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Title: Miss Sara Sampson
Author: Lessing, Gotthold Ephraim
Language: German
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Miß Sara Sampson

Gotthold Ephraim Lessing

Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen



Personen:

Sir William Sampson
Miß Sara, dessen Tochter
Mellefont
Marwood, Mellefonts alte Geliebte
Arabella, ein junges Kind, der Marwood Tochter
Waitwell, ein alter Diener des Sampson
Norton, Bedienter des Mellefont
Betty, Mädchen der Sara
Hannah, Mädchen der Marwood
Der Gastwirt und einige Nebenpersonen



Erster Aufzug



Erster Auftritt

Der Schauplatz ist ein Saal im Gasthofe.


Sir William Sampson und Waitwell treten in Reisekleidern herein.

Sir William.  Hier meine Tochter?  Hier in diesem elenden Wirtshause?

Waitwell.  Ohne Zweifel hat Mellefont mit Fleiß das allerelendeste im
ganzen Städtchen zu seinem Aufenthalte gewählt.  Böse Leute suchen
immer das Dunkle, weil sie böse Leute sind.  Aber was hilft es ihnen,
wenn sie sich auch vor der ganzen Welt verbergen könnten?  Das
Gewissen ist doch mehr als eine ganze uns verklagende Welt.--Ach, Sie
weinen schon wieder, schon wieder, Sir!--Sir!

Sir William.  Laß mich weinen, alter ehrlicher Diener.  Oder verdient
sie etwa meine Tränen nicht?

Waitwell.  Ach!  sie verdient sie, und wenn es blutige Tränen wären.

Sir William.  Nun so laß mich.

Waitwell.  Das beste, schönste, unschuldigste Kind, das unter der
Sonne gelebt hat, das muß so verführt werden!  Ach Sarchen!  Sarchen!
Ich habe dich aufwachsen sehen; hundertmal habe ich dich als ein Kind
auf diesen Armen gehabt; auf diesen meinen Armen habe ich dein Lächeln,
dein Lallen bewundert.  Aus jeder kindischen Miene strahlte die
Morgenröte eines Verstandes, einer Leutseligkeit, einer--

Sir William.  O schweig!  Zerfleischt nicht das Gegenwärtige mein Herz
schon genug?  Willst du meine Martern durch die Erinnerung an
vergangne Glückseligkeiten noch höllischer machen?  Ändre deine
Sprache, wenn du mir einen Dienst tun willst.  Tadle mich; mache mir
aus meiner Zärtlichkeit ein Verbrechen; vergrößre das Vergehen meiner
Tochter; erfülle mich, wenn du kannst, mit Abscheu gegen sie;
entflamme aufs neue meine Rache gegen ihren verfluchten Verführer;
sage, daß Sara nie tugendhaft gewesen, weil sie so leicht aufgehört
hat, es zu sein; sage, daß sie mich nie geliebt, weil sie mich
heimlich verlassen hat.

Waitwell.  Sagte ich das, so würde ich eine Lüge sagen, eine
unverschämte, böse Lüge.  Sie könnte mir auf dem Todbette wieder
einfallen, und ich alter Bösewicht müßte in Verzweiflung sterben.--
Nein, Sarchen hat ihren Vater geliebt, und gewiß!  gewiß!  sie liebt
ihn noch.  Wenn Sie nur davon überzeugt sein wollen, Sir, so sehe ich
sie heute noch wieder in Ihren Armen.

Sir William.  Ja, Waitwell, nur davon verlange ich überzeugt zu sein.
Ich kann sie länger nicht entbehren; sie ist die Stütze meines Alters,
und wenn sie nicht den traurigen Rest meines Lebens versüßen hilft,
wer soll es denn tun?  Wenn sie mich noch liebt, so ist ihr Fehler
vergessen.  Es war der Fehler eines zärtlichen Mädchens, und ihre
Flucht war die Wirkung ihrer Reue.  Solche Vergehungen sind besser als
erzwungene Tugenden--Doch ich fühle es, Waitwell, ich fühle es; wenn
diese Vergehungen auch wahre Verbrechen, wenn es auch vorsätzliche
Laster wären: ach!  ich würde ihr doch vergeben.  Ich würde doch
lieber von einer lasterhaften Tochter als von keiner geliebt sein
wollen.

Waitwell.  Trocknen Sie Ihre Tränen ab, lieber Sir!  Ich höre jemanden
kommen.  Es wird der Wirt sein, uns zu empfangen.



Zweiter Auftritt

Der Wirt.  Sir William Sampson.  Waitwell.


Der Wirt.  So früh, meine Herren, so früh?  Willkommen!  willkommen,
Waitwell!  Ihr seid ohne Zweifel die Nacht gefahren?  Ist das der Herr,
von dem du gestern mit mir gesprochen hast?

Waitwell.  Ja, er ist es, und ich hoffe, daß du abgeredetermaßen--

Der Wirt.  Gnädiger Herr, ich bin ganz zu Ihren Diensten.  Was liegt
mir daran, ob ich es weiß oder nicht, was Sie für eine Ursache hierher
führt und warum Sie bei mir im Verborgnen sein wollen?  Ein Wirt nimmt
sein Geld und läßt seine Gäste machen, was ihnen gutdünkt.  Waitwell
hat mir zwar gesagt, daß Sie den fremden Herrn, der sich seit einigen
Wochen mit seinem jungen Weibchen bei mir aufhält, ein wenig
beobachten wollen.  Aber ich hoffe, daß Sie ihm keinen Verdruß
verursachen werden.  Sie würden mein Haus in einen übeln Ruf bringen,
und gewisse Leute würden sich scheuen, bei mir abzutreten.  Unsereiner
muß von allen Sorten Menschen leben.--

Sir William.  Besorget nichts; führt mich nur in das Zimmer, das
Waitwell für mich bestellt hat.  Ich komme aus rechtschaffnen
Absichten hierher.

Der Wirt.  Ich mag Ihre Geheimnisse nicht wissen, gnädiger Herr!  Die
Neugierde ist mein Fehler gar nicht.  Ich hätte es, zum Exempel,
längst erfahren können, wer der fremde Herr ist, auf den Sie achtgeben
wollen; aber ich mag nicht.  So viel habe ich wohl herausgebracht, daß
er mit dem Frauenzimmer muß durchgegangen sein.  Das gute Weibchen,
oder was sie ist!  sie bleibt den ganzen Tag in ihrer Stube
eingeschlossen und weint.

Sir William.  Und weint?

Der Wirt.  Ja, und weint--Aber, gnädiger Herr, warum weinen Sie?  Das
Frauenzimmer muß Ihnen sehr nahegehen.  Sie sind doch wohl nicht--

Waitwell.  Halt ihn nicht länger auf.

Der Wirt.  Kommen Sie.  Nur eine Wand wird Sie von dem Frauenzimmer
trennen, das Ihnen so nahegeht, und die vielleicht--

Waitwell.  Du willst es also mit aller Gewalt wissen, wer--

Der Wirt.  Nein, Waitwell, ich mag nichts wissen.

Waitwell.  Nun, so mache und bringe uns an den gehörigen Ort, ehe noch
das ganze Haus wach wird.

Der Wirt.  Wollen Sie mir also folgen, gnädiger Herr?  (Geht ab.)



Dritter Auftritt

Der mittlere Vorhang wird aufgezogen.  Mellefonts Zimmer.


Mellefont und hernach sein Bedienter.

Mellefont (unangekleidet in einem Lehnstuhle).  Wieder eine Nacht, die
ich auf der Folter nicht grausamer hätte zubringen können!--Norton!--
Ich muß nur machen, daß ich Gesichter zu sehen bekomme.  Bliebe ich
mit meinen Gedanken länger allein: sie möchten mich zu weit führen.--
He, Norton!  Er schläft noch.  Aber bin ich nicht grausam, daß ich den
armen Teufel nicht schlafen lasse?  Wie glücklich ist er!--Doch ich
will nicht, daß ein Mensch um mich glücklich sei.--Norton!

Norton (kommend).  Mein Herr!

Mellefont.  Kleide mich an!--O mache mir keine sauern Gesichter!  Wenn
ich werde länger schlafen können, so erlaube ich dir, daß du auch
länger schlafen darfst.  Wenn du von deiner Schuldigkeit nichts wissen
willst, so habe wenigstens Mitleiden mit mir.

Norton.  Mitleiden, mein Herr?  Mitleiden mit Ihnen?  Ich weiß besser,
wo das Mitleiden hingehört.

Mellefont.  Und wohin denn?

Norton.  Ach, lassen Sie sich ankleiden, und fragen Sie mich nichts.

Mellefont.  Henker!  So sollen auch deine Verweise mit meinem Gewissen
aufwachen?  Ich verstehe dich; ich weiß es, wer dein Mitleiden
erschöpft.--Doch, ich lasse ihr und mir Gerechtigkeit widerfahren.
Ganz recht; habe kein Mitleiden mit mir.  Verfluche mich in deinem
Herzen, aber--verfluche auch dich.

Norton.  Auch mich?

Mellefont.  Ja; weil du einem Elenden dienest, den die Erde nicht
tragen sollte, und weil du dich seiner Verbrechen mit teilhaft gemacht
hast.

Norton.  Ich mich Ihrer Verbrechen teilhaft gemacht?  Durch was?

Mellefont.  Dadurch, daß du dazu geschwiegen.

Norton.  Vortrefflich!  In der Hitze Ihrer Leidenschaften würde mir
ein Wort den Hals gekostet haben.--Und dazu, als ich Sie kennenlernte,
fand ich Sie nicht schon so arg, daß alle Hoffnung zur Beßrung
vergebens war?  Was für ein Leben habe ich Sie nicht von dem ersten
Augenblicke an führen sehen!  In der nichtswürdigsten Gesellschaft von
Spielern und Landstreichern--ich nenne sie, was sie waren, und kehre
mich an ihre Titel, Ritter und dergleichen, nicht--in solcher
Gesellschaft brachten Sie ein Vermögen durch, das Ihnen den Weg zu den
größten Ehrenstellen hätte bahnen können.  Und Ihr strafbarer Umgang
mit allen Arten von Weibsbildern, besonders der bösen Marwood--

Mellefont.  Setze mich, setze mich wieder in diese Lebensart: sie war
Tugend in Vergleich meiner itzigen.  Ich vertat mein Vermögen; gut.
Die Strafe kömmt nach, und ich werde alles, was der Mangel Hartes und
Erniedrigendes hat, zeitig genug empfinden.  Ich besuchte lasterhafte
Weibsbilder; laß es sein.  Ich ward öfter verführt, als ich verführte;
und die ich selbst verführte, wollten verführt sein.--Aber--ich hatte
noch keine verwahrlosete Tugend auf meiner Seele.  Ich hatte noch
keine Unschuld in ein unabsehliches Unglück gestürzt.  Ich hatte noch
keine Sara aus dem Hause eines geliebten Vaters entwendet und sie
gezwungen, einem Nichtswürdigen zu folgen, der auf keine Weise mehr
sein eigen war.  Ich hatte--Wer kömmt schon so früh zu mir?



Vierter Auftritt

Betty.  Mellefont.  Norton.


Norton.  Es ist Betty.

Mellefont.  Schon auf, Betty?  Was macht dein Fräulein?

Betty.  Was macht sie?  (Schluchzend.)  Es war schon lange nach
Mitternacht, da ich sie endlich bewegte, zur Ruhe zu gehen.  Sie
schlief einige Augenblicke, aber Gott!  Gott!  was muß das für ein
Schlaf gewesen sein!  Plötzlich fuhr sie in die Höhe, sprang auf und
fiel mir als eine Unglückliche in die Arme, die von einem Mörder
verfolgt wird.  Sie zitterte, und ein kalter Schweiß floß ihr über das
erblaßte Gesicht.  Ich wandte alles an, sie zu beruhigen, aber sie hat
mir bis an den Morgen nur mit stummen Tränen geantwortet.  Endlich hat
sie mich einmal über das andre an Ihre Türe geschickt, zu hören, ob
Sie schon auf wären.  Sie will Sie sprechen.  Sie allein können sie
trösten.  Tun Sie es doch, liebster gnädiger Herr, tun Sie es doch.
Das Herz muß mir springen, wenn sie sich so zu ängstigen fortfährt.

Mellefont.  Geh, Betty, sage ihr, daß ich den Augenblick bei ihr sein
wolle--

Betty.  Nein, sie will selbst zu Ihnen kommen.

Mellefont.  Nun so sage ihr, daß ich sie erwarte--Ach!--

(Betty geht ab.)



Fünfter Auftritt

Mellefont.  Norton.


Norton.  Gott, die arme Miß!

Mellefont.  Wessen Gefühl willst du durch deine Ausrufung rege machen?
Sieh, da läuft die erste Träne, die ich seit meiner Kindheit geweinet,
die Wange herunter!--Eine schlechte Vorbereitung, eine trostsuchende
Betrübte zu empfangen.  Warum sucht sie ihn auch bei mir?--Doch wo
soll sie ihn sonst suchen?--Ich muß mich fassen.  (Indem er sich die
Augen abtrocknet.)  Wo ist die alte Standhaftigkeit, mit der ich ein
schönes Auge konnte weinen sehen?  Wo ist die Gabe der Verstellung hin,
durch die ich sein und sagen konnte, was ich wollte?--Nun wird sie
kommen und wird unwiderstehliche Tränen weinen.  Verwirrt, beschämt
werde ich vor ihr stehen; als ein verurteilter Sünder werde ich vor
ihr stehen.  Rate mir doch, was soll ich tun?  was soll ich sagen?

Norton.  Sie sollen tun, was sie verlangen wird.

Mellefont.  So werde ich eine neue Grausamkeit an ihr begehen.  Mit
Unrecht tadelt sie die Verzögerung einer Zeremonie, die itzt ohne
unser äußerstes Verderben in dem Königreiche nicht vollzogen werden
kann.

Norton.  So machen Sie denn, daß Sie es verlassen.  Warum zaudern wir?
Warum vergeht ein Tag, warum vergeht eine Woche nach der andern?
Tragen Sie mir es doch auf.  Sie sollen morgen sicher eingeschifft
sein.  Vielleicht, daß ihr der Kummer nicht ganz über das Meer folgt;
daß sie einen Teil desselben zurückläßt, und in einem andern Lande--

Mellefont.  Alles das hoffe ich selbst--Still, sie kömmt.  Wie schlägt
mir das Herz--



Sechster Auftritt

Sara.  Mellefont.  Norton.


Mellefont (indem er ihr entgegengeht).  Sie haben eine unruhige Nacht
gehabt, liebste Miß--

Sara.  Ach, Mellefont, wenn es nichts als eine unruhige Nacht wäre--

Mellefont (zum Bedienten).  Verlaß uns!

Norton (im Abgehen).  Ich wollte auch nicht dableiben, und wenn mir
gleich jeder Augenblick mit Golde bezahlt würde.



Siebenter Auftritt

Sara.  Mellefont.


Mellefont.  Sie sind schwach, liebste Miß.  Sie müssen sich setzen.

Sara (sie setzt sich).  Ich beunruhige Sie sehr früh; und werden Sie
mir es vergeben, daß ich meine Klagen wieder mit dem Morgen anfange?

Mellefont.  Teuerste Miß, Sie wollen sagen, daß Sie mir es nicht
vergeben können, weil schon wieder ein Morgen erschienen ist, ohne daß
ich Ihren Klagen ein Ende gemacht habe.

Sara.  Was sollte ich Ihnen nicht vergeben?  Sie wissen, was ich Ihnen
bereits vergeben habe.  Aber die neunte Woche, Mellefont, die neunte
Woche fängt heute an, und dieses elende Haus sieht mich noch immer auf
eben dem Fuße als den ersten Tag.

Mellefont.  So zweifeln Sie an meiner Liebe?

Sara.  Ich, an Ihrer Liebe zweifeln?  Nein, ich fühle mein Unglück zu
sehr, zu sehr, als daß ich mir selbst diese letzte, einzige Versüßung
desselben rauben sollte.

Mellefont.  Wie kann also meine Miß über die Verschiebung einer
Zeremonie unruhig sein?

Sara.  Ach, Mellefont, warum muß ich einen andern Begriff von dieser
Zeremonie haben?--Geben Sie doch immer der weiblichen Denkungsart
etwas nach.  Ich stelle mir vor, daß eine nähere Einwilligung des
Himmels darin liegt.  Umsonst habe ich es nur wieder erst den
gestrigen langen Abend versucht, Ihre Begriffe anzunehmen und die
Zweifel aus meiner Brust zu verbannen, die Sie, itzt nicht das
erstemal, für Früchte meines Mißtrauens angesehen haben.  Ich stritt
mit mir selbst; ich war sinnreich genug, meinen Verstand zu betäuben;
aber mein Herz und ein inneres Gefühl warfen auf einmal das mühsame
Gebäude von Schlüssen übern Haufen.  Mitten aus dem Schlafe weckten
mich strafende Stimmen, mit welchen sich meine Phantasie, mich zu
quälen, verband.  Was für Bilder, was für schreckliche Bilder
schwärmten um mich herum!  Ich wollte sie gern für Träume halten--

Mellefont.  Wie?  Meine vernünftige Sara sollte sie für etwas mehr
halten?  Träume, liebste Miß, Träume!--Wie unglücklich ist der Mensch!
Fand sein Schöpfer in dem Reiche der Wirklichkeit nicht Qualen für
ihn genug?  Mußte er, sie zu vermehren, auch ein noch weiteres Reich
von Einbildungen in ihm schaffen?

Sara.  Klagen Sie den Himmel nicht an!  Er hat die Einbildungen in
unserer Gewalt gelassen.  Sie richten sich nach unsern Taten, und wenn
diese unsern Pflichten und der Tugend gemäß sind, so dienen die sie
begleitenden Einbildungen zur Vermehrung unserer Ruhe und unseres
Vergnügens.  Eine einzige Handlung, Mellefont, ein einziger Segen, der
von einem Friedensboten im Namen der ewigen Güte auf uns gelegt wird,
kann meine zerrüttete Phantasie wieder heilen.  Stehen Sie noch an,
mir zuliebe dasjenige einige Tage eher zu tun, was Sie doch einmal tun
werden?  Erbarmen Sie sich meiner, und überlegen Sie, daß, wenn Sie
mich auch dadurch nur von Qualen der Einbildung befreien, diese
eingebildete Qualen doch Qualen und für die, die sie empfindet,
wirkliche Qualen sind.--Ach, könnte ich Ihnen nur halb so lebhaft die
Schrecken meiner vorigen Nacht erzählen, als ich sie gefühlt habe!--
Von Weinen und Klagen, meinen einzigen Beschäftigungen, ermüdet, sank
ich mit halb geschlossenen Augenlidern auf das Bett zurück.  Die Natur
wollte sich einen Augenblick erholen, neue Tränen zu sammeln.  Aber
noch schlief ich nicht ganz, als ich mich auf einmal an dem
schroffsten Teile des schrecklichsten Felsen sahe.  Sie gingen vor mir
her, und ich folgte Ihnen mit schwankenden ängstlichen Schritten, die
dann und wann ein Blick stärkte, welchen Sie auf mich zurückwarfen.
Schnell hörte ich hinter mir ein freundliches Rufen, welches mir
stillzustehen befahl.  Es war der Ton meines Vaters--Ich Elende!  kann
ich denn nichts von ihm vergessen?  Ach!  wo ihm sein Gedächtnis
ebenso grausame Dienste leistet; wo er auch mich nicht vergessen kann!--
Doch er hat mich vergessen.  Trost!  grausamer Trost für seine Sara!--
Hören Sie nur, Mellefont; indem ich mich nach dieser bekannten Stimme
umsehen wollte, gleitete mein Fuß; ich wankte und sollte eben in den
Abgrund herabstürzen, als ich mich, noch zur rechten Zeit, von einer
mir ähnlichen Person zurückgehalten fühlte.  Schon wollte ich ihr den
feurigsten Dank abstatten, als sie einen Dolch aus dem Busen zog.  Ich
rettete dich, schrie sie, um dich zu verderben!  Sie holte mit der
bewaffneten Hand aus--und ach!  ich erwachte mit dem Stiche.  Wachend
fühlte ich noch alles, was ein tödlicher Stich Schmerzhaftes haben
kann; ohne das zu empfinden, was er Angenehmes haben muß: das Ende der
Pein in dem Ende des Lebens hoffen zu dürfen.

Mellefont.  Ach!  liebste Sara, ich verspreche Ihnen das Ende Ihrer
Pein ohne das Ende Ihres Lebens, welches gewiß auch das Ende des
meinigen sein würde.  Vergessen Sie das schreckliche Gewebe eines
sinnlosen Traumes.

Sara.  Die Kraft, es vergessen zu können, erwarte ich von Ihnen.  Es
sei Liebe oder Verführung, es sei Glück oder Unglück, das mich Ihnen
in die Arme geworfen hat, ich bin in meinem Herzen die Ihrige und
werde es ewig sein.  Aber noch bin ich es nicht vor den Augen jenes
Richters, der die geringsten Übertretungen seiner Ordnung zu strafen
gedrohet hat--

Mellefont.  So falle denn alle Strafe auf mich allein!

Sara.  Was kann auf Sie fallen, das mich nicht treffen sollte?--Legen
Sie aber mein dringendes Anhalten nicht falsch aus.  Ein andres
Frauenzimmer, das durch einen gleichen Fehltritt sich ihrer Ehre
verlustig gemacht hätte, würde vielleicht durch ein gesetzmäßiges Band
nichts als einen Teil derselben wiederzuerlangen suchen.  Ich,
Mellefont, denke darauf nicht, weil ich in der Welt weiter von keiner
Ehre wissen will als von der Ehre, Sie zu lieben.  ich will mit Ihnen
nicht um der Welt willen, ich will mit Ihnen um meiner selbst willen
verbunden sein.  Und wenn ich es bin, so will ich gern die Schmach auf
mich nehmen, als ob ich es nicht wäre.  Sie sollen mich, wenn Sie
nicht wollen, für Ihre Gattin nicht erklären dürfen; Sie sollen mich
erklären können, für was Sie wollen.  Ich will Ihren Namen nicht
führen; Sie sollen unsere Verbindung so geheimhalten, als Sie es für
gut befinden; und ich will derselben ewig unwert sein, wenn ich mir in
den Sinn kommen lasse, einen andern Vorteil als die Beruhigung meines
Gewissens daraus zu ziehen.

Mellefont.  Halten Sie ein, Miß, oder ich muß vor Ihren Augen des
Todes sein.  Wie elend bin ich, daß ich nicht das Herz habe, Sie noch
elender zu machen!--Bedenken Sie, daß Sie sich meiner Führung
überlassen haben; bedenken Sie, daß ich schuldig bin, für uns weiter
hinauszusehen, und daß ich itzt gegen Ihre Klagen taub sein muß, wenn
ich Sie nicht, in der ganzen Folge Ihres Lebens, noch schmerzhaftere
Klagen will führen hören.  Haben Sie es denn vergessen, was ich Ihnen
zu meiner Rechtfertigung schon oft vorgestellt?

Sara.  Ich habe es nicht vergessen, Mellefont.  Sie wollen vorher ein
gewisses Vermächtnis retten.--Sie wollen vorher zeitliche Güter retten
und mich vielleicht ewige darüber verscherzen lassen.

Mellefont.  Ach Sara, wenn Ihnen alle zeitliche Güter so gewiß wären,
als Ihrer Tugend die ewigen sind--

Sara.  Meiner Tugend?  Nennen Sie mir dieses Wort nicht!--Sonst klang
es mir süße, aber itzt schallt mir ein schrecklicher Donner darin!

Mellefont.  Wie?  muß der, welcher tugendhaft sein soll, keinen Fehler
begangen haben?  Hat ein einziger so unselige Wirkungen, daß er eine
ganze Reihe unsträflicher Jahre vernichten kann?  So ist kein Mensch
tugendhaft; so ist die Tugend ein Gespenst, das in der Luft zerfließet,
wenn man es am festesten umarmt zu haben glaubt; so hat kein weises
Wesen unsere Pflichten nach unsern Kräften abgemessen; so ist die Lust,
uns strafen zu können, der erste Zweck unsers Daseins; so ist--ich
erschrecke vor allen den gräßlichen Folgerungen, in welche Sie Ihre
Kleinmut verwickeln muß!  Nein, Miß, Sie sind noch die tugendhafte
Sara, die Sie vor meiner unglücklichen Bekanntschaft waren.  Wenn Sie
sich selbst mit so grausamen Augen ansehen, mit was für Augen müssen
Sie mich betrachten!

Sara.  Mit den Augen der Liebe, Mellefont.

Mellefont.  So bitte ich Sie denn um dieser Liebe, um dieser
großmütigen, alle meine Unwürdigkeit übersehenden Liebe willen, zu
Ihren Füßen bitte ich Sie: beruhigen Sie sich.  Haben Sie nur noch
einige Tage Geduld.

Sara.  Einige Tage!  Wie ist ein Tag schon so lang!

Mellefont.  Verwünschtes Vermächtnis!  Verdammter Unsinn eines
sterbenden Vetters, der mir sein Vermögen nur mit der Bedingung lassen
wollte, einer Anverwandtin die Hand zu geben, die mich ebensosehr haßt
als ich sie!  Euch, unmenschliche Tyrannen unserer freien Neigungen,
Euch werde alle das Unglück, alle die Sünde zugerechnet, zu welchen
uns Euer Zwang bringet!--Und wenn ich ihrer nur entübriget sein könnte,
dieser schimpflichen Erbschaft!  Solange mein väterliches Vermögen zu
meiner Unterhaltung hinreichte, habe ich sie allezeit verschmähet und
sie nicht einmal gewürdiget, mich darüber zu erklären.  Aber itzt,
itzt, da ich alle Schätze der Welt nur darum besitzen möchte, um sie
zu den Füßen meiner Sara legen zu können, itzt, da ich wenigstens
darauf denken muß, sie ihrem Stande gemäß in der Welt erscheinen zu
lassen, itzt muß ich meine Zuflucht dahin nehmen.

Sara.  Mit der es Ihnen zuletzt doch wohl noch fehlschlägt.

