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Title: Schattenspiel um Goethe
Author: Sternaux, Ludwig
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Im Original gesperrt ausgezeichneter Text wird ~so dargestellt~.

    Im Original in Antiqua gesetzter Text wird +so dargestellt+.

    Im Original kursiv gesetzter Text wird _so dargestellt_.

    Weitere Anmerkungen finden sich am Ende des Buches.



    Schattenspiel um Goethe

    [Illustration]



    Schattenspiel um Goethe

    Von

    Ludwig Sternaux

    [Illustration]

    Mit 49 Federzeichnungen von Dorothea Hauer

    [Illustration]

    Bielefeld und Leipzig 1922
    ~Verlag von Velhagen & Klasing~



    Louis Esternaux

    dem gütigen Freunde früher Jahre
    in dankbarer Erinnerung


    Uns Lebende zieht Sehnsucht zu den Toten; hinweg von den Zahllosen,
    die uns umdrängen, die uns die warme Hand entgegenstrecken,
    in deren Augen wir lesen können, gehen wir einsamere Wege und
    beschwören die Gewesenen, die uns nicht Rede stehen. Wie Helden auf
    einer nächtlichen, von Sturm umrauschten Bühne sehen wir sie mit
    flatternden Gewändern, mit starken Gebärden die Geschichte ihres
    Lebens spielen und werden nicht müde, den tragischen und süßen
    Worten zu lauschen, die aus tiefer Vergangenheit abgerissen zu uns
    auftönen.

    ~Ricarda Huch~



Tiefurt und Wittumspalais

            »O Weimar! Dir fiel ein besonder Los!«

                ~Goethe~


Frühlingssonne. Weimar funkelt. Regen hat über Nacht die Straßen
blank gewaschen, daß sie wie Firnis glänzen. Alles atmet Duft und
Morgenfrische. Da ist es gut, durch die Stadt zu wandern und sich
wieder einmal das Märchen erzählen zu lassen, von dem sie nun schon
hundert Jahre träumt.

Ein Weilchen steht man unschlüssig auf dem Marktplatz. Die braunen
Giebel des Cranachhauses brennen in erster Glut, um Klauers
Neptunbrunnen trippeln die Tauben, sehr lustig anzusehen, und bei
Tietz werden gerade die Markisen heruntergelassen. Wohin zuerst? fragt
Ungeduld ... Da, gleich um die Ecke, geht's zum Goethehaus. Die gelbe
Front leuchtet durch die ganze Frauentorstraße. Da zur Esplanade. Oder,
wie man jetzt ja sagen muß: zur Schillerstraße. Und da, an »Elephant«
und »Erbprinz« vorbei, zum Park. Es lockt so vieles. Und da biegt man,
stärkerer Lockung widerstehend, in die enge Windischenstraße neben dem
Rathaus: Alt-Weimar tut sich auf.

Schmal die Gasse, schmal die Häuser: Zwielicht der Kleinstadt. Der
Himmel nur ein blauer Streifen. Hier tollten die Ratsmädel der Böhlau,
die Wildfänge. Das graue Haus da, es ist vielleicht das Kirstensche.
Steingerank umzieht die Tür, unterm Dachsims hocken Putten: Rokoko,
verstaubt und lieblich. Singsang, aus offnem Fenster wehend, beschwört
Träume, Versunkenheit lächelt. Wo seid ihr jetzt, Röse und Marie?

Hier wohnte aber auch der Kanzler von Müller, Goethes Freund und
Testamentsvollstrecker. Eine schwarze Tafel meldet's. Man blickt
versonnen zu den Fenstern hinauf. Gaben sie doch dem Tische Licht,
an dem die »Unterhaltungen« niedergeschrieben wurden. Fama weiß dazu
von Grüßen, die aus diesen Fenstern zu andern gegenüber wanderten, wo
hinter wehender Gardine, hinter Blumenstöcken zuweilen Mädchenaugen
leuchteten ... dann da wohnten die beiden jungen Gräfinnen Egloffstein
mit ihrer Mutter, Julie und Lina, die eine, die Malerin, Goethes
»schöne Schülerin«. Müller liebte die beiden hübschen Mädchen. Haben
die's gewußt? Ich glaube: nein. Es war eine unglückliche Liebe, und es
blieb bei Gruß und Lächeln.

Ja, es ist klassische Welt, die hier in Gassenenge dämmert. Drei Jahre
lang, von 1797 bis 1801 auch Schiller-Welt ... was keine Tafel meldet.
Denn hier, beim Perückenmacher Müller, wohnte Schiller, ehe er nach
der Esplanade zog. Zwei Treppen hoch. Mieterin vor ihm war Charlotte
v. Kalb gewesen, die geliebte. Wie anspruchslos, wie bescheiden, wie
ärmlich Haus und Zimmer! Und, wie Schiller selbst klagt, auch recht
»tumultarisch«. Die Kinder, der Lärm des nahen Markts, unter ihm der
ewig musizierende Geheimrat v. Schardt, Frau v. Steins Bruder, störten
ihn in der Arbeit. Trotzdem entstanden hier in der »Wünschengasse« eine
»Maria Stuart« und die »Jungfrau«. Und viele von Schillers tiefsten,
schwersten Gedichten.

Was keine Tafel meldet ...

       *       *       *       *       *

Und leise wandelt sich die Chodowiecki-Szenerie in Mittelalter, in
Gassengewinkel und uraltes Gemäuer. Grau und finster steigt das
plötzlich auf, trägt schweres Dach und Erkerzierat, die Fensterscharten
haben Butzenscheiben, Eisenzahlen, auf den Stein geschnörkelt, deuten
in fernste Jahre.

[Illustration: _Die Einfahrt zum Wittumspalais der Herzogin Anna
Amalia_]

»Am Palais«, erklärt das Straßenschild. Am Wittumspalais also, Anna
Amalia Witwensitz. Da die Einfahrt! Auf den Torpfeilern bekränzte
Urnen. Das allein ist Rokoko, ist Zopf. Sonst ringsum veritables
Mittelalter. Man denkt wirklich mehr an Herzog Wilhelm den Frommen,
der hier Franziskanern-Barfüßern eine »Burg Gottes« errichtete, denn
an Anna Amalia in Reifrock und Perücke. Als die Mönche der Reformation
wichen, wurde die Klosterkirche Kornhaus. Die Bauern steuerten hier den
»Zehnten«, und Fluch schwelte Jahrhunderte um die düsteren Mauern. Anno
1767 kam dann der allmächtige Minister von Fritsch, der Anna Amalia
rechte Hand in den letzten Jahren ihrer Regentschaft für den unmündigen
Carl August. Die Klostergebäude wurden umgebaut, mit neuen Flügeln an
der nahen Stadtmauer ergab sich ein hübsches, bequemes Palais. Das
Kornhaus selbst blieb, was es war, bis es unter Carl Alexander, Carl
Augusts Enkel, Verwendung fand als Großherzogliche Musikschule. Das ist
das Haus noch heute, wenn auch nicht mehr Großherzoglich, und wo einst
feierliche Messen zelebriert wurden und der Weihrauch dampfte, üben
die Musikschüler fleißig ihre Tonleitern. Mitunter aber dringt aus den
kleinen Rundbogenfenstern auch Orgelklang, ganz dumpf, ganz verhalten,
ein dunkles, geheimnisvolles Brausen. Dann ist es einem, als ob die
alte Zeit wiedergekehrt wäre ...

Und ein paar Jahre später. 1774. Das Residenzschloß brennt nieder. Anna
Amalia ist obdachlos. Das Belvedere? Ist Sommerresidenz. Hat nicht
einmal Öfen. Da bietet Fritsch der Herzogin dieses sein neues Palais in
der »Wünschen-Windischengasse«, sie nimmt es dankbar an. Und höfischer
Prunk zieht in das einfache, fast bürgerlich bescheidene Haus, das nun
den Namen »Wittumspalais« erhält.

       *       *       *       *       *

So die Historie.

Nun sieht das Wittumspalais heute freilich etwas anders aus, als man es
sich in jenen Tagen seines höchsten Glanzes vorstellen darf. Hundert
Jahre sind eine lange Zeit, da verändert sich mancherlei.

Damals, als Anna Amalia es zu dem berühmten »Sitz der Musen« machte,
Goethe, Schiller, Wieland und viele andere Leute von Rang und Namen
dort ein- und ausgingen, lag es in einem großen parkähnlichen Garten,
der die ganze heutige Wielandstraße einnahm. Gartenmauer und Stadtmauer
waren eins. Ein Aquarell von der Fürstin eigener Hand, jetzt Besitz des
Weimarer Vereins »Frauenbildung-Frauenstudium«, zeigt reizend diesen
Garten: große schattige Bäume, verschlungene Wege, künstliche Hügel und
Grotten. Mitten drin ein Pavillon. Das war der Chinesische Tempel. Da
saßen Anna Amalia und die kleine bucklige Göchhausen mit Vorliebe an
den letzten warmen Tagen des Jahres, wenn die Astern blühten und die
Blätter leise von den Bäumen fielen ... Oeser, Goethes Lehrer, hatte
ihn +à la Chinoise+ ausgemalt, sehr fein, sehr zart, so etwa, wie das
jetzt Orlik oder Walser machen würden, und vielleicht hat hier Goethe
den Damen einmal den Urfaust vorgelesen, den die Göchhausen dann, uns
zum Heil, so hübsch sauber abgeschrieben hat.

Als später die Stadtmauer fiel, der »Schweinemarkt« davor vornehm ein
Carls-Platz, der Garten selbst für Häuserbauten aufgeteilt wurde, ließ
Carl August den Tempel nach dem Belvedere schaffen. Dort findet man
ihn noch heute hinter der Orangerie, allerdings in traurigem Verfall.
Aber die Chinesen und Chinesinnen Oesers lächeln noch immer lieb und
einfältig, und der Blick aus den Fenstern, der weit ins Thüringer Land
reicht, ist sogar anmutiger als anno dazumal der im alten Weimar, wo
das Auge nur das freie Feld vor der Stadtmauer und ein paar karge
Schrebergärten fand.

Jetzt liegt das Wittumspalais ganz in Straßen eingewinkelt, an der
Vorderfront die Schillerstraße und der Theaterplatz, seitlich die
Zeughofgasse. Nur die Pappeln über dem kleinen Hof und eine einsame
Kastanie neben dem einstigen Kammerfrauen-, dem jetzigen Kastellanshaus
erinnern noch an jenen Garten.

Jetzt liegt das Wittumspalais auch, sieht man es vom Theaterplatz
aus, viel höher. Der Platz ist aufgeschüttet worden, und so ging das
Untergeschoß der Straßenfront verloren. Das Portal, das heute Einlaß
gewährt, führt gleich in den früheren ersten Stock. Dies Portal gab's
damals überhaupt nicht. War eins der vielen Fenster. Und wenn man
in das Haus hineingelangen will, wie es Anna Amalia und ihre Gäste
betraten, so muß man von der Windischenstraße aus kommen, wo »Am
Palais« die Einfahrt war und noch ist, und über den Hof gehen ... unter
dem finsteren Tor des alten Klosterflügels hindurch, an der Küche und
den Ställen vorbei. Das mag da oft ein buntes Leben gewesen sein, wenn
die Herzogin Empfang hatte oder ein Fest, einen Ball gab. Da drängten
sich dann wohl bei Fackelschein die Sänften und Karossen, die Pferde
scharrten, Hunde bellten (der Herzog, Carl August, brachte zuweilen
seine ganze Jagdmeute mit), Haiducken und Läufer lärmten dazwischen,
und in der offenen Küche wirtschafteten die Köche an den fünf riesigen
Herden.

Oder die Herzogin ritt aus. Solch eine Kavalkade hat Johann Friedrich
Löber gemalt. Anna Amalia selbst auf einem Schimmel, sehr klein, sehr
zierlich, am zierlichsten ihr Fuß in rotem Reitstiefelchen, worauf
sie mit Recht stolz war. Neben ihr, groß und breit, Liutgarde v.
Nostitz, die Hofdame, dahinter der Oberhofmarschall v. Witzleben und
der Stallmeister Josias v. Stein, Charlottens Mann. Ein Zwergläufer
führt die Tête. So ging es durch die enge Windischengasse und, am Markt
vorbei, durch die Frauentorstraße zur Esplanade, immer von Gaffern
begleitet ... so ging's wohl auch nach Belvedere, Tiefurt, Ettersburg.

Auch die Esplanade sah damals anders aus als heute. War eine Promenade
mit einem Lusthaus in der Mitte und einem Goldfischteich, von der
Herzogin selbst angelegt, weil ihr der Weg nach dem »Wälschen Garten«
hinter der Ackerwand zu weit war und weil sie vom Palais aus hübsche
Aussicht haben wollte. Denn vorher hatte hier ein wüstes Durcheinander
von Gräben, Wällen und Tümpeln das Auge gequält. Nachts wurde diese
Promenade durch Gitter geschlossen. Mählich wandelte die Esplanade
sich dann in Straße, Häuser gaben festen Rahmen, das Hauptmannsche
Redoutenhaus, auch vom obdachlosen Hof zu größeren Festen benutzt,
war eins der ersten. An seiner Stelle prunkt jetzt ein Neubau, ein
Kaffeehaus, wo Billard gespielt wird und eine Musikkapelle Weimars
Lebewelt mit den neuesten »Schlagern der Saison« erfreut.

[Illustration]

Da aber, wo die Esplanade auf das Wittumspalais stößt, unweit besagtem
Café, führt eine dunkle, ganz verschattete Treppe an dem alten
Klosterflügel des Palais entlang zur »Wünschengasse«. Ein wilder
Birnbaum hat sich hier im Mauerwerk verwurzelt, und die Treppe ist
wie eine Laube ... in Sommernächten eine beliebtes Stelldichein, heut
wie ehedem. Wenn Ottilie v. Pogwisch und August v. Goethe abends bei
Schopenhauers gewesen waren, die auf der Esplanade wohnten, dann
schlüpften sie hier erst für Augenblicke unter, um sich satt zu
küssen, ehe er die Geliebte nach Hause brachte ... was übrigens keines
weiten Wegs bedurfte, denn Frau v. Pogwisch wohnte ebenfalls auf der
Esplanade, neben dem Schillerhaus. Und die Böhlauschen Ratsmädel wußten
den verschwiegenen Ort auch durchaus zu schätzen. Dort lauerten sie in
der Dämmerstunde den armen Liebespaaren auf, um mit den Erschreckten
ihre Allotria zu treiben; dort lasen sie heimlich die Liebesbriefe,
wenn Ottilie Pogwisch und Adele Schopenhauer die beiden Bälger in der
Kummerfeldenschen Nähstunde als postillions d'amour benutzten; dort
küßten sie sich später selbst mit ihren Freunden.

Das alles weiß der wilde Birnbaum noch sehr gut, so jung er damals auch
gewesen. Und wer in lauen Nächten hier ins Dunkel zu tauchen wagt, dem
erzählt's das leise Rauschen der Zweige. Dem klingen die alten Namen
aus der Vergangenheit herauf, und um jeden flicht Legende ihren Kranz.

       *       *       *       *       *

Doch zurück zu Anna Amalia! Ein Menschenalter hat sie im Wittumspalais
gewohnt, bis zu ihrem Tode. Und sie starb 1807. Rührig, still und
einfach lebte sie hinter diesen Fenstern, diesen Mauern, nur im
Frühling und Sommer die Stadtwohnung mit dem nahen Tiefurt tauschend,
zuweilen, doch nie lange, auf Reisen. Ihre Freundin und Vertraute: die
Göchhausen. Luise mit Vornamen, aber Freundesscherz nannte sie, die
zwerghaft-zierliche, Thusnelda. »De Frailein von Kechhausen, wisse Se,
wo bloß so glein kewese is, das heißt nemlich, häre Se, se war pucklich
un verwachse, aber sähr gluch.« So der Kastellan des Wittumspalais, der
vermutlich aus Sachsen ist. Erich Schmidt, der ihre Urfaust-Handschrift
fand, hat sie dann so berühmt gemacht, daß heute die Jungen und Mädels
in der Schule ihren Namen lernen. Und Goethe-Verse, leibhaftige,
huldigen ihr:

    »Der Kauz, der auf Minervens Schilde sitzt,
    Kann Göttern wohl und Menschen nützen;
    Die Musen haben dich beschützt,
    Nun magst du sie beschützen.«

Was die Kleine redlich tat. Andere Hausgenossinnen der Herzogin: die
Kammerfrauen. Auch hier bekannte Namen. Amalie Kotzebue, die Tante
Augusts, treu der Herrin bis zur Erblindung. Genast, der Schauspieler,
sah als Knabe die Blinde noch im Hofe des Palais in der Sonne sitzen.
Amalie von Berg, die Schriftstellerin, die auch eine Kotzebue war und
später den Steuerrat Ludecus heiratete. Ihr Grab ist auf dem Alten
Friedhof am Poseckschen Garten. Und die beiden Bendas ... alle, worauf
Anna Amalia großen Wert legte, nicht Domestiken, sondern Talente und
»schöne Geister«.

Diese drei Jahrzehnte Wittumspalais unter Anna Amalia umspannen
Goethe-Welt. 1775, im November, taucht der Dichter des »Werther« in
Weimar auf, »mit seinem schwarzen Augenpaar, zaubernden Augen mit
Götterblicken, gleich mächtig zu töten und zu entzücken«, ein Meteor,
das schnell zum Stern wird, der über Weimar stehen bleibt wie der Stern
der Verheißung über Bethlehem. Und so auch über der Herzogin Amélie
Palais ... jetzt, wo die Regierung aus ihren Händen an den mündig
gewordenen Carl August übergangen, tatsächlich nur noch ein Witwensitz.

Und Goethe-Welt ist es, die dies stille Haus spiegelt. Auch hier, hat
man den düsteren Torbogen erst passiert, der junge Frühling. Grünes
Licht rauscht auf, betritt man den Hof. Die Spatzen unter der Kastanie
lärmen. Sonne legt Gold auf die grauen, verwitterten Wände und läßt die
toten Fenster glitzern.

Tür, Treppe, Vorplatz: ein Bürgerhaus. Wie am Frauenplan. Behäbig,
aber ohne jeden Prunk. Den bieten erst die Zimmer. Die seidenen
Tapeten leuchten, das Parkett glänzt, die Kristallüster flimmern.
Aber es ist ein sterbendes Rokoko. Ein paar der weißen Stuckdecken,
ein paar Möbelstücke gefallen sich noch in geschweifter Linie. Alles
andere ist bereits Empire: steif, kühl, sparsam im Ornament. Ein
Kranz, eine Schleife, ein dünnes Fruchtgehänge, an den weißen Türen,
an der Boiserie der Fensternischen schmale goldene Linien -- das ist
alles. Üppig nur die Bilder. Da das herrliche Porträt der Fürstin
von Tischbein: die großen Augen, der zarte Mund, um den verhaltenes
Lächeln spielt, die schöne Büste ... Anna Amalia, wie Goethe die
»verwittibte Herzogin« zuerst sah. Da Friedrich der Große, der
Fürstin Oheim, »in zugeknöpftem blauen Zivilrock mit Ordenssternen,
wie er soeben den Siebenjährigen Krieg beendet hat«, das einzige
Bild, zu dem der König gesessen hat: der herrliche, sieghafte Glanz
der Friedrichs-Augen flimmert auch in denen der Nichte. Da, im
rotbespannten »Dichterzimmer«, Goethe und Schiller, von May, von Graff;
im Schlafzimmer der Herzogin die Söhne: Carl August, achtzehnjährig,
von Schlosser, und Constantin, ein dunkeläugiges zartes Kind, von
Tischbein. Und so fort. Die ganze Dynastie, der ganze Hof, Weimar
in Goethe-Tagen. Selbst die beiden Schwestern Gore fehlen nicht,
die Engländerinnen, deren eine, die schöne Emilie, Carl August
nahe gestanden haben soll. Und auch Corona Schröter nicht. Wie sie
lächelt! Kaum verhüllt das Kleid den vollen Busen, Locken rahmen das
Iphigenien-Antlitz. Wen hat in Weimar man so gefeiert wie sie? Wen so
rasch vergessen? Ihr Lächeln tut weh, und die schmale Galerie, in der
ihr Bild hängt, verfinstert sich, denkt man des einsamen Grabes in
Ilmenau.

So weckt hier jedes Bild, jedes Zimmer, jeder Gegenstand Erinnerungen.
Das Herz hält Totenschau und ist, für tiefe Augenblicke, den Toten
näher als den Lebenden. Zumal im »Lesezimmer«, das hinter den
verhängten Fenstern ein grünes Zwielicht geheimnisvoll erregend füllt,
drängen sich die Schatten. Georg Melchior Kraus, der Maler, hat
den Abendkreis von Menschen, der hier sich bei der Herzogin so oft
zusammenfand, im Bilde festgehalten. Da sitzen sie alle um den Tisch,
in der Mitte die Fürstin, die malt, rings um sie herum, ganz zwanglos,
die anderen: Goethe, der vorliest, neben ihm Einsiedel, dahinter, bei
riesigen Bildermappen, Heinrich Meyer, und die »schöne Kehle«, das
Fräulein v. Wolfskeel, schaut gespannt, welchen Kupferstich, welche
Zeichnung Meyer der Gesellschaft vorlegen wird. Gegenüber die Gores,
Vater und Töchter, über eine Stickerei gebeugt die Göchhausen und,
bequem in den Stuhl zurückgelehnt, Herder.

Was liest Goethe vor? Wovon sprechen sie? In welche Fernen blickt
Herders Auge? Vielleicht steigt Italien vor ihnen allen auf, wo die
Herzogin vor kurzem gewesen ... Italien, das, wie Goethe in seiner
Widmung der »Venetianischen Epigramme« rühmt, Anna Amalia ihnen
in Germanien von neuem erschuf. Vielleicht liegen in den Mappen
neben Meyers Sessel die Aquarelle von Tivoli, die jetzt im grünen
Wohnzimmer der Herzogin hängen, vielleicht ist es das Tagebuch seiner
italienischen Reise, in dem Goethe blättert ... wer kann es wissen?

Eines Tages begegnen Offiziere auf der Landstraße nach Jena einem alten
Manne in dürftigem Reisehabit. »Was ist das für ein närrischer Kerl?«
fragt einer ... »Er wird das Handwerk grüßen!« meint ein anderer,
sehr von oben herab. »O nein!« fährt da der erste fort, »ich habe ihn
gestern im Garten der Herzogin gesehen.«

Es war der Dichter Seume.

Und so wie er durfte kein »schöner Geist« Weimar passieren, ohne
im Wittumspalais eingekehrt zu sein. Es hat dieser Gäste vielerlei
gesehen, ihre Namen klingen mit, wenn der Name »Wittumspalais«
aufklingt. Der alte Wieland vor allem, so vertraut, daß er jederzeit
Zutritt hatte, dann Goethe natürlich, Herder und Schiller. Sie wäre
eine wackere Frau, die Herzogin, und es lebte sich gut mit ihr,
bekannte Schiller, der skeptisch war gegen Fürstengunst. Lenz, Klinger
tauchen sporadisch auf. Auch Merck. Später wird Jean Paul feierlich
empfangen -- wetteiferte an schnellem Ruhm er eine Zeitlang doch fast
mit dem Herrn vom Frauenplan! Sein Schreibsekretär, später hierher
gebracht, erinnert an ihn. Auch Jena schickte illustre Köpfe: Humboldt,
Hufeland, Fichte, Schelling, Hegel. Und von der Staël, die bei der
Herzogin wiederholt zu Gast, erzählt Goethe in den »Annalen« folgende
Anekdote: »An einem personenreichen Abendessen« sitzt Goethe in
Schweigen versunken. Irgend jemand hält sich darüber auf. Die Staël
pflichtet bei. Und fügt hinzu: »Übrigens mag ich Goethe nicht, wenn er
nicht eine Bouteille Champagner getrunken hat!« Goethe hört's und meint
schlagfertig: »Da müssen wir uns denn doch schon manchmal zusammen
bespitzt haben.« Unterdrücktes Lachen, verlegene Pause im Gespräch.
Die Staël, des Deutschen nicht mächtig, will wissen, was er gesagt.
Niemand traut sich, bis Benjamin Constant es unternimmt, »ihr mit einer
euphemistischen Phrase genugzutun«.

Wo dies »personenreiche Abendessen« gewesen? Vermutlich im Obergeschoß,
im »Theatersaal«. Da ist erst das schöne, türkisblaue »Empfangszimmer«
mit den weißgoldenen Möbeln und den Leuchtergirandolen, die Goethe der
Herzogin aus Italien mitgebracht, und dann, mit den Fenstern nach Hof
und Esplanade, dieser Saal. Hier wurde getafelt, hier Theater gespielt,
hier getanzt. Die Decke von Oeser. Die übliche Allegorie. Die Wände
schöner roter Marmor. Die Sessel gelber Atlas. Ein Riesenteppich deckt
den Boden. Alles sehr festlich und, wenn die Kerzen flimmern, sicher
warm und behaglich. Goethes »Paläophron und Neoterpe« hat hier, anno
1800, der alten Herzogin gehuldigt ... ein Maskenspiel, in Worten
tändelnd, die leicht wie Hauch, der Spinettklang einer abgelebten Zeit.
Dieser Klang haftet noch. Man spürt ihn bis in letzte Nerven. Nur ist
die heiter-bewegliche Gesellschaft, die einst danach tanzte, tot, und
jetzt schwingen hier im Lichte sich allein die Sonnenstäubchen.

       *       *       *       *       *

Lange lag diese ganze Welt in tiefem Schlaf. Man schien vergessen
zu haben, daß hier einst eine »vollkommene Fürstin mit vollkommen
menschlichem Sinn«, wie Goethe Anna Amalia genannt, gewohnt hatte.
Schien vergessen zu haben, daß über die schlichte graue Holztreppe die
erlauchtesten Geister einer großen Zeit geschritten waren. Weimar trieb
Kult mit andern Göttern: wenn Liszt sich, lockenumwallt, am Fenster
seines Hauses in der Belvedere-Allee sehen zu lassen geruhte, zwang
Verzückung die Weiber auf die Knie ... ein paar Akkorde, von seiner
Hand gegriffen, faszinierten eine Welt!

Erst Carl Alexander brach den Bann.

Da säuberte das alte Schlößchen man sorgfältig von Spinneweben und
Domestikenplunder und baute hübsch zierlich, von Zimmer zu Zimmer, die
Erinnerungen auf, die dem Einst Glück und Rausch verflogener Stunden
gewesen ... die vielen Bilder, das Porzellan, die Uhren, die Vasen aus
Alabaster und Biskuit, die Bronzen, das Tausenderlei von Andenken,
das Reisen und Besuche angehäuft, Tand vielleicht und doch mehr, weil
Herkunft und Gebrauch die meisten der Sachen geadelt. So fein baute
man das alles auf, daß Anna Amalia, die sehr auf Ordnung hielt, nichts
auszusetzen fände, schritte sie jetzt noch einmal die Flucht der Zimmer
ab.

Alles steht an seinem Platz ... sie fände im Wohnzimmer das
Schachbrett, im Schlafzimmer Waschservice und Frühstücksgeschirr,
am Fenster ihre Malutensilien; da die kleine antike Räucherlampe
auf dem »Balkon« des gußeisernen Ofens harrt nur der Hand, die sie
anzündet, da auf dem Spinett die Mandoline nur der Finger, die sie zum
Klingen bringt. Die Noten daneben, Mozart, liegen aufgeschlagen, und
auch die Harfe steht bereit. Ja, sie fände sogar in einem kindlich
mit Goldpapier verklebten Glaskästchen die winzigen rotseidenen
Pantoffeln ...

Aber sie kommt nicht. Die Stadtkirche hütet ihre Toten gut. Nur ihr
Geist beseelt noch immer die Räume, die sie einst bewohnt, den kann
kein Stein und keine Gruft bannen. Und die alte Dame auf Jagemanns
Bild, Anna Amalia 67 Jahre alt, lächelt, als ob sie das wüßte.

       *       *       *       *       *

Wagenfahrt unter blühenden Obstbäumen. Die Sonne schon sommerlich warm:
Gold tropft aus dem grünen Baldachin des Laubes, verwehte Blütenblätter
taumeln gleich lichttrunkenen Faltern. Da die Landstraße höher steigt,
wandert das Auge über Felder, die sich wie blasser Brokat wellen.
Dazwischen ein Silberband: die Ilm, der »liebe Fluß«. An ihrem Ufer
Tiefurt.

Goethes Tagebuch am 20. Mai 1776: »... Tiefurt. Einzug.« Am 21.: »In
Tiefurt mit den beiden Herzoginnen, Edelsheim usw. Drauß geschlafen.«
Und ein Brief Knebels: »Wir vertrieben den Pächter aus seiner Wohnung,
rissen die Bauerngehege hinweg und bereiteten nach und nach einen
angenehmen Aufenthalt in der überaus günstigen Gegend.«

So beginnt Tiefurts klassische Zeit. Das Pächterhaus des Kammerguts,
ein anspruchsloser Bau ohne jeden Stil und Komfort, wird auf Wunsch der
Herzogin Sommerquartier des Prinzen Constantin, Carl Augusts Bruder.
Knebel, der Erzieher des Prinzen, richtet die Wohnung her, Goethe,
Hansdampf in allen Gassen, muß helfen. Zwei Stuben müssen vorläufig
genügen. Oeser malt sie in pompejanischer Manier aus: auf gelbem Grund
ein wenig Blumenornament.

Am 20. Mai der Einzug. Der ganze Hof ist draußen, auch Goethe mit
Frau von Stein. Die Bauern empfangen den Prinzen mit »Musik, Böllern,
ländlichen Ehrenpforten, Kränzlein, Tanz, Feuerwerkspuffer, Serenade
usw.«. Zwei Tage dauert das Fest. Da im Schlößchen noch keine Betten
für Gäste, übernachten der Herzog, Goethe und »noch einige« im Freien
... was man damals, jugendlich begeistert, als »Erdgefühl« cachierte.

[Illustration]

Dieser Prinz Constantin, schon in frühen Jahren ein Sorgenkind, hat
hier bis 1780 gewohnt ... sicherlich nicht freiwillig. Er war ein
unruhiger Geist, schwierig zu behandeln, bei aller Wildheit überzart,
mit schmalen Schultern, blassen Schläfen, den dunkelglühenden Augen
eine Verfallserscheinung. Was konnte ihm, der nach Abenteuern und
Ekstasen Leibes und der Seele gierte, das Idyll Tiefurt geben? So
schickte man ihn auf Reisen. Vergebens. Krank taumelt er durchs Leben,
bis ihn, 1793, die Kriegstrommel verführt. Als sächsischer Oberst macht
er die Kampagne gegen Frankreich mit und stirbt, fern der Heimat,
irgendwo an der Ruhr, so ein nutzloses Dasein nicht einmal heldisch
endend. Mutterliebe hat ihm im Tiefurter Park ein Denkmal gesetzt,
eins der vielen hier. Ein antiker Sarkophag, sehr schön in den Linien,
die Inschriften feiern den Toten in ergreifenden Worten als Helden und
»Opfer dieses unglücklichen Krieges«.

       *       *       *       *       *

Dies ist die Ära Constantin ... verweht, vergessen. Nur das Denkmal an
der Ilm erinnert leise daran und eine schmale Silhouette des Prinzen
im Schloß. Das Tiefurt Anna Amalias, die nun das ferne Ettersburg
aufgibt und hier im Sommer wohnt, ist das heutige ... der Park mit
seinen Urnen, Bänken und Gedenksteinen hat sich selbst erhalten, das
verwahrloste, mit Krimskrams aller Art überladene, lange nur als
Rumpelkammer benutzte Haus hat Enkelpietät ganz so wiederhergestellt,
wie es zu ihren Zeiten war. Dank Wilhelm Ernst, dem nun Vertriebenen,
der das getan! Auch hier würde die Erlauchte, kehrte einmal sie aus
Elysium zu der Stätte zurück, die ihr eine Stätte reinsten Glücks
und lauterster Freude gewesen ein Leben lang, alles finden, wie sie
es verlassen, als der Tod sie abberief. Wirklich alles. Nur die
Steintafel am Eingang zum Park fehlt, die einst schwärmte:

    »Hier wohnt Stille des Herzens, goldene Bilder
    Steigen aus der Gewässer klarem Dunkel.
    Hörbar waltet am Quell der leise Fittich
    Segnender Geister!«

Fromme Worte, die noch jetzt Magie. Wer den Park betritt, dem klingen
sie im Herzen auf, und wer ihn verläßt, den begleiten sie.

       *       *       *       *       *

Zwei Wege führen von Weimar nach Tiefurt, beide gleich schön, zumal
im Frühling, wenn junges Grün sie säumt. Der eine die Landstraße, die
das »Webicht« quert: erst Villen, dann Garten und Feld, schließlich
der Wald. Wie oft ist hier der alte Goethe mit Eckermann gefahren, in
Erinnerung versunken! Der andere, die »Carolinen-Promenade«, läuft die
Ilm entlang.

»Es ist ein äußerst angenehmer Weg,« schreibt 1780 ein junger Theologe,
der Herder nach Tiefurt begleitete, »der Ilm nach, durch ein Wäldchen,
wo wir meisterlich waten mußten.« Das braucht man heute nun nicht mehr.
Man gelangt trockenen Fußes ans Ziel. Aber wenn der Briefschreiber
weiter erzählt: »Endlich kamen wir auf eine schöne Wiese, dann wieder
ins Holz, dann übers Wasser in den Garten, wo eine kleine chinesische
Hütte ist, hinauf auf den Berg, den Knebels Phantasie ausgebildet hat,
zu einigen kleinen Altärchen, wo man ins Tal eine schöne Aussicht hat,
zu einer Grotte, die Virgils Grab heißt, oben gegen dem Feld am Wald
vorbei auf eine hohe Eiche von drei Stockwerken, ordentlichen Altanen,
wo eine schöne Aussicht ist und reine herrliche Luft weht«, so kann man
der Schilderung eher beipflichten. Nur konnte Herders Begleiter, der ja
auch »Tiefort« noch ein »Lusthaus des Prinzen Constantin« nennt, anno
1780 die mancherlei Veränderungen nicht kennen, die der Park nun unter
Anna Amalia erfuhr.

Und die aus Wald und Wiese, Fluß und Uferhang, Berg und Tal einen
»elysischen Hain« machten. »Faune und Nymphen sollen sich nicht zu
schämen brauchen, ihren Aufenthalt darin zu nehmen.« So sie selbst.
Knebels Anlagen sind der Grundstock. Nun baut sie, mit Goethe,
weiter. Bäume werden gepflanzt, Wege gezogen, Durchblicke geschaffen.
Jede Bank erhält ihren Namen, jeder Platz seine tiefere Bedeutung.
Ein »Musentempel«, weiß und schlank, steigt reizvoll aus dem Samt
der grünen Rasenflächen, die Freunde werden durch Altäre und Urnen
gefeiert. Das Ganze schließen jenseits der Ilm Felsterrassen harmonisch
ab ... ein Theater der Natur, das sentimentalisches Gefühlsklima atmet,
Oden und Elegien in Stein, Baum, Boskett tändelnd beleben.

Oder wie die Goethe-Verse auf dem Holzsockel der Wieland-Büste es
wollen:

    »Wenn zu den Reihen der Nymphen
    Die eine Mondnacht versammelt
    Sich die Grazien heimlich
    Von dem Olympe gesellen,
    Hier belauscht sie der Dichter
    Und hört die schönen Gespräche
    Sieht dem heiligen Tanz
    Ihrer Bewegungen zu.
    Was der Himmel Herrliches hat
    Was glücklich die Erde
    Reizendes hervorbringt
    Erscheint dem wachenden Träumer.
    Dann erzählt er's den Musen
    Und daß die Götter nicht zürnen
    Lehren ihn die Musen
    Bescheiden Geheimnisse sprechen«.

Die ursprüngliche Form der Distichen, die in den Werken als »Geweihter
Platz« feierlichere Prägung erhalten haben. Geweihter Platz -- das
ist ganz Tiefurt. Man wandert von Erinnerung zu Erinnerung, immer die
Ilm zur Seite, die mit Glitzerwellchen lustig über Stein und Wurzel
dahinströmt. Enten treiben drauf, Blütenblätter, zuweilen hascht Sonne
einen Fisch und läßt den schmalen, blanken Leib in kühler Flamme
lodern ... alles wie anno dazumal, als Anna Amalia hier in weißem
Sommerkleid, eine bescheidene Landedelfrau, morgens lustwandelte. Mit
Wieland vielleicht, »ihrem guten Alten«. Oder mit Goethe, mit Herder.
Vielleicht auch nur begleitet von der »Gnomide«, der Göchhausen, und
deren dickem Mops.

Ein Baum, ein Steintisch, eine Büste ... wie dürftig! Und doch
vollkommenstes Idyll. Idyll auch, ein paar Schritte weiter, die Bank
mit dem Amor: Coronas Denkmal. Kein Name verrät, daß es ihr gilt. Aber
im Rauschen der Bäume, im leisen Flüstern der Blätter ringsum klingt
süß und leise noch heute die Stimme, die sich hier einst so oft im
Lied gewiegt. Sie ist Philomele, der die Goethe-Verse der Steintafel
huldigen:

    »Dich hat Amor gewiß, o Sängerin, fütternd erzogen;
    Kindisch reichte der Gott dir mit dem Pfeile die Kost.
    Schlürfend saugtest du Gift in die unschuldige Kehle,
    Und mit der Liebe Gewalt trifft Philomele das Herz.«

Niedlich darüber der Amor, ein kleiner Marmorgott. Die eine Hand,
die mit dem Pfeile, hat ein Umsturz-Wicht zerschlagen. Nun klagt das
Kinderauge, und Philomele, ängstlich in die andre Hand geschmiegt, ist
ohne süße Nahrung. Aber wenn der Abend kommt und Flieder und Jasmin
stärker duften, aus den Flußwiesen der Nebel steigt, singt sie doch ...
der ganze Park wird dann ein einziges trunkenes Liebesstammeln.

[Illustration]

Wenn der Abend kommt, erwacht hier überhaupt die Vergangenheit, aus
Schatten drängen Schatten und werden wieder Leben. Wissen muß helfen,
sie zu beschwören. Da ist Goethes Tagebuch. Immer wieder meldet es im
Sommer 1781, dem ersten, den Anna Amalia hier als Herrin verbracht:
»Abends Tiefurt.« Auch die Briefzettelchen an Charlotte, wilder,
heißer, ungestümer denn je, erzählen damals unablässig davon. Da wird
mit den Bauern und der Dorfjugend der »Ärndtekranz« gefeiert, da wird
»Nathan und Tasso gegeneinander gelesen«, da singt Corona Schröter
Rousseaus neue Lieder, da wird der »Musentempel« eingeweiht, ein
frischer Gedenkstein enthüllt ... wir würden heute sagen: immer ist
in Tiefurt was los. Und Charlotten, die ihre Migräne hat und an der
Ackerwand eifersüchtig des Freundes denkt, der mit anderen »miselt«,
vielleicht sogar mit »Krone«, vielleicht auch mit der schönen Baronin
Werthern oder der kecken Waldner, der Person, -- Charlotten wird
berichtet: »Gestern ist unsre Feyerlichkeit zu iedermanns Vergnügen
begangen worden.«

Feierlichkeit?

Wieder mögen Goethe-Verse Deutung geben. Das große, das wundervolle
Gedicht »Auf Miedings Tod«, das den Theatermeister Mieding und die
Schauspieler preist:

    »Als euern Tempel grause Glut verheert,
    Wart ihr von uns drum weniger geehrt?
    Wie viel Altäre stiegen vor euch auf!
    Wie manches Rauchwerk brachte man euch drauf!
    An wie viel Plätzen lag, vor euch gebückt,
    Ein schwer befriedigt Publikum entzückt!
    In engen Hütten und im reichen Saal,
    Auf Höhen Ettersburgs, in Tiefurts Tal,
    Im leichten Zelt, auf Teppichen der Pracht
    Und unter dem Gewölb der hohen Nacht
    Erschient ihr, die ihr vielgestaltet seid,
    Im Reifrock bald und bald im Galakleid ...«

Theater also, Possenspiel. Und die Bühne ist die »Theaterwiese«,
Parkett das »Chinesische Haus« mit schmaler Terrasse. So einst, und
so noch heute, nur liegen die Wiese, der schlichte Fachwerkpavillon
verödet und verlassen. Und nachher dann »Beleuchtung«. Da wird an
Miedings Stelle Goethe, der Rembrandt-Schwärmer, Regisseur, und
Fluß und Uferhang wandeln sich, wie so oft schon vorm Gartenhaus am
Stern, in idealische Landschaft von magischem Helldunkel, werden
Rembrandt-Tableau »zu jedermanns Vergnügen«.

Und das Tagebuch vom 28. August 81: »Abends in Tiefurt, wo man die
+Ombres Chinois+ gab.« An Frau von Stein tags darauf: »Gestern ist das
Schauspiel recht artig gewesen, die Erfindung sehr drollig und für den
engen Raum des Orts und der Zeit sehr gut ausgeführt. Hier ist das
Programm. +NB+ es war +en ombre Chinois+ wie Du vielleicht schon weißt.«

Dieser 28. ist Goethes Geburtstag, das Schattenspiel, das Seckendorf
gedichtet, Huldigung für ihn: »Minervens Geburt, Leben und Taten.«
Im »Tiefurter Journal«, Anna Amalias netter, handschriftlich
vervielfältigter Chronik dieser Jahre, kritisierte Wieland die
Aufführung. Alles sehr hübsch, sehr gelungen, doch Venus sei in einem
Aufzuge erschienen, »welcher dem Negligé einer Waschfrau und Grasnymphe
ähnlicher sah, als dem einzigen Schmuck, der sich für die Göttin der
Schönheit ziemt«. Ob Emilie Werthern, eben jene Venus, ein andermal den
guten »Papa Wieland« mehr befriedigt hat?

Ein Jahr später, an heißem Juli-Abend, die »Fischerin«, unten an der
Ilm bei Fackelbeleuchtung gespielt. Goethe an Merck: »Ehestens wirst
Du ein Wald- und Wasser-Dram zu sehen kriegen. In Tiefurt aufgeführt,
tut es gute Wirkung.« An Charlotte, die Verstimmung fern gehalten: »Von
meinem gestrigen Stück, das sehr glücklich ablief, bleibt mir leider
nichts als der Verdruß daß Du es nicht gesehen hast.« Das Tagebuch
stumm. Um so beredter die Tuschzeichnung von Kraus im Schlößchen in
Farbenduft und zarter Linie: die Erlen, die Fischerhütte, an einem
kleinen Feuer Töpfe, im Hintergrunde Netze und Fischergeräte, auf dem
Fluß im Mondschein der Kahn mit den Fischern, vorn Dortchen, die den
»Erlkönig« singt ... ein reizendes Bild, ganz die Szenerie des Stücks
in Goethes Angabe, ganz Tiefurt-Zauber. Dortchen, im üppig gerafften
Reifrock mehr eine Schäferin des Rokoko denn eine ländliche Fischerin
ist Corona Schröter, die Liebliche. Und wie kann es anders sein, daß da
die Verse aufklingen, die sie unsterblich gemacht:

    »Ihr Freunde, Platz! Weicht einen kleinen Schritt!
    Seht, wer da kommt und festlich näher tritt!
    Sie ist es selbst -- die Gute fehlt uns nie --
    Wir sind erhört, die Musen senden sie.
    Ihr kennt sie wohl; sie ist's, die stets gefällt:
    Als eine Blume zeigt sie sich der Welt,
    Zum Muster wuchs das schöne Bild empor,
    Vollendet nun, sie ist's und stellt es vor.
    Es gönnten ihr die Musen jede Gunst,
    Und die Natur erschuf in ihr die Kunst.
    So häuft sie willig jeden Reiz auf sich,
    Und selbst dein Name ziert, Corona, dich.«

       *       *       *       *       *

So führt Erinnerung, süßen Plaudertons, zum Schloß. Altersbraun,
verwittert Dach und Mauerwand, liegt's unter Riesenbäumen. Weimar
trinkt hier gerne Kaffee. Der Kastellan hat kleine Wirtschaft, an
schönen Sommernachmittagen sind Tisch und Stuhl, heut leer und
Turngerät für Hühnervolk und Spatzen, dicht besetzt ... die »Stille des
Herzens« ist dann Illusion.

Ein Schloß?

Man lächelt. Kaum ein Schlößchen. Ein Guts-, ein Pächterhaus, wie's
deren Tausende gibt. Bescheidener kann man nicht wohnen. Allein die
hölzerne Pergola der Parkfront mit ihren Säulen, ihrem Gitterwerk,
ihren Skulpturen verrät, daß hier Anmut und Geist sich eine +maison
d'âme+ in ländlicher Idylle geschaffen, hier Heimat von Menschen
gewesen, die mehr als Ackerbau und Viehzucht trieben.

Anmut und Geist verklären auch das schlichte Innere. Ein Wittumspalais
im Kleinen! Winzig die Zimmer. Die niedrigen Decken einfach geweißt,
der Fußboden bemalte blanke Wachsleinwand, die reizend Mobiliar und
Fenster spiegelt. Überall das Ornament des Empire, halb Mäander, halb
Pompeji. Die Wände zartgetönt: gelb, grau, hellgrün ... am apartesten
ein »Empfangszimmer« mit den aufgeklebten schwarzen Kupferstichen.
Prunk fehlt ganz. Die Kronleuchter, auch sie Pompeji, das damals große
Mode, nur aus Holz geschnitzt, die Gardinen Mull, die Polsterbezüge
Rips. Hier und da ein Sessel mit Handstickerei: Hofdamengeschenke.
Bilder natürlich in Hülle und Fülle. Porträts in Öl, Porträts in
Pastell. Alte Stiche. Silhouetten. Wachsreliefs. Als Proben Ötternschen
Marmors, den Goethe zuerst brechen ließ, Büsten und Figuren von Klauer:
der junge Goethe, Fritz von Stein, die Göchhausen.

Es ist eine empfindsame Wanderung. Alles, was der Park erzählt, steht
hier noch einmal auf in Bild und Andenken ... ein Schattenspiel der
Seele. Aber die es einst in Dämmerstunden schnitten, sind alle tot ...
nur ihrer Persönlichkeiten geheimer Duft schwingt noch in den Räumen:
im Speisezimmer, wo sie, Raphaels Farnesinagemälde vor Augen, tafelten,
im Empfangszimmer, wo die Leseabende des Wittumspalais ihre sommerliche
Fortsetzung fanden, im Wohnzimmer, wo musiziert wurde, im Schlafzimmer,
wo Bett und Waschgeschirr, nebenbei: ein Puppengeschirr, das immer
von neuem verwundertes Lächeln hervorruft, noch so stehen, als ob die
Herzogin nur mal in den Park gegangen wäre und jeden Augenblick wieder
durch die Tür eintreten könnte.

[Illustration]

Und so kommt man auch, über schmale Treppe, schmalen Gang, zu der
Wohnung des Fräuleins von Göchhausen, die Luise hieß, aber, von den
Grafen Stolberg einst in übermütiger Laune, klein, wie sie war,
Thusnelda getauft, von der Herzogin zärtlich-liebevoll »Thusel« gerufen
wurde ... und dieser schmale Gang, eine Art Galerie, ist vielleicht
das Schönste hier im Schlößchen. Ist Rokoko-Kulisse, die verschnittene
Hecke vortäuscht. Ist Mozartsche Musik, ein wenig steif, ein wenig
tänzelnd, süß und lieblich. Auf die Laubtapete gemalt Steinfiguren, die
Jahreszeiten: +Le Printemps+, +L'Été+, +L'Automne+, +L'Hiver+. Damit
die falschen Statuen plastisch wirken, werfen sie alle Schlagschatten
... rührend komisch in verhaltener Grazie! So hat in unsern Tagen der
Russe Konstantin Somoff, so Walser Rokoko gemalt. Und vor der Galerie
die Pergola. Welch ein Blick! Der ganze Park. Da die Kastanienallee
zum Teesalon, da die drei Lärchen, die Goethe gepflanzt, da die
Theaterwiese mit dem Musentempel ... entzückend! Das grüne Gitterwerk,
von Wein berankt, der Rahmen für lauter Bilder von Corot.

Die gleiche Aussicht haben die Göchhausen-Fenster. Da hat die kleine
putzige Person, »Genie in Fülle -- kann aber nichts machen!«, am
Schreibsekretär gesessen, der geliebten Herrin Hand in Bronze vor
sich, und hat an Knebel geschrieben: »O Knebel, setzen Sie sich aufs
erste beste Pferd und erfreuen uns irgend einen guten Abend mit Ihrer
Erscheinung! Dies ist der Herzogin, Goethens und mein liebster Traum,
wenn wir in diesem lieben, lieben Tempe die Sonne untergehen und den
Mond in seiner stillen Pracht aufgehen sehen. Lieber, überlegen Sie's!
Oder vielmehr überlegen Sie's nicht und kommen Sie! So schön wie dies
Jahr war's noch nie! Die Akazien blühen wie überschüttet mit Blumen.
Rosen, Jasmin und Jelängerjelieber sind wie ausgelassen und können gar
nicht erwarten, bis sie alle da sind ...«

       *       *       *       *       *

So gehen die Jahre. Die Farben von Tiefurt verblassen, die Menschen,
die hier Sommer für Sommer wohnen, werden alt, ihre Augen matt, ihre
Herzen müde. Weit verstreut in alle Lande, bis in das des Todes, sind,
die hier einst gelacht, gescherzt. Auch Goethe ist ein seltener Gast
geworden. Die Einsamkeit häkelt um Schloß und Park, und ein Besuch der
Königin Luise, die hier ein Paretz ins Weimarische übersetzt, findet,
ist 1804 fast unliebsame Unterbrechung des Friedens. »Nun denken Sie
sich den Holdelpolder im Tiefurter Bezirk!« schreibt die Göchhausen an
Knebel, den Freund, in Jena, »die Esel schrien, die Kühe brüllten, die
Gänse schnatterten, und die Hühner machten glu, glu, glu! Alles sang
Hymnen nach seiner Art.«

[Illustration]

Das Leben, das so freundlich hier gelächelt, in so buntem Glanz
geblüht, ist gemach zu +ombres Chinoises+ geworden, zu Silhouette, die
wehmütige Erinnerungen weckt. Man schaut sie an und hängt ein Kränzlein
um den Rahmen. Und fragt: Wie lange noch?

Herbst 1806. Der Krieg naht. Schwüle vor dem Sturm. Noch ist die
Herzogin in Tiefurt, Wieland leistet ihr Gesellschaft. Man musiziert
»mit schwerem Herzen«, wie Goethe in den Annalen erzählt, »es ist
aber in solchen bedenklichen Momenten das Herkömmliche, daß Vergnügen
und Arbeiten so gut wie Essen, Trinken, Schlafen in düsterer Folge
hintereinander fortgehen.« Da bricht der Sturm los, Anna Amalia
muß, Hals über Kopf, nach Kassel flüchten. Prinzessin Caroline, die
Enkelin, begleitet sie. Sie hat Tiefurt nie wiedergesehen. Denn kann
sie auch bald nach Weimar zurückkehren, so ist es jetzt doch Winter,
harter Winter, und das Wittumspalais bietet der alten Dame besseren
Schutz als Tiefurt. Außerdem kränkelt sie. Diesen Aufregungen war die
Achtzigjährige nicht mehr gewachsen. Als es wieder Frühling wird, legt
sie sich zu Bett und stirbt.

Die Tote hat man gefeiert. Die Sterbende war allein. Ergriffen steht
man vor dem schmalen Bette ihres Sterbezimmers im Wittumspalais. An
der grünen Seidenwand, jung und strahlend, die Porträts der Söhne,
zu Häupten des Betts ein Bild Friedrichs des Großen. Auf der Kommode
die Uhr und das Mundporzellan. Sonst nichts. Die letzte Welt einer
Fürstin, deren Geist keine Grenzen gekannt. Alles andere ferner
Traum: die Heimat Braunschweig, Belvedere, wo sie junge Frau gewesen,
Ettersburg und Tiefurt mit den bittern Tagen früher Witwenschaft, mit
den Tagen Wielands, Goethes, Herders, die der Einsamen verlorenes Glück
ersetzten. Was flüstert die Fiebernde? Formt Sehnsucht noch einmal
den greisen Mund zu wirrem Schmeichellaut? Oder ist's ein skeptisches
Lächeln, das um diese Lippen zittert?

