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Title: Der Doppelgänger
Author: Dostoyewsky, Fyodor
Language: German
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                           Der Doppelgänger


                                 Von
                          F. M. Dostojewski

                                  *

                        Übertragen von H. Röhl

                  Im Insel-Verlag zu Leipzig · 1921



                              1. Kapitel


Es war beinahe acht Uhr morgens, als der Titularrat Jakow Petrowitsch
Goljadkin nach einem langen Schlafe erwachte, gähnte, sich reckte und
schließlich völlig die Augen öffnete. Etwa zwei Minuten lang blieb er
noch, ohne sich zu regen, auf dem Bette liegen, wie ein Mensch, der noch
nicht ganz ins klare darüber gekommen ist, ob er aufgewacht ist oder
noch schläft, ob alles, was jetzt um ihn herum vorgeht, Wahrheit und
Wirklichkeit ist oder eine Fortsetzung seiner wirren Träume. Bald wurde
jedoch Herrn Goljadkins Denken klarer und deutlicher, und seine Gefühle
nahmen ihre gewöhnliche, alltägliche Stimmung an. Alles blickte ihn
bekannt an: die schmutziggrünen, verräucherten, staubigen Wände seines
kleinen Zimmerchens, seine Mahagonikommode, die Stühle von imitiertem
Mahagoni, der rot angestrichene Tisch, das türkische Wachstuchsofa von
rötlicher Farbe mit grünlichen Blümchen und endlich die gestern hastig
ausgezogenen und unordentlich auf das Sofa geworfenen Kleider. Und dann
schaute auch der graue, trübe, schmutzige Herbsttag so verdrießlich und
mit so saurer Miene durch die ungeputzten Fenster zu ihm ins Zimmer, daß
Herr Goljadkin in keiner Weise mehr daran zweifeln konnte, daß er sich
nicht in einem schönen Märchenlande, sondern in der Residenzstadt
Petersburg, in der Schestilawotschnaja-Straße, in der vierten Etage
einer sehr großen Mietskaserne, in seiner eigenen Wohnung befand.
Nachdem er diese wichtige Entdeckung gemacht hatte, schloß Herr
Goljadkin wieder krampfhaft die Augen, als bedauere er, daß der Traum,
den er soeben gehabt hatte, entschwunden sei, und als wünsche er, ihn
sich wenigstens für einen Augenblick zurückzurufen. Aber einen
Augenblick darauf sprang er mit einem Satze aus dem Bette,
wahrscheinlich, weil er endlich auf denjenigen Gegenstand gekommen war,
um den seine zerstreuten, noch nicht in die gehörige Ordnung gebrachten
Gedanken bisher herumgewirbelt waren. Nachdem er aus dem Bette
gesprungen war, lief er sogleich zu dem kleinen, runden Spiegel, der auf
der Kommode stand. Obgleich die verschlafene, kurzsichtige, ziemlich
kahlköpfige Gestalt, die ihm der Spiegel zurückwarf, einen so
unbedeutenden Eindruck machte, daß sie auf den ersten Blick entschieden
niemandes ausschließliche Aufmerksamkeit fesseln konnte, so war doch ihr
Besitzer mit alledem, was er im Spiegel erblickte, anscheinend völlig
zufrieden. »Na, das wäre eine böse Geschichte,« sagte Herr Goljadkin
halblaut, »das wäre eine böse Geschichte, wenn heute an mir etwas nicht
in Ordnung wäre, wenn z. B. irgendetwas schlecht aussähe, ich einen
störenden Pickel bekäme oder sonst eine Unannehmlichkeit passierte;
vorläufig indes ist es nicht übel; vorläufig geht alles gut.« Sehr
erfreut darüber, daß alles gut ging, stellte Herr Goljadkin den Spiegel
auf seinen früheren Platz; er selbst aber lief, trotzdem er barfuß war
und noch das Kostüm trug, in dem er sich schlafen zu legen pflegte, zum
Fenster hin und begann höchlichst interessiert mit den Augen etwas auf
dem Hofe zu suchen, auf den die Fenster seiner Wohnung hinausgingen.
Anscheinend befriedigte auch das, was er auf dem Hofe erblickte, ihn
vollkommen; denn sein Gesicht erglänzte von einem selbstzufriedenen
Lächeln. Nachdem er dann einen Blick hinter die Scheidewand in das
Kämmerchen seines Dieners Petruschka geworfen und sich überzeugt hatte,
daß Petruschka nicht darin war, ging er auf den Fußspitzen an den Tisch,
schloß an demselben eine Schublade auf, wühlte in dem hintersten Winkel
dieser Schublade umher, zog endlich aus alten, vergilbten Papieren und
allerlei Kram eine grüne, abgegriffene Brieftasche heraus, öffnete sie
behutsam und blickte vorsichtig und mit Genuß in die abgelegenste,
verborgenste Tasche derselben hinein. Wahrscheinlich schaute das
Päckchen grünlicher, grauer, bläulicher, rötlicher und sonstiger bunter
Banknoten Herrn Goljadkin ebenfalls sehr freundlich und ermutigend an:
mit strahlendem Gesichte legte er die geöffnete Brieftasche vor sich auf
den Tisch und rieb sich zum Zeichen des größten Vergnügens kräftig die
Hände. Endlich nahm er es heraus, sein entzückendes Päckchen Banknoten,
und begann, zum hundertsten Male seit dem vorigen Tage, die Scheine
durchzuzählen, wobei er einen jeden sorgsam zwischen dem Daumen und dem
Zeigefinger rieb. »Siebenhundertfünfzig Rubel!« flüsterte er zuletzt.
»Siebenhundertfünfzig Rubel ... eine tüchtige Summe! Das ist ein
hübsches Sümmchen,« fuhr er mit zitternder, durch das Gefühl der Freude
ein wenig gedämpfter Stimme fort, indem er das Päckchen in den Händen
zusammendrückte und bedeutsam lächelte. »Das ist ein hübsches Sümmchen!
Das muß jeder für ein hübsches Sümmchen halten! Jetzt möchte ich den
Menschen sehen, für den das eine unbedeutende Summe wäre! Mit einer
solchen Summe kann ein Mensch es weit bringen ...«

»Aber, was hat denn das zu bedeuten?« dachte Herr Goljadkin. »Wo ist
denn Petruschka?« Noch immer dasselbe Kostüm beibehaltend, blickte er
zum zweiten Male hinter die Scheidewand. Petruschka war dort wieder
nicht vorhanden; nur ein Samowar, der da auf dem Fußboden stand, ärgerte
sich, erboste sich und kam außer sich, indem er jeden Augenblick
überzukochen drohte und hitzig und schnell in seiner sonderbaren Sprache
schnarrend und lispelnd etwas zu Herrn Goljadkin sagte, wahrscheinlich
etwa dies: »Nehmt mich doch hin, liebe Leute; ich bin ja vollständig
fertig und bereit.«

»Hol ihn der Teufel!« dachte Herr Goljadkin. »Dieser faule Patron kann
einen schließlich wütend machen; wo mag er sich wieder herumtreiben?« In
gerechter Entrüstung begab er sich in das Vorzimmer, das aus einem
kleinen Korridor bestand, an dessen Ende eine Tür nach dem Flur führte,
und erblickte seinen Diener, umgeben von einem großen Haufen anderer
Diener, Hausgenossen und sonstigen Volkes, das sich hinzugefunden hatte.
Petruschka erzählte etwas, die andern hörten zu. Weder der Gegenstand
der Erzählung noch die Erzählung selbst schienen Herrn Goljadkin zu
gefallen. Er rief sofort Petruschka zu sich und kehrte sehr mißvergnügt,
ja empört in sein Zimmer zurück. »Dieser Racker ist imstande, für einen
Groschen einen Menschen zu verraten, und am ehesten seinen Herrn,«
dachte er im stillen; »und er hat mich auch verraten, jedenfalls hat er
mich verraten; darauf möchte ich wetten, daß er mich für eine Kopeke
verraten hat. Nun, wie ist es?«

»Die Livree ist gekommen, Herr!«

»Zieh sie an und komm her!«

Nachdem Petruschka die Livree angezogen hatte, trat er, dumm lächelnd,
in das Zimmer seines Herrn. Er trug nun eine grüne, stark abgenutzte
Bedientenlivree mit ausgefaserten goldenen Tressen, die anscheinend für
jemand angefertigt war, der eine ganze Elle größer war als Petruschka.
In der Hand hielt er einen gleichfalls mit Tressen besetzten und mit
grünen Federn geschmückten Hut, und an der Hüfte hing ihm ein
Hirschfänger in lederner Scheide.

Zur Vervollständigung des Bildes war Petruschka zufolge seiner
Lieblingsgewohnheit, zu Hause immer im Negligé herumzulaufen, auch jetzt
barfuß. Herr Goljadkin musterte Petruschka von allen Seiten und schien
zufrieden zu sein. Die Livree war augenscheinlich aus irgendwelchem
feierlichen Anlaß geliehen. Bemerkenswert war noch, daß während der
Musterung Petruschka seinen Herrn mit seltsamer Spannung anblickte und
mit besonderer Neugier alle Bewegungen desselben verfolgte, was Herrn
Goljadkin äußerst verlegen machte.

»Nun, und der Wagen?«

»Der Wagen ist auch gekommen.«

»Auf den ganzen Tag?«

»Ja, auf den ganzen Tag. Fünfundzwanzig Rubel.«

»Sind auch die Stiefel gekommen?«

»Jawohl.«

»Tölpel! Kannst du nicht sagen: >Jawohl, Herr!So und so, Andrei Filippowitsch; ich bin
ebenfalls zum Diner eingeladen; das ist die ganze Sache!<« Dann fiel ihm
plötzlich ein, daß er sich blamiert habe, und unser Held wurde feuerrot,
zog finster die Brauen zusammen und richtete einen schrecklichen,
herausfordernden Blick nach der einen Vorderecke des Wagens, einen
Blick, als wollte er alle seine Feinde auf einmal in Asche verwandeln.
Endlich zog er, einer plötzlichen Eingebung folgend, an der Schnur, die
an den Ellbogen des Kutschers festgebunden war, ließ den Wagen halten
und befahl dem Kutscher, nach der Liteinaja-Straße zurückzufahren. Die
Sache war die, daß Herr Goljadkin die dringende Nötigung verspürte,
wahrscheinlich zu seiner eigenen Beruhigung seinem Arzte Krestjan
Iwanowitsch eine sehr interessante Mitteilung zu machen. Und obgleich er
mit Krestjan Iwanowitsch erst seit kurzer Zeit bekannt war, indem er ihn
nämlich erst einmal in der vorigen Woche wegen gewisser Beschwerden
besucht hatte, so steht doch ein Arzt, wie man zu sagen pflegt, auf
gleicher Stufe mit einem Beichtvater: es wäre dumm, ihm etwas zu
verheimlichen, und er seinerseits hat die Pflicht, seinen Patienten
ordentlich kennen zu lernen. »Wird mein Besuch übrigens auch passend
sein?« fuhr unser Held fort, während er bei der Auffahrt eines
fünfstöckigen Hauses in der Liteinaja-Straße, wo er seinen Wagen hatte
halten lassen, ausstieg; »wird mein Besuch auch passend sein? Wird er
auch anständig sein? Werde ich ihm auch nicht ungelegen kommen? Aber,
was ist dabei?« fuhr er fort, während er die Treppe hinaufstieg, Atem
schöpfte und das Herzklopfen zu hemmen suchte, das sich bei ihm immer
auf fremden Treppen einzustellen pflegte; »was ist dabei? Ich komme ja
wegen meines Leidens; daran ist nichts Tadelnswertes zu finden ... Es
wäre eine Dummheit, etwas verbergen zu wollen. Und ich werde so tun, als
ob ich keinen besonderen Grund hätte, sondern nur so gelegentlich
herankäme, weil ich gerade vorbeigekommen wäre ... Er wird schon
einsehen, daß das alles so in der Ordnung ist.«

Unter solchen Überlegungen war Herr Goljadkin zur zweiten Etage
hinaufgestiegen und blieb vor der mit Nummer Fünf bezeichneten Wohnung
stehen, an deren Tür ein hübsches Messingschild angebracht war mit der
Aufschrift:

                   Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz,
                  Doktor der Medizin und Chirurgie.

Während er dort stand, beeilte sich unser Held, seinem Gesichte einen
vornehmen, ungenierten, dabei aber doch liebenswürdigen Ausdruck zu
geben, und schickte sich an, die Klingel zu ziehen. Eben in dem
Augenblicke, als er sich dazu anschickte, überlegte er noch schnell und
rechtzeitig, daß es doch wohl besser wäre, den Besuch bis morgen zu
verschieben, da vorläufig noch keine eigentliche Nötigung dazu vorliege.
Aber da Herr Goljadkin auf einmal Schritte auf der Treppe hörte, so
änderte er seinen neuen Entschluß unverzüglich wieder und klingelte,
übrigens mit sehr entschlossener Miene, vor Krestjan Iwanowitschs Tür.



                              2. Kapitel


Der Doktor der Medizin und Chirurgie Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz,
ein sehr gesunder, wiewohl schon bejahrter Mann, mit dichten, bereits
ergrauenden Augenbrauen und starkem, schwarzem Backenbarte, mit
ausdrucksvollem, funkelndem Blick, durch den allein schon er alle
Krankheiten vertreiben zu können schien, und endlich auch mit einem
hohen Orden, saß an diesem Morgen in seinem Arbeitszimmer auf seinem
behaglichen Lehnstuhl, trank den Kaffee, den ihm seine Frau eigenhändig
gebracht hatte, rauchte eine Zigarre und schrieb von Zeit zu Zeit
Rezepte für seine Patienten. Nachdem er zuletzt einem alten Herrn, der
an Hämorrhoiden litt, ein Tränkchen verschrieben und den Leidenden zu
einer Seitentür begleitet hatte, setzte sich Krestjan Iwanowitsch in
Erwartung des nächstfolgenden Besuches wieder hin. Da trat Herr
Goljadkin ein.

Krestjan Iwanowitsch hatte, wie es schien, weder erwartet noch
gewünscht, Herrn Goljadkin bei sich zu sehen; denn sein Gesicht
verfinsterte sich auf einmal für einen Augenblick und nahm unwillkürlich
einen sonderbaren, ja, man kann sagen, unzufriedenen Ausdruck an. Herr
Goljadkin seinerseits pflegte, wenn er sich in seinen eigenen
Angelegenheiten an jemand wandte, fast immer zur unrechten Zeit zu
kommen und dann in Verwirrung zu geraten, und so ging es ihm auch jetzt.
Da er sich auf den ersten Satz, der für ihn in solchen Fällen stets
einen Stein des Anstoßes bildete, nicht vorbereitet hatte, so wurde er
gewaltig verlegen, murmelte etwas, was wie eine Entschuldigung klang,
und da er nicht wußte, was er weiter tun sollte, nahm er einen Stuhl und
setzte sich. Aber nun fiel ihm ein, daß er sich hingesetzt habe, ohne
dazu aufgefordert zu sein; er wurde sich sofort der Unanständigkeit
seines Benehmens bewußt und beeilte sich, seinen Verstoß gegen die
gesellschaftliche Form und den guten Ton dadurch wieder gutzumachen, daß
er sich von dem ohne Aufforderung eingenommenen Platze eiligst wieder
erhob. Dann kam er unklar zu dem Bewußtsein und zu der Erkenntnis, daß
er zwei Dummheiten mit einem Mal gemacht habe, und so entschloß er sich
denn ohne zu zaudern zu einer dritten; d. h. er versuchte eine
Entschuldigung vorzubringen, murmelte lächelnd etwas, errötete, wurde
verlegen, machte eine ausdrucksvolle Pause und setzte sich schließlich
endgültig hin, ohne wieder aufzustehen, sicherte sich aber für jeden
Fall durch eben jenen herausfordernden Blick, der die außerordentliche
Kraft besaß, in Gedanken alle Feinde Herrn Goljadkins in Asche zu
verwandeln und zu vernichten. Außerdem brachte dieser Blick Herrn
Goljadkins Unabhängigkeit vollkommen zum Ausdruck, d. h. er sagte klar
und deutlich, daß Herr Goljadkin sich um nichts kümmere, daß er so
selbständig sei wie alle andern Leute und sich in gesicherter Stellung
befinde. Krestjan Iwanowitsch hustete, räusperte sich, anscheinend zum
Zeichen seiner Billigung und Zustimmung zu alledem, und richtete einen
prüfenden, fragenden Blick auf Herrn Goljadkin.

»Krestjan Iwanowitsch,« begann Herr Goljadkin lächelnd, »ich bin
gekommen, um Sie zum zweiten Male zu belästigen, und erlaube mir jetzt,
Sie zum zweiten Male um Nachsicht zu bitten ...« Es machte Herrn
Goljadkin offenbar Schwierigkeit, die richtigen Worte zu finden.

»Hm ... ja!« erwiderte Krestjan Iwanowitsch, indem er einen Rauchstrom
aus dem Munde gehen ließ und die Zigarre auf den Tisch legte. »Aber Sie
müssen sich an meine Vorschrift halten; ich habe Ihnen gesagt, daß Ihre
Kur in einer Änderung Ihrer Lebensgewohnheiten bestehen muß ... Also Sie
müssen sich Zerstreuung machen, Freunde und Bekannte besuchen; auch ein
Fläschchen Wein sollten Sie sich manchmal gönnen; Sie müssen sich zu
heiterer Gesellschaft halten.«

Herr Goljadkin beeilte sich, immer noch lächelnd, zu bemerken, es
scheine ihm, daß er ein Mensch sei wie alle Menschen; er lebe in seiner
Häuslichkeit und habe seine Zerstreuungen wie alle Leute ... natürlich
könne er ins Theater gehen, da er, wie andere Menschen, die
erforderlichen Mittel besitze; den Tag über sei er im Dienst, abends
aber bei sich zu Hause; es fehle ihm eigentlich gar nichts; er bemerkte
sogar beiläufig, er lebe seines Erachtens nicht schlechter als andere;
er habe eine eigene Wohnung und habe schließlich seinen Petruschka. Hier
stockte Herr Goljadkin.

»Hm! Nein, eine solche Lebensweise ist nicht das Richtige, und ich
wollte Sie nach etwas ganz anderem fragen. Es wäre mir interessant zu
hören, ob Sie ein großer Freund heiterer Gesellschaft sind und Ihr Leben
heiter genießen ... Also führen Sie jetzt ein melancholisches oder ein
heiteres Leben?«

»Krestjan Iwanowitsch, ich ...«

»Hm! ... Ich meine,« unterbrach ihn der Arzt, »Sie müssen Ihr ganzes
Leben von Grund aus umändern und in gewissem Sinne Ihren Charakter
umgestalten.« (Krestjan Iwanowitsch legte einen starken Ton auf das Wort
»umgestalten« und hielt mit sehr bedeutsamer Miene einen Augenblick
inne.) »Sie dürfen einem heiteren Leben nicht abgeneigt sein, müssen
Theater und Klubs besuchen und sich ab und zu eine Flasche Wein
zuwenden. Zu Hause zu sitzen, das taugt nichts, und für Sie ist das
höchst verderblich.«

»Krestjan Iwanowitsch, ich liebe die Stille,« erwiderte Herr Goljadkin,
indem er dem Arzte einen bedeutsamen Blick zuwarf und offenbar nach
Worten zum passendsten Ausdruck seiner Gedanken suchte. »In meiner
Wohnung befindet sich niemand als ich und Petruschka ... ich will sagen:
mein Diener, Krestjan Iwanowitsch. Ich will sagen, Krestjan Iwanowitsch,
daß ich meinen eigenen Weg gehe, meinen besonderen Weg, Krestjan
Iwanowitsch. Ich lebe so für mich und bin, wie ich meinen möchte, von
niemandem abhängig. Ich gehe auch spazieren, Krestjan Iwanowitsch.«

»Wie? ... Ja! Nun, jetzt spazieren zu gehen ist gerade kein Vergnügen;
es ist sehr unfreundliches Wetter.«

»Jawohl, Krestjan Iwanowitsch. Obwohl ich ein friedlicher Mensch bin,
Krestjan Iwanowitsch, wie ich wohl schon die Ehre hatte Ihnen zu
bemerken, so hat mein Lebensweg doch seine besondere Richtung, Krestjan
Iwanowitsch. Es gibt mancherlei Lebenswege ... Ich will ... ich will
damit sagen, Krestjan Iwanowitsch ... Entschuldigen Sie, Krestjan
Iwanowitsch, ich verstehe es nicht, mich gewandt auszudrücken ...«

»Hm! ... Sie wollen sagen ...«

»Ich will sagen, Sie möchten es entschuldigen, Krestjan Iwanowitsch, daß
ich meines Erachtens es nicht verstehe, mich gewandt auszudrücken,«
sagte Herr Goljadkin in etwas gekränktem Tone und ein wenig verwirrt und
verlegen. »In dieser Hinsicht, Krestjan Iwanowitsch, bin ich nicht so
wie andere Leute,« fügte er mit einem eigenartigen Lächeln hinzu; »ich
verstehe es nicht, viel zu reden, und habe es nicht gelernt, meiner
Ausdrucksweise Anmut und Schönheit zu verleihen. Dafür wirke ich,
Krestjan Iwanowitsch; dafür, Krestjan Iwanowitsch, wirke ich.«

»Hm! ... Wie meinen Sie das ... daß Sie wirken?« fragte Krestjan
Iwanowitsch. Darauf trat für eine Weile Stillschweigen ein. Der Arzt
blickte Herrn Goljadkin in einer seltsamen mißtrauischen Art an. Herr
Goljadkin schielte seinerseits ebenfalls recht mißtrauisch nach dem
Arzte hin.

»Was mich betrifft, Krestjan Iwanowitsch,« fuhr Herr Goljadkin, etwas
gereizt und befremdet durch Krestjan Iwanowitschs hartnäckige
Schweigsamkeit, in dem früheren Tone fort, »was mich betrifft, Krestjan
Iwanowitsch, so liebe ich die Ruhe und nicht das Geräusch der Welt. Dort
bei jenen Menschen, ich meine in der großen Welt, Krestjan Iwanowitsch,
da muß man es verstehen, mit seinen Stiefeln das Parkett zu polieren
...« (hier scharrte Herr Goljadkin ein wenig mit dem Fuße auf dem
Fußboden); »dort wird das verlangt, und Wortspiele werden auch verlangt
... und man muß es verstehen, parfümierte Komplimente zu drechseln ...
solche Dinge werden da verlangt. Aber ich habe so etwas nicht gelernt,
Krestjan Iwanowitsch; all diese Finessen habe ich nicht gelernt; dazu
habe ich keine Zeit gehabt. Ich bin ein schlichter, einfacher Mensch und
habe von äußerem Glanze nichts an mir. Auf diesem Gebiete, Krestjan
Iwanowitsch, lege ich die Waffen nieder; ich strecke die Waffen, in
diesem Sinne gesagt.« All dies sagte Herr Goljadkin selbstverständlich
mit einer Miene, die deutlich zu verstehen gab, daß unser Held es ganz
und gar nicht bedauerte, auf diesem Gebiete die Waffen strecken zu
müssen und diese Finessen nicht gelernt zu haben, sondern ganz im
Gegenteil darauf stolz war. Krestjan Iwanowitsch blickte, während er ihm
zuhörte, mit einer sehr unangenehmen Grimasse zu Boden und schien irgend
etwas in der Zukunft vorauszusehen. Auf Herrn Goljadkins Tirade folgte
ein ziemlich langes, bedeutsames Stillschweigen.

»Sie sind, wie es scheint, von Ihrem Gegenstande ein wenig abgekommen,«
sagte Krestjan Iwanowitsch endlich halblaut. »Ich muß Ihnen gestehen,
ich habe Sie nicht ganz verstehen können.«

»Ich verstehe es nicht, mich gewandt auszudrücken, Krestjan Iwanowitsch;
ich hatte schon die Ehre, Ihnen mitzuteilen, Krestjan Iwanowitsch, daß
ich es nicht verstehe, mich gewandt auszudrücken,« sagte Herr Goljadkin,
diesmal in scharfem, entschiedenem Tone.

»Hm! ...«

»Krestjan Iwanowitsch!« begann Herr Goljadkin wieder leise, aber
nachdrücklich; seine Stimme hatte zum Teil etwas Triumphierendes; nach
jedem Satze hielt er inne. »Krestjan Iwanowitsch! Als ich hier eintrat,
begann ich mit Entschuldigungen. Jetzt wiederhole ich das früher Gesagte
und erbitte mir wieder für eine kleine Weile Ihre freundliche Nachsicht.
Ich habe keinen Anlaß, Ihnen etwas zu verbergen, Krestjan Iwanowitsch.
Ich bin ein unbedeutender Mensch, das wissen Sie selbst; aber zu meinem
Glücke bedaure ich es nicht, daß ich ein unbedeutender Mensch bin. Im
Gegenteil, Krestjan Iwanowitsch; um alles zu sagen, ich bin sogar stolz
darauf, daß ich kein großer Mann, sondern nur ein unbedeutender Mensch
bin. Ich bin kein Intrigant; auch darauf bin ich stolz. Ich wirke nicht
im geheimen, sondern öffentlich, ohne Hinterlist, und obgleich ich
meinerseits schaden könnte und es sehr wohl könnte und sogar weiß, wem
ich etwas antun könnte und wie, so mag ich mich doch mit dergleichen
nicht beschmutzen, Krestjan Iwanowitsch, und wasche in dieser Hinsicht
meine Hände in Unschuld. In dieser Hinsicht, sage ich, wasche ich sie in
Unschuld, Krestjan Iwanowitsch!« Herr Goljadkin machte für einen
Augenblick eine ausdrucksvolle Pause; er hatte mit einer milden
Begeisterung gesprochen.

»Ich gehe geradeaus, offen und ohne Schleichwege, Krestjan Iwanowitsch,«
fuhr unser Held fort; »denn ich verachte alles hinterhältige Wesen und
überlasse es anderen. Ich suche nicht diejenigen herabzusetzen, die
vielleicht edler sind als ich und Sie ... d. h. ich will sagen >als
ich<, Krestjan Iwanowitsch; ich wollte nicht sagen >als ich und Sie<.
Versteckte Andeutungen liebe ich nicht; elende Heuchelei kann ich nicht
leiden; Verleumdung und Klatsch verabscheue ich. Eine Maske trage ich
nur auf dem Maskenball und laufe nicht mit ihr alle Tage vor den Leuten
umher. Ich frage Sie nur, Krestjan Iwanowitsch, wie würden Sie sich an
Ihrem Feinde rächen, an Ihrem schlimmsten Feinde, an dem, den Sie dafür
ansähen?« schloß Herr Goljadkin und richtete einen herausfordernden
Blick auf Krestjan Iwanowitsch.

Obgleich Herr Goljadkin dies alles mit großer Bestimmtheit, Deutlichkeit
und Zuversichtlichkeit sprach, seine Worte abwog und auf ihre sichere
Wirkung rechnete, so sah er Krestjan Iwanowitsch jetzt doch mit Unruhe,
mit großer Unruhe, mit äußerster Unruhe an. Jetzt war er ganz Auge und
wartete schüchtern und mit ärgerlicher, beklommener Ungeduld auf
Krestjan Iwanowitschs Antwort. Aber zu Herrn Goljadkins Erstaunen und
völliger Überraschung murmelte Krestjan Iwanowitsch nur etwas vor sich
hin, rückte dann seinen Stuhl an den Tisch heran und bemerkte ihm
ziemlich trocken, wiewohl höflich, ungefähr folgendes: seine Zeit sei
kostbar; er habe ihn nicht ganz verstanden; übrigens sei er bereit, ihm
nach Kräften, so gut er könne, zu dienen; aber auf alles Weitere, was
nicht in sein Fach schlage, könne er nicht eingehen. Dann nahm er eine
Feder, zog sich einen Bogen Papier heran, schnitt von ihm ein Stück in
dem Format ab, wie es die Ärzte gebrauchen, und erklärte, er wolle ihm
sofort eine angemessene Arznei verschreiben.

»Nein, das ist nicht erforderlich, Krestjan Iwanowitsch! Nein, das ist
durchaus nicht erforderlich!« sagte Herr Goljadkin, indem er sich von
seinem Platze erhob und Krestjan Iwanowitsch an den rechten Arm faßte.
»Das ist absolut nicht nötig, Krestjan Iwanowitsch!«

Aber während Herr Goljadkin dies alles sagte, ging mit ihm eine seltsame
Veränderung vor. Seine grauen Augen bekamen einen sonderbaren Glanz;
seine Lippen fingen an zu zittern; alle Muskeln und Züge seines Gesichts
bewegten und verschoben sich. Er selbst zitterte am ganzen Leibe.
Nachdem er seinem ersten Impulse gefolgt war und dem Arzte den Arm
festgehalten hatte, stand Herr Goljadkin jetzt unbeweglich da, wie wenn
er kein Selbstvertrauen besäße und für seine weiteren Handlungen auf
eine Eingebung wartete.

Nun spielte sich ein recht seltsamer Auftritt ab.

Etwas betroffen, schien Krestjan Iwanowitsch einen Augenblick an seinem
Lehnstuhl angewachsen zu sein und blickte starr mit weit geöffneten
Augen Herrn Goljadkin an, der ihn in gleicher Weise anschaute. Endlich
stand Krestjan Iwanowitsch auf, wobei er sich ein wenig an dem
Aufschlage von Herrn Goljadkins Uniform festhielt. Einige Sekunden lang
standen sie so einander unbeweglich gegenüber, ohne die Augen
voneinander abzuwenden. Dann aber erfolgte in höchst seltsamer Weise
eine zweite Bewegung Herrn Goljadkins. Seine Lippen fingen an zu zucken,
das Kinn begann zu hüpfen, und unser Held brach ganz unerwartet in
Tränen aus. Schluchzend, mit dem Kopfe nickend, mit der rechten Hand
sich gegen die Brust schlagend und mit der linken ebenfalls den
Aufschlag von Krestjan Iwanowitschs Hausrock anfassend, wollte er etwas
sagen, unverzüglich eine Erklärung geben, vermochte aber kein Wort
herauszubringen. Endlich kam Krestjan Iwanowitsch von seinem Erstaunen
wieder zu sich.

»Hören Sie auf, beruhigen Sie sich, setzen Sie sich!« sagte er, indem er
sich bemühte, Herrn Goljadkin dahin zu bringen, daß er auf einem
Lehnstuhl Platz nahm.

»Ich habe Feinde, Krestjan Iwanowitsch, ich habe Feinde, ich habe
boshafte Feinde, die geschworen haben, mich zugrunde zu richten ...«
antwortete Herr Goljadkin ängstlich flüsternd.

»Lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein! Ach was, Feinde! An
Feinde darf man nicht denken! Das darf man durchaus nicht! Setzen Sie
sich, setzen Sie sich!« fuhr Krestjan Iwanowitsch fort und erreichte es
schließlich, daß Herr Goljadkin sich auf den Lehnstuhl setzte.

Als Herr Goljadkin endlich zum Sitzen gekommen war, verwandte er kein
Auge von Krestjan Iwanowitsch. Dieser begann mit höchst unzufriedener
Miene von einer Ecke seines Arbeitszimmers nach der andern zu gehen. Es
folgte ein langes Stillschweigen.

»Ich bin Ihnen dankbar, Krestjan Iwanowitsch, sehr dankbar und empfinde
tief alles, was Sie jetzt für mich getan haben. Bis zum Grabe werde ich
Ihre Freundlichkeit nicht vergessen, Krestjan Iwanowitsch,« sagte Herr
Goljadkin endlich und stand mit gramvoller Miene vom Stuhle auf.

»Lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein! Ich sage Ihnen: lassen
Sie es gut sein!« erwiderte Krestjan Iwanowitsch ziemlich streng auf
Herrn Goljadkins exaltierte Worte und brachte ihn noch einmal dazu, sich
hinzusetzen.

»Also, was haben Sie eigentlich? Erzählen Sie mir, was Sie jetzt für
eine Unannehmlichkeit haben, und von was für Feinden Sie sprechen,« fuhr
Krestjan Iwanowitsch fort. »Was ist Ihnen denn begegnet?«

»Nein, Krestjan Iwanowitsch, wir wollen das jetzt lieber lassen,«
versetzte Herr Goljadkin und schlug die Augen nieder. »Wir wollen das
alles lieber auf eine andere Zeit verschieben, Krestjan Iwanowitsch, auf
eine günstigere Zeit, wenn alles an den Tag kommen und die Maske manchen
Leuten vom Gesichte fallen und dies und das an den Tag kommen wird.
Jetzt aber, vorläufig selbstverständlich, nach allem, was zwischen uns
geschehen ist ... Da werden Sie selbst sagen müssen, Krestjan
Iwanowitsch ... Erlauben Sie mir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen,
Krestjan Iwanowitsch,« sagte Herr Goljadkin, erhob sich diesmal mit
ernster Entschlossenheit von seinem Platze und griff nach seinem Hute.

»Nun ... wie Sie wollen ... hm ...« (Es folgte ein Stillschweigen, das
wohl eine Minute dauerte.) »Ich meinerseits bin, wie Sie wissen, bereit,
alles zu tun, was in meiner Macht steht ... und wünsche Ihnen aufrichtig
alles Gute.«

»Ich verstehe Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie; ich verstehe
Sie jetzt vollkommen ... In jedem Falle bitte ich Sie zu entschuldigen,
daß ich Sie gestört habe, Krestjan Iwanowitsch.«

»Hm ... nein, ich hatte es anders gemeint. Aber wie es Ihnen beliebt.
Mit der Medizin fahren Sie fort, wie bisher ...«

»Mit der Medizin werde ich nach Ihrer Weisung fortfahren, Krestjan
Iwanowitsch; ich werde damit fortfahren und sie aus derselben Apotheke
entnehmen ... Heutzutage ist auch der Apothekerberuf etwas sehr Hohes
und Großes, Krestjan Iwanowitsch ...«

»Wieso? In welchem Sinne meinen Sie das?«

»Im ganz gewöhnlichen Sinne, Krestjan Iwanowitsch. Ich will sagen, daß
sich heutzutage die Verhältnisse so gestaltet haben ...«

»Hm ...«

»Und daß jeder dumme Junge, auch ohne Apotheker zu sein, jetzt vor
ordentlichen Leuten die Nase hoch trägt.«

»Hm! Wie ist denn das zu verstehen?«

»Ich rede von einem gewissen Menschen, Krestjan Iwanowitsch ... von
einem gemeinsamen Bekannten von uns, sagen wir mal z. B. von Wladimir
Semjonowitsch ...«

»Ach so! ...«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch; und ich kenne gewisse Leute, Krestjan
Iwanowitsch, die auf die öffentliche Meinung nicht so viel Wert legen,
daß sie auch manchmal die Wahrheit sagen sollten.«

»Ach so ... Wie denn das?«

»Nun, ganz einfach so (übrigens gehört das nicht zur Sache): sie
verstehen es, manchmal ein Ei mit Sauce zu servieren.«

»Was? Was zu servieren?«

»Ein Ei mit Sauce, Krestjan Iwanowitsch; das ist eine russische
Redensart. Sie verstehen es z. B. manchmal, jemandem zur rechten Zeit zu
gratulieren. Solche Leute gibt es, Krestjan Iwanowitsch.«

»Zu gratulieren?«

»Jawohl, zu gratulieren, Krestjan Iwanowitsch; wie es neulich einer
meiner nächsten Bekannten gemacht hat! ...«

»Einer Ihrer nächsten Bekannten ... ach so! Wie ist denn das
zugegangen?« fragte Krestjan Iwanowitsch, der Herrn Goljadkin aufmerksam
anblickte.

»Ja, einer meiner nächsten Bekannten gratulierte einem andern sehr nahen
Bekannten von mir, der sogar mein Freund, ja, wie man sich ausdrückt,
mein Busenfreund ist, zum Avancement, zur Erlangung des Assessorgrades.
Das kam ihm gerade sehr gelegen. >Ich freue mich von ganzem Herzen über
die Gelegenheit,< sagte er, >Ihnen meinen Glückwunsch darbringen zu
können, Wladimir Semjonowitsch, meinen aufrichtigen Glückwunsch zu Ihrem
Avancement. Und ich freue mich um so mehr, da heutzutage, wie jedermann
weiß, die alten Hexen, die einem Übles anwünschen konnten, ausgerottet
sind.<« Hier nickte Herr Goljadkin schlau mit dem Kopfe und blickte, die
Augen zusammenkneifend, Krestjan Iwanowitsch an ...

»Hm! Also das hat er gesagt ...«

»Das hat er gesagt, Krestjan Iwanowitsch, das hat er gesagt, und dabei
blickte er Andrei Filippowitsch, den Onkel unseres teuren Wladimir
Semjonowitsch, an. Aber was kümmert mich das, daß er Assessor geworden
ist, Krestjan Iwanowitsch? Was kümmert das mich? Er will heiraten,
obwohl ihm, mit Erlaubnis zu sagen, die Milch noch nicht auf den Lippen
getrocknet ist. Das habe ich denn auch gesagt. >So ist das,< habe ich
gesagt, >Wladimir Semjonowitsch!< Nun habe ich aber alles gesagt;
gestatten Sie mir, mich zu entfernen.«

»Hm ...«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch, ich sage, gestatten Sie mir jetzt, mich zu
entfernen. Aber um zwei Sperlinge mit einem Stein tot zu werfen, wandte
ich mich, nachdem ich den jungen Mann mit seinen alten Hexen abgeführt
hatte, an Klara Olsufjewna (die Geschichte spielte vorgestern bei Olsufi
Iwanowitsch, und sie hatte soeben ein gefühlvolles Lied gesungen) und
sagte: >Sie haben ein gefühlvolles Lied gesungen; aber Ihre Zuhörer
haben kein reines Herz.< Das war eine deutliche Anspielung, verstehen
Sie wohl, Krestjan Iwanowitsch; damit spielte ich deutlich darauf an,
daß man es jetzt nicht auf sie absieht, sondern weiterliegende Ziele
verfolgt ...«

»Aha! Nun, und was tat er darauf?« »Er machte ein Gesicht, als hätte er
in eine Zitrone gebissen, Krestjan Iwanowitsch, wie man zu sagen
pflegt.«

»Hm ...«

»Jawohl, Krestjan Iwanowitsch. Ich sprach auch mit dem Alten selbst.
>Olsufi Iwanowitsch,< sagte ich, >ich weiß, wie sehr ich Ihnen
verpflichtet bin; ich verstehe vollkommen die Wohltaten zu schätzen, mit
denen Sie mich fast seit meiner Kindheit überhäuft haben. Aber machen
Sie die Augen auf,< sagte ich, >Olsufi Iwanowitsch! Passen Sie auf! Ich
selbst handle ehrenhaft und offen, Olsufi Iwanowitsch.<«

»Sehen Sie mal an!«

»Jawohl, Krestjan Iwanowitsch. So ist das!«

»Und was sagte er darauf?«

»Ja, was sagte er, Krestjan Iwanowitsch! Er kaute so etwas zurecht; dies
und das, und >ich kenne dich,< und daß Seine Exzellenz seine Freude
daran habe, jemandem Gutes zu erweisen, -- und nun kam er ins Salbaldern
hinein ... Was ist da auch zu erwarten? Er ist vor Alter ja schon ganz
wacklig geworden, wie man zu sagen pflegt.«

»Aha! Also so steht das jetzt!«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch; so steht es mit uns allen! Er ist ein
schnurriger alter Mann: er sieht schon in seinen Sarg hinein und riecht
nach Weihrauch, wie man zu sagen pflegt; aber wenn irgendein
Weibergewäsch aufkommt, dann hört er darauf hin; da ist er mit
Notwendigkeit dabei ...«

»Weibergewäsch sagten Sie?«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch, sie haben ein Weibergewäsch aufgebracht. Auch
unser Bär und sein Neffe, unser teurer Freund, haben ihre Hände dabei im
Spiele gehabt; sie haben mit den Weibern unter einer Decke gesteckt und
die Sache zusammengebraut. Was glauben Sie: sie haben geplant, einen
Menschen zu ermorden! ...«

»Einen Menschen zu ermorden?«

»Jawohl, Krestjan Iwanowitsch, einen Menschen zu ermorden, im geistigen
Sinne einen Menschen zu ermorden. Sie sprengten aus ... ich rede immer
von einem nahen Bekannten von mir ...«

Krestjan Iwanowitsch nickte mit dem Kopfe.

»Sie sprengten über ihn ein Gerücht aus ... Ich gestehe Ihnen, Krestjan
Iwanowitsch, ich schäme mich ordentlich, davon zu reden.«

»Hm! ...«

»Sie sprengten ein Gerücht aus, er habe bereits ein schriftliches
Heiratsversprechen gegeben und sei bereits der Bräutigam einer anderen
... Und was meinen Sie, Krestjan Iwanowitsch, wessen Bräutigam?«

»Ich bin gespannt.«

»Der Bräutigam einer Speisewirtin, einer unwürdigen Deutschen, bei der
er zu Mittag aß; statt der Bezahlung seiner Schulden habe er ihr seine
Hand angeboten.«

»Das sagen sie?«

»Sollten Sie es glauben, Krestjan Iwanowitsch? Eine Deutsche, eine
gemeine, widerwärtige, schamlose Deutsche, Karolina Iwanowna, wenn Sie
sie kennen ...«

»Ich muß gestehen, ich für meine Person ...«

»Ich verstehe Sie, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie und habe
meinerseits die gleiche Empfindung ...«

»Sagen Sie mir, bitte, wo wohnen Sie jetzt?«

»Wo ich jetzt wohne, Krestjan Iwanowitsch?«

»Ja ... ich möchte ... Sie wohnten ja wohl früher ...«

»Ja freilich, ich wohnte, Krestjan Iwanowitsch, ich wohnte, ich wohnte
auch früher! Wie soll ich denn nicht gewohnt haben!« antwortete Herr
Goljadkin und begleitete seine Worte mit einem kurzen Lachen; er
verblüffte Krestjan Iwanowitsch ein wenig durch seine Antwort.

»Nein, das haben Sie falsch aufgefaßt; ich wollte meinerseits ...«

»Ich wollte ebenfalls meinerseits, Krestjan Iwanowitsch, ich wollte
ebenfalls,« fuhr Herr Goljadkin lachend fort. »Aber ich habe bei Ihnen
schon viel zu lange gesessen, Krestjan Iwanowitsch. Ich hoffe, Sie
erlauben mir jetzt, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen ...«

»Hm! ...«

»Ja, Krestjan Iwanowitsch, ich verstehe Sie, ich verstehe Sie jetzt
völlig,« sagte unser Held und nahm vor Krestjan Iwanowitsch eine etwas
theatralische Stellung an. »Also erlauben Sie, daß ich Ihnen einen guten
Morgen wünsche ...«

Hier machte unser Held einen Scharrfuß und verließ das Zimmer, in
welchem Krestjan Iwanowitsch höchlichst erstaunt zurückblieb. Während
Herr Goljadkin die Treppe des Arztes hinabstieg, lächelte er und rieb
sich vergnügt die Hände. Als er vor der Haustür die frische Luft
einatmete und sich in Freiheit fühlte, war er wirklich nahe daran, sich
für den glücklichsten aller Sterblichen zu halten und sich nun
geradeswegs nach seinem Bureau zu begeben -- da fuhr auf einmal rasselnd
eine Kutsche vor: er sah sie an, und alles fiel ihm wieder ein.
Petruschka öffnete schon den Schlag. Ein sonderbares und außerordentlich
unangenehmes Gefühl bemächtigte sich Herrn Goljadkins völlig. Er
errötete sogar für einen Augenblick. Es war ihm, als ob er einen Stich
bekäme. Er wollte schon seinen Fuß auf den Wagentritt setzen, als er
sich auf einmal umdrehte und nach Krestjan Iwanowitschs Fenstern
blickte. Richtig! Krestjan Iwanowitsch stand am Fenster, strich sich mit
der rechten Hand den Backenbart glatt und schaute sehr neugierig auf
unsern Helden herab.

»Dieser Doktor ist dumm,« dachte Herr Goljadkin, sich in seinem Wagen
verbergend, »schrecklich dumm. Er mag vielleicht seine Kranken gut
kurieren können; aber trotzdem ist er dumm wie ein Stück Holz.« Herr
Goljadkin setzte sich hin, Petruschka rief: »Vorwärts!« und der Wagen
rollte wieder nach dem Newski-Prospekt hin.



                              3. Kapitel


Dieser ganze Vormittag verging für Herrn Goljadkin in mühevoller
Tätigkeit. Als er auf den Newski-Prospekt gekommen war, ließ unser Held
beim Kaufhofe halten. Er sprang aus dem Wagen, lief, von Petruschka
begleitet, unter die Bogengänge und ging geradeswegs in einen Laden mit
Gold- und Silberwaren hinein. Schon an Herrn Goljadkins Miene war zu
ersehen, daß er alle Hände voll zu tun hatte und sich vor seinen vielen
Geschäften nicht zu retten und zu helfen wußte. Nachdem er sich mit dem
Kaufmann über den mehr als fünfzehnhundert Rubel betragenden Preis eines
vollständigen Diner- und Teeservices geeinigt, ein phantastisch
geformtes Zigarrenetui und ein vollständiges silbernes Rasiernecessaire
auf dieselbe Summe heruntergehandelt und sich endlich die Preise für
noch einige in ihrer Art nützliche und hübsche Gegenstände hatte angeben
lassen, schloß Herr Goljadkin damit, daß er versprach, morgen bestimmt
wieder mit heranzukommen oder vielleicht sogar heute noch die
erstandenen Sachen abholen zu lassen, sich die Nummer des Ladens
notierte, die eifrige Bitte des Kaufmanns um eine Anzahlung aufmerksam
anhörte und das Versprechen gab, rechtzeitig auch eine Anzahlung zu
leisten. Hierauf verabschiedete er sich eilig von dem verwunderten
Kaufmann und ging, von einem ganzen Schwarm von Kommis begleitet, die
Reihe der Läden entlang, wobei er sich alle Augenblicke nach Petruschka
umsah und eifrig nach einem neuen Laden Ausschau hielt. Im Vorbeigehen
trat er in ein Wechselgeschäft ein und wechselte alle seine großen
Scheine in kleine um, und obwohl er bei dem Umwechseln verlor, so hatte
er dafür doch eine Menge kleiner Scheine bekommen, und seine Brieftasche
war erheblich dicker geworden, was ihm anscheinend großes Vergnügen
machte. Endlich machte er in einem Geschäfte mit allerlei Damenartikeln
halt. Nachdem er wieder für eine beträchtliche Summe Waren erstanden
hatte, versprach Herr Goljadkin auch hier dem Kaufmann, unfehlbar wieder
heranzukommen, ließ sich die Nummer des Ladens angeben und erklärte auf
die Frage nach einer Anzahlung wieder, er werde zur rechten Zeit auch
eine Anzahlung machen. Darauf besuchte er noch einige Läden, handelte in
allen, ließ sich von allerlei Gegenständen die Preise sagen, stritt sich
manchmal lange mit den Kaufleuten herum, ging aus einem Laden hinaus, um
dann dreimal wieder zurückzukehren, -- mit einem Worte: er entwickelte
eine außerordentliche Tätigkeit. Aus dem Kaufhofe begab sich unser Held
in ein bekanntes Möbelmagazin, wo er Möbel für sechs Zimmer erhandelte,
einen modernen, höchst eigenartigen Damentoilettentisch im allerneuesten
Geschmack bewunderte und dem Kaufmann versicherte, er werde bestimmt
alles abholen lassen, worauf er das Magazin verließ, nach seiner
Gewohnheit mit dem Versprechen einer Anzahlung; dann fuhr er noch
hierhin und dahin und feilschte um dieses und jenes. Mit einem Worte:
seine mühsamen Geschäfte schienen gar kein Ende zu nehmen. Schließlich
schien Herr Goljadkin selbst dieser ganzen Tätigkeit recht überdrüssig
zu werden. Es begannen ihn sogar Gott weiß bei welcher Gelegenheit ohne
rechten Anlaß Gewissensbisse zu quälen. Um keinen Preis hätte er jetzt
z. B. mit Andrei Filippowitsch oder auch nur mit Krestjan Iwanowitsch
zusammentreffen mögen. Endlich schlug die Stadtuhr drei Uhr nachmittags.
Als Herr Goljadkin sich nach Beendigung seiner Einkäufe in den Wagen
setzte, hatte er von allen Erwerbungen dieses Tages in Wirklichkeit nur
ein Paar Handschuhe und ein Fläschchen Parfüm für anderthalb Rubel bei
sich. Da es für Herrn Goljadkin noch sehr früh war, so befahl er seinem
Kutscher bei einem bekannten Restaurant auf dem Newski-Prospekt zu
halten, das er bisher nur vom Hörensagen kannte, und stieg aus, um einen
Bissen zu essen, sich zu erholen und die richtige Zeit abzuwarten.

Er aß nur so viel, wie eben jemand ißt, der ein üppiges Diner in
Aussicht hat, zu dem er eingeladen ist, das heißt, er genoß eine
Kleinigkeit, um, wie man sich ausdrückt, das Würmchen zu töten, und
trank ein Glas Schnaps dazu; dann setzte sich Herr Goljadkin in einen
Lehnstuhl und griff, bescheiden um sich blickend, nach einer mageren
russischen Zeitung. Nachdem er ein paar Zeilen gelesen hatte, stand er
auf, sah in den Spiegel, brachte seinen Anzug in Ordnung und strich sich
das Haar glatt; hierauf ging er zum Fenster und sah zu, ob auch sein
Wagen da sei ... dann setzte er sich wieder auf seinen Platz und nahm
von neuem die Zeitung zur Hand. Man konnte bemerken, daß sich unser Held
in großer Aufregung befand. Er blickte nach der Uhr, sah, daß es erst
ein Viertel auf vier war und er folglich noch geraume Zeit zu warten
hatte, überlegte dabei, daß es unpassend sei, so dazusitzen, und ließ
sich daher Schokolade geben, obgleich er im Augenblick keinen großen
Appetit darauf hatte. Nachdem er die Schokolade ausgetrunken und bemerkt
hatte, daß die Zeit ein wenig vorgerückt war, ging er zum Büfett, um zu
bezahlen. Auf einmal schlug ihn jemand auf die Schulter.

Er drehte sich um und sah zwei seiner Kollegen vor sich, dieselben
beiden, denen er vorher in der Liteinaja-Straße begegnet war, ein paar
im Lebensalter noch sehr junge und im Dienstrange noch sehr niedrig
stehende Leutchen. Unser Held stand mit ihnen weder auf gutem noch auf
schlechtem Fuße: sie waren weder seine Freunde, noch auch lebte er mit
ihnen in offener Feindschaft. Selbstverständlich wurde von beiden Seiten
der Anstand beobachtet; aber eine weitere Annäherung fand nicht statt
und konnte auch nicht stattfinden. Das jetzige Zusammentreffen war Herrn
Goljadkin äußerst unangenehm. Er runzelte ein wenig die Stirn und geriet
für einen Augenblick in Verwirrung.

»Jakow Petrowitsch, Jakow Petrowitsch!« plapperten die beiden
Registratoren. »Sie hier? durch welchen Zufall ...«

»Ah, Sie sind es, meine Herren!« unterbrach Herr Goljadkin sie eilig; er
war ein bißchen verlegen und ärgerte sich über das Erstaunen der beiden
Beamten und zugleich über die Familiarität ihres Benehmens, kehrte aber
unwillkürlich ein ungeniertes, forsches Wesen heraus. »Sie sind vom
Dienst desertiert, meine Herren, he-he-he! ...« Hier versuchte er sogar,
um sich von seiner Würde nichts zu vergeben und sich mit den jungen
Kanzleibeamten nicht zu gemein zu machen, von denen er sich immer in
gebührendem Abstande gehalten hatte, einem derselben auf die Schulter zu
klopfen; aber diese populäre Handlung gelang Herrn Goljadkin in diesem
Falle nicht, und statt einer Gebärde anständiger Familiarität kam etwas
ganz anderes heraus.

»Nun, wie ist's? Sitzt unser Bär noch da?«

»Wer soll das sein, Jakow Petrowitsch?«

»Nun, der Bär! Als ob Sie nicht wüßten, wer >der Bär< genannt wird!«
Herr Goljadkin lachte auf und drehte sich zu dem Büfett hin, um das Geld
in Empfang zu nehmen, das er herausbekam. »Ich rede von Andrei
Filippowitsch, meine Herren,« fuhr er fort, als er mit dem Kassierer
fertig war, und wandte sich, diesmal mit sehr ernster Miene, wieder zu
den Beamten. Die beiden Registratoren wechselten bedeutsame Blicke
miteinander.

»Der sitzt noch da und hat nach Ihnen gefragt, Jakow Petrowitsch,« sagte
der eine von ihnen.

»Also er sitzt noch da! Nun, dann wollen wir ihn dasitzen lassen, meine
Herren. Und er hat nach mir gefragt, wie?«

»Ja, das hat er getan, Jakow Petrowitsch. Aber was ist denn mit Ihnen
los? Sie sind ja parfümiert und pomadisiert, der reine Elegant?«

»Ja, meine Herren, das ist nun einmal so! Hören Sie auf davon ...«
erwiderte Herr Goljadkin, indem er zur Seite blickte und gezwungen
lächelte. Als sie Herrn Goljadkin lächeln sahen, brachen die Beamten in
ein lautes Gelächter aus. Herr Goljadkin machte ein etwas beleidigtes
Gesicht.

»Ich will Ihnen als Freund etwas mitteilen, meine Herren,« sagte unser
Held nach kurzem Stillschweigen, wie wenn er sich in Gottes Namen
entschlossen hätte, den Beamten ein Geheimnis zu enthüllen. »Sie kennen
mich alle, meine Herren; aber bisher haben Sie mich nur von einer Seite
gekannt. Ein Vorwurf trifft dafür niemanden, und ich bekenne, daß ich
zum Teil selbst schuld daran bin.«

Herr Goljadkin preßte die Lippen zusammen und blickte die Beamten
bedeutsam an. Diese blinkten einander wieder zu.

»Bisher haben Sie mich nicht gekannt, meine Herren. Ihnen ausführliche
Aufklärungen darüber zu geben, ist jetzt und hier nicht passend. Ich
werde Ihnen nur etwas weniges sagen, nur so nebenbei und
andeutungsweise. Es gibt Leute, meine Herren, die keine Schleichwege
lieben und eine Maske nur auf dem Maskenballe tragen. Es gibt Leute, die
die wahre Bestimmung des Menschen nicht in der Geschicklichkeit sehen,
das Parkett mit den Stiefeln zu polieren. Es gibt auch Leute, meine
Herren, die nicht sagen, daß sie glücklich sind und das Leben wahrhaft
genießen, wenn ihnen z. B. die Beinkleider gut sitzen. Es gibt endlich
Leute, die es nicht lieben, unnützerweise herumzuspringen und sich
herumzudrehen, zu witzeln und zu schmeicheln, und besonders, meine
Herren, ihre Nase dahinein zu stecken, wo es gar nicht verlangt wird ...
Nun habe ich Ihnen so ziemlich alles gesagt, meine Herren; gestatten Sie
jetzt, daß ich mich entferne ...«

Herr Goljadkin hielt inne. Da die Herren Registratoren sich jetzt
vollständig befriedigt fühlten, schlugen sie auf einmal beide in äußerst
unhöflicher Manier ein lautes Gelächter auf. Herr Goljadkin wurde rot
vor Ärger.

»Lachen Sie nur, meine Herren; lachen Sie nur einstweilen! Wenn Sie
länger leben, werden Sie schon sehen,« sagte er im Gefühl beleidigter
Würde, nahm seinen Hut und zog sich zur Tür zurück.

»Aber ich möchte Ihnen noch eines sagen, meine Herren,« fügte er, sich
zum letzten Male zu den Herren Registratoren umwendend, hinzu, »ich
möchte Ihnen noch eines sagen; Sie stehen mir hier beide Auge in Auge
gegenüber. Mein Grundsatz, meine Herren, ist der: >Mißlingt's, dann
nicht verzagen; gelingt's, dann weiter wagen,< und jedenfalls suche ich
niemandes Stellung zu unterminieren. Ich bin kein Intrigant, und darauf
bin ich stolz. Zum Diplomaten tauge ich nicht. Man sagt auch, meine
Herren, der Vogel komme selbst auf den Jäger zugeflogen. Das ist
richtig, und ich gebe es zu; aber wer ist hier der Jäger und wer der
Vogel? Das ist noch die Frage, meine Herren!«

Hier schwieg Herr Goljadkin in rednerisch effektvoller Weise, machte mit
sehr bedeutsamer Miene, d. h. indem er die Augenbrauen in die Höhe zog
und die Lippen ganz fest zusammenpreßte, den Herren Beamten eine
Abschiedsverbeugung und ging dann hinaus, indem er die beiden im
äußersten Erstaunen zurückließ.

»Wohin befehlen Sie?« fragte Petruschka ziemlich mürrisch, da er des
Umherfahrens in der Kälte wahrscheinlich bereits überdrüssig geworden
war. »Wohin befehlen Sie?« fragte er Herrn Goljadkin noch einmal, als er
dessen furchtbarem, alles vernichtendem Blicke begegnete, mit dem unser
Held sich schon zweimal an diesem Morgen gesichert hatte, und zu dem er
jetzt zum dritten Male seine Zuflucht nahm, während er die Treppe
hinunterstieg.

»Nach der Ismailowski-Brücke.«

»Nach der Ismailowski-Brücke! Vorwärts!«

»Das Diner wird bei ihnen erst zwischen vier und fünf beginnen oder
sogar erst um fünf,« dachte Herr Goljadkin; »ist es jetzt nicht noch zu
früh? Übrigens kann ich ja auch etwas früher kommen; es ist ja noch dazu
ein Familiendiner. Ich kann ja so ganz ^sans façon^ hingehen, wie die
feinen Leute sich ausdrücken. Warum sollte ich nicht ^sans façon^
hingehen können? Unser Bär hat auch gesagt, es werde da alles ^sans
façon^ sein; und daher kann ich ebenfalls ...« Solche Überlegungen
stellte Herr Goljadkin an; unterdessen aber wuchs seine Aufregung immer
mehr und mehr. Es war zu merken, daß er sich auf etwas sehr Mühsames, um
keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen, vorbereitete; er flüsterte
etwas vor sich hin, gestikulierte mit der rechten Hand, blickte
unaufhörlich durch die Wagenfenster, so daß niemand, der ihn jetzt sah,
geglaubt hätte, er schicke sich an, ein gutes Diner einzunehmen, so ganz
ohne alle Umstände und im Kreise einer bekannten Familie, ^sans façon^,
wie die feinen Leute sich ausdrücken. Als sie endlich ganz nahe bei der
Ismailowski-Brücke waren, bezeichnete Herr Goljadkin ein Haus; die
Kutsche fuhr polternd durch den Torweg und hielt auf der rechten Seite
vor einem Portal. Als Herr Goljadkin an einem Fenster des zweiten
Stockwerks eine weibliche Gestalt bemerkte, warf er ihr eine Kußhand zu.
Übrigens wußte er selbst nicht, was er tat; denn er befand sich in
diesem Augenblicke entschieden in einem Mittelzustande zwischen Leben
und Tod. Blaß und verstört stieg er aus dem Wagen, ging die Stufen vor
dem Portal hinan, trat ins Haus, nahm den Hut ab, ordnete mechanisch
seinen Anzug und stieg die Treppe hinauf, wobei er ein leises Zittern in
den Knien fühlte.

»Ist Olsufi Iwanowitsch zu Hause?« fragte er den Diener, der ihm
öffnete.