Mellefont.  Sie vermuten immer das Schlimmste.--Nein; das Frauenzimmer,
die es mit betrifft, ist nicht ungeneigt, eine Art von Vergleich
einzugehen.  Das Vermögen soll geteilt werden; und da sie es nicht
ganz mit mir genießen kann, so ist sie es zufrieden, daß ich mit der
Hälfte meine Freiheit von ihr erkaufen darf.  Ich erwarte alle Stunden
die letzten Nachrichten in dieser Sache, deren Verzögerung allein
unsern hiesigen Aufenthalt so langwierig gemacht hat.  Sobald ich sie
bekommen habe, wollen wir keinen Augenblick länger hier verweilen.
Wir wollen sogleich, liebste Miß, nach Frankreich übergehen, wo Sie
neue Freunde finden sollen, die sich itzt schon auf das Vergnügen, Sie
zu sehen und Sie zu lieben, freuen.  Und diese neuen Freunde sollen
die Zeugen unserer Verbindung sein--

Sara.  Diese sollen die Zeugen unserer Verbindung sein?--Grausamer!
so soll diese Verbindung nicht in meinem Vaterlande geschehen?  So
soll ich mein Vaterland als eine Verbrecherin verlassen?  Und als eine
solche, glauben Sie, würde ich Mut genug haben, mich der See zu
vertrauen?  Dessen Herz muß ruhiger oder muß ruchloser sein als meines,
welcher nur einen Augenblick zwischen sich und dem Verderben mit
Gleichgültigkeit nichts als ein schwankendes Brett sehen kann.  In
jeder Welle, die an unser Schiff schlüge, würde mir der Tod
entgegenrauschen; jeder Wind würde mir von den väterlichen Küsten
Verwünschungen nachbrausen, und der kleinste Sturm würde mich ein
Blutgericht über mein Haupt zu sein dünken.--Nein, Mellefont, so ein
Barbar können Sie gegen mich nicht sein.  Wenn ich noch das Ende Ihres
Vergleichs erlebe, so muß es Ihnen auf einen Tag nicht ankommen, den
wir hier länger zubringen.  Es muß dieses der Tag sein, an dem Sie
mich die Martern aller hier verweinten Tage vergessen lehren.  Es muß
dieses der heilige Tag sein--Ach!  welcher wird es denn endlich sein?

Mellefont.  Aber überlegen Sie denn nicht, Miß, daß unserer Verbindung
hier diejenige Feier fehlen würde, die wir ihr zu geben schuldig sind?


Sara.  Eine heilige Handlung wird durch das Feierliche nicht kräftiger.


Mellefont.  Allein--

Sara.  Ich erstaune.  Sie wollen doch wohl nicht auf einem so
nichtigen Vorwande bestehen?  O Mellefont, Mellefont!  wenn ich mir es
nicht zum unverbrüchlichsten Gesetze gemacht hätte, niemals an der
Aufrichtigkeit Ihrer Liebe zu zweifeln, so würde mir dieser Umstand--
Doch schon zuviel; es möchte scheinen, als hätte ich eben itzt daran
gezweifelt.

Mellefont.  Der erste Augenblick Ihres Zweifels müsse der letzte
meines Lebens sein!  Ach, Sara, womit habe ich es verdient, daß Sie
mir auch nur die Möglichkeit desselben voraussehen lassen?  Es ist
wahr, die Geständnisse, die ich Ihnen von meinen ehemaligen
Ausschweifungen abzulegen kein Bedenken getragen habe, können mir
keine Ehre machen: aber Vertrauen sollten sie mir doch erwecken.  Eine
buhlerische Marwood führte mich in ihren Stricken, weil ich das für
sie empfand, was so oft für Liebe gehalten wird und es doch so selten
ist.  Ich würde noch ihre schimpflichen Fesseln tragen, hätte sich
nicht der Himmel meiner erbarmt, der vielleicht mein Herz nicht für
ganz unwürdig erkannte, von bessern Flammen zu brennen.  Sie, liebste
Sara, sehen und alle Marwoods vergessen, war eins.  Aber wie teuer kam
es Ihnen zu stehen, mich aus solchen Händen zu erhalten!  Ich war mit
dem Laster zu vertraut geworden, und Sie kannten es zu wenig--

Sara.  Lassen Sie uns nicht mehr daran gedenken--



Achter Auftritt

Norton.  Mellefont.  Sara.


Mellefont.  Was willst du?

Norton.  Ich stand eben vor dem Hause, als mir ein Bedienter diesen
Brief in die Hand gab.  Die Aufschrift ist an Sie, mein Herr.

Mellefont.  An mich?  Wer weiß hier meinen Namen?  (Indem er den Brief
betrachtet.)  Himmel!

Sara.  Sie erschrecken?

Mellefont.  Aber ohne Ursache, Miß, wie ich nun wohl sehe.  Ich irrte
mich in der Hand.

Sara.  Möchte doch der Inhalt Ihnen so angenehm sein, als Sie es
wünschen können.

Mellefont.  Ich vermute, daß er sehr gleichgültig sein wird.

Sara.  Man braucht sich weniger Zwang anzutun, wenn man allein ist.
Erlauben Sie, daß ich mich wieder in mein Zimmer begebe.

Mellefont.  Sie machen sich also wohl Gedanken?

Sara.  Ich mache mir keine, Mellefont.

Mellefont (indem er sie bis an die Szene begleitet).  Ich werde den
Augenblick bei Ihnen sein, liebste Miß.



Neunter Auftritt

Mellefont.  Norton.


Mellefont (der den Brief noch ansieht).  Gerechter Gott!

Norton.  Weh Ihnen, wenn er nichts als gerecht ist!

Mellefont.  Kann es möglich sein?  Ich sehe diese verruchte Hand
wieder und erstarre nicht vor Schrecken?  Ist sie's?  Ist sie es
nicht?  Was zweifle ich noch?  Sie ist's!  Ah, Freund, ein Brief von
der Marwood!  Welche Furie, welcher Satan hat ihr meinen Aufenthalt
verraten?  Was will sie noch von mir?--Geh, mache sogleich Anstalt,
daß wir von hier wegkommen.--Doch verzieh!  Vielleicht ist es nicht
nötig; vielleicht haben meine verächtlichen Abschiedsbriefe die
Marwood nur aufgebracht, mir mit gleicher Verachtung zu begegnen.
Hier!  erbrich den Brief; lies ihn.  Ich zittere, es selbst zu tun.

Norton (er liest).  "Es wird so gut sein, als ob ich Ihnen den
längsten Brief geschrieben hätte, Mellefont, wenn Sie den Namen, den
Sie am Ende der Seite finden werden, nur einer kleinen Betrachtung
würdigen wollen--"

Mellefont.  Verflucht sei ihr Name!  Daß ich ihn nie gehört hätte!
Daß er aus dem Buche der Lebendigen vertilgt würde!

Norton (liest weiter).  "Die Mühe, Sie auszuforschen, hat mir die
Liebe, welche mir forschen half, versüßt."

Mellefont.  Die Liebe?  Frevlerin!  Du entheiligest Namen, die nur der
Tugend geweiht sind!

Norton (fährt fort).  "Sie hat noch mehr getan--"

Mellefont.  Ich bebe--

Norton.  "Sie hat mich Ihnen nachgebracht--"

Mellefont.  Verräter, was liest du?  (Er reißt ihm den Brief aus der
Hand und liest selbst.)  "Sie hat mich Ihnen--nachgebracht.--Ich bin
hier; und es stehet bei Ihnen--ob Sie meinen Besuch erwarten--oder mir
mit dem Ihrigen--zuvorkommen wollen.  Marwood."--Was für ein
Donnerschlag!  Sie ist hier?--Wo ist sie?  Diese Frechheit soll sie
mit dem Leben büßen.

Norton.  Mit dem Leben?  Es wird ihr einen Blick kosten, und Sie
liegen wieder zu ihren Füßen.  Bedenken Sie, was Sie tun!  Sie müssen
sie nicht sprechen, oder das Unglück Ihrer armen Miß ist vollkommen.

Mellefont.  Ich Unglücklicher!--Nein, ich muß sie sprechen.  Sie würde
mich bis in dem Zimmer der Sara suchen und alle ihre Wut gegen diese
Unschuldige auslassen.

Norton.  Aber, mein Herr--

Mellefont.  Sage nichts!--Laß sehen, (indem er in den Brief sieht) ob
sie ihre Wohnung angezeigt hat.  Hier ist sie.  Komm, führe mich.

(Sie gehen ab.)

(Ende des ersten Aufzugs.)



Zweiter Aufzug



Erster Auftritt

Der Schauplatz stellt das Zimmer der Marwood vor, in einem andern
Gasthofe.


Marwood im Negligé.  Hannah.

Marwood.  Belford hat den Brief doch richtig eingehändiget, Hannah?

Hannah.  Richtig.

Marwood.  Ihm selbst?

Hannah.  Seinem Bedienten.

Marwood.  Kaum kann ich es erwarten, was er für Wirkung haben wird.--
Scheine ich dir nicht ein wenig unruhig, Hannah?  Ich hin es auch.--
Der Verräter!  Doch gemach!  Zornig muß ich durchaus nicht werden.
Nachsicht, Liebe, Bitten sind die einzigen Waffen, die ich wider ihn
brauchen darf, wo ich anders seine schwache Seite recht kenne.

Hannah.  Wenn er sich aber dagegen verhärten sollte?--

Marwood.  Wenn er sich dagegen verhärten sollte?  So werde ich nicht
zürnen--ich werde rasen.  Ich fühle es, Hannah; und wollte es lieber
schon itzt.

Hannah.  Fassen Sie sich ja.  Er kann vielleicht den Augenblick kommen.


Marwood.  Wo er nur gar kömmt!  Wo er sich nur nicht entschlossen hat,
mich festes Fußes bei sich zu erwarten!--Aber weißt du, Hannah, worauf
ich noch meine meiste Hoffnung gründe, den Ungetreuen von dem neuen
Gegenstande seiner Liebe abzuziehen?  Auf unsere Bella.

Hannah.  Es ist wahr; sie ist sein kleiner Abgott; und der Einfall,
sie mitzunehmen, hätte nicht glücklicher sein können.

Marwood.  Wenn sein Herz auch gegen die Sprache einer alten Liebe taub
ist, so wird ihm doch die Sprache des Bluts vernehmlich sein.  Er riß
das Kind vor einiger Zeit aus meinen Armen, unter dem Vorwande, ihm
eine Art von Erziehung geben zu lassen, die es bei mir nicht haben
könne.  Ich habe es von der Dame, die es unter ihrer Aufsicht hatte,
itzt nicht anders als durch List wiederbekommen können; er hatte auf
mehr als ein Jahr vorausbezahlt und noch den Tag vor seiner Flucht
ausdrücklich befohlen, eine gewisse Marwood, die vielleicht kommen und
sich für die Mutter des Kindes ausgeben würde, durchaus nicht
vorzulassen.  Aus diesem Befehle erkenne ich den Unterschied, den er
zwischen uns beiden macht.  Arabellen sieht er als einen kostbaren
Teil seiner selbst an und mich als eine Elende, die ihn mit allen
ihren Reizen, bis zum Überdrusse, gesättiget hat.

Hannah.  Welcher Undank!

Marwood.  Ach Hannah, nichts zieht den Undank so unausbleiblich nach
sich als Gefälligkeiten, für die kein Dank zu groß wäre.  Warum habe
ich sie ihm erzeigt, diese unseligen Gefälligkeiten?  Hätte ich es
nicht voraussehen sollen, daß sie ihren Wert nicht immer bei ihm
behalten könnten?  Daß ihr Wert auf der Schwierigkeit des Genusses
beruhe und daß er mit derjenigen Anmut verschwinden müsse, welche die
Hand der Zeit unmerklich, aber gewiß, aus unsern Gesichtern verlöscht?


Hannah.  O, Madam, von dieser gefährlichen Hand haben Sie noch lange
nichts zu befürchten.  Ich finde, daß Ihre Schönheit den Punkt ihrer
prächtigsten Blüte so wenig überschritten hat, daß sie vielmehr erst
darauf losgeht und Ihnen alle Tage neue Herzen fesseln würde, wenn Sie
ihr nur Vollmacht dazu geben wollten.

Marwood.  Schweig, Hannah!  Du schmeichelst mir bei einer Gelegenheit,
die mir alle Schmeichelei verdächtig macht.  Es ist Unsinn, von neuen
Eroberungen zu sprechen, wenn man nicht einmal Kräfte genug hat, sich
im Besitze der schon gemachten zu erhalten.



Zweiter Auftritt

Ein Bedienter.  Marwood.  Hannah.


Der Bediente.  Madam, man will die Ehre haben, mit Ihnen zu sprechen.

Marwood.  Wer?

Der Bediente.  Ich vermute, daß es ebender Herr ist, an welchen der
vorige Brief überschrieben war.  Wenigstens ist der Bediente bei ihm,
der mir ihn abgenommen hat.

Marwood.  Mellefont!--Geschwind, führe ihn herauf!  (Der Bediente geht
ab.)  Ach, Hannah, nun ist er da!  Wie soll ich ihn empfangen?  Was
soll ich sagen?  Welche Miene soll ich annehmen?  Ist diese ruhig
genug?  Sieh doch!

Hannah.  Nichts weniger als ruhig.

Marwood.  Aber diese?

Hannah.  Geben Sie ihr noch mehr Anmut.

Marwood.  Etwa so?

Hannah.  Zu traurig!

Marwood.  Sollte mir dieses Lächeln lassen?

Hannah.  Vollkommen!  Aber nur freier--Er kömmt.



Dritter Auftritt

Mellefont.  Marwood.  Hannah.


Mellefont (der mit einer wilden Stellung hereintritt).  Ha!  Marwood--

Marwood (die ihm mit offnen Armen lächelnd entgegenrennt).  Ach
Mellefont--

Mellefont (beiseite).  Die Mörderin, was für ein Blick!

Marwood.  Ich muß Sie umarmen, treuloser, lieber Flüchtling!--Teilen
Sie doch meine Freude!--Warum entreißen Sie sich meinen Liebkosungen?

Mellefont.  Marwood, ich vermutete, daß Sie mich anders empfangen
würden.

Marwood.  Warum anders?  Mit mehr Liebe vielleicht?  mit mehr
Entzücken?  Ach, ich Unglückliche, daß ich weniger ausdrücken kann,
als ich fühle!--Sehen Sie, Mellefont, sehen Sie, daß auch die Freude
ihre Tränen hat?  Hier rollen sie, diese Kinder der süßesten Wollust!--
Aber ach, verlorne Tränen!  seine Hand trocknet euch nicht ab.

Mellefont.  Marwood, die Zeit ist vorbei, da mich solche Reden
bezaubert hätten.  Sie müssen itzt in einem andern Tone mit mir
sprechen.  Ich komme her, Ihre letzten Vorwürfe anzuhören und darauf
zu antworten.

Marwood.  Vorwürfe?  Was hätte ich Ihnen für Vorwürfe zu machen,
Mellefont?  Keine.

Mellefont.  So hätten Sie, sollt' ich meinen, Ihren Weg ersparen
können.

Marwood.  Liebste wunderliche Seele, warum wollen Sie mich nun mit
Gewalt zwingen, einer Kleinigkeit zu gedenken, die ich Ihnen in
ebendem Augenblicke vergab, in welchem ich sie erfuhr?  Eine kurze
Untreue, die mir Ihre Galanterie, aber nicht Ihr Herz spielet,
verdient diese Vorwürfe?  Kommen Sie, lassen Sie uns darüber scherzen.


Mellefont.  Sie irren sich; mein Herz hat mehr Anteil daran, als es
jemals an allen unsern Liebeshändeln gehabt hat, auf die ich itzt
nicht ohne Abscheu zurücksehen kann.

Marwood.  Ihr Herz, Mellefont, ist ein gutes Närrchen.  Es läßt sich
alles bereden, was Ihrer Einbildung ihm zu bereden einfällt.  Glauben
Sie mir doch, ich kenne es besser als Sie.  Wenn es nicht das beste,
das getreuste Herz wäre, würde ich mir wohl so viel Mühe geben, es zu
behalten?

Mellefont.  Zu behalten?  Sie haben es niemals besessen, sage ich
Ihnen.

Marwood.  Und ich sage Ihnen, ich besitze es im Grunde noch.

Mellefont.  Marwood, wenn ich wüßte, daß Sie auch nur noch eine Faser
davon besäßen, so wollte ich es mir selbst, hier vor Ihren Augen, aus
meinem Leibe reißen.

Marwood.  Sie würden sehen, daß Sie meines zugleich herausrissen.  Und
dann, dann würden diese herausgerissenen Herzen endlich zu der
Vereinigung gelangen, die sie so oft auf unsern Lippen gesucht haben.

Mellefont (beiseite).  Was für eine Schlange!  Hier wird das beste
sein zu fliehen.--Sagen Sie mir es nur kurz, Marwood, warum Sie mir
nachgekommen sind?  Was Sie noch von mir verlangen?  Aber sagen Sie es
nur ohne dieses Lächeln, ohne diesen Blick, aus welchem mich eine
ganze Hölle von Verführung schreckt.

Marwood (vertraulich).  Höre nur, mein lieber Mellefont; ich merke
wohl, wie es itzt mir dir steht.  Deine Begierden und dein Geschmack
sind itzt deine Tyrannen.  Laß es gut sein; man muß sie austoben
lassen.  Sich ihnen widersetzen, ist Torheit.  Sie werden am
sichersten eingeschläfert und endlich gar überwunden, wenn man ihnen
freies Feld läßt.  Sie reiben sich selbst auf.  Kannst du mir
nachsagen, kleiner Flattergeist, daß ich jemals eifersüchtig gewesen
wäre, wenn stärkere Reize als die meinigen dich mir auf eine Zeitlang
abspenstig machten?  Ich gönnte dir ja allezeit diese Veränderung, bei
der ich immer mehr gewann als verlor.  Du kehrtest mit neuem Feuer,
mit neuer Inbrunst in meine Arme zurück, in die ich dich nur als in
leichte Bande und nie als in schwere Fesseln schloß.  Bin ich nicht
oft selbst deine Vertraute gewesen, wenn du mir auch schon nichts zu
vertrauen hattest als die Gunstbezeigungen, die du mir entwandtest, um
sie gegen andre zu verschwenden?  Warum glaubst du denn, daß ich itzt
einen Eigensinn gegen dich zu zeigen anfangen würde, zu welchem ich
nun eben berechtiget zu sein aufhöre, oder--vielleicht schon aufgehört
habe?  Wenn deine Hitze gegen das schöne Landmädchen noch nicht
verraucht ist; wenn du noch in dem ersten Fieber deiner Liebe gegen
sie bist; wenn du ihren Genuß noch nicht entbehren kannst: wer hindert
dich denn, ihr so lange ergeben zu sein, als du es für gut befindest?
Mußt du deswegen so unbesonnene Anschläge machen und mit ihr aus dem
Reiche fliehen wollen?

Mellefont.  Marwood, Sie reden vollkommen Ihrem Charakter gemäß,
dessen Häßlichkeit ich nie so gekannt habe, als seitdem ich in dem
Umgange mit einer tugendhaften Freundin die Liebe von der Wollust
unterscheiden gelernt.

Marwood.  Ei sieh doch!  Deine neue Gebieterin ist also wohl gar ein
Mädchen von schönen sittlichen Empfindungen?  Ihr Mannspersonen müßt
doch selbst nicht wissen, was ihr wollt .  Bald sind es die
schlüpfrigsten Reden, die buhlerhaftesten Scherze, die euch an uns
gefallen; und bald entzücken wir euch, wenn wir nichts als Tugend
reden und alle sieben Weisen auf unserer Zunge zu haben scheinen.  Das
Schlimmste aber ist, daß ihr das eine sowohl als das andre überdrüssig
werdet.  Wir mögen närrisch oder vernünftig, weltlich oder geistlich
gesinnet sein: wir verlieren unsere Mühe, euch beständig zu machen,
einmal wie das andre.  Du wirst an deine schöne Heilige die Reihe Zeit
genug kommen lassen.  Soll ich wohl einen kleinen Überschlag machen?
Nun eben bist du im heftigsten Paroxysmo mit ihr; und diesem geh ich
noch zwei, aufs längste drei Tage.  Hierauf wird eine ziemlich
geruhige Liebe folgen; der geb ich acht Tage.  Die andern acht Tage
wirst du nur gelegentlich an diese Liebe denken.  Die dritten wirst du
dich daran erinnern lassen; und wann du dieses Erinnern satt hast, so
wirst du dich zu der äußersten Gleichgültigkeit so schnell gebracht
sehen, daß ich kaum die vierten acht Tage auf diese letzte Veränderung
rechnen darf--Das wäre nun ungefähr ein Monat.  Und diesen Monat,
Mellefont, will ich dir noch mit dem größten Vergnügen nachsehen; nur
wirst du erlauben, daß ich dich nicht aus dem Gesichte verlieren darf.


Mellefont.  Vergebens, Marwood, suchen Sie alle Waffen hervor, mit
welchen Sie sich erinnern, gegen mich sonst glücklich gewesen zu sein.
Ein tugendhafter Entschluß sichert mich gegen Ihre Zärtlichkeit und
gegen Ihren Witz.  Gleichwohl will ich mich beiden nicht länger
aussetzen.  Ich gehe und habe Ihnen weiter nichts mehr zu sagen, als
daß Sie mich in wenig Tagen auf eine Art sollen gebunden wissen, die
Ihnen alle Hoffnung auf meine Rückkehr in Ihre lasterhafte Sklaverei
vernichten wird.  Meine Rechtfertigung werden Sie genugsam aus dem
Briefe ersehen haben, den ich Ihnen vor meiner Abreise zustellen
lassen.

Marwood.  Gut, daß Sie dieses Briefes gedenken.  Sagen Sie mir, von
wem hatten Sie ihn schreiben lassen?

Mellefont.  Hatte ich ihn nicht selbst geschrieben?

Marwood.  Unmöglich!  Den Anfang desselben, in welchem Sie mir ich
weiß nicht was für Summen vorrechneten, die Sie mit mir wollen
verschwendet haben, mußte ein Gastwirt, sowie den übrigen
theologischen Rest ein Quäker geschrieben haben.  Demungeachtet will
ich Ihnen itzt ernstlich darauf antworten.  Was den vornehmsten Punkt
anbelangt, so wissen Sie wohl, daß alle die Geschenke, welche Sie mir
gemacht haben, noch da sind.  Ich habe Ihre Bankozettel, Ihre Juwelen
nie als mein Eigentum angesehen und itzt alles mitgebracht, um es
wieder in diejenigen Hände zu liefern, die mir es anvertrauet hatten.

Mellefont.  Behalten Sie alles, Marwood.

Marwood.  Ich will nichts davon behalten.  Was hätte ich ohne Ihre
Person für ein Recht darauf?  Wenn Sie mich auch nicht mehr lieben, so
müssen Sie mir doch die Gerechtigkeit widerfahren lassen und mich für
keine von den feilen Buhlerinnen halten, denen es gleichviel ist, von
wessen Beute sie sich bereichern.  Kommen Sie nur, Mellefont, Sie
sollen den Augenblick wieder so reich sein, als Sie vielleicht ohne
meine Bekanntschaft geblieben wären; und vielleicht auch nicht.

Mellefont.  Welcher Geist, der mein Verderben geschworen hat, redet
itzt aus Ihnen!  Eine wollüstige Marwood denkt so edel nicht.

Marwood.  Nennen Sie das edel?  Ich nenne es weiter nichts als billig.
Nein, mein Herr, nein; ich verlange nicht, daß Sie mir diese
Wiedererstattung als etwas Besonders anrechnen sollen.  Sie kostet
mich nichts; und auch den geringsten Dank, den Sie mir dafür sagen
wollten, würde ich für eine Beschimpfung halten, weil er doch keinen
andern Sinn als diesen haben könnte: "Marwood, ich hielt Euch für eine
niederträchtige Betrügerin; ich bedanke Mich, daß Ihr es wenigstens
gegen mich nicht sein wollt."

Mellefont.  Genug, Madam, genug!  Ich fliehe, weil mich mein Unstern
in einen Streit von Großmut zu verwickeln drohet, in welchem ich am
ungernsten unterliegen möchte.

Marwood.  Fliehen Sie nur; aber nehmen Sie auch alles mit, was Ihr
Andenken bei mir erneuern könnte.  Arm, verachtet, ohne Ehre und ohne
Freunde, will ich es alsdann noch einmal wagen, Ihr Erbarmen rege zu
machen.  Ich will Ihnen in der unglücklichen Marwood nichts als eine
Elende zeigen, die Geschlecht, Ansehen, Tugend und Gewissen für Sie
aufgeopfert hat.  Ich will Sie an den ersten Tag erinnern, da Sie mich
sahen und liebten; an den ersten Tag, da auch ich Sie sahe und liebte;
an das erste stammelnde, schamhafte Bekenntnis, das Sie mir zu meinen
Füßen von Ihrer Liebe ablegten; an die erste Versicherung von
Gegenliebe, die Sie mir auspreßten; an die zärtlichen Blicke, an die
feurigen Umarmungen, die darauf folgten; an das beredte Stillschweigen,
wenn wir mit beschäftigten Sinnen einer des andern geheimste Regungen
errieten und in den schmachtenden Augen die verborgensten Gedanken der
Seele lasen; an das zitternde Erwarten der nahenden Wollust; an die
Trunkenheit ihrer Freuden; an das süße Erstarren nach der Fülle des
Genusses, in welchem sich die ermatteten Geister zu neuen Entzückungen
erholten.  An alles dieses will ich Sie erinnern und dann Ihre Knie
umfassen und nicht aufhören, um das einzige Geschenk zu bitten, das
Sie mir nicht versagen können und ich, ohne zu erröten, annehmen darf,--
um den Tod von Ihren Händen.

Mellefont.  Grausame!  noch wollte ich selbst mein Leben für Sie
hingeben.  Fordern Sie es; fordern Sie es; nur auf meine Liebe machen
Sie weiter keinen Anspruch.  Ich muß Sie verlassen, Marwood, oder mich
zu einem Abscheu der ganzen Natur machen.  Ich bin schon strafbar, daß
ich nur hier stehe und Sie anhöre.  Leben Sie wohl!  leben Sie wohl!