Draußen rüttelt der Frühlingswind an den Fensterläden, und die
Kammerfrauen beten. Leise tickt die Uhr. Sie hat Jahre gezählt, nun
zählt sie Augenblicke. In das brechende Auge lächelt das Kinderantlitz
des Prinzen Constantin.



Die Reisen in den Harz

            »Bin so in Lieb zu ihr versunken,
            Als hätt' ich von ihrem Blut getrunken.«

                ~Goethe~


Im Weimarer Park, nicht weit von Goethes Gartenhaus und der Ilm so nah,
daß man ihr leises Rauschen gerade noch hören, den Schimmer des Wassers
durch das Gezweig von Weide und Erle gerade noch sehen kann, steht an
einer Weggabelung ein kleines Monument: der Schlangenstein. Martin
Klauer, der Bildhauer, hat ihn auf Wunsch Carl Augusts nach antiken
Vorbildern geschaffen, im Mai 1787 wurde der »Altar mit der Schlange«
hier aufgestellt.

[Illustration]

Derlei war damals Mode. Auch Goethe selbst hatte schon anno 77 in
seinem Garten am Stern einen ähnlichen »Altar des guten Glückes«
errichtet. Nun fand er, aus Italien zurückkehrend, diesen neuen an
nicht weniger vertrauter Stätte: mit der Inschrift »+Genio huius loci+«
auf dem Säulenstumpf eine zarte Huldigung des fürstlichen Freundes für
den Dichter. Denn wer konnte denn der »gute Geist dieses Ortes« sein,
wenn nicht er, auf dessen schöpferische Ideen die ganzen Parkanlagen
ringsum doch zurückgingen?

So wenigstens die eine Deutung der rätselhaften Worte. Andere meint,
der Herzog hätte gewußt, daß Goethen mit dem heimlich-stillen Platze
liebe Erinnerungen verknüpften, der seltsame Stein also ein »Denkmal
des Glücks« im Goetheschen Sinne wäre wie so manches andere Monument
im Park. Man denke nur an jene Steintafel in Goethes Garten, die Frau
von Stein gilt! Sie allerdings ist beredter, die Lettern, die ihr
eingegraben, erzählen rührende Legende:

    »Hier im stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten;
        Heiter sprach er zu mir: Werde mir Zeuge, du Stein!
    Doch erhebe dich nicht, du hast noch viele Gesellen;
        Jedem Felsen der Flur, die mich, den Glücklichen, nährt,
    Jedem Baume des Walds, um den ich wandernd mich schlinge:
        Denkmal bleibe des Glücks! ruf' ich ihm weihend und froh.
    Doch die Stimme verleih' ich nur dir, wie unter der Menge
        Eine die Muse sich wählt, freundlich die Lippen ihm küßt.«

Wo sind sie, diese »Gesellen«? Diese unsichtbaren Geschwister von
Schlangenstein und Charlotten-Tafel? Felsen der Flur und Bäume des
Waldes, sind sie überall, wo Goethe jemals geweilt, sein guter Geist
Ort und Stätte begnadet. Sie zu finden, braucht man sich nur ein wenig
in seine Tagebücher und Briefe zu vertiefen, die so stark Beschwörung
verklungener Leiden und Freuden hauchen. Wer, diese +monumenta+
liebender Erinnerung fromm im Herzen tragend, durch die Landschaft
wandert, die Goethe-Spuren kreuzen, der begegnet auf Schritt und Tritt
solchen unsichtbaren »Denkmälern des Glücks«; er sieht in manche
Baumesrinde geschnitten, in manche Felswand gegraben, auf manche Tapete
geschrieben, in manches Fenster geritzt die drei geheimnisvollen
Worte: +Genio huius loci+ ... sieht sie im Geiste, wie er sie auf
dem »Felsenweg« im Park zu Weimar, von Ahnen hold bedrängt, am
Schlangenstein in Wirklichkeit gesehen.

Von solchen nicht in Erz und Stein sich deutlich kündenden Stationen
des Goethe-Weges soll hier die Rede sein.

       *       *       *       *       *

Goethe im Harz ...

Sofort setzt die Erinnerung ein: natürlich, »Harzreise im Winter«!
Und doch ist diese Harzreise im Winter, die durch das wundervolle
Gedicht des Achtundzwanzigjährigen und durch die Brahmssche Rhapsodie
Ewigkeitsprägung erhalten hat, nur eine, die erste, und Goethe ist
danach noch dreimal im Harz gewesen. Schon allein der Einfluß, den
die drei Brockenbesteigungen auf Goethes »Faust« gehabt haben, sollte
ein Wissen darum über das enge Gebiet der Forschung hinaus zumindest
bei allen denen voraussetzen lassen, die immer wieder mit allen
Sinnen den romantischen Zauber der Walpurgisnächte in den beiden
Teilen des »Faust« erleben und empfinden, sei es im Theater, wenn all
der Hexenspuk auf der halbhellen Bühne vorübertaumelt und Faust und
Mephistopheles durch Glimmergründe zum Brocken hinaufsteigen, sei es in
der Stille des abendlichen Zimmers bei der Lektüre, wenn das Auge zu
der Stelle gelangt: »Harzgebirg. Gegend von Schierke und Elend,« sei es
im Konzertsaal, wenn Mendelssohns Vertonung der »Ersten Walpurgisnacht«
zu Musik werden läßt, was bisher nur als Wort in uns gebrannt ...

Aber das Wissen darum ist spärlich. Nicht alle Harzreisen Goethes haben
wie die erste des Winters 1777 dichterische Verklärung gefunden, und
so viele und so reiche Zeiten seines Lebens der Dichter später sich
und uns auch nacherzählt hat, gerade über die elf Jahre in Weimar, die
bis zur Italienischen Reise reichen und die das Verhältnis zu Frau von
Stein mit Duft überhaucht, hat er sich, ähnlich wie über die späteren
Jahre mit Schiller, ausgeschwiegen. Nur die Schweizerreise von 1779
macht eine Ausnahme.

Wer sich in diese Zeit versenken will, ist auf die Tagebücher und die
Briefe, vor allem auf die Briefe an Charlotte von Stein, angewiesen.
Wie schön fügt sich, geht man erst einmal an diese »Arbeit« heran,
ein Steinchen ans andere, um schließlich das wunderbare Mosaik zu
ergeben, das Goethes Leben gerade in dieser strahlenden, von Jugend,
Liebe, Sehnsucht wirr verklärten Zeit, tausendfarbig auf Goldgrund
widerspiegelt! Tag schließt sich an Tag, Woche an Woche, Jahr an
Jahr, und über allem steht in milde schimmernder Gloriole: »Alles um
Liebe.« Und da steigen dann auch, geweckt vom Willen zur Hingabe, aus
der Vergessenheit die Epochen herauf, um die bisher ungewissestes
Zwielicht zitterte. »Goethe im Harz« -- solange eine Formel, die wenig
oder nichts besagte und höchstens diesen oder jenen einmal zu den
Gedichten greifen ließ, um dort die »Harzreise im Winter« nachzulesen
-- diese erstarrte Formel wird zu leidenschaftdurchglutetem Leben, das
Stumme gewinnt Sprache und zieht den Freund der deutschen Landschaft
in ähnliche Zauberkreise wie Anspruchsvollere die Schilderung der
Italienischen Reise.

[Illustration]

       *       *       *       *       *

Es war Ende November 1777. Weimar lag bereits im Winterschlaf. Da
unternahm der Herzog eine Jagd auf wilde Schweine im Eisenachschen.
Goethe, über die erste wilde Zeit in Weimar schon längst hinaus und
Charlotte von Stein, der »lieben Frau«, bereits ganz hingegeben,
stand der Sinn nach anderem als lautem Jagdvergnügen; er hatte einen
»wundersamen geheimen Reiseplan«, erwirkte sich kurzen Urlaub und
wollte erst später wieder mit der Jagdgesellschaft zusammentreffen. Ihn
bekümmerten nämlich -- wie er selbst mehr als vierzig Jahre später in
der »Campagne in Frankreich« erzählt -- Briefe eines jungen Theologen
aus Wernigerode, eines gewissen Plessing, den tiefste seelische Nöte
quälten und der sich an Goethe, den berühmten Dichter des »Werther«,
um Hilfe gewandt hatte. Ihn wollte er besuchen. Gleichzeitig wollte er
einmal das Harzer Bergwesen aus eigener Anschauung kennen lernen, um
das, was er dort sehen würde, nutzbringend für das in Verfall geratene
Bergwerk in Ilmenau, das wieder in Gang gebracht werden sollte, zu
verwenden. An diese »Reise auf den Harz« hatte er schon lange gedacht,
jetzt verwirklichte er sie.

Am 29. November bricht er auf, »in wunderbaar dunckler Verwirrung«
seiner Gedanken, wie er an Frau von Stein schreibt. Weitere Briefe
an diese, sein »lieb Gold«, das Tagebuch und die schon erwähnte
nachträgliche, allerdings nicht ganz genaue Beschreibung des
Besuchs bei Plessing in Wernigerode aus der »Campagne« geben ein
fast lückenloses Bild dieser ersten Harzreise, das noch ergänzt
wird durch die literarische Erklärung des Gedichts »Harzreise im
Winter«, die Goethe 1821 im 3. Band von »Kunst und Altertum« auf den
Kannegießerschen Deutungsversuch hin veröffentlichte.

Ein »bizarres Abenteuer« nennt er selbst in dieser Erklärung die Reise,
und bizarr genug war sie. Ganz alleine reitet er los, in Nacht und
Schnee hinein, immer in stiller Seelenzwiesprache mit der geliebten
Frau, die an allem teilnehmen muß; heißt Weber, ist ein Maler, hat
Jura studiert, beträgt sich höflich gegen jedermann und ist überall
wohl aufgenommen, hat auch bisweilen Heimweh. Notizbuchblätter, in
heftigstem Mitteilungsdrang den Briefen schnell noch nachgesandt, geben
die Stationen im einzelnen an: Nordhausen, Sachswerben, Ilefeld sind
die ersten. Im regnerischen Elbingerode, hoch zwischen Rübeland und
Dreiannenhohne gelegen, formen sich die ersten Verse des unsterblichen
Gedichts:

    »Dem Geier gleich,
    Der, auf schweren Morgenwolken
    Mit sanftem Fittich ruhend,
    Nach Beute schaut,
    Schwebe mein Lied!«

Der Besuch der Baumannshöhle, in der er bei Fackellicht bewundert, wie
die »schwarzen Marmormassen, aufgelöst, zu weißen kristallinischen
Säulen und Flächen wiederhergestellt« sind, läßt ihn das Begonnene,
wieder ans Tageslicht zurückgekehrt, »mit ganz frischem Sinn«
fortsetzen ... auf Klippen sitzt er herum und zeichnet und dichtet.
Und schreibt inzwischen nach Weimar, als ob er in der Einsamkeit
der Harzberge sich so recht besonnen hätte: »Ich hab' Sie wohl sehr
lieb.« Träumt von der Grünen Stube, träumt von heimlicher Stunden
verschwiegenem Glück, und ein Handschuh Charlottens, heimlich auf
die Reise mitgenommen, muß ihm den Duft der geliebten Frau vor die
sehnsüchtig erregten Sinne zaubern ...

[Illustration]

Dann, am 3. Dezember ist er in Wernigerode, bei Mr. Plessing. Die
köstliche Erzählung dieses abendlichen Besuchs in der »Champagne«
deutet reizvollst den »damaligen liebevollen Zustand seines Innern«;
das Abenteuerliche -- Goethe gibt sich nicht zu erkennen, hört sich
selbst aus Plessings Munde seines Schweigens wegen anklagen, muß sich
gleichsam selbst entschuldigen, lüftet aber trotz alledem nicht die
behagliche Maske -- verleiht dem Ganzen die Spannung einer Novelle,
und die winkligen Gassen Wernigerodes tief im Schnee, darüber der
sternenklare Winterhimmel, ergeben ein Bild von bezauberndem Reiz! Daß
Goethe den armen Plessing nun im Stiche läßt, ihn nicht mehr am andern
Tage wieder aufsucht, sondern fortreitet, ist wieder ganz er selbst.
Für ihn war die Sache eben abgetan. Wie tief er aber doch die flüchtige
Episode seelisch empfand, das bezeugt die Fortsetzung des Gedichts:

    »Ist auf deinem Psalter,
    Vater der Liebe, ein Ton
    Seinem Ohre vernehmlich,
    So erquicke sein Herz!
    Öffne den umwölkten Blick
    Über die tausend Quellen
    Neben dem Durstenden
    In der Wüste!«

Und das Notizbuch registriert weiter: Ȇber Ilsenburg auf Goslar.
Bei Schefflern eingekehrt. Ingrimmig Wetter.« Die Briefe ergänzen:
»Ein ganz entsezlich Wetter hab ich heut ausgestanden. Was die Stürme
für Zeugs in diesen Gebürgen ausbrauen ist unsäglich, Sturm, Schnee,
Schloßen, Regen, und zwey Meilen an einer Nordwand eines Waldgebürgs
her ...« In Goslar aber ist er »wieder in Mauern und Dächern des
Alterthums versenckt«. Von den Harzbewohnern sagt er: »Wie sehr
ich wieder, auf diesem dunklen Zuge, Liebe zu der Klasse Menschen
gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber gewiß vor Gott die
höchste ist. Da sind doch alle Tugenden beisammen, Beschränktheit,
Genügsamkeit, grader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute,
Harmlosigkeit, Dulden, Ausharren.« Er besucht die Bergwerke am
Rammelsberg, die Hüttenwerke an der Oker, fährt in Klausthal in die
Gruben ein, wo er beinahe von herabstürzender Wacke erschlagen wird. Er
empfindet es als seltsam, »aus der Reichsstadt, die in und mit ihren
Privilegien vermodert, hier heraufzukommen, wo von unterirdischem Segen
die Bergstädte fröhlich nachwachsen« und schläft sich am 9. Dezember in
Altenau von all dem Erlebten der letzten Tage »unendlich« aus.

Nun jedoch, wo er sich immer »tiefer ins Gebürg gesenckt«, seine
Sehnsucht, den Brocken zu besteigen, der Erfüllung nahe ist, nehmen die
Briefe an Frau von Stein fast hymnischen Charakter an: »Was soll ich
vom Herren sagen mit Federspulen, was für ein Lied soll ich von ihm
singen? im Augenblick wo mir alle Prose zur Poesie und alle Poesie zur
Prose wird.«

[Illustration]

Am 10. Dezember erklimmt er den Brocken, vom Torfhaus aus, über Schnee
und Eis hinweg -- allein geleitet vom Förster aus dem Torfhaus. Das
Notizbuch meldet: »Was ist der Mensch daß du sein gedenkest.« Es
war ein halsbrecherisches Unternehmen -- und war ein Erlebnis von
Ewigkeitswert. Nun lüftet er auch das Geheimnis, in dem er sich selbst
vor der geliebten Frau geborgen hatte, waren doch sogar alle Briefe an
sie ohne Ortsangabe gewesen! »Ich will Ihnen entdecken (sagen Sie's
niemand), daß meine Reise auf den Harz war, daß ich wünschte den
Brocken zu besteigen, und nun, Liebste, bin ich heut oben gewesen ...«

Über Klausthal, Andreasberg, Lauterberg, Duderstadt -- immer in
Nebel, Kot und Regen --, schließlich über Mühlhausen gelangt er am
15. Dezember, also nach reichlich vierzehn Tagen, nach Eisenach, wo
er die herzogliche Jagdgesellschaft vollzählig antrifft. Aber die
Jagd war aus, und zwei Tage später ist er schon wieder in Weimar.
Wo er das Gedicht vollendet hat, ist ungewiß, vielleicht noch
unterwegs, vielleicht auch erst in Weimar. Wie stark der Eindruck der
Brockenbesteigung aber gewesen sein muß, das gibt der psalmenartige
Schluß der »Harzreise im Winter« ergreifend wieder -- es ist, als ob
der Brockensturm darin sein uraltes Lied singt, vom leisen Säuseln bis
zum wütenden Orkan, es ist, als ob man die Donner einer Beethovenschen
Sinfonie hörte:

    »Mit dem beizenden Sturm
    Trägst du ihn hoch empor;
    Winterströme stürzen vom Felsen
    In seine Psalmen,
    Und Altar des lieblichsten Danks
    Wird ihm des gefürchteten Gipfels
    Schneebehangner Scheitel,
    Den mit Geisterreihen
    Kränzten ahnende Völker.
    Du stehst mit unerforschtem Busen
    Geheimnisvoll offenbar
    Über der erstaunten Welt
    Und schaust aus Wolken
    Auf ihre Reich und Herrlichkeit,
    Die du aus den Adern deiner Brüder
    Neben dir wässerst.«

       *       *       *       *       *

Für die zweite Harzreise, im September 1783, sechs Jahre später
also, unternommen, fließen die Quellen spärlicher. Keine spätere
Aufzeichnung, nichts Dichterisches, kein Tagebuch legen Zeugnis davon
ab; wir sind allein auf die Briefe an Frau von Stein angewiesen. Nur
ein Bericht des Zellerfelder Oberberghauptmanns v. Trebra gibt noch
Ergänzungen.

[Illustration: Fritz von Stein

Statue von M. Klauer
in Schloß Tiefurt
]

Am 6. September tritt er die Reise an, diesmal mit Fritz von Stein,
Lottes Lieblingssohn, zusammen, den Goethe Anfang 1783 zu sich genommen
hatte und erzog. Es ist nicht recht ersichtlich, ob es anfangs eine Art
Dienstreise war und erst später zur Vergnügungsreise wurde, oder ob
Goethe sie unternommen hatte, um einmal, viel belästigt, wie er damals
war, auszuspannen und im Harz seinen geognostischen Liebhabereien zu
frönen. Er besuchte zunächst in Langenstein die Frau von Branconi,
die »schöne Frau«, wie sie allenthalben hieß, die er 1779 in Lausanne
kennen gelernt hatte. Sie war die Geliebte des Herzogs Carl Wilhelm
Ferdinand von Braunschweig. Frau von Stein war ein wenig eifersüchtig
auf sie, und Goethe neckt sie in einem Briefe, daß sie »immer Sturm und
leidig Wetter gemacht« hätte, solange er bei der schönen Frau gewesen
wäre ...

In Halberstadt will er dann die Herzogin erwarten, aber ein kleiner
Abstecher von zwei Tagen führt ihn und Fritz erst nach Blankenburg, von
wo aus sie bei schönstem Herbstwetter das Bodetal besuchen: »Wallfahrt
nach dem Rostrapp«. Goethe wünscht, daß Frau von Stein dabei gewesen
wäre, als er »mit Fritzen auf einem großen in den Fluß gestürzten
Granitstück« zu Mittag gegessen habe ... wie heimlich und reizend mutet
das an, wenn man selbst das Bodetal genau kennt und dort in frühen
Jahren selbst mit einem väterlichen Freunde auf den blankgewaschenen
Steinen herumgeklettert ist! Nun wird es ja zu Goethes Zeiten noch
etwas unwirtlicher ausgesehen haben, als in meinen Knabenjahren, und
einen »Waldkater«, wo man Forellen frisch aus der Bode essen konnte,
wird es auch noch nicht gegeben haben!

Tags drauf waren die beiden dann »im Rübelande«, haben die Marmorbrüche
und die Mühle besichtigt, Goethe hat, Erinnerungen auffrischend,
Fritz die Baumannshöhle gezeigt, und immer hat er Frau von Stein
an den schönsten Stellen »sehnlich« zu sich gewünscht ... »hier
im stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten«, mag er nun
von uralter Steinbrücke herab auf das Dahinschießen des Wassers
gestarrt und kleinen Glitzerwellen Grüße aufgetragen haben nach dem
stillen Kochberg, oder mag er in manchem Felsen, mancher Klippe
»Gesellen« jenes Steins begrüßt haben, der im Garten am Stern über
seinem Lieblingssitze in den Rasenhang eingelassen war ... Denkmäler
des Glücks! Und nach kurzem zweiten Aufenthalt in Halberstadt, wo
inzwischen die Herzogin eingetroffen war, geht's dann im 17. September
nach Klausthal und Zellerfeld, wo Goethe sich »recht in seinem
Elemente« befindet; er freut sich, daß er mit seinen »Spekulationen
über die alte Kruste der neuen Welt« auf dem rechten Wege ist, und
»füttert sich mit Steinen an«. Am 21. September erklettern sie, vom
Oberberghauptmann von Trebra aus Zellerfeld geleitet, vom Torfhause aus
den Brocken; der alte Förster Degen vom Torfhaus erkennt Goethe, den
er 1777 durch Schnee und Eis auf den Brocken geführt hat. Er meint:
»Nun! da kommen Sie denn doch noch einmal, in einer besseren Jahreszeit
den Brocken zu besuchen,« und fährt fort: »Sie würden dorten, als Sie
mitten im Winter von mir begehrten, daß ich Sie auf den Brocken führen
sollte, mich mit allen Ihren guten Worten doch gewiß nicht beredet
haben, Ihr Führer zu sein, wenn nicht eben durch den gar zu starken
Frost eine harte Rinde über den tiefen Schnee gezogen gewesen wäre, die
uns tragen konnte.«

Nun, diesmal war der Aufstieg nicht so gefährlich und beschwerlich, und
»oben auf dem Gipfel auf den alten Klippen«, wo Goethe wohl die ersten
wirklichen Eindrücke für die Brockenszenerie des »Faust« empfing, hat
er sich nach Charlottes ferner Wohnung umgesehen und ihr »die Gedancken
der lebhafftesten Liebe« zugeschickt -- derweilen ihr Knabe, der Sohn
eines anderen und ihm doch lieb wie sein eigener, um ihn herumsprang.
Auch hier also: +Genio huius loci!+

Damit hatte die zweite Harzreise ihr Ende erreicht. Denn Göttingen,
wo Caroline Michaelis, die spätere Frau Schlegels und Schellings, ihn
flüchtig sah und sehr bewunderte, und Cassel, wo Goethe am Hof Besuche
machte, gehören nicht mehr hierher.

Und zum dritten: Ein Jahr später! Erholungs-, Dienst- und
Forschungsreise in eins. Denn Goethes geognostische Studien hatten
inzwischen immer festere Gestalt angenommen, waren aus früher Spielerei
zu ernster wissenschaftlicher Betätigung geworden: der Geist, der
alle Gründe und Abgründe des Seins durchdrang, rätselte am Realsten,
Gegenständlichsten, am Boden der alten Mutter Erde.

Hofrat Kraus war diesmal der Begleiter, Georg Melchior Kraus, auf
Goethes Betreiben, der ihn schon 1769 in Frankfurt a. M. kennengelernt
hatte, seit 1780 Direktor der neu gegründeten Weimarer Zeichenschule.
Er sollte das, was Goethe auf dieser dritten Harzreise interessant
dünkte, im Bilde festhalten, und durch die Zeichnungen von Kraus, die
leider bis auf wenige, die in einem Werke Trebras veröffentlicht sind,
unzugänglich sind, erhält diese Reise noch mehr wissenschaftlichen
Charakter.

Diesen bezeugt auch das ernsthaft geführte »Geognostische Tagebuch der
Harzreise«. Hauptquelle sind aber auch hier die Briefe an Frau von
Stein, diese unerschöpflichste Fundgrube, und diese Quelle ist diesmal
besonders interessant, weil das Verhältnis zwischen Goethe und Lotte
von Stein sich schon dem Punkte näherte, wo es kein Darüberhinaus mehr
gab; der Siedepunkt war so gut wie erreicht, und das unsagbar herrliche
Gedicht, das Goethe von dieser Reise aus, aus Braunschweig, an die
Geliebte richtet, jenes:

    »Gewiß, ich wäre schon so ferne, ferne,
    Soweit die Welt nur offen liegt, gegangen,
    Bezwängen mich nicht übermächt'ge Sterne,
    Die mein Geschick an deines angehangen,
    Daß ich in dir nun erst mich kennen lerne.
    Mein Bitten, Trachten, Hoffen und Verlangen
    Allein nach dir und deinem Wesen drängt,
    Mein Leben nur an deinem Leben hängt«

spricht doch am deutlichsten für das schon zwiespältige Gefühl, das ihn
in gleicher Weise von dieser Frau entfernte wie wieder zu ihr hintrieb,
und das erst in der Flucht nach Karlsbad zwei Jahre später Erlösung
fand.

Am 8. August begann die Reise. Der Tag, an sich nichts weiter als ein
Reisetag wie viele andere auch, wurde von der allergrößten Bedeutung
für Goethes Dichten: entstand doch an ihm die »Zueignung«! Schon der
erste Briefzettel an Frau von Stein, aus Dingelstädt, »Abends 10 Uhr«,
berichtet: »Zwischen Mülhausen und hier ist uns seine Axe gebrochen
und wir haben müssen liegen bleiben. Um mich zu beschäfftigen und
meine unruhigen Gedancken von Dir abzuwenden, habe ich den Anfang
des versprochenen Gedichtes gemacht, ich schicke es an Herders, von
denen erhältst Du es.« Dies Gedicht waren »Die Geheimnisse«, und die
herrlichen Anfangsstrophen hat Goethe später eben als »Zueignung« vor
seine Werke gesetzt.

Im übrigen brachte die Reise Goethe eigentlich nur Bekanntes und
Vertrautes. Erinnerung gibt ihm auf Schritt und Tritt unsichtbares
Geleit. Aber diese Erinnerung gilt noch immer -- im Gegensatz zur
letzten Harzreise von 1805, wo der Bruch mit Frau von Stein schon fast
wieder geheilt war -- der fernen Geliebten in Weimar, und ist also auch
von immer neu erregender Süßigkeit. So heißt es einmal in den Briefen
an Charlotte: »Ich freue mich die Berge wiederzusehen, die ich schon
vor Jahren mit Sehnsucht zu Dir im Herzen bestiegen habe.« Und ein
andermal: »Wie Deine Liebe mir nah ist, mag ich nicht sagen. Vor sieben
Jahren schrieb ich Dir auch von hier ...«

Das war in Elbingerode.

Der Weg ist diesmal recht einfach. Über Zellerfeld und Goslar geht
es nach Braunschweig, wo Goethe bei Hofe zu tun hat, längere Tage,
und von Braunschweig über Goslar, den Brocken, das Bodetal nach einem
neuerlichen Besuch bei Frau von Branconi, »+la fée de Langenstein
dont tu+ -- schreibt er an Frau von Stein -- +ne seras pas jalouse+«,
zurück nach Weimar zu »+sa douce, son adorable amie+«. Hauptpunkte sind
auf dieser Reise eigentlich nur der Brocken und das Bodetal mit dem
Roßtrappfelsen. Den Brocken besteigen die beiden Reisenden von Goslar
aus am 4. September, -- es ist das dritte- und letztemal, daß Goethe
oben ist. Sie finden diesmal schon ein Brockenhaus vor, und Goethe
zeichnet sich in das Fremdenbuch mit dem folgenden Spruche aus dem
»Astronomicon« des Manilius ein:

    »+Quis coelum posset nisi coeli munere nosse
    Et reperire Deum nisi qui pars ipse Deorum est.+

    +d. 4. Sept. 1784+      +Goethe+.«

[Illustration: _Der Roßtrapp-Felsen im Bode-Thal_

»... _ie resterai encore quelques jours avec Krause entre les rochers
du Rosstrapp_ ...«.

_Goethe an Frau von Stein am 31. August 1784_]

Im Bodetal, das sie von Elbingerode-Rübeland aus, dem Flußlauf abwärts
folgend, hinabwanderten, haben sie dann »alle Felsen der Gegend
angeklopft«, und »Krause hat ganz köstliche Dinge gezeichnet«. Über
»den Roßtrapp« enthalten die Briefe nichts mehr. Auch der schöne Brief
an Herder aus Elbingerode, der, alles in allem, in dem Jubellaut
gipfelt: »... die Tage sind herrlich,« verrät nur Hoffnungen: »Morgen
und übermorgen geht's an der Bude hinunter, wir werden an den Fall
gelangen, wo dieses Flüßchen hinter dem Roßtrapp hinabstürzt. Zwischen
diesen Felsen hoff ich noch viel für meine Spekulation, es ist ein
Durchschnitt, der sehr lehrreich ist.« Über all dies erzählt das
»Geognostische Tagebuch« trotz seiner Kürze und Trockenheit mehr, und
wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht und das Bodetal bei Treseburg
kennt, der wird sich mit einiger Phantasie ausmalen können, wie
Goethe und Kraus sich durch die zerklüfteten Schluchten und Engpässe
hinquälten. Ab und zu halten die beiden inne. Dann fliegen Felleisen
und Mantelsack ins Gras. Kraus greift zu seiner Skizzenmappe. Goethe
aber, immer noch jugendlich schlank, in Reiserock und Dreispitz,
schreitet gelassen zwischen den wirren Felstrümmern hin und her,
beklopft gebückt Wand um Wand, und sein Hammer lockt aus dem starren
Granit Hall und sprühende Funken. Ist es ein Mensch oder ist es mehr
als ein Mensch, der da den stummen Bergen ihr letztes Geheimnis
entreißen will? ... »Werde mir Zeuge, du Stein!« Wer hat's gesprochen?
Niemand. Nachhall des Herzens äfft uns. Aber doch sind diese Steine,
diese wilden Felsen längs der Bode Zeugen dessen, daß ein Großer
sie einst angerührt, bei ihrem dumpfen Erklingen vielleicht an die
Frau gedacht hat, die er, ach! so bald verlassen sollte, um sie nie
wiederzufinden.

»Lebe tausendmal wohl!« -- das ist das letzte Wort, das sie damals aus
dem Harz erhielt. Es wohnt noch jetzt im Echo der heiligen Harzberge.

       *       *       *       *       *

Und 1805. Schiller ist im Mai gestorben. Goethe, schon zu Beginn des
Jahres schwer krank, kränkelt von neuem. Wird sichtlich alt. Die
Hälfte seines Daseins habe ihm Schillers Tod entrissen, klagt er dem
neuen Freunde Zelter. Da besucht ihn im Juni der Philologe Friedrich
August Wolf aus Halle und muntert ihn ein wenig auf. Die Badekur im
nahen Lauchstädt, wo ihn Christiane, sein »kleiner Hausgeist«, pflegt,
scheint die Erholung zu vollenden, und als Christiane am 12. August
nach Weimar zurückkehrt, fährt Goethe mit seinem Sohne August nach
Halle zu Wolf. Der Besuch wird Wohltat, die Zerstreuung ist Medizin
für Goethe. Und ob er nun, als er nach Halle reiste, schon an einen
Abstecher in den Harz gedacht, oder ob der immer unternehmungslustige
Wolf ihn erst dazu angeregt hat -- gleichviel: nach kurzem Aufenthalt
in der Saalestadt fuhren die drei heiter und guter Dinge los. »Mein
humoristischer Reisegefährte,« erzählt Goethe selbst später in den
Annalen, »erlaubte gern, daß mein vierzehnjähriger Sohn August Theil an
dieser Fahrt nehmen durfte, und dieses gereichte zur besten geselligen
Erheiterung.«

So gewinnt diese vierte und letzte Harzreise Goethes eine hübsche
Beigabe: Vaterfreude verklärt sie. Diese Vaterfreude spiegeln deutlich
die Briefe an Christiane, die Mutter. Lassen sie auch die leichten
Schatten der Erinnerung erkennen, die dieser hellen Sommertage Glanz
hie und da verdunkelt haben mögen? Denn wie anders sah er die Berge
wieder, die er einst im ersten Rausche junger Liebe erstiegen!
Achtundzwanzig Jahre waren es her, daß er abenteuerlustig mitten im
Winter auf den Brocken geklettert war; jetzt sah er ihn von weitem,
von Thale aus, winken ... er lockte ihn nicht mehr. Mehr als die Berge
reizten ihn diesmal seltsame Menschen. Ihnen galt ja auch die Reise.
Goethe selbst hat sie ausführlich, wie gesagt, in seinen Annalen
geschildert; stellenweise gehört diese 1822 abgefaßte Schilderung zum
Schönsten, was wir in Prosa überhaupt von Goethe besitzen; besonders
gegen Ende blüht die Harzlandschaft noch einmal in so wundervollen
Farben auf, daß man nur bedauert, daß der Dichter nicht auch auf die
Harzreisen von 1783 und 1784 noch einmal eingegangen ist. Aber auch
hier mag er wohl nicht an etwas haben rühren wollen, was er für immer
begraben hatte ... die Wunde, die er Frau von Stein geschlagen hatte,
schmerzte wohl am tiefsten ihn!

Ja, ein wie anderer war er geworden, als er diese vierte Harzreise
antrat. Ein Leben lag hinter ihm. Die italienische Reise hatte ihn von
der Frau getrennt, die ihm einst Inhalt und Sinn des Lebens gewesen,
eine andere hatte ihm den Sohn geboren, der jetzt im Wagen neben ihnen
saß. Diese erhielt jetzt liebevolle Briefe, an jene diktierte er nur
einen höflichen Bericht. Freier als diesen beiden gegenüber äußerte
er sich zu den Freunden: zu seinem Herzog und zu Zelter, und zwei
ausführliche Briefe an Carl August sind es denn auch, die die beste
Ergänzung zu der Schilderung in den Annalen bilden.

Man fuhr zunächst von Halle nach Magdeburg, wo Goethe der Dom mit
seinen alten Kaiserstatuen besonders interessierte, dann nach
Helmstädt, wo man den Sonderling Beireis, einen regelrechten Vorfahren
späterer Hoffmannscher Gestalten, besuchte, besah sich in Harbke den
schönen Veltheimschen Park mit seinen seltenen ausländischen Hölzern,
kehrte auf dem Gute des »tollen Hagen« ein, ging gerne und willig in
dem winkligen, stimmungsvollen Mittelalter Halberstadts mit seinem Dom
und seinen noch nahen Gleim-Erinnerungen auf und landete endlich im
Bodetal.

Goethe sah es nun zum dritten Male, und nach der Schilderung, die er
gibt, scheint es nie so stark auf ihn gewirkt zu haben wie gerade
diesmal. Sah er mit anderen Augen? Wirkten die Erinnerungen, die
ihn mit dieser schönsten Stelle des Harzes verknüpften, verklärend?
Hörte er vielleicht als Echo den geliebten Namen, den er einst so
oft in diese Berge und Täler gerufen? Sah er sich wieder mit Fritz
von Stein auf den Steinen der Bode sitzen ... wer will es wissen?
Vor langen, langen Jahren hatte er einmal »im Rübelande«, hart unter
der Baumannshöhle, auf einer Brücke gestanden und in das eilig
dahinstürzende Wasser der »Bude« geschaut; damals trugen die Wellen
Grüße nach Weimar; jetzt stand er am »Hammer« in Thale, ruhig strömte
der Fluß in seinem niederen Geröllbett dahin, so ruhig und gelassen,
als ob es gar keine Eile, keine Aufregung gäbe, staute sich am Wehr und
wurde stiller, dunkler Spiegel. Die großen, dunklen Dichteraugen sahen
und begriffen es: Abbild des Lebens, das verrauscht und stille wird wie
dieser Fluß.

Da rief ein Klang ihn, kam von irgendwo: »Lebe tausendmal wohl!« Wem
hatte einst der Abschiedsgruß gegolten? Erinnerung stöhnte auf. Da war
sie wieder, die schlanke Silhouette, die er nicht vergessen konnte,
da das schmale Gesicht, da der Blick der heißen Frauenaugen, da das
Lächeln, das wehrlos machte ... Vorbei, vorbei! Jetzt saß im Fenster
an der Ackerwand, zu dem er so oft hinaufgebetet hatte, eine alte Frau,
vergrämt und verbittert, und sann verlorenem, verspieltem Glücke nach
... eine fremde Frau, die nicht ihn und die nicht er verstand. Sie
wohnten beide längst auf anderen Sternen. Und da quälte ihn der Klang
im Ohr, und er wandte sich.

Über Ballenstedt, Aschersleben, Cönnern ging's wieder nach Halle
zurück. Im Wagen lärmte der halbwüchsige August. Noch einmal wurde
Lauchstädt kurze Station. Dann aber konnte Christiane, freudestrahlend,
wieder Vater und Sohn umfangen. Und da war auch Goethes letzte
Harzreise aus.

An der Stelle aber, wo sein Auge zum letzten Male jenes
unvergleichliche Panorama, das Roßtrappe und Hexentanzplatz mit dem
Bodetal zusammen bilden, umfangen hat, steht ein Stein. Man sieht ihn
nicht, denn er ist nicht sichtbar. Es ist ein imaginärer Stein. Manche
sehen die Worte, die darauf stehen. Auch sie lauten: +Genio huius loci!+

       *       *       *       *       *

Für uns aber gilt, was Goethe einmal -- drei Jahre später -- an die
Malerin Caroline Bardua schrieb: »Der Brocken wird noch eine Weile
auf seinen Füßen stehen bleiben, und die Spur des Roßtritts auch
nicht so bald verlöschen ...« Nein, so bald nicht, und mit ihnen wird
die Erinnerung an Goethe dauern, dem sie Erschütterung und tiefstes
Erlebnis gewesen.



Ilmenau


Goethe-Worte geleiten nach Ilmenau: »Es entfaltet sich ein
Trieb, alles, was von der Vergangenheit herauszuzaubern wäre, zu
verwirklichen. Die Sehnsucht wächst, und, um sie zu befriedigen, wird
es unumgänglich nötig, an Ort und Stelle zu gelangen, um sich die
Örtlichkeit wenigstens anzueignen.«

       *       *       *       *       *

Und nun gelangt man an Ort und Stelle. Langsam klettert der Zug
bergauf. Der sanfte Frühlingstag, der Weimar noch in goldener
Verklärung zeigte, wandelt sich gemach in Grau. Die linden Lüfte sind
hier noch nicht erwacht. Wolken drängen dunkel übers Gebirge, Wind
wirft Regen an die beschlagenen Scheiben ... noch ist es früh im Jahr,
noch nicht Mai. Die warme Sonne um Goethes Gartenhaus, der Veilchenflor
»auf Höhen Ettersburgs, in Tiefurts Tal« waren nur holder Trug. Kaum,
daß ein leichter grüner Hauch, der hier und da die kalten Hänge
übertuscht, daran erinnert. Fröstelnd steht man am Fenster und schaut
in die trübe Landschaft.

Aus feuchten Nebeln taucht Elgersburg. Hoch thront auf steilem
Bergkegel das Schloß: Mittelalter, das phantastisch in unsere Zeit
ragt. Und die erste Goethe Erinnerung meldet sich. »Auf Wizlebens
Felsen, die herrlich sind,« hat Goethe am 8. August 1776 an Frau von
Stein, die ihn wenige Tage zuvor im nahen Ilmenau besucht hatte, jene
berühmten Verse süßester Liebesschwermut geschrieben:

    Ach wie bist du mir,
    Wie bin ich dir geblieben!
    Nein an der Wahrheit
    Verzweifl ich nicht mehr.
    Ach wenn du da bist,
    Fühl ich, ich soll dich nicht lieben,
    Ach wenn du fern bist,
    Fühl ich, ich lieb dich so sehr.

Und dann kommt Ilmenau. Es hat aufgehört, zu regnen, die Berge dampfen.
Die dünnen Bäume vor dem Bahnhof zaust der Sturm. »Anmutig Tal! du
immergrüner Hain!« singt Goethe ... der trübe Tag zeigt nichts davon.
Nur ab und zu steht hinter freier Gasse, regennassen Dächern groß die
dunkle »Sturmheide«, in deren Tannen sich die letzten Gassen Ilmenaus
verlieren, Bergluft weht, und einmal rauscht irgendwo ein Wehr. Das
ist die Ilm! sagt man sich. Aber man sieht sie nicht, findet sie auch
nicht. Uraltes Gemäuer führt den Fremdling irre, winkelt ihn immer
wieder aufs neue ein.

»Hier hat Goethe 1831 seinen letzten Geburtstag verlebt,« meldet eine
unscheinbare Tafel am »Goldenen Löwen«. Sie ist unter den Fenstern
des Zimmers angebracht, das er damals bewohnt hat ... damals. Ein
Jahrhundert fast ist darüber hingegangen, Throne sind gebrochen, Nord
und West und Süd zersplittert, aus einer grauenhaft verwandelten Welt
blickt der Enkel, der Erbe nun in diese selige Vergangenheit. Und aus
dem Zwielicht der engen, altertümlichen Gaststube lösen sich heimliche
Schatten und leisten dem einsamen Gast Gesellschaft.

       *       *       *       *       *

Mai 1776. In Weimar läuft die Meldung ein, daß es in Ilmenau brennt.
Von einem Husaren begleitet jagt Goethe noch nachts hinüber. Kurz und
bündig das Tagebuch: »d. 3. Nach Ilmenau. Brand.« Mitteilsamer die
Briefe, die tags darauf an den Herzog und Frau von Stein abgehen. Sie
umschreiben in wenigen Worten das große seelische Erlebnis, das dieser
erste zufällige Besuch Ilmenaus für ihn bedeutete und das ihn für immer
an die arme Bergstadt ketten sollte ... »Um diese Zeit sollt ich bey
Ihnen seyn,« schreibt er an die geliebte Frau, »sollte mit bey Kalbs
essen und sizze aufm Thüringer Wald, wo man Feuer löscht und Spizbuben
fängt.« -- Und in dem Bericht an den Herzog: »Bey der Gelegenheit, zieh
ich von manchem Erkundigung ein, habe traurig die alten Ofen gesehen.
Aber die Gegend ist herrlich, herrlich!«

Das Feuer war bald gelöscht, und auf die »Spizbuben« fahndeten die
Husaren weiter. Goethe aber locken »Erdgeruch und Erdgefühl« trotz
Sturm und Regen unwiderstehlich in die Berge. Auf einsamster Wanderung
denkt er in »rastloser Liebe« der Frau im fernen Weimar, der er sich
in wunderlichem Schicksal aus »abgelebten Zeiten« her so eng verbunden
fühlt wie keiner Frau jemals zuvor:

    Dem Schnee, dem Regen,
    Dem Wind entgegen,
    Im Dampf der Klüfte,
    Durch Nebeldüfte,
    Immer zu! Immer zu!
    Ohne Rast und Ruh!

    Wie soll ich fliehen?
    Wälderwärts ziehen?
    Alles vergebens!
    Krone des Lebens,
    Glück ohne Ruh,
    Liebe, bist du!

Und sie schreibt gleichzeitig an Zimmermann, den Freund und Arzt:
»Jetzt nenn ich ihn meinen Heiligen und darüber ist er mir unsichtbar
worden, seit einigen Tagen verschwunden, und lebt in der Erde fünff
Meilen von hier im Bergwercke.«

       *       *       *       *       *

Die alten Öfen, das Bergwerk -- das hat Goethe neben den Offenbarungen
der Natur an das bescheidene Städtchen gefesselt. Seit Jahr und Tag
lag das alles brach. 1739 waren die Gruben bei einem Deichdurchbruch
»ersoffen«, und der Wohlstand, den sie Ilmenau gebracht, hatte sich
in Armut und bittere Not gewandelt. Nun besuchte Goethe, schon
damals leidenschaftlich bemüht, in den Tiefen der Erde »der großen
formenden Hand nächste Spuren« zu entdecken, gerne, als Wink des
Schicksals betrachtend, die verlassenen Werke, war »auf den Hämmern«,
stand grübelnd immer wieder vor den verwahrlosten Öfen des toten
Silberbergwerks. Mitleidig dachte er der notleidenden Bevölkerung,
der »armen Maulwürfe«, die hier auf eigene Faust in der Erde, in den
Klüften und Schlüften der Sturmheide herumkrochen und doch von dem
kargen Ertrag kaum ihr Leben fristen konnten ...

[Illustration: Ilmenau

Blick auf den Marktplatz mit Schloß und Rathaus]

Im Juli 1776 trat dann auf seine Berichte hin in Weimar eine
»Bergkommission« zusammen, der er selbst angehörte und deren Aufgabe
die Wiederbelebung des Ilmenauer Bergwesens war. Damit begann für das
arme Ilmenau eine kurze Epoche neuen Glanzes, neuen Wohlstandes.
Der Herzog, von Goethe für die Idee gewonnen, weilte oft in Ilmenau,
höfisches Leben brachte bescheidenen Prunk, Jagden erfüllten die
stillen Berge mit frohem Lärm.

Von dieser Zeit träumt Ilmenau noch heute.

       *       *       *       *       *

[Illustration]

Träumt Ilmenau noch heute. Denn es ist, trotz Glasindustrie und
Technikum, eine tote Stadt. Leben bringt immer erst der Sommer, bringen
erst die Fremden. Sie wohnen in den Villen am Waldrand. Dann wird
die Lindenstraße, die »Allee«, die noch, als Goethe zum erstenmal
nach Ilmenau kam, recht und schlecht der »Endleich« hieß und ein
elender kahler Fahrweg war, Kurpromenade, -- harmlos genug: ein paar
Konditoreien, ein Café mit Terrasse, ein paar hübsche blanke Läden,
das ist alles. Immer aber schwebt über dem Heute geisterhaft der Hauch
des Gestern. Noch steht dem »Goldenen Löwen« gegenüber, unwirsch in
die Häuserzeile gezwängt, ein Turm des alten Endleichstores. Die
alten Wappen schauen verdrießlich in die neue Zeit. Noch steht der
»Löwe« selbst mit seiner wettergrauen Front genau so behäbig da wie
damals, als Goethe hier gewohnt, noch Knebels Haus mit seiner langen
Fensterreihe, noch, am Ende der Allee, der Gasthof zur Tanne, an dem
die Ilm vorüberströmt und jetzt das »Bad« beginnt ... und da ist auch,
ein paar Schritte den Fluß hinauf, der »Felsenkeller«. Eine Inschrift
am Giebel erzählt, daß dieses »Etablissement« 1811 erbaut worden ist
»zu Nutz und Frommen der ehrsamen Bürger Ilmenaus«. Oder so ähnlich.
Das Ganze, mit Saal, Logierhaus, Ausspann und Brücke, ein Stich der
Zeit. Nur die Staffage fehlt, die diese Stiche immer haben: die gelbe
Postkutsche, die schweren Landauer, die Herren und Damen im Kostüm der
zwanziger Jahre. Das muß die Erinnerung dazu geben.

Sie gibt es dazu. Sie begleitet auf Schritt und Tritt. Der Fuß Goethes
hat Weg und Straße hier geadelt in alle Ewigkeit. Sein Wesen wirkt
geheimnisvoll in Stein und Baum und Welle, und die Luft, die man atmet,
ist süß und rein wie die in Weimar und Tiefurt -- ob nun die Sonne
goldenen Glanz über die alten Gassen streut, Wind sie durchbraust,
Regen graue Schleier spinnt, Schnee die Stadt in weiße Stille bettet ...

       *       *       *       *       *

Und so wandert man an einem Morgen in die Berge. Hinauf zum Gickelhahn.
Noch immer scheint die Sonne nicht, kalter Wind weht, der Himmel ist
grau, und »die Täler dampfen alle an den Fichtenwänden herauf« --
wie Goethe am 22. Juli 1776, zum zweitenmal in Ilmenau, an Charlotte
schreibt. Denn trotz des Sommers hat auch er damals unholdes Wetter
gehabt. Mit dem Herzog zusammen war er nach Ilmenau gekommen. »Wir sind
hier und wollen sehen, ob wir das alte Bergwerk wieder in Bewegung
setzen,« heißt es in einem Briefe an Merck; »Du kannst denken, wie
ich mich auf dem Thüringer Wald herum zeichne; der Herzog geht auf
Hirsche, ich auf Landschaften aus, und selbst zur Jagd führ ich mein
Portefeuille mit.«

Zeichnen war damals seine Leidenschaft. Es gab dem verstörten Herzen,
das sich in Sehnsucht nach der geliebten Frau, nach der Gewissheit
ihrer Neigung fast verzehrte, wenigstens für Augenblicke Trost und
Ruhe. »Ich hab auf der andern Seite angefangen was zu zeichnen ...«
beginnt der erste Brief, den er in diesen Tagen einsamen Waldlebens an
Charlotte schickt, fährt jedoch fort: »sehe nur aber zu wohl, daß ich
nie Künstler werde.« Und auf der Rückseite einer dieser Zeichnungen,
einem Blick in die nebelbrodelnden Täler, stehen die resignierten Verse:

    »Ach, so drückt mein Schicksal mich,
    Daß ich nach dem unmöglichen strebe.
    Lieber Engel, für den ich nicht lebe,
    Zwischen den Gebürgen leb ich für dich.«

Daneben aber meldet das Tagebuch: »Nach Stützerbach mit Einsiedel ...
Der Herzog kam, die Gesellschaft auch. Wirtschaft bei Glasern.« Und
dort, in Stützerbach, ging's lustig genug her, -- vielleicht, daß
Goethe in der »Studentenfidelität«, die sich, nach Aufzeichnungen
des Ober-Berghauptmanns v. Trebra aus jenen Tagen, dort mittags und
abends nach Jagd und Stollenbesichtigungen an des jungen, lebensfrohen
Herzogs Tisch entwickelte, für seine Liebesschmerzen flüchtiges
Vergessen fand ... das Gundelachsche Haus in Stützerbach, wo Goethe
und Carl August immer gewohnt haben, erzählt noch jetzt davon; der
»tollen Späße mit dem Glasmann Glaser« entsinnt sich noch, behaglich
lächelnd, der alte Goethe in Unterhaltungen mit dem Kanzler v. Müller.
»Glaser und leichtfertige Mädels«, »Glasern sündlich geschunden, mit
den Bauernmädels getanzt«, »Tagsüber Thorheiten« und so ähnlich heißt
es damals immer wieder im Tagebuch. Und im September 1776 schreibt
er, nach einem dritten Aufenthalt in Ilmenau, aus Eisenach mit naiver
Offenheit an Frau v. Stein: »In Stützerbach tanzt ich mit allen
Bauernmädels im Nebel und trieb eine liederliche Wirtschaft bis Nacht
eins ...«

       *       *       *       *       *

Und langsam steigt der Weg. Goethe-Stimmung webt zwischen den Felsen,
den uralten Baumriesen ... der »immergrüne Hain«, der leise Regen, der
Dampf, der aus den Klüften quillt -- alles wie damals im Juli 1776.
Nur den Schnee, der zuerst noch leicht wie Watte im Dunkel des Waldes
liegt, dann an den Hängen sich wie lange weiße Laken dehnt, gibt der
rauhe Apriltag dazu. Faust-Verse klingen auf, der Osterspaziergang:

    Der alte Winter, in seiner Schwäche,
    Zog sich in rauhe Berge zurück.
    Von dorther sendet er, fliehend, nur
    Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
    In Streifen über die grünende Flur ...

Die grünende Flur? Ja, Knospendrang auch hier. In den Bäumen, den
Büschen, der dunklen Erde gärt geheimnisvoll der Frühling, schon
springt trotz Schnee und Eis allenthalben aus schwankem Ast das erste
Grün, die schwarzen Tannen tragen festlich helle Spitzen. Und durch das
Brausen des Windes klingt unablässig das süße, das unbeholfene, das
inbrünstige Gestammel der Vögel.

Gabelbach. An den grauen Schindeln des Jagdhauses zerrt der Sturm. Ein
Schuß klatscht hart in die gespenstische Einsamkeit. Nebel erstickt
ihn. Man denkt der toten Zeit, da hier Carl August nach der Jagd in
froher Tafelrunde gezecht, später der Hof aus Weimar bescheidene
Sommerfreuden gesucht. Jetzt liegt das kleine Haus verlassen da, hinter
den geschlossenen Fensterläden wohnt im Dunkel bei alten Bildern und
Jagdtrophäen alleine die Erinnerung.

