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Title: Rose, Linde und Silberner Stern - Erzählung für die Jugend Author: Siebe, Josephine Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Rose, Linde und Silberner Stern - Erzählung für die Jugend" *** Anmerkungen zur Transkription Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Rose, Linde und Silberner Stern Erzählung für die Jugend von Josephine Siebe Mit vier farbigen Vollbildern und zahlreichen Textillustrationen von +Ernst Kutzer+ [Illustration] Stuttgart Verlag von Levy & Müller Nachdruck verboten Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten Druck: Chr. Verlagshaus, G. m. b. H., Stuttgart [Illustration] Erstes Kapitel. Einzug. Frau Tippelmann putzt den Türknauf und seufzt dabei. Herr Häferlein will Kaffee trinken, er wird aber darin gestört, und die ganze Löwengasse verwundert sich. Frau von Bachhoven nennt das Haus zur Rose einen Ziegenstall, aber Alette Amhag geht froh hinein. »Schön guten Morgen, Frau Tippelmann, auch schon fleißig? Heute kommen wohl Ihre neuen Hausbewohner an?« Der Kaufmann Häferlein in der Löwengasse von Breitenwert, der soeben seinen Laden aufgeschlossen hatte, nickte freundlich zu seiner Nachbarin hinüber, und da diese keine Antwort gab, redete er weiter: »Ein schöner Morgen heute, nur etwas kühl!« »Hm,« knurrte Frau Tippelmann, mehr sagte sie nicht, aber ihren Nachbar verdroß das auch nicht weiter; der war an diese Schweigsamkeit schon gewöhnt. Er zog den Rolladen seines kleinen Schaufensters hoch, wischte mit einem großen Tuch die Scheiben ab und sprach dabei vergnügt, als wäre es für ihn eine besondere Freude: »Sie werden recht froh sein, Frau Nachbarin, daß Sie nun nicht mehr den lieben langen Tag allein in dem großen Hause sitzen müssen; gelt, gut ist das Alleinsein nicht?« »Hm, hm.« Frau Tippelmann putzte den dicken Messingknauf an der schön geschnitzten alten Haustüre blanker als blank, dabei tat sie einen kellertiefen Seufzer, der gar nicht nach Freude klang. »O du lieber Himmel,« rief Herr Häferlein mitleidig, »Frau Tippelmann, Sie freuen sich wohl nicht einmal? Dabei sind's doch Verwandte von Ihnen!« »Von Adam und Eva her, freilich!« Die große, stattliche Frau sah so griesgrämig drein, als sie dies sagte, daß der freundliche Herr Häferlein, der mit jedem Pfennigkunden sich etwas erzählte, die Lust zu weiterer Unterhaltung verlor. »Ich muß nun hineingehen,« erklärte er, »es ist arg kalt, und warmer Kaffee wird mir gut tun. Sie sollten auch eine Tasse trinken, Frau Nachbarin, frieren Sie nicht?« »Bewahre, aber Märzenluft und Aprilenwind schaden manchem Mutterkind!« Der Kaufmann ärgerte sich über das Spottwort; er klappte laut seine Ladentüre zu, und Frau Tippelmann stand allein auf der Gasse. Die Frau ließ ihren Putzlappen sinken. Der Knauf war wirklich blank genug, und nachdenklich sah sie das Sträßlein entlang. Das verband den Ober- und Untermarkt miteinander und hatte kaum ein Dutzend Häuser. Die standen schon alle hundert Jahre und mehr an ihrem Platz, aber nicht in Reih und Glied wie Soldaten; eins stand bescheiden zurück, eins hatte sich vorgedrängt, eins hatte einen hohen, spitzen Giebel, das andere wieder ein breites Dach mit lustigen Dachaugen, kurz jedes Haus sah anders aus. Das schönste aber war das, an dem Frau Tippelmann soeben den Türknauf geputzt hatte. Die Rose wurde es genannt. Steinerne Rosen zierten die Fenstersimse; davon trug das Haus seit etlichen hundert Jahren seinen Namen. Frau Tippelmann war in dem Hause geboren, sie hatte immer darin gewohnt, ihr Mann war mit hineingezogen, er war darin gestorben, und nun lebte sie schon zwölf Jahre mutterseelenallein in dem alten Hause. Einst hatte es ihren Urgroßeltern gehört, doch die waren arm geworden in der Franzosenzeit, ihre Kinder hatten das Familienhaus der Amhags verkaufen müssen, und sie waren allmählich von Breitenwert weggezogen in die weite Welt hinaus, eins hierhin, das andere dahin. Nur Frau Tippelmanns Großvater war in der Heimat geblieben. Im alten Familienhaus hatte er zuletzt im Erdgeschoß als Mieter gewohnt, ein stiller, fleißiger Mann, freilich nur ein Schreiber, und sein Sohn war auch nur ein Schreiber gewesen, und dessen einzige Tochter hatte wieder einen Schreiber geheiratet, und so war aus Rose Amhag Frau Rosalie Tippelmann geworden. Im Laufe der Zeit hatte das alte Haus zur Rose mehrfach die Besitzer gewechselt. Zuletzt, vor etwa zehn Jahren, hatte es wieder ein Amhag gekauft, einer, der im fernen Indien zu großem Reichtum gelangt war. Die Leute in Breitenwert meinten, wenn einer ein Haus kauft, dann muß er auch kommen und darin wohnen, aber der neue Rosenbesitzer tat das nicht. Der ließ durch ein hauptstädtisches Geschäft ein paar Zimmer mit schönem Hausrat füllen. Frau Tippelmann übernahm die Sorge dafür, und dann warteten sie und Breitenwert von Jahr zu Jahr auf Herrn Amhag, bis sie ihn fast vergaßen. Jetzt auf einmal hatte er geschrieben, seine Schwägerin und seine Tochter würden kommen und einen Sommer lang in der Rose wohnen. Obgleich nirgends ein Stäubchen lag, hatte Frau Tippelmann geschwind das Haus von oben bis unten gefegt und gescheuert, und an diesem Märzmorgen hatte sie zum allerletzten Male den Türknauf geputzt. Heute sollten die neuen Bewohner kommen. An das alles dachte Frau Tippelmann, als sie so auf der Löwengasse stand, und sie merkte es wirklich nicht, daß es trotz des blauen Himmels recht kalt war. Ja, sie hätte wohl noch eine Weile so vor sich hingeträumt, wenn nicht im gegenüberliegenden Hause die Türe jäh aufgerissen worden wäre. Krach, ging es, bums, und drei Kinder, zwei Buben und ein Mädel, stürzten, sprangen, hopsten und purzelten auf die Gasse; sie taten das eigentlich alles auf einmal, und ein paar Augenblicke gab es ein solches Durcheinander von Armen und Beinen, daß selbst Frau Tippelmann, die den Auszug der Nachbarkinder schon oft gesehen hatte, erschrak. »Die Grillschen,« brummte sie. »Weiß der Himmel, die gehen auch am Nimmermehrstag einmal ordentlich zur Schule!