Marwood (die ihn zurückhält).  Sie müssen mich verlassen?  Und was
wollen Sie denn, das aus mir werde?  So wie ich itzt bin, bin ich Ihr
Geschöpf; tun Sie also, was einem Schöpfer zukömmt; er darf die Hand
von seinem Werke nicht eher abziehn, als bis er es gänzlich vernichten
will.--Ach, Hannah, ich sehe wohl, meine Bitten allein sind zu schwach.
Geh, bringe meinen Vorsprecher her, der mir vielleicht itzt auf
einmal mehr wiedergeben wird, als er von mir erhalten hat.

(Hannah geht ab.)

Mellefont.  Was für einen Vorsprecher, Marwood?

Marwood.  Ach, einen Vorsprecher, dessen Sie mich nur allzugern
beraubet hätten.  Die Natur wird seine Klagen auf einem kürzern Wege
zu Ihrem Herzen bringen--

Mellefont.  Ich erschrecke.  Sie werden doch nicht--



Vierter Auftritt

Arabella.  Hannah.  Mellefont.  Marwood.


Mellefont.  Was seh ich?  Sie ist es!--Marwood, wie haben Sie sich
unterstehen können--

Marwood.  Soll ich umsonst Mutter sein?--Komm, meine Bella, komm; sieh
hier deinen Beschützer wieder, deinen Freund, deinen--Ach!  das Herz
mag es ihm sagen, was er noch mehr als dein Beschützer, als dein
Freund sein kann.

Mellefont (mit abgewandtem Gesichte).  Gott!  wie wird es mir hier
ergehen?

Arabella (indem sie ihm furchtsam näher tritt).  Ach, mein Herr!  Sind
Sie es?  Sind Sie unser Mellefont?--Nein doch, Madam, er ist es nicht.-
-Würde er mich nicht ansehen, wenn er es wäre?  Würde er mich nicht in
seine Arme schließen?  Er hat es ja sonst getan.  Ich unglückliches
Kind!  Womit hätte ich ihn denn erzürnt, diesen Mann, diesen liebsten
Mann, der mir erlaubte, mich seine Tochter zu nennen?

Marwood.  Sie schweigen, Mellefont?  Sie gönnen der Unschuldigen
keinen Blick?

Mellefont.  Ach!--

Arabella.  Er seufzet ja, Madam.  Was fehlt ihm?  Können wir ihm nicht
helfen?  Ich nicht?  Sie auch nicht?  So lassen Sie uns doch mit ihm
seufzen.--Ach, nun sieht er mich an!--Nein, er sieht wieder weg!  Er
sieht gen Himmel!  Was wünscht er?  Was bittet er vom Himmel?  Möchte
er ihm doch alles gewähren, wenn er mir auch alles dafür versagte!

Marwood.  Geh, mein Kind, geh; fall ihm zu Füßen.  Er will uns
verlassen; er will uns auf ewig verlassen.

Arabella (die vor ihm niederfällt).  Hier liege ich schon.  Sie uns
verlassen?  Sie uns auf ewig verlassen?  War es nicht schon eine
kleine Ewigkeit, die wir Sie jetzt vermißt haben?  Wir sollen Sie
wieder vermissen?  Sie haben ja so oft gesagt, daß Sie uns liebten.
Verläßt man denn die, die man liebt?  So muß ich Sie wohl nicht lieben;
denn ich wünschte, Sie nie zu verlassen.  Nie, und will Sie auch nie
verlassen.

Marwood.  Ich will dir bitten helfen, mein Kind; hilf nur auch mir--
Nun, Mellefont, sehen Sie auch mich zu Ihren Füßen--

Mellefont (hält sie zurück, indem sie sich niederwerfen will).
Marwood, gefährliche Marwood--Und auch du, meine liebste Bella (hebt
sie auf), auch du bist wider deinen Mellefont?

Arabella.  Ich wider Sie?

Marwood.  Was beschließen Sie, Mellefont?

Mellefont.  Was ich nicht sollte, Marwood; was ich nicht sollte.

Marwood (die ihn umarmt).  Ach, ich weiß es ja, daß die Redlichkeit
Ihres Herzens allezeit über den Eigensinn Ihrer Begierden gesiegt hat.


Mellefont.  Bestürmen Sie mich nicht weiter.  Ich bin schon, was Sie
aus mir machen wollen: ein Meineidiger, ein Verführer, ein Räuber, ein
Mörder.

Marwood.  Itzt werden Sie es einige Tage in Ihrer Einbildung sein, und
hernach werden Sie erkennen, daß ich Sie abgehalten habe, es wirklich
zu werden.  Machen Sie nur, und kehren Sie wieder mit uns zurück.

Arabella (schmeichelnd).  O ja!  tun Sie dieses.

Mellefont.  Mit euch zurückkehren?  Kann ich denn?

Marwood.  Nichts ist leichter, wenn Sie nur wollen.

Mellefont.  Und meine Miß--

Marwood.  Und Ihre Miß mag sehen, wo sie bleibt!--

Mellefont.  Ha!  barbarische Marwood, diese Rede ließ mich bis auf den
Grund Ihres Herzens sehen--Und ich Verruchter gehe doch nicht wieder
in mich?

Marwood.  Wenn Sie bis auf den Grund meines Herzens gesehen hätten, so
würden Sie entdeckt haben, daß es mehr wahres Erbarmen gegen Ihre Miß
fühlt als Sie selbst.  Ich sage, wahres Erbarmen: denn das Ihre ist
ein eigennütziges, weichherziges Erbarmen.  Sie haben überhaupt diesen
Liebeshandel viel zu weit getrieben.  Daß Sie, als ein Mann, der bei
einem langen Umgange mit unserm Geschlechte in der Kunst zu verführen
ausgelernt hatte, gegen ein so junges Frauenzimmer sich Ihre
Überlegenheit an Verstellung und Erfahrung zunutze machten und nicht
eher ruhten, als bis Sie Ihren Zweck erreichten: das möchte noch
hingehen; Sie können sich mit der Heftigkeit Ihrer Leidenschaft
entschuldigen.  Allein, daß Sie einem alten Vater sein einziges Kind
raubten; daß Sie einem rechtschaffnen Greise die wenigen Schritte zu
seinem Grabe noch so schwer und bitter machten; daß Sie Ihrer Lust
wegen die stärksten Banden der Natur trennten: das, Mellefont, das
können Sie nicht verantworten.  Machen Sie also Ihren Fehler wieder
gut, soweit es möglich ist, ihn gutzumachen.  Geben Sie dem weinenden
Alter seine Stütze wieder, und schicken Sie eine leichtgläubige
Tochter in ihr Haus zurück, das Sie deswegen, weil Sie es beschimpft
haben, nicht auch öde machen müssen.

Mellefont.  Das fehlte noch, daß Sie auch mein Gewissen wider mich zu
Hilfe riefen!  Aber gesetzt, es wäre billig, was Sie sagen; müßte ich
nicht eine eiserne Stirne haben, wenn ich es der unglücklichen Miß
selbst vorschlagen sollte?

Marwood.  Nunmehr will ich es Ihnen gestehen, daß ich schon im voraus
bedacht gewesen bin, Ihnen diese Verwirrung zu ersparen.  Sobald ich
Ihren Aufenthalt erfuhr, habe ich auch dem alten Sampson unter der
Hand Nachricht davon geben lassen.  Er ist vor Freuden darüber ganz
außer sich gewesen und hat sich sogleich auf den Weg machen wollen.
Ich wundre mich, daß er noch nicht hier ist.

Mellefont.  Was sagen Sie?

Marwood.  Erwarten Sie nur ruhig seine Ankunft und lassen sich gegen
die Miß nichts merken.  Ich will Sie selbst jetzt nicht länger
aufhalten.  Gehen Sie wieder zu ihr; sie möchte Verdacht bekommen.
Doch versprach ich mir, Sie heute noch einmal zu sehen.

Mellefont.  O Marwood, mit was für Gesinnungen kam ich zu Ihnen und
mit welchen muß ich Sie verlassen!  Einen Kuß, meine liebe Bella--

Arabella.  Der war für Sie; aber nun einen für mich.  Kommen Sie nur
ja bald wieder; ich bitte.

(Mellefont geht ab.)



Fünfter Auftritt

Marwood.  Arabella.  Hannah.


Marwood (nachdem sie tief Atem geholt).  Sieg!  Hannah!  aber ein
saurer Sieg!--Gib mir einen Stuhl; ich fühle mich ganz abgemattet--
(Sie setzt sich.)  Eben war es die höchste Zeit, als er sich ergab;
noch einen Augenblick hätte er anstehen dürfen, so würde ich ihm eine
ganz andre Marwood gezeigt haben.

Hannah.  Ach, Madam, was sind Sie für eine Frau!  Den möchte ich doch
sehn, der Ihnen widerstehen könnte.

Marwood.  Er hat mir schon zu lange widerstanden.  Und gewiß, gewiß,
ich will es ihm nicht vergeben, daß ich ihm fast zu Fuße gefallen wäre.


Arabella.  O nein!  Sie müssen ihm alles vergeben.  Er ist ja so gut,
so gut--

Marwood.  Schweig, kleine Närrin!

Hannah.  Auf welcher Seite wußten Sie ihn nicht zu fassen!  Aber
nichts, glaube ich, rührte ihn mehr als die Uneigennützigkeit, mit
welcher Sie sich erboten, alle von ihm erhaltenen Geschenke
zurückzugeben.

Marwood.  Ich glaube es auch.  Ha!  ha!  (Verächtlich.)

Hannah.  Warum lachen Sie, Madam?  Wenn es nicht Ihr Ernst war, so
wagten Sie in der Tat sehr viel.  Gesetzt, er hätte Sie bei Ihrem
Worte gefaßt?

Marwood.  O geh!  man muß wissen, wen man vor sich hat.

Hannah.  Nun, das gesteh ich!  Aber auch Sie, meine schöne Bella,
haben Ihre Sache vortrefflich gemacht; vortrefflich!

Arabella.  Warum das?  Konnte ich sie denn anders machen?  Ich hatte
ihn ja so lange nicht gesehen.  Sie sind doch nicht böse, Madam, daß
ich ihn so lieb habe?  Ich habe Sie so lieb wie ihn; ebenso lieb.

Marwood.  Schon gut; dasmal will ich dir verzeihen, daß du mich nicht
lieber hast als ihn.

Arabella.  Dasmal?  (Schluchzend.)

Marwood.  Du weinst ja wohl gar?  Warum denn?

Arabella.  Ach nein!  ich weine nicht.  Werden Sie nur nicht
ungehalten.  Ich will Sie ja gern alle beide so lieb, so lieb haben,
daß ich unmöglich weder Sie noch ihn lieber haben kann.

Marwood.  Je nun ja!

Arabella.  Ich bin recht unglücklich--

Marwood.  Sei doch nur stille--Aber was ist das?



Sechster Auftritt

Mellefont.  Marwood.  Arabella.  Hannah.


Marwood.  Warum kommen Sie schon wieder, Mellefont?  (Sie steht auf.)

Mellefont (hitzig,).  Weil ich mehr nicht als einige Augenblicke nötig
hatte, wieder zu mir selbst zu kommen.

Marwood.  Nun?

Mellefont.  Ich war betäubt, Marwood, aber nicht bewegt.  Sie haben
alle Ihre Mühe verloren; eine andre Luft als diese ansteckende Luft
Ihres Zimmers gab mir Mut und Kräfte wieder, meinen Fuß aus dieser
gefährlichen Schlinge noch zeitig genug zu ziehen.  Waren mir
Nichtswürdigem die Ränke einer Marwood noch nicht bekannt genug?

Marwood (hastig).  Was ist das wieder für eine Sprache?

Mellefont.  Die Sprache der Wahrheit und des Unwillens.

Marwood.  Nur gemach, Mellefont, oder auch ich werde diese Sprache
sprechen.

Mellefont.  Ich komme nur zurück, Sie keinen Augenblick länger in
einem Irrtume von mir stecken zu lassen, der mich, selbst in Ihren
Augen, verächtlich machen muß.

Arabella (furchtsam).  Ach!  Hannah--

Mellefont.  Sehen Sie mich nur so wütend an, als Sie wollen.  Je
wütender, je besser.  War es möglich, daß ich zwischen einer Marwood
und einer Sara nur einen Augenblick unentschlüssig bleiben konnte?
Und daß ich mich fast für die erstere entschlossen hätte?

Arabella.  Ach Mellefont!--

Mellefont.  Zittern Sie nicht, Bella.  Auch für Sie bin ich mit
zurückgekommen.  Geben Sie mir die Hand, und folgen Sie mir nur
getrost.

Marwood (die beide zurückhält).  Wem soll sie folgen, Verräter?

Mellefont.  Ihrem Vater.

Marwood.  Geh, Elender; und lern erst ihre Mutter kennen.

Mellefont.  Ich kenne sie.  Sie ist die Schande ihres Geschlechts--

Marwood.  Führe sie weg, Hannah!

Mellefont.  Bleiben Sie, Bella.  (Indem er sie zurückhalten will.)

Marwood.  Nur keine Gewalt, Mellefont, oder--

(Hannah und Arabella geben ab.)



Siebenter Auftritt

Mellefont.  Marwood.


Marwood.  Nun sind wir allein.  Nun sagen Sie es noch einmal, ob Sie
fest entschlossen sind, mich einer jungen Närrin aufzuopfern?

Mellefont (bitter).  Aufzuopfern?  Sie machen, daß ich mich hier
erinnere, daß den alten Göttern auch sehr unreine Tiere geopfert
wurden.

Marwood (spöttisch).  Drücken Sie sich ohne so gelehrte Anspielungen
aus.

Mellefont.  So sage ich ihnen, daß ich fest entschlossen bin, nie
wieder ohne die schrecklichsten Verwünschungen an Sie zu denken.  Wer
sind Sie?  und wer ist Sara?  Sie sind eine wollüstige, eigennützige,
schändliche Buhlerin, die sich itzt kaum mehr muß erinnern können,
einmal unschuldig gewesen zu sein.  Ich habe mir mit Ihnen nichts
vorzuwerfen, als daß ich dasjenige genossen, was Sie ohne mich
vielleicht die ganze Welt hätten genießen lassen.  Sie haben mich
gesucht, nicht ich Sie; und wenn ich nunmehr weiß, wer Marwood ist, so
kömmt mir diese Kenntnis teuer genug zu stehen.  Sie kostet mir mein
Vermögen, meine Ehre, mein Glück--

Marwood.  Und so wollte ich, daß sie dir auch deine Seligkeit kosten
müßte!  Ungeheuer!  Ist der Teufel ärger als du, der schwache Menschen
zu Verbrechen reizet und sie dieser Verbrechen wegen, die sein Werk
sind, hernach selbst anklagt?  Was geht dich meine Unschuld an, wann
und wie ich sie verloren habe?  Habe ich dir meine Tugend nicht
preisgeben können, so habe ich doch meinen guten Namen für dich in die
Schanze geschlagen.  Jene ist nichts kostbarer als dieser.  Was sage
ich?  kostbarer?  Sie ist ohne ihn ein albernes Hirngespinst, das
weder ruhig noch glücklich macht.  Er allein gibt ihr noch einigen
Wert und kann vollkommen ohne sie bestehen.  Mochte ich doch sein, wer
ich wollte, ehe ich dich, Scheusal, kennenlernte; genug, daß ich in
den Augen der Welt für ein Frauenzimmer ohne Tadel galt.  Durch dich
nur hat sie es erfahren, daß ich es nicht sei; durch meine
Bereitwilligkeit bloß, dein Herz, wie ich damals glaubte, ohne deine
Hand anzunehmen.

Mellefont.  Eben diese Bereitwilligkeit verdammt dich, Niederträchtige.


Marwood.  Erinnerst du dich aber, welchen nichtswürdigen Kunstgriffen
du sie zu verdanken hattest?  Ward ich nicht von dir beredt, daß du
dich in keine öffentliche Verbindung einlassen könntest, ohne einer
Erbschaft verlustig zu werden, deren Genuß du mit niemand als mit mir
teilen wolltest?  Ist es nun Zeit, ihrer zu entsagen?  Und ihrer für
eine andre als für mich zu entsagen?

Mellefont.  Es ist mir eine wahre Wollust, Ihnen melden zu können, daß
diese Schwierigkeit nunmehr bald wird gehoben sein.  Begnügen Sie sich
also nur, mich um mein väterliches Erbteil gebracht zu haben, und
lassen mich ein weit geringeres mit einer würdigern Gattin genießen.

Marwood.  Ha!  nun seh ich's, was dich eigentlich so trotzig macht.
Wohl, ich will kein Wort mehr verlieren.  Es sei darum!  Rechne darauf,
daß ich alles anwenden will, dich zu vergessen.  Und das erste, was
ich in dieser Absicht tun werde, soll dieses sein--Du wirst mich
verstehen!  Zittre für deine Bella!  Ihr Leben soll das Andenken
meiner verachteten Liebe auf die Nachwelt nicht bringen; meine
Grausamkeit soll es tun.  Sieh in mir eine neue Medea!

Mellefont (erschrocken).  Marwood--

Marwood.  Oder wenn du noch eine grausamere Mutter weißt, so sieh sie
gedoppelt in mir!  Gift und Dolch sollen mich rächen.  Doch nein, Gift
und Dolch sind zu barmherzige Werkzeuge!  Sie würden dein und mein
Kind zu bald töten.  Ich will es nicht gestorben sehen; sterben will
ich es sehen!  Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte
jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren
und verschwinden sehen.  Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied,
Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen und das Kleinste derselben auch
da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon
nichts mehr sein wird als ein empfindungsloses Aas.  Ich--ich werde
wenigstens dabei empfinden, wie süß die Rache sei!

Mellefont.  Sie rasen, Marwood--

Marwood.  Du erinnerst mich, daß ich nicht gegen den Rechten rase.
Der Vater muß voran!  Er muß schon in jener Welt sein, wenn der Geist
seiner Tochter unter tausend Seufzern ihm nachzieht.--(Sie geht mit
einem Dolche, den sie aus dem Busen reißt, auf ihn los.)  Drum stirb,
Verräter!

Mellefont (der ihr in den Arm fällt und den Dolch entreißt).
Unsinniges Weibsbild!--Was hindert mich nun, den Stahl wider dich zu
kehren?  Doch lebe, und deine Strafe müsse einer ehrlosen Hand
aufgehoben sein!

Marwood (mit gerungenen Händen).  Himmel, was habe ich getan?
Mellefont--

Mellefont.  Deine Reue soll mich nicht hintergehen!  Ich weiß es doch
wohl, was dich reuet; nicht daß du den Stoß tun wollen, sondern daß du
ihn nicht tun können.

Marwood.  Geben Sie mir ihn wieder, den verirrten Stahl!  geben Sie
mir ihn wieder!  und Sie sollen es gleich sehen, für wen er
geschliffen ward.  Für diese Brust allein, die schon längst einem
Herzen zu enge ist, das eher dem Leben als Ihrer Liebe entsagen will.

Mellefont.  Hannah!--

Marwood.  Was wollen Sie tun, Mellefont?



Achter Auftritt

Hannah (erschrocken).  Marwood.  Mellefont.


Mellefont.  Hast du es gehört, Hannah, welche Furie deine Gebieterin
ist?  Wisse, daß ich Arabellen von deinen Händen fodern werde.

Hannah.  Ach Madam, wie sind Sie außer sich!

Mellefont.  Ich will das unschuldige Kind bald in völlige Sicherheit
bringen.  Die Gerechtigkeit wird einer so grausamen Mutter die
mördrischen Hände schon zu binden wissen.  (Er will gehen.)

Marwood.  Wohin, Mellefont?  Ist es zu verwundern, daß die Heftigkeit
meines Schmerzes mich des Verstandes nicht mächtig ließ?  Wer bringt
mich zu so unnatürlichen Ausschweifungen?  Sind Sie es nicht selbst?
Wo kann Bella sicherer sein als bei mir?  Mein Mund tobet wider sie,
und mein Herz bleibt doch immer das Herz einer Mutter.  Ach, Mellefont!
vergessen Sie meine Raserei und denken zu ihrer Entschuldigung nur
an die Ursache derselben.

Mellefont.  Es ist nur ein Mittel, welches mich bewegen kann, sie zu
vergessen.

Marwood.  Welches?

Mellefont.  Wenn Sie den Augenblick nach London zurückkehren.
Arabellen will ich in einer andern Begleitung wieder dahin bringen
lassen.  Sie müssen durchaus ferner mit ihr nichts zu tun haben.

Marwood.  Gut, ich lasse mir alles gefallen; aber eine einzige Bitte
gewähren Sie mir noch.  Lassen Sie mich Ihre Sara wenigstens einmal
sehen.

Mellefont.  Und wozu?

Marwood.  Um in ihren Blicken mein ganzes künftiges Schicksal zu lesen.
Ich will selbst urteilen, ob sie einer Untreue, wie Sie an mir
begehen, würdig ist; und ob ich Hoffnung haben kann, wenigstens einmal
einen Anteil an Ihrer Liebe wiederzubekommen.

Mellefont.  Nichtige Hoffnung!

Marwood.  Wer ist so grausam, daß er einer Elenden auch nicht einmal
die Hoffnung gönnen wollte?  Ich will mich ihr nicht als Marwood,
sondern als eine Anverwandte von Ihnen zeigen.  Melden Sie mich bei
ihr als eine solche; Sie sollen bei meinem Besuche zugegen sein, und
ich verspreche Ihnen bei allem, was heilig ist, ihr nicht das
geringste Anstößige zu sagen.  Schlagen Sie mir meine Bitte nicht ab;
denn sonst möchte ich vielleicht alles anwenden, in meiner wahren
Gestalt vor ihr zu erscheinen.

Mellefont.  Diese Bitte, Marwood (nachdem er einen Augenblick
nachgedacht)--könnte ich Ihnen gewähren.  Wollen Sie aber auch alsdann
gewiß diesen Ort verlassen?

Marwood.  Gewiß; ja, ich verspreche Ihnen noch mehr; ich will Sie, wo
nur noch einige Möglichkeit ist, von dem Überfalle ihres Vaters
befreien.

Mellefont.  Dieses haben Sie nicht nötig.  Ich hoffe, daß er auch mich
in die Verzeihung mit einschließen wird, die er seiner Tochter
widerfahren läßt.  Will er aber dieser nicht verzeihen, so werde ich
auch wissen, wie ich ihm begegnen soll.--Ich gehe, Sie bei meiner Miß
zu melden.  Nur halten Sie Wort, Marwood!  (Geht ab.)

Marwood.  Ach, Hannah!  daß unsere Kräfte nicht so groß sind als
unsere Wut!  Komm, hilf mich ankleiden.  Ich gebe mein Vorhaben nicht
auf.  Wenn ich ihn nur erst sicher gemacht habe.  Komm!

(Ende des zweiten Aufzugs.)



Dritter Aufzug



Erster Auftritt

Ein Saal im erstern Gasthofe.


Sir William Sampson.  Waitwell.

Sir William.  Hier, Waitwell, bringt ihr diesen Brief.  Es ist der
Brief eines zärtlichen Vaters, der sich über nichts als über ihre
Abwesenheit beklaget.  Sag ihr, daß ich dich damit vorweggeschickt und
daß ich nur noch ihre Antwort erwarten wolle, ehe ich selbst käme, sie
wieder in meine Arme zu schließen.

Waitwell.  Ich glaube, Sie tun recht wohl, daß Sie Ihre Zusammenkunft
auf diese Art vorbereiten.

Sir William.  Ich werde ihrer Gesinnungen dadurch gewiß und mache ihr
Gelegenheit, alles, was ihr die Reue Klägliches und Errötendes
eingeben könnte, schon ausgeschüttet zu haben, ehe sie mündlich mit
mir spricht.  Es wird ihr in einem Briefe weniger Verwirrung und mir
vielleicht weniger Tränen kosten.

Waitwell.  Darf ich aber fragen, Sir, was Sie in Ansehung Mellefonts
beschlossen haben?

Sir William.  Ach!  Waitwell, wenn ich ihn von dem Geliebten meiner
Tochter trennen könnte, so würde ich etwas sehr Hartes wider ihn
beschließen.  Aber da dieses nicht angeht, so siehst du wohl, daß er
gegen meinen Unwillen gesichert ist.  Ich habe selbst den größten
Fehler bei diesem Unglücke begangen.  Ohne mich würde Sara diesen
gefährlichen Mann nicht haben kennenlernen.  Ich verstattete ihm wegen
einer Verbindlichkeit, die ich gegen ihn zu haben glaubte, einen allzu
freien Zutritt in meinem Hause.  Es war natürlich, daß ihm die
dankbare Aufmerksamkeit, die ich für ihn bezeigte, auch die Achtung
meiner Tochter zuziehen mußte.  Und es war ebenso natürlich, daß sich
ein Mensch von seiner Denkungsart durch diese Achtung verleiten ließ,
sie zu etwas Höherm zu treiben.  Er hatte Geschicklichkeit genug
gehabt, sie in Liebe zu verwandeln, ehe ich noch das Geringste merkte
und ehe ich noch Zeit hatte, mich nach seiner übrigen Lebensart zu
erkundigen.  Das Unglück war geschehen, und ich hätte wohlgetan, wenn
ich ihnen nur gleich alles vergeben hätte.  Ich wollte unerbittlich
gegen ihn sein und überlegte nicht, daß ich es gegen ihn nicht allein
sein könnte.  Wenn ich meine zu späte Strenge erspart hätte, so würde
ich wenigstens ihre Flucht verhindert haben.--Da bin ich nun, Waitwell!
Ich muß sie selbst zurückholen und mich noch glücklich schätzen,
wenn ich aus dem Verführer nur meinen Sohn machen kann.  Denn wer weiß,
ob er seine Marwoods und seine übrigen Kreaturen eines Mädchens wegen
wird aufgeben wollen, das seinen Begierden nichts mehr zu verlangen
übriggelassen hat und die fesselnden Künste einer Buhlerin so wenig
versteht?

