Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Stille Kämpfer - Roman
Author: Siebe, Josephine
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Stille Kämpfer - Roman" ***


Hinweise zur Transkription

      Im Original in Antiqua gesetzter Text wird =so dargestellt=.

      Im Original gesperrter Text wird ~so dargestellt~.

      Weitere Hinweise finden sich am Ende des Buches.



STILLE KÄMPFER.

Roman

von

JOSEPHINE SIEBE.



    [Illustration]

Dresden und Leipzig
E. Pierson's Verlag (R. Lincke)
k. k. Hofbuchhändler
1901.

-- ~Alle Rechte vorbehalten.~ --
Unbefugter Nachdruck wird gerichtlich verfolgt.

Druck von E. Pierson's Verlag (R. Lincke) in Dresden.



    [Illustration]


Weit hin dehnt sich das Land, kein Hügel, keine Berge hemmen den
Blick. Wogende Felder, grüne Wiesen, Seen, die wie flüssiges Silber
blinken und hin und wieder ein Stück Wald, darin die weißen Stämme
der schlanken Birken hell hervorleuchten und das alles überspannt vom
tiefblauen Himmel, überflutet von heißem Sonnenglanz.

Auf den Feldern sind die Leute beschäftigt, den goldenen Segen
einzuernten. Der Vogt steht dabei und versucht die Leute mit kräftigen
Fluchworten zu schnellerer Arbeit anzuspornen; nur manchmal hält er
inne, um einen Schluck aus seiner Wudkiflasche zur Stärkung zu nehmen.

Wie Feuer durchrieselt es ihn, immer sengender wird die Glut, nirgends
kühler Schatten, es flimmert und flirrt, tanzt und schwankt um ihn her.
Immer kleiner werden die schwarzen Mongolenaugen, matter die Flüche von
seinen Lippen, schließlich läßt er sich auf einem Feldsteine am Wege
nieder, blinzelt noch ab und zu nach den Leuten hinüber, dann sinkt
der Kopf tief auf die Brust und regelmäßige Atemzüge verraten bald den
Schlaf des treuen Wächters.

»Er schläft,« raunen sich die Arbeiter zu und aufatmend lassen sie die
Sensen sinken, die Frauen hören mit dem Zusammenbinden der Garben auf
und beginnen halblaut mit einander zu schwatzen. --

Auf dem Wege, der dicht an dem Felde vorüber führt, kommt ein Mann
daher in langsamen, gleichmäßigen Schritten, wie einer, dem es nicht
sonderlich eilt. Es ist eine hohe Gestalt mit langherabwallendem,
blonden Bart und kühn geschnittenem Gesicht. Seine einfache dunkle
Kleidung verleiht ihm beinahe das Aussehen eines Priesters.

»Gebenedeit sei der Herr Jesus Christus!« grüßt er laut, als er den
Schnittern nahe ist.

Die Mädchen kichern und die Männer wenden sich verdrossen ab, nur ein
alter Mann erwidert mürrisch den Gruß und sagt:

»Von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen!«

Der Vogt, der von dem Schalle der Stimmen erwacht ist, fährt scheltend
empor.

»Stört der Ketzer, der Tagedieb uns noch in der Arbeit?« dann folgt dem
ruhig Weiterschreitenden eine Flut von Schimpfworten nach, vermischt
mit dem schadenfrohen Lachen der anderen.

Der Gehöhnte findet kein Wort der Erwiderung, aber in seinem Gesicht
liegt der Ausdruck tiefer Bitterkeit und seine grauen Augen streifen
mit wehmütigem Blick die schimmernde Welt um ihn her.

»Immer das alte Lied,« murmelte er. »Haß und Mißgunst auf jedem
Schritt,« und dann hebt er plötzlich mit bittender Geberde die Arme zum
Himmel empor:

»Oh, mein Gott, hilf mir zum Frieden, gieb mir die Kraft dazu, den
Kampf zu bestehen!« Wie eine Bitte und Forderung zugleich, ringen sich
die Worte von seinen Lippen.

Vor dem Wanderer taucht endlich ein Dorf auf, kleine mit Stroh gedeckte
Hütten, hin und wieder ein Haus aus roten Ziegeln, aber nirgends
ein Gärtchen davor, selten nur als Schmuck eine Staude leuchtender
Sonnenblumen oder bunter Malven. Hinter den erblindeten Fenstern kein
Vorhang, höchstens ein Rosmarintopf.

Die Straße, die das Dorf durchschneidet, zeigt Wellenlinien, tief
ausgefahrene Gleise, ab und zu ein großer Stein darin, den aus dem Wege
zu schaffen, sich niemand die Mühe nimmt. -- Gänse und kleine Kinder
vollführen einen hellen Lärm, Schmutz, wohin man sieht, aber alles
überflutet von der leuchtenden Sonne.

Vor seinem Hause sitzt Wolf Schmul; ein Schild über der Thür
verkündet, daß es hier Schnaps, Bier, Seife, Zwirn, Zucker, Heringe
und dergleichen mehr zu kaufen giebt. Er dreht die Daumen und rechnet,
den Gruß des vorübergehenden Mannes erwidert er durch ein verstohlenes
Nicken.

»Der Michael Wisniewski braucht nichts von ihm, warum soll er, Wolf
Schmul, da höflich sein? Aber unhöflich auch nicht, denn der Michael
könnte doch einmal mit ihm ein Geschäft machen,« darum erwidert er
seinen Gruß, es sieht's ja keiner.

In dem Pfarrhause sind die grünen Fensterläden geschlossen, der
Wanderer zögert, wirft einen halb sehnsüchtigen, halb trotzigen Blick
hinüber, dann geht er weiter. Hinter ihm tönt das Gejohle der Kinder
und in angemessener Entfernung folgt ihm die kleine Herde nach.

Endlich sein Heim, er atmet auf!

Von einem Garten umgeben, in dem es blüht in allen Farben, steht
ein kleines, rotes Ziegelhaus, das sich von den anderen nur dadurch
unterscheidet, daß hier spiegelnde Sauberkeit herrscht. Die Thür
schließt sich hinter ihm, aber noch immer ertönt von draußen Geschrei,
und häßliche Schimpfworte fliegen ihm nach, bis eine mächtige Dogge aus
dem Hause tritt und ihr tiefes, zorniges Gebell die Kinderschar von
dannen scheucht.

Der Mann ist über den halbdunklen Flur geschritten und betritt ein
großes Zimmer, das behaglich eingerichtet, nicht den Eindruck einer
Bauernstube macht. Er läßt sich auf einer Bank am Ofen nieder,
seine Züge sprechen von seelischer Ermüdung und wie er so vor sich
niederstarrt, graben sich die Falten auf seiner Stirn immer tiefer ein.

Da wird draußen auf den Fliesen des Flures ein schlürfender Schritt
hörbar, die Thür des Zimmers öffnet sich und ein Mann tritt herein;
der Kopf eines Fanatikers auf einem kleinen, verwachsenen Körper. Er
schreitet auf den am Ofen Sitzenden zu und legt seine Hand auf dessen
Schulter.

»Michael, Michael!« Dieser sieht auf mit leerem, trostlosem Blick.

»Benjamin, hast Du es wieder gehört, wie sie mich verfolgten, wie sie
mich höhnten, mich, den Ketzer, den Ausgestoßenen?«

»Ha, ha!« mit schrillem Lachen sprang er auf, »lache doch mit,
Benjamin, lache doch über mich Thoren, der hier sitzt in der alten
Heimat, der um sie wirbt, wie um eine spröde Schöne. Lache doch mit
mir, Benjamin, über diese Thorheit, über meinen Wahnwitz, daß ich mir
einbilde, ich könne den Leuten hier helfen, sie herausholen aus diesem
Dunst von Aberglauben, Dummheit und Branntwein. Ein Prophet wollte ich
ihnen sein, wollte ihnen den Bann zeigen, in dem sie leben, wollte sie
los lösen aus -- -- ach, was wollte ich nicht alles und was habe ich
erreicht? Was bin ich ihnen? Ein Ketzer, ein Fremdling in der Heimat,
ein Thor, ein rechter Thor,« und er sank wieder auf die Bank und barg
das blonde Haupt in den Händen.

»Fort möchte ich, fort zu dem stillen Frieden des Sanddorfes hinauf, zu
Tabea zurück,« stöhnte Michael.

Es schien, als wachse die Gestalt des Kleinen, ein Ausdruck finsteren
Hasses trat in sein Gesicht, die Augen wurden fast schwarz vor Erregung.

»Fort willst Du, Michael, das begonnene Werk feige im Stich lassen? Du,
ein Auserwählter, reut Dich so schnell der geleistete Schwur? Wehe Dir,
Michael, wenn Du auf halbem Wege umkehrst!« Seine schmale, knöcherne
Hand faßte mit eisernem Druck die Schultern des anderen und schüttelte
ihn:

»Hörst Du, Michael, Du darfst nicht umkehren, darfst dem großen Werke
nicht untreu werden!«

Langsam glitten die Hände von dem Gesicht Michaels und mit finsterem
Blick streifte er den Kleinen. Ein leiser Schauer lief durch seine
Glieder.

»Denkst Du nicht daran, Benjamin, was Vater Abraham sagte von der
Duldung des einen gegen den anderen?«

Dieser schüttelte das Haupt und sagte:

»Vater Abraham ist ein alter Mann, wir sind jung; als ich draußen
in der Welt war, habe ich Spott und Hohn erdulden müssen um meines
Bekenntnisses willen. Da habe ich gelernt, daß nicht die Duldung zum
Ziele führt, nein, der Kampf allein, und ich will kämpfen für meinen
Glauben! Nicht weltfern und verspottet will ich leben, frei vor den
Menschen unsere Lehre bekennen; wie eine Flut, die alles mit sich
reißt, soll sie die Welt überströmen. Wir dürfen nicht nachlassen,
weiter, immer weiter vorwärts schreiten und Du mußt mit, es giebt kein
Zurück, Du mußt Dein Wort halten, hörst Du es!«

Beinahe schreiend stieß der Kleine die letzten Worte hervor, wie
eiserne Klammern gruben sich seine Finger in den Arm des anderen, der
diesen leidenschaftlichen Ausbruch stumm über sich ergehen ließ.

Seine Augen schweiften mit traurigem Ausdruck nach der Ecke des
Zimmers. Dort erhob sich, ein seltener Schmuck in einem Bauernhause, in
weißer, reiner Schönheit eine Kopie von Thorwalsens unvergleichlicher
Christusstatue. Ging's nicht wie ein Hauch seelischen Friedens von der
weißen Gestalt aus? Sehnend streckte Michael seine Arme darnach hin,
da traf Benjamins Blick mit dem seinen zusammen und dieser sagte, den
Freund verstehend, mit schwankender Stimme:

»Wir müssen doch kämpfen, Michael, wenn wir siegen wollen.«

       *       *       *       *       *

Michael Wisniewski war ein Kind des Dorfes, sein Vater Vogt bei Herrn
von Leninski auf Lochowo. Seine Mutter entstammte einer deutschen
Familie, sie hatte lange Jahre bei einem reichen alten Fräulein in der
Kreisstadt gedient, die ihr, wie ihr Mann oft sagte, nur Raupen in den
Kopf gesetzt hatte. Sie hatte von ihrer Herrin vieles gelernt, vieles,
was in ihrem Heimatsdorfe wenig Verständnis fand. Nach dem Tode ihrer
Gönnerin kam sie auf das Gut zu Herrn von Leninski und heiratete dort
bald darauf den Vogt, einen äußerlich stattlichen Mann.

Die stille, sinnige Frau litt schwer unter der rohen Herrschsucht ihres
Gatten, der sich bald nach ihrer Verheiratung dem Trunke ergab.

Es waren wüste Scenen, die Michael aus seiner Kindheit in der
Erinnerung geblieben. Polternd und fluchend kam der Vater oft heim
und es geschah nicht selten, daß er sich dann an Weib und Kind
vergriff. Schweigend ertrug die Mutter alles, sie fand nie ein Wort der
Erwiderung auf die rohen Schimpfreden des Mannes. Michael erinnerte
sich, wie sie sich nach solchen Auftritten oft mit ihm in eine Ecke
geflüchtet hatte und wie dann die heißen Mutterthränen sein Haupt
überströmten. --

Eines Tages fand man sie bewußtlos am Boden liegend, schreiend warf
sich der Knabe über sie und versuchte, sie durch Liebkosungen zu
erwecken. Noch einmal schlug sie die scheuen Dulderaugen auf und
»Friede, ach Friede, der Propst soll kommen,« murmelten die Lippen und
ihr Kind traf ein Blick so herzzerreißend in seinem Jammer, seiner
Liebe, daß er sich dem Knaben unvergeßlich einprägte; dann ging ein
Recken durch den Körper und sie war tot.

Aus der Schenke holten sie den Mann, der fluchend sein Weib noch im
Tode schmähte, bis er endlich einschlief. Neben der toten Mutter
und dem seinen Rausch ausschlafenden Vater saß der Knabe und hielt
Totenwache und grübelte über die letzten Worte der Mutter nach, bis
sich ihm eine Hand auf die Schulter legte und eine ernstfreundliche
Stimme sprach: »Armes, armes Kind!«

Der Knabe sah auf und blickte in das Gesicht des Propstes Ryback,
dem Geistlichen des Dorfes, in dessen Zügen ein eigener, liebevoller
Ausdruck lag. Da vergaß Michael die ehrfürchtige Scheu, die er stets
vor dem Geistlichen gehegt; er legte seinen Kopf an dessen Brust und
weinte seinen heißen, jungen Schmerz an dem Herzen des Priesters aus.

»Ich habe Deiner Mutter gelobt, Dich zu hüten, für Dich zu sorgen,«
sagte der geistliche Herr, mit der Hand das Haupt des schluchzenden
Knaben streichelnd. »Vertraue mir, ich verlasse Dich nicht, und der
Segen Deiner Mutter ist mit Dir.«

Von jener Stunde an war Michael der Schützling des Propstes, sein Vater
hatte schnell eingewilligt, daß dieser die Erziehung des Knaben leiten
sollte. Sonderbarer Weise ging der Vogt seinem Sohne aus dem Wege und
es kam nicht mehr vor, daß er sich an dem Jungen vergriff.

Schon da die Mutter noch am Leben war, hatte Michael wenig mit den
anderen Knaben verkehrt, nun er aber der Schützling des Propstes
geworden, nahm er eine ganz besondere Stellung im Dorfe ein.

»Er wird ein Propst«, dies Wort gab ihm einen höheren Rang vor den
anderen, es schützte ihn, isolierte ihn aber auch. Das kleine,
verwaiste, sich nach Liebe sehnende Herz des Knaben schloß sich nun
ganz in schrankenloser Hingabe seinem Lehrer an, und es war, als würde
auch der Propst in Gegenwart des Knaben ein anderer.

Kalt und streng, beinahe nie ein Lächeln auf dem schmalen, scharf
geschnittenen Gesicht seiner Gemeinde gegenüber, war er für Michael
immer ein gütiger, teilnehmender Freund.

Nichts gab es auch, das dieser dem vergötterten Lehrer verschwieg,
und freundlich mußte er oft der großen Liebe und Anbetung des Knaben
steuern.

Brennend war Michaels Wunsch, dereinst auch ein Priester zu werden, ihm
war es Gewißheit, daß die letzten Worte der sterbenden Mutter denselben
Wunsch bedeuteten.

Seltsam, der Propst sträubte sich anfangs dagegen, aber da er sah,
wie der heranwachsende Knabe keinen anderen Wunsch hegte, gab er nach
und bereitete ihn für das Priesterseminar vor, auf das er ihn nach
einigen Jahren brachte. Einsam blieb Michael auch dort, ein Fremdling
unter seinen Genossen, dabei einer der fleißigsten Schüler, nur
von dem Gedanken erfüllt, seinem väterlichen Freund durch treueste
Pflichterfüllung zu danken.

Es war ein Frühsommertag. In ewig junger Schönheit hatte die Erde
sich geschmückt. Michael Wisniewski, der seit wenigen Tagen aus dem
Priesterseminar zu den Ferien heimgekehrt war, genoß mit frohem
Herzen den Reiz der heimatlichen Erde. Wohl hatte er gelesen, daß
es fremde Länder, andere Gegenden gäbe, die herrlicher anzuschauen
wären; vielleicht wie das arme Aschenbrödel gegen juwelengeschmückte
Königstöchter, verglich er, sich eines deutschen Märchens erinnernd,
welches seine Mutter ihm einst erzählt hatte. Trotzdem aber dünkte ihm
dies Stück flachen Landes schön, wie kein anderes, und in vollen Zügen
atmete er die warme Sommerluft ein.

Am Morgen hatte er in des Propstes Studierstube gestanden und den
Worten des geistlichen Freundes gelauscht. In dem kühlen Zimmer mit
den langen Bücherreihen an der Wand, die dem blöden Dorfjungen einst
so gewaltigen Respekt eingeflößt hatten, bis sie ihre goldene Weisheit
auch vor ihm aufthaten und er die stummen Freunde lieb gewann.

Noch klangen ihm die Worte des Priesters im Ohr:

»Überlege reiflich, mein Sohn, es ist ein schöner, aber auch ein
schwerer Beruf, den Du erstrebst. Fesselt Dich kein Gedanke, kein
Wunsch ans Weltliche? Kannst Du ein Priester sein aus innerem
Herzensdrang, wohl Dir, aber wehe, Michael, wenn Du das Gelübde, das
Heilige, verletzt! -- Nur noch kurze Zeit, dann sollst Du die Weihe
empfangen, darum prüfe Dich selbst. Gehe in Deine stille Kammer oder
gehe hinaus in die herrliche, freie Gottesnatur, erforsche und erfrage
Dein Herz, ob es nichts in der Welt giebt, das Dir begehrenswerter
dünkt, ob es voll und ganz Deinem künftigen Berufe gehört?«

Michael that, wie der Priester ihm geraten. Er fand aber keinen
Gedanken, der ihn von der heiligen Weihe zurückhalten konnte. Vor dem
Muttergottesbilde, das am Wege stand, lag er auf den Knieen und betete
in heißer Inbrunst, bis der Abend herniedersank. Dann schlug er den
Weg nach dem Dorfe wieder ein. Die Seele war ihm erfüllt von heiligen
Schauern, aber mit leuchtenden Augen, wie ein Sieger, schritt er dahin.

Tief senkte sich die Dämmerung schon nieder, als er die Dorfstraße
erreichte. Vor den niedrigen Hütten saßen die Frauen schwatzend
beisammen; in einer großen Pfütze mitten auf der Straße patschten die
nur halb bekleideten Kinder umher, und ihr Lachen und Schreien erfüllte
die Luft.

Aus dem Kruge aber drang wüster Lärm, und Michael hastete, schnell
daran vorbeizukommen, ihm war in seiner weihevollen Stimmung mehr denn
je das tierische Brüllen der Betrunkenen zuwider.

Zwei Männer kamen gerade über die ausgetretene Schwelle des Wirtshauses
gestolpert, und mit jähem Schreck erkannte Michael in dem einen seinen
Vater. Auch der Betrunkene hatte ihn bemerkt und lallte:

»Michael, Goldsohn! kommst gerade recht, wir haben auf den künftigen,
gnädigen Herrn Propst getrunken.« Dabei machte er eine Bewegung, als
wolle er des Sohnes Rock küssen, verlor aber das Gleichgewicht und
taumelte ihm in die Arme. Sein heißer, nach Fusel riechender Atem
schlug demselben ins Gesicht. Blitzschnell tauchte da ein Bild vor des
Sohnes Augen auf, die Mutter klaglos des Vaters Mißhandlungen erduldend.

Zorn und Ekel stiegen siedend heiß in ihm auf, es flimmerte vor seinen
Augen; dieser Niederschlag war zu plötzlich auf die Hochflut seiner
Gefühle gekommen.

»Weg,« keuchte er, dem Trunkenen einen Stoß versetzend, daß er
rücklings zu Boden fiel.

Michael achtete nicht darauf, er eilte davon, denselben Weg, den er
gekommen war, bis er wieder vor dem Muttergottesbilde anlangte und hier
bitterlich weinend niedersank. Er umklammerte das hölzerne Bildwerk und
flehte und klagte, warum, er wußte es selbst kaum, ihm war nur, als
müßte er sich retten vor dem Schmutz, den er soeben geschaut.

Wie lange er so gelegen, er wußte es nicht, mit schmerzender Stirn
erhob er sich endlich und schlug langsam, mit schweren Schritten, den
Weg nach dem Dorfe wieder ein.

Je näher er dem Vaterhause kam, desto schwerer erfaßte ein unnennbares
Angstgefühl seine Seele. Es war eine klare Mondscheinnacht und in
dem zitternden, silbernen Licht lag der Weg hell vor ihm, und in
diesem weißen Licht konnte er deutlich sehen, daß Menschen vor dem
kleinen Hause standen. Als er näher kam, sah er auch, wie sie vor
ihm zurückwichen, die Weiber sich bekreuzigten und die Männer ihn
mit finsteren Blicken maßen. Es hätte kaum der rötlich brennenden
Wachskerzen bedurft, das Mondlicht zeigte es ihm schon; da drinnen in
der Stube das Lager, auf diesem der Mann, den er Vater nannte, die
Hände über der Brust zusammengefaltet, die Augen offen, mit stierem
Blick auf den Sohn gerichtet, die starre Ruhe des Todes über der
Gestalt.

Ein einziger Laut kam über die Lippen des Jünglings, ein Schrei voll
namenloser Qual. Eine Weile noch stand er, mit entsetztem Blicke nach
dem Toten starrend, dann brach er zusammen; ob er es wohl noch hörte,
wie die alte Anuszka aufkreischte:

»Heilige Jungfrau! stehe mir bei, da ist der Mörder!« --

»Der Woiciech Wisniewski ist am Herzschlag gestorben,« erklärte der
dicke Kreisphysikus, der am anderen Tage so gegen Mittag ankam; früher
zu kommen war ihm nicht möglich gewesen.

»Heiliger Anton«, es ist auch eine zu gemütliche Sitzung gewesen in der
kleinen Weinstube des Roman Przybilski, der den besten und feurigsten
Ungarwein führte weit und breit! --

»Da ist eben nichts zu machen, Herr Propst, der Wisniewski ist tot, er
liebte den Wudki zu sehr, ja, das ist das Unglück der Leute!«

Der dicke Herr hob das Glas mit dem funkelnden Wein in die Höhe und
trank bedächtig.

»Heiliger Anton, was führte der Propst für einen guten Tropfen!« --

»Also am Herzschlag gestorben und nicht an den Folgen des Falles, den
er durch die Heftigkeit seines Sohnes gethan hat, ist es so, Herr
Sanitätsrat?«

»Ganz recht, Herr Propst, der Fall hätte den Wisniewski nicht
umgebracht, der Schnaps, der Schnaps ist der Missethäter,« und der
dicke Herr lacht, als erzählte er den köstlichsten Witz.

Der Propst atmet tief auf, als würde eine schwere Last von seiner Seele
genommen.

Bei dem Scheine einer kleinen, trüb brennenden Öllampe sitzt Michael
und hat einen alten, vergilbten Pappkasten vor sich. Er will die
Papiere seines Vaters suchen, mechanisch löst er den Knoten, mit dem
sie zusammengeknüpft, und durchblättert die wenigen Schriftstücke;
die Geburtsscheine, der Trauschein der Eltern, einige verblaßte
Heiligenbilder, in einer kleinen Schachtel ein silbernes Kreuz an einem
schmalen Kettchen, das ist alles, aber da fällt dem Suchenden noch
etwas in die Hände. Ein verschlossener Brief, darauf in verblaßter
Schrift: »An meinen Sohn, wenn er groß ist.«

Ein wehmütiges Lächeln gleitet über Michaels Gesicht, von seiner
Mutter! Er sieht auf die ungelenken Schriftzüge und denkt an die, die
sie schrieb, die in seiner Erinnerung wie eine Heilige vor ihm steht,
und mit stiller Andacht öffnet er diesen letzten Gruß seiner Mutter.

Er liest, liest erst mit inniger Wehmut die Unterschrift, liest dann
mit wachsendem Staunen, mit herzbeklemmendem Entsetzen. Ein Schrei
entringt sich seinen Lippen, die Hand ballt den Brief zusammen und
schleudert ihn weit von sich, dann lacht er, ein heiseres, wahnsinniges
Lachen.

»Lüge, Lüge,« alles um ihn her und der Tote da drüben war sein Vater
nicht, sondern der Mann, den er verehrt wie einen Heiligen, in dem er
das Ideal seiner Knabenträume gesehen und seine Mutter? Da stand es in
dem Briefe, das Bekenntnis ihrer Sünde, darum das schweigende Dulden,
ach mein Gott! Lüge sein Leben, Lüge alles, was er geglaubt, wofür er
gestrebt, was er gehaßt, was er geliebt! --

Der Jüngling barg seinen Kopf in den Händen und ein wildes,
verzweifeltes Schluchzen erschütterte seinen Körper. --

Drei Tage später wanderte Michael Wisniewski aus der Heimat fort wie
einer, dem noch der Schlaf die Sinne umfängt, dem noch der bange,
schwere Traum einer unruhvollen Nacht auf der Seele liegt, so wanderte
er dahin durch die sonnengleißenden Fluren.

Tot alles, was seinem Leben Inhalt gab, herunter gerissen in den Staub,
beschmutzt und zertrümmert jene stolzen Bilder, die er in seinem Herzen
aufgerichtet hatte.

Ein Verkünder des Friedens wollte er werden, ein demütiger Priester
des Herrn, Trost den Armen wollte er bringen; so stolz hatte er sich
gefühlt in seiner Kraft, in der Reinheit seiner jungen Seele.

Vorbei, verloren, unwiederbringlich verloren der glückliche
Kinderglaube! Ach, hätte er noch Thränen gehabt, hätte er den schweren,
dumpfen Schmerz noch lösen können durch heiße, heiße Thränen.

Fremder wurde die Gegend, den Spiegel des Sees sah er nicht mehr
glitzern. Das weiße Schloß des Herrn von Leninski grüßte durch die
grünen Bäume nicht mehr hindurch, weiter, immer weiter führte sein Weg,
aus der Heimat fort in die große, fremde Welt hinein, einer mehr unter
den Tausenden, die über Trümmer dahingehen.

       *       *       *       *       *

Kalter, rauher Herbsttag war es, da brauste der Sturm über das kurische
Haff und erfaßte den kleinen Ewer, dessen Besatzung tapfer versuchte,
des wilden Elementes Herr zu werden.

Eine Weile trieb er ihn hin und her, um plötzlich des Spieles müde, das
Fahrzeug mit kräftigem Stoß, wie eine Nußschale herumzuwirbeln.

