Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Pfarre und Schule. Zweiter Band. - Eine Dorfgeschichte.
Author: Gerstäcker, Friedrich
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Pfarre und Schule. Zweiter Band. - Eine Dorfgeschichte." ***


project.)



[ Symbole für Schriftarten: _gesperrt_ : =Antiqua= ]



  Pfarre und Schule.

  Eine Dorfgeschichte
  von
  Friedrich Gerstäcker.

  Zweiter Band.

  Leipzig,
  Georg Wigand's Verlag.
  1849.



Inhalt des zweiten Bandes.


                Erstes Kapitel.              Seite
  Die Kaffeegesellschaft                         1

                Zweites Kapitel.
  Plan und Gegenplan                            47

                Drittes Kapitel.
  Marie und Sophie                              61

                Viertes Kapitel.
  Die Wilddiebe                                 79

                Fünftes Kapitel.
  Das Gefängniß                                 96

                Sechstes Kapitel.
  Ein Republikaner                             115

                Siebentes Kapitel.
  Wie es in Horneck aussah                     134

                Achtes Kapitel.
  Das Geständniß                               154

                Neuntes Kapitel.
  Die Schulvisitation                          170

                Zehntes Kapitel.
  Die Verabredung                              206

                Elftes Kapitel.
  Wahlert und Kraft                            220

                Zwölftes Kapitel.
  Die Begegnung                                251



Erstes Kapitel.

Die Kaffeegesellschaft.


Die kleine Gesellschaft bestand bis jetzt erst aus vier Personen, und
zwar aus der Frau Oberpostdirector von Gaulitz -- erst seit wenigen
Monaten vermählt -- aus des Pastors rosigem Töchterlein Sophie, und den
beiden Schwestern des Herrn Geheimeraths Seiffenberger aus der Residenz,
und das bis jetzt nur über Putz- und Modesachen geführte Gespräch hatte
schon einen recht erfreulichen Aufschwung genommen.

Indessen eilten aber, um den freundlichen kleinen Zirkel zu vermehren,
zwei andere Damen rasch dem Rittergute zu -- nämlich unsere alte
Bekannte »_Fräulein Schütte nebst Mutter_«, wie sie Poller bald darauf
so eigenthümlich als bezeichnend anmeldete.

»Aber Anna,« keuchte die Mutter endlich, die fortwährend ein nicht
unbeträchtliches Stück hinter ihrer flüchtigeren Tochter zurückgeblieben
war, »Du läufst ja, daß man gar nicht zu Athem kommen kann -- wenn Du so
rennen willst, so geh' allein, ich bin's nicht länger im Stande.«

»Komm nur, Mutter,« bat aber Anna, als jene, dem Wort die That folgen
lassend, wirklich stehen blieb, um nur einmal ordentlich Athem
zu schöpfen -- »es ist wahrhaftig schon drei Uhr vorbei, und
Oberpostdirectors sollen immer so früh Kaffee trinken -- die werden gar
nicht wissen, wo wir bleiben.«

Die Mutter setzte sich wieder langsam in Bewegung, und Anna, ihren
Schritt auch etwas mäßigend, daß sie an ihrer Seite blieb, fuhr --
augenscheinlich nur ihre bisherigen Gedanken laut aussprechend -- fort:

»Nein Mutter, ich kann mich gar nicht darüber zufrieden geben, daß sich
der alte Oberpostdirector doch noch hat von der jungen hübschen Frau
scheiden lassen, um das ungebildete Ding, seine Wirthschaftsmamsell,
zu heirathen -- das ist auch ein alter Sünder, der noch einmal, und
hoffentlich auf dieser Welt schon, wenn er es am wenigsten erwartet,
seinen Lohn kriegt. Na, die kann sich gratuliren, denn besser wie er
seine anderen Frauen behandelt hat, wird er's mit der auch nicht machen.
Ueberhaupt die _Frommen_, das ist so die rechte Art -- vor den Leuten
_beten_ sie, und zu Hause sind's nachher Tyrannen, und Gott weiß was für
Hallunken. -- Wenn ich nicht so neugierig wäre, zu sehen, wie sie sich
zusammen vertragen, ich käme _dem_ Herrn wahrhaftig mit keinem Fuße über
die Schwelle.«

»Hat denn seine Frau ihr jüngstes Kind wirklich hergeben müssen?« frug
die Mutter, und griff fast unwillkürlich nach der Tochter Arm, die eben
schon wieder in größeren Schritten vorauseilen wollte.

»Nun natürlich,« erwiederte diese, »weißt Du denn das nicht? Nicht
des Kindes wegen, denn das wird dem alten Geizhals wohl kaum am Herzen
liegen, aber der _Welt_ wegen -- der gute Mann, sollen die Leute sagen,
kann nicht ohne sein Kind leben -- was für eine Vaterliebe -- siehst Du
Mutter, ich wünsche keinem Menschen gern 'was Böses, aber wenn ich den
Schuft könnte hängen sehen --«

»Schrei nur nicht so,« sagte die Mutter, »Deine Stimme hört man so über
drei Straßen hinüber -- da oben steht wahrhaftig der Oberpostdirector am
Fenster.«

Und sich freundlich verbeugend und grüßend traten sie in's Haus, wo
ihnen Frau von Gaulitz mit höflichem Willkommen entgegen kam und sie
den anderen beiden Damen, Fräulein Melinde und Josephine Seiffenberger,
Töchter des Herrn Geheimenraths Seiffenberger, vorstellte.

Gegen diese beiden Damen verneigte sich Anna Schütte auf das
Förmlichste, dann flog sie aber, wie aus einer Pistole geschossen,
Sophie Scheidler um den Hals, nannte sie ihr liebes herziges Soph'chen
und rief, sich darauf im ganzen Zimmer umschauend:

»Nein aber, wie Sie reizend wohnen, Frau Oberpostdirector -- das ist zu
herrlich, zu göttlich -- ach, so einen Stuhl habe ich mir schon lange
gewünscht -- nein der ist doch zu wonnig -- und _die_ Aussicht -- ach
die Berge da im Hintergrunde -- das möcht' ich malen können -- und der
wunderschöne Flügel -- das ist wohl ein Bretschneider? -- spielen Sie
denn auch?«

Frau von Gaulitz wurde blutroth, antwortete aber nach kurzem Zögern:

»Ein Bischen -- nur sehr wenig -- aber bitte, wollen Sie nicht Platz
nehmen? -- Louise, schenk doch den Damen ein.«

»Den Augenblick, meine Gnädige,« sagte Anna, ließ sich vor dem
geöffneten Flügel nieder und griff einige Accorde -- »nein, was das
Instrument für einen reizenden Ton hat -- wundervoll.«

Und ohne vorherige Warnung legte sie sich plötzlich in die Tasten und
raspelte der auf's Aeußerste erstaunten Zuhörerschaft mit unzähligen
falschen Griffen -- armer Karl Maria -- Webers Aufforderung zum Tanz
herunter. Die beiden Geheimenrathstöchter und Frau von Gaulitz waren
auch über die Ausführung wirklich entzückt, lobten wenigstens das Spiel
auf das Angelegentlichste, und fragten nur, ob Fräulein Schütte nicht
auch singen könne.

»Nur wenig,« entschuldigte sich diese, »ich bin lange heiser gewesen,
und muß mich jetzt noch sehr schonen.«

»Nun _nach_ dem Kaffee erfreuen Sie uns vielleicht mit einem Liede,«
sagte der Oberpostdirector, der fest entschlossen war, _nach_ dem Kaffee
einige wichtige und unaufschiebbare Geschäfte zu haben.

Die Neuangekommenen nahmen nach dieser Wendung und auf nochmaliges
Nöthigen ihre Sitze ein. Fräulein Schütte erhielt den Platz zwischen den
beiden Geheimenrathstöchter und Freundschaft war auch bald unter diesen
dreien geschlossen. Im Anfange schweifte dabei das Gespräch, da man sich
ja doch nicht näher kannte, natürlich nur über allgemeine und
ziemlich gleichgültige Dinge hin, Wetter und Jahreszeit, beabsichtigte
Lustfahrten und die reizende Lage der hiesigen Gegend mußten den
Grundstoff liefern, zu dem die verschiedenen Parteien die Variationen
ausarbeiteten; nicht lange dauerte es aber, so fing es an, auf einzelne
Individuen oder Punkte seinen Stachel hinzulenken, und wurde dadurch,
wie sich das von selbst versteht, nur interessanter.

»Sie sind also voriges Jahr auch in Dresden gewesen?« frug Melinde auf
eine von Fräulein Schütte geäußerte Bemerkung.

»Ei ja wohl, beinahe fünf Monate, mein Fräulein -- es ist doch eine
herrliche Stadt -- und so billig -- nein Sie glauben gar nicht, wie
billig und doch angenehm man dort wohnen kann.«

»Wo haben Sie denn eigentlich gewohnt, es wundert mich, daß uns nie das
Vergnügen zu Theil geworden.«

»In der Pirnaischen Gasse, im Ploßfeld'schen Hause -- Sie kennen es
wohl?«

»Das Ploßfeld'sche Haus? -- ei gewiß, das ist dasselbe, Josephine, wo
früher Mehlheims wohnten.«

»Ach, _die_,« sagte Fräulein Josephine mit einem so bedeutungsvollen,
wenn auch etwas höhnischen Lächeln, daß es augenblicklich die
vollkommene Aufmerksamkeit der Familie Schütte erregte.

»Was sind das für Mehlheims?« frug Anna rasch.

»Kennen Sie die Mehlheims nicht?« sagte Fräulein Melinde erstaunt --
»Professor Mehlheims, die erst vor zwei Jahren von Breslau zu uns kamen?
-- Sie stammen aus Dresden.«

»Nein, von denen habe ich nie gehört«

»Hm, das wundert mich, lieber Gott, _sie_ ist eine Schwester der
Regierungsräthin Hertig -- _die_ kennen Sie doch.«

»_Hertig_? _Hertig_? Sind die etwa mit den Hertigs in Plauen verwandt?«

»Das weiß ich nicht, aber ihre Mutter war eine geborene Jähn, von
Assessor Jähn's die Tochter.«

»Ach, _die_ kenne ich ganz gut,« fiel hier die Frau Commerzienräthin
ein, »die haben uns einmal ein halbes Jahr lang schräg über gewohnt --
also mit denen sind die Mehlheims verwandt; aber was wollten Sie denn
vorhin erzählen?«

»O gar nichts von Bedeutung weiter,« sagte Melinde, »ich meine nur, sie
hatten alle Ursache aus _dem_ Logis zu ziehen, denn in _solchem_ Schmutz
und Unrath hätten sie doch nicht länger fortbestehen können.«

»Aber das begreif' ich gar nicht,« fiel hier der Oberpostdirector, der
sich bis dahin am Gespräch mit keiner Sylbe betheiligte, sondern nur
manchmal aus dem Fenster nach dem erwarteten Pastor geschaut hatte, ein
-- »gerade die Professorin Mehlheim ist als eine vortreffliche Frau und
gute Wirthin bekannt, und ich selbst bin schon oft bei ihnen gewesen,
und weiß, daß ich mich sogar über die dort herrschende Sauberkeit sehr
gefreut habe.«

»Lieber Herr Oberpostdirector,« fiel ihm hier die jüngste Fräulein
Seiffenberger in's Wort -- »Sie können sich darauf verlassen, bei
Mehlheims ist eine schauerliche Wirthschaft -- ich weiß das aus _ganz_
sicherer Quelle, und was die Professorin selber als Wirthschafterin
betrifft, so nehmen Sie mir das nicht übel, davon versteht sie gar
Nichts. Nein, die gelehrte Dame will sie gern spielen, den ganzen Tag
sitzt sie auf dem Sopha, und liest Bücher und Journale und draußen in
Küche und Speisekammer geht's drunter und drüber, und die Kinder dürfen
Alles herrichten, wie es ihnen gerade Spaß macht.«

»Unser Mädchen hat auch, ehe sie zu uns zog, bei Mehlheims gedient,«
sagte die Schwester, »und uns schöne Geschichten von dort erzählt -- den
Wein konnte sie nur so wie sie wollte aus dem Keller nehmen, da war sie
förmlich daran gewöhnt.«

»Aber die Mädchen reden auch manchmal mehr, als sie sollen und
verantworten können,« sagte Sophie Scheidler, »man darf wahrlich nicht
Alles glauben, was die sagen; ich weiß, was nur allein hier in Horneck
schon für häßliche Sachen aus solchem unbegründeten Nacherzählen
entstanden sind.«

»Nun _da_ kommen wir wieder auf _unser_ Kapitel, liebes Sophiechen,«
nickte ihr Anna zu -- »das weiß der liebe Gott, _die_ Noth, die man
mit den Dienstboten jetzt hat, ist entsetzlich -- unsere Rieke, das
ist soweit ein ganz gutes Mädchen, aber _das_ Klatschen -- das liebe
Mundwerk steht ihr den ganzen Tag nicht still, und schickt man sie gar
einmal aus, so kann man sich nur fest darauf gefaßt machen, daß sie in
der ersten Stunde _nicht_ wieder kommt.«

»Das machen sie _alle_ so,« nahm hier Fräulein Melinde die Sache auf,
»ich hatte einmal ein Mädchen, das durfte ich Abends gar nicht aus den
Augen lassen, und selbst im hellen Sonnenschein verging kaum ein Tag, wo
sie nicht irgend ein _Bruder_ aus der Provinz, manchmal Soldat, manchmal
Civil, besucht hätte. Und kein Fertigwerden mit ihr; zum Aufwasch
brauchte sie manchmal drei volle Stunden.«

»Nun ich dächte« fiel ihr hier Josephine in's Wort, »darin leistete
unsere jetzige auch etwas -- denken Sie sich, neulich Abends nach
dem Essen hatte sie Nichts mehr zu thun, als das Bißchen Messing und
Kupferzeug zu putzen, den Vorsaal und die Küche zu scheuern, und uns
noch eine Kleinigkeit von Taschentüchern und Kragen zu waschen, und
wissen Sie bis wie lange sie dabei das theure Oel verbrannt hat? -- bis
Morgens um zwei Uhr -- das ist denn doch wahrhaftig zum krank ärgern,
und da hilft auch kein Reden und Sagen.«

»Der muß es aber bei uns wie im Himmel sein,« nahm hier Fräulein Melinde
die Unterhaltung wieder auf, -- »denn vorher war sie bei der Frau
Hauptmann Kohlwitz in Dienst gewesen, und die sollen Dienstleute
wirklich wie die Sclaven behandeln.«

»Nun, den _Ruf_ hat sie wenigstens,« fügte, wenn das irgend noch nöthig
gewesen wäre, Fräulein Schütte als Bestätigung hinzu -- »wissen Sie,
meine Gnädige, -- ach, die Frau Oberpostdirector war ja nie in Dresden
-- wissen Sie, Fräulein Seiffenberger, wie der Hauptmann damals das
Duell mit dem alten Bergcommissar hatte -- ich war gerade in der Zeit
auf ein paar Tage zu Besuch oben, da kam eine gute Freundin von der Frau
Hauptmann manchmal zu uns, und die hat uns entsetzliche Geschichten von
ihr erzählt --«

»Und kleiden thut sich die Frau,« setzte Fräulein Josephine hinzu --
»das ist fabelhaft, man kann ihr doch recht gut nachrechnen, was
ihr Mann eigentlich zu verzehren hat, denn das Gerücht mit dem
amerikanischen Onkel war doch ein Bißchen gar zu plump, und sollte
wahrscheinlich die Gläubiger etwas geduldiger machen, -- und trotzdem
giebt sie allein mehr für seidene Kleider und Hüte aus, wie -- das
weiß ich aus ganz sicherer Quelle -- ihr monatliches Wirthschaftsgeld
beträgt.«

»Wissen Sie denn, wer jetzt -- erst etwa vor zwei Stunden, in Horneck
eingetroffen ist?« frug Fräulein Schütte plötzlich, aber mit leiser
Stimme, als ob sie irgend ein wichtiges Geheimniß mitzutheilen habe.
Die Frage verfehlte ihre Wirkung denn auch keineswegs, die Damen fuhren
blitzesschnell mit den Köpfen zusammen, und ein erstauntes »wer denn?«
lief durch die Reihe.

»Die Frau Ministerin von Herchenthal mit Mutter und Tochter?« rief
triumphirend Anna und ein erstauntes »ist es denn möglich?« war ihr
Lohn.

»Was muß aber da nur vorgegangen sein?« frug Fräulein Melinde rasch.

»Vorgegangen?« sagte Sophie Scheidler -- »weshalb soll da gerade etwas
vorgegangen sein; die Frau Ministerin -- ist seit drei Jahren jeden
Sommer herausgekommen.«

-- »Aber nicht mit der Mutter, mein Herz,« fiel ihr Anna Schütte rasch
in's Wort -- »nicht mit der Mutter und einem Reisewagen voll Koffer, als
ob sie ihre Winterquartiere beziehen wollten; und nicht Anfang April,
sondern Ende Mai, wenn die Tage _ganz_ warm und schön waren. Nein,
richtig ist die Sache nicht, darauf wollte ich mein Leben einsetzen.«

»Das geschieht ihr aber ganz recht« versicherte in's Blaue hinein und
ungewiß, auf was sich das »nicht richtig« eigentlich bezöge, Fräulein
Josephine und hielt der Wirthschaftsmamsell zum fünften Mal ihre Tasse
hin -- »einen solchen Hochmuth wie _die_ Leute gehabt haben -- nein das
ist ganz unglaublich; ich wünsche keinem Menschen etwas Böses, aber das
gesteh ich, das könnte mir ordentlich einen frohen Tag bereiten, wenn
ich erführe, daß es denen einmal nach Verdienst gegangen wäre.«

»Was will denn die aber auf dem Lande?« frug Melinde -- »von der
Wirthschaft versteht sie denn doch nicht _so_ viel. Kaskelts, die
dicht neben an gewohnt haben, und ihnen gerade in den Hof sehn konnten,
versicherten mich oft es sei wirklich traurig _wie_ es bei Denen zu gehe
-- einen Hasen haben sie einmal drei ganze Wochen vor dem Küchenfenster
hängen gehabt, bis er gar nicht mehr zu genießen war, denken Sie sich,
den hatten sie rein vergessen und was die allein den vier kleinen
Bologneser Hunden füttern, die sich die Frau Ministerin hält, davon
könnten zwei arme Menschen anständig leben. Das sollte denn doch
wahrhaftig nicht sein, und selbst in der theueren Zeit hat sie nicht
einen einzigen abgeschafft.«

Eine kurze Unterbrechung entstand hier durch das Eintreten des Pastors,
der übrigens keinen Theil an der Unterhaltung nahm, sondern sich mit
dem Oberpostdirector in die Ecke des Zimmers auf ein kleines Seitensopha
setzte, und dort mit diesem einiges sehr angelegentlich zu besprechen
schien. Das so interessante Gespräch der Damen wurde aber auch jetzt,
als ob sie die Gegenwart des geistlichen Herren scheuten, mit etwas
leiserer Stimme, sonst jedoch mit keineswegs vermindertem Eifer,
fortgesetzt. Die beiden liebenswürdigen Schwestern Seiffenberger
schienen sich übrigens der Unterhaltung mehr und mehr zu bemächtigen
und Fräulein Schütte wurde einsylbiger als man das sonst wohl von
ihr gewohnt war -- sie brannte nämlich darauf irgend ein brillantes
Gesangstück vorzutragen und hoffte bis jetzt nur noch immer auf
eine erneute Einladung als zündende Lunte -- obgleich sie im
entgegengesetzten Fall dennoch fest entschlossen war, von selber los zu
gehn.

Die Dämmerung brach indessen an, es wurde dunkel in dem, von ein paar
hohen Kastanienbäumen stark beschatteten Gemach -- der Oberpostdirector
und Pastor waren in ihrer düsteren Ecke kaum noch zu erkennen, ebenso
verschwammen Fräulein Schüttes Umrisse, die vom Tisch aufgestanden
-- leise zu dem Fortepiano geschwebt war und sich dort schwärmerisch
sinnend auf dem kleinen gestickten Sessel niedergelassen hatte, mit dem
fahlen Hintergrund der Tapete.

Da öffnete Poller die Thür, schaute herein und sagte:

»Der Herr Schriftsetzer Strohwisch wünschen die gnädige Frau zu
sprechen.«

»Schriftsetzer?« riefen Fräulein Melinde und Josephine wie aus
einem Athem -- »hahaha -- das ist göttlich -- das ist himmlisch --
Schrift_steller_ meinen Sie -- das ist eine reizende Verwechselung --
Herr Strohwisch ist humoristischer Schriftsteller -- das hätte sich ja
gar nicht besser treffen können, der liefert charmante Sachen.«

»Wird mir sehr angenehm sein« sagte, während aus der Ecke in der der
Oberpostdirector saß, ein leiser Seufzer emporstieg, Frau von Gaulitz
zum Bedienten gewandt. Dieser verschwand -- die Thür that sich auf
und herein trat, im schwarzen Frack und mit den unausweichbaren
papageigrünen Glacéhandschuhen, unter denen hervor ein Stück der derben,
fest zusammengepreßten blutrothen Hand sichtbar wurde, in großcarrirten
Unaussprechlichen, die Haare allem Anschein nach noch kürzer als
gewöhnlich geschnitten, ebenso die Nase, _wenn_ das möglich gewesen
wäre, noch stumpfer, die Augenbrauen noch mehr heraufgezogen, die Augen
noch stierer und größer, die Stirn noch schmaler, die weit abstehenden
Ohren noch feindlicher gegen einander gesinnt -- die Sporen noch
klirrender, die Reitpeitsche noch graciöser in der Hand, Feodor
Strohwisch, mit einem freundlichen Lächeln auf den breiten Zügen.

Die Begrüßung war kurz, Strohwisch schien nicht gewohnt lange
Complimente zu machen -- =ubi bene, ibi patria=, ob sich das =patria=
nun eben so wohl um ihn herum fühlte, galt ihm ziemlich gleich.

Fräulein Schütte hatte er übrigens in ihrer dunklen Ecke noch gar nicht
erkennen können, und selbst nach dem Sopha, auf dem die beiden Herren
saßen warf er, als diese sich aus ihrer Stellung nicht bewegten, einen
mistrauischen Blick, ohne jedoch im Stande zu sein, die Identität ihrer
Personen zu bestimmen.

Frau von Gaulitz wollte Licht bringen lassen, dem widersetzten sich aber
die beiden Damen Seiffenberger »o es war jetzt zu reizend, zu herrlich
hier in dem düsteren dämmernden Stübchen, -- wie schauerlich schön wehte
und rauschte die Kastanie draußen vor dem Fenster, und wie wunderhübsch
war das, daß man von einander nur die Umrisse der Gestalten, gar nicht
einmal die Gesichtszüge erkennen konnte.« Frau von Gaulitz fügte sich,
und Feodor Strohwisch wurde bald der Mittelpunkt des Gesprächs, indem
er den Faden der Unterhaltung, den bis dahin die Damen Seiffenberger und
Schütte in Händen gehalten, fast allein für sich usurpirte.

Vor allen Dingen berichtete er ziemlich ausführlich über den Zustand des
Wetters draußen, und gab seine Vermuthungen an, was er davon für morgen
erwarte, wunderte sich über das »famose« Frühjahr und versicherte der
älteste Mann in Horneck wisse sich, wie er das aus dessen eigenem Munde
vernommen, einer solchen Jahreszeit gar nicht zu erinnern.

»Denken Sie sich« fuhr er dann zur Bestätigung des Gesagten fort, »oben
in der Schenke sitzt Alles, bis noch zu diesem Augenblick, im Freien --
Anfang April -- das ist fabelhaft. -- Aber was mir da einfällt -- ich
habe eben drüben etwas gehört, das ich hier in Horneck wahrlich nicht
erwartet hätte.«

»Und das wäre?« frag Fräulein Melinde rasch.

»Eine Sängerin, wie ich sie selbst in den ersten Städten Europas
(Schäker -- die größte Stadt die er je gesehen, war Dresden) nicht
getroffen. Ein Mädchen -- zwar, allem Anschein nach in höchst
mittelmäßigen Umständen, auch etwas zu bleich und krankhaft von
Aussehn, um gerade schön genannt zu werden, aber eine Stimme -- famos --
glockenrein, und weich wie Sammet -- und eine Höhe! -- Sie sang zuerst
ein paar ernste Sachen -- recht brav, das muß man sagen; aber später
trug sie ein humoristisches Lied vor -- nein, meine Damen, ich habe nie
etwas Aehnliches gehört!«

»Aber warum erfährt man das erst jetzt?« frugen Melinde und Josephine
»warum giebt sie nicht irgend eine Matinee, ein Concert.« --

»Es ist liederliches Gesindel, das im Lande umherzieht« -- mischte sich
hier der Pastor in's Gespräch, und Feodor schnellte von seinem Sitze
auf, um sich nach der Ecke hin, aus welcher die Stimme tönte, zu
verbeugen -- »sie wollten auch heute, am Sonntag Morgen schon singen,
das hab ich mir aber verbeten; die Welt wird wahrlich immer schlimmer.
-- Das hätte einmal in einer früheren Zeit einem Christenmenschen
einfallen sollen, an einem Sonntag komische Lieder zu singen, -- er wäre
gesteinigt worden; jetzt findet man das aber ganz in der Ordnung.«

»Und es ist ein böses Zeichen für die gottesfürchtige Gesinnung des
Ortes,« pflichtete ihm hier der Oberpostdirector seufzend bei, »daß so
etwas auch in unserem Orte einzureißen scheint oder die Menschen nur
überhaupt Gefallen daran finden.«

»Bitte um Verzeihung, meine Herrn,« setzte sich aber hiergegen Feodor
Strohwisch -- der auch nach der zweiten Stimme hin seine Verneigung
gemacht, zur Wehr, denn das hieß seine Existenz zugleich angegriffen --
»von gemeiner Komik darf und kann hier nicht die Rede sein, der _Humor_
aber ist das Salz und die Würze des Lebens, und eben so wenig wie wir an
einem Sonntag das Salz entbehren mögen, eben so wenig ist das glaub ich,
mit dem Humor der Fall -- hahahahaha!«

Fräulein Schütte hatte sich auf die Tasten niedergebogen, um diese
besser erkennen zu können, legte dann die Finger einzeln aber
geräuschlos auf, und griff jetzt schwärmerisch einige Moll Accorde.
Einer von diesen klang nicht ganz rein und Feodor warf einen
mistrauischen Blick nach der, von geheimnißvollem Dämmerschein
umflossenen Gestalt hinüber, schien aber gegenwärtig auf ein viel
zu interessantes Kapitel gerathen zu sein, um davon so leicht wieder
abspringen zu können.

»Ist denn die Sängerin allein oder in Begleitung hier?« frug Sophie.

»Ein alter Mann, wahrscheinlich ihr Vater ist bei ihr« -- sagte Feodor,
»er trug einzelne Piecen sehr hübsch vor, und accompagnirte besonders
das letzte Lied reizend -- nun -- wo hab' ich es denn eigentlich -- hin
-- gesteckt? -- na das wäre ein schöner Spaß« -- Er befühlte sich am
ganzen Körper in immer größerer Hast, wie Einer, nach dem geschossen
ist, und der nur noch nicht recht weiß, ob ihm die Kugel in der Schulter
oder im Beine sitzt.

In dem Augenblick ging die Thüre auf, und Poller trat mit der großen
Schraubenlampe herein, die er mitten auf den Tisch stellte und zugleich
das Kaffeegeschirr mit fortnahm.

»Haben Sie etwas verloren?« frugen die beiden Fräulein Seiffenberger
besorgt.

»Bitte -- bemühen Sie sich nicht -- es muß sich schon wieder finden --
es war nur das humoristische Gedicht, das von dem Mädchen so wundervoll
vorgetragen wurde -- ich glaubte es wäre vielleicht für Sie interessant
zu -- ah, hier ist es -- nein doch nicht -- das ist etwas anderes --
nun das schadet Nichts -- hahahaha -- das ist auch ein so kleines
scherzhaftes Ding was ein _sehr_ guter Freund von mir gemacht hat --
prachtvoller Humor darin -- es kommt mir immer, wenn ich es so ansehe
vor, wie eine Schachtel voll Knallerbsen -- hahaha!«

»Hihihi« kicherten die beiden Fräulein Seiffenberger und die Frau
Oberpostdirectorin -- und die Mollaccorde wurden weicher und wehmüthiger
-- Feodor saß übrigens den Rücken dem Clavier zugewandt, und konnte
deshalb die Spielende nicht sehn.

»Ach bitte, tragen Sie uns etwas vor« bat Melinde.

»Ich habe schon einiges von Ihnen gelesen« setzte Josephine hinzu --
»nein, _zu_ reizend; todt könnte man sich darüber lachen -- >Possen aus
Nossen< war, glaub' ich, der Titel -- ist dieß auch von Ihnen?«

»Von mir? -- nein« -- lächelte Feodor verlegen, und eine eigenthümliche
Bescheidenheitsröthe verlieh seinem Antlitz etwas Zinnoberartiges --
»ein _sehr_ guter Freund von mir -- er ist noch -- er ist noch Dilettant
-- Sie -- Sie werden Nachsicht mit ihm haben müssen.«

»O bitte, bitte lesen Sie« baten die Damen.

»Aber es eignet sich in der That gar nicht zum Vorlesen« versicherte
Feodor -- »es sind nur einzelne, epigrammatisch gehaltene abgerissene
Strophen, ohne Zusammenhang -- es sollte -- wie mir mein Freund gesagt
hat, ein Versuch sein, einen Vers auf das ernsthafteste, tragischeste zu
beginnen, und dann urplötzlich ganz humoristisch zu schließen -- es ist
das eine ungeheuer schwere Aufgabe, und ich weiß wirklich nicht« --

»Oh bitte, bitte« -- lautete die einzige Antwort.

»Nun, wenn Sie denn nicht anders wollen, aber zürnen Sie mir nicht, wenn
ich Sie langweile -- ahem -- ahem!« --

»Wollen Sie sich die Lampe nicht etwas weiter hinübernehmen?« frug Frau
von Gaulitz.

»Oh ich danke, meine Gnädige -- ich kann herrlich hier sehen -- also
ahem -- wenn Sie denn Nachsicht mit mir haben wollen -- ahem:«

Feodor rückte noch einige Male räuspernd auf dem Stuhl herum, hielt
das Manuscript etwas gegen das Licht und begann dann mit ernster,
feierlicher Stimme, die ein ernsthaft schmachtender Blick nach des
Pastors Töchterchen hinüber aber Lügen strafte:

  »Das Warum wird offenbar
  Wenn die Todten auferstehen! -- --
  Wer versetzt den Mantel muß,
  Wenn es kalt, im Fracke gehn!«[1]

  [1]: Diese und die nachstehenden Verse sind wörtlich einem kleinen
  Liederbuche entnommen: »Faxen aus Sachsen, zweites Heft« Englische
  Kunstanstalt von A. H. Payne in Leipzig.

»Hahaha.«

»Hahaha« lachten die Damen Seiffenberger und von Gaulitz und auch
Poller, der in der Thüre stehn geblieben war, verzog den breiten Mund
von einer Seite zur andern. Der humoristische Schriftsteller fuhr fort:

  »Zwei Seelen und ein Gedanke
  Zwei Herzen und ein Schlag -- --
  Ich glaube Ritzebüttel
  Ist kleiner doch als Prag.«

»Hahahaha -- sehr gut vortrefflich!«

  »Wo Muth und Kraft in deutscher Seele flammen
  Fehlt nicht das blanke Schwert beim Becherklang -- --
  Rauch nie Cigarrn zwei Stück für einen Dreier
  Sie machen sicher nur Gestank.«

»Sehr wahr -- sehr wahr« kicherten die Damen Seiffenberger -- Feodor
lächelte und fuhr fort:

  »Alles war im Anfang gut auf Erden.
  Alles wird durch Weisheit wieder gut --
  Drum versäume ja nicht aufzukrämpeln
  Deinen alten abgeschabten Hut.«

Ich will die Geduld des Lesers nicht durch noch mehr von diesen Versen
auf die Probe stellen. -- Die Damen, Fräulein Scheidler und Schütte
ausgenommen, amüsirten sich übrigens vortrefflich und riefen, als der
junge Mann das Gedicht seines _sehr_ guten Freundes beendigt, wie im
Chor: --

»O, das ist sehr drollig -- das ist allerliebst!«

»So abgerissen,« lachte Fräulein Josephine -- »erst glaubt man Wunder
was für ein ernster wehmüthiger Vers kommt, und dann schließt es so
pikant und reizend -- ha ha ha ha!«

»Der Ernst verleiht dem Humor gerade den höchsten Reiz,« versicherte
Feodor, während er das Gedicht in die Westentasche zurückschob. »So
hätten Sie nur zum Beispiel sehen sollen, mit welchem unerschütterlichen
Ernst das junge Mädchen heute mein -- das humoristische Lied sang -- es
war zu komisch, und ich -- ha wahrhaftig -- da ist es -- nun hab' ich es
doch in allen Taschen gesucht --«

Ein paar angeschlagene Accorde ließen den Sehnsuchtswalzer ahnen -- aber
kurz abgebrochen wurden sie, als ob ein furchtbarer Schmerz selbst jedes
Sehnen unterdrücke.

»Sie wollten uns ja ein Lied singen, mein Fräulein,« sagte aber jetzt
der Oberpostdirector, der nicht mit Unrecht eine Fortsetzung solch
literarischer Thätigkeit fürchtete.

»Ach ja, liebe Anna,« bat auch Sophie, zu ihr tretend, »Du kannst gewiß
irgend ein kleines Lied auswendig, singe nur etwas.«

Feodor hatte die zweite Auflage seiner Humoristik schon wieder zum
vollständigen Angriffe bereit, da aber die Bitte zum Singen auch von
einer der Damen, noch dazu von Fräulein Scheidler unterstützt wurde, so
konnte er dagegen doch nicht gut ankämpfen -- er legte das Papier vor
sich nieder, und nahm sein Taschentuch heraus.

»Ich weiß nicht -- meine Stimme ist heute so belegt,« sträubte sich
Anna, und Strohwisch fuhr bei den Lauten blitzesschnell herum -- _das_
war seine Hausgenossin mit ihrer gellenden Stimme -- ha, selbst bis
hierher verfolgte ihn sein Geschick.

»Es wird schon gehen,« ermunterte sie aufstehend der Oberpostdirector,
und schien nur eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um das Zimmer zu
verlassen.

»Vielleicht könnten Sie uns irgend ein geistliches Lied singen?« schlug
mit gewinnendem Lächeln der Pastor vor.

Feodor war bei der Nachfrage nach einem Liede fast unwillkührlich wieder
mit der Hand an die Tasche gefahren, die aller Wahrscheinlichkeit
nach noch einen Schatz von solchen in ihren Falten barg, dieser letzte
Vorschlag ließ ihn aber in Verzweiflung davon abstehen. Weiteres
Ueberlegen half jedoch auch gar Nichts, denn Fräulein Schütte schien
plötzlich zu einem Entschluß gekommen zu sein; sie rückte sich
wenigstens den Stuhl zurecht -- präludirte ein wenig, und --

  »Robert, Robert, mein Geliebter,
  Mein Herz lebt nur -- lebt allein durch Dich«

schwoll mit steigender Bewegung durch die stillen Räume des Saales.

Die _Gnadenarie_ stöhnte Strohwisch leise vor sich hin, und sank
vernichtet in seinen Stuhl zurück. Und die Gnadenarie war es auch
wirklich, die Anna, trotz der belegten Stimme, in schmetternden
Tönen, bald einen Viertelton zu hoch, bald einen halben zu tief, aber
regelmäßig aus dem Tact, und fast bei jedem Satze stecken bleibend,
vortrug.

»Wenn ich nur meine Noten hätte,« entschuldigte sie sich fortwährend
dabei -- Feodor aber nahm gar keine Entschuldigung an -- bleich und
lautlos saß er am Tisch, und nur einmal flüsterte er leise mit unter der
Decke gefalteten Händen: »Ich leide unschuldig!«

Unten im Hof aber war es indessen lebhaft geworden, und der
Oberpostdirector an's Fenster getreten, wo er hinter den zur Seite
geschobenen Rouleaux hervor hinabsah. Dunkle Männergestalten schritten
dicht bei einander über den gelben Kies.

»Sie haben ihn,« sagte er, die Gesellschaft ganz vergessend, gegen den
Pastor gewandt, wenn aber auch Sophie Scheidler den Kopf wandte, so
schien doch sonst Niemand die Bemerkung gehört zu haben, der Pastor aber
verließ rasch mit dem Gutsherrn das Zimmer.

»Sie haben ihn?« flüsterte Sophie, und unwillkührlich überlief ein
kaltes Frösteln ihre Glieder -- »wen? -- großer Gott, wenn es möglich
wäre.«

Sie glitt rasch an's Fenster, und sah hinaus -- gegenüber, wo das kleine
Gebäude stand, in welchem zu Zeiten, obgleich sehr selten, Missethäter
eingesperrt wurden, standen eine kleine Gruppe Menschen, ihr Vater trat
mit dem Oberpostdirector eben zu ihnen; dieser gab einige Befehle.

»Das ist Tyrannei, und wird seine Strafe finden -- der Tag des Gerichts
ist nahe!« donnerte eine Stimme vom Hofe aus, daß sie selbst hinter
dem geschlossenen Fenster die Worte deutlich verstehen konnte. Auch
die Uebrigen mußten etwas davon vernommen haben, denn die Fräulein
Seiffenberger drehten sich rasch nach dem Fenster um, und Frau von
Gaulitz trat zu Sophien, um hinaus zu sehen. Nur Anna Schütte ließ sich
nicht stören.

  »Wie? Dein Herz, wie? Dein Herz hat vergessen,
  Was Du heiß, was Du heiß einst mir schwurst!«

tönte ihre gellende Stimme durch das ganze Haus; selbst die Mägde, die
eben mit den Aeschen, in denen sie ihre Abendsuppe geholt, aus der Küche
kamen, blieben erstaunt stehen, und horchten hinauf, »wem denn da oben
etwas fehle.« Feodor aber saß noch immer in dumpfes düsteres Brüten
versenkt.

Gleich darauf schloß sich die Thür wieder drüben, Schlüssel klapperten,
und der Oberpostdirector kam mit dem Pastor in das Haus zurück.

  »Ach Gnade, Gnade für Dich selber, für Dich selber,
  Und Gnade -- und Gnade, Gnade für mich -- Gnade -- Gnade -- Gnade
          für mich!«

schloß Anna ihre schmetternde Bravourarie, und »herrlich!« »göttlich!«
riefen die Fräulein Seiffenberger wie aus einem Munde.

»Wirklich schön!« sagte Herr Strohwisch, und machte einen schwachen
Versuch zu applaudiren -- »sehr schön, mein Fräulein -- ich habe -- ich
habe auch schon früher das -- Vergnügen gehabt, Sie singen zu hören --«

Weitere Complimente wurden unnütz, denn Melinde wie Josephine gingen auf
Fräulein Schütte zu, preßten sie in die Arme, küßten sie, und nannten
sie einen »süßen melodischen Engel.«

Der Oberpostdirector trat mit dem Pastor in's Zimmer, »so will ich
Ihnen das andere kleine Gedicht noch vorlesen -- mit Musik macht es sich
freilich besser -- alle meine Gedichte sind fast componirt -- wundervoll
-- schön!«

»Um Gotteswillen, Vater, was ist da draußen eben geschehen?« frug aber
Sophie, die neue Kriegserklärung gar nicht beachtend, in Todesangst
ihren Vater, so wie dieser die Schwelle nur überschritten hatte.

»Nichts, mein Fräulein, beruhigen Sie sich,« nahm da Herr von Gaulitz
die Antwort auf -- »Nichts, was Sie ängstigen dürfte, im Gegentheil
etwas Freudiges -- wir haben den Burschen aufgespürt, der von der
Residenz aus steckbrieflich verfolgt ist, und Sie selber sogar gestern
im Walde angefallen hat.«

Sophie hatte eine Stuhllehne erfaßt, und es bedurfte aller ihrer
Geistesgegenwart, sich in diesem Augenblick nicht zu verrathen.

»Den haben Sie erwischt?« rief da Anna Schütte fröhlich dazwischen --
»Gott sei Dank, jetzt kann man doch wieder vor die Thüre gehen, ohne
fürchten zu müssen, angefallen zu werden. Was geschieht nun mit dem
erschrecklichen Menschen?«

»Aber er hat uns ja gar nicht angefallen!« betheuerte Sophie, denn
gewaltsam raffte sie sich zusammen, da sie recht gut fühlte, wie es
jetzt an der Zeit sei, dem Unglücklichen, was er auch sonst immer
verbrochen haben mochte, wenigstens von dieser Anklage zu reinigen --
»nur vom Waldrand her, wo er wahrscheinlich gesessen, trat er auf uns
zu, als ihn auch schon das Blei des Jägers traf -- und er ist -- er ist
verwundet.«

»Der klare Schrot wird ihm nicht viel gethan haben,« meinte der
Oberpostdirector; »das bleibt sich aber auch gleich, und es soll mir
seinetwegen lieb sein, wenn ihm das nicht härter in's Gewicht fällt. Ich
habe bei der Sache aber weiter Nichts zu thun, als daß ich ihn in die
Stadt an's Criminalgericht liefere, das mag nachher meinetwegen sehen,
was es mit ihm anfängt.«

»Was hat er denn eigentlich verbrochen?« frug Strohwisch, der seufzend
den Gedanken aufgab, heute noch und unter solchen Verhältnissen zum
Vorlesen zu kommen -- »hat er gestohlen?«

»Das kaum,« sagte von Gaulitz, »dem Ministerium scheint nur sehr viel
an seiner Gefangennehmung zu liegen, es muß wohl ein sehr gefährlicher
Mensch und Demagoge sein -- nun, wild genug sieht er aus, und es ist
mir lieb, daß wir ihn hinter Schloß und Riegel haben. Aber bitte, meine
Damen, setzen Sie sich doch, Sie brauchen sich wirklich nicht mehr zu
fürchten, -- er ist ganz unschädlich. -- Wir haben Sie gewiß in Ihrer
Arie gestört, mein Fräulein.«

»Ich hatte sie gerade beendet -- aber -- bester Herr Oberpostdirector,
könnte man den Menschen denn wohl einmal zu sehen bekommen? -- ich habe
noch nie einen ordentlichen Räuber --« sie zögerte einen Augenblick, und
der Pastor fuhr lächelnd fort --

-- »in aller Sicherheit hinter einem Gitter wie ein wildes Thier
betrachten können.«

»Aber Anna!« sagte Sophie vorwurfsvoll --

»Nun liebes Kind, ich weiß wirklich nicht, ob man mit einem solchen
Menschen Mitleiden zu haben braucht,« vertheidigte sich die junge Dame
-- »wenn Einer einmal erst _steckbrieflich_ verfolgt ist, dann _muß_ es
ein schlechter Mensch sein.«

»Bitt' um Verzeihung, mein Fräulein,« fiel hier Strohwisch ein -- »das
kann in jetziger Zeit dem Besten passiren: ein _sehr_ guter Freund von
mir hat einmal auf die politischen Steckbriefe ein Gedicht gemacht,
das --« er fing schon wieder an, in den Taschen zu suchen -- »das -- in
-- der -- That -- es wird Sie vielleicht -- vielleicht interessiren --«

Es klopfte in dem Augenblick stark an die Thür, und auf ein fast
unwillkührliches lautes »Herein« des Dichters, der jedoch erschreckt
danach zusammenfuhr, und »tausendmal« um Entschuldigung bat, öffnete
sich die Thür, und ein junger Mensch, der Bote, den Herr von Gaulitz
heute in die Stadt geschickt hatte, trat herein:

»Nehmen Se's nich vor ungut, Herr Oberpostdirecter,« sagte dieser, »daß
ich so g'rad hereinfalle, aber 's war keener nich von den Bedienten da,
und da dacht' ich, de Sache hätte Eile.«

»Nun, Christoph, was giebts?« frug der Gutsherr rasch -- »bringst Du
Briefe?«

»Ja, zwee -- eenen an den Herrn Oberpostdirecter, un eenen an den Herrn
Paster -- es sieht wild in der Stadt aus.«

»Was? -- Wie so?« sagte von Gaulitz, indem er an den Tisch trat und den
Brief erbrach.

»De Minister haben se fortgejeggt,« lachte der Bursche, »reene fort --
eben wie ich zum Thore 'naus wulle, gung der Spectakel los.«

»Um Gott,« fuhr der Oberpostdirector erschreckt auf -- »das wäre bös --«

»Ja, Se kennen sich druff verlassen, -- in der Schenke han ich's en ooch
schonst verzählt -- na, die fungen en scheenen Cravall an -- herr jes!«

Der Pastor hatte indessen seinen Brief ebenfalls geöffnet, von Gaulitz
bat ihn aber mit leiser Stimme, ihm auf sein Zimmer zu folgen, und
die beiden verließen nach nur kurzer, hastiger Entschuldigung die
Gesellschaft.

Auch Christoph wollte sich mit vielen Bücklingen entfernen, um seine
Neuigkeit wahrscheinlich im Dorfe weiter zu tragen, der kam aber schön
an. Die drei Damen Seiffenberger und Schütte nahmen ihn in die Mitte,
Strohwisch besetzte die Thür, und er mußte nun erzählen, bis er,
wie eine total ausgepreßte Citrone, der auch der letzte Tropfen Saft
genommen, trotz den gewaltigsten Anstrengungen nichts weiter mehr
herausgeben konnte. Erst dann überließen sie ihn, matt und erschöpft
seinem Schicksal.