« »Hallo, hallo!« kreischten die drei drüben. In dem Haus öffnete sich schon ein Fenster, und eine sanfte Stimme rief: »Buben, Gundele, seid net so laut, ihr treibt's auch gar so arg!« »Hallo, hallo!« schrie es plötzlich am unteren Gassenende. »Die Sternbuben!« »Die Lindenaffen!« »Hallo, hallo!« Zwei Büblein kamen die Gasse herauf, die Grillschen stürzten ihnen entgegen, und, klitsch, klatsch, ritsch, ratsch, lagen sich alle fünf in den Haaren. Die Gasse widerhallte von Lärm und Geschrei. Da und dort guckte jemand zum Fenster heraus. Frau Tippelmann schalt, der freundliche Herr Häferlein trat mit seiner Kaffeetasse in der Hand erschrocken vor seinen Laden, und aus der Lindenapotheke, nach der das Grillsche Haus den Namen »Zur Linde« führte, stürzte ein kleiner Herr heraus. Der nahm geschwind zwei Buben bei den Kragen, und auf einmal waren die feindlichen Parteien getrennt. »Wollt ihr wohl Ruhe halten, marsch in die Schule miteinander, marsch, marsch!« »Die Sternbuben haben angefangen!« »Die Lindenaffen ...« »Hoho, so frech!« »Tutututut!« Ein Auto! Aller Streit verstummte jäh, und im höchsten Erstaunen starrten alle miteinander dem seltenen Gefährt entgegen, denn das war um diese Morgenstunde in der Löwengasse von Breitenwert ein so ungewöhnliches Ding, wie es ein Papagei im Sperlingsnest ist. Stopp, hielt das Gefährt an. »Heda, Jungens, in der Gasse hier soll ein Haus zur Rose stehen, wo ist das denn?« rief der Wagenlenker den Kindern zu. Die Buben, die sich soeben noch wütend gestritten hatten, lachten hell auf, denn daß einer nach einem Hause fragt, vor dem er steht, erschien ihnen höchst sonderbar. Nur der höfliche Herr Häferlein zeigte, daß gute Lebensart auch in der Löwengasse zu finden war; er verneigte sich tief, trat an den Wagen und sagte lächelnd: »Mit Verlaub, da steht Ihnen die Rose vor der Nase, und vor der Rose steht Frau Tippelmann, und gewiß sind die Herrschaften die neuen Bewohner. Ich hoffe auf die allerwerteste Kundschaft, habe gerade frische Heringe bekommen, und mein Kaffee ist ausgezeichnet und ...« »Quatschkopf!« schrie von innen eine rauhe Stimme. »O du lieber Himmel!« Der höfliche Kaufmann prallte entsetzt zurück. »Frau Tippelmann,« stöhnte er, »da drinnen sitzt 'ne Schwarze!« »Wer sitzt da drinnen, wie nennt man mich?« Die Wagentür flog auf, und heraus stieg eine sehr stattlich angetane, sehr dicke Dame. In ihren Ohren, an ihrer Brust und ihren Händen funkelten und blitzten große Diamanten, ein von Federn umwallter Hut saß ihr auf dem Kopf, und bei jeder Bewegung knisterte und rauschte die Seide ihrer Gewänder. »Fein,« sagte eine Magd, die eigentlich zu Herrn Häferlein wollte, aber nun auf der Gasse stehen geblieben war, »fein, aber schwarz ist sie wirklich!« »Eine Schwarze!« brüllten die Sternbuben, »wirklich, eine Schwarze!« Das schien die Dame sehr übel zu nehmen, sie fauchte die arme Frau Tippelmann, die noch kein Wort gesagt hatte, zornig an: »Was ist das für ein Empfang, und was will dieser Mann da?« Sie deutete mit einem Schirm auf Herrn Häferlein, der sich vor Schreck gleich dreimal verbeugte. Die Fremde achtete nicht darauf, sie musterte das Haus von oben bis unten und sagte verächtlich: »Dieser alte Ziegenstall da soll doch nicht etwa Herrn Amhags Villa sein?« Ein Ziegenstall, das schöne alte Rosenhaus! Herr Häferlein, der schon manchem Fremden über das schöne Haus Auskunft gegeben hatte, blickte entsetzt zu der schwärzlichen Dame empor. »Das wird ja eine angenehme Nachbarin werden!« murmelte er. »Starren Sie mich nicht so an, Sie da!« rief diese. »Ich bin nicht schwarz, ich bin weiß, weiß!« »Alle Wetter, wenn sie weiß ist, dann ist mein Kakao gewiß Weizenmehl!« flüsterte der Kaufmann. Er wollte gerade die Flucht ergreifen, denn die Dame wurde ihm ungemütlich, als ihm ziemlich unsanft eine Hutschachtel an den Magen sauste. »Sie da, guter Mann, helfen Sie mir mal!« rief aus dem Wagen heraus eine hohe, dünne Stimme. »Ich steig jetzt aus. Das Haus wird es schon sein, wenn es auch eine alte Rumpelbude ist.« Schwuppdiwupp! kam eine zweite Hutschachtel aus dem Wagen, eine Schirmrolle folgte, ein Handkoffer rasselte nach, und Herr Häferlein wußte nicht, wo er zuerst anfassen sollte. Zuletzt hüpfte ein sehr zierlich gekleidetes Fräulein aus dem Wagen, das nun wirklich weiß und, wie Herr Häferlein fand, sehr hübsch war. Ihr nach sprang ein kleines schwarzbraunes Tier, das von der Löwengasse, soweit sie nämlich zweibeinig den Kraftwagen umstand, mit dem lauten Zuruf begrüßt wurde: »Ein Affe, ein Affe!« [Illustration] »Narren und Affen alles begaffen,« brummte Frau Tippelmann, der zur rechten Zeit eins ihrer geliebten Sprichwörter einfiel. Damit hatte sie sogleich ihre Verwirrung über die unerwartete Ankunft der seltsamen Gäste überwunden. Sie knickste höflich vor der schwärzlichen Dame und sagte: »Das ist wirklich Herrn Amhags Haus, und die gnädige Frau ist gewiß Herrn Amhags Schwägerin mit Fräulein Tochter.« »Das bin ich gewiß nicht! Ich bin Frau van Bachhoven, und wenn hier in dem jämmerlichen Nest jemand ein Fünkchen Verstand hätte, dann wüßte er, was das bedeutet. Bachhoven, Kaffeegroßhandlung; den Kaffee von Bachhoven kennt die ganze Welt.« »Herrjemine, die Schwarze heißt Backofen!« brüllte eine sehr, sehr unnütz klingende Bubenstimme, und »Backofen, Backofen!« schrie eine zweite. »Die Sternbuben sind frech,« sagten die Grillschen Kinder, aber sie lachten doch, und in das Lachen stimmten noch etliche Zuschauer ein, und von irgendwoher lachte ein harfenzartes Stimmchen mit. Da stand die reiche Frau Juana van Bachhoven auf der Löwengasse und wurde ausgelacht, sie, die man sonst wie eine Fürstin behandelte um des goldenen Reichtums willen. Unerhört, ganz unerhört! »Steig aus, Alette!