Ein Gurgeln, vereinzelte Hilferufe, die in dem Tosen des Sturmes
verhallten; auf dem Wasser schwammen Bretter, zerbrochene Mastbäume,
hin und wieder tauchte ein bleiches Menschengesicht auf, ein Arm, der
versuchte, eine rettende Planke zu erfassen. Aber die Wellen bäumten
sich auf, schlugen über den kämpfenden, schwachen Menschen zusammen,
und der Sturm tobte weiter, wild und übermütig. --

An einer Bucht des kurischen Haffes lag klein, weltfern und weltfremd
ein Dörfchen im Sande, dessen Bewohner an jenem stürmischen Herbsttage
bang auf die erregte See schauten. Da rief eine helle Mädchenstimme:

»Ein Mensch, seht doch ein Mensch!«

Eine Welle warf ihn hin und her wie eine Feder.

»Vater Abraham hilf doch!« Das Mädchen, fast noch ein Kind, hob die
braunen Augen flehend zu einem alten Manne empor.

Dieser nickte nur stumm, wenige kurze Worte und drei Männer bestiegen
ein kleines Fahrzeug.

»Mit Gott,« sagten sie und dann begann der Kampf mit dem Meere, ihm
sein Opfer zu entreißen.

Atemlose Spannung, stille, angstvolle Gebete und dann ein Jubelschrei
aus allen Kehlen. Triefend, aber mit stolzem, festen Schritt kamen die
Männer ans Land, einen in ihren Armen, der bleich und still war.

»Eile, Tabea, rüste ein Bett im Hause, so Gott dem Fremdling das Leben
läßt, soll er Pflege bei uns finden.«

Das Mädchen eilte davon, und bald lag der Gerettete in den bunten
Kissen des großen Federbettes in der Staatsstube des Fischerhauses und
Vater Abraham hob dankend die Augen zum Himmel auf.

»Er lebt!« --

An dem Herd in der Küche, von der Glut des Feuers rosig angehaucht,
stand Tabea und ihre Lippen sprachen auch ein dankbares: »Er lebt, er
lebt!«

Wohl lebte der Fremdling, den der Sturm in das stille Haus in dem
Dorfe auf dem Sande verschlagen hatte, er lebte, aber hitziges Fieber
durchtobte den jungen Körper und Wochen vergingen, ehe Vater Abraham
sagen konnte:

»Er lebt! und so Gott will, wird er gesund am Leib und der Herr gebe,
daß auch die Seele gesunde, denn die Fieberträume haben mir verraten,
wie krank diese arme, junge Seele ist.« -- --

Schon durchwirbelte weißer Schnee die Luft, Wälle von Schnee türmten
sich wie eine Mauer um das Dorf auf dem Sande und das Brausen des
Meeres klang dumpf und drohend, als wolle es den Winter warnen, den
Kampf mit ihm aufzunehmen.

Im hochgetürmten, altmodisch geschnitzten Bette lag Michael Wisniewski
und schlief. Der grüne Kachelofen spendete treulich Wärme und die matte
Wintersonne fiel durch das Fenster grade auf Tabeas dunklen Scheitel.

Das Mädchen saß vor dem Bette, die Hände in dem Schoß gefaltet und sah
mit dunklen, träumerischen Kinderaugen auf den Schlafenden.

»Wenn er erwacht aus dem Schlaf, werden seine Sinne klar sein,«
hatte Vater Abraham gesagt und nun saß das Mädchen und harrte des
Augenblicks, da der Fremdling mit dem schönen, bleichen Gesicht die
Augen öffnen würde. Das junge Herz des Mädchens war voll Mitleid für
den armen blassen Mann, wirr waren die Worte gewesen, die er im Fieber
gesprochen. Oft war Tabea erschrocken zurück gewichen, wenn der Kranke
so geschrieen und wilde Flüche ausgestoßen hatte.

»Seine Seele ist krank,« so hatte Vater Abraham gesagt und das Mädchen
hatte still gefleht:

»Ach, heiliger Gott, gieb ihm auch die Gesundheit der Seele wieder.«

       *       *       *       *       *

Stille Leute waren es, die in dem Dorfe auf dem Sande wohnten; aus
fernen Landen waren ihre Vorfahren, verfolgt um ihres Glaubens willen,
hierher geflüchtet, hatten hier ihre Heimat gegründet und lebten
weltfern, treu an dem alten Glauben haltend, bei einander.

Vater Abraham, in dessen Haus der Sturm Michael Wisniewski verschlagen
hatte, war der Älteste der Gemeinde und genoß hohes Ansehen, nicht
allein bei den Seinen, nein, auch aus den Dörfern, die hinter den
Sandwällen im blühenden Lande lagen, kamen die Leute zu dem alten
Mennoniten und holten sich manch' guten Rat.

Hell flackerte das Feuer in dem großen Kachelofen, vor dem Michael,
sorgsam in Decken eingehüllt, saß, knisternd sprühten die Funken und
eine trauliche Wärme umgab den Kranken. Rötliches Licht lag schimmernd
auf den altmodischen Möbeln und auf den blitzenden Kannen und Krügen,
die den Sims zierten.

»Das Meer braust und der Sturm heult, da ist es nicht gut draußen zu
weilen,« sagte Abraham Jakobeit, der auf der Ofenbank saß, zu seinem
jungen Gaste.

Der schaute mit sinnenden Augen in das helle Feuer, die Blässe der
Krankheit lag noch auf seinem Gesicht, aus den Augen leuchtete noch
nicht frohes Hoffen der Genesung, wie ein Schleier war es darüber
gebreitet.

»Doch muß es schön sein, da unten zu schlafen auf dem kühlen, nassen
Grunde! Mag der Sturm toben, mag das Meer zürnend grollen, der da unten
liegt, der hört es nicht mehr! Warum, ach, warum habt Ihr grade mich
gerettet!« so klagte der Kranke mehr zu sich, als zu dem Alten gewandt.

Der sah mit seinen hellen Augen prüfend zu ihm hin. »Seine Seele ist
krank,« hatte er zu Tabea gesagt, nun genas der Körper, ob es ihm wohl
gelang, auch die junge Seele zu retten?

»Neunundsechszig Jahre hat mein Leben gewährt,« sprach der alte Mann,
»gute Stunden hat es mir gebracht, aber auch Stunden voll Herzleid und
Gram. Stunden, in denen ich zu Gott gerufen habe: Warum, warum mir
dies Leid, habe ich denn so große Sünde gethan? Mein Gott hat mir die
Antwort ins Herz gelegt und ich bin stille geworden. Manchmal bin ich
draußen auf dem Meere gewesen, dann kam mir in meinem Leid wohl der
Gedanke, wie schön es sein müßte, da unten zu liegen in tiefem Schlaf,
die Stimme in mir aber sprach: Wenn Deine Zeit gekommen ist, wird Dein
Herrgott Dich rufen! und ich sah um mich und fand, daß meine Arbeit
noch nicht gethan, daß mein Leben noch nicht so gewesen, daß ich von
hinnen gehen konnte mit dem Gefühl, Du bist nicht ganz unnütz gewesen.

Dann nahm ich meine Arbeit auf und über der Arbeit schwand mein lauter
Schmerz, er wurde still, ich lernte sehen und sah, daß es noch mehr
Leid gab, noch schwereres als das meine.

Seht, Ihr seid jung, dem Meere habe ich Euch abgerungen, mit Gottes
Hilfe gelang es meinen schwachen Kräften auch die Macht des Fiebers zu
bewältigen. Nicht Neugier ist es, nur herzliche Teilnahme, wenn ich Sie
bitte, vertrauen Sie mir Ihren Kummer an, noch können meine Schultern
eines anderen Herzeleid mit tragen.«

Da schlug Michael die Hände vor sein Gesicht und heiße Thränen rannen
ihm über die bleichen Wangen.

»Ich kann nicht, kann es nicht sagen,« stöhnte er.

»Noch nicht,« klang das Echo in dem Herzen des alten Mannes, »aber
gesegnet seien diese Thränen, mich dünkt, es sind seit lange die
ersten!«

Die Tage verrannen, strenger Winter herrschte im Land, aber Michael
merkte es kaum, so warm war er gebettet, so umhegt von sorgender Liebe.

Da war Frau Johanna, Vater Abrahams Tochter, die vereinsamt nach dem
Tode von Mann und Kind ins Vaterhaus zurückgekehrt. Wie sie bemüht war
um den Genesenden und dieser, für den außer der seiner Mutter, noch
keine Frauenhand liebend gesorgt, empfand dankbar diese freundliche
Sorge, an der auch Tabea teilnahm.

Und dann diese Plauderstunden am flackernden Feuer, in denen der alte
Mennonit aus dem reichen Born seiner Lebenserfahrungen schöpfte.

Wie gern lauschte Michael, eine andere, eine neue Welt war es, die sich
vor ihm aufthat, war es die bessere?

Mennoniten nannten sich die Leute, unter die ihn das Schicksal
verschlagen hatte, Ketzer nach seinem alten Glauben; er erinnerte sich
wohl, wie Propst Ryback diese Sekte einst heftig geschmäht hatte.

Aber waren die Menschen, die ihn so hegten und pflegten wie ihren
eigenen Sohn, wirklich so verdammungswürdig? --

Lange schwieg Michael über sich und seine bitteren Erfahrungen, aber
dann kam eine Stunde, in der er, in traulicher Dämmerung neben dem
alten Manne sitzend, mit diesem über das, was sein Herz bewegte, zu
reden begann. Er sprach von den Stürmen seiner Jugend, von seinen
hohen, stolzen Plänen, einst ein Auserwählter des Herrn, ein Bote des
Friedens zu werden. Dann, leise stockend, von seltsamem Vertrauen
zu dem Alten erfüllt, sprach er auch von dem Fluch, der sein Leben
vergiftet, von der Erkenntnis der Sünde seiner Eltern.

Was er begraben im tiefsten Herzen, er holte es vor, und in
leidenschaftlicher Anklage sprach er von jener Stunde, da er voll
Schmerz und Zorn vor seinem Vater gestanden, da er ihm geflucht hatte,
ihm und der toten Mutter. Bis er dann endlich zur Besinnung gekommen
war und all' die leidenschaftliche Liebe, die er für den Freund gehegt,
wieder zum Durchbruch kam.

Er sah wieder das zu Eis erstarrte Gesicht des Mannes, hörte die
heisere Stimme:

»Schweig', Bube, Fluch über Dich, wenn Du verrätst, was zwischen uns
steht, geh' fort von hier, so weit wie möglich -- fort, fort!« Und in
seinem Gesicht las man die Angst, die blasse Furcht vor dem Urteil, vor
dem Gerede der Menschen; da ergriff den Sohn grenzenlose Verachtung und
er stürmte hinaus.

Michael stöhnte auf, zu machtvoll war die Erinnerung über ihn
gekommen. --

»Seit Jahren bin ich umhergewandert,« fuhr er fort, »damals, als
mein Ziel, mein Streben, mein Hoffen zu meinen Füßen lag, wurde ich
Seemann, mich trieb es so viel Meilen wie möglich zwischen die Heimat
und mich zu legen. Viel bin ich umhergewandert, in fernen Weltteilen
bin ich gewesen, mein Blick ist weiter geworden, meine Kenntnisse
größer, aber etwas habe ich nicht wieder finden können -- den alten
Kinderglauben. Was damals in meinem Herzen zerbrochen ist, habe ich
nicht mehr auffrischen können, nicht mehr die Brücken finden, die
mich hinübergeleitet hätten in das Land des Glaubens. Welcher ist der
rechte? Über diesem Grübeln habe ich ihn verloren!«

Wie ein Aufschrei kamen diese Worte aus seiner Brust, und erschüttert
sah der alte Mann auf seinen jungen Gefährten nieder.

»Ja, Du armes, junges Blut, Du arme, kranke Seele! Mein Herrgott, gieb
mir die Kraft, sie zu heilen,« bat er in seinem Herzen, und mit sanfter
Hand begann er die Heilung.

Aus dem Buche seines Lebens und seiner Lebenserfahrungen berichtete er
seinem jungen Gaste, und dieser lernte daraus verstehen, wie es kam,
daß dieser einfache Fischer seine Genossen so an Kenntnissen überragte.

In seiner Jugend war Abraham Jakobeit als Seemann Jahre lang in fernen
Landen gewesen, er hatte es bis zum Kapitän gebracht. Sein Weib war ihm
gestorben und sein Sohn wurde bei Verwandten der Frau erzogen. Jung
ging auch dieser in die Welt und verlor sein Leben auf der See.

Da sehnte sich auch Abraham nach Ruhe, er kehrte zurück in die Heimat
und nahm Benjamin und Tabea, die verwaisten Kinder seines Sohnes zu
sich.

Seit Jahren lebte er nun wieder hier in der Heimat, seine reicheren
Erfahrungen, sein größeres Wissen zum Besten seiner Mitmenschen
verwertend.

Er war ein gläubiger Mennonit geblieben, lebte getreu den einfachen,
strengen Satzungen seiner Sekte, verabscheute den Krieg, hoch über
Allem stand ihm der Frieden im Herzen der Menschen zueinander, aber
er hatte draußen in der Welt gelernt, daß jeder Glaube, so er nur
aufrichtig sei, zum Guten leiten könne, und diese seine Überzeugung
sprach er auch offen gegen Michael aus.

Immer inniger schloß dieser sich an den alten Mann an, je mehr seine
Körperkräfte zunahmen, desto lichter wurde es auch in seinem kranken
Gemüte.

Er fühlte sich zufrieden in dem kleinen Kreise, und bald gehörte er
so dazu, daß der Gedanke an Trennung in weite Ferne gerückt wurde.
Für Vater Abraham war er ein Sohn, für Frau Johanna ein Kind ihrer
mütterlichen Sorge, für Tabea ein älterer Bruder, und für Benjamin?

Das hätte er wohl selbst nicht zu sagen gewußt, was er für diesen
bedeutete.

Es war überhaupt etwas Eigenes um Benjamin. -- Verwachsen und
schwächlich, hatte dieser von Kindheit an eine etwas einsame Stellung
eingenommen, die durch sein verschlossenes, grüblerisches Wesen noch
verschärft wurde.

Wie ein Fremdling stand er unter den Seinen, fremdartig war schon
sein Äußeres, er gehörte mehr dem Stamme seiner Mutter an, die eine
Südländerin gewesen war. Sein scharfgeschnittenes Gesicht mit den
leidenschaftlichen, dunklen Augen hatte so wenig Ähnlichkeit mit den
hellen Zügen Vater Abrahams, wie sein wilder Fanatismus mit dessen
milder Güte.

Ja, fanatisch war Benjamin, und Michael entsetzte sich fast, als er das
erstemal die Wahrnehmung machte, welch finsterer Geist in dem Körper
des Verwachsenen wohnte.

Da war nichts von der milden Friedenslehre des Großvaters, nichts
von Tabeas reinem Kinderglauben, nicht Duldung und Frieden, Kampf,
erbitterter Kampf war dessen Losung.

Nach und nach hatte auch Michael mehr von Benjamins Leben erfahren.
Dieser war mehrere Jahre in Amerika gewesen, hatte sich dort einer
Sekte angeschlossen, die aus den Mennoniten hervorgegangen war, aber
noch wenig gemein hatte mit deren alten, einfachen Satzungen. Von
verschiedenen Sekten etwas annehmend, waren sie nach und nach zu wilden
Fanatikern geworden.

Vor einem Jahre ungefähr war er dann zurückgekehrt, und mit tiefem
Schmerz hatte der Großvater erkannt, wie verschieden ihre Anschauungen
geworden sind.

Beherrscht von fanatischem Glaubenseifer, getrieben von dem brennenden
Ehrgeiz, eine Rolle zu spielen, wollte der Enkel ein Prophet werden. Er
fand die Lehren des Großvaters viel zu kindlich, zu sanft. Mit Feuer
und Schwert wollte er die Welt erobern, seine Lehre sollte herrschen,
vor ihr sollte die Menschheit sich beugen. --

Anfangs stieß Michael diese wilde Art ab, aber hatte er nicht auch
einst davon geträumt, ein Lehrer, ein Prophet zu werden? Wohl stritt
er sich mit Benjamin, aber doch suchte er ihn wieder auf, und nach
und nach gewann dieser Einfluß auf Michael. Niemand gewahrte es, wie
er diesen im Grunde etwas schwankenden Charakter beherrschte, stärker
war noch Vater Abrahams und Tabeas milder Einfluß; aber Benjamin war
klug und sagte sich, daß, sobald dieser nicht unmittelbar sei, er der
stärkere werde, und Michaels glänzende Rednergabe und seine stattliche,
sympathische Erscheinung brauchte er zu seinen Plänen, das waren
Vorzüge, die ihm fehlten, wie er mit Bitterkeit längst erkannt hatte.

Er wagte aber auch nicht, dem Großvater gegenüberzutreten, denn so
sehr er sich innerlich dagegen sträubte, die milde Ruhe, die klare,
freundliche Weltanschauung und der echte, tiefe Glaube des Alten
zwangen ihm unendliche Hochachtung ab.

Er hoffte auf die Zeit, einmal mußte sie kommen, da er mit Michael das
große Werk der Bekehrung begann. --

So flossen die Monde dahin, der Fremdling, der einst krank und weltmüde
im Dorfe auf dem Sande eingekehrt, war nun ein lieber Hausgenosse
geworden; er trieb im Sommer das Gewerbe der Männer, die Fischerei,
erweiterte im Winter seine Kenntnisse durch eifriges Studium. Die
kleinen Ersparnisse aus seiner Wanderzeit benützte er teilweise dazu,
sich eine Bibliothek anzuschaffen.

Wohl kam ihm manchmal die Sehnsucht nach der verlassenen Welt, der
Ehrgeiz regte sich in ihm, sich eine Stellung, die seinen Kenntnissen
entsprach, zu erringen, statt hier thatenlos in dem weltfremden
Dörfchen zu leben. In solchen Stunden gewannen Benjamins Pläne Macht
über ihn; kam dann aber Tabea mit ihrer weichen, süßen Stimme und
rief ihn, mit ihr zu kommen, und saß er dann bei den Frauen und dem
Großvater im traulichen Zimmer oder vor dem Hause auf der Bank, mit dem
Blick nach dem weiten Meere, im ernsten Gespräch, dann kam der Friede
wieder über ihn und die unruhigen Gedanken wurden stille. --

Da fand er einmal, daß in einer Zeitung ein Aufruf stand, der ihn
selbst betraf. Sein Name stand darin, er wurde gesucht; ein Verwandter
seiner Mutter war gestorben und er der Erbe des kleinen Vermögens.

Von jener Stunde an wich die Ruhe von ihm, machtvoll überkam ihn
die Sehnsucht nach der alten Heimat. Nur einmal wollte er dahin
zurückkehren, noch einmal das kleine Haus betreten, darinnen er seine
Kindheit verlebt, noch einmal an das Grab der Mutter treten, an die er
jetzt mit immer verzeihenderer Liebe dachte.

Noch einmal wollte er dem gegenübertreten, um dessentwillen er einst
die Heimat verlassen hatte. Nicht mehr im Zorn, in alter Liebe wollte
er ihm die Hand reichen, wollte am Vaterherzen ruhen und dann mit
versöhntem Gefühl die Heimat für immer verlassen.

Wochenlang kämpfte er gegen diese Sehnsucht, er wurde still und in sich
gekehrt, bis ihm der alte Jakobeit zuletzt selbst zuredete, sich seinen
Wunsch zu erfüllen.

Er ging, aber noch ehe er das Sanddorf verließ, kam eine Stunde, in der
er neben Tabea am brausenden Meere stand, ihre Hand fest in der seinen
haltend, ihre dunklen Augen suchte.

»Das tobende Meer brachte mich einst zu Euch; krank an Seele und Leib,
kam ich in Euer Haus, Du warst die erste, die ich, aus Fieberwahn
erwachend, erkannte. Seit jener Stunde wohnt Dein Bild in meinem
Herzen, nun gehe ich fort, nur aber, wenn Du die erste sein willst,
die mich empfängt, so ich wieder komme, mich empfängt als meine liebe
Braut, willst Du, Tabea?«

Heiß flutete eine Blutwelle über das liebliche Mädchengesicht, mit
einem Blick voll Glück und Liebe sah sie zu dem Manne auf und sagte
mit verhaltenem Jubel in der Stimme:

»Ich will, ach Michael, wie liebe ich Dich!« Sie legte den Kopf an
seine Brust und er küßte fast ehrfurchtsvoll die reine Mädchenstirn.

Das Meer brauste und schäumte, Welle stürzte über Welle -- sie
hörten das Gelöbnis der Liebe bis zum Tode, das die beiden jungen
Menschenkinder mit einander eintauschten.

Zwei Tage später zog Michael von dannen, Benjamin war sein Gefährte,
der hatte so darum gebeten, daß Michael nicht »Nein« sagen mochte.

Er schalt sich selbst thöricht, wenn er Benjamins Gegenwart als Last
empfand, es ruhte auf ihm wie eine Ahnung schweren, kommenden Leides.

       *       *       *       *       *

In den Zeiten des polnisches Königreiches gehörten die Herren von
Leninski zu dem angesehendsten, reichsten Adel, aber wie der morsche
Thron der Polen in Splitter sank, so zerfiel auch im Laufe der Jahre
die Herrlichkeit der Leninskis. Das Gold rann ihnen aus den Händen, ein
Stück Land des alten Besitzes nach dem anderen mußte verkauft werden
und heute saß der jetzige Herr, Marcel von Leninski auf Lochowo und
sah wehmütig auf den geringen Rest, der ihm von dem einstigen Reichtum
geblieben war.

Inmitten eines romantischen, völlig ungepflegten Parkes, mit der Front
nach einem schilfumkränzten, kleinen See lag Schloß Lochowo. Nach
der Landstraße zu dehnten sich die weitläufigen, dem Verfall nahen
Wirtschaftsgebäude aus, an die sich das Dorf anschloß.

Boguslaw von Leninski, der Prächtige, wie ihn seine Nachkommen
nannten, hatte Jahre lang in Paris gelebt; der glänzende Hof, der die
schöne, unglückliche Marie Antoinette umgab, sagte seinem beweglichen
Temperament so zu, daß er seiner Besitzungen im fernen Polen nur
gedachte, wenn er Geld brauchte.

Als die Stürme der Revolution sich erhoben, verließ er das geliebte,
glänzende Paris mit schwerem Herzen und mit leichtem Beutel.

In der Einsamkeit der heimischen Wälder begann er sich, in Erinnerung
der glänzenden Tage, ein =petit Versaille= aufzubauen, aber ehe noch
der Bau vollendet war, rief ihn der Tod ab und sein Erbe, der sich
genötigt sah, den größten Teil der alten Herrschaft zu verkaufen,
ließ von einfachen Handwerkern den Bau vollenden; denn schon
erklang der Kriegslärm des großen Korsen auch in die Einsamkeit der
russisch-deutschen Gebiete.

Ein Stückwerk, mit feinem Kunstsinn begonnen, von ungeschickten Händen
vollendet, blieb Schloß Lochowo.

Im Sommer freilich, wenn die Kletterrosen, die sich daran emporrankten,
in Blüte standen, die schlanken Türme vom Sonnengold umflossen in
die blaue Luft ragten, bot es einen Anblick, der wohl ein Malerauge
entzücken konnte. --

Herr Marcel von Leninski, der von seinen Ahnen das leichte Blut und die
sanguinische Lebensanschauung geerbt hatte, mühte sich redlich, sich
und den Seinen den letzten Rest der alten Herrlichkeit zu erhalten.

Frau Halinka, seine Lebensgefährtin, machte es ihm freilich oft schwer
genug. In ihrer Jugend einst eine große Schönheit, hatte sie ein Jahr
ihrer Mädchenzeit in Paris verbracht und dann, froh, ein standesgemäßes
Unterkommen zu finden, ihren alten Verehrer und derzeitigen Gatten
geheiratet.

Herr Marcel hatte weder die Schönheit, noch den sprühenden Geist
seines glänzenden Ahnherrn geerbt, er bewunderte seine schöne Gattin
aufrichtig und that so viel für ihre Luxusbedürfnisse, wie es seine
Mittel irgend erlaubten. Aber Frau Halinka konnte das Jahr in Paris,
das Jahr ihrer Triumphe nicht vergessen, sie war fest überzeugt, sich
herabgelassen zu haben, indem sie Frau von Leninska wurde.

Immer und immer erzählte sie von dem einen glänzenden Jahre, anfangs
imponierte sie ihrem einfachen, gutmütigen Manne, aber die Jahre
verwischten die Eindrücke, jetzt geschah es mit wiederkehrender
Regelmäßigkeit, daß der gute Marcel bei den Erzählungen in sanften
Schlummer fiel.

Kasia, die jüngste Tochter, dagegen lauschte mit fiebernder
Aufmerksamkeit den mütterlichen Erzählungen, sie kannte kein größeres
Vergnügen, immer wieder war sie es, die die Mutter zu neuen Berichten
anregte. Dann saß sie da, die dunklen Augen strahlten, die feinen
Lippen leicht geöffnet, jeder Nerv an ihr lebte, es prickelte und
zuckte in ihren Gliedern, sie war mitten drin in dem rauschenden Leben.
Sie lachte, weinte, tollte, kokettierte und heißer kreiste das leichte
Blut der Vorfahren in ihren Adern.

Frau Halinka erzählte, hingerissen durch der Tochter Begeisterung immer
mehr und Herr von Leninski schüttelte manchmal vom Schlaf erwachend
das Haupt, wenn er hörte, daß die stolze Herzogin von M. seiner Frau
gesagt, sie wäre die Blume der Blumen, und daß Graf Armand de St. ihr
sein Herz und seine Millionen zu Füßen gelegt, hatte er noch gar nicht
gewußt. Ein leises, verschmitztes Lächeln trat auf seine Lippen -- Du
lieber Himmel, die Zeit verwischt die Erinnerungen! --

Wladislaw, der einzige Sohn und Erbe, hatte es vorgezogen, in
österreichische Dienste zu treten, er stand in einer kleinen böhmischen
Garnison als Oberleutnant, seine Briefe bildeten der Mutter Entzücken
und des Vaters Sorgen, denn mit absoluter Sicherheit kehrte darin stets
die Wendung wieder, »ich brauche Geld.«

Still und sanft waltete noch eine andere im Hause, Maria, die älteste
der Schwestern, sie war es, die den Haushalt in Ordnung hielt.

»Unsere Maruszka ist unser guter Hausgeist,« pflegte Frau Halinka wohl
anerkennend zu sagen, während ihre Blicke stolz an der lieblichen
Erscheinung ihrer jüngeren Tochter hingen.

»Jusia kommt, Jusia kommt!«

Einen offenen Brief in der Hand stürmte Kasia wie ein Wirbelwind in das
Boudoir der Mutter.

Frau Halinka las in einem neuen französischen Roman, während Maria
Faden um Faden durch eine feine Stickerei zog.