Waitwell.  Nun, Sir, das ist wohl nicht möglich, daß ein Mensch so gar
böse sein könnte.--

Sir William.  Der Zweifel, guter Waitwell, macht deiner Tugend Ehre.
Aber warum ist es gleichwohl wahr, daß sich die Grenzen der
menschlichen Bosheit noch viel weiter erstrecken?--Geh nur jetzt und
tue, was ich dir gesagt habe.  Gib auf alle ihre Mienen acht, wenn sie
meinen Brief lesen wird.  In der kurzen Entfernung von der Tugend kann
sie die Verstellung noch nicht gelernt haben, zu deren Larven nur das
eingewurzelte Laster seine Zuflucht nimmt.  Du wirst ihre ganze Seele
in ihrem Gesichte lesen.  Laß dir ja keinen Zug entgehen, der etwa
eine Gleichgültigkeit gegen mich, eine Verschmähung ihres Vaters,
anzeigen könnte.  Denn wenn du diese unglückliche Entdeckung machen
solltest und wenn sie mich nicht mehr liebt: so hoffe ich, daß ich
mich endlich werde überwinden können, sie ihrem Schicksale zu
überlassen.  Ich hoffe es, Waitwell--Ach!  wenn nur hier kein Herz
schlüge, das dieser Hoffnung widerspricht.

(Sie gehen beide auf verschiedenen Seiten ab.)



Zweiter Auftritt

Das Zimmer der Sara.


Miß Sara.  Mellefont.

Mellefont.  Ich habe unrecht getan, liebste Miß, daß ich Sie wegen des
vorigen Briefes in einer kleinen Unruhe ließ.

Sara.  Nein doch, Mellefont; ich bin deswegen ganz und gar nicht
unruhig gewesen.  Könnten Sie mich denn nicht lieben, wenn Sie gleich
noch Geheimnisse vor mir hätten?

Mellefont.  Sie glauben also doch, daß es ein Geheimnis gewesen sei?

Sara.  Aber keines, das mich angeht.  Und das muß mir genug sein.

Mellefont.  Sie sind allzu gefällig.  Doch erlauben Sie mir, daß ich
Ihnen dieses Geheimnis gleichwohl entdecke.  Es waren einige Zeilen
von einer Anverwandten, die meinen hiesigen Aufenthalt erfahren hat.
Sie geht auf ihrer Reise nach London hier durch und will mich sprechen.
Sie hat zugleich um die Ehre ersucht, Ihnen ihre Aufwartung machen
zu dürfen.

Sara.  Es wird mir allezeit angenehm sein, Mellefont, die würdigen
Personen Ihrer Familie kennenzulernen.  Aber überlegen Sie es selbst,
ob ich schon, ohne zu erröten, einer derselben unter die Augen sehen
darf.

Mellefont.  Ohne zu erröten?  Und worüber?  Darüber, daß Sie mich
lieben?  Es ist wahr, Miß, Sie hätten Ihre Liebe einem Edlern, einem
Reichern schenken können.  Sie müssen sich schämen, daß Sie Ihr Herz
nur um ein Herz haben geben wollen und daß Sie bei diesem Tausche Ihr
Glück so weit aus den Augen gesetzt.

Sara.  Sie werden es selbst wissen, wie falsch Sie meine Worte
erklären.

Mellefont.  Erlauben Sie, Miß; wenn ich sie falsch erkläre, so können
sie gar keine Bedeutung haben.

Sara.  Wie heißt Ihre Anverwandte?

Mellefont.  Es ist--Lady Solmes.  Sie werden den Namen von mir schon
gehört haben.

Sara.  Ich kann mich nicht erinnern.

Mellefont.  Darf ich bitten, daß Sie ihren Besuch annehmen wollen?

Sara.  Bitten, Mellefont?  Sie können mir es ja befehlen.

Mellefont.  Was für ein Wort!--Nein, Miß, sie soll das Glück nicht
haben, Sie zu sehen.  Sie wird es bedauern; aber sie muß es sich
gefallen lassen.  Miß Sara hat ihre Ursachen, die ich, auch ohne sie
zu wissen, verehre.

Sara.  Mein Gott!  wie schnell sind Sie, Mellefont!  Ich werde die
Lady erwarten und mich der Ehre ihres Besuchs, soviel möglich, würdig
zu erzeigen suchen.  Sind Sie zufrieden?

Mellefont.  Ach, Miß, lassen Sie mich meinen Ehrgeiz gestehen.  Ich
möchte gern gegen die ganze Welt mit Ihnen prahlen.  Und wenn ich auf
den Besitz einer solchen Person nicht eitel wäre, so würde ich mir
selbst vorwerfen, daß ich den Wert derselben nicht zu schätzen wüßte.
Ich gehe und bringe die Lady sogleich zu Ihnen.  (Gehet ab.)

Sara (allein).  Wenn es nur keine von den stolzen Weibern ist, die,
voll von ihrer Tugend, über alle Schwachheiten erhaben zu sein glauben.
Sie machen uns mit einem einzigen verächtlichen Blicke den Prozeß,
und ein zweideutiges Achselzucken ist das ganze Mitleiden, das wir
ihnen zu verdienen scheinen.



Dritter Auftritt

Waitwell.  Sara.


Betty (zwischen der Szene).  Nur hier herein, wenn Er selbst mit ihr
sprechen muß.

Sara (die sich umsieht).  Wer muß selbst mit mir sprechen?--Wen seh
ich?  Ist es möglich?  Waitwell, dich?

Waitwell.  Was für ein glücklicher Mann bin ich, daß ich endlich
unsere Miß Sara wiedersehe!

Sara.  Gott!  was bringst du?  Ich hör es schon, ich hör es schon, du
bringst mir die Nachricht von dem Tode meines Vaters!  Er ist hin, der
vortrefflichste Mann, der beste Vater!  Er ist hin, und ich, ich bin
die Elende, die seinen Tod beschleuniget hat.

Waitwell.  Ach!  Miß--

Sara.  Sage mir, geschwind sage mir, daß die letzten Augenblicke
seines Lebens ihm durch mein Andenken nicht schwerer wurden; daß er
mich vergessen hatte; daß er ebenso ruhig starb, als er sich sonst in
meinen Armen zu sterben versprach; daß er sich meiner auch nicht
einmal in seinem letzten Gebete erinnerte--

Waitwell.  Hören Sie doch auf, sich mit so falschen Vorstellungen zu
plagen!  Er lebt ja noch, Ihr Vater; er lebt ja noch, der
rechtschaffne Sir William.

Sara.  Lebt er noch?  Ist es wahr, lebt er noch?  Oh!  daß er noch
lange leben und glücklich leben möge!  Oh!  daß ihm Gott die Hälfte
meiner Jahre zulegen wolle!  Die Hälfte?--Ich Undankbare, wenn ich ihm
nicht mit allen, soviel mir deren bestimmt sind, auch nur einige
Augenblicke zu erkaufen bereit bin!  Aber nun sage mir wenigstens,
Waitwell, daß es ihm nicht hart fällt, ohne mich zu leben; daß es ihm
leicht geworden ist, eine Tochter aufzugeben, die ihre Tugend so
leicht aufgeben können; daß ihn meine Flucht erzürnet, aber nicht
gekränkt hat; daß er mich verwünschet, aber nicht bedauert.

Waitwell.  Ach, Sir William ist noch immer der zärtliche Vater, so wie
sein Sarchen noch immer die zärtliche Tochter ist, die sie beide
gewesen sind.

Sara.  Was sagst du?  Du bist ein Bote des Unglücks, des
schrecklichsten Unglücks unter allen, die mir meine feindselige
Einbildung jemals vorgestellet hat!  Er ist noch der zärtliche Vater?
So liebt er mich ja noch?  So muß er mich ja beklagen?  Nein, nein,
das tut er nicht; das kann er nicht tun!  Siehst du denn nicht, wie
unendlich jeder Seufzer, den er um mich verlöre, meine Verbrechen
vergrößern würde?  Müßte mir nicht die Gerechtigkeit des Himmels jede
seiner Tränen, die ich ihm auspreßte, so anrechnen, als ob ich bei
jeder derselben mein Laster und meinen Undank wiederholte?  Ich
erstarre über diesen Gedanken.  Tränen koste ich ihm?  Tränen?  Und es
sind andre Tränen als Tränen der Freude?--Widersprich mir doch,
Waitwell!  Aufs höchste hat er einige leichte Regungen des Bluts für
mich gefühlet; einige von den geschwind überhin gehenden Regungen,
welche die kleinste Anstrengung der Vernunft besänftiget.  Zu Tränen
hat er es nicht kommen lassen.  Nicht wahr, Waitwell, zu Tränen hat er
es nicht kommen lassen?

Waitwell (indem er sich die Augen wischt).  Nein, Miß, dazu hat er es
nicht kommen lassen.

Sara.  Ach!  dein Mund sagt nein; und deine eignen Tränen sagen ja.

Waitwell.  Nehmen Sie diesen Brief, Miß; er ist von ihm selbst.

Sara.  Von wem?  von meinem Vater?  an mich?

Waitwell.  Ja, nehmen Sie ihn nur; Sie werden mehr daraus sehen können,
als ich zu sagen vermag.  Er hätte einem andern als mir dieses
Geschäft auftragen sollen.  Ich versprach mir Freude davon; aber Sie
verwandeln mir diese Freude in Betrübnis.

Sara.  Gib nur, ehrlicher Waitwell!--Doch nein, ich will ihn nicht
eher nehmen, als bis du mir sagst, was ungefähr darin enthalten ist.

Waitwell.  Was kann darin enthalten sein?  Liebe und Vergebung.

Sara.  Liebe?  Vergebung?

Waitwell.  Und vielleicht ein aufrichtiges Bedauern, daß er die Rechte
der väterlichen Gewalt gegen ein Kind brauchen wollen, für welches nur
die Vorrechte der väterlichen Huld sind.

Sara.  So behalte nur deinen grausamen Brief!

Waitwell.  Grausamen?  fürchten Sie nichts; Sie erhalten völlige
Freiheit über Ihr Herz und Ihre Hand.

Sara.  Und das ist es eben, was ich fürchte.  Einen Vater, wie ihn, zu
betrüben: dazu habe ich noch den Mut gehabt.  Allein ihn durch eben
diese Betrübnis, ihn durch seine Liebe, der ich entsagt, dahin
gebracht zu sehen, daß er sich alles gefallen läßt, wozu mich eine
unglückliche Leidenschaft verleitet: das, Waitwell, das würde ich
nicht ausstehen.  Wenn sein Brief alles enthielte, was ein
aufgebrachter Vater in solchem Falle Heftiges und Hartes vorbringen
kann, so würde ich ihn zwar mit Schaudern lesen, aber ich würde ihn
doch lesen können.  Ich würde gegen seinen Zorn noch einen Schatten
von Verteidigung aufzubringen wissen, um ihn durch diese Verteidigung,
wo möglich, noch zorniger zu machen.  Meine Beruhigung wäre alsdann
diese, daß bei einem gewaltsamen Zorne kein wehmütiger Gram Raum haben
könne und daß sich jener endlich glücklich in eine bittere Verachtung
gegen mich verwandeln werde.  Wen man aber verachtet, um den bekümmert
man sich nicht mehr.  Mein Vater wäre wieder ruhig, und ich dürfte mir
nicht vorwerfen, ihn auf immer unglücklich gemacht zu haben.

Waitwell.  Ach!  Miß, Sie werden sich diesen Vorwurf noch weniger
machen dürfen, wenn Sie jetzt seine Liebe wieder ergreifen, die ja
alles vergessen will.

Sara.  Du irrst dich, Waitwell.  Sein sehnliches Verlangen nach mir
verführt ihn vielleicht, zu allem ja zu sagen.  Kaum aber würde dieses
Verlangen ein wenig beruhiget sein, so würde er sich seiner Schwäche
wegen vor sich selbst schämen.  Ein finsterer Unwille würde sich
seiner bemeistern, und er würde mich nie ansehen können, ohne mich
heimlich anzuklagen, wieviel ich ihm abzutrotzen mich unterstanden
habe.  Ja, wenn es in meinem Vermögen stünde, ihm bei der äußersten
Gewalt, die er sich meinetwegen antut, das Bitterste zu ersparen; wenn
in dem Augenblicke, da er mir alles erlauben wollte, ich ihm alles
aufopfern könnte: so wäre es ganz etwas anders.  Ich wollte den Brief
mit Vergnügen von deinen Händen nehmen, die Stärke der väterlichen
Liebe darin bewundern und, ohne sie zu mißbrauchen, mich als eine
reuende und gehorsame Tochter zu seinen Füßen werfen.  Aber kann ich
das?  Ich würde es tun müssen, was er mir erlaubte, ohne mich daran zu
kehren, wie teuer ihm diese Erlaubnis zu stehen komme.  Und wenn ich
dann am vergnügtesten darüber sein wollte, würde es mir plötzlich
einfallen, daß er mein Vergnügen äußerlich nur zu teilen scheine und
in sich selbst vielleicht seufze; kurz, daß er mich mit Entsagung
seiner eignen Glückseligkeit glücklich gemacht habe--Und es auf diese
Art zu sein wünschen, trauest du mir das wohl zu, Waitwell?

Waitwell.  Gewiß, ich weiß nicht, was ich hierauf antworten soll.

Sara.  Es ist nichts darauf zu antworten.  Bringe deinen Brief also
nur wieder zurück.  Wenn mein Vater durch mich unglücklich sein muß,
so will ich selbst auch unglücklich bleiben.  Ganz allein ohne ihn
unglücklich zu sein, das ist es, was ich jetzt stündlich von dem
Himmel bitte; glücklich aber ohne ihn ganz allein zu sein, davon will
ich durchaus nichts wissen.

Waitwell (etwas beiseite).  Ich glaube wahrhaftig, ich werde das gute
Kind hintergehen müssen, damit es den Brief doch nur lieset.

Sara.  Was sprichst du da für dich?

Waitwell.  Ich sage mir selbst, daß ich einen sehr ungeschickten
Einfall gehabt hätte, Sie, Miß, zur Lesung des Briefes desto
geschwinder zu vermögen.

Sara.  Wieso?

Waitwell.  Ich konnte so weit nicht denken.  Sie überlegen freilich
alles genauer, als es unsereiner kann.  Ich wollte Sie nicht
erschrecken; der Brief ist vielleicht nur allzu hart; und wenn ich
gesagt habe, daß nichts als Liebe und Vergebung darin enthalten sei,
so hätte ich sagen sollen, daß ich nichts als dieses darin enthalten
zu sein wünschte.

Sara.  Ist das wahr?--Nun, so gib mir ihn her.  Ich will ihn lesen.
Wenn man den Zorn eines Vaters unglücklicherweise verdient hat, so muß
man wenigstens gegen diesen väterlichen Zorn so viel Achtung haben,
daß er ihn nach allen Gefallen gegen uns auslassen kann.  Ihn zu
vereiteln suchen, heißt Beleidigungen mit Geringschätzung häufen.  Ich
werde ihn nach aller seiner Stärke empfinden.  Du siehst, ich zittre
schon--Aber ich soll auch zittern; und ich will lieber zittern als
weinen.--(Sie erbricht den Brief.)  Nun ist er erbrochen!  Ich bebe--
Aber was seh ich?  (Sie lieset.)  "Einzige, geliebteste Tochter!"--Ha!
du alter Betrüger, ist das die Anrede eines zornigen Vaters?  Geh,
weiter werde ich nicht lesen--

Waitwell.  Ach, Miß, verzeihen Sie doch einem alten Knechte.  Ja gewiß,
ich glaube, es ist in meinem Leben das erstemal, daß ich mit Vorsatz
betrogen habe.  Wer einmal betrügt, Miß, und aus einer so guten
Absicht betrügt, der ist ja deswegen noch kein alter Betrüger.  Das
geht mir nahe, Miß.  Ich weiß wohl, die gute Absicht entschuldigt
nicht immer; aber was konnte ich denn tun?  Einem so guten Vater
seinen Brief ungelesen wiederzubringen?  Das kann ich nimmermehr.
Eher will ich gehen, soweit mich meine alten Beine tragen, und ihm nie
wieder vor die Augen kommen.

Sara.  Wie?  auch du willst ihn verlassen?

Waitwell.  Werde ich denn nicht müssen, wenn Sie den Brief nicht
lesen?  Lesen Sie ihn doch immer.  Lassen Sie doch immer den ersten
vorsätzlichen Betrug, den ich mir vorzuwerfen habe, nicht ohne gute
Wirkung bleiben.  Sie werden ihn desto eher vergessen, und ich werde
mir ihn desto eher vergeben können.  Ich bin ein gemeiner, einfältiger
Mann, der Ihnen Ihre Ursachen, warum Sie den Brief nicht lesen können
oder wollen, freilich so muß gelten lassen.  Ob sie wahr sind, weiß
ich nicht; aber so recht natürlich scheinen sie mir wenigstens nicht.
Ich dächte nun so, Miß: ein Vater, dächte ich, ist doch immer ein
Vater; und ein Kind kann wohl einmal fehlen, es bleibt deswegen doch
ein gutes Kind.  Wenn der Vater den Fehler verzeiht, so kann ja das
Kind sich wohl wieder so aufführen, daß er auch gar nicht mehr daran
denken darf.  Und wer erinnert sich denn gern an etwas, wovon er
lieber wünscht, es wäre gar nicht geschehen?  Es ist, Miß, als ob Sie
nur immer an Ihren Fehler dächten und glaubten, es wäre genug, wenn
Sie den in Ihrer Einbildung vergrößerten und sich selbst mit solchen
vergrößerten Vorstellungen marterten.  Aber ich sollte meinen, Sie
müßten auch daran denken, wie Sie das, was geschehen ist,
wiedergutmachten.  Und wie wollen Sie es denn wiedergutmachen, wenn
Sie sich selbst alle Gelegenheit dazu benehmen?  Kann es Ihnen denn
sauer werden, den andern Schritt zu tun, wenn so ein lieber Vater
schon den ersten getan hat?

Sara.  Was für Schwerter gehen aus deinem einfältigen Munde in mein
Herz!--Eben das kann ich nicht aushalten, daß er den ersten Schritt
tun muß.  Und was willst du denn?  Tut er denn nur den ersten Schritt?
Er muß sie alle tun: ich kann ihm keinen entgegentun.  So weit ich
mich von ihm entfernet, so weit muß er sich zu mir herablassen.  Wenn
er mir vergibt, so muß er mein ganzes Verbrechen vergeben und sich
noch dazu gefallen lassen, die Folgen desselben vor seinen Augen
fortdauern zu sehen.  Ist das von einem Vater zu verlangen?

Waitwell.  Ich weiß nicht, Miß, ob ich dieses so recht verstehe.  Aber
mich deucht, Sie wollen sagen, er müsse Ihnen gar zu viel vergeben,
und weil ihm das nicht anders als sehr sauer werden könne, so machten
Sie sich ein Gewissen, seine Vergebung anzunehmen.  Wenn Sie das
meinen, so sagen Sie mir doch, ist denn nicht das Vergeben für ein
gutes Herz ein Vergnügen?  Ich bin in meinem Leben so glücklich nicht
gewesen, daß ich dieses Vergnügen oft empfunden hätte.  Aber der
wenigen Male, die ich es empfunden habe, erinnere ich mich noch immer
gern.  Ich fühlte so etwas Sanftes, so etwas Beruhigendes, so etwas
Himmlisches dabei, daß ich mich nicht entbrechen konnte, an die große,
unüberschwengliche Seligkeit Gottes zu denken, dessen ganze
Erhaltungen der elenden Menschen ein immerwährendes Vergeben ist.  Ich
wünschte mir, alle Augenblicke verzeihen zu können, und schämte mich,
daß ich nur solche Kleinigkeiten zu verzeihen hatte.  Recht
schmerzhafte Beleidigungen, recht tödliche Kränkungen zu vergeben,
sagt' ich zu mir selbst, muß eine Wollust sein, in der die ganze Seele
zerfließt--Und nun, Miß, wollen Sie denn so eine große Wollust Ihrem
Vater nicht gönnen?

Sara.  Ach!--Rede weiter, Waitwell, rede weiter!

Waitwell.  Ich weiß wohl, es gibt eine Art von Leuten, die nichts
ungerner als Vergebung annehmen, und zwar, weil sie keine zu erzeigen
gelernt haben.  Es sind stolze, unbiegsam Leute, die durchaus nicht
gestehen wollen, daß sie unrecht getan.  Aber von der Art, Miß, sind
Sie nicht.  Sie haben das liebreichste und zärtlichste Herz, das die
beste Ihres Geschlechts nur haben kann.  Ihren Fehler bekennen Sie
auch.  Woran liegt es denn nun also noch?--Doch verzeihen Sie mir nur,
Miß, ich bin ein alter Plauderer und hätte es gleich merken sollen,
daß Ihr Weigern nur eine rühmliche Besorgnis, nur eine tugendhafte
Schüchternheit sei.  Leute, die eine große Wohltat gleich ohne
Bedenken annehmen können, sind der Wohltat selten würdig.  Die sie am
meisten verdienen, haben auch immer das meiste Mißtrauen gegen sich
selbst.  Doch muß das Mißtrauen nicht über sein Ziel getrieben werden.


Sara.  Lieber alter Vater, ich glaube, du hast mich überredet.

Waitwell.  Ach Gott!  wenn ich so glücklich gewesen bin, so muß mir
ein guter Geist haben reden helfen.  Aber nein, Miß, meine Reden haben
dabei nichts getan, als daß sie Ihnen Zeit gelassen, selbst
nachzudenken und sich von einer so fröhlichen Bestürzung zu erholen.--
Nicht wahr, nun werden Sie den Brief lesen?  Oh!  lesen Sie ihn doch
gleich!

Sara.  Ich will es tun, Waitwell.--Welche Bisse, welche Schmerzen
werde ich fühlen!

Waitwell.  Schmerzen, Miß, aber angenehme Schmerzen.

Sara.  Sei still!  (Sie fängt an, für sich zu lesen.)

Waitwell (beiseite).  Oh!  wenn er sie selbst sehen sollte!

Sara (nachdem sie einige Augenblicke gelesen).  Ach, Waitwell, was für
ein Vater!  Er nennt meine Flucht eine Abwesenheit.  Wieviel
sträflicher wird sie durch dieses gelinde Wort!  (Sie lieset weiter
und unterbricht sich wieder.)  Höre doch!  er schmeichelt sich, ich
würde ihn noch lieben.  Er schmeichelt sich!  (Lieset und unterbricht
sich.)  Er bittet mich--Er bittet mich?  Ein Vater seine Tochter?
seine strafbare Tochter?  Und was bittet er mich denn?--(Lieset für
sich.)  Er bittet mich, seine übereilte Strenge zu vergessen und ihn
mit meiner Entfernung nicht länger zu strafen.  Übereilte Strenge!--Zu
strafen!--(Lieset wieder und unterbricht sich.)  Noch mehr!  Nun dankt
er mir gar, und dankt mir, daß ich ihm Gelegenheit gegeben, den ganzen
Umfang der väterlichen Liebe kennenzulernen.  Unselige Gelegenheit!
Wenn er doch nur auch sagte, daß sie ihm zugleich den ganzen Umfang
des kindlichen Ungehorsams habe kennenlernen!  (Sie lieset wieder.)
Nein, er sagt es nicht!  Er gedenkt meines Verbrechens nicht mit einem
Buchstaben.  (Sie fährt weiter fort, für sich zu lesen.)  Er will
kommen und seine Kinder selbst zurückholen.  Seine Kinder, Waitwell!
Das geht über alles!--Hab ich auch recht gelesen?  (Sie lieset wieder
für sich.)--Ich möchte vergehen!  Er sagt, derjenige verdiene nur
allzuwohl sein Sohn zu sein, ohne welchen er keine Tochter haben könne.
--Oh!  hätte er sie nie gehabt, diese unglückliche Tochter!--Geh,
Waitwell, laß mich allein!  Er verlangt eine Antwort, und ich will sie
sogleich machen.  Frag in einer Stunde wieder nach.  Ich danke dir
unterdessen für deine Mühe.  Du bist ein rechtschaffner Mann.  Es sind
wenig Diener die Freunde ihrer Herren!

Waitwell.  Beschämen Sie mich nicht, Miß.  Wenn alle Herren Sir
Williams wären, so müßten die Diener Unmenschen sein, wenn sie nicht
ihr Leben für sie lassen wollten.  (Geht ab.)



Vierter Auftritt


Sara (sie setzet sich zum Schreiben nieder).  Wenn man mir es vor Jahr
und Tag gesagt hätte, daß ich auf einen solchen Brief würde antworten
müssen!  Und unter solchen Umständen!--Ja, die Feder hab ich in der
Hand.--Weiß ich aber auch schon, was ich schreiben soll?  Was ich
denke; was ich empfinde.--Und was denkt man denn, wenn sich in einem
Augenblicke tausend Gedanken durchkreuzen?  Und was empfindet man denn,
wenn das Herz vor lauter Empfinden in einer tiefen Betäubung liegt?--
Ich muß doch schreiben--Ich führe ja die Feder nicht das erstemal.
Nachdem sie mir schon so manche kleine Dienste der Höflichkeit und
Freundschaft abstatten helfen, sollte mir ihre Hilfe wohl bei dem
wichtigsten Dienste entstehen?--(Sie denkt ein wenig nach und schreibt
darauf einige Zeilen.)  Das soll der Anfang sein?  Ein sehr frostiger
Anfang.  Und werde ich denn bei seiner Liebe anfangen wollen?  Ich muß
bei meinem Verbrechen anfangen.  (Sie streicht aus und schreibt anders.)
Daß ich mich ja nicht zu obenhin davon ausdrücke!--Das Schämen kann
überall an seiner rechten Stelle sein, nur bei dem Bekenntnisse
unserer Fehler nicht.  Ich darf mich nicht fürchten, in Übertreibungen
zu geraten, wenn ich auch schon die gräßlichsten Züge anwende.--Ach!
warum muß ich nun gestört werden?



Fünfter Auftritt

Marwood.  Mellefont.  Sara.


Mellefont.  Liebste Miß, ich habe die Ehre, Ihnen Lady Solmes
vorzustellen, welche eine von denen Personen in meiner Familie ist,
welchen ich mich am meisten verpflichtet erkenne.

Marwood.  Ich muß um Vergebung bitten, Miß, daß ich so frei bin, mich
mit meinen eignen Augen von dem Glücke eines Vetters zu überführen,
dem ich das vollkommenste Frauenzimmer wünschen würde, wenn mich nicht
gleich der erste Anblick überzeugt hätte, daß er es in Ihnen bereits
gefunden habe.