»Herr Pastor,« sagte der Oberpostdirector indessen, als der Bediente
das Licht auf den Tisch gestellt, und das Zimmer verlassen hatte --
»die Sache in der Residenz scheint allerdings schlimm zu stehen, und die
Revolution auch in unser kleines Ländchen ihre Bahn gefunden zu haben;
nur von dem Sturz des Ministeriums las ich hier noch kein Wort -- ich
hoffe, der Bursche hat in all seiner Aufregung die Sache am Ende gar
schlimmer angesehen, als sie wirklich war.«

»Auch in meinem Briefe steht keine Sylbe davon,« versicherte der
Geistliche, -- »für mich aber ist hier eine sehr fatale Nachricht
enthalten. Denken Sie nur, unser Gefangener ist der Sohn unseres
Generalsuperintendenten Wahlert, der sich freilich, wie mir der
Hofprediger Bellmann hier schreibt, nach dessen letzten politischen
Umtrieben von ihm losgesagt, und ihm förmlich das Haus verboten hat --
aber, Du lieber Gott, Elternliebe läßt sich nicht so ohne Weiteres und
mit solchem jungen Menschen zu gleicher Zeit vor die Thüre setzen; die
bleibt zu Haus, und nagt und mahnt, und holt ihn am Ende doch
wieder herein. Der Generalsuperintendent ist, besonders bei Hofe,
außerordentlich einflußreich, und ich weiß in der That nicht, ob er es
uns später danken würde, dazu beigetragen zu haben, sein einziges Kind
aufzufangen.«

»Aber _freigeben_ kann ich ihn doch wahrhaftig auch nicht wieder,« sagte
von Gaulitz nach kurzem Ueberlegen, während er mit schnellen Schritten
und verschränkten Armen im Zimmer auf- und abgegangen war; »erstlich ist
mir das Sprengen des Ministeriums vollkommen unglaublich; wer weiß, was
der holzköpfige Bursche in der Stadt gehört und sich dabei in seinem
eigenen vernagelten Gehirn zusammengestellt hat -- und dann -- wirklich
den Fall gesetzt, es wäre dem so, wer bürgt mir nachher dafür, daß
die heute Gestürzten nicht morgen schon wieder die Zügel, und dann
sicherlich noch viel gewaltiger als vorher in Händen haben? -- Ich
kann, man mag mir nun sagen was man will, noch immer an keine wirkliche,
ordentliche Revolution glauben; der Geist des Militairs ist noch der
alte, und läßt man den Regierungen nur Zeit, daß sie sich ein wenig
von ihrem ersten Schreck erholen können, so werden sie sicherlich das
verlorene, oder hier und da fast muthwillig selber aufgegebene Terrain
bald wieder gewinnen. Deßhalb muß ich mir also den Rücken in jedem Fall
frei halten, und jetzt vor allen Dingen suchen, authentisch-officielle
Berichte über den wahren Stand der Dinge in der Residenz zu erhalten.
Daß den Ministern, wären sie wirklich gestürzt, Nichts daran liegen
würde, einen unruhigen Kopf mehr oder weniger unter Riegel zu wissen,
versteht sich wohl von selbst, sind sie aber _nicht_ gestürzt, und war
das ein bloßes, vielleicht absichtlich ausgesprengtes Gerücht, -- denn
die freie Presse leiht ja jetzt zu jeder Schändlichkeit bereitwillig die
Hände -- und hätt' ich mich dann verleiten lassen, den Gefangenen wieder
_frei zu geben_ -- so könnt' ich in schöne Verlegenheit hineingerathen.«

»Frei _geben_ dürften Sie ihn auf keinen Fall«, meinte der geistliche
Herr, der eine ganze Weile sinnend am Fenster gestanden und in die
dunkle Nacht hinausgeschaut hatte, sich jetzt aber plötzlich wieder
gegen den Gutsherrn wandte -- »wer würde Sie dagegen tadeln können, wenn
der Gefangene, durch die Hülfe irgend eines Anderen, vielleicht guten
Freundes, von hier _entwischte_.«

Von Gaulitz blieb vor dem Pastor stehen und sah ihn ein paar Minuten
forschend und scharf in die kleinen schwarzfunkelnden Augen,
schüttelte aber nach kurzem Ueberlegen mürrisch den Kopf, setzte seinen
unterbrochenen Spaziergang wieder fort Und sagte:

»Nein -- nein -- das geht nicht -- das geht wenigstens _jetzt_ noch
nicht -- erst muß ich die gewisse Bestätigung dieser Nachricht bekommen,
und mit _der_ -- werde ich wohl auch Instructionen über mein künftiges
Benehmen erhalten. Das alte Staatennetz ist viel zu vortrefflich und
dauerhaft gewebt, als daß es so mit einem Male, und schon bei dem ersten
gewaltsamen Ruck aus allen Fugen reißen sollte -- eine Masche kann
wohl manchmal nachgeben -- doch das läßt sich restauriren -- und die
ausgebesserten Stellen halten nachher gerade am Besten. Ich will ohne
Zögern einen zuverlässigen Boten in die Stadt zurückschicken; der kann
dann recht gut vor morgen früh wieder hier sein, und nachher weiß ich,
wie ich zu handeln, was ich zu thun habe, und woran ich bin.«

»Aber der General-Superintendent.«

»Es ist eine böse Geschichte -- aber ich kann's nicht ändern -- daß mir
auch das alberne Volk den Menschen gerade heute Abend einbringt -- das
verdank' ich Niemandem, als diesem Ohrwurm, dem Poller -- so lange
hat der Schuft gebohrt und spionirt und wieder gebohrt, bis ich mich
verlocken ließ. Ich weiß nicht, was ich jetzt darum gäbe, mit der ganzen
Sache gar Nichts zu thun gehabt zu haben. Doch zum Spioniren ist er gut,
und darum soll er mir auch ohne weiteres Zögern in die Stadt hinein.«

Der Oberpostdirector schritt rasch der Thüre zu, als ein wunderlich
murmelndes Geräusch sein Ohr traf, und ihn fest an die Stelle bannte --
auch der Pastor hob erschreckt den Kopf, trat zum Fenster und öffnete
schnell den Flügel.

Draußen wogte und tobte eine wilde, stürmende Menschenschaar in das
noch offen stehende Thor des Rittergutes herein, junge Bauerburschen und
Handarbeiter aus dem Dorfe, und an der Spitze des Zuges wer anders
als Doctor Levi, das gesinnungstüchtige Nordlicht der Freiheit mit
bis obenhin zugeknöpftem Rocke und fest und entschlossen in die Stirn
gedrücktem Hut.

»Hurrah -- Freiheit -- Freiheit oder'n Dot -- 'raus mit'n Gefangenen --
Postdirecter 'raus -- Hurrah -- Republik soll leben -- hoch!!! -- Hurrah
-- Postdirecter abdanken -- freien Schnaps -- hurrah -- alle eine Metze
Erdbirn' und zwee Pfund Fleesch -- hurrah den Gefangenen 'raus!«
Das waren die wildverworrenen Schreie und Ausrufungen, die von dem
Menschenhaufen zu den am Fenster Stehenden heraufdrangen. In demselben
Augenblicke glitt aber auch schon die bleiche, zum Tode entsetzte
Gestalt des jungen Poller in's Zimmer und rief, fast athemlos vor
innerer Angst und Aufregung:

»Sie kommen, Herr Oberpostdirector, sie kommen -- sie wollen ihn
wiederholen -- das ganze Dorf ist unten, und sie haben geschworen, sie
wollen das Schloß in Brand stecken, wenn sie'n nicht gleich mitkriegen.«

»Unsinn!« sagte Herr von Gaulitz, dem es, was auch seine sonstigen
Eigenschaften sein mochten, keineswegs an persönlichem Muth gebrach --
»Du bist eine Memme, daß Du gleich beim ersten Lärmschuß das Hasenpanier
ergreifst -- wer ist unten?«

»Das ganze Dorf!« rief der Erschrockene.

»Sind auch die Eisenbahnarbeiter vom Sellsberge dabei?«

»Es kriwwelt und wimmelt von lauter Gesindel.«

»Das ist ja gar nicht möglich,« sagte der Pastor, »Christoph hat
die Nachricht vor kaum einer Stunde mitgebracht und auf die hin ist
sicherlich erst die ganze Aufregung entstanden.«

»Herr Oberpostdirector!« rief in diesem Augenblicke der alte Poller, der
ohne Weiteres das Zimmer aufriß und herein prallte -- »Sie wollen mit
dem Herrn Oberpostdirector sprechen -- die ganze Gemeinde ist da.«

»Ist denn das ganze Haus verrückt geworden?« sagte der Herr von Gaulitz,
dem Alten rasch und zornig entgegen gehend -- »was ist das für eine
Manier, zu mir in's Zimmer zu kommen -- weiß er nicht besser, was sich
schickt?«

»Bitt' um Verzeihung, Ew. Gnaden -- aber -- das Volk -- der Schrecken --
Besorgniß um Ew. --« stotterte der Alte.

»Wer ist noch draußen auf dem Vorsaale?« unterbrach ihn der Gutsherr
rasch und heftig.

»Fritz -- der Jäger,« lautete die Antwort.

»Er soll hereinkommen -- schnell!«

Wenige Secunden später stand Fritz auf der Schwelle und sein monotones

»Zu Befehl Ew. Gnaden« -- machte den jetzt wieder hastig im Zimmer auf-
und abgehenden erst auf den Gerufenen aufmerksam. Er wandte sich nach
ihm um und frug:

»Wie steht's draußen, Fritz? -- Was sind das für Schaaren, die da
lärmend und schreiend auf mein Gut ziehen -- was wollen sie?«

»Sie scheinen's selber nicht so recht zu wissen,« lachte der junge Jäger
-- »der Doctor führt sie an und eigentlich wollen sie, glaube ich, den
Gefangenen befreien, die wirklichen Bauern aus dem Dorfe sind's aber
nicht -- eine Parthie junge Bursche meistens und Neugierige, sie wählen
unten gerade eine Deputation, um sie herauf zu schicken.«

»Ah gut -- laß sie kommen,« sagte der Herr von Gaulitz rasch -- »geh'
hinunter Fritz, und führe sie herauf zu mir -- Du bist doch wenigstens
noch vernünftig, und weißt was Du sprichst, das Volk hier scheint aber
das Bißchen Verstand vollendes verloren zu haben -- hinaus mit Euch --
halt da, Du, Karl -- Du wartest draußen, ich habe noch einen Auftrag für
Dich.«

Die beiden Poller glitten, zwischen Furcht vor ihrem Herrn und den
aufgebrachten Volkshaufen draußen schwankend (denn die Bewohner von
Horneck haßten sie, wie sie recht gut wußten, gründlich) aus dem
Zimmer. Fritz aber führte gleich darauf den Doctor Levi mit zwei anderen
»Vertrauensmännern«, dem Schneider aus dem Dorfe und dem Böttcher, in's
Zimmer, und Levi hielt denn auch, mit seiner ganzen liebenswürdigen
Bescheidenheit und ohne weitere Vorrede eine Ansprache an den
Rittergutsbesitzer, in der er diesen darauf aufmerksam machte, wie die
Tyrannei gestürzt und ihre Helfershelfer der Spreu gleich in alle Winde
»zerstiebt« wären, wie das souveraine Volk jetzt eine Weile selber
regieren wolle und ihn, den Reactionair auffordere, den Vorkämpfer
der Freiheit, den schändlich und heimtückisch gefangenen Wahlert,
augenblicklich wieder in Freiheit zu setzen. Sie -- die Deputation --
wären einstimmig vom Volke erwählt, das unten auf Antwort harre, und
den »Bayonetten« zum Trotz seine Foderung mit seinem Heldenblute
unterstützen wolle -- er rechne auf unbedingte Unterwerfung.

Der Pastor stand in der einen Fenstervertiefung und rieb sich
schmunzelnd die Hände -- der Sohn des General-Superintendenten wurde
frei und er selber damit jeder Verantwortlichkeit enthoben.

Doctor Levi aber, wie Pastor Scheidler, schienen sich Beide in ihren
Berechnungen sowohl, wie in der Person des Gutsherrn etwas getäuscht
zu haben -- so rasch war dieser nicht eingeschüchtert und auch
Menschenkenner genug, um an den noch scheu und unschlüssig dastehenden
Gestalten der übrigen Deputationsmitglieder zu erkennen, wie der Geist
des Aufruhrs sich nur für den Augenblick kaum weiter erstrecke als
auf die Unverschämtheit des Doctor Levi, der, wie er früher ganz
uneigennützig die »Emancipation« der Juden gepredigt, jetzt plötzlich
ein weiteres Feld für seine Rednergabe fand und der gewöhnlichen
Redeweise nach, »in deutscher Politik machte«. Diesen daher keines
Blickes oder Wortes würdigend, schritt der Oberpostdirector auf den
Schneider und Böttcher zu und sagte, sie bei ihren Namen anredend:

»Schickt Euch das ganze Dorf, Merzbach und Hantlich, oder seid Ihr
nur auf eigene Veranlassung oder Aufreizung dieses -- Menschen zu mir
gekommen?«

»Herr Oberpostdirector!« rief der Beleidigte.

»Ruhig Herr,« sagte aber dieser mit so unerschrockener und finsterer
Autorität, daß dem Böttcher und Schneider nur noch unbehaglicher zu
Muthe wurde und der erstere endlich mit artigem Tone sagte:

»Die Leute im Dorfe meinen, Herr Oberpostdirector, Sie könnten den armen
Teufel nun wohl wieder laufen lassen, der unter der vorigen Regierung
'was verbrochen hätte, denn wir kriegten nun doch wohl andere Herren
Minister, die --«

»Das Volk _fordert_ seine Befreiung!« schrie Levi, fuhr aber erschreckt
zurück, als sich der Gutsherr rasch nach ihm umwandte, ihn vorn an der
Brust faßte, und ausrief --

»Wenn die Einwohner von Horneck etwas verlangen, so werden sie einen
solchen Quacksalber nicht zu mir schicken, geschieht das aber doch, so
hat sich der auch so ordentlich und anständig zu betragen, wie es -- an
seiner Stelle -- ein Einwohner aus dem Dorfe gethan haben würde -- sonst
werde ich andere Maßregeln mit ihm ergreifen.«

»Das ist Hand an einen Gesandten des Volks gelegt!« schrie der Doctor
entrüstet und auch wohl in etwas um seine eigene Sicherheit besorgt,
»ich protestire hiermit feierlichst gegen --«

»Fritz!« rief der Gutsherr dazwischen -- »hinaus aus meinem Zimmer mit
dem Menschen!«

»-- Gegen jede Gewaltthat, die nicht an mir, sondern an dem souverainen
Volke geschieht, und ich verwahre mich im Voraus gegen --«

Er konnte seine Rede nicht mehr vollenden; Fritz, der den fatalen
Menschen aus mehr als einem Grunde nicht leiden mochte (denn er war in
letzter Zeit besonders viel um die Schulwohnung geschlichen und hatte
das arme Lieschen schon mehrmals mit seiner zudringlichen Freundlichkeit
gequält) faßte ihn einfach, trotz alles Sträubens, beim Kragen und
verschwand mit ihm ruhig aus der Thür.

Die übrigen beiden Deputirten wußten indessen gar nicht, wie sie sich
bei der Sache verhalten sollten, denn von der Unverletzlichkeit
eines Gesandten oder Deputirten hatten sie bis dahin einen nur höchst
unvollkommenen Begriff, der denn auch durch das, was eben erst vor ihren
leiblichen Augen geschah, keineswegs verstärkt oder bestätigt werden
konnte. Herr von Gaulitz trat aber, ohne ihnen lange Zeit zum Ueberlegen
zu lassen, rasch auf sie zu, und redete sie nun mit so freundlichen und
artigen Worten an, daß sie die Behandlung ihres Wortführers ganz darüber
vergaßen.

Er versicherte ihnen, daß der Gefangene nicht auf Befehl der Minister,
sondern dem _Gesetze_ nach verhaftet, und vorher auch _durch_ das Gesetz
steckbrieflich verfolgt wäre -- daß ferner das Gesetz doch fortbestehen
müsse, ob sie nun dies oder ein anderes Ministerium hätten -- versprach
ihnen aber auch, noch in dieser Nacht einen Boten nach der Residenz zu
schicken und dort anfragen zu lassen, was der Eingebrachte verbrochen
habe -- sei dies dann nur politischer Natur, so gebe er ihnen die
heiligste Versicherung, daß er augenblicklich in Freiheit gesetzt, und
jedem beliebigen Verlangen, daß sie also an ihn stellen könnten, dadurch
auch genügt werden würde. Uebrigens sei die Nachricht von der Abdankung
des Ministeriums keineswegs gegründet, und sie könnten die Folgen leicht
selber ermessen, die, im anderen Falle, aus einem gesetzlosen Auftreten
von ihrer Seite entstehen möchten.

Die beiden Männer fanden das ganz vernünftig -- sie hätten eben so
gesprochen, wenn sie Herr von Gaulitz gewesen wären -- der Doctor war
überhaupt ein Krakehler, der ihnen nur vorgelogen hatte, was dem armen
Gefangenen Alles geschehen solle -- der Herr von Gaulitz möchte es nicht
»vor übel nehmen«, daß sie so frei gewesen wären, bei ihm anzufragen --
sie wollten's den Leuten unten schon sagen, wer recht hätte und wie die
Sache eigentlich stände.

Und damit gedachten sie sich höflich grüßend zurückzuziehen -- von
Gaulitz war aber nicht der Mann, einen einmal gewonnenen Vortheil
unverfolgt aufzugeben -- eine Flasche mit Wein und Gläser standen
auf dem Ecktische -- ein paar freundliche Worte von ihm nöthigten die
Beiden, nur noch einen Augenblick zu warten -- rasch war eingeschenkt
und fünf Minuten später verließen der Schneider und Böttcher das Zimmer
und waren entzückt über ihren Gutsherrn.

»Nein, was das für ein Mann ist«, flüsterte der Schneider, als sie,
von dem Bedienten geleitet, die breite Treppe hinabstiegen -- »ich soll
morgen mit meinem Maas hinaufkommen.«

»Und wegen der Brauereiarbeit hat er schon mit dem Brauer das Nöthige
besprochen«, versicherte schmunzelnd der Böttcher -- »die Kröte von
einem Doctor fängt doch überall Krawall an.«

Draußen vor der Thüre erwartete sie übrigens noch ein ziemlich
stürmischer Auftritt -- der Doctor hatte die unten Versammelten durch
die Erzählung dessen, was ihm geschehen sei, in nicht geringe Aufregung
versetzt, und einen wirklichen Sturm auf das Haus konnte nur die
Erscheinung der beiden anderen Deputirten verhindern. Mit dieser änderte
sich aber auch freilich der Stand der Dinge um ein Bedeutendes --
die beiden Männer berichteten, wie sie empfangen seien und welche
Versicherungen man ihnen gewährt hätte -- klagten über den Doctor, der
gegen den Gutsherrn aufgetreten wäre, als ob er einen Holzhacker vor
sich habe, setzten hinzu, der Herr Oberpostdirector wisse es auch ganz
bestimmt, daß die Nachricht mit dem Ministerium gar nicht wahr wäre,
und nur, wenn der Gefangene gestohlen oder sonst ein fürchterliches
Verbrechen begangen hätte, dann sollte er in die Stadt geliefert, sonst
aber augenblicklich wieder auf freien Fuß gesetzt werden.

Ein donnerndes Hurrah, das man dem Gutsherrn brachte, war die Antwort;
die rasenden Demonstrationen des auf's Aeußerste empörten Doctors
wurden nicht weiter beachtet, ja dieser sogar, als er später eben in
der Schenke seine Absicht mit Gewalt durchsetzen wollte und durch
Schimpfwörter die Bauerburschen reizte, von diesen gefaßt, geprügelt und
hinausgeworfen.



Zweites Kapitel.

Plan und Gegenplan.


Die Nacht war ruhig vorüber gegangen und Horneck lag so friedlich in
dem Purpurglanz der heiter und rein aufsteigenden Sonne, als ob keine
Leidenschaften in ihm getobt hätten, kein lodernder Funke in seine
gemüthliche Stille geschleudert wäre der nun heimlich und versteckt
fortglimmen mußte, bis ihn die Zeit -- und wie bald vielleicht zu
prasselnder Flamme emporfachen sollte.

Auf dem Gute herrschte übrigens keineswegs solche Ruhe, sondern
eher belebte eine eigenthümliche, ganz ungewöhnliche Regsamkeit
die Herrenwohnung und die daran stoßenden Bedientenstuben. Der
Oberpostdirector selbst hatte den ganzen Morgen geschrieben und
gesiegelt und der junge Poller war noch in der Nacht wieder in die
Stadt geschickt, von wo her er mit Tagesanbruch auf weißschäumendem
Roß zurückkehrte, und zugleich mit einer Depesche der Regierung die
Nachricht brachte, es sei das beabsichtigte Militair wirklich nach
Sockwitz gelegt und der Nachbarstaat auch für den schlimmsten Fall um
weitere Hülfe angesprochen worden.

Der Inhalt der Depesche lautete übrigens wie die Sachen jetzt standen,
nichts weniger als erbaulich.

Das Ministerium stand noch und jenes Gerücht vom verflossenen Abend
bezog sich nur auf eine Demonstration -- respektive Katzenmusik -- die
man den Ministern als Mistrauensvotum gebracht, und wobei der Ruf laut
geworden, daß sie zum Besten des Landes abdanken sollten, die Aufregung
in der Stadt schien aber eine solche bedenkliche Höhe erreicht zu haben,
daß es blos eines Anlasses es bedurfte, um den Ausbruch unvermeidlich zu
machen. In der That fehlte es auch nur an einer _Persönlichkeit_, um
dem allgemeinen Strom der Gährung sein richtiges Bett anzuweisen und ihn
dorthin zu lenken, wo er dem alten Systeme verderblich werden _mußte_
-- die fehlte aber bis jetzt in der Residenz; es war keiner unter den
Männern, die sich bis dahin zu Volksrednern aufgeschwungen hatten, denen
das Volk auch mit jenem blinden zuversichtlichen Vertrauen geglaubt
hätte, das unumgänglich nöthig dazu ist, eine Masse zu begeistern und im
wilden Todesverachtenden Sturm mit fortzureißen. Die Kraft lag noch
in der weiten Menge zersplittert und wenig Gefahr drohte von den
zerstreuten Pöbelhaufen.

Ein solcher Führer aber, wie er diesen Massen gerade fehlte, um sie
zu dem gefährlichen Feind zu machen, der dem Absolutismus die trotzige
Stirn geboten, wäre eben dieser Wahlert gewesen, den jetzt ein
tückischer Zufall der Horneckschen Gerichtsbarkeit in die Hände
gespielt; es mußte deshalb aber auch dem Ministerium, das ein rauher
Wind hätte umstoßen können, besonders daran liegen, gerade _diesen_
Menschen unschädlich zu machen und deshalb lautete auch der Befehl, den
der Oberpostdirector in der durch Erpressen gesandten Depesche erhielt,
so bestimmt und unumgehbar, den Gefangenen ohne weiteres Zögern
und unter sicherer Bedeckung an das nächst gelegene, in Sockwitz
bezeichnete, Militairpiket, spätestens bis zum nächsten Abend
abzuliefern. Um Aufregung zu vermeiden, wollte man nicht gern Soldaten
nach Horneck hineinschicken, und der Transport des Gefangenen sollte
deshalb am liebsten in einer Kutsche bewerkstelligt werden.

Das wie und weshalb war Alles klar genug angegeben, aber wie stand es
nachher in Horneck selbst? Würden sich die Bewohner des kleinen Ortes,
denen der Gutsherr gestern Abend erst das feste Versprechen gegeben
hatte, den Gefangenen _nicht_ auszuliefern, bis seine Schuld als grobes
Verbrechen auch wirklich erwiesen wäre, damit begnügen, und ließ
sich nicht im Gegentheil erwarten, daß die Befolgung der erhaltenen
Instruktionen gerade für den Gutsherrn von sehr fatalen Folgen sein
konnte?

Der Herr von Gaulitz saß hier in einer recht unbequemen Klemme und
sah auch in der That keinen Ausweg, der ihn hätte beide ihm drohende
Schwierigkeiten gleich glücklich vermeiden lassen. Lieferte er den
Verhafteten aus, so zog er sich den Haß eines großen Theils des Dorfes
zu und in der jetzigen Zeit, wo die Leute doch einmal aufgeregt waren,
und überall in der Nachbarschaft das böse Beispiel vor sich hatten,
ließ es sich gar nicht bestimmen, wie weit das später führen würde
und könnte. Lieferte er ihn aber _nicht_ aus, oder ließ er ihn gar
entkommen, so war auch Nichts wahrscheinlicher, als daß er für
die Folgen zu haften hätte, die daraus entstünden -- und welch
fürchterlicher Art konnten diese Folgen sein -- der fromme
Oberpostdirector schauderte, wenn er daran dachte -- Anarchie im ganzen
Lande -- den Rittergutsbesitzer »fortgejagt« wie der »gemeine Mann«
in seiner politischen Unschuld meinte, die Königreiche zu Stücken
geschlagen, und in _ein_ großes deutsches Reich geschmolzen, kurz
alles Bestehende umgedreht und durchgeschüttelt, wodurch alles
Nicht-Bestehende natürlich oben hin kommen mußte, und eine
Convulsion, in welcher die Gesetzlichkeit vernichtet und die Masse der
»gutgesinnten« Staatsbürger, was gar nicht ausbleiben konnte, zum Besten
der schlechteren, d. h. ärmeren, ruinirt wurde.

Es blieb, wie die Sachen einmal standen, wirklich keine Wahl, denn
hiergegen erschien der Zorn der Hornecker, und vielleicht noch dazu
eines nur kleinen Theils, gering -- vielleicht ließen sich aber
auch selbst diese noch beschwichtigen, und davon überzeugen, daß die
Gefangenhaltung des gefährlichen Menschen selbst zu ihrem eigenen Nutzen
mit geschehen sei und sich in ihren segensreichen Folgen offenbaren
werde. Jedenfalls blieb der Versuch statthaft, und im _aller_schlimmsten
Fall -- ei da lag ja in Sockwitz Militair und zum »Schutz des
Eigenthums« konnte das leicht und rasch heran beordert werden.

Herr von Gaulitz hatte seinen Entschluß gefaßt; noch heute -- und sobald
die einbrechende Nacht des Gefangenen Transport begünstigen konnte,
sollte er fort -- aber selbst der Geistliche durfte Nichts davon
erfahren, denn wer weiß, welche Schritte dieser gethan hätte, um seines
General-Superintendenten Sohn zu befreien, oder doch wenigstens jeden
Schein der Mitwirkung von seinen Schultern abzuwälzen -- der jetzt --
und Herr von Gaulitz schien auch deshalb gar nicht böse zu sein, -- noch
jedenfalls darauf lastete. -- Die nöthigen Vorkehrungen zu treffen war
also das einzige was ihm vor der Hand übrig blieb, und diese auszuführen
rief er den alten Poller zu sich in seine Studierstube und gab ihm dort
die nöthigen Aufträge und Befehle.

       *       *       *       *       *

Hatte sich aber auch am letzten Abend das Dorf mit der vom
Rittergutsbesitzer erhaltene Auskunft hinsichtlich des Gefangenen
begnügt, und war selbst Levi, der sonst stereotype »Vorkämpfer der
Freiheit« wie er sich selber nannte, durch die erlittene Mishandlung
außer Stand gesetzt augenblicklich für die gute Sache zu wirken, ja
vielleicht auch -- und wer hätte ihm das verdenken können, beleidigt ob
solchen Undanks des souverainen Volkes, so lebte doch noch ein Wesen in
Horneck, das mit thätigem Eifer nach dem Schicksal des jetzt wirklich
Bedrohten forschte, und zu seiner Rettung selbst entschlossen schien das
Aeußerste zu wagen.

Es war dieß aber Niemand Anderes, als die Tochter des armen alten
Musikanten Meier, die bekannter mit den Leuten auf dem Gut, besonders
mit dem Charakter des Gutsbesitzers selbst war, als es sich von der
armen Tochter eines herumziehenden Spielmanns hätte erwarten lassen
sollen. Sie wußte aber auch deshalb, in wie gefährlichen Händen der
Unglückliche wäre und daß sie keine Zeit mehr zu versäumen habe, seinem
Schicksal nachzuforschen.

Ein Vorwand, auf das Gut hinunter zu gehn, wäre allerdings leicht
gefunden gewesen; sie sah sich mit ihrer Existenz überhaupt einzig
und allein auf weibliche Arbeiten angewiesen, und hätte leicht eine
Entschuldigung gehabt, zu diesem Zweck die Damen des Rittergutes
aufzusuchen. Dennoch zögerte sie in eigentlicher Scheu, den Schritt zu
thun, ja mied sogar, als sie am nächsten Morgen dort unten vorüber ging,
die Nähe des Gutes; als sie Pferdegetrappel hinter sich hörte. Sie trat
zur Seite und warf fast unwillkürlich den Blick zurück -- es war der
Oberpostdirector, der rasch, und ohne auf sie niederzusehn, an
ihr vorüber und zwar in das Dorf hineinsprengte, und wie von einem
plötzlichen Entschluß bestimmt blieb sie stehn, zögerte sinnend
einen Augenblick, schien noch zu schwanken, und kehrte dann, raschen
Schrittes, den Weg zurück, den sie eben gekommen, bog links, die erst
gemiedene Straße in das Schloß selbst hinein und betrat, immer noch
wie furchtsam, aber doch nicht unschlüssig mehr, die herrschaftliche
Wohnung. Welche Mühe sie sich aber auch gab, die ersehnten Erkundigungen
einzuziehen, es gelang ihr nicht. -- Herr von Gaulitz hatte entweder
seine Pläne sehr geheim gehalten, oder die arme Fremde fand, selbst bei
der Dienerschaft, die sich sonst freundlich genug gegen sie betrug, kein
Zutrauen. Auch die gnädige Frau, die sie endlich um Arbeit ansprach,
schien ihre versteckten Fragen nicht zu verstehn, und hielt sie dabei
mit rasch herbeigeholter Arbeit und verschiedenen Aufträgen weit länger
zurück, als sie überhaupt beabsichtigt haben mochte, im Schloß zu
weilen.

Da wurden unten, auf dem Pflaster, die klappernden Hufe des
rückkehrenden Oberpostdirectors laut -- Marie wollte sich rasch
entfernen -- ehe sie aber einen schicklichen Vorwand fand, hörte sie im
nächsten Zimmer eine Thür aufgehn und eine heftige Stimme rief:

»Ich sage Dir, Poller, die Kutsche _muß_ bis heut Abend neun Uhr fertig
sein und angespannt im Hofe stehn -- Du haftest mir dafür; und jetzt
fort -- keinen Widerspruch weiter -- ich will den Burschen noch in
dieser Nacht aus meinen vier Pfählen haben, sonst stürmen sie am Ende
das Nest und stecken es mir über dem Kopfe an. Nimm die alten Glieder
ein wenig zusammen, und rühre Dich.«

In dem Augenblick wurde die Thüre aufgerissen, Herr von Gaulitz trat
hastig herein und wollte durch das Zimmer seiner Frau gehn, als er
nur eben noch sah, wie sich die Gestalt der Fremden rasch aus der
gegenüberliegenden Thür entfernte.

»Was für ein Frauenzimmer war das?« frug der gestrenge Herr, indem er,
den finsteren Blick auf seine Frau geheftet stehen blieb -- »was wollte
sie hier, und was hat sie da zu horchen?«

»Es ist das arme unglückliche Geschöpf, von dem uns Herr Doctor
Strohwisch gestern Abend erzählte,« erwiederte schüchtern seine Frau --
»das arme Kind kam heut Morgen zu mir, mich um Arbeit zu bitten, und
da ich gerade viel auszubessern und nachzusehen habe, versprach ich ihr
Arbeit. Sie hatte die Thür schon in der Hand als Du hereintratst.«

»Ja -- aber sie ging nicht -- sie horchte wahrscheinlich nach dem, was
ich in der Nebenstube sprach,« brummte in augenscheinlich höchst
übler Laune der Herr Oberpostdirector. »Sonderbare Leute suchst Du
Dir übrigens zu Deiner Beschäftigung aus -- ich sollte doch wenigstens
erwarten können, daß Du Dir anständig gekleidete und reinliche Menschen
in's Haus nähmst -- aber Gott bewahre.«

»Du hättest nur sehen sollen, wie sauber sie ging,« unterbrach ihn Frau
von Gaulitz, »wie sorgfältig war ihr Haar gekämmt und geflochten -- wie
schneeweiß der kleine zerrissene Kragen, den sie um den Hals trug, und
ihre Hände sahen ebenfalls fein und zierlich aus -- das arme Kind muß
jedenfalls früher einmal bessere Verhältnisse gesehen haben.«

»Ach was -- Unsinn!« polterte der Oberpostdirector, dem es an einer
Gelegenheit fehlte, seinem Unmuth Raum zu geben, so daß er sie endlich
vom Zaune brach, -- »Gesindel ist's, das sich hier schon seit ein
paar Tagen im Dorfe herumtreibt, und das ich durch den Gerichtsdiener
wahrscheinlich schon morgen werde wieder hinausschaffen lassen --
Lumpenpack ist's, das in die Häuser schleicht, um sich eine Gelegenheit
zum Stehlen auszusuchen. Und auf mich hörst Du dabei gar nicht -- wie
oft hab' ich Dir schon gesagt, Dich nicht mit solchem Pack einzulassen,
aber Du scheinst ein ordentliches Wohlgefallen daran zu finden, nicht
nur meine Wünsche zu vernachlässigen, sondern Dir auch nach wie vor die
möglichst schlechteste Gesellschaft auszuwählen. Dadurch wirst Du Dein
eigenes Benehmen wahrhaftig nicht bessern, und nur ein klein wenig mehr
Manieren annehmen, und mit solchen Vorbildern mag ich es dann nur ganz
aufgeben, eine Frau heranzubilden, die den Kreisen, in die ich sie
hineinzog, wenigstens keine _Schande_ macht, und das ist doch beim
Himmel das Bescheidenste, was ich in aller Welt verlangen kann.«

»Aber bester Gaulitz!«

»Ach was -- das Bitten und Weinen hilft mir Nichts! Wie hast Du Dich
gestern Abend wieder betragen, es war ja doch ein Schimpf und eine
Schande, und ich habe mich selbst vor dem Pastor bis in meine innerste
Seele hinein geschämt.«

»Aber was hab' ich denn in aller Welt gethan?« bat zitternd und
hocherröthend die Frau.

»Was Du gethan hast?« wiederholte der Zürnende, der sich jetzt einmal in
das rechte Gleis hineingearbeitet hatte, »gar Nichts hast Du gethan,
und das ist es gerade was mich so ärgert -- wie ein Stock hast Du da
gesessen und kein Wort gesprochen, und nur manchmal laut aufgelacht,
wenn der -- Strohwisch seine faden unanständigen Reime vorlas; wenn
Du Dich in gebildeten Kreisen bewegen willst, so mußt Du Dir auch Mühe
geben zu lernen, wie man sich in solchen bewegt. Hier auf dem Lande
möcht' es noch gehen, denn gewöhnlich wird hier nicht jeder Schritt und
Tritt so beobachtet, wie in der Residenz, aber gerade gestern war es mir
um so fataler, da diese alten Schachteln, diese Geheimenraths-Fräuleins
Seiffenberger Deine Beschreibung haarklein in ihre wässrigen
Theegesellschaften hineinbringen -- ich sah recht gut, wie sie Dich
immer von der Seite betrachteten, dann zusammen flüsterten und mit
einander lachten.«

»Lieber Gaulitz,« bat die Frau.

»Sei ruhig und ärgere mich nicht jetzt auch noch mit Deinem Wimmern und
Winseln!« rief ihr Gatte, »daß mich doch der« -- -- Er brach plötzlich
ab -- riß die Thür auf, verließ das Zimmer und warf sie hinter sich mit
wilder Gewalt in's Schloß zurück.

Seine Frau schlich auf's Sopha, sank in die eine Ecke desselben, und
barg ihr Gesicht schluchzend in den Händen.

       *       *       *       *       *

Marie verließ langsam und sinnend den Hof. Die wenigen Worte, die sie
von des Gutsherrn Lippen gehört, gingen ihr im Kopfe herum, und es war
kaum möglich, daß sie noch eine andere Bedeutung haben konnten, als
die eine -- »die Kutsche muß bis heute Abend neun Uhr fertig sein und
angespannt im Hofe stehen -- ich will den Burschen noch in dieser Nacht
aus meinen vier Pfählen haben, sonst stürmen sie am Ende das Nest, und
stecken es mir über dem Kopfe an!«

Wie mit feurigen Buchstaben waren ihr die Sätze in das Hirn eingebrannt.
Wahlert gefangen -- noch in dieser Nacht den Gerichten überliefert. --
Was, um Gott, konnte der Unglückselige nur so Entsetzliches verbrochen
haben? -- Aber das durfte nicht geschehen -- nimmer, so lange sie noch
Kraft zum Denken -- Kraft zum Handeln behielt.

Langsam war sie den Weg hinangeschritten, der zur Pfarrerwohnung führte,
-- dabei mußte sie an des Stellmachers Werkstätte vorüber, und dort --
ein eigenes wunderliches Gefühl von Schreck und Freude durchzuckte ihren
Körper -- dort stand die Kutsche, und der Meister war mit Gesellen
und Lehrburschen emsig beschäftigt, neue Speichen in eins der arg
mitgenommenen Hinterräder zu setzen, und die sonst schadhaften Stellen
wieder auszubessern. -- Also hatte sie recht gehört, -- in diesem
Fuhrwerk sollte der Gefangene seinen Henkern ausgeliefert werden, und
doch -- doch war es den Männern von Horneck gestern versprochen worden,
den Eingebrachten, wenn er nicht ein schweres und bösartiges Verbrechen
begangen hätte -- ohne Weiteres in Freiheit zu setzen.

Großer allmächtiger Gott -- wie ihr das Herz schlug vor Angst und
Zagen -- wenn nun -- wenn sie nun den Wagen so hätte wieder beschädigen
können, daß es unmöglich gewesen wäre, ihn zu gebrauchen? -- Oder wenn
sie jetzt hinauf ins Dorf ging, und den Bauern die Nachricht brachte,
daß der Gutsherr sein ihnen verpfändetes Wort im Begriff stehe zu
brechen -- oder wenn sie gar den Herrn von Gaulitz um Erbarmen -- Hilf
Himmel, wie ihr die tollen wirren Gedanken im Kopfe herum sausten und
schwirrten, und es ihr unmöglich machten, zu einem festen geregelten
Entschluß zu kommen -- fast ihrer unbewußt und mechanisch verfolgte
sie den Weg, den sie früher zu gehen beabsichtigt, und stieg zur Pfarre
hinauf, von deren Fenstern ihr die funkelnden Strahlen der Sonne warm
und glühend entgegenspiegelten.



Drittes Kapitel.

Marie und Sophie.


Herr Pastor Scheidler saß daheim in seiner Wohnstube, und in dem
breitlehnigen, weich gepolsterten Armstuhle, der zwischen dem Ofen und
Fenster in warmer, und doch dem Lichte nicht abgeschlossener Nische
stand. Nicht weit von ihm entfernt, an dem Fenster, das nach dem
gegenüber liegenden kleinen Friedhof hinausschaute, hatte Sophie, des
Pastors ältestes Töchterlein, ihren Nähtisch stehen, säumte neues,
selbst gesponnenes Tischzeug, oder besserte die Wäsche aus, die unsere
alte Bekannte Rieke -- oder auch _Grethe_, wie sie der Pastor noch
ziemlich hartnäckig nannte, da ihr letztes Mädchen Grethe geheißen --
eben in dem weißgescheuerten Korbe hereingeschafft hatte.

»Aber Vater, was hast Du nur«, brach endlich Sophie das lange, lange
Schweigen, denn Vater wie Tochter schienen sich an diesem Morgen beide
ihren Gedanken vollständig überlassen zu haben, da keines mit dem
anderen, wohl seit einer guten halben Stunde, auch nur ein einziges Wort
gesprochen -- »Du starrst so still und finster vor Dich hin, ist Dir
etwas Unangenehmes widerfahren?«

Der Vater antwortete eine Zeit lang nicht, und es war, als wenn er
eben bei sich überlege, ob er der Tochter auch das, was ihn eigentlich
drücke, mittheilen solle und könne -- endlich schien er aber doch zu
einem Entschlusse gekommen, rückte sich das schwarze Käppchen zurecht,
wechselte seine Stellung vom linken auf den rechten Ellbogen, und
sagte, zur Tochter gewandt, die über ihre Arbeit hinüber seinem Blicke
begegnete.

»Du magst's auch wissen, was mir im Kopfe herum geht -- hast vielleicht
einen guten Rath für mich, wenn's Dich auch selber nicht groß
interessiren kann.«

»Nun Väterchen?« sagte die Tochter gespannt.

»Du weißt, daß sie gestern einen Gefangenen eingebracht haben.«

Sophie ließ ihre Arbeit in den Schooß sinken und hätte sie ihr Vater
in diesem Augenblicke angesehen, so mußte er bemerken, was für eine
Veränderung bei der bloßen Erwähnung jenes Mannes in ihren Zügen vorging
-- so aber haftete sein Blick schon wieder brütend an dem Sonnenstrahle,
der in die Stube zwischen dem am Fenster hinaufschlängelnden Epheu
hereinfiel und in den fliegenden feinen Staubkörnern allerlei
wolkenartige Gestalten bildete --

»Ja,« flüsterte die Tochter.

»Der Gefangene,« fuhr der alte Pastor fort, »ein junger hitz- und
tollköpfiger Bursche, voll überspannter Pläne und Leidenschaften ist der
einzige Sohn unseres General-Superintendenten.«

»Ist es möglich?« rief Sophie erstaunt und überrascht.

»Ja -- es ist allerdings eine wunderliche Geschichte,« bestätigte der
Vater, »aber nichtsdestoweniger wahr und mir um so fataler, da der
General-Superintendent weiß, auf welch' vertrautem Fuße ich mit dem
hiesigen Gutsherrn und Gerichtshalter stehe, und -- welchen Einfluß ich
bis jetzt auf ihn ausgeübt. Ich habe den Oberpostdirector aber in meinem
ganzen Leben noch nicht so starrköpfig und eigensinnig gefunden, wie
gerade in diesem Falle; allen meinen vernünftigen Vorstellungen leiht er
ein taubes Ohr und ich komme in der That in die äußerste Verlegenheit,
wenn er den jungen Menschen wirklich den Gerichten überliefert und einer
Strafe preisgiebt, die er sicherlich verdient hat, deren selbst nur
theilweise Ursache ich aber doch unter keiner Bedingung sein möchte --
ich wollte lieber den König als den General-Superintendenten zum Feinde
haben.«

»Aber er wird ihn nicht ausliefern,« sagte Sophie, und der Ton ihrer
Stimme, der Blick, den sie dabei auf ihren Vater heftete, das Alles
verrieth, wie sie dennoch das Gegentheil von dem fürchtete, was ihre
Lippen sprachen -- »er hat es ja erst gestern Abend noch den Leuten aus
dem Dorfe, die bei ihm waren, versprochen -- er wird nicht wortbrüchig
werden, ei denke doch Vater, wie er immer die Bibelsprüche im Munde
führt, und oft schon, daß ich es mit eigenen Ohren gehört, zu Leuten,
die sich wegen irgend etwas verschworen, sagte: >Eure Rede sei ja ja und
nein nein, und was darüber ist, das ist von Uebel< -- er dürfte ja nicht
einmal seiner eigenen Rede so entgegenhandeln.«

Der Pastor schüttelte, als wenn er an solche Gründe nicht so recht
glauben wolle, den Kopf, stand aber endlich auf und sagte:

»Ich werde den heutigen Tag noch abwarten, bis dahin muß sich auch der
Zustand in der Residenz entschieden haben und dann -- was will die Dirne
da draußen -- die Grethe läßt mir doch auch Jeden herein, das ist ein
Wettermädel.«

»Ach, lieber Vater, das muß die Sängerin -- die Tochter des alten
Musikanten sein!« rief Sophie, rasch von ihrem Sitze aufstehend -- »Herr
Hennig hat uns heute Morgen bei der Zeichnenstunde von ihr erzählt -- Du
lieber Gott, wie elend und ärmlich sie aussieht -- das arme Mädchen --
und die Kleider, wie abgetragen -- was sie nur wollen mag.«

»Ein Almosen,« sagte der Vater mürrisch -- »derlei Volk will Nichts
als Almosen, darauf kannst Du Dich verlassen -- ich gehe jetzt in mein
Zimmer hinauf, um noch ein paar Briefe zu schreiben -- halt' Dich mit
der Dirne nicht lange auf, und schicke sie nur zur Mutter in die Küche
-- die wird sie schon abfertigen.«

Der Pastor stieg langsam die Stufen hinauf und Sophie öffnete indessen
der Fremden, die nur einmal schüchtern angeklopft hatte und dann
geduldig harrend vor der Pforte stehen blieb, die Thür.

