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Title: Zwei Erzählungen - Der Geliebte. Unwahrscheinliches Gerücht vom Ende eines Volksmanns.
Author: Baum, Oskar
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Zwei Erzählungen - Der Geliebte. Unwahrscheinliches Gerücht vom Ende eines Volksmanns." ***


                              OSKAR BAUM



                           ZWEI ERZÄHLUNGEN


                               LEIPZIG
                          KURT WOLFF VERLAG

                   BÜCHEREI DER JÜNGSTE TAG BAND 52
               GEDRUCKT BEI DIETSCH & BRÜCKNER · WEIMAR



DER GELIEBTE


Der schweigsame kleine Pope schritt mit der Laterne voraus und
bezeichnete dem »Herrn Unteroffizier«, der ihm offenbar durch seine
Kenntnis des Russischen eine furchtsame, tiefe Ergebenheit abnötigte,
die Häuser, deren Bewohner geflüchtet oder die schon von den Russen nach
Leinen- und sonstigem Verbandzeug durchsucht waren, aber Richner hatte
ihn im Verdacht, daß er so vielleicht nur seine besondern Schützlinge
vor ihm bewahren wollte. In den Sälen der Schule und des Gemeindeamts
drunten lagen die Blutenden von Stunde zu Stunde immer dichter
beieinander auf ihrem Stroh.

In eines dieser Häuser nun, aus dem er Geräusche zu hören glaubte -- es
war eines der letzten vereinzelten Gehöfte am Waldrand jenseits des
Flusses -- drang er trotzdem ein, fand jedoch wirklich alle Räume
zerstört und verlassen und wollte schon wieder fortgehen, als er am Ende
eines Ganges vor einer verschlossenen Tür ein junges Mädchen auf einem
Reisekorb sitzen sah, regungslos mit gesenktem Kopf, als ob sie
schliefe. Er trat mit dem Licht vor sie hin. Sie hatte offene Augen,
blickte sinnend auf ein Stückchen Boden vor sich. Sie merkte immer noch
nicht, daß jemand gekommen war, obgleich beide sie anriefen und
miteinander laut von ihr sprachen.

Der Pope schien aufrichtig verwundert und geradezu beunruhigt über ihre
Anwesenheit, fragte sie, warum sie denn nicht mit den Ihren geflüchtet
sei und sich seither hier versteckt halte, daß kein Mensch im Dorf unten
eine Ahnung habe, sie sei da? Er redete nachsichtig sanft wie zu einem
kranken Kinde, nannte sie bei ihrem Vornamen, warb geduldig auf alle
mögliche Weise um ein Lebenszeichen und hob ihr zuletzt das Kinn, als
ihr teilnahmsloses stumm gesenktes Gesicht nicht mehr zu ertragen war.

Sie sah ihn mit großen erstaunten Augen an, als erwache sie und erkannte
ihn wohl nicht gleich. Dann glitt ein Zittern über ihr Gesicht, sie
lächelte verlegen und fragte in ziemlich natürlichem höflichem Ton, was
die Herren hier wünschten?

Richner wollte die Dinge aufzählen, die er brauchte, aber der Pope
machte ihm ein Zeichen, daß das hier zwecklos sei, ging gar nicht auf
ihre Frage ein, sondern redete ihr zu, doch nicht hier allein zu
bleiben, lieber mit ihm zu guten Freunden zu gehen.

Das Mädchen lächelte nur müde und gequält und sah stumm an ihm vorbei
auf den Deutschen. Sie hatte ein wenig schrägliegende dunkle Augen unter
sehr langen Wimpern. Das abgezehrte, von Leiden vergeistigte Gesicht saß
seltsam auf dem bäurisch breiten untersetzten Körper. Die hellen
Haarmassen auf dem Kopf schienen noch reicher dadurch, daß sie, nur
unordentlich und flüchtig aufgesteckt, über Ohren und Hals hinabfielen.

Mit wachsender rätselhaft angstvoller Spannung durchforschte ihr Blick
Richners Mienen. Jetzt trat sie auf ihn zu: »Ein fremder guter Mensch!«
sagte sie nachdenklich und schüttelte langsam den Kopf, »ein solches
Gesicht kann nicht lügen!«

Der Pope faßte sie bei den Händen und wollte sie mit sanfter Gewalt
fortführen. Aber ein Zucken wie Ekel lief ihr durch den Leib und sie
schüttelte das Männchen zornig ab. »Wie lange bleiben Sie noch hier?«
fragte sie Richner.

»So noch ein bis zwei Wochen vielleicht,« sagte er, verwirrt von der
sonderbaren Frage, »bis die Kleinigkeiten da geheilt sind,« er deutete
auf die verbundenen Stellen.

»Nun, zwei Wochen sind auch etwas,« sie nickte einigermaßen befriedigt,
»nicht wahr, Sie helfen gern, wo es nötig ist? Und wenn's überdies ein
unglückliches Mädchen betrifft? Es ist etwas sehr Wichtiges, von dem ich
rede.« Sie senkte die Stimme. »Werden Sie kommen, sich danach zu
erkundigen? Aber allein!«

Der Pope winkte Richner voll Unruhe, gar nicht zu antworten, machte ihm
eifrig Zeichen, zuckte die Achseln und ging zur Ausgangstür voraus.

»Ich bin nicht verrückt,« flüsterte das Mädchen Richner zu, »kommen Sie
nur!«

Als sie dann draußen den Weg fortsetzten, erzählte der Pope, daß das
Mädchen noch vor gar nicht langer Zeit fröhlich und gesund und viel
schöner als jetzt gewesen sei. Ihr Bräutigam war im Frühjahr
verschwunden, wahrscheinlich desertiert. Er hatte sich verabschiedet, um
zu seinem Regiment abzugehen und seither fehlte von ihm jede Spur. Sie
aber wollte es nicht glauben und wartete immerfort auf Nachricht von
ihm. Ihre Angst, ihre Sorge und Unruhe saß ihr wie ein immer tiefer
eindringender Fremdkörper in Seele und Leib. Die unabsehbare Trennung,
die stete Ungewißheit und namenlose Verlassenheit war zu viel für sie
und die Natur richtete eine Mauer gegen das Unerträgliche auf: ihr Geist
verwirrte sich.