« rief sie böse in den Wagen hinein. »Wenn du aber nicht hierbleiben willst, nehme ich dich gleich wieder mit. So ein abscheuliches Nest!« »Ich bleibe hier,« klang es zurück. Und hurtig, flink und zierlich kletterte ein Mädelchen aus dem Wagen, ein schlankes, feines Dinglein, das sich halb froh, halb scheu umsah. Sie blickte zu dem Hause hinauf, sah Frau Tippelmann an und streckte ihr zutraulich das Händchen hin. »Ich heiße Alette Amhag, und mein Papa hat gesagt, ich soll hierbleiben, bis er zu mir kommt. Und Laura bleibt auch und August -- -- ach, wo ist denn August?« »Zu dienen, hier bin ich!« Herzlich verdutzt über die vertrauliche Anrede verbeugte sich Herr August Häferlein; er glaubte, der Ruf hätte ihm gegolten. »Sie meint den Affen,« rief der Fahrer grinsend. »Der Affe heißt August? Das ist eine Beleidigung!« schrie Herr Häferlein entrüstet. Jubelndes Lachen brauste ringsum auf, und selbst Frau Juana van Bachhoven lächelte ein ganz, ganz klein wenig. Alette Amhag aber lachte; wie hundert Schellenglöckchen zusammen klang es. Turm- und Schuluhren sind manchmal entschieden boshaft, das ist schon wahr. Sie erheben ihre Stimmen oft zu sehr unpassender Zeit, und die Breitenwerter Uhren waren nicht besser als ihre Schwestern rings im Lande. Bimbam! schlugen sie los, und alle Kinderherzen auf der Löwengasse erschraken, in alle Kinderbeine fuhr die Eile. Sogar die Schulranzen fingen an zu zittern und zu zappeln. Himmel, schon acht Uhr! Die Schule begann, und sie standen noch hier auf der Gasse! Zum Überfluß schalten auch noch die Erwachsenen: »Schulzeit! Geschwinde, geschwinde, heute kommt ihr aber zu spät!« Die drei Grillschen rasten jetzt davon. Die Sternbuben zögerten noch einen Augenblick; sie hätten zu gern gesehen, was nun weiter wurde mit dem Affen und der schwarzen Dame. Aber das Bimbam dröhnte ihnen zu hart in die Ohren, sie rannten auch davon. Klippklapp, klippklapp! Ihre Schultaschen flogen, ihre Beine schlugen beinahe am eigenen Rücken an, und den Eiligen nach tönte wieder das Glöckchenlachen. Alette Amhag fand in diesem Augenblick die Löwengasse wunderhübsch. Sonderbar, sehr sonderbar! Frau Juana van Bachhoven schüttelte erstaunt den Kopf. »Verrückt, so eine kleine deutsche Stadt!« sagte sie. »Alette, willst du wirklich hierbleiben? Komm mit mir nach Paris, ich schreibe es deinem Vater; hier gefällt es dir doch nicht!« »Doch, hier gefällt es mir!« Das kleine Mädchen sah ernsthaft zu dem alten Rosenhaus empor, in dem schon so viele Amhags gewohnt hatten. Der Großvater hatte ihr davon erzählt, der immer so viel Sehnsucht nach der deutschen Heimat gehabt hatte, die er nur als Knabe gesehen. »Ich will hierbleiben,« sagte sie noch einmal und legte ihre kleine Hand zutraulich in Frau Tippelmanns rauhe Rechte. Der war dies ungewohnt, aber sie hielt doch die kleine Hand ganz fest, und ihre Stimme klang seltsam milde, als sie sagte, so leise freilich, daß nur Alette es hörte: »Gott segne deinen Eingang in deiner Vorfahren Haus!« Sie traten ein, und hinter ihnen her trug Laura, die Zofe, ein paar Schachteln ins Haus. »Gibt's denn hier keinen Diener, der hilft?« stöhnte sie. »Reisten wir nur erst wieder ab, in Paris war's viel, viel besser!« Von der Abreise sprach auch Frau van Bachhoven. Sie unterhandelte mit dem Fahrer, er solle sie in einer Stunde abholen, länger bliebe sie nicht. Sie sah mit bösen Augen die Gasse entlang, und den allerbösesten Blick bekam der arme Herr Häferlein, der doch nur vor seinem Laden stand. »Schrecklich ist das hier,« murrte die schwärzliche Dame, und innen im Haus sagte sie erst recht: »Schrecklich!« Der weißgetünchte gewölbte Flur, von dem aus eine gewundene Treppe in die oberen Stockwerke führte, mißfiel ihr gründlich, ebenso mißfielen ihr die Zimmer, und am allermeisten schien ihr Frau Tippelmann zu mißfallen, obgleich die kaum ein Wort redete. Sie herrschte die an: »Ist denn kein Diener, kein Mädchen da?« »Ich bin da!« Frau Tippelmann sah grenzenlos erstaunt drein. »Für die Kleine genügt es doch, wenn ich da bin und das Mädchen!« »Schnippschnapp, ich bin kein Mädchen, ich bin ein Fräulein!« unterbrach sie Fräulein Laura. »Für ein paar Tage mag es gehen, aber sonst -- ein Fräulein Amhag braucht Dienerschaft.« »Ein Fräulein Amhag kann überhaupt nicht lange in diesem Hause wohnen,« erklärte Frau van Bachhoven. »Unmöglich, ganz unmöglich ist's!« »Ich bleibe, ich bleibe, ich bleibe,« sang Alette Amhag leise vor sich hin und lief froh die Treppe empor. Zweites Kapitel. Die Auguste streiten sich. Warum Trinle Grill auf dem Kirchentrepple gesessen hat und Herr Baldan sich ärgert. Kasperle denkt, er bekommt einen Zuckerstengel, aber Herr Häferlein wird auch böse. Fräulein Laura sieht sich die Löwengasse an. Die Löwengäßler, wie die Kinder der Löwengasse nach Breitenwerter Sprachgebrauch genannt wurden, erlebten an diesem Vormittag wenig Freude in der Schule. Aber freilich, ihre Lehrer erlebten auch keine Freude an ihnen. Schon das Zuspätkommen! Mit einem Tadel fängt es sich nicht gut an, und einen Tadel erhielten sie alle. Den Fleißigen wie den Faulen entwischten immerzu die Gedanken; die Fremden in der Löwengasse, die schwärzliche Dame, der Affe August und nicht zuletzt Alette Amhag drängten sich in alle Stunden hinein. Ob sie noch da waren, wenn sie heimkamen, oder wirklich wieder abreisten? Wenn sie nur August daließen! dachte Mathes Hinz, der älteste der Sternbuben, und gerade da sollte er eine Antwort geben und wußte sie nicht. Die Sternbuben -- sie wurden so nach dem Wirtshaus ihrer Mutter, dem Silbernen Stern, genannt -- grämten sich nicht viel um den schlechten Schultag; sie waren ausgemachte Faulpelze. Aber den drei Grills, Veit, Trinle und Steffen, denen tat es leid, denn sie waren drei Fleißlinge, und ihre Wildheit, ihre Lust an Lärm und dummen Streichen, die ließen sie meist zu Hause, wenn sie in die Schule gingen. An diesem Vormittag aber traf die Grillschen und die Sternbuben fast alle das gleiche