Die Tochter des armen Musikanten war aber keineswegs, wie der Geistliche
so lieblos geurtheilt, hierhergekommen, ein Almosen zu erbitten, nur
Arbeit wollte sie, Arbeit im Hause des Wohlstandes, um das karge Leben
nothdürftig zu fristen und dem Vater, dem es Mühe kostete, allein durch
die Welt zu kommen, nicht auch noch zur Last zu fallen. Ihre Sprache
war dabei edel und bescheiden und das ganze Wesen und Benehmen der
Unglücklichen machte einen so tiefen und wehmüthigen Eindruck auf das
weiche Herz der Jungfrau, daß sie sich lang und freundlich mit ihr
unterhielt, ihr endlich Arbeit versprach und in der Stube Brod und eine
Tasse Warmbier anbot, »weil es gerade dastand«, wie sie sagte, im Grunde
aber, weil die Augen des armen Kindes so glanzlos und tief in ihren
Höhlen lagen, daß sie sich des Gedankens nicht erwehren konnte, das
Mädchen habe heute noch keine Nahrung zu sich genommen, und hungere, sei
aber zu stolz, selbst das zu erbitten, was der erschöpfte Körper, sollte
er nicht erliegen, bedurfte.

Marie hatte sich im Anfange der freundlichen Sorge fast theilnahmlos
hingegeben, wie aber die süße Blume, die dem starren und stürmischen
Nordwest still doch hartnäckig getrotzt und die Blüthe fest und
krampfhaft jeder äußeren Gewalt verschlossen hielt, ihren duftenden
Kelch rasch und sehnend dem milden wärmenden Sonnenstrahle öffnet, und
über den linden Kuß des Zephyrs die thauige Freudenthräne weint, so
schmolz endlich die zarte Schonung, die in jedem der an sie gerichteten
Worte lag und sich selbst in den Gaben zeigte, die Sophien's Hand ihr
bot, jene Rinde um das in Leiden gestählte, erstarrte Herz. Wohl
kämpfte sie noch eine Zeit lang gegen jede Schwäche an, die ihren kalten
resignirenden Ernst zu bewältigen drohte, und als sie fühlte, wie ihr
die verrätherischen Thränen in die Augen traten, wandte sie sich ab und
suchte die perlenden Zeugen des Schmerzes vor dem forschenden Blicke
Sophiens zu verheimlichen.

Reines und heiliges Mitleid sieht aber scharf, wo es helfen und heilen
kann, und Sophie glaubte gar bald den Kummer errathen zu haben, der
in der Brust der Fremden so fest verschlossen, aber deshalb wohl noch
mächtiger und erschütternder geruht hatte, weil ihr keine Seele lebte,
der sie ihr Leiden anvertrauen konnte.

»Marie,« sagte sie nach einer ziemlich langen Pause, und ergriff des
Mädchens Hand -- »Marie -- fehlt Ihnen etwas, das in meinen Kräften
stünde, Ihnen zu verschaffen?«

Die Leidende blieb eine ganze Weile stumm und regungslos stehen, dann
schüttelte sie leise den Kopf.

»Marie --« fuhr des Pastors Tochter schüchtern fort -- »ich meine es gut
mit Ihnen -- ich meine es wahrlich gut mit Ihnen -- wenn ich nur wüßte
was -- was Ihnen fehlte. -- Sie sind -- Sie sind nicht glücklich.«

Ein zweites leises Schütteln sollte wieder die einzige Antwort sein, und
noch weiter ab drehte sie das bleiche Angesicht, aber nicht länger ließ
sich der also heraufbeschworene Schmerz bewältigen -- stärker und immer
stärker drängte er herauf aus dem vollen, o so übervollen Herzen und
endlich -- endlich brach er sich mit unwiderstehlicher Gewalt in wildem,
aber nicht linderndem Thränenstrom die stürmische Bahn, denn nicht
freiwillige Thränen waren es, die den heißen Augenhöhlen entquollen und
sie konnten deshalb das Herz auch nicht erleichtern und das Uebermaß der
aufgehäuften Fluth drängte sie in's Freie, daß die Gefäße, die sie bis
jetzt gehalten nicht vor der gährenden Kraft zerbersten und zertrümmern
sollten.

Aber die starre Hülle, die ihr Inneres umschlossen, schien ebenfalls mit
den vordringenden Thränen gefallen zu sein; ihre Gestalt zitterte, die
Hand, die Sophie in diesem Augenblick ergriff, bebte wie im Fieberfrost,
und rasch und plötzlich -- dem aufblitzenden Gedanken gehorchend, wandte
sie sich, barg ihr Antlitz auf der Hand der erschreckten Jungfrau -- und
schluchzte laut.

»Marie« flüsterte diese, »mein armes armes Kind, was kann ich für Sie
thun -- womit Ihnen helfen -- sind Sie in so großer Noth? -- ach ich
will gern --« sie schwieg; denn plötzlich fiel ihr ein, daß sie ja erst
am vorgestrigen Abend ihre ganze kleine Baarschaft weggeschenkt hatte
und nicht einmal im Stande war auch nur ein Almosen zu geben -- »ja --
mein Vater wird -- er _muß_ helfen,« fuhr sie, rasch sich sammelnd,
fort »mein Vater ist auch gut und mildthätig, nur zu viel hat er aber in
letzterer Zeit geben müssen und dadurch erscheint er manchmal härter --
weinen Sie nicht mehr, liebe Marie, wenn Sie hier in Horneck bleiben,
können Sie sich darauf verlassen, daß ich Alles thun werde, was in
meinen Kräften steht, Ihnen zu helfen und beizustehn.«

»Ich bin es überzeugt« flüsterte die Fremde mit einem innigen Händedruck
-- »Sie sind gut und freundlich -- aber -- verzeihen Sie den Ausbruch
eines Schmerzes, den Sie, eben durch Ihre Güte selbst hervorgerufen
-- es war das erste _herzliche_ Wort, was ich seit langer langer Zeit
gehört, und wenn es auch wohl, o so unendlich wohl that, und so süß und
tröstend in meine Seele klang, so beschwor es doch wieder Bilder herauf,
die besser, o weit besser in tiefster Seele begraben geblieben wären.«

»Sehn Sie« suchte Sophie jetzt die Leidende zu trösten und zu
zerstreuen; »wenn Sie hier wohnen bleiben und mit der Nadel gut
umzugehen wissen, so kann sich Ihr Leben vielleicht noch ganz glücklich
gestalten. Besonders im Sommer hat es uns bis jetzt immer an Näherinnen
gefehlt, denn die Stadtleute, die hier herausziehn, brauchen viel neue
Kleider und zerreißen sich die alten fortwährend an aufgestellten Eggen,
Dornhecken, Disteln und andern ländlichen >Unbequemlichkeiten,< wie
sie's nennen. Ich will Sie Schüttens empfehlen -- die kommen überall
herum und Sie können sich darauf verlassen, daß Sie _dann_ in kurzer
Zeit bekannt und was noch viel besser sein wird, auch beschäftigt sind.«

»Wie freundlich Sie sind« sagte, mit herzlichem Dank im Blick, die
Fremde -- »Sie sollen auch sehn, ich werde sicherlich Alles thun, was in
meinen Kräften steht, Ihr gütiges Fürwort zu verdienen; jetzt aber haben
Sie mir auch Muth gemacht Ihnen ganz zu vertrauen und -- eine Bitte
ist es -- eine Frage vielmehr, die ich mit aller Kraft meiner schwachen
Beredsamkeit an Ihr Herz legen möchte, daß Sie dieselbe bei Ihren Herrn
Vater befürworten möchten.«

»Und die lautet?«

»Sie betrifft nicht mich selbst« sagte Marie und schaute dabei mit dem
jetzt von einem eigenen Feuer belebten, aber sonst festen und ruhigen
Blick in das Auge der Jungfrau -- »sondern einen Unglücklichen, der
durch eine eigene Verkettung von Umständen gerade in diesem Augenblick
so nothwendig der Hülfe fremder Menschen bedarf, denn seine Freunde --
waren zu schwach ihm zu helfen.«

»Und wer ist es?« frug Sophie, Mariens Hand ergreifend -- »wenn ich nur
zu helfen vermag, es soll gewiß mit inniger Freude geschehen -- gewiß
Ihr Vater?«

»Nein -- nicht der -- nicht jetzt wenigstens, sondern ein Fremder --
jener Unglückliche, der gestern Abend gefangen auf das Schloß -- aber
um Gott -- was ist Ihnen? -- Sie werden todtenbleich -- Sie -- -- Sie
_kennen_ ihn?«

»Ich? -- ja -- Sie haben doch wohl von unserem Begegnen im Walde
gehört,« sagte des Pastors Tochter rasch gefasst und sich mit Gewalt
sammelnd -- »er sollte uns räuberisch angefallen haben, hieß es im
Dorfe, und der dazu kommende Jäger verwundete noch außerdem den armen
Menschen. -- Mir hat es recht von Herzen leid gethan, daß das um
meinetwegen geschehen war und -- es geht mir jedesmal wie ein Stich
durch die Seele, wenn ich an jenen Tag denke. -- Doch, wie kann ich ihm
helfen -- was kann mein Vater für ihn thun -- wie -- ja -- wer ist er
eigentlich, und -- welchen Antheil nehmen _Sie_ an seinem Schicksal?«

Der Fremden forschender Blick hatte fest und unverwandt auf der
Sprechenden geruht -- erst jetzt senkte sie ihn, und antwortete
seufzend:

»Welchen Theil ich an seinem Schicksal nehme? -- Er ist unglücklich --
unglücklich, weil er den _Armen_ zu nützen suchte, und mit freier und
kühner Rede gegen Macht und Reichthum auftrat. Er selbst stammt von
achtbaren Eltern -- sein Vater ist Generalsuperintendent und ein reicher
angesehener Mann; deshalb aber hassen die Großen des Reichs diesen
Vorkämpfer der Freiheit so aus Herzensgrund, weil sie ihm nicht den
Vorwurf machen können, Mangel und Noth oder ein verfehltes Leben
habe ihn zu seiner politischen Meinung getrieben; deshalb sind sie
wahrscheinlich so eifrig bemüht, ihn gefangen zu halten, weil sein
Beispiel nicht ein zündender Strahl werden soll, der das Verderben bis
in die Mitte der Gewaltigen schleudert, und den Thron stürzen könnte,
der dem Heile des Volkes den Weg zur Freiheit sperrte. Für das
Proletariat wirkte er mit allen Kräften, deren er fähig war, diesem eine
menschliche Stellung unter den Menschen einzuräumen, die Aufgabe hatte
er sich gestellt. Sollen die Armen da nicht an ihm hängen, die, denen er
sein ganzes Leben, seine ganze Existenz geopfert? -- Sollten _sie_ ihn
in der Noth verlassen, da er nur um sie in Noth gekommen?«

Sophie lauschte schweigend, mit halb weggewandtem Kopfe, aber mit
freudigem Lächeln auf den lieben Zügen den Worten, die ihr so hold und
süß klangen, weil sie das Lob des -- sie wagte den Gedanken noch nicht
auszudenken, aber ein Gefühl war es, das sie ergriff, als ob sie in
sonniger Morgenstunde den feierlich erhebenden Tönen der Orgel lausche
und die Seele ihr von des Chorals Accorden getragen, höher und höher
hinauf zu dem lichten Dom des Allliebenden emporschwebe.

Marie verwandte keinen Blick von ihr, und ein eigenthümlicher Ausdruck
von Spannung, Erstaunen und Zweifel lag dabei in den Zügen der Fremden.
Endlich brach Sophie wieder das Schweigen und sagte leise:

»Und droht dem Manne Gefahr?«

»Ja,« war die rasche Antwort des Mädchens, deren ganzes Streben sich
bei der Frage wieder blitzesschnell auf das eine fest und treu gehaltene
Ziel geheftet -- »ja -- noch in dieser Nacht.«

»In dieser Nacht?« rief Sophie erschreckt, und ihre Wangen färbte ein
höheres Roth, als sie sich so scharf und forschend beobachtet sah --
»aber wie wäre das möglich -- der Oberpostdirector --«

»Ist ein Schurke,« erwiederte eintönig die Fremde -- »und Niemand kennt
das vielleicht besser als ich -- doch wie dem auch sei, er wäre zu Allem
fähig, wo es den eigenen Nutzen oder Vortheil gilt, und ich weiß, daß
sein Plan dahin geht, den Gefangenen heute Abend um neun Uhr an das
nächste Militairpiket wahrscheinlich abzuliefern. Das zu vereiteln ist
vielleicht nur ihr Herr Vater im Stande -- er ist Geistlicher des Ortes
-- seine Pflicht als solcher geböte ihm schon, ein Menschenleben zu
retten, wenn es in seiner Macht steht -- sein Herz wird aber diese
Pflicht zu einer doppelten machen, -- wenn nicht gar -- Mitleid für den
Sohn seines Vorgesetzten -- er kann dem Gefühl den Namen geben, und
kein Mensch wird ihn tadeln dürfen, wenn er seine Stimme auch zu Gunsten
eines Mannes erhob, den das Gericht verfehmt hatte und dessen Spuren die
Häscher, wie der Jäger dem wilden Thiere, folgten.«

»Und noch in dieser Nacht? -- Aber der Gutsherr hat ja versprochen ihn
in Freiheit zu setzen, sobald er nicht ein schweres Verbrechen begangen
-- erst muß er hören, was der Unglückliche gefehlt, -- eher darf er
nicht richten; und ihn jetzt, in dieser Zeit ausliefern, wäre so gut wie
ein Richterspruch.«

»Der Herr von Gaulitz hat schon Vieles versprochen aber Lüge ist sein
Lächeln, und teuflische Hinterlist sein Wort -- aus der Bibel citirt
er die Sprüche Jesu, aber schwarz ist das Herz, das unter der
gleißnerischen Zunge schlägt.«

»Doch vielleicht -- vielleicht ist es ja nicht einmal so gefährlich,«
sagte Sophie plötzlich, und ein Hoffnungsstrahl durchglühte dabei ihre
Seele -- »wer weiß denn ob sie ihn, wie die Sachen jetzt stehen, nicht
augenblicklich wieder freilassen, so wie er die Residenz betritt, --
möglicher Weise ist es viel besser, er wird dorthin abgeliefert.«

»Sie haben recht,« antwortete das Mädchen, und ihr Blick suchte
mit ängstlicher Gier den Ausdruck der ihr halb abgewandten Züge zu
erforschen -- »_vielleicht_ lassen sie ihn frei, und so mag denn der
Gutsherr seinen Willen haben -- man kann das wenigstens glauben, und --
fällt es anders aus -- wird er vielleicht gar -- doch nein, das wäre ja
nur eine Möglichkeit, und die -- haben wir nicht voraussehen können.«

Sophie hatte in peinliches Sinnen versenkt dagestanden -- die Worte des
Mädchens schnitten ihr wie Messer in die Seele, und immer klarer wurde
sie sich bewußt, daß auf Hülfe, wenn einmal in den Händen des wirklichen
Gerichts, nicht mehr zu hoffen sei, und eine Rettung des Unglücklichen
von hier jedenfalls ausgehen müsse. Aber wie -- der Kopf schwindelte
ihr von all' dem Sinnen und Denken -- überall unübersteigliche
Schwierigkeiten, überall gehemmt und beschränkt, und die Zeit mit
jeder Secunde dem entscheidenden Momente rasch, furchtbar rasch
entgegenstrebend.

»Nein -- nein« sagte sie endlich, mit halblauter Stimme -- sie schien in
diesem Augenblick die Gegenwart der Fremden ganz vergessen zu haben --
»es darf nicht sein -- darf nicht geschehn? -- aber wie es verhüten?
-- mein Vater muß da helfen. Ja, Marie -- Sie haben recht« fuhr sie da
plötzlich laut, und sich der Gegenwart der Fremden erinnernd fort.
»Mein Vater ist gut -- er wird nicht zugeben, daß ein armer Verfolgter
ungerecht leiden soll -- selbst wenn er nicht der Sohn eines ihm
befreundeten Mannes wäre, -- ich will mit ihm sprechen -- verlaß Dich
auf mich, was in meinen -- was in seinen Kräften steht, wird er thun
und meine Schuld soll es sein, wenn ich die Sache nicht mit Bitten
unterstütze -- sind Sie nun zufrieden gestellt, Marie?«

Sophie hatte ihre ganze Fassung wiedererlangt, und streckte mit milder
Freundlichkeit dem erfreuten Schützling die Hand entgegen, Marie
begegnete ihrem Blick, schaute ihr lange lange in das blaue seelenvolle
Auge, ergriff dann die gebotene Rechte, preßte einen heißen innigen
Kuß darauf und verließ plötzlich und ohne eine Sylbe noch zu erwiedern,
Zimmer und Haus.

Sophie war allerdings über dieses schnelle Abschiednehmen etwas
erstaunt, andere Gedanken drängten ihr aber in das zum Zerspringen volle
Herz, und ohne weiteres Zögern suchte sie vor allen Dingen ihren
Vater auf, von dem sie ja wußte, daß er die Befreiung des Sohnes des
Generalsuperintendenten selbst wünsche und setzte diesen von dem eben
Gehörten in Kenntniß.

Hierin hatte sie sich auch nicht getäuscht; ihr Vater schien durch
die Botschaft, an deren wirkliche Genauigkeit er nur noch immer nicht
glauben wollte, sehr beunruhigt, verlangte dann, allein gelassen zu
werden, schritt lange in seinem Studierzimmer auf und ab, und ging
endlich, mit der Bemerkung, man möge nicht auf ihn mit dem Essen warten,
wenn er etwa zur rechten Zeit nicht zurück sein sollte, auf das Gut
hinunter.

Aber schon lange vor Essenszeit kehrte er, und zwar in anscheinend
höchst übler Laune, heim -- allen Fragen Sophiens wich er dabei aus;
versicherte erst, den Gutsherrn gar nicht getroffen zu haben, sagte
dann, er sei ihm unterwegs begegnet und nicht im Stande gewesen,
ausführlich mit ihm zu sprechen, weshalb er auch gegen Abend noch einmal
hinuntergehen wolle, und schloß sich dann gleich nach Tische in sein
Zimmer ein, das er auch nicht eher wieder verließ, als bis die Sonne
schon hinter den goldglühenden Schwarzholzsaum versunken war und die
Abendglocke ihre letzten zitternden Klänge als Gruß dem scheidenden
Tagesgestirn nachgesendet hatte.



Viertes Kapitel.

Die Wilddiebe.


Ehe wir aber dem Pastor Scheidler auf seinem Abendgange weiter folgen,
müssen wir uns noch einmal, um die Nachmittagszeit des nämlichen Tages
auf das Hornecker Feld und zwar auf den östlich vom Dorfe liegenden
Landstrich begeben, den dort, wie wir schon gesehen haben, einige
ziemlich tief in den Hügelhang eingeschnittene Schluchten durchzogen,
während hinter diesen wieder die Gegend flacher und der Boden niedriger,
aber auch fruchtbarer wurde, und einzelne breite Rapsflächen theils
mit frisch umgehackten Sturzen, theils mit noch unberührt daliegenden
Weizenstoppeln abwechselten.

An der Ostseite der letzten schmalen Schlucht, dicht unter den Büschen,
die hier schon ziemlich hoch den Rain überragten und die Gesichter der
Niederung zugewandt, deren breite Fläche vom Fuße der flachen Hügel
auslief, saßen drei in die gewöhnliche Bauerntracht gekleidete Bursche,
und schienen eben ihr Frühstück oder Mittagsessen beendet zu haben, denn
der Eine, der Müllerbursche aus der Rauschenmühle, wickelte ein übrig
gebliebenes Stück Brod und Käse in das blaubaumwollene Tuch ein, das
zwischen ihnen auf der Erde ausgebreitet gewesen, steckte es in die
Tasche und griff nach einer neben ihm liegenden einläufigen alten
rostigen Muskete mit Feuerschloß, deren Pfanne er sorgfältig prüfte,
frisches Pulver aufschüttete, das Gewehr dann auf seine Knie legte und
mit selbstzufriedenem Lächeln sagte:

»So, nun kann's wieder losgehen -- ich hab' nichts dawider -- wenn wir
nur noch einen kriegten, daß Jeder seinen Hasen mit zu Hause nehmen
könnte. -- Hol's der Henker, 's ist doch beinahe zu viel Arbeit um so
einen Bissen Fleisch; seit Tagesanbruch liegen wir nun draußen, und erst
zwei lumpige Stück; denn von den vieren, die ich angeflickt habe, werden
wir wohl nichts weiter zu sehen kriegen -- der zweite ärgert mich, das
war ein ausgezeichneter Schuß.«

»He he he,« lachte der eine Bauerbursche, »der schlengerte das eene
Hingerbeen nich schlecht hin un widder. Aber wie kunnte die Krete noch
auskratzen -- das sach emal kurjos aus, wie Krautsch hinger em her den
Rain nungersterzte. Aber -- weiter derfen mer wohl nich an's Dorf nan,
denn sunst kennten se uns knallen hiaren.«

»Dunnerwatter!« fiel ihm hier Krautsch, ein anderer Bursche aus
demselben Dorfe in's Wort -- »un was wärsch, wenn se's hiarten? -- Laß
Fritze Holken nur raus kommen, dem wullten mer heeme leichten, der sille
an uns denken -- das Aas das. -- Härrje, was ich vor ne Bosheet uf den
Grienrock hawe; wenn mer nur erscht de Volksbewaffnung kreihn, wie's uns
der Docter versprochen hat -- aber hernagens!«

»Habt Ihr denn die beiden Hasen gut versteckt?« frug jetzt der
Müllerbursche, der die einzige Flinte trug, seine Begleiter, und
stand, die Flur rings überschauend, von seinem Lagerplatze auf -- »vor
Dunkelwerden können wir mit dem Wild doch nicht gut in's Dorf hinein.«

»Die stäcken dort in den Bischern, wo das hohe Gras schteiht -- die sin
so gut verschteckt, die fingen mer selwer kaum widder. Aber wo wollen
mer denn nu jagen? noch emal durch'n Raps? -- do sitzt noch eener
drinn.«

»Nein, ich dächte, wir trieben eimal die kleine Schlucht hier selber
ab,« sagte der Müllerbursche Gottfried Wensche oder »Friede«, wie ihn
die anderen Beiden kurzweg nannten, »in dem dichten Grase und unter den
Brombeeren liegen sie unmenschlich gerne, und wenn ich mich oben an die
Spitze stelle und Ihr blos durchgeht und klappert, so fährt gewiß
noch so ein Braunpelz heraus, und dem will ich's besser auf die Ohren
brennen, als dem letzten.«

»Gut, dann wull'n mer hier nunger giahn,« sagte Krautsch, drückte sich
den alten Hut in die Stirn und hob seinen Treiberstock auf -- »hernagens
klappern mer von ungen heruff.«

Die beiden Bauerburschen schlenderten, während Müllers Friede oben an
der Schluchtspitze seinen Platz nahm, von wo er rechts und links am
Buschrand hin schießen konnte, draußen auf dem Sturze an der Ostseite
der Schlucht hinunter.

An der Westseite hin glitten aber zu gleicher Zeit die Gestalten des
alten und jungen Holke, die Flinten auf dem Rücken, den Hund an der
Leine, und als sie eine Stelle erreicht, wo ein kleiner Graben, eine Art
Wasserfurche, von den Feldern aus in die Schlucht hineinführte,
folgten sie dieser und sahen sich bald von dichten Büschen und steilen
Seitenwänden der »Delle« vollkommen gedeckt.

»Wär's nicht besser, Vater, wir warteten, bis sie wieder schössen,«
flüsterte der Fritz, und zog den Hund an sich, der rechts in die Büsche
hineinwindete, »wenn wir wenigstens gerade aus bis an den Rand gehen,
können wir die ganzen Felder übersehen.«

»So viel sich von oben aus erkennen ließ,« erwiederte ihm der Vater mit
eben so unterdrückter Stimme, »haben sie hier im Busche Halt gemacht,
und der Henker weiß jetzt, ob sie noch drin stecken oder hinaus in's
Freie gegangen sind; fast glaub' ich aber, wir haben sie noch hier
unten, denn Hektor will absolut da hinein und der thut Nichts umsonst.«

»Horch,« sagte Fritz leise und faßte des Vaters Arm -- »klang das nicht,
als ob ein Treiber mit seinem Stocke an einen Busch geschlagen hätte?«

Die Beiden horchten einen Augenblick in gespannter Erwartung -- gleich
darauf wiederholte sich das Geräusch und dem scharfen geübten Ohr der
Jäger mußten die wohlbekannten Laute bald entdecken, was die »Wilddiebe«
eigentlich beabsichtigten.

»Bei Gott, wir sind mitten im Treiben drin,« schmunzelte der Alte mit
einem Blicke wilder Zufriedenheit -- »hoho, meine Burschen, Ihr kommt
mir heute gerade recht -- Fritz, das ist ein kapitaler Spaß -- in so
einer Lage hab' ich mich auch noch nicht befunden -- ein paar alte
Füchse im Kessel -- ob wir durchbrennen?«

»Vorgehen werden wir auf keinen Fall dürfen,« sagte Fritz -- »wer weiß,
was für Aasjäger sich vorgestellt hat, und wenn der die Büsche sich
regen sieht, haut er am Ende hin.«

»Die dreie haben nur eine Flinte,« meinte hierauf der Alte -- »der
Schmied hat's ganz genau gesehen, er konnte nur nicht recht genau
erkennen, wer es war, oder wollt's auch vielleicht nicht gern sagen.
Jedenfalls liegt der mit der Flinte, da sie von unten auf trieben, oben
in der Spitze, wo er beide Seiten bestreichen kann und bis dahin, wo die
Haselbüsche aufhören, können wir also recht gut vor; dort ist ja wieder
so ein Graben ausgestochen und über den Erdaufwurf hin kann er uns
nicht bemerken -- ich kenne den Platz genau, denn ich habe mich erst vor
vierzehn Tagen etwa gerade da hindurch an den Fuchs angeschlichen, der
draußen stand -- Hektor ruhig -- Strick Du, kannst Du nicht Frieden
halten, wenn's auf Hochwild geht?«

»Aber schießen werden wir doch nicht, Vater?« sagte der Sohn,
»ich möchte nur ungern, und dann auch nur in Selbstvertheidigung,
Menschenblut vergießen.«

»Es wird wohl ohne das abgehen,« brummte der alte Waidmann, »wenn sich
Einem auch das Herz dabei umdreht, wie die Canaillenbrut wieder heute
Morgen auf dem Revier herumgeknallt hat; der Herr Schütze soll nur
eine einfache Muskete führen, und vielleicht können wir ihn gerade
anspringen, wenn er die einmal abgeschossen hat -- Zündpatronen wird
er wohl nicht laden, und ehe er seinen alten Schießprügel wieder
vollstopft, behalten wir Zeit genug, ihm das weitere Jagdplaisir
abzuschneiden -- hol mich der Böse, die klappern das Holz ganz
regelrecht durch, das sind alte Hallunken.«

Das Treiben kam in der That immer näher und Holke winkte seinem
Sohne jetzt mit der Hand, ihm so leise als möglich zu folgen; gebückt
schlichen sie dabei in dem Bett des kleinen, nur wenige Zoll tiefen
und mitten durch die Schlucht rieselnden Baches hin, bis sie sich bis
beinahe an den Graben, der hier von beiden Seiten der Mitte zu lief,
hingepürscht hatten. Die Treiber konnten kaum hundert Schritte hinter
ihnen sein. Hier mußten sie über einen schmalen gelben Rasenfleck, den
jedoch dichte und undurchsichtige Büsche rings umschlossen, und als sie
eben die Zweige vorsichtig auseinander bogen, um hindurch zu schlüpfen,
fuhr aus dem warmen buschigen Grase ein Hase, sprang über den niederen
Erddamm und floh gerade die Spitze hinaus und der Stelle zu, wo sich
Müllers Friede so vortheilhaft aufgestellt hatte.

»Der kam apropos,« lachte mit vorsichtig gedämpfter Stimme der Alte,
»jetzt paß einmal auf, ob sie nicht drauf pulvern.«

Noch während er sprach, krachte der laut donnernde Schuß der alten
Muskete durch die Büsche, und das laute Klagen des Hasen verrieth gleich
darauf, daß die arme Creatur waidwund oder in die Hinterläufe geschossen
sei.

»Jetzt spring hinauf, Fritz,« rief da der Vater schnell -- »mach rasch,
mein Junge, und nimm dem Schufte die Flinte ab, ich will hier hinaus,
daß ich die anderen Canaillen abfange, oder doch wenigstens zu sehen
kriege, wenn sie etwa durchbrennen sollten. -- Allo faß, Hektor?«

Der Alte brach, die Büsche links und rechts zurückwerfend, durch das
Dickicht der Stelle zu, wo er das freie Feld am schnellsten erreichen
konnte, um dadurch den _flüchtigen_ Wilddieben den Weg abzuschneiden;
Fritz aber glitt rasch und behende der Stelle zu, wo er den Schuß gehört
hatte; Hektor verrieth indeß eher, als er es im Anfang gewollt, seine
Nähe. Kaum hörte der Hund, der sonst folgsam und klug genug war, die
klagenden Töne des angeschossenen Hasen, als er blitzeschnell seitab
durch die Sträucher brach und jetzt plötzlich dicht vor dem
entsetzten Müllerfrieden, der eben emsig bemüht war, den im Kreise
herumschnellenden zu erfassen, aus dem Strauch fuhr, Lampen im Genick
packte, todtbiß und dann stolz und freudig aushob, ihn seinem Herrn zu
aportiren. »Alle Teufel!« rief der Müller überrascht, und fuhr mit der
ungeladenen Flinte im Anschlag -- denn das laute Rascheln der Büsche
verrieth ihm jetzt den unwillkommen Zeugen seines Jagdfrevels -- in die
Höhe; »zurück da oder ich schieße -- zurück sag ich!«

Fritz war aber nicht der Mann, der sich von so lächerlicher Drohung
hätte zurückhalten lassen.

»Haha,« rief er -- »hast wohl zwei Patronen eingeladen und erst eine
ausgeschossen -- na drück ab, aber dann her mit der Flinte« und ohne
weiter einen Augenblick zu zögern sprang er gegen den entdeckten
Wilddieb an. -- Dieser, der wohl einsah, daß er dem Jäger nicht mehr mit
der Schußwaffe drohen könne, faßte seine Muskete rasch am Lauf und
hob den Kolben, den Angreifer damit zu Boden zu schlagen, dieser aber,
gewandter als er selber, unterlief ihn, ehe er den Streich führen
konnte, ließ dicht vor ihm sein eigenes Gewehr in das Gras niederfallen
und traf den Müller zu gleicher Zeit mit der festgeballten Faust so
kräftig in den Magen, daß der große starke Mann zusammenbrach als ob
ihn ein Blitzstrahl getroffen hätte und die Muskete machtlos seiner Hand
entsank.

Dieser Sieg hätte aber für den Jäger beinah von sehr bedenklichen Folgen
sein können, denn die beiden Bauerburschen stoben keineswegs, wie der
alte Holke vermuthete, rechts und links in das Feld hinaus, sobald sie
fanden, daß sie entdeckt wären, sondern Krautsch besonders rannte in
wilder Wuth dorthin, wo er seinen Kameraden zurückgelassen, und mit
diesem jetzt den ihm verhaßten Jägerburschen anscheinend ringen sah. So
dicht kam er dabei heran, daß er in demselben Augenblick den Kampfplatz
erreichte, wo Fritz sein geladenes Doppelrohr hingeworfen hatte und
sprang nun mit wildem Jubelruf, während der Jäger seinen Genossen zu
Boden schlug, darauf zu.

Fritz wandte rasch den Kopf und sah kaum die eigene Waffe schon fast
in des Gegners Gewalt, als er auch, jetzt wohl wissend, daß es das
Aeußerste gelte, die Muskete aufgriff, vorsprang und mit dem schweren
Kolben den schützend vorgestreckten Arm des Wilddiebes so kräftig traf,
daß er gelähmt an seine Seite sank. Nichts destoweniger wäre der Sieg
dennoch zweifelhaft gewesen, denn der dritte, sonst keineswegs feige
Bauerbursche flog in diesem Augenblick heran -- noch im Zuspringen
hörte er aber einen Anruf an seiner Seite, wandte den Kopf und sah hier
plötzlich zu seinem Entsetzen auch noch den alten Jäger mit auf ihn
selber gerichteter Flinte dastehn.

Wie ein Blitz durchzuckte ihn der Gedanke an den Flüchtling auf den
derselbe Jäger ja erst vor wenigen Tagen ebenfalls geschossen, und ehe
er noch wirklich im Stande war einen eigenen Entschluß zu fassen, trieb
ihn das Gefühl der Selbsterhaltung zauberhaft rasch aus dem Bereich der
dunkeldrohenden Rohre. Wie er in die Schlucht kam, wußte er eigentlich
selbst nicht, nur dessen erinnerte er sich später, daß er fortwährend
durch die dicksten Büsche gesetzt und sporenstreichs und athemlos, ohne
auch nur ein einziges Mal umzuschauen, ob die Verfolger wirklich hinter
ihm wären, zu Hause gerannt sei.

Mit dem jetzt allein stehenden Krautsch, dem noch dazu, für den
Augenblick wenigstens, der rechte Arm vollkommen gelähmt war, wurde
Fritz indessen bald und noch ehe sein Vater ihm weiter zu Hülfe kam,
fertig. Er hatte seine Flinte wiedergewonnen, und stand jetzt dem mit
fest zusammengebissenen Zähnen wüthend zu ihm aufblickenden Bauer, wie
dem sich gerade von dem gewaltigen Faustschlag erhebenden Müllerburschen
fest und trotzig entgegen.

»So, Ihr Lumpenpack« fuhr die Beiden aber jetzt der alte Förster an, der
nun auch herbei kam, dem noch immer ruhig aportirenden Hektor den Hasen
abnahm und diesen neben die alte Muskete in's Gras warf -- »so -- also
Ihr seid's, die Ihr hier draußen auf fremden Revieren und nicht einmal
auf Euren eigenen Feldern, herumknallt und Gottes Creaturen, die
jetzt hochtragend gehn und nicht einmal genießbar sind, die Glieder
verschießt. Nicht arme Tagelöhner seid Ihr, die es vielleicht aus Armuth
und Hunger thun könnten, sondern reiches Lumpenpack, das zu faul zur
Arbeit ist, und am lieben Wochentage stiehlt und raubt. -- Pfui über
solche Bande -- ich wollte mich doch in Euere Seele hinein schämen.«

»Wartet iär grienreckigen Holzlaifer iär!« knirschte aber der seiner
Wuth kaum mächtige Bauer durch die fest zusammengebissenen Zähne sie
an -- »wartet nuar -- eire Zeit kummt ooch noch, un dann soll mer der
Deibel das Licht halten, wenn ich nich meine Rechnung so gut im Kopp
behalte, wie der Wirth in der Schenke dringe -- gebt dem Müller sain
Gewähr widder ruas.«

»Hier liegt der Hase, den er geschossen und das Gewehr ist mein,« sagte
der alte Holke ruhig, ohne sich um des Burschen ohnmächtigen Zorn weiter
zu kümmern. »Ihr aber könnt Euch drauf gefaßt machen, daß die Sache
damit noch nicht abgethan ist; heutigen Tages noch werdet Ihr angezeigt
und daß der Herr von Gaulitz kein Federlesens mit Euch machen wird,
darauf dürft Ihr Euch verlassen. Hier Hektor -- was hat der Hund?«

»Er steht« -- sagte Fritz und ging mit gehobener Flinte der Stelle zu.

Hektor stand gerade da, wo die Haselbüsche anfingen, vor einem kleinen
niederen aber dichten Gewirr von Gras, Dornen und Sträuchern fest und
regungslos, den Kopf versteckt, den rechten Vorderlauf emporgehoben,
die Augen unverwandt auf den dunkeln Busch gerichtet, und allem
Anschein nach mit größter Spannung die Luft einschnopernd, die von dort
herüberwehte und jedenfalls von höchstem Interesse für ihn sein mußte.
Nur als sich sein junger Herr ihm näherte, beurkundete er seine Freude
durch ein leises, aber auch nur ganz leises Schwanzwedeln.

Müllers Friede hatte sich noch immer nicht ganz von dem erhaltenen
Schlage erholt, und auch Krautsches Arm schmerzte diesen sehr, dennoch
machten die Beiden, als sie sahen, wie der Hund vor dem Strauche blieb
und Fritz ihm nach ging, einen Schritt gegen den Ort zu, wo die Muskete
lag. Aber auch nur einen Schritt, denn des alten Holke Flinte fuhr
rasch genug herauf, und er rief ihnen mit seiner derben herausfordernden
Stimme trotzig zu:

»Zurück, Ihr Schufte, oder ich will verdammt sein, wenn ich Euch die
Beine nicht mit dem klaren Schrot so voll spicke, daß Ihr das Laufen auf
vier Wochen wenigstens an den Nagel hängen könnt; fort mit Euch, denn
es juckt mich schon im Zeigefinger, und ich dächte, Ihr wüßtet, daß ich
nicht gerade viel Spaß verstehe.«

»Allo faß!« rief Fritz indessen, der sich mit einem rasch nach rückwärts
geworfenen Blick bald überzeugte, wie sein Vater die beiden Burschen
leicht allein im Respect erhalten konnte -- »=en avant=, Hektor! =en
avant=, mein Hund.«

Hektor hatte anfänglich, wie sich gar nicht verkennen ließ, keineswegs
die Absicht gehabt, so ohne Weiteres einzuspringen, da er den Jäger aber
jetzt dicht bei sich sah, und die fortwährend aufmunternden Worte hörte,
that er ein Uebriges -- wedelte erst einmal aus Leibeskräften mit dem
braun und weißen Stumpfschwanz, als ob er gerne gesagt hätte, »na,
wenn's nicht anders ist,« und sprang dann plötzlich zu. -- Aber weder
Schnepfe noch Huhn fuhr heraus -- kein Hase sprang aus der schützenden
Decke hervor, Hektor jedoch hatte sich keineswegs geirrt, sondern
das, auf was er mit so unverrückbarer Aufmerksamkeit gezeigt, mit den
scharfen Zähnen erfaßt, und einen armen schwer mißhandelten, und über
und über mit Schweiß bedeckten Lampe, dem alle vier Läufe zerschossen
und der Kopf breit geschlagen war, zog er bald darauf aus Dornen und
Gras hervor.

Als ihn Fritz an den Löffeln empor hob, brachte Hektor einen zweiten
kaum besser bedachten hervor, und des alten Holke Ingrimm machte sich
in schweren gewichtigen Flüchen und Drohungen Luft; die Bauern aber,
die sich auf die Art auch das gehoffte und schon, wie sie meinten, in
Sicherheit gebrachte Wildpret entzogen sahen, schimpften und wetterten
nicht minder, und es wäre vielleicht schon hier zu neuen Thätlichkeiten
gekommen, hätte der dritte Mann sie nicht so feige allein und im Stich
gelassen, so aber war doch die Uebermacht und noch außerdem das gute
Recht auf der Jäger Seite zu stark gegen sie, und ein Angriff mußte
deshalb sicherlich nur höchst unglücklich für sie enden.

Die Jäger schienen auch etwas derartiges gar nicht zu fürchten, Fritz
steckte zwei, sein Vater einen Hasen in die Tasche, der erste schulterte
dabei noch die alte Muskete, und raschen Schrittes wanderten sie dem
Dorfe zu, um die Anzeige der ertappten Wilddiebe zu machen, und endlich
einmal ein paar von den Schuften zur Strafe zu bringen, die des alten
Holke Ingrimm, besonders in der letzten Zeit schon so oft rege gemacht,
und ihm die Galle aufgerüttelt hatten.

Die Bauern blieben noch eine lange Weile in der Schluchtspitze zurück,
und sprachen dabei fleißig, um ihren Aerger zu ertränken, der grünen
Flasche zu, die der Müller neben dem Pulverhorn in seiner Rocktasche
trug; viele Pläne wurden geschmiedet, Rache zu üben für die erlittene
schmähliche Behandlung -- Pläne, wie sie nur das schwärzeste Herz
gebären und ersinnen konnte. Als die Flasche dann geleert war, gingen
sie auf dem schmalen Fußpfad hin, der nicht weit von der Schlucht vorbei
nach der Rauschenmühle herniederführte, bis zu dieser hinab, um dort ihr
begonnenes Gelage fortzusetzen, und der Beschluß sollte dann noch Abends
spät, als die Nacht schon hereingebrochen war, und andere ordentliche
Menschen ihre Heimath aufsuchten, in der Hornecker Schenke gemacht
werden, wo heute die Bauern wieder zum Lesekränzchen zusammenkamen und
sie die schändliche Ungerechtigkeit zu schildern gedachten, die ihnen
von den »grünröckigen großen Herrn Dienern« angethan worden.



Fünftes Kapitel.

Das Gefängniß.


Das Gefängniß von Horneck war ein niedriges kleines aber sehr festes
Gebäude, das dicht an eine Reihe von Ställen und darauf befindlichen
Getreide- und Heuböden stieß, auch dieselbe Gestalt wie diese hatte, und
sich im Aeußeren durch nichts als die starken Eisengitter an den kleinen
hohen Stallfenstern von ihnen unterschied.

Nur zwei Stuben oder Kammern, wie man es nun nennen wollte, befanden
sich übrigens in diesen zur Aufbewahrung von Verbrechern bestimmten
Mauern, und wurden durch einen schmalen Gang, der zu der hinteren
Bodentreppe führte, geschieden; die eine von diesen bewohnte der »Voigt«
vom Gut, der auch zugleich bei solchen Gelegenheiten die Schließerstelle
versehen mußte, und die andere wurde für gelegentlich Eingebrachte
offen gehalten, oder sollte doch wenigstens offen gehalten werden. Da es
übrigens nur äußerst selten vorkam, daß in Horneck irgend ein wirklicher
Verbrecher eingesperrt wurde, so benutzte der Voigt die Gefangenstube
auch gewöhnlich zum Aufbewahren der aus der Mühle zurückkommenden Kleie,
und selbst jetzt lag ein mächtiger Haufen von dieser, der in der
Eile nicht hatte hinausgeschafft werden können, in der einen Ecke
zusammengeschaufelt und angekehrt, und in der anderen befand sich ein
kleiner Tisch und Stuhl; auf dem ersteren stand ein Wasserkrug und eine
Schüssel mit eingebrockter Kürbissuppe, wie sie das Gesinde bekam, und
ein Stück trockenes schwarzes Brod, aber kein Messer, sondern nur in
der Schüssel ein hölzerner Löffel. In der einen Ecke lag noch eine
zusammengeklappte Matratze mit wollener Decke.

In dem kleinen Raume schritt der Gefangene mit untergeschlagenen Armen
hastig auf und ab, blieb manchmal an dem Fenster stehen, neben das er
seinen Stuhl gerückt hatte, um nur hinausschauen zu können, lauschte auf
das von draußen zu ihm hereintönende Geräusch, und setzte dann finster
und brütend seine einförmige Wanderung fort.

»Das also ist Dein Dank, Du blinde Menge, zu deren Heil ich meine ganze
Existenz in die Wagschale warf, das der Lohn für alle Aufopferung von
meiner Seite, für die reine uneigennützige Treue, mit der ich mich
Deinem Dienste weihte. Aber nicht zurechnungsfähig bist Du, armes
verblendetes, irre geleitetes Volk -- Jahrhunderte lang in Schmach und
Knechtschaft gehalten, weht Dich der neue Freiheitstraum so plötzlich,
so unerwartet an, daß Du Dein Glück noch gar nicht zu fassen vermagst,
daß Du nicht begreifen kannst, welche Gewalt Dir plötzlich in die Hand
gelegt, und wie es in Deiner Macht jetzt stehe, die, die Dich bis
dahin gedrückt und in Schande und Schmach zu Boden gehalten, mit einem
kräftigen Schlage zu vernichten. Erwache, mein deutsches Volk, erwache!
-- Der Morgen der Freiheit hat wirklich getagt; im schönen Frankenlande
krähte der gallische Hahn seinen weit durch die _deutschen_ Gauen
schallenden Gruß, und im Norden, Süden und Westen greifen die Völker
schon zu den Waffen, und die erstehende Sonne sieht ihr flammendes
Bild tausend und tausendfältig von blitzenden Sensen und Schwertern
zurückgeworfen.«

»Nicht reif seist Du, mein herrliches Volk, die schwerste Pflicht, die
Pflicht der Selbstbeherrschung auszuüben, rufen Deine Feinde, die Männer
mit Orden und Bändern, die Schranzen und Knechte sclavischer Disciplin
-- wie das Feuer seist Du, winseln sie in heuchlerischem Mitleid,
dessen Kraft gezähmt und in Schranken gehalten werden müsse, um nicht
unendliches Elend über unser schönes Vaterland zu bringen. Auf, auf,
meine deutsche lodernde Flammensäule, zum Himmel empor sende Deinen
rothen Feuergruß, und durch die Schaaren derer, die Deinem freien
göttlichen Lichte hemmend entgegentreten, durch die Schatten der alten
giftigen Nacht, deren Schleier der Bundestag so fest und furchtbar in
seinen Krallen hielt, öffne Dir die freie herrliche Bahn. -- Kein Brand
wirst Du sein, der sengend Städte und Dörfer in Asche legt und die
Wohnung des friedlichen Landmannes dem Boden gleich macht, sondern wie
die segensreiche Gluth sollst Du über die Felder und Fluren ziehen,
die auf den dürren Steppen das trockene holzige Gras im raschen
Flug verzehrt, und den frischen grünenden Graskeimen Raum giebt zum
fröhlichen Wachsthum und Gedeihen.«

»Glück auf, mein Volk! Wenn auch der Einzelne darüber untergeht, tausend
Andere werden erstehen, und Dich mit weitausdröhnendem Jubelruf den
Reihen Deiner Feinde entgegenführen. Nur zusammen haltet dann, wie der
Schranzen Schwarm bis jetzt zusammenhielt. -- Die Linke fasse in des
Nachbars Gürtel, die Rechte schwinge hoch das breite Schwert, und Gottes
Ungewittern gleich werft Euch vernichtend und verderbend den Massen des
schon moralisch erdrückten Gegners in die Fronte.«

»Und Du, Sonne, die Du da drüben so bleich und trübe, von dämmernden
Nebeln umdrängt, zur Ruhe gehst, steige rothglühend im Osten über
ein _freies_ Volk wieder herauf -- und wenn Du dann auch mein Grab
beschienest, ich wollte nicht klagen, dürfte mein Herz dann nur mit
seinem letzten Blute den Boden eines freien _einigen_ Deutschlands
düngen!«

Er war bei diesen Worten wieder auf den Stuhl getreten, hatte den
einen Arm, um sich oben zu halten, durch das Fenstergitter gezogen, und
lehnte, nach der scheidenden Sonnenscheibe hinüber schauend, die heiße
fieberische Stirn an die kalten starren Eisenstäbe seines Kerkers.