Als Richner am nächsten Morgen, nicht ganz zufällig, an dem Hause
vorbeikam, sah er das Mädchen hinten im Garten lässig bei irgendwelchen
Erdarbeiten. Er trat an den Zaun und sah ihr zu.

Da hob sie den Kopf und erkannte ihn augenscheinlich, richtete sich auf,
stützte sich auf den Spaten und betrachtete ihn. »Herr,« sagte sie, »Sie
sehen meinem Bräutigam ähnlich!«

Er fuhr zusammen; ein Schauer überlief ihn bei diesem unsäglich innigen
zutraulichen Ton, der von einem schwer zurückgedrängten Schmerz unsicher
schwankte.

Der Pope hatte ihm gestern erzählt, daß ihr eine Zeitlang bei jedem eine
Ähnlichkeit mit ihrem Bräutigam aufgefallen war. Sie hatte ihn wohl
immer vor Augen, sah ihn überall um sich her und sein Bild verdeckte ihr
jede Gestalt und jedes Gesicht.

Sie trat zu ihm an den Zaun: »Wollen Sie nicht zu mir hereinkommen?«
fragte sie schüchtern, »ich habe es hier so einsam!«

Er blickte unschlüssig, prüfend in ihr ernstes blasses Gesicht, ganz
verwirrt von der erwartungsvollen Spannung darin.

»Ach ja, nicht wahr, Sie kommen?« Sie faßte ihn beim Arm und sah ihm,
indem sie ein wenig den Kopf neigte, von unten herauf in die Augen, »Sie
werden bei mir bleiben, ja? bis -- bis -- Es ist so unheimlich hier im
Hause allein! Gewissermaßen allein oder eigentlich viel schlimmer als
das! Und weithin überall nur leere Häuser! Ich war schon so am Rande.
Ich wußte nicht, daß ich auf jemanden wartete; erst als ich Sie sah,
fiel es mir ein. Und Sie werden auch etwas für mich tun, nicht wahr? Mir
helfen, wenn ich Sie sehr bitte. Werden Sie, werden Sie?« Das ängstlich
gespannte Kinderflehen in ihren Augen hatte etwas unsäglich Hilfloses,
Verzweifeltes.

Die Tränen stiegen ihm auf. »Ja, ja, natürlich!« sagte er eilig, »gern!«

Sie nickte gerührt und streichelte seinen Arm. »Alles?« fragte sie leise
und zaghaft, »und wenn es das Schwerste auf der Welt wäre?«

»Alles,« erwiderte er ernst und eine Welle überströmender inniger
Hingabe hob ihn hoch, er wäre in dem Augenblick wirklich alles für dies
fremde Geschöpf zu tun imstande gewesen.

Sie stand eine Weile und atmete tief. Dann winkte sie ihm entschlossen,
ihr zu folgen und ging eilig quer über den Garten dem Hause zu.

Er sah nach der Gartentür aus. Ja, sie war ganz nahe, aber geschlossen.
Das Mädchen wandte ungeduldig den Kopf nach ihm. Da kletterte er denn,
wiewohl es mit dem wunden Bein einigermaßen beschwerlich war, über den
Zaun. Vor dem Hause hielt sie an und wartete auf ihn.

Er stand nun vor ihr.

»Ich weiß ja nicht, ob es nützen wird,« sagte sie mutlos und sann mit
halbgeschlossenen Augen vor sich hin, »aber tun muß man es doch! Man muß
doch!« Eine Verzweiflung zuckte in ihrem weißen Gesicht, die nicht
niederzuzwingen war. Ihr Mund, ihre Nasenflügel, ihre Augenlider
zuckten.

»Worin soll ich Ihnen helfen?« fragte er nach einer geraumen Weile, um
sie an seine Anwesenheit zu erinnern.

