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Title: Andrea Delfin: Eine venezianische Novelle
Author: Heyse, Paul
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Andrea Delfin: Eine venezianische Novelle" ***


zur Verfügung gestellt.  Das Projekt ist unter der Internet-Adresse


Andrea Delfin

Eine venezianische Novelle

Paul Heyse



In jener Gasse Venedigs, die den freundlichen Namen "Bella Cortesia"
trägt, stand um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ein einfaches,
einstöckiges Bürgerhaus, über dessen niedrigem Portal, von zwei
gewundenen hölzernen Säulen und barockem Gesims eingerahmt, ein
Madonnenbild in der Nische thronte und ein ewiges Lämpchen bescheiden
hinter rotem Glas hervorschimmerte.  Trat man in den unteren Flur, so
stand man am Fuße einer breiten, steilen Treppe, die ohne Windung zu
den oberen Zimmern hinaufführte.  Auch hier brannte Tag und Nacht eine
Lampe, die an blanken Kettchen von der Decke herabhing, da in das
Innere nur Tageslicht eindrang, wenn einmal die Haustür geöffnet
wurde. Aber trotz dieser ewigen Dämmerung war die Treppe der
Lieblingsaufenthalt von Frau Giovanna Danieli, der Besitzerin des
Hauses, die seit dem Tode ihres Mannes mit ihrer einzigen Tochter
Marietta das ererbte Häuschen bewohnte und einige überflüssige Zimmer
an ruhige Leute vermietete.  Sie behauptete, die Tränen, die sie um
ihren lieben Mann geweint, hätten ihre Augen zu sehr geschwächt, um
das Sonnenlicht noch zu vertragen.  Die Nachbarn aber sagten ihr nach,
daß sie nur darum von Morgen bis Abend auf dem oberen Treppenabsatz
ihr Wesen treibe, um mit jedem, der aus- und einginge, anzubinden und
ihn nicht vorüberzulassen, eher er ihrer Neugier und Gesprächigkeit
den Zoll entrichtet habe.  Um die Zeit, wo wir sie kennen lernen,
konnte dieser Grund sie schwerlich bewegen, den harten Sitz auf der
Treppenstufe einem bequemen Sessel vorzuziehen.  Es war im August des
Jahres 1762. Schon seit einem halben Jahr standen die Zimmer, die sie
vermietete, leer, und mit ihren Nachbarn verkehrte sie wenig.  Dazu
ging es schon auf die Nacht, und ein Besuch um diese Zeit war ganz
ungewöhnlich.  Dennoch saß die kleine Frau beharrlich auf ihrem Posten
und sah nachdenklich in den leeren Flur hinab.  Sie hatte ihr Kind zu
Bett geschickt und ein paar Kürbisse neben sich gelegt, um sie noch
vor Schlafengehen auszukernen.  Aber allerlei Gedanken und
Betrachtungen waren ihr dazwischen gekommen.  Ihre Hände ruhten im
Schoß, ihr Kopf lehnte am Geländer, es war nicht das erste Mal, daß
sie in dieser Stellung eingeschlafen war.

Sie war auch heute nahe daran, als drei langsame, aber nachdrückliche
Schläge an die Haustür sie plötzlich aufschreckten.  Misericordia!
sagte die Frau, indem sie aufstand, aber unbewegliche stehen blieb,
was ist das?  Hab' ich geträumt?  Kann er es wirklich sein?

Sie horchte.  Die Schläge mit dem Klopfer wiederholten sich.  Nein,
sagte sie, Orso ist es nicht.  Das klang anders.  Auch die Sbirren
sind es nicht.  Laß sehen, was der Himmel schickt.--Damit stieg sie
schwerfällig hinunter und fragte durch die Tür, wer Einlaß begehre.

Eine Stimme antwortete: es stehe ein Fremder draußen, der hier eine
Wohnung suche.  Das Haus sei ihm gut empfohlen; er hoffe, lange zu
bleiben und die Wirtin wohl zufrieden zu stellen.  Das alles wurde
höflich und in gutem Venezianisch vorgetragen, so daß Frau Giovanna,
trotz der späten Zeit, sich nicht bedachte, die Tür zu öffnen.  Der
Anblick ihres Gastes rechtfertigte ihr Vertrauen.  Er trug, soviel sie
in der Dämmerung sehen konnte, die anständige schwarze Kleidung des
niederen Bürgerstandes, einen ledernen Mantelsack unter dem Arm, den
Hut bescheiden in der Hand.  Nur sein Gesicht befremdete die Frau.  Es
war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dunkelbraun, die Stirn
faltenlos, die Augen feurig, dagegen der Ausdruck des Mundes und die
Art zu sprechen müde und überlebt, und das kurzgeschorene Haar in
seltsamem Gegensatz zu den noch jugendlichen Zügen völlig ergraut.

Gute Frau, sagte er, ich habe Euch schon im Schlafe gestört, und sogar
vielleicht vergebens.  Denn, um es gleich zu sagen: wenn Ihr kein
Zimmer habt, das auf einen Kanal hinausgeht, bin ich nicht Euer Mieter.
Ich komme von Brescia, mein Arzt hat mir die feuchte Luft Venedigs
empfohlen für meine schwache Brust; ich soll überm Wasser wohnen.

Nun Gott sei Dank! sagte die Witwe, so kommt doch einmal einer, der
unserem Kanal Ehre antut.  Ich hatte einen Spanier vorigen Sommer, der
auszog, weil er sagte, das Wasser habe einen Geruch, als wären Ratten
und Melonen darin gekocht worden!  Und Euch ist es empfohlen worden?
Wir sagen wohl hier in Venedig:

Wasser vom Kanal.  Kuriert radikal.

Aber es hat einen eigenen Sinn, Herr, einen bösen Sinn, wenn man
bedenkt, wie manches Mal auf Befehl der Oberen eine Gondel mit Dreien
auf die Lagunen hinausfuhr und mit Zweien wiederkam.  Davon nichts
mehr, Herr--Gott behüt' uns alle!  Aber habt Ihr Euren Paß in Ordnung?
Ich könnt' Euch sonst nicht aufnehmen.

Ich hab' ihn schon drei Mal präsentiert, gute Frau, in Mestre, bei der
Wachtgondel draußen und am Traghetto.  Mein Name ist Andrea Delfin,
mein Stand rechtskundiger Schreiber bei den Notaren, als welcher ich
in Brescia fungiert habe.  Ich bin ein ruhiger Mensch und habe nie mit
der Polizei gern zu schaffen gehabt.

Um so besser, sagte die Frau, indem sie jetzt ihrem Gaste voran die
Treppe wieder hinaufstieg. Besser bewahrt als beklagt, ein Aug' auf
die Katze, das andere auf die Pfanne, und es ist nützlicher, Furcht zu
haben als Schaden.  O, über die Zeiten, in denen wir leben, Herr
Andrea!  Man soll nicht drüber nachdenken.  Denken verkürzt das Leben,
aber Kummer schließt das Herz auf.  Da seht, und sie öffnete ein
großes Zimmer, ist es nicht hübsch hier, nicht wohnlich?  Dort das
Bett, mit meinen eigenen Händen hab' ich's genäht, als ich jung war,
aber am Morgen kennt man nicht den Tag.  Und da ist das Fenster nach
dem Kanal, der nicht breit ist, wie Ihr seht, aber desto tiefer, und
das andere Fenster dort nach der kleinen Gasse, das Ihr zuhalten müßt,
denn die Fledermäuse werden immer dreister.  Seht da überm Kanal, fast
mit der Hand abzureichen, der Palast der Gräfin Amidei, die blond ist
wie das Gold und durch ebensoviel Hände geht.  Aber hier steh' ich und
schwatze, und Ihr habt noch weder Licht noch Wasser und werdet hungrig
sein.

Der Fremde hatte gleich beim Eintreten das Zimmer mit raschem Blick
gemustert, war von Fenster zu Fenster gegangen und warf jetzt seinen
Mantelsack auf einen Sessel.  Es ist alles in der besten Ordnung,
sagte er.  Über den Preis werden wir uns wohl einigen.  Bringt mir
nur einen Bissen und, wenn Ihr ihn habt, einen Tropfen Wein.  Dann
will ich schlafen.

Es war etwas seltsam Gebieterisches in seiner Gebärde, so milde der
Ton seiner Worte klang.  Eilig gehorchte die Frau und ließ ihn auf
kurze Zeit allein.  Nun trat er sofort wieder ans Fenster, bog sich
hinaus und sah den sehr engen Kanal hinab, der durch kein Zittern
seiner schwarzen Flut verriet, daß er teilhabe an dem Leben des großen
Meeres, dem Wellenschlag der alten Adria.  Der Palast gegenüber stieg
in schwerer Masse vor ihm auf, alle Fenster waren dunkel, da die
Vorderseite nicht dem Kanal zugekehrt war; nur eine schmale Tür
öffnete sich unten, dicht über dem Wasserspiegel, und eine schwarze
Gondel lag angekettet vor der Schwelle.

Das alles schien den Wünschen des neuen Ankömmlings durchaus zu
entsprechen, nicht minder auch, daß man ihm durch das andere Fenster,
das nach der Sackgasse ging, nicht ins Zimmer sehen konnte.  Denn
drüben lief eine fensterlose Wand ohne andere Unterbrechung als einige
Vorsprünge, Risse und Kellerlöcher hin, und nur den Katzen, Mardern
und Nachtvögeln konnte dieser düstere Winkel angenehm und wohnlich
erscheinen.

Ein Lichtstrahl aus dem Flur drang ins Gemach, die Tür öffnete sich,
und mit der Kerze in der Hand trat die kleine Witwe wieder ein, hinter
ihr die Tochter, die in der Eile noch einmal hatte aufstehen müssen,
um beim Empfang des Gastes zu helfen.  Die Gestalt des Mädchens war
fast noch kleiner als die der Mutter, erschien aber doch durch die
höchste Zierlichkeit und kaum gereifte Schlankheit aller Formen größer
und wie auf den Fußspitzen schwebend, während man auch im Gesicht
dieselbe Ähnlichkeit und denselben Unterschied, der auf Rechnung der
Jahre kam, auf den ersten Blick erkannte.  Nur der Ausdruck in beiden
Gesichtern schien niemals einander ähnlich werden zu können.  Es war
zwischen den dichten Brauen der Frau Giovanna ein Zug von Spannung und
kummervollem Harren, der auch mit den Erfahrungen des Alters auf
Mariettas klarer Stirn nie dauernd eine Stätte finden konnte.  Diese
Augen mußten immer lachen, dieser Mund immer ein wenig geöffnet sein,
um jeden Scherz unverzüglich hinauszulassen.  Es war unendlich drollig
zu sehen, wie jetzt in diesem Gesichtchen Verschlagenheit,
Überraschung, Neugier und Mutwille miteinander kämpften.  Sie bog beim
Eintreten den Kopf, dessen lose Flechten mit einem schmalen Tuch
umwunden waren, seitwärts, um den neuen Hausgenossen zu sehen.  Auch
seine ernste Miene und sein graues Haar stimmten ihre Munterkeit nicht
herab.  Mutter, flüsterte sie, indem sie einen großen Teller mit
Schinken, Brot und frischen Feigen und eine halbvolle Flasche Wein auf
den Tisch stellte, er hat ein kurioses Gesicht, wie ein neues Haus im
Winter, wenn der Schnee aufs Dach gefallen ist.

Schweig, du schlimme Hexe! sagte die Mutter rasch.  Weiße Haare sind
falsche Zeugen.  Er ist krank, mußt du wissen, und du solltest Respekt
haben, denn Krankheiten kommen zu Pferde und gehen zu Fuß, und Gott
behüte dich und mich, denn die Kranken essen wenig, aber die Krankheit
frißt alles.  Hole nur ein wenig Wasser, soviel wir noch haben.
Morgen müssen wir früh auf und neues kaufen.  Sieh, er sitzt da, als
ob er schliefe.  Er ist müde von der Reise, und du bist müde vom
Stillsitzen.  So ist die Welt verschieden.

Während dieser halblauten Reden hatte der Fremde am Fenster gesessen
und den Kopf in die Hand gestützt.  Auch als er jetzt aufsah, schien
er die Gegenwart des zierlichen Mädchens, das ihm eine Verbeugung
machte, kaum zu bemerken.

Kommt und eßt etwas, Herr Andrea, sagte die Witwe.  Wer nicht zu Nacht
ißt, hungert im Traum.  Seht, die Feigen sind frisch, und der Schinken
zart, und dies ist Zyperwein, wie ihn der Doge nicht besser trinkt.
Sein Kellermeister hat ihn uns selbst verkauft, eine alte
Bekanntschaft noch von meinem Mann her.  Ihr seid gereist, Herr.  Ist
er Euch nicht einmal begegnet, mein Orso, Orso Danieli?

Gute Frau, sagte der Fremde, indem er einige Tropfen Wein ins Glas goß
und eine der Feigen aufbrach, ich bin nie über Brescia hinausgekommen
und kenne keinen dieses Namens.

Marietta verließ das Zimmer, und man hörte sie, während sie die Treppe
hinunterflog, ein Liedchen mit heller Stimme vor sich hin singen.

Hört Ihr das Kind? fragte Frau Giovanna.  Man hielte sie nicht für
meine Tochter, obwohl auch eine schwarze Henne ein weißes Ei legt.
Immer singen und springen, als wären wir hier nicht in Venedig, wo es
gut ist, daß die Fische stumm sind, weil sie sonst reden würden, was
einem das Haar sträubte.  Aber so war ihr Vater auch, Orso Danieli,
der erste Arbeiter auf Murano, wo sie die bunten Gläser machen, wie
nirgend auf der Welt.  Ein fröhlich Herz macht rote Wangen, das war
sein Spruch.  Und darum sagte er eines Tages zu mir, Giovannina, sagte
er, ich halt' es hier nicht aus, die Luft schnürt mir die Kehle zu,
gestern erst ist wieder einer erdrosselt und mit dem Fuß an den Galgen
gehenkt worden, weil er freie Reden geführt hat gegen die Inquisitoren
und den Rat der Zehn.  Man weiß, wo man geboren wird, aber nicht, wo
man stirbt, und mancher denkt auf dem Pferde zu sitzen und sitzt auf
der Erde.  Also, Giovannina, sagte er, ich will nach Frankreich, Kunst
bringt Gunst, und der Heller läuft dem Batzen nach.  Meine Sache
verstehe ich, und wenn ich's draußen zu was gebracht habe, kommst du
nach mit unserem Kind.--Das war damals acht Jahre alt, Herr Andrea.
Es lachte, als es der Vater zuletzt küßte; da lachte er auch.  Ich
aber weinte, da mußte er wohl mitweinen, obwohl er ganz lustig wegfuhr
in der Gondel, ich hört' ihn noch pfeifen, als er schon um die Ecke
war.  So ging es ein Jahr.  Und was geschah?  Die Signoria ließ nach
ihm fragen; es dürfe keiner von Murano sein Gewerk ins Ausland tragen,
damit sie es dort ihm nicht absähen; ich sollt' ihm schreiben, daß er
wiederkäme, bei Todesstrafe.  Über den Brief lachte er; aber den
Herren vom Tribunal war's nicht spaßhaft.  Eines Morgens, da wir noch
zu Bett waren, wurde ich abgeholt, das Kind mit mir, und
hinaufgeschleppt unter die Bleidächer, und mußte ihm wieder schreiben,
wo ich wäre, ich und unser Kind, und daß ich da bleiben würde, bis er
selber mich abforderte in Venedig.  Nicht lange, so hatte ich seine
Antwort, das Lachen sei ihm vergangen, er wandere dem Brief auf den
Fersen nach.  Nun, ich hoffte täglich, daß er es wahrmachen werde.
Aber Wochen und Monde vergingen, und mir ward immer weher ums Herz und
kränker im Haupt, denn da droben ist die Hölle, Herr Andrea, nur daß
ich das Kind hatte, das nichts von dem Jammer begriff, außer daß es
schlecht aß und über Tag heiß hatte; aber dennoch sang es, um mich
lustig zu machen, daß mich's vollends angriff, die Tränen zu verhalten.
Erst im dritten Monat wurden wir herausgeholt, es hieß, der
Glasbläser Orso Danieli sei in Mailand am Fieber gestorben, und wir
könnten nach Hause gehen.  Ich habe es auch von anderen gehört--aber
wer das glaubt, kennt die Signoria nicht.  Gestorben?  Stirbt man auch,
wenn man Frau und Kind unter den Bleidächern sitzen hat und sie
herausholen soll?

Und was meint Ihr, daß aus Eurem Mann geworden sei? fragte der Fremde.

Sie sah mit einem Blick ihm ins Gesicht, der ihn daran gemahnte, daß
die arme Frau lange Wochen unter den Bleidächern gelebt hatte.  Es ist
nicht richtig, sagte sie.  Mancher lebt und kommt doch nicht wieder,
und mancher ist tot und kommt doch wieder.  Aber davon wollen wir
schweigen.  Ja, wenn ich es Euch sagte, wer steht mir dafür, daß Ihr
nicht hingeht und es vor dem Tribunal ausplaudert?  Ihr seht aus wie
ein Galantuomo; aber wer ist noch rechtschaffen heutzutage?  Von
tausend einer, von hundert keiner.  Nichts für ungut, Herr Andrea,
aber Ihr wißt wohl, wie es in Venedig heißt:

Mit Lug und Listen kommt man aus,
Mit List und Lügen hält man haus.


Es entstand eine Pause.  Der Fremde hatte längst den Teller
weggeschoben und der Witwe gespannt zugehört.

Ich verdenke es Euch nicht, sagte er, daß Ihr mir Eure Geheimnisse
nicht anvertrauen wollt.  Sie gehen mich auch nichts an, und zu helfen
wüßt' ich Euch ohnedies nicht.  Aber wie kommt es, Frau, daß Ihr
dieses Tribunal, unter dem Ihr so viel gelitten, dennoch Euch gefallen
lasset, Ihr und alles Volk in Venedig?  Denn ich weiß zwar wenig, wie
es hier aussieht--ich habe mich nie in politische Fragen
vertieft--aber so viel habe ich doch gehört, daß erst im vorigen Jahr
hier ein Tumult war, um das heimliche Tribunal abzuschaffen, daß einer
vom Adel selbst dagegen auftrat und der Große Rat eine Kommission
wählte, die Sache zu bedenken, und alles in Bewegung geriet für und
wider.  Ich hörte davon sogar in meiner Schreibstube zu Brescia.  Und
als endlich alles beim alten blieb und die Macht des heimlichen
Gerichts fester gegründet stand als je, warum zündete da das Volk
Freudenfeuer an auf den Plätzen und verhöhnte die vom Adel, die gegen
das Tribunal gestimmt hatten und nun seine Rache fürchten mußten?
Warum war niemand, der es hinderte, daß die Inquisitoren ihren kühnen
Feind nach Verona verbannten?  Und wer weiß, ob sie ihn dort am Leben
lassen, oder ob die Dolche schon geschliffen sind, die ihn für immer
stumm machen sollen?  Ich--wie gesagt--weiß nur wenig hiervon; ich
kenne auch jenen Mann nicht, und es ist mir alles sehr gleichgültig,
was hier geschieht, denn ich bin krank und werde es in dieser bunten
Welt ohnehin nicht mehr lange treiben.  Aber es wundert mich doch,
dieses wankelmütige Volk zu sehen, das heute diese drei Männer seine
Tyrannen nennt und morgen frohlockt, wenn die untergehen, welche der
Tyrannei ein Ende machen wollten.

Wie Ihr da redet, Herr! sagte die Witwe und schüttelte den Kopf.  Ihr
habt ihn nie gesehen, den Herrn Avogadore Angelo Querini, den sie
verbannt haben, weil er der heimlichen Justiz den Krieg erklärte?  Nun
wohl, Herr, aber ich habe ihn gesehen und die anderen armen Leute, und
sie sagen alle, er sei ein rechtschaffener Herr und ein großer
Gelehrter, der Tag und Nacht die alten Geschichten von Venedig
studiert hat und die Gesetze kennt, wie der Fuchs den Taubenschlag.
Aber wer ihn über die Straße gehen oder im Broglio mit seinen Freunden
stehen sah, so an die Säule gelehnt und die Augen halb zugedrückt, der
wußte, daß er ein Nobile war von der Feder am Hut bis zu den
Schuhschnallen, und was er gegen das Tribunal redete und handelte, war
nicht fürs Volk, sondern für die großen Herren.  Den Schafen aber ist
es gleich, Herr Delfin, ob sie geschlachtet oder vom Wolf gefressen
werden, und Rauft sich der Habicht mit dem Weih, Ist das Feld für die
Hühner frei.

Seht, Lieber, darum war die Schadenfreude groß, als das Tribunal in
allen Rechten bestätigt wurde und nach wie vor niemandem Rechenschaft
schulden sollte als am Jüngsten Tage dem Herrgott und alle Tage dem
Gewissen.  Im Kanal Orfano, von Hunderten, die dort ihr letztes Ave
gebetet haben, liegen zehn von den kleinen Leuten neben neunzig von
den großen Herren.  Aber setzt den Fall, es würden adlige Verbrecher
und bürgerliche vom Großen Rat öffentlich gerichtet und
hingerichtet--Misericordia! wir hätten achthundert Henker anstatt drei,
und der große Dieb hängte den kleinen auf.

Er schien etwas erwidern zu wollen, aber mit einem kurzen Auflachen,
das die Wirtin für Zustimmung nahm, hatte es sein Bewenden.  Indem
trat Marietta wieder herein, ein Gefäß mit Wasser tragend und ein
Räucherpfännchen, auf dem ein scharfriechendes Kraut glimmte und ihr
seinen Dampf ins Gesicht trieb, daß sie mit Husten, Schelten und
Augenreiben die drolligsten Gebärden machte.  Sie trug das Räucherwerk
mit kleinen Schritten dicht an den vier Wänden herum, die mit einer
Unzahl Fliegen und Mücken bedeckt waren.

Marschiert da weg, ihr Gesindel, sagte sie, ihr Blutsauger, schlimmer
als Advokaten und Doktoren!  Hättet ihr auch Lust, Feigen zu Nacht zu
essen und Zyper zu naschen?  Da könntet ihr wohl lachen und hernach
zum Dank dem Herrn da, wenn er schläft, das Gesicht zerstechen, ihr
Meuchelmörder!  Wartet, ich will euch was eingeben, das euch ohne
Abendessen in Schlaf bringen soll.

Mußt du immer schwatzen, du gottlose Kreatur? sagte die Mutter, die
allen Bewegungen ihres Lieblings mit strahlenden Blicken folgte.
Weißt du nicht, daß ein Faß, das klingt, leer ist, und wer viel
spricht, wenig sagt?--Mutter, sagte das Mädchen lachend, ich muß den
Mücken ein Schlaflied singen, und seht, wie es hilft! da fallen sie
schon von der Wand.  Gute Nacht, ihr Tagediebe, ihr schlechten
Gesellen, die ihr keine Miete bezahlt und doch in alle Töpfe guckt.
Wir sprechen uns morgen wieder, wenn ihr heute nicht genug bekommen
habt.

Sie schwenkte das erlöschende Kraut noch einmal wie beschwörend überm
Haupte und schüttete die Asche in den Kanal, dann verbeugte sie sich
rasch gegen den Fremden und lief wie der Wind hinaus.

Ist es nicht eine Hexe, ein häßliches, unerzogenes Geschöpf? sagte
Frau Giovanna, indem sie aufstand und sich ebenfalls zum Gehen
anschickte.  Und doch gefällt jeder Äffin ihr Äffchen.  Und übrigens,
so klein sie ist und nichtsnutzig, so anstellig ist sie auch, und es
heißt auch von ihr:

Bis die Große sich nur bückt,
Hat die Kleine schon das Kraut gepflückt.


Wenn ich das Kind nicht hätte, Herr Andrea!  Aber Ihr wollt schlafen,
und ich stehe noch hier und brodle wie die Suppe überm Feuer.  Schlaft
wohl und willkommen in Venedig!

Er erwiderte ihren Gruß trocken und schien es nicht zu bemerken, daß
sie offenbar noch ein lobendes Wort über ihre Tochter von ihm
erwartete.  Als er endlich allein war, saß er noch eine Weile am Tisch,
und sein Gesicht wurde immer düsterer und schmerzlicher.  Das Licht
brannte mit langem Docht, die Fliegen, die Mariettas Hexenkünsten
entgangen waren, belagerten in schwarzen Klumpen die überreifen Feigen,
draußen in dem Sackgäßchen flogen die Fledermäuse ans Fenster und
stießen gegen das Gitter--der einsame Fremde schien für alles um ihn
her erstorben, und nur die Augen lebten an ihm.

Erst als es elf schlug vom Turm einer nahen Kirche, richtete er sich
mechanisch auf und sah um sich.  An der Decke seines niedrigen Zimmers
zog in grauen Streifen der scharfe Dunst des Räucherkrautes hin und
der Dampf der Kerze gesellte sich zu der Wolke droben.  Andrea öffnete
das Fenster nach dem Kanal, um die Luft zu reinigen.  Da sah er
gegenüber Licht in einem durch einen weißen Vorhang nur halb
geschlossenen Fenster und konnte durch die Lücke deutlich ein Mädchen
beobachten, welches am Tisch vor einer Schüssel saß und die Reste
einer großen Pastete hastig verzehrte, mit den Fingern die Bissen zum
Munde führend und dazu dann und wann aus einem Kristallfläschchen
trinkend.  Das Gesicht hatte einen leichtsinnigen, aber eben nicht
herausfordernden Ausdruck, nicht mehr in erster Jugend.  In der
nachlässigen Kleidung und dem halbaufgelösten Haar lag etwas
Studiertes und Bewußtes, was doch nicht ungefällig war.  Sie mußte
längst bemerkt haben, daß das Zimmer gegenüber einen neuen Bewohner
aufgenommen hatte; aber obwohl sie denselben jetzt am Fenster sah,
fuhr sie ruhig im Schmausen fort, und nur wenn sie trank, schwenkte
sie das Fläschchen erst vor sich her, als wolle sie einen Mittrinker
begrüßen.  Darauf stellte sie die leere Schüssel beiseite, rückte den
Tisch mit der Lampe so gegen die Wand, daß alles Licht auf einen
breiten Spiegel im Hintergrunde fiel, und begann nun einen Haufen
Maskenanzüge, der auf einem Armsessel bunt übereinander lag, der Reihe
nach vor dem Spiegel anzuprobieren, so daß der Fremde gegenüber, dem
sie den Rücken dabei zudrehte, desto deutlicher ihr Abbild sehen mußte.
Sie schien sich nicht wenig in ihren Verkleidungen zu gefallen.
Wenigstens nickte sie ihrem Bilde aufs freundlichste zu, lachte sich
an, daß Zähne und Lippen schimmerten, runzelte die Brauen, um eine
tragische oder schmachtende Miene zu machen, und sah dabei heimlich
seitwärts nach dem Beobachter drüben, den sie ebenfalls durch den
Spiegel im Auge behielt.  Als die dunkle Gestalt unbeweglich blieb und
die erhofften Zeichen des Beifalls auf sich warten ließen, wurde sie
ungehalten und bereitete einen Hauptschlag vor.  Sie band sich einen
großen roten Turban um die Schläfen, aus dem an blitzender Agraffe
eine Reiherfeder hervorsah.  Das Rot stand allerdings nicht übel zu
ihrer gelben Gesichtsfarbe, und sie machte sich selbst eine tiefe
Verbeugung der Anerkennung.  Als es aber drüben auch jetzt noch still
blieb, riß ihr die Geduld, und sie trat, den Turban noch auf dem Kopf,
hastig an das Fenster, dessen Vorhang sie ganz zurückschob.