Und immer wilder, immer unwirklicher wird die Szenerie. Die Erde
schwankt, wandelt sich in Dunst und fliehende Wolke. Irgendwo in nahen
Wipfeln wühlt der Sturm, tobt wie stürzender Gewitterregen, abgerissene
Äste, ganze Baumkronen sausen hart an dem Wanderer vorbei, der Boden
ist mit Tannenzapfen übersät. Aber man sieht sie nicht, diese Wipfel.
Man sieht überhaupt nichts. Alles überbrandet ein milchiges Meer.
Und atemheiß kämpft man sich vorwärts »im Dampf der Klüfte, durch
Nebeldüfte, immer zu, immer zu!«

Aber dann ist man auf einmal da. In jäher Biegung krümmt sich der Weg,
an Abgrund und starrendem Fels vorbei, zur letzten Höhe. Tannen steigen
steil und finster aus dem geisterhaften Zwielicht, Gebüsch umkraust
verwitterte Stufen ... der Gickelhahn! Um das Goethehäuschen braust der
Wind.

       *       *       *       *       *

Das erste Zettelchen, das von hier nach Weimar geflattert, erzählt:
»Hoch auf einem weit rings sehenden Berge. Im Regen sizz ich hinter
einem Schirm von Tannenreisern. Warte auf den Herzog, der auch
für mich eine Büchse mit bringen wird.« Eine um so größere Rolle
spielt in diesen frühen Aufzeichnungen dafür die »Höhle unter dem
Hermannstein«. Zu ihm springt der Weg über Wurzelwerk und sturmverwehte
Zweige, Felstrümmer und gestürzte Bäume, im halbvertauten Schnee kaum
kenntlich. Es ist ein beschwerliches Wandern. Nebelschwaden werden
vorbeigerissen, der Wind wirft Wolkenfetzen in das Tannendunkel ...
ein wirrer Schattenreigen, der in nichts zerstäubt. Wie Klagerufe
ächzt und stöhnt es durch den Wald. Dann aber steht man plötzlich vor
einem mächtigen Fels ... ein Ungetüm, das Urgewalten aus der Erde
drängten. Das Auge, das staunend an den zerrissenen Wänden in die Höhle
klettert, schwindelt. Die letzten Zacken findet es nicht mehr. Sie
schwimmen im Nebel.

»Hier im Stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten ...« Zwei
kleine grüne Eisentafeln, neben der dunklen Höhle in die Felswand
eingelassen, von Flechten überwuchert, vom Rost schon halb zerfressen,
erzählen davon.

    »Was ich leugnend gestehe und offenbarend verberge,
    Ist mir das einzige Wohl, bleibt mir ein reichlicher Schatz.
    Ich vertrau es dem Felsen, damit der Einsame rathe,
    Was in der Einsamkeit mich, was in der Welt mich beglückt --«

lautet die eine. Und die andere:

    »Felsen sollten nicht Felsen und Wüsten Wüsten nicht bleiben,
    Drum stieg Amor herab, sieh, und es lebte die Welt.
    Auch belegte er mir die Höhle mit himmlischem Lichte,
    Zwar der Hoffnung nur, doch ward die Hoffnung erfüllt!«

Sie ward ihm erfüllt, die Hoffnung. Der Sehnsuchtsruf, in banger
Herzensnot hier in der Höhle, seinem »geliebten Aufenthalt«, aufs
Papier gestammelt, fand bereites Echo. »Wenn Du nur einmal hier seyn
könntest, es ist über alle Beschreibung und Zeichnung,« schreibt er an
Charlotte, die damals, nicht allzu fern, in Meiningen weilte. Und sie
kam. In einem Brief vom 2. August Goethes Jubelschrei: »Liebe, Du gibst
mir ein neues Leben, daß Du wieder kommst. Ich kann Dir nichts sagen.
Den Herzog freuts. Addio.« Die alten Fichten rauschten verschwiegenen
Liebesstunden. Keiner von beiden hat je darüber gesprochen, der stumme
Fels das Geheimnis gewahrt. Nur ein Brief an Herder vom 9. August
enthält die Andeutung: »Einen ganzen Tag ist mein Aug nicht aus dem
ihrigen kommen, und mein gnomisch verschlossen Herz ist aufgetaut.«
Und der Geliebten gesteht er: »Deine Gegenwart hat auf mein Herz eine
wunderbaare Würckung gehabt, ich kann nicht sagen wie mir ist! mir ist
so wohl und doch so träumig.« Mit Meißel und Hammer steigt er wieder
zum Hermannstein hinauf, und an der Stelle, wo Charlotte »sich bückte
und ein Zeichen in den Staub schrieb«, schlägt er ein großes S in das
harte Gestein der Höhlenwand ...

Vier Jahre später, als Goethe wieder in den geliebten Bergen
herumstreifte, ist er auch wieder in der Höhle gewesen. »Ich bin in
die Hermannsteiner Höhle gestiegen,« schreibt er an Charlotte, »an
den Plaz, wo Sie mit mir waren und habe das S, das so frisch noch
wie von gestern ausgezeichnet steht, geküßt und wieder geküßt, daß
der Porphyr seinen ganzen Erdgeruch ausathmete, um mir auf seine Art
wenigstens zu antworten. Ich bat den hundertköpfigen Gott, der mich so
viel vorgerückt und verändert und mir doch Ihre Liebe, und diese Felsen
erhalten hat; noch weiter fortzufahren und mich werther zu machen
seiner Liebe und der Ihrigen.«

Die Liebe Charlottens zerbrach. Das S, das sie, getreu dem Tagebuch,
als »Sonne« pries, hat die Zeit getilgt. Nun tropft das Wasser rings
gleich Tränen von den Wänden, und um die Höhle, wo einst der Juliwind
die Liebenden in süßen Traum gewiegt, heult der Sturm. Faust-Stimmung.
»Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles, worum ich bat ...« Die
Worte, hier einst gefunden und geformt, werden zu Gebet, der »Vorwelt
silberne Gestalten« bevölkern Wald und Höhle.

       *       *       *       *       *

Die Jagd, die Bergwerksgeschichten, das mißliche Geschäft der
Rekrutenaushebung führten Goethe nun oft nach Ilmenau. Der
Schwalbenstein, ein steiler Fels am Südabhang der »Sturmheide«, schenkt
ihm den 4. Akt der »Iphigenie«, die Stadt die Szenerie für vieles im
»Wilhelm Meister«, an dem er in diesen Jahren arbeitet. Und immer
begleitet ihn das Bild der Geliebten: Iphigenie trägt ihre Seelenzüge.

[Illustration]

Im Frühherbst 1780 ist er wieder einmal auf dem Gickelhahn. Ganz
allein. In Weimar feiern sie den Geburtstag des Herzogs mit Ball und
Illumination. Vor dem »Geschwirre der Menschen« ist er geflohen.
Unterkunft gewährt die unscheinbare Jagdhütte, die verloren auf dem
letzten Gipfel des Berges steht.

»Auf dem Gickelhahn,« schreibt er an Frau von Stein, »dem höchsten Berg
des Reviers, den man in einer klingendern Sprache Alecktrüogallonax
nennen könnte, hab ich mich gebettet, um dem Wust des Städgens, den
Klagen, dem Verlangen der Unverbesserlichen, Verworrenheit der Menschen
auszuweichen ... Es ist ein ganz reiner Himmel und ich gehe, des Sonnen
Untergangs mich zu freuen. Die Aussicht ist groß, aber einfach.« Und
viele Tage später, am 16. Oktober, längst wieder in Weimar, an die
Marchesa Branconi, die »schöne Frau«: »Ihr Brief hätte nicht schöner
und feierlicher bei mir eintreffen können. Er suchte mich auf dem
höchsten Berg im ganzen Lande, wo ich in einem Jagdhäuschen, einsam
über alle Wälder erhaben und von ihnen umgeben, eine Nacht zubringen
wollte.«

An diesem Abend ist »Wandrers Nachtlied« entstanden. Auf die Berge in
der Runde legte die Sonne letzten Glanz, aus den Tälern stiegen hie und
da »einige Vapeurs von den Meulern«. Die Welt ging schlafen. Eine ferne
Erinnerung sprach von Ettersburg. »Süßer Friede, komm, ach komm in
meine Brust!« hatte er da einst, über Weimar brannten blaß die Sterne,
den Himmel angefleht. Nun ward ihm hier Erfüllung seiner Sehnsucht. Mit
Bleistift hat er die Verse auf die Bretterwand geschrieben. Ergriffen
steht man vor der verwitterten Inschrift. Auch sie atmet Ruhe und
Vergessen, bringt den Frieden.

        Ȇber allen Gipfeln
        Ist Ruh,
        In allen Wipfeln
        Spürest du
        Kaum einen Hauch;
        Die Vögelein schweigen im Walde.
        Warte nur, balde
        Ruhest du auch.

    D. 7. September 1780. Nachtlied.«

Das Häuschen ist nicht das alte, die Inschrift ist Kopie. In den
siebziger Jahren ist es abgebrannt. Das Stückchen Holz, auf dem
die Verse standen, haben die Flammen verschont, das Frankfurter
Goethe-Museum birgt den Schatz. Aber man hat alles genau so wieder
aufgebaut wie es war. Und wer da reines Herzens ist, der spürt hier
bis in die tiefste Seele hinein den Geist Goethes, der einst die arme
Hütte, die Stätte, wo sie steht, für immer geweiht hat.

[Illustration:

    _Über allen Gipfeln
    Ist Ruh_
]

Nur noch ein einzigesmal ist Goethe hier oben gewesen. Das war im
August 1831, volle fünfzig Jahre später, und der Dreißigjährige, der
dort einst, in schwermütiger Abendstimmung, »Wanderers Nachtlied«
gedichtet, war ein Greis geworden. »Freundlich veranstalteten
Festlichkeiten ausweichend,« wie er an Amalie von Levetzow, die Mutter
Ulrikens, schreibt, war er nach Ilmenau gefahren, um in Stille seinen
82. Geburtstag zu verleben. Längst war es um ihn öde und leer geworden.
Von allen, mit denen er einst hier frohe Stunden verbracht hatte, lebte
nur noch Knebel, der jetzt, seit langem schon, in Jena wohnte. All die
anderen waren gestorben. So schreckten die Erinnerungen, und »um die
Vergangenheit,« wie es in einem Briefe an den Grafen Reinhard heißt,
»durch die Gegenwart des Herankommenden auf eine gesetzte und gefaßte
Weise zu begrüßen«, hatte er die beiden Enkel, »die jungen Wesen«,
mitgenommen.

Mit dem Ilmenauer Bergrat Mahr fuhr er zusammen nach dem Gickelhahn
hinauf. Es war ein heiterer Sommertag, und um die Berge blaute
still und klar der Himmel ... die ganze Landschaft ein Abglanz der
abgeklärten Seele, die hier nach Menschenaltern vergessenes Glück,
vergessenes Leid beschwören, Abschied nehmen wollte von ihrer Jugend.
»Über allen Gipfeln ist Ruh« -- erinnerungsversunken stand der
Achtzigjährige vor den verblaßten Bleistiftzeilen, die das morsche
graue Holz kaum noch erkennen ließ, und während Tränen ihm das große,
das zeitlose Auge verdunkelten, sprach er leise vor sich hin: »Ja,
warte nur, balde ruhest du auch!«

Er hat dann, wie er acht Tage später Zelter in einem Briefe erzählt,
die Inschrift »rekognosziert«: die Greisenhand hat die fast unleserlich
gewordenen Buchstaben nachgezogen und darunter gesetzt: »Renov. den 28.
August 1831.«

So liest man es jetzt mit verhaltener Rührung.

       *       *       *       *       *

Über Kammerberg und Manebach zurück nach Ilmenau. Aus Sturm und Regen
ist ein sanfter, silberner Frühlingsnachmittag geworden. Die feuchte
Erde duftet, es rauscht die Ilm.

»Anmutig Tal! du immergrüner Hain!« ... wieder nahen sich die Verse,
nun, wo man vom Walde kommt, ergreifend wahr. Sie bringen neue
Schattenbilder. »Wenn es möglich ist,« schreibt Goethe am 30. August
1783, auf dem Sprung nach Ilmenau, an Charlotte, »schreibe ich dem
Herzog ein Gedicht auf seinen Geburtstag.« Als er am 4. September nach
Weimar zurückkehrt, bringt er es fertig mit. Aus Traum und Wirklichkeit
hat sich ihm Ilmenau »zum 3. September 1783« zu neuem Erlebnis, zu
farbenfrohem Bild gestaltet.

Verklungene Tage stehen auf. In wilder Jagd durchstürmt der Herzog
wieder das Gebirge, am Fuße einer Felswand wird abends Rast gemacht --
es ist, vielleicht, der Hermannstein:

    »Bei kleinen Hütten, dicht mit Reis bedecket,
    Seh ich sie froh ans Feuer hingestrecket.
    Es dringt der Glanz hoch durch den Fichten-Saal,
    Am niedern Herde kocht ein rohes Mahl;
    Sie scherzen laut, indessen, bald geleeret,
    Die Flasche frisch im Kreise wiederkehret ...«

Und alle die treten auf, die damals mit in Stützerbach getanzt,
getollt, der behäbige Knebel, der Tollkopf Seckendorf, der blutjunge
Herzog, Goethe selbst -- treten auf und treten wieder ab auf dieser
Bühne der Erinnerung, Magie belebt die schwankenden Gestalten. »Ich
selbst saß davor,« erzählt der alte Goethe in den Annalen, »bei
glimmenden Kohlen, in allerlei schweren Gedanken, auch in Anwandlung
von Bedauern über mancherlei Unheil, das meine Schrift >Werther<
angerichtet.« Aber das ängstliche Gesicht zerrinnt, der schwere Traum
verschwindet. Die bange Sorge um den Herzog verscheucht die Hoffnung
auf »Gedeihn und festes irdsches Glück«, und der erhabene Berg läßt ihn
an »seinen sachten Höhn ein jugendlich, ein neues Eden sehn«.

Und zweiundvierzig Jahre später. Wieder ein »Tag der Lieb und Lust«.
Carl August feiert sein Regierungsjubiläum. Die Vision Goethes ist
Wirklichkeit geworden ... »die Ernte wird erscheinen und dich beglücken
und die Deinen.« Im Römischen Haus begrüßt Goethe den fürstlichen
Freund, in aller Frühe, der erste Gratulant. Wortlos stehen die beiden
Greise, Hand in Hand. »Bis zum letzten Hauch zusammen!« stammelt
endlich tief bewegt Goethe. Der Großherzog nickt. Traumhaft durchzuckt
Erinnerung sein altes Herz. »O achtzehn Jahre und Ilmenau!« ruft er und
deckt die Augen mit der Hand ...

       *       *       *       *       *

Noch oft ist Goethe in Ilmenau gewesen, mit Knebel und bei Knebel,
mit Fritz von Stein, dem Liebling, der, wie er einmal an Charlotte
schreibt, ihr Bildnis sein soll, und manchmal auch ganz allein. Immer
wandern Briefe und Zettelchen nach Weimar und schwärmen und erzählen;
beteuern seine Liebe in leidenschaftlichen Worten und sind voll
Sehnsucht und Glück. »Mergeln« und Schwämme begleiten sie.

1784 werden endlich die neuen Bergwerke eröffnet. Am 24. Februar. Ein
Schicksalstag. Goethe bleibt in der feierlichen Eröffnungsrede stecken,
die er im Posthause hält. Aber niemand wagt zu lächeln. Seine dunklen
Augen halten alle im Bann. Nur daß es als üble Vorbedeutung genommen
wird, kann er nicht hindern.

Im Oktober 1785 schreibt er an Charlotte: »Es steht alles recht gut und
das ganze Werck nimmt einen rechten Weg.« Auch in den Folgejahren geht
alles gut. Noch 1816 gedenkt der alte Goethe freudig in einem Gedicht
an seinen alten Bergrat Voigt dieser Zeit:

    »Von Bergesluft, dem Äther gleich zu achten,
    Umweht, auf Gipfelfels hochwald'ger Schlünde,
    Im engsten Stollen wie in tiefsten Schachten
    Ein Licht zu suchen, das den Geist entzünde,
    War ein gemeinsam köstliches Betrachten,
    Ob nicht Natur zuletzt sich das ergründe?
    Und manches Jahr des stillen Erdenlebens
    Ward so zum Zeugen edelsten Bestrebens.«

Aber 1796 bricht der Martinroder Stollen. Die Aufschlagewasser stauen
sich, der Schacht wird auflässig, die Werke ersaufen. Und wieder zieht
die Armut ein in Ilmenau.

Immer aber hat die Einsamkeit Ilmenaus Goethe dichterisch angeregt.
Hier ist »Wilhelm Meister« zu einem großen Teil entstanden. Auch
Mignons schmerzbewegtes Lied: »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was
ich leide!« hat Goethe hier zu dunkler Stunde gefunden. Am 20. Juni
1785 schickt er es Charlotte und fügt, ergreifend, hinzu: »Ein Lied,
das nun auch mein ist.«

Und noch ein anderes Lied hat ihm Ilmenau geschenkt, viele Jahre
später. Längst war die Liebe zu Frau von Stein erloschen, verbittert
hatte sich die Enttäuschte von ihm zurückgezogen. An ihre Stelle
ist Christiane getreten. Ihr gelten nun seine Gedanken: nicht wirre
Sehnsucht mehr, nicht Stammellaut und Schrei. Ein glücklicher Vater
schreibt der Mutter seines Gustel, der ihn, ein »Bübechen«, begleitet
und weiße Pfefferkuchen nach Weimar schickt, die er sich vom Munde
abspart. So feiert Goethe hier seinen 64. Geburtstag. Und die
Erinnerung lässt ihn, ein Nachklang seiner silbernen Hochzeit, erzählen:

    »Ich ging im Walde
    So vor mich hin,
    Und nichts zu suchen
    Das war mein Sinn.
    Im Schatten sah ich
    Ein Blümchen stehn,
    Wie Sterne blinkend,
    Wie Äuglein schön ...«

Christianes Lied! Er schickt's nach Weimar ... wie oft, wie stolz mag
es die heitere Frau, vielleicht im Korbstuhl neben dem Küchenherde
sitzend, an ihr warmes Herz gedrückt haben!

       *       *       *       *       *

Nachmittag. In der Lindenstraße promeniert das junge Ilmenau. Der
Mühle gegenüber, die Goethe in jungen Jahren oft beherbergt hat,
Knebels Haus. Die Fenster schauen nachdenklich in das bunte Treiben.
Es ist, als ob noch immer hinter den dunklen Scheiben der »alte Timon«
an seinem Lucrez arbeitete. Aber das frohe Lachen, das »die Rudel«,
Knebels blutjunge Frau, die Weimarer Sängerin Luise von Rudorf, mit in
die Kleinstadtstille brachte, ist längst verhallt. An den »+élégant
savant+«, der hier einmal sein wunderlich Wesen getrieben, erinnert nur
die weiße Tafel über der Tür. Und auch die beachtet keiner.

Und weiter. Hinter der Kirche der Marktplatz. Die Häuser schlafen. Nur
der alte Brunnen schwatzt in die Stille. Eine tote Welt, -- Rokoko aus
Chodowiecki-Kupfern, unberührt, ganz noch das »heitere Landstädtchen«,
das Goethe fand, als er zum erstenmal hierher kam, um Ilmenau vor neuer
Einäscherung zu bewahren. Noch stehen Schloß und Rathaus, noch die
»Sonne« und der »Adler«, aus deren Fenstern Philine und Wilhelm Meister
einander den Morgengruß zunickten. Aber es liegt alles stumm und
verlassen, nichts spricht dafür, daß etwa Seiltänzer und Gaukler hier
ihr leicht Gerüst aufschlagen werden, kein Mädchen bietet dem fremden
Herrn Rosen an, wie's Wilhelm Meister geschah, und die beiden Gasthöfe
schauen so verdrossen drein, als ob sie überhaupt nicht mehr auf Gäste
rechneten ...

Die Vergangenheit geht hier spazieren.

       *       *       *       *       *

Sie begleitet auch auf den Friedhof, zu Corona Schröters Grab. Einsam
und verlassen liegt die einst Gefeierte. Arme »Crone«! Wie oft hat
Goethe dich, du blühtest noch in all dem betörenden Glanz der Jugend
und ganz Weimar lag dir zu Füßen, bei diesem Schmeichelnamen genannt!
Daß du ein »Engel« wärest, schrieb er an Frau von Stein und an den
Herzog schon aus Leipzig, von wo er dich nach Weimar holte. Er hat dich
wirklich sehr geliebt. Sein Tagebuch erzählt's, und auch die Bank in
Tiefurt mit dem Amor und der Nachtigall. Und in dem großen Gedicht »Auf
Miedings Tod« gelten dir die wundervollen Verse:

    »Es gönnten ihr die Musen jede Gunst,
    Und die Natur erschuf in ihr die Kunst.
    So häuft sie willig jeden Reiz auf sich,
    Und selbst dein Name ziert, +_Corona_+, dich.«

Und dann?

Nach flüchtigem Glanz der lange, der bittere Lebensabend in Ilmenau.
Niemand kümmerte sich um die Verbannte. Auch Goethe nicht. Und so
einsam, wie sie zuletzt in Ilmenau gelebt, stirbt sie 1802. Der Tod
erlöst eine Tote.

Bekümmert steht man an dem kahlen Grab. Von der »Sturmheide« her fährt
der Wind über die Hügel, der Efeu raschelt, die kahlen Weiden schwanken
traurig hin und her. Die Stille weint. »Es ist sündlich, wie man in
Weimar mit den Toten umgeht,« schrieb Knebel damals. Ihm und der
Prinzessin Caroline verdankt die Vergessene den schlichten Grabstein.
Eine schwarze Eisenplatte ist's, in Sandstein eingelassen. Eine Harfe
und eine Fackel, ein Lorbeerkranz und ein Schmetterling schmücken sie.
Und leise wellt der Frühlingswind das Wasser, das Regen und Sturm
darauf geworfen.

Abschied von Ilmenau. In der Abenddämmerung steht man vor'm »Goldenen
Löwen«. Langsam erstirbt das Leben. Ein Lachen treibt vorbei, ein fader
Scherz, ein letztes Plaudern. Dann wird es still. Ganz still. In der
Ferne plätschert die Ilm.

Noch einmal wandert man durch die alten Gassen. Nun, wo der Tag zur Ruh
gegangen, regen sich die Schatten. Sie geben gespenstisches Geleit,
bedrängen die Seele, die sie aus ihren Grüften hervorgelockt. ...
Knebel und seine junge, viel zu junge Frau, Einsiedel, den Reue an
die Stätte bannt, wo Corona Schröter gewohnt, der junge Goethe, der
der dunklen Ilm verworrene Liebesgrüße nach Weimar anvertraut. Und
scheu und heimlich auch, in grauen Mantel gehüllt, den Dreispitz tief
in die Stirne gedrückt, der unselige Krafft, Goethes geheimnisvoller
Schützling. Denn hierher hatte Goethe, ein »dienstfertiger Samariter«,
den in die Irr Gegangenen geschickt, der sich in letzter Not an ihn
gewandt ... ohne Dank zu finden: der Verlorene ward auch in Ilmenau
nicht des Lebens froh, ward in Verkennung der Dienste, die Goethe
forderte, zum Spion. Noch immer wandert er durch die Straßen, er
lauscht an jeder Schenke, er horcht an jeder Tür. Und verflucht, das
unstete Auge bergend, das Schicksal, das ihn hierher verschlagen hat
... das heute wird zum Gestern, ein Jahrhundert flüchtiger Traum.

Abschied von Ilmenau -- -- --

[Illustration]

Über den Marktplatz klingt leise ein Lied. Philine singt. Ihr Fenster
im »Adler« wirft hellen Schein über den winkligen Platz. In das Dunkel
des Torwegs gedrückt stehen drüben, in der »Sonne«, Wilhelm Meister
und Mignon und lauschen. Laërtes schaut ihnen über die Schulter ... Da
bricht das Liedchen ab, das Licht geht aus, und auch das Tor des alten
Gasthofs fällt zu. Schatten begraben ein Goethe-Märchen. Am Himmel, der
in dunkler Bläue schwankt, flimmern kalt die Sterne.



Das »Mährchen« von Pyrmont

            »Goethe ist zu Pyrmont und nur mit Wiedererlangung
            seiner Gesundheit beschäftigt ...«

                ~Schiller~


Der Reisewagen, der am 5. Juni 1801 in aller Herrgottsfrühe vor dem
Haus am Frauenplan Posto faßt, wartet auf einen Kranken. Denn noch
immer fühlt Goethe, der an diesem Morgen mit dem elfjährigen August
zusammen nach Pyrmont reist, sich von der schweren Krankheit nicht
genesen, die den schon lange Leidenden zu Beginn des Jahres 1801 fast
dahingerafft. Wohl war es der Pflege Christianens, seiner »lieben
Kleinen«, wie er am 1. Februar der Mutter rühmte, gelungen, ihn am
Leben zu erhalten; wohl befand er sich nach dieser »schrecklichen
Krise der Natur«, wie es in einem Briefe an die Weimarer Freundin
Elisa Gore heißt, wieder ganz leidlich; aber den Vollbesitz seiner
geistigen und körperlichen Kräfte hatte er trotz aller Ruhe, trotz
eines sechswöchigen Landaufenthalts auf Ober-Roßla nicht wiedererlangt,
und erst Pyrmont soll ihm nun gründliche Erholung bringen.

Pyrmont erfreute sich schon damals alten Rufes, vielleicht größeren
als jetzt, wo so viel andere Bäder mit dem stillen, ganz in Lindengrün
gebetteten Idyll an der Emmer wetteifern. Goethe selbst kannte es auch
nur vom Hörensagen. Charlotte von Stein, allein und auch mit Mann und
Kindern dort oft zur Kur, mag ihm viel von diesem ihren Zufluchtsort
erzählt, mag ihm die Heilkraft des »Hylligen Borns« gerühmt haben ...
die Briefe, die sie von Pyrmont aus an Goethe geschrieben, Antworten
auf das sehnsuchtsbange Liebesstammeln, das ihr aus Weimar und
Ilmenau nachtönte, sind ja leider verloren, vernichtet wie alle ihre
anderen an Goethe; aber Spiegelung der Tage, die Charlotte in Pyrmont
verlebt, findet, wer zwischen Zeilen zu lesen versteht, in den von
Liebe, Sehnsucht und wirrer Klage erfüllten Ergüssen des Dichters,
die dieser der Fernen, Kuß und Schmeichelwort so weit Entrückten
nachgesandt. Und an den langen Herbst- und Winterabenden in Weimar mag
im Beieinandersein bei stiller Kerze Erzählung manches nachgeholt und
wieder heraufbeschworen haben, was dem Briefe anzuvertrauen Tinte und
Papier erschwert hatten.

So hat Goethe das Bad am Teutoburger Wald, als Liebender für die Worte
der Geliebten doppelt empfänglich, vielleicht besser gekannt als viele,
die dort stumpfer Sinne, nur ihrem leiblichen Wohl und Wehe hingegeben,
wochenlang die Kur gebraucht haben; was die Augen nicht in Wirklichkeit
gesehen, erlebte die beschwingte Seele des Dichters doppelt intensiv,
gewann holde Verklärung, weil die, die es ihm schilderte, seinem Herzen
nahestand.

[Illustration]

So ist wohl auch zu erklären, daß der Genuß des Pyrmonter Wassers --
neben dem »Selzer« wie Christiane das Selterser nennt -- in Goethes
Hause gang und gäbe, lange bevor der Dichter es am Ursprungsorte selbst
getrunken: die wohltätige Wirkung, die es auf Frau von Stein und ihren
Mann ausübte, gewann dem Pyrmonter auch die Neigung Goethes, führte
es in Weimar überhaupt ein. Trank doch die ganze Hofgesellschaft, der
früh schon von Gicht und Rheumatismus geplagte Herzog an der Spitze,
Pyrmonter! Und bei Goethes am Frauenplan durfte es gar nie ausgehen.
Immer wieder stößt man in den Briefen Goethes, die er, weilte er in
Jena, an Christiane schrieb, auf die Bitte, ihm ein paar Flaschen
Pyrmonter mit der Botenfrau zu schicken; und Christiane beeilte sich
dann stets sehr, diesen Wunsch zu erfüllen, weil sie wußte, wie gut dem
Gatten -- denn Gatten waren sie, auch wenn die Trauung, die sie vor
der Welt dazu machte, erst 1806 erfolgte, schon von dem Tage an, wo
Goethe mit ihr das große Haus am Frauenplan bezog -- das Wasser tat,
das »bernoder« wie sie es in dem oft kaum zu entziffernden Kauderwelsch
ihrer einfältig-innigen Briefe genannt hat.

Nun aber fügte es das Schicksal, daß Goethe, mit seinen Ärzten der
Wunderkraft der Pyrmonter Quellen vertrauend, die aus »Bouteillen« ihm
nicht frisch und stark genug entgegensprudelte, sich auf die Reise
machte, um diese Wunderkraft an Ort und Stelle zu erproben.

Es ist ein frischer Morgen, da er diese Reise antritt, munter und
lebenskräftig, wie er sich lange nicht gefühlt. Vergessen der bange
Winter, da schon der Tod zu Häupten seines Bettes gestanden, vergessen
auch der Ärger in Ober-Roßla, wo er »mit der rohen Natur und über
das ekelhafte Mein und Dein« mit dem Pachter im Streite gelegen:
wieder einmal sieht er, reisefertig, unbekannte Welt vor sich liegen,
von neuem regt Phantasie die Schwingen, die in Alltagssorgen und
Alltagsgezänk fast zu erlahmen gedroht hatten. Abenteuer lockt.
August, den jungen Reisekameraden, an der einen Hand, den andern Arm
Christiane, dem getreuen Hausgeist, um den Hals gelegt, tritt er aus
der Tür, -- ungebeugt die massige Gestalt, doch im Gesicht um Mund und
Augen den Zug des Leidens, den zehn schwere Januartage da eingegraben.

Noch schläft Weimar. Nur der Brunnen rauscht, First und Fenster der
Kleinbürgerhäuser gegenüber glühen in erster Sonne. Irgendwoher kommt
Lindenduft. So kann Goethe sich ungestört durch neugierige Blicke von
seiner Frau verabschieden, die ihm und dem Kinde, ein wenig traurig,
Geleit gibt: bleibt sie nun doch wieder auf Wochen allein in dem
weitläufigen Hause zurück, dessen erlauchte Welt nicht die ihre, fremd
am eigenen Herd; verläßt sie doch diesmal nicht nur der Mann, der ihr
Leben und Dasein bedeutet, sondern auch, zum erstenmal auf längere
Zeit, das Kind, das sie ihm geboren!

Jedoch die Pferde scharren ungeduldig, der Kutscher knallt mit der
Peitsche. Ein letztes Wort, ein letztes Streicheln, halb väterlich,
wie jede Liebkosung, die Goethe Christianen schenkte, ein letztes
Winken -- und dann holpert die zweispännige Chaise, hochbepackt, die
Frauentorstraße hinauf und verschwindet.

[Illustration: _Abfahrt nach Pyrmont am 5. Juni 1801_

_Der Reisewagen Goethe's vor dem Hause am Frauenplan_]

Da schließt die einsame Frau die Haustür. Drinnen im kühlen, dämmerigen
Flur lehnt sie ein Weilchen, die Hand vor den Augen, an dem Geländer
der feierlichen Treppe, die noch den Klang von Goethes schweren
Schritten zu halten scheint ... ein Weilchen nur. Dann rafft sie sich
auf und geht. Aber nicht die Treppe hinauf. Die führt in jene Welt, die
nicht ihr gehört. Sie geht durch ein Seitentürchen zur Küche: da lag
ihr Reich.

       *       *       *       *       *

Drei sind's, die in Goethes Wagen sitzen, Vater, Sohn und Geist --
denn Goethes Schreiber, den er mitgenommen, hieß ulkigerweise Geist
und vervollständigte so auch dem Namen nach die äußere Dreieinigkeit
der Reise aufs beste. Geist berichtet denn auch der »werthesten
Demoiselle« Vulpius von Göttingen aus, wo Station gemacht wurde, über
den bisherigen Verlauf der Fahrt; der »Herr Geheimde Rat« fügt diesem
Bericht nur ein paar Worte an, in denen allerdings trotz der Kürze
die ganze Zärtlichkeit des Abschieds von »Mütterchen« zittert, -- wie
Goethe überhaupt auf Reisen in ein paar kurze Worte mehr Zärtlichkeit
hineinzulegen weiß, als andere durch einen überschwenglichen Brief
auszudrücken vermögen.

Weitere Nachrichten aus Göttingen, wahrscheinlich auch die ersten aus
Pyrmont, wo die Reisenden am Nachmittag des 13. Juni eintrafen, sind
nicht erhalten. Christiane hat sich in Weimar sehr gegrämt, denn der
Geistsche Brief aus Göttingen erreichte sie erst am 25. Juni: drei
volle Wochen war sie also ohne jede Nachricht, und wenn sie am 23.
Juni nach Pyrmont schreibt: »Ich hoffe recht sehnlich auf einen Brief
von Dir, um zu hören, daß Du Dich mit dem guten Kinde wohlbefindest.
Ich bin ganz wohl, aber so ganz ohne das zu sein, was man herzlich
liebt, will mir gar nicht behagen, und bei aller Zerstreuung, die ich
mir mache, ist doch immer, als wenn mir das Beste fehlte,« so hört man
deutlich aus den kargen Worten die bange Sorge heraus, die ihr Frauen-
und Mutterherz erfüllte.

Goethe mag gerade auf dieser Reise mancherlei durch den Kopf gegangen
sein. Reisen regt immer zum Nachdenken an; dann aber ist der Mensch,
der harte Krankheit überstanden und mit knapper Mühe dem Tode entgangen
ist, doppelt leicht geneigt, empfindsame Rückschau zu halten. Und
daß es gerade nach Pyrmont ging, muß dem Fünfzigjährigen Erinnerung
an abgelebte Zeit ergreifend haben wiederkehren lassen. Während
Berge und Täler, Dörfer und Städte an den Reisenden vorüberglitten,
von August, dem »Bübchen«, mit dem hellen Jauchzen des Kindes, von
Geist mit subalternem Gleichmut begrüßt, weilte der Blick der dunklen
Dichteraugen bei Vergangenem. Die erste Trennung von Frau von Stein,
1776, im ersten Weimarer Glückssommer. Damals mag zum ersten Male der
Name Pyrmont, wohin die Geliebte sich zur Kur begeben, ein Name, der
bis dahin für Goethe wahrscheinlich Schall und Rauch gewesen, Bedeutung
gewonnen haben ... damals! Wie lange war das her! Verse klangen aus der
Vergessenheit herauf, die er in jenen Tagen wirren Liebestaumels einmal
mit einem Brunnenglas an Charlotte nach Pyrmont geschickt:

    »Laß dir gefallen
    Aus diesem Glas zu trincken
    Und mög dir düncken
    Wir säßen neben dir
    Denn obgleich fern sind wir
    Dir doch die nächsten fast von allen.«

Und andere, tiefer empfundene, tönten sanft dazwischen, die sein
damaliges Leben im Garten am Stern spiegeln:

    »Und ich geh meinen alten Gang
    Meine liebe Wiese lang.
    Tauche mich in die Sonne früh
    Bad ab im Monde des Tages Müh,
    Leb in Liebes Klarheit und Krafft,
    Thut mir wohl des Herren Nachbarschafft,
    Der in Liebes Dumpfheit und Krafft hin lebt --
    Und sich durch seltnes Wesen webt.«

Vorbei! Vorbei wie die Tage von Ilmenau, deren erste Erschütterungen
er der fernen Frau in Pyrmont in Briefen gebeichtet, die heiße Glut
in alle Ewigkeit atmen; vorbei wie der Sommer 1777, in Sehnsucht fast
verzweifelnd, von Weimar nach Kochberg, Charlottens Schloß, flüchtete,
um der wieder in Pyrmont Weilenden wenigstens in ihren Zimmern und
Möbeln nahe zu sein, sich wenigstens an ihrem Dunstkreis satt zu weiden
... bis er am 29. Juli in das getreue Tagebuch den Erlösungsseufzer
eintragen konnte: »Abends die Stein zurück von Pyrmont unerwartet.«

Und so gingen die Jahre. Liebe, so heiß sie auch einst geglüht,
erkaltete, Treue, für die Erdenzeit geschworen, starb. Die Flucht
nach Italien, das Verhältnis mit Christiane, Frucht der Entfremdung
zwischen Charlotte und ihm, brachten den Bruch. Keine Liebesbriefe mehr
flatterten nach Pyrmont, wenn Frau von Stein dort zur Kur war; dafür
stand, einzige Erinnerung an dies Pyrmont, auf seinem Tisch in Weimar
und in Jena Mittag für Mittag die Flasche Pyrmonter, dem überreizten,
übersättigten Körper Linderung bringend und allgemach trotz Etikett und
Namen doch kaum mehr an verschwundene Zeiten und ihr Glück mahnend;
dafür rieten die Ärzten, als die körperlichen Beschwerden sich häuften,
diese an der heilkräftigen Quellen Ursprung selbst abzubaden und
abzutrinken.

Folgte er dem Rat? Wie hatte er doch erst vor wenigen Wochen an
die Mutter in Frankfurt geschrieben? »Hätte ich im vorigen Jahre
ein Bad gebraucht, wie ich in früheren Zeiten getan, so wäre ich
vielleicht leidlicher davon gekommen; doch da ich nichts eigentliches
zu klagen hatte, so wußten auch die geschicktesten Ärzte nicht, was
sie mir eigentlich raten sollten, und ich ließ mich von einer Reise
nach Pyrmont, zu der man mich bewegen wollte, durch Bequemlichkeit,
Geschäfte und Ökonomie abhalten, und so blieb denn die Entscheidung
einer Krise dem Zufall überlassen.«

Ja, Bequemlichkeit, Geschäfte und Ökonomie ... diese drei Worte deuten
tatsächlich das Leben, das Goethe, der sonst rastlos tätige, seit
geraumer Zeit geführt hatte. Die Arbeit an Voltaires »Tancred«, die ihn
Weihnachten 1800 zum großen Kummer der Seinen in Jena gehalten, war jäh
von der Krankheit abgelöst worden, und als diese überstanden, wagte
sich der geschwächte Geist an keine andere: die »Farbenlehre« war das
einzige, um das sein müdes Denken kreiste, und alles in allem nahm die
Stagnation, an der Goethes dichterische Produktion nun schon seit Jahr
und Tag krankte, beängstigende Formen an. Der Aufschwung, die Anregung
fehlten! Die Freunde, allen voran Schiller, der gerade in voller
dichterischer Ekstase an der »Jungfrau« arbeitete, waren denn auch
besorgt genug; schrieb doch dieser in jenen Tagen an Cotta: »Goethe ist
zu Pyrmont und nur mit Wiedererlangung seiner Gesundheit beschäftigt
... Er ist seit langem ganz unproduktiv und es ist nur zu wünschen, daß
er nicht ganz alle seine poetische Tätigkeit verlieren möge.«

Sorgen, die Goethe selbst während der Reise gequält, seine Seele
umschattet haben mögen! Dafür aber winkte in Göttingen der lange
entbehrte Verkehr mit den Gelehrten der dortigen Universität, ihm
für die Arbeit an der »Farbenlehre« diesmal besonders wichtig; dafür
versprach Pyrmont Kräftigung Leibes und Geistes und damit neuen
Aufschwung. Zukunft lächelte. Und so mag der ernste Mann wohl, kamen
Vergangenheit und Sorge ihm allzu nahe, derweil der Reisewagen
schwerfällig durch die sommerliche Landschaft Thüringens und des
Eichsfelds rollte, zukunftsfreudig die Schatten mit einer kräftigen
Handbewegung verscheucht, mag im kindlichen Lachen und Plaudern des
Sohnes Erquickung und Zerstreuung gefunden haben. Die kurze Meldung an
Christiane aus Göttingen, daß die Promenade ihnen, Vater und Sohn, viel
Vergnügen gemacht, war sicherlich nicht nur pure Wahrheit, sondern läßt
auch günstige Rückschlüsse auf die ganze Reise zu.

Am 13. Juni trifft man also endlich in Pyrmont ein. Es ist Nachmittag,
und der stille Ort mit seinen Straßen und schönen Alleen liegt anmutig
im Widerspiel von Abendsonne und grünem Schatten. Verstaubt und
reisemüde klettern »Vater, Sohn und Geist« vor einem alten, schlichten
Hause der Bassinstraße aus dem Wagen und atmen mit Behagen die reine,
kräftige Luft ein.

       *       *       *       *       *

Wie Pyrmont damals ausgesehen?

[Illustration]

Nun, etwas anders als heute. Ein Jahrhundert ist lange Zeit und bringt
der Veränderungen viele, und seit Goethe dort gewesen ist, ist sogar
mehr als ein Jahrhundert vergangen. Aber vieles ist auch erhalten
geblieben: nicht nur eine Fülle der bescheidenen alten Häuser mit
Satteldach und grünen Fensterläden, auch das ganz in Wipfelgrün
getauchte Schloß, das Theater, das alte Badehotel, der Tempel in
den Anlagen lassen jetzt noch dem, der richtig zu sehen weiß, die
Vergangenheit erstehen, sind Kulissen einer Welt, um die der Zauber
alles Gewesenen schwebt. Das große Kurhaus und mancherlei anderes,
das erst die Kultur unserer Tage geschaffen, muß man sich natürlich
fortdenken. Aber kommt, nach heißen Sommertag vielleicht, die Dämmerung
mit ihren Schatten und erstirbt das Leben, das tagsüber Straßen und
Alleen durchpulst, dann kann man sich wohl in jene Zeit zurückträumen,
da hier Karl Philipp Moritz, der Verfasser des »Anton Reiser«, seine
seltsame und harte Jugend verlebt, die Frau Oberstallmeister von Stein
aus Weimar blaß und lieblich Sommer für Sommer zum Brodelbrunnen
schritt, Schopenhauers, die Eltern des damals noch nicht geborenen
großen Philosophen, mit Justus Möser und Lessings Berliner Freund
Nicolai an der Quelle literarische Dispute führten, Goethe, den kleinen
August an der Hand, in dieser oder jener Allee seinen fürstlichen
Freund Carl August zum Morgenspaziergang erwartete ...

[Illustration]

Es hieße lügen, wollte man behaupten, daß Goethe sich in Pyrmont nun
glücklich gefühlt, lügen auch, daß ihm die Kur die erhoffte Erholung
gebracht hätte. Nie hat Pyrmont in Goethes Leben die Rolle gespielt
wie »das Karlsbad« oder Teplitz ... ist er doch auch nie wieder nach
Pyrmont zurückgekehrt, während die böhmischen Bäder in der Folge
alljährliches Reiseziel wurden. »Die Cur,« schreibt er am 26. Juni an
Christiane, »wird mir hoffentlich gut bekommen; ob sie mir gleich beim
Gebrauch unbequem ist, indem sie mir den Kopf einnimmt und mich nicht
das Mindeste arbeiten läßt.« In einem anderen Briefe an Christiane
heißt es, unbewußt doppelsinnig: »Es geht mir und dem Kinde noch
immer recht gut, nur bleibe ich bei der Cur zu aller Art von Arbeit
untüchtig, welches mir denn doch ein wenig lästig ist.« Und er klagt,
daß der Brunnen ihn »gewaltig angriffe«.

Der letzte Brief aus Pyrmont, rührend vor allem in der Sehnsucht nach
Christiane und Weimar, meldet dann, daß er sich leidlich befunden hätte
und von der Kur noch gute Folgen erhoffte: »Das Beste dabei war die
Bewegung und Zerstreuung.« Das schreibt er am 12. Juli, also volle vier
Wochen nachdem er in Pyrmont eingetroffen war. Ähnlich skeptisch lauten
Nachrichten an Schiller und den Weimarer Hausgenossen vom Frauenplan,
Heinrich Meyer. Schiller schreibt er am 11. Juni noch, also von
Göttingen aus, daß er sich lange nicht so wohl und heiter befunden habe
wie dort; aber am 12. Juli klagt er aus Pyrmont auch ihm, daß ihn die
Kur zu aller Arbeit untüchtig gemacht und er »hier wenig Zufriedenheit
genossen« habe; er fügt allerdings hinzu, daß er doch manches guten und
interessanten Gesprächs nicht vergessen dürfe, und -- dies rätselhaft
andeutend -- daß er »die Totalität des Pyrmonter Zustandes« so ziemlich
vor sich habe.

Das Fazit dieses Pyrmonter Zustandes zieht dann der höchst
aufschlußreiche Brief an Meyer vom 31. Juli aus Göttingen, in dem es
heißt: »... von mir kann ich wenigstens gegenwärtig sagen, daß es mir
recht leidlich geht, es sey nun, daß die Bibliothek und das akademische
Wesen, indem sie mich wieder in eine zweckmäßige Tätigkeit nach meiner
Art versetzten, mir zur besten Cur gediehen oder daß, wie die Ärzte
sagen, die Wirkung des Brunnens erst eine Zeit lang hinterdrein kommt;
denn ich kann wohl sagen, daß ich mich in meinem Leben nicht leicht
mißmutiger gefühlt habe als die letzte Zeit in Pyrmont.«

Viel hat zu der offenbaren Mißstimmung, unter der Goethe, zumal in
der letzten Zeit, in Pyrmont gelitten hat, das schlechte Wetter
beigetragen. So klagt er Christiane in einem Briefe vom 12. Juli:
»Das Wetter zerstörte alles, Cur und Spazierengehen und Geselligkeit;
heute stürmts und regnets. Ich habe einheizen lassen.« Das ist ja auch
ärgerlich. Daß der immer noch Kränkliche ferner unter der Kur zunächst
gelitten hat, ist nur natürlich: jede Kur strengt an, und vielleicht
hat Goethe in dem Bestreben, möglichst rasch Erholung zu finden, des
Guten auch etwas zuviel getan. Daß bald Arbeitslust an sich einsetzte,
ist doch ein Zeichen der Kräftigung, wenn auch der Körper sich noch
nicht so kommandieren ließ, wie der Geist es wollte. Und die Ärzte, die
ihm volle Wirkung der Pyrmonter Kur erst für später voraussagten, haben
recht behalten: Goethe ist schließlich doch frisch und gekräftigt nach
Weimar zurückgekehrt.

Erst später hat er auch erkannt, daß ihm Pyrmont in geistiger Beziehung
viel gegeben, nicht allein, wie es in jenem Briefe an Schiller noch
zurückhaltend genug heißt, manches gute und interessante Gespräch,
nein, Pyrmont mit seinen vielen Erinnerungen an alte und älteste
Zeiten hat auch seiner Phantasie neue Nahrung zugeführt, hat ihm
zum ersten Male wieder seit langen Jahren den Plan zu einer großen
dichterischen Arbeit geschenkt. Das ist jene romanähnliche Erzählung
aus der mittelalterlichen Geschichte Pyrmonts, das »Mährchen« einer
Ritterpilgerfahrt zum Hylligen Born aus dem Jahre 1582, dessen endliche
Gestaltung einem damals viel gelesenen Buche, den »+Amusements des eaux
de Spaa+« eines Herrn von Pöllnitz, ähnlich werden sollte. Wohlgemerkt:
sollte. Denn es ist nie in Angriff, geschweige denn in Arbeit genommen
worden, und wenn die unausgeführt gebliebene Dichtung Goethes auch,
wie Gräf in seinem Werk »Goethe über seine Dichtungen« richtig dazu
bemerkt, in ihrem Entwurf für uns nicht entfernt die Wichtigkeit hat
wie des Dichters Berichte über so manchen anderen liegengebliebenen
Plan, so verdient sie doch größere Beachtung, als ihr bisher geworden.

       *       *       *       *       *

Neben den Klagen über die Kur und das schlechte Wetter erzählen Goethes
Briefe aus Pyrmont aber auch manches Heitere und Lustige. Goethe war
Mensch und als solcher Stimmungen unterworfen: der idyllischen Anmut
Pyrmonts, dem Zauber seiner Umgebung konnte er sich letzten Endes so
wenig entziehen wie jeder andere. Dazu kam, neben anderer, durchaus
nicht unangenehmer Gesellschaft, die er dort gefunden hatte, das
unausgesetzte Beisammensein mit dem kleinen August, das dem Vater viele
frohe Stunden bescherte. »August ist sehr glücklich,« meldet Goethe
einmal der Mutter in Weimar, »gestern waren wir auf einem Hügel 5/4
Stunden von hier, wo Versteinerungen und Krystallisationen angetroffen
werden, deren Suchen und Auffinden das größte Fest war.« Und im selben
Briefe heißt es: »Die Lage um Pyrmont ist sehr angenehm, und in der
Nähe gibt es allerlei Merkwürdigkeiten, Mineralien, Ruinen, und was
dergleichen sein mag.«

Und was dergleichen sein mag! Hier ist einzuhaken. Denn diese an
sich nichtssagenden Worte, niedergeschrieben am 26. Juni, beziehen
sich vielleicht auf den größten Fund, den Goethe, dank den mit
seinem Söhnchen gemachten Ausflügen entdeckerfreudig gestimmt, in
Pyrmont gemacht hat -- sei es, daß er durch das Aufstöbern alter
Baulichkeiten zu geschichtlichen Lektüre über Pyrmonts Vergangenheit
verführt wurde, sei es, daß ihn erst eine solche Lektüre dazu trieb,
Gegenständliches in der näheren und weiteren Umgebung zu suchen ...
denn fast gleichzeitig meldet sein Tagebuch, auch hier wie überall
und immer gewissenhaft geführt, am 30. Juni: »... die Erinnerung
an alle merkwürdige Vorfälle, die sich denn doch wohl mögen in der
Nachbarschaft ereignet haben, erregt ein ganz eignes Interesse.«

Diese Worte: »ein ganz eignes Interesse« bedeuten bei einem so
zurückhaltenden Menschen wie Goethe viel, und nimmt man sich die
»Annalen« des alten Goethe vor, so findet man da erstens einmal die
ganze Reise nach Pyrmont genau beschrieben, in dieser Beschreibung
dann aber auch das, was damals in Pyrmont ein so hohes Interesse
bei ihm erregt hat: nämlich jene wundersame und geheimnisvolle
Massen-Pilgerfahrt zu den Quellen Pyrmonts aus dem Jahre 1582.
Schönste Ergänzung dazu: der Aufsatz »Aufenthalt in Pyrmont. 1801«
in den »Biographischen Einzelheiten«, der, wahrscheinlich 1825
niedergeschrieben, erst 1837 aus dem Nachlaß bekannt wurde.

In den »Annalen« heißt es:

»In Pyrmont bezog ich eine schöne, ruhig gegen das Ende des Orts
liegende Wohnung bei dem Brunnenkassirer, und es konnte mir nichts
glücklicher begegnen, als daß Griesbachs ebendaselbst eingemiethet
hatten und bald nach mir ankamen. Stille Nachbarn, geprüfte Freunde,
so unterrichtete als wohlwollende Personen trugen zur ergetzlichen
Unterhaltung das Vorzüglichste bei. Prediger Schütz aus Bückeburg,
Jenen als Bruder und Schwager und mir als Gleichniß seiner längst
bekannten Geschwister höchst willkommen, mochte sich gern von Allem,
was man werth und würdig halten mag, gleichfalls unterhalten.

Hofrath Richter von Göttingen, in Begleitung des augenkranken Fürsten
Sanguszko, zeigte sich immer in den liebenswürdigsten Eigenheiten,
heiter auf trockene Weise, neckisch und neckend, bald ironisch und
paradox, bald gründlich und offen.

Mit solchen Personen fand ich mich gleich anfangs zusammen; ich wüßte
nicht, daß ich eine Badezeit in besserer Gesellschaft gelebt hätte,
besonders da eine mehrjährige Bekanntschaft ein wechselseitig duldendes
Vertrauen eingeleitet hatte.

