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Title: Die Höhe des Gefühls - Ein Akt
Author: Brod, Max
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Höhe des Gefühls - Ein Akt" ***


                               MAX BROD



                               DIE HÖHE
                             DES GEFÜHLS
                               EIN AKT


                      KURT WOLFF VERLAG, LEIPZIG

                  BÜCHEREI »DER JÜNGSTE TAG« BAND 57
              GEDRUCKT BEI DIETSCH & BRÜCKNER IN WEIMAR

      Den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt.
          -- Das Recht der Aufführung ist zu erwerben durch
          die _Vereinigten Bühnenvertriebe_ des Drei Masken
         -- Georg Müller -- Kurt Wolff Verlages, Berlin W 30

                          WALTER BRUNO ILTZ
                  DEM AUSGEZEICHNETEN DARSTELLER DES

                           Geschrieben 1911
                          Erster Druck 1913

PERSONEN

   Orosmin, ein edler Jüngling
   Klügrian,
   Kunstreich, Maler, Orosmins Freunde
   Der Schenkwirt
   Seine Tochter Marie
   Drei Herren, die nichts zu tun haben
   Ein Klavierspieler
   Hofmarschall
   Zwei livrierte Diener
   Vorübergehende Leute

Die Szene ist in einem Wirtshaus »zum halbgoldenen Stern«, in beliebiger
Zeit und Stadt.

(Gedeckte schattige Veranda vor dem Wirtshaus, eine weinumrankte
Gatterwand mit rotbraunen Stangen schließt gegen das Freie ab. In der
Mitte der Wand öffnet sich der breite Eingang, von dem mehrere Stufen
auf den belebten und sonnigen Platz einer großen Stadt hinabführen.
Viele Menschen gehen vorbei. Gebäude, Gassen, Reklamesäulen . . . Rechts
und links von der Türe je ein gedeckter Tisch. Links in der Ecke ein
altes Klavier. Über der Türe Symbol und Name des Wirtshauses. An dem
Tisch rechts spielen drei Herren, die nichts zu tun haben, in
Hemdsärmeln Karten. Es ist ein heißer Nachmittag im Sommer.)

OROSMIN (erscheint auf dem Platz, er wendet sich um, ersteigt dann
geradeaus mit großen Schritten die Stufen, auf der obersten bleibt er
wieder stehn, halb dem Platz zurückgewendet, von der Sonne noch
beschienen, an der Grenze des Schattens, -- er nimmt seinen kleinen
Strohhut vom Kopf und streckt die Hand, in der er ihn hält, weit aus,
wie veranlaßt durch ein tiefes Einatmen, in ruhiger Begeisterung. Dann
läßt er sie, gleichsam ausatmend, sinken, der Hut berührt mit Geräusch
sein Knie, das er vorgebogen hat. Die drei Herren blicken auf.)

EINER VON IHNEN (bewundert Orosmin):

Ein Prachtkerl! -- (Sie spielen weiter.)

OROSMIN (hat sie nicht gehört. Er tritt ein, indem er grüßend den Kopf
gegen den leeren Tisch links neigt . . . Er nimmt einen Sessel neben dem
Eingang und setzt sich so, daß er den Platz im Auge behält. Er spricht
mit harmonischer Stimme, langem Atem, nicht leise):

Jetzt bin ich konzentriert. Hier! -- Ich überblicke von hier aus den
Platz, ich sehe die Gasse, die den Eingang zu ihrem Haus enthält. Es
kann mir also nicht entgehn, wenn die Liebe aus dem Haus tritt. Ich
werde ihre Schritte verfolgen können, mit denen sie sich mir nähert. Ich
weiß es -- denn es ist schon einigemal geschehn --, daß sie an jenem
Brunnen noch jenseits des Gedränges zum erstenmal sich umschaun wird, um
mich zu suchen und um auch auszuforschen, ob kein Störenfried in der
Nähe ist. Ob sie heute kommen wird? Es ist nicht sicher. Uns halten so
viele Hindernisse voneinander weg. Oft besucht man sie gerade, wenn sie
schon mit erhobenen Händen zu mir läuft. Oft verlangt die Mutter
schnelle Botengänge, der Vater von ihr, sie solle mit ihrer
ausgezeichneten Schrift eine Nota kopieren. Nur eines ist gewiß. Sie
liebt mich ebenso innig und treu wie ich sie liebe. Ihr Herz kennt keine
Verstellung, keinen Verrat. Mutwillig läßt sie mich nicht warten, und
wenn ich manchmal spät abends ungetaner Dinge von hier wegschleichen
muß, so weiß ich, es geschieht wider ihren Willen mit derselben Kraft
wie gegen den meinen . . . Oh, welch ein Glück ist solch eine
gegenseitig erwiderte Leidenschaft!

(Pause. Die Kartenspieler lachen über einen Zwischenfall in ihrer
Partie. Der Wirt und seine Tochter kommen von rechts, wo das
Wirtshauszimmer und die Küche gedacht sind.)

DER WIRT:

Marie, hier ist er schon wieder . . .

MARIE:

Wer? Der schöne junge Herr mit den rötlichbraunen Augen?

DER WIRT:

Derselbige. Er kommt nur deinethalb, ganz gewiß . . .

MARIE:

Wenn es wahr wäre! . . . Aber es ist gewiß nicht wahr . . .

DER WIRT:

Was denn? Was sonst hätte er hier zu schaffen? . . . Seit einer Woche
versitzt er jeden Nachmittag da, ganz allein . . . Meinst du, er ist
verrückt? Sieht so ein Verrückter aus?

MARIE (senkt den Kopf):

Nein, das meine ich nicht.

DER WIRT:

Also sei heute einmal freundlich zu ihm, du wirst sehn, daß ich mich
nicht täusche.

MARIE (läuft davon, obwohl der Wirt sie am Ärmel festhalten will. Er
schüttelt den Kopf und stellt selbst das Glas Wein auf Orosmins Tisch.)

OROSMIN (aufgeschreckt):

. . . Nicht nur den Platz, ich sehe bis in ihre Wohnung. Was mag sie
jetzt machen? . . . Sie kleidet sich schon an, um zu mir
herunterzukommen, vielleicht nimmt sie gerade aus dem Spiegelschrank
jenen Florentiner Hut, der immer so gelbe, wasserhelle Tönung über ihre
rosa Wangen legt, und mit zarter Hand bringt sie seine Flächen, die sie
zurückbiegt, in ein kleines Schaukeln . . . O komm doch, meine Freundin,
es liegt nichts daran, laß den Hut verbogen, dir paßt ja alles . . . Sie
ist eitel, ja, sie ist ein wenig eitel . . . (Er lacht leise, für sich.)
. . . Man sieht es auch an ihrer sorgfältigen Schrift, nie wird sie
einen ihrer mädchenhaften Schnörkel vergessen . . . (er zieht einen
Brief hervor und küßt ihn. Sein Mund scheint von dem Papier angezogen,
denn wie er das Papier wieder in die Tasche stecken will, folgt sein
Gesicht ein Stückchen dieser Bewegung und reißt sich erst in ziemlicher
Neigung los) . . . Ich habe es mir nie vorstellen können, daß es solch
eine Lust ist, verliebt zu sein. Sonst pflegte ich verdrießlich,
nachdenklich, zerstreut, sorgenvoll von meinen Büchern, meinen gemalten
Tafeln aufzustehn. Was kümmern mich jetzt die Bücher, die Farben und die
Linien . . . Hier dieser Platz, diese Gegend ist alles, was zu meiner
Seele spricht. Hier bin ich bei mir, zu Hause, in meiner eigensten
Laune, die durch nichts erklärt und verursacht wird als durch Dinge, die
nur mich angehn und die nur ich verstehn kann. Ich bin stolz darauf, ich
bin in einer Stimmung voll von Großartigkeit . . . Schöne Häuser!
Schönes Gesumm und Lärmen! Schönes Fenster, das ihre! (Er streichelt den
Tisch, das Weinglas, die Weinranken, in die er die Hände taucht wie in
Wasser.) Schönes Glas, wie wohltuend bist du gearbeitet! Schöne Blumen!
O großes überreiches Herz! . . . Ein Wahnsinn, davon zu reden. Und doch
treibt es mich, mein Glück mitzuteilen, mich mit aller Welt zu
verständigen, wenn es geht . . . Wie reizend ist dieser Nachmittag,
dieser Himmel über uns . . . Ich werde vielleicht diese Herren fragen,
sie nehmen es mir wohl nicht übel . . . (Er will gerade aufstehn, da
tritt der Wirt an seinen Tisch und grüßt.)

DER WIRT:

Einen guten Tag wünsch ich . . .