Guten Tag, Monsù, sagte sie freundlich.  Ihr seid mein Nachbar
geworden, wie ich sehe.  Hoffentlich spielt Ihr nicht die Flöte wie
Euer Vorgänger, der mich die halbe Nacht nicht schlafen ließ.

Schöne Nachbarin, sagte der Fremde, ich werde Euch mit keiner Art von
Musik lästig fallen.  Ich bin ein kranker Mensch, dem es lieb ist,
wenn man ihm selbst seinen Schlaf nicht stört.

So!--erwiderte das Mädchen mit gedehntem Ton.  Krank seid Ihr?  Aber
seid Ihr auch reich?

Nein!  Warum fragt Ihr?

Weil es ja schrecklich ist, krank und arm zugleich zu sein.  Wer seid
Ihr denn eigentlich?

Andrea Delfin ist mein Name.  Ich bin Gerichtsschreiber gewesen in
Brescia und suche hier einen stilleren Dienst bei einem Notar.

Die Antwort schien ihre Erwartungen von der neuen Bekanntschaft
vollends herabzustimmen.  Sie spielte nachdenklich mit einer goldenen
Kette, die sie um den Hals trug.

Und wer seid Ihr, schöne Nachbarin? fragte Andrea mit einem zärtlichen
Ton, der dem eisernen Ausdruck seines Gesichtes völlig widersprach.
Euer holdes Bild so nahe zu haben, wird mir ein Trost sein in meinen
Leiden.

Sie fühlte sich offenbar befriedigt, daß er in den Ton einlenkte, den
sie zu erwarten berechtigt war.

Für Euch, sagte sie, bin ich die Prinzessin Smeraldina, die Euch
erlaubt, von fern nach ihrer Gunst zu schmachten.  Wenn Ihr mich
diesen Turban aufsetzen seht, so sei es Euch ein Zeichen, daß ich
geneigt bin, mit Euch zu plaudern.  Denn ich langweile mich mehr, als
bei meiner Jugend und meinen Reizen zu ertragen ist.  Ihr müßt wissen,
fuhr sie fort, indem sie plötzlich aus der Rolle fiel, daß meine
Herrschaft, die Gräfin, durchaus nicht erlaubt, daß ich auch nur die
kleinste Liebschaft habe, obwohl sie selbst ihre Liebhaber öfter
wechselt als ihre Hemden.  Sie sagt, daß sie ihre Vertraute und
Kammerjungfer stets aus dem Dienst gejagt habe, sobald sie zweien
Herren habe dienen wollen, ihr und dem kleinen Gott mit den Flügeln.
Unter diesem Vorurteil muß ich nun seufzen, und fänd' ich nicht sonst
hier meine Rechnung, und wohnte nicht zuweilen drüben in Eurem Zimmer
ein artiger Fremder, der sich ein wenig in mich verliebt...

Wer ist jetzt gerade der Liebhaber deiner Herrin? unterbrach sie
Andrea trocken.  Empfängt sie den hohen Adel Venedigs?  Gehen die
fremden Gesandten bei ihr aus und ein?

Sie kommen meist in der Maske, erwiderte Smeraldina.  Aber das weiß
ich wohl, daß der junge Gritti ihr der Liebste ist, mehr als jemals
ein anderer, solange ich in ihrem Dienste bin; ja mehr als der
österreichische Gesandte, der ihr so den Hof macht, daß es zum Lachen
ist.  Kennt Ihr meine Gräfin auch?  Sie ist schön.

Ich bin fremd hier, Kind.  Ich kenne sie nicht.

Wißt, sagte das Mädchen mit einem schlauen Gesicht, sie schminkt sich
stark, obwohl sie noch nicht dreißig ist.  Wenn Ihr sie einmal sehen
wollt, nichts leichter.  Man legt ein Brett von Eurem Fenster in
meines.  Ihr steigt herüber, und ich führe Euch an einen Ort, wo Ihr
sie ganz verstohlen betrachten könnt.  Was tut man nicht einem Nachbar
zuliebe!--Aber jetzt gute Nacht.  Ich werde gerufen.

Gute Nacht, Smeraldina!

Sie schloß das Fenster.  Arm--und krank, sagte sie für sich, indem sie
den Vorhang dicht zusammenzog.  Je nun, für die Langeweile immer noch
gut genug.

Auch er hatte das Fenster geschlossen und durchmaß nun sein Zimmer mit
langsamen Schritten.  Es ist gut, sagte er, es kommt mir gelegen.  Im
schlimmsten Falle kann ich auch davon Vorteil ziehen.

Seine Miene zeigte, daß er an alles eher dachte als an Liebesabenteuer.

Nun packte er seinen Mantelsack aus, der nur wenig Wäsche und ein paar
Gebetbücher enthielt, und legte alles in einen Schrank an der Wand.
Eines der Bücher fiel zu Boden, und die Steinplatte gab einen hohlen
Ton.  Sofort löschte er das Licht, verriegelte die Tür und fing an, in
der Dämmerung, die durch den fernen Schein von Smeraldinas Lämpchen
entstand, den Boden genauer zu untersuchen.  Nach einiger Arbeit
gelang es ihm, die Steinplatte, die sauber, aber ohne Mörtel eingefügt
war, herauszuheben, und er entdeckte darunter ein ziemlich geräumiges
Loch, handhoch und einen Schuh breit im Geviert.  Rasch warf er sein
Oberkleid ab und band sich einen schweren Gürtel mit mehreren Taschen
ab, den er um den Leib trug.  Er hatte ihn schon in das Loch gelegt,
als er plötzlich innehielt.  Nein, sagte er, es könnte eine Falle sein.
Es ist nicht das erste Mal, daß die Polizei in Mietwohnungen
dergleichen Verstecke hat, um hernach bei Haussuchungen zu wissen, wo
sie anzuklopfen hat.  Dies ist zu lockend eingerichtet, um ihm trauen
zu können.

Er senkte die Steinplatte wieder ein und suchte nach einem sicheren
Behälter für seine Geheimnisse.  Das Fenster nach der Sackgasse war
mit einem Gitter versehen, dessen Stäbe einen Arm durchgreifen ließen.
Er öffnete es, faßte hindurch und tastete an der Außenwand herum.  Er
fand dicht unter dem Sims ein kleines Loch in der Mauer, das schon
einmal Fledermäuse bewohnt zu haben schienen.  Von unten aus konnte es
nicht bemerkt werden, und oben sprang das Gesims darüber vor.
Geräuschlos erweiterte er mit seinem Dolch die Öffnung, indem er
Mörtel und Steine herausbrach, und war bald so weit gediehen, daß er
den breiten Gürtel bequem darin unterbringen konnte.  Als er fertig
war, stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn.  Er fühlte noch einmal
nach, ob auch nirgend ein Stück Riemen oder ein Schnalle hervorstehe,
und schloß dann das Fenster.  Eine Stunde später lag er in Kleidern
auf dem Bett und schlief.  Die Mücken summten über seiner Stirn, die
Nachtvögel draußen umschwirrten neugierig das Loch, worin sein Schatz
verborgen war.  Die Lippen des Schläfers aber waren zu fest
geschlossen, um selbst im Traum ein Wort von seinen Geheimnissen zu
verraten.

In derselben Nacht saß in Verona ein Mann bei seiner einsamen Lampe
und entfaltete, nachdem er Fensterläden und Tür sorgfältig
verschlossen hatte, einen Brief, der ihm heute in der Dämmerung, als
er in der Nähe des Amphitheaters sich erging, von einem bettelnden
Kapuziner heimlich zugesteckt worden war.  Der Brief trug keine
Aufschrift.  Aber auf die Frage, woher der Überbringer wisse, daß er
das Schreiben in die richtigen Hände gebe, hatte der Mönch geantwortet:
jedes Kind in Verona kennt den edlen Angelo Querini wie seinen Vater.
Darauf war der Bote gegangen.  Der Verbannte aber, dessen Haft durch
die Achtung, die ihm in das Unglück folgte, gelockert worden war,
hatte den Brief trotz der Späher, die ihn beobachteten, unbemerkt in
seine Wohnung gebracht und las jetzt, während der Schritt der Wache
draußen am Hause drohend durch die Stille erklang, folgende Zeilen:

"An Angelo Querini.

"Ich kann nicht hoffen, daß Ihr Euch der flüchtigen Stunde erinnert,
in der ich Euch persönlich begegnet bin.  Viele Jahre liegen zwischen
damals und heute.  Ich war mit meinen Geschwistern in der ländlichen
Stille unserer Güter in Friaul aufgewachsen; erst als ich beide Eltern
verloren hatte, trennte ich mich von meiner Schwester und dem jüngeren
Bruder.  Schon nach wenigen Tagen hatte mich der verführerische
Strudel Venedigs verschlungen.

"Da wurde ich eines Tages im Palast Morosini Euch vorgestellt.  Noch
fühle ich den Blick, mit dem Ihr uns junge Leute mustertet, einen nach
dem anderen.  Euer Auge sagte: und das ist das Geschlecht, auf dessen
Schultern die Zukunft Venedigs ruhen soll?--Man nannte Euch meinen
Namen.  Unvermerkt lenktet Ihr das Gespräch mit mir auf die große
Vergangenheit des Staates, dem meine Ahnen ihre Dienste gewidmet
hatten.  Von der Gegenwart und den Diensten, die ich ihm schuldig
blieb, schwiegt Ihr schonend.

"Seit jenem Gespräch las ich Tag und Nacht in einem Buch, das ich
früher nie eines Blickes gewürdigt hatte, in der Geschichte meines
Vaterlandes.  Die Frucht dieses Studiums war, daß ich, von Grauen und
Abscheu getrieben, die Stadt für immer verließ, die einst Länder und
Meere beherrscht hatte und nun die Sklavin einer kläglichen Tyrannis
war, nach außen so ohnmächtig, wie unselig und gewalttätig nach innen.

"Ich kehrte zu meinen Geschwistern zurück.  Es gelang mir, meinen
Bruder zu warnen, ihm die Fäulnis des Lebens aufzudecken, das von fern
sich so gleißend ansah.  Aber ich dachte nicht, daß alles, was ich tat,
um ihn und uns zu retten, uns nur um so gewisser verderben sollte.

"Ihr kennt die Eifersucht, mit der die Machthaber in der Mutterstadt
den Adel der Terraferma von jeher betrachtet haben.  Hatte man doch in
Zeiten, wo der Republik zu dienen eine Ehre war, nie aufgehört, ein
Losreißen des Festlandes zu fürchten.  Jetzt, wo verschuldete und
unvermeidliche Übel eine Änderung der Weltstellung Venedigs
herbeigeführt hatten, wurde jene Furcht die Quelle der unerhörtesten
Ränke und Freveltaten.

"Laßt mich von den Schicksalen schweigen, die ich in der Nachbarschaft
meiner Provinz mit ansah, von den ausgesuchten Mitteln, durch die man
die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Adels von Friaul zu brechen
suchte, von dem Heer der Bravi, welches man gegen Widerspenstige
schickte und durch eine Unzahl von Amnestiedekreten selbst von der
Strafe ihrer eigenen Gewissen entband.  Wie man den Zwist in die
Familien zu tragen, Freundschaften zu vergiften, Verrat und Hinterlist
im Schoß der engsten Blutsgenossenschaft zu erkaufen strebte, das
alles ist Euch länger bekannt als mir.

"Und nicht lange sollte mich das Andenken, das ich durch meine
lockeren Sitten in Venedig zurückgelassen hatte, vor dem Verdacht
schützen, daß auch ich eines Tages gefährlich werden könnte.  Als ich
für meine Schwester um die Erlaubnis nachsuchte, die Hand eines
vornehmen deutschen Herrn anzunehmen, wurde die Einwilligung der
Regierung rundweg verweigert.  Man wähnte mich und meinen Bruder im
Einverständnis mit der kaiserlichen Politik und beschloß, uns büßen zu
lassen.

"Eine Beschwerde der Provinz gegen ihren Gouverneur, die ich samt dem
Bruder mit unterzeichnete, lieferte der Inquisition den Anlaß, das
Netz über uns zu werfen.

"Mein Bruder wurde nach Venedig gerufen, sich zu verantworten.  Als er
kam, wurde er unter die Bleidächer geführt, und viele Wochen lang
suchte man bald durch Drohungen, bald durch verlockende Anerbietungen
ihn zu Geständnissen zu bewegen.  Jenen einen Schritt brauchte er
nicht zu beschönigen; er war gesetzlich.  Anderes hatte er nicht zu
gestehen, da wir nichts gegen den Staat unternommen hatten.  So mußte
man ihn endlich entlassen.  Aber man dachte nicht daran, ihn zu
begnadigen.

"Ich selbst hatte ihn schriftlich gebeten, nicht sogleich abzureisen,
um nicht neuen Verdacht zu erwecken.  Wir wollten ihn lieber einige
Monate länger entbehren.  Als er endlich kam, sollten wir ihn nach
wenigen Tagen für immer missen.  Er erlag einem langsam wirkenden Gift,
das man ihm in einem der glänzenden Häuser, die er besuchte, unter
die Speisen gemischt hatte.

"Noch war der Stein über seinem Grabe nicht aufgerichtet, als der
Gouverneur der Provinz meiner Schwester seine Hand antrug.  Sie wies
sie mit Entrüstung zurück; in ihrem Schmerz entfuhren ihr Worte, die
ihren Nachhall im Saal des Inquisitionstribunals finden sollten.

"Eine neue Anstrengung des Adels von Friaul, die Lage des Landes zu
bessern, wurde beraten.  Ich hielt mich von den geheimen Anstalten
fern, da ich von ihrer Fruchtlosigkeit überzeugt war.  Aber das böse
Gewissen der Herren der Republik deutete auf mich, als den am
härtesten Getroffenen, der einen Bruder zu rächen hatte.  Ein Haufen
gedungener Bravi überfiel nachts unsere einsame Villa in den Bergen.
Ich hatte nur meine Diener zur Verteidigung.  Als die Elenden uns
wohlgerüstet und entschlossen fanden, uns nicht leichten Kaufs zu
ergeben, zündeten sie das Haus an vier Ecken an.  Ich machte mit
meinen Leuten einen verzweifelten Ausfall, die Schwester, die selbst
eine Pistole trug, in unserer Mitte.  Da streckte mich ein Schlag
gegen die Stirn besinnungslos zu Boden.

"Erst am Morgen wachte ich auf.  Die Stätte war ein menschenleerer
Trümmerhaufen, meine Schwester in den Flammen umgekommen, meine braven
Diener teils erschlagen, teils in das brennende Haus zurückgetrieben.

"Viele Stunden lag ich so neben dem rauchenden Schutt und starrte in
das leere Nichts, das mir meine Zukunft bedeutete.  Erst als ich unten
im Tal Bauern heranziehen sah, raffte ich mich auf.  Eins wußte ich:
Solange man mich am Leben glaubte, würde man mich für einen Feind
halten und überall hin verfolgen.  Das brennende Grab war geräumig
genug; wenn ich verschwand, würde niemand zweifeln, daß auch ich dort
bei den Meinigen ausruhte.  Im Herumirren auf der Felshöhe fand ich
die Brieftasche eines meiner Bedienten, der aus Brescia gebürtig und
viel in der Welt herumgefahren war.  Seine Papiere lagen darin; ich
steckte sie zu mir, auf alle Fälle, und floh durch den dichten
Klippenwald.  Niemandem begegnete ich, der mich hätte verraten können.
Als ich mich verschmachtet zu einem trüben Waldsee bückte, sah ich,
daß auch mein Äußeres mich nicht verraten konnte.  Mein Haar war in
der Nacht ergraut; meine Züge waren um viele Jahre gealtert.

"In Brescia angelangt, konnte ich ohne Schwierigkeiten mich für meinen
Diener ausgeben, da derselbe schon als Knabe die Stadt verlassen hatte
und dort keine Verwandten mehr besaß.  Fünf Jahre lang lebte ich wie
ein lichtscheuer Verbrecher und vermied die Menschen.  Eine Ohnmacht
hatte sich auf meinen Geist gesenkt, als wäre durch jenen Schlag, der
mich zu Boden warf, das Organ des Willens in mir zertrümmert worden.

"Daß es nicht zerstört, sondern nur gelähmt war, empfand ich bei der
Kunde von Eurem Auftreten gegen das Tribunal.  Mit einer fieberhaften
Spannung, die mich verjüngte und mir das Bewußtsein meiner Lebenskraft
zurückgab, verfolgte ich die Nachrichten aus Venedig.  Als ich das
Scheitern Eures hochherzigen Wagnisses vernahm, sank ich nur auf einen
Augenblick in die alte dumpfe Resignation zurück.  Im nächsten
Augenblick drang es wie ein Feuerstrom durch alle meine Sinne.  Der
Entschluß stand fest, das Werk, das Ihr auf dem offenen Wege des
Rechts und des Gesetzes nicht hattet vollbringen können, auf dem Wege
der Gewalt und einer furchtbaren Notwehr, mit dem Arm des unsichtbaren
Richters und Rächers zum Heil meines teuren Vaterlandes hinauszuführen.

"Ich habe diesen Entschluß seither unablässig geprüft und meine
Absicht unsträflich gefunden.  Ich bin mir heilig bewußt, daß nicht
Haß gegen die Personen, nicht Rache für erlittenes Leid, nicht einmal
der gerechte Gram um das Weh, das meinen Lieben widerfahren, meinen
Arm gegen die Gewaltherren bewaffnet.  Was mich bewegt, für ein ganzes
in Knechtschaft versunkenes Volk als Retter aufzutreten und einzeln
den Spruch zu vollstrecken, der zu anderen Zeiten vom Gesamtwillen
einer freien Nation über ungerechte, dem Arm des Richters
unerreichbare Mächtige verhängt worden ist,--es ist weder Eigensucht,
noch eitle Ruhmbegier; es ist nur eine Schuld, die ich durch eine
tatenlose Jugend auf mich geladen habe, und an deren Bezahlung mich
damals Euer Blick im Palast Morosini mahnte.

"Gott, in dessen Schutz ich meine Sache befehle, möge mir als einzigen
Ersatz für alles, was er mir genommen, die Gnade zuteil werden lassen,
daß ich in einem befreiten Venedig Euch noch einmal die Hand drücken
kann.  Ihr werdet die blutbefleckte nicht zurückstoßen, die dann in
keiner Freundeshand mehr ruhen wird; denn wer das Amt des Henkers
verwaltet hat, ist der Einsamkeit geweiht und hat den Blick der
Menschen zu meiden.  Gehe ich aber an meinem Werk zu Grunde, so weiß
derjenige, an dessen Achtung mir am meisten gelegen ist, daß es auch
in dem jüngeren Geschlecht nicht ganz an Männern fehlt, die für
Venedig zu sterben wissen.

"Diesen Brief wird Euch ein zuverlässiger Mann zustellen, der das
Kleid eines Sekretärs der Inquisition mit der Mönchskutte vertauscht
hat, um durch Fasten und Gebet die Sünden der Republik zu büßen, denen
er seine Feder leihen mußte.  Verbrennt dieses Blatt.  Lebt wohl!
Candiano."

Als der Verbannte den Brief zu Ende gelesen hatte, saß er wohl eine
Stunde in tiefem Kummer vor den verhängnisvollen Blättern.  Dann hielt
er sie über die Flamme, streute die Asche in den Kamin und ging
ruhelos bis an den frühen Morgen auf und nieder, während der
Unglückliche, dessen Beichte er vernommen, wie einer, dessen Sache
gerecht und dessen Sachwalter der Himmel ist, schon längst den Schlaf
gefunden hatte.-Am anderen Tage ging der späte Ankömmling in der
Straße della Cortesia zeitig aus.  Das lustige Singen Mariettas
draußen auf dem Flur hätte ihn vielleicht noch länger schlafen lassen,
aber das laute Schelten der Mutter, daß sie einen Lärm mache, der
einen Toten erwecken könne, und daß sie noch alle Fremden aus dem
Hause treiben würde, ermunterte ihn völlig.  Er hielt sich an der
Stiege, wo seine Wirtin bereits auf ihrem alten Posten saß, nur gerade
so lange auf, um sich nach den Wohnungen einiger Notare und Advokaten
zu erkundigen, deren Namen ihm ein Freund in Brescia aufgeschrieben
hatte.  Als er Bescheid wußte, konnte weder die zärtliche Sorge der
Witwe um seine Gesundheit, noch die rote Schleife, die Marietta in ihr
Haar gesteckt hatte, ihn zu längerem Verweilen bewegen, und während
sich die gute Frau sonst bemüht hatte, den Verkehr ihrer Mietsleute
mit ihrer Tochter möglichst zu verhindern, war es ihr jetzt fast
unheimlich, daß der Fremde das liebe Geschöpf, ihren Augapfel,
hartnäckig übersah.  Sein ergrautes Haar erklärte ihr diese seltsame
Blindheit nicht genügend.  Er mußte einen geheimen Kummer haben oder
sich so krank fühlen, daß ihm der Anblick eines frischen Lebens wehe
tat.  Dennoch ging er straff und rasch, und seine Brust war breit und
gewölbt, so daß die Krankheit, von der er sprach, tief im Innern ihren
Sitz haben mußte.  Auch seine Gesichtsfarbe war nicht verdächtig.  Wie
er die Straßen Venedigs durchschritt, zog er den wohlgefälligen Blick
manch eines Frauenauges auf sich, und auch Marietta sah ihm aus einem
der oberen Fenster nicht ohne Anteil nach.

Er aber ging in sich gekehrt seinen Geschäften nach, und obgleich er
sich bei Frau Giovanna umständlich nach dem Weg erkundigt hatte und
endlich über seine Ortsunkenntnis durch das Sprüchlein: "Mit Fragen
kommt man bis Rom" von ihr getröstet worden war, schien er doch jetzt
ohne alle Hilfe sich in dem Netz der Gassen und Kanäle zurechtzufinden.
Mehrere Stunden vergingen ihm mit Besuchen bei Advokaten, die aber
auf seine Empfehlung von einem Kollegen aus Brescia wenig Gewicht
legten und denen er, so bescheiden er auftrat, verdächtig vorkommen
mochte.  Denn allerdings war ein gewisser Stolz in der Falte seiner
Stirn, der einem schärferen Beobachter sagte, daß er die Arbeit, die
er suchte, eigentlich unter seiner Würde hielt.  Zuletzt kam er zu
einem Notar, der in einem Seitengäßchen der Merceria wohnte und
allerlei Winkelgeschäfte nebenbei zu treiben schien.  Hier fand er mit
einem sehr mäßigen Gehalt eine Stelle als Schreiber, vorläufig zum
Versuch, und die hastige Art, wie er zugriff, brachte den Mann zu dem
Verdacht, er habe es etwa mit einem verarmten Nobile zu tun, deren
mancher, nur um das Leben zu fristen, sich zu jeder Arbeit willig
finden ließ, ohne um ihren Preis zu handeln.

Andrea jedoch war augenscheinlich mit dem Erfolg seiner Bemühungen
sehr zufrieden und trat, da es inzwischen Mittag geworden war, in die
nächste Schenke, wo er Leute aus den unteren Klassen an langen
ungedeckten Tischen sitzen sah, die ihre sehr einfache Kost mit einem
Glas trüben Weins würzten.  Er nahm seinen Platz in einem Winkel nahe
der Tür und aß die etwas ranzigen Fische ohne Murren, während er
freilich den Wein, nachdem er ihn gekostet hatte, verschmähte.  Er war
schon im Begriff, nach der Zeche zu fragen, als er sich von seinem
Nachbar höflich anreden hörte.  Der Mann, den er bisher ganz übersehen
hatte, saß schon lange vor seiner halben Flasche Wein, aß nichts,
trank nur dann und wann einen Schluck, wobei er jedesmal den Mund ein
wenig verzog; während er aber scheinbar vor Müdigkeit die Augen halb
geschlossen hielt, wanderten seine scharfen Blicke durch die ganze
düsterliche Halle und hefteten sich mit besonderem Anteil an unseren
Brescianer, der seinerseits nichts Merkwürdiges an ihm wahrgenommen
hatte.  Es war ein Mann in den Dreißigen, mit blondem, lockigen Haar,
der in der schwarzen venezianischen Tracht seine jüdische Herkunft
nicht sogleich verriet.  In den Ohren trug er schwere goldene Ringe,
an den Schuhen Schnallen mit großen Topasen, während sein Halskragen
zerknittert und unsauber und sein Rock von feinem Wollenstoff seit
Wochen nicht gebürstet war.

Dem Herrn schmeckt der Wein nicht, sagte er halblaut, indem er sich
geschmeidig zu Andrea hinbog.  Der Herr scheint überhaupt nur aus
Irrtum hier zu sein, wo man nicht gewohnt ist, Gäste von besserem
Stande zu bewirten.

Um Vergebung, Herr, erwiderte Andrea ruhig, obwohl er sich Gewalt
antat, überhaupt zu antworten, was wißt Ihr von meinem Stande?

Ich seh es an der Art, wie der Herr ißt, daß er eine andere
Gesellschaft gewohnt ist, als er hier findet, sagte der Jude.

Andrea maß ihn mit einem festen Blick, vor dem das lauernde Auge des
anderen sich senkte.  Dann schien ein Gedanke in ihm aufzusteigen, der
ihn plötzlich bewog, dem Zudringlichen mit einer Art von
Vertraulichkeit entgegenzukommen.

