zu
schießen, hat man weiter auf der Gotteswelt Nichts zu thun, als auf die
Holzschläger zu passen, und den Holzdieben allenfalls aufzulauern; vor
Wilddieben braucht man sich beinah nicht einmal mehr zu fürchten, denn
die Zeit ist gar nicht mehr fern, wo man Hirsche auf der Messe, und
Rebhühner zahm in Käfichen zeigen wird.«

Sie hatten jetzt gerade eine der Waldhöhen erreicht, von der sie die
Aussicht in eine flache, mit Laubholz bewachsene Abdachung bekamen;
auffallend war hier eine niedere breitastige Zwergbuche, die mit sehr
starkem Stamme, die Wurzeln fast ganz entblößt von Erdreich, gerade
inmitten der Senkung stand, und die knorrigen, aber dafür desto
kräftigeren Zweige links und rechts so weit ausstreckte, daß sie den
Abhang an beiden Seiten berührte. Hier blieb der Jäger stehen, nahm die
Flinte herunter, stützte sich darauf, und schaute eine ganze lange Weile
nach der »Delle« hinein, die sich, bald nachher rechts abbiegend, der
Rausche zuzog, in die sie, etwas weiter unten, ebenfalls eine Quelle
hineinsandte.

Hennig schaute aufmerksam nach derselben Richtung hin, weil er glaubte,
der alte Mann bemerke dort irgend ein Stück Wild oder sonst etwas
Auffallendes; es ließ sich aber Nichts erkennen, nur die verwachsene
Buche streckte die wunderlich geformten Arme wie zornig und trotzig
gegen die schlank und stolz auf sie herabschauenden Tannen und Fichten
aus.

»Was giebt es denn, was habt Ihr hier: war dort etwas?« frug der Lehrer.

»Ja, -- Ihr habt Recht, dort _war_ wirklich etwas,« erwiederte ihm
rasch, und sich wieder zum Gehen wendend, der Forstmann, -- »aber jetzt
ist's vorbei. -- Drei und vierzig Jahre sind's nun her, daß ich gerade
an der Buche meinen ersten Hirsch schoß -- und was für einen capitalen
Burschen. Der Schuß war auch die Ursache, daß ich meine Alte, die jetzt
lange unter der kühlen Erde schlummert, bekam, denn der Oberförster
freute sich unmenschlich über das prachtvolle Geweih, ein ungerader
Zweiundzwanzig-Ender. Donnerwetter, das war ein Hirsch, und ich sehe ihn
jetzt noch, wie er nach dem Schusse einem Ungewitter gleich durch die
Büsche und Zweige rasselte.«

»Ihr hattet Euch an ihn hinangeschlichen,« ermunterte ihn der Lehrer,
dem es mehr Freude machte, den alten Mann erzählen zu hören, als daß er
sich selbst groß für die Jagd interessirt hätte.

»Hinangeschlichen?« wiederholte der Alte, in der Erinnerung an den
schönen Jagdzug schwelgend, »ei ich war damals ein junger gewandter
Bursch, aber das Menschenkind hätt' ich sehen mögen, das sich an
den alten schlauen Gesellen hätte hinanschleichen mögen; ob der sich
gewitzigt zeigte? Das erste, was man von ihm stets zu sehen bekam, war
der weiße Spiegel. Nein, Schulmeisterchen, selbst der Oberförster mußte
wohl schon mehr als zwanzig Mal dem Stück Wild zu Gefallen gegangen
sein, ohne es auch nur ein einziges Mal _ordentlich_ zum Schuß zu
bekommen, denn grad hinaufblaffen, wenn sich was Rothes in den Büschen
zeigt, wie es die sogenannten _Jäger_ in jetziger Zeit machen, das
wollte er auch nicht. Mich wurmte aber die Geschichte, ich konnte nicht
schlafen mehr, denn im Wachen wie im Traume sah ich den Hirsch, der mir
immer bald auf die eine, bald auf die andere Art entging. Zu der Zeit
war ich auch des Revierjägers Tochter gut, der Vater wollte aber von
einer Heirath Nichts hören, und meinte nur einmal, aber natürlich auch
bloß im Spaß, ich sollte erst versuchen, ob ich nicht den starken Hirsch
umlegen könnte, nachher wollten wir wieder davon sprechen.«

»Jetzt war's nun gar mit mir aus, sobald ich mich niederlegte, und die
Augen zumachte, stand er vor mir, und äugte nach mir herüber, und dann
hatt' ich nie die Büchse geladen, oder konnte die Kugel nicht in den
Lauf kriegen, oder das Pflaster hing mit anderen zusammen, oder der
Ladestock saß fest, kurz, es haperte beim Laden, und legte ich endlich
an, und drückte ab, so konnte ich mich fest darauf verlassen, daß mir
das Pulver von der Pfanne brannte, und der Hirsch stolz und ruhig davon
zog. Ich härmte mich so ab, daß ich ganz mager und elend wurde; das
Essen und Trinken schmeckte mir sogar nicht mehr, und ich beschloß
endlich, es koste was es wolle, und sollte ich acht Tage nicht mehr zu
Hause kommen, den Hirsch zu schießen.«

»So lange war ich ihm übrigens in den Fährten herumgekrochen, daß ich
endlich ziemlich genau wußte, wie und zu welcher Tages- und Nachtzeit er
auf den verschiedenen Stellen herüber und hinüberwechselte. So hatte ich
auch erspürt, daß er unten an der Schlucht gerade etwa hundert Schritte
weiter oben, als wo sich der Bach über die Steine hinweg jäh in die
Rausche stürzte, jede Nacht über den Bach hinüber wechselte, und am
Bergeshang langsam hinschritt. Das Holz war aber dort viel zu dicht
und schattig, um mir auch nur ein erträgliches Büchsenlicht zu gönnen,
trotzdem beschloß ich, wenigstens einen Versuch zu machen, und ging
eines Abends, es war im August, und eine wundervolle mondhelle Nacht,
hier auf der Bergkuppe hin, wo damals noch nicht einmal ein Fußpfad,
vielweniger ein Fahrweg hinlief, bis ich gerade an die Schlucht kam,
an der wir da oben stehen blieben. In dieser wollte ich mich
hinunterpürschen, denn weiter unten, wo der Mond gerade durch das lichte
Stangenholz schien, war es eher möglich, daß ich Licht genug auf's Korn
bekam, um eines sichern Schusse gewiß zu sein. Langsam und geräuschlos
schlich ich dann mich auf dem moosigen Boden bis gerade an jene alte
Buche hin, die damals schon eben so stark und knorrig da stand, wie an
dem heutigen Tag, und wollte just um sie herumbiegen, als ich -- Hennig
ich schwörs Euch zu, das Blut kocht mir noch heute in den Adern, wenn
ich an den Augenblick zurückdenke, -- langsame, schwere aber gemessene
Tritte höre. Das Herz fing mir an zu schlagen, als ob's ihm zu eng
in der Brust würde, und es sich aus Leibeskräften hinaus in's Freie
arbeiten wollte, und ich bekam das wirkliche reguläre Hirschfieber
dermaßen, daß mir alle Glieder am Leibe flogen und zitterten.

So stand ich wohl zwei volle Minuten und horchte, konnte aber gar Nichts
mehr hören, denn meine eigenen Knochen schlugen so an einander, bis ich
auf einmal in dem matten Mondenscheine, und kaum zwanzig Schritte von
mir entfernt, die Büsche sich bewegen sah, und heraustrat -- will ich
mein Leben trocken Brod und Salz essen, wenn's nicht wahr ist -- eben
der Zwei und zwanzig-Ender, und stellte sich breit und schußgerecht, und
so ruhig vor mich hin, als ob ich gar nicht in der Welt wäre, oder nur
ein Blasrohr statt einer guten, scharfgeladenen Kugelbüchse in der Hand
hielte.«

»Natürlich hatte ich das Rohr schon unwillkührlich und fast in demselben
Augenblicke gehoben, wo ich die ersten Schritten im vorjährigen gelben
Laub vernahm, aber hin und her flog die Mündung über die helle, vom
Mondeslicht beschienene Gestalt, nicht möglich war es mir, den Lauf auch
nur eine Secunde lang ruhig zu halten. -- Ich mußte wieder absetzen,
denn ich fühlte, ich hätte jedenfalls vorbei geschossen. Der Hirsch aber
windete hoch gegen den Luftzug hin, der glücklicher Weise gerade aus der
Schlucht heranwehte, streckte dann ganz behaglich erst den rechten, und
dann den linken Hinterlauf, neigte ein paar mal den schönen Kopf, als ob
er mir ordentlich zeigen wollte, >sieh einmal, was für ein Geweih,
was für Stangen ich habe!< und zog dann ganz vertraut, kaum funfzehn
Schritte entfernt vor mir vorüber.«

»Jetzt aber hielt ich's auch nicht länger aus; hinter der Buche suchte
ich mir an einer Stelle des lichten Firmamentes das Korn, kam mit dem
Lauf der Büchse rasch herunter, und drückte in demselben Augenblicke
ab, als der Hirsch, der vielleicht einen Schein von dem im Mondenlicht
blitzenden Rohr erhalten, scheu und schreckend den Kopf emporwarf. Gott
sei Dank, _der_ Schuß versagte _nicht_, wie er mir hundertmal im Traume
versagt hatte, und gleich nach dem Knall der Büchse brach der gewaltige
Platzhirsch wie ein Ungewitter durch die dünnen Stangen, und rasselte
die Schlucht hinunter, daß es eine Lust und Wonne war.«

»Aber Ihr kriegtet ihn?«

»Ich denke,« lachte der alte Jäger, und bließ dichte freudige Wolken aus
dem kurzen Pfeifenstummel; »keine hundert funfzig Schritt war er mehr
gegangen, und ich brauchte auch nicht einmal nach dem Anschuß zu suchen,
einen Spektakel machte er, wie er so in den Stangen lag, und verendend
mit den Läufen um sich herhieb, daß man's auf eine halbe Stunde weit
hätte hören können. Nun wie gesagt, an dem Abend -- alle Hagel!«
unterbrach er sich plötzlich, und deutete nach vorn, denn die Biegung
der Straße hatte sie gerade zu Zeugen einer eben so merkwürdigen, als
ihre Gegenwart anscheinend erfordernden Scene gemacht.

In kaum hundert Schritten Entfernung nämlich, und mitten auf dem, hier
gerade von dichten Büschen eng umschlossenen Fahrwege, stand eine
Gruppe von drei Menschen, bei deren Anblick Hennig das Blut in den
Adern stockte. Es waren zwei Damen, und vor ihnen, den Rücken den beiden
Männern zugedreht, die Rechte auf einen starken Knittel gestützt, die
Linke -- aus welchem Grunde, konnten sie von dort nicht erkennen --
gegen die Frauen ausgestreckt, ein etwas abenteuerlich aussehender Mann.

Da stieß die eine Dame plötzlich einen gellenden Schrei aus, und der
Hülfslehrer, der in der ersten Ueberraschung wie an seine Stelle gebannt
gewesen war, flog jetzt mit dem angstvollen, aber doch nur halblauten
Ruf »Sophie!« und rasend schnellen Sätzen dem Orte zu, an dem der Fremde
eben im Begriff schien, der Pastors Tochter Arm zu ergreifen, während
Fräulein Schütte, ihre bisherige Begleiterin, mit wildem Hülfgekreische
dem Dorfe zustob.

Auch der Jäger suchte jetzt so schnell als möglich an den Burschen, der,
wie er nicht anders glauben konnte, wehrlose Frauenzimmer auf offener
Straße anfiel, hinan zu kommen, und riß dabei die Flinte von der
Schulter und in Anschlag. Hatte aber der Fremde Hennigs Ausruf, oder
die lauten Schritte gehört, er wandte den Kopf, und erkannte kaum die
herabstürmenden Männer, als er auch schon, nur noch einen Blick auf das
zitternde Mädchen werfend, blitzesschnell zur Seite und in die nächsten
Büsche sprang. In dem Moment blitzte es aus des Jägers Rohr, und während
der Schuß noch durch die Waldeswipfel dröhnte, fing auch der junge Mann
schon die, durch Angst und Aufregung betäubt niedersinkende Jungfrau in
seinen Armen auf.

»Mamsell!« schrie jetzt der Jäger hinter der, in wilder Angst
ausstreichenden Dame her, deren Eile der Schuß noch beflügelt zu haben
schien -- »Mam--_sell_! -- _wir_ sind's ja!« -- doch umsonst, ihr
eigenes Schreien ließ sie auch schon nicht das des anderen hören,
und sie war bald in den Windungen des Pfades den Blicken der Männer
entschwunden.

»Ei so lauf Du und der Henker« brummte der alte Waidmann ärgerlich
hinter ihr drein, »Donnerwetter, hat das Frauenzimmer eine Courage; na,
das sollte _meine_ Tochter sein.«

Hennig befand sich aber indessen in Todesangst, denn noch immer gab die
bleiche Jungfrau in seinen Armen kein Zeichen des Lebens von sich, und
lag starr und regungslos auf seinem Knie; er rieb ihr die Schläfe und
das Innere der Hand, und die Stirn und den Arm -- Alles umsonst, es war,
als ob er eine Todte umschlossen hielt. --

»Förster, um Gotteswillen helft mir hier!« rief er endlich, und schaute
sich in aller Herzensangst nach diesem um, »was sucht Ihr denn dort? --
laßt das doch sein, und steht mir hier bei.«

»Hm,« brummte der Alte, der indessen, ohne sich um die Ohnmächtige
weiter zu bekümmern, die Büsche und das Gras, wo der Flüchtige
hineingesprungen war, sehr sorgfältig und aufmerksam betrachtet hatte,
-- »ich habe nur einmal nach dem Anschuß gesehen, aber keine Spur von
Schweiß -- doch das schadet Nichts,« fuhr er, sich aufrichtend und zu
der Ohnmächtigen tretend fort: »weiter hin werden wir's schon finden,
denn einen Keulenschuß hat er, darauf wollte ich wetten -- 's war zwar
achtzig oder neunzig Schritt und dünner Schnepfenschrot, so weit trägt
meine alte Caroline aber doch noch, und das weiß ich -- ah -- sehen Sie,
die Mamsell kommt schon wieder zu sich -- hier, reiben Sie ihr einmal
den Rum in die Schläfe, das wird ihr gut thun -- nichts besser wie Rum
bei Ohnmachten, -- wenn man besonders noch einen richtigen Schluck davon
nehmen kann.«

Das junge Mädchen erholte sich aber wirklich rasch wieder, athmete ein
paar Mal recht schwer und tief, und schlug dann die Augen auf. Zuerst
sah sie sich ganz erstaunt, ja fast erschreckt um -- augenscheinlich
hatte sie das ganze Vorhergegangene vergessen, und die Sinne mußten sich
erst wieder zu ihrer vollen Thätigkeit sammeln, dann aber mochte ihr
doch wohl wieder einfallen, wie sie in diese Lage gekommen, denn
ein leichtes Roth färbte ihre bleichen Wangen, und sich rasch, aber
unbefangen emporrichtend, sagte sie, während sie dem jungen, wie mit
Purpur übergossenen Lehrer die Hand reichte:

»Ich danke Ihnen, lieber Hennig!«

»Der Schuft wollte Hand an Sie legen!« sagte der Jäger, »Gott soll
mich holen, wenn das nicht bald noch über den grünen Klee geht, das
verfluchte Wildschützenzeug nimmt ja bald Alles an, was Beine hat.«

»Es war kein Wilddieb,« sagte Sophie, und blickte wie scheu nach den
Büschen hinüber, so daß der alte Jäger bei dem Gedanken lächelte, sie
könne glauben, _der_ käme noch einmal dahin zurück, wo _er_ stände --
»er sah wild, verstört und bleich aus -- ich weiß nicht einmal, ob er
-- ob er uns um etwas ansprechen wollte -- nur als Anna Schütte so wild
aufschrie, ergriff er meinen Arm -- was er wollte, weiß ich nicht --
aber so viel erinnere ich mich, sein Rock war von Dornen zerrissen, auch
sein Gesicht blutig, und er -- er glich eher einem unglücklichen, als
einem bösen Menschen.«

»Alle Wetter noch einmal!« sagte da der Jäger, »das wird der Kerl
gewesen sein, den die Polizeidiener aus der Stadt heute Morgen gehetzt
haben; ein paar Holzschläger von mir haben oben an der Waldecke
gestanden, und sich die ganze Geschichte mit angesehen, -- der ist vom
Felde 'rein in die Haidekiefern gefahren, in den jungen Schlag, und wird
sich nun wahrscheinlich im Walde herumtreiben. Warte Canaille, solches
Wild könnten wir hier gerade brauchen, weiter fehlte uns gar Nichts.
Hören Sie Hennig, Sie gehen ja doch wohl mit dem Fräulein zu Hause.«

»Ich glaube kaum, daß ich noch etwas zu fürchten habe,« sagte Sophie.

»Nein, das glaub' ich auch nicht,« lachte der Jäger, der an seine
Schrote dachte, »das bleibt sich aber gleich, allein können Sie doch
nicht nach Hause zurückkehren, ich aber will gleich mit meinem Fritz und
den Holzschlägern den Wald hier einmal absuchen, wahrscheinlich ist er
nach dem Weidicht hinunter, in die dicken Büsche, und wenn er da drinn
steckt, da finden wir ihn vielleicht, oder treiben ihn jedenfalls in's
Dorf.«

Und ohne weiter eine Antwort abzuwarten, warf der Alte das Gewehr, das
er indessen wieder geladen hatte, über die Schulter, und schritt rasch
den Weg, den er vorher mit Hennig gekommen, zurück. Dieser aber, der
sah, wie erschöpft die Jungfrau durch den vorigen Schreck sein mußte,
denn sie hielt sich selbst jetzt noch an einer kleinen Buche, neben
der sie stand, aufrecht, bot ihr seinen Arm. Sophie zögerte einen
Augenblick, nahm ihn dann, und schweigend schritten die beiden dem noch
ziemlich entfernten Dorfe zu.



Sechstes Kapitel.

Die Hornecker Schenke.


Es war Abend; aus dem Feld herein zog pfeifend der Knecht mit den
Pferden, und der Gänsejunge trieb ebenfalls seine schnatternde Heerde
den heimischen Ställen zu; auf dem Plane vor der Schenke hatte sich eine
Schaar wilder Jungen und Mädchen eingefunden, die um die Linden herum
und über die steinernen Bänke hin sprangen und jauchzten und tanzten und
Haschens spielten, und sich in ihrer lauten herzlichen Lust wenig daran
kehrten, daß der Thau schon feucht niederfiel auf die dampfende Erde
und nebliche Dünste aus der Niederung herauf nach den Gipfeln der Berge
stiegen.

Die Botenfrau, die aus der Stadt kam, keuchte mit dem schwer beladenen
Korbe den steilen Hang hinauf, der wohl zwanzig Ellen hoch gerade hinter
der Schenke herabführte, und hier und da blitzte schon zwischen den
knorrigen Zweigen der Aepfel- und Pflaumenbäume hindurch ein einsam
schimmerndes Licht hervor, und der Wanderer, der vorüberging, sah, wie
da drinnen um die großen, mit frommem Spruch verzierten Schüsseln, nach
ächt patriarchalischer Sitte, der Bauer mit seinen Knechten und Mägden
saß, und Löffel nach Löffel aus der dampfenden Suppe herausholte.

Ein ganz besonders reges Leben herrschte aber in der Schenke selbst,
denn da wurden Tische und Stühle gerückt und abgestäubt, Flaschen
herbeigeschafft und Gläser parat gestellt. Dort in die Ecke kamen
drei Tische für die Spielenden, zwei Lichter auf jeden, an die
entgegengesetzten Ecken der buntbeklebte Papptrichter mit den
geschnittenen Kartenfidibus auf den einen Leuchter. Auch die
Markenteller mit den Spielmarken bekamen ihren Platz und die Spucknäpfe
wurden zurecht gerückt, der sauber gescheuerten Stube zu Liebe.

»So,« sagte die dicke Wirthin, als sie auf den runden Drath, der am
Fensterknopfe hing, frische Bretzeln gereiht, und den rostigen wieder
an den alten Platz gehangen hatte, »so, itzt kennen se vor mir kummen,
Annegrethe, hast de denn aber ooch des grine Zimmer in Ordnung gebracht?
-- Blitzmädel, Du weeßt doch, das der Herr Diaconus pinktlich is, un es
die Bauern ooch schonst immer nich erwarten kennen.«

Annegrethe, ein derbes dralles Mädchen von achtzehn oder neunzehn
Jahren, das, aber nicht nach der Horneck'schen Mode, sondern wie die
Dienstleute in der Stadt gekleidet, eben hinter dem Schenkstande
die halbgeleerten Glasflaschen (deren Etiketten bezeichneten, ob sie
Doppelkümmel, Anis, Pomeranzen oder Kirsch in den flachen Bäuchen
trugen) wieder aus großen steinernen Krügen vollfüllte, sagte, indem
sie gerade die letzte Flasche mit einem wollenen Tuche abwischte und auf
ihren Platz zurückstellte:

»Ei versteht sich, Frau Base, werde doch das beste Zimmer im Hause nicht
vergessen; gelüftet habe ich's den ganzen Nachmittag, die Tische sind
spiegelblank und von der Erde könnte man zur Nacht essen -- wenn kein
Sand d'rauf läge.«

»Hot denn die Butenfrau de Zeidungen schonst gebracht; ich habe kenen
Zippel von 'er gesiehn.«

»Schon vor einer Viertelstunde.«

»Un die Sammeln?« -- frug die Frau rasch und wie erschreckt.

»Alles richtig besorgt,« lachte Annegrethe, »auch Cigarren hab' ich vom
Kaufmann mitbringen lassen, und ein Dutzend thönerne Pfeifen.«

»Bist en braves Madel,« sagte die Frau und setzte sich behaglich in ihre
Ecke hinter den Ofen, wo ein kleines Tischchen mit ihrer Kaffeetasse
stand; in der Röhre oben, dicht daneben brodelte der Kaffee, und dicht
in der That mußte das Gedränge und laut der Ruf nach Bedienung in der
Schenkstube werden, ehe »Mutter Läsig,« oder die »Mutter,« wie sie ihre
Gäste kurzweg nannten, ihr heimliches Plätzchen verließ, um es mit dem
geschäftigeren, ruhelosen in der Küche zu vertauschen.

Es dauerte denn auch gar nicht lange, so füllte sich das ziemlich
geräumige Zimmer mit Gästen; hier und da über den offenen Platz herüber
schlenderte eine lange, mit schwarzem Schafspelz umhüllte, oben in eine
weiße Zipfelmütze auslaufende Gestalt, den Hügel herauf, und aus der
Seitengasse, die zwischen Obstgärten und Häuslerwohnungen hin nach dem
anderen Theile des Dorfes führte; von überall her kamen die Durstigen,
den Sonnabend Abend, wie das von jeher Sitte in Horneck gewesen, in
gemüthlicher Gesellschaft zu verbringen, und einmal wieder zu hören,
»wie's draußen in der Welt eigentlich stehe.«

Auch das »grüne Zimmer« (was aber eigentlich gelb war und nur noch aus
früherer Zeit, wo es vielleicht einmal grün gewesen, den Namen trug)
füllte sich nach und nach; um die verschiedenen Lichter herum drängten
sich neugierige kurzsichtige Gäste und suchten, bald mit bald ohne
Brille, dem die Augen schmerzenden Druck Inhalt und Sinn abzugewinnen,
bis der Diaconus endlich kam, der am Montag, Mittwoch und Sonnabend, und
schon seit Anfang vorigen Monats, wo es auch erst angefangen hatte in
Deutschland interessant zu werden, die Zeitungen, oder wenigstens das
Wichtigste daraus, vorlas und das Gelesene dann erklärte.

Die Landleute hörten aufmerksam zu, tranken ihr Bier dabei, und
schauten, das Kinn auf die beiden Fäuste oder in die aufgestemmten Arme
gestützt, dem Diaconus in das wohl etwas bleiche aber ausdrucksvolle
Gesicht, wie er ihnen die einzelnen Artikel vortrug, und hie und da bei
etwas schwer verständlichen Stellen, eine Erklärung beifügte, die es
auch den minder Begabten möglich machte, zu begreifen, was eigentlich
die verschiedenen Artikel für eine Bedeutung hätten, und in welcher
engen Verbindung die an allen Orten zugleich auftauchenden Unruhen zu
einander ständen.

Er hatte ihnen auf solche Art über das Vorparlament in Frankfurt,
das eben jetzt zusammentrat, über den Aufstand in Italien, denn die
Oestreicher waren gerade aus Mailand verjagt, über die Verhältnisse in
Oesterreich, und besonders in Wien selbst, wie über den dänischen Krieg,
mitgetheilt, und ging dann auf die ihnen näher liegenden Gegenstände,
jetzige Einberufung der beurlaubten Soldaten, die inneren Zustände des
Landes u. s. w., über, wo dann das Gespräch allgemeiner wurde, und die
Zeitung auch bei manchen Artikeln von Hand zu Hand ging.

Weniger geregelt war das Gespräch in der Neben- oder großen Gaststube,
wo sich die Gäste nicht, wie im »grünen Zimmer«, um einen großen Tisch
versammelten und dadurch die Unterhaltung zu einer gemeinschaftlichen
machten, sondern, an verschiedenen Tafeln und Spieltischen vertheilt,
auch ihre Sonderinteressen verfochten, oder gar nur, in die
Kartenblätter vertieft, Acht gaben auf Eicheln und Schellen, auf Grün
und Roth. Im Allgemeinen war es aber auch selbst hier die Politik, um
die sich das Gespräch drehte, und sogar vom Schafskopf oder Scat aus
mischte sich hier und da, wenn der Streit gar zu heftig wurde, ein
»Passender« mit ein und warf, den scheuen Seitenblick freilich immer
noch auf das indeß ununterbrochen vorwärts gehende Spiel gerichtet, sein
Wort mit ein, in Debatte oder Grundspruch.

»Ja, hier steht's in der Zeitung aus Franken,« sagte da mit lispelnder
aber scharf gellender Stimme ein kleines hageres Männchen. Pockennarben,
röthliche Haare und etwas stark gekrümmte Nase waren die Kennzeichen des
sogenannten Doctor Levi, der hier nur nach Horneck gekommen schien, um
sich nach Frankfurt in das Parlament wählen zu lassen, und schon seit
mehreren Wochen das allerdings etwas undankbare Geschäft übernommen
hatte, die Bauern dieses und der benachbarten Orte aus ihrer politischen
Lethargie aufzurütteln, und seinen Ansichten befreundet zu machen. So
lange er in Horneck blieb, miethete er gewöhnlich ein kleines Häuschen,
das mitten im Dorfe unbewohnt lag, und beschäftigte sich dann auch wohl
mit etwas Chirurgie, Aderlassen, Schröpfen u. s. w. Zog er jedoch
mit diesem manches böse Blut ab, so schuf er das, und in gewiß viel
reichlicherem Maße auch auf der anderen Seite wieder, und die
ruhigeren Bauern und Ansässigen des Dorfes schüttelten oft über seine
aufrührerischen Reden den Kopf, während ihm dagegen die Jugend mit
desto größerem Eifer anhing und besonders sämmtliche Lehrlinge und
Ackerknechte des Dorfes für ihn schwärmten. Wer hätte ihnen auch
das Alles versprochen, was ihnen Doctor Levi versprach, wer hätte
so unermüdlich über ihre Herrschaften herziehen und sie unaufhörlich
versichern mögen, daß der vierte Stand, der Stand der Arbeiter, gerade
der sei, der obenan stehen müsse, und ohne den die anderen Stände gar
nicht existiren könnten, der aber auch deshalb nur recht zusammenhalten,
die Männer wählen, die es gut mit ihm meinten, und dann sehen solle, was
er für Wunder wirken und wie er seine Stellung gestalten könne.

»Hören Sie nur, meine Herren,« lispelte der Doctor weiter, als er sah,
daß einige die Köpfe nach ihm umwandten:

  »Von den Gutsherrschaften haben sich diejenigen, deren Eigenthum bei
  dem ersten Aufstand, woran allerdings auch _ansässige_ Bauern Theil
  genommen hatten, verschont geblieben, mit ihren Grundholden auf
  gütliche Weise verständigt, und die Regierung von Oberfranken hatte,
  um diese Vermittlung zu Stande zu bringen, einen eigenen Commissar
  auf den Schauplatz der Unruhen abgeordnet. Auch anderwärts in
  Franken haben viele Gutsbesitzer ihren Grundholden freiwillig
  bedeutende Zugeständnisse gemacht.«

»Seht Ihr, die Sache wird Ernst, und in Franken wissen die Bauern
schon, was sie wollen; die Süddeutschen sind uns überdies um ein halbes
Jahrhundert voraus, und wenn es in Deutschland noch einmal Licht werden
solle, so stecken sie dort die Laternen an.«

»Ja, daß uns nachher das Haus lichterloh über den Kopf in Flammen
stehe,« brummte der Müller, der neben dem einen Spieltische saß, und
bis jetzt dem Gang des Spieles augenscheinlich sehr eifrig gefolgt war;
»solcher Aufruhr thut kein gut; denn wenn er noch allein bei den Bauern,
das heißt bei denen bliebe, die wirklich ein Besitzthum haben, ja dann
ließe man es sich gefallen, aber die, die _gar_ nichts haben, die reißen
nachher gerade das Maul am weitesten auf und sind vorne weg. Natürlich,
_die_ Menschen können Nichts bei der Sache verlieren; geht Alles, wie
es gewohnt war, seinen stillen Gang ruhig fort, so bleiben sie Lumpe wie
vorher, geht aber im Gegentheil Alles drunter und drüber, wird die ganze
Einrichtung auf den Kopf gestellt, ei dann schließen sie sich mit dem
größten Vergnügen dem an, _ihnen_ fällt Nichts aus der Tasche und es
müßte doch sonderbar zugehen, wenn sie von dem, was Anderen herausfiele,
nicht später was zu fischen fänden. Das kennt man schon.«

»O ja, o ja,« lachte der kleine Doctor, »versteht sich -- wer soll denn
aber auch sonst die Revolution machen; die, die was haben, sitzen gern
still und halten beide Fäuste auf die vollgestopften Taschen, die aber,
die Nichts haben, das sind die Menschen, die sich am freiesten bewegen,
die unparteiisch auf den Standpunkt des Besitzes hinüberblicken können.«

Ein großer Theil der Zuhörer lachte, dadurch wurde der kleine Mann aber
erst recht böse gemacht, sah sich einen Augenblick im Kreise um und rief
dann:

»Lacht nur, grinst nur und zieht die Mäuler von einem Ohre bis zum
andern, und wenn Ihr's nicht anders haben _wollt_, so bleibt meinetwegen
hier hinter Eueren Oefen sitzen, und wartet, bis sie Euch das, was die
Anderen jetzt _fordern_, auf dem Präsentirteller bringen und Euch um
Gotteswillen bitten, es doch nur anzunehmen.«

»Oho,« fiel ihm hier einer der Bauern in die Rede, »so schlimm is es
ooch noch niche -- mer wissen wuhl, was mer wolle, un ufgäsetzt is es
ooch schonst; 's hat nur de rächte Gischtalt noch niche, es fehlt em
noch de Fassong. Den Pastor han mer freilich drim gebeten, er sillts uns
mache, der will aber net, do hat's der Diaconus ibernommen; des is en
ganzer Kerl.«

»Ja, de Jagd misse mer frei han,« fiel hier ein Anderer vom Spieltisch
aus in's Wort, »der Hos', der mer mei Kraut frißt, dem schlag' ich de
Flinten uffen Kopp, daß er's bese Elend kreiht!« und die hoch gehobene
Karte kam mit den Knöcheln schallend auf den Tisch nieder.

»Un die Ablösung misse mer ooch han,« sagte der erste wieder -- »oh,
'ssein ä ganze menge Sachen, denn i zohl kei Hundekorn mehr, und schick'
keine Hihner un Eier un Kapauner und Gänse uf's Gut; wenn se Kapauner
fressen wolln, megn se se ooch selwer ziehen un stoppen.«

»Recht so,« fiel hier der Doctor ein, »das klingt schon ein Bischen
besser, aber nach Frankfurt müßt Ihr dann auch solche Leute wählen, die
wissen, was Euch fehlt und die Haare auf den Zähnen haben, und daß die
gestrengen Herren nachher schon einwilligen werden, ich dächte,
dafür bürgte uns die neueste Erfahrung. Ihr habt doch gehört, daß von
Frankreich herüber 90,000 Mann im Anmarsch sind, um hier in Deutschland
die Republik zu proclamiren?«

»Ne, keen Wort,« riefen Viele und wandten sich neugierig zu ihm hin.

»Was?« lachte der Doctor, »davon wißt Ihr noch Nichts? potz Schulmeister
und Diaconusse, wozu habt Ihr denn da die Woche dreimal Euere geheimen
Vorlesungen, wenn Ihr die Hauptsache nicht erfahrt? Aber das ist
natürlich, daß es der _Geistlichkeit_ nicht gerade gelegen kommt, wenn
es den _Beichtkindern_ klar wird, wo Barthel eigentlich den Most holt.«

»Aber Doctor, warum geht Ihr denn nicht mit hinein in's grüne Zimmer,«
mischte sich hier der Wirth hinter den Schenktisch in's Gespräch, »da
drinn wird ja die ganze Geschichte verhandelt.«

»Zu den Reactionairen!« brummte entrüstet der Mann des Blutes, »nein,
wir haben uns auf den Barrikaden unsere Freiheit erkämpft, und die
wollen wir schützen im freien Vereinsrecht, wie in der freien Presse,
derlei Umtriebe aber, wie sie schon anfangen im Lande ihr giftiges Netz
auszuspannen, sollten Männer, die sich dessen, was ihnen gebührt, bewußt
sind, gar nicht dulden. Wenn es auf mich ankäme, sprengten wir die ganze
Gesellschaft dadrinn auseinander.«

»Von wegen dem freien Vereinsrechte!« lachte der Wirth.

»Unsinn!« rief Levi ärgerlich, »wenn das Volk souverain ist, braucht es
die Verräther im eigenen Hause wenigstens nicht zu dulden. Ihr würdet es
Euch ebenfalls nicht gefallen lassen, wenn sich Jemand in Euerer Stube
hinsetzte und Pläne machte, Euch aus Euerem rechtmäßigen Hause zu
verjagen.«

»Ne« sagte der Wirth, »und bei mir ist das Volk nicht einmal souverain.«

Ein paar von den Bauern lachten, ehe aber der Doctor etwas darauf
erwiedern konnte, ging die Thür des grünen Zimmers auf, und die
Lesegäste, die jetzt die wichtigsten Tagesneuigkeiten gehört hatten,
kamen heraus in das große Wirthszimmer, um sich dort gemüthlicher
bewegen, und das Gehörte noch etwas freier besprechen zu können.

Die ebengeführte Unterhaltung wurde dadurch auf kurze Zeit unterbrochen,
und auch der »Doctor« hatte sich zu einem der Tische zurückgezogen, wo
er sein Glas Bier, mit einem Gläschen Pfeffermünze daneben, stehn hatte,
als einer der Bauern, neben den sich der Diaconus eben gesetzt, diesen
bat, er möchte doch einmal in »das Gedruckte« hinein sehn, ob etwas
von den 90,000 Mann darin stände, die von Frankreich aus zu uns herüber
kommen sollten.