Auch lernte ich kennen Frau von Weinheim, ehemalige Generalin von
Bauer, Madame Scholin und Raleff, Verwandte von Madame Sander in
Berlin. Anmuthige und liebenswürdige Freundinnen machten diesen Zirkel
höchst wünschenswerth.

Leider war ein stürmisch-regnerisches Wetter einer öftern Zusammenkunft
im Freien hinderlich; ich widmete mich zu Hause der Übersetzung
des Theophrast und einer weitern Ausbildung der sich immermehr
bereichernden Farbenlehre.

[Illustration]

Die merkwürdige Dunsthöhle in der Nähe des Ortes, wo das Stickgas,
welches mit Wasser verbunden so kräftig heilsam auf den menschlichen
Körper wirkt, für sich unsichtbar eine tödtliche Atmosphäre bildet,
veranlaßte manche Versuche, die zur Unterhaltung dienten. Nach
ernstlicher Prüfung des Lokals und des Niveaus jener Luftschicht
konnte ich die auffallenden und erfreulichen Experimente mit sicherer
Kühnheit anstellen. Die auf dem unsichtbaren Elemente lustig tanzenden
Seifenblasen, das plötzliche Verlöschen eines flackernden Strohwisches,
das augenblickliche Wiederentzünden, und was dergleichen sonst noch
war, bereitete staunendes Ergetzen solchen Personen, die das Phänomen
noch gar nicht kannten, und Bewunderung, wenn sie es noch nicht im
Großen und Freien ausgeführt gesehen hatten. Und als ich nun gar dieses
geheimnisvolle Agens in Pyrmonter Flaschen gefüllt mit nach Hause trug
und in jedem anscheinend leeren Trinkglas das Wunder des auslöschenden
Wachsstocks wiederholte, war die Gesellschaft völlig zufrieden und der
unglaubige Brunnenmeister so zur Ueberzeugung gelangt, daß er sich
bereit zeigte, mir einige dergleichen wasserleere Flaschen den übrigen
gefüllten mit beizupacken, deren Inhalt sich auch in Weimar noch völlig
wirksam offenbarte.

Der Fußpfad nach Lügde zwischen abgeschränkten Weideplätzchen her ward
öfters zurückgelegt. In dem Oertchen, das einigemal abgebrannt war,
erregte eine desperate Hausinschrift unsere Aufmerksamkeit, sie lautet:

    Gott segne das Haus!
    Zweimal rannt' ich heraus,
    Denn zweimal ist's abgebrannt;
    Komm' ich zum dritten Mal gerannt,
    Da segne Gott meinen Lauf,
    Ich bau's wahrlich nicht wieder auf.

Das Franziskaner-Kloster ward besucht und einige dargebotene Milch
genossen. Eine uralte Kirche außerhalb des Ortes gab den ersten
unschuldigen Begriff eines solchen früheren Gotteshauses mit Schiff
und Kreuzgängen unter einem Dach bei völlig glattem unverziertem
Vordergiebel. Man schrieb sie den Zeiten Karls des Großen zu; auf alle
Fälle ist sie für uralt zu achten, es sei nun der Zeit nach, oder daß
sie die uranfänglichen Bedürfnisse jener Gegend ausspricht.

Mich und besonders meinen Sohn überraschte höchst angenehm das
Anerbieten des Rektors Werner, uns auf den sogenannten Krystallberg
hinter Lügde zu führen, wo man bei hellem Sonnenschein die Aecker von
tausend und aber tausend kleinen Bergkrystallen widerschimmern sieht.
Sie haben ihren Ursprung in kleinen Höhlen eines Mergelsteins und sind
auf alle Weise merkwürdig als ein neueres Erzeugniß, wo ein Minimum
der in Kalkgestein enthaltenen Kieselerde, wahrscheinlich dunstartig
befreit, rein und wasserhell in Krystalle zusammentritt.

Ferner besuchten wir die hinter dem Königsberge von Quäkern angelegte
wie auch betriebene Messerfabrik und fanden uns veranlaßt, ihrem ganz
nah bei Pyrmont gehaltenen Gottesdienst mehrmals beizuwohnen, dessen
nach langer Erwartung für improvisirt gelten sollende Rhetorik kaum
Jemand das erste Mal, geschweige denn bei wiederholtem Besuch, für
inspirirt anerkennen möchte. Es ist eine traurige Sache, daß ein reiner
Kultus jeder Art, sobald er an Orte beschränkt und durch die Zeit
bedingt ist, eine gewisse Heuchelei niemals ganz ablehnen kann.

Die Königin von Frankreich, Gemahlin Ludwigs XVIII., unter dem Namen
einer Gräfin Lille, erschien auch am Brunnen, in weniger, aber
abgeschlossener Umgebung.

Bedeutende Männer habe ich noch zu nennen: Konsistorialrath Horstig
und Hofrath Marcard, den Letztern als einen Freund und Nachfolger
Zimmermanns.

Das fortdauernde üble Wetter drängte die Gesellschaft öfters ins
Theater. Mehr dem Personal als den Stücken wendete ich meine
Aufmerksamkeit zu. Unter meinen Papieren find ich noch ein Verzeichniß
der sämmtlichen Namen und der geleisteten Rollen; der zur Beurtheilung
gelassene Platz hingegen wird nicht ausgefüllt. Iffland und Kotzebue
thaten auch hier das Beste, und Eulalia, wenn man schon wenig von
der Rolle verstand, bewirkte doch durch einen sentimental-tönend
weichlichen Vortrag den größten Effekt; meine Nachbarinnen zerflossen
in Thränen.

Was aber in Pyrmont apprehensiv wie eine böse Schlange sich durch die
Gesellschaft windet und bewegt, ist die Leidenschaft des Spiels und
das daran bei einem Jeden, selbst wider Willen erregte Interesse. Man
mag, um Wind und Wetter zu entgehen, in die Säle selbst treten oder
in bessern Stunden die Allee auf und ab wandeln, überall zischt das
Ungeheuer durch die Reihen; bald hört man, wie ängstlich eine Gattin
den Gemahl nicht weiter zu spielen ansieht, bald begegnet uns ein
junger Mann, der in Verzweiflung über seinen Verlust die Geliebte
vernachlässigt, die Braut vergißt; da nun erschallt auf einmal der Ruf
grenzenloser Bewunderung: die Bank sei gesprengt! Es geschah diemal
wirklich in Roth und Schwarz. Der vorsichtige Gewinner setzte sich
alsbald in eine Postchaise, seinen unerwartet erworbenen Schatz bei
nahen Freunden und Verwandten in Sicherheit zu bringen. Er kam zurück,
wie es schien mit mäßiger Börse; denn er lebte stille fort, als wäre
nichts geschehen.

Nun aber kann man in dieser Gegend nicht verweilen, ohne auf
jene Urgeschichten hingewiesen zu werden, von denen uns römische
Schriftsteller so ehrenvolle Nachrichten überliefern. Hier ist noch
die Umwallung eines Berges sichtbar, dort eine Reihe von Hügeln und
Thälern, wo gewisse Heereszüge und Schlachten sich hatten ereignen
können.

Da ist ein Gebirgs-, ein Ortsname, der dorthin Winke zu geben scheint,
herkömmliche Gebräuche sogar deuten auf die frühesten, roh feiernden
Zeiten, und man mag sich wehren und wenden, wie man will, man mag
noch so viel Abneigung beweisen vor solchen aus dem Ungewissen ins
Ungewissere verleitenden Bemühungen, man findet sich wie in einem
magischen Kreise befangen, man identifiziert das Vergangene mit der
Gegenwart, man beschränkt die allgemeinste Räumlichkeit auf die
jedesmal nächste und fühlt sich zuletzt in dem behaglichen Zustande,
weil man für einen Augenblick wähnt, man habe sich das Unfaßlichste zur
unmittelbaren Anschauung gebracht.

Durch Unterhaltungen solcher Art, gesellt zum Lesen von so mancherlei
Heften, Büchern und Büchelchen, alle mehr oder weniger auf die
Geschichte von Pyrmont und die Nachbarschaft bezüglich, ward zuletzt
der Gedanke einer gewissen Darstellung in mir rege, wozu ich nach
meiner Weise sogleich ein Schema verfertigte.

Das Jahr 1582, wo auf einmal ein wundersamer Tag aus allen Weltgegenden
nach Pyrmont hinströmte und die zwar bekannte, aber noch nicht
hochberühmte Quelle mit unzähligen Gästen heimsuchte, welche bei völlig
mangelnden Einrichtungen sich auf die kümmerlichste und wunderlichste
Art behelfen mußten, ward als prägnanter Moment ergriffen und auf
einen solchen Zeitpunkt, einen solchen unvorbereiteten Zustand
vorwärts und rückwärts ein Märchen erbaut, das zu Absicht hatte, wie
die +Amusemens des eaux de Spa+ sowol in der Ferne als der Gegenwart
eine unterhaltende Belehrung zu gewähren. Wie aber ein so löbliches
Unternehmen unterbrochen und zuletzt ganz aufgegeben worden, wird aus
dem Nachfolgenden deutlich werden. Jedoch kann ein allgemeiner Entwurf
unter andern kleinen Aufsätzen dem Leser zunächst mitgetheilt werden.«

Hier der »allgemeine Entwurf«:


    »~Aufenthalt in Pyrmont~.

    1801.

Im Jahre 1582 begab sich auf einmal aus allen Welttheilen eine lebhafte
Wanderschaft nach Pyrmont, einer damals zwar bekannten, aber doch noch
nicht hochberühmten Quelle; ein Wunder, das Niemand zu erklären wußte.
Durch die Nachricht hiervon wird ein deutscher wackerer Ritter, der
in den besten Jahren steht, aufgeregt; er befiehlt seinem Knappen,
alles zu rüsten und auf der Fahrt ein genaues Tagebuch zu führen, denn
dieser, als Knabe zum Mönch bestimmt, war gewandt genug mit der Feder.
Von dem Augenblicke des Befehls an enthält sein Tagebuch die Anstalten
der Abreise, die Sorge des Hauswesens in der Abwesenheit, wodurch uns
denn jene Zustände ganz anschaulich werden.

Sie machen sich auf den Weg und finden unzählige Wanderer, die von
allen Seiten herzuströmen. Sie sind hilfreich, ordnen und geleiten die
Menge, welches Gelegenheit gibt, diese Zustände der damaligen Zeit vor
Augen zu bringen. Endlich kommt der Ritter als Führer einer großen
Karawane in Pyrmont an; hier wird nun gleich so wie bereits auf dem
Wege durchaus das Lokale beachtet und benutzt. Es war doch von uralten
Zeiten her noch manches übrig geblieben, das an Hermann und seine
Genossen erinnern durfte. Die Kirche zu Lügde, von Karl dem Großen
gestiftet, ist hier von höchster Bedeutung. Das Getümmel und Gewimmel
wird vorgeführt; von den endlosen Krankheiten werden die widerwärtigen
mit wenig Worten abgelehnt, die psychischen aber, als reinlich und
wundervoll, ausführlich behandelt, sowie die Persönlichkeit der damit
behafteten Personen hervorgehoben. Bezüge von Neigung und mancherlei
Verhältnisse entwickeln sich, und das Unerforschliche, Heilige macht
einen wünschenswerten Gegensatz gegen das Ruhmwürdige. Verwandte
Geister ziehen sich zusammen, Charaktere suchen sich, und so entsteht
mitten in der Weltwoge eine Stadt Gottes, um deren unsichtbare Mauern
das Pöbelhafte nach seiner Weise wütet und ras't; denn auch Gemeines
jeder Art versammelte sich hier: Marktschreier, die besonderen Eingang
hatten; Spieler, Gauner, die jedermann, nur nicht unseren Verbundeten
drohten; Zigeuner, die durch wunderbares Betragen, durch Kenntnisse der
Zukunft Zutrauen und zugleich die allerbänglichste Ehrfurcht erweckten;
der vielen Krämer nicht zu vergessen, deren Leinwand, Tücher, Felle vom
Ritter sogleich in Beschlag genommen und dem sittlichen Kreise dadurch
ein gedrängter Wohnort bereitet wurde.

Die Verkäufer, die ihre Ware so schnell und nützlich angebracht
haben, suchten eilig mit gleichen Stoffen zurückzukehren; andere
spekulierten, daraus sich und Andern Schirm und Schutz gegen Wind und
Wetter aufzustellen; genug, bald war ein weit sich erstreckendes Lager
errichtet, wodurch bei stetigem Abgange der Nachfolgende die ersten
Wohnbedürfnisse befriedigt fand.

Den Bezirk der edlen Gesellschaft hatte der Ritter mit Pallisaden
umgeben und so sich der jedem physischen Andrang gesichert. Es fehlt
nicht an mißwollenden, widerwärtig-heimlichen, trotzig-heftigen
Gegnern, die jedoch nicht schaden konnten; denn schon zählte der
tugendsame Kreis mehrere Ritter, alt und jung, die sogleich Wache und
Polizei anordnen; es fehlt ihm nicht an ernsten geistlichen Männern,
welche Recht und Gerechtigkeit handhaben.

Alles dieses ward im Stile jener Zeit als unmittelbar angeschaut
von den Knappen täglich niedergeschrieben mit naturgemäßen kurzen
Betrachtungen, wie sie einem heraufkeimenden guten Geiste wohl
geziemten.

Sodann aber erschienen, Aufsehen erregend, langfaltig blendend weiß
gekleidet, stufenweise bejahrt, drei würdige Männer: Jüngling, Mann und
Greis, und traten unversehens mitten in die wohldenkende Gesellschaft.

Selbst geheimnisvoll, enthüllten sie das Geheimnis ihres
Zusammenströmens und ließen auf die künftige Größe Pyrmonts in eine
freundliche Ferne lichtvoll hinaussehen.

Dieser Gedanke beschäftigte mich die ganze Zeit meines Aufenthaltes,
ingleichen auf der Rückreise. Weil aber, um dieses Werk gehaltvoll
und lehrreich zu machen, gar manches zu studieren war und viel dazu
gehörte, dergleichen zersplitterten Stoff ins Ganze zu verarbeiten,
so daß es würdig gewesen wäre, von allen Badegästen nicht allein,
sondern auch von allen deutschen, besonders niederdeutschen Lesern
beachtet zu werden, so kam es bald in Gefahr, Entwurf oder Grille zu
bleiben, besonders da ich meinen Aufenthalt in Göttingen zum Studium
der Geschichte der Farbenlehre bestimmt hatte, wovon an seinem Ort
gehandelt worden.«

       *       *       *       *       *

Dies das »Mährchen« von Pyrmont, in der Tat wundersam und schon im
»Schema«, wie Goethe seinen Entwurf nannte, voller Reize, die in
der Ausarbeitung sicherlich noch deutlicher hervorgetreten wären.
Jedenfalls hätte diese Dichtung, als Roman oder Epos vollendet, eine
ganz einzigartig Stellung in Goethes Schaffen eingenommen: wie weit ab
liegt schon das Stoffliche von den sonstigen Interessengebieten des
Dichters! Nur im »Faust« klingt ähnliches. Aber es ist müßig, etwa
darüber zu klagen, daß Goethe die »sehr weitschichtige Arbeit«, wie er
sie fünfundzwanzig Jahre später noch nannte, Entwurf bleiben ließ; er
wird gewußt haben, was er tat, wird schon bei der Konzeption instinktiv
das Fremde gewittert haben, das wir selbst daran als unpoetisch
empfinden, und mit dem Verklärten, in Göttersphären Entrückten darüber
zu rechten, daß er so und nicht anders gehandelt, wäre kleinlicher
Eigensinn.

Interessanter, den Quellen nachzugehen, aus denen Goethe geschöpft --
gewinnt man da doch gleichzeitig einen Überblick über die Lektüre, die
der Pyrmonter Kurgast Goethe, sicherlich der erlauchteste, den das
Bad jemals beherbergt, damals gepflogen. Von »Büchern und Büchelchen«
spricht der Greis in den »Annalen« ... Forscherfleiß hat diese Bücher
und Büchelchen in alten Archiven aufgestöbert, und wenn man nun Titel
aufzählen darf wie diese: »Pyrmonts Denkwürdigkeiten, Eine Skizze
für Reisende und Kurgäste, Leipzig 1800 bei Karl Wilhelm Küchler«
und »Beschreibung von Pyrmont von Henrich Matthias Marcard, Leipzig
1784/1785 bey Weidmanns Erben und Reich«; oder liest man im Tagebuch
des Dichters von dem Eindruck, den etwa eine jene Pilgerfahrt von 1582
behandelnde Erzählung von Heinr. Bünting in der »Braunschweigischen
und Lüneburger Chronika« (Magdeburg 1620) auf ihn gemacht hat, so kann
man sich gut den bedächtigen, sorgfältig gekleideten Mann vorstellen,
wie er, diese alten Folianten und Pappbände im Arm, die Alleen Pyrmonts
durchwandelt und nach einem stillen Platz zu ungestörtem Lesen sucht.

Da stieg dann, auf geschichtlichem Boden, die Vergangenheit des
Bades aus diesen Büchern, und die dunklen Augen Goethes mögen oft
versonnen über die nahen Hügel und Berge geschweift sein, über die
schon die Legionen des Varius gezogen waren und um die noch der Spuk
mittelalterlicher Legenden geisterte ... bis ihn Freund Griesbach aus
Jena oder der kleine August, der den Vater suchte, aus seinen Träumen
weckten zu freundlichem Genuß des Tages und des gegenwärtigen Lebens.

       *       *       *       *       *

Und langsam neigte sich die Zeit, die Goethe der Erholung in Pyrmont
gönnen durfte oder wollte, ihrem Ende zu. In den Gärten blühten die
Juli-Rosen, und abends trug der Wind, der von den Bergen kam, den Duft
der reifenden Felder in die stillen Straßen. Auch regnete es oft. Das
war sehr langweilig. Denn die fremden Zimmer, auf die man dann doch
angewiesen war, wurden kalt und ungemütlich, die Reize des kleinen
Theaters waren bald erschöpft, der Kursaal, wo gespielt wurde, lockte
nicht.

Abwechslung, aber auch Unruhe hatte am 9. Juli die Ankunft »Durchlaucht
des Herzogs« aus Weimar gebracht ... der Kur Goethes jedenfalls
nicht sehr förderlich, denn Carl August war, kränkelnd und deshalb
mißgestimmt, gelegentlich auch zu alten Ausschweifungen +in Baccho et
Venere+ neigend, gewiß keine bequeme Gesellschaft.

Am 26. Juni hatte sich Carl August angemeldet. »Die fatalen Krämpfe,
mein lieber Freund,« hatte er an Goethe geschrieben, »haben endlich
doch die Überhand behalten, sie warfen mich seit Deiner Abreise
dreymahl nieder und überwiegen meine Plane, die ich in Ansehung des
Geldes und der Zeit gemacht hatte; ich komme doch nach +Pyrmonth+. Den
10. July Abends, Freytag über 14 Tage, komme ich dorten an. Erzeige mir
den Gefallen folgendes zu bestellen:

  1 Stube mit Bette für mich,

  1 dergleichen für Eglofstein,

  1 dergleichen mit 2 Betten für Kammd und Canzlist;

    2 Stuben für 3 Bedt und 2 Reitknechte, nebst geh. Betten.

    Stall und Furage auf 4 Pferde.

Wir kommen über Caßel. An +Table d'hôte+ eßen wir beyde und bedürfen
daher keiner besonderen Kost. In welchem Hause wir wohnen sollen,
ist mir gleichgültig ... Deine Gesundheit befindet sich wohl an der
trefflichen Heils Quelle erneuert und frisch belebt? herzlich wünsche
ich es. Auch ich suche Trost dorten, um mit Dir noch etliche Jahre
vergnügt und nützlich zu vertreiben.«

Ein zweiter Brief am 29. Juni meldete dann in humorvollerer Form,
daß Carl August, um Goethe möglichst wenig Mühe zu machen, seinem
»Mephisto«, d. h. den Kammerdiener Kämpfer, als Quartiermacher nach
Pyrmont vorschicken würde: »Dazu kömmt, daß den armen Teufel es gut
behagen wird, wenn er ein Tager achte ohne an meinen Leibe warten und
schaaben zu müssen, ruhig zu seinem besten baaden und trincken kann.«

Ob der Herzog, um dessen Gesundheit es wirklich damals kritisch stand,
in Pyrmont die erwartete Erholung gefunden hat, weiß man nicht. Ein
Brief Goethes an Christiane berichtet nur kurz und sachlich: »Der
Herzog ist munter und lustig.« Aber immerhin: es spricht nichts
dagegen, daß Karl August sich in Pyrmont zumindest wohl gefühlt hat;
um im Stile seiner Briefe zu sprechen, hat das Bad doch dafür gesorgt,
daß nicht die schwarze, sondern die weiße Fahne wehte, und Goethe und
er haben noch mehr als »etliche Jahre vergnügt und nützlich« zusammen
vertrieben.

       *       *       *       *       *

Am 17. Juli verläßt Goethe Pyrmont, mit »Akten und Erinnerungen reicher
beladen«, als er selbst gedacht, und vor allem, wie die nun folgenden
Tage in Göttingen zeigen, schaffensfreudig und empfänglich wie lange
nicht.

Regenwetter erleichtert den Abschied; die Sehnsucht nach der geliebten
Hausgenossin und Frau in Weimar, mit der er auf der Rückreise in
Kassel zusammentreffen will, hat den Zeitpunkt der Abfahrt ebenfalls
um Tage vorgerückt. »Mit Freuden werde ich,« schreibt er am 12. Juli
an Christiane, »Koppenfeldens Scheungiebel (das Nachbarhaus am
Frauenplan) wiedersehen und Dich an mein Herz drücken und Dir sagen,
daß ich Dich immerfort und immer mehr liebe.«

Wie schön, wie liebevoll diese wenigen Worte!

Und so verstauen sich an einem feuchten Morgen, von den Bergen weht es
kühl, und auf der aufgeweichten Straße spiegeln die Regenpfützen grauen
Wolkenhimmel, »Vater, Sohn und Geist« wieder in der schwerfälligen
Reisechaise, die sie vor vier Wochen hierhergebracht: Goethe ernst und
nachdenklich, der in Pyrmont verlebten Tage gedenkend, deren Resultat
immerhin ungewiß; August lebhaft und sich kindlich des Neuen im voraus
freuend, das die Fahrt bieten wird; Geist, der Schreiber, gleichmütig
wie immer.

In der Haustür der Wirt, der Brunnenkassierer Voigt, devot das Käppchen
in der Hand, bis die Pferde anziehen und der Wagen davonrollt ... der
brave Mann ahnt nicht, daß ihm dieser Kurbesuch Unsterblichkeit schenkt!

Erstes Reiseziel Göttingen. Dort ist Goethe, sehr tätig, bis zum 14.
August. Tags drauf trifft er dann in Kassel Christiane und Heinrich
Meyer, und im Posthaus am Königsplatz, bei der Madame Goullon, kann die
»wertheste Demoiselle« Vulpius endlich wieder nach mehr als zehn Wochen
des Hangens und Bangens den geliebten Mann und das »Bübchen« in ihre
Arme schließen.



Donnerstag nach Belvedere ...

            »Und durch die Gärten blendet der Palast
            (wie blasser Himmel mit verwischtem Lichte),
            in seiner Säle welke Bilderlast
            versunken wie in innere Gesichte,
            fremd jedem Feste, willig zum Verzichte
            und schweigsam und geduldig wie ein Gast.«

                ~Rainer Maria Rilke~


Mai Achtzehnhundertunddreizehn. Weimar hat sich von dem Schrecken
erholt, den am 18. April ein Gefecht zwischen dem Blücherschen Korps
und der Avantgarde des Marschalls Ney in seine stillen Straßen getragen
hatte. Goethe ist in Teplitz. Die kriegerischen Wirren haben ihn nicht
von der gewohnten Badereise abhalten können. Am 17. April, einem Tag
nur vor dem Kampf am Kegeltor, hat er Weimar verlassen. In Tharandt
erst hört er davon -- wie er später aus Teplitz an Christiane schreibt:
auf eine Weise, die ihn mehr verdroß als erschreckte. Seine eigene,
so wunderbare und unvorsetzliche Entfernung hätte ihm die Hoffnung
gegeben, daß das Übel auch von Weimar entfernt geblieben sein würde ...

Nun ist Christiane schon weit über einen Monat allein zu Haus. Und
langweilt sich. Sie ist mittlerweile eine rundliche, behäbige Frau
geworden und sitzt jetzt mindestens ebenso gerne in dem schönen
bequemen Rohrstuhl, den ihr der »liebe Herr Geheimderath« geschenkt
hat und der unten in der Küche neben dem Herde steht, wie sie früher
getanzt hat ... womit nicht gesagt sein soll, daß sie etwa nicht auch
jetzt noch für ihr Leben gerne tanzte. In den weichen Grübchen um Kinn
und Mund wohnt noch immer der Schalk, und die guten braunen Augen
schauen noch genau so lustig und lebensfroh in die Welt wie damals, als
sie noch die junge Demoiselle Vulpius war.

Ja, sie langweilt sich. August, nun schon längst wohlbestallter
Kammerassessor, ist wieder einmal seine eigenen Wege gegangen, und
mit der verliebten Uli, der Gesellschafterin, die ihren Riemer im
Kopf hat, ist auch nichts Rechtes anzufangen. So wandert sie durch die
Zimmer des großen Hauses. Ihr ist heute nicht so recht. Daß aus Teplitz
kein Brief gekommen, macht ihr Sorge. Und die stillen, feierlichen
Räume mit den tausend Erinnerungen an Dingen, von denen sie nichts
weiß und versteht, bedrücken sie ... der kolossale Kopf der Juno, die
Nike, die ewig gleich und ruhelos auf ihrer Kugel über den ovalen Tisch
fliegt, die Silhouetten, die Kupfer an den Wänden.

[Illustration]

Mit einem halben Seufzer tritt sie ans Fenster und blickt auf den
Platz hinab, den Maisonne mit Licht geradezu überschüttet. Ein leerer
Nachmittag. Was tun? Haus und Garten sind in Ordnung, alles blitzt,
alles funkelt, nirgends liegt ein Stäubchen. Draußen aber lacht der
junge Sommer durch die Gassen und lädt ins Freie. Sie denkt an Berka,
denkt ans Rödchen, an Belvedere. Belvedere ... das wäre etwas! Da
könnte man hübsch im Gasthof Kaffee trinken, nachher ein bißchen in den
Park gucken oder die Schwäne füttern, da würden die dummen Gedanken
schon vergehen. Und kurz entschlossen schickt sie zu Frau +Dr.+ Vulpius
herum, die nebenan wohnt, und zu Lortzings und der Demoiselle Engels,
der Sängerin: ob die Damen nicht mit nach Belvedere fahren wollten? Der
Wagen stände bereit, und Kuchen nähme sie mit.

Schon ein paar Minuten später schellt es unten ... am Torweg, wo es
zur Küche geht. Denn das Mittelportal, das zu der großen Treppe führt,
ist nur für die illustren Gäste da, das weiß ganz Weimar. Es ist die
Schwägerin. Ihr folgt die kleine Engels auf dem Fuße. Beide in ihrem
besten Staat, die frisch gestärkten Kleider rauschen, die Engels, ein
lebendiger Blumenstrauß, hat überm Arm an himmelblauem Band den großen
Schutenhut hängen. Lortzings, meldet der Diener, sind schon zu Fuß nach
Belvedere.

Und es dauert nicht lange, da biegt die offene Chaise mit den vier
Damen aus dem dunklen Torweg, und in lustigem Trab -- aus den Fenstern
am Frauenplan strecken die Nachbarn neugierig die Köpfe -- geht es
durch die Frauentorstraße, am Jägerhaus vorbei, wo Christiane als
Goethes »Klärchen« so schöne Stunden verlebt und wo sie August unter
dem Herzen getragen, in die Belvedere-Allee. Das Römische Haus ist ganz
in Flieder und Jasmin gebettet. Auch die Kastanien blühen. Das sind nun
auch schon alles große schattige Bäume geworden. In ihrer Kindheit,
entsinnt Christiane sich, führte ein elender staubiger Fahrweg nach
Belvedere; wo das Römische Haus steht, war kahles Feld; und der Park?
mein Gott, das war alles Sumpf und Wiese und graues Weidengestrüpp. Die
samtenen Rasenflächen, die jetzt da in der Sonne leuchten, die schönen
Bosketts, die schattigen Wege, das hat alles erst der Hätschelhans
geschaffen. Auch die Kastanien der Allee hat er erst angepflanzt.
Nun fährt man wie durch einen großen Garten nach dem Belvedere, und
erinnerungsversunken streicht die kleine Frau die weißen Blüten, die
von den Bäumen in den Wagen regnen, auf ihrem Schoß zusammen und
streut mit spielerischer Hand sie in den Wind, der sanft und warm die
Fahrenden umfächelt ... Grüße, die nach Teplitz wandern.

Aber das ist nur ein kurzer Augenblick. Schnell ist sie wieder mit den
Freundinnen in lustigem Gespräch, ihr helles Lachen übertönt das Rollen
des Wagens, das Getrappel des Pferdchens. Und als am Ende der Allee
hügelauf zwischen den Parkbäumen das Schloß auftaucht mit glitzernder
Fontäne, da winkt sie unbekümmert mit dem Taschentuch Willkommensgrüße
zu den herzoglichen Fenstern hinüber ... ganz Kind, ganz Lebenslust,
ganz Sommerfreude.

Im Gasthofsgarten oben, unter den Linden, suchen Lortzings, mit Hallo
begrüßt, schon nach einem schattigen Platz. Schnell ist der Tisch
gedeckt. Der Wirt, in weißer Schürze, bedient höchstselbst die lustige
Gesellschaft. Das läßt er sich nicht nehmen, wenn die Exzellenz Goethe
da ist. Die Kaffeetassen klappern, um den Kuchen summen erste Bienen,
auf dem Teiche vor der Schlehdornhecke gleiten langsam die Schwäne auf
und ab -- behaglich sitzt Christiane im warmen Blätterschatten, die
Hände im Schoß. Erzählt, läßt erzählen und denkt bisweilen auch, das
Auge traumverloren in der Ferne, wo im Sonnendufte Weimar mit seinen
Türmen liegt, an ihren lieben Geheimderath in Teplitz.

Und leise kommt der Abend. Im Parke fangen die Nachtigallen an zu
schlagen. Alle Wege umspinnt eine süße Heimlichkeit -- wie damals, als
die junge Christel, das »kleine Naturwesen«, sich zu dem Geliebten ins
Gartenhaus am Stern stahl. Durch die laue Dämmerung geht es heim, und
während aus den Wiesen Ober-Weimars weiß die Nebel steigen, singt die
kleine Engels mit halber Stimme Goethe-Lieder ...

Noch nachts schreibt Christiane nach Teplitz. Schwärmt kindlich von dem
schönen Nachmittag in Belvedere, vom Abend, wo sie zu Hause mit Uli und
der Schwägerin noch ein bißchen »Rabusche« gespielt. Und für morgen
wäre, wenn das Wetter so bliebe, »eine Partie nach Zwätzen arrangirt«,
und für Sonntag hätte die Knebel sie nach Jena eingeladen, zum Tanzen.
Und sie wäre »wie ein Vogel so vergnügt« und »sein treuer Schatz«. Und
wenn wir auch nicht wissen, ob sie wirklich so geschrieben hat, denn
ihre Briefe aus dieser Zeit sind verloren gegangen, so hat der Brief
doch sicherlich so ähnlich gelautet.

Goethe, nun doch schon ein Sechziger, lächelt behaglich, als er das
krause Geschreibsel erhält. »Ich freue mich,« antwortet er, »daß Alles
bei euch wieder im alten Gleise geht, die Besorgung der Gärten, das
Theater und das liebe Belvedere. Fahret so fort, das Nöthige zu thun
und euch zu vergnügen.« Und mag wohl auch bei diesen Worten an die
übermütigen Verse gedacht haben, die er vor noch gar nicht langer Zeit
für »Die Lustigen aus Weimar« niedergeschrieben hat, an jenes heitere
Gedicht:

    Donnerstag nach Belvedere,
    Freitag geht's nach Jena fort;
    Denn das ist, bei meiner Ehre,
    Doch ein allerliebster Ort!
    Samstag ist's, worauf wir zielen,
    Sonntag rutscht man auf das Land;
    Zwätzen, Burgau, Schneidemühlen
    Sind uns alle wohlbekannt.

    Montag reizet uns die Bühne;
    Dienstag schleicht dann auch herbei,
    Doch er bringt zu stiller Sühne
    Ein Rapuschchen frank und frei.
    Mittwoch fehlt es nicht an Rührung;
    Denn es gibt ein gutes Stück;
    Donnerstag lenkt die Verführung
    Uns nach Belveder' zurück.

    Und es schlingt ununterbrochen
    Immer sich der Freudenkreis
    Durch die zweiundfunfzig Wochen,
    Wenn man's recht zu führen weiß.
    Spiel und Tanz, Gespräch, Theater,
    Sie erfrischen unser Blut;
    Laßt den Wienern ihren Prater;
    Weimar, Jena, da ist's gut.

       *       *       *       *       *

Und ein anderer Maitag. Ein Jahrhundert und mehr ist vergangen. Ein
unseliger Krieg, der bitterste, den je ein Volk zu führen gehabt hat,
liegt hinter uns, und vieles hat in Deutschland sich geändert. Auch
Weimar hat keinen Fürsten mehr. Der höfische Glanz, der wohlgefällig
sich in den zahlreichen Hoflieferantenschildern spiegelte, ist jäh
in nichts zerronnen, die kleine Stadt ist jetzt allein auf ihre
Erinnerungen angewiesen. Sie sind die alten geblieben: der Frauenplan,
die Ackerwand, der Garten am Stern, das Römische Haus. Sie geben auch
auf dem Weg nach Belvedere noch immer ergreifend das Geleit, wo von
den Kastanien still die Blüten fallen. Ihre Zeit ist um. Ein rosiger
Schaum, bedecken sie weithin die ganze Allee. Die ist gemach ein
einziger großer Laubengang geworden, und der Enkel, der in ihrem grünen
Schatten wandert, kann sich kaum mehr vorstellen, daß das jemals anders
gewesen. Des jungen Goethe stolzer Traum ist herrlichste Erfüllung
geworden.

Langsam klettert die Straße hügelan. Ober-Weimar, ganz von rotem
Flieder umbrandet, bleibt zurück, Felder begleiten. Ab und zu ein
Haus. Aber plötzlich steigt hinter steiler Rasenwand, von dunklen
Baumbosketts gerahmt, die Schloßfassade auf -- Vergangenheit, von
Goldglanz überhaucht, blickt müde und verschlafen aus toten Fenstern
auf den Fremdling, der ihr sich naht mit bannender Gebärde, und
seltsam mengt sich in den Duft des jungen Sommers, der über Busch
und Wiesen flügelt, der strenge Hauch von welkem Laub, das irgendwo
vermodert. Und wie die breite Allee nun schmaler Weg wird und sich
behutsam näher schlängelt -- kein Gitter, keine Mauer trennen die Welt
des Gestern und des Heute --, merkt man, daß hier das Leben längst
gestorben ist. Historie hält Schloß und Park gefangen, die Wirklichkeit
wird Traum, wird Märchen.

Verhaltenen Atems wandert man um das Rondell, das vor der
langgestreckten Front liegt. Der Brunnen in der Mitte ist versiegt,
das Becken ist vertrocknet. Wo früher plätschernd die Fontäne stieg,
spielen zwei dunkle Falter, und in den steinernen Schilderhäusern neben
dem Altan hockt die Einsamkeit und träumt in die Stille. Es ist so
still, daß in der Erde man das Echo seiner eigenen Schritte hört. ...
gespenstisch still.

Auch die Gebäude, die den weiten Vorplatz malerisch umgeben, schlafen:
die sogenannten Kavalierhäuser, zwei kleine und zwei größere. Die
gebrochenen Dächer, die bizarren Türmchen stehen vor der dunklen
Parkwand wie Kulissen aus »Kabale und Liebe«. Aus dem einen, dem Haus
des Kastellans, kräuselt dünner Rauch in die blaue Luft ... das bißchen
Rauch allein verrät, daß hier noch Menschen wohnen. Sonst alles ein
leibhaftiges Rokoko -- nur tot, so tot, daß einen fast ein leises
Grauen beschleicht.

In einer Laube wartet man des Führers. Durch die Blätter kann man die
goldene Schloßfront sehen. Sie glüht wie in geheimnisvollem Leben, um
Turm und Kuppeln tanzt das Licht, der Schiefer gleißt wie flüssiges
Silber. Da naht Erinnerung und plaudert von verschollenen Zeiten.

       *       *       *       *       *

Belvedere ... schon der Name beschwört ein längst verwehtes
Gefühlsklima. Die Welt Watteaus steigt auf. Man denkt an Schäferspiele
und galante Feste. Die Fürsten Deutschlands, so lange eingewinkelt in
die engen Mauern ihrer finsteren Burgen, bauen kokette Lustschlösser
und borgen sich bei Frankreich und Italien die anmutig klingenden
Namen dafür. Überall spukt Versailles, fremd glitzern in den stillen
deutschen Gärten hinter Taxushecken und vergoldeten Gittern die
»Monbijou« und »Monplaisir«, die »Sanssouci« und »Bellevue«.

[Illustration]

In Weimar regiert Ernst August, ein üppiger, prachtliebender Herr, der
gern in stolzer Kavalkade auf die Jagd reitet, teure Reisen macht und
sich im übrigen in der alten Wilhelmsburg mit ihrem Wall und Graben
durchaus nicht wohlfühlt. Auch er träumt von Versailles, auch ihn
packt das Baufieber, das damals an den deutschen Höfen grassiert und
die seltsamsten Blüten treibt. Italienische Architekten erscheinen
in Weimar, Pläne werden entworfen, vernichtet, neu entworfen. Der
Herzog selbst, ein wenig roh zwar, aber keineswegs ohne eigenen
Geschmack und Kunstverständnis, sitzt tagelang ehrlich hingegeben über
den Rissen der fremden Künstler, und wenn die Enkel Palladios seine
Residenz naserümpfend ein elendes Nest nennen, gibt er ihnen recht
und verrennt sich immer mehr in seine kostspieligen, das Land unmäßig
belastenden Verschönerungsideen. So entsteht auf bewaldetem Berghang
bei Ehringsdorf, eine knappe Stunde Wegs von Weimar, als Jagdschloß
gedacht, zuerst Belvedere. Eine alte Chronik erzählt darüber: »Als
aber Ihro Hochfürstliche Durchlaucht Herzog Ernst August die ungemeine
schöne Lust Gegend ansahen, so traffen Höchstdieselben mit der
Ehringsdorffischen Kirche einen Tausch, und gaben derselben an dessen
Statt ein Holtz an so genanntem Kettendorfer Berge, und erbauten in
diesen Frauen-Holtz ein Lust-Schloß nebst noch andern schönen Gebäuden,
versahen solches rings herum mit Mauern, und nannten es wegen der
schönen Aussicht +Bellevüe+ oder +Belvedere+ ...«

1724 beginnt man mit dem Bau, 1732 ist er vollendet -- ein wenig
wunderlich in der Anlage, die die Flügel in Einzelgebäude zerlegt,
die Front durch die Säulendurchfahrten zerreißt, aber im ganzen
doch hübsch und gefällig in der Wirkung. Er spiegelt mit all
dem krausen Beiwerk, das den Berg überspinnt, dem Marstall, der
Orangerie, der Menagerie, der Fasanerie, den Tempeln, Grotten und
versteckten Lauben, getreu die barocke Laune, der es das Dasein
dankt, und betont doch gleichzeitig gebührend, trotz aller ländlichen
Bescheidenheit, Rang und Würde des fürstlichen Bauherrn. Joh. Heinr.
Acker, ein Gymnasialdirektor aus Altenburg, preist schon anno 1730 die
»+Augustische Bellevüe+« in einer langatmigen Ode als ein »Lust-Haus
der +Philomelen+«, und aus dem unbeholfenen Schwulst seiner Verse
steigt rührend die »sonderbahre« Schönheit des Schlosses auf:

    »Was Welschland recht und zierlich bauet
    Wird hier in gleichem Strich, und gleichem Glanz geschauet.
    Man siehet ja recht Königliche Zimmer
                                In vollem Schimmer.

    Der Römer August baute schön,
    Statt Ziegeln ließ er Marmor sehn,
    Allein August, der Held von Sachsen,
    Bey dessen Raute Kunst und Wissenschaften wachsen,
    Baut aus Metall und Porcellan Paläste
                                Für Götter Gäste ...«

Der eigentliche Baumeister von Belvedere ist unbekannt. Vielleicht ist
es der Italiener Struzzi gewesen, der etwas später für Ernst August das
reizende Rokoko-Schlößchen in Dornburg gebaut hat. Manche Ähnlichkeit
spricht dafür, aber Gewisses ist nicht zu ermitteln. Auch Ettersburg,
zur gleichen Zeit in Anlehnung an italienische Renaissance-Villen
erbaut, verrät nichts. So schnell, wie sie gekommen, sind sie auch
wieder aus Weimar verschwunden, die fremden Künstler, und nur in dem
Namen Belvedere und in manchen Einzelheiten des eigenartigen Baus
schwingt noch etwas von ihrem grazilen, südlich-lebhaften Wesen.

       *       *       *       *       *

Schicksal hat das Schloß eng verflochten mit dem Leben vieler Menschen.
Ernst August, der's erbaut, wie Goethe nach einem Porträt urteilt: »bey
übrigen trefflichen Anlagen Tyrann«, ist 1749 gestorben, einem Kind
sein Erbe lassend, und Schloß und Garten verwildern. Häßlich schreien
nachts die Pfauen in ihren goldenen Käfigen, kreischen die Affen, die
hier das Gnadenbrot erhalten. So findet es Anna Amalia, als der Sohn,
achtzehnjährig und seit einem Jahre Herzog, die braunschweigische
Prinzessin im März 1756 hier als junge Frau hinaufführt. Und gewinnt
es lieb für immer. Neuer Glanz belebt das Verfallene, die stillen
Säle und Zimmer füllt frohes Lachen. Als Ernst August Constantin nach
zwei Jahren stirbt, wählt die Witwe Belvedere als Sommerresidenz.
Der Park wird von den Schnörkeln und den Arabesken Ernst Augusts,
überlebten Spielereien, die dem gesunden Geschmack der jungen Fürstin
nicht behagen, gesäubert, die »Mauren« fallen, die jeden Blick in die
Außenwelt wehrten, und den jungen Prinzen Carl August und Constantin,
die hier Kindertage verleben, lächelt unverfälschte Natur.

Fast zwanzig Jahre bleibt es so. Das Leben in Weimar geht still
seinen Gang. Carl August wächst heran -- in nur zu vielem ganz das
wilde, ungestüme Blut des Großvaters. Kaum können Mutter und Erzieher
den Dahinbrausenden halten. Einziges Ereignis ist in dieser ganzen
Zeit der Schloßbrand vom Mai 1774. Die alte Wilhelmsburg wird Ruine,
die Herzogin obdachlos und flüchtet in das Fritschsche Haus an der
Stadtmauer, das spätere »Wittumspalais«. So ist in diesem Sommer, dem
letzten von Anna Amalias Regentschaft, Belvedere allein Residenz. Im
Jahr darauf besteigt Carl August den Thron, und in Belvedere zieht
im Sommer 1776 des Herzogs junge Frau ein, die hessische Prinzessin
Louise. Anna Amalia siedelt, schweren Herzens, nach Ettersburg über.

Damit beginnt für Belvedere die große Zeit, beginnt auch die große
Zeit Weimars. Über ein Jahrhundert ist das Schloß nun Sommeraufenthalt
der fürstlichen Familie, und erst dem Urenkel, dem jetzt vertriebenen
Großherzog, haben die Räume, in denen alle seine Vorfahren sich
behaglich gefühlt haben, nicht mehr genügt. Er hat Belvedere mit dem
modern ausgebauten Wilhelmstal bei Eisenach vertauscht.

1775, im November, aber ist auch Goethe nach Weimar gekommen. Sein
Stern leuchtet hell auch über Belvedere.

       *       *       *       *       *

Am 12. September 1776 schreibt Goethe an Charlotte von Stein, die rasch
gewonnene Geliebte: »Gestern war ich in Belveder. Louise ist eben ein
unendlicher Engel, ich habe meine Augen bewahren müssen, nicht über
Tisch nach ihr zu sehn -- die Götter werden uns allen beystehn ...«

Das ist, sieht man vom Tagebuch ab, seine erste Äußerung über
Belvedere -- sparsam genug. Kein Wort über Schloß und Park, wo er
sonst doch jeden Eindruck, den Natur und Kunst ihm bieten, geradezu
verschwenderisch umschreibt. Nur: »Louise ist eben ein unendlicher
Engel.«

Hat ihr Bild das der Landschaft verdunkelt, ihr trauriges Geschick,
schon damals, ein Jahr nach der Hochzeit, offenbar, alle Anteilnahme
seines Herzens in Anspruch genommen? Oder hat er alles, was er
schildern könnte, bei Charlotte, die als Frau des Oberstallmeisters
zur Hofgesellschaft gehörte und also oft genug in Belvedere war, als
bekannt vorausgesetzt? Wir wissen es nicht. Auch später wird er nicht
ausführlicher. Wo er Belvedere in den sonst so mitteilsamen Briefen an
Charlotte erwähnt, geschieht es kurz, nie wird es mehr als flüchtig
hingeworfene Notiz. »Ich erwarte das Pferd, um nach Belvedere zu
reiten. Die Waldnern soll schön geplagt werden,« heißt es am 21. Mai
1777. Oder, ein paar Tage später: »Ich reite nach Belvedere um Steinen
zu sprechen.« Am 8. Juni: »Heute sehe ich Sie doch wohl in Belvedere!«
Und ein wenig inhaltreicher am 12. Juni: »Heut früh war ich in
Belveder, und haben gefischt und auf der Stelle gebacken, ich und der
Waldnern Charlott, ein trefflich Essen bereitet.«

Diese Zeilen geben uns wenigstens ganz den jungen Goethe. Er ist zu
Hof befohlen und stiehlt sich mit der niedlichen Hofdame der Herzogin
Louise ins Grüne, um an einem der Teiche am Parkrand zu fischen.
Fängt auch ein paar Fische und brät sie an Ort und Stelle. Aber für
die bizarre Schöpfung Ernst Augusts, dessen geistige Physiognomie
er doch einmal in einem frühen Briefe an den Herzog nach einem
zufällig gefundenen Porträt so ausgezeichnet analysiert hat, findet
er kein Wort, nur das Tagebuch registriert einmal kurz: »Die Ruinen
ruiniert«, d. h., man säuberte den Park von den >altmodisch< gewordenen
Spielereien Ernst Augusts. Der herrliche Wald nach Buchfart mit
seinen wilden Felspartien entlockt ihm keinen Jubelschrei, der Blick
auf Weimar keinen Sehnsuchtslaut, während er doch in Ettersburg, die
abendliche Stadt zu Füßen, dieser Sehnsucht in »Wanderers Nachtlied«
erschütternden Ausdruck gibt ...

Vielleicht hat das steife Hofleben in Belvedere -- die Herzogin
hielt sehr auf Etikette -- derartige Empfindungen nicht laut werden
lassen. Dieses Hofleben beherrscht auch fast ganz die spärlichen
Briefstellen, in denen Belvedere überhaupt erwähnt wird, und zwischen
den Zeilen steht oft genug, daß ihm die »Cour in Belweder« durchaus
nicht immer Spaß gemacht hat. So seufzt er am 9. November 1778: »Zu
Anfang künftger Woche wirds von Belvedere hereinkommen, und ich werde
auch für diesmal die Sorge für Fusböden, Ofen, Treppen und Nachtstühle
losseyn, bis es wieder von vorn angeht.« Und am 27. Mai 1781, nachdem
er wenige Tage zuvor ergeben verzeichnet hat: »Heute bin ich wieder ein
Hofverwandter«, schreibt er an Charlotte gar: »Ich hatte schon alles
zusammengepackt und wollte Ihnen Vorrath auf heute schicken, als mir
der Herzog sagen läßt, ich mögte zu ihm hinauf kommen, und mir also die
Ruh und Hoffnung auf den ganzen Tag genommen ist ... die Hofnoth steh
ich nicht den ganzen Tag mit aus.«

Doch ist ihm diese »Hofnoth« manchmal auch ganz willkommen, wenn sie
ihn mit der geliebten Frau zusammenbringt. Als Charlotte im Oktober
1778 nach Kochberg auf ihr Gut geht, klagt er:

    »Von mehr als Einer Seite verwaist
    Klag' ich um deinen Abschied hier.
    Nicht allein meine Liebe verreist,
    Meine Tugend verreist mit dir.«

Da schreibt sie tröstend auf die Rückseite des Billetts: »In Belvedere
seh ich Sie heute.« Und ein andermal erklärt er: »Ich liebe Belvedere
wo ich dich heute sehn werde.« Auch gemeinsame Spazierfahrten werden
so möglich. Im Mai 1781, beide sind zu »Cour und Konzert« gebeten,
bittet er sie, da ihn der Wind wieder am Reiten hindere, ihn im Wagen
mitzunehmen, und am 26. Mai 1784 macht er ihr den Vorschlag: »Gegen
Abend dächte ich besuchten wir das Prinzgen in Belvedere und führen
über Oberweimar wo wir beym alten Docktor absteigen könnten um sein
Wetterbeobachtungs Musäum zu besehn.«

[Illustration: _Schloß Belvedere_

_Das südliche Hauptportal neben den Fenstern der Goethe-Zimmer_]

So wirft die große Liebe zwischen Goethe und Frau von Stein Abglanz
auch auf Belvedere, -- wie es zwischen 1776 und dem bösen Jahre 1789,
das den Bruch bringt, ja überhaupt keinen Ort gibt, der nicht durch
irgendwelchen Gedankenaustausch in Beziehung zu dieser Frau steht.
Es ist ein schwacher Widerschein nur, und die heiße Inbrunst, die
andere Briefe fast versengt, fehlt hier. Dafür entschädigt eine süße,
selbstverständliche Innigkeit: »Ich liebe Belvedere wo ich dich heute
sehn werde ...« zarter kann niemand Liebe eingestehen!

Um so tragischer ist es, daß Zufall ihn, nach Jahr und Tag, gerade hier
jenen bitteren Brief an die Geliebte, fast ihm schon Entschwundene
schreiben läßt, der halb Entschuldigung, halb Anklage ist. Und der das
mürbe und brüchig gewordene Band ganz zerreißt. Das kleine G. und das
Datum »Belveder d. 1. Juni 1789« stehn unter diesem Briefe wie ein
Todesurteil.

Noch einmal klingt später, fast ein Menschenalter später, als die
heißen Herzen längst kühl und müde geworden, aller Groll schlafen
gegangen, beide sich in behaglicher Altersfreundschaft wieder
zueinander gefunden, flüchtig in einem Brief Charlottens der Name
Belvedere auf. »Mögen Ihnen, mein guter Geheimerath,« schreibt sie am
27. Februar 1816 an Goethe, als dieser zur Stiftung des Falkenordens
nach Belvedere fahren muß, »die rauhen Lüfte nicht schaden, die mich
unlieblich gestern in Belvedere angeweht haben. Ihre Sie verehrende
Freundin von Stein.«

Ein Nichts, eine Bagatelle. Aber ob sie nicht beide da doch der Zeiten
gedacht haben, wo sie gemeinsam nach Belvedere zur Cour gefahren,
gemeinsam an der Tafel gesessen, gemeinsam durch den abendlichen Park
geschlendert? Nicht auch des Briefs vielleicht, der das alles dann
zerstört und der aus Belvedere datiert war?

Wer will es wissen? Es hat keiner von ihnen darüber gesprochen ...