OROSMIN (sieht ihn lange an, lächelnd, voll Freundlichkeit):

Sagen Sie es mir, lieber Herr . . . waren Sie einmal verliebt? Kennen
Sie dieses Gefühl?

DER WIRT:

No ja . . . Man war auch einmal jung.

OROSMIN (gütig, doch ohne sich etwas zu vergeben, ohne lächerlich zu
erscheinen):

Guter Freund, es ist eine schöne Zeit, nicht wahr? Ihr seid hier der
Gastwirt? Es würde mich interessieren, mit Euch ein wenig zu plaudern,
von dieser schönen vergangenen Zeit. Oder -- Ihr seht zufrieden aus --
vielleicht ist sie noch gar nicht vergangen . . .

DER WIRT:

No, das schon . . . Befehlen vielleicht der gnädige Herr etwas zu
speisen? Ein frisches Rostbratl wär hier, ganz frisch, extra . . . (er
spitzt den Mund.)

OROSMIN (fein lächelnd):

Gut. Gemacht.

DER WIRT (geschäftsmäßig nach rechts hinter sich rufend):

Marie, ein Rostbratl . . .

OROSMIN (ruhig):

Um also wieder von dieser Zeit zu reden, von der Zeit der fröhlichen
Liebe . . . wie ist es Euch damals ergangen? Wohl auch so, wie mir
jetzt? Was? . . . (Der Wirt macht ein angestrengtes Gesicht, um höflich
zuzuhören wie auf einen Auftrag.) Seid auch Ihr damals mit dem
glücklichen Gefühl jeden Morgen aus dem Bett gesprungen, daß ein Tag
voll von erhabenen, dringenden und wichtigen Gedanken Euch bevorsteht?
Und obwohl der Stoff dieser Gedanken durch das Erwachen nicht im
mindesten sich zu ändern pflegte, denn auch bei Nacht hattet Ihr
natürlich die Geliebte in Euren Träumen gehegt, -- frohlocktet Ihr nicht
trotzdem darüber, daß diese immerhin verwirrten und lockern Gedanken nun
in Eure feste Hand geraten seien, daß die Geliebte nun viel deutlicher,
geordneter, wie in ruhigem Wasser in ihnen sich abspiegeln werde? Und
wenn Ihr nun auf die Gasse ginget, wart Ihr nicht überglücklich,
desselben Himmels Wirklichkeit zu sehen wie sie, dieselbe Luft zu
durchwandern, zu durchsaugen wie sie? Und habt Ihr die Annehmlichkeit
oder Unannehmlichkeit Eurer Schritte darnach bemessen, ob diese Euch zu
ihrem Haus oder in der Richtung von ihrem Haus wegtrugen? Nun, war es
so?

DER WIRT:

Ich hab mein Weib recht lieb gehabt, das muß ich schon sagen . . . Ein
braves Weib, das muß man ihr schon lassen . . . (er wischt sich die
Augen.)

MARIE (ist schon vorher gekommen. Langsam dem Tisch, an dem Orosmin
sitzt, sich nähernd, hört sie zu. Einer der Kartenspieler fordert sie
auf, sich zu ihnen zu setzen. Er nimmt sie um die Taille. -- Sie macht
sich los, ohne zu schrein, ohne große Bewegung, immer Orosmins Reden
lauschend, und stellt sich jetzt neben ihren Vater . . .)

OROSMIN:

Neulich stach ich mich mit der Spitze meines Messers, als ich mir einen
Bleistift spitzen wollte. Eine Weile sah ich zu, wie der rote Tropfen
sich immer üppig neu bildete, wenn ich ihn weggewischt hatte, wie das
unversiegbar und ohne eigentlichen Schmerz aus der Haut heraufkam.
Nachher besann ich mich und es fiel mir ein: Das war wirklich seit
vielen Tagen, Orosmin, der erste Moment, die erste Weile, in der du an
etwas anderes gedacht hast als an sie. Und von diesem Einfall an dachte
ich natürlich wieder nur an sie. Welch ein Vergnügen das gibt, wie das
anlockt! . . . Ist es mit Euch auch ähnlich bestellt gewesen, braver
Mann? Habt auch Ihr zu Eurer eigenen Überraschung immer neue
unaufschiebbare Überlegungen gefunden, die Euch das Mädchen von wieder
andern Seiten zeigten? War sie für Euch die glänzende bläuliche Kugel im
Garten Eures Gemüts, in der alles Vorübergehende auf der Erde und die
Wolken des Himmels bildhaft dahinzogen, indes sie selbst blieb, eine
ewige Erinnerung in sich festhaltend . . . an all das, was durch sie
Wert und Schimmer erhalten hatte?

DER WIRT (immer gerührter):

Ja, eine Erinnerung hat sie mir zurückgelassen, eine gute Erinnerung
. . . meine Tochter Marie . . .

OROSMIN (erhebt die Hand, um weiterzureden, MARIE mißversteht ihn und
will ihm die Hand reichen. Verlegen läßt sie sie wieder fallen):

Immer bin ich ihr nahe. Ich bin so glücklich, daß mir nichts auf der
Welt übrig bleibt zu wünschen. Hat man je einen solchen Menschen gesehn,
auf der Höhe seiner natürlichen Vollkommenheit? . . . Doch gewiß wart
Ihr ebenso, mein Teurer, gewiß geht es vielen Menschen ebenso. Es wäre
zu traurig, wenn ich eine Ausnahme wäre . . . Gewiß habt auch Ihr diese
dauernde Befriedigung in Euch herumgetragen, die nur dann noch
gesteigert wurde, wenn Ihr mit Eurer Geliebten in Gegenwart beisammen
wart, in unbegreiflicher Art gesteigert. Denn was könnte dem Bewußtsein,
zu lieben und geliebt zu sein, eigentlich noch hinzukommen! Und doch
kommt etwas hinzu, obwohl kein Platz mehr im Herzen frei scheint, doch
sprengt ein Gefühl knapp an der Grenze des Erträglichen, so voll Süße,
den schon geweiteten Busen. O diese Stunden der äußersten letzten
Seligkeit, die Blicke voll des Unendlichen, die Wonne eines
verschwimmenden sanften Streichelns, das uns gerade noch festhält, wo
wir glauben, in Äther zu vergehn . . . Wunderbar ist das, und ebenso
wunderbar ein Gefühl der Wehmut, das uns anfällt, wenn wir die Geliebte
längere Zeit nicht gesehn haben. Nicht gleich, aber nach einiger Zeit
gewiß. Nichts hat sich geändert, ich bin ja eigentlich zufrieden wie
vorher, ich weiß, daß sie mein ist und daß ich ohne Abwechslung an sie
denken darf, ohne Störung. Und warum also diese Unruhe, diese Sehnsucht,
sie wieder leibhaftig vor mir zu haben, zu neuer Speisung und Zauberei,
die Geliebte? Das ist sinnlos, das läßt sich nicht erklären. Eine
Sehnsucht, die nicht quält, ein Wunsch, dessen Erfüllung man gar nicht
wünscht; und doch ist etwas dabei, was quält und wünscht . . . und doch
möchte man diesen Zustand nicht aufgeben . . . und doch ist man
ungeduldig und glücklich wie ein junger Adler, der zu seinem ersten Flug
ansetzt über Hochebenen und tiefe Meere. Ja, das alles ist eben mein
Herz, so sehr mein Herz und nichts als mein Herz, daß jeder Sinn, diesen
Gefühlen genähert, sich verfälschen muß . . . Wie gerne spreche ich
davon. Das ist ein Vergnügen. Ich erkläre es Euch mit vielem Vergnügen,
Herr Wirt. Ist es Euch auch so gegangen? Ja, die Liebe macht
schwatzhaft.

DER WIRT:

Ja, die Liebe macht schwatzhaft . . . Man muß aber auch diskret sein,
darauf hielt man sehr viel zu meiner Zeit.

OROSMIN:

Diskret? Zurückhaltend? . . . Bin ich's nicht? O glaubet nicht, indem
ich Euch etwas von meinem hochgeliebten Mädchen anvertraue, daß ich Euch
dann näher bin als ihr. O nein, ich bin ihr ja so nah, so verwandt, so
lieb habe ich sie . . . und wenn ich von ihr zu Euch spreche, so ist es
eigentlich nur, als spräche ich von Euch zu ihr. So ist das Verhältnis.
Immer ist sie mir zur Seite, in allen Dingen. Sie kann sich auch einmal
in irgendwen verwandeln, zu dem ich von ihr, von meiner Liebe rede, weil
es mich so unwiderstehlich andrängt. Ich rede eigentlich immer nur mit
ihr. Ihr, zum Beispiel, seid jetzt in sie verwandelt . . .