Sie sah auf: »Ich werde es Ihnen zuerst erzählen,« und sie wies auf die
Bank neben der Tür, ohne sich selbst zu setzen. »Wissen Sie, ich hätte
ja einfach jemanden aus dem Dorf unten rufen können. Der Pope hätte
mir's auch getan. Aber ich muß einen Fremden dazu haben. Ich weiß nicht,
ob Sie das verstehen werden. Ich würde es nicht ertragen, wenn es ein
Freund oder überhaupt ein Bekannter von früher wäre. Nicht, daß ich
fürchtete, sie könnten mich steinigen. Oder doch ja, ein wenig fürchte
ich mich schon auch!« Sie lauschte nach dem Hause hin. Nichts rührte
sich dort. »Er ist nicht fort,« begann sie geheimnisvoll, »nein, er war
überhaupt nicht fort. Ach, Sie wissen ja noch gar nicht, daß ich verlobt
war; doch? Nun, ich ließ ihn nicht. Der Krieg dauerte damals schon so
lange. Er wurde irgendwo in der Ferne ausgekämpft. Niemand dachte, daß
er uns hier angehen könnte. Er begann erst für mich, als mein Bräutigam
einberufen wurde. Am letzten Abend nun war er bei uns bis spät in der
Nacht. Und ich goß wieder und wieder sein Glas voll. Ich hätte es auch
ohne Absicht getan. Er war so traurig! Ja, ja, das kann er nicht
leugnen. Und ich, ach, was war ich an diesem Abend! Niemand freilich sah
mir an, wie wahnsinnig ich war. Alle weinten sie mehr als ich. Nach dem
Abschied dann, als er fortging, ging ich mit ihm vor die Tür hinaus, die
Treppe hinab, auf die Gasse. Niemand wunderte sich, daß ich mich von ihm
nicht trennen konnte. Er aber wußte nicht, wo er ging und fast nicht,
wer mit ihm sprach. Er lachte und sang und mein Vorhaben war leichter
auszuführen, als ich gedacht hatte. Ich führte ihn hinunter in unsern
Kohlenkeller,« sie dämpfte ihre Stimme und faßte heftig seinen Arm.
Spitz bohrten sich die umklammernden Finger ein, »nicht in den andern,
wo alle unsere Vorräte lagen und jeden Augenblick jemand hineinkam! Das
war wohl überlegt. Ich band ihm Hände und Füße, das können Sie mir
glauben. Band auch ein dickes Tuch um seinen Mund. Ein unabsichtlicher
Schrei oder Ausruf in der Überraschung des Erwachens, dachte ich, wenn
gerade zufällig jemand am Keller vorbeikäme. Und die Vorsicht erwies
sich weit notwendiger, als ich dachte, aber aus einem Grunde, den ich
wahrhaftig nicht hatte voraussehen können. Ich dachte nur, wenn wir es
vorher beraten und beschließen würden, würde er es nicht wagen. Deshalb
hatte ich ihn dazu zwingen wollen. Doch er war mit dem Mittel zur
Rettung unzufrieden, denken Sie nur! Als er am Morgen seinen Rausch
ausgeschlafen hatte, begann ein richtiger Kampf zwischen uns. -- Ich war
früher als alle anderen im Hause aufgestanden. Nicht aus Vorsicht und
Ängstlichkeit. Ich hatte die ganze Nacht nicht schlafen können vor
Glück, vor Freude über den Einfall und die gelungene Ausführung.
Behutsam schlich ich durchs schlafende Haus. Mir war so selig zumute,
als schliche ich zu einem verbotenen Stelldichein. Wie dankbar würde er
mir sein für diese Eingebung der Liebe, dachte ich. Wie zu unverhofftem
neuem Leben erwacht, mußte er sich doch fühlen! Statt in den Krieg zu
müssen, im Arm der Geliebten zu bleiben, in ihrem Hause, von ihr
gepflegt! Und ich malte mir aus, wie ich ihm das Leben drunten in dem
engen dumpfen Raum erleichtern und verschönern wollte, ohne selbst die
Eltern einzuweihen, da es ja allzu gefährlich war. Aber er, -- als ich
ihn zärtlich mit Küssen weckte, als er erfuhr, was ich vorhatte, -- er
wurde tobsüchtig vor Zorn über meine Zumutung. Sofort solle ich ihn
freilassen, damit er noch den Zug erreiche. Ich flehte schmeichelnd und
kosend, ohne auf seine Worte zu hören, er möchte, wenn schon nicht
anders, so aus Güte und Mitleid für mich dableiben, da es doch ging. Er
wäre einfach verschollen. Kein Mensch würde ihn hier suchen. Ich kniete
vor ihm und bat ihn weinend mit gerungenen Händen. Er aber stieß mich
von sich und herrschte mich wütend an, ich solle mich schämen, in
solcher ernsten Sache eine so lächerliche Komödie zu machen. Ich
verstünde von diesen Angelegenheiten nichts. Was würden die Leute im
Dorf und was seine Kameraden bei der Kompanie von ihm sagen? -- An
solche Dinge dachte er, wo es sich um sein Leben handelte! Wahrhaftig,
die Männer wissen nicht, was das Leben ist! -- Und als er nachher, da
ich ihn um keinen Preis losbinden wollte, mit aller Kraft um Hilfe zu
brüllen begann, da packte mich die Wut über seine Dummheit und die
Verzweiflung, daß er nun doch fort sollte und ich stopfte ihm ein Tuch
in den Mund und band es fest. Da mochte er beißen und sich werfen,
soviel er wollte. Ich werde ihn eben zu seinem Glück zwingen, wenn er so
dumm ist, dachte ich. Er wird mir schon einmal Dank wissen. Aber
schrecklich war es, wie er so hilflos war und ganz in meiner Gewalt, er,
vor dem ich immer demütig gezittert hatte.« Grauen verzerrte ihr Gesicht
und verdunkelte ihre Augen voll Tränen, »hatte ich denn nicht recht?
Gehörte er nicht auch mir? Durfte er überhaupt noch allein über sich
bestimmen? Nun, -- Sie verstehen jetzt, warum ich nicht fliehen wollte.
Ich war ja glücklich, als sie alle fort waren. Es wurde mir nicht
leicht, meinen Gefangenen mit allem Notwendigen zu versehen, ohne daß
jemand etwas ahnte. Aber ich war schlau. Es gelang mir sogar,
unauffällig, einen Teil der Kohle hinaufzuschaffen. Ich kochte ihm seine
Lieblingsspeisen, brachte ihm täglich frische Tannenzweige und Blumen,
weil die Luft unten so dick und häßlich war, aber ihn freute nichts von
alledem. Eine Zeitlang berührte er die Speisen nicht und wollte
verhungern. Zu schreien oder sonstwie aus dem Loch heraus zu wollen,
wagte er nicht mehr. Er wollte nicht als Deserteur erschossen werden.
Mich haßte er. Ja! Er drehte mir den Rücken, wenn ich eintrat; er stieß
nach mir, wenn ich ihm nahe kam. Wenn ich mich schmeichelnd an ihn
schmiegte, von süßen Hoffnungen sprach, vom baldigen Kriegsende und den
schönen Tagen unserer Zukunft, da lachte er nur so eigentümlich, daß es
einem kalt den Rücken hinablief oder er wurde wild und schlug mich.

Manchmal weinte er, wenn ich kam. >Ach, wie schön auf Wiesen in freier
Luft zu schlafen,< sagte er, >zwischen den Kameraden durch Wälder
marschieren oder über Felder hinstürmen!<

Er war nicht krank, gar nicht! Nur ein wenig schwach natürlich. Ewig in
dem Loch voll Kohlenstaub zu sein bei dem elenden Licht des Öllämpchens!
Wer konnte aber auch wissen, daß der Krieg so lange dauern würde?

Ich sehnte mich nach ihm, so wie er ehedem gewesen, nach einem guten
Wort, nach seinem sanften Streicheln. Aber er war stumpf und leblos
geworden wie ausgedörrt und wurde immer stumpfer und lebloser.

Das ging so Monate.