Sara.  Sie erzeigen mir allzuviel Ehre, Lady.  Eine Schmeichelei wie
diese würde mich zu allen Zeiten beschämt haben; itzt aber sollte ich
sie fast für einen versteckten Vorwurf annehmen, wenn ich Lady Solmes
nicht für viel zu großmütig hielte, ihre Überlegenheit an Tugend und
Klugheit eine Unglückliche fühlen zu lassen.

Marwood (kalt).  Ich würde untröstlich sein, Miß, wenn Sie mir andre
als die freundschaftlichsten Gesinnungen zutrauten.--(Beiseite.)  Sie
ist schön!

Mellefont.  Und wäre es denn auch möglich, Lady, gegen soviel
Schönheit, gegen soviel Bescheidenheit gleichgültig zu bleiben?  Man
sagt zwar, daß einem reizenden Frauenzimmer selten von einem andern
Gerechtigkeit erwiesen werde: allein dieses ist auf der einen Seite
nur von denen, die auf ihre Vorzüge allzu eitel sind, und auf der
andern nur von solchen zu verstehen, welche sich selbst keiner Vorzüge
bewußt sind.  Wie weit sind Sie beide von diesem Falle entfernt!--(Zur
Marwood, welche in Gedanken steht.)  Ist es nicht wahr, Lady, daß
meine Liebe nichts weniger als parteiisch gewesen ist?  Ist es nicht
wahr, daß ich Ihnen zum Lobe meiner Miß viel, aber noch lange nicht so
viel gesagt habe, als Sie selbst finden?--Aber warum so in Gedanken?--
(Sachte zu ihr.)  Sie vergessen, wer Sie sein wollen.

Marwood.  Darf ich es sagen?--Die Bewunderung Ihrer liebsten Miß
führte mich auf die Betrachtung ihres Schicksals.  Es ging mir nahe,
daß sie die Früchte ihrer Liebe nicht in ihrem Vaterlande genießen
soll.  Ich erinnerte mich, daß sie einen Vater und, wie man mir gesagt
hat, einen sehr zärtlichen Vater verlassen müßte, um die Ihrige sein
zu können; und ich konnte mich nicht enthalten, ihre Aussöhnung mit
ihm zu wünschen.

Sara.  Ach!  Lady, wie sehr bin ich Ihnen für diesen Wunsch verbunden.
Er verdient es, daß ich meine ganze Freude mit Ihnen teile.  Sie
können es noch nicht wissen, Mellefont, daß er erfüllt wurde, ehe Lady
die Liebe für uns hatte, ihn zu tun.

Mellefont.  Wie verstehen Sie dieses, Miß?

Marwood (beiseite).  Was will das sagen?

Sara.  Eben itzt habe ich einen Brief von meinem Vater erhalten.
Waitwell brachte mir ihn.  Ach, Mellefont, welch ein Brief!

Mellefont.  Geschwind reißen Sie mich aus meiner Ungewißheit.  Was hab
ich zu fürchten?  Was habe ich zu hoffen?  Ist er noch der Vater, den
wir flohen?  Und wenn er es noch ist, wird Sara die Tochter sein, die
mich zärtlich genug liebt, um ihn noch weiter zu fliehen?  Ach!  hätte
ich Ihnen gefolgt, liebste Miß, so wären wir jetzt durch ein Band
verknüpft, das man aus eigensinnigen Absichten zu trennen wohl
unterlassen müßte.  In diesem Augenblick empfinde ich alles das
Unglück, das unser entdeckter Aufenthalt für mich nach sich ziehen
kann.  Er wird kommen und Sie aus meinen Armen reißen.  Wie hasse ich
den Nichtswürdigen, der uns ihm verraten hat!  (Mit einem zornigen
Blick gegen die Marwood.)

Sara.  Liebster Mellefont, wie schmeichelhaft ist diese Ihre Unruhe
für mich!  Und wie glücklich sind wir beide, daß sie vergebens ist!
Lesen Sie hier seinen Brief.--(Gegen die Marwood, indem Mellefont den
Brief für sich lieset.)  Lady, er wird über die Liebe meines Vaters
erstaunen.  Meines Vaters?  Ach!  er ist nun auch der seinige.

Marwood (betroffen).  Ist es möglich?

Sara.  Jawohl, Lady, haben Sie Ursache, diese Veränderung zu bewundern.
Er vergibt uns alles; wir werden uns nun vor seinen Augen lieben; er
erlaubt es uns; er befiehlt es uns.--Wie hat diese Gütigkeit meine
ganze Seele durchdrungen!--Nun, Mellefont?  (Der ihr den Brief
wiedergibt.)  Sie schweigen?  O nein, diese Träne, die sich aus Ihrem
Auge schleicht, sagt weit mehr, als Ihr Mund ausdrücken könnte.

Marwood (beiseite).  Wie sehr habe ich mir selbst geschadet!  Ich
Unvorsichtige!

Sara.  Oh!  lassen Sie mich diese Träne von Ihrer Wange küssen!

Mellefont.  Ach Miß, warum haben wir so einen göttlichen Mann betrüben
müssen?  Jawohl, einen göttlichen Mann: denn was ist göttlicher als
vergeben?--Hätten wir uns diesen glücklichen Ausgang nur als möglich
vorstellen können: gewiß, so wollten wir ihn jetzt so gewaltsamen
Mitteln nicht zu verdanken haben; wir wollten ihn allein unsern Bitten
zu verdanken haben.  Welche Glückseligkeit wartet auf mich!  Wie
schmerzlich wird mir aber auch die eigne Überzeugung sein, daß ich
dieser Glückseligkeit so unwert bin!

Marwood (beiseite).  Und das muß ich mit anhören!

Sara.  Wie vollkommen rechtfertigen Sie durch solche Gesinnungen meine
Liebe gegen Sie.

Marwood (beiseite).  Was für Zwang muß ich mir antun!

Sara.  Auch Sie, vortreffliche Lady, müssen den Brief meines Vaters
lesen.  Sie scheinen allzuviel Anteil an unserm Schicksale zu nehmen,
als daß Ihnen sein Inhalt gleichgültig sein könnte.

Marwood.  Mir gleichgültig, Miß?  (Sie nimmt den Brief.)

Sara.  Aber, Lady, Sie scheinen noch immer sehr nachdenkend, sehr
traurig.--

Marwood.  Nachdenkend, Miß, aber nicht traurig.

Mellefont (beiseite).  Himmel!  wo sie sich verrät!

Sara.  Und warum denn?

Marwood.  Ich zittere für Sie beide.  Könnte die unvermutete Güte
Ihres Vaters nicht eine Verstellung sein?  eine List?

Sara.  Gewiß nicht, Lady, gewiß nicht.  Lesen Sie nur, und Sie werden
es selbst gestehen.  Die Verstellung bleibt immer kalt, und eine so
zärtliche Sprache ist in ihrem Vermögen nicht.  (Marwood lieset für
sich.)  Werden Sie nicht argwöhnisch, Mellefont; ich bitte Sie.  Ich
stehe Ihnen dafür, daß mein Vater sich zu keiner List herablassen kann.
Er sagt nichts, was er nicht denkt, und Falschheit ist ihm ein
unbekanntes Laster.

Mellefont.  Oh!  davon bin ich vollkommen überzeugt, liebste Miß.--Man
muß der Lady den Verdacht vergeben, weil sie den Mann noch nicht kennt,
den er trifft.

Sara (indem ihr Marwood den Brief zurückgibt).  Was seh ich, Lady?
Sie haben sich entfärbt?  Sie zittern?  Was fehlt Ihnen?

Mellefont (beiseite).  In welcher Angst bin ich!  Warum habe ich sie
auch hergebracht?

Marwood.  Es ist nichts, Miß, als ein kleiner Schwindel, welcher
vorübergehn wird.  Die Nachtluft muß mir auf der Reise nicht bekommen
sein.

Mellefont.  Sie erschrecken mich, Lady--ist es Ihnen nicht gefällig,
frische Luft zu schöpfen?  Man erholt sich in einem verschloßnen
Zimmer nicht so leicht.

Marwood.  Wenn Sie meinen, so reichen Sie mir Ihren Arm.

Sara.  Ich werde Sie begleiten, Lady.

Marwood.  Ich verbitte diese Höflichkeit, Miß.  Meine Schwachheit wird
ohne Folgen sein.

Sara.  So hoffe ich denn, Lady bald wiederzusehen.

Marwood.  Wenn Sie erlauben, Miß--

(Mellefont führt sie ab.)

Sara (allein).  Die arme Lady!--Sie scheinet die freundschaftlichste
Person zwar nicht zu sein; aber mürrisch und stolz scheinet sie doch
auch nicht.--Ich bin wieder allein.  Kann ich die wenigen Augenblicke,
die ich es vielleicht sein werde, zu etwas Besserm als zur Vollendung
meiner Antwort anwenden?  (Sie will sich niedersetzen, zu schreiben.)



Sechster Auftritt

Betty.  Sara.


Betty.  Das war ja wohl ein sehr kurzer Besuch.

Sara.  Ja, Betty.  Es ist Lady Solmes; eine Anverwandte meines
Mellefont.  Es wandelte ihr gähling eine kleine Schwachheit an.  Wo
ist sie jetzt?

Betty.  Mellefont hat sie bis an die Türe begleitet.

Sara.  So ist sie ja wohl wieder fort?

Betty.  Ich vermute es.--Aber je mehr ich Sie ansehe, Miß--Sie müssen
mir meine Freiheit verzeihen--, je mehr finde ich Sie verändert.  Es
ist etwas Ruhiges, etwas Zufriednes in Ihren Blicken.  Lady muß ein
sehr angenehmer Besuch oder der alte Mann ein sehr angenehmer Bote
gewesen sein.

Sara.  Das letzte, Betty, das letzte.  Er kam von meinem Vater.  Was
für einen zärtlichen Brief will ich dich lesen lassen!  Dein gutes
Herz hat so oft mit mir geweint, nun soll es sich auch mit mir freuen.
Ich werde wieder glücklich sein und dich für deine guten Dienste
belohnen können.

Betty.  Was habe ich Ihnen in kurzen neun Wochen für Dienste leisten
können?

Sara.  Du hättest mir ihrer in meinem ganzen andern Leben nicht
mehrere leisten können als in diesen neun Wochen.  Sie sind vorüber!--
Komm nur itzt, Betty; weil Mellefont vielleicht wieder allein ist, so
muß ich ihn noch sprechen.  Ich bekomme eben den Einfall, daß es sehr
gut sein würde, wenn er zugleich mit mir an meinen Vater schriebe, dem
seine Danksagung schwerlich unerwartet sein dürfte.  Komm!

(Sie gehen ab.)



Siebenter Auftritt

Der Saal.


Sir William Sampson.  Waitwell.

Sir William.  Was für Balsam, Waitwell, hast du mir durch deine
Erzählung in mein verwundetes Herz gegossen!  Ich lebe wieder neu auf;
und ihre herannahende Rückkehr scheint mich ebensoweit zu meiner
Jugend wieder zurückzubringen, als mich ihre Flucht näher zu dem Grabe
gebracht hatte.  Sie liebt mich noch!  Was will ich mehr?--Geh ja bald
wieder zu ihr, Waitwell.  Ich kann den Augenblick nicht erwarten, da
ich sie aufs neue in diese Arme schließen soll, die ich so sehnlich
gegen den Tod ausgestreckt hatte.  Wie erwünscht wäre er mir in den
Augenblicken meines Kummers gewesen!  Und wie fürchterlich wird er mir
in meinem neuen Glücke sein!  Ein Alter ist ohne Zweifel zu tadeln,
wenn er die Bande, die ihn noch mit der Welt verbinden, so fest wieder
zuziehet.  Die endliche Trennung wird desto schmerzlicher.--Doch der
Gott, der sich jetzt so gnädig gegen mich erzeigt, wird mir auch diese
überstehen helfen.  Sollte er mir wohl eine Wohltat erweisen, um sie
mir zuletzt zu meinem Verderben gereichen zu lassen?  Sollte er mir
eine Tochter wiedergeben, damit ich über seine Abfoderung aus diesem
Leben murren müsse?  Nein, nein; er schenkt mir sie wieder, um in der
letzten Stunde nur um mich selbst besorgt sein zu dürfen.  Dank sei
dir, ewige Güte!  Wie schwach ist der Dank eines sterblichen Mundes!
Doch bald, bald werde ich in einer ihm geweihten Ewigkeit ihm würdiger
danken können.

Waitwell.  Wie herzlich vergnügt es mich, Sir, Sie vor meinem Ende
wieder zufrieden zu wissen!  Glauben Sie mir es nur, ich habe fast so
viel bei Ihrem Jammer ausgestanden als Sie selbst.  Fast so viel; gar
so viel nicht: denn der Schmerz eines Vaters mag wohl bei solchen
Gelegenheiten unaussprechlich sein.

Sir William.  Betrachte dich von nun an, mein guter Waitwell, nicht
mehr als meinen Diener.  Du hast es schon längst um mich verdient, ein
anständiger Alter zu genießen.  Ich will dir es auch schaffen, und du
sollst es nicht schlechter haben, als ich es noch in der Welt haben
werde.  Ich will allen Unterschied zwischen uns aufheben; in jener
Welt, weißt du wohl, ist er ohnedies aufgehoben.--Nur dasmal sei noch
der alte Diener, auf den ich mich nie umsonst verlassen habe.  Geh und
gib acht, daß du mir ihre Antwort sogleich bringen kannst, als sie
fertig ist.

Waitwell.  Ich gehe, Sir.  Aber so ein Gang ist kein Dienst, den ich
Ihnen tue.  Er ist eine Belohnung, die Sie mir für meine Dienste
gönnen.  Ja gewiß, das ist er.

(Sie gehen auf verschiedenen Seiten ab.)

(Ende des dritten Aufzuges.)



Vierter Aufzug



Erster Auftritt

Mellefonts Zimmer.


Mellefont.  Sara.

Mellefont.  Ja, liebste Miß, ja; das will ich tun; das muß ich tun.

Sara.  Wie vergnügt machen Sie mich!

Mellefont.  Ich bin es allein, der das ganze Verbrechen auf sich
nehmen muß.  Ich allein bin schuldig; ich allein muß um Vergebung
bitten.

Sara.  Nein, Mellefont, nehmen Sie mir den größern Anteil, den ich an
unserm Vergehen habe, nicht.  Er ist mir teuer, so strafbar er auch
ist: denn er muß Sie überzeugt haben, daß ich meinen Mellefont über
alles in der Welt liebe.--Aber ist es denn gewiß wahr, daß ich nunmehr
diese Liebe mit der Liebe gegen meinen Vater verbinden darf?  Oder
befinde ich mich in einem angenehmen Traume?  Wie fürchte ich mich,
ihn zu verlieren und in meinem alten Jammer zu erwachen!--Doch nein,
ich bin nicht bloß in einem Traume, ich bin wirklich glücklicher, als
ich jemals zu werden hoffen durfte; glücklicher, als es vielleicht
dieses kurze Leben zuläßt.  Vielleicht erscheint mir dieser Strahl von
Glückseligkeit nur darum von ferne und scheinet mir nur darum so
schmeichelhaft näher zu kommen, damit er auf einmal wieder in die
dickste Finsternis zerfließe und mich auf einmal in einer Nacht lasse,
deren Schrecklichkeit mir durch diese kurze Erleuchtung erst recht
fühlbar geworden.--Was für Ahnungen quälen mich!--Sind es wirklich
Ahnungen, Mellefont, oder sind es gewöhnliche Empfindungen, die von
der Erwartung eines unverdienten Glücks und von der Furcht, es zu
verlieren, unzertrennlich sind?--Wie schlägt mir das Herz, und wie
unordentlich schlägt es!  Wie stark itzt, wie geschwind!--Und nun, wie
matt, wie bange, wie zitternd!--Itzt eilt es wieder, als ob es die
letzten Schläge wären, die es gern recht schnell hintereinander tun
wolle.  Armes Herz!

Mellefont.  Die Wallungen des Geblüts, welche plötzliche
Überraschungen nicht anders als verursachen können, werden sich legen,
Miß, und das Herz wird seine Verrichtungen ruhiger fortsetzen.  Keiner
seiner Schläge zielet auf das Zukünftige; und wir sind zu tadeln--
verzeihen Sie, liebste Sara--, wenn wir des Bluts mechanische
Drückungen zu fürchterlichen Propheten machen.--Deswegen aber will ich
nichts unterlassen, was Sie selbst zur Besänftigung dieses kleinen
innerlichen Sturms für dienlich halten.  Ich will sogleich schreiben,
und Sir William, hoffe ich, soll mit den Beteurungen meiner Reue, mit
den Ausdrücken meines gerührten Herzens und mit den Angelobungen des
zärtlichsten Gehorsams zufrieden sein.

Sara.  Sir William?  Ach Mellefont, fangen Sie doch nun an, sich an
einen weit zärtlichern Namen zu gewöhnen.  Mein Vater, Ihr Vater,
Mellefont--

Mellefont.  Nun ja, Miß, unser gütiger, unser bester Vater!--Ich mußte
sehr jung aufhören, diesen süßen Namen zu nennen; sehr jung mußte ich
den ebenso süßen Namen "Mutter" verlernen--

Sara.  Sie haben ihn verlernt, und mir--mir ward es so gut nicht, ihn
nur einmal sprechen zu können.  Mein Leben war ihr Tod.--Gott!  ich
ward eine Muttermörderin wider mein Verschulden.  Und wie viel fehlte--
wie wenig, wie nichts fehlte--, so wäre ich auch eine Vatermörderin
geworden!  Aber nicht ohne mein Verschulden; eine vorsätzliche
Vatermörderin!--Und wer weiß, ob ich es nicht schon bin?  Die Jahre,
die Tage, die Augenblicke, die er geschwinder zu seinem Ziele kömmt,
als er ohne die Betrübnis, die ich ihm verursacht, gekommen wäre--
diese hab ich ihm--ich habe sie ihm geraubt.  Wenn ihn sein Schicksal
auch noch so alt und lebenssatt sterben läßt, so wird mein Gewissen
doch nichts gegen den Vorwurf sichern können, daß er ohne mich
vielleicht noch später gestorben wäre.  Trauriger Vorwurf, den ich mir
ohne Zweifel nicht machen dürfte, wenn eine zärtliche Mutter die
Führerin meiner Jugend gewesen wäre!  Ihre Lehren, ihr Exempel würden
mein Herz--So zärtlich blicken Sie mich an, Mellefont?  Sie haben
recht; eine Mutter würde mich vielleicht mit lauter Liebe tyrannisiert
haben, und ich würde Mellefonts nicht sein.  Warum wünsche ich mir
denn also das, was mir das weisere Schicksal nur aus Güte versagte?
Seine Fügungen sind immer die besten.  Lassen Sie uns nur das recht
brauchen, was es uns schenkt: einen Vater, der mich noch nie nach
einer Mutter seufzen lassen; einen Vater, der auch Sie ungenossene
Eltern will vergessen lehren.  Welche schmeichelhafte Vorstellung!
Ich verliebe mich selbst darein und vergesse es fast, daß in dem
Innersten sich noch etwas regt, das ihm keinen Glauben beimessen will.-
-Was ist es, dieses rebellische Etwas?

Mellefont.  Dieses Etwas, liebste Sara, wie Sie schon selbst gesagt
haben, ist die natürliche furchtsam Schwierigkeit, sich in ein großes
Glück zu finden.--Ach, Ihr Herz machte weniger Bedenken, sich
unglücklich zu glauben, als es jetzt zu seiner eignen Pein macht, sich
für glücklich zu halten!--Aber wie dem, der in einer schnellen
Kreisbewegung drehend geworden, auch da noch, wenn er schon wieder
still sitzt, die äußern Gegenstände mit ihm herumzugehen scheinen, so
wird auch das Herz, das zu heftig erschüttert worden, nicht auf einmal
wieder ruhig.  Es bleibt eine zitternde Bebung oft noch lange zurück,
die wir ihrer eignen Abschwächung überlassen müssen.

Sara.  Ich glaube es, Mellefont, ich glaube es: weil Sie es sagen;
weil ich es wünsche.--Aber lassen Sie uns einer den andern nicht
länger aufhalten.  Ich will gehen und meinen Brief vollenden.  Ich
darf doch auch den Ihrigen lesen, wenn ich Ihnen den meinigen werde
gezeigt haben?

Mellefont.  Jedes Wort soll Ihrer Beurteilung unterworfen sein; nur
das nicht, was ich zu Ihrer Rettung sagen muß: denn ich weiß es, Sie
halten sich nicht für so unschuldig, als Sie sind.  (Indem er die Sara
bis an die Szene begleitet.)



Zweiter Auftritt


Mellefont (nachdem er einigemal tiefsinnig auf und nieder gegangen).
Was für ein Rätsel bin ich mir selbst!  Wofür soll ich mich halten?
Für einen Toren?  oder für einen Bösewicht?--oder für beides?--Herz,
was für ein Schalk bist du!--Ich liebe den Engel, so ein Teufel ich
auch sein mag.--Ich lieb ihn?  Ja, gewiß, gewiß, ich lieb ihn.  Ich
weiß, ich wollte tausend Leben für sie aufopfern, für sie, die mir
ihre Tugend aufgeopfert hat!  Ich wollt' es; jetzt gleich ohne Anstand
wollt' ich es--Und doch, doch--Ich erschrecke, mir es selbst zu sagen--
Und doch--Wie soll ich es begreifen?--Und doch fürchte ich mich vor
dem Augenblicke, der sie auf ewig vor dem Angesichte der Welt zu der
Meinigen machen wird.--Er ist nun nicht zu vermeiden; denn der Vater
ist versöhnt.  Auch weit hinaus werde ich ihn nicht schieben können.
Die Verzögerung desselben hat mir schon schmerzhafte Vorwürfe genug
zugezogen.  So schmerzhaft sie aber waren, so waren sie mir doch
erträglicher als der melancholische Gedanke, auf zeitlebens gefesselt
zu sein.--Aber bin ich es denn nicht schon?--Ich bin es freilich, und
bin es mit Vergnügen.--Freilich bin ich schon ihr Gefangener.--Was
will ich also?--Das!--Itzt bin ich ein Gefangener, den man auf sein
Wort frei herumgehen läßt: das schmeichelt!  Warum kann es dabei nicht
sein Bewenden haben?  Warum muß ich eingeschmiedet werden und auch
sogar den elenden Schatten der Freiheit entbehren?--Eingeschmiedet?
Nichts anders!--Sara Sampson, meine Geliebte!  Wieviel Seligkeiten
liegen in diesen Worten!  Sara Sampson, meine Ehegattin!--Die Hälfte
dieser Seligkeiten ist verschwunden!  und die andre Hälfte--wird
verschwinden.--Ich Ungeheuer!--Und bei diesen Gesinnungen soll ich an
ihren Vater schreiben?--Doch es sind keine Gesinnungen; es sind
Einbildungen!  Vermaledeite Einbildungen, die mir durch ein zügelloses
Leben so natürlich geworden!  Ich will ihrer los werden, oder--nicht
leben.



Dritter Auftritt

Norton.  Mellefont.


Mellefont.  Du störest mich, Norton!

Norton.  Verzeihen Sie also, mein Herr--(Indem er wieder zurückgehen
will.)

Mellefont.  Nein, nein, bleib da.  Es ist ebensogut, daß du mich
störest.  Was willst du?

Norton.  Ich habe von Betty eine sehr freudige Neuigkeit gehört, und
ich komme, Ihnen dazu Glück zu wünschen.

Mellefont.  Zur Versöhnung des Vaters doch wohl?  Ich danke dir.

Norton.  Der Himmel will Sie also noch glücklich machen.

Mellefont.  Wenn er es will--du siehst, Norton, ich lasse mir
Gerechtigkeit widerfahren--, so will er es meinetwegen gewiß nicht.

Norton.  Nein, wenn Sie dieses erkennen, so will er es auch Ihretwegen.


Mellefont.  Meiner Sara wegen, einzig und allein meiner Sara wegen.
Wollte seine schon gerüstete Rache eine ganze sündige Stadt, weniger
Gerechten wegen, verschonen, so kann er ja wohl auch einen Verbrecher
dulden, wenn eine ihm gefällige Seele an dem Schicksale desselben
Anteil nimmt.

Norton.  Sie sprechen sehr ernsthaft und rührend.  Aber drückt sich
die Freude nicht etwas anders aus?

Mellefont.  Die Freude, Norton?  Sie ist nun für mich dahin.

Norton.  Darf ich frei reden?  (Indem er ihn scharf ansieht.)

Mellefont.  Du darfst.

Norton.  Der Vorwurf, den ich an dem heutigen Morgen von Ihnen hören
mußte, daß ich mich Ihrer Verbrechen teilhaftig gemacht, weil ich dazu
geschwiegen, mag mich bei Ihnen entschuldigen, wenn ich von nun an
seltner schweige.

Mellefont.  Nur vergiß nicht, wer du bist.

Norton.  Ich will es nicht vergessen, daß ich ein Bedienter bin: ein
Bedienter, der auch etwas Bessers sein könnte, wenn er, leider!
darnach gelebt hätte.  Ich bin Ihr Bedienter, ja; aber nicht auf dem
Fuße, daß ich mich gern mit Ihnen möchte verdammen lassen.

Mellefont.  Mit mir?  Und warum sagst du das itzt?

Norton.  Weil ich nicht wenig erstaune, Sie anders zu finden, als ich
mir vorstellte.

Mellefont.  Willst du mich nicht wissen lassen, was du dir
vorstelltest?

Norton.  Sie in lauter Entzückung zu finden.

Mellefont.  Nur der Pöbel wird gleich außer sich gebracht, wenn ihn
das Glück einmal anlächelt.