Ihr seid ein scharfer Menschenkenner, sagte er.  Es ist Euch nicht
entgangen, daß ich einst bessere Tage gesehen und einen unverfälschten
Wein getrunken habe.  Auch kam ich in gute Gesellschaft, obwohl ich
der Sohn eines kleinen Bürgers bin und nur kümmerlich die Rechte
studiert habe, ohne einen Titel zu erwerben.  Das hat sich geändert.
Mein Vater machte Bankrott, ich wurde arm, und ein armer
Gerichtsschreiber und Advokatengehilfe hat auf nichts Besseres
Anspruch zu machen, als was er in dieser Kneipe findet.

Ein studierter Herr hat immer Anspruch auf Verehrung, sagte der andere
mit einem sehr verbindlichen Lächeln.  Es würde mich glücklich machen,
wenn ich Euer Gnaden einen Dienst erweisen könnte; denn ich habe stets
nach dem Umgang gelehrter Männer gestrebt und bei meinen vielen
Geschäften nicht selten die Gelegenheit gehabt, mich ihnen zu nähern.
Wenn ich Euer Gnaden vorschlagen dürfte, ein besseres Glas Wein mit
mir zu trinken, als hier zu haben ist...

Ich kann besseren Wein nicht bezahlen, sagte der andere gleichgültig.

Es würde mir eine Ehre sein, gegen den Herrn, der hier fremd scheint,
die venezianische Gastfreundschaft zu üben.  Wenn ich sonst mit meinem
Vermögen und meiner Ortskenntnis dem Herrn irgend nützlich sein kann...

Andrea wollte ihm eben ausweichend antworten, als er bemerkte, daß der
Wirt der Schenke, der im Hintergrunde am Kredenztische stand, ihn
lebhaft mit dem kahlen Kopf zu sich heranwinkte.  Auch von den anderen
Gästen, die aus Handwerkern, Marktweibern und Tagedieben bestanden,
machte ihn mancher mit verstohlenen Zeichen aufmerksam, daß man ihm
gern etwas mitgeteilt hätte, was man nicht laut zu sagen wagte.  Unter
dem Vorwand, erst zu bezahlen, ehe er auf die höfliche Einladung
antwortete, verließ er seinen Platz und ging mit der lauten Frage, was
er schuldig sei, auf den Wirt zu.

Herr, flüsterte der gutmütige Alte, nehmt Euch in acht vor dem.  Ihr
habt es mit einem Schlimmen zu tun.  Die Inquisitoren bezahlen ihn,
daß er die Heimlichkeiten der Fremden ausspürt, die sich hier blicken
lassen.  Seht Ihr nicht, daß der Winkel leer ist, wo er Platz genommen
hat?  Sie kennen ihn alle, und nächstens fliegt er einmal zur Tür
hinaus, der Gott Abrahams gesegn' es ihm!  Ich aber, obwohl ich ihn
dulden muß, um mir nicht die Finger zu verbrennen, bin es Euch doch
schuldig, Euch reinen Wein einzuschenken.  Ich dank' Euch Freund,
sagte Andrea laut.  Euer Wein ist ein wenig trübe, aber gesund.  Guten
Tag.

Damit kehrte er auf seinen Platz zurück, nahm seinen Hut und sagte zu
seinem dienstfertigen Nachbar: Kommt, Herr, wenn es Euch gefällt.  Man
sieht Euch hier nicht gern, fügte er leiser hinzu.  Man hält Euch für
einen Spion, wie ich habe merken können.  Wir wollen anderswo unsere
Bekanntschaft fortsetzen.

Das schmale Gesicht des Juden erblaßte.  Bei Gott, sagte er, man
verkennt mich!  Aber ich kann es den Leuten nicht verdenken, wenn sie
auf der Hut sind, denn es wimmelt hier in Venedig von Spürhunden der
Signoria.  Meine Geschäfte, fuhr er fort, als sie schon auf der Gasse
waren, meine vielen Verbindungen führen mich in so manche Häuser, daß
es wohl scheinen mag, als bekümmerte ich mich um fremde Geheimnisse.
Gott soll mich leben lassen hundert Jahr, aber was gehen mich fremde
Leute an?  Wenn sie mir zahlen, was sie mir schuldig sind, will ich
ein Hund sein, wenn ich ihnen was nachrede.

Ich meine aber doch, Herr--wie ist Euer Name?

Samuele.

Ich meine aber, Herr Samuele, daß Ihr zu übel denkt von denen, die zum
Besten des Staates die Pläne und Anschläge der Bürger ausspähen und
Verschwörungen gegen die Republik an den Tag bringen, ehe sie schaden
können.  Der Jude stand still, hielt den andern am Ärmel und sah ihn
an.  Warum hab ich Euch nicht gleich erkannt? sagte er.  Ich mußte
wissen, daß Ihr nicht zufällig in jene elende Kneipe geraten konntet,
daß ich einen Kollegen in Euch zu begrüßen hatte.  Seit wann seid Ihr
im Amt?

Ich? seit übermorgen.

Was meint Ihr, Herr?  Wollt Ihr mich foppen?

Wahrlich nicht, erwiderte Andrea.  Denn es ist mein voller Ernst, daß
ich nächstens so weit kommen werde, mich in Euern Orden aufnehmen zu
lassen.  Es geht mir schlecht, wie ich Euch gesagt habe, und ich bin
nach Venedig gekommen, meine Umstände zu verbessern.  Der
Schreiberlohn, um den ich mich heute bei einem Notar verdungen habe,
ist nicht das, was ich hier vom Glück und von meinem bißchen Verstand
erhofft habe.  Venedig ist eine schöne Stadt, eine lustige Stadt; aber
in dem Lachen der schönen Weiber ist ein Goldklang, der mich immer an
meine Armut erinnert.  Ich denke, das kann nicht immer so währen.

Euer Vertrauen ehrt mich sehr, sagte der Jude mit einem nachdenklichen
Zug.  Aber ich muß Euch sagen, daß die Herren nicht gern fremde
Ankömmlinge in ihre Dienste nehmen, ehe sie eine Probezeit bestanden
und sich ein wenig umgesehen haben.  Wenn ich Euch bis dahin mit
meiner Börse aushelfen kann--ich nehme niedrige Prozente von meinen
Freunden.

Ich dank' Euch, Herr Samuele, erwiderte Andrea gleichmütig.  Eure
Protektion ist mir wertvoller, der ich mich hiermit bestens empfohlen
haben will.  Dies aber ist mein Haus; ich nötige Euch nicht hinein,
weil ich Arbeit vollauf habe für meinen neuen Brotherrn.  Andrea
Delfin ist mein Name.  Wenn es Zeit ist, daß man mich brauchen kann,
denkt an mich: Andrea Delfin, Calle della Cortesia.

Er schüttelte dem seltsamen Freunde die Hand, der draußen noch eine
Weile stehen blieb, sich das Haus und die nächste Umgebung genau ansah
und dabei mit einer Miene des Zweifels und der listigen Überlegung vor
sich hinmurmelte, aus der hervorging, daß er den Brescianer von seiner
Probezeit nicht so rasch freisprechen würde.

Als Andrea die Treppe hinaufstieg, konnte er an Frau Giovanna nicht
vorüber, ohne ihr Rede zu stehen.  Sie war nicht damit zufrieden, daß
er nur einen so geringen Platz gefunden hatte.  Sie werde nicht ruhen,
bis er ihn aufgegeben und sich einen einträglicheren und ehrenvolleren
gesucht habe.  Er schüttelte den Kopf.  Es reicht wohl, gute Frau,
sagte er ernsthaft, für die Spanne Zeit, die ich noch vor mir habe.

Was Ihr auch redet! schalt die Frau.  Dem Guten entgegen gehen und das
Böse kommen lassen, so ziemt sich's für einen Mann, und nach Honig
schleckt man, nach Wermut spuckt man.  Seht die schöne Sonne draußen
und schämt Euch, daß Ihr schon nach Hause kommt, während auf der
Piazetta Musik ist und alles, was hübsch und reich und vornehm ist,
den Markusplatz auf und ab spaziert.  Da gehöret Ihr hin, Herr Andrea,
statt ins Zimmer.

Ich bin weder hübsch, noch reich, noch vornehm, Frau Giovanna.

Habt Ihr denn gar keine Freude, die schöne Welt zu sehen? fragte sie
eifrig, und sah sich dabei um, ob Marietta nicht etwa in der Nähe sei.
Ihr seid doch nicht etwa liebeskrank?

Nein, Frau Giovanna.

Oder haltet Ihr's gar für eine Sünde, lustig zu sein?  Ihr habt da so
Büchlein auf Eurem Tisch liegen, ich sag' es nur, weil Ihr der erste
Fremde seid, der in mein Haus ein erbauliches Buch mitgebracht hat,
Gott sei's geklagt!  Aber die Jugend denkt heutzutage: Frech gelebt
und fromm gestorben, heißt dem Teufel den Spaß verdorben, und um
Weihnachten fasten auch die Spatzen auf dem Dach.

Gute Frau, sagte er lächelnd, ihr sorgt Euch sehr um mich, aber mir
ist nicht zu helfen.  Wenn ich still bei meiner Arbeit sitze, ist mir
am wohlsten, und Ihr könntet mir einen Gefallen tun, mir ein
Schreibzeug zu schaffen und einige Bogen Papier.

Bald darauf brachte ihm Marietta das Verlangte auf sein Zimmer, wo er
stumm am Fenster saß und vor sich hin sah.  In derselben Stellung fand
sie ihn abends, als sie ihm das Licht brachte, und auf ihre Frage, was
er zu essen begehre, verlangte er nur Brot und Wein.  Sie hatte nicht
den Mut, zu fragen, ob ihn die Mücken belästigen und er wieder
geräuchert haben wolle.  Mutter, sagte sie, als sie sich neben die
Alte auf die Treppe setzte, ich gehe nicht wieder zu ihm hinein.  Er
hat so Augen, wie der Märtyrer in der kleinen Kapelle San Stefano.
Ich kann nicht lachen, wenn er mich ansieht.

Was sie wohl gesagt hätte, wenn sie einige Stunden später ins Zimmer
getreten wäre?  Er stand, während die Nacht draußen über den Kanal
wehte, am Fenster, im Gespräch mit der Zofe drüben, eifrig bemüht,
seinen Augen einen weltlichen Ausdruck zu geben.

Schöne Smeraldina, sagte er, ich konnte die Zeit nicht erwarten, dich
wiederzusehen.  Ich habe im Vorbeigehen bei einem Goldschmiedladen an
dich gedacht und dir eine Nadel gekauft, von Filigran, die freilich zu
gering für dich ist, aber dennoch echter als die Agraffe an deinem
Turban.  Öffne das Fenster, so werf' ich sie hinüber, in der
Hoffnung, bald einmal denselben Weg durch die Luft zu machen und dir
zu Füßen zu fallen.

Ich seid sehr artig, lächelte das Mädchen und fing das Geschenk, das
er in ein Papier gewickelt hatte, mit beiden Händen auf.  Ei, was Ihr
für einen guten Geschmack habt! und Ihr sagtet doch Ihr wäret arm?
Wißt Ihr, daß es mir heute besonders not tut, eine Freude zu haben?
Wir haben viel ausgestanden über Tag, die Gräfin ist schlechter Laune.
Ihr Liebster, der junge Gritti, des Senators Sohn, hat sich
vierundzwanzig Stunden nicht blicken lassen.  Sie hat nach seinem
Hause geschickt; und da wurde er vermißt, und man glaubt, das Tribunal
habe ihn heimlich aufheben und gefangen nehmen lassen.  Meine Gräfin
ist außer sich, sie empfängt niemanden, sie liegt auf ihrem Sofa und
weint wie eine Unsinnige und hat mich geschlagen, als ich sie trösten
wollte.

Ihr habt keine Ahnung, wessen man den Jüngling angeklagt?

Nicht die geringste, Herr.  Ich wollt' auch Gelübde tun, ewig Jungfer
zu bleiben, wenn er das mindeste gegen den Staat im Kopf hatte.
Lieber Himmel, er war eben dreiundzwanzig Jahre, und nichts lag ihm am
Herzen, als meine Gräfin und allenfalls das Spiel.  Aber diese Herren
von der Inquisition wissen Euch aus einem Spinneweb ein Seil zu drehen,
stark genug, um die stärkste Kehle zuzuschnüren, und wer weiß, ob es
diesmal nicht allein gegen seinen Vater, den Senator, gemünzt ist!

Sprecht vorsichtiger von den obersten Behörden dieser Stadt, sagte
Andrea leise.  Die Weisheit der Väter hat sie eingesetzt, und die
Torheit der Enkel soll sie nicht antasten.

Das Mädchen sah ihn an, ob es sein Ernst sei; es war nicht leicht, das
Rätsel dieser Mienen zu lösen.  Geht, sagte sie, Ihr werdet ernsthaft,
und das mag ich nicht leiden.  Ihr seid noch nicht lange hier, darum
habt Ihr Respekt vor den alten Blutrichtern und Henkern, die sich von
fern oder etwa gemalt sehr ehrwürdig ausnehmen mögen.  Ich aber habe
sie schon manchmal in der Nähe gesehen, am Farotisch, wenn meine
Gräfin Bank hielt, und ich kann Euch sagen, sie sind auch Menschen,
wie Adam war.

Mag sein, Kind, antwortete er, aber sie haben die Gewalt, und ein
armer Bürger wie ich tut nicht klug, so verfängliche Reden hier am
offenen Fenster zu wechseln.  Wenn es zu bösen Häusern kommt, daß wir
beide die inkarnierte Gerechtigkeit Venedigs für nichts Besseres als
eine Handvoll sterblicher Menschen halten, so beschützt dich, meine
teure Smeraldina, der Zauber deiner Schönheit; ich aber wandere den
bekannten nassen Weg oder tausche wenigstens mein Quartier in der
Calle della Cortesia mit einer viel bescheideneren Kammer in den
Brunnen* oder unter den Bleidächern.

{ed. * Die Gefängnisse unter dem Meeresgrunde}

Ihr könnt hier reden, was Euch beliebt, sagte die Zofe; es gehen wenig
Fenster auf den Kanal hinaus, und da hat um diese Zeit niemand was zu
schaffen.  Auf Eurer Seite drüben ist nun vollends die leere Mauer;
denn wer's besser haben kann, sucht sich unsere trübe Kloake da unten
nicht gerade zum Spiegel aus.  Aber wißt Ihr was?  Ihr solltet auf ein
Stündchen herüberkommen; man hätte es doch immer bequemer, miteinander
zu plaudern, und ein Glas Wein, guter Moscat von Samos und eine Partie
Tarock würden mir die Nerven sehr beruhigen nach den Ohrfeigen der
Gräfin.

Ich käme gern, sagte er, aber es würde Aufsehen machen, und meine
Wirtin ließe mich um Mitternacht schwerlich wieder ein.

Nicht doch, lachte die Zofe.  Einen solchen Umweg braucht es nicht.
Ich habe hier ein Brett, womit wir ohne viel Umstände eine Brücke
schlagen können.  Man kann sich ja mit den Händen abreichen über dem
Kanal; warum nicht mit den Füßen?  Oder seid Ihr schwindlig?

Nein, schöne Freundin.  Nur einen Augenblick, und ich bin bereit.

Andrea löschte das Licht, verriegelte die Tür in seinem Zimmer,
horchte, ob alles im Hause schlafe, und ging dann wieder an das
Fenster.  Smeraldina schien Übung im Bau dieser Brücken zu haben, denn
das Brett war bereit, und in wenigen Augenblicken lag der feste Steg
über der Tiefe, hüben und drüben flach und sicher auf dem Gesims
ruhend und gerade breit genug, um einen Mann zu tragen.  Sie stand
drüben und winkte ihm lustig zu.  Rasch erstieg er den Sims, betrat
das Brett, indem er die Tiefe mit festem Auge maß, und mit einem
einzigen ruhigen Schritt hatte er das Fenster drüben erreicht.  Sie
fing ihn, als er sich hinabschwang, in ihren Armen auf, und ihre
Lippen streiften seine Wange.  Aber er zog es vor, die Miene der
Schüchternheit anzunehmen und sich zu stellen, als fühle er sich durch
die Nähe seiner Freundin in die Schranken der Ehrerbietung
zurückgewiesen, was sie mit einiger Verwunderung aufnahm.  Das Brett
ward wieder zurückgezogen, die Karten und der Wein aus dem Schrank
geholt und ein Tisch vor das offene Fenster gerückt, an dem das
seltsame Paar in vertraulichem Gespräch Platz nahm.  Dabei trug das
Mädchen beständig den roten Turban, der ihr, während sie die Brücke
schlug, etwas schief auf den Hinterkopf gerutscht war, und hatte
Andreas Geschenk, die Filigrannadel, zierlich vor die Brust gesteckt.

Sie schenkte sich eben das zweite Glas Wein ein und schalt ihren Gast,
daß er so langsam trinke, und überhaupt nicht recht auftauen wollte,
als eine Glocke aus dem Innern des Hauses heftig geläutet wurde.

Seht, sagte das Mädchen, indem es aufstand und zornig die Karten
wegwarf, so geht es mir; keine ruhige Stunde habe ich!  Erst schickt
sie mich fort, weil sie sich heute allein auskleiden wolle, und nun
stört sie mich noch so spät.  Aber geduldet Euch nur zehn Minuten,
mein Freund; ich bin gleich wieder bei Euch.

Sie schlüpfte hinaus, und er schien sich über seine Einsamkeit zu
trösten.  Er trat ans Fenster und betrachtete aufmerksam die Wand
drüben zwischen seinem Fenster und dem Kanal.  Sie war nicht höher als
etwa zwanzig Fuß, der Kalk durch die Feuchtigkeit fast überall
verwittert und die nackten Steine rauh genug, um im Notfall daran
emporzuklimmen.  Unter dem Fenster der Zofe sprang, wie er schon am
ersten Abend bemerkt hatte, die Wassertreppe vor, und an dem hohen
Pfahl zur Seite lag die schmale Gondel angekettet, so daß nur eben
eine zweite Gondel vorübergleiten konnte.  Das alles befriedigte ihn
sichtlich.

Ich hätte es mir nicht besser bestellen können, murmelte er vor sich
hin.

Nachdenklich sah er den Kanal hinab, der in völliger Finsternis
zwischen den steilen, fensterlosen Ufern der Häuser hinfloß.  Da sah
er am untersten Ende einen schwachen Lichtschein, der sich näher
bewegte, und hörte nach einiger Zeit Geräusch von Ruderschlägen.  Eine
Gondel kam langsam heran und hielt unten an der Wassertreppe.
Vorsichtig bog der Lauscher oben sich zurück, um nicht bemerkt zu
werden, sah aber noch mit einem halben Blick, daß ein Mann sich erhob
und auf die Treppenstufe trat.  Der Klopfer unten erklang in drei
gewichtigen Schlägen, und bald darauf hörte er eine Stimme im Hause,
die durch die Türe fragte, wer Einlaß begehre.

Im Namen des erlauchten Rates der Zehn, war die Antwort, öffnet!

Der Diener unten gehorchte augenblicklich, und die Wasserpforte schloß
sich hinter dem nächtlichen Besuch.

Kurz darauf kam Smeraldina in ihre Kammer zurück, aufgeregt, in bloßem
Haar und mit erhitzten Wangen.  Habt Ihr gehört? flüsterte sie.  O
Gott, sie werden unsere Gräfin fortschleppen, sie werden sie
erdrosseln oder ersäufen, und wer steht mir dann für die sechs Monate
Lohn, die sie mir schuldig ist?

Tröste dich, weichherziges Kind, sagte er rasch.  Solange du gute
Freunde hast, wirst du nicht verlassen sein.  Aber du tätest mir einen
Gefallen, wenn du mich irgendwo verbergen wolltest, wo ich hören
könnte, was der hohe Rat von deiner Herrin will.  Ich gestehe, daß ich
neugierig bin, wie ein Fremder es ja wohl sein darf.  Überdies aber
könnte ich dir und der Gräfin vielleicht nützlich sein, da ich bei
einem Advokaten arbeite und, wenn es auf eine öffentliche Anklage
hinausläuft, meine geringen Dienste gern zur Verfügung stelle.

Sie besann sich.  Ich wüßte es leicht zu machen, sagte sie.  Der Ort
ist sicher, und ich selbst habe manchmal dort gesteckt und meinen
Ohren nicht getraut.  Wenn es aber doch entdeckt würde?

So nehme ich alles auf mich, mein Liebchen, und niemand erfährt, auf
welchem Wege ich ins Haus gekommen bin.  Sieh, fuhr er fort, hier sind
drei Zechinen, für den Fall, daß ich dir hernach nicht mehr danken
kann.  Geht aber alles gut, so sollst du sehen, daß ich das wenige,
was ich noch übrig habe, gern mit einer so klugen Freundin teilen
werde.

Sie steckte das Gold ohne Umstände ein, öffnete rasch die Tür und
horchte auf den dunklen Gang hinaus.  Zieht die Schuhe aus, flüsterte
sie; gebt mir die Hand und folgt mir dreist, wohin ich gehe.  Im Hause
schläft alles, außer dem Pförtner.

Sie löschte ihr Licht und huschte durch den Korridor voran, ihn an der
Hand sich nachziehend.  Einige große dunkle Gemächer durchschritten
sie, dann öffnete das Mädchen die Tür nach einem Tanzsaal, der durch
drei hohe Fenster in der Front des Palastes ein trübes Dämmerlicht
erhielt.  An einer Seite stieg ein Treppchen hinauf zu der Estrade für
die Musiker.  Sacht! warnte das Mädchen; die Treppe knarrt ein wenig.
Ich lasse Euch hier allein.  Droben findet Ihr im Getäfel eine Spalte,
durch die Ihr hinlänglich sehen und hören könnt.  Denn nebenan ist das
Empfangzimmer der Gräfin.  Wenn der Besuch fort ist, hol' ich Euch
wieder ab.  Aber nicht eher rührt Ihr Euch vom Fleck, als bis ich
komme.

So ließ sie ihn allein, und ohne Zaudern stieg er die wenigen Stufen
hinauf und tastete sich sacht an der Wand entlang nach dem
Lichtstreifen, der durch die schmale Spalte drang.  Der Saal war von
dem Nebengemach nur durch eine Holzwand getrennt, da beide Räume in
glänzenderen Zeiten eine einzige große Festhalle ausgemacht hatten.
Der Schein kam von einem silbernen Armleuchter, der unten auf dem
Tisch vor dem Ruhebett der Gräfin stand und die Bildnisse an der Wand
nur unstet beleuchtete.  Andrea mußte sich auf die Kniee kauern, um
hinabzusehen.  Aber so unbequem die Stellung war, so hätte wohl
mancher gern mit ihm getauscht, auch wenn ihm weniger am Hören als am
Sehen gelegen gewesen wäre.

Denn wenn die Zofe recht hatte, daß ihre Herrin sich stark zu
schminken pflegte, so tat sie es wahrlich mehr der Mode zu Liebe, als
weil sie es nötig hätte, um für schön zu gelten.  Sie saß auf dem
Ruhebett in einem Anzug, der nicht auf so späten Besuch berechnet war,
die überaus reichen, etwas ins Rötliche spielenden Haare kunstlos
aufgebunden, die verweinten Augen wunderbar glänzend, auf den vollen,
blassen Wangen noch die Spur der Tränen.  Der Mann, der ihr gegenüber
im Lehnstuhl saß und Andrea den Rücken zukehrte, schien sie aufmerksam
zu betrachten; wenigstens bewegte er den Kopf nur selten und hörte die
heftigen Worte der schönen Frau, ohne eine Gebärde dazwischen zu
werfen, mit an.

In der Tat, sagte die Gräfin, und in ihrer Miene lag dieselbe
schmerzliche Bitterkeit wie im Ton ihrer Stimme, ich muß mich wundern,
daß Ihr noch wagt, Euch hier sehen zu lassen, nachdem Ihr die
feierlichsten Versprechungen so schmählich mit Füßen getreten habt.
Hab' ich Euch darum so manche Dienste geleistet, daß Ihr mir jetzt so
grausam, so feindselig begegnet?  Wo habt Ihr ihn gelassen, meinen
armen Freund, den einzigen, an dem mir gelegen war, und den Ihr unter
allen Umständen zu schonen verspracht?  Gab es niemand anders als ihn,
wenn es Euch zu leer wurde in Euren Gefängnissen?  Und was habt Ihr
Verdächtiges an ihm gefunden, was hat er gegen die hohe Republik
gesündigt, wofür es keine gelindere Strafe gab als Verbannung, keine,
die minder schwer auf mich gefallen wäre?  Denn ich habe es Euch nicht
verhehlt, daß ich mein Herz an ihn gehängt habe, und daß der mein
Feind wäre, der ihm nur ein Haar krümmte.  Gebt ihn mir wieder, oder
ich breche jede Verbindung mit Euch ab, ein für allemal, und verlasse
Venedig und suche meinen Freund in der Verbannung auf und lasse Euch
empfinden, wie viel Ihr durch diesen Verrat, durch diese
Schändlichkeit eingebüßt habt.  O, daß ich mich jemals zu Eurem
Werkzeug hergab!

Ihr vergeßt, Gräfin, sagte der Mann, daß wir Mittel haben, Eure Flucht
zu hindern, und daß, selbst wenn sie glückte, unser Arm weit
hinausreicht und stark genug ist, Euch überall zu verderben, wo Ihr
eine Zuflucht zu finden glaubtet.  Der junge Gritti hat seine Strafe
verdient.  Er hat trotz der Warnung, die wir ihm zugehen ließen, mit
dem Sekretär des österreichischen Gesandten, einem sehr tief
eingeweihten jungen Manne, den Verkehr eifrig fortgesetzt.  Die
Gesetze Venedigs verbieten solchen Verkehr aufs strengste, wie Euch
bekannt genug ist.  Auch ist ein Brief des Angelo Querini aufgefangen
worden, in welchem des unbesonnenen Jünglings lobende Erwähnung
geschieht.  Es war eine väterliche Maßregel, daß wir ihn verbannten,
ehe er schuldiger wurde.  Aber wir wissen zugleich, was wir Euch
schuldig sind, Leonora.  Und deshalb bin ich an Euch abgeschickt
worden, Euch diese Aufschlüsse zu geben und einige Winke, wie Ihr,
wenn Ihr verständig seid, das Geschehene wieder gut machen könnt.

Ich bin es müde, sagte sie heftig, mir von Euch Befehle geben zu
lassen.  Dieser Tag hat mir gezeigt, daß ich darüber zu Grunde gehe,
früh oder spät, wenn ich auf Euch Vertrauen setze und mir einbilde,
daß all meine Aufopferung in Eurem Interesse mir je gedankt werde, ja,
mich auch nur vor den schnödesten Beleidigungen und Kränkungen
schützen würde.  Ich brauche Euch nicht, ich will nichts von Euch, es
ist alles aus zwischen mir und dieser hohen Regierung, die Freund und
Feind gleich rücksichtslos beiseite wirft.