So stand er lange und träumend, -- das Abendgeläute war schon lange mit
dem frischen Hauch der von den Bergen wehte, in weiter Ferne verklungen;
düstere Dämmerung lagerte sich auf der Erde, die Sterne blitzten matt
und trübe durch eine dünne Nebeldecke nieder, die sich über das ganze
Firmament gezogen; drüben aus dem Dorfe herüber funkelten die Lichter
der stillen friedlichen Wohnungen, das Feuer der Schmiede sah er
deutlich durch die Obstbäume, die zwischen dieser und dem Schloß die
steile Aufdachung des Hügels deckten, niederscheinen, sah die Funken
sprühen, und hörte die regelmäßigen Schläge der schweren Hämmer.
Der heimkehrende Knecht, der nach Frauen Art seitwärts auf dem müden
geduldigen Ackergaul kauernd vorüber zog, sang sich mit leiser Stimme
ein kleines Lied -- ein Gruß an den Schatz, den er »bei sich zu Hause«
gelassen, und aus der Rauschenmühle kehrte der mit den gewichtigen
Mehlsäcken beladene Rüstwagen zurück und hielt nicht weit von der Thüre
des Gefangenen an, so daß dieser, in einer Art Halbtraum, in dem sein
Ohr die äußeren Eindrücke nur dumpf und unbestimmt vernahm,
hören konnte, wie die einzelnen Säcke langsam und in regelmäßigen
Zwischenräumen die steile Treppe, welche zu den Getreideböden und
Vorrathskammern führte, hinauf getragen wurden. Dann spannte der Knecht
die Pferde aus, die allein zu ihrem Stall hinüber trabten, der Wagen
wurde unter den Schuppen zurück geschoben -- das Gesinde ging zum Essen
in die Gesindestube, und lautlose Stille lag auf dem weiten Gebäu des
Gutes.

Wahlert wußte selber nicht, wie lange er so und in dieser Stellung mit
seinem Arm an dem Gitter verweilt, den Blick auf die bleich funkelnden
Sterne gerichtet, als leise und vorsichtig der Schlüssel in das Schloß
seiner Thüre geschoben und eben so geräuschlos aufgeschlossen wurde.
Erstaunt wandte er den Kopf, denn sein Wärter war sonst stets rasch
und rücksichtslos zu ihm herangetreten, und eine eigene frohe Ahnung
durchschauerte ihn -- vielleicht nahte ein Rettungsbote und die wieder
aufsteigende Sonne sah auch ihn frei und fröhlich wie die aufwirbelnde
Lerche über die dampfenden, vom Nebel umschleierten Berge ziehen. --

Eine dunkle Gestalt glitt in's Zimmer und blieb wie schüchtern an der
Thüre stehen, die sich wieder hinter ihr schloß.

»Wer ist da -- seid Ihr es, Voigt?« frug Wahlert, und trat von dem
Stuhle herunter in die Stube.

»Herr Wahlert,« lautete die ängstlich zitternde Antwort -- »ich komme,
Sie zu retten!«

»Heiliger Gott, diese Stimme!« rief der Gefangene und preßte sich, kaum
seinen Ohren trauend, die ihm den Klang der süßen Laute verriethen, die
heiße brennende Stirn -- »Sophie --«

»Um Gottes Willen, sprechen Sie leise,« flüsterte das arme, an allen
Gliedern bebende Mädchen -- »und nur wenige Secunden sind mir vergönnt,
deshalb bleibt mir auch keine Zeit, mein Hiersein zu entschuldigen. Nur
Mitleid für Sie trieb mich her. Heute Abend um neun Uhr sollen Sie von
hier fortgeschafft und den Militairgerichten überliefert werden -- was
Sie verbrochen haben, weiß ich nicht -- will es nicht wissen -- nur
die eine Frage beantworten Sie mir -- wahr und redlich, als ob Sie vor
Gottes Throne ständen, aber auch ohne Bedenken und ohne Rücksicht auf
mich und die Ursache, die mich vielleicht bestimmte, dieselbe an Sie
zu richten. Ist Ihr Leben bedroht, wenn man Sie der Militairgewalt
überliefert?«

»Jedes Geheimniß falle, das zwischen mir und Ihnen stehen könnte,« rief
da Wahlert, und ergriff die bittend gegen ihn ausgestreckte, sich seinem
Drucke nicht entziehende Hand -- »kennen Sie mein Vergehen, so sind Sie
auch selber im Stande, zu verstehen, was mich bedroht. -- Man hat eine
Correspondenz aufgefangen, die ich mit Frankreich unterhalten, von dort
her unsere deutschen Brüder zu Hülfe zu rufen und die fröhliche rothe
Fahne der Republik auf Deutschlands Berge zu pflanzen. In diesem
Augenblicke haben die Freunde vielleicht schon einen Einfall in Baden
gewagt, oder stehen wenigstens in Waffen an der Grenze, ich aber, der
jetzt hier wirken und schaffen sollte, daß auch wir, die wir unter dem
Drucke der Tyrannei geschmachtet, denen die treue Bruderhand reichen,
die Heerd und Arbeit verlassen haben, uns zu Hülfe zu eilen, ich bin
hier von Kerkermauern umschlossen und kann, darf nicht hinaus in's
Freie.«

»Und glauben Sie, daß nach diesem Vergehen Gefahr -- vielleicht Ihr
Leben bedroht?«

»Mein Leben? -- ich fürchte kaum -- allerdings sind die Beweise gegen
mich klar genug und dem alten Regime wäre das Aeußerste zuzutrauen, wo
es ja auch vielleicht die eigene Erhaltung gilt --«

»Dann fliehen Sie -- fliehen Sie, so rasch Sie können, und verlassen Sie
Deutschland so lange noch der Frieden nicht wieder hergestellt ist, und
die Gemüther sich beruhigt haben -- ich wußte den Schließer zu gewinnen
-- er dankt mir Alles, was er auf dieser Welt besitzt, und will selbst
seine Stelle daran setzen, mir zu dienen -- fort -- fliehen Sie so lange
Ihnen noch Zeit dazu vergönnt ist, hält erst der Morgen vor der Thür, wo
Ihnen jedenfalls Bedeckung mitgegeben wird, dann ist es zu spät und Sie
sind verloren.«

»Und soll ich, ein flüchtiger, mit Steckbriefen verfolgter Verbrecher
diesen Ort verlassen? Soll ich das einzige Land meiden, wo ich bis jetzt
gekannt bin, wo ich wirken und das gute Werk fördern kann? -- Soll ich
meinen Feinden die Freude machen, daß sie mich wie einen entsprungenen
Sträfling für vogelfrei erklären und auf mich fahnden lassen dürfen.
Lebte noch Recht und Gerechtigkeit, so müßte das Volk mit eisernem Arm
meinen Kerker brechen, und auf seinen Schultern den in's Freie tragen,
der mit Herz und Kopf sich ihm allein geweiht, so aber schlafen sie
selbst noch in der Residenz, das Ministerium, dem Millionen fluchen,
steht fest und unerschüttert, und seine Macht ist noch wie vorher
unge--«

Er schwieg plötzlich, denn ein kleines Paket fiel schwer aber weich
durch die Gitterstäbe des offenen Fensters auf die Kleien in's Zimmer.

Wahlert wie Sophie standen mehrere Secunden still und regungslos, und
deutlich konnten sie dabei hören, wie sich draußen Jemand leise aber
rasch entfernte.

»Was war das?« flüsterte der Gefangene endlich und hob das Päckchen vom
Boden auf -- »kommt das von Freundeshand?«

Rasch löste er den Faden, der es umschlossen hielt -- es enthielt
zwei starke Feilen, einen Geldbeutel, einen kleinen Brief, ein dünnes
Wachsstöckchen und eine schmale Schachtel Zündhölzchen. Leise nannte er
die Artikel, als er sie einzeln betastete und in seine Tasche schob --
nur den Brief und das Feuerzeug behielt er noch in der Hand.

»Dürft' ich es wagen, Licht zu machen,« flüsterte er, »so könnte ich
wenigstens lesen, was mir mein unbekannter freundlicher Helfer schreibt
-- doch halt -- geh' ich hier dicht an die Wand unter das Fenster,
so kann man den Schein von außen unmöglich erkennen, oder wird doch
wenigstens glauben, daß mein Gefängnißwärter einmal bei mir sei.«

Rasch trat er an den bezeichneten Platz, bog sich so weit als möglich
über, öffnete den kleinen zusammengefalteten Zettel, zündete dann
eines der Streichhölzchen an, und las bei dem mattflackernden Schein
desselben:

»Fliehen Sie so rasch und schnell Sie können -- um neun Uhr ist es zu
spät -- sind Sie in Freiheit, so verbrennen Sie diese Zeilen. Scheidler
-- Pastor.«

»Mein Vater!« rief Sophie erstaunt.

»Hm,« murmelte Wahlert, als er das verlöschte Schwefelholz auf die Erde
warf und Feuerzeug wie Brief in die Tasche schob -- »der Geistliche des
Orts interessirt sich für mich, den Republikaner? -- Verdanke ich das
meiner Gesinnung oder meiner -- Geburt.«

»Das Ministerium sollte gestürzt werden,« rief da Sophie, der es ein
schmerzliches Gefühl war, daß der Mann, der sich selbst so uneigennützig
für Andere geopfert, gerade diese Ursache, und ach, mit viel Grund, in
ihres Vaters Handlungsweise suchen sollte -- »er wird seinem Freunde,
dem Gutsherrn und Gerichtshalter, die unangenehme Nothwendigkeit
ersparen wollen, seine Pflicht zu thun -- überhaupt scheint auch wieder,
aus einer mir unbekannten Ursache, das Dorf in Aufregung zu sein; als
ich hierher eilte, standen eine Menge Menschen vor der Schenke, und der
Diaconus war kaum im Stande, den wilden tobenden Lärm in Schranken zu
halten.«

»Das Ministerium gestürzt? Das Dorf in Aufregung?« rief da Wahlert und
richtete sich plötzlich rasch und fröhlich empor -- »hei mein Volk, da
schlägt der Freiheit Stunde, und hast Du so die Ketten der Lethargie
abgeschüttelt, dann brauch ich auch nicht wie ein schuldbewußter feiger
Missethäter zu entfliehen.«

»Mamsell Sophiechen!« rief in diesem Augenblicke draußen vor der Thür
die warnende Stimme des alten Voigt -- »Mamsell Sophiechen, was Sie thun
wollen, thun Sie schnell -- oben im Dorfe ist ein merkwürdiger Spektakel
und eben ist die Kutsche in's Gut gebracht. Wenn Sie noch lange machen,
können Sie am Ende selbst nicht mehr heraus.«

»Herr Wahlert,« flüsterte Sophie in Todesangst -- »bauen Sie nicht --
trotzen Sie nicht auf die Menge, auf die Bauern von Horneck. -- Für
politische Größe haben sie keinen Sinn -- wo ihr materieller
Nutzen nicht in's Spiel kommt, wo sie nicht einen wirklichen leicht
begreiflichen Vortheil zu erringen hoffen, sind es die entsetzlichsten
Egoisten -- und ein Nutzen, wie _die_ ihn im Stande sind zu verstehen,
kann ihnen aus Ihrer Befreiung nicht erwachsen. Als sie sich neulich
zusammenrotteten, bedurfte es nur weniger Worte des Gutsherrn, den Sturm
zu beschwören -- der Doctor Levi, der sich ihrer Gleichgültigkeit
mit Gewalt entgegenstemmen wollte, wurde mißhandelt, und die heutigen
Zeitungen melden, wie die Bewohner der Residenz sich schon wieder
den Verfügungen der Residenz unterzuordnen scheinen, wonach es denn
wahrscheinlich wäre, daß sich die Minister am Ende doch noch hielten.
O fliehen Sie, fliehen Sie, wenn nicht um sich zu retten, doch um
des Volkes willen, dem Ihr Streben gilt -- fliehen Sie, ohne einen
Augenblick weiteren Zögerns -- die Minuten schwinden in rasender
Schnelle und bald, o Gott, wie bald könnte es zu spät sein.«

»_Zu spät_, allerdings ein bedeutungsvolles Wort,« lächelte Wahlert,
»aber nicht für mich -- ist das alte Reich der Residenz aus seinen Fugen
gerüttelt, ja, wäre es selbst einmal noch nicht vollkommen gestürzt,
dann wird es dieser Oberpostdirector wahrlich nicht wagen, mich irgend
einem Gericht zu überliefern; ja, thäte er es, er fände keins, das sich
in diesem Augenblicke seinen Anforderungen fügte -- nein, kocht und
gährt es schon hier in dem stillen Orte, dann ist auch kein Zweifel
mehr, daß des Volkes freier Sinn den Mann, der seinethalben hier in
Banden liegt, mit kräftig muthiger Hand befreien wird. Ein Gewaltstreich
muß aber erst, und zwar vom Volke aus, geschehen sein, ehe die Flamme
des Aufruhrs sich erheben und furchtbar vorwärts schießen kann über das
weite Land -- unser Vaterland ist nun einmal zerstückelt und in jedem
kleinen Theile desselben muß leider die Revolution auf's Neue geboren
werden -- _unsere_ Aufgabe aber ist es dann, das junge, seiner kaum
bewußte Kind in Blitzesschnelle zum Riesen heranzubilden, und auf seinen
Schultern lagern wir nachher in sicherer Ruhe, wenn seine Keule unter
und neben uns die Throne zu Boden schmettert und nur unser Geist die
gigantische Kraft des Kolosses zu leiten braucht.«

»Sie tödten mich und sich mit diesem starren Trotz,« bat die Jungfrau
-- »Sie kennen den Gutsherrn nicht, dessen boshaft trotziger Geist
das Aeußerste daran setzen würde, seinen einmal ausgesprochenen Willen
durchzuführen -- verlassen Sie nur jetzt wenigstens den Hof -- um
_meinet_willen, Wahlert -- wenn nicht um Ihret-, nicht um Ihres alten
Vaters willen --«

»Sophie,« flüsterte der junge Mann, und das wilde, unzähmbare Herz, das
bei der früheren Nachricht vom Sturz des Ministeriums schon tausend und
tausend kühne und luftige Pläne gebaut, zitterte vor dem weichen Tone
dieser sanften Stimme und beugte sich der holden Angst des süßen Kindes
-- denn diese Angst füllte ja die reine heilige Brust für ihn -- für ihn
lebte die schlanke Gestalt und schmiegte sich zagend, verzweifelnd an
sein Herz, als er den Arm mit leisem beschwichtigenden Trost um ihre
Achseln legte.

»Sophie,« flüsterte er endlich und drückte einen Kuß auf ihre bleiche
Stirn -- »Sie schaffen mir den Kerker zu einem Himmel um, und machen
mir die Stunde, die, ehe Sie kamen, meine trübste war, zu einem seeligen
Augenblick. Ich glaubte, ich wäre stark und mein einmal gefaßter
Entschluß nicht mehr zu ändern -- ich bin aber nur wie ein schwankendes
Rohr, das ein Hauch ihrer Lippen bewegen kann. -- Gut, ich will fliehen,
süßes Kind, will Ihrem Rathe folgen, so mit Gott denn und seiner
kräftigen Hülfe. Er wird ein freies wackeres Volk nicht verlassen, und
wenn er seine _Engel_ schickt, kann seine Hand nicht irre leiten. So
leben Sie denn wohl -- zum zweiten Male wohl, wo Sie mir als rettender
Schutzgeist erscheinen und möge Germania's Fylgia die That Dir lohnen,
die Du an einem ihrer treuesten Söhne gethan. Schütz Dich Gott, mein
süßes Kind.«

Mit fieberhafter Angst hatte Sophie indessen mehr und mehr der Thüre
zugedrängt, denn ihr scharfes Ohr vernahm draußen Klänge, die ihr das
Blut in den Adern erstarren machten -- das Rasseln eines leichten Wagens
wurde laut -- Rosse stampften, und dicht vor der Thür des Hauses hielt
er an.

»Großer allmächtiger Gott, es ist zu spät,« stöhnte die Jungfrau, und
nur Wahlert's Arm hielt sie in diesem Augenblicke aufrecht, daß sie
nicht vor Angst und Schmerz zusammenbrach.

Ein lautes Klopfen an der Thür bestätigte ihre Worte.

»Hallo da --« rief eine Stimme, die sie bald an den gellenden Tönen als
die des jungen Poller erkannte -- »hallo, Voigt -- seid Ihr schon zu
Bett? -- Aufgemacht! -- Droben im Dorfe ist der blanke Satan wieder
los!«

Die kleine Thüre des Gefängnisses öffnete sich zu gleicher Zeit und das
bestürzte Gesicht des alten Voigt wurde drinnen sichtbar.

»Sehn Sie, wie ich Sie nicht umsonst gewarnt habe, Mamsell,« rief er mit
bitterer Angst im Ton, aber zu leisem Flüstern unterdrückter Stimme --
»jetzt nur fort und in meine Stube, sonst Gnade mir und Ihnen der liebe
Herr Gott.« Und ohne eine weitere Antwort des armen Kindes abzuwarten,
ergriff er ihren Arm und zog sie rasch durch die geöffnete Thür nach
seiner Stube hinüber.

»Aber was wird aus _ihm_?« bat mit leisem Flehen die Jungfrau -- »wenn
er nur durch Euer Fenster --«

»Jetzt, wo die Gerichtsdiener vor dem Hause stehen?« zischte in
unbegrenztem Erstaunen der Greis -- »na, weiter fehlte mir gar Nichts.«

»Hallo da, Voigt!« schrie die piepige Stimme noch einmal draußen, und
ungeduldiger als vorher -- »was zum Teufel hast Du da drinn zu flüstern
und zu fispern -- aufgemacht -- der Herr Oberpostdirector kommt eben
die Treppe drüben herunter und der -- ich dächte, Du wüßtest das, wartet
nicht gern lang.«

»Fort -- fort -- jetzt ist's zu spät!« flüsterte der alte Voigt
und schob das zitternde Mädchen ohne Weiteres in seine Stube, deren
Schlüssel er abzog, drückte die Gefängnißthüre in's Schloß und öffnete
dann rasch den anderen Eingang.

Er stellte sich hier schlaftrunken, als ob er eben erst erwacht und von
seinem Lager aufgesprungen wäre, die Männer dort nahmen aber gar keine
weitere Notiz von ihm -- mit einigen kräftigen Flüchen, daß er sie so
lange hatte warten lassen, traten sie in den Gang, ließen sich, auf
Befehl des Herrn von Gaulitz selber, der in diesem Augenblicke ebenfalls
am äußeren Eingang erschien, die Gefängnißthüre öffnen, und führten
gleich darauf den Gefangenen heraus an den Wagenschlag.

Wahlert warf hier den Blick im Kreis herum, und der warnenden Worte des
holden Pastorkindes gedenkend, schien er im ersten Moment gar nicht übel
Lust zu haben, einen Versuch zu machen, ob er nicht das Freie gewinnen,
oder doch wenigstens die Leute aus dem Dorfe dadurch herbeiziehen
und vielleicht einen Aufruhr zu seinen Gunsten anfachen könne, die
Gerichtsbeamten aber, die ihn umstanden, sahen zu entschlossen und
kräftig aus, um ihm auch nur die geringste Hoffnung auf günstigen Erfolg
zu geben -- das große Thor war dabei ebenfalls noch verschlossen, und
der dabei stehende Wächter harrte erst des Zeichens, es zu öffnen und
dem Wagen den Durchgang zu gestatten, während in das kleinere eben
mehrere Ackerknechte hereinkamen und ihm auch da die Flucht abschnitten.

Rasch trat er da zum Schlag und hob den einen Fuß, um hineinzusteigen --
nur noch einmal wandte er den Kopf und frug den Oberpostdirector, der in
diesem Augenblicke dicht neben ihm stand:

»Und wo führen Sie mich hin?«

»Werdet's schon noch zeitig genug erfahren!« lautete aber die barsche
Antwort, die beiden Gerichtsdiener schoben ihn in den Wagen und sprangen
selbst nach, der Schlag flog zu, der Kutscher, der schon oben auf
dem Bocke saß, knallte mit der Peitsche -- auf knarrte das Thor, die
rüstigen Rosse zogen an und mit Windesschnelle rasselte die leichte
Karosse, von den kräftigen Thieren gezogen, über den Plan hinaus, den
Berg aufwärts.



Sechstes Kapitel.

Ein Republikaner.


Müllers Friede und Krautsch waren, wie schon früher erwähnt, nach der
Rauschenmühle gegangen, um dort den Aerger über die verlornen Hasen, wie
das fatale Gefühl gar bald vielleicht wegen Wilddiebstahls vor Gericht
geladen zu werden, in spirituosen Getränken zu ersäufen. Dort fanden
sie Gesellschaft genug, und auch solche, die gern mit ihnen in ein
und dasselbe Horn stieß; der wachsende Grimm, der dadurch immer
neue Nahrung, nirgends aber einen Widerstand fand, reizte die tollen
Burschen, von dem übermäßig genossenen Kartoffelbrandtwein kräftig
dabei unterstützt, zu immer größerem Uebermuth. Der Zorn, der Anfangs in
allgemeinem Fluchen und Schwören seinen Ausbruch gefunden, lenkte
sich in eine bestimmtere Bahn, und zwar gegen die Jäger und den
Rittergutsbesitzer. Der alte Holke war schon manchem von diesen
trotzigen Gesellen störend bei ungesetzlichem Forst- oder Wildfrevel in
den Weg getreten; kaum Einer befand sich hier, der nicht schon entweder
einmal vier oder sechs Wochen gesessen, oder schwere Strafe hatte zahlen
müssen, und als endlich Einer im wilden Rausch den Vorschlag machte,
noch einmal wie neulich, hinunter auf's Gut zu ziehn und den Herrn von
Gaulitz aufzufordern, seine beiden Jäger zu entlassen, stimmte die
Masse jubelnd ein, und man vereinigte sich nur noch darin, erst in
der Hornecker Schenke die Gleichgesinnten aufzufordern, sich ihnen
anzuschließen.

Etwa funfzehn junge Burschen marschirten solcher Art mit ihren Flaschen
in der Linken und großentheils tüchtigen Knitteln in der rechten Faust,
Horneck zu, und wurden hier mit Jubel von einer nicht geringen Zahl zu
jedem Exceß Bereiter empfangen. Diese, die noch immer den Anhang des
=Dr.= Levi bildeten, rückten den würdigen kleinen Mann denn auch ohne
Zögern vor's Quartier, und forderten ihn auf, noch einmal ihr Führer und
Sprecher zu sein. Der kleine Doctor mochte aber doch wohl ein Haar darin
gefunden haben, sich an die Spitze der Hornecker Bauern zu stellen --
Hornecker Fäuste hatten ihm wenigstens viel zu nachdrücklich zu verstehn
gegeben, was sie sich unter der _Freiheit_ dächten. Ueberdieß war auch
noch das Gerücht zu ihm gedrungen in Sockwitz liege Militair, und
er wollte es deshalb wahrscheinlich nicht darauf ankommen lassen,
vielleicht ebenfalls als Rädelsführer aufgegriffen und dahin abgeliefert
zu werden. »Die Aristokraten leisteten noch zu vielen Widerstand,
_Horneck war noch nicht reif für männliche That_,« und Levi's Fenster
blieb dunkel, seine Thüre verschlossen, als von unten herauf der laute
Ruf nach ihm an sein Ohr drang.

Längere Zeit stürmte und lärmte indeß die Menge vor dem kleinen Haus
und durch Neugierige vermehrt war die Schaar schon zu einem nicht
unbeträchtlichen Haufen angewachsen; diesem fehlte aber ein Führer,
Jemand, der die Ordnunglosen hätte leiten und zu einem bestimmten Ziel
hinführen können. Viele schrien eben nur, weil sie sich selber gern
wollten einmal schreien hören, Andere standen ganz erstaunt und
wunderten sich, daß noch immer kein Gerichtsdiener kam, der sie sammt
und sonders einsteckte, und befanden sich dabei fortwährend auf dem
Sprung, um bei erstem Anzeichen irgend einer Gefahr ungesäumt ihr Heil
in der Flucht zu suchen. Auch in den benachbarten Straßen vertheilten
sich schon Einzelne und die drohende Fackel des Aufruhrs schien auch
dießmal für Horneck ruhig und unschädlich verlöschen zu sollen.

       *       *       *       *       *

Als Marie die Pfarre verlassen hatte, kehrte sie in die kleine enge
Wohnung zurück, die ihr Vater für sie Beide der Ersparniß wegen in
Horneck gemiethet hatte -- aber auch hier litt es sie nicht lange --
draußen, draußen entschied sich jetzt das Schicksal eines Mannes, an
dem ihr Herz mit all seinen geheimsten und innersten Fasern hing, und
draußen mußte sie sein, sollte sie nicht hier in den eng umschlossenen
Räumen vor Qual und innerer Seelenangst vergehen. Aber auch nicht oben
im Dorfe ließ es ihr Ruhe; mit der Dämmerung schlich sie wieder hinunter
zum Hof und wußte sich endlich in dem Wagenschuppen, hinter dort
aufgeschichteten Reisigbündeln zu verbergen, von wo aus sie das dicht
vor ihr liegende Gefängniß wie die Thüre des Herrnhauses zugleich und
vollkommen übersehen konnte.

Von dort aus erkannte sie des Pastors Tochter, die im dunkeln Gewande in
die Thür des Gefängnisses schlüpfte; von Gefühlen gefoltert, die ihr das
Blut in rasender entsetzlicher Schnelle durch die Adern jagten, harrte
sie in ihrem Versteck der Rückkunft des Mädchens, der Rettung des
Gefangenen -- ihr war auch der helle Schein nicht entgangen, der, wenn
auch nur für einen Augenblick, den inneren Steinfries des begitterten
Fensters erhellte -- die Minuten wurden ihr zu langsam hinschwindenden
Stunden und immer noch zögerten die Unseligen -- zögerten, wo der
nächste Moment ihr Verderben besiegeln konnte.

Da -- heiliger Gott wie ihr das Herz schlug vor Angst und Schrecken, da
rollte die leichte Kutsche des Herrn von Gaulitz, durch des Stellmachers
Gesellen geschoben, in den Hof -- hinten aus dem Stallgebäude wurden die
Pferde vorgeführt, um eingespannt zu werden -- Gerichtsdiener erschienen
-- an dem Herrenhaus blieben sie kurze Zeit plaudernd stehn -- _noch_
war es möglich -- wenn er jetzt herauskam und im Schatten des Gebäudes
-- gerad' an dem Schuppen vorbei, hingeschlichen wäre, hätte er das Thor
erreichen können, ehe man ihn vermißte und einmal im Freien brauchte er
nicht zu fürchten in der Nacht eingeholt zu werden. -- Jetzt gingen
die Männer auf die Gefängnißthüre zu -- ha -- ein dunkler Schatten
-- Heiland der Welt es war zu spät -- jener Schatten gehörte der
schleichenden tückischen Gestalt des jungen Poller -- dem feilen
Werkzeug des zu Allem fähigen Gutsherrn -- er pochte an die Thüre, und
das Schicksal Wahlerts war entschieden.

»Zu spät,« stöhnte sie, und barg einen Augenblick das Antlitz in den
Händen, dann aber, wie von einem jähen Gedanken durchzuckt, fuhr sie
empor, glitt aus ihrem Versteck hervor, warf noch einen scheuen Blick
nach der Gruppe zurück, die jetzt die Thüre, hinter welcher Wahlert
gefangen saß, fast umzingelt hielt, und floh raschen Laufes in das Dorf
hinauf und der Stelle zu, von woher noch immer einzelne Laute der durch
die Straße lärmenden Schaar zu ihr hernieder tönten.

Die Straße, in der Doctor Levi wohnte, kam eben ein Schwarm jubelnd
und »ein freies Leben führen wir« singend herunter -- an der Spitze war
Krautsch und Müllers Gottfried -- Beide angetrunken und Beide wieder im
Begriff, zur Schenke zurück zu ziehen, und sich dort bei einem »frischen
Glas« zu bereden, was jetzt weiter zu thun sei.

Diesen trat Marie mit den bleichen erregten Zügen in den Weg, und
des vor der ungewöhnlichen Erscheinung zurückschreckenden Müllers Arm
ergreifend, rief sie ihnen mit strenger befehlender Stimme zu:

»Seid Ihr _Männer_, daß Ihr Einen, der nur gelebt hat, um Euer Wohl zu
sichern, aus Eurer Mitte heraus den Henkersknechten überliefern laßt?
-- Unten aus dem Schloßhof wird in diesem Augenblick der Gefangene
im verschlossenen Wagen fortgeschafft, um einem Militaircommando in
Sockwitz überliefert zu werden -- kein Verbrechen hat er begangen,
als daß er den Arbeiter und den gedrückten Proletarier vertrat, kein
Verbrechen als das, ein Feind der Faulenzer in den Städten und der
Fürsten auf ihren schimmernden Thronen sich genannt zu haben, und wenige
Knechte der Polizei können ihn heraus holen, selbst aus Eurer Mitte.«

»Es ist schändlich -- es ist niederträchtig!« schallte von mehreren
Lippen der Marien jetzt Umdrängenden -- »das sollte man nicht leiden!«

»Nein,« sagte der Müller mit lallender Zunge -- »Hol mich der Deibel,
ich wollte ich hätte die Kerle hier.«

»Nachens wullen mer nunger!« fiel da Krautsch mit Autorität in die Rede
-- »un da soll 'en der Bese das Licht haalen.«

»Nachher ist es _zu spät_ --« bat Marie mit flehender Stimme -- »nur
wenige Secunden noch, und der Wagen passirt jene Straße dort, der
einzige Platz, wo Ihr im Stande wäret ihn aufzuhalten -- _den_
Augenblick versäumt, und Ihr selber habt den gemordet, der Euer einziger
Retter sein könnte.«

»Eenzige Retter?« knurrte Krautsch, und wollte das Mädchen bei Seite
drängen -- »wird nich gleich in's Gras beißen -- weg da Mamsell -- jetzt
missen mer erscht in die Schänke, un sähn wie mer Holkens Fritze fangen
-- där Hund is der erschte, der dran glooben muß -- Gott verdamm' mich.«

»Ja -- den Jäger müssen mer haben,« bestätigten ein paar Andere --
»uffhängen wullen mern -- un hernachens sull er die Flinte widder 'raus
gäben, die er Krautschen abgenommen hat.«

»Der Jäger Fritz?« rief Marie, und ein glücklicher Gedanke schoß ihr
durch's Hirn -- »_der_ ist im Wagen mit dem Gefangenen -- der soll ihn
gerade Euren Feinden überliefern -- beim ewigen Gott! dort kommt er
schon die Straße herauf -- rasch, oder er entgeht Euch und Eurer Rache.«

»Der Jäger in _der_ Kutsche dringe?« schrien die Bauern, und schauten
nach dem ziemlich langsam den gerade hier etwas steilen Weg herauf
kommenden Fuhrwerk.

»Den soll a Gäwitter verschlahn!« rief Krautsch, und schwang seinen
riesigen Prügel -- »hurrah!« und ohne eine weitere Antwort abzuwarten,
ja ohne nur nachzusehen, ob ihm die Uebrigen seiner Begleiter folgten,
warf er sich in trunkenem tollkühnen Muthe dem Wagen entgegen, und fiel
mit lautem und gellenden Jubelgeschrei den Pferden in die Zügel. --
Die Uebrigen stürmten jetzt auch heran, und die Pferde, scheu gemacht,
schreckten zurück; dadurch wurde aber der Wagen seitwärts abgeschoben,
die linken Räder kamen auf höheren Boden als die rechten standen, und
die Kutsche, die sich einige Secunden auf den ersten balancirte, schlug
dermaßen um, daß sie im Anfange förmlich auf die Decke zu stehen kam,
und nur erst, als die Federn der einen Seite zusammenbrachen, wieder
zurück auf die Flanke fiel.

Die Schaar, durch das plötzliche Gelingen dieser ersten Gewaltthat
noch mehr gereizt, und durch den, von wilder Rachlust beseelten Bauer
angefeuert, warf sich jetzt mit Blitzesschnelle auf den Kutschenschlag,
und riß die darin Befindlichen hervor.

Armer Fritz, wie wäre es Dir ergangen, hätten Dich Deine trunkenen
Feinde in diesem Augenblick in ihre Gewalt bekommen -- wer weiß, zu
welcher rohen Gewaltthat die Rotte reif gewesen, denn der Bauer hat sich
bis jetzt und bei solchen Gelegenheiten, was auch sonst sein Charakter
seien mochte, fast stets wilder noch als die reißende Bestie des Waldes
gezeigt. Hier aber sollte ihnen keine Gelegenheit geboten werden, ihre
Wuth wenigstens an dem ersehenen Opfer auszulassen; Fritz war schon vor
Dunkelwerden und gleich nach der Anzeige der ertappten Wilddiebe mit
seinem Vater über die Rausche zurückgefahren, und nur zwei bleiche, zum
Tod erschreckte, und durch den Sturz halb betäubte Gerichtsdiener zogen
sie aus dem aufgerissenen Wagenschlag heraus.

Während aber nun der eine Theil der Aufrührer den befreiten Wahlert
umtobte, und ihm zujauchzte und jubelte, suchten die anderen noch in
voller Wuth nach dem Jäger, den ihnen der Fremden List versprochen
hatte -- und die einmal zur Gewaltthat Getriebenen wären auch jetzt fast
weiter gegangen, denn ein Opfer, schien es, wollten sie haben, und die
Mißhandlung der unglücklichen Diener der Gerechtigkeit, die ihnen gerade
in die Hände gefallen, wäre kaum genügend gewesen.

»Auf's Schloß hinunger!« rief da eine Stimme -- »da stäckt der Jiager --
brännt dem Lump der Härrschaft doch das ganze Näst iberm Schädel ab!«

»Auf's Schloß, auf's Schloß!« tobten die Rasenden, und wilde Drohungen
und Schmähreden über die Wortbrüchigkeit des Gutsherrn, über den Druck
unter dem sie geschmachtet, über Jäger und Beamte wurden laut -- nach
Bränden schrie ein Theil, nach Brechstangen und Aexten ein anderer;
aus den nächsten Häusern wurden schon die verlangten Werkzeuge
herbeigeschleppt, und die wüthende Schaar wälzte sich langsam, aber mit
jedem Schritt anwachsend, und mit dem lauten Gebrüll »_die Republik soll
leben_!« den Hügel hinunter und dem Schlosse zu.

Um den Befreiten hatte man sich nach dem ersten Jubelruf kaum noch
mehr gekümmert, und dieser fühlte sich jetzt von einer weiblichen Hand
ergriffen, die ihn mitten aus dem Gedränge heraus auf die Seite zog.

»Eilen Sie in die Stadt!« sprach dabei eine Stimme, vor der er wie von
einem jähen Schlag getroffen zusammenzuckte -- »noch steht der alte
Staat, aber das Volk ist in Gährung, nur an einem Kopfe fehlt es zu
klugen Rathschlägen, nur an einem Arme, das Banner der Freiheit voran
in die Reihen der Feinde zu tragen. Heute Nachmittag erst ist wieder
ein Bote aus der Stadt zurückgekehrt -- auf allen Lippen ist dort
_Ihr_ Name, ein neues Ministerium zu bilden und das Reich zu retten vor
Untergang und Verderben -- fort, in Ihren Händen liegt jetzt das Wohl
des Landes -- treten Sie dort frei und unerschrocken auf, und Ihre
Feinde, die jetzt noch mächtig sind, sinken in den Staub. -- Wirken Sie
wie bisher für die Armen, und das Volk wird Sie segnen!«

»_Marie_« -- sagte Wahlert mit tiefer schmerzlicher Rührung im Ton,
und wandte leise das bleiche leidende Angesicht des Mädchens gegen den
hellen Sternenschein -- »Du _hier_ und -- also? -- Meine arme Marie.«

Des alten Musikanten Tochter zitterte an allen Gliedern, auf einen
Augenblick stand sie wie unschlüssig zögernd, dann aber rief sie, rasch
sich sammelnd, »fort, fort!« -- und wandte das Angesicht wieder ab von
dem verrätherischen Schein -- »die Rasenden stürmen unten das Schloß,
und Ihr Name darf nicht mit der Mitwissenschaft dieses Frevels befleckt
sein -- vielleicht wäre es sogar noch möglich, sie zurück zu halten -- o
eilen Sie, eilen Sie um Ihret- -- um -- Sophiens willen.«

»Sophie? -- Ha -- wie kommt der Name auf Deine Lippen?« frug Wahlert
mehr erstaunt als erschreckt.

»Sie ist unten im Schloß!« sagte eintönig Marie.

»Die Hand der Bauern wird sich nicht gegen ihres Pastors Tochter
erheben,« rief Wahlert rasch, »aber wie dem auch sei, Du hast recht,
das Entsetzliche darf nicht geschehen, nicht Mord noch Brand die Bahn
bezeichnen, die der Freiheit Spuren hinterlassen. -- Dank Dir für den
Wink, und auf jetzt, einem freien herrlichen Ziel entgegen.«

Mit flüchtigen Sätzen flog er den Hügel hinab der Stelle zu, von wo
wüstes Toben und Geschrei zu ihm herüberdrang, und eben im günstigen
Augenblick kam er, um die entfesselte Wuth der Rasenden zu zähmen, die
sich im wilden Ansturm über den friedlichen Hof ergießen wollte.
Das Schloß des Thores war gesprengt, und mit lautem Jubelruf schwang
Krautsch, der Führer der Schaar eine gewichtige Brechstange um das
bloße, von wirrem struppigen Haar umflatterte Haupt, als Wahlerts
Riesenstimme, die mit dem kräftigen Wohlklange ihres Organs den
leisesten Schall seiner Worte schon über Tausende von gespannten
Zuhörern hingesandt, sein dröhnendes »_Halt_« zwischen die Massen
donnerte.

Wie von einem Zauber gebannt blieben sie stehen, und aller Blicke
wandten sich der kühnen edlen Gestalt zu, die sich rasch auf die niedere
Mauer des dicht an das Schloß stoßenden Obstgartens schwang.

»Zurück, Ihr Männer von Horneck!« rief der Mann, und sein Arm streckte
sich aus über die lautlos zu ihm aufschauende Rotte -- »zurück! -- wollt
Ihr Mord und Verwüstung tragen in ein friedliches Haus, und die Kraft
die Euch gegeben ward zum ersten Mal, wo Ihr sie fühlt in Eurem Arm,
nicht nützen, sondern gleich mit schmachvoller That _entweihen_? Der
Republik bringt Ihr ein freudiges Hoch, und während das Wort über die
Lippe klingt, schändet Eure Hand den Namen, den der Lufthauch noch
nicht entführt. Heilig sei Euch das Eigenthum -- gegen den Arm, der das
Schwert wider Euch geführt, nicht wider das Schwert selber braucht Eure
Kraft -- die Wurzel reißt aus dem Boden, die jene giftigen Schößlinge
getrieben, nicht die Schößlinge schneidet ab, denn mit jedem Frühling
würden ihr neue entwuchern. Fest zusammen steht wie _ein_ Mann, wie
_ein_ Herz, aber macht nicht wahr was Eure Feinde von Euch sagen,
daß gerade Ihr es wäret, die unter Republik und Freiheit nur Mord und
Plünderung verständen, daß gerade Ihr es wäret, die, blind und taub
gegen jedes ruhige Wort, nur dem wie wild gewordenen Stiere folgten,
der Euch zu roher gesetzloser That den blutigen Feuerbrand voraus
trüge. Macht zu Schanden die Lügen und Verläumdungen, die jene heimlich
bohrende Reaction gegen Euch ersonnen und ausgestreut, daß Ihr nicht
reif wäret, ein freies Volk zu sein, nicht reif zu menschlichen Rechten
und Gerechtsamen, nicht reif zu selbstständigem Handeln und Regieren --
machet die Lügen zu Schanden, Ihr bedürftet einer strengen starken Hand,
die Euch den Zügel fest und eisern im Gebiß erhielte, wenn Ihr nicht,
wie das ungebändigte Roß, toll und rücksichtslos über die Felder toben
und Saat und Erndte in den Boden hineinstampfen und verwüsten solltet.«

»Zeigt, daß Ihr wirkliche Republikaner seid -- stellt jenen schmähenden
Lügenzungen den kalten besonnenen Mannes-Ernst und Stolz entgegen, aber
weicht auch zurück vor einer That, die Euern Namen mit Schmach bedecken
und Euere Feinde triumphiren lassen würde -- gönnt ihnen die Freude
nicht, Euch schwach gesehen zu haben, gebt ihnen nicht die Waffen gegen
Euch selbst, durch solche That in die Hände. Verachtung dem, der Euch
bisher in starrem Joch gehalten -- Verachtung dem, der bisher sich nicht
entblödete, der Henkersknecht eines schurkischen Systems zu sein, das
nur, wie ein künstliches Maschinenwerk, die Kraft des Einzelnen
nicht aufkommen ließ, und ihn, hob er sich dennoch, unter die tausend
geschäftigen, wirbelnden, schwirrenden Räder warf -- aber dorthin die
Stirn gerichtet, dorthin die Lanzen eingelegt, dorthin den Geist und
Arm gestählt zu freiem Wort und freierer That, wo die Hand ruht, die
bis jetzt den Mechanismus dieser furchtbaren Räder gelenkt -- gegen
die Wurzel den Streich geführt, und kommt dann die Zeit, wo Deutschland
Eueres Armes bedarf, dann Freunde, dann Brüder heran zum fröhlichen
Siegeslied, zum schönen Waffentanz, und gebe dann Gott, daß er mir
erlaubt, Euch, Mitbürger unseres schönen herrlichen Vaterlandes, das
schwarz-roth-goldene Banner in luftigem Windeswehen und vom scharfen
Stahl geschützt, voran zu tragen.«

»Zu Hause jetzt mit Euch, ihr Leute, zu Hause, und bald, bald hoff' ich,
grüßen wir uns wieder im freien _einigen_ Reich.«

Ein laut donnernder stürmischer Beifallsruf folgte den Worten des
Redners, und zu ihm hin drängte die Menge nach der Mauer hinüber,
dem aber wollte er entgehen. Rasch sprang er hier herunter und wollte
unbemerkt an den Gartenmauern und Häusern in das Dorf hinein schlüpfen,
um von da aus die große, nach der Residenz führende Hauptstraße zu
erreichen, als ein kleiner Bursche seinen Arm ergriff und ihm zuwinkte,
seitab durch die Obstbäume, die den schmalen Weg begrenzten, zu folgen.
Da die Richtung ungefähr die rechte war, säumte er auch nicht, und
befand sich bald auf einem Fußweg, der ihn durch eine hier an das Dorf
stoßende kleine Lichtung nach wenigen hundert Schritten schon auf die
weiß in die Dunkelheit hinein schimmernde Chaussee brachte.

Dort an einem Kirschbaum stand ein ungesatteltes Pferd angebunden,
weiter aber war Niemand zu sehen, und der kleine Junge sagte lachend:

»So -- nu setzt üch uff, un immer grad naus, un denn kennt är nich
fählen.«

»Aber wem ist das Pferd?« frug Wahlert erstaunt.

»S'is vun der Herrschaft,« kicherte der Kleine, »aber das macht nischt;
wenn er an's Thor kimmt, läßt er'n Rappen widder loofen un vor Morgen is
der lange im Stall.«

Es war augenscheinlich eines der Pferde, die ihn seinem Kerker hatten
entgegenführen sollen, und jetzt stand es hier, bestimmt, ihn zu
Freiheit und Ehre zu tragen -- der Wechsel schien überraschend und
Wahlert konnte, besonders nach der letzten Versicherung des Knaben,
daß das Pferd seinem Eigenthümer keinesfalls verloren gehen würde, der
Versuchung nicht widerstehen. Als ein gewandter Reiter schwang er
sich rasch auf des geduldigen Thieres Rücken, dem Knaben ein kleines
Geldstück zuwerfend, drückte er seinem Gaul die Schenkel in die Flanken,
und fort klapperten in luftiger Schnelle über die harte stubengleiche
Chaussee die Hufe des munteren Renners, als er den kühnen nächtlichen
Reiter seinem Ziele entgegentrug.

In Horneck verlief sich indessen die Menge nicht sogleich, als es nach
dem ersten Eindruck der Rede wohl den Anschein hatte; die Gemüther
waren zu erregt, um sobald in das alte Bett ruhigen Gleichmuths
zurückzukehren; aber der unbändige Zorn, der ihren Geist noch vor
wenigen Minuten zu wilder, gefährlicher That getrieben, war beschworen
-- der Ruf an ihr Ehrgefühl hatte seine segensreiche Wirkung nicht
verfehlt. Aber Luft mußte die Stimmung haben, Luft auf eine oder die
andere Art -- war's nicht im Bösen, so doch im Guten, und Krautsch
selbst, dem der starke Trank jetzt mehr und mehr den Sinn verwirrte,
brachte das erste gemüthliche Lebehoch auf Herrn von Gaulitz aus.