Norton.  Vielleicht, weil der Pöbel noch sein Gefühl hat, das bei
Vornehmern durch tausend unnatürliche Vorstellungen verderbt und
geschwächt wird.  Allein in Ihrem Gesichte ist noch etwas anders als
Mäßigung zu lesen.  Kaltsinn, Unentschlossenheit, Widerwille--

Mellefont.  Und wenn auch?  Hast du es vergessen, wer noch außer der
Sara hier ist?  Die Gegenwart der Marwood--

Norton.  Könnte Sie wohl besorgt, aber nicht niedergeschlagen machen.--
Sie beunruhiget etwas anders.  Und ich will mich gern geirret haben,
wenn Sie es nicht lieber gesehen hätten, der Vater wäre noch nicht
versöhnt.  Die Aussicht in einen Stand, der sich so wenig zu Ihrer
Denkungsart schickt--

Mellefont.  Norton!  Norton!  du mußt ein erschrecklicher Bösewicht
entweder gewesen sein oder noch sein, daß du mich so erraten kannst.
Weil du es getroffen hast, so will ich es nicht leugnen.  Es ist wahr;
so gewiß es ist, daß ich meine Sara ewig lieben werde, so wenig will
es mir ein, daß ich sie ewig lieben soll--soll!--Aber besorge nichts;
ich will über diese närrische Grille siegen.  Oder meinst du nicht,
daß es eine Grille ist?  Wer heißt mich die Ehe als einen Zwang
ansehen?  Ich wünsche es mir ja nicht, freier zu sein, als sie mich
lassen wird.

Norton.  Diese Betrachtungen sind sehr gut.  Aber Marwood, Marwood
wird Ihren alten Vorurteilen zu Hilfe kommen, und ich fürchte, ich
fürchte--

Mellefont.  Was nie geschehen wird.  Du sollst sie noch heute nach
London zurückreisen sehen.  Da ich dir meine geheimste--Narrheit will
ich es nur unterdessen nennen--gestanden habe, so darf ich dir auch
nicht verbergen, daß ich die Marwood in solche Furcht gejagt habe, daß
sie sich durchaus nach meinem geringsten Winke bequemen muß.

Norton.  Sie sagen mir etwas Unglaubliches.

Mellefont.  Sieh, dieses Mördereisen riß ich ihr aus der Hand (er
zeigt ihm den Dolch, den er der Marwood genommen), als sie mir in der
schrecklichsten Wut das Herz damit durchstoßen wollte.  Glaubst du es
nun bald, daß ich ihr festen Obstand gehalten habe?  Anfangs zwar
fehlte es nicht viel, sie hätte mir ihre Schlinge wieder um den Hals
geworfen.  Die Verräterin hat Arabellen bei sich.

Norton.  Arabellen?

Mellefont.  Ich habe es noch nicht untersuchen können, durch welche
List sie das Kind wieder in ihre Hände bekommen.  Genug, der Erfolg
fiel für sie nicht so aus, als sie es ohne Zweifel gehofft hatte.

Norton.  Erlauben Sie, daß ich mich über Ihre Standhaftigkeit freuen
und Ihre Besserung schon für halb geborgen halten darf.  Allein--da
Sie mich doch alles wollen wissen lassen--was hat sie unter dem Namen
der Lady Solmes hier gesollt?

Mellefont.  Sie wollte ihre Nebenbuhlerin mit aller Gewalt sehen.  Ich
willigte in ihr Verlangen, teils aus Nachsicht, teils aus Übereilung,
teils aus Begierde, sie durch den Anblick der Besten ihres Geschlechts
zu demütigen.--Du schüttelst den Kopf, Norton?--

Norton.  Das hätte ich nicht gewagt.

Mellefont.  Gewagt?  Eigentlich wagte ich nichts mehr dabei, als ich
im Falle der Weigerung gewagt hätte.  Sie würde als Marwood
vorzukommen gesucht haben; und das Schlimmste, was bei ihrem
unbekannten Besuche zu besorgen steht, ist nichts Schlimmers.

Norton.  Danken Sie dem Himmel, daß es so ruhig abgelaufen.

Mellefont.  Es ist noch nicht ganz vorbei, Norton.  Es stieß ihr eine
kleine Unpäßlichkeit zu, daß sie sich, ohne Abschied zu nehmen,
wegbegeben mußte.  Sie will wiederkommen.--Mag sie doch!  Die Wespe,
die den Stachel verloren hat (indem er auf den Dolch weiset, den er
wieder in den Busen steckt), kann doch weiter nichts als summen.  Aber
auch das Summen soll ihr teuer werden, wenn sie zu überlästig damit
wird.--Hör ich nicht jemand kommen?  Verlaß mich, wenn sie es ist.--
Sie ist es.  Geh!

(Norton geht ab.)



Vierter Auftritt

Mellefont.  Marwood.


Marwood.  Sie sehen mich ohne Zweifel sehr ungern wiederkommen.

Mellefont.  Ich sehe es sehr gern, Marwood, daß Ihre Unpäßlichkeit
ohne Folgen gewesen ist.  Sie befinden sich doch besser?

Marwood.  So, so!

Mellefont.  Sie haben also nicht wohl getan, sich wieder hieher zu
bemühen.

Marwood.  Ich danke Ihnen, Mellefont, wenn Sie dieses aus Vorsorge für
mich sagen.  Und ich nehme es Ihnen nicht übel, wenn Sie etwas anders
damit meinen.

Mellefont.  Es ist mir angenehm, Sie so ruhig zu sehen.

Marwood.  Der Sturm ist vorüber.  Vergessen Sie ihn, bitte ich
nochmals.

Mellefont.  Vergessen Sie nur Ihr Versprechen nicht, Marwood, und ich
will gern alles vergessen.--Aber, wenn ich wüßte, daß Sie es für keine
Beleidigung annehmen wollten, so möchte ich wohl fragen--

Marwood.  Fragen Sie nur, Mellefont.  Sie können mich nicht mehr
beleidigen.--Was wollten Sie fragen?

Mellefont.  Wie ihnen meine Miß gefallen habe.

Marwood.  Die Frage ist natürlich.  Meine Antwort wird so natürlich
nicht scheinen, aber sie ist gleichwohl nichts weniger wahr.--Sie hat
mir sehr wohl gefallen.

Mellefont.  Diese Unparteilichkeit entzückt mich.  Aber wär' es auch
möglich, daß der, welcher die Reize einer Marwood zu schätzen wußte,
eine schlechte Wahl treffen könnte?

Marwood.  Mit dieser Schmeichelei, Mellefont, wenn es anders eine ist,
hätten Sie mich verschonen sollen.  Sie will sich mit meinem Vorsatze,
Sie zu vergessen, nicht vertragen.

Mellefont.  Sie wollen doch nicht, daß ich Ihnen diesen Vorsatz durch
Grobheiten erleichtern soll?  Lassen Sie unsere Trennung nicht von der
gemeinen Art sein.  Lassen Sie uns miteinander brechen wie Leute von
Vernunft, die der Notwendigkeit weichen.  Ohne Bitterkeit, ohne Groll
und mit Beibehaltung eines Grades von Hochachtung, wie er sich zu
unserer ehmaligen Vertraulichkeit schickt.

Marwood.  Ehmaligen Vertraulichkeit?--Ich will nicht daran erinnert
sein.  Nichts mehr davon!  Was geschehen muß, muß geschehen und es
kömmt wenig auf die Art an, mit welcher es geschieht.--Aber ein Wort
noch von Arabellen.  Sie wollen mir sie nicht lassen?

Mellefont.  Nein, Marwood.

Marwood.  Es ist grausam, da Sie ihr Vater nicht bleiben können, daß
Sie ihr auch die Mutter nehmen wollen.

Mellefont.  Ich kann ihr Vater bleiben und will es auch bleiben.

Marwood.  So beweisen Sie es gleich itzt.

Mellefont.  Wie?

Marwood.  Erlauben Sie, daß Arabella die Reichtümer, welche ich von
Ihnen in Verwahrung habe, als ihr Vaterteil besitzen darf.  Was ihr
Mutterteil anbelangt, so wollte ich wohl wünschen, daß ich ihr ein
beßres lassen könnte als die Schande, von mir geboren zu sein.

Mellefont.  Reden Sie nicht so.--Ich will für Arabellen sorgen, ohne
ihre Mutter wegen eines anständigen Auskommens in Verlegenheit zu
setzen.  Wenn sie mich vergessen will, so muß sie damit anfangen, daß
sie etwas von mir zu besitzen vergißt.  Ich habe Verbindlichkeiten
gegen sie und werde es nie aus der Acht lassen, daß sie mein wahres
Glück, obschon wider ihren Willen, befördert hat.  Ja, Marwood, ich
danke Ihnen in allem Ernste, daß Sie unsern Aufenthalt einem Vater
verrieten, den bloß die Unwissenheit desselben verhinderte, uns nicht
eher wieder anzunehmen.

Marwood.  Martern Sie mich nicht mit einem Danke, den ich niemals habe
verdienen wollen.  Sir William ist ein zu guter alter Narr: er muß
anders denken, als ich an seiner Stelle würde gedacht haben.  Ich
hätte der Tochter vergeben, und ihrem Verführer hätt' ich--

Mellefont.  Marwood!--

Marwood.  Es ist wahr; Sie sind es selbst.  Ich schweige.--Werde ich
der Miß mein Abschiedskompliment bald machen dürfen?

Mellefont.  Miß Sara würde es Ihnen nicht übelnehmen können, wenn Sie
auch wegreiseten, ohne sie wiederzusprechen.

Marwood.  Mellefont, ich spiele meine Rollen nicht gern halb, und ich
will, auch unter keinem fremden Namen, für ein Frauenzimmer ohne
Lebensart gehalten werden.

Mellefont.  Wenn Ihnen Ihre eigne Ruhe lieb ist, so sollten Sie sich
selbst hüten, eine Person nochmals zu sehen, die gewisse Vorstellungen
bei Ihnen rege machen muß--

Marwood (spöttisch lächelnd).  Sie haben eine bessere Meinung von sich
selbst als von mir.  Wenn Sie es aber auch glaubten, daß ich
Ihrentwegen untröstlich sein müßte, so sollten Sie es doch wenigstens
ganz in der Stille glauben.--Miß Sara soll gewisse Vorstellungen bei
mir rege machen?  Gewisse?  O ja--aber keine gewisser als diese, daß
das beste Mädchen oft den nichtswürdigsten Mann lieben kann.

Mellefont.  Allerliebst, Marwood, allerliebst!  Nun sind Sie gleich in
der Verfassung, in der ich Sie längst gern gewünscht hätte: ob es mir
gleich, wie ich schon gesagt, fast lieber gewesen wäre, wenn wir
einige gemeinschaftliche Hochachtung für einander hätten behalten
können.  Doch vielleicht findet sich diese noch, wenn nur das gärende
Herz erst ausgebrauset hat.--Erlauben Sie, daß ich Sie einige
Augenblicke allein lasse.  Ich will Miß Sampson zu Ihnen holen.



Fünfter Auftritt


Marwood (indem sie um sich herumsieht).  Bin ich allein?--Kann ich
unbemerkt einmal Atem schöpfen und die Muskeln des Gesichts in ihre
natürliche Lage fahren lassen?--Ich muß geschwind einmal in allen
Mienen die wahre Marwood sein, um den Zwang der Verstellung wieder
aushalten zu können.--Wie hasse ich dich, niedrige Verstellung!  Nicht,
weil ich die Aufrichtigkeit liebe, sondern weil du die armseligste
Zuflucht der ohnmächtigen Rachsucht bist.  Gewiß würde ich mich zu dir
nicht herablassen, wenn mir ein Tyrann seine Gewalt oder der Himmel
seinen Blitz anvertrauen wollte.--Doch wann du mich nur zu meinem
Zwecke bringst!--Der Anfang verspricht es; und Mellefont scheinet noch
sichrer werden zu wollen.  Wenn mir meine List gelingt, daß ich mit
seiner Sara allein sprechen kann: so--ja, so ist es doch noch sehr
ungewiß, ob es mir etwas helfen wird.  Die Wahrheiten von dem
Mellefont werden ihr vielleicht nichts Neues sein; die Verleumdungen
wird sie vielleicht nicht glauben und die Drohungen vielleicht
verachten.  Aber doch soll sie Wahrheit, Verleumdung und Drohungen von
mir hören.  Es wäre schlecht, wenn sie in ihrem Gemüte ganz und gar
keinen Stachel zurückließen.--Still!  sie kommen.  Ich bin nun nicht
mehr Marwood; ich bin eine nichtswürdige Verstoßene, die durch kleine
Kunstgriffe die Schande von sich abzuwehren sucht; ein getretner Wurm,
der sich krümmet und dem, der ihn getreten hat, wenigstens die Ferse
gern verwunden möchte.



Sechster Auftritt

Sara.  Mellefont.  Marwood.


Sara.  Ich freue mich, Lady, daß meine Unruhe vergebens gewesen ist.

Marwood.  Ich danke Ihnen, Miß.  Der Zufall war zu klein, als daß er
Sie hätte beunruhigen sollen.

Mellefont.  Lady will sich Ihnen empfehlen, liebste Sara.

Sara.  So eilig, Lady?

Marwood.  Ich kann es für die, denen an meiner Gegenwart in London
gelegen ist, nicht genug sein.

Sara.  Sie werden doch heute nicht wieder aufbrechen?

Marwood.  Morgen mit dem Frühsten.

Mellefont.  Morgen mit dem Frühsten, Lady?  Ich glaubte, noch heute.

Sara.  Unsere Bekanntschaft, Lady, fängt sich sehr im Vorbeigehn an.
Ich schmeichle mir, in Zukunft eines nähern Umgangs mit Ihnen
gewürdiget zu werden.

Marwood.  Ich bitte um Ihre Freundschaft, Miß.

Mellefont.  Ich stehe Ihnen dafür, liebste Sara, daß diese Bitte der
Lady aufrichtig ist, ob ich Ihnen gleich voraussagen muß, daß Sie
einander ohne Zweifel lange nicht wiedersehen werden.  Lady wird sich
mit uns sehr selten an einem Orte aufhalten können--

Marwood (beiseite).  Wie fein!

Sara.  Mellefont, das heißt mir eine sehr angenehme Hoffnung rauben.

Marwood.  Ich werde am meisten dabei verlieren, glückliche Miß.

Mellefont.  Aber in der Tat, Lady, wollen Sie erst morgen früh wieder
fort?

Marwood.  Vielleicht auch eher.  (Beiseite.)  Es will noch niemand
kommen!

Mellefont.  Auch wir wollen uns nicht lange mehr hier aufhalten.
Nicht wahr, liebste Miß, es wird gut sein, wenn wir unserer Antwort
ungesäumt nachfolgen?  Sir William kann unsere Eilfertigkeit nicht
übelnehmen.



Siebenter Auftritt

Betty.  Mellefont.  Sara.  Marwood.


Mellefont.  Was willst du, Betty?

Betty.  Man verlangt Sie unverzüglich zu sprechen.

Marwood (beiseite).  Ha!  nun kömmt es drauf an--

Mellefont.  Mich?  unverzüglich?  Ich werde gleich kommen.--Lady, ist
es Ihnen gefällig, Ihren Besuch abzukürzen?

Sara.  Warum das, Mellefont?--Lady wird so gütig sein und bis zu Ihrer
Zurückkunft warten.

Marwood.  Verzeihen Sie, Miß; ich kenne meinen Vetter Mellefont und
will mich lieber mit ihm wegbegeben.

Betty.  Der Fremde, mein Herr--Er will Sie nur auf ein Wort sprechen.
Er sagt, er habe keinen Augenblick zu versäumen--

Mellefont.  Geh nur; ich will gleich bei ihm sein--Ich vermute, Miß,
daß es eine endliche Nachricht von dem Vergleiche sein wird, dessen
ich gegen Sie gedacht habe.

(Betty gehet ab.)

Marwood (beiseite).  Gute Vermutung!

Mellefont.  Aber doch, Lady--

Marwood.  Wenn Sie es denn befehlen--Miß, so muß ich mich Ihnen--

Sara.  Nein doch, Mellefont: Sie werden mir ja das Vergnügen nicht
mißgönnen, Lady Solmes so lange unterhalten zu dürfen?

Mellefont.  Sie wollen es, Miß?--

Sara.  Halten Sie sich nicht auf, liebster Mellefont, und kommen Sie
nur bald wieder.  Aber mit einem freudigern Gesichte, will ich
wünschen!  Sie vermuten ohne Zweifel eine unangenehme Nachricht.
Lassen Sie sich nichts anfechten; ich bin begieriger, zu sehen, ob Sie
allenfalls auf eine gute Art mich einer Erbschaft vorziehen können,
als ich begierig bin, Sie in dem Besitze derselben zu wissen.--

Mellefont.  Ich gehorche.  (Warnend.)  Lady, ich bin ganz gewiß den
Augenblick wieder hier.  (Geht ab.)

Marwood (beiseite).  Glücklich!



Achter Auftritt

Sara.  Marwood.


Sara.  Mein guter Mellefont sagt seine Höflichkeiten manchmal mit
einem ganz falschen Tone.  Finden Sie es nicht auch, Lady?--

Marwood.  Ohne Zweifel bin ich seiner Art schon allzu gewohnt, als daß
ich so etwas bemerken könnte.

Sara.  Wollen sich Lady nicht setzen?

Marwood.  Wenn Sie befehlen, Miß--(Beiseite, indem sie sich setzen.)
Ich muß diesen Augenblick nicht ungebraucht vorbeistreichen lassen.

Sara.  Sagen Sie mir, Lady, werde ich nicht das glücklichste
Frauenzimmer mit meinem Mellefont werden?

Marwood.  Wenn sich Mellefont in sein Glück zu finden weiß, so wird
ihn Miß Sara zu der beneidenswürdigsten Mannsperson machen.  Aber--

Sara.  Ein Aber und eine so nachdenkliche Pause, Lady--

Marwood.  Ich bin offenherzig, Miß--

Sara.  Und dadurch unendlich schätzbarer--

Marwood.  Offenherzig--nicht selten bis zur Unbedachtsamkeit.  Mein
Aber ist der Beweis davon.  Ein sehr unbedächtiges Aber!

Sara.  Ich glaube nicht, daß mich Lady durch diese Ausweichung noch
unruhiger machen wollen.  Es mag wohl eine grausame Barmherzigkeit
sein, ein Übel, das man zeigen könnte, nur argwöhnen zu lassen.

Marwood.  Nicht doch, Miß; Sie denken bei meinem Aber viel zu viel.
Mellefont ist mein Anverwandter--

Sara.  Desto wichtiger wird die geringste Einwendung, die Sie wider
ihn zu machen haben.

Marwood.  Aber wenn Mellefont auch mein Bruder wäre, so muß ich Ihnen
doch sagen, daß ich mich ohne Bedenken einer Person meines Geschlechts
gegen ihn annehmen würde, wenn ich bemerkte, daß er nicht
rechtschaffen genug an ihr handle.  Wir Frauenzimmer sollten billig
jede Beleidigung, die einer einzigen von uns erwiesen wird, zu
Beleidigungen des ganzen Geschlechts und zu einer allgemeinen Sache
machen, an der auch die Schwester und Mutter des Schuldigen Anteil zu
nehmen sich nicht bedenken müßten.

Sara.  Diese Anmerkung--

Marwood.  Ist schon dann und wann in zweifelhaften Fällen meine
Richtschnur gewesen.

Sara.  Und verspricht mir--Ich zittere--

Marwood.  Nein, Miß; wenn Sie zittern wollen--Lassen Sie uns von etwas
anderm sprechen--

Sara.  Grausame Lady!

Marwood.  Es tut mir leid, daß ich verkannt werde.  Ich wenigstens,
wenn ich mich in Gedanken an Miß Sampsons Stelle setze, würde jede
nähere Nachricht, die man mir von demjenigen geben wollte, mit dessen
Schicksale ich das meinige auf ewig zu verbinden bereit wäre, als eine
Wohltat ansehen.

Sara.  Was wollen Sie, Lady?  Kenne ich meinen Mellefont nicht schon?
Glauben Sie mir, ich kenne ihn wie meine eigne Seele.  Ich weiß, daß
er mich liebt--

Marwood.  Und andre--

Sara.  Geliebt hat.  Auch das weiß ich.  Hat er mich lieben sollen,
ehe er von mir etwas wußte?  Kann ich die einzige zu sein verlangen,
die für ihn Reize genug gehabt hat?  Muß ich mir es nicht selbst
gestehen, daß ich mich, ihm zu gefallen, bestrebt habe?  Ist er nicht
liebenswürdig genug, daß er bei mehrern dieses Bestreben hat erwecken
müssen?  Und ist es nicht natürlich, wenn mancher dieses Bestreben
gelungen ist?

Marwood.  Sie verteidigen ihn mit ebender Hitze und fast mit ebenden
Gründen, mit welchen ich ihn schon oft verteidiget habe.  Es ist kein
Verbrechen, geliebt haben; noch viel weniger ist es eines, geliebet
worden sein.  Aber die Flatterhaftigkeit ist ein Verbrechen.

Sara.  Nicht immer; denn oft, glaube ich, wird sie durch die
Gegenstände der Liebe entschuldiget, die es immer zu bleiben selten
verdienen.

Marwood.  Miß Sampsons Sittenlehre scheinet nicht die strengste zu
sein.

Sara.  Es ist wahr; die, nach der ich diejenigen zu richten pflege,
welche es selbst gestehen, daß sie auf Irrwegen gegangen sind, ist die
strengste nicht.  Sie muß es auch nicht sein.  Denn hier kömmt es
nicht darauf an, die Schranken zu bestimmen, die uns die Tugend bei
der Liebe setzt, sondern bloß darauf, die menschliche Schwachheit zu
entschuldigen, wenn sie in diesen Schranken nicht geblieben ist, und
die daraus entstehenden Folgen nach den Regeln der Klugheit zu
beurteilen.  Wenn zum Exempel ein Mellefont eine Marwood liebt und sie
endlich verläßt; so ist dieses Verlassen, in Vergleichung mit der
Liebe selbst, etwas sehr Gutes.  Es wäre ein Unglück, wenn er eine
Lasterhafte deswegen, weil er sie einmal geliebt hat, ewig lieben
müßte.

Marwood.  Aber, Miß, kennen Sie denn diese Marwood, welche Sie so
getrost eine Lasterhafte nennen?

Sara.  Ich kenne sie aus der Beschreibung des Mellefont.

Marwood.  Des Mellefont?  Ist es Ihnen denn nie beigefallen, daß
Mellefont in seiner eigenen Sache nichts anders als ein sehr
ungültiger Zeuge sein könne?

Sara.--Nun merke ich es erst, Lady, daß Sie mich auf die Probe stellen
wollen.  Mellefont wird lächeln, wenn Sie es ihm wiedersagen werden,
wie ernsthaft ich mich seiner angenommen.

Marwood.  Verzeihen Sie, Miß; von dieser Unterredung muß Mellefont
nichts wiedererfahren.  Sie denken zu edel, als daß Sie, zum Danke für
eine wohlgemeinte Warnung, eine Anverwandte mit ihm entzweien wollten,
die sich nur deswegen wider ihn erklärt, weil sie sein unwürdiges
Verfahren gegen mehr als eine der liebenswürdigsten Personen unsers
Geschlechts so ansieht, als ob sie selbst darunter gelitten hätte.

Sara.  Ich will niemand entzweien, Lady; und ich wünschte, daß es
andre ebensowenig wollten.

Marwood.  Soll ich Ihnen die Geschichte der Marwood in wenig Worten
erzählen?

Sara.  Ich weiß nicht--Aber doch ja, Lady; nur mit dem Beding, daß Sie
davon aufhören sobald Mellefont zurückkömmt.  Er möchte denken, ich
hätte mich aus eignem Triebe darnach erkundiget; und ich wollte nicht
gern, daß er mir eine ihm so nachteilige Neubegierde zutrauen könnte.

Marwood.  Ich würde Miß Sampson um gleiche Vorsicht gebeten haben,
wenn sie mir nicht zuvorgekommen wäre.  Er muß es auch nicht argwöhnen
können, daß Marwood unser Gespräch gewesen ist; und Sie werden so
behutsam sein, Ihre Maßregeln ganz in der Stille darnach zu nehmen.--
Hören Sie nunmehr!--Marwood ist aus einem guten Geschlechte.  Sie war
eine junge Witwe, als sie Mellefont bei einer ihrer Freundinnen
kennenlernte.  Man sagt, es habe ihr weder an Schönheit noch an
derjenigen Anmut gemangelt, ohne welche die Schönheit tot sein würde.
Ihr guter Name war ohne Flecken.  Ein einziges fehlte ihr:--Vermögen.
Alles, was sie besessen hatte--und es sollen ansehnliche Reichtümer
gewesen sein--, hatte sie für die Befreiung eines Mannes aufgeopfert,
dem sie nichts in der Welt vorenthalten zu dürfen glaubte, nachdem sie
ihm einmal ihr Herz und ihre Hand schenken wollen.

Sara.  Wahrlich ein edler Zug, Lady, von dem ich wollte, daß er in
einem bessern Gemälde prangte!

Marwood.  Des Mangels an Vermögen ungeachtet ward sie von Personen
gesucht, die nichts eifriger wünschten, als sie glücklich zu machen.
Unter diesen reichen und vornehmen Anbetern trat Mellefont auf.  Sein
Antrag war ernstlich, und der Überfluß, in welchen er die Marwood zu
setzen versprach, war das geringste, worauf er sich stützte.  Er hatte
es bei der ersten Unterredung weg, daß er mit keiner Eigennützigen zu
tun habe, sondern mit einem Frauenzimmer, voll des zärtlichsten
Gefühls, welches eine Hütte einem Palaste würde vorgezogen haben, wenn
sie in jener mit einer geliebten und in diesem mit einer
gleichgültigen Person hätte leben sollen.

Sara.  Wieder ein Zug, den ich der Marwood nicht gönne.  Schmeicheln
Sie ihr ja nicht mehr, Lady; oder ich möchte sie am Ende bedauern
müssen.

Marwood.  Mellefont war eben im Begriffe, sich auf die feierlichste
Art mit ihr zu verbinden, als er Nachricht von dem Tode eines Vetters
bekam, welcher ihm sein ganzes Vermögen mit der Bedingung hinterließ,
eine weitläuftige Anverwandte zu heiraten.  Hatte Marwood seinetwegen
reichere Verbindungen ausgeschlagen, so wollte er ihr nunmehr an
Großmut nichts nachgeben.  Er war willens, ihr von dieser Erbschaft
eher nichts zu sagen, als bis er sich derselben durch sie würde
verlustig gemacht haben.--Nicht wahr, Miß, das war groß gedacht?

Sara.  O Lady, wer weiß es besser als ich, daß Mellefont das edelste
Herz besitzt?

Marwood.  Was aber tat Marwood?  Sie erfuhr es unter der Hand, noch
spät an einem Abende, wozu sich Mellefont ihrentwegen entschlossen
hätte.  Mellefont kam des Morgens, sie zu besuchen, und Marwood war
fort.