Tief neigte jetzt Kasia den zierlichen Körper vor ihnen und sagte mit
komischem Ernst:

»Meine Damen, gestatten Sie, daß ich Ihnen die freudige Mitteilung
machen darf, daß Gräfin Jusia Potocka übermorgen Einzug in unser Schloß
halten wird!«

»Wildfang.« Frau Halinka lächelte nachsichtig, während auf ihr stark
verblühtes Gesicht ein freudiger Ausdruck trat. »In der That, ich muß
gestehen, eine ganz angenehme Abwechslung, dieser überraschende Besuch
der Komtesse.«

»Wundervoll, unbeschreiblich schön!« jubelte Kasia. »Ach, Mama, was
wird uns Jusia alles erzählen können, bedenke doch, wie viel sie
gesehen hat, seit wir vor zwei Jahren das Kloster verließen; Nizza,
Rom, Paris, das himmlische Paris, ach, ich beneide sie, die Glückliche!«

»Nur nicht gar so enthusiasmiert, =ma petite=, ich war auch in Paris
und wer weiß, ob Komtesse Jusia eine so vorzügliche Kennerin des
pariser Lebens ist, wie ich es war. Ob sie den Esprit und die Eleganz
besitzt, es so zu erfassen wie ich, nun wir werden ja sehen, jedenfalls
ist es auch mir angenehm, einmal wieder von meinem Paris reden zu
können.«

Ȇbrigens Maria, hast Du in mein neues Cape auch die Etiquette von =Bon
marché= eingenäht? Es ist mir lieber, wenn Gräfin Jusia sieht, daß wir
einen Teil unserer Toiletten aus Paris beziehen.«

»Aber Mama!« vorwurfsvoll erhob die Angeredete ihre ernsten, dunklen
Augen zur Mutter.

»Schweig, Maria, ich weiß, was ich uns schuldig bin, triff lieber die
Vorbereitungen für unseren Gast!«

Still verließ diese das Zimmer, die Lippen fest aufeinander gepreßt,
als wolle sie die Worte zurückdrängen. Ach, wie sie sich schämte über
die thörichte Eitelkeit der Mutter, die immer und immer wieder die
Etiquettes der pariser Firmen, die noch von den Toiletten aus den
ersten Jahren ihrer Ehe stammten, heraustrennen und in die neuen, in
der Kreisstadt gekauften Sachen nähen ließ.

Mit müdem Schritt erstieg Maria die Treppe zu dem oberen Stockwerk,
sich überlegend, welche Zimmer sie dem jungen Gast geben sollte. Es
gab deren genug in dem weiten Bau, aber die wenigsten waren möbliert,
Stückwerk der Bau, Stückwerk die Einrichtung. Kostbare Empire- und
Rokokomöbel, die fehlenden Stücke durch einfache, vom Tischler
gefertigte Sachen ersetzt.

Schweren Herzens begann Maria ihre Arbeit, aus allen Räumen trug sie
etwas zusammen, bis sie endlich ihr Werk wehmütig betrachtend inne
hielt. »Stückwerk außen wie innen! ach Gott, wie müssen die Menschen
glücklich sein, die in geordneten Verhältnissen leben!« --

»Maria bist Du oben?« unterbrach die helle Stimme der Schwester ihre
Gedanken.

»Was giebt es, Kasia?« Leichtfüßig kam diese schon die Treppe herauf.

»Marinka, mein Seelchen!« rief sie aus, »reizend ist das Zimmer! Ach,
denke Dir nur, wie lieb von Mama, sie will mit uns nach der Stadt
fahren und uns neue Toiletten kaufen. Einen Ball will sie auch geben,
während Jusia da ist, endlich einmal etwas Abwechslung!«

»Aber Kasia!« Erschrocken sieht Maria die Schwester an. »Solche
Ausgaben sind doch unmöglich, Papa hat ohnehin so viel Sorgen. Die
Ernte ist dieses Jahr durchaus nicht gut, dazu das Unglück im Frühjahr
mit den Kühen und Wladzin hat gestern auch wieder um Geld geschrieben.
Nein, diese Ausgaben darf Mama nicht machen.«

»Du bist eine unerträgliche Pedantin, keine Freude gönnst Du uns, nur
sparen, nur sparen, und Mama hat ganz recht, wenn sie sagt, Du seist
verbauert.«

Das reizende Gesicht Kasias war durch Zorn entstellt, die Thränen
stürzten ihr aus den Augen und zitternd vor Wut trat sie mit den
zierlichen Füßen auf den Boden.

»Was wohl dabei ist!« schrie sie. »Was wird das groß kosten? Der Jude
giebt Papa schon Geld!«

»Kasia!«

»Schweig, Du verdirbst mir all meine Freude!« Sie stürmte zum Zimmer
hinaus und krachend flog die Thür hinter ihr ins Schloß.

Die zierliche, von Maria mühsam gekittete Vase auf dem kleinen
Rokokotisch fiel klirrend zur Erde und während das junge Mädchen die
Stücke sammelte, rannen die heißen Thränen über ihre Wangen:

»Stückwerk alles, alles, der Jude giebt Geld, bis der Jude das Gut
nimmt und dann. -- Oh heilige Mutter Gottes, hilf!«

       *       *       *       *       *

  »=Oh chère tante!= Da sitze ich nun seit drei Tagen in dieser
  polnisch-deutschen Einsamkeit, mit dem brennenden Wunsch, diesen
  ländlichen Aufenthalt erst mit einem Badeort des =high life=
  vertauschen zu können. Diese guten Leninskis sind unglaublich naiv,
  sie denken wirklich, mich habe einzig und allein die Sehnsucht zu
  ihnen getrieben. Wenn sie ahnten, wie sehr ich =vis-à-vis de rien=
  stehe, wie froh ich war, daß mir die Einladung dieser thörichten,
  kleinen Kasia einfiel. Lächerlich, immer soll ich von meinem
  glänzenden Leben erzählen, wenn sie wüßten, wie die Kehrseite
  aussieht, wie hungrig wir oft auf den Boulevards promeniert sind!
  -- Ein Glück, daß die alte Fürstin sich Deiner erinnerte, jeden
  Abend ist mein Gebet, es möge ihr einfallen, mich auch zu sich zu
  laden, in Rußland würde ich vielleicht bessere Chancen haben, eine
  Partie zu machen, den glänzenden Rahmen, den ich brauche, zu finden.
  -- Was soll ich Dir von den Leninski berichten? =Madame= ist etwas
  einfältig, von der einstigen Schönheit sieht man nichts mehr. (Wer
  weiß, wie viel sie überhaupt davon besessen hat.)

  =Monsieur= ist etwas verbauert, er macht manchmal einen recht
  mißglückten Versuch, galant zu sein. Kasia ist ohne Frage reizend,
  ich glaube, sie könnte, mit dem nötigen Geld versehen, Furore machen.
  Maria ist hübsch, nicht mein Geschmack, sie sieht aus, als könnte sie
  einen Mann in kleinen Verhältnissen aus Liebe heiraten, oder -- in
  ein Kloster gehen. Eines so unpraktisch wie das andere.

  =Adio=, teure Tante, ich werde jetzt mit Kasia spazieren gehen,
  Gänseblümchen pflücken, Gedichte machen und von diesen einfältigen
  Dorfjungen meine Schönheit, dieses mein Kapital, meine Hoffnung,
  bewundern lassen.

  Ich küsse Deine Hand, schreibe bald und bringe Erlösung

        Deiner trostlosen Jusia.«

Die Schreiberin schließt hastig den Brief und adressiert ihn. Von unten
herauf tönt schon Kasias helle Stimme, die ihren Namen ruft. -- Rasch
setzt sie einen großen, weißen Hut auf ihr krauses rotblondes Gelock,
ein wohlgefälliger Blick in den schmalen Empirespiegel, eine Kußhand
ihrem eigenen Bild und leichtfüßig eilt sie die Treppe hinab. »Kasia,
mein Seelchen, verzeih, daß ich Dich warten ließ, aber sieh! ich hatte
so viel an Tante Amélie zu schreiben, wie reizend es hier bei Euch ist,
wie lieb Ihr seid und daß ich keinen größeren Wunsch hege, recht, recht
lange bei Euch zu bleiben, komm, ich will blos Deiner Mama, von der
ich ganz enthusiasmiert bin, die Hand küssen.« Wenige Minuten später
wandeln die jungen Damen durch das Dorf, mit offenem Munde stehen die
Kinder und schauen ihnen nach. Paninka Kasia, die kennen sie, aber das
fremde Fräulein mit dem weißen Kleid, die so leicht über den Schmutz
der Straße schwebt, schüchtert sie ein und in stummer Bewunderung
blicken sie ihr nach.

»Mein Gott, Kasia, wie geistreich diese Kinder aussehen,« sie lacht,
»nein, sieh diesen Fratz dort, gerade so starrte mich der holde Prinz
Sergei an vergangenen Winter in Nizza. Aber sieh, wie idyllisch das
Häuschen hier liegt, sag, wem gehört es?« Sie bleibt vor dem kleinen
Haus am Ende des Dorfes stehen, das von bunten Blumen umblüht, seltsam
absticht gegen die anderen im Schmutz stehenden Nachbarhäuser. Da
knarrt die Thüre und Michaels hohe Gestalt wird im Rahmen sichtbar,
seine ernsten Augen haften voll Erstaunen auf den beiden lichten
Mädchengestalten, die da am Gitter seines Gartens stehen. Er tritt
einige Schritte näher, verneigt sich und sagt mit seiner ruhigen,
klangvollen Stimme:

»Gott zum Gruß und Gottes Frieden!« Dabei ruhen seine Blicke unverwandt
auf Gräfin Jusias reizvoller Erscheinung. Mit beiden Händen greift
diese in die blühenden Clematisranken am Gitter und sieht mit seltsamem
Lächeln zu dem schlanken Mann hin. Sekundenlang ruhen beider Blicke
ineinander, dann wendet sich Michael heftig um und schreitet mit
stummem Gruß in sein Haus zurück.

»Kasia, sag doch, wer war dieser seltsame Mensch, ein Apollo an
Schönheit in Eurem Dorf?« Jusia reißt einige von den Blüten am Gitter
ab und befestigt sie in ihrem Gürtel, »schnell erzähle, =ma petite=,
ich wittere eine romantische Geschichte, der blonde Apollo mit seinem
frommen Gruß und seinem geistlichen Rock interessiert mich?«

»Romantisch ist die Sache nicht gerade,« erwiderte Kasia, hochmütig
das feine Näschen rümpfend, »Dein Apollo, wie Du ihn nennst, obgleich
ich noch keinen Apollo mit einem Rock gesehen habe, ist einfach ein
Dorfjunge, der eine etwas bessere Erziehung genossen hat, Propst Ryback
hat ihn unterrichtet, er sollte sich dem geistlichen Stande widmen.
Eines schönen Tages verschwand er aber plötzlich und tauchte erst
ungefähr im Februar dieses Jahres wieder auf. Er bezog sein Haus, das
der Propst bis dahin für ihn verwaltet hatte, und soll sich gleich in
den ersten Tagen wieder vollständig mit diesem überworfen haben. Dann
fing er hier in der Gegend an zu predigen, eine neue Lehre. Mit ihm
ist ein kleiner verwachsener Mensch. Papa sagt, es wären Mennoniten,
aber Propst Dzimbowski aus Skiernewice meinte neulich, es seien keine
echten Mennoniten, die wären stiller und machten keine Propaganda für
ihren Glauben; diese gehörten vielmehr einer neuen, amerikanischen
Sekte an. Die haben schon viele Anhänger, hier in Lochowo nicht, aber
in Birkenhof und Skiernewice laufen die Leute ihnen zu, die hiesigen
stehen zu sehr unter dem Einfluß von unserem Propst, der sehr fanatisch
ist und die Leute gegen den Ketzer einzunehmen weiß. Es ist ja Unsinn,
was sie predigen, der Blonde soll übrigens wunderbar reden können,
sie wollen eine große Gemeinde gründen mit völliger Gleichheit aller,
verdammen den Krieg und Alkoholismus und reden schrecklich viel von
innerer Glückseligkeit. Papa sagte schon, er wundert sich, daß sie bis
jetzt mit heiler Haut davon gekommen sind und prophezeit ihnen ein
gewaltsames Ende.

So nun aber genug von diesen langweiligen Dingen, erzähle mir lieber
mehr von Deinem Leben!« Jusia Potocka wendet noch einmal den Kopf nach
dem kleinen Hause und beginnt dann zu erzählen; sie rollt Bilder voll
Glanz und Licht vor Kasias Augen auf, und diese lauscht mit klopfendem
Herzen, immer brennender wird der Wunsch in ihr, auch mit in diesem
glänzenden Strom des Lebens schwimmen zu können.

       *       *       *       *       *

Tiefe, feierliche Sabbathstille herrscht im Walde. Gestern floß der
Regen in Strömen auf die schier verschmachtete Erde nieder, heute
stehen die Bäume und Pflanzen in neuer Kraft da, sie recken und dehnen
sich, sie fühlen sich noch frisch und jung, und ferne liegt ihnen der
Gedanke an die Stürme des Herbstes, des Winters Kälte. --

Maria schreitet auf dem weichen Moosboden dahin, so feierlich still
ist es ringsum, die Birkenstämme leuchten hell und zitternd schwanken
die Zweige, vom sanften Wind bewegt, hin und her. Es ist ein seltsames
Wohlgefühl, das Maria in diesem Stück heimischen Waldes überkommt.
Sie weiß wohl, daß man über die Eintönigkeit dieses Landes spottet,
über die kargen Wälder, in die der blaue Himmel durch große Lücken
hineinscheint. Kein kühles, geheimnisvolles Walddunkel, nicht jene
zum Himmel ragenden Bäume, jene murmelnden, wild über Felsen und
Baumwurzeln stürzende Bäche des Hochgebirges, und dennoch, sie liebt
diesen ärmlichen Wald. Hier ist es, wo Ruhe und Frieden über sie kommt,
wo die nagenden Sorgen, die düsteren Gedanken sie verlassen, oh Du
lieber, barmherziger Wald! Während sie so dahinschreitet, schweifen
ihre Gedanken in die Vergangenheit, in die kurze, glückliche Zeit ihres
Lebens. Wie fern sie ihr liegt, manchmal will ihr dünken, als verblasse
die Erinnerung in dem täglichen Kampf, aber dann, wenn sie allein ist,
wie hier in dem Frieden des Waldes, dann überkommt sie mit aller Gewalt
das alte Glück, das alte Leid, ihr Herz jubelt und weint, und licht
stehen ihr die sonnigen Tage von einst vor der Seele.

Eine entfernte Verwandte ihrer Mutter, ein altes Fräulein, hatte sich
plötzlich erinnert, daß ihre Cousine Halinka zwei Töchter besaß und
geschrieben, daß sie gern einmal eine ihrer Nichten sehen möchte, ihr
sei die Reise zu weit, sie würde sich aber über einen Besuch freuen und
bäte hiermit ihre Cousine, ihr doch eine ihrer Töchter einige Wochen
nach Dresden zu schicken. Maria war gerade aus dem Kloster gekommen,
wo die Leninskis eine Freistelle besaßen, da kam der Brief der Tante
und da dieselbe als reich galt, stimmte auch Papa Leninski für die
Reise. An einem weichen, milden Frühlingsabend kam Maria in Dresden
an, wie klar stand ihr doch alles vor der Seele. Die alte Tante, die
ihr wie ein Wesen aus einer fremden Welt erschien. Frisch, trotz ihrer
sechzig Jahre, wie eine Junge, so lebensfroh, so teilnehmend, so
verständnisvoll für die Jugend und dabei so abgeklärt in ihrem Urteil,
über den Kleinkram der Welt stehend, mit einem Herzen, das warm für
alles Schöne und Edle schlug. Unwiderstehlich fühlte Maria sich zu ihr
hingezogen, in wenig Tagen hing sie mit inniger, verehrender Liebe an
der alten Dame.

Jener erste Abend in Dresden, wie ein leuchtendes Bild stand er in
ihrer Erinnerung, über die breite Brücke, die die Neustadt mit der
Altstadt verbindet, fuhren sie in einem offenen Wagen; wie ein breiter
Streifen flüssigen Goldes lag die Elbe im Glanz der untergehenden Sonne
unter ihnen. Große Dampfer, kleine buntbewimpelte Kähne glitten über
sie hin. Am jenseitigen Ufer ragten die stolzen Bauten einer glänzenden
Vergangenheit empor, die scheidende Sonne umglühte sie noch einmal, daß
es aussah, als ob all die Ecken und Spitzen im Feuer ständen. Von einem
der Dampfer kam eine weiche, träumerische Musik und vermischte sich mit
dem Lärm der großen Stadt. So traumhaft schön wie dieser erste Abend
waren die Wochen, die ihm folgten.

Leise seufzte Maria auf, vergangen die Jugend, das Glück. Im Garten
der Tante war es, da trat er ihr das erste Mal entgegen, strahlend vor
Stolz über den glänzend errungenen Doktortitel. Seine Eltern waren
langjährige Freunde von Marias Tante und der Verkehr zwischen beiden
Häusern ein sehr reger. Der junge Doktor sollte einige Wochen im
Elternhaus verleben, einige Wochen der Freiheit, und es war eigentlich
natürlich, daß bei den Ausflügen, die er mit seinen jungen Schwestern
unternahm, Maria mit dabei war.

Im Scherz und Spiel, im ernsten Gespräch, immer fand sich der junge
Arzt mit Maria zusammen, es war dem Mädchen, als sei alles von ihr
genommen, was düster und schwer ihr junges Leben bedrückt hatte, in
vollen Zügen genoß sie jetzt ihre Jugend und in ihrem Herzen erblühte
ein stilles, heimliches Glück. Sie wußten es bald, Heinz Werner und
Maria, daß sie einander liebten, nicht mit jener Leidenschaft, die
wie im Sturm über alles hinweg rast und, wenn verflogen, bittere
Ernüchterung zurückläßt, eine stille, heilige, treue Liebe war es, die
die Beiden erfüllte. Wie ein Schatten stieg manchmal der Gedanke an die
Eltern in Maria auf, sie kannte nur zu gut den Hochmut Frau Halinkas
und wußte, daß diese nicht so leicht ihre Einwilligung zu einer Heirat
mit einem Bürgerlichen und noch dazu einem Protestanten geben würde.
Aber mit dem glücklichen Leichtsinn der Jugend verscheuchte sie solche
Gedanken, vorläufig sollte es selbst den Eltern ein Geheimnis bleiben,
denn noch war Dr. Heinz nicht in der Lage, eine Frau heimzuführen, und
so beschlossen beide, ihr stilles Bündnis an niemand zu verraten.

Ob es wohl die Tante ahnte, sie lud Maria beim Abschied herzlich ein,
bald wieder zu kommen, ja, sie sprach die Absicht aus, die Eltern zu
bitten, ihr Maria für lange Zeit zu überlassen. »Behüt' Dich Gott,
mein Kind, sei tapfer und bleibe Dir selbst getreu,« sagte sie, die
weinende Maria in ihre Arme schließend. Noch ein letzter Händedruck dem
Geliebten und langsam fuhr der Zug von dannen.

Vier Wochen später reiste Herr von Leninski zum Begräbnis der
Tante, um bitter enttäuscht heimzukehren; der Tod hatte die rüstige
Frau überrascht, noch ehe sie ihren Willen ausführen und Maria zur
Erbin einsetzen konnte. Die Söhne ihres Bruders, zwei gewissenlose
Verschwender, erbten das Vermögen, und leicht rann das Geld durch
ihre Finger, mit dem die alte Tante so viel Segen gestiftet und hatte
stiften wollen. Maria weinte um sie wie um eine Mutter! Fünf Jahre
waren vergangen. Der, auf den Maria gehofft, nach dem sie gebangt, war
nicht gekommen, und wie ein Traum lag das Glück hinter ihr. Oh, du
barmherziger Wald, der du so geduldig das immer neue Leid anhörst, so
milde, sanfte Lieder rauschst, aus denen es klingt wie Märchensang:
er kommt noch, er kommt noch, sei getrost, arm' Menschenkind! Ruhiger
wird Maria, mit schweren Sorgen ist sie hergekommen, mit einem gut Teil
leichterem Herzen tritt sie den Heimweg an. --

Auf den Stufen der Veranda steht bereits Kasia, ungeduldig nach ihr
ausschauend. »Es ist gut, daß Du kommst, Maria, drinnen ist -- oh
staune -- Besuch! Der alte Sanitätsrat stellt uns seinen Stellvertreter
vor, er muß natürlich wieder nach Karlsbad, komm herein, oder vielmehr,
geh' Du hinein, ich bleibe hier, es lohnt sich nicht der Mühe, so ein
simpler Doktor, der als Stellvertreter geht, ich begreife Jusia nicht,
die schrecklich liebenswürdig thut!« Sie rümpfte das feine Näschen,
warf die zerpflückten Blätter einer Rose über die Stufen der Treppe und
hüpfte davon, Maria die Pflichten der Wirtin überlassend.

Mit der ihr eigenen, gelassenen Ruhe betrat diese den Salon, auf
ihrem feinen, durchgeistigten Gesicht lag noch der Ausdruck stiller
Sehnsucht. Jusias helles Lachen klang ihr entgegen; Frau Halinka liebte
die künstliche Dämmerung, sie war die vorteilhafteste Beleuchtung für
ihre verblühte Schönheit, so herrschte auch heute nur mäßige Helle in
dem großen Gemach, und Maria, die aus dem grellen Sonnenlicht kam,
war zuerst nicht im stande, die einzelnen Personen zu unterscheiden.
Da klang die krähende Stimme des Sanitätsrates, die so wenig zu seiner
robusten Erscheinung paßte, an ihr Ohr, und dann eine andere, kräftige,
fröhliche Männerstimme, bei deren Ton Maria zusammenfuhr, waren es noch
die Träume des Waldes, die sie narrten? Wahrheit, war es Wahrheit? Da
stand der vor ihr, nach dem sie sich gebangt und gesehnt all die Jahre,
mechanisch legte sie die Hand in die seine. »Wir sind ja alte Bekannte,
mein gnädiges Fräulein,« sagte er herzlich, da hob sie die Augen und
sah ihn an, sah in seine treuen Augen, die redeten so vertraut zu ihr,
daß die Jahre vor ihr versanken mit ihrem Leid, ihren Thränen, und ein
heißes Glücksgefühl sie durchströmte.

»Maria!« Frau Halinka rief höchst mißbilligend ihren Namen. »Kind, wo
bist Du mit Deinen Gedanken, siehst Du nicht, daß Herr Sanitätsrat Dich
begrüßen will!«

Verwirrt blickte Maria um sich, ihr war, als müßten alle wissen, was da
geschehen war in den wenigen Sekunden, heiß drängte sich ihr das Blut
in die Wangen, mit einer ihr fremden Hast reichte sie dem alten Herrn
die Hand, die dieser mit einem verzückten Blick an die Lippen zog. Dann
sprach sie auch, gleichgiltige Worte, lächelte, war liebenswürdig,
dabei sah sie nur immer ihn, hörte seine Stimme, und in ihrem Herzen
sang und klang es so laut, daß sie meinte, die Anderen müßten es hören:
»Er ist da, er ist da!« --

Gräfin Jusia schmiegte sich wie ein Kätzchen in den Sessel und warf
unter den langen, schwarzen Wimpern hervor prüfende Blicke auf den
jungen Arzt. Der war anders wie die Herren ihrer Gesellschaft, aber in
einem so öden Nest wäre er zum flirten gerade recht. Hübsch war er,
aber er sah so ernsthaft, so philisterhaft aus, nein, dies war nicht
der rechte Ausdruck, er sah so deutsch aus, sagte sie sich. Dabei mußte
sie sich aber doch gestehen, er kümmerte sich herzlich wenig um sie,
nicht Schüchternheit war es, nein, Gleichgiltigkeit, aber wie er Maria
anblickte! Gräfin Jusia beginnt zu kombinieren, prüfend gleiten ihre
Augen von einem zum andern, nun, da müßte sie doch blind sein, wenn
da nicht eine höchst sentimentale, romantische Liebesaffaire dahinter
steckte, ich werde es ergründen! denkt sie, wenigstens eine Abwechslung
in der trostlosen, langweiligen Einsamkeit.

Die Herren wollen sich verabschieden, aber Herr von Leninski erhebt
Einspruch: »Selbstverständlich sind Sie unsere Gäste, na, das wäre
ja noch besser, wenn Sie Lochowo ungespeist und ungetränkt verlassen
wollten.« Der Hausherr lacht dröhnend über seinen eigenen Witz, von
dem Sanitätsrat sekundiert, der wohl zu würdigen weiß, welch edlen
Ungarwein der Keller von Lochowo birgt. --

Mögen die Leute sagen, die Leninskis würden bald Samuel Schmuhl, dem
Hauptgläubiger, Lochowo überlassen müssen; Gäste, die einkehren in
den wunderlichen Bau, merken nichts davon. Die matte Dämmerung in
dem Speisesaal, hervorgerufen durch farbige Fenster, verhindert, daß
man gewahrt, wie verblichen und zerschlissen die Seidenbezüge der
altertümlichen Möbel sind. Marias geschickte Hände haben verstanden,
vielfach die Schäden zu verbergen, sie hat auch die hohen, gekitteten
Vasen mit graziösen Sträußen gefüllt und die Tafel in anmutiger Weise
geordnet. Dazu die liebenswürdige Hausfrau -- Frau Halinka ist in
Gesellschaft immer liebenswürdig --, der joviale Gatte, die zierlichen
Mädchenerscheinungen, der goldne Wein in den Gläsern vereinen sich zu
einem reizvollen Ganzen. Selten verläßt ein Gast das Haus, der nicht
den Wunsch hegt, bald wieder einkehren zu können.

Dann eine Bootfahrt auf dem See, für die der Sanitätsrat eifrig
stimmt, um nachher zu erklären, er wolle bei Herrn von Leninski
bleiben, der lächelt verständnisinnig, er kennt die schattige Laube,
in der der opfermütige Sanitätsrat nach Tisch seinen inneren Menschen
einer näheren Prüfung unterzieht; ihm ist es recht, hegt er doch die
gleiche Absicht. Nach der Fahrt ein Wandern durch die verschlungenen
Gänge des alten Parkes, der noch die Anlagen zeigt, die Herr Bogislaw
der Prächtige von einem französischen Gartenkünstler hatte beginnen
lassen. Im Laufe der Jahre war er aber verwildert, die Wege von
Gras überwuchert, die steinernen Götterbilder mit ihren dicken
Barockgesichtern waren von Schlingpflanzen umzogen, besonders der Teil,
der am See lag, war eine dichte, grüne Wildnis.

Hier erst ist es dem jungen Arzt möglich, einige kurze Minuten mit
Maria allein zu sein. Hier erst vermag er ihr in hastigen Worten zu
erklären, warum er so lange fern geblieben. Die Eltern waren ihm rasch
hintereinander gestorben, das geringe Vermögen blieb seinen beiden
Schwestern. Er hatte tapfer gearbeitet, um vorwärts zu kommen, über
dem Ringen aber verfloß die Zeit, und so kam es, daß er erst heute,
nach mehr denn fünf Jahren, sein Wort einlösen konnte. Gut traf es
sich, daß er in einer Fachzeitung das Gesuch des Sanitätsrates las, er
hoffte, so am besten zu ihr zu gelangen, er benutzte seine Ferien und
stellte sich dem alten Herrn als Stellvertreter.