Als die deutschen Granaten um uns hier in die Häuser schlugen, kam ich
lachend und weinend vor Freude zu ihm hinunter, tanzte und sprang:
Jetzt, jetzt war die schreckliche Gefangenschaft für ihn zu Ende, jetzt
konnte er heraus und die Rettung war besiegelt. >Siehst du, siehst du,
wo wärst du jetzt, wenn ich dich gelassen hätte?< Und ich umschlang ihn
jauchzend und wollte mit ihm umhertanzen, soweit es der Raum zuließ. Da
aber kam das Entsetzliche!« Ein Zittern lief über ihren Körper und sie
neigte sich vor, als sähe sie das, was sie erzählte: »Er schleuderte
mich von sich; bis zur Tür flog ich. >Wie kannst du dich freuen, wenn
die Feinde kommen? Du Ehrlose, Hirnlose, du Tier aus dem Stall!< Der
Schaum stand ihm vor dem Mund. Mit geschwungenen Fäusten stürzte er auf
mich los. Ich war zuerst wie gelähmt vor Angst und Schrecken und
Verblüffung. Dann floh ich, warf hinter mir die Tür zu und versperrte
sie. Ich überlegte nicht warum, aber nicht aus Furcht meinetwegen,
wahrhaftig! Droben rast der Kampf, dachte ich, er weiß jetzt nicht, was
er tut und rennt in die Kugeln. Mußte ich nicht so denken? Wo, wo ist
meine Schuld?« Sie schlug die Hände vors Gesicht, geballte Fäuste bohrte
sie in die Wangen. Keuchend, schwer schleppte die Brust ihren Atem. »Vor
der geschlossenen Tür,« fuhr sie nach einer langen Pause sehr leise
fort, »auf den Stufen kniete ich atemlos, als wenn ich wer weiß wie
gelaufen wäre, und lauschte. Ich weiß nicht, ob er mit dem Kopf gegen
die Mauer rannte oder ob er in der Raserei so unglücklich zu Boden
stürzte. Es war nicht zu unterscheiden! Ich war sogleich drin, als ich
ihn hinschlagen hörte. Ich untersuchte ihn und dachte: Gottlob, es ist
ihm nichts geschehen. Es floß kein Tropfen Blut, es war keine Wunde.«
Sie richtete sich mit matter Willenskraft langsam auf: »Also kommen
Sie!« Und sie wandte sich ins Haus.

Er sah sie forschend an: »Wohin denn?«

»Wollen Sie mir nicht helfen?« fragte sie verwundert, »Sie haben mir's
doch versprochen!« Und sie ging voraus.

»Was habe ich versprochen?« dachte er beunruhigt.

Sie führte ihn durch einen langen Gang, nahm eine kleine Laterne, die
dort in einer Ecke hing und stieg eine schmale gewundene Treppe hinab.
Auf den untersten Stufen blieb sie stehen und wandte sich um: »Ich
bekomme ihn allein nicht herauf!« flüsterte sie, »er ist schwer!« Sie
stellte die Laterne nieder und suchte in der Tasche. Dann steckte sie
den Schlüssel ins Schloß, er knackte zweimal. Die niedrige alte
Kellertür fiel schwer gegen die Mauer. Ein unerträglicher Geruch, der
schon auf der Treppe zu merken gewesen war, schlug ihnen entgegen. Sie
hob die Laterne hoch. Der Lichtkreis erreichte eine breite Mannsgestalt,
die aufrecht an der Wand lehnte. Es war keine Leiche.

»So ist er seither,« flüsterte sie.

Ein ganz von Bart überwachsenes Gesicht mit gläsernem Tierblick neigte
sich vor, schwer gelallte Laute bewegten den Mund und hagere Hände mit
sehr langen Fingernägeln griffen nach dem Licht.

»Also warum fassen Sie nicht zu?« flehte sie gequält, »ich werde Ihnen
dann schon helfen!«

Richner streckte mechanisch die Hand nach der Schulter des Mannes aus.

Mit einem tiefen grollenden Knurren aus geschlossenem Mund zog der Mann
Arme und Beine an sich und preßte den Leib trotzig gegen die Wand.

Mochte es nun der Geruch in dem Raum sein, das langgezogene wie von
fernher drohende Hundeknurren oder die Berührung der Fingerspitzen mit
dem haarigen Hals, der so kühl und feucht wie die Mauer war, -- über
Richner schlug ein übermächtiges Grauen zusammen. Er sprang hinaus. Ein
gellendes Gelächter folgte ihm die Treppe hinauf.

Er stand auf der Straße. Etwas saß ihm im Rücken und peitschte ihn wie
Kinder im Dunkel, hinunter zwischen bewohnte Häuser zu kommen, unter
Menschen!

Auf den Wiesen lag die Mittagssonne und sie spiegelte sich im Fluß, als
er über die schwankende Brücke floh.

Wie? Hätten nicht vielleicht alle Frauen so gehandelt, wenn sie den
Einfall gehabt hätten? -- Und er sah alle Männer der Welt in die
lichtlosen Kellerkäfige ihrer Häuser ohnmächtig eingesperrt, statt auf
der verzweifelten Suche nach dem notwendigen Weg zum Glück (in der
Raserei des Zornes über das vergebliche Umirren) miteinander um die
Macht und Ehre ihres Volkes zu ringen.

Hinter der Brücke blieb er stehen und sah zurück. Er unterschied noch
das helle Holzgitter des vorspringenden Gartenzauns.

Es widerstrebte ihm, damit jetzt zum Popen zu gehen; aber was hätte er
anderes tun sollen?



UNWAHRSCHEINLICHES GERÜCHT VOM ENDE EINES VOLKSMANNS


Ein blauer Sommertag lag über dem stillen Dorf. In den Feldern draußen
klangen die Sicheln und Sensen und rauschten in den Halmen zu den Reden
der Weiber. Von einigen ganz nahen hörte man es bis auf den Platz vor
der Kirche. Der Pfarrer las heute die Messe fast nur für den Küster und
war vielleicht darum so merklich bald fertig.

In den Dorfstraßen schliefen die Hunde, die Sonne brannte in die leeren
Höfe und niemand hörte einem kleinen Kinde zu, das eingesperrt im
Stübchen hinter dem Fenster in seinem Korbe lag. Es kaute am Unterleib
eines ehemaligen Kautschuksoldaten und lachte und spuckte und strampelte
und freute sich über Gott weiß was.

Da raste rasselnd, brauste, donnerte, schoß ein Auto die unaufhörliche
Landstraße von der Bahnstation herunter, dampfte hohe weiße graue Wolken
um sich, hinter sich langhin bis an den Himmel. Der hagere rotbärtige
Mann drin beugte sich fast gleichzeitig nach rechts und links hinaus und
seine Augen drangen auf die Häuser, die Zäune, die Meilensteine, die
Bäume zu beiden Seiten ein.

