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Title: Deutsche Lebensbilder
Author: Treitschke, Heinrich von
Language: German
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  | Anmerkungen zur Transkription                                    |
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_Hafis-Lesebücherei_


_Die Hafis-Lesebücherei_ will Millionen von Lesern die Möglichkeit
geben, eine Auswahl des Besten aus dem Schrifttum aller Zeiten und
Völker zu genießen und ihr Eigen zu nennen. Sie bietet eine große
Zahl von schönen, dauerhaften Bänden auf gutem Papier, in Leinwand
gebunden und im stattlichen Umfang von etwa 320 Seiten zu dem Preise
von 1 Mark 30 Pfennig für den Leinenband und 2 Mark 50 Pfennig für den
Halblederband.

Etwas Gleichartiges war nie zuvor erreichbar, auch nicht zu der Zeit,
als Bücher weit wohlfeiler als heute hergestellt werden konnten. Nur
unter der Bedingung ist eine solche Leistung möglich, daß diese Bände
in gewaltigen Mengen gedruckt werden und in fast jedes deutsche Haus
gelangen.

Die Herausgeber sind überzeugt, daß diese Hoffnung sich erfülle.
Unzähligen, die bisher des Preises wegen solche Schätze nicht erwerben
konnten, müssen diese Bücher bald zum kostbaren Besitztum werden.

Sie werden von angesehenen Literaturkennern ausgewählt und jedes Werk
ist von einem erläuternden Nachwort begleitet.

Der Wortlaut wird von kundigen Gelehrten geprüft und, wo die früheren
Drucke dies erforderlich machen, verbessert. Ebenso sollen die aus
fremden Sprachen übersetzten Werke in der denkbar besten deutschen
Gestalt erscheinen.

So dürfte alles geschehen sein, um hier der Volksbildung und dem
unterhaltenden Lesen ein neues, gediegenes und ansprechendes
Hilfsmittel darzubieten, wie es in dieser Art noch nicht vorhanden war.

    _Das erläuternde Nachwort steht am Schlusse des Bandes_



                        Heinrich von Treitschke

                         Deutsche Lebensbilder

                            [Illustration]

                _H. Fikentscher Verlag / Leipzig_ =C= 1


                            Textrevision:
                        =Dr.= _Lotte Blaschke_

                 Druck von Ackermann & Glaser, Leipzig.



Inhaltsverzeichnis.


                                  Seite

Luther und die deutsche Nation        9

Fichte und die nationale Idee        33

Königin Luise                        71

Stein                                89

Lessing                             113

Ludwig Uhland                       137

Heinrich von Kleist                 181

Friedrich Hebbel                    229

Otto Ludwig                         261

Gottfried Keller                    289

Nachwort                            312



Luther und die deutsche Nation

                             Vortrag,
              gehalten in Darmstadt am 7. November 1883
              zur Feier des vierhundertsten Geburtstags
                          Martin Luthers.


        Hochansehnliche Versammlung!

Mancher unter Ihnen hat vor einigen Wochen auf der Höhe des
Niederwaldes gestanden, als unser greiser Kaiser das Bild der
schwertumgürteten Germania enthüllen ließ, und dort das Glück
genossen, mit allen Landsleuten von nah und fern das eine Gefühl
dankbarer Freude zu teilen. Jahrhundertelang ist uns Deutschen dieser
Einmut froher, neidloser Erinnerung, der zum Leben gesunder Völker
gehört, versagt geblieben; denn jene Siege, die uns die neue Einheit
unseres Reiches schufen, waren selber seit unvordenklicher Zeit die
erste gemeinsame große Tat, zu der sich die ganze Nation in schönem
Wetteifer zusammenfand. Wohl ist sie ruhmvoll, die Geschichte dieses
Volkes, das so oft schon dem Weltteil den ersten Mann des Jahrhunderts
geschenkt, so oft in den Kämpfen Europas das erweckende oder das
versöhnende Wort gesprochen hat; doch fast alle ihre großen Namen waren
in das Gewirr der Gegensätze, die unser inneres Leben zerrütteten,
so tief verflochten, daß sie noch heute breiten Schichten des Volkes
unverständlich bleiben und ihnen nur als die Vorkämpfer eines Stammes,
einer Partei, eines Glaubensbekenntnisses, nicht schlechtweg als
deutsche Helden erscheinen. Wir haben im achtzehnten Jahrhundert den
letzten und größten Vertreter des alten unbeschränkten Königtums unter
uns walten sehen, und seit seine Saat in Halme schoß, beginnen die
Einsichtigen zu fühlen, daß er für Deutschland focht, als er gegen
Österreich und das heilige Reich seine Schlachten schlug; dennoch
wird König Friedrich, gleich seinem Ahnen, dem großen Kurfürsten,
immer zunächst der Liebling seiner Preußen bleiben und der Masse der
Oberdeutschen niemals ganz vertraut werden. Wir haben ein Jahrhundert
zuvor durch einen greuelvollen Krieg der europäischen Welt die
kirchliche Duldung gesichert, aber der Sieg ward um einen furchtbaren
Preis, durch die Verwüstung unserer alten Kultur, erkauft, und der
Held, der sich von jener finsteren Zeit als die beinahe einzige lichte
Gestalt abhebt, Gustav Adolf, war ein Fremder; selbst seine Bewunderer
können nicht leugnen, daß seine Siegeslaufbahn zu unserem Heile
frühzeitig endete, eben in dem Augenblicke, da seine Macht unserem
Vaterlande verderblich zu werden begann.

So ist denn auch die Gedächtnisfeier, zu der sich in dieser Woche
unser protestantisches Volk überall gehobenen Herzens versammelt,
leider nicht ein Fest aller Deutschen. Millionen unserer Landsleute
stehen teilnahmslos oder grollend abseits; sie wollen, sie können nicht
begreifen, daß der Reformator unserer Kirche der gesamten deutschen
Nation die Bahnen einer freieren Gesittung gebrochen hat, daß wir in
Staat und Gesellschaft, in Haus und Wissenschaft, überall noch den
Atem seines Geistes spüren. Wer über ihn redet, der muß bekennen, wie
er sich selber zu den großen sittlichen Aufgaben der Gegenwart stellt.
Leidenschaftlich, als stünde der Reformator noch mitten unter uns,
erklingen die Anklagen derer, die seine Größe nicht zu fassen vermögen.

Schon bei seinen Lebzeiten ist Martin Luther dem tragischen Geschick
der Verkennung, das keinem großen Manne und am wenigsten dem Kämpfer
erspart bleibt, nicht entgangen. In den hoffnungsreichen ersten
Jahren seines öffentlichen Wirkens begrüßte ihn die Nation mit einer
stürmischen Freude, wie sie der deutsche Boden erst in unseren Tagen
wieder erlebt hat. Damals, als er zuerst der Katze die Schelle anband
und dann kühn und kühner, fortgerissen von der zwingenden Macht des
freien Gedankens und des wachen Gewissens, aus einem treuen Sohne
der alten Kirche zum erklärten Ketzer ward, als er die Bannbulle
des Papstes in das Feuer warf und in dem flammenden Aufruf „An den
christlichen Adel deutscher Nation” seine Deutschen aufforderte zur
Reform der Kirche und des Reiches an Haupt und Gliedern: da stand er
vor Kaiser und Reich als der Führer der Nation, heldenhaft wie ihr
Volksheiliger, der streitbare Michael; da jubelte das Volkslied: „Zu
Worms er sich erzeiget, er stand wohl auf dem Plan, seine Feind' hat
er geschweiget, keiner durft' ihn wenden an”; da schien es wirklich,
als sollten alle die elementarischen Kräfte, die in der tief erregten
Nation arbeiteten, der Glaubensernst der frommen Gemüter, der
Forschermut der jungen Wissenschaft, der Nationalhaß des ritterlichen
Adels wider die welschen Prälaten, der Groll der mißhandelten Bauern,
sich zu einem mächtigen Strome vereinigen und gewaltig aufwallend alles
römische Wesen aus unserem Staate, unserer Kirche hinwegschwemmen.
Aber noch war unsere deutsche Königskrone fest verkettet mit der
weltumspannenden Politik des römischen Kaisertums. Einen Zufall dürfen
wir es nicht nennen, daß in jenem verhängnisvollen Augenblick ein
Fremdling unsere Krone trug, der unseres Herzens Schlag nicht hören
konnte und, während die Deutschen dem lauten Freimut ihres Landsmannes
zujauchzten, verächtlich lächelnd sprach: der soll mich nicht zum
Ketzer machen.

Sobald der Kaiser dem Rufe der Nation sich versagte, stand nicht bloß
die politische Macht des spanischen Weltreichs wider den Reformator,
sondern auch eine gewaltige sittliche Macht, die feste Kaisertreue
unseres Volkes. Und nun trat auch die alte Todsünde unserer Geschichte,
der Haß der Stände, wieder hervor. Die Ritterschaft vergeudete ihren
ungestümen Tatendrang in einer ziellosen, unglücklichen Fehde. Die
Bauern nahmen die Lehre der evangelischen Freiheit fleischlich auf
und erhoben sich zu einem wütenden sozialen Kampfe. Luther aber
meinte seine heilige Sache geschändet und ließ die Gecken, die das
Evangelium mit Hammern und mit Zangen in den Kisten suchten, die ganze
Wucht seines Zornes empfinden. Als der gräßliche Aufruhr durch die
unbarmherzigen Herren gräßlicher bestraft war, da sah sich der Mann,
den sein Volk soeben auf den Schild gehoben, mit den Verwünschungen
der kleinen Leute beladen. Mittlerweile hatte sich auch der erste
Gelehrte des Jahrhunderts, Erasmus, von den Wittenbergern abgewendet;
auch Luthers Lehrer, Staupitz, der sinnige Mystiker, auch die
geistreichen Humanisten Crotus Rubianus und Eobanus Hessus traten
erschrocken zurück. Mit ihrem Abfall war entschieden, daß die neue
Lehre selbst unter den Höchstgebildeten der Nation vorerst noch nicht
überall Anklang finden konnte, und da sie mit der Selbständigkeit
des Denkens auch den trotzigen Eigensinn des deutschen Charakters
entfesselte, so verfielen ihre Anhänger bald einer gefährlichen
Zersplitterung: zuchtlose Schwarmgeisterei und dogmatischer Streit
schwächten ihre Einheit.

Also von allen Seiten bedrängt und verlassen suchte Luther seine
Zuflucht bei dem deutschen Fürstenstande. Noch immer reich an
Erfolgen, waren seine letzten Jahre noch reicher an schmerzlichen
Enttäuschungen. Er hatte einst gehofft, in der gesamten Christenheit
oder mindestens in seiner deutschen Nation das kirchliche Leben zu
verjüngen. Nun mußte es ihm genügen, daß nach und nach in den größeren
weltlichen Fürstentümern Deutschlands kleine evangelische Landeskirchen
entstanden; und wer in der Geschichte nur die Erscheinungen des Tages
obenhin betrachtet, mag es leicht eine glückliche Fügung nennen, daß
der durch übermenschliche Arbeit früh Gealterte aus diesem Leben
hinweggerufen wurde, unmittelbar bevor die deutschen Protestanten im
Schmalkaldischen Kriege durch Hader und planlose Schwäche den Waffen
der Fremdherrschaft schimpflich erlagen. Ja während sonst das Bild der
geschiedenen Helden sich im Gedächtnis der Völker zu verklären pflegt,
erschien Luther den Nachlebenden kleiner, als er gewesen. In jenen
müden Jahrzehnten der politischen Tatenscheu und des theologischen
Gezänks, welche den lichten Tagen der deutschen Reformation folgten,
formte sich ein kleines Geschlecht die Gestalt des Reformators nach
seinem eigenen Bilde, als wäre er auch nur ein bibelfester Prediger
und ehrsamer Hausvater gewesen, als hätte er wirklich nur eine
Sonderkirche, die sich nach dem Namen eines sündhaften Menschen nannte,
stiften wollen. Erst die historische Wissenschaft unseres Jahrhunderts
hat sich wieder das Herz gefaßt, den ganzen Luther zu verstehen, den
zentralen Menschen, in dessen Seele fast alle die neuen Gedanken eines
reichen Jahrhunderts mächtig widertönten; sie steht ihm fern genug, um
auch die mittelbaren Folgen seines zerstörenden und aufbauenden Wirkens
zu würdigen, um alle die Keime einer neuen Kultur, die er ahnungslos,
nach der Weise des Genius, in den deutschen Boden senkte, wahrzunehmen
und dankbar zu erkennen, wie treu er sein Wort erfüllt hat: „Für meine
Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen”. --

Im deutschen Gemüte lag von jeher dicht neben der hellen Weltlust ein
beschaulicher Ernst, der die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge
schmerzlich empfand, neben der wagenden Tapferkeit eine tiefe Sehnsucht
nach Erlösung von dem Fluche der Sünde. Die Germanen allein unter allen
Völkern Westeuropas haben schon in den Tagen ihres Heidentums etwas
geahnt von dem dereinstigen Untergange dieses frevelnden Geschlechts,
von einer neuen Welt der Reinheit und der Klarheit, die da kommen
solle. In einem solchen Volke mußte die frohe Botschaft aus Jerusalem
bereite Herzen finden, und wie andächtig, wie innig die Deutschen den
neuen Glauben aufnahmen, das erzählen die Wunderbauten unserer alten
Dome. Gleichwohl hatte die christliche Lehre, als sie bei uns eindrang,
bereits in Rom eine Gestalt angenommen, welche dem deutschen Volke
niemals ganz vertraut werden konnte. Diesseits und Jenseits, alle
Zeiten und alle Völker erschienen eingeschlossen in der einen großen
Gemeinschaft der Heiligen, welche die streitende Kirche hienieden
mit der leidenden Kirche der armen Seelen im Fegefeuer und der
triumphierenden Kirche der Seligen droben im Himmel verband. Aus dem
Gnadenschatze der guten Werke der Heiligen spendete die Kirche ihren
Gläubigen die Vergebung der Sünden durch den Mund eines herrschenden
Priesterstandes, der durch die geistige Zeugung der Weihe befähigt war,
Brot und Wein in den Leib und das Blut des Erlösers zu verwandeln.
Außer ihr war kein Heil; von der Wiege bis zur Bahre, von der Taufe bis
zur letzten Ölung umfing und heiligte sie das Leben jedes Christen. Es
war ein wunderbarer großer Gedankenbau; lange Jahrhunderte hindurch
hatten die Weisheit und die Andacht so vieler heiliger Männer und
eine seltene Kunst der Menschenbeherrschung daran gebaut; festgefügt
stand Stein auf Stein, die unerbittliche Folgerichtigkeit dieser
Lehre ließ dem Christen nur die Wahl zwischen der Unterwerfung und
der Ketzerei. Doch die scharfe Logik der Romanen hat dem deutschen
Geiste niemals ganz genügt; nicht so von außen her, nicht allein
durch die Gnadenmittel der Kirche und durch vorgeschriebene gute
Werke konnte das rege Gewissen unseres Volkes seinen Frieden finden.
Schon im vierzehnten Jahrhundert erdröhnte das deutsche Land von den
Kyrieleis-Rufen der Geißler, und immer lauter, immer verzweifelter,
fast so herzzerreißend wie in den Anfängen der christlichen Geschichte,
erklang seitdem der Aufschrei der sündigen Kreatur nach Versöhnung mit
ihrem Schöpfer.

Zugleich ward auch der kampfmutige Weltsinn der Deutschen an den Lehren
der alten Kirche irr. So viele Kränze des Ruhmes, so viele edle Freuden
bot diese schöne Erde dem tatkräftigen Manne; und das alles sollte
nichts gelten neben der höheren Heiligkeit der begebenen Menschen,
der Priester und der Mönche, die auf alles verzichteten, was Menschen
menschlich aneinander bindet, die mit dem holden Glück auch die
heiligen Pflichten des ehelichen Lebens verschmähten! Kummervoll sann
der größte Dichter unseres Mittelalters, Walther von der Vogelweide,
diesem dunklen Rätsel nach und klagte:

    Ach leider kann es nimmer sein,
    Daß Gottes Gnade kehre
    Mit Reichtum und mit Ehre
    Je wieder in dasselbe Herz.

Und dieser Priesterstand, der sich so unnahbar hoch über die
gehorchende Gemeinde erhob, der alle weltliche Arbeit so tief
verachtete, war selber längst einer schamlosen Weltlust verfallen,
die ihn den Weltlichen als ein Heuchlergezücht erscheinen ließ. Er
besaß das reichste Drittel Deutschlands, gab auf den Reichstagen durch
seine Überzahl den Ausschlag, und seine politische Macht ward von den
Deutschen als Fremdherrschaft empfunden; denn in der Kirche regierte
der Papst mit seinen italienischen Prälaten, und alle die Fülle von
Geist, Witz und Bildung, die sich in dem Lügenstübchen des Vatikans
gesellig zusammenfand, alle die Meisterwerke des Meißels und des
Pinsels, die in der Sonne päpstlicher Gnade reiften, konnten unser
Volk doch nicht darüber trösten, daß die Herrscherin der Christenheit
die ruchloseste Stadt der Erde war. Vergeblich hatten die Deutschen,
allen anderen Nationen voran, auf den Konzilien des fünfzehnten
Jahrhunderts die Schäden der Kirche zu bessern versucht. Als Luther
auftrat, war die Nation in unheimlicher Gärung, von widersprechenden
Gefühlen stürmisch bewegt: hier die Gewissensangst der Frommen, die
über ihre Sünden und guten Werke peinlich Buch führten und mit heiligem
Schauer die volkstümlichen Bilder des Totentanzes betrachteten; dort
der kecke Übermut eines sinnenkräftigen, lebenslustigen Geschlechts,
das der derben Schwänke nicht satt ward und sich dreist spottend an dem
Zerrbild der verkehrten Welt erfreute; dazu allen Deutschen gemein der
Haß gegen das welsche Wesen.

Die Tat der Befreiung ging aus den Kämpfen des ehrlichen deutschen
Gewissens hervor; aus seiner Demut schöpfte Luther die Kraft der
höchsten Verwegenheit. Getrieben von einer leidenschaftlichen Angst
um seine und seiner Brüder Seligkeit hatte er einst Vater und Mutter
verlassen und in seiner Klosterzelle durch alle Qualen mönchischer
Buße den Himmel stürmen wollen, doch immer wieder klang es in seiner
Seele: „O meine Sünde, Sünde, Sünde!” -- bis dann endlich das Wort
des Apostels von der Rechtfertigung durch den Glauben zündend in sein
Herz schlug. Und nun kam sie über ihn, die Wandelung des inneren
Menschen, die μετάνοια des Paulus; in demütiger Erkenntnis
der Unzulänglichkeit alles menschlichen Verdienstes ergab er sich
gläubig der Gnade des lebendigen Gottes und er wagte, dieses seines
Glaubens zu leben. Der ganze Gegensatz romanischer und germanischer
Empfindung tritt uns vor die Augen, wenn wir diese Seelenkämpfe
Luthers vergleichen mit den inneren Anfechtungen, welche späterhin der
Rittersmann der wiederhergestellten alten Kirche, Ignatius von Loyola,
zu überwinden hatte. Der Spanier entledigt sich seiner Pein durch den
Entschluß, diese Wunden seiner Seele nie mehr zu berühren; der Deutsche
beruhigt sich erst, sobald sein Gemüt überzeugt ist und alle Zweifel
vor der Gewißheit einer innerlich erlebten Wahrheit schwinden.

Ohne jede Ahnung von der unermeßlichen Wirkung seiner Tat beginnt
er nun den Kampf gegen den häßlichsten Mißbrauch der verweltlichten
Kirche, und dann führt ihn Gott weiter wie einen Gaul, dem die Augen
geblendet sind. Aus jenem entscheidenden Gedanken ergibt sich ihm
die Erkenntnis, daß Gott keinen erzwungenen Dienst will und über die
Gewissen niemand richten kann denn Gott allein. Kaum drei Jahre nach
dem Beginne des Ablaßstreites sagt er sich schon los von der gebundenen
Sittlichkeit des Mittelalters durch jenen mächtigen Hymnus der
evangelischen Freiheit, das Buch von der Freiheit des Christenmenschen:
der Christ ist niemand untertan in seinem Glauben und eben darum
jedermanns Knecht, dem geringsten seiner Brüder zum Dienst der Liebe
verpflichtet; gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann, sondern
ein guter Mann machet gute Werke. Eine zugleich freiere und strengere
Auffassung des sittlichen Lebens, die wieder anknüpft an die Kämpfe
Jesu wider die starre Gesetzlichkeit der Pharisäer und den Schwerpunkt
der sittlichen Welt im Gewissen des Menschen findet. An diese
Erkenntnis wieder schließt sich die Forderung des Priestertums der
Laien und der Gedanke der freien Gemeindekirche, die sich bescheidet,
die äußeren Formen der Kirchengemeinschaft wie alles Menschliche in
den Fluß der Zeiten zu stellen, und dem mißdeuteten Worte „Auf diesen
Felsen will ich meine Kirche bauen” das lebendig verstandene Wort
entgegenhält: „Wo zwei oder drei von euch versammelt sind in meinem
Namen, da bin ich mitten unter ihnen.”

Gewiß war Luthers Tat eine Revolution, und da der religiöse Glaube
im innersten Kerne des Volksgemüts wurzelt, so griff sie in alles
Bestehende tiefer ein als irgendeine politische Umwälzung der neuen
Geschichte. Es ist wahrlich kein Zeichen evangelischen Mutes, wenn
manche wohlmeinende Protestanten dies zu leugnen oder zu verhüllen
suchen. Nur ein Mann, in dessen Adern die ungebändigte Naturgewalt
deutschen Trotzes kocht, konnte so Vermessenes wagen. Die ganze alte
Ordnung der sittlichen Welt, die einem Jahrtausend heilig gewesen,
die lange Kette der ehrwürdigen Traditionen, welche das Leben der
Christenheit gebunden hielten, brach mit einem Schlage zusammen, und
lebhaft können wir heute dem Gegner des Reformators, dem Elsässer
Murner, nachempfinden, wenn er heim Anblick der ungeheuren Zerstörung
jammernd ausrief:

    Alle Bücher sein erlogen,
    Die je beschrieben sind,
    Die Heiligen han betrogen,
    Die Lehrer sein all blind!

Die Größe der historischen Helden besteht in der Verbindung von
Seelenkräften, die nach der Meinung des platten Verstandes einander
ausschließen. So gewaltig die Kühnheit des schlichten Mannes, der
sich selber nur eine Gans unter den Schwänen nannte und dennoch sich
vermaß, gegen die stärksten politischen und sittlichen Mächte der Zeit
in die Schranken zu treten, ebenso erstaunlich erscheint von Haus aus
seine Mäßigung. Nie war er kühner, als da er den Bilderstürmern von
Wittenberg die Mahnung der Liebe zurief: Macht mir nicht aus dem Frei
sein ein Muß sein! Mit kindlichem Vertrauen baute er auf die Macht des
göttlichen Wortes allein. Und sein Glaube trog ihn nicht; denn nachdem
erst die wilden Zuckungen des Bauernkrieges und der Wiedertäuferei
überwunden waren, vollzog sich der Sieg der Reformation in Deutschland
fast überall friedlich, frei aus dem Volke heraus. Bei allem
Häßlichen, das sich mit ansetzte, trug die große Bewegung doch jenen
Charakter schlichter Treuherzigkeit und Kraft, der alle große Epochen
der deutschen Geschichte auszeichnet; sie schenkte unserem Volke die
Form des Christentums, welche dem Wahrheitsdrange und der unzähmbaren
Selbständigkeit der deutschen Natur zusagt, gleichwie die römische
Kirche der Logik und dem Schönheitssinne der Romanen, die orthodoxe
Kirche der halborientalischen Gebundenheit der gräko-slawischen Welt
entspricht. Und weit hinaus über den Kreis seiner Glaubensgenossen
wirkte Luthers Wort; er war im Rechte, wenn er den deutschen Bischöfen
zurief: „Ihr habt mein Evangelium verdammen lassen, habt es aber
heimlich und in vielen Stücken angenommen.” Mit gutem Grunde nennen wir
ihn heute einen Wohltäter auch der alten Kirche. Denn auch sie ward
durch ihn gezwungen, ihre sittlichen Kräfte zusammenzuraffen, auch sie
blieb nicht unberührt von der innigen, seelenvollen Auffassung des
Glaubens, welche Luther der Christenheit wiedergab. Eine so sinnliche
Ablaßlehre, wie sie Tetzel einst predigte, wäre auf deutschem Boden
jetzt unmöglich; und sicherlich steht heutzutage der denkende deutsche
Katholik dem deutschen Protestanten in seiner ganzen Weltanschauung
näher als seinem spanischen Glaubensgenossen.

In allen den mächtigen Wandlungen unseres geistigen Lebens seitdem
ist der Grundgedanke der Reformation, die freie Hingebung der Seele
an Gott, unwandelbar das sittliche Ideal der Deutschen geblieben. Er
kehrt, ins Weltliche gewendet, wieder in dem strengen Ausspruch Kants,
daß überall auf der Welt nichts für gut gehalten werden dürfe, als
allein ein guter Wille; er tönt uns entgegen aus dem milden Gesange der
Engel, die Fausts Unsterbliches gen Himmel tragen: „Wer immer strebend
sich bemüht, den können wir erlösen.” Wir danken der Reformation das
lebendige Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse, worauf die heutige
deutsche Gesittung beruht, jene freie Duldsamkeit, die weder der Furcht
noch dem Kaltsinn entspringt, sondern der Erkenntnis, daß das Licht der
göttlichen Offenbarung, wie heute die Welt noch steht, nur gebrochen
in vielen Strahlen dem Auge der Menschheit erkennbar ist; denn so
gewiß kein Sohn des sechzehnten Jahrhunderts, auch Luther nicht,
verstanden hätte, was wir heute Toleranz nennen, ebenso gewiß ist diese
Duldung nur möglich geworden auf dem Boden des Protestantismus, der
den hochmütigen Wahn einer alleinseligmachenden Kirche grundsätzlich
verwirft. Wir danken ihr, daß der Deutsche zugleich fromm und frei
empfinden kann, daß keiner unserer großen Denker, wie kühn sich auch
die Flüge ihres Geistes erhoben, jemals in den lästernden Spott eines
Voltaire verfiel, und die Todsünde der Heuchelei unter uns eine seltene
Ausnahme ist.

Denn das ist die Größe des Protestantismus, daß er einen Widerspruch
zwischen dem Denken und dem Wollen, zwischen dem religiösen und dem
sittlichen Leben nicht dulden will, sondern gebieterisch fordert: Was
du erkannt hast, das bekenne und darnach handle! Zu Luthers Zeiten
standen die Italiener unserem Volke in Kunst und Wissenschaft weit
voran. Bereits im vierzehnten Jahrhundert war unter ihnen Petrarca
aufgetreten, der erste moderne Mensch, der ganz auf eigenen Füßen
stand und die Binde sich von den Augen gestreift hatte; und nun
gerade in den Tagen des deutschen Ablaßstreites schrieb Machiavelli
jene zwei Bücher vom Staate, die mit den überlieferten Vorstellungen
des Mittelalters weit rücksichtsloser brachen als Luther. Jedoch den
Romanen fehlte die Kraft, ihre eigenen Gedanken in vollem Ernst zu
nehmen, sie brachten es über sich, ihr Gewissen zu teilen und einer
Kirche, die sie verspotteten, zu gehorchen. Die Deutschen wagten,
das Leben nach der erkannten Wahrheit zu gestalten, und weil die
historische Welt die Welt des Willens ist, weil nicht der Gedanke,
sondern die Tat das Schicksal der Völker bestimmt, darum beginnt die
Geschichte der modernen Menschheit nicht mit Petrarca, nicht mit den
Künstlern des Quattrocento, sondern mit Martin Luther. Merkwürdig früh
hat die europäische Welt dies erkannt. Nur hundertundvierzig Jahre nach
Luthers Tode stellte der deutsche Historiker Cellarius die Behauptung
auf, gegen den Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts sei eine alte,
für uns abgeschlossene Zeit zum Ende gelangt, das Mittelalter. Bei
allen Völkern hat sich seitdem Begriff und Name des Mittelalters
eingebürgert, und dabei wird es bleiben, obwohl die Selbstverliebtheit
unserer Tage zuweilen, ganz vergeblich, versucht, die Geschichte der
neuen Zeit erst mit der französischen Revolution zu beginnen. --

Gleich allen echten Germanen hegte Luther ein tiefes Gefühl
historischer Pietät, und er liebte, die große Neuerung, die er in der
Kirche vollzog, sich nur als die Wiederherstellung der ursprünglichen
Zustände des Christentums zu denken. Dagegen wußte er wohl, daß er
das politische Leben der Völker mit einem schlechthin neuen Gedanken
befruchtet hatte. „So stund's aber dazumal,” -- sagt er über die
Zeiten der Jugend -- „es hatte niemand gelehret noch gehöret, wußte
auch niemand von der weltlichen Obrigkeit, woher sie käme, was ihr Amt
oder Werk wäre oder wie sie Gott dienen solle.” In der Tat war der
Staat noch niemals zu seinem vollen Rechte gelangt, seit die schwere,
der heidnischen Welt unbekannte Frage nach den Grenzen geistlicher
und weltlicher Gewalt zuerst in der Christenheit aufgeworfen wurde.
In ihren ersten Jahrhunderten hielt sich die Kirche scheu vor dem
Staate zurück, weil er heidnisch war, und als sie dann im Römerreiche
die Oberhand gewann, entstand nach und nach, eng verbunden mit
der Verfassung und dem Dogma der Kirche, das politische System
der kirchlichen Weltherrschaft. Das ganze Leben der Christenheit
erscheint als eine fest geordnete Einheit; Staat und Volkswirtschaft,
Wissenschaft und Kunst, alle Berufe der Menschen empfangen ihre
sittlichen Gesetze aus den Händen der Kirche; die Kirche ist der Staat
Gottes, der weltliche Staat das Reich des Fleisches, ohne eigenen
sittlichen Zweck und nur dann vor Gott gerechtfertigt, wenn er dem
Schiedsrichter der Staatenwelt, dem Papste, seinen starken Arm zum
Dienste leiht. Kein kräftiger Staat des Mittelalters hatte diese
herrischen Ansprüche des Papsttums jemals vollständig anerkannt. Seit
Dante, seit Marsilius von Padua und den tapferen ghibellinischen
Schriftstellern, die sich um Kaiser Ludwig den Bayern scharten, war
das Ansehen der kirchlichen Weltstaatslehre auch in der Wissenschaft
bereits tief erschüttert. Sie ganz zu überwinden, konnte doch nur dann
gelingen, wenn der Stier bei den Hörnern gepackt und die Herrschaft des
Priesterstandes in der Kirche selbst verworfen wurde.

Erst Luther warf den Satz „Geistliche Gewalt ist über der weltlichen”,
diese starke Mauer der Romanisten, in Trümmer und lehrte, daß der
Staat selber eine Ordnung Gottes ist, berechtigt und verpflichtet,
seinen eigenen sittlichen Lebenszwecken, unabhängig von der Kirche,
nachzugehen. Damit ward der Staat für mündig erklärt, und da er
wirklich schon zu seinen Jahren gekommen war, da die weltliche Gewalt
überall an dem erstarkten Selbstgefühl der Nationen eine sichere
Stütze fand, so wirkte diese Tat der politischen Befreiung fast noch
gewaltiger, noch weiter in die Welt hinaus, als die Reformation der
Kirche. Alle Kronen, ohne Ausnahme, katholische wie evangelische,
sagten sich los von der politischen Herrschaft des gekrönten Priesters.
Von einer Obedienzleistung, wie sie der Papst vordem den weltlichen
Gewalten zugemutet, war fortan keine Rede mehr, und noch ehe Luthers
Jahrhundert zu Ende ging, begründete Bodinus den Gedanken der
Souveränität des Staates zuerst mit wissenschaftlicher Schärfe --
eine neue Erkenntnis, die, einmal gefunden, das gemeinsame Besitztum
der gesitteten Menschheit geblieben ist. Mochte die Gesellschaft Jesu
noch von der Weltherrschaft des Gottesstaates träumen, unaufhaltsam
verwuchsen die Staaten Europas zu einer neuen freien Völkergesellschaft
und bildeten sich ein weltliches Völkerrecht, das, gerechter als
weiland die Urteilssprüche der Päpste, in der Interessengemeinschaft
und dem Rechtsbewußtsein der Nationen seine Wurzeln hat. Schritt für
Schritt drängte der moderne Staat die Kirche auf ihr geistliches
Gebiet zurück; er nahm ihr die Rechtspflege, die Schulverwaltung,
das Armenwesen und bewies durch die Tat, daß er diesen politischen
Pflichten besser als sie zu genügen vermag. Nichts zeugt so laut
für die Gesundheit der politischen Gedanken der Reformation, wie
die unleugbare Tatsache, daß die politische Entwicklung in den
protestantischen Staaten fast durchweg friedlicher, minder gewaltsam
verlaufen ist, als in der katholischen Welt.

Keinem Volke brachte die Befreiung des Staates von kirchlicher
Herrschaft so reichen, so lang nachwirkenden Segen wie uns Deutschen,
denn nirgends war die alte Kirche fester mit dem Staate verflochten,
als in diesem römischen Reiche und allen den geistlichen Fürstentümern,
welche seine Krone stützten. Unleugbar hat die Reformation den längst
schon beginnenden Zerfall des alten Reichs gefördert, die längst
schon vorhandenen politischen Gegensätze noch durch kirchlichen Haß
verschärft. Doch wer Wunden zu heilen vermag, darf sie auch schlagen.
Nur aus dem Borne des Protestantismus konnte dies sieche Reich den
verjüngenden Trank schöpfen. Nur wenn unser Staat wieder wahr wurde wie
seine Kirche, wenn er die zur Lüge gewordenen Ansprüche seines heiligen
römischen Kaisertums aufgab und seine Krummstabslande einer weltlichen
Obrigkeit unterwarf, nur dann vermochte er wieder zu wachsen mit der
wachsenden Zeit.

Luther selbst hatte diese letzten Schlüsse aus seinen Gedanken nie
gezogen. Ihm graute vor den Schrecken eines Bürgerkrieges: „Ehe man
in Deutschland eine neue Weise des Reichs anrichtete, so wäre es
dreimal verheeret.” Er wußte, daß er kein Staatsmann war, und teilte
mit seinem Volke die ehrfürchtige Scheu vor der kaiserlichen Majestät,
vor dem jung edlen Blut von Österreich; wie viele Zweifel mußte er
überwinden, bis er sich nur entschloß, den Widerstand gegen kaiserliche
Übergriffe, der doch im alten Reiche Rechtens war, gutzuheißen. Die
Natur der Dinge, die Vernunft der Geschichte, hat schließlich dennoch
vollendet, was in dem Heimatlande der Reformation nicht ausbleiben
konnte: unrettbar brachen die geistlichen Staaten Deutschlands nach
und nach zusammen, bis endlich im Anfang unseres Jahrhunderts die
letzten verfaulten Trümmer der römischen Theokratie verweltlicht und
mit ihnen auch die römische Kaiserkrone vernichtet wurde. Nun erst,
seit unser Staat sich ehrlich zu seinem weltlichen Wesen bekannte,
ward die Stätte geebnet für einen Neubau; und auch an dieser letzten
heilvollen Wendung unserer Geschicke hat der Reformator seinen Anteil
durch eine Tat, deren ferne Folgen ihm verhüllt blieben. Auf Luthers
Rat entschloß sich der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von
Brandenburg, den weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuze abzulegen, die
falsche Keuschheit des Mönches zu meiden und „eine rechte ordentliche
Herrschaft zu gründen, die ohne Gleißen und falschen Namen vor Gott und
der Welt angenehm wäre”. So ward das Ordensland Preußen, die Pflanzung
des gesamten Deutschlands, in ein weltliches Herzogtum verwandelt
und vor der Begehrlichkeit des polnischen Nachbarn gerettet. Luther
aber schrieb dankbar: „Siehe dies Wunder! In vollem Laufe, mit vollen
Segeln, eilt jetzt das Evangelium durch Preußen!” Er ahnte nicht,
welche größeren Wunder unser Volk noch an seiner entlegenen Ostmark
erleben sollte. Aus diesem, der alten Kirche geraubten Lande, das mit
dem Protestantismus stand und fiel, ist in unvergeßlichen Kämpfen
die streitbare Großmacht unserer neuen Geschichte hervorgegangen und
endlich, als die Zeiten sich erfüllten, der neue Staat der Deutschen,
der nicht heilig sein will und nicht römisch, sondern, nach den Worten
des Reformators, ohne Gleißen und falschen Namen ein weltliches, ein
deutsches Reich. --

Wie die Einheit des deutschen Staates erst möglich ward, seit
die letzten Staatsgebilde der römischen Kirche von unserem Boden
verschwanden, so verdanken wir auch den Kämpfen der Reformation das
köstliche geistige Band, das uns in den Tagen deutscher Zerrissenheit
lange fast allein zusammenhielt, unsere neue Sprache. Was selbst dem
Zauber unserer ritterlichen Dichtung nicht gelungen war, den deutschen
Norden unter die Herrschaft der hochdeutschen Sprache zu beugen, das
gelang erst, als die schöne Lieblingsstätte des Minnesanges, die
Wartburg, zum zweiten Male unserem Volke teuer ward und von dort die
ersten Bücher der deutschen Bibel ausgingen -- die Heilige Schrift,
übertragen mit strenger Treue durch einen wahlverwandten religiösen
Genius und doch so ganz verdeutscht, so ganz beseelt von dem Hauche
deutschen Gemütes, daß wir uns heute das Bibelwort in anderer Fassung
kaum noch denken können. Gleich den Italienern empfingen wir unsere
Schriftsprache mit einem Male durch die Tat eines Mannes. Es liegt
aber im Wesen des Genius, das Notwendige, das einfach Natürliche
zu wollen. Wie Dante nicht willkürlich neuerte, sondern nur die
Volkssprache seiner toskanischen Heimat adelte und durchgeistigte,
so hegte auch Luther nur schlicht und recht die Absicht, von seinem
ganzen Volke verstanden zu werden, damit Gott deutsch zu den Deutschen
rede. Er benutzte daher das gemeinverständliche Mitteldeutsch, das
schon überall, wo Ober- und Niederdeutsche unter einem Herrscher
zusammensaßen, in dem Staate des deutschen Ordens, in den Kanzleien
der lützelburgischen Kaiser und der sächsischen Kurfürsten von der
Obrigkeit geredet wurde.

Also wirkten gebend und empfangend alle Stämme der Nation zu den
Taten der Reformation zusammen. Im Norden fand der Protestantismus
seinen festen politischen Rückhalt; die mächtige Sprache aber, welche
fortan das evangelische Deutschland geistig beherrschte, kam aus dem
Oberlande, aus jenen Gauen Süd- und Mitteldeutschlands, die zu allen
Zeiten das warme Nest unserer Dichtung und also auch der Sprachbildung
geblieben sind. Und dies Hochdeutsch war die Sprache von Luthers
Heimat; seine Laute klangen ihm vertraut von Kindesbeinen an; so hatte
er schon das Volk in den Mansfelder Bergwerken, seines lieben Vaters
Schlegelgesellen, reden hören. Sprachgewaltig, wie seitdem nur einer
noch, Goethe, ward er der volkstümlichste aller unserer Schriftsteller.
In seinen Schriften vereinigt sich, was sonst unvereinbar scheint, der
Tiefsinn, die gedrängte Gedankenfülle des Buchs und die fortreißende
Macht, der sprudelnde Wörterreichtum der Rede, so daß der Leser immer
die herzbewegende Stimme des Predigers zu hören meint; dem Einfältigen
geben sie genug, und der Denkende findet des Nachsinnens kein Ende. In
Kämpfen geboren, kann diese Sprache des Freimuts und der Wahrhaftigkeit
bis zum heutigen Tage die Zeichen ihres Ursprungs nicht verleugnen.
Gewaltig vermag sie zu zürnen, übermütig zu spielen in toller Laune,
zu den Höhen des Gedankens steigt sie kühn empor, für jedes holde
Geheimnis des Herzens findet sie ein liebliches Wort; doch wer sie
zwingen will, ihre Meinung zu bemänteln oder tückisch unterm Zaum
hervor zu beißen oder gar den überbildeten Geschmack durch das Pikante
und Scharmante zu reizen, dem schenkt sie wenig, den läßt sie betteln
gehen an den Tischen der Fremden.

Mehr denn hundert Jahre hat es noch gewährt, bis dies neue Deutsch, das
in der Predigt und dem Gemeindegesange der evangelischen Kirche kräftig
erklang, zum Gemeingut unseres Volkes wurde, bis auch die Wissenschaft
volkstümlich und weltlich ward und das Wort sich ganz erfüllte, das
Ulrich von Hutten schon in den ersten Tagen überschwenglicher Hoffnung
zuversichtlich in die Welt hinausgerufen hatte: „Sonst waren nur die
Pfaffen gelehrt, jetzt hat uns Gott auch Kunst beschert, daß wir die
Bücher auch verstahn”. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts
kam über den lutherischen Zweig des deutschen Protestantismus eine
lange Zeit unheilvoller Erstarrung, da fast allein die weihevollen
Klänge des evangelischen Kirchenliedes noch Kunde gaben von dem
ursprünglichen Geiste der Reformation und in der neuen wie in der alten
Kirche herrschsüchtige Theologen der weltlichen Wissenschaft Richtung
und Grenze vorschrieben. Nur der Heldenmut seiner tatkräftigeren
Schwesterkirche, nur der Kampf der Calvinisten Niederlands wider die
spanische Krone, bewahrte damals das verkommene Luthertum vor dem
sicheren Untergange. Erst der Jammer des Dreißigjährigen Krieges
brachte auch uns die Selbstbesinnung. Die Pietisten von Halle erweckten
unserem Volke wieder den lebendigen evangelischen Geist, den Geist
der brüderlichen Liebe, der das Evangelium leben wollte und über dem
öden Buchstabengezänk der letzten Jahrzehnte ganz vergessen schien;
Pufendorf vertrieb die Theologen aus den politischen Wissenschaften,
Thomasius wagte zuerst auf deutschem Lehrstuhl deutsch zu reden;
und auf dem also bereiteten Boden erhob sich sodann unsere neue
Wissenschaft und Dichtung, ganz frei von konfessioneller Härte,
weltlich von Grund aus, weit kühner in ihren Gedanken, als Luther
selbst jeweils gebilligt hätte, und dennoch protestantisch. Alle ihre
Führer gehörten dem Protestantismus an. Nur aus der Autonomie des
Gewissens, die uns Luther errungen, konnte das neue Ideal der Humanität
hervorgehen. Mit Entsetzen vernahmen die bayerischen Jesuiten das
„lutherische Deutsch” dieser neuen Bildung; doch unhemmbar hielt sie
ihren friedlichen Siegeszug auch durch das katholische Deutschland, bis
sie schließlich alles, was deutsch war, in den frischen Strom ihrer
Gedanken hineingezogen hatte; und heute sehen wir mit Freude, wie
selbst die Vorkämpfer Roms unter unseren Landsleuten längst lutherisch
deutsch gelernt haben, wie sie wider uns streiten mit Waffen, die in
unserer Schmiede gehämmert sind.

Seit die Kirche sich auf ihren geistlichen Beruf beschränkt sah,
erhielt alles redliche weltliche Schaffen erst seine sittliche
Rechtfertigung. Das Rätsel war gelöst, das jenem Dichter des
Mittelalters so ganz unlösbar schien: wie Reichtum und Ehre sich mit
der Gnade Gottes vertragen sollten. Die Ewigkeit trat dem Gläubigen
mitten in sein Leben hinein, und er fühlte, daß er auch mit seiner
Hände Arbeit dienen könne und solle. Selbst den Kriegsleuten gab Luther
die tröstliche Gewißheit, daß sie auch in seligen Stand kommen würden,
wenn sie ihres harten Handwerks in Treue warteten. Seit eine Kirche
ohne Klerisei bestand, konnte auch in den rein katholischen Ländern der
Klerus sich nicht mehr auf die Dauer als der erste Stand behaupten.
In Deutschland aber wurden jene mittleren Schichten der Gesellschaft,
zu denen Luther vornehmlich geredet hatte, mehr und mehr zum Kerne
der Nation. Auch die soziale Macht, welche die gelehrte Bildung und
mit ihr leider der Doktrinarismus im deutschen Leben behauptet, hat
ihren ersten Ursprung in der Wirksamkeit des größten aller deutschen
Professoren.

Der Protestantismus entstammt einem derben männischen Jahrhundert,
das nach den Frauen wenig fragte, und die nüchternen Formen seines
Kultus vermögen der frommen Sehnsucht des weiblichen Herzens nicht
immer zu genügen. Und doch hat Luther die deutschen Frauen höher
erhoben, als sie je vordem gestanden hatten in den Zeiten, da noch die
gnadenreiche Mutter Gottes angerufen ward; er hat den Wirkungskreis
des Weibes, das Haus wieder zu Ehren gebracht vor Gott und Menschen.
Schwer mußte er kämpfen, ehe er sich das Herz faßte, um die Hand seiner
Käthe zu werben; was zuletzt den Ausschlag gab, war doch nicht bloß
die Sehnsucht nach häuslichem Glück, sondern das Gefühl einer heiligen
Pflicht. Wie oft hat er den Klosterleuten zugerufen: „Wer hat dich
etwas geloben und schwören heißen, was wider Gott und seine Ordnung
ist, nämlich daß du schwörest, du seiest kein Mann und kein Weib?”
War er berechtigt also zu fragen, war die Ehe wirklich ein heiliger
Stand, Gott wohlgefälliger als die Gelübde der Beschorenen, dann
mußte er selber mit seinem Leib und Leben Zeugnis ablegen für seine
Lehre. Er wußte, welch eine Schlammflut ekler Verdächtigungen sich nun
heranwälzen mußte gegen ihn, dessen makelloser Name bisher einer großen
Sache zum Schilde gedient und allen Pfeilen der Verleumder widerstanden
hatte. Freiwillig nahm er dies Kreuz auf sich; denn überzeugender,
siegreicher konnte sich die sittliche Macht der evangelischen Freiheit
nicht erweisen, als wenn die Ehe des entlaufenen Mönches und der
entlaufenen Nonne zum Vorbild wurde für Tausende frommer Menschen.

Und sie ward es. Dies mit allen Flüchen der römischen Kirche
beladene Haus lebt in unser aller Herzen. Wir denken seiner, wenn am
Weihnachtsabend vor dem Tannenbaume die hellen Stimmen unserer Kinder
die frohe Botschaft singen: „Vom Himmel hoch da komm ich her”; wir
sehen ihn vor Augen, den alten Doktor, wie er, ein Gewissensrat seiner
lieben Deutschen, allen den Zweifelnden und Beladenen, die von nah und
fern zu ihm eilen, Lehre, Trost und Hilfe spendet und immer mit seinem
freien Gemüt Partei nimmt für das Recht des Herzens, für die Stimme
der Natur, für die Billigkeit und die Liebe; wir hören sein herzliches
Lachen, wenn er den zagenden Melanchthon mit kräftigem Zuspruch
aufrichtet oder in neidloser Freundschaft die Größe seines kleinen
Griechen preist; wir freuen uns seiner goldenen Laune, wenn er abends
um seinen gastlichen Tisch den Becher kreisen läßt und die deutscheste
der Künste, Frau Musika, zu den fröhlichen Zechern ladet: „Hie kann
nicht sein ein böser Mut, wo da singen Gesellen gut”; wir klagen mit
ihm, wenn er, überwältigt vom menschlichsten Schmerze, an der Bahre
seines Lenchens weint. So war das erste evangelische Pfarrhaus; und
wie viele Tränen sind seitdem von den Frauen unserer Landpfarrer
getrocknet, wie viele gute und hochbegabte Männer in diesen friedlichen
Heimstätten einer gelehrten und doch der Natur nicht entfremdeten
Bildung erzogen worden.

All unser Tun ist Stückwerk, und in der Geschichte dauert der Name
keines Mannes, der nicht größer war als seine Werke. Das köstlichste
Vermächtnis, das Luther unserem Volke hinterlassen hat, bleibt doch er
selber und die lebendige Macht seines gottbegeisterten Gemüts. Keine
andere der neueren Nationen hat je einen Mann gesehen, der so seinen
Landsleuten jedes Wort von den Lippen genommen, der so in Art und Unart
das innerste Wesen seines Volkes verkörpert hätte. Ein Ausländer mag
wohl ratlos fragen: wie nur so wunderbare Gegensätze in einer Seele
zusammenliegen mochten: diese Gewalt zermalmenden Zornes und diese
Innigkeit frommen Glaubens, so hohe Weisheit und so kindliche Einfalt,
so viel tiefsinnige Mystik und so viel Lebenslust, so ungeschlachte
Grobheit und so zarte Herzensgüte, und wie derselbe ungeheure Mensch,
der einen Brief an Seine Fürstliche Ungnaden Herzog Georg von Sachsen
kurzab unterzeichnete „Von Gottes Gnaden Martin Luther, Evangelist
zu Wittenberg”, dann wieder zerknirscht vor Gott in den Staub sinken
konnte. Wir Deutschen finden in alledem kein Rätsel, wir sagen einfach:
das ist Blut von unserem Blute. Aus den tiefen Augen dieses urwüchsigen
deutschen Bauernsohnes blitzte der alte Heldenmut der Germanen, der
die Welt nicht flieht, sondern sie zu beherrschen sucht durch die
Macht des sittlichen Willens; und weil er heraussagte, was im Gemüte
seines Volkes schon lebte, nur halb konnte der arme Mönch, der
soeben noch aus dem stillen Augustinerkloster am Monte Pincio demütig
hinübergepilgert war nach den Hallen von St. Peter, in wenigen Jahren
wachsen und wachsen und schließlich der neuen römischen Weltmacht
ebenso furchtbar werden, wie einst die deutschen Kohortenstürmer dem
Reiche der Cäsaren. Ein Menschenalter nach Luthers Tode bekannten sich
schon vier Fünftel unserer Nation zum evangelischen Glauben. In den
meisten der deutschen Landschaften, welche die römische Kirche heute
beherrscht, verdankt sie ihre Herstellung der Macht des Schwertes, und
fast überall, wo das Evangelium gewaltsam ausgerottet wird, kränkelt
der deutsche Geist noch heute, als wäre ihm eine seiner Schwingen
gelähmt. Wo immer deutsches und fremdes Volkstum feindselig aufeinander
stößt, da war der Protestantismus allezeit unser sicherster Grenzhüter.
In unseren Nordostmarken gilt deutsch und evangelisch, polnisch und
römisch-katholisch längst als gleichbedeutend, und unter den deutschen
Stämmen Österreichs bewahrt sich keiner sein Volkstum so treu wie das
evangelische Sachsenvolk Siebenbürgens. --

Wohl ziemt es uns, in diesen Tagen der Feier, da die Gestalt des
Reformators lebendig in unsere Gegenwart hineintritt, auch der Warnung
zu gedenken, die er einst seinen Deutschen zurief: „Gottes Wort und
Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal
gewesen ist. Er ist bei den Juden gewesen, aber hin ist hin, sie haben
nu nichts. Paulus bracht' ihn in Griechenland. Hin ist hin, nu haben
sie den Türken. Rom und latinisch Land hat ihn auch gehabt: hin ist
auch hin, sie haben nu den Papst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken,
daß ihr ihn ewig haben werdet, denn der Undank und Verachtung wird
ihn nicht lassen bleiben. Darum greif zu und halt zu, wer greifen und
halten kann, faule Hände müssen ein böses Jahr haben”. Dieselben Mächte
des Verderbens, welche einst die Reformation in ihrem natürlichen
Fortgang hemmten, treiben in verwandelter Gestalt noch heute unter uns
ihr Wesen: der lieblose Bruderzwist der Gläubigen, das fleischliche
Evangelium der Rottengeister und die dreiste Selbstgerechtigkeit der
Epikureer, wie Luther sie nannte.

Mächtiger als diese dunklen, erscheinen doch die lichten, die
trostvollen Zeichen der Zeit. Das Gefühl einer tiefen inneren
Verwandtschaft verbindet die Gegenwart mit den Zeiten Luthers, zwingt
den Künstler unwillkürlich, die Bauformen des sechzehnten Jahrhunderts
wieder aufzunehmen, den Gelehrten sich forschend in jene Zeit des
Sturmes zu versenken. Vieles, was Luthers Tage nur ahnen konnten, hat
unser Jahrhundert erst gestaltet und vollendet. Die neue Welt, die
damals entdeckte, tritt jetzt erst in die Weltgeschichte ein, und ihre
zukunftreichsten Lande gehören dem evangelischen Glauben, fern am
Stillen Ozean denken in diesen Tagen fromme Herzen des Landes, wo die
Wiege Martin Luthers stand; die Buchdruckerkunst bewährt sich jetzt
erst als eine völkerverbindende Macht; die Einheit Deutschlands und
Italiens steht aufrecht, und nach unseren deutschen Krummstabslanden
ist auch der letzte und schlechteste der geistlichen Staaten, der
Kirchenstaat des Papstes, ins Grab gesunken; die Freiheit des Denkens
und des Glaubens ist allen Völkern der gesitteten Welt gesichert, und
in der evangelischen Kirche arbeitet noch immer die ungebrochene Kraft
eines starken Lebens. Der Unfriede, der sie erfüllt, beweist doch
nur, daß die Religion in unseren Tagen die Herzen wieder tiefer und
stärker ergreift, als einst im Zeitalter der Aufklärung. Und mitten
im Hader sind ihr doch zwei Taten des Friedens gelungen: sie hat die
getrennten Schwesterkirchen des Protestantismus zur evangelischen
Union verbunden, und eben jetzt ist sie überall am Werke, den so lange
verkümmerten Gedanken der Gemeindekirche in den Formen ihrer Verfassung
auszugestalten.

In so reicher Zeit soll kein guter Protestant die Hoffnung aufgeben,
daß dereinst noch schönere Tage kommen werden, da unser gesamtes Volk
in Martin Luther seinen Helden und Lehrer verehrt. Wir wissen alle, vor
Zeiten gereichte es unserem Vaterlande zum Heile, daß die Reformation
nur einen halben Erfolg errang; vollkommen siegreich, allein
herrschend, hätte die evangelische Kirche jenen Geist menschlicher
weitherziger Duldung, der heute im deutschen Leben überwiegt,
schwerlich aufkommen lassen. Doch die Tage, da die Kirchenspaltung
Segen brachte, gehen zu Ende. Seit die römische Kirche mit der
Unfehlbarkeit des Papstes ihr letztes Wort gesprochen hat, empfinden
wir schmerzlicher denn je, welche Kluft die Glieder unseres Volkes
trennt. Diese Kluft zu schließen, das evangelische Christentum wieder
also zu beleben, daß es fähig wird, unsere ganze Nation zu beherrschen
-- das ist die Aufgabe, welche wir erkennen und spätere Geschlechter
dereinst lösen sollen. Nie kann dies Werk gelingen, wenn wir feig den
Berg wieder hinabsteigen, den unsere tapferen Väter im Schweiße ihres
Angesichts erklommen haben. Denn nimmermehr wird eine Priesterkirche
das Volk Martin Luthers um ihre Altäre versammeln. Solches vermag nur
eine Kirche, welche die evangelische Freiheit des Christenmenschen,
die Selbständigkeit des gläubigen, bußfertigen Gewissens anerkennt und
den sittlichen Mächten dieser Welt, vor allem dem Staate, ihr gutes
Recht gewährt. Schwerere Zeiten als die unseren hat der Protestantismus
schon siegreich überstanden: wie viele sind unter uns, deren Ahnen am
Weißen Berge oder bei Lützen sich für das Evangelium schlugen oder
das Brot der Verbannung aßen um ihres Glaubens willen. Getrost und
dankbar dürfen wir am Geburtstage des Reformators sein hochgemutes Lied
anstimmen:

    Und ob es währt bis in die Nacht
    Und wieder an den Morgen,
    Doch soll mein Herz an Gottes Macht
    Verzweifeln nicht noch sorgen!



Fichte und die nationale Idee



Fichte und die nationale Idee.


In rascher Folge haben sich in den jüngsten Jahren die Feste gedrängt,
welche das Andenken der großen Männer unseres Volkes feierten. Aber
laut und schneidend klingen in den Jubel der Menge die fragenden
Stimmen der Mahnung und des Spottes: ob wir denn gar nicht müde werden,
uns behaglich die Hände zu wärmen an dem Feuer vergangener Größe?
ob uns denn gar zu wohl sei in dem Bewußtsein einer epigonenhaften
Zeit? ob wir denn ganz vergessen, daß alle Straßen und Plätze von
Athen prunkvoll geschmückt waren mit den Standbildern seiner großen
Männer, zur Zeit da Griechenland des Eroberers Beute ward? -- Nicht
ein Wort mag ich erwidern auf den Vorwurf, daß wir in einem Zeitalter
der Epigonen lebten. Denn mit solchem Willen soll eine jede Zeit sich
rüsten, als ob sie die erste sei, als ob das Höchste und Herrlichste
gerade ihr zu erreichen bestimmt sei; und ruhig mögen wir einem
späteren Jahrhundert überlassen zu entscheiden, ob unser Streben ein
ursprüngliches gewesen -- wie ich denn sicher hoffe, es werde unsern
Tagen dies Lob dereinst nicht fehlen. Aber wohl gebührt sich eine
Antwort auf den anderen Vorwurf der Selbstbespiegelung. Nein, nicht
die Eitelkeit, nicht einmal jene ehrenwerte Pietät, die andere Völker
treibt, ihre großen Toten zu ehren -- ein tieferes Bedürfnis der Seelen
ist es, was gerade jetzt unser Volk bewegt, seiner Helden zu gedenken
mit einer Innigkeit, die von den Fremden vielleicht nur der Italiener
versteht.

Auf uns lastet das Verhängnis, daß wir staatlosen Deutschen die Idee
des Vaterlandes nicht mit Händen greifen an den Farben des Heeres, an
der Flagge jedes Schiffes im Hafen, an den tausend sichtbaren Zeichen,
womit der Staat den Bürger überzeugt, daß er ein Vaterland hat. Nur im
Gedanken lebt dies Land; erarbeiten, erleben muß der Deutsche die Idee
des Vaterlandes. Jeder edlere Deutsche hat entscheidungsvolle Jahre
durchlebt, da ihm im Verkehre mit Deutschen aus aller Herren Ländern
die Erkenntnis anbrach, was deutsches Wesen sei, bis endlich der
Gedanke, daß es ein Deutschland gebe, vor seiner Seele stand mit einer
unmittelbaren Gewißheit, die jedes Beweises und jedes Streites spottet.
Wachsen wir so erst im Verkehre mit den Lebendigen zu Deutschen
heran, so begreift sich das Volk als ein Ganzes in seiner Geschichte.
Und das ist der Sinn jener Feste, deren die politisch tiefbewegte
Gegenwart nicht müde wird, daß wir, rückschauend auf die starken
Männer, die unseres Geistes Züge tragen, erfrischen das Bewußtsein
unseres Volkstums und stärken den Entschluß, daß aus dieser idealen
Gemeinschaft die Gemeinschaft der Wirklichkeit, der deutsche Staat
erwachse. Darum fällt die Feier solcher Tage vornehmlich jenen als
ein unbestrittenes schönes Vorrecht zu, die sich nicht genügen lassen
an dem leeren Worte von der Einigkeit der Deutschen, sondern Kopf und
Hände regen zum Aufbau des deutschen Staates. -- Und das auch ist ein
rühmliches Zeichen für das lebende Geschlecht, daß aus der langen Reihe
von Jahrhunderten, welche dies alte Volk hinter sich liegen sieht und
in der Gegenwart gleichsam neu durchlebt, keine Epoche uns so traulich
zum Herzen redet, uns so das Innerste bewegt, wie jene siebenzig Jahre
seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, da unser Volk sich losrang
zuerst von der Geistesherrschaft, dann von dem politischen Joche
unheimischer Gewalten. Erst heute werden die Helden jener Zeit von
ihrem Volke verstanden, besser oft verstanden als von den Zeitgenossen;
und wenn es ein Herrliches war, eine Zeit zu schauen, die einen Stein
und Goethe gebar, so mögen wir auch als ein Glück preisen, in Tagen zu
leben, die diesen Männern zuerst ganz gerecht geworden.

Ein gesegneter Winkel des obersächsischen Landes fürwahr, der in kaum
hundert Jahren den Deutschen Lessing, Fichte, Rietschel schenkte --
drei Geister im Innersten verwandt, wie fremd sie sich scheinen, der
kühne Zertrümmerer der französischen Regeln unserer Dichtung, der
tapfere Redner und der weiche sinnige Bildhauer -- jeder in seiner
Weise ein Träger der besten deutschen Tugend, der Wahrhaftigkeit.
Ein Dorfwebersohn, wuchs Fichte auf in dürftiger Umgebung, in der
altfränkischen Sitte der Lausitzer Bauern. Frühzeitig und stark
arbeitet er im Innern mit dem Verstande und mehr noch mit dem Gewissen.
Der so begierig lernt, daß er eine Predigt nach dem Hören wiederholen
kann, wie rüstig kämpft er doch gegen die Dinge, die so lebendig auf
ihn eindringen! Das schöne Volksbuch vom hörnernen Siegfried wirft er
in den Bach als einen Versucher, der ihm den Geist ablenkt von der
Arbeit. Als ihm dann durch die Gunst eines Edelmannes eine gelehrte
Erziehung auf der Fürstenschule zu Pforta zuteil wird, stemmt sich
der eigenwillige Knabe wider jene Verkümmerung des Gemüts, welche der
familienlosen Erziehung anhaftet, sein waches Gewissen empört sich
gegen die erzwungene Unwahrhaftigkeit der Gedrückten. Er gesteht seinen
herrischen Oberen den Entschluß der Flucht; er flieht wirklich; auf dem
Wege, im Gebete und im Andenken an die Heimat, kommt das Gefühl der
Sünde über ihn; er kehrt zurück zu offenem Bekenntnis. So früh sind die
Grundzüge seines Wesens gereift, wie zumeist bei jenen Menschen, deren
Größe im Charakter liegt. Der Knabe schon bezeichnet seine Bücher mit
dem Sinnspruch, den der Mann bewährte: =Si fractus illabatur orbis,
impavidum ferient ruinae=.

Schwerer, langsamer entscheidet sich die Richtung seiner Bildung.
Kümmerlich schlägt er sich durch die freudlose Jugend eines armen
Theologen, und sein Stolz -- „die verwahrlosteste Seite meines
Herzens” -- schämt sich bitterlich der Armut. Erst in seinem
siebenundzwanzigsten Jahre wird ihm das Schicksal gütiger. Er sammelt
auf der weiten Fußwanderung nach einer Hauslehrerstelle in Zürich
eine für jene Zeit ziemlich ausgedehnte Erfahrung von dem Elend des
armen leidenden Volkes, er wird in der Schweiz mit der großen Arbeit
der deutschen Literatur vertraut, er lernt in Zürich das schmucklose
Wesen eines ehrenhaften Freistaates verstehen, das seinem schlichten
Stolze zusagt, und findet dort endlich in Johanna Rahn, einer
Nichte Klopstocks, das herrliche Weib seiner Liebe. Eine verwandte
Natur, sehr ernsthaft, wirtschaftlich nach Schweizer Weise, nicht
gar jung mehr und längst schon gewohnt, ihr warmes Blut in strenger
Selbstprüfung zu beherrschen, tritt sie ihm fertig und ruhig entgegen,
und oftmals mochten ihre Augen strenge unter dem Schweizerhäubchen
hervorblicken: „Höre, Fichte, stolz bist du. Ich muß dir's sagen, da
dir's kein anderer sagen kann.” Auch in der abhängigen Stellung des
Hauslehrers weiß er sich seine feste Selbstbestimmung zu wahren; er
zwingt die Eltern, die Erziehung bei sich selber anzufangen, führt ein
gewissenhaftes Tagebuch über ihre wichtigsten Erziehungsfehler. Nach
zwei Jahren sieht er sich wieder in die Welt getrieben; eine Fülle
schriftstellerischer Pläne wird entworfen und geht zugrunde.

Da endlich erschien seines inneren Lebens entscheidende Wendung,
als er, bereits achtundzwanzigjährig, in Leipzig durch einen Zufall
Kants „Kritik der reinen Vernunft” kennen lernte. „Der Hauptendzweck
meines Lebens ist der,” hatte er früher seiner Braut geschrieben, „mir
jede Art von (nicht wissenschaftlicher, ich merke darin viel Eitles,
sondern) Charakterbildung zu geben. Ich habe zu einem Gelehrten von
Metier so wenig Geschick als möglich. Ich will nicht bloß denken, ich
will handeln, ich mag am wenigsten denken über des Kaisers Bart.”
Und mit der gleichen Verachtung wie auf die Gelehrten von Metier
schaute er hinab auf die „Denkerei und Wisserei” der Zeit, auf jene
Nützlichkeitslehre, welche nur darum nach Erkenntnis strebte, um durch
einzelne hastig und zusammenhanglos aufgegriffene Erfahrungssätze
die Mühsal des Lebens bequemer, behaglicher zu gestalten. Der rechte
Gelehrte sollte gar nicht ahnen, daß das Wissen im Leben zu etwas
helfen könne. Sein Trachten stand nach einer Erkenntnis, die ihn
befähige, „ein rechtlicher Mann zu sein, nach einem festen Gesetze und
unwandelbaren Grundsätzen einherzugehen.” Aber woher diese Sicherheit
des Charakters, solange sein Gemüt verzweifelte über der Frage,
die vor allen Problemen der Philosophie ihn von früh auf quälend
beschäftigte, über der Frage von der Freiheit des Willens? Sein
logischer Kopf hatte sich endlich beruhigt bei der folgerichtigen Lehre
Spinozas, wie Goethes Künstlersinn von der grandiosen Geschlossenheit
dieses Systems gefesselt ward. Sein Gewissen aber verweilt zwar
gern bei dem Gedanken, daß das Einzelne selbstlos untergehe in dem
Allgemeinen, doch immer wieder verwirft es die Idee einer unbedingten
Notwendigkeit, denn „ohne Freiheit keine Sittlichkeit”. Welch ein Jubel
daher, als er endlich durch Kant die Autonomie des Willens bewiesen
fand, als er jenes große Wort las, das nur ein Deutscher schreiben
konnte: „Es ist überall nichts in der Welt, überhaupt auch außerhalb
derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte
gehalten werden, als allein ein guter Wille.” Über Kants Werken verlebt
er jetzt seine seligsten Tage; all sein vergangenes Leben erscheint
ihm ein gedankenloses Treiben in den Tag hinein, der Weisheit Kants
verdankt er „seinen Charakter bis auf das Streben, einen haben zu
wollen”. Der Verkündigung dieser Lehre soll nun sein Leben geweiht
sein; „ihre Folgen sind äußerst wichtig für ein Zeitalter, dessen Moral
bis in seine Quellen verderbt ist.” Und zum sicheren Zeichen, daß er
hier einen Schatz von Gedanken gefunden, der seinem eigensten Wesen
entsprach, entfaltete sich jetzt seine Bildung ebenso rasch und sicher,
als sie schwer und tastend begonnen hatte. Eine Reise nach Polen und
Preußen führt ihn zu dem Weisen von Königsberg, dem er ehrfürchtig
naht, „wie der reinen Vernunft selbst in einem Menschenkörper”. Bei
ihm führt er sich ein durch die rasch entworfene Schrift „Kritik aller
Offenbarung, 1791.”

Damit beginnt sein philosophisches Wirken, das näher zu betrachten
nicht dieses Orts noch meines Amtes ist, so reizvoll auch die Aufgabe,
zu verfolgen, wie die Denker nach dem Worte des alten Dichters, die
Leuchte des Lebens gleich den Tänzern im Fackelreigen von Hand zu Hand
geben. Es genüge zu sagen, daß Fichte die Lehre von der Selbständigkeit
und Unabhängigkeit des Willens mit verwegenster Kühnheit bis in ihre
äußersten Folgesätze hindurchführte. Weil die Bestimmung unseres
Geistes sich nur verwirklichen läßt im praktischen Handeln, das
praktische Handeln aber eine Bühne fordert, deshalb und nur deshalb
ist der Geist gezwungen, eine Außenwelt aus sich herauszuschauen und
als eine wirkliche Welt anzunehmen. „Ich bin ja wohl transzendentaler
Idealist,” gesteht Fichte, „härter als Kant, denn bei ihm ist noch ein
Mannigfaltiges der Erfahrung; ich aber behaupte mit dürren Worten, daß
selbst dieses von uns durch ein schöpferisches Vermögen reproduziert
wird.” Hatte Kant die große Wahrheit gefunden, daß die Dinge sich
richten nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens: sein
Nachfolger schreitet weiter und behauptet getrost: „die Dinge werden
erst durch unser Ich geschaffen; es gibt kein Sein, sondern nur
Handeln; der sittliche Wille ist die einzige Realität.” Allein an
der Kühnheit dieser Abstraktionen, der verwegensten, die deutscher
Denkermut zu fassen wagte, können wir den aufrechten Trotz des Mannes
ermessen. Zuversichtlich glauben wir ihm, daß „seine wissenschaftliche
Ansicht nur die zur Anschauung gewordene innere Wurzel seines Lebens”
selber war; denn „was für eine Philosophie man wählt, richtet sich
danach, was für ein Mensch man ist”. In sicherem Selbstgefühle faßt
der Mann sich jetzt zusammen, als die namenlose Schrift des Anfängers
für ein Werk des Meisters Kant gehalten wird, und der triviale
Lärm seichter Lobreden ihn rasch die Nichtigkeit der literarischen
Handwerker durchschauen läßt.

So steht sein Charakter vollendet, mannhaft, fast männisch, des
Willens, die ganze Welt unter die Herrschaft des Sittengesetzes zu
beugen, gänzlich frei von Schwächen, jenen kleinen Widersprüchen wider
die bessere Erkenntnis -- und eben darum zu einem tragischen Geschicke
bestimmt, zu einer Schuld, die mit seinem Wesen zusammenfiel, die er
selber unwissend bekannte, indem er sich also verteidigte: „Man paßt
bei einer solchen Denkart schlecht in die Welt, macht sich allenthalben
Verdruß. Ihr Verächtlichen! Warum sorgt ihr mehr dafür, daß ihr euch
den andern anpaßt, als diese euch und sie für euch zurecht legt?”
-- Andere für sich zurecht legen -- das ist die herrische Sünde der
idealistischen Kühnheit. Als in der Not des Krieges von 1806 sein
Weib, einsam zurückgeblieben in dem vom Feinde besetzten Berlin, voll
schwerer Sorge um den fernen Gatten, in Krankheit fällt, da schreibt
ihr der gewaltige Mann: „Ich hoffte, daß du unsere kurze Trennung,
gerade um der bedeutenden Geschäfte willen, die dir auf das Herz
gelegt waren, ertragen würdest. Ich habe diesen Gedanken bei meiner
Abreise dir empfohlen und habe ihn in Briefen wieder eingeschärft.
Starke Seelen, und du bist keine schwache, macht so etwas stärker --
und doch!” So hart kann er reden zu ihr, die ihm die Liebste ist;
denn er glaubt an die Allmacht der Wahrheit. Ihm ist kein Zweifel,
wo die rechte Erkenntnis sei, da könne das rechte Handeln, ja das
rechte Schicksal nicht fehlen, und jeden Einwand menschlicher
Gebrechlichkeit weist er schroff zurück. Darum keine Spur von Humor,
von liebenswürdigem Leichtsinn, nichts von Anmut und Nachgiebigkeit in
ihm, der das derbe Wort gesprochen: „Eine Liebenswürdigkeitslehre ist
vom Teufel.” Nichts von jener Sehnsucht nach der schönheitssatten Welt
des Südens, die Deutschlands reiche Geister in jenen Tagen beherrschte.
Unfähig, ungeeignet sich liebevoll zu versenken in eine fremde Seele,
verkündet er kurzab, er lehre alle Dinge nur von einer Seite zu
betrachten, „nämlich von der rechten”.

Entfremdet der Natur, die ihm nur besteht, um unterjocht zu werden
von dem Geiste, mahnt er zur Hingebung, zur Selbstvergessenheit eine
sinnliche, selbstsüchtige Zeit: auch essen und trinken sollen wir
nur um Gottes willen. Nicht die leiseste sinnliche Vorstellung soll
uns den erhabenen Gottesgedanken trüben: „Ein Gott, der der Begierde
dient, ist ein Abgott. Gott will nicht, Gott kann nicht das Gute, das
wir gern möchten, uns geben außer durch unsere Freiheit; Gott ist
überhaupt nicht eine Naturgewalt, wie die blinde Einfalt wähnt, sondern
ein Gott der Freiheit.” Die Freuden des Himmels, die bequeme Tröstung
schwacher Gemüter, müssen schwinden vor einer geistigeren Auffassung:
„Die Ewigkeit kommt der neuen Zeit mitten in ihre Gegenwart hinein”;
die vollendete Freiheit, die Einheit mit Gott ist schon im Diesseits
möglich.

Beseelt von solchen Gedanken der Ertötung alles Fleisches, der
asketischen Sittenstrenge, ist Fichte ein unästhetischer Held
geblieben, wie groß er auch dachte von der Kunst, die der Natur den
majestätischen Stempel der Idee aufdrücke. Auch in ihm, wie in allen
edleren Söhnen jener an den Helden Plutarchs gebildeten Tage, wogte
und drängte ein großer Ehrgeiz; er gedachte, an seine Existenz für
die Ewigkeit hinaus für die Menschheit und die ganze Geisterwelt
Folgen zu knüpfen; aber, fährt er fort, „ob ich's tat, braucht keiner
zu wissen, wenn es nur geschieht!” Jene hohe Leidenschaft, die dem
strengsten aller Dichter, Milton, nur als die letzte Schwäche edlerer
Naturen erscheint, der Durst nach Ruhm, wird scharf und schonungslos
als eine verächtliche Eitelkeit verworfen von dieser selbstgewissen
Tugend, welche leben will aus dem erkannten rein Geistigen heraus. In
Augenblicken des Zweifels -- als gälte es Schillers witziges Epigramm
zu bewähren -- prüft der gestrenge Mann, auf welcher Seite seine
Neigung stehe, um dann mit freudiger Sicherheit des anderen Weges zu
gehen. Selber folgerichtig im Kleinsten wie im Größten, sagt er den
Zeitgenossen erbarmungslos auf den Kopf zu, welches die notwendigen
Folgen ihrer weichlichen Grundsätze seien. Trocken spricht er: „Dies
weiß man gewöhnlich nicht, gibt es nicht zu, ärgert sich daran, glaubt
es nicht; aber es kann alles dieses nichts helfen, so ist's.” Er findet
unter den Menschen nur wenige bösartig und gewalttätig -- „denn hierzu
gebricht es bei der Mehrzahl an Kraft: -- sondern sie sind in der Regel
bloß dumm und unwissend, feige, faul und niederträchtig.” In diese Welt
tritt er ein mit dem stolzen Bewußtsein eines apostolischen Berufs: „So
bin ich drum wahrhaft Stifter einer neuen Zeit -- der Zeit der Klarheit
-- bestimmt angebend den Zweck alles menschlichen Handelns, mit
Klarheit Klarheit wollend. Alles andere will mechanisieren, ich will
befreien.” -- Wenn Goethe fürchtete, der eigenrichtige Mann sei für
sich und die Welt verloren: für den Philosophen war das Widerstreben
der Welt gar nicht vorhanden. „Wenn ich im Dienste der Wahrheit
stürbe,” sagt er einfach, „was täte ich dann weiter als das, was ich
schlechthin tun müßte?”

Ein Eloge zu halten ist nicht deutsche Weise, und in Fichtes Geiste
am wenigsten würde ich handeln, wenn ich nicht trotzig sagte, wie
gar fremd unserer Zeit, die an sich selber glaubt und glauben soll,
dieser Idealismus geworden ist, der so nur einmal möglich war und
keinen Schüler fand. Seit jenen Tagen ist das Leben unseres Volkes
ein großer Werkeltag gewesen. Wir haben begonnen in harter Arbeit den
Gedanken der Welt einzubilden und sind darüber der Natur freundlich
näher getreten. Sehr vieles nehmen wir bescheiden hin als Ergebnis der
Natur und Geschichte, was Fichte dem Sittengesetze zu unterwerfen sich
vermaß. Mit dem steigenden Wohlstande ist ein hellerer Weltsinn in die
Geister eingezogen; ein schönes Gleichmaß von Genuß und Tat soll uns
das Leben sein. Wer unter uns bezweifelt, daß die Sittlichkeit der
Athener eine reinere war als die Tugend der Spartaner und dem Genius
unseres Volkes vertrauter ist? Seitdem ist auch die gute Laune wieder
zu ihrem Rechte gelangt, wir heißen sie willkommen selbst mitten in
der Spannung des Pathos; die kecke Vermischung von Scherz und Ernst in
Shakespeares Gedichten ist erst dem realistischen Sinne der Gegenwart
wieder erträglich geworden. Doch eben weil jener Idealismus Fichtes
unserem Sinne so fern liegt, weil längst der Zeit verfiel, was daran
vergänglich war, weil Lust und Not des rastlosen modernen Lebens uns
von selber ablenken von jeder Überspannung des Gedankens -- eben
deshalb gereicht es unseren fröhlicheren Tagen zum Segen, sich in diese
weltverachtenden Ideen weltverachtender Sittlichkeit zu versenken wie
in ein stählendes Bad der Seele, Selbstbeherrschung daran zu lernen und
zu gedenken, daß ein tatloses Wesen dem Humor anhaftet und der Dichter
sicher wußte, warum er seinem Hamlet die Fülle sprudelnden Witzes lieh.
Wie beschämt muß all unsere heitere Klugheit verstummen vor dem einen
Worte: „Nur über den Tod hinweg, mit einem Willen, den nichts, auch
nicht der Tod, beugt und abschreckt, taugt der Mensch etwas.”

Noch immer, leider, werden übergeistreiche Beurteiler nicht müde,
das Bild des Denkers in eine falsche Beleuchtung zu rücken. Man
nennt ihn einen Gesinnungsgenossen der Romantiker -- ihn, dessen
spartanische Strenge so recht den Gegensatz bildet zu der vornehm
spielenden Ironie der Romantiker -- ihn, der, obwohl nicht frei von
mystischen Stimmungen, dennoch als ein herber Protestant, für alle
katholisierenden Richtungen nur Worte schärfster Verachtung hatte.
Auch Fichte genoß ein wenig von dem Segen jener schönen, reizvollen
Geselligkeit, welche die Gegenwart nicht mehr kennt; geistreiche Frauen
saßen zu seinen Füßen und stritten sich um die Ehre, ihm Famulusdienste
zu leisten, wenn er über die höchsten Gegenstände der Erkenntnis
sprach. Und doch ist nie ein Mann freier gewesen von jeder romantischen
Vergötterung der Frauen. Abhängigkeit, Bedürftigkeit war ihm das Wesen
des Weibes. Leidenschaftslos, voll warmer, treuer Zuneigung steht
er ehrenfest neben seinem Weibe, gleich einem jener derben Bürger
auf alten deutschen Holzschnitten; kein schöneres Lob weiß er ihr zu
sagen als „männlichere Seele, Johanna!” -- Das Ärgste aber in der
Umkehrung der Wissenschaft hat Stahl geleistet; er nennt Napoleon
das verkörperte weltschaffende Ich Fichtes. Also, in dem Helden der
souveränen Selbstsucht wäre Fleisch geworden das System des deutschen
Denkers, der unermüdlich eifert, es sei die Seligkeit des Ich, sich
der Gattung zu opfern?! -- Auch das ist vielen ein Rätsel gewesen, wie
dieser schroffe, schneidige Charakter gerade aus dem obersächsischen
Stamme hervorgehen konnte. Er selber sagt von seiner Heimat, sie berge
„einen Grad von Aufklärung und vernünftiger Religionskenntnis, wie ihn
in dieser Ausdehnung gegenwärtig kein Land in Europa besitzt”. Doch
das alles sei „durch eine mehr als spanische Inquisition eingezwängt.
Daraus entsteht denn eine knechtische, lichtscheue, heuchlerische
Denkungsart.” In der Tat, alle Voraussetzungen echter Geistesfreiheit,
eine Fülle von Bildungsmitteln, eine weit verbreitete Volkskultur waren
vorhanden in dem Mutterlande der Reformation. Aber Druck von oben und
das Übermaß geistigen Schaffens, dem kein großes politisches Wirken
das Gegengewicht hielt, hatten in dem ohnedies mehr elastischen als
massiven Stamme endlich jene Schmiegsamkeit und Höflichkeit erzeugt,
welche schroffe, reformatorische Naturen nur schwer erträgt. Nächst dem
schwäbischen hat das obersächsische Land die größte Zahl von Helden
des deutschen Geistes geboren; aber Obersachsen verstieß die Mehrzahl
seiner freieren Söhne. In allen diesen Heimatlosen, in Pufendorf und
Thomasius, in Lessing und Fichte, erhebt sich der freie Geist, der
solange mit der zahmen Sitte seiner Umgebung gerungen, zu schroffem
Stolze; rücksichtsloser Freimut wird ihnen allen zur Leidenschaft. --

Dem Vielgewanderten kamen endlich frohere Tage, als eine Änderung
seiner äußeren Lage ihm erlaubte, seine treue Johanna heimzuführen,
und der Ruf ihn traf zu der Stelle, die ihm gebührte, zum akademischen
Lehramte in Jena. Schon der erste Plan des jungen Mannes war der kecke
Gedanke gewesen, eine Rednerschule zu gründen in einem Volke ohne
Rednerbühne. Nach seiner Auffassung der Geschichte wurden alle großen
Weltangelegenheiten dadurch entschieden, daß ein freiwilliger Redner
sie dem Volke darlegte, und er selber war zum Redner geboren. Zur
Tat berufen sind jene feurigen Naturen, denen Charakter und Bildung
zusammenfallen, jede Erkenntnis als ein lebendiger Entschluß in der
Seele glüht; doch nicht das unmittelbare Eingreifen in die Welt
konnte den weltverachtenden Denker reizen. Von ihm vor allen gilt das
Stichwort des philosophischen Idealismus jener Tage, daß es für den
wahrhaft sittlichen Willen keine Zeit gibt, daß es genügt, der Welt den
Anstoß zum Guten zu geben. Auf den Willen der Menschen zu wirken, des
Glaubens, daß daraus irgendwo und irgendwann die rechte Tat entstehen
werde, das war der Beruf dieses eifernden geselligen Geistes. Daher
jener Brustton tiefster Überzeugung, der, wie alles Köstlichste des
Menschen, sich nicht erklären noch erkünsteln läßt. Daher auch der
Erfolg -- in diesem seltenen Falle ein sehr gerechter Richter --
denn was der große Haufe sagt: „ihm ist es Ernst”, das bezeichnet
mit plumpem Wort und feinem Sinn den geheimsten Zauber menschlicher
Rede. Vergeblich suchen wir bei Fichte jene Vermischung von Poesie
und Prosa, womit romanische Redner die Phantasie der Hörer zu blenden
lieben. Sogar die Neigung fehlt ihm, freie Worte als ein Kunstwerk
abzuschließen; der Adel der Form soll sich ihm gleich der guten Sitte
ungesucht ergeben aus der vollendeten Bildung. Nur aus der vollkommenen
Klarheit erwächst ihm jede Bewegung des Herzens; die Macht seiner Rede
liegt allein begründet in dem Ernste tiefen gewissenhaften Denkens,
eines Denkens freilich, das sichtbar vor unseren Augen entsteht.

Er strebt nach der innigsten Gemeinschaft mit seinen Hörern; an
der Energie seines eigenen Denkens soll ihre Selbsttätigkeit sich
entzünden; er liebt es, „eine Anschauung im Diskurs aus den Menschen
zu entwickeln”. „Ich würde”, sagt er schon in einer Jugendschrift,
„die Handschrift ins Feuer werfen, auch wenn ich sicher wüßte, daß sie
die reinste Wahrheit, auf das bestimmteste dargestellt, enthielte,
und zugleich wüßte, daß kein einziger Leser sich durch eigenes
Nachdenken davon überzeugen würde.” Diese Selbstbesinnung des Hörers
zu erwecken, ihn hindurchzupeitschen durch alle Mühsal des Zweifels,
angestrengter geistiger Arbeit -- dies ist der höchste Triumph seiner
Beredsamkeit, und es ist da kein Unterschied zwischen den „Reden” und
den Druckschriften; alle seine Werke sind Reden, das Denken selber
wird ihm alsbald zur erregten Mitteilung. Ein Meister ist er darum in
der schweren Kunst des Wiederholens; denn wessen Geist fortwährend
und mit schrankenloser Offenheit arbeitet, der darf das hundertmal
Gesagte noch einmal sagen, weil es ein Neues ist in jedem Augenblicke,
wie jeder Augenblick ein neuer ist. Doch vor allem, er denkt groß
von seinen Hörern, edel und klug zugleich hebt er sie zu sich empor,
statt sich zu ihnen herabzulassen. Die Jugend vornehmlich hat dies
dankend empfunden; denn der die Menschheit so hoch, das gegenwärtige
Zeitalter so niedrig achtete, wie sollte er nicht das werdende
Geschlecht lieben, das noch rein geblieben war von der Seuche der
Zeit? Der stets nur den ganzen Menschen zu ergreifen trachtete, er
war der geborene Lehrer jenes Alters, das der allseitigen Ausbildung
der Persönlichkeit lebt, bevor noch die Schranken des Berufs den
Reichtum der Entwicklung beengen. Endlich -- fassen wir die Größe des
Redners in dem einen von tausend Hörern wiederholten Lobe zusammen
--, was er sprach, das war er. Wenn er die Hörenden beschwor, eine
Entschließung zu fassen, nicht ein schwächliches Wollen irgend einmal
zu wollen, wenn er die Macht des Willens mit Worten verherrlichte,
die selbst einem Niebuhr wie Raserei erschienen: da stand er selber,
die gedrungene überkräftige Gestalt mit dem aufgeworfenen Nacken,
den streng geschlossenen Lippen, strafenden Auges, nicht gar so mild
und ruhig, wie Wichmanns Büste ihn zeigt, welche die Verklärung des
Toten verkörpert, voll trotzigen Selbstgefühles und doch hoch erhaben
über der Schwäche beliebter Redner, der persönlichen Eitelkeit -- in
jedem Zuge der Mann der durchdachten Entschließung, die des Gedankens
Blässe nicht berührte. Darum hat sich von allen Lehrern, die neuerdings
an deutschen Hochschulen wirkten, sein Bild den jungen Gemütern am
tiefsten eingegraben; sein Schatten ist geschritten durch die Reihen
jener streitbaren Jugend, die für uns blutete und in seinem Sinne ein
Leben ohne Wissenschaft höher achtete denn eine Wissenschaft ohne Leben.

Jene „mehr als spanische Inquisition” seiner Heimat sollte endlich
auch ihn ereilen. Eine pöbelhafte Anklage bezichtigte Fichte bei dem
kursächsischen Konsistorium des Atheismus und vertrieb ihn aus Jena,
weil er nicht imstande war, den Schein des Unrechts auf sich zu nehmen,
wo sein Gewissen ihm recht gab. Da wollte eine glückliche Fügung, daß
der Rat des Ministers Dohm ihn nach Preußen führte, in den Staat, der
gerade diesem Manne eine Heimat werden mußte. Der Staat Preußen hat den
Lehrer und Philosophen zum Patrioten gebildet.