»Jawohl, das heißt nein, er ist nicht zu Hause.«

»Wie? Was redest du, mein Lieber? Ich ... ich komme zum Diner, mein
Freund. Du kennst mich ja doch wohl?«

»Wie sollte ich Sie nicht kennen? Aber es ist Befehl gegeben, Sie nicht
anzunehmen.«

»Du ... du ... irrst dich gewiß, mein Freund. Ich bin es. Ich bin
eingeladen, mein Freund; ich komme zum Diner,« sagte Herr Goljadkin,
warf seinen Mantel ab und bekundete die augenscheinliche Absicht, in die
Wohnung hineinzugehen.

»Entschuldigen Sie, es geht nicht. Es ist Befehl gegeben, Sie nicht
anzunehmen, sondern abzuweisen. Das ist die Sache!«

Herr Goljadkin wurde blaß. Gerade in diesem Augenblicke öffnete sich die
nach den inneren Zimmern führende Tür, und Olsufi Iwanowitschs alter
Kammerdiener Gerasimowitsch kam heraus.

»Hören Sie nur, Emeljan Gerasimowitsch, der Herr hier will eintreten,
und ich ...«

»Ach, Sie sind ein Dummkopf, Alexejewitsch. Gehen Sie mal hinein, und
schicken Sie den Schlingel, den Semjonowitsch, her. Es geht nicht,«
sagte er, zu Herrn Goljadkin gewendet, in höflichem, aber entschiedenem
Tone. »Es ist ganz unmöglich. Der Herr läßt um Entschuldigung bitten; er
kann Sie nicht empfangen.«

»Hat er denn das gesagt, daß er mich nicht empfangen kann?« fragte Herr
Goljadkin unsicher. »Entschuldigen Sie, Gerasimowitsch, warum ist es
denn ganz unmöglich?«

»Es ist ganz unmöglich. Ich habe Sie gemeldet; der Herr sagte: >Bitte
den Herrn, zu entschuldigen!< Er sagte, er könne Sie nicht empfangen.«

»Warum denn nicht? Wie geht denn das zu? Wie ...«

»Erlauben Sie, erlauben Sie! ...«

»Aber wie geht denn das zu? Das ist ja unmöglich! Melden Sie mich ...
Wie geht denn das zu? Ich bin zum Diner ...«

»Erlauben Sie, erlauben Sie! ...«

»Ah, nun, übrigens ist das etwas anderes: er läßt um Entschuldigung
bitten. Aber erlauben Sie, Gerasimowitsch, wie geht denn das zu,
Gerasimowitsch?«

»Erlauben Sie, erlauben Sie!« versetzte Gerasimowitsch und hielt Herrn
Goljadkin sehr entschieden mit der Hand zurück, während er gleichzeitig
zwei Herren, die in demselben Augenblicke in das Vorzimmer traten, den
Weg weit freigab. Die eintretenden Herren waren Andrei Filippowitsch und
sein Neffe Wladimir Semjonowitsch. Beide blickten Herrn Goljadkin
erstaunt an. Andrei Filippowitsch wollte etwas sagen; aber Herr
Goljadkin hatte bereits seinen Entschluß gefaßt: mit niedergeschlagenen
Augen, errötend, lächelnd, mit ganz verstörtem Gesichte verließ er schon
Olsufi Iwanowitschs Vorzimmer. »Ich werde nachher noch einmal
herankommen, Gerasimowitsch; ich werde die Sache aufklären; ich hoffe,
daß sich alles unverzüglich und rechtzeitig aufklären wird,« sagte er
auf der Schwelle und zum Teil schon auf der Treppe.

»Jakow Petrowitsch, Jakow Petrowitsch!« ... erscholl Andrei
Filippowitschs Stimme, der Herrn Goljadkin nacheilte.

Herr Goljadkin befand sich in diesem Augenblicke schon auf dem unteren
Treppenflur. Er wandte sich schnell zu Andrei Filippowitsch um.

»Was steht zu Ihren Diensten, Andrei Filippowitsch?« fragte er in
ziemlich entschiedenem Tone.

»Was ist Ihnen denn, Jakow Petrowitsch? Wie hängt denn das zusammen?«

»Es ist nichts Besonderes, Andrei Filippowitsch. Ich bin hier als
Privatmann. Es ist meine persönliche Angelegenheit, Andrei
Filippowitsch.«

»Was gibt es denn?«

»Ich sage ja, Andrei Filippowitsch, daß es meine persönliche
Angelegenheit ist, und daß sich meines Erachtens hier nichts
Tadelnswertes in bezug auf meine amtliche Stellung finden läßt.«

»Wie? In bezug auf Ihre amtliche ... Was haben Sie denn nur, mein Herr?«

»Nichts, Andrei Filippowitsch, gar nichts; ein dreistes junges Mädchen,
weiter nichts ...«

»Was? ... Was?« fragte Andrei Filippowitsch in verständnislosem Staunen.
Herr Goljadkin hatte bis dahin vom Fuße der Treppe hinauf mit Andrei
Filippowitsch gesprochen und dabei eine Miene gemacht, als ob er Lust
hätte, ihm gerade ins Gesicht zu springen; als er nun sah, daß sein
Abteilungschef einigermaßen in Verwirrung geraten war, tat er fast
unbewußt einen Schritt nach vorwärts. Andrei Filippowitsch wich zurück.
Herr Goljadkin kam eine Stufe und noch eine Stufe wieder herauf. Andrei
Filippowitsch blickte unruhig um sich. Herr Goljadkin kam auf einmal
schnell die Treppe heraufgelaufen. Noch schneller sprang Andrei
Filippowitsch ins Zimmer hinein und schlug die Tür hinter sich zu. Herr
Goljadkin blieb allein stehen. Es wurde ihm dunkel vor den Augen. Er
hatte alle Fassung verloren und stand nun in einer Art von sinn- und
verstandloser Unentschlossenheit da und dachte an das ebenfalls sinn-
und verstandlose Ereignis, das sich soeben zugetragen hatte. »Ach, ach!«
flüsterte er mit einem gezwungenen Lächeln. Unterdessen wurden auf der
Treppe unten Stimmen und Schritte vernehmbar, wahrscheinlich von neuen
Gästen, die von Olsufi Iwanowitsch eingeladen waren. Herr Goljadkin kam
wieder ein wenig zur Besinnung, schlug schnell den Kragen seines
Schuppenpelzes in die Höhe, verbarg sich darin nach Möglichkeit und
begann mit schlappenden, trippelnden Schritten eilig und strauchelnd die
Treppe wieder hinabzusteigen. Er hatte ein Gefühl der Schwäche und
Stumpfheit. Seine Verwirrung war so hochgradig, daß, als er vor die Tür
kam, er nicht auf das Vorfahren seines Wagens wartete, sondern selbst
quer über den schmutzigen Hof zu ihm hinging. Als er hingelangt war und
sich anschickte einzusteigen, wünschte Herr Goljadkin innerlich, mitsamt
seiner Kutsche in die Erde zu versinken oder sich wenigstens in einem
Mauseloche verstecken zu können. Er glaubte, daß alle Menschen in Olsufi
Iwanowitschs Hause jetzt aus allen Fenstern nach ihm hinsähen. Er wußte,
daß er unfehlbar auf dem Flecke sterben würde, wenn er sich umschaute.

»Was lachst du denn, Tölpel?« sagte er hastig zu Petruschka, der ihm
beim Einsteigen in die Kutsche behilflich sein wollte.

»Worüber sollte ich denn lachen? Ich lache nicht. Wohin fahren wir
jetzt?«

»Nach Hause! Vorwärts!«

»Vorwärts, nach Hause!« schrie Petruschka und kletterte hinten auf das
Wagenbrett.

»Eine Stimme hat dieser Mensch -- wie eine Krähe!« dachte Herr
Goljadkin. Unterdessen hatte sich der Wagen bereits ziemlich weit von
der Ismailowski-Brücke entfernt. Auf einmal zog unser Held aus aller
Kraft an der Schnur und rief seinem Kutscher zu, er solle sofort
zurückfahren. Der Kutscher wendete um und fuhr zwei Minuten darauf
wieder bei Olsufi Iwanowitsch auf den Hof. »Es ist nicht nötig, du
Dummkopf, es ist nicht nötig! Zurück!« rief Herr Goljadkin, -- und der
Kutscher schien einen solchen Befehl erwartet zu haben: ohne ein Wort zu
erwidern und ohne am Portal anzuhalten, fuhr er rings um den Hof herum
und wieder auf die Straße hinaus.

Indes fuhr Herr Goljadkin nicht nach Hause; sondern nachdem er die
Semjonowski-Brücke passiert hatte, befahl er in eine Seitenstraße
einzubiegen, und ließ vor einem Restaurant von ziemlich bescheidenem
Äußern halten. Unser Held stieg aus dem Wagen, lohnte den Kutscher ab
und wurde so endlich seines Wagens ledig. Seinem Diener Petruschka
befahl er, nach Hause zu gehen und auf seine Rückkehr zu warten; er
selbst trat in das Restaurant, nahm sich ein separates Zimmer und
bestellte sich ein Mittagessen. Er fühlte sich sehr unwohl und hatte die
Empfindung, daß in seinem Kopfe eine chaotische Verwirrung herrsche.
Lange ging er aufgeregt im Zimmer auf und ab; endlich setzte er sich auf
einen Stuhl, stützte die Stirn in die Hände und bemühte sich aus aller
Kraft nachzudenken und zur Klarheit über seine jetzige Lage zu gelangen.



                              4. Kapitel


Dieser Tag, der festliche Geburtstag Klara Olsufjewnas, der einzigen
Tochter des Staatsrates Berendejew, des ehemaligen Wohltäters des Herrn
Goljadkin, dieser Tag, der durch ein glänzendes, prächtiges Diner
verherrlicht wurde, ein Diner, wie man es in den Beamtenwohnungen an der
Ismailowski-Brücke und in weitem Umkreise seit langer Zeit nicht erlebt
hatte, ein Diner, das mehr einem sardanapalischen Schmause als einem
Diner glich und, was Glanz, Luxus und Anstand anlangte, so etwas
Babylonisches an sich hatte, ein Diner mit Champagner Cliquot, mit
Austern und mit Früchten aus den Geschäften von Jelisejew und den
Gebrüdern Miljutin und mit allerlei Mastkälbern und mit Gästen von allen
Stufen der Rangliste, -- dieser festliche Tag, der durch ein so
festliches Diner verherrlicht wurde, schloß mit einem glänzenden Balle,
glänzend in bezug auf guten Geschmack, feine Sitte und Anstand, obwohl
es nur ein kleiner Familien- und Verwandtenball war. Gewiß, ich gebe zu,
daß es solche Bälle auch sonst gibt, aber doch nur selten. Solche Bälle,
die mehr mit Familienvergnügungen als mit Bällen Ähnlichkeit haben,
können nur in solchen Häusern gegeben werden, wie es z. B. das Haus des
Staatsrates Berendejew war. Ich will noch mehr sagen: ich bezweifle
sogar, daß bei allen Staatsräten solche Bälle gegeben werden konnten. O
wenn ich ein Dichter wäre! selbstverständlich mindestens ein solcher wie
Homer oder Puschkin (mit minderem Talente würde ich es mir nicht
getrauen): dann würde ich unfehlbar mit leuchtenden Farben und breitem
Pinsel Ihnen, verehrte Leser, diesen ganzen hochfestlichen Tag
schildern! Ich würde mein Gedicht mit dem Diner beginnen und besonderen
Nachdruck auf den ergreifenden, feierlichen Augenblick legen, wo der
erste Toast zu Ehren der Königin des Festes ausgebracht wurde. Ich würde
Ihnen zuerst diese Gäste schildern, wie sie in ein andächtiges,
erwartungsvolles Stillschweigen versunken dasaßen, das mehr Ähnlichkeit
mit demosthenischer Beredsamkeit hatte als mit Stillschweigen. Ich würde
Ihnen dann Andrei Filippowitsch schildern als den vornehmsten Gast, der
sogar ein gewisses Anrecht auf den ersten Platz besaß, wie er im
Schmucke seiner grauen Haare und der zu diesen grauen Haaren passenden
Orden von seinem Platze aufstand und das Glas mit funkelndem Weine
glückwünschend über den Kopf hob, mit einem Weine, der extra aus einem
fernen Königreiche eingeführt war, um bei ähnlichen Gelegenheiten
getrunken zu werden, mit einem Weine, der göttlichem Nektar ähnlicher
war als irdischem Weine. Ich würde Ihnen die Gäste und die glücklichen
Eltern der Königin des Festes schildern, wie sie, dem Beispiele Andrei
Filippowitschs folgend, ebenfalls ihre Gläser erhoben und erwartungsvoll
die Augen auf ihn gerichtet hielten. Ich würde Ihnen schildern, wie
dieser mehrfach erwähnte Andrei Filippowitsch zuerst eine Träne in sein
Glas fallen ließ, seinen Glückwunsch aussprach, einen Toast ausbrachte
und auf die Gesundheit des Geburtstagskindes trank ... Aber ich bekenne,
bekenne rückhaltlos, daß ich nicht imstande wäre, die ganze
Feierlichkeit jenes Augenblickes zu schildern, als die Königin des
Festes selbst, Klara Olsufjewna, glückselig und schamhaft errötend wie
eine Frühlingsrose, in überströmendem Gefühle in die Arme ihrer
zärtlichen Mutter sank, wie die zärtliche Mutter Tränen vergoß, und wie
bei diesem Anlaß der Vater selbst schluchzte, der ehrwürdige alte
Staatsrat Olsufi Iwanowitsch, der in seiner langjährigen Dienstzeit des
Gebrauches der Beine verlustig gegangen war und vom Schicksal als
Belohnung für so viel Eifer ein hübsches Kapital, ein Haus, ein paar
Dörfer und eine außerordentlich schöne Tochter erhalten hatte; auch er
schluchzte wie ein Kind und tat zwischen den Tränen den Ausspruch, daß
Seine Exzellenz seine Freude daran habe, anderen Gutes zu tun. Ich wäre
außerstande, ja, ich wäre entschieden außerstande, Ihnen die unmittelbar
auf diesen Augenblick folgende allgemeine herzliche Begeisterung zu
schildern, eine Begeisterung, die sogar in dem Verhalten eines jungen
Registrators deutlich zum Ausdruck kam, der in diesem Augenblicke mehr
einem Staatsrate als einem Registrator glich und, als er Andrei
Filippowitschs Rede anhörte, ebenfalls in Tränen ausbrach. Seinerseits
glich Andrei Filippowitsch in diesem feierlichen Augenblicke gar nicht
einem Kollegienrate und Abteilungschef in einem Departement, nein, er
hatte Ähnlichkeit mit etwas anderem, ich weiß nur nicht, womit
eigentlich, aber nicht mit einem Kollegienrate. Er glich etwas Höherem!
Endlich ... o warum verstehe ich mich nicht auf die geheime Kunst des
hohen, kräftigen Stiles, des feierlichen Stiles, damit ich all diese
schönen, erbaulichen Momente des menschlichen Lebens darstellen könnte,
die absichtlich dazu geschaffen zu sein scheinen, um zu beweisen, wie
manchmal die Tugend über die Böswilligkeit, die Freigeisterei, das
Laster und den Neid triumphiert! Ich werde nichts sagen, sondern
schweigend (und das wird besser sein als alle Redekunst) Ihnen auf
diesen glücklichen Jüngling hindeuten, der in seinen sechsundzwanzigsten
Frühling eintritt, auf Wladimir Semjonowitsch, Andrei Filippowitschs
Neffen, der, als er an der Reihe war, sich von seinem Platze erhob und
einen Toast ausbrachte, und auf den die weinenden Augen der Eltern der
Königin des Festes, die stolzen Augen Andrei Filippowitschs, die
verschämten Augen der Königin des Festes selbst, die entzückten Augen
der Gäste und sogar die einen wohlanständigen Neid bekundenden Augen
mehrerer junger Kollegen dieses vortrefflichen Jünglings gerichtet
waren. Ich werde nichts sagen, obwohl ich nicht umhin kann zu bemerken,
daß alles an diesem Jüngling (der mehr einem Greise als einem Jüngling
glich, was in einem für ihn vorteilhaften Sinne gesagt sein soll),
alles, von den blühenden Wangen bis zu dem Assessorrange, den er
bekleidete, daß dies alles in diesem feierlichen Augenblicke davon
Zeugnis ablegte, zu einer wie hohen Stufe gute Gesittung einen Menschen
emporheben kann! Ich werde nicht beschreiben, wie endlich Anton
Antonowitsch Sjetotschkin, der Tischvorsteher eines Departements, ein
Kollege Andrei Filippowitschs und ehemals auch Olsufi Iwanowitschs und
gleichzeitig ein alter Freund des Hauses und Klara Olsufjewnas Pate, ein
ganz grauköpfiger alter Herr, im rechten Augenblicke einen Toast
ausbrachte, dabei wie ein Hahn krähte und lustige Knüttelverse sprach,
wie er durch eine so wohlanständige Vernachlässigung des Anstandes (wenn
man sich so ausdrücken kann) die ganze Gesellschaft dahin brachte, bis
zu Tränen zu lachen, und wie Klara Olsufjewna selbst zur Belohnung für
diesen lustigen, liebenswürdigen Toast ihm auf Befehl ihrer Eltern einen
Kuß gab. Ich werde nur sagen, daß endlich die Gäste, die nach einem
solchen Diner natürlich gegeneinander wie Verwandte und Brüder gesinnt
sein mußten, vom Tische aufstanden; wie dann die älteren, gesetzten
Leute zunächst eine kurze Zeit zu freundschaftlichem Gespräche
benutzten und dabei sogar recht offenherzig miteinander redeten,
selbstverständlich in durchaus anständiger, liebenswürdiger Weise, dann
aber sich ehrbar in ein anderes Zimmer begaben, sich, ohne die kostbare
Zeit zu verlieren, in Partien verteilten und sich im Gefühl ihrer
eigenen Würde an die mit grünem Tuche bezogenen Tische setzten; wie die
Damen im Salon Platz nahmen, auf einmal alle außerordentlich
liebenswürdig wurden und sich miteinander über verschiedene Gegenstände
zu unterhalten begannen; wie schließlich der hochverehrte Hausherr
selbst, welcher, während er im Dienste die Sache der Wahrheit und des
Rechtes vertrat, des Gebrauches der Beine verlustig gegangen und dafür
mit all den oben erwähnten Dingen belohnt worden war, auf Krücken unter
seinen Gästen umherging, gestützt von Wladimir Semjonowitsch und Klara
Olsufjewna, und wie er, auf einmal ebenfalls außerordentlich
liebenswürdig werdend, sich trotz der Kosten entschloß, einen kleinen,
bescheidenen Ball zu improvisieren; wie zu diesem Zwecke ein gewandter
junger Mann (eben der, welcher bei dem Diner mehr einem Staatsrate als
einem jungen Manne ähnlich gewesen war) abgeschickt wurde, um Musikanten
herbeizuschaffen; wie dann die Musikanten in einer Anzahl von ganzen elf
Mann ankamen, und wie endlich Punkt halb neun Uhr die lockenden Töne
einer französischen Quadrille erklangen, welcher verschiedene andere
Tänze folgten ... Ich brauche nicht erst zu sagen, daß meine Feder zu
schwach, zu matt und zu stumpf ist für eine anständige Schilderung des
durch die außerordentliche Liebenswürdigkeit des grauhaarigen Hausherrn
improvisierten Balles. Und wie, frage ich, wie kann ich, der bescheidene
Erzähler der in ihrer Art allerdings sehr interessanten Abenteuer des
Herrn Goljadkin, wie kann ich diese außerordentliche, wohlanständige
Mischung von Schönheit, Eleganz, Anstand, Heiterkeit, liebenswürdiger
Gesetztheit und gesetzter Liebenswürdigkeit, Mutwillen und Frohsinn
schildern, all dies Scherzen und Lachen all dieser Beamtendamen, die
mehr mit Feen als mit Damen Ähnlichkeit hatten (was in einem für sie
vorteilhaften Sinne gesagt sein soll), mit ihren lilien- und
rosenfarbenen Schultern und Gesichtchen, mit ihren ätherischen
Gestalten, mit ihren mutwillig spielenden und (um im höheren Stil zu
reden) homöopathischen Füßchen? Wie soll ich Ihnen endlich diese
eleganten Kavaliere aus dem Beamtenstande schildern, sowohl die
heiteren, soliden Jünglinge, als auch die gesetzten, frohsinnigen und in
wohlanständiger Art finsteren Männer, diese Kavaliere, die in den Pausen
zwischen den Tänzen teils in einem kleinen, abgelegenen, grünen Zimmer
eine Pfeife rauchten, teils keine Pfeife rauchten, diese Kavaliere, die
vom ersten bis zum letzten einen anständigen Rang besaßen und
anständigen Familien angehörten, diese Kavaliere, die von dem Gefühl der
Eleganz und von dem Gefühle ihrer eigenen Würde tief durchdrungen waren,
diese Kavaliere, die mit den Damen meist französisch sprachen und, wenn
sie von der russischen Sprache Gebrauch machten, sich nur gewählter
Ausdrücke des höchsten Stiles, feiner Komplimente und geistreicher
Redewendungen bedienten, diese Kavaliere, die höchstens im Rauchzimmer
sich ein paar liebenswürdige Abweichungen von der Sprache des feinsten
Tones, ein paar Redewendungen voll freundschaftlicher, liebenswürdiger
Intimität gestatteten, etwa von folgender Art: »Na, Petja, du
Schwerenöter, du hast ja die Polka famos heruntergehopst!« oder: »Wasja,
du Schlingel, du hast ja deine Dame gehörig vorgenommen!« Zu alledem
ist, wie ich Ihnen, meine verehrten Leser, schon oben die Ehre hatte
mitzuteilen, meine Feder unfähig, und darum schweige ich. Wenden wir uns
lieber zu Herrn Goljadkin, dem einzigen, wirklichen Helden unserer
durchaus wahrhaften Erzählung!

Die Sache war die, daß er sich augenblicklich in einer sehr sonderbaren
(um keinen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen) Lage befand. Er war
ebenfalls dort, meine Herrschaften, d. h. nicht auf dem Balle, aber
beinah auf dem Balle; seine Situation, meine Herren, war keine
glänzende; er war zwar für sich allein, stand aber in diesem Augenblicke
an einem nicht ganz ordnungsmäßigen Platze; er stand nämlich (es kommt
einem sonderbar vor, es auch nur zu sagen), er stand auf dem Flur, auf
der Hintertreppe der Wohnung Olsufi Iwanowitschs. Aber das machte ihm
nichts aus, daß er da stand; er fühlte sich da ganz wohl. Er stand in
einem Winkel, meine Herrschaften, versteckt an einem Plätzchen, wo es
zwar nicht besonders warm, aber dafür ziemlich dunkel war, teilweise
verborgen durch einen gewaltigen Schrank und einen alten Wandschirm,
zwischen allerlei Trödelkram, Gerümpel und altem Hausrat; vorläufig
hielt er sich noch versteckt und beobachtete den Verlauf des allgemeinen
Vergnügens nur in der Eigenschaft eines unbeteiligten Zuschauers. Er
beobachtete jetzt nur, meine Herrschaften; er hätte ja ebenfalls
hineingehen können, meine Herrschaften ... warum hätte er denn nicht
hineingehen sollen? Er brauchte nur ein paar Schritte zu tun, dann ging
er hinein und ging mit großer Gewandtheit hinein. Eben erst (nachdem er
übrigens schon über zwei Stunden in der Kälte zwischen dem Schranke und
dem Wandschirm, zwischen allerlei Gerümpel, Trödelkram und altem Hausrat
gestanden hatte) hatte er im stillen zu seiner eigenen Rechtfertigung
einen Ausspruch des französischen Ministers Villèle seligen Angedenkens
zitiert: »Alles kommt zu seiner Zeit, wenn man nur zu warten versteht.«
Diesen Ausspruch hatte Herr Goljadkin einmal in einem übrigens ganz
gleichgültigen Buche gelesen; aber jetzt rief er ihn sich zu sehr
passender Zeit ins Gedächtnis zurück. Dieser Ausspruch paßte erstens
sehr gut zu seiner augenblicklichen Lage, und zweitens, was kommt nicht
alles einem Menschen in den Kopf, der auf eine glückliche Lösung der ihn
beschäftigenden Schwierigkeiten fast schon drei geschlagene Stunden auf
dem Flur in der Dunkelheit und Kälte wartet? Nachdem Herr Goljadkin den
Ausspruch des früheren französischen Ministers Villèle, wie schon oben
gesagt, zu sehr passender Zeit im stillen zitiert hatte, erinnerte er
sich ebendaselbst aus unbekanntem Grunde auch an den ehemaligen
türkischen Vezier Marzimiris, sowie auch an die schöne Markgräfin Luise,
deren Geschichte er gleichfalls einmal in einem Buche gelesen hatte.
Dann kam ihm ins Gedächtnis, daß die Jesuiten sogar den Grundsatz
aufgestellt hätten, man müsse alle Mittel für zulässig erachten, wenn
nur der Zweck dadurch erreicht werde. Nachdem Herr Goljadkin aus dieser
historischen Erinnerung etwas Mut geschöpft hatte, sagte er zu sich
selbst, was seien denn die Jesuiten für Leute? Die Jesuiten seien alle
ohne Ausnahme die größten Dummköpfe; er selbst stecke sie allesamt in
den Sack; wenn das Büfettzimmer auch nur für einen Augenblick leer werde
(dasjenige Zimmer, dessen Tür direkt auf den Flur, nach der Hintertreppe
hinausführte, wo Herr Goljadkin sich jetzt befand), dann werde er,
unbekümmert um alle Jesuiten, ohne weiteres geradezu hindurchgehen,
zuerst aus dem Büfettzimmer in das Teezimmer, dann in dasjenige Zimmer,
wo jetzt Karte gespielt werde, und dann geradezu in den Saal,
wo jetzt Polka getanzt werde. Und er werde hindurchgehen,
unbedingt hindurchgehen; allem zum Trotz werde er hindurchgehen,
hindurchschlüpfen, und damit basta, und niemand werde es bemerken, und
dann werde er schon selbst wissen, was er weiter zu tun habe. In dieser
Lage, meine Herrschaften, finden wir also jetzt den Helden unserer
durchaus wahrhaften Geschichte, wiewohl es schwer ist zu erklären, was
mit ihm eigentlich im gegenwärtigen Augenblicke vorging. Die Sache war
die, daß er verstanden hatte bis zur Treppe und bis zum Flur zu
gelangen; denn er hatte sich gesagt, warum sollte er nicht dahin
gelangen, wohin alle gelangen könnten; aber weiter vorzudringen wagte er
nicht; das zu tun wagte er offenbar nicht ... nicht weil er irgend etwas
nicht gewagt hätte, sondern einfach, weil er es selbst nicht wollte,
weil er mehr Lust hatte im verborgenen zu bleiben. So, meine
Herrschaften, wartete er also jetzt im verborgenen und wartete schon
genau zwei und eine halbe Stunde. Warum sollte er auch nicht warten?
Hatte doch auch Villèle selbst gewartet. »Aber was soll hier Villèle?«
dachte Herr Goljadkin; »was kümmert mich hier Villèle? Wie wär's, wenn
ich jetzt ... hm ... so ohne weiteres eindränge? ... Ach, was bist du
für ein elender Statist!« sagte Herr Goljadkin zu sich selbst und kniff
sich mit der erstarrten Hand in die erstarrte Backe; »was bist du für
ein Dummkopf, was bist du für ein armer Schlucker; das besagt ja schon
dein Name! ...«[1] Übrigens belegte er seine eigene Person mit diesen
Kosenamen im gegenwärtigen Augenblicke nur so beiläufig, ohne jeden
besonderen Zweck. Aber jetzt, jetzt schickte er sich an, es zu
unternehmen und vorzudringen; der günstige Augenblick war gekommen; das
Büfettzimmer war leer geworden und niemand darin; Herr Goljadkin sah
dies alles durch ein Fensterchen; mit zwei Schritten befand er sich an
der Tür und war bereits im Begriffe, sie zu öffnen. »Soll ich hingehen
oder nicht? Na, soll ich hingehen oder nicht? Ich will hingehen ...
warum sollte ich nicht hingehen? Dem Mutigen gehört die Welt!« Nachdem
unser Held sich in dieser Weise Mut gemacht hatte, retirierte er auf
einmal ganz unerwartet wieder hinter den Wandschirm. »Nein,« dachte er,
»wenn nun aber jemand hereinkommt? Da haben wir's; da ist schon jemand
hereingekommen! Warum habe ich auch gezaudert, als niemand darin war?
Ich hätte ohne Umstände eindringen sollen! ... Nein, wie ist es möglich
einzudringen, wenn ein Mensch so einen Charakter hat! Das ist eine ganz
schlechte Veranlagung! Ich habe es mit der Angst bekommen wie ein Hase!
Die Ängstlichkeit liegt in meiner Natur; das ist es! Ich verderbe immer
alles; das ist keine Frage. Da stehe ich nun hier ganz zwecklos wie ein
Tölpel! Zu Hause könnte ich jetzt ein Täßchen Tee trinken ... Das wäre
ganz angenehm, so ein Täßchen zu trinken. Wenn ich spät nach Hause
komme, wird Petruschka am Ende wieder brummen. Soll ich nicht lieber
nach Hause gehen? Hole hier alles der Teufel! Ich gehe nach Hause,
abgemacht!« Aber nachdem Herr Goljadkin diesen Entschluß gefaßt hatte,
ging er, wie wenn jemand in seinem Innern eine Feder berührt hätte,
schnell vorwärts; mit zwei Schritten befand er sich im Büfettzimmer, zog
den Mantel aus, nahm den Hut ab, schob dies alles in eine Ecke, machte
seinen Anzug zurecht und strich sich das Haar glatt; dann ... dann ging
er ins Teezimmer, aus dem Teezimmer glitt er noch in ein anderes Zimmer
und schlüpfte fast unbemerkt zwischen den in Eifer geratenen
Kartenspielern hindurch; dann ... dann ... hier vergaß Herr Goljadkin
alles, was um ihn herum geschah, und erschien plötzlich ganz unerwartet
im Tanzsaale.

[Fußnote 1: Im Russischen heißt ^goljadka^ »der arme Schlucker«.]

Es traf sich, daß gerade in diesem Augenblicke nicht getanzt wurde. Die
Damen promenierten in malerischen Gruppen im Saale. Die Herren drängten
sich zu einzelnen Kreisen zusammen oder schwärmten durch den Saal, um
Damen zu engagieren. Herr Goljadkin bemerkte nichts davon. Er sah nur
Klara Olsufjewna, neben ihr Andrei Filippowitsch, ferner Wladimir
Semjonowitsch und noch zwei oder drei Offiziere sowie noch zwei oder
drei gleichfalls sehr interessante junge Leute, die, wie man auf den
ersten Blick sehen konnte, zu schönen Hoffnungen berechtigten oder
solche bereits erfüllten ... Er sah auch sonst noch diesen oder jenen.
Oder nein; er sah niemand mehr und blickte nach niemand hin ... Durch
jene selbe Feder getrieben, mittels deren er uneingeladen sich in einen
fremden Ball eingedrängt hatte, schritt er vorwärts, dann noch weiter
vorwärts und noch weiter vorwärts, stieß im Vorbeigehen an irgendeinen
Rat und trat ihm auf den Fuß, benutzte die Gelegenheit, einer
hochachtbaren alten Dame auf das Kleid zu treten und etwas daran zu
zerreißen, stieß einen Diener, der ein Präsentierbrett trug, an, stieß
noch jemand an, schritt, dies alles nicht bemerkend oder, richtiger
gesagt, es nur so obenhin bemerkend, ohne jemand anzusehen, immer weiter
und weiter vorwärts und stand plötzlich vor Klara Olsufjewna selbst.
Ohne allen Zweifel wäre er, ohne mit den Wimpern zu zucken, in diesem
Augenblicke mit dem größten Vergnügen in die Erde versunken; aber was
geschehen ist, kann man nicht rückgängig machen; das ist schlechterdings
unmöglich. Was war zu tun? »Mißlingt's, dann nicht verzagen; gelingt's,
dann weiter wagen,« dachte er bei sich. Herr Goljadkin war eben kein
Intrigant und verstand sich nicht darauf, »das Parkett mit den Stiefeln
zu polieren«. Es war nun einmal geschehen. Zudem hatten sich auch die
Jesuiten da irgendwie hineingemischt ... Aber was gingen Herrn Goljadkin
die Jesuiten an! Alles, was da umherging und lärmte und redete und
lachte, das verstummte plötzlich wie auf ein gegebenes Zeichen und
drängte sich allmählich um Herrn Goljadkin zusammen. Aber Herr Goljadkin
schien nichts zu hören und zu sehen; er vermochte nicht um sich zu
schauen, nichts anzublicken; er schlug die Augen zu Boden und stand so
da; nebenbei gab er sich übrigens das Ehrenwort darauf, sich noch in
dieser Nacht zu erschießen. Nachdem er sich darauf das Ehrenwort gegeben
hatte, sagte Herr Goljadkin in Gedanken zu sich selbst: »Nun komme, was
kommen will!« und fing zu seinem eigenen größten Erstaunen auf einmal
ganz unerwartet zu reden an.

Herr Goljadkin begann mit einer Gratulation und mit dem Ausdruck seiner
guten Wünsche. Die Gratulation ging gut vonstatten; aber bei dem
Ausdruck seiner guten Wünsche stieß unser Held an. Er hatte schon vorher
gefühlt, daß, wenn er anstieße, alles mit einem Mal zum Teufel gehen
werde. Und so kam es auch: er stieß an und blieb stecken; er blieb
stecken und errötete; er errötete und geriet aus der Fassung; er geriet
aus der Fassung und blickte auf; er blickte auf und schaute rings um
sich; er schaute rings um sich und wurde starr ... Alle standen da, alle
schwiegen, alle warteten; etwas weiter weg wurde geflüstert, in etwas
größerer Nähe gelacht. Herr Goljadkin warf einen demütigen, verlegenen
Blick nach Andrei Filippowitsch hin. Andrei Filippowitsch antwortete
Herrn Goljadkin mit einem solchen Blicke, daß, wäre unser Held nicht
schon gänzlich und vollständig niedergeschmettert gewesen, dieser Blick
ihn unfehlbar niedergeschmettert hätte. Das Schweigen dauerte an.

»Das gehört mehr zu meinen persönlichen Verhältnissen und zu meinem
Privatleben, Andrei Filippowitsch,« sagte Herr Goljadkin, der mehr tot
wie lebendig war, mit kaum vernehmbarer Stimme; »das ist keine amtliche
Handlung, Andrei Filippowitsch ...«

»Schämen Sie sich, mein Herr, schämen Sie sich!« sagte Andrei
Filippowitsch fast flüsternd mit einer Miene unbeschreiblicher
Entrüstung, bot Klara Olsufjewna seinen Arm und wandte sich von Herrn
Goljadkin ab.

»Ich habe keinen Anlaß mich zu schämen, Andrei Filippowitsch,«
antwortete Herr Goljadkin ebenfalls fast flüsternd, ließ seine
kläglichen Blicke verlegen umherschweifen und versuchte dabei, sich in
der erstaunten Menge zu orientieren und sich über seine eigene
gesellschaftliche Stellung in ihr klar zu werden.

»Nun, das tut nichts, das tut nichts, meine Herren! Was ist denn dabei?
Das kann ja jedem passieren,« flüsterte Herr Goljadkin, indem er sich
ein wenig von seinem Flecke fortbewegte und aus der ihn umgebenden Menge
herauszukommen suchte. Man machte ihm Platz. Unser Held schritt, so gut
es ging, zwischen zwei Reihen von neugierigen, verwunderten Zuschauern
hindurch. Sein Verhängnis riß ihn fort. Herr Goljadkin fühlte das
selbst, daß ihn sein Verhängnis fortriß. Er hätte natürlich viel für die
Möglichkeit gegeben, sich jetzt ohne Verletzung des Anstandes auf seinem
früheren Standplatze auf dem Flur bei der Hintertreppe zu befinden; aber
da dies entschieden unmöglich war, so versuchte er, sich in irgendein
Winkelchen zu verkriechen, wo er für sich, bescheiden, anständig,
abgesondert, ohne mit jemand in Berührung zu kommen und ohne die
allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, stehen könnte; so hoffte
er, sich zugleich das Wohlwollen der Gäste und des Hausherrn zu
erwerben. Übrigens hatte Herr Goljadkin die Empfindung, als ob ihm der
Boden unter den Füßen weggespült werde und er schwanke und falle.
Endlich erreichte er mit Mühe ein Winkelchen und stellte sich dort wie
ein unbeteiligter, ziemlich gleichmütiger Zuschauer hin; die Arme
stützte er auf die Lehnen zweier Stühle, die er auf diese Art völlig in
seinen Besitz nahm, und versuchte, mit möglichst mutigem Blicke die sich
in seiner Nähe gruppierenden Gäste Olsufi Iwanowitschs anzusehen. Am
nächsten von allen stand ihm ein Offizier, ein hochgewachsener, schöner
junger Mann, dem gegenüber sich Herr Goljadkin wie ein richtiges kleines
Käferchen vorkam.

»Diese beiden Stühle sind reserviert, Leutnant, der eine für Klara
Olsufjewna und der andere für die hier ebenfalls tanzende junge Fürstin
Tschewtschechanowa; ich behüte sie jetzt für die beiden Damen,
Leutnant,« sagte Herr Goljadkin mühsam atmend, indem er einen flehenden
Blick auf den Herrn Leutnant richtete. Der Leutnant wandte sich
schweigend mit einem vernichtenden Lächeln von ihm ab. Nach diesem
Mißerfolge an der einen Stelle versuchte unser Held sein Glück auf einer
anderen Seite und wandte sich geradezu an einen würdevoll aussehenden
Rat mit einem hohen Orden am Halse. Aber der Rat maß ihn mit einem so
kalten Blicke, daß Herr Goljadkin die deutliche Empfindung hatte, als ob
man ihm auf einmal einen ganzen Zuber kaltes Wasser über den Kopf
gegossen habe. Herr Goljadkin verstummte. Er entschied sich dafür,
lieber zu schweigen und keine Gespräche mehr anzuknüpfen, sondern zu
zeigen, daß er sich ganz wohl fühle, daß er ebensogut sei wie alle
andern, und daß seine Lage wenigstens nach seinem Urteile eine ebenso
anständige sei. Mit dieser Absicht heftete er seine Augen auf die
Ärmelaufschläge seiner Uniform, schaute dann wieder auf und ließ seine
Blicke auf einem Herrn von sehr achtbarem Äußern ruhen. »Dieser Herr
trägt eine Perücke,« dachte Herr Goljadkin; »wenn er diese Perücke
abnimmt, wird ein Kopf so kahl wie meine Handfläche sichtbar werden.«
Nachdem er diese wichtige Entdeckung gemacht hatte, erinnerte sich Herr
Goljadkin auch an die arabischen Emire, bei denen, wenn sie den grünen
Turban abnehmen, den sie zum Zeichen ihrer Abstammung von dem Propheten
Mohammed tragen, ebenfalls der kahle, haarlose Kopf herauskommt. Dann
kam Herr Goljadkin, wahrscheinlich infolge einer eigentümlichen
Ideenverknüpfung, die in seinem Kopfe hinsichtlich der Türken vorging,
in Gedanken auch auf die türkischen Pantoffeln und erinnerte sich bei
dieser Gelegenheit daran, daß Andrei Filippowitsch Stiefel zu tragen
pflegte, die mehr wie Pantoffeln als wie Stiefel aussahen. Man konnte
bemerken, daß Herr Goljadkin sich zum Teil in seine Lage hineinfand. Nun
ging ihm der Gedanke durch den Kopf: »Wenn dieser Kronleuchter da jetzt
abrisse und auf die Gesellschaft herunterfiele, dann würde ich sofort
hineilen und Klara Olsufjewna retten. Und wenn ich sie gerettet hätte,
würde ich zu ihr sagen: >Beunruhigen Sie sich nicht, mein Fräulein; es
hat nichts auf sich; ich aber bin Ihr Retter.< Dann ...« Hier wandte
Herr Goljadkin die Augen zur Seite, um nach Klara Olsufjewna zu suchen,
und erblickte Gerasimowitsch, Olsufi Iwanowitschs alten Kammerdiener.
Gerasimowitsch steuerte mit sehr ernster, feierlicher Amtsmiene gerade
auf ihn los. Herr Goljadkin fuhr zusammen und runzelte infolge einer
unklaren und zugleich sehr unangenehmen Empfindung die Stirn. Mechanisch
blickte er um sich: er dachte schon daran, sich so ganz sachte seitwärts
unvermerkt aus dem Staube zu machen und zu verschwinden, d. h. so zu
tun, als ob es sich um ihn ganz und gar nicht handle. Ehe jedoch unser
Held irgendwelchen Entschluß fassen konnte, stand Gerasimowitsch schon
vor ihm.

»Sehen Sie mal, Gerasimowitsch,« sagte unser Held, indem er sich
lächelnd an den Kammerdiener wandte, »veranlassen Sie doch ... sehen Sie
doch die Kerze da auf dem Kronleuchter, Gerasimowitsch ... die wird
gleich herunterfallen ... veranlassen Sie also doch, daß sie in Ordnung
gebracht wird; sie wird wahrhaftig gleich herunterfallen, Gerasimowitsch
...«

»Die Kerze da? Nicht doch, die Kerze steht gerade; aber es fragt da
jemand nach Ihnen.«

»Wer fragt denn da nach mir, Gerasimowitsch?«

»Wer es eigentlich ist, weiß ich wirklich nicht. Es ist ein Bote von
jemandem. Er sagt: >Befindet sich Jakow Petrowitsch Goljadkin hier? Dann
rufen Sie ihn doch einmal heraus; es handelt sich um eine sehr
notwendige, eilige Angelegenheit ...< So verhält sich das.«

»Nein, Gerasimowitsch, Sie irren sich; darin irren Sie sich,
Gerasimowitsch.«

»Wohl kaum ...«

»Nein, Gerasimowitsch, nicht >wohl kaum<; hier gibt es kein >wohl kaum<,
Gerasimowitsch. Niemand fragt nach mir, Gerasimowitsch; niemand hat
Anlaß nach mir zu fragen; ich bin hier zu Hause, ich will sagen: an
meinem richtigen Platze, Gerasimowitsch.«

Herr Goljadkin holte tief Atem und blickte um sich. Wahrhaftig! Alle im
Saale Anwesenden schauten und horchten in einer Art von feierlicher
Erwartung nach ihm hin. Die Männer drängten sich näher heran, um das
Gespräch mit anzuhören; weiter davon flüsterten die Damen unruhig
miteinander. Der Hausherr selbst erschien in sehr geringer Entfernung
von Herrn Goljadkin, und obgleich an seiner Miene nicht zu erkennen war,
daß auch er an Herrn Goljadkins Affäre direkt und unmittelbar Anteil
nahm (denn alles vollzog sich mit größter Diskretion), so konnte der
Held unserer Erzählung doch aus alledem mit Sicherheit entnehmen, daß
für ihn der entscheidende Augenblick nahe herbeigekommen war. Herr
Goljadkin erkannte klar, daß der rechte Zeitpunkt da sei, um einen
kühnen Schlag auszuführen und seine Feinde zu beschämen. Er war in
großer Aufregung. Er fühlte eine Art von Begeisterung und begann von
neuem mit zitternder, feierlicher Stimme, indem er sich an den wartenden
Gerasimowitsch wandte:

»Nein, mein Freund, niemand läßt mich rufen. Du irrst dich. Ich will
noch mehr sagen: du hast dich auch heute nachmittag geirrt, als du mir
gegenüber behauptetest ... ich sage, als du mir gegenüber zu behaupten
wagtest« (Herr Goljadkin erhob die Stimme), »daß Olsufi Iwanowitsch, der
seit undenklichen Jahren mein Wohltäter gewesen ist und in gewissem
Sinne an mir Vaterstelle vertreten hat, mir am Tage eines für sein
Vaterherz so hocherfreulichen Familienfestes den Eintritt in sein Haus
verboten habe.« (Herr Goljadkin blickte selbstzufrieden, aber mit tiefer
Empfindung um sich; an seinen Wimpern zeigten sich Tränen.) »Ich
wiederhole, mein Freund,« schloß unser Held, »du hast dich geirrt, hast
dich arg und unverzeihlich geirrt ...«

Es war ein feierlicher Augenblick. Herr Goljadkin hatte das Gefühl, daß
er einen tiefen Eindruck gemacht habe. Er stand, die Augen bescheiden
niederschlagend, da und wartete darauf, daß Olsufi Iwanowitsch ihn
umarme. Unter den Gästen war eine starke Erregung und Verwunderung
wahrnehmbar; selbst der unerschütterliche, schreckliche Gerasimowitsch
stotterte bei den Worten »Wohl kaum« ... als plötzlich das
erbarmungslose Orchester, wie wenn nichts vorgefallen wäre, eine Polka
intonierte. Alles war in den Wind gesprochen, alles vergeblich geredet.
Herr Goljadkin fuhr zusammen; Gerasimowitsch trat zurück; alles, was im
Saale war, wogte wie ein Meer durcheinander, und Wladimir Semjonowitsch
trat schon als erstes Paar mit Klara Olsufjewna an und der schöne
Leutnant mit der jungen Fürstin Tschewtschechanowa als zweites.
Neugierig und entzückt drängten sich die Zuschauer herum, um bei der
Polka zuzusehen, diesem interessanten, neuen, modernen Tanze, der allen
die Köpfe verdrehte. Herr Goljadkin war vorläufig vergessen. Aber auf
einmal geriet alles in Aufregung, Verwirrung und Unruhe; die Musik brach
ab ... es hatte sich etwas Sonderbares begeben. Von dem Tanze erschöpft
war Klara Olsufjewna, vor Ermüdung nur mühsam atmend, mit glühenden
Wangen und hochwogender Brust, endlich ganz kraftlos auf einen Stuhl
gesunken. Alle blickten mit herzlicher Freude auf das reizende,
bezaubernde Mädchen; alle beeilten sich wetteifernd, ihr
Liebenswürdigkeiten zu sagen und ihr für das Vergnügen, das sie ihnen
bereitet habe, zu danken, -- da stand auf einmal Herr Goljadkin vor ihr.
Er war blaß und ganz verstört; er schien sich ebenfalls in einem
Schwächezustande zu befinden; er konnte sich kaum bewegen. Er lächelte
verlegen und streckte bittend die Hand aus. In ihrem Erstaunen hatte
Klara Olsufjewna nicht Zeit, ihre Hand fortzuziehen, und erhob sich
mechanisch auf Herrn Goljadkins Aufforderung hin. Herr Goljadkin neigte
sich wankend nach vorn, zuerst einmal, dann ein zweites Mal; dann hob er
das Bein und machte eine Art Scharrfuß; dann stampfte er polkamäßig auf;
dann stolperte er ... er hatte ebenfalls mit Klara Olsufjewna tanzen
wollen. Klara Olsufjewna schrie auf; alle stürzten zu ihr hin, um ihre
Hand aus Herrn Goljadkins Hand zu befreien, und auf einmal sah sich
unser Held durch die Menge etwa zehn Schritte weit weggedrängt. Um ihn
herum bildete sich ebenfalls ein Kreis. Man hörte das Kreischen und
Schreien zweier alter Damen, die Herr Goljadkin bei seinem Rückzuge
beinah umgestoßen hatte. Die Verwirrung war entsetzlich; alle fragten,
alle schrien, alle schalten. Das Orchester verstummte. Unser Held drehte
sich in seinem Kreise hin und her und murmelte mechanisch, ab und zu
lächelnd, etwas vor sich hin, worin folgende Bruchstücke vorkamen: warum
er denn nicht ... und die Polka sei, wenigstens nach seinem Urteil, ein
neuer, sehr interessanter Tanz, der zum Vergnügen der Damen erfunden sei
... aber unter diesen Umständen sei er gern bereit zu erklären, daß er
verzichte. Aber eine solche Erklärung schien niemand von Herrn Goljadkin
zu verlangen. Unser Held fühlte, daß sich plötzlich eine Hand auf seinen
Arm legte, daß eine andere Hand sich ein wenig gegen seinen Rücken
stemmte, und daß er mit besonderer Sorgfalt nach einer bestimmten Seite
dirigiert wurde. Endlich bemerkte er, daß es geradeswegs auf die Tür zu
ging. Herr Goljadkin wollte schon etwas sagen, etwas tun ... Aber nein,
er wollte nichts mehr. Er lächelte nur mechanisch. Dann merkte er, daß
man ihm seinen Mantel anzog und ihm seinen Hut auf die Augen drückte.
Dann fühlte er sich auf dem Flur, in der Dunkelheit und Kälte, und dann
auf der Treppe. Zuletzt stolperte er, und es kam ihm vor, als fiele er
in einen Abgrund; er wollte aufschreien ... plötzlich befand er sich auf
dem Hofe. Die frische Luft schlug ihm entgegen, und er blieb einen
Augenblick stehen; gerade in diesem Augenblick schlugen die Klänge des
von neuem einsetzenden Orchesters an sein Ohr. Auf einmal erinnerte Herr
Goljadkin sich an alles; es schien, als ob alle seine gesunkenen Kräfte
ihm wieder zurückkehrten. Er riß sich von der Stelle los, an der er bis
dahin wie angenagelt gestanden hatte, und stürzte Hals über Kopf hinaus,
irgendwohin, in die Luft, ins Freie, wohin ihn die Beine trugen.



                              5. Kapitel


Auf allen Petersburger Türmen, auf denen Uhren die Stunden zeigten und
schlugen, schlug es gerade Mitternacht, als Herr Goljadkin ganz außer
sich dicht bei der Ismailowski-Brücke auf die Uferstraße an der Fontanka
hinausgelaufen kam, nachdem er sich vor seinen Feinden gerettet hatte,
und vor den Verfolgungen, und vor dem Hagel von Püffen, der auf ihn
niedergeprasselt war, und vor dem Geschrei der aufgeregten alten Damen,
und vor den Ach's und Oh's der übrigen Weiblichkeit, und vor Andrei
Filippowitschs vernichtenden Blicken. In Herrn Goljadkin war gar kein
Leben mehr, im vollen Sinne des Wortes kein Leben mehr, und wenn ihm in
diesem Augenblicke noch die Fähigkeit zu laufen verblieben war, so war
das nur durch ein Wunder geschehen, durch ein Wunder, an das er selbst
nicht glauben wollte. Es war eine schreckliche Nacht, eine richtige
Novembernacht, feucht, neblig, mit Regen und Schnee, eine Nacht, in der
man auf das leichteste zu Rheumatismus, Schnupfen, Bräune und allen
möglichen Arten und Gattungen von Fiebern gelangen konnte, kurz eine
Nacht, die alle Annehmlichkeiten des Petersburger Novembers in sich
vereinigte. Der Wind heulte in den öden Straßen, staute das schwarze
Wasser der Fontanka auf und rüttelte ingrimmig an den schlanken Laternen
der Uferstraße, die ihrerseits sein Geheul mit einem hellen,
durchdringenden Getön beantworteten, was ein jedem Einwohner von
Petersburg wohlbekanntes schrilles, klirrendes Konzert ergab. Es regnete
und schneite gleichzeitig. Vom Winde getrieben fuhren die Regenstrahlen
beinah in horizontaler Richtung einher wie aus einer Feuerspritze und
stachen dem unglücklichen Herrn Goljadkin ins Gesicht wie tausend
Nadeln. Inmitten der nächtlichen Stille, die nur durch das ferne
Wagenrollen, das Geheul des Windes und das Klirren der Laternen
unterbrochen wurde, ließ sich trübselig das Plätschern und Rauschen des
Wassers vernehmen, das von allen Dächern und Gesimsen und aus allen
Dachrinnen auf das granitne Trottoir strömte. Weit und breit war keine
Menschenseele zu erblicken; ja, dies schien zu solcher Zeit und bei
solchem Wetter von vornherein unmöglich zu sein. So trabte denn Herr
Goljadkin jetzt allein mit seiner Verzweiflung auf dem Trottoir an der
Fontanka in seiner gewöhnlichen trippelnden, eiligen Gangart dahin, mit
dem Wunsche, möglichst schnell nach seiner Schestilawotschnaja-Straße,
nach seiner vierten Etage und nach seiner Wohnung zu gelangen.