DER WIRT (mit einem dummen Gesicht):

Ich? . . . (Da seine Tochter gerade den Braten bringt, schiebt er sie
vor) In meine Tochter? . . .

OROSMIN:

Und zumal an dieser Stelle der Welt. Hier laufen alle Wege zusammen, um
ihr zu huldigen. Glaubt Ihr etwa, diese Leute seien Fremde (weist hinaus
auf den lärmenden Platz), diese ernsten Mienen seien nicht in
irgendeinem tieferen Zusammenhang mit der Einzigen, versteckt,
abgeleugnet, spitzbübisch verkrochen, aber deshalb nicht weniger im
Zusammenhang . . . O dieser Platz ist etwas ganz Besonderes, mit seinem
Rauschen der tausend Füße, mit seinem Fuhrwerk. Deshalb sitze ich so
gerne hier . . . Deshalb esse ich mit gutem Appetit (er schneidet ein
tüchtiges Stück ab und spricht kauend), mit gesundem Appetit . . .
Irgendeiner dieser Autobusse, so schwerfällig und stockhoch, wie sie
auch wackeln mögen . . . wenn man ihn nun anhielte und einen der
Passagiere nach dem andern geduldig fragte, abfragte, was er vorstellt
und fühlt und worin er wurzelt . . . wäre es nicht lächerlich, ja
undenkbar, anzunehmen, er könnte etwas anderes zur Antwort geben als:
die Geliebte! . . . Was labt mich hier? Warum sitze ich hier, gerade
hier, lieber als anderswo? Warum hat diese Formung der Häuser, diese
Höhe und diese Tiefe und diese Witterung einen so zarten Einfluß auf
mich, so etwas wie geheimen Trost und Holdseligkeit? Warum füllen sich
meine Augen mit Tränen? Warum bin ich hier wie am rechten Fleck, wie
mitten im mir Angepaßten, wie bei mir selbst zu Besuch, behütet,
bemuttert, eingeschattet, reifend, fruchtend, geschwellt vor Heimat und
Sicherheit, wohlbehaglich durch und durch? . . . Ja, wenn ich diesen
Trunk ansetze und heruntertrinke, so fühle ich: ich habe sie selbst
getrunken, ich habe mich mit ihr vereinigt . . .

DER WIRT:

Noch ein Glas gefällig?

OROSMIN (nickt):

. . . mit ihr vereinigt.

(Der Wirt geht mit dem leeren Glas, Marie nimmt seine Stelle ein.)

OROSMIN:

Fürwahr, ich bin unbeschreiblich glücklich!

MARIE (leise):

Ihr sprecht in einer Art, daß jedes Mädchen sich glücklich schätzen
müßte, so geliebt zu werden . . .

OROSMIN:

Freundliches Geschöpf . . .

MARIE:

Ja, Ihr sprecht sehr lebhaft und zugleich sehr gefühlvoll. Manchmal
klingt es wie ein Gedicht, ja, wie ein Gedicht, das man singt . . .

OROSMIN:

Du bist von ihrem Geschlecht, du bist reizend. Die Frau dieses guten
Wirtes, nicht wahr . . .

MARIE:

Seine Tochter, Euch zu dienen.

OROSMIN:

Ich hoffe, du hast einen Mann oder einen Bräutigam, der dich liebt, wie
du es verdienst.

MARIE:

Ich bin ledig. Ich habe auch keinen Freier.

OROSMIN:

Deine Haare sind reich und braun. Es scheint, daß braune Haare
vollkommener und gleichsam verbundener aus dem Menschen hervorblühn als
Haare aller anderen Arten. Sie passen besser zu menschlichen Wangen, zum
menschlichen Nacken, und namentlich, wenn ein zartes Gelb dieser Wangen
am Rand den Übergang aus dem Rosa und Weiß des Antlitzes zu den
unerforschlichen dunklen Haarmassen bildet, wenn die letzten Locken am
Hals einen bräunlichen Streifen überwölben. (Er zeigt mit den Fingern
auf die Stellen, von denen er spricht) . . . Das sieht natürlich und
gutgewachsen aus. Auch sie hat solche Haare und so ähnlich gehn sie in
ihre Wangen über. (MARIE neigt mit geschlossenen Augen, sanft lächelnd,
ihre Wange fest an seine Hand, die ihr Ohr berührt, sie preßt diese Hand
zwischen Wange und Schulter ein.)

OROSMIN:

An euch Mädchen ist vieles zu bewundern.

MARIE (steht ihm jetzt so nahe, daß sie die Aussicht auf den Platz
verdeckt. Er schiebt sie mit der freien Hand sanft zurück.)

OROSMIN:

Das nicht. Hier geradeaus muß ich sehn . . .

MARIE:

Wohin denn, gnädiger Herr?

OROSMIN (will seine Hand losmachen, die sie mit dem Gewicht ihres Kopfes
festhält):

Du bist sehr schön. Ich wünsche dir jemanden, der dich sehr lieben kann
und der gar nicht bemerkt, wie glücklich er dich macht: so glücklich
machst du ihn . . . (reißt seine Hände los.)

MARIE (traurig):

Ihr kränkt mich. Was habe ich Euch getan?

OROSMIN:

Ich will dich nicht kränken, keinen Menschen, kein Mädchen ganz
besonders. Kann ich mehr für dich tun, als dir sagen, daß dieser Kopf,
diese Brust, diese Hüften . . . (Er lacht plötzlich laut auf.)

MARIE:

Warum lacht Ihr so plötzlich? Und immer noch?

OROSMIN:

Du mußt verzeihn. Aber während ich so mit dir sprach und dich ansah,
neigte sich urplötzlich aus deinem Leib heraus ein anderer, neigte sich
zur Seite hervor, verdeckte die Gasse neben dir, borgte vielleicht
seinen Stoff aus dem Dunkel dieser Vorübergehenden, du hattest da zwei
Köpfe, zwei Gestalten bis an die Hüfte, und das deutlichere dieser
beiden Schattenbilder, ja, es war das deutlichere, stellte meine
Geliebte dar. Ich sah sie ganz deutlich. Es ist vorbei . . . Das war
aber komisch (lacht wieder) ein Traum, am hellen Tag . . .

MARIE (weint):

Warum lacht Ihr? Warum lacht Ihr mich aus?

DER WIRT (tritt mit dem Wein dazwischen.)

OROSMIN (zurückgelehnt):

Das alles ist höchst wunderbar. Und in meinem Herzen ist ein so seliges
Gemisch von Abspannung und Frische zugleich, daß ich meine, ich könnte
gleich einem guten Dutzend solcher Phantasien jetzt das Leben zeugen
. . . Gute Sonne, gewiß bin ich ein Sonntagskind, ich habe eine Kraft
und einen Frieden in mir, daß ich bald anfangen werde, mich zu schämen,
wenn nicht ein Unglück mit mir geschieht. Ich laure hier, ich warte,
aber das stärkt mich nur, statt zu ermüden . . . (Leise Klänge werden
aus der Wirtsstube vernommen.) Ach, Musik, das kommt zur rechten Zeit.
Man sagte mir, daß sie das Dunkelste in der Brust aufzulösen versteht
und in etwas Neues, in Kristalle ihrer eigenen Art überführt. So wie der
galvanische Strom Stoffe entkettet und am andern Pol nach seiner Idee
zusammenkettet. Die Gebilde sind gleich unverständlich vorher und
nachher, aber in der Bewegung und Veränderung mag etwas liegen, was
unserer Klarheit näher kommt als das Trübe vorher, das Trübe nachher
. . . Was für eine Art Musik ist das?

DER WIRT:

Euch zu dienen, es ist ein Klavierspieler, ein Bursch, der meine Gäste
belustigt. Er spielt und singt.

OROSMIN:

Heiß ihn näher kommen und vor mir singen.

(DER KRÜPPEL, vom Wirt gerufen, kommt aus dem Lokal, geht über die Bühne
und setzt sich ans Klavier. Er spricht zu seinem Spiel):

DER KRÜPPEL:

   Was galt je und heute
   Mir der Erde Pracht!
   Nur für reiche Leute
   Ist das Licht gemacht.

   Manchmal hör ich Töne,
   Goldne Melodien,
   Ahnungsreiche, schöne,
   Fern vorüberziehn.

   Ach, wer näher hörte,
   Wär ein froher Held.
   Doch mein Hören störte
   Schon wie Lärm die Welt

   Und in meinen Strudel
   Feucht ins Bettlertum
   Paßt nur ein Gehudel
   Und ich dudle drum, --

   Paßt nur mein Gedudel
   Klägliches Gebrumm.