Einmal im Zug und die Bahn schien leicht gefunden -- an demselben Abend
bekamen noch -- zu seinem nicht geringen Schrecken -- der Pastor, der
Schulze, der Wirth und die mißhandelten Flurschützen, die man in ihre
Wohnungen geschafft hatte, jeder eine unbestimmte Anzahl von Vivats, ja
selbst auf die Jäger hätte sich dieses Wohlwollen ausgedehnt; das Haus
derselben lag aber leider am anderen Ufer der Rausche und der Fluß
selbst zu weit von der Schenke ab, nach der sich die jetzt vollkommen
harmlose Schaar in später Nachtstunde noch zurückzog, dort einen
sogenannten »Schlaftrunk« nahm, und dann, höchst zufrieden mit dem
genossenen Abend, die eigene Heimath -- so gut das eben ging --
aufsuchte.



Siebentes Kapitel.

Wie es in Horneck aussah.


Acht Monate waren seit den, im letzten Kapitel berührten Umständen
verflossen; in Deutschland hatte es in loderndem Freiheitsmuth gekocht
und gegährt, und an allen Orten und Enden waren die züngelnden Flammen
vorgebrochen. An allen Orten und Enden standen aber jetzt auch die
Fürsten wieder bereit, die für das ganze so morsche, und doch noch
nicht zusammengebrochene Staatsgebäude schon kaum mehr gefährliche
Feuersbrunst, wo sie sich nur zeigen würde, mit vollen kältenden
Wasserfluthen zu empfangen und zu unterdrücken. -- _Die_ Gluth, welche,
auf einen Punkt concentrirt eine Welt hätte zusammenschmettern müssen,
knisterte und knatterte jetzt in nutzlosen Sprühteufeln und Raketen
zwischen den Füßen der lächelnd zuschauenden Potentaten herum und die
Revolution lag, wie ein verwundeter Leu -- furchtbar noch in ihrem
Tod und der Erinnerung an die Kraft, die einst diesen jetzt machtlosen
Körper belebt, mit ausquellenden Adern sterbend am Boden.

Sterbend? -- und tagte nicht noch in Frankfurt am Main das deutsche
Parlament? -- saßen nicht dort noch die Männer des Volks, die eben aus
der Revolution hervorgegangenen Vertreter des deutschen Vaterlandes
zusammen, und schmiedeten sie nicht noch rüstig fort an den künftigen
deutschen Rechten eines einigen Reiches?

Ja, die _Vertreter_ des Volkes saßen noch zusammen, und der Sturm und
Kanonendonner von Wien, und die tausend und tausend blinkenden Bayonette
Berlins waren nicht im Stande gewesen einen direkten Einfluß auf den
ruhigen Geist einer Versammlung zu üben, die den besten Saft und Mark
von Deutschlands treusten Herzen in sich schloß, wo aber war das Volk
selber, das einige deutsche Volk, das seine Gesandten nach der alten
Reichsstadt geschickt hatte und aus ihren Händen ihr künftiges Heil
erwartete? Von ehrgeizigen tollen Hitzköpfen an allen Orten erregt und
aufgewühlt, riß es auf der einen Seite nieder, während auf der anderen
gebaut wurde. Gewissenlose Menschen, meist in Verhältnissen lebend, in
denen sie, bei einem Umsturz alles Bestehenden, nie etwas verlieren und
immer nur gewinnen konnten; herumziehende politische Comödianten, die
von Stadt zu Stadt reisten und in Volksversammlungen -- und Gott weiß
es, was Alles unter _Volks_versammlungen verstanden wird -- die Jugend
mit ihren tausend und tausendmal wiederholten und wiedergekäuten Phrasen
aufreizten, Subjekte, die »im Großen nichts verrichten konnten und es
nun im Kleinen anfingen,« machten die so heiß von Deutschland ersehnte
und endlich so herrlich realisirte Hoffnung des deutschen Parlamentes
zum Kinderspott. Kaum sahen sie ihre aus der Majorität der Wähler
hervorgegangenen Gesandten eingesetzt, als sie in machtlosem Ingrimm,
nicht selber mit da oben tagen zu können, an dem Gebäude zu rütteln
anfingen, das erst eben errichtet worden. Anstatt jetzt wie _ein_
Mann zusammenzustehn und den Beschluß der Männer, die das Wohl des
Vaterlandes nach besten Kräften berathen sollten, mit ihren eigenen
Leibern zu schützen, wenn etwa die Reaction sich gegen die, schon durch
diese Wahl bewiesene Souverainetät des Volkes auflehnen sollte, damit
die Vertreter der Nation auch Vertrauen faßten zur deutschen Stärke
und Einigkeit, wiegelten sie die rohe ungebildete Masse gegen sie auf,
verdächtigten ihre Beschlüsse, oft noch ehe sie ausgesprochen worden,
reizten zu Mistrauensadressen, die von Leuten mit unterschrieben wurden,
denen es bis jetzt noch nicht einmal klar geworden, was eigentlich
die Männer in Frankfurt sollten, riefen, das Werk überstürzend, die
Gleichgesinnten zu einem neuen Parlamente auf, säten also Haß und
Unfrieden und verlangten Heil und Segen davon zu erndten.

War es den in ihren Grundvesten schon erschütterten Thronen da zu
verdenken, daß sie, in der Uneinigkeit der Völker die eigene Macht
wieder zu befestigen suchten? und wurden ihnen nicht gerade von den
blind und wahnsinnig sich überstürzenden Demokraten die schon fast
verlorenen Zügel selber, ja ohne nöthigen Versuch einer Reaction, wieder
in die Hand gedrückt?

Die wenigen ehrgeizigen gewissenlosen oder auch blinden Menschen,
die entweder nicht sehen wollten, daß Deutschland noch nicht reif zur
Selbstregierung sei, und daß es an intellektuellen Kräften fehle, das
Ruder einer Republik fest und sicher durch den Sturm der bewegten Zeiten
zu führen, oder die selbst verblendet genug waren, sich für fähig
zu halten, das siegestrunkene, aber unselbstständige Staatsschiff zu
leiten, oder die endlich, welche wirklich mit treuem und ehrlichem
Herzen für eine große deutsche Republik geschwärmt, und in all ihrem
Dichten und Träumen nur nicht bedacht hatten, daß man zu einer Republik
auch Republikaner bedürfe, reizten das Volk, das unter Selbstregierung
nur Freiheit von Steuern und Gesetzen verstand, zu wilden und durch
Worte nicht mehr zu bändigenden Schritten an. In Versammlungen, wo die
gewöhnlichen und alltäglichen Phrasen ihnen nicht schmeichelten, sie
nicht freie und zu jeder Regierungsform reife Menschen nannten, wurde
jedes parlamentarische Gesetz mit Füßen getreten, die Freiheit der
Wahlen selbst durch Terrorismus beschränkt, den Abgeordneten der
Ständekammern, die frech genug waren nach eigenem besten Gewissen
handeln zu wollen, mit allem gedroht, was nur versprach, eine Wirkung
auf etwas zaghafte Gemüther auszuüben. Kurz ein so verworrener Zustand
trat ein, daß selbst ein großer Theil der früheren Freiheitsschwärmer,
wenigstens alle die, welche nur etwas kälteres Blut besaßen,
zurückschraken, wenn sie bedachten, daß sie mit diesen Horden _einen_
Weg gehen sollten, und die ungeheuere Zahl der ruhigen Bürger, die bis
dahin einem Fortschritt keineswegs abgeneigt gewesen, und sicherlich für
eine höchst liberale Vertretung ihrer selbst gestimmt hätten, plötzlich
in Todesangst gerade zum Extrem übergingen, um jetzt, da sie glaubten,
daß es noch eine Wahl für sie gäbe, lieber den alten, wenn auch faulen
Zustand zurückzuführen wünschten, ehe sie solche Menschen an der Spitze
einer nicht _Regierung_, sondern _Zerrüttung_ Deutschlands sähen.

Berlin war in Belagerungszustand erklärt und die Nationalversammlung
aufgelöst worden; vom Stephansthurm zu Wien flatterte die schwarzgelbe
Fahne und Fürst Windisch-Grätz durfte es wagen, sogar ein Mitglied der
für unverletzlich erklärten Nationalversammlung Frankfurt's hinzurichten
-- bedarf es eines weiteren Commentars, um den Zustand Deutschlands zu
schildern?

»Die Reaction hat für den Augenblick gesiegt und der neue Frühling
muß uns auch eine neue, aber blutigere Siegespalme bringen« riefen
zähneknirschend die Democraten, oder die, die sich Democraten nannten --
denn _der_ Name ist leider Gottes in letzter Zeit wahrhaft gemishandelt
worden. --

»Der Anarchie sind die Hände gebunden,« schmunzelten auf der
anderen Seite die platt gesichtigen schwänzelnden Hofmenschen, die
Speichellecker der Fürsten und sogenannten Großen -- »ein gesetzlicher
Zustand ist zurückgekehrt« -- und Adressen reichten sie ein an
die Generäle, die das Machtschwert in den Händen hielten, den
Belagerungszustand nur noch ja und um Gotteswillen ein wenig zu
verlängern, oder wenn es anginge, viel zu verlängern -- vielleicht --
o süßer Gedanke -- ihn ganz fortbestehen zu lassen -- o wie wohl sich
dieses knechtische Geschmeiß unter dem Schutze der Kanonen fühlte.

Und der jungen Freiheit wurden indessen die Flügel beschnitten, Presse
und Vereinsrecht beschränkt und die wenigen Errungenschaften des
Frühlings verkümmert und gekürzt; das Volk aber wüthete indessen gegen
sich selbst und brach seine Kraft in unnützem schimpflichen Streit und
Unfrieden.

So stand es in Deutschland -- aber auch in Horneck, der kleinen, in
mancher Hinsicht für sich abgeschlossenen Welt, hatte sich Vieles
verändert. »Was seine äußere politische Gestaltung nämlich betraf, so
war auch Horneck,« wie der Pastor nämlich mit wohlwollendem Lächeln
meinte, »in höchst merkwürdiger Weise mit der Zeit fortgeschritten,«
und diese »würdige Weise« bestand denn auch allerdings in _einer_
»Errungenschaft« -- die sie aber gern schon wieder los gewesen wären und
diversen anderen »Versprochenschaften«, nach einem neueren, durch die
Zeit gebornen Ausdruck.

Die Errungenschaft war der Communalgardendienst, denn nach den
verschiedenen tumultuarischen Auftritten vor dem Schlosse, ja besonders
der gewaltsamen Befreiung des Gefangenen wegen, hatte Herr von Gaulitz
der Gemeinde angezeigt, daß er, »zum Schutz des Eigenthums« Militair
requiriren werde. Dagegen war aber Doctor Levi mit aller Kraft seiner
lispelnden Beredtsamkeit aufgetreten -- der Schrei »Volksbewaffnung«
ging damals durch das Land, und »Volksbewaffnung« mußte auch den
Bewohnern von Horneck werden -- es war das ein _Recht_, was sie zu
_fodern_, keine Gunst, die sie zu erbitten hatten, und Militair --
verweigerte das Dorf.

Die Rede gefiel den Bauern ungemein, denen an der Einquartierung
aus mehr als einem Grunde gar nichts gelegen war, sie foderten
Volksbewaffnung und erhielten sie mit der Vorausbedingung, »daß sie dann
auch für die Ruhe des Ortes haften müßten«, was, wie die Bauern meinten,
sich von selbst verstände.

Doctor Levi meinte aber gerade das Gegentheil, für die Ruhe eines Ortes
könne keine Gemeinde haften, denn man wisse gar nicht, was jeder Tag
für neue Ereignisse gebären möge, die gerade Unruhe im wahren Sinne des
Wortes verlangten, und da sei ein solch' gegebenes Versprechen nachher
etwas sehr Unpolitisches. So schön er aber auch diese seine Ansicht
motivirte, so blieb er doch damit in einer höchst bedeutenden Minorität
und die Bürgerwehr wurde in Horneck, dem Grundsatze nach, daß alle
Bürger im Staate einander gleich, also auch gleich berechtigt seien zum
Besten und Schutz ihres Vaterlandes Waffen zu tragen, organisirt. Um
übrigens wahrscheinlich den Grundsatz der Gleichheit besser ausführen
zu können, theilte sich die kleine Gemeinde, die ohnedies kaum _eine_
ordentliche und vollzählige Compagnie stellen konnte, in _zwei_, weil
die _Bauern_ und _Häusler_ (solche, die kein Bauerngut haben, sondern
nur, gewöhnlich vom Gut gepachtet, ein Haus bewohnen) doch unmöglich
Seite an Seite in Reih und Glied stehen konnten. Es machte sich dabei
wie zufällig, daß die Bauern, die »mit vieren fuhren«, den ersten,
die hingegen, die nur mit zwei Pferden fahren konnten, den zweiten Zug
bildeten, die Offiziersstellen bekamen natürlich solche anvertraut, die,
wenn sie das Commando auch noch nicht verstanden, doch angesehene Leute
im Dorfe waren, und ihrer Compagnie keine Schande machten. Sie hätten
wohl einen unter sich gehabt, der sich zum Hauptmann ganz vortrefflich
geeignet hätte, es war das ein alter gedienter Soldat, der die Feldzüge
von Dreizehn als Corporal mitgemacht, und das Commando aus dem Grunde
verstand, das war aber leider ein ganz armer Schlucker, der keine Hufe
Landes besaß, und deshalb mußte allerdings von ihm abgesehen werden.

Doctor Levi hatte übrigens später Horneck verlassen, um dem
Demokratencongreß in Berlin beizuwohnen, war aber vorher noch nach Wien
gegangen, und dort im Belagerungszustand verschollen, wenigstens drang
keine Kunde von ihm nach Horneck.

Den Verlust hätten die Hornecker nun allerdings verschmerzen können, ein
weit schmerzlicherer stand ihnen aber in der Versetzung ihres Diaconus
bevor, dem Pastor Scheidler, aus »Wohlwollen für den Diaconus«, wie er
selber sagte, eigentlich aber wohl aus einem anderen Grunde, eine kleine
Pfarre in einem ganz abgelegenen Winkel des Rauschenthales verschafft
hatte. Der Diaconus war nämlich, um die Sache gleich beim rechten Ende
anzufassen, für die Bauern in Horneck ein klein bischen zu gescheut,
und -- denn das allein wäre kein Fehler gewesen, wenn er es nur gut
zu benutzen verstand -- als Hauptmißgriff zu _offen_ mit den Leuten.
»Denken Sie sich nur, Herr von Gaulitz,« hatte der durch solche
Unvorsichtigkeit auf's Höchste bestürzte Geistliche einst zum
Gutsbesitzer gesagt, »der Mensch (er meinte den Diaconus) kommt neulich
mit einigen Bauern zusammen, die fragen ihn, nach ihrer albernen Weise
>auf's Gewissen<, was es mit der Trennung der Schule von der Kirche für
eine Bewandtniß habe, und ob es wahr sei, daß die Kinder dann gar
keinen Religionsunterricht mehr kriegten und »so« aufwüchsen, und
der Leichtsinnige redet ihnen das nicht allein gänzlich aus, sondern
vertheidigt auch noch die Trennung -- ja was sage ich Trennung -- das
Auseinanderreißen der beiden so innig verbundenen Institute -- ja Herr
von Gaulitz, versichert den holzköpfigen Bauern gar, daß ihre Kinder
dann eine bessere Erziehung bekommen würden, weil der Mann, der sie
lehrte, frei seinem eigenen Plane folgen könne, von den Kindern, wenn er
sich Achtung und Liebe zu verschaffen wüßte, auch wirklich geachtet und
geliebt würde, und nicht der untergeordnete Diener des Geistlichen, wie
das jetzt für den ganzen Stand eine wahre Schmach gewesen, mehr sei. --
Der Mensch ist wahnsinnig, denn er wüthet gegen das eigene Fleisch und
Blut.«

Der Herr von Gaulitz lächelte jedoch damals und erwiederte nur ruhig:

»Mein lieber Pastor, _derlei_ Sachen kennen wir besser; der Diaconus ist
jetzt noch ein sehr freisinniger, vielleicht ein für seinen Stand etwas
zu freisinniger Mann, aber das giebt sich, Herr Pastor, das giebt sich
-- nur ein halbes Jahr Pastor und die Saiten haben einen ganz anderen
Klang.«

Nach diesem Vorfalle versteht es sich übrigens von selbst, daß der
Pastor Scheidler aus allen Kräften dahin wirkte, den Diaconus, der ihm
auch die Zeitungen viel zu radical, ja nach seiner Meinung sich selbst
zum Republikanismus hinneigend, auslegte, aus Horneck fortzubringen.
Die geheimen Conduitenlisten, die er mehr als regelmäßig an das hohe
Consistorium einsandte, gaben ihm dazu die beste Gelegenheit. In der
aufgeregten Zeit, wo gerade das hohe Consistorium überhaupt, von jeder
Seite her den ersten Schlag erwartete, und fortwährend auf dem Sprunge
stand, sich in seine ursprünglichen Bestandtheile aufzulösen, gehörte
eben auch nur ein Wink, eine Andeutung dazu, um dessen guten Willen und
Hülfe im höchsten Grade zu erwerben, und der Diaconus fand sich bald,
allerdings als selbstständiger Pfarrer, aber auf einem so ärmlichen,
traurigen Winkelchen der Erde, daß es selbst seinen, gewiß bescheidenen
Erwartungen nicht entsprach und er einer geraumen Zeit bedurfte, sich
nur nothdürftig daran zu gewöhnen.

Eine andere in Horneck vorgefallene Aenderung aber, eine höchst
traurige, hatte in der Schule selbst stattgefunden, und zwar nicht für
die Schule, sondern für den armen, in ihrem Dienst ergrauten Lehrer
derselben, den alten Papa Kleinholz. Der Geist hätte in dem alten Manne
vielleicht noch mit den unbedeutenden Beschäftigungen, die ihm oblagen,
wie Buchstabiren und Lesen Schritt gehalten, aber der Körper, durch
Mangel und Noth geschwächt, von den dürftigen Kleidern nicht einmal
warm gehalten, und in der dunstigen Schulstube, die ihm zum steten
Aufenthalte dienen mußte, endlich ganz untergraben, hielt nicht mehr
aus.

Er wurde bettlägerig und so krank, daß durch die stete Transpiration des
Leidenden der Aufenthalt unten in der Schulstube selbst für die Kinder
unangenehm, ja sogar schädlich werden mußte, und Hennig sah endlich
kein anderes Mittel, als daß er selbst dem alten Manne sein kleines
Dachkämmerchen einräumte und hinunter in die dunstige Schulstube zog.
Zwar erholte sich Papa Kleinholz, wohl am meisten durch Lieschens
aufopfernde und unermüdliche Sorgfalt und Pflege, nach einiger Zeit in
etwas, so daß sein Zustand wenigstens nicht mehr als lebensgefährlich
gelten konnte, aber an Schulehalten war nicht zu denken -- der böse
Husten ließ ihn keine zehn Worte hinter einander sprechen; anstrengen
oder ärgern durfte er sich nun gar nicht -- und Schulmeister sein und
sich _nicht_ ärgern, zwei unmöglich von einander zu trennende Sachen!

Eine Weile ließ das der Pastor geschehen, und Hennig nahm sich mit so
warmem Eifer der Schule an, daß die Eltern nicht über Vernachlässigung
ihrer Kinder klagen durften, da die Arbeiten jetzt ganz auf _eines_
Lehrers Schultern ruhten, wo früher, wenn auch nur dem Namen nach, zwei
gewaltet und gelehrt hatten; nach einem halben Jahre aber durfte
der Geistliche, wie er meinte, dem hohen Consistorium nicht länger
verheimlichen, daß Vater Kleinholz unfähig geworden sei, dem schweren
Amt eines Schullehrers mit Erfolg vorzustehen, und deshalb -- o wie
dem alten armen Lehrer das Herz zuckte, als er das so lange gefürchtete
Schreckenswort ausgesprochen hörte -- _emeritirt_ werden müßte. --
Emeritirt, mit einem Dritttheil seines Gehalts und -- sieben Kindern --
acht Personen, unter denen sieben kräftig und gesund waren, und Tag
für Tag ihre richtigen Portionen Essen verlangten, wenn sie eben nicht
geradezu hungern sollten, von _fünfzig_ Thalern jährlich zu ernähren --
der Gedanke kam ihm furchtbar vor, und er barg das bleiche Haupt in den
spärlichen Kissen, und schluchzte wie ein kleines unglückseliges Kind.

»Das also ist Dein Lohn, Du armer alter Mann -- seit sieben und vierzig
Jahren hast Du Dich nach besten Kräften und Gewissen für die Kinder
abgearbeitet und gemüht -- bist Du nicht im Stande gewesen, das
zu leisten, was man von einem Manne, der die Jugend zu wackeren
selbstbewußten Staatsbürgern heranziehen sollte, vielleicht berechtigt
sein durfte zu erwarten, so kann nicht Dir die Schuld dafür beigemessen
werden, sondern denen, in deren Interesse es in früherer Zeit gelegen,
das Volk in Unwissenheit und Knechtschaft aufwachsen zu lassen, _Du_
thatest Dein Möglichstes, Du hast Dir Nichts, Nichts auf der weiten
Gotteswelt vorzuwerfen, Du hast Kummer und Noth die langen langen Jahre
hindurch, immer wachsend mit jedem neugeborenen Kind, und zu größter
Höhe anschwellend bei der Mutter Tod, ohne Murren, ohne ein einziges
hartes beschuldigendes Wort gegen die, welche den Gehalt der Lehrer
unter den eines Ackerknechtes stellten, ertragen und nur jetzt, jetzt,
da Deinem bleichen vom Kummer durchfurchteten Antlitz auch noch die
scharfe Dornenkrone des letzten Entsetzlichen in die Stirn gedrückt
wird, da bricht Dir der Schmerz das arme gequälte und zum Zerspringen
volle Herz und Du klagst nicht das Schicksal -- nicht die Tyrannei der
Menschen an, nein Du beklagst nur Dein und der Deinen Loos und bist
unsäglich elend.«

Hennig, der in des alten Mannes Stelle eingetreten war, that allerdings
was nur in seinen Kräften stand, um dessen Lage zu erleichtern, ja
überließ sogar dem alten Manne einen großen Theil dessen, was er selbst
mehr bekam, so wenig das auch immer sein mußte; er selbst hatte jetzt
aber auch mehr Auslagen, denn seine Kleider, die bis dahin ausgereicht,
wurden alt, und er mußte sich neue schaffen, da ihm der Pastor schon
mehr als einmal zu verstehen gegeben hatte, der Bauer halte etwas
darauf, daß sein Schulmeister einen anständigen Rock trage und seinem
Dorf keine Schande mache. Allerdings erwiederte er darauf, »wenn der
Bauer das will, weshalb giebt er denn auch nicht dem, der seine Kinder
zu ordentlichen rechtlichen Menschen heranbilden soll, so viel, daß
es ihm möglich ist, den Magen auch nur einen Tag über dem Rücken zu
vergessen?« Er änderte damit aber Nichts, und da ihm selber daran lag,
nicht gerade abgerissen in der Pfarre zu erscheinen, mußte er endlich
wohl in den saueren Apfel beißen, und sich in die für seine Casse
erschöpfende Auslage fügen. Nichts destoweniger ließ er den alten
greisen Schullehrer nicht hungern, das Verhältniß zwischen ihnen bestand
nach wie vor, und wären die theuren Medicinen nicht gewesen, so hätte
Hennig der wirklich Sohnesstelle am kranken Kleinholz vertrat, diesen
selbst durch die schwere Winterszeit glücklich durchgeschleppt, so aber
reichten selbst die vereinigten Kräfte Beider nicht aus -- des alten
Mannes karges Stückchen Gnadenbrod war schon auf ein Vierteljahr vorher
verzehrt, selbst Hennig einige Thaler in Schulden hineingerathen, und
der emeritirte Lehrer sah sich endlich, so ungern er das auch that,
dazu gezwungen, um eine Unterstützung, d. h. um eine Erhöhung seiner
sogenannten Pension einzukommen, wenn er nicht in Noth und Elend
vergehen wollte.

Er baute dabei seine feste unerschütterte Hoffnung auf den »Herrn Pastor
Scheidler« -- der hatte ihn ja früher oft und oft versichert, er werde
wenn er, der Schulmeister, später einmal nicht mehr so recht fort könne,
schon Alles thun was in seinen, des Herrn Pastors Scheidler, Kräften
läge, ihn zu unterstützen, und die Zeit war jetzt wirklich und in vollem
Maaße gekommen. Er konnte nicht allein nicht mehr recht fort, sondern
lag sogar ganz und gar, und gab es jemals eine Periode, wo er der
Unterstützung von Seiten des Geistlichen bedurfte, so schien das die
jetzige.

Er reichte deshalb sein Bittgesuch bei diesem ein, kroch selber, mehr
als er ging, auf die Pfarre hinüber, um die Bevorwortung desselben dem
Herrn Pastor noch einmal recht dringend an's Herz zu legen, und sank an
dem Abend, zwar erschöpfter als je, aber auch nicht wenig beruhigt von
dem gütigen Empfang und Wort seines Vorgesetzten, zum ersten Mal seit
langer Zeit wieder mit fast freudiger Hoffnung auf sein Lager nieder.

Was Hennig selbst betraf, so hatte er sich, besonders in letzterer Zeit
ungemein eifrig mit der neuen Gestaltung der Schule beschäftigt, und
Lieschen, die doch recht gut wußte, wie er Pastors Sophiechen so recht
aus innerster Seele liebe, konnte sich gar nicht genug darüber wundern,
daß der Schulmeister, wie Hennig jetzt, als in diese Würde eingetreten,
schlichtweg hieß, nur allem Anschein nach darauf los arbeitete, sich den
Vater seiner Liebsten zum ingrimmigsten Feind zu machen. Das war, das
allerwenigste gesagt, nicht im mindesten politisch von ihm, und er hätte
das seiner Liebsten schon nicht zu Leide thun dürfen.

In der That hatte Lieschen, von ihrem Standpunkt aus, vollkommen recht
und Hennig selber fühlte, wie er sich dadurch ein späteres Hinderniß mit
eigenen Händen aufbaue, ein anderes, weit gewaltigeres mußte aber erst
hinweggeräumt werden, und dann hoffte er auch dieses, als das viel
unbedeutendere mit fröhlichem Herzen zu beseitigen. Wie die Verhältnisse
_jetzt_ nämlich standen, blieb es sich, in Bezug auf seine Aussicht,
Pastors liebliches Töchterlein je als sein liebes Weib nicht in _diese_
Schulwohnung, aber doch wohl in eine bessere Stellung einzuführen,
ganz gleich, ob ihm der _Vater_ gewogen war oder nicht, denn an eine
Verbindung seiner Tochter mit _nur_ einem Schulmeister dachte dieser
so wenig wie das Mädchen wahrscheinlich selbst, das, wenn es den
jungen Mann auch wirklich gern sah, doch viel zu genau die ärmlichen,
drückenden, _abhängigen_ Verhältnisse kannte, in denen ein deutscher
Schullehrer zu leben gezwungen sei, um irgend eine Neigung zu spüren,
eine _solche_ Existenz je mit ihm zu theilen. Ja, Hennig hätte ihr das,
wäre sie selbst dazu geneigt gewesen, nicht einmal zumuthen, es
nicht einmal dulden mögen, und seinem schönen Ziel, der Schule eine
unabhängige Gestalt zu gewinnen und den Lehrerstand zu heben, lag jetzt
noch ein neuer, ihn zu voller Aufopferung treibender Beweggrund unter,
da er mit diesem auch vielleicht die Hoffnung seines eigenen Herzens
erreichen konnte. Stand er erst einmal als unabhängiger Lehrer, mit
liberalem und zum Leben genügenden Gehalt nicht mehr unter, sondern
neben dem Geistlichen, -- war ihm die Jungfrau selber dann nur nicht
abgeneigt -- (und grüßte sie _ihn_ nicht gerade immer so freundlich wie
_keinen_ weiter im ganzen Orte?), so vergaß der Pastor auch bald den
Unwillen, den er jetzt nur über das _Streben_ des Lehrers fühlte, und
sicherlich nicht auf das _Errungene_ ausgedehnt hätte.

Daß Sophie einen Fremden, ja gar den Flüchtling liebe, aus dessen Händen
er sie einst selber befreit, konnte er dabei natürlich nicht ahnen,
still und unberührt stand der Stern noch für ihn am Himmel seines
Glücks, und jeder Abend, der ihn träumend auf seinem Lager fand, schloß
ihm die müden Lider mit dem leisen, hoffenden Gebet -- Sophie!



Achtes Kapitel.

Das Geständniß.


Nöthig möchte es jetzt sein, einen, wenn auch nur flüchtigen Blick auf
das Leben Wahlerts, den wir zuletzt bei seiner glücklichen Flucht aus
den Händen des Gerichts gesehen, zu werfen.

Marie hatte ganz recht gehabt, als sie ihn damals in der Stunde der
Befreiung zugerufen, »nur an einem Kopf zu klugen Rathschlägen, fehle es
in der Residenz, nur an einem Arm, das Banner der Freiheit voran, in die
Reihen der Feinde zu tragen« -- seiner Ankunft, seines donnernden Wortes
hatte es nur bedurft und das Volk, das schon von außen angeregt, und
in Gährung gehalten war, brach aus in _einem_ gewaltigen und deshalb
fürchterlichen, weil fester geregelten Sturm. Das Ministerium fiel und
Männer des Volks wurden jauchzend auf dessen Schultern zu dem erledigten
Ehrenposten getragen.

Wahlert besonders hatte man vor Allen im Auge, die Stellung eines
Ministerpräsidenten auszufüllen, dieser aber weigerte sich das Amt, das
ihn in seiner schwierigen Verantwortung an den einzigen Ort fesseln und
seine ganze Thätigkeit auf dieß eine kleine Land concentriren würde,
anzunehmen. Wohl war er von schönster Hoffnung für ein einiges freies
Vaterland beseelt, wohl hielt er seine Landsleute für eben so reif und
tüchtig wie Frankreichs heißblütigeres Volk, im jetzt zusammenberufenen
deutschen Parlament die Souverainetät derer zu erklären, die man
bis dahin gewagt hatte, _Unterthanen_ zu nennen, und die -- das viel
schlimmere, es wirklich gewesen waren, aber dennoch konnte er sich nicht
verhehlen, daß der bei weitem größte Theil der Anregung noch zu sehr und
unausgesetzt bedürfe, während wiederum eine kleine Schaar, wie ein paar
rennlustige Pferde, das Zeichen zum Auslauf gar nicht erwarten konnten
und nur in einem fort Zaum und Halter zersprengten, Seil und Markpfahl
niederwarfen, und an Mähne und Nüstern zurückgehalten werden wollten, um
nur nicht in ihrem blinden unverständigen Eifer da zu verderben, wo sie
zu nützen, da einzustürzen, wo sie zu bauen suchten.

Kaum sah er also die Dinge in der Residenz wieder einen geordneten
ruhigen Gang gehn -- denn Frieden mußte im Reiche herrschen, bis die
Nationalversammlung in Frankfurt das Wort gesprochen, das die Throne
stürzen und die acht und dreißig Scepter mit einem Schlage zerbrechen
sollte -- so zog er auf seinen fröhlichen Pilgerflug durch das Land
aus, nicht um die Einheit des deutschen Volkes zu befördern, denn dessen
bedurfte es nicht mehr -- es fühlten Alle, daß nur in Einigkeit ihre
Kraft lag, -- sondern immer mehr zu befestigen und mit jener heiligen
Liebe für das Vaterland zu beseligen, die sie freudig für dieses selbst
das eigene Leben opfern ließe.

Eine Zeitlang hörte man Nichts mehr von ihm in Horneck, einmal hieß es
nur, er sei in Wien gewesen, habe dort auf den Barrikaden der äußeren
Vorstädte gegen die schwärmenden Kroatenhaufen gekämpft und wäre dann,
als die Truppen in die Stadt eingezogen, mit Lebensgefahr zwar, aber
doch glücklich nach Berlin entkommen -- das Gerücht hatte wenigstens
in der Pfarre -- vielleicht nach einem Brief aus der Residenz -- seinen
Ursprung gefunden. Jetzt waren wieder wohl zwei volle Monate vergangen
und der Mann, der damals die stillen Bewohner von Horneck zum ersten Mal
ein wenig aus ihrer Lethargie emporgerüttelt hatte, schien vergessen.

Vergessen? -- ja, von der großen Menge vielleicht, vor deren Augen
Wahlert, wie ein leuchtender Strahl nur einmal vorüber gezuckt und dann
verschwunden war, zwei Herzen aber schlugen in Horneck, für die keine
Stunde des langen, langsam schwindenden Tages verging, an dem sie nicht
still und sehnend seiner gedacht und nicht gebeten hätten, daß Gott sein
theures liebes Haupt beschützen möge.

So vollkommen eines jene beiden Wesen aber auch in diesem einen Gefühl,
dieser heimlichen, heiligen Liebe für den Fernen sein mochten, so
verschieden gestellt waren sie in jeder andern Hinsicht des Lebens, und
Sophie, des Pfarrers Töchterlein, hatte noch nie auch nur eine Sylbe
gegen Marie, des armen Musikanten Tochter, von dem erwähnt, was sie
doch, o wie gern, in das Herz einer wirklichen Freundin ausgeschüttet
hätte. Und dennoch war Marie fast täglich in ihres Vaters Hause, wo
besonders in letzter Zeit viel für die Kinder zu nähen und arbeiten
gewesen, dennoch schien Sophie in jeder anderen Hinsicht volles
Vertrauen zu dem armen leidenden Mädchen gefaßt zu haben, und behandelte
sie eher wie eine Verwandte als eine Fremde, die eine Lohnarbeit bei
ihr gesucht und gefunden. Nur in diesem Punkte blieb ihr Mund gegen das
ernste, so wehmüthig schauende Kind verschlossen, denn seit jenem
Tag, an welchem eben Marie ihr die Kunde von der drohenden Gefahr des
Geliebten gebracht, war es ordentlich, als ob eine ihr selbst unbewußte
Scheu sie hindere, auch nur den Namen Wahlerts vor ihr auszusprechen.

Marie, die sich, ihrem äußeren Aussehn nach, etwas wohler zu befinden
schien als früher, und auch durch Sophiens Hülfe anständiger gekleidet
ging, brach das Schweigen über den Abwesenden eben so wenig; kein Wort
kam, selbst jenen Abend betreffend, über ihre Lippen und was die Herzen
in ihrer stillen Tiefe auch bergen mochten, der Mund gab dem Gefühle
keine Worte.

In den letzten Tagen des November 1848 war es, daß die beiden Mädchen
auch einmal wieder zusammensaßen und an einem warmen Rock für Sophiens
Mutter nähten, denn das Haidekraut blühte gar so schön und roth draußen,
und das kündete strenge Kälte, der man doch wenigstens begegnen mußte;
als der Pastor plötzlich mit einem Brief in der Hand in's Zimmer trat,
und der Tochter ankündigte, daß er Nachricht von dem jungen Wahlert, dem
Sohn des Herrn Generalsuperintendenten erhalten habe -- es gehe ihm gut,
und er hoffe bald Horneck wieder zu sehn -- er bemerkte gleich darauf
die Fremde, brach kurz ab, ging zu seiner Tochter hin an's Fenster
und verließ mit dieser, die es aber wohl vermied ihr Antlitz Marien
zuzuwenden, das Zimmer.

Marie ließ die Hände in den Schooß sinken, saß mehrere Minuten mit
todtenbleichen erregten Zügen da, und starrte still und schweigend vor
sich nieder.

»Er kehrt nach _Horneck_ zurück!« flüsterte sie endlich leise mit kaum
sich bewegenden Lippen -- »nach Horneck wo« -- sie brach plötzlich ab,
barg nach kurzem Sinnen das Antlitz in den Händen und gab sich mit so
peinlicher Spannung ihren Gedanken hin, daß man, wie ihr das Herz auch
laut und stürmisch schlug, kaum doch ihr Athmen bemerken konnte, hätte
nicht das Zittern ihres ganzen Körpers ihr Leben verrathen, die Gestalt
selbst mußte einer todten regungslosen Statue gleichen.

Endlich schien es, als ob sie sich gewaltsam zu sammeln suche -- sie
stand auf, legte ihre Arbeit auf den Stuhl, auf dem sie gesessen, und
trat an das Fenster, das auf den stillen Friedhof hinausschaute.

»Weshalb quäle ich mich denn eigentlich immer und immer wieder nur mit
meiner eigenen unbegründeten Furcht,« flüsterte sie endlich und strich
sich die Hand fest und schnell über die bleiche, marmorkalte Stirn --
»Furcht! -- und darf ich da auch noch _fürchten_? ist mir denn überhaupt
auch nur eine _Hoffnung_ geblieben? -- Er erschrak, als er damals meine
Stimme hörte -- er verachtet die -- Dirne.« -- Sie schauderte zusammen,
und dicht an die Scheibe gepreßt, daß ihr Hauch das Glas deckte, fuhr
sie nach kurzer Pause fort -- »Soll ich hier sein Wiederkehren erwarten?
-- Darf er mich -- darf er mich gerade in diesem Hause? -- und warum
nicht?« sagte sie plötzlich laut, und richtete sich schnell und fast
stolz empor -- »klang seine Stimme nicht weich und liebend, als er mich
mit dem alten traulichen _Du_ anredete, und mich _seine_ arme Marie
nannte? -- o heiliger Gott, wie gern wäre ich ihm damals an's Herz
gesunken und hätte gerufen Franz, Franz, Du hast mir böses schmerzliches
Unrecht gethan -- unglücklich ist Deine Marie, aber schuldig nie -- nie
-- die Angst um ihn erstickte damals jedes Gefühl für mich selbst -- ich
weiß nicht einmal mehr, was ich sprach -- Sophiens Name --«.

Ihre Hand fuhr krampfhaft nach dem Herzen und ein kurzer schmerzlicher
Husten zwang sie, sich niederzusetzen.

Ehe sie sich vollkommen erholte, trat der Pastor wieder ein, und wollte,
als er den Husten hörte, das Zimmer wieder verlassen, Marie bezwang
sich aber gewaltsam, der geistliche Herr kam näher, ließ sich, ohne
das Mädchen, das still ihre Arbeit aufnahm, weiter zu beachten, auf dem
Sopha nieder und las die Zeitung.

Von diesem Tage an fühlte sich Marie wieder unwohler wie vorher; als
sie Abends ihre ärmliche Heimath erreichte, bekam sie einen leichten
Fieberanfall und mußte am nächsten Tage das Bett hüten; der Vater, der
in der Woche doch nichts zu thun hatte, und nur Sonntag Abends mit in
der Schenke zum Tanze aufspielte, that ihr die kleinen Handreichungen,
deren sie etwa bedurfte, kochte das frugale Mahl, eine einfache
Kartoffelsuppe, und ließ sie dann mit sich und ihren Gedanken allein,
bis er Abends nach zehn Uhr aus der Schenke, wo er so lange bei einem
Glase einfachen Bieres gesessen, zurückkehrte.

Drei Tage vergingen so, und im Dorfe wurde es bald bekannt, daß der
Doctor Wahlert, derselbe, den die Wilddiebe damals aus der Kutsche
gerissen und befreit hatten, und von dem nachher so entsetzlich viel
in der Zeitung gestanden, wieder nach Horneck gekommen sei und in der
Pfarre wohne. Marie war schon um vieles wohler, ging aber doch noch
nicht zu ihrer Arbeit hinauf -- der Vater stellte sie mehrmals deshalb
zur Rede, sie gab aber ausweichende Antworten, schützte noch peinlichen
Kopfschmerz vor und blieb.

So brach der vierte Morgen an -- es war der letzte Tag im November und
ein Donnerstag; das helle Tagesgestirn schien still und feierlich in
das ärmliche Gemach des alten Musikanten, und neben dem Fenster, auf
dem einzigen hölzernen Stuhle, der in der Stube stand, saß Marie, und
schaute träumend nach den gegenüberliegenden grauen Strohdächern einer
langen Reihe alter, halbverfallener Scheunen hinüber, als es plötzlich
rasch und lebhaft an die Thüre pochte, und sich diese, selbst vor dem
einladenden »Herein«, schnell öffnete.

»Fräulein Scheidler!« rief das Mädchen, überrascht von ihrem Stuhle
aufstehend.

»Hab' ich Sie doch beinahe gar nicht gefunden, liebe Marie!« sagte
Sophie, freundlich ihre Hand ergreifend, »Wie geht es Ihnen? -- Sie
sehen viel besser, ordentlich roth und wohl aus -- warum haben Sie sich
so lange nicht bei uns sehen lassen? Sie waren doch nicht ernstlich
krank? -- Ach, ich wäre so gern schon früher einmal herüber gekommen,
aber -- aber wir haben Besuch im Hause, und da giebt es so viel zu thun,
so viel zu besorgen, daß man wirklich manchmal gar nicht weiß, wo Einem
der Kopf steht.«

»Ich hörte eben, daß sie Besuch hätten,« sagte Marie leise, »und
fürchtete eben zu stören, auch --«

»O nicht im Mindesten, gutes Kind,« unterbrach sie rasch und erröthend
das liebe Mädchen, »wir -- wir werden Ihre Hülfe überdies vielleicht
recht bald und ziemlich bedeutend in Anspruch nehmen -- ich habe einige
recht nothwendige Arbeiten vor.«

»Ich bin wirklich unwohl gewesen,« fuhr Marie, den Antrag zu vermeiden
suchend, fort -- »so unwohl, daß ich fürchte, kurze Zeit wohl noch der
Ruhe pflegen zu müssen, ehe ich es wieder wagen darf, eine bedeutendere
Arbeit zu unternehmen.«

»O Sie dürfen mich nicht im Stiche lassen,« bat Sophie -- »ja nicht,
liebe gute Marie, ich habe ganz fest auf Sie gerechnet -- nicht wahr,
Sie machen es möglich? --«

»Könnte ich da nicht vielleicht« -- sagte Marie zögernd -- »die Arbeit
zu mir in's Haus bekommen? -- Vielleicht ging es hier.«

»Aber Sie haben da -- Sie haben da gar keine Bequemlichkeit«, erwiederte
Sophie, und warf einen halb scheuen, halb mitleidigen Blick in dem
kleinen, leeren, unbehaglichen Gemach umher. --

»Ich kann mich hier niederlegen, wenn mich das Sitzen angreift,«
entgegnete das Mädchen -- »ich bin ungestörter -- und werde schneller
arbeiten.«

»Nun gut, wir wollen uns darüber nicht streiten,« beruhigte sie Sophie
-- »machen Sie das, wie Sie wollen, liebes Kind -- aber -- kann ich
Ihnen nicht vielleicht mit irgend etwas --«

»Ich danke Ihnen herzlich,« unterbrach sie, ihre freundliche Meinung
verstehend, Marie, »ich habe, durch Ihre Güte, für jetzt Alles, was wir
brauchen -- und das ist genug -- Ihnen geht es gut jetzt -- Sie sehen
recht wohl und fröhlich aus.«

»Mir geht es _recht_ gut, liebe Marie, ich danke Ihnen,« sagte Sophie
freudig -- »mein Leben scheint sich auch ganz gut und glücklich zu
gestalten -- das wenigstens, was meinen Himmel bis jetzt getrübt, ist
verschwunden.«

»So?« frug mißtrauisch und schnell des Musikanten Tochter -- »plötzlich
verschwunden? --«

»Seit gestern,« erwiederte fröhlich lächelnd Sophie auf die Frage --
»rathen Sie einmal, Marie, was ich jetzt bin?«

»Was Sie jetzt sind?« wiederholte erstaunt und mit stockenden
Herzschlägen Marie -- »was Sie jetzt sind? ich begreife die Frage
nicht?«

»Nun, die ist doch einfach genug,« lachte Sophie -- »blos was ich
bin, sollen Sie rathen, und rathen deshalb, weil Sie's eben noch nicht
wissen.«

»Nun denn, des Herrn Pastor --«

»Ach lari fari,« unterbrach sie scherzend die Jungfrau -- »das will ich
nicht wissen, mehr -- höher hinauf.«

»Höher hinauf -- die Wohlthäterin des halben Dorfes.«

Sophiens Hand lag im Nu auf des Mädchens Lippen.

»Das ist gegen die Abrede,« rief sie rasch, »ordentlich gerathen, aber
höher hinauf.«

»Ich bin es nicht im Stande,« sagte Marie mit leiser, eintöniger Stimme.

»Glaub' es,« tönte die fröhliche Antwort, »denn es kommt mir selbst
überraschend genug, und so will ich es Ihnen denn rund heraus und
einfach sagen, aber -- vorher die Hand darauf, Sie sprechen zu keinem
Menschen mit einer Sterbenssylbe davon?«

Marie reichte ihr schweigend die Hand.

»Nun denn, wissen Sie, was ich bin? -- Ich bin Braut -- nun Herr Gott,
was erschrecken Sie denn so, das ist doch Nichts so Erschreckliches?«

»Nein -- in der That nicht,« erwiederte Marie mit erzwungenem Lächeln
-- »da wünsche ich -- wünsche ich Ihnen recht herzliches Glück -- recht
herzlichen Segen. Aber -- mit wem?«

»Mit wem? nun mit Wahlert --«

»O!« rief Marie, und sprang rasch nach dem Fenster, an dessen Gesims sie
sich festhielt.