»Neunzig Tausend Mann,« lachte der Diaconus, »wer hat denn das wieder
ausgesprengt? Ueber dem Rhein drüben sollen sich, wie die Zeitung sagt,
einzelne unordentliche Banden herumtreiben, aber von 90,000 Mann ist
keine Rede.«

»Keine Rede?« knurrte der Doctor aus seiner Ecke vor, »warum denn nicht?
-- man will es dem Volke hier nur noch verheimlichen, damit es nicht
aufsteht, sich mit den, bis jetzt in Frankreich verbannten und
nun herüber strömenden Brüdern vereinigt, und seinen bisherigen
Unterdrückern mit Gewalt den Daumen auf's Auge setzt.«

»Mein guter Herr Doctor« erwiederte ihm freundlich der Diaconus, »aus
fremden Lande blüht uns keine Hülfe, und von dorther dürfen wir nicht
auf Beistand hoffen oder rechnen. In uns selbst muß die Kraft, muß
die Hülfe liegen, und wenn wir nicht im Stande sind sie aus uns selbst
heraus zu schaffen, dann sieht es auch mit unserer Freiheit traurig aus.
Gott wolle uns vor einem Zustand bewahren, den uns fremde Schaaren und
wenn sie sich selbst _Arbeiter_ nennten, brächten; nur im Stande wären
sie einzureißen, und nicht Raum noch Athem bliebe zum Wiederaufbau.«

»Wiederaufbau, Wiederaufbau -- das ist so das rechte Wort,« brummte der
Doctor, und stieß heftig das Glas vor sich auf den Tisch, »_erst_ muß
eingerissen werden, ehe man aufbauen kann, denn von vorne anfangen
können wir die Geschichte nicht; hab ich recht oder unrecht?«

»Ne, das hat seene Richtigkeet« sagte da der Schmid, der auch mit aus
der grünen Stube herausgekommen war, »wenn mer hier ene angere Schenke
herbauen wüllen, so missen mer die erscht nieder reißen.«

»Na, das sieht ja ein Kind ein« triumphirte der Doctor.

»Aber bedenkt Leute,« nahm der Diaconus wieder das Wort, »daß sich
Einreißen und Aufbau auch nach äußeren Umständen richten muß.«

»Wie so?« frag Einer der Bauern.

»Wir wollen einmal hier bei der Schenke stehn bleiben,« erklärte Jener,
sich in den einfachen Sinn seiner Umgebung schickend, »wenn wir die
Schenke hier einreißen, um eine andere zu bauen, so ist das leicht, die
steht frei und hat einen gehörigen Raum vor sich, um das alte Gerumpel
abzuwerfen und den neuen Steinen und Balken Raum zu geben, und so war es
auch mit Amerika, als sich jenes Land seine Freiheit erkämpfte, dort war
Raum genug den alten Schutt abzufahren, und das neue Gebäude stieg rasch
und schön empor. Wie wäre es aber, wenn Ihr drüben des Wagners Haus
abbrechen und ein anderes dafür hinstellen wolltet? Ging das so ohne
Weiteres? Wohin sollte er mit dem Schutt? Die Nachbarn würden sich
bedanken, den solange in ihre Gärten zu nehmen; auf die Straße vor
dem Haus dürft Ihr ihn auch nicht werfen, reißt Ihr also Vor- und
Hintergebäude gleich zusammen ein, so sitzt Ihr nachher mitten im
Gemenge drin, und kein Baumeister kann Euch mehr helfen, denn Ihr
habt dem, indem Ihr seine freien Bewegungen hemmtet, selbst die Hände
gebunden.«

»Das ist aber mit unseren Verhältnissen ganz anders,« fiel hier der
Doctor ärgerlich ein.

»Allerdings« lächelte der Diaconus, »aber nur noch viel schlimmer, denn
wenn diese jungen Leute, die jetzt überall auftauchen und von Umsturz
des Bestehenden und Reorganisation ganzer Länder sprechen, erst einmal
den Zügel in Händen hätten, wer wäre dann im Stande, ein solches Gewirr
von Völkerstämmen und Nationalitäten zu vereinigen und in Ordnung zu
halten? Wer sollte so rasch die Grenzlinie ziehn zwischen Anarchie und
Volksherrschaften, und jene im Zaum halten, ohne von dem Volke selbst
als Reactionair verschrien zu werden?«

»Das muß die Regierung thun!« sagte der Doctor ernsthaft.

»Ei was streiten wir uns denn dorum« fiel hier der Schmid dem Doctor
in's Wort, »wenn jetzt die Franzosen kummen, da werd' sich die Sache
schonst finden. So'ne neinzig Tausend Mann sin ooch keen Hund.«

»Da Ihr denn einmal bei den 90,000 bleibt« meinte der Diaconus, »so
ist's vielleicht besser, ich lese den darauf Bezug habenden Artikel
gleich vor; es ist eine Bekanntmachung, die das Generalcommando der
Rheinprovinz erlassen hat, und lautet:

>Nach von mehrern Seiten bei der Militairbehörde eingegangenen
zuverlässigen Nachrichten, sind von der französischen Grenze her
Einfälle bewaffneter _ungeregelter ungeordneter Arbeiterschaaren_ in
die Rheinprovinz beabsichtigt. Um diesen zu begegnen ist die Aufstellung
eines Corps gegen die Schaar erforderlich. Dazu ist, außer den Truppen
in Trier -- etc. etc.<«

»Da haben Sie die ganze Geschichte; das sind Ihre 90,000 Mann gegen die,
nur der Vorsorge wegen, ein paar Regimenter ausgeschickt werden.«

»So?« rief der kleine Mann höhnisch und hatte indessen schon, während
Jener las, ein anderes, zerknittertes Zeitungsblatt aus der Tasche
geholt -- »so? da haben Sie wohl die Allgemeine oder die Kindermuhme?
Das glaub ich, daß die solche Opiate zu verabreichen suchen -- aber da
ist hier ein anderes Blatt >Die rothe Fahne!<, an dem wir Mitarbeiter
wie Pelz und E. O. Weller haben, das sagt Ihnen anderes, was Sie wissen
sollen -- Hier hören Sie:

>Bürger! Die Zeit der Rache ist gekommen -- die Ketten, die Euch
so lange in Euer klirrendes Elend geschlagen, stürzen von Euren
erstarkenden Gliedern. -- Der Tag der Vergeltung ist erschienen,
die Throne zittern und das souveraine Volk steht jauchzend auf und
vernichtet die Tyrannen. Bürger -- schaart Euch um die rothe Fahne der
Freiheit -- aus dem Westen, aus dem göttlich freien Lande der Republik
reicht uns ein freies Volk die entfesselte Rechte -- 90,000 Mann< --
hören Sie das, Herr Diaconus -- >90,000 Mann überschreiten in diesen
Tagen den Rhein -- 90,000 Mann fliegen Euch mit triumphirendem
Siegesschrei an das Bruderherz. Oeffnet Eure Arme sie zu empfangen und
reicht Euch dann die Hände zum fröhlichen Spiel. Unsere Schwerte
sollen die Schläger und Kronen die Bälle sein, mit denen wir die Zeit
verkürzen, bis wir des Spaßes müde sind, und den Plunder bei Seite
werfen. Es lebe die Republik!<«

»Und das steht gedruckt?« sagte der Gerichtsschreiber erstaunt und
drängte sich durch die Bauern, die den kleinen Mann umstanden.

»Das steht gedruckt« lachte dieser triumphirend, »und Einer unserer
thätigsten Kämpfer der Freiheit, unser =Dr.= Wahlert, durchstreift
schon seit vierzehn Tagen das Land im fröhlichen Pilgerzug, die Guten zu
sammeln und zum festen Werke zu einigen.«

Neben dem Ofen saß eine eng in sich zusammengekauerte Frauengestalt, die
bis jetzt wenig oder gar keinen Antheil an dem Gespräch gezeigt hatte,
nur daß sie manchmal, wenn Einer oder der Andere der Männer sprach, den
matten Blick zu ihm hob, dann aber gleich wieder in ihre alte Stellung
zurückfiel. Jetzt bei dem letztgenannten Namen aber, zuckte sie rasch
und heftig empor, und schaute, während der folgenden Unterredung bald
die sich dabei Betheiligenden, bald die Umstehenden, scheu und ängstlich
an.

»Wahlert?« sagte der Diaconus, »ist, wie ich heute als ganz gewiß
gehört habe, in der Stadt wegen offenen Aufruhrs und überwiesenen
verbrecherischen Verkehrs mit den Feinden des Vaterlandes verhaftet
und eingezogen worden; man spricht davon, daß er das Zuchthaus besuchen
würde.«

»Hahaha« lachte der kleine Doctor, »die Nürnberger hängen keinen, sie
hätten ihn denn erst; eben habe ich Briefe mit der Botenfrau aus der
Stadt bekommen, daß Wahlert heute allerdings sollte verhaftet werden.
Er erhielt aber vorher einen Wink, entzog sich der Ausführung durch die
Flucht und ist, wenn auch verfolgt, doch noch nicht eingefangen; die
nach ihm ausgesandten Polizeiknechte sind wenigstens unverrichteter
Sache zurückgekehrt.«

Die Thür ging in diesem Augenblick auf, und der alte Jäger trat, einen
kurzen Gruß links und rechts hinübernickend, in die Stube.

»Annegrethe, mein Bier,« sagte er, während er sich auf seinen
gewöhnlichen Platz zwischen dem Fenster und dem Schenkstand niederließ
-- »aber ein wenig warm.«

»Weiß es Herr Förster,« rief das flinke Mädchen, und füllte das
hochaufschäumende Glas aus dem schon vorher, in Erwartung des Kommenden,
warm gestellten Blechmaaß, drängte sich dann damit, zwischen der jetzt
aufgerichtet neben dem Ofen stehenden Frau -- unserer Bekannten von
dem nämlichen Morgen her, und dem auch eben erst gekommenen Röhrmeister
durch, und stellte das Glas, mit einem freundlichen Knix vor den
mürrisch herumschauenden Jäger hin.

Die Unterhaltung war durch den Eintritt der Beiden, nach denen sich die
Meisten umschauten, einen Augenblick in's Stocken gerathen.

Der Röhrmeister, der die letzten Worte des kleinen Doctors noch gehört
hatte, trat jetzt weiter vor und rief, sich an diesen wendend:

»Hört einmal Doctorchen, wie sieht denn der Bursche aus, von dem Ihr da
sprecht -- trägt er etwa einen kleinen schwarzen Schnurrbart und hat er
eine Narbe über's Gesicht herüber?«

»Die hat er,« sagte der Doctor schnell, »habt Ihr Wahlert gesehen?«

»Dann ist es derselbe, den sie heute Morgen hier bis in die Haidekiefern
gehetzt haben,« fuhr der Röhrmeister fort, »ich kam gerade aus der Stadt
und sprach auch nachher einen von den Holzschlägern, an dem er dicht
vorbeigesprungen war.«

»Hier bis Horneck?« frug der Doctor schnell.

»Ja hier gleich bis oben in den Wald, wo das kleine Weidenbüschchen
steht.«

»_Wie_ heißt der Bursche?« mischte sich jetzt der Jäger in's Gespräch,
und stand von seinem Platze auf, um besser nach dem Sprechenden
hinübersehn zu können.

»Wahlert, =Dr.= Wahlert!« lautete die Antwort.

»Und einen Schnurrbart hat er?«

»Ja, und dunkle Haare, wie eine hohe, stattliche Figur; wer ihn einmal
gesehn hat, vergißt ihn nicht so leicht wieder.«

»Nun ich denke, er wird sich meiner auch wohl etwa vierzehn Tage
erinnern,« lachte der Jäger und nahm seinen Platz wieder ein.

»Was? -- wie so? -- Ihr habt ihn gesehen? -- wo ist er jetzt? --
haben sie ihn wieder?« So etwa lauteten die Fragen, die nun in rascher
Reihenfolge an den Jäger gerichtet wurden, und dieser sah sich plötzlich
als den Mittelpunkt aller der neugierig ihm zugewandten Gesichter.

»Weil ich ihm die Hinterläufe mit Schrot gespickt habe« lachte der
Alte; »zwar nur Nr. 6 aber doch gerade hinreichend für einen derartigen
kleinen Denkzettel.«

»Aber wo? -- weshalb -- wie kam das -- wenn denn?« fiel hier das Chor
wieder ein.

»Wo? wann? Im Holz drin, heut' Nachmittag, und weshalb? -- ei weil er
ein paar Frauenzimmer angefallen hatte wie ein Straßenräuber und sie
schon plündern wollte als ich und der Schulmeister, der Hülfslehrer mein
ich, gerade noch zur rechten Zeit und zum Schuß kamen.«

»Aber wo ist er jetzt? ist er gefährlich verwundet?« sagte der Doctor
rasch und erschreckt.

»Hm -- 's kann g'rade nicht so gefährlich sein,« meinte der Jäger
kopfschüttelnd, »'s Auskratzen ging wenigstens nachher noch so ziemlich
gut. Schweiß konnten wir auch nicht finden, aber mit meinem Fritz und
den Holzschlägern bin ich ihm nachher nach, und richtig kriegten wir
ihn auch wieder zu Gesicht, denn wir trieben das ganze Weidicht unten
ordentlich ab. Mein Fritz und ich, wir nahmen die Flügel und wie wir
oben an die Schwarzholzecke kamen, stellten wir Beide uns nach dem Dorf
zu vor, und ließen die Holzmacher links herauf schwenken. Der Kerl war
auch weiß es Gott im Treiben, und wollte, gleich wo's nachher nach dem
Fluß zu geht, wie ein alter Fuchs durch die Treiber brechen. Das wäre
ihm auch, da sie doch wenigstens funfzig Schritt auseinander gehn
mußten, beinah gelungen, denn das Unglück wollt' es, daß er gerade
zwischen dem alten lahmen Gottlieb und Richters Jungen hinein kam, die
ihn alle Beide nicht wieder eingeholt hätten. Gerade da aber, wo er
durchbrechen wollte, war ein offener Haidefleck -- der Streifen Feld da
oben, Wagner, wo wir vor zwei Jahren die jungen Kiefern steckten --
und wie er eben über den hinspringen will, läuft der alte Gottlieb mit
seinem Stock auf ihn an und schreit ihm zu, er soll sich ergeben. Hol'
mich der Teufel, wie der den Stock auf sich gerichtet sieht, wobei er
wahrscheinlich auch schon an das Blei dachte, das er bei sich trug,
stieß er einen lauten Schrei aus, und sprang wie ein Donnerwetter in die
dichten Büsche zurück.«

»Und was ist nachher aus ihm geworden?«

»Der Teufel weiß es« brummte der Jäger, »er ging wieder nach vorn,
und wenn er nicht nachher doch noch einen Rückwechsel gefunden hat, so
bleibt weiter gar nichts anderes möglich als daß er durch das Ufer des
trockenen Baches, gerade unter den Dornen hin in das Dorf gekrochen
ist.«

»In das Dorf?« riefen der Verwalter und Gerichtsschreiber, die jetzt
ebenfalls an des Jägers Tisch getreten waren, »das kann ja doch gar
nicht sein; der Graben oder was es ist, läuft gerade in Pastors Garten
aus, und er wird sich doch wahrlich nicht, wenn einmal verfolgt, aus dem
ihm allein noch Sicherheit bietenden Wald, mitten zwischen seine Feinde
wagen?«

Der Doctor sagte kein Wort mehr, ging aber eine ganze Weile, und zwar im
tiefsten Nachdenken, im Zimmer auf und ab, bis er wieder in die Nähe des
Jägers kam; dort blieb er stehn, wandte sich noch einmal an diesen und
frug ihn:

»Und Ihr glaubt wirklich, daß er durch den Graben nach dem Dorfe zu
entkommen wäre?«

»Ich weiß wenigstens nicht wie er sonst durchgeschlüpft sein könnte,«
meinte der Jäger, »ohne daß ihn Einer von uns auch nur gesehn, oder in
dem Laube gehört hätte. Der Wald ist dort viel zu licht, als daß Einer,
erst dort hinein getrieben, lange Verstecken spielen dürfte.«

»Könnte er aber nicht in einen Baum geklettert sein?« frug der
Doctor noch einmal, im letzten verzweifelten Versuch, auch nur an die
Möglichkeit einer anderen Flucht glauben zu dürfen, aber der Forstmann
schnitt ihm auch diese Hoffnung ab.

»Oh was,« brummte er, »in die Rauschenecke hatten wir ihn hinein, soviel
ist gewiß, und dort waren wir ihm, wenn's auch da wirklich Bäume gäbe,
in die man sich verstecken könnte, viel zu dicht auf den Hacken, als daß
er an so etwas hätte denken dürfen. Der ist im Dorf, und wenn er's hier
nicht ganz schlau anfängt, so kriegen wir ihn doch noch, denn ich habe
unten am Garten sowohl da, wo's nach der Straße niedergeht, wie oben
nach dem Wald zurück, und an dem Weg in's Dorf hinein meine Wachen
ausgestellt, die keine Katze, vielweniger einen so baumlangen Kerl
durchlassen.«

»Hm, hm --« murmelte der kleine Mann vor sich hin, und drängte sich,
ohne etwas weiter darauf zu erwiedern, der Thüre zu. Am Schenkstand
bezahlte er seine Zeche und verschwand gleich darauf, die einbrechenden
90,000 Freischaarer und die rothe Republik gänzlich der Gnade und
Ungnade der Zurückbleibenden überlassend, aus der Wirthschaftsstube.

Auch das fremde Mädchen verließ das Zimmer, schritt aus dem Haus bis
unter die große Linde, setzte sich auf die dort angebrachte hölzerne
Bank, in den Schatten des gewaltigen Baumes, barg das bleiche Antlitz
zwischen den dünnen abgemagerten Fingern, und schluchzte leise und
heftig.

Die Sterne blitzten und funkelten aus dem dunkeln, von keinem
Mondenstrahl erhellten Himmel nieder, durch die breitästigen Wipfel
der Linden rauschte und brauste der kühlfeuchte Nachtwind; im Dorfe
herrschte Todtenstille, nur manchmal tönte das Bellen eines treuen
Wachthundes aus Hof oder Garten her, oder der Schritt der jetzt einzeln
aus der Schenke Heimkehrenden schallte hohl von dem harten Boden wieder.
Auch die Lichter der verschiedenen Wohnungen waren fast alle verlöscht,
nur in der Pastorwohnung, das Haus ließ sich deutlich erkennen, denn
dicht dabei stieg der dunkle kahle Thurm starr und schroff empor,
brannte noch in einem der oberen Fenster ein einsames Lämpchen.

»Marie!« rief die Stimme des alten Musikus von der Thüre der Schenke
aus -- »Marie -- wo zum Donnerwetter steckt mir die Dirne nun wieder --
_Marie!_ will ich doch verdammt sein, wenn mir die nicht noch die Galle
an den Hals ärgert. Ei so geh' zum Teufel« brummte er noch eine Weile,
als er vergebens gehorcht und gewartet hatte, denn die dunkle
Gestalt unter der Linde rührte und regte sich nicht -- »wenn sie Dich
ausschließen, magst Du sehn wie du in's Haus kommst.«

Und schimpfend warf er die schwere Thüre in's Schloß.

Hell und freundlich schienen die liebenden funkelnden Sterne auf die
stille Erde nieder; in den Zweigen und Aesten des alten Baumes rauschte
und flüsterte es geheimnißvoll und das Käuzchen, das mit geräuschlosem
Flügelschlag über die Häuser strich, setzte sich auf das nächste Dach
und rief sein wehmüthiges unheimliches »Komm mit -- komm mit.« --
Unbeweglich aber lehnte an dem knorrig rauhen Stamm das einsame Mädchen,
fest und schweigend hafteten an den fernen glänzenden Himmelskörpern
ihre feuchten Blicke, und erst als vom düsteren Thurm drüben die Glocke
Mitternacht schlug, schlich sie durch die Thüre, die ihr der Vater
offen gelassen zu ihrem kalten harten Lager hinauf, unter das Dach der
Schenke.



Siebentes Kapitel.

Die Pfarre.


Als Fräulein Anna Schütte sah, wie der Fremde nach Sophiens Arme griff,
und sich nur einen Augenblick unbeachtet wußte, ja auch schon dann
vielleicht, als sie den ersten panischen Schrecken überwunden hatte,
daß ein wild aussehender Mensch aus dem stillen Holz, wie ein Blitz aus
heiterem, sonnenklaren Himmel auf sie herniederfahren konnte, floh sie
in flüchtigen Sätzen die Straße entlang, und erfüllte mit ihrem Geschrei
den friedlichen Waldesdom. Selbst der Heher schwieg, bestürzt vor
den gellenden Tönen, und dachte erst später daran, sie wie das übrige
Vogelgeschrei, mit spottendem Flügelschlag nachzuäffen; die übrigen
Waldvögel aber mieden scheu den Platz, wo ihrer Ansicht nach, etwas
Entsetzliches passirt sein mußte. Sie wäre auch sehr wahrscheinlich
eben in solcher Art bis in das Dorf hineingerannt, hätte sie nicht
glücklicher Weise gerade am Ausgange des Waldes einen Ackerknecht
getroffen, dem sie ohne weiteres um den Hals flog, und nun hier so zu
weinen und jammern anfing und solche gräßliche Geschichten von Mördern
und Räubern erzählte, die dicht hinter ihr wären, daß es dem armen
Teufel selber ganz angst und bange wurde, und er nicht recht wußte, was
er am Meisten zu fürchten habe, die nahenden Räuber, oder den
Zustand der fremden Dame, der ihm schon anfing mehr als bedenklich zu
erscheinen.

Der Bursche war übrigens unter solchen Umständen eben so wenig von
der Stelle zu bringen; denn im Walde hatte er nach der erhaltenen
Beschreibung gar Nichts weiter zu suchen, und zu Hause, von woher er
erst kam, wollte er auch nicht gleich wieder. Fräulein Schütte schien
jedoch ebenfalls nun, da sie zum Glück einen Beschützer gefunden, fest
entschlossen, keinen Schritt weiter allein zu thun, und so trafen sie
noch Hennig und Sophie, als sie aus dem Walde auf das freie Feld traten.

Sophien schien es lieb zu sein, die Freundin noch hier zu finden, sie
eilte gleich auf sie zu, ergriff ihren Arm, und versprach ihr, sie zu
Hause zu geleiten, bat sie aber auch zugleich, von dem Vorgefallenen im
Dorfe Nichts zu erzählen, da solche Sachen immer gleich verschlimmert
und dem »armen Flüchtling,« der sie im Walde angeredet, vielleicht gar
wieder die entsetzlichsten Absichten untergelegt würden.

Davon wollte nun freilich Fräulein Schütte im Anfang Nichts hören, ließ
sich jedoch zuletzt überreden, und bat nur Sophien, als sie endlich zu
Hause angelangt war, wenigstens so lange bei ihr zu bleiben, bis die
Mutter, die irgend einen Besuch gemacht hatte, zurückkehre, »denn wenn
sie jetzt, und mit Dunkelwerden allein im Zimmer sitzen solle, fürchte
sie sich zu Tode.«

Das sagte ihr Sophie gern zu, denn sie selbst mochte nicht gerade
jetzt gleich, und in der Aufregung, in der sie sich befand, nach Hause
zurückkehren.

An dem nämlichen Abend beendete, ungestört und nicht behindert durch
Singen oder Rufen, Feodor Strohwisch ein humoristisches Gedicht, --
es war früher einmal ein altes Liebesgedicht gewesen, das er in süßer
schwärmerischer Stunde gemacht, und er hatte es heute zu einem launig
politischen Epos umgeändert -- es blieb nichts zu wünschen übrig,
viermal hinter einander las er es sich mit immer wachsendem Beifall
selbst laut vor, und sprang endlich in aller Freude auf, schritt rasch
zu dem ihn erstaunt anschauenden Haubenkopfe hin, streichelte ihm
die zinnoberrothen Backen, und nannte ihn »sein liebes, frommes,
schweigsames Mädchen.«

       *       *       *       *       *

In der Dämmerung war es indessen, daß durch den kleinen Obstgarten, der
dicht hinter der Pfarrerwohnung lag, und hier zugleich die Grenze des
Dorfes nach dem Walde zu bildete, eine menschliche Gestalt aus dichtem
Gestrüpp und Dornenwerk hervorkroch, und an der Hecke hin und von dieser
gedeckt der kleinen hölzernen Thüre zu schlich, die hinaus auf einen
schmalen Pfad führte, der den steilen, mit Obstbäumen bepflanzten Hügel
hinab, und durch das Dorf, dem Flusse zu lief. Dort aber kaum angelangt
und schon mit der Hand auf dem Thürdrücker, zuckte er plötzlich von
jähem Schreck berührt, zusammen, denn dicht über sich, so nahe, daß er
den Sprecher hätte mit der Hand erreichen können, hörte er eine Stimme,
die ihm nur zu deutlich die Gefahr verrieth, in der er sich befand.

»Du, Kahle«, sagte Einer der dort Stehenden, »der kann hier gar nich
'nein sin, sonst werd' er ja doch nicht in den Diarndern stecken bleiben
-- der is widder in's Hulz zurück, un mer stehn hier umsunst, un han
Maulaffen feel.«

»Schweig still,« brummte der Andere dagegen mit unwilliger, aber leiser
und unterdrückter Stimme, -- »in den Graben is er nein, un wär't Ihr mir
gefulgt, so hätten mer'n jetzt; nu aber kennen mer de halbe Nacht
hier schtehn, un erwischen en doch nich. Na, Fritze muß gleich mit den
Angeren kummen, un nachher laassen mer den Hund nein -- _der_ find't
en!«

»Wenn er aber nu drüben 'nausfährt?« frug die andere Stimme besorgt.

»Haste keene Angst nich,« sagte Kahle mit leisem, heiserem Lachen,
»davor is gesurgt, 'raus kommt er hier nich, wenn er nich beim Paster
nein fährt, und da is de Thire verschlossen. Doch bis jetzt ruhig -- 's
is wohl noch hälle, in den Bischern drinn kennte er aber doch so nahe
'ran kriechen, daß er Eenen heren kennte, und nachens wärsch Essig.«

Der Flüchtling lag zitternd unter die Hecke gedrückt, und schaute
verzweifelnd nach einem Ausweg auf Rettung umher. Kam die gedrohte
Verstärkung mit dem Hunde, so war er verloren, und hier, von allen
Seiten umstellt, -- es blieb ihm kein anderer Ausweg, als die Pfarre,
dort hinein mußte er.

Ein dichter Holunderbusch, der schon fast vollständig seine Blätter
getrieben hatte, machte es ihm möglich, unentdeckt wieder die Mitte
des Gartens zu gewinnen, und von hier aus kroch er in einer Vertiefung,
einer Art trockenem Graben, der dazu diente, das an der Hausthür
ausgegossene schmutzige Wasser, wie auch den vom Dache niederträufenden
Regen in die Schlucht hinab zu führen, bis dicht zum Haus hinan.
Vorsichtig hob er sich empor und ergriff die Klinke. -- Die Dämmerung
wurde glücklicher Weise immer dichter, und gerade dieser Theil des
Hauses lag in tiefem Schatten. -- Aber wehe. -- Die Thür war wirklich
verschlossen, und den Berg herauf -- er horchte mit klopfendem Herzen
den nahenden Tönen -- kamen Menschen, und Hundegebell tönte dazwischen.

»Tod und Teufel!« murmelte er vor sich hin, »und so unbewaffnet
diesen Bauerlümmeln in die Hände zu fallen -- versuche ich's aber
durchzubrechen nach dem Walde hin, so schießen sie mir wie einem tollen
Hunde auf den Leib, -- trag' ich denn nicht selbst jetzt die Schrote
von dem Schuft in der Haut, und hat nicht nachher schon wieder Einer der
blutdürstigen Hallunken auf mich angelegt? Und geradezu herausgehen und
mich ergeben? -- das wäre ein verdammt gewagtes Ding -- weiß der Böse,
wie auch all' die Sachen so ganz auf einmal gegen mich aufgetaucht
sind. Ja, wäre mit dem Volke hier etwas zu machen, da ließe sich der
Geschichte leicht eine andere Wendung --«

Er erschrak, denn dicht neben ihm wurden inwendig im Pastorshause
Schritte laut, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und Wahlert behielt
nur noch eben genug Zeit, hinter ein paar, dort gerade neben der Thür
lehnende Breter zu treten, als sich diese öffnete, und die Magd mit
einem großen Kübel voll Wasser heraustrat, etwa zwanzig Schritte weit
nach dem Graben zu ging, in welchem er eben heraufgekrochen, und das
Wasser dort hinein ausgoß. Eine solche Gelegenheit kam nicht wieder,
Wahlert glitt unter den Bretern hin, in's Haus hinein, und die
knarrenden Stufen hinauf in den ersten Stock. Hier sah er noch eine
kleine Treppe, über deren dritter Stufe ebenfalls eine kleine Thür
befindlich war -- jedenfalls ging die auf den Boden, sie war auf, und er
sprang hinein.

»Alle Wetter,« murmelte er aber, und prallte daraus zurück -- »das ist
ja ein Zimmer --« durch den matten Lichtstrahl, der noch durch's Fenster
fiel, konnte er den weißen Ueberzug eines Bettes und über den einen
Stuhl hängende Frauenkleider erkennen.

Er wollte das Gemach rasch wieder schließen, und sein Heil wo anders
suchen, da hörte er auf der Treppe Schritte, der Strahl eines Lichtes
fiel herauf, und es blieb ihm nun gar keine andere Wahl, als geradezu
wieder zurück zu springen, und die Thüre hinter sich zu zu ziehen;
er mußte auf günstigeren Zeitpunkt warten, ein sichereres Versteck zu
suchen.

Es war die Magd, die mit einem großen Kübel Wasser in den Händen, und
das Licht in den einen Finger geklemmt, die Treppe langsam heraufstieg.
Vor der Kammer, in welcher Wahlert stak, blieb sie stehen, hob den Kübel
auf die Stufen, schob ihn dicht an die Thür, stellte das Licht daneben,
und ging dann wieder hinunter, noch mehr Apparate zu ihrem Scheuerfeste
zu holen.

Wahlert versuchte jetzt, die Thür wieder zu öffnen, um über den Gang
hinüber wo möglich die Bodentreppe auszuspähen, aber -- fest und
unweichbar stand das schwere Wassergefäß davor, nicht einmal einen Zoll
breit konnte er seinen Kerker lüften, und sollte er Gewalt brauchen?
-- Das ging auch nicht, dann warf er den bis zum Rand gefüllten
Kübel gerade zu die Stufen hinab, und das Gepolter, und die in's Haus
niederströmende Flut mußte ihm die Verfolger auf den Hals hetzen. Er
behielt aber auch nicht einmal lange Zeit zum Ueberlegen, das Mädchen
kam bald wieder zurück, und blieb nun oben auf dem Gange, den sie gleich
darauf mit Scheuerbesen und Tüchern wacker in Angriff nahm.

Wie sollte das enden, wer wohnte überhaupt in dem Zimmer? Wahlert warf
sich, den Kopf sinnend in die hohle Hand gestützt, auf einen der ihm
nächsten Stühle, und überdachte seine Lage -- die Möglichkeit seines
Entkommens, -- bedachte die Gefahr, der er ausgesetzt war, wenn er
wirklich gerade jetzt, wo noch den Gerichten, wenigstens hier im
Lande, nicht alle Macht genommen worden, in ihre Hände fiele. Auch die
Erlebnisse ging er in seinem stillen Brüten durch.

Den, nach ihm ausgesandten Häschern glücklich entgangen, stand ihm jetzt
die Welt offen -- er konnte fliehen, konnte vielleicht die französische
Grenze erreichen -- aber was sollte er nachher dort? -- Womit seine
Existenz sichern, was überhaupt dort wirken, schaffen, nützen? -- Nein,
hier in Deutschland lag sein Ziel -- Deutschland forderte von ihm seine
Thätigkeit.

Das alte System, was sich lange Jahre hindurch, den Völkern zum Trotz
und Hohn auf ihrem Nacken behauptet, war durch die jetzige Revolution
nicht gestürzt, nein, nur kaum erst erschüttert worden, und nun galt es,
daß die Männer der Freiheit Hand an's Werk legten, das schmachvolle
Joch gänzlich darnieder zu schmettern und den neuen Tempel der
Volkssouveränetät in herrlicher Schöne aus seinen Trümmern emporsteigen
zu lassen. Und war _er_ nicht vor tausend Anderen der Mann, der im
heiligen Kampf vorangehen mußte, den Unschlüssigen? War ihm nicht die
Gabe der Rede verliehen? Hatte er nicht seit dem 18. März schon zweimal
das Volk zu wildem stürmischen Enthusiasmus erregt, und war es beide
Male etwa nicht den »Bayonetten« gelungen, die überreif aufschwellende
Knospe der Freiheit zurück zu halten und zu bewältigen? Fluch der alten
Disciplin, die dem Soldaten noch wie Blei in den Gliedern lag, und ihn
nicht wollte begreifen lassen, wie auch er ja nur eines Bürgers Sohn
selbst wieder zum Bürger würde, wenn er den Rock auszöge, der ihm im
Kampfe gegen seine Brüder nicht mehr ehre, sondern schände.

Der Zeitpunkt war jetzt erschienen, wo die letzte Hand an das große Werk
gelegt werden mußte, wenn es nicht -- wie das Jahr 1830 geschehen
war, als ein bloßes Possenspiel endigen sollte -- der Zeitpunkt war
erschienen, wo es galt, das ganze ungeheure Gewicht der Volksherrschaft
den Privilegien der Fürsten und des Adels gegenüber in die Schaale zu
werfen, und Fluch dem _knechtischen_ Volke dann, wenn es nicht _mit_ ihm
jubelte, daß der Schrei -- ein Todesröcheln der Tyrannei -- durch alle
deutschen Gauen drang -- »es lebe die deutsche Republik!«

Doch hier mußte er erst einen Halt unter dem Volke gewinnen, die Masse
war noch zu roh, und ein energisches Auftreten von ihrer Seite, ohne
vorherige wirkliche Veranlassung kaum zu hoffen -- was konnte aber von
_hier_ aus auch geschehen, sie zu begeistern? -- Gar Nichts, in
die Residenz zurück mußte er vor allen Dingen, die Katastrophe des
gewaltigen Werkes selber mit zu leiten, und nur ein Mann lebte hier im
Orte, der ihm dazu behülflich sein konnte -- der Doctor Levi, ein
alter Bekannter von ihm, und ein Charakter, der ihm zum Werkzeug dienen
konnte, seine _edleren_ Pläne auszuführen. -- Wie aber war er im
Stande, dessen Haus erstlich heraus zu bekommen, und wenn das wirklich
geschehen, es unentdeckt zu erreichen? -- Wo wohnte der Doctor, und
befand er sich gegenwärtig wirklich in Horneck? -- Tod und Teufel! --
der Gedanke war Wermuth und Galle in die kühne Seele dessen, der sich
hier für die Freiheit eben des Volkes aufopferte, das ihn wie einen
Verbrecher verfolgte, wo er sich nur öffentlich zeigte, mit Kerker und
Eisen bedrohte, und wie auf ein wildes reißendes Thier nach ihm schoß.
Aber fort mit dem Gedanken, das Volk war nicht schlecht, nur ein
Schleier lag noch vor seinen Augen, und mit der Bürgerkrone würde es
den bald lohnen, der ihm die Sehkraft wieder gab, und die Waffe in die
riesenhafte Rechte drückte.