(Er spielt weiter. Die Melodie ändert sich allmählich, bis)

OROSMIN (sich erhebt und einfällt):

   Wenn dein Schicksal auch arm gefallen ist,
      Mußt du nicht verzagen, --
   Etwas, was in uns allen ist,
      Wird dich höher tragen.

   Auch ich war von vielem Gram verhängt
      Wie ein schlechtes Wetter,
   Nun hat sich die Liebe durchgedrängt
      Mit hellem Strahlengekletter.

   Selig, wie guter Geister einer,
      Schweb ich durchs Tal,
   Nichts ist kräftiger, nichts ist reiner;
      In mir badet der Wasserstrahl.

   Der morgennasse Wald, von Feuchtigkeit gekämmt,
      Jeder Zweig, geordnet zum Strauß --
   Ich fliege entlang; nichts, was mich hemmt,
      Bis ins Försterhaus.

   Der Sonnenaufgang ist mein Spiegelbild,
      Mein Blick der tauige Berg.
   Jedes nützliche Tier trägt mein Siegelbild,
      Ich führe das fromme Werk.

   Ich habe die hohen Viadukte gebaut,
      Lange Beine aus Eisennetz,
   Darunter Dörfer, wohlriechendes Kraut
      Gestreut nach meinem Gesetz.

   Was kann man mehr genießen
      Als erfüllter Liebe Glück!
   Sie duftet mehr als Wiesen,
      Strahlt schöner als Tau zurück.

   Nur an Eine entzückt im Denken gehn,
      Von ihr abhangen --
   Was befällt mich? Was will mir geschehn?
      Wohin will es gelangen?

(Er macht einen Schritt, bleibt so stehn. Die Melodie ändert sich
nochmals.)

MARIE (schmachtend):

   Ich versteh ihn nicht.
   Wüßt gerne, was er spricht.

   Besondres sicherlich
   Ist es. Doch nichts für mich.

   Es freut mich doch.
   Aber es hat ein Loch . . .

   Er ist ein schöner Mann,
   Und wie er blicken kann!

   Schaut' er auf mich sich um,
   Ich wär ihm dankbar drum.

DER WIRT (starrend):

   Bequem ist's, so zu stehn
   Und in die Welt hinsehn.

   Man hört so allerlei,
   Und ist so frei
   Und denkt sich nichts dabei.

   Ist es auch nichts zum Leben,
   So ist's was andres eben. --

   Was steh ich hier herum,
   Es wird mir schon zu dumm. (ab.)

MARIE (im Abgehn):

   O dreh dich noch herum,
   Ich liebte dich darum. (ab.)

KRÜPPEL:

   Ich hudle, sudle dumm
   Mein klägliches Gebrumm.

OROSMIN (setzt sich ruhig wieder in seinen Sessel):

   Mir winkt aus dem Gesumm
   Die eine Stimme -- stumm.
   (Die Musik ist zu Ende.)

(Auf dem Platze erscheinen, unter allen bemerklich, KLÜGRIAN und
KUNSTREICH, zwei junge Maler, Orosmins Freunde.)

KLÜGRIAN:

Welche Auszeichnung! --

KUNSTREICH:

Welche Katastrophe! --

BEIDE (die Stufen herauf):

Da haben wir ihn -- Orosmin, Freund!

OROSMIN (ihnen entgegen):

Ah willkommen -- Klügrian, Kunstreich!

KLÜGRIAN (atemlos):

Daß ich es nur gleich sage: Wir kommen in der wichtigsten Angelegenheit
von der Welt. Du mußt dich entscheiden, jetzt, sofort . . . Du stehst an
diesem einen Punkte, der nur einmal im Leben jedes Menschen kommt, der
ausgenutzt . . . kurz, du weißt: Shakespeare »There is a tide in the
affairs of men . . .«

KUNSTREICH (bescheiden):

Stören wir nicht etwa?

OROSMIN:

Mich stören? Kann mich jemand stören? (trunkenen Blickes.)

KLÜGRIAN:

Setzen wir uns. Sprechen wir bequem, aber bündig . . . wie Indianer in
ihrem Kriegsrat. Die Indianer, ein herrliches Volk. Ich wollte einmal
ein Bild machen. (Er spricht schnell, kann gleichsam seiner Einfälle und
Analogien nicht Herr werden. Seine Augen leuchten gescheit und angenehm.
Durch Handbewegungen versichert er sich der Zustimmung des schweigsamen
Kunstreich. -- Bei seinem Eintritt aber hat sich die Veranda in ein
gewöhnliches Wirtshaus verwandelt. Die Herren, die pausiert haben, um
den Liedern zuzuhören, peitschen wieder ihre Karten auf den Tisch. Wirt
und Marie bedienen in der üblichen Weise.)

OROSMIN:

Oh, daß ihr hier seid, ihr lieben Freunde! Ihr werdet mich in meinem
Glück sehn . . . ihr werdet sehn . . . Nein, nichts von Störung . . .

KLÜGRIAN:

Und wenn wir dich auch stören! Dies ist jedenfalls wichtiger, größer,
was wir bringen. Nichts kann für dich heute und von heut an mehr
Bedeutung haben. Also denke nur, der Fürst . . .

KUNSTREICH (sich erinnernd):

O dieses Unglück!

KLÜGRIAN:

Dieses Glück, dieses Glück! . . . In einigen Minuten wird der
Hofmarschall erscheinen, er selbst, er folgt uns auf dem Fuße. O der
Glanz, die große Welt. Ich sage dir, wie Rubens, wie Tizian . . . Es
soll der Künstler mit dem Kaiser gehn . . . Er holt dich ab . . .
Verstehst du, verstehst du es? . . . Doch ich muß von vorn beginnen. --
Verstehst du?

OROSMIN (nickt langsam):

Ja . . .

KLÜGRIAN:

Ja? . . . (erstaunt) Er versteht es . . . Aber . . .

OROSMIN (spricht viellangsamer als Klügrian):

Alles verstehe ich jetzt. Nichts kann sich mir entziehn . . . Siehst du,
ich sitze hier den ganzen Nachmittag. Das ist mein Glas (zeigt es ihm),
das ist mein Tisch . . . (Er legt beide Ellbogen auf.) Aber bemerke nur
du, genau so wie ich hier jetzt mit meinen Armen eine Fläche auf den
Tisch abgrenze und einschließe, ganz für mich, da kann jetzt niemand
herein ohne meine Erlaubnis, da bewegt sich nichts als der Schatten, den
die Höhe meines Ärmels wirft und den ich ausbreiten oder schmälern kann,
das ist mein, nur mein . . . so ist von mir eingeschlossen dieser ganze
Platz vor uns, ja die Gasse, die Brücke, ebenso alle Leute, die wandeln,
wie die beständigen Bäume dort; ja die ganze Welt . . . Da kann nichts
geschehn als kraft meines einzigen Gedankens, im Steigen und Fallen
dieses Gedankens, alles ist abhängig von mir, also um so mehr mir
verständlich . . .

KLÜGRIAN:

Keine Dummheiten, bitte . . . Sind wir nicht heutige Menschen? (Die Hand
auf Kunstreich ausgestreckt; dieser stimmt bei.)

OROSMIN (gedankenlos, verbindlich):

Sehr gut, bravo, sehr gut . . .

KLÜGRIAN:

Gewiß, wir sind ja _eine_ Partei! Also rede nicht wie ein Impressionist,
blamiere mich nicht . . .

KUNSTREICH:

Du wolltest erzählen . . . (zaghaft.)

KLÜGRIAN (ohne Übergang, gleichsam aus sich heraus):

Der Fürst ist in der Sternburg eingekehrt, bei deinem Vater, Orosmin,
dem er ja schon einige Male die Ehre seines Besuches . . . Ich bin kein
Fürstenknecht, ihr wißt. Aber die Macht, die Macht. Was kann es
Herrlicheres für einen großen Künstler geben als die Macht. Nietzsche
(bricht ab) . . . Diesmal kam der Fürst mit allem Gefolg. In der Nacht
sollte zur Jagd aufgebrochen werden.

KUNSTREICH:

O die schönen Bilder (verbirgt sein Gesicht in Händen.)

KLÜGRIAN:

Wie es geschah, weiß niemand. Die einen sagen, ein unvorsichtiger
Sattelknecht, der seine brennende Pfeife ausklopfte. Kurz und gut,
plötzlich steht das ganze Schloß in Flammen. Im Hof wartet die edle
Gesellschaft, die Pferde kaum mehr zu halten. Auf einmal Vernichtung,
Feuersäulen, Glocken im Dorf. Wer nur kann, hilft mit. Der Fürst hetzt
seine Hofleute an die Spritzen, ein tätiger, energischer Mann . . . er
verspricht Bestrafung des Schuldigen, Ersatz für alles . . .