Ein strenger Geist harter Pflichterfüllung war diesem Volke eingeprägt
durch das Wirken willensstarker Fürsten, fast unmenschlich schwer
die Lasten, die auf Gut und Blut der Bürger drückten. Was andere
schreckte, Fichte zog es an. Nur das eine mochte ihn abstoßen, daß
jener Sinn der Strenge schon zu weichen begann, daß zu Berlin bereits
ein Schwelgen in weichlichen unpoetischen Empfindungen, eine seichte,
selbstzufriedene Aufklärung sich brüstete, deren Haupt Nicolai unser
Held bereits in einer seiner totschlagenden humorlosen Streitschriften
gezüchtigt hatte. Ein rührender Anblick, wie nun der Kühnste der
deutschen Idealisten den schweren Weg sich bahnt, den alle Deutschen
jener Tage zu durchschreiten hatten, den Weg von der Erkenntnis der
menschlichen Freiheit zu der Idee des Staates: wie ihn, dem die
Außenwelt gar nicht bestand, die Erfahrung belehrt und verwandelt. Noch
zur Zeit der Austerlitzer Schlacht konnte er schreiben: „Welches ist
denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers?
Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter
derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht. Mögen
doch die Erdgeborenen, welche in der Erdscholle, dem Flusse, dem Berge
ihr Vaterland erkennen, Bürger des gesunkenen Staates bleiben; sie
behalten, was sie wollten und was sie beglückt. Der sonnenverwandte
Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo
Licht ist und Recht. Und in diesem Weltbürgersinne können wir über die
Handlungen und Schicksale der Staaten uns beruhigen, für uns selbst und
für unsere Nachkommen bis an das Ende der Tage.” Dann ward durch den
Wandel der Weltgeschicke auch der Sinn des weltverachtenden Philosophen
nicht verwandelt, aber vertieft und zu hellerem Verständnis seiner
selbst geführt. Kein Widerspruch allerdings, aber eine höchst verwegene
Weiterentwicklung, wenn Fichte jetzt erkennt, daß der Deutsche Licht
und Recht nur in Deutschland finden könne. Er begreift endlich, daß
der Kosmopolitismus in Wirklichkeit als Patriotismus erscheine, und
verweist den einzelnen auf sein Volk, das „unter einem besonderen
Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm” stehe. --

Längst schon war der Philosoph der freien Tat durch das Wesen seines
Denkens auf jene Wissenschaft geführt worden, welche den nach außen
gerichteten Willen in seiner großartigsten Entfaltung betrachtet.
Aber sehr langsam nur lernte er die Würde, den sittlichen Beruf des
Staates verstehen. Auch er sah -- gleich der gesamten deutschen
Staatswissenschaft, die ihre Heimat noch allein auf dem Katheder fand
-- im Staate zuerst nur ein notwendiges Übel, eine Anstalt des Zwanges,
gegründet durch freiwilligen Vertrag, um das Eigentum der Bürger zu
schützen. Unversöhnlichen Krieg kündete er dem Gedanken an, daß der
Fürst für unsere Glückseligkeit sorge: „Nein, Fürst, du bist nicht
unser Gott; gütig sollst du nicht gegen uns sein, du sollst gerecht
sein.” Diese Rechtsanstalt des Staates aber soll sich entwickeln zur
Freiheit, also daß jeder das Recht habe, „kein Gesetz anzuerkennen, als
welches er sich selbst gab”; der Staat muß das Prinzip der Veränderung
in sich selber tragen. -- Der also dachte, war längst gewohnt, von dem
vornehmen und geringen Pöbel sich einen Demokraten schelten zu lassen.
Und radikal genug, mit dem harten rhetorischen Pathos eines Jakobiners,
hatte er einst die Revolution begrüßt als den Anbruch einer neuen
Zeit, und die staatsmännische Kälte, womit Rehberg die große Umwälzung
betrachtete, gröblich angegriffen. Mit grimmiger Bitterkeit hatte
er dann die Denkfreiheit zurückgefordert von den Fürsten; denn die
einzigen Majestätsverbrecher sind jene, „die euch anraten, eure Völker
in der Blindheit und Unwissenheit zu lassen und freie Untersuchungen
allerart zu hindern und zu verbieten”.

Doch im Grunde ward sein Geist nur von einer Erscheinung der Revolution
mächtig angezogen: von dem Grundsatze der Gleichheit des Rechts für
alle Stände. Privilegien fanden keine Gnade vor diesem konsequenten
Kopfe: aus seinen heftigen Ausfällen wider den Adel redet der Zorn
des sächsischen Bauernsohns, der eben jetzt seine mißhandelten
Standesgenossen sich erheben sah gegen ihre adligen Bedrücker. Sehr
fern dagegen stand er den Ideen der modernen Demokratie, welche die
freieste Bewegung des Einzelnen im Staate verlangen; eine harte
Rechtsordnung sollte jede Willkür des Bürgers bändigen. Dieser
despotische Radikalismus trat in seiner ganzen Starrheit hervor, als
er jetzt das Gebiet des „Naturrechts” verließ und das wirtschaftliche
Leben der Völker betrachtete. In sozialistischen Ideen ist jederzeit
der verwegenste Idealismus mit dem begehrlichsten Materialismus
zusammengetroffen. Durch die Mißachtung des banausischen Getriebes der
Volkswirtschaft wurde Platon auf das Idealbild seiner kommunistischen
Republik und die Alten alle zu dem Glaubenssatze geführt, daß der gute
Staat des Notwendigen die Fülle besitzen müsse; durch die Überschätzung
der materiellen Güter gelangten die modernen Kommunisten zu ihren
luftigen Lehren. Und wieder die Verachtung alles weltlichen Genusses
verleitete den deutschen Philosophen zu dem vermessenen Gedanken: der
Staat, als eine lediglich für die niederen Bedürfnisse des Menschen
bestimmte Zwangsanstalt, müsse sorgen für die gleichmäßige Verteilung
des Eigentums. Solchem Sinne entsprang die despotische Lehre von dem
„geschlossenen Handelsstaate”, der in spartanischer Strenge sich
absperren sollte von den Schätzen des Auslandes und das Schaffen der
Bürger also regeln sollte, daß ein jeder leben könne von seiner Arbeit.

Auf dem Gebiete des Rechtes und der Wirtschaft gelang es dem Idealisten
wenig, die Welt für sich zurecht zu legen. Indessen sank der Staat
der Deutschen tief und tiefer. „Deutsche Fürsten”, ruft Fichte
zornig, „würden vor dem Dei von Algier gekrochen sein und den Staub
seiner Füße geküßt haben, wenn sie nur dadurch zum Königstitel hätten
kommen können.” In diesen Tagen der Schmach brach ihm endlich die
Erkenntnis an von dem Tiefsinn und der Größe des Staatslebens. Er sah
vor Augen, wie mit dem Staate auch die Sittlichkeit der Deutschen
verkümmerte, er begriff jetzt, daß dem Staate eine hohe sittliche
Pflicht auferlegt sei, die Volkserziehung. Auf diesem idealsten
Gebiete der Staatswissenschaft hat Fichte seine tiefsten politischen
Gedanken gedacht. Wir fragen erstaunt: wie nur war es möglich? Ist doch
dem Politiker die Erfahrung nicht eine Schranke, sondern der Inhalt
seines Denkens. Hier gilt es nach Aristoteles Vorbild, mit zur Erde
gewandtem Blicke eine ungeheuere Fülle von Tatsachen zu beherrschen,
Ort und Zeit abwägend zu schätzen, die Gewalten der Gewohnheit, der
Trägheit, der Dummheit zu berechnen, den Begriff der Macht zu erkennen,
jenes geheimnisvolle allmähliche Wachsen der geschichtlichen Dinge zu
verstehen, das die moderne Wissenschaft mit dem viel mißbrauchten Worte
„organische Entwicklung” bezeichnet. Wie sollte er dies alles erkennen?
Er, dessen Bildung in die Tiefe mehr als in die Breite ging, der die
Menschheit zur Pflanze herabgewürdigt sah, wenn man redete von dem
langsamen natürlichen Reifen des Staates? Er hat es auch nicht erkannt;
nicht einen Schritt weit kam sein Idealismus der Wirklichkeit entgegen.
Aber er lebte in Zeiten, da allein der Idealismus uns retten konnte,
in einem Volke, das, gleich ihm selber, von den Ideen der Humanität
erst herabstieg zur Arbeit des Bürgertums, in einer Zeit, die nichts
dringender bedurfte als jenen „starken und gewissen Geist”, den er ihr
zu erwecken dachte. Mit der Schlacht von Jena schien unsere letzte
Hoffnung gebrochen; „der Kampf” -- so schildert Fichte das Unheil
und den Weg des Heils -- „der Kampf mit den Waffen ist beschlossen;
es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der
Sitten, des Charakters.” Wohl mögen wir erstaunen, wie klar der Sinn
des nahenden Kampfes in diesen Tagen der Ermannung von allen verstanden
ward, wie diese Worte Fichtes überall ein Echo fanden. Die Regierung
selber erkannte, daß allein ein Volkskrieg retten könne, allein die
Entfesselung aller Kräfte der Nation, der sittlichen Mächte mehr noch
als der physischen -- „einer der seltenen, nicht oft erlebten Fälle,”
sagt Fichte rühmend, „wo Regierung und Wissenschaft übereinkommen.”
So, gerade so, auf dieser steilen Spitze mußten die Geschicke unseres
Volkes stehen, einen Krieg der Verzweiflung mußte es gelten um alle
höchsten Güter des Lebens, eine Zeit mußte kommen von jenen, die
wir die großen Epochen der Geschichte nennen, da alle schlummernden
Gegensätze des Völkerlebens zum offenen Durchbruch gelangen, die Stunde
mußte schlagen für eine Staatskunst der Ideen, wenn gerade dieser
Denker unmittelbar eingreifen sollte in das staatliche Leben.

Nicht leicht ward ihm, seine Stelle zu finden unter den Männern, die
dieser Staatskunst der Ideen dienten. Denn was den Nachlebenden als
das einfache Werk einer allgemeinen fraglosen Volksstimmung erscheint,
das ist in Wahrheit erwachsen aus harten Kämpfen starker eigenwilliger
Köpfe. Wie fremd stehen sie doch nebeneinander: unter den Staatsmännern
Stein, der Gläubige, der schroffe Aristokrat, und Hardenberg, der
Jünger französischer Aufklärung, und Humboldt, der moderne Hellene,
und Schön, der trotzige Kantianer; unter den Soldaten die denkenden
Militärs, die Scharnhorst und Clausewitz, denen die Kriegskunst
als ein Teil der Staatswissenschaft erschien, und Blücher, dem der
Schreibtisch Gift war, der eines nur verstand -- den Feind zu schlagen,
und York, der Mann der alten militärischen Schule, der Eiferer wider
das Nattergezücht der Reformer; unter den Denkern und Künstlern
neben Fichte Schleiermacher, dessen Milde jener als leichtsinnig und
unsittlich verwarf, und Heinrich v. Kleist, der als ein Dichter mit
unmittelbarer Leidenschaft empfand, was Fichte als Denker erkannte. Ihm
zitterte die Feder in der Hand, wenn er in stürmischen Versen die Enkel
der Kohortenstürmer, die Römerüberwinderbrut zum Kampfe rief. Einen
Schüler Fichtes meinen wir zu hören, wenn Kleist seinem Könige die
Türme der Hauptstadt mit den stolzen Worten zeigt: „Sie sind gebaut, o
Herr, wie hell sie blinken, für beßre Güter in den Staub zu sinken.”
Und er selber war es, der Fichte die höhnenden Verse ins Gesicht warf:

    Setzet, ihr träft's mit euerer Kunst und zögt uns die Jugend nun zu
    Männern wie ihr; liebe Freunde, was wär's?

Wenn er seine Adler geschändet sah von den Fremden, wie mochte der
stolze Offizier ertragen, daß dieser Schulmeister herantrat, die Nöte
des Augenblicks durch die Erziehung des werdenden Geschlechts zu
heilen? Und dennoch haben sie zusammengewirkt, die Männer, die sich
befehdeten und schalten, einträchtig in dem Kampfe der Idee gegen
das Interesse, der Idee des Volkstums wider das Interesse der nackten
Gewalt.

Schon vor der Schlacht von Jena hatte sich Fichte erboten, mit dem
ausrückenden Heere als weltlicher Prediger und Redner, „als Gesandter
der Wissenschaft und des Talents”, zu marschieren, „denn was” -- ruft
er in seiner kecken, die Weihe des Gedankens mitten in die matte
Wirklichkeit hineintragenden Weise -- „was ist der Charakter des
Kriegers? Opfern muß er sich können; bei ihm kann die wahre Gesinnung,
die rechte Ehrliebe gar nicht ausgehen, die Erhebung zu etwas, das
über dies Leben hinaus liegt.” Doch das letzte Heer des alten Regimes
hätte solchen Geist nicht ertragen. Die Stunden der Schande waren
gekommen. Fichte floh aus Berlin und sprach: „Ich freue mich, daß ich
frei geatmet, geredet, gedacht habe und meinen Nacken nie unter das
Joch des Treibers gebogen.” Auch ihn überwältigte jetzt auf Augenblicke
die Verzweiflung, da er zufrieden sein wollte ein ruhiges Plätzchen
zu finden, und es den Enkeln überlassen wollte zu reden -- „wenn bis
dahin Ohren wachsen zu hören!” Nicht die Zuversicht fand er wieder,
aber die Stärke des Pflichtgefühls, als er nach dem Frieden dennoch
redete zu den Lebendigen ohne Hoffnung für sie, „damit vielleicht
unsere Nachkommen tun, was wir einsehen, weil wir leiden, weil unsere
Väter träumten.” In Stunden einsamer Sammlung war nun sein ganzes Wesen
„geweiht, geheiligt”; der alte Grundgedanke seines Lebens, in eigener
Person das Absolute zu sein und zu leben, findet in dieser weihevollen
Stimmung eine neue religiöse Form, erscheint ihm als die Pflicht
„des Lebens in Gott”. Rettung um jeden Preis -- dieser ungeheueren
Notwendigkeit, die leuchtend vor seiner Seele stand, hatte er manches
geopfert von der Starrheit des Theoretikers. Er pries jetzt sogar
Machiavellis Weisheit der Verzweiflung; denn von der entgegengesetzten,
der niedrigsten Schätzung des Menschenwertes gelangte dieser Verächter
aller hergebrachten Sittlichkeit doch zu dem gleichen Endziele, der
Rettung des großen Ganzen auf Kosten jeder Neigung des Einzelnen.
Gereift und gefestigt ward dieser Ideengang, als Fichte jetzt sich
schulte an den großartig einfachen Mitteln uralter Menschenbildung, an
Luthers Bibel und an der knappen Form, der herben Sittenstrenge des
Tacitus.

Also vorbereitet hielt er im Winter 1807/08, belauscht von fremden
Horchern, oft unterbrochen von den Trommeln der französischen
Besatzung, zu Berlin die „Reden an die deutsche Nation”. Sie sind das
edelste seiner Werke, denn hier war ihm vergönnt, unmittelbar zu wirken
auf das eigentlichste Objekt des Redners, den Willen der Hörer; ihnen
eigen ist im vollen Maße jener Vorzug, den Schiller mit Recht als das
Unterpfand der Unsterblichkeit menschlicher Geisteswerke pries, doch
mit Unrecht den Schriften Fichtes absprach, daß in ihnen ein Mensch,
ein einziger und unschätzbarer, sein innerstes Wesen abgebildet habe.
Doch auch der Stadt sollen wir gedenken, die, wie eine Sandbank in dem
Meere der Fremdherrschaft, dem kühnen Redner eine letzte Freistatt bot;
die hocherregte Zeit und die hingebend andächtigen Männer und Frauen
sollen wir preisen, welche des Redners schwerem Tiefsinn folgten, den
selbst der Leser heute nur mit Anstrengung versteht. Riesenschritte --
hebt Fichte an -- ist die Zeit mit uns gegangen; durch ihr Übermaß hat
die Selbstsucht sich selbst vernichtet. Doch aus der Vernichtung selber
erwächst uns die Pflicht und die Sicherheit der Erhebung. Damit die
Bildung der Menschheit erhalten werde, muß diese Nation sich retten,
die das Urvolk unter den Menschen ist durch die Ursprünglichkeit ihres
Charakters, ihrer Sprache. -- Unterdrücken wir strenge das wohlweise
Lächeln des Besserwissens. Denn fürwahr ohne solche Überhebung hätte
unser Volk den Mut der Erhebung nie gefunden wider die ungeheuere
Übermacht. Freuen wir uns vielmehr an der feinen Menschenkenntnis des
Mannes, der sich gerechtfertigt hat mit dem guten Worte: „Ein Volk
kann den Hochmut gar nicht lassen, außerdem bleibt die Einheit des
Begriffs in ihm gar nicht rege.” -- Diesem Urvolke hält der Redner den
Spiegel seiner Taten vor. Er weist unter den Werken des Geistes auf die
Größe von Luther und Kant, unter den Werken des Staates -- er, der in
Preußen wirkte und Preußen liebte -- auf die alte Macht der Hansa und
preist also die streitbaren, die modernen Kräfte unseres Volkstums --
im scharfen und bezeichnenden Gegensatze zu Fr. Schlegel, der in Wien
zu ähnlichem Zwecke an die romantische Herrlichkeit der Kaiserzeit
erinnerte.

In diesem hochbegnadeten Volke soll erweckt werden „der Geist der
höheren Vaterlandsliebe, der die Nation als die Hülle des Ewigen
umfaßt, für welche der Edle mit Freuden sich opfert, und der Unedle,
der nur um des ersteren willen da ist, sich eben opfern soll”. Und
weiter -- nach einem wundervollen Rückblick auf die Fürsten der
Reformation, die das Banner des Aufstandes erhoben nicht um ihrer
Seligkeit willen, deren sie versichert waren, sondern um ihrer
ungeborenen Enkel willen -- „die Verheißung eines Lebens auch
hienieden, über die Dauer des Lebens hinaus, allein diese ist es, die
bis zum Tode fürs Vaterland begeistern kann”. Nicht Siegen oder Sterben
soll unsere Losung sein, da der Tod uns allen gemein und der Krieger
ihn nicht wollen darf, sondern Siegen schlechtweg. Solchen Geist zu
erwecken, verweist Fichte auf das letzte Rettungsmittel, die Bildung
der Nation „zu einem durchaus neuen Selbst” -- und fordert damit, was
in anderer Weise E. M. Arndt verlangte, als er der übergeistigen Zeit
eine Kräftigung des Charakters gebot. Noch war die Nation in zwei
Lager gespalten. Die einen lebten dahin in mattherziger Trägheit,
in der lauwarmen Gemütlichkeit der alten Zeit; ihnen galt es eine
große Leidenschaft in die Seele zu hauchen: „Wer nicht sich als ewig
erklärt, der hat überhaupt nicht die Liebe und kann nicht lieben sein
Volk.” Das sind dieselben Töne, die später Arndt anschlug, wenn er dem
Wehrmann zurief: „Der Mensch soll lieben bis in den Tod und von seiner
Liebe nimmer lassen noch scheiden; das kann kein Tier, weil es leicht
vergisset.” Den anderen schwoll das Herz von heißem Zorne; schon war
unter der gebildeten Jugend die Frage, wie man Napoleon ermorden könne,
ein gewöhnlicher Gegenstand des Gesprächs. Diese wilde Leidenschaft
galt es zu läutern und zu adeln: „Nicht die Gewalt der Arme, noch die
Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemütes ist es, welche
Siege erkämpft.” Ein neues Geschlecht soll erzogen werden fern von
der Gemeinheit der Epoche, entrissen dem verderbten Familienleben,
erstarkend zu völliger Verleugnung der Selbstsucht durch eine Bildung,
die nicht ein Besitztum, sondern ein Bestandteil der Personen selber
sei. In Pestalozzis Erziehungsplänen meint Fichte das Geheimnis dieser
Wiedergeburt gefunden. War doch in ihnen der Lieblingsgedanke des
Philosophen verkörpert, daß der Wille, „die eigentliche Grundwurzel
des Menschen,” die geistige Bildung nur ein Mittel für die sittliche
sei; gingen sie doch darauf aus, die Selbsttätigkeit des Schülers
fort und fort zu erwecken. Wenn die Stein und Humboldt unbefangen
den gesunden Kern dieser Pläne würdigten: dem Philosophen war kein
Zweifel, der Charakter der Pestalozzischen Erziehungsweise sei -- „ihre
Unfehlbarkeit”; fortan sei nicht mehr möglich, daß der schwache Kopf
zurückbleibe hinter dem starken.

Zu solchem Zwecke redet er „für Deutsche schlechtweg, von Deutschen
schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus beiseite setzend
und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige
Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben”.
„Bedenket -- beschwört er die Hörer --, daß ihr die letzten seid, in
deren Gewalt diese große Veränderung steht. Ihr habt doch noch die
Deutschen als Eines nennen hören, ihr habt ein sichtbares Zeichen
ihrer Einheit, ein Reich und einen Reichsverband, gesehen oder davon
vernommen, unter euch haben noch von Zeit zu Zeit Stimmen sich hören
lassen, die von dieser höheren Vaterlandsliebe begeistert waren. Was
nach euch kommt, wird sich an andere Vorstellungen gewöhnen, es wird
fremde Formen und einen anderen Geschäfts- und Lebensgang annehmen,
und wie lange wird es noch dauern, daß keiner mehr lebe, der Deutsche
gesehen oder von ihnen gehört habe?” -- Auch den letzten kümmerlichen
Trost raubt er den Verzagten, die Hoffnung, daß unser Volk in seiner
Sprache und Kunst fortdauern werde. Da spricht er das furchtbare Wort:
„Ein Volk, das sich nicht selbst mehr regieren kann, ist schuldig,
seine Sprache aufzugeben.” So geschieht ihm selber, was er seinem
Luther nachrühmte, daß deutsche Denker, ernstlich suchend, mehr finden
als sie suchen, weil der Strom des Lebens sie mit fortreißt. In diesem
radikalen Satze schlummert der Keim der Wahrheit, welche erst die
Gegenwart verstanden hat, daß ein Volk ohne Staat nicht existiert. --
„Es ist daher kein Ausweg,” schließen die Reden -- „wenn ihr versinkt,
so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen
Wiederherstellung.”

Wir Nachgeborenen haben den bewegenden Klang jener Stimme nicht
gehört, welche die andachtsvollen Zuhörer zu Berlin ergriff, -- und
jeder rechte Redner wirkt sein Größtes durch einen höchstpersönlichen
Zauber, den die Nachwelt nicht mehr begreift -- aber noch vor den
toten Lettern zittert uns das Herz, wenn der strenge Züchtiger
unseres Volkes „Freude verkündigt in die tiefe Trauer” und an die
mißhandelten Deutschen den stolzen Ruf ertönen läßt: „Charakter haben
und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend.” -- Und welchen
Widerhall erweckten diese Reden in der Welt? Achselzuckend ließ der
Franzose den törichten Ideologen gewähren, gleichgültig erzählte der
Moniteur von einigen Vorlesungen über Erziehung, die in Berlin einigen
Beifall gefunden. Die Fremden wußten nicht, aus wie tiefem Borne dem
deutschen Volke der Quell der Verjüngung strömte, und kein Verräter
erstand, ihnen den politischen Sinn der Reden zu deuten. Mit wieviel
schärferem politischen Blicke hatte einst Machiavelli seinem Volke den
allerbestimmtesten Plan der Rettung mit den bestdurchdachten Mitteln
vorgezeichnet! Aber sein =Principe= blieb ein verwegenes Traumbild; die
Reden des deutschen Philosophen wurden einer der Funken, daran sich
die Glut der Befreiungskriege entzündete. Fichte freilich meinte, sein
Wort sei verhallt in den „tiefverderbten” Tagen, sein ganzes System sei
nur ein Vorgriff der Zeit. Denn es ist das tragische Geschick großer
Männer, daß sie ihren eigenen Geist nicht wiedererkennen, wenn er von
den Zeitgenossen empfangen und umgeformt wird zu anderen Gestalten,
als sie meinten. Und dennoch war der Redner an die deutsche Nation nur
der Mund des Volkes gewesen, er hatte nur dem, was jedes Herz bewegte,
einen kühnen, hochgebildeten Ausdruck geliehen. Denn was war es anders,
als jene höhere Vaterlandsliebe, die der noch ungeborenen Enkel denkt
-- was anders war es, das den Landwehrmann von Haus und Hof und Weib
und Kindern trieb, das unsere Mütter bewog, alles köstliche Gut der
Erde bis zu dem Ringe des Geliebten für ihr Land dahinzugeben? Was
anderes war es, als daß sie unser gedachten? In diesem Sinne -- denn
wer ermißt die tausend geheimnisvollen Kanäle, welche das durchdachte
Wort des Philosophen fortleiteten in die Hütte des Bauern -- in diesem
Sinne hat Fichtes Wort gezündet, und die Kundigen stimmten ein, wenn
Friedrich Gentz, diesmal wahrhaft ergriffen, sagte: „So groß, tief und
stolz hat fast noch niemand von der deutschen Nation gesprochen.”

Wieder kamen Jahre stiller Arbeit. Unter den ersten wirkte Fichte
bei der Gründung der Berliner Hochschule, die dem erwachenden neuen
Geiste ein Herd sein sollte. Ein Glück, daß Wilhelm v. Humboldt,
als ein besonnener Staatsmann, an die altbewährten Überlieferungen
deutscher Hochschulen anknüpfte und die verwegenen Gedanken des
Philosophen verwarf; denn mit der ganzen Strenge seiner herrischen
Natur hatte Fichte einen Plan mönchischer Erziehung entworfen, der
die Jugend absperren sollte von jeder Berührung mit den Ideenlosen,
doch in Wahrheit jede echte akademische Freiheit vernichtet hätte.
Um so unerschütterlicher bekämpfte er auf der neuen Hochschule die
falsche akademische Freiheit; er fand es verwerflich, grundverderblich,
Nachsicht zu üben mit alten unseligen Unsitten der Jugend. Das wüste
Burschenleben war ihm eine bewußte, mit Freiheit und nach Gesetzen
hergebrachte Verwilderung. In diesen Jahren weihte er seine ganze Kraft
dem Lehramte. Die gewohnte Macht über die jugendlichen Gemüter blieb
ihm nach wie vor. Er nutzte sie, den Keim zu legen zu der deutschen
Burschenschaft. Er förderte, wie schon früher in Jena, unter den
Studierenden den Widerstand gegen den Unfug der alten Landsmannschaften
und warnte die Gesellschaft der „Deutsch-Jünger” vor jenen beiden
Irrtümern, welche später die Burschenschaften lähmten: sie sollten sich
hüten, mittelalterlich und deutsch zu verwechseln, und sorgen, daß das
Mittel -- die Verbindung -- ihnen nicht wichtiger werde als der Zweck
-- die Belebung deutschen Sinnes. --

Endlich erfüllten sich die Zeiten; dies Geschlecht, das er verloren
gab, fand sich wieder; denn so tief war es nie gesunken, als der
Idealist meinte. Die Trümmer der großen Armee kehrten aus Rußland
heim, die Provinz Preußen stand in Waffen, der ostpreußische Landtag
harrte auf das Wort des Königs. Der König erließ von Breslau den
Aufruf zur Bildung von Freiwilligen-Korps; aber noch war der Krieg an
Frankreich nicht erklärt. Auf der Straße begegneten den französischen
Gendarmen dichte Haufen still drohender Bauern, die zu den Fahnen
zogen; und Fichtes Schüler zitterten vor Ungeduld, dem Rufe des Königs
zu folgen, doch sie warteten des Lehrers. Wer meinte nicht, daß in
diesen schwülen Tagen der Erwartung ein glühender Aufruf aus Fichtes
Munde wie ein Blitzstrahl hätte einschlagen sollen? -- Schlicht und
ernst, wie nach einem großen Entschlusse, tritt er endlich am 19.
Februar 1813 vor seine Studenten. Nur selten berichten die lauten
Annalen der Geschichte von dem Edelsten und Eigentümlichsten der großen
historischen Wandlungen. So ist auch das Herrlichste der reinsten
politischen Bewegung, die je unser Volk erhob, noch nicht nach Gebühr
gewürdigt -- jener Geist schlichter, gefaßter Manneszucht, der das
Ungeheuere vollzog so ruhig, so frei von jedem falschen Pathos, wie
die Erfüllung alltäglicher Bürgerpflichten. Nichts staunenswürdiger
an diesen einzigen Tagen, als jener ernste, unverbrüchliche Gehorsam,
der unser Volk selbst dann noch beherrschte, da die hochgehenden
Wogen volkstümlicher Entrüstung die Decke sprengten, die sie lange
gehemmt. Ein Heldenmut ist es, natürlich, selbstverständlich in den
Tagen tiefer Bewegung, dem Rohre der feindlichen Kanone freudig ins
Gesicht zu blicken, aber jedes Wort des Preises verstummt vor der
mannhaften Selbstbeherrschung, die unsere Väter beseelte. Als ein
Heißsporn des ostpreußischen Landtags die Genossen fragte: „wie nun,
meine Herren, wenn der König den Krieg nicht erklärt?” -- da erwiderte
ihm Heinrich Theodor von Schön: „Dann gehen wir ruhig nach Hause.”
Durchaus getränkt von diesem Geiste ernster Bürgerpflicht war auch die
Rede, die Fichte jetzt an seine Hörer richtete. Er habe, gesteht er,
lange geschwankt, ehe er mit solchem Worte vor seine Schüler getreten
sei. Die Wissenschaft allerdings sei die stärkste Waffe gegen das Böse,
und in diesem Kampfe würden Siege erfochten, dauernd für alle Zeit.
Aber zu dem geistigen Streite bedürfe es des äußern und des innern
Friedens: und nur darum, weil diese Ruhe des Gemütes ihn selber, trotz
vielfacher Übung in der Selbstbesinnung, zu verlassen beginne, schließe
er jetzt seine Vorlesungen. -- Das einfache Wort genügte, die Jünglinge
in die Reihen der Freiwilligen zu führen. Noch einmal ist ihm dann der
Gedanke gekommen, als ein Redner in das Lager zu gehen -- noch einmal
vergeblich. Dann ist Fichte krank und halb gelähmt mit den gelehrten
Genossen und dem kaum mannbaren Sohne in den Landsturm getreten; Lanze
und Säbel lehnten nun an der Tür des Philosophen.

Als die Kunde erscholl von den herrlichsten deutschen Siegen, von den
Tagen von Hagelberg und Dennewitz, selbst dann hat er nicht gelassen
von der alten tüchtigen Weise, den Dingen nachzudenken bis zum Ende. Im
Sommer 1813 hielt er vor den wenigen Studierenden, die dem Kampfe fern
blieben, Vorlesungen über die Staatslehre. Auch jetzt noch bewegt er
sich ausschließlich im Gebiete der Ideen; seinen kühnsten Sätzen fügt
er stolz abweisend hinzu: „Es gilt vom Reiche (der Vernunft), nicht von
ihren Lumpenstaaten.” Noch immer geht er dem Staate der Wirklichkeit
mit radikaler Härte zu Leibe; Erblichkeit der Repräsentation ist ihm
ein absolut vernunftwidriges Prinzip, „die erste Pflicht der Fürsten
wäre, in dieser Form nicht da zu sein”, der Wahn der Ungleichheit ist
bereits durch das Christentum praktisch vernichtet. Aber wie viel
reicher und tiefsinniger erscheint ihm jetzt der Staat! Mit scharfen
Worten sagt er sich los von der naturrechtlichen Lehre, die er bereits
in den Reden an die deutsche Nation verlassen hatte. Er verwirft die
„schlechte Ansicht”, welche im Staate nur den Schützer des Eigentums
erblickt und darum Kirche, Schule, Handel und Gewerbe allein den
Privatleuten zuweist und im Falle des Krieges die Ruhe für die erste
Bürgerpflicht erklärt. Der Staat ist berufen, die sittliche Aufgabe auf
Erden zu verwirklichen. In den beiden schönen Vorlesungen, die „von
dem Begriffe des wahrhaften Krieges” handeln, stellt er scharf und
schroff die sinnliche und die sittliche Ansicht vom Staate einander
gegenüber. Nach jener gilt „zuerst das Leben, sodann das Gut, endlich
der Staat, der es schützt”. Nach dieser steht obenan „die sittliche
Aufgabe, das göttliche Bild; sodann das Leben in seiner Ewigkeit, das
Mittel dazu, ohne allen Wert, außer inwiefern es ist dieses Mittel;
endlich die Freiheit, als die einzige und ausschließende Bedingung,
daß das Leben sei solches Mittel, drum -- als das einzige, was dem
Leben selbst Wert gibt”. -- Der einst mit dem Mißtrauen des deutschen
Gelehrten die Zwangsanstalt des Staates betrachtet, er sieht jetzt mit
der Begeisterung eines antiken Bürgers in dem Staate den Erzieher des
Volkes zur Freiheit, alle Zweige des Volkslebens weist er der Leitung
des Staates zu. Nur in einem solchen Staate ist „ein eigentlicher
Krieg” möglich, denn hier wird durch feindlichen Einfall die allgemeine
Freiheit und eines jeden besondere bedroht; es ist darum jedem für die
Person und ohne Stellvertretung aufgegeben der Kampf auf Leben und Tod.

Schon längst waren seine radikalen Theorien dann und wann erhellt
worden durch ein Aufblitzen historischer Erkenntnis; bereits in
seiner Jugendschrift über die französische Revolution hatte er
Friedrich den Großen gepriesen als einen Erzieher zur Freiheit. Doch
jetzt erst beginnt er die historische Welt recht zu verstehen. Er
erkennt, daß ein Volk gebildet werde durch gemeinsame Geschichte,
und berufen sei, „in dem angehobenen Gange aus sich selber sich
fortzuentwickeln zu einem Reiche der Vernunft”. Alle Staaten der
Geschichte erscheinen ihm jetzt als Glieder in der großen Kette
dieser Erziehung des Menschengeschlechts zur Freiheit. Ist diese
Erziehung dereinst vollendet, dann wird „irgendeinmal irgendwo die
hergebrachte Zwangsregierung einschlafen, weil sie durchaus nichts
mehr zu tun findet”, dann wird das Christentum nicht bloß Lehre, nein,
die Verfassung des Reiches selber sein. In diesem Reiche werden die
„Wissenschaftlichen” regieren über dem Volke, denn „alle Wissenschaft
ist tatbegründend”. So gelangt auch Fichte zu dem platonischen
Idealbilde eines Staates, welchen die Philosophen beherrschen. Und
wenn der nüchterne Politiker betroffen zurückweicht vor diesem
letzten Fluge des Fichteschen Geistes, so bleibt doch erstaunlich,
wie rasch die große Zeit sich ihren Mann erzogen hat: der Held des
reinen Denkens wird durch den Zusammenbruch seines Vaterlandes zu
der Erkenntnis geführt, daß der Staat die vornehmste Anstalt im
Menschenleben, die Verkörperung des Volkstums selber ist. Näher
eingehend auf die Bewegung des Augenblicks schildert er das Wesen des
gewaltigen Feindes, der unter den Ideenlosen der Klügste, der Kühnste,
der Unermüdlichste, begeistert für sich selber, nur zu besiegen ist
durch die Begeisterung für die Freiheit. So stimmt auch Fichte mit
ein in die Meinung unserer großen Staatsmänner, welche erkannten,
daß die Revolution in ihrem furchtbarsten Vertreter bekämpft werden
müsse mit ihren eigenen Waffen. Fast gewaltsam unterdrückt er den
unabweislichen Argwohn, daß nach dem Frieden alles beim alten bleibe.
Nicht ungerügt freilich läßt er es hingehen, daß man in solchem Kampfe
noch gotteslästerlich von Untertanen rede, daß die Formel „Mit Gott für
König und Vaterland” den Fürsten gleichsam des Vaterlandes beraube.
Aber alle solche Makel der großen Erhebung gilt es als schlimme alte
Gewohnheiten zu übersehen; „dem Gebildeten soll sich das Herz erheben
beim Anbruche seines Vaterlandes”. Beim Anbruche seines Vaterlandes --
die aus der Ferne leidenschaftslos zurückblickende Gegenwart mag diese
schöne Bezeichnung der Freiheitskriege bestätigen, welche die hart
enttäuschten Zeitgenossen kummervoll zurücknahmen.

Auch zu einer rein publizistischen Arbeit ward der Denker durch die
Sorge um den Neubau des Vaterlandes veranlaßt. Alsbald nach dem Aufrufe
des Königs an sein Volk schreibt er den vielgenannten „Entwurf einer
politischen Schrift”. Die wenigen Blätter sind unschätzbar nicht bloß
als ein getreues Bild seiner Weise zu arbeiten -- denn hier, in der
Tat, sehen wir ihn pochen und graben nach der Wahrheit, den Verlauf des
angestrengten Schaffens unterbrechen mit einem nachdenklichen „Halt,
dies schärfer!” und die Schlacken der ergründeten Wahrheit emporwerfen
aus der Grube -- sondern mehr noch, weil uns hier Fichte entgegentritt
als der erste namhafte Verkündiger jener Ideen, welche heute
Deutschlands nationale Partei bewegen. Schon oft war, bis hinauf in die
Kreise der Mächtigsten, der Gedanke eines preußischen Kaisertums über
Norddeutschland angeregt worden. Hier zuerst verkündet ein bedeutender
Mann mit einiger Bestimmtheit den Plan, den König von Preußen als einen
„Zwingherrn zur Deutschheit” an die Spitze des gesamten Vaterlandes
zu stellen. Parteien freilich im heutigen Sinne kannte jene Zeit noch
nicht, und Fichte am wenigsten hätte sich der Mannszucht einer Partei
gefügt; er schreibt seine Blätter nur nieder, damit „diese Gedanken
nicht untergehen in der Welt”. Aber kein Parteimann unserer Tage mag
das tödliche Leiden unseres Volkes, daß es mediatisiert ist, klarer
bezeichnen als er mit den Worten, das deutsche Volk habe bisher an
Deutschland Anteil genommen allein durch seine Fürsten. Noch immer
schwebt ihm als höchstes Ziel vor Augen eine „Republik der Deutschen
ohne Fürsten und Erbadel”, doch er begreift, daß dieses Ziel in
weiter Ferne liege. Für jetzt gilt es, daß „die Deutschen sich selbst
mit Bewußtsein machen”. -- „Alle großen deutschen Literatoren sind
gewandert,” ruft er stolz; und jenes freie Nationalgefühl, das diese
glänzenden Geister trieb, die Enge ihres Heimatlandes zu verlassen,
muß ein Gemeingut des Volkes werden, damit zuletzt der Einzelstaat als
überflüssig hinwegfalle. Ein haltbarer Nationalcharakter wird gebildet
zunächst durch die Freiheit, denn „ein Volk ist nicht mehr umzubilden,
wenn es in einen regelmäßigen Fortschritt der freien Verfassung
hineingekommen”. Aber auch im Kriege wird ein Volk zum Volke, und hier
spricht er ein Wort, dessen tiefster Sinn sich namentlich in Fichtes
Heimatlande als prophetisch bewährt hat: „Wer den gegenwärtigen Krieg
nicht mitführen wird, wird durch kein Dekret dem deutschen Volke
einverleibt werden können.” Als einen Erzieher zur Freiheit, zur
Deutschheit brauchen wir einen Kaiser. Österreich kann die Hand nie
erheben zu dieser Würde, weil es unfrei und in fremde undeutsche Händel
verwickelt ist; sein Kaiser ist durch sein Hausinteresse gezwungen,
„deutsche Kraft zu brauchen für seine persönlichen Zwecke”. Preußen
aber „ist ein eigentlich deutscher Staat, hat als Kaiser durchaus
kein Interesse zu unterjochen, ungerecht zu sein. Der Geist seiner
bisherigen Geschichte zwingt es fortzuschreiten in der Freiheit, in den
Schritten zum Reich (das will sagen: zum Vernunftreiche); nur so kann
es fortexistieren, sonst geht es zugrunde”.

So -- nicht eingewiegt, nach der gemeinen Weise der Idealisten, in
leere Illusionen, aber auch nicht ohne frohe Hoffnung ist Fichte
in den Tod gegangen für sein Land. Welch ein Wandel seit den Tagen
der Revolutionskriege, da er der Geliebten noch vorhielt, daß sie
gleichgültig sei gegen die Welthändel! Der Schwung der großen Zeit,
die opferbereite Empfindung weiblichen Mitgefühls führt jetzt Johanna
Fichte unter die wunden Krieger der Berliner Hospitäler. Alle guten und
großen Worte des Gatten von der Macht der göttlichen Gnade werden ihr
lebendig und strömen von ihrem Munde, da sie die unbärtigen Jünglinge
der Landwehr mit dem hitzigen Fieber ringen, in letzter Schwäche, in
unbezwinglichem Heimweh die Heilung von sich weisen sieht. In den
ersten Tagen des Jahres 1814 bringt sie das Fieber in ihr Haus. Einen
Tag lang verweilt der Gatte an ihrem Lager, eröffnet dann gefaßt seine
Vorlesungen und findet, zurückgekehrt, die Totgeglaubte gerettet. In
diesen Stunden des Wiedersehens, meint der Sohn, mag den starken Mann
der Tod beschlichen haben. In seine letzten Fieberträume fiel noch
die Kunde von der Neujahrsnacht 1814, da Blücher bei der Pfalz im
Rheine den Grenzstrom überschritt und das feindliche Ufer widerhallte
von den Hurrarufen der preußischen Landwehr. Unter solchen Träumen von
kriegerischer Größe ist der streitbare Denker verschieden am 27. Januar
1814. Sein Lob mag er selber sagen: „Unser Maßstab der Größe bleibe der
alte: daß groß sei nur dasjenige, was der Ideen, die immer nur Heil
über die Völker bringen, fähig sei und von ihnen begeistert.”

Seitdem ist eine lange Zeit vergangen, Fichtes Name ist im Wechsel
gepriesen worden und geschmäht, ist aufgetaucht und wieder
verschwunden. Als die kriegerische Jugend, heimkehrend von den
Schlachtfeldern, in die Hörsäle der Hochschulen zurückströmte, da
erst ward offenbar, wie tief das Vorbild des „Vaters Fichte” in den
jungen Seelen haftete. „Die Jugend soll nicht lachen und scherzen, sie
soll ernsthaft und erhaben sein”, war seine Mahnung, und wirklich,
wie Fichtes Söhne erschienen diese spartanischen Jünglinge, wie
sie einherschritten in trutziger Haltung, abgehärteten Leibes, in
altdeutscher Tracht, hochpathetische Worte voll sittlichen Zornes und
vaterländischer Begeisterung redend. Die Ideen, welche diese jungen
Köpfe entzückten, lagen zwar tief begründet in der ganzen Richtung der
Zeit, aber unzweifelhaft gebührt den Lehren Fichtes daran ein starker
Anteil. Vor seinem Bilde, dessen lautere Hoheit uns kein Schopenhauer
hinwegschmähen wird, erfüllte sich das junge Geschlecht mit jenen
Grundsätzen herber Sittenstrenge, die unseren Hochschulen eine heilsame
Verjüngung brachten. Und welch ein Vorbild der „Deutschheit” besaß die
Jugend in ihm, der aus der dumpfen Gemütlichkeit des kursächsischen
Lebens sich emporrang zu jenem vornehmen Patriotismus, welcher nur noch
„Deutsche schlechtweg” kennen wollte und den Kern unserer Nation in der
norddeutsch-protestantischen Welt erblickte. Mochte er immerhin seinen
politischen Ideen die abwehrende Weisung hinzufügen: „Auf Geheiß der
Wissenschaft soll die Regierung jene bändigen und strafen, welche diese
Lehren auf die Gegenwart anwenden”: -- die Jugend wußte nichts von
solcher Unterscheidung. Die Hoheit seiner Ideen und der Radikalismus
seiner Methode wirkten berauschend auf die deutschen Burschen. „Der
deutsche Staat ist in der Tat einer; ob er nun als einer oder mehrere
erscheine, tut nichts zur Sache” -- solcher Worte diktatorischer Klang
drang tief in die jungen Seelen. Die Vorstellung, daß das Bestehende
schlechthin unberechtigt sei und einem deutschen Reiche weichen müsse,
ward durch Fichtes Lehren mächtig gefördert.

Als eine edle Barbarei hat man treffend die Stimmung der Burschenschaft
bezeichnet, und auch an den Sünden dieser edlen Barbaren ist Fichte
nicht schuldlos. Seine mönchische Strenge spiegelt sich wider in
dem altklugen, unjugendlichen Wesen, das uns so oft zurückstößt
von der wackeren teutonischen Jugend. Wenn er immer wieder die
Bildung des Charakters betonte, war es da zu verwundern, daß
schließlich die Jugend, die den Wert eines gereiften Charakters
noch nicht zu beurteilen vermag, mit Vorliebe den polternden
Moralpredigern folgte und an alle glänzenden Geister unseres Volkes
den Maßstab der „Gesinnungstüchtigkeit” legte? Wenn er unermüdlich
die Jugend darstellte als den noch reinen Teil der Nation und die
„Wissenschaftlichen” als die natürlichen Lenker des Volkes: -- mußte
da nicht endlich die Anmaßung aufwuchern in der wissenschaftlichen
Jugend? -- „Unser Urteil hat das Gewicht der Geschichte selbst, es ist
vernichtend!” -- in solchen Reden, die im Burschenhause zu Jena, als
Arnold Ruge jung war, widerhallten, offenbart sich die Kehrseite des
Fichteschen Geistes. Fichte starb zu früh; bei längerem Leben wäre all
seine wache Sorge dahin gegangen, die edle Barbarei der Jugend maßvoll
und bescheiden zu erhalten. Weder Luden noch Oken oder Fries, und am
allerwenigsten der alte Jahn stand hoch genug, um die spartanische
Rauheit des jungen Geschlechts zu mäßigen. -- Vornehmlich in dieser
sittlichen Einwirkung auf die Gesinnung des werdenden Geschlechts liegt
Fichtes Bedeutung für die Geschichte unserer nationalen Politik -- und
wer darf leugnen, daß der Fluch dieses Wirkens tausendmal überboten
ward von dem Segen? Nimmermehr wird diesem Denker gerecht, wer ihn
lediglich beurteilt als einen politischen Schriftsteller. Der Publizist
mag lächeln über Fichtes ungeübten politischen Scharfblick, der
„Gelehrte von Metier” mag erschrecken vor seiner mangelhaften Kenntnis
der politischen Tatsachen; aber hoch über die Fachgelehrten und die
Publizisten hinaus erhebt sich der Redner an die deutsche Nation, wenn
er mit der Kühnheit des Propheten das Ethos unserer nationalen Politik
verkündet, wenn er den zersplitterten Deutschen den Geist der echten
Vaterlandsliebe predigt, der über den Tod hinaus zu hassen und zu
lieben vermag.

Das war mithin kein Zufall, daß der Name dieses Denkers durch den
deutschen Bundestag in den Kot getreten ward. Viel zu milde, leider,
lautet das landläufige Urteil, daß unser Volk mit Undank belohnt worden
für die Errettung der Throne, die sein Blut erkauft. Als ein Verbrechen
vielmehr galt zu Wien und Frankfurt der Geist des Freiheitskrieges.
Und wer hatte den „militärischen Jakobinismus” des preußischen Heeres
schroffer, schonungsloser ausgesprochen als Fichte in den Worten:
„Kein Friede, kein Vergleich! Auch nicht falls der zeitige Herrscher
sich unterwürfe und den Frieden schlösse! Ich wenigstens habe den
Krieg erklärt und bei mir beschlossen, nicht für seine Angelegenheit,
sondern für die meinige, meine Freiheit.” Wie sehr mußte die Woge
demokratischen Zornes und Stolzes, welche in diesen Worten brandet,
jene Schmalz und Kamptz erschrecken, die den Freiheitskrieg für eine
Tat gewöhnlichen Gehorsams erklärten, vergleichbar dem Wirken der
Spritzenmannschaft, die zum Löschen befehligt wird! Darum, als die
Zentral-Untersuchungskommission zu Mainz den unbeschämten Augen des
Bundestages die demagogischen Umtriebe darlegte, standen obenan unter
den verbrecherischen Geheimbünden -- die Vereine, welche in den Jahren
1807-13 sich gebildet zum Zwecke der Vertreibung der Franzosen, und die
Liste der Verdächtigen ward eröffnet mit den erlauchten Namen von --
Fichte und Schleiermacher. Nur mit Erröten denken wir der Tage, da man
in Berlin verbot, die Reden an die deutsche Nation aufs neue zu drucken.

Mag es sein, daß Fichtes nervige Faust den Bogen zu heftig spannte
und über das Ziel hinausschoß; in der Richtung nach dem Ziel ist
sicherlich sein Pfeil geflogen. Die Zeit wird kommen, die Sehergabe
des Denkers zu preisen, der Preußen die Wahl stellte, unterzugehen
oder fortzuschreiten zum Reiche. Mag es sein, daß der verwegene
Idealist oftmals abirrte in der nüchternen Welt der Erfahrung: -- ein
Vorbild des Bürgermutes ist er uns geworden, der lieber gar nicht sein
wollte, als der Laune unterworfen und nicht dem Gesetz. Und auch das
praktisch Mögliche hat der Theoretiker dann immer getroffen, wenn er
handelte von den sittlichen Grundlagen des staatlichen Lebens. Alle
Vorwände der Zagheit, all das träge Harren auf ein unvorhergesehenes
glückliches Ereignis -- wie schneidend weist er sie zurück, wenn
er versichert, keiner der bestehenden Landesherren „könne Deutsche
machen”, nur aus der Bildung des deutschen Volksgeistes werde das
Reich erwachsen. Wenn wir willig diesem Worte glauben, so hoffen
wir dagegen -- oder vielmehr wir müssen es wollen, daß ein anderer
Zukunftsspruch des Denkers nicht in Erfüllung gehe. Schon einmal sahen
wir ihn, nach der Weise der Propheten, sich täuschen in der Zeit:
sechs Jahre schon nach den Reden an die deutsche Nation erhebt sich
das Geschlecht, das er gänzlich aufgegeben. Sorgen wir, daß dies Volk
nochmals rascher lebe, als Fichte meinte, daß wir mit eigenen Augen das
einige Deutsche Reich erblicken, welches er im Jahre 1807 bescheiden
bis in das 22. Jahrhundert verschob. -- Wieder ist den Deutschen die
Zeit des Kampfes erschienen; wieder steht nicht der Gedanke gerüstet
gegen den Gedanken, nicht die Begeisterung wider die Begeisterung.
Die Idee streitet gegen das Interesse, die Idee, daß dieses Volk zum
Volke werde, wider das Sonderinteresse von wenigen, die an das nicht
glauben, was sie verteidigen. Wenn die Langsamkeit dieses Streites,
der uns aus sittlichen noch mehr denn aus politischen Beweggründen
zu den Fahnen ruft, uns oft lähmend auf die Seele fällt, dann mögen
wir uns aufrichten an dem Fichteschen Worte der Verheißung, daß in
Deutschland das Reich ausgehen werde von der ausgebildeten persönlichen
Freiheit und in ihm erstehen werde ein wahrhaftes Reich des Rechts,
gegründet auf die Gleichheit alles dessen, was Menschenangesicht trägt.
Damit, fürwahr, sind bezeichnet die bescheidensten, die gerechtesten
Erwartungen der Deutschen. Was die Deutschen, wenn sie den Einmut
finden, ihren Staat zu gründen, bei mäßiger Macht dennoch hoch stellen
wird in der Reihe der Nationen, ist allein dieses: kein Volk hat je
größer gedacht als das unsere von der Würde des Menschen, keines die
demokratische Tugend der Menschenliebe werktätiger geübt.

Mit schönen Worten pries Fichte das Schicksal des großen
Schriftstellers: „Unabhängig von der Wandelbarkeit spricht sein
Buchstabe in allen Zeitaltern an alle Menschen, welche diesen
Buchstaben zu beleben vermögen, und begeistert, erhebt und veredelt bis
an das Ende der Tage.” Nicht ganz so glücklich ist das Los, das den
Werken Fichtes selber fiel; denn nur wenige scheuen nicht die Mühe, den
echten Kern seiner Gedanken loszuschälen aus der Hülle philosophischer
Formeln, welchen die Gegenwart mehr und mehr entwächst. Doch daß der
Geist des Redners an die deutsche Nation nicht gänzlich verflogen
ist in seinem Volke, davon gab die Feier seines hundertjährigen
Geburtstages ein Zeugnis. Wohl mancher Nicolai verherrlichte an jenem
Tage den lauteren Namen des Denkers und ahnte nicht, daß er seinen
Todfeind pries. Aber nimmermehr konnte ein ganzes, ehrliches Volk einen
Helden des Gedankens als einen Helden der Nation feiern, wenn nicht in
diesem Volke noch der Glaube lebte an die weltbewegende Macht der Idee.
Und er wird dauern, dieser vielgeschmähte Idealismus der Deutschen.
Und dereinst wird diesem Volke des Idealismus eine schönere Zukunft
tagen, da eine reifere Philosophie die Ergebnisse unseres politischen
Schaffens, unseres reichen empirischen Wissens in einem großen
Gedankensysteme zusammenfaßt. Wir Lebenden werden Fichtes Geist dann
am treuesten bewahren, wenn alle edleren Köpfe unter uns wirken, daß
in unsern Bürgern wachse und reife der „Charakter des Kriegers”, der
sich zu opfern weiß für den Staat. Die Gegenwart denkt, wenn Fichtes
Name genannt wird, mit Recht zuerst an den Redner, welcher diesem
unterjochten Volke die heldenhaften Worte zurief: „Charakter haben und
deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend.” --



Königin Luise



Königin Luise.

    _Vortrag, gehalten am 10. März 1876 im Kaisersaale des Berliner
    Rathauses._


In Wort und Schrift, in Bild und Reim ist die hochherzige Königin,
zu deren Gedächtnis ich Sie hier versammelt sehe, oft gefeiert
worden; in der Erinnerung ihres dankbaren Volkes lebt sie fort wie
eine Lichtgestalt, die den Kämpfern unseres Befreiungskrieges, den
Pfad weisend, hoch in den Lüften voranschwebte. Wollte ich dieser
volkstümlichen Überlieferung folgen oder gar jener Licht ins Lichte
malenden Schmeichelei, die nach den Worten Friedrichs des Großen wie
ein Fluch an die Fersen der Mächtigen dieser Erde sich klammert,
so müßte ich fast verzweifeln bei dem Versuche, Ihnen ein Bild von
diesem reinen Leben zu geben, wie der Künstler sich scheut, das
unvermischte Weiß auf die Leinwand zu tragen. Das ist aber der Segen
der historischen Wissenschaft, daß sie uns die Schranken der Begabung,
die endlichen Bedingungen des Wirkens edler Menschen kennen lehrt und
sie so erst unserem menschlichen Verständnis, unserer Liebe näher
führt. Auch diese hohe Gestalt stieg nicht wie Pallas gepanzert, fertig
aus dem Haupte Gottes empor, auch sie ist gewachsen in schweren Tagen.
Sie hat, nach Frauenart, in schamhafter Stille, doch in nicht minder
ernsten Seelenkämpfen wie jene starken Männer, die in Scham und Reue
den Gedanken des Vaterlands sich eroberten, einen neuen reicheren
Lebensinhalt gefunden. Dieselben Tage der Not und Schmach, welche den
treuen schwedischen Untertan Ernst Moritz Arndt zum deutschen Dichter
bildeten und dem Weltbürger Fichte die Reden an die deutsche Nation auf
die Lippen legten, haben die schöne anmutvolle Frau, die beglückende
und beglückte Gattin und Mutter mit jenem Heldengeiste gesegnet,
dessen Hauch wir noch spürten in unserem jüngsten Kriege.

Wie die Reformation unserer Kirche das Werk von Männern war, so hat
auch dieser preußische Staat, der mit seinen sittlichen Grundgedanken
fest in dem Boden des Protestantismus wurzelt, allezeit einen
bis zur Herbheit männlichen Charakter behauptet. Er dankt dem
liebevollen frommen Sinne seiner Frauen Unvergeßliches. Am Ausgange
des Dreißigjährigen Krieges blieb uns von der alten Großheit der
Väter nichts mehr übrig als das deutsche Haus; aus diesem Born, den
Frauenhände hüteten, trank unser Volk die Kraft zu neuen Taten. Dem
öffentlichen Leben aber sind die Frauen Preußens immer fern geblieben,
im scharfen Gegensatze zu der Geschichte des katholischen Frankreichs.
Ganz deutsch, ganz preußisch gedacht ist das alte Sprichwort, das jene
Frau die beste nennt, von der die Welt am wenigsten redet. Keine aus
der langen Reihe begabter Fürstinnen, welche den Thron der Hohenzollern
schmückten, hat unseren Staat regiert. Auch Königin Luise bestätigte
nur die Regel. Ihr Bild, dem Herzen ihres Volkes eingegraben, ward
eine Macht in der Geschichte Preußens, doch nie mit einem Schritte
übertrat sie die Schranken, welche der alte deutsche Brauch ihrem
Geschlechte setzt. Es ist der Prüfstein ihrer Frauenhoheit, daß sich
so wenig sagen läßt von ihren Taten. Wir wissen wohl, wie sie mit dem
menschenkundigen Blicke des Weibes immer eintrat für den tapfersten
Mann und den kühnsten Entschluß; auch einige, nur allzuwenige,
schöne Briefe erzählen uns von dem Ernst ihrer Gedanken, von der
Tiefe ihres Gefühles. Das alles gibt doch nur ein mattes Bild ihres
Wesens. Das Geheimnis ihrer Macht lag, wie bei jeder rechten Frau,
in der Persönlichkeit, in dem Adel natürlicher Hoheit, in jenem
Zauber einfacher Herzensgüte, der in Ton und Blick unwillkürlich und
unwiderstehlich sich bekundete. Nur aus dem Widerscheine, den dies
Bild in die Herzen der Zeitgenossen warf, kann die Nachwelt ihren
Wert erraten. Nach dem Tage von Jena mußte auch Preußen den alten
Fluch besiegter Völker ertragen: eine Flut von Anklagen und Vorwürfen
wälzte sich heran wider jeden Mächtigen im Staate. Noch schroffer und
schärfer hat in den leidenschaftlichen Parteikämpfen der folgenden
Jahre die schonungslose Härte des norddeutschen Urteils sich gezeigt;
kein namhafter Mann in Preußen, der nicht schwere Verkennung, grausamen
Tadel von den Besten der Zeit erfuhr. Allein vor der Gestalt der
Königin blieben Verleumdung und Parteihaß ehrfürchtig stehen; nur eine
Stimme von Hoch und Niedrig bezeugt, wie sie in den Tagen des Glückes
das Vorrecht der Frauen übte, mit ihrem strahlenden, glückseligen
Lächeln das Kleine und Kleinste zu verklären, in den Zeiten der Not
durch die Kraft ihres Glaubens die Starken stählte und die Schwachen
hob. --

Das gute Land Mecklenburg hat unserem Volke die beiden Feldherren
geschenkt, welche die Schlachten des neuen Deutschlands schlugen;
wir wollen ihm auch die Ehre gönnen, diese Tochter seines alten
Fürstenhauses sein Landeskind zu nennen, obgleich sie fern dem Lande
ihrer Väter geboren und erzogen wurde. An dem stillen Darmstädter
Hofe genoß die kleine Prinzessin mit ihren munteren Schwestern das
Glück einer schlicht natürlichen, keineswegs sehr sorgfältigen
Erziehung. Da sie heranwuchs, erzählte alle Welt von den wunderschönen
mecklenburgischen Schwestern. Jean Paul widmete ihnen seine
überschwengliche Huldigung. Goethe lugte im Kriegslager vor Mainz
verstohlen zwischen den Falten seines Zeltes hervor und musterte die
lieblichen Gestalten mit gelassenem Kennerblicke; seiner Mutter, der
alten Frau Rat, lachte die Kinderlust aus den braunen Augen, wenn die
jungen Damen nach Frankfurt kamen und im Dichterhause am Hirschgraben
Specksalat aßen oder an dem Brunnen im Hofe sich selber einen frischen
Trunk holten.

So menschlich einfach wie die Kindheit der Prinzessin verlief, ist
auch der Schicksalstag der Frau in ihr Leben eingetreten; dort in
Frankfurt, am Tische des Königs von Preußen, fand sie den Gatten,
der ihr fortan „der beste aller Männer” blieb. An lauten Huldigungen
hat es wohl noch niemals einer deutschen Fürstenbraut gefehlt; das
war doch mehr als der frohe Zuruf angestammter Treue, was die beiden
mecklenburgischen Schwestern bei ihrem Einzug in Berlin begrüßte. In
einem Augenblicke gewann die Kronprinzessin alle Herzen, da sie das
kleine Mädchen, das ihr die üblichen Hochzeitsverse hersagte, in der
Einfalt ihrer Freude, zum Entsetzen der gestrengen Oberhofmeisterin
umarmte und küßte. Die unerfahrene siebzehnjährige Frau, aufgewachsen
im einfachsten Leben, sollte sich nun zurecht finden auf dem
schlüpfrigen Boden dieses mächtigen Hofes, wo um den früh gealterten
König ein Gewölk zweideutiger Menschen sich scharte, wo der geistvolle
Prinz Ludwig Ferdinand sein unbändig leidenschaftliches Wesen trieb und
der Kronprinz mit seiner frommen Sittenstrenge ganz vereinsamt stand;
da fand sie eine treue und kundige Freundin an der alten Gräfin Voß.
Wer kennt sie nicht, die strenge Wächterin aller Formen der Etikette,
die in siebzig Jahren höfischen Lebens das gute Herz, das gerade Wort
und den tapferen Mut sich zu bewahren wußte? Sie gab ihrer Herrin den
besten Rat, der einer jungen Frau erteilt werden kann: keinen anderen
Freund und Vertrauten sich zu wählen als ihren Gemahl; und dabei blieb
es bis zum Tode der Fürstin.

Für den edlen, doch früh verschüchterten und zum Trübsinn geneigten
Geist Friedrich Wilhelms ward es ein unschätzbares Glück, daß er einmal
doch herzhaft mit vollen Zügen aus dem Becher der Freude trinken,
die schönste und liebevollste Frau in seinen Armen halten, an ihrer
wolkenlosen Heiterkeit sich sonnen durfte. Aber auch die Prinzessin
fand bei dem Gatten, was die rechte Ehe dem Weibe bieten soll: sie
rankt sich empor an dem Ernst, dem festen sittlichen Urteile des reifen
Mannes, lernt manche wirre Träumerei des Mädchenkopfes aufzugeben.
Unablässig strebt sie „sich zur inneren Harmonie zu bilden”; ihre
wahrhaftige Natur duldet keine Phrase, keinen halbverstandenen Begriff.
Etwas Liebenswürdigeres hat sie kaum geschrieben als die naiven
Briefe an ihren alten freimütigen Freund, den Kriegsrat Scheffner. Da
fragt sie kindlich treuherzig, damals schon eine reife Frau und viel
bewunderte Königin: was man eigentlich unter Hierarchie verstehe, und
wann die Gracchischen Unruhen, die Punischen Kriege gewesen; „frägt
man aber nicht und schämt sich seiner Einfalt gegen jeden, so bleibt
man immer dumm, und ich hasse entsetzlich die Dummheit”. Sie lebt
sich ein in die Geschichte des königlichen Hauses, teilt mit ihrem
Gemahl die Begeisterung für Friedrich den Großen und wählt sich unter
den Fürstinnen des Hohenzollernstammes ihren Liebling: jene sanfte
Oranierin, die schon einmal den Namen Luise den Preußen wert gemacht,
die erste Gemahlin des Großen Kurfürsten, die unserem evangelischen
Volke das Lied „Jesus meine Zuversicht” sang. A. W. Schlegel hatte
einst der einziehenden Braut zugerufen: „Du bist der goldnen Zeit
Verkünderin.” Fast schien es, als sollte der Dichtergruß sich erfüllen.
Leicht und heiter flossen die Tage; wir Nachlebenden, die wir auch
davon zu reden wissen, schenken der guten Gräfin Voß willig Glauben,
wenn sie in ihrem Tagebuche am 22. März 1797 vergnüglich von der Geburt
eines Prinzen erzählt und weise hinzufügt: „es ist ein prächtiger
kleiner Prinz”. Wenn der Blick der glücklichen Mutter auf der dichten
Schar ihrer schönen Kinder ruhte, dann rief sie wohl: „Die Kinderwelt
ist meine Welt!”

Nach der Thronbesteigung ihres Gemahls lernte die junge Königin auch
die entlegenen Provinzen des Staates kennen; überall, selbst bei
den Polen in Warschau, derselbe jubelnde Empfang wie einst in der
Hauptstadt. Sie war stets bereit, für den schweigsamen König das Wort
zu nehmen zu einer freundlichen Ansprache, doch jeden Eingriff in die
Staatsgeschäfte des Mannes wies sie bescheiden von sich. Jeder von uns
hat wohl einmal aus dem Munde des alten Geschlechts, das heute zu Grabe
geht, vernommen, wie das Volk mit seiner schönen Königin lebte. Als ich
vor Jahren auf die Kösseine im Fichtelgebirge wanderte, da erzählte der
Führer, ein steinalter Mann, wie er einst als junger Bursch mit dem
König und der Königin desselben Wegs gezogen; er fand des Schwatzens
kein Ende, dann zerschnitt er ein Farnkraut, zeigte uns die dunklen
Punkte auf dem Querschnitt des weißen Stengels und meinte stolz: das
sei der brandenburgische Adler, und dies Adlerfarnkraut wachse nur
hier auf den alten preußischen Fichtelbergen.

Überall in Preußen war die junge Fürstin behaglicher Ruhe, warmer
Anhänglichkeit begegnet, überall schien das Volk von der alten Ordnung
befriedigt; die getreuen Breslauer versicherten beim Einzuge: „von
Freiheit schwatze wer da mag”, der Preuße finde in dem geliebten
Königspaare sein höchstes Glück. Und doch schwankte der Staat, der so
sicher schien, längst haltlos einer entsetzlichen Niederlage entgegen.
Kein Zeitraum der preußischen Geschichte liegt so tief im Dunkel,
wie das erste Jahrzehnt Friedrich Wilhelms =III.= Das furchtbare
Unglück und die glorreiche Erhebung der folgenden Jahre haben ihren
breiten Schatten über diese stille Zeit geworfen; niemand bemüht
sich, sie zu durchforschen. Man schließt aus den schweren Gebrechen,
welche der Tag von Jena bloßlegte, kurzerhand zurück und verdammt
den Anfang des Jahrhunderts als eine Epoche geistloser Erstarrung.
Dies Urteil kann schon deshalb nur halb richtig sein, weil die Helden
der Wiedererhebung, Stein und Hardenberg, Scharnhorst und Blücher,
allesamt schon vor dem Jahre 1806 dem Staate dienten, manche bereits
in hohen Ämtern. Fast alle die reformatorischen Taten, welche nachher
dem niedergeworfenen Staate neue Stärke brachten, die Befreiung des
Landvolks, die Neugestaltung des Heeres, die Stiftung der Universität
Berlin, sind schon vor der Jenaer Schlacht erwogen und vorbereitet
worden. Der König betrachtete die Bluttaten der Revolution mit dem
Abscheu des ehrlichen Mannes, doch über den berechtigten Kern der
furchtbaren Bewegung urteilte er unbefangener als die Legitimisten
seines Hofadels. Schlicht und bescheiden, arbeitsam und pflichtgetreu,
ganz unberührt von adeligen Vorurteilen, wollte er ein König der
Bettler sein nach der Überlieferung seines Hauses. „Er ist Demokrat
auf seine Weise -- sagte einer seiner Minister zu dem französischen
Gesandten Otto: -- er wird die Revolution, die ihr von unten nach
oben vollzogen, bei uns langsam von oben nach unten durchführen; er
arbeitet ohne Unterlaß, die Vorrechte des Adels zu beschränken, aber
durch langsame Mittel; in wenigen Jahren wird es keine feudalen Rechte
mehr in Preußen geben.” Aber keiner dieser wohlgemeinten Entwürfe kam
zur Reife; es lag wie ein Bann auf den Gemütern. Die Keime frischen
jungen Lebens, die in dem Staate sich regen, vermögen die Decke
nicht zu sprengen; die ganze Zeit, so reich an verborgenen geistigen
Kräften, trägt jenen schwunglos philisterhaften Charakter, den wir
alle aus der kahlen Nüchternheit ihrer Bauten, aus der Alten Münze und
ähnlichen einst vielbewunderten Kunstwerken genugsam kennen. Man blieb
bei bedachtsam schüchternen Vorbereitungen, die kaum für Tage tiefen
Friedens genügten. Und währenddem wankte die alte Welt in ihren Fugen,
auf rollenden Rädern stürmte die neue Zeit daher, ein kurzes Jahrzehnt
warf die Grenzen aller Länder durcheinander, erhob auf den Trümmern der
alten Staatengesellschaft das napoleonische Weltreich. Der preußische
Staat verlor den Boden unter seinen Füßen; das Deutsche Reich kam ins
Wanken, und die waffenlosen Kleinstaaten des Südwestens, Preußens altes
Werbegebiet, wurden durch die gewaltige Faust des Eroberers zu größeren
Massen zusammengeballt, bildeten sich selber ihre Heere, verschlossen
ihr Land den preußischen Werbern.

Wie war es möglich, daß in diesem scharf urteilenden, bis zur
Tadelsucht freimütigen norddeutschen Volke so lange die Frage gar
nicht aufkam: ob denn unser Norden immerdar wie eine friedliche
Insel in dem tosenden Meere des Weltkrieges ruhen, ob Preußen allein
unwandelbar bleiben könne in diesem großen Wandel der Zeiten? Die
Königin, die so oft das rechte Wort zu finden wußte, hat auch hier
die zutreffende Antwort gegeben: „Wir waren eingeschlafen auf den
Lorbeeren Friedrichs des Großen.” Die Größe der fridericianischen
Tage lastete lähmend auf diesem Geschlechte. Dieser Staat, kaum erst
durch wunderbare Siege emporgehoben in die Reihe der großen Mächte,
war noch vor wenigen Jahren der bestregierte des Festlandes gewesen;
noch im letzten Kriege hatten seine wohlgeschulten Soldaten den
verachteten französischen „Katzenköpfen” ihre Überlegenheit gezeigt.
Nun ruhte er so wohlgeborgen hinter der Demarkationslinie des Baseler
Friedens, den ganz Norddeutschland als eine Wohltat pries; unter dem
Schutze der preußischen Waffen blühten Handel und Wandel, die deutsche
Dichtung sah ihre schönsten Tage. Dem Könige schien es ein Frevel, so
vielen Segen leichtfertig auf das Spiel zu setzen. Wenn sein klarer
Verstand zuweilen sich fragte: wie es doch zuging, daß die vielen
kleinen Siege der rheinischen Feldzüge am Ende nur zu einer politischen
Niederlage geführt hatten? und ob die neue Zeit nicht neue Formen
fordere? -- dann traten ihm die alten Generale, die noch die Kränze der
fridericianischen Siege um die Stirn trugen, mit überlegener Sicherheit
entgegen, und scheu verbarg er seine guten Gedanken wieder im Busen.

An einem großen Mißgeschicke des Gemeinwesens ist niemand ganz
schuldlos, und auch die Königin war es nicht. Sie wußte wohl, warum
sie in den Tagen des Unglücks die rührende Klage: „Wer nie sein Brot
mit Tränen aß” in ihr Tagebuch schrieb und selbst den letzten herben
Vorwurf sich nicht ersparte: „Denn jede Schuld rächt sich auf Erden.”
Die unbewußte Selbstsucht des Glückes hatte auch ihr den Gesichtskreis
verengert, so daß sie von den sittlichen Schäden des sinkenden Staates
lange nichts ahnte. In der reinen Luft ihres befriedeten Hauses blieb
ihr verborgen, welche wüste, überfeinerte Unzucht ihr Wesen trieb in
diesem Berlin, das wenige Jahre später allen anderen deutschen Städten
mit opferfreudiger Vaterlandsliebe voranging; sie selbst wie ihr Gemahl
verkehrte leutselig und schlicht mit jedermann, doch im Heere und in
den höheren Ständen herrschte ein Ton geringschätzigen Übermutes gegen
die kleinen Leute, der alle Grundlagen des bürgerlichen Friedens zu
erschüttern drohte. Die Glückliche ahnte nicht, wie alles morsch ward
in dem Staate, wie das Auge des großen Königs zürnend auf die Erben
niederblickte.

Die Gräfin Voß hatte schon vor Jahren, da ihre Herrin um die Geburt
eines toten Kindes trauerte, feinfühlend erkannt, wie dieser Charakter
durch das Unglück gehoben wurde. Erst als das Verderben dem Staate
näher rückte, begann die Königin mit gespannten Blicken dem Gange der
Ereignisse zu folgen, und Friedrich Gentz erstaunte, sie so genau und
sicher unterrichtet zu finden. Seit der Besetzung Hannovers durch die
Franzosen lag die Schwäche der Monarchie vor aller Augen; nicht einmal
ihren Stolz, die Sicherheit des deutschen Nordens, hatte sie zu hüten
verstanden; seitdem ahnte die Königin, daß die Friedensliebe des Hofes
zur Feigheit wurde. Ihr ganzes Wesen wird freier und größer in diesen
sorgenvollen Jahren, auch ihr Geschmack edler und reiner: wenn sie
vordem an den tränenseligen Romanen des Modedichters Lafontaine sich
gern erbaute, so läßt sie jetzt nur noch das Echte und Tiefe gelten und
erhebt sich das Herz an Herder und Goethe, wie an Schillers mächtigem
Pathos.

Das heilige Reich brach zusammen, die Fürsten des Südens und Westens
traten als Vasallen unter Frankreichs Schutz. Da endlich wagte
König Friedrich Wilhelm allzuspät die Überlieferungen seines Oheims
wieder aufzunehmen und „die letzten Deutschen unter seinen Fahnen
zu sammeln”. Er versuchte, dem Rheinbunde einen norddeutschen Bund
entgegenzustellen; diese Rückkehr Preußens zu seiner alten deutschen
Politik führte den verhängnisvollen Krieg herbei. An einem Tage
stürzte der Waffenruhm des fridericianischen Heeres in Trümmer, und
es folgte jene Zeit der Schmach und Schande, die uns noch heute, so
oft und so glorreich gesühnt, in der Erinnerung empört. Die Königin
hat noch später die Vorstellungen eines französischen Unterhändlers
zurückgewiesen mit den Worten: „Die Frauen haben über Krieg und Frieden
nicht mitzusprechen.” Sie weilte fern im Bade zu Pyrmont, als in Berlin
der Krieg beschlossen wurde; aber „ich würde -- so gestand sie beim
Ausbruch des Kampfes an Gentz -- für den Krieg gestimmt haben, wenn
man mich gefragt hätte, weil die Ehre gebot, aus unserer zweideutigen
Haltung herauszutreten.” Mit sicherem Instinkt ahnte Napoleon die Kraft
des Widerstandes, die in diesem schwachen Weibe schlummerte; wie er
allezeit in den sittlichen Mächten des Völkerlebens die gefährlichsten
Feinde seines Weltreichs sah und die „Ideologen” mit seinem wildesten
Hasse verfolgte, so überhäufte er auch die fromme Frau auf dem
preußischen Throne mit den pöbelhaften Schimpfreden der Wachtstube; er
schildert sie in seinen Bulletins als die Kriegsfurie Preußens, als die
Armida, die im Wahnsinn ihr eigenes Schloß anzündet: =elle voulait du
sang=!

Die Königin bemerkte wohl die ratlose Verwirrung im Hauptquartiere,
und zu dem zaudernden Feldherrn, dem alten Herzog von Braunschweig,
wollte sie kein Vertrauen fassen. Einen so jähen Fall, wie er nun ihrer
Krone bereitet wurde, hatte sie doch nicht erwartet. Das glänzende
Bild von dem Staate Friedrichs des Großen, daran sie seit dreizehn
Jahren bewundernd geglaubt, lag plötzlich in Scherben vor ihren Füßen;
weinend erzählte sie ihren Söhnen auf der Flucht: „Der König hat sich
getäuscht in der Tüchtigkeit seiner Generale, seines Heeres.” Aber
mitten im Unglück erhebt sie sich zu jener Ansicht des Völkerlebens,
welche der mutigste Mann immer mit dem frömmsten Weibe teilen wird.
„Die Zeiten machen sich nicht selbst, die Menschen machen die Zeit” --
und wieder: „Es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten.” Das
ist die königliche Auffassung der Geschichte; der gesamte Staatsbau der
Monarchie ruht auf dem Gedanken, daß Personen die Geschichte machen.
In solchen Zeiten der höchsten Not darf die Stimme des natürlichen
Gefühles mitreden im Rate der Staatskunst; die Königin übte Frauenrecht
und Fürstenpflicht, wenn sie jetzt dem tiefgebeugten Gemahl tröstend
zur Seite stand und ihn bestärkte in dem Entschlusse, den ungleichen
Kampf fortzuführen bis zum Schwinden der letzten Hoffnung. Alle
Schrecken des Krieges brachen über die Unglückliche herein. Krank und
fiebernd flieht sie aus Königsberg vor dem Feinde, denn „lieber in die
Hände Gottes fallen, als in die Hände dieser Menschen”; da sie in einem
elenden Bauernhause auf der Kurischen Nehrung übernachtet, jagt der
Sturm die eisigen Flocken durch das zerbrochene Fenster über das Bett
der kranken Königin. In Memel, auf der letzten Scholle deutscher Erde,
die noch frei und preußisch war, fand sie ein bescheidenes Obdach.
Damals lernte sie unter strömenden Tränen das Wort verstehen: „Leid und
Elend sind Gottes Segen.”

Den Haß der Römerin hat das sanfte Herz der deutschen Frau nie gekannt;
nur ihre stolze Verachtung traf den großen Feind, der ihr der Held
der rohen Selbstsucht war, und niemals wollte sie glauben, daß Gottes
Weisheit diese Herrschaft der frechen Gewalt auf die Dauer zulassen
könne. Sie sah, wie der alte deutsche Heldenmut wieder lebendig ward
unter den tapferen Verteidigern von Kolberg, Graudenz und Danzig; ihre
tiefe Frömmigkeit und das gute Zutrauen zu ihrem Volke begegneten
sich in der Überzeugung, daß dieser Staat nicht untergehen könne:
„Der politische Glaube ist wie der religiöse, eine feste Zuversicht
dessen, was man hoffet, aber nicht siehet.” Vor diesen Briefen der
schmerzbeladenen, hoffnungsstarken Königin wird uns ein uraltes
Gefühl des Germanenherzens wieder lebendig: die fromme Scheu vor dem
Weibe: und wir verstehen, warum unsere Ahnen einst im Dickicht der
cheruskischen Wälder eine heilige und weissagende Macht, =sanctum
aliquid providumque=, an ihren Frauen ehrten. Der Mann geht auf in den
Kämpfen und Sorgen des Augenblicks; das sichere gesammelte Gefühl des
Weibes vermag in schweren Tagen klarer als er die Zeichen der Zeit zu
deuten, hinter dem Glanze des Siegers die hohle Nichtigkeit, unter der
Schmach des Besiegten die ungebrochene Kraft zu ahnen. Als der König
nach der Schlacht von Eylau, der ersten, die der Unbesiegte nicht
gewonnen, die lockenden Friedensvorschläge Napoleons zurückweist und
sich weigert, den russischen Bundesgenossen zu verlassen, da schreibt
seine Gemahlin einfältig wie ein gläubiges Kind: „Das wird Preußen
einst Segen bringen!” So einfach, wie sie wähnte, sind Lohn und Strafe
im Leben der Völker nicht verteilt; gleichwohl bleibt dem frommen Worte
seine Wahrheit: ohne den Sinn altpreußischer Ehre, den der König bei
jener schweren Versuchung bewahrte, hätte der Staat sich nie wieder
erhoben. Was die Preußen empfanden, da sie also den heldenhaften Sinn
ihrer schönen Königin kennen lernten, das wissen wir aus den Versen
Heinrich von Kleists:

    Denn eine Glorie in jenen Nächten
    Umglänzte deine Stirn, von der die Welt
    Am lichten Tag der Freude nichts geahnt.
    Wir sah'n dich Anmut endlos niederregnen;
    Daß du so groß als schön warst, war uns fremd.

Noch eine letzte, schmähliche Demütigung stand der mißhandelten Frau
bevor. Zar Alexander gab seinen treuen Bundesgenossen preis und schloß
den Tilsiter Frieden; aus Rücksicht auf den neugewonnenen russischen
Freund verstand sich Napoleon dazu, die Vernichtung Preußens, die
längst beschlossene Sache war, aufzuschieben und dem Könige die
Hälfte der Monarchie zurückzugeben. Da ersann die frevelhafte Torheit
feigherziger Ratgeber den Vorschlag: die unvergeßlich beleidigte
Königin solle selber den Sieger um mildere Bedingungen bitten. Auch
dies Äußerste nahm sie auf sich, in der frauenhaften Hoffnung, es
könne ihr vielleicht doch gelingen, das Herz des Eroberers zu rühren
und ihrem Volke einige Erleichterung zu bringen. Die Hoffnung trog.
Mit rohem Spotte schrieb Napoleon an seine Josephine: „Es hätte mir zu
viel gekostet, den Galanten zu spielen”; und an Clarke: „Sie begreifen,
daß der König von Preußen sehr unzufrieden ist, da er sein Bollwerk,
Magdeburg, in meinen Händen lassen muß.”

In der entlegensten Provinz des verstümmelten und ausgesogenen
Staates verbrachte nun der Hof zwei schwere Jahre. Man zeigt noch
in dem alten Ordensschlosse zu Königsberg das bescheidene Eckzimmer
mit dem dunklen Alkoven daneben, wo die Königin wohnte: ein kleiner
Schreibtisch, ein mehr als einfaches Klavier; von der Wand blickt
das Bildnis Scharnhorsts mit großen, tiefen Augen hernieder. Welche
Zeiten! Ringsum auf Schritt und Tritt die Erinnerungen an Preußens
Macht und Glück: von jenem Fenster da hatte Luise vor zehn Jahren den
Jubel des Huldigungsfestes mit angehört; hier vor diesem Tore steht das
Schlütersche Standbild des ersten Königs, von ihrem Gemahl einst „dem
edlen Volke der Preußen gewidmet”; dort im Vorzimmer der Ofenschirm
stammt noch aus den Hohenfriedberger Tagen, da der große König wie ein
junger Gott von Sieg zu Sieg stürmte, irgendeine übermütige kleine
Prinzessin hat zierlich die Inschrift darauf gestickt: =pour nous
point d'Alexandre, le mien l'emporte!= Und daneben diese jammervolle
Gegenwart! Der Staat, ausgestoßen aus dem Kreise der großen Mächte,
mitten im Frieden von feindlichen Truppen überschwemmt, verspottet
und geschmäht von seinen Landsleuten. Die deutsche Nation fand kein
Wort des Mitleids, nur Hohn und Schadenfreude für die Besiegten.
In Preußen aber lebte noch die alte Treue. Fürst und Volk traten
einander näher, wie im verwaisten Hause die Überlebenden sich inniger
zusammenschließen; der ärmliche Hofhalt zu Königsberg und Memel empfing
von allen Seiten rührende Beweise der Teilnahme, der König lud seine
getreuen Stände als Paten zur Taufe der jüngsten Prinzessin. Dies
stolze und trotzige Ostpreußen, das Stiefkind Friedrichs des Großen,
schloß in Not und Trübsal, ohne viele Worte, den Herzensbund mit seinem
Herrschergeschlechte, der im Frühjahr 1813 seine Kraft bewähren sollte.

Die schwere Natur Friedrich Wilhelms verwand nur langsam die Schläge
des Unglücks; er glaubte oft, daß ihm nichts gelinge, daß er für jedes
Unheil geboren sei. Da er nun einmal mit der Königin die Gräber der
preußischen Herzöge im Chore des Doms zu Königsberg besuchte, fiel
sein Blick auf die Grabschrift: „Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung
zu Gott.” „Wie entsprechend meinem Zustande!” rief er erschüttert und
wählte sich das ernste Wort zum Wahlspruch für sein eigenes Leben. Nur
das Pflichtgefühl hielt ihn aufrecht unter der Bürde seines schweren
Amtes. Er begann mit Scharnhorst die Herstellung des zerrütteten Heeres
und berief den Freiherrn vom Stein für den Neubau der Verwaltung. Mit
herzlichem Vertrauen begrüßte die Königin den Mann „großen Herzens,
umfassenden Geistes: Stein kommt, und mit ihm geht mir wieder etwas
Licht auf”. Sie war mit ihm und ihrem Gemahl einig in dem Gedanken,
daß es gelte, alle sittlichen Kräfte des erschlafften Staates zu
beleben; fast wörtlich übereinstimmend mit den allbekannten Worten,
die der König seiner Berliner Hochschule in die Wiege band, schrieb
sie einmal: „Wir hoffen den Verlust an Macht durch Gewinn an Tugend
reichlich zu ersetzen.”

Die Acht Napoleons trieb den stolzen Reichsfreiherrn aus dem Lande,
gerade in dem Augenblicke, da ein neuer Krieg des Imperators gegen
Österreich sich vorbereitete und die Königin auf eine Erhebung
des gesamten Deutschlands hoffte. Sie besaß nach Frauenart wenig
Verständnis für die mächtigen Interessen, welche trennend zwischen den
beiden Großmächten des alten Reiches standen, und sah in Österreich
schlechtweg den stammverwandten Genossen. Mit der Mahnung, unsere
leidenden österreichischen Brüder dereinst zu rächen, hatte sie
vor Jahren ihren ältesten Sohn begrüßt, da er zum ersten Male den
Offiziersrock trug. Vor wie nach dem Kriege bekannte sie: „Meine
Hoffnung ruht auf der Verbindung alles dessen, was den deutschen Namen
trägt” -- während der König, die militärische Lage richtiger schätzend,
nicht ohne Rußlands Beistand den neuen Kampf wagen wollte. Jetzt aber
fochten die Russen auf Frankreichs Seite; die Absichten des Wiener
Hofes, der die Schlacht von Jena mit kaum verhohlener Schadenfreude
begrüßt hatte, blieben in verdächtigem Dunkel. Das unfähige Kabinett,
das die Erbschaft Steins angetreten, fand in der schwierigen Lage
keinen festen Entschluß; Österreich unterlag, und die kriegerische
Begeisterung des deutschen Nordens verrauchte in einigen kecken
Parteigängerzügen. Die Königin aber schrieb verzweifelnd: „Österreich
singt sein Schwanenlied, und dann ade, Germania!”