Obwohl der Schnee, der Regen und alle sonstigen unnennbaren
Unannehmlichkeiten einer feuchten, stürmischen Petersburger
Novembernacht zugleich auf den ohnehin schon durch das Unglück tief
gebeugten Herrn Goljadkin eindrangen und ihm nicht die geringste
Erholungspause vergönnten, ihn bis auf die Knochen durchpusteten, ihm
die Augen verklebten, ihn von allen Seiten umwehten, ihn beinah umwarfen
und ihm die letzte Besinnung raubten, obwohl all dies zusammen auf Herrn
Goljadkin einstürmte, als ob es sich mit all seinen Feinden verschworen
hätte, ihm den Garaus zu machen: so blieb trotz alledem Herr Goljadkin
doch gegen diesen letzten Feindschaftsbeweis des Schicksals fast
unempfindlich; so stark hatte alles, was ihm einige Minuten vorher bei
dem Herrn Staatsrat Berendejew begegnet war, ihn ergriffen und
erschüttert! Wenn jetzt ein fremder, unbeteiligter Zuschauer im stillen
von der Seite her Herrn Goljadkins gramvolle Flucht beobachtet hätte, so
hätte auch der einen furchtbaren Schreck über die Nöte des Armen
bekommen und sicherlich gesagt, Herr Goljadkin sehe jetzt so aus, als
wolle er sich vor sich selbst irgendwohin verstecken, als wolle er vor
sich selbst irgendwohin fliehen! Ja, es war wirklich so. Wir können noch
mehr sagen: Herr Goljadkin wünschte nicht nur vor sich selbst zu
fliehen, sondern sogar gänzlich vernichtet zu werden, nicht zu
existieren, in Staub und Asche verwandelt zu werden. Im gegenwärtigen
Augenblicke nahm er nichts von dem, was ihn umgab, wahr; er verstand
nichts, was um ihn herum geschah, und sah so aus, als ob tatsächlich für
ihn weder die Unannehmlichkeiten der greulichen Nacht, noch der weite
Weg, noch der Regen, noch der Schnee, noch der Wind, noch das ganze
gräßliche Wetter existierten. An Herrn Goljadkins rechtem Bein war der
Gummischuh vom Stiefel abgegangen und auf dem Trottoir an der Fontanka
im Schmutze und im Schnee stecken geblieben; aber es kam Herrn Goljadkin
gar nicht in den Sinn, seinetwegen umzukehren; er hatte den Verlust
überhaupt nicht bemerkt. Er war so verstört, daß er trotz allem, was ihn
umgab, ganz erfüllt von dem Gedanken an die schreckliche Katastrophe,
von der er soeben betroffen war, mehrere Male plötzlich regungslos wie
ein Pfahl mitten auf dem Trottoir stehen blieb; in solchen Augenblicken
war er dem Tode, dem Verscheiden nahe; dann riß er sich auf einmal wie
ein Wahnsinniger von dem Platze los und lief ohne sich umzusehen davon,
wie wenn er sich vor irgendwelchen Verfolgern, vor irgendwelchem noch
furchtbareren Unglück retten wollte ... Wirklich, seine Lage war
schrecklich! ... Endlich, als seine Kräfte völlig erschöpft waren, blieb
Herr Goljadkin stehen, stützte sich auf das Geländer am Ufer in der
Haltung jemandes, der plötzlich ganz unerwartet von Nasenbluten befallen
ist, und begann starr in das trübe, schwarze Wasser der Fontanka
hinabzublicken. Es ist unbekannt, wieviel Zeit er mit dieser
Beschäftigung verbrachte. Bekannt ist nur, daß Herr Goljadkin in diesem
Augenblicke so verzweifelt, so abgequält, abgemartert und abgemattet war
und dermaßen die an sich schon schwachen Überreste von Lebensmut
verloren hatte, daß er alles vergaß: die Ismailowski-Brücke und die
Schestilawotschnaja-Straße und seine jetzige Lage ... In der Tat, was
konnte ihm noch weiter begegnen? Es war ihm ja jetzt alles gleich: die
Sache war geschehen, sein Entschluß unerschütterlich gefaßt; was konnte
ihm noch widerfahren? ... Plötzlich ... plötzlich zuckte er mit dem
ganzen Körper zusammen und sprang unwillkürlich ein paar Schritte zur
Seite. Mit einer unerklärlichen Unruhe begann er um sich zu blicken;
aber es war niemand da, es hatte sich nichts Besonderes ereignet, und
doch ... und doch war es ihm so gewesen, als hätte jemand soeben, in
diesem Augenblicke bei ihm gestanden, dicht neben ihm, ebenfalls auf das
Ufergeländer gelehnt, und hätte (wunderbar!) sogar etwas zu ihm gesagt,
schnell, abgebrochen und nicht ganz verständlich, aber über einen ihn
angehenden, ihn sehr nahe angehenden Gegenstand. »Ach was, es wird mir
nur so vorgekommen sein, nicht wahr?« sagte Herr Goljadkin, indem er
sich noch einmal rings umschaute. »Aber wo stehe ich denn hier? ... Ach
ja, ach ja!« schloß er, den Kopf hin und her wiegend, begann aber mit
einem unruhigen, traurigen Gefühle, ja mit Angst in die trübe, feuchte
Ferne zu blicken, wobei er seine Augen aufs äußerste anstrengte und sich
unter Aufbietung aller Kraft bemühte, mit seinem kurzsichtigen Blicke
den nassen Dunst, der sich vor ihm ausbreitete, zu durchdringen.
Indessen fiel Herrn Goljadkin nichts Neues und nichts Besonderes in die
Augen. Alles schien in gehöriger Ordnung zu sein, d. h. der Schnee fiel
noch stärker, noch dichter und in noch größeren Flocken; in einer
Entfernung von zwanzig Schritten war nicht das geringste zu sehen; die
Laternen klirrten noch schärfer als vorher, und der Wind schien sein
trauriges Lied in noch weinerlicherem, kläglicherem Tone zu singen, wie
ein zudringlicher Bettler, der um ein Kupferstückchen bittet, um sich zu
ernähren. »Ach ja, ach ja! Aber was ist denn mit mir?« wiederholte Herr
Goljadkin noch einmal, machte sich von neuem auf den Weg und warf
fortwährend flüchtige Blicke rings um sich. Aber unterdessen machte sich
in Herrn Goljadkins ganzem Wesen eine neue Empfindung geltend, ein
Mittelding zwischen Kummer und Angst ... Ein fieberhaftes Zittern lief
durch seine Glieder. Es war ein unerträglich peinvoller Augenblick!
»Nun, es ist ja nichts Schlimmes,« sagte er, um sich Mut zu machen;
»nun, es ist ja nichts Schlimmes; vielleicht ist die Sache überhaupt
nicht schlimm, und niemandes Ehre ist befleckt. Vielleicht mußte es so
kommen,« fuhr er fort, ohne selbst zu verstehen, was er sagte;
»vielleicht wird das alles sich seinerzeit gut gestalten, und es werden
gegen niemand Vorwürfe erhoben werden, und alle werden gerechtfertigt
dastehen.« Während er so sprach und sich mit Worten das Herz leichter
machte, rüttelte Herr Goljadkin sich ein wenig und schüttelte sich die
Schneeflocken ab, die ihm in dichter Schicht den Hut, den Kragen, den
Mantel, das Halstuch, die Stiefel und alles bedeckten; aber das
sonderbare Gefühl, seine seltsame, unklare Schwermut konnte er immer
noch nicht loswerden, nicht von sich abschütteln. Irgendwo in der Ferne
ertönte ein Kanonenschuß. »Das ist mal ein Wetter!« dachte unser Held.
»Horch! Es wird doch keine Überschwemmung geben? Offenbar ist das Wasser
sehr stark gestiegen.« Kaum hatte Herr Goljadkin dies gesagt oder
gedacht, als er vor sich einen Passanten ihm entgegenkommen sah, der
sich wahrscheinlich, ebenso wie er selbst, aus irgendwelchem Anlaß
verspätet hatte. Die Sache hätte als etwas ganz Unbedeutendes,
Zufälliges erscheinen können; aber aus einem nicht verständlichen Grunde
regte sich Herr Goljadkin darüber auf und wurde sogar etwas ängstlich
und verwirrt. Nicht eigentlich, daß er sich vor einem schlechten
Menschen gefürchtet hätte, sondern vielleicht nur so, ohne rechten Grund
... »Aber wer kennt ihn schließlich, diesen verspäteten Wanderer,«
dachte Herr Goljadkin flüchtig; »vielleicht hat er es auch gerade auf
mich abgesehen, und ich bin hier die Hauptsache, und er geht nicht
zwecklos, sondern hat seine bestimmte Absicht und kreuzt geflissentlich
meinen Weg und wird mit mir anbinden.« Vielleicht dachte übrigens Herr
Goljadkin das eigentlich nicht, sondern hatte nur für einen Augenblick
eine ähnliche, sehr unangenehme Empfindung. Übrigens hatte er zu
Gedanken und Empfindungen keine Zeit mehr; der Fußgänger war schon nur
noch zwei Schritte von ihm entfernt. Herr Goljadkin beeilte sich sofort
nach seiner steten Gewohnheit eine ganz besondere Miene anzunehmen, eine
Miene, die deutlich zum Ausdruck brachte, daß er, Goljadkin, still für
sich dahingehe und sich um nichts kümmere, und daß der Weg für alle
breit genug sei, und daß er selbst, Goljadkin, niemandem etwas zuleide
tue. Plötzlich blieb er wie angenagelt, wie vom Blitz gerührt stehen,
drehte sich dann schnell um und blickte dem Passanten nach, der soeben
an ihm vorbeigegangen war, und zwar drehte er sich mit einer solchen
Miene um, als wenn ihn eine fremde Kraft rückwärts zöge, als wenn ihn
der Wind wie eine Wetterfahne umdrehte. Der Fußgänger war schnell in dem
Schneegestöber verschwunden. Auch er ging eilig, auch er war wie Herr
Goljadkin gekleidet und vom Kopf bis zu den Füßen eingehüllt und
trippelte ebenso wie dieser mit schnellen, kleinen Schritten in einer
Art von Trab auf dem Trottoir an der Fontanka dahin. »Was ist das?«
flüsterte Herr Goljadkin, mißtrauisch lächelnd, aber am ganzen Leibe
zitternd. Ein kalter Schauder lief ihm den Rücken entlang. Unterdessen
war der Passant gänzlich verschwunden, auch seine Schritte waren nicht
mehr zu hören; aber Herr Goljadkin stand immer noch da und sah ihm nach.
Endlich indes kam er allmählich wieder zur Besinnung. »Aber was soll
denn das heißen?« dachte er ärgerlich; »bin ich denn wirklich verrückt
geworden?« Er wandte sich um und setzte seinen Weg fort, wobei er seine
Schritte mehr und mehr beschleunigte und sich bemühte, überhaupt an
nichts mehr zu denken. Zuletzt schloß er sogar in dieser Absicht die
Augen. Auf einmal schlug mitten in dem Geheul des Windes und dem
Geräusch des Unwetters wieder der Schall sehr naher Schritte an sein
Ohr. Er fuhr zusammen und machte die Augen auf. Vor ihm war in einer
Entfernung von ungefähr zwanzig Schritten wieder die dunkle Gestalt
eines Menschen sichtbar, der sich ihm schnell näherte. Dieser Mensch
eilte und hastete; die Entfernung verminderte sich rasch. Herr Goljadkin
konnte seinen neuen verspäteten Gefährten sogar schon ganz deutlich
sehen; er blickte hin und schrie vor Erstaunen und Schreck auf; die
Beine brachen unter ihm zusammen. Es war jener selbe ihm bekannte
Fußgänger, den er etwa zehn Minuten vorher an sich hatte vorbeigehen
sehen, und der plötzlich ganz unerwartet jetzt wieder vor ihm erschien.
Indes war dieses Wunder nicht der einzige Grund, weswegen Herr Goljadkin
erstaunt war; erstaunt aber war Herr Goljadkin in so hohem Grade, daß er
stehen blieb, aufschrie und etwas sagten wollte. Er machte sich daran,
dem Unbekannten nachzulaufen; er rief ihm sogar etwas zu, wahrscheinlich
in dem Wunsche, ihn schneller zum Stehenbleiben zu veranlassen. Der
Unbekannte blieb wirklich ungefähr zehn Schritte von Herrn Goljadkin
entfernt stehen, und zwar so, daß das Licht einer nahestehenden Laterne
vollständig auf seine ganze Gestalt fiel; er blieb stehen, wandte sich
zu Herrn Goljadkin um und wartete mit ungeduldiger, ernster Miene
darauf, was dieser ihm sagen werde. »Entschuldigen Sie; ich habe mich
wohl geirrt,« sagte unser Held mit zitternder Stimme. Der Unbekannte
drehte sich schweigend und ärgerlich wieder um und setzte schnell seinen
Weg fort, wie wenn er sich beeilen wollte, die mit Herrn Goljadkin
verlorenen zwei Sekunden wieder einzubringen. Was Herrn Goljadkin
betrifft, so zitterten ihm alle Glieder, die Knie wurden ihm schwach und
knickten ein, und er setzte sich stöhnend auf einen neben dem Trottoir
stehenden Prellstein. Übrigens hatte er wirklich allen Grund, in solche
Bestürzung zu geraten. Die Sache war die, daß dieser Unbekannte ihm
jetzt gewissermaßen bekannt vorkam. Und das wäre alles noch nichts
gewesen. Aber er erkannte diesen Menschen, erkannte ihn jetzt fast mit
Sicherheit. Er hatte ihn häufig gesehen, diesen Menschen, hatte ihn
irgendwann gesehen, sogar erst ganz vor kurzem; wo war das doch gewesen?
Etwa gestern? Übrigens war auch das wieder nicht die Hauptsache, daß
Herr Goljadkin ihn häufig gesehen hatte: es war auch an diesem Menschen
fast nichts Besonderes; er konnte entschieden beim ersten Blicke
niemandes besondere Aufmerksamkeit erregen. Er war eben ein Mensch wie
alle andern, selbstverständlich ein ordentlicher Mensch wie alle
ordentlichen Menschen und besaß vielleicht irgendwelche, sogar recht
erheblichen guten Eigenschaften; kurz, er war ein gewöhnlicher Mensch.
Herr Goljadkin hegte sogar keinen Haß, keine Feindschaft, ja nicht
einmal den leisesten Widerwillen gegen diesen Menschen, es hätte sogar
scheinen können, daß das Gegenteil der Fall sei; und doch (und in diesem
Umstande lag das Hauptgewicht), und doch hätte er für keine Schätze der
Welt gewünscht, ihm zu begegnen und besonders ihm so zu begegnen wie z.
B. jetzt. Wir können noch mehr sagen: Herr Goljadkin kannte diesen
Menschen genau: er wußte sogar, wie er mit dem Vatersnamen und dem
Familiennamen hieß: aber doch hätte er um keinen Preis und, um den
Ausdruck zu wiederholen, für keine Schätze der Welt ihn nennen oder
zugeben mögen, daß der Mensch da so heiße, diesen Vatersnamen und diesen
Familiennamen führe. Wie lange Herrn Goljadkins verständnisloses Brüten
dauerte, ob er lange auf dem Prellstein saß, das kann ich nicht sagen;
aber als er endlich ein wenig zur Besinnung gekommen war, begann er auf
einmal aus Leibeskräften zu laufen, ohne sich umzublicken; der Atem ging
ihm aus; er stolperte zweimal und wäre beinah hingefallen, und bei
dieser Gelegenheit verwaiste auch Herrn Goljadkins zweiter Stiefel,
indem er ebenfalls seinen Gummischuh verlor. Endlich mäßigte Herr
Goljadkin seinen Schritt ein wenig, um wieder zu Atem zu kommen, blickte
eilig um sich und sah, daß er bereits, ohne es zu merken, seinen ganzen
Weg an der Fontanka entlang zurückgelegt, die Anitschkow-Brücke
überschritten, einen Teil des Newski-Prospektes entlang gegangen war und
jetzt an der Kreuzung mit der Liteinaja-Straße stand. Herr Goljadkin bog
in die Liteinaja-Straße ein. Seine Lage glich in diesem Augenblicke der
Lage eines Menschen, der am Rande eines furchtbaren Abgrundes steht,
wenn die Erde unter seinen Füßen sich loslöst, sich schon geneigt, sich
schon in Bewegung gesetzt hat, zum letzten Male schwankt, fällt und ihn
in den Abgrund hinabreißt, während der Unglückliche nicht genug geistige
Kraft und Energie besitzt, um zurückzuspringen und seine Augen von dem
gähnenden Schlunde abzuwenden; der Abgrund zieht ihn an, und er springt
schließlich selbst in ihn hinein und beschleunigt selbst den Augenblick
seines eigenen Unterganges. Herr Goljadkin wußte, fühlte und war völlig
überzeugt, daß ihm unbedingt unterwegs noch etwas Übles zustoßen, daß
ihm noch irgendwelche Unannehmlichkeit widerfahren, daß er z. B. seinem
Unbekannten wieder begegnen werde; aber seltsam: er wünschte diese
Begegnung sogar, hielt sie für unvermeidlich und wünschte nur, daß alles
möglichst schnell zu Ende gehen, seine Lage sich irgendwie entscheiden
möchte, aber nur recht bald. Dabei aber lief und lief er immer, und zwar
wie von einer fremden Kraft getrieben; denn in seinem ganzen Wesen
fühlte er eine Art von Taubheit und Schwäche; er konnte nichts
überlegen, obgleich seine Gedanken sich wie ein Dorngesträuch an alles
anhakten. Ein verlaufenes Hündchen, ganz naß und zitternd, schloß sich
an Herrn Goljadkin an und lief eilig neben ihm her; es hatte den Schwanz
und die Ohren angedrückt und blickte von Zeit zu Zeit schüchtern und mit
leicht verständlichem Ausdruck zu ihm hin. Ein ferner, längst schon
vergessener Gedanke, die Erinnerung an ein weit zurückliegendes
Ereignis, kam ihm jetzt in den Kopf, klopfte wie ein Hammer darin umher,
ärgerte ihn und wollte nicht wieder weichen. »Ach, der widerwärtige
kleine Hund!« flüsterte Herr Goljadkin vor sich hin, ohne sich selbst zu
begreifen. Endlich erblickte er seinen Unbekannten an der Ecke der
Italjanskaja-Straße. Aber jetzt kam der Unbekannte ihm nicht mehr
entgegen, sondern er bewegte sich in derselben Richtung wie er und lief
ebenfalls, einige Schritte vor ihm. Endlich kamen sie in die
Schestilawotschnaja-Straße. Herr Goljadkin war ganz außer Atem. Der
Unbekannte blieb gerade vor dem Hause stehen, in welchem Herr Goljadkin
wohnte. Die Klingel ertönte und fast gleichzeitig das Kreischen des
eisernen Riegels. Das Pförtchen öffnete sich; der Unbekannte bückte
sich, schlüpfte hinein und war verschwunden. Fast in demselben
Augenblicke kam auch Herr Goljadkin eilig herbei und flog wie ein Pfeil
durch das Tor. Ohne auf den brummenden Hausknecht zu hören, lief er
atemlos auf den Hof und erblickte sogleich seinen interessanten
Gefährten wieder, den er einen Augenblick aus den Augen verloren gehabt
hatte. Der Unbekannte wurde ihm an dem Eingange zu derjenigen Treppe
flüchtig sichtbar, die zu Herrn Goljadkins Wohnung führte. Herr
Goljadkin stürzte ihm nach. Die Treppe war dunkel, feucht und schmutzig.
Auf allen Absätzen war eine Menge verschiedenartigen Gerümpels
aufgehäuft, das den Mietern gehörte, so daß ein ortsunkundiger Fremder,
der im Dunkeln auf diese Treppe geriet, wohl eine halbe Stunde
gebrauchte, um sich hinaufzuarbeiten, Gefahr lief, sich die Beine zu
brechen, und zugleich mit der Treppe auch seine Bekannten verwünschte,
die in einem so gräßlichen Hause Wohnung genommen hatten. Aber Herrn
Goljadkins Gefährte schien gut bekannt und ein Hausangehöriger zu sein;
er lief, ohne Schwierigkeiten zu finden, behende und mit völliger
Ortskenntnis hinauf. Herr Goljadkin hatte ihn beinah ganz eingeholt;
zwei- oder dreimal schlug ihm sogar der Saum des Mantels des Unbekannten
an die Nase. Sein Herzschlag drohte auszusetzen. Der geheimnisvolle
Mensch blieb gerade vor der Tür zu Herrn Goljadkins Wohnung stehen,
klopfte, und (was übrigens zu anderer Zeit Herrn Goljadkin in Erstaunen
versetzt hätte) Petruschka öffnete, wie wenn er gewartet und sich nicht
schlafen gelegt hätte, sogleich die Tür und empfing den Eintretenden mit
einer Kerze in der Hand. Ganz außer sich lief der Held unserer Erzählung
in seine Wohnung hinein; ohne Mantel und Hut abzulegen, durchschritt er
den Flur und blieb wie vom Donner gerührt auf der Schwelle seines
Zimmers stehen. Herrn Goljadkins Ahnungen waren sämtlich in Erfüllung
gegangen. Alles, was er befürchtet und vorher vermutet hatte, war jetzt
zur vollen Wirklichkeit geworden. Der Atem stockte ihm, der Kopf
schwindelte ihm. Der Unbekannte saß vor ihm, ebenfalls in Mantel und
Hut, auf seinem eigenen Bette, lächelte leise, kniff die Augen ein wenig
zusammen und nickte ihm freundschaftlich zu. Herr Goljadkin wollte
aufschreien, aber er konnte es nicht; er wollte irgendwie Einspruch
erheben, aber seine Kraft reichte dazu nicht aus. Die Haare auf seinem
Kopfe sträubten sich, und er knickte, vor Schreck besinnungslos, da wo
er stand, zusammen. Und er hatte auch allen Grund entsetzt zu sein. Herr
Goljadkin hatte seinen nächtlichen Freund vollständig erkannt. Sein
nächtlicher Freund war kein anderer als er selbst, Herr Goljadkin
selbst, ein anderer Herr Goljadkin, aber vollständig derselbe wie er
selbst, mit einem Worte, was man nennt, sein Doppelgänger in jeder
Beziehung -- --



                              6. Kapitel


Am andern Tage, genau um acht Uhr, erwachte Herr Goljadkin auf seinem
Bette. All die außerordentlichen Erlebnisse des gestrigen Tages und die
ganze unglaubliche, seltsame Nacht mit ihren fast unmöglichen Abenteuern
stellten sich sofort mit einem Male seiner Denkkraft und seinem
Gedächtnisse dar. Eine derartige grimmige, höllische Bosheit seiner
Feinde und namentlich der letzte Beweis dieser Bosheit ließen Herrn
Goljadkins Herz zu Eis erstarren. Aber zugleich war dies alles so
seltsam, unbegreiflich, absonderlich, es erschien so unmöglich, daß es
tatsächlich schwer war, an diese ganze Sache zu glauben; Herr Goljadkin
neigte sogar selbst dazu, dies alles für einen wesenlosen Fiebertraum,
für eine augenblickliche Verwirrung der Einbildungskraft, für eine
Verdunkelung des Verstandes zu halten; aber glücklicherweise wußte er
aus eigener bitterer Erfahrung, wieweit manchmal die Bosheit einen
Menschen zu bringen vermag, und wieweit manchmal die Grausamkeit eines
Feindes gehen kann, der sich für eine Kränkung seiner Ehre oder seines
Ehrgeizes rächen möchte. Dazu kam, daß Herrn Goljadkins wie zerschlagene
Glieder, sein benommener Kopf, sein steifes Kreuz und sein bösartiger
Schnupfen bestätigendes Zeugnis dafür ablegten, daß es mit der gestrigen
nächtlichen Wanderung und dem, was sich bei dieser Wanderung zugetragen
hatte, seine Richtigkeit habe. Und schließlich hatte Herr Goljadkin auch
schon längst gewußt, daß seine Feinde etwas gegen ihn planten, und daß
da noch ein anderer mit ihnen unter einer Decke steckte. Aber was, was
hatten sie vor? Nach gründlicher Überlegung entschied sich Herr
Goljadkin dafür, zu schweigen, sich zu fügen und vorläufig nicht dagegen
zu protestieren. »Vielleicht beabsichtigen sie nur, mich zu erschrecken,
und wenn sie sehen, daß ich nicht darauf reagiere, nicht protestiere,
sondern mich ganz ruhig verhalte und alles ruhig ertrage, so werden sie
auch aufhören, von selbst aufhören und sogar die ersten sein, die
aufhören.«

Solche Gedanken gingen Herrn Goljadkin durch den Kopf, als er, sich in
seinem Bette ausstreckend und die gelähmten Glieder wieder
zurechtbringend, darauf wartete, daß Petruschka wie gewöhnlich ins
Zimmer käme. Er wartete schon eine Viertelstunde lang; er hörte, wie der
faule Petruschka hinter der Scheidewand mit dem Samowar herumhantierte,
konnte sich aber nicht dazu entschließen, ihn zu rufen. Wir können noch
mehr sagen: Herr Goljadkin fürchtete sich jetzt sogar ein wenig davor,
seinem Petruschka Auge in Auge gegenüberzutreten. »Gott weiß,« dachte
er, »Gott weiß, wie dieser Schlingel jetzt die ganze Sache ansieht. Er
schweigt und schweigt, macht sich aber gewiß seine eigenen Gedanken
darüber.« Endlich knarrte die Tür, und Petruschka erschien mit einem
Präsentierbrett in den Händen. Herr Goljadkin schielte schüchtern nach
ihm hin und wartete ungeduldig darauf, was nun kommen werde, und ob er
endlich etwas über den bewußten Vorgang sagen werde. Aber Petruschka
sagte nichts, sondern war im Gegenteil noch schweigsamer, mürrischer und
ärgerlicher als gewöhnlich und schielte finster um sich her; überhaupt
war zu merken, daß er mit irgend etwas äußerst unzufrieden war; er
blickte seinen Herrn sogar nicht ein einziges Mal an (was, beiläufig
gesagt, bei Herrn Goljadkin eine peinliche Empfindung hervorrief),
setzte alles, was er trug, auf den Tisch, drehte sich um und ging
schweigend wieder zurück hinter seine Scheidewand. »Er weiß es, er weiß
es, er weiß alles, der Taugenichts!« murmelte Herr Goljadkin, während er
sich anschickte, seinen Tee zu trinken. Aber unser Held richtete an
seinen Diener keinerlei Fragen, obgleich Petruschka nachher noch mehrere
Male zur Erledigung von allerlei Obliegenheiten ins Zimmer kam. Herr
Goljadkin befand sich in sehr aufgeregter Gemütsverfassung. Er ängstigte
sich auch davor, in die Kanzlei zu gehen. Er hatte ein starkes
Vorgefühl, als werde ihm dort etwas Unangenehmes begegnen. »Wenn man da
hinkommt,« dachte er, »kann einem leicht etwas passieren! Ist es nicht
besser, noch ein Weilchen hierzubleiben und zu warten? Mögen sie sich
dort ohne mich behelfen; ich will heute hierbleiben, neue Kraft sammeln,
mich erholen, über diese ganze Geschichte ordentlich nachdenken und dann
den richtigen Augenblick abpassen und sie alle durch mein Erscheinen
überraschen.« Während Herr Goljadkin diese Überlegungen anstellte,
rauchte er eine Pfeife nach der andern; die Zeit verging; es war beinah
halb zehn. »Sieh mal an, es ist ja schon halb zehn,« dachte Herr
Goljadkin; »nun ist es sowieso zu spät zum Hingehen. Und überdies bin
ich krank; selbstverständlich bin ich krank, unbedingt krank; wer will
sagen, daß ich nicht krank wäre? Was kann mir passieren? Und wenn sie
auch herschicken, um es feststellen zu lassen, und wenn auch der
Inspektor kommt: was kann mir denn in der Tat passieren? Ich habe ja
Rückenschmerzen und Husten und Schnupfen; und schließlich darf ich bei
diesem Wetter schlechterdings nicht ausgehen, unter keinen Umständen;
ich könnte ernstlich krank werden und am Ende gar sterben; die
Sterblichkeit ist zurzeit überhaupt eine besonders große ...« Durch
solche Erwägungen beruhigte Herr Goljadkin endlich sein Gewissen
vollkommen und rechtfertigte sich im voraus vor sich selbst gegen den
Verweis, den er von Andrei Filippowitsch wegen Nachlässigkeit im Dienste
zu erwarten hatte. Überhaupt liebte in allen ähnlichen Lagen unser Held
es sehr, sich durch allerlei unwiderlegliche Argumente in seinen eigenen
Augen zu rechtfertigen und auf diese Art sein Gewissen zu beruhigen.
Nachdem er dies also auch jetzt getan hatte, griff er von neuem nach der
Pfeife, stopfte sie und fing gerade an ordentlich zu rauchen -- da
sprang er schnell vom Sofa auf, warf die Pfeife hin, wusch, rasierte und
kämmte sich schnell, zog die Uniform und alles übrige an, ergriff einige
Akten und eilte nach der Kanzlei.

Herr Goljadkin betrat sein Dienstlokal in der unruhigen Erwartung von
irgend etwas sehr Üblem, in einer Erwartung, die zwar unbewußt und
unklar, dabei aber doch recht unangenehm war; bescheiden setzte er sich
auf seinen festen Platz neben dem Tischvorsteher Anton Antonowitsch
Sjetotschkin. Ohne jemand anzusehen oder mit jemand ein paar freundliche
Worte zu wechseln, vertiefte er sich in den Inhalt der vor ihm liegenden
Papiere. Er hatte sich entschlossen und fest vorgenommen, allem aus dem
Wege zu gehen, was ihn zu kompromittierenden Äußerungen herausfordern
konnte, also unbescheidenen Fragen, Späßen und unpassenden Anspielungen
auf die Ereignisse des gestrigen Abends; er hatte sich sogar
vorgenommen, den Austausch der gewöhnlichen Höflichkeiten mit den
Kollegen, d. h. Fragen nach dem Befinden und dergleichen, zu
unterlassen. Aber es war auch klar, daß er das auf die Dauer unmöglich
aushalten konnte. Die Unruhe und die Ungewißheit über ein ihm nahe
bevorstehendes Ungemach quälten ihn stets mehr als das Ungemach selbst.
Dies war der Grund, weswegen er trotz seines festen Vorsatzes, sich auf
nichts einzulassen und allem aus dem Wege zu gehen, doch manchmal
verstohlen und sachte den Kopf in die Höhe hob, heimlich zur Seite nach
rechts und links blickte, die Gesichter seiner Kollegen musterte und aus
ihnen zu entnehmen suchte, ob etwas Neues, Besonderes vorliege, das ihn
beträfe und ihm in irgendwelcher bösen Absicht verheimlicht würde. Er
nahm mit Sicherheit an, daß alles, was er gestern erlebt hatte, mit
allem, was ihn jetzt umgab, in Verbindung stehe. Er begann endlich in
seiner Aufregung zu wünschen, es möchte sich doch alles irgendwie
entscheiden, nur recht bald; wenn es auch auf ein Unglück hinausliefe,
immerhin! Wie gut verstand das Schicksal Herrn Goljadkins Wunsch: kaum
war dieser in ihm rege geworden, als seine Zweifel auf einmal gelöst
wurden, aber freilich auf eine sehr seltsame und unerwartete Weise.

Die Tür nach dem Nachbarzimmer knarrte auf einmal leise und bescheiden,
wie wenn sie dadurch zum Ausdruck bringen wollte, daß die eintretende
Person von sehr geringer Bedeutung sei, und eine Gestalt, die Herrn
Goljadkin sehr bekannt vorkam, erschien schüchtern gerade vor dem
Tische, an welchem unser Held Platz genommen hatte. Unser Held hob den
Kopf nicht in die Höhe; nein, er sah diese Gestalt nur ganz flüchtig von
unten her an; aber schon hatte er alles bis auf die kleinsten
Einzelheiten erkannt und begriffen. Er erglühte vor Scham und beugte
ganz in derselben Absicht seinen armen Kopf in das Aktenstück, mit
welcher der von dem Jäger verfolgte Strauß seinen Kopf in den heißen
Sand steckt. Der Neuangekommene verbeugte sich vor Andrei Filippowitsch,
und darauf ließ sich dessen Stimme in förmlich-freundlichem Tone
vernehmen, in demjenigen Tone, in dem an allen Dienststellen die
Vorgesetzten zu neu eingetretenen Untergebenen reden. »Setzen Sie sich
hierher,« sagte Andrei Filippowitsch und wies den Neuling nach Anton
Antonowitschs Tisch hin; »hierher, Herrn Goljadkin gegenüber; mit Arbeit
werden wir Sie sofort versehen.« Zum Schluß machte Andrei Filippowitsch
dem Neuangekommenen eine höflich ermahnende Handbewegung und vertiefte
sich dann schleunigst in den Inhalt einiger Aktenstücke, deren ein
ganzer Haufe vor ihm lag.

Herr Goljadkin hob endlich doch die Augen auf, und wenn er nicht in
Ohnmacht fiel, so geschah dies nur deshalb nicht, weil er alles schon
vorher geahnt, alles schon von vornherein gewußt und in seinem Herzen
schon erraten hatte, wer der Ankömmling war. Herrn Goljadkins erste
Bewegung war, schnell um sich zu blicken, ob nicht ein Geflüster
entstanden sei, ob nicht Witzeleien von der in Bureaus üblichen Art
gemacht würden, ob nicht jemand vor Erstaunen das Gesicht verziehe oder
gar vor Schreck unter den Tisch gefallen sei. Aber zu seiner größten
Verwunderung war an niemandem etwas Derartiges zu bemerken. Das
Verhalten seiner Herren Kollegen überraschte ihn. Es schien ihm ganz
ohne Sinn und Verstand zu sein. Herr Goljadkin erschrak sogar über
dieses auffällige Stillschweigen. Die Wirklichkeit sprach für sich
selbst; die Sache war seltsam, absonderlich, ungeheuerlich. Es war aller
Grund zur Aufregung vorhanden. All diese Gedanken gingen Herrn Goljadkin
selbstverständlich nur ganz flüchtig durch den Kopf. Er selbst hatte die
Empfindung, als ob er auf gelindem Feuer geröstet würde. Und das war
sehr erklärlich. Derjenige, der Herrn Goljadkin jetzt gegenübersaß, war
der, welcher Herrn Goljadkin gestern so erschreckt, geängstigt,
gepeinigt hatte, mit einem Worte, es war Herr Goljadkin selbst, nicht
jener Herr Goljadkin, der jetzt mit offenem Munde, die trocken gewordene
Feder in der Hand, auf dem Stuhle saß, nicht jener, der als Gehilfe
seines Tischvorstehers fungierte, nicht jener, der gern in der Menge
untertauchte und verschwand, nicht jener endlich, dessen Gang deutlich
sagte: »Tut mir nichts zuleide, dann werde ich euch auch nichts zuleide
tun,« oder: »Tut mir nichts zuleide; ich tue euch ja auch nichts
zuleide,« nein, dies war ein anderer Herr Goljadkin, ein ganz anderer,
der aber gleichzeitig dem ersten völlig ähnlich war, von derselben
Größe, von demselben Wuchse, ebenso gekleidet, mit einer ebensolchen
Glatze; kurz, nichts, geradezu nichts war zur vollständigen Ähnlichkeit
vergessen, so daß, wenn man sie nebeneinander gestellt hätte, niemand,
entschieden niemand gewagt haben würde zu entscheiden, wer eigentlich
der wirkliche Goljadkin und wer der falsche sei, wer der alte und wer
der neue, wer das Original und wer die Kopie.

Unser Held befand sich, wenn dieser Vergleich möglich ist, jetzt in der
Lage eines Menschen, über den sich ein Schalk lustig macht, indem er zum
Spaß heimlich ein Brennglas auf ihn richtet. »Was ist das nun? Ist es
ein Traum oder nicht?« dachte er; »ist es Wirklichkeit oder eine
Fortsetzung des gestrigen Erlebnisses? Aber mit welchem Rechte geschieht
eigentlich dies alles? Wer hat die Anstellung eines solchen Beamten
gestattet? Wer hat dazu eine Berechtigung erteilt? Schlafe ich? Träume
ich?« Herr Goljadkin versuchte ins klare zu kommen, indem er sich selbst
kniff; er dachte sogar daran, dies mit irgendeinem andern vorzunehmen
... Nein, es war kein Traum; das stand fest. Herr Goljadkin fühlte, daß
der Schweiß stromweis an ihm herunterfloß, daß mit ihm etwas noch nie
Dagewesenes, bisher Unerhörtes vorging, und daß dieser Vorgang, um das
Unglück voll zu machen, eben wegen dieser Neuheit unschicklich war; denn
Herr Goljadkin begriff und fühlte, wie nachteilig es war, bei einem
Vorgange, der in dieser Weise den Spott herausforderte, das erste
Beispiel zu sein. Er begann endlich sogar an seiner eigenen Existenz zu
zweifeln, und obgleich er vorher auf alles vorbereitet gewesen war und
selbst gewünscht hatte, daß seine Zweifel auf irgendeine Weise gelöst
werden möchten, so war ihm das Eintreten dieses Ereignisses selbst
schließlich doch unerwartet gekommen. Der Kummer drückte ihn nieder und
quälte ihn. Zeitweilig war er der Denkkraft und des Gedächtnisses völlig
beraubt. Wenn er nach einem solchen Augenblicke wieder zur Besinnung
kam, so merkte er, daß er mit der Feder mechanisch und bewußtlos über
das Papier fuhr. Da er sich selbst nicht traute, so begann er alles
Geschriebene nachzuprüfen; aber er verstand nichts davon. Endlich stand
der andere Herr Goljadkin, der bisher still und friedlich dagesessen
hatte, auf und verschwand zum Zwecke irgendwelcher Besorgung hinter der
Tür, die in eine andere Abteilung führte. Herr Goljadkin blickte um
sich; aber es war nichts zu bemerken; alles war still; man hörte nur das
Kratzen der Federn, das Geräusch der umgeschlagenen Blätter und in den
von Andrei Filippowitschs Sitze weiter entfernten Winkeln leises
Gespräch. Herr Goljadkin blickte Anton Antonowitsch an, und da aller
Wahrscheinlichkeit nach das Gesicht unseres Helden seine jetzige
Stimmung widerspiegelte und mit dem ganzen Charakter des Vorgangs
harmonierte, folglich in gewisser Beziehung sehr merkwürdig war, so
legte der gutmütige Anton Antonowitsch die Feder hin und erkundigte sich
in besonders teilnahmsvoller Art nach Herrn Goljadkins Gesundheit.

»Gott sei Dank, Anton Antonowitsch, ich ...« erwiderte Herr Goljadkin
stotternd, »ich bin ganz gesund, Anton Antonowitsch; ich kann
augenblicklich nicht klagen, Anton Antonowitsch,« fügte er in unsicherem
Tone hinzu, da er diesem Anton Antonowitsch, dessen Namen er so häufig
angebracht hatte, noch immer nicht ganz traute.

»So so! Und ich hatte schon geglaubt, Sie wären nicht wohl. Übrigens
wäre das ja auch kein Wunder, im Gegenteil! Es herrschen jetzt allerlei
ansteckende Krankheiten, wissen Sie ...!«

»Ja, ich weiß, Anton Antonowitsch, daß solche Krankheiten herrschen ...
Aber, Anton Antonowitsch, das ist nicht der Grund, weswegen ich ...«
fuhr Herr Goljadkin, seinen Tischvorsteher unverwandt anblickend, fort.
»Sehen Sie, Anton Antonowitsch, ich weiß nicht einmal, wie ich Ihnen ...
d. h. ich will sagen, von welcher Seite ich diese Sache anfassen soll,
Anton Antonowitsch ...«

»Was meinen Sie? Ich habe Sie ... wissen Sie ... ich muß bekennen, ich
verstehe Sie noch nicht recht; bitte, erklären Sie deutlicher, was Sie
so in Verlegenheit setzt,« sagte Anton Antonowitsch, der selbst ein
wenig verlegen wurde, da er sah, daß Herrn Goljadkin sogar Tränen in die
Augen getreten waren.

»Ich weiß wirklich nicht, Anton Antonowitsch ... hier ... da ist ein
Beamter, Anton Antonowitsch ...«

»Na! Ich verstehe immer noch nicht.«

»Ich will sagen, Anton Antonowitsch, es ist hier ein neu eingetretener
Beamter.«

»Ja freilich; ein Namensvetter von Ihnen.«

»Wie?« rief Herr Goljadkin.

»Ich sage: ein Namensvetter von Ihnen; er heißt ebenfalls Goljadkin. Ist
er kein Verwandter von Ihnen?«

»Nein, Anton Antonowitsch, ich ...«

»Hm! Nun sagen Sie mal! Und ich hatte geglaubt, er wäre gewiß ein naher
Verwandter von Ihnen. Wissen Sie, es ist da so eine gewisse
Familienähnlichkeit.«

Herr Goljadkin war starr vor Erstaunen, und eine Weile versagte ihm die
Zunge den Dienst. Wie konnte der andre eine in ihrer Art so seltene,
eine so ungeheuerliche, unerhörte Sache so leichthin behandeln, eine
Sache, die sogar einen ganz unbeteiligten Zuschauer befremden mußte! Wie
konnte er von Familienähnlichkeit sprechen, wo ein reines Spiegelbild
vorlag!

»Wissen Sie, was ich Ihnen raten möchte, Jakow Petrowitsch?« fuhr Anton
Antonowitsch fort. »Sie sollten zu einem Arzte gehen und den befragen.
Wissen Sie, Sie sehen ganz krank aus. Besonders Ihre Augen ... wissen
Sie, Ihre Augen haben so einen besonderen Ausdruck.«

»Nicht doch, Anton Antonowitsch; ich fühle allerdings ... d. h. ich
wollte noch fragen, wie es mit diesem Beamten steht.«

»Wieso?«

»Das heißt, haben Sie an ihm nicht etwas Besonderes bemerkt, Anton
Antonowitsch ... etwas sehr Auffälliges?«

»Inwiefern?«

»Ich meine zum Beispiel eine überraschende Ähnlichkeit mit jemand, Anton
Antonowitsch, d. h. zum Beispiel mit mir. Sie sprachen soeben von einer
Familienähnlichkeit, Anton Antonowitsch, und machten darüber so eine
beiläufige Bemerkung ... Wissen Sie, es kommen manchmal Zwillinge vor,
die sich ähnlich sehen wie ein Ei dem andern, so daß man sie gar nicht
unterscheiden kann. Nun also, von solcher Ähnlichkeit rede ich.«

»Ja,« versetzte Anton Antonowitsch nach kurzem Nachdenken, und wie wenn
ihm dieser Umstand jetzt zum ersten Male auffiele, »ja, allerdings! Sie
haben recht, die Ähnlichkeit ist wirklich erstaunlich; und Sie urteilen
ganz richtig: sie ist so groß, daß man wirklich den einen für den andern
nehmen kann,« fuhr er fort, indem er die Augen immer weiter öffnete.
»Und wissen Sie, Jakow Petrowitsch, es ist sogar eine wunderbare
Ähnlichkeit, eine märchenhafte Ähnlichkeit, wie man zu sagen pflegt, d.
h. er sieht vollständig so aus wie Sie ... Haben Sie das bemerkt, Jakow
Petrowitsch? Ich wollte Sie schon selbst bitten, es mir zu erklären;
aber ich muß bekennen, ich habe es anfänglich nicht gebührend beachtet.
Es ist ein Wunder, in der Tat ein Wunder! Sagen Sie mal, Jakow
Petrowitsch, Sie sind ja wohl nicht hier geboren, wie?«

»Nein.«

»Er ist auch kein Hiesiger. Vielleicht stammt er aus demselben Orte wie
Sie. Gestatten Sie die Frage: wo hat Ihre Mutter meistens gelebt?«

»Sie sagten ... Sie sagten, Anton Antonowitsch, er sei kein Hiesiger?«

»Allerdings, er ist nicht von hier. Aber wirklich, es ist ein reines
Wunder,« fuhr der redselige Anton Antonowitsch fort, für den es das
größte Vergnügen war, wenn er über irgendetwas plaudern konnte. »In der
Tat, die Sache kann einen neugierig machen; wie oft geht man an
dergleichen vorüber, streift daran an, stößt daran an und bemerkt es
nicht! Beunruhigen Sie sich übrigens nicht! So etwas kommt vor! Wissen
Sie, da möchte ich Ihnen erzählen: ganz dasselbe begegnete meiner Tante
von mütterlicher Seite; die sah sich auch vor ihrem Tode doppelt ...«

»Nein, ich ... entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, Anton
Antonowitsch ... ich wollte mich erkundigen, was es mit diesem Beamten
für eine Bewandtnis hat, d. h. aus welchen Gründen er hier ist.«

»Er ist an Stelle des verstorbenen Semjon Iwanowitsch hier; in dessen
vakanten Platz ist er eingerückt; es war eine Vakanz entstanden, und da
hat man ihn eingestellt. War doch ein prächtiger Mensch, dieser Semjon
Iwanowitsch; drei Kinder hat er hinterlassen, wie man sagt, eines immer
kleiner als das andere. Die Witwe hat sich Seiner Exzellenz zu Füßen
geworfen. Man sagt übrigens, sie verberge Geld; sie habe welches,
verberge es aber ...«

»Nein, Anton Antonowitsch, ich wollte gern noch mehr über jenen
eigentümlichen Fall hören.«

»Was meinen Sie? Ach ja! Aber warum interessieren Sie sich so dafür? Ich
sage Ihnen: beunruhigen Sie sich nicht darüber! Das geht alles vorüber.
Was ist denn dabei? Sie können ja nichts dafür; das hat nun einmal unser
Herrgott selbst so eingerichtet; das ist sein Wille gewesen, und darüber
zu murren ist Sünde. Darin erkennt man seine Weisheit. Sie aber, Jakow
Petrowitsch, sind, soviel ich davon verstehe, in keiner Weise schuld
daran. Was gibt es nicht alles für Wunderdinge auf der Welt! Mutter
Natur ist freigebig, und Sie werden dafür nicht zur Rechenschaft gezogen
werden; Sie werden das nicht zu verantworten brauchen. Da fällt mir zum
Beispiel ein, Sie haben ja wohl gehört, wie die ... wie nennt man sie
doch? ... ja, die siamesischen Zwillinge, wie die mit dem Rücken
zusammengewachsen sind und so zusammen leben und essen und schlafen; es
heißt, sie nehmen eine Menge Geld ein.«

»Erlauben Sie, Anton Antonowitsch ...«

»Ich verstehe Sie, ich verstehe Sie! Ja! Nun ja, was ist dabei? Gar
nichts! Ich sage: nach meiner vollen Überzeugung haben Sie keinen Anlaß,
sich zu beunruhigen. Was liegt denn vor? Er ist ein Beamter wie andere,
und es scheint ja, daß er ein tüchtiger Arbeiter ist. Er sagt, er heiße
Goljadkin und sei nicht von hier und sei Titularrat. Er hat persönlich
mit Seiner Exzellenz gesprochen.«

»Und wie hat sich Seine Exzellenz dazu gestellt?«

»Es ist nichts Besonderes darüber zu sagen. Der Mensch hat sich, wie man
sagt, hinreichend ausgewiesen und seine Gründe dargelegt. Er hat gesagt:
>So und so, Exzellenz; ich besitze kein Vermögen und möchte gern amtlich
tätig sein, und es wäre mir eine besondere Ehre, wenn mir das unter
Ihrer Leitung vergönnt wäre,< ... na, und alles, wie es sich gehört;
wissen Sie, er hat sich ganz geschickt ausgedrückt. Es muß ein kluger
Mensch sein. Na, selbstverständlich hat er auch eine Empfehlung
mitgebracht; ohne eine solche wäre es ja nicht gegangen ...«

»Von wem war die denn? ... Das heißt, ich meine, wer hat denn eigentlich
bei dieser schändlichen Sache seine Hand im Spiele gehabt?«

»Ja, man sagt, es sei eine gute Empfehlung gewesen; man sagt, Seine
Exzellenz habe mit Andrei Filippowitsch zusammen gelacht.«

»Mit Andrei Filippowitsch gelacht?«

»Jawohl; er habe gelächelt und gesagt, es sei gut, und er seinerseits
sei nicht abgeneigt, wenn er nur seine dienstlichen Obliegenheiten treu
erfüllen wolle ...«

»Bitte, weiter! Sie beruhigen mich einigermaßen, Anton Antonowitsch; ich
bitte Sie inständig: weiter!«

»Gestatten Sie, ich wundere mich wieder über Sie ... Na ja, na, die
Sache ist ja ganz unwichtig; das Ereignis ist weiter nicht wunderbar;
ich sage: beunruhigen Sie sich nicht; man braucht daran nichts
bedenklich zu finden ...«

»Nein. Ich möchte Sie noch fragen, Anton Antonowitsch, ob Seine
Exzellenz weiter nichts hinzugefügt hat ... zum Beispiel etwas, was mich
betrifft.«

»Das heißt, gewiß! Ja freilich! Oder vielmehr nein, nichts, Sie können
ganz beruhigt sein. Wissen Sie, das ist ja selbstverständlich, daß die
Sache sehr auffallend ist, und zuerst ... ja, sehen Sie, ich zum
Beispiel habe sie zuerst fast gar nicht beachtet. Ich weiß wirklich
nicht, warum ich sie nicht eher beachtet hatte, als bis Sie mich darauf
aufmerksam machten. Aber übrigens, Sie können ganz beruhigt sein. Seine
Exzellenz hat nichts Besonderes gesagt, gar nichts gesagt,« fügte der
gutmütige Anton Antonowitsch hinzu, indem er sich von seinem Stuhle
erhob.

»Also, Anton Antonowitsch, ich möchte ...«

»Bitte, entschuldigen Sie mich! Ich habe schon zu viel Zeit mit diesen
Kleinigkeiten verplaudert, und da ist eine wichtige, eilige Sache. Die
muß ich notwendig fertigmachen.«

»Anton Antonowitsch!« rief Andrei Filippowitschs Stimme in höflichem
Tone. »Seine Exzellenz wünscht Sie zu sprechen.«

»Sofort, sofort, Andrei Filippowitsch; ich komme sofort.« Anton
Antonowitsch ergriff einen Pack Akten und lief zuerst zu Andrei
Filippowitsch und dann in das Arbeitszimmer Seiner Exzellenz.

»Also wie liegt denn die Sache?« dachte Herr Goljadkin bei sich. »Also
wie steht mein Spiel? Was macht der Himmel jetzt für ein Gesicht? ... Es
steht nicht übel; die Sache hat eine sehr angenehme Wendung genommen,«
sagte unser Held im stillen, indem er sich die Hände rieb und vor
Freuden den Stuhl unter seinem Leibe nicht spürte. »Also ist meine Sache
eine ganz gewöhnliche Sache. Also wird alles ein harmloses Ende nehmen
und keine schlimmen Folgen haben. Es hat tatsächlich niemand etwas
gemerkt, und meine Kollegen, diese Banditen, haben sich keine
Dreistigkeiten herausgenommen; sie sitzen still da und beschäftigen sich
mit ihren Akten; prächtig, prächtig! Ich habe diesen guten Menschen,
unsern Anton Antonowitsch, sehr gern; ich habe ihn immer sehr gern
gehabt und hochgeschätzt ... Übrigens, ja ... wenn man bedenkt ...
dieser Anton Antonowitsch ... verlassen kann man sich doch nicht auf
ihn: er ist doch schon ganz grau und vor Alter recht wackelig geworden.
Das beste und wichtigste ist übrigens, daß Seine Exzellenz nichts gesagt
hat und die Sache so hat vorübergehen lassen. Das ist gut; das freut
mich! Nur, warum mischt sich Andrei Filippowitsch da mit seinem
Gelächter hinein? Was kümmert ihn die Sache? Dieser alte Fuchs! Immer
ist er mir im Wege; immer sucht er einem einen Strich durch die Rechnung
zu machen; immer kommt er einem in die Quere und ist einem hinderlich;
immer ist er einem hinderlich und kommt einem in die Quere ...«

Herr Goljadkin blickte wieder rings um sich und wurde wieder von neuer
Hoffnung belebt. Er fühlte aber doch, daß ihn trotzdem eine ferne Ahnung
von Unheil beunruhigte. Es kam ihm sogar der Einfall, sich selbst
irgendwie an die Beamten heranzumachen, das Prävenire zu spielen, also
etwa beim Herausgehen nach Schluß der Bureaustunden, oder indem er unter
dem Vorwande einer geschäftlichen Anfrage an sie heranträte,
gesprächsweise Andeutungen in folgender Art zu machen: »So und so, meine
Herren, da ist so eine auffällige Ähnlichkeit, ein seltsamer Fall, die
reine Komödie,« also sich selbst über die ganze Sache lustig zu machen
und auf diese Weise die Tiefe der Gefahr zu sondieren. Aber unser Held
sagte sich zum Schluß in Gedanken, in einem stillen, tiefen Pfuhl hätten
die Teufel ihr Wesen. Übrigens war das bei Herrn Goljadkin nur ein
vorübergehender Gedanke; er wurde noch rechtzeitig anderen Sinnes. Er
sah ein, daß das so viel hieße, als die Gefahr herausfordern. »Das liegt
nun einmal in deinem Charakter,« sagte er zu sich selbst und klopfte
sich leicht mit der Hand gegen die Stirn; »gleich bist du wieder
fröhlich und treibst Mutwillen! Du bist eine biedere Seele! Nein, jetzt
ist es schon das beste zu warten, Jakow Petrowitsch; jetzt wollen wir
uns gedulden und warten!« Nichtsdestoweniger war Herr Goljadkin, wie wir
bereits erwähnt haben, wieder hoffnungsvoll und hatte ein Gefühl, als ob
er von den Toten auferstanden wäre. »Es macht sich,« dachte er; »es ist
mir, wie wenn mir eine Zentnerlast von der Brust gefallen wäre! Nein, so
ein Erlebnis! >Das Kästchen war nur einfach aufzuklappen<.[2] Krylow hat
recht ... Krylow hat recht; dieser Krylow ist ein Fuchs, ein Schlaukopf
und ein großer Fabeldichter! Aber was diesen Menschen anlangt, so mag er
meinetwegen hier amtieren, und möge es ihm wohl bekommen, wenn er nur
niemandem in die Quere kommt und mit niemandem Streit anfängt; mag er
hier amtieren, ich habe nichts dagegen, ich bin einverstanden!«

[Fußnote 2: Der Schlußvers einer Krylowschen Fabel. Jemand sucht
vergebens nach dem Mechanismus zum Öffnen eines Kästchens, das einen
solchen gar nicht besitzt, sondern sich einfach aufklappen läßt.
Anmerkung des Übersetzers.]

Unterdessen verging die Zeit wie im Fluge, und ehe Herr Goljadkin sich
dessen versah, schlug es vier. Die Amtsstunden waren zu Ende; Andrei
Filippowitsch griff nach seinem Hute, und alle folgten wie üblich seinem
Beispiele. Herr Goljadkin blieb unter dem Vorwande eines notwendigen
Bedürfnisses noch eine kleine Weile zurück und ging absichtlich erst
nach allen andern, als letzter, weg, als sich bereits alle nach
verschiedenen Richtungen verteilt hatten. Als er auf die Straße
hinaustrat, fühlte er sich wie im Paradiese, so daß bei ihm sogar der
Wunsch rege wurde, einen Umweg zu machen und eine Strecke auf dem
Newski-Prospekte zu gehen. »So geht es in der Welt!« sagte unser Held.
»Ein unerwarteter Umschwung der ganzen Sache! Auch das Wetter hat sich
aufgeklärt; Kälte und Schlittenfahrt. Und die Kälte taugt für den
Russen; der Russe verträgt sich mit der Kälte prächtig. Ich liebe den
Russen. Auch ein bißchen Schnee ist da, der erste Spurschnee, wie ein
Jäger sagen würde; da müßte man im ersten Spurschnee auf die Hasenjagd
gehen! Ei weih! Na, wenn's nicht ist, so schadet's auch nichts!«

So gab Herr Goljadkin seinem Entzücken Ausdruck; aber dabei hatte er
doch immer noch ein kitzelndes Gefühl im Kopfe, das mit Kummer
Ähnlichkeit hatte, und manchmal verspürte er am Herzen ein Saugen, gegen
das er kein Linderungsmittel wußte. »Übrigens, wir wollen noch einen Tag
warten und uns dann erst freuen. Was ist denn eigentlich los? Na, wir
wollen die Sache überlegen, die Sache ansehen. Na, also laß uns einmal
überlegen, mein junger Freund, laß uns einmal überlegen! Also da ist ein
ebensolcher Mensch wie du, ein ganz ebensolcher. Na, was hat es damit
auf sich? Wenn ein solcher Mensch da ist, brauche ich darüber zu weinen?
Was geht es mich an? Ich habe damit nichts zu schaffen; ich pfeife
darauf, Punktum! Er ist nun einmal da, Punktum! Mag er amtieren! Na, da
wird nun gesagt, das sei ein Wunder und eine Seltsamkeit wie die
siamesischen Zwillinge ... Na, was sollen dabei die Siamesen?
Allerdings, die sind Zwillinge; aber auch große Männer haben manchmal
ihre Wunderlichkeiten gehabt. Es ist sogar aus der Geschichte bekannt,
daß der berühmte Suworow wie ein Hahn krähte ... Na, das tat er alles
aus Politik; auch große Feldherrn ... aber was sollen hier die
Feldherrn? Ich bin ein gewöhnlicher Mensch und weiter nichts und will
niemanden kennen und verachte im Gefühle meiner Unschuld den Feind. Ich
bin kein Intrigant und bin stolz darauf. Mein Charakter ist rein,
aufrichtig, anständig, freundlich, sanft ...«

Plötzlich verstummte Herr Goljadkin, brach ab und zitterte wie ein
Blatt; ja, er schloß sogar für einen Augenblick die Augen. Da er jedoch
hoffte, daß der Gegenstand seiner Furcht einfach eine Augentäuschung
sei, so öffnete er schließlich die Augen wieder und schielte schüchtern
nach rechts. Nein, es war keine Augentäuschung! ... Neben ihm trippelte
sein Bekannter vom Vormittag, lächelte, schaute ihm ins Gesicht und
wartete, wie es schien, auf eine Gelegenheit, um ein Gespräch
anzufangen. Es kam jedoch nicht dazu. Auf diese Art gingen sie beide
etwa fünfzig Schritte. Herrn Goljadkins ganzes Bemühen ging dahin, sich
möglichst fest in seinen Mantel einzuhüllen, sich möglichst tief in ihn
zu vergraben und den Hut so weit als nur irgend möglich auf die Augen
herabzuziehen. Um die Beleidigung vollständig zu machen, waren auch der
Mantel und der Hut seines Freundes genau von derselben Art wie
diejenigen, die Herr Goljadkin auf den Schultern und auf dem Kopfe trug.

»Mein Herr,« sagte unser Held endlich, indem er sich bemühte, fast im
Flüstertone zu sprechen, und seinen Freund nicht ansah, »es scheint, daß
wir verschiedene Wege haben ... Ich bin sogar überzeugt davon,« sagte
er, nachdem er einen Augenblick geschwiegen hatte. »Ich bin auch
überzeugt, daß Sie mich vollständig verstanden haben,« fügte er zum
Schluß in ziemlich strengem Tone hinzu.

»Ich möchte gern ...« erwiderte endlich Herrn Goljadkins Freund, »ich
möchte gern ... ich hoffe, Sie werden mich großmütig entschuldigen ...
ich weiß nicht, an wen ich mich hier wenden soll ... meine Umstände ...
ich hoffe, Sie werden meine Dreistigkeit verzeihen ... es schien mir
sogar, als ob Sie heute morgen, von Mitleid bewegt, an mir Anteil
nähmen. Ich meinerseits habe mich gleich beim ersten Blick zu Ihnen
hingezogen gefühlt; ich ...« Hier wünschte Herr Goljadkin in Gedanken,
sein neuer Kollege möchte in die Erde versinken.

»Wenn ich wagen könnte zu hoffen, daß Sie, Jakow Petrowitsch, mir
gütiges Gehör schenken würden ...«

»Wir ... wir sind hier nicht ungestört. Wir ... wollen lieber in meine
Wohnung gehen,« versetzte Herr Goljadkin. »Wir wollen jetzt auf die
andre Seite des Newski hinübergehen; dort werden wir beide bequemer
gehen können. Und dann wollen wir eine Seitengasse einschlagen ... das
wird das beste sein.«

»Schön. Schlagen wir die Seitengasse ein, wenn es Ihnen so gefällig
ist!« erwiderte Herrn Goljadkins demütiger Gefährte schüchtern, wie wenn
er durch den Ton seiner Antwort zum Ausdruck bringen wollte, daß er
nicht wählerisch sein dürfe und in seiner Lage bereit sei, sich auch mit
einer Seitengasse zu begnügen. Was Herrn Goljadkin anlangt, so begriff
er gar nicht, was mit ihm vorging. Er traute seinen eigenen Sinnen
nicht. Er war von seinem Erstaunen noch nicht wieder zu sich gekommen.



                              7. Kapitel


Erst auf der Treppe und vor der Eingangstür zu seiner Wohnung gewann er
einigermaßen seine Fassung wieder. »Ach, ich Schafskopf!« schimpfte er
sich selbst in Gedanken; »wohin führe ich ihn nun? Ich stecke selbst den
Kopf in die Schlinge. Was wird Petruschka denken, wenn er uns zusammen
sieht? Was wird dieser Halunke sich jetzt zu denken erdreisten? Und er
ist so argwöhnisch ...« Aber zur Reue war es bereits zu spät; Herr
Goljadkin klopfte, die Tür öffnete sich, und Petruschka nahm dem Gaste
und dem Hausherrn die Mäntel ab. Herr Goljadkin warf aus dem Augenwinkel
flüchtige Blicke nach Petruschka und bemühte sich, seine Miene zu
ergründen und seine Gedanken daraus zu erraten. Aber zu seinem größten
Erstaunen sah er, daß sein Diener gar nicht daran dachte, sich zu
wundern, sondern im Gegenteil so etwas erwartet zu haben schien.
Allerdings machte er auch jetzt ein Gesicht wie ein Wolf, schielte zur
Seite hin und tat, als ob er jemand fressen wollte. »Hat sie denn heute
alle jemand behext?« dachte unser Held. »Es ist, als ob ein Dämon
herumgegangen wäre! Es muß unbedingt mit dem ganzen Volke heute etwas
Besonderes los sein. Hol's der Teufel, was ist das für ein qualvoller
Zustand!« Während Herr Goljadkin dergleichen dachte und überlegte,
führte er den Gast zu sich ins Zimmer und forderte ihn höflich auf,
Platz zu nehmen. Der Gast befand sich anscheinend in äußerster
Verlegenheit; er war sehr schüchtern, verfolgte unterwürfig alle
Bewegungen seines Wirtes, haschte nach seinen Blicken und bemühte sich,
wie es schien, aus diesen zu entnehmen, was derselbe denke. Eine gewisse
Gedrücktheit, Niedergeschlagenheit und Ängstlichkeit kam in allen seinen
Gebärden zum Ausdruck, so daß er, wenn der Vergleich gestattet ist, in
diesem Augenblicke große Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte, der aus
Mangel an eigenen Kleidern fremde angezogen hat: die Ärmel rutschen
hinauf; die Taille sitzt beinah im Genick, und er schiebt alle
Augenblicke die kurze Weste auf seinem Leibe zurecht; bald windet und
dreht er sich rechts und links, bald sucht er sich irgendwo zu
verstecken, bald sieht er allen in die Augen und horcht, ob die Leute
nicht von seiner Situation sprechen, sich über ihn lustig machen, sich
seiner schämen, -- er errötet und wird fassungslos, und sein Ehrgefühl
leidet schwer ... Herr Goljadkin hatte seinen Hut auf das Fensterbrett
gestellt; durch eine unvorsichtige Bewegung fiel der Hut auf den Boden.
Der Gast stürzte sofort hin, um ihn aufzuheben, reinigte ihn sorgsam vom
Staube und stellte ihn vorsichtig auf den früheren Platz; seinen eigenen
aber stellte er auf den Fußboden, neben den Stuhl, auf dessen äußerstem
Rande er demütig Platz genommen hatte. Dieser geringfügige Vorgang
öffnete Herrn Goljadkin einigermaßen die Augen; er sah nun ein, daß der
andere ihn sehr nötig hatte, und zerbrach sich daher nicht mehr den Kopf
darüber, wie er mit seinem Gaste ein Gespräch anfangen solle, sondern
überließ, wie es sich gebührte, alles diesem selbst. Aber der Gast
seinerseits fing nicht an zu reden; ob er zu schüchtern war oder sich
ein wenig schämte oder aus Höflichkeit darauf wartete, daß der Wirt den
Anfang mache, blieb dahingestellt und war schwer zu entscheiden. In
diesem Augenblicke kam Petruschka herein, blieb in der Tür stehen und
blickte nach derjenigen Seite hin, die der, wo sich sein Herr und der
Gast befanden, ganz entgegengesetzt war.

»Befehlen Sie, daß ich zwei Portionen Mittagessen hole?« fragte er mit
seiner heiseren Stimme in nachlässigem Tone.

»Ich ... ich weiß nicht ... Sie ... ja, hole zwei Portionen, mein
Lieber!«

Petruschka ging weg. Herr Goljadkin sah seinen Gast an. Der Gast
errötete bis über die Ohren. Herr Goljadkin war ein gutmütiger Mensch
und legte sich daher in der Güte seines Herzens sogleich eine Anschauung
zurecht:

»Er ist ein armer Mensch«, dachte er, »und erst einen Tag in seiner
Stelle; wahrscheinlich hat er vorher viel leiden müssen; nur gut, daß er
einen anständigen Anzug besitzt; aber Geld zum Mittagessen wird er nicht
haben. Ach mein Gott, wie niedergeschlagen er aussieht! Na, das schadet
nichts: das hat sogar sein Gutes ...« -- »Verzeihen Sie, daß ich ...«
begann Herr Goljadkin, »gestatten Sie übrigens die Frage, wie ich Sie
nennen darf!«

»Ich ... ich ... heiße Jakow Petrowitsch,« erwiderte der Gast fast
flüsternd, als wenn er sich schämte und um Verzeihung dafür bäte, daß er
ebenfalls Jakow Petrowitsch heiße.

»Jakow Petrowitsch,« wiederholte unser Held, der nicht imstande war,
seine Aufregung zu verbergen.

»Ja, ganz richtig ... Ich bin Ihr Namensvetter,« antwortete Herrn
Goljadkins demütiger Gast, indem er sich dazu aufraffte, zu lächeln und
in scherzendem Tone zu reden. Aber er fiel sogleich in seine
unterwürfige Haltung wieder zurück, als er die sehr ernste und etwas
bestürzte Miene seines Wirtes wahrnahm und merkte, daß dieser jetzt zu
Scherzen nicht aufgelegt sei.

»Gestatten ... gestatten Sie mir die Frage, welchem Umstande ich die
Ehre zu verdanken habe ...«

»Da ich Ihre Großmut und Wohltätigkeit kenne,« unterbrach ihn der Gast
schnell, aber in schüchternem Tone, indem er sich ein wenig von seinem
Stuhle erhob, »so habe ich es gewagt, mich an Sie zu wenden und Sie um
Ihre ... um Ihre Bekanntschaft und Gönnerschaft zu bitten ...« schloß
der Gast, der es schwierig fand sich auszudrücken und nach Worten
suchte, die einerseits nicht zu schmeichlerisch und unterwürfig klängen,
um nicht sein eigenes Ehrgefühl zu verletzen, andrerseits aber auch
nicht zu kühn wären und ungehörigerweise den Anspruch auf Gleichstellung
erhöben. Im allgemeinen konnte man sagen, daß Herrn Goljadkins Gast sich
wie ein Bettler aus gutem Stande in einem geflickten Frack und mit einem
ordnungsmäßigen Paß in der Tasche benahm, der noch keine Übung darin
gewonnen hat, wie es sich gehört, die Hand auszustrecken.