KUNSTREICH:

Aber kann man das ersetzen! Denk dir nur, Orosmin, dein Atelier ist
verbrannt, alle Gemälde von dir, deine Skizzen und Studien, . . . oh,
ich ertrag es nicht . . . die Arbeit von so vielen Jahren, so viel Blut
und Kampf und Glück . . . (er weint) auch deine Tagebücher sind mit
verloren und dein Hauptwerk: Jesus im Tempel . . .

KLÜGRIAN:

Laß ihn, rege ihn nicht unnütz auf . . .

KUNSTREICH:

Und die »östliche Landschaft«, die »Springenden zwischen Klippen«, die
»besonnten Schilfe« . . .

KLÜGRIAN:

Es ist ein arger Verlust, aber hör nur, wie er aufgewogen wird . . . du
bist ja noch jung . . .

KUNSTREICH:

Nein, bleiben wir dabei. Es ist das Wichtigste. Armer Kamerad! (er
nähert sich ihm, fast knieend.)

OROSMIN (streicht über sein Haar):

Erzählt nur ruhig weiter.

KUNSTREICH (entsetzt):

Er ist untröstlich . . .

KLÜGRIAN (beginnt schon gefühllos):

Der Fürst läßt hierauf . . .

OROSMIN:

Nein, ich bin ja so namenlos froh und zufrieden. Nicht, daß deine
Nachricht meinen guten Zustand noch erhöhen könnte . . . er ist ja so
von innen an meine Schädeldecke gepreßt, daß es höher hinauf gar nicht
mehr geht (Geste dazu) . . . aber doch fühl ich mich erleichtert, meines
Ballasts befreit. Wie ein göttliches Zeichen ist das . . . Alle
Tagebücher sagst du, alle Gemälde . . .

KLÜGRIAN:

Er übertreibt. Einiges wurde gerettet, ein Buch mit Entwürfen . . .

OROSMIN:

Schade!

KUNSTREICH (weicht von ihm zurück):

Wie sprichst du? Was meinst du eigentlich?

OROSMIN:

Oh, mögt ihr mich nicht mißverstehn, meine Guten . . . Ich will ja
durchaus mein früheres Treiben nicht schelten, es waren schöne Tage,
manchmal ist es mir auch vorgekommen, als gelinge mir etwas, und vor
allem: sie haben mich hierher geführt . . . Aber sagt selbst, wie
wertlos muß das alles einem erscheinen, der weiß, daß er jetzt so ganz,
so unbändig im Rechten ist! So wertlos, daß es dem Glücklichen beinahe
schon schädlich dünkt . . . Böse Erinnerungen, die einzigen Fesseln, die
mich noch hielten . . . Dank euch, ihr Götter, daß ihr auch die von mir
genommen habt . . .

KLÜGRIAN:

Bravo! Die Zukunft, das ist alles . . .

OROSMIN:

O süße Gegenwart . . .

KLÜGRIAN (überhört ihn):

Und was steht nun alles vor dir, du Glücklicher, welche Pracht des
starken Mannes . . . Nun laßt mich zu Worte kommen, die Freude
überwältigt mich . . . Der Fürst also besichtigt das Gerettete, die
Ballen und Möbel, er bemerkt deine Skizzenbücher, er interessiert sich
für sie . . . Kurz, er fragt deinen Vater nach dir, er hört von deinem
Leben, deinen strengen Grundsätzen . . . Man bringt ihm dein Werkchen
»Sentenzen«, das der Vater mit seinen Juwelen im Panzerkästchen
aufgehoben hatte. Der Fürst bittet es sich zur ausführlicheren Lektüre
aus . . . Und am andern Morgen dringt er geradenwegs zu deinem Vater,
voll Entzücken: er möchte dich selbst kennen lernen, einen so
ausgezeichneten jungen Mann, ja er wünsche, dich beständig am Hof zu
haben. Man berät sich. Der Sohn des Fürsten soll jetzt einen Erzieher
bekommen, einen Begleiter auf seinen Reisen. Niemand scheint geeigneter
als du, niemand würdiger. Mit einem Wort: du bist zum Lehrer des Prinzen
ausersehn . . .

OROSMIN (als sei von einem Fremden die Rede):

Nein, wie das Schicksal spielt . . .

KLÜGRIAN:

Nebenbei Zeichenlehrer, doch vor allem Leiter der gesamten Einführung,
der ganzen Kultur dieses Jünglings -- mit andern Worten, wenn du dich
behauptest, und das wirst du, der erste Mann in Kunstsachen am
fürstlichen Hof. Kannst du fassen, was das bedeutet! Für dich vor allem
-- und dann für unsere Richtung. Wie man uns bisher aus allen
großstädtischen Ausstellungen verbannt hat, wie die alte Clique auf
allen Subventionen, allen Staatsaufträgen ihre Hand hielt. Und nun
plötzlich, endlich anerkannt, in der Morgenröte fürstlicher Huld, alle
offiziellen Wege uns geöffnet -- was werden wir da leisten, wie werden
wir zeigen, was in uns steckt, in der Jugend, wie werden wir steigen und
die Welt umgestalten . . . Das war ja dein einziger Wunsch, Orosmin,
erinnerst du dich noch an unser letztes Gespräch im Park, das war unser
aller Wunsch. Und nun -- erfüllt ist er mit einem Schlag . . . Oh, ich
bin ganz außer mir . . . Und dazu trifft es sich so gut, daß ich jetzt
gerade in Paris war. Ja, ich komme aus Paris, gefestigt, bestärkt
. . .

OROSMIN:

Aus Paris?

KLÜGRIAN:

Ich habe mit den Indépendants gesprochen. Es herrscht nur _eine_ Stimme
unter den jüngern Malern: unsere Gruppe gehört zu ihnen . . . Oh, ich
bin reif geworden, ich bin auf der Höhe . . . Synthetisch denken, das
ist alles. Unsere Zeit hat keine Lyrik. Die Impressionisten waren
Lyriker. Das Licht, die Luft sind lyrische Elemente in der Malerei, wie
die Linie das epische Moment darstellt, die Fläche das pathetische, die
Form das tragische . . .

OROSMIN:

Ich habe schon lange an diese Dinge nicht mehr gedacht. Aber sie machen
dir Freude, nicht wahr . . .

KLÜGRIAN:

Ich weiß jetzt alles. Ich bin ganz klar. Jetzt, genau jetzt ist der
Moment für unsere großen Taten gekommen . . . Und du am Hofe, das haben
die Götter geschickt! . . . Ich habe in Paris mit Matisse, mit Delaunay
gesprochen, wir waren sofort einig . . .

OROSMIN (interessiert, ohne Hohn):

Worüber denn? Über das Tragische der Form? . . .

KLÜGRIAN:

Ja, die Form ist Tragik, Distanz zu den Dingen. Das konstruktive Prinzip
der Bilder . . . Alle Großen haben es befolgt. Rembrandt, Greco. Man
kann direkt die schematischen Linien ihrer Kompositionen nachweisen,
bald sind es Ellipsen, bald Kreise oder Systeme von Geraden . . .
Lionardo . . . Ich habe fünfhundert Bilder von Rembrandt daraufhin
durchgearbeitet, nachgemessen . . .

OROSMIN:

Du bist fleißig . . .

KLÜGRIAN (wirklich erhaben):

Ich weiß, was ich will. Und ich bin jetzt auf dem richtigen Wege, das
weiß ich, zum großen Stil, im Leben wie in der Kunst . . . Vor allem
eins hat uns ja bisher geschadet, die Enge, der kleine Krieg, die
kleinen Erfolge. Der große Erfolg, werdet ihr sehn, macht auch uns
besser, uns und unsere Bilder. Man muß erst einmal gesiegt haben, um ein
Held zu werden. (Er ist gewachsen, er strahlt) . . .

OROSMIN (zerstreut):

Du hast in Paris gemalt? Was denn?

KLÜGRIAN (zieht die Brauen hoch, öffnet die Faust, skeptisch die
Handfläche nach oben, und schnalzt dazu . . . nach einer Pause):

Kitsch . . . Was hab ich bisher in meinem ganzen Leben gemacht . . .
Kitsch . . . Auch in Paris hab ich einen »Mäcen« gefunden, er wollte
Kitsch von mir, anderes nicht . . . Man muß doch vor allem schaun, seine
Bilder zu verkaufen . . .

KUNSTREICH:

Ich habe noch nie ein Bild verkauft.

KLÜGRIAN (sieht ihn streng an, die Hand gestreckt).

KUNSTREICH:

Aber . . . aber . . . man muß . . .