In wilden, wechselnden Bildern zuckten ihm die Gedanken und Pläne rasch
und bunt durch das Hirn, bald aber wurde er wieder, und auf eben nicht
tröstliche Weise zur trüben, trostlosen Gegenwart zurückgerissen. Das
Mädchen draußen auf dem Gange rückte ihr Scheuerfaß und er fuhr rasch
und lauschend von seinem Stuhl empor -- noch aber hatte er Nichts zu
fürchten -- sie war nur zu einem andern Platz gegangen, und begann hier
gleich wieder von Neuem.

»Wenn ich nur das Haus dieses Doctor Levi wüßte,« murmelte der Gefangene
für sich hin, »was für Folgen aber selbst die einfachste, an einen
fremden Menschen gerichtete Frage für mich haben kann, ist mir heute
bewiesen worden. -- Wie das eine liebe Kind erschrak -- -- daß der
Teufel den Jäger hole.« Vorsichtig ließ er sich wieder auf den eben
verlassenen Stuhl nieder, und fuhr eben so leise fort -- »ich hätte
mir's übrigens denken können, daß so schüchterne Dinger Zeter schreien
würden, wenn ihnen ein solches dornzerrissenes wild aussehendes Subjekt
wie ich jetzt bin, vor die Augen träte; -- ich bin, beim Himmel, in
einer verzweifelten Lage.«

Ein neues Geräusch vor der Thür mahnte ihn, auf seiner Hut zu sein --
der Kübel wurde bewegt. -- Er legte das Ohr an das Schlüsselloch -- Gott
sei Dank, endlich nahm die verwünschte Magd den Kübel von der Thür und
trug ihn -- ja, sie ging damit fort, er konnte es deutlich an ihrem
Gange hören -- den Corridor hinunter. Jetzt war ihm auch die Möglichkeit
gegeben, diesen gefährlichen Aufenthaltsort zu verlassen, wo er jeden
Augenblick entdeckt werden konnte. Nur so lange mußte er warten, bis
draußen die verschiedenen Ingredienzien fort und, allem Vermuthen nach,
in eine der entfernteren Stuben transportirt waren.

Aber auch draußen vor dem Fenster wurde es laut -- das mußten seine
Verfolger sein -- ob er es wagte, sich dorthin zu schleichen? -- ei,
wenn er leise ging, konnte ihn unten, falls wirklich Jemand darunter
wohnte, doch Niemand hören: auf den Zehen schlich er deshalb bis an das
Fenster und schaute aus der dunkeln Stube heraus vorsichtig hinter den
Gardinen vor in den Hof hinab, wo, wie er noch recht deutlich erkennen
konnte, eine Anzahl von Männern versammelt stand und eifrig mit einander
sprachen. Um aber zu hören, über was sie sich unterhielten, hätte er das
Fenster öffnen müssen, und das durfte er nicht wagen. Er preßte das Ohr
an die Scheibe, aber nur unverständliche Sylben waren es, die zu ihm
herauf tönten. Er suchte die Gestalten zu erkennen -- Einige trugen
Flinten oder Stöcke, er vermochte nicht deutlich zu sehen was --
wahrscheinlich das erstere -- man deutete auf die Pfarrwohnung -- er
konnte der Versuchung nicht länger widerstehen, leise, leise schob
er den vorgedrehten Fensterriegel zurück und suchte nun den Flügel so
geräuschlos als nur möglich zu öffnen; glücklicher Weise knarrte
das Holz auch nicht im mindesten; alt und vom Zahn der Zeit schon
angegriffen, bewegte es sich weich und ohne Laut aus seinen Fugen und
es gelang ihm, das Fenster gerade genug zu öffnen, um Alles zu hören und
doch von unten aus nicht gesehen zu werden.

Da wurden plötzlich Stimmen auf dem Vorsaal laut -- eine Hand lag auf
der Klinke -- Wahlert's Herz schlug wie ein Hammerwerk in der Brust,
nicht einmal Zeit blieb ihm, das Fenster wieder zu schließen, nur
eindrücken konnte er es und dann zurück in die dunkle Ecke neben die
Gardinen springen, als sich die Thüre öffnete und eine weibliche Gestalt
eintrat. Sie blieb aber auf der Schwelle stehen, legte Hut und Mantel
ab, und wollte eben wieder zurücktreten, als der Luftzug auf's Neue den
Flügel aufstieß und sie sich rasch danach umwandte.

»Ueber die Mädchen,« murmelte sie, als sie die Thür hinter sich schloß
und der Stelle, wo Wahlert fest in dem engen Winkel geschmiegt stand,
zuschritt, »ausdrücklich habe ich hier noch heute Morgen gesagt, mein
Fenster ja fest zuzumachen, aber Gott bewahre, da ist doch eine wie die
-- _ha!_«

Ein laut gellender Schrei des Entsetzens entfuhr ihren Lippen, denn
während sie mit der Linken das Fenster schloß, wollte sie mit der
Rechten die vorgefallene Gardine zurückschieben, und ihre Hand kam
dabei mit der hier versteckten Gestalt des Flüchtlings, die dabei
unwillkürlich zusammenzuckte, in Berührung.

»Um Gotteswillen, mein Fräulein, verrathen Sie mich nicht,« rief aber
Wahlert, der bei dem helleren Lichte des Fensters das Antlitz der jungen
Dame erkannt hatte, und nun wohl vermuthen konnte, wen er vor sich
hatte, schnell entschlossen -- »ein Wort von ihren Lippen und ich bin
ein Kind des Todes!«

»Härr Jäses, Frälen, was geiht's denn do?« rief die Magd in dem
Augenblicke draußen auf dem Gange, und kam rasch herbeigeschlurrt --
»was hewe Se denn?«

»Ihretwegen bin ich hier und _Sie_ wollen mich dem Henker überliefern?«
flüsterte noch einmal der Entdeckte -- »mein Leben liegt in Ihrer Hand.«

Sophie sammelte sich mit krampfhafter Anstrengung und schritt auf die
Thüre zu, in der jetzt eben die Magd, glücklicher Weise ohne Licht,
erschien.

»Ich habe Dich doch gebeten, das Fenster nicht aufzulassen,« sagte sie,
ihr entgegentretend.

»Aber Frälen, ich hob' es weeß der Himmel zugadriaht -- was hatten Se
denn nuar?«

»Das Fenster stand auf, und wie ich es schließen wollte, stieß ich mich
in's Auge -- es that weh -- ich habe wohl geschrien?«

»Als wenn Se am Spieße stiaken,« lachte das Mädchen, »Härr Jeses, ich
dachte der Deibel wär' lus -- wullen Se Licht hawe?«

»Nein, ich danke Dir, ich komme gleich hinunter; essen sie schon?«

»Se sitzen gerade drim herim, der Härr Pastor is aber noch nich heeme.«

Und das Mädchen nahm ihren Eimer, klappte damit die Treppe hinunter und
öffnete die Thüre wieder, um ihn auszugießen.

»Was war denn im Hause?« frug in dem Augenblicke unten vor der Thüre
eine Stimme die heraustretende Magd -- »wer schrie denn so -- ist der
Kerl etwa drinn?«

»Megte wissen wie,« lachte das Mädchen, »unser Frälen hat sich blos
an'en Kopp geschtußen -- na is die schreckhaft -- wenn iche jedesmal
kreischen wullte, wo ich wo anrenne, nachen's hätt' ich Arbet.«

Sophie, die oben mit klopfendem Herzen in der Thüre stand und den Worten
lauschte, konnte nichts weiter verstehen, denn die Redenden traten mehr
vor das Haus und gleich darauf wurde auch das Thor wieder geschlossen.
Sie drückte ihre eigene Thüre in's Schloß, schob den kleinen Riegel vor,
that ein paar Schritte gegen das Fenster und sagte hier mit leiser, aber
vor innerer Angst zitternder Stimme:

»Was um Gotteswillen hat Sie unglücklicher Mann in dies Haus getrieben
-- wie kamen Sie in dies Zimmer, und wer hat sie hereingelassen?«

»Der Zufall und mein gutes Glück ließen mich, unbemerkt von Anderen,
die rechte Thüre treffen,« sagte jetzt Wahlert, und trat, durch das
Gefährliche seiner Lage gezwungen, eine Nothlüge zu machen, leise auf
sie zu -- »aber Sie, mein Fräulein, Sie allein waren die Ursache, die
mich hierher geführt.«

»Ich? -- wie um Gottes Willen -- ich?«

»Gehetzt wie ein wildes Thier,« fuhr der Flüchtling mit leiser aber
bitterer Stimme fort, »bin ich seit heute Morgen durch Wald und Forst
gestreift, und weshalb -- weil ich ein freies Wort gesprochen, weil ich
dem Volke Glück und Freiheit geben wollte, und nicht darauf achtete,
ob ich dabei die Großen der Erde erzürnte. Aus jahrelangem Schlaf ist
Deutschland erwacht, die Fesseln der Tyrannei wirft es fort, und wären
wir ein einziges Volk, jetzt, jetzt blühte die Zeit, wo wir mit _einer_
Kraftanstrengung die Nacken heben, das Joch brechen könnten, aber
während sich in dem einen Staate, in der einen Stadt das Volk in keckem
Todesmuthe den Bayonetten entgegenwirft, sieht das Nachbarländchen
müßig zu, und wartet, bis auch an seine Grenze die Reihe kommt, und die
Fürstenknechte erst in dem einen Gebiete gesiegt haben, um nun auch in
dem anderen, falls es dann noch Lust verspüren sollte, sich wirklich
zu erheben, die Bande fester schürzen, die Knechtschaft unzerreißbarer
machen zu können. Ihr dann, die Ihr der Gewalt kühn die Stirne bietet,
werdet verfolgt, gefangen, und hält Euch erst einmal der Kerker
umschlossen, o Ihr Armen, dann, wehe, wehe Euch, Ihr seht das Licht
nicht wieder.«

»Aber mein Herr --«

»Verzeihung, Fräulein -- ich dachte an Deutschland -- nicht an mich --
so hören Sie denn. -- In eine fremde Gegend hierher geschleudert, wo mir
Weg und Steg fremd war, wußte ich nicht, an wen ich mich, von Verfolgern
umgeben, wenden könne, um die nächste Richtung nach der Grenze zu
erfahren -- jeder Mann, den ich anredete, konnte ein Feind sein. Da sah
ich von meinem Versteck aus Sie vorübergehen -- Ihr holdes Angesicht,
in dem kein Falsch lag, kein Verrath lauerte, gab mir Muth, ich trat
auf Sie zu, wollte mit wenigen Worten ihre Furcht über meinen Anblick
beschwichtigen, das Wort der Bitte dann an Sie richten, da -- ein
sicherer Schütze war es, der das Blei nach mir sandte -- doch vielleicht
war es gut -- es kürzt meine Leiden ab.«

»Großer Gott -- Sie sind verwundet?« rief Sophie rasch und erschreckt.

»Lassen Sie das --« sagte Wahlert mit leiser Stimme und ein Gedanke
an Rettung zuckte ihm durch das Hirn -- »mein Halstuch hat die Blutung
gestillt und ich finde vielleicht morgen Jemanden, der mir die Kugel
aus der Wunde zieht -- ich wollte -- ich wollte nur nicht der Gefahr
ausgesetzt sein, vielleicht -- vielleicht an Blutverlust im Walde liegen
zu bleiben -- ohne vorher wenigstens bei Ihnen rein dazustehen --
die andere Dame schien mich für einen Räuber zu halten, der hülflose
Frauen --«

»Heiland der Welt,« bat Sophie in Todesangst -- »wie können Sie glauben
-- ich war -- ich wußte --«

»Sophie!« rief in dem Augenblicke eine Stimme von der Treppe herauf --
»Sophie!«

Die Jungfrau eilte zitternden Schrittes zur Thüre, öffnete diese und
antwortete:

»Ja Mutter -- ich komme gleich.« --

»Nein, Kind, machst Du lange,« sagte die Stimme unten, »die Suppe wird
ja ganz kalt -- der Vater ist auch eben gekommen.«

»Ich komme den Augenblick, Mutter!«

Die Thüre unten ging wieder zu.

»Sie müssen fort -- gleich fort,« wandte sich jetzt das arme Mädchen
in Todesangst an den Fremden, »aber wohin wollen Sie fliehen, wohin
_können_ Sie, verwundet und ohne Beistand.«

»Wenn ein Wundarzt hier im Orte wäre, dem ich mich anvertrauen dürfte,«
flüsterte der Flüchtling, »es soll hier ein Doctor Levi in Horneck
wohnen.«

»Das war ein glücklicher Gedanke,« rief schnell Sophie, »auch ist
der seiner radicalen Gesinnungen wegen bekannt, und wird Sie nicht
verrathen!«

»Aber wie find' ich sein Haus -- wie verlass' ich diesen Ort, ich bin
ja wie ein Wolf, wie ein gehetztes Thier des Waldes umstellt -- doch was
thut's -- was schadet es, hab' ich mich doch jetzt wenigstens in _Ihren_
Augen gerechtfertigt -- halten _Sie_ mich doch nicht mehr für schlecht
-- was kümmert mich's da, wie die Welt von mir denkt, was die Welt jetzt
mit mir thut.«

»Bleiben Sie jetzt noch hier oben, bis wir gegessen haben,« sagte Sophie
rasch und entschlossen, »ich werde Gelegenheit finden, dem Doctor ein
paar Zeilen zu schreiben, später soll er Sie abholen; mit Hülfe von
meines Vaters Hut und Mantel wird das möglich sein. Wenn auch Wachen
ausstehen, kann man Sie nicht in _der_ Kleidung vermuthen. -- Heiliger
Gott, mein Vater kommt -- wenn er hier einträte. --«

Der schwere Schritt des Pastors wurde auf den knarrenden Stiegen laut --
im nächsten Augenblicke klopfte er an der Tochter Zimmer.

»Sophie,« sagte er dabei, »mach' rasch, daß du hinunter kommst. Die
Mutter wartet und wird schon ganz ungeduldig -- aber -- wie ist mir denn
-- hier -- hier ist ja gescheuert -- ich will doch nicht hoffen« -- er
eilte schnellen Schrittes nach seiner weit offen stehenden Stube hinter,
und die laut zürnende Stimme verrieth bald, _was_ er dort gefunden haben
mußte.

»Nein da hört Alles auf -- Sophie -- Frau -- nun das hat mir noch
gefehlt -- Sophie -- wo ist das Mädchen, Christel, Rose oder Grete, wie
heißt sie denn nur eigentlich -- Christel.«

»Halten Sie sich ruhig -- ich hole Sie bald ab,« flüsterte Sophie, schob
den Riegel zurück und glitt rasch aus dem Zimmer, das sie hinter sich
wieder verschloß.

»Aber Mütterchen, was giebt es denn nur?«

»Wer hat dem unglückseligen Geschöpf von einem Mädchen gesagt, daß es
meine Stube scheuern soll?« frug hier der gestrenge Herr Pastor und
stand, mit dem Lichte in der Hand, dem Hut auf dem Kopfe und den Mantel
noch umgehangen, auf der Schwelle seiner Stube -- »wer hat der Liese
oder Christel oder Grethe, wie sie heißt, aufgetragen, mich hier mit
meinen Papieren unter Wasser zu setzen?«

»Ih Du meine Güte, was giebt es denn da oben nur eigentlich, warum kommt
Ihr denn heute gar nicht zum Essen?« frug die Frau Pastorin, und ihr
Kopf erschien eben hoch genug, um durch das hölzerne Treppengitter
hin den Gang entlang sehen zu können. »Was hast Du denn, Scheidler? Du
machst ja einen entsetzlichen Spektakel?«

»Wer hat meine Stube scheuern lassen!« frug der Pastor hiergegen in
lakonischer Kürze -- »wer war der Unglückliche.«

»Deine Stube?« rief die Frau Pastorin erschreckt und kam rasch die
Treppe ganz herauf -- »ei Du lieber Gott, wenn man seine Augen doch auch
nicht allerwegen hat -- Rieke -- Rieke -- wo nur das Wettermädel wieder
steckt -- Sophie, ruf mir doch einmal die Rieke herauf, sie soll den
Augenblick herkommen.« Und mit den Worten nahm sie ihrem Gatten das
Licht aus der Hand, und hob dieses, die Stube betretend, aus der ihr ein
feuchter warmer Dunst entgegenquoll, hoch empor.

Allerdings hatte aber auch der Pastor Ursache, erzürnt zu sein, und
er wurde es erst noch, als er den vollen Umfang der angerichteten
Verwirrung vollkommen überschauen konnte.

Die ganze Stube war gescheuert, aber nicht allein die Stube, sondern
auch alles Holzwerk, es mochte nun Wasser vertragen oder nicht. Die
Bücherbreter standen abgeräumt und naß, und auf den Stühlen, auf
dem Ofen, auf Bett und Sopha lagen die Bücher, sorgfältig aber wild
zusammengeschichtet über einander. Ja selbst der einfache Schreibtisch
war der Scheuerwüthigen nicht entgangen, die Papiere, deren sie
doch allein Anschein nach nicht sämmtlich Herr werden konnte, staken
rücksichtslos in die oberen Fächer hineingestopft, oder flogen jetzt,
da in diesem Augenblicke das Mädchen gerade unten mit einer neuen Tracht
Wasser in's Haus kam, durch den Zug der geöffneten Thüre getrieben, von
Bett und Sopha aus zerstreut in der nassen Stube herum. Kein Blatt, kein
Buch, kein Stuhl lag oder stand an seinem alten gewohnten Platze, und
der Raum glich eher jedem andern Zimmer, als dem stillen Studierstübchen
eines fleißigen Pastors am Sonnabend Abend, wo er sich erst recht
sorgsam auf die morgen zu haltende Rede vorbereiten sollte.

Der Pastor schritt rasch auf seinen Schreibtisch zu, sah sich hier
mit ängstlich forschenden Blicken überall um, und wandte sich dann in
stummer sprachloser Verzweiflung gegen die Thüre, wo eben die zankende
Stimme seiner Frau laut und das bestürzte dummverdutzte rothbreite
Antlitz der Magd sichtbar wurde.

»Wo hat Sie die Papiere hingethan, die auf meinem Schreibtische lagen,
Christel? -- rede Sie, Sie unglückseliges Geschöpf!«

Die Magd sah, nicht wissend ob sie oder Jemand anderes mit dem
»Christel« gemeint sei, ängstlich von Einem zum Anderen, erwiederte aber
gar Nichts --

»Rieke heißt sie,« fiel die Frau Pastorin, gegen ihren Eheherrn gewandt,
ein, »wo hast Du die Papiere hingethan, Rieke, und wer hat Dir überhaupt
gesagt, daß Du hier im Zimmer scheuern solltest?«

»Härr Jeses,« klagte das Mädchen, »das muß mer nur wissen, aber de
Schtube sach so erschrecklich aus, un _der_ Schnupptaback drinne, un
_die_ Flecken un _die_ Papierschnitzeln --«

»Wo _sind_ die Papierschnitzeln, Grethe« -- rief jetzt der Pastor,
immer mehr sich ereifernd und vergebens bemüht, den Namen des heute
erst angezogenen Mädchens zu behalten, »wer hat Ihr gesagt, daß Sie Ihre
Fäuste an meine Papiere legen soll.«

»Nu, wo sollen se sin,« brummte die Magd, »ufgereimt han ich se, das
versteht sich doch? -- Die sin Se los -- de großen Stücken han ich
in den Korb da gästeckt, wu schonst mehr Papier dringe stock, und die
kleenen Schnitzelchen liegen im Ofen -- ich han's Feier mit angemacht,
daß es schnell dreige wären sülle.«

Der Pastor fuhr erschreckt nach dem Ofen, aber das Gräßliche war
wirklich schon geschehen, es glimmte dort von dünnen Holzscheiten
genährt ein kleines gemüthliches Feuer, und die leichte graue
Papierasche, die ihm entgegenflog, bestätigte jedes Wort, was das
Mädchen gesprochen.

»Die großen Stücken in den Papierkorb, und die Schnitzelchen in den
Ofen,« stöhnte der Pastor und faltete die Hände, »meine kostbaren Citate
und Bibelstellen, nach großen und kleinen Papierschnitzeln sortirt --
Herr vergieb mir meine Sünde, aber bei dieser Gelegenheit möchte ein
frommer Christ doch wahrhaftig aus der Haut fahren -- Miene, Miene, Sie
hat mir hier einen Streich gespielt, den ich Ihr im Leben nicht vergesse
-- und meine Predigt -- entsetzliche Person, meine Predigt; wenn Sie die
auch verbrannt hat, muß Sie mir wahrhaftig morgen, am Tage des Herrn,
wieder aus dem Hause.«

Der Pastor konnte schwer überredet werden, sein Suchen vor der Hand
aufzugeben, und erst zum Essen hinunter zu kommen, das verlassen und
einsam auf dem Tische stand. Glücklicher Weise fand er wenigstens den
größten Theil des Vermißten wieder, und die _weitere_ Nachforschung bis
nach dem Abendessen verschiebend, hing er Hut und Mantel, da in seiner
eigenen Stube kein Zoll breit Raum mehr war, auch nur einen Handschuh
abzulegen, draußen vor der Thür auf einen Stuhl von wo sie Sophie, als
die Eltern vor ihr her die Treppe hinunter gingen, rasch wegnahm,
in ihre Stube legte, die Thüre wieder verschloß, und dann, um keinen
weitern Verdacht zu erregen, mit zu Tische ging.

Das Abendgespräch bildete natürlich zuerst das eben angerichtete
Scheuerunglück und dann der Entflohene, von dem der Pastor gehört, wie
auch, daß er seine eigene Tochter angefallen habe. Diese Anklage des
»Unglücklichen« wies aber Sophie bestimmt ab; der Mann sei, wie
sie sagte, gerade auf sie zu aus dem Walde getreten, und habe sie
wahrscheinlich um etwas bitten wollen, als Anna Schütte, einen wilden
Angstschrei ausstoßend, davon gelaufen sei; der dazu kommende Jäger aber
wäre jedenfalls viel zu voreilig gewesen, gleich auf einen Menschen zu
schießen, von dem er noch nicht einmal wissen konnte, ob er schuldig
oder unschuldig sei.

Dagegen eiferte der Pastor, nannte den Entsprungenen einen »Wühler« und
»sehr gefährlichen Menschen«, der sich aber auch sonst noch habe viel
Schlechtes zu Schulden kommen lassen und schloß mit dem herzlichen
Wunsche, daß er seinem Schicksale nicht entgehen und wieder eingefangen
werden möge, ehe er etwa gar mehr Unheil anrichte, und andere Menschen
in's Verderben führe.

Sophie war von den Erlebnissen des Tages aufgeregt und erschöpft --
klagte über heftige Kopfschmerzen und Herzklopfen, und bat die Mutter,
Friederiken noch einmal nach dem Doctor hinein schicken zu dürfen, daß
er ihr ein Fläschchen von den Tropfen schicke, die ihr früher so gut
gethan.

»Ich möchte dem Mädchen aber wohl den Namen aufschreiben,« sagte sie,
als sie aufstand, es zu bestellen -- »wer weiß, was sie mir sonst
ausrichtet.«

»Gewiß, gewiß,« rief der Vater schnell, und zündete sich das Licht
wieder an, um die unselige Verwirrung seiner Papiere, so weit das
überhaupt noch möglich war, zu heben -- »und schreib's ihr ausführlich
auf, _der_ ist Alles zuzutrauen; unsere Anna Marie, die heute abzog,
hatte das Pulver auch nicht erfunden, aber so dumm, wie diese Hanne,
war sie denn doch wahrhaftig nicht -- daß sie mir nur nicht wieder über
meine Schwelle kommt, so viel sag' ich Euch.«

Und damit verließ er das Gemach und stieg langsam in sein Studierzimmer
hinauf.

Eine Viertelstunde später ging das Mädchen in das Dorf zum Doctor,
der eben aus der Schenke heim gekommen war. Von diesem erhielt sie ein
kleines Fläschchen, das sie auch glücklich zerbrach, ehe sie hundert
Schritte weit gegangen war. Unverdrossen kehrte sie aber wieder um, ließ
sich dasselbe noch einmal geben, und brachte es diesmal auch wirklich
bis vor die Pfarre, wo es jedoch das Schicksal des ersten theilte. Noch
einmal umkehren ging nicht an -- der Wächter im Dorfe tutete eben zehn,
und mit thränenden Augen und Todesangst ging sie zum »Frölen« hinein und
klagte ihr Unglück.

Es schadete Nichts, die Kopfschmerzen hatten nachgelassen, aber
warum ging das »Frölen« nur nicht zu Bette -- da wurde bei Rieken der
Kopfschmerz immer gleich wieder gut. -- Sophie wollte noch ein Bischen
auf dem Sopha sitzen bleiben, die Pferdehaarkissen kühlten ihre Schläfe
und thaten ihr wohl. --

»Nu Härr Jeses, do nähm ich mer doch was mit ze Bette,« meinte die Magd.

»Es ist schon gut, Rieke, geh' nur, ich komme auch gleich nach,« sagte
des Pastors zitterndes Töchterlein, und barg die fieberglühende Stirn an
dem kühlen Polster.

Halb elf Uhr war's und in der Pfarre wachten noch drei Menschen. Der
Eine saß zwischen wüsten Bücher- und Papierhaufen, die zu ordnen er
an diesem Abende in Verzweiflung aufgegeben, und studierte, von der
Außenwelt ganz abgeschlossen, an seiner morgenden, wenigstens
stückweis geretteten Predigt. Der Andere stand, die heiße Stirn an die
Fensterscheibe gepreßt, oben in der Jungfrau lauschigem Gemach, und
zählte in peinlicher Ungeduld die Viertelstunden, wie sie der düstere,
links über den Kirchhof hervorragende Thurm langsam und schläfrig zu ihm
herüber wimmerte -- schaute zu den Wolken auf, die rasch und geisterhaft
an den funkelnden Sternbildern vorüber glitten, und horchte mit
klopfendem Herzen dem leisesten Geräusch, das aus Garten oder Hofraum zu
ihm herauf tönte.

Der Dritte aber, die scheue, angstdurchschauerte bebende Jungfrau,
stand, die Hände krampfhaft auf den furchtsam wogenden Busen gefaltet,
im kalten Zuge der Hausflur, und harrte in athemloser Erwartung des
verlangten Zeichens.

Endlich -- endlich wurden draußen leise, vorsichtige Schritte hörbar --
dreimal klopfte es an -- tick, tick, tick -- tick, tick, tick -- tick,
tick, tick, und leise aber ohne Zögern erwiederte sie die Parole.

Kein Wort wurde gesprochen, rasch nur glitt sie die Treppe hinauf und
kehrte nach wenigen Secunden mit einer in einen Mantel gehüllten, den
Hut tief in die Augen gedrückten Gestalt wieder zurück.

»Hier, nehmen Sie, und Gott sei mit Ihnen,« flüsterte sie leise, und
drückte dem Flüchtenden die kleine Börse, all' ihr Erspartes, in die
Hand.

»Sophie,« sagte Wahlert, und eine eigene Rührung überkam sein sonst
sanften Regungen nicht leicht zugängliches Herz -- »ich weiß nicht --
darf ich --«

»Nehmen Sie, die Augenblicke sind kostbar -- es ist nur ein Darlehn, das
sie mir in glücklicher Zeit zurückerstatten können.«

»Du mitleidsvoller Engel, aber nicht kränken will ich Dich jetzt durch
kalte Weigerung -- Dank -- Dank, tausend Dank und -- Lebewohl --«

Leise umfaßte sein Arm die zitternde willenlose Gestalt -- er zog sie
an sich und ein langer, glühender Kuß brannte auf den bleichen, kalten,
unentweihten Lippen der Jungfrau.

Leise entzog sie sich endlich seiner Umarmung.

»Fort -- fort --« flüsterte sie -- »an jeden Augenblicke kann sich das
Verderben hängen.«

Rasch, doch geräuschlos schob sie den schweren Riegel zurück -- auch das
Schloß wich, und ächzend öffnete sich die Thür -- aber der Pastor oben
vernahm nicht den Laut, der zu jeder Zeit seine ganze Aufmerksamkeit in
Anspruch genommen hätte, tiefbrütend saß er über der schwülstigen Rede,
die morgen in vernichtender Kraft von der Kanzel hernieder donnern
sollte, und durch den Garten draußen, an der Hecke hin, den schmalen
Pfad hinunter auf dem breiten Weg, der in's Dorf führte, und in dieses
hinein, bis zu dem kleinen niedrigen, von breitästigen Kastanien
beschatteten Häuschen des Doctors schritten rasch und wortlos zwei
Männer und verschwanden bald in die, sich augenblicklich wieder hinter
ihnen schließende Thür.

In ihrem Kämmerchen aber, das holde thränenfeuchte Angesicht fest,
fest in die Kissen hineingeschmiegt, und die Brust nur von dem einen
Gedanken, dem einen Bewußtsein tiefen unsäglichen Schmerzes erfüllt, lag
die Jungfrau und weinte -- weinte, als ob ihr von diesem Augenblicke an
alle und jede Freude auf der weiten schönen Gotteswelt abgestorben und
gebrochen wäre.



Achtes Kapitel.

Jägers Fritz und Schulmeisters Lieschen.


Es war ein freundlicher sonntägiger Frühlingsmorgen, der zweite April im
Jahre unseres Herrn 1848, der Himmel spannte sich blau und sonnig über
die schöne, blüthengeschmückte Erde, der Wald lag schlummernd unter der
leichten, maigrünen Laubdecke, die Lerchen stiegen fröhlich wirbelnd
empor aus der schon wogenden Wintersaat, und der Storch stand langbeinig
und ernst oben auf dem Kirchendach, ließ sich nicht stören durch den
munteren Krähenschwarm, der oben um den Thurmgiebel krächzte, und
schaute gar bedächtig in das Dorf hinunter, als ob er selber neugierig
wäre zu sehen, wer heute bei dem herrlichen, köstlichen Wetter wohl in
die kalte, feuchte, dumpfige Kirche käme, um zu seinem Gott zu beten,
und es nicht vorzöge, draußen im Freien, in jeder Blüthenknospe, in
jedem zwitschernden, jubelnden Sänger des Waldes und Feldes seinen
Schöpfer und Erhalter, seinen liebenden, sorgenden, waltenden Vater zu
verehren.

Unten an den Glockensträngen hing eine Schaar jubelnder, ausgelassener
Schulkinder, und riß an den hanfenen Seilen, während droben der Klöppel
summend und dröhnend gegen seine metallene Hülle schlug, und manche
geschäftige Mädchenhand eilte das Mieder rascher zu schnüren, und die
bandgeschmückte Haube zu ordnen, manchen breitgeschweiften Hut in die
struppige Stirn seines Eigenthümers drückte und ihm das schwarzhäutige
Gebetbuch unter den Arm schob.

Und drüben, am dunkelgrünen Rande des Nadelholzes stand ein schlankes,
scheues Reh, und lauschte vorsichtig nach den wohl oft gehörten, aber
doch unbegriffenen Tönen hinüber; auch der Storch drehte manchmal den
Kopf dem summenden Laute zu, als wenn er sehen wollte, ob es der Klöppel
oben oder die wilde Jugend unten am ersten überdrüssig würde, und die
Lerche jubelte harmonisch in den Klang hinein und hob sich, wie von den
schwellenden Tönen getragen, höher und höher; die aber zitterten durch
die blaue, weißhauchige Luft, über die thauschweren Blüthen und Halme
hin, nach dem Wald hinüber, und dem hehrrauch gefülltem Thal; und in die
fernen Schlüchte und Gründe, in die Zweige und Büsche hinein, schmiegte
sich der Schall, und der Luftzug trug ihn fort, weiter, immer weiter
hin in dem Aethermeer, bis er in blauer Ferne über die Halden, über
die Hänge hin verschwamm, und Maiblumen und Veilchen nur noch wie
ahnungsvoll und grüßend hinüber nickten, und die perlenschweren Kelche
wiegten und schaukelten.

Fromme, oder wenigstens pünktliche Kirchengänger zogen die engen Pfade
entlang dem Gotteshause zu, rothe gesundwangige Mädchengesichter, die
Augen züchtig auf die blankgewichsten Schuhspitzen niedergesenkt,
und gebeugte Greise, die schon die Zeit berechneten, wo sie in ihrem
schmalen, letzten Haus den Pfad hinauf _getragen_ würden, den sie
jetzt noch alterschwach, aber nicht lebensmüde, -- denn der junge Lenz
pflanzte auch neue Hoffnung in ihre alten Herzen -- hinauf wandelten.

Warm und wohlthuend schien die schon hoch über dem fernen Wald stehende
Sonne in des Schulmeisters kleines, aber freundliches Gärtchen, das
von seines Töchterleins fleißiger Hand gepflegt, der lieben Blumen
und Blüthen gar viele und herrliche trieb; Frühtulpen und Narcissen,
Veilchen und Aurikeln, Maiglöckchen und Leberblümchen wetteiferten im
Farbenschmelz und süßem Duft, und Schulmeisters Töchterchen selber war
nicht die unbedeutendste Blume in ihrem lieben, freundlichen Garten.