Nur schade, warf er ein, daß man Euch noch braucht, von Euch noch
etwas will, und daß es daher fürs erste zwischen uns noch nicht aus
sein kann.  Ihr begreift, Leonora, daß es seine Bedenken hätte, Euch,
die Mitwisserin so vieler Geheimnisse der Republik, in fremde Länder
reisen zu lassen, wo Ihr bald einmal von der allgemeinen Sucht der
Zeit befallen werden könntet, Eure Memoiren zu schreiben.  Venedig und
Ihr seid unzertrennlich, und Ihr habt genug Proben einer hohen, über
Weiberlaune erhabenen Klugheit gegeben, als daß es noch vieler
Umschweife bedürfte, Euch wieder zu versöhnen.

Ich will nichts von Versöhnung hören! rief sie leidenschaftlich, und
Tränen traten ihr wieder ins Auge.  Was nützte es auch, es zu wollen?
Ich tauge zu nichts, ich bin unfähig, nur den einfältigsten Gedanken
zu fassen, wenn ich meinen armen Gritti nicht habe.

Ihr sollt ihn haben, Leonora.  Aber noch nicht gleich, da seine
plötzliche Rückkehr unseren Plan kreuzen würde.

Und wie lange soll ich mich gedulden? fragte sie, ihn flehentlich
ansehend.

Es hängt von Euch ab, erwiderte er.  Wie lange braucht Ihr, um einen
jungen Mann zu Euren Füßen zu sehen, der bisher im Ruf eines
Tugendhelden stand?

Ein Zug von Neugier und Interesse trat auf ihrem Gesicht hervor, das
noch eben ganz Schmerz und Verzweiflung gewesen war.  Von wem redet
Ihr? fragte sie.

Von jenem Deutschen, der mit Gritti befreundet war, dem Sekretär des
Wiener Ministers.  Ihr kennt ihn?

Ich habe ihn bei der letzten Regatta gesehen.  Gritti zeigte mir ihn.

Er ist die Eins vor der Null seines Gebieters.  Wir haben Ursache, zu
glauben, daß er sich im stillen einen starken Anhang unter unseren
Gegnern zu werben und die Verstimmung, die Querinis Handel
zurückgelassen hat, zu Gunsten seines Souveräns auszubeuten sucht.  Er
ist ungewöhnlich verschlagen.  Von den vier Beobachtern, die wir unter
den eigenen Leuten des Gesandten in unseren Sold genommen haben, hat
noch keiner die geringsten Beweise in unsere Hand geliefert.  Die
Inquisitoren setzen ihr ganzes Vertrauen in Euch.  Leonora, daß Ihr
den Schlüssel zu diesem wohlverriegelten Geist finden werdet, wie es
Euch schon manchmal geglückt ist.  Dies war nicht zu hoffen, solange
Gritti dazwischen stand.  Seine Verbannung ebnet den Weg und gibt
zugleich den Anlaß einer Annäherung an den unzugänglichen Menschen,
dem die Freundin seines Freundes jetzt, da ihr den Verlorenen
gemeinsam betrauert, größere Teilnahme einflößen muß als früher.  Das
übrige überlasse ich der Macht Eurer Reize, die niemals
unwiderstehlicher waren, als wo sie auf Widerstand stießen.

Sie überlegte eine Weile.  Ihre Stirn hellte sich auf, ihre Augen
gewannen einen kühnen, stolzen Ausdruck, ihr schöner voller Mund
öffnete sich halb und ein nachdenkliches Lächeln irrte über die Lippen.
Ihr versprecht, sagte sie endlich, daß Gritti sofort zurückgerufen
wird, sobald ich den anderen Euch überliefert habe?

Wir versprechen es.

So soll es nicht lange dauern, bis ich Euch an die Erfüllung Eures
Wortes mahne.  Sie stand auf und warf das Tuch fort, das sie über Tag
naß geweint hatte.  Andrea konnte aus seinem Versteck ihren Gang das
Zimmer auf und ab nur eine Strecke weit verfolgen, da die Spalte zu
schmal war, um den ganzen Raum zu übersehen.  Er bewunderte die
königliche Haltung der Gestalt, während sie, wie in Gedanken an neue
Siege, langsam über den Teppich des Gemaches hinwandelte, das Auge
groß aufgeschlagen, das Haar zurückschüttelnd von den weißen Schläfen.
Es durchzuckte ihn seltsam, als ihr Blick, der gegenstandslos in der
Höhe herumschweifte, an ihm vorüberglitt.  Unwillkürlich fuhr er
zusammen, als wäre es möglich gewesen, daß sie ihn entdeckte.

Der Mann im Lehnstuhl unten stand auf, schien aber seinerseits blind
für ihren Zauber, denn im ruhigsten Geschäftston fuhr er fort: Der
Nuntius ist in der letzten Zeit seltener in Euer Haus gekommen.  Ihr
waret zu offen mit Euren weltlichen Neigungen, besonders das Spiel hat
sich hier zu breit gemacht.  Es wäre uns lieb, wenn Ihr wieder einige
geistliche Bedürfnisse empfändet und den regen Verkehr mit der Eminenz
von neuem anknüpftet.  Die Beziehungen der Papalisten zu Frankreich
werden seit einiger Zeit beunruhigend.

Ihr könnt auf mich rechnen, erwiderte sie.

Noch eins, Leonora.  Die Summe, die wir Euch noch schulden für das
Abendessen des Candiano...

Sie stand wie von einer Schlange gebissen still und verfärbte sich
plötzlich.  Bei allen Heiligen, sagte sie, schweigt davon, erwähnt es
nie wieder, und den Rest des Geldes gebt an die Kirche, daß Sie Messen
lese für seine Seele und--für meine.  Wenn der Name genannt wird, ist
mir's jedesmal wie eine Posaune des jüngsten Gerichtes.

Ihr seid ein Kind, sagte der andere.  Die Verantwortlichkeit für jenes
Nachtmahl gehört uns, nicht Euch.  Er war ein Verbrecher, und nur
seine Verbindungen und sein Ansehen machten es uns zur Pflicht, die
Strafe geheim zu vollziehen.  Er ist ruhig in seinem Bett gestorben,
und niemand hat je sagen können, daß er aus Eurem Hause den Tod
davongetragen habe.  Oder ist Euch dergleichen zu Ohren gekommen?

Sie zitterte und sah zu Boden.  Nein, sagte sie.  Aber in der Nacht
wache ich auf von einer Stimme, die es mir zuraunt.  O!  Nur das hätte
ich nicht tun sollen, nur das nicht!

Es ist eine Anwandlung, Leonora; Ihr werdet sie besiegen.  Das
Geld--wie ich Euch noch sagen wollte--liegt bei Marchesi für Euch
bereit.  Gute Nacht, Gräfin.  Ich sehe, daß ich Euch lange aufgehalten
habe.  Schlaft wohl und laßt morgen die Sonne Eurer Schönheit
unbewölkt aufgehen über Gerechten und Ungerechten.  Gute Nacht,
Leonora!

Er verbeugte sich leicht vor ihr und ging auf die Tür zu.  Nur
flüchtig konnte Andrea im letzten Moment seine Züge sehen.  Sie waren
kalt, aber nicht hart, ein Gesicht ohne Seele und Leidenschaften, nur
der Ausdruck eines mächtigen Willens herrschte auf Stirn und Brauen.
Er band eine Maske vor und warf den schwarzen Mantel, den er am
Eingange abgelegt hatte, um die Schulter.  Dann verließ er, ohne ihren
Abschied abzuwarten, das Gemach.

In demselben Augenblick hörte Andrea die Stimme des Mädchens unten im
Saal, die ihn leise herunterrief.  Er gehorchte, nachdem er einen
letzten Blick auf das schöne Weib geworfen, das immer noch regungslos
mitten im Zimmer stand und dem Fortgegangenen tiefsinnig nachsah.  Wie
ein vom Schlage Getroffener stieg er schwankend von der Estrade herab
und folgte, ohne ein Wort zu sprechen, dem voranhuschenden Mädchen.
In ihrer Kammer brannte wieder Licht, der Wein stand noch auf dem
Tischchen am Fenster und nichts schien die Fortsetzung des
unterbrochenen Spiels zu hindern.  Aber auf dem Gesicht des Mannes lag
ein unheimlicher Schatten, der selbst den Leichtsinn Smeraldinas
verschüchterte und sie von dieser Nacht nichts mehr hoffen ließ.

Ihr seht aus, sagte sie, als hättet Ihr Gespenster gesehen.  Kommt,
trinkt ein Glas Wein und erzählt mir, was es gab.  Es lief ja ruhiger
ab als wir fürchteten.

O gewiß, sagte er mit erzwungener Kälte.  Man will deiner Herrin sehr
wohl, und es ist sogar Aussicht, daß du deinen rückständigen Lohn
nächstens ausbezahlt erhältst.  Im übrigen sprachen sie so leise, daß
ich wenig verstand, und jetzt bin ich vor allen Dingen todmüde von dem
unbequemen Knieen auf den harten Brettern.  Nächstens tue ich deinem
Wein eine bessere Ehre an, gutes Kind.  Aber heute muß ich schlafen.

Ihr habt mir noch nicht einmal gesagt, ob Ihr sie so schön findet wie
die anderen Leute, sagte das Mädchen und versuchte zu schmollen über
ihren undankbaren, einsilbigen Freund.

Schön wie ein Engel oder eine Teufelin, murmelte er zwischen den
Zähnen.  Ich danke dir, Madamigella, daß du mir dazu verholfen hast,
sie zu sehen.  Ein anderes Mal bleibe ich fein bei dir, da ich heute
meine Neugier hinlänglich gebüßt habe.  Gute Nacht!

Er schwang sich auf den Sims und betrat das Brett, das sie mißmutig
wieder über den Abgrund geschoben hatte.  Als er droben stand, sah er
den Kanal hinunter, in dessen Tiefe eben das Licht der Gondel
verschwand.  Gute Nacht! rief er noch einmal zurück und stieg dann
vorsichtig in sein Zimmer hinunter, während Smeraldina die Brücke
abbrach und sich vergebens bemühte, das seltsame Betragen des Fremden,
seine Armut, seine Freigebigkeit, sein graues Haar und seine
Abenteuersucht miteinander zu reimen.

Eine Woche verging, ohne daß die Eroberung, die Smeraldina an ihrem
Nachbar gemacht zu haben glaubte, sich sonderlich befestigte.  Nur
einmal ließ sie ihn, nachdem sie den Pförtner auf ihre Seite gebracht
hatte, bei Nacht in der Maske zur Tür herein, führte ihn nach dem
Wasserpförtchen und bestieg mit ihm die Gondel, die er selbst mit
langsamen Ruderstößen durch das dunkle Labyrinth hindurchtrieb, um
endlich auf dem großen Kanal eine Stunde lang im Freien hinzugleiten.
Er war trotz der guten Gelegenheit auch diesmal nicht eben zärtlicher
Laune, während sie beständig schwatzte und durch Erzählungen aus der
großen Welt, in der die Gräfin ihre Rolle spielte, ihn zu belustigen
suchte.  Er erfuhr, daß seit wenigen Tagen der österreichische
Gesandtschaftssekretär lange Besuche bei ihrer Herrin zu machen pflege,
wo beide ohne Zweifel sich berieten, wie es anzufangen sei, daß die
Verbannung des jungen Gritti zurückgenommen würde.  Die Gräfin sei
besserer Laune als je und habe sie reich beschenkt.  Andrea schien
dies alles nur mit halbem Ohr zu vernehmen und sich einzig der Lenkung
der Gondel zu widmen.  Es war also dem Mädchen selbst nicht unlieb,
als ihr schweigsamer Gefährte umwendete und auf dem kürzesten Wege
nach Hause fuhr.  Geräuschlos trieb er das schmale Fahrzeug nahe an
den Pfahl heran, legte, nachdem sie ausgestiegen waren, die Kette
herum und bat sich den Schlüssel aus, um sie festzuschließen.  Sie gab
ihn und war schon in der Tür, als er ihr nachrief, daß ihm in der Hast
der kleine Schlüssel aus der Hand geglitten und in den Kanal gefallen
sei.  Es war ihr selbst verdrießlich; aber mit ihrer gewöhnlichen
Leichtherzigkeit tröstete sie ihren Freund, daß wohl noch ein zweiter
Schlüssel sich im Hause finden werde, und er konnte diesmal nicht
umhin, mit einem flüchtigen Kuß auf ihre Wange Abschied zu nehmen, als
sie ihn um Mitternacht durch die Hauptpforte des Palastes entließ.

Seiner Wirtin, der Frau Giovanna, sagte er am anderen Morgen, daß es
viel Arbeit bei seinem Brotherrn gegeben habe, so daß man die Nacht
hätte zu Hilfe nehmen müssen.  Dies war das einzige Mal, daß er den
Hausschlüssel brauchte.  Gewöhnlich kam er schon gegen die Dämmerung
heim, genoß nur Brot und Wein und löschte früh das Licht, so daß die
gute Frau ihn in der Nachbarschaft als ein Muster des Fleißes und
unsträflichen Wandels pries.  Nur das eine beklagte sie, daß er sich
nicht schone und bei seinen Jahren gar kein erlaubtes Vergnügen
genieße, wodurch er sich aufheitern und sein Leben verlängern würde.
Marietta war bei solchen Reden still und sah in ihren Schoß.  Sie sang
nicht mehr, sobald der Fremde in seinem Zimmer war, und schien
überhaupt, seitdem er gekommen, sich mehr Gedanken gemacht zu haben
als sonst in einem Jahre.

Am Morgen des zweiten Sonntags, den Andrea im Hause der Witwe erlebte,
trat die Frau hastig mit verstörtem Gesicht und in vollem Staat, wie
sie aus der Messe zurückkehrte, in sein Zimmer.  Er saß am Tisch, noch
nicht völlig angekleidet, und las in einem seiner Gebetbücher.  Sein
Gesicht war bleicher als sonst, aber sein Blick ruhig, und es schien,
als ob er ungern in seiner Andacht gestört würde.

Sitzt Ihr noch still im Zimmer, Herr Andrea, rief sie ihm entgegen,
und ganz Venedig ist auf den Beinen?  Eilt und kleidet Euch an und
geht selbst auf die Straße hinaus, wo Ihr so viel entsetzte
Menschengesichter sehen könnt wie Körner in der Mühle.  Heiliger Jesus!
daß ich das noch erleben muß, und dachte, es könne nichts mehr in
Venedig geschehen, worüber ich staunte!

Wovon redet Ihr, gute Frau? fragte er mit gleichgültigem Ton und legte
das Buch aus der Hand.

Sie warf sich auf einen Stuhl und schien sehr erschöpft.  Bis an die
Piazetta bin ich fortgeschoben worden, fing sie wieder an, und sah die
Herren vom Großen Rat zu Haufen die Riesentreppe im Hofe des
Dogenpalastes hinaufsteigen und die Trauerfahne wehen aus dem Fenster
der Prokurazien.  Werdet Ihr es glauben?  Heute nacht zwischen Elf und
Mitternacht hat man den Vornehmsten von den drei Staatsinquisitoren,
den edeln Herrn Lorenzo Venier, auf der Schwelle seines Hauses
ermordet.

War es schon ein alter Mann? fragte Andrea ruhig.

Misericordia!  Wie Ihr auch sprecht!  Als wäre er nur in seinem Bett
gestorben.  Aber Ihr seid freilich kein Venezianer und könnt es nicht
verstehen, was es heißt: ein Inquisitor ermordet, einer vom Tribunal.
Es ist mehr als wenn es ein Doge wäre, von denen mancher nicht mit
rechten Dingen um sich kam, denn das Tribunal hat die Macht und der
Doge das Kleid.  Was aber das entsetzlichste ist: auf dem Dolch, den
sie in der Wunde gefunden haben, steht eingegraben: "Tod allen
Inquisitoren"; allen! versteht ihr wohl, Herr Andrea?  Das ist nicht
wie wenn ein Wicht von einem Bravo gedungen wird, einen einzelnen aus
der Luft zu schaffen, weil er einem anderen im Wege steht bei
Liebschaft, Ämtern oder sonst.  Das ist ein politischer Mord, sagte
mein Nachbar, der Spezial, und dahinter steckt eine Verschwörung und
Helfershelfer und der Angelo Querini mit seinem Anhang.  Er rieb sich
die Hände, als er das sagte, aber mir zitterte das Herz im Leibe, denn
ich will nicht sagen, was ich denke, aber ich weiß, mit der bösen Tat
ist's wie mit den Kirschen, schüttelt man eine herunter, so fallen
zwanzig nach, und dieses Blut wird viel Blut kosten.

Hat man denn keine Spur des Mörders, Frau Giovanna?  Wozu nützen dem
Tribunal die Hunderte von Spionen, die es bezahlt?

Nicht den Schatten einer Spur, antwortete die Witwe.  Es war eine
dunkle Nacht, die Bora wehte, und auf dem großen Kanal, an dem sein
Palast steht, war es leer von Gondeln.  Da kam er allein durch eine
Seitengasse nach Hause, und da traf ihn die unsichtbare Hand, und er
lebte nur so lange, bis er mit seinem letzten Stöhnen den Pförtner
herausgeschreckt hatte.  Da war die Gasse totenstill und niemand zu
erblicken.  Ich aber weiß, was ich weiß, Herr Andrea.  Soll ich es
Euch sagen?  Ihr seid rechtschaffen und brav und werdet es nirgend
weiter umhersagen und mich nicht in neues Elend bringen: Ich kenne die
Hand, die dieses Blut vergoß.

Er sah sie fest an.  Redet, sagte er, wenn es Euch erleichtert.  Ich
verrate Euch nicht.

Habt ihr keine Ahnung? sagte sie, indem sie aufstand und dicht neben
ihn hintrat: Hab' ich Euch nicht gesagt, daß mancher lebt und nicht
wiederkommt, und mancher tot ist und doch wiederkommt?  Wißt ihr's
nun?  Er hat es ihnen nicht vergessen, daß sie sein Weib und Kind
unter die Bleidächer geschleppt und gemartert haben.  Aber, um Gottes
willen, kein Wort davon über Eure Lippen!  Wenn es sein Geist getan
hätte, die Lebendigen müßten es büßen.

Und was habt Ihr für Anlaß zu Eurem Glauben?

Sie sah sich im Zimmer unheimlich um.  Wißt, flüsterte sie, es war
nicht geheuer im Haus diese Nacht.  An den Wänden hört' ich es hinauf-
und hinabhuschen, wie Gespensterschritte, ich lag im Bett und horchte,
und es rauschte da unten heimlich über den Kanal und klirrte an Eurem
Fenster, und durch das Gäßchen nebenan schwirrte es von
aufgescheuchtem Getier bis lange nach Mitternacht.  Erst mit dem
Glockenschlage eins ward Ruhe; ich weiß wohl, wer sie gestört hat.  Er
kam, nachdem er es getan, um uns zu grüßen, da wir ja keinen Abschied
genommen haben.

Das Haupt war ihm auf die Brust gesunken.  Jetzt stand er auf und
sagte, daß er selbst ausgehen wolle, um sich zu erkundigen.  Er habe,
wie sie ja wisse, sich früh niedergelegt und besonders fest geschlafen,
so daß er von allem Spuk nicht gestört worden sei.  Übrigens möge
sie es für sich behalten, denn allerdings sei es gefährlich, von einem
solchen Verbrechen auch nur eine gespenstische Mitwissenschaft
erhalten zu haben.--Darauf zog er sich eilig an und ging in die Stadt
hinaus.

Es war ein Wogen und Treiben auf den Gassen, wie man es selbst bei
hohen Festen der Republik nicht gewohnt war.  Lautlos bewegten sich
aus der inneren Stadt hastige Züge von Neugierigen durch die engen
Straßen fort nach dem Markusplatze zu, und wer sich nicht anschloß,
stand wenigstens draußen an der Tür seines Hauses und wechselte mit
vorbeieilenden Bekannten beredte Zeichen und Blicke.  Man sah es
diesen Menschen an, daß etwas Unerhörtes und Furchtbares sie zugleich
aufgeregt und betäubt hatte, daß sie alle planlos dem allgemeinen Zuge
folgten, begierig, das Ereignis vor allem mit Augen zu sehen und mit
Händen zu greifen.  Niemand redete laut, niemand lachte, pfiff oder
seufzte auch nur vernehmlich; es war, als fühlten diese ehrsamen
Bürger die Pfähle wanken, auf denen die Lagunenstadt gegründet ward.

In scheinbar nachlässiger Haltung schritt Andrea unter dem Volk hin,
den Hut tief über die Augen gedrückt, die Hände auf den Rücken gelegt.
Nun trat er auf den Markusplatz hinaus, wo in unzähligen Gruppen alle
Stände durcheinander gemischt unter dem reinen Sommerhimmel sich
geschart hatten, während unter den Hallen der Prokurazien der Strom
weiterfloß, der Piazetta zu, bis draußen an das breite Becken des
Kanals, das von den beiden Säulen beherrscht wird.  Der alte
Dogenpalast stieg majestätisch über dem Gewühl empor.  Man sah hinter
den Bogenfenstern und in den Arkaden Waffen blinken, und ein Trupp
Soldaten hatte am Eingang Posto gefaßt, Spalier bildend und jedem die
Wehr vorhaltend, der, ohne zum Großen Rat zu gehören, in das Innere
Einlaß suchte.  Denn oben in der weiten Halle, deren Wände mit den
Großtaten der Republik ausgemalt sind, saß die Blüte des Adels in
geheimer Beratung beisammen, und die Menge, die unten scheu vor den
schweren Pfeilern des alten Baues vorüberwallte, schien ungeduldig das
Ergebnis dieser Sitzung abzuwarten; so oft ein Nobile sich am Fenster
blicken ließ, entstand ein Murmeln und Deuten und Hinaufstarren, als
werde jeden Augenblick das Urteil über den unentdeckten Frevler vom
Balkon herab verkündigt werden.  Auch Andrea, der das lange Viereck
des Platzes einsam durchmessen hatte, näherte sich jetzt dem
Dogenpalast und warf im Vorbeigehen einen Blick in die Kirche von San
Marco, wo er Kopf an Kopf bis zu den Pforten hinaus die Menschen
stehen und der Predigt lauschen sah.  Dann bahnte er sich mühsam einen
Weg nach den beiden Säulen und stand in düsteren Gedanken am Kai der
Piazetta, vor sich die wimmelnde Menge der schwarzen Gondeln, deren
stählerne, gezahnte Schnäbel bei jeder Wendung ihre Sonnenblitze über
die Wellen warfen.  Auch die Riva degli Schiavoni, die zu seiner
Linken lag, war dicht gedrängt von erwartungsvollen Menschen.  Über
dem Turban des Türken tauchte der rote griechische Fes, die malerische
Mütze der Schiffer von Chioggia, der dreieckige Hut und die gepuderte
Perücke auf, und man hörte gleicher Weise die verschiedensten Zungen
durcheinander schwirren, während vom Wasser herauf die eintönigen
Anrufe der Gondoliere auch dem Blinden sagten, daß der große Kanal
Venedigs zu seinen Füßen floß.

Eine offene Gondel, von zwei Dienern in reicher goldgestickter Livree
gerudert, flog vorüber; eine Dame lag nachlässig auf den breiten
Polstern, das Haupt in die Hand gestützt.  Das Feuer eines großen
Diamantringes spielte aus dem rötlichen Glanz ihrer Haare hervor; ihre
Augen ruhten auf dem Gesicht eines jungen Mannes, der ihr gegenüber
saß und eifrig zu ihr sprach.  Sie hob jetzt den Kopf und musterte mit
einem stolzen Blick das Menschengewoge droben auf der Piazetta.  Das
ist die blonde Gräfin, hörte Andrea im Volke sagen; er hatte sie
längst erkannt.  Zusammenfahrend, wie wenn schon ihr Anblick Verderben
brächte, wandte er sich ab.  Da sah er in ein bekanntes Gesicht, das
ihm vertraulich zunickte.  Samuele stand hinter ihm.

Seid ihr auch einmal unter Menschen, Herr Delfin? raunte ihm der Jude
mit seiner dünnen Stimme zu.  Vergebens habe ich Euer Gnaden all die
Tage her wieder zu begegnen gesucht.  Ihr lebt eingezogener, als eine
Frau in den Wochen.  Wenn ihr wollt mitgehen, wohin mich meine
Geschäfte rufen, so hätt' ich Euch zu sagen, was Ihr vielleicht gern
hört.  Kommt!  Was steht Ihr hier, wie die anderen Narren, die da
glauben, im Großen Rat würde das Heil der Republik zur Welt gebracht?
Die Ratten im Schiff machen es nicht flott, wenn es aufgefahren ist.
Die wahren Lotsen haben jetzt besseres zu tun, als zu schwatzen.  Aber
gehen wir von hier fort, ich habe Eile, und in der Gondel reden wir
bequemer.

Er winkte eine von den Mietgondeln heran und zog Andrea am Arm sich
nach.  Sie stiegen ein und setzten sich unter das schwarze Dach, links
und rechts durch die Öffnungen der engen Kajüte den Kanal überblickend.
Was habt Ihr mir zu sagen, Herr? begann Andrea.  Und wohin führt Ihr
mich?  Geht morgen früh nicht zu Eurem Notar, sagte der Jude.  Es wäre
möglich, daß Ihr zu einem Gang abgeholt würdet, der Euch mehr eintrüge.

Was meint Ihr, Samuele?

Ihr wißt, was die Nacht geschehen ist, fuhr der andere fort.  Es ist
unerhört, daß zwölf Stunden nach einem Mord in Venedig vergehen und
noch keine Spur gefunden ist, wer ihn begangen hat.  Wir sind um
unseren Kredit gekommen bei der Signoria, beim Volk, bei den Fremden,
die von der Polizei hier zu Lande Wunder geglaubt und Zeichen erwartet
haben.  Der Rat der Zehn findet, daß er schlecht bedient wird.  Er
wird sich nach neuen Augen umtun, die besser in alle Winkel dringen.
Eure Augen, Herr Delfin, möchten, wenn Ihr noch denkt wie vor zehn
Tagen, bald eine feinere Schrift zu lesen bekommen, als die Akten
Eures Herrn Notars.  Darum haltet Euch zu Haus morgen früh.  Wenn es
was ist und ich kann ein Wort für Euch anbringen, soll es mich freuen.

Mein Sinn ist noch nicht verändert; aber fast zweifle ich an meinen
Fähigkeiten.