KLÜGRIAN:

Das ist es, was der Künstler braucht. Sich lebendig fühlen im großen
Maschinenhaus, nicht zwecklos, nicht ausgeschaltet aus dem
Wirtschaftsorganismus, Werte erzeugen, Werte beziehn . . . Das ist der
moderne Mensch, die großzügige Gesinnung kriegt ihr anders nicht heraus
. . . Oder meinst du, wenn ich um Hungerlohn in Paris die Fußböden der
Kneipen wusch, das hat meinem Schaffen genützt; das war wirklich Paris
für mich? Oder Kunstreich konnte ins Herz der Welt dringen, so lange er
in seinem Kleinstadtwinkel halb verbauert saß . . .

KUNSTREICH:

Das ist wahr. Aber . . . (wagt es) was hat es mir am Ende geschadet
. . . Ich war glücklich und ruhig an der Staffelei.

KLÜGRIAN (grob):

Davon verstehst du nichts. Male und überlaß mir das Nachdenken . . . O
wie heftig fühle ich die Wahrheit meiner Theorie, wie bin ich jetzt
entschlossen, erleuchtet. Das galt doch immer als ausgemacht unter uns:
Die Theorie ist meine Angelegenheit, -- du, Kunstreich, bist die
manuelle Begabung der Gruppe -- verzeih, wenn ich es so ausdrücke -- ein
Rokokopoet hätte es zierlicher gesagt . . . na, und Orosmin, du gabst
nebst aller Tüchtigkeit das Geld her, du hast viel geopfert, dein Vater
auch. Aber was konntet ihr schließlich, kleine Landjunker . . . verzeih
. . . Jetzt aber, du Säule aus Gold, du Glückskind . . . (stößt ihn
ironisch an) du Höfling . . . (gleich wieder ernst). Nein, im Ernst, es
gilt klug zu sein. Die Gelegenheit zu packen. Mögen auch vielleicht die
Motive des Fürsten nicht die lautersten sein, mag er wenig von dem
Eigentlichen verstehn, was du willst, was wir wollen, ja, mag er
lediglich von dem praktischen Zweck geleitet sein, deinem Vater für gute
Bewirtung und Schaden einen Gegendienst zu erweisen -- einerlei, seiner
Politik setzen wir unsere Politik entgegen . . . Heutzutage in der Zeit
des allgemeinen Kapitalismus, braucht auch der Künstler kein lyrisches
Herz dort, wo den andern nur Portemonnaies sitzen. Wir sind gleichfalls
vernünftig, diplomatisch . . . Denk an Shaw . . . Wir nehmen ihn beim
Wort, wir nehmen den Prinzen, wir packen ein und fahren nach Ägypten
zuerst, dann nach Indien, Japan. Das heißt: du fährst. Denke nur, was du
alles sehn wirst. Und wenn du dann zurückkommst, diese Umstürze! Aber
die Reise geht ja nur dich an, da rede ich nur in deinem Namen . . . O
Gott, wie wird das alles an dir vorbeispritzen, flüchtig, aber silbern,
das ist ein Gewinn fürs ganze Leben. In Expreßzügen wirst du manchmal
entlangschlendern, und plötzlich im Dunkel zwischen zwei Waggons, an
jener Stelle, wo rechts und links harte, faltige, rauchige Tuchwände
absperren, wo die verbundenen Eisenplatten unter deinen Füßen zittern,
-- urplötzlich wird es dich befremden, dein traumhaftes Glück, du wirst
den Abstand nicht ermessen können zwischen deiner trüben Vergangenheit
und diesem Glanz! Oder nachts an Grenzstationen, wenn du zur Verzollung
in die kalte Luft aussteigen mußt, am Zug hingehst und ein Frauengesicht
halb-deutlich, halb-mürrisch dich anlächelt, hinter dem Fenster im
verdunkelten Coupée, ein Gesicht, das du jetzt ansiehst, dem zu Liebe du
während des Zugaufenthalts einigemal an eben diesem Coupée auf- und
abgehst -- und du weißt, daß du ihm im Leben nie mehr begegnen wirst, du
würdest es ja nicht erkennen. O dieses Mysterium! Und die unbekannten
Berge ringsum, das rauhe Land, der sanftgewölbte Sandstreifen zwischen
den Gleisen, die Rufe der Kondukteure. Himmel, was für Empfindungen, was
für Melancholien! Mensch, eine Welt tut sich vor dir auf -- und du
schweigst --.

OROSMIN:

Das alles hört sich sehr hübsch an . . .

KLÜGRIAN:

Hübsch . . . du klingst matt . . . Ich bin ja so glücklich. Aus
Entzücken, aus reiner Freude rede ich von all diesen Dingen. Dieser
Umschwung in unserem Leben ist etwas so Wichtiges, daß man von ihm aus
alle Dinge neu betrachten muß, gleichsam zum erstenmal . . .

OROSMIN (zerstreut):

Paris hat dich sehr angeregt . . .

KLÜGRIAN:

Nur noch eines: du befindest dich jetzt etwa in der Lage Goethes, ehe er
sich entschloß, nach Weimar zu gehn. Vorwärts, in den großen Stil,
dorthin gehört das Genie . . . Oder Wagner bei Ludwig von Bayern . . .

OROSMIN (hält sich die Ohren zu).

KLÜGRIAN:

Was ist . . .

OROSMIN:

Wozu die fremden Namen? Sie schneiden so in die Luft ein. Ich bin hier,
vor dieser Straßenkreuzung, wo es jetzt Abend wird -- und genügt das
nicht? Ich bin konzentriert. Ich bin begeistert . . .

KLÜGRIAN:

Heutzutage hat ein Künstler nicht mehr begeistert zu sein. Nun? . . .
(Da Orosmin schweigt, wendet er sich an Kunstreich.) Nun? . . .
(KUNSTREICH ist inzwischen, während Klügrians großer Rede schon, zur
Seite gerückt, hat dem Krüppel etwas zugeflüstert und begonnen, auf
einem rasch hervorgeholten Blatt ihn begeistert zu zeichnen. Jetzt wacht
er flüchtig empor.)

KUNSTREICH:

Du hast recht (zeichnet weiter.)

KLÜGRIAN:

Das war vielleicht zurzeit der Impressionisten noch am Platz. Damals
zogen die Leute, wie Manet, aufs Land, in die Dörfer und dort sagte man
»Ah« und »Oh« und »Ach, wie schön ist die Natur, dieser Bach, die Luft,
das Licht« . . . Das war Kantilene, Diatonik; eigentlich ein Rückschritt
gegen Monticelli . . .

KUNSTREICH (eifrig zeichnend):

Was er alles weiß! Ich bewundere ihn . . . Gib ihm nach, er hat ganz
sicher recht . . .

OROSMIN (vor sich hin, sanft):

Ich bin so verliebt.

KLÜGRIAN:

Was bist du?

OROSMIN (lächelnd):

Verliebt.

KLÜGRIAN:

Vorhin begeistert. Jetzt verliebt . . . Was sind das für Ausreden,
Seitensprünge! Am Ende scheint es mir gar, daß du von meiner Botschaft
gar nicht so entzückt bist . . .

OROSMIN:

Entzückt . . . Ich bin so entzückt, daß ich auch deine Botschaft gern
mit hereinbeziehe. Ja gewiß, ich danke dir. Du plauderst reizend und so
in geordneter Verwirrung; wie eine Wolke kommt das aus dir heraus, wie
eine Wolke, aus der sich aber ein Kontinent von festem Boden
niederschlagen könnte. Verzeih, vielleicht erscheint es nur mir so.
Verzeih, aber ich habe dir wirklich nicht ganz genau zugehört. Ich sitze
da und sehe, wie die ersten Straßenlampen, angezündet, den Sternen
zuvorkommen. Es ist mir nicht anders, als säße ich zu Hause und
schraubte an meiner Tischlampe den Docht höher oder niedriger. So
gemütlich, das ist es, -- gemütlich denkt es sich an die Liebe . . .

KLÜGRIAN (ärgerlich):

An wen denn?

OROSMIN (klatscht kindlich in die Hände):

Ja, sprechen wir lieber von ihr. Das ist doch viel besser, das tue ich
gerne. Da dank ich dir wirklich . . . Der Gedanke an sie ist meine
heimatliche Gegend, meine Sorgenlosigkeit. Manchmal gehe ich herum, aber
nur zum Schein, oder ich rede, das ist nur Schein, oder ich atme diese
schon verlöschende Sommerluft, -- scheinbar --, denn das ist nur, wie
wenn jemand im Bett zwischen zwei Träumen den Kopf erhebt und sich
umschaut, im nächsten Augenblick sinkt er wieder in die Höhlung seines
Kissens zurück, läßt sich Finsternis in die Ohren strudeln . . . das
kann ich jeden Moment bewirken. Ich habe mich in der Hand, jeden Moment
bin ich bereit, zurückzusinken . . .