Schicksal: sie mußten nachsitzen. Die Sternbuben nahmen das gelassen hin; sie waren daran gewöhnt, und zu Hause merkte es kaum jemand. Die Grillschen aber grämten sich, und alle drei kamen sie wie die begossenen Pudelchen heim. Am heftigsten bekümmerte sich Trinle um das Nachsitzen, und sie war es auch, die unter bitterlichem Schluchzen der Mutter das schlimme Geschehen beichtete. In der Wohnstube geschah es. Das war ein großes, helles Zimmer mit einem weit vorspringenden Erker, von dem aus man die ganze Löwengasse hinauf- und hinabsehen konnte. In dem Zimmer stand noch viel Hausrat aus Großmutterszeiten, denn die Grills, die nun schon über hundert Jahre in dem Hause wohnten, wußten das Alte wohl zu schätzen. Frau Grill war eine sehr sanfte, stille Frau, sie schalt nie viel, aber ihre Kinder folgten ihr gut. Wenn die Mutter sie traurig, vorwurfsvoll ansah, dann bekümmerte sie das sehr, und als in dieser Beichtstunde die Mutter betrübt fragte: »Nachsitzen mußtet ihr, aber warum?« wären sie alle drei am liebsten in ein Mauseloch geschlüpft vor Scham. Trinle heulte herzzerreißend. »Sei nicht böse, sei nicht böse,« flehte sie. Veit und Steffen standen mit gesenkten Köpfen da, und der Jüngste im Hause, Kasperle, zog auch schon einen bedenklich schiefen Mund, obgleich er mit dem Nachsitzen noch nichts zu tun hatte; er war erst fünf Jahre alt. »Nun erzählt mal; wie war es?« »Ja, das möchte ich auch hören!« In der Türe stand Herr Apotheker Grill, der unvermutet eingetreten war. Er sah aus, als wäre er bitterböse, in seinen blauen Augen lag aber doch so ein lustiges Blinken, daß Trinle ein wenig aufatmete und stockend berichtete: »Es sind alle so spät gekommen, weil -- weil ...« »Sie drüben eingezogen sind,« vollendete Veit. »Ja, so war's! Und dann hat Veitle im Latein nichts gewußt und -- und ...« »Aus Versehen in der Geschichte das Tintengläsle umgeschmissen,« sagte der Bruder dumpf. »Ja, so war's!« schluchzte Trinle schmerzlich. »Und Steffle hat in der Geographie bloß -- Asien -- Asien ...« »Mit Amerika verwechselt,« murmelte Steffen. »Und dann -- sag's weiter, Trinle.« »An der Wandtafel drei -- vier Rechnungen falsch gerechnet. Darum!!« »Na und du?« fragte der Vater. Trinle heulte laut, schier verzweifelt klang's: »Ich -- ich hab draußen gesessen auf dem Kirchtrepple, bis sie rausgekommen sind.« »Ja, hast du denn nicht nachgesessen, Trinle?« »Nein,« jammerte Trinle, »ich -- ich bin auch net zu spät gekommen, bei uns -- hat's später angefangen!« Über Trinles blonden Wuschelkopf hinweg sahen sich die Eltern an; ein liebes Lächeln blühte im Gesicht der Mutter auf, des Vaters Augen blitzten lustig. Er sagte heiter: »Weil sich Trinle so grämt und doch selbst nicht nachgesessen hat, sei euch die Strafe erlassen. Aber, Buben, ich bitte mir's aus, daß das Nachsitzen und Zuspätkommen nicht Mode wird!« »Und das Streiten mit den Sternbuben hört endlich einmal auf!« fügte die Mutter mit sanftem Vorwurf hinzu. »Sie fangen immer an; arg schlimm sind sie!« riefen alle vier Geschwister klagend, denn auch Kasperle stritt schon mit den Sternbuben herum. »So sagt +ihr+!« Die Mutter seufzte, aber sie sprach nicht weiter vom Morgenstreit; sie mahnte: »Nun lauft geschwinde und wascht euch, es ist gleich Essenszeit!« Essenszeit, ein gutes Wort! Die Geschwister vergaßen darüber allen Schulkummer, und als ein paar Minuten später die Glocke die Hausgenossen in das im Erdgeschoß gelegene Speisezimmer rief, da glänzte selbst Trinles verweintes Gesicht wie eitel Sonnenschein. Die Fenster des Speisezimmers gingen nach dem Garten hinaus, in dem im Sommer uralte Bäume schatteten und viele schöne Blumen blühten. Jetzt trugen erst ein paar Büsche feine grüne Schleier, und Schneeglöckchen und Krokusse hatten den Blütenreigen des Jahres begonnen. Von ihnen stand eine Schale voll auf dem Tisch; von ihr aus ging es wie Frühlingswehen durch den Raum, und Trinle schnupperte und sagte: »Es riecht schrecklich schön nach Frühling!« Dies konnte freilich nur ein Apothekerkind sagen, denn jeder Fremde, der ins Haus kam, fand, es röche nach Apotheke; andere Gerüche nahm er darüber nicht wahr. Und wirklich durchdrang der Duft all der Salben, Tränklein, Kräuter und Mixturen beinahe das ganze Haus. Den Grills war es Heimatduft, und wenn jemand von ihnen nach einer Reise heimkehrte, sagte er sicher: »Wie gut es riecht, man merkt, daß man wieder zu Hause ist!« Der Familientisch war groß, denn die Gehilfen aus der Apotheke saßen mit daran, obenan, neben dem Vater, Herr Baldan, der langjährige Provisor. Der war ein etwas sonderbarer Mann; er hatte allerlei wunderliche Grillen und Gewohnheiten, und zu Zeiten konnten ihn die Mücken, die in der Sonne tanzten, um all seine gute Laune bringen. Er war butterweich und herzensgut und den Kindern ein treuer Freund, aber Katzen und Hunde und mancherlei Getier konnte er nicht leiden. Lief ihm eine schwarze Katze über den Weg, wurde er mißmutig, und bellte ein Hund irgendwo, klagte er, der Lärm sei nicht auszuhalten. An diesem Morgen hatte er sich schwer über den Affen August geärgert, und er saß am Tisch mit einem Gesicht wie vierzehn Tage Regenwetter und drei Meilen schlechter Weg. Und Kasperle, das kleine Dummerchen, fragte zum Überfluß auch noch höchst vergnügt: »Gelt, Herr Baldan, du freust dich arg?« »Warum denn, Kasperle?« »Weil das Äffle drüben auch August heißt wie du.« Ganz verdutzt sahen alle auf; daran hatten sie nicht gedacht, daß auch Herr Baldan diesen Namen führte. Der nahm die Frage auch gewaltig übel; er fuhr Kasperle scharf an: »Dumme Frage! Wirst wohl auch noch so naseweis werden wie die Sternbuben!« Mit den Sternbuben mochten die Grillschen Kinder nun aber nicht verglichen werden, und Kasperle zog seinen Mund bedenklich schief. Trinle, die allzeit für die Brüder eintrat, sagte darum entschuldigend: »Er meint's doch net böse, und der Herr Häferlein heißt auch August!