Zwei Tage der Hoffnung waren ihr noch beschieden am Abend ihres kurzen
Lebens. Sie kehrt zurück in ihr geliebtes Berlin, und als sie durch
das Königstor einzog in dem neuen Wagen, den ihr die verarmte Stadt
verehrt, nahebei der König zu Roß und die beiden ältesten Söhne im Zuge
ihres Regiments, da begrüßten die dichtgedrängten Massen den Hof wie
die Truppen mit herzlichem Willkommruf; Preußens Volk und Heer, die
einander so bitter gescholten und angeklagt, feierten ihre Versöhnung,
um fortan einig zu bleiben für alle Zukunft. Bald nachher, wenige Tage
bevor die Königin ihre letzte Reise antrat, entließ Friedrich Wilhelm
das Ministerium Altenstein; er verwarf die Abtretung von Schlesien, die
ihm seine kleinmütigen Räte zumuteten, und berief Hardenberg an die
Spitze der Geschäfte. Mit dem neuen Staatskanzler kam frisches Leben in
die Verwaltung; er führte das Werk der Reformen des Freiherrn vom Stein
kühn und besonnen weiter und bereitete durch ein viel verkanntes kluges
diplomatisches Spiel die große Erhebung vor, während Scharnhorst die
Waffen schärfte für den Tag der Befreiung. Diesen Tag zu erleben hatte
Luise nie gehofft. Ihr zarter Körper erlag dem verzehrenden Kummer.
In ihrer Heimat, in den Armen des Gatten ist sie den Tod der Christin
gestorben. Die letzten Zeilen ihrer Feder lauteten: „Ich bin heute so
glücklich, liebster Vater, als Ihre Tochter und als die Frau des Besten
der Männer.” Das gesamte Volk trauerte mit dem Witwer; doch auf dem
Leben des schwergeprüften Fürsten blieb ein dunkler Schatten; niemals,
auch nicht in den Tagen der leuchtenden Siege, hat er das starke,
schwellende Gefühl des Glückes wiedergefunden.

Ohne jede Ahnung des eigenen Wertes, wie sie immer war, hat die Königin
einst selber ausgesprochen, was sie von dem Urteil der Geschichte
erwartete: „Die Nachwelt wird mich nicht zu den berühmten Frauen
zählen; aber möge sie von mir sagen: sie duldete viel, sie harrte aus
im Dulden und sie gab Kindern das Dasein, welche besserer Zeiten würdig
waren, sie herbeizuführen gestrebt und endlich sie errungen haben.”
Wie über alles menschliche Hoffen hinaus ist diese demütig-stolze
Erwartung in Erfüllung gegangen! Die historische Wissenschaft führt
ihre denkenden Jünger zurück zu dem schlichten Glauben, daß der Eltern
Segen den Kindern Häuser baut; denn sie lehrt, wie die Vergangenheit
fortwirkt mitten in der lärmenden Gegenwart, und das Leben des Menschen
nicht abschließt mit dem letzten Atemzuge. Nur wenigen Glücklichen
ist ein so reiches Leben nach dem Tode beschieden gewesen, wie dieser
deutschen Königin. Die Hoffnung besserer Zeiten war in der Tat, wie
Schleiermachers Trauerpredigt sagte, ihr köstlichstes Vermächtnis. Wer
noch deutschen Stolz im Herzen trug, gedachte ihres Ausspruchs: „Wir
gehen unter mit Ehren, geachtet von Nationen, und werden ewig Freunde
haben, weil wir sie verdienen.” Der alte Blücher meinte grimmig, da
er die Nachricht ihres Todes empfing: „Wenn die Welt in die Luft
flöge, mir wär' es recht.” Als endlich die Stunde der Erhebung schlug,
da stiftete der König an Luisens Geburtstage den Orden des Eisernen
Kreuzes, als ob er ihren Schutz anrufen wollte für den heiligen Krieg.
Wer weiß es nicht aus den Liedern Theodor Körners, wie das Verlangen,
die zu Tode gequälte Königin an dem ungroßmütigen Sieger zu rächen, die
tapfere Jugend des Befreiungskrieges entflammte? Wer spürte nicht in
dem gottesfürchtigen, menschenfreundlichen Sinne jener Heldenscharen
einen Hauch von dem Geiste der Verklärten? Da der Friede kam, zogen
jahraus jahrein Tausende zu dem stillen Tempel in Charlottenburg, und
wahrlich nicht bloß um das Werk des Künstlers zu bewundern, dem die
Tote einst selber den Weg zu großem Schaffen ebnete, sondern um sich
das Herz zu erquicken an dem Anblick eines geliebten Menschenbildes.
Die beiden gewaltigen Könige unseres achtzehnten Jahrhunderts wurden
geehrt und gefürchtet, wenig geliebt. Mit dem Hause der Königin
Luise lebte und litt das Land; seitdem erst entstand zwischen den
Hohenzollern und ihrem Volke jenes einfach menschliche Verständnis, das
die Leidenschaften der Parteien nie zerstören konnten.

Wenn ich die Stimmung recht verstehe, welche an dem Gedenktage der
Königin über unserer Stadt und über diesem Saale liegt, so ist uns
allen zumute, als ob wir heute die ruhevolle Hoheit der lieblichen
Gestalt mit eigenen Augen erblickt hätten. Zeiten des Glückes sind
stark im Vergessen; diese Tote aber ward ihrem Volke nach jedem neuen
Siege lieber und vertrauter. Die Mutter schrieb ihr klagendes: Ade
Germania! Ihrem Sohne beschied ein wundervolles Geschick, den Morgen
eines langersehnten neuen Tages über sein Volk heraufzuführen, mit
seinem guten Schwerte die Herrlichkeit des Deutschen Reiches wieder
aufzurichten. An dem Grabe seiner Eltern -- wir alle erlebten es ja
mit tief erschüttertem Herzen -- hat der Sohn sich Mut und Kraft
gesucht für die Schlachten des großen Krieges, für den steilen Weg zur
kaiserlichen Krone.

Fern sei es von uns, heute einen verjährten Haß gewaltsam zu beleben,
der seinen Sinn verloren hat, seit Frankreich längst die Buße seiner
Schuld gezahlt, oder dies und jenes Wort der Königin leichtfertig
auszubeuten für die Parteizwecke der Gegenwart. Wir werden das
Andenken der Mutter unseres Kaisers dann am würdigsten ehren, wenn
wir auch in den Tagen der Siege die Demut des Herzens und die stolze
Geringschätzung der endlichen Güter des Lebens uns erhalten, wenn wir
in diesem männischen Jahrhundert, unter den Hammerschlägen hastiger
Arbeit und dem Lärmen der politischen Kämpfe die alte deutsche
ritterliche Ehrfurcht vor Frauensitte und Frauenanmut uns bewahren, vor
jenen menschlichen Tugenden, welche dem Ruhm und der Macht der Völker
allein die Gewähr der Dauer geben.



Stein



Stein.


Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein wurde den 26.
Oktober 1757 zu Nassau an der Lahn „von sehr achtungswerten Eltern
geboren und -- so erzählt er selbst -- unter dem Einflusse ihres
religiösen, echt deutschritterlichen Beispiels auf dem Lande erzogen;
die Ideen von Frömmigkeit, Vaterlandsliebe, Standes- und Familienehre,
Pflicht das Leben zu gemeinnützigen Zwecken zu verwenden und die
hierzu erforderliche Tüchtigkeit durch Fleiß und Anstrengung zu
erwerben, wurden durch ihr Beispiel und Lehre tief meinem jungen
Gemüte eingeprägt”. Er lernte, nach aristokratischer Weise, sich der
Gewalt des Hauses zu beugen; ein Beschluß der Eltern bestimmte ihn,
den jüngsten Sohn, zum alleinigen Erben und Stammhalter des uralten,
reichsfreien Geschlechts. Die Welt des Schönen ergriff ihn weniger
mächtig als die meisten Söhne seines Jahrhunderts. Sein kräftiger,
auf das Wirkliche gerichteter Geist versenkte sich früh in die
historischen Dinge. Er sah in der Geschichte nicht bloß eine Fundgrube
politischer Erkenntnis, sondern vornehmlich eine Schule des sittlichen
Ernstes und jener strengen, tief religiösen Frömmigkeit, die er sich
in den Tagen der Aufklärung unwandelbar bewahrte. Als die sittlichen
Vorbilder seines Lebens nennt er selbst seine Mutter (eine Langwerth
von Simmern) und den Minister v. Heynitz. Er besuchte Göttingen,
Wetzlar, Regensburg, Wien, um sich, nach dem Wunsche der Eltern, auf
eine Laufbahn an den Reichsgerichten vorzubereiten. Mit Vorliebe trieb
er während diesen akademischen Jahren das Studium der englischen
Geschichte und Politik; Adam Smiths Werke wurden bestimmend für seine
politische Bildung. In Brandes und Rehberg fand er gleichgesinnte
Freunde, Männer, ergriffen von den Ideen des philosophischen
Jahrhunderts, doch zugleich auf das historisch Gewordene mit einer
andächtigen Ehrfurcht schauend, welche den meisten Zeitgenossen
abging. Der sittliche Ernst, der kräftige realistische Sinn des jungen
Mannes fand keine Freude an dem unwahren, verrotteten Treiben des
Reichsgerichts. Ein Bewunderer Friedrichs des Großen und eifriger
Protestant, entschloß er sich im Jahre 1780, weit abweichend von den
Gewohnheiten des Reichsadels und seines eigenen Hauses, in preußische
Dienste zu treten.

Er fand zunächst Anstellung im Bergdepartement unter dem Minister
v. Heynitz, dem Schöpfer des preußischen Staatsbergwesens. „Verließ
ich es gleich im Jahre 1793, berichtet er, so hatte doch das Leben
in einem auf die Natur und den Menschen sich beziehenden, die
körperlichen Kräfte zugleich entwickelnden Geschäfte den Nutzen, den
Körper zu stählen, den praktischen Geschäftssinn zu beleben und das
Nichtige des toten Buchstabens und der Papiertätigkeit kennen zu
lehren.” Er ehrte die harte Zucht, die angestrengte Arbeitsamkeit des
altpreußischen Beamtentums, aber er erkannte schon jetzt die unseligen
Folgen bureaukratischer Bevormundung. In solcher Ansicht begegnete er
sich mit den Ideen einer aufkommenden jüngeren Schule innerhalb des
preußischen Beamtentums, mit Männern wie Kraus und v. Schrötter, welche
nach Englands Vorbild von dem freien Spiele der sozialen Kräfte die
Stärke des Staates erwarteten. Wider Willen ward er einmal aus der
Verwaltungstätigkeit herausgerissen, als er (1785) den Auftrag erhielt,
den Kurfürsten von Mainz für den Fürstenbund Friedrichs des Großen
zu gewinnen. Er vollzog die Sendung mit Glück und erbat rasch seine
Zurückberufung; das Gewirr kaiserlicher und preußischer, französischer
und russischer Intrigen an dem geistlichen Hofe hatte ihm jenen tiefen
Widerwillen gegen die Diplomatie eingeflößt, den er zeitlebens nicht
überwinden konnte. Zurückgekehrt von einer längeren technologischen
Reise durch England, begann er im Jahre 1787 sein siebzehnjähriges
großartiges Wirken in der westfälisch-niederrheinischen Verwaltung,
zuerst als Kammerdirektor und Kammerpräsident in Kleve und Hamm, seit
1796 als Oberpräsident in Hamm, später in dem neuerworbenen Münster.
Das Land dankte ihm die Anfänge moderner Verkehrsmittel; er ließ
die Ruhr schiffbar machen und die Straßenverbindung zwischen Rhein
und Weser vollenden. Trotz seiner herrisch durchgreifenden, rastlos
anfeuernden Weise verstand er die Selbsttätigkeit des Volkes zu fördern
in diesem Lande, das von allen Provinzen Preußens sich allein eine
freie Gemeindeverfassung bewahrt hatte. Mit Zuziehung der Stände führte
er ein verbessertes Steuerwesen und vollständige Gewerbefreiheit auf
dem flachen Lande ein und bereitete die Aufhebung der Feudallasten
vor. Die Bewohner lohnten ihm durch Verehrung und Anhänglichkeit,
sie grüßten ihn als den Wohltäter des Landes, einen andern Adolf von
Böhmen. Er selbst lernte Westfalen als seine zweite Heimat lieben und
erfüllte sich mit dem Stolze eines preußischen Patrioten, daher er auch
eine Ministerstelle in Hannover von der Hand wies.

Die aufstrebenden Köpfe in den einflußreichen Kreisen Preußens schauten
längst auf den stolzen Reichsfreiherrn als auf eine Säule des Staates.
Im nichtpreußischen Deutschland ward sein Name zum ersten Male im Jahre
1804 genannt. Er hatte die Revolutionskriege am Rhein in der Nähe
beobachtet, der Einnahme Frankfurts durch die Hessen und Preußen selber
beigewohnt und die Überzeugung gewonnen, die er später der Kaiserin von
Rußland vor versammeltem Hofe aussprach, daß nicht die Nation, sondern
die Nichtigkeit ihrer Fürsten das ungeheure Unglück verschuldete. Nun
sollten die Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses sein eigenes
Haus treffen. Der Herzog von Nassau unterwarf die Güter des Steinschen
Hauses eigenmächtig seiner Landeshoheit. Stein verwahrte sein Recht in
einem Briefe vom 10. Januar 1804 und verkündete darin die Ideen einer
hochsinnigen Vaterlandsliebe, die von den Zeitgenossen kaum begriffen
ward. „Deutschlands Unabhängigkeit und Selbständigkeit wird durch die
Konsolidation der wenigen reichsritterschaftlichen Besitzungen mit
denen sie umgebenden kleinen Territorien wenig gewinnen; sollen diese
für die Nation so wohltätigen großen Zwecke erreicht werden, so müssen
diese kleinen Staaten mit den beiden großen Monarchien, von deren
Existenz die Fortdauer des deutschen Namens abhängt, vereinigt werden,
und die Vorsehung gebe, daß ich dieses glückliche Ereignis erlebe....
Es ist noch härter, alle diese Opfer nicht irgendeinem großen, edlen,
das Wohl des Ganzen fördernden Zweck zu bringen, sondern um der
gesetzlosen Übermacht zu entgehen, um -- doch es gibt ein richtendes
Gewissen und eine strafende Gottheit.”

In demselben Jahre ernannte ihn der König zum Minister für das
Departement der indirekten Abgaben. Ein Fachminister, ohne Einfluß auf
die große Politik, konnte Stein den unseligen Gang der Haugwitzschen
Staatskunst nicht hindern. In seinem Ressort bewirkte er die Aufhebung
der Binnen- und Provinzialzölle, er vereinfachte den Geschäftsgang,
ließ zum ersten Male statistische Tabellen für den ganzen Staat
zusammenstellen, berief Niebuhr zur Reorganisation der preußischen
Bank. Er beschaffte die Geldmittel, womit der Krieg von 1806 geführt
wurde, stellte dringend vor, daß der Kredit des Staates sich nur
durch eine kraftvolle auswärtige Politik aufrechterhalten lasse, und
beschwor den König, im Verein mit mehreren Prinzen und Generälen, das
geheime Kabinett und den Minister Haugwitz zu entlassen. Die Anmaßung
ward hart gerügt, die Katastrophe von Jena folgte. Stein rettete die
Staatsgelder nach Königsberg und bewog den Hof zur Fortsetzung des
Kriegs. Jetzt endlich entschloß sich der König, einige seiner Räte zu
entlassen. Stein aber verlangte auch die Entfernung des Kabinettsrates
Beyme, bevor er sich entschließen könne, die Leitung der Geschäfte zu
übernehmen. Darauf empfing er den berufenen „unbegreiflichen Brief”;
der König nannte ihn „einen exzentrischen und genialischen Mann, der
nur durch Kapricen geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Haß
und Erbitterung handelt”. Sofort nahm Stein seinen Abschied (März 1807)
und kehrte nach Nassau zurück. Inzwischen wurde der Friede von Tilsit
geschlossen, Napoleon bestand auf Hardenbergs Entfernung und dieser
schlug Stein als einen =homme d'esprit= dem Könige vor, um mit seiner
Hilfe den Neubau des zertrümmerten Staates zu beginnen.

Stein erhielt die Aufforderung zur Rückkehr auf dem Krankenlager. Er
nahm an, das Fieber verließ ihn, nach wenigen Tagen reiste er nach
Memel ab (September 1807). Der König empfing ihn tiefgebeugt und
legte vertrauensvoll die Leitung des gesamten Staatswesens in die
Hände des Ministers, dessen Wirken nicht mehr durch die Ränke eines
geheimen Kabinetts durchkreuzt wurde. „Man ging”, sagte Stein, „von der
Hauptidee aus, einen sittlichen, religiösen, vaterländischen Geist in
der Nation zu heben, ihr wieder Mut, Selbstvertrauen, Bereitwilligkeit
zu jedem Opfer für Unabhängigkeit von Fremden und für Nationalehre
einzuflößen und die erste günstige Gelegenheit zu ergreifen, den
blutigen, wagnisvollen Kampf für beides zu beginnen.” Die Ursachen
des tiefen Falles und die Mittel der Wiedererhebung schildert eine
Denkschrift Steins vom Oktober 1807, die man als das Programm des neuen
Regimentes betrachten kann, also: „Das zudringliche Eingreifen der
Staatsbehörden in Privat- und Gemeindeangelegenheiten muß aufhören,
und dessen Stelle nimmt die Tätigkeit des Bürgers ein, der nicht
in Formen und Papier lebt, sondern kräftig handelt, weil ihn seine
Verhältnisse in das wirkliche Leben hineinrufen und zur Teilnahme an
dem Gewirre der menschlichen Angelegenheiten nötigen... Hat eine
Nation sich über den Zustand der Sinnlichkeit erhoben, hat sie sich
eine bedeutende Masse von Kenntnissen erworben, genießt sie einen
mäßigen Grad von Denkfreiheit, so richtet sie ihre Aufmerksamkeit
auf ihre eigenen National- und Kommunalangelegenheiten. Räumt man
ihr nun eine Teilnahme daran ein, so zeigen sich die wohltätigsten
Äußerungen der Vaterlandsliebe und des Gemeingeistes; verweigert man
ihr alles Mitwirken, so entsteht Mißmut und Unwille, der entweder
auf mannigfaltige schädliche Art ausbricht oder durch gewaltsame den
Geist lähmende Maßregeln unterdrückt werden muß. Die arbeitenden und
die mittleren Stände der bürgerlichen Gesellschaft werden alsdann
verunedelt, indem ihre Tätigkeit ausschließlich auf Erwerb und Genuß
geleitet wird, die oberen Stände sinken in der öffentlichen Achtung
durch Genußliebe und Müßiggang oder wirken nachteilig durch wilden,
unverständigen Tadel der Regierung. Die spekulativen Wissenschaften
erhalten einen usurpierten Wert, das Gemeinnützige wird vernachlässigt
und das Sonderbare, Unverständliche zieht die Aufmerksamkeit des
menschlichen Geistes an sich, der sich einem müßigen Hinbrüten
überläßt, statt zu einem kräftigen Handeln zu schreiten.”

Diese Gedanken stehen in einem schneidenden Widerspruche zu dem Geiste
allfürsorgender Staatsgewalt, der in dem Staate Friedrichs des Großen
vorherrschte, sie wollen allerdings die Revolution mit ihren eigenen
Waffen bekämpfen, doch sie enthalten in sich nur den kleinsten, den
probehaltigen Teil der sogenannten Ideen von 89. Niemand hat den
radikalen Bruch mit der Geschichte, den die Revolution vollzogen hatte,
leidenschaftlicher bekämpft als Stein. „Eine Verfassung bilden”,
schrieb er später an den Großherzog von Baden, „heißt in einem alten
Volke, wie das deutsche, nicht sie aus nichts erschaffen, sondern
den vorhandenen Zustand untersuchen, um eine Regel aufzufinden, die
ihn ordnet; und allein dadurch, daß man das Gegenwärtige aus dem
Vergangenen entwickelt, kann man ihm eine Dauer für die Zukunft
sichern.” Niemand durchschaute schärfer die Leerheit jener politischen
Formen, worin das neue Frankreich das Wesen der Freiheit suchte:
„In Frankreich ist die Nation nur zum Schein zur Teilnahme an den
öffentlichen Angelegenheiten zugelassen, ihr gesetzgebender Körper ist
nur eine der registrierenden Verwaltungsbehörden, das Maschinenwesen
ihrer Bureaukratie ist zusammengesetzt, kostbar, in alles eingreifend
und wird von dem ungebundenen rücksichtslosen Willen eines einzelnen
geleitet.” Er wollte den Neubau des Staates von unten beginnen, der
freie Staat sollte getragen werden von der freien Tätigkeit des
Bürgers. Mit Stolz dürfen wir diese konservativ-liberale Politik
als eine nationale der nivellierenden Staatskunst der Romanen
gegenüberstellen. Zur Durchführung dieser Reformen fand Stein
treffliche Gehilfen in Schön, Schrötter, Niebuhr, Vincke, Stägemann,
während er gleichzeitig alle Mittel aufbot, die Kontributionen an
Frankreich abzuzahlen.

Zunächst vollzog der Minister in den anspruchslosesten Formen eine
tiefgreifende soziale Revolution. Ein uraltes Leiden unseres Nordens,
die Unfreiheit des Landmanns, ward beseitigt, die Emanzipation des
vierten Standes bewirkt durch das Edikt vom 9. Oktober 1807 über
„den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums
sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbevölkerung”, welches die
Gebundenheit der bäuerlichen Grundstücke größtenteils beseitigte und
vor allem jedem, ohne Unterschied des Standes, den Erwerb aller Art
von Grundeigentum freistellte. Die persönliche Leibeigenschaft und der
Gesindezwang ward aufgehoben. Der Edelmann sollte fortan das Recht
haben, ein Bauer zu werden und bürgerliche Gewerbe zu treiben -- ein
Recht, das zugleich als Ersatz galt für die bisherige Bevorzugung
des Adels im Heere. Dergestalt war die scharfe Scheidung der Stände,
welche eine der Grundlagen des friderizianischen Staates bildete, mit
einem Schlage zerstört; denn, Aristokrat von Grund aus und ernstlich
gewillt, dem lebensfähigen Teile der Aristokratie eine einflußreiche
Stellung im Staate nach englischem Muster zu sichern, verachtete Stein
die Begehrlichkeit und die kastenmäßige Absperrung des niederen Adels.
„Der Adel in Preußen”, schrieb er damals, „ist der Nation lästig, weil
er zahlreich, größtenteils arm und anspruchsvoll auf Gehälter, Ämter,
Privilegien und Vorzüge jeder Art ist.” Die Kühnheit des Edikts vom 9.
Oktober erhellt am klarsten aus dem Widerspruche Gneisenaus, der von
dem Gesetze die schwerste Beeinträchtigung des großen Grundbesitzes
erwartete. Es folgten die Edikte vom 28. Oktober 1807 und vom 27. Juli
1808, welche die Erbuntertänigkeit auf den Domänen aufhoben und den
Domänenbauern in Altpreußen das freie Eigentum ihrer Höfe gaben. Die
großen Grundbesitzer wurden erleichtert durch ein Generalindult -- eine
höchst gewagte Maßregel, die, mit Schonung und Umsicht gehandhabt, in
der Bedrängnis jener Zeit sich vortrefflich bewährte. Ein Edikt vom
24. Oktober 1808 gab den Verkehr mit den Lebensmitteln frei, hob den
Zunftzwang für Bäcker, Schlächter und Höker auf. Diese Gesetze bildeten
den Ausgangspunkt für die neue Agrargesetzgebung in Preußen, obwohl
Stein selbst sich sehr hart und mißbilligend äußerte über die verwegene
Fortbildung, welche seine Werke durch Hardenberg erlitten. Sie beruhten
auf der selbständigen, eigentümlichen Anwendung von Grundsätzen, welche
in Frankreich und dessen Vasallenstaaten sich bereits verwirklicht
hatten.

Eine durchaus schöpferische Tat, ohne jedes Vorbild in Europa, war
dagegen die Städteordnung vom 19. November 1808, die ihrem Urheber
den schönen Nachruf verdiente, er sei mit besserem Rechte als König
Heinrich der Städtegründer der Deutschen zu nennen. In den Städten
von Kleve und Mark hatte Stein die Überreste alter Kommunalfreiheit
achten gelernt. Das neue Gesetz gab den Städten die Verwaltung der
Finanzen und der Polizei, den Bürgern die Wahl der Magistrate und
Stadtverordneten. Es wurde die Grundlage alles dessen, was seitdem in
Deutschland für eine Selbstverwaltung im deutschen Sinne geschehen;
selbst in England ist es, mit wenig Glück, nachgebildet worden. Ja,
wenn wir den unreifen, zweifelhaften Zustand unserer parlamentarischen
Institutionen betrachten, so erscheint leider die Behauptung
gerechtfertigt, daß die an Steins Ideen anknüpfenden Gemeindegesetze
bis zur Stunde den bewährtesten, bestgesicherten Teil deutscher
Volksfreiheit bilden. Dies Gesetz war ein erster entscheidender Schlag
gegen die Bureaukratie, deren Alleinherrschaft Stein bis an sein Ende
mit unversöhnlichem Hasse bekämpfte. „Unser Unglück ist,” schreibt
er im Alter, „daß wir von besoldeten, buchgelehrten, interesselosen,
eigentumslosen Buralisten regiert werden. Das geht so lange es geht.
Diese vier Worte: besoldet, buchgelehrt, interesselos, eigentumslos --
enthalten den Geist unserer geistlosen Regierungsmaschine. Es regne
oder scheine die Sonne, die Abgaben steigen oder fallen, man zerstöre
alte hergebrachte Rechte oder lasse sie bestehen, man theoretisiere
alle Bauern zu Tagelöhnern und substituiere an die Stelle der Hörigkeit
an den Gutsherrn die Hörigkeit an den Juden und Wucherer -- alles das
kümmert sie nicht. Sie erheben ihren Gehalt aus der Staatskasse und
schreiben, schreiben, schreiben im stillen, mit wohlverschlossenen
Türen versehenen Bureau und ziehen ihre Kinder wieder zu gleich
brauchbaren Schreibmaschinen an.”

Des Ministers Absicht ging auf eine umfassende Neugestaltung des
Staates, und das von Schön verfaßte Rundschreiben vom 24. November
1808, bekannt unter dem Namen „Steins politisches Testament”, sowie
die niemals vollzogene, von demselben Tage datierte Verordnung
„über die veränderte Verfassung der obersten Verwaltungsbehörden”
zeigen deutlich, in welchem großen Sinne die Reform gemeint war. Das
Nebeneinander von Fachministerien und Provinzialdepartements war
erträglich gewesen, solange Fürsten von so riesiger Arbeitskraft wie
Friedrich Wilhelm =I.= und Friedrich =II.= den lebendigen Mittelpunkt
des Staates bildeten. An der Verwaltungsorganisation des ersten Konsuls
lernte Stein die Notwendigkeit einer übersichtlichen Einteilung der
Staatsgeschäfte, wie er aus den Debatten der Nationalversammlung
lernte, daß der moderne Staat eine Hauptstaatskasse als den Mittelpunkt
des Kassenwesens erheische. Ein Kabinett von fünf Fachministern
sollte fortan an der Spitze der Verwaltung stehen, in Sachen der
Gesetzgebung aber nur eine Abteilung der höchsten monarchischen
Behörde, des Staatsrats, bilden, der alle hervorragenden Kräfte des
Staatsdienstes in sich zu vereinigen hätte. Der Plan war nichts
anderes als eine Rückkehr zu den alten Traditionen der preußischen und
jeder anderen großen Monarchie des Weltteils. Die alte Dienstordnung,
welche dem Verwaltungsbeamten das Recht der Unabsetzbarkeit, den
Regierungskollegien die Stellung von Gerichtshöfen für das öffentliche
Recht gab, war unhaltbar, seit die Städte Selbständigkeit erlangt
hatten; Stein verlangte Absetzbarkeit der Verwaltungsbeamten. Eine
allgemeine Einkommens- und Vermögenssteuer, ohne Ansehen des
Standes, sollte dieser kraftvollen Regierung reiche Mittel zur
Verfügung stellen. Alle Regierung und Gerichtsbarkeit sollte von
der höchsten Gewalt ausgehen, daher Abschaffung der Gutspolizei und
der Patrimonialgerichte, das will sagen: eine neue Gemeindeordnung
für das flache Land. Das Edikt vom 9. Oktober, von seinem Urheber
die =Habeas-corpus=-Akte Preußens genannt, muß gesichert werden
durch die Abschaffung der Fronden und eine neue Gesindeordnung.
Reform des Adels, dergestalt, daß er sich nach englischer Weise
durch die tüchtigsten Elemente aus dem Volke immer neu ergänze.
Kräftigung des religiösen Lebens und des Volksunterrichts (eben jetzt
geschehen die ersten Einleitungen für die Gründung der Berliner
Hochschule), Reform des Heerwesens in dem Geiste, der die neue
Militärreorganisations-Kommission (Scharnhorst, Gneisenau, Grolman)
beseelte und aus Blüchers militärischem Glaubensbekenntnisse sprach:
„Es ist vor einer Nationalarmee zu sorgen, niemand in der Welt muß
eximiert sein”. Neben den Provinzialbehörden Landstände. Zuletzt nach
Vollendung dieses Unterbaues Reichsstände, zwar wesentlich auf dem
Grundbesitze ruhend, aber mit dem Rechte der Steuerbewilligung und der
Mitwirkung bei der Gesetzgebung, „denn auf diesem Wege allein kann der
Nationalgeist positiv erweckt und belebt werden”.

Ein Gewaltstreich Napoleons machte diesen Plänen ein Ende, welche,
vollständig verwirklicht, unserem Vaterlande ein Menschenalter
tastender politischer Versuche ersparen konnten. Mitten in der Arbeit
der inneren Reform ging alles Dichten und Trachten des Ministers auf
die Abschüttelung des fremden Jochs, und wenn die neuen Agrargesetze
die Anhänger v. d. Marwitz' unter dem brandenburgischen Landadel
erbitterten und einen York zu Flüchen wider das Nattergezücht der
preußischen Jakobiner hinriß, so erregte Steins Entschluß, den Kampf
mit dem Eroberer zu wagen, Entsetzen unter der französischen Partei
am Hofe, den Kalkreuth und Voß, und bei der Masse der Schwachen
und Trägen. Stein galt in diesen Kreisen, wie Gneisenau berichtet,
„als ein Verzweifelter, der sich mit dem König auf eine Pulvertonne
setzen wollte, um sich in die Luft zu sprengen”. Bereits rüstete
Österreich. Stein hoffte auf eine gleichzeitige Erhebung Preußens,
er gedachte die französischen Satrapenländer im Norden zum Aufstande
zu reizen und zählte auf die Kraft der Bauern und des Mittelstandes,
während er nichts hoffte von der „Weichlichkeit der oberen Stände,
und dem Mietlingsgeiste der öffentlichen Beamten”. Allerdings mochte
Stein damals die hohe Leidenschaft, die seinen Feuergeist verzehrte,
allzu kühn in die Herzen der müden Masse übertragen. Schwerlich war
der Haß gegen die Fremden bereits tief genug in das Volk gedrungen,
um jetzt schon einen Verzweiflungskampf zu wagen. Noch weniger ließ
sich erwarten, daß Kaiser Franz den Krieg in jenem großen deutschen
Sinne, den Stein verlangte, beginnen und seine Truppen unter
schwarz-weiß-gelbem Bundesbanner -- mit den Namen „der Befreier der
Nation”, Hermann und Wilhelm von Oranien, auf den Fahnen -- in das
Feld schicken werde. Ein Brief Steins, der den Fürsten Wittgenstein
ermahnte, die Unzufriedenheit im Königreich Westfalen zu schüren, fiel
den Spähern Napoleons in die Hände und erschien am 8. September 1808 im
Moniteur. Der Kongreß von Erfurt beseitigte jede Hoffnung auf Rußlands
Beistand, und Stein sah sich gezwungen, seinen Abschied zu fordern. Er
nahm mit sich das Lob seines Königs, durch die Wirksamkeit eines Jahres
„den ersten Grund, die ersten Impulse zu einer erneuerten, besseren
und kräftigeren Organisation des in Trümmer liegenden Staatsgebäudes
gelegt zu haben”. Am 16. Dezember unterzeichnete Napoleon das Dekret,
welches =le nommé Stein= als einen Feind Frankreichs und des Rheinbunds
ächtete und seine Güter einzog. „Sie gehören nun der Geschichte an,”
rief Gneisenau dem Geächteten zu. Die Nation wußte jetzt, wen unter
den Deutschen der Kaiser am bittersten haßte. In tausend Herzen prägte
sich jetzt das Bild des Reichsfreiherrn ein -- die gedrungene Gestalt
mit dem breiten Nacken, jäh und eckig in jeder Bewegung, die funkelnden
braunen Augen und die Eulennase über den fest geschlossenen Lippen
-- ein Geist von deutscher Tiefe und Gründlichkeit, hochgebildet und
dennoch schlicht und kernhaft, der seine schwerwiegenden Gedanken oft
in ungelenken Formen, doch mit überzeugender Kraft und volkstümlicher
Derbheit aussprach -- ein Mann ohne Menschenfurcht, vornehm und
herrisch und doch milden Sinnes um die Leiden der kleinen Leute besorgt
-- voll Feuers und heiligen Zornes, aber ein demütiger Christ und klug
besonnen inmitten der Aufregung, unerschütterlich im Glauben an die
Zukunft seines Volkes und an das Walten der Vorsehung -- der ganze Mann
eine wunderbare Verbindung von Naturkraft und Bildung, Tatkraft und
Billigkeit, von glühender Leidenschaft und nüchterner Erwägung.

Steins Nachfolger ward nicht Schön, den er vorgeschlagen, sondern
Altenstein, unter dessen Verwaltung der Staat, in tiefe Schwäche
versunken, den Geächteten nicht zu beschützen wagte. In Brünn,
Troppau, Prag verlebte Stein die nächsten Jahre, doch selbst unter dem
Ministerium Stadion konnte man zu Wien sich nicht entschließen, diese
gewaltige Kraft zum Kampfe gegen Napoleon zu verwerten. Stein durfte
dann und wann den österreichischen Staatsmännern einen Rat erteilen, er
versuchte auch, als im Jahre 1810 Hardenberg sein Ministerium bildete,
wieder auf Preußens Geschicke einzuwirken, auf die innere Verwaltung
wie auf die Vorbereitung eines Volkskrieges nach dem Muster Spaniens
und der Vendée. Im ganzen blieb er ohne Einfluß. Es war die Zeit, da
Gneisenau die entsetzlichen Worte schrieb: „Wir dürfen es uns nicht
verhehlen, die Nation ist so schlecht als ihr Regiment.”

Auch Stein, der soeben die Erhebung Österreichs vom Jahr 1809
mit Bewunderung betrachtet, verlebte jetzt Augenblicke, da er an
dem preußischen Staate und an dem unverbesserlichen „Phlegma der
nördlichen Deutschen” verzweifelte. Endlich bei dem Herannahen des
russischen Feldzugs schien ihm die Stunde gekommen für einen großen
Befreiungsversuch. Er hatte schon im Jahre 1808 den Zaren Alexander zu
einer selbständigen Politik ermahnt und bot ihm jetzt seine Dienste
an. Fast gleichzeitig (Mai 1812) ereilte ihn die Einladung des Zaren.
Er blieb ohne amtliche Stellung, als ein selbständiger Rat, eine Macht
durch sich selber, an Alexanders Seite, und soweit die nun folgenden
Ereignisse von dem Willen einzelner Sterblicher abhingen, hat Stein an
der Befreiung Europas ein größeres Verdienst als irgendein Mensch. Er
war es, der den Kaiser zu dem Entschlusse bewog, den Krieg bis nach
Sibirien hinein fortzusetzen, er erfüllte den schwachen, edelsinnigen
Monarchen mit einem Hauche seiner eigenen Leidenschaft, er bestimmte
ihn, nach dem Siege, den Wünschen des Heeres zum Trotz, den Niemen zu
überschreiten. Je näher die Gefahr sich heranwälzte, um so freudiger
und zuversichtlicher hob sich alles Schneidige und Heldenhafte seines
Wesens. Er verachtete die Oberflächlichkeit der meisten gebildeten
Russen, doch er freute sich an der religiösen Begeisterung, dem
Opfermute des Volkes, und auch unter den höheren Ständen fand er
treffliche Helfer, so die Grafen Kotschubey und Lieven. Er sah in
dem russischen Kriege nur ein Mittel für seinen teuersten Zweck,
die Befreiung Deutschlands. Stein stand an der Spitze des deutschen
Komitees in Petersburg, ließ Aufrufe unter den Rheinbundstruppen
verbreiten, um sie zur Fahnenflucht zu verleiten, und durch die
Schriften seines treuen E. M. Arndt auf die Herzen der Deutschen
wirken, er bildete -- mit geringem Erfolg -- die deutsche Legion als
den Kern des künftigen deutschen Heeres, er drang auf Verbindung
mit England und zeigte der Regierung die Mittel, welche ihr nachher
ermöglichten, 40 Millionen Rubel russischen Papiergeldes in Deutschland
umzusetzen und also den Krieg fortzuführen. Während er also jeden Hebel
in Bewegung setzte zur Bekämpfung Napoleons, fand er doch Worte der
Billigkeit für jene preußischen Offiziere, welche, dem Fahneneide treu,
im Heere des Imperators fochten.

Die Pläne, welche er in jenem Petersburger Winter für Deutschlands
Umgestaltung entwarf, sind das Idealste und Verwegenste, was jemals
über deutsche Politik gedacht worden. Und dies bildet, nächst seiner
Teilnahme an der Umgestaltung Preußens und der Befreiung Europas,
das dritte welthistorische Verdienst des Mannes: er hat früher und
schärfer als irgendein Staatsmann die Einheit Deutschlands, ohne
Phrasen und Vorbehalte, als das höchste Ziel deutscher Politik
aufgestellt, er war der erste unter unseren Staatsmännern, der in jedem
Wechselfalle unwandelbar und mit hellem Bewußtsein nur das Wohl des
ganzen Vaterlandes ins Auge faßte. „Ich habe nur ein Vaterland, das
heißt Deutschland -- schrieb er an Münster, der ihn des einseitigen
Preußentums beschuldigte -- und da ich nach alter Verfassung nur ihm
und keinem besonderen Teile desselben angehörte, so bin ich auch nur
ihm und nicht einem Teile desselben von ganzem Herzen ergeben.” Wer ihm
von Schonung der althergebrachten Zersplitterung redete, dem erwiderte
er: „einen solchen Zustand wiederherstellen ist gerade so, als wolle
man darauf bestehen, daß ein toter Mann auf seinen Beinen stehen
solle, weil er es tun konnte, solange er noch lebte.” Jede Rücksicht
auf die Dynastien verwarf er: „Als ob es in Deutschland darauf
ankäme, ob ein Mecklenburg usw. existiert, und nicht, ob ein starkes,
festes, kampffähiges deutsches Volk ruhmvoll im Krieg und Frieden
dastehe!” Sein Ziel war die „Einheit, und ist sie nicht möglich, ein
Auskunftsmittel, ein Übergang”. In jenem Augenblicke, da der gesamte
Länderbestand Europas im Wanken war, schien ihm selbst das Höchste
erreichbar: eine große Monarchie von der Weichsel bis zur Maas und den
Vogesen, ebenso Italien zu einer geschlossenen Masse verbunden -- ganz
Mitteleuropa in jenem Zustande „der Kraft und Widerstandsfähigkeit”,
den er in seiner Lieblingszeit „unter den großen Kaisern” vom zehnten
bis zum dreizehnten Jahrhundert zu finden glaubte. Sei dies nicht
möglich, so solle man Deutschland nach dem Laufe des Mains zwischen
Österreich und Preußen teilen, die Rheinbundsfürsten als „betitelte
Sklaven und Untervögte” des Eroberers behandeln und auch die von
Napoleon verjagten Fürsten nicht als Bundesgenossen gelten lassen.
Könne man auch dies nicht erreichen, so bleibe als letzter Ausweg,
daß man jedem der beiden „verfassungsmäßigen Königreiche” Österreich
und Preußen einige Kleinstaaten als Vasallen unterordne, etwa Bayern,
Württemberg, Baden mit geschmälertem Gebiete der südlichen, Hannover,
Hessen, Oldenburg, Braunschweig der nördlichen Macht. Man wird in
diesen Plänen den hochherzigen Patriotismus ebensowenig verkennen,
wie die leidenschaftlich unklare Erregung der Zeit und den Stolz des
Mediatisierten, der nicht begriff, warum „man mit diesen Zaunkönigen so
viel Umstände mache”.

Als das Heer die deutsche Grenze überschritten hatte, nahm er die
Leitung der ostpreußischen Angelegenheiten in die Hände, zog sich
jedoch besonnen zurück, da er York und Schön und die Männer des
preußischen Landtags voll Eifers für die große Sache, aber auch
voll Sorge wegen der russischen Eroberungslust sah. Am 25. Februar
1813 erschien er mit Anstett in Breslau und beredete den zaudernden
König, Scharnhorst in das russische Hauptquartier zu schicken
-- eine Sendung, welche den Abschluß des preußisch-russischen
Bündnisses zur Folge hatte. Er folgte nunmehr dem Hauptquartiere der
Monarchen, rastlos anspornend und ermutigend, ein Todfeind aller
halben Maßregeln und „verderblichen Waffenstillstände”, der feste
Bundesgenosse des Blücherschen Hauptquartieres. Zugleich leitete er
den Verwaltungsrat, der die eroberten Länder, zunächst Sachsen, zu
verwalten hatte, und seine kühne, schroffe Weise stieß hart zusammen
mit der Unentschlossenheit „dieser weichen sächsischen Wortkrämerei”.
Er betrieb eifrig den Abschluß der Allianz mit England. Nach dem
Waffenstillstand trat der lähmende Einfluß Österreichs auf die große
Allianz hervor. Die kühnen Gedanken jenes Petersburger Winters
erwiesen sich als unausführbar. Steins Zweifel an der Lebenskraft
Preußens waren längst verstummt angesichts der großen Erhebung, er
fühlte sich unter dem begeisterten Volke Norddeutschlands „wie in
einem unbekannten Lande”. Andererseits sah er mit Trauer, daß in dem
Österreich Metternichs der Geist von 1809 gänzlich verschwunden war,
daß die Bevölkerung der Kleinstaaten den Dynastien noch eine sehr
starke Anhänglichkeit entgegenbrachte und England in den Reichenbacher
Verträgen sich für Hannover bedeutende Gebietserweiterungen ausbedang.
Sonach war selbst der bescheidenste jener drei Petersburger Pläne
unmöglich, und Stein hielt jetzt die Herstellung der Kaiserwürde,
des Reichstages und der Reichsgerichte für notwendig, damit eine
monarchische Gewalt die kleinen Dynastien in Zucht halte und das
halbdeutsche Österreich durch die Pflichten des Kaisertums an
Deutschland gekettet werde. Vergeblich versuchte er, in Böhmen während
des Stillstandes der Kriegsoperationen nach der Schlacht von Kulm,
diesen Plan bei den Monarchen durchzusetzen. Metternich erklärte seine
Absicht, die deutschen Staaten nur durch ein System von Verträgen zu
verbinden, bald darauf schloß Österreich die Verträge von Ried und
Fulda und erkannte die Souveränität der rheinbündischen Könige an.
Seitdem war jede Aussicht auf eine gesicherte Verfassung Deutschlands
versperrt, und wenn fortan die Ansichten Steins über die Zukunft des
Vaterlandes in jähen Sprüngen wechselten, so war dies nur die Folge
der Unmöglichkeit, auf Grund der gegebenen Sachlage einen dauernden
Rechtszustand zu schaffen.

Nach der Schlacht von Leipzig ward sehr fühlbar, daß Stein, beschäftigt
mit der Organisation Sachsens und der definitiven Einrichtung der
Zentralverwaltung, dem Hauptquartier nicht gefolgt war. Erst nach
seiner Rückkehr faßte man den Entschluß, den Krieg über den Rhein zu
tragen. Stein entfaltete eine ungeheure Tätigkeit bei der Leitung des
Lazarettwesens und der provisorischen Einrichtung der eroberten Länder.
Die Zentralverwaltung war bedeutsam für die öffentliche Meinung, weil
sie der Welt wieder das Schauspiel einer Behörde für gesamtdeutsche
Angelegenheiten gab. Im Feldzuge von 1814 wiederholte sich das alte
Spiel: Stein und die Helden des schlesischen Heeres drängten vorwärts,
während das österreichische Hauptquartier zauderte. Der Aufenthalt
in Paris erfüllte Stein mit tiefem Mißmut, man sah ihn stachliger
und heftiger denn je. Sein Einfluß auf den Zaren begann zu sinken,
umsonst forderte er bei den Friedensverhandlungen gesicherte Grenzen
für Deutschland, umsonst verlangte er, daß Preußen die gute Stunde zur
Befriedigung seiner gerechten Ansprüche benutze. Die Wiedereinsetzung
der Bourbonen war ihm willkommen, als ein „Ruhepunkt” für die ermüdete
Nation, obwohl er den Doktrinen der Legitimisten nicht huldigte.

Von dem Wiener Kongresse sah er früh voraus, daß „das Ganze auf eine
flache und übertünchte Weise endigen werde”, er sah „die Zeit der
Kleinheiten, der mittelmäßigen Menschen” gekommen. In den Händeln
über die Territorialfragen ragte er hervor als Verteidiger der
Einverleibung Sachsens, er warf Talleyrand und dessen Genossen die
treffende Beschuldigung zu, daß sie es seien, welche die Zerteilung
der Völker verlangten. Sein Vorschlag, das eroberte Land durch
einen trefflichen Statthalter, den Prinzen Wilhelm, zu gewinnen,
fand keine Erfüllung. Wie ihn einst Napoleons Bulletins als einen
Demagogen geschildert hatten, so ward er jetzt in der Presse als ein
Borussomane und ein Spießgeselle der brutalen Gewalt angefeindet.
Er aber hielt noch im hohen Alter mit voller Überzeugung seine
wohlbegründete Meinung fest. Dagegen erkannte er die Unmöglichkeit,
ein unabhängiges konstitutionelles Polen mit Rußland auf die Dauer
friedlich zu verbinden. Für die deutsche Verfassung hatte er während
des französischen Feldzugs in Chaumont einen neuen Plan entworfen,
wonach die beiden Großmächte mit Bayern und Hannover als Direktoren
die exekutive Gewalt besitzen und den Bundestag leiten sollten. Im
Sommer darauf schlug er wiederum ein Direktorium der vier mächtigsten
Staaten und eine Kreisverfassung vor, welche so tief in die inneren
Landesangelegenheiten eingreifen sollte, daß die Großmächte sich ihr
nicht völlig unterwerfen konnten; daher verfiel er auf den Ausweg, daß
Preußen nur mit den Ländern links der Elbe, Österreich gleichfalls
nur mit seinen westlichsten Provinzen beitreten solle. Wenn Steins
Meinungen über die Leitung Deutschlands nicht minder unsicher
wechselten, wie die Ansichten der übrigen Zeitgenossen, so bieten seine
Pläne doch sämtlich eine glänzende Seite, die den großen Staatsmann
bekundet; sie enthalten alle sehr bestimmte Garantien für die
Volksfreiheit: -- Grundrechte für alle Deutschen und ausgedehnte, von
Bundes wegen garantierte, durch ein Bundesgericht gesicherte Befugnisse
für die Landstände. Desgleichen verlangte er in allen seinen Entwürfen
unbedingte Einheit der Gesetzgebung für den Verkehr im weitesten Sinne.
Er wünschte, daß die beiden Großmächte und Hannover die Vorberatung
der deutschen Verfassung auf dem Kongresse allein in die Hand nähmen.
Als statt dessen das Fünferkomitee gebildet ward und das Werk schon im
Beginn an dem Widerstande Bayerns und Württembergs zu scheitern drohte,
rief er den Zaren und den Verein der kleinen Fürsten zu Hilfe. Im Laufe
des Winters kehrte er nochmals zu seinem Kaiserplane zurück. Als auch
dieser verworfen ward, versuchte er nur noch, abermals umsonst, dem
Artikel 13 der Bundesakte einen Inhalt zu geben, den Landständen der
Einzelstaaten bestimmte Rechte von Bundes wegen zu gewährleisten. Das
vollendete Werk erschien ihm gänzlich hoffnungslos. Er stand allein auf
dem Kongresse, ohne Vollmacht, ohne Stimmrecht, und sein persönlicher
Einfluß war im Sinken, je mehr die Erinnerung an die großen Tage des
Krieges verblaßte.

Nach Napoleons Rückkehr brauste Steins alter Haß wieder auf, ein Haß,
dessen Glut sich doch sehr wohl vertrug mit scharfsichtiger Würdigung
des Feindes -- wie denn Stein unter den ersten den Zug der Gemeinheit
in dem Wesen des Imperators durchschaute. Stein zuerst ersann den
Gedanken, Napoleon zu ächten. Bei den Verhandlungen über den Zweiten
Pariser Frieden betrieb er rüstig die Rückführung der geraubten
Kunstschätze, doch umsonst verlangte er, diesmal im Bunde mit den
Staatsmännern Preußens und der kleinen deutschen Staaten, Elsaß und
Lothringen für Deutschland zurück. Nachdem also fast alle Pläne, welche
er an die Befreiung der Welt angeknüpft, gescheitert waren, zog er sich
in das Privatleben zurück. Den Posten eines österreichischen und eines
preußischen Bundestagsgesandten lehnte er ab, den einen, weil er sein
Preußen nicht verlassen, den andern, weil er nicht unter Hardenberg
dienen mochte und von der Frankfurter Versammlung kein Heil erwartete.

Er verlebte ein reiches Alter auf seinen Gütern Cappenberg und Nassau,
in lebhaftem brieflichen und persönlichen Verkehr mit bedeutenden
Männern. Die persönlichen Erfahrungen dieser letzten Jahre verstärkten
noch seine Liebe zu Preußen, da er in Nassau den kleinen Krieg
der Bureaukratie wider die Mediatisierten ertragen mußte, während
er in Cappenberg als Landtagsmarschall der Provinz Westfalen eine
hochangesehene Stellung einnahm. Der Tod seiner Gattin, die erst in
späterer Zeit seinem Herzen nahegetreten war, gab seinem Geiste eine
streng religiöse Richtung. Im Eifer seiner Rechtgläubigkeit wünschte er
wohl, der Staat möge „ein Dutzend Rationalisten =extra statum nocendi=
versetzen”. Sein Glaube war echt und ohne Prunk, und obwohl er, nach
der Weise dieser romantischen Tage, dem Katholizismus nähertrat, so
blieb er doch allen ultramontanen Bestrebungen feind: Stein wünschte,
wie sein Freund Erzbischof Spiegel, nationale Selbständigkeit unserer
katholischen Kirche.

Die neuen politischen Zustände boten ihm wenig Anlaß zur Freude. Er sah
auf der einen Seite die Bureaukratie mit ihrer „Wut zu generalisieren”
und überhäufte diese Klasse mit schweren Vorwürfen, deren Härte
sein alter Freund Kunth dem Aristokraten oftmals verwies. Der Adel
andererseits schien ihm „in Selbstsucht, Einseitigkeit, Leerheit,
Unbeholfenheit, Egoismus versunken”. Stein suchte mit Montesquieu
das Urbild freier Verfassung in England und „den deutschen Wäldern”
und verwarf die durch neufranzösische Ideen befruchtete Richtung
des süddeutschen Liberalismus als „seichten, rechtlosen Neologism”.
Die neue demokratische Strömung schien ihm darauf hinauszulaufen,
„das Ganze in ein Aggregat von Gesindel, Juden, neuen Reichen,
phantastischen Gelehrten zu verwandeln”. Die rheinische Gesetzgebung
bekämpfte er mit dem ganzen Hasse des Franzosenfeindes. Während er
so alle vorherrschenden Richtungen im Staatsleben der Einzelstaaten
bekämpfte, fand er die gesamtdeutsche Politik noch unglücklicher
bestellt. Den Bundestag verachtete er als eine „vom Philistergeist
durchdrungene politische Maschine”, und sein Zorn wallte auf, als
die Mainzer Zentraluntersuchungskommission ihn selber als einen
Haupturheber der demagogischen Umtriebe beschuldigte. Ebensowenig
wollte er teilhaben an dem neuen Teutonentum „dieser unbärtigen
fratzenhaften Studenten”. Die Opposition am Bundestage galt ihm
als eine neue Form der alten Rheinbundsbestrebungen; er verdammte
schonungslos jeden Bund im Bunde und das gesamte Treiben der
„Afterbündler”.

Dem Kundigen fällt nicht schwer, in dieser Fülle des Tadels, die
der Alternde nach allen Seiten hin ausspendete, einige große
positive Gedanken zu erkennen, welche zeigen, daß Stein noch immer
auf der Höhe der Zeit stand, während er zu Wien als ein Haupt der
militärischen Jakobiner, unter den Alltagsliberalen als ein Junker
verrufen war. Zunächst verlangte er immer aufs neue Erfüllung der dem
Volke gegebenen Verheißungen; denn „den durch die lautere Milch des
Jesuitismus noch nicht getrübten Menschenverstand” werde man nicht
überzeugen, daß es von dem Willen der Fürsten abhänge, ob und wie sie
ihr Wort halten wollten. Die unheilvollen Folgen der Ausschließung
der Nation von der Leitung ihrer eigenen Angelegenheiten, die er
schon in jenem Programme vom Jahre 1807 vorausgesagt, gingen Wort für
Wort in Erfüllung. Jetzt wie damals wollte er den Grundbesitz in den
Reichsständen überwiegend vertreten sehen, aber der Reichstag sollte
wirksame Rechte haben: „Beratende Stände sind eine inerte Masse oder
ein turbulenter Haufe, der ins Blaue hineinschwätzt, ohne Würde, ohne
Achtung.” Wie schroff und herrisch der Marschall oftmals die liberalen
Redner des westfälischen Landtags anließ -- auf dem Verlangen nach
Reichsständen bestand der gewissenhafte Mann unverbrüchlich, auch
nachdem die Julirevolution alle konservativen Neigungen seiner Natur
mächtig aufgeregt hatte. Über alle Verstimmungen und Beschwerden des
Tages rettete er sich seine Anhänglichkeit an das Haus Hohenzollern
und seinen Glauben an Preußen als den Hort unserer Zukunft. Er nannte
Berlin selbst in jenen stillen Jahren, da das öffentliche Leben fast
erstorben war, „den interessantesten Ort Deutschlands” und sah
mit Stolz auf das preußische Heer; kriegserfahrene Offiziere waren
dem streitbaren Manne die willkommensten Gäste. Unberührt von den
Modekrankheiten des neuen Liberalismus, hielt er den Blick fest auf die
Größe des ganzen Vaterlandes gerichtet. Auch da die kleinen Staaten
des Südens als die beneidenswerten Stätten der Freiheit gepriesen
wurden, schaute er mit unwandelbarer, grenzenloser Verachtung auf
die unheilbaren Mängel des kleinstaatlichen Lebens. Er wußte, die
Zeit sei noch nicht gekommen, die Staatsbildungen Napoleons vom
deutschen Boden hinwegzufegen, und begrüßte mit Freuden jeden Anfang
praktischer Einigung der Nation, so den werdenden preußisch-deutschen
Zollverein. Auf die unverwüstliche Gesundheit unseres Volkes baute
er felsenfest; nur „das Land der Phäaken”, Österreich, schloß er in
der Regel von seinem Lobe aus. Mit unvergeßlichen Worten rief er den
Demagogenverfolgern zu, ein treues, sittliches, gebildetes Volk, das
soeben einen glorreichen Krieg bestanden, verdiene Vertrauen und
wieder Vertrauen. In solchem hohen patriotischen Sinne hat er auch
das wissenschaftliche Unternehmen der =Monumenta Germaniae= begründet
und ihm einen guten Teil seines Alters gewidmet. Radikale Blätter
des Rheinlandes witterten in dieser Sammlung der Geschichtsquellen
unserer Vorzeit feudale Bestrebungen. Der instinktive Widerwille aller
Menschen ohne Vaterland, vornehmlich der liberalen Partikularisten,
bildet den sichersten Maßstab für Steins Größe. Wer einzelne Ausbrüche
der hypochondrischen Laune und der Tadelsucht des Staatsmanns außer
Dienst auszuscheiden weiß, findet in den Briefen seines Alters eine
unvergleichliche Quelle der Belehrung über die Zeitgeschichte und über
die wichtigsten Probleme der Politik, dazu in der ausdrucksvollen
Gewalt der eckigen, wuchtigen Sprache mit ihrer Fülle sich drängender
Beiwörter ein getreues Charakterbild.

Stein starb, und mit ihm sein Geschlecht, am 29. Juni 1831. Sein
Testament schließt mit der Mahnung an seine Erben, sich des göttlichen
Segens würdig zu erhalten ... „vornehmlich durch treue und zu
jeder Aufopferung bereite Liebe zum Vaterland”. Auf der Inschrift
seines Grabes wird er genannt: „Demütig vor Gott, hochherzig gegen
Menschen, der Lüge und des Unrechts Feind, hochbegabt in Pflicht und
Treue, unerschütterlich in Acht und Bann, des gebeugten Vaterlandes
ungebeugter Sohn, in Kampf und Sieg Deutschlands Mitbefreier.” --
Die arge Verbildung unserer Zustände spiegelte sich wider in der
Teilnahmlosigkeit, womit die Nation die Kunde von Steins Abscheiden
aufnahm. Erst zwanzig Jahre nach seinem Tode ist Steins Bild dem Volke
wieder nähergetreten. Der größte Staatsmann der Deutschen dieses
Jahrhunderts war ein stolzer Preuße und ein Unitarier.



Lessing



Lessing.


Allein die Zeitgenossen winden dem Dichter den schönsten der Kränze.
Gerechter vielleicht mag die Nachwelt richten, als einen Seherblick
des Genius mag sie einzelnes preisen, was den Mitlebenden unverstanden
vorüberschwebte; doch jene fraglose unwillkürliche Rührung der Seelen,
die der Künstler als edelsten Lohn erstrebt, wird er am gewaltigsten
in seiner Zeit erregen. Wie könnte heute ein Jüngling von den Leiden
des jungen Werther so schmerzlich ergriffen werden wie damals, da die
Werther noch auf unseren Straßen verkehrten? Und hat je eine moderne
Hörerschaft den Scherzen der Narren Shakespeares ein so herzliches
baucherschütterndes Gelächter entgegengebracht, wie es dem Dichter
zuscholl aus den Reihen der Gründlinge seines Parterres? Immer wird
heute inmitten der jubelnden Menge ein Nüchterner stehen und meinen:
so, ganz so empfinden wir nicht mehr. Alle Welt weiß, wie wenigen
Dichtern beschieden ward, noch in der Zukunft vom Volke geliebt, nicht
bloß durchgrübelt zu werden von den Fachgelehrten. Warum aber ist bei
den Deutschen die Zahl der Dichter so auffällig gering, welche den
Jahrhunderten getrotzt? Denn wer außer dem Forscher liest noch, was
über die Literaturbriefe, über die Werke von Lessings Mannesalter
hinausliegt? Es ist wahr, weit später als anderen Völkern ist den
Deutschen der Tag der Dichtung erschienen, und in dem Jahrhundert, seit
jener Morgen graute, hat unser Volk erstaunlich rasch gelebt. Aber ist
mit solcher Antwort das Rätsel gelöst? Warum erfreut sich der Brite
noch an seinem Spenser, während Klopstock und Wieland unserem Volke
nur Namen sind? Hat doch auch über den Glanz von Spensers Dichtung
sein großer Nachfahr Shakespeare seinen breiten Schatten geworfen,
und ungeteilte Freude kann der derbe Realismus der Gegenwart an jenen
zierlichen Allegorien so wenig empfinden, wie unser aufgeregtes Wesen
an dem ruhigen Flusse des Epos. Offenbar, wir müssen eine andere
Antwort suchen.

Ein Märchen ist es, erfunden in philisterhaften Tagen, als könne je ein
vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme seiner
Fahnen schaut ein Volk aus, wenn es seiner Vergangenheit gedenkt,
und gern vergißt es die Mängel, das Veraltete eines Kunstwerks, wenn
die Glorie einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet. Nie genug
werden wir die Briten um jenes vornehmste Zeichen ihrer Gesundheit
und harmonischen Kraft beneiden, daß ihnen die Kunst auf dem festen
Boden staatlicher Größe reifte. Liest der Engländer die Verse von
der Feenkönigin, so steigt vor seinen Augen auf das Bild der großen
Elisabeth, er sieht sie reiten auf dem weißen Zelter vor jenem Heere,
dem die unüberwindliche Armada wich, und hinter den kriegerischen
Scharen der Engel in Miltons Verlorenem Paradiese erblickt er kämpfend
Cromwells gottselige Dragoner. So tritt auch dem Spanier aus den
Dichtungen seiner Lope und Cervantes das Weltreich entgegen, darin
die Sonne nicht unterging. Also erhalten durch die Wucht erhabener
politischer Erinnerungen diese Werke einen monumentalen Charakter. Wo
aber fand die deutsche Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts solch ein
Fußgestell staatlicher Größe, daraus sie sich sicher emporheben konnte?
Von einem gesunkenen, verachteten Reiche, von einem mißhandelten Volke
gingen unsere Sänger aus, und wie ihnen im Leben keines Mediceers Güte
lächelte, so auch im Tode sind sie, was sie sind, durch sich selbst
allein. Als Lessing sein letztes Drama schrieb, fragte er zweifelnd,
ob die Tage reiner Menschensitte so bald erscheinen würden, die dies
Werk auf der Bühne ertrügen; Heil und Glück rief er dem Orte zu, der
zuerst die Aufführung des Nathan schauen würde. Und -- vor zwanzig
Jahren ging in Konstantinopel der Nathan in neugriechischer Bearbeitung
über die Bretter. Als dann vor den verwunderten Türken die edlen Worte
erklangen: „Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins
in seinem Ring an Tag zu legen”, und die rechtgläubigen Moslemin in
lauten Beifall ausbrachen, da mochte wohl ein Deutscher stolzer den
Nacken heben. Denn hier, weit über die Grenzen christlicher Gesittung
hinaus, wo keiner des Dichters Namen kannte, keine volkstümliche
Erinnerung des Gedichtes Zauber erhöhte -- hier strahlte siegreich die
Macht des deutschen Genius allein, das weltbezwingende Lächeln der
Menschenliebe.

Durch sich selbst allein wirken jene Künstler auf die Nachgeborenen.
Noch mehr, sie selbst erst sind die Schöpfer eines freieren
öffentlichen Lebens in unserem Volke, sie standen unbewußt im Bunde mit
jenen Staatsmännern, die dem deutschen Staatswesen ein menschlicheres
Dasein bereitet haben. Wie sich von selbst versteht in einer Zeit,
wo das häusliche Leben die beste Kraft der Deutschen erschöpfte,
geschah dies Hinüberwirken Lessings auf unser öffentliches Leben
vornehmlich durch seine Person, durch die souveräne Selbständigkeit
seines Charakters. Erst vor wenigen Jahren ist ein gutes Bild des
Knaben Lessing bekannt geworden, und mit schalkhaftem Behagen sehen
wir den Mann vorgebildet in den Zügen des Kindes. Da sitzt Theophilus
Lessing, sittsam, ernst, in priesterlich langem Gewande, ehrbarlich ein
Lämmchen fütternd, daneben der aufgeweckte Bruder, „mit einem großen,
großen Haufen Bücher”, in der eleganten roten Tracht der Zeit; auch der
Unkundige kann erraten, daß jenem bestimmt sei, zu leben als dunkler
Ehrenmann und Konrektor, diesem -- als Gotthold Lessing. Kraft und
Wahrhaftigkeit spricht aus den derben Zügen des Knaben, und wahrlich,
hart gebettet hat die Zeit den starken und wahren Mann. Sein Puls
schlug bei voller Gesundheit so schnell wie der Puls anderer im Fieber,
er besaß im höchsten Maße jene Lebhaftigkeit des Redens, welche die
Obersachsen vor anderen Deutschen auszeichnet. Wie rasch jagen sich da
Fragen, Ausrufe, schnell wiederholte abgebrochene Worte, und er fand
den Mut also zu schreiben, wie seine Landsleute dachten und sprachen.
Nie hat ein Schriftsteller getreuer jenes Wort erfüllt, das seltsam
genug zuerst ausgesprochen ward in einer Nation, die es nicht versteht
-- das Wort: =le style c'est l'homme=. Dramatisch bewegt wie das Leben
selber strömt sie dahin, diese schmucklose, wasserklare Prosa -- dem
Unkundigen ein Kind der Laune, des Augenblicks, dem Tieferblickenden
ein Werk vollendeter Kunst, die schwierigste aller Schreibweisen,
denn unerträglich verletzend muß jeder triviale Gedanke, jede falsche
Empfindung sich verraten unter dieser leichten, nichts verbergenden
Hülle.

Und dieser Natürlichste der Menschen wuchs empor in einer Umgebung, wo
jedes einfache menschliche Gefühl in feste, herzlose, beengende Formen
gebannt war, in einem Vaterhause, wo hart abweisend der Befehl der
Eltern, unterwürfig und in schnörkelhaftem Ausdruck die Antwort der
Kinder erklang. Der ganze Schmerz um eine verbildete Jugend spricht aus
dem Ausruf des Mannes: „Der Name Mutter ist süß, aber Frau Mutter ist
wie Honig mit Zitronensaft.” Als er dann in Leipzig sich herausriß aus
der dürftigen Buchgelehrsamkeit der Schule und jenes Doppelwesen seiner
Natur, das schon das Bild des Kindes ahnen läßt, sich entfaltete -- der
Gelehrte, der in jedem Buche der Wittenberger Bibliothek geblättert,
der an schlechten Büchern mit Vorliebe seinen Scharfsinn übte, und der
Weltmann von feinen Formen, der sich gern im Lärm des Tages tummelte,
um die rasche Wallung seines Blutes zu übertäuben: -- da brach jener
schwere Kampf aus mit seinen Eltern, der längst schon gedroht. Man
kennt jenes bittere Wort, das Lessing am Abend seines Lebens schrieb:
„Ich wünsche was ich wünsche mit so viel vorher empfindender Freude,
daß meistenteils das Glück der Mühe überhoben zu sein glaubt, den
Wunsch zu erfüllen.” Seiner Jugend vornehmlich gilt diese Klage wider
das karge Glück. Auch der Geduldigste unter uns ertrüge nicht mehr die
Öde des Daseins jener Tage: ein Volk ohne Vaterland, darum gezwungen,
im Hause jede Freude zu suchen, und dennoch unfrei sogar im häuslichen
Leben.

Sie werden freilich immer wiederkehren, am heftigsten in fruchtbaren,
aufstrebenden Zeiten, jene traurigen Zerwürfnisse von Vater und Sohn,
herzergreifend traurig, weil jeder Teil im Rechte ist und das alte
Geschlecht die junge Welt nicht mehr verstehen darf. Aber in Lessings
Leben -- wie herzlich er auch von seinem Vater sprach, wie groß immer
die innere Verwandtschaft der beiden Streitenden war -- in Lessings
Leben erscheint dieser Kampf unmäßig hart, das alte Geschlecht
ungewöhnlich klein und gehässig. Denn der Hader bewegte sich nicht um
politische und religiöse Fragen, die doch nur mittelbar den Frieden
des Hauses berühren; eine große gesellschaftliche Umwälzung vielmehr
begann sich zu vollziehen, die Ehre des väterlichen Hauses ward
bloßgestellt durch die soziale Stellung des Sohnes. Bis dahin war, wer
hinausstrebte aus der Erwerbstätigkeit des Bürgertums, in den Dienst
des Staates oder der Kirche gegangen. Die regsamsten Kräfte des Adels
und der Mittelklassen hatte das Beamtentum und jene Zunftgelehrsamkeit
des Katheders verschlungen, die kaum noch den Namen der akademischen
Freiheit kannte. Höchstens dem bildenden Künstler ward gestattet seiner
Kunst zu leben, im Gefolge eines Hofes ein Unterkommen zu suchen.
Da wagte der Sohn des ehrenfesten Pastorenhauses, was vordem nur
verdorbene Talente zu ihrem Unsegen versucht hatten, er wurde der freie
Schriftsteller, der erste deutsche Literat -- nicht in klarer Absicht,
nein, wie die Menschen werden, wozu der Geist sie treibt, weil er nicht
anders konnte, weil dieser freie Kopf den Zwang des Amtes nicht ertrug.
Wie er also unserem Volke eine neue ungebundene Berufsklasse erschuf,
so wandte er auch zuerst mit Bewußtsein sich an ein neues Publikum.
Nimmermehr mochte er der unfreien Weise der Mehrzahl seiner Vorgänger
folgen, die nur geziert für die Höfe, plump für das Volk zu schreiben
wußten. Wohl dachte er groß und menschlich von den niederen Ständen,
von „dem mit seinem Körper tätigen Teile des Volks, dem es nicht sowohl
an Verstand als an Gelegenheit ihn zu zeigen fehlt”, er wünschte ihnen
als Tröstung Gedichte zum Preise der „fröhlichen Armut”. Er selber
indes suchte sich andere Leser. Wie er sich hinausgerettet aus dem
Bannkreise der alten Stände, so sprach er auch zu einem gebildeten
Publikum, das keine Stände kennt, und half also diesen Kern unseres
Volkes erziehen, der in der Literatur zuerst, dann im Staate zur
entscheidenden Macht emporwachsen sollte.

Zum ersten Male sahen die Deutschen das ruhelose und doch nie würdelose
Leben eines abenteuernden Schriftstellers. „Lessing,” sagt Goethe,
„warf die persönliche Würde gern weg, weil er sich zutraute, sie jeden
Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können.” Wie geistvoll
hier der Herzenskündiger geurteilt, das bezeugt ein erst vor kurzem
wieder aufgefundenes Epigramm aus Lessings Studienzeit; Goethe hat es
nie gekannt, und doch stimmt es wörtlich mit seinem Urteile überein.
Achtlos, übermütig wirft der Dichter in den ersten Zeilen seine Würde
hin, um sie am Ende gefaßt wieder aufzunehmen -- in den Versen:

    Wie lange währt's, so bin ich hin
    Und einer Nachwelt unter'n Füßen.
    Was braucht sie, wen sie tritt, zu wissen,
    Weiß ich nur, wer ich bin.

Worte, überaus bezeichnend für Lessings rasche, ungestüme Weise des
Lebens -- denn er vor allen besaß jenen gemeinsamen Charakterzug
aller vorwärtsstrebenden Geister, die Gleichgültigkeit gegen seine
eigenen Werke, sobald sie vollendet waren -- aber bezeichnender noch
für die Meinung, welche unseres Volkes beste Männer von dem Werte des
Nachruhms hegten. Ist den hellen Köpfen der Romanen der Nachruhm das
eingestandene höchste Ziel des Schaffens, so leben die Deutschen des
Glaubens: der Ruhm sei, wie die Liebe, wie jedes echteste und höchste
Glück des Lebens, eine Gnade des Geschicks, die wir in Demut hinnehmen,
doch nimmermehr erstreben sollen. Und noch immer hat unser Volk sich
jener Männer mit der wärmsten Liebe erinnert, die am wenigsten davon
redeten, daß sie ein solches Gedächtnis erhofften. Einen leisen
Schatten freilich hat diese harte, kampferfüllte Jugend in Lessings
Wesen zurückgelassen. Jener prosaische, nüchterne Zug, der Lessing
von späteren glücklicheren Dichtern in ähnlicher Weise unterscheidet,
wie Friedrich der Große einem Cäsar, einem Alexander gegenübersteht,
läßt sich nicht allein aus der Naturanlage des Dichters erklären. In
den Tagen, wo das Gemüt jede Härte am schmerzlichsten empfindet, hat
kein Frauenauge gütig über ihm gewaltet, allein die streng abweisende
Mutter, die lieblos meisternde Schwester trat ihm entgegen. Die innige
Zartheit der Empfindung aber, die ein hartes Geschick dem Jüngling
verkümmerte -- wie vermöchte der Mann sie je aus sich heraus zu
entfalten?

Also hinausgetreten aus den altgewohnten Kreisen des bürgerlichen
Lebens hat er mit unverwüstlichem Mut seinen Kampf geführt wider
die falschen Götzen der literarischen Welt. Die Freude am Kampfe,
am Widerspruch -- vergeblich hat man es leugnen wollen -- blieb die
herrschende Leidenschaft in ihm, der von früh auf liebte, „Rettungen”
verkannter Charaktere zu schreiben, der das Bekenntnis streitlustigen
Stolzes niederlegte in dem Worte: „Auf wen alle losschlagen, der
hat vor mir Frieden.” Wie die Schwäche und zugleich die Größe der
modernen Kulturvölker gutenteils darin gelegen ist, daß sie nicht
vermögen, wieder ganz jung zu werden, so offenbarte auch die unreife
deutsche Dichtung jener Tage alle Mängel der Kindheit und des
Greisenalters zugleich. Eine Weltliteratur mag man sie nennen, wenn das
widerstandlose Aufnehmen fremdländischer Ideale und Formen zu solchem
Namen berechtigt. Und doch war die in festen überlieferten Formen
erstarrte Dichtung nicht einmal der korrekten Redeweise mächtig. Von
beiden Schwächen hat Lessing unsere Dichtung geheilt. Man erfaßt nur
eine Seite seines kritischen Wirkens, wenn man in ihm lediglich den
trotzigen Streiter wider die =règles du bon goût= erblickt, wenn man
ihm nicht folgt in jene ersten Jahre, da er mit der peinlichen Strenge
des Pädagogen die kläglichen Übersetzungsfehler armseliger Gesellen
rügte.

Kein Wunder aber, daß jener Kampf mit den Regeln der französischen
Ästhetik allein noch haftet in dem Gedächtnis der Nachwelt. Denn
das erste dauernde seiner Werke schuf er erst, da er in den
Literaturbriefen auf die zuversichtliche Behauptung: „Niemand wird
leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten
Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe” -- seinen
kecken Schlachtruf erschallen ließ: „Ich bin dieser Niemand.”
Allerdings der Zorn des tiefempörten nationalen Stolzes redet aus
dieser Polemik. Wider den Dünkel der Kritik lehnt der Kritiker sich
auf und hält ihr das Recht des Künstlers entgegen, der sich selber
seine Bahnen bricht. Doch schärfer noch befehdet der Deutsche die
Anmaßung des fremden Volkes, das jeden anderen Volksgeist in die Enge
seiner konventionellen Empfindungen zu bannen gedachte. Wer hört nicht
das schadenfrohe Gelächter des nationalen Selbstgefühles aus jenen
erbarmungslosen Zeilen, die der untrüglichen französischen Ästhetik
beweisen, daß sie die Regeln des Aristoteles nicht verstanden, die
Voltaires Dramatik enthüllen, wie sie ist -- gesucht, gemacht, der
Natur entfremdet, „so steif, als wäre jedes Glied an einen besonderen
Klotz geschmiedet?” Mochten die einen im derben Liede den alten Fritz
preisen, der sich auf die Hosen klopft und die Franzosen laufen läßt,
die andern Beifall rufen, wenn der deutsche Kritiker Voltaires Blöße
zeigt: Beide feierten Siege eines wieder erwachenden Volkstums.

Wucht und Nachdruck erhielten jene kritischen Schläge erst durch
Lessings Dichtertaten. Auch er hatte sich geübt in den überlieferten
Formen und Empfindungen anakreontischer Dichtung, und lange Zeit lockte
seinen Scharfsinn, der zu spielen liebte, das Grenzgebiet zwischen
Dichtung und Prosa: Fabel und Sinnspruch. Doch zur rechten Geltung
gelangte das ihm eigene schöne Gleichgewicht ordnenden Verstandes und
schöpferischer Phantasie in dem Drama. Das Gleichgewicht, sage ich.
Denn jene noch heute oft nachgesprochene romantische Torheit, die dem
Dichter der Minna von Barnhelm die echte poetische Kraft absprechen
will, ist längst im voraus widerlegt durch den Denker, den Lessing
selber als den größten der Ästhetiker verehrte. Aristoteles sagt: zum
Dichten gehört ein Genius, ein kräftig und ebenmäßig geschaffener Geist
(εὐφυής), der von Natur schon das Schöne und Wahre findet --
oder auch ein Geist von erregbarer, enthusiastischer Phantasie
(μανικός). Wenn in Lessings Seele der lichte Verstand unleugbar
vorherrschte, dieser ekstatische Rausch seinem nüchternen Wesen fremd
blieb, so besaß er dafür jenes Höhere: die harmonische Kraft des
Genius, die nichts unternimmt, was sie nicht ganz vollbringen kann. Wie
er schon als Student an der wirklichen Bühne sich geschult, ja seine
Rollen gedichtet hatte für bestimmte Schauspieler aus der Truppe der
Neuberin, die uns als die Vorläuferin der modernen Schauspielkunst
gilt: so kamen seine dramatischen Anschauungen zur Reife im Verkehr mit
jener Hamburger Bühne, die heute als die erste Erscheinung des neuen
deutschen Schauspiels bezeichnet wird. Und wie er damals schon unter
den Franzosen sich die natürlichere Schule Marivaux' zum Muster wählte,
so führte er die germanische Dichtung auf den geraden Weg zurück,
brachte ihr die Naturwahrheit, die freie Bewegung des Shakespearischen
Dramas. Aber ein Reformer -- wie der maßlosen Natur des Künstlers ziemt
-- nicht ein Revolutionär -- wie sollte er sich vermessen, auf unsere
verwandelte Bühne den ungebundenen Szenenwechsel des altenglischen
Schauspiels einzuführen? Der so viele falsche Götzen gestürzt, wie
sollte er sich selber Shakespeare als neuen Götzen setzen -- was ihm
die Gedankenlosen noch heute nachsagen? In der Charakterzeichnung
allerdings folgte er Shakespeares Spuren; doch der Bau seiner Dramen
wich nur wenig ab von der Weise der Franzosen, die mit ihrer klaren
Verstandesschärfe dem Gegner doch sehr nahe standen und in ihm einen
billigen Richter fanden. Sogar die Rollen, welche das französische
Schauspiel uns überliefert, hat er sorglich beibehalten, nur, daß jetzt
statt des Liebhabers, des edlen Vaters, der Buhlerin -- die Tellheim,
Odoardo, Orsina erschienen, lebendige Menschen mit dem unendlichen
Recht der Persönlichkeit. Auch die dramatischen Probleme, die er sich
stellt, sind die höchsten nicht; gewaltigere Kämpfe von reicherem
tragischen Gehalt sind seitdem über unsere Bretter gegangen. Doch in
seinem engen Kreise schaltet er mit einer dialektischen Kunst und
einem Reichtum der Erfindung, die allen Zeiten bewundernswert bleiben
werden. Er reißt seine Charaktere in eine leidenschaftliche dramatische
Bewegung hinein, die keiner seiner Nachfolger übertroffen hat.

Wenn alle diese gemeinsamen Charakterzüge der Dramen Lessings die Bühne
umgestalteten, wie hat doch jedes einzelne davon noch seinen besonderen
Einfluß geübt auf unser öffentliches Leben! Schon Sara Sampson, dies
erste bürgerliche Trauerspiel der Deutschen, konnte nur gedichtet
werden in einem Volke, dessen Mittelstände sich erhoben, und wirkte
belebend zurück auf das Selbstgefühl dieser Klasse. Welch ein Griff
aber mitten hinein in das nationale Leben der Gegenwart, als Lessing
sich des Stiefkindes unserer Dichter, des Lustspiels, erbarmte und
in Minna von Barnhelm -- mit Goethe zu reden -- ein Werk schuf von
spezifisch nationalem Gehalt! Hier klingt etwas wieder von dem Lärm
des schlesischen Winterlagers, von dem Trommelwirbel der Grenadiere
des alten Dessauers, den der Knabe schon vor den Fenstern von St. Afra
gehört. Wie lange hatten unsere Dichter, wenn sie die Form suchten
für den unfertigen, nach Gestaltung ringenden Gehalt ihrer Seele,
sich hinweg geflüchtet aus der armen Gegenwart und die Heroen einer
Vergangenheit, die so nie gewesen ist, „auf des Sittenspruchs geborgte
Stelzen steigen” lassen! Jetzt endlich wagte ein Dichter das Gemüt der
Gegenwart dramatisch zu verkörpern und gab ein Werk, volkstümlich sogar
in seinen Schwächen, in der Breite der komischen Szenen, und eben darum
ein Werk für alle Zeiten. Denn wie das Erzbild in freier Luft im Lauf
der Jahre sich verschönt, so haben manche veraltete Wendungen in diesem
Lustspiele für uns Nachlebende einen neuen schalkhaften Reiz gewonnen.
Als ein Gott aus der Maschine tritt in dieses Drama noch der große
König hinein, mit seinem Herrscherwort die erregten Gemüter versöhnend.

Wie anders schon der politische Sinn in Emilia Galotti! Nicht
allein das Kunstwerk erquickt uns, das, nach Goethe, „gleich der
heiligen Insel Delos aus der Gottsched-Weiße-Gellertschen Wasserflut
emporstieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen”. Keiner
unter uns, der nicht den sittlichen Zorn wider höfische Tyrannei und
Verderbnis aus diesem Drama vernommen hätte. Und doch, wer hätte vor
der Katastrophe der Emilia nicht empfunden, daß der Sinn unseres Volkes
seitdem herzhafter und stolzer geworden, daß auch Lessing von der
Schüchternheit einer unfreien Zeit sich nicht völlig befreien konnte?
Ein Knabe hat mir einst gesagt: aber warum schlägt der Odoardo nicht
lieber den Prinzen tot? -- und ich fürchte nicht, daß man dies Wort
belächeln werde. Lernen wir erst wieder jene Bescheidenheit Lessings,
der vor einem Kunstwerke seiner Empfindung nicht traute, „wenn sie
von niemandem geteilt würde”, fassen wir den Mut, unbekümmert um
literarhistorische Pedanten, zu bekennen, was wir fühlen, und sagen wir
gerade heraus: wir verstehen diesen Mann nicht mehr, der in gerechter
Sache die mißhandelte, freilich in ihrem Herzen nicht mehr schuldlose
Tochter opfert, statt den frechen Dränger zu töten. Angeekelt von dem
falschen Pathos der französischen Tragödie strebte Lessing vor allem
die Leidenschaft in seinen Charakteren zu erregen, im schärfsten
Gegensatze zu Corneille wies er die Bewunderung aus dem Drama hinweg,
und wenn es ihm unfehlbar gelingt, unser Mitleid für seine Helden zu
erwecken, so bemerkt er nicht immer, daß unser Mitgefühl mit einem
leidenschaftlich bewegten Menschen auch ein achselzuckendes Mitleid
sein kann. Aber dürfen wir ihm eine Unsicherheit des Gefühles nicht
vorwerfen, die einem staatlosen Volke natürlich war, so bleibt ihm
allein der Ruhm einer Kühnheit, die unsere freiere Zeit kaum mehr zu
würdigen weiß. Welchen Schrecken mußte es in ängstliche Gemüter werfen,
daß ein Dichter die sittliche Fäulnis der Mächtigen auf der Bühne
erscheinen ließ -- wenige Jahre nachdem ein adliges Haus seiner Heimat
ein prunkendes Hochzeitsfest gehalten, weil seine Tochter zur Maitresse
des Landesherrn erhoben war! Wenn er absichtlich vermied, seine
Fabel mit dem staatlichen Leben zu verknüpfen, wenn er nur durch das
persönliche Schicksal seiner Heldin die Hörer erschüttern, nur „eine
bürgerliche Virginia” schaffen wollte, so hat seitdem die Geschichte
seinem Drama einen großen Hintergrund gegeben. Wer hört das Schlußwort
des Prinzen, jenen Ausbruch ohnmächtiger leichtfertiger Reue, und denkt
dabei nicht an das gräßliche =après nous le déluge=? Wer sieht nicht
hinter den Gestalten Marinellis und der Orsina die Schreckensmänner der
Revolution emporsteigen?

Und was war, blicken wir zurück, mit diesem kritischen und
dichterischen Wirken erreicht? Gebrochen war der Aberglaube an fremde
Weisheit, den Deutschen der Mut zurückgegeben, in der Kunst sich eigene
Pfade zu suchen. Selbständige Werke der Dichtung waren unserem Volke
geschenkt, welche aller Glorie der französischen Dramatik vollauf
die Wage hielten. Das Kunstverständnis endlich unseres Volkes ward
geläutert, die Reinheit der Gattungen in der Kunst wiederhergestellt,
der Vermischung von Dichtung und bildender Kunst in der beschreibenden
Poesie, der Vermischung von Poesie und Prosa in dem Lehrgedichte ein
Ziel gesetzt. Und noch der Lebende sollte die Früchte seines Schaffens
schauen; denn nie wieder wagte unter uns ein Mann von Geist ein
Lehrgedicht zu schreiben, und sah Lessing auf die jungen Stürmer und
Dränger, so hörte er die Deutschen mit Stolz, ja mit Übermut wegwerfend
reden von den einst vergötterten Franzosen.

Auch durch die beherrschende Vielseitigkeit seiner Bildung ist
Lessing ein Bahnbrecher der gegenwärtigen Gesittung geworden. Der
den theologischen Beruf entschieden von sich gewiesen, sollte der
Theologie seit Luther die erste nachhaltige Umbildung bringen. Die
Freiheit, die wir Luther dankten, die Begründung des Glaubens auf
die Heilige Schrift, war selber eine neue Knechtschaft geworden.
Lessing aber erkannte in den Schriften des neuen Bundes den Beleg,
nicht die Quelle des christlichen Glaubens, und leitete also auf den
Weg, den die wissenschaftliche Evangelienkritik der neuen Zeit weiter
verfolgt hat. Nicht völlig neu war diese Richtung; freute sich doch
selbst jener harmlose Hamburger Naturdichter Brockes, derselbe, der
neun Bände lang das irdische Vergnügen in Gott besungen, im stillen
an den geheimgehaltenen Streitschriften des Reimarus wider den
Offenbarungsglauben. Neu aber war der Mut, herauszusprechen, was
Tausende meinten, Schmach und Unglimpf zu ertragen von den „kleinen
Päpsten”, denen Lessing zuerst das tausendmal nachgesprochene Wort
entgegenwarf: lieber einen großen Papst als diese vielen kleinen --
jener Mut, der am schneidigsten aus der „ritterlichen Absage” an
Goeze spricht: „Schreiben Sie, Herr Pastor, und lassen Sie schreiben,
soviel das Zeug halten will; ich schreibe auch. Wenn ich Ihnen in dem
geringsten Dinge, was mich und meinen Ungenannten angeht, Recht gebe,
wo Sie nicht recht haben, dann kann ich die Feder nicht mehr rühren!”
Aber vergleichen wir selbst die heftigsten dieser Streitschriften mit
den gleichzeitigen Angriffen der Franzosen auf die Kirche, so nehmen
wir mit Erstaunen wahr, daß der deutsche Denker in der Sache die
Romanen an Verwegenheit überbietet, in der Form hingegen jenes edle
Maß einhält, welches, eine schöne Frucht deutscher Duldung, unsere
freien Geister davor bewahrt, Freigeister zu werden in dem von Lessing
gebrandmarkten Sinne.