»Maria, Du mein Lieb, in Deinen Augen las ich, daß Du mir die Treue
gehalten hast die langen Jahre, Maria, mein Glück! Nun soll uns nichts
mehr trennen, komme, was da mag, ich halte Dich fest, mein Glück,«
leidenschaftlich zog der Mann das Mädchen an sich und sie widerstand
nicht. Lange hatte sie gehofft, geharrt auf ihr Glück, nun war es da,
war gekommen, wie der Frühling über Nacht, fest schlang sie die Arme
um den Geliebten. Ihre Augen tauchten ineinander, um sie versinkt die
Welt, sie sehen nur sich und fühlen nur, daß sie einander gehören für
Zeit und Ewigkeit, bebend vor Glück flüstern sie nur das Eine: »Ich
liebe Dich.«

Näherkommende Stimmen wecken sie erst aus ihrer Versunkenheit, hastig,
helle Glut auf den Wangen, befreit sich Maria, ein kurzer, inniger
Händedruck, und schon sehen sie die hellen Kleider Kasias und Jusias
durch das Gebüsch schimmern.

»Nein, Maria! Wie echauffiert Du aussiehst!« Jusia hängt sich an ihren
Arm und sieht spöttisch zu dem jungen Mädchen auf, das vergeblich
versucht, seiner Verwirrung Herr zu werden. Und endlich gelingt es ihr,
sich dem seichten Geplauder und den kleinen Bosheiten zu entziehen,
unter dem Vorwand, im Haus nach dem Rechten sehen zu müssen. In dem
Flur kommt ihr der Vater entgegen, hochrot im Gesicht, eine dicke
Zornesfalte auf der Stirn, er stürmt an ihr vorüber, ohne auf ihren
erschreckten Zuruf zu achten. Bestürzt tritt Maria in das Zimmer der
Mutter und findet diese in Thränen aufgelöst.

»Mama, ach, was ist geschehen, ein Unglück, sag', oder hat Wlaciu
wieder geschrieben?«

Frau Halinka schnellt empor, verschwunden ist die vornehme Ruhe ihrer
Bewegungen, wie eine Wahnsinnige eilt sie im Zimmer umher und stößt
mit vor Thränen erstickter Stimme hervor: »Marcel ist ein Tyrann,
ein Geizhals, ein Grobian, wegen der paar Mark, die ich für unsere
Toiletten ausgegeben habe, schreit er mich an, und einen Ball, ein
harmloses, kleines Vergnügen, erklärt er für eine Unmöglichkeit. Oh,
ich unglückliche Frau, meine Schönheit, meine Jugend habe ich diesem
Mann geopfert, ich, die ich eine der glänzendsten Frauen Frankreichs
sein könnte, versaure, verkümmere hier in diesem öden Erdenwinkel, und
dann werde ich noch eine Verschwenderin genannt! Ärmer bin ich, wie
die ärmste Käthnerfrau, oh, ich unglückliches Weib, wäre ich nur tot,
dann wäre ich niemand zur Last!« Und in ein hysterisches Schluchzen
ausbrechend, kauert sie sich in einen Fauteuil.

Maria müht sich, sie zu beruhigen, sie reibt ihr die Schläfen mit
kölnischem Wasser und spricht weiche, liebkosende Worte zu ihr, nach
und nach legt sich das wilde Weinen, Frau Halinka wird ruhiger und
erklärt schließlich, sie wolle allein sein.

»Geh', mein armes Kind, verlass' Deine unglückliche Mutter.« Sie haucht
einen Kuß auf Marias Stirn und sinkt wie gebrochen in ihren Stuhl
zurück.

Langsam, als trüge sie Zentnerlast, steigt Maria zu ihrem Zimmer empor,
auf das heiße Glücksgefühl, das sie durchglüht in den letzten Stunden,
ist ein Reif gefallen, und finster drohend steigt wieder das Gespenst
auf, das ihr schon manche Stunde verbittert, die Armut, die verhüllt,
verborgen das Haus durchschleicht. Die Bäume des Parkes rauschten; der
See liegt leuchtend im Sonnenschein; von unten schallen Stimmen zu ihr
empor, sorglos, fröhlich trällert Kasia ein Lied, und eine, ach so
geliebte Stimme fällt jubelnd ein. Die Lauscherin birgt den Kopf in
die Hände, sie schreit und weint nicht, wie Frau Halinka, ihre Augen
bleiben trocken, aber immer schwerer wird ihr armes, junges Herz von
den ungeweinten Thränen.

Laue Sommerluft strömt durch die geöffneten Fenster des Speisesaals,
Lachen, Sprechen, Klirren dringt hinaus in die stille Nacht, dasselbe
Bild wie am Mittag, nur größer der Kreis; Propst Ryback und sein
Amtsbruder aus S. und zwei benachbarte Besitzer mit ihren Frauen
sind hinzugekommen. Frau Halinka ist liebenswürdiger denn je, in
ihrer Toilette aus mattlila Seide sieht sie so vorteilhaft aus, daß
selbst Gräfin Jusia an die einstige Schönheit zu glauben beginnt.
Ihr Gatte sieht sie bewundernd an, verwischt ist die Sorgenfalte auf
seiner Stirn, der goldene Wein in den hellen Gläsern blinkt, er rinnt
wie Feuer durch die Adern, immer heller blitzen die Augen, und Herr
von Ronkowski hebt das Glas und ruft: »Himmel und Hölle, Hochwürden
verzeihen, die schönsten Frauen giebt es doch auf Lochowo, sie leben
hoch, hoch, hoch!« Er wirft das Glas in weitem Bogen, daß es in tausend
Scherben zersplitternd zu Boden fällt, und jubelnd folgen die anderen
Gäste dem Beispiel und werfen ihre Gläser zur Erde. Propst Ryback
lächelt nachsichtig, er ist dergleichen zu sehr gewöhnt, um noch daran
Anstoß zu nehmen. Nur zwei werden immer stiller in der Gesellschaft,
auf Maria lastet schwer der Gedanke an den Auftritt des Nachmittags,
liebevoll hat sie vor dem Essen des Vaters Hand ergriffen und ihm
zugeflüstert: »Armer Papa, so viel Sorgen hast Du!«

Aber freundlich sie streichelnd, hat er lächelnd erwidert: »Mama hat
mal wieder Dummheiten gemacht, na, morgen muß Schmuhlchen kommen; aber,
Donnerwetter, hübsch sieht die Mama heute aus, wirklich! Sie sticht
beinahe ihre Töchter aus.«

Dr. Werner fühlt sich sehr unbehaglich in der fremden Gesellschaft.
»Armes Lieb,« denkt er bei sich, »wie wenig mag ihr dieser Ton zusagen,
wie blaß mein süßes Herz aussieht,« und er hebt sein Glas und neigt es
ihr zu, da trifft ihn der Blick ihrer Augen und er erschrickt vor dem
tiefen Weh, das in diesen dunklen Sternen liegt. --

Endlich rüsten die Gäste sich zum Aufbruch, die Herren küssen den Damen
die Hand, der dicke Sanitätsrat versichert immer wieder, er würde im
Bad rechte Sehnsucht haben nach Lochowo und seinen reizenden Frauen,
dabei verneigt er sich, die Hände aufs Herz gedrückt, und sieht mit den
kleinen, wasserblauen Augen so schmachtend auf die schlanken Mädchen,
daß Jusia und Kasia nur mühsam ihr Spottlachen verbergen können.

»Leb' wohl, mein Lieb,« sagt Heinz Werner, mit innigem Druck Marias
schmale Rechte umschließend, »sag' mir, wann darf ich zu Deinem Vater
kommen mit meiner Bitte?«

»Noch nicht, Heinz, noch nicht,« wehrt Maria angstvoll, und wieder
sieht sie den Geliebten an mit einem so schmerzvollen Ausdruck in
den großen, dunklen Augen, daß dieser an sich halten muß, um nicht
das Mädchen in seine Arme zu reißen und sie zu küssen, bis um diesen
ernsten Mund ein Lächeln zuckt.

Die Wagen rollen von dannen, still ist es in dem alten Schloß geworden,
ein Licht nach dem anderen verlöscht, nur droben in dem kleinen
Giebelzimmer, das Maria bewohnt, schimmert Licht, die anderen schlafen
längst, nur Maria ist noch wach, allein mit ihren Gedanken, die dem
einsam dahin rollenden Wagen folgen. Gewiß, der alte Sanitätsrat
schläft und er, ihr Geliebter, ob er wohl wacht, an sie denkt! Sie
lächelt vor sich hin und breitet die Arme aus, ach könnte sie mit
ihm dahin fahren auf dem stillen Weg, nur sie beide allein durch die
schweigende Nacht, dem Glück entgegen, dem Morgenrot, und die Sorge
hinter sich lassen.

Oh, ihr grauen Gespenster der Nacht, wie manchmal habt ihr schon den
Schlaf von diesen jungen Augen gescheucht! Die Eltern und Geschwister
gehen an dem dunklen Schatten vorbei und sehen sie nicht, nur sie, sie
allein fühlt ihre Gegenwart, ihr rauben sie Jugendlust und Mut, sie
allein hat sehende Augen und sieht den Abgrund zu ihren Füßen. Sie weiß
es nur zu gut, ein einziger Fehlschlag und Lochowo, der letzte Rest der
alten Herrlichkeit, ist verloren; draußen auf den Feldern steht die
Ernte so schlecht, wie soll es im Herbst werden, der alte Schmuhl in
der Kreisstadt hat noch rückständige Zinsen zu fordern, er hat geduldig
genug gewartet, aber wie, wenn er die Geduld verliert? Dann denkt
sie wieder an Heinz, wie er heute vor ihr gestanden, sie mit seinen
guten, offenen Augen so ehrlich angeblickt. Ach, darf sie es denn, ihn
hineinziehen in die traurigen Verhältnisse des Elternhauses, er sah
freilich nicht nach Geld und Gut, er würde sie nehmen, wie sie ging
und stand, aber würde sie nicht ein Hindernis sein auf seinem Weg! Sie
schlang die Hände ineinander, und wie ein Aufschrei rang es sich aus
ihrer Brust: »Oh, nur das Rechte thun!« Als der Morgen graute, senkte
sich endlich der Schlaf über ihre heißen, verweinten Augen, ein fester,
traumloser Schlaf, der ihr für Stunden die Sorge scheuchte.

Auch Heinz Werner hatte lange den Schlaf nicht gefunden. Hatte anfangs
die Gewißheit, daß Maria ihn nicht vergessen, daß sie an ihm hing mit
der alten Liebe, ihn mit unendlichem Glück erfüllt, so hatte ihn das so
plötzlich veränderte Wesen der Geliebten, ihre sichtliche Schwermut,
große Sorge bereitet. Bald genug sollte er den Grund dieser Veränderung
erfahren; auf der Heimfahrt war es, da hatte der Sanitätsrat, behaglich
in der Ecke des Wagens sitzend, gesagt: »Famoses Haus, dieses Lochowo,
nur schade, daß es sich auch bald für frohe Gäste schließen wird.«

»Schließen, wieso?« hatte Heinz gespannt gefragt.

»Na, der alte Schmuhl in G. hat ja schon den größten Anteil davon, und
wenn die Herrschaften so weiter wirtschaften, ist das Ende wohl nicht
fern, die Gnädige versteht ja vom Haushalt so viel, wie ein Minister
vom allgemeinen Notstand; wenn nicht die Maria wäre, die Ordnung hielt,
ginge es noch mehr drunter und drüber. Schade um das Haus, man ist nun
so lange da ein- und ausgegangen und hat einen guten Tropfen getrunken,
wer weiß, vielleicht kauft es die Ansiedlungskommission, aber dann sind
die schönen Zeiten erst recht vorbei. S'ist wirklich schade.«

Gähnend lehnte er sich in die Polster des Wagens zurück und wenige
Minuten später verkündete ein sanftes Schnarchen, daß er über den
Sorgen um das Schicksal seiner Freunde sanft entschlummert war.

Heinz Werner hatte mit offenen Augen in die schweigende Nacht geblickt,
als könne aus dem Dunkel heraus das Bild seiner Zukunft treten. »Arme,
liebe Maria,« sagte er, und dann reckte er sich, er fühlte seine junge
Kraft, fühlte sich stark genug, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen,
für Marie und mit ihr.

       *       *       *       *       *

Heiße Schwüle herrschte, kein Blatt regte sich an den Bäumen, schlaff,
lechzend nach Frische, standen die Blumen auf dem trockenen, staubigen
Erdboden und eine atemlose Stille hielt wie ein schwerer, müder Druck
die Natur umfangen.

Den schmalen Weg, der vom Schlosse her, hart am See vorbei, nach dem
Dorf führt, schlenderte Gräfin Jusia. Sie hatte es nicht ausgehalten
droben in ihrem Zimmer, in das sie sich, Kopfschmerzen vorschützend,
zurück gezogen hatte, um den endlosen Erzählungen Frau Halinkas über
die Zeit ihrer Jugend zu entgehen. Auf der weißen Stirn des jungen
Mädchens liegt eine tiefe Falte und ihre Hände zerpflücken nervös einen
Brief in tausend kleine Stücke, die sie dann in weitem Bogen über das
Wasser streut. »Aushalten, aushalten! Oh! Tante Amélie, Du hast gut
reden,« murmelt sie, energisch mit den kleinen Füßen auf den weichen
Boden aufstampfend. »Ich halte es nicht aus, nein, nein!« ruft sie dann
laut, als könnte es Tante Amélie hören.

Da auf dem Wasser schwamm der Brief, der ihr die Nachricht gebracht,
daß es der Tante bisher noch nicht gelungen sei, die Fürstin zu einer
Einladung an die liebe Nichte zu bewegen.

»Halte aus, mein Seelchen, bis zum Herbst mußt Du schon in Lochowo
bleiben, es ist mir unmöglich, die Mittel zu einer anderen Reise zu
erschwingen! Halte aus!«

Jusia Potocka hebt die Arme, als möchte sie unsichtbare Fesseln davon
abstreifen, oh, wäre sie frei, frei von der erdrückenden Kette der
Armseligkeit, frei und reich, oh, leben können im brausenden Strudel
der großen Welt, gefeiert, umgeben von Glanz und Luxus. War es nicht
ein Dasein zum toll werden hier in Lochowo, in dieser künstlich
vertuschten Misère, die ihre scharfen Augen nur zu gut sahen, dann noch
lieber in einer engen, kleinen Wohnung, vier Treppen hoch in Paris,
sah sie doch da wenigstens von fern das Leben, das heitere, brausende,
glänzende Leben, das, ach, so kurz war.

»Leben, genießen,« flüsterten ihre Lippen, »ich will nicht wie eine
Nonne dies kurze, blühende Leben vertrauern, nein, nein, ich will
nicht, nicht eine Stunde gebe ich her, hörst Du es, Du da oben, ich
bitte, ich fordere, ich will meine Jugend auskosten, ich will Reichtum,
Glück und Glanz, ich will.« --

Ein dumpfes Grollen schreckte sie auf und verstört sah sie nach dem
Himmel. Dieser hatte sich vollständig verändert, die lichten, blauen
Wolken waren verschwunden, gelblich grau war er jetzt überzogen und
den Westen begrenzte eine nachtdunkle Wolkenwand. Die Stille war
noch schwerer, noch müder geworden, bis plötzlich ein jäher Windstoß
herniederfuhr und dürre Blätter und feinen Sand empor wirbelte. Ein
Gewitter! Einen angsterfüllten Blick nur hatte Jusia auf den Himmel
geworfen, dann beginnt sie zu laufen, verflogen sind ihre Träume und
Angst beherrscht sie, bebende Furcht, ihre kleine, feige Seele kann das
Erhabene in dem Aufruhr der Elemente nicht fassen; sie zittert nur vor
dem gewaltigen Schauspiel der Natur. Schon fallen schwere Regentropfen
klatschend herab, da erreicht sie das erste Haus im Dorf, blendend
fährt gerade ein Blitz hernieder, dem krachend der Donner folgt, mit
einem hellen Schrei flüchtet sie und steht atemlos, zitternd, in dem
Flur von Michael Wisniewskis kleinem Haus. Sie lehnt sich an die Wand
und starrt hinaus in das tosende Wetter, wieder zuckt ein Strahl
hernieder, den Flur sekundenlang mit bläulichem Licht erfüllend, ihm
folgt der Donner so rasch und heftig, daß es ist, als schwanke das Haus
in seinen Grundfesten.

»Oh, heilige Jungfrau, steh mir bei,« ruft Jusia laut und bedeckt ihr
Gesicht mit den Händen, sie taumelte förmlich, da umfassen sie zwei
starke Arme, eine Stimme schlägt an ihr Ohr:

»Oh, gnädige Gräfin, was ist geschehen?«

Sie sieht wie durch einen Nebelschleier hindurch das schöne, ernste
Gesicht Michael Wisniewskis, matt schließt sie die Augen und lehnt sich
fester in die schützenden Arme.

Michael steht regungslos, die leichte Gestalt in seinen Armen haltend,
seine Blicke ruhen wie gebannt auf dem süßen, blassen Gesicht des
Mädchens.

Seit jener Stunde, da er sie das erste Mal gesehen am Gitter seines
Gartens, hat er ihr Bild nicht los werden können, in seine Träume hat
es sich geschlichen, bei seinen einsamen Wanderungen, seinen ernsten
Studien hat es ihn umgaukelt. So hatte noch nie ein Weib im ersten
Augenblick des Begegnens seinen Sinn gefangen genommen, wie dieses
vornehme, fremde Mädchen, das er nun in seinen Armen hielt. Er fühlt
die Wärme ihres Körpers, an seine Wangen streifen ihre feinen, blonden
Haare, sein Herz klopft in rasender Schnelle, seine Pulse hämmern, vor
seinen Augen flimmert und flirrt es, aber er steht unbeweglich, wohl
kommt ihm der Gedanke, Wasser zu holen, die Ohnmächtige in das Zimmer
zu tragen, aber er vermag sich nicht loszureißen aus dem Bann.

Endlich schlägt Jusia die Augen auf, sie blickt verwirrt um sich,
sieht das erregte Männergesicht über sich geneigt und löst sich nun
langsam aus den sie umschlingenden Armen, dabei aber huscht ein leises,
spöttisches Lächeln über ihr Gesicht, ach, sie versteht so gut die
Sprache der Augen zu lesen und die ihres blonden Schützers reden eine
so ehrliche Sprache.

Auf den Steinfließen des Flurs wird ein schlürfender Schritt hörbar,
zwei dunkle, scharfe Augen schweifen spähend umher, die Gestalt
Benjamins löst sich aus dem Dunkel, er tritt, die Gruppe vor sich
erstaunt betrachtend, näher.

Vor allem Kranken, Elenden hegt Jusia Potocka eine unüberwindliche
Abneigung und dieser mißgestaltete Mensch, der so unerwartet vor
ihr auftaucht, flößt ihr Entsetzen ein und sie weicht unwillkürlich
zurück, sich an Michael anschmiegend. Benjamin hat ihre Bewegung wohl
gesehen, ein haßerfüllter Blick streift die Beiden, trotzdem sagt er
mit leidlich beherrschter Stimme: »Michael, willst Du die Dame nicht
ins Zimmer geleiten, das Wetter wird noch etwas anhalten und so lange
muß das gnädige Fräulein schon mit unserer schlichten Behausung vorlieb
nehmen.«

Er öffnet, sich verneigend, die Thür und tief aufatmend überschreitet
Jusia Potocka die Schwelle. Und die blonde Fee kehrte in die Hütte des
Hirten ein, ein Leuchten ging von ihr aus wie eitel Sonnenschein und
Jung Severin rief: »Gelobt seist Du, Dobrinka, für das Licht, das Du
mir bringst,« heißt es im Märchen und Michael will es erscheinen, als
sei das Märchen zur Wahrheit geworden, da das blonde Mädchen seine
Schwelle überschritt. Jusia hat in einem hohen Lehnstuhl Platz genommen
und neugierig gleiten ihre Blicke über ihre Umgebung hin, den niedrigen
Raum mit schlichten, dunklen Holzmöbeln, an der Wand ein Regal mit
Büchern gefüllt, alles einfach aber durchaus nicht bäuerlich. Sie sieht
die weiße Christusstatue, die aus der magischen Gewitterbeleuchtung
sich in lebendiger Klarheit hervorhebt und ein eigenes Gefühl überkommt
sie. Ihr ist es plötzlich, als sei sie in diesem Raume eine andere,
nicht mehr die alte Jusia Potocka, die kalte, raffiniert kokette
Weltdame, sie weiß, sie braucht nicht viel Kunst anzuwenden, um den
blonden Heiligen, wie sie ihn seit Kasias Erzählung nennt, an sich
zu ziehen, aber hier in diesem Raume ist es ihr unmöglich, sie ist
ordentlich befangen, ahnungslos, daß gerade dies befangene, verträumte
Wesen sie in Michaels Augen um so reizvoller erscheinen läßt. Sie
fühlt, wie unverwandt des Mannes Blicke auf ihr ruhen, die traumhafte
Stille, nur unterbrochen durch die schon ferneren Donnerschläge, das
Plätschern des Regens, bedrückt sie, so sagt sie hastig, nur um zu
sprechen, um den Laut einer Stimme zu hören:

»Erzählen Sie mir doch etwas von Ihrem Leben, Sie sind gewiß viel in
der Welt herum gekommen und haben mancherlei erlebt?«

»Wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein,« sagt Michael mit einer steifen
Verbeugung und ärgert sich selbst über die Unbeholfenheit, mit der er
ihrer freundlichen Güte entgegen kommt; er kann doch aber nicht rufen,
wie es in seinem Innern klingt: >Alles, alles will ich thun, nur laß
mich Dich anschauen immerdar<.

»Ich befehle doch nicht, ich bitte nur und will Sie durchaus nicht
quälen, wenn Sie nicht gern sprechen,« erwidert sie mit halbem Lächeln.

»Oh gewiß gern!« stammelt Michael und beginnt nun von seinen
Wanderfahrten zu berichten, er spricht von dem Dorf auf dem Sande, von
Vater Abraham, von Tabea, da stockt seine Stimme und ein warmes Rot
steigt in seine Wangen.

»Welch' altmodischer Name, wer ist Tabea?«

»Seine Braut!« ruft da Benjamin aus dem Hintergrunde hervor und
zugleich kam er wieder näher. »Seine Braut, gnädige Komtesse, meine
Schwester, verzeihen Sie, ich scheine das Unglück zu haben, Sie immer
zu erschrecken, wirklich, ich bedaure es tief; doch das Gewitter
scheint nachgelassen zu haben, soll ich wohl Jens, unseren dienstbaren
Geist, beordern, daß für gnädiges Fräulein ein Wagen vom Schloß
geschickt wird?«

»Danke, ich gehe,« Jusia Potocka war aufgesprungen, ein hochmütiger
Blick streifte Benjamin, dann reichte sie Michael die Hand, die dieser
ehrerbietig an die Lippen führte. »Ich sehe Sie wieder, Sie müssen mir
von Ihrer Braut erzählen und Dank für Ihren Schutz.« Das weiße Kleid
leicht emporraffend, schritt sie durch den blühenden Garten der Straße
zu.

»Als Fee Dobrinka die Hütte verließ, da war das Licht erloschen,« ging
das Märchen weiter.

Michael stand und sah sehnsüchtig der weißen Gestalt nach, ach, hatte
sie nicht alles Licht mit fortgenommen! Schwer legte sich eine Hand auf
die Schulter des Sinnenden: »Michael hüte Dich,« raunt ihm Benjamin zu,
»hüte Dich vor diesem blonden Weib, sie spielt mit Dir und sieht doch
nur den Bauernbursch in Dir, denk' an unser Werk, an Tabea, hüte Dich.«

Da riß sich Michael los: »Laß' mich, ich bin kein Kind, kein
Wortbrüchiger, und Du solltest Dich eher schämen, unseren Gast, eine
Dame, die schutzsuchend unser Haus betritt, so zu verletzen.«

Michael freute sich beinahe über den Vorwurf, den er dem Freund machen
konnte, als Vergeltung für dessen Mahnung, die ihn, obgleich er es
nicht eingestehen wollte, tief getroffen hatte. Mit einem kurzen
»Lebewohl« stürmte er hinaus, fort, nur fort in die Einsamkeit, hinaus
in den Frieden der Natur. Er eilte den Weg über die Wiesen hinunter an
den See, dort unter den hohen Bäumen warf er sich nieder und preßte
die heiße Stirn in das kühle, feuchte Gras, oh hätte er doch das so
wildklopfende, heiße Herz kühlen können. Noch nie war er der Macht der
Leidenschaft unterlegen, noch nie hatte der Gedanke an Frauenliebe sein
Herz höher schlagen lassen und nun war es über ihn gekommen, wie ein
Fieber, das ihn schüttelte, das sein Blut sieden ließ.

Er rang gegen den Dämon in seiner Brust, er beschwor das Bild seiner
Braut vor sein geistiges Auge. »Tabea!« stöhnte er, »Tabea, komme
zu mir!« Vergeblich, Tabeas Bild zerfloß wie im Nebel und immer
wieder sah er Gräfin Jusias holde Gestalt vor sich. Er schmähte sich
selbst, nannte sich einen wortbrüchigen Narren, einen thörichten
Bauernjungen, er hielt es sich vor, daß die junge Gräfin ihn garnicht
für gleichberechtigt ansah, er rief seinen Stolz zur Wehr hervor,
vergebenes Mühen, das lockende Bild wollte nicht weichen. Rauschte es
nicht in den Zweigen der hohen Ulmen, klang es nicht aus den girrenden
Schreien der Wasservögel hervor, flüsterte nicht das schwankende
Schilf: Jusia, Jusia!

Tief senkten sich bereits die Schatten der Nacht hernieder, da kam
endlich etwas Ruhe in des Mannes Herz, es war wie eine Ruhe nach einem
Sturm, die tiefe Ermattung zurückläßt und die bange Frage, wann wird er
wieder zu brausen beginnen?

Gräfin Jusia hatte nach ihrem Aufenthalt in Michaels Haus den Weg,
der direkt nach dem Schloß führte, eingeschlagen, in ihr kämpften
widerstreitende Empfindungen. Sie war empört über Benjamins Anmaßung
und fand, daß sie selbst sich benommen hatte, wie ein Pensionsmädchen.
Dann wieder amüsierte sie sich über Michaels schrankenlose Bewunderung,
die ihr, so wenig sie es sich eingestehen mochte, doch schmeichelte,
und öfter kehrten ihre Gedanken zu dem Augenblick zurück, da sie, aus
ihrer Betäubung erwachend, dies schöne, stolze Gesicht angstvoll über
sich geneigt sah. »Arme Tabea,« dachte sie mit heimlicher Freude, sie
reckte die schlanke Figur etwas, während ein triumphierender Ausdruck
auf ihr Gesicht trat. Oh, es war köstlich, die Macht zu erproben, die
sie über Männerherzen besaß, das richtete sie auf und stählte ihre
Hoffnung auf den großen Erfolg ihres Lebens, der ihr Reichtum und Glanz
geben sollte, den allein würdigen Namen für ihre Schönheit.