Niemand wußte das übrigens besser, als Fritz Holke, des Jägers ältester
Sohn und Gehülfe, der erst kürzlich seinen Militairdienst beendet hatte,
und nun hoffen durfte, in späterer Zeit entweder in seines Vaters Stelle
bestätigt zu werden, oder doch irgend einen anderen Posten, der seinen
Mann ernährte, zu erhalten. Um aber auf alle Fälle gesichert zu sein,
glaubte er nichts Eiligeres zu thun zu haben, als sich nach einer
künftigen Hausfrau schon bei Zeiten umzusehen, und seinem Geschmack
machte es allerdings Ehre, daß er dazu Schulmeisters Lieschen gewählt.
-- Ein herzigeres Kind, eine bessere Tochter, ein rechtschaffeneres
Mädchen gab es nicht im weiten schönen Land, und was ihr Aussehen
betraf, so konnte sie mit den gesundheitfrischen Wangen und den
schelmischen Grübchen drinn, den treublauen Augen und der schlanken fast
zarten Gestalt, auch den Vergleich mit Mancher aushalten, die sich
sonst vielleicht weit schöner und besser dünkte, als eben »Schulmeisters
Lieschen.«

Bei Schulmeisters war schon Alles seit Tagesanbruch munter und
geschäftig gewesen, und so früh es auch noch an der Zeit sein mochte,
liefen doch die Kinder schon gewaschen und angezogen im Hause herum, in
der frisch gescheuerten Schulstube, denn diese diente der ganzen Familie
zum Aufenthalt, kräuselte sich der klare schneeige Sand, und auf dem
Tisch lag ein schloßenweißes Tuch mit dem schwarzen Brod, der kernigen
Butter und dem blinkenden Messer darauf, weil der Vater gern, ehe er in
die Kirche ging, einen Imbiß nahm. Niemand Anderes als Lieschen hatte
das Alles besorgt, jetzt aber schlüpfte das maifrische Kind selber zur
Thür hinaus, durch den Garten, und stand bald, von einem Fliederbusch
gedeckt in dem kleinen Pförtchen, das auf den in den Wald
vorbeilaufenden Pfad hinausführte. Einen grünen Rock hatte sie am
Fenster draußen vorbei gehen sehen, und aus dem Fliederbusch streckte
sich ihr jetzt mit herzlichem Gruß eine Hand entgegen, und eine
freundliche Stimme sagte:

»Guten Morgen, Lieschen, das ist brav von Dir, daß Du zum Morgengruß
heraus kömmst, wir sehen uns doch so selten, und es ist Einem den ganzen
Tag wohl, wenn man gleich in aller Frühe in ein so liebes Gesichtchen
geschaut hat.«

»Guten Morgen, Fritz,« lächelte seine Braut, »aber Du böser Mensch,
willst am heil'gen Sonntag, und mit der Flinte in den Wald? Ist das
auch recht? -- na, wenn Dich der Herr Pastor sähe, der würde ein schönes
Gesicht schneiden.«

»Er hat mich gesehen,« lachte der junge Jäger, »ich war erst beim
Gerichtsschreiber, wegen des Burschen, den wir gestern verfolgt haben,
und mußte nun den Kirchweg herauf. Gewöhnlich ist der Pastor nicht am
Fenster, heute aber stand es auf, und er daneben, mit einem Papier in
der Hand; er sah auch gerade nach mir herüber. Ei, was schiert das mich
-- sein Geschäft ist in der Kirche, meines im Walde, und wenn wir Beide
dem obliegen, kann sich keiner über den anderen beklagen.«

»Am Sonntage ist aber Deines auch in der Kirche,« sagte Lieschen; »wenn
nun Alle so denken wollten, da käme ja weiter kein Mensch zur Predigt,
als der Pastor und Schulmeister selber; das wär' eine schöne Kirche.«

Der Jäger lachte bei dem Gedanken, daß der Pastor einmal keinen weiteren
Zuhörer hätte, als den Schulmeister, sagte aber, schmeichelnd die Hand
streichelnd, die er noch immer in der seinen hielt:

»Laß gut sein, Lieschen, Du hast vielleicht Recht --«

»Nein, nicht vielleicht, ich --«

»Du hast _gewiß_ recht, aber sieh, heute geht's nicht anders; der
Strauchdieb, der wehrlose Frauen im Walde anfällt, muß jedenfalls wieder
zurückgewechselt sein, und da will ich nur einmal abspüren, wo er hinein
ist, denn in dem feuchten Graben kann man jede Fährte genau bestimmen.
Geschweißt hat er auch, vielleicht machen wir ihn noch aus, ehe er
weiteres Unheil anrichtet.«

»Du lieber Gott, sprichst Du doch da von einem Christenmenschen, als ob
es nur ein unvernünftiges wildes Thier wäre.«

»Ei was, ein Schuft, der Frauen anfällt --«

»Aber er _hat_ sie ja gar nicht angefallen -- Herr Hennig --«

»Er hat sie nicht angefallen? -- ist denn mein Vater nicht gerade dazu
gekommen, wie er des Pastors Tochter gefaßt hatte und plündern wollte?«

»Aber laß mich doch nur erst ausreden, Fritz --« rief Lieschen eifrig
-- »Herr Hennig ist ja auch dabei gewesen, und mit Sophiechen Scheidler
nachher nach Hause gegangen, und _die_ muß es denn doch wohl am Besten
wissen, ob sie angefallen ist oder nicht.«

»Man sollte es denken,« meinte der Jäger.

»Nun die also -- Herr Hennig hat uns die ganze Geschichte gestern Abend
bei Tische erzählt -- behauptet steif und fest, er hätte sie _nicht_
angefallen, sondern sei nur aus dem Walde auf sie zugetreten, um sie
wahrscheinlich nach irgend einem Weg zu fragen, vielleicht auch um
etwas anzusprechen, und da habe die Mamsell aus der Stadt gleich Zeter
geschrien, Dein Vater aber, der gerade dazu gekommen, Feuer gegeben, als
der Fremde, wohl über das Schreien erschreckt, eben in den Wald zurück
fliehen wollte.«

»Hm, das klingt freilich anders, als der Vater mir erzählt hat, der
meinte --«

»Dein Vater ist aber weit davon entfernt, und Sophiechen dicht dabei
gewesen,« vertheidigte das Mädchen ihren Schützling, »die muß es also
auch besser gesehen haben, und sie soll recht traurig gewesen sein,
daß der arme Mensch so ohne alles Verschulden, vielleicht ihretwegen
verwundet ist. Herrn Hennig war's eben so -- der hat selber den ganzen
Abend kein Wort weiter gesprochen, und wir mußten ihm das, was wir
überhaupt von ihm heraus haben wollten, Sylbe bei Sylbe vom Herzen
ziehen. -- Ich weiß aber wohl warum, so dumm ist unser eines auch
nicht.«

»Nun warum denn?« frug der Jäger erstaunt, »der Schulmeister hat doch
mit der ganzen Geschichte weiter Nichts zu thun gehabt, als daß er dem
Fräulein beigesprungen ist.«

»Ach bist Du blind,« seufzte mit komischem Mitleiden des Schulmeisters
Töchterlein, »Hennig ist bis über die Ohren in Pastors Sophie
_verliebt_, und geht nun so traurig herum, weil er die doch im ganzen
Leben nicht bekommen kann.«

»Nicht bekommen kann? nun das sehe ich denn doch nicht ein,« sagte der
Jäger, »wenn sie ihm wieder gut ist, was sollte sie da Beide hindern,
sich zu heirathen?«

»Ein Schulmeister eine Pastorstochter?« entgegnete ihm kopfschüttelnd
sein Bräutchen, »das mag wo anders Sitte sein, aber hier zu Lande im
Leben nicht. Ach du lieber Gott, _unser_ Herr Pastor seine Tochter einem
_Schulmeister_ zur Frau geben -- na, ich möchte dabei sein, wenn er um
sie anhielte.«

Der Jäger runzelte die Stirn und sagte finster:

»Ich möchte nur wissen, was ein Pastor denn so weit Besseres wäre, wie
ein Schulmeister, -- wenn Dein Vater uns Jungen nicht ordentlich erzogen
und belehrt hätte, da sähe es jetzt wild im Dorfe aus, und der Herr
Pastor könnte sich von der Kanzel herunter heiser schreien, es kehrte
sich kein Mensch an ihn und seine Predigt. Ich will Dir auch etwas
sagen, Lieschen, früher, wie wir uns noch nicht kannten, und wie mir der
Schulmeister weiter Nichts war, als >der Lehrer<, um den sich die Jungen
in späterer Zeit leider immer wenig genug kümmern, da war mir's auch
einerlei, was so _vom_, und wie _über_ den Schulmeister im Dorfe
gesprochen wurde; aber schon, wie ich anfing Dir gut zu sein, ehe Du
mich nur selber so recht freundlich angesehen hattest, ärgerte es
mich, wenn es hier und da bei Gelegenheiten hieß -- >es ist _nur_ der
Schulmeister<, oder >wenn's der Herr Pastor will, der Schulmeister muß
schon --<, der >_Herr_ Schulmeister< fiel keinem Menschen ein zu sagen.
Wie ich erst einmal auf der Spur war, kam ich auch bald weiter -- ich
dachte d'ran, wie wir Jungen es in der Schule gemacht, und was für
Schläge ich einmal zu Hause von meinem Vater bekommen, als ich gegen den
Schulmeister mit dem Pastor gedroht; jetzt erst sah ich, wie demüthig
der Schulmeister den Herrn Pastor immer grüßte, und wie freundlich
_herablassend_ dieser dankte. Ei zum Donnerwetter, was ist denn der
Pastor eigentlich besseres als der Schulmeister -- daß er den Leuten
etwa Sachen vorpredigt, von denen er eben auch nicht mehr weiß, wie wir
anderen Menschen?« --

»Fritz -- Fritz,« bat hier ernst das Mädchen, -- »greif mir meinen
_Glauben_ nicht an, über die Menschen magst Du sagen, was Du willst,
aber nicht über den.«

»Du hast recht, mein Herz,« sagte der junge Mann leicht besänftigt, »mir
that es nur weh, daß auch Ihr selber, Du sowohl, wie Dein alter Vater,
den Pastor ebenfalls für etwas Besonderes haltet, und Euch ordentlich
vor ihm fürchtet. Doch das muß anders werden; in der Stadt drinn, wo ich
vorgestern war, sprachen sie ganz offen davon, daß die Schule von
der Kirche getrennt werden, und die Geistlichkeit mit dem Lehramt
gleichgestellt werden sollte, nachher hört die Unterthänigkeit von
selber auf. Es ist auch gerade so mit der edlen Jägerei -- edel, lieber
Gott, der Revierjäger wird gewöhnlich von dem gnädigen Herrn wie der
Bediente behandelt, und Jäger sind wir fast gar nicht mehr, höchstens
noch Forstläufer, die nach den Holzschlägern und Holzdieben sehen, und
das Pflanzen der jungen Sprößlinge, wie die Auctionen der geschlagenen
Klaftern und Haufen besorgen müssen -- mir graust's vor dem Dienste.«

»Aber lieber Fritz,« sagte das Mädchen traurig, »jeder Stand hat doch
seine --«

»Lieschen -- Lieschen!« rief's in dem Augenblick aus dem Haus -- »wo
steckt denn das Blitzmädel wieder -- Lieschen!«

»Ich muß in die Kirche,« sagte Lieschen rasch -- »behüt' Dich Gott,
Fritz, und -- nicht wahr, wenn Du den armen Menschen im Walde triffst,
so thust Du ihm nichts? Er ist gewiß unschuldig und vielleicht gar
schwer verwundet.«

»Nummer 6.« lachte Fritz, »und auf 80 oder 90 Schritte, er wird's kaum
gespürt haben, -- adieu Lieschen, leb recht wohl, heut' Abend, wenn ich
darf, komm ich ein halb Stündchen herüber, am Sonntag leidt's schon.«

Ein herzlicher Händedruck, ein flüchtiger halbgestohlener Kuß, und der
junge Jägersmann schritt, zur unbändigen Freude seines Hundes, dem die
Zeit hier am Gartenzaune schon entsetzlich lang geworden war, rüstig den
Pfad entlang dem Holze zu; Lieschen aber schlüpfte rasch in's Haus, und
ging bald darauf, züchtig und ehrsam über den kleinen Plan hinüber und
in die große Kirchthür hinein, die ihrer Stube gerade gegenüber lag.

Der Vater war mit dem Hülfslehrer schon vorausgegangen, und die
feierlichen Klänge der Orgel grüßten sie, als sie in das kleine, mit
bunten Bildern, Ernte- und Todtenkränzen und grobgeschnitzten Statuen
von Märtyrern und frommen freigebigen Rittern geschmückte Heiligthum
trat.

       *       *       *       *       *

Von dem Hügel aus, auf dem die Schenke stand, konnte man das ganze
Rauschenthal nach Westen zu übersehen, und ein lieblicher Anblick war
es, den die weite, fruchtbare, nur hie und da mit dunklen Waldschatten
durchzogene, und im fernsten Hintergrund von blauen Bergwänden begrenzte
Ebene dem Auge bot. Tief unten schäumte der Strom, aber nur da, wo er
sich, etwas weiter südlich, in leisem Bogen nach der Försterwohnung
hinüberzog, ließ sich ein kleiner Theil seines in der warmen Frühsonne
blinkenden Wassers erkennen, sonst deckte theils der baumbepflanzte
Hügel, theils die unten angebauten Häuser seine Fläche. Aber drüben,
am anderen Ufer, wechselte dafür der Farbenschmuck der frisch keimenden
Felder um so freundlicher und belebter; breite Rapsflächen stachen mit
ihrem saftigen Grün wohlthuend gegen das düstere Braun der Sturzäcker
ab, junger Kieferschlag umdämmerte weite langgedehnte Wiesengründe und
mehr nach Norden hinauf, gerade zwischen dem schwarzen Nadelholz des
diesseitigen, und dem noch unbelaubten Eichenhügel des jenseitigen Ufers
hin, blitzte ein klarer, weidenumschlossener Wasserspiegel, der große
herrschaftliche Fischteich des dicht benachbarten Gutes, wie eine
glänzende Perle aus ihrer matt smaragdenen Fassung, leuchtend hervor.

Oben um die Schenke herum war Alles still und wie ausgestorben; des
Pastors schwerstes Interdikt lag auf dem, der während der Kirche es
gewagt hätte die Schenke zu betreten und es schien ordentlich als ob
sich der Wirth selber scheute in seine eigene Stube hinein zu gehn, denn
er trieb sich faul und schläfrig unter der Linde auf dem freien Platz
vor seinem Haus herum, und schaute nur manchmal ungeduldig nach dem über
die Pfarrwohnung vorragenden Kirchthurm hinüber, ob die Zeit denn noch
nicht bald heranrücke, wo seine Gäste, aus der Kirche zurückgekehrt,
ihre nicht mehr als billige Station in der Schenke machten.

Seine Frau und Mutter, und Magd und Knecht, alle waren sie fort,
Gottes Wort zu hören und nur das eine gewährte ihm jetzt eine
wirklich vollkommene Beruhigung, daß er heute einmal ganz hinlängliche
Entschuldigung hatte _nicht_ auf seinem Stuhl gerade vor der Kanzel (er
war übrigens fest entschlossen _den_ Platz von Ostern an aufzugeben und
einen bescheidneren mehr seitwärts zu nehmen) zu sitzen und sich zwei
volle Stunden lang die größt möglichste Mühe zu geben munter zu bleiben.

Im Garten aber, der westlich vom Hause und durch breitbuschige
Hecken links von dem Dorfe und rechts von einem vorbeiführenden Wege
abgeschnitten lag, saß auf einem kleinen sonnigen Rasenfleck, das
Antlitz dem vor ihr ausgebreiteten lieblichen Thal zugewandt, die
Schulter gegen einen stämmigen Aepfelbaum gelehnt, die Hände im Schooß
gefaltet, den Kopf gesenkt, wie im Anschaun des Waldgrundes vertieft,
doch aber auch wieder mit einem Blick, der nur an leerer Luft zu haften
schien, Maria, die Tochter des alten Musikanten.

Lange hatte sie schweigend so dagelehnt, und wohl recht trübe traurige
Gedanken mochten es sein, die dem armen kranken Kinde durch Herz und
Seele zogen. Endlich strich sie sich mit der Hand, als ob sie dem
Schmerze wehren wolle, über die Augen, seufzte tief auf und pflückte,
wie um sich zu zerstreuen, ein paar neben ihr wachsende Veilchen ab.
Doch auch das war nicht im Stande ihre Aufmerksamkeit zu fesseln; die
Blüthen entfielen unbeachtet ihrer Hand, der Blick haftete wieder fest
und seelenlos am fernen Horizont und die Lippen öffneten sich endlich zu
einem leisen schwermüthigen Lied, das sie mit wunderbar klangvoller aber
nur halblauter Stimme sang und die beiden zarten Hände dabei fest und
krampfhaft auf dem Herzen faltete:

  »So will ich denn nun von hinnen gehn,
  Und will Dich auf immer verlassen;
  Gebrochen hast Du mir Deinen Schwur
  Ich sollte Dich eigentlich hassen.

  Doch kann ich es nicht; Erinnerung bleibt
  Von früheren lieberen Tagen,
  Es war ja doch meine schönste Zeit
  Als ich dich im Herzen getragen.

  Ich sage _als_ -- ach Du lieber Gott
  Ich thue das ja noch immer,
  Und wenn ich Dir auch entsagen muß --
  Vergessen kann ich Dich nimmer.«

»Na, laß du nur den Pastor über dich kommen« rief da plötzlich eine
rauhe mürrische Stimme hinter ihr -- »der würde Dir's Handwerk legen,
während der Kirche zu singen.«

»Singt er nicht auch in _seiner_ Kirche?« frug die Tochter, ohne ihre
Stellung zu verändern oder auch nur den Kopf empor zu heben, »warum ich
nicht in der _meinen_?«

»Nein« lachte der alte Mann und schaute mit einem halb verächtlichen,
halb spöttischen Blick nach der Kirche hinüber -- »Da thust Du denen
unrecht, wenn Du sagst sie _sängen_; ich bin einen Augenblick drin
gewesen, konnte aber _das_ Gebrüll keine zehn Minuten aushalten.
Herr, Du mein Gott und davon sind die Menschen erbaut, _das_ soll sie
_erheben_. Der Schulmeister spielte wunderschön die Orgel, das muß man
ihm lassen, aber von der Gemeinde schrie einer da und einer dort hinaus,
und wenn er gar einmal wie es ihm gerade in Fingern und Gefühl lag,
einen halben Takt länger Pause hielt, dann hätt'st Du das Nebenbei
schrein der Lümmel, das Kopfschütteln vom Pastor auf der Kanzel und das
Kichern und Lachen von den Jungen auf dem Chor hören und sehn sollen. --
Es war mir ordentlich wohl, wie ich wieder vor der Thür draußen stand.«

»Und was hast Du ausgerichtet?« frug ihn die Tochter.

»Ausgerichtet? -- ei, eine ganze Menge -- aber wie gewöhnlich nicht viel
Gutes -- wär's mit dem Morgenconcert heute etwas geworden, so hätten wir
gleich wieder auf eine Zeitlang zu leben; Du glaubst gar nicht wie sich
die Leute im Dorfe, besonders im Stadtviertel freuten, als ich es ihnen
sagte, und wie sie mir versprachen zu kommen. -- Daß es der Pastor
verbieten würde, daran dachte ich ja doch mit keiner Sylbe, aber mein
Seel, muß mich das Unglück auch gerade in dem Augenblick zum Apotheker
'nein führen, wie der Pastor drinne sitzt und eine Tasse Kaffee trinkt,
und kaum hört der von meiner Einladung, als er sich in die Brust wirft
und mir gerade zu erklärt aus einem Morgenconcert in _seinem_ Dorfe
könne _Sonntags_ unter keiner Bedingung etwas werden, das lenkte die
Kirchgänger nur von ihrer Andacht ab, oder verhinderte sie wohl gar
im Gotteshause zu erscheinen. Ich protestirte; sagte ihm daß ich schon
meine ganzen Einladungen gemacht hätte -- ja Du lieber Himmel, was
kehrte sich der Herr Pastor daran, ob ein so armer Lump von Musikant
noch einmal bis zehn Uhr Nachts, und mit leerem Magen im Dorf herum
laufen und das selbst wieder abbestellen und zerstören muß, was ihm
morgen doch wenigstens ein paar Groschen zu Brod gebracht hätte. Herr
Du mein Gott, s'ist doch gerade zum aus der Haut fahren, wenn sich jetzt
auch noch die Pastoren den Musikanten quer vor's Handwerk legen. -- Aber
zum Henker -- was ärgere ich mich denn auch eigentlich über den Quark
-- giebt's denn auf der Welt etwa ein vortrefflicheres Leben als das
unsere?

  »Wo er naht, da tanzt man eben,
  Durch das ganze Land,
  Ist es nicht ein herrlich Leben
  So ein Musikant?«

  »Darum, sei's auch noch so schlimm hier,
  Bleibt's der schönste Stand,
  Und wenn's angeht, Mädchen, nimm Dir
  Nur 'nen Musikant! -- Juchhe!«

»Und die andern Spielleute?« frug die Tochter leise.

»Die lachten als ich es ihnen sagte, und meinten, das hätten sie vorher
gewußt, da müßten sie ihr Prachtexemplar von einem Pastor nicht kennen.
Die haben aber gut lachen, die sitzen warm und sicher, und denen ists
einerlei, ob sie heute ein paar Groschen verdienen oder nicht -- bei mir
wird's aber zur Lebens- oder vielmehr zur Morgensfrage.«

Die Beiden schwiegen und starrten, Jedes in seine Gedanken vertieft,
in das schöne sonnige Thal hinaus, und das eigene Herz mußte Ihnen, im
Gegensatz zu all der Herrlichkeit, die sie umgab, wohl noch viel trüber
und trauriger erscheinen. Endlich flüsterte Marie, als ob sie sich
fürchte, die Frage laut zu thun --

»Und wie wird es hier mit uns? -- in der Schenke können wir doch nicht
bleiben, Du weißt was uns der Wirth gesagt hat?«

»Das hab' ich abgemacht.«

»Abgemacht?«

»Nun, nicht etwa mit baarem Gelde,« lachte der Musikant, »aber der Wirth
will uns Nichts abnehmen, wenn wir heute Nachmittag, nach der Kirche
heißt das, und sobald die Gäste heraufkommen, ein Stündchen musiciren.
Ich spiele und Du singst -- aber Marie -- Du hast die Nacht wieder recht
gehustet, wirst Du auch bei Stimme sein? -- es schadet Dir doch nicht?«

Das Mädchen lächelte wehmüthig und sagte leise, während es sich vom
Vater abwandte:

»Was soll _mir's_ schaden -- doch Vater --« fuhr sie, nach leichtem
Zögern und mit leiserer Stimme fort -- »weißt Du wem das Gut hier
gehört?«

Der Alte nickte nur einfach mit dem Kopf, und brummte endlich ein
mürrisches:

»Ja -- was solls?«

»So laß uns lieber fort von hier ziehn« -- bat die Tochter -- »ich
möchte nicht hier bleiben, wenn wir hoffen dürften, wo anders unser Brod
zu finden.«

»Wir _dürfen_ aber nicht hoffen, wo anders unser Brod zu finden,
_Mamsell_!« rief der Vater heftig und sah sie mit finsteren Blicken an.
»Zum Donnerwetter über das ewige Nasenrümpfen -- überall stehts der Dame
nicht an -- einmal ist ihr die Gesellschaft zu schlecht, einmal der Ort
selber nicht recht und bald dieß bald das nicht; zum Teufel, ich habe
das Herumziehn jetzt satt -- hier ist mir Hoffnung geboten, wenigstens
den Sommer hindurch aushalten zu können, und hier blieb ich, wenn selbst
zehn und zwanzig solche alte Halunken wie der Oberpostdirektor hier
lebten; der wird _uns_ schon aus dem Wege gehn, und wir brauchen ihn
ebenfalls nicht aufzusuchen.«

»Aber Vater!«

»HeiligesHimmelDonnerwetter jetzt halt das Maul!« zankte der rohe Alte
und streckte drohend den Arm gegen das Mädchen aus -- »komm' mir noch
einmal mit solch albernen Vorschlägen und sieh was ich thue. -- Unsinn
verdammter« brummte er dann, und wie sich selbst zu beschwichtigen,
hinter drein -- »jetzt wieder fort von hier zu gehen, wo's grade anfängt
gut zu werden -- na weiter fehlte mir gar Nichts. Die Aussichten sind
jetzt gerade vortrefflich. Erstlich hab' ich für uns, unten im Dorfe
d'rin, ein kleines Kämmerchen gemiethet, wovon wir den Zins wenigstens
nicht gleich zu zahlen brauchen, und dann ist heute Abend hier oben
Tanz, wobei ich, durch des alten Schulmeisters Verwendung, ebenfalls
mit angenommen bin; ein paar Groschen wirft's da doch immer ab, theuer
scheint's hier im Orte auch nicht zu sein, und da werden wir also wohl
auch nicht gleich verhungern.«

»Vater« sagte das Mädchen, das in tiefen Gedanken verloren eine lange
Weile schweigend vor sich nieder starrte, »Vater, hast Du Nichts
wieder von -- von dem Manne gehört, den sie gestern in den Wald hinein
verfolgten?«

»Ich! -- nein -- doch ja, beim Schulmeister sprachen sie noch gestern
Abend davon; der soll des Pastors Tochter und noch so eine andere
Mamsell angefallen, und der gerade dazu gekommene Jäger auf ihn
geschossen haben; nachher meinten sie, wär' er hier dem Dorfe zu
geflüchtet, sie sind aber von seiner Spur abgekommen. Soviel weiß ich,
erwischt ist er noch nicht -- aber weshalb fragst Du?«

»O um Nichts -- ich dachte nur gerade an ihn -- komm Vater, wir wollen
hier fortgehn, die Kirche ist aus, und die Leute kommen den Berg
herauf.«

Sie stand auf und schritt langsam, unter den Obstbäumen hin, den Garten
hinab, als ihr der Vater noch nachrief.

»Lauf aber nicht weit -- der Wirth hat uns auch heute Mittag einen
Teller warme Suppe versprochen -- das geht mit ein.«

Sie nickte nur schweigend, daß sie es gehört, und verschwand dann durch
die kleine Pforte, die hinaus auf den Hügel führte, der Musikant aber,
in den Gedanken an die Suppe vertieft, und nur einen sehnsüchtigen Blick
nach der Thurmuhr werfend, wie lange Zeit er bis zum Empfang derselben
noch etwa zu warten habe, schritt langsam am Wirthshaus vorbei in's Dorf
hinein, und summte dabei leise vor sich hin:

  »Es strebt die Seele himmelwärts,
  Hinauf, hinauf, zu höh'rer Sphäre,
  O Gott, wie wollt' ich dichten, Herz --
  Wenn ich nicht manchmal hungrig wäre!«



Neuntes Kapitel.

Die Schule.


Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber, Schulmeister Kleinholz hatte
an Pastors Statt Betstunde gehalten, die dafür bestimmte Abtheilung der
Schuljugend die Kirche ausgelauten, und aus dem »Stadtviertel« sowohl,
wie aus dem Orte selbst belebten, des reizenden Tages sich freuend,
Spaziergänger die Wege und Hänge, die nach dem Rauschenbett hinabliefen
und die reizende Aussicht über das frühlingslichte Thal gewährten. Nur
in der Schule saßen die Bewohner derselben noch in ihrer Sonntagsruhe um
den weißgescheuerten Tisch herum, auf dem die braunglänzende Kanne
mit den blaugeblümten Tassen und den blankgeputzten zinnernen Löffeln
prangte, und den nicht asiatischen, sondern mehr vaterländischen Duft
von gebrannten Möhren (die nichtsdestoweniger den fremdländischen
Namen Kaffee trugen) zur Decke emporqualmte, daß er in den freundlichen
Sonnenstrahlen, die schräg durch das geöffnete Fenster hereinfielen,
allerlei wunderlich phantastisch wechselnde Figuren und Gestalten
bildete.

Wenn aber selbst Bediente und Lakaien, ja sogar das Gesinde der Ritter-
und Bauergüter ihre eigene Stube haben, wo sie nach des Tages Last und
Arbeit zusammenkommen können und dem lästigen Gewirr enthoben sind, so
war der Schulmeister, den die Gemeinde von Horneck direct, das ganze
Land aber indirect einen Theil seiner heranwachsenden Bevölkerung
mit dem Theuersten, was er besitzt, mit Geist und Herz, vertraut und
übergeben hatte, kein solcher Raum angewiesen, in dem er wenigstens
menschlich existiren konnte.

_Der Schulmeister von Horneck war mit seiner ganzen Häuslichkeit einzig
und allein auf die allgemeine Schulstube beschränkt._

Außer dieser besaß er, zu seiner eigenen Verfügung gestellt, nur ein
kleines, kaum an Raum hinlängliches Käfterchen, wo er mit den Seinen,
mit all seinen Kindern schlafen konnte -- ein anderer, ebenfalls unter
das Dach gedrückter und noch viel kleinerer Raum konnte dem Hülfslehrer
angewiesen werden, und die dunstige Schulstube, die überdies so feucht
lag, daß _alle zwei Jahre neue Dielen gelegt werden mußten_,[1] war
Wohn-, Studier- und Kinderstube des armen Schulmeisterleins. Der Pastor
hatte hinlängliche Räumlichkeit, ja, _ihm_ ist sogar im Gesetz ein Platz
zur Studierstube ausdrücklich bestimmt; daß aber der Lehrer, der sich
doch auf seine Stunden ebenfalls, und eigentlich mehr noch vorbereiten
muß als der Pastor auf die allwöchentliche -- Gott weiß am Besten wie
oft schale und wässerige -- Predigt -- daß dieser, sage ich auch, ein
Zimmer haben sollte, in dem er ungestört von Kinderlärm existiren, wo
er die kurze Zeit wenigstens, während er keinen Unterricht giebt, eine
reine, gesunde Luft athmen müsse, um nicht erst körperlich und dadurch
endlich auch geistig zu Grunde zu gehen, das scheint den Herren bis
jetzt keineswegs eine dringende Nothwendigkeit gewesen zu sein. Ich weiß
allerdings recht gut, daß es in den _meisten_ Schulwohnungen wirklich
der Fall ist, aber nicht geringere Schmach trifft deshalb, wenn das auch
nur an einem einzigen Orte geduldet werden konnte, die, deren Aufsicht
dort die Bildung der Jugend anvertraut worden.

  [1]: Diese Schilderung ist nicht übertrieben, denn noch _bis zu
  diesem Augenblicke_ findet ganz das nämliche in dem Dorfe Roitzsch
  bei Wurzen statt.

Wenn auch Hennig besonders darauf sah, daß die Stube fortwährend
gelüftet wurde, und Lieschen das Ganze so reinlich hielt, wie es nur
möglicher Weise gehalten werden konnte, der eigenthümliche Dunst, der
zuerst von den feuchten Dielen ausging, und dann überhaupt auch
einer Schulstube immer eigen ist, konnte durch alle Vorkehrungen und
Anstrengungen nicht abgehalten, oder wenn er sich gebildet hatte --
entfernt werden -- die Brust vermochte in der schweren Atmosphäre nicht
frei zu athmen, und nur die Gewohnheit war im Stande, eine Existenz an
solchem Orte einigermaßen erträglich zu machen.

Die Ecke hinter dem Ofen diente der ganzen Familie, wie auch dem
Hülfslehrer, der in seinem Schlafkäfterchen keinen Raum hatte, einen
Arbeitstisch aufzustellen, zum gewöhnlichen Aufenthalte, und nur wenn
Hennig etwas recht Nothwendiges zu arbeiten hatte, was eben unten nicht
möglich war, dann ging er hinüber zum Diaconus, der ihm das erlaubt
hatte, und benutzte dessen freundlich sonniges Stübchen.

Daß aber die arme Schulmeisters Familie unter solchen Verhältnissen von
einer bequemen und nur einigermaßen freundlichen Wohnlichkeit absehen
mußte, versteht sich von selbst. Die sämmtlichen Möbeln, die sie hier
möglicher Weise aufstellen konnten, bestanden in einer großen Kommode,
die zugleich zum Bücherschrank und zur Speisekammer diente, in drei
Holzstühlen, einem festen Tisch von Eichenholz und einem in der Ecke
befestigten abgerundeten Bret, auf dem eine grüne Glasflasche mit
hineingestecktem halb niedergebrannten Talglicht und ein irdener
Wasserkrug standen. In diesem engen Raume, der von der allgemeinen
Schulstube gerade auf dieselbe Art geschieden war, wie man wüste
Territorien und Länder von einander scheidet -- durch eine gedachte
Linie -- lebte Vater Kleinholz mit sieben lebendigen, regen, muntern und
durch Lieschen's aufopfernden und nimmer rastenden Fleiß auch reinlich
gehaltenen Kindern. Seine zweite Frau, die Mutter seiner Kinder, hatte
er vor wenigen Sommern zu Grabe getragen.

Vater Kleinholz _lebte_ dort, sagte ich, d. h. er existirte -- aber
wie? -- Auf welche Art wurde ein Leben erhalten, das von einer ganzen
Gemeinde bestimmt war, die Jugend zu braven, wackeren und tüchtigen
Gliedern der menschlichen Gesellschaft heranzubilden?

Ursprünglich war der ganze Gehalt, den der Mann für seine Leistungen
als _Schulmeister_, _Organist_, _Kirchner_ oder _Küstner_ und _Glöckner_
bezog, Einhundert und funfzig Thaler gewesen -- und es ist das nicht
etwa eine der _schlechtesten_ Stellen unseres Vaterlandes, denn sie
gehen bis zu hundert und zwanzig Thaler jährlich, ja wohl noch tiefer
hinunter. Papa Kleinholz gehörte aber zu den wenigen Menschen, die außer
dem Nothwendigsten, keine Bedürfnisse kennen. Mit wenig Kenntnissen
allerdings ausgestattet, machte er aber auch dafür wenig Ansprüche,
schien zufrieden, wenn er so viel hatte, wie der geringste Tagelöhner
zum Leben brauchte (und auf mehr konnte er mit seiner großen Kinderzahl
auch kaum rechnen) und that seine Pflicht, so viel das in seinen Kräften
stand und mit so freudigem Eifer wie nur irgend ein anderer Schulmeister
im weiten Lande. Die Kinderzahl im Dorfe nahm aber in demselben
Verhältnisse fast zu, als seine Kräfte abnahmen, es wurde deshalb
nöthig, ihm wenigstens einen Hülfslehrer zu geben, und zu der Zeit und
gleich nach seiner Frau Tod war Hennig hierher berufen worden.

Die Stelle selbst trug jedoch nur 150 Thaler, die Regierung legt in
solchem Falle Nichts hinzu, die Gemeinde kann es nicht, und das, was
der _ganzen Gemeinde als unmöglich zugestanden wird_ -- _muß der arme
Schullehrer mit seiner großen Familie und seinen 150 Thalern allein
bestreiten_. Papa Kleinholz hatte an den Hülfslehrer Hennig 40 Thaler
abzugeben und ihn in Kost und Logis zu nehmen.

Von dieser Zeit an begann eine schwere sorgenvolle Zeit für den armen
alten Mann, und sie wäre wohl noch viel schwerer und sorgenvoller
geworden, hätte er an Hennig nicht einen so wackeren und gutmüthigen
Gehülfen gefunden, der wirklich Alles that, was in seinen Kräften
stand (wenn das auch noch so wenig sein mochte) ihm seine trübe Lage zu
erleichtern. Der Druck des ihm vorgesetzten Geistlichen lag damals auch
sehr gewichtig auf dem armen, so schon genug geplagten Greis, das aber
empfand er weit weniger als vielleicht mancher Andere an seiner Stelle.
Aufgewachsen im alten Zwang und an die fast knechtische Ehrfurcht
gegen den geistlichen Vorgesetzten gewöhnt, fühlte er nicht das oft
Demüthigende und Unwürdige einer solchen Behandlung und freute sich nur,
wenn ihm einmal ein wohlgefälliges Lächeln, ein Wort der Zufriedenheit
-- und wie selten wurde das dem armen alten Manne -- für unausgesetztes
Mühen und Leiden lohnte.

Nur das eine machte ihm manchmal Sorge und trübte den sonst so klaren
Blick, wenn er in die Zukunft hinüberschauen wollte -- der Gedanke an
seinen Tod, und was dann aus den Seinen werden sollte, oder -- das noch
fast Schlimmere -- wenn er die Zeit überleben würde, in der er wirken
und schaffen konnte, und nun -- emeritirt, das heißt mit _einem Drittel_
seines jetzigen Gehaltes, also mit funfzig Thalern jährlich -- in
Ruhestand versetzt worden wäre -- Funfzig Thaler und sieben Kinder --
selbst der alte geduldige Mann schüttelte bei dem Gedanken den Kopf und
es kam ihm dann manchmal vor, als ob sein Stand doch ein recht schwerer
und keineswegs hinlänglich und ausreichend belohnender sei. Doch
vertraute er auch in der Hinsicht wieder vollkommen auf eben seinen
Vorgesetzten, denn Pastor Scheidler hatte ihn mehr als einmal und zwar
unaufgefordert versichert, er würde später, wenn er, der Schulmeister,
einmal nicht mehr so recht ordentlich fort könnte, Alles thun, was in
seinen Kräften stehe, ihn zu unterstützen -- und was stand nicht Alles
in den Kräften eines so einflußreichen Mannes -- oho, für Papa Kleinholz
war hinreichend gesorgt, der brauchte sich keinen unnöthigen und
unzeitigen Kummer zu machen.