Und läßt sich nicht aus diesem maßvollen Wesen des Denkers das Rätsel
erklären: warum doch er, der hinwegschaute über alle geoffenbarten
Religionen, für den alten Gedanken einer Union der christlichen
Kirchen sich erwärmen konnte? Es ist ein großes Ding, die Weissagung
des Genius; nicht heute, nicht morgen, nicht so erfüllt sie sich, wie
der am Buchstaben haftende Deuter sie auslegt. Jene Union, belächelt
als ein Unding von denen, die an der Oberfläche der Dinge verweilen
-- alltäglich, stündlich schreitet sie vorwärts, seit die Bildung des
Protestantismus, die Ideen Lessings beginnen das Eigentum unseres
ganzen Volkes zu werden. Auf eine solche Union, die alle kirchlichen
Schranken überwunden hat, auf ein solches „neues Evangelium” deutet
das reifste Werk dieser theologischen Kämpfe Lessings, die Erziehung
des Menschengeschlechts. Seine ersten Schriften liegen noch jenseits
der Grenze dessen, was modernen Menschen lesbar scheint; mit dieser
tritt er bereits mitten hinein in die neue Wissenschaft. Denn lösen
wir ab, was uns befremdet, die parabolische Hülle, und wir schauen
als Kern: eine Philosophie der Geschichte; wir hören die Lehre von
dem Fortschreiten der Menschheit und von dem Gott, der die ganze Welt
beseelt, wir finden jenen historischen Sinn der Gegenwart, der in den
positiven Religionen „den Gang des menschlichen Verstandes” erkennt
und seinen stolz-demütigen Ausdruck erhält in Lessings Worten: „Gott
hätte seine Hand bei allem im Spiele, nur bei unsern Irrtümern nicht?”
Wohl mochte er empfinden, daß diesem kühnsten Fluge seines Geistes die
Zeitgenossen nicht folgen konnten; darum bat er: lasset mich stehen und
staunen, wo ich stehe und staune.

Auch die Dichtung, welche diesen Kämpfen entsproß, ragt hinaus über das
Verständnis seiner, und soll ich nicht auch sagen: -- unserer Zeit.
Denn wohl in tausend Herzen lebt jenes Evangelium der Duldung Nathans
des Weisen. Aber vor diesem Werke am schmerzlichsten empfinden wir,
daß die besten Männer unseres Volkes Helden des Geistes waren; hier
gerade tut sich vor uns auf eine unselige Kluft zwischen den Gedanken
unseres Volkes und seinem politischen Zustand. Erst wenn die Ideen des
Nathan in unserer Gesetzgebung sich vollständig verkörpert haben, dann
erst dürfen wir uns rühmen, in einer gesitteten Zeit zu leben. Wie man
auch denken möge über den Inhalt von Lessings theologischem Systeme --
in einem mindestens ist er schon jetzt der anerkannte Lehrer unseres
ganzen Volkes: er hat die sittliche Gesinnung vorgezeichnet, daraus
alle wissenschaftliche Forschung entspringen soll. Er sagte: „Ich weiß
nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit zu opfern. Aber
das weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder
gar nicht zu lehren.” Zum Gemeinplatze geworden sind seine Aussprüche
über das Recht der freien Forschung und noch hat keiner die Kühnheit
jenes Wortes überboten: „Es ist nicht wahr, daß Spekulationen über
Gott und göttliche Dinge der bürgerlichen Gesellschaft je nachteilig
geworden; nicht die Spekulationen -- der Unsinn, die Tyrannei ihnen zu
steuern.”

Und alle diese Werke in einer durchsichtigen Form, daraus überall
das leuchtende Auge des Denkers hervorblickt. Komisch beinahe, wie
in seinen ersten Werken das leidenschaftlich bewegte Herz ankämpft
gegen die Steifheit des überlieferten Verses. Wie anders der der
ungebundenen Rede aufs nächste verwandte Jambus des Nathan und jene
Prosa, die gar nicht anders kann als die augenblickliche Stimmung des
Schreibers getreulich widerspiegeln! Die augenblickliche Stimmung,
sage ich, denn wenn so häufig geklagt wird über die Widersprüche in
Lessings Schriften, über die Schwierigkeit, aus seinen Briefen seine
Herzensmeinung herauszulesen, so kann ich in dieser Klage nur den
sichersten Beweis für die Wahrhaftigkeit, die Unmittelbarkeit seiner
Schreibart finden. Wie ihm zumute war, hat er geschrieben, jede
Regung der Neckerei, des Widerspruchsgeistes, jeden Einfall eines
halbfertigen Gedankenganges rücksichtslos herausgesprochen, jeder
Übertreibung übermütig eine andere entgegengestellt. Und eben weil ihn
beim Schreiben nie der Gedanke störte, als könne je die Nachwelt über
seinen Schriften grübeln, eben darum ist es so leicht, den einen ganzen
Menschen aus allen seinen Widersprüchen herauszufinden.

Fragen wir endlich, wie Lessing sich stellte zu dem größten Gegenstande
männlicher Arbeit, zum Staate, so ließe sich wohl dawider fragen: ist
es nicht genug an den politischen Taten, die ich soeben geschildert?
Waren es nicht politische Taten, als er die Schranken der bestehenden
Stände durchbrach, als er ein Erzieher wurde des modernen Bürgertums,
als er unserem Volke ein starkes Selbstgefühl zurückgab gegenüber
der Kunst der Fremden und einer Nation gedrückter Kleinbürger den
unendlichen Gesichtskreis der Humanität erschloß? Gewiß, nur jene
sich liberal dünkenden Pedanten, welche alles staatliche Leben allein
in bestimmten Verfassungsformen enthalten glauben, werden hierauf
mit einem kurzen Nein antworten. Aber auch zu einem herzhaften Ja
werden sich nur wenige zwingen. Denn gelernt haben wir endlich, jeden
Mann zu fragen, ob er ein Vaterland habe, ob er das Wohl und Weh
des Gemeinwesens als seine Lust und sein Leid empfinde? Hier aber
erscheint modernen Augen eine Lücke in Lessings Bildung. Wer stimmt ihm
nicht zu, wenn er die Freunde Ramler und Gleim tadelt, daß in ihren
preußischen Kriegsliedern der Patriot den Dichter überschreie? Wer
entschuldigt es nicht, daß dem Mitlebenden der welthistorische Sinn
des Siebenjährigen Krieges verschlossen blieb, und er darin allein den
großen Genius des Königs zu bewundern fand? Und doch, stellet eine Ode
Ramlers oder das Lied des preußischen Grenadiers: „Auf einer Trommel
saß der Held” neben jenen geistsprühenden Brief Lessings, der in
solchem Patriotismus nur „eine heroische Schwachheit” sah -- und ihr
werdet gestehen, daß auf diesem Gebiete Lessing jene ärmeren Geister
um ihren Reichtum beneiden konnte: sie waren reicher um die große
Empfindung der Vaterlandsliebe.

Selbst in Tagen, die des freien politischen Lebens entbehren, entzieht
sich keiner gänzlich der Einwirkung des Staates. So läßt sich auch
von Lessing manches Wort und manche Tat aufweisen zum Belege, daß er
die Unfreiheit, die Kleinheit des deutschen Staatslebens empfand: wie
er gleich seinem Geistesverwandten Thomasius hinausstürmte aus der
Zahmheit und Enge des kursächsischen Wesens, wie er mit überlegenem
Lächeln auf den Gegensatz des Sachsentums und Preußentums hinabsah,
wie er das engherzige Mäcenatentum des Pfälzer Kurfürsten hochsinnig
zurückwies, wie auch ihm die Klage sich entrang: wann werde Deutschland
je einem Beherrscher gehorchen? Aber blicken wir von solchen
vereinzelten Zügen auf jene Freiheitstragödie Henzi, die von blinden
Verehrern als ein ganz modernes Werk gepriesen wird, so erkennen wir
sofort, wie ganz anders als die Gegenwart Lessings Tage sich zu den
Kämpfen des Staatslebens stellten. Welche Armut der Motive hier bei
ihm, der uns überall sonst durch den Reichtum poetischen Details
entzückt! Wie künstlich wird doch die lebendige Fülle des Parteiwesens
zugespitzt zu dem kahlen abstrakten Gegensatze von Tyrannei und
Freiheit! Nicht bloß die Jugend des Dichters ist schuld an solcher
Armut, die Gesinnung eines Bürgertums vielmehr spiegelt sich darin
wider, das die werktätige Teilnahme am Staate noch nicht kannte und
darum von dem Inhalt politischer Kämpfe noch keine Anschauung besaß.
Offenbar hat Lessings Denken die politischen Fragen nur berührt, an
wenigen Stellen berührt. Den Publizisten von Gewerbe rief er sogar,
seinem praktischen Wesen getreu, die Mahnung zu, solche Dinge zu
überlassen „dem Staatsmanne und vornehmlich demjenigen, den die Natur
zum Weltweisen machen wollte, weil sie ihn zum Vorbilde der Könige
machte”.

Trotzdem sind jene hingeworfenen politischen Gedanken Lessings
keineswegs überlebt, nicht einmal erledigt. Denn wie man von der
Humanität der Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts gesagt hat, sie
sei herabgestiegen vom Himmel auf die Erde, so hat auch Lessing, der
die alltäglichen Pflichten des Staates übersah, einige der höchsten
Probleme der Staatskunst beleuchtet, die erst eine ferne Zukunft
lösen wird. Die Gesittung der Gegenwart steht zugleich über und
unter den Ideen der Humanität unserer Väter. Sie blickt hernieder
auf ein Volk von Privatmenschen, das den Patriotismus nicht kannte,
aber demütig schaut sie empor zu jenen Weisen, die, menschlichen
Sinnes voll, nach der Grenze fragten, „wo Patriotismus Tugend zu
sein aufhört”. Mit der traurigen Wirklichkeit, die Lessing umgab,
mit dem Elend der Notstaaten, darin er lebte, entschuldigen wir es,
daß auch ihm, wie allen deutschen Denkern seiner Zeit, sehr schwer
ward, die Notwendigkeit des Staates zu verstehen, daß auch ihn jene
Frage beschäftigt hat, die ein Volk mächtiger und glücklicher Bürger
nie lange betrachten mag, die Frage: ist die Abschaffung des Staates
möglich oder zu wünschen? Desgleichen in die überwundene Epoche
vorherrschenden Privatlebens verweisen wir seine Lehre, daß der Staat,
obwohl er erst „den Anbau der Vernunft möglich mache”, doch nur ein
Mittel sei für die Bildung des einzelnen Menschen. Aber weit hinaus
über den Gesichtskreis der Nachwelt selber schweift er wieder, wenn er
in den Freimaurergesprächen das tiefsinnige Problem durchdenkt: wie
lassen sich die Übel der Beschränktheit und der Härte heben, die das
Bestehen mehrerer Staaten notwendig hervorruft? Wie ist eine Verbindung
möglich aller guten Menschen ohne Ansehen des Standes, des Landes und
des Glaubens zum Zwecke rein menschlicher Gesittung? In diesen Worten,
fürwahr, eröffnet sich die Aussicht auf einen menschlichen Verkehr
der Völkergesellschaft, den erst ferne Tage schauen werden. Wie aber?
Steht nicht dies Weltbürgertum ein Todfeind gegenüber dem ersten und
berechtigtsten Streben der Gegenwart, dem Drange nach nationaler
Staatenbildung? Ich denke, nein. So tiefsinnig, so überschwenglich
reich ist das Leben der Staaten, daß niemals eine Geistesrichtung
allein darin herrschen kann. Noch heute leben sie, jene Gedanken von
dem Weltbürgertume, und eben jene dürfen sich heute Lessings getreueste
Diener nennen, die -- seinem Geist, nicht dem Klange seiner Rede
folgend -- am rührigsten für den nationalen Gedanken wirken. Wenn
erst von den großen Kulturvölkern jedes zerrissene sich geeint, jedes
geknechtete aus seinem Volksgeiste heraus seinen Staat sich gestaltet
hat, wenn damit verschwunden sind die größten, die gefährlichsten
Anlässe des Haders, die bisher Staat mit Staat verfeindet: dann erst
wird jener gesicherte Verkehr der Menschen, jenes Weltbürgertum sich
vollenden in einem tieferen, reicheren Sinne, als Lessing meinte, und
allüberall wird man reden von seinem Sehergeiste. Dann auch wird die
Welt den Kern der Wahrheit herausfinden aus einem Worte, das in dem
schwer ringenden Menschengeschlechte niemals ganz sich verwirklichen
darf -- aus dem himmlisch milden: Was Blut kostet, ist gewiß kein Blut
wert.

Und Lessing ahnte, daß Zeiten harten, aufreibenden staatlichen Kampfes
unserem Volke kommen würden. Das bezeugt sein gehaltvolles Urteil
über die Geschichte. Wie sicher begreift er das der Kunst verwandte
Wesen der Geschichtschreibung, wenn er die Bildung des „Gelehrten und
des schönen Geistes zugleich” von dem Historiker fordert. Und sollte
wirklich nur eine skeptische Laune, und nicht vielmehr eine Ahnung der
politischen Bedeutung historischer Wissenschaft sich aussprechen in
seinem vielgescholtenen Paradoxon: im Grunde könne ein jeder nur der
Geschichtschreiber seiner eigenen Zeit sein --? So scheinen ihm alle
Vorteile umfassender archivalischer Forschung nichtig gegen die Vorzüge
des zeitgenössischen Geschichtschreibers, daß er seinen Menschen bis
in Herz und Nieren blicken, daß er seine Leser durch die Erzählung von
ihrer eigenen Schuld und Strafe im Innersten ergreifen und -- vor allem
-- daß er eine Macht werden kann unter den Lebenden.

Soll ich noch schildern, wie wenig die Mitlebenden ihm dankten,
wie schwer das Geschick bis zum Ende ihn heimsuchte? Das widrige
Sprichwort, das in jenen weichlichen Tagen von Mund zu Mund ging, das
Wort: „Geteilter Schmerz ist halber Schmerz” hatte der Jüngling schon
mit der stolzen Gegenrede abgewiesen:

    Was nutzt mir's, daß ein Freund mit mir gefällig weine?
    Nichts, als daß ich in ihm mir zwiefach elend scheine.

Einsam ist er durch das Leben geschritten, und sein alle Weichheit
des Gefühls mißachtender Sinn neigte sich zu dem Grundsatze antiker
Sittlichkeit, der Weiber und Sklaven von den höchsten Forderungen des
Sittengesetzes ausschloß. Dann hat ihm der klare und heitere Geist
seiner Eva König jene treue und tiefe Neigung erweckt, die mit ihrem
verständigen, derb bürgerlichen Wesen in den Herzensgeschichten der
Dichter ihresgleichen nicht findet. Ein Jahr einer glücklichen Ehe
lehrte ihn größer von den Frauen zu denken; dann am Abend seines
Lebens entrang sich ihm jene schreckliche Klage: „Meine Frau ist tot,
und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Es ist mir lieb, daß
mir viele solche Erfahrungen nicht mehr übrig sein können, und ich
bin ganz leicht.” Wenn er aber aus dem tiefen Schmerze hinausblickte
in sein Haus und in die Welt der Kunst, so hat er sicher empfunden,
daß seine Saat aufging. Die Kinder seines Weibes hörte er verkehren
in dem Tone schlichter offener Herzlichkeit, er sah eine segensreiche
Verwandlung des häuslichen Lebens und durfte sich sagen, daß er selber
ein Großes daran gewirkt. Und in der Kunst, deren Fesseln er gebrochen?
Da stürmte Götz von Berlichingen über die Bretter, und die Jünglinge
klagten in überströmender Empfindung um die Leiden des jungen Werther.
Mochte der Maßvolle der regellosen Weise des jungen Geschlechts zürnen
und spotten über die weichen Gefühle, die seinen hellenischen Sinn
nie berührt, und die Rechte der Kultur verteidigen wider Rousseaus
Naturschwärmerei: -- mit freudigem Verständnis hat er doch den Genius
begrüßt, als Goethe jene grandiose Fabel besang, die zu ewig neuen
Liedern den Sinn der Sterblichen begeistern wird, die Fabel von dem
Lichtbringer Prometheus.

Um das Todesjahr Lessings ging von der Einsiedelei in Sanssouci die
denkwürdige Schrift aus „Über den Zustand der deutschen Literatur”.
Zu ihr möchte ich alle jene führen, die noch immer das Tendenzmärchen
wiederholen, dem großen König habe das Herz gefehlt für unser Volk.
Ist es nicht genug an dem einen Fluche der Deutschen, der noch heute
gewaltig fortwirkt in allen Zweigen unseres Volkslebens bis hinab in
die Sprache und die traulichen Umgangsformen des Hauses -- daß Luther
der einen Hälfte der Nation der gepriesene Erretter, der anderen ein
Greuel ist? Noch fern ist die Zeit -- doch auch sie wird erscheinen
--, wo alles, was deutsche Zunge redet, den deutschen Helden in Luther
begrüßen wird. Schon jetzt aber ist die Stunde gekommen, den anderen
Mann, der nächst Luther am gewaltigsten für die neueren Deutschen
gewirkt, von den Schmähungen zu entlasten, womit blinde Parteiwut ihn
bedeckt hat. Nicht die preußische Neigung des heutigen Liberalismus
hat unserem großen König den Ruhm eines nationalen Helden angedichtet;
kein anderer als Goethe sprach das gute Wort: Friedrich der Große erst
habe durch seine Taten unserem Volksleben jenen großen heroischen und
nationalen Inhalt gegeben, den Lessing in schöne Formen bildete. Ihn,
der also den Stoff geboten für die neuerstandene Dichtung -- hören wir
ihn reden über die Kunst der Deutschen! Klagen, bittere Klagen über
die form- und zuchtlose Sprache, Klagen, daß unsere Sprache noch nicht
in die Schnürbrust eines Wörterbuchs der Akademie eingezwängt sei,
daß die Dramen Shakespeares, „würdig der Wilden von Kanada”, und die
„abscheulichen Plattheiten” des Götz von Berlichingen das rohe Volk
erfreuen! Wir erstaunen über diesen unerhörten Beweis der französischen
Bildung des Königs und seiner gänzlichen Unkenntnis der deutschen
Dichtung; doch lesen wir weiter in derselben Schrift, so redet uns
mächtig zum Herzen die deutsche Empfindung desselben Mannes, der
bewegte Ausdruck des Zornes und der Scham über solche Armut der Kunst
seines Volks, das frohe Aussprechen endlich einer großen nationalen
Hoffnung. Nicht an Geist gebreche es den Deutschen; schon sei der
Ehrgeiz der Nation erwacht, „und vielleicht werden, die zuletzt kommen,
alle Vorhergehenden übertreffen. Ich bin wie Moses”, ruft der König am
Ende, „ich sehe das gelobte Land aus der Ferne, doch ich bin zu alt, um
es je zu betreten”.

Nun halte man neben diese Worte des Königs Lessings berufene Klage:
der Charakter der Deutschen sei, keinen eigenen Charakter haben zu
wollen -- in wie seltsamem Irrtum verfingen sich doch die beiden!
Der König erwartet den Glanz unserer Dichtung von den französischen
Regeln, und siehe, er kam durch die Freiheit. Der König meint in der
Ferne das gelobte Land zu sehen, und siehe, er selbst stand mitten
darin. Desgleichen der Dichter, der so schmerzlich fragte nach dem
Nationalcharakter der Deutschen -- hätte er lesen können in der Seele
jener preußischen Soldaten, die bei Roßbach die Franzosen warfen und
bei Leuthen in der Winternacht das „Herr Gott Dich loben wir” sangen,
gewiß, er hätte begriffen: die lebendige Staatsgesinnung, die er
suchte, sehr unreif war sie, doch sie war im Werden. So standen die
beiden im Nebel der Nacht: der König, der einen Lessing suchte für
unsere Kunst, und der Dichter, einen Friedrich suchend für unseren
Staat. Inzwischen ist es Tag geworden, die Nebel sind gefallen, und wir
sehen die beiden dicht nebeneinander auf demselben Wege: den Künstler,
der unserer Dichtung die Bahn gebrochen, und den Fürsten, mit dem das
moderne Staatsleben der Deutschen beginnt.

Und wäre es denn ein Zufall, daß achtzig Jahre nach Lessings Tode
gerade sein Bildnis den Anstoß gab zu einem heilsamen Umschwunge
unserer Bildnerkunst? Versuchen wir uns zu versenken in die Seele des
Künstlers, dem jene Aufgabe ward. Sollte er Lessing bilden in der
Toga -- ihn, der das gespreizte Römertum der Franzosen erbarmungslos
verspottete? Oder in dem beliebten Theatermantel -- ihn, der im Leben
jeden falschen Schein verschmähte? Da blieb kein Ausweg: kraftvoll,
schlicht und wahrhaft wie er selber -- oder gar nicht mußte Lessings
Bild erscheinen. Und der glückliche Entschluß einmal gefaßt, hat unserm
Rietschel jedes Glück des Genius gelächelt, aus jeder Not ward ihm
eine Tugend. Der steife Haarbeutel ward ihm ein Anlaß, die vollendeten
Linien des wallenden Haares zu zeichnen, und die Enge des kurzen
Beinkleides erlaubte ihm, die gedrungene Kraft der Glieder zu zeigen.
So sehen wir Lessings Bildnis vor uns -- die erste Bildsäule der
Deutschen, darin der entschlossene wahrhaftige Realismus der Gegenwart
sich in höchster Ehrlichkeit offenbart -- schmucklos und stark,
gehobenen Hauptes, und diese trotzigen Lippen scheinen zu reden:

    Was braucht die Nachwelt, wen sie tritt, zu wissen,
    Weiß ich nur, wer ich bin.



Ludwig Uhland



Ludwig Uhland.


Ist es vorteilhaft, den Genius bewirten, -- wie neidenswert ist dann
das Haus, das eines edlen Sängers Lied preisend gegrüßt hat! Noch
leben manche, denen Ludwig Uhlands Muse ein herzliches Wort in ihr
Heimwesen gesendet, aber kein Haus in Deutschland hat sie so reich
beschenkt wie das königliche Haus von Württemberg. Als die schweren
Hungerjahre kaum vorübergegangen, lag eine tiefe und gerechte Trauer
auf dem schwäbischen Stamme um den Tod der Königin Katharina. Ihr Volk
hatte von ihr das gute Wort gehört: „Helfen ist der hohe Beruf der Frau
in der menschlichen Gesellschaft,” und hatte sie von Hütte zu Hütte
ziehen sehen in der harten Zeit, Arbeit bringend den feiernden Händen.
Vor solcher menschlichen Größe beugte sich die Muse des bürgerlichen
Sängers, die sich rühmte: „Sie hat nicht Anteil an des Hofes Festen.”
Fast zaghaft, unwillig, auch nur den Schein der Schmeichelei auf
sich zu nehmen, trat sie unter die Trauernden und legte auf den Sarg
der Königin den „Kranz von Ähren” mit einem der schönsten Gedichte
deutscher Sprache:

    Und hat sie nicht die Lebenden erhoben,
    Die Toten, die nicht hören, darf sie loben.

Ein Menschenalter ging darüber hin, und im November 1862 eilten von
nah und fern Leidtragende zu der Bahre des Sängers. Wer aber im Lande
Württemberg seine Empfindung nach dem Winke des Hofes zu stimmen wußte,
hütete sich sorglich, dem Toten, der nicht hörte, ein letztes Zeichen
menschlichen Mitgefühls zu erweisen.

Gern begönne ich diese Schilderung mit einem minder bitteren Worte
-- wäre nur diese häßliche Tatsache eine vereinzelte Erscheinung!
Doch leider, wenn wir der zahlreichen nationalen Erinnerungsfeste der
jüngsten Jahre gedenken: wie gehässig hob sich da die Gleichgültigkeit,
das schlecht verhehlte Mißtrauen der Höfe ab von der warmen Teilnahme
der Menge! Der politische Parteikampf wirkt bereits verwirrend und
verfälschend auf jene Gefühle, die unser Volk als einen gemeinsamen
Schatz hegen sollte, er läßt den einen als fremde, unheimliche
Gestalten jene Männer erscheinen, zu denen die große Mehrheit des
Volkes mit herzlicher Liebe emporblickt. Nicht selten zwar haben
solche Feste der Erinnerung den Ränken der Parteien, der eitlen
Selbstbespiegelung als willkommener Vorwand gedient, und sehr
verletzend tritt bei solchem Anlaß dem ernsten Beobachter eine traurige
Schwäche unserer Gesittung entgegen: Wir modernen Menschen sind allzu
bereit, auf gegebenen Anstoß gleich einer Herde alle das gleiche zu
tun, das gleiche zu empfinden. Dennoch ist die Gesinnung, welche heute
eine Rede, eine Schrift über Uhland nach der andern hervortreibt, in
ihrem Grunde echt und tüchtig. Denn eben weil die Höfe mit anderen
Augen als das Bürgertum auf unsere Geschichte blicken, eben darum
sollen wir laut bezeugen: nicht wir haben es vergessen, wie rein und
schön der Dichter von unserem Hause, von deutschem Land und Volk
gesungen und wie wacker er für uns gefochten hat.

Wieviel heiterer und menschlicher war doch die Sitte des deutschen
Hauses in den Tagen der Kindheit unseres Dichters, als vordem, da
Schiller sich aufbäumte wider die Unfreiheit des schwäbischen Wesens!
Ein Stilleben freilich war es, schlicht und schmucklos, das in der Enge
des ehrenfesten wohlhäbigen Bürgerhauses zu Tübingen sich abspann:
doch keinen gesunden Trieb des Kindes verkümmerte die verständige
Zucht, und diesem Knaben am wenigsten wäre es ein Segen gewesen, hätte
er ankämpfen müssen gegen erdrückenden Zwang. Denn wohl die erste
Empfindung, die jedem sich aufdrängt beim Rückschauen auf dies schöne
Dasein, ist das Erstaunen, wie leidenschaftslos dieser reizbaren
empfänglichen Künstlerseele das Leben verlief. Selbst jene tiefe
männliche Liebe, die Uhlands Herz erfüllte, der er so oft im Liede
Worte geliehen, die Liebe zu seiner Kunst, wie gehalten und ruhig
tritt sie zutage! Jahrelang konnte er harren, schmerzlos harren, bis
der Gott ihn rief, und seine Dichterkraft, die man erstorben wähnte,
uns mit neuen edlen Gaben beschenkte. Noch ist es nicht unnütz, diese
Tatsache laut zu betonen. Denn wenigstens den Nachwehen jener Zeit
der falschen Geniesucht, die auch einen Uhland unter die prosaischen
Menschen verwies, begegnen wir noch heute. Immer wieder hören wir die
Unterscheidung von poetischen Naturen und poetischen Talenten, und
allzuoft vergißt man die triviale Wahrheit, daß schon der Name einer
poetischen Natur die schöpferische Kraft bezeichnet. Wir Deutschen
vornehmlich sind es uns schuldig, solche Vorurteile einer schwächlichen
Epoche entschlossen abzuschütteln. Wir müßten ja, wären sie begründet,
das Ungeheuerliche tun und uns selber unseren polnischen Nachbarn, die
Engländer den Iren als prosaische Naturen unterordnen! Die Erscheinung
freilich ist auch unter deutschen und englischen Künstlern selten, daß
zu großer Kraft und Wärme der Phantasie ein gehaltenes Gleichmaß der
Stimmung, nüchterner Ernst und trockene Schroffheit des Auftretens sich
gesellen. Diese Verbindung des Widerstrebenden in Uhlands Bilde hat
oftmals auch jene befremdet, welche bescheiden verstehen, daß in den
feinsten Naturen die Charakterzüge sich am seltsamsten mischen.

Und doch verdankt der schwäbische Dichter seinem nüchternen
altbürgerlichen Sinne einen guten Teil seines Ruhmes. Keine
glücklichere Mitgift konnte der Sänger sich wünschen in jenen
verworrenen Tagen der Romantik, die Uhlands Bildung bestimmten. Nach
volkstümlichen Stoffen verlangte die junge Dichterschule; sie empfand,
daß das Ideal der klassischen Dichtung unserem Volke ein fremdes sei,
und das Bild der Göttin mit den Rosenwangen heute nur das Herz weniger
Hochgebildeter ergreifen könne. Sehr lebhaft fühlte auch Uhland den
Gegensatz der antiken und der germanischen Gesittung. Ein Aufsatz aus
seiner Jugend „Über das Romantische” sagt darüber: „Die Griechen, in
einem schönen genußreichen Erdstriche wohnend, von Natur heiter,
umdrängt von einem glänzenden, tatenvollen Leben, mehr äußerlich
als innerlich lebend, überall nach Begrenzung und Befriedigung
trachtend, kannten und nährten nicht jene dämmernde Sehnsucht nach
dem Unendlichen. Der Sohn des Nordens, den seine minder glänzenden
Umgebungen nicht so ganz hinreißen mochten, stieg in sich hinab. Wenn
er tiefer in sein Inneres schaute als der Grieche, so sah er eben darum
nicht so klar. Er verehrte seine Götter in unscheinbaren Steinen, in
wilden Eichenhainen: aber um diese Steine bewegte sich der Kreis des
Unsichtbaren, durch diese Eichen wehte der Odem des Himmlischen.” --
Glückliche Tage, da eine hochbegeisterte Dichterjugend auszog nach dem
Wunderlande der germanischen Vorwelt und aus den lange verschütteten
Schächten der mittelalterlichen Gesittung ungeahnte Schätze zutage
förderte! Während heute Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft im
Vordergrunde unseres nationalen Wirkens stehen, gab damals die Dichtung
dem gesamten geistigen Leben Anstoß und Richtung.

Das vielgerühmte Weltbürgertum der Deutschen ward damals erst zur
Wahrheit, seit uns das Verständnis aufging für das Gemütsleben unserer
eigenen Vorzeit, seit der historische Sinn unter den Deutschen
reifte. Wir lernten den Volksgeist in seinem Werden belauschen,
den Glauben, die Kunst, die Sitte verschollener Tage in ihrer
Notwendigkeit verstehen. Die religiöse Innigkeit der Romantik machte
mit einem Schlage dem selbstgefälligen Rationalismus ein Ende,
der so lange über „die Nacht des Mittelalters” vornehm gelächelt
hatte. Die Hellenen der modernen Welt erbauten sich wieder an dem
überschwenglichen Reichtume des Gemüts, der in den Bildwerken des
Mittelalters so rührend hervorbricht aus der Gebundenheit unfertiger
Formen. Das Auge der Menschen erschloß sich wieder für die feierliche
Großheit der gotischen Kunst, die vordem nur von einer stillen
Gemeinde hellblickender Verehrer verstanden ward. Lange hatte sich
der politische Idealismus der Deutschen -- wo er bestand -- an den
Bildern der Reformationszeit und des großen Friedrich begeistert; nur
dann und wann war ein Lied von Arminius erklungen; jetzt umfaßte
die Sehnsucht der Patrioten mit leidenschaftlicher Bewunderung die
Heldengestalten der Stauferkaiser. Wir wurden wieder Herren im eigenen
Hause und begriffen eben darum jetzt erst die innige Verwandtschaft
der Völkerfamilie des Abendlandes. Eine neue Welt voll gemütlicher
Innigkeit und Sehnsucht, voll phantastischen Zaubers und malerischer
Schönheit ging den Romantikern auf: „Das Dunkelklare”, gesteht Uhland,
„ist mir überall die bedeutendste Färbung, im menschlichen Auge, im
Gemälde, in der Poesie, wie bei Novalis.” Auch das landschaftliche
Auge des Volkes ward ein anderes. Solange Menschen leben, wird der
Streit nicht enden, ob die heitere Pracht eines ionischen Tempels
herrlicher sei als das ahnungsvolle Dunkel eines gotischen Domes,
der zürnende Achilleus erhabener als die rächende Kriemhild. Nur in
einem, in dem Verständnis der Seele der Landschaft, war die Romantik
der klassischen Kunst ebenso gewiß überlegen, als ein schwellender
duftiger Kranz deutscher Waldblumen tausendmal schöner ist denn
jene straff gewundenen Lorbeergirlanden, welche die Bildwerke der
Alten schmücken. Herzlicher, sinniger denn je ward nun von den
Dichtern besungen der feierliche Ernst der Waldeinsamkeit, da die
Geister des Waldes über den schweigenden Blättern weben, und der
wollüstige Zauber jener Sommernächte, da der berauschende Duft der
Lindenblüten dem Träumenden den Sinn verwirrt und das Mondlicht auf
den bemoosten Schalen klarer Brunnen spielt, und die erhabene Pracht
des Hochgebirges, wo weltbauende Mächte in den gewaltigen Formen jäh
abstürzender Felsen sich offenbaren. Niemals, sicherlich auch nicht in
den prosaischen ersten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts, waren
unter den Germanen gänzlich ausgestorben jene träumerischen Gemüter,
die vor solchen Szenen ursprünglicher Naturschönheit von den Schauern
des Weltgeheimnisses sich durchzittern ließen; aber jetzt erst ward
weithin im Volke die Freude lebendig an diesen „romantischen” Reizen
der Natur. Kaum ein Städtchen heute in Deutschland, das nicht irgendwo
einen lauschigen Platz dem Freunde der Natur wohlumfriedigt zu stillem
Genusse böte; die romantische Dichtung hat an dieser weiten Verbreitung
des Natursinnes im Volke ein reiches Verdienst.

Vergebliche Mühe, in wenigen Worten die vielseitigen Anregungen
zu schildern, die von dieser geistvollen Dichterschule ausgingen.
Sie begnügte sich nicht, unserem Volke für seine Vorzeit, seine
wunderreiche Sagenwelt und die Schönheit seines Landes den Sinn zu
eröffnen; bald schweifte sie hinweg zu den Schätzen der Kunst aller
Zeiten und aller Völker. Das Volkstümliche in der Gesittung aller
Nationen begann sie zu verstehen und zu übertragen. Ihr danken wir
eine unermeßliche Erweiterung unseres Gesichtskreises. Unsere harte
männliche Sprache erwies sich zum Staunen der Welt zugleich als die
empfänglichste, schmiegsamste, spiegelte getreulich die Schönheit
jeder fremden Dichtung wider, sie nahm in ihrem Tempel gastlich die
Götter aller Völker auf. Doch nach so weiten Entdeckungsfahrten war die
romantische Schule unversehens zur gelehrten, dem Volke entfremdeten
Dichtung geworden in einem anderen, ärgeren Sinne, als die klassische
Poesie es je gewesen. Den weiblichen Naturen der Tieck und Schlegel war
es eine Freude, sich zu versenken in die Träume einer untergegangenen
Welt, und bald erschien ihnen nur das Fremdartige poetisch, und
aus der Lust an den glücklich bewältigten künstlichen Formen der
romanischen und orientalischen Dichter erwuchs unserer Dichtung, was
der Sprache und dem Gemüte der Germanen am meisten zuwider ist: das
virtuose Spielen mit der Form. Mehr feine, empfängliche Kunstkenner als
schöpferische Künstler, wandten sich die Häupter der Schule hinweg von
der sprödesten und geistigsten Gattung der Poesie, dem Drama, das vor
allem einen reichen Inhalt verlangt. Als hätte nie ein Lessing gelebt,
wurden die Grenzen von Poesie und Prosa wiederum verwischt, und die
Überfülle der aus der Dichtung aller Völker aufgesammelten poetischen
Bilder hinübergetragen in die neue Wissenschaft, die nicht mehr nach
Beweisen, nur nach „Anschauungen” suchte, und in die neue Religion, die
nicht mehr das Gemüt erbauen, nur den Schönheitssinn erfreuen wollte.

Vor solchen Verirrungen der Verfeinerung und Überbildung ist Uhland
bewahrt worden durch seine köstliche schlichte Einfalt. Er war
aufgewachsen in einer Umgebung, wie sie dem Reifen des Künstlersinnes
nicht günstiger sein konnte, in einem schönen, reichen, sagenberühmten
Lande, wo doch nirgends eine übermächtige Pracht der Natur den freien
Sinn des Menschen erdrückt. Er ist immerdar ein Schwabe geblieben und
hat der kindlichen Liebe zu seiner Heimat oftmals Worte geliehen,
am rührendsten wohl in jenen Versen, die ein Tal seiner Heimat also
anreden:

    Und sink' ich dann ermattet nieder,
    So öffne leise deinen Grund
    Und nimm mich auf und schließ ihn wieder
    Und grüne fröhlich und gesund.

Wer je südwärts geschaut hat von Hohentübingen, wo der Blick die
ganze Kette der Alb vom Hohenzollern bis zum Hohenstaufen beherrscht,
dem wird dies edle Landschaftsbild aus Uhlands schönsten Liedern
immer wieder entgegentreten. Weil seine Dichtung also natürlich
emporwuchs aus dem mütterlichen Boden des schwäbischen Landes und
Volkes, so bewahrte sie sich jene derbe Naturwahrheit, die den meisten
Kunstwerken der Romantik sehr fern liegt: auch wo sie zarte, sanfte
Stimmungen ausspricht, wird sie nur selten verschwommen. Vor langen
Jahren schon ging unter den Schwaben die Rede: jedes Wort, das der
Uhland gesprochen, ist uns gerecht gewesen. Die Stammgenossen erhoben
den Dichter auf den Schild, über die Schultern gewöhnlicher Menschen
empor; wer ihn verkleinert, kränkt den gesamten Stamm. Eben diese
volkstümliche Tüchtigkeit gibt seinem Wesen eine harmonische Ruhe,
eine geschlossene Festigkeit, die nur wenigen Sängern der Romantik
eignet. Nicht leicht konnten die Dichter einer Schule, die so ganz in
der Sehnsucht nach längst entschwundenen Tagen lebte, jene olympische
Ruhe, jene selige Heiterkeit der Seele erwerben, welche dem Klassiker
Goethe das Recht gab, Tadlern und Lobrednern lächelnd zu sagen: „Ich
habe mich nicht selbst gemacht.” Wahrhaft harmonische Charaktere sind
unter den Heroen der Romantik fast allein die Männer der Wissenschaft,
so Savigny, die Grimms und der liebenswürdigste der Menschen, Sulpiz
Boisserée; unter den Dichtern der Romantik stehen neben Uhland nur sehr
wenige, deren Seele nicht getrübt ward durch einen unklaren, unfreien,
friedlosen Zug.

Auch er schaute mit der inbrünstigen Sehnsucht der Menschen des
Mittelalters zu dem Überirdischen empor; so recht den Herzschlag des
Dichters hören wir in dem frommen Gedichte „Die verlorene Kirche”:

    Ich sah hinaus in eine Welt
    Von heil'gen Frauen, Gottesstreitern.

Aber suchte Friedrich Schlegel in jener Vorzeit den phantastischen
Reiz des Alten und Fremden, einer unfreien Gesittung, so liebte
Uhland das Mittelalter, weil er in ihm die ungebändigte Kraft
eines ursprünglichen, farbenreichen Volkslebens und vor allem die
Herrlichkeit des vaterländischen Wesens bewunderte. So wurde jener
durch seine ästhetische Neigung dem freien Leben der Gegenwart
entfremdet und, obwohl er am lautesten den Ruf nach volkstümlicher
Dichtung erhoben, in eine undeutsche, katholische Richtung getrieben.
Uhland aber ward der vornehmste Dichter jener jüngeren, kräftigeren
Richtung der Romantik, welche der ursprünglichen Absicht der Meister
getreuer blieb als diese selber, und in unserer Vorzeit nur das noch
heute Lebendige, die deutsche Weise, bewunderte. Darum schöpfte er,
gleich den Brüdern Grimm, aus der liebevollen Erforschung des deutschen
Altertums Mut und Kraft zum Kampfe der deutschen Gegenwart; darum
verwarf er jeden Versuch, die Formen mittelalterlicher Gesittung in
unseren Tagen wieder zu erwecken, und sprach herbe Worte wider die
„erzwungene Begeisterung”, als es wieder lebendig ward um den alten
Krahn in Köln und der schönste aller Dome aus Schutt und Trümmern
zu neuer Pracht emporstieg. -- Nicht unsere klassischen Dichter,
deren Werke ihn nur teilweise tiefer berührten: die Dichtungen des
Mittelalters, die Volkslieder vornehmlich sind seine Lehrer gewesen,
und mit diesen Worten ist auch sein Platz in der Geschichte unserer
Dichtung bezeichnet. Es ist wahr, schon Goethes lyrische Muse hatte
viele ihrer herrlichsten Klänge dem deutschen Volksliede abgelauscht.
Aber für Goethes geniale Vielseitigkeit war diese Anregung nur
eine unter vielen anderen, ja im Alter stellte er sich zornig dem
romantischen Nachwuchs als einen „Plastiker” gegenüber; Uhland dagegen
hat das Eigenste seiner Kraft an den Gedichten des Mittelalters
gebildet. Sie wirkten auf den Mann kaum minder mächtig als auf den
Knaben an jenem Tage, da er zuerst das Nibelungenlied vortragen hörte
und, so sagt man, in tiefer Bewegung aus dem Zimmer eilte. An dem Liede
von Walther und Hildegunde fand er als Student zuerst eine Poesie, die
sein innerstes Wesen ergriff. „Das hat in mich eingeschlagen,” bekennt
er. „Was die klassischen Dichtwerke trotz meines eifrigen Lesens mir
nicht geben konnten, weil sie mir zu klar, zu fertig dastunden, was ich
an der neueren Poesie mit all ihrem rhetorischen Schmucke vermißte,
das fand ich hier: frische Bilder und Gestalten mit einem tiefen
Hintergrunde, der die Phantasie beschäftigte und ansprach!”

So ward ihm das hohe Glück, inmitten einer überbildeten, nach den
fremdesten und fernsten Reizen jagenden Kunst einen festen Kreis edler
Stoffe zu beherrschen, welche darum unfehlbar wirken mußten, weil ein
ganzes Volk sie durch Jahrhunderte gehegt und gebildet hatte. Und
noch schärfer sogar schied er sich ab von den älteren Romantikern
durch seine Weise, die Form der Kunst zu handhaben. Sein feines Ohr
empfand, daß eine Sprache voll Härten des musikalischen Wohlklangs der
romanischen Rede nur bis zu einem gewissen Grade fähig sei. Auch er
hat Sonette und Glossen gedichtet und die Assonanz statt des Reimes
gewagt; aber ungleich maßvoller als die Tieck und Schlegel brauchte er
diese fremden Formen, und nach uralter, deutscher Weise war ihm in der
Kunst der Inhalt das Bestimmende. Wäre ihm in seinem „Sängerstreite”
mit Rückert statt der guten Sache: „Falschheit kränket mehr denn
Tod”, die schlechte Meinung: „Eh'r falsch als tot”, zur Verteidigung
zugeteilt worden: er hätte sicherlich nicht jene kunstvollen, feinen
Wendungen gefunden, wodurch sein Gegner sich zu decken wußte; ein
Scherz vielmehr hätte ihm aus der Not helfen müssen. Schon im Jahre
1812 lobte er sich die „ursprünglich deutsche Art”, die Innigkeit der
Empfindung, im Gegensatz zu der formen- und bilderreichen Dichtung
des Südens. Der alte Spruch: „Schlicht Wort und gut Gemüt ist das
echte deutsche Lied”, war ihm fortan der Wahlspruch seiner Kunst.
Die einfacheren Formen aber, die er dem Genius unserer Sprache gemäß
fand, hat er mit vollendeter Kunst beherrscht, während Tieck mitten in
der gesuchten Formkünstelei oftmals sogar die Korrektheit vermissen
läßt. Und gelang es der älteren Romantik, weil nur ein ästhetisches
Wohlgefallen sie zu dem deutschen Altertume führte, sehr selten die
naive Weise des Mittelalters zu treffen, so wußte Uhland, weil er mit
ganzer Seele in jene Vorzeit sich versenkte, seine Mären so glücklich
in treuherzig altertümlichem Tone vorzutragen, daß wir heute kaum
noch begreifen, wie solche Stoffe jemals anders dargestellt werden
konnten. Sein natürliches, wissenschaftlich geschultes Sprachtalent hat
unserer modernen Dichtung eine Fülle schöner altertümlicher Wendungen
und Wörter neu geschenkt, davon die junge Welt kaum weiß, daß sie uns
einst verloren waren. Seinem strengen Formensinne war ein Greuel jenes
phantastische Verzerren der Natur, jenes Spielen mit „duftenden Farben”
und „tönenden Blumen”, das die Romantik liebte. Feste, starke Umrisse
gab er, wo es not tat, seinen Gestalten, also daß wir aus manchen
seiner Gedichte den tüchtigen Zeichner erkennen, der in der Ausübung
der bildenden Kunst sein Formgefühl schulte. Mit Recht hat man ihn
darum einen Klassiker unter den Romantikern geheißen.

Dieser ernste Künstlersinn offenbarte sich vornehmlich in Uhlands
weiser Selbstbeschränkung, einer antiken Tugend, die uns Modernen
nicht leicht fällt. Ein Künstler von Grund aus und ein denkender
Künstler, wie jede Zeile seiner Gedichte zeigt, hat er vielleicht
weniger als irgendeiner unserer namhaften Dichter die Neigung zur
Kritik und literarischen Fehde verspürt. Auf das Können, das ganze
und rechte Können ging er aus; er am wenigsten wollte das Schlagwort
der romantischen Dilettanten gelten lassen, daß man ein Dichter sein
könne, ohne je einen Vers geschrieben zu haben. „Größeren Gedichts
Entfaltungen” hatte er einst in jugendlicher Zuversicht seinen Lesern
versprochen; doch als ihn die ersten Versuche belehrten, daß ihm
die dramatische Kraft versagt sei, zog er sich zurück auf die Lyrik
und das lyrische Epos. Er begnügte sich, auf diesem engen Gebiete
Mustergültiges zu leisten, derweil die Chorführer der Romantik nach
allen höchsten Kränzen der Kunst zugleich die Hand ausstreckten, ja
in Plänen ganz neuer Kunstformen sich verloren und, im Grenzenlosen
schweifend, nur wenig in sich Vollendetes schufen.

Den letzten Grund aber dieses tiefgreifenden Unterschieds zwischen
Uhland und der Schlegel-Tieckschen Richtung verstehen wir erst, wenn
wir erkennen: in Uhland lebte ein tief sittlicher, tatkräftiger Ernst,
der die tatlose, ironische Weltanschauung der Romantik schlechthin
verwarf. Solchem sittlichen Pathos hatte einst Schiller die Liebe
des Volkes verdankt, obwohl er sehr selten volkstümliche Stoffe
besang. Denn mit unfehlbarer Sicherheit empfindet das Volk -- unter
den Germanen mindestens --, ob ein Künstler mit seinen Bildern bloß
geistreich spielt oder ob er sein Herzblut ausströmen läßt in seine
Gedichte, und noch hat niemand durch ein feines Spiel sich des Volkes
Herz erobert. In der Form allerdings hat Schillers hochpathetische
Weise nicht das mindeste gemein mit dem naiven, einfachen Wesen
der Uhlandschen Dichtung, das der Weise Bürgers und Goethes weit
näher steht. Schillers Geist aber, sein sittlicher Ernst, seine
kühne Richtung auf die Gegenwart und ihr öffentliches Leben, ward
in Uhland und den Sängern der Freiheitskriege aufs neue lebendig.
Darum ward Uhland durch seine romantischen Neigungen nicht gehindert,
in der Wissenschaft ein nüchterner methodischer Forscher, im Leben
ein Verfechter des modernen Staatsgedankens zu sein. Mit sicherem
Takte wußte er Leben und Dichtung auseinanderzuhalten, und jeder
mystischen Liebhaberei der romantischen Genossen stellte er seinen
derben protestantischen Unglauben gegenüber. Wenn Justinus Kerner
von dem „Geiste der Mitternacht” erzählte, dann lachte Uhland, dann
war er selber „der Zechgesell, der keinem glaubt”. Und wurde er ja
einmal durch eine Erzählung von geheimnisvollen Naturwundern zum Liede
begeistert, wie schön wußte er dann seinen Stoff aus dem trüben dumpfen
Traumleben in eine freiere durchgeistigte Luft zu erheben! Als ihm
berichtet ward von dem Mädchen, das im Mohnfelde schlief und, erwacht,
mitten im lauten Leben weiter träumte, so ward ihm dies ein Anlaß, das
Schlafwandeln des Dichters zu schildern, dem das Leben zum Bilde, das
Wirkliche zum Traume wird:

    O Mohn der Dichtung, wehe
    Ums Haupt mir immerdar!

In unseren nüchternen Tagen vermag auch ein flacher Kopf die Schwächen
der Romantik leicht zu durchschauen, und oft vergessen wir, wie tief
wir in ihrer Schuld stehen. Jene geistig hoch erregten Tage durften
sich, nach Immermanns wahrem Geständnis, einer Dichtigkeit des Daseins
rühmen, die unserem schnell lebenden, unruhig nach außen wirkenden
Geschlechte verloren ist. Noch war die Welt von Schönheit trunken,
noch galt ein edles Gedicht als ein Ereignis, das tausend Herzen
froh bewegte, und auch die Häupter der romantischen Schule umstrahlt
noch etwas von dem Glanze der glückseligen Zeit von Weimar, „wo der
bekränzte Liebling der Kamönen der innern Welt geweihte Glut ergoß”.
Aber eine Dichterschule kann durch eine Fülle neuer Gedanken und
Anschauungen, die sie in das Volk warf, die Nation zum bleibenden
Danke verpflichten und dennoch an echten Kunstwerken sehr arm sein.
Stellte nun einer die Frage: Welche Kunstwerke der romantischen Epoche
sind nicht bloß historisch wichtig durch die Anregung, die sie unserem
Volksgeiste gaben, sondern in sich vollendet und unsterblich? -- so
würde ein ganz schonungsloses Urteil doch nur die Antwort finden:
einige meisterhafte Übertragungen und Nachbildungen fremdländischer
Dichtung und -- die lyrischen Gedichte Uhlands und einiger ihm
verwandter Sänger.

Als Chamisso in Paris im Jahre 1810 den dreiundzwanzigjährigen Uhland
kennen lernte, schrieb er mit seiner liebenswürdigen Laune einem
Freunde: „Es gibt vortreffliche Gedichte, die jeder schreibt und
keiner liest; doch hier ist einer, der macht Gedichte, die keiner
schreibt und jeder liest.” Und langsam, aber einmütiger von Jahr zu
Jahr, begann die Nation in das Lob einzustimmen, als fünf Jahre später
die „Gedichte” erschienen waren. Den Weg zum Herzen seines Volkes
hat der Dichter zuerst gefunden durch jene Lieder, welche der Weise
des alten Volksliedes so treu, so naiv nachgebildet waren, wie es
vordem nur Goethe verstanden. Er hat zuerst in weiteren Kreisen das
Verständnis wieder erweckt für diese volkstümlichen Klänge, und wenn
Eichendorff und Wilhelm Müller selbständig, unabhängig von Uhland ihr
lyrisches Talent bildeten, so danken sie ihm doch, daß das Volk ihren
Liedern froh bewegt lauschte. Schien es doch, als wäre die unselige
Kluft wieder überbrückt, die heute die Gebildeten und die Ungebildeten
unseres Volkes scheidet, als tönte der Gesang, von namenlosen fahrenden
Schülern erfunden, unmittelbar aus der Seele des Volkes heraus.
Unwillkürlich fragte der Hörer, ob nicht am Schlusse des Sanges ein
Vers hinweggefallen sei, das alte treuherzige:

    Der uns dies neue Liedlein sang,
    Gar schön hat er gesungen;
    Er trinkt viel lieber den kühlen Wein
    Als Wasser aus dem Brunnen.

Der Gesang ist heute, wie zur Zeit der italienischen Renaissance die
Redekunst, die geselligste der Künste. Das arme Volk liest wenig, am
wenigsten Gedichte; fast allein durch den Gesang wird ihm das Tor
geöffnet zu der Schatzkammer deutscher Poesie. An Kunstwert stehen
Uhlands erzählende Gedichte seinen Liedern ohne Zweifel gleich; aber
die Bedeutung des Mannes für die Gesittung unseres Volkes beruht
vornehmlich auf den Liedern. Sie haben dem Sänger den schönsten
Nachruhm gebracht, der dem lyrischen Dichter beschieden ist. Sie leben
in ihrer leichten sangbaren Form im Munde von Tausenden, die seinen
Namen nie gehört, sie klingen wider, wo immer Deutsche fröhlich in
die Weite ziehen oder zum heiteren Gelage sich scharen. Es war eine
Stunde seliger Genugtuung, als er einmal auf der Wanderung durch die
Hardt in den Klostertrümmern von Limburg unerkannt rastete und seine
eignen Lieder, von jugendlichen Stimmen gesungen, durch das Gewölbe
schallten. Alle die hoffnungsvollen Anfänge freier, volkstümlicher
Geselligkeit, welche heute das Nahen einer menschlicheren Gesittung
verkünden, alle die fröhlichen Fahrten und Feste unserer Sänger und
Turner und Schützen danken einen guten Teil ihres poetischen Reizes
dem schwäbischen Sänger; kein Wunder, daß er selber sich an solcher
Volksfreude nicht satt sehen konnte. Fast deucht uns ein Märchen, daß
es einst eine Zeit gegeben, wo am Beiwachtfeuer deutscher Soldaten
das Lied noch nicht erklang: „Ich hatt' einen Kameraden”, daß einst
deutsche Handwerksburschen über den Rhein gezogen sind, die noch nicht
sangen von den „drei Burschen”.

Doch sehen wir näher zu, so finden wir auch in dem einfachsten dieser
Lieder einen entscheidenden Zug -- eine kunstvolle Steigerung,
einen schlagenden Abschluß --, der das Gedicht alsbald auf die Höhe
der Kunstpoesie erhebt und mit so großer Innigkeit und Frische den
durchgebildeten Verstand des Künstlers gepaart zeigt. Demselben
Lehrer, dem deutschen Volksliede, hat Uhland auch die Kunst der
gemütlich bewegten Erzählung abgesehen. Er vermag es, einen kleinen
anekdotenhaften Zug mit so viel schalkhafter Anmut zu einer Ballade
zu erweitern, wie vor ihm wieder nur Goethe. Sein Eigenstes und
Schönstes schuf er in der erzählenden Dichtung dann, wenn er sich
ein Herz faßte und die trotzige, reckenhafte Kraft der deutschen
Heldenzeit derb und mit Laune darstellte, wie in den Rolandsliedern,
wohl seinen besten Balladen. Und wie das Volkslied nicht in die
Grenzen eines Landes gebannt bleibt, sondern der Sang von Liebeslust
und -leid, von Heldenzorn und Heldentod durch alle Völker wandert und
in der Fremde sich umbildet, so hat auch Uhland sein deutsches Wesen
nicht verleugnet, wenn er fremdländische Sagenstoffe besang. Sein
Gesichtskreis umfaßte das gesamte Altertum der christlich-germanischen
Völker; nur sehr selten hat ihn ein Bild der antiken Gesittung zum
Liede begeistert, und gänzlich fern lag seinem deutschen Gemüte
die Sagenwelt des Orientes, wie sehr sie auch den Meister der Form
verlocken mochte. Sehr tief hatte er sich eingelebt in den Geist der
südländischen Sänger des Mittelalters: durch das liebliche Gedicht
„Ritter Paris” weht ein Hauch schalkhafter Grazie, darum ihn jeder
Troubadour beneiden könnte. Fast scheint es, wenn Uhland die Mären
der liederfreudigen Provence nachdichtet, als singe hier wirklich
ein alter Südfranzose, als erfülle sich die wehmütige Verheißung des
modernen provençalischen Dichters: =O moun pais, bello Prouvenço,
toun dous parla pou pas mouri.= Und doch ist dies nur ein Schein: aus
Uhlands südländischen Gedichten so gut wie aus seinen angelsächsischen
und nordfranzösischen Balladen weht uns heimatliche Luft entgegen, er
behandelt diese fremden Stoffe mit der gemütlichen Innigkeit und in der
tief bewegten Weise der Germanen, nicht mit der feierlichen Grandezza
und dem rhetorischen Pathos südlicher Romanzen.

Nicht immer freilich ist ihm dies gelungen. Oft nahm er aus den
romanischen Stoffen auch legendenhafte Wundergeschichten mit herüber,
die den modernen Hörer kalt lassen, oder häßlich phantastische Züge: --
so steht in dem schönen Zyklus „Sängerliebe” fremd und verletzend die
Romanze von dem Kastellan von Couci, dessen Herz von seiner Geliebten
verspeist wird. Manchmal -- was uns noch mehr abstößt -- schleichen
sich mit den fremden Bildern auch fremde Empfindungen in seine Seele.
Vor dem Bilde des „Wallers” oder der trauernden Nonne, die entsagt
und betet „bis ihre Augenlider im Tode fielen zu”, steht der gesunde
Sinn der modernen Deutschen befremdet still: was gilt sie uns, diese
zugleich schwächliche und überschwengliche Empfindung der Vorzeit der
Romanen? Ja sogar unter den Balladen, die auf deutschem Boden spielen,
finden sich neben vielen ursprünglichen Schilderungen deutscher
Kraft und deutscher Laune doch auch einige sentimentale Gedichte von
sehnsüchtigen Mädchen und trauernden Königen, die uns kein festes
Bild hinterlassen. Desgleichen, wenn wir an seinen Liedern das innige
Naturgefühl und die tief bewegte Stimmung bewundern, so scheinen uns
doch einzelne inhaltslos, wir wünschten, der Dichter hätte nicht bloß
sein bewegtes Herz, sondern sein reiches Herz gezeigt. Solche Mängel
mochte Goethe im Auge haben, wenn er in Augenblicken übler Laune sehr
hart und bitter von der Uhlandschen Dichtung sprach. Doch all diesen
Schwächen hat der Dichter selber die beste Verteidigung geschrieben:

    Scheint euch dennoch Manches kleinlich,
    Nehmt's als Zeichen jener Zeit,
    Die so drückend und so peinlich
    Alles Leben eingeschneit.

Uns freilich, unserem derben historischen Realismus fällt es
leicht zu erkennen, wann Uhland die harten, barocken Züge unserer
Vorzeit verwischt hat. Wir lächeln, wenn uns in Erzählungen aus dem
Mittelalter, dieser treulosesten aller Zeiten, von deutscher Treue
überschwenglich geredet wird, und seit die fortschreitende Kultur
das Haar unserer Mädchen gebräunt hat, fällt uns die ausschließliche
Begeisterung für blondes Haar und blaue Augen so schwer, wie die
übermäßige Freude an den Rosen und Gelbveigelein. Aber frage sich
jeder, ob auch das Unsterbliche in Uhlands Gedichten geschaffen werden
konnte von einem Dichter, der minder treuherzig für das biderbe
Mittelalter schwärmte, der weniger unbefangen sich begeisterte für
„Jugend, Frühling, Festpokal, Mädchen in der holden Blüte”? In unseren
rauheren Tagen geht auch der Jugend diese naive Schwärmerei sehr
rasch verloren, doch darum mangelt auch unseren neuen Lyrikern die
Jugendfrische, die herzbewegende Innigkeit des alten Sängers. Und wie
verschwindend gering ist doch die Zahl jener Gedichte, welche auch
Uhland angekränkelt zeigen von der unklaren Gefühlsseligkeit seiner
Zeit! Nur Heinrich Heines Gehässigkeit konnte aus dem Liede: „Ade,
du Schäfer mein” den Grundton der Uhlandschen Dichtung heraushören.
Neben dies eine Lied -- beiläufig eines seiner allerfrühesten
Jugendgedichte -- stellen sich hundert andere voll mannhafter Kraft und
unverwüstlicher Lebenslust.

Gern verstummt die Kritik vor diesen Gedichten; über ihnen liegt der
Zauber einer völlig abgeschlossenen Bildung. Sie sind das getreue
Spiegelbild der edelsten Empfindungen einer reichen Zeit, die wir mit
allen ihren Verirrungen aus unserer Geschichte nicht missen können,
nicht streichen wollen: die alte Burschenschaft vornehmlich lebt
nur noch in den Liedern Uhlands und seiner Genossen. Ist auch jene
Gesittung in unserem Volke längst einer anderen, härteren gewichen: tot
ist sie darum nicht. In allen neueren Völkern sehen wir eine seltsame
Erscheinung, welche dem modernen Menschen gar sehr erschwert, sich
auf seine eigenen Füße zu stellen. Gedanken und Anschauungen, die das
Volk längst überwunden, kehren in dem Leben des einzelnen wieder als
Momente seiner persönlichen Entwicklung. Längst vorüber sind unserer
Nation die Tage der Romantik und des jungdeutschen Weltschmerzes; aber
noch heute kommt kein geistreicher Deutscher zu seinen Jahren, der
nicht einmal, wehmütig wie ein Uhlandscher Bursch, dem scheidenden
Freunde das Geleite gegeben und später mit Byronschem Übermute sich
aufgelehnt hätte wider die Unnatur der „alternden Welt”. Dem Manne
ziemt, die Gedanken seiner Jugend zu überwinden, nicht, wie man heute
liebt, sie zu schelten; denn ihnen dankt er, daß er ein Mann geworden.
Wir wären die Deutschen nicht mehr, die wir sind, wenn je an der lauten
Tafelrunde unserer Burschen die stürmische Weise nicht mehr erklänge:
„Wir sind nicht mehr beim ersten Glas.” Und mir graut, wenn ich mir
vorstelle, es könnte je die Zeit kommen, da der deutsche Jüngling zu
verständig wäre, um in der heißen Sehnsucht herzlicher Liebe zu singen:

    Welt, geh nicht unter, Himmel, fall nicht ein,
    Eh' ich mag bei der Liebsten sein!

Was die klugen Leute die unbestimmte nebelhafte Weise von Uhlands
Lyrik nennen, ist oftmals nichts anderes als das Wesen aller lyrischen
Dichtung selber: jene hocherregte Stimmung die den Leser geheimnisvoll
ergreift und ihm einen Ausblick gewährt in das Unendliche. Oder wäre es
nötig, auch nur ein Wort zu verlieren gegen jene Barbarei, die Uhland
darum getadelt hat, daß seine Lieder sich der Musik so willig fügen?
In dem Gedichte „Traum”, das man auch oft allzu weichlich gescholten
hat, liegt doch nichts anderes als der überaus glückliche Ausdruck
einer Stimmung, die unserem Volke von Anbeginn im Blute liegt. Die
Klage um die Vergänglichkeit irdischer Lust wird von unserer gesamten
Dichtung, dem Volksliede insbesondere, in tausend Formen wiederholt und
ist selten rührender ausgesprochen worden als in dieser Vision von der
Abfahrt der „Wonnen und Freuden”:

    Sie fuhren mit frischen Winden,
    Fern, ferne sah ich schwinden
    Der Erde Lust und Heil.

Und wieder, wie köstlich heben sich ab von diesen weichen Tönen der
Sehnsucht die Klänge neckischer Lebenslust! Nicht nur die Weise des
derben Spottes weiß der Dichter anzuschlagen, auch das harmlose,
sozusagen gegenstandslose Spielen der Laune hat er den „Lügenliedern”
unseres Volkes abgelauscht, und aus manchen seiner Gesänge klingt uns
die alte lustige Weise entgegen: „Ich will anheben und will nicht
lügen: ich sah drei gebratene Tauben fliegen.” --

„Niemand taugt ohne Freude!” Wie sollte Uhland nicht zu dem guten Worte
sich bekennen! Kein Geringerer hat es ja gesprochen als Walther von der
Vogelweide, den er als seinen liebsten Lehrer verehrte. Daß Uhland mit
anderem, moderneren Sinn als die Tieck und Schlegel auf das geliebte
Mittelalter zurücksah, das erkennen wir am leichtesten an dieser
Vorliebe für Walther, den vielleicht freiesten Geist des deutschen
Mittelalters, der mit seiner hellen bewußten Empfindung uns Neueren
näher steht als irgendeiner seiner Zeitgenossen. Und mannigfach,
offenbar, war die Verwandtschaft der beiden. Ein Meister der Form in
der Dichtkunst, aber „mehr gestaltend als bilderreich”, hat Walther
gleich seinem späteren Schüler seine Herrschaft über die Form nie
mißbraucht zu leerem Spiele mit dem Wohllaut der Sprache. Die Form ward
ihm geschaffen durch den Inhalt, seine prächtigen volltönenden Weisen
versparte er, bis es galt Könige zu preisen oder die auserwählten
schönsten der Frauen. Uhland, der so warm und traulich die behagliche
Enge des häuslichen Lebens besang, spottete doch bitterlich des
Dichters, der in einer Welt des Kampfes nur „sein groß, zerrissen Herz”
zu betrachten wußte. Auch hierin war ihm der alte Sänger ein Lehrer
gewesen: -- der politische Dichter, der „in seinem besonderen Leben
das öffentliche spiegelte” und aus voller Kehle seines Landes Ruhm
sang: „Deutsche Mann sind wohlerzogen, gleich den Engeln sind die Weib
getan.” Sehr ungleich freilich waren den beiden die Gaben des Glücks
zugeteilt, und wir freuen uns der freieren Gesittung der Gegenwart,
wenn wir den stolzen, seßhaften, mit seinem Könige kämpfenden Bürger
unserer Tage mit dem fahrenden Ritter vergleichen, der Herberg und
Gaben heischend von Burg zu Burg zieht und, als ihm endlich eines
Fürsten Gnade eine kleine Hofstatt geschenkt, jubelnd in die Weite
ruft: „Ich hab' ein Lehen, all' die Welt, ich hab' ein Lehen.” Auch
darin waren die beiden verschieden geartet, daß Walthers höchste Kraft
in dem Spruche, dem Sinngedichte sich bewährte. Dem modernen Dichter
dagegen ist zwar auch manches glückliche Sinngedicht gelungen, so jenes
liebliche „Verspätete Hochzeitslied”, das wirklich aus der Not eine
Tugend zu machen weiß und die Säumnis des Sängers also entschuldigt:

    Des schönsten Glückes Schimmer
    Umschwebt euch eben dann,
    Wenn man euch jetzt und immer
    Ein Brautlied singen kann;

doch niemand wird in Uhlands Sinngedichten, denen oftmals die rechte
lakonische Kraft fehlt, das Eigenste seines Talentes suchen.

Es war ein Liederfrühling kurz und reich. Ein edles Bild der Jugend war
Uhlands Dichtung gewesen, und als mit den Jahren diese jugendlichen
Gefühle ihm seltener das Herz schwellten, hörte er auf zu singen. Nach
seinem dreißigsten Jahre sind nur wenige seiner Gedichte entstanden.
Darunter allerdings einige seiner schönsten Romanzen, und auch die
rührenden Naturlaute zarter inniger Empfindung entflossen noch dann und
wann dem Munde des gereiften Mannes, so damals, da ihm in einem Sommer
beide Eltern starben und er beim Anblick eines fallenden Blattes die
wie im Winde verwehende Klage schrieb:

    O wie vergänglich ist ein Laub,
    Des Frühlings Kind, des Herbstes Raub!
    Doch hat dies Laub, das niederbebt,
    Mir so viel Liebes überlebt.

Es ist müßig, ihn darum zu preisen, daß seine Formgewandtheit ihn nicht
verführt hat zu Schöpfungen, die das Gepräge der Notwendigkeit nicht
mehr getragen hätten. Wir müssen sagen, er konnte nicht anders als
schweigen, wenn der Gott ihn nicht rief. Schon der junge Mann gesteht:
„Zu jeder ästhetischen, wenn auch nicht produktiven Arbeit ist eine
Stimmung erforderlich, welche die launische Stunde nach Willkür gibt
oder versagt.” Einmal erregt pflegte seine dichterische Kraft lange
anzuhalten, es war, als ob ein Lied das andere weckte. Sein Wesen läßt
sich nur mit dem französischen =entier= bezeichnen. Jeder Gedanke,
jede Beschäftigung nahm ihn ganz und auf die Dauer dahin, selbst die
politischen Arbeiten raubten ihm, einmal begonnen, die Lust zu anderem
Tun.

Doch wenn seine Dichtung allmählich verstummte, umso lauter erhob der
Chor seiner Nachfolger die Stimme, und da ein literarhistorisches
Zeitalter jeden Künstler säuberlich in einer Schublade unterbringen
muß, so mußte auch er, der dem Unwesen der literarischen Kameradschaft
immer gram war, als das Haupt der „schwäbischen Dichterschule” gelten
und -- manche Sünden seiner Nachfahren entgelten. Wohl waren diese
Sänger alle getränkt von dem warmen Naturgefühle ihrer Heimat, und mit
gerechtem Stolze konnte Justinus Kerner rufen:

    Wo der Winzer, wo der Schnitter singt ein Lied durch Berg und Flur,
    Da ist Schwabens Dichterschule, und ihr Meister heißt Natur.

Wie sie einst mit gesundem schwäbischen Sinne gegenüber der
Phantasterei der Schlegelschen Richtung ihre protestantische
Nüchternheit bewahrt, so haben sie später die reinen Formen der
lyrischen Dichtung gerettet, als der Feuilletonstil des jungen
Deutschlands alle Kunstformen zu verwischen drohte; sie haben
deutsches Wesen und züchtige Sitte getreu behauptet, während der
weltbürgerliche Radikalismus und die französischen Emanzipationslehren
über uns hereinbrachen. Aber mit der unermüdlichen Fertigkeit der
Meistersänger wurde jetzt der so leicht nachzuahmende, so schwer zu
erreichende Balladenstil Uhlands nachgebildet. Die poetische Stimmung,
jenes „Dunkelklare”, geht manchen gereimten Geschichtserzählungen
der Schüler verloren. Die geringe Empfänglichkeit für die Schönheit
der Antike war Uhlands natürlicher plastischer Kraft ungefährlich
gewesen, bei den Nachfolgern bestraft sie sich durch die unklare
verschwommene Zeichnung. Schon dem Meister war das hinreißende Pathos
großer Leidenschaft versagt, ihm fehlte der Trieb, das Geheimnis der
Weltenleitung in schweren Seelenkämpfen zu ergründen; bei vielen der
Späteren erscheinen diese Schwächen geradezu als platte Gemütlichkeit
und Gedankenarmut, wofür Frische und Natürlichkeit der Darstellung
keinen Ersatz gewähren. Wie überhaupt die Kunst, mit Halbwahrheiten
virtuos zu spielen, den boshaften Satiren Heinrich Heines ihren
gefährlichen Reiz verleiht, so ist auch eine halbe Wahrheit sicherlich
enthalten in jener Schmähschrift, welche den Spott des Übermütigen
über die Geistesarmut der schwäbischen Schule ergoß. Als endlich in
Schwaben jeder Fels, wo ein Ritter den andern erschlug, seinen Sänger
gefunden hatte, und die Düsseldorfer Maler unsere Galerien immer wieder
mit sehnsüchtigen blonden Mädchen und trauernden letzten Rittern
ihres Stammes bevölkerten, da entstand -- wesentlich gefördert durch
die Überproduktion der schwäbischen Schule -- in unseren tüchtigsten
Männern der weit verbreitete, beklagenswerte Widerwille gegen alle
lyrische Dichtung. Bei solchem Sinne der Männer ist Uhland heute
allerdings vornehmlich ein Liebling unserer Jugend, während Béranger,
der oft mit ihm Verglichene, auch dem älteren Geschlechte unter seinen
Landsleuten noch jetzt aus der Seele redet. Aber, ein leichtsinniges
Pariser Kind, huldigt dieser gleich willig den edlen wie den unwürdigen
Leidenschaften seines Volkes: des deutschen Dichters lauterer Sinn hat
nur der reinen Begeisterung der Jugend Worte geliehen. --

„Augen wie ein Kind hat der Alte” hören wir oft die Jüngeren
erstaunt sagen, wenn sie die verwitterten Züge eines Soldaten der
Freiheitskriege erblicken. In der Tat, eine seltene Frische und
jugendliche Reinheit der Empfindung, die so nicht wiedergekehrt ist,
bildet den entscheidenden Charakterzug jenes Geschlechtes, und sie
ist auch der schönste Reiz von Uhlands Dramen. Fremd zugleich und
liebenswürdig klingt unserem kurz angebundenen Wesen der zärtliche
Erguß der Freundschaft Ernsts von Schwaben an der Leiche seines Werners:

    Die Lüfte wehen noch, die Sonne scheint,
    Die Ströme rauschen und der Werner stirbt! --

oder die edle Resignation Friedrichs von Österreich, der sich freut:

    Daß ich noch Kronen von mir stoßen, noch
    Den Kerker kann erwählen statt des Throns.

An ähnlichen Zügen hoher lyrischer Schönheit sind die beiden
Dramen reich. Sogar die Landschaft spielt mit, nach der Weise der
lyrischen Dichtung; sie spiegelt wider oder hebt durch den Kontrast
die Leidenschaften der dramatischen Helden. Nicht minder kommt des
Dichters episches Talent zur Entfaltung in den zahlreich eingestreuten
Erzählungen -- kleinen Romanzen, die überall eine große Anmut und
Sicherheit der Zeichnung verraten; ja die gesamte Weltanschauung des
Dichters ist episch; seinen Kaiser schildert er nach homerischer Weise
und mit den Worten des mittelalterlichen Erzählers:

    Und seine Schulter ragt' ob allem Volk.

Das eigentlich dramatische Talent dagegen hat sich Uhland in edler
Bescheidenheit selbst abgesprochen. Nimmermehr wird es blinden
Bewunderern gelingen, diesem Bekenntnisse des Dichters sein Gewicht zu
nehmen. Uhland deshalb zu den ersten Dramatikern der Deutschen zählen,
weil seine Dramen „nationale” Stoffe behandeln, das heißt prosaisch am
Stoffe kleben und das Wesen aller Kunst verkennen. Wie im Wettstreit
der Rede der ärmere Geist, der die Hörer durch rednerischen Schwung
bezaubert, unfehlbar und mit vollem Rechte den helleren Kopf besiegt,
welchem die hinreißende Gewalt der Rede fehlt: ebenso und mit gleichem
Rechte triumphiert auf den Brettern der bühnenkundige dramatische
Handwerker über den echten Dichter, der die Kunst der dramatischen
Aufregung nicht versteht. So recht das Gegenteil jenes durchgreifenden,
revolutionären Eifers, der den dramatischen Helden macht, ist die
zähe Kraft des treuen Beharrens, welche das Pathos der Helden Uhlands
bildet. Und wieder so recht das Gegenteil jener ganz bestimmten
endlichen Zwecke, welche der dramatische Held verfolgen soll, ist jene
gegenstandslose sittliche Begeisterung, die einen guten Plan verwirft,
weil nichts darin zu finden sei, „nichts, was begeistern könnt' ein
edles Herz”. Nur selten zeigt Uhlands Dialog das dramatische Platzen
der Geister aufeinander; mit vorgefaßten Entschlüssen treten zumeist
seine Menschen auf die Bühne, erzählen, sprechen ihre Empfindungen
aus und die Szene schließt oft ohne jedes dramatische Ergebnis. Auch
widerstrebt es dem warmen Herzen des Dichters, das Böse mit dem
unbefangenen Behagen des Dramatikers zu schildern. Die politischen
Pläne, die er seinen Helden in die Seele legt, erscheinen als Beiwerk,
nicht als ein Pathos, das den ganzen Menschen erfüllt. Auf der Bühne
tritt den modernen Hörern das fremdartige Wesen der Kulturformen und
der Empfindungen des Mittelalters sehr auffällig entgegen, um so
auffälliger, da der Dichter manche Szenen -- den Kirchenbann, den
Ritterschlag -- sichtlich nur deshalb mit Vorliebe behandelt hat, weil
der romantische Reiz des fremden Kostüms ihn lockte, nicht weil sie
dramatisch notwendig waren.

Dergestalt sind diese Dramen rasch von der Bühne verschwunden. Dem
Leser wird ihre lyrische Schönheit immer teuer bleiben, und eben darum
wird er mit reinerer Freude vor dem älteren der beiden Werke verweilen.
Willig vergißt er den verfehlten Bau des „Ernst von Schwaben”, dessen
Handlung mit dem Höhepunkte beginnt, denn gar zu liebenswürdig tritt
uns aus dem Bilde der beiden treuen Freunde das warme reine Herz des
Dichters entgegen. Das Schauspiel „Ludwig der Bayer” ist, obwohl es
Schritt für Schritt den Berichten der alten Chronisten folgt, doch
weit kunstgerechter gebaut als das Erstlingsdrama, und ohne Zweifel
hat keiner der späteren Bearbeiter dieser undramatischen Fabel den
schwäbischen Dichter erreicht. Aber der spröde Stoff gewährte hier
Uhlands lyrischem Talente weniger Spielraum. Am reichsten entfaltet
sich diese Begabung in dem Fragmente „Konradin”. Keine andere Fabel
unserer Geschichte kam allen Idealen dieses Dichters und dieser
Zeit so willig entgegen. Noch ein anderes schönes Bruchstück hat er
uns hinterlassen, das kleine Epos „Fortunat”. Es ist lehrreich, zu
beobachten, wie auch ein so schlichter, aller Paradoxie abgeneigter
Dichtergeist durch den Reiz des Kontrastes zum Gesange begeistert
werden kann. Diese übermütigen, mutwilligen Verse entstanden dem
ernsten, strengen Manne in Tagen schwerer Sorge um Haus und Staat.
Aber seltsam, wie er, der in seinen kleinen Gedichten uns durch die
gedrungene Kürze der Darstellung in Erstaunen setzt, bei größeren
Entwürfen ins Weite zu gehen liebte. Schon der zweite Gesang des
Fortunat ist eine Abschweifung nach Ariostischer Weise, und eben
deshalb mag auch die Vollendung des anmutigen Gedichts unterblieben
sein.

Der Dichtung Uhlands schaut keiner auf den Grund, der nicht Kunde hat
von seinem wissenschaftlichen Wirken. Er selber sagte scharf: „wer
sich nicht mit meinen Studien befaßt hat, kann auch nicht über mich
schreiben.” Die lebensvolle poetische Schilderung unserer Vorwelt
erwuchs ihm aus gründlicher gelehrter Kenntnis. Wohl durfte er von
seinen alten Büchern rühmen: „Durch ihre Zeilen windet ein grüner Pfad
sich weit.” Dank den Romantikern: nicht mehr eine ermüdende Masse
gleichgültiger Namen brachten die Gelehrten heim aus der Erforschung
unserer Vorzeit. Die Seele unseres Volkes in der Vorwelt erschloß sich
den Nachlebenden, und Uhland hat ein Großes mitgeschafft an diesem
Werke deutscher Wissenschaft. Ein gutes Wort aus seinen letzten Jahren
bezeichnet schlagend, wie er Sinn und Ziel seines wissenschaftlichen
Schaffens verstand. „Eine Arbeit dieser stillen Art,” schreibt er einem
Freunde, „setzt sich freilich dem Vorwurf aus, daß sie in der jetzigen
Lage des Vaterlandes nicht an der Zeit sei. Ich betrachte sie aber
nicht lediglich als eine Auswanderung in die Vergangenheit; eher als
ein rechtes Einwandern in die tiefere Natur des deutschen Volkslebens,
an dessen Gesundheit man irre werden muß, wenn man einzig die
Erscheinungen des Tages vor Augen hat, und dessen edlern, reinern Geist
geschichtlich darzustellen um so weniger unnütz sein mag, je trüber und
verworrener die Gegenwart sich anläßt”. Der Gedanke einer Geschichte
der deutschen Dichtung im Zeitalter der Staufer, einer schwäbischen
Sagenkunde beschäftigte ihn lange, und wenn von diesen weitaussehenden
Plänen nur einiges -- dies wenige allerdings meisterhaft -- ausgeführt
ward, so erraten wir leicht den Grund: für den Lyriker liegt der Reiz
des Schaffens im Anlegen und Erfinden. Streng methodisch wie nur sein
Freund Immanuel Bekker betrieb er diese germanistischen Studien, aber
auch den Dichter erkennen wir wieder in dem Verfasser des schönen
Buches „Walther von der Vogelweide”, woraus oben einige bezeichnende
Urteile mitgeteilt wurden. Seine einfach edle Prosa ist nicht weniger
künstlerisch als der Wohllaut seiner Verse. Wie dem Künstler ziemt,
suchte er hier aus der Person des Dichters die Dichtung zu erklären
und brachte also in die Literaturgeschichte des deutschen Mittelalters
einen neuen notwendigen Gesichtspunkt. Nur die geschichtliche Bedeutung
und den ästhetischen Wert der Gedichte unserer Vorzeit hatte man
bisher gewürdigt, noch nicht sie betrachtet als Offenbarungen reicher
dichterischer Persönlichkeiten.

Nicht minder den Dichter erkennen wir, wenn er in der für die
germanische Mythologie Epoche machenden Abhandlung über den Mythus vom
Tor nicht nur den allegorischen Sinn der alten Naturmythen enträtselt,
sondern auch den Heidengott uns menschlich nahe führt und in dem
Bändiger aller tobenden Elemente uns den demokratischen Gott zeigt,
den gewaltigen Arbeitsmann, den geliebten Freund des Volkes, den der
Bauer neckend am roten Barte zupft. Froh und heimisch fühlt sich der
rüstige Mann unter dem starken Volke, das „im Donnerhalle die Nähe
seines Freundes erkennt”. Und fröhlich zog er auf weite Wanderfahrten,
um aus Fels und See, aus dem Geiste des Ortes selber die Gestalten
unserer Sagen greifbar und lebendig hervorsteigen zu sehen. An der Hand
der Natur führten dann seine Beiträge zur schwäbischen Sagenkunde den
Leser in die fremde Welt halbverschollener Überlieferungen ein. Wir
steigen mit ihm auf die Trümmer des alten Schlosses Bodman am Bodensee,
wir hören den Schall entfernter Glocken leise über den rauschenden
See her klingen und wir verstehen, wie einst hier in karolingischer
Zeit den schlafenden Hirten Pipin das wonnevolle Geläute zum fernen
Kloster lockte. Wir sehen den Nebel über den Wassern sich ballen, der
den Schiffer beirrt und die Reben mit kaltem Reife schädigt, und wir
begreifen, wie die Launen des Nebelmännleins seltsam hineinspielen in
das Geschick des alten Geschlechtes der Bodman.

Uhlands erstes gelehrtes Werk war eine Abhandlung über das
altfranzösische Epos gewesen, und das feine Verständnis der
Volksdichtung, das die Kenner in diesem Aufsatze erfreut, bewährte sich
auch in den jahrelangen Forschungen für sein letztes größeres gelehrtes
Werk über das deutsche Volkslied. Der Tod hat den bedachtsamen Arbeiter
in diesem Unternehmen unterbrochen. Vollendet ist nur der Vorläufer der
verheißenen Abhandlung, die köstliche Sammlung deutscher Volkslieder,
die in jedem guten deutschen Hause eine Stätte finden sollte, denn
sie ist, was der Sammler wollte, „weder eine moralische, noch eine
ästhetische Mustersammlung, sondern ein Beitrag zur Geschichte des
deutschen Volkslebens”. Wie „Des Knaben Wunderhorn”, dem Uhlands Jugend
so Großes verdankte, verrät auch diese Sammlung, daß schönheitskundige
Dichterhände die Auswahl geleitet; aber an der Vergleichung
beider Werke ermessen wir zugleich den ungeheuren Fortschritt der
germanistischen Wissenschaft von dilettantischer Unfertigkeit zu
kritischer Strenge. Schwerlich ist es ein Zufall, daß der Sammler den
bedeutenden wirksamen Platz am Schlusse seines Buches den Liedern des
streitbaren Protestantismus angewiesen hat. Des Kranzes letzte Blätter
sind: „Eine feste Burg ist unser Gott” und jenes herrliche Lied eines
sächsischen Mädchens aus den Tagen des Schmalkaldischen Krieges:

    Stets soll mein Angesicht sauer sehn,
    Bis die Spanier untergehn --

der kräftige Ausdruck einer großen politischen Leidenschaft, die
seitdem die Seele der mitteldeutschen Stämme leider nie wieder so
gewaltig erschüttert hat.

In mannigfachen Formen (schon vielen ist dies aufgefallen) kehrt in
Uhlands Gedichten ein Idealbild wieder -- der streitbare Sänger:
mag der Dichter den Normannen singend und die schweren Schwerter
schleudernd vor dem Eroberer reiten lassen, mag er Äschylos und
Dante preisen, weil sie für Freiheit und Vaterland gesungen und
gestritten, oder Körners Schatten heraufbeschwören zu zorniger Mahnung
an die Überlebenden. In friedlichem, aber nicht minder ernstem und
aufregendem Kampfe hat er selber sich zu diesen Sängern und Helden
gesellt. Die Zeit ist hoffentlich nahe, da wir Deutschen aufhören
werden, etwas Auffälliges zu sehen in dieser Verkettung bürgerlichen
und künstlerischen Ruhmes. Wie wir neuerdings in Italien der ruhmvollen
Erscheinung begegnen, daß unter den namhaften Denkern und Künstlern
kaum einer sich findet, der nicht sein Herzblut hingäbe für das freie
und einige Italien: so beginnt unter den Deutschen eine ähnliche
Wandlung sich zu vollziehen. Das Herz der Nation kehrt sich ab von
jenen Künstlern, die neben dem großen politischen Kampfe der Gegenwart
kalt zur Seite stehen. Seltener, schüchterner immer tönt das vordem
in diesen Kreisen oft gehörte Wort, dem Künstler zieme nicht sich zu
kümmern um die Abstraktionen der politischen Debatte, „weil er sich
kein Bild davon machen könne”. Der politische Kampf der deutschen
Gegenwart ist nicht ein Streit um diese oder jene Staatseinrichtung,
wie eine Doktrin, ein Klasseninteresse sie fordert. Es gilt, der
Nation das Unterpfand jedes schönen Erfolges, das stolze Selbstgefühl
zu retten. Was irgend krankt in unserem Volksleben, in Kunst und
Wirtschaft, Glauben und Wissen, nicht eher wird es völlig gesunden,
als bis die Deutschen ihren Staat gegründet. Das Geschlecht von
Dichtern aber, dem die Kleist, Arndt, Uhland angehören, war das erste
in Deutschland, welches diese unmittelbare sittliche Bedeutung der
Staatsfragen begriff und solche Erkenntnis in Taten bewährte. Als
König Ludwig von Bayern um das Jahr 1841, in der unheilvollsten Zeit
seiner Regierung, mit dem Plane umging, einen deutschen Dichterverein
zu gründen, und den schwäbischen Dichter zum Beitritt auffordern ließ,
da erklärte Uhland dem Minister v. Schenk in einem tapferen Briefe,
was er denke über die Pflicht des Dichters gegen das Vaterland. „Bei
Deutschlands politischer Zersplitterung,” heißt es da, „kann auch
der bestgemeinte Vorschlag zur idealen Einigung eher verletzen als
ermutigen; immer nur der Stein statt des Brotes! -- Wenn die deutsche
Dichtkunst wahrhaft national erstarken soll, so können ihre Vertreter
nicht auf ein historisches oder idyllisches Deutschland beschränkt
sein; jede Frage der Gegenwart, wenn sie das Herz bewegt, muß einer
würdigen Behandlung offen stehen.”