Husch, husch! sagte der andere und schüttelte den Zeigefinger.  Ich
müßte Gesichter nicht kennen, oder Ihr habt Eures in Eurer Gewalt, und
wer verbergen kann, was er denkt, hat schon halb erraten, was für
Gedanken andere zu verbergen suchen.

Und wer entscheidet, ob man mich brauchen kann oder nicht?

Ihr müßt Euch prüfen lassen vor dem Tribunal; ich kann nichts tun, als
sagen, daß ich Euch kenne und Euch Talente zutraue.  Bis morgen, denk'
ich, wird das Tribunal vollzählig sein; die Zehn sitzen eben zusammen
und wählen den dritten Mann.  Ich kann sagen, daß man mir geben könnte
viel Geld, daß ich sollte Staatsinquisitor werden--ich dankte für die
Ehre.  Denn die Inschrift auf dem Dolch ist nicht so für die
Langeweile eingraviert, und der Soldat auf der Pulvermine ißt sein
Brot ruhiger als einer der drei Herren Venedigs seit gestern nacht.

Dennoch ist wohl kein Zweifel, daß der Erwählte das Amt antritt?  Oder
darf er ablehnen?

Ablehnen!  Wißt Ihr nicht, daß die Republik jeden schwer bestraft, der
sich einem Amt entzieht?

Andrea schwieg und sah finster durch die Luke auf die Fläche des
Kanals.  Eine unabsehliche Menge schwarzer Gondeln fuhr in derselben
Richtung zwischen den hohen Palästen hin, und vom Rialto her kam eine
nicht geringere Zahl ihnen entgegen.  Beide Züge trafen jetzt
aufeinander und drängten sich um eine breite Wassertreppe, wo sie um
die Wette anfuhren und ihre Herrschaften landeten.  Es war der Palast
Venier, und droben lag der Tote.

Ein Blick zeigte Andrea, wo sie waren.  Gewaltsam beherrschte er seine
Bewegung und sagte: Habt Ihr hier zu tun, Samuele, oder ist es bloß
die Neugier, einen ermordeten Staatsinquisitor auf dem Paradebett zu
sehen?

Ich bin im Dienst, erwiderte der Jude.  Aber auch Euch kann es
nützlich sein, mitzugehen.  Ich werde Euch mit einigen meiner Freunde
bekannt machen, denn der Zehnte hier weiß, was er sucht.  Aber wir tun,
als kennten wir uns nicht.  Wißt Ihr, daß ich wetten möchte, von den
Verschworenen seien nicht wenige unter diesen Beileidsgesichtern?  Wer
weiß, ob der Täter nicht selbst eben aus einer dieser Gondeln steigt!
Er wäre nicht dumm, wenn er sich hier sicherer glaubte, als irgend wo
sonst.  Denn zu dieser Stunde, kann ich Euch sagen, durchsucht die
Polizei, während alles im Freien ist, die Häuser, die ihr jemals
verdächtig waren, und das Sprichwort ist wahr: Der Teufel lehrt es zu
tun, aber nicht, es zu verbergen.

Mit diesen Worten sprang er aus der Gondel und half Andrea
dienstfertig aussteigen.  Ist es Euch unheimlich, einen Toten zu
sehen? fragte er.  Ihr seid nicht wohl aufgelegt.

Ihr irrt, Samuele, antwortete Andrea rasch und sah ihm gleichmütig ins
Gesicht.  Ich bin Euch vielmehr dankbar, daß Ihr meiner Trägheit zu
Hilfe gekommen seid.  Ohne Euch wäre ich schwerlich hier.  Laßt uns
hinaufgehen, um dem großen Herrn, der uns im Leben schwerlich
vorgelassen hätte, unseren Besuch zu machen.  Eine stattliche Wohnung,
die er so hastig mit einem engen Kämmerchen vertauschen muß!  Er tut
mir leid, in der Tat, obwohl ich ihn nie mit Augen gesehen habe.

Sie stiegen unter einem großen Andrang nebeneinander die
schwarzverhangene Treppe hinauf, von deren Höhe das umflorte Wappen
des Hauses Venier heruntersah und statt jedes Pförtners der Menge
Stille gebot.  Drinnen in dem größten Saal war der Katafalk unter
einem Baldachin errichtet, Zypressenbäume ragten bis an die hohe Decke,
Kerzen auf silbernen Kandelabern flackerten im Luftzug, der über den
offenen Balkon vom Wasser herauf durch die Halle strich, und vier
Diener des Hauses Venier in schwarzem Samt, die blanken Hellebarden
mit Flören umwickelt, hielten wie Standbilder an den Ecken des
Totengerüstes die Wache.  Über den Leichnam war eine samtene Decke
gebreitet; die silbernen Fransen hingen bis auf den Boden herab.  Der
Tote zeigte den Eintretenden das scharfe Profil, mit einem zornigen
und traurigen Ausdruck das geschlossene Auge gegen den Baldachin
gekehrt.  Andrea erkannte diese Züge wieder.  Er hatte sie im Zimmer
Leonoras in jener Nacht sich tief ins Gedächtnis geprägt.  Aber kein
Zucken seines Mundes noch der Augen, die scharf auf den Toten
gerichtet waren, verriet, daß der Rächer vor seinem Opfer stand.-Eine
Stunde später kam Andrea nach Hause.  Frau Giovanna empfing ihn oben
an der Treppe mit einer fast mütterlichen Sorge, und auch Marietta
schien unruhig auf ihn gewartet zu haben.  Sie erzählten ihm, daß die
Sbirren in seiner Abwesenheit sein Zimmer durchsucht, aber alles in
bester Ordnung gefunden hätten, übereinstimmend mit dem Zeugnis,
welches sie selbst, die Wirtin, ihrem Mieter ausgestellt habe.  Die
ruhige Art, in der Andrea ihre Erzählung anhörte, versicherte sie
vollends, daß ihre Angst überflüssig und der Besuch der Polizei mehr
eine Sache der Form gewesen sei.  Eine Menge Warnungen und
Vorsichtsmaßregeln legte die gute Frau ihm ans Herz, wie er sich in
dieser bösen Zeit mit Reden und Handlungen vor jedem Verdacht zu
schützen habe.  Sie werden das Regiment noch verschärfen, seufzte die
Alte, denn sie wissen wohl: eine Katze mit Handschuhen fängt keine
Mäuse, und das ist auch ein wahres Wort, daß die Toten den Lebenden
die Augen öffnen.  Darum seid auf Eurer Hut, teurer Herr, und traut
niemand, der sich an Euch macht.  Ihr kennt die schlimmen Gesellen
noch nicht, wie gutmütig sie sich zu stellen wissen, aber glaubt mir:
man wird nur von dem betrogen, dem man traut.  Geht lieber nicht zu
Tisch in einem Gasthaus, sondern laßt Euch gefallen, daß wir Euch zu
Hause auftragen, was wir vermögen.  Ihr seht angegriffen aus.  Legt
Euch ein wenig aufs Bett; Ihr seid das Herumlaufen nicht gewohnt.

Alle diese Reden begleitete Marietta mit bittenden Blicken und sah,
neben der Mutter stehend, unverwandt in sein blasses, ernstes Gesicht.
Er versicherte, daß ihm wohl sei, bat um Brot und Wein und kam,
nachdem man es ihm gebracht hatte, den Rest des Tages nicht wieder zum
Vorschein.

Früh am anderen Morgen, als er noch im Bette lag, trat Samuele bei ihm
ein.  Wenn Euch darum zu tun ist, sagte er, zum mindesten vierzehn
Dukaten monatlich in die Tasche zu stecken, so kommt mit mir; es ist
alles eingeleitet, und ich denke, Ihr macht den Gang nicht umsonst.

Ist der neue Staatsinquisitor schon gewählt? fragte Andrea.

Es scheint so.

Und noch keine Spur von der Verschwörung?

Noch keine Spur.  Der Schrecken unter dem Adel ist groß.  Sie
verschließen sich in ihren Häusern und sehen in jedem Besucher einen
Spion der Zehn oder des Tribunals.  Einer nach dem anderen von den
fremden Gesandten hat dem Dogen seine Aufwartung gemacht, die
feierlichsten Versicherungen seiner Empörung über die Tat abgelegt und
seine Hilfe zur Entdeckung des Täters angeboten.  Von nun an werden
die drei vom Tribunal sich noch geheimer halten als zuvor, und, wie
ich glaube, soll ein Preis auf den Kopf des Mörders gesetzt werden,
der einen armen Teufel schon für einige Jahre flott machen würde.  Die
Augen auf, Herr Andrea!  Wir beide trinken vielleicht bald einen
besseren Wein zusammen, als damals in jener Kneipe!

Schweigend hatte sich Andrea angezogen und folgte nun seinem Gönner,
der beständig plauderte, nach dem Dogenpalast.  Samuele war hier gut
bekannt.  Er klopfte an eine unscheinbare Tür im Hof, sagte dem Diener,
der öffnete, ein Wort ins Ohr und ließ Andrea auf einer kleinen
Treppe höflich den Vortritt.  Nachdem sie droben einen langen,
helldunkeln Gang durchschritten und einigen Hellebardieren Rede
gestanden hatten, wurden sie in ein nicht gar großes Gemach
eingelassen, dessen Fenster nach dem Hofe ging und mit einer dunkeln
Gardine zur Hälfte verhangen war.  Im Hintergrunde gingen drei Männer
in flüsterndem Gespräch auf und ab, die Gesichter mit Masken bedeckt,
unter denen nur die Spitzen der Bärte hervorsahen.  Ein vierter,
unmaskiert, saß an einem Tisch und schrieb beim Schein einer einzelnen
Kerze.

Er sah auf, als Samuele mit Andrea auf der Schwelle erschien.  Die
drei anderen schienen die Hereintretenden nicht zu beachten, sondern
ihr Gespräch eifrig fortzusetzen.

Ihr bringt den Fremden, den Ihr uns angekündigt habt? fragte der
Sekretär.

Ja, Euer Gnaden.

Ihr könnt abtreten Samuele.

Der Jude verneigte sich gehorsam und verließ das Zimmer.

Nach einer Pause, in welcher der Sekretär des Tribunals einige Papiere,
die vor ihm lagen, überflogen und dann mit einem langen Blick die
Gestalt des Fremden geprüft hatte, sagte er: Euer Name ist Andrea
Delfin; seid Ihr mit den venezianischen Nobili gleichen Namens
verwandt?

Nicht daß ich wüßte.  Meine Familie ist seit Urzeiten in Brescia
ansässig.

Ihr wohnt in der Calle della Cortesia bei Giovanna Danieli; Ihr
wünscht in den Dienst des erlauchten Rates der Zehn zu treten.

Ich wünsche der Republik meine Dienste zu widmen.

Eure Papiere aus Brescia sind in Ordnung.  Der Advokat, bei dem Ihr
fünf Jahre gearbeitet habt, gibt Euch das Zeugnis eines verständigen
und zuverlässigen Mannes.  Nur über die sechs oder sieben Jahre, bevor
Ihr zu ihm kamt, fehlt ein jeder Ausweis.  Was habt Ihr, nachdem Eure
Eltern gestorben waren, in der langen Zeit getrieben?  Ihr habt sie
nicht in Brescia zugebracht?

Nein, Euer Gnaden, erwiderte Andrea ruhig.  Ich war in fremden Ländern,
in Frankreich, Holland und Spanien.  Nachdem ich mein geringes Erbe
aufgezehrt hatte, mußte ich mich bequemen, Bedienter zu werden.

Eure Zeugnisse?

Sie sind mir entwendet worden in einem Koffer, der meine ganze Habe
enthielt.  Ich war dann des unsicheren Reiselebens müde und ging nach
Brescia zurück.  Meine Herrschaften hatten mich zu mancherlei
Sekretärdiensten brauchbar gefunden.  Ich versuchte es bei einem
Advocaten, und Euer Gnaden haben das Zeugnis selbst vor sich, daß ich
zu arbeiten gelernt habe.

Während er dies sagte, in einer stillen, unterwürfigen Haltung, den
Kopf etwas vorgebeugt und den Hut in beiden Händen, trat plötzlich
einer der drei Herren in der Maske näher an den Tisch heran, und
Andrea fühlte einen durchdringenden Blick auf sich gerichtet.

Wie heißt Ihr? fragte der Inquisitor mit einer Stimme, die ein hohes
Alter verriet.

Andrea Delfin.  Meine Papiere weisen es aus.

Bedenkt, daß es Euer Tod ist, wenn Ihr das erlauchte Tribunal
hintergeht.  Erwägt die Antwort noch einmal.  Wenn ich nun sage, daß
Euer Name Candiano sei?

Eine kurze Pause folgte auf dieses Wort, man hörte den Totenwurm im
Gebälk des Zimmers bohren.  Acht forschende Augen waren auf den
Fremden geheftet.

Candiano? sagte er langsam, doch mit fester Stimme.  Warum soll ich
Candiano heißen?  Ich wollt' es wahrlich selbst; denn soviel ich weiß,
ist das Haus Candiano reich und vornehm, und wer diesen Namen trägt,
braucht nicht sein Brot mühsam mit der Feder zu verdienen.

Ihr habt das Gesicht eines Candiano.  Euer Betragen überdies verrät
eine bessere Herkunft, als diese Papiere anzeigen.

Ich kann nichts für mein Gesicht, erlauchte Herren, erwiderte Andrea
mit anständiger Unbefangenheit.  Was mein Betragen angeht, so habe ich
auf Reisen allerlei Sitten gesehen und die meinigen, soviel ich konnte,
verbessert, auch meine Zeit in Brescia nicht verloren, sondern aus
Büchern die Versäumnisse meiner Jugend nachgeholt.

Die beiden anderen Inquisitoren waren indes jenem ersten näher
getreten, und der eine, dessen roter Bart sich breit unter der Maske
vorschob, sagte halblaut: Eine Ähnlichkeit mag Euch täuschen, die ich
nicht wegleugnen will.  Aber Ihr wißt selbst: der Zweig des Hauses,
der bei Marano angesiedelt war, ist ausgestorben; der Alte ist in Rom
begraben, die Söhne überlebten ihn nicht lange.

Mag sein, erwiderte der erste.  Aber seht ihn an und sagt, ob es nicht
ist, als wäre der alte Luigi Candiano, nur verjüngt, aus dem Grabe
erstanden.  Ich hab ihn gut genug gekannt; wir wurden an demselben
Tage in den Senat gewählt.

Er nahm die Papiere vom Tisch und prüfte sie sorgfältig.  Ihr mögt
recht haben, sagte er endlich.  Es würde mit den Jahren nicht stimmen.
Für einen der Söhne Luigis ist dieser zu alt.  Wenn er ihn vor der
Ehe erzeugt hätte--so würde es uns gleichgültig sein können.

Er warf die Papiere wieder hin, gab dem Sekretär einen Wink und trat
mit den anderen in die Fensternische zurück, das unterbrochene
Gespräch leise fortsetzend.  Niemand konnte Andreas Augen anmerken,
welch eine Last in diesem Augenblick ihm von der Seele fiel.  Der
Sekretär begann von neuem.  Ihr versteht fremde Sprachen? fragte er.

Ich spreche Französisch und ein wenig Deutsch, Euer Gnaden.

Deutsch?  Wo habt Ihr das gelernt?

Ein deutscher Maler in Brescia war mein guter Freund.

Seid Ihr je in Triest gewesen?

Zwei Monate, Euer Gnaden, in Geschäften meines Herrn, des Advokaten.

Der Sekretär stand auf und trat zu den dreien am Fenster.  Nach einer
Weile kam er an den Tisch zurück und sagte: Man wird Euch den Paß
eines österreichischen Untertans geben, der aus Triest gebürtig war.
Mit diesem geht Ihr in das Haus des österreichischen Gesandten und
bittet um seinen Schutz, da die Republik Euch auszuweisen drohe.  Ihr
werdet sagen, daß Ihr in früher Jugend Triest verlassen habt und nach
Brescia hinübergegangen seid.  Was auch die Antwort sein möge, dieser
Besuch wird Euch, bei einiger Geschicklichkeit, genügen, um mit dem
Sekretär des Gesandten Bekanntschaft zu machen.  Es ist Eure Aufgabe,
dieses Verhältnis fortzuspinnen und, soviel Ihr könnt, die geheimen
Verbindungen des Wiener Hofes mit den Adeligen Venedigs zu beobachten.
Entdeckt Ihr das Geringste, was Euch Verdacht einflößt, so habt Ihr
es unverzüglich zu melden.

Wünscht das hohe Tribunal, daß ich meine bisherige Stellung bei dem
Notar Fanfani aufgebe?

Ihr ändert nichts in Eurer Lebensweise.  Euer Gehalt beträgt für den
ersten Monat nur zwölf Dukaten.  Von Eurer Geschicklichkeit und
Umsicht hängt es ab, die Summe zu verdoppeln.

Andrea verneigte sich zum Zeichen, daß er mit allem einverstanden sei.

Hier ist Euer deutscher Paß, sagte der Sekretär.  Eure Wohnung ist dem
Palast der Gräfin Amidei benachbart.  Es wird Euch ein leichtes sein,
mit ihrer Kammerfrau ein Verhältnis anzuknüpfen, dessen Kosten Euch
erstattet werden sollen.  Was Ihr auf diesem Wege über die Beziehungen
der Gräfin zu vornehmen Venezianern erfahrt, berichtet Ihr an diesem
Ort.  Die Republik erwartet, daß Ihr treu und gewissenhaft Eure
Aufgabe erfüllt.  Sie verpflichtet Euch nicht durch einen Eid, weil,
wenn die Scheu vor den irdischen Strafen, die wir verhängen, Euch
nicht in der Pflicht zurückhielte, Ihr kein Menschenblut in den Adern
haben müßtet und also auch der himmlischen Gerechtigkeit spotten
würdet.  Ihr seid entlassen.

Andrea verbeugte sich wiederum und wandte sich nach der Tür.  Der
Sekretär rief ihn zurück.

Noch eins, sagte er, indem er ein Kästchen aufschloß, das auf dem
Tische stand.  Tretet heran und betrachtet den Dolch in diesem
Kästchen.  Es sind große Waffenfabriken in Brescia.  Entsinnt Ihr Euch,
dort irgend eine ähnliche Arbeit gesehen zu haben?

Andrea blickte, mit letzter Kraft sich bezwingend, in den Behälter,
den ihm der Sekretär entgegenhielt.  Er erkannte die Waffe nur zu wohl.
Es war ein zweischneidiges Messer, der Griff, ebenfalls stählern, in
Kreuzesform.  Auf der Klinge, vom Blut noch nicht gereinigt, standen
die Worte eingegraben: "Tod allen Staatsinquisitoren".

Nach einer längeren Prüfung schob er mit fester Hand das Kästchen
zurück.  Ich entsinne mich nicht, sagte er, einen ähnlichen Dolch in
den Kaufläden von Brescia gesehen zu haben.

Es ist gut.

Der Sekretär verschloß das Kästchen wieder und winkte ihm mit der Hand,
zu gehen.  Langsam schritt Andrea hinaus.  Die Hellebardiere ließen
ihn passieren; wie im Traum ging er den hallenden Korridor entlang,
und erst als er auf der dunkeln Treppe war, gönnte er sich's, einen
Augenblick auf einer der Marmorstufen niederzusitzen.  Seine Kniee
drohten einzubrechen; der kalte Schweiß bedeckte seine Stirn, die
Zunge klebte ihm am Gaumen.

Als er ins Freie hinaustrat, atmete er tief auf, richtete den Kopf
mutig in die Höhe und nahm seine entschiedene Haltung wieder an.  Am
Portal draußen, das sich nach der Piazetta öffnet, sah er einen Haufen
Volkes dicht beisammen stehen, vertieft in die Lesung eines großen
Anschlages, der an eine der Säulen angeheftet war.  Er trat ebenfalls
hinzu und las, daß vom Rat der Zehn mit hoher Bewilligung des Dogen
eine Belohnung von tausend Zechinen und die Begnadigung eines
Verbannten oder Verurteilten demjenigen verheißen werde, der über den
Mörder Veniers Auskunft zu geben wisse.  Das Volk strömte vor der
Säule ab und zu, und nur einige lauernde Gesichter tauchten beharrlich
immer wieder unter den Arkaden auf und bewachten die Mienen der
Lesenden.  Auch Andrea entging ihnen nicht.  Aber mit der
Gleichgültigkeit eines völlig unbeteiligten Fremden machte er, nachdem
er das Blatt überflogen, anderen Neugierigen Platz und stieg ruhig am
großen Kanal in eine Gondel, die ihn nach dem Hotel des
österreichischen Gesandten bringen sollte.

Als er nach einer längeren Fahrt vor dem ziemlich abgelegenen Palast
ausstieg, der den doppelköpfigen Adler über dem Eingang trug, bewegte
gerade ein hochgewachsener junger Mann den Klopfer am Tor.  Er sah
sich nach der Gondel um, und seine ernsthaften Züge erheiterten sich
plötzlich.  Ser Delfin, sagte er und bot Andrea die Hand, begegnen wir
uns hier?  Kennt Ihr mich nicht mehr?  Habt Ihr den Abend am Gardasee
schon vergessen?

Ihr seid es, Baron Rosenberg! erwiderte Andrea und schüttelte herzlich
die dargebotene Rechte.  Seid Ihr für längere Zeit in Venedig, oder
holt Ihr schon Euren Paß hier ab zur Weiterreise?

Der Himmel weiß, sprach der andere, wann mich mein Stern je von hier
wegführt, und ob ich ihn dann willkommen heißen oder verwünschen werde.
Um meinen Paß jedoch brauche ich niemand zu bemühen, da ich ihn mir
selbst visieren kann.  Denn Ihr müßt wissen, werter Freund, daß Ihr
mit dem Sekretär Seiner Exzellenz des österreichischen Gesandten
sprecht, was ich wahrlich nicht etwa sage, um eine diplomatische Wand
zwischen mich und meinen werten Reisegefährten von Riva zu schieben,
sondern in Eurem Interesse, Bester, da es nicht jedem Venezianer
erwünscht ist, für einen alten Bekannten von mir zu gelten.

Ich habe nichts zu fürchten, sagte Andrea.  Wenn ich Euch nicht lästig
bin, trete ich einen Augenblick bei Euch ein.

Ihr wolltet zu mir, ohne mich zu kennen.  Was Euch der
Gesandtschaftssekretär zu Gefallen tun sollte, wird Euch nun der
Freund umso williger tun, falls es in seiner Macht steht.

Andrea errötete.  Zum ersten Male empfand er jetzt alles Demütigende
der Maske, die er trug, einem freien Manne gegenüber, der ihm nach
einer flüchtigen Begegnung vor mehreren Jahren so freundschaftlich
wieder entgegenkam.  Der Paß des Triestiners, den er in der Tasche
trug, drückte ihn wie ein bleiernes Gewicht.  Aber die Übung, seine
inneren Kämpfe zu beherrschen, ließ ihn auch diesmal nicht im Stich.
Ich wollte nur eine Erkundigung einziehen über ein deutsches
Handelshaus, sagte er, denn ich bin hier in Venedig in der sehr
bescheidenen Stellung eines Schreibers, der sich von seinem Herrn
Notar zu mancherlei kleinen Diensten gebrauchen lassen muß.  Da ich
aber in Brescia nicht viel Besseres war und Ihr dennoch mich nicht zu
gering hieltet, mir Eure und Eurer Mutter Gesellschaft zu gönnen, so
trete ich auch hier dreist mit Euch ein; Ihr müßt mir vor allem sagen,
wie es der trefflichen Frau ergeht, deren ehrwürdiges Bild, ihre
rührende Liebe zu Euch, ihre große Güte gegen mich, mir noch in
lebendigster Erinnerung stehen.

Der Jüngling wurde ernsthaft und seufzte.  Kommt in mein Zimmer, sagte
er.  Wir plaudern dort vertraulicher.

Andrea folgte ihm hinauf, und der erste Blick, den er in das
behagliche Gemach tat, fiel auf ein großes Pastellbild, das über dem
Schreibtisch hing.  Er erkannte die leuchtenden Augen und das reiche
Haar Leonorens.  Aller verführerische Schmelz der Jugend und des
Übermutes lag auf diesen lächelnden Lippen.

Der Jüngling rückte zwei Sessel an das Fenster, durch welches man den
ziemlich breiten Kanal, die malerische Brücke und zwischen den Häusern
drüben die Chorseite einer alten Kirche übersah.  Kommt, sagte er,
macht es Euch bequem.  Soll ich Wein kommen lassen oder Sorbette?
Aber ihr hört nicht.  Ihr seid in dieses unglückselige Bild vertieft.
Wißt Ihr, wen es vorstellt?  Kennt Ihr das Urbild, von dem es nur ein
blasser Schatten ist?  Doch wer in Venedig kennte es nicht?  Sagt mir
nichts von diesem Weibe.  Ich weiß alles, was man von ihr sagt, und
glaube alles, und dennoch versichere ich Euch in allem Ernst, daß Ihr
selbst, wenn Ihr vor ihr ständet, an nichts von alle dem denken,
sondern Gott danken würdet, wenn Ihr Eure fünf Sinne so leidlich
beisammen behieltet.

Ist dieses Gemälde Euer Eigentum? fragte Andrea nach einer Pause.

Nein; es hat einem Glücklicheren gehört, einem schönen jungen
Venezianer, der, wie sie mir selbst gestand, ihr Abgott gewesen.  Der
Unvorsichtige ließ sich einfallen, mir seine Freundschaft anzutragen.
Er büßt dieses Verbrechen in der Verbannung, und meine Strafe ist nun,
daß er mir dieses Bild vermacht hat, und daß ich die Augen des
Originals um ihn habe weinen sehen.

Er stand, während er dies sagte, vor dem Bilde und betrachtete es mit
einem schwärmerisch-traurigen Blick.  Andrea beobachtete ihn mit der
tiefsten Teilnahme.  Er war nicht schön von Gesicht, nur anziehend
durch die Mischung von jugendlicher Sanftheit der Formen und
männlichem Ernst und Feuer seines Mienenspiels.  Auch in den
Bewegungen der hohen Gestalt offenbarte sich Adel und Energie.
Unwillkürlich entfuhr Andrea der Ausruf: Daß Ihr, auch Ihr dieses Weib
lieben könnt, das Euer so wenig wert ist!

Lieben? erwiderte der Deutsche mit einem seltsam düsteren Ton.  Wer
sagt Euch, daß ich sie liebe, wie ich einst in Deutschland geliebt
habe und wie es allein den Namen verdient?  Sagt, daß ich von ihr
besessen bin, daß ich mit Knirschen und Stöhnen ihre Fesseln trage,
und nehmt mein Geständnis hin, daß ich mich dieser Schwäche schäme und
doch in ihr schwelge.  Ich habe es nie vorher gewußt, wie alle
irdische Wonne nichtig ist gegen das Gefühl, sich den Nacken von einem
selbstgewählten Joch wund drücken zu lassen und den gesamten
Mannesstolz um ein Lächeln solcher Augen in den Staub zu werfen.