Diese stille, anspruchslose hoffende Zufriedenheit sprach sich denn
auch nicht allein in seinem Wesen und Charakter, sondern auch in seiner
ganzen sonstigen Umgebung vollkommen und deutlich aus. Selbst das
kleine Winkelchen, was ihm in der dunstigen Schulstube zum eigenen
Aufenthaltsort gelassen worden, war mit den wenigen Mitteln, die ihm zu
Gebote standen, ausgestattet, ja ausgeschmückt. Auf der breitbauchigen
Kommode -- wahrscheinlich einem alten Erbstück vergangener Zeiten
-- stand in der Mitte ein großer Pokal aus gegossenem Glas, ein
Hochzeitsgeschenk seiner Gemeinde; daneben lehnten in zwei langen
Biergläsern (von denen das eine aber gesprungen und mit Bindfaden wieder
gebunden war) zwei lange braunfedrige Schilfblüthenbüschel und über dem
Ganzen hing ein breiter Kranz von gelben und rothen Strohblumen, mit
einem großen weißen K in seiner Mitte.

Ein kleiner Spiegel in roth lackirtem Rahmen, der die ihm anvertrauten
Gesichter auf das Scheußlichste entstellt zurückgab, vollendete den
ganzen Zierrath des sonst in jeder Beziehung ungemüthlichen Raumes, und
selbst der morsche, mit zerrissenem Lederwerk überzogene alterschwache
_Sorgen_stuhl des Papa Kleinholz vermochte nur wenig dazu beizutragen,
diesem Orte auch das Aussehn zu geben, als ob er wirklich dazu bestimmt
sei, einem Manne zur bleibenden Stätte zu dienen, von dem man als Lehrer
jedenfalls Bildung erwarten und verlangen konnte.

Papa Kleinholz saß in diesem Sorgenstuhle -- neben ihm auf dem schmalen
Tische dampfte seine zweite Tasse Kaffee, in den er heute, als an einem
Sonntage, von dem wirthschaftlichen Lieschen auch Sahne bekommen hatte
(welcher Luxusartikel sich übrigens keineswegs auf den übrigen Theil
der Familie mit ausdehnte) und sein Blick hing sinnend und ernst an dem
verblichenen, wohl schon Jahre alten Kranz, der sicherlich irgend einen
der wenigen und bescheidenen Freudentage in sein Gedächtniß zurückrief,
die eine _frühere_ Zeit für ihn gehabt, denn jetzt, armer alter Mann,
wo Du eigentlich den Lohn Deines jahrelangen Mühen und Fleißes erndten
solltest, jetzt lag das Leben trüb und traurig vor Dir und seine Rosen
blühten nur in der Vergangenheit.

Der Hülfslehrer Hennig stand mit Lieschen an dem einen Fenster, das auf
den schmalen betretenen Pfad nach der Pfarrwohnung hinaussah, und das
stets muntere lebensfrohe Mädchen -- lebensfroh in ihrer freudigen
Hoffnung und Zuversicht auf eine bessere Zukunft -- war emsig
bemüht, dem, besonders seit einigen Tagen auffällig ernsten und fast
schwermüthigen jungen Mann etwas aufzuheitern und womöglich auch die
Ursache seines Trübsinns nicht erst zu erfahren -- nein, die wußte sie,
wie wir früher gesehen haben, schon lange -- nur von seinen eigenen
Lippen und mit seinen eigenen Worten zu hören.

Hennig blieb aber still und schweigsam, antwortete ihr auf ihre Fragen
nur einsylbig und schien überhaupt viel lieber seinem eigenen Nachdenken
überlassen zu bleiben, als diesem, und damit auch vielleicht den
zugleich heraufbeschworenen Bildern und Phantasien entzogen zu werden.
Er hielt ein Zeitungsblatt, das er vorher gar aufmerksam wohl drei bis
vier Mal durchgelesen, in der Hand.

Die Kinder spielten draußen auf dem sonnigen Plane, bauten (denn Herr
Hennig hatte ihnen das in den letzten Stunden ausführlich erklärt
und beschrieben, wie es jetzt in den großen Hauptstädten Deutschlands
hergegangen sei) aus Trögen, Bänken, Sägeböcken und Bretstücken
Barrikaden und Festungen und stürmten diese, wenn kaum errichtet, nach
Herzenslust.

Da klopfte es an die Thür der Schulstube, und auf das rasche »Herein«
öffnete sie Pastors Köchin, die gerade aus der Küche vom Aufwasch zu
kommen und in größter Eile zu sein schien, nur eben weit genug, um in
ihrer derben, aber nichtsdestoweniger freundlichen Art hereinrufen zu
können:

»Gott griß Uech mitenanger -- der Schulmeester sulle doch mit 'em Herrn
Hennig uffn Ogenblick nach'm Herrn Pastor 'riber kommen, er hätte emm
was ze sagen.«

Und ohne weitere Antwort abzuwarten, und überzeugt, daß sich die
Erfüllung der Aufforderung ganz von selbst verstände, drückte Rieke die
Thür wieder in's Schloß, und lief spornstreichs zu Hause zurück, um
dort mit ihrer Arbeit bei Zeiten fertig zu werden, und heute Abend den
angekündigten Tanz ja nicht zu versäumen.

»Zum Herrn Pastor?« sagte Kleinholz und setzte verwundert die Kanne
nieder, die er eben gehoben hatte, seine dritte und letzte Tasse
einzuschenken -- »ich denke, der ist in die Stadt gefahren, wozu hätte
ich denn sonst heute Nachmittag in der Kirche lesen müssen?«

»Der Herr Pastor wird wohl den Nachmittag ein Bischen geschlafen haben,«
sagte da Lieschen -- »Carl warf sich die Nacht so im Bette herum, und
wie ich aufstand, sah ich drüben in der Pfarre noch Licht -- der Strahl
fällt hinüber auf das gegenüber liegende Scheunendach und man konnte
es von oben aus deutlich erkennen -- wahrscheinlich ist er spät
aufgeblieben, um seine Predigt zu studieren.«

»Was werden wir denn da nur sollen?« sagte Papa Kleinholz, und stand
etwas ängstlich von seinem Stuhle auf, »ich weiß doch nicht, daß etwas
vorgefallen wäre.«

»Aber, lieber Vater, so trink doch nur erst deinen Kaffee,« bat
Lieschen, »er wird Dir ja ganz kalt bis Du wieder herüber kommst, und
gewärmt schmeckt er doch auch nicht.«

»Nein, der Herr Pastor wartet,« sagte der alte Mann, und schaute sich
nach seinem Hute um; »er ist so, wenn auch ohne meine Schuld, böse auf
mich.«

»Trinken Sie nur erst Ihren Kaffee, Herr Kleinholz,« bat ihn jetzt aber
auch Hennig, »ich gehe keinen Schritt eher aus der Stube -- der Pastor
_mag_ warten.«

»Ja aber Kinder,« bat der Greis -- »ich weiß doch nicht --«

»Ungehorsam wird nicht geduldet,« lachte Lieschen, faßte den Vater an
den Schultern und zog den nur noch schwach Widerstrebenden langsam in
seinen Stuhl zurück.

»Wenn ich nur wüßte, was er von uns will,« sagte der alte Mann, nachdem
er den heißen Trank mit größtem Eifer eine Weile geblasen hatte, bis ihm
selbst die Pfeife darüber ausgegangen war -- »Sonntag Nachmittag -- das
ist doch etwas ganz Außergewöhnliches -- und wir alle Beide.«

»Machen Sie sich keine Sorge, guter Herr Kleinholz,« lächelte Hennig,
als er das ängstliche Gesicht selbst des armen Lieschen bemerkte, das
durch des Vaters Angst angesteckt schon nichts Geringeres befürchtete,
als eine strenge Strafpredigt, weil ihr Fritz heute auf die Jagd
gegangen. Daß ihr Vater und der Hülfslehrer deshalb gar nicht
verantwortlich sein könnten, fiel dem armen Kinde nicht einmal ein, es
war das Einzige auf der weiten Gotteswelt, was ihr Gewissen drückte, und
all' ihre Angst und Sorge um den armen Jungen, ihren Fritz, der ja
doch wohl nur geglaubt hatte, seine Schuldigkeit zu thun, lag in dem
ängstlich scheuen Blick, den sie auf den Hülfslehrer wandte, als ob sie
von dem ihrem Vater an Kenntnissen weit überlegenen jungen Manne, der
überdieß in der Residenz erzogen und ein »Städter« war, Trost und Hülfe
erwarte.

Doch auch dieser stand jetzt, den Ellbogen gegen die Wand, und die Stirn
in seine Hand gestützt, am Fenster, und schaute in trübem Sinnen über
das kleine Gärtchen hinaus nach dem fernen Schwarzholz hinüber; ja
selbst die Kinder hatten aufgehört zu spielen, als sie Pastors Köchin in
die Schulstube gehen sahen, und eine so gedrückte, ängstliche Stimmung
herrschte plötzlich in dem noch vor wenig Augenblicken so freundlich
stillen Raum, daß sich auch Lieschen nicht mehr widersetzte, als der
Vater noch im Aufstehen seine Tasse leerte, die Kanne zurückschob und
nach seinem Hute griff.

»Kommen Sie, Hennig, wir wollen doch sehen, was der Herr Pastor von uns
will!«

»Ich kann mir's etwa denken,« erwiederte Hennig, während er seinem
Beispiel folgte, und langsam zur Thüre schritt.

»Denken?« frug Lieschen schnell, wurde aber plötzlich feuerroth und
schwieg, Hennig, der ihr Erröthen jedoch nicht bemerkte, sagte halb
lachend:

»Eine Ermahnung wird's sein, uns, als würdige _Diener der Kirche_, von
der politischen Bewegung der Gegenwart fern zu halten -- nicht daran zu
denken, uns von unserer Mutter -- der Kirche nämlich -- los zu sagen,
wie das gottlose Menschen in der Welt draußen gethan, und, wie bisher,
liebe _folgsame, geduldige Schaafe_ zu sein -- unter unserem Hirten, dem
Herrn -- das wird's sein, was er uns zu sagen wünscht.«

»Ja aber solche Sachen wollen wir gar nicht«, lächelte Papa Kleinholz
schon bei dem Gedanken an einen derartigen Frevel -- »Du lieber Gott,
wir sind hier zufrieden, wenn _uns_ die Menschen nur in Ruhe lassen, wir
selber wollen gern nicht mit Ihnen anbinden, nicht wahr, Hennig?«

»Was hülfe es uns auch, -- was hülf' es dem Einzelnen?« sagte Hennig mit
tiefem schmerzlichen Seufzer, »die Stimme eines armen Dorfschulmeisters
würde verhallen, wie eine Stimme in der Wüste, und -- wer weiß, ob unser
Loos nicht nachher noch am Ende gar ein schlimmeres, gedrückteres würde,
-- aber kommen Sie, kommen Sie, -- wir werden ja hören.«

Die Männer schritten rasch der Pfarrerwohnung zu, Lieschen aber trat
an's Fenster, von wo sie den Weg dorthin überschauen konnte, und so
lange sie im Stande war, ihnen mit den Augen zu folgen, geschah das, als
sie aber um die Kirche herumgebogen waren, schlich sie wieder zurück zu
ihrem Nähplätzchen, wo der Holunder schon seine frischen Blätter gegen
die Scheiben drückte, stützte da das kleine Köpfchen in die Hand, und
sann und sann, und ward endlich sogar unwillig über sich selbst, daß sie
gar nicht heraus bekommen konnte, weshalb sie eigentlich heute nur so
traurig und betrübt wäre.

       *       *       *       *       *

In des Pfarrers Studierstübchen, wo indessen die Papiere und Bücher
wieder mit manchem schweren Seufzer, und mancher leise, ganz
leise geflüsterten, aber deshalb nicht weniger herzlich gemeinten
Verwünschung, geordnet waren, saß in der einen Ecke des Sophas der Herr
Pastor _Scheidler_, in der anderen, aber wie aus ehrerbietiger Scheu
auf der kleinsten, unbedeutendsten Ecke, die sein Gewicht kaum noch zu
tragen im Stande war, Papa _Kleinholz_, der Schulmeister. Vor dem Tisch
dagegen, auf hingerücktem Stuhl, Hennig, und am Fenster lehnte, ein Buch
durchblätternd, ohne dem Inhalt jedoch viel Aufmerksamkeit zu schenken,
der Diaconus.

»Lieber Schulmeister,« sagte endlich der Pastor, nachdem die ersten
höflichen Begrüßungen und Gesundheitsfragen vorüber waren, und er den
Männern jedem eine Cigarre angeboten hatte, die sich der Diaconus gleich
am Feuerzeug anbrannte, während sie die beiden Schullehrer unangezündet
in der Hand behielten -- »ich hab Sie blos rufen lassen, um einmal ein
paar Worte mit Ihnen und Herrn Hennig über die Tagesfragen, die uns denn
doch immer dringender an's Herz gelegt werden, zu sprechen. Sie haben
sicherlich schon über das neue Verhältniß nachgedacht, lieber Kleinholz,
das mein' ich, was da entstehen wird, wenn man Kirche und Schule von
einandergerissen hat, wie es die Neuerer so gerne heut' zu Tage wollen,
und wie selbst in letzterer Zeit in Ihrem eigenen Stande -- ich will nur
Kell in Leipzig nennen -- Stimmen laut geworden sind, die ihrer Collegen
Herzen für diese angebliche Freiheit zu entflammen suchen -- Sie haben
sicherlich, sag' ich, schon darüber nachgedacht?«

»Ich? -- Bitt' um Verzeihung, noch im Leben nicht,« rief Vater Kleinholz
so rasch, und in so augenscheinlicher Verlegenheit, daß sich der
Diaconus, ein Lächeln auf den Lippen, ab und dem Fenster zuwandte, und
Hennig blutroth -- aus Scham für seinen alten Freund -- wurde.

»Das wäre in der That viel,« lächelte freundlich, die Hände dabei
gefaltet, und die beiden Daumen fest gegeneinander gestemmt, der Pastor
-- »sehr viel, und ein seltenes Beispiel für unsere aufgeregte Zeit;
-- aber _Sie_ doch wohl dagegen desto mehr, Herr Hennig,« und sein
forschender Blick haftete, unter den kurzen borstigen Brauen vor, scharf
und beobachtend auf dem Hülfslehrer.

»Allerdings Herr Pastor, kann ich nicht läugnen, daß mich die Sache,
besonders in den letzten Tagen viel beschäftigt hat«, sagte Hennig, und
rückte dabei auf dem Stuhl immer noch etwas verlegen hin und her.

»Sind Sie von selbst darauf gefallen?« frug der Pastor hingeworfen --

»Ja und -- nein« erwiederte Hennig -- »ja, denn schon seit längerer
Zeit, seit einem Jahr wohl -- eigentlich seit ich hier bin, hat mich
der Gedanke an eine mögliche Selbstständigkeit der Lehrer erfüllt; ich
dachte mir immer ein Lehrer sei doch eben -- _neben_ dem Geistlichen --
das Höchste auf der weiten Gotteswelt, denn durch ihn, durch sein Herz,
durch seinen Geist sollte die heranwachsende Generation, von der der
Staat, die Welt einst Segen oder Fluch zu erndten habe, gebildet werden;
in seiner Hand liegt, ich möchte sagen, fast das Schicksal der
jungen Erdenbürger, die er zu edlen Menschen heranziehen, oder --
vernachlässigen und dadurch verderben kann.«

»Ja ja, sehen Sie, mein junger Freund,« fiel ihm hier der Pastor,
wohlgefällig dabei mit dem Kopfe nickend, in's Wort, »sehen Sie, da
kommen wir gerade auf das Kapitel, auf das ich Sie eigentlich haben
wollte, _das_, wie Sie das ganz richtig, ganz vortrefflich schildern,
würde der eintretende Zustand der Schule, das Verhältniß des Lehrers zu
seinen Kindern sein, wenn die Schule getrennt von der Kirche da stände,
oder -- mit anderen Worten, der Oberaufsicht der Geistlichkeit, die eben
dieses Wirken überwacht, entzogen wäre, in den Händen jedes einzelnen
Lehrers würde dann, ich möchte sagen, das Schicksal einer ganzen
Gemeinde liegen, und Väter und Mütter dürften keine Nacht ruhig
schlafen, aus Furcht, der Lehrer, der jetzt keinem Menschen weiter
Rechenschaft schulde, verderbe in der Schule ihr einziges Kind, und
schicke es nachher, verwahrlost an Leib und Seele ihnen wieder zu
Hause.«

Der Diaconus trommelte an der Fensterscheibe und sah hinaus.

»Ich weiß doch nicht,« fuhr Hennig, durch die Sache selbst etwas wärmer
werdend, fort, »ich weiß doch nicht, ob gerade die Oberaufsicht des
Geistlichen das zu verhindern im Stande ist; ja, ob es in unseren
jetzigen Verhältnissen nicht den Lehrer gerade eher einschläfert, und
gleichgültiger gegen seine Erziehungsresultate macht, als es der Fall
wäre, wenn auf ihm allein die Verantwortung läge, er allein aber auch
die _Ehre_ davon hätte. Jetzt nimmt der Geistliche die Kinder in die
Schule auf, und entläßt sie wieder, die Censur kommt ebenfalls vom
Geistlichen, der auch die Oberaufsicht der Klassen führt, und von dem
Kinde natürlich mit weit höherer Ehrfurcht betrachtet wird, als selbst
sein Lehrer, und ich muß aufrichtig gestehen, daß in meiner Brust selber
oft die Frage aufgestiegen ist -- müssen bei dem Kinde nicht Zweifel
entstehen, _wem_ es eigentlich seinen Unterricht zu verdanken habe,
und kann es dann _die_ herzliche Dankbarkeit gegen seinen _wirklichen_
Lehrer bewahren, die diesen doch allein in der weiten Gotteswelt, für
all' die Noth und Sorge, für all' die Entbehrungen und Aufopferung die
ein armer Dorfschullehrer gezwungen ist zu tragen, entschädigen kann?«

»Hm -- hm, mein guter Herr Hennig,« sagte kopfschüttelnd und mit einem
eigenen Ausdruck in den Zügen, der Pastor, »Sie scheinen mir da die
neuen Ideen schon ganz tüchtig eingesogen zu haben -- die Saat ist bei
Ihnen auf fruchtbaren Boden gefallen, darf man fragen, was den ersten
Anlaß dazu gegeben hat?«

Zu jeder anderen Zeit würde Hennig, der doch noch einen tiefgewurzelten
Respect vor seinem geistlichen Vorgesetzten im Herzen trug, scheu vor
dem fast strengen Blicke des frommen Mannes zurückgebebt sein, und dann
hätte ihm auch nicht die Todesangst entgehen können, die bei solchen
frevelnden Worten in den stieren, bleichen Zügen des alten Schulmeisters
lag, denn der alte Mann saß auf seiner äußersten Sophakante gerade
so, als ob es rothglühendes Eisen, und nicht weichgepolsterte
Pferdehaarkissen gewesen wären, die er unter sich fühlte. Hennigs
Gedanken schienen aber mit seinen letzten Worten auch einen ganz anderen
Flug genommen zu haben -- starr und nachdenkend schaute er, weder die
drohenden Anzeigen in des Pastors, noch die flehenden in seines Seniors
Angesicht bemerkend, vor sich nieder, und wurde erst durch die directe
Frage des ersteren wieder zu sich selbst gebracht. Rasch richtete er
sich empor und sagte, an Papa Kleinholz vorbei nach dem Diaconus, der
noch immer am Fenster stand und hinaussah, deutend:

»Den _ersten_ Anlaß gaben Gespräche mit meinem Freunde --«

»Mit _mir_?« rief der alte Schulmeister, und sprang über das
Fürchterliche solcher Beschuldigung entsetzt, von seinem Sitze auf.

»Mit Herrn Brauer,« fuhr Hennig, den Greis beschwichtigend, fort, »den
zweiten, _stärkeren_ aber erst in der That heute Morgen, und zwar durch
einen Artikel der letzten Nummer der sächsischen Schulzeitung von J.
Melde geschrieben, und _Aufmunterung_ betitelt.«

»Sie haben die Zeitung bei sich?« frug der Pastor mit wieder ganz
freundlichem aufmunternden Lächeln, das nur dem alten Kleinholz
unheimlich vorkam, weil er allein von allen Uebrigen den vorigen
Zornesblick aus den nämlichen Augen blitzend, gesehen hatte.

Hennig holte als Antwort das Papier aus der Tasche, und überreichte es
dem Pastor, dieser schlug es auf; ein mit Bleistift bezeichneter Satz
fiel ihm vor allen Dingen in die Augen, und er las:

»Kann Deutschland frei werden, ohne eine freie Volksschule? Kann das
deutsche Volk stark und einig werden ohne eine freie Volksbildung?
Können sich die freien Institutionen, welche unsere freisinnigen Fürsten
gaben, dauernd erhalten, ohne eine gediegenere Volksbildung? Das sind
Fragen, die insonderheit den deutschen Lehrerstand erfüllen sollen.«

»Die Volksbildung kann und darf nicht mehr einseitig und klerikal
betrieben, die Lehrer können und dürfen nicht mehr wie Kinder
bevormundet und bemaßregelt werden. Die Schule soll und darf nicht
mehr als Magd betrachtet und behandelt werden; soll anders der große,
himmelanstrebende Bau der deutschen Volksfreiheit nicht wie ein Haus auf
Sand gebaut, zusammenstürzen.«

»Ja ja,« sagte er, während er die vorher aufgesetzte Brille wieder
abnahm, und neben das Papier legte -- »das klingt nicht übel, und ich
kann mir denken, wie es durch sein bestechendes Aeußere junge Leute
wie Sie sind, lieber Hennig, mit fortreißen mag. Glauben Sie denn aber
wirklich, daß _uns Geistlichen_ etwas daran gelegen wäre, die Schule mit
der Kirche eng verbunden zu halten, wenn wir es nicht der guten Sache
wegen thäten? Glauben Sie wirklich, daß die Schule _ohne_ die Kirche
fort bestehen kann? -- Sehen Sie, lieber Hennig,« fuhr er fort, ohne dem
jungen Manne Zeit zu einer Antwort zu lassen: »Das sind eben _Fragen_,
die dem Publicum hier vorgelegt werden -- ich will nicht sagen, _um_ es
irre zu machen, aber doch etwa mit demselben Erfolge; Deutschland kann
allerdings nicht ohne freie Volksschule -- _frei_ werden, wenn Sie es
denn einmal so nennen wollen, das deutsche Volk eben so wenig >stark und
einig< ohne freie Volksbildung sein, und ebenso gehört eine gediegene
Volkserziehung dazu, die Völker der Gaben werth zu machen, die sie bis
jetzt von ihren gnädigen Herren und Fürsten erhalten haben. Diese drei
Fragen will ich Ihnen also von Herzen gern, und ganz in Ihrem, wie in
des Schreibers Sinn, mit _nein_ beantworten, nun aber beweisen Sie
mir einmal, daß wir _keine_ freie Volksschule haben; daß unsere freie
Volksbildung _gehemmt_ sei, und daß uns nicht Alles freistehe, was wir
als vernünftige Menschen thun wollen und können, das Volk gediegener zu
bilden? -- Hab' ich z. B. Ihrem von Ihnen selbst entworfenen Schulplane
je etwas in den Weg gelegt? Hab' ich mich hineingemengt, was Sie den
Kindern in Geschichte und Geographie, in freien Ausarbeitungen und
Verstandesübungen lehrten? -- nie -- nur das für den jungen Geist
Gefährliche half ich aussondern, und das Erz reinigte ich mit Ihnen von
den Schlacken; unsere Schule _ist_ frei, denn daß der Geistliche als der
Vorstand derselben dasteht, scheint mir, als Einwirkung auf die Sache
selbst, nur von geringer Bedeutung. Uebrigens, und um Ihnen zu beweisen
daß ich Verbesserungen wie sie wirklich das Wohl der Schule befördern
können, keineswegs feindlich gesinnt bin, habe ich sogar selber
schon darauf gedacht eine Aenderung in diesem, wie Sie sagen für
den Schullehrerstand drückenden Verhältniß herbeizuführen und den
sogenannten Uebelstand dadurch vollkommen abzuschaffen -- doch davon
später ein mehres. Für jetzt, mein guter Hennig, erlauben Sie mir, auch
Ihnen ein paar Fragen vorzulegen, die _nicht_ in dieser _Aufmunterung_,
wie der Artikel ja wohl überschrieben ist, stehn, vorausgesetzt, daß Sie
eine Trennung der Kirche von der Schule wünschen. Diese Fragen sind:

»Möchten Sie den _Religionsunterricht_ der Kinder verlieren? und ist
dieser nicht gerade das, was das kindliche Herz so innig an den Lehrer
fesselt? -- ist er nicht gerade die Mittheilung jenes geheimnißvollen
göttlichen Waltens -- der Erschluß, möchte ich sagen, eines bis dahin in
des Kindes Brust noch ungeahnten Gefühls, der es mit scheuer liebender
Ehrfurcht zu dem Lehrer hinzieht? Und das wollten Sie muthwillig, für
das todte nichtssagende Wort >Freiheit der Schule,< aufgeben? -- ich
glaube kaum; wenn die Lehrer untereinander die Sache nur erst einmal
ordentlich überdacht haben werden -- kommt jedenfalls ein anderes
Resultat heraus, als das bisherige. Noch liegen wir im fröhlichen
Jubelrausch der so unverhofft gewonnenen Errungenschaften -- aber es ist
eben auch nur ein Rausch, der bald verfliegen und die, die ihm fröhnten,
nüchtern und mit Reue über ihr thörichtes unbedachtes Streben zurück
lassen wird.«

»Aber das ist noch nicht Alles -- ich habe das nur vorher erwähnt,
was des _Lehrers_, des wahren guten und treuen Lehrers Seele am ersten
rühren und bestechen muß -- die Liebe und Anhänglichkeit seiner Schüler;
nun kommt das noch, was leider mit seinem Geiste Hand in Hand gehn muß,
und eine Zurücksetzung eben so wenig verträgt, wie dieser, da es sonst
zu störend auf ihn zurückwirken würde -- und das ist der _Körper_ -- das
leibliche Wohl des Schullehrers.«

Der Diaconus trommelte schärfer auf der Scheibe und Hennig, der
während der letzten Worten den Kopf gesenkt und das zurückerhaltene
Zeitungsblatt fester und fester zusammengedreht hatte, sah jetzt
wieder zu seinem Vorgesetzten auf, als ob er gespannt dessen weitere
Auseinandersetzung erwarte.

»Daran haben Sie noch nicht gedacht, nicht wahr?« schmunzelte der
Pastor, dem die Bewegung des jungen Mannes nicht entgangen war; »ja
lieber Hennig, wenn sich die Schule von der Kirche absolut trennen
_will_, und unsere hohe Staatsregierung natürlich ihre Einwilligung dazu
giebt, was übrigens kaum zu erwarten steht und Gott verhüten möge, dann
bleibt der Schullehrer auch natürlich nur auf seine _Schuleinnahme_
angewiesen, und Alles was er bis jetzt an Glöckner-, Küster- und
Cantor-Accidenzien eingenommen, fällt, wie sich das von selbst versteht,
weg. Es wird nämlich wohl kein Schulmeister so thöricht sein, seinen
vollen Gehalt für Läuten, Orgelspielen etc. etc. nach wie vor zu
verlangen, da ja das Dorf dann noch besonders einen anderen Mann zu
halten und zu bezahlen gezwungen wäre -- und _doppelt_ zahlen die
Bauern _Nichts_, ich dächte das bedürfte, Ihnen Beiden gegenüber, keiner
weiteren Bestätigung. Nun berechnen Sie sich selbst was Ihnen alles,
wenn Sie sich wirklich in den Fall einer Trennung setzten --«

»Bester Herr Pastor.«

»Ich nehme ja nur den möglichen -- für jetzt _erdachten_ Fall, guter
Kleinholz -- was Ihnen Alles, sage ich abginge an Ihrem jetzt schon
nichts weniger als brillanten Gehalt -- Sie würden vielleicht nicht
einmal im Stande sein zu _leben_ und glauben Sie, daß Sie einem besseren
Loos entgegengingen, wenn Sie von den Bauern allein abhängig in Ihrer
Besoldung wären?«

»Sehn Sie, meine Freunde, jede Sache hat, wie ich Ihnen das auch
eigentlich gar nicht mehr zu sagen brauche, ihre zwei Seiten -- eine
gute und eine böse -- und es ist nicht allein nothwendig, nein es ist
auch unsere Pflicht, die Schattenseiten dessen, was einst einen so
wichtigen Theil unseres Lebens ausmachen soll, zu beleuchten, um
sie entweder vorher kennen zu lernen oder -- wenn wir sie für gar zu
schwierig halten, zu vermeiden.«

»Damit habe ich Ihnen Beiden übrigens keineswegs alle die
Unannehmlichkeiten aufgezählt, die eine Trennung der Schule und Kirche
für den Lehrer haben müßte; nein, das lag auch gar nicht in meiner
Absicht, denn Sie können sich wohl denken, daß es mir, des Nutzens
wegen, den es mir bringt, ziemlich gleichgültig sein kann, ob ich
Schulvorstand bin oder nicht; es ist das ein Amt, was mir _viel_
Zeit raubt und gar Nichts einbringt, aber, da wir doch einmal gerade
daraufkamen, hielt ich es für meine Pflicht, Ihnen wenigstens meine
Ansichten darüber mitzutheilen -- überlegen Sie sich die Sache nur
selbst und prüfen Sie -- Ihr gesunder Geist wird Sie dann schon das
richtige _wählen_ lassen.«

»Doch, was eigentlich die Hauptsache dessen war, worüber ich mit Ihnen
zu sprechen wünschte, -- Sie haben wohl heute hier in Horneck eine Art
Conferenz der benachbarten Lehrer?«

»Allerdings«, sagte Hennig, »ich glaube sogar, daß sie schon
größtentheils eingetroffen sein müssen, wenn sie nach dem
Mittagsgottesdienst von zu Hause weggegangen sind.«

»Horneck liegt so von all den umliegenden Dörfern in der Mitte«
entschuldigte Kleinholz die Versammlung.

»Ei ja wohl, ich finde das ganz natürlich« fiel rasch und beistimmend
der Pastor ihm in's Wort, »es ist mir aber lieb, daß es sich so
getroffen hat, und ich vorher noch im Stande war, Ihnen etwas
mitzutheilen, was jedenfalls von Interesse für Sie und Ihre Freunde
sein wird. Es ist nämlich keinem Zweifel mehr unterworfen, denn meine
Berichte aus der Residenz sind ziemlich zuverlässig, daß die Minister
einer Trennung der Kirche von der Schule vollkommen entgegen sind,
wenigstens werden sie nie die Zustimmung der ersten Kammer dazu
bekommen, wir Geistlichen selbst sehen aber ein, daß eine Reform in den
jetzigen Verhältnissen, wenn auch nicht gerade unumgänglich nöthig, doch
jedenfalls nicht ganz unzweckmäßig wäre, wir finden es sogar billig, daß
den Schullehrern auch das Recht zustehn müßte, ihre Schulen selbst
und durch aus ihrer eigenen Mitte gewählte und sachverständige Männer
revidiren zu lassen.«

Der Diaconus wandte sich erstaunt nach dem Pastor um, und auch Hennig
horchte mit der gespanntesten Aufmerksamkeit einem Zugeständniß, das er
nie erwartet hatte von des Geistlichen eigenen Lippen zu hören.

»Um also Allem und Jedem zu genügen, was nur vernünftigen Menschen, die
nicht gerade das Unmögliche, und mit dem Kopf absolut gegen die Wand
rennen wollen, auch vernünftiger Weise verlangen können, geht mein
Plan dahin, daß künftig der Schulvorstand aus _fünf_ Mitgliedern oder
Theilhabern bestehe, von denen _drei_, also die Majorität _Schullehrer_
-- _zwei_ aber, und zwar die Minderheit, _Geistliche_ sein müssen, wobei
zugleich sonst jeder dazu gewählt werden kann, der den Betheiligten,
also dem Schullehrerstande überhaupt, am meisten zusagt. Ist das
geschehen, so denk' ich können Sie versichert sein, daß keine Klagen
weiter über Uebergriffe der Pastoren vorfallen können, die Majorität
des Schulvorstandes, also die Lehrer hätten sich das nur sonst
selbst zuzuschreiben. Dieß ist also ein Gegenstand, der Ihre größte
Aufmerksamkeit verdient, und es wäre mir sogar lieb, mein guter Herr
Hennig, wenn Sie es heute Nachmittag in Ihrer Versammlung zur Sprache
bringen wollten. Mit einigen meiner Amtsbrüder hab' ich darüber
schon verkehrt, werde auch ebenfalls der nächstens zusammentretenden
Geistlichkeit den Vorschlag machen, und bin ihrer Einwilligung ziemlich
gewiß. Es wäre vielleicht auch nicht unpassend, wenn wir Alle zusammen,
Lehrer und Geistliche eine gemeinschaftliche Bittschrift hierüber an ein
hohes Ministerium aufsetzten und übergäben, damit dieses sich von
der wahren Stimmung im Lande überzeugen und danach handeln und
wirken könnte. Ich glaube bestimmt, daß Ihre Collegen ein solches
Entgegenkommen von unserer Seite freudig begrüßen werden, und wie
segensreich das dann auf die uns anvertraute Jugend zurückwirken muß,
wenn wir, die wir für die Bildung des Geistes und der Seele vereinigt
dastehen, auch vereinigt und freundschaftlich handeln, brauche ich Ihnen
doch wahrlich nicht erst weiter auseinanderzusetzen.«

»Jetzt also, mein lieber Kleinholz, will ich Sie Beide Ihren Freunden
nicht länger entziehen; morgen vielleicht, oder wenn Sie die Sache näher
besprochen und überlegt haben, reden wir weiter darüber!«

Die beiden Schullehrer erhoben sich bei diesen Worten von ihren Sitzen,
empfahlen sich dem Pastor, der ihnen freundlich und mit einigen gütigen
Abschiedsworten die Hände drückte, und verließen das Zimmer. Der
Diaconus wollte sie begleiten; diesen aber hielt der Pastor noch zurück
und Hennig und Kleinholz schritten allein und schweigend, Jeder mit
seinen Gedanken über das eben Gehörte beschäftigt, in die Schulwohnung
langsam hinüber.



Zehntes Kapitel.

Die Schulmeister.


Zu Hause fanden die beiden Männer schon die Botschaft ihrer Collegen,
die voraus in die Schenke gegangen waren, und sie bitten ließen, so bald
als möglich nachzukommen. Der Pastor hatte sie gar so lange aufgehalten,
und ungesäumt folgten sie dem Rufe; Papa Kleinholz, dem übrigens seines
Hülfslehrers Keckheit beim Herrn Pastor fast den Athem versetzt hatte,
benutzte den kurzen Weg von der Schule in die Schenke hinunter, um ihn
darüber zur Rede zu stellen, und zu bitten, doch nur um des Himmels
Willen zu bedenken, in welche Verlegenheiten er sich dadurch bringen,
und was für Folgen so etwas für ihn und seine künftige Laufbahn haben
könne.