Ein rasch daherkommender Wagen zog ihre Aufmerksamkeit an, sie erkannte
in dem Herrn darin Dr. Werner, der flüchtig grüßte, sie sah ihm nach.
Puh! war das ein Gesicht, schlimmer wie das Wetter vorhin! Ei, sollte
der Doktor gar von Lochowo kommen, war etwas geschehen, hatte er gar
um Maria angehalten, vielleicht hatte sie ein kleines, aufregendes
Schauspiel verpaßt? Ihre Neugierde war erregt und schnell eilte sie
dahin, um so bald wie möglich zum Schloß zu gelangen. Die Terrasse war
leer, ebenso der weite Vorflur, sie ging auf den Salon der Hausfrau zu,
da öffnete sich auch schon dessen Thür und Kasia schlüpfte heraus.

»Jusia, komm' schnell, ich muß Dir etwas mitteilen!« Sie zog die
Freundin mit fort nach deren Zimmer. »Denke Dir, wie gräßlich, Maria
liebt diesen Dr. Werner, soeben war er da und hat um ihre Hand
angehalten, Mama ist außer sich,« sprudelte sie hervor. »Sag' doch, ist
es nicht empörend?«

»Warum, mein Seelchen?«

»Warum, mein Gott, Jusia, eine Maria von Leninska will einen Dr. Werner
von Dingsda heiraten, der noch dazu ein Deutscher, ein Protestant ist,
das ist doch einfach lächerlich, widersinnig, erniedrigend, ich finde
keine Worte für meine Empörung.« Die kleinen Hände der Sprecherin
ballten sich zusammen. »Eine Schmach für uns ist es!« schrie sie.

Jusia lachte auf, ihr weiches, klingendes Lachen: »Nun, was die
mangelnden Worte betrifft, daran fehlt es ja nicht, meine süße Kasia!
Übrigens bist Du ein Närrchen. Warum verdenkst Du es denn Deiner
Schwester so, wenn sie hier fort will aus dieser Einsamkeit, sie denkt
halt, besser ein bürgerlicher Mann, ein simpler, kleiner Doktor, wie
gar kein Mann!«

»Das sagst Du, Jusia, Gräfin Potocka, deren Ahnen bereits unter
Johann Sobieski eine Rolle spielten? Ja, würdest denn Du eine Heirat
schließen, die nicht standesgemäß ist?«

Jusia kniff die Augen ein wenig zusammen und sah spöttisch in
Kasias aufgeregtes Gesicht. »Wenn er reich wäre! Kleine, dumme
Klosterschwester, man merkt, Du hast die Welt noch nicht gesehen,
hast noch die Klosterideen, wo wir sehr aristokratisch waren und es
als selbstverständlich ansahen, daß unsere Priorin eine Prinzessin
von Geblüt war, wir saßen eben hinter Klostermauern. -- In der Welt
ist es anders, was nutzt uns der Adel ohne den Lebenssaft des Goldes,
Reichtum giebt Freiheit, giebt Lebensgenuß, Du wirst es schon noch
einmal verstehen. Sieh mich nicht so entgeistert an und sei nicht zu
empört über Deine Schwester. =Chacqu'un à son goût, ma chère=, ich
würde mich ja auch dafür bedanken, als Frau Dr. Werner irgendwo in
Dingsda zu sitzen, aber Maria, die paßt hin. Sie kommt sicher mit
dem denkbar wenigsten Wirtschaftsgeld aus, hält sich nur ein kleines
Aufwartemädchen, trägt womöglich drei Jahre denselben Hut und zieht
nur an hohen Festtagen ein seidenes Kleid an, bekommt rote Hände mit
zerstochenen Fingern vom kochen und stopfen. Einmal wöchentlich geht
sie vielleicht zu einem sogenannten Kränzchen und Sonntags mit ihrem
Mann und sämtlichen Babys spazieren. Oh, und Kasia, besuchst Du sie, so
giebt es Braten zu Tisch, Du wirst sämtlichen Honorationen von Dingsda
vorgestellt, vielleicht, wer kann es wissen, findet einer der Jünglinge
von Dingsda in Dir sein Ideal und er macht Dich zu einer ehrsamen
Bürgersfrau, und am Sonntag geht ihr dann zusammen spazieren.«

»Oh pfui, Jusia, höre auf, Du bist abscheulich! Noch über unser Unglück
zu spotten!«

»Laß gut sein, Kleine, wenn Du nicht willst, rolle ich keine
verführerischen Zukunftsbilder mehr vor Deinen Blicken auf, erzähle Du
mir lieber, wie die Sache eigentlich war?«

»Was ist da zu erzählen,« sagte Kasia, während ihr die Thränen über die
Wangen liefen. »Dieser Mensch kam, ließ sich melden und brachte auch
sofort seinen Antrag vor, ich war im Nebenzimmer und hörte alles, Du
mußt nicht denken, ich hätte gehorcht,« unterbrach sie sich, Jusias
spöttisches Gesicht bemerkend, »sie sprachen laut genug und Mama schrie
förmlich vor Schreck, Du kannst Dir denken, wie empört sie überhaupt
war.«

»Kann ich mir denken,« setzte Jusia in Gedanken hinzu, »schade, schade,
daß ich Frau Halinkas Entsetzen nicht gesehen habe.«

»Dann kam Maria,« fuhr die Erzählerin fort, »sie erklärte auch gleich,
daß sie den Menschen liebe, denke nur, schon seit fünf Jahren, Gott!
wenn er nicht so simpel wäre, fände ich das Ganze ja riesig romantisch.
Mama bekam dann einen Weinkrampf und Papa bat den Doktor, sich zu
entfernen. Wie er gegangen war, gab es noch eine furchtbare Scene,
Maria war auch so verstockt, wenn sie wenigstens geweint und geschrieen
hätte, gesagt, sie ginge ins Kloster oder ins Wasser, aber nein! stumm
und blaß stand sie da; nun sitzt sie oben in ihrem Zimmer und hat sich
eingeschlossen. Das Abscheulichste ist, gerade wie dieser Mensch kam,
berieten Mama und ich über unser Sommerfest, und nun wird gewiß nichts
daraus. Oh, das Leben ist zu schwer, ich bin zu unglücklich!« Und immer
heftiger flossen ihre Thränen! --

»Kasia, mein Seelchen, nimm diese Angelegenheit doch nicht so tragisch,
lache doch lieber mit mir, Thränen verderben bloß den Teint, lasse
Deine Schwester thun, was sie will, Du brauchst ja den Doktor nicht zu
heiraten, und das Sommerfest wird schon stattfinden, sage mir lieber,
welche Toilette Du wählen wirst und wer erwartet wird?«

»Ach, mir ist jetzt alles gleich,« erwiderte Kasia, »abscheulich von
Maria, uns solchen Kummer zu bereiten, -- glaubst Du wohl, daß rosa mir
stehen wird?«

»Sicher, mein Herz,« Jusia zog die Freundin an sich, »sag' endlich, wer
wird erscheinen?«

Oben in ihrem Zimmer saß Maria am Fenster und starrte mit thränenlosen
Augen hinüber nach dem blinkenden See, der jetzt so ruhig und glatt
dalag, als wäre nie ein Gewittersturm darüber hingebraust. Sie hätte
weinen mögen, heiße, bittere Thränen, aber ihre Augen blieben trocken,
ihr fehlte die Kraft zum Weinen. Sie war so unsäglich müde von allen
stillen Kämpfen, ach, hätte sie jetzt ihr Haupt an des Geliebten
Brust legen können, still, ganz still, und mit ihm fortgehen können,
dahin, wo Ruhe und Frieden war. Vorhin bei dem Sturm der Entrüstung
war sie still gewesen, sie hatte wohl das Gefühl, als müsse sie rufen:
»Laßt mir doch mein Glück, mein reines, stolzes Glück, stört mir doch
nicht den Frieden meiner Liebe!« Aber kein Laut war über ihre Lippen
gekommen, nur mit Entsetzen hatte sie gefühlt, wie innerlich fremd
sie den Ihren war. Keine Frage von Mutter und Schwester nach ihrer
Liebe, nur Standesvorurteile, nicht die Person des Mannes galt, dem
sie sich zu eigen geben wollte, nur sein Rang, seine Stellung. Stumm
hatte sie alle Schmähungen über sich ergehen lassen, als zuletzt Kasia
ausgerufen hatte: »Ach, nun wird gewiß nichts aus unserem Ball,« da war
sie gegangen, Bitterkeit und Verachtung im Herzen, hierher hatte sie
sich geflüchtet, wo sie schon so oft in einsamen Stunden stille Kämpfe
ausgefochten hatte. --

Draußen erklang ein Schritt, es war, als dämpfe jemand vorsichtig
seinen schweren Tritt, lauschend hob Maria den Kopf, kam jemand zu ihr?
Nun klopft es zaghaft und ein leises Räuspern wurde hörbar. Sie sprang
empor und öffnete hastig die Thür. »Papa, Du, Du kommst zu mir?«

Herr von Leninski schlüpfte hinein, leise die Thür hinter sich
zuziehend.

»Hm, ich wollte mal sehen, wie es Dir geht,« sagte er, sie dabei mit
einem Blick voll herzlicher Liebe ansehend.

Maria war es, als löse sich ein Reif von ihrem Herzen, mit einem
Jubelruf warf sie sich in die Arme des Vaters und heiße Thränen
stürzten ihr aus den Augen.

Herr Marcel strich ihr, so sanft er konnte, über das dunkle Haar.
»Mein Kind,« flüsterte er, während es in seinen Augen bedenklich feucht
schimmerte, »mein armes, gutes Kind, hast Du ihn denn gar so lieb?«

Maria hob den Kopf ein wenig: »Ja, Vater,« sagte sie unter Thränen
lächelnd, »ich habe ihn lieb, mehr wie ich sagen kann!«

»Hm ja, na die Mama ist ja sehr aufgebracht, ich wollte Dir aber doch
sagen, hm ja, ich persönlich habe nichts dagegen, gar nichts, na und
wenn Du gern willst, der Stefan fährt zur Stadt, vielleicht soll er
einen Brief besorgen, hm, wie gesagt, die Mama ist dagegen, aber die
Zeit, die Zeit.«

»Oh du einziger, guter Vater,« stammelte Maria, während ihr
unaufhaltsam die Thränen über die Wangen flossen.

»Mein bestes Kind, Du mein tapferer Kamerad, schreib es ihm nur, mir
ist er als Sohn willkommen, und wie gesagt, die Zeit, die Zeit.«

Vorsichtig trat Herr von Leninski den Rückweg an, es brauchte ja gerade
niemand zu wissen, daß er bei Maria gewesen war, an dem Zimmer seiner
Frau vorbei schlich er sogar auf Fußspitzen. »Hm ja, die Frauen sind
sonderbar,« seufzte er und dachte dabei an Frau Halinkas Weinkrämpfe,
die ausdauernder und in ihrer Wirkung nachdrücklicher waren, wie seine
gelegentlichen Zornesausbrüche.

       *       *       *       *       *

  »=Chère tante!= -- Du siehst, ich bin noch am Leben, noch nicht
  gestorben vor Langeweile, aber ich gebe Dir die Versicherung,
  lange bleibt meine Seele nicht in diesem öden Nest und wenn ihr
  der Körper, wegen mangelnden Reisegeldes, nicht folgen kann, wird
  es wohl eine Trennung geben, also bereite Dich immer vor, daß Dir
  plötzlich mein armer Geist erscheint, der das Idyll von Lochowo
  verlassen hat. Doch eine Abwechslung winkt in dieser ländlichen
  Stille, um Dir davon zu erzählen, schreibe ich heute. Ein Ball, ein
  Sommerfest oder wie Du es nennen willst, soll es geben, wenn -- wenn
  nämlich Papa von Leninski in der Lage ist, den nötigen Mammon dazu
  herzugeben, was mir durchaus nicht sicher erscheint. Etliche Familien
  aus der Umgegend sollen kommen, Kasia rümpft die Nase, daß auch das
  bürgerliche Element vertreten sein soll. Es geht die Sage, daß auch
  einige männliche Erscheinungen, die noch nicht die Ehefesseln tragen,
  das Fest verherrlichen werden und wenn ich Dir sage, daß auch Graf
  Kasimir Sucholski erscheint, der trotz seiner fünfzig Jahre noch
  seine Millionen und seine Freiheit besitzt, geht sicher in Deinem
  Tantenherzen strahlend die Sonne der Hoffnung auf. Nun noch eine
  lächerliche, kleine Neuheit, Maria will sich verloben mit einem Dr.
  Heinrich Werner, wohnhaft in irgend einem kleinen Nest, schade, daß
  Du diesen Familiensturm nicht erlebt hast. =Madame= war rasend und
  ist jetzt elegisch, =monsieur= war still und ist noch immer still,
  im Grunde aber scheint er mir sehr zufrieden zu sein, wenigstens
  eine Tochter versorgt zu wissen. Kasia ist empört, vollständig
  Aristokratin, sie haßt die Schwester förmlich, unter uns gesagt, =la
  petite= hat Rasse, ich glaube beinahe, ich lade sie mir nicht in mein
  künftiges Haus. Und Maria! Oh, es wäre wert, dies Bild festzuhalten,
  sie ist verklärt, nur Liebe, nur Demut, ich bin sicher, sie sieht in
  diesem Doktor aus Dingsda einen Halbgott und wird selig sein, darf
  sie erst ihrem Herrn die Strümpfe stopfen und die Suppe kochen, sie
  fühlt sich im Paradies, zieht sie erst in ihr bescheidenes Heim. Die
  Ansichten von Glück sind eben verschieden, mein Götze heißt Reichtum
  und Schönheit, ich will leben, leben, dies, ach so kurze Dasein
  genießen und nicht verkümmern in der elenden Misère!

  Lebe wohl, =chère tante=, bitte zu den Heiligen, daß sie mein Gebet
  erhören. Immer in Liebe

        Deine tieftraurige Jusia.

»Wenn ich nur wüßte, ob Graf Kasimir wirklich so reich ist, wie Fama
sagt!« so überlegt Jusia, während sie den Brief in den im Hausflur
befindlichen Postkasten senkt und dann mit leisen Schritten das Schloß
verläßt. Sie fürchtet, Kasia könnte kommen, lieber vertieft sie sich
in die Lektüre von Paul Bourgets neuesten Roman, den ihr Tante Amélie
gesandt, als sich an den endlosen Gesprächen über Marias unbegreifliche
Rücksichtslosigkeit zu erbauen. Leichtfüßig eilt sie die verschlungenen
Wege des Parkes entlang, dem See zu und besteigt dort angekommen, den,
an einer Kette liegenden Kahn; träumerisch sieht sie auf das graue
Wasser, das leise plätschernd an die Wände des Bootes schlägt.

    »=Oh pescator dell'onda=
            =Fidelin=
    =Vieni pesca in qua=
    =Colla bella sua barca=
    =Colla bella sene va=
          =Fidelin lin la=«

trällert sie, mit sehnsüchtigen Augen in die Ferne blickend, dem großen
unbekannten Glück entgegen.

    »=Colla bella sene va,=
         =Fidelin, lin la!=«

Der einsam am Ufer des Sees dahinschreitende Mann hebt den Kopf, da der
helle Gesang an sein Ohr schlägt. Er lauscht. Da stockt ihm der Atem,
als er durch das Gebüsch das rote Kleid der Sängerin schimmern sieht.

»Führe mich nicht in Versuchung,« stammelt er und will zurück, nur
nicht wieder mit ihr sprechen, sie sehen, deren Bild ihn umgaukelt im
Wachen und Träumen.

    »=Jo vo un basin d'amore Fidelin=,«

klingt es zu ihm herüber, die weichen Laute der fremden Sprache umkosen
ihn wie Schmeichelworte. Mit Zauberfäden zieht es ihn näher, immer
näher, Schritt für Schritt, bis er an der kleinen Bucht steht und mit
heißen Augen auf Jusia Potocka sieht.

Diese stößt einen leisen Schrei aus, da die dunkle Gestalt neben ihr
auftaucht.

»Verzeihung, gnädigstes Fräulein, daß ich Sie erschreckt habe, der
Gesang zog mich an,« stammelt Michael sich fast demütig verneigend,
seine Stimme bebt dabei, seine Augen sehen mit flehender Bewunderung zu
dem schönen Mädchen nieder und Jusia lächelt, durch den Sinn zieht ihr
der Gedanke:

»Wie gerufen kommt er, mir die Langeweile dieser Stunde zu vertreiben.«

»Sie sollen Verzeihung erlangen, wenn Sie mich an das jenseitige Ufer
rudern wollen, immer am Schilf entlang, es sollen da noch Wasserrosen
blühen, die möchte ich haben!«

Nicht eine Sekunde zögert Michael, er denkt nicht an sein Mühen, die
blonde Gräfin zu vergessen, an all' die heißen, unruhigen Tage, er
sieht nur das holde Gesicht, hört die süße, weiche Stimme und ist
vollständig in Jusias Bann.

So fährt er sie hinaus auf das stille, graue Wasser. -- Es ist einer
jener trüben, sonnenlosen Spätsommertage, die Vorboten des kommenden
Herbstes; eine endlose graue Fläche, spannt sich der Himmel über die
Erde; der Horizont verschwimmt in demselben eintönigen Grau.

Regungslos stehen die hohen Ulmen, die tief sich neigenden
Trauereschen, keine flimmernden Lichter zucken golden über sie hin,
all' die leuchtenden, glühenden Farben des Sommers sind ertrunken in
dem schweren, eintönigen Grau. Kein Laut auch unterbricht die Stille
ringsum, nur manchmal wird der klagende Schrei eines Wasservogels
hörbar, ein Fischreiher streicht, nach Beute spähend, über das Wasser
hin und leise rauscht das Schilf, an dem der Kahn entlang gleitet.

»Erzählen Sie mir mehr von ihrem Leben, von Ihrer Braut,« unterbricht
Jusia Potocka das Schweigen, sie neigt sich vor und sieht prüfend in
das schöne Männergesicht mit dem schwermütigen Zug darin. »Sagen Sie
mir, wie sieht Ihre Braut aus, ist sie hübsch, woher hat denn sie den
seltsamen Namen Tabea?«

Michael schweigt, er will antworten, aber er kann nicht, die Kehle
ist ihm wie zugeschnürt. Tabea! er soll von Tabea reden, er muß sich
beinahe besinnen, wo er den Namen gehört hat, alles ist vergessen in
der Minute, da ihn Gräfin Jusia rief und er sieht nur immer sie, sie
allein. Tabea! der Name klingt wie fernes Meeresrauschen und das Meer
ist so weit, so weit!

Er bleibt die Antwort schuldig und sieht die Fragerin nur an mit seinen
ernsten Augen, so flehend, so um Liebe heischend, daß ein banges Gefühl
Jusia überschleicht.

Soll sie das Spiel, das sie so leichtherzig begann, nicht lieber enden,
soll sie nicht umkehren?

Es ist ein gefährliches, aber für sie köstliches Spiel, es reizt sie,
diesen Mann, der so gar nicht mit ihren bisherigen Bewunderern zu
vergleichen ist, in ihrem Banne zu sehen, mag es lächerlich, mag es
absurd erscheinen, so wie dieser blonde Schwärmer hat ihr noch keiner
gefallen.

Sie schlägt mit einer kleinen Gerte auf das Wasser, daß die hellen
Tropfen ihr ins Gesicht spritzen, soll sie zurück, soll sie weiter
fahren, allein mit ihm? Sie sieht ihn von der Seite an, er hat die
Ruder eingezogen und sitzt in müder Haltung still da, als fühle er
ihren Blick, wendet er sich ihr zu, ihre Augen kreuzen sich und ruhen
sekundenlang ineinander, dann sagt Jusia Potocka mit leisem Lachen:

»Ach, sehen Sie dort, da sind noch Wasserrosen, ach, schnell fahren Sie
hin, ich möchte welche haben,« sie streckt verlangend die weißen Hände
nach den Blumen aus und Michael treibt den Kahn mit einigen raschen
Ruderschlägen näher und zieht die weißen Blüten, an ihren langen,
schlüpfrigen Stengeln, aus dem Wasser und legt sie zu Jusias Füßen
nieder, die sie ineinander schlingt und sie sich wie eine weiße Krone
aufs Haupt setzt. »Sehen Sie mich an, Herr Wisniewski, sehe ich nun
nicht aus, wie eine Wasserfrau?«

Schwermütig schüttelt er das Haupt: »Oh nein, Komtesse, oh nein, nicht
wie eine Nixe, die sind schlecht, und locken uns arme, thörichte
Menschen in Leid und Tod. Sie gleichen eher einer« -- er bricht
stockend ab und wendet den Blick von ihr.

»Wie sehe ich eher aus, schnell, das müssen Sie mir sagen, sonst werde
ich böse, oder ist es so wenig schmeichelhaft für mich, daß Sie es
nicht sagen können?«

»Es ist keine Schmeichelei, es ist Wahrheit; Sie gleichen einer holden,
gütigen Fee, zu gut, zu schön und -- unerreichbar für uns Menschen,«
sagt Michael, und die letzten Worte ersterben in einem Flüstern.

»Legen Sie dort an, sehen Sie, da ist eine Einfahrt, ich möchte ein
Stück dort entlang gehen,« ruft Jusia fast befehlend statt jeder
anderen Antwort, und wieder gehorcht Michael willenlos ihrem Wunsch,
bald darauf fährt der Kahn in die schmale Bucht ein und leichtfüßig
springt Jusia ans Land.

Immer dichter waren die grauen Wolkenschleier auf die Landschaft
herniedergesunken, sie hatten das jenseitige Ufer mit dem Schloß
umhüllt, die Baumgruppen waren untergetaucht in dem grauen Nebel,
es schien, als ginge der See in unermeßliche Weiten, als gäbe es
keine Ufer, keine Häuser, keine Bäume, nichts als graues, trübes
Wasser. Leise begann jetzt ein feiner Regen herniederzurieseln, der
aber die beiden Wanderer, die unter den dichten Trauereschen am Ufer
dahingingen, nicht traf.

»Sehen Sie, es regnet, auf dem Wasser sieht man es, wie fatal! Ob es
wohl lange dauert?«

Jusia streckte bei diesen Worten die weiße Hand unter dem schützenden
Blätterdach hervor, um die fallenden Tropfen zu spüren.

»Es wird Landregen, der vergeht nicht so schnell, es ist ein treuer
Geselle,« sagt Michael.

»Dann wollen wir rasch umkehren, es hat ja keinen Zweck, zu warten,
schade, daß wir unseren Gang nicht weiter ausdehnen konnten,« die
Gräfin wandte sich, um nach der Bucht zurückzukehren; vorsichtig,
so viel wie möglich die Nässe meidend, setzte sie den Fuß auf einen
glatten Stein, der aber unter dem Druck nachgab, sie glitt aus und wäre
gefallen, wenn Michael sie nicht in seinen Armen aufgefangen hätte.

Zum zweitenmal hielt er das schöne Mädchen umfangen, ihr weiches,
schimmerndes Haar streifte seine Wange, er fühlte, wie ein leises Beben
ihre Gestalt durchlief; da vergaß er alles, seine Braut, das stille
Dorf auf dem Sande, vergaß seine Ehre, seinen Stand, alles, alles, er
sah nur das schöne, lebensvolle Weib, das er in seinen Armen hielt. Da
riß es ihn fort, wie ein toller, wahnsinniger Rausch durchdrang es ihn,
fester umschlang er sie und dann küßte er sie, küßte sie auf die roten
Lippen, auf das flimmernde Haar, er küßte die geschlossenen Augen und
dazwischen stammelte er heiße, bethörende Liebesworte.

Jusia erzitterte unter der Leidenschaft des Mannes, die wie ein Sturm
über sie hinbrauste, dennoch machte sie keinen Versuch, sich aus den
sie umschlingenden Armen zu befreien, sie schmiegte sich fester an
seine Schulter, schloß die Augen wie in seliger Betäubung.

Einmal kam ihr der Gedanke: »Schade, daß er nicht Kasimir Sucholski
ist, und wenn Tante Amélie mich sehe,« da mußte sie lächeln, und
Michael küßte sie auf die lächelnden Lippen und flüsterte:

»Oh, Du Hohe, Du Geliebte, meine Königin, mein Glück, ich liebe Dich,
ich liebe Dich.« --

Immer dichter hüllte die Ferne sich in ihr graues Nebelgewand, kein
Laut, kein Ruf drang an das Ohr der Beiden, sie waren so einsam in dem
wallenden Nebel, wie auf einer stillen, fernen Insel.

So verrann die Zeit für das Paar unter den hängenden Eschen wie eine
kurze, flüchtige Minute, irgendwo schlug ein Hund an, das langgezogene
Bellen trug den ersten Laut der Welt in diese graue Einsamkeit und
schreckte Jusia Potocka empor. Tief aufatmend befreite sie sich aus
Michaels Armen.

»Es kommt jemand, heilige Jungfrau, wenn mich ein Mensch sieht.« Sie
strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn und sah angstvoll um
sich. »Rasch, nur rasch, ich muß zurück, man wird mich suchen, mich
vermissen!« Sie hastete, um vorwärts zu kommen, jetzt, da sie aus dem
Bann der letzten Stunde erwacht war, überkam sie eine namenlose feige
Angst, daß jemand sie sehen könnte. Sie zitterte vor Ungeduld, vorwärts
zu kommen, und ergriff Michaels Hand, ihn mit sich ziehend. »Schnell
doch, nur fort von hier, ich muß zurück, oh, wäre ich doch erst in
Lochowo!«

Michael folgte ihr willenlos, er konnte sich nicht so jäh aus dem
schönen Traum lösen, ihm war alles andere, die Menschen, alles so
völlig gleichgiltig. Mechanisch setzte er die Ruder ein, leise strich
der Kahn über das Wasser, das gurgelnd an seine Wände schlug, alles wie
zuvor und doch so anders. Jusia Potocka spähte angstvoll aus, ob ein
anderes Boot ihnen entgegen käme, ob man sie suchte. Das Ufer mit den
Trauereschen tauchte im Nebel unter, verschwommen und grau sahen die
Umrisse von Schloß Lochowo hervor, mit einem Seufzer der Erleichterung
begrüßte Jusia das Bild, dort war das Ufer; noch lag der Kahn nicht
fest, da sprang sie schon heraus und eilte mit einem flüchtigen: »Auf
Wiedersehen!« davon.

Die hohen Bäume des Parkes nahmen sie in ihren Schatten auf, sie hörte
nicht mehr den flehenden Ruf des Mannes: »Bleibe, ach, bleibe doch,
wann seh' ich Dich wieder?«

Immer stärker rauschte der Regen nieder, der trübe Tag war kaum
merklich zum Abend geworden, immer noch saß Michael im Kahn und starrte
nach dem Park, als müsse die Pforte sich öffnen und eine holde Gestalt
heraustreten.

Er war wie im Fieber, wie wahnwitzige Fieberphantasien jagten die
Gedanken sich hinter seiner Stirn. Aus dem wallenden Nebel lösten sich
Gestalten heraus, er sah Propst Ryback, sah Vater Abraham und -- Tabea,
da stöhnte er vor Qual und Scham. Dann wieder fühlte er Jusias Gestalt
in seinen Armen, er meinte den Duft ihrer schimmernden Haare zu spüren,
da zuckte er vor Leidenschaft, er streckte die Arme aus und schluchzte:
»Jusia, Jusia,« aber alles blieb stumm.