»Sie setzen mich in Verlegenheit,« erwiderte Herr Goljadkin, indem er
sich selbst, seine Wände und den Gast betrachtete; »womit könnte ich
denn ... das heißt, ich will sagen, in welcher Beziehung kann ich Ihnen
eigentlich mit irgend etwas dienen?«

»Ich habe mich gleich beim ersten Blick zu Ihnen hingezogen gefühlt,
Jakow Petrowitsch, und habe (verzeihen Sie mir großmütig!) meine
Hoffnung auf Sie gesetzt ... habe gewagt, meine Hoffnung auf Sie zu
setzen, Jakow Petrowitsch. Ich ... ich fühle mich hier ganz wie
verloren, Jakow Petrowitsch; ich bin arm, habe sehr viel gelitten, Jakow
Petrowitsch, und bin hier noch neu. Da ich erfahren hatte, daß Sie zu
den Ihnen angeborenen vortrefflichen Eigenschaften Ihrer schönen Seele
auch noch mit mir denselben Namen führen ...«

Herr Goljadkin runzelte die Stirn.

»... auch noch mit mir denselben Namen führen und mit mir aus demselben
Orte stammen, so entschloß ich mich, mich an Sie zu wenden und Ihnen
meine schwierige Lage vorzutragen.«

»Gut, gut, ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen darauf erwidern soll,«
antwortete Herr Goljadkin verlegen. »Wissen Sie, wir wollen nach Tische
darüber reden ...«

Der Gast verbeugte sich; das Mittagessen wurde gebracht. Petruschka
stellte alles in Ordnung auf den Tisch, und Gast und Wirt schickten sich
an, sich zu sättigen. Das Essen dauerte nicht lange, denn sie beeilten
sich: der Wirt, weil er sich unbehaglich fühlte und sich außerdem über
das schlechte Mittagessen schämte (er schämte sich zum Teil deswegen,
weil er den Gast gern gut bewirtet hätte, teils deswegen, weil er zu
zeigen wünschte, daß er nicht wie ein Bettler lebe), und der Gast
seinerseits, weil er sich in schrecklicher Verwirrung und äußerster
Verlegenheit befand. Nachdem er einmal Brot genommen und seine Schnitte
aufgegessen hatte, scheute er sich, die Hand nach einer zweiten Schnitte
auszustrecken; er genierte sich, von den Speisen ein besseres Stückchen
zu nehmen, und versicherte alle Augenblicke, er sei gar nicht hungrig,
das Mittagessen sei vorzüglich, er für seine Person sei völlig zufrieden
und werde bis zum Grabe daran denken. Als das Essen zu Ende war, zündete
Herr Goljadkin sich seine Pfeife an und offerierte die andere, die er
sich für Freundesbesuch hielt, dem Gaste; beide setzten sich einander
gegenüber, und der Gast begann seine Erlebnisse zu erzählen.

Die Erzählung des jüngeren Herrn Goljadkin dauerte drei oder vier
Stunden. Die Geschichte seiner Erlebnisse setzte sich übrigens aus den
unbedeutendsten und, wenn man sich so ausdrücken kann, miserabelsten
Einzelheiten zusammen. Es handelte sich dabei um amtliche Tätigkeit
irgendwo bei einem Gerichte, bei einer Gouvernementsregierung; um
Staatsanwälte und Präsidenten; um irgendwelche Bureau-Intrigen; um die
Schändlichkeit eines Tischvorstehers; um einen Revisor; um einen
plötzlichen Wechsel der Person des Chefs; darum, daß Herr Goljadkin der
zweite ganz unschuldig hatte leiden müssen; um seine alte Tante Pelageja
Semjonowna; darum, daß er infolge verschiedener Intrigen seiner Feinde
seine Stelle verloren hatte und zu Fuß nach Petersburg gewandert war;
darum, daß er hier in Petersburg viel Not und Elend durchgemacht, lange
erfolglos eine Stelle gesucht, sich auf das kümmerlichste beholfen,
beinah auf der Straße gewohnt, altes, vertrocknetes Brot gegessen und
dazu seine Tränen geschluckt, auf dem nackten Fußboden geschlafen hatte,
und daß endlich irgendein guter Mensch es übernommen hatte, für ihn zu
sorgen, ihn empfohlen und ihm großmütig seine jetzige Stellung
verschafft hatte. Herrn Goljadkins Gast weinte bei dieser Erzählung und
trocknete sich die Tränen mit einem blaukarierten Taschentuche ab, das
große Ähnlichkeit mit Wachstuch hatte. Er schloß damit, daß er Herrn
Goljadkin seine derzeitige Lage mit völliger Offenheit darlegte und ihm
gestand, daß er kein Geld habe, um davon in nächster Zeit zu leben und
sich anständig einzurichten, ja nicht einmal um sich ordentlich zu
equipieren. Er fügte noch hinzu, er könne nicht einmal das Geld für
Stiefel auftreiben und die Uniform habe er sich von jemand auf kurze
Zeit geliehen.

Herr Goljadkin war gerührt und fühlte aufrichtiges Mitleid. Obgleich die
Geschichte seines Gastes eine so öde Geschichte war, fielen alle Worte
derselben auf sein Herz wie himmlisches Manna. Die Sache war die, daß
Herr Goljadkin nun seine letzten Zweifel vergaß, sein Herz wieder dem
Gefühl der Freiheit und der Freude überließ und sich schließlich im
stillen selbst einen Dummkopf schalt. Alles war so natürlich! Was hatte
er da für Anlaß sich zu grämen und zu beunruhigen? Nun ja, es war da
tatsächlich ein kitzlicher Punkt vorhanden, gewiß; aber das war ja kein
Unglück: das konnte einen Menschen nicht in Unehre bringen, seinen Ruf
nicht beflecken, ihm seine Karriere nicht verderben, wenn doch der
betreffende Mensch keine Schuld trug, sondern die Natur selbst die Hand
im Spiele hatte. Außerdem bat der Gast um seine Protektion; der Gast
weinte; der Gast klagte das Schicksal an; er schien so harmlos zu sein,
so ohne Bosheit und Falsch, ein kläglicher, unbedeutender Mensch, und
wie es schien, schämte er sich jetzt selbst, obgleich vielleicht in
anderer Hinsicht, über die seltsame Ähnlichkeit seines Gesichtes mit dem
seines Wirtes. Er benahm sich auf die denkbar beste Weise, bemühte sich
eifrig, seinem Wirte alles zu dank zu machen, und zwar wie jemand, der
von Gewissensbissen gequält wird und fühlt, daß er sich dem andern
gegenüber schuldig gemacht hat. Wenn z. B. die Rede auf irgendeinen
zweifelhaften Punkt kam, so stimmte der Gast sogleich Herrn Goljadkins
Meinung zu. Wenn er durch ein Versehen mit seiner Meinung irgendwie in
Gegensatz zu Herrn Goljadkin geriet und dann bemerkte, daß er vom
richtigen Wege abgekommen war, so korrigierte er das, was er gesagt
hatte, sofort, interpretierte es und gab unverzüglich zu verstehen, daß
er alles genau in derselben Weise beurteile wie sein Wirt, ebenso denke
wie dieser und alles mit ganz denselben Augen ansehe wie dieser. Kurz,
der Gast machte alle möglichen Anstrengungen, um sich Herrn Goljadkins
Wohlwollen zu erwerben, so daß dieser schließlich zu der Ansicht
gelangte, sein Gast sei in jeder Hinsicht ein sehr liebenswürdiger
Mensch. Inzwischen wurde Tee gebracht; es war zwischen acht und neun
Uhr. Herr Goljadkin fühlte sich in vortrefflicher Stimmung; er war
heiter geworden, machte Scherze, ging ein wenig aus sich heraus und ließ
sich endlich in ein sehr lebhaftes, angeregtes Gespräch mit seinem Gaste
ein. Herr Goljadkin liebte es, wenn er guter Laune war, manchmal etwas
Unterhaltendes zu erzählen. Das tat er auch jetzt: er erzählte seinem
Gaste viel von der Residenz, von ihren Vergnügungen und Schönheiten, vom
Theater, von den Klubs, von dem Brülowschen Gemälde[3], daß zwei
Engländer expreß aus England nach Petersburg gekommen seien, um das
Gitter des Sommergartens zu besehen, und sogleich wieder zurückgefahren
seien, vom Dienste, von Olsufi Iwanowitsch und von Andrei Filippowitsch,
daß sich Rußland von Stunde zu Stunde mehr der Vollkommenheit nähere,
und daß jetzt hier die schönen Wissenschaften in Blüte ständen, von
einer Anekdote, die er kürzlich in der »Nordischen Biene« gelesen hatte,
und daß es in Indien eine ganz außerordentlich starke Riesenschlange
gebe, zuletzt von dem Baron Brambäus[4]) usw. usw. Kurz, Herr Goljadkin
war völlig zufrieden, erstens weil er ganz beruhigt war, zweitens weil
er seine Feinde nicht nur nicht mehr fürchtete, sondern sogar bereit
war, sie jetzt alle zum Entscheidungskampfe herauszufordern, drittens
weil er jetzt selbst in eigener Person jemandes Protektor geworden war,
und schließlich weil er ein gutes Werk tat. Er war sich übrigens
innerlich bewußt, daß er in diesem Augenblicke noch nicht ganz glücklich
war, daß in ihm noch ein Wurm saß, wenn auch nur ein ganz kleiner, der
auch jetzt noch sein Herz quälte. Die Erinnerung an den gestrigen Abend
bei Olsufi Iwanowitsch war ihm äußerst peinlich. Er hätte jetzt viel
darum gegeben, wenn manches von dem, was gestern geschehen war, nicht
geschehen wäre. »Indessen es hat ja nicht viel zu bedeuten!« sagte unser
Held sich schließlich und nahm sich im stillen fest vor, sich künftig
gut zu führen und ähnliche Fehler nicht wieder zu begehen. Da Herr
Goljadkin jetzt sehr gut gelaunt war und sich auf einmal fast völlig
glücklich fühlte, so kam er sogar auf den Einfall, das Leben zu
genießen. Petruschka mußte Rum bringen, und es wurde ein Punsch gebraut.
Gast und Wirt leerten jeder ein Glas und ein zweites. Der Gast benahm
sich noch liebenswürdiger als vorher und gab viele Beweise seiner
Aufrichtigkeit und seines trefflichen Charakters; er ging kräftig auf
Herrn Goljadkins vergnügte Stimmung ein, schien sich nur über dessen
Freude zu freuen und blickte ihn wie seinen wahren und einzigen
Wohltäter an. Eine Feder und ein Blättchen Papier ergreifend, bat er
Herrn Goljadkin nicht zuzusehen, was er schreiben werde, und zeigte
dann, als er fertig war, selbst seinem Wirte alles, was er geschrieben
hatte. Es ergab sich, daß es eine vierzeilige Strophe war, von sehr
gefühlvollem Inhalt, in schönem Stil und mit guter Handschrift
geschrieben und augenscheinlich von dem liebenswürdigen Gaste selbst
verfaßt. Die Verse lauteten:

   »Solltest je du mein vergessen,
   Niemals doch vergeß ich dein;
   Viel begibt sich wohl im Leben,
   Doch vergiß auch du nicht mein!«

Mit Tränen in den Augen umarmte Herr Goljadkin seinen Gast, und nachdem
er seinen Gefühlen völlig freien Lauf gelassen hatte, weihte er selbst
seinen Gast in mehrere seiner Geheimnisse ein, wobei Andrei
Filippowitsch und Klara Olsufjewna die Hauptthemata waren. »Na, du und
ich, wir passen zusammen, Jakow Petrowitsch,« sagte unser Held zu seinem
Gaste; »wir beide, Jakow Petrowitsch, wollen leben wie die Fische im
Wasser, wie zwei leibliche Brüder; wir wollen List anwenden, Freundchen,
wollen zusammen List anwenden; wir wollen unsererseits eine Intrige
gegen sie einfädeln ... gegen sie eine Intrige einfädeln. Aber von denen
vertraue du dich niemandem an! Ich kenne dich ja, Jakow Petrowitsch, und
verstehe deinen Charakter; du erzählst einem gleich alles; du bist eine
redliche Seele! Halte dich von denen allen fern, Bruder!« Der Gast war
damit völlig einverstanden, dankte Herrn Goljadkin und vergoß zuletzt
ebenfalls Tränen. »Weißt du was, lieber Jakow,« sagte Herr Goljadkin mit
leiser, zitternder Stimme, »zieh für einige Zeit zu mir, oder auch für
immer! Wir passen zusammen. Wie denkst du darüber, Bruder? Rege dich
nicht darüber auf und murre nicht darüber, daß zwischen uns jetzt ein so
sonderbares Verhältnis besteht; zu murren ist Sünde, Bruder; die Natur
hat es so gewollt. Und Mutter Natur ist freigebig; ja, so ist es, Bruder
Jakow! Ich sage das, weil ich dich liebe, dich brüderlich liebe. Aber
wir beide, lieber Jakow, wollen mit List verfahren und unsererseits
Minen anlegen und es ihnen gehörig besorgen.« Von dem Punsche waren
schließlich drei, ja vier Gläser auf jeden der beiden gekommen, und nun
wurde sich Herr Goljadkin zweier Empfindungen bewußt: der einen, daß er
außerordentlich glücklich sei, und der andern, daß er nicht mehr auf den
Beinen stehen könne. Der Gast wurde selbstverständlich eingeladen, dort
zu übernachten. Ein Bett wurde, so gut es ging, aus zwei Reihen von
Stühlen zusammengestellt. Herr Goljadkin der jüngere sprach den Gedanken
aus, daß man unter einem befreundeten Dache selbst auf dem nackten
Fußboden sanft schlafe; er jedenfalls werde, wo es sich auch träfe, mit
Ergebenheit und Dankbarkeit schlafen; jetzt fühle er sich wie im
Paradiese; er schloß mit der Bemerkung, er habe in seinem Leben viel
Unglück und Leid zu ertragen gehabt; alles habe er ruhig hingenommen und
geduldig ausgehalten, und wer kenne die Zukunft? Vielleicht werde er
noch mehr zu leiden haben. Herr Goljadkin der ältere machte dagegen
Einwendungen und wies darauf hin, daß man all seine Hoffnung auf Gott
setzen müsse. Der Gast stimmte ihm völlig bei und sagte, daß natürlich
niemand so gut und mächtig sei wie Gott. Hier bemerkte Herr Goljadkin
der ältere, daß die Türken in gewisser Hinsicht recht daran täten, den
Namen Gottes sogar im Schlafe anzurufen. Darauf äußerte er, er sei mit
manchen Gelehrten nicht einverstanden, die gegen den türkischen
Propheten Mohammed allerlei Verleumdungen vorbrächten, erkannte ihn als
einen großen Politiker in seiner Art an und ging dann zu einer sehr
interessanten Beschreibung einer Barbierstube in Algier über, von der er
in einem Büchelchen unter »Allerlei« gelesen hatte. Der Gast und der
Wirt lachten herzlich über die Einfalt der Türken, konnten aber nicht
umhin, ihren durch das Opium hervorgerufenen Fanatismus zu bewundern ...
Der Gast begann endlich sich zu entkleiden, und Herr Goljadkin ging
hinaus hinter die Scheidewand, zum Teil aus Gutherzigkeit, um den Gast,
der vielleicht kein anständiges Hemd anhabe, nicht in Verlegenheit zu
setzen, da er ohnehin schon genug gelitten habe, und zum andern Teil um
sich nach Möglichkeit Petruschkas zu vergewissern, ihn zu sondieren und
ihn wenn möglich durch freundliche Worte aufzuheitern, damit alle
glücklich wären und keine Spur von Verstimmung zurückbliebe. Es muß
bemerkt werden, daß Herr Goljadkin sich immer noch ein wenig über
Petruschka beunruhigte.

[Fußnote 3: Gemeint ist das berühmte Bild »Der letzte Tag Pompejis«,
jetzt im Russischen Museum Alexanders III. Anmerkung des Übersetzers.]

[Fußnote 4: Das Pseudonym, unter dem der Schriftsteller Senkowski
mehrere Romane veröffentlichte. Anmerkung des Übersetzers.]

»Lege dich jetzt schlafen, Petruschka!« sagte Herr Goljadkin sanft,
indem er in die Abteilung seines Dieners hereintrat. »Lege dich jetzt
schlafen, und morgen um acht Uhr wecke mich! Hörst du, Petruschka?«

Herr Goljadkin sprach in außerordentlich mildem, freundlichem Tone. Aber
Petruschka schwieg. Er war in diesem Augenblick damit beschäftigt, sein
Bett zu machen, und wendete sich nicht einmal zu seinem Herrn um, was er
doch schon aus Respekt gegen ihn hätte tun müssen.

»Hast du gehört, was ich sage, Petruschka?« fuhr Herr Goljadkin fort.
»Lege dich jetzt schlafen, und morgen, Petruschka, wecke mich um acht
Uhr; verstehst du?«

»Ich werde schon daran denken; große Sache!« brummte Petruschka vor sich
hin.

»Nun, nun, Petruschka; ich sage das ja nur so, damit auch du ruhig und
glücklich sein kannst. Siehst du, wir sind jetzt alle glücklich; da
möchte ich, daß auch du ruhig und glücklich wärest. Jetzt aber wünsche
ich dir Gute Nacht. Schlaf dich aus, Petruschka, schlaf dich aus: es hat
ein jeder von uns seine Mühe und Arbeit ... Und weißt du, lieber Freund,
mach dir keine Gedanken darüber, daß ...«

Herr Goljadkin hatte den Satz angefangen, hielt dann aber inne. »Sage
ich auch nicht zu viel?« dachte er. »Fordere ich auch nicht die Gefahr
heraus? So mache ich das immer; ich gehe immer zu weit.« Unser Held
ging, sehr unzufrieden mit sich selbst, aus Petruschkas Raume hinaus.
Außerdem fühlte er sich durch Petruschkas Respektlosigkeit und Grobheit
etwas beleidigt. »Man redet freundlich mit einem solchen Halunken, der
Herr erweist ihm eine Ehre, und er hat kein Gefühl dafür,« dachte Herr
Goljadkin. Ȇbrigens findet man diese gemeine Gesinnung bei dieser
ganzen Menschenklasse!« Etwas schwankend kehrte er in das Zimmer zurück,
und da er sah, daß sein Gast sich schon vollständig hingelegt hatte,
setzte er sich für einen Augenblick zu ihm auf das Bett. »Aber das mußt
du doch bekennen, lieber Jakow,« begann er flüsternd und mit dem Kopfe
wackelnd, »du hast dich doch mir gegenüber vergangen, du schändlicher
Mensch! Weißt du, Namensvetter, du hast doch ... hm ...« fuhr er in
familiärem, scherzendem Tone fort. Nachdem er endlich freundschaftlich
seinem Gaste Gute Nacht gesagt hatte, schickte sich Herr Goljadkin an,
schlafen zu gehen. Der Gast schnarchte unterdessen schon. Herr Goljadkin
seinerseits begann sich ins Bett zu legen und flüsterte dabei lächelnd
vor sich hin: »Du bist heute betrunken, mein Täubchen, Jakow
Petrowitsch, du Lump, du armer Schlucker; daß du ein armer Schlucker
bist, besagt ja schon dein Familienname!! Na, worüber freust du dich
denn? Morgen wirst du ja weinen, du Plärrliese! Was soll ich mit dir
anfangen?« Nun aber machte sich eine recht sonderbare Empfindung in
Herrn Goljadkins ganzem Wesen geltend, etwas, was mit Zweifel oder Reue
Ähnlichkeit hatte. »Ich habe des Guten zuviel getan,« dachte er; »nun
brummt mir der Kopf, und ich bin betrunken; und du hast dich nicht
beherrschen können, du Dummkopf! Was hast du für einen Haufen dummes
Zeug zusammengeschwatzt, und dabei möchtest du noch intrigieren, du
Halunke! Allerdings ist Beleidigungen zu verzeihen und zu vergessen die
erste Tugend; aber die Sache steht doch schlecht! Ja, so ist das!« Hier
stand Herr Goljadkin auf, nahm das Licht und ging auf den Zehen noch
einmal hin, um seinen schlafenden Gast zu betrachten. Lange stand er in
tiefem Nachdenken über ihn gebeugt da. »Ein unangenehmes Bild! Der reine
Spott, der reine Spott; das steht fest!«

Endlich legte sich Herr Goljadkin definitiv schlafen. In seinem Kopfe
brummte, sauste und summte es. Das Bewußtsein schwand ihm ... Er machte
Anstrengungen, an etwas zu denken, sich an etwas sehr Interessantes zu
erinnern, eine sehr wichtige, heikle Frage zu lösen; aber er konnte es
nicht. Der Schlummer senkte sich auf sein armes Haupt herab, und er
schlief ein, wie gewöhnlich Leute einschlafen, die nicht gewohnt sind,
bei einem freundschaftlichen abendlichen Zusammensein fünf Gläser Punsch
zu trinken.



                              8. Kapitel


Wie gewöhnlich erwachte Herr Goljadkin am andern Tage um acht Uhr;
nachdem er erwacht war, erinnerte er sich sogleich an alle Ereignisse
des gestrigen Abends; bei dieser Erinnerung runzelte er die Stirn. »Wie
ein rechter Dummkopf habe ich mich gestern benommen!« dachte er, während
er sich vom Bett erhob, und blickte nach dem Bette seines Gastes hin.
Aber wie groß war sein Erstaunen, als nicht nur der Gast, sondern sogar
auch das Bett, auf dem der Gast geschlafen hatte, aus dem Zimmer
verschwunden war! »Was stellt das vor?« schrie Herr Goljadkin beinah
laut auf. »Wie geht das zu? Was hat jetzt dieses neue Ereignis zu
bedeuten?« Während Herr Goljadkin noch verständnislos mit offenem Munde
nach dem leeren Fleck hinsah, knarrte die Tür, und Petruschka kam mit
dem Teebrett herein. »Wo ist er, wo ist er?« fragte unser Held kaum
hörbar und zeigte mit dem Finger nach der Stelle hin, die gestern dem
Gaste angewiesen worden war. Petruschka gab zuerst keine Antwort und sah
seinen Herrn sogar nicht einmal an, sondern wandte seine Augen nach der
Ecke rechts, so daß Herr Goljadkin selbst genötigt war, nach der Ecke
rechts hinzublicken. Nach einigem Stillschweigen indes antwortete
Petruschka grob mit heiserer Stimme: »Der Herr ist nicht zu Hause.«

»Du Dummkopf! Ich bin ja doch dein Herr, Petruschka!« stotterte Herr
Goljadkin und sah seinen Diener mit weit geöffneten Augen an.

Petruschka antwortete nichts, blickte aber Herrn Goljadkin so an, daß
dieser bis über die Ohren errötete; denn dieser beleidigende,
vorwurfsvolle Blick konnte die Stelle eines wirklichen Schimpfwortes
vertreten. Herr Goljadkin streckte die Waffen. Endlich erklärte
Petruschka, »der andere« sei schon vor anderthalb Stunden weggegangen
und habe nicht warten wollen. Diese Antwort klang allerdings
wahrscheinlich und glaubwürdig; es war klar, daß Petruschka nicht log,
und daß sein beleidigender Blick und der von ihm gebrauchte Ausdruck
»der andere« nur eine Folge des ganzen bekannten widerwärtigen Umstandes
waren; aber dennoch verstand Herr Goljadkin, wenn auch nur undeutlich,
daß da etwas nicht geheuer war, und daß das Schicksal für ihn noch
irgendeine nicht ganz angenehme Gabe bereit hielt. »Nun gut, wir werden
sehen,« dachte er bei sich; »wir werden seinerzeit das alles
durchschauen ... Ach, Herr du mein Gott,« stöhnte er zum Schlusse in
ganz anderem Tone, »warum habe ich ihn eingeladen? Wozu habe ich das
getan? Ich stecke ihnen ja selbst meinen Kopf in die Schlinge und ziehe
die Schlinge selbst zu! Ach, du Dummkopf, du Dummkopf! Daß du doch auch
gar nicht das Maul halten kannst; nein, du mußt dich verplappern wie so
ein dummer Junge, wie ein Kanzlist, wie ein Plebejer ohne Rang und
Würden, wie ein jämmerlicher Waschlappen, du Schwätzer, du altes Weib!
... All ihr Heiligen! Und sogar Verse hat er geschrieben, der Gauner,
und mir seine Liebe erklärt! Wie könnte ich nun, hm ... Wie könnte ich
nun dem Gauner in anständiger Manier die Tür weisen, wenn er
wiederkommt? Es gibt ja da natürlich viele verschiedene Redewendungen
und Hilfsmittel. Ich könnte sagen: >So und so, bei meinem geringen
Gehalte ...< Oder ich könnte ihm Bange machen und sagen: >In Erwägung
dieses und dieses Umstandes sehe ich mich genötigt, Ihnen mitzuteilen,
daß Sie die Kosten der Wohnung und der Beköstigung zur Hälfte tragen und
das Geld im voraus zahlen müssen.< Hm! nein, hol's der Teufel, nein! Das
würde meine Ehre beflecken. Das ist nicht recht zartfühlend! Vielleicht
könnte ich es so machen: ich könnte Petruschka instruieren, daß er ihn
irgendwie ärgern, ihn nachlässig und grob behandeln solle, und ihn mir
auf diese Art vom Halse schaffen? Ich müßte sie so zusammenhetzen ...
Nein, hol's der Teufel, nein! Das ist gefährlich, und ferner, wenn man
es aus einem andern Gesichtspunkte betrachtet ... es ist ganz und gar
nicht schön! Ganz und gar nicht schön! Aber wenn er nun nicht wieder
herkommt? Auch das wäre übel! Ich habe ihm gestern abend gar zu viel
ausgeschwatzt! ... Ach, schlimm, schlimm! Ach, wie schlimm steht meine
Sache! Ach, ich Dummkopf, ich verdammter Dummkopf! Kannst du nicht
lernen, wie du dich benehmen mußt? Kannst du nicht endlich zur Vernunft
kommen? Na, wenn er nun aber herkommt und absagt? Ach, gebe Gott, daß er
käme! Ich würde sehr froh sein, wenn er käme ...« So überlegte Herr
Goljadkin, während er seinen Tee trank und fortwährend nach der Wanduhr
blickte. »Jetzt ist es drei Viertel auf neun; nun ist es Zeit zu gehen.
Aber was wird nun geschehen? Was wird mir passieren? Ich möchte gern
wissen, was sich da eigentlich Besonderes hinter dem Vorhang verbirgt,
was für Absichten und Pläne sie haben, und was für Steine sie mir in den
Weg werfen wollen. Es wäre gut, wenn ich erfahren könnte, was für ein
Ziel eigentlich diese ganze Bande im Auge hat, und welches der erste
Schritt ist, den sie unternehmen wollen ...« Herr Goljadkin konnte es
nicht länger aushalten; er warf die noch nicht ausgerauchte Pfeife hin,
zog sich an und ging in den Dienst, um womöglich die Gefahr aufzudecken
und sich über alles durch seine persönliche Anwesenheit Gewißheit zu
verschaffen. Aber Gefahr war vorhanden: das wußte er selbst, daß Gefahr
vorhanden war. »Aber auch diese Nuß werden wir schon knacken!« sagte
Herr Goljadkin, indem er den Mantel und die Überschuhe im Vorzimmer
ablegte; »nun werden wir all diese Dinge sofort durchschauen.« Nachdem
er in dieser Weise zu handeln beschlossen hatte, machte unser Held
seinen Anzug zurecht, nahm eine wohlanständige Dienstmiene an und wollte
eben in das anstoßende Zimmer treten, als plötzlich gerade in der Tür
sein Bekannter und Freund von gestern mit ihm zusammenstieß. Herr
Goljadkin der jüngere schien Herrn Goljadkin den älteren nicht zu
bemerken, obwohl sich beinahe ihre Nasen berührten. Herr Goljadkin der
jüngere war, wie es schien, sehr beschäftigt, hatte es eilig,
irgendwohin zu kommen, und war außer Atem; er hatte eine solche Amts-
und Geschäftsmiene, daß, wie es schien, jeder auf seinem Gesichte lesen
konnte: »Mit einem besonderen Auftrage betraut ...«

»Ach, Sie sind es, Jakow Petrowitsch!« sagte unser Held und ergriff
seinen gestrigen Gast am Arme.

»Später, später! Entschuldigen Sie mich; sagen Sie mir später, was Sie
wünschen!« rief Herr Goljadkin der jüngere, indem er vorwärts strebte.

»Aber erlauben Sie, Jakow Petrowitsch; ich meine, Sie wollten ... hm
...«

»Was gibt's denn? Sagen Sie schneller, was Sie wünschen!«

Hier blieb Herrn Goljadkins gestriger Gast, anscheinend nur ungern und
mit großem Widerstreben, stehen und hielt sein Ohr Herrn Goljadkin
gerade an die Nase.

»Ich muß Ihnen sagen, Jakow Petrowitsch, daß ich über Ihr Benehmen
erstaunt bin ... ein Benehmen, wie ich es ja wohl nicht erwarten
konnte.«

»Alles hat seine gewiesene Form. Melden Sie sich bei dem Sekretär Seiner
Exzellenz, und wenden Sie sich dann, wie es in der Ordnung ist, an den
Herrn Kanzleivorsteher. Haben Sie eine Bittschrift? ...«

»Sie ... ich weiß gar nicht, Jakow Petrowitsch ... Sie setzen mich
einfach in Verwunderung, Jakow Petrowitsch! Sie erkennen mich gewiß
nicht, oder Sie machen infolge Ihres angeborenen heiteren Temperamentes
einen Scherz.«

»Ah, Sie sind es!« erwiderte Herr Goljadkin der jüngere, als wenn er
Herrn Goljadkin den älteren eben erst erkannt hätte. »Also Sie sind es?
Na also, haben Sie gut geschlafen?«

Hier lächelte Herr Goljadkin der jüngere ein wenig; aber er lächelte in
einer amtlichen, förmlichen Manier und durchaus nicht so, wie es sich
gehört hätte, da er doch jedenfalls Herrn Goljadkin dem älteren zu Dank
verpflichtet war; und nachdem er so in amtlicher, förmlicher Manier
gelächelt hatte, fügte er hinzu, er seinerseits freue sich sehr, daß
Herr Goljadkin gut geschlafen habe. Dann verbeugte er sich ein wenig,
trippelte ein wenig an ein und derselben Stelle umher, blickte nach
rechts und nach links, schlug darauf die Augen zu Boden, richtete sie
nach der Seitentür, und nachdem er hastig flüsternd bemerkt hatte, er
habe einen besonderen Auftrag, schlüpfte er in das Nachbarzimmer und war
verschwunden.

»Ist das eine tolle Geschichte! ...« flüsterte unser Held, der einen
Augenblick ganz starr war; »ist das eine tolle Geschichte! Was soll das
nur vorstellen? ...« Herr Goljadkin hatte ein Gefühl, als ob ihm Ameisen
über den ganzen Leib liefen. »Übrigens,« fuhr er im stillen fort,
während er in sein Dienstlokal ging, »übrigens habe ich so etwas ja
schon lange gesagt; ich habe schon lange geahnt, daß er mit besonderen
Aufträgen werde betraut werden ... gerade gestern habe ich gesagt, daß
er unzweifelhaft ein Mensch sei, den man zu besonderen Aufträgen
gebrauchen werde.«

»Haben Sie Ihr gestriges Aktenstück fertiggestellt, Jakow Petrowitsch?«
fragte Anton Antonowitsch Sjetotschkin Herrn Goljadkin, als dieser sich
neben ihn setzte. »Haben Sie es hier?«

»Jawohl,« erwiderte Herr Goljadkin flüsternd und sah seinen
Tischvorsteher mit etwas verwirrter Miene an.

»Nun gut! Ich erkundige mich deswegen danach, weil Andrei Filippowitsch
schon zweimal danach gefragt hat. Seine Exzellenz kann das Aktenstück
jeden Augenblick verlangen ...«

»Es ist fertig.«

»Na, das ist schön!«

»Anton Antonowitsch, ich meine, ich habe meine Pflicht immer
ordnungsmäßig erfüllt, und ich freue mich über die Aufträge, die mir von
meinen Vorgesetzten erteilt werden und erledige sie mit aller Sorgfalt.«

»Jawohl. Nun, was wollen Sie denn damit sagen?«

»Nichts Besonderes, Anton Antonowitsch. Ich möchte nur bemerken, Anton
Antonowitsch, daß ich ... d. h. ich wollte sagen, daß Übelwollen und
Neid täglich ihre widerwärtige Nahrung suchen und niemanden verschonen
...«

»Entschuldigen Sie, ich verstehe Sie nicht ganz. Das heißt, wen meinen
Sie denn mit Ihren Andeutungen?«

»Das heißt, ich wollte nur sagen, Anton Antonowitsch, daß ich meinen
geraden Weg gehe und es verachte, Schleichwege zu benutzen, daß ich kein
Intrigant bin, und daß ich, wenn anders es mir erlaubt ist, dies
auszusprechen, mit gutem Grunde darauf stolz sein darf ...«

»Jawohl. Alles ganz richtig, und ich stimme Ihrer Meinung aus voller
Überzeugung bei; aber gestatten Sie auch mir, Ihnen zu bemerken, Jakow
Petrowitsch, daß persönliche Anzüglichkeiten in guter Gesellschaft nicht
erlaubt sind. Was man hinter meinem Rücken von mir sagt, das will ich
gern ertragen; denn auf wen wird nicht hinter seinem Rücken geschimpft?
Aber ins Gesicht (nehmen Sie es mir nicht übel!) lasse ich mir keine
Grobheiten sagen, mein Herr. Ich bin im Staatsdienst grau geworden, mein
Herr, und lasse mir auf meine alten Tage keine Grobheiten sagen ...«

»Nein, Anton Antonowitsch, ich ... Sehen Sie doch, Anton Antonowitsch,
Sie haben mich, wie es scheint, nicht ganz verstanden, Anton
Antonowitsch. Aber ich bitte Sie, Anton Antonowitsch, ich kann es mir
meinerseits nur zur Ehre anrechnen ...«

»Nun bitte ich aber, auch mich zu entschuldigen. Ich habe meine
Lebensart noch nach der alten Mode gelernt. Nach Ihrer neuen Mode
umzulernen, damit ist es für mich zu spät. Für den Dienst des
Vaterlandes hat mein Verstand bisher, wie es scheint, ausgereicht. Ich
besitze, wie Sie selbst wissen, mein Herr, das Ehrenzeichen für
fünfundzwanzigjährige vorwurfsfreie dienstliche Tätigkeit ...«

»Ich empfinde das alles ... ich empfinde das alles meinerseits
vollkommen, Anton Antonowitsch. Aber davon redete ich nicht; ich sprach
von der Maske, Anton Antonowitsch ...«

»Von der Maske?«

»Das heißt, Sie scheinen wieder ... ich fürchte, daß Sie auch hier
wieder den Sinn unrichtig auffassen, das heißt den Sinn meiner Worte,
wie Sie selbst sagen, Anton Antonowitsch. Ich behandle nur das Thema,
das heißt, ich stelle den Gedanken hin, Anton Antonowitsch, daß die
Menschen, die eine Maske tragen, heutzutage recht häufig geworden sind,
und daß es jetzt schwer ist, unter der Maske einen Menschen zu erkennen
...«

»Na, wissen Sie, so schwer ist das nun gerade nicht. Manchmal ist es
sogar ganz leicht, und manchmal braucht man gar nicht weit zu suchen.«

»Nein, wissen Sie, Anton Antonowitsch, ich sage ... ich sage von mir
selbst, daß ich z. B. eine Maske nur anlege, wenn es nötig ist, d. h.
einzig und allein beim Karneval und in fröhlicher Gesellschaft, im
eigentlichen Sinne gesprochen, daß ich aber nicht vor den Leuten alle
Tage mit einer Maske umherlaufe, in einem andern, übertragenen Sinne
gesagt. Das war's, was ich sagen wollte, Anton Antonowitsch.«

»Na, wir wollen von dieser ganzen Sache vorläufig abbrechen, und ich für
meine Person habe auch keine Zeit mehr,« erwiderte Anton Antonowitsch,
erhob sich von seinem Platze und suchte einige Aktenstücke zum Vortrage
bei Seiner Exzellenz zusammen. »Ihre Angelegenheit wird, wie ich
annehme, bald und rechtzeitig zur Klarheit gelangen. Dann werden Sie
selbst sehen, gegen wen Sie Ihre Vorwürfe zu richten und wen Sie
anzuklagen haben, und deshalb bitte ich Sie ganz ergebenst, mich mit
weiteren privaten Erörterungen und Gesprächen, die der dienstlichen
Tätigkeit Eintrag tun, zu verschonen ...«

»Nein, Anton Antonowitsch,« rief Herr Goljadkin, der ein wenig blaß
geworden war, dem sich Entfernenden nach, »nein, Anton Antonowitsch, so
etwas ist mir nicht in den Sinn gekommen!« -- »Was stellt das vor?« fuhr
unser Held, nachdem er allein geblieben war, im Selbstgespräche fort;
»was weht hier auf einmal für ein Wind, und was bedeutet dieser neue
Winkelzug?« In demselben Augenblicke, als unser bestürzter,
fassungsloser Held sich anschickte, eine Antwort auf diese neue Frage zu
suchen, ließ sich von dem Nachbarzimmer her Geräusch hören, eine Art von
geschäftlicher Bewegung wurde wahrnehmbar, die Tür öffnete sich, und
Andrei Filippowitsch, der kurz vorher in dienstlicher Angelegenheit in
das Arbeitszimmer Seiner Exzellenz gegangen war, erschien atemlos in der
Tür und rief Herrn Goljadkin. Dieser, der wußte, um was es sich
handelte, und Andrei Filippowitsch nicht warten lassen wollte, sprang
von seinem Platze auf, beeilte sich pflichtgemäß aufs äußerste, das
verlangte Schriftstück endgültig zurechtzumachen und in Ordnung zu
bringen, sowie auch sich selbst instand zu setzen, um sich mit dem
Schriftstück und mit Andrei Filippowitsch in das Arbeitszimmer Seiner
Exzellenz zu begeben. Auf einmal schlüpfte, beinahe unter Andrei
Filippowitschs Armen hindurch, der währenddessen gerade in der Tür
stand, Herr Goljadkin der jüngere ins Zimmer, geschäftig, atemlos,
amtseifrig, mit wichtiger, streng dienstlicher Miene, und stürzte
geradeswegs auf Herrn Goljadkin den älteren los, der auf nichts weniger
als auf einen solchen Überfall gefaßt war ...

»Die Papiere, Jakow Petrowitsch, die Papiere ... Seine Exzellenz hat
danach gefragt; haben Sie sie auch in Bereitschaft?« schnatterte der
Freund Herrn Goljadkins des älteren halblaut und hastig. »Andrei
Filippowitsch wartet auf Sie ...«

»Das weiß ich auch ohne Sie, daß er auf mich wartet,« erwiderte Herr
Goljadkin der ältere ebenfalls eilig und flüsternd.

»Nein, Jakow Petrowitsch, ich bin nicht so; ich bin durchaus nicht so,
Jakow Petrowitsch; ich bin Ihnen zugetan, Jakow Petrowitsch, und von
herzlicher Teilnahme erfüllt.«

»Mit dieser Teilnahme bitte ich Sie ergebenst mich zu verschonen.
Erlauben Sie, erlauben Sie ...«

»Sie müssen selbstverständlich einen Umschlag herummachen, Jakow
Petrowitsch, und bei der dritten Seite ein Lesezeichen einlegen;
erlauben Sie, Jakow Petrowitsch ...«

»So erlauben Sie doch endlich ...«

»Aber da ist ja ein Tintenfleck, Jakow Petrowitsch; haben Sie nicht den
Tintenfleck bemerkt?«

Hier rief Andrei Filippowitsch Herrn Goljadkin zum zweiten Male.

»Sofort, Andrei Filippowitsch; ich möchte nur noch einen Augenblick ...
es ist hier ... Mein Herr, verstehen Sie nicht Russisch?«

»Das beste wird sein, ihn mit dem Federmesser zu beseitigen, Jakow
Petrowitsch; überlassen Sie es lieber mir; rühren Sie ihn lieber nicht
selbst an, Jakow Petrowitsch, sondern überlassen Sie es mir! Ich will
selbst mit dem Federmesser ...«

Andrei Filippowitsch rief Herrn Goljadkin zum dritten Male.

»Aber ich bitte Sie, wo ist denn da ein Tintenfleck? Soweit ich sehe,
ist ja überhaupt keiner da!«

»Und sogar ein gewaltiger Tintenfleck! Da ist er! Da, erlauben Sie, hier
habe ich ihn gesehen, da, erlauben Sie mir, Jakow Petrowitsch; ich will
ihn hier mit dem Federmesser ... ich tue es aus Teilnahme, Jakow
Petrowitsch ... ich will mit dem Federmesser in bester Absicht ... sehen
Sie so; es wird sofort erledigt sein ...«

In einem ganz kurzen Kampfe, der zwischen ihnen entstand, überwältigte
Herr Goljadkin der jüngere Herrn Goljadkin den älteren und bemächtigte
sich dann plötzlich ganz unerwartet ohne weiteres und jedenfalls ganz
gegen den Willen seines Gegners des von dem Vorgesetzten verlangten
Schriftstückes; statt aber mit dem Federmesser »in bester Absicht« daran
zu radieren, wie er Herrn Goljadkin dem älteren lügnerischerweise
versichert hatte, rollte er es schnell zusammen, schob es unter den Arm,
befand sich in zwei Sprüngen neben Andrei Filippowitsch, der von seinen
Kniffen nichts bemerkt hatte, und eilte mit diesem in das Arbeitszimmer
des Direktors hinein. Herr Goljadkin der ältere blieb wie angenagelt an
seinem Fleck stehen, in der Hand das Federmesser, wie wenn er sich
anschickte, etwas damit zu radieren ...

Unser Held verstand sein neues Erlebnis noch nicht ganz. Er war noch
nicht zur Besinnung gekommen. Er fühlte den Schlag, überlegte aber noch,
was dieser zu bedeuten habe. In furchtbarer, unbeschreiblicher Erregung
riß er sich endlich von seinem Platze los und stürmte davon, geradeswegs
in der Richtung nach dem Arbeitszimmer des Direktors, wobei er unterwegs
den Himmel anflehte, daß alles dies sich doch noch gut gestalten und
weiter nichts zu bedeuten haben möge ... In dem letzten Zimmer vor dem
Arbeitszimmer des Direktors rannte er Nase gegen Nase mit Andrei
Filippowitsch und seinem Namensvetter zusammen. Diese kamen beide
bereits zurück; Herr Goljadkin trat zur Seite. Andrei Filippowitsch
redete lächelnd und heiter. Herrn Goljadkins des älteren Namensvetter
lächelte ebenfalls, fuchsschwänzelte, trippelte in respektvoller
Entfernung von Andrei Filippowitsch einher und flüsterte ihm mit
entzückter Miene etwas ins Ohr, worauf Andrei Filippowitsch sehr
wohlwollend mit dem Kopfe nickte. Nun verstand unser Held auf einmal die
Lage der Dinge. Die Sache war die, daß seine Arbeit (wie er später
erfuhr) die Erwartungen Seiner Exzellenz beinah übertroffen hatte und
wirklich zum festgesetzten Termine rechtzeitig fertig geworden war.
Seine Exzellenz war außerordentlich zufrieden gewesen. Es verlautete
sogar, Seine Exzellenz habe Herrn Goljadkin dem jüngeren seinen Dank,
seinen warmen Dank ausgesprochen und gesagt, er werde sich bei
vorkommender Gelegenheit dessen erinnern und es nicht vergessen ...
Natürlich war Herrn Goljadkins erste Regung, Protest einzulegen, mit
aller Macht Protest einzulegen, bis an die äußersten Grenzen der
Möglichkeit. Fast ohne von sich selbst zu wissen und blaß wie der Tod
stürzte er zu Andrei Filippowitsch hin. Aber als dieser hörte, daß es
sich um eine Privatsache Herrn Goljadkins handle, weigerte er sich, sie
anzuhören, indem er in entschiedenem Tone bemerkte, er habe sogar für
seine eigenen notwendigen Angelegenheiten keine freie Minute.

Die Trockenheit des Tones und die Schärfe der Zurückweisung befremdeten
Herrn Goljadkin. »Es wird das beste sein, wenn ich die Sache von einer
anderen Seite versuche ... ich will lieber zu Anton Antonowitsch gehen.«

Zu Herrn Goljadkins Unglück war auch Anton Antonowitsch nicht anwesend;
auch er war irgendwo anders irgendwie beschäftigt! »Also hat er mich
nicht ohne Absicht ersucht, ihn mit Erörterungen und Gesprächen zu
verschonen!« dachte unser Held. »Darauf hat er abgezielt, der alte
Fuchs! Wenn's so ist, dann muß ich einfach wagen, mich mit meiner Bitte
an Seine Exzellenz zu wenden.«

Immer noch blaß und mit dem Gefühl, daß sein Kopf sich in arger
Verwirrung befinde, und sehr unsicher, wozu er sich eigentlich
entschließen solle, setzte sich Herr Goljadkin auf seinen Stuhl. »Es
wäre weit besser, wenn die ganze Sache eine harmlose Aufklärung fände,«
dachte er unaufhörlich für sich. »In der Tat, eine derartige dunkle
Geschichte ist ganz unglaublich. Erstens ist es dummes Zeug, und
zweitens kann es sich gar nicht begeben. Es ist wahrscheinlich nur so
eine Einbildung von mir gewesen; oder die Sache hat ganz anders
ausgesehen, als sie sich tatsächlich verhielt; oder ich bin gewiß selbst
hingegangen ... und habe mich da irgendwie für einen ganz anderen
gehalten ... Kurz, es ist eine ganz wunderliche Geschichte.«

Gerade in dem Augenblicke, als Herr Goljadkin zu dem Schlusse gelangt
war, daß dies eine ganz wunderliche Geschichte sei, kam plötzlich Herr
Goljadkin der jüngere ins Zimmer geflogen, mit Akten in beiden Händen
und unter dem Arme. Nachdem er im Vorbeigehen ein paar notwendige Worte
zu Andrei Filippowitsch gesprochen, mit noch jemandem ein bißchen
geredet, einem andern ein paar Liebenswürdigkeiten gesagt und zu noch
einem andern einige familiäre Bemerkungen gemacht hatte, schickte Herr
Goljadkin der jüngere, der vermutlich keine überflüssige Zeit zu
verschwenden hatte, sich anscheinend schon an, das Zimmer zu verlassen;
aber zum Glücke für Herrn Goljadkin den älteren blieb er gerade in der
Tür stehen und redete im Vorbeigehen mit zwei oder drei zufällig dort
stehenden jungen Beamten. Herr Goljadkin der ältere stürzte geradeswegs
auf ihn los. Kaum hatte Herr Goljadkin der jüngere dieses Manöver des
älteren Herrn Goljadkin bemerkt, als er sofort in größter Unruhe um sich
zu schauen begann, wohin er wohl möglichst schnell verschwinden könne.
Aber unser Held hatte seinen Gast vom vorhergehenden Tage schon beim
Ärmel gefaßt. Die Beamten, die um die beiden Titularräte herumstanden,
traten auseinander und warteten neugierig, was nun kommen werde. Der
alte Titularrat wußte sehr genau, daß die allgemeine Meinung nicht auf
seiner Seite war; er wußte sehr genau, daß gegen ihn intrigiert wurde;
um so mehr mußte er jetzt seinen Platz behaupten. Der entscheidende
Augenblick war da.

»Nun?« sagte Herr Goljadkin der jüngere, indem er Herrn Goljadkin den
älteren ziemlich dreist ansah.

Herr Goljadkin der ältere konnte kaum atmen.

»Ich weiß nicht, mein Herr,« begann er, »wie ich mir jetzt Ihr
sonderbares Benehmen gegen mich erklären soll.«

»Schön! Fahren Sie fort!« Dabei blickte Herr Goljadkin der jüngere rings
um sich und blinzelte den Beamten, die um sie herumstanden, zu, wie wenn
er ihnen zu verstehen geben wollte, daß jetzt gleich eine Komödie
beginnen werde.

»Die Dreistigkeit und Unverschämtheit Ihres Benehmens gegen mich im
jetzigen Augenblick dienen noch mehr zu Ihrer Überführung, mein Herr,
als alle meine Worte. Hoffen Sie nicht, Ihr Spiel zu gewinnen; Ihr Spiel
steht schlecht ...«

»Nun, Jakow Petrowitsch, dann sagen Sie mir doch einmal: wie haben Sie
geschlafen?« antwortete Herr Goljadkin der jüngere und blickte Herrn
Goljadkin dem älteren dabei gerade in die Augen.

»Sie vergessen sich, mein Herr,« sagte der Titularrat ganz verwirrt; er
fühlte kaum noch den Boden unter seinen Füßen. »Ich hoffe, daß Sie Ihren
Ton ändern werden ...«

»Mein liebes Seelchen!« versetzte Herr Goljadkin der jüngere, indem er
Herrn Goljadkin dem älteren eine ungezogene Grimasse schnitt und ihm auf
einmal ganz unerwartet in Form einer Liebkosung mit zwei Fingern an die
ziemlich fleischige rechte Backe griff. Unser Held fuhr auf wie eine
Feuerflamme ... Kaum bemerkte der Freund des älteren Herrn Goljadkin,
daß sein Gegner, an allen Gliedern zitternd, sprachlos vor Entrüstung,
rot wie ein Krebs und bis zum äußersten gebracht, nahe daran war, sich
zu einem physischen Angriff zu entschließen, als er ihm unverzüglich in
der unverschämtesten Weise seinerseits zuvorkam. Nachdem er ihm noch ein
paarmal auf die Backe geklopft, ihn noch ein paarmal gekitzelt und so
den vor Wut Tollen und Regungslosen noch einige Sekunden lang zu nicht
geringer Belustigung der umherstehenden jungen Leute geneckt hatte,
versetzte Herr Goljadkin der jüngere mit empörender Unverschämtheit zu
guter Letzt Herrn Goljadkin dem älteren einige Stüber auf das dralle
Bäuchlein und sagte boshaft lächelnd und mit einer versteckten
Anspielung zu ihm: »Was machst du für Streiche, Brüderchen Jakow
Petrowitsch, was machst du für Streiche! Du hast mir ja vorgeschlagen,
wir beide wollten zusammen intrigieren, Jakow Petrowitsch!« Dann, ehe
unser Held noch von dem letzten Angriffe ein wenig hatte zu sich kommen
können, nahm Herr Goljadkin der jüngere auf einmal, nachdem er die
umherstehenden Zuschauer durch ein leises Lächeln darauf vorbereitet
hatte, eine sehr geschäftige, eifrige Dienstmiene an, schlug die Augen
zur Erde nieder, krümmte sich zusammen, sagte eilig: »In besonderem
Auftrage!«, schlug mit seinem kurzen Beinchen aus und huschte in das
anstoßende Zimmer. Unser Held traute seinen Augen nicht und konnte immer
noch nicht recht zur Besinnung kommen.

Endlich gelang es ihm, seine Gedanken wieder zu sammeln. Nachdem es ihm
in einem Augenblicke zum Bewußtsein gekommen war, daß er zugrunde
gerichtet und in gewissem Sinne vernichtet sei, daß er seine Ehre
befleckt und seinen Ruf besudelt habe, daß er in Gegenwart fremder
Personen verhöhnt und verspottet sei, daß ihn verräterischerweise
derjenige beschimpft habe, den er noch gestern für seinen besten,
zuverlässigsten Freund gehalten hatte, und daß er sich schließlich
bodenlos blamiert habe: da stürzte Herr Goljadkin davon, um seinen Feind
zu verfolgen. An die Zeugen seiner Beschimpfung mochte er im
gegenwärtigen Augenblicke gar nicht denken. »Die stecken alle unter
einer Decke,« sagte er bei sich; »einer hilft dem andern, und einer
hetzt den andern gegen mich auf.« Als er indessen zehn Schritte gemacht
hatte, sah unser Held ein, daß die ganze Verfolgung unnütz und
vergeblich sein werde, und kehrte daher wieder um. »Du wirst mir nicht
entgehen!« dachte er; »du wirst seinerzeit schon deine Strafe erhalten;
die Tränen der Schafe werden dem Wolfe teuer zu stehen kommen.« Mit
grimmiger Kaltblütigkeit und der energischsten Entschlossenheit ging
Herr Goljadkin zu seinem Stuhle und setzte sich hin. »Du wirst mir nicht
entgehen!« sagte er noch einmal. Jetzt handelte es sich für ihn nicht
mehr um passive Verteidigung; nein, er war zu kräftiger Offensive
entschlossen, und wer Herrn Goljadkin in diesem Augenblicke sah, wie er,
mit rotem Kopfe und kaum seine Aufregung bemeisternd, mit der Feder in
das Tintenfaß fuhr, und mit welcher Wut er sich daran machte, die Worte
auf das Papier zu werfen, der konnte schon im voraus erkennen, daß die
Sache keinen harmlosen Ausgang nehmen werde und nicht wie ein einfaches
Weibergezänk enden könne. In der Tiefe seiner Seele faßte er einen
Entschluß, und in der Tiefe seines Herzens schwur er sich, ihn
auszuführen. Allerdings wußte er noch nicht ganz genau, wie er dabei
verfahren solle, d. h. richtiger gesagt, er wußte es überhaupt nicht;
aber das war gleichgültig, das machte nichts aus! »Annahme eines
falschen Namens und unverschämtes Benehmen, mein Herr, verhelfen in
unserem Zeitalter nicht zum Erfolge. Annahme eines falschen Namens und
unverschämtes Benehmen, mein Herr, führen zu nichts Gutem, sondern
bringen zu Schaden. Grischka Otrepjew[5] war der einzige, der durch
Annahme eines falschen Namens etwas erreichte, indem er das blinde Volk
täuschte, mein Herr, und auch das dauerte nicht lange.« Trotz dieses
letzteren Umstandes beschloß Herr Goljadkin noch so lange zu warten, bis
die Maske von einigen Gesichtern abfallen und dies und das zur Klarheit
gelangen werde. Dazu war zunächst nötig, daß die Bureaustunden möglichst
bald zu Ende gingen, und bis dahin beschloß unser Held nichts zu
unternehmen. Dann aber, wenn die Bureaustunden zu Ende wären, dann,
sagte er sich, werde er seine Maßregeln ergreifen. Dann werde er wissen,
wie er bei der Durchführung dieser Maßregeln zu verfahren habe, wie er
seinen ganzen Operationsplan entwerfen müsse, um das Horn des Stolzes zu
zerbrechen und die Schlange zu zertreten, die sich von Moder nährt und
den Kraftlosen verachtet. Daß man ihn beschmutzte wie einen Lappen, an
dem man sich die unsauberen Stiefel abwischt, das konnte Herr Goljadkin
nicht dulden. Dazu konnte er seine Einwilligung nicht geben, und
besonders nicht in dem jetzt vorliegenden Falle. Hätte die letzte
Beschimpfung nicht stattgefunden, so hätte unser Held sich vielleicht
dazu entschlossen, seinem Herzen Zwang anzutun, er hätte sich vielleicht
dazu entschlossen, zu schweigen, sich zu fügen und nicht allzu
hartnäckig zu protestieren; er hätte dann wohl ein bißchen gestritten,
sich ein bißchen beklagt, hätte bewiesen, daß er im Rechte sei; dann
hätte er ein bißchen nachgegeben; dann hätte er vielleicht noch ein
bißchen nachgegeben; dann hätte er ganz zugestimmt; dann, namentlich
wenn die Gegenpartei feierlich erklärt hätte, daß er im Rechte sei,
hätte er sich vielleicht sogar versöhnt, wäre ein bißchen gerührt
geworden; es wäre vielleicht sogar (wer hätte es wissen können?) eine
neue Freundschaft erwachsen, eine feste, warme Freundschaft, noch
herzlicher als die gestrige Freundschaft, so daß durch diese
Freundschaft schließlich die Unannehmlichkeit einer recht unziemlichen
Ähnlichkeit der beiden Personen ganz übertönt worden wäre und die beiden
Titularräte höchst vergnügt gewesen wären und bis zum Alter von hundert
Jahren zusammen hätten leben können usw. Sprechen wir schließlich alles
aus: Herr Goljadkin begann sogar, es ein bißchen zu bereuen, daß er für
sich und sein Recht eingetreten war und sich dadurch sofort eine
Unannehmlichkeit zugezogen hatte. »Wenn er klein beigäbe,« dachte Herr
Goljadkin, »wenn er sagte, daß er nur gescherzt habe, dann würde ich ihm
verzeihen und um so eher, wenn er das laut eingestände. Aber ich lasse
mich nicht wie einen alten Lappen beschmutzen. Ganz anderen Leuten habe
ich nicht gestattet, mich zu beschmutzen; um so weniger werde ich
erlauben, daß ein so heruntergekommener Mensch das versucht. Ich bin
kein alter Lappen, mein Herr! ich bin kein alter Lappen!« Kurz, unser
Held hatte seinen Entschluß gefaßt. »Sie selbst, mein Herr, tragen die
Schuld!« Er hatte sich dazu entschlossen, Protest einzulegen, mit aller
Macht Protest einzulegen, bis an die äußersten Grenzen der Möglichkeit.
Das lag nun einmal in seinem Charakter! Daß man ihn beleidige, das
konnte er unter keinen Umständen dulden, und noch weniger konnte er
erlauben, daß man ihn wie einen alten Lappen beschmutze, und am
wenigsten konnte er das einem ganz heruntergekommenen Menschen erlauben.
Wir wollen übrigens nicht streiten, wir wollen nicht streiten. Wenn z.
B. jemand Lust gehabt, ein starkes Verlangen verspürt hätte, Herrn
Goljadkin in einen alten Lappen zu verwandeln, so wäre ihm das
vielleicht gelungen, und er hätte ihn, ohne Widerstand zu finden,
ungestraft in einen solchen verwandelt (Herr Goljadkin fühlte das
manchmal selbst), und es wäre ein alter Lappen als Herrn Goljadkins
Nachfolger herausgekommen, ein gemeiner, schmutziger, alter Lappen; aber
das wäre kein gewöhnlicher alter Lappen gewesen, sondern ein alter
Lappen mit Ehrgefühl, ein alter Lappen mit Begeisterung und
Empfindsamkeit, wenn auch mit stummem Ehrgefühl und mit stummer
Empfindsamkeit; und wenn auch diese Empfindsamkeit tief in den
schmutzigen Falten dieses alten Lappens verborgen gewesen wäre,
vorhanden wäre sie doch gewesen.

[Fußnote 5: Der falsche Demetrius. Anmerkung des Übersetzers.]

Die Stunden dauerten unglaublich lange; endlich schlug es vier. Gleich
darauf standen alle auf und begaben sich, dem Vorgange ihres
Vorgesetzten folgend, zu sich nach Hause. Herr Goljadkin mischte sich
unter den Schwarm; seine Augen waren wachsam und ließen denjenigen, auf
den er es abgesehen hatte, nicht aus der Acht. Endlich sah unser Held,
daß sein Freund zu den Kanzleidienern hinlief, die die Mäntel
austeilten, und nach seiner häßlichen Gewohnheit in Erwartung des
seinigen um sie herumschwänzelte. Dies war der entscheidende Augenblick.
Herr Goljadkin drängte sich, so gut es ging, durch den Schwarm hindurch
und bemühte sich, um nicht zurückzubleiben, ebenfalls um seinen Mantel.
Aber dem Freunde des Herrn Goljadkin wurde der seinige zuerst gereicht,
weil er es auch hier fertig brachte in seiner Weise sich
einzuschmeicheln, den Liebenswürdigen zu spielen, verbindlich zu
flüstern und sich unwürdig zu benehmen.