Sara.  Wohin?  Warum?

Marwood.  Er fand nichts als einen Brief von ihr, worin sie ihm
entdeckte, daß er sich keine Rechnung machen dürfe, sie jemals
wiederzusehen.  Sie leugne es zwar nicht, daß sie ihn liebe; aber eben
deswegen könne sie sich nicht überwinden, die Ursache einer Tat zu
sein, die er notwendig einmal bereuen müsse.  Sie erlasse ihn seines
Versprechens und ersuche ihn, ohne weiteres Bedenken, durch die
Vollziehung der in dem Testamente vorgeschriebnen Verbindung, in den
Besitz eines Vermögens zu treten, welches ein Mann von Ehre zu etwas
Wichtigerm brauchen könne, als einem Frauenzimmer eine unüberlegte
Schmeichelei damit zu machen.

Sara.  Aber, Lady, warum leihen Sie der Marwood so vortreffliche
Gesinnungen?  Lady Solmes kann derselben wohl fähig sein, aber nicht
Marwood.  Gewiß Marwood nicht.

Marwood.  Es ist nicht zu verwundern, Miß, daß Sie wider sie
eingenommen sind.--Mellefont wollte über den Entschluß der Marwood von
Sinnen kommen.  Er schickte überall Leute aus, sie wieder aufzusuchen;
und endlich fand er sie.

Sara.  Weil sie sich finden lassen wollte, ohne Zweifel.

Marwood.  Keine bittere Glossen, Miß!  Sie geziemen einem Frauenzimmer
von einer sonst so sanften Denkungsart nicht.--Er fand sie, sag ich;
und fand sie unbeweglich.  Sie wollte seine Hand durchaus nicht
annehmen; und alles, was er von ihr erhalten konnte, war dieses, daß
sie nach London zurückzukommen versprach.  Sie wurden eins, ihre
Vermählung so lange auszusetzen, bis die Anverwandte, des langen
Verzögerns überdrüssig, einen Vergleich vorzuschlagen gezwungen sei.
Unterdessen konnte sich Marwood nicht wohl der täglichen Besuche des
Mellefont entbrechen, die eine lange Zeit nichts als ehrfurchtsvolle
Besuche eines Liebhabers waren, den man in die Grenzen der
Freundschaft zurückgewiesen hat.  Aber wie unmöglich ist es, daß ein
hitziges Temperament diese engen Grenzen nicht überschreiten sollte!
Mellefont besitzt alles, was uns eine Mannsperson gefährlich machen
kann.  Niemand kann hiervon überzeugter sein als Miß Sampson selbst.

Sara.  Ach!

Marwood.  Sie seufzen?  Auch Marwood hat über ihre Schwachheit mehr
als einmal geseufzet und seufzet noch.

Sara.  Genug, Lady, genug; diese Wendung, sollte ich meinen, war mehr
als eine bittere Glosse, die Sie mir zu untersagen beliebten.

Marwood.  Ihre Absicht war nicht, zu beleidigen, sondern bloß die
unglückliche Marwood Ihnen in einem Lichte zu zeigen, in welchem Sie
am richtigsten von ihr urteilen könnten.--Kurz, die Liebe gab dem
Mellefont die Rechte eines Gemahls; und Mellefont hielt es länger
nicht für nötig, sie durch die Gesetze gültig machen zu lassen.  Wie
glücklich wäre Marwood, wenn sie, Mellefont und der Himmel nur allein
von ihrer Schande wüßten!  Wie glücklich, wenn nicht eine jammernde
Tochter dasjenige der ganzen Welt entdeckte, was sie vor sich selbst
verbergen zu können wünschte!

Sara.  Was sagen Sie, Lady?  Eine Tochter--

Marwood.  Ja, Miß, eine unglückliche Tochter verlieret durch die
Darzwischenkunft der Sara Sampson alle Hoffnung, ihre Eltern jemals
ohne Abscheu nennen zu können.

Sara.  Schreckliche Nachricht!  Und dieses hat mir Mellefont
verschwiegen?--Darf ich es auch glauben, Lady?

Marwood.  Sie dürfen sicher glauben, Miß, daß Ihnen Mellefont
vielleicht noch mehr verschwiegen hat.

Sara.  Noch mehr?  Was könnte er mir noch mehr verschwiegen haben?

Marwood.  Dieses, daß er die Marwood noch liebt.

Sara.  Sie töten mich, Lady!

Marwood.  Es ist unglaublich, daß sich eine Liebe, welche länger als
zehn Jahr gedauert hat, so geschwind verlieren könne.  Sie kann zwar
eine kurze Verfinsterung leiden, weiter aber auch nichts als eine
kurze Verfinsterung, aus welcher sie hernach mit neuem Glanze wieder
hervorbricht.  Ich könnte Ihnen eine Miß Oklaff, eine Miß Dorkas, eine
Miß Moor und mehrere nennen, welche, eine nach der andern, der Marwood
einen Mann abspenstig zu machen drohten, von welchem sie sich am Ende
auf das grausamste hintergangen sahen.  Er hat einen gewissen Punkt,
über welchen er sich nicht bringen läßt, und sobald er diesen scharf
in das Gesicht bekömmt, springt er ab.  Gesetzt aber, Miß, Sie wären
die einzige Glückliche, bei welcher sich alle Umstände wider ihn
erklärten; gesetzt, Sie brächten ihn dahin, daß er seinen nunmehr zur
Natur gewordenen Abscheu gegen ein förmliches Joch überwinden müßte:
glaubten Sie wohl dadurch seines Herzens versichert zu sein?

Sara.  Ich Unglückliche!  Was muß ich hören!

Marwood.  Nichts weniger.  Alsdann würde er eben am allerersten in die
Arme derjenigen zurückeilen, die auf seine Freiheit so eifersüchtig
nicht gewesen.  Sie würden seine Gemahlin heißen, und jene würde es
sein.

Sara.  Martern Sie mich nicht länger mit so schrecklichen
Vorstellungen!  Raten Sie mir vielmehr, Lady, ich bitte Sie, raten Sie
mir, was ich tun soll.  Sie müssen ihn kennen.  Sie müssen es wissen,
durch was es etwa noch möglich ist, ihm ein Band angenehm zu machen,
ohne welches auch die aufrichtigste Liebe eine unheilige Leidenschaft
bleibet.

Marwood.  Daß man einen Vogel fangen kann, Miß, das weiß ich wohl.
Aber daß man ihm seinen Käfig angenehmer als das freie Feld machen
könne, das weiß ich nicht.  Mein Rat wäre also, ihn lieber nicht zu
fangen und sich den Verdruß über die vergebne Mühe zu ersparen.
Begnügen Sie sich, Miß, an dem Vergnügen, ihn sehr nahe an Ihrer
Schlinge gesehen zu haben; und weil Sie voraussehen können, daß er die
Schlinge ganz gewiß zerreißen werde, wenn Sie ihn vollends
hineinlockten, so schonen Sie Ihre Schlinge und locken ihn nicht
herein.

Sara.  Ich weiß nicht, ob ich dieses tändelnde Gleichnis recht
verstehe, Lady--

Marwood.  Wenn Sie verdrießlich darüber geworden sind, so haben Sie es
verstanden.--Mit einem Worte, Ihr eigner Vorteil sowohl als der
Vorteil einer andern, die Klugheit sowohl als die Billigkeit können
und sollen Miß Sampson bewegen, ihre Ansprüche auf einen Mann
aufzugeben, auf den Marwood die ersten und stärksten hat.  Noch stehen
Sie, Miß, mit ihm so, daß Sie, ich will nicht sagen mit vieler Ehre,
aber doch ohne öffentliche Schande von ihm ablassen können.  Eine
kurze Verschwindung mit einem Liebhaber ist zwar ein Fleck, aber doch
ein Fleck, den die Zeit ausbleichet.  In einigen Jahren ist alles
vergessen, und es finden sich für eine reiche Erbin noch immer
Mannspersonen, die es so genau nicht nehmen.  Wenn Marwood in diesen
Umständen wäre und sie brauchte weder für ihre im Abzuge begriffene
Reize einen Gemahl noch für ihre hilflose Tochter einen Vater, so weiß
ich gewiß, Marwood würde gegen Miß Sampson großmütiger handeln, als
Miß Sampson gegen die Marwood zu handeln schimpfliche Schwierigkeiten
macht.

Sara (indem sie unwillig aufsteht).  Das geht zu weit!  Ist dieses die
Sprache einer Anverwandten des Mellefont?--Wie unwürdig verrät man Sie,
Mellefont!--Nun merke ich es, Lady, warum er Sie so ungern bei mir
allein lassen wollte.  Er mag es schon wissen, wieviel man von Ihrer
Zunge zu fürchten habe.  Eine giftige Zunge!--Ich rede dreist!  Denn
Lady haben lange genug unanständig geredet.  Wodurch hat Marwood sich
eine solche Vorsprecherin erwerben können, die alle ihre
Erfindungskraft aufbietet, mir einen blendenden Roman von ihr
aufzudrängen, und alle Ränke anwendet, mich gegen die Redlichkeit
eines Mannes argwöhnisch zu machen, der ein Mensch, aber kein
Ungeheuer ist?  Ward es mir nur deswegen gesagt, daß sich Marwood
einer Tochter von ihm rühme; ward mir nur deswegen diese und jene
betrogene Miß genannt, damit man mir am Ende auf die empfindlichste
Art zu verstehen geben könne, ich würde wohl tun, wenn ich mich selbst
einer verhärteten Buhlerin nachsetzte?

Marwood.  Nur nicht so hitzig, mein junges Frauenzimmer.  Eine
verhärtete Buhlerin?--Sie brauchen wahrscheinlicherweise Worte, deren
Kraft Sie nicht überleget haben.

Sara.  Erscheint sie nicht als eine solche, selbst in der Schilderung
der Lady Solmes?--Gut, Lady; Sie sind ihre Freundin, ihre vertrauteste
Freundin vielleicht.  Ich sage dieses nicht als einen Vorwurf; denn es
kann leicht in der Welt nicht wohl möglich sein, nur lauter
tugendhafte Freunde zu haben.  Allein wie komme ich dazu, dieser Ihrer
Freundschaft wegen so tief herabgestoßen zu werden?  Wenn ich der
Marwood Erfahrung gehabt hätte, so würde ich den Fehltritt gewiß nicht
getan haben, der mich mit ihr in eine so erniedrigende Parallel setzt.
Hätte ich ihn aber doch getan, so würde ich wenigstens nicht zehn
Jahr darin verharret sein.  Es ist ganz etwas anders, aus Unwissenheit
auf das Laster treffen, und ganz etwas anders, es kennen und
demungeachtet mit ihm vertraulich werden.--Ach, Lady, wenn Sie es
wüßten, was für Reue, was für Gewissensbisse, was für Angst mich mein
Irrtum gekostet!  Mein Irrtum, sag ich; denn warum soll ich länger so
grausam gegen mich sein und ihn als ein Verbrechen betrachten?  Der
Himmel selbst hört auf, ihn als ein solches anzusehen; er nimmt die
Strafe von mir und schenkt mir einen Vater wieder--Ich erschrecke,
Lady; wie verändern sich auf einmal die Züge Ihres Gesichts?  Sie
glühen; aus dem starren Auge schreckt Wut, und des Mundes knirschende
Bewegung--Ach!  wo ich Sie erzürnt habe, Lady, so bitte ich um
Verzeihung.  Ich bin eine empfindliche Närrin; was Sie gesagt haben,
war ohne Zweifel so böse nicht gemeint.  Vergessen Sie meine
Übereilung.  Wodurch kann ich Sie besänftigen?  Wodurch kann auch ich
mir eine Freundin an Ihnen erwerben, so wie sie Marwood an Ihnen
gefunden hat?  Lassen Sie mich, Lady, lassen Sie mich fußfällig darum
bitten--(indem sie niederfällt), um Ihre Freundschaft, Lady--Und wo
ich diese nicht erhalten kann, um die Gerechtigkeit wenigstens, mich
und Marwood nicht in einen Rang zu setzen.

Marwood (die einige Schritte stolz zurücktritt und die Sara liegen
läßt).  Diese Stellung der Sara Sampson ist für Marwood viel zu
reizend, als daß sie nur unerkannt darüber frohlocken sollte--Erkennen
Sie, Miß, in mir die Marwood, mit der Sie nicht verglichen zu werden
die Marwood selbst fußfällig bitten.

Sara (die voller Erschrecken aufspringt und sich zitternd zurückzieht).
Sie Marwood?--Ha!  Nun erkenn ich sie--nun erkenn ich sie, die
mördrische Retterin, deren Dolche mich ein warnender Traum preisgab.
Sie ist es!  Flieh, unglückliche Sara!  Retten Sie mich, Mellefont;
retten Sie Ihre Geliebte!  Und du, süße Stimme meines geliebten Vaters,
erschalle!  Wo schallt sie?  wo soll ich auf sie zueilen?--hier?--da?--
Hilfe, Mellefont!  Hilfe, Betty!--Itzt dringt sie mit tötender Faust
auf mich ein!  Hilfe!  (Eilt ab.)



Neunter Auftritt


Marwood.  Was will die Schwärmerin?--O daß sie wahr red'te und ich mit
tötender Faust auf sie eindränge!  Bis hieher hätte ich den Stahl
sparen sollen, ich Törichte!  Welche Wollust, eine Nebenbuhlerin in
der freiwilligen Erniedrigung zu unsern Füßen durchbohren zu können!--
Was nun?--Ich bin entdeckt.  Mellefont kann den Augenblick hier sein.
Soll ich ihn fliehen?  Soll ich ihn erwarten?  Ich will ihn erwarten,
aber nicht müßig.  Vielleicht, daß ihn die glückliche List meines
Bedienten noch lange genug aufhält!--Ich sehe, ich werde gefürchtet.
Warum folge ich ihr also nicht?  Warum versuche ich nicht noch das
letzte, das ich wider sie brauchen kann?  Drohungen sind armselige
Waffen: doch die Verzweiflung verschmäht keine, so armselig sie sind.
Ein schreckhaftes Mädchen, das betäubt und mit zerrütteten Sinnen
schon vor meinem Namen flieht, kann leicht fürchterliche Worte für
fürchterliche Taten halten.  Aber Mellefont?--Mellefont wird ihr
wieder Mut machen und sie über meine Drohungen spotten lehren.  Er
wird?  Vielleicht wird er auch nicht.  Es wäre wenig in der Welt
unternommen worden, wenn man nur immer auf den Ausgang gesehen hätte.
Und bin ich auf den unglücklichsten nicht schon vorbereitet?--Der
Dolch war für andre, das Gift ist für mich!--Das Gift für mich!  Schon
längst mit mir herumgetragen, wartet es hier, dem Herzen bereits nahe,
auf den traurigen Dienst; hier, wo ich in bessern Zeiten die
geschriebenen Schmeicheleien der Anbeter verbarg; für uns ein ebenso
gewisses, aber nur langsamres Gift.--Wenn es doch nur bestimmt wäre,
in meinen Adern nicht allein zu toben!  Wenn es doch einem Ungetreuen--
Was halte ich mich mit Wünschen auf?--Fort!  Ich muß weder mich noch
sie zu sich selbst kommen lassen.  Der will sich nichts wagen, der
sich mit kaltem Blute wagen will.  (Gehet ab.)

(Ende des vierten Aufzuges.)



Fünfter Aufzug



Erster Auftritt

Das Zimmer der Sara.


Sara (schwach in einem Lehnstuhle).  Betty.

Betty.  Fühlen Sie nicht, Miß, daß Ihnen ein wenig besser wird?

Sara.  Besser, Betty?--Wenn nur Mellefont wiederkommen wollte.  Du
hast doch nach ihm ausgeschickt?

Betty.  Norton und der Wirt suchen ihn.

Sara.  Norton ist ein guter Mensch, aber er ist hastig.  Ich will
durchaus nicht, daß er seinem Herrn meinetwegen Grobheiten sagen soll.
Wie er es selbst erzählte, so ist Mellefont ja an allem unschuldig.
Nicht wahr, Betty, du hältst ihn auch für unschuldig--Sie kömmt ihm
nach; was kann er dafür?  Sie tobt, sie raset, sie will ihn ermorden.
Siehst du, Betty?  dieser Gefahr habe ich ihn ausgesetzt.  Wer sonst
als ich?--Und endlich will die böse Marwood mich sehen oder nicht eher
nach London zurückkehren.  Konnte er ihr diese Kleinigkeit abschlagen?
Bin ich doch auch oft begierig gewesen, die Marwood zu sehen.
Mellefont weiß wohl, daß wir neugierige Geschöpfe sind.  Und wenn ich
nicht selbst darauf gedrungen hätte, daß sie bis zu seiner Zurückkunft
bei mir verziehen sollte, so würde er sie wieder mit weggenommen haben.
Ich würde sie unter einem falschen Namen gesehen haben, ohne zu
wissen, daß ich sie gesehen hätte.  Und vielleicht würde mir dieser
kleine Betrug einmal angenehm gewesen sein.  Kurz, alle Schuld ist
mein.--Je nun, ich bin erschrocken; weiter bin ich ja nichts?  Die
kleine Ohnmacht wollte nicht viel sagen.  Du weißt wohl, Betty, ich
bin dazu geneigt.

Betty.  Aber in so tiefer hatte ich Miß noch nie gesehen.

Sara.  Sage es mir nur nicht.  Ich werde dir gutherzigen Mädchen
freilich zu schaffen gemacht haben.

Betty.  Marwood selbst schien durch die Gefahr, in der Sie sich
befanden, gerühret zu sein.  So stark ich ihr auch anlag, daß sie sich
nur fortbegeben möchte, so wollte sie doch das Zimmer nicht eher
verlassen, als bis Sie die Augen ein wenig wieder aufschlugen und ich
Ihnen die Arzenei einflößen konnte.

Sara.  Ich muß es wohl gar für ein Glück halten, daß ich in Ohnmacht
gefallen bin.  Denn wer weiß, was ich noch von ihr hätte hören müssen.
Umsonst mochte sie mir gewiß nicht in mein Zimmer gefolgt sein.  Du
glaubst nicht, wie außer mir ich war.  Auf einmal fiel mir der
schreckliche Traum von voriger Nacht ein, und ich flohe als eine
Unsinnige, die nicht weiß, warum und wohin sie flieht.--Aber Mellefont
kömmt noch nicht.--Ach!

Betty.  Was für ein Ach, Miß?  Was für Zuckungen?--

Sara.  Gott!  was für eine Empfindung war dieses--

Betty.  Was stößt Ihnen wieder zu?

Sara.  Nichts, Betty.--Ein Stich!  nicht ein Stich, tausend feurige
Stiche in einem!--Sei nur ruhig; es ist vorbei.



Zweiter Auftritt

Norton.  Sara.  Betty.


Norton.  Mellefont wird den Augenblick hier sein.

Sara.  Nun, das ist gut, Norton.  Aber wo hast du ihn noch gefunden?

Norton.  Ein Unbekannter hat ihn bis vor das Tor mit sich gelockt, wo
ein Herr auf ihn warte, der in Sachen von der größten Wichtigkeit mit
ihm sprechen müsse.  Nach langem Herumführen hat sich der Betrüger ihm
von der Seite geschlichen.  Es ist sein Unglück, wo er sich ertappen
läßt; so wütend ist Mellefont.

Sara.  Hast du ihm gesagt, was vorgegangen?

Norton.  Alles.

Sara.  Aber mit einer Art--

Norton.  Ich habe auf die Art nicht denken können.  Genug, er weiß es,
was für Angst Ihnen seine Unvorsichtigkeit wieder verursacht hat.

Sara.  Nicht doch, Norton; ich habe mir sie selbst verursacht.--

Norton.  Warum soll Mellefont niemals unrecht haben?--Kommen Sie nur,
mein Herr; die Liebe hat Sie bereits entschuldiget.



Dritter Auftritt

Mellefont.  Norton.  Sara.  Betty.


Mellefont.  Ach, Miß, wenn auch diese Ihre Liebe nicht wäre--

Sara.  So wäre ich von uns beiden gewiß die Unglücklichste.  Ist Ihnen
in Ihrer Abwesenheit nur nichts Verdrießlichers zugestoßen als mir, so
bin ich vergnügt.

Mellefont.  So gütig empfangen zu werden, habe ich nicht verdient.

Sara.  Verzeihen Sie es meiner Schwachheit, daß ich Sie nicht
zärtlicher empfangen kann.  Bloß Ihrer Zufriedenheit wegen wünschte
ich, mich weniger krank zu fühlen.

Mellefont.  Ha, Marwood, diese Verräterei war noch übrig!  Der
Nichtswürdige, der mich mit der geheimnisvollsten Miene aus einer
Straße in die andre, aus einem Winkel in den andern führte, war gewiß
nichts anders als ein Abgeschickter von ihr.  Sehen Sie, liebste Miß,
diese List wandte sie an, mich von Ihnen zu entfernen.  Eine plumpe
List, ohne Zweifel; aber eben weil sie plump war, war ich weit davon
entfernt, sie dafür zu halten.  Umsonst muß sie so treulos nicht
gewesen sein!  Geschwind, Norton, geh in ihre Wohnung; laß sie nicht
aus den Augen, und halte sie so lange auf, bis ich nachkomme.

Sara.  Wozu dieses, Mellefont?  Ich bitte für Marwood.

Mellefont.  Geh!

(Norton geht ab.)



Vierter Auftritt

Sara.  Mellefont.  Betty.


Sara.  Lassen Sie doch einen abgematteten Feind, der den letzten
fruchtlosen Sturm gewagt hat, ruhig abziehen.  Ich würde ohne Marwood
vieles nicht wissen--

Mellefont.  Vieles?  Was ist das Viele?

Sara.  Was Sie mir selbst nicht gesagt hätten, Mellefont.--Sie werden
stutzig?--Nun wohl, ich will es wieder vergessen, weil Sie doch nicht
wollen, daß ich es wissen soll.

Mellefont.  Ich will nicht hoffen, daß Sie etwas zu meinem Nachteile
glauben werden, was keinen andern Grund hat als die Eifersucht einer
aufgebrachten Verleumderin.

Sara.  Auf ein andermal hiervon!--Warum aber lassen Sie es nicht das
erste sein, mir von der Gefahr zu sagen, in der sich Ihr kostbares
Leben befunden hat?  Ich, Mellefont, ich würde den Stahl geschliffen
haben, mit dem Sie Marwood durchstoßen hätte--

Mellefont.  Diese Gefahr war so groß nicht.  Marwood ward von einer
blinden Wut getrieben, und ich war bei kaltem Blute.  Ihr Angriff also
mußte mißlingen--Wenn ihr ein andrer, auf der Miß Sara gute Meinung
von ihrem Mellefont, nur nicht besser gelungen ist!  Fast muß ich es
fürchten--Nein, liebste Miß, verschweigen Sie mir es nicht länger, was
Sie von ihr wollen erfahren haben.

Sara.  Nun wohl.--Wenn ich noch den geringsten Zweifel an Ihrer Liebe
gehabt hätte, Mellefont, so würde mir ihn die tobende Marwood benommen
haben.  Sie muß es gewiß wissen, daß sie durch mich um das Kostbarste
gekommen sei; denn ein ungewisser Verlust würde sie bedächtiger haben
gehen lassen.

Mellefont.  Bald werde ich also auf ihre blutdürstige Eifersucht, auf
ihre ungestüme Frechheit, auf ihre treulose List einigen Wert legen
müssen!--Aber, Miß, Sie wollen mir wieder ausweichen und mir dasjenige
nicht entdecken--

Sara.  Ich will es; und was ich sagte, war schon ein näherer Schritt
dazu.  Daß mich Mellefont also liebt, ist unwidersprechlich gewiß.
Wenn ich nur nicht entdeckt hätte, daß seiner Liebe ein gewisses
Vertrauen fehle, welches mir ebenso schmeichelhaft sein würde als die
Liebe selbst.  Kurz, liebster Mellefont--Warum muß mir eine plötzliche
Beklemmung das Reden so schwer machen?  Ich werde es schon sagen
müssen, ohne viel die behutsamste Wendung zu suchen, mit der ich es
Ihnen sagen sollte.--Marwood erwähnte eines Pfandes, und der
schwatzhafte Norton--vergeben Sie es ihm nur--nannte mir einen Namen,
einen Namen, Mellefont, welcher eine andre Zärtlichkeit bei Ihnen rege
machen muß, als Sie gegen mich empfinden--

Mellefont.  Ist es möglich?  Hat die Unverschämte ihre eigne Schande
bekannt?--Ach, Miß, haben Sie Mitleiden mit meiner Verwirrung.--Da Sie
schon alles wissen, warum wollen Sie es auch noch aus meinem Munde
hören?  Sie soll nie vor Ihre Augen kommen, die kleine Unglückliche,
der man nichts vorwerfen kann als ihre Mutter.

Sara.  Sie lieben sie also doch?--

Mellefont.  Zu sehr, Miß, zu sehr, als daß ich es leugnen sollte.

Sara.  Wohl!  Mellefont.--Wie sehr liebe ich Sie, auch um dieser Liebe
willen!  Sie würden mich empfindlich beleidiget haben, wenn Sie die
Sympathie Ihres Bluts aus mir nachteiligen Bedenklichkeiten verleugnet
hätten.  Schon haben Sie mich dadurch beleidiget, daß Sie mir drohen,
sie nicht vor meine Augen kommen zu lassen.  Nein, Mellefont; es muß
eine von den Versprechungen sein, die Sie mir vor den Augen des
Höchsten angeloben, daß Sie Arabellen nicht von sich lassen wollen.
Sie läuft Gefahr, in den Händen ihrer Mutter ihres Vaters unwürdig zu
werden.  Brauchen Sie Ihre Rechte über beide, und lassen Sie mich an
die Stelle der Marwood treten.  Gönnen Sie mir das Glück, mir eine
Freundin zu erziehen, die Ihnen ihr Leben zu danken hat; einen
Mellefont meines Geschlechts.  Glückliche Tage, wenn mein Vater, wenn
Sie, wenn Arabella meine kindliche Ehrfurcht, meine vertrauliche Liebe,
meine sorgsame Freundschaft um die Wette beschäftigen werden!
Glückliche Tage!  Aber ach!--sie sind noch fern in der Zukunft.--Doch
vielleicht weiß auch die Zukunft nichts von ihnen, und sie sind bloß
in meiner Begierde noch Glück!--Empfindungen, Mellefont, nie gefühlte
Empfindungen wenden meine Augen in eine andre Aussicht!  Eine dunkle
Aussicht in ehrfurchtsvolle Schatten!--Wie wird mir?--(Indem sie die
Hand vors Gesicht hält.)