Sein Gesicht hatte sich gerötet; er bemerkte jetzt erst, daß Andrea
längst von dem Bilde wegsah und ihm tief bekümmert zuhörte.

Ich langweile Euch, sagte Rosenberg.  Sprechen wir von etwas anderem.
Wie ist es Euch indes ergangen?  Warum habt Ihr Brescia verlassen?

Ihr habt mir von Eurer Mutter noch nichts erzählt, lenkte Andrea ein.
Welch eine Frau!  Der Fremdeste fühlt das Verlangen, sie wie eine
Mutter zu verehren.

Redet weiter, sagte der andere.  Vielleicht befreien mich Eure Worte
von dem bösen Zauber, dem ich hier verfallen bin.  Nicht, daß Ihr mir
etwas Neues sagtet.  Aber es von Euch zu hören, welch eine Mutter sie
ist, und welch ein undankbares Kind sie an mir großgezogen hat, bringt
mich vielleicht zu meiner Pflicht zurück.  Werdet Ihr es glauben, daß
ich schon den dritten Brief von ihr habe, in welchem sie mich
beschwört, Venedig zu verlassen und zu ihr nach Wien zu kommen?  Sie
träumt, daß mir hier Unheil bevorstehe.  Das größte, dem ich verfallen
bin, ahnt sie nicht; und doch hält mich sonst nichts hier fest, als
ein Weib, das ich um alles in der Welt nicht in ihre reine Nähe zu
bringen wagte.--Aber nein, fuhr er fort, damit ich mir nicht selbst zu
viel tue: Es wäre in der Tat schwer zu machen, daß ich in diesem
Augenblick mir Urlaub auswirkte.  Mein Chef, der Graf, hat sich
eingeredet, daß ich ihm unentbehrlich sei, und gerade jetzt gibt es
mancherlei zu tun, was ihm selber lästig wäre.  Es ist Euch nicht
unbekannt, daß wir hier unliebe Gäste sind.  Man will die Augen nicht
öffnen nach der Seite hin, von der eine wirkliche Gefahr drohen könnte,
und hätschelt das Vorurteil, als hätte die Macht, die wir vertreten,
die Hand im Spiele bei allem Feindseligen, was in Venedig geschieht.
Ist man doch so weit gegangen, uns für die Ermordung Veniers
verantwortlich zu machen, eine Tat, die ich von Grund meines Herzens
ebenso verabscheue, wie ich ihre Anstifter für kurzsichtige Politiker
halte.--Denn sagt selbst, werter Freund, fuhr er mit rückhaltlosem
Eifer fort, vielleicht nicht ohne die Absicht, einen Fürsprecher mehr
in Venedig zu gewinnen, sagt selbst, ob die geringste Aussicht ist,
das Ziel, den Sturz des Tribunals, auf diesem verbrecherischen Wege zu
erreichen?  Setzen wir die moralische Seite für einen Moment aus den
Augen: Ist es irgend denkbar, daß ein so weit verzweigter Anschlag
hier, in Venedig, so lange geheim bleibt wie er müßte, wenn der Zweck
der Einschüchterung erreicht werden sollte?

Es ist undenkbar, erwiderte Andrea gelassen.  Was drei Venezianer
wissen, weiß der Rat der Zehn.  Umso wunderbarer, daß er diesmal so
schlecht bedient wird.

Und nun setzt den Fall, es gelänge den Verschworenen nach Wunsch, Mord
auf Mord, worauf es ja abgesehen scheint, erreichte die Inquisitoren
trotz des Geheimnisses, das sie umgibt, und endlich fände sich niemand,
der sein Leben an eine so gefährliche Würde wagte--was wäre damit
erreicht?  Eine Aristokratie von so ungeheuerlicher Organisation, wie
die venezianische, bedarf, um zu bestehen, um sich gegen die drohenden
Wogen des Volkswillens zu sichern, des festen Dammes einer
immerwährenden Diktatur, die in sanfteren oder härteren Formen immer
wieder aufgerichtet werden müßte.  Denn wo sind die Elemente, aus
denen eine echte Republik mit freien Institutionen sich bilden könnte?
Ihr habt eine herrschende Kaste und eine beherrschte, Souveräne zu
Hunderten und Pöbel zu Tausenden.  Wo sind die Bürger, ohne die ein
freies Stadtwesen ein Unding ist?  Eure Nobili haben dafür gesorgt,
daß der geringe Mann nie zum Bürgersinn, zum Gefühl der
Verantwortlichkeit und des wahren bewußten Opfers für große Zwecke
herangereift ist.  Sie haben den Plebejern nie erlaubt, sich um
Staatsinteressen zu bekümmern.  Aber weil das Regiment von achthundert
Tyrannen zu schwerfällig, zu uneinig und schwatzhaft ist, um eine
mächtige Wirkung nach außen oder innen zu üben, knechteten diese
Herren sich lieber selbst und beugten sich unter das Joch eines
unverantwortlichen Triumvirats, das wenigstens aus ihrer Mitte
hervorgegangen war.  Sie zogen es vor, ihre eigenen Mitglieder ohne
Gesetz und Recht diesem dreiköpfigen Götzen zum Opfer fallen zu sehen,
als unter dem Schutz von Gesetzen und Rechten zu leben, die sie mit
dem Volk gleichstellen würden.

Ihr sagt diese Sachen, wie sie sind, warf Andrea ein.  Aber müssen sie
so bleiben?

Bleiben--oder sich verschlimmern.  Denn seht, Bester, wie furchtbar
sich die Schneide ihrer Waffe gegen sie selbst gekehrt hat.  Solange
die Republik eine Aufgabe hatte unter den Völkern Europas, solange war
der Druck dieser stehenden Diktatur im Innern durch die Erfolge nach
außen aufgewogen.  Niemals wäre Venedig ohne dieses Zusammenfassen all
seiner Kräfte in der Hand unerbittlicher Tyrannen zu der Blüte
politischer Macht und unermeßlichen Reichtums gediehen, wie wir sie
bis ins vorige Jahrhundert noch im Wachsen finden.  Sobald die Zwecke
wegfielen, die so gewaltsame Mittel allein rechtfertigen konnten,
blieb die nackte Tyrannei in all ihrer Unförmlichkeit übrig und begann,
um nicht müßig zu gehen und sich selbst für überlebt zu halten, nach
innen zu wüten.  Eine Diktatur im Frieden, mag sie von einem oder
dreien ausgeübt werden, ist immer eine Lebensgefahr für jeden großen
oder kleinen Staat.  Hier aber ist die Krankheit zu alt geworden, um
noch Heilung zu finden.  Die Keime des wahren Bürgertums, aus denen
jetzt für die Republik ein neues Leben erwachsen müßte, sind verfault,
durch ein jahrhundertelanges Schreckenssystem, durch das Netz der
ausgesuchtesten Spionenkünste ist alles Vertrauen, alle Geradheit,
Sicherheit und Freiheitsliebe erstickt, und das Gebäude, das so
künstlich und dauerhaft aufgeführt scheint, würde zusammenbrechen,
sobald der Kitt der Furcht aus den Fugen verschwände.

Eure Gründe mögen gut sein, erwiderte Andrea nach einer Pause, aber es
sind Gründe eines Fremden, den es nichts kostet, diese Republik für
ausgelebt und dem Untergang verfallen zu erklären.  Einen Venezianer
möchtet ihr schwerlich überzeugen, daß die Krankheit seiner alten
Mutterstadt nicht wenigstens den letzten Versuch einer Heilung wert
sei.

Ihr aber seid kein Venezianer.

Ihr habt recht, ich bin nur aus Brescia, und meine Stadt hat schwer
unter Venedigs Geißel geblutet.  Dennoch kann ich mich eines tiefen
Mitgefühls mit diesen verzweifelten Männern, die das fressende
Geschwür der geheimen Schreckensherrschaft mit dem Messer
auszuschneiden versuchen, nicht ganz erwehren.  Ob sie ihr Ziel
erreichen, steht in den Sternen geschrieben.  Meine Augen sind schwach,
ich verzichte drauf, diese Schrift zu lesen.

Beide Männer schwiegen und sahen eine Weile durch das Fenster auf den
Kanal.  Ihre Sessel standen dicht nebeneinander.  Die Sonne brannte
herein, ohne daß sie der lästigen Glut auswichen.

Ihr seht, begann endlich lächelnd der Jüngere, daß ich für einen
Diplomaten, und einen, der in Venedig sich die Sporen verdient, noch
viel zu wenig Vorsicht gelernt habe.  Wir haben uns nur einmal gesehen,
und heute sage ich Euch ohne Umschweife, was ich von den hiesigen
Dingen halte.  Aber freilich traue ich mir hinlängliche
Menschenkenntnis zu, um zu wissen, daß ein Geist wie der Eure sich
nicht in den Sold dieser Signoria begeben kann.

Andrea reichte ihm stumm die Hand.  In demselben Augenblick wandte er
das Gesicht und sah wenige Schritte hinter ihnen in unterwürfiger
Haltung seinen Amtsgenossen, Samuele, mitten im Zimmer stehen.  Er
hatte die Tür leise geöffnet und war auf den Teppichen des Zimmers
unter vielen Verbeugungen ungehört herangetreten.  Euer Gnaden, sagte
er jetzt zu Rosenberg gewandt, indem er sich gegen Andrea fremd
stellte, ich bitte zu verzeihen, daß ich bin eingetreten unangemeldet.
Der Herr Kammerdiener war nicht im Vorzimmer.  Ich bringe die
bestellten Juwelen; Sachen, Euer Gnaden, wie sie die schönste Esther
hätte tragen können.

Er holte aus seinen Taschen Schachteln und Kästchen hervor und
breitete seine Waren sorgfältig auf dem Tisch aus, wobei er sichtlich
den jüdischen Händler, den er sonst in seinem Wesen nach Kräften
verleugnete, hervorzukehren suchte.  Während der Deutsche die
Schmucksachen musterte, warf Samuele einen Blick des Einverständnisses
nach Andrea hinüber, der ihm den Rücken kehrte und an das Fenster trat.
Er begriff, was der Besuch des Juden zu dieser Stunde bezweckte.
Der Spion sollte den Spion im Auge haben, der alte Fuchs den Neuling
bei seinem Probestück überwachen.

Indessen hatte Rosenberg eine Halskette mit einem Rubinschloß
ausgewählt und bezahlte den Preis, den der Jude forderte, ohne zu
handeln.  Er warf ihm die Goldstücke hin, nickte ihm, ohne weiter auf
sein Geschwätz zu antworten, seine Entlassung zu und trat wieder ans
Fenster.  Ich sehe es an Eurer Miene, sagte er, daß Ihr mich
bemitleidet und für einen Wahnsinnigen haltet.  In der Tat, ich
handelte klüger, wenn ich dieses blitzende Geschmeide in den Kanal
würfe, statt es um Leonorens weißen Nacken zu legen.  Aber was hilft
mir alle Klugheit gegen diesen Dämon?

Ich bin überzeugt, antwortete Andrea, daß Eure Entzauberung nicht
lange auf sich warten lassen wird.  Aber eine andere Warnung bin ich
Euch schuldig.  Kennt Ihr den Juden näher, der uns eben verließ?

Ich kenne ihn.  Er ist einer von den Spionen, die der Rat der Zehn in
unserem Hause besoldet.  Er ißt sein Brot mit Sünden.  Denn unser
ganzes Geheimnis ist, daß wir ehrlich sind.  Und weil sie dies für
ganz unmöglich halten, gelten wir ihnen für die Gefährlichsten und
Verstecktesten.  Nur um Euretwillen ist es mir unlieb, daß der
Schleicher gerade jetzt hier eintrat.  Er hat gesehen, daß Ihr mir die
Hand gabt.  Ich bürge Euch dafür, daß Ihr, ehe eine Stunde vergeht, im
schwarzen Buch des Tribunals stehen werdet.

Andrea lächelte bitter.  Ich fürchte sie nicht, mein Freund, sagte er.
Ich bin ein friedfertiger Mensch und mein Gewissen ist ruhig.-Vier
Tage waren nach jenem Gespräch vergangen.  Andrea hatte sein gewohntes
Leben fortgesetzt, sich regelmäßig morgens bei seinem Notar
eingefunden und am Abend das Haus gehütet, obwohl ihm jetzt, da er zu
der hohen Polizei in ein nahes Verhältnis getreten war, an dem guten
Leumund in der Straße della Cortesia nicht mehr viel gelegen sein
konnte.

Am Samstag abends erbat er sich den Hausschlüssel von Frau Giovanna.
Sie lobte ihn, daß er eine Ausnahme von seiner Regel mache.  Es sei
heute auch der Mühe wert; die Totenfeier für den erlauchten Herrn
Venier in San Rocco mitanzusehen, würde sie selbst reizen können.
Aber sie scheue das Gedränge, und dann--er wisse wohl, weshalb dieser
Fall ihr ein besonderes Grauen einflöße.

Auch er gehe dem nächtlichen Gewühl lieber aus dem Wege, sagte Andrea.
Es beklemme ihm die Brust.  Er wolle eine Gondel nehmen und nach dem
Lido hinausfahren.

So verließ er die Alte und schlug die Richtung ein, die San Rocco
entgegengesetzt war.  Es war schon acht Uhr, ein feiner Regen trübte
die Luft, hielt aber die Menschen nicht ab, der Kirche drüben über dem
Kanal zuzuströmen, wo die Exequien für den ermordeten Staatsinquisitor
um diese Stunde abgehalten werden sollten.  Dunkle Gestalten, teils in
Masken, teils das Gesicht durch den Hutrand gegen den prickelnden
Regen schützend, eilten an ihm vorbei nach den Plätzen der Überfahrt,
oder nach der Rialtobrücke, und ein dumpfes Glockengetön summte durch
die Luft.  In einer Seitengasse stand Andrea still, zog eine Maske aus
seinem Rock und band sie sich vor.  Dann ging er an den nächsten Kanal,
sprang in eine Gondel und rief: Nach San Rocco!

Die stattliche alte Kirche war schon von unzähligen Kerzen taghell
erleuchtet und eine ungeheure Volksmenge umwogte den leeren Katafalk,
der dunkel mitten im Schiff aufragte ohne Blumen und Kränze.  Nur
ein großes silbernes Kreuz stand zu Häupten, und die schwarze
Decke trug zu beiden Seiten das Wappen des Hauses Venier.  Auf
schwarzausgeschlagenen Sitzen, die durch die ganze Tiefe des Chores
amphitheatralisch hinaufstiegen, hatte der Adel Venedigs Platz
genommen, in einer Vollzähligkeit, wie sie selten auch bei wichtigen
Sitzungen des Großen Rates zustande kam.  Niemand wagte es, zu fehlen,
denn jedem lag daran, daß an der Aufrichtigkeit seiner Trauer um den
Toten nicht der leiseste Zweifel entstände.  Auf einer besonderen
Tribüne saßen die fremden Gesandten.  Auch ihre Reihe war vollzählig.

Aus der Höhe herab bliesen die Posaunen die feierliche Introduktion
eines Requiems, und ein vollstimmiger Chor, von der Orgel begleitet,
stimmte den Klagegesang an, der erschütternd durch die Kirche wallte
und draußen auf dem Platz und weit in die benachbarten Straßen hinein
von dem zuströmenden Volk vernommen wurde.  Der feine Regen, der noch
immer anhielt, die Dunkelheit der Nacht, aus der schon fern die hellen
Steinrosen der Kirchenfenster wundersam hervorglommen, das verstohlene
Schwirren und Summen der Tausende verbreitete ein banges Grausen rings
um die Kirche, dessen nur wenige sich erwehren mochten.  Je näher am
Eingang in den erhabenen Raum, der alles umschloß, was in Venedig groß
und mächtig war, desto andächtiger verstummten alle Lippen.  Aus den
schwarzen Masken, die nach alter Gewohnheit bei Trauer--wie bei
Freudenfesten zahlreich unter der Menge erschienen, sahen nicht wenige
bange Blicke in das helle Portal hinein nach dem Katafalk, der an das
Ende der Dinge und die Hinfälligkeit irdischer Macht noch
vernehmlicher mahnte als die Worte des Gesanges.

In einer Seitenstraße, die damals durch dunkle Arkaden nach dem Platz
von San Rocco mündete, gingen zwei Männer hastig im Gespräch
miteinander.  Sie sahen es nicht, daß im Dunkel der Häuser ein dritter
ihnen auf dem Fuße folgte, in Mantel und Maske sorgfältig versteckt,
der sich bald näherte, bald zurückblickte und ihnen wieder einen
Vorsprung ließ.  Jene anderen trugen die Maske nicht.  Der eine war
ein graubärtiger Herr mit vornehmem Anstand, sein Begleiter schien
jünger und geringeren Standes.  Er horchte aufmerksam auf jedes Wort
des Alten und warf nur zuweilen eine bescheidene Bemerkung hin.

Jetzt kamen sie an eine Stelle, wo aus einem erleuchteten Hause ein
heller Schein über die Gasse fiel.  Unversehens hatte die Maske sie
überholt und spähte, als sie jetzt dicht an ihr vorübergingen, hinter
dem Pfeiler hervor scharf in die beiden Gesichter.  Die Züge des
Sekretärs der Staatsinquisitoren tauchten deutlich für einen
Augenblick aus der Finsternis auf.  Die Stimme des Alten war ebenfalls
im Gemach des Geheimen Tribunals laut geworden.  Sie hatte Andrea
Delfin ins Gesicht gesagt, daß er ein Candiano sei.

Geht nun zurück, schloß der Alte das Gespräch, und besorgt die Sache
ohne Aufschub.  Der Großkapitän ist bei San Rocco beschäftigt, wie Ihr
wißt: aber eine kleine Abteilung seiner Leute genügt, um beide zu
verhaften.  Ihr werdet ihnen einschärfen, daß es ohne Lärm abgehen muß.
Das erste Verhör habt Ihr sofort anzustellen, denn vor Mitternacht
bin ich schwerlich zurück.  Ist etwas Dringendes zu melden, so findet
Ihr mich, nachdem die Feier vorüber ist, bei meinem Schwager.

Sie trennten sich und der Alte schritt durch den einsamen Pfeilergang
dem Platz von San Rocco zu.  Eben verstummte die Musik in der Kirche,
und aller Augen richteten sich auf die Kanzel, die ein schneeweißer
Greis, der päpstliche Nuntius, auf zwei jüngere Geistliche gestützt,
mühsam bestieg, um zu dem versammelten Adel und Volk Venedigs zu reden.
Kein Laut regte sich mehr; die schwache Stimme des Greises begann,
weit vernehmlich, das Gebet, daß der Herr in Gnaden herabsehen und aus
dem Schatz seiner ewigen Weisheit und Barmherzigkeit den bekümmerten
Geistern Trost und Erleuchtung spenden möge, das Dunkel erhellen,
welches Schuld und Arglist dem Auge des irdischen Gerichts entziehe,
und die Werke der Finsternis zu Schanden machen wolle.

Das Amen war kaum verhallt, so erhob sich von dem Portal her ein
murmelndes Geräusch und pflanzte sich blitzschnell durch das Schiff
der Kirche fort und lief bis zu den Sitzen der Nobili hinan, so daß im
Nu die ungeheure Versammlung wie ein aufgewühlter See schwankte und
brandete.  Alle spähten im ersten Moment ratlos nach der Schwelle hin,
über welche das Entsetzen eingedrungen war.  Man sah jetzt durch das
Hauptportal Fackeln in Hast über den dunkeln Platz irren, und während
alles atemlos hinaushorchte, erscholl plötzlich von vielen Stimmen der
Ruf in die Kirche hinein: Mörder!  Mörder!  Rette sich, wer kann!

Ein beispielloser Aufruhr, eine Verwirrung, wie wenn dem Gewölbe der
Kirche jählings der Einsturz drohe, folgte auf diesen Ruf.  Volk und
Patrizier, Geistliche und Laien, die Sänger oben vom Chor, die Wächter
des Katafalks, Männer und Frauen drängten sich blindlings den
Ausgängen zu, und nur der Greis auf der Kanzel droben sah mit
unerschütterlicher Würde auf das angstvolle Gewimmel herab und verließ
seinen Sitz erst, als nur noch das schwarze Gerüst inmitten der leeren
Kirche ihn an das Wort mahnte, das ihm so plötzlich abgeschnitten
worden war.

Draußen aber wälzte sich die entsetzte Menge nach einem Punkt, wo
einige Fackeln mühsam mit Wind und Regen kämpften.  Die Sbirren, die
unter der Führung des Großkapitäns beim ersten Aufzucken des
Ereignisses an jene Stelle geeilt waren, hatten einen regungslosen
Körper im Dunkel der Seitengasse gefunden, dem noch immer das Blut aus
der Seite strömte.  Als die Fackeln herbeikamen, sah man einen Dolch
mit stählernem Kreuzgriff in der Wunde und las die eingegrabenen Worte:
"Tod allen Staatsinquisitoren!", die durch die entgeisterte Menge
halblaut von Mund zu Munde gingen.

Der erste Stoß eines Erdbebens, obwohl die Mahnung furchtbar ist, daß
man auf vulkanischem Boden stehe, erschüttert die Gemüter noch nicht
in den Tiefen.  In den Schrecken mischt sich zu lebhaft Überraschung
und Befremden, ja, wo die Wirkungen nicht allzu fühlbar bleiben, sind
die Menschen, die rasch wieder ins Gleichgewicht zurückstreben, gern
geneigt, um ihrer Ruhe willen lieber an eine Sinnestäuschung zu
glauben.  Erst die Wiederholung des Verderblichen, Unabwendbaren und
Erbarmungslosen widerlegt jeden Glauben an einen Irrtum, jede Hoffnung,
daß nur zufällige Umstände das Ereignis herbeigeführt haben möchten.
Die Wiederkehr der Gefahr verewigt die Furcht und deutet auf eine
unabsehliche Reihe von Schrecknissen hinaus, gegen die weder Mut noch
Feigheit den geringsten Schutz gewähren können.

Eine ähnliche Wirkung übte in Venedig die Kunde von dem zweiten
mörderischen Anfall gegen einen Staatsinquisitor aus.  Denn daß der
Verwundete nichts Geringeres war, hatten die Eingeweihten nicht zu
verheimlichen vermocht.  Niemand konnte sich's verhehlen, daß die
Kühnheit, mit der dieser zweite Schlag geführt worden war, durch das
Gelingen der Tat nur neu angespornt und zum Weiterschreiten auf der
Bahn der Gewalt ermuntert werden mußte.  Zwar hatte dieses Mal der
Dolch, durch ein seidenes Unterkleid abgelenkt, das Opfer nicht
sogleich tödlich getroffen.  Aber die Wunde gefährdete dennoch das
Leben und verursachte jedenfalls einen Stillstand in der Tätigkeit des
Geheimen Tribunals, das ohne Einstimmigkeit seiner drei Mitglieder
keinen Spruch tun durfte.  Seine Herrschaft war also für den
Augenblick gelähmt, und, was wichtiger war, das undurchdrungene
Geheimnis, in das sich die feindliche Macht hüllte, zerstörte den
Glauben an die Allwissenheit und Allmacht des Triumvirats und mußte
zuletzt das Selbstvertrauen und die rücksichtslose Energie seiner
Mitglieder untergraben.

Denn welche Maßregeln der Vorsicht blieben noch übrig, und welche
Mittel geheimer Nachforschung waren noch unerschöpft?  Hatte man nicht
über die Neuwahl des dritten Inquisitors im Rate der Zehn sich
gegenseitig das tiefste Stillschweigen mit schwerem Eide angelobt?
Und dennoch war wenige Tage nachher der Schlag so sicher, so wie vom
Himmel herab gerade auf den Neugewählten gefallen.  Mit argwöhnischen
Blicken sah jeder den anderen an.  Der Gedanke drängte sich auf, daß
im Schoß der Machthaber selbst der Verrat niste, daß die Tyrannen
selbstmörderisch Hand an ihre Herrschaft gelegt hätten.  Man
verhaftete den Sekretär der Inquisition, der mit dem Verwundeten die
letzten Worte kurz vor dem Überfall gesprochen hatte.  Er wurde
peinlich befragt und mit grausamem Tode bedroht.  Auch das war
freilich erfolglos.

Und was hatte die Vermehrung der geheimen Polizei, die massenhafte
Anwerbung neuer Spione unter den Dienern der Nobili und der fremden
Gesandten, in den Gasthöfen, im Arsenal, selbst in den Kasernen und
Klöstern für einen Gewinn gebracht?  Halb Venedig war dafür besoldet,
daß es die andere Hälfte überwachte.  Eine ansehnliche Summe sollte
die geringste Nachricht, die auf die Spur der Verschwörung half,
belohnen.  Man verdreifachte sie jetzt.  Aber man versprach sich, da
man die Verschwörung bei dem Adel suchte, wenig von einer Maßregel,
die nur auf das ärmere Volk berechnet war.  Man tat überhaupt eine
Menge Dinge, nur um den Schein zu retten, als sei man nicht müßig,
obwohl was man tat müßig war.  Es erschienen strenge Verordnungen über
das Schließen der Gasthäuser und Schenken mit dem Eintritt der
Dunkelheit, das Tragen von Masken und Waffen jeder Art wurde bei
schwerer Strafe verpönt, die ganze Nacht hallte der Schritt der Runden
durch die Gassen und hörte man die Gondeln anrufen, die auf den
Kanälen an den Wachtposten vorüberfuhren.  Niemand erhielt einen Paß,
der Venedig verlassen wollte, und am Eingang des Hafens lag ein großes
Wachtschiff, das jedes Fahrzeug anhielt und selbst von den Beamten der
Republik die Parole verlangte, ehe sie passieren durften.