Hennig antwortete all' diesen Vorstellungen aber nur höchst einsylbig,
oft zerstreut; des Pastors Worte hatten einen wilden Sturm feindlicher
Gefühle in seiner Brust erweckt, und Pflicht und Liebe schlugen in
dem armen Herzen ihre erste, aber deshalb gewiß nicht minder heftige
Schlacht. Schweigend schritt er an seines Vorgesetzten Seite dem
verabredeten Berathungsplatze zu und unschlüssig kämpfte er mit sich,
was er in dieser Sachlage thun, wie er handeln und auftreten solle.

In der Schenke zu Horneck hatten sich indessen zahlreiche Gäste
eingefunden; der Wirth verstand selber die kunstgerechte Bereitung der
edlen Gerste und braute ein ganz vorzügliches Bier, und der Horneck'sche
Kartoffelkuchen war weit und breit berühmt; kein Wunder denn, daß das
warme Frühlingswetter, das dem Mai selbst an Milde und Lieblichkeit
nichts nachgab, eine Menge Hungriger und Durstiger herbeigezogen hatte,
die nun im Garten oder in dem neuen, Veranda ähnlichen Ausbau des Hauses
saßen, und den einzelnen Melodien des »Orchesters« lauschten.

Kleinholz und Hennig hielten sich jedoch nicht zwischen den Gästen
auf, nur herüber und hinüber grüßten sie, wo sie vielleicht einen
alten Bekannten sitzen sahen, drängten sich durch die zahlreich in der
Hausflur und dem Billardzimmer nach dem Garten vielfach hin und her
Wandernden, und stiegen zu einem kleinen stillen Hinterstübchen hinauf,
das ihrer Conferenz von dem Wirthe eingeräumt worden.

Hier von dem Lärm und der Musik unten nicht gestört, da seine Fenster
nicht nach dem Garten, sondern nach dem Dorfe aussahen, saßen um einen
langen, in die Mitte gerückten Tisch die Schullehrer der benachbarten
Ortschaften, und waren, allem Anschein nach, schon recht tief und eifrig
in die Debatte hinein gerathen. Bei der Neuankommenden Eintritt wurde
diese nun allerdings auf kurze Zeit unterbrochen, doch nur so lange,
als es bedurfte, eine Bank, da es heute bei dem Andrange von Gästen an
Stühlen fehlte, zum Tisch zu rücken, auf der dann Kleinholz und Hennig
zusammen Platz nahmen.

Bis das Mädchen wiederkam, welches den Schullehrern bei ihrer Ankunft
ein Glas Bier oder ein Schnäpschen besorgt hatte, schoben ihnen die
Nachbarn ihre eigenen Gläser näher, und der Präsident, ein alter
würdiger Schullehrer von Kosholz, der die Verhandlungen leitete,
wiederholte nochmals mit kurzen Worten den schon besprochenen Gegenstand
der Debatte -- die Trennung der Schule von der Kirche, _für_ die sich
zwei, _gegen_ die sich aber schon vier Stimmen erhoben hatten. Er setzte
auseinander, wie nöthig es sei, daß sie sich über diesen Gegenstand, der
in gar kurzer Zeit alle ihre Energie in Anspruch nehmen müsse, vorher
klar und bewußt würden, daß jeder selber darüber ein Urtheil bekäme und
nicht blos, entweder von seinen Vorgesetzten auf der einen, oder auch
von leichtsinnigen, neuerungssüchtigen Menschen, die nur immer Freude
am Niederreißen und nimmer am Aufbau fänden, auf der anderen Seite
getäuscht und irre geleitet würden.

»Meine lieben Amtsbrüder,« nahm da Vater Kleinholz, von seinem Sitze
aufstehend, mit zitternder Stimme das Wort, »ich bin kein Redner, und
das, was ich auf den Herzen habe, kann ich nur mit kurzen und nicht
zierlich gestellten Worten herausbringen, aber es kommt auch dafür
gerade _vom_ Herzen, und ich möchte es Ihnen ebenfalls an die Herzen
legen. Ich bin _gegen_ eine Trennung der Schule von der Kirche, und
zwar aus recht vielen und wichtigen Gründen. Wir kommen Beide eben, Herr
Hennig und ich, vom Herrn Pastor Scheidler, der mir stets, mit _sehr_
wenigen Ausnahmen, ein freundlicher Vorgesetzter gewesen ist, und ich
glaube, wir können uns mit dem, was er, als Geistlicher, uns selber
vorschlägt, recht gut begnügen. Ich bin gegen eine Trennung der Kirche
und Schule, weil es mir in der Seele weh thun würde, wenn wir mit dem
Religionsunterricht auch das süße Einverständniß verlören, was wir
jetzt, durch diesen, über den Geist der Kinder gewinnen; ich bin aber
auch gegen die Trennung, weil sie für uns unmöglich ist, weil der
Schulmeister ohne die verschiedenen Einnahmen, die ihm sein Kirchner-,
Glöckner- und Cantordienst abwirft, möglicher Weise gar nicht mehr
existiren könnte. Ich habe jetzt mit meiner Familie etwa 100 Thaler
jährlich, und der Herr weiß es, oft genug esse ich in Sorgen mein
Brod, und grüble und grüble, wie ich es nur anzufangen habe, einfach
auszukommen. -- Das Jahr ist lang -- die Kinder wollen das _ganze_ Jahr
essen und gekleidet sein, und 100 Thaler sind eine entsetzlich kleine
Summe für eine so gewaltig lange Zeit. Wären wir im Stande, uns ohne
jene außer der Schule liegende Einnahme zu behelfen? -- _nein_, das
wären wir nicht, wir gingen der Noth und dem fürchterlichsten Elend
entgegen, und wollen wir also den Nutzen nicht aufgeben, den wir
durch jene Arbeiten genießen, so dürfen wir uns auch der Mühe und den
Unbequemlichkeiten nicht entziehen, die daraus hervorgehen. Meine
Stimme ist deshalb _gegen_ eine Trennung, und ich hoffe, auch Ihr lieben
Freunde werdet zuletzt einsehen, daß sie uns und der Schule nur
zum Nachtheil gereichen, keineswegs aber eine gehoffte Besserung
herbeiführen würde.«

Vater Kleinholz setzte sich wieder nieder, und von mehreren Seiten
standen die Redner auf, die alle, wie der vorhergehende Sprecher,
gegen eine Trennung waren, Viele beriefen sich dabei auf ihre eigenen
Geistlichen, die mit ihnen ausführlich über die Sache gesprochen, Alle
aber waren darin einig, daß das Aufgeben des Religionsunterrichtes ein
Verlust für den Lehrer sein würde, den gar kein errungener Vortheil
wieder aufwiegen oder ausgleichen könne.

»Mitbrüder und liebe Genossen,« sagte da endlich Hennig, der bis
jetzt noch kein Wort in die Debatte gesprochen und manchmal fast
augenscheinlich mit sich gekämpft hatte, jetzt aber plötzlich zu einem
festen bestimmten Entschluß gekommen zu sein schien. »Ich bin zwar noch
jung, viel jünger, als Manche hier, die in ihrem Ehrenamte ergrauten,
aber desto weniger bin ich auch vielleicht mit den alten Gewohnheiten
verwachsen, die es nachher so viel Mühe kostet, wieder abzuschütteln.
Ich fühle eben so gut, wie Sie, daß wir dem Religionsunterrichte der
Kinder nicht entsagen dürfen, der Lehrer würde durch den Verlust dieses
Zweiges zu einer bloßen künstlichen Maschine, die den Kindern nur das
Ein mal Eins und das Geheimniß der Buchstabenstellung einbläut. Herr
Pastor Scheidler hat uns Beiden zwar heute Nachmittag gesagt, daß wir
ihn wirklich einbüßen müßten, wenn wir uns von der Kirche losrissen,
aber es ist das doch auch nur die Meinung eines einzelnen Mannes, noch
dazu eines bei der Sache interessirten, die wahrlich nicht maßgebend für
uns sein darf.«

»Aber bester Herr Hennig,« sagte Kleinholz erschreckt.

»Er mag es,« fuhr Hennig fort, ohne die Unterbrechung zu beachten,
»vielleicht recht gut mit uns Schullehrern meinen, ich will das gar
nicht bezweifeln und -- wäre der letzte der ihn kränken möchte, aber ich
glaube, er sieht die Sache mit zu schwarzen Farben, und ich will Euch
deshalb _meine_ Ansicht darüber mittheilen. Wer hat uns denn schon
eigentlich verbürgt, daß wir, bei einer Trennung der Schule von der
Kirche, auch nothwendiger Weise den Religionsunterricht verlieren
_müßten_? Wer hat uns das bis jetzt gesagt, als nur allein die
Geistlichen selber, und sind wir denn so gewiß, daß das nicht hier und
da, und im Anfang vielleicht, auch größtentheils deshalb mit geschehen
ist, um uns in unserem Streben irre zu machen, oder davon abzubringen?
Der Religionsunterricht ist eben ein _Unterricht_ und gehört zur
Schule und so wenig wie er in den Schulen der großen Städte fehlt,
die gleichfalls schon der keineswegs für den Lehrer ehrenvollen
Beaufsichtigung der Geistlichen entzogen sind, eben so wenig wird er
in den Landschulen fehlen dürfen und wirklich fehlen. Selbst hier liegt
übrigens ein Ausweg für uns ganz klar und leicht zu Tage; wir wollen
uns ja gar nicht losreißen von der Kirche und dieser feindlich
gegenüberstehen, im Gegentheil; das Wirken der Schule und Kirche ist ein
so gleiches -- oder sollte doch wenigstens ein so gleiches sein -- daß
ein förmliches Losreißen keinem zum Vortheil, Beiden aber vielleicht
zum großen Nachtheil werden könnte; stehen Kirche und Schule aber neben
einander, und glaubt der Staat, daß es nothwendig für die religiöse
Erziehung der Kinder sei, den Pastor, wie bisher, Theil am
Religionsunterrichte nehmen zu lassen, ei dann schadet das auch nichts,
und gewährt uns höchstens eine wenn auch kleine Erleichterung unserer
schweren Pflichten; an uns ist es nachher noch immer, den Stundenplan
zu machen, in unsere Hand gegeben auch außer den vom Prediger ertheilten
Lectionen durch moralische Belehrung den vollen Einfluß auf das
kindliche Herz zu behalten, dessen wir uns bis jetzt erfreut haben. Ich
meinestheils würde darin sogar einen neu errungenen Vortheil sehen, wenn
wir der wirklichen Dogmen enthoben würden, und es dem Pastor überlassen
könnten, diese zu lehren und -- zu vertreten. -- Der Lehrer mag dann
sehen, ob er im Stande ist, auch ohne die Bibel den Glauben an Gott in
des Kindes Brust zu festigen und die herrliche Natur wird ihm das
Buch sein, in dem er auf jedem Blatt, wohin er sich auch wendet, die
heiligste Bestätigung seiner Lehre findet. Laßt es denn einen Wetteifer
werden, lieben Brüder, in einem ehrenvollen und selbst für die Kinder
segensreichen Kampfe, in dem Ihr noch dazu so unendlich im Vortheil
seid, denn der Geistliche wird, wie bisher, die jungen Gemüther in
scheuer Ehrfurcht vor dem kaum geahnten Thron eines _allmächtigen_
Gottes stehen lassen, während Ihr Euere Schutzbefohlenen mit lächelndem
Angesicht in die unmittelbare Nähe des _Alliebenden_ führt.«

»Aber selbst das ist noch keine nöthige Folge einer Trennung der Schule
von der Kirche, denn war der Schullehrer bis jetzt noch befähigt genug,
den Religionsunterricht zu ertheilen, so sehe ich nicht ein, weshalb
das später nicht eben so gut der Fall sein soll. Die _Aufsicht_, die der
Pastor darüber gehalten, fiele allerdings weg, aber es müßte uns erst
bewiesen werden, daß die nöthig gewesen ist, und daß sie auch wirklich
der Erziehung der Kinder genützt, nicht _geschadet_ habe.«

»Was nun die Kirchner- und Glöcknerdienste betrifft, so ist der
Gehalt, den wir für diese, wie das Orgelspielen bekommen, allerdings
beträchtlich genug, um ihren Verlust Leuten fühlbar zu machen, die nicht
einen Thaler von ihrem Gehalte einbüßen dürfen, wenn sie nicht Mangel
und Noth leiden sollen. Aber auch das, glaube ich, beruht nur auf einer
thörichten Angst von unserer Seite, der wir uns um Gotteswillen nicht
weiter hingeben dürfen. Es wird Niemanden von uns einfallen, sein
_ehrenvolles_ Cantoramt, das Spielen der Orgel, aufgeben zu wollen, denn
dort ist der Schullehrer schon deshalb auf seinem Platze, weil es in
die Ausübung des von ihm gelehrten Gesangunterrichts fällt, und er die
Kinder auf der Orgel unter seiner unmittelbaren Leitung behält. Die
Gemeinde hat aber auch in ihrem Bezirke keinen andern, der es versteht,
und einen besondern Organisten zu halten, kann ihr schon der zu hohen
Kosten wegen, welche die gänzliche Unterhaltung eines solchen Mannes
mit sich bringen müßte, gar nicht einfallen. Der andere Dienst aber, der
Glöckner- und Küsterdienst, _muß_ wegfallen, denn er gerade ist es, der
das Amt des Schullehrers bis jetzt _entwürdigt_ und diesen zum directen
Diener des Pastors gemacht hat.«

»Hier in den alten General-Artikeln, von denen es eine Schmach und
Schande ist, daß sie, die 1580 entworfen wurden, 1848 fast noch ohne
Veränderung in Geltung sind, heißt es ausdrücklich:

  »»Auch ein jeder Pfarrer, in deme seinem Glöckner zu befehlen und zu
  gebieten hat -- er ihm auch hierinnen billigen Gehorsam zu leisten
  schuldig und nicht widerstreben soll.««

»Ferner sollen sie nach Vorschrift eben dieser General-Artikel tit.
XXXVIII:

  »»Auf die Pfarrer in allen Kirchenämtern bei den Predigten, Taufen,
  Sakramentreichen und Besuchung der Kranken warten, und deswegen ohne
  ihr Wissen und Willen nicht ausreisen, damit sie ihrer gewiß sind.««

»Den besten Aufschluß über das Verhältniß der Schullehrer zu
den Pastoren giebt aber unstreitig M. Gottlieb Schlegel's >Der
Chursächsische legale Schulmann<, der mit klaren dürren Worten als
Anleitung für die Schullehrer, wie sie sich zu ihren Vorgesetzten zu
verhalten haben, besonders die vorgenannten Stellen citirt und daraus
den, leider Gottes auch von unseren Gemeinden, und was noch schlimmer
ist, von uns selbst angenommenen Schluß zieht:

  »»Hieraus ersieht man, in welches Verhältniß die Landesgesetze den
  Schulmeister oder Küster gegen seinen Pfarrer gesetzt haben. Er
  ist der _Diener_ des Pfarrers und hat ihn nicht blos als seinen
  Vorgesetzten, sondern auch als seinen _Herrn_ anzusehn. Diese
  Gesetze sind keineswegs antiquiret, wenngleich ein vernünftiger
  Pfarrer seine Superiorität dem ihm untergebenen Schulmeister nicht,
  wie in vorigen Zeiten, auf eine demüthigende Weise wird empfinden
  lassen. Es sollen aber, heißt es in dem nur angeführten 37.
  General-Artikel: Auch die Pfarrer ihre Glöckner, ferner nicht, denn
  soviel ihr Kirchendienst belangt, mit Botenlaufen oder anderen, zu
  ihrem Nutzen dringen oder beschweren, sondern sie ihren befohlenen
  Dienst jederzeit unveränderlich abwarten lassen.««

  »»Aus diesem Verhältnisse, in welchem der Schulmeister gegen seinen
  Pfarrer steht, folget nun, daß er den Erinnerungen desselben, und
  was ihm dieser im Kirchendienst befiehlt, gehorsamlich nachkommen,
  die Lieder, die in der Kirche gesungen werden sollen, nicht etwa
  durch einen Schulknaben, sondern in eigener Person abholen; nicht
  eher, als er sich bei dem Pfarrer gemeldet, einlauten; ihn
  bei Amtsverrichtungen begleiten, und wenn dergleichen bei den
  eingepfarrten Dörfern vorfallen, den Priesterrock tragen[2], in
  Abwesenheit des Pfarrers den Gottesdienst und was demselben anhängig
  nach der ihm gegebenen Vorschrift besorgen; die eingegangenen
  Missiven abschreiben; dieselben, insofern solche nicht durch eigene
  Boten besorgt werden, weiter befördern; die Collectengelder, wenn es
  nicht nach der Gewohnheit des Orts die Kirchväter thun, wie auch die
  Berichte des Pfarrers in Kirchen- und Schulsachen dem Superintenden
  einhändigen; daß er sich aber auch äußerlich gegen seinen Pfarrer
  ehrerbietig beweisen, in dessen Gegenwart nicht den Hut aufbehalten,
  nicht Taback rauchen soll, _denn welcher Herr würde seinem Diener so
  etwas verstatten_? So darf er auch ohne Vorwissen des Pfarrers nicht
  verreisen und über Nacht aus dem Hause bleiben. Da pflegen es nun
  manche blos zu melden, daß sie da oder dorthin verreisen würden,
  wenn etwa der Herr Pfarrer etwas zu bestellen hätte. Das ist
  aber nicht genug, sondern sie müssen ihn um Erlaubniß bitten, und
  zugleich anzeigen, was sie in ihrer Statt wegen der Schule und des
  Kirchendienstes für Vorsehung getroffen haben u. s. w. u. s. w.««

  [2]: Interessant ist die Note, die zu dieser Anforderung im »legalen
  Schulmann« steht; ich will sie deshalb beifügen. Sie heißt:

  »Ob er schuldig sei, dem Pfarrer, wenn er auf's Filial geht, den
  Priesterrock zu tragen, kommt auf jeden Orts Observanz an. Ich will
  den Fall setzen, es hätte der vorige Pfarrer zwei Priesterröcke,
  einen in der Mutterkirche und den andern auf dem Filiale gehabt,
  und Nachfolger wollte sich nur einen anschaffen und dem Schulmeister
  zumuthen, denselben bei jeder Amtsverrichtung auf das Filial und
  wieder nach Hause zu tragen, so würde Jener damit nicht fortkommen,
  der Schulmeister würde dieses als eine _Neuerung_ ansehn
  und berechtigt sein, diesfalls von dem Pfarrer eine billige
  Ergötzlichkeit zu verlangen. Bei Pfarr-Vacanzen hingegen kann er
  dergleichen von dem vicarirenden Prediger nicht fordern.«

»Ich habe Ihnen den langen und gewiß schon bekannten Satz noch einmal
vorgelesen, lieben Freunde, um Sie erneut darauf aufmerksam zu machen,
wie gerade die Glöckner- und Küsterdienste es sind, die den Schullehrer
zum eigentlichen Diener des Pastors machen, und den Schullehrerstand
überhaupt _entehren_. Meiner Ansicht nach muß es daher eine unserer
Hauptsorgen sein, von diesen befreit zu werden, und nicht darf uns
dabei die Furcht zurückschrecken, daß deshalb eine Verringerung unserer
Einnahme stattfinden würde. Das kann, darf und wird nicht geschehn und
die Ursachen dazu liegen klar genug auf der Hand.«

»Nimmt das deutsche Parlament, welches jetzt in Frankfurt vereinigt ist,
die Sache auf, oder wird die Ordnung dieser Angelegenheit selbst den
einzelnen Regierungen überwiesen, so werden diese, wenn wir Alle wie ein
Mann zusammenstehn, der Schule ihre Recht wiederfahren lassen _müssen_,
und sie von den Fesseln befreien, die sie jetzt drücken und entehren.
Dann aber, und bei einer ganz neuen Reorganisation, muß auch der Lehrer
so hingestellt werden, daß er mit seinen Einnahmen nicht mehr fast
ausschließlich auf ungewisse Einnahmen und Deputate hingewiesen ist,
und selbst von diesen nicht genug hat, sein Leben auf anständige Art zu
fristen. Wie kann er dem Unterricht seiner ihm anvertrauten Kinder mit
freiem fröhlichen Herzen sein ganze Zeit und Aufmerksamkeit widmen, wenn
es Nahrungssorgen sind, die ihn quälen, und ihn sich abhärmen lassen,
wie es um ihn und die Seinen morgen und übermorgen stehen werde? Das
alte fabrikmäßige >Stunde geben< könnte allerdings dabei fortbestehen,
aber was würde die Folge sein? Die Kinder würden fort erzogen werden,
wie sie bis jetzt erzogen sind und in Druck und Knechtheit aufwachsen,
die Freiheiten, die ihre Väter für sie errungen haben, würden sie nicht
begreifen, nicht zu würdigen verstehen, der günstige Zeitpunkt aber für
die Möglichkeit einer solchen Reorganisation wäre verflossen, und statt
des Segens künftiger Geschlechter, den wir _jetzt_ verdienen, wenn wir
uns um die Bildung des gemeinen Mannes, des Bauern, des arbeitenden
Theiles der deutschen Nation bemühen, erndeten wir ihren _Fluch_, mit
dem sie, lassen wir Alles ungenutzt vorübergehn, unserer Lethargie,
unsere Theilnahmlosigkeit, unsere unverzeihliche Verblendung, ja
Feigheit verdammen müßten.«

»Doch, ich habe Ihre Aufmerksamkeit wohl schon zu lange in Anspruch
genommen, und will jetzt nur noch kurz einen vermittelnden Vorschlag
erwähnen, den uns Herr Pastor Scheidler heut Nachmittag gemacht. Er
lautet dahin, daß er die Ansprüche anerkennt, welche die Lehrer haben,
sich aus ihrer eigenen Mitte ihre Vorgesetzten zu wählen, weil er es
aber für gut hält auch den geistlichen Stand dabei vertreten zu sehn,
und um besonders ein zu schroffes Entgegenstehn beider, der Schule
gegen die Kirche zu vermeiden, will er der nächstens zusammentretenden
Geistlichkeit den Vorschlag machen, freiwillig von ihren bisher
genossenen Vorrechten zu abstrahiren, und die hohe Staatsregierung, dann
aber mit den Lehrern, vereint, zu bitten, eine Schulcommission von fünf
Personen durch die Schullehrer selbst wählen zu lassen, von denen die
Majorität, also drei, _Schullehrer_, die andern zwei aber _Geistliche_
sein sollten. So sehr, wie ich aufrichtig gestehen will, mich dieser
Vorschlag im Anfang durch seine anscheinende Gerechtigkeit bestochen, so
muß ich mich meines Theils für jetzt _dagegen_ erklären, und bitte die
Versammlung, ihre Meinung darüber auszusprechen.«

Es entstand jetzt eine lebhafte Debatte über das eben Gehörte, das
zu viel Wahrheit enthielt, um es ganz ableugnen zu können, aber auch
zugleich der bis dahin so fest und gewaltig eingewurzelten Ehrfurcht
gegen ihre hohen Vorgesetzten so schnurstracks entgegenlief, um
nicht viel mehr Widerstand als Vertheidiger zu finden. Nur der letzte
Vorschlag wurde fast allgemein freudig begrüßt und besonders äußerten
die älteren Lehrer: es sei das ein neuer Beweis von des Herrn Pastors
Scheidler Humanität, der ihm nur zur Ehre gereichen, und von ihnen
mit verbindlichen und dankbaren Herzen aufgenommen werden müsse. Eine
Trennung der Kirche von der Schule sei überhaupt etwas unnatürliches --
es wäre als ob man das Kind von der Mutter reißen wollte und könne keine
segensreichen Folgen haben. Allerdings gestanden die Männer die schweren
bösen Uebelstände ein, die von dem Küster- und Glöcknerdienst herkämen,
gestanden ein, daß ihnen das dienstliche Verhältniß, in dem sie zu ihren
verschiedenen Pastoren stünden, oft, o wie oft, drückend geworden, und
mancher Mißbrauch auch, von Seiten der Geistlichkeit, vorgefallen wäre,
aber durfte man fürchten, daß dieß auch ferner geschehe; hatten nicht
die Zeitereignisse einen ganz gewaltigen Wechsel in den beiderseitigen
Stellungen hervorgebracht? Zeigten sich die Pastoren jetzt nicht
viel freundlicher und herablassender als je, und war es nicht
auch Schuldigkeit der Lehrer, die Hand zu ergreifen, die ihnen in
Freundschaft und Einigung entgegengestreckt wurde. Ja lag es nicht im
eigenen Vortheil des Lehrers das Verhältniß zwischen Pastor, Lehrer und
Gemeinde, wie es bisher bestanden, auch fortbestehen zu lassen? --
War es nicht der Pastor, der so oft, und besonders wenn er »mit dem
Schullehrer auf gutem Fuße stand« vor ihn gebrachte Klagen der Eltern
mit wenigen Worten beseitigte, die, wenn sie hätten sollen jedesmal an
die Schulinspektion gehn, gerade ihrer Unbedeutenheit wegen so fatal
und unangenehm gewesen wären? Ueberhaupt, was half ihnen eine Besserung
ihres Zustandes, wenn sie nachher mit denen in Unfrieden leben sollten,
auf die sie bis jetzt angewiesen gewesen, und konnte das nachher
überhaupt eine Besserung genannt werden? Nein -- dankbar wollten sie
nehmen was man ihnen böte, sich des Gegebenen dann freuen, und
mit frischen Kräften an ihr großes schönes Werk gehn, die Kinder
heranzuziehen zu guten Menschen und treuen Unterthanen.

Es lag etwas Rührendes in dieser Resignation der armen bedrückten Klasse
-- in der scheuen Ehrfurcht mit der sie von ihren Geistlichen sprachen,
die ihnen nur in den wenigsten Fällen mehr als eben Vorgesetzte gewesen.
Selbst Hennig, obgleich im Ganzen mit seinen Amtsbrüdern nicht ganz
einverstanden, fühlte sich davon ergriffen, und es entstand eine
ziemlich lange Pause, in der sich Jeder zu scheuen schien, das Wort zu
nehmen.

Ein bleicher hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und hohl liegenden
aber feurigen Augen, dabei mit edlen lebendigen Zügen, kühn gewölbter
Stirn und freier Haltung, hatte bis jetzt an der entferntesten Ecke des
Tisches schweigend gesessen und den einzelnen Ansichten gelauscht. Oft
schien es auch als ob er, nur in seine eigene Gedanken vertieft, dem
Lauf der Debatte gar keine Aufmerksamkeit weiter schenke, der rasche
forschende Blick aber, der gleich darauf wieder, bei irgend einer, noch
nicht geäußerten Idee aus seinen düsteren Augen blitzte, mußte jede
solche Vermuthung bald verbannen und ein genauerer Beobachter hätte
sogar das rasche Athmen der Brust, die wechselnde Farbe seiner sonst
eigentlich fahlen Züge und die Unruhe, die in seinem ganzen Wesen lag,
bemerken können. Es war der Lehrer Kraft aus Bachstetten.

»Mitbrüder« sagte er endlich mit leiser, doch leicht verständlicher,
klangvoller Stimme -- »Ihr seid _gegen_ eine Trennung der Schule von
der Kirche, weil Ihr es für das Wohl der Schule besser haltet. Ihr seid
_für_ den, vom Pastor Scheidler vorgeschlagenen Schulvorstand, weil Ihr
meint, die Geistlichkeit meine es ehrlich mit Euch und wolle wirklich
den Fortschritt. Mitbrüder, ich bin ein alter Schulmeister, neun und
zwanzig Jahre esse ich das sauere Brod eines Dorflehrers -- neun und
zwanzig Jahre bin ich der Diener manches bald guten bald schlechten
Geistlichen gewesen und neun und zwanzig Jahre hindurch habe ich es
erprobt und als eine traurige Wahrheit befunden, daß der Geistliche
_stets_ mein Vorgesetzter, _nie_ aber mir das gewesen ist, was uns
Verstand und Ueberlegung sagen muß, daß er doch eigentlich sein sollte
-- der rathende Freund des Lehrers. Er mag noch so gütig gegen den
Schulmeister sein, stets wird er es ihn doch merken lassen, daß er
ihm sub-, nicht coordinirt ist und dieses Uebergewicht, das er
dadurch erhält, ist es gerade, was ich für das Gedeihen der Schule so
verderblich halte.«

»Das Kind soll vor seinem Lehrer Respekt haben, das kann aber nicht der
Fall sein, wenn es nicht ebenfalls sieht wie _der_ Mann, den es selber
achten soll, auch von anderen Menschen, besonders von _seinen_ Eltern
und Nachbarn geachtet wird. Geschieht das aber? -- Ich sage nein -- nein
und tausendmal nein. Es geschieht _nicht_ und wäre es auch nur vor allen
Dingen des leidigen todten Mammons wegen. Der Schullehrer bekommt 120
bis 200 Thlr. -- Sie Alle wissen wie selten mehr; beim Pastor gehört
eine Stelle von achthundert Thalern keineswegs zu den bedeutendsten und
schon das hebt ihn in den Augen des Bauern, der gewohnt ist, den Werth
des Menschen nach Pferden und Schaafen oder Ackern Land zu schätzen, um
gerade so viel, als seine Einnahme die des Schullehrers übersteigt. Das
hat aber auch Einfluß auf seine ganze Rede und Ausdrucksweise, denn es
fehlt ihm das feine Gefühl selber zu bestimmen, wo in einem Wort oder
Blick etwas kränkendes für den fein fühlenden Mann liegen könnte. Schon
die gewöhnliche Anrede giebt den Beweis: >Schullehrer< heißt's -- >wie
geht's Euch< -- der Pastor wird stets mit einem ehrerbietigen _Herr_
angesprochen. Kommen die Kinder zu Hause und klagen, daß ihnen der
Lehrer Unrecht gethan, so droht Vater oder Mutter mit dem Pastor, und
nicht selten geschieht es, daß dieser sogar dem schuldigen Theile noch
Recht, dem armen schutzlosen Schulmeister gegenüber, giebt. Ich will nur
ein Beispiel hier erzählen, und ganze _Bände_ ließen sich mit ähnlichen
ausfüllen.«

»Vor ungefähr zwölf Jahren war der jetzige Seminar-Direktor Gehler
Pastor in T-- und ein Freund von mir wurde Knabenlehrer und Cantor
daselbst. In der Zeit gab es in T-- eine wahre Brut von Jungen und es
war wirklich nöthig, Strenge zu üben, um nur das eingerissene Uebel erst
einmal zu dämmen, und bessere Sitte einzuführen. Dem Lehrer blieb denn
auch einst, nach der beispiellosesten Geduld kein anderes Mittel,
einen der schlimmsten Buben zur =raison= zu bringen, als körperliche
Züchtigung, und er mag ihm die wohl auch freigebig genug zugemessen
haben. Das geschah Früh. Nachmittags wird er zum Herrn Pfarrer gerufen
und findet dort Niemand Anderes als eben den gestraften Buben und seine
Mutter. Der Pfarrer hält nun, in Gegenwart dieser Beiden ein Verhör und
tadelt den Schulmeister, daß er den Knaben geschlagen habe. Dieser will
sich vertheidigen, der Herr Pfarrer hört aber nicht darauf, sondern holt
einen Apfel, giebt diesen mit Liebkosungen dem Knaben, _und bittet ihn,
es nicht übel zu nehmen_ -- ja der Lehrer mußte sogar noch, wollte er
seine Stelle nicht verlieren, versprechen nicht wieder zu prügeln. Und
das ist der nämliche Mann, der vor einigen Tagen bei einer Versammlung
von Geistlichen auftrat und zu behaupten wagte, die Lehrer seien noch
gar nicht reif zur Emancipation.«

»Wie muß dadurch bei den Schulkindern die Achtung vor dem Lehrer sinken
und ist es zu verwundern, daß dieser zuletzt selber mismuthig und
verdrossen wird, und anfängt zu verzweifeln, das schöne Ziel, nach dem
er im ersten Jugendfeuer und Eifer strebte, je zu erreichen?«

»Auch das trägt nicht dazu bei, den Schullehrer in der Achtung der
Kinder zu erhöhen, wenn der Pastor manchmal so recht unverhofft in die
Schulstube hineintritt, um, wie die Bauern sagen, den Lehrer einmal auf
einem faulen Pferde zu erwischen. Ja, nicht selten kommt es sogar vor,
daß er draußen erst eine Zeitlang vor der Thüre horcht, vielleicht in
der besten Meinung den Lehrer durch sein Erscheinen nicht außer Fassung
zu bringen -- denn es giebt noch Thoren genug unter uns, die ihn
wirklich fürchten -- vielleicht auch in schlechtester Meinung irgend
einen Haken an dem ihm Untergebenen zu finden, an dem er sein Müthchen
einmal kühlen, seine Autorität beweisen könne.«

»Doch das nicht allein, die ganze Stellung, die der Pfarrer hier dem
Schulmeister gegenüber einnimmt, muß dazu dienen, diesen in den Augen
der Gemeinde herabzuwürdigen, oder doch ihm den Lohn zu schmälern, den
er auch manchmal wieder in seinem Amte finden könnte -- wenn der Pfarrer
nicht wäre.«

>[3]Man bringt das Kind, den rohen Sohn der Natur, zur Schule; acht
volle Jahre hat der Lehrer an ihm sein mühevolles Tagewerk zu treiben;
er kann oft kaum sprechen und die einfachsten Begriffe sind ihm
fremd. _Der Pfarrer nimmt ihn auf_. Das Kind macht mehr oder mindere
Fortschritte. _Der Pfarrer beurtheilt dieselben, und versetzt es nach
den Prüfungen, zu Ostern oder Michaelis_. Es hat die Klasse durchlaufen:
_Der Pfarrer versetzt es in eine höhere_. Zöge es weg von seinem
bisherigen Schulorte, -- so schreibt der Lehrer allerdings das Zeugnis,
allein es mangelt noch an Legalität: _Der Pfarrer unterzeichnet es_.
Das Kind versäumt die Schule, der Lehrer schreibt die Versäumnißtabelle,
_der Pfarrer aber unterzeichnet sie_. Ostern und Michael nahen heran,
und mit ihnen die Prüfungen: _Der Pfarrer schreibt die Ordnung der
Gegenstände vor_. Die Prüfung fällt nun so oder so aus -- _der Pfarrer
lobt oder tadelt_, oft nach den momentanen Produktionen; oft das
Kind, das der schlechteste Schüler im ganzen Halbjahr war, mit Lob
überschüttend, oft den besten fleißigsten Schüler durch herben Tadel
zurückschreckend. Der Schulmann ist in seinem Amt -- _Der Pfarrer
inspicirt alle vierzehn Tage_ -- der alte Polizeistaat, der in jedem
Menschen einen treulosen erblickt, zeigt sich hier in seiner vollsten
Glorie. Der Lehrer will ein neues Schulbuch einführen, er hat's
geprüft, es ist ihm von Anderen empfohlen worden. _Der Pfarrer muß seine
Genehmigung dazu geben_, mag er auch noch so wenig davon verstehen. Das
Kind verläßt endlich die Schule. Acht Jahre sauren Schweißes hat es
dem Lehrer gekostet: _Der Pfarrer entläßt es_, nachdem der Lehrer
noch vorher das Wort väterlichen Ernstes an dasselbe gerichtet.
Glücklich der Lehrer, dem man es zugesteht, daß nicht der letzte
Confirmanden-Unterricht, sondern _sein_ treuer Fleiß es wesentlich
gefördert haben. Gab es ein Schulfest im Lauf des Jahres: _Der Pfarrer
hatte es zu genehmigen, denn ohne ihn vermag der Lehrer nichts_.<

  [3]: Sächsische Schulzeitung.