Kein Laut drang aus dem Schloß zu dem einsamen Mann herüber, einige
Fenster erhellten sich, dort weilte sie jetzt, ob sie wohl lachte und
sprach mit ihrer hellen, weichen Stimme, ob sie wohl an ihn dachte?

Spät erst raffte sich Michael auf, völlig durchnäßt, totmatt von den
quälenden Gedanken, schlug er den Rückweg ein; er ging durch das Dorf,
heute war es ihm vollständig gleichgiltig, ob man ihm Schmähworte
nachrief oder nicht. Wie ausgestorben lag das Dorf da, nur aus dem Krug
erscholl wüstes Johlen, und Michael dachte gerade wie einst; damit
kehrten ihm die Gedanken zur Vergangenheit zurück, heiße Sehnsucht
ergriff ihn plötzlich nach der entschwundenen Zeit der Jugend, der
Reinheit, da er mit schuldlosem Herzen oft denselben Weg gegangen war.

Da stand er am Pfarrhaus, durch die grünen Fensterläden schimmerte
Licht, der Propst weilte in seinem Studierzimmer, und als trieb ihn
eine unsichtbare Macht vorwärts, der er nicht widerstehen konnte, trat
Michael näher. Oh, nur jetzt in dieser Stunde eine treue Hand ergreifen
können, jetzt »Vater« sagen dürfen, »Vater -- ich verstehe Dich und
Deine Schuld, denn jetzt weiß ich, was Leidenschaft heißt, weiß, welche
unbesiegbare Macht sie ist, die uns zur Sünde treiben kann.«

Immer näher zieht es ihn, er durchschreitet den kleinen Vorgarten, er
tritt durch die offene Hausthür in den weiten Flur, in dem eine kleine
Öllampe ein mattes Licht verbreitet; er schleicht sich an die Thür des
Studierzimmers und setzt sich dort auf die schmale Holzbank nieder,
auf der er wartend einst so oft gesessen hat. Er legt den Kopf an den
Thürpfosten und lauscht, ob er nicht drinnen den Schritt des Propstes
hört, aber an sein Ohr schlägt nur das Geräusch des fallenden Regens
draußen und das wilde Klopfen seines eigenen Herzens.

Ihm ist zu Mute, als sei er heimgekehrt nach langen, langen Jahren,
er denkt nicht daran, wie Propst Ryback ihm entgegengetreten ist,
als er im Winter in seine Heimat zurückkam, in dieser Stunde hat er
alles vergessen, er hat nur grenzenlose Sehnsucht nach einem gütigen,
verstehenden Wort, nach jemand, der seine heiße, verzehrende Liebe
versteht. Er tastet nach der Klinke und öffnet leise die Thür, er sieht
im Lichtkreis einer Lampe den Geistlichen sitzen, den Kopf tief über
ein Buch geneigt.

»Vater!« Wie ein Hauch rang es sich von seinen Lippen.

»Michael!« Der Propst sprang nicht empor, regungslos blieb er sitzen
und sah entsetzt auf den Mann in der Thür. Sekundenlang ruhten die
beiden Augenpaare ineinander, bis sich der Propst erhob, ein eisiger
Zug legte sich auf sein Gesicht, als er hart sagte: »In meinem Haus ist
kein Raum für einen Abtrünnigen!«

»Vater!« In verzweifelndem Flehen, in beginnendem Trotz klang der Ruf.

»Kein Raum für einen Abtrünnigen,« wiederholte der Propst tonlos.

»Auch keinen Raum für den Sohn?«

Michael schrie es fast und doch klang namenlose Angst durch seine Worte.

Es war, als schwanke die stolze Gestalt des Geistlichen, aber nur kurz
war die Schwäche.

»Ein Priester hat keinen Sohn, darf keine Liebe haben, als die zu der
heiligen Kirche,« sagte er fest.

Michael lachte auf, wild, höhnisch, rasch trat er näher.

»Du,« stieß er hervor, »Du, der Du mein Leben verbittert hast, mich
hineingetrieben in Zweifel und Irrtümer, der Du die Schuld trägst,
daß mir mein stolzer, reiner Kinderglaube verloren ging, Du, der
mir alles genommen, was rein und gut in mir war, Du verdammst mich
als Abtrünnigen, schiltst mich einen Ketzer und stößt mich fort! Du
verweigerst mir Vaterliebe, Du verleugnest mich aus feiger Angst vor
der Welt, Du entziehst mir, was der Ärmste seinem Kinde giebt: Liebe!
und nennst Dich einen Priester, einen Christ! Oh, ich Thor, ich kam her
und wollte mich an die Brust des Vaters flüchten, wollte Dir sagen,
daß ich Deinen Fehltritt verstehe, und verstehen heißt verzeihen, ich
wollte nur ein wenig Liebe. Aber wehe Dir, die Liebe läßt sich nicht
leugnen, hüte Dich, daß nicht einst eine Stunde kommt, in der all Dein
Flehen, Dein Rufen vergebens ist, in der Du einsam bist und Dein Herz
vergebens nach der Liebe Deines Kindes schreit, hüte Dich vor dem zu
spät.« --

In wortlosem Entsetzen stand der Propst, er sah das
leidenschaftdurchwühlte Gesicht des Sohnes, hörte die furchtbare
Anklage, dann schlug ein grelles, verzweifeltes Lachen an sein Ohr,
krachend fiel die Thür ins Schloß, er war allein. -- Er wollte rufen:
»Kehr zurück, komm wieder!« Kein Laut kam über seine Lippen, gebrochen
sank er auf einen Stuhl nieder, mit starrem Blick nach der Thüre
schauend, als müßte diese sich öffnen und der Sohn noch einmal kommen.
Alles blieb still, der alte Mann saß stundenlang so, bis er endlich
laut vor sich hin sagte: »Ein Priester darf nicht lieben, er gehört nur
der heiligen Kirche!« --

Michael stürmte davon, seinem kleinen Hause zu, das so still dalag
wie die anderen; vor der Thür saß die mächtige Dogge und begrüßte mit
freudigem Winseln den heimgekehrten Herrn. Leicht strich ihr dieser
über den Kopf, ihm that die Freude des Hundes ordentlich wohl.

Benjamin schien bereits zu schlafen oder war noch nicht zurückgekehrt,
Michael dachte daran, daß heute Nachmittag eine Andacht im jenseitigen
Walde hatte stattfinden sollen, er dachte daran, wie an etwas, das
weit, weit hinter ihm lag, er war nur froh, jetzt nicht dem Freunde
Rede stehen zu müssen, in dieser Stimmung nicht dem forschenden Blick
der dunklen Augen standhalten zu müssen. Er zündete ein Licht an und
betrat das niedrige Wohnzimmer, er prallte förmlich zurück, aus der
Ecke leuchtete das weiße Bild des Heilands ihm entgegen, die Kerze in
seiner Hand warf unruhige Lichter darauf, die darüber hinhuschten und
dem weißen Bildwerk einen Schimmer von Leben verliehen.

Seine aufs äußerste angespannten Nerven verloren die Spannkraft, laut
weinend warf er sich vor der Statue nieder und streckte die Arme aus.

»Hilf, hilf!« stöhnte er; er wollte beten, aber er konnte nicht, er
stammelte nur wirre Worte, in ihm tobte alles wirr durcheinander, Liebe
und Leidenschaft, Scham, Reue und Zorn stritten in ihm, bis zuletzt die
mächtige Stimme der Leidenschaft all' die anderen übertönte. Jusias
Bild trat vor seine Augen, er hörte ihr Lachen, sah ihr süßes Gesicht,
er küßte wieder ihren roten Mund und hielt sie in seinen Armen. So
verharrte er regungslos zu den Füßen des Christusbildes, bis ein
wohlthätiger Schlaf sich auf seine Augen senkte und im Traum flüsterten
seine Lippen: »Jusia, Jusia.«

       *       *       *       *       *

Noch immer herrschte eine schwüle Stimmung auf Lochowo, Frau von
Leninska ging herum mit der Miene einer trauernden Niobe, sie hüllte
sich gegen Maria und gegen ihren Gatten, der zu ihrer Empörung
ordentlich zärtlich zu ersterer war, in eisiges Schweigen; nur gegen
Jusia und Kasia war sie milde. Selten wohnte sie den Mahlzeiten bei,
sie lag in ihrem Boudoir, eine Schale Konfekt neben sich, und studierte
die neuen Modezeitungen, neben diesen aber lag offen ihr Gebetbuch und
ihr Rosenkranz und sobald ihr Gatte oder Maria das Zimmer betraten,
griff sie danach.

Müde ließ sie soeben das Journal, in dem sie gelesen hatte, sinken, im
Grunde war es doch recht ermüdend, eine sorgende Mutter zu sein, da
öffnete sich vorsichtig die Thüre und Kasia trat über die Schwelle.

»Ach Du bist es, mein Seelchen, sage, ist der Propst noch nicht
gekommen?«

»Nein, Mama, er wird aber wohl bald erscheinen.«

»Ach, käme er doch nur, daß mein armes, bangendes Herz Ruhe fände, oh
meine Nerven!« stöhnte Frau Halinka.

»Soll der Propst mit Maria sprechen, Mama? Ich fürchte auch, er wird
keinen Einfluß haben, Maria ist furchtbar eigensinnig, auf meine
Vorstellungen hat sie mir nur erwidert, ich verstände nicht, was
Liebe ist, allerdings! diese Liebe verstehe ich nicht,« sagte Kasia,
hochmütig das hübsche Köpfchen hebend.

»Gott sei es geklagt, Marias Eigensinn macht mich krank, sage, mein
Liebling, wie nimmt Gräfin Jusia die Sache auf, ich vermied bisher ein
Gespräch mit ihr darüber, ist sie nicht empört, wie es all' unsere
Freunde sein würden?«

»Empört, oh nein,« etwas zögernd kam die Antwort von Kasias Lippen;
»Mama, ich muß es Dir sagen, ich bin eigentlich etwas indigniert über
die Art, wie Jusia den Fall auffaßt, denke nur, sie findet es gar
nicht schlimm, einen Bürgerlichen zu heiraten; sie sagt so ungefähr:
>das Geld wiegt den Adel auf<, ich glaube beinahe, sie würde einen
Bürgerlichen heiraten, wenn er nur reich wäre!«

»Ja, mein Kind, das ist etwas anderes, leider, leider sind die Zeiten
vorüber, wo der Adel die einzige Macht war, heute teilt er sich mit der
Macht des Geldes, aber dieser Dr. Werner ist ja nicht einmal reich, ja,
könnte er Maria ein standesgemäßes Leben bieten, ach, für das Glück
meines Kindes wollte ich mich demütigen, ich bin ja so selbstlos, lebe
nur für Euch, bringe mich selbst zum Opfer, ach!«

»Mama, ich glaube, Propst Ryback ist gekommen,« unterbrach Kasia
die Redende, froh, daß sie das Gespräch beenden konnte, denn sie
wußte, wenn die Mama einmal begann, von sich und ihrer Aufopferung zu
sprechen, kam sie so bald nicht zu Ende.

»Der Propst, ach, es ist mir wirklich ein Trost,« und rasch ergriff
Frau Halinka das Gebetbuch und sah erst auf, als Propst Ryback vor ihr
stand.

»Oh, mein teurer Freund, gut, daß Sie kommen, mir armen Frau Trost zu
bringen,« rief sie, des Geistlichen Hand erfassend, und nun folgte die
ganze Leidensgeschichte, unaufhaltsam floß der Strom ihrer Rede dahin
und schweigend hörte der Propst ihr zu.

»Darf ich Maria sprechen, gnädige Frau?« sagte er statt jeder Antwort.

»Gewiß, oh gewiß, das ist es ja, was ich wünsche, auf Sie, ihren alten
Lehrer und Beichtvater, wird mein irregeleitetes Kind vielleicht eher
hören, wie auf die Stimme der sorgenden Mutter, ich werde sie rufen
lassen.«

»Bitte, nein!« Der Propst zog Frau Halinkas Hand von der Klingel fort.
»Ich werde zu ihr gehen, es ist besser, ich spreche allein zu ihr, ich
komme nachher und erstatte Ihnen Bericht, bis dahin Gott befohlen, ich
werde Maria schon finden.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, eine Erwiderung Frau Halinkas
gar nicht abwartend.

»Unerhört eigentlich, diese Art, einfach meinen Wunsch unbeachtet zu
lassen, der gute Propst scheint seine Stellung etwas zu vergessen, aber
daran ist wieder Marcel schuld, der versteht auch nicht im Geringsten,
seine Würde als Patronatsherr zu betonen, ich muß ihm wirklich einige
Vorstellungen darüber machen.« --

Propst Ryback brauchte nicht lange nach seinem Beichtkind zu suchen,
in ihrem Zimmer fand er sie, unthätig am Fenster sitzend und mit
versonnenen Augen in die Ferne schauend.

Langsam stieg ihr ein feines Rot in die Wangen, als sie den Geistlichen
erblickte.

»Gelobt sei Jesus Christus,« sagte er, ihr segnend die Hand auf das
dunkle Haar legend.

»In Ewigkeit, Amen,« erwidert sie, ihm ehrerbietig die Hand küssend.

»Du wirst ahnen, warum ich komme, Maria?« frug er.

Er nannte sie, die er getauft und in die Lehre der heiligen Kirche
eingeführt hatte, noch Maria und Du, auf ihren besonderen Wunsch war es
so geblieben.

»Ja, Hochwürden, ich weiß es, ich weiß auch, daß Sie im Auftrag
meiner Mutter kommen, aber ich will es Ihnen gleich sagen, daß Sie
vergebens kommen. Sie, Hochwürden, wissen ja, wie ich gerungen habe
gegen diese Liebe, wie ich still mein Leid getragen habe, aber nun
ist mein Glück gekommen und ich will es halten. Sagen Sie nichts von
Religionsunterschied, von Standesvorurteil,« fuhr sie beinahe heftig
fort, so daß der Priester erstaunt auf sie sah. War das die stille
ergebene Maria, die da sprach mit glühenden Wangen und strahlenden
Augen? »Mein Gott weiß es, wie ich gekämpft habe gegen diese Liebe,
nicht einmal, hundertmal habe ich es mir gesagt, Du darfst Dich dem
Gefühl nicht hingeben, darfst diese thörichte Hoffnung nicht hegen, er
hat Dich längst vergessen, aber immer wieder übertönte die Sehnsucht
alles, und als er vor wenig Tagen vor mir stand, da wußte ich es, diese
Liebe kann nicht sterben, sie ist ein Teil meines Selbst, sie ist mein
Leben! Meine Mutter und Schwester widerstreben mir, sie sehen nur den
bürgerlichen Mann, nicht sein großes, gütiges Herz, sie schelten mich,
verdammen mich und heißen meine Liebe ein Unrecht. Sie haben es mich
gelehrt, die heilige Schrift sagt es uns, daß die Liebe von Gott kommt,
kann sie da ein Unrecht sein? Nein, Hochwürden, nein, meine Liebe
ist keine Sünde, was zwischen uns steht, ist Menschenwort, Gott, der
über uns Allen ist, an den wir glauben, wie wir uns auch nennen, ob
Katholiken, ob Protestanten, ist ein Gott der Liebe, der nicht zürnt,
wenn wir die Liebe im Herzen tragen. Was hilft es dagegen zu kämpfen,
leugnen läßt sich die Liebe nicht, sie bleibt doch Siegerin. Meinem
Glauben werde ich treu bleiben, wie er dem seinen, meinem Glauben,
aber auch meiner Liebe, denn ich liebe ihn mit der Liebe, die alles
trägt, alles duldet, mag Sorge und Leid unser Los sein, mag eine Welt
sich zwischen uns stellen, er ist mein Glück und meine Liebe ist
unwandelbar!«

Maria schwieg, feines Rot lag auf ihren Wangen, die Augen strahlten und
ein Ausdruck von Begeisterung verklärte ihr Gesicht förmlich.

Unverwandt sah der Propst auf das Mädchen, er wollte sprechen in Frau
Halinkas Namen, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt, aus dem Nebel
der Vergangenheit löste sich ein Bild, er sah vor sich ein schlichtes
Mädchen aus dem Volk, die ihm alles gegeben hatte, ihre Liebe, ihre
Ehre, und er sagte ihr, er müsse scheiden von ihr, um der Welt, um
seines Gelöbnisses Willen, da hatte sie demütig gesagt: »Ich will aus
Deinem Leben gehen, aber meine Liebe kann erst mit mir sterben, sie
ist unwandelbar.« Vor wenig Stunden hatte der Sohn jenes Weibes ihm
zugerufen: »Die Liebe läßt sich nicht leugnen,« hatte er recht?

Totenstille herrschte im Zimmer, Propst Ryback hatte die Hand über
die Augen gelegt, er war beinahe zusammen gesunken auf seinem Stuhl
und Maria stand und sah mit strahlenden Augen, mit lächelnden Lippen
hinüber nach dem leuchtenden See, er verwandelte sich vor ihren Blicken
in einen breiten Fluß, sie sah prächtige Kuppeln, schimmernde Häuser
sich in ihm spiegeln, sie saß im Schiff mit ihm, dem Geliebten, Hand in
Hand.

Eine dicke Fliege flog summend im Zimmer umher, sie stieß mit dem Kopf
an die Fensterscheiben, sie wollte hinaus in den Sonnenschein, in die
Freiheit.

Schwerfällig erhob sich endlich der Geistliche, auf seinem sonst so
strengen Gesicht lag ein milder, wehmütiger Zug, den Maria noch nie
an ihm gesehen hatte, er ergriff die Hand des Mädchens und hielt sie
einige Minuten fest in der seinen, forschend in Marias Gesicht sehend,
dann sagte er ruhig:

»Ich will nicht erst versuchen, Dich umzustimmen, meine Tochter, ich
sehe, es wäre vergebens, möchtest Du nie den Schritt bereuen und nie
Deinem Glauben und Dir selbst untreu werden, die heilige Jungfrau
schütze Dich.« Er machte das Zeichen des Kreuzes über ihrem Haupt
und verließ dann das Zimmer; er ging auch nicht mehr zu Frau Halinka
hinein, er schritt hastig durch das Dorf, seinem Hause zu.

In seinem Studierzimmer, in das durch die dichtbewachsenen Fenster ein
gedämpftes, grünliches Licht fiel, saß er dann und sann. In seinen
Ohren klangen die Worte nach, die Maria zu ihm gesprochen hatte, das
Wort von der Liebe, die sich nicht verleugnen läßt, war es nicht
Wahrheit, hatte er nicht selbst gegen die Gefühle gerungen, die er als
Priester nicht hegen durfte? Er sah noch immer das bleiche Weib vor
sich, tot am Boden liegend, er hörte noch das verzweifelte Schluchzen
des Knaben; dann fühlte er die weiche Kinderhand in der seinen, sah die
großen Kinderaugen fragend in inniger Liebe auf sich gerichtet.

Der einsame Mann stöhnte auf. Fort, fort mit diesen Bildern, alles lag
weit hinter ihm, hart wollte er gegen sich sein, wie er es gegen den
Abtrünnigen gewesen war, keine Brücke gab es zwischen ihnen.

Was war nur mit ihm, war er denn schon so alt und schwach, daß die
Worte eines Mädchens an seinen Grundsätzen zu rütteln vermochten?

»Nein,« sagte er vor sich hin, »ich will nicht schwach werden, oh Herr,
gieb mir die Kraft dazu, reiße dies thörichte Gefühl aus meinem Herzen,
daß kein anderer Gedanke darinnen lebe, als der, Dir und unserer
heiligen Kirche zu dienen!«

Dann verließ der Geistliche das Zimmer und ging durch den Garten
bis zur Kirche und betrat diese, sie war leer, in einer Ecke lag
zusammengewundenes Grün und Blumen, grellbunte Astern, zartfarbene
Balsaminen und starkduftender Lavendel, vermischt mit Birkenlaub und
Rosmarin, bestimmt, zu dem morgenden Marientag die Kirche zu schmücken.

Der Propst blieb stehen und sah auf die Blumen nieder. Auch eine Maria
war jene gewesen, deren blasses, trauriges Antlitz ihm nicht aus den
Sinnen kommen wollte. Eine Maria, eine arme, müde, gequälte Dulderin!
Er wandte hastig den Blick von den Blumen und schritt zum Altar, dort
kniete er nieder und rang mit sich in stummem Gebet, bis ihn das
Öffnen der Kirchthür aufschreckte. Dicht am Eingang kniete ein junges
Weib, heiße Zähren rollten ihr über die Wangen; als sie den Priester
erblickte, fuhr sie erschrocken zusammen.

»Bist Du es, Valevka? schweres Leid scheint Dich zu bedrücken, bete zu
der heiligen Jungfrau, damit Dir Trost werde!« Er machte das Zeichen
des Kreuzes über ihrem Haupt und schritt dann weiter, das Mädchen
richtete sich auf und streckte die Hände nach ihm aus, als wolle sie
ihn halten, er wandte sich noch einmal um und sie sah in sein strenges
Gesicht, das unbeweglicher denn je war. »Willst Du noch etwas, Valevka?«

Stumm bewegte diese verneinend das Haupt und sank in ihre Stellung
zurück, Propst Ryback verließ die Kirche, ihm nach klang ein leises,
wehes Schluchzen.

       *       *       *       *       *

Die weiten Säle von Schloß Lochowo hallten wider von Kasias lustigem
Lachen und Singen, vergessen war der Ärger und die Empörung der letzten
Tage, eitel Sonnenschein lag auf ihrem Gesicht, sie trällerte und
zwitscherte wie ein Vogel, war ausnahmsweise liebenswürdig gegen die
Dienstboten und fand sogar für Maria ein freundliches Wort. Auch Frau
Halinka hatte sich von ihrem Leidenslager erhoben, hatte mit wehmütigem
Blick die Trösterinnen ihrer sorgenvollen Stunden, Modenzeitung,
Gebetbuch und Konfektschachtel, =ad acta= gelegt und hatte es für gut
befunden, Herrn Marcel eine huldreiche Miene zu zeigen. All diese
welterschütternden Veränderungen hatte der Hausherr mit der einfachen
Frage veranlaßt, wann das geplante Sommerfest stattfinden sollte und ob
die Damen Wünsche dazu hätten, er führe nach der Kreisstadt und sollte
es ihm ein Vergnügen sein, alle Kommissionen zu erledigen. Frau Halinka
fand danach das erste freundliche Lächeln seit langem für ihren Gatten;
Kasia jubelte laut auf und umarmte stürmisch ihren einzig geliebten
Herzenspapa, auch Gräfin Jusia wurde sichtlich lebhafter, als sie es
seit einigen Tagen gewesen und Maria -- sie ging still hinaus und
dachte: »Armer, lieber, schwacher Vater, wie schwer mußt Du ringen um
den Frieden im Haus.«

Der Kommissionszettel wurde lang, sehr lang und das Gesicht Herrn von
Leninskis nicht kürzer; der Seufzer, mit dem er seinen Wagen zu der
bewußten Fahrt bestieg, war auch lang, er endete eigentlich erst, als
er in der Kreisstadt angelangt, das Haus von Samuel Schmuhl verlassen
hatte und seine Brieftasche eine Anzahl blauer Scheine aufwies. Den
Gedanken, wie verschwindend wenig ihm noch von dem letzten Ernteertrag
blieb, spülte er bei Roman Przybilski mit einem Schoppen Ungarwein
hinweg.

       *       *       *       *       *

»Sag doch, Jusia, findest Du wirklich, daß dieses matte Rosa
vorteilhaft für mich ist, sag' es doch bitte aufrichtig, Mama ist ja
entzückt davon, ich möchte aber doch Dein Urteil hören?«

»Reizend, Hülle wie Kern,« bestätigte Jusia mit zerstreutem Blick,
Kasias zierliches Persönchen musternd, das wie eine Bachstelze hin und
her wippte.

»Ach Jusia, weißt Du, ich wünschte, dieses Fest bedeutete eine Wandlung
in meinem Leben, aber dazu ist wohl keine Aussicht.«

»Ach so, eine Wandlung mit Trauring und Namensänderung, Hochzeitsreise
nach Paris u. s. w., ich verstehe.«

»Nein, Jusia, Du bist unheimlich klug,« lachte Kasia halb verlegen,
»aber Recht hast Du und ein Unrecht ist dieser Wunsch ja nicht, ach,
wenn doch ein furchtbar reicher, furchtbar schöner, --«

»Furchtbar vornehmer Mann käme und klein Kasia mit sich nähme,«
unterbrach Jusia sie lachend. »O Du einfältiges, anspruchsvolles Kind,
reich, schön, vornehm und alles in erhöhtem Maßstabe, nein, da bin
ich doch bescheidener, ich begnüge mich mit furchtbarem Reichtum und
nehme sogar furchtbare Dummheit in den Kauf, die ist angenehmer wie
Schönheit, denn schöne Männer sind noch eitler wie schöne Frauen und
beide Teile eitel, verträgt sich nicht gut zusammen.«

»Nein, Jusia, höre auf; Du bist gräßlich, wenn Du so anfängst, sage mir
lieber, welche Blumen ich nehmen soll, ich will hübsch sein; Jemand
ist doch da, für den es sich vielleicht lohnte, Du weißt, daß Graf
Sucholski zugesagt hat, schön ist er ja nicht, eher häßlich und alt,
aber reich und vornehm, Mama sagt, das wären genügende Vorteile.«

Kasia tritt vor den Spiegel und hält eine noch nicht voll erblühte
Theerose an ihr braunes Haar, sie sieht nicht den halb spöttischen,
halb ärgerlichen Blick der Freundin.

»Eine Konkurrentin also und mir scheint, keine zu unterschätzende,«
murmelt diese, dann tritt sie hinter die am Spiegel stehende und
vergleicht sorgsam die beiden Gesichter und sagt ruhig: »Die weiße
Rose steht Dir nicht, nimm lieber ein etwas kräftigeres Rosa, aber
nun muß ich einmal nach meiner eigenen Toilette sehen, =addio=,
Kleine, verliebe Dich nicht in Dein eigenes Spiegelbild! Aber was ich
noch fragen wollte, wird Marias Verlobter zugegen sein und wird das
Brautpaar vorgestellt werden?«

»Um Himmelswillen, Jusia, was denkst Du, das ist doch einfach
unmöglich, es wäre geradezu ein Skandal, nein, diese Überraschung
können wir unseren Gästen nicht bereiten, zumal die Sucholskis denken
in dieser Beziehung so streng. Mir vergeht gleich alle Freude, wenn
von der unseligen Sache gesprochen wird, ich hoffe immer noch, Maria
besinnt sich, aber nun hat sie ja noch einen Bundesgenossen, ich finde
es unbegreiflich von Propst Ryback, für Maria zu sprechen, noch der
Mama zuzureden, in diese romantische Heirat zu willigen, ich würde
lachen, wenn ich mich nicht so ärgern müßte.«

»Rege Dich nur nicht auf, mein Herz,« sagte Jusia, »ich wollte es nur
wissen,« und während sie den Korridor nach ihrem Zimmer entlang geht,
denkt sie: »Ein interessanter Gesprächsstoff, um die Unterhaltung mit
Graf Kasimir zu beginnen.«

Lange steht sie dann vor ihrem Spiegel und prüft nachdenklich ihre
Erscheinung, ein weißes Seidenkleid umschließt in tadellosem Sitz ihre
schlanke Gestalt, es ist ein schönes Bild, das ihr entgegenstrahlt,
aber vor ihrem geistigen Auge taucht ein anderes daneben auf, das einen
häßlichen Schatten wirft. Sie starrt in den Spiegel und eine feine
Falte gräbt sich in ihre weiße Stirn.