Weit über die Terraferma hin verbreitete sich das Gerücht von diesen
unheimlichen Zuständen, wie gewöhnlich mit der Entfernung wachsend.
Wer eine Reise nach der Mutterstadt vor hatte, schob sie auf.  Wer
sich in eine Handelsverbindung mit einem Venezianer Hause hatte
einlassen wollen, zog es vor, den Ausgang dieser Wirren abzuwarten,
die den Bau der Republik in ihren Grundfesten umzuwühlen drohte.  Der
Rückschlag zeigte sich bald in der Verödung der Stadt, wo alles zu
stocken schien.  Die Nobili verließen nur im dringenden Notfall ihre
Paläste, in denen sie sich, um nicht unwissend an einen der
Verschworenen zu streifen, gegen jeden Besuch absperrten.  Niemand
wußte genau, was draußen vorging, und die abenteuerlichsten Gerüchte
von Verhaftungen, Folter und verhängten Strafen drangen zu den
verschlossenen Türen ins Innere der bangen Familien.  Auch das
geringere Volk, obwohl es klar fühlte, daß es nicht in erster Linie
unter diesen Zuständen litt, und es schadenfroh mit ansah, wie die
Vornehmen in panischem Schrecken sich untereinander scheel anblickten,
konnte sich doch auf die Länge einer beklommenen Stimmung nicht
erwehren.  Es war immerhin lästig, Karten und Wein mit dem Einbruch
der Nacht im Stich zu lassen, von einer jeden Wache, der es einfiel,
nach verborgenen Waffen durchsucht zu werden, und bei dem besten
Gewissen von der Welt keinen Augenblick vor der Tücke falscher
Denunzianten sicher zu sein.

Unter den wenigen, auf deren Leben und Treiben die Schwüle, die über
den Gemütern lag, scheinbar keinen Einfluß übte, befand sich auch
Andrea Delfin.  Er war am Morgen nach der Tat gleich dem anderen Troß
der geheimen Späher von dem Nachfolger jenes unglücklichen Sekretärs,
der ihn in Sold genommen hatte, über seine Beobachtungen um die Stunde
der Tat befragt worden und hatte das Märchen von einer Fahrt nach dem
Lido aufgetischt, bei der er die Absicht gehabt hätte, die Stimmung
unter den Fischern auszukundschaften.  Was er aus dem Hotel des
österreichischen Gesandten und dem Palast der Gräfin mitzuteilen
wußte--unverfängliche Tatsachen, die dem Tribunal längst bekannt
waren--, zeugte wenigstens für seinen Eifer, sich in seine Aufgabe
hineinzuarbeiten.  Sein Freund Samuele hatte nicht versäumt, die
auffallende Vertraulichkeit zu denunzieren, in welcher er den
Brescianer mit dem Gesandtschaftssekretär betroffen hatte.  Ruhig
verantwortete sich Andrea, und die alte Bekanntschaft von Riva her
konnte den Absichten des Tribunals nur förderlich sein.

So verging denn fast kein Tag, an dem er nicht, wenn er mit seiner
Arbeit für den Notar fertig war, seinen deutschen Freund aufsuchte,
dem das Gespräch des ernsten, von geheimem Kummer verdüsterten Mannes
in seiner Abgeschiedenheit von anderem Verkehr nach und nach zum
Bedürfnis wurde.  Er hatte ein unbegrenztes Vertrauen zu Andrea gefaßt,
und wenn er politische Themata ihm gegenüber vermied, geschah es mehr,
weil er bei der Verschiedenheit ihrer Nationalität eine Verständigung
zwischen ihnen nicht hoffen durfte, als aus Besorgnis, daß Andrea
seine Offenheit mißbrauchen möchte.  Er erzählte ihm sogar mit
lachendem Munde, daß er vor ihm gewarnt worden sei als vor einem Spion
des Tribunals.  Die Sorglosigkeit, mit der er täglich die verfemte
Schwelle des fremden Gesandten betrete, falle natürlich auf.

Ich bin kein Nobile, erwiderte Andrea mit gelassener Miene.  Daß ich
keine diplomatischen Verbindungen hier suche, leuchtet den Zehnmännern
ein; sie haben mich bis jetzt nicht einmal einer Warnung gewürdigt.
Euch aber habe ich liebgewonnen und würde mit Schmerzen darauf
verzichten, Euch dann und wann meine unerfreuliche Gesellschaft
aufzudrängen, denn ich bin ein völlig einsamer Mensch.  Selbst meine
brave Wirtin, die mir sonst wohl ein Stündchen mit ihren Sprichwörtern
die Zeit vertrieb, betritt mein Zimmer nicht mehr.  Sie ist krank,
krank an Venedig und den bleichen Schatten, die darin umgehen.

So verhielt es sich in der Tat.  Nach dem zweiten Attentat auf die
Staatsinquisition war Frau Giovanna einen Tag lang tiefsinnig
herumgegangen, und es hatte sich mit der sinkenden Nacht eine immer
wachsende Aufregung bei ihr eingestellt.  Sie war nun fest überzeugt,
daß der Geist ihres Orso der Täter sei; denn nur ein unkörperlicher
Schatten konnte zum zweiten Male den tausend lauernden Augen, die
Venedigs Ruhe bewachten, entgehen.  Sie legte ihre besten Kleider an
und beschloß, da sie nichts Geringeres als einen Besuch ihres
Abgeschiedenen erwartete, die ganze Nacht oben an der Treppe zu seinem
Empfang bereit zu sein.  In rührender Verwirrung der Begriffe hatte
sie eine Lieblingspfeife ihres Mannes auf einem gedeckten Tisch mit
drei Sesseln angerichtet, und war nicht dazu zu bewegen, selbst einen
Bissen zu genießen.  In diesem Zustande verwachte sie den größten Teil
der Nacht.  Erst nachdem das Lämpchen auf dem Flur erloschen war,
gelang es Marietta, die Andrea zu Hilfe rief, die arme Frau wieder ins
Zimmer und zu Bett zu bringen.  Ein Fieber brach aus, nicht gefährlich,
aber lebhaft genug, um täglich mehrere Stunden lang ihr das
Bewußtsein zu rauben.  Andrea sah dem allen in tiefem Mitleiden zu,
und die beweglichen Worte, die der Kranken in ihren Phantasien
entfielen, peinigten ihn sehr.  Er mußte sich sagen, daß er die
Verstörung dieser guten Seele auf dem Gewissen habe, und die traurigen
Blicke Mariettas drückten ihn schwerer als alle blutigen Geheimnisse,
die er mit sich herumtrug.

Mit dieser Last beladen, schlenderte Andrea eines Nachmittags am
Dogenpalast vorbei und stand lange an dem schmalen Kanal, der unter
dem hohen Bogen der Seufzerbrücke dahinfließt.  Wenn seine Entschlüsse
in ihm wankend wurden und er an der Unsträflichkeit des Richteramtes,
das er übernommen hatte, zu zweifeln begann, flüchtete er an diese
Stelle und bestärkte sich durch einen Blick auf die uralten Mauern,
hinter denen Tausende von Opfern einer unverantwortlichen Macht
geseufzt und geknirscht hatten, in dem Glauben an das Recht und die
Not seiner Sendung.

Die Sonne schien mit stechenden Strahlen durch die Septemberdünste,
die vom Wasser aufstiegen.  Dieser Kai, der sonst von Leben wimmelte,
war unheimlich still.  Die finsteren Blicke der Soldaten, die unter
den Arkaden des Palastes auf und ab klirrten, mochte die laute
Munterkeit der Vorübergehenden einschüchtern.  Andrea konnte deutlich
hören, daß aus einer Gondel, die eben an die Piazetta anfuhr, sein
Name gerufen wurde.  Er erkannte seinen Freund, den Sekretär des
Wiener Gesandten.

Habt Ihr Zeit, rief der Jüngling ihm zu, so steigt ein wenig ein und
fahrt eine Strecke mit mir.  Ich bin eilig und möchte Euch doch gern
noch einmal sprechen.

Andrea stieg in die Gondel, und der andere reichte ihm mit besonderer
Herzlichkeit die Hand.  Ich freue mich sehr, mein teurer Andrea, daß
ich Euch zufällig hier antreffen sollte.  Ich wäre ungern ohne
Abschied von Euch gegangen, und doch wagte ich nicht, Euch zu besuchen
oder nach Euch zu schicken, da es ohne Zweifel aufgefallen wäre.

Ihr reist? fragte Andrea fast bestürzt.

Ich muß wohl.  Da lest diesen Brief meiner guten Mutter, und sagt, ob
ich darauf hin noch länger zögern kann.

Er zog den Brief aus der Tasche und gab ihn dem Freunde.  Die alte
Dame beschwor den Sohn, wenn ihm daran liege, daß sie je wieder ein
Stunde Schlaf fände, ohne Aufenthalt zu ihr zu reisen.  Die Gerüchte
aus Venedig, die Stellung, die er dort einnehme und welche ihn mehr
als andere gefährde, der Umstand, daß kaum der dritte seiner Briefe an
sie gelange, sie wisse nicht, durch wessen Schuld--das alles nage an
ihrer Ruhe, und ihr Arzt wolle für nichts stehen, wenn sie nicht durch
einen Besuch ihres Sohnes erst wieder getröstet und beruhigt worden
sei.  Es ging ein Ton grenzenloser mütterlicher Hingebung und tiefen
Kummers durch diese Zeilen, daß Andrea sie nicht ohne Bewegung lesen
konnte.

Und dennoch, sagte er, als er das Blatt zurückgab, dennoch wünschte
ich fast, Ihr reistet nicht gerade jetzt, obwohl ich weiß, daß Eure
Mutter die Stunden zählt.  Nicht darum, weil ich, wenn Ihr fort seid,
völlig verlassen sein und wie ein wandelnder Toter hier zurückbleiben
werde, sondern weil es nicht geraten ist, jetzt aus Venedig zu gehen,
da der Verdacht Euch auf den Fersen folgen wird, Ihr ginget aus
Vorsicht.  Hat man gar keine Schwierigkeiten gemacht, Euch zu
beurlauben?

Nicht die geringsten.  Wie könnte man auch, da ich zur Gesandtschaft
gehöre?

So seid doppelt auf Eurer Hut.  Man hat schon manche Tür in Venedig
zuvorkommend geöffnet, weil der Schritt über die Schwelle in einen
Abgrund führte.  Wenn Ihr mir folgtet, zeigtet Ihr Euch nicht so offen
und unverkleidet hier in der Stadt während der letzten Stunden vor
Eurer Abreise.  Ihr könnt nicht wissen, was man vielleicht anstellt,
dieselbe zu verhindern.--Was soll ich aber tun? fragte der Jüngling.
Ihr wißt, daß die Masken verboten sind.

So bleibt zu Hause und laßt die Würdenträger dieser Republik lieber
umsonst auf Euren Abschiedsbesuch warten.--Und wann werdet Ihr reisen?

Morgen früh um fünf.  Ich denke einen Monat fortzubleiben und
hoffentlich meine Mutter dann beruhigt verlassen zu können.  Nun es
fest beschlossen ist, daß ich mich losreißen soll, bin ich fast schon
ausgesöhnt mit dieser Gewaltkur, obwohl sie mir nicht wenig ins Leben
schneidet.  Vielleicht gelingt es mir, wenn ich die Kreise meiner
Zauberin nur erst einmal durchbrochen habe, ihre Macht für immer
abzuschütteln.  Aber werdet Ihr's glauben, mein Freund, daß ich vor
der Trennung zittere, wie wenn ich sie nicht überstehen könnte?

So ist das beste Mittel, Euch sofort von ihr zu trennen.

Ihr meint, sie vor der Reise nicht wiederzusehen?  Ihr verlangt
Unmenschliches.

Andrea ergriff seine Hand.  Mein teurer Freund, sagte er mit einer
Innigkeit, die er noch stets bemeistert hatte, ich habe kein Recht,
von Euch nur das geringste Opfer in Anspruch zu nehmen.  Das Gefühl
herzlicher Neigung, das mich von Anfang an zu Euch hingeführt hat,
dankt sich selbst reichlich, und ich wage es nicht, im Namen dieser
meiner Freundschaft Euch um etwas zu bitten.  Aber bei dem Bild jener
edlen Frau, deren Liebesworte Ihr mir eben zu lesen gabt, beschwöre
ich Euch: geht nicht mehr in das Haus der Gräfin.  Mehr als alles, was
ich von ihr weiß, ja, was Ihr selbst nicht in Abrede stellt, läßt Euch
meine Ahnung warnen, daß es Euer Unheil ist, wenn Ihr sie nicht in
diesen letzten Stunden meidet.  Versprecht mir's, mein Teuerster!

Er hielt ihm die Hand hin.  Aber Rosenberg schlug nicht ein.  Fordert
kein festes Versprechen, sagte er mit ernstem Kopfschütteln, laßt es
Euch genügen, daß ich den besten Willen habe, Eurem Rat zu folgen.
Aber wenn der Dämon stärker wäre als ich und alles über den Haufen
stürmte, was ich ihm in den Weg legte, so hätte ich den doppelten
Kummer, mir selbst und Euch untreu geworden zu sein.  Ihr aber wißt
nicht, was dieses Weib erreichen kann, wenn sie will.

Sie schwiegen hierauf und fuhren noch eine Weile nachdenklich
miteinander durch die leblose Flut, die träge, wie ein Sumpf, vor dem
Kiel ihrer Gondel zurückwich.  In der Nähe des Rialto begehrte Andrea
auszusteigen.  Er trug dem Jüngling Grüße an die Mutter auf und zuckte
auf die Frage, ob er nach einem Monat noch in Venedig zu treffen sein
werde, finster die Achseln.  Sie hielten sich lange Hand in Hand und
schieden, als die Gondel landete, mit einer herzlichen Umarmung.  Noch
einmal sah das kluge und treuherzige Gesicht des Jünglings aus der
Luke des schwarzen Verdecks hervor und nickte dem Freunde zu, der auf
der Wassertreppe in Gedanken verloren stehen geblieben war.  Beiden
war die Trennung schmerzlicher, als sie sich erklären konnten.

Andrea zumal, der sich seit langem von allen Banden gelöst glaubte,
mit denen der Einzelne sich an Einzelne knüpft, der über dem einen
furchtbaren Ziel, das er sich gesteckt, allen kleinen Lebenszwecken
abgestorben schien, wunderte sich bei sich selbst, wie weh ihm der
Gedanke tat, daß er nun mehrere Wochen sich ohne diesen Jüngling
behelfen müsse.  Bald aber drängte der Wunsch sich vor, daß er ihm
hier nie mehr begegnen möchte, ehe sein Werk gelungen sei.  Er nahm
sich vor, einen Brief an die Mutter zu schreiben, und sie mit
geheimnisvollen Warnungen dergestalt zu drängen, daß sie in die
Rückkehr ihres Sohnes nach Venedig nicht wieder willigte.  Als er
diesen Gedanken gefaßt hatte, fiel eine große Last von ihm.  Er ging
sofort nach Hause, um sein Vorhaben auszuführen.

Aber in seinem grauen Zimmer, wo nie ein Sonnenstrahl hindrang und die
leere Wand des Gäßchens unwirtlich durch das Eisengitter hereinsah,
überkam ihn, sobald er sich zum Schreiben niedersetzte, eine so
heftige Unruhe und Beklommenheit, daß er die Feder hinwarf und hin und
her lief, wie ein Raubtier in seinem Käfig.  Er war sich völlig klar
darüber, daß diese Stimmung nicht aus der Tiefe seines Gewissens
aufstieg, daß keine Furcht, sein Geheimnis verraten und der Rache
überliefert zu sehen, sich in die Verstörung seiner Seele mischte.
Erst an diesem nämlichen Morgen hatte er wieder vor dem Sekretär des
Tribunals gestanden und sich von der völligen Ratlosigkeit der
Gewaltherren überzeugt.  Der verwundete Staatsinquisitor lag noch
immer zwischen Leben und Tod.  Je länger dieser Zustand der Schwebe
dauerte, um so mehr wurde das Dasein des Triumvirates selbst in Frage
gestellt.  Noch ein glücklicher Schlag gegen das wankende Gebäude, und
es lag für alle Zeiten in Trümmern.  Andrea zweifelte keinen
Augenblick, daß die Vorsehung, die ihm bisher die Hand geführt, auch
das Letzte werde gelingen lassen.  Noch niemals war er an seiner
Sendung irre geworden.  Und wenn ihn heute die unbestimmte Ahnung
eines großen Unglücks ruhelos machte, so hatten seine eigenen Taten
und Pläne keinen Anteil daran.

Der Tag dunkelte schon, als er drüben an Smeraldinas Fenster ein
leises Husten hörte, das verabredete Zeichen, daß ihn das Mädchen zu
sprechen wünsche.  Er hatte sie in der letzten Zeit ziemlich
vernachlässigt und knüpfte heute nicht ungern wieder an, teils um
seinen eigenen Gedanken zu entrinnen, teils um durch Neuigkeiten aus
dem Palast der Gräfin sich den Zugang zum Tribunal offen zu halten,
und vielleicht gar zu einem der Inquisitoren hindurchzudringen.  Rasch
trat er ans Fenster und grüßte hinüber.  Die Zofe empfing ihn mit
einer kühlen Herablassung.

Ihr macht Euch rar, sagte sie; es scheint, Ihr habt indessen andere
Bekanntschaften gemacht, die Ihr Eurer Nachbarin vorzieht.

Er versicherte, daß seine Gefühle für sie unverändert seien.

Wenn es wahr ist, sagte sie, so will ich Euch wieder zu Gnaden
annehmen.  Es wäre heute gerade eine gute Gelegenheit, einmal wieder
ungestört miteinander zu plaudern.  Meine Gräfin hat eine
Spielgesellschaft auf den Abend, ein halb Dutzend junger Herren.  Sie
gehen schwerlich vor Mitternacht, und bis dahin könnten auch wir zwei
zusammen kommen, und ich versorgte uns hinlänglich aus der Küche und
vom Kredenztisch.

Ist der Deutsche geladen, von dem du mir erzählt hast, daß die Gräfin
ihn so oft bei sich sieht?

Der? wo denkt Ihr hin!  Der ist so eifersüchtig, daß er keinen Fuß
über die Schwelle setzt, wenn er hier Gesellschaft wittert.
Übrigens reist er fort.  Wir grämen uns eben nicht tot darum.

Andrea atmete auf.  Ich bin um zehn Uhr hier am Fenster, sagte er;
oder soll ich ans Portal kommen?

Sie besann sich.  Tut lieber das, sagte sie.  Der Pförtner ist ja ein
guter Bekannter von Euch, und Eure Wirtin gibt Euch wohl den Schlüssel.
Oder spielt Ihr den Tugendhaften vor der kleinen Marietta?  Wißt Ihr,
daß ich auf das unbedeutende Geschöpf in allem Ernste eifersüchtig zu
werden anfing?

Auf Marietta?

Sie ist in Euch vernarrt, oder ich habe keine Augen im Kopf.  Seht sie
nur an.  Geht sie nicht wie verwandelt einher und singt nicht mehr,
während man sich sonst die Ohren zuhalten mußte?  Und wie manche
Stunde betreffe ich sie darüber, daß sie, während Ihr fort seid, in
Euer Zimmer schleicht und Eure Sachen durchstöbert!

Sie liest in meinen Büchern; ich habe es ihr erlaubt.  Wenn sie nicht
mehr singt, so ist es, weil die Mutter krank liegt.

Ihr wollt sie nur entschuldigen, aber ich weiß genug, und wenn ich
dahinter kommen sollte, daß sie schlecht von mir gesprochen hat, um
Euch mir abspenstig zu machen, so kratze ich ihr die Augen aus, der
neidischen Hexe.

Sie schlug das Fenster heftig zu, und er konnte nicht umhin, ihren
Worten lange nachzudenken.  In früheren Zeiten hätte die Vorstellung,
daß er dem reizenden Mädchen nicht gleichgültig sei, sein Blut zu
schnelleren Schlägen getrieben.  Jetzt ging es ihm nur im Kopf herum,
wie er seinen Weg einzurichten habe, um die ruhige Bahn dieser
arglosen Seele nicht ferner zu kreuzen.  Nachträglich fielen ihm
mancherlei kleine Züge ein, die für Smeraldinas Meinung sprachen.  Er
hatte sie einzeln sich verleugnet.  Ihre Summe mußte er gelten lassen.
Ich muß fort von hier, sagte er bei sich selbst.  Und doch, wo bin
ich so sicher und geborgen, wie in diesem Hause?

Nachts um die bestimmte Stunde fand er sich am Portal des Palastes ein,
der mit hellen Fenstern auf den winkligen Platz hinaussah.  Die Luft
war mondlos und trübe, ein früher Herbst kündigte sich an, und die
wenigen Menschen, die noch auf den Straßen waren, hüllten sich in ihre
kurzen Mäntel.  Andrea, als er stand und wartete, daß man ihn einlasse,
dachte des Abends, da ein anderer Candiano diese Schwelle betreten
hatte, um den Tod davonzutragen.  Er schauderte in sich zusammen.
Seine Hand, die bald darauf von der öffnenden Zofe vertraulich
ergriffen wurde, war kalt.

Sie führte ihn in ihr Zimmer, aber Essen und Trinken, wozu sie ihn
nötigte, war ihm unmöglich, obwohl sie die Tafel ihrer Herrin nicht
geschont und vom Ausgesuchtesten für ihren Freund beiseite gebracht
hatte.  Er entschuldigte sich mit seiner Krankheit, und sie ließ es
gelten, da er sich nicht weigerte, einige Dukaten im Tarok an sie zu
verlieren.  Auch hatte er ihr wieder ein Geschenk mitgebracht, so daß
sie es verschmerzte, auch heute einen so einsilbigen und enthaltsamen
Liebhaber an ihm zu finden.  Sie aß und trank desto eifriger, trieb
allerlei Possen und nannte ihm die Namen der jungen Venezianer, die
zum Spiel bei der Gräfin sich eingefunden hatten.

Da geht es anders her als bei uns, sagte sie; das Gold wird nicht
gezählt, sondern mit der vollen Faust auf die Karte gesetzt.  Habt Ihr
Lust, einmal einen Blick hinein zu werfen?  Ihr kennt ja die Schliche
schon.

Du meinst den Spalt in der Wand?  Aber sind sie denn nicht im Saal?

Nein, im Zimmer der Gräfin.  Der Saal ist nur für große Galatage im
Karneval.

Er besann sich kurz.  Es konnte ihm nur erwünscht sein, seine
Personenkenntnis unter dem Adel zu erweitern.  Führe mich hin, sagte
er.  Ich werde bald genug haben und dir nicht lange untreu werden.

Nur verliebt Euch nicht in meine Gräfin, drohte sie.  Im Punkte der
Eifersucht verstehe ich keinen Spaß, und leider finden manche meine
Herrin schöner als mich.

Er suchte in diesen Ton einzustimmen, und sie gingen scherzend aus dem
Zimmer.  Draußen begegneten ihnen einige Lakaien in Livree, die an dem
Begleiter des Mädchens keinen Anstoß zu nehmen schienen.  Sie trugen
silberne Schüsseln und Teller vorüber und ließen den Weg nach dem
großen Saal frei.  Derselbe war unbeleuchtet wie das erste Mal; aber
nebenan ging es fröhlicher und lauter zu, und Andrea, als er seinen
unbequemen Lauerposten oben auf der Tribüne eingenommen hatte,
erkannte das Gemach kaum wieder.  Die hohen Wandspiegel warfen sich
die Strahlen der Kerzen verhundertfacht zu, und ihre goldenen Rahmen
fingen die Streiflichter auf und schnellten den Widerschein bis an die
Decke.  Dazwischen aber funkelten die Juwelen der schönen Leonora, und
Andrea erkannte deutlich an ihrem Hals die Kette mit dem Rubinschloß,
die sein deutscher Freund von Samuele gekauft hatte.  Der Stein lag
wie ein roter Blutfleck auf der weißen Brust.  Aber ihre Augen sahen
müde und gleichgültig auf die Karten, und wenn sie die Gesichter der
jungen Männer überflogen, war es deutlich wahrzunehmen, daß keiner von
ihnen sie fesselte.  Und doch taten die Gäste ihr Bestes, um
liebenswürdig zu sein.  Sie begleiteten ihre Einsätze mit den
scherzhaftesten Reden und verloren rascher ihr Gold als ihre Laune.
Einer, der bereits alles verspielt zu haben schien, saß auf einem
Sessel zwischen zwei Wandspiegeln und sang schmachtende Barcarolen zur
Laute.  Ein anderer, der eine Weile vom Gewinnen ausruhte, zielte mit
Goldstücken nach den Mustern des Fußteppichs und vergaß, sich nach den
rollenden Zechinen wieder zu bücken.  Dazwischen gingen die Diener mit
Eis und Früchten ab und zu, und ein Bologneserhündchen unterhielt sich
in aller Freundschaft mit dem großen, grünen Papagei, der von seiner
vergoldeten Stange herab zuweilen auf gut Venezianisch drollige Flüche
in die Gesellschaft hineinrief.  Schon wollte der Lauscher oben auf
der Musikbühne sich wieder zurückziehen, da ihm das Bild, in das er
hinuntersah, die peinlichsten Gefühle erregte, als plötzlich durch die
hohe Flügeltür eine stattliche Figur in das Spielzimmer trat, die von
allen Anwesenden mit Befremden begrüßt wurde.  Es war ein ziemlich
bejahrter Herr, der aber sein weißes Haupt noch aufrecht genug auf den
Schultern trug und auch im Gang nichts Greisenhaftes hatte.  Er
musterte mit einem raschen Blick die jungen Leute, neigte sich leicht
vor der Gräfin und bat, sich nicht stören zu lassen.

Ihr verlangt zu viel, Ser Malapiero, erwiderte die Gräfin.  Die
Ehrfurcht dieser Jugend vor den Diensten, die Ihr der Republik zu Meer
und zu Lande geleistet habt, erlaubt nicht, daß wir in Eurer Gegenwart
fortfahren, die edle Zeit so sündlich zu töten.

Ihr seid im Irrtum, schöne Leonora, versetzte der Alte.  Habe ich doch
nur deshalb mich von allem Staatsdienst zurückgezogen und selbst den
großen Rat schon seit Jahren nicht mehr besucht, weil mir der Respekt
der jungen Leute lästig ward und es mich nach ungebundener, fröhlicher
Gesellschaft verlangte.  Wer aber mag sich heutzutage das Herz vom
Wein öffnen lassen, wenn einer vom Rat der Zehn oder gar ein
Staatsinquisitor mit bei Tische sitzt?  Man altert rascher im Amt, und
ich denke noch eine Weile meiner weißen Haare zu spotten und
wenigstens beim Wein jung zu sein, wenn ich auch der Schönheit
gegenüber meine Jahre fühle.

Ihr nehmt es wahrlich in der Artigkeit noch mit diesen jungen Herren
auf, sagte Leonora, die meinen, es gehöre nur ein zierlich
gekräuselter blonder oder schwarzer Bart dazu, um das Recht zu haben,
jeden schönen Frauenmund zu küssen.  Aber ich will den Kredenztisch
hereintragen lassen, um meinem seltenen Gast Willkommen zuzutrinken.