»Was ist da?« frug Sophie und folgte ihr -- »was gab es da?«

»Das Kind dort -- wäre -- wäre beinahe unter den Wagen gekommen --
das unvorsichtige,« sagte Marie und deutete, während es sich wie ein
schwarzer Flor um ihre Augen zog, nach der Straße hinunter.

»Welches? Der Knabe da?« frug erstaunt Sophie -- »nun seh' Einer den
kleinen kecken Kerl an, da steht er noch ganz ruhig und schaut hinter
dem Wagen her, als ob gar Nichts vorgefallen wäre -- aber ich habe Ihr
Versprechen, Marie?«

»Ich will schweigen wie das Grab,« erwiederte die Arme.

»Aber nur nicht so ernst -- der Brautstand ist eine fröhliche Zeit,
und da muß man auch fröhliche Gesichter um sich haben. Also mit meinem
Brautkleide lassen Sie mich nicht sitzen, morgen komm ich wieder
herunter und da wollen wir das Nähere darüber besprechen -- oder Sie
kommen zu mir herauf. -- Ach ja, liebe Marie -- nicht wahr Sie kommen?
Sie haben den Doctor Wahlert ja auch schon früher gesehen und sich
selbst für ihn interessirt, weil er die Rechte des armen Mannes so
vertrat.«

»Aber Wahlert,« sagte Marie endlich gesammelt, und mit fester, jedoch
noch immer leiser, fast furchtsamer Stimme, als ob sie sich scheue,
selbst den Namen des, ach so heiß geliebten Mannes auszusprechen --
»Doctor Wahlert war ja von seinem Vater, dem Generalsuperintendenten,
verstossen -- der Vater hatte sich losgesagt von dem Sohne, und wollte
ihn nicht wiedersehen, bis er seine politische Meinung geändert habe,
und _hat_ er das gethan?«

»Ei bewahre, mein liebes Kind,« erwiederte ihr freundlich Sophie, »das
thut er nie, doch müde ist er geworden des nutzlosen Ankämpfens gegen
Menschen, die, wie er uns gestern sagte, aus ihren Schreibstuben
heraus oder hinter der Hobelbank vorgesprungen sind, und nun blind in's
Geschirr hinein politisiren, und alle befehlen, aber keiner gehorchen
wolle -- müde ist er's, für ein Volk zu kämpfen, das nicht einmal selbst
den eignen Arm zu seinem Schutze erheben will und in einem kleinen Theil
ihn unterstützt, in einem anderen ihn anfeindet. Ja seine eignen Freunde
sind gegen ihn aufgetreten, weil er nicht die Republik mit Bürgerblut
beginnen wollte, sondern sie auf den Volkswillen zu gründen strebte. Er
wird ganz traurig, wenn er nur von unseren Verhältnissen reden hört, und
will jetzt nach Amerika auswandern.«

»Nach Amerika,« flüsterte leise Marie.

»Sein Vater hat ihm selber den Vorschlag gemacht, den er mit Freuden
ergriff -- denken Sie sich nur, Marie -- ich gehe mit nach Amerika --
hätten _Sie_ dazu den Muth?«

Marie konnte sich nicht mehr helfen, sie barg das Antlitz in den Händen
und lehnte sich, um nicht zu stürzen, an das Fensterbret.

»Nun _so_ fürchterlich ist es auch nicht auf der See,« lachte aber
Sophie, die in ihrer Fröhlichkeit die Bewegung des armen Mädchens, das
sie unbewußt mit furchtbaren Martern quälte, gar nicht verstand -- »aber
ich stehe hier und plaudere, wo ich schon lange wieder oben sein sollte,
sein Sie nicht böse, Marie -- aber lieber Himmel, Sie sind wirklich
krank -- sehn Sie nur, wie blaß -- nein ich schicke Ihnen das Kleid
herunter, und dann schneiden wir es hier zusammen zu. Adieu Marie -- auf
ein frohes Wiedersehn.«

Sie sprang, noch einen Gruß zurückwinkend, die steile dunkle Treppe
flüchtig hinab, und Marie blieb in dem kalten leeren Gemach still und
allein zurück.



Neuntes Kapitel.

Die Schulvisitation.


Die erste Morgen- und Religionsstunde des Freitag Vormittags war eben
vorüber, die Kinder bekamen eine kurze Rastzeit verstattet, um sich
erst ein wenig zu sammeln, und die untere Klasse mußte dann in dem einen
Theil der Stube still und ruhig auf ihren Plätzen sitzen und
zuhören, während der Lehrer mit der ersten seinen zweiten Unterricht,
Verstandesübungen, vornahm. Hennig brachte diese Stunde stets nach dem
Religionsunterricht, da er diesem, den Schulgesetzen zu Folge, eine
volle Stunde zu widmen verpflichtet war, Kinder aber, die noch das
eigentliche Wesen Gottes -- das wenn wir ihn, den Allliebenden, erst
einmal im eigenen Herzen erkennen lernen, uns mit einem so heiligen,
süßen aber auch stolzen Gefühl durchschauert -- nicht selbst begreifen
und empfinden können, sondern nur dadurch in einer gewissen Scheu und
Ehrfurcht gehalten werden, daß man ihnen sagt, Gott habe sie erschaffen
und sähe Alles was sie Gutes und Uebles thäten, fühlen darin allerdings,
sobald ihnen die Gottheit vorgeführt wird, und die Aufforderung zum
Gebet zu ihm den Allmächtigen an sie ergeht, einen gewissen Reiz, ja
ich will sogar zugeben, ein ahnungsvolles Leben -- eine volle Stunde ist
aber der Lehrer wohl selten im Stande, sie aufmerksam und gespannt auf
das zu erhalten, was sie immer nur _glauben_, nie _begreifen_ können,
und der zu sehr erregte Geist erschlafft.

Zweckmäßig dennoch dünkte ihm eine freiere Unterrichtsstunde, auf die
sich die Kinder jedesmal freuten, und der sie sich mit aller Liebe und
Aufmerksamkeit hingaben. Hennig sprach hierin nämlich von allerlei, was
entweder aus Geschichte und Geographie zufällig zur Sprache kam,
oder sonst in das wirkliche Leben eingriff, und that dann Kreuz- und
Querfragen an die Kinder, die sie ihm nach besten Kräften beantworten
mußten. Allerdings kam da oft wunderliches Zeug genug zur Sprache,
denn viele der Knaben waren mit einer so hartnäckigen und fabelhaften
Dummheit gesegnet, daß, wenn nur irgend Wahrheit in Sprichwörtern liegt,
ihnen ihr künftiges Glück in der Welt gar nicht hätte entgehen können;
oft lag aber auch ein tiefer, ich möchte sagen instinktartiger Sinn in
anscheinend verkehrten Antworten, und anstatt dann, wenn sie nicht auf
die Fragen paßten, darüber hinzugehn, wie das leider fast stets von
den Schullehrern geschieht, ging er vielmehr selbst auf die Sache ein,
forschte nach der Ursache, die den Knaben zu solcher Antwort geführt und
berichtigte oder ermunterte, wie es nun gerade der Fall verlangte.

Eine Störung trat übrigens, gerade vor dem Beginn der Stunde ein, ein
Bauer trat in die Schulstube, und schleppte seinen Jungen, einen dicken,
runden, schmutzigen, vierschrötigen, blondhaarigen und blauäugigen,
etwa fünf Jahr alten Bengel, der sich verschämt und ängstlich an seine
Rockschöße klammerte, und mit Händen und Füßen gegen jede Bildung
und Cultur auf das Entschiedenste anstrampelte, hinter sich her zum
Schulmeister hin, faßte seinen Jungen ohne weitere Umstände beim Kragen,
stellte ihn mit dem verdrossenen und verweinten Gesicht ruhig vor den
Schulmeister hin und sagte:

»Hiar, Schulmeester -- hiar bring ich main Aelsten, der Bängel hat
sich schonst lange gäwinscht in die Schule zu kummen -- macht mer was
Gescheit's aus'em -- ufgenummen hat'en der Herr Paster schunst -- er is
nur noch en Bischen verschreckt.«

»Schon gut, Schönel« sagte Hennig, »ich will mein Bestes versuchen --
komm Kind, fürchte Dich nicht, es geschieht Dir Nichts -- sei brav
und setze Dich da drüben auf die Bank -- komm -- sieh mir einmal in's
Gesicht.«

»Ich will aber niche!« heulte der Junge.

Die anderen lachten. --

»S'is en Wetterbängel« grinste der Vater, und freute sich
augenscheinlich über die Charakterfestigkeit seines Sohnes -- »kumm,
Gottlob -- stiah uff sunst krichste 'ne Schälle, daß de Dich rimm und
rimm driahst.«

Gottlob schien sich jedoch auf seine Unverletzlichkeit zu verlassen,
er zog, da er doch mit einem Beine, seines Schwerpunktes wegen, auf der
Erde bleiben mußte, das andere bis ans Knie herauf, drückte sich selber,
so weit die breite Faust seines Vaters das zuließ, hinunter, und deckte
sich das Gesicht mit dem linken Arm und Ellenbogen.

»Kriate!« sagte sein Vater und hielt die angedrohte Schelle, der sein
Sohn auch nicht die mindeste Blöße gab, zurück, schüttelte denselben
aber mit solcher Kraft, daß ihm alle Glieder am Leibe zitterten, und
in diesem Augenblick wirklich nur noch die engen drallen Kleider, die
lederne Hose und blaue Jacke, die kleinen Gelenke zusammen zu halten
schienen. Gottlob mußte übrigens an derlei Behandlung schon gewöhnt
sein, denn er verblieb, wie aus Blei gegossen in seiner Stellung, und
biß nur die Zähne recht fest auf einander, als ob er fürchtete, daß ihm
die aus dem Munde fliegen könnten. Hennig legte sich endlich ins Mittel,
nahm den Jungen seinem väterlichen Freund und Schützer ab, und trug ihn
mehr als er ihn führte auf eine Bank. Dort setzte er ihn hin, redete ihm
zu, ein guter Junge und hübsch artig zu sein, und versicherte ihn, daß
er in dem Fall auch nicht das Mindeste von ihm zu fürchten habe.

»So is's rächt, Schulmeester,« sagte der Bauer, und schaute wohlgefällig
auf seinen heulend dasitzenden Jungen hin -- »er werd sich's schonst
märken, denn _Märks_ hot er,« und er machte dabei die Bewegung einer
Maulschelle, ging dann auf seinen Zögling zu, drückte ihm ein riesiges
Butterbrod, das er eingewickelt in der Rocktasche getragen, in die Hand,
klopfte ihm freundlich auf den Kopf, versprach ihm auf den Mittag Klöse,
wobei die übrigen Jungen einen neidischen Blick auf den Glücklichen
warfen, und verließ das Zimmer.

Gottlob blieb von da an still und regungslos, aber auch ohne den Kopf
aus dem Arm zu nehmen, auf seinem Platz sitzen, und Hennig ließ das
gern geschehen, da er sich doch erst, wie er meinte, an die _Schulluft_
gewöhnen müsse.

Die bis dahin durch diese Unterbrechung gestörte Stunde begann jetzt
damit, daß der Lehrer einige Fragen aus der biblischen Geschichte an die
Ersten der Klasse that, und sie darauf hinzuleiten suchte, wie Manches,
was uns jetzt sonderbar oder vielleicht lächerlich in den alten
Gebräuchen und Handlungen vorkomme, durch damalige Verhältnisse bedingt,
und dem dortigen Land und Klima anpassend gewesen wäre. Die Antworten,
die er freilich manchmal auf seine Fragen erhielt, lauteten oft komisch
genug, die Kinder gewöhnten sich aber doch daran, ihnen fern liegende
Sachen zu bedenken, und fingen dabei auch nach und nach an einzusehen,
daß die Leute in der biblischen Geschichte, die sie sich eigentlich
wie lauter Heilige und höchst merkwürdige Wesen gedacht, doch auch nur
Menschen mit Tugenden und Fehlern, wie es jetzt deren auch gab, gewesen
wären.

Als er so die erste Klasse eine Zeitlang geübt, wandte er sich auch an
die Kleineren, und überraschte diese plötzlich mit der, etwas aus der
Luft gegriffenen Frage:

»Hört einmal, Ihr da drüben, -- Noah hatte drei Söhne, Sem, Ham und
Japhet, das wißt Ihr doch?«

»Ja,« lautete die einstimmige, schnell bereite Antwort.

»Nun gut -- also wer war nun der Vater von Noahs drei Söhnen -- eben von
den Sem, Ham und Japhet?«

Die Jungen sahen sich verlegen unter einander an -- schwiegen aber.

»Was? -- Ihr habt Euch nicht einmal so viel aus der biblischen
Geschichte gemerkt, die wir Euch jetzt eine volle halbe Stunde
vorgepredigt haben,« sagte Hennig lächelnd -- »nun, wartet einmal, ich
will Euch die Sache mit einem Beispiele klarmachen. Unseren Nachbar, den
Bauer Schultze, kennt Ihr doch Alle mit einander, wie heißt der? --«

»Gottlieb Schultze.«

»Nun gut, der hat, wie Ihr wißt, drei große erwachsene Söhne, den
Friedrich, den Jürgen und den Caspar; wer ist also der Vater von
Friedrich, Jörge und Caspar Schultze?«

»Gottlieb Schultze,« schrie die ganze kleine Klasse wild und stürmisch
durch einander --

»Seht Ihr wohl? Das war recht geantwortet; nun wollen wir uns also
wieder zur ersten Frage wenden -- Noah hatte drei Söhne, und zwar Sem,
Ham und Japhet -- wer war also nun der Vater von _Noah's_ drei Söhnen?«

»Gottlieb Schultze!« jubelte der ganze Chor wieder in wilder und lauter
Freude, den Nagel jetzt voll und prächtig auf den Kopf getroffen zu
haben.

Ein allgemeines Gelächter der ersten Klasse folgte dieser Antwort, die
Kleinen saßen verdutzt, und Gottlieb Schönel, der natürlich glaubte, die
ganze Klasse hätte weiter Nichts zu thun, als sich um ihn zu bekümmern,
und das Lachen gelte auch nur einzig und allein seiner kleinen Person,
rückte verdrossen auf seinem Sitz herum, und fing von Neuem an zu
heulen.

Die biblische Geschichte hatte durch diese Antwort übrigens einen
entschiedenen Stoß bekommen, denn Noahs oder seiner ganzen Familie Name
durfte z. B. gar nicht mehr erwähnt werden, ohne daß die halbe Klasse
anfing zu kichern, und die andere Hälfte gerade so aussah, als ob sie
sämmtlich den bedeutendsten Theil ihres Frühstücks darum gegeben hätte,
wenn sie nur einmal so recht von Herzen herausplatzen könnte.

Der Lehrer sprang deshalb auf etwas ganz anderes, und zwar den jetzigen
Zustand über, in welchem sich in Deutschland die arbeitende Klasse
befände, entwickelte darin, wie Arbeit überhaupt nothwendig sei, die
menschliche Gesellschaft unter sich zusammen zu halten, und bewies den
Kindern, daß Jeder im Staat, vom König herab bis zum unbedeutendsten
Gänsejungen -- Gottlob bezog das wieder auf sich, und zog ein nettes
Register -- einen gewissen Theil und eine bestimmte Arbeit, die auch
wieder ihrerseits den Andern zu gute käme, verrichten müßte. Er ließ nun
abwechselnd die Knaben auch ihrerseits die Gründe angeben, weshalb
sie glaubten, daß es nöthig und nützlich für sie sei, zu arbeiten, und
weshalb es besonders schon das Billigkeitsgefühl verlange, ebenfalls
etwas für andere zu thun, da Andere doch unausgesetzt für uns selber
beschäftigt wären.

Die Knaben schienen das im Anfang nicht recht begreifen zu wollen, es
war ihnen unklar, wie sie, besonders aus Billigkeitsgefühl für Andere,
zum Beispiel Holz hacken sollten. Hennig aber fuhr fort:

»Arbeitet denn Euer Vater nicht, um einen Euch allgemein bekannten Fall
zu setzen, fortwährend für Euch, daß Ihr Speise, Trank und Kleidung
habt? -- Ist es deshalb nicht recht und billig, daß Ihr auch für ihn
mit Hand anlegt, und Alles thut, was in Euren Kräften steht, ihm wieder
dafür zu helfen? Arbeitet nicht auch z. B. der Schneider für Dich,
Christian?«

»Ja,« sagte der Junge, und schlenkerte dabei vergnügt mit den Beinen.

»Gut, also versteht es sich von selbst, daß Du für ihn, oder andere
Menschen, die es bedürfen, ein Gleiches thust; es ist dies das Band,
wodurch die menschliche Gesellschaft mit einander verbunden wird, und im
Stande ist, als ein geselliges Ganzes zu existiren.«

»So arbeitet also auch der Schuhmacher für Dich, Leberecht?«

»Ne!« grinste Leberecht, und verzog das Maul von einem Ohre bis zum
anderen. -- Die Anderen lachten laut auf.

»Nein? -- und weshalb nicht?« frag Hennig, selber lächelnd --

»Vater hot' en de letzten Stiebeln noch nich bezahlt.«

Hennig mußte sich Mühe geben ernsthaft zu bleiben, bewies aber auch dem
Knaben dadurch gleich um so verständlicher, daß nun sein Vater ebenfalls
für den Schuhmacher arbeiten müsse, bis er mit dem, was er leiste,
einen gleichen Werth dessen erreicht habe, was für ihn oder seinen Sohn
geleistet worden.

Gottlob hatte indessen mehrere Male, zur nicht geringen Belustigung der
übrigen Schuljugend, versucht heimlich zu desertiren, fand aber, auf
einen Wink des Lehrers, die beiden schmalen Pässe, die zur Stubenthür
führten, stets so stark vertheidigt, daß an einen gewaltsamen Durchbruch
gar nicht zu denken war. Auf seine Bank zuletzt ganz ernsthaft
hingewiesen und jetzt sogar, wenn er gar nicht gehorchen wolle, mit
einer Züchtigung bedroht, saß er eine Weile still und verdrossen da,
ließ die Unterlippe bis weit auf's Kinn herunter hängen, wischte sich
den thränenfeuchten Schmutz auf eine immer bedenklichere Weise im
Gesicht herum und presste das »Butterbrod,« dessen papierne Hülle
schon lange heruntergefallen, so fest zusammen, daß es weit
auseinanderklaffte, und vor Schmerz das inwendig aufgestrichene
Pflaumenmuß (der Name _Butterbrod_ war nämlich, obgleich all' die
Mußbrödte so genannt wurden, nur eine Schmeichelei) preiszugeben schien.
Endlich mußte er aber zu einem Entschluß gekommen sein; er stand auf,
sah sich ein paar Mal mit wildem schüchternen Blick im Kreise um,
ging dann in einer Art verzweifelten Trotzes auf den, lächelnd zu ihm
niederschauenden Lehrer zu, blieb vor ihm stehen, hielt ihm sein Brod
entgegen, und sagte weinerlich aber ziemlich laut:

»Hier, Herr Hennig -- hier hast De meine Bemme, aber laß mich giahn.«

Armer Gottlob, auch selbst dieser Versuch der Bestechung gelang Dir
nicht, Du wurdest fürchterlich ausgelacht und mußtest auf einem kleinen
Bänkchen links am Fenster den übrigen Theil der Morgenstunde ruhig und
schweigsam mit ausharren.

Wieder mit seinen Fragen wechselnd, kam Hennig jetzt auch auf die
Bewegung der Erde um ihre eigene Axe und um die Sonne herum zu sprechen,
und darüber waren denn freilich die Begriffe der Knaben noch sehr
verworren. Er wollte ihnen das allerdings damit beweisen, daß er
anführte, wie ein in einen Reif gestelltes Glas Wasser ebenfalls um
den Kopf geschwenkt werden könne, ohne einen einzigen Tropfen Wasser
zu verlieren, ein paar der Knaben hatten das aber schon versucht und
meinten, sie hätten das Glas mit dem Wasser durch die Fensterscheibe
»geschlengert«. Er mußte es ihnen -- und hierfür fing sich auch Gottlob
an zu interessiren -- endlich vormachen, und wie er das bewiesen, frug
er den ihm nächst Sitzenden, woher seiner Meinung nach das Drehen der
Erde herrühre.

Müller saß mäuschenstill, antwortete keine Sylbe und starrte nur in
eifrigem Nachdenken stier vor sich nieder. --

»Nun, Müller, was glaubst Du, ist die Ursache, daß sich die Erde dreht?«
frug der Lehrer noch einmal.

»Hahaha,« sagte der endlich -- »ich wißt's wohl.«

»Nun heraus mit der Sprache; wenn Du's weißt, brauchst Du Dich doch
nicht zu scheuen, es zu sagen? Also was dreht die Erde?«

»Das Wasser« -- erwiederte verschämt der Knabe.

»Hm,« erwiederte ihm Hennig lächelnd, während die anderen Schüler
hochaufhorchten, als ob ihnen jetzt auf einmal ein großes Geheimniß klar
geworden wäre -- »das klingt gar nicht so übel, und Du hast das _für_
Dich, daß Dir hier im Dorfe wohl kaum einer den Gegenbeweis würde
liefern können. Was aber hat Dich auf den Gedanken gebracht, und wie
willst Du mir für diese Vermuthung einen Grund angeben?«

»Ih nu siahn Se, Herr Hennig --« sagte der Junge und sah verschämt vor
sich nieder, »unsere Rausche, die fließt gerade su, wie mein Vater sin
Mühlwehr, un das treibt ooch en Rad, wo's driber hinleeft. -- Nu leeft
doch die Rausche über de Erde hin un Sie han uns neilich verzehlt, daß
es noch veele greßere Flisse gebe, un daß das Meer ooch so flesse wie de
Rausche, nur daß man's draußen nich so siahn kennte, un da -- da han ich
mir gedacht, das triebe de Iharde.« (Erde.)

»Die Erklärung ist allerdings gar nicht so übel,« erwiederte ihm Hennig,
»dennoch aber nicht richtig, denn --«

Die Thüre wurde in diesem Augenblicke aufgerissen und einer der Schüler,
der vor wenigen Minuten darum gebeten hatte, einmal herausgehen zu
dürfen, stürzte wieder herein und schrie mit verdutztem und erschrecktem
Gesicht:

»Der Härr Suprindent un der Härr Paster!«

Die Jungen fuhren sämmtlich wie durch einen elektrischen Schlag
getroffen, von ihren Sitzen in die Höhe, des Lehrers donnerndes
»_Ruhe_!« bannte sie aber bald wieder auf ihre Plätze nieder, und
der, der mit solcher Nichtachtung jeder Sitte und jeden Respects
hereingebrochen war, mußte zu seinem Entsetzen und gerade in solchem
entscheidenden Augenblicke auf dem Strafplatze neben dem Ofen stehen
bleiben.

Im gleichen Angenblicke ging aber die Thüre auf und der Superintendent,
welchem die gewöhnliche Schulinspection oblag, trat mit dem, sonst so
ernsten und stolzen, jetzt aber auf einmal ungemein freundlichen und
geschmeidigen Pastor in's Schulzimmer. Er grüßte den Schullehrer höchst
herablassend, aber nur mit etwas vornehmem Kopfnicken, winkte den
Kindern, die sich erst niedergesetzt, und die, wie aus der Pistole
geschossen, von ihren Sitzen wieder emporfuhren und in den gewöhnlichen
monotonen Lauten ihr »Guten Morgen Härr Suprindent!« -- und dann nach
kaum athemlanger Pause in demselben Tone »guten Morgen Härr Paster!«
riefen, freundlich sich niederzulassen, und sagte dann, die Hand
gegen den von seinem niederen Katheder herunter tretenden Schullehrer
schwenkend, ziemlich ernst:

»Fahren Sie fort, Herr Hennig -- lassen Sie sich nicht stören rrrrrr.«
-- Der Herr Superintendent schnarrten ein wenig hinter jedem Satze und
die Jungen hätten gern gelacht, nur der Respect und die übergroße Angst
verboten das.

»Die Stunde ist beendet, Herr Superintendent,« erwiederte aber Hennig,
»ich glaube sogar, daß ich schon einige Minuten darüber gehalten habe.«

»Ah -- und was ist Ihre nächste Lection? -- dürft' ich um Ihren
Unterrichtsplan bitten -- rrrrr?«

»Mit Vergnügen,« sagte Hennig, schob den schrägen Deckel seines
Schreibpultes empor, nahm ein zusammengelegtes Papier heraus und übergab
es dem frommen Herrn.

»Hm -- gut -- nicht übel -- hm -- ja -- Verstandesübungen --
Verstandesübungen rrrrrrr -- Verstandesübungen -- die haben Sie ja
_alle_ Tage, und Religionsstunden nur eins, zwei, drei, vier Mal --
etwas ungleich vertheilt, Herr Hennig, etwas ungleich vertheilt -- Sie
ändern das vielleicht -- rrrrrre!«

Hennig biß sich auf die Lippen, erwiederte aber Nichts. --

»Sie haben also jetzt Schreibestunde?«

Der Lehrer verneigte sich.

»Bitte, dürft' ich Sie einmal um die Schreibebücher ersuchen -- ah, da
kommen sie schon; sehr schön, mein Knabe -- leg' sie nur daher -- wie
heißt Du -- rrrrrrr?«

»Iche?« -- lautete die Gegenfrage als Antwort.

»Ja, Du.«

»Berner's Christoff.«

»Hm -- gut -- das ist die erste Klasse, nicht wahr -- rrrrrr? -- hm, hm,
hm, das sieht nicht zum Besten, hm, hm -- sehr flüchtig geschrieben
-- hm -- sehr flüchtig, und gar nicht sauber -- rrrrrrrr! -- hm -- wem
gehört denn das Buch hier -- rrrrr? -- Hans Müller? -- Hans Müller, komm
einmal her zu mir! -- wer hat denn hier den Kleks auf die Zeile
gemacht, he -- rrrrrr? -- und wer denn da, rrrrrrrr? -- und wer denn da,
rrrrrrrrrrrr? -- Hans Müller, stell' Dich einmal dahinter an den Ofen zu
dem anderen bösen Knaben, und bleib da stehen, bis ich wieder fort bin,
rrrrrr -- und wie ist das geschrieben -- rrrrrrr? -- sieht das nicht
aus, als ob die Hühner und Gänse darauf herumgekrappelt hätten, he --
rrrrrrrr?«

Hans Müller stand wie aus den Wolken gefallen -- Herr Hennig hatte ihn
bis jetzt vor allen Uebrigen, gerade seines Schreibens wegen, immer
gelobt und ausgezeichnet, und jetzt --

»Nun wird es -- he?« -- fuhr ihn da der gestrenge Herr Superintendent an
-- »Herr Hennig, ich muß gestehen, daß ich mehr Gehorsam in ihrer Schule
erwartet hätte, rrrrrrr -- wir haben noch keine Emancipation Herrrrrrrr,
daß wir jetzt schon oben hinausthäten, als ob wir alleiniger Meister in
der Schule wären, rrrrrr -- noch keine Emancipation Herr Hennig, noch
keine Emancipation, und werden sie auch, mit Gottes Hülfe, im Leben
nicht kriegen -- rrrrrr. -- Hm -- das sieht etwas besser aus, aber auch
eine unbestimmte flüchtige Hand -- keine Methode -- keine Methode -- muß
besser werden, viel besser werden, hm, hm, hm rrrrrrrrr.«

Die Schreibbücher wurden einer höchst scharfen Kritik unterworfen,
beinahe in jedem sah Sr. Ehrwürden etwas zu tadeln und zu rügen, und nur
Einer -- ein Einziger fand Gnade vor seinen Augen, und dieser -- Hennig
konnte ein Lächeln, das sich auf seine Lippen stahl, kaum zurückhalten,
als der Herr Superintendent dem dümmsten Jungen seiner Klasse so
freundlich die runde apfelrothe Backe streichelte. Es war der älteste in
der Klasse, ein Bengel, der, trotz Ermahnungen und Schlagen, in seinem
dreizehnten Jahre kaum eine erkennbare, aus Nichts als Grundstrichen
bestehende Schrift schrieb, das aber gefiel dem frommen Herrn; er sah
darin eine feste männliche Hand, klopfte dem Jungen -- sein Vater
war zufällig der reichste Bauer in Horneck und stand mit dem Herrn
Superintendenten in ziemlich naher Geschäftsverbindung -- freundlich auf
die Schulter, und ermahnte ihn, in Fleiß und Eifer so fortzufahren wie
bisher, rrrrrrrrrrrrr.

Als dies beseitigt war, flüsterte der Pastor dem frommen Herrn etwas
in's Ohr, dieser nickte beifällig mit dem Kopfe, wandte sich dann an den
Schullehrer und sagte:

»Dürfte ich Sie bitten, Herr Hennig -- Ihr Buch -- ich wünschte eine
kleine Religionsstunde zu halten -- hm.«

»Wir haben heute Morgen schon Religionsunterricht --«

»Ich weiß es, ich weiß es -- bitte -- so schön -- hm.« --

Und der Herr Superintendent ließ sich, die Klemmbrille fest auf die
Nase gedrückt, hinter dem Katheder nieder, faltete die Hände über den
aufgeschlagenen Katechismus, warf einen andächtigen Blick zur getünchten
Decke empor -- hustete und räusperte sich und sprach dann mit weicher,
andächtiger Stimme:

»Betet, lieben Kinder -- Vater unser, der Du bist im Himmel --«

»Geheiliget werde Dein Name!« fiel das Chor, den gewonnenen Anlauf rasch
benutzend, ein, und das Gebet des Herrn sagten sie mit so richtigem
Ausdruck und so guter ruhiger Ordnung her, daß sich der Herr
Superintendent nicht erwehren konnte, einige Male beifällig mit dem
Kopfe zu nicken.

Nachdem dies beendet, ging er auf den Katechismus über, und that hier
die wunderlichsten Kreuz- und Querfragen, so daß die Schüler, in dem
Fach überdies nicht ganz fest, da Hennig es nicht für nöthig hielt, mit
dem Auswendiglernen einer Masse von Sprüchen zu quälen und zu ermüden,
anfingen, ängstlich zu ihrem Lehrer aufzuschauen und eins um's andere
mit Glanz feststaken. Die Stirn des Herrn Superintendenten umfinsterte
sich dabei mehr und mehr, auch der Herr Pastor schüttelte ein paar Mal
sehr bedenklich mit dem Kopfe und einem losbrechenden Unwetter wurde
wohl nur durch ein paar gute Antworten der ersten Mädchenklasse
vorgebeugt, von denen besonders die eine, des Wirths Tochter aus
Horneck, eine so fatale Rückfrage that, daß sich der Herr Pastor und der
Superintendent verlegen dabei ansahen, und rasch auf ein anderes Kapitel
übersprangen.

»Gott ist ewig!« sagte der Herr Superintendent und wandte sich damit an
einige Kleineren in der Klasse -- »wißt Ihr was das heißt -- Du da --
hm.«

»Er hat keenen Anfang gehabt,« sagte der, auf dem sein Blick ruhte,
indem er mit Zittern von seinem Sitze aufstand -- »so kann er auch kein
Ende haben, und was keinen Anfang und kein Ende nich hat, das ist ewig.«

»Gut -- hm,« nickte der fromme Herr und wandte sich gleich darauf mit
freundlichem Blick zu demselben, dessen Schreiben er vorher gelobt. --

»Nun sage mir einmal, Peter Schwelbe, wenn also Gott keinen Anfang
gehabt haben soll, wann ist er denn da eigentlich geboren?«

Der Junge sah stier und verdutzt vor sich hin, kratzte sich erst mit der
Rechten, dann mit der Linken in dem struppigen Kopf, wischte sich die
Nase mit dem Aermel, sah erst den Superintendenten und dann den Ofen an
und sagte endlich:

»Davon haben wir keene Kenntniß niche.«

»Sieh, lieber Schwelbe,« entgegnete darauf der Superintendent, ohne,
wie er das bei anderen Fragen gleich gethan, zu dem Nachbar überzugehn,
»wenn Gott gar keinen Anfang gehabt hat, was kann er denn auch also
nicht sein? --«

»Das wissen wir noch nicht!« erwiederte Peter abermals unerbittlich,
während sich die kleineren Jungen unter einander zuflüsterten:

»Geboren -- geboren -- geboren.«

»Geboren, Peter, geboren kann er nicht sein,« sagte der Herr
Superintendent und nickte dem Bengel wohlwollend zu, als ob _er_ die
Frage beantwortet habe. »Ah Du da -- hm -- der Nächste -- Du zeigst mir
wohl einmal Dein -- hm -- Dein Thema von der letzten Predigt -- komm,
schnell« -- und er streckte den Arm gegen den verdutzt dasitzenden
Jungen aus und winkte dazu mit den Fingern. »Nun? -- hm -- wird's bald
-- hm, rrrrrr?« wiederholten Sr. Ehrwürden, »ich habe doch deutlich
genug gesprochen -- Dein Thema rrrrr -- wo hast Du's?«

»Sie entschuldigen,« nahm sich hier Herr Hennig des Jungen an, »ich
lasse die Knaben das Thema in der Kirche nicht aufschreiben, weil --«

»Sie lassen das _Thema_ nicht aufschreiben, Herr Hennig, rrrrrrrr?«
sagte, sich in unbegrenztem Erstaunen nach ihm umwendend, der fromme
Herr -- »Sie lassen das Thema nicht aufschreiben? rrrrr.«

»Ich habe gefunden, daß --«

»Ich bitte, daß Sie _gar_ Nichts finden -- hm -- Herr Hennig, rrrrrr« --
unterbrach ihn aber mit scharf verweisender Stimme der Superintendent --
»gar Nichts finden, hm -- rrrrrrrr -- sondern den von mir -- hm --
von mir verordneten Regeln -- ja Regeln rrrrr -- folgen, wie sie Ihnen
vorgeschrieben sind rrrrr. -- Ich hoffe, daß ich das nächste Mal ein
Thema finde, Herr Hennig -- rrrrrr -- hm -- hm -- daß ich das nächste
Mal ein Thema finde rrrrrrrr.«

Der Superintendent schwieg einen Augenblick und sah mit etwas erhitztem
Angesicht die ängstlich dasitzenden Knaben an, endlich wandte er sich
wieder an den, von dem er das Thema zuerst gefordert und sagte:

»Also weißt Du auch gar nicht, was gestern gepredigt worden ist? rrrrr
und«

»O ja,« fiel der Junge, der sich hier auf festem Grunde wußte ein --
»das weeß ich!«

»So? -- hm -- und was? hm -- wenn man fragen darf rrrr?«

»Wie viel es nütze,« sagte der Knabe, einer der besten Köpfe in der
Klasse -- »wenn wir den Ausspruch des Gamaliels, Apostelgeschichte 5,
34-42. >Menschenwerk vergeht, Gotteswerk besteht< zu unseren Grundsätzen
nehmen.

=a.= dann werden wir vielen Zweifeln entgehn.

=b.= wir werden uns vor so manchen verkehrten Urtheilen bewahren.

=c.= wir werden unsere Tugend vor vielen Gefahren schützen.«

»Hm -- gut -- hm -- gut geantwortet,« sagte der Herr Superintendent,
vielleicht nicht einmal ganz zufrieden, bei dieser Gelegenheit keinen
weiteren Anlaß zum Tadel gefunden zu haben. Die übrigen Knaben, die
er frug, waren übrigens fast eben so taktfest und er begann jetzt,
biblische Sprüche zu examiniren, von denen ihm die Kinder immer gleich
aus dem Kopfe die Quellen angeben mußten. Hierin fand er sie ebenfalls
wieder nicht besonders geübt, denn Hennig hielt es für nützlicher,
seinen Zöglingen den Sinn der Sprüche als den Ort, wo sie in der
Bibel standen, einzuprägen, der Herr Superintendent waren aber anderer
Meinung, fuhren jetzt die Kreuz und Quer im alten und neuen Testament
herum und citirte und tadelte so lange, bis zufällig ein kleiner
Bursche aus einer Ecke heraus einen der von dem gestrengen Examinator
angegebenen Sprüche nachschlug und augenblicklich triumphirend --
natürlich aber in aller Unschuld, verkündete, daß der bezeichnete Spruch
nicht da -- sondern da und da zu finden wäre.

Die Knaben flüsterten unter einander, der Herr Superintendent aber, der
sich nicht wenig ärgerte, hier eine so fatale Blöße gegeben zu haben,
und den Eindruck doch gern verwischen wollte, ging rasch auf die
biblische Geschichte über, in der er sehr bewandert war, und sogar ohne
Buch die Fragen scharfsinnig genug stellen konnte, um selbst den Pastor
und Schulmeister, worauf es jetzt besonders angelegt war, in Erstaunen
zu setzen. Zu seiner Ueberraschung fand er die Kinder jedoch darin viel
fester als er erwartet, und bekam ganz gute Antworten. Das böse Geschick
trieb ihn jedoch, mit unerbittlicher Strenge gerade auf _einen_ Punkt
hin, an dem er scheitern _mußte_ -- ein unglücklicher Zufall brachte
ihm die Familie Noah auf die Lippen und kaum war die Frage heraus,
wer Japhets Vater gewesen, als die ganze Classe in ein unwiderstehlich
schallendes Gelächter ausbrach.

Der Herr Superintendent stand erstaunt und schoß dabei einen so
strengen, Unheil kündenden Seitenblick auf den Lehrer _dieser_ Schule,
daß Hennig, wäre er von anderem Stoff als er gerade war, gewesen,
jedenfalls hätte in die Erde sinken müssen, so aber biß er selbst, das
Komische des ganzen Auftritts mehr, als irgend einen bedeutungsvollen
Ernst fühlend, die Lippen zusammen und sah still vor sich nieder.

Der Pastor glich einer Statue stummen Entsetzens, und stand da, wie wenn
der Himmel sich jetzt wirklich unmittelbar genöthigt sehen würde, auf
sie alle herunterzukommen, und mit Mann und Maus in der Schulstube
zusammen zu quetschen und zu begraben.

»Herr Hennig,« brach sich da endlich der bis jetzt nur allem Anschein
nach, durch seine Ueberraschung zurückgehaltene Zorn und Unwille des
frommen Herrn die Bahn, und damit auch eine Pause, in der selbst die
ausgelassensten der Schuljugend das fürchterliche Vergehen, dessen sie
sich schuldig gemacht, zu begreifen anfingen, und still und verlegen,
bald den Herrn Pastor, bald ihren Lehrer anschauten. »Herr Hennig --
dürft ich _Sie_ vielleicht um eine Erklärung dieses Auftritts, rrrrrrr
-- an dem Sie sich selbst, wie mir fast vorkommen will, zu ergötzen
scheinen, _ersuchen_ rrrrrrrrrr?« -- und er sprach das letzte Wort mit
einem so beißenden Nachdruck, daß Hennig bald merken mußte, in wie hohem
Grade sein mächtiger Vorgesetzter über ihn erbittert sei.

»Herr Superintendent,« nahm er deshalb um nicht selber noch muthwillig
den Groll zu erhöhen, das Wort, »die Kinder sind ungezogen gewesen,
während des Religionsunterrichtes zu lachen, gerade heute und bei
dieser Frage würden Sie es aber auch entschuldigen, wenn Sie den
»Verstandesübungen« mit beigewohnt hätten, wo Einer von den Kleineren
eine, ebenfalls sich auf Noah beziehende Frage so komisch beantwortete,
daß wir Alle lachen mußten. -- Die neue Nennung des Namens ruft dies
jetzt in das Gedächtniß der Kinder zurück, und es ist wohl natürlich,
daß sie dabei nicht ernsthaft bleiben konnten; kam mir doch selbst das
Lachen an, und mußte ich mir Mühe geben, es zu unterdrücken.«

»Das ist recht hübsch von Ihnen, Herr Hennig, sehr hübsch, Herr Hennig
-- rrrrrr -- und Sie mögen das, wie ich gar nicht bezweifeln will --
wenn Sie allein mit den Kindern sind, Herr Hennig rrrrrrrr, auch so
halten -- obgleich es mir -- der guten Sache wegen, versteht sich,
eigentlich lieber wäre, wenn es _nicht_ geschähe -- rrrrrr -- in meiner
Gegenwart aber, und in den wenigen Minuten, die ich hier in Ihrer
Schulstube gegenwärtig bin, rrrr, möcht' ich mir das in Zukunft
höflichst verbeten haben, Herr Hennig -- rrrrrrrrrr.«

»Herr Superintendent, ich versichere Sie --«

»Und noch außerdem möchte ich Ihnen bemerken, Herr Hennig, daß ich in
Ihrer Classe überhaupt, und mit großem Misfallen eine Unaufmerksamkeit
finden muß, die nie, am allerwenigsten aber in einem Religionsunterricht
statt finden sollte -- rrrrrrr.« --

»Herr Superintendent --«

»Wir haben noch keine Emancipation, Herr Hennig, rrrr« -- unterbrach ihn
der fromme Herr, der fest entschlossen schien, den Schullehrer gar
nicht zu Worte kommen zu lassen, »auf's Neue wir haben noch keine
Emancipation, sage ich Ihnen, und es thut mir ungemein leid, rrrrrr
-- Nichts günstigeres über Sie und die Ihnen anvertraute Schule an
ein hohes Consistorium berichten zu können -- wir haben noch keine
Emancipation, Herr Hennig rrrrrrrrrrr.«

»Wollte Gott wir hätten sie, Herr Superintendent,« fiel ihm aber jetzt
Hennig, dem das Blut auch überzuwallen begann, vor all den Kindern so
unwürdig behandelt zu werden, in's Wort -- »dann hätte dieser Auftritt,
der nur bestimmt zu sein scheint, den Lehrer um die Achtung der Kinder
zu bringen, nie und nimmer statt finden können. --«

»Herr Hennig!« riefen der Herr Superintendent und der Herr Pastor in
einem Chor, voll starren staunenden Entsetzens. --

»Wollte Gott wir hätten sie« wiederholte aber, jetzt von seinen Gefühlen
ganz hingerissen und bewältigt, und unbekümmert um irgend einen der
Vorgesetzten, der junge Mann, »daß der Geist des Lehrers frei und
stark die von ihm erfaßte Bahn festhalten und verfolgen könnte, und
segensreich auf das Schicksal seiner ihm anvertrauten Zöglinge, auf das
Schicksal künftiger Geschlechter einwirken _dürfte_ -- kein Heil ist für
Deutschland zu erwarten, so lange der Lehrer unter die Oberaufsicht von
Leuten _erniedrigt_ wird, die vom Schulwesen Nichts verstehn, und sich
doch ein Urtheil über ihn anmaßen, und in deren Händen es noch überdieß
liegt durch heimliche Conduitenlisten den so schon genug Unterdrückten
noch gänzlich zu verderben, indem sie Beschuldigungen auf ihn
häufen, oder ihn durch Anklagen verdächtigen, gegen die er sich nicht
vertheidigen kann, weil er sie nicht einmal erfährt, und erst in ihrer
verderblichen Wirkung kennen lernt.« --

»Herr Hennig rrrrrrr« -- riefen aber jetzt der Herr Superintendent, der
in seinem Grimm und Staunen bald roth und bald blaß geworden war, und
dem _also_ Aufgeregten, der nicht einmal seinen Stand mehr achtete, und
es, mit einer Kühnheit, die _ihm_ beispiellos dastand, wagte, vor der
ganzen Schule in solcher Art gegen ihn aufzutreten, auch am Ende gar
noch etwas Schlimmeres -- vielleicht gar Thätlichkeiten zutraute --
»Herr Hennig, rrrrrrr -- wir werden uns rrrrrrrr -- wir werden uns
wieder sprechen, rrrrrrrrr -- 'pfehle mich Ihnen Herr Hennig --
rrrrrrrrr -- 'pfehle mich Ihnen Herr Hennig -- rrrrrrrrrrrrr.«

Durch den Schwarm der ängstlich und schnell Raum gebenden Knaben brach
er sich Bahn, und verließ, von dem Pastor gefolgt, rasch die Schule. --
Etwa hundert Schritt von deren Thür entfernt, hielt sein Wagen, denn er
war mit Willen nicht ganz vorgefahren, um den Lehrer besser überraschen
zu können. Nach einigen, mit Pastor Scheidler nur noch flüchtig
gewechselten Worten, stieg er ein, rief dem Kutscher den Namen des
Orts zu, den er besuchen wollte, und rollte gleich darauf, von den
neugierigen Blicken der Dorfbewohner verfolgt, den Weg entlang, der auf
das nur etwa anderthalb Stunden entfernte Bachstetten zuführte.