Nachdem Herr Goljadkin der jüngere seinen Mantel umgeworfen hatte, sah
er Herrn Goljadkin den älteren ironisch an, mit der unverhohlenen,
dreisten Absicht, ihn zu ärgern; dann blickte er mit der ihm eigenen
Frechheit rings um sich, trippelte zu guter Letzt noch einmal bei den
andern Beamten umher, wahrscheinlich um einen vorteilhaften Eindruck zu
hinterlassen, sagte dem einen ein freundliches Wort, flüsterte einem
andern etwas zu, widmete einem dritten eine Respektsbezeigung,
spendierte einem vierten ein Lächeln, gab einem fünften die Hand und
schlüpfte vergnügt die Treppe hinunter. Herr Goljadkin der ältere eilte
hinter ihm her, holte ihn zu seiner größten Freude noch auf der letzten
Stufe ein und faßte ihn am Mantelkragen. Herr Goljadkin der jüngere
schien ein wenig zu erschrecken und blickte betroffen rings um sich.

»Wie soll ich das auffassen?« flüsterte er endlich Herrn Goljadkin mit
schwacher Stimme zu.

»Mein Herr, wenn Sie überhaupt ein anständiger Mensch sind, so hoffe
ich, Sie werden sich an unsere gestrigen freundschaftlichen Beziehungen
erinnern,« sagte unser Held.

»Ah, ja! Nun also: haben Sie gut geschlafen?«

Die Wut benahm Herrn Goljadkin dem älteren für einen Augenblick die
Sprache.

»Ich habe allerdings gut geschlafen ... Aber erlauben Sie mir, Ihnen zu
sagen, mein Herr, daß Ihr Spiel gründlich verdorben ist ...«

»Wer sagt das? Das sagen meine Feinde,« antwortete kurz derjenige, der
sich Herr Goljadkin nannte, und befreite sich bei diesen Worten
unerwartet aus den schwachen Händen des wirklichen Herrn Goljadkin.
Nachdem er sich befreit hatte, eilte er hinaus, blickte um sich, sah
eine Droschke, lief zu ihr hin, setzte sich hinein und war im nächsten
Augenblicke den Augen Herrn Goljadkins des älteren entschwunden.
Verzweifelt und von allen verlassen schaute der Titularrat sich nach
allen Seiten um; aber es war keine andere Droschke da. Er machte den
Versuch zu laufen; aber die Beine versagten ihm den Dienst. Mit
niedergeschlagener Miene und offenem Munde, sich kraftlos
zusammenkrümmend, lehnte er sich wie vernichtet an einen Laternenpfahl
und blieb so einige Minuten lang auf dem Trottoir stehen. Man konnte
glauben, daß es mit Herrn Goljadkin völlig aus sei.



                              9. Kapitel


Alles, sogar die Natur selbst, schien sich gegen Herrn Goljadkin
verschworen zu haben; aber er stand noch auf seinen Füßen und war noch
nicht besiegt; er fühlte, daß er nicht besiegt war. Er war bereit,
weiter zu kämpfen. Als er nach der ersten Betäubung wieder zur Besinnung
kam, rieb er sich mit einem solchen Gefühl der Energie die Hände, daß
man schon bei seinem bloßen Anblick zu dem Schlusse kommen konnte, er
werde nicht nachgeben. Übrigens war die Gefahr ihm nahe auf den Leib
gerückt und offensichtlich geworden; auch dies fühlte Herr Goljadkin;
aber wie sollte er ihr begegnen, dieser Gefahr? Das war die Frage. Für
einen Augenblick schoß Herrn Goljadkin sogar folgender Gedanke durch den
Kopf: »Wie wär's, wenn ich die ganze Sache laufen ließe und einfach
verzichtete? Was wäre dabei? Na, gar nichts. Ich werde still für mich
leben, als ob ich es gar nicht wäre,« dachte Herr Goljadkin; »ich werde
alles fahren lassen; ich bin es nicht, Punktum. Er wird ebenfalls still
für sich leben und vielleicht auch verzichten; er wird scherwenzeln, der
Halunke, wird scherwenzeln und sich hin und her drehen; aber er wird
doch verzichten. So muß es gemacht werden! Ich werde durch Demut siegen.
Und wo ist denn eine Gefahr? Nun, was für eine Gefahr besteht denn? Ich
möchte wohl, daß mir jemand nachwiese, wo bei dieser Angelegenheit eine
Gefahr steckt. Das Ganze ist eine Lumperei, eine ganz gewöhnliche
Geschichte! ...« Hier stockte Herr Goljadkin in seinen Überlegungen; die
Worte erstarben ihm auf der Zunge; er schalt sich sogar für diesen
Gedanken aus und klagte sich niedriger Gesinnung und arger Feigheit
wegen dieses Gedankens an; aber seine Sache kam trotzdem nicht vom
Fleck. Er fühlte, daß es im gegenwärtigen Augenblicke für ihn dringend
notwendig war, sich zu irgend etwas zu entschließen; er hatte sogar die
Empfindung, daß er demjenigen viel geben würde, der ihm sagte, wozu er
sich eigentlich entschließen müsse. Na, aber wie sollte er das erraten?
Übrigens hatte er auch keine Zeit, sich mit Raten abzugeben. Auf jeden
Fall nahm er, um keine Zeit zu verlieren, eine Droschke und fuhr schnell
nach Hause. »Nun? Wie fühlst du dich jetzt?« dachte er bei sich; »wie
ist dir jetzt zumute, Jakow Petrowitsch? Was wirst du machen? Was wirst
du jetzt anfangen, du Schuft, du Halunke? Da hast du dich nun in die
ärgste Lage gebracht, und jetzt weinst du, jetzt winselst du!« So
verhöhnte Herr Goljadkin sich selbst, während er auf dem Sitze der
rüttelnden und stoßenden Equipage seines Rosselenkers auf- und
niederhüpfte. Sich zu verhöhnen und in dieser Weise seine Wunden
aufzureißen war in diesem Augenblicke für Herrn Goljadkin eine Art von
hohem Genusse, ja beinah eine Wonne. »Na, wenn jetzt«, dachte er,
»irgendein Zauberer käme oder es sich auf amtlichem Wege so gestaltete,
daß man mir sagte: >Goljadkin, gib einen Finger von deiner rechten Hand
her, dann sollst du quitt sein; es soll dann keinen andern Goljadkin
geben, und du wirst glücklich sein; nur den Finger wirst du nicht mehr
haben,< -- dann würdest du den Finger hingeben; du würdest ihn unbedingt
hingeben, würdest ihn hingeben, ohne die Stirn zu runzeln. Hol der
Teufel diese ganze Geschichte!« rief der verzweifelte Titularrat
schließlich. »Wozu ist denn das alles passiert? Daß das alles auch
passieren mußte, gerade das, ausgerechnet das, als ob nicht irgend etwas
anderes hätte passieren können! Und alles war vorher gut; alle waren
zufrieden und glücklich; aber nein, es mußte dies passieren! Übrigens
ist mit Worten dabei nicht zu helfen. Da muß gehandelt werden!«

So hatte Herr Goljadkin, als er seine Wohnung betrat, sich schon beinah
zu irgend etwas entschlossen; ohne zu zaudern griff er nach seiner
Pfeife, und aus Leibeskräften daran saugend und Rauchwolken nach rechts
und links ausstoßend, begann er in großer Aufregung in seinem Zimmer hin
und her zu laufen. Unterdessen fing Petruschka an, den Tisch zu decken.
Endlich war Herr Goljadkin mit seinem Entschlusse ins reine gekommen; er
warf plötzlich die Pfeife hin, zog sich den Mantel an, sagte, er werde
nicht zu Hause zu Mittag essen, und lief aus der Wohnung. Auf der Treppe
holte ihn Petruschka ganz atemlos ein, der den von ihm vergessenen Hut
in der Hand hielt. Herr Goljadkin nahm den Hut hin und wollte sich so
obenhin mit ein paar Worten vor Petruschka entschuldigen, damit dieser
nicht auf irgendwelche besonderen Gedanken käme (er wollte sagen, es sei
etwas Derartiges vorgefallen, daß es einem leicht passieren könne, den
Hut zu vergessen usw.); aber da Petruschka ihn nicht einmal ansehen
mochte, sondern sogleich wieder wegging, so setzte auch Herr Goljadkin
ohne weitere Auseinandersetzungen seinen Hut auf und lief die Treppe
hinunter. Er sagte sich, vielleicht werde alles sich gut gestalten und
die Sache sich irgendwie zurechtschieben, und obwohl er die erfrorenen
Stellen an seinen Fersen unangenehm fühlte, trat er auf die Straße
hinaus, nahm sich eine Droschke und fuhr schnell zu Andrei
Filippowitsch. »Wäre es übrigens nicht besser, es bis morgen zu lassen?«
dachte Herr Goljadkin, während er nach dem Klingelzuge an Andrei
Filippowitschs Entreetür griff. »Was habe ich ihm denn auch eigentlich
Besonderes zu sagen? Etwas Besonderes liegt hier überhaupt nicht vor.
Die Sache ist ja so jämmerlich, wirklich jämmerlich, ekelhaft, d. h.
beinah ekelhaft ... so wie dies alles, dieser ganze Vorfall ...«
Plötzlich zog Herr Goljadkin an dem Klingelzuge; die Klingel ertönte;
von innen wurden Schritte vernehmbar ... Nun verwünschte Herr Goljadkin
sich geradezu wegen seiner Übereilung und Dreistigkeit. Die
Unannehmlichkeiten, die er vor kurzem gehabt, aber über den amtlichen
Dingen beinahe vergessen hatte, und sein Rencontre mit Andrei
Filippowitsch kamen ihm jetzt sofort wieder ins Gedächtnis. Aber zum
Davonlaufen war es bereits zu spät: die Tür wurde geöffnet. Zu Herrn
Goljadkins Glücke wurde ihm geantwortet, daß Andrei Filippowitsch nicht
vom Dienst nach Hause gekommen sei und nicht zu Hause zu Mittag gegessen
habe. »Ich weiß, wo er zu Mittag gegessen hat; er pflegt bei der
Ismailowski-Brücke zu Mittag zu essen,« dachte unser Held und freute
sich gewaltig. Auf die Frage des Dieners, wen er seinem Herrn als
dagewesen melden solle, erwiderte er: »Schon gut; ich werde später noch
einmal wiederkommen, mein Freund!« und lief sogar mit einer gewissen
Munterkeit die Treppe hinab. Als er auf die Straße hinaustrat, entschied
er sich dafür, den Wagen zu entlassen und den Kutscher abzulohnen. Als
der Kutscher um ein Trinkgeld bat, mit der Begründung: »Ich habe lange
warten müssen, mein Herr, und habe meinen Traber für Euer Gnaden nicht
geschont,« da gab er ihm auch fünf Kopeken Trinkgeld, und sogar recht
gern; er selbst ging zu Fuß.

»Die Sache ist allerdings von der Art,« dachte Herr Goljadkin, »daß man
sie nicht so weitergehen lassen darf; indessen, wenn man es überlegt, so
recht überlegt, warum soll man sich denn eigentlich deswegen Mühe
machen? Na ja, ich will nur sagen, warum soll ich mir deswegen Mühe
machen? Warum soll ich mich plagen, mich quälen, mich peinigen, mir das
Leben verderben? Erstens ist die Sache einmal geschehen und läßt sich
nicht ungeschehen machen ... nein, ungeschehen läßt sie sich nicht
machen! Erwägen wir sie einmal so: da erscheint ein Mensch ... es
erscheint ein Mensch mit ausreichender Empfehlung; es heißt darin, er
sei ein brauchbarer Beamter, habe sich gut geführt; er ist nur arm
und hat allerlei Unannehmlichkeiten auszustehen gehabt, so
Klatschgeschichten und Zänkereien; na, Armut ist ja keine Schande. Also
was geht mich die Sache an? In der Tat, was ist das für dummes Zeug? Na,
da trifft es sich nun, daß dieser Mensch so gestaltet ist, von der Natur
selbst so gestaltet ist, daß er einem andern Menschen so ähnlich sieht
wie ein Ei dem andern, daß er die vollkommene Kopie eines andern
Menschen ist; soll er nun deswegen bei der Behörde keine Aufnahme
finden? Wenn das Schicksal, wenn einzig und allein das Schicksal, wenn
einzig und allein der blinde Zufall daran schuld ist, soll man ihn dann
mißachten wie einen alten Lappen und ihm nicht gestatten, ein Amt zu
verwalten ... wo bleibt da bei solchem Verfahren die Gerechtigkeit? Er
ist ein armer, verstörter, verängstigter Mensch; das Herz tut einem weh
bei seinem Anblick; das Mitleid gebietet, daß man sich seiner annimmt!
Ja! Das muß man sagen, das wäre eine nette Obrigkeit, wenn sie darüber
so dächte wie ich herzloser Mensch! Nein, was habe ich für einen Kopf!
Manchmal haben zehn Dummheiten zugleich darin Platz! Nein, nein! Sie
haben gut getan, und es gebührt ihnen Dank dafür, daß sie sich des armen
Teufels angenommen haben ... Na ja, allerdings, zum Beispiel, daß wir so
ähnlich sind, daß wir eine solche zwillingshafte Ähnlichkeit haben, das
ist eine tolle Geschichte! Aber, was ist dabei? Einfach gar nichts! Die
Beamten können sich alle daran gewöhnen; und ein Fremder, der in unser
Bureau kommt, wird gewiß in einem solchen Umstande nichts Unziemliches
und Anstößiges finden. Es ist sogar gewissermaßen etwas Rührendes dabei;
er wird sich sagen: >Was liegt da für ein schöner Gedanke zugrunde? Die
göttliche Vorsehung hat zwei ganz ähnliche Menschen geschaffen, und die
edeldenkende Behörde hat sich, da sie sah, was die göttliche Vorsehung
getan hat, der beiden Zwillinge angenommen.< Das ist gewiß,« fuhr Herr
Goljadkin fort, indem er tief Atem holte und die Stimme ein wenig
senkte, »das ist gewiß, das beste wäre es, wenn all das nicht
existierte, wenn nichts Rührendes da wäre und auch keine Zwillinge ...
Hole der Teufel diese ganze Geschichte! Und wozu war das denn nötig? Was
war denn für eine besondere, keinen Aufschub vertragende Notwendigkeit
vorhanden? Herr du mein Gott! Was hat uns da der Teufel für eine Grütze
gekocht! Und dabei hat dieser Mensch so einen Charakter, so ein
spaßhaftes, unangenehmes Wesen, ein solcher Schuft ist er, eine solche
Wetterfahne, ein Liebediener und Schmarotzer, so ein echter Goljadkin!
Am Ende wird er sich gar noch schlecht führen und meinen Familiennamen
beflecken, der Schurke! Da heißt es nun jetzt auf ihn aufpassen, ihn
beaufsichtigen! Ach, ist das eine Heimsuchung! Übrigens wieso denn? Es
ist ja doch gar nicht nötig! Na, wenn er ein Schuft ist, dann mag er in
Gottes Namen ein Schuft sein; aber dafür ist der andere ein ehrenwerter
Mensch. Na, wenn er nun ein Schuft sein wird, ich aber ehrenwert, dann
werden sie sagen: >Dieser Goljadkin hier ist ein Schuft; um den muß man
sich nicht kümmern und darf ihn nicht mit dem andern verwechseln; der
andere aber ist ehrenwert, tugendhaft, sanft, gutmütig, durchaus
zuverlässig im Dienst und eines Avancements würdig. So ist das!< Na, gut
... aber wie, hm ... Aber wie werden sie, hm ... und sie werden uns doch
verwechseln! Es sieht ihm ganz ähnlich, daß er es darauf anlegt! Ach du
mein Herrgott! ... Und er gibt sich für einen andern Menschen aus, gibt
sich für einen andern Menschen aus, dieser Schuft; als ob der andere ein
alter Lappen wäre, gibt er sich für ihn aus und bedenkt nicht, daß ein
Mensch kein alter Lappen ist. Ach du mein Herrgott! Ist das ein Unglück!
...«

Unter solchen Überlegungen und Wehklagen lief Herr Goljadkin dahin, ohne
auf den Weg zu achten, und beinah ohne selbst zu wissen, wohin. Erst auf
dem Newski-Prospekte kam er zu sich, und zwar nur infolge des zufälligen
Umstandes, daß er mit einem Passanten so geschickt und kräftig
zusammenstieß, daß beiden die Funken aus den Augen sprühten. Herr
Goljadkin murmelte, ohne den Kopf in die Höhe zu heben, eine
Entschuldigung, und erst als der andere, der etwas nicht sehr
Schmeichelhaftes zurückgemurmelt hatte, sich bereits in beträchtlicher
Entfernung befand, richtete er den Kopf auf und sah sich um, wo er denn
sei. Als er dabei bemerkte, daß er sich gerade vor dem Restaurant
befand, in dem er sich zur Vorbereitung auf das Diner bei Olsufi
Iwanowitsch erholt hatte, fühlte unser Held auf einmal ein Kneifen und
Zwicken im Magen und erinnerte sich, daß er noch nicht zu Mittag
gegessen hatte und nirgends zum Diner eingeladen war; ohne daher seine
kostbare Zeit zu verlieren, lief er die Treppe zum Restaurant hinauf, um
in aller Geschwindigkeit einen Bissen zu genießen und möglichst bald
wieder fortzugehen. Und obgleich in dem Restaurant alles ein bißchen
teuer war, so ließ sich Herr Goljadkin doch durch diesen unbedeutenden
Umstand diesmal nicht zurückschrecken; er hatte keine Zeit, sich mit so
unwichtigen Dingen aufzuhalten. In einem hellerleuchteten Zimmer stand
eine ziemlich dichte Schar von Gästen um das Büfett herum, auf welchem
eine Menge all solcher Speisen stand, wie sie von gutsituierten Leuten
als Vorgericht genossen werden. Der Büfettkellner hatte alle Hände voll
zu tun mit Einschenken, Hinreichen, Geldnehmen und -herausgeben. Herr
Goljadkin wartete ein Weilchen, bis er herankonnte, und streckte dann
bescheiden seine Hand nach einer kleinen Fischpastete aus. Darauf ging
er in eine Ecke, wendete den Anwesenden den Rücken zu, aß mit gutem
Appetite, kehrte dann wieder zu dem Büfettkellner zurück, stellte das
Tellerchen auf den Tisch, zog, da er den Preis kannte, ein
Zehnkopekenstück heraus und legte es auf den Schenktisch, wobei er den
Blick des Kellners auffing, um ihn zu bedeuten: »Hier liegt das Geld;
eine Pastete.«

»Sie haben einen Rubel zehn Kopeken zu zahlen,« sagte der Kellner
mürrisch.

Herr Goljadkin war höchst erstaunt.

»Meinen Sie mich? ... Ich ... ich habe ja wohl nur eine Pastete
genommen.«

»Sie haben elf genommen,« erwiderte der Kellner im Tone sicherer
Überzeugung.

»Sie irren sich wohl ... meines Erachtens irren Sie sich ... Ich habe ja
wohl wirklich nur eine Pastete genommen.«

»Ich habe gezählt; Sie haben elf Stück genommen. Da Sie sie genommen
haben, müssen Sie sie auch bezahlen; umsonst wird bei uns nichts
verabfolgt.«

Herr Goljadkin war wie betäubt. »Was widerfährt mir da für eine
Zauberei?« dachte er. Unterdessen wartete der Kellner auf Herrn
Goljadkins Entschluß; man umdrängte neugierig Herrn Goljadkin; dieser
griff schon in die Tasche, um einen Rubel herauszuholen und unverzüglich
zu bezahlen und nur ja keine Sünde auf sein Gewissen zu laden. »Na, wenn
es elf Stück gewesen sind, meinetwegen!« dachte er und wurde rot wie ein
Krebs. »Na, was ist denn dabei, daß jemand elf Pasteten gegessen hat?
Der Mensch ist eben hungrig gewesen, und da hat er elf Pasteten
gegessen; möge es ihm wohl bekommen; zu wundern ist dabei nichts und
auch nichts zu lachen ...« Auf einmal war es Herrn Goljadkin, als ob er
einen Stich bekäme; er blickte auf und verstand mit einem Male das
Rätsel, begriff die ganze Zauberei; mit einem Male waren alle Zweifel
gelöst ... In der nach dem anstoßenden Zimmer führenden Tür, fast gerade
hinter dem Rücken des Büfettkellners und mit dem Gesichte nach Herrn
Goljadkin zu, in dieser Tür, die unser Held übrigens bis dahin für einen
Spiegel gehalten hatte, stand ein Mensch -- stand er, stand Herr
Goljadkin selbst -- nicht der alte Herr Goljadkin, nicht der Held
unserer Erzählung, sondern der andere Herr Goljadkin, der neue Herr
Goljadkin. Dieser andere Herr Goljadkin befand sich anscheinend in ganz
vorzüglicher Stimmung. Er lächelte Herrn Goljadkin den ersten an, nickte
ihm mit dem Kopfe zu, blinzelte mit den Augen, trippelte ein bißchen mit
den Füßen und nahm eine Haltung an, als ob er, sobald es nötig wäre,
Reißaus nehmen wolle, in das anstoßende Zimmer und dann vielleicht durch
den hinteren Ausgang und so weiter, wobei dann alle Verfolgung
vergeblich sein mußte. In der Hand hatte er das letzte Stück der zehnten
Fischpastete, das er vor den Augen des Herrn Goljadkin, vor Vergnügen
schmatzend, in seinen Mund schob. »Er hat sich für mich ausgegeben, der
Schurke,« dachte Herr Goljadkin und fuhr vor Empörung auf wie eine
Feuerflamme. »Er hat sich vor der Öffentlichkeit nicht gescheut! Ob man
ihn wohl sieht? Wie es scheint, bemerkt ihn niemand ...« Herr Goljadkin
warf einen Rubel hin, als hätte er sich an ihm die Finger verbrannt, und
ohne des Büfettkellners vielsagendes, dreistes Lächeln, ein Lächeln des
Triumphes und ruhigen Machtbewußtseins, zu beachten, arbeitete er sich
durch die Menge hindurch und stürmte hinaus, ohne sich umzusehen. »Gott
sei Dank, daß er mich nicht noch viel ärger kompromittiert hat!« dachte
der ältere Herr Goljadkin. »Dank dem Verfahren des Gauners und dank dem
Geschick ist alles noch gut abgelaufen. Nur der Kellner war ein bißchen
grob. Aber das durfte er; er war ja in seinem Rechte! Er hatte einen
Rubel zehn zu bekommen; also war er in seinem Rechte. Er sagte: >Umsonst
wird bei uns nichts verabfolgt.< Er hätte nur etwas höflicher sein
sollen, der Schlingel! ...«

All dies sagte sich Herr Goljadkin, während er die Treppe hinunterstieg
und auf die Stufen vor der Haustüre trat. Auf der letzten Stufe indes
blieb er wie angenagelt stehen und errötete auf einmal so stark, daß ihm
in einem Anfalle von gekränktem Ehrgefühl sogar die Tränen in die Augen
traten. Nachdem er etwa eine halbe Minute wie ein Pfahl dort gestanden
hatte, stampfte er auf einmal entschlossen mit dem Fuße auf, sprang mit
einem Satze auf die Straße hinunter und rannte, ohne sich umzusehen,
atemlos, ohne Müdigkeit zu verspüren, zu sich nach Hause nach der
Schestilawotschnaja-Straße. Zu Hause ließ er sich nicht einmal Zeit,
seinen Uniformrock auszuziehen (ganz gegen seine Gewohnheit, es sich zu
Hause bequem zu machen), ja er nahm nicht einmal zur Vorbereitung die
Pfeife zur Hand, sondern setzte sich sofort aufs Sofa, zog sich das
Tintenfaß heran, ergriff eine Feder, suchte sich einen Bogen Briefpapier
heraus und machte sich daran, mit einer Hand, die vor innerer Aufregung
zitterte, das nachstehende Schreiben aufs Papier zu werfen:

   »Mein geehrter Herr,
   Jakow Petrowitsch!

»Ich würde nicht die Feder ergreifen, wenn mich nicht meine Lage und Sie
selbst, mein Herr, dazu zwängen. Glauben Sie mir, daß nur die
Notwendigkeit mich dazu gebracht hat, mit Ihnen in derartige
Erörterungen einzutreten, und daher bitte ich Sie vor allen Dingen,
dieses mein Verfahren nicht als wohlüberlegte Absicht, Sie, mein Herr,
zu beleidigen, sondern vielmehr als die notwendige Folge der jetzt
zwischen uns bestehenden Beziehungen aufzufassen.«

»Es scheint, so ist es gut, anständig und höflich, wiewohl nicht ohne
Kraft und Festigkeit? ... Ich möchte meinen, er hat keinen Anlaß, sich
dadurch beleidigt zu fühlen. Zudem bin ich in meinem Rechte,« dachte
Herr Goljadkin, indem er das Geschriebene durchlas.

»Ihr unerwartetes, seltsames Erscheinen, mein Herr, in jener stürmischen
Nacht, nachdem meine Feinde, deren Namen ich aus Verachtung gegen sie
verschweige, sich so roh und unanständig gegen mich benommen hatten, war
der Keim aller der Mißverständnisse, die gegenwärtig zwischen uns
bestehen. Ihr hartnäckiges Verlangen, mein Herr, Ihren Willen
durchzusetzen und gewaltsam in den Kreis meines Daseins und aller meiner
Lebensverhältnisse einzudringen, überschreitet alle Grenzen, die schon
durch die Höflichkeit und die einfachste gesellschaftliche
Rücksichtnahme gezogen sind. Ich glaube, ich brauche hier nicht daran zu
erinnern, mein Herr, wie Sie mir mein Aktenstück und meinen eigenen
ehrlichen Namen entwendet haben, um von der vorgesetzten Behörde ein Lob
einzuernten, das Sie nicht verdienten. Ich brauche hier auch nicht daran
zu erinnern, daß Sie absichtlich in beleidigender Form es ablehnten,
sich auf die bei diesem Falle nötig gewordenen Auseinandersetzungen
einzulassen. Um schließlich alles zu sagen, erwähne ich auch Ihr letztes
seltsames, ja, man kann sagen, unbegreifliches Verhalten mir gegenüber
im Kaffeehause nicht. Weit entfernt, mich darüber zu beklagen, daß ich
einen Rubel unnütz ausgegeben habe, kann ich doch nicht umhin, meine
ganze Entrüstung zum Ausdruck zu bringen bei der Erinnerung an Ihr
offenkundiges Attentat auf meine Ehre, mein Herr, und noch dazu in
Gegenwart mehrerer Personen, die mir zwar unbekannt sind, aber viel gute
Lebensart besitzen ...«

»Gehe ich auch nicht zu weit?« überlegte Herr Goljadkin. »Wird das auch
nicht zu stark sein? Ist das auch nicht zu beleidigend, diese Hindeutung
auf die gute Lebensart zum Beispiel? ... Na, es schadet nichts! Man muß
ihm Charakterfestigkeit zeigen. Übrigens kann man ihm zur Besänftigung
ein bißchen schmeicheln und ihm zum Schluß etwas Honig um den Mund
streichen. Nun, wir wollen sehen!«

»Aber ich würde Sie, mein Herr, mit meinem Briefe nicht belästigen, wenn
ich nicht fest überzeugt wäre, daß der Edelmut Ihrer Herzensempfindungen
und Ihr offener, gerader Charakter Ihnen selbst die Mittel zeigen
werden, alle begangenen Versehen wieder gutzumachen und alles in den
früheren Stand zurückzuversetzen.

»Ich bin der festen Hoffnung und Überzeugung, daß Sie meinem Briefe
nicht eine für Sie beleidigende Deutung geben werden, und gleichzeitig,
daß Sie sich nicht weigern werden, über diesen Fall eine eingehende
briefliche Erklärung abzugeben. Mein Diener hat Auftrag, diese
zurückzubringen.

»In dieser Erwartung, mein Herr, habe ich die Ehre, zu sein

                                                Ihr ergebenster Diener
                                                        J. Goljadkin.«

»Na, so ist alles schön! Die Sache ist besorgt; es ist also schon zu
brieflichen Auseinandersetzungen gekommen. Aber wer ist daran schuld? Er
ist selbst daran schuld; er selbst versetzt einen Mitmenschen in die
Notwendigkeit, briefliche Erklärungen zu verlangen. Und ich bin in
meinem Rechte ...«

Nachdem Herr Goljadkin den Brief zum letzten Male durchgelesen hatte,
faltete er ihn zusammen, siegelte ihn zu und rief Petruschka. Petruschka
erschien, nach seiner Gewohnheit mit verschlafenen Augen und sehr
ärgerlicher Miene.

»Nimm diesen Brief hier, mein Lieber ... verstehst du?« Petruschka
schwieg.

»Nimm ihn und trage ihn nach der Kanzlei; da suche den dejourierenden
Beamten, den Gouvernementssekretär Wachramejew. Wachramejew hat heute
Dejour. Verstehst du auch?«

»Ja.«

»>JaJawohl, HerrSo und so, mein Herr läßt sich Ihnen
empfehlen und bittet Sie ganz ergebenst, in dem Adressenverzeichnis
unserer Behörde nachzusehen, wo der Titularrat Goljadkin wohnt.<«

Petruschka schwieg, und es kam Herrn Goljadkin so vor, als ob er
lächelte.

»Na, also erkundige dich bei ihm nach der Adresse und bringe in
Erfahrung, wo der neueingetretene Beamte Goljadkin wohnt!«

»Sehr wohl.«

»Frage nach der Adresse und bestelle dann diesen Brief an die Adresse;
verstehst du?«

»Ja.«

»Wenn du da bist ... nämlich da, wo du den Brief hinträgst, dann wird
der Herr, dem du diesen Brief abgibst, also Herr Goljadkin ... Was
lachst du denn, du Tölpel?«

»Worüber sollte ich lachen? Was geht's mich an? Ich kümmere mich um
nichts. Unsereiner hat nichts zu lachen ...«

»Na also, wenn der Herr dich fragen sollte, wie es deinem Herrn geht,
wie er sich befindet, und so weiter ... na, irgend so etwas wird er dich
wohl fragen, -- dann schweige du und antworte: >Meinem Herrn geht es
ganz gut, und er läßt Sie um eine eigenhändige Antwort bitten.<
Verstehst du?«

»Jawohl, Herr!«

»Na also, sage: >Meinem Herrn geht es ganz gut, und er ist gesund, und
er wird gleich einer Einladung Folge leisten; aber Sie läßt er um eine
briefliche Antwort bitten.< Verstehst du?«

»Ja.«

»Na, dann geh!«

»Nein, was hat man mit diesem Dummkopf für Mühe! Er lacht sich was;
weiter kann er nichts. Worüber lacht er denn? Was habe ich mit ihm schon
für Ärger erlebt! Übrigens wird es sich vielleicht noch gut gestalten
... Dieser Schurke wird sich jetzt gewiß ein paar Stunden lang
herumtreiben und irgendwohin verschwinden ... Man kann ihn nirgends
hinschicken. Ist das ein Elend! ... Dieses Elend ist doch gar zu arg
geworden!«

So von dem Gefühle seines Unglücks ganz erfüllt, entschloß sich unser
Held, sich in Erwartung der Rückkehr Petruschkas zwei Stunden lang
passiv zu verhalten. Etwa eine Stunde lang ging er im Zimmer auf und ab
und rauchte; dann warf er die Pfeife beiseite und setzte sich mit einem
Buche hin; dann legte er sich auf das Sofa; dann griff er wieder zur
Pfeife; dann fing er wieder an im Zimmer hin und her zu laufen. Er
wollte nachdenken; aber über irgend etwas nachzudenken war er
schlechterdings außerstande. Schließlich stieg die Pein dieses seines
passiven Zustandes bis zum äußersten Grade, und Herr Goljadkin entschloß
sich, lieber etwas Bestimmtes zu tun. »Petruschka wird erst nach einer
Stunde zurückkommen,« dachte er; »ich kann den Schlüssel dem Hausknecht
geben und selbst unterdessen, hm, hm ... ich will die Sache untersuchen,
will meinerseits die Sache untersuchen.« Ohne Zeit zu verlieren, ergriff
Herr Goljadkin, der es eilig hatte, die Sache zu untersuchen, seinen
Hut, verließ das Zimmer, schloß die Wohnung zu, ging zum Hausknecht
heran, händigte ihm den Schlüssel nebst einem Zehnkopekenstück ein (Herr
Goljadkin war außerordentlich freigebig geworden) und machte sich auf
den Weg dahin, wohin er sich zu begeben vorhatte. Herr Goljadkin ging zu
Fuß, zuerst nach der Ismailowski-Brücke. Dieser Weg dauerte ungefähr
eine halbe Stunde. Als er zum Ziele seiner Wanderung gelangt war, ging
er geradezu auf den Hof des ihm wohlbekannten Hauses und sah zu den
Fenstern der Wohnung des Staatsrates Berendejew hinauf. Außer drei
Fenstern, die mit roten Vorhängen verhängt waren, waren alle übrigen
dunkel. »Olsufi Iwanowitsch hat heute gewiß keine Gäste,« dachte Herr
Goljadkin; »sie sitzen gewiß jetzt alle allein zu Hause.« Nachdem er
einige Zeit auf dem Hofe gestanden hatte, war unser Held schon im
Begriffe, sich zu etwas zu entschließen. Aber es war seinem Entschlusse
anscheinend nicht beschieden, zustande zu kommen. Herr Goljadkin wurde
anderen Sinnes, machte eine resignierende Handbewegung und ging wieder
zurück auf die Straße. »Nein, ich hätte nicht hierher gehen sollen. Was
kann ich denn hier tun? ... Ich will jetzt lieber ... hm ... und die
Sache in eigener Person untersuchen.« Nachdem Herr Goljadkin diesen
Entschluß gefaßt hatte, machte er sich auf den Weg nach seinem Bureau.
Der Weg war nicht nah, und überdies war ein furchtbarer Schmutz, und
feuchter Schnee fiel in ganz dicken Flocken. Aber für unsern Helden
schien es jetzt keine Hindernisse zu geben. Er wurde allerdings ganz
durchnäßt und gehörig schmutzig; aber er sagte sich: »Das geht nun alles
in einem hin; dafür werde ich meinen Zweck erreicht haben.« Und wirklich
näherte sich Herr Goljadkin schon seinem Ziele. Die dunkle Masse des
riesigen staatlichen Gebäudes hob sich schon in der Ferne vor ihm ab.
»Halt!« dachte er, »wohin gehe ich denn, und was will ich hier tun?
Allerdings werde ich in Erfahrung bringen, wo er wohnt; aber unterdessen
ist Petruschka gewiß schon zurückgekommen und hat mir eine Antwort
gebracht. Ich verliere nur unnütz meine kostbare Zeit; ich habe so schon
viel Zeit verloren. Na, es tut nichts; das läßt sich alles noch wieder
gutmachen. Aber soll ich wirklich nicht zu Wachramejew herangehen? Na,
ich will es nicht tun. Ich kann es ja auch später noch tun ... Ach! Ich
hätte überhaupt nicht auszugehen brauchen. Aber das liegt nun einmal in
meinem Charakter! Das ist so ein Drang bei mir: ob es nun nötig ist oder
nicht, immer strebe ich danach, schnell vorzugehen ... Hm! ... Was mag
die Uhr sein? Es ist gewiß schon neun. Petruschka kommt vielleicht
zurück und findet mich dann nicht zu Hause. Ich habe eine arge Dummheit
damit begangen, daß ich ausgegangen bin ... Ach wahrhaftig, das ist eine
schwere Aufgabe!«

Nachdem er sich auf diese Art aufrichtig gestanden hatte, daß er eine
arge Dummheit begangen habe, lief unser Held wieder zurück nach seiner
Wohnung in der Schestilawotschnaja-Straße. Er langte dort müde und matt
an. Schon von dem Hausknechte erfuhr er, daß von Petruschka noch nichts
zu sehen gewesen sei. »Na ja! Das habe ich mir doch gedacht!« sagte sich
unser Held; »und dabei ist es schon neun Uhr. Nein, was ist er für ein
Taugenichts! Immer muß er sich irgendwo betrinken! Herr du mein Gott!
Ist das ein Unglückstag für mich!« Unter solchen Gedanken und Wehklagen
schloß Herr Goljadkin seine Wohnung auf, machte Licht, zog sich ganz
aus, zündete sich eine Pfeife an, legte sich erschöpft, müde, wie
zerschlagen und hungrig auf das Sofa und wartete auf Petruschka. Die
Kerze brannte trübe; der Lichtschein zitterte an den Wänden ... Herr
Goljadkin schaute und schaute, dachte und dachte und versank endlich in
einen totenähnlichen Schlaf.

Als er erwachte, war es schon spät. Die Kerze war fast ganz
heruntergebrannt, qualmte und war nahe daran, zu erlöschen. Herr
Goljadkin sprang auf, schüttelte sich und erinnerte sich an alles, was
vorgegangen war, schlechthin an alles. Hinter der Scheidewand war
Petruschkas kräftiges Schnarchen zu vernehmen. Herr Goljadkin stürzte
zum Fenster: nirgend war Licht zu sehen. Er öffnete die Luftklappe: es
war still; die Stadt war wie ausgestorben; sie schlief. Also mußte es
etwa zwei oder drei Uhr sein; und so war es auch: die Uhr hinter der
Scheidewand holte mit Anstrengung aus und schlug zwei. Herr Goljadkin
lief hinter die Scheidewand.

Nach langen Bemühungen gelang es ihm durch Püffe und Stöße, Petruschka
einigermaßen munter zu bekommen und ihn dahin zu bringen, daß er sich im
Bette aufrichtete. In diesem Augenblicke erlosch die Kerze vollständig.
Es dauerte etwa zehn Minuten, bis Herr Goljadkin eine andere Kerze
gefunden und angezündet hatte. Unterdessen hatte es Petruschka fertig
gebracht, von neuem einzuschlafen. »So ein Schurke, so ein Taugenichts!«
rief Herr Goljadkin, während er ihm von neuem Püffe versetzte. »Wirst du
wohl aufstehen? Wirst du wohl aufwachen?« Nach einer halbstündigen
Anstrengung glückte es Herrn Goljadkin aber doch, seinen Diener
vollständig in Bewegung zu bringen und ihn hinter seiner Scheidewand
hervorzuziehen. Erst hier erkannte unser Held, daß Petruschka, was man
nennt, sternhagelvoll war und sich kaum auf den Beinen hielt.

»Du Faulpelz!« schrie Herr Goljadkin; »du Nichtswürdiger! Du hast mir ja
den schwersten Schaden zugefügt! Herr Gott, wo hast du nur den Brief
gelassen? Ach, du mein Schöpfer, wie soll der Brief nun ... Und warum
habe ich ihn überhaupt geschrieben? Brauchte ich ihn denn zu schreiben?
Ich habe mich von meinem übermäßigen Ehrgefühl hinreißen lassen, ich
Dummkopf! Dahin hat mich meine Empfindlichkeit gebracht! Das hast du nun
von deinem Ehrgefühl, du Schuft; das hast du von deinem Ehrgefühl! ...
Na, du da! Wo hast du den Brief gelassen, du Halunke? An wen hast du ihn
abgegeben? ...«

»An niemanden habe ich einen Brief abgegeben; ich habe überhaupt keinen
Brief gehabt ... so ist die Sache!«

Herr Goljadkin rang vor Verzweiflung die Hände.

»Hör mal, Petruschka; hör mal zu; hör mal, was ich dir sagen will ...«

»Na ja, ich höre.«

»Wo bist du hingegangen? Antworte! ...«

»Wo ich hingegangen bin? Zu guten Leuten bin ich hingegangen! Weiter
geht mich nichts an!«

»Ach du mein Herrgott! Wo bist du zuerst hingegangen? Bist du in der
Kanzlei gewesen? ... Hör mal, Petruschka: du bist wohl betrunken?«

»Ich betrunken? Da will ich doch gleich auf dem Fleck krepieren, da will
ich ...«

»Nein, nein, das macht ja nichts, daß du betrunken bist ... Ich habe nur
gefragt; es ist ganz gut, daß du betrunken bist; ich schelte ja nicht,
Petruschka, ich schelte ja nicht ... Du hast es vielleicht für einen
Augenblick vergessen und wirst dich an alles wieder erinnern. Nun also,
besinne dich mal: bist du bei dem Sekretär Wachramejew gewesen? Bist du
da gewesen oder nicht?«

»Ich bin nicht bei ihm gewesen; so einen Sekretär gab es gar nicht. Da
will ich gleich auf dem Fleck ...«

»Nein, nein, Petruschka! Nein, Petruschka, ich schelte ja nicht; du
siehst ja, daß ich nicht schelte ... Na, was ist denn dabei? Draußen ist
es kalt und naß; da trinkt der Mensch ein Schlückchen; das schadet ja
nichts. Ich bin darüber nicht böse. Ich habe heute selbst ein bißchen
getrunken, lieber Freund ... Nun sage mal, besinne dich mal, lieber
Freund: bist du bei dem Sekretär Wachramejew gewesen?«

»Na, wenn es so steht, dann will ich wahrheitsgemäß sagen: ich bin da
gewesen. Da will ich gleich auf dem Fleck ...«

»Na, das ist ja schön, Petruschka, das ist ja schön, daß du da gewesen
bist. Du siehst, ich bin nicht ärgerlich ... Nun, nun,« fuhr unser Held
fort, der seinen Diener noch weiter zu begütigen suchte, ihm auf die
Schulter klopfte und ihm zulächelte, »nun, also du hast ein bißchen
getrunken, du Racker ... hast für zehn Kopeken ein bißchen getrunken?
Ja, ja, du Spitzbube! Na, das schadet nichts; na, du siehst, daß ich
nicht böse darüber bin ... ich bin nicht böse darüber, lieber Freund,
ich bin nicht böse darüber ...«

»Nein, ich bin kein Spitzbube, da können Sie sagen, was Sie wollen ...
Ich bin nur zu guten Leuten herangegangen; aber ich bin kein Spitzbube
und bin nie ein Spitzbube gewesen ...«

»Aber nein, nein, Petruschka! So höre doch, Petruschka! Ich schimpfe
dich ja nicht, wenn ich dich einen Spitzbuben nenne. Ich sage das ja, um
dir eine Freude zu machen; ich sage das in gutem Sinne. Damit
schmeichelt man ja manchem Menschen, Petruschka, wenn man zu ihm sagt,
er sei ein solcher Schlaukopf, ein so geriebener Bursche, daß er sich
von niemandem betrügen und hinters Licht führen lasse. So etwas hört
mancher gern ... Nun, nun, es macht nichts! Nun, sage mir jetzt nur ohne
Umschweife, Petruschka, offenherzig, wie einem Freunde ... na, bist du
bei dem Sekretär Wachramejew gewesen, und hat er dir die Adresse
gegeben?«

»Ja, er hat mir auch die Adresse gegeben, auch die Adresse hat er mir
gegeben. Er ist ein netter, freundlicher Beamter! >Dein Herr<, sagte er,
>ist ein guter Mensch, ein sehr guter Mensch; bestelle deinem Herrn nur
eine Empfehlung von mir und meinen Dank und sage ihm, daß ich ihn sehr
gern habe; ich schätze deinen Herrn sehr hoch! Weil dein Herr<, sagte
er, >ein guter Mensch ist, Petruschka; und du, Petruschka<, sagte er,
>bist auch ein guter Mensch.< Und da will ich gleich ...«

»Ach du mein Herrgott! Aber die Adresse, die Adresse! O du
unzuverlässiges Subjekt!« Die letzten Worte sagte Herr Goljadkin fast
flüsternd.

»Die Adresse ... er hat mir auch die Adresse gegeben.«

»Er hat sie dir gegeben? Na, wo wohnt er denn, dieser Goljadkin, dieser
Titularrat Goljadkin?«

»Er sagte: >Goljadkin findest du in der Schestilawotschnaja-Straße. Wenn
du hinkommst<, sagte er, >in die Schestilawotschnaja-Straße, dann
rechts, die Treppe hinauf, im vierten Stock. Da wirst du Goljadkin
finden,< sagte er.«

»Du Schurke!« schrie unser Held, der endlich die Geduld verlor. »Du
Kanaille! Das bin ich ja! Da redest du ja von mir! Aber es gibt noch
einen andern Goljadkin; ich rede von dem andern, du Schurke!«

»Na, meinetwegen! Was kümmert es mich! Meinetwegen! ...«

»Aber der Brief, der Brief ...«

»Was für ein Brief? Es ist gar kein Brief dagewesen; ich habe keinen
Brief gesehen.«

»Wo hast du ihn denn gelassen, du Schlingel?«

»Ich habe ihn abgegeben; ich habe den Brief abgegeben. >Bestelle eine
Empfehlung,< sagte er, >und ich ließe danken; dein Herr ist ein guter
Mensch. Bestelle deinem Herrn eine Empfehlung!< sagte er.«

»Aber wer hat das denn gesagt? Hat das Goljadkin gesagt?«

Petruschka schwieg ein Weilchen, sah seinem Herrn gerade in die Augen
und grinste über das ganze Gesicht.

»Hör mal, du Racker,« begann Herr Goljadkin keuchend und vor Wut ganz
außer sich, »was hast du mir da angetan! Nun sag mir nur, was du mir da
angetan hast! Du hast mich zugrunde gerichtet, du Bösewicht! Völlig
zugrunde gerichtet hast du mich, du unzuverlässiger Patron!«

»Na meinetwegen! Was kümmert es mich!« sagte Petruschka in entschiedenem
Tone und zog sich hinter die Scheidewand zurück.

»Komm her, komm her, du Nichtswürdiger!«

»Ich komme jetzt nicht zu Ihnen; fällt mir nicht ein. Was kümmert es
mich! Ich gehe zu guten Leuten ... Gute Leute leben ehrenhaft; gute
Leute leben ohne Falschheit und sind niemals doppelt ...« Herrn
Goljadkin wurden Arme und Beine starr und kalt wie Eis, und der Atem
stockte ihm ...

»Ja,« fuhr Petruschka fort, »die sind niemals doppelt; die versündigen
sich nicht gegen Gott und gegen ehrenhafte Leute ...«

»Du Taugenichts, du Trunkenbold! Schlaf dich jetzt aus, du Halunke! Aber
morgen werde ich dir deinen Standpunkt klarmachen!« sagte Herr Goljadkin
mit kaum vernehmbarer Stimme. Was Petruschka anlangt, so murmelte er
noch etwas; darauf war zu hören, wie er sich auf sein Bett legte, so daß
das Bett krachte, wie er langgezogen gähnte, sich ausstreckte und
endlich schnarchend in den sogenannten Schlaf der Unschuld versank. Herr
Goljadkin war nicht tot, nicht lebendig. Petruschkas Benehmen, seine
sehr sonderbaren, obwohl nur entfernten Anspielungen, über die man sich
somit nicht zu ärgern brauchte, um so weniger, da sie aus dem Munde
eines Betrunkenen kamen, und endlich die gesamte üble Wendung, die die
Sache genommen hatte: all dies hatte Herrn Goljadkin im tiefsten Grunde
erschüttert. »Und da mußte ich auf den Einfall kommen, ihm mitten in der
Nacht Vorwürfe zu machen!« sagte unser Held, der infolge einer
krankhaften Empfindung am ganzen Leibe zitterte. »Und da plagte mich der
Teufel, mich mit einem Betrunkenen abzugeben! Was für vernünftige
Antworten kann man wohl von einem Betrunkenen erwarten! Da ist doch
jedes Wort eine Lüge. Worauf spielte er übrigens an, der Halunke? Herr
du mein Gott! Und wozu habe ich alle diese Briefe geschrieben, ich
Mörder, ich Selbstmörder! Ich kann doch nie schweigen! Nein, ich mußte
mich verplappern! Nun hast du's! Du gehst zugrunde; du bist wie ein
alter Lappen; aber dabei willst du noch von Ehrgefühl reden und sagst:
>Meine Ehre leidet; ich muß meine Ehre retten!< O ich Selbstmörder!«

So sprach Herr Goljadkin, während er auf seinem Sofa saß und sich vor
Angst nicht zu rühren wagte. Auf einmal blieben seine Augen auf einem
Gegenstande haften, der im höchsten Grade seine Aufmerksamkeit erregte.
Fürchtend, der Gegenstand, der seine Aufmerksamkeit erregte, könne eine
Illusion, eine Täuschung seiner Einbildungskraft sein, streckte er die
Hand nach ihm aus, hoffnungsvoll, schüchtern und in unbeschreiblicher
Neugier ... Nein, es war keine Täuschung! Es war keine Illusion! Ein
Brief war es, ein richtiger Brief, zweifellos ein Brief und an ihn
adressiert. Herr Goljadkin nahm den Brief vom Tische. Das Herz in der
Brust pochte ihm heftig. »Gewiß hat ihn dieser Schurke gebracht, da
hingelegt und dann vergessen; gewiß ist es alles so zugegangen; gewiß
wird es genau so zugegangen sein ...« Der Brief war von dem Sekretär
Wachramejew, einem jüngeren Kollegen und ehemaligen Freunde des Herrn
Goljadkin. »Übrigens habe ich mir das alles vorhergedacht,« sagte sich
unser Held, »und alles, was jetzt in dem Briefe stehen wird, habe ich
mir ebenfalls vorhergedacht ...« Der Brief lautete folgendermaßen:

   »Geehrter Herr,
   Jakow Petrowitsch!

»Ihr Diener ist betrunken, und es ist nichts Gescheites von ihm zu
erwarten; aus diesem Grunde ziehe ich es vor, Ihnen brieflich zu
antworten. Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, daß ich den mir von Ihnen
erteilten Auftrag, bestehend in der Weitergabe eines Briefes an eine
Ihnen bekannte Person, mit aller Zuverlässigkeit und Genauigkeit
ausführen werde. Diese Ihnen sehr bekannte Person, die mir jetzt einen
früheren Freund ersetzt, und deren Namen ich hier verschweige (weil ich
den Ruf eines ganz unschuldigen Menschen nicht grundlos beflecken
möchte), wohnt mit mir zusammen in Karolina Iwanownas Wohnung, in
demselben Zimmer, in welchem früher, zu der Zeit als Sie noch bei uns
wohnten, ein aus Tambow zugereister Infanterieoffizier logierte.
Übrigens können Sie diese Person überall im Verkehr mit ehrenhaften,
offenherzigen Leuten finden, was man von manchen anderen nicht sagen
kann. Meine Beziehungen zu Ihnen beabsichtige ich mit dem heutigen Tage
abzubrechen; wir können unseren bisherigen freundschaftlichen Ton und
unser einmütiges kollegialisches Verhältnis nicht beibehalten, und daher
bitte ich Sie, geehrter Herr, unverzüglich nach Empfang dieses meines
freimütigen Briefes mir die zwei Rubel zuzustellen, die Sie mir noch für
ein Rasiermesser ausländischen Fabrikates schulden, das ich Ihnen, wenn
Sie sich erinnern, vor sieben Monaten verkaufte, noch zu der Zeit, als
Sie mit mir bei Karolina Iwanowna wohnten, die ich von ganzem Herzen
hochschätze. Ich verfahre so deshalb, weil Sie nach der Angabe
verständiger Leute alles Ehrgefühl und allen guten Ruf verloren haben
und für die Moralität unschuldiger, noch nicht infizierter Leute
gefährlich geworden sind; denn gewisse Personen leben nicht nach den
Geboten der Wahrhaftigkeit, und dazu sind ihre Reden trügerisch und ihre
wohlwollende Miene verdächtig. Leute, welche bereit sind, Karolina
Iwanownas Verteidigung zu übernehmen, eines Mädchens, das sich immer
wohlgesittet benommen hat und zweitens durchaus ehrenwert ist und
ferner, wenn sie auch die Jugend bereits hinter sich hat, doch dafür aus
einer guten ausländischen Familie stammt, solche Leute kann man immer
und überall finden, und mehrere Personen haben mich gebeten, dies in
diesem meinem Briefe beiläufig in ihrem Namen zu erklären. In jedem
Falle werden Sie seinerzeit alles erfahren, wenn Sie es nicht jetzt
schon erfahren haben, trotzdem Sie sich nach der Angabe anständiger
Leute an allen Enden der Residenz in schlechten Ruf gebracht haben,
geehrter Herr, und folglich schon an vielen Stellen Mitteilungen, Ihre
Person betreffend, hätten erhalten können. Zum Schlusse meines Briefes
erkläre ich Ihnen, geehrter Herr, daß die Ihnen bekannte Person, deren
Namen ich hier aus gewissen wohlanständigen Gründen nicht erwähne, die
volle Hochachtung wohlgesinnter Leute genießt, zudem ein heiteres,
angenehmes Wesen hat, wie im Dienste so auch im Verkehr mit allen
vernünftig denkenden Leuten reussiert, ihrem Worte und der Freundschaft
treu bleibt und nicht hinter dem Rücken diejenigen beleidigt, mit denen
sie öffentlich in freundschaftlichen Beziehungen steht.

                                         »In jedem Falle verbleibe ich
                                                 Ihr gehorsamer Diener
                                                      N. Wachramejew.«

»^P. S.^ Jagen Sie Ihren Diener fort: er ist ein Trunkenbold und macht
Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach viel Mühe und Umstände; nehmen Sie
doch an seiner Statt Jewstafi, der früher bei uns diente und
augenblicklich ohne Stelle ist. Ihr jetziger Diener ist nicht nur ein
Trunkenbold, sondern außerdem auch ein Dieb; denn er hat noch in der
vorigen Woche ein Pfund Stückenzucker an Karolina Iwanowna für sehr
billigen Preis verkauft, was er meines Erachtens nur tun konnte, wenn er
Sie im kleinen und zu verschiedenen Zeitpunkten listig bestohlen hat.
Ich schreibe Ihnen dies, weil ich Ihnen Gutes wünsche, obgleich gewisse
Personen weiter nichts verstehen als alle Leute zu beleidigen und zu
betrügen, namentlich einen jeden, der ehrenhaft ist und einen guten
Charakter besitzt, und überdies über andere Leute hinter deren Rücken
Verleumdungen verbreiten und die Handlungsweise derselben in ungünstigem
Lichte darstellen, einzig und allein aus Neid, und weil sie für sich
selbst solche ehrenhaften Beziehungen nicht in Anspruch nehmen können.

                                                                   W.«

Nachdem unser Held Wachramejews Brief durchgelesen hatte, verharrte er
noch lange in regungsloser Haltung auf seinem Sofa. Eine Art von neuem
Lichte drang durch den ganzen trüben, rätselhaften Nebel, der ihn schon
seit zwei Tagen umgab. Unser Held begann zum Teil zu verstehen ... Er
wollte sich vom Sofa erheben und ein paarmal im Zimmer auf und ab gehen,
um sich zu erholen, seine in Verwirrung geratenen Gedanken einigermaßen
zu sammeln, sie auf einen bestimmten Gegenstand zu richten und dann,
wenn er ein wenig in Ordnung gekommen wäre, seine Lage reiflich zu
überlegen. Aber kaum machte er einen Versuch aufzustehen, als er sofort
matt und kraftlos auf seinen bisherigen Platz zurücksank. »Ja gewiß, ich
habe mir das alles vorhergedacht; aber in welcher Manier schreibt er
nur, und was ist der gerade Sinn dieser Worte? Den Sinn verstehe ich
allerdings; aber wohin wird dies alles führen? Wenn er geradeheraus
sagte: >So und so; das und das verlange ich,< dann würde ich seine
Forderung erfüllen. Aber auf diese Art nimmt die Sache eine recht
unangenehme Wendung! Ach, wenn es nur recht bald Tag würde und ich mich
recht bald ans Werk machen könnte! Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.
Ich werde sagen: >So und so; auf Erörterungen bin ich bereit einzugehen;
meine Ehre werde ich nicht verkaufen< usw. Übrigens wie hat er, diese
gewisse Person, dieser unangenehme Mensch, es angefangen, sich hier
einzumischen? Und wozu hat er sich eigentlich hier eingemischt? Ach,
wenn es doch recht schnell Tag würde! Bis dahin bringen sie mich in
üblen Ruf, intrigieren gegen mich und arbeiten auf meinen Schaden hin!
Die Hauptsache ist: ich darf keine Zeit verlieren, sondern muß z. B.
jetzt wenigstens einen Brief schreiben, in dem ich diese und jene Punkte
mit Stillschweigen übergehe und mich mit diesen und jenen einverstanden
erkläre. Und morgen, sowie es hell wird, muß ich ihn absenden, und ich
selbst muß so früh wie möglich ... hm ... und ihnen von der andern Seite
entgegenarbeiten und diesen allerliebsten Leuten zuvorkommen ... Sie
bringen mich in schlechten Ruf; das steht fest!«

Herr Goljadkin legte sich einen Bogen Papier zurecht, ergriff die Feder
und schrieb folgenden Brief als Antwort auf den Brief des
Gouvernementssekretärs Wachramejew:

   »Geehrter Herr,
   Nestor Ignatjewitsch!

»Mit Erstaunen und betrübtem Herzen habe ich Ihren für mich so
beleidigenden Brief gelesen; denn ich erkenne deutlich, daß Sie mich
meinen, wenn Sie von einigen unwürdigen Personen reden und von manchen,
die eine wohlwollende Gesinnung erheucheln. Mit aufrichtigem Schmerze
sehe ich, wie schnell, wie erfolgreich und wie tief die Verleumdung
Wurzel geschlagen hat, zum Schaden meiner Wohlfahrt, meiner Ehre und
meines guten Namens. Und besonders kränkend und verletzend ist es für
mich, daß sogar ehrenhafte Leute, Leute mit einer wahrhaft anständigen
Denkweise und, was die Hauptsache ist, mit geradem, offenem Charakter,
sich von der Partei der wohlanständigen Leute lossagen und mit den
besten Eigenschaften ihres Herzens sich jener verderblichen Fäulnis
hingeben, die leider in unserer argen, sittenlosen Zeit so stark wuchert
und sich so heimtückisch ausbreitet. Zum Schlusse erkläre ich, daß ich
es für meine heilige Pflicht erachte, meine von Ihnen bezeichnete
Schuld, nämlich zwei Rubel, Ihnen in ihrem vollen Betrage
zurückzuerstatten.