« »Meinetwegen, für den mag's passen, mit dem Affen einen Namen zu haben, ich lasse mir so etwas nicht gefallen!« In seinem Ärger vergaß Herr Baldan ganz und gar, daß Herr Häferlein doch sein guter Freund war. Er vergaß aber auch, daß Kasperle ein kleines Plappermaul hatte. Als es just in der Apotheke klingelte, stand er rasch auf und sagte zu dem zweiten Gehilfen: »Ich gehe selbst, es wird wohl die Frau Mayer sein; der will ich ihre Tropfen selbst geben.« Damit war das Gespräch über die neuen Nachbarn und August, den Affen, zu Ende, denn Herr Grill sagte, als die Kinder noch einmal davon anfangen wollten: »Seid jetzt still davon. Ich gehe heute spazieren, wer geht mit?« »Ich!« Vierfach tönte der Ruf, und Veit, Steffen und Trinle versicherten eifrig, sie würden gleich und geschwinde, aber auch ordentlich, wie sich's gehört, die Schularbeiten machen, und sie würden ganz bestimmt zur rechten Zeit fertig sein. Sie zogen sich auch gleich nach dem Mittagessen in das gemeinsame Arbeitszimmer zurück. Kasperles Vorschlag, ihn mitzunehmen, lehnten sie schnöde ab. Den kränkte das. Er fand nämlich, er störe gar nicht, er erzählte immer die wunderschönen Geschichten, sang ellenlange Lieder und warf nur manchmal ein Buch oder einen Bleistift herab oder einen Stuhl um, er fuhr auch gar nicht oft mit den Fingern in das Tintenfaß. Ein Weilchen versuchte der kleine Schelm sich den Einlaß zu ertrotzen, er klopfte und schrie an der Türe, aber da kam die Mutter, schalt und sagte, er müsse Ruhe halten. So zog Kasperle tief betrübt auf die Gasse; die war den Kindern allen der liebste Spielplatz. Kasperle dachte an den Affen August; er hatte am Morgen den Einzug nicht gesehen, nur davon erzählen hören, und er war sehr neugierig auf die neue Nachbarschaft. Als er vor die Türe trat, war auf und ab niemand zu erblicken, nur drüben stand Herr Häferlein vor seinem Laden, und mit einem Jubelruf schoß Kasperle auf den zu. Herr Häferlein war sehr nett; er verschenkte manchmal rote, grüne oder gelbe Zuckerstengel, auch Rosinen oder Mandeln, und wenn niemand im Laden war, unterhielt er sich auch gern mit Kasperle. »Herr Häferlein,« schrie der Kleine schon von jenseits, »guten Tag! Gelt du freust dich aber arg, daß das Äffle Augustle heißt?« »Fällt mir gar nicht ein!« brummte Herr Häferlein. »Das ist sehr dumm, einem unvernünftigen Tier so einen schönen Namen zu geben.« »Aber Herr Baldan hat doch gesagt, für dich tät's passen!« rief Kasperle, erstaunt über das verdrießliche Gesicht des Kaufmanns. »Was tät passen?« fragte er schnell. »Daß du mit dem Äffle einen Namen hast.« Kasperle stellte sich breitbeinig und vergnügt vor Herrn Häferlein hin; er meinte, der müßte sich ganz ungemein freuen. Statt zu lachen, rief Herr Häferlein aber wütend: »Wer sagt das? Herr Baldan?« Kasperle nickte froh. »Ja, der meint, für dich tät's passen; er ist aber arg bös!« »So, so, für mich ist der Name recht! Ei, sieh einer an!« Herr Häferlein war ein sehr höflicher, freundlicher Mann; wenn er sich aber ärgerte, dann ging es bei ihm leicht obenhinaus. Er vergaß, daß Kasperle doch noch ein Dummerchen war, und er ließ seinen Laden im Stich, sprang mit ein paar eiligen Sätzen über die Straße, riß in der Apotheke die Türe auf und schrie: »Wo ist Herr Baldrian?« Nun konnte sich der Provisor über nichts mehr kränken, als wenn man seinen Namen verdrehte. Herr Häferlein tat dies auch ganz ohne Absicht im hitzigen Eifer, aber gesagt war gesagt. Herr Baldan fuhr ihn an: »Was fällt Ihnen ein, mich so zu nennen? Sie haben wohl noch nicht ausgeschlafen?« Herr Häferlein blieb die Antwort nicht schuldig. Eins, zwei, drei ging es herüber und hinüber. Bitterböse Worte wurden gesagt, keiner wollte zugeben, er habe unrecht, keiner lenkte ein. Sie schrieen sich beide zornwütig an, und erst als Herr Grill kam und nach dem Grund des Streites fragte, verließ Herr Häferlein fuchswild die Apotheke. Drüben stand Kasperle am Laden Wache. Das hatte er schon manchmal getan, und er war dann immer für seine Bravheit mit einem Zuckerstengel belohnt worden. Den erwartete er auch diesmal, aber Zuckerstengel sind unzuverlässige Gesellen; wenn man denkt, man hat sie, laufen sie davon. Das arme Kasperle bekam statt des süßen Lohnes Schelte. Herr Häferlein schrie ihn an, er solle nur marsch, marsch nach Hause gehen, und klapp! schlug er ihm die Türe vor der Nase zu. Der kleine Schelm stand ganz verwirrt auf der Gasse; er fand, sein guter Freund behandele ihn recht schlecht, und weil er gar nicht wußte, was er tun sollte, brach er in ein jämmerliches Weinen aus. Er schluchzte herzbrechend und trottete tiefbetrübt die Gasse entlang an der Rose vorbei. Drinnen hörte es Fräulein Laura, die zum Fenster hinaussah und eben dachte: Das ist doch eine recht schrumpelige, schnurrige kleine Gasse; sie gefiele mir schon, wenn ich nicht drin wohnen müßte. Fräulein Laura war sehr gutmütig, und Kasperles Schluchzen tat ihr leid; sie lief also flugs zum Hause hinaus, hielt den Kleinen draußen fest und fragte ihn nach seinem Leid. Der erzählte treuherzig alles; freilich etwas kunterbunt ging es schon durcheinander. Die freundliche Trösterin hörte aber doch heraus, Herr Häferlein sei böse. Dieser böse Herr Häferlein trat just vor seinen Laden. Er hatte drinnen auch Kasperles Klagen gehört, und weil sein schneller Zorn schon halb und halb verraucht war, kam er nun doch mit dem Zuckerstengel. Da hörte er Fräulein Laura sagen: »Pfui, er soll sich schämen, dieser schlimme, abscheuliche Herr Häferlein, so einen netten kleinen Jungen wie dich zu ärgern!« »Ich -- ich bin kein Junge!« schluchzte Kasperle. »Je, was bist du denn?« »Ein Büble!« Fräulein Laura lachte. »O du herzallerliebster Schelm!« rief sie fröhlich. »Komm mit hinein, drinnen gibt es Schokolade, und Alette wird sich freuen, wenn sie dich sieht.« »Das Äffle auch?« fragte Kasperle zutraulich, der nur an den Affen dachte und himmelgern mit in die Rose hineinging. »Freilich, unser August schießt gleich Purzelbäume vor Freude, wenn du kommst!