Der Chauffeur mußte schon einiges gewohnt sein, denn er blieb sitzen,
wandte den Kopf nicht, lächelte kaum, als in dem Augenblick, da er eben
erst zu halten beabsichtigte, sein Herr schon aus dem Wagen und gegen
die Tür des Wirtshauses sprang, die er, hoffentlich nur, weil sie gerade
zufällig angelehnt war, mit den Füßen aufstieß. Ein markerschütternder
Schrei war sein: »Wirt!« Es hallte in dem leeren Hause: »Wirt!«

Er war nicht zu Hause und auch die Wirtin nicht; selbst die Kinder waren
draußen auf den Feldern. Nur ein alter Großvater schlurfte endlich
zittrig in seinen zerlumpten Schlafschuhen aus dem dämmrigen Hintergrund
des schmalen tiefen Gangs heran.

»Ja, was soll denn das heißen?« fuhr der Herr los, »niemand an der Bahn,
niemand hier! Was ist das für eine Ortsgruppe?«

»Bier?« fragte der Alte zaghaft, »Wein? -- Aber mein Sohn hat leider die
Kellerschlüssel mit, -- er ist so ängstlich! --«

Wie die plötzlich in die wahrgenommene Welt durchgebrochene ewige
mechanische Herzensangst der toten Materie pulste, hämmerte
unerschöpflich gleichmäßig hilflos verzweifelt die gefesselte Kraft des
stehenden Motors draußen hinter ihnen auf der Straße.

»Ja, wo ist denn der Ausschuß, das Komitee, der Vertrauensmann oder nur
ein Ersatzobmannstellvertreter? Nächste Woche ist doch die Wahl!« Der
Herr keuchte, tobte verzweifelt, fast weinend. Er drang auf den Alten
ein: seine Augen, seine Hände, seine Zähne funkelten.

Der Greis sah ihn ängstlich forschend an, sehr gern bereit, zu
erschrecken und zu bereuen, schuldbewußt schon, weil er noch nicht
herausbekommen hatte, warum und in welcher Art es von ihm erwartet
wurde.

»Siebenunddreißig Dörfer, fünf Marktflecken, drei Städte gehören zu
meinem Wahlkreis! Glaubt man hier, ich habe siebenunddreißig Wochen,
fünf Monate, drei Jahre zur Verfügung? Sie, Mann, hören Sie! Was denkt
man hier? Was stellt man sich denn hier vor?«

Wie sollte der Greis, der sich gewiß auch in seiner Jugend nie näher mit
Politik befaßt hatte, ahnen, daß es sich dem Herrn unmöglich um das
Gewicht der Wählerschaft in diesem Örtchen handeln konnte und etwas
Tieferes auf dem Grunde dieser Erregung war? Wie sollte er ahnen, daß
der Herr im Vorbeifahren beim Anblick des selig strampelnden Kleinen in
seinem Korbe hinter dem Fenster fern zu Hause sein einsames krankes Kind
nach ihm wimmern hörte und gehetzt und getrieben vor dem wahnsinnigen
Wunsche floh, schwächer zu sein, nicht so durchdrungen von dem richtigen
Notwendigen, oder kalte eiserne Maschine zu werden ohne Leben für sich,
ohne Gefühl in den Gliedern, empfindungslose Hülse des leuchtenden
Wissens vom Notwendigen ohne Wahl, abgeschnellt seinen einen Weg
abzuschnurren. -- -- Wie sollte der Greis das ahnen? -- Aber mit jenem
rätselhaften Feingefühl, wie es manche, auch ungebildete Menschen
deutlich vor andern auszeichnet, spürte er genau, daß er von dem
Schreiben der Frau an den Gemeindevorsteher, -- oder war es ein
Telegramm? -- durch das heute morgen im letzten Augenblick die schon
anberaumte Versammlung abgesagt worden, besser vielleicht nichts
erwähne.

»Die Ernte!« wagte er versuchsweise schüchtern für jeden Fall, »wenn so
lange Regenwetter war, und dann die Sonne schön herauskommt.« --

»Ernte! Welche politische Reife!« Der Herr lachte erbittert, »begreift
ihr denn nicht, daß alles Ernten, alles Säen, alles Haben und Verdienen
euch nichts nützen kann, wenn die falschen Grundsätze euch regieren, zur
Macht kommen!«

Er blickte dabei die Wände entlang nach allen Seiten, bohrend bis in die
Schatten der Winkel, als ob er durch die Decke, durch den Boden sehen
könnte, wenn er nur allen Willen in die Augen brachte. Er glaubte, er
müßte es doch dem Hause von außen ansehen, wenn man drin auf ihn
wartete. Er suchte in den Augen, in den Mienen des Alten; aber er fragte
nicht! Nicht einmal, ob Fremdenzimmer im Hause seien. -- Wie qualvoll,
daß es so geheim bleiben mußte! Wenn er wenigstens sich hätte erkundigen
dürfen, ob nicht jemand durch den Ort gekommen war und nach ihm gefragt
hatte! Aber sie hatten ja nicht nach ihm gefragt. Diese Menschen waren
viel zu gefühllos, gewissenhaft und beherrscht!

Da wies das Greislein mit einer plötzlichen Erleuchtung freudig nach den
weit offenen Türen des Wirtssaals an der Seite und drin auf die sehr
nahe zusammengeschobenen Tische, die langen dichten Stuhlreihen und das
wirklich bereitstehende, einladend hohe Podium, vielleicht für die
Musikanten des nächsten Tanzabends vorbereitet, vielleicht von einer
gestrigen Versammlung des Gegenkandidaten stehengeblieben. »Ich brauche
sie nur zusammenzurufen!« rief er glückstrahlend, »sie werden alle
gleich da sein.«

»Rufen!« fuhr der Herr gereizt auf, »er wird sie rufen! Wie sich das
Bild der Welt im Kopfe so eines einfachen Mannes malt! Nachmittags habe
ich in Klarbach, dann in Alt-Gustiz, spät abends noch in Oberreizendorf,
morgen in Kieseck zu reden! Und jetzt will er sie -- rufen! Oh, wenn man
doch Redner und Hörer, Führer und Geführter, Gott und Welt zugleich sein
könnte! Aber so allein, allein mit seiner Pflicht! Und alle Opfer, alle
Hingabe, restlose Bereitschaft ungenommen, ungehört, ohne Sinn, wie
ungetan verloren . . .«