»>Die Lehrer haben Nichts zu ordnen, zu verfügen, zu bestimmen, sie
haben immer ihre Stellung im Auge zu behalten!< sagte einst ein Ephorus
zum Director eines bedeutenden Lehrervereins und es ist bis jetzt leider
Gottes nur zu wahr gewesen. Auch die schmählichen geheimen Inspections-
und Revisionsberichte, Schulprotocolle und geheimen Conduitenlisten, die
der Pfarrer an das Consistorium einsendet, ohne daß dem Lehrer das Recht
zugestanden wird, zu erfahren was _gegen_ ihn gemeldet worden, damit
er sich vertheidigen oder rechtfertigen könne, sind ein _Fluch_ unseres
jetzigen Zustandes und müssen uns vor allen Dingen die Augen öffnen,
wie der Schulmeister zum Pfarrer eigentlich steht, und was wir von einem
Vorschlag wie Herr Pastor Scheidler ihn unserem alten Freunde Kleinholz
und Hennig gemacht hat, zu erwarten haben. Auch ich bin, wie Herr
Hennig, _gegen_ den Vorschlag -- die alte Ehrfurcht steckt noch zu viel
im Schulmeisterrocke -- er sieht in dem Pastor noch immer wirklich etwas
Besseres, als er selbst ist, und so rasch ist das auch nicht heraus
zu treiben. Bekämen wir also jetzt wirklich eine solche fünfköpfige
Schulinspection von drei Schullehrern und zwei Pastoren, wobei
sicherlich und mit Recht die ältesten Schullehrer zu solchem Ehrenamt
gewählt würden, so wäre es doch sonderbar, wenn unter den dreien sich
nicht _Einer_ fände, der von den beiden Pastoren zu ihren Beschlüssen
gewonnen werden könnte, und die Majorität wäre dann, aber mit noch weit
böseren Folgen als bisher, auf jener Seite, denn bis jetzt duldeten wir
nur, weil wir unterdrückt waren und nicht anders konnten; dann würden
wir aber gar kein _Recht_ mehr haben uns zu beklagen, denn es wäre
unsere freie Wahl gewesen, und ausgelacht würden wir noch über unsere
Thorheit.«

»Was dann noch den einen, vorher erwähnten Punkt betrifft, daß der
Pastor, wie das Verhältniß jetzt ist, oft vermittelnd zwischen den
Eltern der Kinder und dem Schullehrer auftritt, so gebe ich zu, daß
dadurch manche Streitigkeiten und für den Lehrer sonst vielleicht
unangenehme Folgen gehoben und beseitigt werden. Was aber, lieben
Freunde, ist denn die eigentliche Ursache eben dieses erwähnten
Uebelstandes? -- wahrlich nichts anderes, als auch gerade die
gedrückte, untergeordnete Stellung, in welcher der Lehrer in seinem
Dienstverhältniß zum Pastor unmittelbar der Gemeinde gegenüber steht.
Es würde keinem der Bauern einfallen, wegen wahren Erbärmlichkeiten
manchmal ihren Pastor zu verklagen, aber den Schulmeister -- ei
sapperment, dem soll's der Pastor einmal sagen, daß er gewagt hat zu
thun, als ob er der Herr in der Schule wäre. Was ist auch hiervon die
Folge? -- Die Kinder behalten -- wenn sie den wirklich je gehabt, keinen
Respect vor dem Schulmeister -- >er darf uns nichts thun, sonst sagt's
mein Vater dem Pastor -- und da kriegt er's.< Das wird der Trotzspruch
der Knaben und demüthigend allein ist das schon für den armen, überall
zurückgesetzten Lehrer, daß er durch ein solches Verklagen auch von
der Gemeinde den Grundsatz ausgeführt sieht -- der Schulmeister ist der
Untergebene des Geistlichen. Glaubt deshalb nicht, Freunde, daß dadurch
in Zukunft ein Zankapfel in den Kreis Eures stillen Wirkens geschleudert
würde, wenn der Pastor den Streit nicht mehr mit wenigen Worten
schlichten kann, sondern ihn an die Schulinspection verweist -- das sind
blinde Gespenster die Ihr dort seht, -- steht der Schullehrer mit dem
Pastor auf gleicher Stufe, d. h. genießt er erst einmal die Achtung, die
er verdient, dann wird es auch den Eltern gar nicht mehr einfallen ihn
für ein so unmündiges Subject zu halten, als das bis jetzt geschehen,
und es wird -- eine Lebensfrage für die Selbstständigkeit des Lehrers --
auch nicht mehr, wie das bisher bei solchen Gelegenheiten der Fall
war, in der Hand des Pastors und von seinen Launen abhängig liegen,
den Lehrer durch ein Wort, ja durch einen Blick der Verachtung oder
Geringschätzung bei den klagenden Eltern zu verdächtigen. -- Der
Geistliche wird die Klagenden nicht mehr an die Schulinspection weisen
können, weil es eben keine Klagenden mehr geben wird, ausgenommen es
wäre wirklich etwas Ernstes vorgefallen, und der Lehrer hätte sich einen
Fehler zu Schulden kommen lassen -- und dann ist die Schulinspection
auch gerade der Gerichtshof, wo die Klage angebracht werden _muß_, und
wohin sie gehört.«

»Also stehet fest zusammen, lieben Mitbrüder, und beweist einmal durch
festes, vereintes Auftreten, daß Ihr auch wirklich verdienet frei zu
sein. Die alten Vorrechte werden jetzt überall den bis dahin bevorzugten
Ständen genommen, laßt nicht die schlimmsten von allen, die der
Geistlichkeit, nach ihrem Willen den strebenden Geist der Völker zu
unterdrücken, auf Euch allein und geduldig lasten, und bedenket, daß Ihr
nicht nur für Euch, daß Ihr für _Deutschland_ arbeitet, für Deutschland
und seine heranwachsenden Generationen.«

Der Lehrer setzte sich nieder, aber fünfe, sechse traten nach einander
gegen ihn auf. Keiner widerlegte das, was er gegen die Geistlichkeit
gesagt -- Alle stimmten ihm darin bei, daß das Uebelstände seien, denen
abgeholfen werden _müßte_, denen aber auch abgeholfen würde, sobald
nur einmal die neue Schulinspection, wie sie der Herr Pastor Scheidler
vorgeschlagen, in Wirksamkeit träte; für jetzt aber, meinten sie, sei
es zu gewagt, »feindlich gegen die Kirche aufzutreten, wo sie noch unter
der Botmäßigkeit derselben ständen --« Pflichten zu verweigern, die sie
bis jetzt geleistet, und für die sie Zahlung bekommen hätten, ohne
auch gewillt oder in den Verhältnissen zu sein, die mit ihnen genossene
Nutznießung mit ihnen aufzugeben. Nein, man vereinigte sich dagegen zu
einem Gesuche an die hohe freisinnige Regierung, die Mißbräuche der vor
Jahrhunderten gegebenen Gesetze abzuschaffen, man erbitte eine baldige,
durchgreifende Reform des Volksschulgesetzes, man beantrage, daß
dem Lehrer eine, seinem Stande und seiner Bildung würdigere, mehr
coordinirte als subordinirte Stellung angewiesen werde, und sei
dann überzeugt, daß die bis jetzt so gehässigen Fatalitäten zwischen
Geistlichen und Lehrern von selber wegfallen würden -- so lautete das
Resultat.

Hennig trat noch einmal mit Kraft für seine Meinung auf, doch vergebens,
er wurde überstimmt, und sogar eine Adresse an die übrigen Lehrer des
Reichs beschlossen, um diese davon abzuhalten, daß sie einer Trennung
der Schule von der Kirche das Wort redeten, dagegen aber aufzufordern,
in der nächst zu haltenden großen Lehrerversammlung kampf- und
schlagfertig zu erscheinen, und ihre Ueberzeugung dort zu verfechten.

Da stand Kraft auf, griff nach seinem Hut und sagte, während er hinter
seinen Stuhl trat:

»Lieben Mitbrüder, Ihr habt Euch entschieden, und ich sehe die Folgen,
die dieser Euer Entschluß haben wird. Nicht, daß Ihr die Trennung der
Schule von der Kirche werdet aufzuhalten vermögen, nein, die _Mehrzahl_
der Lehrer hat hoffentlich Energie genug, jetzt, wo ihr die Waffe der
freien Rede in die Hand gegeben ist, sie auch zu gebrauchen und ihre
Rechte damit zu erkämpfen; aber wehe thut es mir, den Geist erkannt zu
haben, der in dieser Gegend noch die Herzen der Lehrer beherrscht,
ja, bange Zweifel fangen schon an, in mir aufzusteigen, ob selbst
die Emancipation im Stande sein wird, den Geist des Selbstgefühls zu
erwecken, daß er ein Joch abschüttele, nicht etwa nur weil es ihn drücke
oder beschwere, nein, sondern weil es überhaupt ein Joch ist, und ein
Joch, das noch dazu anfängt, ihn zu _schänden_, weil er es freiwillig
tragen will. Daß die Pastoren, noch ehe sie dazu gezwungen werden,
schon ein selbst so precäres Zugeständniß machen, und uns das Recht
zugestehen, unsere Schulinspectoren wenigstens zum Theil aus unserer
Mitte zu wählen, das hätte Euch die Augen öffnen können, wie sie das
Geringe geben, weil sie damit einem größeren _Muß_ vorzubeugen gedenken.
Blinde kurzsichtige Menschen die es sind, daß sie meinen, der einmal
entfesselte Geist ließe sich sobald wieder in die alten Banden der
Knechtschaft hineinpressen.«

»Lebt wohl, lieben Freunde -- berathet Eure Adresse und sendet sie in
alle Welt, gebraucht auch, als zu Eurer Conferenz gehörig, meinen Namen,
verlangt aber nicht, daß ich selber unterschreiben soll, was mir das
Herz in der Brust wenden würde. Ich will nach Bachstetten zurück, und
vielleicht kommt die Zeit, wo ich im Stande bin, für Euer, für unser
Wohl zu wirken!«

Er verließ das Zimmer, und nur Hennig folgte ihm von all' den Uebrigen.



Elftes Kapitel.

Des Musikanten Tochter.


Kraft und Hennig stiegen die Stufen der Treppe hinunter, und befanden
sich gleich darauf im wirren Getreibe des Schenklebens, das sie in
lauten fröhlichen Massen umtobte.

Sie blieben einen Augenblick neben der Gartenthüre stehen und
überschauten die Menge, die hier, der wunderherrlichen Frühlingsluft
froh, theils um einzelne Tische saß, theils langsam in den Gängen auf-
und niederschlenderte, oder auch kurze Zeit nach dem kleinen Orchester
hinüber horchte, das Märsche, Walzer, Rutscher und Galopps spielte, und
aus den gewöhnlichen Dorfmusikanten bestand, die auch Abends beim Tanz
den lustigen Reigen aufgeigten.

Nur manchmal schien sich die Aufmerksamkeit dem Orchester ganz und fast
ungetheilt zuzuwenden, und das war stets, wenn ein einzelner Mann, unser
alter Bekannter, mit seiner Tochter auf die Bank trat und auf seiner
Violine, nicht Marsch oder Tanz, aber doch so eigenthümliche Weisen und
mit für Horneck so unerhörter Geschicklichkeit spielte, daß den Bauern,
nach ihrer eigenen Bestätigung, »Maul und Nase« aufstand, und sie
manchmal nicht wußten, ob er an der linken Hand fünf oder zehn Finger
hätte.

Kraft und Hennig waren aber noch viel zu sehr mit der eben verlassenen
Conferenz beschäftigt, um das rege Leben um sich her viel zu beachten;
sie schritten dicht an Haus und hinter den Hecken hin, die hier einen
schmalen Raum des Gartens von den übrigen offenen Theilen abschied, um
in's Freie hinaus den Weg zu gewinnen, an der engen Gartenpforte
aber, die hier nach dem Felde hinauslief, fanden sie ein solch' wirres
Menschengedränge, daß sie, um dem zu entgehen, wieder rechts
einbogen, und endlich gerade unter der Stange anhielten, die hier zum
Sternschießen errichtet war, und neben der ein paar noch unbesetzte
Bänke standen.

»Mir thut es in der Seele weh,« brach Kraft endlich das Schweigen, »daß
gerade hier von Horneck aus ein Schritt geschehen soll, über den die
Feinde des freien Lehrerstandes triumphiren werden. >Seht Ihr,< höre ich
sie schon rufen, >sie selber wollen es nicht -- sie selber sehen ein,
daß durch ein Losreißen von der Kirche die Schule selbst gefährdet sei
-- sie selber fühlen, daß sie der Aufgabe nicht gewachsen sind<.«

»Und wo bedürften sie einen besseren Beweis für ihre hochmüthige
Behauptung -- »die Lehrer seien noch nicht reif zur Emancipation«,«
seufzte Hennig -- »diese Adresse wird ihnen eine furchtbare Waffe gegen
uns in die Hand geben.«

»Das wolle Gott nicht,« rief Kraft -- »das wird aber auch nicht geschehn
-- ja wenn wir hier nur etwas für uns selbst, für die materielle
Verbesserung des Schullehrerstandes erringen wollten, wenn hier nicht
das Interesse des ganzen Deutschlands mit in's Spiel käme, dann Freund,
dann möchten Sie Recht haben, die Uneinigkeit würde dann unser Verderben
sein, so aber ist die Sache gewaltiger, als Sie uns Allen jetzt hier
vorkommt, und bricht sich endlich schon von selber Bahn. Die Adresse
dauert mich auch deshalb nur der Leute wegen, die sie unterzeichnet,
nicht um der guten Sache selbst willen, denn um die stände es schlimm,
vermöchte eine kleine Conferenz unbedeutender Schulmeisterlein an ihrer
Basis zu rütteln, ihre Grundpfeiler zu untergraben.«

»Aber es ist eine Schaufel voll Erde unter dem Fundamente weggenommen,«
seufzte Hennig, »wieder und wieder und immer wieder eine, und wer weiß,
ob der Bau nicht dennoch endlich schmetternd nachstürzt.«

»Ich glaube nicht,« sagte Kraft, und starrte die gefalteten Hände fest
zwischen seine zusammengedrückten Knie gepreßt, gerade vor sich nieder
-- »ich glaube nicht, denn nach dem, was ich bis jetzt von der ganzen
Erregung Deutschlands in den Zeitungen gelesen habe, müßte ich mich sehr
irren, wenn nicht gerade die Schule zuletzt das sein wird, wonach sich
die liberale Partei gezwungen sieht zu greifen, um ihre Hoffnungen zu
realisiren; und daß so etwas dann nicht unter den jetzt zwischen Schule
und Kirche bestehenden Verhältnissen geschehen _kann_, versteht sich,
möcht' ich sagen, von selbst.«

»Ich begreife nicht recht, wie Sie das meinen,« sagte Hennig.

»Sehen Sie, lieber Freund,« sagte der alte Schulmeister, leiser noch
fast als vorher und in der früheren Stellung verharrend, fort, »ich
habe nicht viel mehr in den Funfzigen zu suchen, und Manches in der Welt
gesehn und erlebt -- denn ich war die neun und zwanzig Jahre keineswegs
in einem Striche fort Schulmeister, und meine Lebensbeschreibung gäbe
gewiß gar interessanten Stoff zu einem recht starken dickbändigen
Romane, wenn -- ich als Schullehrer nur damit herausrücken dürfte --
doch das ist Nebensache, _wie_ ich meine Erfahrungen gesammelt -- es ist
das einzige, was ich auf dieser Welt sammeln konnte, die aber sagen mir
dafür auch Manches, was andere Leute erst durch bittere Enttäuschung zu
lernen haben und -- sie lügen selten. Doch zur Sache. Ich war vor drei
Tagen in der Residenz und durch frühere Schulkameraden sah ich mich
plötzlich in das ganze tolle Gewirr der jetzigen politischen Bewegung
hinein versetzt -- hörte ihre für Freiheit und Einheit schwärmenden
Reden, sah den Jubel, der die jungen Herzen in aller Wonne frisch
erkeimender Hoffnungen erfüllte, und kann wohl gestehen, daß ich
alter Kerl im ersten Augenblick selbst mit hineingerissen wurde in den
wirbelnden Rausch der jungen Ideen und Pläne. Der Sieg, den das Volk auf
den Barrikaden Berlins gegen die bis dahin für unbesiegbar gehaltenen
Bayonette erkämpft hatte, riß noch kaltblütigere Leute, als ich sonst
gewöhnlich bin, in seinem Taumel mit fort; ich fühlte aber endlich
wieder Grund, stemmte die Strömung, sah, wohin dies urplötzliche und
tolle Durchbrechen aller Banden und Dämme führen müsse und werde -- und
watete langsam wieder an's stille Ufer zurück, von da aus den Verlauf
der Sache besser und unparteiischer betrachten zu können.«

»_Republik!_ ging der Ruf durch die Versammlungen; _das Volk ist
reif und hat seine Ketten zerbrochen_ -- _fort mit der Tyrannei;
die Volkssouverainetät allein ist die Macht, die wir anerkennen_
-- einstimmig wurden alle Beschlüsse angenommen, denn wer sich als
Einzelner der Masse entgegen gestellt hätte, wäre, wenn er recht gut
weg kam, einfach hinausgeworfen -- selbst beim Abstimmen wurden die,
die sich durch Handaufheben vielleicht als eine sehr geringe Majorität
herausstellten, ausgelacht und verhöhnt -- das war ein Vorspiel
zur Volkssouverainetät. Wenn übrigens die Massen noch keinen
parlamentarischen Takt besitzen, so läßt sich das gewiß mit der Neuheit
ihrer jetzigen Verhältnisse entschuldigen -- was thut es, wenn sie
beim Abstimmen manchmal beide Hände in die Höhe heben, in gemäßigteren
Vereinen die Galerien füllen und die Redner der Gegenparthei nicht zu
Worte kommen lassen, etc., das muß sich erst abschleifen, und eben so,
wie unsere junge Preßfreiheit manchmal ausarten und hinten ausschlagen
wird, wie ein tolles lebensfrohes Fohlen, so wächst sie doch mit der
Zeit zu einem edlen Renner heran, der zwar seinen Reiter, den Geist, in
Sturmesflug über die weite Flur dem schönen Ziele entgegenträgt, aber
eben keine Seiten- und Bockssprünge mehr macht.«

»Nur die Volkssouverainetät, lieber Hennig, die, die kann ich noch
nicht anerkennen -- das Volk _hat_ seine Ketten gebrochen, ja, wie der
entfesselte Leu steht es ingrimmig brüllend da und weist seinen früheren
Kerkermeistern die fürchterlichen Fänge, und wäre er jetzt in einer
Wildniß, so möchte er in Gottesnamen mit der neugewonnenen Kraft toll
und rücksichtslos in die Welt hineinstürmen, das Echo mit dem Laut
seiner gewaltigen Stimme erwecken und die gigantischen Stämme erzittern
machen, wenn er sich in übermüthiger ausgelassener Lust dagegen wirft,
um die eisernen Pranken in das zähe Holz zu schlagen. So aber befinden
wir uns gegenwärtig mit eben diesem Leuen mitten in einer civilisirten
Stadt, und so lange er eben nur noch ruhig dasteht und seinen Feind
anstarrt, mag das gehen, beim ersten Seitensprung aber wird er in irgend
einen Porcellan- oder Spiegelladen hineinfahren, eine Menge Leute, ohne
sich selber zu nützen, zum Tode erschrecken, kaum glaublichen Schaden
anrichten, das Oberste zu Unterst kehren, endlich selbst die um ihre
Sicherheit besorgt machen und gegen sich aufbringen, welche sich erst
über die Freiheit des schönen stolzen Thieres gefreut haben, und sich
doch noch zuletzt in irgend einer Sackgasse oder engen Bahn des ihm
_fremden_ Terrains, auf's Neue umstellt, gefangen und -- Gott wolle
verhüten, daß ich Wahrheit rede -- gar besser bewacht finden als
früher.«

»Aber die Fürsten,« warf Hennig ein, »werden sich jetzt doch, nach dem
Siege in Berlin, gezwungen sehen, überall nachzugeben -- was können die
kleineren machen, da die Freiheit in den größeren gesiegt hat?«

»Ich bin kein Politiker, lieber Hennig«, erwiederte ihm Kraft, »ich kann
auch nicht sagen und vorher bestimmen, welchen Einfluß diese gewaltigen
Ereignisse auf das übrige Deutschland haben werden, mir nur ist es so
ängstlich zu Sinn, daß ich selbst keine Rettung in dem geängstigten
Erfolge finden kann. Sehen Sie sich unsere Bauern hier in Horneck, in
Buchstetten, in der ganzen Umgegend an, gehen Sie Dorf für Dorf, Flecken
für Flecken durch, und sagen Sie mir dann, wie viele Leute Sie gefunden
haben, die im Stande wären, auch nur zu begreifen, was für Freiheiten
in ihre Hände gelegt wurden. Es thut mir leid, daß ich's sagen muß, aber
unser Bauer, wie er _jetzt_ ist, paßt nur für das Joch, in dem bis dahin
sein Nacken steckte -- er ist von Herzen gutmüthig, aber dabei störrisch
und hartköpfig, mißtrauisch bis zum äußersten Grad -- kriechend höflich
gegen die, in deren Händen die Gewalt liegt, übermüthig bis zum Ekel
gegen die Untergebenen und rücksichtslos unverschämt, wo er sich im
Rechte glaubt oder weiß. Der Tagelöhner dagegen, der Knecht und Häusler
ist von Jugend auf in einem Zustande heraufgewachsen, der ihn nur
nothdürftig an seine _körperliche_ Bildung, an seine geistige fast gar
nicht denken ließ. Das Bischen Schreiben und Lesen, was dem Jungen bis
ins zwölfte, dreizehnte Jahr eingeprägt wurde, hat der Flegel, wenn er
sechszehn alt ist, fast schon wieder vergessen, und wahrlich, es ist
ihm auch nicht zu verdenken, wenn man sieht, wie er von Morgens früh bis
spät in die Nacht das ganze Jahr hindurch arbeiten und schaffen muß, um
nur das Bischen Leben elend genug zu fristen. Abends ist aber der Körper
so ermüdet und angegriffen, daß von Lesen, Schreiben oder Denken
gar keine Rede mehr sein kann. Ist es da also möglich, hier bei
den erwachsenen jungen Burschen und alten Leuten noch einmal mit
Schulunterricht, und schlimmer als Schulunterricht mit der Belehrung
dessen anzufangen, was sie eigentlich sein sollten, um dem Zwecke freier
Männer zu genügen? -- Nein, _die_ Zeit ist versäumt, denn was wir den
_Kindern_ nicht lehren _durften_, das können wir jetzt den Alten auch
nicht mehr in die Schädel zwingen. Ja früher, da wäre der Augenblick
gewesen, uns aber waren die Hände gebunden, das Beispiel hatten wir alle
Tage vor Augen -- wir sahen, wie die Schwalbe ihren Jungen das Fliegen
und ihre Kräfte zu prüfen lehrte, _uns_ aber, den denkenden mit Vernunft
und Seele begabten Menschen war das, wenn auch nicht _vom_, doch _durch_
das hohe Consistorium untersagt -- den Fluch dieser Verdummung erndten
wir jetzt, und mit bitterer Erfahrung würden wir es bezahlen müssen,
wären wir thöricht genug zu glauben, ein Volk könne aus solcher
Knechtschaft, wie wir sie eben abgeschüttelt, gleich mit _einem_ kühnen
Sprung zu der herrlichsten aber gerade durch ihre Einfachheit auch
schwierigsten Regierung, der _Selbstregierung_ gelangen. Unsere
Tagelöhner und Häusler, unsere Knechte und Bauern sind eben Menschen,
die noch kein eigenes Urtheil haben und sich deshalb so lange von
anderen Menschen werden leiten und bei der Nase herumführen lassen,
bis die heranwachsende Generation einmal mit frischen lebendigen
Geisteskräften und klarem Bewußtsein ersteht, _das_ aber ist jetzt
_unsere_ Aufgabe, eben die heranwachsende Generation und mit ihr das
ganze künftige, und Gott wolle es fügen, _einige_ Deutschland, ist in
_unsere_ Hände gegeben, daß wir den Saamen in das fruchtbare Erdreich
streuen und in unseren eigenen Kindern die fröhliche herrliche Erndte
aufkeimen und reifen sehen.«

Der Mann hatte sich bei den letzten Worten hoch aufgerichtet und sein
über Hennig hinschweifender Blick hing wie begeistert an den blaßrothen
Abendwolken, die von der untergehenden Sonne mit zartem Rosenhauch
übergossen, wie sehnsüchtig und liebend ihr nachzustreben schienen in
das Gluthenmeer ihres leuchtenden Grabes.

»Hallo Schulmeester un keen Ende,« lachte da plötzlich eine derbe aber
gutmüthige Stimme, und Meinhardt, ein Bauer aus Horneck, derselbe,
der am Sonnabend Nachmittag Klage beim Pastor gegen den alten Lehrer
geführt, trat aus einer der nächsten Gruppen auf die beiden Männer zu
-- »hul mich diasar und jäner, wu mer hiar hintrett, trett mer uff'n
Schulmeester, 's kriwwelt und wimmelt urdentlich von em. Aber lieb
is mer'sch, daß ich Uech finge, Herr Hennig, Ihr kennt mer en großen
Gefallen duhn.«

»Wäre der Herr Pastor das nicht vielleicht eher im Stande?« frug Hennig,
der den Auftritt vom vorigen Morgen noch zu frisch im Gedächtniß hatte,
nicht ohne Bitterkeit.

»Ach papperlapapp!« brummte der Bauer und kratzte sich unter der Mütze
den dicken Schädel, »der Pastor sieht ooch durch en Brät -- wenn en Loch
drinne is -- aber -- Ihr hatt recht -- ich han's gestern dumm angefangt,
aber main verwetterter Junge hatte de Schuld -- Jimine, wie han ich en
ooch gekeilt -- na, der lügt mer nich mehr de Hucke vull -- doch -- was
ich nuch sagen wolle, Schulmeester -- mein Junge war en Strick geweest
-- der Alte hatte'n gar nich so gehaun, Müllers Gottlieb warsch gewäsen,
bei dem meine Krete dreuge Aeppel gemaust hatte -- nu, Recht iss'n
geschähn -- ich wülle, se hatten em de Hingerpastete so waich gekluppt
wie en Bingel Flachs -- un nu han ich dem Schulmeester Unrecht gethan,
un ich han em en ganzen Kurb vull Wirschte un Speck un Eier nuff
geschickt -- un den Jungen ooch; an den soll er sich nu noch en ganz
besonderes Plaisir machen, un wenn er en halwes Dutzend Schtecken uff'm
verschlaiht, ich han nischt derwidder.«

»Aber was kann ich dabei thun?« sagte Hennig kopfschüttelnd, denn mit
innerem Weh durchzuckte ihn der Gedanke, wie Unrecht nun dem armen alten
Lehrer gestern in Gegenwart dieses Mannes, in Gegenwart seines
eigenen Schülers, und wie sich nun herausstellte, so ganz grundlos und
unschuldig geschehen sei -- »gekränkt habt Ihr den alten Mann durch
Worte und That -- glaubt Ihr _das_ jetzt wieder durch Geschenke
ungeschehen machen zu können?«

»Ne --« sagte der Bauer und kratzte sich immer bedenklicher den blonden
struppigen Kopf -- »ne, un desserwägen sullt Ihr mer en Bischen mit
uf's Rad steigen, daß mer nich umkippen. -- Ihr hatt's Maulwerk uff
der richt'gen Ställe, un da megt ich uech bitten, den Schulmeester en
Bischen ummen Bart rim zu gehn, bis er widder gut is -- den Jungen sill
er prügeln bis er blau un schwarz sicht, un wenn sich meine Ole das
Maul noch e Mol värbrennt, dann kreiht se eens druff -- nich wahr
Schulmeester, Ihr sidd so gut?«

»Ich will mein Möglichstes thun, ihn davon zu überzeugen, daß es Euch
von Herzen leid thut, ihn so ungerechter Weise beschuldigt zu haben --«

»Rächt so, Schulmeester!« rief der Bauer -- »Ihr sidd en ganzer Kerl, un
Eier Schade sills ooch nich sin -- verstanden? Aberscht Herr Je -- was
kläwet Jär denn hiar in dar Ecke? -- Das Mächen fengt grade widder an zu
singen -- Dunnerwetter! die singt schiane, da is unsen Vursänger, unsen
Karl Gottlob saine Stimme Haberstroh dagegen -- kommt Schulmeester --
weeß Heppchen, 's geht grade los -- ich will nur oben 'rim gähn, un mei
Bier runger holen.«

Und damit schüttelte der Bauer dem jungen Lehrer noch einmal herzlich
die Hand, nickte dem anderen vertraulich zu, und drängte sich rasch
durch die Menge nach der Stelle hin, wo des alten Musikanten Tochter
eben ein kleines, wehmüthig klingendes Lied, aber mit so süßer,
schmelzender und glockenreiner Stimme sang, daß die beiden
Freunde selbst ihre Unterhaltung darüber vergaßen und erstaunt den
wunderlieblichen Tönen lauschten.

Das Mädchen war zwar noch in dasselbe ärmliche Gewand gekleidet, wie wir
sie im zweiten Kapitel mit ihrem Vater gefunden, aber sie ging jetzt
im bloßen Kopf, das dunkle volle Haar glatt auf der weißen Stirn
gescheitelt, und den Shawl fest und dicht um ihre Schultern gezogen, daß
er den oberen, zerrissenen Theil ihres Gewandes vollkommen verhüllte,
und schlank und zart stand so die edle Gestalt des armen Kindes an den
einen Pfeiler des niederen Orchesterdaches gelehnt, und schaute, als sie
das kleine Lied beendet, still und schweigend vor sich nieder.

»Das sin immer so kurze Dinger,« sagte da ein reicher Bauer aus Horneck,
der dicht daneben an seinem Tische saß, und mit tiefem Athemzug den
schäumenden Bierkrug eben von den Lippen genommen hatte -- »wenn mer
äben glaubt es sille recht ordentlich lus gähn, dann is es g'rade widder
aus -- weeß de Jungfer nischt langes?«

»Ja -- en langes Lied, mit recht viele Värsche« -- fielen hier noch ein
paar andere junge Bauerburschen ein -- »daß mer ooch de Melodie behalten
kann -- un nich so traurig.«

»Sing doch einmal die >Fahrt in's Heu<, Marie,« stieß sie der Vater an
-- »das hören sie gerne.«

Marie schüttelte leise mit dem Kopfe --

»Nu? -- wolln mer noch en Bischen?« frug der Bauer.

»Die Ballade, Vater!« flüsterte die Tochter -- während dieser die auf
das Knie gestellte Geige stimmte. --

»Ach, das langweilige Ding,« brummte der Alte, Marie trat aber einen
Schritt von ihm zurück, hüllte sich fester in ihr Tuch, und schien
entschlossen zu sein; das Publicum wurde dabei ungeduldig und Meier, der
wohl einsah, daß er sich fügen mußte, nahm die Violine in die Höh',
und stimmte nach kurzem Vorspiel eines jener reizenden schottischen
Volkslieder an, die erst nur einzeln zu uns herüber geklungen sind
und das Herz mit so süßer, schmerzlicher Wehmuth erfüllen. Die Tochter
lauschte den Tönen erst mehrere Secunden lang und ihre Hand folgte fast
unwillkührlich dem Tact des Liedes, bis sie endlich am Schlusse
des Vorspiels mit anfangs leiser, dann aber immer bewegterer und
schwellenderer Stimme einfiel:

  Es steht am Meeresstrande
  Eine stille bleiche Maid,
  Barfuß im kalten Sande
  Mit flatternd dünnem Kleid.

  Und auf die schaumzersprühten
  Und krausen Wogen aus
  Streut sie zerpflückte Blüthen
  Aus einem frischen Strauß.

  Und wie mit den empfangenen
  Die Welle naht und flieht,
  Singt sie mit unbefangenen
  Tönen ein leises Lied:

  »Mein Lieb, in Meeresgründen,
  Komme, o komm zu Licht,
  Der Strauß hier mag Dir's künden,
  _Ich_ bin's! -- Hörst Du mich nicht?

  _Ich_ bin's, in Windeswehen,
  In Sturmgeheul und Graus
  Schaut ich, nach Dir zu sehen,
  Mir bald die Augen aus.

  Die Leute spotten meiner,
  Ich sei im Geist verwirrt,
  Weil ich hier harrend Deiner,
  So lang' umhergeirrt.

  Sie wissen's nicht, die Thoren,
  Daß so, wie wir geliebt,
  Und so, wie wir geschworen,
  Es keine Trennung giebt.

  So komm, laß mich nicht länger
  Vom Frost durchschauert hier,
  Wo's mich nur bang' und bänger
  Hinunter zieht zu Dir.

  O, höre Lieb mein Flehen,
  Schon netzt die Fluth den Fuß,
  Sende in Sturmeswehen
  Treuer Liebe den Gruß!

  Ha! -- klang nicht aus dem Grimme
  Des Meers der theure Laut? --
  Das -- das war seine Stimme!
  Hier ist -- hier kommt die Braut!«

  Am stillen öden Strande,
  Vom Fluthenstrom umzischt,
  Am Muschelkies und Sande
  Bricht sich der Wellen Gischt.

  Doch auf den schaumzersprühten,
  Und krausen Wogen hin,
  Treibt, zwischen Blum' und Blüthen
  Die todte Sängerin!

Marie schwieg, als sie das Lied vollendet, und nahm den Blick nicht auf
von dem Boden, an dem er haftete. Einzelne der Zuhörer applaudirten, und
Hennig war von dem einfachen Liede so ergriffen worden, daß er fühlte,
wie ihm die großen hellen Thränen in die Augen traten -- er bückte
sich unter irgend einem Vorwande, sie heimlich weg zu wischen, denn er
schämte sich -- wußte er doch selbst nicht weshalb -- seiner Schwäche.

Aus der, vor dem Orchester stehenden Schaar von jungen Leuten bog sich
aber plötzlich unser alter Freund Strohwisch, der bis dahin mit seinen
papageigrünen Glacehandschuhen sehr zur Belustigung der überall in
den Obstbäumen hängenden Hornecker Jugend aus Leibeskräften applaudirt
hatte, so weit, als es ein dicht vor ihm stehender dicker Bauerbursche
gestattete, nach dem Mädchen vor und flüsterte:

»Bravi, bravi mein holdes Kind, -- ganz vortrefflich -- aber viel zu
traurig -- ich bin selbst humoristischer Schriftsteller und weiß den
Werth eines heiteren Liedes zu schätzen -- singen Sie uns einmal etwas
Lustiges -- bitte meine Holde, etwas Lustiges!«

»Ja wahrhaftig, was Lustiges!« stimmten eine Menge Ladenschwengel aus
der Stadt, mit rothen Gesichtern und noch viel rötheren Fäusten, ein --
»bitte Mamsell, was Lustiges!«

»Sehn Sie, mein Fräulein, einstimmig angenommen,« lächelte Feodor und
holte dabei ein Blatt Papier aus der Rocktasche -- »hier haben Sie etwas
Lustiges -- Melodie: >Ich bin der Doktor Eisenbart<, ein wunderhübscher
Text -- pikant witzig -- die Menge muß es bringen.«

»'Raus mit das Lustige!« rief der kleine Bauer, der dicht vor Strohwisch
stand, »'raus dermit, juchhe!« und den Hut schwang er dabei in der Luft,
sprang in die Höh und kam gerade wieder auf Feodors einem Hühnerauge
nieder, daß dieser laut aufschrie und mit dem emporzuckenden Knie dem
dicken Burschen dermaßen unter den letzten Rückenwirbel fuhr, daß er ihn
jählings bis dicht an das Orchestergeläude ansandte.