KLÜGRIAN:

Wie heißt sie? (examinierend.)

OROSMIN:

Du redest überspannt, wirklich . . . Es wäre doch schrecklich, wenn ich
noch dazu genau wüßte, wie sie heißt. Das könnte kein Mensch ertragen. O
nein, wenn sie kommt, dann geht etwas wie Nebel von ihr aus, das
verhüllt sie so wohltuend. Meinst du etwa, ich bin mir bewußt, was ich
rede, wenn sie dabei ist, was ich will, was ich sehe . . .

KLÜGRIAN:

Ist sie klug?

OROSMIN:

Oh, wenn du wüßtest -- wenn ich dir erzählen könnte -- (er packt ihn an
der Hand, auch den Kunstreich, den er im Zeichnen stört.) Frag lieber,
-- nicht, ob _sie_ klug ist -- ob sie _mich_ klug macht? Wenn ich mit
ihr gehe, wie mir die Gedanken zustürmen, in eins gerichtet, ohne
Ablenkung, wie ich manchmal schweige, an den richtigen Stellen, um meine
Eingebung noch zu steigern, wie ich förmlich sehe, ohne Spiegel, daß ich
in diesem Moment aufblühe und schön werde . . .

KLÜGRIAN:

Seit wann kennst du sie?

OROSMIN:

Seit acht Tagen, seit ich hier in der Stadt bin. Ich traf sie gleich auf
dem Bahnhof. Sie war mir vorbestimmt, zweifellos. Was sonst als mein
Schicksal hätte mir eingeflüstert, in diese Stadt zu fahren, gerade
hierher, wo ich keinen einzigen Bekannten habe . . . Was, es ziemt mir
nicht, von all diesen Dingen zu reden. Ich will nur von ihr reden, an
sie denken, alles andere ist ja so überflüssig. -- Nur das eine sage ich
dir noch, damit du mich nun endlich verstehst. Früher war ich ein
vielbeschäftigter Mensch, ich hatte einen Wandkalender und einen
Taschenblock für Notizen und tägliche Besorgungen, ich strich die einen
durch, schrieb neue, manche blieben wochenlang unerledigt und quälten
mich unsäglich. Immer hatte ich Briefe vor oder Bücher, Bilder, Besuche,
Satiren, Angriffe. Oft, wenn ich an eine Sache dachte, stieg verhüllt
eine andere Gedankenkette in mir auf, ein ganzes System, in sich
geschlossen wie Bergland und gar nicht mit dem zusammenhängend, was ich
gerade arbeitete. Es wollte in mein Bewußtsein, es war da, zum Beispiel:
»Die Ansichten Ruskins über die Welt«, ich fühlte seinen Druck wie von
dunklen Wassermassen in der Nacht, hinter einer Schleuse . . . nur so im
allgemeinen, ohne daß ich die einzelnen Gedanken sehn konnte . . . in
sternenloser Nacht . . . Und da entstand dieses unleidliche nervöse
Gefühl des Komplizierten, Unübersehbaren in meinem Leben. Als sei ich
verpflichtet, zugleich mit meiner Arbeit den ganzen Ruskin und überhaupt
alles in der Welt parat im Kopf zu haben, so daß ich es sofort jedermann
erklären könnte. Unmöglich erschien mir das, verzweifelt und doch so
nötig. Warum nötig, das wußte ich nicht -- ich fühlte es unmittelbar,
eben diesen hydraulischen Druck im Gehirn, flüssige, glatte, lastende
Flächen . . . Gottlob, wie ist das jetzt vorbei, alles vorbei. Ich war
wahnsinnig, jetzt bin ich gesund. Ich war tot, jetzt lebe ich . . .

KLÜGRIAN (trocken):

Und wie lange wird das dauern?

OROSMIN:

So etwas dauert nicht, merke dir's. -- So etwas trägt die Zeit in sich
und alle Dinge der Welt kannst du fragen, wie lange sie, an meiner Liebe
gemessen, dauern werden; nicht aber meine Liebe an ihnen gemessen. --
Unseliger, du begreifst mich nicht. Aber ich habe ja alle Trümpfe so in
der Hand, ich bin so im Recht, ich könnte dich so leicht vollständig
überzeugen. Es ist eine Wollust, so vollständig im Recht zu sein . . .
Sprich doch etwas Vernünftigeres, damit ich mich nicht zu sehr überhebe
. . .

KLÜGRIAN (lacht und klopft ihm auf die Schulter):

Jetzt genug der Imagination. Ich würdige deine poetische Laune
vollkommen, aber sie scheint mir nicht zeitgemäß . . . Über die
fürstliche Einladung selbst ist ja weiter nichts zu reden. Siehst du
ihre Vorteile nicht sofort jetzt ein, so wirst du sie allmählich einsehn
. . . Ich wäre auch nicht dagesessen und hätte mit dir von allem
möglichen geplauscht, wenn nicht alles Wichtige schon längst besorgt
wäre . . . Wir soupieren jetzt, dann benützen wir den Nachtzug in die
Residenz, deine Koffer haben wir schon vorausgeschickt, deine Hausfrau
hat sie freundlichst gepackt. Die Wohnung ist bezahlt und gekündigt.
Hier überreiche ich dir noch ein Schreiben deines Vaters, der es sich
nicht nehmen lassen wollte, dir zu deinem außerordentlichen Glück selbst
zu gratulieren. Hier ist ein Kreditbrief (er überreicht die Schriften,
die Orosmin nimmt und vor sich säuberlich auf dem Tisch aufschichtet),
hier persönliche Empfehlungen an den Khedive. Der Hofmarschall bringt
dir weitere; in eigener Person, zu höchster Ehre holt er dich ab . . .
Hier ist er . . .

                   *       *       *       *       *

(Der HOFMARSCHALL kommt die Treppe herauf, eleganter Überzieher,
Zylinder. Ihm folgen zwei livrierte Diener. Trompetenfanfaren eines
Autos hinter der Szene . . . Aufsehen unter den Vorübergehenden, den
Kartenspielern, auch der Wirt und Marie treten näher . . . Es ist Nacht
geworden.)

KLÜGRIAN (nähert sich dem Hofmarschall mit Bücklingen):

Alles in Ordnung, Exzellenz . . . Erlaube mir Ihnen vorzustellen:
(burschikos und devot zugleich) Freund Orosmin, unsern liebenswürdigen
Kollegen . . . Er ist bereits über alles Nötige informiert . . . (tritt
an die Seite des Hofmarschalls, der sich steif dem Tisch nähert.)

KUNSTREICH (an der Seite Orosmins, der sich ebenfalls steif erhoben
hat):

Es ist der Hofmarschall, der oberste Beamte am fürstlichen Lager . . .
Begrüße ihn . . .



KLÜGRIAN (zum Hofmarschall):

Die anfängliche Schüchternheit jedes tieferen Gemütes . . .

KUNSTREICH (zu Orosmin):

Die Grandezza, hinter der sich wahre Würde verbirgt . . .

KLÜGRIAN (zum Hofmarschall):

Er hat sich entschlossen, wenn auch nicht ohne Bangen . . .

KUNSTREICH (zu Orosmin):

Er bezwingt sich und macht dir, einem Bürgerlichen, den ersten Besuch
. . .

(PAUSE. Orosmin setzt sich wieder, wie er früher gesessen ist, halb dem
Platz zugewendet, schaut hinaus . . . Der Hofmarschall wird von Klügrian
näher herangeführt.)

KLÜGRIAN (zum Hofmarschall, um ihn zu beschäftigen):

Das Souper habe ich im »Löwen« bestellt, dem ersten Hotel am Platz
. . .

KUNSTREICH (zu Orosmin):

Du solltest hier zahlen. Wir brechen gleich auf . . .

KLÜGRIAN (springt zu Orosmin):

So steh doch auf, rede doch, bemüh dich, suche einen guten Eindruck zu
machen . . .

KUNSTREICH (hat seinen Platz gewechselt, so daß er neben dem Marschall
steht):

Exzellenz, sprechen Sie mit ihm über ein künstlerisches Thema, Sie
verbinden ihn damit, das versteht er am besten . . .

KLÜGRIAN (wütend an Orosmins Ohr):

Was ist mit dir? . . . Der Fürst hat befohlen, dein Vater will es
. . . und ich . . .

KUNSTREICH (schiebt den Hofmarschall noch näher):

Verzeihn Sie, er ist wenig weltläufig . . .