Sehr laut, fast überschwenglich ist neuerdings Uhlands politisches
Wirken gepriesen worden. Der Kaltsinn gegen die Kunst, diese Krankheit
der Gegenwart, offenbarte sich auch darin, daß in vielen Nekrologen
der Dichter wie ein patriotischer Landtagsabgeordneter erschien, der
nebenbei auch Verse geschrieben. Wohl ist es nicht leicht, diesen
verschlossenen Charakter zu durchschauen, der selten in Gesprächen oder
Briefen die Beweggründe seines Handelns angab. Nur diese Behauptung
dürfen wir zuversichtlich aufrechterhalten: Uhlands dichterisches und
gelehrtes Schaffen war nicht bloß fruchtbarer als seine politische
Wirksamkeit, es wurzelte auch ungleich tiefer in seinem Gemüte. Uhland
war weit weniger als Kleist oder Arndt eine politische Natur; das
Unglück des Vaterlandes erfüllte den ruhigen Mann nicht mit jener
heißen Leidenschaft, die jeden andern Gedanken übertäubt; gleich den
ausschließlich ästhetischen Geistern des älteren Dichtergeschlechts
war ihm noch möglich, während der krampfhaften Aufregung des
Freiheitskrieges sich die selige Ruhe künstlerischen Wirkens zu
bewahren. Nicht in die Wiege gebunden war ihm die Lust am Streite,
wie einem Lessing; ihn erfüllte nur das unabweisliche Verlangen,
rein und unsträflich vor seinen Augen dazustehen. Wie konnte er also
zurückstehen, wenn um die höchsten sittlichen Güter unseres Volkes
gestritten ward? Zudem hatte er seinen natürlichen Rechtssinn geschult
in den juristischen Studien, die er ohne Freude, aber mit Ernst und
Nachdruck trieb, und war früh mit den Ideen des modernen Liberalismus
vertraut geworden. Seine schmucklos bürgerliche Art, „dickrindig und
schier klotzig”, wie Chamisso sie einmal übermütig nannte, diese
keusche Wahrhaftigkeit sah mit bitterem Ekel auf die Leichtfertigkeit
der Höfe, auf das vornehme Spielen mit dem Ernste des Lebens. So ward
er, der seine gelehrte Arbeit und den besten Teil seiner Dichterkraft
unserer Vorzeit widmete, im Leben ein Streiter für die modernen
Volksrechte. Bestechend, aber verkehrt ist Heinrich Heines Versuch,
aus diesem scheinbaren Widerspruche von Leben und Dichtung das frühe
Verstummen von Uhlands Gesang zu erklären. Wir wissen längst, daß nicht
„das katholisch-feudalistische”, sondern das volkstümliche Element
der mittelalterlichen Gesittung seine dichterische Neigung vorwiegend
anzog; also haben seine poetischen Arbeiten seinen vaterländischen Sinn
vielmehr gekräftigt. Nur einzelne kleine Schwächen seiner Poesie lassen
sich allerdings auf dies zwiegeteilte Streben zurückführen. Wenn dann
und wann ein Ritter, ein Mönch seiner Balladen uns mit allzu blassen
Farben gemalt scheint, so erinnern wir uns: ein durchaus moderner
Mensch hat dies Bild geschaffen, der bereits mit hellem Bewußtsein auf
das Mittelalter als auf eine versunkene Welt zurückschaut.

Es ist nicht ganz richtig, wenn Uhland kurzweg den Dichtern der
Freiheitskriege zugezählt wird. Der Heldenzorn jenes Kampfes tönt uns
mit voller Gewalt nur aus den Liedern der Arndt, Körner, Schenkendorf
entgegen, die mitteninne standen in dem Schlachtgetümmel. Dem Schwaben
war dies schöne Los versagt; darum hören wir aus den Liedern Uhlands
in dieser Zeit nur die Stimme des erregten Beobachters, nicht des
Kämpfers. Besonders schön hat er die Angst der Guten geschildert, da
die letzte Entscheidung sich verzögerte, bis ihm endlich sein heißer
Wunsch erfüllt ward:

    Das edle Recht, zu singen
    Des deutschen Volkes Sieg.

Demutsvoll stand er zur Seite und fragte sein Land:

    Nach solchen Opfern heilig großen
    Was gälten diese Lieder dir!

Erst nach dem Frieden, als Süddeutschland der Brennpunkt unserer
staatlichen Kämpfe war, begannen die großen Tage seiner politischen
Dichtung, welche nun, da der Norden ermattet schwieg, den Geist jener
nordischen streitbaren Sänger getreulich bewahrte.

Der württembergische Verfassungsstreit brach aus. Schon als Arbeiter
im Justizministerium hatte der junge Jurist erfahren, was die
Willkürherrschaft des geistvollsten und ruchlosesten der Napoleonischen
Satrapen bedeute. Jetzt, ein unabhängiger Rechtsanwalt in Stuttgart,
ward er der beredte Mund des empörten Rechtsgefühls seines Stammes.
Er forderte das alte Recht zurück, verwarf sowohl die neue vom König
Friedrich eigenmächtig geschaffene Verfassung als die wohlmeinende
Vermittlung des Nachfolgers König Wilhelm und seines alten Gönners,
des Ministers Wangenheim, schrieb unermüdlich Adressen, Flugschriften
und die „Vaterländischen Gedichte”. Zu ihnen möchte ich alle
Verächter der politischen Dichtung führen, damit sie erkennen: ein
echter Dichter ist, derweil er singt, immer im Rechte. Auch wer das
starre Festhalten der Altwürttemberger an dem alten Rechte politisch
verwirft, muß ergriffen werden von dem so männlich-stolzen und so
christlich-demütigen Gebete:

    Zu unsrem König, deinem Knecht,
    Kann nicht des Volkes Stimme kommen.

Und wenn irgendwo, so ist hier Uhland der deutschen Dichterweise treu
geblieben und hat die Form seiner Lieder sich schaffen lassen durch den
Inhalt. Dichter und Staatsmann hatten schier die Rollen ausgetauscht:
der phantastischen, dreist experimentierenden Staatskunst Wangenheims
stand der Sänger mit der nüchternen bedachtsamen Mahnung gegenüber,
das Altbewährte treu zu hüten. Wirken sollten die Lieder, haften im
Gedächtnisse des Volkes. Darum die einfachste Form für den einfachen
Inhalt, unermüdliche Wiederholung, schmucklose, allen verständliche,
dann und wann fast prosaische Worte:

    Schelten euch die Überweisen,
    Die um eig'ne Sonnen kreisen,
    Haltet fester nur am Echten,
    Alterprobten, Einfach-Rechten!

Die verschiedensten Beweggründe zugleich trieben den Dichter in die
buntscheckigen Reihen der Opposition: die gemütliche Anhänglichkeit an
das altheimische Recht so gut wie der noch ungeschulte Liberalismus,
der die alte Verfassung pries, weil sie die Macht des Monarchen
beschränkte, doch nicht begriff, daß sie den modernen Staat aufhob.
Mächtiger als all dies wirkte in ihm der edle sittliche Zorn, der
freie Männerstolz, der auch der wohlmeinenden Macht nicht gestatten
wollte, das Recht zu beugen. In solchem sittlichen Zorn liegt die
Idee, die Berechtigung dieser Opposition. Ihm dankte der Dichter auch
seine poetische Überlegenheit, als er jetzt einen neuen heftigeren,
politischen Sängerstreit mit Rückert durchfechten mußte. So hatte
einst sein Lehrer Walther für den Staufer Philipp kampflustige Lieder
gesungen, derweil Wolfram von Eschenbach für den Welfenkaiser Otto
in die Schranken trat. Diesmal sprach Uhland zum Herzen der Hörer,
während der Gegner, indem er Wangenheims Reformpläne verteidigte, nur
an den Verstand des Volkes sich wenden konnte. Und nicht an der Scholle
haftete der Blick des Sängers, er sah in dem Ringen seiner Heimat nur
eine Schlacht des langen Krieges, der das weite Vaterland erfüllen
sollte, und verwundete die Elenden, die nach geheimen Bünden spürten,
mitten ins Herz mit den Versen:

    Ich kenne, was das Leben euch verbittert,
    Die arge Pest, die weit vererbte Sünde:
    Die Sehnsucht, daß ein Deutschland sich begründe,
    Gesetzlich frei, volkskräftig, unzersplittert.

Oftmals in diesen Händeln traf seine noch unfertige politische Bildung
mit sicherem Takte das Rechte; so, wenn er wider den Plan einer
württembergischen Adelskammer das gute, durch schwere Erfahrungen
bestätigte Wort sprach: „Das heißt den Todeskeim in die Verfassung
legen.” Auch an den Fehlern der Opposition hatte er seinen Teil,
an jener eigensinnigen Hartnäckigkeit, welche die gute Stunde, die
freieste Verfassung in Deutschland zu gründen, verscherzte. In späteren
Jahren hat er selbst eingesehen, wie sehr ihm die Freiheit des Urteils
fehlte, als er die wohldurchdachten Entwürfe der Regierung kurzab als
Machwerke verdammte. Doch von allen Irrtümern dieses Mannes gilt sein
eigenes Wort:

    Wohl uns, wenn das getäuschte Herz
    Nicht müde wird, von neuem zu erglüh'n:
    Das Echte doch ist eben diese Glut.

Jawohl, das Feuer einer reinen Begeisterung flammt in diesen
württembergischen Liedern; darum werden sie auch dann noch in unserem
Volke leben, wenn das Königreich Württemberg längst aufgehört haben
wird zu bestehen. Die Lieder zogen als Flugblätter durch das Land.
Einzelne nichtschwäbische Zeitungen wagten sie in ihren Spalten
aufzunehmen. So brachte ein norddeutsches Blatt das an den wackeren
Stuttgarter Bürgermeister Klüpfel gerichtete Gedicht „Die Schlacht der
Völker war geschlagen” unter der für den Geist der Presse jener Tage
bezeichnenden Überschrift: „An den Repräsentanten einer angesehenen
Stadt bei einer bekannten Ständeversammlung, gesungen bei einem
festlichen Mahle, das dem würdigen Manne am 18. Oktober 1815 von seinen
Kommittenten gegeben wurde.” Diese Gedichte gründeten dem Sänger zuerst
einen geehrten Namen in der Literatur, und das schwäbische Volk sah mit
begreiflichem Stolze auf den Mann, der also mit Ehren die Stammesart
vertrat. Alsbald nachdem er das gesetzliche Alter erreicht, 1817, ward
er in die Kammer gewählt, und mit Unwillen mußte er jetzt den Umschlag
der Volksmeinung wahrnehmen. Dem zähen Eigensinne folgte übereilte
Nachgiebigkeit, nur das eine ward erreicht:

    Daß bei dem biedren Volk in Schwaben
    Das Recht besteht und der Vertrag.

Nicht durch königlichen Befehl, durch Vertrag zwischen Land und
Krone kam die neue Verfassung zustande, doch fehlte viel, daß ihr
Buchstabe zur Wahrheit ward. Bald befestigte sich unter König Wilhelm
die gefährlichste Form des scheinkonstitutionellen Regiments,
welche Deutschland vor der Revolution gesehen hat: ein aufgeklärter
Despotismus, den Großmächten gegenüber liberal, nach innen tätig für
das materielle Wohl, eifersüchtig gegen jede selbständige Haltung des
Landtags, von gewandten klugen Männern geleitet, eifrig bestrebt,
alle Talente des Landes in den Dienst der Minister zu ziehen. Ohne
Freude hielt Uhland unter den Landständen aus. „Nur als Freiwilliger,”
sagt er selbst, „als Bürger, als einer aus dem Volke trat ich mit
an.” Persönliche Würde, Pflichttreue und die Gewalt seiner Feder
verschafften ihm trotzdem eine Stelle unter den Führern der Opposition.
Während des Kampfes um die Verfassung hatte er Staatsämter, die man ihm
anbot, ausgeschlagen. Jetzt mußte er für seine Festigkeit büßen; erst
im Jahre 1829 berief ihn die Regierung zu der Stelle, die ihm gebührte
und seinen liebsten Wünschen entsprach: auf den Lehrstuhl der deutschen
Literatur in Tübingen.

Dort ist fortan sein Wohnsitz geblieben, und es war ein echtdeutscher
Zug, daß er an einem Stilleben sich genügen lassen konnte, welches
einen Franzosen von seiner Bedeutung zur Verzweiflung gebracht
hätte. Nahe an der Neckarbrücke stand sein freundliches Haus mitten
im Rebgarten am Abhange des Österberges, dessen schöngeschwungene
Formen der aus Italien heimkehrende Tübinger Philolog mit dem Vesuv
zu vergleichen liebt. Dort sah er Jahr für Jahr jene denkwürdigen
Ereignisse an sich vorübergehen, welche die Ruhe dieses akademischen
Flachsenfingen unterbrechen. Immer wieder zogen der Pauperpräfekt und
die Armenschüler in ihren hohen Hüten singend durch die winkligen
rinnsalreichen Gassen, das Vieh ward in den Neckar zur Schwemme
getrieben, die Stadtzinkenisten bliesen ihren Choral vom Turme, und
-- das wichtigste von allem -- die berufenen Flößer, die Jockeles,
führten das Holz des Schwarzwaldes talwärts und wechselten mit den
alten Erbfeinden, den Studenten, homerische Schimpfreden. Es liegt ein
eigener stiller Reiz über dieser kleinstädtischen Welt, wo an jedem
Hause ein uralter derber Burschenwitz oder eine gute Erinnerung an
einen tüchtigen Mann haftet. Im Verkehr mit vortrefflichen Männern
fühlte Uhland sich bald wieder heimisch in der Vaterstadt, und durch
seine kurze akademische Wirksamkeit erweckte er in den Schwaben zuerst
den Sinn für die germanistische Wissenschaft. Noch ein anderes rühmen
seine Landsleute ihm nach: der angesehene Professor vernichtete
durch persönliche Würde und gediegene Gelehrsamkeit jene kleinlichen
Vorurteile gegen den Beruf des Dichters, die seit Schubarts und
Hölderlins Tagen von dem schwäbischen Bürger gehegt wurden.

Nach wenigen Jahren rief ihn eine abermalige Wahl in die Kammer von
seinem gelehrten Wirken ab. In den zwanziger Jahren hatte sich die
Opposition in Württemberg vorwiegend auf örtliche Zwecke beschränkt.
Ein fleißiger Arbeiter in den Kommissionen, ein karger, ungewandter
Redner, aber wenn er sprach, schlagend, gedankenreich, entschieden,
war damals Uhland für den von der Regierung mißhandelten Friedrich
List in die Schranken getreten, hatte gewirkt für die Neuordnung der
Rechtspflege, namentlich die Unabhängigkeit des Richterstandes, und für
die Minderung der Militärlast. Höhere Ziele steckte sich die Opposition
nach der Juli-Revolution. Noch immer freilich blieb unter den deutschen
Liberalen die alte weltbürgerliche Neigung lebendig; diese Gesinnung
hatte Uhland vordem zum Eintritt in die Philhellenenvereine bewogen,
ihr verdanken wir auch eines seiner besten Gedichte, die Ballade „Die
Bidassoabrücke” zum Preise des Verwegensten der Spanier, Mina. Jedoch
unter den Besseren wenigstens „prägte sich jetzt -- nach Uhlands
Worten -- ein deutscher Liberalismus aus, der die freisinnige Idee
mit der Vaterlands-Ehre zu verbinden trachtete”. Als Süddeutschland
fürchten mußte, durch die absolutistische Tendenzpolitik Österreichs
in einen Krieg gegen das liberale Frankreich hineingerissen zu werden,
und die nicht minder verblendete Parteiwut vieler Liberalen freudig
den Augenblick ersehnte, der den Südwesten zum Verrat an Deutschland,
unter die „liberale” Trikolore der Fremden führen würde -- in diesen
angstvollen Tagen wandte sich das Auge der Besseren über die roten
Grenzpfähle hinaus den deutschen Bruderstämmen zu. Man empfand bitter
den Mangel einer Volksvertretung in Österreich und Preußen und „die
Unnatur der deutschen Zustände, daß die schwächeren Schultern die
Träger der größeren Volksrechte sein sollen”. Aber unverzagt mahnte
Uhland die Freunde, „unsere ehrenvolle Bürde, das zukünftige Eigentum
des gesamten Deutschlands, einer helleren Zukunft entgegenzutragen”.

Mit dem stolzen Bewußtsein eines ernsten nationalen Berufs betrat die
Opposition den Ständesaal. Der Landtag des Jahres 1833 ward einer der
wichtigsten in Deutschland vor der deutschen Revolution. Nicht nur eine
große Zahl von Talenten füllte das Haus: hier ward auch zum ersten
Male grundsätzlich eine Lebensfrage der Politik des deutschen Bundes
erörtert. Die sittliche ebenso sehr als die politische Pflicht gebot,
daß einem großen politischen Lügensysteme ein Ende gemacht werde, daß
die konstitutionellen Regierungen nicht mehr durch Bundesbeschlüsse im
Geiste des Absolutismus sich ihres Verfassungseides entheben ließen.
Darum stellte Paul Pfizer seine berühmte Motion, daß der Verfassung
widersprechende Bundesbeschlüsse in Württemberg keine Geltung haben
sollten. Umsonst zeigten befreundete Landsleute in der Ferne, wie
Wurm, die Unausführbarkeit des Antrags. Es war und ist ein Widersinn,
daß ein Bund konstitutioneller Staaten von einer absolutistischen
Körperschaft geleitet wird; der Unwille darob ward unter den Liberalen
so übermächtig, daß sie, die Verfechter des Einheitsgedankens, den
Teil grundsätzlich über das Ganze stellten -- ein denkwürdiges
Symptom der Verwirrung und Verbildung deutscher Politik. Das
Verlangen der Minister, die Kammer solle die Motion mit verdientem
Unwillen zurückweisen, ward mit einer scharfen Adresse aus Uhlands
Feder beantwortet. Hierauf erfolgte die Auflösung und eine Reihe von
Ereignissen, welche in jener Zeit der politischen Unschuld ungeheures
Aufsehen erregten, während die Gegenwart bereits an einen weit roheren
Mißbrauch der Regierungsgewalt gewöhnt ist. Schon von dem aufgelösten
„vergeblichen Landtage” hatten die Minister ihre Gegner durch gesuchte
Gesetzesauslegungen auszuschließen getrachtet; Uhland war damals für
die Gültigkeit der Wahl seines alten Gegners Wangenheim aufgetreten
in einer Rede, die seinem Herzen Ehre macht. Jetzt wurden diese alten
Künste der Regierung weiter ausgebildet. Uhland, abermals gewählt,
erhielt den Urlaub nicht und legte rasch entschlossen seine Professur
nieder.

Von neuem entspann sich der Streit wider die verfassungswidrigen
Bundesbeschlüsse. In diesen Debatten verkündete Uhland in schwungvoller
Rede den nationalen Beruf der süddeutschen Opposition und sprach
das kühne Wort: „Diese Rechte und Freiheiten werden einst von einer
deutschen Nationalvertretung zur vollen und segensreichen Entfaltung
gebracht werden.” Was er schon während des alten Verfassungsstreites
dunkel geahnt, sah er jetzt klar vor Augen: daß alle Sünden der
Einzelstaaten ihre Wurzel haben in dem Mangel einer volkstümlichen
einheitlichen Verfassung Deutschlands. Darum deckte er bei der
Beratung des Militärbudgets schonungslos das große Übel auf, das
alle Militärdebatten in den Kleinstaaten noch heute verbittert und
vergiftet. Er fragte: „Hat sich die Einigung im Bunde selbst schon als
eine in der Nation begründete erwiesen? Kann bei solchem Stande der
Dinge Württemberg wissen, unter welcher größeren Fahne und zu welchen
Zwecken seine Truppen zunächst ausziehen werden?” Nicht zufrieden
mit der unfruchtbaren abwehrenden Haltung dem Bunde gegenüber,
sprach er jetzt ein altes wohlberechtigtes Verlangen der Liberalen
aus: er forderte, daß die Minister wegen der Instruktionen an die
Bundestagsgesandten den Kammern Rede stehen sollten.

Heftiger von Jahr zu Jahr wurde die Erbitterung. In ihrem allerdings
wohlbegründeten Mißtrauen gegen die Minister stimmte die Opposition
einmal sogar für die Verwerfung des gesamten Budgets, ja, befangen
in kleinstädtischen volkswirtschaftlichen Begriffen und voll
Widerwillens gegen Preußen, erklärte sich Uhland sogar gegen den
Beitritt Württembergs zum deutschen Zollvereine. Auch er litt an jener
Verblendung, womit die meisten Liberalen des Südwestens in jenen
Tagen behaftet waren: stolz auf sein schwäbisches „konstitutionelles
Leben”, das doch in Wahrheit die Willkür der Krone nicht wesentlich
beschränkte, handelte er unwillkürlich als Partikularist. Aus Liebe
zu Deutschland ward er mitschuldig an der unseligsten politischen
Sünde des alten Liberalismus: er widerstrebte dem großartigsten und
wirksamsten Versuche einer praktischen Einigung des Vaterlandes,
der seit Jahrhunderten gewagt worden! Dies Verfahren ist um so
befremdlicher, da Uhland selbst bald nachher die Unfruchtbarkeit
der kleinen Landtage für das große Vaterland scharf erkannte: „Wir
stehen an der Grenze einer lebendigen Wirksamkeit auf diesem Wege,”
schrieb er 1840, „der Bündel ist nicht zustande gekommen, das Beil
hat kein Heft und die Stäbe liegen zerknickt umher.” Endlich, im
Jahre 1839, beging die Opposition einen letzten verhängnisvollen
Fehler. Wie oftmals in reichen, warmen Gemütern, liegt auch in
dem tüchtigen Charakter der Schwaben ein Zug von unberechenbarem
Eigensinn, von pessimistischem Trotz. Häufig in ihrer Geschichte, und
immer zum Unheile des Landes, war er zutage gekommen; so während des
Verfassungsstreites, so jetzt wieder in anderer Weise, als die Uhland,
Schott, Pfizer, Römer, vereinsamt unter dem gleichgültigen Volke,
auf die Wiederwahl verzichteten. Dergestalt war der Landtag seiner
besten Kräfte beraubt, und dem schwäbischen Staatsleben, das in seinem
abgeschlossenen Sonderdasein dringender als die meisten anderen Staaten
der fortwährenden Mahnung an die nationalen Pflichten bedarf -- ihm
fehlten fortan gerade jene liberalen Talente, welche freieren Blicks
über die Landesgrenze hinausschauten.

Das zurückgezogene Leben, das der Dichter nun in Tübingen begann,
fiel gerade in die Tage, da von seiner Heimat jene kühne theologische
Bewegung ausging, welche durch das Auftreten von David Strauß
veranlaßt war. Abermals bewährte sich der alte Romantiker als ein
moderner Mensch. Den vorurteilsfreien Forscher erschreckte es nicht,
daß die Grundsätze der wissenschaftlichen Kritik, die ihm selber das
Verständnis der heidnischen Götterlehre erschlossen hatten, jetzt auf
die christliche Mythologie angewendet wurden. Der theologische Streit
lag seinem Sinne fern, doch verteidigte er die Verketzerten und ihr
Recht der freien Forschung. Einen anderen modernen Gedanken dagegen,
der gleichfalls in seiner Umgebung gehegt ward, hat er nie verstanden.
Jenen zukunftreichen politischen Plan, der einst als unbestimmte ferne
Hoffnung vor Fichtes Seele geschwebt und dann in Friedrich Gagerns
lichtem Haupte sich zu greifbarer Gestalt verdichtet hatte -- den Plan
des deutschen Bundesstaates unter Preußens Führung verkündete Paul
Pfizer, fast noch ein Jüngling, zuerst als ein politisches Programm
dem Volke und eroberte sich damit einen Ehrenplatz in der Geschichte
der deutschen nationalen Bewegung. Dem Dichter, der den alten Ruhm der
Hohenzollern oftmals freudig besungen hatte und den Widerwillen der
Schwaben gegen Norddeutschland nicht teilte, blieb dieser Gedanke immer
ein Greuel. Sein Herz war erfüllt von der gemütlichen Vorliebe seines
Stammes für die österreichischen Nachbarn; ihm blieb unvergessen, wie
oft er einst im Knabenspiele Partei genommen hatte für die Kaiserlichen
und in das nahe Rottenburg hinübergewandert war, um das wildfremde
Kriegsvolk der Magyaren und Kroaten zu schauen. Wie einst in dem
württembergischen Verfassungsstreite, so wirkten auch jetzt zwei
grundverschiedene politische Beweggründe in seiner Seele nach einem
Ziele zusammen. Die Freude an der althistorischen Herrlichkeit des
Wahlkaisertums und das Bekenntnis der Volkssouveränität -- romantische
und demokratische Neigungen zugleich führten ihn zu dem Ideale des
Wahlreichs. Auch eine köstliche, dem deutschen Staatsmanne leider sehr
notwendige Tugend brachte Uhland in die Kämpfe der Revolution hinüber
-- das wachsame Mißtrauen gegen den guten Willen der Höfe. Er hatte
unter König Friedrich das frevelhafte Mißachten jedes Rechtes, unter
seinem Nachfolger -- was seinem schlichten Sinne noch tieferen Ekel
erregen mußte -- das unwahre Buhlen mit dem Liberalismus gesehen, und
nur so schmerzliche Erfahrungen konnten seinem warmen wohlwollenden
Herzen diesen harten Zug einprägen.

Die Revolution brach aus, und dem greisen Dichter vor allen galt
der Jubel des aus langer Gleichgültigkeit erwachenden schwäbischen
Stammes. Der beispiellosen Mißregierung folgte eine beispiellose
Demütigung: der Bundestag gestand, daß ihm das Vertrauen des Volkes
fehle, und umgab sich mit „Männern des Vertrauens”. Auch Uhland ward
unter die Siebzehner gesendet, doch das Vertrauen seines Königs folgte
ihm nicht nach Frankfurt; ihm ward keine Antwort, als er sich die
persönliche Ansicht des Fürsten über die Aufgabe der Vertrauensmänner
erbat. Als nun in dem Ausschusse Dahlmann mit dem Programme des
Bundesstaates hervortrat, da schraken anfangs -- ich folge hier der
mündlichen Erzählung eines der Siebzehn -- die meisten zurück vor
der Verwegenheit des Gedankens, und Uhland stimmte eifrig gegen das
preußische Erbkaisertum, „als es noch in den Windeln lag”. Diese
großdeutsche Gesinnung trennte ihn auch im Parlamente von Dahlmann,
Grimm, Arndt und vielen anderen, die ihm durch Bildung und Begabung
nahestanden. Er hielt sich zu der Linken, und wie sehr auch die
demagogischen Ausschweifungen seinen maßvollen Künstlersinn anwiderten:
die demokratische Richtung konnte sich einiger Tugenden rühmen, die
Uhlands Herz an die Partei fesseln mußten, obwohl sie in der Demokratie
der Paulskirche sich oftmals verzerrt und entstellt offenbarten. Ihn
erfreute die menschliche Teilnahme der besseren Demokratie für die
Armen und Leidenden und der willige Opfermut, welcher sie vor den
Mittelparteien auszeichnete. Freilich, der schlichte demokratische
Bürgerstolz des ehrwürdigen Mannes hatte im Grunde sehr wenig gemein
mit jenen gellenden Lobpreisungen des Konvents, welche von den Bänken
seiner Parteigenossen erklangen. Ich glaube nicht als ein Parteimann zu
reden, wenn ich sage, Uhlands Verhalten in der Paulskirche hinterlasse
den Eindruck, als sei er dort nicht an seiner Stelle gewesen. Er
stand als ein „Wilder” zwischen den Parteien und blieb doch in
einer moralischen Verbindung mit der Linken; schon diese seltsame
Mittelstellung läßt ihn wie einen Halbfremden in der Versammlung
erscheinen.

Von allen Plänen der Mittelparteien forderte der Gedanke des
preußischen Kaisertums Uhlands heftigsten Widerspruch heraus. Dieser
Widerspruch bewog ihn zu den beiden einzigen größeren Reden, welche von
dem Schweigsamen in der Paulskirche gehalten wurden und nach meinem
Ermessen das Allerbeste sind, was je für die „großdeutsche” Richtung
gesprochen worden. Nicht in Verstandesgründen, sondern in gemütlichen
Sympathien liegt die Stärke dieser Partei, und wie mächtig wußte
Uhland diese Saite in der Brust seiner Hörer anzuschlagen, als er am
26. Oktober 1848 tiefbewegt in schwungvollen Worten das Parlament
ermahnte zu sorgen, „daß die blanke, unverstümmelte, hochwüchsige
Germania aus der Grube steige!” Noch kräftiger wirkte seine Rede vom
22. Januar 1849. Die Kapuzinerspäße Beda Webers waren kaum verklungen,
da hob Uhland die Debatte wieder auf die Höhe ihres Gegenstandes.
Die alte Herrlichkeit des deutschen Wahlkaisertums führte er gegen
die preußische Partei ins Feld: „Es waren in langer Reihe Männer von
Fleisch und Bein, kernhafte Gestalten mit leuchtenden Augen, tatkräftig
im Guten und Schlimmen.” Als dann die berühmten Worte folgten, bei
jeder Rede eines Österreichers in der Paulskirche sei ihm zumute
gewesen, „als ob ich eine Stimme von den Tyroler Bergen vernähme oder
das Adriatische Meer rauschen hörte”, da freilich war der nüchterne
Verstand schnell bei der Hand, über die „Phrase” selbstgefällig zu
lächeln. Wer aber den Worten in die Tiefe sah, erkannte ihren ernsten
Sinn. Allerdings war es ein schrecklicher Widerspruch, in Wahrheit eine
Unmöglichkeit, die in unserer Geschichte nicht wiederkehren darf, daß
ein Parlament, worin Österreichs Abgeordnete stimmberechtigt tagten,
über die Trennung Deutschlands von Österreich beraten konnte. Ein
schönes Seherwort des Dichters beschloß die Rede, das allbekannte:
„Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem
reichlichen Tropfen demokratischen Öles gesalbt ist.” Damit hatte
er der deutschen Bewegung sein „in diesem Zeichen wirst du siegen”
zugerufen, und uns, den Gegnern, vornehmlich geziemt es, das gute Wort
in treuem Herzen zu tragen. Die Welt ist heute liberal, und nur im
Bunde mit dieser unhemmbaren liberalen Bewegung des Jahrhunderts wird
es uns gelingen, die Einheit Deutschlands zu gründen. Das bewährte
sich damals schrecklich, als das Herrscherhaus der Hohenzollern den
rückhaltlosen Bund mit dem Liberalismus verschmähte und dem Rufe der
Nation sich schwach versagte. Furchtlos und treu, ein echter Schwabe,
hielt Uhland auch jetzt noch aus bei seiner Partei,

    So wie ein Fähndrich wund und blutig
    Die Fahne rettet im Gefecht,

und sogar die Worte dieses vaterländischen Gedichts aus seiner Jugend
kehrten wieder in dem Manifeste vom 25. Mai, das er im Namen des
Rumpfparlaments an die Nation richtete: „Wir gedenken, wenn auch
in kleiner Zahl und großer Mühsal, die Vollmacht, die wir von dem
Volke empfangen, die zerfetzte Fahne, treu gewahrt in die Hände des
Reichstags niederzulegen, der am 15. August zusammentreten soll.”

Freilich, unklar, romantisch verschwommen wie der Wortlaut war auch
der Gedankengehalt dieses Aufrufes. Dem Idealisten galt es nur, die
Idee des Parlamentes zu retten: er folgte der Linken nach Stuttgart,
„darum daß nicht das letzte Band der deutschen Volkseinheit reiße”.
Unhaltbarer immer ward die Stellung des maßvollen Mannes unter der
wüsten Leidenschaft des Rumpfparlaments. Schon wurde der Klang seiner
Rede von dem zornigen Lärm des Pöbels übertäubt, als er vor der
Einsetzung der Reichsregentschaft, vor dem Bürgerkriege warnte und
den Verblendeten zurief: „Württemberg ist nicht beschaffen wie jetzt
diese Versammlung; es stellt nicht wie diese nur eine der Parteiungen
dar, in welche das deutsche Volk zerklüftet ist.” Nur sehr wenige
Gesinnungsgenossen zählte er noch in der Versammlung. Der Austritt
aber aus einer unterliegenden Partei war seinem Stolze, seiner Treue
unmöglich. So ist er geblieben bis zu dem jammervollen Ende des
deutschen Parlaments, dem Straßenkampfe in Stuttgart.

Seine Briefe aus diesen Jahren verkünden männlichen Schmerz über den
Zusammenbruch der Hoffnungen des Vaterlandes. Weniger tief mag er, der
mit all seinem Sinnen in der schwäbischen Heimat wurzelte, das eine
empfunden haben, was den meisten heimkehrenden Reichstagsmännern nach
den großen Kämpfen des Parlaments überwältigend, demütigend auf die
Seele fiel: die bettelhafte Armseligkeit der Kleinstaaterei. Seine
demokratische Gesinnung blieb in alter Schroffheit aufrecht: sogar
den Orden =Pour le mérite= wollte er nicht annehmen, den einzigen
noch unentweihten in Deutschland, den selbst der strenge Republikaner
Arago getragen hatte. Die letzten Jahre sind ihm in der Stille
wissenschaftlicher Arbeit vergangen. Daß er aber noch lebte in dem
Herzen seines Volkes, davon haben ihm alljährlich tausend Zeichen der
Teilnahme von fern und nah Kunde gebracht. Sie wurden dem schlichten
Manne oft lästig, dem Schwab einst sagte: „Du liebtest nicht das laute
Lieben.”

An dem Grabe des Dichters hat das gesamte Volk empfunden, was einst
sein Walther dem süßen Liedermunde Reinmars von Hagenau in die Gruft
nachrief:

    Deine Seele möge wohl nun fahren,
    Deine Zunge habe Dank.

Und wie sein Lied nur mit unserer Sprache selber sterben wird, so
wird auch fortleben in unserem Volke das Bild des Mannes Uhland,
der, menschlich irrend, doch in hohen Ehren, manchen wuchtigen Stein
hinzugetragen hat zu dem Neubau des deutschen Staates. Auch im Tode --
er selber hat es uns verkündet -- wollte er nicht lassen von seinem
Volke:

    Wohl werd' ich's nicht erleben,
    Doch an der Sehnsucht Hand
    Als Schatten noch durchschweben
    Mein freies Vaterland.

Uns aber, die ihn betrauern, bleibt die schöne Pflicht, mit streitbarem
Worte und fester Tat zu sorgen, daß die Sehnsucht des Dichters sich
erfülle, daß er die Stätte bereitet finde, wenn er kommt -- als
Schatten zu durchschweben sein freies Vaterland.



Heinrich von Kleist



Heinrich von Kleist.


Wer unter den Hellenen nicht verstand, eine feste Stelle zu gewinnen
in der gegebenen Ordnung des Staates und der Sitte, der ging zugrunde,
verachtet und vergessen. Der strenge Bürgergeist der Alten verdammte
den Einzelwillen, der sich erdreistete etwas zu gelten neben dem
Willen des Ganzen; ihr auf das Große gerichteter Sinn blickte gelassen
hinweg über die geheimsten Schmerzen der ringenden Menschenseele;
ihre Schamhaftigkeit scheute sich den Schleier zu heben, der diese
Abgründe des Herzens verhüllt. Erst die moderne Welt zeigt ein
liebevoll mitleidiges Verständnis für die Fülle des Elends, die in dem
Worte liegt: ein verfehltes Leben! Und sie hat guten Grund zu solchem
Mitleid. Sie läßt den einzelnen aufwachsen in fast schrankenloser
Ungebundenheit: mag er nachher selber zusehen, wie dies junge trotzige
Ich nach hartem Kampfe sich einfüge in die handelnde Gemeinschaft der
Menschen. Nicht in den brausenden Jünglingsjahren, deren glückselige
Torheit allein den philisterhaften Sittenprediger erschreckt --
erst später, um die Mitte der zwanziger Jahre, wenn die Zeit des
Schaffens anhebt, pflegen dem modernen Menschen die schwersten, die
gefährlichsten Stunden zu kommen. Welcher Mann von halbwegs reicher
Erfahrung hätte nicht an dieser Markscheide des Lebens einen geliebten
Genossen seiner Jugend zugrunde gehen sehen und schmerzvoll mit
Heinrich von Kleist gerufen:

    Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,
    Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
    Weil er in ihre Krone greifen kann.

Die fette Mittelmäßigkeit schwimmt behaglich obenauf, doch manche
der Besten sinken unter, weil ihr reicher Geist sich nicht fügen
will dem Gebote des Lebens: du sollst einen Teil deiner Gaben ruhen,
verkümmern lassen -- einem Gebote, dessen Härte der Gedankenlose gar
nicht fühlt. Wie viele flattern dahin ihr Leben lang wie mit gelähmter
Schwinge, weil ein Mißgriff, ein Körpergebrechen, ein alberner Zufall
sie ausschließt von dem Wirkungskreise, in dem sie ihr Höchstes, ihr
Eigenstes leisten konnten. Unter allen, die nicht wurden, was sie
wollten, leidet niemand so furchtbar, wie der hochstrebende Geist,
der sich durch sein ganzes Sein, durch eine unwiderstehliche innere
Stimme in einen bestimmten Beruf -- und nur in diesen -- getrieben
fühlt und schließlich doch entdeckt, daß seine Kraft nicht ausreicht.
Solche Grausamkeit der Natur trifft am härtesten die reizbare Seele
des Künstlers; denn er vermag weniger als irgendein anderer Arbeiter
die Mängel der Begabung durch die Kraft des Willens zu ersetzen,
und die Kunst kennt keine Mittelstraße, sie kennt nur vollendete
und verfehlte Werke. -- In Vischers Ästhetik, einem der besten und
bestbestohlenen Werke unserer Literatur, wird sehr richtig neben
dem Genius, der sich selber die Regel ist, und dem Talente, das auf
geebneter Bahn frisch und kräftig vorwärts schreitet; noch eine dritte
Form der künstlerischen Anlage unterschieden: das partielle Genie --
die Begabung jener tief unglücklichen Geister, welche dann und wann in
seligen Augenblicken mit der Kraft des Genius das Klassische, das Ewige
schaffen, um alsbald ermattet zurückzusinken und sich zu verzehren
in heißer Sehnsucht nach dem Ideale. Solche Naturen gleichen einem
herrlichen, großgedachten Gemälde, das irgendwo an auffälliger Stelle
durch eine Lücke, eine widrige Verzeichnung verunstaltet wird, sie
besitzen alles, was den unsterblichen Meister bildet, bis auf jenen
kleinen Punkt über dem i, der den Buchstaben fertig macht. Die deutsche
Dichtung, die nicht emporwuchs aus einer reifen Volksgesittung, sondern
ihr voranging, zählt eben deshalb solcher unfertiger, unglücklicher
Genies nur allzu viele, und unter ihnen ragt Heinrich von Kleist als
der Gewaltigste, der Wahrhaftigste hoch empor. „Die Hölle gab mir meine
halben Talente, der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes oder gar
keines” -- so bezeichnet er den Fluch seines Lebens, und nur er selber
darf also reden, denn die Halbheit, die Armut seiner Gaben genügt
vollauf, um eine Handvoll tüchtiger Künstler mit überschwenglichem
Reichtum zu segnen.

Wir Deutschen rühmen uns, daß von den Helden unseres Geistes nicht
so unbedingt wie von den meisten Dichtern anderer Völker gesagt
werden darf: Des Künstlers Leben sind seine Werke. Es ist ein echt
deutscher Spruch, den Schiller einmal hinwirft: „Den Schriftsteller
überhüpfe die Nachwelt, der nicht größer war als seine Werke.” Selbst
vor Goethes Faust überkommt uns die stolze Ahnung, daß der Dichter
noch immer eine Fülle überschüssiger Kraft zurückbehalten hat in
seiner reichen Seele. Darum lassen wir uns die Freude nicht nehmen,
den größeren Mann zu suchen hinter den großen Werken, und auch wer
die Vorliebe der Gegenwart für die Briefe und Papierschnitzel unserer
Dichter nicht teilt, darf das berechtigte Gefühl nicht verkennen, das
diesem Übermaß zugrunde liegt. Die düstere Gestalt Heinrich Kleists
verbietet uns solchen Genuß. Während seine Werke oft den Tadel, immer
das Lob entwaffnen, einige darunter bis zu den Höhen menschlichen
Schaffens hinaufreichen, ist sein Leben doch nur eine entsetzliche
Krankheitsgeschichte. Zweifel und Kämpfe, wie sie niemals grausamer
ein Menschenherz gepeinigt, Siechtum des Leibes und der Seele, der
ungerechte Kaltsinn der Zeitgenossen, der Zusammenbruch des Vaterlandes
und die gemeine Not um das liebe Brot -- das alles vereinigt sich zu
einem erschütternden Bilde; dem Betrachter bleibt zuletzt nur ein
Gefühl grenzenlosen Mitleids und der wehmütige Hinblick auf die von
dem Unglücklichen so oft angerufene „Gebrechlichkeit der Welt”. --
Die Biographie steht darum dem reinen Kunstwerke so nahe, weil in dem
Dasein jedes bedeutenden und gesunden Mannes die Geschichte seiner Zeit
wie in einem Mikrokosmos erscheint. Kleists Leben aber, wie mächtig
auch die Stürme des Jahrhunderts diesen tiefen Geist erschütterten, ist
die Geschichte höchstpersönlicher Leiden, ein psychologisches Problem.

Wir kennen nicht die Züge seines Gesichts; denn das einzige erhaltene
Porträt -- ein greisenhafter Knabenkopf, den ein Gottverlassener,
dicht auf der Grenze zwischen dem Maler und dem Weißbinder stehend,
zusammengepinselt hat -- erweckt keinen Glauben. Von den geheimen
Kämpfen seiner Seele hat er selbst ein treues Bild gegeben in den
Briefen an seine Schwester, die mit ihrer dämonischen Leidenschaft,
ihrem verzehrenden Schmerze in unserer Literatur einzig dastehen; wohl
nur Mirabeaus Jugendbriefe schildern mit gleich schreckhafter Wahrheit
den Aufruhr in einem großen Menschengeiste. Aber selbst wer diese
rückhaltlosen Geständnisse kennt, steht zuletzt doch traurig vor einem
Unbegreiflichen, vor einer krankhaften Naturanlage, die dem Dichter
selbst ein Rätsel blieb. In allen seinen Irrgängen begegnet uns kein
Zug, der nicht ehrlich, hochherzig, bedeutend wäre. Er ringt nach
der Erkenntnis des Wahren und des Schönen, nach den Kränzen höchsten
Dichterruhms; an den platten Freuden des Lebens geht er vorüber mit
einer stolzen Verachtung, die unserem genußsüchtigen Zeitalter fast
unfaßbar erscheint, kaum daß dann und wann die Sehnsucht, nicht nach
dem Behagen, sondern nach dem Frieden des Hauses sich in seine Klagen
mischt. Für ihn wie für wenige Menschen gilt das Wort: ihn ganz
verstehen heißt ihm ganz verzeihen.

Geboren am 10. Oktober 1776 zu Frankfurt an der Oder, tritt der feurige
junge Mensch nach dem Brauche seines Soldatenhauses frühzeitig in die
Armee. Während er teilnimmt an den rheinischen Feldzügen, erschüttern
die Ideen des philosophischen Jahrhunderts sein Herz. Er sehnt sich
hinaus in die Freiheit, in das unendliche Reich des Wissens, er will
„die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, durch menschenfreundliche
Taten bezahlen”. In seinem zweiundzwanzigsten Jahre fordert er seinen
Abschied und kehrt als überreifer Student in seine Vaterstadt zurück.
Er wird der Lehrer, der geistige Mittelpunkt für einen heiteren Kreis
junger Verwandten, er verschlingt Bücher in rastloser Arbeit und meint
mit seinem Forschen bis in den Kern der Nuß einzudringen. Aber schon
nach Jahresfrist treibt ihn eine verzehrende innere Unruhe hinweg
von den Studien, von seiner kaum gefundenen Braut. In Berlin sodann
trifft ihn wie ein Wetterstrahl die Lehre Kants, daß der Mensch nicht
die Dinge kennt, nur seine Anschauung von den Dingen. In maßlosem
Schmerz bricht der junge Himmelsstürmer zusammen vor dieser Erkenntnis.
Die Verzweiflung an aller Wahrheit, an allen Gesetzen des sittlichen
Lebens klagt fortan schauerlich in seinen Briefen: „Daß wir ein Leben
bedürften, um zu lernen, wie wir leben müßten! -- Und so mögen wir
am Ende tun was wir wollen, wir tun recht!” Und dazwischen immer
von neuem die glühende Sehnsucht nach dem Ewigen. „Zwischen je zwei
Lindenblättern, wenn wir abends auf dem Rücken liegen, eine Aussicht an
Ahndungen reicher als Gedanken fassen und Worte sagen können!”

Schon in früher Jugend quält ihn die überfeine Zartheit des Gewissens,
welche wir so gern als ein Zeichen innerer Reinheit begrüßen möchten,
während sie doch in den meisten Fällen nur der Vorbote ist eines
verdüsterten, selbstquälerischen Alters. Mit unbarmherzigem Auge
verfolgt er selbst jeden seiner Schritte, wie ein Geisteskranker
belauscht er sich; selbst über seine tollsten Streiche, seine
finstersten Seelenkämpfe gibt er sich und andern Rechenschaft -- das
alles ganz unbefangen, ganz wahrhaftig, ganz frei von jedem Streben
sich interessant zu machen. Darüber gehen ihm natürlich viele jener
Augenblicke verloren, wo der Mensch, ganz mit sich einig, ohne Wahl
und Frage sein Bestes schafft. Das Doppelleben, das so viele Künstler
führen, wird ihm zur verzehrenden Krankheit. Nicht genug, daß seine
Stimmung in jähen Sprüngen von kindlich harmloser Fröhlichkeit
zu finsterem Unmut, von rasch aufloderndem Stolze in kleinmütige
Verzagtheit umschlägt, daß seine Unbeständigkeit ihm den bitteren
Ausruf entringt, Gleichmut sei die Tugend nur des Athleten; nicht
genug, daß seine schneidende Verstandesschärfe ungesellig steht neben
einer glühenden Einbildungskraft und einem weichen Gemüte: auch seine
Phantasie bringt ihm keinen Trost. Der so viele mit dem reichen Spiele
seiner Erfindung entzückt, ihm bleibt selbst das harmloseste Vorrecht
des Künstlers versagt. Nicht einmal Luftschlösser kann er bauen, nicht
einmal im Geiste sich zu seinen Lieben versetzen; es ist, als sei
seine Phantasie für das tägliche Leben nicht vorhanden. Er haßt die
Menschen; denn sein Herz und Nieren prüfender Scharfblick zeigt ihm
ihre Kleinheit, und sein düsterer Sinn vermag nicht, mit überlegenem,
freundlichen Lächeln das Recht solcher Kleinheit zu würdigen.
„Vielleicht” -- so schreibt er einmal seiner Braut -- „hat die Natur
dir jene Klarheit zu deinem Glück versagt, jene traurige Klarheit, die
mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder
Handlung den Grund nennt.” Fremd, beklommen steht er in den höheren
Kreisen der Gesellschaft, wo das Verbergen jedes starken Gefühls für
gute Sitte gilt; und doch kann er des Beifalls der Mißachteten nicht
entbehren. Die Welt beginnt die Achsel zu zucken über sein zielloses
Träumen, er fühlt die spöttischen Blicke seiner Umgebung auf seinen
Wangen brennen. Der Drang nach Taten erwacht und lastet auf ihm „wie
eine Ehrenschuld, die jeden, der Ehrgefühl hat, unablässig mahnt”;
er will schaffen, rastlos, unermüdlich: „Der Mensch soll mit der
Mühe Pflugschar sich des Schicksals harten Boden öffnen.” Auch seine
Freunde, seine Braut, seine geliebte Schwester Ulrike drängen und
fragen ihn, was er denn werden, was er leisten wolle. O ihr Erinnyen
mit eurer Liebe! ruft er außer sich.

Wer hätte nicht einmal in schweren Stunden erfahren, wie qualvoll
solche zudringliche Einmischung der Welt uns bedrückt, wenn eine ernste
Entscheidung vor unsere Seele tritt? Und eben jetzt, da jedermann ihm
von seinen wissenschaftlichen Plänen spricht, ist Heinrich Kleist schon
verekelt an aller Wissenschaft, er ahnt, daß Gelehrte und Künstler
Antipoden sind und -- daß er selber ein Dichter sei. Auch dies müssen
wir schweigend hinnehmen als ein psychologisches Rätsel, daß in einem
solchen Dichtergeiste die Ahnung seines Berufes so unbegreiflich spät
erwachte. Kein Liebeslied, kein rhetorischer Dithyrambus hat ihm, wie
anderen glücklicheren Künstlern, die holde Schwärmerzeit des Lebens
verschönt; die Erstlinge seiner Muse sind -- seine schmerzbewegten
Briefe an Ulrike. Wir fühlen nach, wie das Ohr des Künstlers sich
erfreut an diesen verhaltenen Gedichten, an dem vollen Klange dieser
leidenschaftlichen Klagen. Zuweilen tritt schon die Sehnsucht nach dem
Schönen klarer hervor; er schildert die Reize der Natur in prächtigen
Farben, er ruft: „Wir sollten täglich wenigstens ein gutes Gedicht
lesen, ein schönes Gemälde sehen, ein sanftes Lied hören oder ein
herzliches Wort mit einem Freunde wechseln.” -- Dann stürmt er hinaus
in die Ferne; jahrelang, auf unsteten Wanderfahrten durch Deutschland,
Frankreich und die Schweiz jagt er dem Traumbilde des Dichterruhmes
nach, das flammend vor seiner Seele steht. Er will der größte der
Kleiste werden -- denn ein naiver Familienstolz liegt in seinem Geiste
dicht neben der Schwärmerei für die Gleichheit der Menschen. Das
Sprichwort der märkischen Vettern „jeder Kleist ein Dichter” soll sich
glorreich erfüllen, der Lorbeer des alten Ewald Kleist soll verwelken
neben dem seinen. Er berauscht sich an Goethes Werken, Schillers
ideales Pathos ergreift diesen durch und durch realistischen Kopf
nur wenig. Zugleich sagt ihm eine geheimnisvolle Ahnung, daß in ihm
selber eine Gewalt dramatischer Leidenschaft schlummere, die Goethes
harmonischer Genius so nicht kannte: „Ich will ihm den Kranz von der
Stirne reißen”, ruft er frevelnd. Was hat er nicht ausgestanden bei dem
wohlweisen Lächeln der Philister um ihn her, die ihm seine „Versche”
nicht verzeihen können; wie soll das armselige Volk erstaunen, wenn er
einst heimkehrt als der erste der deutschen Dichter!

Und schon ist der Plan gefunden, der alle Wunder von Weimar mit einem
Schlage überbieten soll: das Drama Robert Guiscard. Auf diesen einen
Wurf setzt er sein alles: gelingt ihm dies Gedicht, „das der Welt deine
Liebe zu mir erklären soll” -- dann will er sterben, so schreibt er der
Schwester. In dem geheimnisvollen Ringen um dieses Werk verzehrt sich
die edelste Kraft seiner Jugend. Bald schwelgt er in „der Erfindung,
diesem Spiele der Seligen”, bald umflattern die werdenden Gestalten
des Gedichts sein Haupt wie ein verfolgendes Dämonengeschlecht,
also daß er mitten in froher Gesellschaft mit halblauter Stimme zu
dichten beginnt. Wieder und wieder vernichtet er das Werk, das seinen
glühenden Wünschen nie genügt. Dann klagt er das Schicksal an, warum
es nicht die Hälfte seiner Gaben zurückgehalten habe, um ihm dafür
Selbstvertrauen und Genügsamkeit zu schenken; dann überfällt ihn die
Reue um die verlorenen Stunden, die ungenossenen wie die ungenützten,
und eine tiefe Verachtung des Lebens: „Wer es mit Sorgfalt liebt,
moralisch tot ist er schon, denn seine höchste Lebenskraft, es opfern
zu können, modert, indem er es pflegt.” Und bald strahlt er wieder von
kecker Siegeszuversicht und ruft gleich seinem Prinzen von Homburg: „O
Cäsar Divus, die Leiter setz' ich an deinen Stern!” Sein äußeres Leben
in diesen angstvollen Tagen schildert er selbst in der Klage: „An mir
ist nichts beständig als die Unbeständigkeit.” Er wandert und wandert,
schließt Bekanntschaften mit bedeutenden Männern, um sie ebenso
schnell zu lösen, entwirft neue Lebenspläne, um sie sogleich fallen zu
lassen. Er will als ein Landmann in der Schweiz sich eine stille Hütte
bauen und bricht mit seiner Braut, weil sie ihm nicht folgen will;
er versucht einmal, inmitten der Pracht der Alpen, auf einer Insel
in der Aar, mit einem anmutigen Schweizermädchen ein beschauliches
Künstlerleben zu führen -- und das alles zieht an ihm vorüber wie ein
Traum, leer und nichtig neben dem einen, was ihm wirklich ist -- neben
dem Dichterschmerz um sein Drama. Da endlich erfolgt die Enttäuschung,
deren schneidenden Jammer nur die eigenen Worte des Unglücklichen
schildern können. Am 5. Oktober 1803 schreibt er der Schwester:

„Der Himmel weiß, meine theuerste Ulrike (und ich will umkommen,
wenn es nicht wörtlich wahr ist), wie gern ich einen Blutstropfen
aus meinem Herzen für jeden Buchstaben eines Briefes gäbe, der so
anfangen könnte: ‚Mein Gedicht ist fertig.’ Aber Du weißt, wer nach dem
Sprichwort mehr thut, als er kann. Ich habe nun ein Halbtausend hinter
einander folgender Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet,
an den Versuch gesetzt, zu so vielen Kränzen noch einen auf unsere
Familie herabzuringen: jetzt ruft mir unsere heilige Schutzgöttin zu,
daß es genug sei. Sie küßt mir gerührt den Schweiß von der Stirne und
tröstet mich, ‚wenn jeder ihrer lieben Söhne nur eben so viel thäte,
so würde unserem Namen ein Platz in den Sternen nicht fehlen’. Und so
sei es denn genug. Das Schicksal, das den Völkern jeden Zuschuß zu
ihrer Bildung zumißt, will, denke ich, die Kunst in diesem nördlichen
Himmelsstrich noch nicht reifen lassen. Thöricht wäre es wenigstens,
wenn ich meine Kräfte länger an ein Werk setzen wollte, das, wie ich
mich endlich überzeugen muß, für mich zu schwer ist. Ich trete vor
Einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich ein Jahrtausend
im Voraus vor seinem Geiste. Denn in der Reihe der menschlichen
Erfindungen ist diejenige, die ich gedacht habe, unfehlbar ein
Glied, und es wächst irgendwo ein Stein schon für den, der sie einst
ausspricht. Und so soll ich denn niemals zu Euch, meine theuersten
Menschen, zurückkehren? O niemals! Rede mir nicht zu. Wenn Du es
thust, so kennst Du das gefährliche Ding nicht, das man Ehrgeiz nennt.
Ich kann jetzt darüber lachen, wenn ich mir einen Prätendenten mit
Ansprüchen unter einem Haufen von Menschen denke, die sein Geburtsrecht
zur Krone nicht anerkennen; aber die Folgen für ein empfindliches
Gemüth, sie sind, ich schwöre es Dir, nicht zu berechnen. Mich entsetzt
die Vorstellung. Ist es aber nicht unwürdig, wenn sich das Schicksal
herabläßt, ein so hilfloses Ding, wie der Mensch ist, bei der Nase
herumzuführen? Und sollte man es nicht fast so nennen, wenn es uns
gleichsam Kuxe auf Goldminen giebt, die, wenn wir nachgraben, überall
kein ächtes Metall enthalten?” --

Gleich darauf eilt er nach Frankreich, um unter Bonapartes Fahnen
in England zu landen und -- dort „den schönen Tod der Schlachten zu
sterben. Unser aller Verderben lauert über den Meeren. Ich frohlocke
bei der Aussicht auf das unendlich prächtige Grab”. Eine schwere
Krankheit rettet ihn aus diesem Anfalle des Wahnsinns; doch die Narben
aus jenen Kämpfen bleiben unvertilgbar seinem Geiste aufgeprägt. Von
neuem beginnen die unsteten Wanderfahrten; über lange Abschnitte seines
Lebens sind wir noch heute ohne sichere Kenntnis. In diesem reichen
Geiste arbeiten dämonische Kräfte, die über die Enden des Menschlichen
hinausgreifen, er schwankt zwischen seinem Urbild und seinem Zerrbild,
zwischen dem Gott und dem Tier. Sein poetischer Genius bricht sich
endlich seine Bahn durch alle diese Leiden, entfaltet sich stolz und
sicher, stetig anwachsend. Dann bringt das Unglück des Vaterlandes
seinem verwüsteten Leben wieder einen neuen reichen Inhalt: mit der
inbrünstigen Liebe eines großen Herzens klammert der Dichter sich
fest an sein versinkendes Volk, und während er die herrlichen Werke
schreibt, die ihn an die Spitze unserer politischen Sänger stellen,
trägt der Unbegreifliche jenen finstern Lebensüberdruß mit sich umher,
der ihn schließlich zum Selbstmord treibt.

Es hieße an jeder Freiheit des Willens verzweifeln, wollte man in einem
so unseligen Leben keine Schuld finden. Aber wer ist so vermessen,
nach den dürftigen Nachrichten das Maß seiner Verschuldung und das
Maß seines Unglücks abzuwägen? Nur einige widrige Umstände, an denen
Kleists Wille wenig ändern konnte, seien erwähnt. Durch seinen
frühzeitigen Eintritt in den Soldatenstand ward sein Entwicklungsgang
unterbrochen, seine ganze spätere Bildung autodidaktisch und verwirrt.
Und wie unentbehrlich war nicht eine strenge Geisteszucht gerade
einem so erregbaren, so leicht und vielseitig auffassenden Kopfe! Ein
geborener Edelmann war er hinabgestiegen zu einem Berufe, der jenen
Tagen noch für bürgerlich galt, und vermochte doch den stetigen,
folgerechten Fleiß des bürgerlichen Arbeiters sich niemals anzueignen.
Noch tiefer und unheilvoller mußte auf ihn wirken, daß das Leben
seinem Gemüte so wenig Freuden bot. Eine wahre, beglückende Liebe
hat er nie genossen. Und wenn wir seine Richtung auf das Drama, sein
für jene Zeit wunderbar lebendiges Interesse am politischen Leben
bedenken, wenn wir uns fragen: Welch ein Geist mußte es sein, der in
dem Käthchen von Heilbronn, in der willenlos sich hingebenden Liebe
sein weibliches Ideal finden konnte? -- so erkennen wir, daß, bei aller
Reizbarkeit, das männliche, ja das männische Wesen der hervorstechende
Charakterzug seiner Natur war, so verstehen wir auch, wie schmerzlich
dieser stolze Mann den Mangel teilnehmender Liebe empfinden mußte.
Seine Braut hat ihn nie beglückt, das bezeugen seine Briefe. Diese
Liebesbriefe eines Dichters, die uns mit einer Flut dürrer, doktrinärer
Prosa überschütten, seien allen denen empfohlen, welche nicht begreifen
können, aus wie seltsamen, widerstrebenden Stoffen der Mensch gemischt
ist. Jeder Brief beginnt mit einigen zärtlichen Worten, deren abstrakte
Metaphern starke Zweifel an der Tiefe der Empfindung erregen; darauf
folgt eine regelrechte Schulstunde; er fordert seine Braut zu
Denkübungen auf, er legt ihr Fragen vor, wie: Was ist prächtig? was
niederschlagend? Kurz, er liebt sie nicht, er will sie erst bilden, und
auch eine reiche Phantasie kann eine solche Täuschung des Gefühls nicht
mit poetischem Zauber verklären.

Ulrike Kleist hat mit rührender Hingebung ihr Vermögen, ihr Glück,
ihr alles dem Bruder geopfert, doch sie war nur die Schwester, zudem
mit ihrem männlichen exzentrischen Wesen dem Dichter allzu verwandt:
„Es läßt sich nicht an ihrem Busen ruhn.” Auch eine zweite Geliebte,
die er zu Dresden in Körners Hause fand, verstand nicht in die Launen
seines herrischen Geistes sich zu fügen, und er stieß sie von sich.
Wer ein Ohr hat für die leisen Schwingungen des Gefühls, der errät
auch aus den Werken mannhafter Dichter, ob ihr Herz verödet blieb oder
ob sie einmal wahr und rein und glücklich liebten -- ein feiner und
tiefer Unterschied, der mehr in der Form als im Wesen der Empfindung
sich kundgibt. Wenn es lichte Geister gibt, die in der Einsamkeit
des schaffenden Genius erhaben sind über solcher Bedürftigkeit --
Kleist zählte nicht zu ihnen. Ergreifend klingt seine Klage: „So viele
junge blühende Gestalten, mit unempfundenem Zauber sollen sie an mir
vorübergehn? O dieses Herz! Wenn es nur einmal noch erwärmen könnte!”
Er schildert die Liebe selten unbefangen als die welterhaltende Macht,
die in dem Stammeln des Kindes als die erste Regung der Menschlichkeit
erscheint und den Trotz des Mannes zu der Natur zurückführt; er stellt
sie gern dar als eine Krankheit des Leibes und der Seele und verirrt
sich zuweilen in die Mysterien des geschlechtlichen Lebens, die der
Kunst schlechthin verschlossen sind. Er schildert gern das Nackte, und
seine lebensvolle Sinnlichkeit berührt oft die zarte Grenze, welche die
schöne Wärme der Leidenschaft von der fliegenden Hitze des Gelüstes
trennt.

Auch der Freunde besaß er wenige. Einige ausgezeichnete Männer
unter seinen Kriegskameraden, wie Rühle und Pfuel, standen seinem
Dichterschaffen allzu fern; und der Verkehr mit dem anmaßenden
Phantasten Adam Müller verwirrte nur sein Urteil. Erscheint es nicht
fast tragikomisch, daß der derbe, grundprosaische Zschokke und
der jüngere Wieland, den die Nachwelt nur als einen warmherzigen
Patrioten kennt, die einzigen Poeten waren, mit denen ihn eine gewisse
Gemeinschaft künstlerischer Arbeit verband? Zschokkes „Stunden der
Andacht” und Penthesilea! -- Was frommte ihm der Beifall des alten
Wieland, der schon mit einem Fuß im Grabe stand? Der eine, zu dem er
emporblickte, Goethe, konnte das Grauen vor den krankhaften Zügen
dieses leidenschaftlichen Talentes nicht verwinden; und die lauten
Stürmer der romantischen Schule, die mit ihren formlosen Experimenten
den Markt beherrschten, verziehen ihm seine Tugenden nicht, sie
verachteten den prosaischen Sinn des Mannes, der den Mut besaß,
festzuhalten an der strengen Kunstform des Dramas. Den christlichen
Poeten des Tages war der ernste Bekenner Kantischer Sittlichkeit
unheimlich: wenn Fouqué mit ihm zusammentraf, so sprachen sie selbander
-- über die Kriegskunst. Von solchen Stimmungen beherrscht erwies die
Leserwelt den Werken Kleists eine unbelehrbare Mißgunst; kein einziger
froher Erfolg verschönte sein Leben. Als er einst einer Freundin einige
seiner Verse rezitierte und jene voll Bewunderung nach dem Verfasser
fragte, da schlug er sich verzweifelnd an die Stirn: „Auch Sie kennen
es nicht? O mein Gott, warum mache ich denn Gedichte?” Man mag einen
jungen Poeten verachten, der die Kraft nicht findet, das unvermeidliche
Schicksal eines Erstlingswerkes zu ertragen; doch hier erschüttert
uns die gerechte Klage des verkannten Genius. Fester und fester spann
er sich ein in sein einsiedlerisches Treiben: das Leid, sprach er
stolz, drückt um so schwerer, wenn mehrere daran tragen. Der Fluch
der Einsamkeit kam über ihn: sie nährte sein mißmutiges Grübeln, sie
gewährte ihm nur zu viel Muße, die Dinge wieder und wieder zu bedenken,
also daß jeder Entschluß, kaum gefaßt, ihm alsbald zum Ekel ward.
Und wenn wir schaudern vor den frevelhaften Spielen der Phantasie,
die in solchen Stunden sein Hirn betörten, so sollen wir doch auch
unbarmherzig die Mitschuld seiner Zeit bekennen: dies Künstlervolk ließ
den Sänger des Prinzen von Homburg verhungern, während Kotzebue und
Zacharias Werner als große Dichter gefeiert wurden.

Es liegt am Tage, daß ein so qualvoll ringender Dichtergeist
unwillkürlich Probleme von subjektiver Wahrheit wählen mußte. Kleist
wußte wohl, warum er die Frage aufwarf, die ihm viele begabte
Dramatiker nachgesprochen haben: ob es denn nicht möglich sei, die
Frauen mindestens für einige Abende vom Theaterbesuche auszuschließen.
Seine edelsten Werke sind Bekenntnisse, ganz verständlich nur dem
reifen Manne, dem verwandte Kämpfe die Seele erschütterten. Wer sich
aber hineingefunden hat in diese subjektive Welt, den umfängt sie
auch wie ein Zauberkreis. Kleist besitzt eine dramatische Energie,
welche dem gemütvollen, gern in die Weite schweifenden deutschen Wesen
fast unheimlich erscheint und von keinem anderen unserer Dichter
erreicht wird. Ein hoher dramatischer Verstand wirft alles zur
Seite, was aufhalten, was den Sinn des Hörers von dem Wesentlichen
ablenken könnte. Unaufhaltsam, wie in den Effektstücken gedankenloser
Bühnenpraktiker, flutet die Handlung dahin; und doch ist nichts bloß
gedacht und gedichtet, alles erlebt und angeschaut. Mit wunderbarer
Sicherheit weiß er jederzeit die Stimmung in uns zu erwecken, die sein
Stoff verlangt; mit ein paar Worten versetzt er uns in jede fremde
Welt. Vor der Wahrheit seiner Charaktere verstummt die Kritik: diese
Menschen leben, und wenn der Sturm der Leidenschaft sie packt, dann
verliert selbst der nüchterne Hörer die Besinnung. In Kleists reiferen
Stücken sind auch die geringfügigen Nebenpersonen des Studiums der
tüchtigsten Schauspieler würdig: der Knecht Gottschalk im Käthchen
war eine der glänzendsten Rollen Ludwig Devrients. Freilich verführt
ihn die Fertigkeit, sich selbst zu belauschen, auch in der Zeichnung
seiner Charaktere oft zu virtuoser Kleinmalerei. Er wagt manchmal,
jene flüchtigen Gedankenblitze darzustellen, die uns wider Willen
durchzucken, die nur durch ihr augenblickliches Verschwinden erträglich
werden und darum jeder Darstellung sich entziehen; dann haben wir den
Eindruck, als redeten seine Menschen im Traume. In jenen Augenblicken
der höchsten Wut, wo in der Wirklichkeit die Leidenschaft stumm bleibt
oder nur zerrissene Reden ausstößt, verschmäht Kleist oft das schöne
Vorrecht des Dichters, der mächtigen inneren Bewegung Worte zu leihen;
solche Szenen machen bei ihm, weil er sich zu sehr an die Natur hält,
nur den Eindruck des Richtigen, nicht der poetischen Wahrheit.

Die maßlose Leidenschaft, daran des Dichters Leben sich verblutete,
dringt oftmals störend auch in seine Werke: er liebt das Schreiende,
Gräßliche, verfolgt jedes Motiv gern bis zur äußersten Spitze, seine
Helden jagen ihrer Sehnsucht nach so ungestüm, so unersättlich wie er
selber dem Traumbilde seines Robert Guiscard. Als Kleist zu dichten
begann, hatte er schon zu vieles, zu Ernstes erlebt, um zu meinen, es
ließen sich die großen Widersprüche der Welt mit einer „schönen Stelle”
lösen. Aber selbst diese echt künstlerische Tugend wird an ihm oft
zum Fehler: er haßt nicht bloß die Phrasen, er flieht die Ideen. Als
einen Mangel müssen wir es bezeichnen, daß die von Lessing verpönten
langweiligen Aushilfen verlegener Dichter in seinen Dramen fast
gänzlich fehlen. Das Trauerspiel hohen Stils verlangt solche Worte der
Weisheit, nur daß sie natürlich aus Handlung und Charakter sich ergeben
müssen; der Hörer atmet bei ihnen auf, er ahnt den hellen Dichtergeist
hinter den Schrecken des tragischen Schicksals. Nicht Mangel an Genie
erschwerte ihm, den idealen Gehalt seiner Fabeln an den Tag zu bringen,
wohl aber Mangel an Ruhe: seine Stoffe lasteten auf ihm noch in ganz
anderer Weise, als jedes unfertige Bild den Künstler bedrückt. Er besaß
andauernde Begeisterung genug, um fast nur größere Werke zu schaffen,
er arbeitete langsam und kehrte mit gewissenhaftem Fleiße immer wieder
zu dem Geschaffenen zurück. Er schildert jede Einzelheit mit peinlicher
Genauigkeit; und doch fühlen wir aus der Mehrzahl seiner Werke die
innere Rastlosigkeit des Dichters heraus, seinen Drang, des Stoffes
ledig zu werden. Man lese die „Episode aus dem letzten Feldzuge”, ein
keckes Reiterstück, die einfachste Geschichte von der Welt. Wie ein
Husar in einem von den Franzosen bedrohten Dorfe unbekümmert um die
Bitten des Wirts behaglich ein paar Gläser trinkt, dann mit einem
wilden Fluche davon sprengt und sich durch die Feinde durchhaut -- das
wird auf mehreren Seiten geschildert, keine Handbewegung des Reiters
wird uns erlassen. Und trotzdem kommen wir dabei nicht einen Augenblick
zur ruhigen Betrachtung, so atemlos ist die Erzählung.

Auf Kleists Schaffen paßt Wort für Wort die Klage, die Schiller einmal
über die Aufgabe des Dramatikers schlechthin ausspricht: „Ich muß immer
beim Objekte bleiben; jedes Nachdenken ist mir versagt, weil ich einer
fremden Gewalt folge.” Und fragen wir, warum Heinrich Kleist mit aller
Schöpferkraft seiner Phantasie doch hinter dem Genius Schillers weit
zurückbleibt, so lautet die Antwort: Schiller ist ein Klassiker, er
sucht Probleme, die für alle Zeiten wahr sind, und löst sie mit der
Sicherheit eines Geistes, der in den Ideen lebt; und weiter: Schiller
steht seinen Werken frei gegenüber -- trotz jener Selbstanklage, die
ihn nicht trifft. Kleist aber wird in der Tat oft unfrei, willenlos
fortgerissen von der Gewalt seines Stoffes; ja wir fühlen nicht selten,
wie eine glänzende Erscheinung vor ihm aufsteigt, wie sie Macht gewinnt
über seinen Geist und ihn zwingt, sie zu gestalten, auch wenn die
Harmonie seines Planes darunter leiden sollte. Einzelne traumhaft
schöne Bilder kehren in seinen Gedichten immer wieder, fast wie fixe
Ideen, die er nicht abschütteln kann.

Trotzdem ist Kleist ein denkender Künstler. Zwar kommt ihm niemals
bei, in seinen Briefen über die Gesetze seines Künstlerschaffens
zu sprechen, ja in einem Aufsatz voll köstlichen zynischen Humors
verhöhnt er alle Kunsttheorien und meint, „daß es, nach Anleitung
unserer würdigen alten Meister, mit einer gemeinen, aber übrigens
rechtschaffenen Lust an dem Spiel, deine Einbildungen auf die Leinwand
zu bringen, völlig abgemacht ist”. Doch in seinen Werken ist solcher
Naturalismus nicht zu finden: gewissenhaft hat der Mann, dem die
Schule der Bühne verschlossen blieb, nachgedacht über die Gesetze des
Dramas; sorgfältig hält er die Kunstformen auseinander. In seinen
Dramen ist alles Handlung, in den Novellen alles Erzählung, also daß
selbst der Dialog zumeist in indirekter Rede berichtet wird. Man
vergleiche das lange Gedicht an die Königin Luise, das Graf York
vor kurzem in den Grenzboten mitteilte, mit dem schönen prägnanten
Sonette, das offenbar aus jenem Entwurf entstanden ist, und man wird
ahnen, wieviel Gedankenarbeit in diesen wenigen Zeilen liegt. Auch in
der Form seiner Gedichte bewährt sich der bewußte Künstler. Die ganze
Tonleiter der Empfindung steht dem Sprachgewaltigen zu Gebote, doch am
glücklichsten gelingt ihm der Ausdruck der stürmischen Leidenschaft;
er kennt die Laute des edlen Heldenzorns, wie der tierischen Wildheit.
Sein Stil ist höchst persönlich, von unverkennbarer Eigenart und eben
darum echt deutsch: eine knappe, markige Sprache, auch in der Prosa
allein aus dem deutschen Wortschatz geschöpft, reich an volkstümlichen
anschaulichen Wendungen, und wenn es sein muß derb und grob, so wie er
einst im Regimente gegen seine „Kerls” gewettert hatte. Der melodische
Tonfall lyrischer Rede reizt ihn nicht; ihn kümmert's wenig, ob seine
Jamben zuweilen hart, zerhackt, durch häßliche Flickwörter entstellt
erscheinen; nur dramatisch, ausdrucksvoll, ein treuer Spiegel des
Inhalts sollen sie sein, und sie sind es.

Mag ihn die Literaturgeschichte immerhin zu der romantischen Schule
zählen -- die stolze Ursprünglichkeit dieser Erscheinung wird durch
einen Gattungsnamen mit nichten erschöpft. Jedes Gedicht Kleists
entspricht der Mahnung, die er einst den nachahmenden Künstlern zurief:
die Werke der alten Meister sollten „die rechte Lust in Euch erwecken,
auf Eure eigene Weise gleichfalls zu sein”. Er hat die Märchenpracht
der Romantik mit ahnungsvoller Zartheit besungen, ja der Kantianer
sehnte sich auf Augenblicke nach dem Frieden, den nur die Formenschöne
des katholischen Kultus gewähren könne; aber dicht neben diesen
phantastischen Träumen liegt in seinem Geiste der strenge Realismus,
die Freude an dem Schlichtnatürlichen, die Verstandesklarheit des
protestantisch-norddeutschen Wesens. Der uns soeben die gaukelnden
Gestalten einer Wunderwelt geschildert, führt uns im nächsten
Augenblick in die Kämpfe des politischen Lebens, läßt uns in vollen
Zügen die frische, scharfe Luft der Zeitgeschichte atmen. So steht der
wunderliche Grübler vereinsamt wie ein Fremder in einer Zeit, deren
Kämpfe und Leiden er doch tiefbewegt im Innern mitempfindet; und wir
Nachlebenden wissen nicht zu sagen, ob wir ihn beklagen sollen als
einen Spätling oder als einen zu früh Geborenen. Er erschien zu spät
-- denn dem geistigen Vermögen einer jeden Epoche ist ein festes Maß
gesetzt, es war unmöglich, daß die deutsche Kunst noch bei Lebzeiten
Goethes jenen neuen Stil hätte finden können, von dem Kleist träumte.
Und wieder: er kam zu früh, denn erst der Bürgersinn, der realistische
Zug der Gegenwart beginnt den Kern dieses Dichtergeistes zu verstehen,
erst den Dramatikern unserer Tage sind seine Werke ein Vorbild.

Nur der Torso des ersten Aufzuges läßt uns ahnen, welch ein Werk der
„Robert Guiscard” zu werden bestimmt war; doch weder das Bruchstück
selbst noch die Überlieferung der Normannengeschichte gibt uns einen
klaren Begriff von dem Plane. Wir vermuten lediglich, wenn wir „das
Volk” als Masse reden und klagen hören, daß dem Dichter eine Erneuerung
des antiken Chors in ganz moderner, dramatischer Form, eine Verbindung
des charakteristischen und des idealisierenden Stiles vorgeschwebt
haben mag. Eine wunderbare, von Kleist selber nie wieder erreichte
Pracht der Sprache hebt uns sofort auf die Höhen des Menschenlebens;
hier ist sie wirklich, die =gorgeous tragedy in sceptred pall=, die
Tragödie der Könige und Helden. Wir blicken in das wogende Gewimmel
eines Völkerlagers, und wie der alte Löwe Robert Guiscard soeben
majestätisch unter die klagenden Normannen tritt, da brechen die Szenen
ab, die einzigen, welche Kleist nach der Vernichtung des Werks zu
erneuern gewagt hat, und traurig legen wir die Blätter aus der Hand, an
denen das Herzblut eines edlen Mannes haftet.

Noch während dieser Plan auf der Seele des Dichters lastete, versuchte
er sich an einem bescheideneren Werke, dem Drama „Die Familie
Schroffenstein”. Neben seiner großen Tragödie erschien ihm das kleinere
Gedicht bald armselig, wie „eine elende Scharteke”; fast gewaltsam
mußten ihn die Freunde überreden, das Drama zu vollenden. Kein Wunder,
daß die Kritik mit diesem Erstlingswerke nichts anzufangen wußte; der
Dichter war, da er als Neuling auf den Markt trat, längst in der Stille
durch eine harte Schule dramatischer Arbeit gegangen, längst hinaus
über die rhetorische Überschwenglichkeit der Jugend.

Der Bau der ersten Akte ist mit der Sicherheit eines gereiften
Verstandes entworfen; die Charaktere, voll gewaltiger, wortkarger
Leidenschaft, sind gezeichnet mit jener unerbittlichen Wahrheit, welche
die Frauen so leicht von Kleists Werken zurückschreckt; das Ganze ein
Bild finsterer blutiger Kämpfe, ohne jede Spur einer höheren Idee. Wenn
Hegel recht hätte mit seinem Satze, daß ein idealistischer Anfang in
der Kunst immer bedenklich sei, so müßte man dies Erstlingswerk mit dem
günstigsten Auge betrachten. Und doch liegt gerade in dem Mangel jedes
idealen Momentes der Grund seines Fehlschlagens.

Kleist schildert den ererbten Haß zweier verwandter Häuser,
deren Kinder sich lieben und endlich durch den Frevel der Väter
untergehen. In Shakespeares Romeo und Julie wird der Haß der Familien
vorausgesetzt, der Schwerpunkt liegt in der Schuld der Liebenden. Bei
dem deutschen Dichter erscheint das Leiden der Liebenden nur als eine
Episode, als das heitere Gegenbild der finsteren Fabel, freilich als
ein Bild von rührender Innigkeit und bezaubernder sinnlicher Wärme.
Der Kern seiner Aufgabe ist, zu entwickeln, wie die lang gehegte
Erbitterung der beiden Geschlechter durch ein Nichts, einen leeren
Verdacht zum finsteren Hasse gesteigert wird, wie der Wahnsinn des
Argwohns die beiden Stammeshäupter -- zwei grundverschiedene und doch
in ihrem zähen, schweren Wesen nahe verwandte Naturen -- übermächtig
packt und sie fortreißt von Untat zu Untat. Und dies ist dem Künstler
so vollständig gelungen, wirkliche und vermeinte Schuld, Schein und
Wahrheit verschlingen sich so fest ineinander, daß der Hörer und
schließlich auch der Dichter die Klarheit seines sittlichen Urteils
verliert. Dem Dichter selbst wird „das Gefühl verwirrt” wie seinen
Helden, er steht ratlos vor dieser jämmerlichen und doch so furchtbaren
Kleinheit der Menschen, die in ihrem Grimm befangen nicht rechts
noch links von ihrem Wahn hinwegzublicken weiß; er meint zuletzt,
die durch den Aberwitz der Sterblichen verschuldete Verwicklung
durch einen Aberwitz des Schicksals lösen zu dürfen. Durch einen
grundhäßlichen Zufall erschlägt jeder der Väter, in der Meinung, das
Kind des Feindes zu treffen, sein eigenes Kind. Vor den unschuldigen
Opfern kommt endlich die Nichtigkeit des Argwohns, der all dies Unheil
herbeigeführt, an den Tag, und die schuldigen Väter feiern eine weder
glaubhafte noch erhebende Versöhnung. Mit sichtlicher Unlust hat der
Dichter den Schluß zu diesem krankhaftesten seiner Dramen auf das
Papier geworfen; es ist sein eigenes verstörtes Gemüt, das durch den
Mund seines Helden verzweifelnd gen Himmel schreit:

    Gott der Gerechtigkeit,
    sprich deutlich mit dem Menschen, daß er's weiß,
    auch was er soll! --

Als endlich sein Geist sich langsam erholte von dem Zusammenbruch
seiner liebsten Träume, da begann er eine Neuschöpfung des
Molièreschen Amphitryon. Eine Neuschöpfung, sage ich, denn bloß zu
übersetzen war diesem trotzigen Dichter unmöglich; in ihm lag nichts
von weiblicher Empfänglichkeit, und selbst die Aufgabe, das Werk
Molières umzugestalten, hätte ihn schwerlich gereizt, wenn nicht
die unharmonische Natur des Stoffes jedem neuen Bearbeiter einen
weiten Spielraum eröffnete. Die berühmte Fabel, wie Zeus in der
Gestalt Amphitryons dessen Weib Alkmene erkennt, bietet in der tollen
Verwechslung der Personen, in der Figur des geprellten Ehemanns, diesem
zweideutigen Liebling des Lustspiels aller Zeiten, überreichen Stoff
zu komischen Szenen; aber, zu grausam für einen Scherz, zu lächerlich,
um tiefere Empfindungen zu erregen, kann sie nie einen reinen Eindruck
hervorbringen. Als ein Meister hat Molière verstanden, die bedenkliche
Kehrseite der Handlung zu verdecken, mit herzerquickendem Selbstgefühl
stellt er sich als ein moderner Mensch der antiken Welt gegenüber --
so übermütig wie nur Shakespeare in Troilus und Cressida. Er verflacht
absichtlich den nationalen Gehalt des Stoffes, er will nichts wissen
von dem religiösen Schauer, den die Erscheinung des Göttervaters in
der Brust des gläubigen Hellenen erweckte. Seine Götter sind ein
lebenslustiges, übermütiges Völkchen, von den Menschen nur durch ihre
Macht verschieden und sehr geneigt, diese Übermacht zu mißbrauchen. Er
beginnt mit einem Prologe voll köstlicher Laune: Merkur fordert die
Nacht auf, einige Stunden länger über Theben zu verweilen, damit Zeus
seine Freude bis auf die Hefe genießen könne; sie weigert sich, denn
man müsse „das Dekorum der Göttlichkeit” wahren, doch gibt sie nach,
als er ihre Neigung für galante Abenteuer, wovon sie sich allerdings
nicht freisprechen läßt, ihr vorhält. Mit diesen Späßen und dem
possenhaften Wortspiele =Bon jour, la Nuit -- adieu, Mercure=, das den
Prolog schließt, gelangen wir sofort zu der leichtfertigen, lustigen
Stimmung, die der Dichter verlangt. Nun folgt ein buntes Durcheinander
lächerlicher Szenen. Merkur in der Gestalt des Sklaven Sosias zankt
sich mit dem wahren Sosias über sein Ich, zerprügelt ihn wiederholt
mit göttlicher Urkraft; und zu diesen alten Witzen, wodurch schon
der Amphitryon des Plautus und des Camoens ihre Hörer entzückten,
tritt eine neue glückliche Erfindung hinzu: der eheliche Zwist im
Hause des Fürsten wiederholt sich possenhaft im Hause des Sklaven.
Die gewollte Oberflächlichkeit seiner Charakterzeichnung wird dem
Dichter erleichtert durch den Genius seiner Sprache: die französische
Leidenschaft tritt in viel zu rhetorischer Form auf, als daß sie uns
tief ergreifen könnte. Mit leichtfertiger Grazie schlüpft er über die
ernsten Auftritte dahin, so daß wir nie zum Nachdenken, nie aus dem
Gelächter herauskommen.

Der tiefe Gegensatz deutschen und französischen Kunstgefühles tritt
uns vor die Augen, wenn wir nunmehr den deutschen Dichter in seiner
Werkstatt belauschen, wie er das fremde Gebilde zu packen und auf den
Kopf zu stellen wagt. In den rein komischen Szenen reicht Kleist,
trotz der ersichtlichen Bemühung, sie mit lustigen Einfällen zu
bereichern, an die schalkhafte Leichtigkeit seines Vorbildes nicht
heran; dafür versucht er, die ernste Seite des Dramas zu vertiefen,
zu bereichern durch die Macht und Glut deutscher Leidenschaft. Als
Amphitryon seinem Weibe nicht glauben will, daß er selbst sie am
vergangenen Abend besucht, da ruft sie ihm nicht, wie bei Molière,
seine =transports de tendresse=, seine =soudains mouvements= -- und wie
sonst die französischen Phrasen lauten -- ins Gedächtnis: leibhaftig
vielmehr tritt der Vorgang vor uns hin, wie Alkmene in der Dämmerung
am Rocken saß, wie der vermeinte Gatte heimlich ins Zimmer schlich
und sie auf den Nacken küßte -- und so folgen wir Schritt für Schritt
dem Entzücken jener seligen Nacht. Bezeichnend genug liegt bei dem
romanischen Dichter der Schwerpunkt des Stücks in den Situationen,
bei dem Deutschen in den Charakteren. Alkmene, bei Molière eine sehr
gewöhnliche Erscheinung, ist bei Kleist ein herrliches Weib, „so
urgemäß dem göttlichen Gedanken in Form und Maß, in Sait' und Klang”;
sie bleibt rein in der Umarmung des fremden Mannes, denn „Alles was
sich Dir nahet ist Amphitryon”. Kleist schildert nicht die noble
Passion eines galanten großen Herrn, sondern den geheimnisvollen Zauber
eines begeisterten Festes der Liebe. Er wagt noch mehr: der christliche
Mythus von der unbefleckten Empfängnis der Maria schwebt ihm vor Augen,
und er erkühnt sich, der alten Heidenfabel ihren religiösen Inhalt
wiederzugeben. Sein Zeus ist der Gott, das irdische Haus muß sich
geehrt, begnadigt fühlen durch den Besuch des Allmächtigen. Dergestalt
haben zwar die ernsten Szenen unendlich gewonnen. Wie in den Gesprächen
mit Alkmene das göttliche Wesen des Zeus durch die irdische Hülle
hindurchbricht, wie er endlich mit dem Donnerkeil in der Hand aus dem
Gewölke tritt und zu den in heiligem Schrecken zusammenbrechenden
Sterblichen redet, das sind Auftritte voll Majestät. Aber das
Wesentliche, die Einheit des Stücks, geht verloren. Diese erhabenen
Bilder stehen in grellem Widerspruch zu dem possenhaften Treiben der
beiden Sosias; es ist unmöglich, Mitleid zu empfinden mit dem tiefen
Schmerze des Amphitryon, den wir soeben erst seinen Sklaven in höchst
prosaischer Weise prügeln sahen; und mit aller Pracht der Sprache
gelingt dem Dichter nicht, uns die Göttlichkeit eines Wesens glaubhaft
zu machen, das so groß spricht, aber so grausam und zweideutig handelt
wie dieser Zeus. Die zerrissenen, nichtssagenden Reden, womit das
Volk zuletzt die Kunde von der seltsamen Gnade des Gottes aufnimmt,
beweisen, daß Kleist selbst nicht daran glaubte. Recht behält die
faunische Weisheit des Molièreschen Sosias: =sur telles affaires
toujours le meilleur est de ne rien dire=.