»Es ist zum wahnsinnig werden,« murmelt sie, »immer dieselben
thörichten Gedanken, immer das häßliche Bild, fort, fort damit, ich
will nicht mehr an die Stunde im Kahn erinnert sein, ich will nicht!
Oh, wenn Tante Amélie dies erführe oder die Leninskis, Prinz Sergei
und all die Anderen, Gräfin Jusia Potocka, die Stolze, die Kalte, läßt
sich von einem etwas verfeinerten Bauernburschen küssen, nur weil
er zufällig zur rechten Zeit kommt, die Langweile einer Stunde zu
verscheuchen! Pfui, wie häßlich, Jusia, woran dachtest Du, als Du in
des blonden Propheten Armen lagst? Es wird Zeit, daß ich fortkomme, die
Einsamkeit ruft diese verrückten Gedanken hervor; ja, fort, fort, dann
werden auch diese Bilder schwinden, ich hasse mich selbst, hörst Du es,
Jusia Potocka, ich hasse Dich, könnte Dich erwürgen vor Wut über Deine
unglaubliche Thorheit; wenn doch der Mensch wer weiß wo wäre und mir
nicht gerade bei jeder Gelegenheit begegnete, ich glaube, es geschieht
noch mit Absicht! Wie er mich anschmachtet, es ist zum lachen, eine
richtige Fastnachtskomödie, ich glaube gar, er denkt, es giebt nun eine
fröhliche Hochzeit, ich ziehe als Prophetenfrau mit in sein Häuschen
hinter den Malven, bete, koche Suppe etc. und bin hochbeglückt. Ha, ha!
Ja, lache nur, dumme, einfältige Jusia, oder weine lieber über Deine
Thorheit,« sie stampfte mit dem Fuße auf und ballte die weißen Hände
gegen den Spiegel: »Pfui, wie häßlich, wie kindisch, wie lächerlich
hast Du Dich benommen, oh, wäre ich nur erst fort, weit fort von
hier!« --

Gräfin Jusia hatte Recht, Michael suchte mit Absicht jede Begegnung
herbei, er streifte in der Nähe von Schloß Lochowo umher, er spähte
über die Mauer des Parkes, harrte stundenlang an der kleinen Bucht am
See, saß träumend unter den hängenden Eschen, immer in der stillen
Hoffnung, Du wirst sie sehen, sie wird Dich anlächeln, wie auf jener
einsamen Fahrt.

Wohl begegnete er ihr, aber nie allein, entweder schritt sie mit Kasia
von Leninska in munterem Geplauder einher oder sie fuhr an ihm vorüber,
aber nie traf ihn ihr Blick, ihre Augen schweiften über ihn hinweg,
als hätte es nie einen Augenblick gegeben, in dem sie in seinen Armen
geruht. Mit hochmütiger Kälte erwiderte sie seinen Gruß, sie sah nicht
das stumme Flehen, das heiße Werben in seinen Blicken. In dem Manne
aber loderte der Brand, den sie entfacht hatte, hell auf. Er kämpfte
einen verzweifelten Kampf mit seinem Stolz, seiner Leidenschaft und der
mahnenden Stimme seines Gewisses.

Unruhevoll irrte er umher, er hörte kaum darauf, wenn Benjamin ihm
frohlockend von dem Anwachsen seiner Gemeinde sprach, ja, er empfand
plötzlich ein förmliches Grauen vor dessen Fanatismus, seine Lehre, die
einsamen Gottesdienste im Walde, erschienen ihm als Komödie, jetzt, da
er gleichsam in einem anderen Banne stand, erkannte er das Unklare und
Verworrene in Benjamins neuem Glauben. In Stunden der Ernüchterung, in
denen er erwachte aus dem Fieber seiner Liebe, ergriff ihn heiße Angst
um den irregeleiteten Freund, um sich selbst, er sah dann den Abgrund,
an dem sie beide standen, Benjamin, verstrickt in seine verworrenen
Lehren, er, im Bann der Leidenschaft. Dann dachte er voll tiefer
Sehnsucht an das stille Dorf auf dem Sande, mit seinem Frieden, an das
schlichte, keusche Mädchen und an die klugen Augen Vater Abrahams, dann
faßte er den Entschluß, Benjamin zu bewegen, mit ihm heimzukehren;
dann sah er wieder die Gräfin oder er ging hinunter an den See, und
vergessen waren all seine guten Vorsätze, mächtiger denn je loderte die
Flamme in seinem Herzen auf und beherrschte seine Sinne.

Benjamin bemerkte wohl des Freundes innere Kämpfe. Michael war auch im
Grunde eine zu wahrhaftige Natur, um erfolgreich Komödie spielen zu
können, und so lag seine Seele bald offen vor dem Freunde da. Dieser,
der nur eine Leidenschaft, ein Ziel kannte, seine Lehre zu verbreiten
und dadurch gleichsam ein Herrscher zu werden, hatte nur Verachtung für
diese weibische Schwäche, wie er es nannte. Statt dem Freund als Freund
zur Seite zu stehen, dessem schwankenden Charakter eine Stütze zu sein,
griff er zum Spott; mit beißendem, höhnischem Spott überschüttete er
diesen, zog seine Liebe zu Jusia Potocka in den Staub und erreichte
gerade dadurch, daß Michael sich im Trotz von ihm abwandte, und
verbittert über das geringe Verständnis, das er fand, sich immer tiefer
in seine Schwärmerei verstrickte.

»Weißt Du auch, daß übermorgen auf dem Schloß ein Ball stattfindet,
es nimmt mich Wunder, daß sie Dich nicht eingeladen haben,« spottete
Benjamin, indem er Hut und Stock nahm, um sich zum Fortgehen zu rüsten.

Michael schwieg, er ließ des Freundes Hohn ruhig über sich ergehen und
las anscheinend eifrig weiter.

»Nun, kommst Du nicht mit, Du fehlst jetzt beinahe immer bei den
Andachten, natürlich, Gräfinnen sind nicht dabei und nach Bauerndirnen
sieht mein vornehmer Freund wohl nicht?«

»Schweig, Benjamin,« fuhr Michael auf, »warum ich nicht zu den
Andachten komme, ahnst Du sehr wohl, weil ich eingesehen habe, daß Du
mit Deinen phantastischen Lehren, mit Deinen Utopien, daß Ihr alle
auswandern wollt und in Amerika einen Staat gründen, in dem Ihr als
Brüder und Schwestern leben wollt, bloß den Leuten die Köpfe verwirrst.
Ja, ich leugne nicht, als ich hierher kam, meinte ich auch, ich würde
meinen Heimatgenossen ein Heil bringen, aber ich habe eingesehen, daß
sie viel glücklicher sind ohne uns, warum ihren Frieden stören! Laß uns
lieber heimkehren, Benjamin, heim nach unserem stillen Dorf, zurück in
den Frieden!«

»Nachdem Du Dich sehnst, wie ein Greis, nein, ich will nicht Ruhe, ich
will Kampf, gehe Du heim, wenn Dich die Sehnsucht treibt, Du bist ja
doch wie ein schwankendes Rohr, ja, gehe heim, setze Dich hinter den
Ofen und rede klug; Du bist ein Schwächling! Ein Blick aus Weiberaugen
genügt, um Dich plötzlich hellsehend zu machen, um alles, für was Du
seit Monaten gekämpft hast, über Bord zu werfen.«

»Nein, mein Benjamin, diese Vorwürfe verdiene ich nicht, seit vielen
Monaten fühle ich, daß wir nicht Segen stiften, daß wir nur Unheil
anrichten, wir bringen Zerwürfnis in die Familien, Unruhe in die
Herzen, ziehen uns Feinde zu und -- machen niemand glücklich.«

»Oh, Du weiser Moralprediger, Du,« höhnte Benjamin, »woher kommt Dir
so plötzlich Deine Erleuchtung? Hast wohl einen Mahnbrief erhalten aus
unserem stillen Sanddorf, und darum der Umschwung Deiner Gefühle?«

Eine jähe Glut stieg in Michaels Gesicht.

»Ja,« sagte er gepreßt, »Vater Abraham hat geschrieben, willst Du
lesen?«

»Nein, danke, ich kann mir ungefähr vorstellen, was er schreibt; nun,
er ist ein alter Mann, und Alter sehnt sich nach Ruhe, aber Du bist in
der Kraft Deiner Jahre und willst schon vom Kampf zurücktreten, willst
feige das begonnene Werk verlassen, und alles um eines Weibes willen?
Ja, fahre nur auf, es ist doch so, ich ahnte es an dem Tag, an dem die
blonde Hexe hier eintrat und vor mir zusammenschrak, wie vor einem
giftigen Reptil, da sah ich es kommen, da wußte ich, daß Dein Schwur an
Tabea nur leerer Schall war. Du zuckst zusammen, das Wort trifft Dich,
denn es ist wahr, gehe Du nur heim, vielleicht ist es besser so!«

»Ja, ich gehe auch heim, ich sehne mich nach der Stille im Sanddorf,
aber nicht allein, komm mit mir Benjamin, ich will die harten Worte,
die Du mir soeben gesagt hast, vergessen; laß uns wieder Brüder sein,
wie einst, reich mir die Hand und komm mit mir zurück zur Heimat!« Er
war aufgesprungen und streckte flehend dem Gefährten die Hand hin, aus
seinen Augen leuchtete die alte Innigkeit.

Mit heiserem Auflachen wich Benjamin zurück: »Ach so, nun soll eine
Versöhnungskomödie aufgeführt werden, zu was die Heuchelei, Bruder,
Freund, als ob man Freunde sein kann, wenn man sich haßt. Und ich hasse
Dich, Du brauchst mich nicht anzustarren, als wäre ich wahnsinnig, ich
hasse Dich, denn Du bist mir im Weg. Längst habe ich es eingesehen, bei
Deinen Schwärmeraugen, Deiner Reckengestalt vergessen die Weiber sich
und kommen zur Betstunde, vor mir aber weichen sie zurück, wie damals
die holde Gräfin; aber ich will nicht immer der Zweite sein, hörst Du,
nicht immer vor Dir zurückstehen, ich will herrschen. Mir sollen die
Menschen sich beugen, ein Führer will ich sein und meine Lehre muß
siegen!«

Mit schriller Stimme stieß Benjamin die Worte hervor, ein verzehrendes
Feuer brannte in seinen Augen, sein Gesicht war totenblaß geworden,
die Züge in Haß verzerrt, daß Michael unwillkürlich zurückwich. War es
nicht ein Wahnsinniger, der da vor ihm stand? Grauen schüttelte ihn und
er vermochte keine Antwort zu finden. Aber diese erwartete Benjamin
garnicht, spöttisch sah er in das verstörte Gesicht des Anderen und
verließ dann rasch das Zimmer, und wenige Augenblicke später knarrte
das eiserne Gitter, Benjamin hatte das Haus verlassen.

»Er geht zu seiner Gemeinde, auch hier das Band zerrissen, nun
stehe ich bald ganz allein,« dachte der Zurückbleibende mit tiefer
Bitterkeit. Dann nahm er noch einmal den Brief zur Hand, der ihn heute
aufgerüttelt hatte aus dem schweren Traum der letzten Zeit.

»Mein lieber Sohn,« begann er, »die Tage werden zu Wochen und deren
sind schon viele vergangen und vergebens sehen meine alten Augen nach
meinen heimkehrenden Söhnen aus. Oh Michael, ich will nicht in Dich
dringen, nur bitten will ich, komm' zurück, laßt ab die Hände von Eurem
Werk, kehrt zurück in den stillen Frieden unseres Dorfes! Ihr bringt
Unruhe in die Herzen Deiner Heimatgenossen, laßt sie in ihrem Glauben,
er ist so gut wie der unsere. Sieh', mein Sohn, unser Bekenntnis sagt:
>Wir sollen in Liebe und Frieden mit einander leben, wir sollen auch
nicht den Frieden unserer Mitmenschen stören< und thut man dies nicht,
wenn man die Herzen in Zweifel bringt? Ich fühle aus Deinen kurzen
Briefen heraus, daß eine Last auf Deiner Seele liegt, kehr' zurück,
vielleicht finde ich mit Gottes Hilfe wieder die Kraft, sie Dir zu
erleichtern wie einst. Tabeas Augen sehen so fragend auf das weite
Meer, komm, Michael, und löse die Frage!«

Michael ließ den Brief sinken.

»Löse die Frage, oh, wenn ich es noch könnte, aber Du hast recht, Du
treuer, alter Warner, ich werde heimkehren zu dem stillen Sanddorf und
meine Schuld beichten, oh, Tabea, werde ich Verzeihung finden?«

An dem Tag blieb Michael daheim, er eilte nicht rastlos an den Ufern
des Sees entlang, spähte nicht mit heißen Augen hinaus, als draußen
ein Wagen rollte, er packte seine Sachen und ordnete alles zu seiner
Abreise, die am nächsten Tag stattfinden sollte, er suchte jeden Winkel
des kleinen Hauses auf, um Abschied zu nehmen für immer und ging
endlich zur Ruh, mit dem festen Vorsatz, mit der sicheren Hoffnung,
wieder sein altes Leben zu beginnen.

In der heißen, schwülen Sommernacht aber floh der Schlaf seine
Augen, seine kaum zur Ruh' gekommenen Gedanken verwirrten sich, ein
verführerisches Bild lockte ihn, er sah blonde, weiche Haare, hörte ein
helles, melodisches Lachen und fiebernd vor Sehnsucht streckte er die
Arme aus: »Jusia, Jusia!« schrie der Mann in die stille Nacht hinein,
seine Pulse hämmerten, seine Stirn glühte, vergessen war der Brief
Vater Abrahams, vergessen war die Frage in Tabeas Augen.

Am nächsten Tage reiste Michael nicht ab, »Morgen!« beschwichtigte er
die leise mahnende Stimme seines Gewissens, »ich darf kein Feigling
sein, ich muß es Jusia erklären, warum ich gehe,« und so blieb er,
wieder rastlos umherirrend, aber vergebens, nirgends erblickte er die
Geliebte.

       *       *       *       *       *

In Schloß Lochowo wurde beinahe das Unterste nach oben gekehrt, es
herrschte ein heidenmäßiger Wirrwarr, so hatte Herr von Leninski
gesagt, als seine Gattin zu Mittag sein geliebtes Rauchzimmer mit
Beschlag belegte. »Ich muß hier einige Anordnungen treffen, Marcel,
Du mußt Dir heute schon einen anderen Platz suchen,« hatte sie mit
lieblichstem Lächeln gesagt, er hatte ihr galant die Hand geküßt und
war seufzend von dannen gegangen.

Sein Rauchzimmer, sein Tuskulum, in das er sich manch liebes Mal vor
Frau Halinkas Liebenswürdigkeiten und vor den Gedanken an fällige
Zinsen geflüchtet hatte, um hier, bei einer Havanna und einem
Gläschen Ungarwein die Sorgen des Lebens zu vergessen, auch das wurde
hineingezogen in den gewaltigen Umsturz. Wie Ahasverus zog er nun
umher, in dem weiten Schlosse ein stilles Plätzchen zum ungestörten
Nachdenken zu finden. Stille Plätzchen gab es genug, kühle, lauschige
Zimmer, die eben nur kühl und lauschig waren und sonst auch nicht das
geringste Möbelstück aufwiesen, das einem müden Körper zum Ruheplatz
dienen konnte.

Gerade als er seufzend in den Park wandern wollte, um in einer
Hängematte die ersehnte Ruhe zu finden, traf er Maria und diese wußte
Rat, in dem linken Seitenflügel befand sich ein Zimmer, in dem ein
altes Ledersopha, ein Tisch und ein mächtiger Flickkorb ein gemütliches
Trio bildeten; hier saß Maria manche Stunde, um Risse und Löcher
kunstvoll zusammen zu nähen und hier fand Herr Marcel die Ruhe, an
dem aufregenden Tag des Balles. Als ihn Maria verließ, lag er auf dem
Sopha und blies behaglich blaue Rauchwolken in die Luft und hielt
Selbstgespräch: »Wenn der Kerl, der Doktor auch eine arme Frau, hm,
eine sehr arme Frau bekommt, einen Schatz erhält er doch an ihr, ich
denke beinahe, mein größtes Wertstück.«

Endlich war alles so weit, ein Teil der Gäste war bereits eingetroffen
und hatte sich, die Toiletten zu ordnen, in die Fremdenzimmer
zurückgezogen. Frau Halinka rauschte in silbergrauer Seide durch die
Säle und nickte wohlgefällig zu den Anordnungen, die Maria getroffen
hatte, sie rückte hier eine Vase zurecht und schob da einen etwas
verschossenen Sessel mehr in den Schatten und warf im Vorbeigehen
huldvolle Blicke ihrem eigenen Spiegelbild zu.

»Es ist nicht so leicht, so ein Fest zu arrangieren,« wandte sie sich
an Jusia, die neben ihr herschritt, »aber ich habe in meiner Jugend in
Paris gute Studien gemacht, so glänzend wie die dortigen Feste waren,
ist es ja in unseren einfachen Landverhältnissen nicht herzustellen,
ich denke aber doch, ich lege mir Ehre ein.«

»Gewiß,« pflichtete Jusia bei, »ich muß gestehen, gnädigste Frau,
ich bin entzückt von den Arrangements, bewunderungswert, wie alles,
was Sie thun,« im Stillen dachte die Sprecherin: »wäre die künftige
Doktorsehefrau nicht gewesen, ich hätte die Verwirrung sehen mögen!«

Jusia Potocka sah bildschön aus in ihrem weißen Gewand mit einer
mattgelben Rose im Haar, um den schlanken Hals lag eine schmale,
goldene Kette mit einem kleinen Medaillon aus Brillanten, das letzte
Schmuckstück aus dem einst so reichen Schatz der Potockis, oft genug
war es in Gefahr gewesen, den Weg seiner Genossen zu gehen, aber immer
schützte es die alte Prophezeiung, daß seiner Trägerin Glück beschieden
sei.

Kasia stand vor dem Spiegel und zupfte unaufhörlich an sich herum, sie
sah reizend aus und war auch augenscheinlich sehr befriedigt von ihrer
eigenen kleinen Person.

Wagen rollten vor, neue Gäste kamen und bald belebte eine bunte,
lachende, plaudernde Menge die Räume, Graf Kasimir Sucholski kam auch,
Jusia Potocka sah kaum auf bei der Vorstellung, stolz und kühl neigte
sie das Haupt; der reiche Erbe schien sehr wenig Eindruck auf sie zu
machen, desto lebhafter begrüßte ihn Kasia von Leninska, er verwickelte
sie bald in ein lustiges Wortgefecht und Frau Halinka, die mit scharfen
Augen diese Scene beobachtet hatte, nickte befriedigt; aber seltsam,
mehr und mehr widmete der Graf Jusia seine Aufmerksamkeit, er folgte
ihr bald wie ein Schatten, da sagte sich Frau Halinka ärgerlich: »Man
muß nie zu lange Besuch haben, Jusias Anwesenheit ist heute recht
überflüssig,« sie vergaß nur den kleinen Umstand, daß das Fest dem
lieben Gast zu Ehren gegeben wurde.

Die Musik lockte und schmeichelte, dann wieder klang sie wild und
feurig, wie der Sturm, der über den See braust; die tanzenden Paare
wirbelten durcheinander, heiße, prickelnde Lebenslust durchglühte sie,
die Augen strahlten, die Lippen lachten, die Blumen in den hohen Vasen
dufteten betäubend und durch die offenen Fenster strömte warme, weiche
Sommerluft herein.

Draußen neben der Veranda, die nach dem Park zuführte, stand ein Mann
und starrte mit brennenden Blicken durch ein Fenster nach dem Saal. Er
sah in dem Gewirr der Tanzenden nur eine, jedesmal, wenn sie an dem
Fenster vorbeikam, durchzuckte es den Mann, als müsse er hineinstürzen
und sie an sich reißend rufen: »Sie ist mein, mein Lieb, mein Leben,
mein Glück!«

Den Tag über war Michael umhergeirrt, bis er zuletzt die erleuchteten
Fenster gewahrend, sich in den Park geschlichen hatte, er wollte sie
nur noch einmal sehen, noch einmal mit ihr sprechen, die geliebte
Stimme hören und dann für immer fortgehen, Vater Abrahams Ruf folgen.

Er sah sie in ihrem weißen Kleid, schön wie die Fee im Märchen, er
sah, wie ihr Tänzer sich zu ihr niederbeugte, sie lachte, er meinte,
das weiche, girrende Lachen herauszuhören aus dem Rauschen der Musik.
Seine Hände umklammerten das wilde Rosengesträuch, daß sich die Dornen
in sein Fleisch gruben, er achtete nicht darauf, rasende Eifersucht
erfüllte ihn, hätte er sie jetzt doch küssen können, küssen bis zur
Sinnlosigkeit. Niederschlagen hätte er den Mann neben ihr mögen, er
haßte es, dieses blasierte, kalkweiße Gesicht, mit den Spuren eines
durchtollten Lebens in den Zügen, und sie lachte diesen Menschen an,
ihre Augen sahen gerade so berückend zu diesem empor, wie damals zu ihm
unter den Trauereschen am See.

Michael Wisniewski barg sein Gesicht in die Hände und stöhnte auf in
heißer Qual, dann fuhr er wieder empor, wo war sie jetzt, mit wem
tanzte sie?

Vergebens strengte er seine Blicke an, er sah sie nicht mehr, er
preßte den Kopf an die Scheiben, er fürchtete nicht, daß man ihn im
Saal gewahren könne, es war ihm vollständig gleichgiltig, nur sehen
mußte er die Geliebte. Neben ihm rauschte plötzlich ein Kleid, ein
helles, girrendes Lachen schlug an sein Ohr, träumte er denn, war das
nicht ihre Stimme, die er hörte? Dann sprach auch eine Männerstimme in
eigentümlich schleppendem Ton, der Lauscher schrak zusammen, er drehte
sich hastig um, da auf der Veranda, an die Brüstung gelehnt, stand
Jusia Potocka und plauderte mit ihrem Tänzer.

In diesem Augenblick vergaß Michael alles, die gesellschaftliche
Kluft, die sie trennte, seine guten Vorsätze, die stille Frage in
Tabeas Augen, alles, er sah nur das Weib vor sich, das er liebte mit
verzehrender, alle Schranken durchbrechender Glut.

Er trat einen Schritt vorwärts und hob seine Arme zu der Steinbrüstung
empor. »Jusia, Jusia!« rief er flehend in gedämpftem Ton.

Wie von einer Natter gebissen, schnellte diese empor, ihr perlendes
Lachen brach ab, mit angstvoll geöffneten Augen stierte sie auf den
Mann.

»Mein Gott, Herr Graf, kommen Sie schnell, das ist ja der halbverrückte
Mensch,« stammelte sie, hastig des Grafen Hand ergreifend und ihn mit
fortziehend. »Ein entsetzlicher Mensch, der wohl religiösen Wahnsinn
hat, mich verfolgt er förmlich, bitte, bitte, schützen Sie mich!«

Michael hörte alles, er hörte ihre vor Angst bebende Stimme, dann
wieder die näselnde ihres Begleiters.

»Mit der Reitpeitsche züchtigen müßte man den Kerl für seine
Frechheit!«

Dann ein leises, eindringliches Flüstern, ein kurzes Auflachen Jusias,
durch das noch die verhaltene Angst klang, und die Stimmen verloren
sich in dem Rauschen der Musik, die Veranda war leer. --

Noch immer stand Michael und sah wie im Traum auf die Stelle, wo
er soeben ihre lichte Gestalt gesehen, nur langsam erfaßte er das
Geschehene; er, verspottet und ausgelacht, sein Götzenbild zertrümmert
zu seinen Füßen, ein dumpfer Laut kam über seine Lippen, wie ein
Verfolgter eilte er davon, durch den Park über die Felder, ihm gleich,
wohin, nur fort, fort, hinaus in die schweigende Nacht. --

Rastlos irrte er umher, er achtete nicht auf den Weg, manchmal stieß
er an einen Stein oder stolperte über einen Grabenrand, dann raffte er
sich wieder empor und eilte weiter, das Rauschen der Musik verhallte
in der Ferne, dann wieder kam es näher, er merkte es nicht, in seinen
Ohren gellten nur immer ihre verächtlichen Worte. Zuletzt überkam
ihn eine tiefe körperliche Ermattung und mit dieser kehrten ihm die
Gedanken zurück, er blieb stehen und sah um sich, wo er sich befand.

Er mußte in einem großen Kreis um Schloß Lochowo herumgegangen sein,
die Landstraße, vom Mondlicht erhellt, lag vor ihm, am Ende das Dorf,
dessen Kirchturm dunkel in die Nacht hineinragte, zur Seite schimmerten
die erleuchteten Fenster von Lochowo. Dort, etwas abseits, stand auch
noch das alte Muttergottesbild, und bei seinem Anblick kam ein großes
Sehnen in sein Herz, er schritt darauf zu und nahm unwillkürlich den
Hut ab. Die Säule stand noch, wie einst, ein wenig schief, ein paar
Kränze hingen daran und bewegten sich leise im Winde, er sah auch
noch das große, gelbliche Wachsherz hängen, vielleicht auch war es
ein neues, das irgend ein Mädchen in der Not des eigenen Herzens
gestiftet hatte. Er meinte, jeden Zug des Bildes zu erkennen, die
Madonna mit dem gleichmäßigen, freundlichen Lächeln in dem blauen
Mantel, den Jesusknaben mit dem goldenen Heiligenschein, und, wie einst
der Jüngling, kniete jetzt der Mann nieder und umschlang das alte,
hölzerne Bild, als müsse ihm der Trost kommen, und weinte. Thränen voll
Zorn, Haß und Bitterkeit, voll Reue über sein eigenes Fehlen und voll
namenloser Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies seines unschuldigen
Kinderherzens.

Wie lange war es her, daß er nicht mehr geweint hatte, und nun rann
die salzige Flut unaufhörlich aus seinen Augen, als müsse sie alles
Leid, alle Bitterkeit hinwegschwemmen. Er betete auch, er stammelte
unzusammenhängende Worte, er war in dieser Stunde kein Mennonit, kein
Katholik, er redete zu dem Vater der Welt, er sprach zu ihm wie ein
irrender Sohn, der, müde heimgekehrt, den Kopf an des Vaters Brust
birgt. Langsam kam eine erlösende Ruhe über ihn, Klarheit in sein
verwirrtes Fühlen und Denken; die Dissonanz seines Inneren löste sich
in dieser sternenklaren Nacht zu einem wehmütigen Schmerz, ein stilles
Sehnen kam über ihn: nach dem Frieden in Vater Abrahams Hause, nach
Tabeas reinen Kinderaugen, dort allein war seine Heimat.