Das Gedränge ließ aber keine Zeit zu weiteren Erörterungen -- die Menge
war augenscheinlich fest entschlossen »was Lustiges« zu hören und da
auch der Wirth nicht weit von dem Orchesterplatz auf einen Stuhl
trat und mit den Armen nach dem Mädchen hinübertelegraphirte -- denn
überschreien ließ sich der Lärmen nicht, -- da drang auch Meier selber
in die Tochter und fuhr sie endlich, da sie sich immer noch weigerte,
mit rauher unfreundlicher, aber nichts destoweniger unterdrückter Stimme
heftig an:

»Donnerwetter, dumme Liese -- was stehst Du da und läßt den Kopf hängen
wie eine geknickte Levkoye -- siehst Du nicht was der Wirth da drüben
herüber winkte? Willst Du etwa, daß wir heut Abend hungrig zu Bett gehn
sollen? Dunkel wirds auch schon -- das fehlte noch, daß _Du_ Dich an zu
zieren fingest -- da -- hier ist der Wisch, Du wirst's wohl eben noch
lesen können, - na -- wird's?« -- Und ein häßlicher Fluch entfuhr seinen
Lippen und färbte die Wangen des bleichen Kindes mit höherer Röthe. Der
Alte hatte aber indessen die Geige genommen, das Lied präludirt und
der Gesang des Mädchens fiel in die absichtlich schrill und komisch
gehaltenen Töne des Instruments mit einem Wohllaut ein, der die Worte
des faden Liedes Lügen strafte, und von ihren Lippen klang, als ob es
wäre auf einer Orgel gespielt worden.

Eine ganze Menge Verse mußte das arme Kind der rohen Zuhörerschaar
vorsingen, und nach jedem Refrain jauchzten und jubelten sie, und
zugleich stellte sich bei ihr selber der alte fatale Husten wieder ein
und gab dem Fleck auf ihren Wangen eine eigene fliegende Röthe. Endlich
war das Lied beendet, rauschender Applaus schallte ihr von allen Seiten
entgegen, und mit ängstlicher Verbeugung, das Tuch noch fester um sich
herziehend, stieg sie die schmalen Stufen herunter, um das Papier dem
Eigenthümer wieder zurück zu geben.

Freund Strohwisch stand aber noch immer in wüthenden Applaus versenkt,
seinen linken Glacehandschuh hatte er schon im wahren Sinn des Worts
geopfert, denn das papageigrüne Leder war, wie ob solcher Behandlung
verzweifelt, auseinandergefahren.

»Bravi, bravi -- excellentissime!« schrie er dabei kirschroth vor Freude
und sein Hut, der ihm grad oben auf dem kurzen struppigen Haar saß, zog
sich durch eine eigene Bewegung der Stirnmuskeln, bis fast dicht auf die
buschigen Brauen hernieder, so daß seine Augen unter dem Rande wie
eine Schildkröte, die sich eben in ihr Schild zurückgezogen hat,
hervorsahen. --

»Hier mein Herr!« flüsterte Marie und reichte ihm den zerknitterten
Zettel. --

»Ah -- vortrefflich -- vortrefflich -- außgeßeignet« -- rief rasch, und
sich galant gegen das arme Kind verbeugend, der Ritter im afrikanischen
Burnus -- »Sie haben wirklich entschiedenes Talent zum Heiteren, mein
Fräulein -- erlauben Sie, daß ich vielleicht --«

Unter der Hand glitt sie ihm fort und zwischen den Männern hin dem Hause
zu, in dessen jetzt schon dunklen Räumen sie verschwand, und Hennig,
der, seit er zu dem Stand getreten war, lautlos den Tönen des fremden
Mädchens gelauscht hatte, wandte sich langsam nach seinem Gefährten um
und verließ mit diesem die Menge.

»Das arme Kind« brach Kraft endlich das Schweigen -- »scheint auch
bessere Tage gesehen zu haben -- es ist gar hartes und saueres Brod den
Leuten etwas vorzusingen und zu spielen, wenn's Einem gleich gar
nicht wie singen und spielen um's Herz ist -- wenn mich das ungewisse
Abendlicht nicht getäuscht hat, so ist die Arme auch noch dazu krank,
oder wenigstens schwach und leidend, was für eine gottvolle Stimme
sie hat; o wie müßte die singen können, wenn's ihr so recht aus voller
jubelnder Brust herausquölle und nicht -- durch ein kaltes, todtes
Maschinen- und Räderwerk herausgetrieben würde.«

»Kraft« sagte Hennig und legte seine Hand auf dessen Arm -- »ich kann
Ihnen gar nicht sagen, wie mich das letzte Lied ergriffen hat.«

»Das _letzte_? Das fade humoristisch sein sollende Ding?« sagte der alte
Schulmeister erstaunt.

»Ergriffen« fuhr Hennig fort »weil ich mich dabei des Gedankens nicht
erwehren konnte, es sei so, als ob man eine Leiche schlage.«

»Das soll in Rußland noch manchmal vorkommen, wenn der zur Knute
Verurtheilte unter den Streichen stirbt und die ihm zugetheilte
Quantität doch empfangen muß« erwiederte Jener zusammenschaudernd --
»brrrr, mir läufts eiskalt dabei über den Rücken hinunter -- das ist ja
ein fürchterlicher Vergleich!«

»Das arme Mädchen sollte etwas >Lustiges< singen, weil der langweilige
Gesell vor ihr wahrscheinlich eins seiner eigenen Produkte, oder irgend
etwas Aehnliches vorgetragen wünschte, und wenn ihr auch das Herz vor
innerem Weh zu brechen drohte, die Lippen mußten dem wässrigen Liede
Worte geben. -- Heiliger Gott, ich fühle ordentlich, wie ihr das in die
Seele schnitt.«

»Auch mir fiel der ernste Ausdruck des Mädchens bei dem Liede auf« sagte
Kraft, »aber ich schrieb ihn mehr der gleichgültigen Gewohnheit des
täglich Vorkommenden zu. -- Doch -- alle Wetter -- was giebt es da? --
-- Wahrhaftig, des Doctor Levi Stimme, der wahrscheinlich wieder eine
seiner Philippiken gegen Gott und die Welt vom Stapel laufen läßt?«

»Der Doctor scheint es allerdings zu sein« rief Hennig -- »hier muß aber
etwas Ernstes vorgefallen sein -- das Volk ist so aufgeregt, wie ich es
noch nie gesehen.«

Die Männer schritten rasch einem dichten Menschenknäul näher, der durch
immer neu hinzuströmende Massen mit jedem Augenblick mehr anzuschwellen
schien. Aus diesem aber drang ihnen bald in verworrenen Stimmen der Ruf
entgegen -- »_Das Ministerium hat abgedankt_« und Einer jauchzte es dem
anderen zu, Einer nahm von den Lippen des Anderen die willkommene Kunde;
denn was die Herzen der Jugend mit lauter jubelnder Siegeslust erfüllte,
das fachte selbst in den Herzen der älteren Männer freudige, kaum
geträumte Hoffnungen an. Es war für sie, für ihr Land das erste Zeichen
der siegreichen Revolution und mit dem Sturz der verhaßten glaubten sie
nun auch eine bessere Zeit erwarten zu dürfen.

Ein Mann aber vor allen Uebrigen schien förmlich außer sich vor lauter
Jubel und Siegeslust, und das war der Doctor Levi. -- Vor dem Tanzsaal,
in der zweiten Abtheilung des Gartens, hatte er sich in die auszweigende
Gabel eines knorrigen Apfelbaums geschwungen, und mit seiner
weitgellenden, dünnen, lispelnden Stimme, welche von der
telegraphenartigen Bewegung der Arme würdig accompagnirt wurde,
schleuderte er seine Ideenfülle in die, über solchen Eifer fast noch
mehr als über die Nachricht erstaunte Schaar der Bauern hinaus. Ueber
die erduldete Schmach sprach er, die bis jetzt den Namen Deutschlands
geschändet hätte, über die kommende Größe Deutschlands jubelte er, über
seine Einigkeit und seinen Sieg, über den Phönix, der aus der lodernden
Gluth der Knechtschaft erstanden sei, und sich nun in erneuter
Jugendschöne dem freien reinen Aether entgegenschwingen werde.

Die Bauern verstanden keinen Satz davon, aber die Worte Sieg,
Knechtschaft, erduldete Schmach etc. etc. gaben ihnen einen ungefähren
Begriff von dem, was eigentlich gemeint sei, und ein lautes donnerndes
Hurrah -- sie hatten sich lange nicht so herzhaft schreien hören --
füllte jede Pause, in der der kleine hitzige Mann für einen Moment
rasten mußte, um nur wieder Athem zu schöpfen und frische Kräfte zu
sammeln.

Von dem Lärmen angelockt, strömten immer mehr Männer und auch Frauen
aus dem Dorfe herbei und die Versammlung wuchs so von Minute zu Minute.
Unterdessen geschah aber in Horneck selber etwas, das seiner Bewohner
Interesse noch fast mehr in Anspruch nahm als selbst die Ministerkrisis,
da es den Leuten gewissermaßen vor der eigenen Thüre passirte, und sie
selber mithandelnde Personen oder doch Zuschauer sein konnten. Dazu
muß ich aber etwas weiter ausholen und will deshalb ein anderes Kapitel
beginnen.



Zwölftes Kapitel.

Die Gutsherrschaft.


Die Kirche war eben ausgelauten und die frommen Leute, die den
Nachmittagsgottesdienst beigewohnt, gingen raschen Schrittes zu Hause
und freuten sich den ganzen Weg auf die braune Kaffeekanne, die, wie sie
recht gut wußten, jetzt in der verschlossenen Röhre stand und zischte
und brodelte. Die fröhliche Knabenschaar sprang jauchzend über
den grünen Plan und neckte und tollte in muthwilligem sprudelnden
Jugendmuthe, während die Mädchen, verschämt unter sich kichernd und
lachend, zwei und zwei gar züchtig den Steg hielten, und sich erst
da trennten, wo die Pfade links und rechts und gerade aus nach den
verschiedenen Theilen des Dorfes hinunter führten.

Auch Fritz, des Jägers Sohn, schritt raschen Schrittes zwischen ihnen
hin, aber nicht aus der Kirche kam er, denn die Doppelflinte hing ihm
auf der Schulter, und auch nicht freundlich, wie er sonst gewohnt,
nickte er herüber und hinüber, sondern mürrisch und augenscheinlich
mit recht finsteren, ärgerlichen Gedanken beschäftigt, eilte er, ohne
aufzusehn von seinem Pfad, oder das herzliche und oft gerufene »Gott
griß Uech« auch nur einmal anders als mit stummem Kopfnicken zu
beantworten, rasch den steilen Seitenpfad zum Gut hinunter, über den
Hof hin und stand bald darauf im Vorsaal des hohen höchst elegant
eingerichteten Gebäudes, das der Eigenthümer des Rittergutes im
Sommer regelmäßig, manchmal aber auch sogar den ganzen Winter hindurch
bewohnte.

»Ist Herr von Gaulitz zu Hause,« frug er hier einen grämlichen
Bedienten, der mit einem ganzen Arm voll Teller gerade aus der Stube
kam.

»Bei Tische,« lautete die lakonische, mürrisch genug gegebene Antwort
des Alten, der, ohne den »Grünrock«, wie er ihn unten in der Küche
titulirte, weiter eines Blickes zu würdigen, langsam und gravitätisch
durch die andere Thüre verschwand.

»Das fehlte auch noch,« murmelte Fritz, ging zum Fenster, setzte sich
dort auf den Sims und stellte, den Kopf müde an den eingeklappten Laden
stützend, die Flinte zwischen seine Knie, wo er sie bequem mit der Hand
halten konnte. Der Bediente kam indeß wieder zurück, ging in die Stube,
kam nach etwa einer halben Stunde zum zweiten Male heraus und blieb
jetzt, nachdem er durch kurze Seitenblicke vergebens gesucht hatte,
die Aufmerksamkeit des jungen, geduldig harrenden, aber ganz mit seinen
Gedanken beschäftigten Jägersmannes auf sich zu lenken, dicht vor diesem
stehen und sagte mit scharfer, näselnder Stimme und mit recht hämischem
Tone:

»Der junge Herr hat wohl gar nichts weiter zu thun?«

»Nein,« erwiederte trocken dieser, ohne seine Stellung im Mindesten zu
verändern, oder auch nur den Kopf nach dem Frager herumzudrehn.

»Hm -- verdammt kurz angebunden,« knurrte der Bediente und maß den
Jäger mit tückischem Blicke -- »hat wohl heute einmal gefällig Nichts zu
betteln von der gnädigen Herrschaft.«

Fritz antwortete Nichts, nur die Finger seiner einen Hand umklammerten
den Flintenlauf etwas fester, während er mit der anderen einen raschen
Marsch auf dem Fensterbrete trommelte.

»Hat sich auch die Stiefeln wieder nicht abgetreten, der Mosje,« fuhr
der Alte, augenscheinlich eine Ursache zum Streit suchend, fort, »und
schmiert die fettige Mütze an der weiß und sauber lackirten Wand herum
-- wir sind hier nicht in der Schenke.«

»Wären wir's,« fuhr aber jetzt der heute überdies nicht gut gelaunte
Jäger auf, dem die Geduld doch endlich riß -- »so solltest Du sehen,
Molch Du, wie ich Dir das ungewaschene Schandmaul stopfte.«

»Alle Wetter!« rief der greise Bediente, vor diesem unerwarteten Angriff
zurückprallend.

»Was giebt's da wieder?« sagte aber in diesem Augenblicke die Stimme des
Gutsbesitzers und Oberpostdirectors von Gaulitz, »könnt Ihr denn nicht
die paar Minuten, die Ihr hier zusammenkommt, in Ruh' und Frieden
verbringen? -- Komm herein, Fritz, und Du Peter bekümmerst Dich um Deine
Teller und Schüsseln und treibst Dich künftig nicht auf dem Gange hier
herum, wenn Du anderweit zu thun hast.«

Er trat rasch in das Zimmer zurück und der Jägerbursche, der seine
Flinte vorher in die Fensterecke gelehnt hatte, folgte ihm dort hinein
und blieb auf der Schwelle stehen.

»Laß mir den Alten in Ruh',« redete ihn hier, gleich beim Eintritt,
der gestrenge Herr von Gaulitz an -- »Du hast fortwährend an ihm
herumzuhäkeln.«

»Halten zu Gnaden,« platzte Fritz heraus -- »der alte Schuft peinigt
mich, wo er mich sieht, bis auf's Blut, weil ich seinen Sohn Karl bei
Schulmeisters --«

»Ich verbitte mir in meiner Gegenwart alle Schimpfworte,« sagte der
Herr scharf und streng, »und Ruhe jetzt -- ich habe nicht Deine Anklagen
hören, sondern Dir nur die Wiederholung der Excesse verbieten wollen.
Ich habe Dich wegen zweierlei rufen lassen.«

»Eure Gnaden zu Befehl,« sagte der Jäger, der nur mit Mühe den gewaltsam
aufdrängenden Unmuth verbiß.

»Zuerst,« fuhr der Oberpostdirector fort, »hat der Herr Pastor Scheidler
heute erst und zwar wiederholt Klage über Dich geführt, daß Du die
Kirche nicht allein regelmäßig versäumst, sondern Deine Frechheit
sogar noch so weit treibst, mit der Flinte auf dem Rücken unter seinen
Fenstern vorüber zu gehen.«

»Herr Oberpostdirector.«

»Ruhe jetzt -- ich will Dich nicht erst darauf aufmerksam machen, wie es
schon um Deiner Seelen Heil willen nothwendig wäre, daß Du die Predigt
anhörtest und in Dein sündhaftes Herz aufnähmest -- Dein Schulmeister
hätte Dich das schon von Kindheit auf lehren müssen, wenn der
Religionsunterricht nicht gerade durch die Lehrer auf wahrhaft traurige
Weise vernachlässigt würde. Nur ermahnt möchte ich Dich hiermit haben,
in Gottes und Christi Namen, seinem Rufe zu folgen -- meide die Schenke
und andere böse Gelüste, die der Versucher Dir entgegen halten könnte
und blicke hinauf zum Herrn, der da ist die Liebe und die Herrlichkeit
-- Amen!«

Der Jäger erwiederte kein Wort und sah nur still und finster vor sich
nieder, Herr von Gaulitz aber ging mit andächtig gefalteten Händen ein
paar Mal im Zimmer auf und ab, blieb dann plötzlich vor Fritz Holke
stehen, sah ihm fest in's Gesicht und fuhr fort:

»Das Andere, wegen dessen ich Dich zu sprechen verlangte, ist die
Wilddieberei -- der junge Poller hat heute Morgen ein krankes und ein
verendetes Reh im Walde gefunden und ist zwei fremden Burschen mit
Büchsen begegnet, die sich, wie er mich versichert, nicht einmal sehr
vor ihm gescheut hätten, sondern so ruhig ihre Straße gegangen wären,
als ob sie auf den gesetzlichsten Wegen wandelten. Das muß mir anders
werden, Fritz, oder Ihr, Dein Vater und Du und ich, wir bleiben keine
guten Freunde.«

»Halten zu Gnaden, Herr Oberpostdirector,« sagte Fritz jetzt, als der
gestrenge Herr schwieg und finster nach ihm hinüberschaute -- »die
Wilddieberei im Holze _ist_ schlimm, und der Vater und ich wissen das
alle Beide gut genug, wir liegen aber auch Tag und Nacht im Holze und an
den Holzrändern herum und thun unser Bestes, dem Uebel zu steuern. Ganz
es zu heben ist aber uns zweien nicht möglich, das Revier ist zu groß,
und die Rausche, die es noch dazu in zwei Theile schneidet, macht es
manchmal zur Unmöglichkeit, an allen bedrohten Stellen zugleich zu sein.
Wären es übrigens ordentliche Wilddiebe, die regelmäßig hinausgehen und
ihr Reh todtschießen, so bliebe das immer schlimm genug, sie thäten
aber nicht so großen Schaden und ließen sich auch endlich ausspüren und
aufheben, oder doch wenigstens verscheuchen, so aber laufen die Bauern
selber mit alten Schrot- und Communalflinten, in die sie klares Zeug
laden, draußen herum, knallen auf Alles, was ihnen vorkommt und flicken
Rikke und Kalb an, daß es später im Walde elendiglich verkommen muß.
Schneidet man dann einmal so einem Burschen den Weg ab und kann er
zuletzt gar nicht mehr fort, so wirft er seine alte Flinte, die des
Aufhebens gewöhnlich nicht werth ist, in den nächsten Busch und leugnet
nun Stein und Bein, selbst einen Schuß gehört zu haben; er ist meistens
auch auf seinem eigenen Grund und Boden, und weiß recht gut, daß sich
solcher Art nichts gegen ihn ausrichten läßt.«

»Das ist ja eine recht erfreuliche Botschaft,« sagte der
Oberpostdirector mürrisch -- »da halte ich zwei ausgelernte Jäger, einen
alten und einen jungen auf meinem Gute, und muß nun hören, daß die mir
ganz aufrichtig und ungenirt melden, die Wilddieberei nehme so überhand,
daß es _ihnen_ selbst zu arg würde. Ei zum -- mit Verlaub, mein Bursche,
_ich_ soll wohl hinausgehen und Euch die Wilddiebe forttreiben, damit
Ihr bequemer schlafen könnt.«

»Bitt' um Verzeihung, Herr von Gaulitz,« erwiederte Fritz, »das Holz
hat fünf Stunden im Umfang und die Rausche nöthigt schon, daß Einer
gewöhnlich an jedem Ufer bleiben muß. Eure Gnaden wissen dabei recht
gut, wie es die Holzdiebe schon einmal im vorigen Jahre meinem Vater
gemacht haben, den sie, weil er allein zwischen sie kam, an einen Baum
banden, und die ganze Nacht in der Kälte stehen ließen. In diesem Jahre
aber, und nach den Vorfällen in Berlin und Wien, ist mit den Leuten noch
weit weniger auszukommen als früher. Heute Morgen traf ich zum Beispiel
unten in der Rauschenmühle ein paar Bauern, die mir ganz rund heraus
erklärten: die Leute aus der Stadt, die sie zu Abgeordneten wählen
wollten, hätten sie versichert, auf ihren eigenen Feldern und in ihren
eigenen Gehölzen seien sie nicht allein berechtigt zu jagen, sondern es
würde auch in kürzester Zeit ein Gesetz herauskommen, das es ihnen in
Wirklichkeit zuspräche, und nächstens gingen sie daher selbst in's Holz
und schössen todt, was ihnen in den Weg käme. Ich möchte nun gleich bei
Eure Gnaden anfragen, wie ich mich in einem solchen Falle zu verhalten
habe, und ob es da doch nicht besser wäre, wenn wir noch ein paar Mann
zum Forstschutz herbekämen.«

»Forstschutz? -- Das fehlte mir auch noch,« rief der Oberpostdirector,
der indessen seinen Geschwindmarsch auf und ab ununterbrochen
fortgesetzt hatte, und nun jetzt vor dem Jägersmanne mit finsteren
Blicken stehen blieb -- »noch mehr Faulenzer ernähren, um die anderen in
ihrem Müßiggange zu bestärken, nicht wahr? -- Nein, dafür giebt's andere
Mittel, wer sich auf meinem Reviere blicken und beim Wilddieben ertappen
läßt, dem schießt Du eine Ladung Schrot auf den Pelz. Zum Henker, man
muß der Canaille nur einmal zeigen, daß man Ernst macht. Das verwünschte
Nachgeben hat schon viel zu viel Unheil angerichtet. Uebrigens habe ich
von unserem Ministerium die Nachricht, daß es nach Sockwitz, wo sich
erst neulich bedauerliche Zeichen von Anarchie kund gethan, eine
Compagnie von der Linie verlegen wolle; das wird die Kerle schon Jesum
Christum erkennen lassen.«

»Euer Gnaden,« warf hier der Jäger ein, und spielte verlegen mit dem
Genickfängergriffe, der ihm am Gürtel stak -- »es ist das mit dem
Schießen so eine eigene Sache; todt kann man doch die Menschen eines
gestohlenen Hasens oder Rehes wegen nicht gut schießen, und krank? --
Flick' ich einem Bauer die Beine mit No. fünf oder sechs an, so vergißt
er mir das in seinem ganzen Leben nicht und -- würde das Alles wahr, was
jetzt die Leute -- selbst der Diaconus und der Doctor -- von Frankfurt
reden, dann bekämen sie sogar das _Recht_ dazu, und nachher könnte unser
Einer gar sehen, wo er bliebe, wenn er das ganze Dorf zum Feinde hätte.«

»Nun jetzt hab ich's satt!« rief eben der Gutsherr, der mit immer
wachsendem Staunen und Zorn eine solche Neuerungsrede von den Lippen
seines Untergebenen gehört hatte -- »Was untersteht Er sich! -- Er will
hier als Jäger dem wilddiebischen Gesindel wohl auch gar noch die Brücke
treten? -- und was den Diaconus und den Doctor betrifft, so werd' ich
mich nach denen näher erkundigen. Potz Donner und Blitzen, das hat mir
noch gefehlt.«

»Aber Euer Gnaden, so war es doch gar nicht gemeint, ich wollte ja
nur --«

»Nun ich will Dir's wünschen, daß ich Dich falsch verstanden habe.
Jetzt fort, wo Du hingehörst, und daß Ihr mir bald Meldung von einem
eingefangenen oder bestraften Wilddiebe macht, oder -- ich mache Euch
für das verlorene Wild verantwortlich. Wo steckt Dein Vater heute?«

»Er ist heute über der Rausche drüben, die Vorbereitung zur Auction der
Stockklaftern und Haufen zu treffen, die wir von den, für die Eisenbahn
gelieferten Stämmen übrig behalten haben.«

»Aha -- also nicht geschont -- nur einmal _Einem_ der Bande die Jacke
recht tüchtig voll geschossen, und die Uebrigen lassen sich das schon
eine Warnung sein -- _ich_ vertret' es.«

Die Thür ging in diesem Augenblick auf, und der alte Bediente trat
herein.

»Mein Karl ist draußen, Euer Gnaden, er hätte etwas zu melden.«

»Ich empfehle mich, Euer Gnaden« sagte Fritz, und wollte sich entfernen.

»Soll herein kommen -- halt, noch Eins, Holke, wie ist denn das gestern
Abend mit dem Flüchtling abgelaufen? -- Habt Ihr keine Spur wieder von
ihm gefunden?«

»Nicht das Mindeste, bis zu Pastors Obstgarten hatten wir ihn getrieben,
denn als wir später die Hunde hinein brachten, wurden die laut, und
es ließ sich nicht verkennen, daß etwas darin gewesen war; er muß aber
zurückgewechselt sein, denn die ausgestellten Posten haben gar Nichts
von ihm gesehen. Uebrigens soll er die jungen Damen, wie ich ganz
bestimmt weiß, gar nicht angefallen, sondern nur angeredet haben;
Fräulein Sophie Scheidler hat das selbst gesagt.«

Die Thür ging auf, und Karl Poller, der Sohn des alten Bedienten, ein
bleicher, hagerer junger Mensch mit grünen Augen und dünnen, fast weißen
Haaren, trat mit einer tiefen Verbeugung ein, und blieb dann, die Mütze
in der Hand drehend, auf der Schwelle neben Fritz Holke stehen. Er that,
als wenn er den Jägerburschen gar nicht sähe.

»Nun, Karl, wie ist's? -- richtige Fährte?«

»Alles in Ordnung,« grinzte, mit widerlichem Lachen der Angeredete, »der
Fuchs steckt richtig im Loch drinnen, ich hab' ihn nicht allein gehört,
sondern sogar mit leibhaftigen Augen gesehen.«

»Wahrhaftig? -- gut! -- herrlich! -- dann dürfen wir aber ja keine Zeit
verlieren, ihn abzufangen -- ruf' mir den Gerichtsschreiber herauf,
Karl, rasch -- er soll im grünen Zimmer auf mich warten --«

»Sehr wohl, Euer Gnaden,« erwiederte der Bursche, und schwenkte mit
rascher Bereitwilligkeit rechts um, blieb jedoch noch einmal stehen und
sagte zögernd --

»Bis Dunkelwerden möchten wir aber doch wohl damit warten -- ich weiß
nicht, die Bauern haben in letzter Zeit ganz andere Reden geführt wie
früher.«

»Von denen haben wir Nichts zu fürchten,« lachte der Gutsherr höhnisch,
»die hat mir der Pastor so unter der Fuchtel, daß sie sich hüten werden,
ein Wort in meine Gerichtsbarkeit hinein zu werfen, doch es mag sein,
also nach Dunkelwerden. Allons, marsch!«

Der Bleiche glitt wie ein Ohrwurm zur Thür hinaus, Fritz aber, der
zuerst bei dem tölpischen Jagdvergleich desselben verächtlich die Nase
gerümpft hatte, konnte doch nicht umhin, der späteren Verhandlung,
die jedenfalls irgend ein wichtiges Ereigniß betraf, aufmerksamer zu
horchen. Herr von Gaulitz ließ ihn jedoch nicht lange über das, was er
bis dahin nur zu errathen gesucht hatte, in Zweifel.

»Siehst Du?« -- sagte er, als sich die Thür hinter dem Burschen schloß
-- »die haben bessere Nasen, als Ihr Jäger mit allen Euren Treibern --
die wissen, wo der Flüchtige zu Bau gegangen ist!«

»Wer? -- Der, den wir aus dem Walde getrieben?« rief Fritz erstaunt.

»Allerdings, und heute Abend soll er ein sichereres Quartier haben, als
sein jetziges ist. Du aber, Fritz, magst ebenfalls in der Nähe bleiben,
bis sie den Gefangenen eingebracht haben; nicht etwa, daß ich glaubte er
würde sich zur Wehr setzen, oder daß ich irgend eine andere Gewaltthat
befürchtete, aber -- es ist doch besser. Nach Dunkelwerden sollen
sie ihn bringen, und jetzt geh einmal indessen hinauf zum Pastor, und
bestell' dort, ich ließe ihn bitten, zum Kaffee herunter zu kommen,
seine Tochter, die heute bei uns gegessen hat, bleibt auch noch unten --
ich hätte etwas Wichtiges mit ihm zu sprechen.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden --«

»Also Holke!«

»Zu Befehl, Euer Gnaden!«

»Haltet mir die Bauern unter; find ich oder Jemand Anderes wieder ein
angeschossenes oder verendetes Stück im Walde, ohne daß der Thäter, wenn
nicht bestraft, doch angezeigt wäre, so könnt Ihr Euch Beide freuen --
Du und Dein Vater --«

Der Jäger erwiederte Nichts weiter darauf, sondern verbeugte sich nur,
und verließ das Zimmer.

Als sich der Oberpostdirector gerade wandte, um in den Speisesaal
zurück zu kehren, trat der alte Poller mit einer riesigen Kaffeemaschine
herein, und hinter ihm her kam die Wirthschaftsmamsell mit zwei Körbchen
voll Gebackenem.

»Ist der Bote noch nicht aus der Stadt zurück?« frug Herr von Gaulitz
diese.

»Nein, Euer Gnaden,« lautete die Antwort, »er wird auch wohl vor
Dunkelwerden gar nicht hier sein können.«

»Wer war denn das Mädchen, welches da eben über den Hof ging? -- Hat der
Gerichtshalter etwas herüber sagen lassen?«

»Nein, Euer Gnaden, es war das Mädchen der Frau Kommerzienräthin
Schütte, die sich hat erkundigen lassen, ob die gnädige Frau heut'
Nachmittag zu Hause blieben, und ob sie störten, wenn Sie ein Bischen
herüber kämen.«

»Herr, Du mein Gott!« seufzte der Oberpostdirector halblaut vor sich hin
-- »das wird ein angenehmer Nachmittag werden -- nun fehlte mir nur noch
unser tägliches Brod -- der Literat Strohwisch.«

Das Mädchen, dem die Worte nicht entgangen waren, lächelte und
verschwand gleich darauf mit ihrem Backwerk im anderen Zimmer, wo
indessen die Damen um den großen runden, mit weicher Damastdecke
überhangenen Eichentisch Platz genommen hatten.


Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.



[ Hinweise zur Transkription


Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit
folgenden Ausnahmen:

  Seite VI:
  "295" geändert in "270"
  (Die Gutsherrschaft      270)

  Seite 38:
  "«" angefügt
  (Und hoffen und träumen -- wie Allerweltsnarren.«)

  Seite 45:
  "«" angefügt
  (so tüchtige >Haare auf den Zähnen< hätte.«)

  Seite 49:
  "." eingefügt
  (den hat mir der Schulmaistr verschlahn.«)

  Seite 53:
  "»" eingefügt
  (»_es solle nicht wieder geschehen!_«)

  Seite 64:
  "«" angefügt
  (zu arbeiten, sondern nur in einem fort geschrieben.«)

  Seite 69/70:
  "Dienstleuleuten" geändert in "Dienstleuten"
  (was man für eine Noth mit den Dienstleuten hat)

  Seite 81:
  "zumeiner" geändert in "zu meiner"
  (Ich habe auch gewilddiebt zu meiner Zeit)

  Seite 90:
  "Tocher" geändert in "Tochter"
  (Zu der Zeit war ich auch des Revierjägers Tochter gut)

  Seite 91:
  "zn" geändert in "zu"
  (beschloß ich, wenigstens einen Versuch zu machen)

  Seite 93:
  "ich'" geändert in "ich's"
  (Jetzt aber hielt ich's auch nicht länger aus)

  Seite 97:
  "«" eingefügt
  (doch das schadet Nichts,« fuhr er)

  Seite 110:
  "," eingefügt
  (fiel ihm hier einer der Bauern in die Rede, »so schlimm)

  Seite 113:
  "die Thür die Thür" geändert in "die Thür"
  (ging die Thür des grünen Zimmers auf)

  Seite 123:
  "," eingefügt
  (Mein Fritz und ich, wir nahmen die Flügel)

  Seite 123/124:
  "," eingefügt
  (»Der Teufel weiß es« brummte der Jäger, »er ging wieder)

  Seite 127:
  "Himmelskörper" geändert in "Himmelskörpern"
  (an den fernen glänzenden Himmelskörpern ihre feuchten Blicke)

  Seite 133:
  "hinabzu" geändert in "hinab zu"
  (niederträufenden Regen in die Schlucht hinab zu führen)

  Seite 137:
  "Beide" geändert in "beide"
  (war es beide Male etwa nicht den »Bayonetten« gelungen)

  Seite 158:
  "zugängliche" geändert in "zugängliches"
  (sein sonst sanften Regungen nicht leicht zugängliches Herz)

  Seite 169:
  "," verschoben, ">" eingefügt
  (Schulmeister muß schon --<, der >_Herr_ Schulmeister< fiel)

  Seite 172:
  "," eingefügt
  (Wasserspiegel, der große herrschaftliche Fischteich)

  Seite 176:
  "Kaffe" geändert in "Kaffee"
  (der Pastor drinne sitzt und eine Tasse Kaffee trinkt)

  Seite 177:
  "vorhergewußt" geändert in "vorher gewußt"
  (und meinten, das hätten sie vorher gewußt)

  Seite 178:
  "»" eingefügt
  (lachte der Musikant, »aber der Wirth will uns)

  Seite 206:
  "sogenanten" geändert in "sogenannten"
  (und den sogenannten Uebelstand dadurch vollkommen abzuschaffen)

  Seite 208:
  "Lauten" geändert in "Läuten"
  (seinen vollen Gehalt für Läuten, Orgelspielen)

  Seite 221:
  "nehmeu" geändert in "nehmen"
  (wie bisher, Theil am Religionsunterrichte nehmen zu lassen)

  Seite 222:
  "unserst bew iesen" geändert in "uns erst bewiesen"
  (aber es müßte uns erst bewiesen werden)

  Seite 230:
  "Misbrauch" geändert in "Mißbrauch"
  (und mancher Mißbrauch auch, von Seiten der Geistlichkeit)

  Seite 232:
  "Krafft" vereinheitlicht zu "Kraft"
  (Es war der Lehrer Kraft aus Bachstetten)

  Seite 233:
  ":" eingefügt
  (die gewöhnliche Anrede giebt den Beweis: >Schullehrer< heißt's)

  Seite 263:
  "," eingefügt
  (Melodie: >Ich bin der Doktor Eisenbart<, ein wunderhübscher Text)

  Seite 281:
  "«" entfernt
  (Er that, als wenn er den Jägerburschen gar nicht sähe.)]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Pfarre und Schule. Erster Band. - Eine Dorfgeschichte." ***

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