Der Alte aber hörte nicht auf ihn, drückte sich demütig, geduckt, voll
Vorsicht in der Tür an ihm vorbei und klopfte mit seinem Stock hastig
die Straße hinab. Es schien, als versuche er, ob es mit kleineren
Schritten vielleicht schneller vorwärts ginge, so sehr war alles an ihm
Eifer und Bewegung. »Sie werden schon kommen!«

Der Herr sah ihm verzweifelt nach, griff sich mit den Fäusten in die
Haare. Wenn nur einer von diesen Menschen hier ahnte, was auf dem Spiele
stand: die Zukunft des Staates! Sie wußten ja gar nicht, was das war!
Glück und Freiheit aller, vielleicht die erlösende große Einsicht, die
Gerechtigkeit von oben, vom Sitz der Macht! -- Da schlich, kroch, schob
sich der schlurfende Greis; nun war er schließlich doch um die Ecke
verschwunden. Er kam ja niemals auch nur zum ersten Feld! Und während
auf irgendeiner Station, auf der nächsten vielleicht, jetzt eben die
Jahrzehnte herbeigesehnte Gelegenheit für Beglückung und Befreiung des
Volkes einstieg und weiterfuhr, weiter und weiter vor ihm her,
vielleicht nicht mehr zu erreichen, -- mußte er hier stehen und warten.
--

»Ja, aber warum wartete er? Warum setzte er sich nicht auch ein und fuhr
davon? Warum kam ihm dieser Gedanke gar nicht? War das die Schuld? Daß
Worte in ihm drängten, Dinge, die er den Leuten zu sagen hatte, gerade
diesen Leuten, die stumpf und taub waren gegen die Notwendigkeit, daß
jeder einzelne mit seinem Willen den Staat belebe! -- Daß es wenige
waren? Ach, wenn das Wort in ein richtiges Ohr fiel, konnte es oft
wichtiger sein als ein Meetinggewimmel, und wann konnte man wissen, wo
dieser eine war und wo er nicht war? --

Nur wer die menschliche Natur nicht kennt oder die Vorgänge in seinem
Innern nicht nachfühlen will, kann sich wundern, daß der Mann bis ins
Innerste vor Ungeduld wund und zitternd schon als er die ersten
Landleute von fern kommen sah, verschwitzte Gesichter, Rechen und Sensen
über der Schulter, ein paar Weiber und Kinder hinter ihnen, sogleich ins
Haus eilte und in den Saal, zur Tribüne emporzusteigen.