Endlich erhob er sich. »Nun werde ich nicht wieder wankend, noch heute
Nacht trete ich den Heimweg an,« klang es in ihm, noch einmal schlang
er die Arme um das hölzerne Bild und legte den Kopf daran, er nahm den
letzten Abschied von der alten Heimat, in der niemand ihn liebte, die
ihm nun völlig zur Fremde werden sollte.

Mit festem Schritt trat er dann den Weg an, der ihn durch das Dorf zu
seinem Hause führte, dort wollte er noch Benjamin verständigen und dann
zur nächsten Bahnstation wandern.

Je näher er dem Dorfe kam, je greller schlugen die Töne der Tanzmusik
an sein Ohr, sie kamen aber von zwei Seiten, und mit leisem Schrecken
gewahrte er beim Näherkommen, daß vor dem Krug, trotz der späten
Nachtstunde, noch getanzt wurde; zwei Männer vollführten dazu auf einem
Dudelsack und einer verstimmten Geige ein grelles Getöse.

Schon zuckte sein Fuß, schon wollte er umkehren, aber nein, dachte
er, mögen sie mich schmähen, nun ficht es mich nicht mehr an, und er
schritt so gelassen an den Leuten vorüber, als hätten sie ihn nie mit
höhnenden Worten gescholten.

»Seht den Ketzer, wo schleicht der in der Nacht herum,« rief eine
heisere, trunkene Stimme, aus dem Knäuel der Tanzenden löste sich die
Gestalt eines Mannes und schritt auf Michael zu. »Kommst mir gerade
recht,« brüllte er den ruhig Stehenbleibenden an, »habe ein Hühnchen
mit Dir zu rupfen, =psia crew=, kennst mich wohl nicht, bist wohl zu
vornehm geworden, he?«

»Ich kenne Dich wohl, Woicech,« sagte Michael gelassen zu dem einstigen
Spielkameraden, »was willst Du von mir?«

»Wo die Valevka ist, sollst Du mir sagen?«

»Ich kenne keine Valevka, was ist mit ihr?«

»Fort ist sie seit drei Tagen, das Aufgebot wollten wir bestellen, nun
ist sie fort, Du hast ihr geholfen, gesteh' es nur, sie ist immer zu
Euren Betereien, zu Eurem Ketzerspuk im Walde gerannt, gieb sie raus,
Schurke, oder wehe Dir!«

Michael erinnerte sich dunkel an ein blasses, verschüchtertes Mädchen,
das Benjamin mit Valevka angeredet, er hatte sie kaum beachtet.

»Ich weiß es nicht, wo sie ist, willst Du sonst noch etwas? Sonst gieb
den Weg frei!«

Einen Augenblick imponierte dem Burschen die Festigkeit sichtlich, er
trat zurück, seine angeborene Unterwürfigkeit, die vor dem Herrn sich
beugt, kam hervor; da rief eine keifende, höhnende Stimme aus der Menge:

»Seht doch den Woicech, wie ihm der Mut alle wird, seht doch, und wie
er erst geprahlt hat!«

Ein heiserer Schrei rang sich über die Lippen des Trunkenen, mit
schwankendem Gang, mit starrem Blick kam er wieder näher an Michael
heran, der Branntweinduft schlug diesem entgegen und die Erinnerung
erfaßte ihn, er sah die wüste Scene vor sich, in der Nacht, da sein
Pflegevater starb, ein Schauer überrieselte ihn und er streckte
unwillkürlich die Hand aus, den Betrunkenen abzuwehren.

Die anderen Burschen, auch einige Weiber, waren näher herangetreten, um
zu sehen, wie der Woicech mit dem Ketzer umspringen würde; als Michael
den Betrunkenen abwehren wollte, ging ein Schrei der Entrüstung durch
ihre Reihen.

»Woicech, er will Dich schlagen, lass' es Dir nicht gefallen,« brüllten
sie.

»Mich schlagen, mich, der Ketzer,« mit einem Wutschrei raffte sich der
Bursche auf, blitzschnell hatte er sein Messer gezogen und stieß im
blinden Zorn um sich.

Michael sah plötzlich das blitzende Messer vor sich, er fühlte einen
Stoß und taumelte, seine Hände griffen nach der Brust, warm rieselte es
an seinen Fingern nieder; ein Schwindel ergriff ihn, er sah alles vor
sich in einem blutroten Nebel zerfließen, wie aus weiter, weiter Ferne
hörte er Musik, mit einem dumpfen Ächzen brach er zusammen.

Sekundenlang standen die Leute wie erstarrt vor dem Geschehenen, bis
eine Frau aufschrie: »Heilige Jungfrau, der Woicech hat ihn erstochen,
holt den Pan Kommissar!«

Da kam Leben in die Menge, gellende Rufe der Frauen mischten sich mit
dem Fluchen der Männer, jäh verstummte die Musik, Wolf Salomon stürzte
händeringend hervor und rief: »Erstochen hat er ihn, oh der verfluchte
Mörder, ich armer Mann, was wird der Pan Kommissar sagen, er schließt
mir den Krug, ich bin ruiniert!«

Alles schrie aufgeregt durcheinander, alle Heiligen wurden angerufen,
den Woicech, der mit blödem Lachen davon taumelte, trafen einige
Püffe, die Weiber zeterten nach dem Pan Propst, die Männer nach dem
Pan Kommissar; eine Frau lief schließlich, den Propst zu holen, einige
andere folgten ihr, immerfort jammernd, als müßten sie der stillen
Straße das Unheil verkünden.

Der Stellmacher beriet erst mit dem vollständig fassungslosen Salomon,
ehe er sich gemächlich auf den Weg nach dem Schloß begab, vielleicht
war der Pan Kommissar dort oder ein Wagen wurde nach ihm ausgesandt.

Keine Hand aber rührte sich, dem Todwunden zu helfen, er war ja nicht
mehr einer der Ihrigen und »alles so lassen«, hatte doch der Pan
Kommissar ausdrücklich gesagt, als der Frantizack Wakowiak sich erhängt
hatte, »alles so lassen, nichts anrühren, bis das Gericht kommt«, so
standen sie und blickten mit blöder Neugier auf den Mann nieder, dem
langsam der rote Lebensstrom aus der Brust quoll.

Auf einmal verstummte die lebhafte Rede, ein verhaltenes Flüstern
ging durch die Reihen und alle sahen gespannt auf die Dorfstraße, die
entlang ein kleiner Trupp kam, der Propst in sichtlicher Hast voran,
gefolgt von einigen weinenden Frauen.

Der Propst! Die Leute neigen sich demütig, als der Geistliche in
ihren Kreis trat, der Krugwirt fing lauter an zu zetern und die trüb
brennende Öllampe, die er herbei geholt hatte, schwankte bedenklich
in seiner Hand. Das flackernde Licht fiel gerade auf das totenbleiche
Gesicht des Geistlichen, scheu wichen die Menschen zurück, vor dem
Sterbenden, der da auf dem Rasen lag, war ihr Reden nicht verstummt,
aber vor dem Priester mit den gleichsam versteinten Zügen wurden sie
stille.

Kein Laut, kein Schrei kam über des alten Mannes Lippen, da er nun in
dem schwankenden Licht der Lampe, im Strahl des Mondes, den stillen
blassen Mann erblickte, der in einer Lache roten Blutes lag. Er riß
nur mit zitternden Fingern ein Tuch aus der Tasche und preßte es auf
die Stelle, wo unaufhörlich das Blut hervorsickerte, dann umschlang er
behutsam den Kopf des Verwundeten.

»Helft tragen,« sagte er rauh, »zu mir!«

Die Leute, die erst nicht die Hand gerührt, griffen nun rasch zu und
trugen ihn die kurze Strecke bis nach der Protein.

Wenige Minuten später lag Michael auf dem Sopha im Studierzimmer,
die Träger waren gegangen, einer war zum Arzt gefahren, die alte,
unaufhörlich lamentierende Haushälterin hatte Propst Ryback
hinausgeschickt, nun war er allein mit dem Sterbenden. Er hatte so gut
er es vermochte, einen Verband um die Wunde gelegt, um das Blut zu
stillen, denn ehe der Arzt kam, konnten Stunden vergehen; nun saß er
regungslos, unverwandt auf das blasse Gesicht starrend.

»Nur nicht sterben, nicht sterben, oh Gott, laß ihn nicht sterben,«
schrie es in seinem Inneren.

Draußen auf der Straße verstummte allgemach das Schreien, die
schlürfenden Schritte seiner Haushälterin waren verhallt, nur manchmal
bellte ein Hund auf, sonst unterbrach kein Laut die tiefe Stille umher.

Allein Vater und Sohn, mit beiden Händen umklammerte der Alte die
wachsbleiche, schlaffe Hand des Jungen.

»Michael, stirb nicht, wach auf, höre mich doch, stirb nicht, mein
Sohn, ach, stirb nicht, hörst Du mich, ach, stirb nicht!« In namenloser
Angst flüsterte er es, keinen Blick von dem weißen Gesicht wendend, oh
Gott, er atmete noch, noch war Leben in ihm.

»Oh Du barmherziger Gott, laß ihn nicht sterben, Michael stirb nicht
so, sieh mich noch einmal an, noch einmal!«

Draußen rollte ein Wagen, der Propst fuhr auf, der Arzt, vielleicht
kommt er schon, er rettet ihn noch, aber das Rollen verliert sich in
der Ferne, wohl einer der Gäste vom Schloß, der vom Ball heimfährt.

Wieder eine vergebene Hoffnung, die Minuten verrinnen, sie werden zu
Stunden, immer noch liegt Michael still und unbeweglich da, nur der
leise, kaum merkbare Atem zeigt, daß noch Leben in ihm ist; immer
angstvoller klingt das Flehen des Propstes. »Wach' auf, oh nur noch
einmal, oh Michael vergieb!«

Vor den Augen des alten Mannes zieht sein ganzes Leben vorbei, sein
Fehlen und sein Sühnen; aber hat er denn gesühnt? Nein, tausendmal
nein, schreit es in ihm, ich habe nicht gesühnt, neue Schuld zu der
alten gehäuft, den Sohn verleugnet, ihn hinausgetrieben, seinen Frieden
gestört, seinen Glauben an die Menschheit erschüttert. Selbstgerecht
bin ich gewesen, stolz auf mein Priestertum, oh und welch schlechter
Priester!

»Die Liebe läßt sich nicht verleugnen, sie bleibt Siegerin,« er denkt
an die Worte Marias, ja, er hat die Liebe leugnen wollen, sie aus
seinen Herzen reißen. Thörichtes Unterfangen! In dieser Stunde fühlt er
es, die Liebe läßt sich nicht leugnen und nun ihm die Einsicht kommt,
ist es zu spät.

»Wach' auf, wach' auf,« fleht er von neuem, »nur einmal noch sage Vater
zu mir! Oh Du allmächtiger Erbarmer da droben, laß ihn mir, nimm ihn
nicht jetzt, wo ich sühnen möchte, nur kurze Zeit noch laß ihn mir, nur
einen Tag, oh, nur eine Stunde, großer Gott, sei barmherzig!«

Glitt nicht ein Zucken über die Züge des Sterbenden, der Alte beugte
sich spähend über ihn, täuschte ihn nur das Flackern des Lichtes,
nein, wirklich der Atem ging rascher, die Lieder hoben sich ein wenig,
tastend glitten die Hände über die Decke hin.

»Michael, wach' auf!«

Es war, als hätte der Schrei die fliehende Seele zurückgehalten,
langsam öffnete Michael die Augen, mit leerem, fremdem Blick ruhten
sie auf dem Geistlichen, der seine Hände krampfhaft umklammerte, mit
versagender Stimme flüsterte: »Mein Sohn, vergieb, ach, vergieb!«

»Vater, lieber, lieber Vater,« wie ein Hauch nur klangen die Worte, ein
leises, friedliches Lächeln verklärte das Gesicht des Todwunden, »ach,
nun ist alles gut -- mir ist so wohl -- Tabea -- Vater -- ich --« die
Augen schlossen sich wieder, immer leiser wurde der Atem -- ein kurzes
Röcheln -- ein Ruck ging durch die Gestalt -- die Hand, die der Alte in
der seinen hielt, wurde eiskalt. --

»Michael, mein Sohn,« mit einem Aufschrei brach der Vater neben dem
Toten zusammen, er preßte seine runzelige Wange an die eiskalte des
Sohnes, er umklammerte krampfhaft dessen Finger, er küßte die kalten
Lippen und weinte. --

Am Himmel war strahlend das Frührot aufgeflammt, die ersten Laute
erwachenden Lebens drangen in das stille Sterbezimmer, aber der
alte Mann, der dort Totenwache hielt, saß zusammengebrochen bei der
verlöschenden Lampe und sah nicht den Schimmer des jungen Tages. Erst
als ein Wagen vor dem Hause hielt, ein rascher, junger Schritt: sich
dem Zimmer näherte, fuhr er auf, er strich sich mit der Hand über die
Augen und ging gebeugt, mit müden Schritten, dem eintretenden Arzt
entgegen.

»Sie kommen zu spät, Herr Doktor,« sagte er mit klangloser Stimme, »es
ist vorbei!«

Der Arzt trat rasch näher. »Ja, ich komme zu spät,« bestätigte er, »ein
schrecklicher Fall, der Mann, der mich holte, hat mir berichtet.« Er
neigte sich über den Toten und untersuchte die Wunde. »Verblutung, der
Mann wäre bei sofortiger Hilfe wohl noch zu retten gewesen, ich komme
in Wahrheit zu spät!«

»Zu spät,« wiederholte der Geistliche, immer mit derselben tonlosen
Stimme, »wir kommen oft zu spät im Leben und der Tote hat nun den
Frieden.«

Teilnahmsvoll betrachtete Dr. Werner das Gesicht des alten Mannes. »Sie
sind sehr erschüttert, Herr Propst, stand Ihnen der Verstorbene nahe?«

»Ja, sehr nahe,« sagte der Alte mit seltsam wehem Lächeln, sanft über
die Stirn des Toten streichend, »ich habe ihn lieb gehabt, aber ich kam
auch zu spät!«

Beinahe gleichgültig beantwortete er dann noch einige Fragen des
Arztes. Als dieser sich bald verabschiedete, nahm er dessen Hand in die
seine und sagte: »Sie sind verlobt mit Maria von Leninska, Gott segne
Ihren Bund und bewahre Sie vor dem Zuspät, noch einmal, Gott segne
Sie!« Er drückte dem Überraschten die Hand und ging ohne ein weiteres
Wort in sein Zimmer zurück, dort setzte er sich an seinen Schreibtisch
und schrieb ein Entlassungsgesuch, er sei alt und müde seines Amtes.

       *       *       *       *       *

Wenige Tage nach dem Ball nahm Gräfin Jusia Abschied von Schloß
Lochowo, sie folgte einer dringenden Einladung der Gräfin Wanda
Sucholska, einer Tante des Grafen Kasimir, die in ihr die Tochter
einer teuren Jugendfreundin gefunden hatte und sie nun gebeten, einige
Wochen ihr Gast zu sein; viel hatte zu dieser Aufforderung Graf Kasimir
beigetragen.

Frohlockend begrüßte Jusia die ersehnte Veränderung, den Anfang eines
neuen Lebens. Der Abschied von der Misère des alten, dachte sie, da
sie den Leninskis Lebewohl sagte. Ein wortreicher, thränenvoller
Abschied; Jusia Potocka rühmte so viel, wie entzückend die Wochen ihres
Aufenthaltes auf Lochowo gewesen sei, daß sie sie nie vergessen würde,
daß Herr von Leninski in seiner Harmlosigkeit sich wunderte, warum sie
da schon abfuhr, wenn es ihr doch so gut gefallen hätte.

Frau Halinka war sehr liebenswürdig, obgleich sie im Grunde wünschte,
der Gast hätte nie ihre Schwelle betreten, denn in ihrer Absicht hatte
es nicht gelegen, eine Verbindung Jusias mit Graf Sucholski zu fördern
und so sagte sie in aufrichtigem Schmerz:

»Die heilige Jungfrau schütze Sie, mein teures Kind, und wenn Lochowo
für Sie der Anfang eines Glückes bedeuten sollte, so seien Sie
überzeugt, daß es niemand mehr freuen würde, wie mich.«

Maria gab der Scheidenden nur kühl die Hand, während Kasia unter
strömenden Thränen mit in den Wagen stieg, für sie bedeutete der
Abschied wieder der Anfang einer Zeit voll trostloser Langerweile, sie
weinte so herzbrechend, daß Jusia flüchtiges Mitleid fühlte.

»Sei ruhig, Kleine,« sagte sie, »ich verspreche Dir, ich lade Dich auf
einige Zeit zu mir, wenn -- ich erst am Ziel bin, vielleicht nächsten
Frühling nach Nizza, wenn Du nicht vorziehst, zu Deiner Schwester, der
Frau Doktorin nach Dingsda zu reisen und Dich an dem Glück in der Hütte
zu erfreuen.«

»Oh pfui, Jusia,« halb lachend, halb weinend rief es Kasia, »spotte
nicht über unser Unglück, oh, wäre ich an Marias Stelle gewesen, nie
hätte ich ja gesagt, ich begreife auch nicht, daß die Eltern nun doch
ihre Zustimmung gegeben haben.«

»Ach, Kleine, ereifre Dich doch nicht, jeder nach seinem Geschmack, laß
doch Deiner Schwester ihr kleines Glück, es muß auch Menschen geben,
die sich einbilden, ohne die sogenannte Liebe nicht leben zu können.«

Durch die Luft zog ein Ton, ein melancholischer, dünner Glockenklang.

»Die Totenglocke,« sagte Kasia, »sie begraben wohl den Wisniewski, Papa
hat doch Recht behalten, sie haben ihn erschlagen. Aber mein Himmel!
Jusia, was fehlt Dir, bist Du krank, Du siehst erschreckend blaß aus?«

»Nichts, danke, danke,« wehrte Jusia die besorgte Freundin ab,
»es friert mich nur!« Sie schauerte zusammen trotz der sengenden
Sonnenhitze und preßte die Hände an die Ohren. »Ich kann diese Töne
heute nicht vertragen, sie klingen so disharmonisch, bitte, Kasia, sage
dem Kutscher, er soll schneller fahren, ich will fort, so rasch wie
möglich.«

»Wirklich, Jusia, Du bist krank, Du siehst furchtbar elend aus, wollen
wir umkehren?«

»Nein, nur fort, fort, schau mich nicht so entsetzt an, Kleine, ich bin
nervös, weiter nichts, und Eure Glocke ist so entsetzlich verstimmt.«

Der Kutscher hob die Peitsche, immer rascher fuhr der Wagen dahin,
immer entfernter klang der melancholische Laut, bis er zuletzt dem
eilenden Wagen nicht mehr zu folgen vermochte; aber Jusia Potocka hörte
ihn noch, als längst Lochowo hinter ihr lag.

Auf der staubigen Dorfstraße entlang trugen sie Michael Wisniewski zur
letzten Ruhe; wer irgend konnte, ging mit, that es doch Propst Ryback
selbst, also mußte der Tote wohl versöhnt im alten Glauben gestorben
sein, denn sonst würde der Propst doch nicht als Geistlicher mitgehen.
Benjamin Jakobeit fehlte im Trauergefolge, er war am Tag nach Michaels
Tod abgereist, wohin wußte niemand. Die Leute erzählten sich flüsternd,
daß er sich geweigert hätte, die Propstei zu betreten, und verlangt,
der Tote sollte in sein eigenes Haus gebracht werden, aber der Propst
hatte es nicht geduldet, und so war Benjamin fortgezogen, wie die Leute
sagten, nach Amerika, ohne noch einmal den toten Freund gesehen zu
haben. Das Haus mit dem blühenden Garten stand verwaist.

Auf dem kleinen, halbverwilderten Dorfkirchhof hatten sie dem Toten das
Grab bereitet an der Seite seiner Mutter. Die Totenglocke läutete mit
ihrem müden, zitternden Klang, als Propst Ryback an das offene Grab
trat und mit leiser Stimme ein Gebet sprach.

»Ruhe in Frieden, Michael Wisniewski, in dem Frieden, den Du vergeblich
gesucht unter heißen Schmerzen auf dieser Erde, wir alle sind arme,
irrende, fehlende Friedenssucher, stille Kämpfer auf dieser Erde, ach,
rechne uns unser Fehlen nicht an und nimm uns auf in Deinen Frieden, Du
barmherziger Gott,« sagte der alte Mann am Schlusse des Gebetes mehr zu
sich, als zu den Leuten, die in stumpfer Gleichgiltigkeit dabei standen
und kaum den Sinn der Worte erfaßten.

Die kurze Feier war zu Ende, die Frauen hatten einige Thränen geweint,
wie es sich so schickte, dann hatten sie Alle dem Toten drei Hände voll
Erde nachgeworfen und waren heimgegangen mit dem stolzen Bewußtsein,
ein gutes Werk gethan zu haben.

Propst Ryback hatte auch den Friedhof verlassen und war die sonnige
Landstraße weiter gegangen, bis an das alte Muttergottesbild am
Weg, da hatte er sich müde auf einen Stein gesetzt und seine Blicke
schweiften nach dem Dorfe hin, das im grellen Sonnenlicht dalag. Seine
Augen umfassen das sonnige Landschaftsbild, drüben schimmert wie ein
leuchtendes Auge der See, zur Seite zieht sich der Wald hin, in dessen
Grün bereits die ersten bunten Herbstfarben aufflammen. Er sieht den
weißen, staubigen Weg, wie der sich in der Ferne verliert, in wenigen
Tagen wird er ihn zum letztenmal befahren, dann wird er für immer
sein stilles Priesterhaus verlassen, die Gemeinde, in der er so lange
gewirkt, das stille Grab auf dem Friedhof. Aber die Erinnerung daran
wird er mitnehmen in seine einsame Klosterzelle, fern im ewigen Rom.
Ruhe will er dort suchen für die letzten Tage seines Lebens; er wird
dort von seiner Zelle aus auf die sonnigen Höhen des Sabinergebirges
sehen können, und doch weiß er, daß er sich unsagbar sehnen wird nach
dem stillen Dorf mit seinen kleinen, schmutzigen Häusern, seiner
staubigen Landstraße, nach all den Menschen, unter denen er bisher
gelebt. Einsam wird er seines Weges gehen und einsam sterben! Er denkt
an die junge Braut dort oben im Dorf auf dem Sande, ach, könnte er doch
zu ihr gehen und bitten: »Habe mich lieb um des Toten willen, lass'
mich nicht allein in der Einsamkeit meines Herzens!«

»Oh, nur ein wenig Liebe,« murmelt er, »nur jemand auf der großen Welt,
der mir ein wenig Liebe schenkt.«

So sitzt er und sinnt, bis junge, frohe Stimmen an sein Ohr schlagen,
er sieht auf und sieht Maria von Leninska mit ihrem Bräutigam Arm in
Arm daherkommen. Sie bleiben stehen, als sie den Geistlichen gewahren,
und Maria zieht, wie sie als Kind gewohnt war, die Hand desselben an
ihre Lippen.

»Sie wollen uns verlassen, sagte Papa, ist es wahr?« Sie sieht fragend
zu ihm auf.

»Ja, meine Tochter, ich bin alt und müde und sehne mich nach Ruhe, Du
aber gehst dem Glück entgegen, Gott geleite Dich!«

Er will von dannen gehen, da faßt Maria noch einmal seine Hand und sagt:

»Ich danke Ihnen noch für die guten Worte, die Sie bei Mama für mich
eingelegt haben, ich werde Sie nie vergessen, mein treuer, väterlicher
Freund,« und noch einmal küßt sie innig seine Hand.

Auch Heinz Werner ergreift dieselbe und sagt warm: »Lassen Sie sich
auch von mir danken, Sie haben mir zu meinem Glück verholfen.«

»Gott segne Euch,« murmelt der alte Mann und wendet sich hastig ab, die
beiden gehen weiter Hand in Hand, ihre klaren Stimmen schallen noch zu
dem Einsamen hin, der, an das hölzerne Bild gelehnt, ihnen nachblickt,
wie sie so jung, so kraftvoll und mutig, so stolz in ihrer Liebe
dahinschreiten.

In die große Traurigkeit seines Herzens ist ein heller Strahl gefallen
und er weiß, daß er dies Bild in der Erinnerung behalten wird, diese
glücklichen, jungen Menschen, die seiner in Liebe gedenken.

    [Illustration]



      *      *      *      *      *      *



Weitere Hinweise zur Transkription

    Der Schmutztitel wurde entfernt.

    Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend
    korrigiert.

    Textkorrekturen:

    S. 5: knöchere zu knöcherne
        (Seine schmale, knöcherne Hand ...)

    S. 7: herzzereißend zu herzzerreißend
        (... so herzzerreißend in seinem Jammer)

    S. 32: Empire zu Empire-
        (... kostbare Empire- und Rokokomöbel ...)
      heraus zu herauf
        (... kam diese schon die Treppe herauf)

    S. 33: cher zu chère
        (Oh, chére tante!)

    S. 46: sie zu Sie
        (... unglückliche Mutter.« Sie haucht ...)

    S. 56: halben zu halbem
        (... mit halbem Lächeln)

    S. 60: chêre zu chère
        (Chacqu'un à son goût, ma chère, ...)

    S. 66: chere zu chère
        (Lebe wohl, chère tante, ...)

    S. 68: den zu denn
        (woher hat denn sie ...)

    S. 71: erzittterte zu erzitterte
        (Jusia erzitterte ...)

    S. 72: Amelie zu Amélie
        (... und wenn Tante Amélie mich sehe ...)
      Michals zu Michaels
        (... befreite sie sich aus Michaels Armen.)
      worwärts zu vorwärts
        (..., um vorwärts zu kommen, ...)

    S. 74: durchnäst zu durchnäßt
        (..., völlig durchnäßt, ...)

    S. 76: schilst zu schiltst
        (..., schiltst mich einen Ketzer ...)
      Vater zu Vaters
        (... die Brust des Vaters ...)

    S. 80: ihrem zu ihren
        (... auf Sie, ihren alten Lehrer ...)

    S. 81: Armen zu Amen
        (In Ewigkeit, Amen ...)

    S. 89: Amelie zu Amélie
        (..., wenn Tante Amélie ...)

    S. 98: prikelnde zu prickelnde
        (... prickelnde Lebenslust ...)

    S. 103: Nachstunde zu Nachtstunde
        (... trotz der späten Nachtstunde ...)

    S. 105: Händeringend zu händeringend
        (... stürzte händeringend hervor ...)

    S. 106: rieß zu riß
        (Er riß nur mit zitternden Fingern ...)

    S. 113: Jakubeit zu Jakobeit
        (Benjamin Jakobeit fehlte ...)

    Die beiden Schreibweisen Probst und Propst wurden zu Propst
    vereinheitlicht.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Stille Kämpfer - Roman" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home