       *       *       *       *       *

Ein Schritt knarrt über den Kies, ein Schlüsselbund klirrt: der
Kastellan. Noch immer spielen über dem Brunnenbecken die dunklen
Falter. Der alte Mann sieht sie auch. Er nickt. »Ja, früher sprang
hier die Fontäne!« meint er. »Aber diesmal haben wir noch keine Order
bekommen. Von wem auch?« Und er seufzt: »Der Gärtner wollte auch schon
die Orangen und die Palmen 'rausbringen. Aber die neuen Herren da
unten wollten es nicht. Man wüßte doch noch nicht, was überhaupt mit
Belvedere würde. Ja.« Und während er die Gittertüre aufschließt, die
das niedrige Portal schützt: »Sonst sah's hier oben schon so hübsch
aus. Aber jetzt ist alles tot!«

Ist alles tot ...

Das Wort begleitet. Dämmerige Luft schlägt kühl dem Eintretenden
entgegen -- die Luft, die Truhen atmen, die lange nicht geöffnet
wurden, halb Staub und halb Lavendel.

Da die Eingangshalle! Auf den blauweißen Kachelwänden tanzen verlorene
Sonnenkringel. In zwei Armen schwingt sich die Treppe, von japanischen
Vasen flankiert, schön zum ersten Stock; auf halber Höhe springt aus
der Treppenwand, wie eine Theaterloge, ein zierlicher Balkon ... Hat
Goethe die Halle so gesehen? Kaum. Mit den Delfter Kacheln ließ erst
die Gattin Carl Alexanders, die spätere Großherzogin Sophie, die
niederländische Prinzessin war, Wand und Treppe auslegen, und auch das
silberne Geländer, die Vasen, die Leuchter, die Bilder stammen erst
aus jüngerer Zeit. Ganze Geschlechter haben hier ja ihren wechselnden
Geschmack, ihre Moden, ihre persönlichen Liebhabereien hineingetragen,
und an die Tage, da in Belvedere Carl August und Louise Hof hielten,
erinnert nicht mehr allzuviel. Nur die Allegorien Ösers haben schon
damals von der Decke des mächtigen Speisesaals herabgeschaut, im roten
Wartezimmer sich die Hofdamen an den blassen Reliefgemälden Reyers
erfreut, in kalten Frühherbsttagen die Fayencekamine die Fröstelnden um
ihre Glut versammelt. Und hier und da erzählen auch noch verschlissene
Gobelins, verblaßte Tapeten, erblindete Spiegel von dieser Zeit.

Und wie man so durch die stillen Zimmer wandert, geben die, die
einstmals hier gewohnt, schattenhaftes Geleit. Die alten Namen
klingen, der Kastellan, in langem Hofdienst ergraut, zählt sie mit
feierlicher Stimme auf. Ein ganzes totes Jahrhundert bedrängt die
Seele. Ringsum häuft auf Konsolen, Tischchen, Etageren, Säulen sich
das Vielerlei von Andenken, Bildern und Nippsachen, das ihnen einst
ihr Leben liebgemacht, das +bric à brac+ verwöhnter Menschen; von den
Wänden lächeln in goldenen Rahmen sie selbst und die, die ihrem Herzen
nahestanden, und aus alten Kupfern und Aquarellen steigt der Duft der
Landschaften und Städte, die ihnen auf Reisen Glück und Erlebnis
gewesen ... Leben, das längst Staub und Legende, erhält für Augenblicke
wieder Blut und Atem.

Da ist der Teesalon Carl Augusts, vom Treppenhaus durch Spiegelscheiben
getrennt, in die Pflanzenornamente eingeätzt sind. Der ganze Raum, in
mattem Blau und Silbergrau gehalten, reines Rokoko: Regentschaftsstil.
Filigran überrankt Spiegel und Wände, an der Decke flattern, von Öser
gemalt, phantastische Vögel um zierliche Volieren. Die drei Fenster
rahmen das ferne Weimar. Die »Kaiserzimmer« dann erinnern an die
Kaiserin Augusta, Carl Friedrichs und Maria Paulownas eine Tochter, die
hier oft geweilt; ein weißes Schlafzimmer, das ganz modern anmutet,
hat 1898 die junge holländische Königin, eine Nichte der Großherzogin
Sophie, später die frühgestorbene Erbgroßherzogin Pauline, die erste
Gattin Wilhelm Ernsts, bewohnt. Seit 1904 steht es verwaist ... ein
süßer, heimlicher Traum. Finsterer Prunk dagegen füllt das Sterbezimmer
Maria Paulownas, den westlichen Kuppelsaal. Aus den Mittelfenstern
blickt man in den »Russische Garten«. Das riesige goldene Bett steht
wie ein Katafalk unter der hohen Kuppel -- die Liegende sah in den
Himmel: gemalte Wolken verhüllen das Gewölbe. An dem einen Fenster ein
Stehspiegel aus türkisblauem Porzellan, in der Nische ein pompöser
Lapislazuli-Schreibtisch, alles schwer und wuchtig, der Geschmack
eines Landes, dessen immer noch barbarische Instinkte in wilder
Pracht Entfaltung suchen. Ein halbvollendetes Nähkästchen, zierliche
Handarbeit, erzählt von den letzten Stunden der Großfürstin.

Sie ist es auch gewesen, die über das ganze Schloß die unzähligen
Bilder und Andenken aus Rußland verstreut hat. Sie hat Belvedere sehr
geliebt. Es ist ihr eigentliches Heim gewesen. 1824 hat ihr der alte
Goethe, der der Fremden ganz ergeben war, ein Bildchen geschickt:
»Schloß Belvedere in der Abendsonne«, er hat darunter geschrieben:

    »Erleuchtet außen hehr vom Sonnengold,
    Bewohnt im Innern traulich, froh und hold.
    Erzeige sich Dein ganzes Leben so:
    Nach außen herrlich, innen hold und froh.«

Und eine entzückende Tuschzeichnung von Diez, aus dem Jahre 1850,
die in einem der kleineren Salons hängt und sie als reife Frau
darstellt, zeigt als reizende Staffage im Hintergrunde ebenfalls den
Lieblingsaufenthalt: in den Park gebettet Schloß Belvedere.

Ein paar Räume weiter das »Aquarellzimmer«, einst der Musiksalon der
Herzogin Johann Albrecht. Die Bilder, die es schmücken, schenkten den
Namen. Es atmet französische Eleganz, die leichte Eleganz der siebziger
Jahre. Alabasterlampen, Bronzen, japanische Wandschirme, Schildpatt-
und +Cloisonné+-Arbeiten geben ein Interieur der Zeit, wie wir es auf
frühen Bildern Albert von Kellers sehen. Ganz noch die Welt des Rokoko
dagegen der Speisesaal im Mittelbau der Parkfront, ein königlicher
Raum. Köstlich ist die weiße Stuckdecke mit dem Öserschen Olymp,
köstlich die Marmorkamine mit den riesigen Spiegeln darüber, in denen
der wundervolle venezianische Lüster vielfältig glitzert, köstlich das
schimmernde Parkett. Jetzt wohnt hier die Einsamkeit. Die gelbseidenen
Polsterstühle um die Tafel herum schützen graue Bezüge, Zwielicht
schattet um die dunkelroten Säulen, und leise fällt der Staub und deckt
das alles zu. Nur noch ein vager Duft, ein Duft von welken Blumen und
von Kerzen, die lange nicht gebrannt, mahnt an verschollener Tage Glanz
und Geigenklang.

Und so das Übrige, Zimmer an Zimmer. Einmal bannen ein paar dunkle
Gemälde, die hellblaue Tapete, auf der sie hängen, gibt den Gestalten
seltsames Leben. Das eine die Kinder Carl Augusts: der Erbprinz Carl
Friedrich, die Prinzessin Caroline und der kleine Prinz Bernhard,
gemalt von Tischbein. Holdes Kinderlächeln verklärt die höfische
Grandezza, die Augen verschleiert leise Müdigkeit. Das andere Maria
Feodorowna, die Kaiserin, die Mutter der Maria Paulowna, strahlend
von Schönheit und Brillanten, ein Meisterwerk des jüngeren Lampi.
Und daneben, blasser, von unberühmter Hand, Carl Friedrich und die
Maria Paulowna. Erinnerung schmückt die toten Bilder mit Flor und
Immortellenkranz ...

Ganz Erinnerung auch das »Japanische Zimmer«, das einen Teil der
Schätze birgt, die Prinz Bernhard, der holländischer General war, von
seinen Weltreisen mit heim in das enge Belvedere gebracht hat. Die
dunkelblaue Tapete, schwere gestickte Seide, flammt in verhaltener
Glut, in den schwarzen Schränken gleißt das Perlmutt und Elfenbein, um
die Bronzen, die Vasen, die Lackarbeiten schwingt der Zauber ferner
Abenteuer. Man denkt an holländische Schlösser, wo ganze Säle voll von
diesen Dingen sind ...

Das Carl Alexander-Zimmer, den östlichen Kuppelsaal, überwölbt wieder
ein wolkiger Himmel. Er blickt, im Lauf der Jahre grau geworden,
auf totes Mobiliar herab, das hier wahllos beiseite gestellt ist,
hochbeinige Sekretäre und wuchtige Kommoden, gesprungene Spiegel und
verstaubte Bilder. Die Miniaturen, die ein großer Wandschirm trug,
hat der letzte Großherzog kurz vor dem Sturze sich an einem trüben
Novembertage noch geholt; jetzt sieht man auf der ausgefahlten Seide
nur noch die Stellen, wo sie hingen, -- kleine dunkelrote Rechtecke
und Ovale, die von einer wehen, herben Stunde erzählen! Und die
Begassche Büste der Kaiserin Augusta, die hier verloren steht, mag den
Flüchtenden bitter an den einstigen Glanz des Hauses gemahnt haben, das
so ruhmlos enden mußte.

Bleibt noch das »Lämmerzimmer«, ein Salon der Großherzogin Sophie, der
den Lämmern in den verblaßten, seidengewirkten Tapeten aus der Zeit
Anna Amalias den wunderlichen Namen dankt. Sessel stehen behaglich
um einen runden Tisch, auf einem Eckschrank leuchtet, zwischen alten
Photographien, erlesenes Porzellan, der Meißener Kronleuchter prunkt in
tausend Farben ... die, die hier oft in stiller Abendstunde gesessen,
könnte wieder eintreten, sie würde alles finden, wie sie es verlassen,
alles. Aber sie tritt nicht ein, und nie wieder wird hier Tee getrunken
werden.

       *       *       *       *       *

»Und Goethe?« Jawohl. Aus dem Hellen geht's ins Dunkle. Eine enge
Treppe schraubt zwischen dumpfem Mauerwerk sich langsam in die Höhe.
Die morschen Stufen, so lange nicht betreten, knarren. Einmal streicht
die Hand unwillig ein Spinnennetz hinweg, das häßlich-kühl um Stirn und
Kopf sich legte ... bis man dann plötzlich in der hellen Sonne steht,
oben auf dem Dachaufsatz, aus dem, achteckig, der fensterreiche Turm
emporsteigt, ein Gartenpavillon in luftiger Höh'. Der Blick reicht
weit ins Land von hier aus, in grünen Wellen breiten sich ringsum des
alten Ernst August Jagdgründe. Sein Porträt, von unbeholfener Hand
gemalt, schmückt auch die Mitte der Decke, und um ihn herum paradieren,
reichlich dekolletiert, seine acht Geliebten. Regen und Nässe haben
hier und da die Gesichter zerfressen, die Farbe ist abgeblättert, und
über die Wände kriecht häßlich der Schwamm und löst die alten Delfter
Kacheln aus dem Mörtel.

[Illustration]

Hier haben Goethe und Carl August in den ersten Jahren, als noch
die wilde Jugend des Herzogs überströmend nicht Ziel, nicht Grenze
kannte, oft in ausgelassener Gesellschaft gezecht ... sie wollten, aus
guten Gründen, keine Zuschauer dabei, und das »Tischlein deck dich«,
ein Speisenaufzug, der immer neu besetzte Platten aus der Tiefe hob
und jegliche Bedienung überflüssig machte, stammt aus jener Zeit.
Das mag lustig genug gewesen sein, wenn so die Wildschweinsköpfe,
die Fasanen, die Rehrücken und die Torten hier wie durch Zauberhand
vor den Tafelnden erschienen. Und das Singen und das Lachen und der
Lichterschein mögen das Getier, das nachts um solche Türme flattert,
die Dohlen und die Fledermäuse, recht verdrossen haben. Drang es
doch gar bis Weimar, und die ehrsamen Bürger haben genug darüber
spektakelt ...

Carl Alexander, der Enkel, hat dieses »Tischlein deck dich« dann
auch ein paarmal benutzt, allerdings in etwas soliderer Runde. Zum
letztenmal 1896, kurz bevor er nach Moskau zur Kaiserkrönung fuhr.
Der Kastellan, der jetzt das Schloß betreut, hat damals mit in dem
unter dem Turm gelegenen Anrichteraum die Speisen und die Weinflaschen
in die Höhe gedreht. Ein Blick in diesen Raum zeigt jetzt wüstes
Durcheinander. Die Flaschenzüge sind mürbe geworden, im Holze tickt der
Wurm, die Spinnen haben alles mit grauen Schleiern überhäkelt. Und die
Mäuse, die hier nachts von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel huschen, sind
das einzige Leben, das in dieser Öde sich noch regt.

»Und wo hat Goethe gewohnt?« fragt man, schon wieder in der Vorhalle
und Hut und Stock in der Hand ... denn 1789 zum Beispiel, damals, als
er an Charlotte die schweren Abschiedsbriefe schrieb, ist er mit dem
kleinen Erbprinzen sogar acht Tage lang in Belvedere gewesen. »Etwa in
den Kavalierhäusern?«

Der Kastellan stößt rechter Hand die Tür auf: »Angeblich hat er hier
gewohnt!«

[Illustration]

Zwei Zimmer. Die Decke des ersten wieder von Öser, diesmal die vier
Jahreszeiten. An der Wand einsam eine italienische Landschaft. Ein
dünnes Tischchen Gegenstück zu einem anderen in Tiefurt. Das zweite,
das Schlafkabinett, merkwürdig durch zwei Spiegel in der Fensternische,
die so gestellt sind, daß sie den Betrachter unendlich vervielfältigen.
Und das ist alles. Aber wenn man daran denkt, daß Goethe in diesen
Räumen wahrscheinlich jenen Brief an Frau von Stein geschrieben hat,
der Bande zerriß, die für ein Leben geknüpft erschienen, kann man sich
eines leichten Schauers nicht erwehren, fühlt man Goethe-Atem auch hier
und sucht nach irgend etwas, was die Erinnerung davontragen könnte.

Aber es bleibt nur der Blick durch die Fenster, und auf Busch und Baum
des Parks hat wohl auch damals sein Auge geruht, das Trost suchte und
doch nicht fand.

So geht man denn auf leisen Wegen in den Park, der weit und ruhig das
Schloß umgibt. Die Sonne ist im Sinken. Schon liegt die Gartenfront
in blassen Schatten, auf dem Dach sitzen die Amseln und singen ihr
Abendgebet. Ihr Lied ist der einzige Laut, der die unendliche Stille
belebt.

Es sind Wege Goethes, die man geht. Wie die Anlagen an der Ilm und die
Allee, die von Weimar hierher führt, ist der Park von Belvedere sein
Werk, -- wenn ihm auch der alte Herzog Ernst August mit seinen barocken
Wunderlichkeiten und Anna Amalia, die sie wieder tilgte, vorgearbeitet
haben ... sein und Karl Augusts Werk. Die leidenschaftliche Hingabe
an die freie, unverstellte Natur, das »Erdgefühl«, das damals unter
Goethes Einfluß den ganzen Weimarer Hof beherrschte, vertrug die
Schnörkelwege nicht mehr, die die steife Mode der Vergangenheit in den
alten Wald geschnitten hatten. Der Park von Wörlitz wird Vorbild, dem
nahezukommen der Fürst und sein Minister sich bemühen; ging doch die
allgemeine Neigung jetzt auf derartige »ästhetische Parkanlagen« aus.

Die Äußerungen Goethes darüber aus jungen Jahren sind spärlich. Ein
paar belanglose Briefstellen, ein paar Tagebuchnotizen -- mehr ist
nicht zu finden. Später, in den achtziger Jahren, schreibt er wohl
einmal an Frau von Stein, daß er nach Belvedere gehen und seine
»botanischen Augen und Sinne weiden« wollte; oder daß er dort mit dem
Gärtner »allerley botanica zu tracktieren« habe. Erst der alte Goethe
wird mitteilsamer. In seiner umständlichen Art erzählt er 1822 in
einem »Schema zu einem Aufsatze, die Pflanzenkultur im Großherzogtum
Weimar darzustellen«, wie im Anschluß an die Arbeiten an der Ilm
die Verschönerung des Parks von Belvedere in Angriff genommen und
durchgeführt worden ist. Dabei werden auch die Beamten genannt, die
sich um Belvedere verdient gemacht haben, so der Hofgärtner Reichert
und der Garteninspektor Sckell, auch der Legationsrat Bertuch aus
Weimar, der sechzehn Jahre hindurch die Verwaltung geführt hat,
wird lobend erwähnt. Vor allem aber war man bemüht, als Ausbau der
Orangerie einen botanischen Garten von wissenschaftlichem Wert zu
schaffen, und »die eifrige Vermehrung bedeutender Pflanzen neben den
immerfort ankommenden Fremdlingen macht«, wie der Greis in jenen späten
Aufzeichnungen erzählt »die Erweiterung in Belvedere, sowohl auf dem
Berg als in dem Tal gegen Mittag gelegen, höchst nöthig. In der letzten
Region werden Erdhäuser nach Erfindung Serenissimi angebracht, in der
letzten Zeit ein Palmenhaus erbaut von überraschender Wirkung«.

[Illustration]

Und noch einmal kommt er, 1830, auf diese Parkarbeiten zurück, als
er, damit beschäftigt, aus Erinnerung und Tagebuch die Chronik seines
Lebens in »Tag- und Jahresheften« zusammenzustellen, das »Louisenfest«
beschreibt. Am 9. Juli hatte die Herzogin Louise Geburtstag. 1778
feiert ihn der weimarische Hof in einem Gartenfest, und der Greis,
außer Knebel der einzige noch Lebende von allen denen, die es
mitgemacht, nennt es »auch für uns noch merkwürdig, als von dieser
Epoche sich die sämtlichen Anlagen auf dem linken Ufer der Ilm, wie sie
auch heißen mögen, datiren und herschreiben«.

Die Welt, die sich vor einem auftut, wenn man die schönen Gittertore
der Orangerie durchschreitet, ist noch in allem die Goethes. Die
Menschen aus »Wilhelm Meister« haben hier ihr Klima. Die ganze Anlage,
die ja in der Hauptsache noch von Ernst August stammt, ist bestes
Rokoko. In mächtigem Halbrund säumen die Gewächshäuser den Garten,
der, groß und leer, auf die Oleander- und Orangenkübel wartet; wo die
Flügel zusammenstoßen, liegt, gleichzeitig Endpunkt der Allee, das
schloßartige Haus des Gärtners mit seiner gelben, leicht eingebuchteten
Front.

Und es ist wirklich fast alles noch wie einst. Noch immer werden
die Gewächshäuser durch Steinkanäle erwärmt, die mit Holz gefeuert
werden, die Arbeiter richten sich nach Goethes Sonnenuhr. Es ist ein
eigentümliches Gefühl, vor denselben Myrten, Zypressen und Palmen zu
stehen, die schon Goethe und Carl August bewundert haben. Auch hier
haben die Nachfahren manches nach der Mode ihrer Zeit verändert,
Grotten im Geschmack der fünfziger Jahre eingebaut und kleine Bassins
mit Goldfischen, das »Erdhaus« zum Wintergarten umgestaltet. Ein
heimlicher Platz unter blühenden Zimmerlinden erinnert durch eine
Bank an Maria Paulowna, und es berührt seltsam, sich zu denken, daß
in dieser bescheidenen Umgebung die verwöhnte Großfürstin mit ihren
Kindern glücklich gewesen ist ...

Ein kleiner Teesalon aus roten Ziegeln schließt das Ganze nach Süden
ab. Der Belvederehügel fällt hier steil zu Tal, man sieht weit ins
Land, die nahe Landstraße bot Abwechslung und Zerstreuung. Es ist
der »chinesische Tempel«, der einst im Garten des Wittumspalais auf
der Stadtmauer gestanden hat. Jetzt füllt Gerümpel ihn, die seidenen
Vorhänge sind zerfetzt, Bohnenstangen und Holzjalousien verdecken die
zarten Chinoiserien Ösers, und von der Decke fällt der Putz ...

Wie lange mag es her sein, daß hier an stillen Sommerabenden der Hof
den Tee genommen, lustige Hofdamen mit den bezopften Herrschaften an
der Wand gescherzt, Carl August mit der schönen Caroline Jagemann
gesessen, und die Pagen servierten Eis und französischen Champagner?

Es war einmal. Böse schwelt jetzt hier häßlicher Verfallsgeruch, und
die Öserschen Gestalten blicken in eine Welt, die diese leichten Spiele
der Seele nicht mehr versteht. Eine andere Zeit ist angebrochen.

       *       *       *       *       *

Und noch ein letzter Blick in den »Russischen Garten« am anderen Ende
des Parks ... es ist der Garten, in dem Maria Paulownas Kinder ihre
Bäume, ihre Beete, ihre stillen Plätze hatten; aus den Fenstern ihres
Schlafzimmers konnte sie dem Spiel der Prinzessinnen zusehen, und von
ihr mag dieser Teil des Parks dann wohl den Namen erhalten haben, unter
dem er jetzt als besondere Sehenswürdigkeit gezeigt wird. Aber an sich
stammt auch er aus der Zeit Carl Augusts.

Schon hängen die Abendschatten in den Baumkulissen der Naturbühne.
Wie auf den Höhen Ettersburgs und in Tiefurts Tal wurde auch hier
oft »unter dem Gewölb der hohen Nacht« Theater gespielt, und in die
Verse Goethes klang das Liebesflüstern der Vögel, das Rauschen des
Windes. Vorbei! Aus diesen Hecken tritt keine Iphigenie mehr, auf den
Rasenbänken davor werden keine Zuschauer mehr Platz nehmen. Das Grab
Corona Schröters in Ilmenau deckt schwer der Stein, und die hier einst
voll froher Lust sich in geträumten Leben ein Abbild des wirklichen
erschufen, im schmerzlichsüßen Klang von Geige, Waldhorn und Fagott die
Seele wiegten, sie liegen alle still und stumm in ihren Särgen in der
Fürstengruft in Weimar -- Väter, Söhne und Enkel.

Noch einmal naht Vergangenheit, wenn man am Marstall vorbei zu dem
alten Gasthof schlendert ... die Straße seltsam ein Bild aus dem 18.
Jahrhundert, der Garten, von Flieder und Jasmin ganz eingesponnen, noch
immer genau so wie damals als hier Christiane mit den »Lustigen aus
Weimar« gesessen, zu Pfingsten und wenn die Rosen blühten und auch im
Herbst, wenn die Kastanien schon Rauschgold auf alle Wege streuten.

Als 1816 Goethes langjähriger Kutscher, der treue Dienemann, der ihn so
oft nach Karlsbad gefahren, heiratet, verschafft Christiane ihm durch
Fürsprache die Pacht des Schloßgasthofs. Ihr Tagebuch meldet am 8.
April: »Dienemann und seine Frau ziehen ab. Ihr Wirtschaftsgeräte nach
Belvedere. Die neue Köchin tritt an.«

Sie hat gewiß gedacht, dem vertrauten Mann hier oben noch oft zu froher
Stunde zu begegnen. Aber wenige Wochen später ist sie schon tot, und
Goethe gesteht schmerzlich, daß der ganze Gewinn seines Lebens sei,
ihren Verlust zu beweinen.

       *       *       *       *       *

Ist er noch oft in Belvedere gewesen? Gewiß. Doch sicherlich nie, ohne
an die zu denken, die hier so gerne geweilt. Als die Schauspielerin
Ernestine Durand, einst als Demoiselle Engels die Freundin der Toten,
den Greis im Jahre 1826 bittet, ihr ein paar Worte ins Stammbuch zu
schreiben, steigen die Tage von Belvedere wieder vor ihm auf, und wie
ein leises Echo verwehter Freuden entklingen ihm die schwingenden Verse:

    »Donnerstag nach Belvedere!«
    Und so gings die Woche fort;
    Denn das war der Frauen Lehre:
    Lustige Leute, lustiger Ort!
    Üben wir auf unsern Zügen
    Auch nicht mehr dergleichen Schwung,
    Stiftet inniges Vergnügen
    Heitern Glücks Erinnerung.



Advent von Achtzehnhundertsieben

+In memoriam+ Minchen Herzlieb

            ... Und war es nur ein Schein, --
            Sie lag in meinen Armen.
            War sie drum weniger mein?

                ~Goethe~


Jena im November. Um den »Hanfried«, Johann Friedrichs des Großmütigen
ehrwürdiges Denkmal mit dem altmodischen Eisengitter, raschelt das
letzte welke Laub -- freigebig verstreuen es die Bäume des Marktes,
und nicht lange mehr, so stehen sie kahl, und allein die grauen,
verwitterten Häuserrahmen dann den weiten Platz.

[Illustration]

Früh kommt die Dämmerung. Sie kriecht von den Bergen her durch die
engen, winkligen Gassen der Stadt, umschattet die Türme, hängt
feuchte Schleier um Giebel und Dächer und hockt sich in die Tür- und
Fensternischen. Sie kommt auch zu dem Fremdling, der bei Göhre sitzt
und auf den Markt herabschaut, vom schweren roten Wein ein wenig
müde. Setzt sich zu ihm in das dunkle Fenster und erzählt von der
Vergangenheit. Die zu suchen, ist hier der Fremdling von Weimar, der
gnadenreichen Stadt, herübergefahren, und blasse Mittagssonne hat auf
stiller Wanderung alle Wunder des »lieben närrischen Nestes« enthüllt.
Nun, da der Abend nahe, lockt die schattenhafte Stadt zu neuer
Wanderung. Vielleicht, so raunt die dunkle Stunde, daß sich ein Wunder
begibt und, was die langen Jahre friedlich in Gräbern und in Grüften
ruht, für kurze Zeit lebendig wird und wandelt ... vielleicht, daß die
Legende einmal aufersteht, die diese Stadt und diese Straßen verklärt!

Dunkel die Häuser, dunkel der Weg. Laternenlicht huscht über schwarze
Mauern. Merkwürdig stehen, wo sich die Gassen kreuzen, die Giebel gegen
den blassen Himmel -- Kulissen zu Szenen und Geschichten, wie sie der
Geist zuweilen in Nächten ohne Schlaf aufbaut und die im Hirn der
Dichter als Träume leben. Einmal steht man auf hochgewölbter Brücke
und blickt versonnen auf eines Flusses ruhevolles Gleiten, Baumwipfel
spiegeln sich, ein helles Fenster. Dann wieder Gassen hin und her,
Parkanlagen, aus denen herber Duft steigt, in schwarzem Rasen leuchtend
eine weiße Herme, hinter schwarzen Bäumen hell der Sandsteinbau der
Universität.

Hier stand einst das Schloß. Goethe hat oft darin gewohnt, in Knebels
»alter Stube«, in der er sich immer so wohl gefühlt hat. Es muß ein
düsterer, winkelreicher Bau aus Urvätertagen gewesen sein, dies alte
Schloß, halb verfallen schon zu Goethes Zeiten. Daß es abgerissen
wurde, ist trotzdem ein Unrecht, die Tat einer pietätlosen Zeit, der
Erinnerungen Schall und Rauch. Ein Bürger Jenas hat damals den Torbogen
gerettet, durch den Goethe und Schiller und auch Carl August so oft
geschritten sind, und hat ihn in die Mauer seines Gartens einfügen
lassen, weit draußen vor den Toren der Stadt, im Mühltal. Auch in dem
Winter auf 1808 hat Goethe hier gewohnt, jenem Winter, in dem das Herz
des fast Sechzigjährigen sich in jäher Liebe Minchen Herzlieb zuwandte,
der schönen Pflegetochter des Buchhändlers Frommann, und wenn Goethe da
nachmittags oder abends zu Frommanns ging, so hatte er keinen Weg zu
machen: sie wohnten nur ein paar Schritte ab, gleich schräg gegenüber.

Nur ein paar Schritte ab, gleich schräg gegenüber ... das schlichte
Haus steht noch da, niedrige Mauer trennt es von der Straße, an die
es nur mit dem einen Flügel heranreicht, der andere, mit jenem durch
einen fensterreichen Mittelbau verbunden, endet in einem Gärtchen. Der
frühe Abend, nun schon ganz zu Dunkelheit geworden, läßt nur Umrisse
erkennen, doch über Dach und First fliegt ab und zu ein blasser
Glanz, wenn der Mond für Augenblicke aus den eilig wandernden Wolken
hervortritt: Theater, das Beschwörung haucht. Und irgendwo rauscht
Wind, irgendwo schlägt eine Uhr, langsam und bedächtig, der Fremdling
zählt die Schläge ... fünf, sechs, sieben. Stille. Sieben Uhr! Da
gleitet ein Schatten vorüber, eine große Gestalt, »im weiten Mantel
bis ans Kinn verhüllt«, auf dem Kopfe einen niedrigen Zylinder. Traum!
Denn dies, das Herz setzt aus und klopft dann wilden Takt, ist Goethe!
Auferstanden von den Toten ... also hat sich der Zeiger der Weltuhr
gedreht, hat sich das Wunder begeben, sind hundert Jahre ein Nichts
geworden?

[Illustration]

Gleichviel ... auf fliegt der eine Torflügel, wie von Geisterhand
berührt, Schritte hallen über den Hof, ein Klopfen zerreißt die
abendliche Stille, Fenster werden hell, eine Türe tut sich auf, und im
warmen Lampenschein steht eine Mädchengestalt, rührend, lichtumflossen,
Gretchen in der Mode von 1800, ein Häubchen deckt das dunkle Haar. Dem
Lauscher vor dem finsteren Tor wird heiß ... »Guten Abend, Exzellenz!«
Willkommenssingsang, lieblichster, aus Mädchenmund. Und die dunkle
Gestalt im Mantel breitet froh die Arme: »Lieb Kind! Mein artig Herz!«

Und die Türe fällt zu, die Fenster werden wieder dunkel, schweigend
liegt das Haus. Goethe und Minchen Herzlieb! Der Fremdling schauert.
Wind fährt die Straße herauf, feuchter Wind von den Saalewiesen, der
frösteln macht, Ziegeln klappern, an der Mauer scheuern sich ächzend
Zweige.

War's Spuk?

Ein Traum erregter Sinne? Vision aus Büchern?

Gassen, nun schon schwarze Nacht, führen wieder zum Markt, zu Göhre
... mit dem putzigen kleinen Zigarrenladen, mit der Wendeltreppe,
mit den alten Stuben und den alten Sofas: Raabe-Klima. Das läßt gut
weiterträumen.

       *       *       *       *       *

Jena im November. Tage der Versunkenheit. Der spürenden Erinnerung
erschließt sich die Vergangenheit, und der Jenaer »Advent von
Achtzehnhundertsieben«, der sich in Goethes Brust nach eigener
Konfession mit Flammenschrift eingeschrieben, ersteht aufs neue.

Wie war das doch mit Minchen Herzlieb?

Am 13. Dezember 1812 empfiehlt Zelter Goethe in einem Briefe einen
Berliner Gymnasialprofessor namens Pfund, der nach Weimar kommen werde.
Goethe antwortet am 15. Januar 1813 dem Freunde: »Herrn Pfund habe ich
gern und freundlich, obwohl nur kurze Zeit gesehen. Er empfahl sich mir
besonders durch seine Anhänglichkeit an Dich. Seine Braut fing ich an
als Kind von acht Jahren zu lieben und in ihrem sechzehnten Jahr liebte
ich sie mehr als billig. Du kannst ihr auch deshalb etwas freundlicher
sein, wenn sie zu Euch kommt.«

[Illustration: _Das Haus des Buchhändlers Frommann zu Jena_

_Im Querbau oben die Fenster des Wohnzimmers_]

Diese Braut, von der Goethe spricht, war Minchen Herzlieb. Er lernte
sie tatsächlich schon früh kennen, wenn auch nicht als Kind von acht,
so doch von neun Jahren. Sie war eine Pflegetochter des Buchhändlers
Friedrich Ernst Frommann in Jena, in dessen Haus Goethe seit 1798,
wo dieser kluge und tiefgebildete Mann von Züllichau nach Jena
übergesiedelt war, viel und freundschaftlich verkehrte. Denn er fand
dort fast das ganze geistige Jena jener Zeit, und es ist nicht allein
Frommann selbst gewesen, der sein Haus zu diesem Sammelpunkt von
Dichtung und Wissenschaft zu machen verstand, sondern vor allem wohl
auch seine Frau, die mit aller bürgerlichen Bescheidenheit Grazie und
Anmut und geistige und künstlerische Interessen zu verbinden wußte.
Ihr Sohn, der später die Frommannsche Buchhandlung übernahm und im
Geiste des toten Vaters weiterführte, hat ihr 1870 in seinem kleinen
Buche »Das Frommannsche Haus und seine Freunde« ein rührendes Denkmal
gesetzt, und auch Goethe hat immer viel von dieser seltenen und noch
im Alter anmutigen Frau gehalten -- seine zahlreichen Briefe an die
»teure Freundin«, seine besorgten Anfragen nach ihrem Wohlergehen,
seine häufigen Besuche, seine wiederholten Einladungen nach Weimar
bezeugen das.

In diesem gastfreien und lebendigen Hause nun wuchs Minchen Herzlieb
auf, eine Waise, die Tochter eines Pfarrers aus Züllichau, wo sie
am 22. Mai 1785 geboren worden war. Sie war neun Jahre alt, als die
Pflegeeltern nach Jena kamen, ein hübsches, zutrauliches Kind, das
neben den Stiefgeschwistern still und ruhig dahinlebte und Goethe,
der für hübsche Kinder immer eine Vorliebe hatte, wohl gefallen haben
mag. Für ein Mehr an Gefühl allerdings fehlt aus diesen frühen Jahren
jeder Beleg. Auch seine spätere Äußerung zu Zelter ist wohl kaum so zu
deuten, scheint vielmehr ein wenig scherzhaft gemeint, wenn auch von
einem leisen Klang der Wehmut durchzittert, daß er die, die er nachher
»mehr als billig« geliebt, so rasch verlieren mußte ... Daß sie ihm,
unbewußt, schon als kleines Mädchen mehr gewesen ist als bloß das
hübsche Pflegekind der Freunde, ist ihm erst klar geworden, als die
Liebe zu dem reizvoll aufgeblühten Wesen die Erinnerung auch an das
Einst verklärte, -- wie der gereifte Mann ja oft schon das Kind geliebt
zu haben glaubt, das seinem Herzen später als Frau teuer ist. In einem
der Sonette, die er später in »Raserei der Liebe« an sie gerichtet, hat
er diese nachträglichen Empfindungen reizvoll umschrieben:

    Als kleines art'ges Kind nach Feld und Auen
    Sprangst du mit mir, so manchen Frühlingsmorgen.
    »Für solch ein Töchterchen, mit holden Sorgen,
    Möcht' ich als Vater segnend Häuser bauen!«

    Und als du anfingst, in die Welt zu schauen,
    War deine Freude häusliches Besorgen.
    »Solch eine Schwester! und ich wär geborgen:
    Wie könnt' ich ihr, ach! wie sie mir vertrauen!«

Doch das heißt der Zeit vorgreifen! Jahr und Tag gingen zunächst
hin, ohne daß Goethe das holde Wunder, das sich da in dem Haus am
Fürstengraben entfaltete, mit den Augen des Mannes, des Liebhabers
gesehen hätte. Das entdeckte als erster ein junger livländischer
Edelmann, der in Jena studierte und bei Frommanns verkehrte, ein Herr
von Manteuffel. Minchen war damals noch nicht vierzehn Jahre, und nach
der Schilderung, die der Stiefbruder in seinem Buche gibt, muß sie
entzückend gewesen sein, schon ganz das schöne Geschöpf, das wenige
Jahre später dem sechzigjährigen Goethe Pandora, die milde Göttin, und
die Ottilie der »Wahlverwandtschaften« wurde: »So gesund sie von Jugend
auf war, entwickelte sie sich doch geistig nur langsam und behielt ihr
Leben lang etwas Träumerisches. Eine regelmäßig schöne Gesichtsbildung
hatte sie zwar nicht, aber ihr reiches schwarzes Haar und ihre großen
braunen Augen mit dem unbefangenen freundlichen Ausdruck, der auch
um ihren Mund spielte, ließen nicht an das denken, was etwa fehlen
mochte, zumal alles in Harmonie war mit dem Ebenmaß ihrer schlanken
Gestalt und der Anmut jeder ihrer Bewegungen, beseelt durch allgemeines
Wohlwollen, bescheidenes, hingebendes, auf alle Bedürfnisse und
nicht ausgesprochenen Wünsche der anderen aufmerksames Wesen. So war
es natürlich, daß sie auf alle, die ihr, wenn auch nur in gewisser
Entfernung, nahten, einen unwiderstehlichen Zauber übte, der sich auch
noch in späten Jahren alle Herzen gewann.«

So auch ein Bild von ihr aus diesen Jahren, ein Miniaturporträt von der
Hand Johanna Frommanns, die als Mutter vielleicht mit den Augen der
Liebe gesehen, aber aus dem gleichen Grunde sicherlich den geistigen
Ausdruck des geliebten Kindes besser getroffen hat als mancher
Berufskünstler. Das ist schon die Ottilie Goethes, die in der Pension
in ihrer rührenden, ein wenig dumpfen Einfalt und Bescheidenheit das
Herz des »Gehülfen« rührt, später, auf Eduards Schloß, diesen in
ihren Bann zieht ... die dunklen, unschuldsvollen Augen sind leicht
verschleiert, mädchenhafter Liebreiz liegt um Wange und Mund, das
lockige Haar rahmt eigenwillig das zarte Antlitz. Minchen hat dies Bild
einer Freundin geschenkt, Christiane Selig, als diese im Sommer 1806
Jena verließ und nach Lüneburg zog. Christiane Selig, die dort dann
bald heiratete, war auch das einzige Wesen, dem gegenüber Minchen etwas
mehr aus sich herausging, war die Vertraute, vor der sie, im übrigen
von einer fast krankhaften Verschlossenheit und Mitteilungsscheu,
keine Geheimnisse hatte. Mit ihr allein stand sie in brieflichem
Gedankenaustausch, und die wenigen Blätter von ihrer Hand, die aus
diesem Briefwechsel erhalten sind, sind die einzigen Briefe, die wir
überhaupt von ihr besitzen -- Dokumente einer stillen, verträumten
Natur, die sich in Selbstanklagen und Zweifeln gefiel, im Ton oft
überschwenglich und auf der anderen Seite von einer rätselhaften
Schwermut beschattet: Ottilien-Briefe!

»Die lieblichste aller jungfräulichen Rosen« nennt sie, ein wenig
später, die Malerin Luise Seidler. Auch sie hat Minchen gemalt; das
schöne Bild, wie das viel herbere der Mutter nun auch im Goethe-Haus
am Frauenplan, dem es Vermächtnis, atmet den ganzen süßen Reiz dieser
Mädchengestalt in seelischer Verklärung: eine Novelle in Farben.
Novelle auch, wenn die Künstlerin weiter schwärmt: »... mit großen,
dunklen Augen, die, mehr sanft und freundlich als feurig, jeden
herzig-unschuldsvoll anblickten und bezaubern mußten; die Flechten
glänzend rabenschwarz; das anmutige Gesicht vom warmen Hauche eines
frischen Kolorits belebt; die Gestalt schlank und biegsam, vom
schönsten Ebenmaß, edel und graziös in allen ihren Bewegungen. Sie
liebte schlichte weiße Kleider; gewöhnlich trug sie auch beim Ausgehen
keinen Hut, sondern nur ein kleines Knüpftüchelchen, unter dem Kinn
zugebunden.«

So also lebte sie, ein liebenswürdiges Menschenkind, in dem schönen
Haus am Fürstengraben, so ging sie durch die Gassen des alten Jena,
Friederike Brion in neuer Gestalt. Die häusliche Wirtschaft, eine
Mädchenfreundschaft, arglose Tändelei mit Jenas Studenten, Spaziergänge
zum »Paradies«, war's Sommer, nach den Mühlen der Umgebung und wohl
auch nach Burgau, Zwätzen und Lobeda, füllten dieses Leben aus. Wer
sich ein wenig Mühe gibt, der findet auch im heutigen Jena noch
genug, das diese alte Zeit heraufbeschwört, da Minchen Herzlieb mit
dem Körbchen am Arm zum Krämer sprang oder des Sonntags sittsam zur
Stadtkirche schritt -- denn wie die Ottilie ihres großen Freundes hatte
sie, das Pfarrerkind, immer eine Neigung zum Kirchlichen, und das
Geheimnisvolle des Gottesdienstes mag ihrem träumerischen, kindlich
hingebenden Wesen ein notwendiger Ausgleich zum Alltag gewesen sein.

Der junge Student, der zuerst das Weib in ihr gesehen und wohl auch
geweckt, verließ nach einigen Jahren Jena. Warum? weiß man nicht
... wie überhaupt diese ganze Episode in Dunkel gehüllt ist und nur
ein schwaches Licht erhält aus Briefen Minchens an die Freundin in
Lüneburg. Da klagt sie, daß er ein Bild von ihr eigenmächtig mit auf
die Reise genommen habe, fühlt sich dadurch verletzt, in ihrem Ruf
gefährdet und doch geschmeichelt. Neugierig fragt sie die Freundin, ob
sie nicht wisse, was aus ihm geworden. Melancholie umflort die Zeilen.

[Illustration]

Ja, hat sie diesen Herrn von Manteuffel wirklich geliebt?
Wahrscheinlich, wie ein junges Mädchen, dem zum ersten Male ein Mann
verehrend naht, eben liebt. Und wenn er auch später so etwas wie
eine Idealgestalt für sie wurde, ihr Herz sein Bild nicht vergessen
konnte -- daß es sich um eine wirklich tiefe Neigung gehandelt hat,
scheint wenig glaublich. Eine Jugendliebe war's, wie andere sie auch
gehabt, kaum mehr. Wie überhaupt Minchen ihrer ganzen Veranlagung
nach einer schenkenden, beglückenden Liebe kaum fähig gewesen sein
dürfte, weder in jungen noch in späteren Jahren. Wesen wie sie
entzünden wohl Neigungen und träumen sich wohl auch selbst in Glut;
aber alles in allem ist ihr Reich nicht von dieser Welt, sie vermögen
die Neigung nicht zu erwidern, die entfachte Glut nicht zu löschen.
Sie war eigentlich die geborene Himmelsbraut. Dafür spricht auch der
erschütternde Verlauf, den das weitere Leben dieser +anima candida+
genommen, dafür die tragische Erfüllung ihres Schicksals, dagegen
keineswegs das Goethe-Erlebnis, das diesem Mädchenleben flüchtigen
Inhalt, ihrer Gestalt Unsterblichkeit gegeben hat.

Das Goethe-Erlebnis -- wann begann es, wann endete es? Auch hier
das merkwürdige Zwielicht, das über so vielen Liebesepisoden des
großen Dichters schwebt. Von ihm vielleicht mit Absicht nicht durch
Bekenntnisse und Mitteilungen unmittelbarer Natur aufgehellt, um
dieser späten und ergreifenden Leidenschaft nichts von ihrem Duft,
von ihrem Schmelz zu rauben; und Minchen Herzlieb selbst, die ja,
soweit wir sehen, eine etwas passive Rolle dabei spielte und über den
wahren Umfang von Goethes Neigung sich vielleicht nie ganz im klaren
gewesen sein dürfte, war gar nicht in der Lage, nähere Aufschlüsse
zu geben. Wo sie es getan, in brieflichen Äußerungen der Zeit, in
späteren Mitteilungen, die man der Schweigsamen entlockt, hat sie sich
auf Andeutungen beschränkt oder vielleicht beschränken müssen, weil
ihre persönlichen Erinnerungen zu arm waren ... mit einer Friederike
Brion, einer Lotte Buff, einer Lili, einer Charlotte von Stein, einer
Marianne von Willemer und deren Erinnerungen darf man das schöne
Mädchen von Züllichau nicht vergleichen. Minchen, eben erblüht und vom
ersten Glanz der Jugend umwittert, hat auf Goethe einen weit tieferen
Eindruck gemacht als dieser, der »liebe alte Herr«, auf das blutjunge
Mädchen. Sie ließ es sich gefallen, angeschwärmt zu werden; aber wieder
schwärmen, das konnte sie nicht. Sie neigte nur demütig und dankbar,
vielleicht sogar ein wenig verständnislos, das Haupt. Die anderen alle
haben Goethe geliebt.

Es mag wohl um die Zeit gewesen sein, da noch der junge livländische
Student das Herz Minchens besaß, daß Goethe gewahr wurde, wie aus dem
kleinen Mädchen ein Weib, aus der Knospe über Nacht die schwanke,
taufrische Rose geworden war. Das war im Herbst 1806, kurz vor den
Schreckenstagen der Schlacht bei Jena. Goethe weilte damals vom 26.
September bis zum 6. Oktober in Jena; wie sein Tagebuch meldet, war er
oft »abends bey Frommanns«, und während er dort mit der Familie und den
Freunden des Hauses um den Teetisch saß, vorlesend oder zeichnend und
auf das Gespräch der anderen lauschend, mag sein Auge wohl bisweilen
entzückt auf der sylphidenhaften Gestalt Minchens geruht haben, die
leise hin und her ging und die Mutter mit kleinen Handreichungen in
der Bewirtung der Gäste unterstützte ... mag sein Dichterherz mit
unbewußter Eifersucht den Abglanz erster Liebesfreuden und Liebesleiden
in dem jungen Antlitz empfunden haben.

Goethe eilte dann nach Weimar, wie es die unsicheren Verhältnisse
geboten. In einer Schilderung dieser Tage erzählt Johanna Frommann,
wie sie mit Minchen am Fenster gestanden habe, als Goethes Wagen unten
vorbeifuhr. Der Freund hatte sie wohl gesehen. »Er hielt und schickte
noch herauf, uns ein Lebewohl sagen zu lassen; uns war, als entflöhe
unser Schutzgeist -- er blieb uns doch. Wer in seiner Nähe gelebt hat,
wird sich des wohltätigen Eindrucks ewig erfreuen können ...«

Die verhängnisvolle Zeit, die dann folgte, ging an Jena, ging auch
am Frommannschen Hause gnädig vorüber, trotzdem gerade der »Graben«
ein Tummelplatz der aufgelösten Soldateska war. Von Goethe traf noch
am Sonnabend der Unglückswoche ein Rundschreiben in Jena ein, in dem
er die dortigen Freunde, darunter natürlich auch Frommanns, um ein
Lebenszeichen ersuchte: »Ich bitte daher Nachverzeichnete, nur ein Wort
auf dieses Blatt zu unserer Beruhigung zu schreiben. Was mich betrifft,
so sind wir durch viel Angst und Not auf das glücklichste durchkommen.«
Ob er nicht um Minchen zumal besorgt gewesen ist, deren Schönheit in
diesen Tagen fremder Einquartierung eine besondere Gefahr bildete? Frau
Frommann mag so etwas gefühlt haben, und sie antwortete: »Unerlaubt
froh sind Minchen und ich gestern abend über die guten Nachrichten
von Ihnen gewesen, da es doch noch so viel anderes Unglück gibt! Ach,
als Sie fortfuhren, war es, als wiche unser Schutzgeist! Er war nicht
gewichen, die Worte, die durch Sie in unser Herz geschrieben waren,
haben uns in den Stunden der höchsten Angst gehoben und erhalten. Dank
dem Lehrer und dem gütigen Freunde!«

Das war am 19. Oktober 1806. Am gleichen Tage ließ sich Goethe
mit Christiane Vulpius, die ihn mit eigener Lebensgefahr vor den
Ausschreitungen französischer Marodeure geschützt hatte, in Weimar
trauen -- ein Schritt, der natürlich auch bald in Jena bekannt wurde
und ohne Zweifel bei Minchen nur noch mehr darauf hingewirkt hat, in
Goethe allein den »Lehrer und den gütigen Freund« zu sehen, als den ihn
auch die Mutter, vielleicht mit Absicht, in ihrem Briefe apostrophiert
hatte. Denn noch immer dachte das Mädchen schwermütig des geflohenen
Geliebten -- ein Brief an Christiane Albers, die Freundin, der nach
Wiederkehr geordneter Verhältnisse anschaulich die Unglückstage des
Oktobers schildert, fragt zum Schlusse aufs neue: »Ich habe noch etwas
auf dem Herzen, nämlich ob Du wieder etwas von dem Bewußten gehört
hast? Den Namen mag ich kaum nennen, es ist recht albern von mir,
sein Schicksal könnte mir nun ganz gleich sein, denn es wird doch nie
ein anderes Verhältnis zwischen uns stattfinden, und doch bin ich so
neugierig, was er treibt, aber nun genug von dem Menschen, nie will
ich wieder von ihm reden.« Man sieht: Entsagung, Neugier, Klage -- die
Spiegelung eines Herzens, das keine rechte Ruhe findet. Sie soll in
jener Zeit auch den Hausgenossen gegenüber besonders verschlossen, oft
traurig und bewegt gewesen sein, oft geweint haben, als ob ein schweres
Leid sie bedrückte. Der Bruder, damals ein zehnjähriger Junge, erzählt,
wie sie gerne Goethes »Trost in Tränen« vor sich hergesagt, das Lied
wohl auch mit halber Stimme gesungen habe:

    »Die Sterne, die begehrt man nicht,
    Man freut sich ihrer Pracht,
    Und mit Entzücken blickt man auf
    In jeder heitern Nacht.

    Und mit Entzücken blick' ich auf,
    So manchen lieben Tag;
    Verweinen laßt die Nächte mich,
    So lang ich weinen mag ...«

Sie war innerlich, bei aller Harmonie, die sie nach außenhin zur
Schau trug, eine zerrissene Natur, schon damals. Jugendschwermut, nur
hier besonders stark! Sie hat wohl frühe schon das tragische Geschick
geahnt, das ihrer wartete: den geistigen Tod. Solche Menschen fühlen
sich irgendwie gezeichnet ... vielleicht hilft Rilke hier verstehen,
der im »Stundenbuche« klagt:

    »Da leben Menschen, weißerblühte, blasse,
    und sterben staunend an der schweren Welt,
    und keiner sieht die klaffende Grimasse,
    zu der das Lächeln einer zarten Rasse
    in namenlosen Nächten sich entstellt.«

So traf sie Goethe wieder, als er zuerst im Mai 1807, dann im Herbst
aufs neue auf längere Zeit nach Jena übersiedelte, fand sie verklärt
durch ein Leid, das jeder achtete, ohne es zu kennen. Es hatte ihren
mädchenhaften Liebreiz nur erhöht, und der Dichter, nach langem Ruhen
seiner Leidenschaften doppelt empfänglich, gab sich diesem Reiz nur
allzu gerne hin: er fühlte, dem Herbst des Lebens nahe, so etwas
wie das Werden eines neuen Liebesfrühlings. Die Worte »Abends bey
Frommanns« werden im Tagebuch zur ständigen Floskel. Anfangs mag er
wohl noch allein den geselligen Verkehr gesucht haben, der in dem
gastfreundlichen Hause von alters herrschte, auch die gemütliche
Teestunde mag ihn gelockt haben, zumal in dieser Jahreszeit, wo Sturm
und Regen das alte Schloß umtobten und das Gefühl der Einsamkeit,
des Alleinseins in dem riesigen Bau noch mehr verstärkten; da war es
drüben bei Frommanns viel traulicher und netter, da wurde gesungen und
gescherzt, gezeichnet und vorgelesen, es wurden Experimente gemacht mit
der neuen Laterna magica, und vor allem war da Minchen Herzlieb.