« Fräulein Laura spazierte mit Kasperle in das Haus hinein. Vor seiner Ladentüre aber stand wütend und gekränkt der arme Herr Häferlein mit einem rosenroten Zuckerstengel in der Hand. Das war doch zu toll! Die Fremde hatte ihn schlimm und abscheulich genannt, und sein Namensvetter würde Purzelbäume schießen, ja vielleicht tat er das einmal auf der Gasse, und alle würden lachen und würden »August, August!« rufen. Was zu viel ist, ist zu viel! Herr Häferlein zog sich beleidigt in seinen Laden zurück. Da saß er und schaute mißmutig auf die kleine, sonnenbeschienene Gasse hinaus. Drüben in der Apotheke saß Herr Baldan, und beide ärgerten sich, daß ihre gute Freundschaft einen so argen Riß bekommen hatte. Und warum eigentlich? Doch nur, weil ein Affe einen Menschennamen hatte und August hieß. Eigentlich eine alberne Dummheit die ganze Geschichte, weiter nichts, dachte der Provisor Baldan. Doch daran, dem alten Freunde ein gutes Wort zu geben, dachte er nicht. »Er mag nur zu mir kommen!« brummte er, und drüben Herr Häferlein dachte nicht anders. »Er muß den ersten Schritt tun, nicht ich, er hat unrecht,« sagte der zu sich. Inzwischen kam sein Gehilfe zurück, und weil um diese frühe Nachmittagsstunde immer wenig Kunden vorsprachen, nahm Herr Häferlein seinen Hut und lief hinaus. Ein tüchtiger Weg vertreibt am besten den Ärger, meinte er, und darum rannte er die Löwengasse hinab über den unteren Markt, rannte durch allerlei Gassen, bis er zuletzt an ein altes Stadttor kam. Dahinter lag das freie Land. Breitenwert hatte noch eine Stadtmauer, es hatte auch noch Tore wie einst im Mittelalter, und darauf waren die Breitenwerter sehr stolz; sie fanden ihr Städtchen schöner als manche seiner stolzen, weitgebauten Schwestern. Auch das Land ringsherum war lieblich, nicht Gebirge und nicht Ebene, aber es gab bewaldete Höhen und anmutige Tälchen, es gab auch einen kleinen, schwatzhaften Fluß, Wiesen und Felder. Herr Häferlein fand seine Heimat schön, und es konnte einer von Alpen und Meeren reden und der Pracht des Südens und der ernsten Schöne des Nordens, allemal sagte Herr Häferlein: »Na ja, geht mal bei uns ein paar Stündle spazieren, da könnt ihr schauen, schön ist's, arg schön!« Er ließ sich auch an diesem Nachmittag froh die Märzluft um die Stirne wehen, sah die Saaten im ersten hellen Grün leuchten und dachte: »So ein Spaziergang tut gut, sehr gut, ausnehmend gut; da weiß man wirklich nicht, wo die schlechte Laune hinkommt. Wenn doch alle Leute so gescheit wären und zur rechten Zeit spazierengingen!« Drittes Kapitel. Neue Freundschaft. Augustle beträgt sich wie ein Minister und doch nicht wie ein Minister, und Frau Tippelmann wird ärgerlich. Warum es nicht gut ist, jemand beim Schlokoladetrinken zu stören, und warum Fräulein Laura sagt, Alette hätte nur Prinzessinnenschuhe. Trinle Grill patscht in den Frühlingsschmutz, und Alette Amhag vergißt die weite Welt. Spazierengehen ist gut, namentlich wenn die Sonne so verheißungsvoll scheint, dachten auch die Grills. Die drei Geschwister arbeiteten flink und eifrig, die Mutter rüstete Wegzehrung, und als es drei Uhr schlug, trat der Vater aus seinem Arbeitszimmer und rief: »Wer ist fertig?« »Wir!« Veit, Steffen und Trinle kamen angerast, nur das Kasperle gab keine Antwort, das fehlte. Ein Weilchen scholl das Rufen nach ihm durch Haus und Garten, dann rannten die Geschwister auf die Gasse und ließen dort ihre Stimmen erschallen, aber kein Kasperle gab Antwort. Trinle lief hinüber zu Herrn Häferlein, vielleicht war der kleine Bruder bei seinem guten Freund, aber der Gehilfe wußte nichts von ihm, und Herr Häferlein war auch nicht da. Da rannte Veit zum Untermarkt hinab, Steffen zum Obermarkt hinauf, denn da und dort gab es allerlei gute Freunde, zu denen Kasperle manchmal ging, aber niemand wußte etwas von ihm. Frau Grill begann sich zu ängstigen. Ein Seitensträßchen der Löwengasse führte zum Fluß hinab; der war zwar seicht und mehr ein Bach, aber hineinfallen konnte so ein kleiner Dreikäsehoch wie Kasperle schon. Mutterherzen zittern und zagen leicht, und wenn Mütter in Angst weinen, ist das unendlich traurig. Den drei Geschwistern wurden die Herzen schwer; sie standen ratlos auf der Löwengasse und wußten nicht, wo sie den Bruder suchen sollten. Daran, in der Rose nachzufragen, dachten sie nicht; in alle Häuser schauten sie hinein, dies eine ließen sie aus. Mit Frau Tippelmann unterhielten sie keine Freundschaft; die war nicht sonderlich liebenswürdig, und die Grillschen Kinder gingen zu dieser Nachbarin nur, wenn sie ihr etwas von der Mutter bestellen sollten. Und doch saß Kasperle, der vielgesuchte Ausreißer, als ein sehr geehrter, bewunderter Gast in der Rose. In einem großen, nach dem Garten gehenden Zimmer thronte er auf einem zierlichen Sofa zwischen zwei neuen, aber schon sehr guten Freunden, zwischen Alette Amhag und dem Affen August. Alette hatte nach den ersten Stunden in dem alten Haus, in das sie mit so frohem Herzen eingezogen war, gemeint, hier würde es ihr doch nicht gefallen. Es war doch alles so ganz, ganz anders, als sie es gewohnt war, und dann -- Frau Tippelmann. Die zeigte kein bißchen Freude. Laura nannte sie gleich einen Sauertopf, und wirklich sah Frau Tippelmann auch gar nicht aus, als machten ihr die neuen Hausbewohner viel Freude. August besonders sah sie mißvergnügt an, und sie brummte: »Affen und wilde Bären soll niemand in sein Haus begehren.