Wie anders der fast zur selben Zeit vollendete „zerbrochene Krug”,
das einzige selbständige Lustspiel des Dichters -- ein Werk aus einem
Gusse, rund und fertig, harmonisch bis in die letzte Zeile. Kleist
hatte sich einst in der Schweiz mit Zschokke und Ludwig Wieland an
einem Kupferstiche ergötzt, der einen plumpen dicken Richter darstellte
inmitten hitziger Parteien, die um die Scherben eines Kruges sich
streiten. Die jungen Leute wählten dies zum Thema eines literarischen
Wettkampfes, und als nun der Grübler sich in das Bild vertiefte, da
kam ihm ein Einfall, so einfach, daß er unserem blasierten Publikum
kaum auffällt, und doch so glücklich, so echt komisch, daß wir in der
armen Geschichte des deutschen Lustspiels nur wenige seinesgleichen
finden: der Richter selber hat den Krug zerbrochen bei einem unsauberen
Liebesabenteuer und muß, indem er verhört, sich selbst entlarven.
Mit virtuoser Kühnheit macht sich Kleist die Arbeit so schwer als
möglich; er hält sich genau an das Bild: das ganze Lustspiel stellt,
bis auf eine einleitende Szene, nur die eine auf dem Kupferstiche
wiedergegebene Situation dar, und zum Überfluß spielt die Handlung in
Holland unter breitspurigen Menschen, die mit umständlichem Phlegma
jedes Nichts erörtern. Der entscheidende Hergang rollt sich nicht vor
unseren Augen ab, er wird nachträglich enthüllt; die Entwicklung des
Dramas ist analytisch, sie erinnert an die Komposition vieler antiker
Tragödien. Doch der Dichter hat wirklich die Not zur Tugend gemacht,
er weiß den Gang des Verhöres so gewandt zu entwickeln, daß wir auf
das Geschehene nicht minder gespannt sind wie in anderen Lustspielen
auf das Künftige. Und welch ein psychologisches Meisterstück --
dieser Richter Adam, wie er sich festlügt mit frecher Stirn, wie er
dann aufgescheucht wird aus allen Schlupfwinkeln seiner dummdreisten
Schlauheit, wie er sich nach und nach entpuppt als ein Ungetüm von
feiger Unverschämtheit, ein holländischer Falstaff. -- Wieviel Kraft
des Willens lag doch in Kleists Seele, wenn er seinen düsteren Sinn
zwingen konnte zu der ausdauernden Heiterkeit der Komödie! Nur an
einzelnen Stellen verrät der gepreßte künstliche Ton des Scherzes,
daß der Dichter diese derblustigen Gestalten schuf, um sein selbst zu
vergessen.

Durchaus nicht auf der Höhe seiner Dramen stehen Kleists Erzählungen.
Nicht als ob ihm das erzählende Talent gefehlt hätte: seine Virtuosität
in der Detailmalerei konnte sich hier vielmehr am freiesten tummeln.
Aber die lose Kunstform legt seinem stürmischen Geiste die Zügel
nicht an, deren er bedarf; alle krankhaften Neigungen seines Wesens,
welche die ideale Strenge des Dramas mäßigte, lassen sich hier haltlos
gehen. Es scheint nicht überflüssig, dies hervorzuheben: unsere
besten Dichtertalente sind heute auf dem Felde der Erzählung tätig;
dabei laufen wir Gefahr, den natürlichen Wert der Kunstgattungen
zu vergessen. Nimmermehr hätte Kleist in dramatischer Form so ganz
Verfehltes geschaffen, wie die häßlichen Schauergeschichten, „Der
Findling” und „Das Bettelweib von Locarno”, oder gar die weinerliche
Legende von der heiligen Cäcilie. Nur die Manier der Erzählung, nicht
das Talent verrät, daß diese verunglückten Versuche aus derselben
Feder flossen, welche „Das Erdbeben in Chili” und „Die Verlobung in
St. Domingo” schrieb. Das fürwahr sind echte Novellen im Stile der
alten Italiener: das neue unerhörte Ereignis, das launische Spiel
des Schicksals, nicht der Kampf in der Seele des Menschen, gilt dem
Dichter als das Wesentliche. In leidenschaftlicher Hast stürmt die
Erzählung vorwärts, wunderbar glücklich stimmt die schwüle Luft der
indischen Welt zu dem rasenden Wechsel der Geschicke; dem Leser wird
zumute, als ob ihm selber die Glut der Tropensonne sinnbetörend auf den
Scheitel brenne. Am meisten gerundet in der Form ist die Novelle „Die
Marquise von O.”. Aber alle Kunst des Dichters bringt uns nicht dahin,
daß wir den schändlichen und -- was schlimmer ist -- grundhäßlichen
Ausgangspunkt der Erzählung verwinden, daß wir dem Helden einen Frevel
an einem bewußtlosen Weibe vergeben. Immerhin bleibt erstaunlich,
wie der natürliche Adel des Talents selbst beim Ringen mit einem
widerlichen Stoffe sich nicht verleugnet. Kleists Freund Zschokke
mißbrauchte dasselbe Motiv zu einer Novelle voll fauler Späße; unser
Dichter schreitet über das Gemeine rasch hinweg, um sich in eine feine
und ernste Seelenschilderung zu vertiefen.

Noch stärker überwiegt das psychologische Interesse in der großen
Erzählung „Michael Kohlhaas”. Nur der Deutsche empfindet ganz die
tragische Macht dieser einfachen Geschichte: wie ein schlichter Mann,
in seinem Rechte gekränkt, vergeblich den Schutz des Gesetzes anruft
und dann, verzweifelnd an der Ordnung der Welt, in unbändiger Rachgier
Frevel auf Frevel häuft, bis endlich der überfeine Rechtssinn des
Rechtsbrechers an der Kleinheit seines Gegenstandes sich selbst die
Spitze abstößt. Wir meinen den Schleier fallen zu sehen von einem
Herzensgeheimnis des deutschen Mittelalters. Die Unersättlichkeit,
die Wollust der Rache konnte so wahr, so überzeugend nur ein Dichter
schildern, dem selber das Hirn wirbelte bei dem Gedanken an die
Vernichtung des Landesfeindes, der selber soeben seinem Volke zurief:

    Wenn der Kampf nur fackelgleich entlodert,
    wert der Leiche, die zu Grabe geht!

Aber während die modernen Novellisten sich zumeist in eine
Seelenmalerei verlieren, welche der Aufgabe des Dichters ebenso sehr
widerspricht wie die breite Naturschilderung, und mit peinlicher
Langsamkeit das Herz ihres Helden zerfasern und zerschneiden, bleibt
Kleist unwandelbar der Erzähler. Sein Held ist immer in Bewegung,
obgleich wir jeden seiner Gedanken erfahren, der Fluß der Ereignisse
stockt niemals, obschon uns kein Nebenumstand erlassen wird -- bis
wir leider plötzlich entdecken, daß dem Dichter die Kraft versagt,
die Gestalten unter seinen Händen zerfließen und die so herrlich
begonnene Fabel in willkürlichen Visionen endet. Die Erzählung lehrt
zugleich, wie übermütig der echte Dichter umspringen darf mit jener
„historischen Treue”, deren Wert von der überbildeten Gegenwart so
wunderlich mißverstanden wird. Dem Bilde, das wir alle von Johann
Friedrich dem Großmütigen im Herzen tragen, schlägt Kleist fast
mutwillig ins Gesicht; das moderne Dresden wird mit größter Sorgfalt
in das sechzehnte Jahrhundert zurückversetzt, während wir doch wissen,
daß die Handlung in Dresden gar nicht spielen konnte. Und doch drängt
sich uns nicht der mindeste Zweifel auf: so lebendig tritt uns alles
vor Augen, und so glücklich trifft der Erzähler jenen derben biederen
Ton der Rede, der uns die Weise unserer Altvordern weit eindringlicher
schildert, als die sorgfältigste Zeichnung des Kostüms vermöchte.
Erst von dem Augenblicke an, wo den Dichter die poetische Kraft
verläßt, wo er sich in nachtwandlerische Träume verliert, werden unsere
historischen Bedenken wach. Und nochmals erhebt sich die Frage: warum
Kleist nicht, nach dem Rate seines Freundes Pfuel, diesen köstlichen
Stoff zu einem Drama verwendet hat? In seinen Dramen tritt „die Unart
seines Geistes”, das schlafwandlerische, phantastische Wesen zuweilen
störend, nie zerstörend auf; hier in der Erzählung läßt er sich gehen,
und das schöne Gedicht, ein Werk seiner reifsten Jahre, wird ganz und
gar verwüstet.

Verfolgen wir sein dramatisches Schaffen weiter, so beobachten wir
fortan ein mächtiges Aufsteigen seiner dichterischen Kraft, zunächst
an der Tragödie Penthesilea. Man erzählt von Hegel, daß er einst, als
Tieck den Othello vorlas, entsetzt ausrief: „Wie zerrissen mußte dieser
Mensch, Shakespeare, sein, daß er den Jago so darstellen konnte” --
worauf Tieck entgegnete: „Herr Professor, sind Sie des Teufels?” Die
Schnurre ist, wenn nicht wahr, doch gut erfunden. Wer der Kunst nicht
lebt, nur zuweilen aus der befriedeten Welt des Gedankens sich in
ihren Zauberkreis hinüberstiehlt, wird sich leicht versucht fühlen,
den Künstler, der ein krankes Menschenherz schildert, selber für krank
zu halten. Und freilich, solange Kleists Briefe noch verborgen lagen,
blieb die Penthesilea, das subjektivste seiner Werke, unverständlich
wie der Traum eines Fiebernden; seit wir jene Geständnisse kennen,
erscheint gerade diese wilde Dichtung als der Anfang seiner Genesung.
Er faßte sich endlich das Herz, den Kämpfen seiner letzten Jahre ins
Gesicht zu sehen, er wagte sie zu einem Kunstwerke zu gestalten,
und sobald ein Dichter sein Leid gesteht, beginnt er schon es zu
überwinden. Die Erlösung freilich, die reine dauernde Versöhnung,
welche ein Goethe in solchem Geständnis seiner Qualen fand, sollte
dieser Unglückliche niemals erreichen. Der ganze Schmerz und Glanz
seiner Seele, so sagt er selbst, ist niedergelegt in der Penthesilea;
sein eigenes Ringen und Leiden, jene wilde Jagd nach dem Ruhm, dem
vollendeten Kunstwerk, und sein fürchterlicher Fall erschüttern uns
in dem Schicksal dieser Königin der Amazonen, die den Schönsten, den
Herrlichsten der Männer zu ihren Füßen niederzwingen will und nach
kurzem Rausche des Übermuts in rasendem Toben untergeht -- denn nicht
dem Speer des Feindes,

    dem Feind in ihrem Busen wird sie sinken!

Wie glücklich fühlt sich der Dichter, „einmal etwas recht
Phantastisches zu schreiben”, die einfache Großheit des Achilleus und
des Diomedes inmitten der Farbenpracht einer traumhaften Wunderwelt
zu schildern! Wie dürr und kahl erscheinen neben dem Duft und Glanz
dieser Verse die gleichzeitigen, durchweg unglücklichen Versuche der
Romantiker, das Altertum auf ihre Weise wiederzubeleben -- ganz zu
geschweigen jener langweiligen Penthesilea, welche Tischbein damals
auf die geduldige Leinwand sündigte. An seine Heldin verschwendet
der Dichter alle Schätze seines Herzens, denn er liebt sie, und oft
klingt uns aus seinen Worten die unbefangene Sinnlichkeit der Heiden
entgegen. Er wagt sich an das unheimliche Geheimnis der Schönheit, das
schon Vater Homer kannte, er will ein Weib schildern, so entzückend
schön, daß jedes sittliche Urteil vor ihr verstummt. Ihm ist zumute
wie jenen Greisen von Troja, die auf den Mauern sitzend das Verderben
bejammern, das um eines Weibes willen über ihr Volk kam -- und da die
Unheilvolle plötzlich unter sie tritt, wagen sie doch nicht zu zürnen,
so schrecklich (αἰνῶς) packt sie der Anblick der schönen Helena.

Aber selbst die Kraft unseres Dichters wird zunichte vor der Unnatur
seines Stoffes. Schon vor einer antiken Amazonenstatue verweilen
wir mit seltsam befremdeter Empfindung, und doch darf die bildende
Kunst in diesem Falle mehr wagen als die Dichtkunst. Unser Erstaunen
steigert sich zum Grauen, sobald uns das Seelenleben eines Mannweibes,
dies wilde Durcheinanderwogen von Heldenstolz und Kampflust, von
edler Liebe und roher Brunst in der hellen Beleuchtung eines modernen
Dramas entgegentritt. Nun gar das Umschlagen der Wollust in Blutgier,
dies allerscheußlichste Rätsel des Menschenherzens, an einem Weibe
zu beobachten, wer könnte das ertragen? Was gilt uns die prachtvolle
Schilderung der Rosenfeste von Themiskyra, wo die kriegerischen
Amazonen, seligen Schauers voll, die besiegten Jünglinge bekränzt zum
Altare der Aphrodite führen? Von dem Liebeswahnsinn dieser Jungfrau,
die ihre Zähne in den zuckenden Leichnam des Bräutigams schlägt,
wendet sich jedes natürliche Gefühl. Und sogar die schöne Form leidet
zuletzt unter der Verkehrtheit der Idee, da die Raserei der Königin in
läppischen Irrsinn übergeht.

Wir fühlen, wie krampfhaft das Herz noch zuckte, dem diese wilden Verse
entströmten, aber auch wie erleichtert der Dichter aufatmen mußte,
da er also seinen Schmerz bekannt hatte. Endlich einmal schien das
Geschick dem Unglücklichen freundlich zu werden; er gründete in Dresden
eine literarische Zeitschrift, den Phöbus, hoffte zuversichtlich, sich
jetzt einen ehrenvollen Platz in der Künstlerwelt zu erobern, trat
den geselligen Freuden wieder näher. Schon mehrmals früherhin hatte
der „arme Brandenburger” seinen Wanderstab ruhen lassen auf diesem
lieblichen Winkel deutscher Erde und stundenlang die Madonnenbilder
der Galerie betrachtet und die dunkeln Waldgründe durchstreift, die
in das lachende Elbtal münden, und droben von der Brühlschen Terrasse
träumend hinabgeschaut auf die sanften Windungen des Flusses und das
alles in entzückten Briefen der Schwester geschildert. Es war noch das
alte Dresden, die prächtige und doch stille Stadt, die Canaletto gemalt
hat, so recht ein Platz zum Träumen und zum Dichten, noch nicht der
abgetretene Spaziergang blasierter Touristen. Und -- so seltsam spielt
der Reiz des Kontrastes in dem Künstlergemüte -- gerade hier in dem
Schmuckkästlein des Rokokostils erwachte dem Dichter der Sinn für die
heimische Vorzeit; sein Geist, der so lange in die Ferne geschweift,
kehrte ein in die Fülle des deutschen Lebens, um seine schönsten und
reifsten Werke aus dieser reinen Quelle zu befruchten. Er fühlte sich
jetzt Mannes genug, einen neuen Herzenskummer, der ihn traf, sofort als
Künstler zu überwinden. All die Träume von Liebesglück, die ihm so
schmerzlich zerronnen waren, rief er wach, um im Gedichte ein Weib zu
schaffen, wie er es ersehnte und nie finden sollte, und alle sanften,
glücklichen Erinnerungen seines Lebens versammelte er um sich, um dem
geliebten Bilde eine freundliche Umgebung zu bieten. Die alte gotische
Kirche stieg wieder vor ihm auf, die seinem Vaterhause gegenüber stand,
mit ihrem schweren Turme und den geborstenen roten Backsteinzinnen,
die der Knabe so oft ahnungsvollen Blickes betrachtet; er sah die
finsteren Tore und die steilen Giebelhäuser in der alten Oderstadt;
jene zarten Bilder von dem „Cherub mit gespreizter Schwinge”, von dem
„süß duftenden Holunder”, die in seinen älteren Gedichten flüchtig wie
ein Sonnenblick aus dichtem Gewölk erschienen, erwachten wieder und
mahnten ihn, sie reich und farbig zu gestalten. Also schuf der seltsame
Mann, der in allem von der Regel abweicht, in seinem zweiunddreißigsten
Jahre das jugendlichste seiner Werke: das Käthchen von Heilbronn.

Wir fühlen ihm nach, wie er mit der naiven Freude des Entdeckers vor
den wundersamen Gestalten steht, die er in der Vorzeit seines Volkes
aufgefunden; ein frischer Duft weht uns an, wie der Erdgeruch aus dem
umgebrochenen Acker. Seine Heldin nennt er selbst „die Kehrseite der
Penthesilea, ihren anderen Pol, ein Wesen, das ebenso groß ist durch
Hingebung wie jene durch Handeln”. Noch nicht sechzig Jahre sind
verflossen, seit dies Werk zuerst an der Wien vor die Lampen trat;
und schon mutet es uns an wie eine Sage aus uralter Vorzeit, kaum
mehr verstanden von der hellen, strengen Gegenwart. In jedem Volke
begegnen uns einzelne Dichtungen, welche, ohne den Stempel klassischer
Vollendung zu tragen, doch unantastbar dastehen, weil sie geweiht sind
durch die Liebe eines vergangenen Geschlechts; sie fordern, daß der
Nachlebende sie dankbar hinnehme wie ein Gebilde der Natur. So dies
Gedicht; aus ihm reden alle jene holden traulichen Träume, die unseren
Müttern die Jugend beseligten, die Herzenssehnsucht einer Zeit, die
unser kälterer Verstand zugleich übersieht und um die Innigkeit ihres
Gefühls beneidet. Ich kann nicht ohne Rührung der Stunden denken,
da mir meine Mutter von ihren ersten Gängen zum Theater erzählte:
wie glückselig hat dies unschuldige Mädchengeschlecht dem Käthchen
gelauscht, wenn sie unter dem Fliederbusch ihre keusche Liebe träumt!
Der Dichter aber, der so glücklich einen Schatz aus dem Gemüte seiner
Zeit zutage gefördert, er war längst nicht mehr, als das Käthchen
endlich auf allen Bühnen sich einbürgerte; wir meinen oft seinen
Schatten zu sehen, wie er niederschaut auf die verspäteten Erfolge und
bitter lachend wie sein Prinz von Homburg die Achseln zuckt:

    Nur schade, daß das Auge modert,
    das diese Herrlichkeit erblicken soll!

Selbst heute noch können wir die Kraft des einfachen Märchens erproben:
in unseren Vorstadttheatern weilt ein Publikum, zu arm an Bildung und
zu schwer bedrückt von den Sorgen des eigenen Lebens, um die Gewalt
des tragischen Schmerzes zu ertragen, doch nach deutscher Art zu
gesetzt, um allein dem Lustspiele zu huldigen. Hier ist der rechte
Tummelplatz für das ernste Drama mit glücklichem Ausgange; hier hat
das Femgericht noch seine Schrecken, hier findet der erbärmliche
Darsteller des wackeren Gottschalk noch seine Bewunderer, die Kunigunde
ihre leidenschaftlichen Feinde. Wir müßten sehr niedrig denken von dem
sittlichen Berufe der Kunst, wollten wir solche Erscheinungen über die
Achsel ansehen; danken wir Gott, daß das Pariser Hetärendrama noch
nicht überall sein Zepter schwingt. Es ist nicht bloß der ritterliche
Lärm und Pomp, was diese braven Leute so tief ergreift; noch mächtiger
wirkt die Kraft der volkstümlichen Sprache, die Innigkeit des
Gemüts, die aus jeder Zeile redet, die Anschaulichkeit der einfach
verständlichen Motive. Selbst der Haß, sonst der deutschen Gutmütigkeit
so schwer faßlich, erklärt sich hier von selbst. „Der Mensch wirft
alles, was er sein nennt, in eine Pfütze, nur kein Gefühl” -- das
versteht auch der gemeine Mann, nicht die Worte, doch den Sinn.

Freilich muß das Drama von kundigen und rücksichtsvollen Händen
vorgeführt werden, mit Pietät nicht vor den schwachen Nerven der
Hörer, sondern vor der kräftigen Eigentümlichkeit des Dichters. Welche
Barbarei, wenn der zartsinnige Regisseur die Szene, wo Graf Wetter vom
Strahl dem Käthchen mit der Peitsche droht, verletzend findet, statt
der Roheit eine Niederträchtigkeit einfügt und den Grafen das Schwert
zücken läßt auf die Wehrlose! Freilich muß man die Ansprüche der
absoluten Kritik daheim lassen. Ist die hingebende Liebe des Käthchens
nicht schon selbst wunderbar genug? Ist es nicht bare Tautologie, das
größere Wunder durch ein kleineres zu erklären? Verliert Käthchens
Liebe nicht an Wert durch den zwingenden Zauber, der sie an den Ritter
kettet? Und geht nicht zuletzt der ideale Gehalt des Gedichts geradezu
verloren, da nicht das arme Bürgerkind durch die Macht der Liebe über
den Stolz des Ritters triumphiert, sondern die Kaiserstochter dem
Grafen ihre ebenbürtige Hand reicht? Solche unwiderlegliche Einwände
vergessen nur das Entscheidende, daß ein Märchen, ein dramatisch
behandelter epischer Stoff nicht unbedingt den Gesetzen des Dramas
gehorchen kann; liegt es doch im Wesen des Märchens, die Wunder des
Herzens durch die Aufhebung der Ordnung der Natur zu erklären, Lohn
und Strafe in der allersinnlichsten Form erscheinen zu lassen. Der
zarte Duft des volkstümlichen Stücks verfliegt, wenn wir mit so
derber Hand daran treten. Wir beklagen nur, was der Dichter selbst
aufs bitterste bereut hat, daß er dem märchenhaften Charakter des
Stücks nicht treu geblieben. Rücksicht auf die Ansprüche der Bühne,
denen das Käthchen doch niemals völlig genügen kann, verleitete
ihn, statt der zaubergewaltigen Fee Kunigunde jenes nüchterne
rationalistische Scheusal zu schaffen, das so widerwärtig erscheint
hier in der heiteren Fabelwelt, wo höhere Geister noch gern mit dem
farbenreichen Menschenleben verkehren. Die maßlose Heftigkeit des
Dichters verführt ihn auch diesmal, jedes Motiv zu Tode zu hetzen. Er
kann sich nicht genug tun in der Schilderung seiner Heldin, er jagt sie
durch alle Stufen der Erniedrigung hindurch, und während er ihr eine
übermenschliche Demut leiht, die der Selbstentwürdigung zuweilen nahe
kommt, häuft er auf ihre Feindin Kunigunde eine ganz unmögliche Last
der Schändlichkeit. Er litt noch unter dem Schmerze um seine verlorene
Braut und meinte sich berechtigt, ein Weib ohne Herz mit seinem Hasse
zu zeichnen.

Während Kleist so liebevoll die Gestalten der deutschen Vorwelt
schilderte, war in ihm längst der heilige Schmerz erwacht um die
Gegenwart des Vaterlandes. Er hatte wohl einst über seinem Dichterleide
die weite Welt und Deutschland mit ihr vergessen, den Tod gesucht,
wo er auch sei. Sobald er sich selber wieder angehörte, regte sich
doch der preußische Offizier. Der Künstler steht der Natur näher als
der Denker; löst er sich ab von seiner Heimat, so geschieht ihm wie
dem starken Baume, der in fremden Boden verpflanzt die Schollen des
mütterlichen Erdreichs an seinen Wurzeln mit sich nimmt. Der freie
Geist des Dichters hatte das öde Einerlei des Garnisondienstes nicht
ertragen, er mochte zuweilen von der Höhe seiner philosophischen
Bildung mitleidig herablächeln auf die militärischen Barbaren daheim.
Die stolzen kriegerischen Erinnerungen seines Vaterhauses, dem des
Königs Rock als das Kleid der Ehre galt, die glänzenden Bilder des
preußischen Waffenruhms, die durch die Träume seiner Kinderjahre
geschritten waren, hafteten doch weit fester, als er sich selbst
gestand, in seinem treuen Gemüte; und als das Verderben an seinen
Staat herantrat, da erwachte der Stolz des Preußen, des Deutschen,
die angelernten philanthropischen Ideen fielen zu Boden. Schon
während des Feldzugs von 1805 fragt er bitter, warum der König nicht
sofort, nachdem die Franzosen durch Ansbach marschiert, seine Stände
zusammenberufen und durch einen kühnen Krieg die Verletzung des
preußischen Gebiets gerächt habe. Immer häufiger erklingt fortan in
seinen Briefen die Klage über die finstere Zeit, wo das Elend jedem
in den Nacken schlägt. Auf die erste Kunde von der Schlacht von Jena
schreibt er mit dem ganzen Stolze und der ganzen Verblendung eines
friderizianischen Offiziers: „20000 Mann auf dem Schlachtfeld und doch
kein Sieg!” Dann erfährt er wie ein Betäubter die volle schreckliche
Wahrheit, dann übergibt ein Mann, der seinen Namen führt, die erste
Festung Preußens schimpflich an den Feind, dann sieht der Dichter
in Königsberg aus nächster Nähe den tiefen Fall des Hofes und des
Staates, und endlich muß er die Faust des Unterdrückers noch an seinem
Leibe empfinden. Sein scharfer Verstand hatte schon vor Jahren, da er
umnachteten Sinnes durch Frankreich irrte, die prahlerische Nichtigkeit
der eitlen Welteroberer unbarmherzig durchschaut; auch ihre Roheit
sollte er jetzt erfahren, da er während des Feldzuges von 1807 durch
ein Mißverständnis als Spion gefangen und nach Frankreich geschleppt
wurde. Er saß dann durch lange finstere Wochen auf dem Schlosse Joux
hoch im Jura, auf derselben Festung, wo einst Mirabeau die wildesten
Stunden seiner Jugend verlebt hatte.

Nun kehrte er heim in sein geschändetes Vaterland, mit dem vollen
Verständnis für die Größe der Zeit, er sah „Ungeheures, Unerhörtes
nahen”, eine Macht des Unheils heranfluten wider jedes Heiligtum der
Menschheit. Und diese Empfindung wuchs und wuchs, sie wurde etwa seit
der Vollendung des Käthchens (1808) die herrschende Macht in seinem
Geiste, also daß Dahlmann den Selbstmord des Dichters kurzweg aus
der Verzweiflung am Vaterlande erklärt. Wer kennt nicht eine jener
einsiedlerischen Naturen, die in tiefer Stille mit der ganzen Macht
ihrer unzerstreuten Leidenschaft alle Zuckungen der vaterländischen
Geschicke mitempfinden? So lebte auch Kleist in seinem einsamen Zimmer
ein hocherregtes historisches Leben: prächtig, eine himmelhohe Flamme
schlug dann das entfesselte Gefühl aus seiner verschlossenen Brust
empor. Er brauchte nicht erst, wie die zum Vaterlande zurückkehrenden
Gelehrten, die Fichte und Arndt, auf den weiten Umwegen des Gedankens
die Idee des Volkstums und ihr Recht sich selber zu erklären. Er liebte
Deutschland, wie dem Dichter ansteht, unwillkürlich, unmittelbar,
„weil es mein Vaterland ist” -- so läßt er in seinem patriotischen
Katechismus einen deutschen Knaben sprechen. Die glorreiche Fahne, die
er einst in seinen jungen Händen getragen, da lag sie im Staube. Ihre
Ehre war die seine. Ihre Schmach zu rächen greift er zu jeder Waffe,
er schreibt Pamphlete, Satiren und ohne jedes ästhetische Bedenken
Gedichte. Er hätte sie nicht verstanden, die armselige Frage, die
in einer späteren müden Zeit unter uns aufgeworfen ward, die Frage,
ob eine Poesie des Hasses ein Recht habe zu sein. Er wußte, daß die
Dichtung jedes berechtigte Gefühl der Menschenbrust schildern darf
und daß in diesen Tagen der Haß die letzte und höchste Empfindung des
deutschen Mannes war. Es galt das Dasein der Nation; die Begeisterung
der Ideologen, die Stimme des natürlichen Gefühls und die Berechnung
des Staatsmannes fielen in eines zusammen; nur eine solche Zeit konnte
einen so ganz in der Anschauung, der Empfindung lebenden Geist zur
politischen Dichtung führen.

Kleist ward, nach dem alten Gleim und den Poeten des Siebenjährigen
Krieges, der erste unserer neueren Dichter, der seine Muse den
politischen Zwecken des Augenblickes dienen ließ, der erste, dem
dies Wagnis völlig glückte. Er weiß und will nur eines -- den Kampf
der Waffen, augenblicklich, unverzüglich. Er lacht der „Schwätzer”,
der Tugendbündler und Philosophen, die von einem Kampfe der Gedanken
faseln, wirft ihnen Spottverse ins Gesicht ganz so ungeschlacht und
ungerecht wie jene, die er einst gegen Goethe geschleudert hatte. Es
leidet ihn nicht mehr im Norden als der Krieg von 1809 beginnt, er
eilt hinaus nach dem Schlachtfelde von Aspern, und da auch diesmal die
Heere der Feinde siegen, faßt er in vollem Ernst den Gedanken auf,
mit dem die erbitterte Jugend jener Tage spielte: er will durch die
Ermordung Napoleons das Vaterland befreien und -- mit einer großen Tat
sein eigenes zerrüttetes Dasein beenden. So berichtet eine nicht streng
beglaubigte, aber keineswegs unglaubhafte Überlieferung; allem Anschein
nach hat nur ein Zufall den gräßlichen Plan vereitelt. Und derselbe
dämonische Haß, dieselbe fürchterliche Wildheit tobt auch durch seine
patriotischen Gedichte. Feuriger hat nie ein Sänger zu unserem Volke
gesprochen als Kleist in der mächtigen Ode „Germania an ihre Kinder”:

    Schlagt ihn tot, das Weltgericht
    fragt euch nach den Gründen nicht!

Die Lust der Vergeltung, unzertrennlich von jeder Erhebung eines
mißhandelten Volkes, hat auch in unserem Freiheitskriege mächtiger
gewaltet, als wir nach den verblaßten Schilderungen der Nachlebenden
gemeinhin annehmen; schrieb doch Gneisenau nach dem Tage von Leipzig
frohlockend wie ein antiker Held: „Wir haben die Nationalrache in
langen Zügen genossen.” Wollen wir Kleists furchtbare Zeilen: „Alle
Triften, alle Stätten färbt mit ihren Knochen weiß” geschichtlich
verstehen, so müssen wir uns der Stimmung erinnern, die im Jahre
1813 in den unteren Schichten unseres Volkes lebte: -- der wilden
Kriegsweise der Landwehrmänner: „Schlag ihn tot, Patriot, mit der
Krücke ins Genicke;” der gefangenen Rheinbundoffiziere, denen der
preußische Soldat die französischen Orden von der Brust riß; des
gräßlichen lautlosen Würgens in der ersten Landwehrschlacht, bei
Hagelberg, und all der rohen Auftritte, welche des Krieges Gefolge
bilden.

Nur diese Glut der Leidenschaft erlaubt unserem Dichter das Unmögliche:
ein Poet zu bleiben, indem er die allerbestimmteste Tendenz verfolgt.
Seine Lieder halten sich ganz in der Sphäre der reinen Empfindung und
streifen nie über in das Gebiet der Reflexion, der Phrase, wohin seine
Nachfolger, die Sänger der Freiheitskriege, sich nicht selten verirren.
Zwar, dem Manne, der seinen Hermann sagen läßt, einen Gallier, einen
Deutschen könne er sich wohl als Weltherrscher denken, „doch nimmer
diesen Latier, der keine andre Volksnatur verstehen kann” -- ihm
wird man nicht vorwerfen, er habe die Idee des großen Kampfes nicht
verstanden. Auch vermag er zuweilen sein erregtes Gefühl zu gehaltenem,
maßvollen Ausdrucke zu zwingen; wie würdig und edel stellt er die
sittliche Größe des gedemütigten preußischen Staates dem rohen Hochmut
des Siegers gegenüber, indem er den nach Berlin heimkehrenden König
also anredet:

    Blick auf, o Herr, du kehrst als Sieger wieder,
    wie hoch auch jener Cäsar triumphiert!

Doch der Grundton, der vorherrschende Charakterzug seiner patriotischen
Poesie bleibt nichtsdestoweniger der Haß, und darum stellt sie nur
eine Seite der großen Erhebung dar, welche ein Jahr nach des Dichters
Tode begann. Denn Gott sei Dank, nicht so nach Spanierart, wie dieser
Dichter träumte, sollten die Deutschen in den Entscheidungskampf
hineinstürmen. Von dem sittlichen Pathos und der religiösen
Begeisterung der jungen Freiwilligen, von der Gutherzigkeit und dem
Edelmute, die unser Volk auch in seinem wilden Hasse sich bewahrte
-- von diesen herzgewinnenden Tugenden, wodurch die deutschen
Freiheitskriege in der gesamten modernen Geschichte einzig dastehen und
allmählich selbst die Bewunderung ihrer eitlen Feinde erwecken -- von
alledem ist in Kleists Gedichten wenig zu spüren. Er redet die Sprache
einer gequälten Zeit, die sich in wilden Träumen hinaussehnt nach dem
Kampfe und nur den einen Gedanken zu denken vermag: „Zu den Waffen, zu
den Waffen, was die Hände blindlings raffen.” Erst mit der Erhebung,
mit der Gewißheit des Sieges konnte die patriotische Leidenschaft Maß
und Haltung gewinnen. Und wer darf bezweifeln, daß Kleist, hätte er den
Tag der Befreiung erlebt, fähig gewesen wäre, mit einzustimmen in die
reineren und freieren Klänge jener glücklichen Zeit? Wer fühlte nicht,
daß der Haß des Dichters nur die Kehrseite ist einer innigen Liebe?

Derber, roher noch redet der Ingrimm in den prosaischen Schriften.
Mit unbeschreiblich grausamem Spott wird das märkische Edelfräulein
geschildert, das sich von einem französischen Gecken verführen läßt,
der sächsische Offizier, der mit patriotischem Hochgefühl unter den
Fahnen des Rheinbundes weiter dient. Dann folgen Anekdoten aus dem
letzten Kriege, kleine Züge preußischen Soldatenmuts, die den Geist des
Heeres beleben sollen, vorgetragen im allerderbsten Wachstubentone,
mit zynischem, wildem Humor; der Erzähler weiß sich vor Entzücken
kaum zu halten, wenn seine Helden noch sterbend mit „einem ungeheuren
Witze” die Franzosen verhöhnen. Auch die erhabene Rhetorik Arndts,
den Ton des „Geistes der Zeit”, versucht der Dichter in einzelnen
pathetischen Aufsätzen nachzuahmen. Ganz unbefangen wiederholt er die
Bilder und Wendungen seiner Gedichte in den prosaischen Schriften.
Mit vollem Rechte; denn der Wert dieser unförmlichen Versuche liegt
allein in der wilden Naturkraft einer patriotischen Leidenschaft,
welche in unserer gesamten Literatur kaum ihresgleichen findet. --
Was immer uns erschrecken und empören mag an diesem erregten Tun, wir
freuen uns doch, den Dichter also zu sehen. Sein Auge, das so lange in
unfruchtbarem Mißmut nur in sich hineingeschaut, blickt freier, offener
in die Welt hinaus; die krankhaften Züge seines Wesens treten zurück
vor der Hoheit einer großen Leidenschaft.

Schon vor dem Kriege von 1809 hatte Kleist in seiner „Hermannsschlacht”
ein Bild des Befreiungskampfes gezeichnet, wie er ihn sich dachte.
Wir überschauen mit einem Blicke das Aufsteigen unseres Volkes von
der lyrischen zur dramatischen Empfindung, wenn wir dies mächtige
Werk, wo selbst die „See, des Landes Rippen schlagend, Freiheit
brüllt”, mit Klopstocks Hermannsschlacht vergleichen. Nichts mehr
von dem unbestimmten Pathos, das bisher immer den Schilderungen der
germanischen Urzeit angehaftet hatte; leibhaftig, in voller sinnlicher
Wahrheit tritt diese fremde Welt vor uns hin, ausgemalt bis in den
kleinsten Zug und doch ohne alle gelehrte Genauigkeit. Nichts mehr von
dem „Bardengebrüll” abstrakter Heroengestalten; wir sehen den Hermann
der Geschichte, den staatsmännischen Barbaren, der um des Vaterlandes
willen keine der argen Künste römischen Truges verschmäht. Er sucht
den Tod im Freiheitskampfe, und nichts soll ihn bewegen, „das Aug' von
dieser finstern Wahrheit ab buntfarb'gen Siegesbildern zuzuwenden”;
nichts ist ihm hassenswürdiger, als was sein Herz erweichen, dem großen
Werke entfremden könnte: „Was brauch ich Latier, die mir Gutes tun?”
Seines Landes Blüte, die Gefühle seines Weibes, die Treue des gegebenen
Wortes opfert er ohne Bedenken; der geborene Herrscher, wohin er tritt,
spielt er voll übermütigen Humors mit seiner Umgebung; doch an der
religiösen Andacht, womit er seinen Plan betreibt, mag man erkennen,
wie zartbesaitet das Gemüt dieses rauhen Helden ist. Nur einem Boten
vertraut er die verhängnisvolle Botschaft an Marbod, denn „wer wollte
die gewalt'gen Götter also versuchen?” -- und als endlich die große
Stunde erscheint, als die Barden ihren erhabenen Gesang beginnen, da
bricht der eiserne Mann, jedes Wortes unfähig, in tiefer Bewegung
zusammen. Wie in übermütiger Laune, in bewußtem Gegensatze zu den
leeren Tugendmustern der Klopstockschen Muse zieht der Dichter das
Idealbild der Thusnelda in die Kleinheit des zeitgenössischen Lebens
herab; er schildert sie „wie die Weiberchen sind, die sich von den
französischen Manieren fangen lassen”, als eine Geistesverwandte jenes
märkischen Edelfräuleins.

Das Gelungene nimmt der Leser hin als selbstverständlich; wenige
fühlen, welcher Künstlerweisheit der Dichter bedurfte, um einen so ganz
unästhetischen Stoff zu gestalten. Die Römer werden durch berechneten
Verrat in das Verderben gelockt; die Gefahr liegt nahe, daß unsere
Teilnahme von den Unterdrückten sich zu den Unterdrückern wende. Aber
der frevelhafte Übermut dieser Fremdlinge macht jedes Mitleid mit
ihrem Untergange unmöglich; und doch ist der Römerstolz zu anziehend
geschildert, als daß sie uns ästhetisch beleidigen könnten. Der
Grimm des Helden steckt uns an; wir glauben, wir verzeihen alles der
Wahrhaftigkeit dieses Hasses, wir rufen mit ihm:

    Die ganze Brut, die in den Leib Germaniens
    sich eingefilzt wie ein Insektenschwarm,
    muß durch das Schwert der Rache jetzo sterben!

Der epische Stoff gestattet nicht eine wahrhaft dramatische
Verwicklung. Die ersten vier Aufzüge enthalten nur die Exposition,
und der Schluß, die Teutoburger Schlacht, kann, da das Drama der
epischen Massenbewegung nicht mächtig ist, dem weit ausholenden
Anlaufe nicht ganz entsprechen. Auch diesen unheilbaren Mangel weiß
der Dichter durch kunstvolle Steigerung mindestens zu verdecken: wir
folgen dem Anschwellen der Volksbewegung mit wachsender Spannung, wir
sehen die schwarzen Wasser Zoll für Zoll emporsteigen und zittern
dem Augenblicke, da die Flut über den Damm hinüberschlagen muß, mit
einer Angst entgegen, welche der echten dramatischen Spannung sehr
nahe kommt. Darum bleibt immerhin möglich, daß das Werk noch einmal
dauernd für die Bühnen gewonnen werde. Allerdings nur für die zwei oder
drei Bühnen, welche noch ein erträgliches Ensemble zustande bringen;
denn ewiger Vergessenheit möge er anheimfallen, der zähnefletschende,
in einem Löwenfelle einherstolzierende Unhold, der sich vor einigen
Jahren auf einem namhaften Theater böswillig für Hermann den Cherusker
ausgab: -- und wo ist der Schauspieler zweiten Ranges, der sich an
die kleine Rolle des Varus wagen darf? der den geknickten Stolz des
Römerfeldherrn, die Ahnung des hereinbrechenden Verderbens, das Grauen
vor den Schicksalsworten der Alraune in einem Monologe von vier Versen
veranschaulichen könnte?

In einigen Zügen maßloser Wildheit verrät sich wieder der Sänger der
Penthesilea. Man mag die gräßliche Szene ertragen, wo der alte Germane
sein geschändetes Kind ersticht: der Dichter hat mit glücklicher Ahnung
erkannt, daß Verbrechen wider die Frauen bei allen edlen Völkern
jederzeit ein Haupthebel großer Empörungen waren. Doch schlechthin
empörend bleibt der Auftritt, wo Thusnelda ihren römischen Verehrer
von der Bärin zerfleischen läßt -- unerträglich schon, weil _diese_
Thusnelda solcher Rache nicht wert ist. Die Tendenz des Gedichtes tritt
mit solcher Unbefangenheit hervor, daß wir auf die Rheinbundskönige
unter den Germanenfürsten mit Fingern weisen können; aber die Tendenz
liegt in dem Stoffe selbst. Und stehen wir selber denn heute, da die
alte Blutschuld der Könige von Napoleons Gnaden noch immer nicht
gesühnt ist, den Leidenschaften dieser napoleonischen Zeit ganz
freien Gemüts gegenüber? Darf der Deutsche gänzlich untergehen in dem
Ästhetiker? Darf er nicht auch seine patriotische Freude haben an der
erhabenen poetischen Gerechtigkeit, welche dieser Hermann vollstreckt?
Ich bekenne gern, daß ich niemals ohne herzliche Erquickung lesen kann,
wie dem Ubierfürsten Friedrich von Württemberg der Kopf vor die Füße
gelegt wird.

Wie der Dichter einst der finsteren Erscheinung der Penthesilea die
rührende Gestalt des Käthchens hatte folgen lassen, so trieb ihn jetzt
ein glücklicher Geist, diesem Gemälde seines patriotischen Hasses ein
heiteres Bild der Heimatliebe entgegenzustellen. Er schuf das reifste
seiner Werke, den Prinzen von Homburg, und knüpfte Hoffnungen daran.
Aber die kalte Aufnahme des Werkes sollte ihm zeigen, wie wenig eine
politisch bewegte Zeit fähig ist zu begreifen, daß eine patriotische
Idee dem Künstler selten mehr sein kann als ein Motiv. Er sollte
erfahren, wie wenige Leser in jeder Zeit imstande sind, das Ganze
eines Kunstwerks zu fassen. Wir hofften, hieß es, einen Helden zu
schauen voll Kraft und edler Gedanken, der alles besitzt, was unserem
gedrückten Geschlechte fehlt; und nun bringst du uns diesen wächsernen
Achilles, so schwach und menschlich wie wir selbst? Und doch ist
Kleists Prinz von Homburg die idealste Verherrlichung des deutschen
Soldatentums, welche unsere Dichtung besitzt. Seltsam genug schreibt
das große Publikum dem „Lager Wallensteins” dies Verdienst zu. Weil
Schiller uns selbst unter der ruchlosen Soldateska des Friedländers
heimisch macht, weil die seltene Erscheinung seines Humors hier in
glänzenden Funken sprüht, so hat man sich gewöhnt, dem nur dramatisch
Gültigen absoluten Wert beizulegen. Unsre Soldaten singen das ganz
dramatisch gedachte Reiterlied so harmlos, als wäre die rohe Kampfwut
einer entsetzlichen Horde ein passendes Gefühl für unser Volk in
Waffen. Wie bei so vielen Gedichten Schillers, ist auch hier durch den
langen Gebrauch der wahre Sinn verloren gegangen. Nun gar was sich
heute Soldatenpoesie nennt -- jene witzelnden Klatschgeschichten aus
der Langeweile des Rekrutendrillens und des Parademarsches -- das
ist jedem rechten Soldaten ein Greuel. Hier aber redet jener schöne
Idealismus des Krieges, der jedem rechten Deutschen unverwüstlich im
Blute liegt. In jeder Zeile kriegerisches Feuer, überall die kecke,
frische deutsche Reit- und Schlaglust und doch so gar nichts von dem
polternden Säbelgerassel der Franzosen. Es ist als ob der Dichter
vor- und rückschauend ein ideales Durchschnittsbild gezogen hätte aus
der Geschichte der preußischen Armee von Fehrbellin bis Königgrätz.
Tapfere Krieger, geschart um einen heldenhaften Fürsten, in fester
Mannszucht geschult, und doch freie Männer, deutsche Naturen, die auch
unter der harten Ordnung des Gesetzes sich noch ein selbständiges Herz
bewahren und dem Herrscher aufrecht die Wahrheit sagen -- so war, so
ist das Heer, das Deutschlands Schlachten schlug, und hier wird es uns
geschildert mit einfacher Treue, mit jener anheimelnden Wärme, welche
nur das Selbsterlebte dem Dichter in die Seele haucht.

Von diesem bewegten Hintergrunde nun hebt sich ab eine fein und tief
gedachte dramatische Verwicklung. Jetzt endlich ist Kleist ganz
Dramatiker; nachdem er sich so oft in epische Stoffe verloren, hält
er sich hier streng in den Schranken seiner Kunstform. Er zeigt uns,
wie der Jüngling vom Manne träumt und dann zum Manne wird -- ein
Problem, althergebracht in den Romanen und leicht zu lösen für den
Romandichter, doch überaus schwierig für den Dramatiker. Und wieder,
wie in der Penthesilea, aber milder, heiterer als dort, erzählt uns der
Dichter die Geschichte seines Herzens; er leiht seinem Helden seine
eigene wundersame Empfindung, diese jähe, stürmische Leidenschaft, die
dann plötzlich wie in Zerstreutheit innehält, sich verliert in süße
Selbstvergessenheit. Der Prinz erscheint zu Anfang als ein unreifer
übermütiger Jüngling, er lebt wie einst der Dichter selbst immer in
der Zukunft, nie dem Augenblicke; begehrlich schweifen seine stolzen
Träume den Taten um eine Welt voraus; mit all seiner Liebenswürdigkeit
ist er doch noch erfüllt von jener naiven Selbstsucht der Jugend, die
den Gedanken der Pflicht, des Gesetzes nicht fassen kann. In solcher
Stimmung unternimmt er in der Schlacht von Fehrbellin gegen den Befehl
des Kurfürsten den kecken Angriff, der den Sieg entscheidet. Und hier
weiß der Dichter mit bewunderungswürdigem Künstlerverstande selbst die
dramatisch ganz unbrauchbare rührende Geschichte von dem Opfertode des
Stallmeisters Froben als einen Hebel der Entwicklung zu verwenden. Der
Kurfürst gilt für tot, man hat sein weißes Schlachtroß im Getümmel
fallen sehen. Der Prinz fühlt sich darum als den Führer des Heeres, als
den Beschützer des verwaisten Hofes, er bekennt der Prinzessin Natalie
seine Liebe und steigt zum Gipfel des Übermutes empor: alle Kränze
des Ruhmes und der Liebe wähnt er mit einem Griffe auf seine trunkene
Stirn herabzureißen -- gleich dem Dichter des Guiscard. Da erscheint
der totgeglaubte Kurfürst wieder. Dem Jüngling tritt der Mann entgegen,
so groß und so schlicht, so streng und so weich, eine herrliche
Fürstengestalt, von der wir nur bewundernd sagen können: das ist
deutsche Herrschergröße. Der vorwitzige Knabe soll jetzt den Ernst des
Gesetzes empfinden, der ungehorsame General wird zum Tode verurteilt.
Unbarmherzig, wie immer, wenn es gilt, einen tiefen Gedanken bis auf
die Hefe auszuschöpfen, treibt nun der Dichter den aus seinen Träumen
Aufgestörten hinab in die tiefste Entwürdigung. Der Prinz bettelt
um sein Leben, und erst als er endlich die Gerechtigkeit des harten
Spruchs erkennt, sein Haupt freiwillig dem beleidigten Gesetze zur
Sühne darbietet, wird Gnade und Versöhnung dem Jüngling zuteil, den wir
vor unseren Augen in fünf kurzen Akten zum Manne heranwachsen sahen.

Haben wir also die Idee des Dramas begriffen und uns befreundet mit
der ungewohnten Erscheinung eines Bühnenhelden, welcher nicht fertig
vor uns hintritt, sondern erst wird, dann verstehen wir auch, daß der
Dichter in dieser scheinbar höchstpersönlichen Seelengeschichte einen
höheren Gedanken darstellen wollte als das Recht der militärischen
Subordination: er gab ein Bild von dem Werden des Mannes, hier
zum ersten Male gelang ihm eine typische Gestalt. Dann erscheint
auch die seltsame Schlafwandlerszene am Eingang lediglich als ein
phantastisches Beiwerk, das den Sinn des Sängers gefangen hielt wie ein
schöner Traum und doch den Gang des Dramas nicht wesentlich beirrt.
Nur ein Mißklang stört das herrliche Gedicht: jene verrufene Szene,
die uns den Prinzen in feig unwürdiger Todesfurcht vorführt. Gewiß,
die Demütigung des Helden ist unerläßlich für den Plan des Dramas,
und ihre poetische Wahrheit empfindet jeder, dem jugendliche Stoiker
verhaßt sind. Hundertmal lieber diese hellenische Natürlichkeit, dies
naive Schaudern vor dem Tode, als jene gespreizten Eisenfresser der
Nachahmer Schillers, welche zur selben Zeit auf allen Bühnen pathetisch
bejammerten, daß der Mensch nur einmal den Heldentod sterben kann.
Aber die ungestüme Hast unseres Dichters hat leider versäumt, die
Hörer, deren tief eingewurzelte Ehrbegriffe er verletzen will, auf das
Unerwartete vorzubereiten: wir sahen den Prinzen zuletzt aufgeregt,
doch in männlicher Haltung, und plötzlich ohne jeden Übergang windet
sich derselbe Mensch jämmerlich im Staube. So jähe Sprünge erträgt die
Seele des Hörers nicht. Dazu tritt die unleugbare Versündigung gegen
das historische Kostüm. Uns beirrt nicht das prosaische Bedenken, ob im
Jahre des Heils 1675 ein brandenburgischer General also denken durfte?
Doch wir fragen ungläubig: wie kann dieser Kurfürst, dieser Oberst
Kottwitz, der hier auf der Bühne vor uns steht, dem Prinzen einen so
häßlichen Verstoß gegen alle ritterliche Haltung verzeihen? In solcher
Umgebung erscheint der Prinz mit seiner antiken Naivität allerdings wie
eine Gestalt aus einer anderen Welt.

Jedes echte Kunstwerk ist unerschöpflich, bietet einen Ausblick in das
Unendliche. In die leitende Idee des Dramas spielt noch eine zweite
Gedankenreihe hinein, welche freilich aus dem hastigen Tun des Helden
nicht klar hervortritt, desto klarer aus den Reden der Offiziere. Der
Dichter verherrlicht das Recht des freien Heldenmuts, der rettenden
Tat neben der toten Regel. Und hören wir die schönen Worte des alten
Kottwitz:

    Herr, das Gesetz, das höchste, obere,
    das wirken soll in deiner Feldherrnbrust,
    das ist der Buchstab deines Willens nicht,
    das ist das Vaterland, das ist die Krone,
    das bist du selber, dessen Haupt sie trägt --

wer sollte da den Sehergeist des Dichters nicht bewundern? Denn gerade
so dachten drei Jahre später die Männer des ostpreußischen Landtags,
als sie, ohne den Ruf des Königs abzuwarten, für ihn und für das
Vaterland sich erhoben.

Noch vor wenigen Jahren wurde auf der Leipziger Bühne der Schlußvers
des Dramas, der Schlachtruf der Offiziere: „In Staub mit allen
Feinden Brandenburgs”, nicht geduldet. Er lautete dort, obschon der
mißhandelte Jambus sich heulend wider den Frevel verwahrte, „in Staub
mit allen Feinden Germaniens!” Ich aber glaube, daß eine nahe Zukunft
den „preußischen Partikularismus”, welcher der königlich sächsischen
Vaterlandsliebe so anstößig erschien, dem Dichter zum Ruhme anrechnen
wird. Der Prinz von Homburg darf noch auf ein langes Bühnenleben
zählen, denn er ist, kurz und gut, das einzige gelungene historische
Drama hohen Stils, das seinen Stoff aus der neuen deutschen Geschichte
schöpft -- aus der Geschichte, die noch in Wahrheit die unsere ist,
aus der Geschichte, die mit der derben Prosa ihrer Lebensformen
uns doch traulicher zum Herzen redet als die phantastische Pracht
des Mittelalters. Wir atmen die freie Luft des historischen Lebens
und fühlen uns doch behaglich wie in unserem Hause: niemand unter
uns, der nicht einmal seine Freude gehabt hätte an dem ehrlichen
grauen Schnurrbart eines wirklichen Obersten Kottwitz. Wer ganz
empfindet, wie von Grund aus das Gemüt unseres Volkes seit den Stürmen
des Dreißigjährigen Krieges sich verwandelt hat, der weiß diesen
glücklichen Griff des Dichters auch ganz zu würdigen. Und jetzt, da
endlich unter dem Segen des preußischen Heerwesens die alte stolze
Waffenfreudigkeit unseres Volkes überall in Deutschland wieder erwacht
ist, wird auch dies schönste Werk deutscher Soldatendichtung zu Ehren
kommen, und selbst die Schwaben und Obersachsen werden dem Sänger
verzeihen, daß er ein Preuße war. In dem großen Zusammenhange unserer
neuen Geschichte erhält Kleists Gedicht eine noch tiefere Bedeutung.
Fast anderthalb Jahrhunderte hindurch stand das Heer der Hohenzollern
und sein kriegerischer Adel verständnislos und unverstanden der wieder
aufblühenden Kunst und Wissenschaft der kleinen Staaten gegenüber.
Wohl berührten sich einmal leise die beiden Gegensätze, als das
Heldentum des großen Königs der deutschen Dichtung einen neuen Inhalt
schenkte, als der Dichter des Frühlings, Ewald Kleist, „für Friedrich
kämpfend niedersank”, wie seine Grabschrift sagt -- und die preußischen
Offiziere in Leipzig dem alten Gellert ihre Verehrung bezeigten. Doch
hier zum ersten Male ward der Waffenruhm der Preußen von einem Sohne
des märkischen Adels mit der vollen Pracht der deutschen Dichtung
gefeiert, und dies erscheint dem Nachlebenden wie die erste Annäherung
zweier Mächte der deutschen Geschichte, die beide gleich einseitig der
Ergänzung bedurften.

Wie frei und glücklich schwebt des Sängers Geist über dem
selbstempfundenen Leide, das er in diesem Gedichte uns darstellt!
Wie sollte der Dichter nicht endlich selber die Versöhnung gefunden
haben, die er so heiter an seinem Helden geschildert? Und doch stand
es anders, ganz anders um den Unglücklichen; nur für kurze Stunden war
ihm das heitere Spiel der Kunst ein Labsal. Er hatte weder aus seinem
edlen Werke den selbstgewissen Frohmut des Künstlers geschöpft, noch
im Verkehr mit Dahlmann die patriotische Zuversicht gelernt, welche so
fest und mannhaft aus der ruhigen Versicherung des Freundes sprach:
Napoleon wird fallen, wenn wir nur ausharren! Er sah das Reich des
„Höllensohnes” wie ein nimmersattes Ungetüm ein Glied nach dem andern
vom Leibe unseres Vaterlandes reißen, und allenthalben wohin er schaute
-- so sagt die erschütternde Klage seines „letzten Liedes” --

    kommt das Verderben mit entbund'nen Wogen
    auf alles was besteht herangezogen.

Er sah vor sich ein ruhmloses, sorgenvolles Leben, ohne Liebe, ohne
Hoffnung. Noch einige schlechte Novellen, einige kleine Anekdoten, um
wenig Geld für ein Berliner Winkelblatt hastig auf das Papier geworfen,
dann wird er matt und matter

    und legt die Leier thränend aus den Händen.

Ich lasse mir nicht einreden, die Schätze dieses Geistes, der bis dahin
durch Pein und Krankheit hindurch unaufhaltsam zu immer schöneren
Werken aufgestiegen war, seien schon erschöpft gewesen. Was diesem
Dichter fehlte, war ein gehobenes, ein großes Vaterland. Ein einziger
Sonnenblick des Glücks -- und wenn auch nur der Brief Dahlmanns, der
den Freund gastlich nach Kiel lud, in die rechten Hände gekommen wäre!
-- und der Unselige konnte auch diesen Anfall des Siechtums wie so
viele vordem überstehen, um in einer schöneren Zeit sein Vaterland
mit edlen Gedichten zu entzücken. Es sollte nicht sein. Eben jetzt da
der Trieb der Selbstzerstörung wieder in ihm wühlt, tritt ihm eine
Freundin näher, welche, krank wie er, sich nach dem Grabe sehnt,
und abermals überfällt ihn der gräßliche Gedanke, den er einst der
Schwester schrieb: „Das Leben hat doch immer nichts Erhabeneres als
nur dieses, daß man es erhaben wegwerfen kann.” -- Erhaben wegwerfen!
Ach, wenn auch nur ein Zug der Erhabenheit zu spüren wäre in dem
jämmerlichen Ende des Dichters. Gleichmütig wie ein Mann, der abends
aus einem Zimmer in das andere geht, um sich zur Ruhe zu legen, mit der
ganzen schrecklichen Gelassenheit des Irrsinns gab Heinrich Kleist der
Freundin und sich selbst den Tod (21. Nov. 1811).

Die Gerechtigkeit der Geschichte hat auch seine Schuld gesühnt.
Grausamer strafte sie keinen als diesen Träumer, der zu früh
verzweifelte an seinem Volke. Noch sproßte kaum der Rasen auf dem
einsamen Grabe am Ufer des Havelsees, da brachte das Schicksal den
glühenden Wünschen dessen, der dort ruhte, die überschwengliche
Erfüllung. Da klirrte durch die Marken der Lärm der Waffen; da wies
ein anderer, ein größerer Prinz von Homburg durch eine rettende Tat
unserem Volke den Weg zum Siege; da dröhnten über das befreite Land die
Donner einer anderen Hermannsschlacht, die herrlicher, menschlicher war
als des Dichters Traumbild. Vielleicht daß einmal unter den preußischen
Offizieren ein Wort des Mitleids fiel um den treuen Kameraden, der
nicht warten konnte und nicht den Tod des Helden starb. Doch was
fragten die Hunderttausende, die zur Freiheit erwachten, nach einem
gebrochenen Herzen? Sie stürmten vorwärts, dem Siege entgegen, und
brausend klang es um die alten Fahnen:

        „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!”



Friedrich Hebbel



Friedrich Hebbel

(Königstein 1860.)


In zwiefachem Sinn ist die Dichtkunst die Herzenskündigerin ihrer Zeit.
Dem Dichter bleibt nicht nur das schöne Recht herauszusagen, was die
Gegenwart in ihren Tiefen bewegt; er zwingt auch die Zeitgenossen,
durch die Aufnahme, welche sie seinen Werken angedeihen lassen,
ihr innerstes Wesen der Nachwelt zu enthüllen. Die von Grund aus
verwandelte Stellung der Gebildeten zu den Werken der Poesie zeigt
klarer als irgendeine Tatsache der politischen Geschichte, daß wir
wirklich binnen weniger Jahrzehnte andere Menschen geworden sind.
Als nach einer langen Zeit vorherrschender literarischer Tätigkeit
die ersten Keime freien politischen Lebens in Deutschland sich
schüchtern aus dem Boden emporhoben, da galt es noch als ein Wagnis,
der ästhetisch verbildeten Lesewelt politische Geschäftssachen in
nüchterner geschäftlicher Form vorzutragen, und der alte Benzel-Sternau
kleidete weislich den langweiligsten aller Stoffe, einen Bericht über
die ersten bayrischen Landtage, in die phantastische Hülle eines
Briefwechsels zwischen Hochwittelsbach und Reikiavik. Nur zwanzig
Jahre vergingen, und jede Spur andächtigen Schönheitssinnes schien
hinweggefegt von der politischen Leidenschaft. Alles jubelte, wenn
die Meute gesinnungstüchtiger Zeitpoeten wider die vornehme Ruhe
des Fürstenknechtes Goethe lärmte. Das Vaterland forderte, wie ein
Wortführer jener Tage selbstgefällig sagt,

    von der Dichterinnung
    statt dem verbrauchten Leiertand,
    nur Mut und gute Gesinnung.

Von diesem Äußersten unästhetischer Roheit freilich, von diesem
Selbstmordversuch der Poesie sind wir zurückgekommen. Der schwere
Ernst der politischen Arbeit lehrte uns die verschwommenen Phrasen der
Tendenzlyrik mißachten, und jener schlichte Sinn für das Wahre, welcher
das köstlichste Gut der Gegenwart bildet, wandte sich mit Ekel von
poetischen Gestalten, die kein eigenes Leben lebten, nur das Mundstück
waren für des Dichters politische Meinungen. Doch die alte Begeisterung
der Deutschen für das Schöne ist nicht wiedererwacht; dem starken und
tiefsinnigen Dichtergenius fällt in unseren Tagen ein unsäglich hartes
Los.

Wir wollen nicht allzu bitter beklagen, daß die gesamte Lyrik heute
lediglich von den Frauen gelesen wird, nur selten ein Mann von Geist in
verschämter Stille an seinem Horaz oder an Goethes römischen Elegien
sich erquickt: die Härte, der Weltsinn, die Aufregung des modernen
Lebens verträgt sich wenig mit lyrischer Empfindsamkeit. Und wenn in
sehr zahlreichen und sehr ehrenwerten Kreisen ein junger Mann, von dem
man nur weiß, er sei ein Poet, mit verhaltenem Lachen empfangen wird,
wenn man von ihm erwartet, er werde jenes Durchschnittsmaß von Verstand
und Willenskraft erst erweisen, das wir bei allen anderen Sterblichen
voraussetzen: so sehen wir keinen Anlaß, sentimental und verstimmt zu
werden ob dieser notwendigen Folge der poetischen Überproduktion. Aber
versuchet, in einem Kreise gebildeter Männer die triviale Wahrheit
zu verfechten, daß die Kunst für ein Kulturvolk täglich Brot, nicht
ein erfreulicher Luxus sei -- und Widerspruch oder halbe Zustimmung
wird euch lehren, wie arg der Formensinn verkümmert ist in diesem
arbeitenden Geschlechte. Es ist nicht anders, der ungeheuren Mehrzahl
unserer Männer gilt die Kunst nur als eine Erholung, gut genug, einige
müde Abendstunden auszufüllen. Wir widmen, was von Idealismus in uns
liegt, dem Staate, uns bedrückt eine Geschäftslast, welche die älteren
Geschlechter unseres Volkes nie für möglich gehalten hätten, wir wissen
den Wert der Zeit so genau zu schätzen, daß der ruhige briefliche
Gedankenaustausch unter tätigen Männern fast ganz aufgehört hat und
selbst unser geselliger Verkehr überall die Spuren hastiger Unruhe
zeigt. Eine solche ganz nach außen gerichtete Zeit sucht in der Kunst
die Ruhe, die Abspannung. Wer will bestreiten, daß Gustav Freytag seine
Popularität weit weniger seinem edlen Talente verdankt als seiner
liebenswürdigen Heiterkeit, welche auch dem Gedankenlosen erlaubt, vor
dem unverstandenen, aber lustigen Gebaren der Gestalten des Dichters
ein gewisses Behagen zu empfinden? Sehr undankbar ist in solchen Tagen
das Schaffen des pathetischen Dichters. Gelingt ihm sein schweres Werk
nicht vollkommen, so vereinigt sich zu seiner Verurteilung der Haß der
Massen gegen jeden, der ihren dumpfen Schlummer stört, und der gesunde
Sinn für Harmonie, dem eine niedrige, doch erfolgreiche Bestrebung
erfreulicher scheint als ein groß angelegtes, aber unfertiges Schaffen.

Dabei lebt in diesem prosaischen Geschlechte unausrottbar doch die
stille Hoffnung, daß das fröhlich aufblühende neue Leben unseres
Staates auch die dramatische Kunst einer großen Zukunft entgegenführen
müsse. Freilich nur eine unbestimmte Ahnung. Kein sicheres Volksgefühl
zeichnet dem jungen Dramatiker gebieterisch bestimmte Wege vor; uns
fehlt ein nationaler Stil, ein festes Gebiet dramatischer Stoffe, jede
Sicherheit der Technik. Unermeßlich, zu beliebiger Auswahl breitet sich
vor dem Auge des Poeten die Welt der sittlichen, sozialen, politischen
Probleme aus; und wenn schon diese schrankenlose Freiheit der Wahl
den geistreichen Kopf leicht zu unstetem Tasten, zum Experimentieren
verleitet, so wird ihm vollends die Sicherheit des Gefühls beirrt
durch die Wohlweisheit der Kritik. Scheint es doch, als verfolgten
manche Kunstphilosophen nur das eine Ziel, dem schaffenden Künstler
sein Tun zu verleiden, ihm den frischen Mut zu brechen. Was hat diese
Altklugheit nicht alles bewiesen: für das Epos sind wir zu bewußt, für
die Lyrik zu nüchtern, für das Drama zu unruhig; die alte Geschichte
ist für unsere Kunst zu kahl, das Mittelalter zu phantastisch, die neue
Zeit steht uns zu nahe -- und wie die anmaßenden und doch im Grunde
gehaltlosen Schlagworte sonst lauten. Zu den Füßen dieser überreifen
Ästhetik treibt eine vulgäre Kritik ihr Unwesen, deren erschreckende
Roheit täglich deutlicher beweist, daß die besten Köpfe der Epoche
sich der Kunst entfremdet haben. Wir wundern uns gar nicht mehr, wenn
ein tief empfundenes Kunstwerk als Nr. 59 unter „Fünf Dutzend neuer
Romane” abgeschlachtet wird, wenn eine Dichtung von G. Freytag oder
G. Keller allen Ernstes in eine Reihe gestellt wird mit den Arbeiten
der Frau Mühlbach oder ähnlichen Produkten einer volkswirtschaftlichen
Tätigkeit, welche sich lediglich durch das Verhältnis von Angebot und
Nachfrage bestimmen läßt. Wir fühlen uns nicht mehr befremdet, wenn
jener beliebige Herr Schultze, der im Erdgeschoß einer politischen
Zeitung seinen kritischen Sorgenstuhl aufgestellt hat, mit den
Dichtern und Denkern, deren Werke er beschwatzt, auf du und du
oder gar im Tone des Schulmeisters verkehrt. Wir empfinden für den
Kritiker sogar eine gewisse Hochachtung, wenn er die Kenntnisse eines
angehenden Obersekundaners entfaltet -- eine Bildungsstufe, welche in
diesen Kreisen unserer Literatur nicht allzu häufig erklommen wird.
Begreiflich in der Tat, wenn ein starker Künstlergeist, angeekelt von
diesem nichtsnutzigen belletristischen Treiben, auch die ehrenwerten
Ausnahmen übersieht, welche in unserer Presse zuweilen noch auftauchen,
und grimmig seiner Straße zieht.

Doch das schwerste Hemmnis, das die Gegenwart dem dramatischen
Dichter in den Weg wirft, ist die Gärung, die Unsicherheit unserer
sittlichen Begriffe. Wieviel einfacher als der moderne Mensch
standen unsere großen Dichter zu den Problemen des sittlichen
Lebens! Welchen sittlichen und ästhetischen Schatz besaß Schiller an
Kants kategorischem Imperativ -- eine großartige, streng sittliche
Weltanschauung, wie geschaffen für den Dramatiker, denn sie läßt
dem tragischen Charakter ungeschmälert die Freiheit. Seit die neue
Philosophie den Glauben an Gott und Unsterblichkeit erschüttert hat,
seit die Naturforschung beginnt, den Zusammenhang von Leib und Seele
schärfer zu beleuchten, steht der Dichter, wenn er zugleich ein Denker
ist, den einfachsten und schwersten sittlichen Fragen minder unbefangen
gegenüber; selbst die Idee der tragischen Schuld und Zurechnung,
die dem Dramatiker unbedingt feststehen muß, wird ihm leicht durch
Zweifel verwirrt und getrübt. Und wo ist sie hin, die edle, mit
Geist und Empfindung gesättigte Geselligkeit, die in den Tagen von
Weimar nur einige auserwählte Kreise unseres Volkes beglückte? Die
schamlose Frechheit der Halbwelt auf der einen, die unleugbar steifen,
gezwungenen Formen unserer guten Gesellschaft auf der anderen Seite
-- in einer solchen Umgebung erlangt der Künstler nicht leicht die
harmonische Bildung der sittlichen und der sinnlichen Kräfte.

Das Edle und Große dieser durchaus von der Politik, der
Volkswirtschaft, der Wissenschaft beherrschten Welt begeistert zu
empfinden, ihr Leben mitzuleben und dennoch das Schöne, nichts als das
Schöne zu schaffen, das ist die schwere Aufgabe des modernen Dichters.
Ein Zug der Resignation, das Bewußtsein, daß nicht jede Zeit dem
Künstler das Höchste zu erreichen gestattet, wird in solchen Tagen oft
den Geist des Dichters ergreifen, und sicherlich viele der heutigen
Poeten haben zuweilen mit eingestimmt in die Bitte, welche Friedrich
Hebbel einst an seine Muse richtete:

    Du magst mir jeden Kranz versagen,
    wie ihn die hohen Künstler tragen,
    nur daß, wenn ich gestorben bin,
    ein Denkmal sei, daß Kraft und Sinn
    noch nicht zu Wilden und Barbaren
    aus meiner Zeit entwichen waren.

Das ganze Wesen des Mannes liegt in diesen Zeilen: sein Stolz, sein
ernster Künstlersinn und jene hoffnungslose Verstimmung, die ihn seinem
Volke entfremdete. Aber wie schwer er auch irrte, den Ruhm, den er
sich in jenen Zeilen erfleht, wird ihm heute kein Unbefangener mehr
versagen. Er dachte groß von seiner Kunst, er lebte ihr mit rastlosem,
fruchtbarem Fleiße, mit Andacht und Sammlung, treu seinem Ausspruch:
„Leben heißt tief einsam sein.” Oftmals berührt von den Sünden der
Zeit, die er lästerte, hat er nie wissentlich ihren Launen gehuldigt;
in ihm waltete jene vornehme Selbstgewißheit, welche jedes unmittelbar
tendenziöse Einwirken der Poesie auf die Gegenwart verschmäht und sich
des freudigen Glaubens getröstet, daß der Gehalt der Dichtung ein
ewiger ist und seiner Stunde harren kann.

Ein ditmarscher Kind, in einer engen und harten Welt aufgewachsen,
bewahrte Hebbel immer einen Zug rauher reckenhafter Kraft, also daß
starke nordische Naturen, wie der alte Dahlmann, ihm die Teilnahme
des Landsmannes nie versagten, auch wenn sie seinen Wandlungen nicht
folgen mochten. Er selber bezeichnete die altgermanische Welt und die
Bibel gern als die Quellen seiner Dichtung. Doch auch andere, minder
lautere Kräfte schlugen in sein Leben ein: die nervöse Sinnlichkeit
des modernen Paris, die zersetzende, glaubenlose Reflexion der
jungdeutschen Literatur. Verbittert durch die Entbehrungen einer
freudlosen Jugend, ward der stolze Mann launisch, anmaßend, gehässig;
bis zur Grausamkeit selbstisch mißbrauchte er die Güte der Menschen,
die sich ihm liebend hingaben. Erst nach langen Irrgängen, da er
endlich wieder zurückgriff zu den Sagengestalten unserer Vorzeit,
die ihm die Träume der Knabenjahre erfüllt hatten, gelang ihm ein
Kunstwerk, das dauern wird.

Die Künstlertugend, welche an Hebbel zuerst in die Augen fällt,
ist der seltene, dem Dilettanten allezeit unverständliche Sinn
für die Totalität des Kunstwerks. Er verachtet das Haschen
nach Einzelschönheiten, wie die kleinmeisterliche, an einzelne
Auffälligkeiten sich festklammernde Kritik. Schon aus diesem einen
Grunde sollte man endlich aufhören, ihn mit Grabbe zu vergleichen.
Grabbe war das Kind einer sinkenden Epoche, welche die Ideale einer
großen Vergangenheit in zuchtlosem Übermute zerschlug; in diesem rohen
Talente war keine Entwicklung. Hebbel erscheint als der Sohn einer
aufstrebenden Zeit, welche neue Ideale zu gestalten suchte. Freilich
es war ein Suchen, an dem der grübelnde Verstand oft mehr Anteil
hatte als die schaffende Phantasie. Der Dichter experimentierte, er
tastete umher nach einem Kunstwerk der Zukunft, in seinen ersten Werken
erschien die Intention ungleich stärker als die lebendige Ausführung.
Das traurige Wort, womit Hebbel einst die Frage „Man weiß doch, was ein
Lustspiel heißt?” beantwortet hat: -- „Dies steht so klar vor meinem
Geist, daß, wenn ich's minder hell erblickte, das Werk vielleicht mir
besser glückte” -- dieses unselige Geständnis gibt leider den Schlüssel
zu einem großen Teile seines Schaffens. Er haßt die Phrase, niemals
drängt sich bei ihm der Verstand in der prosaischen Form undramatischer
Betrachtungen hervor; aber bei aller realistischen Anschaulichkeit im
einzelnen läßt das Ganze oft kalt, erscheint als gemacht und geklügelt.
Und so findet sich bei Hebbel, der nach dem edlen Ziele strebt, alles
Geistige zu verleiblichen, das Zusammenfallen von Idee und Bild ebenso
selten wie bei Klopstock, von dem ein altes treffendes Wort sagt, er
habe alles Leibliche des Körpers entkleidet.

Man hat Hebbel schweres Unrecht getan, wenn ihm die Wärme des Gemüts
gänzlich abgesprochen ward. Selbst aus den verfehltesten seiner
Gedichte bricht zuweilen, und dann ergreifend, eine starke und tiefe
Empfindung hervor. Wer die Gedichte kennt, worin er Selbsterlebtes, wie
das stille Glück des Hauses besingt, der wird den herzlosen Vorwurf der
Herzlosigkeit nicht wiederholen. Er dichtete nur, wenn der Geist ihn
rief, ließ oft jahrelang die halbfertigen Gestalten seiner Entwürfe
ruhen, bis sie von selber wieder erwachten. Trotzdem trat in den also
aus künstlerischem Drange entstandenen Werken die Reflexion zuweilen
so stark hervor, daß der Hörer kaum wußte, ob ein Dichter oder ein
Denker zu ihm sprach. Dies verrät sich vornehmlich in der Zeichnung
der Charaktere. Otto Ludwig nennt in seiner grobkörnigen Weise Hebbels
dramatische Gestalten kurzab „psychologische Präparate”, er meint:
„sie tun dick, sie wissen sich etwas” mit ihrer Eigenart. Ein hartes
Urteil, das Hebbels ältere Werke leider nicht immer Lügen strafen.
Seine Charaktere handeln so folgerecht, daß wir jedes ihrer Worte
vorausberechnen können; er motiviert oft mit überraschender Feinheit,
und eine große dialektische Kraft steht ihm zu Gebote, um den Irrgängen
innerer Kämpfe nachzugehen. Aber über dem allzu eifrigen Bemühen, den
Charakteren feste scharfe Umrisse zu geben, verlieren sie die Farbe,
das Leben. Wohl zwingt die strenge Prägnanz des Dramas den Dichter,
seinen Menschen offenherzige Geständnisse in den Mund zu legen,
welche der phantasielose Verstand unnatürlich findet; doch die helle
Selbsterkenntnis, welche Hebbel seinen Charakteren leiht, überschreitet
zuweilen die Grenzen der poetischen Wahrheit, und wie selten schallt
aus diesen Menschen der volle Brustton naturwüchsiger Leidenschaft
heraus, den, wie alles Herrlichste in der Kunst, keine Anstrengung des
Hirns erklügeln kann!

Es klingt wie ein unwillkürliches Selbstbekenntnis, wenn dieser
zwischen dem Reiche des Gedankens und dem Reiche der Phantasie
einherschwankende Geist einmal ausruft:

    Ein Shakespeare lächelt über Alle hin
    und offenbart des Erdenrätsels Sinn,
    indes ein Kant noch tiefer niedersteigt
    und auf die Wurzel aller Welten zeigt.

Der Denker verachtet den stofflichen Reiz, das Anekdotenhafte in der
Kunst, er will nicht „der Auferstehungsengel der Geschichte” sein.
Er fühlt, daß die moderne Bildung ein Recht hat, über die Tragik
Shakespeares hinauszugehen und eine Tragödie der Idee, nach dem
Vorbild des Faust, zu fordern; und so fest hält er diesen Gedanken,
daß er niemals versucht, eine einfache Charaktertragödie zu schreiben.
Die bunte Fülle des Menschenlebens reizt ihn nur, wenn sie ihm ein
„Problem”, einen Kampf der Ideen, zur Lösung darbietet. Unter allen
Rätseln des Menschendaseins hat ihn keines so anhaltend beschäftigt
wie das Verhältnis von Mann und Weib; von der Judith bis herab zu
den Nibelungen, in den mannigfachsten Formen versucht er dies große
Problem künstlerisch zu gestalten, immer tiefsinnig und mit starkem
Gefühle, doch zuweilen spielt auch die häßliche Überfeinerung moderner
Sinnlichkeit in seine Bilder hinein.

Ganz modern ist auch seine Anschauung der Geschichte: er sieht in ihr
nicht wie Shakespeare die ewig gleiche sittliche Weltordnung, die sich
immer wieder herstellt, wenn die Leidenschaft des Menschen sie auf
Augenblicke gestört; der Jünger der modernen Philosophen faßt sie auf
als ein ewiges Werden. Er liebt den Zusammenstoß zweier Kulturwelten
zu schildern: wie das Hellenentum aus der orientalischen Gebundenheit
emporsteigt, das Christentum aus der jüdischen Welt, die neue Zeit aus
dem Mittelalter. Ich kann jedoch nicht finden, daß der Dichter bei
diesem kühnen Unterfangen immer glücklich ist. Die neue Welt, die aus
der zerfallenden alten Ordnung sich erhebt, tritt nicht leibhaftig vor
uns hin, sie wird uns lediglich angedeutet durch einen symbolischen
Zug; und nur weil wir historische Schulbildung besitzen, erraten wir,
was uns das Kunstwerk selber nicht sagt, daß die heiligen drei Könige,
die am Schlusse von „Herodes und Mariamne” plötzlich auftreten, den
Anbruch der christlichen Gesittung vorstellen sollen. Diese Neigung für
symbolische Züge beherrscht den Dichter zuweilen so gänzlich, daß er in
eine gleichgültige, ja absurde Fabel willkürlich eine Idee hineinlegt,
welche ihr völlig fremd ist. Und da ja ausschweifende Phantastik im
Innersten verwandt ist mit den Verirrungen überfeinen Verstandes, so
erinnert Hebbel mit solcher Symbolik, solchem Mystizismus oft stark an
Calderon.

In der Einsamkeit brütender Betrachtung mußte die düstere Denkweise vom
Leben, wozu Hebbels Natur neigte, zu erschreckender Stärke anwachsen.
Der Pessimismus ist insgemein eine Sünde begabter Menschen, denn nur
ein heller Kopf wird die tiefen Widersprüche des Lebens, wird die
schreckliche Tatsache, daß die Ordnung des Rechts eine andere ist als
die Ordnung der Sittlichkeit, in ihrer ganzen Schärfe durchschauen,
nur ein tiefes Gemüt sie in ihrer vollen Schwere empfinden. Kein
Wunder, daß diese, die Werke aller bedeutenden tragischen Dichter
überschattende, reformatorische Strenge, welche die Welt verachtet und
Lügen straft, von dem Haufen verketzert und als unsittlich gebrandmarkt
wird. Aber selbst ein tiefmelancholisches Gedicht wird dem Poeten nur
dann gelingen, wenn ihm, ob auch verhüllt und verborgen, tief in der
Seele der Glaube lebt an den Sieg des Geistes über die Gebrechen
der Welt. Noch keinem echten Dichter hat dieser Glaube gefehlt, er
atmet selbst in dem schwermütigsten Gedichte, das je in den Nebeln
Altenglands ersonnen ward, in Walter Raleighs „=the lye=”. Hebbel
wußte wenig von solcher Hoffnung. Wie er, der Konservative, nicht
daran dachte, im Leben an der Heilung der kranken Welt mitzuwirken, so
vermögen auch seine Gedichte, obwohl sie dann und wann von künftiger
Versöhnung reden, von der Lebendigkeit dieses Glaubens nicht zu
überzeugen. Die furchtbare Anklage, die er in einem abscheulichen
Sonette gegen die menschliche Gesellschaft schleudert: „Der Mörder
braucht die Faust nur hin und wieder, du hast das Amt zu rauben und zu
töten” -- sie ist nicht ein wilder Ausbruch augenblicklichen Unmuts,
sie blieb durch lange Jahre die Grundstimmung seiner Seele. Er erkannte
mit eindringender Klarheit die Gebrechen der Welt, doch er verzweifelte
an der Heilung. Ganz unerträglich wird diese Verbitterung des Gemüts,
wenn Hebbel seinem eigenen Worte zum Trotz „die Kirsche vom Feigenbaum
fordert” und seiner düsteren Phantasie die hellen Klänge der Komödie zu
entlocken sucht.

Er gesteht, daß er mit seinen Gedichten „seiner Zeit ein künstlerisches
Opfer dargebracht” habe; und gewiß, einige der Ideen, welche das
moderne Deutschland bewegten, fanden in den Werken dieses Dichters
einen treuen und großartigen Ausdruck. Doch gerade die schönste und
herrlichste Erscheinung unserer Tage, recht eigentlich die Signatur
der neuen Zeit, das Emporwachsen unseres Volkes zum staatlichen Leben,
blieb diesem verdüsterten Auge verborgen. Er sah in der Entwicklung
unseres Volkes „nicht eine Lebens-, sondern eine Krankheitsgeschichte”.
Nun warf ihn sein Unstern unter das verkommene Deutschtum in
Österreich; „wir und germanisieren!” rief er hohnlachend. Die frohe
Botschaft des Jahrhunderts, die Verjüngung der antiken Sittlichkeit,
welche von jedem Menschen, auch von dem Künstler, zugleich die Tugenden
des Bürgers fordert -- an ihm fand sie einen tauben Hörer. Selbst die
Dichtungen unserer kosmopolitischen klassischen Zeit tragen die Spuren
der politisch-nationalen Kämpfe der Epoche weit deutlicher auf der
Stirn als Hebbels Werke die Eindrücke der Gegenwart. Und wird ja einmal
die Natur der Dinge mächtiger als Hebbels Verstimmung, entschließt er
sich ein Zeitgedicht zu schreiben, so finden wir nicht, wie es bei
dem Sohne der Marschen zu entschuldigen wäre, einen naturwüchsigen
Ausbruch des Zornes über die Schmach seines Volkes, sondern ein
griesgrämiges Epigramm über Staatsmänner, welche die Kunst verstehen,
niemals zu erwachen, oder eine wegwerfende Bemerkung über moderne
Staatsverfassungen -- oder ein Gedicht an König Wilhelm, das im Grunde
nicht gehauen und nicht gestochen ist, in schönen Versen nur die
politische Ratlosigkeit des Dichters offenbart.

Bei so trostloser Anschauung des Lebens weiß er nichts von jener edlen
Volkstümlichkeit, welche der Ehrgeiz großer Dichter ist. Darum hat
er, der Dramatiker, Schillers Größe lange gänzlich verkannt; darum
verschmähte er die hohe Schule des Dramatikers, den Wechselverkehr mit
der Bühne. Auch dieser Irrtum ist eng verflochten mit einer ehrenwerten
Tugend, einer wohlberechtigten Verachtung gegen die bornierten
Rücksichten der Konvenienz, welche gemeinhin das Bühnenschicksal eines
Dramas bestimmen. Aber nicht die Theaterzensur allein verbannt seine
Werke von den Brettern, sie sind in ihrer Mehrzahl in Wahrheit nicht
darstellbar. Sie behandeln nicht bloß extreme Fälle, sondern abnorme,
krankhaft seltsame Konflikte, welche keinen Widerhall erwecken in den
Herzen der Hörer; und wer es verschmäht, die Edelsten seiner Zeit im
Innersten zu bewegen, der mag der stolzen Hoffnung entsagen, für das
Theater aller Zeiten zu schreiben.

Hart, ja grausam ward diese gewollte Vereinsamung an dem Lebenden
bestraft. Über den vielgelesenen Schriftsteller bildet sich die Welt
zuletzt immer ein mildes, ausgleichendes Urteil. Doch die Werke dieses
Sonderlings fielen zumeist nur einzelnen Kritikern in die Hände, die
ihn von den Wällen ihres ästhetischen Systems herab schonungslos
bekämpften. Nun geschah ihm, was gemeinhin den Einsiedlern des
Gedankens widerfährt: wie um Friedrich Rohmer und Schopenhauer --
Männer, die ich übrigens weder unter sich noch mit Hebbel vergleichen
will -- so scharte sich um diesen vielbekämpften Dichter eine kleine
Gemeinde fanatischer Anhänger, die durch unmäßiges Lob den Hohn der
Gegner erweckten. So zwischen gehässigen Tadel und blinde Bewunderung
gestellt, ward das wohlbegründete Selbstgefühl des Mannes krankhaft
reizbar. Auch wir halten es für trockene Philisterweisheit, wenn dem
Poeten zugemutet wird, er solle nicht empfindlich sein. Wer darf
Angriffe auf sein eigen Fleisch und Blut mit Kälte ertragen? Und wer
könnte die alte Wahrheit, daß ein halbes Lob tiefer verletzt als ein
ganzer Tadel, bitterer empfinden als der Dichter? Führt doch der
Künstler das Los des verwunschenen Prinzen: im Leben soll er sich
schelten und stoßen lassen wie die anderen auch, und kaum nimmt er
das Saitenspiel zur Hand, so ist er ein geborener Fürst und hat immer
recht und treibt mit uns, was ihm gefällt; darum mögt ihr Nachsicht
üben, wenn nicht ein jeder dies gespaltene Dasein mit Haltung zu
tragen weiß. Aber es ist ein anderes, seinem Ärger über die Kritik
einmal durch einen derben, in Gottes Namen ungerechten Zynismus Luft
zu machen -- und wieder ein anderes, jahrelang die geschmacklose
Rolle des verkannten Genies zu spielen, fortwährend mit „Wichten”
und „Kannegießern” um sich zu werfen, jedes seiner eigenen Worte mit
einer Andacht zu bewahren, die dem reichen Geiste schlecht ansteht, ja
sogar nach Knabenart pathetisch zu prahlen: diese und jene Tugend hat
mir noch niemand abgesprochen. Jene Liebenswürdigkeit, die, nach der
Versicherung seiner Freunde, dem Menschen zuweilen eigen war, blieb dem
Schriftsteller versagt. Es gibt glückliche Naturen -- und viele unserer
streitbarsten Männer, Lessing vornehmlich, zählen dazu -- denen wir
niemals grollen, auch wenn wir widersprechen; andere wieder, welche uns
immer in Versuchung führen, mit ihnen zu rechten, sie mögen sagen, was
sie wollen. Zu diesen letzteren zählt Hebbel, nach meinem und vieler
anderer Gefühl; er hat den Mitlebenden erschwert, gerecht über ihn zu
reden.