Und so verging bald kaum ein Tag, wo er nicht um die Dämmerstunde
Hut und Mantel nahm und über den dunklen »Graben« dorthin tappte --
schweigend lag das Haus hinter seiner Mauer, die Fensterläden sorglich
vor die Fenster geschlagen, kaum daß ein Lichtschein durch die Ritzen
drang. Und dann stand er vor der niedrigen Hoftür und klopfte, und
Minchen kam die Treppe herunter, dem verehrten Gast, dem väterlichen
Freund zu öffnen. Schelmisch lächelnd stand sie ihm im Flur gegenüber
-- das Töchterchen, so dachte er im Anfang, das er sich immer schon
gewünscht, dann Schwester, als er sich dieser holden Jugend gegenüber
immer jünger werden fühlte, und eines Abends, heiß durchzuckte es den
längst schon Graugewordenen, war es die Geliebte, die er in die Arme
schloß. Und die es sich in Demut gefallen ließ.

Ja, hat Goethe Minchen Herzlieb wirklich in Armen gehalten? Sie sich
vertrauend hineingeschmiegt? Ohne Zweifel. Warum auch nicht? Selbst
wenn sie nur »väterliche Gunstbezeugungen« darin gesehen, ihr Herz
den Schlag des seinen nicht ganz so heiß erwidert haben sollte, wie
er vielleicht geglaubt. Denn seine Neigung war nun ja längst schon zu
»Raserei der Liebe« geworden, längst hatte der stumm gewordene Mund des
Dichters durch sie wieder den beschwingten Wunderlaut der Jugendzeit
gefunden, sein Geist Aufschwung erfahren zu neuen dichterischen Plänen,
neuen Entwürfen. Es war am 29. November gewesen, dem ersten Advent
des Jahres 1807, daß Goethe, der Mann, in Minchen Herzlieb bei einer
Mittagsgesellschaft, »mächtig überrascht«, das Weib erkannt hatte, ihm
zur Gewißheit geworden war, daß er das Mädchen liebte ... das Tagebuch
zwar meldet nur kurz: »Mittags bey Frommanns mit Knebel, Seebeck, Oken,
Wesselhöft. Kam Legationsrath Bertuch. Abends Schattenspiel. Sodann
nach Hause. Knebel begleitete mich.« Nicht mehr -- wie sparsam war doch
dieser Goethe, wo es um seine Seele ging! Kein Name, keine voreilige
Konfession! Aber wir wissen: an diesem Abend des 29. November begann
er die »Pandora« zu diktieren, und daß er ihn in einem kurz darauf
entstandenen Sonett als »Epoche« feiert, beweist, was er für ihn selbst
gewesen ist.

    Mit Flammenschrift war innigst eingeschrieben
    Petrarcas Brust vor allen andern Tagen
    +Karfreitag+. Ebenso, ich darf's wohl sagen,
    Ist mir +Advent+ von Achtzehnhundertsieben.

    Ich fing nicht an, ich fuhr nur fort, zu lieben
    Sie, die ich früh im Herzen schon getragen,
    Dann wieder weislich aus dem Sinn geschlagen,
    Der ich nun wieder bin ans Herz getrieben.

    Petrarcas Liebe, die unendlich hohe,
    War leider unbelohnt und gar zu traurig,
    Ein Herzensweh, ein ewiger Karfreitag;

    Doch stets erscheine, fort und fort, die frohe,
    Süß, unter Palmenjubel, wonneschaurig,
    Der Herrin Ankunft mir, ein ew'ger Maitag.

Siebzehn Sonette sind es, die sich um den Namen Minchen Herzlieb
ranken. Sie sind in wenigen Wochen entstanden, die meisten in Jena als
unmittelbarer Niederschlag der großen seelischen Erregung, ein paar
dann noch in Weimar aus der Erinnerung heraus. Siebzehn Sonette in
einer Frist von Wochen, und das bei Goethe, dem die Liebessonette der
Romantiker noch vor kurzem so widerstrebten, der ihre tränenreichen
Dichter als »Lacrimasse« verspottet hatte!

Wie ging das zu?

Am 2. Dezember war Zacharias Werner, der Dichter des »Luther« und der
»Söhne des Tales« zu Goethe gekommen, um ihm, den er in Weimar verpaßt,
seine Aufwartung zu machen. Tags darauf führte Goethe den damals
Vielbesprochenen bei Frommanns ein. »Gegen 5 Uhr Werner und Knebel,«
sagt das Tagebuch, »mit beyden zu Frommanns, wo Werner verschiedene
kleine Gedichte, Sonette usw. vorlas.« Das war der Anfang der berühmten
»Sonettenwut«. Denn es blieb nicht dabei, daß der bisherige Verächter
des Sonetts, wie Knebel seiner Schwester schrieb, an denen Werners
allein großes Gefallen hatte, sondern je mehr er sich mit diesem über
die Kunstform des Sonetts unterhielt, um so mehr wuchs auch die Lust,
sie selbst ernsthaft zu erproben, und bereits am 6. Dezember liegt
das erste Goethesche Sonett »Das Mädchen spricht« fertig vor und wird
bei Knebel vorgelesen -- ein Liebessonett, natürlich, das aber die
Beziehung auf Minchen Herzlieb noch nicht deutlich werden läßt und
diese erst durch Einfügung in den späteren Zyklus erhält.

Damit war der Bann gebrochen. An dem »Sängerkrieg«, der nun bei
Frommanns ausgefochten wurde und Minchen verherrlichte, beteiligte
sich neben Werner, Riemer und Gries auch Goethe. Aber während die drei
andern diesen Wettkampf mehr oder weniger als Spielerei betrachteten,
gab Goethe Herzblut. Am 13. Dezember gestand er Minchen in dem Sonett
»Wachstum« seine Liebe. Das Blatt, das er ihr schenkte, wurde einem
langen Leben Reliquie. Noch in später Stunde schrieb das Mädchen, stolz
und selig-verschämt, das Datum darauf und die Worte »nachts 12 Uhr«
-- in enger Stube, die Kerze flackerte, sie saß, halb ausgekleidet
schon, auf ihrem Bett, und die Augen, die immer wieder die süßen Verse
tranken, wurden heiß. Bis sie dann müde auf das Lager sank, das Blatt
Papier am Herzen, und Traum sie forttrug. Die Frau Rat Walch hat
fünfzig Jahre später noch dem Goethe-Forscher Loeper erklärt, daß sie
in diesem Sonett ihr Verhältnis zu dem Dichter so dargestellt finde,
wie es gewesen sei!

Aber auch das Tagebuch Goethes legt nunmehr, wortkarg allerdings wie
immer, Zeugnis dafür ab, wie sehr ihn diese Sonettendichterei innerlich
bewegt hat. Da heißt es am 10. Dezember: »Sonette. Lang im Bett
gelegen« (was typisch für Goethe ist, der mit Vorliebe morgens im Bette
dichtete), am 11.: »Das Sonett voran«, am 18.: »Einiges Sonettische«,
am 16.: »Um 5 Uhr zu Knebel. Sonette vorgelesen. Um 8 Uhr zu Frommanns
... Werner hatte vorgelesen. Nachher allein Werners Charaden-Sonett auf
Minchen Herzlieb.« Dies Charaden-Sonett trieb Goethe dann zu seiner
ungleich schöneren, lyrisch zarten Charade auf das Wort Herzlieb, die
später Bettina von Arnim so viel Kopfzerbrechen bereitete, weil sie
sie gern, wie die Sonette überhaupt, auf sich beziehen wollte und doch
nie klug daraus wurde ... Die Tagebuchstelle aber, die von dem Anlaß
dazu berichtet, ist besonders merkwürdig: sie ist die einzige, wo
der geliebte Name genannt wird. Er klingt noch einmal hier und da in
Briefen auf. Das ist aber auch alles. Wo Goethe sich später dieser
Zeit erinnert oder erinnern muß, begnügt er sich mit Andeutungen, die
zugleich Schleier sind.

Siebzehn Sonette sind es im ganzen, die Goethe für Minchen Herzlieb
gedichtet hat (nicht für Bettina, wie diese stolz sich brüstete);
sie runden sich zu einem Kranz, der unverwelklich das süße Haupt
dieser Mädchenblüte ziert ... die magisch verklärte Geschichte einer
Liebe, eine +Sinfonia domestica+, wie wir keine andere besitzen. Kuno
Fischer, der Heidelberger Forscher, hat sie liebevoll und feinfühlig
nach ihrem Inhalt geordnet, und wenn die zeitliche Reihenfolge auch
dagegen sprechen mag, konzipiert, gedacht, geformt hat Goethe sie
sicherlich so. Denn so erst wird die betörend süße Liebesnovelle
daraus, die dem Alternden noch einmal (wie er glauben mußte, wenn er
auch irrte: zum letzten Male) Rausch und Sehnsucht der Sinne schenkte.
Da folgt dem »Mächtigen Überraschen« schnell ein »Freundliches
Begegnen«, mit »Kurz und gut« beginnt das Liebesspiel, und »Das Mädchen
spricht«, »Wachstum«, »Reisezehrung«, »Abschied«, »Die Liebende
schreibt«, »Die Liebende abermals«, »Sie kann nicht enden«, »Nemesis«,
»Christgeschenk«, »Warnung«, »Die Zweifelnden«, »Mädchen«, »Epoche«
und »Charade« bringen dann in erregendem Auf und Ab des Gefühls die
einzelnen Stationen dieser Leidenschaft bis zum Adagio des Ausklangs
... am ergreifendsten vielleicht da, wo sich am unmittelbarsten
Erlebtes widerspiegelt:

    Wenn ich nun gleich das weiße Blatt dir schickte
    Anstatt daß ich's mit Lettern erst beschreibe,
    Ausfülltest du's vielleicht zum Zeitvertreibe
    Und sendetest's an mich, die Hochbeglückte.
    Wenn ich den blauen Umschlag dann erblickte,
    Neugierig schnell, wie es geziemt dem Weibe,
    Riss' ich ihn auf, daß nichts verborgen bleibe;
    Da läs' ich, was mich mündlich sonst entzückte:
    +Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!+
    Wie du so freundlich meine Sehnsucht stilltest
    Mit süßem Wort und mich so ganz verwöhntest.
    Sogar dein Lispeln glaubt' ich auch zu lesen,
    Womit du liebend meine Seele fülltest
    Und mich auf ewig vor mir selbst verschöntest.

Die »Epoche« ist das letzte in Jena entstandene Sonett. Es war Goethes
Abschiedsgedicht. Denn am 18. Dezember kehrte er nach Weimar zurück,
riß sich los -- ob mit, ob ohne Einverständnis Minchens, ob nach
schmerzlicher Trennung oder in wortloser Entsagung, wie er es gemeinhin
zu tun pflegte, das bleibt dunkel. Nie ist darüber auch nur das
geringste kund geworden. Der »Advent von Achtzehnhundertsieben« fand
kein lichterhelles Fest als Krönung.

Und Minchen?

Am 10. Februar 1808 endlich erzählt sie der Freundin Christiane etwas
von diesen Erlebnissen des Winters, und das auch erst, nachdem sie
seitenlang von anderem geredet. »Diesen Winter haben wir,« so schreibt
sie, »im ganzen recht froh zugebracht, ohne grade viele Menschen zu
sehen. Goethe war aus Weimar herübergekommen, um hier recht ungestört
seine schönen Gedanken für die Menschheit bearbeiten zu können ...«
Und so weiter. Es sei ihr unbeschreiblich wohl und doch auch weh in
seiner Gegenwart geworden, und wenn sie manchmal abends in ihrer Stube
seiner goldenen Worte gedacht habe, sei sie in Tränen ganz zerflossen.
Dann erst ein paar nette Zeilen über Zacharias Werner, und, um mit ihr
selbst zu reden: »damit Punktum«. Nichts von den vielen Sonetten, die
ihr zu Ehren gedichtet worden waren, nichts von Goethes Liebe, nichts
(oder doch nur sehr wenig) von seinen häufigen Abendbesuchen, die doch,
wie ihr zumindest Instinkt hätte sagen müssen, schließlich einzig und
allein ihr gegolten hatten! Und nichts von irgend einer Heimlichkeit,
wie sie zwischen Liebenden doch einmal vorkommt -- nichts! Verschloß
ihr Scham den Mund? Gelöbnis? Einfalt? Rätsel über Rätsel, daß sie
nach einem solchen Erlebnis selbst für die vertrauteste Freundin keine
anderen Worte findet als die alltäglichsten, die man sich denken kann.
Daß sie der jäh auflodernden Leidenschaft Goethes gegenüber etwas
benommen geblieben war, ist möglich. Das paßt zu ihrem Charakterbild.
Daß sie sie überhaupt ignoriert haben sollte, ist unmöglich und würde
dem widersprechen, was die Gealterte später Herrn von Loeper gestanden
hat. Sie könnte dann weder auf Goethe den tiefen Eindruck gemacht
haben, dem die Sonette, die »Pandora« und die »Wahlverwandtschaften«
Spiegelung sind, noch ist Goethe der Mann gewesen, eine unerwiderte
Neigung zu »Raserei der Liebe« werden zu lassen. Vermutlich hat Goethe
die Geliebte, als der Tag der notwendigen Trennung nahte, durch ein
Gelöbnis zum Schweigen verpflichtet, vielleicht sogar um Vergessen
gebeten. Nur so sind die leeren Worte zu der Freundin zu erklären, nur
so ihr ganzes anscheinend teilnahmloses Verhalten, nur so die jähe
Flucht aus Jena.

Denn es war eine Flucht, daß sie Jena so schnell verließ und in die
Heimat zur Schwester eilte, die heiratete. Sie hoffte vielleicht,
dort im Trubel der Hochzeit Vergessen zu finden. Goethe mußte von
dieser auffälligen Reise gehört, Minchens Verschwinden ihn mit
Sorge erfüllt haben. Denn im Juni schrieb er aus Karlsbad an Frau
Frommann: »Hätten Sie, teure Freundin, in jener Stunde, als Sie uns
Ihren lieben Brief zudachten und schrieben, empfinden können, wie
nachrichtenbedürftig wir damals waren, so hätte Sie unser lebhaftester
Dank für diese Wohltat schon im voraus belohnt. Besonders dankbar
sind wir für die Versicherung, daß es unserem Minchen wohlgehe. Zwar
konnte man voraussehen, daß ein so liebes Kind, das der Natur und
Ihnen so viel verdankt, überall zum besten aufgenommen und lebhafte
Freundschaft erwecken würde, doch ist es eine eigene Empfindung, wenn
die Abwesenheit geliebter Personen uns verdrießlich fällt, so können
wir uns sie und ihre Umgebungen, niemals ganz heiter vorstellen. Desto
erfreulicher ist die ausdrückliche Versicherung Ihres Wohlbehagens.
Mögen Sie meine besten Wünsche und Grüße zu ihr gelangen lassen.«

Minchen verlobte sich dann in Züllichau mit jenem Professor Pfund, den
Zelter so warm Goethe empfohlen hatte ... voreilig und unüberlegt,
was auch wieder die Vermutung nahelegt, daß sie um jeden Preis
vergessen wollte. Denn als der Verlobte sie Weihnachten 1812 aus
Jena, wohin sie inzwischen zurückgekehrt war, zur Hochzeit abholen
wollte, weigerte sie sich und löste die Verlobung kurzerhand auf,
zum Entsetzen der Pflegeeltern, die dieser jähen Sinneswandlung
verständnislos gegenüberstanden. Auch Goethe, für den die Adventtage
von 1807 nun schon längst bloße Episode geworden waren, nachdem er
in den »Wahlverwandtschaften« Ottilie, dem geliebten Kinde, die Züge
Minchens gegeben hatte, war erschrocken, als er davon hörte; die
Malerin Luise Seidler hielt ihn ja immer auf dem Laufenden über das,
was sich in Jena ereignete. Noch am 25. September 1811 hatte er dieser
geschrieben: »Sie sollen mir erzählen von sich, von den Freunden und
von dem guten Minchen, von der ich so lange nichts gehört, und deren
bevorstehende Wiedererscheinung mich angenehm überrascht.« Nun erfuhr
er die plötzliche Entlobung. »Grüßen Sie Minchen,« schrieb er darauf an
die Malerin, »ich habe immer geglaubt, dieses Geistchen gehöre einem
treueren Element an. Doch soll man sich überhaupt hüten, mit der ganzen
Sippschaft zu scherzen.« Hatte er sich tatsächlich innerlich schon so
gelöst von ihr, sich das ganze Jenaer Erlebnis so sehr von der Seele
gedichtet, daß er in dieser Weise scherzen konnte?

Von nun an ging der Weg des armen Minchens bergab, die Dämmerung, die
der endlichen geistigen Umnachtung voraufging, begann ihr Haupt zu
umschatten. Der völlig unmotivierte Bruch mit dem Professor Pfund,
der sie auf Händen getragen hätte, war das erste Symptom; die Ehe,
die sie dann neun Jahre später mit dem Jenaer Professor Walch, einem
Juristen, einging und die ganz glücklos blieb, weil ihre zarte Seele
nur widerwillig die eheliche Vereinigung ertrug, das zweite. Versuche
eines Zusammenlebens scheiterten kläglich, machten sie gemütskrank, und
lebten die »Gatten« getrennt, so machte sie sich wieder die schwersten
Vorwürfe, bemitleidete den unglücklichen Mann, dessen Verhängnis sie
war.

1853 starb Walch. Sie war erlöst. Aber nur erlöst, um für immer in
Melancholie zu versinken. Denn die unheilvollen Dämonen, die schon
das junge Mädchen so oft in unseligen Zwiespalt der Empfindungen
gestürzt, sie wahrscheinlich nie zum vollen Genuß des Lebens hatten
kommen lassen, nahmen nun ganz Besitz von ihr. Noch ein paar Jahre
lebte die verwitwete Frau Rat Walch still und in sich gekehrt in den
alten Stuben des Frommannschen Hauses dahin, von Verwandtenliebe treu
gehütet, zuweilen ein wenig wunderlich und immer ein bißchen traurig
und schwermütig, ohne daß sie zu sagen wußte: warum -- wie als junges
Ding, wo ihr Lieblingslied Goethes »Trost in Tränen« war. Gerne
ging sie spazieren, am »Paradies« unten an der Saale und durch den
Prinzessinnen-Garten hindurch zu den Friedhöfen oben am Philosophenweg.
Sie nahm auch an Gesellschaftsabenden des Bruders teil, und Kuno
Fischer hat die alte, jugendlich schlanke Dame auf einem solchen
-- es wurde Goethes »Tasso« vorgelesen! -- noch unterhaltsam und
lebendig gefunden. Dann aber verwirrte sich ihr Geist und fand sich
nicht mehr zurecht in diesem Leben, und man mußte sie einer Anstalt
für Nervenkranke in Görlitz anvertrauen. Dort ist Minchen Herzlieb am
10. Juli 1865, sechsundsiebzig Jahre alt, gestorben ... einsam, fremd
und abseits allem Leben. Sie hat niemand mehr gekannt, der endlichen
Auflösung des erdenmüden Körpers war die des Geistes grauenhaft
voraufgeschritten.

[Illustration]

Derweilen war sie als Ottilie längst in die Unsterblichkeit
eingegangen. 1809 schon waren ja die »Wahlverwandtschaften« erschienen,
und es will fast scheinen, als ob der Dichter dem lebendigen
Menschenkind die Seele gestohlen hätte, um dem erlauchten Geschöpf
seiner Phantasie das ewige Leben zu verleihen. Denn ungefähr von dieser
Zeit an war der Weg der wirklichen Ottilie nur noch ein seelenloses
Gleiten und Taumeln gewesen ...

Zu Eckermann hat Goethe, der Greis, noch kurz vor seinem Tode
gesagt, daß in den »Wahlverwandtschaften« kein Strich enthalten sei,
der nicht erlebt, aber auch kein Strich so, wie er erlebt worden.
Das gilt vor allen Dingen wohl von dem Erlebnis jenes »Advent von
Achtzehnhundertsieben«. Gewiß, von der Seele geschrieben hat sich
Goethe diese rätselhafte Liebesleidenschaft wohl, vergessen hat er sie
nie. Immer wieder tauchte sie zu verschiedenen Perioden seines Lebens
vor ihm auf, mahnend, anklagend, Rechenschaft heischend. So im Herbst
1815, als Goethe sich, unendlich leidend und trotz der heroischen
Geste fast seelischem Tode nahe, von Marianne von Willemer losgerissen
hatte. Da fuhren er und Sulpiz Boisserée zusammen von Karlsruhe nach
Heidelberg. Alte Erinnerungen wachten in dem Dichter auf, und er
erzählte. Auch auf die »Wahlverwandtschaften« kam er. »Die Sterne waren
aufgegangen, er sprach von seinem Verhältnis zur Ottilie, wie er sie
lieb gehabt und wie sie ihn unglücklich gemacht. Er wurde zuletzt fast
rätselhaft ahndungsvoll in seinen Reden.«

So Boisserée in seinem Tagebuch. Auf ähnliche Äußerungen stößt
man in den Annalen, als Goethe dort, von Erinnerung geleitet,
die Jahre 1807 bis 1809 schildert, in die u. a. die poetische
Entwicklung der »Wahlverwandtschaften« fällt. »>Pandora< sowohl
als die >Wahlverwandtschaften<«, heißt es da 1807, »drücken das
schmerzliche Gefühl der Entbehrung aus und konnten also nebeneinander
gar wohl gedeihen.« Und unter dem Jahre 1809: »Um von poetischen
Arbeiten nunmehr zu sprechen, so hatte ich von Ende Mai an die
>Wahlverwandtschaften<, deren erste Konzeption mich schon längst
beschäftigte, nicht wieder aus dem Sinn gelassen. Niemand verkennt an
diesem Roman eine tief leidenschaftliche Wunde, die im Heilen sich zu
schließen scheut, ein Herz, das zu genesen fürchtet.«

Ein seltsames Hin und Her von Stimmungen und Reflexionen. Und sind
im Grunde doch nichts weiter als der alte Schmerz, der ihn einst,
1807, im später »Abschied« genannten Sonett die »jähe Trennung« von
der Geliebten so wild anklagen ließ. Fritz Frommann meint in seinen
Aufzeichnungen über Minchen Herzlieb: »Mögen auch Goethes Empfindungen
für sie stärker gewesen sein als er sich merken ließ, so ist doch
soviel gewiß, daß auch er nie an ihren Besitz gedacht hat, und daß
diese Episode in seinem Leben mit der dichterischen Darstellung der
Ottilie in den >Wahlverwandtschaften< ihren völligen Abschluß gefunden,
daß er sich damit von aller leidenschaftlichen Erregung befreit hat
und ihm auch davon nur geblieben ist, >das süße Erinnern, das Leben im
tiefsten Innern<.«

Das ist der Irrtum des Bürgers, der Rausch und Qual der Erinnerungen
nicht kennt. Hervorgerufen vielleicht dadurch, daß Goethe und Minchen
sich im Laufe der Jahre im Frommannschen Haus begegneten, ohne daß
die Vergangenheit irgendwie neue Leiden schaffte. Die Fama will ja
sogar wissen, daß Goethe stets »mit ungetrübten Eindrücken« von dort
geschieden ist ... Immerhin, wie sehr diese Begegnungen Maskerade
waren, wie sehr Goethe bemüht war, Totes nicht wieder aufleben und
Alltagsgeschwätz werden zu lassen, das zeigt die Behandlung der Jenaer
Sonette in den Werken von 1815: »Epoche« und »Charade«, die verraten
könnten, wer in ihnen gemeint, nimmt er nicht auf! Und über die andern
breitet er durch die Anordnung Schleier. 1817 schickt er der einst
Geliebten ein Exemplar der zehn caschierten Gedichte, zum Geburtstage.
Die Widmung lautet:

    An Fräulein Wilhelmine Herzlieb.

    Wenn Kranz auf Kranz den Tag umwindet,
    Sey dieses auch Ihr zugewandt;
    Und wenn Sie hier Bekannte findet,
    So hat Sie sich vielleicht erkannt.

    Jena am 22. May 1817.      Goethe.

Das klingt kühl. Aber das »vielleicht« der letzten Zeile verrät doch
die Aschenwärme alter Gluten, läßt Frage klingen, die auf Antwort
hofft. Natürlich hat Minchen sich erkannt, sie, die in ihrer Schatulle
die Urschrift des »Wachstum«-Sonetts als kostbarsten Besitz verwahrt
und die einem Advent ohne Heiland, vielleicht, ihre Seele geopfert hat
... natürlich, nur das Wissen darum fehlt. Kein Brief, kein Gespräch,
keine Äußerung ist erhalten, keiner ist, der davon erzählt. Es ist
furchtbar, wie dies frühe Liebesspiel in stummer Verschwiegenheit
endet. Bald war es so, als hätten die zwei Menschen nie voneinander
gewußt. Selbst als in den Goethe-Werken der Ausgabe letzter Hand
endlich, volle zwanzig Jahre nach Entstehen, »Epoche« und »Charade«
erscheinen, letzte Schleier fallen, findet das in Jena kein Echo. Auch
er behält die Maske vor. »Eine seltsame Empfindung« nennt er's, als
er Minchen um diese Zeit einmal flüchtig sieht, und spricht von ihrem
»artigen und niedlichen Betragen«.

So kann Goethe schließlich sterben, ohne daß aus dem Frommannschen
Hause, wo Minchen auch als Frau Professor Walch fast immer lebte,
verzweifelter Schrei aus Frauenmund, nicht einmal leise Klage dringt.
Und fragte die Greisin mit den dunklen, schwermutsvollen Augen später
einmal jemand nach ihren Erinnerungen, so wurde sie scheu und wortkarg,
als ob sie Totes gerne tot ließe ...

Rätsel verschatten die Historie, und in himmlischer Klarheit leuchtet
allein das Werk des Dichters. Es hat das bißchen Menschenleben in sich
aufgesogen.



Herbsttage in Heidelberg

            Auf der Terrasse hoch gewölbtem Bogen
            War eine Zeit sein Kommen und sein Gehn ...

                ~Marianne von Willemer~.


Denkt man an Goethe und Heidelberg, so klingen aus der Erinnerung zwei
Frauennamen herauf. Lili und Marianne. Die diese Namen trugen, sie
haben beide, nun von Legende längst in Sphären der Verklärung entrückt,
das Herz des Dichters besessen ... die eine, selbst im vollen Glanz der
Jugend prunkend, das des Jünglings, der wild ins Leben stürmte, »der
Wunder bang, von Sehnsucht süß bedrängt«; die andere, eine »Frau von
dreißig Jahren«, das des Mannes, dem schon der Lebensabend nahte. Und
Heidelberg war beidemal die Stätte, da die Entscheidung fiel: sie hieß
im einen wie im andern Fall Entsagung.

Doch laufen Fäden auch vom Neckar nach der Ilm, und Unrecht wäre
es, nicht auch Charlottens und Christianens zu gedenken, nach denen
Sehnsucht des Freundes und des Gatten hier in Heidelberg auch oft genug
gebangt ...

       *       *       *       *       *

Das war ein bunter Tag aus andern bunten Tagen, als Goethe zum
erstenmal nach Heidelberg kam.

Denn er kam nicht allein.

Drei wilde Gesellen begleiteten den Dichter des »Werther«: die beiden
Stolbergs, die Brüder jener Auguste, der Goethe die schönsten Briefe
seiner heißen und verworrenen Jugend geschrieben hat, und ein Graf
Haugwitz. In Sturm und Drang fegten sie durch das verstörte Land, das
ihnen, Ort für Ort, entgeistert nachstarrte, und rissen Goethe mit.
Den lockte mehr als ihre ungebärdige Art das Ziel der wilden Reise:
die Schweiz. Aber immerhin -- wie schön war's doch, der Fesseln ledig,
die die zwiespältige Leidenschaft zu Lili Schönemann ihm auferlegt,
durchs Land zu schweifen, im blauen Werther-Frack und Stulpenstiefeln,
und wenn die Kameraden, aller Sitte spottend, den Philistern in
Mannheim und Darmstadt lange Nasen drehten, so machte er nicht gerade
ungern mit. »Wir vier,« heißt es in einem Briefe des älteren Stolberg
an seine Schwester Katharina im fernen Dänemark, »sind bei Gott eine
Gesellschaft, wie man sie von Peru bis Indostan umsonst suchen könnte.«

Diese Gesellschaft, die in Frau Ajas Haus in Frankfurt -- man denke:
diesem wohlfundierten Patrizierhaus -- lärmend »nach Tyrannenblut
gelechzt«, hatte die Mainstadt am 14. Mai 1775 verlassen. Merck in
Darmstadt, ein besonnener Freund, hatte die vier Genies argwöhnisch
betrachtet: »Daß du mit diesen Burschen ziehst,« hatte er zu Goethe,
dem einzigen, der wirklich ein Genie war, gesagt, »ist ein dummer
Streich, du wirst nicht lange bei ihnen bleiben. Deine unablenkbare
Richtung ist, dem Wirklichen poetische Gestalt zu geben; die andern
suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und
das gibt nichts als dummes Zeug.«

Bittere Worte! Deren Wahrheit und tiefen Sinn Goethe halb erkannte,
halb verneinte und die er damals, selbstverständlich, in den Wind
schlug. Aber als er, ein Menschenalter später, »Dichtung und Wahrheit«
niederschrieb, hatte er ihre Schicksalskraft an Leib und Seele
erfahren. Dort hat er sie denn auch verewigt.

Ja, es war ein bewegter Tag, der 16. Mai 1775, als die vier
ungleich-gleichen Fahrtgesellen in das abendliche Heidelberg einzogen;
die guten Heidelberger mögen nicht schlecht gestaunt haben, als
dies Quartett singend und hüteschwenkend durch die stillen Straßen
marschierte, Gestalten fast aus einer anderen Welt. »Nun gehen wir
hin,« erzählte der immer schreiblustige Christian Stolberg der
Schwester andern Tages, »das weltberühmte Heidelberger Faß zu sehen
...« Natürlich! Da's nicht Tyrannenblut sein konnte, nahm man mit
Neckarwein vorlieb, und wie in Mannheim trank man in lautem Rundgesang
auf das Wohl der Geliebten und zerschlug nachher die Gläser ... Und
Goethe? »Liebe Lili, wenn ich dich nicht liebte!« tönte es wohl damals
schon in seinem Herzen. Sehnsucht quälte den guten Jungen, trieb ihn
nur zu oft aus dem lauten Lärm der Zechgenossen. Und da winkte denn
am Markt ein stilles Haus, ärmlich anzusehen nur mit seinen zwei
Fenstern Front und dem niedrigen Dach: das Haus der guten Demoiselle
Delph winkte Trost und brachte Trost, so verstört der Kopf auch
war, in dem Wein und Liebeszweifel gleich stark rumorten. War sie,
eine Geschäftsfreundin des Schönemannschen Hauses, es doch gewesen,
die seinerzeit die Hände Lilis und Goethes »mit ihrem pathetisch
gebieterischen Wesen« ineinander gelegt hatte! So mochte sie nun auch
sehen, was sie angerichtet, mochte Gluten dämpfen, die sie selbst
entfacht ... Und so waren Ausklang dieses ersten flüchtigen Aufenthalts
in Heidelberg Worte der Klage und Anklage, von der ältlichen Jungfer
kopfschüttelnd angehört, derweilen die Freunde des Beichtenden oben im
Burgkeller lärmten.

[Illustration]

Aber der andere Tag schenkte schnell Vergessen, und über Karlsruhe, wo
Klopstock besucht wurde und Goethe, sterngebunden, zum zweitenmal dem
jungen Thronerben von Sachsen-Weimar begegnete, ging's nach der Schweiz
zu Lavater.

       *       *       *       *       *

»Liebwärts« blickte Goethe noch, als er, heimkehrend aus der Schweiz,
Frankfurt liegen sah: wartete dort am Kornmarkt seiner doch Lili, die
in so vielen Versen dieser Reise heißersehnte. Doch wenige Wochen
später floh er, von seinem Dämon getrieben, die, um die er noch
vor kurzem so gebangt. »Vergebens,« hatte er am 3. August dieses
schicksalsvollen Jahres an Auguste von Stolberg geschrieben, »daß ich
drei Monate in freier Luft herumfuhr, tausend neue Gegenstände in alle
Sinnen sog ... ich sitze wieder in Offenbach, so vereinfacht wie ein
Kind, so beschränkt als ein Papagei auf der Stange ... alles wirrt sich
in einen Schlangenknoten.« Da blieb nichts übrig als Bruch und Flucht.

Dazu jagten sich andere Ereignisse. Am 21. September, einen Tag nach
der Entlobung, hatte ihn Carl August, jetzt Herzog geworden, durch
Handschlag an sich gebunden: Weimar, fremd und unbekannt, wartete.
Der 12. Oktober erneuerte die Einladung. Goethe, des herzoglichen
Wagens harrend, der ihn nach Weimar bringen sollte, machte sich
reisefertig. Aber der Wagen kam nicht. Spott des Vaters, eigene Scham,
dazu das qualvolle Gefühl, Lili, die immer noch im stillen Geliebte,
sich verscherzt zu haben, trieben ihn, bei Nacht und Nebel, aus der
Vaterstadt. Italien sollte Vergessen und Linderung bringen: »Lili,
adieu Lili, zum zweitenmal!«

Und erste Zuflucht war wieder das stille Haus der guten Demoiselle
Delph in Heidelberg.

       *       *       *       *       *

Im Mai war Heidelberg an Goethe vorbeigeglitten wie ein Traum. Jetzt
erlebte er es wirklich. Erlebte Herbsttage, die Gold und Trunkenheit
über Stadt und Schloß schütteten. Die Berge ringsum brannten. Schon das
Tagebuch, das er von nun an führte, war unterwegs, an der Bergstraße,
bei »ominöser Überfüllung des Glases« begonnen worden; im Gasthaus in
Weinheim hatte er, wie dasselbe Tagebuch berichtet, vor »Herbstbutten
und Zuber« nicht den Weg zum Wirtszimmer finden können; nun geriet er
in Heidelberg mitten in die Weinlese hinein. »Elsassische Gefühle«
lebten in ihm auf.

Die Handelsjungfer Delph tat alles, den Bekümmerten zu zerstreuen.
Tat's mit Erfolg. Sogar ein neuer Heiratsplan erwachte, neue
Mädchenschönheit bedrängte das noch wunde Herz, das Lili vergessen
wollte. Das Leben lächelte wieder.

Aber dann kam eine Nacht, der erste rauhe Wind rüttelte an den
Fensterläden und in den Gärten raschelte das welke Laub, da war der
alte Mißmut wieder rege geworden. Unfruchtbares Geschwätz mit der Delph
hatte die schon halb begrabenen Zweifel aufgestört: nun quälte das
Bild Lilis, quälte die eigentümliche Weimarer Geschichte, eine tolle
Geschichte, wenn man sie recht betrachtete, den einsamen Schläfer.
Leise ächzte er im Traum.

Da klang ein Posthorn in die Stille, jähes Klopfen brach das schlafende
Haus auf. Türen klappten, Licht fuhr eilig hin und her. Und dann trat
die Delph, notdürftig hergerichtet, in des Gastes Kammer, in der Hand
einen versiegelten Brief: Stafette aus Frankfurt ... der Geleitsmann
des Herzogs, dort endlich eingetroffen, wartete ... Weimar rief!

Und das Schicksal erfüllte sich: der nach Italien hatte wandern wollen,
eine kranke Liebe im Herzen, er zog nach der bescheidenen Ilm, einer
neuen Liebe entgegen, neuer Qual und neuem Rausch, weil es die Sterne
so wollten. Die Sonnenpferdeworte aus dem »Egmont«, sicherlich der
Delph, die warnte, nicht so spontan zugeschleudert, wie »Dichtung und
Wahrheit« es erzählt, aber, als Goethe damals in der gleichen Nacht
noch Heidelberg verließ, sicherlich dem Sinne nach so empfunden,
gaben das Geleit. Und der Goethe, der später aus der Erinnerung diese
ereignisschwere, geheimniserfüllte Nacht in »Dichtung und Wahrheit«
schilderte, der formte gleichzeitig jene »orphischen Urworte«:

    Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
    Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
    Bist alsobald und fort und fort gediehen
    Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
    So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
    So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
    Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
    Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

An dem schmalen, unscheinbaren Hause der Demoiselle Delph aber findet
der, der Augen für derartige Dinge hat, heute eine Tafel, die da meldet:

            »+Aus diesem Hause
      seiner mütterlichen Freundin Dorothea Delph
    reiste Goethe, der Einladung Carl Augusts folgend,
        den 4. November 1775 nach Weimar.+«

Die kleine Tafel gibt Kunde von dem wichtigsten Vorgang in Goethes
ganzem Leben. Wie wäre das wohl verlaufen, wenn hier der »Zufall«
anders gespielt hätte? Aber der Alltag treibt daran vorbei, und kaum
einer steht einmal still und versucht, die ungeheuere Bedeutung dieser
wortkargen Inschrift auch nur zu begreifen!

Und die Jahre stürzten. Die Ufer der Ilm wurden dem Fremdling Heimat.
»Gott im Himmel, was ist Weimar für ein Paradies!« jubelte Goethe
aus Mannheim Charlotte von Stein zu, als er im Dezember 1779 von der
zweiten Schweizer Reise zurückkehrte, die er mit dem herzoglichen
Freund zusammen unternommen. Sie hatte ihn auch flüchtig zu Beginn nach
Heidelberg geführt, und nachdenklich war der nun Dreißigjährige durch
die Gassen geschlendert, die er vor vier Jahren verlassen hatte, um ins
Ungewisse zu pilgern.

Wie hatte sich seitdem die Welt verändert!

Nicht die Welt Heidelbergs; die war, mit Schloßruine und abendlich
beglänztem Fluß, mit ihrer alten Giebel Flucht und Herbsteshauch,
die selbe geblieben; aber seine Welt war eine andere geworden. Lilis
Bild, einst süße Qual, hatte das neue Charlottens verdrängt: ruhig
hatte er die frühere Geliebte, jetzt Frau von Türkheim und glückliche
Mutter, in Straßburg sehen und sprechen können. Auch Friederike hatte
er in Sesenheim besucht, und sein Herz war unbewegt geblieben: »Da
ich iezt so rein und still bin wie die Luft, so ist mir der Athem
guter und stiller Menschen sehr willkommen,« hatte er Frau von Stein
geschrieben ...

Der Jüngling war eben zum Mann geworden, der »in Friede mit den
Geistern« seiner Jugend lebte.

Noch einmal hatte Heidelberg ihm nun die Erinnerung dieser dumpfen
Jugendtage geschenkt, das bröckelnde Schloß ihm von den Gesellen
erzählt, mit denen er hier einst in seliger Torheit kraftgenialisch
gelärmt, das kleine Haus der Demoiselle Delph ihn an die Nacht gemahnt,
da ihn das Posthorn aus Schlaf und wirrem Traum gejagt ... Es war
einmal! Das ist in unsichtbaren Lettern auch unter jener Zeichnung des
gesprengten Turms vom 23. September 1779 zu lesen, die ihn nun nach
Weimar begleitete -- einziges Zeichen dieses Aufenthalts in Heidelberg
von 1779, das wir besitzen.

Und der es in versonnener Stunde angefertigt, der war nicht mehr der
wilde Dichter des »Götz« und des »Werther«, sondern der Geheimrat
Goethe, rechte Hand und Ein und Alles Carl Augusts. Denn am 6.
September dieses Jahres hatte der Herzog wider allen Brauch und Sitte
dem baß Verwunderten und drob von den Schranzen in Weimar nur noch mehr
Beneideten und Gehaßten den »Geheimdenraths Titel« gegeben.

       *       *       *       *       *

Goethe an Christiane aus Heilbronn am 28. August 1797: »Den 26., an
einem außerordentlich klaren und schönen Tag, blieb ich in Heidelberg
und erfreute mich an der schönen Lage der Stadt, die am Neckar zwischen
Felsen, aber gerade an dem Puncte liegt, wo das Thal aufhört und die
großen fruchtbaren Ebenen von der Pfalz angehen.«

Goethe an Christiane ... ja, in den achtzehn Jahren, die seit der
zweiten Schweizer Reise ins Land gegangen waren, hatte sich das Leben
des Dichters wunderlich genug gestaltet. Vieles war längst wieder zu
Traum und Vergangenheit geworden, was einst beglückende und quälende
Wirklichkeit, sonnenreiches Heute gewesen. Wo war Charlotte von
Stein, die gütige, die liebevolle Gefährtin in so manchen Wirrnissen?
Vergessen? Nein, das nicht. Aber fremd und kalt geworden. Sie hatte
es nicht ertragen können, daß eine Christiane Vulpius an ihre Stelle
trat, als Goethe 1788 verjüngt, ein neuer Mensch mit neuen Ansichten
und Sehnsüchten, aus Italien nach Weimar heimkehrte, und hatte sich
grollend zurückgezogen. Dann war zwar wieder aus der Mißgunst, die
neidisch das friedliche Glück am Frauenplan beschielte und behechelte,
eine blasse Freundschaft geworden ... der kleine August, Christianens
Sohn, hatte den Weg zum Herzen der Verbitterten gefunden. Aber die
alte Liebe blieb gestorben: Christiane, so wenig sie, ein bescheidenes
Naturkind aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, auch geistig mit
Charlotte wetteifern konnte, war in menschlicher Hinsicht die
Nachfolgerin »Lidas«. Und diese lebte eigentlich nur noch als Iphigenie
und Eleonore in Goethes ewigen Dichtungen. Sonst war sie eine Tote, das
Haus an der Ackerwand eine Gruft.

An wen also sollte Goethe schreiben, wenn er auf Reisen war und
die Begebenheiten des Tages vertrauten Herzen erzählen wollte? An
Christiane, die Frau. Denn wenn Christiane dies vor der Welt auch nicht
war, erst 1806 wurde, für Goethe selbst war sie schon längst nicht mehr
das »arme Geschöpf«, dem er Empfindungen gönnte, sondern die Frau, die
Mutter seines Sohnes, die er mit voller Inbrunst liebte.

Aus diesem ruhigen Familienleben heraus hatte er, alter Sehnsucht
folgend, eine neue Schweizer Reise vorbereitet, eine dritte, und
vielleicht sollte sie gar, zum großen Kummer Christianens, nach Italien
führen. Am 7. Juli 1797 meldete er dem Freunde Heinrich Meyer nach
Stäfa am Züricher See, er würde bald »so los und ledig als jemals«
sein. »Ich gehe sodann nach Frankfurt mit den Meinigen, um sie meiner
Mutter vorzustellen, und nach einem kurzen Aufenthalt sende ich jene
zurück und komme, Sie am schönen See zu finden ...«

Und so geschah's.

Frau und Kind wurden der stolzen und gerührten Großmutter gezeigt, zwei
Tage später wieder nach Hause geschickt, nach kurzen Wochen verließ
auch Goethe Frankfurt, um über Stuttgart und Tübingen nach Zürich zu
reisen. Und auf dieser Reise kam er auch, zum viertenmal in seinem
Leben, nach Heidelberg.

Herbsttage? Nicht ganz. Mehr ein feierlicher, milder Nachsommer,
ein sattes Lächeln. Aber herbstlich waren die Gedanken, die Goethe
bewegten, herbstliche Reife atmeten die Briefe, die Christiane und die
Freunde erhielten.

Noch wohnte die »mütterliche Freundin«, die Beraterin seiner Jugend,
in dem kleinen Haus am Markt neben der Hofapotheke, alt geworden,
aber nicht weniger unterhaltsam. Und noch einmal stand wohl tote
Zeit auf, da er sie besuchte. Aber im übrigen hatte er vergessen und
wollte auch nicht erinnert sein. Sein Auge, das in den verflossenen
Jahren so vieles gesehen, sah jetzt das Leben anders an, kühl, ruhig,
leidenschaftslos, von der hohen Warte des in Stürmen und Kämpfen
gereiften Mannes, des Dichters, den eine Welt bewunderte und beneidete,
des Sammlers vor allem, der reiste, um seine Akten und Schränke zu
bereichern. Was sollte ihm da das Gestern?

»Ich ging in die Stadt zurück, eine Freundin zu besuchen, und sodann
zum Obertor hinaus,« heißt es über Heidelberg in der »Reise in die
Schweiz 1797«, die Goethe 1823 mit Eckermann aus Tagebuchnotizen und
alten Manuskripten zusammengestellt hat. Oder: »Ich ging in Erinnerung
früherer Zeiten über die schöne Brücke und am rechten Ufer des Neckars
hinauf ...« Die ganze übrige Schilderung dieses Aufenthalts in
Heidelberg spiegelt restlos neue Empfindungen, und dies in der klugen,
etwas steifen Prosa, die Goethe im Alter liebte, die aber bei aller
äußeren Kühle von innerer Glut durchleuchtet und dichterisch beschwingt
ist: ein Monument der Stadt von ergreifender Gewalt.

[Illustration]

Und doch -- war Goethe nicht immer der sinnlich erlebende, auch Totes
immer wieder freudvoll und leidvoll nacherlebende Mensch? Er war es
wohl auch damals. »Gegen Abend ging ich mit Demoiselle Delph,« so
schließt die Schilderung, »nach der Plaine zu, erst an den Weinbergen
hin, dann auf die große Chaussee herunter, bis dahin, wo man Rohrbach
sehen kann ...« Ein Abendspaziergang, und aus der Neckarniederung
stiegen die Nebel. Der Äther schwamm in Gold. Da mag auch ihn, den
von der Heimat Gelösten, weichere Erinnerung befallen, die neben ihm
Schreitende mit mancherlei Gespräch versunkene Zeit heraufbeschworen,
Sehnsucht nach Frau und Kind ihm das Herz umschattet haben.

Aber davon wissen wir nichts. Wir wissen nur, daß diese ganze Schweizer
Reise nicht die Hoffnungen erfüllte, die Goethe auf sie gesetzt hatte
und daß er sie vorzeitig abbrach. Er erhielt nicht Christianens,
Christiane nicht seine Briefe. Das Band mit zuhause war zerrissen, und
das ertrug er nicht. »Ich kann aber auch wohl sagen,« schreibt der
Heimkehrende aus Tübingen am 30. Oktober nach Weimar an Christiane,
»daß ich nur um Deinet- und des Kleinen willen zurückgehe. Ihr allein
bedürft meiner, die übrige Welt kann mich entbehren.«

       *       *       *       *       *

Die übrige Welt hätte diese Ansicht schwerlich geteilt. Nicht 1797,
da auch schon genug vorging, was ihr Interesse hätte von Kunst und
Literatur abziehen können, und nicht später, da sie ganz aus den Fugen
ging. Oder da, wie eben dieser Goethe selbst die wilden Geschehnisse
der Zeit von 1806 bis 1814 im Spiegel weniger Verse auffing, Nord und
West und Süd zersplitterten, Throne barsten, Reiche zitterten ... denn
über Zusammenbruch und Erhebung hinaus blickte sie in immer gleicher
Ehrfurcht nach Weimar, wo in stiller Zurückgezogenheit ihr größter
Dichter als »Statthalter der Poesie auf Erden« residierte.

Aber gerade in dieser stillen Zurückgezogenheit, die mancher
Teilnahmlosigkeit schalt und die in Wahrheit doch, wie des »Epimenides
Erwachen« bewies, leidenschaftliches Miterleben war, bereitete sich
1814 neue Wandlung vor. Östlicher Hauch war aus dem fernen Persien
in die Stuben am Frauenplan gedrungen, der Mund, der solange Genüge
daran gefunden, in klassischem Versmaß zu sprechen, versuchte sich
in Hafisliedern, die von Wein und Liebe und duftenden Wundernächten
erzählten; und gegen die erhabenen Schatten der Antike, die seit
der italienischen Reise allein die Gefühls- und Geschmackswelt
Goethes bevölkerten, rückte gleichzeitig die farbenfrohe Kunst des
deutschen Mittelalters an ... sie siegte nicht, nein, dazu hing der
»Heide« Goethe in zu tiefer Liebe an den verlorenen Göttern jener
untergegangenen Welt. Aber sie behauptete sich daneben, aufs neue
stiegen aus der fernen Jugend die Türme des Straßburger Münsters
auf, und der Torso des Kölner Domes ließ gotische Musik in die
schwülen Bülbül-Melodien des nun entstehenden west-östlichen Diwans
hineinklingen. West-östlich wahrhaft wurde das Klima, das Goethes Leben
und Dichten in diesen Jahren lyrischer Wiedergeburt umduftete. Sie
stehen unter dem Zeichen: Heidelberg und Marianne.

Denn wieder war es, wie schon früher oft Wendepunkt und Lebensstation,
die Neckarstadt, die, selber ewig jung, Blut und Seele des
Altgewordenen verjüngte, gelassen das »Stirb und Werde!« sprach, nach
dem die »wiederholte Pubertät« Goethes verlangte.

[Illustration]

Dort wohnten seit 1810, wo sie von Köln nach Heidelberg übergesiedelt
waren, die Brüder Boisserée: Sulpiz und Melchior, die, beide fromme
Katholiken und leidenschaftliche Liebhaber der alten deutschen und
niederländischen Malerei, eine wundervolle Gemäldesammlung besaßen.
Dieser toten Welt die Neigung Goethes zu gewinnen, der ihnen als
Heros galt, in Goethe, dem gefeierten Dichter, einen Anwalt zu finden
auch für ihre Bestrebungen, den verfallenden Dom der Vaterstadt neu
aufzubauen und zu vollenden, betrachteten sie als Lebensaufgabe.
Und es gelang ihnen. Der erst und lange Ablehnende gab endlich nach,
und als ihn Not des Leibes im Spätsommer 1814 zur Kur nach Wiesbaden
führte, besuchte er die neuen Freunde in Heidelberg. Die wenigen
Tage, die er dort vom 24. September bis zum 9. Oktober 1814 verlebt,
wundervolle Herbsttage, die rotes Gold um Schloß und Stadt häuften,
gewannen ihn ganz. Derweilen draußen die ersten Blätter müde von den
Bäumen fielen, schenkten ihm die Bilder im Boisseréeschen Hause,
unermüdlich betrachtet, wie er später in der »Reise am Rhein, Main und
Neckar« gestanden, »eine neue, ewige Jugend«. Schönste Begleitmusik
dieser erlebnisreichen Tage aber sind die Briefe an Christiane. Sie
spiegeln in rührender Treue und Einfalt die starken Empfindungen des
Fünfundsechzigjährigen, der kränkelnd, wenn auch geistesfrisch, dem
Zureden seiner besorgten Frau folgend, Weimar am 25. Juli verlassen
hatte und nun in Wiesbaden auffällig rasch gesundete. So gründlich
gesundete, daß er auch die Vaterstadt, wo inzwischen der Tod reiche
Ernte gehalten hatte und nun schon die zweite Generation den seltenen
Gast feierte, mit ganz neuen Augen ansah, mit ganz frischen Sinnen von
neuem in ihrer vielfältigen Geselligkeit erlebte. Und wieder liebgewann.

Bis dann endlich ein Brief aus Heidelberg vom 28. September Christiane
meldete: »Bei Boisserées fand ich das lieblichste Quartier, ein großes
Zimmer neben der Gemäldesammlung. August (-- denn August hatte ja von
1808 bis 1810 in Heidelberg studiert --) wird sich des Sickingischen
Hauses erinnern auf dem großen Platze, dem Schloß gegenüber. Hinter
welchem der Mond bald heraufkam und zu einem freundlichen Abendessen
leuchtete.«

Und so weiter, Tag für Tag, Bilder beschauend, spazierengehend und auch
Erinnerungen nicht ausweichend. Denn wenn er da der fernen Hausfrau
erzählt, wie ihn an einem Oktobermorgen der schönste Sonnenschein früh
aufs Schloß gelockt, wo er sich »in dem Labyrinth von Ruinen, Terrassen
und Gartenanlagen ergötzte und die heiterste Gegend abermals zu
bewundern Gelegenheit hatte«, so muß dem alten Herrn die Vergangenheit
genaht sein, Vergangenheit »mit allen Rausch- und Tränengaben«, und aus
den zerfließenden Herbstnebeln muß ihn, während rings die Kastanien
fielen und herber Odem die alten Mauern umstrich, das Bild Lilis
angelächelt haben ...