« Die kleine Alette wußte nun nichts davon, daß Menschen, die lange einsam waren, nicht so rasch den Weg zu anderen Menschen finden. Sie selbst war wie ein Schneckchen; tippte jemand an ihr Seelenhaus, gleich kroch sie hinein. Sie war immer in allem Reichtum, der sie umgab, ein einsames Kind gewesen. Ihre Mutter war früh gestorben, und der Vater hatte sie oft auf seine Reisen mitgenommen, sie auch wohl bei Freunden untergebracht. Da hatte sie einmal in Südamerika gelebt, in Indien, in Japan, immer in reichen, üppigen Häusern, aber immer fremd, immer im Grunde heimatlos. Immer hatte sie gemeint, am besten auf der Welt müßte es in Breitenwert sein, der Stadt, aus der ihr Großvater stammte. Weil sein Vater so oft und so viel davon gesprochen, hatte Herr Amhag das einstige Familienhaus gekauft. Und als er nun wieder eine weite Reise unternehmen mußte, gab er Alettes Bitten nach und beschloß, diese mit einer Stiefschwester seiner verstorbenen Frau nach Breitenwert zu schicken. Doch diese Tante erkrankte, als Herr Amhag auf Reisen war; sie scheute daher die weite Reise und übergab Alette Frau Juana van Bachhoven, der Frau eines reichen Großkaufmanns, die eine Europareise unternahm. Diese versprach, Alette selbst gut und sicher nach Breitenwert zu bringen, und gab der Kleinen zur Bedienung ihre eigene Zofe Laura. Laura Budicke oder Fräulein Laura, wie sie sich am liebsten nennen hörte, tat zwar oft recht fremdländisch, sie war aber aus Berlin und hatte nur einige Jahre im Ausland gelebt. Sie fand freilich die Zumutung, in einer kleinen deutschen Stadt zu leben, grauslich, aber sie tat es schließlich gern um Alettes willen. Das hinderte sie nicht, in den ersten Stunden in der Rose alles zu tadeln, und das einzige, was ihr in Breitenwert gefiel, war eigentlich das blonde, rotbäckige Kasperle, das sie freudestrahlend zu Alette brachte. »Da hast du jemand,« rief sie. »So'n Junge! Unsern August will er sehen!« Kasperle war gar nicht schüchtern. Zu ihm waren immer alle Menschen nett und freundlich, und in der ganzen Löwengasse verwöhnte man Kasperle Grill. Er fand es daher gar nicht erstaunlich, als lieber Gast in die Rose geholt zu werden, und er streckte Alette Amhag zutraulich seine dicke, etwas schmutzige Patsche hin und fragte: »Wo ist Augustle?« Alette war fast schüchterner als Kasperle, aber nach fünf Minuten war doch die Freundschaft geschlossen, und Kasperle versprach höchst vergnügt: »Weißt, Alettle, ich besuch dich alle Tage, dich und Augustle!« »Na, und wo bleibe ich?« fragte Fräulein Laura neckend. »Werde ich gar nicht genannt?« Kasperle sah sich ein wenig verlegen um. Er blickte von Alette zu August und von August zu Laura, und endlich rief er: »Dich besuche ich doch mit, weil du dem Augustle sein Tantle bist.« Damit war Fräulein Laura zwar nicht einverstanden; eine Affentante mochte sie nicht genannt werden, doch Kasperle sah sie so treuherzig mit seinen runden, blauen Augen an, daß all ihr Groll schwand und sie vor sich hin brummte: »So'n niedlichen Jungen habe ich noch nie gesehen, der könnte wirklich gleich hier drüben in dem alten Muffelhaus bleiben.« August schien auch seine Freude an dem Gast zu haben, jedenfalls tat er alles, um den zu unterhalten. Er machte die tollsten Sprünge, schoß wundervolle Purzelbäume und saß mal auf dem Tisch, mal unter dem Tisch, er spazierte auf dem Fensterbrett entlang und setzte sich dann wieder höchst feierlich auf einen Stuhl. »Wie'n Minister!« behauptete Laura. Sie tat, als sähe sie jeden Tag einen Minister irgendwo sitzen. Kasperle jauchzte. Alette lachte, und ihr Lachen lockte Frau Tippelmann herbei. Die vergaß für ein Weilchen ihre viele Arbeit, sie blieb an der Türe stehen und lauschte still diesem klinghellen Gelächter. Sonst pflegte sie immer zu sagen: »Am vielen Lachen erkennt man den Narren.« Heute schwieg sie zu allem lustigen Lärm in dem sonst so stillen Hause. Doch da bekam August plötzlich seine Ministerrolle satt und sprang Frau Tippelmann auf den Kopf, gerade als müßte das so sein. »Wie drollig!« rief Laura. »Hat sich was, drollig!« schalt Frau Tippelmann ärgerlich. »Potzwetter, so ein unnützer Wicht!« Und ripsch, rapsch holte sie August von seinem seltsamen Sitz herunter und trug ihn in eine leere Stube. »Hier kannst du dir die Wände begucken,« brummte sie, »zu mehr bist du nicht nütze.« Kasperle jammerte August laut nach, bis Laura tröstete: »Sei nur gut, mein Engelchen, nachher kommt August wieder. Jetzt sollt ihr erst Schokolade trinken; Alette hat heute so wenig gegessen. Gleich geh ich und sag's Frau Tippelmann.« Engelchen wurde Kasperle nie genannt, und Schokolade bekam er selten zu trinken, aber beides gefiel ihm, und sein Gesicht hellte sich schnell wieder auf. Da lief Fräulein Laura eilig, das süße Getränk zu bestellen. Doch Frau Tippelmann sagte nicht gleich: »Ja, ich koche,« sie schüttelte bedenklich den Kopf und murrte: »Schokolade, so einfach am Wochentag, das ist in Breitenwert nicht Sitte.« Laura lachte sie herzhaft aus. Sie erzählte dann schnell, wie reich Herr Amhag und wie verwöhnt Alette sei, und der guten Frau Tippelmann wurde es himmelangst, als sie von all den Landhäusern, Zimmern, Gärten, Dienern und Kleidern hörte, an die Alette gewohnt war. Wie ein Schnurrädchen zählte Fräulein Laura her: »Dies muß Alette haben und das, und eigentlich müßte hier eine Köchin sein, ein Diener, Wagen und Pferde oder ein Auto, und das Haus ist zu alt und der Garten zu klein. Na ja, es dauert nicht lange!« fügte sie hinzu. »Ist auch gut,« brummte Frau Tippelmann. »Freilich, das will nicht in meinen Kopf hinein, daß so 'n schönes altes Haus, in dem die reichen Amhags so lange gelebt haben, für so 'n kleines Mädchen zu eng sein soll. Na, meinetwegen, ich halt's mit dem Wort: »Was dich nichts angeht, darein misch dich nicht!