»Was Ihre Andeutungen in betreff einer gewissen Person weiblichen
Geschlechtes und in betreff der Absichten, Spekulationen und
mannigfaltigen Pläne dieser Person anbelangt, geehrter Herr, so sage ich
Ihnen, daß ich all diese Andeutungen nur unvollkommen und mangelhaft
verstanden habe. Gestatten Sie mir, geehrter Herr, meine anständige
Denkweise und meinen ehrlichen Namen unbefleckt zu erhalten. In jedem
Falle bin ich bereit, auf persönliche Erörterungen einzugehen, da ich
das mündliche Verfahren dem brieflichen als zuverlässiger vorziehe, und
überdies bin ich zu einer friedlichen, selbstverständlich gegenseitigen
Einigung bereit. Zu diesem Ende ersuche ich Sie, geehrter Herr, dieser
Person von meiner Bereitwilligkeit zu einer persönlichen Verständigung
Mitteilung zu machen und sie außerdem um Bestimmung von Zeit und Ort für
eine Zusammenkunft zu bitten. Es war mir schmerzlich, geehrter Herr,
Ihre Anspielungen darauf zu lesen, daß ich Sie gekränkt, unsere
ursprüngliche Freundschaft verraten und mich in schlechtem Sinne über
Sie ausgesprochen hätte. Ich schreibe all dies einem Mißverständnisse
zu, abscheulicher Verleumdung, dem Neide und Übelwollen derjenigen, die
ich mit Recht meine erbittertsten Feinde nennen kann. Aber sie wissen
wahrscheinlich nicht, daß die Unschuld schon durch ihre Unschuld stark
ist, daß die Schamlosigkeit, die Frechheit und die empörende
Familiarität mancher Personen früher oder später sich das Brandmal
allgemeiner Verachtung zuziehen werden, und daß diese Personen an der
Nichtswürdigkeit und Verderbtheit ihres eigenen Herzens zugrunde gehen
müssen. Zum Schlusse bitte ich Sie noch, geehrter Herr, diesen Personen
mitzuteilen, daß ihre seltsame Anmaßung und ihr unedles, phantastisches
Verlangen, andere aus den Stellungen zu verdrängen, die diese andern
durch ihr Dasein in dieser Welt einnehmen, und sich deren Platz
anzueignen, nur geeignet sind, Erstaunen, Verachtung und Bedauern zu
erwecken und sie selbst ins Irrenhaus zu bringen, und daß überdies
solche Machenschaften durch die Gesetze streng verboten sind, was meiner
Meinung nach durchaus gerecht ist; denn ein jeder muß mit seinem eigenen
Platze zufrieden sein. Alles hat seine Grenzen, und wenn dies ein Scherz
ist, so ist es ein unziemlicher Scherz, ja ich will noch mehr sagen: ein
ganz unmoralischer Scherz; denn ich erlaube mir, Ihnen zu versichern,
geehrter Herr, daß meine oben dargelegten Anschauungen über den eigenen
Platz eines jeden rein moralisch sind.

                      »In jedem Falle habe ich die Ehre, zu verbleiben
                                               Ihr gehorsamster Diener
                                                        J. Goljadkin.«



                             10. Kapitel


Überhaupt kann man sagen, daß die Ereignisse des gestrigen Tages Herrn
Goljadkin bis auf den tiefsten Grund seiner Seele erschüttert hatten.
Unser Held schlief sehr schlecht, d. h. er konnte nicht einmal auf fünf
Minuten richtig einschlafen, gerade wie wenn ein Spaßvogel ihm
kleingeschnittene Borsten ins Bett gestreut gehabt hätte. Die ganze
Nacht verbrachte er in einem Zwischenzustande zwischen Schlafen und
Wachen, indem er sich von einer Seite auf die andere wälzte, stöhnte,
sich räusperte, für einen Augenblick einschlief und im nächsten
Augenblick wieder erwachte; und all das wurde von einem seltsamen Gefühl
des Kummers, von unklaren Erinnerungen und häßlichen Träumen begleitet,
mit einem Worte von allem, was es nur Unangenehmes geben kann ... Bald
erschien vor ihm in einem sonderbaren, rätselhaften Dämmerlichte Andrei
Filippowitschs Gesicht, dieses harte, ärgerliche Gesicht, mit dem
harten, strengen Blicke und dem trocken-höflichen Herumräsonieren ...
Und kaum fing Herr Goljadkin an, zu Andrei Filippowitsch heranzutreten,
um sich vor ihm irgendwie, auf die eine oder die andere Weise, zu
rechtfertigen und ihm zu beweisen, daß er ganz und gar nicht ein solcher
Mensch sei, wie ihn seine Feinde darstellten, sondern vielmehr ein so
und so beschaffener, und daß er sogar außer seinen gewöhnlichen,
angeborenen guten Eigenschaften noch diese und jene besonderen besitze:
da erschien die durch ihre unlautere Denkweise bekannte Person und
zerstörte durch irgendein ganz empörendes Mittel mit einem Schlage Herrn
Goljadkins gesamte Bemühungen, verdarb beinahe vor dessen Augen seinen
guten Ruf gründlich, trat sein Ehrgefühl in den Schmutz und nahm dann
unverzüglich den Platz desselben im Dienste und in der Gesellschaft ein.
Bald wieder juckte es Herrn Goljadkin im Gesichte von einem unlängst
wohlerworbenen und demütig hingenommenen Nasenstüber, einem Nasenstüber,
den er entweder im gewöhnlichen Leben oder auch im Dienste erhalten
hatte, und gegen den er nicht leicht Protest einlegen konnte ... Und
während Herr Goljadkin anfing, sich den Kopf darüber zu zerbrechen,
warum es eigentlich so schwer sei, gegen einen solchen Nasenstüber zu
protestieren, ging dieser Gedanke an den Nasenstüber unmerklich in eine
andere Form über, in die Form einer gewissen kleinen oder auch recht
beträchtlichen Gemeinheit, die er gesehen, gehört oder auch unlängst
selbst begangen hatte, wie er denn dergleichen häufig beging, nicht aus
gemeinem Charakter, auch nicht aus irgendwelcher gemeinen Absicht,
sondern nur so ohne besonderen Grund, manchmal z. B. rein zufällig, aus
Zartgefühl, ein andermal aus dem Gefühle seiner völligen Hilflosigkeit,
na, schließlich auch weil ... weil, kurz gesagt, Herr Goljadkin wußte
recht gut, weswegen! Hier errötete Herr Goljadkin im Traume, und indem
er sein Erröten zu unterdrücken versuchte, murmelte er vor sich hin,
hier könne man z. B. Charakterstärke zeigen, man könne im vorliegenden
Falle bedeutende Charakterstärke zeigen ... und dann schloß er: »Was ist
denn Charakterstärke? Was hat es für Zweck, ihr Wesen jetzt zu
begreifen? ...« Aber am meisten trug dazu, Herrn Goljadkin zu reizen und
in Wut zu versetzen, der Umstand bei, daß unfehlbar in solchen
Augenblicken, gerufen oder ungerufen, die ihm durch ihre Schändlichkeit
und ihr spöttisches Benehmen bekannte Person erschien und, obgleich die
Sache doch wohl schon hinreichend bekannt war, ebenfalls mit einem
unpassenden Lächeln murmelte: »Was soll denn hier Charakterstärke? Und
was besitzen wir beide, ich und du, Jakow Petrowitsch, denn für
Charakterstärke? ...« Dann wieder hatte Herr Goljadkin einen andern
Traum: er befand sich in einer schönen, durch das geistreiche Wesen und
den vornehmen Ton aller anwesenden Personen ausgezeichneten Gesellschaft
und zeichnete sich seinerseits durch Geist und Liebenswürdigkeit aus;
alle gewannen ihn lieb, sogar, was ihm besonders angenehm war, einige
seiner Feinde, die ebenfalls anwesend waren, und alle räumten ihm den
Vorrang ein, und er hörte endlich selbst mit Vergnügen, wie der Hausherr
dort einen der Gäste beiseite führte und ihn, Herrn Goljadkin, lobte ...
und dann auf einmal erschien mir nichts dir nichts wieder die durch ihre
Bosheit und brutalen Instinkte bekannte Person in Gestalt Herrn
Goljadkins des jüngeren und zerstörte mit einem Schlage, in einem
Augenblicke, durch ihr bloßes Erscheinen den ganzen Ruhm und Triumph
Herrn Goljadkins des älteren, stellte Goljadkin den älteren völlig in
den Schatten, trat ihn in den Schmutz und bewies zuletzt klar, Goljadkin
der ältere, also der richtige, sei überhaupt nicht der richtige, sondern
eine Fälschung, und sie sei vielmehr der richtige; Goljadkin der ältere
sei überhaupt nicht das, was er zu sein scheine, sondern ein so und so
beschaffener Mensch und mithin nicht befugt und berechtigt, sich in der
Gesellschaft von Leuten mit anständiger Denkweise und feinen
Umgangsformen zu bewegen. Und all dies geschah so schnell, daß Herr
Goljadkin noch nicht Zeit gehabt hatte, den Mund aufzutun, als sich
bereits alle mit Leib und Seele dem widerwärtigen, gefälschten Herrn
Goljadkin hingegeben hatten und mit der tiefsten Verachtung ihn, den
echten, unschuldigen Herrn Goljadkin, von sich stießen. Es blieb keine
Person übrig, deren Gesinnung der widerwärtige Herr Goljadkin nicht in
einem Augenblicke auf seine Weise umgestimmt hätte. Es blieb keine
Person übrig, auch nicht die unbedeutendste der ganzen Gesellschaft, an
die sich der nichtswürdige, unechte Herr Goljadkin nicht in seiner Weise
auf die süßeste Manier herangeschlängelt, der er sich nicht in seiner
Weise aufgedrängt, vor der er nicht nach seiner Gewohnheit mit etwas
sehr Angenehmem, Süßem geräuchert hätte, was der Umräucherte nur zu
riechen brauchte, um zum Zeichen des höchsten Vergnügens bis zu Tränen
zu niesen. Und was die Hauptsache war: das alles geschah in einem
Momente; die Schnelligkeit, mit der der verdächtige, nichtswürdige Herr
Goljadkin verfuhr, war erstaunlich! Kaum war er damit fertig geworden,
sich mit dem einen zu befreunden und sich dessen Wohlwollen zu erwerben,
als er auch schon, ehe man auch nur mit den Augen blinzeln konnte, einen
zweiten in Angriff nahm. Nun befreundete er sich still und sachte mit
dem zweiten und entlockte ihm ein Lächeln der Geneigtheit, machte mit
seinem kurzen, drallen, dabei aber recht stämmigen Beinchen einen
Kratzfuß und war bereits beim dritten und machte auch dem dritten schon
den Hof und gewann ihn sich zum Freunde; und ehe man noch hatte den Mund
öffnen und in Erstaunen geraten können, war er schon beim vierten und
war mit dem vierten ebensoweit gelangt, -- es war ordentlich ängstlich,
geradezu Zauberei! Und alle freuten sich über ihn, alle hatten ihn gern,
alle lobten ihn, und alle sprachen sich einstimmig dahin aus, daß seine
Liebenswürdigkeit und seine satirische Veranlagung unvergleichlich viel
höher ständen als die Liebenswürdigkeit und satirische Veranlagung des
wirklichen Herrn Goljadkin, und demütigten damit den wirklichen,
unschuldigen Herrn Goljadkin und wandten sich von dem wahren Herrn
Goljadkin ab und verjagten sogar den wohlgesinnten Herrn Goljadkin mit
Püffen und Stößen und überschütteten den durch seine Nächstenliebe
bekannten wirklichen Herrn Goljadkin mit Nasenstübern! ... Voll Kummer,
Angst und Wut rannte der vielgeprüfte Herr Goljadkin auf die Straße und
wollte sich eine Droschke holen, um geradeswegs zu Seiner Exzellenz zu
fahren, und wenn das nicht, so doch wenigstens zu Andrei Filippowitsch;
aber welch ein Schrecken! die Droschkenkutscher weigerten sich, Herrn
Goljadkin zu fahren; »nein, Herr,« sagten sie, »zwei ganz gleiche
Personen zu fahren, das ist nicht erlaubt, Euer Wohlgeboren; ein guter
Mensch ist darauf bedacht, ehrbar zu leben, und ist nie doppelt.«
Fassungslos vor Scham blickte der durchaus ehrbare Herr Goljadkin um
sich und überzeugte sich tatsächlich selbst mit seinen eigenen Augen,
daß die Droschkenkutscher und der mit ihnen im Einverständnis
befindliche Petruschka recht hatten; denn der verworfene Herr Goljadkin
war in der Tat auch dort, neben ihm, nicht weit von ihm entfernt, und
schickte sich seiner gemeinen Gewohnheit gemäß auch jetzt in diesem
Augenblicke zweifellos an, etwas sehr Unanständiges zu tun, etwas, was
ganz und gar keine besondere Vornehmheit des Charakters bekundete, eine
Vornehmheit, die man gewöhnlich durch die Erziehung erhält, und deren
der widerwärtige Herr Goljadkin der zweite sich bei jeder geeigneten
Gelegenheit zu rühmen pflegte. Ganz vernichtet und vor Scham und
Verzweiflung von sich selbst nicht wissend, stürzte der durchaus wahre
Herr Goljadkin blindlings davon, wohin der Wille des Schicksals ihn
führte; aber bei jedem Schritte, den er tat, bei jedem Aufschlagen
seines Fußes auf den Granit des Trottoirs sprang aus der Erde ein Herr
Goljadkin heraus, der jenem verworfenen, widerwärtigen Menschen
vollkommen ähnlich war. Und alle diese vollkommen ähnlichen Gestalten
begannen sofort nach ihrem Erscheinen einer hinter dem andern her zu
laufen und wackelten in langer Kette wie eine Reihe von Gänsen hinter
Herrn Goljadkin dem älteren her, so daß dieser ihnen nirgendhin
entfliehen konnte und dem in jeder Hinsicht bedauernswerten Herrn
Goljadkin vor Angst der Atem stockte und zuletzt eine furchtbare Menge
solcher vollkommenen Ebenbilder entstanden war und die ganze Residenz
zuletzt von ihnen wimmelte und ein Polizist angesichts einer solchen
Störung der Ordnung sich genötigt sah, sie alle beim Kragen zu nehmen
und in sein zufällig in der Nähe befindliches Schilderhaus zu sperren
... Starr und eiskalt vor Angst erwachte unser Held und hatte die
Empfindung, daß er auch im Wachen die Zeit kaum heiterer verbringen
werde ... Er fühlte sich bedrückt und gequält ... Es befiel ihn eine
Traurigkeit, als ob ihm jemand das Herz in der Brust mit den Zähnen
zerfleischte ...

Schließlich konnte Herr Goljadkin es nicht länger ertragen. »Das darf
nicht sein!« rief er aus, richtete sich entschlossen im Bette auf und
wurde nun nach diesem Ausrufe völlig wach.

Es war anscheinend schon lange Tag geworden. Im Zimmer war es auffällig
hell; die Sonnenstrahlen drangen kräftig durch die vom Froste mit Reif
überzogenen Fensterscheiben und breiteten sich in Fülle im Zimmer aus,
was Herrn Goljadkin in nicht geringe Verwunderung versetzte; denn die
Sonne pflegte nur um Mittag zu ihm hereinzublicken, und früher waren
solche Ausnahmen im Laufe des himmlischen Gestirnes, soviel sich
wenigstens Herr Goljadkin selbst erinnern konnte, niemals vorgekommen.
Kaum war unser Held sich dessen mit Verwunderung bewußt geworden, als
hinter der Scheidewand die Wanduhr zu summen anfing und sich auf diese
Weise zum Schlagen fertig machte. »Nun also!« dachte Herr Goljadkin und
schickte sich in ängstlicher Erwartung an zu hören ... Aber zu seinem
größten Erstaunen tat die Uhr nach ihrer großen Anstrengung nur einen
einzigen Schlag. »Was stellt das vor?« rief unser Held und sprang völlig
aus dem Bette. Seinen Ohren nicht trauend, lief er so, wie er war,
hinter die Scheidewand. Die Uhr zeigte tatsächlich eins. Herr Goljadkin
warf einen Blick nach Petruschkas Bett; aber im Zimmer war von
Petruschka nicht die Spur zu sehen: sein Bett war anscheinend schon
längst verlassen und in Ordnung gebracht; auch seine Stiefel waren
nirgends vorhanden, ein unzweifelhaftes Anzeichen dafür, daß Petruschka
wirklich nicht zu Hause war. Herr Goljadkin stürzte zur Tür hin: die Tür
war verschlossen. »Aber wo mag nur Petruschka sein?« fuhr er flüsternd
fort; er befand sich in furchtbarer Aufregung und fühlte ein starkes
Zittern in allen Gliedern ... Auf einmal fuhr ihm ein Gedanke durch den
Kopf ... Herr Goljadkin lief zu seinem Tische, überblickte ihn, suchte
rings umher -- richtig: sein gestriger Brief an Wachramejew war nicht da
... Petruschka war ebenfalls nicht hinter der Scheidewand; die Wanduhr
zeigte eins, und in Wachramejews gestrigem Briefe waren einige neue
Punkte angeführt gewesen, die zwar auf den ersten Blick sehr unklar
erschienen waren, aber jetzt ihre vollständige Aufklärung gefunden
hatten. Also auch Petruschka, auch Petruschka war augenscheinlich
erkauft! Ja, ja, so war es!

»Also so haben sie den wichtigsten Knoten geschürzt!« rief Herr
Goljadkin, indem er sich vor die Stirn schlug und die Augen immer weiter
öffnete; »also im Hause dieses greulichen deutschen Frauenzimmers laufen
jetzt alle Fäden dieses höllischen Komplotts zusammen! Also hat sie nur
eine strategische Diversion gemacht, indem sie mich nach der
Ismailowski-Brücke hinwies; sie hat mir Sand in die Augen gestreut, mich
wirr gemacht, die nichtswürdige Hexe, und auf diese Art ihre
unterirdischen Minen gelegt!!! Ja, so ist es! Wenn man die Sache von
dieser Seite betrachtet, dann sieht man, daß sich alles genau so
verhält! Auch das Erscheinen jenes Schurken erklärt sich jetzt
vollkommen: da hängt eins mit dem andern zusammen. Sie hatten ihn schon
lange beschafft, ihn zurechtgemacht und hielten ihn für den Unglückstag
in Bereitschaft. So also hat sich jetzt alles herausgestellt! Wie hat
nur alles diese Wendung nehmen können? Nun, es macht nichts! Noch ist
das Spiel nicht verloren! ...« Hier erinnerte sich Herr Goljadkin mit
Schrecken daran, daß es bereits zwischen ein und zwei Uhr nachmittags
war. »Aber wenn es ihnen nun inzwischen gelungen ist ...« Ein Stöhnen
entrang sich seiner Brust ... »Aber nein, sie lügen, es ist ihnen noch
nicht gelungen, -- wir wollen sehen ...« Er kleidete sich notdürftig an,
ergriff Papier und Feder und schrieb den folgenden Brief:

   »Geehrter Herr,
   Jakow Petrowitsch!

»Entweder Sie oder ich; aber nebeneinander haben wir nicht Platz! Und
darum erkläre ich Ihnen, daß Ihr sonderbares, lächerliches und zugleich
ganz unglaubliches Bemühen, als mein Zwillingsbruder zu erscheinen und
sich für einen solchen auszugeben, zu nichts anderem führen kann als zu
Ihrer vollständigen Beschämung und Niederlage. Deshalb ersuche ich Sie
in Ihrem eigenen Interesse, den Weg freizugeben und wahrhaft anständigen
Leuten, welche moralisch gute Ziele verfolgen, den Platz zu räumen.
Andernfalls bin ich entschlossen, auch vor den äußersten Maßregeln nicht
zurückzuschrecken. Ich lege die Feder hin und werde warten ... Im
übrigen verbleibe ich zu Ihren Diensten ... auch mit der Pistole.

                                                        J. Goljadkin.«

Als unser Held dieses Schreiben beendet hatte, rieb er sich energisch
die Hände. Dann zog er sich den Mantel an, setzte sich den Hut auf,
schloß mit seinem Reserveschlüssel die Entreetür auf und machte sich auf
den Weg nach der Kanzlei. Er gelangte auch bis zum Amtsgebäude; aber
hineinzugehen konnte er sich nicht entschließen; es war in der Tat schon
zu spät; Herrn Goljadkins Uhr zeigte halb drei. Plötzlich löste ein
anscheinend geringfügiger Umstand einige Zweifel des Herrn Goljadkin: um
eine Ecke des Amtsgebäudes herum kam auf einmal schwer atmend und mit
gerötetem Gesicht eine Gestalt, huschte heimlich wie eine Ratte die
Stufen vor der Haustür hinan und verschwand im Flur. Dies war der
Schreiber Ostafjew, ein Mensch, der Herrn Goljadkin sehr wohlbekannt
war, ein Mensch, den man mitunter brauchen konnte, und der sich für ein
Zehnkopekenstück zu allem bereit finden ließ. Da er Ostafjews schwache
Seite kannte und wußte, daß dieser nach einer kurzen Abwesenheit »wegen
eines dringenden Bedürfnisses« wahrscheinlich noch größeres Verlangen
nach Zehnkopekenstücken tragen werde als sonst, so entschloß sich unser
Held, das Geld nicht zu sparen, und lief sofort hinter Ostafjew her die
Stufen hinan und dann auf den Flur, rief ihn an und forderte ihn mit
geheimnisvoller Miene auf, mit ihm zur Seite zu treten, in ein stilles
Winkelchen hinter einem gewaltigen eisernen Ofen. Nachdem er ihn dorthin
geführt hatte, begann unser Held ihn auszufragen:

»Nun, mein Freund, wie steht es dort damit? ... Du verstehst mich doch?«

»Ich stehe zu Ihren Diensten, Euer Wohlgeboren, und wünsche Euer
Wohlgeboren eine gute Gesundheit.«

»Gut, mein Freund, gut; ich danke dir, lieber Freund. Nun also, siehst
du, wie steht es denn, mein Freund?«

»Was wünschen Sie zu wissen?« Hier hielt sich Ostafjew ein wenig die
Hand vor den Mund, den er beim Reden öffnen mußte.

»Ich ... siehst du, mein Freund, ich wollte ... hm ... denke nur nichts
Schlimmes ... Also, ist Andrei Filippowitsch da?«

»Jawohl, er ist da.«

»Sind auch die Beamten da?«

»Ja, auch die Beamten sind da, wie es in der Ordnung ist.«

»Und Seine Exzellenz auch?«

»Ja, Seine Exzellenz auch.« Hier verdeckte der Schreiber zum zweitenmal
den geöffneten Mund mit der Hand und richtete einen eigentümlichen,
neugierigen Blick auf Herrn Goljadkin. Wenigstens kam es unserem Helden
so vor.

»Und gibt es da nichts Besonderes, mein Freund?«

»Nein, gar nichts.«

»Ich meine, etwas, was mich betrifft, lieber Freund; wird da etwas
geredet? Ich meine nur so, lieber Freund; verstehst du?«

»Nein, bis jetzt ist nichts zu hören gewesen.« Der Schreiber hielt
wieder die Hand vor den Mund und blickte Herrn Goljadkin wieder seltsam
an. Unser Held bemühte sich nämlich jetzt, Ostafjews Miene zu
durchschauen, auf seinem Gesichte zu lesen, ob sich da auch nicht etwas
verberge. Und es machte wirklich den Eindruck, als ob sich da etwas
verbarg: Ostafjew wurde nämlich immer weniger höflich, redete in immer
trockenerem Tone und ging nicht mehr mit solchem Interesse wie bei
Beginn des Gespräches auf Herrn Goljadkins Fragen ein. »Er hat ja bis zu
einem gewissen Grade recht,« dachte Herr Goljadkin; »was gehe ich ihn
an? Vielleicht hat er auch schon von der Gegenseite etwas bekommen und
hat sich darum wegen eines dringenden Bedürfnisses entfernt. Aber ich
will ihm doch auch etwas ...« Herr Goljadkin sagte sich, daß der
richtige Zeitpunkt für die Zehnkopekenstücke gekommen sei.

»Hier ist etwas für dich, lieber Freund ...«

»Ich danke Euer Wohlgeboren von ganzem Herzen.«

»Ich werde dir noch mehr geben.«

»Zu Diensten, Euer Wohlgeboren.«

»Jetzt gleich werde ich dir noch mehr geben, und wenn die Sache erledigt
ist, noch einmal die gleiche Summe. Verstehst du?«

Der Schreiber schwieg, nahm eine militärisch stramme Haltung an und
hielt seinen Blick unbeweglich auf Herrn Goljadkin gerichtet.

»Nun, dann rede jetzt: hat über mich nichts verlautet?«

»Es scheint, daß bis jetzt, vorläufig ... hm ... daß vorläufig noch
nichts verlautet hat.« Ostafjew antwortete in einzelnen Absätzen, machte
ebenso wie Herr Goljadkin eine etwas geheimnisvolle Miene, zuckte ein
wenig mit den Augenbrauen, blickte zu Boden, bemühte sich, den richtigen
Ton zu treffen, kurz, er war mit aller Kraft bestrebt, die versprochene
Belohnung zu verdienen; denn das, was ihm bereits gegeben war, hielt er
schon für sein wohlerworbenes Eigentum.

»Und es ist nichts bekannt?«

»Bis jetzt noch nicht.«

»Aber höre ... hm ... es wird vielleicht etwas bekannt werden?«

»Später natürlich wird vielleicht etwas bekannt werden.«

»Schlimm!« dachte unser Held. »Hör mal: hier hast du noch etwas, mein
Lieber.«

»Ich danke Euer Wohlgeboren von ganzem Herzen.«

»War Wachramejew gestern hier?«

»Jawohl.«

»Sonst aber war niemand hier? Besinne dich einmal, Brüderchen!«

Der Schreiber wühlte ein Weilchen in seinem Gedächtnisse herum, konnte
sich aber auf nichts hierher Gehöriges besinnen.

»Nein, sonst war niemand da.«

»Hm!« Es trat Stillschweigen ein.

»Hör mal, Brüderchen, hier hast du noch etwas; sag mir alles, das ganze
Geheimnis!«

»Zu Diensten.« Ostafjew war jetzt wie um den Finger zu wickeln; das
hatte Herr Goljadkin bezweckt.

»Nun sage mir, Brüderchen: wie steht er sich mit den andern?«

»Es geht, ganz gut,« antwortete der Schreiber und blickte Herrn
Goljadkin mit großen Augen an.

»Was meinst du mit >ganz gutEs ist nichts zu
hören,< sagt er und >Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Euer
Wohlgeboren!< So ein Gauner!«

Es wurde Geräusch hörbar ... Herr Goljadkin krümmte sich zusammen und
sprang hinter den Ofen. Jemand kam die Treppe herunter und ging auf die
Straße hinaus. »Wer kann denn da jetzt weggehen?« dachte unser Held im
stillen. Einen Augenblick darauf wurden wieder Schritte vernehmbar ...
Jetzt konnte Herr Goljadkin sich nicht beherrschen und steckte die
Nasenspitze ein ganz klein wenig aus seinem Versteck heraus, -- aber
sofort zuckte er auch wieder zurück, als ob ihn jemand mit einer Nadel
hineingestochen hätte. Diesmal war es ein Bekannter, der vorbeiging,
nämlich der Halunke, der Intrigant, der verworfene Mensch; er ging wie
gewöhnlich mit seinen nichtswürdigen, kleinen Schrittchen, trippelnd und
mit den Beinen ausschlagend, als ob er jemandem damit einen Schlag
versetzen wollte. »Schurke!« sagte unser Held vor sich hin. Übrigens
konnte Herr Goljadkin nicht umhin zu bemerken, daß der Schurke unter dem
Arm ein großes grünes Portefeuille trug, das Seiner Exzellenz gehörte.
»Er hat wieder einen besonderen Auftrag,« dachte Herr Goljadkin; er
errötete und krümmte sich vor Ärger noch mehr zusammen als vorher. Kaum
war Herr Goljadkin der jüngere an Herrn Goljadkin dem älteren, ohne
diesen überhaupt zu bemerken, vorbeigehuscht, als sich zum dritten Male
Schritte hören ließen, und diesmal erriet Herr Goljadkin, daß es die
Schritte eines Schreibers waren. Wirklich blickte der pomadisierte Kopf
eines Schreibers zu ihm hinter den Ofen; es war indes nicht Ostafjew,
sondern ein anderer Schreiber, namens Pisarenko. Das setzte Herrn
Goljadkin in Erstaunen. »Warum hat er denn andere in das Geheimnis
eingeweiht?« dachte unser Held. »Diese Heiden! Nichts ist ihnen heilig!«
-- »Nun, was gibt es, mein Freund,« sagte er, sich zu Pisarenko wendend.
»Von wem kommst du, mein Freund?«

»Ich komme in Ihrer Angelegenheit. Bis jetzt ist noch nichts zu erfahren
gewesen. Aber sobald wir etwas erfahren, werden wir es Ihnen mitteilen.«

»Und Ostafjew?«

»Der kann jetzt absolut nicht abkommen, Euer Wohlgeboren. Seine
Exzellenz ist schon zweimal durch unser Bureau hindurchgegangen, und
auch ich habe jetzt keine Zeit.«

»Ich danke dir, mein Lieber, ich danke dir ... Sage mir nur noch ...«

»Wahrhaftig, ich habe keine Zeit ... Alle Augenblicke werden wir gerufen
... Bitte, bleiben Sie hier noch ein Weilchen stehen; wenn sich dann in
betreff Ihrer Angelegenheit etwas begibt, wollen wir Sie benachrichtigen
...«

»Nein, mein Freund, sage mir ...«

»Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit,« sagte Pisarenko, indem er sich von
Herrn Goljadkin, der ihn am Rockschoß gefaßt hatte, loszureißen suchte;
»ich habe wirklich keine Zeit. Bleiben Sie hier noch ein Weilchen
stehen; dann wollen wir Sie benachrichtigen.«

»Gleich, gleich lasse ich dich weg, mein Freund! Gleich, gleich, lieber
Freund! Aber jetzt ... Hier ist ein Brief, mein Freund; ich werde mich
dir dankbar zeigen, mein Lieber.«

»Zu Diensten.«

»Gib ihn an Herrn Goljadkin ab, mein Lieber; sei damit recht sorgsam!«

»An Herrn Goljadkin?«

»Ja, mein Freund, an Herrn Goljadkin.«

»Schön; sowie ich fertig bin, will ich ihn bestellen. Bleiben Sie hier
nur solange stehen! Hier sieht Sie niemand ...«

»Nein, ich ... denke nur nichts Übles, mein Freund ... ich stehe hier
nicht, um von niemand gesehen zu werden. Aber ich werde jetzt nicht
länger hierbleiben, mein Freund ... ich werde hier in die Seitengasse
gehen. Da ist ein Kaffeehaus; da werde ich warten; und wenn sich etwas
zuträgt, so benachrichtige mich von allem, verstehst du?«

»Schön, lassen Sie mich jetzt nur weg; ich verstehe ...«

»Ich werde dir dankbar sein, mein Lieber!« rief Herr Goljadkin dem
Schreiber Pisarenko nach, dem es nun endlich gelungen war, sich frei zu
machen. »Der Halunke wurde, wie es scheint, zuletzt gröber,« dachte
unser Held, während er verstohlen hinter dem Ofen hervorkam. »Da hat die
Sache noch einen Haken. Das ist klar ... Zuerst war er anders ...
Übrigens mochte er es wirklich eilig haben; vielleicht ist bei ihnen
viel zu tun. Und Seine Exzellenz ist zweimal durch das Bureau gegangen
... Was mag dazu für Anlaß gewesen sein? ... Ach was, das tut nichts!
Das hat vielleicht nichts zu bedeuten; nun, jetzt wollen wir sehen ...«

Hier war Herr Goljadkin schon im Begriff, die Haustür zu öffnen und auf
die Straße hinauszugehen, als plötzlich gerade in diesem Augenblicke die
Equipage Seiner Exzellenz mit donnerähnlichem Lärm vorfuhr. Herr
Goljadkin war noch nicht zur Besinnung gekommen, als der Wagenschlag von
innen geöffnet wurde und der darin sitzende Herr auf die Stufen vor der
Haustür hinaussprang. Der Ankömmling war kein anderer als eben jener
Herr Goljadkin der jüngere, der zehn Minuten vorher weggegangen war.
Herr Goljadkin der ältere erinnerte sich, daß die Wohnung des Direktors
nur einige Schritte entfernt lag. »Er hat einen besonderen Auftrag,«
dachte unser Held bei sich. Unterdessen hatte Herr Goljadkin der jüngere
aus dem Wagen das dicke grüne Portefeuille und noch einige andere
Papiere herausgenommen, dem Kutscher eine Weisung gegeben und öffnete
nun die Haustür; dabei versetzte er Herrn Goljadkin dem älteren mit ihr
beinah einen Stoß, bemerkte ihn aber vorsätzlich nicht, so daß seine
Absicht, ihn zu ärgern, deutlich war; dann lief er schnell die Treppe
zur Kanzlei hinauf. »Schlimm!« dachte Herr Goljadkin; »meine Sache geht
jetzt schief! Nun sehe mal einer den an, Herr du mein Gott!« Etwa eine
halbe Minute lang stand unser Held noch da, ohne sich zu rühren; endlich
hatte er seinen Entschluß gefaßt. Ohne sich lange zu bedenken, aber mit
starkem Herzklopfen und an allen Gliedern zitternd, lief er seinem
Freunde die Treppe hinauf nach. »Ach was! In Gottes Namen! Was geht es
mich an? Ich kann nichts dafür,« dachte er, während er den Hut, den
Mantel und die Überschuhe im Vorzimmer ablegte.

Als Herr Goljadkin in sein Bureau trat, war schon völlige Dämmerung
eingetreten. Weder Andrei Filippowitsch noch Anton Antonowitsch waren im
Zimmer. Sie befanden sich beide zum Zwecke der Berichterstattung im
Arbeitszimmer des Direktors; der Direktor aber hatte sich, wie man
hörte, seinerseits eilig zu Seiner Hohen Exzellenz begeben. Infolge
dieser Umstände und auch weil es bereits Dämmerung war und die
Bureauzeit zu Ende ging, trieben manche Beamten, namentlich die
jüngeren, in dem Augenblicke, als unser Held eintrat, allerlei Allotria:
sie gingen umher, führten Gespräche, plauderten, lachten, und einige der
jüngsten, d. h. der im Range am niedrigsten stehenden, spielten sogar in
einer Ecke am Fenster still und heimlich Schrift und Adler. Da Herr
Goljadkin die Gebote des Anstandes kannte und gerade jetzt besonders
wünschte, sie sich gegenüber beobachtet zu sehen, so trat er schnell zu
einigen heran, mit denen er noch am ehesten harmonierte, um ihnen Guten
Tag zu sagen usw. Aber die Kollegen erwiderten Herrn Goljadkins Gruß in
ganz seltsamer Weise. Er war unangenehm überrascht durch die kalte,
trockene, ja man kann sagen schroffe Art, in der sie ihn alle empfingen.
Keiner reichte ihm die Hand. Manche sagten einfach: »Guten Tag« und
gingen von ihm weg; andere nickten nur mit dem Kopfe; dieser und jener
wandte sich einfach ab und tat, als ob er nichts bemerkt hätte; einige
endlich (und das war für Herrn Goljadkin am allerverletzendsten), einige
junge Leute von der untersten Rangstufe, Burschen, die, wie Herr
Goljadkin sich ganz richtig im stillen über sie ausdrückte, weiter
nichts verstanden als gelegentlich Schrift und Adler zu spielen und sich
irgendwo umherzutreiben, diese umringten Herrn Goljadkin allmählich und
umdrängten ihn so, daß sie ihm beinah den Ausweg versperrten. Alle
blickten sie ihn mit einer Art von beleidigender Neugier an.

Das war ein übles Zeichen. Herr Goljadkin fühlte das und entschied sich
seinerseits verständigerweise dafür, nichts zu bemerken. Plötzlich trat
ein ganz unerwartetes Ereignis ein, das Herrn Goljadkin, wie man zu
sagen pflegt, den Rest gab und den Garaus machte.

In dem Haufen der jungen Kollegen, die ihn umgaben, erschien plötzlich,
und zwar gerade in dem für Herrn Goljadkin peinlichsten Augenblicke,
Herr Goljadkin der jüngere, heiter wie immer, mit einem Lächeln auf dem
Gesicht wie immer, beweglich, zungengewandt und leichtfüßig wie immer,
kurz, als derselbe Schalk, Springinsfeld, Schäker und Spaßmacher wie
immer, wie früher, wie z. B. gestern, wo er in einem für Herrn Goljadkin
den älteren so unangenehmen Augenblicke aufgetaucht war. Schmunzelnd,
sich hin und her drehend, trippelnd, mit einem Lächeln, das allen
Anwesenden Guten Abend zu sagen schien, drängte er sich in den Haufen
der Beamten hinein, drückte diesem die Hand, klopfte jenem auf die
Schulter, umarmte flüchtig einen dritten, erklärte einem vierten, in
welcher Angelegenheit Seine Exzellenz seine Dienste in Anspruch genommen
habe, wohin er gefahren sei, was er getan und was er mitgebracht habe;
einen fünften, wahrscheinlich seinen besten Freund, küßte er auf den
Mund, -- mit einem Worte: alles ging genau so vor sich wie in Herrn
Goljadkins des älteren Traume. Nachdem er genugsam herumgehüpft, einen
jeden auf seine Weise begrüßt, um die Gunst aller mit oder ohne Anlaß
gebuhlt und sich bei allen gehörig lieb Kind gemacht hatte, streckte
Herr Goljadkin der jüngere auch seinem älteren Freunde, Herrn Goljadkin
dem älteren, den er bis dahin noch nicht bemerkt hatte, plötzlich und
wahrscheinlich aus Versehen die Hand hin. Wahrscheinlich ebenfalls aus
Versehen, obwohl er den unedlen Herrn Goljadkin den jüngeren schon
längst sehr wohl bemerkt hatte, ergriff unser Held sofort eifrig die ihm
so unerwartet hingestreckte Hand und drückte sie kräftig und in der
freundschaftlichsten Art, ja mit einer seltsamen, ganz unerwarteten,
innerlichen Bewegung, mit einer weinerlichen Empfindung. Ob unser Held
sich durch die von seinem unwürdigen Feinde ergriffene Initiative
täuschen ließ oder einfach der Geistesgegenwart ermangelte, oder in
tiefster Seele seine Hilflosigkeit in ihrem ganzen Umfange erkannte und
empfand, das ist schwer zu sagen. Tatsache ist, daß Herr Goljadkin der
ältere bei vollem Verstande, aus freiem Willen und vor Zeugen feierlich
die Hand desjenigen drückte, den er seinen Todfeind nannte. Aber wie
groß war die Verwunderung, das Erstaunen, die Wut, der Schrecken und die
Beschämung Herrn Goljadkins des älteren, als sein Todfeind, der unedle
Herr Goljadkin der jüngere, sowie er das Versehen des unschuldigen, von
ihm verfolgten und treulos betrogenen Menschen bemerkte, schamlos und
gefühllos, erbarmungslos und gewissenlos auf einmal mit unerhörter
Frechheit und Roheit seine Hand aus der Hand Herrn Goljadkins des
älteren herausriß, ja seine Hand schlenkerte, als ob er sie mit etwas
Unsauberem beschmutzt hätte, ja seitwärts ausspie und dies alles mit
einer höchst beleidigenden Gebärde begleitete, ja sein Taschentuch
herauszog und sich damit auf der Stelle in der unanständigsten Weise
alle Finger abrieb, die sich einen Augenblick in der Hand des älteren
Herrn Goljadkin befunden hatten. Während er dies tat, blickte Herr
Goljadkin der jüngere nach seiner nichtswürdigen Gewohnheit absichtlich
rings um sich, damit alle auf sein Benehmen aufmerksam würden, sah allen
in die Augen und bemühte sich offenbar, allen eine recht üble Meinung
von Herrn Goljadkin beizubringen. Es schien, daß das Verhalten des
widerwärtigen Herrn Goljadkin des jüngeren bei den herumstehenden
Beamten allgemeine Entrüstung hervorrief; sogar die leichtfertigen
jungen Leute bekundeten ihr Mißvergnügen. Murren und tadelnde Worte
wurden ringsum laut. Diese allgemeine Bewegung konnte den Ohren des
älteren Herrn Goljadkin nicht entgehen; aber ein rechtzeitiges
Scherzwort, das von den Lippen des jüngeren Herrn Goljadkin sprang,
zerstörte und vernichtete die letzten Hoffnungen unseres Helden und
bewirkte, daß die Wage sich wieder zugunsten seines schändlichen
Todfeindes neigte.

»Das ist unser russischer Faublas[6], meine Herren; gestatten Sie, daß
ich Ihnen den jungen Faublas vorstelle,« quiekte Herr Goljadkin der
jüngere, während er mit der ihm eigenen Frechheit zwischen den Beamten
geschäftig umhertrippelte und auf den ganz starr gewordenen echten Herrn
Goljadkin hinwies. »Küssen wir uns, mein Herzchen,« fuhr er mit
unerträglicher Familiarität fort, indem er sich dem so verräterisch von
ihm Beleidigten näherte. Das Späßchen des schändlichen Herrn Goljadkin
des jüngeren schien da, wo es wirken sollte, Anklang zu finden, um so
mehr, da darin eine tückische Anspielung auf einen Umstand lag, der
anscheinend allen bereits bekannt war. Unser Held fühlte, daß die Hand
seiner Feinde schwer auf seinen Schultern lastete. Übrigens hatte er
seinen Entschluß bereits gefaßt. Mit flammendem Blicke, mit bleichem
Gesichte und mit einem starren Lächeln arbeitete er sich mühsam aus dem
Haufen heraus und schlug mit schnellen, ungleichmäßigen Schritten
geradeswegs die Richtung nach dem Arbeitszimmer Seiner Exzellenz ein. In
dem vorletzten Zimmer traf er mit Andrei Filippowitsch zusammen, der
soeben von Seiner Exzellenz kam, und obgleich sich in diesem Zimmer eine
Menge verschiedenartiger Personen befanden, die zu Herrn Goljadkin im
gegenwärtigen Augenblicke gar keine Beziehungen hatten, so beachtete
unser Held doch diesen Umstand nicht im geringsten. Ohne Umschweife,
entschlossen und kühn, beinahe über sich selbst verwundert und sich
innerlich wegen seiner Kühnheit lobend, fiel er ohne Zeitverlust über
Andrei Filippowitsch her, der über diesen plötzlichen Anfall nicht wenig
erstaunt war.

[Fußnote 6: Der Held von Louvet de Couvrays (1760-1797) schlüpfrigem
Romane ^Les aventures du chevalier Faublas^. Anmerkung des Übersetzers.]

»Ah! ... Was wünschen Sie? ... Was ist Ihnen gefällig?« fragte der
Abteilungschef, ohne auf Herrn Goljadkins stockend vorgebrachte Anrede
zu hören.

»Andrei Filippowitsch, ich ... könnte ich wohl jetzt gleich mit Seiner
Exzellenz ein Gespräch unter vier Augen haben, Andrei Filippowitsch?«
sagte unser Held nunmehr klar und deutlich und richtete einen sehr
entschlossenen Blick auf Andrei Filippowitsch.

»Was? Das geht natürlich nicht.« Andrei Filippowitsch maß mit seinem
Blicke Herrn Goljadkin vom Kopf bis zu den Füßen.

»Ich sage nämlich das alles deswegen, Andrei Filippowitsch, weil ich
mich darüber wundere, daß hier niemand diesen Usurpator eines fremden
Namens, diesen Schurken entlarvt.«

»Wa--a--as?«

»Diesen Schurken, Andrei Filippowitsch.«

»Wen belieben Sie denn mit diesem Titel zu bezeichnen?«

»Ich meine eine gewisse Person, Andrei Filippowitsch. Ich ziele damit
auf eine gewisse Person, Andrei Filippowitsch; ich bin im Rechte ... Ich
meine, Andrei Filippowitsch, die vorgesetzte Behörde sollte derartige
Bestrebungen ermuntern,« fügte Herr Goljadkin, der offenbar von sich
selbst nichts mehr wußte, hinzu. »Andrei Filippowitsch ... aber Sie
sehen wahrscheinlich selbst, Andrei Filippowitsch, daß dies eine
wohlanständige Bestrebung ist, und daß sich darin meine in verschiedener
Hinsicht löbliche Absicht bekundet, den Chef als meinen Vater zu
betrachten, Andrei Filippowitsch ... ich betrachte die edeldenkende
vorgesetzte Behörde als meinen Vater und vertraue ihr blind mein
Schicksal an. So und so ... Sie sehen, wie ...« Hier begann Herrn
Goljadkins Stimme zu zittern, sein Gesicht rötete sich, und zwei Tränen
traten auf seine Wimpern.

Als Andrei Filippowitsch Herrn Goljadkin so reden hörte, erstaunte er
dermaßen, daß er unwillkürlich ein paar Schritte zurücktrat. Dann
blickte er unruhig um sich ... Es ist schwer zu sagen, wie die Sache
geendet hätte ... Aber plötzlich öffnete sich die Tür, die zum
Arbeitszimmer des Chefs führte, und dieser selbst kam in Begleitung
mehrerer Beamten heraus. Alle, die im Zimmer waren, schlossen sich an
und gingen hinter ihm her. Seine Exzellenz rief Andrei Filippowitsch
heran, ließ ihn neben sich gehen und unterredete sich mit ihm über
irgendwelche Gegenstände. Als sich alle in Bewegung gesetzt und das
Zimmer verlassen hatten, kam auch Herr Goljadkin wieder zur Besinnung.
Demütig suchte er Schutz unter den Fittichen seines Tischvorstehers
Anton Antonowitsch Sjetotschkin, der hinter allen herschlich und, wie es
Herrn Goljadkin schien, eine sehr ernste, sorgenvolle Miene machte.
»Auch hier habe ich töricht geredet; auch hier habe ich meiner Sache
geschadet,« dachte er bei sich; »nun aber, es macht nichts.« Dann sagte
er zu dem Tischvorsteher leise mit einer Stimme, die vor Aufregung noch
ein wenig zitterte: »Ich hoffe, daß wenigstens Sie, Anton Antonowitsch,
sich werden bereitfinden lassen, mir Gehör zu schenken und von meiner
Lage Kenntnis zu nehmen. Von allen zurückgewiesen, wende ich mich an
Sie. Ich bin bis jetzt noch im unklaren darüber, was Andrei
Filippowitschs Worte bedeuteten, Anton Antonowitsch. Erklären Sie sie
mir, wenn es möglich ist ...«

»Es wird alles zur rechten Zeit klar werden,« erwiderte Anton
Antonowitsch nach einer Pause in ernstem Tone und, wie es Herrn
Goljadkin schien, mit einer Miene, die deutlich zu verstehen gab, daß
Anton Antonowitsch überhaupt nicht wünschte, das Gespräch fortzusetzen.
»Sie werden in kurzer Zeit alles erfahren. Noch heute werden Sie formell
von allem unterrichtet werden.«

»Was meinen Sie denn mit >formell<, Anton Antonowitsch? Warum denn
gerade formell?« fragte unser Held schüchtern.

»Es steht uns beiden nicht zu, über das zu urteilen, Jakow Petrowitsch,
was die Behörde für gut findet.«

»Warum denn die Behörde, Anton Antonowitsch?« fragte Herr Goljadkin, der
noch zaghafter geworden war, »warum denn die Behörde? Ich sehe keine
Ursache, weshalb die Behörde damit belästigt werden sollte, Anton
Antonowitsch ... Sie wollen mir vielleicht etwas über das gestrige
Vorkommnis sagen, Anton Antonowitsch?«

»Nein, um das gestrige Vorkommnis handelt es sich nicht; aber es ist
sonst noch dies und das bei Ihnen nicht in Ordnung.«

»Was ist denn bei mir nicht in Ordnung, Anton Antonowitsch? Mir scheint,
Anton Antonowitsch, daß bei mir alles in Ordnung ist.«

»Aber warum wollten Sie denn schlaue Pfiffe und Kniffe zur Anwendung
bringen?« unterbrach Anton Antonowitsch scharf den ganz bestürzten Herrn
Goljadkin. Dieser fuhr zusammen und wurde bleich wie Leinewand.

»Freilich, Anton Antonowitsch,« sagte er mit kaum vernehmbarer Stimme,
»wenn man die Stimme der Verleumdung beachtet und auf unsere Feinde
hört, ohne eine Rechtfertigung von der anderen Seite anzunehmen, dann
muß unsereiner leiden, Anton Antonowitsch, schuldlos, und ohne etwas
begangen zu haben, leiden.«

»Hm, hm; und Ihr unwürdiges Benehmen, durch das Sie dem Rufe eines
anständigen Mädchens, der Tochter jener wohlbekannten, humanen,
hochgeachteten Familie, geschadet haben, einer Familie, die Ihnen so
viel Gutes erwiesen hatte?«

»Was meinen Sie denn für ein Benehmen, Anton Antonowitsch?«

»Hm, hm. Und da ist dann noch ein anderes Mädchen, das zwar arm, aber
von ehrenhafter, ausländischer Herkunft ist; an Ihr löbliches Verhalten
diesem Mädchen gegenüber erinnern Sie sich wohl auch nicht?«

»Gestatten Sie, Anton Antonowitsch ... haben Sie die Güte, mich
anzuhören, Anton Antonowitsch ...«

»Und Ihr treuloses Benehmen einer andern Person gegenüber, die Sie
verleumdet und eines Vergehens bezichtigt haben, das Sie sich selbst
haben zuschulden kommen lassen? Nun, wie nennt man das?«

»Anton Antonowitsch, ich habe ihn nicht aus dem Hause getrieben,«
erwiderte unser Held zitternd, »und habe auch Petruschka, meinem Diener,
keine derartige Instruktion gegeben ... Er hat von meinem Tische
gegessen, Anton Antonowitsch; er hat meine Gastfreundschaft genossen,«
fügte unser Held ausdrucksvoll und mit tiefem Gefühl hinzu, so daß sein
Kinn ein wenig zu hüpfen begann und ihm die Tränen wieder in die Augen
kamen.

»Das reden Sie nur so hin, Jakow Petrowitsch, daß er von Ihrem Tische
gegessen habe,« antwortete Anton Antonowitsch, den Mund zum Lächeln
verziehend, und seinem Tone war eine gewisse Verschmitztheit anzuhören,
so daß es Herrn Goljadkin war, als würde ihm ein Stich ins Herz
versetzt.

»Gestatten Sie mir, Sie noch ganz bescheiden zu fragen, Anton
Antonowitsch: ist denn all dies Seiner Exzellenz bekannt?«

»Aber natürlich! Lassen Sie mich aber jetzt in Ruhe; ich habe jetzt für
Sie keine Zeit mehr ... Noch heute werden Sie alles erfahren, was Sie zu
wissen brauchen.«

»Erlauben Sie noch einen Augenblick, um Gottes willen, Anton
Antonowitsch ...«

»Sie können es mir ein andermal erzählen ...«

»Nein, Anton Antonowitsch: ich bin, sehen Sie, hören Sie nur, Anton
Antonowitsch ... Ich bin durchaus nicht für die Freigeisterei, Anton
Antonowitsch; ich lehne die Freigeisterei ab; ich bin meinerseits völlig
bereit ... und es ist mir sogar der Gedanke gekommen ...«

»Schon gut, schon gut. Ich habe das schon einmal gehört ...«

»Nein, das haben Sie noch nicht gehört, Anton Antonowitsch. Das ist
etwas anderes, Anton Antonowitsch; das ist etwas Gutes, wirklich etwas
Gutes und angenehm zu hören ... Es ist mir, wie ich schon gesagt habe,
der Gedanke gekommen, Anton Antonowitsch, daß da die göttliche Vorsehung
zwei ganz ähnliche Menschen geschaffen und die edeldenkende Behörde im
Hinblick auf diese Tat der göttlichen Vorsehung den beiden Zwillingen
Obdach gewährt hat. Das ist ein guter Gedanke, Anton Antonowitsch. Sie
sehen, daß das ein sehr guter Gedanke ist, Anton Antonowitsch, und daß
ich fern von aller Freigeisterei bin. Ich betrachte die edeldenkende
Behörde als meinen Vater. Jawohl, die edeldenkende Behörde und Sie, hm
... Ein junger Mensch muß ein Amt haben ... Unterstützen Sie mich, Anton
Antonowitsch ... treten Sie für mich ein, Anton Antonowitsch ... Ich
will weiter nichts ... Anton Antonowitsch, um Gottes willen, nur noch
ein Wörtchen ... Anton Antonowitsch ...«

Aber Anton Antonowitsch war schon weit von Herrn Goljadkin entfernt ...
Unser Held wußte nicht, wo er stand, was er hörte, was er tat, was mit
ihm geschah, und was mit ihm noch geschehen werde, so hatte ihn alles,
was er gehört und erlebt hatte, verwirrt und erschüttert.

Mit flehenden Blicken suchte er unter der Schar der Beamten nach Anton
Antonowitsch, um sich noch weiter vor ihm zu rechtfertigen und ihm etwas
sehr Schönes von sich selbst zu sagen: was für ein wohlgesinnter und
anständiger Mensch er sei ... Indessen begann allmählich ein neues Licht
durch Herrn Goljadkins Verwirrung hindurchzudringen, ein neues,
schreckliches Licht, das ihm plötzlich mit einem Schlage eine ganze
lange Reihe völlig unbekannter und sogar nicht einmal geahnter Umstände
erhellte ... In diesem Augenblicke stieß jemand unsern ganz
fassungslosen Helden in die Seite. Er blickte sich um. Vor ihm stand
Pisarenko.

»Ein Brief, Euer Wohlgeboren!«

»Ah! ... Du bist schon dagewesen, mein Lieber?«

»Nein, dieser ist schon heute morgen um zehn hergebracht. Der
Kanzleidiener Sergei Michejew hat ihn von der Wohnung des
Gouvernementssekretärs Wachramejew hergebracht.«

»Schön, mein Freund, schön; ich danke dir, mein Lieber.«

Nachdem Herr Goljadkin dies gesagt hatte, steckte er den Brief in die
Seitentasche seines Uniformrocks und knöpfte diesen bis oben hinauf zu;
dann blickte er um sich und bemerkte zu seinem Erstaunen, daß er sich
schon im Hausflur des Amtsgebäudes befand, mitten in einem Schwarm von
Beamten, die sich zum Ausgang drängten, da die Bureaustunden zu Ende
waren. Herr Goljadkin hatte diesen letzteren Umstand bisher nicht
bemerkt, ja er hatte nicht einmal bemerkt und erinnerte sich nicht, auf
welche Weise er sich auf einmal in Mantel und Überschuhen befand und
seinen Hut in der Hand hielt. Alle Beamten standen regungslos und in
respektvoller Erwartung. Die Sache war die, daß Seine Exzellenz am Fuße
der Treppe stehen geblieben war, auf seinen Wagen wartete, der sich aus
irgendwelcher Ursache verspätete, und ein sehr interessantes Gespräch
mit zwei Räten und mit Andrei Filippowitsch führte. Ein wenig entfernt
von den beiden Räten und Andrei Filippowitsch stand Anton Antonowitsch
Sjetotschkin und einige andere Beamten, die sehr beflissen lächelten, da
sie sahen, daß Seine Exzellenz zu scherzen und zu lachen beliebte.
Diejenigen Beamten, die sich am oberen Ende der Treppe zusammendrängten,
lächelten ebenfalls und warteten darauf, daß Seine Exzellenz von neuem
lachen werde. Nur der dickbäuchige Portier Fedosjeitsch lächelte nicht;
er hatte den Türgriff gefaßt, stand hochaufgerichtet da und wartete
ungeduldig auf seine tägliche Portion Vergnügen, die darin bestand, daß
er auf einmal, mit einem einzigen Schwunge des Arms, den einen Türflügel
weit zurückschlug und dann, zu einem Bogen zusammengekrümmt, respektvoll
Seine Exzellenz an sich vorbeipassieren ließ. Aber die größte Freude und
das größte Vergnügen von allen schien Herrn Goljadkins unwürdiger und
unedler Feind zu empfinden. Er vergaß in diesem Augenblicke sogar alle
Beamten und unterließ es, nach seiner nichtswürdigen Gewohnheit
geschäftig unter ihnen umherzutrippeln und, die Gelegenheit benutzend,
sich bei diesem und jenem beliebt zu machen. Er war ganz Auge und Ohr,
krümmte sich in einer eigentümlichen Weise zusammen, wahrscheinlich um
besser zu hören, und verwandte kein Auge von Seiner Exzellenz; nur
bisweilen bewegten sich seine Hände, seine Füße und sein Kopf in leisen,
kaum bemerkbaren Zuckungen, die die innerliche, verborgene Aufregung
seiner Seele verrieten.

»Er ist ordentlich wie berauscht!« dachte unser Held; »er sieht aus wie
ein Günstling, der Schurke! Ich möchte nur wissen, wodurch er eigentlich
so viele hochgestellte Personen für sich einnimmt. Er besitzt weder
Verstand, noch Charakter, noch Bildung, noch Gefühl; er hat eben Glück,
der Racker! Herr du mein Gott! Wenn man das so bedenkt, wie schnell kann
ein Mensch vorwärts kommen und sich mit allen Leuten befreunden! Und er
wird vorwärts kommen, dieser Mensch; ich möchte darauf schwören, daß er
es weit bringen wird, der Racker, daß er viel erreichen wird; er hat
Glück, der Racker! Auch das möchte ich gern wissen, was er ihnen allen
eigentlich zuzuflüstern pflegt. Was hat er nur mit all diesem Volke für
Geheimnisse, und von was für geheimen Dingen reden sie miteinander? Herr
du mein Gott! Ich sollte auch so, hm ... und mit ihnen auch ein bißchen
... so und so ... ich sollte ihn vielleicht bitten ... >So und so, und
ich werde es nicht wieder tun. Ich trage die Schuld, und ein junger
Mensch muß in unserer Zeit ein Amt haben, Exzellenz; über meine unklare
Lage rege ich mich durchaus nicht auf<, so müßte ich reden! Irgendwie
dort Einspruch erheben, das werde ich auch nicht tun; alles werde ich
mit Geduld und Demut ertragen; so müßte ich es machen! Soll ich so
vorgehen? Ja, übrigens kommt man mit Worten dem Racker nicht bei und
kriegt ihn nicht unter; Vernunft kann man ihm in seinen leichtfertigen
Kopf nicht hineinhämmern ... Aber ich will es versuchen. Wenn ich eine
günstige Stunde abpassen kann, will ich es versuchen ...«

In seiner Unruhe, seiner Angst und Verwirrung fühlte unser Held, daß es
so nicht bleiben könne, daß der entscheidende Augenblick herannahe, daß
er sich mit irgend jemand aussprechen müsse, und so begann er denn sich
allmählich nach der Stelle hin zu bewegen, wo sein unwürdiger,
rätselhafter Freund stand. Aber gerade in diesem Augenblicke fuhr die
langerwartete Equipage Seiner Exzellenz am Portal vor. Fedosjeitsch riß
die Tür auf und ließ, sich bogenförmig zusammenkrümmend, Seine Exzellenz
an sich vorbei. Alle Wartenden strömten mit einem Male zum Ausgang hin
und drängten für einen Augenblick Herrn Goljadkin den älteren von Herrn
Goljadkin dem jüngeren ab. »Du entgehst mir nicht!« sagte unser Held,
sich durch die Menge schiebend und den Betreffenden nicht aus den Augen
lassend. Endlich zerstreute sich die Menge. Unser Held fühlte sich
wieder im Freien und machte sich schleunigst an die Verfolgung seines
Feindes.



                             11. Kapitel


Keuchend flog Herr Goljadkin hinter seinem sich schnell entfernenden
Feinde her. Er fühlte in sich eine gewaltige Energie. Übrigens konnte
Herr Goljadkin trotz des Vorhandenseins dieser gewaltigen Energie ganz
sicher sein, daß in diesem Augenblicke sogar eine gewöhnliche Mücke,
wenn eine solche in dieser Jahreszeit in Petersburg hätte leben können,
durchaus imstande sein würde, ihn mit ihren Flügeln niederzuschlagen. Er
fühlte, daß er ganz matt und kraftlos wurde, daß die Beine unter ihm
einknickten und den Dienst versagten; es kam ihm vor, als ob er
überhaupt nicht selbst gehe, sondern von einer besonderen, fremden Kraft
vorwärtsgetragen werde. Indessen konnte sich das alles noch gut
gestalten. »Ob es sich nun gut gestaltet oder nicht,« dachte Herr
Goljadkin, atemlos von dem schnellen Laufen, »daran, daß die Sache
verloren ist, besteht jetzt auch nicht der leiseste Zweifel; daß ich
völlig verloren bin, das ist sicher, bestimmt, unterschrieben und
besiegelt.« Aber trotzdem war unserm Helden zumute, wie wenn er von den
Toten erstanden wäre oder eine Schlacht durchgekämpft und den Sieg
errungen hätte, als es ihm gelang, seinen Feind am Mantel festzuhalten
in dem Augenblicke, wo dieser schon den einen Fuß auf eine Droschke
setzte, die er soeben genommen hatte. »Mein Herr, mein Herr!« rief er
dem endlich eingeholten unedlen Herrn Goljadkin dem jüngeren zu. »Mein
Herr, ich hoffe, daß Sie ...«

»Nein, bitte, hoffen Sie nichts!« antwortete Herrn Goljadkins
gefühlloser Feind ablehnend; er stand mit dem einen Beine auf einer
Trittstufe der Droschke und strebte aus Leibeskräften danach, mit dem
andern Beine auf die zweite Stufe zu gelangen, wobei er mit ihm
vergeblich in der Luft herumarbeitete und sich aus aller Kraft bemühte,
Herrn Goljadkin dem älteren seinen Mantel aus den Händen zu reißen, den
dieser seinerseits mit aller Kraft, die ihm die Natur verliehen hatte,
festhielt.