Das Bild Lilis? Oder lächelte nicht vielleicht dem Verjüngten ein neues
Frauenbild?

Wieder gibt ein Brief an Christiane Auskunft, am 8. August schon aus
Wiesbaden abgesandt. Da heißt es, wenn auch wortkarg, unter anderem:
»Schon vor einigen Tagen besuchte mich Willemer mit seiner kleinen
Gefährtin.« Diese »kleine Gefährtin« nennt das Tagebuch vom 4. August.
Es war »Dlle Jung«, Marianne mit Vornamen, ein Pflegetöchterchen des
Geheimrats von Willemer aus Frankfurt, das jener bald darauf, der
zweiten Witwerschaft müde, zu seiner Frau machte, und dieser Besuch in
Wiesbaden war die erste Begegnung Goethes mit ihr.

O wunderliche Verknüpfung der Geschicke ... Hatem hatte in Clemens
Brentanos schwärmerisch gefeierter Biondetta seine Suleika gefunden.

       *       *       *       *       *

Denn Goethe war Hatem geworden. Und blieb es treu, wenn auch nicht ganz
so leidenschaftlich wie in jenen Tagen neu erwachender Liebe, sondern
entsagungsvoll, bis zu seinem Lebensende. Als er von Weimar am 25.
Juli 1814 in jenem »Fahrhäuschen«, das er in seinem Gedicht »Der neue
Kopernikus« so anschaulich beschreibt, nach Wiesbaden reiste, war
das erste Wort, das er in Eisenach in das geliebte Tagebuch eintrug,
»Hafis«. Dieser Hafis hat ihn nicht mehr verlassen, bis er selbst ihn
verließ, als nämlich der West-östliche Diwan vollendet war und in einem
köstlich illuminierten Sonderdruck an Marianne-Suleika abging.

Dieser Tag der Vollendung aber lag damals noch fern; ihn
herbeizuführen, hatte ihm das Schicksal eben jene Marianne von Willemer
über den Weg geschickt, führte es den ganz in jugendliche Bewegung und
lyrische Ekstase Zurückversetzten erst noch einmal an die Stätte so oft
erprobten Heils: nach Heidelberg.

Das war ein Jahr darauf zu genau der gleichen Zeit.

       *       *       *       *       *

Als Goethe sich im Herbst 1814 von Willemers, die sommers in
der Frankfurt nahen Gerbermühle unweit Oberrad am Main wohnten,
verabschiedete, hatte er der anmutigen Frau des Freundes sein Stammbuch
dagelassen. Sie schickte es ihm nach Weimar mit den berühmten Versen:
»Zu den Kleinen zähl' ich mich« ... Versen, die dann kühn gestehen:

    »Als den Größten nennt man dich,
    Als den Besten ehrt man dich,
    Sieht man dich, muß man dich lieben ...«

Diese Verse, im Tone noch halb schalkhaft, sind das erste Bekenntnis
ihrer Neigung. Daß diese bald zu Liebe und mit Liebe beantwortet wurde,
das klingt und singt der ganze Diwan, der nun in raschem Fluß entstand:
die dreißigjährige Frau, die sich den vollen Liebreiz der Jugend
bewahrt hatte, hatte das Herz des Dichters gewonnen.

So gab, als Goethe ein Jahr später -- Christiane, die kränklich
geworden war, weilte zur Kur in Karlsbad -- sich zu einer neuen
Rheinreise anschickte, Sehnsucht nach Marianne wundersam Geleit ...
nicht zehrende Sehnsucht, wie sie in früheren Jahren ihn gequält, nein,
eine frohe, die gleicher Gefühle bei der Geliebten gewiß war.

[Illustration: _Heidelberg. Der Schloßaltan._]

Am 24. Mai schon verließ Goethe diesmal Weimar. Wiesbaden war wieder
notgedrungen die Zwischenstation. Frankfurt und Gerbermühle, wo er
»freundlichst empfangen« wurde, schlossen sich Mitte August an. Und
dann kam Heidelberg.

Wieder wohnte Goethe bei den Boisserées -- die Delph war schon 1800
aus Heidelberg fortgezogen. Wieder blaute ein Herbst über Berg und
Tal, wie ihn so schön nur Träume sehen: Rauschgold bestreute alle
Wege, in den Gärten dufteten die späten Blumen, an den Spalieren
reiften die Trauben, und die Mauern des alten Schlosses brannten in
den Sonnestunden in verhaltener Glut. Köstlich war es, auf Altan und
Terrasse zu wandeln, mittags auf schattenfreier Bank zu rasten oder
nachts, wenn der Mond die nahen Zinnen, die Giebel der schlafenden
Stadt, die Neckarniederung mit blassem Silberlicht beträufelte, ins
Land zu sehen ... köstlich vor allem, weil Marianne, Gefährtin und
Geliebte, bald diese Stunden teilte, sie adelte, ihnen Duft und
sinnlichen Zauber gab.

Schon Frankfurt hatte den Zwiegesang von Hatem und Suleika begonnen, --
das Buch »Suleika« im Diwan tönt ihn wider, anhebend mit den Worten:
»Nicht Gelegenheit macht Diebe ...« Es ist das erste der Wechsellieder,
niedergeschrieben, als Goethe am 12. September in Willemers Stadthaus
»Zum roten Männchen« weilte. Heidelberg, wo Marianne mit Mann und
Stieftochter am 23. September eintraf, sehnsüchtig erwartet, wie sie
selbst sehnsüchtig nach Goethe verlangte, steigert nun Frage und
Antwort der Liebenden zu betörender Süßigkeit. Auch die Frau wird zur
Dichterin, deren Verse Goethe durch Aufnahme in den Diwan als den
seinen ebenbürtig erachtet ... Lieder wie das sehnsuchtsvolle »An den
Ostwind« oder das ganz vom Schmerz des Abschieds verklärte »Ach, um
deine feuchten Schwingen ...«

Das Tagebuch des Dichters, sonst so einsilbig und sachlich, schwärmt,
wiederholt immer wieder: »Herrlicher Morgen ... Herrlichster Morgen
... Vollkommenster Tag.« Noch mehr verraten die Gedichte, die Tag für
Tag entstehen, wie Tag für Tag -- es waren ja nur wenige, denn der 26.
September schon brachte die »Abreise der Freunde« -- die Kleinigkeiten,
die nur Liebenden gemein und offenbar, dazu Anlaß geben ... ob sie im
Vollmond nun zusammen an der Altanbrüstung des Schlosses lehnten und
sich gelobten, in der nächsten Vollmondnacht einander im Geiste nah
zu sein; ob Goethe-Hatem »an des luft'gen Brunnens Rand« die Chiffre
Suleikas in morgenländischen Lettern in den Sand zeichnete; ob sie
im Schloßgarten den geheimnisvollen Gingo-Biloba-Baum wiederfanden,
denselben Baum, von dem Goethe ein Blatt als Sinnbild der Freundschaft
nach der Gerbermühle geschickt hatte; oder ob sie traumversunken
lauschten, wie von denselben Bäumen ringsum die reifen Früchte auf den
Boden klopften: alles wurde zum Lied.

»Du beschämst wie Morgenröthe«, preist der Dichter die geliebte Frau,
»jener Gipfel ernste Wand, und noch einmal fühlet Goethe Frühlingshauch
und Sonnenbrand.«

Und sie antwortet, selig hingegeben:

    »Nimmer will ich dich verlieren!
    Liebe gibt der Liebe Kraft.
    Magst du meine Jugend zieren
    Mit gewalt'ger Leidenschaft.
    Ach! wie schmeichelt's meinem Triebe,
    Wenn man meinen Dichter preist:
    Denn das Leben ist die Liebe,
    Und des Lebens Leben Geist.«

[Illustration: VAN EYCK. MARIA IN DER KIRCHE]

Aber jedem Traum folgt ein Erwachen. Auch dieser Herbsttraum, dem eine
gütige Sonne so wundervollen »Frühlingshauch« gegeben, verflog. Wind
lief über die Chiffre Suleikas im Sande und verwischte sie; Wind nahm
dem Gingo-Biloba die Blätter; Wind trieb Wolken über den Mond, der dem
Liebesflüstern von Hatem und Suleika geleuchtet. Wind verwehte auch den
Kuß, den Goethe bei der letzten Zusammenkunft der jungen Frau auf Stirn
und Mund gehaucht. Beide haben sich nie wieder gesehen. Der Traum war
aus. Nur Briefe trugen noch in unschuldiger Geheimschrift verdeckte
Schmeichellaute hin und her zwischen Weimar und Frankfurt ... viele,
viele Briefe, erst Goethes Tod im Jahre 1832 ließ sie aufhören. Oft
klingt der Name Heidelberg in ihnen auf. Denn immer, führten Reisen
Marianne dorthin, meldete sie dem fernen Freunde es, beglückt noch
durch die Erinnerung, die sie mit Schloß und Stadt verband, eine
»andächtige Pilgerin«, die, wie sie 1831 an Goethe schreibt, die durch
Freud und Leid geweihten Orte alle besucht und ein Blatt von der
bekannten Gingo-Biloba zu sich gesteckt hat. Diese Briefe heiligen die
Liebe Goethes zu Marianne, eine Liebe, die entsagte, ohne je genossen
zu haben, in alle Ewigkeit.

       *       *       *       *       *

»Blieb zu Hause,« heißt es in Goethes Tagebuch am 26. September 1815.
Und dahinter steht: »van Eyk«. Die Bilder der Freunde boten also ersten
Trost. Hielt er vor? Nicht recht. Andere Zerstreuung brachten die
Ankunft Carl Augusts, ein Ausflug mit diesem nach Mannheim, eine kurze
Reise mit Sulpiz Boisserée nach Karlsruhe. Aber schon am 6. Oktober
erzählt dieser besorgt von Goethe: »Er ist sehr angegriffen, hat nicht
gut geschlafen, muß flüchten.« Es ist der 6. Oktober, an dem Goethe den
aufklärenden Abschiedsbrief an Willemer geschrieben: »... und ich eile
über Würzburg nach Hause, ganz allein dadurch beruhigt, daß ich, ohne
Willkür und Widerstreben, den vorgezeichneten Weg wandle und um desto
reiner meine Sehnsucht nach denen richten kann, die ich verlasse.«

Schwere Trauer umschattet die ganzen Aufzeichnungen des Freundes aus
diesen Tagen: der »Alte«, wie Boisserée sagt, war völlig aus dem
Gleichgewicht gebracht, quälte sich und andere mit Todesahnungen,
wollte sein Testament machen. Auch litt er unter Erinnerungen, die ihn
bedrängten: die Bilder Lilis und Minchen Herzliebs traten klagend und
anklagend trübe aus der Vergessenheit hervor.

Als erste Stürme Kälte brachten, verließ er, von Sulpiz sorgsam
begleitet, Heidelberg. Am 7. Oktober. Auch Heidelberg hat er nie
wieder gesehen. Aber es lebte in ihm. Die vielfachen Aufzeichnungen
des Greises bezeugen es. Und die Strophen, die der Einsame 1828 in
Dornburg, wohin er sich nach des fürstlichen Freundes Tod geflüchtet
hatte, »dem aufgehenden Vollmond« gewidmet hat, sie bauen zwar
Saale-Landschaft auf, aber sie muten ganz an wie ein sanfter Nachklang
der Heidelberger Zeit, da eine »überselige« Nacht ihn nicht alleine
sah, das »Liebchen« Marianne noch nicht fern war.



Die drei Schlösser Dornburg

            Es spricht sich aus der stumme Schmerz,
            Der Äther klärt sich blau und bläuer --
            Da schwebt sie ja, die goldne Leier,
            Komm, alte Freundin, komm ans Herz.

                ~Goethe~


Wer von Berlin nach München fährt, sieht bald hinter Kösen auf steiler
Bergeshöh hart an der Saale drei Schlösser liegen. Das mittlere, ein
zierlicher Rokokobau mit hellen Fenstern, steht zwischen dem uralten
Gemäuer der beiden anderen wie ein lichter Traum. Das sind die drei
Schlösser Dornburg. Der Zug rast hochmütig daran vorbei, gerade, daß
das Auge den Stationsnamen erhascht. Und in der Erinnerung bleibt ein
Landschaftsbild von eigenartig feinem Reiz.

Dornburg? Ein Name wie so viele andere. Kaum einer, der ihn kennt, kaum
einer, der stutzt und an Goethe denkt. Denn die Vielen wissen noch
immer nichts von ihm, der dieses ganze Land zwischen Saale und Ilm auf
ewige Zeiten geweiht hat. Und doch schwingt auch hier verklärender
Schimmer um Turm und Giebel, und mögen Wein und wuchernder Efeu die
drei bescheidenen Schlösser über der Saale noch so dicht und heimlich
umranken, ihr stiller Zauber bleibt. Der Name Goethe triumphiert über
alle Vergessenheit.

       *       *       *       *       *

Den Weimar-Pilger führt der Weg über Jena nach Dornburg. Nicht dem
brausenden D-Zug erschließt sich diese ganze stille Welt, nur dem
gemächlichen Wanderschritt.

Schon die Stadt an der Ilm hat mit ihren weihevollen Erinnerungen süße
Ruhe über das Herz gebreitet. Nun ist man auf ein Weilchen in Jena
untergetaucht. In die engen Gassen, die winkligen Plätze schicken
die grünen Berge ringsum Waldesduft und köstliche Frische. Aber
unablässig spricht die Vergangenheit in alles Gegenwärtige hinein,
die schmucklosen grauen Häuser der Altstadt mit ihren verwunschenen
Höfen und Gärten atmen den Hauch einer toten Zeit aus, und man braucht
nicht erst auf die abgelegenen Friedhöfe hinter dem Botanischen Garten
zu gehen, um den Schatten der Goethe- und Schillerzeit zu begegnen und
sich in die Tage der Romantiker zu verlieren. Man wird auch so auf
Schritt und Tritt daran gemahnt. Und verwundert steht man vor den jetzt
fast armselig anmutenden Stätten, von denen aus einst deutscher Geist
die Welt umspannte und in deren weltverlorener Heimlichkeit die großen
Dichtungen entstanden, die noch jetzt unserem ganzen Schrifttum Ziel
und Richtung geben. Wie für uns, so war auch für Goethe fast immer Jena
Station, wenn er nach Dornburg fuhr, der alten »Felsenburg«, wie er es
in einem späten Brief an Knebel nennt. Bei diesem, der am »Paradies« an
der Saale ein »paradiesisches Heim« hatte, wohnte er dann meist. »In
Jena, in Knebels alter Stube, bin ich immer ein glücklicher Mensch,
weil ich keinem Raum auf dieser Erde so viele produktive Momente
verdanke!« schreibt er 1802 an Schiller.

Stillste Augenblicke schenkt der Prinzessinnen-Garten, der sich in
Terrassen oberhalb des Botanischen Gartens hinzieht. Die Einsamkeit
häkelt hier fast gespenstisch um Strauch und Baum, verhaltene
Melancholie weint um das kleine gelbe Schloß mit den verschlossenen
Türen und Fensterläden. Nirgends aber spürt man den Bann der alten
krausen Stadt so tief wie hier, wo sie einem zu Füßen liegt. Wie ein
leichter Nebel schweben da die Erinnerungen über ihren Dächern und
Türmen, und was einst lebenslustig und versonnen in ihren Gassen
dahin trieb, wird nun dem träumenden Auge zu einem geisterhaften
Schattenspiel der Lüfte, zu einem wunderlichen Schemenreigen, in dem
der ernste Goethe der verführerischen Caroline Schlegel die Hand
reicht und die heißblütige Sophie Mereau dem jungen Clemens Brentano
erste Liebesblicke sendet, in dem Schiller und Tieck seltsame Partner
sind und der greise Wieland Lotte von Schiller gewagte Dinge ins Ohr
flüstert.

Ein Schattenspiel ... wie das ganze Jena trotz Zeiß, Haeckel und
Diederichs etwas Schattenhaftes hat. Man fühlt sich tief in tote
Zeit verstrickt. Und erst, wenn die Saalewiesen schimmern, der Kranz
der hohen Berge sich zu freier Landschaft öffnet, unter Brücken der
unbehinderte Fluß rauscht, fällt der Bann der alten Mauern wieder von
einem ab. Und so wandert man auf Dornburg zu, gesegnet, vorbereitet
durch das Erlebnis Jena, das leise in grünen Tälern versinkt.

       *       *       *       *       *

Auch in Dornburg schläft Geschichte. Das alte Schloß, ein wuchtiger
Bau aus grauer Vorzeit, der wie ein Bild von Hoffmann von Fallersleben
anmutet, steigt aus uraltem Wald. Steinstufen führen durch eine
romantische Schlucht aus dem Tal, aus dem roten Dächergewirr des Dorfes
hinauf. Oben braust der Wind. Am Abhang ziehen sich morsche Terrassen
hin, über die im Sommer Flieder und Rosen hängen, im Herbst die blauen
Weintrauben. Um winzige Fenster und Mauerlöcher rankt wild der Efeu.
Der Blick klettert staunend an Mauern empor, die für die Ewigkeit
gefügt erscheinen. Jahrhunderte haben daran gebaut. Die Sage erzählt,
daß Heinrich der Vogeler die Burg als Grenzfeste gegen Sorbenhorden
errichtet hat. Möglich! In der Tat reichen Bauteile, so die Fundamente
des Turmes und eine Küchenesse, bis ins 11. Jahrhundert zurück. Noch
jetzt ist das Schloß ganz malerisches Mittelalter, und die modernen
Menschen, die nun drin hausen, die es vom weimarischen Staate irgendwie
gepachtet haben und bevorzugten Fremden im Sommer Pension gewähren,
nehmen sich seltsam genug in dieser zeitfernen Umgebung aus. Die Stürme
jedenfalls, die im Bauernkriege an die ungefügen Mauern brandeten, sind
längst verweht, die Turmglocke, die einstmals gegen wilde Kroatenhorden
wimmerte, schläft, und in dem Hofe, wo vor vielen hundert Jahren
die Sachsenkaiser Land- und Reichstage abhielten, stolzieren nun
gravitätisch die Hühner umher. Der Frieden wohnt hier jetzt. Und in
der zerbrochenen Laterne auf dem einen Torpfeiler wächst wilder Wein.
Schlaf hält das alte Schloß gefangen.

[Illustration: _Die drei Schlösser Dornburg über dem Dorfe Naschhausen_]

Ein paar Schritte weiter tut sich eine andere Welt auf. Mittelalter
wird zu Rokoko. Aus Rosenhecken wächst ein kleines Sanssouci.
»Schlößchen Dornburg« nennt es Goethe in seinen Briefen. Hier wohnten
die »Herrschaften«, wenn sie in Dornburg waren, das 1672 an die
weimarische Linie der sächsischen Herzöge gefallen war, und höfische
Luft schwingt noch jetzt um den zierlichen Bau, den Garten und die
Terrassen. Der Herzog Ernst August, der Großvater Carl Augusts, hat
das Schloß um 1740 herum von dem Italiener Struzzi erbauen lassen. Mit
seiner gelblich getönten Verputzung, den hellen Fensterumrahmungen,
den vielen Ballons, dem schöngeschweiften Kuppeldach wirkt es neben
dem finsteren, nur auf Schutz und Trutz berechneten Gemäuer des alten
Baus doppelt leicht und graziös. Der Duft galanter Feste weht hier,
und die Phantasie ist nur zu gern bereit, die reizenden Säle, die
schönen Vorplätze, den Garten mit seinen Hecken und verschlungenen
Wegen, den wundervollen Altan, das »Fünfeck« Goethes, mit Reifrockdamen
und bezopften Herren zu bevölkern ... das »Rosenfest« pflegte der
weimarische Hof hier ja alljährlich zu feiern, und noch zu Goethes
Zeiten siedelte die zarte, blasse Großherzogin Luise jedes Jahr für
einige Zeit mit ihrem ganzen Hofstaat nach Dornburg über.

Jetzt steht das kleine Lustschloß auch längst verwaist, die Zimmer sind
mit kostbaren Erinnerungen aller Art und Zeiten überladen, das Ganze
ist, wie so viele andere unbenutzte Schlösser, ein Museum geworden,
und über das gleißende Parkett, über das einstmals die Stöckelschuhe
trippelten und die seidenen Schleppen rauschten, schlürft nun nur noch
gelegentlich in Filzpantoffeln der Fremde, der eine abgelebte Zeit aus
toten Dingen beschwören will.

Und wieder ein paar Schritte ab das dritte Schloss, das
»Goethe-Schloß«. Ein ernster Bau in deutscher Renaissance. Mit drei
barocken Giebeln schaut es weithin ins Tal, die schweren, braunen
Mauern wuchten unmittelbar aus dem steil abfallenden Felsen herauf,
kein Weg führt, wie doch bei den anderen beiden Schlössern, am
Abgrund hin, nur die Weinreben ranken ein wenig aus der schwindelnden
Tiefe. Ursprünglich wohl ein Kloster, wurde es dann ein Freigut, das
nach seinem letzten Besitzer allgemein das »Strohmannsche Freigut«
genannt wurde und noch genannt wird. 1824 erst wurde es von Carl
August käuflich erworben, der auf Goethes Anraten hin sofort die
schmale beschwerliche Wendeltreppe, die in einem erkerartigen Turm der
Hinterfront zu den beiden Geschossen führt, sperren und dafür eine
schöne, bequeme Freitreppe einbauen ließ. Breite, weitläufige Treppen
waren ja von jeher eine Leidenschaft Goethes -- man denke nur an die
prachtvolle Treppe, durch die er, auch nachträglich, seinem Haus am
Frauenplan den palaisartigen Charakter gab.

Das sind die drei Schlösser, die unter dem Namen Dornburg nun zu einem
Begriff verschmolzen sind. Kühn und unvermittelt hängen sie, Wind und
Wetter zum Trotz, über dem schroffen Abgrund, weithin das Saaletal
beherrschend, in ihren Fenstern spiegeln sich die Wolken, um ihre
Zinnen fliegen die Vögel. Sie sind in Gärten gebettet, die man vom Tale
aus nur ahnen kann, in weiche, grüne Gärten, die im Frühling, wenn der
Flieder blüht, ein einziges violettes Meer sind. In Kaskaden schäumt
dann der Blütenüberschwang über die Terrassen, die den Abgrund säumen.
Und die ganze Nacht singen hier die Nachtigallen.

Hinter den Gärten, durch schöne schmiedeeiserne Barockgitter und
niedrige »Kavalierhäuser« von ihnen getrennt, liegt die Stadt
Dornburg. Die Stadt? Ein Städtchen, zierlich und kurios wie aus einer
Spielzeugschachtel, und auch so sauber und adrett. Da gibt es einen
weiten Marktplatz mit Linden und einem Ententeich und einem Rathaus,
das ein spitzes Türmchen krönt. Einen Ratskeller, eine Kirche und eine
Apotheke, die noch vor kurzem eine »Hofapotheke« war ... Auch ein
Kammergut ist da. Und kommt man vom Dorfe herauf durch den Wald, der
das alte Schloß umrauscht, so gelangt man in die »Stadt« durch den
Wirtschaftshof eben dieses Kammerguts, von Schweinen angegrunzt, von
Gänsen angefaucht, von Hühnern umgackert, von Hunden bekläfft, und
ist um so verdutzter, dann diese reizende Duodezausgabe einer kleinen
Residenz zu finden.

[Illustration]

Immer aber rauscht im Tal die Saale. Ein breites Silberband, schlängelt
sie sich durch Weidengebüsch und Wiesen, sanfte Berge begrenzen
das Paradies. Eine breite Steinbrücke führt über den Fluß zum Dorf
Naschhausen, zum »Blauen Schild«, wo man Forellen ißt. So war es immer
schon, so wird es bleiben.

Und noch einmal: nicht dem brausenden D-Zug erschließt sich diese
stille, träumende Welt, nur dem gemächlichen Wanderschritt.

       *       *       *       *       *

Am 14. Juni 1828 war Carl August auf der Rückreise von Berlin, wohin
der seit Jahren Kränkliche gegen den Rat der Ärzte im Mai gefahren
war, um seinen ersten Urenkel, den späteren Prinzen Friedrich Karl
von Preußen, zu sehen, in Graditz bei Torgau rasch und unvermutet
gestorben. Goethe empfing die Trauerkunde bereits am Mittag des 15.
Juni -- wie das Tagebuch verzeichnet, hatte er gerade Gäste bei sich,
»die Tyroler sangen bey Tische«, und »die Nachricht von dem Tode des
Großherzogs störte das Fest«.

Lakonischer konnte die Aufzeichnung unmöglich lauten.

Und doch hat ihn die Nachricht, die ihm sein Sohn schonend beibrachte,
aufs tiefste erschüttert, wie tief, das deuten ein paar weitere Worte
des Tagebuchs vom gleichen Tage an: »Gar manches andere im traurigen
Bezug«, und klarer noch geht es hervor aus der schmerzlich bewegten
Schilderung Eckermanns, der ihn am Abend noch einmal sprach. »Er schien
zu fühlen,« erzählt Eckermann in den Gesprächen, »daß in sein Dasein
eine unersetzliche Lücke gerissen worden. Allen Trost lehnt er ab und
wollte von dergleichen nichts wissen.« Wie immer in solchen Fällen,
verlangte seine Seele schnell nach Einsamkeit; fern dem lauten und
letzten Endes doch immer gefühllosen Treiben der Welt, in der Stille
der Natur, so wußte er, würde er am ehesten das so schwer gestörte
seelische Gleichgewicht wiederfinden.

Und er fand es in der Einsamkeit von Schloß Dornburg. Wohl mußte
er erst noch furchtbare Tage in Weimar über sich ergehen lassen,
notwendige Besprechungen aller Art, die Vorbereitungen für die
Trauerfeier und die Beisetzung, Kondolenzbriefe an die Großherzogin
Luise und den zehnjährigen Erbgroßherzog Carl Alexander nahmen ihn ganz
in Anspruch, und während er in einem Briefe an den Bonner Professor
Nees von Esenbeck schreibt: »Meine Empfindungen sind wortlos!« und sein
Schreiben an den Erbgroßherzog in die trauervollen Worte ausklingen
läßt: »Auch dieses Spärliche hat mich viel gekostet, denn ich scheue
mich, an dasjenige mit Worten zu rühren, was dem Gefühl unerträglich
ist,« mußte er die Geduld aufbringen, Stieler, der ihn damals gerade,
eigens aus München dazu nach Weimar berufen, malte, unermüdlich weiter
zu sitzen ... Immer wieder stößt man in diesen unruhvollen Wochen im
Tagebuch, unter sichtlicher Vermeidung des Wortes »Tod«, auf Ausdrücke
wie »das Notwendigste des Augenblicks«, »das Nächstvergangene und
Zunächstbevorstehende« und »das traurige Ereignis«, und ein langer
Brief an die in Karlsbad weilende Schwiegertochter Ottilie schildert
noch einmal, zusammenfassend, in ergreifenden Worten die ganze lastende
Schwere dieser Tage. Dann aber verzeichnet das Tagebuch am 3. Juli,
fast froh, die »Vergünstigung eines Aufenthalts in Dornburg«, und am
5. schon meldet Goethe sich »auf Montag« bei Knebel, dem alten Freunde
junger, längst verrauschter Jahre, der seit langem in Jena wohnte, an.

Am 7. endlich, gegen Abend, traf er in Dornburg ein, wo ihn die
heißersehnte Stille empfing.

       *       *       *       *       *

Vor über fünfzig Jahren war Goethe, damals noch von allem Reiz der
Jugend umstrahlt, zum erstenmal in Dornburg gewesen. Jetzt kehrte er,
ein Greis, an die geliebte Stätte zurück, um still für sich den zu
betrauern, der ihm in jungen Tagen gemeinsamen Glücks die wundervolle,
weltverlorene Schönheit dieses Stückchens Erde erschlossen hatte.

Die Legende erzählt, daß Goethe und Carl August Anno 1776 von Apolda
aus hierher geritten sind, auf einem der vielen wilden Ausflüge,
die der junge, lebenslustige Fürst und der Dichter des »Werther«
damals so gerne machten, um dem steifen, höfischen Leben von Weimar
zu entfliehen. Oktober war es, und die steilen Saalehänge lagen im
Rauschgold des Herbstes. Der Weg war beschwerlich. Verlockend zwar
winkten von der Höhe des Berges, tief in bronzebraunes Laub gebettet,
die drei Schlösser, aber die Pferde waren müde. Verdrießlich fragte
Goethe, dessen in neue Liebe verstricktes Herz nach der Stein bangte
und dem der gerade Weg nach Weimar der liebste gewesen wäre, den
Freund: »Du führst mich ja einen bösen Weg. Wird's sich auch lohnen?«
Und »Warte nur!« entgegnete ihm Carl August, der seiner Freiheit froh
war und kein so dringendes Gelüsten nach dem dumpfen, stickigen Weimar
trug, »wenn wir oben sind, wirst du's sehen!«

Und ja, es lohnte sich! Goethe, von jeher für landschaftliche
Reize empfänglich wie kein anderer, war hingerissen. Das hatte er
nicht erwartet, und jeder, der zum erstenmal von den Terrassen der
Dornburgschen Schlösser aus auf das in friedvoller Ruhe daliegende
Saaletal herniederblickt, wird es verstehen, daß Goethe zeit seines
Lebens mit immer gleicher Liebe an diesen Schlössern, dieser
Landschaft hing. Damals ruhte er, alter lieber Gewohnheit folgend,
nicht eher, als bis er den großen Eindruck, den die drei auf steilster
Bergeslehne thronenden Schlösser auf ihn gemacht hatten, im Bilde
festgehalten hatte. Die kleine Bleistiftzeichnung, die jetzt das
Goethe-Nationalmuseum in Weimar mit vielen anderen von Goethes Hand als
kostbarstes Vermächtnis aufbewahrt, schickte er, in Gedanken ja doch
immer bei Charlotte von Stein weilend, sofort an diese nach Kochberg,
und auf die Rückseite des Blattes schrieb er dazu die wenigen Worte

        »Ich bin eben nirgend geborgen,
        Fern an die Saale hier
        Verfolgen mich manche Sorgen
        Und meine Liebe zu dir.

    Dornburg 16. Oktbr. 76.«

Diese kurzen Verse und die Zeichnung sind die ersten wirklichen Belege
für Goethes Bekanntschaft mit Dornburg -- vergeblich habe ich versucht,
was die Legende so hübsch erzählt, durch Tatsachen zu erhärten, aber
so ergiebig die Goethe-Literatur auch sonst ist, hier versagt sie. Der
Briefwechsel mit Charlotte von Stein, der diese sehnsüchtigen Verse
zwischen einen rührend hingebenden Abschiedsbrief an die »Madonna«
und den leidenschaftlichen Hymnus des Dichters »An den Geist des
Johannes Sekundus« stellt, und das Tagebuch mit den drei kargen Worten:
»Dornburg. Camburg. Naumburg.« bleiben nach wie vor einzige Quelle.
Aber gerade das Ungewisse -- das auch Goethe selbst durch keine, auch
nicht die kleinste Äußerung in seinen Schriften, Briefen und Gesprächen
später aufzuhellen für gut befunden hat -- breitet, wie um so vieles
in seinem Leben, auch um diese Episode den Schleier der Verklärung, und
was ihm selbst in seinem hohen Alter vielleicht Legende dünkte, bleibt
es nun auch für uns.

       *       *       *       *       *

Hat Goethe damals, als er im Juli 1828 in seiner großen, bequemen
Reisekalesche von Jena die Saale abwärts nach Dornburg fuhr und, von
der untergehenden Sonne in rote Glut getaucht, die drei Schlösser vor
ihm auftauchten, jener fernen Zeit gedacht?

Sicherlich. Denn wenn er in Wirklichkeit auch allein im Wagen saß, als
Schatten begleiteten ihn doch der treue Lebensgefährte, dem sie jetzt
in Weimar in der kühlen Fürstengruft soeben das letzte Lager bereitet
hatten ... und in Gedanken mögen die Lippen des greisen Dichters,
während das große dunkle Auge in der von seligem Sonnenglanz erfüllten
Weite hing, manch erinnerungsschweres Wort geformt haben, das dem toten
Freunde und gemeinsam verlebten Stunden galt. Zwar jener erste Besuch
auf Dornburg gehörte nun schon einer Welt, aus der fast alle, die sie
einst belebten, längst ins Grab gesunken waren; aber da waren in den
nun zurückliegenden fünfzig Jahren hundert andere gewesen, die ihn,
allein und nicht allein, hierher geführt hatten, und sie alle spülte
nun die Erinnerung wieder aus der Vergangenheit herauf, Fluch und
Gnade in eins, und wunderlich vermengte sich in unbewußtem Nachdenken
Altes, das er längst abgetan geglaubt, mit Neuem, das seine Seele jetzt
bewegte.

Mit leisem Rauschen trieb neben ihm, im Getrappel der Pferde
kaum vernehmbar, die Saale dahin, von grüner Wiese und schwankem
Weidengebüsch sanft gehegt, nur manchmal, wenn sich aus den weichen
Uferhängen starre Felsen drängten, in unwilligem Bogen ausweichend, dem
Straße und Wagen folgen mußten. In den Ebereschen hingen schon rot die
Beerendolden.

Er dachte nach. Ferne Zeiten dämmerten herauf, die Jahre, da sein
Herz sich Tag und Nacht in heißer Sehnsucht nach der geliebten Frau
in jenem stillen, großen Hause an der Ackerwand in Weimar verzehrte
... fast ging es, trotz der sommerlichen Wärme des Julitages, wie ein
erkältender Hauch über ihn hin.

Da war der erste Besuch des Hofes, Anno 1777 im Juli ... die Herzogin
kannte Dornburg noch nicht, und wie Knebel an den in Pyrmont weilenden
Herder schrieb, soll sie geäußert haben: »Das ist der beste Tag, den
ich noch hier gehabt habe. Es ist mir wie in einem schönen Traum.«
Arme blasse Luise! Das Schicksal hat dir nicht viele solcher Tage in
Weimar geschenkt, und oft genug magst du des heiteren »Frühstücks
auf dem Fünfeck« gedacht haben, das ein »überherrlicher Morgen«, wie
Goethe selbst damals in seinem Tagebuche jubelt, zu einer Stunde
reinsten Glückes werden ließ ... Später hatte dann der Herzog seinen
jungen Minister ein paarmal zur Rekrutenaushebung ins Land geschickt,
zur »Auslesung« -- keine angenehme Aufgabe, besonders nicht für einen
Dichter, dessen Phantasie gerade um die hoheitsvollen Gestalten einer
Iphigenie, eines Orest schwingt. Ungefähres zuckte schmerzlich durch
sein Hirn.

Wir Enkel, die wir in den reichen Schätzen seines Erbes leben und atmen
dürfen, wir brauchen nur wieder die Briefe an Charlotte von Stein
aufzuschlagen und finden Gewisses. Da schreibt er am 2. März 1779 aus
Dornburg an die ferne Geliebte: »Knebeln können Sie sagen daß das Stück
sich formt, und Glieder kriegt. Morgen hab ich die Auslesung, dann will
ich mich in das neue Schloß sperren und einige Tage an meinen Figuren
posseln ... Jetzt leb ich mit den Menschen dieser Welt, und esse und
trinke, spase auch wohl mit ihnen, spüre sie aber kaum, denn mein
innres Leben geht unverrücklich seinen Gang.« Und zwei Tage später:
»Auf meinem Schlößgen ist's mir sehr wohl, ich habe recht dem alten
Ernst August gedankt, daß durch seine Veranstaltung an dem schönsten
Platz, auf dem bösten Felsen eine warme gute Stätte zubereitet ist
... Die Tage sind sehr schön, die Gegend immer allerliebst.« Mit dem
»Schlößgen« meint Goethe das mittlere der drei Dornburgschen Schlösser,
den Rokokobau. Denn nur dieses konnte damals bewohnt werden, da in dem
alten Schloß eine Barchentspinnerei untergebracht und das dritte, das
Stohmannsche Freigut, eben noch Freigut war und noch nicht dem Herzog
gehörte.

Und noch einmal taucht Dornburg in den Briefen an Frau von Stein
auf. Das ist 1782. Wieder zwingt den Dichter, wie er in seinem
Tagebuch offenherzig schreibt, »das alberne Geschäft der Auslesung
zum Militär«, vier Wochen im Lande herumzureiten. Es ist März und
die Frühlingsstürme blasen. So fürchtet er schon in Jena, daß das
Zusammentreffen mit der Geliebten in Dornburg, das in Weimar verabredet
worden war, nicht möglich sein werde. Und es wurde auch nichts daraus.
Am 16. März geht dafür ein kurzer Brief aus Dornburg an sie ab, der
seine bange Sehnsucht und Erwartung schildert -- »jetzt da es Nacht
wird sinckt mein Vertrauen nach und nach, und die Resignation tritt
ein« -- und ihr meldet, daß sein »Mieting« (das herrliche Gedicht auf
Miedings Tod) fertig ist. Inzwischen war auch der Herzog auf Dornburg
angelangt, mit Briefen von Frau von Stein, die dem Dichter Beruhigung
brachten. Ein Sonntagsbrief Goethes an sie meint nun: »Jetzt ist mir's
lieber daß Du nicht gekommen bist. Der halbgeschmolzene Schnee zwischen
den schwarzen Bergen und Feldern gibt der Gegend ein leidig Ansehn. Du
sollst sie im Sommer zum erstenmal besuchen.« Und am Abend des gleichen
Tages läßt ihn die Sehnsucht noch einmal zur Feder greifen: »Es geht
morgen ein reitender Bote nach Weimar, so kannst du dies zum guten Tag
haben ... Leb wohl, ich bin dein. Meine Seele schliest sich in sich
selbst zusammen, wenn mir dein Anblick fehlt.« Der Tag wäre im übrigen
still hingegangen, sie hätten geplaudert und gelesen, wären auch ein
wenig spazieren gegangen. »Ich bin ganz leise fleißig, ich möchte nun
Egmont so gar gerne endigen. Und seh es möglich.«

[Illustration]

Das ist alles. Als Traum fliegt es durch die Erinnerung des sacht
Dahinfahrenden, Verse aus Iphigenie, Worte aus Egmont, hier mit dem
Blick auf die Saale und ihre Wälder und Felder geformt, klingen wie aus
verschütteten Tiefen herauf. Die Schlußzeilen aus dem Mieding-Gedicht,
hier einst gefunden, als der Märzsturm greulich die alten Felsen und
Mauern umtobte, gewinnen neue Bedeutung, da ihr zauberischer Klang nun
auch um ein anderes Grab schwingen darf:

    »Fest steh dein Sarg in wohlgegönnter Ruh;
    Mit lockrer Erde deckt ihn leise zu,
    Und sanfter als des Lebens liege dann
    Auf dir des Grabes Bürde, guter Mann!«

Und leise aufstöhnend deckt der alte Herr im Wagen, der so aufrecht
sitzt und dessen volles Kinn so gravitätisch in der schneeigen Binde
ruht, die Augen auf einen Moment mit der Hand ... und denkt vielleicht
auch daran, daß die, um die er hier in Dornburg und »soweit die Welt
nur liegt« in zehrender Liebe gebangt hat, nie die Dornburger Gegend
gesehen hat, die er ihr »im Sommer« einmal hatte zeigen wollen; daß
auch sie seit fast zwei Jahren tot ist ...

Und das Bild einer anderen Toten steigt aus der Erinnerung, das hübsche
Bild Christianens, seiner Frau. Frohe Tage bringt es mit sich, die ihr
helles Lachen, ihr heiteres Geplauder, ihre stete Fürsorge für ihn
verklärten. Wie oft ist er mit ihr und August in Dornburg gewesen!
Damals prangte sie noch in allem Glanz der Jugend, war eine »gute
Kleine«, und August war noch ein »Bübechen«. Auch das ist lange her!
Der Briefwechsel zwischen Goethe und Christiane, den erst Hans Gerhard
Gräf, nach unbillig langer Sekretierung, »für die Guten und nicht für
die Bösen« endlich zugänglich gemacht hat, erzählt mancherlei von
diesen harmlosen Ausflügen. War Goethe in Jena, so fuhren die Geliebte
(die Goethe, wie aus früheren Briefen an Schiller hervorgeht, schon
längst als seine Frau betrachtete, wenn sie das in Wirklichkeit auch
erst 1806 wurde) und der kleine August oft von Weimar hinüber zu ihm,
und immer schloß sich dann eine jener »Partien« nach dem nahen Dornburg
an, die Christiane etwa dann die kindlich-reizenden Worte finden
ließen: »Ich danke Dir noch herzlich für das vergönnte Späßchen!« und
die in August, als er schon wohlbestallter Assessor und ein Lebemann
dazu war, noch sehnende Erinnerungen weckten ... Da heißt es dann in
Goethes Tagebuch immer kurz und lakonisch: »Mit den Meinigen nach
Dornburg« oder: »... wir fuhren abends nach Dornburg«; aber die wenigen
Worte sprechen für sich, und die Innigkeit des Tones verrät deutlich
die reine väterliche Freude, die dem Dichter solche Familienausflüge
gemacht haben müssen, zumal das zwanglose Landleben in Dornburg und
der Jahrmarkt im nahen Lobeda, dessen Besuch nie versäumt wurde, der
lebenslustigen Christiane Gelegenheit genug geboten haben werden, ihre
Frohnatur zu zeigen.

Ihre Frohnatur ... und wieder finden sich willfährig Verse, die
tröstend aus der Vergangenheit herüberklingen, als Schatten dem
Träumenden den Blick verdunkeln wollen:

    »Froh glänzend Auge, Wange frisch und roth,
    Nie schön gepriesen, hübsch bis in den Tod.«

Ja, bis in den Tod, und was einst, als sie in »fürchterlichem
Kampfe« starb, »Leere und Totenstille« in ihm ließ, das gestaltete
dankbare Erinnerung zu »fröhlichem Vermächtnis«. Zu diesem fröhlichen
Vermächtnis gehört auch Dornburg.

Und andere Tage gleiten dem Fahrenden durch den Sinn, Tage, da er,
nun schon lange einsam geworden, allein in Dornburg weilte, nur in
der Zwiesprach mit den stillen Pflanzen und den stillen Steinen
Unterhaltung suchend, die ihm mit stummer Hingabe seine rätselnde
Liebe lohnten. Wie war das doch damals gewesen, als er in Jena das
Zettelchen des Kanzlers von Müller empfing, das ihn in kurzen, warmen
Worten nach Dornburg lud? Zehn Jahre sind es gerade her, aber der
Frühlingstag steht deutlich vor ihm. Wieder einmal war Dornburg ein
Blütenmeer ... »Blüthenburg«, erzählt der Kanzler von Müller in seinen
Unterhaltungen mit Goethe, »sollte man Dornburg nennen, denn Dornen
fanden wir keine, aber duftende herrliche Blüthen in Menge.« Müller
war mit Julie von Egloffstein, Goethes »schöner Schülerin«, von Weimar
nach Dornburg gefahren und erwartete den Dichter in dem »allerliebsten
Feenschlößchen, das am schroffen Felsabhange wie durch Zauberei
aufgerichtet scheint«. Ernst und feierlich kam Goethe durch die Hecken
des kleinen Gartens geschritten. Im weißblauen Speisesaal wurde das
Mittagsmahl eingenommen, »auf derselben Stelle, wo einst vor sechzehn
Jahren eine verwandte fröhliche Gesellschaft bei ähnlicher Lustfahrt
im heitern Übermut auf rosenbestreuten Polstern unter Gitarrenspiel
und Gesang sich niedergelassen und dem Genius des Orts manch
geflügeltes Wort und Lied geopfert hatte«. Und in heiterem Geplauder
verging der schöne Sonnentag und endete in ernstem philosophischen
Gespräch. »Es war als ob vor Goethes innerem Auge die großen Umrisse
der Weltgeschichte vorübergingen, die sein gewaltiger Geist in ihre
einfachsten Elemente aufzulösen bemüht war. Mit jeder neuen Äußerung
nahm sein ganzes Wesen etwas Feierlicheres an, ich möchte sagen, etwas
Prophetisches.«

So kam der Abend, die Luft war schwer von Blütenduft, in den
Fliederhecken begannen die Nachtigallen zu schlagen. Der Himmel stand
über den Bergen des weiten Tals in rosiger Bläue. Da erhob sich Goethe.
»Laßt mich, Kinder,« sprach er, plötzlich vom Sitze aufstehend, »laßt
mich einsam zu meinen Steinen dort unten eilen; denn nach solchem
Gespräch geziemt es dem alten Merlin, sich mit den Urelementen wieder
zu befreunden.« Und in seinen hellgrauen Mantel gehüllt, den er als
Abendgewand so liebte (auch als er im Frühherbst 1815 bei Willemers auf
der Gerbermühle zu Besuch weilte, trug er, wie Marianne von Willemer
erzählt, immer abends seinen »weiß flanellenen Hausrock«), stieg er ins
Tal hinab, vorsichtig Schritt für Schritt die morschen Stufen prüfend,
ernst und feierlich, wie er am Mittag gekommen, aber jetzt in der schon
leise fallenden Dämmerung eine geisterhafte Erscheinung. Hin und wieder
blieb er ein Weilchen stehen, bückte sich nach Steinen, ließ Blumen
und Gräser durch die schöne weiße Hand gleiten. Und manchmal klang zu
den Zurückgebliebenen, die ihm wie gebannt nachsahen, gedämpft der
Klang des Hammers herauf, mit dem er den starren, schweigenden Fels
prüfte oder kleine Gesteinteile für spätere Forschungen abschlug ...
und so entschwand er allmählich dem Blick, zerrann im Schatten der
Berge, kein Mensch mehr, nein, ein Gott, der mit der Natur um ihre
tiefsten Geheimnisse rang ... Merlin der Alte, der Dichter des »Faust«
und selbst eine faustische Erscheinung. »Wir aber fuhren,« so schließt
Müller »unter traulichen Erinnerungsgesprächen durch das blühende
Jenaische Tal froh und heiter nach Hause.«

Das war im April 1818 gewesen!

Jetzt schrieb man 1828. Wieder lag das Jenaische Tal in abendlichem
Glanze, auf den Feldern wogte das gelbe Korn, und in dem unendlichen
Himmel standen wie Pünktchen die Lerchen und erfüllten die laue Luft
mit jubelndem Gesang. Statt des Flieders blühten auf den Terrassen der
Dornburg-Schlösser die Rosen, man sah sie nicht, aber der Wind trug
ihren Duft dem Wagen entgegen ... den schwachen Duft der zarten weißen
und den starken der üppigen roten. Da kamen wieder die Erinnerungen,
verklungene Rosenzeit stand auf und bedrängte das Herz des einsamen
Mannes. In diesem Herzen war es Herbst, später Herbst. Von der langen
Fahrt ermüdet, die Seele dumpf erfüllt von den »düstern Funktionen«
in Weimar, sank er für einen Augenblick in sich zusammen: Schatten,
wohin er sah, schattenhaft die Jahre, die vergangen, schattenhaft
die Gestalten, die ihnen Qual und tiefster Lebensrausch gewesen! Von
vielen, vielen Toten er der einzig Lebende! Kam nun auch für ihn
die Nacht? Ein kühler Hauch vom nahen Mühlenwehr, an dem sie grad
vorüberrollten, ließ ihn leicht erschauern ...

Die Pferde quälen sich den Berg hinauf, die Räder mahlen im Sande. Über
dem Städtchen Dornburg schwanken die Abendschatten. Und schattenhaft
auch das Schloß, das ehemalige Stohmannsche Freigut, als der Wagen
endlich hält. Nur um die letzten Giebel hängt noch ein wenig blasse
Sonne -- so auch das alte Haus zu einem Symbol des eigenen Lebens
gestaltend, denkt er. Goethes Sekretär John und der junge Hofgärtner
Sckell empfangen ihn. Vor dem reichverzierten Renaissance-Portal stutzt
sein Schritt, das Auge fesselt flüchtig ein lateinischer Spruch.

Wie lautet er?

    »+Gaudeat ingrediens laetetur et aede recedens
    His qui praetereunt det bona cuncta deus. 1608.+«

+Gaudeat ingrediens+ ... »Freudig trete herein!« murmeln seine Lippen,
und wie ein leiser Trost tritt da vor das trauervolle Herz Hatems das
Bild Suleikas.

Und an den Dienern vorbei, die Windlichter halten, schreitet Goethe,
nun wieder ganz verhaltene Würde, gelassen über die Schwelle und
verschwindet im Dunkel des Flurs.

Ruhe und Vergessen hat Goethe in Dornburg gesucht, beides hat er
gefunden. Die Natur tat ein übriges und schickte ihrem Liebling
wundervolle Sommertage. Hofgärtner Sckell -- der über ein Menschenalter
später diese Zeit in einem kleinen Buch mit dem Titel »Goethe in
Dornburg. Gesehenes, Gehörtes und Erlebtes« geschildert hat -- hatte
ihm in dem neu erworbenen Schloß die sogenannte »Bergstube« im ersten
Stock eingerichtet, die in der Südwestecke des winkligen Baues liegt.
Das Zimmer ist heute wieder in genau dem gleichen Zustand wie damals,
als Goethe es bewohnte. Das Eckfenster, aus dem der Dichter so gerne
ins Tal geblickt hat, trägt auf seinem Rahmen unter Glas die Inschrift:
»1828 vom 7. Juli bis den 12. September verweilte hier Goethe.«

[Illustration]

Es ist ein ganz einfaches Zimmer, das in seiner Schmucklosigkeit
lebhaft an Goethes Schlaf- und Arbeitszimmer in Weimar erinnert. Der
Fußboden rohes Holz, die niedrige Balkendecke wie die Wände hellgrau
getüncht. Auch die Möbel völlig schmucklos -- ein brauner Arbeitstisch,
ein Sekretär, ein paar Stühle, deren gestickte Polsterbezüge von Frau
von Stein und Frau von Wolzogen stammen, zwischen den Fensterpfeilern
ein Tischchen -- das ist alles. Man betritt das ärmliche Gemach durch
ein Empfangszimmer, das Kupferstiche und Büsten etwas wohnlicher
gestalten. Aber auch dies Zimmer war nur für die Vertrauten, den
Besuch vornehmer Gäste und Fremder nahm Goethe in dem benachbarten
Rokokoschlößchen oder im Garten entgegen. Hinter der »Bergstube«, durch
eine niedrige Tür damit verbunden, die Schlafkammer. Ein schmales Bett,
ein grünes Sofa, ein paar Stühle, ein Schrank, über dem Bett wenige
selbstgeschnittene Silhouetten, das ist auch hier das ganze Mobiliar.

Und doch hat sich Goethe in dieser ärmlichen Umgebung glücklich
gefühlt, sehr glücklich sogar. Er lebte ja auch eigentlich nicht in
den engen Zimmern, sondern draußen in der Natur. Die Terrassen, der
Garten, der »Hain«, das weite Saaletal, das war sein Reich. Wieder
waren ihm die Pflanzen und die Steine die liebste Gesellschaft, in dem
stillen, ungestörten Verkehr mit ihnen fand er die ersehnte Linderung
für den großen Schmerz, den ihm der plötzliche Tod des fürstlichen
Freundes bereitet hatte, gewann er die ruhige Kraft zu den strengen
wissenschaftlichen Arbeiten, die auch hier seinen Tag ausfüllten, und
tiefster Seelenrausch vor allem wurden ihm die lauen Augustnächte, wenn
das weite Tal ihm zu Füßen im Licht des Vollmonds schwamm und die Berge
mit silbernen Konturen gegen den geheimnisvoll durchleuchteten Himmel
standen. In solchen Stunden fand sein beschwingter Mund Worte, die in
ihrer schweren Süßigkeit an seiner jungen Jahre schönste Dichtungen
gemahnen. Sehnsucht nach einer geliebten Frau tat auch diesmal das
Ihre dazu. Als Goethe nämlich vor langen Jahren, es war im Herbst
1815, mit Marianne von Willemer und ihrem Mann in Heidelberg zusammen
gewesen war, hatten sich die beiden Liebenden in einer dufterfüllten
Vollmondsnacht versprochen, bei jedem zukünftigen Vollmond einander im
Geiste nah zu sein. Der Hatem-Rausch war nun schon längst verflogen,
die Zeit, von der die wundervollen Verse erzählen: »... und noch einmal
fühlet Goethe Frühlingshauch und Sonnenbrand,« war längst im Spiegel
des »West-Östlichen Diwan« eingefangen; aber die stille Neigung zu
Suleika hatte der Jahre flüchtigen Lauf überdauert, und aufs neue
erwachte sie, als Goethe nun in Dornburg, drei Tage vor dem Eintritt in
sein achtzigstes Lebensjahr, nachts am Fenster seiner Bergstube stand
und geblendeten Auges, aufs tiefste erschüttert, in die silberne Fülle
des Mondes blickte ... er war im Geiste bei der Frau, die er seit jenem
frühlingshaften Heidelberger Herbste nie wieder gesehen hatte. Vom 25.
August 1828 stammt das Gedicht: »Dem aufgehenden Vollmond.« Es lautet:

    »Willst du mich sogleich verlassen?
    Warst im Augenblick so nah!
    Dich umfinstern Wolkenmassen,
    Und nun bist du gar nicht da.