Mellefont.  Welcher plötzliche Übergang von Bewundrung zum Schrecken!--
Eile doch, Betty!  Schaffe doch Hilfe!--Was fehlt Ihnen, großmütige
Miß!  Himmlische Seele!  Warum verbirgt mir diese neidische Hand
(indem er sie wegnimmt) so holde Blicke?--Ach, es sind Mienen, die den
grausamsten Schmerz, aber ungern, verraten!--Und doch ist die Hand
neidisch, die mir diese Mienen verbergen will.  Soll ich Ihre
Schmerzen nicht mitfühlen, Miß?  Ich Unglücklicher, daß ich sie nur
mitfühlen kann!--Daß ich sie nicht allein fühlen soll!--So eile doch,
Betty--

Betty.  Wohin soll ich eilen?--

Mellefont.  Du siehst und fragst?--nach Hilfe!

Sara.  Bleib nur!--Es geht vorüber.  Ich will Sie nicht wieder
erschrecken, Mellefont.

Mellefont.  Betty, was ist ihr geschehen?--Das sind nicht bloße Folgen
einer Ohnmacht.--



Fünfter Auftritt

Norton.  Mellefont.  Sara.  Betty.


Mellefont.  Du kömmst schon wieder, Norton?  Recht gut!  Du wirst hier
nötiger sein.

Norton.  Marwood ist fort--

Mellefont.  Und meine Flüche eilen ihr nach!--Sie ist fort?--Wohin?--
Unglück und Tod und, wo möglich, die ganze Hölle möge sich auf ihrem
Wege finden!  Verzehrend Feuer donnre der Himmel auf sie herab, und
unter ihr breche die Erde ein, der weiblichen Ungeheuer größtes zu
verschlingen!--

Norton.  Sobald sie in ihre Wohnung zurückgekommen, hat sie sich mit
Arabellen und ihrem Mädchen in den Wagen geworfen und die Pferde mit
verhängtem Zügel davoneilen lassen.  Dieser versiegelte Zettel ist von
ihr an Sie zurückgeblieben.

Mellefont (indem er den Zettel nimmt).  Er ist an mich.--Soll ich ihn
lesen, Miß?

Sara.  Wenn Sie ruhiger sein werden, Mellefont.

Mellefont.  Ruhiger?  Kann ich es werden, ehe ich mich an Marwood
gerächet und Sie, teuerste Miß, außer Gefahr weiß?

Sara.  Lassen Sie mich nichts von Rache hören.  Die Rache ist nicht
unser!--Sie erbrechen ihn doch?--Ach, Mellefont, warum sind wir zu
gewissen Tugenden bei einem gesunden und seine Kräfte fühlenden Körper
weniger als bei einem siechen und abgematteten aufgelegt?  Wie sauer
werden Ihnen Gelassenheit und Sanftmut, und wie unnatürlich scheint
mir des Affekts ungeduldige Hitze!--Behalten Sie den Inhalt nur für
sich.

Mellefont.  Was ist es für ein Geist, der mich Ihnen ungehorsam zu
sein zwinget?  Ich erbrach ihn wider Willen--wider Willen muß ich ihn
lesen.

Sara (indem Mellefont für sich lieset).  Wie schlau weiß sich der
Mensch zu trennen und aus seinen Leidenschaften ein von sich
unterschiedenes Wesen zu machen, dem er alles zur Last legen könne,
was er bei kaltem Blute selbst nicht billiget--Mein Salz, Betty!  Ich
besorge einen neuen Schreck und werde es nötig haben.--Siehst du, was
der unglückliche Zettel für einen Eindruck auf ihn macht!--Mellefont!--
Sie geraten außer sich!--Mellefont!--Gott!  er erstarrt!--Hier, Betty!
Reiche ihm das Salz!--Er hat es nötiger als ich.

Mellefont (der die Betty damit zurückstößt).  Nicht näher,
Unglückliche!--Deine Arzeneien sind Gift!--

Sara.  Was sagen Sie?--Besinnen Sie sich!--Sie verkennen sie!

Betty.  Ich bin Betty, nehmen Sie doch.

Mellefont.  Wünsche dir, Elende, daß du es nicht wärest!--Eile!
fliehe!  ehe du in Ermanglung des Schuldigern das schuldige Opfer
meiner Wut wirst!

Sara.  Was für Reden!--Mellefont, liebster Mellefont--

Mellefont.  Das letzte "liebster Mellefont" aus diesem göttlichen
Munde, und dann ewig nicht mehr!  Zu Ihren Füßen, Sara--(Indem er sich
niederwirft)--Aber was will ich zu Ihren Füßen?  (und wieder
aufspringt.)  Entdecken?  Ich Ihnen entdecken?--Ja, ich will Ihnen
entdecken, Miß, daß Sie mich hassen werden, daß Sie mich hassen müssen.
--Sie sollen den Inhalt nicht erfahren; nein, von mir nicht!--Aber Sie
werden ihn erfahren.--Sie werden--Was steht ihr noch hier, müßig und
angeheftet?  Lauf, Norton, bring alle Ärzte zusammen!  Suche Hilfe,
Betty!  Laß die Hilfe so wirksam sein als deinen Irrtum!--Nein!
bleibt hier!  Ich gehe selbst.--

Sara.  Wohin, Mellefont?  Nach was für Hilfe!  Von welchem Irrtume
reden Sie?

Mellefont.  Göttliche Hilfe, Sara; oder unmenschliche Rache!--Sie sind
verloren, liebste Miß!  Auch ich bin verloren!--Daß die Welt mit uns
verloren wäre!--



Sechster Auftritt

Sara, Norton.  Betty.


Sara.  Er ist weg?--Ich bin verloren?  Was will er damit?  Verstehest
du ihn, Norton?--Ich bin krank, sehr krank; aber setze das Äußerste,
daß ich sterben müsse: bin ich darum verloren?  Und was will er denn
mit dir, arme Betty?--Du ringst die Hände?  Betrübe dich nicht; du
hast ihn gewiß nicht beleidiget; er wird sich wieder besinnen.--Hätte
er mir doch gefolgt und den Zettel nicht gelesen!  Er konnte es ja
wohl denken, daß er das letzte Gift der Marwood enthalten müsse.--

Betty.  Welche schreckliche Vermutung!--Nein; es kann nicht sein; ich
glaube es nicht.--

Norton (welcher nach der Szene zu gegangen).  Der alte Bediente Ihres
Vaters, Miß--

Sara.  Laß ihn hereinkommen, Norton!



Siebenter Auftritt

Waitwell.  Sara.  Betty.  Norton.


Sara.  Es wird dich nach meiner Antwort verlangen, guter Waitwell.
Sie ist fertig, bis auf einige Zeilen.--Aber warum so bestürzt?  Man
hat es dir gewiß gesagt, daß ich krank bin.

Waitwell.  Und noch mehr!

Sara.  Gefährlich krank?--Ich schließe es mehr aus der ungestümen
Angst des Mellefont, als daß ich es fühle.--Wenn du mit dem
unvollendeten Briefe der unglücklichen Sara an den unglücklichern
Vater abreisen müßtest, Waitwell?--Laß uns das Beste hoffen!  Willst
du wohl bis morgen warten?  Vielleicht finde ich einige gute
Augenblicke, dich abzufertigen.  Itzo möchte ich es nicht imstande
sein.  Diese Hand hängt wie tot an der betäubten Seite.--Wenn der
ganze Körper so leicht dahinstirbt wie diese Glieder--Du bist ein
alter Mann, Waitwell, und kannst von deinem letzten Auftritte nicht
weit mehr entfernet sein--Glaube mir, wenn das, was ich empfinde,
Annäherungen des Todes sind--so sind die Annäherungen des Todes so
bitter nicht.--Ach!--Kehre dich nicht an dieses Ach!  Ohne alle
unangenehme Empfindung kann es freilich nicht abgehen.  Unempfindlich
konnte der Mensch nicht sein; unleidlich muß er nicht sein--Aber,
Betty, warum hörst du noch nicht auf, dich so untröstlich zu bezeigen?


Betty.  Erlauben Sie mir, Miß, erlauben Sie mir, daß ich mich aus
Ihren Augen entfernen darf.

Sara.  Geh nur; ich weiß wohl, es ist nicht eines jeden Sache, um
Sterbende zu sein.  Waitwell soll bei mir bleiben.  Auch du, Norton,
wirst mir einen Gefallen erweisen, wenn du dich nach deinem Herrn
umsiehst.  Ich sehne mich nach seiner Gegenwart.

Betty (im Abgehn).  Ach!  Norton, ich nahm die Arzenei aus den Händen
der Marwood!--



Achter Auftritt

Waitwell.  Sara.


Sara.  Waitwell, wenn du mir die Liebe erzeigen und bei mir bleiben
willst, so laß mich kein so wehmütiges Gesicht sehen.  Du verstummst?--
Sprich doch!  Und wenn ich bitten darf, sprich von meinem Vater.
Wiederhole mir alles, was du mir vor einigen Stunden Tröstliches
sagtest.  Wiederhole mir, daß mein Vater versöhnt ist und mir vergeben
hat.  Wiederhole es mir, und füge hinzu, daß der ewige himmlische
Vater nicht grausamer sein könne.--Nicht wahr, ich kann hierauf
sterben?  Wenn ich vor deiner Ankunft in diese Umstände gekommen wäre,
wie würde es mit mir ausgesehen haben!  Ich würde verzweifelt sein,
Waitwell.  Mit dem Hasse desjenigen beladen aus der Welt zu gehen, der
wider seine Natur handelt, wenn er uns hassen muß--Was für ein Gedanke!
Sag ihm, daß ich in den lebhaftesten Empfindungen der Reue,
Dankbarkeit und Liebe gestorben sei.  Sag ihm--Ach!  daß ich es ihm
nicht selbst sagen soll, wie voll mein Herz von seinen Wohltaten ist!
Das Leben war das Geringste derselben.  Wie sehr wünschte ich, den
schmachtenden Rest zu seinen Füßen aufgeben zu können!

Waitwell.  Wünschen Sie wirklich, Miß, ihn zu sehen?

Sara.  Endlich sprichst du, um an meinem sehnlichsten Verlangen, an
meinem letzten Verlangen zu zweifeln.

Waitwell.  Wo soll ich die Worte finden, die ich schon so lange suche?
Eine plötzliche Freude ist so gefährlich als ein plötzlicher Schreck.
Ich fürchte mich nur vor dem allzu gewaltsamen Eindrucke, den sein
unvermuteter Anblick auf einen so zärtlichen Geist machen möchte.

Sara.  Wie meinst du das?  Wessen unvermuteter Anblick?--

Waitwell.  Der gewünschte, Miß!--Fassen Sie sich!



Neunter Auftritt

Sir William Sampson.  Sara, Waitwell.


Sir William.  Du bleibst mir viel zu lange, Waitwell.  Ich muß sie
sehen.

Sara.  Wessen Stimme--

Sir William.  Ach, meine Tochter!

Sara.  Ach, mein Vater!--Hilf mir auf, Waitwell, hilf mir auf, daß ich
mich zu seinen Füßen werfen kann.  (Sie will aufstehen und fällt aus
Schwachheit in den Lehnstuhl zurück.)  Er ist es doch?  Oder ist es
eine erquickende Erscheinung, vom Himmel gesandt, gleich jenem Engel,
der den Starken zu stärken kam?--Segne mich, wer du auch seist, ein
Bote des Höchsten, in der Gestalt meines Vaters oder selbst mein Vater!


Sir William.  Gott segne dich, meine Tochter!--Bleib ruhig.  (Indem
sie es nochmals versuchen will, vor ihm niederzufallen.)  Ein andermal,
bei mehrern Kräften, will ich dich nicht ungern mein zitterndes Knie
umfassen sehen.

Sara.  Jetzt, mein Vater, oder niemals.  Bald werde ich nicht mehr
sein!  Zu glücklich, wenn ich noch einige Augenblicke gewinne, Ihnen
die Empfindungen meines Herzens zu entdecken.  Doch nicht Augenblicke,
lange Tage, ein nochmaliges Leben würde erfodert, alles zu sagen, was
eine schuldige, eine reuende, eine gestrafte Tochter einem beleidigten,
einem großmütigen, einem zärtlichen Vater sagen kann.  Mein Fehler,
Ihre Vergebung--

Sir William.  Mache dir aus einer Schwachheit keinen Vorwurf und mir
aus einer Schuldigkeit kein Verdienst.  Wenn du mich an mein Vergeben
erinnerst, so erinnerst du mich auch daran, daß ich damit gezaudert
habe.  Warum vergab ich dir nicht gleich?  Warum setzte ich dich in
die Notwendigkeit, mich zu fliehen?  Und noch heute, da ich dir schon
vergeben hatte, was zwang mich, erst eine Antwort von dir zu erwarten?
Itzt könnte ich dich schon einen Tag wieder genossen haben, wenn ich
sogleich deinen Umarmungen zugeeilet wäre.  Ein heimlicher Unwille
mußte in einer der verborgensten Falten des betrognen Herzens
zurückgeblieben sein, daß ich vorher deiner fortdauernden Liebe gewiß
sein wollte, ehe ich dir die meinige wiederschenkte.  Soll ein Vater
so eigennützig handeln?  Sollen wir nur die lieben, die uns lieben?
Tadle mich, liebste Sara, tadle mich; ich sahe mehr auf meine Freude
an dir als auf dich selbst.--Und wenn ich sie verlieren sollte, diese
Freude?--Aber wer sagt es denn, daß ich sie verlieren soll?  Du wirst
leben; du wirst noch lange leben!  Entschlage dich aller schwarzen
Gedanken.  Mellefont macht die Gefahr größer, als sie ist.  Er brachte
das ganze Haus in Aufruhr und eilte selbst, Ärzte aufzusuchen, die er
in diesem armseligen Flecken vielleicht nicht finden wird.  Ich sahe
seine stürmische Angst, seine hoffnungslose Betrübnis, ohne von ihm
gesehen zu werden.  Nun weiß ich es, daß er dich aufrichtig liebet;
nun gönne ich dich ihm.  Hier will ich ihn erwarten und deine Hand in
seine Hand legen.  Was ich sonst nur gedrungen getan hätte, tue ich
nun gern, da ich sehe, wie teuer du ihm bist.--Ist es wahr, daß es
Marwood selbst gewesen ist, die dir dieses Schrecken verursacht hat?
So viel habe ich aus den Klagen deiner Betty verstehen können und mehr
nicht.--Doch was forsche ich nach den Ursachen deiner Unpäßlichkeit,
da ich nur auf die Mittel, ihr abzuhelfen, bedacht sein sollte.  Ich
sehe, du wirst von Augenblicke zu Augenblick schwächer, ich seh es und
bleibe hilflos stehen.  Was soll ich tun, Waitwell?  Wohin soll ich
laufen?  Was soll ich daran wenden?  mein Vermögen?  mein Leben?  Sage
doch!

Sara.  Bester Vater, alle Hilfe würde vergebens sein.  Auch die
unschätzbarste würde vergebens sein, die Sie mit Ihrem Leben für mich
erkaufen wollten.



Zehnter Auftritt

Mellefont.  Sara.  Sir William.  Waitwell.


Mellefont.  Ich wag' es, den Fuß wieder in dieses Zimmer zu setzen?
Lebt sie noch?

Sara.  Treten Sie näher, Mellefont.

Mellefont.  Ich sollt' Ihr Angesicht wiedersehen?  Nein, Miß; ich
komme ohne Trost, ohne Hilfe zurück.  Die Verzweiflung allein bringt
mich zurück--Aber wen seh ich?  Sie, Sir?  Unglücklicher Vater!  Sie
sind zu einer schrecklichen Szene gekommen.  Warum kamen Sie nicht
eher?  Sie kommen zu spät, Ihre Tochter zu retten!  Aber--nur getrost!--
sich gerächet zu sehen, dazu sollen Sie nicht zu spät gekommen sein.

Sir William.  Erinnern Sie sich, Mellefont, in diesem Augenblicke
nicht, daß wir Feinde gewesen sind!  Wir sind es nicht mehr und wollen
es nie wieder werden.  Erhalten Sie mir nur eine Tochter, und Sie
sollen sich selbst eine Gattin erhalten haben.

Mellefont.  Machen Sie mich zu Gott, und wiederholen Sie dann Ihre
Forderung.--Ich habe Ihnen, Miß, schon zu viel Unglück zugezogen, als
daß ich mich bedenken dürfte, Ihnen auch das letzte anzukündigen: Sie
müssen sterben.  Und wissen Sie, durch wessen Hand Sie sterben?

Sara.  Ich will es nicht wissen, und es ist mir schon zu viel, daß ich
es argwöhnen kann.

Mellefont.  Sie müssen es wissen; denn wer könnte mir dafür stehen,
daß Sie nicht falsch argwöhnten?  Dies schreibst Marwood.  (Er lieset.)
"Wenn Sie diesen Zettel lesen werden, Mellefont, wird Ihre Untreue
in dem Anlasse derselben schon bestraft sein.  Ich hatte mich ihr
entdeckt, und vor Schrecken war sie in Ohnmacht gefallen.  Betty gab
sich alle Mühe, sie wieder zu sich selbst zu bringen.  Ich ward gewahr,
daß sie ein Kordialpulver beiseite legte, und hatte den glücklichen
Einfall, es mit einem Giftpulver zu vertauschen.  Ich stellte mich
gerührt und dienstfertig und machte es selbst zurechte.  Ich sah es
ihr geben und ging triumphierend fort.  Rache und Wut haben mich zu
einer Mörderin gemacht; ich will aber keine von den gemeinen
Mörderinnen sein, die sich ihrer Tat nicht zu rühmen wagen.  Ich bin
auf dem Wege nach Dover: Sie können mich verfolgen und meine eigne
Hand wider mich zeugen lassen.  Komme ich unverfolgt in den Hafen, so
will ich Arabellen unverletzt zurücklassen.  Bis dahin aber werde ich
sie als einen Geisel betrachten.  Marwood."--Nun wissen Sie alles, Miß.
Hier, Sir, verwahren Sie dieses Papier.  Sie müssen die Mörderin zur
Strafe ziehen lassen, und dazu ist es Ihnen unentbehrlich.--Wie
erstarrt er dasteht!

Sara.  Geben Sie mir dieses Papier, Mellefont.  Ich will mich mit
meinen Augen überzeugen.  (Er gibt es ihr, und sie sieht es einen
Augenblick an.)  Werde ich so viel Kräfte noch haben?  (Zerreißt es.)

Mellefont.  Was machen Sie, Miß!

Sara.  Marwood wird ihrem Schicksale nicht entgehen; aber weder Sie
noch mein Vater sollen ihre Ankläger werden.  Ich sterbe und vergeb es
der Hand, durch die mich Gott heimsucht.--Ach, mein Vater, welcher
finstere Schmerz hat sich Ihrer bemächtiget?--Noch liebe ich Sie,
Mellefont, und wenn Sie lieben ein Verbrechen ist, wie schuldig werde
ich in jener Welt erscheinen!--Wenn ich hoffen dürfte, liebster Vater,
daß Sie einen Sohn anstatt einer Tochter annehmen wollten!  Und auch
eine Tochter wird Ihnen mit ihm nicht fehlen, wenn Sie Arabellen dafür
erkennen wollen.  Sie müssen sie zurückholen, Mellefont; und die
Mutter mag entfliehen.--Da mich mein Vater liebt, warum soll es mir
nicht erlaubt sein, mit seiner Liebe als mit einem Erbteile umzugehen?
Ich vermache diese väterliche Liebe Ihnen und Arabellen.  Reden Sie
dann und wann mit ihr von einer Freundin, aus deren Beispiele sie
gegen alle Liebe auf ihrer Hut zu sein lerne.--Den letzten Segen, mein
Vater!--Wer wollte die Fügungen des Höchsten zu richten wage?
--Tröste deinen Herrn, Waitwell.  Doch auch du stehst in einem
trostlosen Kummer vergraben, der du in mir weder Geliebte noch Tochter
verlierest?--

Sir William.  Wir sollten dir Mut einsprechen, und dein sterbendes
Auge spricht ihn uns ein.  Nicht mehr meine irdische Tochter, schon
halb ein Engel, was vermag der Segen eines wimmernden Vaters auf einen
Geist, auf welchen alle Segen des Himmels herabströmen?  Laß mir einen
Strahl des Lichtes, welches dich über alles Menschliche so weit erhebt.
Oder bitte Gott, den Gott, der nichts so gewiß als die Bitten eines
frommen Sterbenden erhört, bitte ihn, daß dieser Tag auch der letzte
meines Lebens sei.

Sara.  Die bewährte Tugend muß Gott der Welt lange zum Beispiele
lassen, und nur die schwache Tugend, die allzu vielen Prüfungen
vielleicht unterliegen würde, hebt er plötzlich aus den gefährlichen
Schranken--Wem fließen diese Tränen, mein Vater?  Sie fallen als
feurige Tropfen auf mein Herz; und doch--doch sind sie mir minder
schrecklich als die stumme Verzweiflung.  Entreißen Sie sich ihr,
Mellefont!--Mein Auge bricht--Dies war der letzte Seufzer!--Noch denke
ich an Betty und verstehe nun ihr ängstliches Händeringen.  Das arme
Mädchen!  Daß ihr ja niemand eine Unvorsichtigkeit vorwerfe, die durch
ihr Herz ohne Falsch und also auch ohne Argwohn der Falschheit
entschuldiget wird.--Der Augenblick ist da!  Mellefont--mein Vater--

Mellefont.  Sie stirbt!--Ach!  diese kalte Hand noch einmal zu küssen.
(Indem er zu ihren Füßen fällt.)--Nein, ich will es nicht wagen, sie
zu berühren.  Die gemeine Sage schreckt mich, daß der Körper eines
Erschlagenen durch die Berührung seines Mörders zu bluten anfange.
Und wer ist ihr Mörder?  Bin ich es nicht mehr als Marwood?  (Steht
auf.)--Nun ist sie tot, Sir; nun hört sie uns nicht mehr: nun
verfluchen Sie mich!  Lassen Sie Ihren Schmerz in verdiente
Verwünschungen aus!  Es müsse keine mein Haupt verfehlen, und die
gräßlichste derselben müsse gedoppelt erfüllt werden!--Was schweigen
Sie noch?  Sie ist tot; sie ist gewiß tot!  Nun bin ich wieder nichts
als Mellefont.  Ich bin nicht mehr der Geliebte einer zärtlichen
Tochter, die Sie in ihm zu schonen Ursach' hätten.--Was ist das?  Ich
will nicht, daß Sie einen barmherzigen Blick auf mich werfen sollen!
Das ist Ihre Tochter!  Ich bin ihr Verführer!  Denken Sie nach, Sir!--
Wie soll ich Ihre Wut besser reizen?  Diese blühende Schönheit, über
die Sie allein ein Recht hatten, ward wider Ihren Willen mein Raub!
Meinetwegen vergaß sich diese unerfahrne Tugend!  Meinetwegen riß sie
sich aus den Armen eines geliebten Vaters!  Meinetwegen mußte sie
sterben!--Sie machen mich mit Ihrer Langmut ungeduldig, Sir!  Lassen
Sie mich es hören, daß Sie Vater sind.

Sir William.  Ich bin Vater, Mellefont, und bin es zu sehr, als daß
ich den letzten Willen meiner Tochter nicht verehren sollte.--Laß dich
umarmen, mein Sohn, den ich teurer nicht erkaufen konnte!

Mellefont.  Nicht so, Sir!  Diese Heilige befahl mehr, als die
menschliche Natur vermag!  Sie können mein Vater nicht sein.--Sehen
Sie, Sir (indem er den Dolch aus dem Busen zieht), dieses ist der
Dolch, den Marwood heute auf mich zuckte.  Zu meinem Unglücke mußte
ich sie entwaffnen.  Wenn ich als das schuldige Opfer ihrer Eifersucht
gefallen wäre, so lebte Sara noch.  Sie hätten Ihre Tochter noch und
hätten sie ohne Mellefont.  Es stehet bei mir nicht, das Geschehene
ungeschehen zu machen; aber mich wegen des Geschehenen zu strafen--das
steht bei mir!  (Er ersticht sich und fällt an dem Stuhle der Sara
nieder.)

Sir William.  Halt ihn, Waitwell!--Was für ein neuer Streich auf mein
gebeugtes Haupt!--Oh!  wenn das dritte hier erkältende Herz das meine
wäre!

Mellefont (sterbend).  Ich fühl es--daß ich nicht fehlgestoßen habe!--
Wollen Sie mich nun Ihren Sohn nennen, Sir, und mir als diesem die
Hand drücken, so sterb ich zufrieden.  (Sir William umarmt ihn.)--Sie
haben von einer Arabella gehört, für die die sterbende Sara Sie bat.
Ich würde auch für sie bitten--aber sie ist der Marwood Kind sowohl
als meines--Was für fremde Empfindungen ergreifen mich!--Gnade!  o
Schöpfer, Gnade!

Sir William.  Wenn fremde Bitten itzt kräftig sind, Waitwell, so laßt
uns ihm diese Gnade erbitten helfen!  Er stirbt!  Ach, er war mehr
unglücklich als lasterhaft.--



Eilfter Auftritt

Norton.  Die Vorigen.


Norton.  Ärzte, Sir.--

Sir William.  Wenn sie Wunder tun können, so laß sie hereinkommen!--
Laß mich nicht länger, Waitwell, bei diesem tötenden Anblicke
verweilen.  Ein Grab soll beide umschließen.  Komm, schleunige Anstalt
zu machen, und dann laß uns auf Arabellen denken.  Sie sei, wer sie
sei: sie ist ein Vermächtnis meiner Tochter.

(Sie gehen ab, und das Theater fällt zu.)

(Ende des Trauerspiels.)


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Miß Sara Sampson, von Gotthold
Ephraim Lessing.





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