»Jakow Petrowitsch! Nur zehn Minuten ...«

»Verzeihen Sie, ich habe keine Zeit.«

»Sie müssen selbst zugeben, Jakow Petrowitsch ... bitte, Jakow
Petrowitsch ... um Gottes willen, Jakow Petrowitsch ... ich muß mich
notwendigerweise mit Ihnen aussprechen ... offen und ehrlich ... Nur
eine Sekunde, Jakow Petrowitsch!«

»Mein Täubchen, ich habe keine Zeit,« versetzte Herrn Goljadkins
heuchlerischer Feind mit unhöflicher Vertraulichkeit, aber mit
scheinbarer Gutherzigkeit; »ein andermal will ich mich gern mit Ihnen
aus tiefster Seele offen und ehrlich aussprechen, glauben Sie mir; aber
jetzt ist es mir wirklich unmöglich.«

»Du Schurke!« dachte unser Held. »Jakow Petrowitsch!« rief er voll
Kummer, »ich bin nie Ihr Feind gewesen. Böse Menschen haben eine falsche
Schilderung von mir gemacht ... Meinerseits bin ich bereit ... Jakow
Petrowitsch, wenn es Ihnen gefällig ist, so könnten wir beide sogleich
hier hineingehen ... Und da könnten wir offen und ehrlich, wie Sie
soeben so schön sagten, und in einfacher, edler Sprache ... hier in
dieses Kaffeehaus; dann wird sich alles von selbst aufklären; sehen Sie
wohl, Jakow Petrowitsch! Dann wird sich unfehlbar alles von selbst
aufklären ...«

»In das Kaffeehaus? Nun schön! Ich habe nichts dagegen; gehen wir in das
Kaffeehaus; aber nur unter der Bedingung, mein Teuerster, unter der
einzigen Bedingung, daß sich dort alles von selbst aufklärt. Na ja, mein
Herzchen,« sagte Herr Goljadkin der jüngere, während er von der Droschke
wieder herunterstieg und unserm Helden in unverschämter Manier auf die
Schulter klopfte, »Sie sind mir ein so lieber Freund; für Sie, Jakow
Petrowitsch, bin ich bereit, auch in eine Seitengasse zu gehen (wie Sie
einmal sehr richtig bemerkten, Jakow Petrowitsch). Sie sind doch
wirklich ein schlauer Mensch; was er will, dazu bringt er einen auch!«
fuhr Herrn Goljadkins lügnerischer Freund fort, indem er, leise
lächelnd, sich um ihn herumdrehte und um ihn herumscherwenzelte. Das von
den großen Straßen entfernt gelegene Kaffeehaus, in welches die beiden
Herren Goljadkin eintraten, war in diesem Augenblicke ganz leer. Eine
ziemlich dicke Deutsche erschien am Büfett, sobald der Ton der
Türklingel sich vernehmen ließ. Herr Goljadkin und sein unwürdiger Feind
gingen hindurch in ein zweites Zimmer, wo ein aufgedunsener, über den
Kamm geschorener Junge sich am Ofen mit einem Bündel Späne abmühte, das
ausgegangene Feuer wieder anzuzünden. Auf Herrn Goljadkins des jüngeren
Verlangen wurde Schokolade gebracht.

»Ein schön fleischiges Frauchen!« sagte Herr Goljadkin der jüngere und
blinzelte Herrn Goljadkin dem älteren schlau zu.

Unser Held errötete und schwieg.

»Ach ja, ich hatte vergessen; entschuldigen Sie! Ich kenne ja Ihren
Geschmack. Wir haben eine Vorliebe für schlanke deutsche Damen, mein
Herr; ja, ja, Sie redliche Seele, Jakow Petrowitsch, wir haben eine
Vorliebe für schlanke deutsche Damen, wenn sie nur sonst nicht der Reize
bar sind; wir mieten uns bei ihnen ein, verderben ihre Moralität, weihen
ihnen zum Dank für ihre Bier- und Milchsuppen unser Herz und geben ihnen
allerlei Unterschriften -- so machen wir's, Sie Faublas, Sie Verräter!«
Mit diesen Reden machte Herr Goljadkin der jüngere eine ganz unnötige,
aber boshaft schlaue Anspielung auf eine gewisse Person weiblichen
Geschlechts; dabei benahm er sich sehr betulich gegen Herrn Goljadkin,
lächelte ihm mit anscheinender Liebenswürdigkeit zu und kehrte
heuchlerisch eine schöne Treuherzigkeit und eine lebhafte Freude über
das Zusammensein mit ihm heraus. Als er jedoch merkte, daß Herr
Goljadkin der ältere durchaus nicht so dumm und ungebildet und guter
Manieren unkundig war, daß er ihm ohne weiteres getraut hätte, da
beschloß der unedle Mensch seine Taktik zu ändern und sich eines offenen
Verfahrens zu bedienen. Sogleich nachdem er jene abscheulichen Reden
geführt hatte, schloß der falsche Herr Goljadkin damit, daß er mit
empörender Schamlosigkeit und Familiarität dem gesetzten Herrn Goljadkin
auf die Schulter klopfte und, damit nicht zufrieden, in einer Weise, die
in guter Gesellschaft als ganz unanständig gilt, mit ihm sein Spiel zu
treiben begann. Er beabsichtigte nämlich, seine frühere Ungezogenheit zu
wiederholen, d. h. er kniff trotz des Widerstandes und leichten
Aufschreiens des empörten älteren Herrn Goljadkin diesen in die Backe.
Bei diesem abscheulichen Benehmen kochte unser Held innerlich; aber er
schwieg ... wenigstens zunächst.

»So reden meine Feinde,« antwortete er endlich, sich verständigerweise
beherrschend, mit zitternder Stimme. Gleichzeitig sah sich unser Held
unruhig nach der Tür um. Denn Herr Goljadkin der jüngere war anscheinend
vorzüglicher Laune und zu allerlei Späßchen aufgelegt, die an einem
öffentlichen Orte unerlaubt und überhaupt nach den Gesetzen des Umgangs,
namentlich in den Kreisen der besseren Gesellschaft, nicht gestattet
sind.

»Nun, dann also, wie Sie wollen,« erwiderte Herr Goljadkin der jüngere
ernsthaft auf die Bemerkung des älteren Herrn Goljadkin und stellte
seine geleerte Tasse, die er mit unanständiger Gier ausgetrunken hatte,
auf den Tisch. »Nun, wir beide sind schon lange nicht mehr zusammen
gewesen. Also wie geht es Ihnen denn jetzt, Jakow Petrowitsch?«

»Ich kann Ihnen nur eins sagen, Jakow Petrowitsch,« erwiderte unser Held
kaltblütig und mit Würde, »ich bin niemals Ihr Feind gewesen.«

»Hm ... Nun, und Petruschka? Wie hieß er doch? Doch wohl Petruschka? Ja,
ja! Also wie geht es ihm? Gut? Wie früher?«

»Auch dem geht es wie früher, Jakow Petrowitsch,« antwortete Herr
Goljadkin der ältere etwas befremdet. »Ich weiß nicht, Jakow Petrowitsch
... von meiner Seite ... ich als anständig denkender, aufrichtiger
Mensch, Jakow Petrowitsch ... Sie müssen selbst zugeben, Jakow
Petrowitsch ...«

»Ja. Aber Sie wissen selbst, Jakow Petrowitsch,« versetzte Herr
Goljadkin der jüngere leise und in wehmütigem Tone, indem er sich
dadurch lügnerischerweise als einen betrübten, von Reue und Bedauern
erfüllten würdigen Menschen darstellte, »Sie wissen selbst, die Zeit, in
der wir leben, ist eine schwere Zeit ... Ich berufe mich auf Sie selbst,
Jakow Petrowitsch; Sie sind ein verständiger Mensch und haben ein
gerechtes Urteil,« schloß Herr Goljadkin der jüngere mit einer gemeinen
Schmeichelei gegen Herrn Goljadkin den älteren. »Das Leben ist kein
Spiel; das wissen Sie selbst, Jakow Petrowitsch,« fügte Herr Goljadkin
der jüngere noch vielsagend hinzu und stellte sich auf diese Weise als
einen klugen, gebildeten Menschen hin, der über hohe Gegenstände
philosophieren könne.

»Ich meinerseits, Jakow Petrowitsch,« antwortete unser Held begeistert,
»ich meinerseits verachte Schleichwege und spreche kühn und offen; ich
bediene mich einer ungeschminkten, wohlanständigen Redeweise und nehme
in jeder Sache einen hohen Standpunkt ein; und ich sage Ihnen und kann
es Ihnen offen und ehrlich versichern, Jakow Petrowitsch, daß mein
Gewissen völlig rein ist, und daß, wie Sie selbst wissen, Jakow
Petrowitsch, nur eine beiderseitige Verirrung (es ist ja alles möglich),
das Urteil der Welt, die Meinung der sklavischen Menge ... Ich spreche
offen, Jakow Petrowitsch; es ist ja alles möglich. Und ich möchte auch
noch dies sagen, Jakow Petrowitsch: wenn man in dieser Weise urteilt,
wenn man die Sache von einem edlen, hohen Gesichtspunkte aus betrachtet,
dann sage ich kühn, ohne falsche Scham sage ich es, Jakow Petrowitsch,
es wird mir sogar angenehm sein zu bekennen, daß ich auf Irrwege geraten
bin; es wird mir sogar angenehm sein, dies einzugestehen. Sie werden das
selbst wissen; Sie sind ein kluger und überdies ein edeldenkender
Mensch. Ohne Scham, ohne falsche Scham bin ich bereit, dies
einzugestehen ... in würdiger, edler Gesinnung,« schloß unser Held.

»Das ist nun einmal so Schicksal, Verhängnis, Jakow Petrowitsch ... aber
lassen wir das alles beiseite,« versetzte Herr Goljadkin der jüngere mit
einem Seufzer. »Lassen Sie uns die wenigen Minuten unseres Zusammenseins
lieber zu einem nützlicheren und angenehmeren Gespräche gebrauchen, wie
sich das unter zwei Kollegen schickt ... Es ist mir sonderbarerweise
diese ganze Zeit über nicht gelungen, ein paar Worte mit Ihnen zu reden
... Ich bin daran nicht schuld, Jakow Petrowitsch ...«

»Ich auch nicht,« unterbrach ihn unser Held mit Wärme, »ich auch nicht!
Mein Herz sagt mir, Jakow Petrowitsch, daß ich an alledem nicht schuld
bin. Lassen Sie uns die ganze Schuld daran dem Schicksal beimessen,
Jakow Petrowitsch!« fügte Herr Goljadkin der ältere in ganz
versöhnlichem Tone hinzu. Seine Stimme begann allmählich matt zu werden
und zu zittern.

»Nun also, wie steht es denn überhaupt mit Ihrer Gesundheit?« fragte der
auf Irrwegen befindlich Gewesene in freundlichem Tone.

»Ich huste ein wenig,« antwortete unser Held noch freundlicher.

»Nehmen Sie sich in acht! Es ist jetzt immer eine solche Witterung, daß
man sich nicht wundern kann, wenn man sich eine Halsentzündung holt; ich
muß Ihnen bekennen, daß auch ich schon angefangen habe, flanellne
Unterkleidung zu tragen.«

»In der Tat, Jakow Petrowitsch, man kann sich nicht wundern, wenn man
sich eine Halsentzündung holt ... Jakow Petrowitsch!« sagte unser Held
nach einem kurzen Stillschweigen. »Ich sehe, Jakow Petrowitsch, daß ich
mich geirrt habe ... Ich gedenke mit Vergnügen jener glücklichen
Stunden, die wir unter meinem armen, aber, wie ich zu sagen wage,
gastfreundlichen Dache zusammen verleben durften ...«

»In Ihrem Briefe haben Sie übrigens etwas anderes geschrieben,« bemerkte
einigermaßen vorwurfsvoll der völlig wahrheitsliebende (allerdings nur
in diesem einen Punkte völlig wahrheitsliebende) Herr Goljadkin der
jüngere.

»Jakow Petrowitsch! Ich habe mich geirrt ... Ich erkenne jetzt klar, daß
ich mich auch in diesem meinem unglücklichen Briefe geirrt habe. Jakow
Petrowitsch, ich schäme mich, Sie anzusehen, Jakow Petrowitsch, Sie
glauben es gar nicht ... Geben Sie mir diesen Brief zurück, damit ich
ihn vor Ihren Augen zerreiße, Jakow Petrowitsch; oder wenn das nicht
mehr möglich ist, bitte ich Sie inständigst, ihn umgekehrt aufzufassen,
ganz umgekehrt, d. h. absichtlich in freundschaftlicher Weise, indem Sie
allen Worten meines Briefes den entgegengesetzten Sinn beilegen. Ich
habe mich geirrt. Verzeihen Sie mir, Jakow Petrowitsch; ich habe mich
völlig ... ich habe mich traurig geirrt, Jakow Petrowitsch.«

»Was sagten Sie?« fragte ziemlich zerstreut und gleichgültig Herrn
Goljadkins des älteren treuloser Freund.

»Ich sagte, daß ich mich völlig geirrt habe, Jakow Petrowitsch, und daß
ich meinerseits ganz ohne falsche Scham ...«

»Ach, nun schön! Das ist ja sehr schön, daß Sie sich geirrt haben,«
antwortete Herr Goljadkin der jüngere in grobem Tone.

»Ich habe sogar schon gedacht, Jakow Petrowitsch,« fügte edelmütig unser
offenherziger Held hinzu, der die schreckliche Treulosigkeit seines
falschen Freundes gar nicht bemerkte, »ich habe schon gedacht, daß zwei
ganz ähnliche Wesen erschaffen worden sind ...«

»Ah, das haben Sie gedacht! ...«

Hier stand der durch seine Nichtswürdigkeit bekannte Herr Goljadkin der
jüngere auf und griff nach seinem Hute. Auch Herr Goljadkin der ältere,
der die Tücke immer noch nicht merkte, erhob sich, lächelte seinem
falschen Freunde gutherzig und edelmütig zu und bemühte sich in seiner
Unschuld, freundlich gegen ihn zu sein, ihn zu ermutigen und auf diese
Weise von neuem mit ihm Freundschaft zu schließen ...

»Leben Sie wohl, Exzellenz!« rief auf einmal Herr Goljadkin der jüngere.
Unser Held fuhr zusammen, bemerkte in dem Gesichte seines Feindes den
spöttischen Zug und schob, lediglich um von ihm loszukommen, in die ihm
hingestreckte Hand des Verworfenen zwei Finger der seinigen hinein; aber
nun ... nun überstieg die Unverschämtheit Herrn Goljadkins des jüngeren
alles Maß. Nachdem er die beiden Finger des älteren Herrn Goljadkin
ergriffen und zunächst gedrückt hatte, erlaubte sich der Unwürdige,
unmittelbar vor den Augen des älteren Herrn Goljadkin seinen schamlosen
Scherz vom Vormittag zu wiederholen. Das Maß der menschlichen Geduld war
erschöpft ...

Er hatte das Taschentuch, mit dem er sich die Finger abgewischt hatte,
bereits wieder in die Tasche gesteckt, als Herr Goljadkin der ältere
endlich zur Besinnung kam und ihm in das anstoßende Zimmer nachstürzte,
wohin sein unversöhnlicher Feind nach seiner häßlichen Gewohnheit
schleunigst geflüchtet war. Als ob nicht das geringste geschehen wäre,
stand er am Büfett, aß Pastetchen und sagte wie der tugendhafteste
Mensch der deutschen Konditorfrau Liebenswürdigkeiten. »In Gegenwart von
Damen geht es nicht,« dachte unser Held und trat, außer sich vor
Erregung, ebenfalls an das Büfett heran.

»Aber wirklich, das Frauchen ist nicht übel! Wie denken Sie darüber?«
begann Herr Goljadkin der jüngere von neuem seine unpassenden Späße; er
rechnete wahrscheinlich auf Herrn Goljadkins unendliche Geduld. Die
dicke Deutsche ihrerseits blickte ihre beiden Kunden mit ihren
zinnernen, geistlosen Augen an; sie verstand offenbar kein Russisch und
lächelte höflich. Bei den Worten des schamlosen jüngeren Herrn Goljadkin
flammte unser Held auf wie Feuer, und außerstande sich länger zu
beherrschen, stürzte er endlich auf ihn los in der offensichtlichen
Absicht, ihn zu zerreißen und auf diese Art ein für allemal mit ihm
fertig zu werden; aber Herr Goljadkin der jüngere war nach seiner
unwürdigen Gewohnheit schon weit weg: er hatte Reißaus genommen und
befand sich schon vor der Haustür. Als Herr Goljadkin der ältere nach
der ersten momentanen Erstarrung, die ihn natürlicherweise überkommen
hatte, wieder zur Besinnung kam, lief er selbstverständlich
spornstreichs hinter seinem Beleidiger her, der bereits in die Droschke
gestiegen war, die auf ihn gewartet hatte, und deren Kutscher
augenscheinlich mit ihm unter einer Decke steckte. Aber in diesem selben
Augenblicke kreischte die dicke Deutsche, die ihre beiden Kunden
davonrennen sah, laut auf und klingelte aus Leibeskräften mit ihrer
Glocke. Fast im schärfsten Laufe wandte sich unser Held um, warf ihr das
Geld für sich und für den schamlosen Menschen, der nicht bezahlt hatte,
hin, ohne etwas heraus zu verlangen, und ermöglichte es trotz dieses
Aufenthaltes doch, obgleich wieder nur mit größter Eile, seinen Feind zu
erreichen. Indem er sich mit aller Kraft, die ihm die Natur gegeben
hatte, an den Schmutzflügel der Droschke anklammerte, lief unser Held
eine Weile auf der Straße mit und suchte dabei auf den Wagen
heraufzuklettern, den der jüngere Herr Goljadkin aus aller Kraft wie
eine Festung verteidigte. Unterdes trieb der Kutscher mit der Peitsche,
den Zügeln, dem Fuße und mit Zurufen seinen steifbeinigen Klepper an,
der ganz unerwartet in Galopp fiel, wobei er auf das Mundstück biß und
nach seiner schlechten Gewohnheit bei jedem dritten Schritte mit den
Hinterbeinen ausschlug. Endlich gelang es unserem Helden, sich auf die
Droschke hinaufzuschwingen, das Gesicht seinem Feinde zugewandt, mit dem
Rücken gegen den Kutscher gestemmt, Knie an Knie mit dem Schamlosen; mit
der rechten Hand hielt er den schäbigen Pelzkragen an dem Mantel seines
verworfenen, erbitterten Feindes fest gepackt.

So fuhren die beiden Feinde eine Weile schweigend dahin. Unser Held
konnte kaum Luft bekommen; der Weg war sehr schlecht, und er hüpfte bei
jedem Schritte in die Höhe, in Gefahr, den Hals zu brechen. Überdies
wollte sein erbitterter Feind sich immer noch nicht überwunden geben,
sondern bemühte sich, seinen Gegner in den Schmutz hinunterzustoßen. Um
das Maß der Unannehmlichkeiten voll zu machen, war ein greuliches
Wetter. Der Schnee fiel in dichten Flocken und versuchte auf jede Weise
unter den offenstehenden Mantel des wirklichen Herrn Goljadkin zu
dringen. Ringsherum war es so dunkel, daß man nicht die Hand vor den
Augen sehen konnte. Es war schwer zu erkennen, wohin und durch welche
Straßen sie fuhren. Herr Goljadkin hatte dabei die Empfindung, als
widerfahre ihm etwas, was ihm schon bekannt sei. Einen Augenblick lang
versuchte er sich zu erinnern, ob er nicht schon gestern so etwas geahnt
habe, z. B. im Traume ... Endlich war sein peinliches Gefühl bis auf den
höchsten Grad der Agonie gestiegen. Sich an seinen erbarmungslosen
Gegner drückend, wollte er aufschreien. Aber der Schrei erstarb ihm auf
den Lippen ... Es war ein Augenblick, in welchem Herr Goljadkin alles
vergaß und sich sagte, all dies mache gar nichts; es vollziehe sich auf
irgendwelche unerklärliche Weise, und sich dagegen zu sträuben, sei
unter solchen Umständen unnütz und ganz verlorene Mühe ... Aber
plötzlich und beinahe in demselben Augenblicke, als unser Held zu diesem
Resultate gelangt war, änderte ein unvorhergesehener Stoß die ganze Lage
der Dinge. Herr Goljadkin fiel wie ein Mehlsack aus der Droschke und
rollte ein Stückchen davon, wobei er sich im Augenblick des Falles ganz
mit Recht bewußt war, daß er wirklich sehr zur Unzeit hitzig geworden
sei. Nachdem er endlich aufgesprungen war, sah er, daß sie irgendwo
angelangt waren: die Droschke stand mitten auf einem Hofe, und unser
Held erkannte auf den ersten Blick, daß sie sich bei der Tür eben des
Hauses befanden, in welchem Olsufi Iwanowitsch wohnte. Gleichzeitig
bemerkte er, daß sein Feind schon die Stufen zur Haustür hinanstieg und
wahrscheinlich zu Olsufi Iwanowitsch wollte. In seinem unbeschreiblichen
Seelenschmerze wollte er schon hineilen, um seinen Feind einzuholen,
besann sich aber zu seinem Glücke verständigerweise noch rechtzeitig
eines andern. Ohne daß er vergessen hätte, den Kutscher zu bezahlen,
rannte Herr Goljadkin auf die Straße und lief, so schnell er konnte,
blindlings davon. Der Schnee fiel wie vorher in dichten Flocken; wie
vorher war es feucht und dunkel. Unser Held ging nicht, sondern stürmte
dahin, stieß dabei alle Leute auf dem Wege um, Männer, Frauen und
Kinder, und prallte seinerseits selbst von Frauen, Männern und Kindern
zurück. Um ihn herum und hinter ihm erschollen erschrockene Worte,
Kreischen und Schreien ... Aber Herr Goljadkin war, wie es schien, ohne
Besinnung und mochte auf nichts achten ... Er kam erst wieder zu sich,
als er sich schon bei der Semjonowski-Brücke befand, und zwar nur
deshalb, weil er ungeschickterweise zwei alte Hökerfrauen mit ihren
landläufigen Waren angestoßen und umgeworfen hatte und mit ihnen
zusammen zu Fall gekommen war. »Das hat nichts zu sagen,« dachte Herr
Goljadkin; »das kann sich alles noch ganz gut gestalten,« und griff
sogleich in die Tasche, um sich wegen der umhergestreuten Pfefferkuchen,
Äpfel, Erbsen und mannigfachen anderen Dinge mit einem Rubel
loszukaufen. Plötzlich ging Herrn Goljadkin ein neues Licht auf; er
fühlte in der Tasche den Brief, den ihm am Vormittag der Schreiber
eingehändigt hatte. Da ihm unter anderm einfiel, daß sich in der Nähe
ein ihm bekanntes Restaurant befinde, so lief er, ohne einen Augenblick
zu zaudern, dorthin und nahm an einem Tischchen Platz, auf dem zur
Beleuchtung ein Talglicht brannte; ohne sich dann um irgend etwas zu
kümmern und ohne auf den Kellner zu hören, der herantrat, um seine
Bestellung entgegenzunehmen, erbrach er das Siegel und begann den
untenstehenden Brief zu lesen, der ihn in das allerhöchste Erstaunen
versetzte:

   »Edler, für mich leidender, meinem Herzen lebenslänglich
   teurer Mann!

»Ich leide, ich gehe zugrunde, -- rette mich! Jener verleumderische,
intrigante und durch seine nichtswürdige Denkweise bekannte Mensch hat
mich mit seinen Netzen umstrickt und zugrunde gerichtet! Ich bin
gefallen! Aber er ist mir zuwider, während Du ... Man hat uns getrennt,
meine Briefe an Dich abgefangen, -- und all das hat der sittenlose
Mensch getan, indem er seine einzige gute Eigenschaft ausnutzte, die
Ähnlichkeit mit Dir. Jedenfalls kann man ein häßliches Äußeres besitzen
und doch durch Geist, starke Empfindung und angenehme Manieren fesseln
... Ich gehe zugrunde! Man wird mich gewaltsam verheiraten, und am
allermeisten intrigiert hier mein Vater und Wohltäter, der Staatsrat
Olsufi Iwanowitsch, wahrscheinlich in der Absicht, meinen Platz in der
vornehmen Gesellschaft einzunehmen und sich meiner Konnexionen zu
bedienen ... Aber ich habe meinen Entschluß gefaßt und sträube mich mit
allen Mitteln, die mir die Natur verliehen hat. Erwarte mich mit Deinem
Wagen heute Punkt neun Uhr vor den Fenstern von Olsufi Iwanowitschs
Wohnung. Bei uns ist heute Ball, und der schöne Leutnant wird da sein.
Ich werde herauskommen, und wir werden fliehen. Es gibt ja auch noch
andere Stellen im Staatsdienst, wo man dem Vaterlande Nutzen bringen
kann. In jedem Falle denke daran, mein Freund, daß die Unschuld schon
durch ihre Unschuld stark ist. Lebewohl! Erwarte mich mit dem Wagen vor
der Haustür! Pünktlich um zwei Uhr nachts werde ich mich in den Schutz
Deiner Umarmung flüchten.

                                                  »Dein bis zum Grabe!
                                                    Klara Olsufjewna.«

Nachdem unser Held den Brief gelesen hatte, war er einige Minuten lang
wie betäubt. In furchtbarer Pein, in schrecklicher Aufregung, bleich wie
Leinewand, ging er mit dem Briefe in der Hand mehrmals im Zimmer auf und
ab; um die Mißlichkeit seiner Lage voll zu machen, bemerkte unser Held
nicht, daß er in diesem Augenblicke der Gegenstand ausschließlicher
Aufmerksamkeit aller im Zimmer Anwesenden war. Seine unordentliche
Kleidung, die Aufregung, die er nicht zu unterdrücken vermochte, die
Art, wie er im Zimmer hin und her ging oder, richtiger gesagt, lief, die
Gestikulationen, die er mit beiden Händen ausführte, vielleicht auch
einige rätselhafte Worte, die er selbstvergessen vor sich hin sprach,
alles diente wahrscheinlich sehr wenig zu Herrn Goljadkins Empfehlung
bei den Besuchern des Lokals, und sogar der Kellner begann ihn
mißtrauisch zu betrachten. Als unser Held wieder zur Besinnung gekommen
war, bemerkte er, daß er mitten im Zimmer stand und in beinah
unanständiger, unhöflicher Art einen ältlichen Herrn von sehr achtbarem
Äußern anstarrte, der sein Mittagessen verzehrt, sein Gebet vor dem
Heiligenbilde verrichtet, sich dann wieder hingesetzt hatte und
seinerseits ebenfalls seine Blicke nicht von Herrn Goljadkin abwandte.
Verwirrt sah unser Held um sich und bemerkte, daß alle, geradezu alle,
ihn mit mißtrauischer Miene, die nichts Gutes erwarten ließ,
anblickten. Auf einmal verlangte ein pensionierter Militär die
»Polizei-Nachrichten«. Herr Goljadkin zuckte zusammen und errötete:
unwillkürlich schlug er dabei die Augen zu Boden und sah dabei, daß sein
Kostüm sich in einem unanständigen Zustande befand, der nicht einmal
innerhalb seiner vier Wände erträglich gewesen wäre, geschweige denn an
einem öffentlichen Orte. Seine Stiefel, seine Beinkleider und die ganze
linke Seite waren über und über voll Schmutz; der Steg am rechten Bein
war abgerissen, und der Frack wies sogar an vielen Stellen Löcher auf.
In tiefstem Seelenschmerze trat unser Held an den Tisch heran, an dem er
den Brief gelesen hatte, und sah, daß der Kellner sich ihm näherte und
ihn mit einem sonderbaren, dreisten Gesichtsausdruck beharrlich
anblickte. Fassungslos und ganz niedergeschlagen begann unser Held den
Tisch zu mustern, neben dem er jetzt stand. Auf dem Tische standen die
noch nicht weggeräumten Teller von dem Mittagessen, das jemand dort
eingenommen hatte; ebendort lag eine beschmutzte Serviette, sowie ein
Messer, eine Gabel und ein Löffel, die soeben benutzt worden waren. »Wer
mag hier zu Mittag gegessen haben?« dachte unser Held. »Bin ich es
wirklich selbst gewesen? Sehr wohl möglich! Ich habe zu Mittag gegessen
und selbst nichts davon gemerkt; was soll ich nur anfangen?« Aufblickend
gewahrte er neben sich den Kellner, der ihm etwas sagen wollte.

»Wieviel bin ich schuldig, lieber Freund?« fragte unser Held mit
zitternder Stimme.

Ein lautes Gelächter erscholl rings um Herrn Goljadkin; sogar der
Kellner lächelte. Herr Goljadkin merkte, daß er sich auch hiermit
blamiert und eine furchtbare Dummheit gemacht hatte. Infolge dieser
Erkenntnis wurde er so verlegen, daß er genötigt war, nach seinem
Taschentuche in die Tasche zu greifen, wahrscheinlich um nur irgend
etwas zu tun und nicht so zwecklos dazustehen; aber zu seinem und aller
Anwesenden Erstaunen zog er statt des Taschentuches ein Fläschchen mit
der Arznei heraus, die ihm Krestjan Iwanowitsch vor vier Tagen
verschrieben hatte. »Medizin aus derselben Apotheke,« ging es Herrn
Goljadkin durch den Kopf ... Plötzlich fuhr er zusammen und schrie
beinah auf vor Schreck. Ein neues Licht ergoß sich vor seinem geistigen
Blicke ... Die dunkelrote, widerliche Flüssigkeit schimmerte in
unheilverkündendem Glanze vor Herrn Goljadkins Augen ... Das Fläschchen
fiel ihm aus den Händen und zerbrach. Unser Held schrie auf und sprang
vor der umherspritzenden Flüssigkeit ein paar Schritte zurück ... er
zitterte an allen Gliedern, und der Schweiß brach ihm an den Schläfen
und auf der Stirn aus. »Also ist mein Leben in Gefahr!« Unterdessen war
im Zimmer eine Bewegung und Verwirrung entstanden; alle umringten Herrn
Goljadkin, alle redeten zu ihm, einige faßten ihn sogar an. Aber unser
Held stand stumm und regungslos; er sah nichts, hörte nichts, fühlte
nichts ... Endlich riß er sich von dem Flecke, wo er stand, los, stürzte
aus dem Restaurant hinaus, stieß alle, die sich bemühten, ihn
festzuhalten, zurück, warf sich beinah besinnungslos in die erste beste
Droschke und fuhr eilig nach Hause.

Im Flur seiner Wohnung traf er den Kanzleidiener Michejew mit einem
amtlichen Schreiben in der Hand. »Ich weiß, mein Freund, ich weiß
alles,« antwortete unser Held, der völlig erschöpft war, mit matter,
trauriger Stimme; »das ist etwas Amtliches ...« Das Schreiben enthielt
in der Tat die von Andrei Filippowitsch unterzeichnete Anweisung für
Herrn Goljadkin, die in seinen Händen befindlichen Akten an Iwan
Semjonowitsch abzuliefern. Nachdem er den Brief in Empfang genommen und
dem Kanzleidiener ein Zehnkopekenstück gegeben hatte, ging Herr
Goljadkin in seine Wohnung hinein und sah, daß Petruschka in seinem
Verschlage dabei war, all seine Sachen auf einen Haufen zusammenzulegen,
offenbar in der Absicht, Herrn Goljadkin zu verlassen und als Jewstafis
Nachfolger in Karolina Iwanownas Dienst zu treten, die ihn seinem Herrn
abwendig gemacht hatte.



                             12. Kapitel


Petruschka trat, sich hin und her wiegend, ins Zimmer; seine Haltung
hatte etwas sonderbar Nachlässiges, sein Gesicht zeigte die
triumphierende Miene eines Knechtes. Man konnte ihm ansehen, daß er
etwas vorhatte und sich in seinem Rechte fühlte; er sah aus wie ein
Fremder, d. h. wie der Diener eines andern Herrn, nicht wie Herrn
Goljadkins bisheriger Diener.

»Nun, siehst du, mein Lieber,« begann unser Held, immer noch außer Atem,
»was ist jetzt die Uhr, mein Lieber?«

Petruschka ging schweigend hinter die Scheidewand, kam zurück und
meldete in einem wenig dienermäßig klingenden Tone, es sei bald halb
acht.

»Nun schön, mein Lieber, schön! Nun, siehst du, mein Lieber ... Dann
möchte ich dir sagen, mein Lieber, daß unser wechselseitiges Verhältnis
jetzt zu Ende ist.«

Petruschka schwieg.

»Also da nun jetzt unser wechselseitiges Verhältnis zu Ende ist, so sage
mir doch jetzt aufrichtig, sage mir wie ein Freund dem Freunde, wo du
gewesen bist, mein Lieber!«

»Wo ich gewesen bin? Bei guten Leuten bin ich gewesen.«

»Ich weiß, mein Freund, ich weiß. Ich bin mit dir stets zufrieden
gewesen, mein Lieber, und werde dir auch ein gutes Zeugnis ausstellen
... Nun, bist du denn jetzt bei denen im Dienst?«

»Nun ja, Herr! Sie wissen es ja selbst. Ein guter Mensch lehrt einen
nichts Schlechtes.«

»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß. Heutzutage sind gute Leute selten,
mein Freund; die mußt du zu schätzen wissen, mein Freund. Nun, wie sind
sie denn?«

»Das wissen Sie ja ... Aber bei Ihnen, Herr, kann ich jetzt nicht länger
dienen; das werden Sie ja selbst wissen.«

»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß; ich kenne deinen Eifer und deine
Dienstwilligkeit; ich habe das alles gesehen, mein Freund, habe das
alles bemerkt. Ich schätze dich hoch, mein Freund. Ich schätze einen
guten, ehrenhaften Menschen hoch, wenn er auch ein Diener ist.«

»Nun ja, das weiß ich. Unsereiner muß natürlich dahin gehen, wo es
besser ist; das wissen Sie selbst. Das ist nun einmal nicht anders. Was
soll ich machen? Sie wissen, Herr, einen guten Menschen muß man haben.«

»Nun schön, mein Lieber, schön! Ich kann dir das nachfühlen ... Nun
also, da hast du dein Geld und dein Zeugnis. Jetzt wollen wir uns
küssen, lieber Freund, und voneinander Abschied nehmen ...«

»Jetzt, mein Lieber, bitte ich dich noch um einen einzigen Dienst, um
einen letzten Dienst,« sagte Herr Goljadkin in feierlichem Tone. »Siehst
du, mein Lieber, es kommt alles mögliche vor. Kummer verbirgt sich auch
in vergoldeten Palästen, mein Freund; dem kann man nirgendhin
entfliehen. Du weißt, mein Freund, ich bin, wie ich meine, immer
freundlich gegen dich gewesen ...«

Petruschka schwieg.

»Ich bin, meine ich, immer freundlich gegen dich gewesen, mein Lieber
... Nun, wieviel Wäsche haben wir denn jetzt, mein Lieber?«

»Es ist alles ordnungsmäßig vorhanden. Sechs Stück leinene Hemden; drei
Paar Socken; vier Vorhemdchen; eine flanellene Unterjacke; zwei
Unterhosen. Sie wissen ja selbst alles. Ich habe nichts von Ihren
Sachen, Herr ... Ich hüte das Eigentum meines Herrn mit aller Sorgfalt.
Sie haben mich manchmal gescholten, Herr, wegen ... hm ... gewiß ...
aber solche Sünde habe ich niemals auf mein Gewissen geladen, Herr; das
wissen Sie selbst, Herr ...«

»Ich glaube dir, mein Freund, ich glaube dir. Aber ich meine das auch
gar nicht, mein Freund, ich meine das gar nicht, siehst du. Es handelt
sich um etwas anderes, mein Freund ...«

»Ja, Herr, das kennen wir schon. Als ich noch beim General Stolbnjakow
in Dienst stand und entlassen wurde, weil die Herrschaft nach Saratow
reiste ... sie hatten da ein Gut ...«

»Nein, mein Freund, ich meine das gar nicht; ich sage nichts Derartiges
... Glaube so etwas nicht, mein lieber Freund ...«

»Jawohl. Sie wissen ja selbst: unsereinen kann man auf das leichteste
fälschlich beschuldigen. Aber mit mir ist man überall zufrieden gewesen.
Da waren Minister, Generale, Senatoren, Grafen. Ich bin bei allen
möglichen Herren gewesen, beim Fürsten Swinjatschkin, beim Obersten
Pereborkin, beim General Njedobarow; der verreiste auch, auf sein
Stammgut reiste er, zu unsern Bauern. Jawohl ...«

»Ja, mein Freund, ja, schön, mein Freund, schön. Siehst du, ich verreise
jetzt auch, mein Freund ... Jeder hat seinen verschiedenen Lebensweg,
mein Lieber, und kein Mensch weiß, auf was für einen Weg er geraten
wird. Nun, mein Freund, sei mir jetzt beim Umkleiden behilflich; lege
mir meinen Uniformrock zurecht ... auch andere Beinkleider, Bettlaken,
Bettdecken, Kissen ...«

»Soll ich alles in ein Bündel zusammenbinden?«

»Ja, mein Freund, ja; meinetwegen binde es in ein Bündel zusammen ...
Wer weiß, was uns noch begegnen kann. Und jetzt, mein Lieber, geh und
hole mir einen Wagen ...«

»Einen Wagen?«

»Ja, mein Freund, einen Wagen, einen recht geräumigen, und auf bestimmte
Zeit. Aber denke nur nichts Schlimmes, mein Freund ...«

»Wollen Sie weit wegfahren?«

»Ich weiß es nicht, mein Freund; das weiß ich selbst noch nicht. Ich
glaube, es wird auch nötig sein, ein Federbett mit dazu zu legen. Was
meinst du, mein Freund? Ich will deinem Rate folgen, mein Lieber ...«

»Wollen Sie denn gleich wegfahren?«

»Ja, mein Freund, ja. Es ist ein Umstand eingetreten, der es
erforderlich macht ... so ist das, mein Freund, so ist das ...«

»Ich weiß Bescheid, Herr; da bei uns im Regimente kam mit einem Leutnant
dasselbe vor; er entführte eine Gutsbesitzertochter ...«

»Entführte? ... Wie! Mein Lieber, du ...«

»Ja, er entführte sie, und in einem andern Dorfe ließen sie sich trauen.
Alles war im voraus vorbereitet. Es fand eine Verfolgung statt; aber der
Fürst nahm für sie Partei, der selige Fürst; na, und da wurde die Sache
gütlich beigelegt ...«

»Sie ließen sich trauen, ja ... wie kommst du denn darauf, mein Lieber?
Woher weißt du denn das, mein Lieber?«

»Na, das kann man schon wissen! Die ganze Welt ist voll von Gerüchten,
Herr. Wir wissen alles, Herr ... Natürlich, wer wäre ohne Sünde? Aber
ich möchte Ihnen jetzt sagen, Herr ... erlauben Sie, daß ich Ihnen das
ganz einfach, so auf Dienerart sage: wenn die Sache nun einmal so weit
gekommen ist, dann möchte ich Ihnen sagen, Herr: Sie haben einen Feind,
einen Nebenbuhler, Herr; und es ist ein starker Nebenbuhler, das können
Sie glauben!«

»Ich weiß, mein Freund, ich weiß; du weißt es selbst, mein Lieber ...
Nun also, ich verlasse mich auf dich. Was sollen wir nun tun, mein
Freund? Was rätst du mir?«

»Sehen Sie, Herr, wenn Sie also jetzt sozusagen auf diese Manier
vorgegangen sind, Herr, dann müssen Sie nun noch einiges kaufen, -- na,
also Bettlaken, Kissen, ein anderes, zweischläfriges Federbett, eine
gute Bettdecke, -- sehen Sie, gleich hier unten bei unserer Nachbarin;
sie ist eine Bürgerfrau, Herr; die hat einen guten Damen-Fuchspelz zu
verkaufen; den könnte man sich ansehen und kaufen; man könnte gleich
hinuntergehen und ihn sich ansehen. Sie werden so etwas jetzt brauchen,
Herr; es ist ein guter Damenpelz, ein Fuchspelz mit Atlas überzogen ...«

»Nun schön, mein Freund, schön; ich bin einverstanden, mein Freund; ich
verlasse mich auf dich, verlasse mich vollständig auf dich; meinetwegen
auch den Fuchspelz, mein Lieber ... Nur recht schnell, recht schnell! Um
Gottes willen recht schnell! Ich will auch den Fuchspelz kaufen; nur,
bitte, recht schnell! Es ist bald acht Uhr, schneller, um Gottes willen,
mein Freund! Beeile dich, schnell mein Freund! ...«

Petruschka ließ das noch nicht ganz fertiggestellte Bündel mit Wäsche,
Kissen, einer Bettdecke, Laken und allerlei Kram, das er zusammensuchte
und zusammenband, im Stich und rannte Hals über Kopf aus dem Zimmer.
Unterdessen griff Herr Goljadkin noch einmal nach dem Briefe; aber er
vermochte nicht, ihn zu lesen. Seinen armen Kopf in beiden Händen
haltend, lehnte er sich gegen die Wand. Er war nicht imstande, an irgend
etwas zu denken oder irgend etwas zu tun; er wußte selbst nicht, was mit
ihm vorging. Endlich, da er sah, daß die Zeit verging und weder
Petruschka noch der Damenpelz erschien, entschloß sich Herr Goljadkin,
selbst hinzugehen. Als er die Flurtür öffnete, hörte er unten Lärm,
Reden, Streiten ... Einige Nachbarinnen schwatzten, schrien und
räsonierten über etwas, -- und Herr Goljadkin wußte schon worüber. Dann
wurde Petruschkas Stimme vernehmbar, und darauf hörte man jemandes
Schritte. »Mein Gott, sie rufen noch die ganze Welt her!« stöhnte Herr
Goljadkin, in Verzweiflung die Hände ringend, und stürzte in sein Zimmer
zurück. Dort sank er fast besinnungslos auf das Sofa nieder und drückte
das Gesicht in das Kissen. Ein Weilchen lag er so da; dann sprang er
auf, zog, ohne auf Petruschka zu warten, die Überschuhe und den Mantel
an, setzte den Hut auf, ergriff seine Brieftasche und lief Hals über
Kopf die Treppe hinunter. »Du brauchst nichts zu tun, mein Lieber, gar
nichts! Ich werde es selbst besorgen, werde alles selbst besorgen.
Deiner bedarf ich vorläufig nicht, und inzwischen wird sich die Sache
vielleicht gut gestalten,« sagte Herr Goljadkin murmelnd zu Petruschka,
dem er auf der Treppe begegnete; dann lief er auf den Hof und aus dem
Hause hinaus; der Herzschlag stockte ihm; er hatte noch keinen Entschluß
gefaßt ... Wie sollte er sich verhalten, was sollte er tun, wie sollte
er in der jetzigen kritischen Lage vorgehen? ...

»Das ist die Frage: wie soll ich vorgehen, Herr du mein Gott? Mußte auch
das alles noch passieren!« rief er endlich verzweifelt, während er
ziellos aufs Geratewohl die Straße entlang schlich. »Mußte auch das
alles noch passieren! Wäre das nicht passiert, wäre gerade das nicht
passiert, dann hätte sich noch alles in Ordnung bringen lassen; mit
einem Mal, mit einem Schlage, mit einem einzigen geschickten,
energischen, festen Schlage hätte es sich in Ordnung bringen lassen. Ich
lasse mir einen Finger abschneiden, wenn es sich nicht hätte in Ordnung
bringen lassen! Und ich weiß sogar, auf welche Weise das gegangen wäre.
Das hätte ich so gemacht: ich hätte ... hm ... ich hätte gesagt: >So und
so, mein Herr; ich weiß mir, mit Erlaubnis zu sagen, nicht anders zu
helfen; aber solche Sachen gehen hier nicht, mein Herr, mein geehrter
Herr; solche Sachen gehen hier nicht, und mit Aneignung eines fremden
Namens ist bei uns nichts zu erreichen; wer sich einen fremden Namen
aneignet, mein Herr, der ist ein ... hm ... ein Nichtswürdiger und
bringt dem Vaterlande keinen Nutzen. Verstehen Sie wohl? Verstehen Sie
wohl, mein geehrter Herr?< So müßte das gemacht werden ... Aber nein,
was sage ich da? ... das ist ja gar nicht das Richtige, ganz und gar
nicht das Richtige ... Was schwatze ich denn da für Unsinn, ich
Dummkopf! Ich bin ja geradezu ein Selbstmörder! Du bist ja geradezu ein
Selbstmörder; das ist ganz und gar nicht das Richtige ... Da siehst du
nun, du verworfener Mensch, da siehst du nun, wie die Sache jetzt läuft!
... Wo soll ich nur jetzt bleiben? Was soll ich nur jetzt anfangen? Wozu
bin ich jetzt noch zu gebrauchen? Ja, wozu bist du jetzt noch zu
gebrauchen, du armer Teufel, du unwürdiges Subjekt? Nun, was soll jetzt
werden? Ich muß einen Wagen nehmen; also nimm einen Wagen und laß ihn
bei ihr vorfahren; sonst macht sie sich die Füßchen naß, wenn kein Wagen
da ist ... Ja, wer hätte das gedacht? O weh, mein Fräulein, o weh, mein
gnädiges Fräulein! Das ist nun ein Mädchen von gesitteter Aufführung!
Das ist nun unser vielgelobtes Dämchen! Sie haben sich ja vorzüglich
aufgeführt, gnädiges Fräulein, das muß man sagen, vorzüglich! ... Das
kommt aber alles von der unmoralischen Erziehung her, und wenn ich das
jetzt alles überlege und erwäge, so sehe ich, daß es von nichts anderem
herkommt als von der Sittenlosigkeit. Man hätte dieses Mädchen von klein
auf, hm ... und hätte ihr auch manchmal die Rute zu kosten geben sollen;
aber statt dessen haben sie sie mit Konfekt und allerlei Süßigkeiten
vollgestopft, und der Alte selbst hat ihr immer vorgesungen: >Du mein
Engelskind, einem Grafen werden wir dich zur Frau geben!< ... Aber nun
sieht man, zu was für einem Pflänzchen sie sich bei dieser Erziehung
entwickelt hat; jetzt hat sie sich dekuvriert; nun wissen wir, wie es
steht! Statt sie von klein auf zu Hause zu behalten, haben sie sie in
ein Pensionat gegeben, zu einer französischen Emigrantin, einer Madame
Falbala, und da hat sie nichts Gutes gelernt, bei dieser Emigrantin
Falbala; nun sieht man, was dabei herausgekommen ist. Nun freut euch!
Jetzt heißt es nun: >Sei mit einem Wagen um die und die Stunde vor den
Fenstern und singe ein gefühlvolles spanisches Liedchen; ich erwarte
dich und weiß, daß du mich liebst, und will mit dir fliehen, und wir
wollen zusammen in einer Hütte leben.< Aber das geht schließlich doch
nicht; wenn die Sache so weit gediehen ist, mein gnädiges Fräulein, so
geht das denn doch nicht; es ist durch die Gesetze verboten, ein
ehrenhaftes, unschuldiges Mädchen aus dem Elternhause ohne Einwilligung
der Eltern wegzuführen! Und schließlich: warum auch? Wozu? Was liegt für
eine Nötigung vor? Mag sie doch denjenigen heiraten, den zu heiraten ihr
gebührt und ihr vom Schicksal bestimmt ist; dann ist die Sache erledigt.
Ich aber bin ein Mann in amtlicher Stellung und kann für eine solche Tat
meine Stellung verlieren; vor Gericht kann ich deswegen kommen, mein
gnädiges Fräulein! So steht die Sache, wenn Sie es noch nicht gewußt
haben! Aber das ist alles das Werk dieses deutschen Frauenzimmers. Alles
geht von dieser Hexe aus; sie hat diesen ganzen Wirrwarr angestiftet. Da
wurde ein unschuldiger Mensch verleumdet, und Weiberklatschereien und
erlogene Geschichten über ihn in Umlauf gesetzt, und zwar auf Andrei
Filippowitschs Rat; daher ist alles gekommen. Warum hätte sonst
Petruschka Anlaß, sich hineinzumischen? Was geht ihn die Sache an? Was
braucht der Halunke sich damit abzugeben? Nein, ich kann das nicht tun,
gnädiges Fräulein, schlechterdings nicht, um keinen Preis ... Sie müssen
mich diesmal schon entschuldigen, gnädiges Fräulein. Das kommt alles von
Ihnen her, gnädiges Fräulein; das kommt alles nicht von der Deutschen
her, ganz und gar nicht von der Hexe, sondern einfach von Ihnen; denn
die Hexe ist eine gute Person und ist an nichts schuld; aber Sie, mein
gnädiges Fräulein, sind daran schuld, -- so ist das! Sie, gnädiges
Fräulein, bringen mich fälschlich in schlechten Ruf ... Da geht ein
Mensch zugrunde, da verschwindet ein Mensch vollständig und vermag sich
nicht zu behaupten, -- wie kann da von Hochzeit die Rede sein! Und wie
wird das alles enden? Und wie soll ich das alles jetzt einrichten? Ich
würde viel darum geben, wenn ich das wüßte!«

So überlegte unser Held in seiner Verzweiflung. Als er auf einmal zur
Besinnung kam, bemerkte er, daß er irgendwo in der Liteinaja-Straße
stand. Es war schauderhaftes Wetter, Tauwetter mit Schnee und Regen,
genau so wie in jenem unvergeßlichen Augenblicke, als in der furchtbaren
mitternächtlichen Stunde alle Leiden des Herrn Goljadkin begannen. »Wie
kann man jetzt reisen?« dachte Herr Goljadkin im Hinblick auf das
Wetter; »da holt sich ja jeder Mensch den Tod ... Herr du mein Gott! Na,
und wo soll ich jetzt z. B. einen Wagen herbekommen? Da an der Ecke ist,
wie es scheint, etwas Schwärzliches zu sehen. Wir wollen mal zusehen und
es untersuchen ... Herr du mein Gott!« fuhr unser Held fort, indem er
seine schwachen, wankenden Schritte nach der Seite hin lenkte, wo er
etwas Wagenähnliches sah. »Nein, ich werde es so machen: ich werde
hingehen, ihm, wenn es möglich ist, zu Füßen fallen und ihn untertänigst
bitten: >So und so<, werde ich sagen; >in Ihre Hände lege ich mein
Schicksal, in die Hände meiner vorgesetzten Behörde. Exzellenz,
beschützen Sie einen Unglücklichen, und erweisen Sie ihm eine Wohltat!
So und so, und dies und das, es ist eine gesetzwidrige Handlung; richten
Sie mich nicht zugrunde; ich nehme Sie zu meinem Vater an; verlassen Sie
mich nicht ... retten Sie meine Ehre und meinen guten Namen ... retten
Sie mich vor diesem Bösewicht, diesem verworfenen Menschen ... Er ist
ein anderer Mensch, Exzellenz, und ich bin auch ein anderer Mensch; er
ist eine Person für sich, und ich bin ebenfalls ein Mensch für mich,
wahrhaftig, ich bin ein Mensch für mich, Exzellenz, wahrhaftig, ein
Mensch für mich; so ist das. Ihm gleichen kann ich nicht; haben Sie die
Güte, das zu ändern; befehlen Sie, daß das geändert und diese gottlose,
eigenmächtige Namensaneignung aufgehoben werde ... Das ist kein gutes
Beispiel für andere, Exzellenz. Ich nehme Sie zu meinem Vater an; gewiß
muß eine Behörde, eine humane Behörde, die für ihre Untergebenen sorgt,
solche Bestrebungen unterstützen ... Es liegt darin sogar etwas
Ritterliches. Ich nehme Sie, die humane Behörde, zu meinem Vater an,
lege mein Schicksal in Ihre Hände und werde gegen Ihre Entscheidung
keinen Widerspruch erheben; ich vertraue mich Ihnen an und werde mich
selbst von dieser Angelegenheit ganz zurückziehen.< So will ich sagen.«

»Nun, mein Lieber, bist du Droschkenkutscher?«

»Jawohl.«

»Ich möchte einen Wagen für den Abend haben, mein Freund.«

»Wollen Sie weit fahren?«

»Für den Abend, für den Abend. Wohin es nötig sein wird, mein Lieber,
wohin es nötig sein wird.«

»Wollen Sie vielleicht aus der Stadt fahren?«

»Ja, mein Freund, vielleicht auch aus der Stadt. Ich weiß es selbst noch
nicht sicher, mein Freund; ich kann es dir nicht bestimmt sagen, mein
Lieber. Siehst du, mein Lieber, vielleicht gestaltet sich alles gut. Man
weiß ja, wie das so geht, mein Freund ...«

»Jawohl, Herr, gewiß. Gott gebe jedem Gutes!«

»Ja, mein Freund, ja; ich danke dir, mein Lieber. Nun, wieviel bekommst
du denn, mein Lieber?«

»Wollen Sie jetzt gleich fahren?«

»Ja, jetzt gleich, d. h. nein, an einer Stelle mußt du ein Weilchen
warten ... nur ein kleines Weilchen mußt du warten, nicht lange, mein
Lieber ...«

»Ja, wenn Sie mich für die ganze Zeit nehmen, dann kann ich es bei dem
Wetter nicht unter sechs Rubeln machen ...«

»Nun gut, mein Freund, gut; ich werde dir dankbar sein, mein Lieber. Na
also, dann fahre mich jetzt, mein Lieber!«

»Steigen Sie ein; erlauben Sie, ich will den Sitz hier noch ein bißchen
zurechtmachen; so, jetzt, bitte, steigen Sie ein! Wohin befehlen Sie,
daß ich fahren soll?«

»Nach der Ismailowski-Brücke, mein Freund.«

Der Kutscher kletterte auf den Bock und hatte bereits seine beiden
mageren Gäule, die er mit Gewalt von dem Futterkasten mit Heu
weggerissen hatte, in der Richtung nach der Ismailowski-Brücke in
Bewegung gesetzt, als auf einmal Herr Goljadkin die Schnur zog, den
Wagen halten ließ und den Kutscher flehentlich bat, umzuwenden und nicht
nach der Ismailowski-Brücke, sondern nach einer anderen Straße zu
fahren. Der Kutscher wendete nach der angegebenen Straße hin um, und
nach zehn Minuten hielt Herrn Goljadkins neu angenommener Wagen vor dem
Hause, in dem Seine Exzellenz wohnte. Herr Goljadkin stieg aus dem
Wagen, bat den Kutscher dringend, ein Weilchen zu warten, lief selbst
mit angstvollem Herzklopfen nach der zweiten Etage hinauf und zog die
Klingel; die Tür öffnete sich, und unser Held befand sich im Vorzimmer
Seiner Exzellenz.

»Ist Seine Exzellenz zu Hause?« fragte Herr Goljadkin den Diener, der
ihm geöffnet hatte.

»Was wünschen Sie?« fragte der Diener, indem er Herrn Goljadkin vom Kopf
bis zu den Füßen musterte.

»Ich möchte, mein Freund, hm ... Mein Name ist Goljadkin, Titularrat
Goljadkin. Ich möchte mich aussprechen ...«

»Da müssen Sie warten; das geht jetzt nicht ...«

»Mein Freund, ich kann nicht warten; meine Angelegenheit ist wichtig und
duldet keinen Aufschub ...«

»Von wem kommen Sie denn? Haben Sie Akten?«

»Nein, mein Freund, ich komme in einer persönlichen Angelegenheit ...
Melde mich, mein Freund; sage nur, ich wollte mich aussprechen. Ich
werde dir dankbar sein, mein Lieber ...«

»Es geht nicht; ich darf niemand annehmen; es ist Besuch da. Bitte,
kommen Sie am Vormittag um zehn Uhr!«

»Melde mich doch, mein Lieber; ich kann nicht warten; es ist unmöglich
... Du wirst es zu verantworten haben, mein Lieber ...«

»Na, geh doch und melde ihn! Du willst wohl die Stiefelsohlen schonen,
was?« sagte ein anderer Diener, der sich auf einer Wandbank herumrekelte
und bis dahin noch kein Wort gesprochen hatte.

»Die Stiefelsohlen werde ich mir dabei nicht ablaufen. Aber er hat
befohlen, niemand anzunehmen, weißt du das? Für den Herrn da ist der
Vormittag die richtige Zeit.«

»Melde ihn nur! Du denkst wohl, die Zunge wird dir davon abfallen?«

»Na, dann werde ich ihn melden; die Zunge wird mir davon nicht abfallen.
Aber er hat es verboten; wie gesagt, er hat es verboten. Kommen Sie in
das Zimmer dort!«

Herr Goljadkin trat in das erste Zimmer; auf dem Tische stand eine Uhr.
Er blickte danach hin: es war halb neun. Das Herz in der Brust schmerzte
ihn. Er wollte schon umkehren; aber gerade in diesem Augenblicke rief
der langaufgeschossene Diener, auf der Schwelle des folgenden Zimmers
stehend, mit lauter Stimme Herrn Goljadkins Namen aus. »Hat der eine
Kehle!« dachte unser Held in unbeschreiblicher Beklemmung. »Er hätte
doch sagen sollen: >So und so, er ist gekommen, um sich untertänigst und
ganz ergebenst auszusprechen ... hm ... haben Sie die Güte ihn zu
empfangen!< Aber jetzt ist die Sache verdorben; meine ganze
Angelegenheit ist zunichte geworden. Übrigens ... ja ... nun, es macht
nichts ...« Indes war zu Überlegungen keine Zeit. Der Diener wandte sich
um, sagte: »Bitte, treten Sie näher!« und führte Herrn Goljadkin in das
Arbeitszimmer.

Als unser Held eintrat, hatte er eine Empfindung, als sei er blind
geworden; denn er sah absolut nichts ... Nur zwei oder drei Gestalten
flimmerten undeutlich vor seinen Augen. »Na ja, das sind die Gäste,«
fuhr es ihm durch den Kopf. Endlich begann unser Held den Stern auf dem
schwarzen Fracke Seiner Exzellenz deutlich zu unterscheiden; dann
gelangte er stufenweise dazu, auch den schwarzen Frack zu erkennen;
schließlich gewann er die volle Sehkraft wieder ...

»Was gibt es?« sagte eine bekannte Stimme über dem gebeugt dastehenden
Herrn Goljadkin.

»Titularrat Goljadkin, Exzellenz.«

»Nun? ...«

»Ich bin gekommen, um mich auszusprechen ...«

»Wie? ... Was?«

»Ja, so ist es. Hm ... ich bin gekommen, um mich auszusprechen,
Exzellenz ...«

»Aber Sie ... wer sind Sie doch?«

»Herr Gol-gol-goljadkin, Exzellenz, Titularrat.«

»Nun, also was wünschen Sie?«

»Nämlich ... hm ... ich nehme die Behörde zu meinem Vater an; ich selbst
werde mich von dieser Angelegenheit ganz zurückziehen, und beschützen
Sie mich vor meinem Feinde ... Das wollte ich sagen.«

»Was bedeutet das?«

»Es ist bekannt ...«

»Was ist bekannt?«

Herr Goljadkin schwieg; sein Kinn begann ein wenig zu zucken.