Dem Toten sollen endlich die menschlichen Schwächen vergessen werden;
auch von dem Kunstwerk seines Lebens gilt das gute Dichterwort, das
er einmal über das Drama aussprach: „In einem Kunstwerk muß immer
die letzte Zeile die erste rezensieren.” Er ist wirklich gewachsen
mit seinem Volke, das er nie ganz würdigte, er befreundete sich als
reifer Mann mit den einfachen Idealen, die er einst mißachtet, er
lernte die Größe des edelsten unserer Dramatiker schätzen und schuf
endlich jene hochpoetischen Gestalten der Nibelungen, die nicht mehr
angekränkelt sind von der Blässe des Gedankens. Von diesen letzten
Werken des Dichters fällt verklärend ein Lichtstrahl zurück auf die
unfertigen Dichtungen seiner früheren Zeit. Kein Zweifel mehr: der
friedlose Sinn, der aus Hebbels älteren Dramen spricht, ist nicht
die blasierte Ironie der Romantiker, nicht die zuchtlose Frivolität,
der buhlerische Weltschmerz der Jungdeutschen, er ist der tiefe und
wahre Schmerz eines starken Geistes, der erst nach harten Kämpfen eine
Versöhnung finden konnte, welche der Glückliche, der Gedankenarme
mühelos erreicht. -- Der Dichter wies in seinem Eigensinne jede Kritik
der Wahl seiner Stoffe zurück, weil „das einmal lebendig Gewordene sich
nicht zurückverdauen” lasse. Heute, da wir sein Schaffen im ganzen
überschauen, wird uns das Körnlein Wahrheit deutlich, das in diesem
anmaßenden Ausspruch liegt; auch in den seltsamsten Experimenten des
Poeten läßt sich eine gewisse Notwendigkeit nicht verkennen.

Wir gehen rasch hinweg über Hebbels erste Novellen, die in der Art des
Humors an Jean Paul, in der Hast der Darstellung an Heinrich Kleist
erinnern. Wie seltsam verkannte der Dichter sein ganz und gar nicht
populäres Talent, wenn er hoffte, seine niederländische Geschichte
„Schnock” werde im Bauernkittel von Fließpapier auf den Jahrmärkten
feilgeboten werden; den derben Ton herzhaften Spaßes, den der Bauer
verlangt, findet dieser Poet des Gedankens nicht.

In seinem ersten Drama Judith versucht Hebbel in der Seele der epischen
Heldin der Bibel einen Bruch, einen Kampf hervorzurufen, er will uns
an ihr das Recht des Weibes auf wahre Liebe zeigen und dergestalt
den Liebling starkgeistiger Maler und Poeten dem modernen Bewußtsein
verständlich machen. Freilich wird das gräßliche Weib selbst dadurch
kein tragischer Charakter; denn unter den widerstreitenden Gefühlen,
welche ihr Herz bewegen, der religiösen Begeisterung für ihr Volk, der
durch den Anblick kläglicher Schwächlinge geschärften Ruhmbegierde,
endlich der geheimen Liebe zu dem einzigen ganzen Manne, den sie kennt,
tritt bald die nackte tierische Sinnlichkeit als das herrschende Motiv
hervor. Noch häßlicher ist Holofernes, wohl der unwahrste aller jener
souveränen Kraftmenschen, in deren Schilderung sich die Literatur
jener Tage gefiel, bei aller scheinbaren Größe ein lächerlicher
Prahler. Wahrhaft empfunden sind allein die glaubenseifrigen Gestalten
des jüdischen Volkes. Hier war es dem Sohne strenger bibelfester
Bauern leicht, aus voller Seele zu schaffen. Aber wie fremd steht die
Frömmigkeit des Alten Testaments neben einem Materialismus, der an die
häßlichsten Ausgeburten der =poésie de sang et de boue= gemahnt! Diese
Zerfahrenheit der Stimmung, diese Unsicherheit der sittlichen Begriffe
des Dichters raubt dem Stücke, trotz der in mächtigem Aufschwung stetig
anschwellenden Handlung, die innere Einheit.

Selbst jenes verwirrenden und berauschenden Reizes, den die Judith
bei der ersten Aufführung immer bewähren wird, entbehrt die Genoveva.
Hebbel versteht noch nicht, den unbestimmtesten und darum bildsamsten
der Verse zu gebrauchen: sein dramatischer Jambus ist korrekt und
entspricht durch die Härte seiner männlichen Endungen äußerlich dem
Wesen des Dramas, aber er hat weder lebendige Kraft noch melodischen
Fluß. Mißachtend das durch die Natur des Stoffes Gebotene hat der
Poet das wehmütig-liebliche Volksmärchen gewaltsam in eine Tragödie
verwandelt, indem er den versöhnenden Schluß hinwegließ und jede Spur
des Naiven und Naturwüchsigen vertilgte. Ja, er benutzte den mythischen
Stoff, um an ihm die Unwahrheit unserer sittlichen Gesetze zu zeigen.
Hier freilich sind „Satzungen und Rechte, die das Lebendig-Freie
schamlos knechten”. Diese Menschheit ist befangen in formalistischer
Sittlichkeit: nur ein Äußerliches erblickt sie in der Ehre, der Treue,
dem Glauben, zu deren Schutze sie die blutbefleckten Hände hebt.
Doch wir erkennen in ihr unser eigenes Gefühl nicht wieder; rein
unbegreiflich erscheint in dieser gebundenen Welt die ganz moderne
Empfindung des Versuchers Golo. Die Handlung ist ein gehäuftes Maß
von Schrecknissen -- denn bei Hebbel erscheint der Tod stets als die
gräßliche Kere, nimmer als milder Genius -- die Diktion bietet einen
jähen Wechsel von Frost und Hitze; der letzte Eindruck ist vollkommene
Ermüdung und die ratlose Frage, ob die wirre Symbolik dieser Szenen
wirklich eine Tragödie der ehelichen Treue vorstellt?

Verdankte die Judith ihren Erfolg vor allem ihrer Wahlverwandtschaft
mit gewissen krankhaften Verstimmungen der Zeit, und hatte die Genoveva
als ein Verstandeswerk gar nur das Staunen eingeweihter Literatenkreise
erregt, so fand die Maria Magdalena den verdienten Beifall aller
Unbefangenen, ein wahrhaft poetisches Werk, das über seiner klaren
und strengen Komposition und über der ergreifenden Wahrheit seiner
Charaktere alle seine Mängel leicht vergessen läßt. Hebbel war
kühn genug, aus der Not eine Tugend zu machen, die „schreckliche
Gebundenheit in der Einseitigkeit” -- jene Klippe, an der die meisten
bürgerlichen Dramen und Dorfgeschichten scheitern -- zum Mittelpunkte
des tragischen Konflikts zu erheben. Die Hohlheit kleinbürgerlicher
Ehrbegriffe mit ihren schrecklichen Folgen soll dargestellt werden. Zu
solcher Arbeit ist Hebbels große dialektische Kraft wie geschaffen.
Auch das Eingehen auf Sitten und Zustände, welche dem Poeten genau
bekannt waren, ist ihm zum Heile ausgeschlagen. Nicht als meinten wir
mit den Verehrern photographischer Wahrheit, der Künstler solle nur
Verhältnisse schildern, die ihm durch persönliche Erfahrung vertraut
geworden; wer das Zeug hat zu einem Dichter, trägt ein Bild der
Menschheit im Herzen. Hebbel jedoch mußte durch einen Stoff, dessen
feste Schranken ihm selbst wie den Lesern wohlbekannt sind, von
seiner Unart, symbolische Züge in die Aktion zu legen, abgehalten
werden. Er bewährt hier seinen Ausspruch: „Überall soll der Dichter
ökonomisch sein, nur nicht in seinen Grundmotiven.” Der Bau des
Dramas ist musterhaft knapp und gedrungen, auch die Naturlaute der
Leidenschaft erklingen tief erschütternd, das Stück würde das Muster
eines bürgerlichen Trauerspiels sein, wenn nicht der Dichter durch
die Unsicherheit seines sittlichen Gefühls auch dem Hörer das Gefühl
verwirrte. Der Hörer nimmt Partei -- nicht wie der Dichter will für
die büßende Heldin, sondern für den harten alten Philister Meister
Anton. Das unglückliche Mädchen hat sich im Zorn verschmähter Liebe
einem ungeliebten Manne verlobt, und da ihr Gewissen sie noch immer
der alten, jetzt sündhaften Liebe zeiht, wähnt sie sich verpflichtet,
dem eifersüchtigen Bräutigam durch verzweifelte Hingebung ihre Treue
zu beweisen. Eine solche Tat ist denkbar -- denn was wäre unmöglich
für ein geängstetes Mädchengewissen -- doch sie steht sittlich tiefer
als ein in der Hitze natürlicher Leidenschaft begangener Fehltritt.
Der Dichter soll uns nicht einreden, das Mädchen sei durch diesen
Schritt nicht innerlich befleckt worden. Der alte borstige Vater hat
ganz recht, wenn er die Schande nicht auf seinem ehrlichen Bürgerhause
dulden will -- und über solchen unabweisbaren Verstandesbedenken geht
uns die Freude an dem schönen Gedichte fast verloren.

Mit diesem Werke war ein großer Erfolg errungen, des Dichters
dramatisches Talent unzweifelhaft erwiesen. Wer hätte nicht hoffen
sollen, Hebbel werde mit frischem Mute, mit seiner jetzt durch schöne
Reisen erweiterten Bildung fortschreiten auf so glückverheißendem Wege?
Statt dessen verlor er sich jahrelang in zielloses Experimentieren,
er schrieb jene unglückseligen Märchendramen „Der Diamant” und „Der
Rubin”, deren Symbolik zu enträtseln der Mühe nicht lohnt.

In Unteritalien lernte er eine Welt verrotteter Zustände kennen, einen
tief unsittlichen Polizeistaat, einen leeren Lippenglauben, einen
getretenen und verwilderten Pöbel, eine gewissenlose Geldmacht. Hier,
wenn irgendwo, war seine Verachtung der schlechten Wirklichkeit am
Platze, hier mußte er fühlen, daß des Künstlers Hände zu rein sind, um
die Verwesung byzantinischer Verhältnisse zu berühren. Und hier gerade
ließ er sich durch eine aberwitzige Anekdote anreizen zur Erfindung
seiner berüchtigten Tragikomödie „Ein Trauerspiel in Sizilien”, welche
ein tragisches Geschick in untragischer Form darstellen, des Hörers
Lachmuskeln zucken und zugleich ihn vor Grausen erstarren machen soll.
Das heißt doch nur die gemeine Prosa des Alltagslebens geradeswegs in
die Kunst einführen. Das tragische Geschick in untragischer Form stöhnt
und ächzt auf allen Märkten; ihm die tragische Form zu finden, ist
des Dichters schönes Recht. Hebbels feiner Formensinn hat ihn davor
bewahrt, den unglücklichen Gedanken weiter zu verfolgen. Auch ein
anderes Experiment dieser Zeit blieb liegen. In der Tragödie „Moloch”
wollte der Dichter „ein Volk stammeln lassen”, die Uranfänge der
menschlichen Gesittung, die Entstehung der Religion darstellen -- ein
Versuch, der mit ungemeiner dichterischer Kraft begonnen, schließlich
doch in undramatische Symbolik verlaufen mußte. Wiederum in den
zerfressenen italienischen Verhältnissen wurzelt das Schauspiel Julia
-- eine Schilderung moderner Blasiertheit und Verworfenheit, wie sie
nur einem völlig umnachteten Auge erscheinen konnte, ein Drama ohne
Abschluß, ohne jedes Interesse, gerade darum gefährlich und unsittlich,
weil Hebbel die unnatürliche, kläglich-sentimentale Handlungsweise
seines Helden, der sich selber eine wandelnde Leiche nennt, als eine
sittliche darstellen, sittlich erhebend durch das abgeschmackte Drama
wirken will.

Das waren böse Tage für Hebbel, da sein Selbstgefühl im selben Maße
wuchs, wie die Teilnahme der Leser sich ihm entfremdete. Selbst die
Freunde fragten verwundert, ob er denn aus dem ewigen Rom nichts
anderes davongetragen habe als die feine Durchbildung der Form, welche
fortan alle seine Gedichte auszeichnete. Auch das bedeutendste Drama
dieser unseligen Periode ist ein Werk des kalten Verstandes. „Herodes
und Mariamne” schildert das Judentum in seiner Selbstauflösung und
ist zugleich eine Tragödie der ehelichen Treue; so bildet es ein
Gegenstück zur Judith und zur Genoveva. Herodes kann es nicht ertragen,
daß sein Weib ihn überlebe, zweimal stellt er sie, während er zu
gefahrvollen Fahrten verreist, unter das Schwert des Henkers. Gegen
solchen Zwang sträubt sich der Stolz der Gattin, denn „das kann man
tun, erleiden kann man's nicht”. Und dieser bei aller Seltsamkeit
gewaltige, echt dramatische Konflikt, der schon in der Darstellung
des Josephus jedes Herz bewegt, läßt bei Hebbel vollkommen kalt. So
sehr ermangeln diese Menschen der Ursprünglichkeit und Freiheit, so
sehr befremdet uns die moderne epigrammatische Sprache an historischen
Personen, deren grundverschiedene Gesittung wir von Kindesbeinen an
kennen.

Endlich, endlich nach so langem theoretischen Umhertasten öffnete
sich Hebbels Gemüt wieder natürlicheren, einfacheren Gefühlen, als
er die „Agnes Bernauer” schrieb und auf heimatlichem Boden Menschen
schuf, so wahr und tüchtig, wie sie ihm seit der Maria Magdalena nicht
mehr gelungen waren. Hier erscheint der moralische Revolutionär als
politisch konservativ: die Berechtigung des Allgemeinen, des Staates,
wird gezeigt gegenüber dem subjektiven Belieben der Leidenschaft.
Hebbel bleibt vollkommen frei von der sentimentalen Auffassung der
Liebe, deren heute der vornehme Pöbel voll ist. Leider verrät die
Heldin kaum durch ein hingeworfenes Wort eine Ahnung von der Schwere
ihrer Schuld, und wir empfinden ihren Tod als eine brutale Mißhandlung.
Der wahrhaft innerlich ringende Held des Stücks vielmehr ist Herzog
Ernst; sollte das Werk dramatisch wirken, so mußte der alte Herzog
in den Mittelpunkt der Handlung treten. Dann ließ sich ein besserer
Schluß finden als dieser unselige fünfte Akt, wo Hebbel, der sonst
das Gräßliche liebt, einen tödlichen Gegensatz durch eine übereilte
Versöhnung beendet. In einem Aufzuge die Ermordung der Agnes, den
wütenden Kampf des Sohnes gegen den Vater und die Beilegung des
Streites darstellen -- das verletzt jene Einheit der Zeit, welche der
Dramatiker auch nach Lessing noch achten soll, das bleibt unglaublich,
obschon der Poet durch die sprudelnde Heftigkeit, welche er dem
jungen Herzoge leiht, uns darauf vorbereitet hat. Aber wie das Land
nach langer Wasserreise, begrüßen wir in dem Stücke wieder eine warme
natürliche Stimmung, wir freuen uns der getreuen Genossen des jungen
Herzogs und der kernhaften Bürger. Lebendig tritt die gärende Zeit uns
vor die Seele, wo die Tage der Hohenstaufen bereits als ein ferner
schöner Jugendtraum in der Sehnsucht der Menschen lebten und moderne
Diplomatenkunst die ritterliche Vasallentreue zu verdrängen begann.

So war das Eis gebrochen, und die gesunde freudige Stimmung hielt an.
Das gemütvolle Versmaß, das uns Deutschen wie ein liebes altes Märchen
zum Herzen redet, das Metrum der deutschen Reimpaare, ward von Hebbel
glücklich benutzt für das kleine Künstlerdrama Michelangelo. Diese
geistreiche Behandlung einer sinnigen Anekdote gewährt manchen tiefen
Einblick in die Geheimnisse künstlerischen Schaffens; und doch ist
genug Handlung in dem Stücke, um selbst auf der Bühne Interesse zu
erregen. Mögen andere rügen, daß die Schilderung der Kunstfreunde und
dilettierenden Künstler sich von tendenziöser Bitterkeit nicht frei
hält und sehr deutlich an des Verfassers eigene Fehden mit der Kritik
erinnert; mögen sie tadeln, daß die Gestalt des Raffael, wie fast
alles Holde und Milde bei Hebbel, ganz schattenhaft gehalten ist: --
uns widersteht es, an einem erfreulichen und mit Unrecht vergessenen
Werke zu mäkeln. Dieser Michelangelo lebt wirklich -- ein hohes Lob,
da die allzu verbreitete Kenntnis der Kunstgeschichte hier der freien
Tätigkeit des Dichters schwer beengende Fesseln anlegte. Mancher
akademisch korrekte Künstler wird an dem jugendfrischen, vielsagenden
Worte „die Ordnung, mein' ich und bleibe dabei, beginnt erst bei der
Staffelei” seine eigene Hohlheit erkennen; mancher, der Hebbel mit
Mißwollen betrachtet, wird aus diesen einfachen Szenen den heiligen
Ernst des Schriftstellers begreifen.

Noch einmal, in der Tragödie Gyges und sein Ring, hat Hebbel einen
Schatz von Formenschönheit und Kunstverstand an einen undankbaren
Stoff verschwendet. Der Dichter versteht, uns in die Atmosphäre
längst entschwundener Zeiten zurückzuzaubern, „an den alten Nil, wo
gelbe Menschen mit geschlitzten Augen für tote Könige ew'ge Häuser
bau'n”. Wo nicht stellenweise eine allzu moderne Bewußtheit der Sprache
uns die Stimmung verdirbt, steht sie wirklich farbenprächtig vor
uns, die reiche Wunderwelt des Herodot, die mit der Fülle ihrer rein
menschlichen Konflikte unseren Poeten ein so dankbares Feld eröffnet.
Dennoch wird dies Trauerspiel mit vollem Rechte nie auf der Bühne Fuß
fassen, denn es ist ein antiquarisches Stück. Es ist ein sinniger,
freilich mehr für eine Novelle als für eine Tragödie der Ehe geeigneter
Gedanke, daß auch in der innigsten Vereinigung jeder Gatte ein Etwas
zurückbehält, das Schonung erheischt, das er dem Gemahl nicht hingeben
kann, ohne sich selbst aufzugeben; aber wie wenige Leser werden aus der
seltsamen Handlung des „Gyges” diese Idee erraten! Heute, da man den
Dramatiker unaufhörlich auf historische Stoffe verweist, kann nicht
laut genug die einfache Wahrheit wiederholt werden, daß der Dichter
seine Menschen in den Herzen seiner Zuschauer, der Kinder seiner Zeit,
entstehen und wachsen lassen muß. Mag er getrost Weltverhältnisse aus
den Tagen vor der Sündflut uns vorführen: in den Empfindungen seiner
Charaktere dulden wir nichts Antiquarisches. Gerade unser Publikum mit
seinen abgestumpften Gefühlen wird nur durch einfach-drastische, sofort
verständliche Empfindungen erregt werden. Dieser König Kandaules,
welcher „Zeugen braucht, daß er nicht ein eitler Tor ist, der sich
selbst belügt, wenn er sich rühmt, das schönste Weib zu küssen”,
welcher darum den Fremden als Zuschauer an das eheliche Lager führt
-- er handelt nach unsern Begriffen mit einer brutalen Roheit, die
seinen Edelmut uns völlig unglaublich macht und jedes tragische
Mitleid aufhebt. Hier aber sind unsere Begriffe im Rechte, weil wir
leben. Nur ein bedauerndes Achselzucken haben wir für die untadelhafte
Komposition, die Melodie der Sprache und den Gedankenreichtum des
Dichters, der in diesem Werke sich glänzend entfaltet. Wie nämlich
Kandaules in seinem Hause die Schranken altheiliger Sitte zerstört,
so wagt er auch im Staate „an den Schlaf der Welt zu rühren”, obwohl
er „nicht die Kraft hat, ihr Höheres zu bieten”. Und in diese dumpfe
gebundene Menschheit tritt der einzige, den wir ganz verstehen, der
jugendliche Gyges, der Mann der freien entschlossenen Tat, der Sohn
des klaren Hellenenvolkes, das die Fesseln starrer Sitte lächelnd
abgestreift hat.

Wie seine Dramen, so zeigen auch Hebbels kleine Gedichte eine
auffällige Ungleichheit des Werts. Wir sehen eine ursprünglich
poetische Natur vor uns, welche durch übereifrige Verstandestätigkeit
sich der schönsten Früchte ihres Talents beraubt. Hebbel erstrebt
eine Universalität, woran selbst ein Goethe nie gedacht hat -- ein
Unterfangen, wobei einem pathetischen Dichter das Ärgste widerfahren
muß. Ein Mann wie er konnte in seiner Jugend ein Mädchen erschrecken
durch heiße, despotische Leidenschaft; er konnte dann ein edles Weib
mit jener tiefen und ernsten Mannesneigung erfassen, wovon so manches
schöne Gedicht an Christine Kunde gibt; versucht er jedoch zu tändeln
und leicht zu kosen, so zeigt er nur die Grazie eines seiltanzenden
Elefanten. Auch für das einfache Lied fehlt ihm die Naivität. Dagegen
sind mehrere der Balladen durch ihre einheitliche Stimmung sehr
wirksam; nur leiden sie meist an zu großer Länge; denn der Dramatiker
weiß nichts von dem Kunstgeheimnis des lyrischen Rhapsoden, durch
Verstummen das Tiefste zu sagen. Die Gedichte „Dem Schmerz sein
Recht” erschüttern durch den heftigen rastlosen Kampf eines aufwärts
strebenden Geistes; doch zeigen auch sie, wie selbst die schönsten
Gedichte der Sammlung, eine ungelöste Zutat von Reflexion. Das Epigramm
ist natürlich stark vertreten: fast überall Gedanken eines gescheiten
Mannes, aber auch überall eine unselige Störung, bald durch die Breite
der Darstellung, bald durch die Prosa des Gedankens oder durch ein
geschmackloses Bild. Selbst das verständigste der Gedichte, selbst das
Epigramm, muß in der Phantasie des Künstlers empfangen werden.

Es ist doch ein frischer, erfreulicher Dichterzug in Hebbels Leben,
wie er, entzückt von dem liebenswürdigen Spiele einer Künstlerin, sie
rasch entschlossen von der Bühne heimführte. Beglückt an der Seite
dieser edlen Frau, in dem Frieden eines wohlgeordneten Hauses ließ er
jetzt in dem kleinen Epos „Mutter und Kind” alles wieder zu frischem
Leben erwachen, was vorzeiten seine Phantasie erregt: das derbtüchtige
niederdeutsche Bauernleben, das reiche Hamburg und seinen furchtbaren
Brand. Auch die Ideen, welche seinen Kopf vorzugsweise beschäftigen,
das Verhältnis von Mann und Weib, die Fragen von der Armut und dem
Sozialismus, spielen in das Gedicht hinein. In dieser kleinen Welt rein
menschlicher Empfindungen hat der Dichter jene Wärme des Gefühls, jene
Freude an dem Milden und Gemütlichen, jene gläubige versöhnte Stimmung
wiedergefunden, die auf seinen langen spekulativen Irrfahrten fast
verloren schienen.

    Welches irdische Glück ist diesem höchsten vergleichbar,
    das uns über uns selbst erhebt, indem wir's genießen,
    und wem wird es versagt, wem wird es gekränkt und geschmälert?...
    Und so ist die Natur gerecht im ganzen und großen
    und verteilt nur den Tand, die Flitter, nach Lust und nach Laune.

Uns scheint, in diesen Worten über die Elternliebe liegt unendlich mehr
Tiefsinn und kräftiger Mannesmut, als in den heftigsten Invektiven,
welche Hebbel je gegen die Gesellschaft geschleudert. Der wesentliche
Mangel des Werks zeigt sich in der Form. Wir meinen hier nicht die
übermäßige Anwendung des Trochäus, die Hebbel sich erlaubt. Denn der
Hexameter ist zwar keineswegs, wie Hebbel meint, „der deutscheste
Vers”, sondern ein Maß, das einer ursprünglich der Quantität
entbehrenden Sprache niemals ganz natürlich zu Gesichte stehen kann;
doch gerade deshalb mag der deutsche Dichter bei dessen Handhabung mit
großer Freiheit verfahren. Sein feines Gehör allein muß ihn warnen vor
dem Schein der Dürftigkeit, der durch zahlreiche Trochäen entsteht,
wie vor dem haltlosen, hüpfenden Wesen und dem zischenden Mißklang
gehäufter Konsonanten, welche die Daktylen der „korrekten” Platenschen
Schule in den Hexameter bringen. Wir meinen hier die Form in einem
minder äußerlichen Sinne. Die ungeheure, vollkommen nur einmal erfüllte
Aufgabe, in unserer aufgeregten Zeit das erhabene Gleichmaß epischer
Diktion und Empfindung zu bewahren, war dem Dramatiker unlösbar. Bald
staut seine Rede sich auf in abgebrochenen Sätzen, bald stürmt sie
daher in langen Perioden, die ebenmäßige Wallung des Hexameters geht
verloren. -- Und dies einfach herzliche Gedicht ging in der Lesewelt
fast spurlos vorüber. Ist es doch längst kein Geheimnis mehr, daß das
Los der Gedichte heute in den Händen der jungen Damen liegt. Wirken
Tragödien zu aufregend auf die Gemüter der Fräulein -- nun, hier
ist ein Epos aus der stillen Welt des Hauses, ganz dazu geschaffen,
ein einfaches Mädchen sanft zu bewegen. Doch leider, keine Spur von
Sentimentalität und augenverdrehender Frömmigkeit; und diese Bäuerin
hat so gesunde Nerven, sie untersteht sich sogar, im Grünen zu gebären!
=Mon Dieu=, welche Pensionsdirektrice von Pflichtgefühl darf ihren
Zöglingen solche Natürlichkeiten bieten?

Unterdessen reifte langsam des Dichters größtes Werk, die Nibelungen.
Wenn der gebildete Durchschnittsmensch heute schon beim Anblick des
Titels einer Nibelungentragödie mit der Ruhe des Weisen zu sagen
liebt: das sind alte Geschichten, der Himmel bewahre uns vor dieser
tausendjährigen Hexerei -- so können wir nicht bestimmt genug die
Überzeugung aussprechen: nur wenige moderne Dichter haben die gewaltige
Versuchung nicht empfunden, die Gestalten des Nibelungenliedes
irgendwie nachzubilden. Da steht sie vor uns, eine jener grandiosen
Fabeln, woran die Kunst und der Glaube von Jahrhunderten gearbeitet,
das Wunderwerk eines ganzen Volkes, in ihren Grundzügen hoch erhaben
über jeder Anfechtung der Kritik. Und mit dem vollen Reize der Jugend
tritt das altehrwürdige Werk vor unsere Augen. Seit zwei Menschenaltern
erst hat sich die Liebe unseres Volkes wieder der alten Dichtung
zugewendet. Seitdem sind die Gestalten des hörnernen Siegfried und
der Rächerin Kriemhild einem jeden eng verwachsen mit jenen ersten
Empfindungen der Kindheit, welche ewig frisch bleiben, als wären
sie gestern empfunden. Und dieser Schatz gewaltigster menschlicher
Leidenschaft, der unsere Maler zu immer neuen Nachschöpfungen reizt,
ist uns überliefert in einer poetischen Bearbeitung, die dem feineren
Kunstsinne der Gegenwart nimmermehr völlig genügen kann. Denn -- zum
Schrecken orthodoxer Germanisten sei gesagt, was jedes einfache Gefühl
sofort empfindet -- neben Stellen von hinreißender Kraft und Schönheit
dehnen sich im Nibelungenliede weite Strecken von langweiliger
Einförmigkeit. Auch der Inhalt bietet oftmals eine fremdartige,
ja feindselige Mischung von altnordischen, deutschheidnischen und
christlichen Elementen. Die ungeheure Bewegung und leidenschaftliche
Wildheit des Stoffes, welchen die epische Form oft kaum bewältigen
kann, fordert den Dramatiker ebenso laut zum Nachbilden auf, wie jene
Keime verschlungener, eingehender Charakteristik, die sich im Epos nur
halb entfalten dürfen. Gründe genug, um in unzähligen modernen Menschen
den Wunsch zu erregen, daß die Heldengestalten der alten Sage auf der
Bühne erscheinen möchten, wo, nach Hebbels schönem Worte,

    wo sich die bleichen Dichterschatten röten
    wie des Odysseus Schar von fremdem Blut.

Aber wie läßt sich diese ungeheure Fabelwelt dem Verständnis
unserer Hörer erschließen? Am nächsten liegt es, durch sorgfältige
psychologische Motivierung die alten Recken uns menschlich nahe zu
führen. Dieses Weges ist Emanuel Geibel gegangen -- und der Erfolg
bewies, daß auf solche Weise die finstere Größe des alten Gedichtes
gänzlich verloren geht. Wie anders ist Hebbel verfahren! Ein ungeheures
Geheimnis bleibt immerdar über den riesigen Gestalten dieser Sage,
das keine Kunst unserer helleren Zeit lichten kann. Sollen unsere
Hörer an einen Hagen Tronje wirklich glauben, so gilt es nicht, ihn
hinabzuziehen in unsere Kleinheit und Feinheit, nein, es gilt, ihn noch
reckenhafter erscheinen zu lassen und die Wunder der alten Göttersagen,
die im Nibelungenliede schon halb verwischt sind, in voller Pracht zu
entfalten. Von vornherein muß der Hörer empfinden, daß er die Welt des
hellen, bewußten Verstandes verlassen hat, daß er unter Menschen tritt,
die wahllos, zweifellos, wie die Naturgewalten, das Ungeheure tun, die
der vollbrachten Untat hart und sicher in die Augen sehen und sie auf
sich nehmen wie der Hagen des Liedes, der bei jedem neuen Frevel sich
vordrängt und spricht „laß mich den Schuldigen sein”.

Diese Erhöhung der Helden fast über das Maß des alten Liedes hinaus
hat Hebbel mit bewundernswürdiger Kunst vollzogen. Wie vertraut sind
diese Menschen mit aller Heimlichkeit des Naturlebens. Beredt wird ihre
Zunge nur, wenn sie sich erzählen von den Geheimnissen des Waldes, von
den Seherworten, die aus dem Nixenbrunnen ertönen, von den Wundern des
nordischen Eislandes, von jenen Runen, darüber ein Held vergeblich
sinnen mag bis an seinen Tod. Wo es zu handeln gilt, gehen sie ans Werk
wortlos, sicher, unentwegt; dann und wann bricht aus den geschlossenen
Lippen ein Ausruf jenes gräßlich wilden Humors hervor, der sich schon
in dem alten Liede findet, wenn es von Volker spricht:

    „Das ist ein roter Anstrich, den er am Fidelbogen hat.”

Doch während der Dichter so trotzig allen unseren konventionellen
Begriffen ins Gesicht schlägt, ist er um so maßvoller und schonender
verfahren, wo er unser sittliches Gefühl zu verletzen fürchten
muß. Jener König Gunther, der schon in dem alten Liede eine sehr
widerwärtige Rolle spielt und bei jedem Versuche eingehender
psychologischer Zergliederung notwendig ekelhaft erscheinen muß,
ist von Hebbel mit sicherem künstlerischen Takte in den Hintergrund
geschoben worden. Jung und schwach läßt er den grimmen Hagen gewähren,
der ihn und seine Brüder ganz beherrscht. Ebenso ist jener nächtliche
Ringkampf auf Brunhilds Lager von Hebbel sehr schamhaft behandelt, und
wer sich einmal eingelebt in die wunderbare Luft dieses Dramas, wird
ohne jeden Anstoß daran vorübergehen.

Auch daß Hebbel den ganzen Inhalt des Nibelungenliedes in die
dramatische Form umgegossen hat, können wir nur billigen. Denn wenn
man so gern auf die attischen Dramatiker verweist, die nur einzelne
Katastrophen aus der reichen Fülle der homerischen Gedichte sich
auswählten, so will diese gelehrte Vergleichung hier nimmermehr passen.
Wie Schuld die Schuld gebiert -- dies Fortwirken des Frevels, welches
in der ursprünglichen Form der Sage, in dem Fluche, den Andwari über
das Gold gesprochen, sogar noch schöner ausgedrückt war, bildet recht
eigentlich den Kern der Tragik des Nibelungenliedes. Darum müssen wir
sehen, wie Siegfrieds Mörder und ihr ganzes Geschlecht untergehen; eine
Vision, welche dies nur andeutete, kann uns nicht genügen.

Wer diesen Stoff dramatisch gestaltet, muß verzichten auf die
konzentrierte Schönheit des Einzeldramas, er ist gezwungen zur
zyklischen Behandlung. Hebbel griff zur Dreiteilung; er läßt auf ein
kurzes Vorspiel „Der hörnerne Siegfried” zwei Trauerspiele „Siegfrieds
Tod” und „Kriemhilds Rache” folgen. Diese Einteilung ist eben deshalb
ein großes künstlerisches Verdienst, weil der Laie meinen wird,
sie verstehe sich von selbst. Sie bietet dem Dichter den Vorteil,
daß er, ohne je in undramatische Breite zu verfallen, den reichen
tragischen Gehalt seiner Fabel wirklich erschöpfen kann. Es gibt
einige Stoffe von so unergründlicher tragischer Tiefe, daß sie unserer
Seele bei jeder neuen Betrachtung immer neue und immer ergreifendere
Situationen enthüllen. Wer hat das Bild von Paul Delaroche „Maria
in ihrem Hause in der Nacht nach der Kreuzabnahme” gesehen, ohne im
ersten Augenblick zu erstaunen über die Neuheit der Erfindung und im
zweiten ihre Notwendigkeit freudig anzuerkennen? Und wenn die Bauern
vom Oberammergau ihr Passionsspiel aufführen, was ist es, das diese
Tausende während langer Stunden in atemloser andachtsvoller Stille
fesselt, den blasierten Großstädter so gut wie die schwäbische Bäuerin,
die meilenweit gewallfahrt zu der heiligen Handlung? Es ist nicht
bloß die einzige Erscheinung, daß hier die künstlerische Kraft, die
in den Tiefen unseres Volkes schlummert, frei und freudig aus dem
Verborgenen hervortritt; es ist nicht bloß die erhabene Weihe, welche
der Glaube von Millionen über den grandiosen Mythus von der Kreuzigung
Christi ausgegossen hat. Noch ein anderer, rein ästhetischer Grund
gibt den anspruchslosen Zeilen des alten Dorfschulmeisters eine so
mächtig erschütternde Kraft. Jener eine Tag des Todes Christi ist so
überschwenglich reich an tragischen Momenten, daß der Nachdichter nicht
nötig hat, zu jenen Verkürzungen zu greifen, welche das Drama insgemein
verlangt. Stunde für Stunde vielmehr des schmerzensreichen Tages
geht in jenem Passionsspiele an uns vorüber. Also hat der Zuschauer
den zweifachen Genuß der tragischen Erschütterung und zugleich der
vollen ungetrübten Naturwahrheit; denn auch jener letzte Schein des
Absichtlichen, der nach Goethes tiefem Worte jedem Kunstwerke anhaftet,
verschwindet bei dieser glücklichen Fabel. Einen ähnlichen Moment voll
unerschöpflicher Tragik bietet die Nibelungensage in dem Morgen nach
Siegfrieds Ermordung, und Hebbel hat verstanden, die Gunst der Fabel
auszubeuten. Kein Augenblick des Grausens wird uns erlassen von der
Stunde an, da Kriemhild erwacht und der Kämmerling über den toten Mann
vor der Tür stolpert, bis zu jener schrecklichen Totenprobe, da der
grimme Hagen unerschüttert ruft:

    Das rote Blut! Ich hätt' es nie geglaubt
    nun seh' ich es mit meinen eignen Augen.

In solcher Weise ist der fünfte Akt von Siegfrieds Tod das Schönste
geworden, was Hebbel je geschrieben.

Wenn Hebbel in klarer und berechtigter Absicht das Maßlose, das
Reckenhafte seiner Helden in den gewaltigsten Umrissen gezeichnet hat,
so war sein Plan doch keineswegs, uns durch das Fremdartige dieser
Erscheinungen lediglich in Erstaunen zu setzen. Nein, wir sollen
empfinden, dies ist das Geschlecht der Heiden, der Gewissenlosen, das
einer neuen reinen Menschheit die Stätte räumen soll. Darum hat er jene
Spuren des Christentums, welche in das Nibelungenlied hineinspielen,
weiter verfolgt und den Heiden Hagen in grimmiger Feindschaft der
Kirche gegenübergestellt. Zuletzt, als die Heiden sich hingemordet,
ergreift der Christ Dietrich von Bern das Zepter der Welt

        „im Namen dessen, der am Kreuz verblich”.

Dies war sicherlich der einzige Weg, um das Entsetzen dieser Fabel zu
einem für das moderne Bewußtsein versöhnenden Abschlusse zu führen.
Dennoch liegt hier eine Schwäche des Werkes. Die christlichen Elemente
treten im Verlaufe der Handlung so wenig hervor, Dietrich selbst greift
so wenig in das Spiel ein, daß sein letztes Aufsteigen fast wie ein
symbolischer Zug, zum mindesten nicht als eine Notwendigkeit erscheint.
Der ruhige, gewaltige Alte des Nibelungenliedes ist uns verständlicher
als dieser Dietrich, der so befremdlich mitten inne steht zwischen der
heidnischen und der christlichen Welt.

Gerade vor diesem schönen Drama haben wir aufs neue empfunden, wie
ganz eigen unser Volk zu seiner Geschichte steht, wie vertraut und
zugleich wie fremd die Jugend unseres Volkes uns erscheint. Jene
jugendliche Naivität des Naturlebens, welche sich im Drama schon wegen
seiner klaren bewußten Kunstform nur leise andeuten läßt und nur in
der Breite des Epos zu ihrem vollen Rechte kommt -- sie ist es, die
noch heute das Gemüt des Deutschen zu seinen alten Mythen hinzieht.
Was aber des Dramatikers eigentliche Aufgabe bildet, das Gemütsleben
dieser epischen Zeit, das ist uns in solchem Maße fremd geworden, daß
wir dreist behaupten können, ein Trauerspiel aus der französischen
oder italienischen Gegenwart dürfe sich heute mit größerem Rechte ein
deutsches Trauerspiel nennen als eine Dramatisierung der Nibelungensage.

Dem Dramatiker sind, weil seine Kunst gewaltiger als irgendeine
andere den ganzen Menschen erschüttert, engere Schranken gesetzt bei
der Wahl seiner Stoffe als dem Maler oder dem erzählenden Dichter;
und dieser Einsicht voll hat sicher schon mancher moderne Poet der
reizenden Versuchung dieser Fabel widerstanden. So gewiß wir beim
Hören von Uhlands Ballade „Jung Siegfried” uns willig in die alte
Wunderwelt versenken, ebenso gewiß ruft das Drama den Verstand zum
schonungslosen Mitsprechen auf. Indem Hebbel seine Recken gänzlich
aus der Welt unseres Denkens und Empfindens heraushob, hat er zwar
den einzigen Ton angeschlagen, der diesem Stoffe geziemt, doch er hat
zugleich verzichtet auf die höchste Lust des Dramatikers, daß die
Hörer fortwährend mit seinen Helden leiden und denken, sie treiben
oder zurückhalten möchten. Allerdings bietet dies Drama auch mehrere
Charaktere, welche uns völlig verständlich sind, namentlich den
Charakter der Kriemhild, den nach unserem Gefühle schönsten des Werkes
-- wie ja auch Shakespeare in dieser alten Sagenzeit mehrere Stoffe von
rein menschlichem für alle Zeiten gültigem Gehalte gefunden hat. Aber
daneben stehen sehr viele Züge eines halb bewußtlosen Menschenlebens,
das „keinen Grund braucht” für sein Handeln, während der heutige
Zuschauer sich doch fortwährend im stillen nach den Gründen fragt.

Und untersuchen wir, was Hebbel neu geschaffen hat in dem alten Stoffe,
so finden wir zwar einzelne überraschend feine Motivierungen, welche
das Lied gar nicht oder nur leise andeutet, wir sehen Brunhilds geheime
Liebe zu Siegfried, wir erfahren, daß die Eifersucht Kriemhild bewog,
ihre Schwägerin zu schelten, und daß der Neid der letzte Grund des
Hasses ist, den Hagen gegen Siegfried hegt; aber wir können nicht
sagen, die Helden seien uns in dem modernen Drama vertrauter geworden
als in dem alten Liede. Unvermeidlich vielmehr treten in dem Drama
einige moderne Züge störend hervor. Die alten Recken beurteilen sich
gegenseitig mit einer bewußten Klarheit, welche zu ihrem eigenen Tun
wenig stimmt; und wenn Brunhild zu Gunther spricht:

                 in dir und mir
    hat Mann und Weib für alle Ewigkeit
    den Kampf um's Vorrecht ausgekämpft --

so offenbaren auch diese Worte ein helles Bewußtsein, das wir der
Königin von Isenland nicht zutrauen. Gestehen wir also: wenn uns
die Lust anwandelt, uns zu erfreuen an der Größe unserer Sagenzeit,
so greifen wir lieber zu dem Nibelungenliede selber als zu dem neuen
Drama. Denn in einer Erzählung vergangener Taten nehmen wir vieles
arglos und willig hin, was uns in der unmittelbaren Gegenwart des
Dramas verletzt; und während die Mängel des alten Liedes uns nur wie
das Blei erscheinen, worein die Natur das Silber verborgen hat, machen
die Mängel des modernen Werkes den Eindruck einer fremden künstlichen
Zutat. Der Dichter hat das mögliche geleistet, aber er hat gewisse
Bedenken nicht überwinden können, welche notwendig gegeben sind durch
die ungeheure Kluft, die unser Empfinden von dem Seelenleben der
epischen Tage trennt.

So war dem kräftigen Manne doch gelungen, das Echte seines Wesens der
Mitwelt zu offenbaren, und auch sein letztes Werk gab ein Zeugnis von
der Läuterung dieses Geistes. Er nahm die Fabel des Schillerschen
Demetrius wieder auf; doch Schillers Drama einfach fortzusetzen kam ihm
nicht bei: „Ich könnte ebensogut da zu lieben anfangen, wo ein Anderer
aufgehört hat.” In seinen jungen Jahren wäre ihm unzweifelhaft der
verzwickte Charakter eines tugendhaften Betrügers ein reizender Vorwurf
gewesen; jetzt stand er anders zu den sittlichen Fragen. Sein Sinn war
jetzt so ganz auf das einfach Edle gerichtet, er empfand so lebhaft
die Gemeinheit, die in jedem Betrüger liegt, daß ihm sogar Schillers
Idealismus nicht mehr genügte. Schiller wäre, erklärte er oft, mit
seinem Betrüger nicht zu Ende gekommen. Er faßte den Demetrius als den
Betrogenen, der erst ganz zuletzt, da er nicht mehr zurück kann, seine
eigene Schuld erfährt, und stellte den Usurpator so rein und edel hin,
daß ich fast zweifle, ob nicht das vollendete Werk an dramatischem
Interesse ebensoviel verloren hätte, als der Held an Tugend gewann.
Hebbels realistischer Sinn zeigt sich diesmal nur in der drastischen
Schilderung des slawischen Volkslebens, die unser deutsches Gefühl
fremdartig berührt. Überhaupt liegt über dem tief durchdachten Werke
eine seltsame Kälte; unter den vielen, welche sich an dieser erhabenen
Schicksalstragödie versucht haben, reicht keiner an Schillers feurige,
schwungvolle Weise heran.

Das Gedicht abzuschließen war dem Dichter nicht vergönnt. Eben jetzt
begann die Welt dem lange Verkannten zu danken, da warf ihn eine
tödliche Krankheit nieder. Er hörte noch auf dem Krankenbette, seinen
Nibelungen sei der große Berliner Dramenpreis zuerkannt worden. Die
Antwort, die er dem Boten gab, ist wie der letzte Pinselstrich zu dem
Charakterbilde des düsteren, schwerkämpfenden Mannes, der die helle
Lust am Leben niemals ganz gekostet hat. Er sagte trüb: „Das ist
Menschenlos. Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.”



Otto Ludwig



Otto Ludwig.


Kein Satz steht dem Ästhetiker so fest wie dieser, daß die Ideale
unserer Zeit nur im Drama die vollendete künstlerische Gestaltung
empfangen können. Und keine Tatsache steht dem Beobachter des
Kunstlebens so fest wie diese, daß nicht das Drama, sondern der Roman
sich heute der höchsten Volksgunst erfreut. Man mag diesen Widerspruch
beklagen, und ich beklage ihn lebhaft -- aber die ästhetische
Empfänglichkeit eines Volkes läßt sich nicht meistern, sie gehorcht
ebensowenig wie die Gestaltungskraft der Künstler den Machtsprüchen
der Theorie. Die Vorliebe der Zeitgenossen für den Roman entspringt
zum Teil der Trägheit; denn das Drama mutet der Phantasie der Hörer
eigene Tätigkeit zu, während der stoffliche Reiz des Romans auch den
Stumpfsinn erregt. Doch zugleich sagt uns ein richtiges Gefühl, daß
die eigentümlichsten Gedanken der Gegenwart bisher in dem Romane ein
getreueres Abbild gefunden haben als im Drama. Die jüngste Epoche der
deutschen Poesie läßt sich kurz bezeichnen als eine Zeit, welche nach
dem Drama sucht, ohne es zu finden. Der lebensfähigen Dramen sind heute
so wenige, daß man einigen Mutes bedarf, um ernstlich zu glauben, dies
Suchen sei nicht bloß den Reminiszenzen der Weimarschen Tage, sondern
einem ursprünglichen Drange der Gegenwart entsprungen. Recht als ein
Vertreter dieser suchenden Zeit, als eine tragische Gestalt erscheint
uns Otto Ludwig, ein Dichter, der mit allen Kräften eines starken
Geistes dem Ideale des Dramas nachtrachtete und endlich doch erleben
mußte, daß eine seiner Erzählungen den Zeitgenossen als das schönste
seiner Werke galt.

Halb lächelnd halb beschämt gedenken wir heute des sonderbaren Streites
der angeblichen Idealisten und Realisten, welcher in den fünfziger
Jahren die Spalten so vieler Blätter mit gehässigem Zanke füllte. Als
die Ausläufer der Romantik sich in phantastische Experimente verloren,
bald die Kunst zum Gegenstande der Kunst machten, bald schattenhafte
Märchengestalten erschufen, welche jeder menschlichen Wahrheit und
darum der Schönheit entbehrten: -- war es nicht natürlich, daß damals
frische, mit gesunder Sinnlichkeit begabte Dichter, jenes schwächlichen
Treibens müde, mit kecker Hand in die derbe Wirklichkeit des niederen
Volkslebens griffen? Dieser aus der Lage der Dinge entsprossenen
Richtung verdanken wir die allmähliche Rückkehr der erzählenden
Dichtung zu kräftigen, lebenswahren Gestalten. Aber die Dorfgeschichte,
die bei ihrem ersten Auftreten, in Immermanns Münchhausen, wie ihr
gebührte, nur als eine Episode erschienen war, begann bald sich als
die Herrscherin zu fühlen. Der prosaische Sinn der Zeit, froh der
großen Triumphe der deutschen Arbeit, stellte dem Dichter die Zumutung,
daß er das Schöne suche unter den Düften des Heus, beim Klappern des
Webstuhls. Man verwechselte das Ideale und das Abstrakte, schalt über
Unnatur, so oft ein Poet über die Schilderung des platt Alltäglichen
hinausging. Die realistische Ästhetik bewunderte alles Ernstes den
dürftigen Ruhm jenes alten Malers, dessen Trauben die Gier der
Sperlinge reizten; sie lief Gefahr herabzusinken zu der Roheit des
großen Haufens, dessen Kunstgenuß, nach Goethes klassischem Worte, nur
darin besteht, daß er das Abbild mit dem Urbild vergleicht.

Ihr gegenüber scharte sich nach und nach eine seltsam gemischte
Gesellschaft. Zarte musikalisch gestimmte Naturen, welche das lyrische
Element in jenen realistischen Dichtungen mit Recht schmerzlich
vermißten; sinnige Verehrer der Goethischen Muse, die sich aus der
Enge der prosaischen Lebensverhältnisse zurücksehnten nach der
freieren Luft und der reinen Formenschönheit der antiken Welt; vor
allen aber talentlose Schriftsteller, die greisenhaften Epigonen
des „jungen Deutschlands”, denen die leibhaftige Wahrheit der
Dorfgeschichten ihren eigenen Mangel an Gestaltungskraft klar machte
-- sie alle vereinigten sich zu dem Rufe, bei dem Streben nach dem
Charakteristisch-Wahren gehe die Schönheit verloren. Für das heutige
Geschlecht bedarf es kaum noch der Versicherung, daß die hellen Köpfe
der beiden streitenden Parteien im Grunde eines Sinnes waren. Darin
liegt ja die Größe, der Tiefsinn der Poesie, daß sie, vielseitig,
allumfassend, nicht wie die Skulptur den idealistischen, nicht wie die
Malerei den charakteristischen Stil begünstigt, sondern beiden freien
Spielraum gewährt. Jener zarte Sinn für die reine Form, welcher mit
selbstvergessenem Entzücken selbst der abstrakten Schönheit der Linien
zu folgen vermag, von den großartigen Umrissen eines Gebirges bis
herab zu den lieblichen Wellenwindungen eines Frauenscheitels -- er
ist dem Dichter nicht minder unerläßlich als der kecke Mut, der seine
Lust hat an den mannigfachen Verzerrungen, in denen das Menschenleben
die Idee des Schönen entstellt und gebrochen zur Erscheinung bringt.
Erst die Vereinigung dieser Kräfte macht den Dichter. Nur ein Mehr
oder Minder, ein Vorwiegen der einen oder der andern Richtung ist an
einzelnen Künstlern wie an ganzen Zeiträumen wahrzunehmen. Und wenn
wir die prosaischen Lebensformen unserer Tage, ihr unstreitbar mehr
auf das Wahre denn auf das Schöne gerichtetes Gefühl betrachten, so
läßt sich gar nicht leugnen: für einen modernen deutschen Dichter,
der seiner Zeit ein offenes Herz entgegenbringt, ist die Hinneigung
zur charakteristischen Darstellungsweise nicht Sache der freien Wahl,
sondern Ergebnis geschichtlicher Notwendigkeit. -- In dem heftigen
literarischen Kampfe jener Zeit fanden so einfache Wahrheiten
kein Gehör; jeder Künstler ward unbarmherzig hineingezerrt in den
Parteihader des Tages. Otto Ludwig selbst hat sich von den kritischen
Fehden vornehm zurückgehalten, er hat zur Welt nie anders gesprochen
als durch seine poetischen Taten. Trotzdem erkor ihn die buntscheckige
Menge der charakteristischen Darstellungsweise zur Zielscheibe ihrer
bittersten Anfeindungen; er sollte der wahre Bannerträger sein der
Poesie des Tütendrehens. Wunderlicher Irrtum! Wie wahr ist es doch, daß
die Lebenden einander nicht verstehen! Heute, da jener törichte Zank
längst verstummt ist, da Otto Ludwig nicht mehr unter uns weilt, sei
der Versuch gestattet, ein treues Bild des edlen Mannes zu zeichnen. --

Eine harte freudlose Jugend gewährte dem Dichter nur allzuoft einen
Einblick in die Nachtseiten des Menschenherzens. Er war zu Eisfeld
im Jahre des deutschen Freiheitskrieges geboren und wuchs heran in
jenen müden Zeiten, da noch kaum ein Lichtstrahl eines öffentlichen
Interesses die Gedanken der Menschen in einer thüringischen Kleinstadt
hinweglenkte von den Sorgen und Kämpfen ihres engen häuslichen
Daseins. Er erlebte frühzeitigen Liebeskummer, raschen unheilvollen
Schicksalswechsel im Hause der Eltern, sah unter den Verwandten
wilde Auftritte entfesselter Leidenschaft in gedrückten ärmlichen
Verhältnissen, und da er eine Zeitlang hinter dem Ladentische stehen
mußte, trat ihm das kleine Alltagstreiben der wunderlichen Käuze,
die jene Zeit des ungestörten Philistertums erzeugte, dicht unter
die Augen. Das Völkchen um ihn her begann bald zu ahnen, daß eine
ungewöhnliche Kraft in der Seele dieses jungen Menschen arbeitete. Ein
Augenzeuge erzählte mir einst, wie Thorwaldsen einmal im lebhaften
Gespräche im Zimmer auf und ab ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet
und einen Tonklumpen zwischen den Fingern knetend; nach einer Weile
holt er den Ton hervor und siehe da, er hat die edlen Umrisse eines
schönen Kopfes geformt. Auch in der Phantasie des jungen Thüringers lag
ein Zug von dieser unbewußten geheimnisvollen Schöpferkraft. Er lebte
und webte in einer reichen Traumwelt; glänzende Gestalten tauchten auf
vor seinem inneren Auge, traten ihm in den Weg, wo er ging und stand,
in körperlicher Fülle, in beängstigender Nähe. Vielleicht ist kein
deutscher Dichter seit Heinrich Kleist durch eine solche übermächtige
Naturgewalt des Vorstellungsvermögens zugleich beglückt und gepeinigt
worden. Doch der erlösende Ruf, der den harmonischen, glücklichen
Genius früh auf ein bestimmtes Gebiet des Schaffens drängt, erklang
diesem ringenden Geiste nicht. Seine Phantasie war ebenso unstet als
vielseitig; sein Wesen gemahnt an jene Urzeit des Völkerlebens, da
die Gattungen der Kunst noch ungeschieden durcheinander lagen und
der Mensch mehr in Bildern und Tönen als in Begriffen dachte. Er
hört entzückende Melodien in seinem Innern klingen und beginnt zu
komponieren, er zeigt ein lebhaftes Gefühl für die bildende Kunst
und sieht die Erscheinungen, die ihm aufsteigen, blendend vor sich
in reicher Farbenpracht, so deutlich, daß er das leiseste Zucken
ihrer Mundwinkel nachzeichnen könnte; er fühlt die ersten Regungen
seiner Dichterkraft und spielt in einem Liebhabertheater zugleich den
Dramaturgen und den Kapellmeister.

Als er endlich meint, seinen Beruf für die Musik erkannt zu haben, und
die Güte eines Gönners dem Armen das Studium der Kunst ermöglicht, da
führt ihn sein Unstern in das höfliche Sachsen. Dem derben Sohne der
Thüringer Berge graut vor diesen glatten Städtern, vor „der erlogenen
Jugend auf diesen Leipziger Gesichtern”. Er sehnt sich heim nach der
alten Bastei in Eisfeld, wo er so oft mit schlichten, kernhaften
Freunden geplaudert, zieht sich scheu vor den Menschen zurück. Noch
in späteren Jahren, wenn er die hohen Gestalten der Bilder in der
Dresdner Galerie betrachtete, erschien ihm das moderne Volk mit seiner
Hast und seiner Leere oft nur wie ein Haufen „aufgepappter Nürnberger
Männlein”. Er erwarb jetzt, während er eifrig seiner Kunst oblag,
durch harte, aufreibende Arbeit eine allgemeine Bildung, die doch
immer unfertig blieb, bis er endlich -- man sagt, nach dem Anhören
einer Beethovenschen Symphonie -- sich traurig gestehen mußte, daß die
Welt der Musik nicht die seine sei. Nun erwachte seine dramatische
Kraft. In seinen dreißiger Jahren geht er noch tastend die Irrgänge
des Schülers, mannigfach aufgeregt bald durch die reckenhafte Größe
der altnordischen Sagenwelt, bald durch die Spukgestalten der neuen
Romantik. Ich verdanke der Güte der Witwe Otto Ludwigs die Kenntnis
zweier Dramen aus dieser Zeit, und ich vermag lebhaft nachzuempfinden,
wie bald der strenge, rastlos aufstrebende Geist des Dichters, der
sich nie genug tat, von so unreifen, chaotischen Werken sich abwenden
mußte. „Das Fräulein von Scudery” ist eine wenig glückliche Bearbeitung
der bekannten Schauergeschichte von Callot-Hoffmann; die phantastische
Willkür der Erfindung, welche der Novellist durch den leichten Fluß
seiner Erzählung, durch eine gewisse diabolische Grazie zu verstecken
weiß, tritt in dem Drama grell, in widerwärtiger Klarheit hervor.
Minder formlos, aber auch weniger eigentümlich ist das Trauerspiel „Die
Rechte des Herzens”.

Es gereicht dem Scharfblick Eduard Devrients zur Ehre, daß er aus
einzelnen mächtigen Klängen ursprünglicher Leidenschaft, welche in
diesen unfertigen Dramen zuweilen aufbrausen, das Talent des Dichters
erkannte und ihm die Schule der Dresdner Bühne eröffnete. Was wußte
die Klatschsucht des ängstlichen Dresdner Philisters nicht zu erzählen
von dem schweigsamen Sonderling, der zuweilen mit seiner langen Pfeife
im Großen Garten erschien -- eine hohe schlanke Gestalt, schöne,
tiefe deutsche Augen, ein großes bleiches Gesicht von langem Haar und
Bart umschattet. Ein Ton matter und platter Gemütlichkeit war aus
der Dresdner Künstlerwelt niemals ganz verschwunden seit jener Zeit,
da die Abendzeitung ihre Wasserkünste spielen ließ, bis herab zu
diesen neueren Tagen, da der wackere Julius Hammer verständnisinnig
um sich und in sich schaute. Doch alle mannhaften und tiefen Naturen
aus diesen gefühlsseligen Kreisen suchten gern das stille Haus des
Thüringers auf; und wer ihm irgend näher getreten, pries bewundernd
die seltene Hoheit dieses Künstlergeistes, wie besonnen und verständig
er im täglichen Leben schaltete, wie treu und wahrhaftig die Stimme
der Empfindung aus seinem Herzen klang, und wie geistvoll er in seinem
derben Thüringer Dialekte über die höchsten Probleme der Kunst zu
reden wußte, wenn man nur anzuklopfen verstand. Eine glückliche Ehe
und der günstige Bühnenerfolg zweier Tragödien schienen dem Dichter
endlich, da er das vierzigste Jahr schon überschritten hatte, die Bahn
eines wohlgeordneten ehrenvollen Lebens zu eröffnen; da warf ihn ein
grausames Siechtum danieder, betrog ihn und uns um die Früchte seines
Schaffens. Unermüdlich tätig, nie verlassen von seiner Seelenstärke,
hat er noch viele Jahre hindurch der Krankheit widerstanden, bis er
endlich, kaum zweiundfünfzigjährig, erlag.

Es muß ein harter Kampf gewesen sein, der den Dichter des „Fräuleins
von Scudery” befreite von den allzu lange verfolgten romantischen
Idealen. Genug, er brach mit dieser phantastischen Welt, endgültig
nach seiner starken Art; er wollte fortan auf eigenen Füßen stehen,
„Natur und Wahrheit geben, ja die Wirklichkeit selbst” -- so schrieb
er -- „nicht die rohe, sondern die schöne”. In der Tat erschien das
Trauerspiel „Der Erbförster”, das in Dresden (1852) zum ersten Male
über die Bretter ging, wie eine leidenschaftliche Kriegserklärung
gegen alle romantische Verschwommenheit. Es ist kaum möglich, über die
ungeheuerliche Fabel dieses seltsamen Dramas ein allzu hartes Urteil zu
fällen. Das Thema von Kleists Kohlhaas, das Bild des wackeren Mannes,
der durch gekränktes Rechtsgefühl ins Unrecht gestürzt wird -- dieser
alte schöne grunddeutsche Stoff erscheint hier sonderbar verzerrt. Ein
leichter, ja komischer Streit zwischen dem wackeren Förster und seinem
nicht minder wackeren Herrn wird durch allerlei äußere Umstände, durch
eine verwickelte dramatische Maschinerie, die den Einfluß von Lessings
Emilia Galotti nur allzu deutlich erkennen läßt, emporgeschraubt zu der
Höhe eines tragischen Kampfes; zuletzt greift gar der gemeine Zufall
ein und der Förster erschießt, indem er den Sohn des Feindes töten
will, sein eigenes Kind.

Und doch, was war es, das damals die Hörer in gespannter Teilnahme auf
den Bänken bannte? Warum regte sich kein Lächeln bei den widersinnigen
Zumutungen, welche der Dichter an uns stellt? In leibhaftiger
Wirklichkeit, mit überwältigender Wahrheit traten uns diese Menschen
entgegen; während des Schauens zum mindesten vermochte der Zweifel
nicht sich zu regen. Ein jeder fühlte: das ist tief innerlich
empfunden, das ward geschrieben mit jener Sammlung des ganzen Wesens,
welche in der heutigen Kunst -- bei der Masse von Bildungsstoff, die
auf den Künstler eindrängt und seine Teilnahme zerstreut -- eine
unendlich seltene Erscheinung ist. Diese Gestalten hatten von dem
Blute des Lebens getrunken, sie sagten uns nicht, was der Dichter mit
ihnen wollte, sie sagten, was sie selber wollten, und sie sprachen es
aus, ohne es recht zu wissen. Eine feine und tiefe Unterscheidung,
die den Nagel auf den Kopf trifft und von Otto Ludwig in seinen
Selbstbekenntnissen oft betont wird; der kalte Verstand begreift sie
kaum, das gesunde Gefühl empfindet sie augenblicklich. Gerade die
gebildeten Hörer, befangen in der Reflexion, an stete Selbstbeobachtung
gewöhnt, zeigen heute wenig Sinn für die rechte Objektivität des
Dramatikers; sie sind befriedigt, wenn die Gestalten auf der Bühne nur
nichts sagen, was ihrem Charakter widerspricht, und hören gern jene
pikanten epigrammatischen Selbstbekenntnisse, welche doch lediglich den
psychologischen Scharfsinn, den analytischen Verstand des Dichters,
nicht seine Gestaltungskraft zeigen. Hier aber erschien ein echter
Dramatiker, der völlig hinter seinem Werke verschwand. Der unglückliche
Dichter, der mit seinem schwerflüssigen Talent seinen unablässigen
grübelnden Seelenkämpfen dem fruchtbaren, glückselig heiteren Genius
Albrecht Dürers gegenübersteht wie die Nacht dem Tage, zeigt doch in
der naiven Wahrheit, der knorrigen Eigenart seiner Charaktere eine
Verwandtschaft mit dem alten Maler.

Und warum fanden sie so wenig Anklang, jene kritischen Stimmen, welche
mit der naheliegenden Behauptung auftraten, hier sei die krasse
Trivialität der Schicksalstragödien wieder auferstanden? Nein, hier
ist nichts von jener leichtfertigen Frivolität, die des Menschen Tun
und Denken an einen rohen Zufall knüpft. Ein alttestamentarischer
Ernst schreitet durch das Stück; der Dichter scheint frivol, weil
seine gewissenhafte Strenge zur Härte wird. „Unschuld und Verbrechen
steh'n an den Enden des Menschlichen; aber den Unschuldigen und
den Verbrecher trennt oft nur ein schnellerer Puls” -- das ist ein
Ausspruch frevelhafter Schwäche, wenn er die Sünde entschuldigen soll.
Aber Otto Ludwig versteht ihn im Sinne einer Anklage; er glaubt gerecht
zu handeln, wenn er „einem raschen Worte, das unser Herr wird, weil
wir uns nicht die Mühe geben, sein Herr zu sein”, die furchtbarsten
Schrecken folgen läßt. Eine freudlose, trostlose Lebensweisheit, eine
arge Verirrung, gewiß, aber die Verirrung eines tiefen und starken
Geistes!

Vielleicht noch peinlicher als den grausamen Schluß empfand der Hörer
die schwüle beklommene Luft, die über dem gesamten Werke liegt. Diese
starken wilden Leidenschaften im engsten Raume tobend -- das macht
den Eindruck eines Sturmes im Glase Wasser, dabei geht die Harmonie
von Form und Inhalt verloren. Die Berechtigung des dörflichen und
kleinbürgerlichen Lebens in der Tragödie bleibt schlechterdings eine
sehr beschränkte. Worin besteht der poetische Reiz jener schlichten
Lebenskreise? In der Einfachheit, der heimlichen Enge, dem traulichen
Frieden eines der Natur noch nicht entfremdeten Daseins. Wie anders in
dieser Tragödie! Von dem ästhetischen Reize des Wald- und Jägerlebens
ist nicht die Rede; nur die Härte, die Unfreiheit der prosaischen
Lebensverhältnisse tritt uns entgegen. Wo die Leidenschaft tobt, da
erscheint sie in häßlicher Form: ausgehauen wird des Försters Sohn,
und den ruchlosen Mordtaten muß sich die feige Waffe der Büchse als
Mittel bieten. Fürwahr, das sind keine Äußerlichkeiten. Wenn der
Dichter in der ersten Bearbeitung seinen Helden aufs Gericht gehen
ließ, um für den Totschlag den Tod zu finden, wenn er später den
juristischen Fehler durch einen psychologischen ersetzte und diesen
starren Gläubigen durch Selbstmord enden ließ: -- liegt darin nicht ein
bedenklicher Fingerzeig, wie wenig diese harmlosen Lebenskreise sich
für die Tragödie eignen? Die komische, die rührende Dichtkunst findet
in solchen einfachen Zuständen ihr natürliches Element. Die Tragödie
schreitet auf geweihtem Boden, sie verlangt den Kothurn, sie fordert
eine reine, von dem Dunst und Staub des alltäglichen Lebens gesäuberte
Luft, sie fordert große Verhältnisse, wenn die großen Leidenschaften,
welche sie entfesselt, groß erscheinen, harmonisch wirken sollen,
wenn ihr Eindruck nicht traurig statt tragisch, niederschlagend
statt erschütternd sein soll. Oder wäre es ein Zufall, daß die große
Familientragödie des Lear, das psychologische Drama des Tasso in der
vornehmen Welt spielen? Wir sind weit entfernt, den niederen Ständen
die tragische Hoffähigkeit kurzweg abzusprechen; aber es bedarf
ungewöhnlichen Glückes, wenn der Dichter einer kleinbürgerlichen
Tragödie die arge Klippe umschiffen will, daß die Leidenschaften
in diesem engen Raume verkümmert, gebrochen erscheinen, und daß
die rächenden Mächte des bürgerlichen Lebens, der Gendarm und das
„Trillerhäusle” mit ihrer handgreiflichen Häßlichkeit den Kunstgenuß
zerstören.

Noch mehr. Die Tragödie verlangt volle Zurechnung, individuelle
Freiheit des Entschlusses der Handelnden, und auch darum sind die
Höhen des Lebens ihr natürlicher Boden. Keine Spur davon in unserem
Trauerspiele. Dieser Held bewegt sich in einer engen Welt fester
Rechts- und Ehrbegriffe, welche nicht minder starr, aber weit minder
ästhetisch sind als die Satzungen spanischer Ritterlichkeit in den
Dramen Calderons. Seine Ehre glaubt er geschändet, wenn sein Gutsherr
ihn wegen einer Meinungsverschiedenheit aus dem Dienste entläßt, sein
Ansehen denkt er zu wahren, wenn er mit der Furcht statt der Liebe Weib
und Kind an sich fesselt. Auch Kleists Kohlhaas ist ein schlichter
Mann aus dem Volke; doch hier zeigt sich die Überlegenheit dieses
mit Ludwig verwandten und doch ungleich größeren Geistes. Kleist
läßt seinen Helden klar und einfach denken, also daß wir alle, hoch
und niedrig, sofort verstehen, warum er in seinem Rechte gekränkt,
zur Selbsthilfe greift. Dem Erbförster dagegen widerfährt zwar eine
Unbill, doch kein Unrecht, er wird als ein widerspenstiger Diener von
seinem Herrn entlassen. Der brave Mann empfindet nun dunkel -- und
wir mit ihm --, daß das formelle Recht diesmal zur unsittlichen Härte
führt; in ihm regt sich die uralte, die echt menschliche und doch ewig
unerfüllbare Forderung, daß die Ordnung des Rechts und die Ordnung der
Sittlichkeit sich decken sollen. Aber der Dichter verschmäht, dies
klare und wirksame Motiv zu benutzen; er leiht seinem Helden nicht
die Beschränktheit der Leidenschaft, welche im Drama ein ewiges Recht
behauptet, sondern die Beschränktheit der Unbildung, die der Hörer
belächelt. Der unwissende Förster kann das sonnenklare Recht seines
Dienstherrn nicht begreifen, und auf dieser Dummheit des Helden ruht
am Ende der ganze tragische Konflikt! -- „So sind meine Thüringer” --
pflegte Ludwig zu antworten, wenn man ihm solche Bedenken einwarf;
er gedachte dann aller der harten und beschränkten Naturen, die ihm
droben auf dem Walde begegnet waren, er erzählte von jenem Manne
in Eisfeld, der mit den Seinen dem Hungertyphus erlag, weil er es
für eine Schande hielt, der Behörde seine Dürftigkeit zu bekennen.
Aber sind solche Empfindungen, weil sie im Leben vorkommen, poetisch
wahr? Ist der Hörer, der mit freieren menschlichen Ideen an das Werk
herantritt, imstande, sie nachzuempfinden oder auch nur zu begreifen?
Die enge kleine Welt, worin der Dichter aufwuchs -- sonst ein Segen
für den Künstler, denn sie schenkt ihm, was keine Bildung ersetzen
kann, Vertrautheit mit der Natur, mit dem einfachen Ausdrucke starker
Empfindungen -- sie gereicht ihm zum Unsegen. Er vermag nicht, über
das Reich der Erfahrung sich zu erheben, er zeichnet das Leben selbst,
nicht ein künstlerisches Bild des Lebens. So hinterläßt dies Drama
eines ernsten und strengen Künstlers doch einen ähnlichen Eindruck,
wie die Werke zuchtloser, nach willkürlichen Effekten haschender
Geister: erstaunt und befremdet verweilen wir, dieser Held ist ein
unverständliches Original.

Zu diesem Fehler, der aus unfreier Bildung entspringt, gesellt sich
ein anderer, der seinen Grund hat in der Überfülle der Kraft. Die
sinnliche Wahrheit der bis zur Zudringlichkeit deutlichen Gestalten
überschreitet oft die dem Dramatiker gesetzten Schranken, also daß
der Schauspieler gepeinigt oder zum Automaten herabgewürdigt wird;
über ihnen schwebt nicht jener geheimnisvolle Duft, der die Phantasie
des Hörers zu eigener Tätigkeit erweckt. Wie peinlich der Dichter
durch seine Traumgestalten bedrückt ward, das fühlen wir bei Ludwig
wie bei Kleist am deutlichsten an den Szenen höchster Erregung: hier
finden beide selten die Beredsamkeit der Leidenschaft, sie reden die
stammelnden Laute der rohen Empfindung, sie scheinen zu kalt, weil sie
zu heiß sind. Das alles hat Otto Ludwig selbst späterhin eingesehen, da
er sich vorwarf: „Wer den Sinn überzeugen will, lähmt die Phantasie.”
Endlich -- da einmal auch der begabteste Dichter seine Menschen
teilweis sich zum Bilde schafft -- so haben all diese Charaktere eine
schwere, verschlossene, zurückhaltende Weise, die jede Situation
übermäßig gespannt und ängstigend macht und dem Hörer zur Qual wird.
-- Wer die Stärke dieses Talents bewunderte, der mußte wünschen, ein
freundlicher Stern möge die Phantasie des Dichters hinausführen aus der
engen Welt, die seine Wiege umgab, damit er das Dürftige und Häßliche
des Alltagslebens vergesse -- und er möge sich befreien von der Schule
Eduard Devrients, welcher er zwar die Bühnenkenntnis und die Sorgfalt
in der Charakterzeichnung, aber auch die einseitige Vernachlässigung
der idealen Elemente des Dramas verdankte.

Und Otto Ludwig erfüllte diese Hoffnung, als einige Zeit später „Die
Makkabäer” erschienen. Der Stoff konnte nicht glücklicher gewählt
sein; denn der lyrische Schwung, der in der Fabel selbst liegt, half
freundlich einen Mangel in Ludwigs Talent verdecken, und nicht die
sinnlich reizende Pracht, welche heute so viele blasierte Poeten an
die orientalischen Stoffe fesselt, sondern der tiefreligiöse Ernst der
jüdischen Welt, der dem Wesen Ludwigs vollkommen entspricht, hatte
den Dichter angezogen. Das Drama gemahnt oft an den glaubensfreudigen
Siegesjubel, der in den Klängen von Händels Samson redet. Wie Juda
Makkabäus über die Leiche seines Oheims nach dem Götzenbilde schreitet
und den Greuel in den Staub wirft -- „o arme Beter, ärm'rer Gott!”
-- und wie den sterbenden Duldern zu Jerusalem aus den Augen des
einziehenden Helden neue Kraft zum Leben zuströmt: diese Szenen
stehen dem Besten unserer Dichtung zur Seite. Und es sind Kämpfe von
ewiger Wahrheit, die der Dichter schildert: die Empörung des freien
Heldenmuts gegen religiösen Fanatismus, der Kampf der Glaubenstreue
mit dem Zwange weltlicher Tyrannei. Die beklemmende Düsterheit von
Ludwigs Erstlingsdrama finden wir hier nicht mehr, wohl aber dieselbe
Kraft und Gedrungenheit, denselben sittlichen Ernst. Dies letztere
erscheint besonders erfreulich, wenn wir uns des gleichnamigen Stückes
von Zacharias Werner, das sich mit Ludwigs Tragödie vielfach berührt,
erinnern; denn an dieser Arbeit des Apostaten empört uns nicht sowohl
das wüste Durcheinander der Szenen und der hohle Klingklang schlechter
lyrischer Verse, als der gänzliche Mangel an Gewissen, die prahlerische
Äußerlichkeit des religiösen Gefühls.

In der Zeichnung der Charaktere hat der Dichter hier nur wenig und
in großen Zügen motiviert, und leider pflegen die Aufführungen der
Makkabäer das Heinesche Witzwort, daß Schauspieler und Dichter in
demselben kordialen Verhältnisse zu einander stehen, wie der Henker und
der arme Sünder, in besonders schlagender Weise zu bewahrheiten. Es ist
ein Vorzug großer historischer Stoffe, daß sie sparsames Motivieren
ermöglichen: die erhabenen allgemein-menschlichen Empfindungen der
Vaterlandsliebe, des Heldenmuts, der religiösen Begeisterung hat jede
nicht ganz stumpfe Phantasie schon durchempfunden, der Dichter hat
nicht nötig, durch Kleinmalerei sie uns näher zu bringen. Wer sollte
ihn nicht verstehen, diesen königlichen Juda, „den Mann, der seine
Tugenden verhüllt, daß unsere Armut nicht vor ihm erröte”, der bei
der Feinde Drohen vor Lust bebt wie ein Baum im Regen? Und neben ihm
„in ihrer Demut Niedrigkeit” das Röslein von Saron, eine Gestalt, die
nur wenige Zeilen spricht, aber, von einer erträglich schönen und
gefühlvollen Schauspielerin dargestellt, jeden Zuschauer kaum minder
rühren muß als den Juda selber. Auch der vielgeschmähte Charakter
der Mutter der Makkabäer scheint uns durchaus wahr und treu. „Kein
Weib war weiser, keine Mutter törichter”, dies Wort des Juda löst
das Rätsel. Mit durchdringender Klarheit erkennt sie die Schmach
ihres Volkes, sie glaubt mit einer die Grenzen des Weiblichen schon
überschreitenden Leidenschaft an die Rückkehr der Juden zum alten
Glanze, zum alten Gott; und in weiblicher Weise vermischen sich diese
religiös-politischen Bestrebungen mit ihrem Familienstolze, ihrer
blinden Mutterliebe: in jedem ihrer Söhne meint sie den Helden ihres
Volkes zu schauen, und indem sie ihnen die Bahn zum Ruhme weist,
zittert sie davor, sie zu verlieren. Es ist ein tiefsinniger Zug, daß
diese entgegengesetzten Seiten ihres Wesens zuletzt, da sie selbst ihre
Söhne zu Jehovas Ehren in den Tod treibt, miteinander in Kampf geraten.

Leider ist die Komposition sehr unfertig, auf Szenen voll Hoheit folgen
oft matte, fast zwecklose Auftritte. Ludwig hat gleich Z. Werner
zwei Fabeln verbunden, den Glaubenskampf des Juda und die rührende
biblische Erzählung von dem Opfertode der sechs Knaben im Marterofen;
aber ihm so wenig als Werner ist die Verschmelzung gelungen. Beide
Stoffe sind durchaus dramatisch, es war möglich, sie mit derselben
Idee zu durchdringen und in ähnlicher Weise wie die beiden Tragödien
im Lear zu einer idealen Einheit zu verknüpfen. In der einsamen Größe
des Juda, der sich losreißt von dem mütterlichen Boden der Gesittung
seines Volkes, ruht ein tieftragischer Gehalt; der Held -- das ist des
Dichters eingestandene Absicht -- soll zu seiner Beschämung erfahren,
daß auch er nur ein Werkzeug ist in der Hand Jehovas, und daß Israel
gerettet wird nicht durch den Mut des Heerführers, sondern durch die
Glaubenstreue der Masse. Aber dann durfte der Glaubenseifer dieses
Volkes nicht bloß durch den Mund des Fanatikers Jojakim zu uns reden;
vor Augen mußten wir es sehen, wie die Juden sich mit den Waffen in
der Hand erwürgen lassen, weil sie die Sabbatgesetze nicht brechen
wollen; und vor allem: dann durfte in den wenigen Szenen, wo wir es
schauen, das Volk nicht -- in jener Shakespeareschen Weise, die für
unsere Gesittung unbedingt ein Anachronismus ist -- so gar niedrig und
erbärmlich auftreten, denn auch die entsetzliche Starrheit des Glaubens
hat das Recht einer großen Idee. Diesem elendesten der Völker gegenüber
bemerken wir Judas Schuld kaum, er erscheint als ein makelloser, ein
epischer Held; und wie schwer er leidet, wie tief sein stolzer Geist
sich zerknirscht fühlt durch die Erkenntnis seiner Kleinheit, das
hat der Dichter, wie plötzlich erlahmend, kaum angedeutet. -- Noch
unsicherer entwickelt sich die andere Fabel; sie gelangt erst in der
prachtvollen Schlußszene, da die Makkabäerin um das Leben ihrer Kinder
fleht, zur vollen dramatischen Wirkung. --

Wie ist eine so seltsame Ungleichheit des Schaffens zu erklären?
Otto Ludwig selber gibt die Antwort in einem rückhaltlos ehrlichen
Bekenntnis. Der Dichter gesteht, daß ihn in den Stunden des Empfangens
zuerst eine musikalische Stimmung überkommt; sie wird ihm zur Farbe,
und durchleuchtet von dieser Farbe treten ihm dann einzelne Gestalten
der werdenden Dichtung vor Augen, in einer großen dramatischen
Situation, die gewöhnlich nicht die Katastrophe ist. Erst nach diesen
Gesichten hört er seine Menschen reden, und aus der Farbenpracht
solcher Erscheinungen erwächst ihm nach und nach der Plan seines
Werkes. Wer kann das lesen, ohne sofort befremdet zu rufen: Das
ist das Bekenntnis eines epischen Dichters! Dem Dramatiker muß die
Entwicklung seiner Charaktere, ihr stürmisches Fortschreiten durch eine
Welt der Taten und der Leiden das Erste, das Wesentliche sein. Ein
dramatischer Dichter, der also nur einzelne Szenen seines Gedichts in
seiner Seele erlebt, wird unvermeidlich in der Komposition des Werkes
und in den Szenen, die er erst nachträglich hinzugedacht hat, eine
ermattete Kraft zeigen, zumal wenn ihm, wie diesem treuen Thüringer,
die Gabe des Machers, der über seine Schwächen zu täuschen weiß,
gänzlich versagt ist. Und doch ward Ludwig durch sein männliches, tief
leidenschaftliches Wesen unwiderstehlich auf das Drama hingewiesen;
von der milden, heiteren Beschaulichkeit des Epikers lag gar nichts
in ihm. Durch solche verschwenderische Kargheit der Natur, die ihm
einige herrliche Gaben des Dramatikers, einige Kräfte des Epikers,
doch nicht die Harmonie des Genius schenkte, wird das tiefe Unglück
dieses ringenden Dichtergeistes vollauf erklärt. -- In der Sprache des
Stückes endlich kämpfen zwei Stile: das erhabene, von großen Metaphern
strotzende biblische Wort, das dem idealen Drama sich leicht einfügt,
steht fremd neben der pointenreichen Redeweise des Lustspiels und der
bürgerlichen Dramas.

Alle Freunde des Dichters fühlten: in dieser erhabenen Welt hatte das
groß angelegte Talent des Dichters seinen natürlichen Tummelplatz
gefunden. Aber Ludwig überraschte uns einige Jahre darauf durch seine
Rückkehr zu dem Ausgangspunkte seiner Bildung; das Thüringer Kleinleben
hatte ihm den Stoff geboten für die Erzählung „Zwischen Himmel und
Erde”. Jene unselige Fertigkeit, uns selbst zu belügen, deren Keim
auch in dem reinsten Menschen schlummert, deren Verirrungen in der
Liebe dem Komiker einen so dankbaren Stoff bieten -- hier ist sie als
der Urgrund der Sünde aufgefaßt. Wie wir uns einspinnen in eine Welt
erlogener Vorstellungen, wie uns der Wahn lieb wird und wir eine Furcht
ebenso schwer aufgeben als eine Hoffnung, wie wir die Welt zu kennen
meinen, derweil wir nur uns selbst kennen, wie endlich die Schuld uns
dahin führt, in den Menschen zu hassen, was wir an ihnen getan --
diese Nachtseiten des Herzens hat Ludwig mit wunderbarer Divination
verstanden. Hier, bei Ludwigs reifstem Werke, dürfen wir auch die
Frage aufwerfen: was hat dieser Dichter gemein mit den Bestrebungen
und Empfindungen seiner Zeit? Nicht als wollten wir in tendenziöser
Weise das =fabula docet= aus den Gebilden des Künstlers ziehen -- nicht
als wollten wir im mindesten die Berechtigung jener, man darf sagen,
zeitlosen lyrischen Dichter bezweifeln, welche, wie Eduard Mörike, eine
kleine Welt einfacher Gefühle mit unverwüstlichem Humor verklären:
allein gegenüber dem weit bewußteren Schaffen des Novellisten und
des Dramatikers ist die Frage nach seinem Zusammenhange mit den
Ideen seiner Zeit durchaus am Platze. Lange Jahre verleben unsere
besten Männer im Kampfe mit falschen Götzen, mit einer verkehrten
Genialität, mit sentimentalen Phrasen, die wir aus einer unklaren
verschwommenen Zeit ererbt haben. Darum werden wir so mächtig berührt
von der ungeschminkten Wahrhaftigkeit der Ludwigschen Gedichte; die
schlichte Größe des Juda reißt uns hin, und selbst die pedantische
Figur des Apollonius Nettenmair erweckt unsre Teilnahme, denn das
tiefe Klarheitsbedürfnis dieses Mannes, sein Widerwille gegen jede
Selbsttäuschung gemahnt uns an selbsterlebte schwere Stunden.

Wie in allen im Herzen des Künstlers empfangenen Gedichten hängen
auch in dieser Erzählung Ludwigs die Fehler eng zusammen mit den
Vorzügen. Er läßt uns die Stimmen hören, die sich in der Menschenbrust
untereinander entschuldigen oder verklagen, doch er verirrt sich auch
oft in eine Kleinmalerei, die dem lebhaften Geiste unerträglich wird.
Wer wüßte nicht, wie selbst den edlen Menschen zuweilen an heiliger
Stelle eine sinnlos widerwärtige Vorstellung überfällt? Welche Fülle
widersprechender Bilder und Gedanken durchtobt uns in einem Augenblicke
der Aufregung, und wie ganz vergeblich ist das Bemühen, jeden dieser
Züge festzuhalten! Wie der Maler um seine Gestalten einen festen Rahmen
zieht und dem Beschauer überläßt, diese schöne Welt der Träume noch
ins Unendliche auszudehnen, so ist auch dem psychologischen Talent
des Dichters eine Grenze gesetzt. Jede übertriebene Motivierung ist
unschön, denn sie ermüdet; sie ist unwahr, denn ein vorübergehender
Gedanke hinterläßt, in der Form der Darstellung fixiert, einen
ganz anderen Eindruck als in seiner flüchtigen Erscheinung in der
Wirklichkeit; noch mehr, die Überladung mit psychologischem Detail
wirkt verwirrend, sie verdunkelt das Wesentliche, das Ergebnis des
psychischen Prozesses.

Ludwig hat das thüringische Kleinleben vielleicht noch treuer, er hat
es jedenfalls minder befangen von gebildeter Reflexion geschildert,
als Auerbach die Zustände seiner Heimat. Doch gerade darum tritt das
Unschöne dieser Verhältnisse in der Detailschilderung der Erzählung
sogar noch auffälliger zutage, als in dem knappen dramatischen Bau des
Erbförsters. Für die Kunst gibt es noch heute Banausen. Die Theorie
soll sich nicht anmaßen, hier eine feste Grenze zu ziehen, welche der
Mut eines schönheitssinnigen Künstlers jederzeit überspringen kann.
Aber im bestimmten Falle läßt sich mit Sicherheit erkennen, ob des
Dichters Helden zu klein, zu alltäglich sind für seine psychologischen
Probleme -- so hier in einer ganz herrlichen Szene. Als das geliebte
Weib in warmem, schwellendem Umfangen in Apollonius' Armen liegt,
als die Versuchung in verlockender Schönheit an ihn herantritt, da
faßt ihn „die dunkle Vorstellung, als stehe er wie an seinem Tische,
und, bewege er sich, ehe er sich umgesehen, so könne er etwas wie ein
Tintenfaß auf etwas wie Wäsche oder ein wertvolles Papier werfen”.
Jawohl, solche Bilder mögen in solchem Augenblicke das Hirn eines
wackeren Schieferdeckermeisters durchzucken, der an Leib und Seele
die Sauberkeit und Ordnung selber ist. Aber welcher Leser von freier
Bildung kann ein so kleinliches Bild bei so großem Anlaß ertragen? Die
Kunst hat einen andern Maßstab als das praktische Leben. Nicht das
wertvolle Gold, sondern die schöne Masse des Marmors ist dem Bildner
der erwünschte Stoff; und wie der wilde Frevel des Mordes und der Liebe
süße Sünden ästhetisch verzeihlicher sind als leichtere kleinliche
Vergehungen, so ist das Ehrenwerte als solches noch nicht berechtigt,
den Tempel des Schönen zu betreten. Ludwig selbst hat das gefühlt,
indem er mit glücklichem Takt seinem Helden ein Gewerbe gab, das mit
seinem kecken Wagen immerhin noch einigen ästhetischen Reiz hat.