Verzeiht, meine holde Freundin.  Ich komme nicht, um das Gastrecht in
Anspruch zu nehmen.  Nur der Wunsch trieb mich her, Euch unverzüglich
die Nachrichten von Eurem Bruder zu bringen, die durch den Kurier aus
Genua heute abend an mich gelangt sind.  Sie sind so guter Art, daß
ich nicht fürchte, die Heiterkeit der schönen Wirtin zu trüben, und
daher auf Verzeihung rechne, wenn ich Euch diesen edlen Herrn für
einige Augenblicke entführe.  Darf ich hier mit Euch eintreten? sagte
er, auf die Tür zu dem dunklen Saal deutend, auf die er zugeschritten
war.

Andrea zuckte zusammen.  Er begriff, daß er nicht so rasch und
geräuschlos seinen Platz verlassen konnte, um unbemerkt sich
davonzuschleichen.  Und schon öffnete sich die Saaltür, und er hörte
das Kleid der Gräfin hereinrauschen.  Schnell entschlossen legte er
sich platt auf den Boden der hohen Estrade nieder, deren Geländer, so
niedrig es war, ihn dennoch in dieser Lage völlig deckte.  Er hörte
den Schritt des Alten, der Leonoren folgte und die Frage, ob ein
Leuchter hereingebracht werden sollte, verneinte.

Nur zwei Worte habe ich zu sagen, rief Malapiero in das Spielzimmer
zurück.  Niemand der jungen Herren wird Zeit haben, auf mich
eifersüchtig zu werden.

Die Tür schloß sich hinter ihnen, und sie gingen unter der Tribüne auf
und ab.

Was führt Euch her? fragte die Gräfin hastig.  Bringt Ihr mir endlich
die Nachricht, daß Gritti zurückberufen wird?

Ihr habt die Bedingung noch nicht erfüllt, Leonora.  Welches von den
Wiener Geheimnissen habt Ihr dem Tribunal mitgeteilt?

Lag es an mir?  Tat ich nicht alles, was ein Weib nur vermag, und ließ
diesen eigensinnigen Deutschen im Netze zappeln, wie einen Fisch auf
dem Lande?  Aber nie kam ein Wort von Geschäften über seine Lippen.
Und heute reist er ab, wie Ihr wissen werdet.  Ich bin krank vor Ärger,
daß ich soviel Zeit umsonst an ihn verschwendet habe.

Man sähe es lieber, wenn er krank wäre.

Wie das?

Er will fort, man hat ihm den Weg nicht verlegen können.  Aber wir
sind gewiß, daß es der Republik zum größten Schaden gereicht, wenn er
wirklich bis Wien kommt.  Die Vorwände seines Urlaubs sind nichtig.
Der wahre Grund ist, daß er Dinge in Wien zu melden hat, die er selbst
einem geheimen Kurier nicht anzuvertrauen wagt.  Und darum liegt alles
daran, daß die Reise verhindert wird.

So verhindert sie.  Sein Gehen oder Bleiben ist mir völlig
gleichgültig.

Ihr habt das leichteste Mittel in der Hand, Leonora, ihn hier
festzuhalten.

Das wäre?

Ihr sendet ihm jetzt sogleich eine Botschaft, daß er kommen möge, um
Euch weniger grausam zu finden als bisher.  Wenn er dann, wie
unzweifelhaft ist, sich noch in dieser Nacht bei Euch einfindet, so
sorgt Ihr dafür, daß er bald darauf erkrankt.

Sie unterbrach ihn rasch.  Ich habe einen Schwur getan, sagte sie, in
dergleichen Zumutungen nie wieder zu willigen.

Man wird Euch Eures Schwures entbinden und Euer Gewissen beruhigen,
Leonora.  Auch ist die Meinung nicht, daß das Mittel tödlich sein soll;
dies wäre sogar ernstlich zu verhüten.

Tut, was Ihr wollt, sagte sie.  Aber mich laßt aus dem Spiel.

Euer letztes Wort, Gräfin?

Ich hab' es gesagt.

Nun wohl, so wird man dafür sorgen müssen, daß der Reisende unterwegs
verunglückt.  Es ist immer umständlicher und verdächtiger.

Und Gritti?

Von ihm ein andermal.  Erlaubt, daß ich Euch zu Eurer Gesellschaft
zurückführe.

Die Tür des Saales öffnete sich und schloß sich wieder.  Andrea konnte
sich ohne Gefahr aufrichten.  Aber die Worte, die er gehört hatte,
lähmten noch seine Sinne und Glieder.  Er hörte undeutlich durch die
Wand das mutwillige Lachen und die Scherze der jungen Leute; die
furchtbare Nähe, in der hier Tod und Leben, Verbrechen und Leichtsinn
aneinander hinstreiften, sträubte ihm das Haar.  Als er sich mühsam
aufrichtete und die Stufen hinuntertappte, suchte seine Hand
krampfhaft nach dem Dolch, den er im Gewand versteckt immer bei sich
trug.  Seine Lippen waren blutig, so hatte er die Zähne darin
verbissen.

Aber noch war er besonnen genug, Smeraldina wieder aufzusuchen und ihr
in gelassenen Worten zu sagen, daß die Gesellschaft ganz lustig
anzusehen sei; aber er werde nie wieder durch die Spalte schauen, da
er nur mit genauer Not der Entdeckung durch die Gräfin und einen
älteren Gast entkommen sei.  Er hoffe, daß sie es nicht gehört hätten,
wie er bei ihrem Eintritt in den dunklen Saal durch die andere Tür
entschlüpft sei.--Darauf leerte er seine Börse vollends und drang
darauf, sogleich von ihr zu gehen.  Am sichersten sei es, daß sie ihn
auf dem Brett durchs Fenster entlasse, um jedem Verdacht der Gräfin
auszuweichen.  Sie hatte kein Arg dabei, die Brücke war im Nu
geschlagen und er überschritt sie mit festem Fuß, obwohl der Entschluß
zu einer schweren Tat bereits in ihm feststand.  Doch dieses Mal galt
es nicht die große Sache allein, der er sich geweiht hatte.  Es galt,
einen Freund vor feindseliger Tücke zu schützen, einen Sohn der Mutter
wohlbehalten in die Arme zu senden, einen schnöden Verrat des
Gastrechtes durch schnelles Gericht zu verhüten.

Leise trat er auf den Flur seines Hauses und horchte in den dämmrigen
Gang hinaus.  Die Tür seiner Wirtin war geschlossen; aber er hörte
trotzdem ihre Stimme, die aus Fieberträumen heraus sich mit Orsos
Schatten besprach.  Er gewann die Treppe und öffnete unten behutsam
die Pforte.  Die Straße war leer; das ewige Lämpchen leuchtete nicht
weit in die windige Nacht hinüber; aber er kannte die Wege und ging
mit eiligen Schritten durch die nächsten Quergassen über die schmale
Brücke des Kanals, die auf den kleinen Platz vor Leonorens Palast
führte.  Er hatte nirgends eine Gondel gesehen und mußte annehmen, daß
der Alte den Weg nach seinem Hause zu Fuß zurücklegen werde.  Er ersah
sich einen Platz, wo er vorüberkommen mußte.  Ein tiefer, dunkler
Vorsprung eines Türpfeilers schien ihm passend zum Hinterhalt.  Hier
drückte er sich in die Ecke und faßte das Portal des Palastes scharf
ins Auge.

Aber die Hand, die den Dolch gezückt hielt, zitterte stark, und das
Blut schoß ihm so gewaltig zu Herzen, daß er mit höchster Anstrengung
sich zu ermannen suchte.  Was war es, das dieses Mal sich in ihm
auflehnte gegen eine Tat, die er für eine heilige Pflicht, für das
Gebot einer höheren Notwendigkeit hielt?  Er kämpfte hart gegen die
dunklen Stimmen an, die ihn von seinem Posten wegzulocken schienen.
Die Schulter bohrte sich eisern in den Pfosten ein, mit der Linken
lüftete er die Stirn, auf der kalte Tropfen standen.  Halt aus! sagte
er unwillkürlich zu sich selbst.  Vielleicht, wenn der Himmel es
gnädig fügt, ist es das letzte Mal.

Da fiel ihm ein, daß der alte Malapiero ohne Zweifel sich von Dienern
werde geleiten lassen, und augenblicklich begriff er die Unmöglichkeit,
in diesem Fall den Schlag zu führen.  Fast war es ihm lieb, einen
Vorwand zu sehen, weshalb er heute unverrichteter Sache nach Hause
gehen müsse.  Aber indem er schon mit einem Fuß aus der Höhlung der
Türnische heraustrat, öffnete sich drüben das Portal des Palastes, und
in der grauen Nacht sah er die stattliche Figur, in den Mantel gehüllt,
einsam über die Schwelle treten und auf ihn zukommen.  Das weiße Haar
wallte deutlich genug unter dem Hute vor, der rasche Schritt erklang
über den Steinplatten, und sorgfältig hielt sich der späte Wanderer an
den Häusern.  Jetzt näherte er sich dem Hause, in dessen Schatten der
Rächer stand; als ahne er die Nähe einer Gefahr, schlug er den Mantel
vor das Gesicht und hielt die Linke fest am Griff seines Degens, den
er trotz des Waffenverbotes an der Seite trug.  Er ging an seinem
Feinde vorüber, ohne ihn zu gewahren; zehn, zwanzig Schritte weit ließ
ihn jener Vorsprung gewinnen.  Schon näherte sich der Einsame der
Brücke.  Auf einmal hört er einen Fußtritt hinter sich, er wendet sich
um, die Hand läßt den Mantel sinken, aber in demselben Augenblick
bricht seine hohe Gestalt zusammen; der Stahl war ihm tief ins Leben
gefahren.

Meine Mutter, meine arme Mutter! stöhnte der Ermordete.  Dann sank
sein Haupt auf das Pflaster.  Die Augen schlossen sich für immer.

Eine Stille von mehreren Minuten folgte auf diese Abschiedsworte.  Der
Tote lag quer über die Straße ausgestreckt, mit ausgebreiteten Armen,
als wollte er das treulose Leben inbrünstig umfangen.  Der Hut war ihm
von der Stirn gefallen, unter der Verkleidung der weißen Locken
drängte sich das natürliche braune Haar hervor, das jugendliche
Gesicht erschien wie schlafend in der falben Dämmerung der Nacht.  Und
einen Schritt von ihm entfernt an der Wand des nächsten Hauses, starr
wie eine angelehnte Bildsäule, stand der Mörder, und seine Augen
stierten in die regungslosen Züge des Jünglings und mühten sich in
verzweifelter Angst vergebens ab, die entsetzliche Gewißheit sich zu
verleugnen, sich einzureden, daß ein Spuk ihn verblende, daß unter
dieser jungen Larve, die ihm die Hölle vorhalte, sich die Züge jenes
Alten versteckten, der kurz zuvor im Saal Leonorens dem Freund Andreas
einen Hinterhalt bestellt hatte.  Hatte er nicht dieses Freundes wegen
sich geeilt, den Streich zu führen?  Wollte er nicht der Mutter ihren
Sohn wohlbehalten zurücksenden?  Und was hatte der Mann, der dort am
Boden lag, von seiner armen Mutter gelallt?  Warum stand nun der
Richter und Rächer wie ein Verurteilter und vermochte kein Glied zu
regen, obwohl seine Zähne wie in Todesangst klapperten und Frost
seinen Körper schüttelte?

Das Blut, das ihm gegen die Augen tobte, trat zurück und stürzte nach
den Herzkammern.  Seine Blicke erkannten deutlich den Dolch in der
Brust des Toten.  Er las in dem trüben Zwielicht, die Worte auf dem
Heft, die er mit eigener Hand mühsam eingegraben hatte: "Tod allen
Staatsinquisitoren".  Er sprach sie unwillkürlich laut aus, und ließ
seine Augen zwischen der verhängnisvollen Waffe und dem Gesicht des
armen Opfers hin und her gehen, sich sättigend mit dem vernichtenden
Widerspruch zwischen diesen Worten und diesen Zügen.  In furchtbarer
Hast jagten sich die Gedanken an ihm vorbei.  Er war sich plötzlich
über alles klar, was hier geschehen war und nie gesühnt werden konnte.
Kein Wunder hatte mitgewirkt, um das Grauenvolle zur Wirklichkeit zu
machen.  Alles war so ganz natürlich, so wahrscheinlich, ein Kind
mußte es begreifen.  Über Tag hatte sich der Jüngling von seiner
verderblichen schönen Feindin ferngehalten.  Er wollte fort ohne
Abschied.  Er hatte es ihr sagen lassen, und sie war gleichgültig
genug, sich für den nämlichen Abend Gesellschaft zu laden.  Als die
Nacht kam, widerstand er dem heftigen Zwang des Dämons nicht und ging
den gewohnten Weg. Man hatte ihm an der Pforte gesagt, daß er die
Gräfin nicht allein finden würde.  Augenblicklich war er entschieden,
umzukehren.  Und gerade dieser Augenblick hatte genügt, daß sein
einziger Freund sich in den Hinterhalt stellen konnte, um zum Mörder
an ihm zu werden.

Erst als Andrea das alles klar überlegt hatte, mit einer kalten
Hellsichtigkeit, wie sie in allen entscheidenden Stunden, wo jeder
Trost schwindet, dem Menschen nahetritt, löste sich die Starrheit
seines Leibes.  Er stürzte zu dem stillen Schläfer hin, sank knieend
auf das Pflaster und sah ihm dicht ins Gesicht.  Ein irres Lachen, das
wie ein Röcheln klang, entfuhr ihm jetzt, als er die weißen Locken ihm
vom Haupte strich, die ihn so unselig betrogen hatten.  Es fiel ihm
ein, daß er selbst am Nachmittag den Freund gewarnt hatte, sich nicht
offen in den Straßen Venedigs zu zeigen.  Er selbst hatte die Falle
gelegt für sich und seinen Teuren.  Dann riß er ihm das Kleid auf und
fühlte, ob noch ein Rest von Leben im Herzen klopfe.  Er neigte seinen
Mund dicht an die Lippen des Jünglings, ob er noch einen Hauch spüren
könnte.  Alles war still und kalt und hoffnungslos.

In diesem Moment wurde die Pforte des Palastes wieder geöffnet, und
eine hohe Gestalt im Mantel trat heraus.  Der Lichtschein aus dem Flur
fiel auf das weiße Haar des alten Malapiero, der in sein Haus
zurückkehrte.  Andrea sah auf; die schneidende Ironie seiner Lage trat
ihm vor die Seele.  Da ging der Mann, vor dem er Venedig, die wehrlose
Herde des Adels und Volkes, und nicht zuletzt seinen deutschen Freund
zu schützen dachte.  Da kam er einsam genug des Weges heran, nur in
der Maske eines Geheimnisses, das sein Feind durchdrungen hatte;
nichts hinderte, sich auf ihn zu werfen, der Dolch war zur Hand--;
aber dieser Dolch war mit unschuldigem Blut geschändet worden, nichts
mehr unterschied den Richter und Rächer von dem, an welchem er den
Spruch vollziehen wollte, als daß hier ein tückisch blinder Zufall den
Streich geführt hatte, während jene unverantwortlichen Henker ihre
Ziele sicher und unfehlbar vor Augen hatten.

Dieses alles tobte durch Andreas Geist.  Er raffte sich auf, zog den
Dolch aus der Wunde und floh, noch unbemerkt von dem greisen Triumvirn,
im Schatten hin, über die schmale Kanalbrücke seinem Hause zu.  Als
ihm einfiel, daß der alte Malapiero den Toten finden und seinem
unbekannten Mörder Dank wissen würde, daß er ihm eine Mühe gespart,
mußte er die Zähne zusammenbeißen, um nicht wild aufzuschreien.

So kam er an seine Haustür und fand sie offen.  Als er die Treppe
hinaufsah, erblickte er oben, wo sonst die Alte saß, ihre Tochter, die
an der obersten Stufe stand und weit vorgebeugt, beide Arme auf das
Gelände gestützt, hinabspähte.  Kommt Ihr endlich! flüsterte sie ihm
entgegen.  Wo waret Ihr so spät?  Ich hörte Euch fortgehen und konnte
nicht schlafen.

Er erwiderte kein Wort; mühsam erstieg er die Treppe und wollte an ihr
vorbei.  Da sah sie den Dolch, den zu verbergen er durchaus keine
Sorge trug, und plötzlich fiel sie mit einem erstickten Ausruf ihm
gerade vor die Füße.  Er ließ sie liegen und schritt nach seinem
Zimmer.  Kein Mitleiden mit kleinem Menschenweh hatte noch Raum in
seinem Innern.  Er sah nur die Mutter vor sich, die mit Ungeduld ihren
Sohn aus der Fremde zurückerwartete und statt dessen seinen Sarg
empfangen sollte.

Kaum aber hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen, als er
Mariettas Klopfen vernahm und ihre leise Stimme, die ihn um Einlaß bat.

Geh zu Bett, sagte er.  Ich habe nichts mehr mit Menschen zu teilen.
Morgen in der Frühe melde dich im Dogenpalast.  Es sind dreitausend
Zechinen dort abzuholen.  Du kannst sagen, daß einer der Verschworenen
unschädlich sei.  Fürchte nicht, daß man mich lebend ergreift.  Gute
Nacht!

Sie blieb beharrlich an der Tür.  Ich will hinein, sagte sie.  Ich
weiß, Ihr tut Euch ein Leids an, wenn Ihr allein bleibt.  Ihr denkt,
ich könnte Euch verraten, weil ich Euch habe kommen sehen mit dem
Dolch.  O, Ihr seid sicher davor, daß ich Euch Gefahr brächte.  Laßt
mich hinein, seht mir ins Gesicht und dann sagt, ob Ihr mir etwas
Arges zutraut.  Hab ich's nicht lange geahnt, daß Ihr es wäret, den
sie suchten?  Ich sah Euch im Traum mit Blut befleckt.  Aber ich hasse
Euch dennoch nicht.  Ich wußte, daß Ihr unglücklich seid; mein Leben
könnt' ich hingeben, wenn Ihr es verlangtet.

Sie horchte an der Tür, aber es kam keine Antwort.  Statt dessen hörte
sie, wie er an das Fenster trat, das nach dem Kanal ging und sich dort
zu schaffen machte.  Eine tödliche Angst überfiel sie, sie rüttelte an
der Tür, sie rief von neuem, sie beschwor ihn in den rührendsten
Worten, nichts Verzweifeltes zu unternehmen--alles umsonst.  Da es
endlich drinnen ganz still geworden war, stemmte sie sich in
furchtbarer Qual mit den Schultern heftig gegen die Tür und suchte mit
Aufbietung aller Kräfte das Schloß zu sprengen.  Das alte Holzwerk
brach ein, nur der Rahmen hielt stand.  Das Loch, das sie gebrochen
hatte, ließ ihre schlanke Gestalt so eben durchschlüpfen.

Das Zimmer war leer: in allen Winkeln suchte sie ihn vergebens.  Als
sie an das offene Fenster trat, nun nicht mehr zweifelnd, daß er sich
in den Kanal gestürzt habe, wagte sie kaum über das Gesims in die
Tiefe hinabzuspähen.  Aber was sie sah, gab ihr die verlorene Hoffnung
wieder.  Ein Strick hing, an einem festen Haken unterhalb des Gesimses
angeknüpft, an der Mauer draußen herab.  Er reichte bis auf die
Wasserfläche.  Wer sich, unten angelangt, mit den Füßen von der Mauer
abstieß, mußte sich leicht auf die Wassertreppe drüben am Palast der
Gräfin und in die Gondel schwingen können, die dort angekettet zu sein
pflegte.  Heute war sie verschwunden, und dem einsamen Mädchen, das
vergebens die dunkle Schlucht des Kanals hinabschaute, um eine Spur
des Entflohenen zu entdecken, blieb wenigstens die tröstliche
Überzeugung, daß, wenn er sich retten wollte, er keinen sichereren Weg
hätte wählen können.

Daß sie dies glauben sollte, war seine Absicht gewesen.  Er wollte das
Gemüt des unschuldigen Wesens, dem er schon zu viel Kummer gemacht
hatte, nicht mit der ganzen herben Wahrheit belasten, daß es für ihn
keine Rettung mehr gab, da er sich selber nicht zu entfliehen
vermochte.

Noch sah das arme Mädchen aus dem Fenster, und ihre Tränen stürzten
bitterlich in die schwarze Flut unter ihr, als Andrea schon seine
Gondel in den großen Kanal hinaus lenkte.  Die Paläste zu beiden
Seiten ragten dunkel über den Wasserspiegel auf.  Er fuhr an dem Hause
Morosini vorbei, er sah den Palast Venier, und ein Schauder sträubte
ihm das Haar.  Hier lag wie mit einem Ring umschlossen sein Leben vor
ihm; welch ein Anfang und welch ein Ende!-Als er an der Giudecca
vorüberruderte und nun die breite Stirn des Dogenpalastes im Zwielicht
einer trüben Mondsichel vor sich liegen sah, durchzuckte ihn flüchtig
der Gedanke, daß hier die Stätte sei, wo man Verbrechen richte.  Aber
für das seinige waren hier keine Richter zu finden; denn wer darf
richten in eigener Sache?  Und begleitete ihn nicht noch immer die
Hoffnung, daß aus seiner Freveltat dennoch Rettung und Befreiung für
seine Mitbürger erblühen könne, daß vielleicht sogar der Mord des
Unschuldigen, den die Stimme des Volkes unfehlbar dem Tribunal
zuschreiben würde, das begonnene Werk vollenden und das Maß der
Gewaltherrschaft würde überfließen machen?

Er hätte diese Hoffnung selbst zerstört, wenn er sich den Richtern
gestellt, ihre Furcht vor den unsichtbaren Feinden zerstreut, und die
Beschwerden der fremden Mächte von ihnen abgelenkt hätte.

Mit starken Ruderschlägen trieb er die Gondel gegen den Lido hin und
durchschnitt das Hafenbecken, wo die Laternen der Schiffe allein noch
wachten.  Am Eingang des Hafens lag die große Feluke, die seit einer
Woche auch dem kleinsten Fahrzeug auszulaufen wehrte, wenn nicht auf
den Anruf die Parole der Inquisition antwortete.  Andrea hatte gleich
den übrigen geheimen Dienern des Tribunals heute früh das Wort
empfangen.  Ungehindert ließ man ihn ins freie Meer hinaus.

Die See war still.  Nicht mit den Wellen hatte Andrea zu kämpfen, als
er längs dem Ufer mehrere Stunden weit hinruderte.  Aber in der
ruhigen lauen Nacht empfand er seine Qualen nur heftiger, und schlug
dann und wann wie wahnsinnig das Ruder ins Meer, um nur einen anderen
Ton zu hören, als die letzten Worte seines Freundes: "Meine Mutter,
meine arme Mutter."

Es war schon weit über Mitternacht, als er die Gondel ans Land trieb,
hinaussprang und auf ein einsames Kloster zuging, das auf einer
Landzunge stand und den armen Schiffern wohl bekannt war.  Kapuziner
hausten hier, die von den Wohltaten der Chiozzoten und dem Bettel auf
dem Festland lebten und dafür geistlichen Trost spendeten und in
mancher Not dem Volk eine Stütze waren.  Andrea zog die Glocke am Tor.
Bald darauf hörte er die Stimme des Pförtners, die fragte, wer
draußen stehe.

Ein Sterbender, antwortete Andrea.  Ruft den Bruder Pietro Maria, wenn
er im Kloster ist.

Der Pförtner entfernte sich von der Tür.  Indessen setzte sich Andrea
auf die Steinbank, riß ein Blatt aus seiner Brieftasche und schrieb
bei dem Schein einer Laterne, die aus der Pförtnerzelle
hervorschimmerte, folgende Zeilen:

"An Angelo Querini.

"Ich habe den Richter gespielt und bin zum Mörder geworden.  Ich habe
mich der Gerechtigkeit angemaßt, die Gott sich vorbehalten, und Gott
hat mich in meinen eigenen Frevelwahn verstrickt und mich gerechtes
Blut vergießen lassen.  Das Opfer, das ich zu bringen dachte, ist
verworfen worden.  Die Zeit war noch nicht erfüllt, das Priestertum
der Befreiung Venedigs ist anderen Händen vorbehalten.  Oder ist
überhaupt keine Rettung mehr?

"Ich gehe vor das Angesicht Gottes, des höchsten Richters, der auf
seiner ewigen Waage meine Schuld und meine Leiden gerecht abwägen wird.
Von Menschen habe ich nichts mehr zu erwarten; von Euch nur ein
großmütiges Mitgefühl für meinen Irrtum und mein Unglück.

"Candiano."

Die Pforte des Klosters öffnete sich, und ein ehrwürdiger Mönch mit
kahlem Haupte trat zu dem Schreibenden heraus.  Andrea stand auf.
Pietro Maria, sagte er, ich danke Euch, daß Ihr kommt.  Ihr habt dem
Verbannten in Verona meinen Brief gebracht?

Der Greis nickte.

Wenn Euch am letzten Dank eines Unglücklichen etwas gelegen ist, so
bringt auch dieses Blatt sicher in dieselben Hände.  Versprecht Ihr
mir's?

Ich verspreche es.

Es ist gut.  Gott lohne es Euch!  Lebt wohl!

Er nahm die Hand nicht an, die ihm der Mönch zum Abschied reichte.
Ohne Aufenthalt stieg er wieder in die Gondel und fuhr in die offene
See hinaus.  Als der Alte, nachdem er die Zeilen überflogen, entsetzt
ihm nachrief und ihn beschwor, noch einmal umzukehren, antwortete er
nicht mehr.  In höchster Bewegung sah der alte Diener der Republik den
letzten Sproß eines edlen Geschlechtes auf den öden Wellen
hinaustreiben, die sich jetzt, von einem frühen Morgenwinde erregt,
lebhafter kräuselten.  Er überlegte, ob es wohlgetan, ob es überhaupt
möglich sei, den festen Willen des Sterbenden zu kreuzen.  Da erhob
sich in der fernen Gondel die dunkle Gestalt, deutlich erkennbar gegen
den grauen Horizont; der Scheidende schien noch einmal einen Blick
über Land und Meer zu werfen, und nach der Stadt zurückzuspähen, deren
Umriß auf den Nebeln der Lagunen wie auf einer Wolkeninsel schwamm.
Dann sprang er in die Tiefe.

Der Mönch, der sein Ende mit ansah, faltete die Hände und betete still
und inbrünstig.  Er stieg dann selbst in einen Kahn und fuhr ins Meer
hinaus, wo die leere Gondel auf der Brandung tanzte.  Von dem
Unglücklichen, der sie gelenkt, fand er keine Spur.


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Andrea Delfin, von Paul Heyse.





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