OROSMIN (dreht sich ärgerlich, gelangweilt, doch ohne jede Aufregung,
dem Hofmarschall zu, der in diesem Moment ganz nahe steht, und wirft ihm
die Papiere, die auf dem Tisch liegen, leicht ins Gesicht . . .)

DER HOFMARSCHALL (weicht zurück):

Ah! -- (Er mustert von fern Orosmin, die beiden Freunde, die mit
entsetzten Gebärden ihn beschwichtigen wollen) . . . Ah! -- (Er geht ab.
Die Diener folgen ihm. -- Fanfare.)

KLÜGRIAN (stürzt auf Orosmin los):

Du . . .

KUNSTREICH (fällt ihm in den Arm.)

KLÜGRIAN (eilt dem Hofmarschall entgegen.)

OROSMIN (kehrt sich wieder seinem Ausblick zu, ruhig, fast
geistesabwesend.)



DIE DREI KARTENSPIELER (erheben sich und treten gravitätisch näher.)

DER ERSTE VON IHNEN (an Orosmin):

Glauben Sie nicht, mein Verehrter, weil wir mit unserem Zeitvertreib
beschäftigt waren, daß wir deshalb Ihrem interessanten Konflikt nicht
die gebührende Aufmerksamkeit, ja unser Mitfühlen geschenkt haben. In
Ihren Jahren ist es nicht leicht, mit dem Kopf voran, und gar mit dem
Herzen voran, durch die Welt zu rennen. Sein Sie vor allem gründlich,
junger Mann, dann werden Sie nie etwas nachträglich zu bereuen haben.
Lassen Sie die Erfahrung wohlmeinender älterer Leute nicht außer acht
. . . (ab.)

DER ZWEITE:

Frisch gewagt, ist halb gewonnen. Besser sich sofort entschließen, und
sei es auch falsch, als die Entscheidung aufschieben. Der Instinkt kann
Ihnen helfen, die Vernunft niemals, mit eingebildeten Berechnungen
leitet sie uns irre. Überlegen Sie nichts, hören Sie auf niemanden,
eilen Sie . . . (ab.)

DER DRITTE:

Sie können machen, was Sie wollen, Sie fallen doch hinein. Das Leben ist
so dreckig. Je gescheiter Sie es anzupacken glauben, -- es kommt immer
anders. Nur der blinde Zufall regiert. Das Einzige, was ich Ihnen raten
kann: Hängen Sie sich auf . . . (ab.)

KLÜGRIAN (zurückkehrend, bebt noch vor Zorn):

Ich verstehe dich nicht . . .

KUNSTREICH (wieder an der Arbeit, sehr zart):

O ja, ich glaube ihn zu verstehen . . . Wenn ich zu Hause male und
allmählich glaube, daß da etwas Vollkommenes aus mir entsteht, wenn ich
von reinen Visionen so umfangen bin, daß ich gar nicht begreife, wie
mich vorher etwas anderes angehn konnte, wenn ich im voraus den Tag
verfluche, an dem mich vielleicht wieder etwas anderes angehn wird: dann
verstehe ich unsern Orosmin, dann erfüllt dieselbe Wonne mein Herz wie
ihn. Der Genuß des Unendlichen. Die tödliche Wonne dessen, der in seine
einzige Idee so verstrickt ist wie die Fliege in das Spinnennetz . . .
(Er sieht seine Zeichnung an, die er dann einsteckt.) Alles schlecht,
falsch! Auf der Reise verliere ich meine Disziplin, ich hätte zu Hause
bleiben sollen. O, wie freue ich mich schon auf mein Eckzimmer, auf
meine einsamen Tränen . . .

OROSMIN (spricht jetzt erst wieder):

Du Armer! . . . Keine Flüche, keine Spinngewebe, keine Disziplin, keine
Tränen . . . Ich hause im offenen allmenschlichen Wald . . . Ich brauche
die Einsamkeit nicht und nicht den Fleiß, ich kann unter Leute gehn und
nach Belieben mich mit ihnen ergötzen. Denn ich lebe in der Harmonie,
die im Grunde das natürliche Wesen aller ist, ich lebe normal, ich halte
mich von Übertriebenem fern, ich tue nichts als genau das Richtige
. . .

KLÜGRIAN (stößt Kunstreich, der lauscht, zur Seite):

Tölpel, du bestärkst ihn noch . . . Nein, ich geb's nicht auf. Das ist
ja unmöglich, einen solchen Kometen von Glück wegzustoßen . . . Orosmin,
hörst du, es wird sich applanieren lassen, vertuschen. Ich schreibe dem
Hofmarschall, du wirst zu ihm gehn . . . Hörst du, Orosmin, . . . wer
ist denn eigentlich diese Geliebte? Du wartest jetzt schon zwei Stunden
auf sie und sie kommt immer noch nicht. Wo ist sie denn? Ich sehe sie
nirgends. Jetzt wird sie doch nicht mehr kommen, es ist später Abend. Am
Ende existiert sie gar nicht, sie ist nur ein Traum von dir, eine
Einbildung, ein Phantom. Aha! Natürlich, nur Phantome kann man so
verrückt lieben . . . (außer Atem.)

OROSMIN (sehr ruhig, allmählich pathetisch):

Daß dir immer nur die entferntesten Deutungen gut sind, um die
einfachsten Dinge zu erklären. O über den Klugen! über den Alleswisser!
Die Geliebte -- eine Erfindung: das würde ihm passen . . . Nein, nein,
sie lebt, sie ist ein ganz gewöhnlicher Mensch wie ich und du, wofern
überhaupt im Mensch-Sein etwas Gewöhnliches liegt. Aber es ist wahr, sie
wird heute nicht mehr kommen, es ist schon zu spät . . . Etwas Triftiges
hat sie abgehalten, offenbar, denn sie liebt mich, und morgen wird sie
mir tausendfach diesen kleinen Kummer entgelten. Sie wird sogar soweit
gehn, sich zu entschuldigen, das gute Kind; es ist, als wenn die Sonne
ihren Untergang bei jedem Aufgang entschuldigte . . . So, nun gehe ich
nach Hause. Ich zahle (winkt dem Wirt, zahlt, im Reden, indem er mit den
Fingern Zeichen macht.) Und in meiner Stube werde ich an diese süße
Ungereimtheit denken, an ihre morgige Entschuldigung . . . (fertig mit
dem Zahlen.) Meine Freunde, ihr habt mich erquickt, ihr habt mir einen
hübschen Nachmittag bereitet. Obwohl es heute jedem Ding schwer gefallen
wäre, mir _keinen_ hübschen Nachmittag zu bereiten: ihr wart eifrig am
Werk, diese Unmöglichkeit zu hintertreiben. Und nun lebt wohl. Eure
überraschenden Nachrichten waren Nektar für mein Gemüt. Du, Wirt, hast
mich mit deinem Geplauder unterhalten -- du, Mädchen, durch deinen
Anblick -- du, Spieler, durch deine Musik -- den abwesenden drei Herren
bin ich für ihre zweifellos wohlbegründeten Lehren verpflichtet. -- Doch
seht, mehr als alles, dieses gelb erleuchtete Fenster . . . (er steht an
der Treppe, die Hand ausgestreckt, in ähnlicher Stellung wie beim
Eintritt) es ist das Fenster, hinter dem meine Geliebte sitzt und mich
in Gedanken hat wie ich sie. Ich sehe sie, sie näht, sie summt eine
zarte, oft abgebrochene Melodie dabei. O Andacht vor diesem Schein,
Andacht vor diesem Stern! . . . Ruft nun Schüler her, daß sie an mir
lernen, glücklich sein. Glück, das ist: ein einziges hohes Gefühl im
Herzen tragen, dies aber bis an des Herzens Rand. Laßt Propheten kommen,
daß sie über mich weissagen, daß sie Gott lobsingen in Jubel-Hymnen
. . . Freundlicher Schein, leuchte mir nun, du Krone aller Abende. Wohl
mir, ich bin belohnt, mehr als belohnt für mein kleines treues Warten
hier; mir ist ein Stern aufgegangen, der wie warmes goldenes Blut in
meiner Seele kreist . . . (Er geht.)

DER KRÜPPEL (hat sich still, überwältigt ans Klavier gesetzt und schon
zu den letzten Worten Orosmins ein paar Akkorde angeschlagen. -- Musik
bis zum Schluß.)

KUNSTREICH (hingerissen):

Wie er schwebt. -- Er scheint zu schweben!

KLÜGRIAN:

Eine Schwäche. -- Er wird wieder zu sich kommen. -- Ich geb's nicht auf!

KUNSTREICH:

Er schwebt in den Himmel!





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die Höhe des Gefühls - Ein Akt" ***

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