Hennig war indessen, die sich schüchtern zusammendrängenden Kinder
nicht weiter betrachtend, in dem engen Raum, der ihm vor den Bänken frei
blieb, mit raschen Schritten und verschränkten Armen auf und abgegangen,
als sich die Thür wieder öffnete, und Pastor Scheidler noch einmal
herein trat. Er blieb jedoch auf der Schwelle stehn und als Hennig zu
ihm auf, und die Kinder nach ihm umschauten -- sagte er zu diesen mit
freundlicherer Stimme als sie es vielleicht erwartet:

»Ihr könnt zu Hause gehn -- es wird gleich zwölf schlagen -- haltet
hübsch Ordnung.«

Still und geräuschlos glitten Knaben und Mädchen, denen es anfing
unheimlich in dem Raum zu werden, an ihm vorüber, ins Freie hinaus und
der Pastor wandte sich, als auch der Letzte das Zimmer verlassen, mit
wohl ernsten, aber nichtsdestoweniger herzlichen Worten an den gereizten
jungen Mann, der im Anfang schon eine zweite Strafpredigt erwartet
hatte, und -- jedes eigene Interesse hintenansetzend, fest entschlossen
schien, sich keiner gewaltigen Hand mehr zu beugen, jetzt aber, durch
die freundliche Stimme erst überrascht, bewegt wurde -- einen Augenblick
schwieg und dann, ihre sonstige Stellung ganz vergessend, des Pastors
Hand ergriff und mit leiser, fast bittender Stimme sagte:

»Sein Sie mir nicht böse, Herr Pastor, daß ich mich eben von meiner
Heftigkeit so hinreißen ließ, gegen den Herrn Superintendenten so harte
Worte auszustoßen. Ich will allerdings nicht leugnen, daß sie ernstlich
gemeint waren, ich müßte sonst, wollte ich das, mein eignes Selbst mit
abschwören, aber sie sollten den alten Herrn nicht beleidigen, und ich
fürchte fast, daß das geschehen ist -- darf ich auf Ihre Güte rechnen,
darin ein freundliches Wort für mich einzulegen?«

»Lieber Hennig,« erwiederte ihm hierauf der Pastor -- »Sie haben ein
Versehen gemacht, das Ihnen, fürchte ich, nicht so leicht vergeben
werden wird, als Sie jetzt zu denken scheinen -- der Herr Superintendent
fuhr in äußerster Entrüstung fort, und -- es thut mir leid, es sagen zu
müssen -- er hatte in der That recht.«

»Herr Pastor.«

»Ja ja, lieber Hennig, ich habe sonst, wie Sie recht gut wissen, nur
sehr wenig gegen die Art einzuwenden, wie Sie Ihre Schule halten
-- _gar_ nichts dabei gegen Ihren eignen Fleiß und Eifer, die
Unaufmerksamkeit Ihrer Classe war aber heute wirklich auffallend, und
ich kann es dem Herrn Superintendenten gar nicht verdenken, daß er ein
paar tadelnde Worte darüber sprach, ja ich glaube, es ist sogar, was er
gethan, nur seine Pflicht und Schuldigkeit gewesen.«

»Herr Pastor,« nahm da Hennig ernst und ruhig das Wort, »ich glaube,
daß Sie es gut mit der Schule -- und auch mit _mir_ meinen; ich will es
wenigstens hoffen, denn ich habe gerade Ihnen noch nie Gelegenheit zum
Gegentheil gegeben. Das Herz in der Brust thut Einem aber weh, wenn
man sich nun das ganze Jahr in der Schule müht und quält, seine besten
Kräfte, seine besten Lebensjahre daran wendet, etwas Tüchtiges und
Ordentliches aus den Kindern zu ziehen -- wenn man den richtigen
Saamen in ihre Seele gelegt, und dafür auch deren leiseste fernste
Seelen_kräfte_ kennen gelernt hat, und nun einen Mann hereinkommen
sieht, den Gott -- Sie verzeihen mir den Ausdruck -- zufällig zum
Superintendenten gemacht, der von der Schule nur wenig, von der
Behandlung der Kinder gar Nichts versteht, seine eigenen selbstsüchtigen
Ansichten mit herein bringt, überall anstößt, von den Kindern heimlich
ausgelacht wird, da sie, bei den Blößen, die er giebt, bald durchschauen
müssen, was eigentlich hinter ihm steckt, und der denn doch Macht
und Gewalt genug hat, gerade den, den die Schüler am höchsten achten
sollten, ihren Lehrer, in den Staub nieder zu treten und zu vernichten.
Gerade der _Uebermuth_, Herr Pastor, ist es, der endlich selbst einem
armen Dorfschulmeister hat den Nacken heben, und das unerträgliche Joch
fühlen lassen, und _das muß_ abgeschüttelt werden, Herr Pastor, oder
nicht allein _wir_, das wäre das wenigste, und Deutschland brauchte
nicht zu trauern, nein, die ganze künftige Generation geht zu Grunde,
und muß zu Grunde gehen. Der Fluch komme dann auf die Häupter derer, die
es verschuldet.«

»Daß die Kinder unaufmerksam wurden,« fuhr er nach einer Pause von
wenigen Secunden fort, »ist kein Wunder -- sie waren abgespannt -- der
Religionsunterricht vorher, dann die Verstandesübungen, dann wieder
Religionsunterricht, wo soll da die Aufmerksamkeit herkommen? Danach
aber fragt der Superintendent nicht -- wie sein Wort die Dienste des
Lehrers fesseln kann, glaubt er auch den Geist der Kinder in der Hand
zu haben; der aber ist leicht und fröhlich, und wenn ihn die Krause auch
schrecken kann, fassen und unterdrücken wird sie ihn nur langsam und
nur -- nach einem systematischen Mordplan -- dem er endlich unterliegen
muß.«

»Sie gebrauchen etwas starke Ausdrücke, lieber Hennig, aber ich will
das Ihrer jetzigen Aufregung zu Gute halten, und Ihnen einen Vorschlag
machen, der vielleicht nicht allein die ganze eben vorgefallene
Geschichte mit dem Herrn Superintendenten, und zwar selbst bei diesem
in Vergessenheit bringt, sondern Ihnen auch von wesentlichem Nutzen sein
kann. Ich wenigstens weiß nichts auf der Welt, was ich Ihnen abschlagen
könnte, wenn Sie nur dieß eine Mal diesem, meinem Rathe folgen wollten.«

»Und der wäre?« sagte Hennig aufmerksam werdend und gespannt -- »ich
habe doch sonst in allen Stücken, Herr Pastor, gerade Ihrem Rathe so
gern und willig Folge geleistet.«

»Ja -- allerdings -- in _fast_ allen Stücken -- nur in dem einen nicht,
und doch könnte gerade dieses eben jetzt die Folge recht böser und
unangenehmer Folgen für Sie sein -- Sie verstehen was ich meine?«

Der Lehrer nickte traurig und schweigend mit dem Kopfe, und sagte
endlich, nachdem er lange und sinnend vor sich niedergestarrt:

»Aus dem Herzen soll ich all' meine Hoffnung, mein festes heiliges
Vertrauen auf eine Zukunft reißen, elend und arm soll ich, mich selbst
verachtend, dastehen in der Welt, und -- dafür wollen Sie ein hastig
gesprochenes Wort vergessen, und mir wieder gnädige -- _Herren_ sein.«

»Herr Hennig!«

»Zürnen Sie mir nicht, Herr Pastor, daß ich nicht anders handle, als ich
es eben thue -- wäre ich _hier_ schwankend, wer bürgte Ihnen dann dafür,
daß ich in meinem Eifer, in meiner Liebe zu den mir anvertrauten
Kindern nicht auch schwankend würde? Lassen Sie mich auf meiner Bahn
fortschreiten, und Alles über mich ergehen, was da ergehen soll -- ich
fürchte überdieß, daß ich den Leidenskelch noch nicht _geleert_. -- Mag
der Herr Superintendent sein Aeußerstes thun, was jedenfalls geschehen
wird, wenn ich ihm nicht morgen spätestens zu Füßen falle und um
Verzeihung bitte -- mag er die Blitze des Consistoriums auf mich herab
beschwören, ich bleibe meinen Ansichten treu, und gerade _Sie_, Herr
Pastor, zu dessen _besten_ Eigenschaften seltne Charakterfestigkeit
gehört, werden mir darüber am wenigsten zürnen dürfen.«

»Ich weiß nicht recht,« sagte der geistliche Herr, keinesfalls mit
dem Resultat zufrieden, und halb verlegen lächelnd, »ob die >beste
Eigenschaft< eine Schmeichelei oder eine -- Grobheit für mich sein soll,
will sie jedoch im besten Sinne nehmen. Damit kommen Sie übrigens nicht
durch, Hennig -- damit kommen Sie nicht durch. -- Wenn ein vernünftiger
Mensch mit dem Kopfe absolut durch eine Wand fahren will, so prüft
er wenigstens vorher, ob sie aus Stein oder Lehm besteht, und ist
das erstere der Fall, so giebt er es auf -- oder er ist eben kein
vernünftiger Mann mehr. Sie, lieber Hennig, wollen mit dem Kopfe durch
eine solide Steinwand brechen, erlauben Sie mir aber die Bemerkung, daß
der Stein doch noch etwas härter ist, als Ihr Kopf, und das Resultat
kann da, nach allen Gesetzen der gesunden Vernunft, auch nicht im
Mindesten mehr zweifelhaft sein. Ich meine es gut mit Ihnen, und würde
Ihre Beförderung zu einer besseren Stelle mit Freuden gesehen haben,
stoßen Sie aber jede Hand, die Ihnen Hülfe bietet, gewaltsam von sich,
so wundern Sie sich auch nicht, wenn sich Ihr Schicksal, wenigstens
nicht in nächster Zeit so günstig gestalten sollte, als Sie es
vielleicht wünschen. Ich will Sie jetzt mit Ihren Gedanken allein lassen
-- überlegen Sie sich noch einmal, was ich Ihnen gesagt -- auch nicht
einmal ein Zugeständniß verlange ich dann von Ihnen, nur Ihr Betragen,
nur Ihre ganze Handlungsweise mag mir in nächster Zeit beweisen, ob
Sie zur Vernunft gekommen sind, ob Sie den Versuch mit der Mauer noch
wirklich machen wollen.«

Er verließ die Schule, und Hennig stand in dem öden, leeren Raum allein.



Zehntes Kapitel.

Die Verabredung.


Der Abend brach an, die Sonne sank hinter den glühenden Gipfeln der
Bäume in ihr rosenbestreutes Bett und hier und da funkelte einer
der klaren blitzenden Sterne nach dem andern von dem mattblauen
Himmelsgewölbe nieder.

Auf dem Hofe des Rittergutes zu Horneck sah es ziemlich still und leer
aus, die Knechte waren noch in der Schenke oben, oder saßen in der
Gesindestube -- die Mägde melkten die Kühe, um recht bald fertig zu
sein, und den Tanz nachher nicht zu versäumen, und die Brennerei und
andere Gebäude standen fest verschlossen. Nur im Zimmer der Herrschaft
brannte helles Licht und eine laute Stimme schallte manchmal von
dort herüber über den stillen Hof, daß Eines oder das andere vom
vorübergehenden Gesinde wohl einen Augenblick stehen blieb, zuhorchte,
dann mit dem Kopfe schüttelte und weiter ging.

Die breite steinerne Treppe, die, von zwei Seiten und in der Mitte
zusammenlaufend, zur Eingangsthüre der herrschaftlichen Wohnung
hinaufführte, stieg jetzt ein Mann hinauf, der wohl schon eine
Viertelstunde unten im Schatten der Kastanien gestanden und der Stimme
gelauscht hatte. Er blieb auch auf den Stufen noch einige Male stehen,
und schien überhaupt gar nicht so recht entschlossen, ob er weiter gehen
oder vielleicht gar lieber wieder umkehren solle. Endlich entschied er
sich aber doch wohl für das erstere, sprang schnell die noch wenigen
Stufen hinauf, öffnete rasch die Thüre und sah gerade wie von dem
Schlüsselloch links -- nach derselben Stube hinein, aus der das laute
Sprechen tönte, eine dunkle Gestalt blitzesschnell zurück und der in die
Gesindestuben niederlaufenden Treppe zufuhr.

»Poller!« rief aber der eben Gekommene, und der junge Bursche, der hier
so unversehens beim Horchen ertappt worden, wandte sich rasch um und
blieb stehen.

»Poller -- pst!« wiederholte aber der Erstere, »auf ein Wort!«

»Hallo, Krautsch,« sagte mit überraschter, aber unterdrückter Stimme der
Horcher, und kam mit geräuschlosen Schritten auf diesen zu -- »was zum
Teufel führt Dich denn eigentlich hierher -- laß Dich nur um Gottes
Willen nicht -- und besonders _heute_ nicht von dem gnädigen
Herrn blicken, der ist schon wüthend genug auf Dich wegen Deines
Wilddiebstahls, eine Sünde, die Du einmal nicht lassen kannst, und heute
kämst Du ihm außerdem gerade recht.«

»Nu, was giehts denn grade hinte an en Sonndag?« frug Krautsch -- »hot
he sich mit Jemand gezankt?«

»_Mit_ Jemand? -- nein, die, welche Ursache hätte gegen ihn zu zanken,
thut den Mund nicht mehr auf, so gut sie auch sonst die Zunge zu
brauchen wußte!«

»Was? -- habt' Ihr ene Leiche im Haus?« rief Krautsch erstaunt.

»Nein, fürchte Dich nicht,« lachte Poller -- »'s ist nur die neue Frau
von Gaulitz, die jetzt Schläge kriegt nach Noten.«

»De Frau von Gaulitz Schläge? -- Papperlapapp,« sagte ungläubig der Mann
-- »ja, wenn unse Eeener verheirath' is, und seiner Olen eimal ene im
Vertrauen sticht -- aber die gnädige Frau von Gaulitz --«

»-- Wird von dem alten Schuft mißhandelt, daß es eine Art hat,« ergänzte
Karl Poller in nicht gerade ehrerbietiger Weise des Freundes Rede --
»Die Geschichte spielt übrigens schon ein paar Monate -- ja seiner
ersten Frau, einer wirklichen Dame, hat er's nicht besser gemacht, und
da braucht sich die jetzige, seine frühere Haushälterin, denn auch nicht
zu wundern, daß es ihr nicht besser geht -- na, _verdient_ hat sie's --
wenn auch nicht gerade um ihn.«

»Verdient? -- wie so?« frug Krautsch neugierig.

»Hm,« meinte Poller wichtig -- »das sind Familiengeheimnisse, die besser
>unter uns< bleiben -- man hat auch seine Rücksichten zu nehmen. --
Aber was führt Dich eigentlich auf's Schloß her, willst Du wirklich den
gnädigen Herrn selbst sprechen.«

»Ne, ich danke,« brummte der Wilddieb, »där mechte mer schiane uf de
Hucke steigen -- ich wulle Dich sprächen -- he Karl, wie stiahts denn
egentlich mit meiner Geschichte -- han ich was zu ferchten, un is es
verleicht besser, ich bin emal Morgens ganz wegg?«

»Besser _jedenfalls_,« erwiederte ihm vorsichtig Poller -- »außerdem
liegt der Wilddiebstahl nicht allein gegen Dich vor, sondern ich weiß
aus ganz sicherer Quelle, daß, der Teufel mag errathen woher, noch eine
andere Klage gegen Dich aufgetaucht ist, die -- doch Du wirst schon
wissen, was ich meine.«

»Dunnerwetter!« rief, aber mit ganz leiser, erschreckter Stimme der
Bursche -- »das wiare en schiane Geschichte, aber Mosje Poller, in där
stiaken mer nich alleene drin -- zu _där_ sein noch angere Personen
nethig, die nachens eben so dusemang fortmachen kennten wie unser Ener.«

»Sprich nicht so laut,« flüsterte Poller -- »ich weiß wohl, es ist eine
verfluchte Bescheerung und ich werde Dich darin nicht im Stiche lassen;
ich kann's aber am besten noch abwarten, denn _hier_ sitz ich an der
Quelle, und bin jeden Augenblick im Stande, zu erfahren, wie die Sachen
stehen. Ist's nachher Zeit, nun zum Henker noch einmal, dann müßt's
ja keine Eisenbahnen geben, und so viel, daß man nicht gerade gleich
_verhungert_, nun dazu wird wohl noch Rath werden.«

»Here, bei dem _Verhungern_,« flüsterte Krautsch, »fällt mer en
verflucht guder Gedanke in -- wie wärsch denn nu, wenn mer --«

»Pst!« sagte Poller, und horchte aufmerksam nach der Thür herüber,
hinter der der Lärmen gerade von Neuem auszubrechen schien -- »jetzt
geht's wieder los, na der klopft seine eine Hälfte in der Nacht noch
windelweich -- so einen Mann wünscht' ich mir auch, wenn ich eine Frau
wäre -- alt, geizig wie ein Harpar, häßlich wie die Nacht, ein Tyrann
wie ein Tiger und ein frommer Betbruder dabei, der so voller Bibelverse
steckt, wie ein alter Käse voller Maden.«

»Jetzt sagt _sie_ wuhl was?« flüsterte Krautsch, hinüberhorchend.

Poller erwiederte Nichts, sondern schlich nur, während im Innern die
klagende Stimme der Frau laut wurde, vorsichtig wieder auf seinen alten
Platz zur Thüre, und legte erst das Auge und dann das Ohr so dicht als
möglich an das Schlüsselloch an.

»Ich bitte Dich um Gottes Barmherzigkeit Willen, Gaulitz, schlage mich
nicht mehr,« flehte die Frau, »was habe ich Dir denn zu Leide gethan,
daß Du Alles das, was Du mir früher geschworen, so ganz vergessen
hast, und mich jetzt wie eine Verbrecherin behandelst -- wohl _bin_ ich
schuldig und heute -- heute seh' ich ein, was ich an _ihr_ begangen,
aber Du wahrlich solltest doch der letzte Mann auf der weiten Gotteswelt
sein, der mich darum mißhandelte.«

»Hinaus mit Dir -- hinaus und in die Gesindestube hinunter, wohin Du
gehörst,« rief aber jetzt, durch diesen Vorwurf wohl um so mehr gereizt,
da er so sicher gezielt war, daß er das schlummernde Gewissen des Mannes
im innersten Herzen traf, der Oberpostdirector -- »in die Gesindestube
mit Dir und --«

»Hülfe!« schrie die Frau, und ehe Poller, der in diesem Augenblicke
gerade versucht hatte, einen Blick in das Innere zu gewinnen, im Stande
war, zurückzufahren, flog die Thür auf und traf den Horchenden mit
solcher Gewalt an die Stirn, daß er rücklings zur Erde geschleudert
wurde. Krautsch behielt eben noch so viel Zeit, sich in die
Fensterbrüstung zu drücken. Poller aber fühlte sich, ehe er im Stande
war, wieder in die Höhe zu springen und zu entfliehen, in der kräftigen
Faust des Oberpostdirectors, der den Stock, den er eben in der Hand
hielt, derb auf Kopf und Schultern niederfallen ließ und den armen
Teufel so lange bearbeitete, als er nur noch einen Arm möglicher Weise
rühren konnte.

»So -- Canaille!« rief er endlich, als er erschöpft inne halten mußte,
»da --« und er stieß ihn verächtlich mit dem Fuße von sich -- »das
hast Du für's Horchen und ich will Dich lehren, Deine Ohren wieder an
Zimmerthüren zu legen, hinter denen ich spreche -- thust Du's, dann sei
versichert, daß ich Dich Jesum Christum noch besser erkennen lehre.«

Damit trat er zurück, warf die Thüre hinter sich mit aller Gewalt in's
Schloß und ließ den Mißhandelten fast bewußtlos vor Schmerz und Wuth auf
der Erde liegen.

Dieser raffte sich endlich mit leisem Stöhnen und einem bitteren,
zwischen den Zähnen hervorgemurmelten Fluch auf und wandte sich, als
ob er die hintere Treppe hinunter gehen wollte, Krautsch aber glitt in
diesem Augenblicke aus der Fenstervertiefung vor, faßte den Freund am
Arm und zog den nicht Widerstrebenden, ohne weiter ein Wort mit ihm zu
wechseln, zur vordern Thür hinaus, die steinerne Treppe, dem Thore
zu, hinunter, und vor das Gut, in den dicht daran stoßenden in dieser
Abendzeit sonst von keinem Menschen betretenen Obstgarten hinaus.

»Nun, was hast Du? -- was soll?« knurrte Poller endlich, mürrisch
und erzürnt genug, als sein Freund hier, und an der höchstgelegensten
Stelle, von wo aus sie nach allen Richtungen hin das Nahen eines
Dritten leicht erblicken konnten, stehen blieb und lauschte, ob sie
auch wirklich allein und von Niemandem behorcht seien -- »was soll die
Allfanzerei, Gott verdamm mich, ich fange an, es satt zu kriegen, vor
dem >gestrengen Herrn< da drinn Versteckens zu spielen. Hol' ihn der
Teufel, ich will mich nicht weiß brennen, aber geniren würd' ich
mich, die Sonne auf mich niederscheinen zu lassen, wenn ich ein
so niederträchtiger und hundsföttischer Schurke wäre wie der Herr
Oberpostdirector.«

»Willst Du Dich rächen,« flüsterte ihm Krautsch leise und vorsichtig
in's Ohr. Poller fuhr rasch nach ihm herum, und schaute ihm fest und
fragend in das schlau blinzende tückische Angesicht.

»_Ob_ ich's will,« sagte er nach einigen Secunden, »aber wie? -- weißt
Du ein Mittel? -- _verrathen_ darf ich ihn nicht -- ich stecke selbst
zu verdammt tief mit in alle den Geschichten, sonst gäb' es Nichts
leichteres auf der weiten Gotteswelt, als _den_ Burschen Hals über Kopf
in's Zuchthaus zu schicken.«

»Zuchthaus?« meinte Krautsch verächtlich -- »da sägst Du dernach aus, so
'ne hohe Perschon in's Zuchthaus zu kriegen, als ob die nich Winkelzige
genug kennten, drim herim zu gehn -- ene Krahe hackt der angeren de
Oogen noch lange nich aus, un wo mer sich hier nich selber hilft, da
husten Enen die Angeren erscht recht was -- ne Poller, aber ich weeß Der
en Mittel -- machst De mit?«

»Nun heraus mit der Sprache -- erst muß ich's jedenfalls wissen, ehe ich
'was Bestimmtes dazu sagen kann -- he?«

»Ich habe schonst oben im Hause davon angefangen, als der Spektakel
losgung -- Du meentest doch 'was von Verhungern --«

»Hm -- und weiter.«

»Nun siehst De,« fuhr Krautsch eben so leise fort -- »wir zwee Beede
haben das Heifige gerade nich -- wenn mer aber so en Platz wißten, wo
mer mit eenem Ruck -- verstehst De mich -- so was zesammen derwischen
kennten. --«

»Nun? --«

»Nu? -- ih nu, denn meen ich, mer ließen uns de Zeit nicht lange währen,
en griffen zu. -- Merkst De _noch_ nix?«

»Hm -- nun sprich aus,« sagte Poller sinnend, und seinen Freund dabei
etwas mißtrauisch von der Seite anschauend.

»Da is weiter nischt mehr groß auszesprechen,« brummte aber der Bursche
-- »wenn De mich alleweile noch nich verstiahst, so hast'n Brät vorm
Kopp -- Willst es aber absolut deitsch haben, so kannst' es ooch kreihn
-- wie viele Geld hat der Postdirecter neilich mit heeme gebracht?«

»Wie viel? -- hm -- wenn wir _Beide_ es hätten, könnten wir für unser
künftiges Leben zufrieden sein.«

»Na also, un _worum_ kennen wir Beede das _nich_ etwa kreihn? Das mecht
ich wissen. --«

»Das geht nicht,« sagte Poller nach kurzem finsteren Brüten -- »am Tage
ist das Zimmer, wo das Geld liegt, fest und sicher verwahrt, und liegt
so von den übrigen Wohnungen umgeben, daß an ein Einbrechen gar nicht zu
denken wäre, und in der Nacht schläft jetzt, seit es auf dem Gute ist,
der Oberpostdirector selbst darin, und hat immer zwei geladene Pistolen
neben sich über dem Bette hängen. Das Einzige wäre --«

»Nu -- 'raus mit das Eenzige.«

»Das Einzige wäre, wenn er einmal wieder in dieser Zeit sein
gewöhnliches Reißen bekäme und das Bett den Tag über hüten müßte; _dann_
ging es allenfalls, dann sind wir, ich und mein Alter, die einzigen
Personen, die zu ihm hinein dürfen, und nachher -- Gift und Tod, das
müßte eine Wonne sein, dem alten schurkischen Geizhals den so heilig
gehaltenen Mammon von der Seele reißen zu können, und _das_ wäre
allerdings eine Rache. Ich glaube, er ließ, wenn ihm die Wahl gegeben
würde, zehntausendmal lieber sein Leben als sein Geld, und verdammt will
ich sein, wenn er es da nicht auch ganz richtig taxirt. -- Wart Bursche,
den Karl Poller hast Du nicht umsonst wie einen Hund geschlagen und
getreten, und gedenken thut Dir's der, so lange er ein Glied rühren und
einen Plan ausbrüten kann.«

»Also wenn er im Bette liggt, nachens kennten mer ankommen?« frug
Krautsch.

»Die Leute wären nur immer noch zu sehr im Weg,« brummte Poller leise
vor sich hin -- »wenn man nachher etwas auffinden könnte, sie alle
hinten nach den Scheunen hinzulocken.«

»Hm, das wäre nu grade keene Kunst niche,« lachte der Mann -- »en kleen
Bischen Feier in's Untertenne mißte ungeheier schiahn aussähn -- nachens
sterzten se sicher Alle hinger.«

»Brandstifter?« sagte Poller erschreckt -- »alle Wetter nein -- das geht
doch nicht -- da steht Kettenstrafe drauf und zehn oder funfzehn Jahre
mit einer Kette am Bein Straßen zu kehren -- nein, damit wäre der Spaß
doch ein Bischen zu theuer erkauft.«

»Papperlapapp!« sagte mit heiserem Lachen Krautsch, »wenn mer sich
derwischen läßt, so hat mer's nich wegen Brandstiften, sondern wegen's
d'Erwischen lassen verdient -- mer werd aber nich so dumm sin -- _mir_
kommen weck, davor sin mer sicher.«

»Ich weiß doch nicht -- die Sache ist mir zu gefährlich, das will ich
gerade nicht sagen, klingt aber zu bös und -- könnte Einen in verdammte
Verlegenheiten bringen -- ich will mir's lieber noch eine Weile
überlegen -- wir können morgen wieder einmal darauf zurückkommen.«

»Zurückkommen?« brummte Krautsch ärgerlich -- »wenn se mich _vor_- und
die angere Geschichte rauskreihn, nachens, dächt' ich, sprächen mer
Beede nich sehre mehr von Zerickkommen, un da mer nu noch da sin, wär's
meiner Six de rechte Zeit. Nu, Poller, machst De mit?«

»Du willst das Feuer anlegen, und mich nachher -- laß einmal sehen --
ja -- an der Blutbuche neben der kleinen Waldwiese treffen und wenn wir
dann im nächsten Dorf leicht einen Wagen kriegen könnten, der uns auf
den Bahnhof bis Tagesanbruch führte --?«

»Na ob -- ich bin en merkwirdiger Feierwerker -- aber wie wärsch denn,
wenn mer die Sache gleich morgen machten? da han se ja Treibjagd uff'n
Feldern.«

»Nein morgen geht es noch unter keiner Bedingung -- den Tag würd' ich
schon bestimmen -- also _Du_ besorgtest das, und nachher?«

»Dann theelen mer.«

»Gleiche Hälften?«

»Nu verstäht sich -- worum denn niche?«

»Hm -- ja, versteht sich -- -- -- ich will mir die Sache doch lieber
noch einmal erst überlegen.«

Poller wollte sich abwenden, um zum Schloß zurückzugehen, Krautsch frug
ihn lachend, ob er sich vielleicht noch eine zweite Tracht Prügel und
einige Fußtritte holen wolle -- der Oberpostdirector scheine gerade
dazu in der rechten Laune gewesen zu sein. -- Poller ging mit
untergeschlagenen Armen bis ans Thor des Obstgartens, blieb da stehen,
kehrte wieder zurück und flüsterte dann mit dem ihn lächelnd Erwartenden
wohl noch eine halbe Stunde auf das Angelegentlichste zusammen, dann
glitt er leise und vorsichtig wieder in das Thor des Schloßhofs hinein,
dessen kleine Pforte noch aufstand und erreichte auch, ohne vermißt zu
sein, die Stube, die er mit seinem Vater theilte, während Krautsch durch
den Obstgarten hinging und am anderen Ende desselben über die niedere
Lehmmauer stieg, die ihn von der in's Dorf hineinführenden Straße
trennte.



Elftes Kapitel.

Wahlert und Kraft.


Treibjagd in Horneck -- ei, was für ein fröhliches frisches Leben da
gleich über die Leute kommt, die sonst so still und stolz ihre Bahn
gehen; ist es denn nicht gerade, als ob sie mit den Wasserstiefeln und
der Pelzmütze auch den Philister aus- und den vernünftigen Menschen
auf einmal angezogen hätten, und nun mit ihres Gleichen, das heißt, mit
anderen zweibeinigen Söhnen Gottes, mögen sie ein paar tausend Thaler
mehr oder weniger im Vermögen haben, als sie selber, so freundschaftlich
und vertraut verkehren, als wie gerade mit -- »eben ihres Gleichen?«

Auf der Jagd hört jeder Standesunterschied auf, die verschiedenen Herren
Barone, Grafen und Rittmeister von so und so sind eben nicht Barone,
Grafen und Rittmeister mehr, sondern einfach, mit den Bauern, Jägern,
Pachtern etc. etc. »die Herren Schützen,« und die Hasenfelle kehren sich
eben so wenig an den Stand, sondern brennen durch, wo sie ein »Loch«
sehen, mag das nun durch einen Grafen oder Bauer gemacht sein.

»Auf der Jagd hört jeder Standesunterschied auf, lieber Leser? Bitte um
Verzeihung, wenn Du das glaubst, bist Du noch nie mit in _Horneck_ auf
der Jagd gewesen, denn gerade da wäre Dir der Unterschied der zwischen
>von< und >nicht von< gemacht wurde, um so mehr aufgefallen, da Du ihn
in der einfachen, sonst so gemüthlichen Dorfkneipe doch sicherlich nun
und nimmer vermuthet.«

Herr von Gaulitz, dem die Jagd gehörte, hatte nämlich zu dieser,
der ersten Treibjagd in diesem Jahr, eine sehr große Schützenzahl
eingeladen, da die Aufhebung der Jagdgerechtigkeit zu nahe bevorstand,
um nicht wenigstens jetzt noch Alles todt zu schießen, was irgend
vorkam. An Schonen konnte gar kein Gedanke mehr sein, denn daß er, wie
_ihm_ die Bauern geneigt waren, die Jagd unter keiner Bedingung von
denen in Pacht bekam, und wenn er sie wirklich hätte außergewöhnlich
hoch bezahlen wollen, lag auf der Hand. Die Losung hieß daher, da auch
einige Stücken Holz sollten mit abgetrieben werden, »Rikke und Bock,«
und wenn Fasanen vorkamen, »Hahn und Henne.«

»Druff uf Alles was rauch is,« sagten die Bauern -- »ich wäre mich aber
hiten un en Reh schießen; die loofen mer gut genung bis zum nächsten
Jahre rim, un nachens han ich se sälber -- nur rächte Lecher machen.«[2]

  [2]: »Löcher machen,« beim Treibjagen nicht die richtige Entfernung
  von seinem Nebenmann halten, daß eine zu große Lücke oder ein _Loch_
  entsteht.

Da es aber nun außer aller Frage war, daß der Herr Oberpostdirector von
Gaulitz eben die Sprößlinge altadliger Geschlechter mit den »Schützen«
-- die er nun doch einmal gezwungen war einzuladen, damit sein Treiben
nicht zu klein, und die Rehe und Hasen nicht verscheucht würden, ehe
nur einmal zum Eindrücken abgeblasen wäre -- nicht in eine und dieselbe
Stube sperren und mit einem und demselben Frühstücke versehen konnte, so
war der Wirth der Hornecker Schenke angewiesen worden, das gewöhnliche
Gastzimmer für die »Schützen und Treiber,« oder mit anderen Worten für
Alles, was zu Fuß oder in Droschken kam, und das _grüne_ Zimmer, zu
dem auch noch ein besonderer Eingang von außen führte, für die
»Herrschaften,« oder alles das, was in eigenen Equipagen oder zu
Pferde kam, herzurichten. In der Gaststube gab es dabei Eierbier,
Franzbrödchen, Bratwürste und richtigen Korn; in der grünen Stube
dagegen Wein, Caviar, Schweizerkäse, Franzbrödchen und Gänse- und
Schweinebraten.

Und vor der Thür standen die Treiberjungen in ihren abgerissenen Jacken
und Hosen -- denn zur Jagd wurde natürlich immer das Schlechteste
angezogen -- mit großen rauhgeschnittenen Stöcken in der Hand, die Hände
in die Jacken vorn gesteckt, und die schmutzigen Mützen bis über die
Ohren gezogen, und schauten sehnsüchtig hinein nach den wohlbesetzten
Tischen und zechenden Gästen, nach den lockenden Braten und gut
duftenden Würsten. O, was hätten sie d'rum gegeben, nur ein einziges
Mal so recht aus vollen Kräften und mit unbeschränkter Quantität
hineinbeißen zu dürfen in all' das Wonneausströmende -- nur ein einziges
Mal auch sich mit so fettigem Mund und Seligkeit strahlenden Zügen,
in der rechten Hand eine Gänsekeule, in der linken ein Glas blinkenden
Rothwein dastehen zu sehen, wie den kleinen dicken Mann in dem grünen
Rock und der flachen Mütze -- aber nein -- laufen durften Sie mit, und
Hasen schleppen -- angeschossenen nachjagen, bis sie nicht mehr konnten,
und Jagdtaschen tragen und Hunde führen, aber sonst brauchten sie nichts
-- das Stückchen Schwarzbrod, was sie in der Tasche trugen, war ihre
einzige Nahrung -- und auch das fror manchmal, wenn der Nordwind so
recht über die harten Sturzäcker und durch ihre dünnen Kleider pfiff
-- außerdem bekamen sie auch wohl noch einen Schnaps und fünf
Silbergroschen auf den Tag. --

Aber den Anblick hatten sie frei -- sie konnten doch wenigstens sehen,
wie der lange Herr da mit dem großen Schnurrbart und dem riesigen Muff
um den Leib, ein halbes Franzbrod nach dem anderen die unermüdliche
Kehle hinabsandte, und nur manchmal die Brod- und Fleischteller
verließ, um eine verhältnißmäßige und angemessene Quantität Flüssigkeit
nachzuspühlen -- oder jener beleibte Herr mit dem Pfaffengesicht --
nur ein Buchhändler aus der Residenz, aber Einer, der sich gern mit zur
»Aristokratie« zählte, oder sich wenigstens unter jeder Bedingung dazu
hielt -- unbestimmte Massen in zu diesem Zwecke besonders mitgebrachtes
Papier einwickelte, und --

»Wollt Ihr fort da, verdammte Jungen!« fuhr sie in dem Augenblick eine
grimme Baßstimme an, und die armen Teufel stoben wie Spreu vor einem
plötzlichen Sturmwind aus einander -- es war der Rittmeister von
Gaulitz, ein Vetter des Gutsherrn, der, einen wilden Blick um sich
herwerfend, und zornige Flüche dabei in den fuchsrothen Bart murmelnd,
aus der Thüre stolzirte, um sich draußen in frischer Luft von dem etwas
zu eifrig eingeladenen Frühstück ein wenig zu verschnaufen. Die Treiber
zogen sich etwas ängstlich vor der breitkräftigen Gestalt in
einen entfernteren Theil der Hausflur zurück, und die Thür zu den
»Herrschaften« wurde geschlossen.

Lebendiger und wo möglich noch weniger ceremoniell ging es in der
Gaststube zu, wo sich die eingeladenen Revierjäger aus der Umgegend,
die Bauern, Verwalter etc. etc. mit Amtsschreibern, Steuerbeamten,
Controleuren etc. etc. versammelt hatten, und zwischen ihnen durch die
Treiber mit ihren langen Stecken manchmal hin und herschritten, und
bald hier von dem einen Schnaps, bald von dem eine Tasse Eierbier
eingeschenkt bekamen.

Besonders um einen Tisch in der Mitte hatte sich eine muntere Gruppe
gebildet, deren Glanzpunkt ein kleiner wohlbeleibter Bauer mit rother,
in's bläuliche spielender und ungewöhnlich großer Nase war. Die kleine
dicke Gestalt sprudelte von einer Art trockenen Humors, und das ganze
Aussehen des Mannes gab jedem, was er sagte, etwas nur um so mehr, und
oft unwiderstehlich Komisches. Je öfter ihn die Umstehenden zu necken
suchten, mit desto schärferer Münze zahlte er sie zurück, bis das
Gespräch endlich ernster und ernster, und auch auf den jetzigen wie den
künftigen Zustand der Jagd gelenkt wurde.

»Nun Beukel, und was macht _Ihr_ denn, wenn Ihr die Jagd auf Eueren
eigenen Aeckern und Wiesen wirklich in Wald und Teich freibekommt,
schont Ihr?« frug den Bauer einer der Revierjäger.

»Nich 's Kalb im Mutterleibe« schwur Beukel und schlug mit der schweren
Hand donnernd auf dem Tisch -- »die Freude dauert doch am Ende
nicht lange -- und nachher ärgerte man sich erst recht, wenn man den
Großmüthigen gespielt hätte.«

»Na das wird eine schöne Aasjägerei werden -- nachher kann unser Einer
nur die Flinte an den Nagel hängen.«

»Habt sie auch lange genug auf fremder Leute Grund und Boden
herumgeschleppt« meinte Beukel -- »dem Bauer schmeckt sein Hase auch.«

»Daß er dran erstickte« murmelte der Jäger leise vor sich hin.

»Ne ne,« lachte aber der Bauer, der die kaum hörbaren Worte doch
verstanden hatte, »_der_ erstickt schon nicht dran, überhaupt wissen die
armen Leute jetzt noch gar nicht einmal, daß Hasenbraten gut schmeckt,
und es wäre doch recht schön, wenn sie das bei der Gelegenheit auch
einmal erführen.«

»Bei _der_ Gelegenheit nun schon nicht« sagte ein Förster, der hinter
Beukels Stuhl stand und seine Pfeife stopfte.

»Bei _der_ Gelegenheit nicht? -- und weshalb? Wenn der Gutsbesitzer
nicht mehr alle Hasen allein schießen darf, und die kleinen Leute auch
hinausgehn können, und ihr Stück Wild hereinholen, wirds da nicht etwa
besser für die Armen? -- die großen Herren haben ihnen doch wahrhaftig
bis jetzt auch Nichts geschenkt.«

Die Bauern, die um den Tisch herum standen, lachten, der Förster ließ
sich aber nicht irre machen und brummte dagegen:

»Die kleinen Herrn aber noch viel weniger und dann hat's mit der
Jagdfreiheit auch einen anderen Haken. Daß sie Einer den Andern auf dem
Felde todtschießen werden, wenn jeder mit seinem Kuhfuß draußen 'rum
laufen und knallen darf, versteht sich von selbst und ist jetzt auch
schon genug dagewesen, das schadet aber auch Nichts, _die_ Art Schützen
mag sich unter einander selbst aufreiben, und ordentliche Jäger werden
ihnen schon nicht zu nahe kommen, aber der _arme_ Mann ist gerade der,
der unter der Jagdfreiheit zu leiden hat -- nicht etwa die >großen
Herrn< wie sich's der Bauer immer auf allen Bierbänken rühmt.«

»Der arme Mann?« sagte Beukel erstaunt und drehte sich nach dem Förster
um, »na um die Erklärung gäb' ich auch ein Töpfchen Bier.« --

»Dem armen Mann thats wuhl guat, wenn de Raichen Hasenbraten fraßen?«
frug ein anderer dabei stehender Bauer lachend, und die Uebrigen
stimmten mit ein.

»Gewiß thats ihm gut« fiel aber hier der Förster mit Wärme ein, »denn
während der Reiche Wildpret verzehrte, konnte er kein anderes Fleisch
essen, und Rindfleisch z. B. behielt einen Preis, den dann und wann auch
wohl einmal ein _armer_ Mann bestreiten und bezahlen konnte. Wie
wird das aber jetzt werden, wenn das Wild, wenn Hasen und Rehe alle
weggeschossen sind, heh? -- Wir wollen einmal die Residenz nehmen; zu
ganz geringem und durchschnittlichen Maasstab gerechnet sind dorthinein
bis jetzt jährlich doch wenigstens 20000-25000 Hasen geschafft und darin
consumirt worden -- ebenso eine verhältnißmäßige Quantität Rehe, Hühner,
Birkwild, Fasanen, etc. Wer verzehrt dieß Alles? -- Die Reichen und
fehlt ihnen das Wild, so sind die natürlich die Letzten, die _ohne_
Fleisch leben; können sie kein Wildpret, keine Hühner, Rehe und Hasen
bekommen, ei so essen sie Rind- Kalbs- oder Schweinebraten, diese 20000
Hasen und die vielen tausend Pfund anderes Wild fehlen aber jetzt, dafür
wird anderes Fleisch also verbraucht, und dieses muß natürlich bei einem
so gesteigerten Bedarf auch ebenso verhältnißmäßig im Preise steigen.
Wird der Arme nun _noch_ im Stande sein, sich dann und wann ein Huhn in
seinen Topf oder ein Pfund Rindfleisch zu kaufen? -- Fragt einmal übers
Jahr wieder nach, und Ihr werdet hören, wie sie in den Städten darüber
schimpfen.«

»Ah bah, in den Städten mögen sie's thun« lachte Beukel, »so schöpfen
wir auf dem Lande doch wenigstens das Fett von der Suppe.«

»Wir? -- die schöpfen es, welche die Schüssel schon bis jetzt immer
vor sich gehabt« sagte ärgerlich der Jäger -- »die armen Häusler und
Tagelöhner, die kein eignes Feld haben, kriegen immer noch nichts.
Uebrigens schöpft nur -- ein, höchstens zwei Jahr habt Ihr noch ein paar
Rebhühner zu schießen, und nachher wird Sturm geläutet, wenn sich einmal
ein Hase auf dem Felde draußen blicken läßt.«

»Treiber vor!« tönte eine Stimme draußen auf der Diele, und die Treiber,
die sich in der Stube befanden, bewegten sich langsam der Thüre zu, um
sich draußen zu präsentiren und hinaus zu der Stelle geführt zu werden,
von wo das erste Treiben ausgehen sollte.

»Wo hören wir denn eigentlich wieder auf?« frug da ein Verwalter aus
der Nachbarschaft, »wenn wir nicht hierher zurückkommen, möcht' ich auch
meinen Mantel fortschicken.«

»In Skorditz« sagte der alte Holke, der in diesem Augenblick in's Zimmer
getreten war und die Anwesenden zu überzählen schien -- »gleich neben
der Windmühle.«

»Die Skorditzer Bauern haben gesagt, wenn die Schützen auf _ihre_ Felder
kämen, schlügen sie Generalmarsch im Dorfe und rückten aus« meinte ein
Bauer aus Horneck, der mit dem Verwalter an einem Tische saß.

»Die Skorditzer Bauern können zu -- Grase gehn,« brummte Holke, ohne
sich in seinem Zählen irre machen zu lassen -- »sechs und zwanzig, --
sieben und zwanzig, -- acht und zwanzig, -- denen ist auch zu wohl,
und sie wollen erst einmal versuchen wie's thut, wenn man einen Haufen
Militair im Orte hat -- neun und zwanzig -- dreißig -- hol sie der
Teufel alle mit einander -- eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben
und dreißig im Ganzen -- hm wird wohl langen -- ist Fritz noch nicht
dagewesen?«

»Er war erst vor einer Viertel Stunde bei den Treibern draußen, Herr
Förster,« sagte das Schenkmädchen mit freundlichem Gruß und stellte
ein Glas gewärmten Bieres vor ihn hin -- »vielleicht ist er hinüber zur
Herrschaft gegangen -- soll ich einmal nachsehn?«

»Nein, danke schön -- es wird bald ausgeblasen!«

Er goß das Bier mit raschem Zuge hinter, strich sich den grauen großen
Bart aus und verließ mit einem »Gleich wirds fortgehn,« das Zimmer
wieder.

»Die Bauern wollen's nicht leiden, daß wir in Skorditz jagen?« frug ein
Controleur aus der Stadt und schnallte sich den neben ihm liegenden Muff
dabei um.

»Ne,« sagte einer der Treiber, der noch hinter seinem Stuhle stand und
eben im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, »se han gesaiht se werren
erscht alle de Jiagers met Schtung un Stiel usrotten, ähe se se uf ehre
Fälder liaßen -- das sin Mordskerle -- die ferchten sich vor'n Deibel
nich.« --

Er schüttelte lachend mit dem Kopf und sprang schnell hinaus als draußen
das Signal zum Sammeln geblasen wurde -- die meisten der Jäger standen
ebenfalls auf, dem Ruf Folge zu leisten, während die älteren, und mit
dem gewöhnlichen Gang des Treibens schon mehr vertrauten, noch ruhig bei
ihrem Glase oder Warmbier sitzen blieben, den »Schwarm« erst ablaufen zu
lassen, und nachher mit aller Gemüthsruhe einzurücken.

       *       *       *       *       *

Die Jäger zogen mit den Treibern in einem dichten, nur hier und da
durch einzelne Ausläufer umgebenen Trupp, einen engen Dorfpfad, der
von niederen Mauern eingeschlossen zwischen den höher liegenden Gärten
hinführte, dem Felde zu, und etwa zweihundert Schritte hinter ihnen
kamen, zwei und zwei mit einander plaudernd, hier und da auch Einer
allein in stillem Ernst die »Herrschaften.« Den Schluß bildeten einzelne
Nachzügler, oder später Gekommene.

Dieser schmale Gartenweg lief ziemlich südöstlich aus dem Dorfe hinaus,
und weiter oben, gerade nach Norden hinauf lag die größere, schon
öfter erwähnte, und unfern von da in's Holz, nach Sockwitz laufende
Fahrstraße, von der aus man gerade die Felder, auf denen das erste
Treiben gehalten werden sollte, überschauen konnte.