Da hob sich hinter ihm draußen aus dem Auto, aus den Falten des
zurückgeschlagenen Dachs vielleicht, aus einem Geheimfach,
Geheimverschlag der Rückenlehne ein erregter blasser Damenkopf mit ganz
unzerdrückter Frisur, -- aus solch kleinem Raum! -- eine elegante
lichtblaue Seidenbluse, wie aus dem Boden emporwachsend ein ganz kurzer
lichtgrauer Seidenrock und hohe lichtgraue Tuchschuhe; sie schwebte,
reckte sich wie auf einem dritten Trittbrett hinter dem Auto stehend,
beugte sich weit vor und blickte ihm nach: wie er dahinschritt! Er, der
Berühmte, Gefeierte, der nie solchem verlorenen Nest die Ehre antat.
Stundenweit strömten die Leute aus dem Umkreis herbei, wenn irgendwo
seine Rede angekündigt war. Und hier hatte er sich selbst angeboten zu
kommen und sie fanden es nicht selbstverständlich, am Sonntag! -- Und
dennoch stieg er nicht ein und fuhr fort: nein, wartete, um zu ihnen zu
reden. Also nicht der Premier mußte es sein, nicht große Entscheidungen
braucht's, jedes Wirtshaus voll Bauernohren war ihm wichtiger als Weib
und Kind! Noch sah er nicht ein, überfiel ihn nicht die Klarheit, daß
sie aus Liebe, aus Güte, aus mehr Weitblick und tieferem Erkennen des
Lebens seine Bemühungen um Glück und Freiheit aller haßte und verdammte.
Nicht aus Eifersucht, obwohl sie ihn der Familie völlig entzogen, auch
nicht, weil er sein großes Geschäft, die Zukunft seiner Kinder dem
schläfrigen Direktor und dem gar nicht zuverlässigen Kompagnon überließ,
nein, nur weil er selbst dabei zugrunde ging, seinen Kräften viel zu
viel zumutete und sich aufrieb. Darüber, daß sie die Bemühungen
Ambitionen nannte, dachte er, würde sie nicht hinausgehen. Als sie ihm
beim Abschied nachrief: »Auf der Walstatt sehen wir uns wieder!« hatte
er herzlich über den Scherz gelacht; so kannte er sie. -- Ein anderer,
jeder andere hätte diese Agitationsreise, wenn sie so furchtbar gern mit
wollte, auch noch ein drittesmal aufgeschoben, als ihr Kleid immer noch
nicht fertig war. Nun gut, das konnte ihm unmännlich scheinen. Das war
ungeschickt von ihr gewählt. Aber als man ihm, -- gleich auf die erste
Station, -- nachtelegraphierte, daß es eben als er fort war, geliefert
worden und sie in derselben Stunde verschwunden sei, niemand wisse
wohin, -- hätte da nicht ein anderer sich darüber Gedanken gemacht, ob
sie nicht an der geringen Zeit, die er nur zu warten gebraucht hätte,
messen mußte, wie viel sie ihm war? Und man berichtete ihm, daß gleich
nach ihrem Verschwinden das Kind, das liebe süße Würmchen schwer
erkrankt sei und sich das Mädchen keinen Rat wisse. Aber er hörte diese
Meldungen vielleicht gar nicht, weil man ihm gleichzeitig
telegraphierte, daß der Ministerpräsident ihn gesucht habe, kaum er vom
Hause fort war, um mit ihm etwas äußerst Wichtiges, Unaufschiebbares
geheim, wohl unter vier Augen zu verhandeln. Der Ministerpräsident mit
ihm! Ja, das zündete, das hatte sie gut gewählt. Das ließ ihn nicht los.
Augenblicklich wollte er da natürlich die Reise unterbrechen, aber als
seine Nachricht den Minister nicht mehr erreichte, weil der ihm sogleich
nachgefahren war, -- so große Eile hatte es, -- da dachte er nicht mehr
daran umzukehren. Immer dringender telegraphierte das Mädchen: daß der
Zustand des Kindes sich verschlimmere, wo denn die Frau sei? Es sei so
selten ein Arzt zur Stelle in dieser schrecklichen Zeit. Die
Verantwortung sei ihr zu schwer. Sie war viel zu gewissenhaft. Herzlose
vielleicht, die hätten das mit ansehen können, aber sie, sie
telegraphierte ihm ihre Kündigung. -- Er suchte und jagte den Premier
von Ort zu Ort des Wahlkreises, immer erregter, weil er sich mit ihm,
der vielleicht vor ihm herjagte, nicht verständigen konnte. Sie durften
nicht viel telephonisch oder telegraphisch hin- und herfragen; es hätte
auffallen können. Die Beamten konnten, vom Parteifieber der Wahltage
ergriffen, unzuverlässig sein. Und es durfte auch nicht das geringste
Gerücht von einer solchen Zusammenkunft in die Öffentlichkeit dringen.
Die höchsten Staatsinteressen waren in Gefahr. Vielleicht waren die
Gegensätze im Volke durch die Erregung der Tage und die äußern Vorgänge
zu unberechenbarer Maßlosigkeit aufgestachelt. Aber hier dieser
armselige Wirtssaal vermochte ihn aufzuhalten. Hier wartete er, um zu
ein paar Bauern zu reden. Keine Sorge störte, beirrte ihn. Er wußte
nicht, daß er ein Heim, eine Familie hatte, sah nicht fern sein Kind
einsam sterben, die Frau umherirren, ihr verlorenes Glück suchen. -- Mit
dem Ernst und der Entschlossenheit eines Mannes, der seine oberste
Pflicht kennt, schreitet er dahin, auf dem die ganze schwere
Verantwortung des Vertrauens aller ruht und der sich würdig fühlt, weil
die Sache ihm heilig ist, nicht Ruhm, nicht Einfluß, nicht einmal Liebe
des Volkes ihn lockt, nichts, nichts an ihm ihm selbst gehört, alles
allen, der Zukunft, der Nation. -- Und er steigt zwischen den leeren
Tischen, den eingeschobenen Stuhlreihen zur Tribüne empor, merkt gar
nicht, daß der Saal leer ist, -- sie hob sich auf die Fußspitzen, um in
die Fenster zu sehen, -- steht schon oben und beginnt wirklich seine
Rede. Wie bei solchem Manne, solchem Erfülltsein vom Feuer der Ideen
nicht anders zu erwarten, bemerkte er nicht, daß die Bauern, die er
gesehen hatte, und auch alle Nachfolgenden sich nicht hereinzukommen
getrauten, als sie ihn drin schon reden hörten, sondern ehrfürchtig
draußen vor der Tür stehen blieben und lauschten. Die stille, immer
schwülere Mittagsluft wurde durchschnitten von seinen immer
leidenschaftlicher herausgeschleuderten Anklagen, Forderungen,
Beschwörungen, Beweisen. Die Luft zitterte, die Fenster klirrten, die
Bretter der Bühne bebten von der Erregung seiner Füße.

Dem Chauffeur wurde es draußen unheimlich. Dazu, dachte er, das viele
Benzin, das jetzt so unerschwinglich teuer ist und manchmal einfach
überhaupt nicht zu haben? Und er sah auf die Menge, die sich immer mehr
vor dem Hause staute. Langsam kamen sie, sehr langsam, einzeln, in
Gruppen, aber unaufhörlich und immer zahlreicher -- da sah er zwischen
ihnen die Landstraße herunter -- oder wuchs sie hinter dem Auto aus dem
Boden hervor? -- die Frau seines Herrn wirklich und wahrhaftig auf sich
zukommen, mitten unter den Landleuten mit ihrer städtischen Kleidung und
ihrem städtischen Gang, leicht, vielleicht schwebend, mit einem kleinen,
aber darum nur um so wunderbareren Abstand zwischen ihren Füßen und dem
Boden und winkte ihm; ihm, dem Chauffeur, unleugbar und in einer Weise,
in der man Untergebenen nicht winkt, außer in einer einzigen, bei einer
wirklichen Dame unbegreiflichen Absicht.

Einundzwanzig Jahre diente der Mann der Organisation und man kann sich
denken, daß er alle diese Zeit über nicht immerwährend gleich jung
geblieben war. Aber sie winkte ihm wirklich, deutlich, lebhaft, mit ein
wenig verzogenem Mund, jawohl! es gibt Prahlhänse, die sagen würden, mit
einem verheißungsvollen Lächeln. Die Frau des Herrn, ein Teil vom ihm!
dachte er vielleicht. Es war ungehörig, daß sie ihm winkte, aber wie
unerträglich unziemlich wäre es gewesen, wenn er nun auch noch gar nicht
gefolgt wäre. Konnte man sich's nur überhaupt vorstellen? War es nicht
eine Ehre, daß sie ihm winkte? Welch eine unerhörte Überhebung,
Frechheit wäre es gewesen, dies nicht so aufzufassen? In mancher
Hinsicht geradezu eine Beleidigung des Herrn! --

So verkehrt empfindet naive Demut manchmal, so wehrlos!

Die Frau deutete auf ein Haus und schwebte mit ihrem schwellenden jungen
Körper, den zarten weißen Gliedern, den runden duftenden voraus. Der
Chauffeur war unglücklich, peinvoll zerrissen, gedrückt und beklommen,
als er ihr folgte.