»Nun?«

»Ich hielt es für ritterlich, Exzellenz ... Ich meinte, das sei hier
ritterlich, und nehme meinen hohen Vorgesetzten zu meinem Vater an ...
ja, hm ... beschützen Sie mich, ich fl-flehe darum mit Trä-änen, und daß
solche Be-bestrebungen unter-unter-unterstützt werden mü-müßten ...«

Seine Exzellenz wandte sich ab. Unser Held konnte eine kurze Zeit mit
den Augen nichts unterscheiden. Die Brust war ihm wie zusammengepreßt.
Er konnte kaum atmen. Er wußte nicht, wo er stand ... Scham und Trauer
erfüllten sein Herz. Dann war er eine Weile ganz benommen ... Als unser
Held wieder zu sich kam, bemerkte er, daß Seine Exzellenz mit seinen
Gästen sprach und mit ihnen anscheinend in entschiedenem, energischem
Tone etwas erörterte. Einen von den Gästen erkannte Herr Goljadkin
sofort. Das war Andrei Filippowitsch; den andern erkannte er nicht,
indessen kam ihm das Gesicht ebenfalls bekannt vor; es war eine hohe,
kräftige Gestalt, ziemlich bejahrt, mit sehr dichten Augenbrauen,
starkem Backenbart und scharfem, ausdrucksvollem Blicke. Am Halse trug
der Unbekannte einen Orden; im Munde hatte er eine Zigarre stecken. Der
Unbekannte rauchte und nickte, ab und zu nach Herrn Goljadkin
hinblickend, bedeutsam mit dem Kopfe, ohne die Zigarre aus dem Munde zu
nehmen. Herrn Goljadkin wurde das einigermaßen unbehaglich; er wandte
seine Augen zur Seite und erblickte dort noch einen sehr sonderbaren
Gast. In einer Tür, die unser Held bis dahin für einen Spiegel gehalten
hatte, wie ihm das manchmal begegnete, erschien er, -- der Leser weiß
schon, wer: der sehr nahe Bekannte und Freund des Herrn Goljadkin. Herr
Goljadkin der jüngere hatte sich wirklich bisher in einem anderen,
kleinen Zimmer befunden und war damit beschäftigt gewesen, schnell etwas
zu schreiben; jetzt erschien er, weil dies offenbar nötig geworden war,
mit Papieren unter dem Arme, trat zu Seiner Exzellenz heran, und in der
Absicht, die Aufmerksamkeit ausschließlich auf seine Person zu lenken,
brachte er es fertig, sich in das Gespräch und die Beratung
einzudrängen. Seinen Platz hatte er nicht weit hinter Andrei
Filippowitschs Rücken genommen, zum Teil verdeckt durch den Unbekannten,
der eine Zigarre rauchte. Anscheinend interessierte sich Herr Goljadkin
der jüngere außerordentlich lebhaft für das Gespräch, bei dem er
zunächst den wohlgesitteten Zuhörer spielte, indem er mit dem Kopfe
nickte, mit den Füßen trippelte, lächelte und alle Augenblicke Seine
Exzellenz ansah, wie wenn er mit seinem Blicke um die Erlaubnis bitten
wollte, ebenfalls ein Wörtchen dazugeben zu dürfen. »Du Schurke!« dachte
Herr Goljadkin und trat unwillkürlich einen Schritt weiter vor. In
diesem Augenblicke wandte sich der Chef um und trat selbst in ziemlich
unentschlossener Haltung auf Herrn Goljadkin zu.

»Nun gut, gut; gehen Sie in Gottes Namen! Ich werde Ihre Angelegenheit
untersuchen; ich werde Ihnen jetzt einen Begleiter mitgeben ...« Hier
blickte der Chef den Unbekannten mit dem starken Backenbarte an. Dieser
nickte zum Zeichen der Beistimmung mit dem Kopfe.

Herr Goljadkin fühlte und verstand deutlich, daß man von seiner Person
ganz und gar nicht die Meinung hatte, die man von ihr hätte haben
sollen. »Auf die eine oder die andere Weise muß ich mich jedenfalls
aussprechen,« dachte er; »>so und so,< werde ich sagen, >Exzellenz<.«
Hier schlug er in seiner Ratlosigkeit die Augen zu Boden und sah zu
seinem äußersten Erstaunen auf den Stiefeln Seiner Exzellenz einen
weißen Fleck von beträchtlicher Größe. »Sind sie wirklich geplatzt?«
dachte Herr Goljadkin. Bald indes kam er zu der Erkenntnis, daß die
Stiefel Seiner Exzellenz keineswegs geplatzt waren, sondern nur das
Licht stark zurückwarfen, ein Phänomen, das sich vollständig daraus
erklärte, daß es stark glänzende Lackstiefel waren. »Das nennt man einen
>Blick<,« dachte unser Held; »besonders hat sich diese Bezeichnung in
den Ateliers der Künstler gehalten; an andern Stellen nennt man diesen
Widerschein Lichtreflex.« Hier schlug Herr Goljadkin die Augen in die
Höhe und sah, daß es Zeit war zu reden, weil die Sache sonst sehr leicht
einen schlimmen Ausgang nehmen konnte ... Unser Held trat einen Schritt
vor.

»Also ... ja ... Exzellenz,« sagte er, »durch Annahme eines fremden
Namens kann man in unserm Zeitalter nicht mehr obenauf kommen.«

Der Chef antwortete nichts, sondern zog stark an der Klingelschnur.
Unser Held trat noch einen Schritt vor.

»Er ist ein gemeiner, verworfener Mensch, Exzellenz,« sagte unser Held;
er wußte nicht von sich selbst, war halbtot vor Angst, wies aber dabei
doch kühn und entschlossen auf seinen unwürdigen Zwillingsbruder, der in
diesem Augenblicke neben Seiner Exzellenz herumtrippelte. »Nämlich ...
ja ... ich deute auf eine bestimmte Person hin.«

Herrn Goljadkins Worten folgte eine allgemeine Bewegung. Andrei
Filippowitsch und der Unbekannte nickten mit den Köpfen; Seine Exzellenz
riß ungeduldig aus Leibeskräften am Klingelzuge, um seine Leute
herbeizurufen. Jetzt trat Herr Goljadkin der jüngere seinerseits vor.

»Exzellenz,« sagte er, »ich bitte untertänigst um Ihre Erlaubnis, reden
zu dürfen.« In der Stimme des jüngeren Herrn Goljadkin lag eine
außerordentliche Entschlossenheit; sein ganzes Benehmen zeigte, daß er
sich vollständig in seinem Rechte fühlte.

»Gestatten Sie mir die Frage,« begann er von neuem, indem er in seinem
Eifer der Antwort Seiner Exzellenz zuvorkam und sich diesmal an Herrn
Goljadkin wandte, »gestatten Sie mir die Frage, ob Sie wohl auch wissen,
in wessen Gegenwart Sie solche Ausdrücke gebrauchen. Vor wem stehen Sie,
und in wessen Arbeitszimmer befinden Sie sich? ...« Herr Goljadkin der
jüngere war in höchster Erregung, ganz rot und heiß vor Empörung und
Zorn; es wurden sogar Tränen in seinen Augen sichtbar.

»Die Herren Bassawrjukow!« schrie der Diener, der in der Tür des
Arbeitszimmers erschien, aus voller Kehle. »Das ist eine gute
Adelsfamilie, die aus Kleinrußland stammt,« dachte Herr Goljadkin und
fühlte gleichzeitig, daß ihm jemand in sehr freundschaftlicher Weise die
Hand auf den Rücken legte; dann legte sich ihm noch eine andere Hand auf
den Rücken; Herrn Goljadkins nichtswürdiger Zwillingsbruder lief
geschäftig voran und zeigte den Weg, und unser Held sah klar, daß man
ihn nach der großen Tür des Arbeitszimmers hinführte. »Genau so wie bei
Olsufi Iwanowitsch,« dachte er und fand sich schon im Vorzimmer. Um sich
blickend, sah er neben sich zwei Diener Seiner Exzellenz und seinen
Zwillingsbruder.

»Den Mantel, den Mantel, den Mantel, den Mantel meines Freundes! Den
Mantel meines besten Freundes!« schnatterte der verworfene Mensch, indem
er einem der Diener den Mantel aus den Händen riß und ihn mit diesen
gemeinen, unanständigen Spottworten Herrn Goljadkin geradezu auf den
Kopf warf. Während Herr Goljadkin der ältere sich aus seinem Mantel
herauswickelte, hörte er deutlich das Gelächter der beiden Diener. Aber
ohne auf etwas hinzuhören und Nebendinge zu beachten, verließ er das
Vorzimmer und befand sich nun auf der erleuchteten Treppe. Herr
Goljadkin der jüngere war ihm nachgekommen.

»Leben Sie wohl, Exzellenz!« rief er Herrn Goljadkin dem älteren nach.

»Schurke!« antwortete unser Held ganz außer sich.

»Na, ich lasse mir diese Bezeichnung gefallen ...«

»Verworfener Mensch! ...«

»Na, meinetwegen auch das ...« erwiderte dem würdigen Herrn Goljadkin
sein unwürdiger Feind spöttisch und blickte mit der ihm eigenen
Niederträchtigkeit von der Höhe der Treppe gerade und ohne mit den Augen
zu zwinkern Herrn Goljadkin in die Augen, wie wenn er ihn bäte
fortzufahren. Unser Held spie vor Empörung aus und lief vor die Haustür;
er war so zerschmettert, daß ihm gar nicht zum Bewußtsein kam, wer ihm
beim Einsteigen in den Wagen half, und wie es dabei zuging. Als er seine
Gedanken wieder gesammelt hatte, sah er, daß er an der Fontanka
entlangfuhr. »Also wohl nach der Ismailowski-Brücke?« dachte er. Er
hätte jetzt gern über noch etwas nachgedacht; aber das war ihm nicht
möglich; es war etwas so Schreckliches, daß es sich gar nicht sagen läßt
... »Nun, es macht nichts!« sagte sich unser Held schließlich und fuhr
nach der Ismailowski-Brücke.



                             13. Kapitel


... Das Wetter schien sich bessern zu wollen. In der Tat begann der
nasse Schnee, der bisher in dichten Massen gefallen war, allmählich
spärlicher zu werden und hörte zuletzt fast ganz auf. Der Himmel wurde
sichtbar, und hier und da glänzten an ihm die Sterne auf. Aber es war
immer noch naß, schmutzig, feucht und drückend, namentlich für Herrn
Goljadkin, der ohnehin schon nur mit Mühe Atem holen konnte. Sein
durchnäßter, schwer gewordener Mantel teilte allen seinen Gliedern eine
unangenehm-warme Feuchtigkeit mit und lähmte durch sein Gewicht seine
sowieso schon recht schwach gewordenen Beine. Ein fieberhaftes Zittern
lief ihm wie ein Gekribbel bissiger Ameisen über den ganzen Körper; die
Ermattung ließ einen kalten, krankhaften Schweiß aus allen Poren
heraustreten, so daß Herr Goljadkin sogar vergaß, bei dieser passenden
Gelegenheit mit der ihm eigenen Festigkeit und Entschlossenheit seine
Lieblingsredensart zu wiederholen, daß er dennoch vielleicht,
möglicherweise, irgendwie, wahrscheinlich, unbedingt obsiegen und alles
sich gut gestalten werde. »Übrigens macht das alles vorläufig noch
nichts,« fügte unser starker, noch ungebeugter Held hinzu und wischte
sich die kalten Wassertropfen vom Gesichte, die nach allen Seiten von
der Krämpe seines runden Hutes herabflossen, der dermaßen durchnäßt war,
daß er das Wasser nicht mehr festhalten konnte. Nachdem unser Held noch
hinzugefügt hatte, daß das alles noch nichts zu bedeuten habe, versuchte
er, sich auf einen ziemlich dicken Holzklotz zu setzen, der auf Olsufi
Iwanowitschs Hofe neben einem Haufen Holz lag. Von spanischen Serenaden
und seidenen Strickleitern konnte jetzt allerdings nicht die Rede sein;
aber er konnte nicht umhin, an jenes bescheidene Winkelchen
zurückzudenken, das zwar nicht sehr warm, aber dafür bequem und
verborgen gewesen war. Denn jenes Winkelchen hatte, beiläufig bemerkt,
jetzt viel Verlockendes für ihn, jenes Winkelchen auf dem Flur von
Olsufi Iwanowitschs Wohnung, wo unser Held früher, beinah am Anfang
dieser wahrhaften Geschichte, volle zwei Stunden lang zwischen einem
Schranke und einem alten Wandschirm, zwischen allerlei unbrauchbarem
Hausrat, Trödelkram und Gerümpel gestanden hatte. Die Sache war die, daß
auch jetzt Herr Goljadkin bereits ganze zwei Stunden auf Olsufi
Iwanowitschs Hofe stand und wartete. Aber was eine nochmalige Benutzung
jenes früheren bescheidenen, bequemen Winkelchens anlangte, so gab es da
jetzt mehrere Hindernisse, die es früher nicht gegeben hatte. Das erste
Hindernis bestand darin, daß man dieses Plätzchen wahrscheinlich
seinerzeit bemerkt und seit der Affäre auf dem letzten Balle bei Olsufi
Iwanowitsch einige vorbeugende Maßregeln getroffen hatte; und zweitens
mußte er doch auf das verabredete Zeichen von Klara Olsufjewna warten;
denn irgendein solches verabredetes Zeichen mußte doch unbedingt dabei
vorkommen. So war es immer zugegangen, und er sagte sich: »Wir sind
nicht die ersten, die es so machen, und werden nicht die letzten sein.«
Herr Goljadkin erinnerte sich hierbei sehr apropos flüchtig an einen
Roman, den er schon vor langer Zeit einmal gelesen hatte, wo die Heldin
ihrem Alfred in ganz ähnlicher Lage das verabredete Zeichen dadurch gab,
daß sie ein rosa Band ans Fenster knüpfte. Aber ein rosa Band konnte
jetzt zur Nachtzeit und bei dem durch seine Feuchtigkeit und
Unzuverlässigkeit bekannten Petersburger Klima nicht zur Anwendung
kommen; das war, kurz gesagt, völlig unmöglich. »Nein, seidene
Strickleitern kommen hier nicht in Frage,« hatte unser Held gedacht, als
er auf den Hof kam; »ich werde mich lieber hierher stellen, ganz allein,
bescheiden und in der Stille ... z. B. hier an diesen Platz,« und er
hatte sich ein Plätzchen auf dem Hofe ausgesucht, den Fenstern gerade
gegenüber, bei einem aufgeschichteten Holzhaufen. Allerdings gingen auf
dem Hofe viele fremde Leute umher, Stallknechte, Kutscher; dazu
rasselten die Räder, schnaubten die Pferde usw.; aber trotzdem war der
Platz wohlgeeignet: ob man ihn nun bemerkte oder nicht, jetzt wenigstens
war der Vorteil der, daß die Sache gewissermaßen im Schatten vor sich
ging und niemand Herrn Goljadkin sah, während er selbst geradezu alles
sehen konnte. Die Fenster waren hell erleuchtet; es war eine vornehme
Gesellschaft bei Olsufi Iwanowitsch. Musik war übrigens noch nicht zu
hören. »Also findet kein Ball statt, sondern es sind aus irgendwelchem
andern Anlaß Gäste geladen,« dachte unser Held beklommenen Herzens.
»Aber sollte es denn auch heute sein?« ging es ihm durch den Kopf;
»liegt auch kein Irrtum im Datum vor? Es könnte doch sein; möglich ist
alles ... Vielleicht war der Brief gestern geschrieben, gelangte aber
gestern nicht in meine Hände, und zwar deswegen nicht, weil sich
Petruschka da hineingemischt hat, dieser Halunke! Oder er war morgen
geschrieben, d. h. es stand darin, daß ich ... daß ich erst morgen alles
tun sollte, d. h. mit dem Wagen warten sollte ...« Hier überlief es
unsern Helden ganz kalt, und er griff in die Tasche, um den Brief
herauszuholen und die Sache festzustellen. Aber zu seiner Verwunderung
fand sich der Brief in der Tasche nicht vor. »Wie geht das zu?«
flüsterte Herr Goljadkin mehr tot als lebendig. »Wo habe ich ihn nur
gelassen? Also habe ich ihn verloren? Das hat noch gefehlt!« stöhnte er
schließlich. »Wenn er nun aber jetzt in schlechte Hände fällt? (Ja,
vielleicht ist er schon in schlechte Hände gefallen!) Herr Gott! Was
kann das für Folgen haben! Die Folge wird sein, daß ... O über mein
unglückseliges Schicksal!« Hier begann Herr Goljadkin wie Espenlaub zu
zittern bei dem Gedanken, daß vielleicht sein unehrenhafter
Zwillingsbruder, als er ihm den Mantel auf den Kopf warf, dabei gerade
die Absicht verfolgt habe, den Brief zu entwenden, von dessen Existenz
er irgendwie durch Herrn Goljadkins Feinde Wind bekommen habe. »Er wird
ihn als Beweisstück weggenommen haben,« dachte unser Held; »und was für
ein schwerwiegendes Beweisstück ist er! ...« Nach dem ersten Anfall des
Schreckens und der Erstarrung stieg Herrn Goljadkin das Blut in den
Kopf. Stöhnend und zähneknirschend griff er sich an seine glühende
Stirn, ließ sich auf seinen Holzklotz niedersinken und begann über etwas
nachzudenken. Aber die Gedanken in seinem Kopfe vermochten nicht an
einem Gegenstande haften zu bleiben. Irgendwelche Persönlichkeiten
huschten vor seinem geistigen Auge vorüber; irgendwelche längst
vergessenen Ereignisse kamen ihm bald undeutlich, bald klar ins
Gedächtnis; irgendwelche Melodien dummer Lieder gingen ihm durch den
Kopf ... Es war eine Pein, eine unnatürliche Pein! »Mein Gott, mein
Gott!« dachte unser Held, als er einigermaßen zur Besinnung kam, und
suchte das dumpfe Schluchzen in seiner Brust zu ersticken, »gib mir
festen Mut bei der unergründlichen Tiefe meines Unglücks! Daß ich
verloren bin, ganz vernichtet bin, daran kann kein Zweifel mehr
bestehen, und das liegt ganz im natürlichen Laufe der Dinge; es kann
eben nicht anders sein. Erstens habe ich meine Stelle verloren,
unbedingt verloren, ich mußte sie mit Notwendigkeit verlieren ... Nun,
einigermaßen werde ich allerdings auch dann zurechtkommen. Mein Geld
reicht fürs erste aus: ich nehme mir eine andere, kleine Wohnung ...
Petruschka wird nicht mehr bei mir sein. Ich kann mich auch ohne diesen
Halunken behelfen ... ich lebe dann eben als Chambregarnist; nun gut!
Dann kann ich auch kommen und gehen, wann ich Lust habe, und kein
Petruschka wird darüber brummen, daß ich zu spät nach Hause komme. Ja,
so ist das; das ist ein Vorzug des Chambregarnistentums ... Nun, das ist
ja allerdings alles ganz gut; aber warum rede ich gar nicht über das,
worauf es ankommt?« Hier erhellte der Gedanke an die gegenwärtige Lage
wieder Herrn Goljadkins Gedächtnis. Er blickte um sich. »Ach, Herr du
mein Gott! Herr du mein Gott! Wovon rede ich denn da jetzt?« dachte er
ganz verstört und griff sich an den glühenden Kopf ...

»Wollen Sie nicht bald fahren, Herr?« sagte eine Stimme über dem Kopfe
des dasitzenden Herrn Goljadkin. Herr Goljadkin fuhr zusammen; vor ihm
stand sein Kutscher, ebenfalls völlig durchnäßt und durchfroren; vor
Ungeduld und Langerweile war er auf den Gedanken gekommen, sich einmal
nach Herrn Goljadkin hinter dem Holzhaufen umzusehen.

»Ich weiß nicht, mein Freund ... ich werde bald fahren, mein Freund,
sehr bald, sehr bald; warte noch ein bißchen! ...«

Der Kutscher ging, etwas vor sich hin brummend, wieder weg. »Was mag er
da brummen?« dachte Herr Goljadkin, und die Tränen kamen ihm in die
Augen. »Ich habe ihn doch für den ganzen Abend genommen; also kann ich
... hm ... ich bin jetzt in meinem Rechte ... so ist das! Ich habe ihn
für den ganzen Abend genommen; also ist die Sache in Ordnung. Wenn er
auch so dasteht, das ist ganz gleich. Das hängt alles von meinem
Belieben ab. Wenn ich fahren will, kann ich fahren, und wenn ich nicht
fahren will, kann ich es unterlassen. Und wenn ich hier hinter dem Holze
stehe, so ist auch dagegen nichts einzuwenden ... und er darf sich nicht
erdreisten, etwas darüber zu sagen; wenn der Herr Lust hat, hinter dem
Holze zu stehen, nun, dann steht er eben hinter dem Holze ... und damit
befleckt er niemandes Ehre; so ist das! Ja, so ist das, mein Fräulein,
wenn Sie es wissen wollen. Und in einer Hütte, mein Fräulein, hm, in
einer Hütte lebt in unserem Zeitalter niemand. So ist das! Und ohne
Moralität kann man in unserem Zeitalter der Industrie nichts erreichen,
mein Fräulein; dafür dienen Sie selbst jetzt als trauriges Beispiel ...
Also Ihrer Meinung nach soll ich das Amt eines Tischvorstehers bekleiden
und in einer Hütte am Gestade des Meeres leben. Erstens, mein Fräulein,
gibt es am Gestade des Meeres keine Tischvorsteher, und zweitens können
wir beide mir keine Stelle als Tischvorsteher verschaffen. Denn gesetzt
z. B. ich reiche eine Bittschrift ein und sage darin: >So und so, ich
bitte, mich zum Tischvorsteher zu machen und mich vor meinem Feinde zu
schützen ...<, dann werden Sie merken, mein Fräulein, daß es viele
Tischvorsteher gibt, und daß Sie hier nicht bei der Emigrantin Falbala
sind, wo Sie Moralität gelernt haben, wofür Sie selbst als trauriges
Beispiel dienen. Moralität, mein Fräulein, das bedeutet: zu Hause
sitzen, seinen Vater ehren und nicht vorzeitig an Freier denken. Die
Freier, mein Fräulein, werden sich zur rechten Zeit schon finden; so ist
das! Gewiß, man muß unstreitig auch allerlei Fertigkeiten und Kenntnisse
besitzen, als da sind: ein bißchen Klavierspielen, Französisch sprechen,
Geschichte, Geographie, Religion und Rechnen, -- so ist das! Aber mehr
ist nicht vonnöten. Dazu kommt noch die Küche; zu dem Wissensgebiete
eines jeden wohlgesitteten Mädchens gehört unbedingt auch die Küche!
Aber was wird mit Ihnen werden? Erstens, mein schönes gnädiges Fräulein,
wird man Sie nicht so einfach davonlassen, sondern eine Verfolgung
veranstalten und Sie, wenn man Sie attrapiert hat, in ein Kloster
stecken. Was dann, mein Fräulein? Was befehlen Sie mir dann zu tun?
Befehlen Sie mir, mein Fräulein, nach Anweisung einiger dummer Romane
auf einen nahegelegenen Hügel zu gehen und, nach den kalten Mauern Ihres
Gefängnisses hinblickend, in Tränen zu zerfließen und schließlich so zu
sterben, gemäß der Vorschrift einiger verdrehter deutscher Dichter und
Romanschriftsteller? Ja, mein Fräulein? Aber gestatten Sie mir, Ihnen in
aller Freundschaft zu sagen, erstens, daß die Dinge sich nicht in dieser
Weise vollziehen, und zweitens, daß ich am liebsten Sie und Ihre Eltern
gehörig dafür durchhauen möchte, daß sie Ihnen französische Bücher zu
lesen gegeben haben; denn aus französischen Büchern kann man nichts
Gutes lernen. In denen steckt Gift, verderbliches Gift, mein Fräulein!
Oder denken Sie etwa (gestatten Sie die Frage!), oder denken Sie etwa,
wir werden ungestraft entfliehen können und dann zusammen in einer Hütte
am Meeresstrande wohnen? Und dann fangen wir an zu girren und zu
schnäbeln und von allerlei Gefühlen zu sprechen und verbringen so unser
ganzes Leben in Zufriedenheit und Glück? Und dann stellt sich ein
Kleines ein, und wir sagen: >So und so, Sie unser Vater Staatsrat Olsufi
Iwanowitsch, da hat sich ein Kleines eingestellt; nehmen Sie also bei
diesem passenden Anlaß Ihren Fluch zurück, und segnen Sie uns junges
Paar!Mein
Herzchen, hast du nicht vor dem Mittagessen ein bißchen was zu essen,
ein Schnäpschen zu trinken, ein Stückchen Hering zu essen?< Da müssen
Sie dann ein Schnäpschen und ein Stückchen Hering gleich in Bereitschaft
haben. Der Mann ißt das mit gutem Appetit; aber Sie sieht er gar nicht
an, sondern er sagt: >Geh in die Küche, mein Kätzchen, und sieh nach dem
Mittagessen!< und vielleicht gibt er Ihnen in der Woche nur ein einziges
Mal einen Kuß, und auch das nur mit gleichgültigem Wesen ... So ist das
jetzt bei uns, mein Fräulein! Und auch das nur mit gleichgültigem Wesen!
... So wird das sein, wenn man es recht überlegt, wenn es nun einmal
dahin gekommen ist, daß man die Sache in dieser Weise zu betrachten
anfängt ... Und was habe denn ich, ich damit zu schaffen? Warum haben
Sie mich in Ihr launenhaftes Treiben hineingezogen, mein Fräulein? Sie
schreiben: >Edler, für mich leidender und meinem Herzen in jeder
Hinsicht teurer Mann< usw. Ja, erstens, mein Fräulein, passe ich gar
nicht für Sie; Sie wissen selbst, daß ich mich auf Komplimente nicht
verstehe, es nicht liebe, den Damen allerlei parfümierten Unsinn
vorzuschwatzen, das seladonhafte Wesen nicht ausstehen kann und auch,
offen gestanden, kein schönes Äußeres besitze. Lügenhafte Prahlerei und
Ziererei werden Sie bei mir nicht finden; das gestehe ich Ihnen jetzt
mit aller Offenherzigkeit. So ist das; ich besitze nur einen geraden,
offenen Charakter und einen gesunden Verstand; mit Intrigen gebe ich
mich nicht ab. Ich bin kein Intrigant und bin stolz darauf; so ist das!
... Ich bewege mich unter guten Menschen ohne Maske, und um Ihnen alles
zu sagen ...«

Auf einmal fuhr Herr Goljadkin zusammen. Der rötliche, völlig durchnäßte
Bart seines Kutschers blickte wieder zu ihm hinter das Holz.

»Ich komme gleich, mein Freund; weißt du, mein Freund, sogleich; sofort
komme ich, mein Freund!« antwortete Herr Goljadkin mit zitternder,
gramvoller Stimme.

Der Kutscher kratzte sich im Nacken, strich sich dann den Bart glatt und
trat einen Schritt vor. Hierauf blieb er stehen und blickte Herrn
Goljadkin mißtrauisch an.

»Ich komme sofort, mein Freund; ich will nur ... siehst du, mein Freund
... ich will nur noch ein wenig ... siehst du, mein Freund, ich will nur
noch eine Sekunde hier ... siehst du, mein Freund ...«

»Wollen Sie vielleicht überhaupt nicht mehr fahren?« sagte endlich der
Kutscher, indem er entschlossen an Herrn Goljadkin herantrat.

»Doch, mein Freund; ich komme gleich. Siehst du, mein Freund, ich warte
nur noch ...«

»Na, gut ...«

»Siehst du, mein Freund, ich ... Aus welchem Dorfe bist du denn, mein
Lieber?«

»Wir sind Leibeigene ...«

»Hast du eine gute Herrschaft? ...«

»Es geht ...«

»Ja, mein Freund, bleib nur noch ein bißchen bei mir, mein Freund!
Siehst du, mein Freund, bist du schon lange in Petersburg?«

»Ich fahre schon ein Jahr ...«

»Und geht es dir gut, mein Freund?«

»So ziemlich.«

»Ja, mein Freund, ja. Danke der Vorsehung, mein Freund! Einen guten
Menschen kannst du jetzt lange suchen, mein Freund. Heutzutage sind gute
Menschen selten geworden, mein Lieber; ein guter Mensch hält dich
sauber, mein Lieber, und gibt dir zu essen und zu trinken. Aber siehst
du, manchmal fließen Tränen auch auf das Gold, mein Freund ... siehst
du, hier hast du ein bedauernswertes Beispiel vor dir; so ist das, mein
Lieber ...«

Dem Kutscher schien Herr Goljadkin leid zu tun. »Na, wenn Sie wollen,
werde ich noch warten. Wollen Sie denn noch lange hierbleiben?«

»Nein, mein Freund, nein; ich werde jetzt, weißt du, hm ... ich werde
jetzt nicht mehr warten, mein Lieber ... Wie denkst du darüber, mein
Freund? Ich schenke dir Vertrauen. Ich werde hier nicht mehr warten ...«

»Werden Sie vielleicht überhaupt nicht mehr fahren?«

»Nein, ich fahre nicht mehr, mein Freund, nein; aber ich danke dir, mein
Lieber ... so ist das. Wieviel bekommst du denn, mein Lieber?«

»Was wir abgemacht haben, Herr, das müssen Sie mir auch geben. Ich habe
lange gewartet, Herr; Sie werden ja einen armen Menschen nicht zu
Schaden bringen wollen, Herr.«

»Nun, da hast du dein Geld, mein Lieber, da hast du es!« Damit gab Herr
Goljadkin dem Kutscher die ganzen sechs Rubel. Er entschloß sich nun im
Ernst, keine Zeit weiter zu verlieren, sondern sich davonzumachen, um so
mehr da die Sache bereits endgültig entschieden und der Kutscher
entlassen war und es folglich keinen Zweck mehr hatte, länger zu warten;
so verließ er denn den Hof, ging durch den Torweg, wandte sich links und
begann, ohne sich umzusehen, keuchend und froh davonzulaufen.
»Vielleicht gestaltet sich noch alles gut,« dachte er, »und ich bin auf
diese Art dem Unheil entronnen.« Wirklich war es Herrn Goljadkin auf
einmal sehr leicht ums Herz geworden. »Ach, wenn sich doch alles gut
gestalten wollte!« dachte unser Held, obwohl er selbst wenig daran
glaubte. »Nun will ich, hm ...« dachte er. »Nein, ich will es lieber so
machen; ich will die Sache von einer andern Seite angreifen ... Oder
soll ich lieber so verfahren? ...« Während sich unser Held so mit seinen
Zweifeln abmühte und zur Klarheit zu gelangen suchte, war er bis zur
Semjonowski-Brücke gelaufen und faßte nun den verständigen, endgültigen
Beschluß, wieder umzukehren. »Das wird das beste sein,« sagte er sich.
»Ich will die Sache lieber von einer anderen Seite angreifen, d. h.
folgendermaßen: ich werde ganz einfach unbeteiligter Beobachter sein,
weiter nichts; ich bin nur ein Beobachter, eine unbeteiligte Person;
dann mag sich dort begeben, was da will, ich trage keine Schuld daran.
So ist das! So soll es jetzt sein!«

Nachdem unser Held beschlossen hatte umzukehren, führte er diesen
Beschluß auch aus, um so mehr, da er seiner glücklichen Idee zufolge
jetzt die Rolle einer ganz unbeteiligten Person übernommen hatte. »Das
ist besser; einerseits bin ich für nichts verantwortlich, und
andrerseits sehe ich alles Nötige mit an ... so ist das!« Also die
Rechnung war durchaus richtig und die Sache damit erledigt. Beruhigt
schlich er wieder in den friedlichen Schatten des ihn schützenden
Holzstoßes und begann, aufmerksam nach den Fenstern hinzuschauen.
Diesmal brauchte er nicht lange zu schauen und zu warten. Auf einmal
machte sich an allen Fenstern gleichzeitig eine sonderbare Bewegung
bemerklich, Gestalten wurden sichtbar, die Vorhänge zurückgeschlagen,
ganze Gruppen von Menschen drängten sich an Olsufi Iwanowitschs
Fenstern; alle blickten sie auf den Hof hinaus und suchten dort etwas.
Durch seinen Holzstoß geschützt, begann unser Held seinerseits ebenfalls
neugierig die allgemeine Bewegung zu verfolgen und streckte, lebhaft
interessiert, seinen Kopf nach rechts und links vor, wenigstens soweit
es ihm der kurze Schatten des ihn verbergenden Holzstoßes erlaubte. Auf
einmal bekam er einen großen Schreck, fuhr zusammen und hätte sich vor
Bestürzung beinahe auf dem Fleck, wo er stand, hingesetzt. Es schien ihm
oder richtiger er erriet auf das bestimmteste, daß sie da nicht
irgendetwas und irgendwen suchten, sondern ganz einfach ihn, Herrn
Goljadkin. Alle blickten sie nach seiner Seite hin. Davonzulaufen war
unmöglich; man hätte ihn gesehen ... Ängstlich drückte sich Herr
Goljadkin so dicht wie möglich an das Holz und bemerkte jetzt erst, daß
der verräterische Schatten ihm treulos geworden war und ihn nicht mehr
ganz verbarg. Mit dem größten Vergnügen wäre unser Held jetzt in ein
Mauseloch zwischen dem Holze gekrochen und hätte dort friedlich
gesessen, wenn es nur möglich gewesen wäre. Aber es war entschieden
unmöglich. In seiner Pein begann er schließlich, mit Entschlossenheit
geradezu nach allen Fenstern hinzusehen, weil ihm das noch als das beste
erschien. Und plötzlich wurde er glühend heiß vor Scham. Man hatte ihn
deutlich bemerkt; alle zusammen hatten ihn bemerkt; alle winkten ihm mit
den Händen; alle nickten ihm zu; alle riefen ihn; da klappten ein paar
Luftscheiben und wurden geöffnet; einige Stimmen schrien ihm zugleich
etwas zu ... »Ich wundere mich, warum man diesem dummen Mädchen nicht
von klein auf die Rute gegeben hat,« murmelte unser Held ganz
fassungslos vor sich hin. Auf einmal kam er (man weiß schon, wer) die
Stufen vor der Haustür herabgelaufen, im bloßen Uniformrock, ohne Hut,
atemlos, hastig, trippelnd und hüpfend, wahrscheinlich um seine
gewaltige Freude darüber an den Tag zu legen, daß er Herrn Goljadkin
endlich erblickt hatte.

»Jakow Petrowitsch,« schnatterte der durch seine Niederträchtigkeit
bekannte Mensch. »Jakow Petrowitsch, Sie hier? Sie werden sich erkälten.
Es ist hier kalt, Jakow Petrowitsch. Bitte, kommen Sie doch in die
Wohnung!«

»Nein, Jakow Petrowitsch, nein, das tut mir nichts, Jakow Petrowitsch,«
murmelte unser Held in demütigem Tone.

»Nein, das geht nicht, Jakow Petrowitsch; alle lassen Sie bitten, lassen
Sie ganz ergebenst bitten; sie erwarten uns. >Machen Sie uns die
Freude,< haben sie zu mir gesagt, >und bringen Sie Jakow Petrowitsch
her!< So ist das!«

»Nein, Jakow Petrowitsch, sehen Sie, ich ... ich würde am besten tun,
wenn ich ... Ich würde am besten nach Hause gehen, Jakow Petrowitsch,«
sagte unser Held, der ein Gefühl hatte, als ob er auf gelindem Feuer
geröstet würde, und ganz starr war vor Scham und Angst.

»Nein, nein, nein, nein!« schnatterte der widerwärtige Mensch. »Nein,
nein, nein, unter keinen Umständen! Kommen Sie!« sagte er energisch und
zog Herrn Goljadkin den älteren zur Haustür hin. Herr Goljadkin der
ältere wollte ganz und gar nicht mitgehen; aber da alle nach ihm
hinsahen und es dumm herausgekommen wäre, wenn er sich widersetzt und
sich gesträubt hätte, so ging unser Held doch mit; übrigens kann man
eigentlich nicht sagen, daß er ging, da er schlechterdings selbst nicht
wußte, was mit ihm geschah. Aber es war ja nun doch schon alles egal!

Ehe unser Held noch einigermaßen zur Besinnung kommen und sich
zurechtmachen konnte, befand er sich schon im Saale. Er war blaß,
zerzaust, sein Anzug in Unordnung; seine trüben Augen irrten über die
ganze Menge hin, -- o weh: der Saal und alle Zimmer, alles, alles, war
dicht gedrängt voll! Es war eine Unmasse von Menschen da, ein ganzer
Flor von Damen. Alle Anwesenden strebten zu Herrn Goljadkin hin; alle
umdrängten ihn; alle schoben Herrn Goljadkin vorwärts, der sehr wohl
merkte, daß sie ihn in einer bestimmten Richtung fortschoben. »Doch
nicht zur Tür?« ging es ihm durch den Kopf. In der Tat schoben sie ihn
nicht zur Tür hin, sondern geradeswegs zu Olsufi Iwanowitschs bequemem
Lehnstuhl. Neben dem Lehnstuhl stand auf der einen Seite Klara
Olsufjewna, blaß, matt, traurig, aber in prachtvoller Toilette.
Besonders fielen Herrn Goljadkin die kleinen weißen Blümchen in ihrem
schwarzen Haar in die Augen, was einen ganz außerordentlichen Effekt
machte. Auf der andern Seite des Lehnstuhles stand Wladimir
Semjonowitsch, im schwarzen Frack, mit seinem neuen Orden im Knopfloch.
Zwei von den Gästen hatten Herrn Goljadkin untergefaßt und führten ihn,
wie schon oben gesagt ist, geradeswegs zu Olsufi Iwanowitsch, und zwar
auf der einen Seite Herr Goljadkin der jüngere, der eine höchst
wohlanständige, wohlwollende Miene angenommen hatte, worüber unser Held
sich unsagbar freute, auf der andern Seite Andrei Filippowitsch mit sehr
feierlichem Gesichtsausdruck. »Was soll das?« dachte Herr Goljadkin. Als
er sah, daß man ihn zu Olsufi Iwanowitsch führte, da war es ihm, als ob
ihm ein Blitz plötzlich alles erleuchtete. Der Gedanke an den
entwendeten Brief fuhr ihm durch den Kopf. In namenloser Angst stand
unser Held vor Olsufi Iwanowitschs Lehnstuhl. »Wie wird es mir jetzt
gehen?« dachte er bei sich. »Selbstverständlich werde ich alles frei
heraus sagen, mit einer Aufrichtigkeit, die von vornehmer Gesinnung
zeugt; so und so, usw.« Aber was unser Held anscheinend fürchtete, trat
nicht ein. Olsufi Iwanowitsch empfing Herrn Goljadkin, wie es schien,
sehr gut; er streckte ihm zwar nicht die Hände entgegen; aber er wiegte,
indem er ihn anblickte, sein graues, Ehrfurcht einflößendes Haupt mit
ernst-trauriger und zugleich wohlwollender Miene hin und her. So schien
es wenigstens Herrn Goljadkin. Es schien diesem sogar, als ob in Olsufi
Iwanowitschs trüben Blicken eine Träne glänzte; er hob die Augen in die
Höhe und sah, daß auch an den Wimpern der dicht daneben stehenden Klara
Olsufjewna ein Tränchen glitzerte, daß mit Wladimir Semjonowitschs Augen
etwas Ähnliches vorging, daß sogar Andrei Filippowitschs
unerschütterliche, ruhige Würde sich von der allgemeinen, tränenreichen
Anteilnahme nicht ausschloß, und daß endlich jener Jüngling, von dem wir
früher einmal gesagt haben, daß er große Ähnlichkeit mit einem würdigen
Rate hatte, den gegenwärtigen Augenblick schon dazu benutzte, bitterlich
zu schluchzen ... Oder kam das vielleicht Herrn Goljadkin alles nur so
vor, weil er selbst ausgiebig weinte und deutlich fühlte, wie ihm die
heißen Tränen über die kalten Backen liefen? ... Schluchzend, mit den
Menschen und dem Schicksal ausgesöhnt und im gegenwärtigen Augenblicke
von Liebe erfüllt nicht nur zu Olsufi Iwanowitsch und allen Gästen
zusammen, sondern sogar zu seinem so unheilbringenden Zwillingsbruder,
der jetzt überhaupt nicht unheilbringend und nicht einmal wie Herrn
Goljadkins Zwillingsbruder aussah, sondern wie ein ganz unbeteiligter
und äußerst liebenswürdiger Mensch, wollte sich unser Held zu Olsufi
Iwanowitsch wenden und ihm in rührender Weise sein Herz ausschütten;
aber die Fülle der Gefühle, die sich in seinem Herzen angesammelt
hatten, war zu groß: er konnte kein Wort herausbringen, sondern zeigte
nur mit einer sehr ausdrucksvollen Handbewegung schweigend auf sein Herz
... Endlich führte Andrei Filippowitsch, wahrscheinlich um dem
grauhaarigen alten Manne eine allzu große Aufregung zu ersparen, Herrn
Goljadkin ein wenig beiseite und überließ ihn dort anscheinend völlig
sich selbst. Lächelnd und etwas vor sich hinmurmelnd, ein wenig
erstaunt, aber jedenfalls mit den Menschen und dem Schicksal fast ganz
ausgesöhnt, begann unser Held in irgendwelcher Richtung sich durch die
dichte Masse der Gäste fortzubewegen. Alle machten ihm Platz; alle sahen
ihn mit einer sonderbaren Neugier und einer unerklärlichen, rätselhaften
Teilnahme an. Unser Held ging in ein anderes Zimmer: überall wandte sich
ihm dieselbe Aufmerksamkeit zu; er nahm undeutlich wahr, wie ein ganzer
Schwarm sich hinter ihm her drängte, wie sie jeden seiner Schritte
beobachteten, wie sie alle leise untereinander über irgendwelchen sehr
interessanten Gegenstand sprachen, die Köpfe schüttelten und flüsternd
disputierten. Herr Goljadkin hätte gern gewußt, worüber sie da stritten
und flüsterten. Sich umblickend, bemerkte unser Held neben sich Herrn
Goljadkin den jüngeren. Er fühlte sich gedrungen, ihn an der Hand zu
fassen und beiseite zu führen, und bat hier den andern Jakow Petrowitsch
inständig, ihm bei allen seinen künftigen Unternehmungen behilflich zu
sein und ihn in kritischen Lagen nicht im Stich zu lassen. Herr
Goljadkin der jüngere nickte würdevoll mit dem Kopfe und drückte Herrn
Goljadkin dem älteren warm die Hand. Unserem Helden zitterte das Herz in
der Brust von dem Überschwang seiner Gefühle. Er konnte kaum Atem holen;
er hatte die Empfindung, daß ihn etwas furchtbar beengte, daß alle diese
auf ihn gerichteten Augen ihn gewissermaßen niederdrückten und
erstickten ... Herr Goljadkin sah im Vorbeigehen jenen Rat, der eine
Perücke auf dem Kopfe trug. Der Rat schaute ihn mit einem ernsten,
prüfenden Blick an, der sich durch die allgemeine Teilnahme nicht hatte
milder stimmen lassen ... Unser Held faßte schon den Entschluß, gerade
auf ihn zu zu gehen, um ihn anzulächeln und sich unverzüglich mit ihm
auszusprechen; aber dieser Vorsatz kam nicht zur Ausführung. Für einen
Augenblick vergaß Herr Goljadkin sich selbst und alles andere fast
vollständig; er verlor sowohl das Gedächtnis als auch die Empfindung ...
Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß er sich in einem weiten
Kreise der ihn umgebenden Gäste herumdrehte. Auf einmal wurde Herr
Goljadkin von dem andern Zimmer aus gerufen; dieser Ruf pflanzte sich
schnell durch die ganze Menge fort. Alle gerieten in Aufregung, alle
begannen geräuschvoll zu reden, alle stürzten zu der Tür hin, die in den
ersten Saal führte; unsern Helden trugen sie beinah auf den Händen
ebendorthin, wobei der hartherzige Rat mit der Perücke zufällig Seite an
Seite mit Herrn Goljadkin ging. Endlich ergriff er ihn bei der Hand und
veranlaßte ihn, sich neben ihn zu setzen, dem Sitze Olsufi Iwanowitschs
gegenüber, jedoch in ziemlich beträchtlicher Entfernung von demselben.
Alle, die in den Zimmern anwesend waren, setzten sich in mehreren Reihen
um Herrn Goljadkin und Olsufi Iwanowitsch herum. Alles wurde still und
ruhig; alle beobachteten ein feierliches Schweigen; alle blickten Olsufi
Iwanowitsch an, offenbar in Erwartung von etwas sehr Ungewöhnlichem.
Herr Goljadkin bemerkte, daß neben Olsufi Iwanowitschs Lehnstuhl und
ebenfalls dem Rate gegenüber der andere Herr Goljadkin und Andrei
Filippowitsch Platz genommen hatten. Das Schweigen dauerte ziemlich
lange; man wartete tatsächlich auf etwas. »Genau so wie in einer
Familie, bevor einer eine weite Reise antritt; man brauchte jetzt nur
aufzustehen und zu beten,« dachte unser Held. Auf einmal entstand eine
ungewöhnliche Bewegung und unterbrach alle seine Überlegungen. Etwas
längst Erwartetes war eingetreten. »Er kommt, er kommt!« wurde in der
Menge gerufen. »Wer kommt denn?« fuhr es Herrn Goljadkin durch den Kopf,
und ein sonderbares Gefühl ließ ihn zusammenfahren. »Es ist Zeit!« sagte
der Rat, indem er Andrei Filippowitsch bedeutsam ansah. Andrei
Filippowitsch warf seinerseits dem alten Olsufi Iwanowitsch einen Blick
zu. Olsufi Iwanowitsch nickte würdevoll und feierlich mit dem Kopfe.
»Erheben wir uns!« sagte der Rat und veranlaßte Herrn Goljadkin zum
Aufstehen. Alle erhoben sich. Darauf ergriff der Rat Herrn Goljadkin den
älteren bei der Hand und Andrei Filippowitsch Herrn Goljadkin den
jüngeren, und so führten sie die beiden vollkommenen Ebenbilder durch
die Menge, die sie in gespannter Erwartung umgab, feierlich aufeinander
zu. Unser Held blickte erstaunt um sich; aber man hielt ihn sogleich
davon ab und wies ihn auf Herrn Goljadkin den jüngeren hin, der ihm die
Hand entgegenstreckte. »Man will uns miteinander versöhnen,« dachte
unser Held und hielt gerührt seine Hand Herrn Goljadkin dem jüngeren
hin; dann, dann streckte er auch den Kopf zum Kusse vor. Dasselbe tat
auch der andere Herr Goljadkin ... In diesem Momente schien es Herrn
Goljadkin dem älteren, daß sein treuloser Freund lächelte und der ganzen
umstehenden Menge schnell und listig zublinkte, daß ein boshafter Zug
auf dem Gesichte des unedlen Herrn Goljadkin des jüngeren zum Ausdruck
kam, und daß er sogar im Augenblicke seines Judaskusses eine Grimasse
schnitt ... In Herrn Goljadkins Kopfe dröhnte es; vor den Augen wurde es
ihm dunkel; es kam ihm vor, als ob eine Unmenge, eine ganze Reihe ganz
ähnlicher Goljadkins lärmend durch alle Türen des Saales hereindränge;
aber es war zu spät ... Der Verräter hatte ihm schon einen schallenden
Kuß gegeben, und ...

Da begab sich etwas ganz Unerwartetes ... Die Saaltür wurde geräuschvoll
geöffnet, und auf der Schwelle erschien ein Mensch, dessen bloßer
Anblick Herrn Goljadkin zu Eis erstarren ließ. Seine Füße wuchsen am
Boden fest. Ein Schrei erstarb in seiner beengten Brust. Übrigens hatte
Herr Goljadkin alles vorher gewußt und schon längst etwas Ähnliches
geahnt. Der Unbekannte näherte sich Herrn Goljadkin würdevoll und
feierlich. Herr Goljadkin kannte diese Gestalt sehr gut. Er hatte sie
schon gesehen, sehr oft gesehen, noch an diesem selben Tage gesehen ...
Der Unbekannte war ein hochgewachsener, kräftig gebauter Mann, in
schwarzem Frack, mit einem hohen Orden am Halse, mit dichtem, sehr
schwarzem Backenbart; es fehlte nur die Zigarre im Munde, um die
Ähnlichkeit vollständig zu machen. Der Blick des Unbekannten bewirkte,
daß, wie schon oben gesagt, Herr Goljadkin vor Angst zu Eis erstarrte.
Mit würdevoller, feierlicher Miene trat der furchtbare Mensch auf den
bedauernswerten Helden unserer Erzählung zu ... Unser Held streckte ihm
die Hand entgegen; der Unbekannte ergriff sie und zog ihn hinter sich
her ... Verstört und niedergedrückt blickte unser Held rings um sich.

»Das ist Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz, Doktor der Medizin und
Chirurgie, Ihr alter Bekannter, Jakow Petrowitsch!« schnatterte eine
widerwärtige Stimme dicht an Herrn Goljadkins Ohr. Er sah sich um: es
war der wegen seiner Nichtswürdigkeit hassenswerte Zwillingsbruder des
Herrn Goljadkin. Eine unedle, boshafte Freude glänzte auf seinem
Gesichte: entzückt rieb er sich die Hände; entzückt drehte er seinen
Kopf nach allen Seiten; entzückt trippelte er um all und jeden herum; er
schien Lust zu haben, gleich auf dem Flecke vor Entzücken loszutanzen;
zuletzt sprang er vor, nahm einem der Diener eine Kerze aus der Hand und
ging voran, um Herrn Goljadkin und Krestjan Iwanowitsch zu leuchten.
Herr Goljadkin hörte deutlich, wie alle, die im Saale waren, hinter ihm
herströmten, wie alle sich stießen und drängten und ihm einhellig immer
dasselbe wiederholten: »Das hat nichts zu bedeuten; fürchten Sie sich
nicht, Jakow Petrowitsch! Das ist ja Ihr alter Freund und Bekannter
Krestjan Iwanowitsch Rutenspitz ...« Endlich traten sie auf die
hellerleuchtete Treppe hinaus; auch auf der Treppe standen eine Menge
Leute. Geräuschvoll wurde die Haustür geöffnet, und nun stand Herr
Goljadkin mit Krestjan Iwanowitsch auf den davor befindlichen Stufen.
Vor der Tür stand eine Kutsche, mit vier Pferden bespannt, die vor
Ungeduld schnaubten. Der schadenfrohe Herr Goljadkin der jüngere kam in
großen Sätzen die Treppe herabgesprungen und öffnete selbst die Kutsche.
Krestjan Iwanowitsch ersuchte durch eine einladende Handbewegung Herrn
Goljadkin, einzusteigen. Übrigens bedurfte es einer solchen einladenden
Handbewegung gar nicht; es waren genug Leute da, um ihm hineinzuhelfen
... Halbtot vor Angst blickte Herr Goljadkin zurück: die ganze
hellerleuchtete Treppe war mit Menschen besetzt; von allen Seiten
blickten neugierige Augen nach ihm hin; selbst Olsufi Iwanowitsch saß in
seinem bequemen Lehnstuhl auf dem oberen Treppenflur und verfolgte
aufmerksam mit lebhaftem Interesse den ganzen Vorgang. Alle warteten.
Ein Gemurmel der Ungeduld lief durch die Menge, als Herr Goljadkin sich
umwandte und zurückblickte.

»Ich hoffe, daß darin nichts ... nichts Anstößiges liegt ... nichts, was
der Behörde zu strengem Verfahren gegen mich Anlaß geben ... oder die
allgemeine Aufmerksamkeit mit Bezug auf meine amtliche Stellung erregen
könnte?« sagte unser Held ganz fassungslos. Ringsum wurde lärmend darauf
geantwortet; alle schüttelten verneinend die Köpfe. Die Tränen stürzten
Herrn Goljadkin aus den Augen.

»In diesem Falle bin ich bereit ... ich vertraue mich ganz Krestjan
Iwanowitsch an ... ich lege mein Schicksal in seine Hände ...«

Kaum hatte Herr Goljadkin gesagt, daß er sein Schicksal ganz in Krestjan
Iwanowitschs Hände lege, als alle, die ihn umgaben, in ein furchtbares,
betäubendes Freudengeschrei ausbrachen, das sich dann in
unheilverkündendem Widerhall durch die ganze wartende Menge hinwälzte.
Nun faßten Krestjan Iwanowitsch von der einen Seite, Andrei
Filippowitsch von der andern Seite Herrn Goljadkin unter den Arm und
machten Anstalt, ihn in den Wagen zu setzen; der Doppelgänger half nach
seiner nichtswürdigen Gewohnheit von hinten nach. Der unglückliche Herr
Goljadkin der ältere warf auf alle und alles einen letzten Blick und
kroch zitternd wie ein Kätzchen, das man mit kaltem Wasser begossen hat,
wenn dieser Vergleich gestattet ist, in den Wagen hinein; nach ihm stieg
sogleich auch Krestjan Iwanowitsch ein. Die Wagentür wurde zugeschlagen;
die Peitsche fiel klatschend auf die Rücken der Pferde; die Pferde zogen
an ... alle stürzten hinter Herrn Goljadkin her. Gellendes, wütendes
Geschrei aller seiner Feinde schallte ihm als Abschiedsgruß nach. Eine
Zeitlang huschten noch einige Gestalten um den Wagen herum, der Herrn
Goljadkin entführte; aber allmählich blieben sie zurück und verschwanden
schließlich ganz. Am längsten von allen blieb Herrn Goljadkins unedler
Zwillingsbruder. Die Hände in die Taschen seiner grünen Uniformhosen
gesteckt, lief er mit zufriedener Miene einher, indem er bald von der
einen, bald von der andern Seite an den Wagen heransprang; manchmal
griff er auch nach dem Fensterrahmen, hängte sich daran, steckte den
Kopf ins Fenster und warf Herrn Goljadkin zum Abschied Kußhändchen zu;
aber auch er begann müde zu werden, zeigte sich immer seltener und
seltener und verschwand schließlich vollständig. Herr Goljadkin fühlte
einen dumpfen Schmerz im Herzen; das Blut pochte ihm wie eine heiße
Quelle im Kopfe; es war ihm drückend heiß; er wollte sich gern die
Kleider aufknöpfen, seine Brust entblößen, sie mit Schnee beschütten und
mit kaltem Wasser begießen. Endlich versank er in Bewußtlosigkeit ...
Als er wieder zu sich kam, sah er, daß der Wagen auf einem ihm
unbekannten Wege dahinfuhr. Rechts und links lag schwarzer Wald; alles
war öde und menschenleer. Auf einmal wurde er starr vor Schreck: zwei
feurige Augen blickten ihn in der Dunkelheit an und funkelten in
boshafter, teuflischer Freude. »Das ist nicht Krestjan Iwanowitsch!«
dachte Herr Goljadkin. »Wer ist das? Oder ist er es doch? Er ist es! Es
ist Krestjan Iwanowitsch; aber nicht der frühere, sondern ein anderer
Krestjan Iwanowitsch! Das ist ein entsetzlicher Krestjan Iwanowitsch!
...«

»Krestjan Iwanowitsch, ich ... ich ... ich glaube, es fehlt mir nichts,
Krestjan Iwanowitsch,« begann unser Held zaghaft und zitternd, in dem
Wunsche, durch Unterwürfigkeit und Demut den furchtbaren Krestjan
Iwanowitsch ein wenig milder zu stimmen.

»Sie bekommen vom Staate freie Wohnung, Heizung, Beleuchtung und
Bedienung; das ist mehr, als Sie verdienen,« antwortete Krestjan
Iwanowitsch; die Antwort klang streng und furchtbar wie ein
Urteilsspruch.

Unser Held schrie auf und griff sich nach dem Kopfe. O weh! Das hatte er
schon längst geahnt.

                               Gedruckt
                        bei Poeschel & Trepte
                              in Leipzig

                Im Insel-Verlag zu Leipzig erschienen:

                          F. M. DOSTOJEWSKI

                    (In Übertragungen von H. Röhl)

Aufzeichnungen aus einem Totenhaus

Das Gut Stepantschikowo

Der Idiot. Drei Bände

Der Spieler und andere Erzählungen

Die Teufel. Drei Bände

Erniedrigte und Beleidigte. Zwei Bände

Netotschka Njeswanowa und andere Erzählungen

Schuld und Sühne (Raskolnikow). Roman in sechs Teilen mit einem
Nachwort. Zwei Bände. 21.--30. Tausend

Werdejahre. Zwei Bände

                                  --

Die Brüder Karamasoff. Übertragen und mit einem Nachwort versehen von
_Karl Nötzel_. Drei Bände. 11.--20. Tausend

                   Jeder Band in Halbleinen 20 Mark

                       Insel-Verlag zu Leipzig

                            LEO N. TOLSTOI

Anna Karenina. Roman. Übertragen von H. Röhl. Zwei Bände. 11.--20.
Tausend. In Halbleinen M 40.--

Auferstehung. Roman. Übertragen von Adolf Heß. 11.--20. Tausend. In
Halbleinen M 20.--

                                  *

                             N. W. GOGOL

Tschitschikows Reiseerlebnisse oder die toten Seelen. Eine Erzählung.
Aus dem Russischen übertragen von H. Röhl. In Pappband M 28.--, in
Halbpergament M 48.--

                                  *

                           IWAN TURGENJEFF

Väter und Söhne. Roman. In der vom Dichter selbst revidierten
Übertragung. 11.--15. Tausend. In Halbleinen M 20.--



Anmerkungen zur Transkription


Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Hervorhebungen, die im
Original g e s p e r r t sind, wurden mit Unterstrichen wie _hier_
gekennzeichnet. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind,
wurden ^so^ markiert.

Die Schreibweise des Originals wurde weitgehend beibehalten. Lediglich
offensichtliche Druckfehler wurden, teilweise unter Verwendung weiterer
Ausgaben des Textes, wie hier aufgeführt korrigiert (vorher/nachher):

   [S. 20]:
   ... verachte alles hinterhaltige Wesen und überlasse es anderen. ...
   ... verachte alles hinterhältige Wesen und überlasse es anderen. ...

   [S. 41]:
   ... »Jakow Petrowitsch, Jakow Petrowitsch! ... erscholl ...
   ... »Jakow Petrowitsch, Jakow Petrowitsch!« ... erscholl ...

   [S. 43]:
   ... »Worüber sollte ich denn lachen?« Ich lache nicht. ...
   ... »Worüber sollte ich denn lachen? Ich lache nicht. ...

   [S. 77]:
   ... dreimal schlug ihn sogar der Saum des Mantels des ...
   ... dreimal schlug ihm sogar der Saum des Mantels des ...

   [S. 98]:
   ... Petrowisch, mir gütiges Gehör schenken würden ...« ...
   ... Petrowitsch, mir gütiges Gehör schenken würden ...« ...

   [S. 102]:
   ... »Jakow Petrowisch,« wiederholte unser Held, der ...
   ... »Jakow Petrowitsch,« wiederholte unser Held, der ...

   [S. 103]:
   ... Wissen Sie, wir wollen nach Tische darüber ...
   ... »Wissen Sie, wir wollen nach Tische darüber ...

   [S. 105]:
   ... Stiefel auftreibeu und die Uniform habe er sich von ...
   ... Stiefel auftreiben und die Uniform habe er sich von ...

   [S. 110]:
   ... in gewisser Hinsicht recht daran täten, den Names Gottes ...
   ... in gewisser Hinsicht recht daran täten, den Namen Gottes ...

   [S. 127]:
   ... er unaufhörlich für sich. In der Tat, eine derartige ...
   ... er unaufhörlich für sich. »In der Tat, eine derartige ...





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