    Doch du fühlst wie ich betrübt bin,
    Blickt dein Rand herauf als Stern!
    Zeugest mir, daß ich geliebt bin,
    Sei das Liebchen noch so fern.

    So hinan denn! Hell und heller,
    Reiner Bahn, in voller Pracht!
    Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller,
    Überselig ist die Nacht.«

Marianne erhielt das Gedicht am 23. Oktober von Weimar aus. Aber im
Begleitbrief heißt es: »Mit dem freundlichsten Willkomm die heitere
Anfrage: wo die lieben Reisenden am 25. August sich befunden? und ob
sie vielleicht den klaren Vollmond beachtend des Entfernten gedacht
haben? Beikommendes gibt, von seiner Seite, das unwidersprechlichste
Zeugnis.«

Die Natur, die hier alles ist, war ihm wirklich alles. Er gab sich ihr
ganz hin. Schon das erste Tagebuchblatt aus Dornburg meldet: »Früh in
der Morgendämmerung das Thal und dessen aufsteigende Nebel gesehen. Bey
Sonnenaufgang aufgestanden. Ganz reiner Himmel, schon zeitig steigende
Wärme ... Abends vollkommen klar. Heftiger Ostwind.« Ähnliches
findet sich Tag für Tag, und immer wiederholt sich die Bemerkung:
»Auf der Terrasse spaziert.« Sckell erzählt, daß er stets schon um
6 Uhr aufstand. Das Tagebuch bezeugt es. Wenn die Welt noch ganz
still und keusch in feierlicher Schönheit dalag, empfand er lebendig
das homerische Wort von der »heiligen Frühe«. Auch hier formt sich
seelische Erschütterung zu Versen:

    »Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten
    Nebelschleiern sich enthüllen,
    Und dem sehnlichsten Erwarten
    Blumenkelche bunt sich füllen;

    Wenn der Äther, Wolken tragend,
    Mit dem klaren Tage streitet,
    Und ein Ostwind, sie verjagend,
    Blaue Sonnenbahn bereitet,

    Dankst du dann, am Blick dich weidend,
    Reiner Brust der Großen, Holden,
    Wird die Sonne, rötlich scheidend,
    Rings den Horizont vergolden.«

Genaueres über sein Leben in Dornburg geben die Briefe, die er hier
geschrieben, darunter manche, die von der Schönheit eines lyrischen
Gedichtes sind. Der fast Achtzigjährige war eben wieder ganz in
poetischer Bewegung, wie immer, wo er so unmittelbar in und mit der
Natur lebte wie hier. Rückhaltlos spricht er sich zu den alten Freunden
Zelter, Heinrich Meyer, Soret und Knebel aus. »Seit fünfzig Jahren,«
schreibt er bereits am 10. Juli an Zelter, »hab' ich an dieser Stätte
mich mehrmals mit ihm (dem Großherzog) des Lebens gefreut, und ich
könnte diesmal an keinem Orte verweilen, wo seine Tätigkeit auffallend
anmutiger vor die Sinne tritt.« Und nun schildert er, was Carl August
für Dornburg alles getan, und deutlich spürt man zwischen den Zeilen
die tiefe, fast behagliche Freude des Genusses an all dem Schönen, was
hier Natur und Kunst in edlem Wettstreit bieten, ja, er malt förmlich,
und das Bild, das so von Dornburg entsteht, ist so plastisch, daß
selbst jemand, der Dornburg und seine Schlösser nie gesehen hat, sich
dem Reiz der Darstellung nicht entziehen kann.

Ein völliges Kunstwerk ist der große Brief vom 18. Juli an Friedrich
August v. Beulwitz, den Generaladjutanten des neuen Großherzogs
Carl Friedrich. In ihm erscheint die ganze Dornburger Zeit in
poetischer Verklärung -- das Tagebuch nennt ihn ja auch die »reflexive
Relation meines hiesigen Aufenthalts«. Das lange und ausführliche
Schreiben beginnt mit jenem alten Distichon, das über dem Portal des
Stohmannschen Freiguts in den Stein gemeißelt ist; den lateinischen
Worten läßt Goethe gleich die Übersetzung folgen:

    »Freudig trete herein und froh entferne dich wieder!
    Ziehst du als Wanderer vorbei, segne die Pfade dir Gott.«

Und er schildert dann, wie er nach Verlauf von einigen Tagen und
Nächten der Trauer sich ins Freie gewagt und begonnen hat, die Anmut
dieses »wahrhaften Lustorts« still in sich aufzunehmen:

»Da sah ich vor mir auf schroffer Felskante eine Reihe einzelner
Schlösser hingestellt, in den verschiedensten Zeiten erbaut, zu
den verschiedensten Zwecken errichtet. Hier, am nördlichsten Ende,
ein hohes, altes, unregelmäßig weitläufiges Schloß, große Säle zu
kaiserlichem Pfalzlager umschließend, nicht weniger genugsame Räume zu
ritterlicher Wohnung. Es ruht auf starken Mauern, zu Schutz und Trutz.
Dann folgen später hinzugestellte Gebäude, haushälterischer Benutzung
der umherliegenden Feldbesitzer gewidmet.

Die Augen an sich ziehend aber steht weiter südlich, auf dem solidesten
Unterbau, ein heiteres Lustschloß neuerer Zeit zu anständigster
Hofhaltung und Genuß in günstiger Jahreszeit. Zurückkehrend hierauf an
das südliche Ende des steilen Abhanges, finde ich zuletzt das alte, nun
auch mit dem Ganzen vereinigte Freigut wieder, dasselbe, welches mich
so gastfreundlich einlud.

Auf diesem Weg nun hatte ich zu bewundern, wie die bedeutenden
Zwischenräume, einer steil abgestuften Lage gemäß, durch Terrassengänge
zu einer Art von auf- und absteigendem Labyrinthe architektonisch
auf das schicklichste verschränkt worden, indessen ich zugleich
die sämtlichen übereinander zurückweichenden Lokalitäten auf das
vollkommenste grünen und blühen sah. Weithingestreckt, der belebenden
Sonne zugewendete, hinabwärts gepflanzte, tiefgrünende Weinhügel;
aufwärts, an Mauergeländern, üppige Reben, reich an reifenden, Genuß
zusagenden Traubenbüscheln; hoch an Spalieren sodann eine sorgsam
gepflegte, sonst ausländische Pflanzenart, das Auge höchstens mit
hochfarbigen, am leichten Gezweige herabspielenden Glocken zu ergötzen
versprechend; ferner vollkommen geschlossen gewölbte Laubwege, einige
in dem lebhaftesten Flor durchaus blühender Rosen, höchlich reizend
geschmückt; Blumenbeete zwischen Gesträuch aller Art.

Konnte mir aber ein erwünschteres Symbol geboten werden? deutlicher
anzeigend, wie Vorfahr und Nachfolger, einen edlen Besitz
gemeinschaftlich festhaltend, pflegend und genießend, sich von
Geschlecht zu Geschlecht ein anständig bequemes Wohlbefinden emsig
vorbereitend, eine für alle Zeiten ruhige Folge bestätigten Daseins
und genießenden Behagens einleiten und sichern? ...

Von diesen würdigen landesherrlichen Höhen sehe ich ferner in einem
anmutigen Tal so vieles, was, dem Bedürfnis des Menschen entsprechend,
weit und breit in allen Landen sich wiederholt. Ich sehe zu Dörfern
versammelte ländliche Wohnsitze, durch Gartenbeete und Baumgruppen
gesondert; einen Fluß, der sich vielfach durch Wiesen zieht, wo eben
eine reichliche Heuernte die Emsigen beschäftigt; Wehr, Mühle, Brücke
folgen aufeinander, die Wege verbinden sich auf und ab steigend.
Gegenüber erstrecken sich Felder an wohlbebauten Hügeln bis an die
steilen Waldungen hinan, bunt anzuschauen nach Verschiedenheit der
Aussaat und des Reifegrades. Büsche hier und da zerstreut, dort zu
schattigen Räumen zusammengezogen. Reihenweis auch den heitersten
Anblick gewährend seh' ich große Anlagen von Fruchtbäumen; sodann aber,
damit der Einbildungskraft ja nichts Wünschenswertes abgehe, mehr oder
weniger aufsteigende, alljährlich neu angelegte Weinberge.

Das alles zeigt sich mir wie vor fünfzig Jahren, und zwar in
gesteigertem Wohlsein, wennschon diese Gegend von dem größten Unheil
mannigfach und wiederholt heimgesucht worden. Keine Spur von Verderben
ist zu sehen, schritt auch die Weltgeschichte hart auftretend gewaltsam
über die Täler. Dagegen deutet alles auf eine emsig folgerechte,
klüglich vermehrte Kultur eines sanft und gelassen regierten, sich
durchaus mäßig verhaltenden Volkes ...

Nun aber sei vergönnt, mich von jenen äußern und allgemeinen Dingen
zu meinen eigensten und innersten zu wenden, wo ich denn aufrichtigst
bekennen kann: daß eine gleichmäßige Folge der Gesinnungen daselbst
lebendig sei, daß ich meine unwandelbare Anhänglichkeit an den
hohen Abgeschiedenen nicht besser zu betätigen wüßte, als wenn ich,
selbigerweise dem verehrten Eintretenden gewidmet, alles, was noch an
mir ist, diesem wie seinem hohen Hause und seinen Landen von frischem
anzueignen mich ausdrücklich verpflichte.«

Goethe selbst hat diesen Brief, der eben mehr als ein Brief, der eine
Konfession, eine Dichtung ist, zusammen mit einer Zeichnung jenes
Schloßportals aufbewahrt, und Eckermann erzählt in seinen Gesprächen
mit Goethe ergreifend, wie dieser ihm im März 1831 Brief und Zeichnung
gezeigt, wie tief beides auf ihn gewirkt und wie der greise Dichter es
dann wieder in einer besonderen Mappe fortgelegt hat, »um beides für
die Zukunft zu erhalten«.

       *       *       *       *       *

Goethe hätte nicht Goethe sein dürfen, wenn nicht die Einsamkeit, die
er in Dornburg suchte, schließlich illusorisch geworden wäre. Alle
Welt besuchte ihn hier, und vielleicht hat er deshalb die Morgen- und
Abendstunden so geliebt, weil er da wirklich allein war und sich ganz
den geliebten Naturstudien widmen konnte. Es entspricht aber seinem
Wesen, das auch Anregung durch geistigen Gedankenaustausch in Wort und
Schrift brauchte, daß er über die vielen Besuche keineswegs ungehalten
war.

Auch darüber plaudert der ihn die ganze Zeit über betreuende Hofgärtner
sehr hübsch in seinem kleinen Büchlein. Kam die Schwiegertochter mit
Eckermann und den Enkeln von Weimar herüber, so war er sogar froh und
überließ sich ganz dem großväterlichen Behagen. Reizend schildert
Eckermann selbst so einen Besuch (»Er schien sehr glücklich zu sein,«
meint der Getreue) und läßt dann Goethe selbst reden: »Ich verlebe hier
so gute Tage wie Nächte. Oft vor Tagesanbruch bin ich wach und liege
im offenen Fenster, um mich an der Pracht der jetzt zusammenstehenden
drei Planeten zu weiden und an dem wachsenden Glanz der Morgenröte
zu erquicken. Fast den ganzen Tag bin ich sodann im Freien und halte
geistige Zwiesprache mit den Ranken der Weinrebe, die mir gute Gedanken
sagen, und wovon ich auch wunderliche Dinge mitteilen könnte. Auch
mache ich wieder Gedichte, die nicht schlecht sind, und möchte überall,
daß es mir vergönnt wäre, in diesem Zustande so fortzuleben.«

Aber auch Besuche anderer Art erfreuten ihn. So brachte Soret den
jungen Erbgroßherzog zu ihm, die Herzöge von Wellington erwiesen ihm
ihre Reverenz, und mit dem Kanzler von Müller mag er, vielleicht ein
wenig wehmütig, Erinnerungen an entschwundene Zeiten ausgetauscht
haben. Fast immer hatte er, wie Sckell als getreuer Chronist erzählt,
sechs bis zehn Personen zu Tisch, und oftmals hat es den braven
Hofgärtner Mühe genug gekostet, ein Menü zusammenzustellen, das Goethe
befriedigte. Denn so wenig Goethe für sich selbst benötigte, so große
Ansprüche stellte er, wenn es galt, Gäste zu bewirten.

       *       *       *       *       *

Und so kam der Tag, da er sich wieder von Dornburg trennen mußte ...
auch den Greis rief noch die Pflicht.

[Illustration]

Es war mittlerweile Herbst geworden, die Rosen waren verblüht, und auf
die geliebte Bacchantin im Garten hinter dem kleinen Schloß sanken
schon die ersten welken Blätter. Das Wetter war auch nicht mehr recht
beständig, und das Tagebuch meldet immer häufiger Nebel und Regen.
Trotzdem ist ihm der Abschied schwer geworden. Denn die Tage, die er in
Dornburg verlebt hat, gehören zu den innerlich reichsten seines Alters.
Das Abschiedsdistichon, das er dem lateinischen Portalspruch von 1608
nachempfunden hat, deutet ergreifend den Zustand seines Innern:

    »Schmerzlich trat ich hinein, getrost entfern' ich mich wieder;
    Gönne dem Herren der Burg alles Erfreuliche Gott.«

Tagelang wird gepackt. »Versuchte mich immer wieder abzulösen,« seufzt
er im Tagebuch noch einen Tag vor der Abreise. Am 11. September verläßt
er dann endlich Dornburg. Am gleichen Tage noch ist er in Weimar
eingetroffen, »rüstig und ganz braun von der Sonne«, auch heiter und
freien Gemüts, erzählt Eckermann; »blickte man aber tiefer, so konnte
man eine gewisse Befangenheit nicht verkennen, wie sie derjenige
empfindet, der in einen alten Zustand zurückkehrt, der durch mancherlei
Verhältnisse, Rücksichten und Anforderungen bedingt ist.«

Noch zweimal war Goethe in Dornburg, 1829 und 1830. Beide Male im
August. Fremde begleiteten ihn. Das letztemal mußte der Hofgärtner
Sckell wieder für ein Mittagsmahl im kleinen Schlößchen sorgen, es
gab sogar Sekt. Beim Abschied hielt Goethe lange die Hand des treuen
Mannes, mit dem ihn Erinnerung an schönste Zeit verband ... trübe
Ahnung bedrängte beider Herz. »Dort oben sehen wir uns wieder!« waren
Goethes letzte Worte.

Noch einmal umfing das große strahlende Auge, rückwärts gewandt, die
geliebte Landschaft, als der Wagen die Landstraße auf Jena zurollte,
dann nahm eine Wegbiegung den Blick. Als Traum nahm Goethe mit in die
Ewigkeit hinüber, was so oft ihm Entzücken im Leben gewesen.



Bei den Toten Weimars

            »Dann, scheiden sie von diesem heil'gen Ort,
            Wird als Geleitspruch sie umschweben
            Das tapfre, siegesfreud'ge Wort
            Des, der ein Kämpfer war: Gedenkt zu leben!«

                ~Paul Heyse~


»Lange leben heißt viele überleben.« So der alte Goethe an Zelter, als
dessen Sohn stirbt. Das Wort ist berühmt. Der skeptische Seufzer eines
Vielerfahrenen, um den schon die dünne Luft der Einsamkeit schwankt,
und also Maxime, die Weltanschauung prägt. Es fröstelt einen. Und an
gleicher Stelle, wo dies »leidige Ritornell« erklingt, heißt es müde
weiter: »Mir erscheint der zunächst mich berührende Personenkreis wie
ein Konvolut sibyllinischer Blätter, deren eins nach dem anderen, von
Lebensflammen aufgezehrt, in der Luft zerstiebt ...«

Eine fast mephistophelische Erkenntnis!

Doch ein anderes Wort des Greises loht aus den schweren Schatten
dieser Melancholie wie Fanal hervor. Wieder gilt es Zelter, dem
Getreuen. 1830. August, den Sohn und Erben, hat in Italien der Tod
ereilt, der einem unseligen Leben Ziel setzte. Trost wehrt Goethe
ab. »Prüfungen erwarte bis zuletzt!« schreibt er, seltsam gefaßt und
ruhig, nach Berlin. Satz für Satz des Briefes entschwebt im gleichen
getragenen Ton. Bis plötzlich das Feuer dieses Herzens noch einmal in
steiler Flamme aufschießt und in dem Schlußwort: »Und so, über Gräber,
vorwärts!« Trauer sich wandelt zu heroischer Geste.

Geht man in Weimar zu den Plätzen, wo die Toten ruhen, so werden diese
Goethe-Worte seelische Begleitmusik dem Wege, den man schreitet.

       *       *       *       *       *

Zwei solcher Plätze hat Weimar.

Da es noch die kleine, weltverlorene Residenz, deren kaum gekanntem
Namen nur der wilde Ruhm des Herzogs Bernhard im Dreißigjährigen
Kriege flüchtigen Klang gegeben, trug man die Toten der Stadt auf den
Jakobsfriedhof. Den winkeln noch heute Gassen so eng ein, daß ihn nur
findet, wer ihn sucht. Steht man auf der Höhe über Weimar, vor dem
Prunkbau des Museums, dann sieht man hinter der alten Asbach-Talmulde
wohl den schwarzen Turm der Jakobskirche spitz und schlank aus dem
braunen Dächergewirr steigen ... mit den Türmen von Schloß und
Stadtkirche weithin uraltes Wahrzeichen der Stadt. Aber kaum betritt
man diese selbst, so verschwindet er, Häuserzeilen fangen das Auge, und
vor Straßenbahn und Auto verkriecht sich das Gestern, als ob es nicht
stören wollte.

So tot ist es in Weimar nirgends wie hier auf diesem Friedhof. Fachwerk
und Giebelwand, draus schläfrig halbblinde Fenster blinzeln, ein Stift,
ein karger Garten über bröckelnder Mauer -- das ist der ärmliche Rahmen
einer Stätte, wo ganze Geschlechter den letzten Schlaf fanden, noch
jetzt auf Stein und Säulenstumpf Namen von Glanz prunken.

Einst hürdeten Mauern den Platz. Eine »Totengasse« mit schmaler
Pforte führte zu ihm. Die Mauern sind gefallen, als neue Zeit den
Hügelwirrwarr der Vergangenheit einebnete, Licht und Luft schuf,
wo Trauerweide und Rosenstock sich im Laufe von Jahrhunderten zu
undurchdringlicher Wildnis verstrickt hatten ... ja, die Mauern sind
gefallen, und der Weg der Toten heißt jetzt weniger triste die Kleine
Kirchgasse. Aber die Kirche steht wie ehedem, da man sie, Anno 1712,
in schmucklosem Barock neu aufbaute, schwer wuchten ihre Quadern aus
dem Rasenboden, schwer lastet das gebrochene Dach auf ihren steilen
Pfeilern. Und auch der Gräber hat man etliche geschont. Verstreut
liegen sie in die Kreuz und Quer.

Und wie man so von einem Grab zum andern geht, hier an einem völlig
eingesunkenen Hügel verweilt, dort versonnen die verwitterten
Steinplatten betrachtet, die verloren an der Kirchenmauer lehnen, naht
Erinnerung und schlägt in Bann.

Denn wurde hier nicht, ein Maiabend war's, und nie hätten, wie Caroline
von Wolzogen erzählt, die Nachtigallen »so anhaltend und volltönend«
gesungen wie in dieser Nacht, Schiller beigesetzt? Verse Conrad
Ferdinand Meyers klingen auf:

    »Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannensarg
    Mit keinem Kranz, dem kärgsten nicht, und kein Geleit!
    Als brächte eilig einen Frevel man zu Grab.
    Die Träger hasteten. Ein Unbekannter nur,
    Von eines weiten Mantels kühnem Schwung umweht,
    Schritt dieser Bahre nach. Der Menschheit Genius war's.«

Schrecklich! Man sieht den dünnen, im Fackellicht gespenstisch
schwankenden Zug in der finsteren »Totengasse«, sieht, ganz in dunklen
Schatten, das »Kassengewölbe« an der Mauer, das mit schwarzem Tore
wartet ... ungeduldig wartet, nur wieder zufallen zu können hinter dem
»gemeinen Tannensarg«. Man sieht das, derweilen man vor der Marmortafel
grübelt, die da, wo bis 1853 das »Kassengewölbe« stand, in die Mauer
eingelassen ist. Und die in steifen Lettern nüchtern erzählt, daß hier
Schillers erste Begräbnisstätte.

Nun ruht er ja in der Fürstengruft. 1825, zwanzig volle Jahre später,
nur noch Schädel und nacktes Gebein, dorthin gebracht, als man schon
kaum mehr am zerfallenen und vermoderten Sarg feststellen konnte, ob
es auch wirklich sein Schädel, wirklich sein Gebein war, die am ehrte,
Goethe im »ernsten Beinhaus« erst den richtigen Schädel an seiner
»geheimnisvollen Form«, an der »gottgewollten Spur« herausfinden mußte.

[Illustration]

Diese zwanzig Jahre sind für das Weimar Goethes und Carl Augusts ein
böses Rätsel. Wie war das möglich? Hatte Knebel recht, der einmal an
seine Schwester Henriette schreibt: »Es ist sündlich, wie man in Weimar
mit den Toten umgeht; über Personen, die wirkliche Verdienste für
sich und die Gesellschaft hatten, habe ich acht Tage nach ihrem Tode
auch nicht einen Laut mehr reden hören!« Knebel meint, 1802, Corona
Schröter. Aber das Vergessen, das diese in Ilmenau begrub, hielt auch
die Pforte des »Kassengewölbes« auf dem Jakobsfriedhof geschlossen
... ein Vergessen, das um so unverständlicher, als der Weimarer Hof
doch Sonntag für Sonntag hier an den Gräbern vorbei zum Gottesdienst
schritt, da die Jakobskirche zugleich Hofkirche war.

       *       *       *       *       *

Es war im Oktober 1806. Der Krieg war über Weimar dahingegangen. Goethe
hatten im eigenen Hause Marodeure attackiert, Christiane, damals
noch Demoiselle Vulpius, hatte ihm durch Geistesgegenwart das Leben
gerettet. Dankbar machte er sie auch vor der Welt jetzt zu dem, was
sie, seines August Mutter, für ihn selbst schon längst war: zu seiner
Frau.

In der Jakobskirche war die Trauung. In der Sakristei. Hart daneben an
der Mauer, für alle, die zur Sakristei gingen, nicht zu übersehen, das
»Kassengewölbe«. Wenig mehr als ein Jahr war es her, daß Schiller hier
beigesetzt. Wenig mehr als ein Jahr, daß Goethe an Zelter geschrieben:
»Ich glaubte, mich selbst zu verlieren, und verliere einen Freund und
mit ihm die Hälfte meines Daseins.« Wenig mehr als ein Jahr, daß er den
Toten in seinem »Epilog zur Glocke« in Lauchstädt schwärmend gefeiert.
Aber nichts deutet darauf hin, daß ihm die triste Gruft, armselig und
würdelos wie die Bestattung, die ihr »der Menschheit Genius« zugeführt,
je gerührt ... auch nicht, da er, Christiane am Arm, hier zur Trauung
schritt. »Der Lebende hat recht!« heißt es im »Faust«. Goethe sah die
Gestorbenen nur noch als Scheinbilder, die er, der Realist, negierte,
so sehr er sie auch bedauerte und betrauerte.

Tragisches Geschick, daß die, die hier in später Trauung Erfüllung
ihrer Lebensträume fand, zur gleichen Stätte als Tote kehrte! Auch
sie bestattet, als ob sie irgendeine beliebige Bürgersfrau und nicht
Christiane von Goethe, eines Goethe Frau und Exzellenz gewesen. Wenn
heute wenigstens Eisengitter und Steinplatte den Platz schmücken, wo
sie seit 1816 still und alleine ruht (höchstens gleicher Erde mit ein
paar ihrer kleinen totgeborenen oder schnellgestorbenen Kinder), so ist
das Liebesdienst von Goethe-Freunden. Mann, Sohn und Enkel fanden nie
den Weg ... der Mann, dem sie ein Menschenalter Hausfrau und rührendste
Geliebte, der bei ihrem Tode ergreifend klagte, daß der ganze Gewinn
seines Lebens wäre, ihren Verlust zu beweinen; der Sohn, dem sie die
beste Mutter und Freundin; die Enkel, die doch auch ihres Blutes.

[Illustration]

Arme Christiane! Da hat man alle die, die zur Familie Goethe gehören,
auf anderem Friedhof sorglich vereint, selbst die fremden Frauen, die
August, der Sohn, durch seine Heirat in diese Familie hineingeführt;
da hat man deines eigenen Gatten Sarg neben den Särgen von Herzögen
und Herzoginnen in fürstlicher Gruft aufgestellt ... nur dich hat man
vergessen. Das ist Feme und ist Unrecht noch über den Tod hinaus!

Denn du warst doch seine Frau!

Aber ob Frühling oder Sommer, ob Herbst oder Winter, nie flattert eine
Blume auf dein kaltes Grab, und daß sich jemand über das Gitter lehnt
und mit dir leise Zwiesprach hält, dir liebe Worte zuruft, den dunklen
Stein, der deinen Namen trägt, mit Blicken streichelt, ich fürchte,
es geschieht nicht oft. Höchstens der Wind, der durch Weimars enge
Straßen läuft, der bringt dir vielleicht zuweilen einen Gruß, weht
Schmeichellaut dir zu und Kuß vom fernen Garten am Stern, wo du, ein
»loses, leidig-liebes Mädchen«, einst in römisch-schwüler Nacht von
Goethe den Sohn empfangen. Da mag vielleicht dann auch das Rauschen
der Ilm an dein schlafendes Ohr dringen, und mit ihm die Stimme des
Freundes. Alt ist das Lied, das diese Stimme singt, und traurig ist es
auch. Wie geht es doch?

    »Fließe, fließe, lieber Fluß!
    Nimmer werd' ich froh,
    So verrauschte Scherz und Kuß
    Und die Treue so.«

Die Bäume über dir, sie fangen den Klang auf. »Und die Treue so!« klagt
das Echo. Die Kinder, die in wildem Spiele hier über die Gräber toben,
überlärmen es. Und der Wind der Gasse fegt Unrat zusammen, wo Rosen
blühen sollten.

       *       *       *       *       *

Noch eine andere Christiane liegt auf dem Sankt-Jakobsfriedhof
begraben, auch eine Goethesche. Christiane Becker, geb. Neumann.
Euphrosyne hat Goethe sie genannt, als Euphrosyne hat er die kleine,
blutjung gestorbene Schauspielerin unsterblich gemacht in unsterblichem
Liede. So eine Schwester der Corona, ist sie wie diese Gestalt in den
Werken: Mignon, -- Mädchen und lieblichstes Kind und auch »verstellter
Knabe«. Oder, wie das Gedicht an anderer Stelle will:

    »Knabe schien ich, ein rührendes Kind, du nanntest mich Arthur
    Und belebtest in mir britisches Dichter-Gebild ...«

Ein Goethe-Geheimnis umschwelt das bescheidene Grab. Auch hier Stein
und Gitter, nichts weiter. Aber die darunter schläft, Gattin und
Mutter wider Willen, sie ward nicht vergessen. Liebe gab ihr Anno
1800 im Park, auf dem Rosenhügel des Rothäuser Gartens, eine Säule
mit Inschrift. Heinrich Meyer entwarf sie, der Bildhauer Döll führte
sie aus: Genien im Tanz, die Spitze lodernde Flamme. Als der Parkteil
Privatbesitz wurde, die Besitzer eigensüchtig die Säule vor fremdem
Blicke bargen, ließ Wildenbruch sie kopieren. Mit neuen Versen von
ihm steht sie nun auf dem Hügelhang neben Goethes Garten am Stern,
von Efeu umhäkelt, von wilden Veilchen und, kommt der Herbst, von
Herbstzeitlosen umblüht ... ein süßes, trauriges Lied, das Monument
geworden.

Stein auch die anderen Gräber des Jakobsfriedhofs, Zopf und Empire in
Stil und Schnörkel. Mühsam entziffert man die Lettern. Da ruht Georg
Melchior Kraus, der Maler, dem halb Weimar sein Bildleben in Stich und
Aquarell dankt, Freund und Reisebegleiter Goethes. Da Johann Joachim
Christian Bode, der Übersetzer: »Freunde setzten ihm dies Denkmal,
dem Leser zur Erinnerung, für sie bedurfte es keines.« Musäus, der
Märchendichter. Und ein ganz Großer: Lukas Cranach. Der Stein lehnt
an der Kirchenmauer, eine Nachbildung. Das Original findet man in
der Stadtkirche ... in der uralten Stadtkirche zu St. Peter und Paul
auf dem Herderplatz, deren schönster Schmuck das Altargemälde Lukas
Cranachs, deren Allerheiligstes die Gruft Anna Amalias. Und ein
paar Schritte ab unter der Orgelempore, die ihres Freundes Herder.
So mischen sich in Heiligenlegende und Fürstenhistorie, hier seit
Jahrhunderten gehütet in magischem Dämmer, die »Stimmen der Völker in
Liedern«, denen der Fromme sein Leben lang begeistert gelauscht.

[Illustration]

Auch er liegt hier allein, fern der Frau, die ihm Gefährtin und Mutter
so vieler Kinder war. Wer das Grab Caroline Flachslands sucht, muß
zurück zum Jakobsfriedhof ... ohne es wahrscheinlich dort zu finden.
Denn es ist eins der vielen namenlos gewordenen Gräber, grasverwachsen,
eingesunken der Hügel, und die Inschrift des Steins haben die vielen
Kinderfüße verwischt, die hier jahraus, jahrein darüber hinwegtollen:
junges Leben, das der Majestät des Todes nicht achtet und Haschen
spielt, wo dem Wissenden Trauer das Auge verschleiert.

Nachts, wenn der Mond die Giebel der Häuser mit Silberlicht beträufelt,
geht zwischen den Gräbern hier die Vergangenheit spazieren. Rückt hier
an einem schiefgewordenen Stein, legt dort einen frommen Kranz nieder.
Die Bäume seufzen. Doch naht der Morgen, der Sonne bringt, verfliegt
der Spuk, und die Steine liegen wieder schief, und die Kränze sind
verschwunden.

Bis 1840 etwa brachte Weimar noch Tote auf den stillen Kirchplatz. Aber
schon 1818 wurde der »Neue Friedhof vor dem Frauentor« eröffnet, oben
am Poseckschen Garten, wo jetzt in Anlagen das Wildenbruch-Denkmal
steht ... und so modern Anlagen und Denkmal sind, das braune Posecksche
Haus dahinter, ganz die Zeit um 1800, dämpft das Heute, ist der
abgelegenen Gegend Kulisse der Vergangenheit und ein Stück Goethe-Welt,
die das Gestern beschwört.

Und Goethe-Welt ist dieser Friedhof, nun schon lange wieder zum »Alten
Friedhof« geworden. Verwittert die Mauer, angerostet die Gittertore.
Bäumchen und Sträucher von einst Wipfelgebirge und üppig wucherndes
Gebüsch. Die schwanke Trauerweide, die man dem ersten Toten, der hier
1818 bestattet wurde, einem Schauspieler Eulenstein, auf den Grabhügel
gesetzt hat, ist Riesenbaum geworden, der weithin über andere Gräber
schattet. Bei diesen Gräbern wohnt die letzte Stille, wohnt die
Vergessenheit. Hier hört das Leben Weimars auf.

Hört es auf? Beginnt es nicht erst?

Durch die Baumwipfel fällt schräg die Abendsonne. Sie vergoldet das
Kreuz auf der Fürstengruft. Es gibt nicht nur der schattendunklen Allee
Licht, die zu Coudrays schönem Bau führt, es leuchtet Deutschland und
der Welt. Denn hier ruht Goethe. Flüsterlaut der Grabkapelle wird
Andacht und Schweigen in der Gruft. Wie kühl Wand und Gewölbe! Wie dünn
die Luft! Und doch atmet man schwer, atmet beklommen; es ist, als ob
der Takt des Herzens fürchte, in all den stummen Särgen Echo zu wecken.

Welke Kränze. Schleifen. Kandelaber, die Krepp umflort. Steil
darauf die Kerzen. Blumen, die im Vergehen duften ... Treue hat sie
niedergelegt auf Goethes Sarg, auf Schillers Sarg, auf Carl Augusts
Sarg. Holz, Samt, Bronze, so stehen sie da, diese Särge, auf kaltem
Steinpodest, von kaltem Stein umgeben. Nur die der beiden Dichter
tragen Namen. Für die anderen gibt die Eintrittskarte, zugleich ein
Orientierungsplan, stumm die Erklärungen. Und da findet man das ganze
Weimarische Fürstenhaus, von Herzog Wilhelm IV., dem Stammvater, bis
auf Carl August und Luisen, Carl Friedrich und Maria Paulowna, Carl
Alexander und Sophie. Großherzöge, Erbgroßherzöge, Herzöge und
Prinzen und ihre Frauen ... eine ganze erlauchte Dynastie.

[Illustration: _Die Fürstengruft auf dem Alten Friedhofe am Poseckschen
Garten_]

Und mitten unter ihnen, mehr als sie alle von Gottes Gnaden Königliche
Hoheit: +GOETHE+.

Es ist sein Name, den das goldene Kreuz der Kuppel in die Welt brennt,
es ist sein Gebein, das diese Gruft heiligt, es ist sein Geist, der von
hier aus unablässig »über Gräber vorwärts« dringt und immer neuen Segen
spendet.

Noch drei andere Kreuze schimmern hell in der Abendsonne. Gleich hinter
der Fürstengruft. Auf drei Zwiebeltürmchen. Auf dem höchsten das
russische mit dem zweiten schrägen Querbalken. Das ist die Russische
Kapelle, ganz in Grün versteckt, ganz von Gräbern bis dicht an die
Mauern umbrandet, 1858 für die tote Maria Paulowna gebaut, die dem
Glauben ihres Vaterlandes treu geblieben war. Da steht ihr Sarg nun an
geweihter Stätte und doch nahe dem des Gatten in der Fürstengruft: Carl
Friedrichs, und ruft der Jüngste Tag, an den sie beide glaubten, dann
können sie aus ihren Sarkophagen Hand in Hand zum Licht emporsteigen,
die russische Kaisertochter und der deutsche Fürst, dem zuliebe sie
einst die Heimat geopfert.

Dann gesellen sich vielleicht auch Treue aus den Gräbern zu ihr. Ihr
halber Hofstaat liegt ja hier. Ihre Oberhofmeisterin zum Beispiel,
die Gräfin Ottilie Henckel von Donnersmarck, Ottilie v. Pogwischs
Großmutter, der unweit eine feierliche Steinkammer letzte Ruhestätte
ist. Oder andere, Hofdamen und Kammerfrauen ... das russische Kreuz
kehrt immer wieder, zuweilen in gleichem Gitter dem unsrigen auf
zweitem Grab vereint, wo dann Gatten verschiedener Konfession ruhen.

Und wie man durch die Gräberreihen geht, hier vorsichtig ein
morsches Holzkreuz meidend, das schon wieder Erde werden will, dort
von verwittertem Stein die Efeuranken hebend, um die Inschrift zu
enträtseln, bedrängt Vergangenheit immer stärker das Herz. Eine tote
Zeit steht auf. Namen klingen, die in Büchern ewiges Leben; der ganze
Goethe »berührende Personenkreis« ist hier Hügel an Hügel, Mal für Mal
versammelt.

Da gleich neben der Fürstengruft der Obelisk gilt Eckermann. Carl
Alexander hat ihn »seinem Lehrer in dankbarer Erinnerung errichtet«.
Und »Göthes Freund« ... wie die andere Seite meldet. Auch Johanna
Eckermann, die Frau, geb. Bertram aus Hannover, ruht hier auf dem
Alten Friedhof. Sie hatte, eine alternde Braut, lange gewartet, ehe der
ewig unentschlossene Bräutigam sie nach Weimar holte ... vielleicht war
auch Goethe schuld, der Eckermann für sich allein haben wollte. Es ist
auch nur ein kurzes Glück gewesen: 1834 schon starb Johanna, und da
störte niemand mehr den Eckermann, ganz seinem Goethe zu leben.

Da liegen an der Mauer, hart an der Straße, einträchtig beieinander
Pius Alexander Wolf, der Schauspieler, Riemer und seine Frau Caroline,
geb. Ulrich (die Uli, Christianens muntere Gesellschafterin), Carl
Augusts Leibarzt +Dr.+ Huschke, die Schauspieler Eduard Genast und
Carl Ludwig Oels. Auch Heinrich Meyer liegt hier mit seiner Frau,
Goethes alter Freund und langjähriger Hausgenosse am Frauenplan, der
»Kunschtmeyer«, wie man ihn spöttelnd nannte ... und gewiß erzählt die
Historie manche Schnurre von ihm; aber sie weiß auch, daß er den Tod
Goethes nicht verwinden konnte und ihm wenige Monate später nachstarb,
weiß, daß er ein Philanthrop war, dem »das dankbare Weimar« das hübsche
Denkmal setzte, das hier an ihn erinnert.

Gegenüber ein schlichter Stein auf flachem Hügel: Christine Kotzebue
aus Wolffenbüttel, geb. Krüger, des berühmten Kotzebue Mutter, die Frau
von Anna Amalias Kabinettssekretär ... aber während der schon 1765
starb, hat sie bis 1828 gelebt. Und hat also Ruhm, Schande und sogar
den häßlichen Tod des »großen« Sohnes erlebt und überlebt: welch ein
Mutterschicksal!

Drüben die andere Mauer aber, hinter der der »Neue Friedhof«
beginnt, ist stärkere Lockung. Alt-Weimar hat hier zunächst seine
Geschlechtertafeln: die Ludecus und Coudray, die Conta und Buchwald,
die Falk und Kirms, die Thon und Swaine ... schlichte schwarze
Eisentafeln mit goldenen Buchstaben, einfach in die Mauer eingelassen,
mit der sie nun, efeuübersponnen, fast eins. Aus Johannes Falks, des
Waisen- und Kinderfreundes, Grab wächst eine riesige Linde hervor:
»Unter dieser grünen Linden / Ist durch Christus frei von Sünden / Herr
Johannes Falk zu finden ...« betet einfältig-rührend die Steinplatte.
Und dankbar denkt man seines »Kriegsbüchleins«, das so hübsch »Weimars
Kriegsdrangsale in dem Zeitraum von 1806 bis 1813« schildert.

Auch die Familie Mieding hat hier ihren Platz ... man weiß: Goethes
Gedicht »Auf Miedings Tod«; aber der »gute Mann«, den der junge Goethe
so gepriesen, der liegt hier nicht, lag wohl an der Jakobskirche; es
sind Nachfahren, die an ihn mahnen.

       *       *       *       *       *

[Illustration]

Und hier an der Mauer auch das Grab oder die Grabstellen, um
deretwillen Fremde von weit her kommen: Charlottens und das der Familie
Goethe. Alltag verfliegt, steht man davor, und Frauenplan und Ackerwand
bauen aus längst verflogenen Stunden Glückes wie Leides Zauberwelten
auf. Die Goethe Gesellschaft hat Frau von Stein dies Denkmal errichtet:
in Sandsteinumrahmung das Marmormedaillon mit dem zarten, etwas
schwermütigen Kopf Charlottens. Darüber der Goethesche Stern. Das Ganze
ein wenig steif, ein wenig förmlich -- unsinnlich, wie die, der es
Erinnerung. Wind macht sich auf, und die Bäume ringsum rauschen. Selbst
der Efeu rauscht. Da fängt das Ohr vertrauten Laut:

    »Sag', was will das Schicksal uns bereiten?
    Sag', wie band es uns so rein genau?
    Ach, du warst in abgelebten Zeiten
    Meine Schwester oder meine Frau ...«

Der Goethe von 1776. Zehn Jahre, und das Glück (das nie ein Glück
gewesen, höchstens ein Schein-Glück) zerbrach. Freundschaft versuchte,
als der Lebensabend nahte, die Scherben zu kitten. Aber als man die
Tote, letztem Willen ungehorsam, an den Frauenplanfenstern vorübertrug,
verbarg sich der, dem sie in abgelebten Zeiten Schwester oder Frau.

Iphigeniens Seele. Eleonorens. Charlotte in den »Wahlverwandtschaften«.
Die Gräfin im »Wilhelm Meister«. Briefgeliebte wie keine andere
deutsche Frau und, in Stunden des Rausches, vielleicht auch Glück den
heißen Sinnen. Nun ein starres Medaillon aus kaltem Stein, Augen, die
ins Leere blicken, die suchen und nie mehr finden. Denn der Goethe der
Fürstengruft, ein allem Irdischen Entrückter, blickt von ihr weg nach
Osten. Das »Alles um Liebe« tönt seinem Ohr nicht mehr.

Es tönt nur uns.

       *       *       *       *       *

Daneben Goethes Familie. Fünf flache Hügel ... jeder Bourgeois-Hügel
auf großstädtischem Massenfriedhof zeigt mehr Prunk. Aber über diesen
fünf Hügeln liegt in der Mauer, die die Namensplatten trägt, in
Tempelnische die süße Mädchengestalt, die selbst Flüchtige fesselt:
Alma, des Dichters Enkelin. Am Frauenplan lächelt, rosengeschmückt,
die Lebende: Luise Seidlers Bild; hier schläft sie, Marmor geworden.
Ja, schläft sie? Atmen diese Kinderbrüste nicht? Will sich die Hand,
die den Maiblumenstrauß hält, nicht bewegen? Der schmale Fuß nicht
das Lager verlassen? Traum macht die Lider schwer. Nein, sie ist tot.
Dieser Busen birgt kein lebendiges Herz. Diese Hand wird nie mehr mit
Blumen spielen. Dieser Mund sich nie mehr zu frohem Lachen öffnen.

[Illustration]

Unstet fuhr sie durch die Welt, da sie lebte, von der Mutter, die im
Taumel Ruhe suchte, hin- und hergerissen. Starb sechzehnjährig und
frühreif 1844 in Wien am Typhus. Wurde in Währung begraben, 1895 in
Weimar »zur letzten Ruhe bestattet«, und erst 1910 erhielt sie das
Denkmal, das bis dahin am Frauenplan im Keller gestanden ... welch'
eine Fülle von wilden Schicksalen! Das Blut des Vaters, das noch über
den frühen Tod hinaus Abenteuer und Fluch bedingte? Kaum. Den Ottilie
v. Pogwisch liebte, da sie Alma empfing, war nicht August von Goethe,
sondern einer der vielen Engländer, die damals nach Weimar drängten zu
der schönen Frau v. Goethe. War Charles Des Voeux, ein junger Schotte.
Aber der Mutter unruhiges Blut prägte dieses bittere Mädchenlos.

Ja, Ottilie v. Pogwisch, nun bist auch du längst zur Ruhe gegangen.
Daß Goethe in deinen Armen gestorben, ist dein Ruhm. Ihm verdankst
du Unsterblichkeit. Friedlich liegst du hier mit Mutter und Kindern
... eine Unglückliche unter Unglücklichen. Deines Mannes Grab in Rom
überschattet die Pyramide des Cestius, italienische Zypressen schwanken
darum, wenn der heiße Südwind weht. Deine Söhne, deine Tochter aber
hat der Tod dir wieder an das Herz gelegt, unter dem sie einst
verhängnisvoll keimten ... alle krank und lebensfremd, unfroh der Bürde
des Namens, die sie zeitlebens drückte.

»Mit ihm erlosch Goethes Geschlecht, dessen Name alle Zeiten
überdauert,« meldet Walthers Stein. Ja. Der Morgenstern, der dieses
Namens Symbol, wird ewig leuchten. Sein Glanz umstrahlt auch die, die
unter seinem Lichte litten und die geblendeten Augen in dem Dämmer der
Dachstuben am Frauenplan verbargen ... die Freiherren waren und doch so
wenig frei, so wenig Herr, nur arme Menschen.

Über das eiserne Gitter gelehnt, blickt man auf ihre Gräber, und die
Seele, trauervoll bewegt, schickt Gebete in die Fernen, die keiner
kennt.

       *       *       *       *       *

Und weiter. Namen über Namen, jeder irgendwie mit Goethe verknüpft.
Es ist erschütternd, wie weit der Umkreis dieser Welt noch im Grabe.
Laßberg, Pappenheim, Beulwitz, Egloffstein, Wolfskeel -- der Adel
Weimars. Auch die »kleine Waldner« fehlt nicht, Luise Adelaide v.
Waldner, wie Frau v. Stein Hofdame der Herzogin Luise. Und nur allzu
oft der eifersüchtigen Charlotte ein Dorn im Auge, wenn sie ihren
Freund von dem immer lachlustigen, koketten Persönchen gefesselt
glaubte. Tragikomisch auch eine Tagebuchstelle Goethes von 77: »Abends
Kronen und Herzog bei Laiden ertappt« ... Krone die Schröter, und Laide
die Waldner, und das Ganze der Anfang vom Ende: denn selbst mit einem
Herzog teilte Goethe nicht, wo er liebte. Mein Gott, wie lange ist das
her! Doch weiter: da ein Wieland! Carl, der Sohn, großherzoglicher
Rechnungsrat. »Kein Dichter war des großen Dichters Sohn.« Man denkt
an das enge, kinderreiche Haus gegenüber dem Wittumspalais, denkt
an Oßmannstedt. Da Luise Seidler, die Malerin aus Jena, von Goethe
väterlich betreut. Kersting hat sie als »Stickerin am Fenster« gemalt,
ein berühmtes Bild; die Kaiserin Augusta war ihre Schülerin. Auch
ein Vulpius-Grab weckt Erinnerungen: Rinaldo und Bianca ... Rinaldo,
der Sohn von Christianens Bruder; er trägt den Namen des »Helden«,
dem sein Vater im Roman zu so traurigem Ruhm verhalf. Andere Gräber:
Bonaventura Genelli, Johann Nepomuk Hummel, Hufeland, der Arzt, +Dr.+
Heinrich Goullon, der Ratsmädelfreund, Schwerdgeburth, der Maler oder,
wie der Grabstein will: Hofkupferstecher. Sein Goethe-Kopf, der beste,
den es gibt, schwebt unsichtbar als Denkmal über dem bescheidenen
Erbbegräbnis. Und ganz in der Nähe das Müllersche: ein einziges
Efeubeet. Hier ruht der Kanzler v. Müller, einer der treuesten Freunde,
die Goethe, einer der besten Diener, die Carl August hatte. Nichts
erinnert an ihn als auf rostiger Eisentafel der Familienname. Und die
»Unterhaltungen«. Die allerdings sind dauernder als Tafeln aus Erz oder
Stein.

Derweilen ist es Abend geworden. Der Himmel schimmernder Opal, in
dem schon, leicht wie Flaum, der Mond schwimmt. Schatten schwanken
um die Gräber. Eine alte Dame, ganz in Schwarz, zittrig und gebückt,
Vergißmeinnicht in der welken Hand, täuscht Vergangenheit, die hier
bei den Toten ihr Leben von gestern sucht. Ist es Adelheid v. Schorn,
die mit der tiefen Pietät der Greisin aus Jugenderinnerungen und zwei
Menschenaltern das »nachklassische Weimar« aufgebaut? Nein, die hat
hier auch schon ihre letzte Ruhe gefunden: die Urne auf mütterlichem
Grab, von frommem Kranz umwunden, ist Denkmal, das an sie gemahnt. Oder
ist's das Gomelchen, Isebies Böhlaus Großmutter? Auch die ist ihrem
Freunde Budang schon in den Tod gefolgt ... Röse hieß sie, da sie jung
war, und war eins von den lustigen Ratsmädeln aus der »Wünschengasse«,
über deren tolle Streiche Goethe und der Herzog so oft gelacht. Und
auch Charlotte Krackow ist es nicht, die bis zu ihrem späten Tode
+anno+ 15 in dem schönen Kirmsschen Hause in der Jakobsgasse gewohnt
und noch Goethe gekannt, die letzte übrigens, die ihn gekannt. Denn
die ruht auf dem »Neuen Friedhof«. Es wird wohl die Erinnerung selbst
sein, die hier im Abend gespenstert, ruhig und gelassen, wie man in
Weimar eben gespenstert!

Denn jetzt ist es fast dunkel geworden. Nur vom »Silberblick« her
fliegt noch ein wenig Licht des entsunkenen Tages über die Baumwipfel,
erhellt notdürftig die Wege, die ganz in stummem Schweigen liegen.
Auch die Vögel sind stille geworden, die unbekümmert um die Stätte der
Trauer, die ihnen Zufall als Heimat gegeben, den ganzen langen Tag über
der Sonne und dem Leben zugejubelt. Kühl weht es über die Gräber. Wo
ist die alte Dame geblieben? Wo das Kreuz der Fürstengruft? Hart fällt
das Gitter hinter dem späten Besucher ins Schloß, verdrossen riegelt
der Friedhofswärter zu. Nacht umfängt die Toten Weimars.

Und da klingt noch einmal das Wort des alten Goethe auf. »Und so, über
Gräber, vorwärts!« Trost, der ins Leben zurückgeleitet, das freundlich
aus erhellten Fenstern auf Weimars Gassen und Plätze lächelt. Mond und
Sterne wandern am Himmel mit. Und die Brunnen rauschen. Sie rauschen
wie vor hundert Jahren, da noch der alte Goethe ihrer Zaubermelodie
gelauscht.



Inhalt


    Tiefurt und Wittumspalais           Seite   1

    Die Reisen in den Harz                "    23

    Ilmenau                               "    40

    Das »Mährchen« von Pyrmont            "    58

    Donnerstag nach Belvedere             "    80

    Advent von Achtzehnhundertsieben      "   103

    Herbsttage in Heidelberg              "   125

    Die drei Schlösser Dornburg           "   142

    Bei den Toten Weimars                 "   167

       *       *       *       *       *

    Geschrieben in den Jahren 1919--1921



    Gedruckt in Herbst 1921 von Velhagen & Klasing in Bielefeld
    unter Verwendung der »Frühlingsschrift« von Rudolf Koch.
    Umschlagzeichnung und Einband von Dorothea Hauer. Hundert Exemplare
    wurden auf Hadernpapier abgezogen, numeriert und in Leder gebunden.



Weitere Anmerkungen zur Transkription


Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend
korrigiert.

Der Satz von Ellipsen wurde vereinheitlicht.

Die Schreibweise in den Zitaten wurde beibehalten.

Korrekturen:

  S. 16: _genugtuzun_ -> _genugzutun_ »ihr mit einer euphemistischen
    Phrase _genugzutun_«.

  S. 55: _warum_ -> _worum_
    _worum_ ich bat ...«

  S. 75: _der_ sollte _vor_ heißen (nicht geändert):
    und so sich _der_ jedem physischen Andrang gesichert.

  S. 76: _aus_ -> _auf_ heiter _auf_ trockene Weise,

  S. 179: _Währung_ sollte _Währing_ heißen (nicht geändert):
    Wurde in _Währung_ begraben,





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