Die Worte, die der Herr drin im Wirtssaal zu sagen hatte, waren
hinausgeglüht und er eilte durch die enge Gasse zwischen den Tischen
davon. Ein Schauer ergriff die Menge draußen vor den Fenstern, als in
diesem Augenblick über die leeren Tische ein gewaltiger Applaus
hinrauschte und von den eingeschobenen Sesselreihen jubelnde Zurufe
einer begeisterten Menge ertönten. Er achtete nie darauf, wie die Reihe
Gesichter vor ihm zugehört hatte, das Verständnis, der Wille der anderen
ihm antworteten. Es mußten doch alle bis ins Innerste von dem
durchdrungen werden, was so wahr war? Wenn einzelne so böse oder so
unglücklich waren, es nicht zu verstehen, durfte ihn das ja nicht
berühren.

Als er nun heiß und strahlend unter die Leute vors Haus trat, wichen,
prallten sie ehrerbietig zu beiden Seiten zurück und er nickte ihnen mit
Handbewegung und durchleuchtetem Blick Abschied zu, sich mit leichtem
elastischen Schwung, wie Fürstlichkeiten nach festlichen Empfängen, ins
Auto schwingend und sah erst, als er schon drin war, den einen Fuß noch
auf dem Trittbrett, daß der Chauffeur nicht da war. Er sah sich um:
Nirgends! Nur die Verlegenheit der Leute, die betretene angstvoll
neugierige Spannung, der inständige Wunsch aller Gesichter, er möchte
doch nicht hin, gerade hinschauen, wies seinen Augen den Weg. Nur einen
Augenblick huschten die zwei Gesichter an dem Fenster ohne Vorhang
vorbei, aber seinetwegen hätte der Vorhang nicht zurückgezogen sein
müssen. Er sah durch die Mauer, sah die Hände des Chauffeurs mit seiner
Frau beschäftigt. Ja natürlich, sie war es! Welche Frau hätte er denn
auch sonst sogleich ohne Toilette erkennen können? -- Aber wie war er
vollkommen Politiker! Als jetzt sein Bewußtsein, Willen, Denken gefroren
aussetzten, öffneten sich seine Lippen und sagten, -- er hörte es, --
mit überzeugender Nachlässigkeit: Der Kerl sei nicht zurückzuerwarten!
Er habe ihn nur mit einem Telegramm zur Bahn geschickt und wohl wegen
des dummen Benzins habe der kleinliche Mensch nicht das Auto benützt. Ob
vielleicht jemand von ihnen oder im Dorf ein Auto lenken könne? Nein? --
Er habe unmöglich Zeit zu warten! Die Versammlung in Klarbach. -- Er
müsse es zu Fuß versuchen. Man solle ihn also sogleich nachschicken,
wenn er komme.

Er sprang von seinem Sitz und eilte. Er hatte sich geirrt! Im nächsten
Dorf wartete seine Frau auf ihn, konnte er denken, je weiter er war, nur
schnell! damit sie nicht zu lange warte! Mitten in der ersten
Zuhörerreihe der nächsten Versammlung würde sie sitzen, hinter der Tür
des nächsten Wirtssaals mit einem »Baff« hervorspringen, sobald er
öffnete; oder hatte sonst eine Überraschung für ihn vor. Sie war doch
solch ein Kind, solch ein süßes großes lustiges Kind!

Aber zu diesen Menschen gehörte er nicht. Er dachte: Mein Kind ist tot,
die Frau ist tot. -- Aber ich habe keine Zeit!

Er lief; er flog. Der Ministerpräsident wartete auf ihn! Er hatte nie
gewußt, daß man so schnell laufen konnte. >Vielleicht handelte es sich
um die Altersversorgung der abgeschufteten Überbleibsel armer
mißbrauchter Menschmaschinen oder um die Behütung der Kinder vor Hunger,
schlechter Luft und Haß und zerstörender Arbeit. -- Ich habe unrecht
getan und es geschieht mir unrecht. Oder geschieht mir vielleicht recht!
Aber ich habe keine Zeit! -- Auf jeden entfällt das entsprechende Maß
Glück und Unglück, wenn er sich nur natürlich benimmt. Aber sie warten
alle, die auf mich vertrauen! Wie sind sie doch mehr als ich, ich
einzelner! Der Ministerpräsident wartet auf mich! --<

Er lief, raste, aber gleichmäßig, hetzte nicht! Oh, er hatte sich in der
Gewalt, wenn es nottat. Er mußte ja lange ausdauern. Er wollte das Ziel,
verschmähte die kluge Mäßigung nicht, wußte, daß sie mehr war als die
Tollheit. -- >Vielleicht handelte es sich um eine neue Verteilung des
Bodens, um reine, lichte, hohe Wohnungen für jeden, für alle, um die
Abschaffung der Gefängnisse, der Kriegsrüstungen. Für jeden sein
Häuschen, sein Gütchen, sein kleines irdisches Glück, auf dem das ewige
Große seiner Seele und seines Geistes gesund und gerade wachsen konnte.
Vielleicht --<

Alles an ihm wurde Fuß. Er hatte nur diese Muskeln. Er sah nicht, hörte
nicht, roch nicht. Sein Atem ging gehorsam im Schritt.

Der Chauffeur war aus Pflichteifer so rasch hinter ihm hergefahren, aus
Reue, Treue. Die versäumte Zeit einzubringen, ihn rasch einzuholen, und
merkte nichts von dem Hindernis, das er überrannte. Die Straße war
schlecht. Und als man ihn später zu dem blutigen zerquetschten Leichnam
führte, ihn zu agnoszieren, wollte er lange nicht glauben, daß er es
gewesen sei, der seinen Herrn überfahren hatte.

***

Der blaue Sommernachmittag lag über dem Dorf. In den Feldern klangen
wieder die Sicheln und Sensen und rauschten in den Halmen zu den Reden
der Weiber. Von einigen ganz nahen hörte man es bis vor das Wirtshaus,
wo ein Teil der Bauern zurückgeblieben war, die einen in Scheu, die
andern in erregtem Lärm das Erlebte besprachen.

In den Dorfstraßen schliefen die Hunde, die Sonne brannte in die leeren
Höfe und das Kind hinter dem Fenster war von seiner Mutter gesäugt und
wieder in seinem Stübchen eingeschlossen, schlief in seinem Korbe und
lachte im Schlaf und hatte den Finger im Mund.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Zwei Erzählungen - Der Geliebte. Unwahrscheinliches Gerücht vom Ende eines Volksmanns." ***

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