Auf dieser hin schritt langsam, in schwarzem Filzhut und braunem mit
Schnüren besetzten Burnus, ein Mann, hielt dann und wann an, die rege
Gruppe der Jäger zu beobachten, die gerade ihren Sammelplatz auf einer
flachen Wiese erreicht hatte, und von dort, um das ganze Treiben zu
umzingeln, nach rechts und links Schützen und Treiber abwechselnd
aussandte, und blieb endlich an dem nämlichen Steine stehen, an welchem
wir dem alten Schulmeister Kleinholz gleich im Anfang unserer Erzählung
begegneten.

Eine Viertelstunde mochte er so gestanden haben, und das Treiben unten,
das auch einzelne der kleinen Schluchten mit umschloß, war ziemlich
zugezogen, als auf der Straße von Sockwitz her ein anderer Mann im
einfach braunen, etwas abgetragenen Ueberrock, den schwarzen alten Filz
ebenfalls auf dem Kopf, langsam den Weg niederschritt, und eben grüßend
an dem jungen Mann vorübergehen wollte, als dieser, der vorher nur einen
flüchtigen Seitenblick nach ihm hinübergeworfen, sich rasch umdrehte,
und ihm die Hand entgegenstreckend, ausrief:

»Kraft!«

»Wahlert?« -- sagte der Schullehrer, unser alter Bekannter, noch von der
Versammlung her, erstaunt. »Sie hier in Horneck? -- Was um des Himmels
willen hat Sie hergeführt -- Ihre Freiheit ist doch nicht mehr bedroht?«

»Nicht mehr hier -- was in Berlin der Fall wäre, möchte eine andere
Frage sein,« lächelte der junge Mann -- »ja ja, lieber Freund,
so wechseln die Schicksale, erst wie ein gemeiner Verbrecher von
Steckbriefen und Häschern verfolgt, dann nach mir geschossen, wie nach
einem wilden, reißenden Thiere -- dann gefangen -- wieder befreit --
der Abgott des Volkes, von Fürsten gesucht, im Rath der erste zur
Ministerpräsidentschaft berufen, aus der Nacht mit einmal zum höchsten
strahlenden Lichtesglanz emporgeschleudert -- und jetzt? -- ein
flüchtiger, oder doch wenigstens geflüchteter Demagog, ein _mißliebiger_
Republikaner, der mit seinen schönen Träumen endlich wahrscheinlich
-- _auswandern_ muß, um sie, wenn auch nicht mehr in Deutschland, doch
wenigstens in _Deutschen_ realisirt zu finden.«

»Auswandern?« frug Kraft erstaunt -- »weshalb denn gerade _auswandern_?«

»Es wird Nichts in Deutschland,« sagte Wahlert, finster vor sich
niederblickend, »jetzt wenigstens noch nicht, bis nicht eine frische
Anregung von außen kommt, und die jetzt vorzubereiten, das sei das Werk
derer, die wie wir es ehrlich mit dem Vaterlande meinen.«

»Anregung von _Außen_« wiederholte Kraft, traurig dabei mit dem Kopfe
schüttelnd; »ach, lieber Wahlert, so lange wir in Deutschland nicht
selber im Inneren reif zu einer Selbstregierung sind, da hilft uns
auch keine Anregung von Außen, komme sie, woher sie wolle; sie kann die
Ordnung wieder zerstören, die Gesetze umstoßen, das ungebildete Volk
reizen, und zum wilden zerstörenden Aufruhr locken, ihm aber die Kraft
und Einigkeit und besonders die Einsicht geben, deren es, ach leider so
nothwendig bedarf, um seine schlimmsten Feinde zu erkennen, und
keinen Unterschied mehr zwischen schleichenden Reaktionairen oder
bramarbasirenden Wühlern zu machen, _das_ kann eine Anregung von außen
_nicht_, das muß Fleiß und Ausdauer im Inneren wirken.«

»Reif, reif und immer nur reif,« sagte Wahlert unwillig, »sind auch Sie
Einer von denen, die das Wort zum Mantel brauchen, ihre eigene Furcht
darunter zu verstecken? -- Reif -- weshalb soll der Deutsche nicht eben
so gut reif zur Freiheit sein, wie ein anderes Volk -- weshalb ist er
plötzlich _reif_ und ein _Republikaner_, wenn er über die See und
nach Nordamerika kommt? reift ihn etwa die Seeluft oder wird dort ein
besonderer chemischer Proceß vorgenommen, der ihn in mistbeetartiger
Schnelle die hier noch nicht besessene Reife giebt?«

»Sein Sie nicht böse auf mich, meiner Aeußerung wegen,« sagte Kraft
freundlich, »Sie wissen aber noch von früherer Zeit wohl her, wo ich
in der Residenz als Lehrer Ihres Vaters Haus besuchte, daß ich frei und
derb mit meiner Meinung herauskomme, und nicht >meine Furcht unter einem
Mantel< verstecke.«

Wahlert reichte ihm schweigend und das rauhe Wort abbittend, die Hand,
der alte Lehrer fuhr aber lächelnd fort:

»Lassen Sie's gut sein, Sie sind ein junger Brausekopf, und ich sehe das
lebendige Leben eben so gern in dem jugendlichen Körper, wie den Geist
im Champagner und den Uebermuth im jungen Roß, nur einen Irrthum will
ich auf ihrer Seite berichtigen, einen Irrthum, der besonders in
dem letzten Semester auf eine traurige Weise ausgebeutet worden ist,
Unerfahrene zu überrumpeln und einen Beweis für etwas zu liefern, das
sich auf eine andere Art eben nicht beweisen ließ. Sie wissen, lieber
Wahlert, daß ich, ehe ich in die Residenz zurückkehrte, von wo aus
ich gleich, durch des Herrn Generalsuperintendenten Vermittelung und
Fürsprache --«

»Weil Sie seinem Sohne aus der Flut das Leben gerettet --«

»-- Eher vielleicht, weil er mich passend für die Stellung hielt,« fuhr
Kraft fort -- »die Stelle in Bachstetten bekam, mich eine Zeit lang in
Amerika herumgetrieben hatte. Wir haben oft darüber zusammen gesprochen,
und ich suchte Ihnen stets von unseren Landsleuten in Amerika eine
so günstige Meinung beizubringen wie nur möglich -- ich liebe mein
Vaterland und dessen Söhne und wäre der Letzte, der einer ungerechten
Beschuldigung gegen sie Worte gäbe, wollen Sie mir aber mit _denen_
beweisen, daß die zurückgebliebenen Bewohner unseres Deutschlands
ebenfalls reif wären, so rennen Sie da in einen Irrthum hinein, den Sie
nie schmerzlicher einsähen, als wenn Sie selbst nach Amerika kämen.«

»Daß der Deutsche _unfähig_ sei, sich in einer Republik zu regieren, das
wolle Gott verhüten, daß ich das behaupte -- es hieß, ihm sein gesundes
Herz, seine Fähigkeiten absprechen und leugnen, er ist aber eben nur
_fähig_ dazu, und wie das Kind, das den künftigen Gelehrten noch im
ersten innersten Keime mit sich herum trägt, und nicht einmal lesen
kann, ehe es ihm von älteren Leuten gelehrt wurde, so muß auch der
Deutsche vor allen Dingen noch _lernen_, sich selbst zu regieren, ehe er
diese schwere Kunst, soll es nicht zu seinem Verderben zu früh geschehn,
in Ausführung bringen kann.«

»Aber Amerika -- die Amerikaner selber --«

»Sind mir der Beweis dessen, was ich hier gesagt -- Amerika schüttelte
damals das englische Joch ab, proclamirte die Republik und wurde damals
der blühendste Staat der Welt; sind aber dessen damalige Verhältnisse
mit den unseren hier in jetziger Zeit auch nur im Entferntesten zu
vergleichen? Nein, wahrlich nicht -- Amerika war vom ersten Augenblicke
an, wo die Separatisten-Colonie in den Schiffen _Mayflower_ und
_Speedwell_ zu Plymouth im Jahre 1592 landeten, eine Republik. Schon
an Bord des ersten Fahrzeuges entwarfen und unterzeichneten sie ein
Instrument, das zur nöthigen Gründung und Bestätigung ihrer künftigen
Einrichtungen dienen sollte, und in jenem einfachen Document wurde
schon, und zum ersten Male, das große Princip einer freiwilligen
Conföderation von _unabhängigen_ Männern ausgesprochen, die einen Staat
gründeten, >nicht der Regierenden, sondern der Regierten wegen<. Dort
begann sie auf einem freien, noch unentweihten Feld ihre staatliche
Einrichtung, und wenn auch England sein Scepter darüber hielt, so
bestand doch die ganze Botmäßigkeit, die es über seine amerikanischen
Colonien ausüben konnte, nur eigentlich in der Einsetzung von englischen
Gouverneuren, in dem Vorbehalt, ihm mißliebige Gesetze ändern oder
annulliren zu können, und in der Auflage von Steuern und Taxen.
Der freien Entwickelung des Volkes konnte vom Mutterland aus nicht
entgegengearbeitet werden, die in Amerika Gebornen wuchsen, von heißer
Liebe für ihr Vaterland beseelt, und mit nur geringen Sympathien
für Alt-England auf, und wie ihnen endlich der Druck von dort her zu
beengend und unerträglich wurde, da schüttelten sie eben nur das über
das Meer her aufgelegte Joch ab und -- waren frei. Sie hatten kaum etwas
weiteres zu thun, als in die Stelle der vertriebenen Gouverneure
eigene einzusetzen, die Verfassung, die sie sich gaben, wurde nur wenig
verändert, in Rhode-Island zum Beispiel fast gänzlich beibehalten und
kein Mensch wird hiernach die Amerikaner als ein Volk zum Beispiel
aufstellen können, das rasch von der Monarchie zur Republik übergegangen
wäre.«

»Was aber nun die _Deutschen_ betrifft, die dort hinüber auswandern, und
von denen auch Sie leider, lieber Wahlert, vor wenigen Minuten dieselbe
Phrase gebrauchten, die im Munde der sogenannten Republikaner bei den
unteren Schichten unserer Gesellschaft so vieles Glück macht, >ob
die Deutschen, die nach Amerika gingen, etwa auf der See Republikaner
würden, daß sie es drüben so ganz auf einmal, und hier doch gar nicht
gewesen wären<, so will ich Ihnen nur darauf einfach antworten, >_sie
werden es auf der See, und auch selbst drüben nicht_, bis sie nicht ihre
gehörige Lehrzeit bestanden haben<. Denn wollen Sie das nur zum Beweis
gelten lassen, daß sie _wählen_, so macht doch wahrlich die Abgabe
seiner Stimme den Republikaner noch nicht.«

»Wie aber wollen Sie beweisen, daß die herüber gekommenen Deutschen
_nicht_ Republikaner im edlen Sinne des Wortes seien?« frug Wahlert
begierig, »sind nicht eben die Deutschen ihres Vaterlandes und
ihres ehrlichen, treuen und umsichtigen Charakters wegen, gerade in
Nord-Amerika allgemein geachtet und geliebt?«

»Wollte Gott, ich könnte _die_ Frage mit _Ja_ beantworten, dann säße
ich nicht hier im Vaterlande und äße das schwere sauere Brod -- und eben
auch nur Brod, eines Dorfschulmeisters, der sich noch glücklich schätzen
muß, durch einen freundlichen Gönner eine der _wenigen guten_ Stellen
von -- 200 Thaler jährlichen Gehalt bekommen zu haben, und dafür jetzt
Aerger und Verdruß, Sorge, Entbehrungen und Beschwerden das ganze
geschlagene Jahr in vollem Maße einärntet.«

»Wie soll ich das verstehen?« frug Wahlert erstaunt.

»Es ist einfach genug,« sagte Kraft, »und ich will es Ihnen, da es
doch genauen Bezug auf unser jetziges Gespräch hat, mit kurzen Worten
mittheilen. Auch ich kam damals mit all den schönen Hoffnungen von
Deutschthum nach den Vereinigten Staaten, und glaubte in der That,
der Name >ein Deutscher< werde dort schon gewissermaßen allein als ein
Freipaß zur ehrenvollsten Aufnahme gelten -- Großer Gott, wie hatte ich
mich getäuscht. Nur kurze Zeit hielt ich mich in Neu-York auf, das ganze
Wesen und Treiben der Deutschen dort gefiel mir nicht, auch schien
mir eine Art Haß zwischen diesen und den Amerikanern zu bestehen. Nach
Cincinnati zog es mich, der >Königin des Westens<, dort im Westen,
mußte auch der Deutsche, seines Fleißes und sittlichen Betragens wegen,
geachtet sein -- so dachte ich, und was fand ich? -- >=You shall call me
a dutchman=< -- >Du sollst mich einen Deutschen nennen, wenn das und das
wahr ist<, -- lautete das Sprichwort der Amerikaner und leider nicht nur
der niederen Klassen. =God damn the dutch= tönte es wohl hundert Mal des
Tags in meine Ohren, und das Herz, glaubte ich, sollte mir brechen vor
Weh und Scham. -- Ich zog in die Wälder, trieb mich viele Jahre in den
dünnen Ansiedlungen der weißen Pioneere, -- Jahre lang zwischen den
halbcivilisirten Indianern herum, und kehrte endlich, eines geselligen
Verkehrs bedürftig, nach den Vereinigten Staaten zurück. Und was fand
ich dort? -- gerade zur Zeit der Wahlkämpfe traf ich in Philadelphia
ein -- auch Deutsche brauchten ihr Recht, das Recht der freien Wahl, das
Recht eines freien Bürgers -- und _wie_ brauchten sie es? Kaufen ließen
sie sich von Whigs oder Demokraten, nicht wer das meiste bot, denn
_schlecht_ waren sie eigentlich nicht, nein, wer das _erste_ bot, wer
ihnen zuerst in den Weg kam und sie zu überreden wußte, dem überließen
sie sich. Keinen Begriff hatten sie von dem, was die Wahl eigentlich
bedeute, was sie für einen Einfluß auf sie selbst, auf das ganze Land,
ausüben könne -- >ach was< hört ich Viele sagen, >ob ich den oder den
Wisch in den Kasten stecke, darum bleibt Amerika doch stehn und wir
kriegen auch nicht mehr Lohn.< Anderen machte ich Vorwürfe über ihr
schändliches schaamloses Betragen und erhielt die Antwort: >Geht zum
Teufel -- wir sind hier freie Amerikaner, und können stimmen wie wir
wollen.<«

»Und das waren meine Landsleute, das waren die Männer, die ich mir als
>Republikaner< geträumt, für die ich geschwärmt, die ich zum Beispiel
für Andere, gerade wie Sie es gethan, aufgestellt hatte. Und von
_solchen_ Menschen könnten wir in Deutschland eine Besserung der
Zustände erwarten? -- Lange kämpfte ich damals mit mir selbst, was ich
thun, wie ich handeln sollte, endlich war mein Entschluß bestimmt --
nach Deutschland kehrte ich zurück und in Deutschland lag ferner, so
lange diese schwachen Kräfte noch ausreichten, mein Wirkungskreis. Das
Volk, oder wenigstens den kleinen mir anvertrauten Theil desselben,
wollte ich heranziehn nach besten Kräften, wollte _Männer_ aus ihnen
machen, Männer, die wissen, was sie sich und ihrem Vaterlande -- seien
sie nun darin geboren oder aus freier Wahl hervorgezogen -- schuldig
sind -- wollte mit einem Worte würdige _Republikaner_ heranbilden,
die ihre Zeit begriffen und verstanden. Was ich dabei unter Republik
verstehe, vertrüge sich auch recht gut mit einer constitutionellen
Monarchie, wenn diese Form, der Masse wegen, beibehalten werden müßte,
aber ein König oder Kaiser würde dann auch nur der Präsident der Staaten
sein und die Macht in der Majorität -- im Volke ruhen.«

»Das, mein guter Herr Wahlert, ist _meine_ Politik und ob ich recht
gehabt, mag die Zeit lehren. Unser -- Deutschlands Heil liegt nicht
in der Gegenwart, obgleich ich gar nicht leugnen will, daß die letzte
Revolution heilsam, ja sogar nöthig war, die starre Rinde erst einmal
zu brechen, die uns mit ihren Banden umschlossen hielt -- die Freiheit
mußte _geboren_ werden, ehe sie überhaupt bestehen konnte, jetzt aber
haben wir sie heranzubilden und zu pflegen nach besten Kräften, daß
sie in der aufwachsenden, von ihr beseligten Jugend eine starke, einige
Stütze finde und nachher, lieber Wahlert, nachher wollen wir wieder von
der Abänderung der jetzigen Staatsform sprechen. Ist dann die Majorität
des Volks, mit ihrem vollen Bewußtsein _für_ Republik, ei lieber Gott,
_wer_ will sie ihr dann vorenthalten können, und ist sie es nicht? Gut,
dann wird sie auch wissen weshalb, und sich der Majorität zu fügen, ist
selbst Pflicht des Republikaners. -- Wenn er nämlich wirklich auch ein
Republikaner im Herzen ist, und sich nicht blos in eitlem prahlerischen
Dünkel den Namen und die rothe Cokarde beilegt, zugleich aber gegen
die Titel und Orden, die doch in dem Fall nur ganz dasselbe sind, in
phrasenreichen Reden donnerte. Und Sie schweigen?«

Wahlert stand, den linken Fuß auf den Stein gehoben, den linken Ellbogen
auf das Knie, in die Hand den Kopf und die rechte auf seinen Stock
gestützt, still und schweigend wohl mehrere Minuten da und sagte endlich
leise:

»Manchmal, in recht trüben, schweren Stunden, haben mich ähnliche
Gedanken überkommen, und ich zweifelte dann, wenn ich mich hie und
da einmal in meinen Hoffnungen getäuscht, in meinen liebsten Plänen
verlassen sah, an der Ausführung des hohen herrlichen Ziels. Aber nein,
nein, es kann, es darf nicht sein,« rief er, sich plötzlich hoch und
freudig emporrichtend -- »nur ängstliches Alpdrücken ist das, was uns
jetzt Herz und Seele manchmal beengt, noch nicht hineinfinden können
wir uns in den Gedanken an so Göttliches. -- Es ist wahr, in der
Volksversammlung jauchzt die Menge nur dem Redner zu, der ihm die
schwülstigsten Phrasen, die gröbsten Schmeicheleien in den Bart wirft --
mit Mismuth und Aerger hab' ich beobachtet, wie in den Versammlungen der
Demokraten besonders, wo leider am wenigsten die Intelligenz vertreten
war, einige Wenige die Debatte leiteten und die Masse nur dazu da zu
sein schien, beim Abstimmen ihrer Führer Meinung zum Beschluß zu erheben
-- aber das sind einzelne Misgriffe, die von selber in ihr Nichts
zurückfallen werden. Das Volk selbst, das heißt der Kern des Volks, der
Landmann, der Bürger weiß was er will und das einzige was _wir_ jetzt zu
thun haben ist, ihn dazu anzutreiben, daß er auch _will_, was er weiß.«

»Gut« sagte Kraft ernst -- »so gehn Sie denn hier im Lande herum und
betrachten Sie sich das, was sie den _Kern_ desselben nennen -- kommen
Sie zu dem Bauer, Gärtner, Häusler, zu dem Knecht und Tagelöhner, gehen
Sie selbst zu den bemittelteren Bewohnern in Horneck und Bachstetten und
wie die umliegenden Ortschaften alle heißen, und _dann_ sagen Sie mir
wieder, ob _das_ Republikaner sind, die Sie da finden, ob Sie sich
getrauen, mit _dem_ Volk eine Republik zu gründen. Sie wissen selbst am
Besten, wie Sie hier von den >Arbeitern,< weil Sie denn einmal den Titel
wollen, förmlich einem wilden Thiere gleich gehetzt wurden. -- Ja ich
weiß schon, damals konnten die Leute es Ihnen noch nicht ansehn, daß Sie
Ihr Leben und Vermögen blos _seinem_ Wohl geopfert und Alles verlassen
hatten was den Menschen an die Heimath fesseln kann, nur um die
Undankbaren von ihren Fesseln zu befreien und -- glücklich zu machen.
Aber jetzt -- jetzt wissen sie das Vorgegangene, jetzt wissen sie, daß
man Sie damals nur verfolgte, weil Sie Ihre Meinung zu frei geäußert
und die Massen versucht hatten, zur Erkenntniß ihrer selbst zu bringen.
Jetzt wissen sie, daß kein Verbrechen auf Ihnen lastet, jetzt wissen
sie, daß Sie nur stets des armen Mannes Bestes gewollt und erstrebt, und
blind folgte Ihnen die Schaar, wohin Sie die Fahne trügen. Treten Sie
ihr aber einmal mit festem Wort entgegen, versuchen Sie den Strom zu
dämmen, der im Begriff ist, sein Ufer zu überschwemmen, und Alles ist
vergessen, was früher geschehn, gethan, -- >Reaktionair!< brüllt die
Menge, und einmal verdächtigt, könnten Sie selbst die besten heiligsten
Motive vor ihrem Fluch nicht schützen. Die eigenen Führer sind die
ersten, die von den siegestrunkenen _Republikanern_, wollten sie die
Republik _jetzt_ proklamiren und nachher dem Mord und der Plünderung
Einhalt thun, an die Laternenpfähle geknüpft würden. --«

»Doch ich predige da tauben Ohren und es ist mit der Politik, wie mit
der Religion; zwei, die verschiedener Meinung sind, kommen zusammen,
zanken und disputiren sich Stunden lang, gerathen in Eifer, werden oft
bittere Feinde und wissen doch voraus, daß sie nie des Anderen Meinung
ändern können. -- Dort unten scheint indeß das Treiben zusammengekommen
zu sein; wie die armen Hasen springen, und selbst noch mit zerschossenen
Läufen ihren Feinden, den Hunden, und den noch weit ärgeren, den
Menschen zu entgehn suchen -- arme Thiere, Ihr seid eingekesselt, und
ringsherum rücken die todtbringenden Rohre zusammen -- wählt Euch einen
sicheren Schützen zum letzten Sprung, der es bald mit Euch vorüber
macht, mit zerschossenen Gliedern die kalte Nacht im Felde zu liegen und
dann nicht sterben zu können, muß gar traurig sein.«

»Haben Sie einen besonderen Zweck, der Sie heute nach Horneck führt,
lieber Kraft?« frug Wahlert endlich nach ziemlich langer Pause, »daß ich
hier sei, konnten Sie doch kaum wissen, und schienen auch erstaunt mich
zu sehn.«

»Allerdings« erwiederte der Lehrer »mein Besuch gilt auch eigentlich nur
dem armen alten Kleinholz, der vor längerer Zeit schon emeritirt wurde
und jetzt in fürchterlichster Noth, sich an das Ministerium um Zulage
gewandt hat. Er wollte aber dabei meinem Rath nicht folgen und sich
_direkt_ an den Minister wenden, sondern zog den Weg durch den Pastor
und zwar mit dessen Bevorwortung vor, Pastor Scheidler meinte er, oder
der >Herr Pastor Scheidler,< wie er sagte, hätte ihm schon in früherer
Zeit versprochen, Alles aufzubieten, was in seinen Kräften stünde,
ihn in der Noth zu unterstützen und auf dessen Bericht hin, der in dem
gewöhnlichen steifen amtlichen Styl gehalten wird, kann ich mir
nicht denken, daß das Ministerium viel thun wird -- es kommen zu viel
derartige Eingaben. Doch es ist ja möglich, und ich wollte nur
einmal sehn ob es dem armen alten Mann etwas besser geht, und ich ihm
vielleicht einige Unterstützung bringen kann.«

»Steht sich der alte Schullehrer hier im Orte so schlecht?« frug
Wahlert, »es ist doch ein so großer Ort, und sollte sicherlich gerade
_den_ Mann hegen und pflegen, der all seine Bewohner vielleicht groß,
und viele zu braven wackeren Menschen herangezogen hat.«

»Du lieber Gott, darüber ließe sich so Manches sagen« erwiederte ihm
Kraft seufzend. »Mit funfzig Thalern soll der Mann auskommen, sieben
gesunde Kinder ernähren -- und nicht betteln gehn, -- es ist lächerlich
-- aber recht traurig. Doch leben Sie wohl, lieber Wahlert -- ich habe
geschwatzt und geschwatzt und die schöne Zeit damit versäumt, Wasser
in die Rausche zu tragen. -- Gott bessere es -- vielleicht sehn wir uns
heut' Abend im Dorfe wieder, ich werde in der Schenke übernachten und
erst morgen früh nach Bachstetten zurückkehren.«

Und einen herzlichen Händedruck mit dem jungen Manne wechselnd, schritt
er rasch auf dem breiten, mit gelbem Kies überworfenen Weg entlang,
dem Dorf zu, das er in kurzer Zeit gerade da erreichte, wo der
kleine Fußpfad nach Schule und Kirche hinüber und zwischen Sturz- und
Stoppelfeldern hin, rechts abführte.



Zwölftes Kapitel.

Die Begegnung.


Wahlert stand noch eine lange Zeit, und schaute erst mit stierem, aber
an Nichts haftendem Blick nach der Richtung hinaus, die sein alter
Lehrer genommen, und dann, als dieser hinter den Gebäuden und Obstbäumen
verschwunden war, in das Thal hinunter, wo die Treiberjungen eben die
geschossenen Hasen auf einem Rain zusammenschleppten, und in eine
Reihe legten, und die Schützen indeß in langer Linie auf einem schmalen
Stoppelfeld weiter in's Revier hinunter gingen, das zweite Treiben zu
beginnen. Endlich richtete er sich empor aus seinem dumpfen Brüten,
stützte einen Augenblick noch die Stirn in seine linke hohle Hand, warf
dann plötzlich, wie in neu erwachendem Stolz und gekräftigten Entschluß
den Kopf zurück, und schritt mit verschränktem Arm rasch, und weder
rechts noch links mehr schauend, in den Wald hinein.

Es war ein schöner, aber auch düsterer Morgen, links neben den Feldern
hin breiteten sich weite Flächen rosig blühender Haidedecken, hier
und da mit grünen Kieferbüschen wie überstreut. Dazwischen herauf
aber ragten graue schroffe Felsblöcke, halb eingehüllt in den
blüthengeschmückten Teppich, und einzelne entlaubte Eichen schüttelten
darüber hin ihre dürren Aeste. Weiter drüben jedoch, wo das fruchtbarere
Land begann, wechselten gelbe Stoppeln mit grün schimmernden
Rapsflächen ab, und hier und da füllte die, in den wellenförmigen Boden
eingerissenen Schluchten, junger kräftiger Baumschlag von Birken und
Buchen.

Ueber diese hin lag, gerade den Gipfel des entferntesten Hügels krönend,
das kleine Dörfchen Skorditz, bis auf dessen Fluren die Hornecker
Jagdgerechtigkeit reichte, und ein langer, scharf gegen den Horizont
abstechender Pappelnkamm, zog sich von einem Ende desselben bis
zum anderen, die ganze Häuser und Baumgruppe wie mit einem Diadem
umschließend, hinüber.

Wahlert hatte eben eine breit ausgehauene Waldschneuse erreicht, durch
die hin er, auf die eine Seite wie durch ein Perspectiv nach Skorditz
hinübersehen konnte, während er auf der anderen, von einer kleinen
Anhöhe begünstigt, einen weiten, von Wald umschlossenen Wiesenplan
überschaute. Es war dieselbe Stelle, in deren Nähe er damals, gerade als
er die Schneuse überspringen wollte, die beiden jungen Damen getroffen,
angeredet, und von dem dazukommenden Jäger so rauh behandelt war, und
das Gedächtniß jener Tage mochte ihm wohl recht peinlich, und doch in
ihren Folgen auch süß und tröstend durch die Seele ziehen. Er lagerte
sich in das weiche, duftige Haidekraut, und schien eine lange Zeit
vollkommen in seinen Gedanken und Erinnerungen verloren.

»Wunderliches Schicksal,« murmelte er vor sich hin, während sein Blick
die Stelle überflog, wo er damals seine jetzige Braut zuerst gesehen,
»konnt' ich wohl denken, als ich die schlanke, liebe Gestalt auf mich
zugleiten sah, daß jenes holde, herzige Wesen für den Mann Mitgefühl,
und dann _Liebe_ empfinden sollte, der mit zerrissenen Kleidern, mit
wirrem Bart und Haar, bleich und verstört, einem Räuber ähnlicher als
einem Unglücklichen, in ihren Weg sprang? -- Aber bestimmt denn auch
das Kleid den Werth des Menschen? Bleibt nicht das Herz sich gleich im
Bettlerrock, wie unter --« Er hielt plötzlich inne, schaute erst einen
Augenblick still und starr vor sich nieder, und barg dann mit tiefem
Seufzer das Antlitz in den Händen. Ein bleiches, schmerzdurchschauertes
Bild zog mit vorwurfsvollen Blicken an seiner inneren Seele vorüber, und
strafte die Worte Lügen, die sein Mund gesprochen.

Leichte Schritte wurden gehört, den Weg aus dem Holz heraus kam eine
Frauengestalt, in ein einfach dunkles Gewand gekleidet; sie hatte einen
alten Shawl fest um sich hergeschlagen, und in der rechten Hand hielt
sie einen Strauß von Kornblumen, wie sie noch draußen auf den Rainen
blühten. Langsam kam sie die Straße herab, und als sie die Stelle
erreichte, wo der junge Mann auf der kalten Erde lag, und die Stirn noch
immer in das buschige, blumige Haidekraut hineingepreßt hielt, da blieb
sie stehen, und schaute halb neugierig, halb ängstlich zu ihm nieder.

»Sind Sie krank, Fremder?« sagte sie endlich mit gedämpfter mitleidiger
Stimme -- »kann ich etwas helfen?«

Wahlert hob rasch den Kopf empor, sah das bleiche Mädchen dicht vor
sich, über ihn hingebeugt, und strich sich schnell mit der Hand über die
feuchte Stirn, als wenn er sich erst wirklich überzeugen wolle, ob
er wache oder noch fort träume in seinen wilden, wehdurchzuckten
Phantasien.

»Marie?« -- sagte er emporspringend, und mit noch immer zweifelnder,
kaum verständlicher Stimme -- »Du hier? -- im Wald -- allein?«

Ueber des Mädchens Züge hatte sich Todtenblässe gebreitet, und die
beiden hellrothen Flecke glühten in eigenthümlichem fieberhaften Feuer,
aber sie sprach kein Wort -- kein Laut des Erstaunens kam über ihre
Lippen, den Mann hier zu finden, dessen Anwesenheit im Dorf ihr schon
Herz und Seele mit peinlich quälender Angst erfüllt hatte.

So standen sich die Beiden viele Minuten lang schweigend gegenüber, es
war fast, als ob sich Jedes scheute, den Zauber zu brechen, der über dem
Begegnen lähmend ruhte. Marie war die erste, die sich sammelte.

»Guten Tag, Herr Wahlert!« sagte sie leise, und wandte sich zum Gehen --

»Marie,« bat da der junge Mann, und ergriff die Hand, die sich nur
schwach dagegen sträubte, der seinigen zu begegnen, -- »wie geht es
Dir -- Du siehst bleich, krank und -- leidend aus, (er konnte das Wort
_dürftig_, das ihm auf den Lippen lag, nicht aussprechen) kann ich etwas
für Dich thun?«

»_Sie_?« sagte das Mädchen, und schaute ihn erstaunt mit ihren großen,
fast geisterhaften, dunkeln Augen an -- »_Sie_? -- Was können _Sie_ für
mich thun, Herr Wahlert? Sie, der Bräutigam Sophiens, der im Begriff
steht, sein Vaterland und seine Familie zu verlassen, um in fernen Zonen
an der Seite der Geliebten eine neue Heimath zu suchen?«

»Und sollen wir _so_ auf immer scheiden?« frug Wahlert, von dem weichen
Ton der Jungfrau schmerzlich berührt, »Du gabst mir damals die Freiheit
wieder, Marie, als mich die Häscher dem Kerker entgegenführten --
rettetest vielleicht dadurch mein Leben, denn es lag ihnen in der Zeit
viel daran, _mich_ gerade unschädlich zu wissen.«

»Und jetzt sind Sie von keiner Gefahr mehr bedroht?« frug mit monotonen
Lauten das Mädchen.

»_Hier_ von keiner, das Volk hat gesiegt, und Glück und Wohlstand wäre
ihm verbürgt, wenn es jetzt, o nur jetzt, fest und treu zusammenhielte.«

»Glück und Wohlstand,« murmelte Marie, und wickelte sich fröstelnd
fester in ihren Shawl ein -- »Glück und Wohlstand -- und wenn es fest
und treu zusammenhielte« -- wiederholte des Musikanten Tochter die Worte
des jungen Mannes mit schmerzlicher Bitterkeit -- »was aber kann der
eine Theil dafür, wenn sich der andere kalt und -- treulos von ihm
abwenden -- von ihm losreißen _will_? -- Was verschuldete _er_, um in
Unglück und Elend hinausgestoßen zu werden -- während der Andere das
Glück einer Welt in seine Arme zieht? Glück und Wohlstand für Alle --
für Alle, nur nicht für die Elenden und in den Staub Getretenen, nur
nicht für --«

Das Mädchen, dessen Wangen bei den letzten Worten eine fliegende
Gluth wie mit überirdischem Glanz übergoß, und ihr für Momente mit dem
feurigen Strahl der großen Augen, fast die frühere Schönheit wieder auf
ihr Antlitz zurückzauberte, hielt plötzlich inne, strich sich mit der
einen Hand die in die Stirn gefallenen Haare zurück, wandte sich dann ab
und sagte mit leiser, wieder ganz ruhiger Stimme:

»Es ist besser, wir scheiden so, und kein Wort wird weiter unter uns
gewechselt -- ich will keinen Stachel der Reue in Ihre Seele drücken,
jetzt, wo Sie die Pflicht übernommen, ein treu an Ihnen hängendes
Mädchenherz mit starker, nicht schwankender Hand durch's Leben zu führen
-- nur eines noch, eines liegt mir auf der Seele, und selbst Gott könnte
nicht von mir verlangen, daß ich _das_ Bewußtsein sollte mit in mein
Elend -- mit in mein Leben hineinziehn.«

»Marie, was ist Dir, Du bist fürchterlich erregt?« sagte mit Mitleid in
Ton und Blick der junge Mann.

»Sie glaubten mich _schuldig_,« fuhr die Unglückliche, sich wieder zu
ihm hinwendend und seinem Auge mit festem offnen Blick begegnend, fort
-- »ich bin es _nicht_.«

»_Nicht_?« rief Wahlert erschreckt und schaute mit ängstlicher Spannung
auf das erregte Antlitz der einst, ach so heiß Geliebten -- »nicht
schuldig? -- aber großer Gott -- wie kam es da -- weshalb -- wie ist
mir denn, mir wirbelt der Kopf vor Allem, was sich mir toll und
sinnverdrehend hineinwirft -- nicht schuldig -- und Dein Kind?«

Marie barg das Antlitz eine Zeit lang in den Händen und große schwere
Thränen drängten sich zwischen ihren Fingern hindurch.

»Mein armes Kind!« flüsterte sie leise.

»Du sprichst in Räthseln.«

»Deren Lösung Ihnen das Herz brechen würde,« erwiederte Marie, jetzt
plötzlich sich gewaltsam zusammenraffend -- »genug -- genug -- nur nicht
als Schuldige, Treulose wollte ich in Ihrem Gedächtnisse leben, der
Gedanke war mir zu fürchterlich in all' dem Leide, das überhaupt auf
meinem Pfade liegt. -- Sie wissen, daß ich Sie _nie_ belogen, und werden
mir glauben -- jetzt leben Sie wohl und -- glücklich -- recht glücklich,
und wenn Sie manchmal der armen Marie gedenken, sei es -- in -- in
Mitleid -- aber nicht in Haß.«

Mit flüchtigen Schritten eilte sie davon, wenige Secunden später aber
stand Wahlert auch an ihrer Seite und ihren Arm ergreifend, und sie fest
dadurch an die Stelle bannend, rief er rasch und heftig:

»Marie, nicht so -- beim ewigen Gott, nicht so -- ruht hier ein dunkles
Geheimniß, so muß ich es lösen, und will es wissen -- sprich, wenn noch
ein Strahl von Liebe für mich in Deinem Herzen lebt, sprich.«

»Aus eben dem Grunde sollte ich schweigen,« sagte die Unglückliche --
»weshalb dieselbe Last auf ein zweites Herz übertragen, wenn das erste
dadurch nur um ein so geringes erleichtert wird -- es wäre Sünde. Gehe
wie bisher Deine Bahn, kalter, erbarmungsloser Mann, und schaue, mit
Deinem Ziel im Auge, nicht nach den Blumen zurück, die Du zertreten
hinter Dir läßt.«

»Du bist grausam, Marie, und folterst mich durch Dein Schweigen -- nur
die beiden Fragen beantworte mir, wenn Du den Frieden meiner Seele höher
achtest, als den Stein, den Dein Fuß aus Deiner Bahn wirft -- wer ist
der Vater Deines Kindes?«

»Meine Schmach,« stöhnte Marie und barg Stirn und Augen in ihrer Linken.

»Du schweigst?« flüsterte Wahlert, und der eigene Laut seiner Stimme
machte die Jungfrau erschreckt zu ihm aufschauen.

»Und auch jetzt noch Mißtrauen?« sagte sie und warf noch einen Blick auf
den vor ihr Stehenden mit leisem Vorwurf im Ton -- »so sei es denn, und
dies Geständniß möge mir Gott zur Sühne meiner Sünden rechnen -- der
Oberpostdirector von Gaulitz.«

»Der Bube!« zischte Wahlert zwischen den zusammengebissenen Zähnen
hindurch.

»Sie wissen,« fuhr Marie, jetzt wieder hochroth von Schaam übergossen,
und von Wahlert abgewandt, fort -- »daß die traurigen Verhältnisse
meines Vaters mich zwangen, mein Brod mir außer dem Hause zu verdienen;
-- Sie lernten mich dort kennen -- lieben. Mein unseliges Verhängniß
wollte aber, daß jene herrliche Frau, bei der ich fast wie ein eigenes
Kind gehalten wurde -- starb -- ich mußte meine Stellung aufgeben
und ein böser Geist führte mich in das Haus des Oberpostdirectors von
Gaulitz als Wirthschafterin. Sie selbst waren kurze Zeit vorher auf
Reisen gegangen. Jener weißhaarige Bösewicht hielt nicht lange mit
seinen schändlichen Anträgen zurück -- ich wies sie mit Abscheu von mir
und wollte sein Haus verlassen -- die letzte Nacht -- heiliger Gott,
ersparen Sie mir das Geständniß -- ein höllischer Saft, den ich unbewußt
trank, muß mir die Besinnung geraubt haben -- am andern Morgen war ich
verrathen und -- elend.«

»_Teufel_ der,« rief Wahlert, mit dem Fuße stampfend.

»Ich floh zu meinem Vater,« sagte Marie mit kaum hörbarer Stimme, »und
hoffte von Stunde zu Stunde auf Ihre Rückkehr -- Sie _kehrten_ zurück,
aber nicht zu mir. Ein Brief, den ich an Sie, mit der ganzen Erzählung
der an mir verübten That -- mit der Bitte, um Hülfe, um _Gerechtigkeit_
sandte -- kam uneröffnet wieder in meine Hände. Mein Kind starb, in der
Residenz fand ich bei anständigen Leuten, da ich nicht einmal die Mittel
besaß, mich ordentlich zu kleiden, kein Unterkommen mehr -- mit meinem
Vater, dessen rohe Vorwürfe mir täglich die Seele zerfleischten, zog ich
von da an durch das Land -- und wir sangen vor den Thüren der Leute --
um unser Brod.«

»Marie,« rief da, von wildem Schmerz ergriffen, Wahlert, und schwere
Thränen rollten seine bleichen Wangen herab, »arme, mißhandelte,
unglückselige Marie, o sprich -- giebt es ein Mittel auf der weiten
Gotteswelt, Dir nur in etwas das Leiden zu vergüten, was Du erduldet,
denn von jetzt an sollst Du wenigstens keine Noth mehr leiden -- keine
Sorge mehr kennen -- von jetzt an --«

»Nicht um Almosen zu betteln, hab' ich Ihnen mein Schicksal erzählt,«
sagte das Mädchen und richtete sich stolz empor -- »nicht Ihr Mitleiden
wollte ich wecken -- nicht Ihre Reue, nur gerechtfertigt -- nicht
schuldig, nicht sündhaft wollte ich in Ihrer Erinnerung -- neben Sophien
meinen Platz gewahrt wissen. -- Leben Sie wohl, Wahlert, -- leben Sie
glücklich -- _mich_ sehn Sie nimmer wieder.«

»Marie!« rief Wahlert, und streckte bittend die Arme nach ihr aus.

»Denken Sie an Sophien,« sagte die Unglückliche ernst, den Arm gegen ihn
erhebend; dann drehte sie sich ab von ihm und wanderte still und ohne
sich wieder nach ihm umzuschauen, aber mit raschen festen Schritten, die
Straße entlang dem Dorfe zu.


Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.



[ Hinweise zur Transkription


Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit
folgenden Ausnahmen:

  Seite 13:
  "«" entfernt
  (fest entschlossen war, von selber los zu gehn.)

  Seite 14:
  "dem" geändert in "den"
  (mit den unausweichbaren papageigrünen Glacéhandschuhen)

  Seite 22:
  "»" eingefügt
  (»Wo Muth und Kraft in deutscher Seele flammen)

  Seite 22:
  "«" eingefügt
  (Sie machen sicher nur Gestank.«)

  Seite 22:
  "»" eingefügt
  (»Alles war im Anfang gut auf Erden)

  Seite 24:
  "erlegte" geändert in "er legte"
  (er legte das Papier vor sich nieder)

  Seite 33:
  "»" eingefügt
  (auf- und abgegangen war; »erstlich ist mir das Sprengen)

  Seite 51:
  "Staatsbüger" geändert in "Staatsbürger"
  (und die Masse der »gutgesinnten« Staatsbürger)

  Seite 52:
  "-" eingefügt
  (seines General-Superintendenten Sohn zu befreien)

  Seite 68:
  "Fieberforst" geändert in "Fieberfrost"
  (bebte wie im Fieberfrost)

  Seite 72:
  "deßhalb" geändert in "deshalb"
  (deshalb sind sie wahrscheinlich so eifrig bemüht)

  Seite 75:
  "»" eingefügt
  (»_vielleicht_ lassen sie ihn frei)

  Seite 77:
  "," eingefügt
  (in das blaue seelenvolle Auge, ergriff dann)

  Seite 77:
  "ihn" geändert in "ihr"
  (andere Gedanken drängten ihr aber in das)

  Seite 81:
  "»" eingefügt
  (»un was wärsch, wenn se's hiarten?)

  Seite 81/82:
  "»" eingefügt
  (ihn die anderen Beiden kurzweg nannten, »in dem dichten Grase)

  Seite 91:
  "." eingefügt
  (um des Burschen ohnmächtigen Zorn weiter zu kümmern.)

  Seite 120:
  "«" entfernt
  (durch die Straße lärmenden Schaar zu ihr hernieder tönten.)

  Seite 123:
  "etzt" geändert in "jetzt"
  (der Bauer hat sich bis jetzt und bei solchen Gelegenheiten)

  Seite 140:
  "«" eingefügt
  (und diese »würdige Weise« bestand denn auch allerdings)

  Seite 145:
  "nnd" geändert in "und"
  (nur ein halbes Jahr Pastor und die Saiten haben)

  Seite 148:
  "brechtigt" geändert in "berechtigt"
  (vielleicht berechtigt sein durfte zu erwarten)

  Seite 154:
  "«" eingefügt
  (der Freiheit voran, in die Reihen der Feinde zu tragen«)

  Seite 160:
  "«" eingefügt
  (er verachtet die -- Dirne.« -- Sie schauderte zusammen)

  Seite 161:
  "ei" geändert in "sei"
  (nach Horneck gekommen sei und in der Pfarre wohne)

  Seite 168:
  "e nsterbret" geändert in "Fensterbret"
  (lehnte sich, um nicht zu stürzen, an das Fensterbret)

  Seite 174:
  "anf" geändert in "auf"
  (ging dann auf seinen Zögling zu)

  Seite 176:
  "«" eingefügt
  (Alle mit einander, wie heißt der? --«)

  Seite 178:
  "»" entfernt
  (Die Knaben schienen das im Anfang)

  Seite 179:
  "zn" geändert in "zu"
  (heimlich zu desertiren, fand aber)

  Seite 196:
  "«" eingefügt
  (noch keine Emancipation, Herr Hennig, rrrr« -- unterbrach ihn)

  Seite 196:
  "»" eingefügt
  (zu Worte kommen zu lassen, »auf's Neue)

  Seite 203:
  "«" eingefügt
  (und mir wieder gnädige -- _Herren_ sein.«)

  Seite 220:
  "«" eingefügt
  (»die Herren Schützen,«)

  Seite 225:
  "«" entfernt
  (eine Tasse Eierbier eingeschenkt bekamen.)

  Seite 228:
  "eine" geändert in "ein"
  (frug ein anderer dabei stehender Bauer lachend)

  Seite 239:
  "sie" eingefügt
  (die Verfassung, die sie sich gaben, wurde nur wenig verändert)

  Seite 242:
  "«" eingefügt
  (und können stimmen wie wir wollen.<«)

  Seite 245:
  "Versammlung" geändert in "Versammlungen"
  (wie in den Versammlungen der Demokraten besonders)

  Seite 258:
  "»" eingefügt
  (»ich bin es _nicht_.«)

  Seite 262:
  "Denkeu" geändert in "Denken"
  (»Denken Sie an Sophien,«)]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Pfarre und Schule. Zweiter Band. - Eine Dorfgeschichte." ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home