Auch der ethische Gehalt der Erzählung leidet unter der Enge
dieser kleinstädtischen Welt. Um zu schweigen von der grenzenlosen
Zurückhaltung, die wie ein Alp auf allen diesen Menschen lastet und den
Ton der Erzählung noch viel gedrückter macht, als der furchtbar ernste
Inhalt fordert: -- die dargestellten Empfindungen sind nur teilweise
rein menschlicher Art, wir steigen wieder hinab in eine Welt von
konventionellen Begriffen beschränkter Naturen, denen die Sittlichkeit
als mechanische Ordnung, die Vorsehung als eine finster nachtragende
Macht erscheint, die zu unfrei denken, um die Idee der Schuld und
der Zurechnung zu fassen. Wir wollen zur Not den kleinen Widerwillen
überwinden, den uns die peinliche Ordnungsliebe dieses Apollonius, sein
Federchenlesen und Möbelbürsten einflößt, wir wollen den freudigen
Künstlerspruch überhören, der uns dabei mahnend ins Ohr klingt,
Goethes schönes und sittliches Wort: „Süß ist jede Verschwendung!”
Wenn wir dem Helden nur seine entscheidenden Entschlüsse nachempfinden
könnten! Als Apollonius seine Vaterstadt gerettet und so sich vor
seinen eigenen unerbittlichen Augen von jedem Scheine der Schuld
gereinigt hat, da verschmäht er, die Witwe seines ruchlosen Bruders,
die schändlich geraubte Geliebte seines Herzens heimzuführen, ihr und
sich ein sittliches Dasein zu bereiten! Er ist dem Mordstoße seines
Bruders ausgewichen, der Frevler ist dabei umgekommen, und -- „hast du
den Lohn der Tat, so hast du auch die Tat!” Welche Moral! Empfänden
diese Menschen natürlich, so wäre die Versöhnung zwar in der Dichtung
schwer zu schildern -- denn so Großes wirkt im Leben nur eine Macht,
welche selbst für die freieste der Künste kaum darstellbar ist, die
Zeit -- aber sittlich wäre sie möglich, ja notwendig. Einem unfreien
Denken bleiben ethische Konflikte unlösbar. Wahrlich, nicht jener
aristokratische Tic, der die Tiefen des Volkslebens nicht versteht,
heißt uns so reden, sondern die Erkenntnis, daß die freie Bildung
den Menschen zur Natur zurückführt! Verstimmt und unfähig, uns der
trübseligen Resignation des Schlusses zu erfreuen, legen wir endlich
das schöne Buch aus der Hand. --

Während blinde Bewunderer das epische Talent des Dichters priesen,
gestand der strenge Mann sich unbarmherzig ein, daß seine Novelle nur
aus einer Reihe dramatischer Szenen bestand. Für das Epos bleibt das
Berichten der Begebenheiten immer das Wesentliche. Doch wo war hier
der leichte Fluß der Erzählung, wo die behagliche Freude des Epikers
an der Detailschilderung der Außenwelt? Gewiß, die Geschichte ist, wie
man sagt, novellistisch „spannend”, aber nur, weil uns der dramatische
Konflikt der Charaktere mächtig fesselt. Gewiß, das Buch ist reich an
wunderschönen landschaftlichen Schilderungen, aber nur da, wo es gilt,
die Stimmung der handelnden Personen in der Natur widerzuspiegeln.
Laßt einen Charakter dieses großen Psychologen zwei Zeilen reden,
und der ganze Mensch steht leibhaftig vor euch. Aber laßt Ludwig die
Außenwelt um ihrer selbst willen schildern, und ihr empfangt einen
verworrenen, unklaren Eindruck. Am allerseltsamsten spielt das epische
und das dramatische Talent des Dichters durcheinander, wenn er die
äußere Erscheinung seiner Helden zeichnet: er sieht sie vor sich,
hell und bestimmt wie der Epiker, aber er schildert mit peinlicher
Unbeholfenheit; wir fühlen die Verlegenheit des Dramatikers, der,
gezwungen zu erzählen, sich verpflichtet meint, alles zu berichten, was
der Schauspieler agiert.

Jedem Unbefangenen mußte jetzt die Befürchtung aufsteigen, die
psychologische Meisterschaft des Dichters werde, wenn er bei der
saloppen Form der Erzählung verharre, zu virtuoser Manier ausarten,
und seine strenge Wahrheitsliebe werde zum Behagen an der Prosa des
Alltagslebens herabsinken, wenn er in der kümmerlichen Umgebung seiner
Thüringer Heimat befangen bliebe. Leider schien das letzte Werk, das
Ludwig veröffentlichte -- zwei Novellen unter dem Titel „Thüringer
Naturen” -- die schlimmsten Besorgnisse zu rechtfertigen. Es war die
Zeit, da die neue realistische Richtung ihren Höhepunkt erreicht hatte.
Als unsere Dichtkunst noch jugendlich unsicher nach ihren Stoffen
umhertastete, da brauchte es einen Lessing, um die Marken zwischen
der Poesie und den anderen Künsten zu zeichnen. Hundert Jahre darauf
hätte ein Mann von feinem Schönheitssinne wohl nach einem anderen
Lessing rufen können, der Poesie und Prosa scheiden sollte. Gebildete
Männer schämten sich nicht, jedes wohlgeordnete wissenschaftliche
Buch über Branntweinbrennerei und Drainage ein Kunstwerk zu nennen;
die ästhetische Kritik rief ungestüm nach patriotischen Stoffen, nach
Schilderungen aus dem deutschen Leben, auf daß der haushälterische
Leser zu dem Luxus der Kunst nur ja ein wenig patriotische Erhebung,
ein wenig ethnographische Belehrung mit in den Kauf nehmen könne. Die
blasierte vornehme Welt, der Hetärennovellen und der Redwitzischen
Süßlichkeit satt, stürzte sich, gleichwie Mörike in jenem lustigen
Gedichte über einen herzhaften Rettich die weichliche Schwäche der
Mondscheinpoesie vergißt, mit roher stofflicher Lust auf die derbe
Hausmannskost der Dorfgeschichte und fand den Tolpatsch originell, den
Brosi pikant, das Amreile allerliebst! Es war eine Mode wie andere
auch. Aus allen dunklen Winkeln deutscher Erde, aus Kassubien und
aus dem Ries beschworen die ideenlosen Nachtreter Berthold Auerbachs
ein Geschlecht von Tölpeln und Rüpeln herauf, und je roher, je
ungeschlachter diese Bauern es trieben, desto mehr waren sie „aus
dem Leben gegriffen”, mit desto höherem „ethnographischen Interesse”
betrachtete sie die Lesewelt.

Es schien in der Tat, als hätte auch das Talent des Thüringer Dichters
sich dazu herabgewürdigt, der neuen Mode zu huldigen. Mit dem höchsten
Aufwande von psychologischer und ethnographischer Treue erzählte er
in seiner Novelle „Die Heiterethei” eine dürftige Geschichte aus dem
Volksleben seiner Heimat -- den bloß scheinbaren Konflikt zwischen
zwei wackeren Liebenden, die nur durch die Zwischenträgerei der
„großen Weiber” ihres Städtchens eine Weile getrennt werden. Der
denkende Leser aber fragte verzweifelnd: wozu so vielen Tiefsinn an
einen kümmerlichen Stoff vergeuden? Uns ist, als stände eine jener
Miniaturkapellen gotischen Stils vor uns, zu klein um erhaben, zu
anspruchsvoll um niedlich zu erscheinen. Die Heiterethei und der
Holdersfritz sind wieder zwei jener stolzen reinen Menschen, denen das
Aussprechen zarter Empfindungen unmöglich ist; beide Gestalten und
die Schilderung ihrer sittlichen Wiedergeburt würden jeden fühlenden
Leser entzücken, erschienen nicht auch sie entstellt und unschön in
der maßlosen Häßlichkeit ihrer Umgebung. Die Heiterethei hat etwas von
einer Heroine -- und sie wird mit dem zürnenden Engel im Paradiese
verglichen, da sie -- den klatschenden Weibern den Kaffee ins Feuer
gießt und das Volk zur Tür hinausjagt!! Als der Holdersfritz das
Prügeln in der Schenke verschworen hat, will er den Genossen seiner
stürmischen Jugend zeigen, daß er die alte Kraft noch besitzt: ein
schwerbeladener Schubkarren wird im Kot festgefahren, die Heiterethei
und alle Männer versuchen ihre Kraft daran, bis endlich der Fritz
die Adelsprobe besteht! Wir lesen das nicht mit jenem Lächeln durch
Tränen, das der wahre Humor hervorruft, sondern mit der ratlosen Frage
auf den Lippen: Ist das alles Scherz oder Ernst? Wo das Unschöne
zurücktritt, da erreicht der Dichter statt ästhetischer Erhebung doch
nur moralische Erbauung; so in der Schlußszene, als der Fritz endlich
den Trotz seiner Braut gebrochen hat und glücklich rufen darf: „Sie
ist raus, die alt' Heiterethei!” Und diese beiden Menschen stehen noch
wie ideale Gestalten unter den übrigen. Im bittersten Ernste wird uns
seitenlang eine Prügelei in der Schenke beschrieben. O ihr Grazien!
Auf Schritt und Tritt begegnen wir der Schwäche aller Dorfgeschichten,
jener unseligen Sprache, welche weder Dialekt noch Hochdeutsch, sondern
ein unästhetisches und unnatürliches Gemisch von beiden ist. Und
diese „großen Weiber”! Das freie leichte Spiel des Humors ist unserem
ernsten Dichter versagt, in grotesken Zerrbildern erscheinen ihm seine
komischen Gestalten, gespenstisch, peinlich für ihn selbst wie für
den Leser. Diese Leute reden nicht, sondern der eine „hustet”, die
andere „spinnt”; die „Baderin besteht bloß aus O und Ach, in ein ewiges
Erröten gewickelt”, eine andere „setzt ihr Zifferblatt auf den Kopf und
nimmt ihr blaues Gehäuse um die Schultern”, ein dritter „schlägt die
Vorderbeine über den Kopf zusammen”. Wahrlich, nur der tiefe ethische
Gehalt in den inneren Kämpfen der beiden Liebenden vermag uns über so
viel Unschönheit zu trösten.

Noch ärger verfehlt ist die letzte Novelle „Aus dem Regen in die
Traufe”. Ein zwerghafter Schneider, fortwährend geprügelt, anfangs von
seiner Mutter, dann von seiner Braut -- diese Mutter selbst „das alt'
Fegefeuer”, mit einem „polierten Nasenrücken”, der, wenn sie bekümmert
ist, so zu strahlen pflegt, daß man von „glänzendem Herzeleid” reden
kann, endlich jene Braut, „die Schwarze”, ein Scheusal an Leib und
Seele, wo sie ihrer Natur freien Lauf lassen darf, immer polternd und
mit ihren kolossalen Gliedmaßen alles zerschlagend -- dies die Helden!
Das ist zuviel des Häßlichen, das erregt physischen Ekel und erinnert
an die abscheuliche Erzählung Auerbachs von den zwei keifenden und
raufenden alten Hexen Huzel und Pochel, welche freilich damals die
Bewunderung einer verblendeten Kritik erregte. Immerhin erscheint auch
in dieser unglücklichen Novelle eine Gestalt, in der wir die edlen Züge
unseres Dichters wieder erkennen, die kleine Sannel. In diesem guten
Kinde ist der wunderbare Reichtum weiblicher Liebe und Hingebung zu
entzückend liebenswürdiger Erscheinung verkörpert; und -- ein großes
Verdienst in solcher Umgebung -- sie ist hübsch, gottlob, sehr hübsch!
Um dieser braven Dirne willen ließ sich manche ästhetische Sünde
verzeihen.

Die Fanatiker des Realismus jubelten, jetzt endlich habe der Dichter
die ursprüngliche Kraft des biderben Volkslebens ganz verstanden;
die Gegner beklagten mit schlecht verhehlter Schadenfreude, so werde
ein großes Talent zugrunde gerichtet durch die Torheit der Mode. Wie
wenig ahnten die Lobredner und die Tadler, was in diesem seltsamen
Menschen vorging! Die Erzählungen, mit denen der Meister des Realismus
sein letztes Wort gesprochen haben sollte, galten ihm selber nur als
Beiwerke. Er hatte sie hingeschrieben ohne jede Rücksicht auf die Mode
des Tages, lediglich um sich zu beruhigen, um unter den vertrauten
Gestalten seiner Heimat einmal auszurasten; und soviel ich weiß, sind
die „Thüringer Naturen”, die fast wie ein Zerrbild von „Zwischen Himmel
und Erde” erschienen, früher entstanden als diese schöne Erzählung.
Ludwigs beste Gedanken schweiften längst auf anderen, steileren Pfaden.
Wieder wie vor Jahren, da er sich losriß von der Romantik, kam ein
schwerer Kampf über seinen rastlosen Geist, er begann in der Stille
seines Krankenzimmers seine eigenen Werke zweifelnd zu betrachten, und
wie der bedeutende Künstler immer der beste Kritiker seiner Werke ist,
so fand auch Ludwig, sicherer als das Urteil dritter vermochte, die
Mängel seines Schaffens heraus: „Der Gefahr des anatomischen Studiums
muß ich erliegen, ich stehe vor einem Charakter, wie eine Ameise vor
einem Hause.” Er fühlt, daß er mit seinen Makkabäern schon auf dem
rechten Wege gewesen, daß das Ideal und die natürliche Wahrheit,
statt einander auszuschließen, vielmehr für den rechten Künstler
eines sind, daß die Illusion sich ganz von selber einstellt, wenn der
Dichter nur das Schöne schafft: „Es gilt jetzt nicht, in Opposition
gegen allen Idealismus zu stehen, es gilt vielmehr, realistische Ideale
darzustellen, d. h. Ideale unserer Zeit.” Er sucht das Drama hohen
Stils, das in einer einfachen „schlanken” Handlung, in dem Ringen und
Leiden großer, nicht allzu individueller Charaktere das allgemeine
Menschenschicksal darstellen, das der Natur treu bleiben und doch nicht
roh naturalistisch wirken soll: „Die ruhigen Szenen durch rasches
Gespräch belebt, die bewegteren künstlerisch gemäßigt. So werden beide
Klippen vermieden, dort die zu geringe, hier die zu starke Illusion.”

Eine bunte Welt dramatischer Gestalten drängte sich jetzt vor sein
Auge; der alte Fluch geistvoller Naturen, daß sie sich übernehmen in
ihren Plänen, ging an dem Kranken grausam in Erfüllung. Ein Entwurf
jagte den andern; der Anfang eines Schauspiels „Die Brüder von
Imola”, einige herrliche Szenen aus einer Tragödie „Marino Falieri”
wurden niedergeschrieben, noch auf dem Totenbette ein Drama „Tiberius
Gracchus” begonnen. Auch die Heldengestalten des Siebenjährigen Krieges
haben den Kranken beschäftigt; er schilderte in einem Vorspiele
„Die Torgauer Haide” das friderizianische Heer mit einer derben,
kernhaften Lebenswahrheit, die den wirksamsten Stellen des schönen
Romans „Cabanis” von W. Alexis nichts nachgibt. Das Lieblingswerk
dieser Jahre war ein Trauerspiel „Agnes Bernauerin”. Ludwig fühlte mit
feinem Künstlertakt, daß dieser Engel von Augsburg in der historischen
Überlieferung mehr eine rührende als eine tragische Gestalt ist; er
versuchte sie zu einem schuldvollen tragischen Charakter zu erheben,
lieh ihr einen dreisten vorwitzigen Zug und lief freilich Gefahr, das
Mitleid für die Heldin zu ertöten. Aber die alte rätselhafte Unart
seiner Phantasie, die nur fragmentarisch schaffen konnte, ließ sich
nicht mehr bewältigen. In wundervoller Klarheit erschienen ihm einzelne
Szenen, und was er von solchen Bruchstücken auf das Papier warf,
wirkt hinreißend, bezaubernd auf den Leser. Er meinte wohl, jetzt,
da er mit Bewußtsein schaffe, entwerfe er zuerst den Plan, dann erst
erschienen ihm seine Gestalten; doch die unhemmbare vorwärtsschreitende
Gestaltungslust des rechten Dramatikers, welche nicht ruhen kann, bis
sie ihren Helden auf die Höhen der Leidenschaft emporgetrieben und dann
herniedergestürzt hat -- sie erwachte dem Kranken nie. Eine Lücke, die
sich niemals füllen wollte, klaffte immer zwischen den einzelnen in
höchster Pracht geschauten Bildern, der Ring des Kunstwerks schloß sich
nicht. Nun packt er „die Stoffe, die er bebrütet”, aber und abermals
an, wohl zwölfmal oder mehr wird die Bernauerin umgearbeitet -- nie
vollendet.

Er belauscht sich während des Schaffens, er fühlt seine Verwandtschaft
mit Kleist und Hebbel, vergleicht seine Gestalten mit den ihrigen,
er findet in Shakespeare den vollendeten Künstler und versucht aus
dessen Werken die höchsten Gesetze der Kunst abzuleiten. Sein eigenes
Selbstgefühl, seine Künstlerfreudigkeit fühlt sich erdrückt durch die
Größe des Briten, sieben Jahre lang bis zu seinem Tode läßt ihn das
Bild des fremden Dichters nicht los, er schreibt „Shakespearestudien”
und trägt in diese Blätter, wie in ein Tagebuch, alles zusammen,
was ihm Kopf und Herz bewegt: Selbstgeständnisse, ästhetische
Regeln, Dramenentwürfe, Studien über Shakespearesche Charaktere,
Besprechungen eigener und fremder Werke. Der Thüringer Natursohn
spricht in Lob und Tadel mit einer unbefangenen Geradheit, die
unserer verzärtelten rücksichtsvollen Zeit wie eine Stimme aus den
cheruskischen Wäldern klingt, er berührt die feinsten und höchsten
Rätsel der Kunst und des Seelenlebens, er erörtert Fragen, die nur
ein reicher Künstlergeist aufwerfen kann -- als z. B.: „Wie reich ein
Stück Shakespeares an Handlung ist und wie wenig Szenen es doch hat
und wie diese auch so viel poetische Ausmalung haben” -- und gleich
darauf befremdet er uns durch einen Erklärungsversuch, der eine fertige
historisch-philologische Bildung verlangt, also der Intuition des
Künstlers allein nicht gelingen kann -- und dann folgt wieder ein
Selbstbekenntnis von fast unheimlicher Klarheit. Auch in Ludwigs Seele
wühlte jene krankhafte Neigung, sich selbst zu belauern, welche das
Leben Heinrich Kleists verwüsten half. Aber während Kleist in der Kunst
sich immer wieder zu frischer Schöpferlust ermannte und nur in seinem
äußeren Leben ein unglücklicher Grübler blieb, verfloß Ludwigs Leben
wohlgeordnet, in gleichmäßigem Wellenschlage, der krankhafte Trieb
in ihm warf sich allein auf sein künstlerisches Schaffen. Schon ein
Übermaß gelehrten Wissens lähmt oft den freien Flug des Dichtergeistes,
doch noch verderblicher als die allzu schwere Bildung des Verstandes
wirkt auf den Künstler jene vorzeitige Kritik, die ihm die Freude
stört an seinen halbvollendeten Gestalten. Mir ward unsäglich traurig
zumute, als ich einst in einigen Heften aus Ludwigs Nachlaß blättern
durfte. Welch ein ungeheurer Fleiß in diesen eng beschriebenen Bogen;
nur selten einmal hat die zitternde Hand des Kranken am Rande bemerkt,
er habe heute seinen Kindern zulieb' zeitig Schicht gemacht. Große
tiefsinnige Entwürfe, prächtige Verse, glänzender, schwungvoller als
die schönsten Stellen der Makkabäer, dann wieder einzelne aufgebauschte
geschraubte Bilder, und schließlich doch kein Ganzes -- eine Phantasie,
die uns zugleich durch ihren Reichtum und durch ihre Unfruchtbarkeit in
Erstaunen setzt.

Ganz gewiß hat auch die Krankheit und die Sorge um des Lebens Notdurft
den Aufschwung dieser Dichterkraft gelähmt. Man darf von Ludwig nicht
reden, ohne mit ernstem Wort einer häßlichen Schwäche der deutschen
Gesittung zu gedenken -- des unanständigen Geizes, den die deutsche
Lesewelt ihren Schriftstellern entgegenbringt. Alle die bequemen
Entschuldigungen, welche auf unseren noch jugendlichen Volkswohlstand
verweisen, zerfallen in nichts vor der beschämenden Tatsache, daß
in dem kleinen Holland, dem halbbarbarischen Rußland die Auflagen
guter Bücher weit stärker, oft zehnmal stärker sind als in dem großen
gelehrten Deutschland. Kein Volk liest mehr, keines kauft weniger
Bücher als das unsere. Namentlich unsere höheren Stände zeigen im
literarischen Verkehrsleben einen Mangel an Feingefühl, eine Kargheit,
welche unsere Nachbarn mit Recht als unschicklich schelten. Solange
es bei uns noch nicht für schmutzig gilt, wenn eine reiche elegante
Dame mit Handschuhen bewaffnet ein unsauberes Lesezirkelexemplar eines
Buches liest, das sie im nächsten Laden für wenige Groschen kaufen
kann -- ebensolange werden alle Schiller- und Tiedgestiftungen die
gedrückte Lage der deutschen Schriftsteller nicht wesentlich bessern.
Ist ein deutscher Dichter vollends wenig fruchtbar, fehlt ihm, wie
diesem Thüringer, gänzlich das Talent für den einzigen gewinnbringenden
literarischen Erwerbszweig, für die Journalistik, so kann er der
bitteren Not nicht entgehen.

Doch in Wahrheit liegt der letzte Grund der Unfruchtbarkeit von Ludwigs
späteren Jahren nicht in der Krankheit, nicht in der Armut, sondern
in jener rätselhaften Anlage seiner Phantasie. Ihm blieb versagt, der
Welt die Schätze seiner Seele zu zeigen, er war mehr, als er schuf,
und nur seinen Freunden lebt das unverstümmelte Bild seines Wesens
in der Erinnerung. In der Kunst aber gilt nur das Können -- der alte
Spruch soll allezeit in Ehren bleiben, ob er auch grausam scheine;
das landläufige Urteil wird bei Otto Ludwigs Namen immer zuerst an
jene Erzählung „Zwischen Himmel und Erde” denken, welche er selber für
ein Nebenwerk ansah. Wer den unendlichen Wert der Persönlichkeit in
der Kunst versteht, wer da weiß, daß in der Entwicklung des geistigen
Lebens wie in dem Haushalt der Natur nichts verloren geht, der darf
freilich bei einer so äußerlichen Schätzung nicht stehen bleiben.
Wie die politische Geschichte dem General Friedrich von Gagern einen
ehrenvollen Platz anweist um der Gedanken willen, die er in der Stille
für Deutschland dachte, um der unerfüllten Hoffnungen willen, die
sich an ihn knüpften -- so wird auch die Literaturgeschichte nicht
bloß anerkennen, was Otto Ludwig schuf, sondern auch ein Wort des
Dankes übrig behalten für die hohen Ziele, die der Ringende nicht ganz
erreichte; sie wird gerecht und in Ludwigs eigenem Sinne urteilen, wenn
sie ihn auffaßt als den Dichter der Makkabäer, der das realistische
Ideal im Drama zu verwirklichen suchte.



Gottfried Keller



Gottfried Keller


Zwei köstliche Geschenke findet der Schweizer in seiner Wiege, welche
das Reifen echt-menschlicher Bildung und darum auch das Gedeihen der
Kunst mächtig fördern müssen. Von Kindesbeinen an umfängt ihn der
Zauber einer wunderbar reichen und vielgestaltigen Natur, zugleich
einer mächtigen Natur, welche nicht duldet, daß der Mensch sich ihr
entfremde und das fromme Bewußtsein seiner Abhängigkeit verliere;
und sein Leben sodann verbringt er unter den Segnungen einer uralten
politischen Freiheit. Dennoch hat der rüstige Stamm, welcher die
Sehnsucht des großen Mutterlandes, die Einheit, bereits in beglückender
Erfüllung besitzt, zu dem königlichen Reichtum deutscher Kunst kaum ein
ärmliches Scherflein beigetragen. Nur zweimal mit bedeutendem Erfolge
wußten die Schweizer die Vorteile ihrer Lage für die Literatur zu
benutzen.

Als die Eroberungsgelüste der Nachbarfürsten an dem Todesmute der
Schweizerbauern gescheitert, da schollen die Sempacher Lieder und die
Burgundischen Kriegsgesänge von den Alpen nieder, und die hochgemute
Weise „Der Stier von Uri hat scharpffi Horn, kein Herr ward ihm nie
zhoch geborn” fand frohen Widerhall unter den Marschenbauern, die im
Norden zu gleichem Kampfe sich scharten, und unzählige Nachahmer in
den sangeslustigen Haufen der Landsknechte. Die Reformation zog in der
Schweiz so wenig wie in Deutschland einen Aufschwung der Dichtung nach
sich. Seltsam genug: trug doch jene Bewegung in der deutschen Schweiz
einen freieren, weltlicheren Charakter als bei uns; ist doch „unser
Landskraft Zwingli” und sein staatsmännisches Wirken, sein kühner
Reitertod ein ganz anders lohnender Stoff für die Kunst als Luthers
gewaltigere aber mehr innerliche Größe. Erst lange nachher, zur Zeit
der Wehen, welche dem Glanze unserer Dichtung vorausgingen, sprachen
die Schweizer wieder ein entscheidendes und gutes Wort, als ihr
natürlicher Sinn, ihr treu bewahrtes germanisches Wesen sich auflehnte
gegen den Zwang französischer und Gottschedischer Regeln. An jener
Blütezeit selbst haben die Schweizer nur insofern einen bedeutenden
Anteil, als ihre Geschichte ein Gegenstand unserer Dichtkunst ward, und
vielleicht mehr als irgendein anderes neueres Ereignis hat Schillers
Tell das Gefühl der Gemeinsamkeit des Zweiges mit dem großen Stamme
unter ihnen wieder angefacht. Auch neuerdings, während ihr Staatswesen
so frisch und rüstig fortschreitet und der Aufschwung des Verkehrs
den beschränkten Gesichtskreis der abgeschiedenen Alpengaue täglich
mehr erweitert, ist das Land von den Bewegungen auf dem Gebiete
der Kunst ziemlich unberührt geblieben. Zwar die französischen
Schweizer haben durch die Farbenpracht ihrer unvergleichlichen
Landschaftsmalerei bewiesen, daß der Hochländer ein offenes Auge,
ein empfängliches Herz hat für die Herrlichkeit seiner Berge. In der
schönen Literatur jedoch war es um so stiller. Die naturwüchsige
Kraft des wackeren Berner Pfarrherrn in Ehren: wir verargen es doch
keinem seiner Landsleute, wenn er sich ernstlich verwahrt gegen die
Unterstellung, daß die Erzählungen Jeremias Gotthelfs ein getreues
Bild vom Schweizerleben böten. Nur eine Seite der Schweizer Art weiß
er zu schildern: die Härte, den Trotz, die örtliche Beschränktheit,
das zähe Beharren der Bauern; aber statt des unbefangenen, allem Guten
hell entgegenblickenden Auges, das wir von dem Bürger eines tüchtigen
Freistaates erwarten, finden wir kleinlichen Sinn, einen unerträglich
engherzigen Haß gegen alles, was unser Jahrhundert groß macht; und
statt der lieblichen Bilder, die ihm ein Gang ins Freie zeigen konnte,
führt er uns nur zu oft eine kümmerliche, häßlich-enge Welt vor die
Augen.

Unter den Lebenden ist doch _ein_ Schweizer Poet, der sein Land mit
Ehren vertritt. Das Glück ist dem Erfolge von Gottfried Kellers
Schriften wenig günstig gewesen, und auch während des Schaffens hat ihm
nicht immer die gleiche freundliche Sonne gelächelt. Wenn wir trotzdem
auch seine halbvergessenen Jugendschriften in den Kreis unserer
Betrachtung ziehen, so geschieht es, weil eine lebendige Kritik nur
dem möglich ist, der den Entwicklungsgang des Künstlers übersieht. Die
Überfülle seichten poetischen Schaffens hat allmählich in den Reihen
der Kritik einen unwürdigen Ton handwerksmäßiger Roheit eingeführt:
Kritik und Kunst leiden gleich sehr, wenn ein begabter Dichter sein
Fleisch und Blut als Nummer 59 unter „Fünf Dutzend neuer Romane”
besprochen findet. Was der Kritik gegenwärtig vor allem nottut, ist
ein wenig Pietät vor der individuellen Eigentümlichkeit der Künstler.
Wer nicht einzusehen vermag, daß in jedem Kunstwerke außer seinem
absoluten ästhetischen Werte und seiner historischen Bedeutung noch
ein höchst persönliches Element liegt, das gebieterisch Verständnis
fordert, der ist für Kunstbetrachtungen verdorben. Von Schiller kennen
wir das bezeichnende Wort: „Den Schriftsteller überhüpfe die Nachwelt,
der nicht größer war als seine Werke.” Lassen wir dies Eingeständnis
uns einen Fingerzeig sein; suchen wir hinter jeder Dichtung, die uns
erquickt, den freien und wohlgeordneten Dichtergeist zu entdecken,
dem wir sie verdanken. Das Suchen wird selten unbelohnt bleiben, am
wenigsten wenn es sich um einen deutschen Dichter handelt. Denn das
Bewußtsein unserer Volkseinheit ist bei den meisten von uns nicht
ein Werk der Reflexion und gelehrter Forschung, sondern ein Ergebnis
persönlicher Erfahrung, der Erinnerung an so viele starke Männer,
aus allen Ländern deutscher Zunge, die wir aus ihren Werken oder von
Angesicht zu Angesicht kennen und in denen allen wir die Spuren _eines_
Volksgeistes wiederfinden. Darum ist uns jeder ganze und tüchtige Mann,
in dem wir eine gute Seite deutschen Wesens erkennen, eine Freude:
er ist uns ein Unterpfand mehr für die Erfüllung unserer heiligsten
Hoffnungen.

Sie bildeten eine sehr gemischte Gesellschaft, die „Gedichte”, mit
denen Gottfried Keller im Jahre 1846 hervortrat. Immer wieder, wenn
eine solche bunte Sammlung von Gutem und Verfehltem erscheint, ertönt
die Klage über den Mangel an Selbstkritik, und immer wieder vergißt
man, wie tief diese kritiklose Redseligkeit in der Natur des Alters,
das zur lyrischen Dichtung besonders neigt, und wohl auch in der Natur
der Lyrik selbst begründet ist. Es waren damals die Tage, wo die langen
und erbitterten Parteikämpfe, welche die Neugestaltung des Schweizer
Gemeinwesens ankündigten, ihrem letzten gewaltsamen Ausbruche sich
nahten, es schien die Schweiz „der Freiheit Werkstatt, wo zornig ihre
Essen sprühn und rauchen”. Zugleich erfüllten Heinescher Weltschmerz,
ausschweifende Lehren von der Emanzipation des Fleisches und der
fanatische Christenhaß des Daumerschen Hafis die Köpfe unserer Jugend.
Unser Schweizer Poet stürzt sich mit Leidenschaft in das berauschende
Treiben der Zeit, und so stehen in dem seltsamen Büchlein schwungvoll
phrasenhafte Freiheitslieder im Herweghschen Stile und bitterböse
Angriffe gegen die Glatzen der Christenpfaffen friedlich neben
Gedichten, deren wohllautende Verse in heiliger Andacht die Größe der
Natur feiern, oder in denen der Dichter mit rührender Offenherzigkeit
über den Sünden seiner Jugend zu Gericht sitzt. Das ist das Eigene
an solchen Sammlungen: je mehr lyrisch die Gedichte sind, je mehr
sie nur die Stimmung des Augenblicks wiedergeben, desto verwirrter
der Eindruck, den das Ganze dem Leser hinterläßt. Die meisten sind
befriedigt, wenn sie nur das Gefühl mit hinwegnehmen, daß der Poet
ein jedem Hauche der Zeit geöffnetes Herz und die Gabe besitze, seine
Empfindungen stark und schön auszusprechen. Aus diesen Gedichten war
es doch nicht schwer, ein Mehreres herauszulesen, -- eine tüchtige
durchaus eigenartige Natur. Leicht ließ sich erkennen, daß der Zorn
dieses Dichters Muse nicht ist: seine tendenziösen Lieder sind selten
tief empfunden, und je überzeugender die einfache Plastik seiner Bilder
uns vor die Seele tritt, desto tiefer verletzt uns der Zynismus in dem
„Apostatenmarsch”, dem „Pietistenwalzer” oder wie sonst diese weder
singbaren noch witzigen Spottgedichte heißen. Der junge Republikaner
ist sehr wohl fähig, seine gute Sache poetisch zu vertreten; aber
nicht der Kampf ist es, der seinem Wesen zusagt: „Voran, voran,
ihr Bittern in fegenden Gewittern! wir ziehen heilend, segnend
nach mit klar gestimmten Zithern” -- so singt er in Augenblicken,
wo er ganz er selber ist. Das Ziel nur hat einen Reiz für ihn, das
glückliche Gleichmaß eines freien mit Recht und Wohlwollen geleiteten
Gemeinwesens; und in diesem Sinne weiß er das Glück seiner Heimat
mit einem Vollgefühle der Zufriedenheit zu preisen, um das wir ihn
beneiden. Nicht eine politische Doktrin führt ihn in das demokratische
Lager, sondern jene Tugend, deren sich die echte Demokratie mit
größerem Rechte rühmen darf als irgendeine andere politische Richtung,
die vorurteilsfreie, alles Menschliche achtende Humanität:

    Hernieder laßt uns dringen,
    Demütigen Herzens bringen
    Licht in der engsten Hütte Nacht!

Noch mehr gefällt uns der Dichter, wenn er mit wenigen, klaren und
sicheren Strichen ein einfaches Bild der Natur nachzeichnet, wenn er
den Knaben besingt, der im Walde liegt, durch die Zweige gen Himmel
blickend, und gern und ruhig duldet, daß eine Eidechse über seinen Hals
schlüpft -- oder das Mädchen, wie sie eine Rose in den Brunnen wirft
und das Wasser schlau in Wellen schlägt, bis der Knabe den Blumengruß
gewonnen hat. Diese Einkehr in die Natur bleibt bei Keller frei von
aller Sentimentalität; es ist die kerngesunde Lust am Einfachschönen,
nicht eine mürrisch-trübe Flucht vor den Stürmen der Welt. Recht derb
vielmehr weiß er die „Goethephilister” abzufertigen: -- wer spricht
von Anmut, wenn die Berge wanken? Und dann gerade erklingt sein Lied
am schönsten, wenn er die rein menschliche Lebenslust und seine Liebe
zu seiner großen rastlos vorwärtsstrebenden Zeit zugleich ausspricht.
Allbekannt ist sein Gedicht an Justinus Kerner. Als der alte Herr
einmal einen poetischen Stoßseufzer ausstieß ob der dampfestollen Welt,
die er nicht mehr verstand, da wußte ihm der frohmutige Schweizer so
stolz, so jugendfrisch zu antworten, daß der greise Sänger gewiß seinen
Trost davon gehabt hat:

    Und wenn vielleicht, nach fünfzig Jahren,
    Ein Luftschiff voller Griechenwein
    Durchs Morgenrot käm' hergefahren --
    Wer möchte da nicht Fährmann sein?
    Dann bög' ich mich, ein sel'ger Zecher,
    Wohl über Bord von Kränzen schwer
    Und gösse langsam meinen Becher
    Hinab in das verlaßne Meer!

Ein Dichter von so jugendlicher Frische, so einfachem Natursinn mußte
die zeitgemäße Tendenz bald als unnützen Ballast über Bord werfen.
Reifende Einsicht mußte ihn abbringen von der Neigung zum Seltsamen,
Barocken, welcher er in den „Gedanken eines Lebendigbegrabenen” und
ähnlichen Gedichten, die sich schon durch ihre Aufschrift verurteilen,
gefrönt hatte, mußte ihn zurückführen zu dem Sinne für das Schlichte,
Wahre, der in seinem Wesen lag und aus seinen gelungenen Liedern sprach.

In der Tat zeigen Kellers „Neuere Gedichte” eine reifere
Gestaltungskraft. Die Stürme des Jahres 1848 waren gekommen, und
in den deutschen Parteikämpfen steht der Schweizer natürlich auf
demokratischer Seite. Aber wie anders weiß er jetzt seine politischen
Ideen dichterisch zu verkörpern! Kurz entschlossen tritt der übermütige
junge Plebejer vor das Fenster des Fürstenhauses und singt sein
„Ständchen an eine Prinzessin”:

    In die Tiefe tauche kühn,
    Jugend und Liebe zu werben,
    Wo die Bäume des Lebens blühn
    Und die Augen wie Sterne glühn!
    Droben bei dir ist Sterben,
    Liebliche Bürgerin Klara!

Das heißt doch die Idee der Brüderlichkeit praktisch und als Künstler
verstehen! Wer heute die Schriften liest, woraus damals unsere
Jugend ihre Staatsideale schöpfte, der erschrickt nicht bloß vor
der Ideenarmut, sondern mehr noch vor der trostlos langweiligen
Nüchternheit, die sich, bei aller phantastischen Überschwenglichkeit,
in ihnen brüstet, vor jener dürren Prosa, welche sich allemal
einstellt, wenn die Phantasie sich auf Gebiete wagt, die ihr
verschlossen sein sollten. Wahrlich, kein geringes Maß von Kraft
und Gesundheit gehörte dazu, diese abstrakten Träume des sozialen
Radikalismus in individuelle Gestalten umzubilden:

    Und wo flimmernd Schwan und Leier
    Und das Bild des Kreuzes sprühn,
    Wird dereinst in schönem Feuer
    Karoli Magni Krone glühn.
    Aber dann in tausend Wiegen,
    Hier in Gold und dort in Holz,
    Wird der junge Kaiser liegen,
    Freier Mütter Ruhm und Stolz,
    Wird als Hirt in Blumen weilen,
    Im Gebirg' als Jäger gehn,
    Auf des Meerschiffs schwanken Seilen
    Als ein braver Seemann stehn.

Sicher, das Bild einer schönen, menschlich-reinen Zukunft. Und wer
wollte mit dem lyrischen Dichter über politische Fragen rechten, wenn
er getan hat was er nicht lassen konnte, wenn er einen glücklichen
Traum, der sein Herz bewegt, in tief empfundenen Worten wiedergibt? Die
Frühlingsmonde der deutschen Revolution, die berauschende Hoffnung,
die wie ein Lauffeuer von Land zu Land eilte, das erste mächtige
Aufatmen nach einer langen Zeit dumpfen unnatürlichen Schweigens --
dies, bei all seiner Verkehrtheit doch wunderbar großartige Schauspiel
lebt vielleicht nur denen ganz klar und schön in der Erinnerung,
welche damals zu jung waren, um an dem Kampfe selbst teilzunehmen und
die Sorgen und Gefahren des Augenblicks zu würdigen. Die furchtbare
Enttäuschung, welche dem Rausche folgte, hat es begreiflich jedem
Künstler unmöglich gemacht, den überreichen Stoff zu benutzen, den
jene Tage ihm bieten. Kaum daß wir einmal in einer Gemäldesammlung ein
Genrebild treffen, wie den lustigen „Einzug des Reichsverwesers” von
Oppenheim, das uns die Stimmung des bewegten Frühlings zurückruft.
Unter all den Gedichten, welche mit dem Sturme kamen und verschwanden,
ist keines so ganz erfüllt von dem Pulsschlage jener Zeit, der
fraglosen Hoffnungsseligkeit, wie diese politischen Gedichte von
Keller. Freilich, nicht alle tragen diesen Charakter reiner Empfindung.
Es sind manche darunter, welche in parteiischer Verschrobenheit
Betteljungen und Taugenichtse als das eigentliche Volk verherrlichen.
Doch aus den meisten redet ein echt humaner Freisinn, ein liebevolles
Mitgefühl mit den Armen und Leidenden.

Auch in dieser Sammlung geben wir den einfachen Naturbildern den Preis,
welche, frei von aller Wortmalerei, oft mit glücklicher Wahrheit
die Seele einer Landschaft widerspiegeln oder als echte Idyllen den
Menschen in einfach-frohem Dasein schildern. Natürlich stößt dies
offene Auge auch oft auf Häßliches, und der Dichter hat nicht immer die
Kraft, es zu verklären; solche Gedichte erscheinen, da seinem ehrlichen
Wesen die kleinen Künste, das Widrige zu bemänteln, gänzlich fehlen,
doppelt grell und abstoßend. Seine Weinlieder sind zwar keineswegs
frei von jenen renommistischen Klängen, welche bei solchen Stoffen zum
Handwerk zu gehören scheinen; aber der Grundton ist auch in ihnen ein
gesunder: die einfache herzliche Dankbarkeit für die reichen Geschenke
der Natur.

Mit dieser schönen Künstlertugend Gottfried Kellers hängt indes eine
wunderliche Grille zusammen, -- ein grimmiger Haß gegen die Idee der
Unsterblichkeit. Er wähnt, dieser Gedanke sei unverträglich mit dem
Gefühle der Daseinsfülle, welches das Glück seines Daseins ausmacht,
und er verfolgt ihn wieder und wieder mit dem bittersten Spotte. Wer
unberührt ist von der Gehässigkeit, womit diese Idee seit alter Zeit
und neuerdings wieder bald verteidigt, bald angegriffen wird, der
erstaunt billig darüber, wie grundverschiedene Dinge unter diesem Namen
begriffen werden. Daß, wie wir das Schaffen großer Männer und großer
Völker handgreiflich fortwirken sehen von Geschlecht zu Geschlecht, so
auch der schwächste Sterbliche ein notwendiges Glied ist in der großen
Kette der Geschichte -- daß darum keine unserer Taten ganz verloren
geht, keine wieder zu vertilgen ist durch äußerliche Buße -- dieser
Gedanke ist allerdings die Grundlage jeder streng gewissenhaften
Sittlichkeit. Diese Unsterblichkeit soll der Mensch -- nicht glauben,
denn wer darf beim Glauben von einem Sollen reden? -- sondern ernst
und klar erkennen. Und auch der Dichter mag zu Felde ziehen gegen
die Leichtfertigkeit oder die äußerliche Religiosität, welche diese
Erkenntnis leugnet. Wie anders der Glaube an ein bewußtes Dasein nach
dem Tode! Wenn jetzt schon jeder unbefangene Denker gesteht, daß unser
Wissen über diese Frage nichtig ist, so wird einst eine Zeit reinerer
Menschlichkeit kommen, wo alle Welt über die heute so arg verketzerte
Wahrheit einig ist, daß der Glaube an ein Jenseits mit unserem Glücke,
unserer Tugend an sich nicht das mindeste zu tun hat. Für schwache
oder gemeine Naturen kann der Glaube an eine Fortdauer nach dem Tode
ebensowohl eine Quelle der Unsittlichkeit werden wie das Leugnen
derselben; wenn es asketische Toren gibt, welche sich „die köstliche
Neige der Zeit mit dem Gedanken der Ewigkeit verdünnen”, so leben noch
weit mehr Menschen, welche zugleich mit dem Glauben an ein Jenseits
jedes Lebensglück, jeden sittlichen Halt verlieren würden. Freilich,
wenn der ungeheure Gedanke der Ewigkeit von unreinen Lippen gepredigt
oder durch triviale Vorstellungen getrübt wird, dann soll der Dichter
dagegen, wie gegen alles Kleinliche und Unwahre, sein lauteres Wort
erheben. In dem glücklichen Gedichte „Wochenpredigt” schildert Keller,
wie am heißen Erntetage die lebensmüden Alten in der Kirche sitzen und
der Priester ihnen verkündigt, daß wir im ewigen Leben „von einem Stern
zum andern hupfen und endlich in den Urquell schlupfen”. Dann geht
das Pfäfflein heim, und, um die Zeit bis zu einem abendlichen Feste
totzuschlagen, verschläft es den Nachmittag.

    O Pfäfflein, liebes Pfäfflein sag':
    Ist dir zu lang der eine Tag,
    Was willst du mit all den Siebensachen,
    Den Millionen Sternen und Jahren machen?

Gewiß, das muß ein arger Pedant sein, dem dieser lustige Einfall
keinen Beifall entlockt. An sich aber ist der Glaube an ein Jenseits
weder sittlich noch unsittlich, weder schön noch unschön; er
mag von Dichtern mit gleichem Glücke verherrlicht oder verworfen
werden. Wer darf dem wie Sphärengesang tönenden Schwunge der von
diesem Glauben durchaus getränkten Oden Klopstocks oder Hölderlins
sein poetisches Recht bestreiten? Und wieder, wer darf das echt
künstlerische Gefühl verkennen, welches Keller treibt, die Blumen und
die irdische Herrlichkeit ringsumher also anzureden: „Ich wende mich
vom Schrankenlosen zu eurer Anmut froh zurück?” Nur sollte es kaum
der Bemerkung bedürfen, wie wenig eine dauernde Beschäftigung mit so
formlosen abstrakten Stoffen der Dichtkunst frommen kann. Wir lächeln,
lesen wir heute, wie Klopstocks seraphische Überschwenglichkeit sich
sogar die Freude an einem Johanniswürmchen durch die Frage verbittert:
„Du bist vielleicht, ach! nicht unsterblich?” Aber nicht bloß lächeln
müssen wir über den Luftkampf, welchen die materialistischen Poeten von
heute führen; auch die ernste Frage können wir ihnen nicht schenken,
wie es sich mit dem Wesen der heilenden und versöhnenden Kunst
verträgt, einen Glauben zu verspotten, der für Unzählige den Inbegriff
alles Heiligen bildet? Lesen wir vollends Zynismen wie das Lied: „Ich
hab' so manchen Narren gekannt, der wollte ewig leben” oder manche der
„Gaselen”, so gestehen wir, daß dieser materialistische Fanatismus der
Verketzerungssucht der „Christenpfaffen” völlig ebenbürtig ist. --

Inzwischen hatte Keller seine Kraft zu einem größeren Werke gesammelt,
zu dem Romane „Der grüne Heinrich”. Es bedarf keines Tiefblicks, um
zu erkennen, daß gar manches in diesem Buche von dem Poeten selbst
erlebt ist, daß er in langer und liebevoller Arbeit die Früchte einer
mannigfach bewegten Jugend zusammengetragen hat. Aber hier ist nichts
von jener Schönseligkeit, jener Selbstvergötterung, die seit Rousseaus
Tagen solchen Konfessionen anhaftet. Das Gedicht ist entstanden aus
dem natürlichen Bedürfnisse, mit einer erfahrungsreichen Zeit, die
der Dichter überwunden hat, völlig abzuschließen. Freilich verliert
so das Werk an Einfachheit und Abrundung der Komposition, was es an
Wahrheit und Lebhaftigkeit gewinnt. Keller hat das naturgemäßeste
Thema des Romans gewählt: er schildert den Werdegang eines Charakters;
und wir wüßten aus den letzten Jahren kaum eine Dichtung, welche
einen jungen Mann in dem Alter, wo man zuerst beginnt, auf sein Leben
zurückzuschauen, so tief und dauernd fesseln könnte. Aber nicht bloß
der stoffliche Reiz zieht uns zu dem Buche: auch der Kunstwert der
ersten Bände ist hoch anzuschlagen. Die gleichmäßige Heiterkeit seiner
Natur, sein für alle, auch die kleinsten Schönheiten der Außenwelt
geöffnetes Auge, seine frohe zuversichtliche Weltanschauung, der die
Geschichte als ein großes Lustspiel erscheint, worin die überlegene,
unbedingte Einsicht schließlich alles versöhnt: -- das alles mußte
Keller von selbst zur epischen Dichtung führen. Wie wahr weiß er die
verborgensten Falten in dem Charakter seines Helden aufzudecken, und
doch sind diese Schilderungen nicht peinlich-genau, nach Art englischer
=matter-of-fact=-Novellen, sondern poetisch wahr. Zu den gelungenen
Teilen dieses Romans möchten wir die kritischen Klopffechter des
Idealismus und Realismus führen: hier, wie an jedem Kunstwerke, könnten
sie lernen, daß lebendiger Schönheitssinn zum charakteristischen Stile
so notwendig gehört wie der Anker zum Schiff. Keller besitzt nicht
jenen leeren abstrakten Formensinn, den ästhetische Feinschmecker an
Paul Heyse und Geibel bewundern, sondern ein kräftiges, angeborenes,
aber durch Bildung geadeltes Schönheitsgefühl. Auch wenn die Fabel des
Romans das Geheimnis nicht verriete, würde uns die Darstellungsweise
auf die Vermutung bringen, daß ein Stück von Maler in ihm liegen muß.
Könnte der arme Mann von Toggenburg diese lachenden Schilderungen vom
Schweizerlande lesen, wie herzlich würde der Gute seine Landsleute um
Verzeihung bitten, daß er ihnen das Verständnis der Naturschönheit
abgesprochen. So recht an seiner Stelle ist Kellers Talent, wenn er die
echt epischen, durch ihre Einfachheit großen Empfindungen ausdrückt:
wenn er schildert, wie der Jüngling mit befangenem Staunen zum ersten
Male seiner Großmutter begegnet und das seinem Dasein Vorangegangene
groß und unvermittelt ihm gegenübertritt -- oder wenn er uns einführt
in das heilige Schweigen der Nacht, wo das Glück der Erde seinen
Rundgang zu halten scheint über die schlafende Welt. Kellers Sprache
ist von jener anschaulichen Kraft, die dem Sohne des Volkes zu erwerben
leicht wird, und sie wird mit der Freiheit gehandhabt, welche nur die
Frucht gewissenhafter Arbeit ist. Keller hat sich das schöne Vorrecht
des Epikers, daß er scheinbar absichtslos und ohne Rücksicht auf den
Leser schreiben darf, nicht entgehen lassen: er erregt von Hause aus
unsere Teilnahme für den Helden, aber nirgends reizt er uns durch jene
prickelnde Neugierde, die den Kunstgenuß zerstört. Sein Buch ist, wie
die Weisheit des Brahmanen verlangt, „ein Ganzes, das besteht aus
tausend kleinen Ganzen”.

Die Mängel des Romans lassen sich meist darauf zurückführen, daß der
Poet seinem Stoffe nicht frei genug gegenübersteht. Bezeichnend dafür
ist, daß die Kindheitsgeschichte des Helden weit unbefangener und
klarer dargestellt wird als seine späteren Erlebnisse, von denen manche
des Dichters persönliches Interesse noch allzu nahe berühren mochten.
Wir lernen den grünen Heinrich kennen, wie er von seiner Mutter und
seiner Schweizer Heimat sich trennt, um in München Landschaftsmaler zu
werden. Aber schon nach den ersten Reiseabenteuern wird die Erzählung
abgebrochen, und wir erhalten die Jugendgeschichte des Helden in der
Darstellung, die er, um sich selber Rechenschaft zu geben, aufgesetzt
hat. Stört diese Zerspaltung der Fabel ohnehin den harmonischen
Eindruck, so führt sie noch schwerere Nachteile mit sich. Die Form
des Tagebuchs gibt dem Dichter Gelegenheit, sich in behaglicher
Weitschweifigkeit zu ergehen und seiner Neigung für das Absonderliche,
die er trotz aller ästhetischen Bildung doch nicht hat ablegen können,
die Zügel schießen zu lassen. In der Absicht, uns mit dem Charakter
des Helden vertraut zu machen, gibt er uns dessen Betrachtung über
alles Erdenkliche, Herzensergießungen, so derb ehrlich, so verzweifelt
naiv (denn der grüne Heinrich verdient seinen Namen nicht bloß um der
Farbe seines Rockes willen), daß ein gesetzter Leser sich bekreuzen
möchte. Schlimmer ist, daß diese Betrachtungen oft die Wahrheit der
Erzählung zerstören. Das langsame Erwachen des Menschen aus kindischem
Traumleben zu hellem Bewußtsein ist vielleicht der zarteste Gegenstand,
den ein Dichter berühren kann: nur die allerruhigste, unbefangenste
Erzählung kann uns hier überzeugen. Eine Reihe kleiner kindischer
Sünden, die uns, einfach erzählt, ganz natürlich erscheinen würden,
erregen unser Befremden, weil der zwanzigjährige Tagebuchschreiber
sich die Motive seiner alten Missetaten nachträglich zu erklären
sucht. Jedoch solche Mißgriffe sind nicht häufig. Im ganzen ist es
eine Lust, diese Kindheitsgeschichte zu lesen. Selbst das unbefangen
Tierische im Menschen wird uns gezeigt, seine natürliche Grausamkeit,
seine schamlose Selbstsucht; wir sehen, wie die erste Wurzel der
Unwahrheit, die falsche Scham, sich bildet, wir werden an jene
haarscharfe Grenze geführt, welche das naturgemäße Erwachen einer
lebendigen Einbildungskraft von der bewußten Lüge scheidet: und doch
geht über dieser Fülle des Charakteristischen nicht der wehmütige
Zauber verloren, der über dem Dämmerleben des Kindes schwebt. Durchaus
bewährt sich des Dichters sittlicher Takt: er hütet sich wohl, den
gedankenlosen Diebereien des Kindes mit dem Strafgesetzbuch in der
Hand entgegenzutreten: aber sein Künstlerzorn erwacht, wenn er den
Helden bei einem kleinlichen, engherzigen Gebaren findet. Die ersten
bewußten Jahre verlebt der Held in engen Verhältnissen unter der
liebevollen Zucht einer ernsten, genauen Mutter. Dann beginnt der
unreife Spieltrieb allmählich umzuschlagen in die Lust an wirklicher
Tätigkeit. Heinrich beschließt, sich zum Künstler zu bilden. Da sehen
wir mit Rührung, wie hilflos die arme Witwe dem fremdartigen Treiben
des Sohnes gegenübersteht: kann sie doch den Liebling ihres Herzens
kaum anders unterstützen, als indem sie Strümpfe für ihn strickt.
Und wie ergreifend erscheint das unselige Streben des Autodidakten,
der, bald führerlos, bald mißleitet von unfähigen Lehrern, haltlos
seiner unfertigen Empfindungslust, seiner knabenhaften Neigung für
das Sonderbare preisgegeben ist. Ein Landaufenthalt seines Helden gibt
Keller Anlaß zu Schilderungen des Volkslebens von so viel Schönheit und
Farbenpracht, daß wir uns erstaunt fragen, ob dies dieselben Menschen
sind, welche in Bitzius' Erzählungen unser ästhetisches Gefühl so oft
schwer beleidigen. Diese Bauern sind weder malerisch noch großartig,
sie sind schroff und engherzig, soweit in jenem harten materiellen
Leben der Mann es sein muß, um auf eigenen Füßen zu stehen; es sind
starke aufrechte Männer, sondertümliche, eigenartige Charaktere, wie
sie in freier Unabhängigkeit sich bilden. Aber wie ehrwürdig erscheinen
uns hier die köstlichen Güter des Landmanns, das frische Brot und
der junge Wein; und wie tüchtig und beneidenswert das Volksfest der
Tellfeier mit all seiner Derbheit, seinem naiven Ungeschick; denn
über all dem bunten Treiben sehen wir ein naturwüchsiges, freies
Gesamtleben, dem der Staat noch nicht als eine dem Volk entfremdete
mechanische Amtsordnung gilt. Dort auf dem Dorfe empfängt des Helden
Charakter die ersten dauernden Eindrücke der Leidenschaft. Seine
romantische Neigung, seine unklare Schwärmerei wird durch ein zartes
junges Mädchen gefesselt, aber sein Künstlerfeuer, seine lebendige
Sinnlichkeit liegen in den Banden eines gereiften Weibes. Die schöne
Judith ist eine jener sicheren, naturfrischen Frauen, die auch in
unseren frommen Tagen nimmer aussterben werden: schön und stark,
heißblütig und mit heidnischer Unbefangenheit jeder Leidenschaft
folgend, aber durchaus wahr und eine harmonische Natur, der man nicht
grollen kann. Dies Doppelleben des Helden ist mit ergreifender Wahrheit
geschildert, aber auch mit einer naiven Offenherzigkeit, wie wir
sie nur dem grünen Heinrich verzeihen können. Wir sind die letzten,
die verbildete Prüderie unserer Frauen, welche ihnen die edelsten
Kunstgenüsse verdirbt, zu verteidigen, und wir wissen sehr wohl Kellers
kräftige Sinnlichkeit von der faunischen Lüsternheit der Franzosen
zu unterscheiden: dennoch bedauern wir, daß manche schöne Hand den
Roman aus der Hand legen wird, erschreckt durch diese Darstellung
des Nackten, für welche ein künstlerischer Zweck nicht zu finden
ist. Das zarte Mädchen stirbt, von Judith reißt Heinrich sich los in
einem gewaltsamen Ausbruche unreifen Tugendstolzes. Endlich zieht der
zuversichtliche junge Held in die Fremde, um -- alles zu vergeuden, was
er besitzt, sein und seiner Mutter Leben.

Von hier hebt die eigentliche Erzählung wieder an, und sie sticht
auch dadurch von dem Tagebuch in sehr störender Weise ab, daß von
den vielen in diesem angeknüpften Fäden kaum einer von der Erzählung
wieder aufgenommen wird. Mit des Helden Eintritt in das Münchener
Kunstleben beginnt auch der Dichter sich eingehender mit der
Kunst zu beschäftigen. Sein Buch ist das herbste, unbarmherzigste
Verdammungsurteil über den Dilettantismus. Nur der Meister, nur
wer seinen Beruf gründlich versteht, ist glücklich, mag er auch
einen Stiefel zurechthämmern -- dies der Kern der Kunstanschauung
Gottfried Kellers. Eine goldene Wahrheit, die dem Sohne eines starken
und regsamen Volksstammes wohl ansteht; ein Kind mag sie fassen,
aber Tausende unserer Gebildeten gehen zugrunde, weil ihnen der
sittliche Mut, ihr zu folgen, mangelt! Die Standrede, welche der
Maler Erikson seinem Freunde, dem grünen Heinrich, hält, über die
mächtige Gesellschaft der „Wollenden” in der Kunst, über die nahe
schöne Zukunft, wo die Städtebewohner sich an dem Gruße: Dichter?
Dichter! Künstler? Künstler! erkennen werden, und ein Senat geprüfter
Buchbinder und Rahmenvergolder zu Gericht sitzen wird über den Werken
des reinen Fleißes -- dieser Scherz ist eine meisterhafte Satire, die
jeder junge Künstler einmal lesen sollte. In solchem Geiste frischen
vollkräftigen Künstlertums bekennt sich Keller auch zu jener Auffassung
des geistigen Eigentums, die zu Recht bestehen wird, solange es rüstige
Künstler gibt: der ohnmächtige Schwächling, dem eine gute Idee über
Nacht gekommen, hat nicht das mindeste Recht zur Klage, wenn ein
schöpferischer Kopf sie seiner unfähigen Hand entreißt und lebendig
gestaltet. Wiederum eine sehr einfache, selbstverständliche Wahrheit;
aber haben uns nicht die tragikomischen Erlebnisse des Schulmeisters
von Possenhofen gezeigt, wie wenig unsere tonangebenden Schriftsteller
diesen braven Künstlersatz begreifen? -- So gern der Dichter über
künstlerische Dinge redet, so wenig wird die Schrift dadurch zum
Kunstroman. Weder stellt sich hier die Kunst eitel vor den Spiegel,
noch treten wir in jene Kreise der Aristokratie des Geistes, welche
mit ihrem vorherrschend innerlichen Leben der Dichtung einen noch
weit minder dankbaren Stoff bieten als der Adel. Das Buch bleibt ein
einfacher bürgerlicher Roman; der Dichter hat es verstanden, diese
besonderen Erlebnisse zu einem Bilde des Allgemeinen zu erweitern.
Seine Verachtung des künstlerischen Dilettantismus ist lediglich der
Haß des tüchtigen Menschen gegen alles Halbe und Schwächliche. Der Held
bleibt ein epischer Charakter, er läßt die ganze Fülle der Welt der
Erfahrung bildend auf sich wirken. Der Maler Ferdinand Lys schließt
sich an ihn an, einer jener unselig begabten Menschen, an denen die
Gegenwart reich ist: durchaus geistreich, fähig, von allem die höchsten
und kühnsten Begriffe zu fassen, auch nicht gerade unproduktiv, aber
mit einem Überwiegen des kritischen Denkens über die schöpferische
Begabung, welches ihn am dauernden, beglückten Schaffen hindert.
Oft genug gerät der gescheite Skeptiker mit dem unreifen jungen
Freunde in Streit, bis einmal der Junge, stolz auf den willkürlichen
Gottesglauben, den er sich aus den Trümmern der Dogmatik allein
noch gerettet, ihm mit schwer beleidigenden Worten seinen Atheismus
vorwirft. Da folgt eine Katastrophe, wie sie im Jugendleben nicht
selten ist, lächerlich und tief traurig zugleich: seinem Herrgott zu
Ehren verwundet der verblendete junge Mensch den Freund im Zweikampfe,
und Ferdinand stirbt einige Jahre darauf an den Folgen der Wunde.
Heinrich erkennt endlich, daß er zum Maler verdorben ist, er zeigt
sich gänzlich ungeschickt zum Erwerben, er gerät in bittere Not. Eine
ehrenwerte und doch falsche Scham entfremdet ihn gänzlich seiner
Mutter, und die unglückliche Frau stirbt vor Sehnsucht und Gram um den
verlorenen Sohn.

Hier nun muß es sich entscheiden, ob Heinrich ein wahrer Romanheld ist,
ab er fähig ist, seine inhaltlose, gutmütige Jugendbegeisterung mit
einer kräftigen, durch geistigen Schwung geadelten Lebenstätigkeit
zu vertauschen. Aber hier erfahren wir, wie selten jene behagliche
Heiterkeit des Gemüts, die Keller befähigte, seiner Erzählung
einen ruhigen epischen Fluß zu geben, sich verbunden zeigt mit
der dramatischen Energie, welche zum Abschlusse jedes Kunstwerks
unerläßlich bleibt. Und noch klarer zeigen sich die schlimmen Folgen
davon, daß der Held zu viel von des Dichters Fleisch und Blut hat.
Heinrich faßt zwar den männlichen Entschluß, der Malerei zu entsagen,
aber er meint sich berufen, im lebendigen Menschenstoffe zu schaffen.
Nein, junger Freund, wenn du, so derb geschüttelt durch schwere
Erfahrungen, noch nicht helleren Auges in dein Inneres blicken kannst,
so bist du noch immer der „grüne” Heinrich. Zum Maler taugt dieser
Mensch freilich nicht, denn er ist unfähig, nur mit einem Sinne die
Welt zu erfassen, er hat seine Lust an der sprossenden Frühlingssaat,
während seine Malergenossen den giftigen Ton der Farbe beklagen; aber
zum handelnden Leben taugt er darum noch minder. Ein ästhetischer
Widerwille war es ja, der schon den Knaben von dem Mysterium des
Abendmahls zurückstieß, dichterisch ist die üppige Erfindungslust,
welche sein Malerwirken so bitter störte -- mit einem Worte, in
Heinrich steckt ein Poet. Aber Keller hat nicht den Mut, diesen
Entwicklungsgang aufzudecken, er vernachlässigt darum das fruchtbare
Motiv, das in Heinrichs ästhetischer Lebensanschauung -- diesem
Urgrunde seines Glücks und seiner Schuld zugleich -- enthalten ist. Er
weiß sich schließlich nur so zu helfen, daß er Heinrich, während wir
noch auf dem vorletzten Blatte das Beste hoffen, auf der letzten Seite
sterben läßt. Diese Ratlosigkeit über den Ausgang des Helden verdirbt
den letzten Band durchaus; er ist gewandter geschrieben als der Anfang,
aber in der Komposition und der dichterischen Wärme steht er weit
zurück. Er ermüdet uns durch lange, völlig zwecklose Schilderungen
und Betrachtungen. Ja, es gelingt dem Dichter sogar einmal, unsere
Teilnahme dem Helden gänzlich zu entfremden, da Heinrich im Elend in
eine unerträglich weinerliche Gramseligkeit verfällt. Am Schlusse
indes erhebt sich die Erzählung noch einmal zu regerem Leben. Heinrich
schüttelt die letzten Spuren seines Jammers von sich, er erstarkt zu
neuem Selbstgefühle, und zum ersten Male kommt die Macht einer tiefen
Liebe gewaltig über ihn. Aber sein Tod zerreißt des Lesers kaum wieder
erwachte Hoffnungen. Es bleibt ein Mißgriff, der nicht wieder gesühnt
werden kann, daß der Dichter Heinrichs Freund und Mutter zum Teil
durch seine Schuld sterben ließ. Solche Verschuldungen, die mehr dem
Ungeschick des Kopfes als der Schlechtigkeit des Herzens entspringen,
bilden immer einen gefährlichen Stoff für die ernste Dichtung. Es ist
hart, daß Heinrich um dieser Sünden willen, welche ja nicht das Werk
seines freien Willens waren, zu den Verdorbenen und Gestorbenen gehören
soll. Und doch würden wir es noch minder ertragen, wenn Heinrich auf
dem Grabe seiner Mutter lustig Hochzeit hielte. Im Leben freilich ist
es nicht nur möglich, ja wir dürfen sogar verlangen, daß ein Mensch
mit so unseliger Vergangenheit noch ein wackerer und glücklicher Mann
werde. Aber so Großes bewirkt im Leben nur jene Macht, welche selbst
für die freieste und gewaltigste der Künste kaum darstellbar ist -- die
Macht der Zeit! So ist denn die Achillesferse aller Romane, der Schluß
hier besonders schwach. Das Buch endet mit einem grellen Mißlaute.

Wir durften wohl erwarten, daß ein so stark gärender Most endlich zu
einem reinen und edlen Wein werde. Nicht gänzlich haben die Erzählungen
von den „Leuten von Seldwyla” diese Hoffnungen erfüllt. Wie in jenem
Romane breite, ermüdende Reflexionen sich neben den schönsten Bildern
bewegten Menschenlebens ausdehnten, so stehen in dieser Schrift einige
gänzlich verfehlte Erzählungen neben Novellen, die aus dem Schatz
unserer Dichtkunst, will's Gott, nie wieder verschwinden werden.
Die Leute von Seldwyla sind, was schlechte Künstler „ein poetisches
Völkchen” nennen. Gegen dieses selige Lumpentum, das die Gemütlichkeit
für seine besondere Kunst hält, wendet sich der Dichter mit der
lustigsten und doch bittersten Ironie. Keller hat sehr richtig gefühlt,
daß solche flache Lustigkeit, die schließlich ins Elend versinkt, zu
gehaltlos ist, um der Kunst einen Stoff zu bieten. Das verkommene Volk
gibt ihm nur den Hintergrund, von dem sich die Schilderungen einiger
origineller Menschen abheben.

Freilich, wie ganz hat den Dichter sein guter Genius verlassen, als er
seinen „Pankraz, den Schmoller” schrieb. Uns ist, als müßte der lange
Erikson hervortreten, dem Poeten auf die Schulter klopfen und ihn
fragen, ob auch er nach so mannhaftem Kampf gegen das Dilettantenwesen
für die mächtige Genossenschaft der Wollenden sich habe werben lassen.
Es scheint des Dichters Absicht, zu schildern, wie oft gerade seine
kleinen Eigenschaften des Menschen Schicksal bestimmen, ihn fast
wider Wissen und Willen in ein schweres Schuldverhältnis zu seiner
Umgebung bringen. Und wieder scheint es, er wolle in dem nichtig-eitlen
Charakter der Lydia das unheimliche Geheimnis der Schönheit, das schon
Vater Homer geahnt, enthüllen. Aber er versucht nicht einmal, diese
Motive auszuführen. Kurz und gut, die Geschichte entbehrt jeder Pointe
-- so sehr, daß wir nicht einmal sicher sind, ob die Vermutungen,
welche wir vorhin über des Dichters Plan äußerten, in Wahrheit
zutreffen.

Kaum anders steht es mit dem Märchen „Spiegel das Kätzchen”. Hier
ersteht der ideenlose Humor der alten Romantik aus dem Grabe,
jener leere Humor, der sich nicht begnügt, die Poesie von falschen
moralischen Zwecken zu säubern, sondern auch die künstlerischen Zwecke
aus der Kunst verbannen möchte, jener Scherz, dem der Halt eines
gedankenvollen Ernstes fehlt. Der Dichter weiß den altertümlichen Ton
der Märe vortrefflich anzuschlagen, und einige Stellen der Erzählung
erinnern an die schönheitssatte Einfachheit der alten italienischen
Novellen; auch die Hexengeschichten sind phantastisch und lustig genug
-- aber wir ahnen nicht einmal, wo hinaus der Poet mit dem Ganzen
will. Wir sehen hier zwar nicht den in vollkommener Tendenzfreiheit,
im reinen Dasein sich ergehenden Fleiß des Dilettanten, aber eine
sehr verwandte Verirrung: den Übermut des Künstlers, der sich bewußt
ist, schön zu erzählen und nun meint, jede grundlose, willkürliche
Erfindung tue es auch. Dabei geht die Eintracht zwischen der Phantasie
und dem schlichten Verstande verloren, welche doch in einem rechten
Künstlerkopfe fein brüderlich zusammen hausen sollten.

In dem Schwanke von den „Drei gerechten Kammachern” hat Keller
durch die Tat gezeigt, was wahrer Humor ist: drollig genug ist die
Erzählung, recht, was man bei uns daheim eine pudelnärrische Geschichte
nennt; aber hinter den mutwilligsten Einfällen schaut ein ernstes
und starkes Gefühl hervor, eine rüstige Verachtung jener Laster,
welche dem Künstler die hassenswürdigsten der Sünden sein müssen,
der Engherzigkeit und Heuchelei. Nach dem verlumpten Neste Seldwyla
kommen drei gerechte Gesellen in ein Kammachergeschäft. Ein jeder in
der Absicht, des Meisters Nachfolger zu werden, machen sie sich durch
ihren wütenden Fleiß, ihre makellose Gerechtigkeit das Leben zur Hölle.
Das Ende ist, daß die Gerechten um den Preis des Meisterrechts und der
Hand einer alten Jungfer unter dem Jubel der Narren und Lumpe der Stadt
einen aberwitzigen Wettlauf halten. Der Scherz ist lustig genug, das
elende Dasein dieser Menschen mit einer Wahrheit geschildert, welche
freilich oft bis zu den Grenzen des Erträglichen, ja dann und wann
darüber hinaus schreitet. Leider siegt zuletzt des Dichters warmes
Herz über seinen Kunstverstand. Wir verargen ihm nicht, daß er dieser
widerwärtigen Rotte eine derbe Züchtigung zudachte; wir finden es
ganz in der Ordnung, daß er den Dietrich unter den Pantoffel jener
schrecklich tugendhaften Schönen bringt; aber wenn er seinen Jobst
am ersten besten Baum aufhängt und Fridolin ins Elend stürzt, so hat
einfach der Spaß ein Ende.

Gar eigen hebt sich von diesem tollen Treiben die tiefernste Erzählung
von „Frau Regel Amrain” ab. Die allereinfachste Geschichte: eine
herrliche junge Frau, die ihren jüngsten Sohn erzieht, um es kurz zu
sagen -- ein solches Weib, wie wir unsere Mütter uns vorstellen. Keller
betritt hier ein Gebiet, wo er besonders heimisch, besonders reich ist
an feinen Beobachtungen -- das Kinderleben; und niemand wird ungerührt
bleiben von der schlichten Einfalt dieser Erzählung. Freilich, eine
reine Novelle ist sie nicht. Denn nicht nur führt sie -- was der
Novelle nicht zusteht -- den ganzen Entwicklungsgang eines Charakters
an uns vorüber; sondern sie ist auch -- befremdlich genug bei diesem
freisinnigen Dichter -- nicht ohne einen gewissen moralisch erbaulichen
Beigeschmack. Die Versicherung mindestens, daß seine Geschichte
authentisch sei, hätten wir ihm, im Interesse der Kunst und des
Dichters, gern geschenkt: Frau Amrain lebt sicherer und leibhaftiger in
dieser Novelle als in einem „wirklichen” Schweizerstädtchen.

Aber einen glücklichen Dichtersonntag hat Gottfried Keller gefeiert,
als er die Novelle schrieb: „Romeo und Julia auf dem Dorfe.” Um den
Tadel, der uns drückt, nur gleich vom Herzen zu nehmen: Welcher böse
Geist trieb den Dichter, uns am Schlusse dieser wunderschönen Novelle
durch ein tendenziöses Nachwort aus allen Himmeln der Poesie in die
bare Prosa herabzustürzen? Er schreibt alles Ernstes eine Apologie
seiner Fabel, als müßte der Leser nicht von selbst empfinden, daß
alles gar nicht anders kommen konnte. Nun gar die Behauptung, solche
gewaltige Leidenschaften seien nur noch unter dem „eigentlichen Volke”
möglich -- eine Parteiverirrung, welche Keller in Goethes Schule hätte
verlernen sollen -- dreifach unbegreiflich am Ende einer Erzählung,
welche ausgesprochenermaßen nur ein Gegenbild ist zu einer Geschichte
aus der vornehmen Welt! Dieser Vorwurf ist jedoch der einzige Tadel,
den wir gegen das schöne Gedicht zu erheben wissen. Etwa einige
Dichtungen Groths und Hebels abgerechnet, hat uns keine der modernen
Dorfgeschichten so schlagend gezeigt, wie schön das arme Volk ist,
wenn sich das offene Auge findet, es zu schauen. Der Vergleich mit
Shakespeares Tragödie, zu dem der Titel herausfordert, schadet der
Novelle nicht allzusehr, denn die bescheidene Form der Erzählung und
die kleine Welt, wohin sie uns führt, stimmen unsere Ansprüche von
Anfang an herab. Um zu schweigen von dem unendlich vielen, das den
großen Briten über alle modernen Poeten hoch emporhebt -- schon um der
Form der Darstellung willen muß die glühende Sinnlichkeit der Fabel in
der Novelle mehr stofflich, mehr unmittelbar auf uns wirken, als in
der idealen durchgeistigten Atmosphäre des Dramas. Aber wie schreckhaft
auch diese starke Leidenschaft verwöhnte Nerven berühren mag, sie
bleibt doch lauter, sie bleibt die welterhaltende Macht der Liebe.
Echt tragisch ist das Los der Liebenden; denn was sie heraushebt aus
der Gemeinheit ihrer Umgebung, die Tiefe ihres, reinem Ehrgefühle und
wahrer Leidenschaft zugänglichen Wesens -- das begründet zugleich ihre
Schuld. --

Es bleibt ein mißlich Ding mit den heitren harmonischen Menschen,
denen es wohl ist in ihrer eigenen Haut, zu rechten: sind sie doch
imstande, auf jeden Vorwurf die unwiderlegliche Antwort ihres großen
Altmeisters zu geben: „Ich habe mich nicht selbst gemacht.” Wir wollen
es darauf wagen. Wie wacker er auch das Seldwyler Völkchen an den
Pranger gestellt hat: es fließen doch ein paar ansehnliche Tropfen
Seldwyler Blutes durch Kellers eigene Adern. Nur so ist es zu erklären,
daß sein schönes Talent so ganz Verfehltes schaffen konnte, wie jene
beiden Novellen. Versteht er es, solche Schwachheit mit der Kraft eines
rechten Künstlerwillens zu bändigen, so dürfen wir noch schöne Gaben
von ihm hoffen. Eine lange Reihe von Jahren liegt noch vor ihm, und wir
preisen ihn in seiner Schweizer Heimat glücklich, daß die Bitterkeit
des deutschen politischen Elends nicht unmittelbar verstimmend
auf seinen künstlerischen Gleichmut wirken kann. Vergessen hat er
Deutschland darum nicht; davon hat er noch jüngst Zeugnis abgelegt, als
er auf dem Züricher Festschießen die nordischen Gäste mit dem Liede
begrüßte:

    Erzwungen ist der Haß und Groll,
    Ein sündlich Narrenspiel -- -- --
    -- Es gibt ein stolzes Fürstenwort,
    Das heißt: von Fels zum Meer.
    Doch wird es einst der Völker Hort,
    Wiegt's noch einmal so schwer.
    Dann eint ein glücklicher Geschlecht
    Vom Firnenrand
    Zum Meeresstrand
    _Ein_ Denken und _ein_ Recht.



Nachwort


Heinrich von Treitschke, geboren in Dresden am 15. September 1834 und
gestorben in Berlin am 28. April 1896, zählt zu den besten Männern des
Zeitalters Bismarcks. Was uns als der stärkste Ton in dem großartigen
Zusammenklange der Persönlichkeit Bismarcks erscheint, der tatfrohe,
praktische Idealismus einer rücksichtslosen deutschen Gesinnung, das
klingt auch aus jedem Worte dieses Geschichtsschreibers, der zugleich
ein leidenschaftlicher Mensch und ein Dichter war. Zwar bedeuten seine
Verse und Dramen als Kunstwerke nicht viel; aber als Schilderer großer
Menschen, als Darsteller vergangener Zeiten hat er jenes Dichtertum
bewiesen, das August Wilhelm Schlegel meinte, wenn er den Historiker
einen rückwärts gewandten Propheten nannte. Und dazu gesellte sich bei
Treitschke das leidenschaftliche, in den Glaubenskämpfen der Hussiten
bewährte Temperament seiner tschechischen Vorfahren. Der Vater stieg
vom Husarenleutnant zum sächsischen General auf, die Mutter war die
Tochter eines Kavalleriemajors, und etwas vom kühnen Soldatentum hat
Treitschke sein Leben lang behalten, trotzdem ihm seit der Jugend ein
Gehörleiden, das sich bis zu völliger Taubheit steigerte, das frische
fröhliche Dasein verkümmerte.

Früh erwachte die Teilnahme an Geschichte und Politik, die liberale
Gesinnung und die Begeisterung für Deutschlands Freiheit und Einheit.
Der Schüler Dahlmanns in Bonn wurde bereits zum überzeugten Preußen
und geriet damit in Widerspruch zu dem kleinlichen Sondergeist
seiner sächsischen Heimat. In unablässiger Arbeit eignete er
sich die Grundlagen geschichtlicher, volkswirtschaftlicher und
literarhistorischer Kenntnisse an und wurde 1859 Privatdozent in
Leipzig. Damals entstand bereits der ausgezeichnete Aufsatz „Heinrich
von Kleist”, die erste jener Dichter-Charakteristiken, die unser Band
sämtlich vereinigt. Mögen sie in Tatsachen und Urteilen jetzt zu
einem kleinen Teil überholt erscheinen -- die edle Form, die große
Gesinnung, die Schärfe und Feinheit der Charakteristik gesellen diese
durchkomponierten Bilder bedeutender deutscher Schriftsteller und
Dichter zu dem Besten, was unsre spärliche Essayliteratur aufweist.

Der temperamentvolle akademische Lehrer errang sogleich die größten
Erfolge. Die Hörer spürten, daß hier eine große Gesinnung mit
reichem Wissen sich einte, mehr aber noch war es jene fortreißende,
bis zum Schluß des Lebens wachsende Beredsamkeit, die alle in den
Bann Treitschkes zwang. Schon damals keimte auch der Gedanke, die
Entwicklung der neuesten Zeit zu schildern, aus dem später das
Hauptwerk die „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert” erwachsen ist.

In Leipzig scharte sich um Treitschke ein Freundeskreis von bedeutenden
Menschen, darunter Gustav Freytag, Franz Overbeck, Salomon Hirzel,
Friedrich Zarncke. Von hier kam die Anregung der Rede am hundertsten
Geburtstage Fichtes, die zu dem Aufsatz „Fichte und die nationale Idee”
umgebildet wurde und in dem großen Vorgänger fast das eigene Bild
zeichnete. Größeres noch bedeutete die kurz zuvor entstandene mächtige
Schrift „Die Freiheit”, ein begeistertes Bekenntnis zum politischen und
theologischen Liberalismus, und so manche andere größere und kleinere
Aufsätze, darunter der über den geistesverwandten Lessing.

Als in Preußen der Verfassungskonflikt entstand, war Treitschke
unter den Gegnern Bismarcks, auch in dem damaligen Sachsen konnte
er, der Liberale, nicht auf eine Professur rechnen. So ging er nach
Freiburg. Vorher hatte er noch bei dem großen deutschen Turnerfest am
5. August 1863 auf dem Leipziger Marktplatz eine alles begeisternde
Rede gehalten, jene echte Demokratie preisend, welcher die Zukunft
Europas gehöre. Das führte zum Bruche mit dem Vater, zum endgültigen
Bruche mit dem Sachsentum und wurde besiegelt in der bedeutendsten
politischen Schrift Treitschkes „Bundesstaat und Einheitsstaat”, der
Kriegserklärung gegen die verlogene Bundesverfassung Deutschlands,
gegen das ebenso verlogene Legitimitätsprinzip, gegen die
Weiterexistenz der Kleinstaaten. Mit Recht behauptet der Biograph
Treitschkes: „Wenn von irgendeiner Schrift gesagt werden kann, sie habe
Bismarck den Weg zur Begründung des Reiches geebnet, so war es diese.”

In dem katholischen Freiburg fühlte Treitschke sich im Exil, und so
bedeutete es für ihn die glücklichste Fügung, als jene Beziehungen
zu Berlin sich anknüpften, die durch sein tapferes Eintreten für
Preußen im Jahre 1866 und die leidenschaftliche Broschüre „Die Zukunft
der norddeutschen Mittelstaaten” gefestigt wurden. Er erhielt eine
Professur in Kiel, kehrte aber schon nach einem Jahre nach Baden,
nach Heidelberg, zurück. Dort verlebte er die sieben glücklichsten
Jahre seines Lebens, trotzdem nun sein Gehör völlig erlosch. Seine
großen Führereigenschaften traten in der begeisterten Gefolgschaft
der akademischen Jugend immer sichtbarer vor Augen. Von der frischen
Kraft dieser Jahre zeugen auch die damals entstandenen Geschichtswerke:
„Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus”, „Cavour”, und „Die
Republik der vereinigten Niederlande”.

Vor der Begründung des Deutschen Reiches erhob Treitschke, ein
wahrhafter Prophet, seine Stimme gegen die selbstsüchtigen, der
deutschen Einheit schädlichen Ansprüche Bayerns, ebenso wie gegen den
partikularistischen Liberalismus, mit dem er jetzt noch äußerlich
zusammenging. Er ließ sich in den Reichstag wählen und gehörte ihm bis
1884 an, trotzdem seine Taubheit ihm die Teilnahme an den Verhandlungen
sehr erschwerte. Die Beschäftigung mit den öffentlichen Fragen, mit
der geistigen und sittlichen Entwicklung brachte Treitschke zu der
Überzeugung, daß man namentlich gegen die neue in Berlin entstehende
Großstadtkultur ankämpfen müsse. Dies war ein Hauptgrund, daß er dem
Rufe als Professor der Geschichte an die Berliner Universität folgte.
Seit dem Sommer 1874 hat er dort auf dem Katheder gewirkt wie in
seiner Zeit kein anderer akademischer Lehrer, vor allem durch das in
jedem Winter gelesene Kolleg über Politik, ein wahres Stahlbad für die
Hörer.

Was er hier im gesprochenen Wort verkündete, das bot er einem weit
größeren Kreise durch sein Hauptwerk, die „Deutsche Geschichte im
19. Jahrhundert”. In fünf Bänden schilderte sie, von 1879-1894
erscheinend, die Entwicklung des deutschen Staats- und Geisteslebens
bis zur Revolution 1848. Aber hier wie in dem Streite mit den
Kathedersozialisten zeigte es sich deutlich, daß Treitschkes Denken,
seine Vorstellung von der Gesellschaftsordnung und von den eigentlich
ausschlaggebenden Kräften immer mehr erstarrte und den Forderungen
einer neuen Zeit nicht gewachsen war. Seine wachsende Verbitterung
suchte im Judentum einen Prügeljungen, an dem er allen Groll gegen die
neuen Zeiterscheinungen auslassen konnte, und das mächtige Temperament
ließ sich zu ungerechten demagogischen Äußerungen hinreißen. Auch kam
sein einseitiges Preußentum immer mehr zum Ausdruck, namentlich im
zweiten Band der Deutschen Geschichte.

So wurden die letzten Jahrzehnte Treitschkes von unaufhörlichen Kämpfen
erfüllt, bei denen häufig das Recht nicht auf seiner Seite lag.
Freilich konnte er noch bei großen Anlässen, wie den Hundertjahrfeiern
der Königin Luise und Luthers, das Wort mit der alten reinen
Kraft ertönen lassen. Aber immer mehr wurde er zu einem Werkzeug
der Reaktion, immer mehr verengte sich der Kreis seiner geistig
hochstehenden Freunde, immer ungerechter wurde das Urteil.

Inzwischen waren alle Ehren, die dem großen Gelehrten damals zuteil
werden konnten, auf Treitschkes Haupt vereinigt worden. Er erbte von
Ranke, dem überlegenen Vorgänger, den Titel eines Historiographen
des preußischen Staates, er empfing nach den kleineren Ehrenzeichen
den Orden =Pour le mérite=, er genoß die Gunst des jungen Kaisers
Wilhelm =II.= So blind war freilich die monarchisch-konservative
Gesinnung des alten Treitschke nicht, daß sie die ungeheuren Mängel
der Persönlichkeit des neuen Kaisers und die verhängnisvollen Folgen
seines Waltens hätte übersehen können, und gelegentlich erhob auch er
seine warnende Stimme.

Als Treitschke sich den sechziger Jahren näherte, befiel ihn ein
schweres Augenleiden. Nachdem er es überwunden hatte, ging er mit neuer
Kraft an die Fortsetzung der „Deutschen Geschichte” und schuf sein
Bestes, den fünften Band, die Schilderung der ersten Regierungsjahre
Friedrich Wilhelms =IV.= Es war der Abschluß seines Schaffens. Wenn
auch noch einzelnes nachfolgte, sollte er das Bild der Revolution von
1848, mit dem er sein Lebenswerk krönen wollte, nicht mehr malen. Er
erlag einer tückischen Krankheit, in der Fülle seiner geistigen Kraft,
dieser Kraft, die überall dort groß und segensreich waltete, wo nicht
angeborene und anerzogene Eigenschaften zum Nachteil der unabhängigen
erworbenen Gesinnung die Oberhand gewannen.


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  | Anmerkungen zur Transkription                                |
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  | Folgende Inkonsistenzen wurden belassen, da beide            |
  | Schreibweisen üblich waren:                                  |
  |                                                              |
  | andern -- anderen                                            |
  | Augenblickes -- Augenblicks                                  |
  | äußeren -- äußern                                            |
  | Bauernsohnes -- Bauernsohns                                  |
  | bayerischen -- bayrischen                                    |
  | danach -- darnach                                            |
  | Dichterruhmes -- Dichterruhms                                |
  | dunkeln -- dunklen                                           |
  | finsteren -- finstern                                        |
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  | Generale -- Generälen                                        |
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  | Geschlechtes -- Geschlechts                                  |
  | heiteren -- heitren                                          |
  | inneren -- innern                                            |
  | Julia -- Julie (Romeo und ...)                               |
  | Krieges -- Kriegs                                            |
  | napoleonischen -- Napoleonischen                             |
  | Parlaments -- Parlamentes                                    |
  | Regiments -- Regimentes                                      |
  | Reichstags -- Reichstages                                    |
  | Shakespeareschen -- Shakespearischen                         |
  | siebenzig -- siebzig                                         |
  | Staatsmanns -- Staatsmannes                                  |
  | Stücks -- Stückes                                            |
  | Talents -- Talentes                                          |
  | teilweis -- teilweise                                        |
  | Vaterlands -- Vaterlandes                                    |
  | ungeheuere -- ungeheure                                      |
  | unsre -- unsere                                              |
  | Zentraluntersuchungskommission -- Zentral-                   |
  |     Untersuchungskommission                                  |
  | zweifachen -- zwiefachem                                     |
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  | S.  84 "Trupppen" in "Truppen" geändert.                     |
  | S.  90 "Langwerkh" in "Langwerth" geändert.                  |
  | S. 103 ” eingefügt.                                          |
  | S. 108 "Kappenberg" in "Cappenberg" geändert.                |
  | S. 134 „ entfernt.                                           |
  | S. 140 "prosäischen" in "prosaischen" geändert.              |
  | S. 141 "Schachten" in "Schächten" geändert.                  |
  | S. 145 "Boisseree" in "Boisserée" geändert.                  |
  | S. 154 "misssen" in "missen" geändert.                       |
  | S. 180 "pour le mérite" in "Pour le mérite" geändert.        |
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