« Sie ging und kochte Schokolade; sie tat es mit schwerem Herzen, denn das fremde Wesen im Hause bedrückte sie. So viele Seufzer sie aber auch ausstieß, die Schokolade geriet doch gut dabei, und Kasperle Grill freute sich. Alette Amhag hätte nie gedacht, daß sich jemand so sehr über Schokolade und Kuchen freuen könnte wie ihr kleiner Gast. Der krähte vor Vergnügen, behauptete, er sei furchtbar schrecklich hungrig und schmauste dann auch wie ein nimmersattes Wölflein. Das arme verbannte Augustle vergaß er für ein Weilchen vollständig, aber auch den Spaziergang, die Eltern und die Geschwister. Die suchten inzwischen ihr Kasperle mit wachsender Angst. Der Vater tröstete zwar: »Wir finden ihn schon; in unserm Breitenwert geht nicht leicht ein Kind verloren,« doch der Mutter Herz wurde schwer vor Sorge. Trinle heulte verzweifelt, und die Brüder rasten immer wieder die Gasse entlang und schrieen des Bübles Namen. Tiefbetrübt und schier ganz und gar verzagt war Herr Baldan. Der gehörte zu den Menschen, die immer gleich ein Unglück vermuten. Stand am Himmel eine tellergroße Wolke, dann sagte er sicher: »Es gibt ein Gewitter,« und regnete es einen Tag, dann redete er von einer ungeheuren Überschwemmung, die kommen würde. An diesem Nachmittag klagte er immerzu: »Das Kasperle ist verloren, ganz sicher. Ich hab's gleich geahnt; ein Tag, der so anfängt, mit Affen und so viel Geschrei und Trara, der bringt Unheil.« Er redete das zu dem Gehilfen, und der erwiderte spöttisch: »Na ja, eins haben wir schon gehabt, den Streit mit Herrn Häferlein.« »Nun,« rief Herr Baldan, »ist daran nicht etwa der Affe schuld, der August?« »August! August!« schrie es draußen ganz laut und gellend, und Herrn Baldan blieb vor Schreck der Mund offen stehen. Was war das? Von der Gasse herein tönte das Rufen, tönte lautes Geschrei; die Stimmen der Grillschen Kinder waren vor allen andern zu hören. Der Provisor stürzte hinaus. Um Himmelswillen, man brachte gewiß Kasperle, seinen Liebling! »Wo ist er, wo ist er?« Herrn Baldans Rufen mischte sich in das Geschrei der andern. »Da ist er, da ist er,« jauchzten ein paar Buben. »O du heiliger Bimbam, was ist das?« Der Provisor knickte vor Schreck zusammen, denn etwas Schwarzes war ihm auf die Schulter gesprungen, das saß da und wollte anscheinend dableiben, denn Herr Baldan fühlte sich recht fest umklammert. »August, August, da ist er!« Der Gehilfe griff rasch zu und packte den kleinen Ausreißer und Tunichtgut, den Affen August, am Genick und suchte Herrn Baldan zu befreien. Leicht ging es nicht, denn der vierbeinige August zappelte und fauchte wütend und gab in seiner Angst seinem unschuldigen Namensvetter heftige Ohrfeigen. Die beiden Auguste waren wütend aufeinander, und die Umstehenden taten noch, als wäre die ganze Sache eine lustige Geschichte; sie lachten, und selbst Trinle Grill hörte ein paar Augenblicke auf zu heulen. Da schrie plötzlich Veit: »Er hat Kasperles Mütze!« und mit raschem Griff entwand er dem Affen eine kleine dunkelblaue Mütze. »Die gehört Kasperle! Ja, aber wo ist Kasperle?« »In der Rose, denn von dort kommt der Affe,« rief der Vater. »In der Rose, unser Kasperle?« Die Kinder rannten dem Vater nach, die Mutter nicht minder geschwinde. Herr Baldan schrie dem Gehilfen zu: »Aufpassen!« und raste nach, und die ganze Gesellschaft langte drüben vor der Rose an und spazierte in das Haus hinein, und Frau Tippelmann wußte erst nicht wie und was, als sie den Hausflur so voller Menschen sah. Aber da erblickte sie Frau Grills blasses Gesicht, sie verstand. Schnell riß sie eine Türe auf und rief: »Da ist er!« Ja, da war er. Wie ein kleiner Prinz thronte er mitten auf dem Sofa und schickte sich gerade an, die vierte Tasse Schokolade auszutrinken. Er pustete schon ein wenig, sein Bäuchlein war schon ganz dick, aber er wollte doch noch von dem süßen Trank schlürfen, der ihm so gut schmeckte wie weiland den alten Deutschen der süße Met. Und einen Bart hatte das Kasperle schon, um den ihn ein Raubritter beneiden konnte, so breit war der. Es ist nicht gut, wenn einer beim Schokoladetrinken allzu sehr überrascht wird. Hupp! machte die Tasse, und am Kasperle rann ein braunes Bächlein herunter. Er wollte die Tasse wegsetzen und warf die von Alette um, und auf dem weißen Tuch floß ein brauner See. »Kasperle, du hier?« »Aber Kasperle, wie kommst du hierher?« riefen Eltern und Geschwister. Frau Tippelmann sah nur den braunen See; sie schalt ärgerlich: »Zu viel Dung wirft den Wagen um.« Am tiefsten war Alette Amhag vor den vielen fremden Menschen erschrocken. Sie stammelte zitternd: »Er hat mich nur besucht.« »Ja,« rief Kasperle weinerlich, denn ihm fing es an ungemütlich zu werden, »ich besuch' sie alle Tage. Alettle ist meine Freundin, und sie ist -- ist -- ne -- Indianerin!« Da war es heraus, das schwere Wort, und es tut wohl, wenn man so von banger Angst erlöst wird. Sie lachten alle, selbst Frau Tippelmann schmunzelte, und am allerlautesten lachten Herr Baldan und Kasperle. Frau Grill nahm ihr beschmiertes Bübchen auf den Arm und sagte zärtlich: »O du böser Schelm, wie habe ich mich um dich gesorgt!« Alettes Augen wurden da groß und weit; eine unendliche Sehnsucht stieg jäh in ihrem kleinen Herzen auf, auch einmal so an einer Mutter Herzen ruhen zu können, und unwillkürlich flüsterte sie leise: »Ach, Kasperle, du hast es gut!« Nur Frau Grill hörte das leise Wort, und Frau Grill verstand in kleinen traurigen Herzen zu lesen und verstand es, linde zu trösten. Sie zog Alette, die aufgestanden war und schon neben ihr stand, herzlich an sich und sagte liebevoll: »Willkommen in deiner Väter Heimat! Möge es dir hier gut gehen! Du hast schon mit unserm Kasperle Freundschaft geschlossen, ich hoffe, wir andern kommen auch daran.« »Das will ich meinen! Die Amhags und die Grills waren allezeit gute Freunde,« rief Herr Grill. »Aber nun, wenn wir nicht bald laufen, läuft uns die Sonne davon; unser schlimmes Kasperle hat uns schon um eine Stunde Zeit gebracht.« »Spazierengehen!« rief Kasperle, dem dies plötzlich wieder einfiel. »Alettle geht mit.« »Wenn sie will, kann sie es tun, und wenn sie gescheit ist, tut sie es!« Herr Grill nickte Alette auch zu, als wäre die seit vielen Jahren in Breitenwert daheim, und die schüchterne Alette verlor die letzte Befangenheit und sagte: »Ich möchte so gern!« »Spazierengehen!« Laura sah so entsetzt drein, als wäre Spazierengehen und In-den-Krieg-ziehen einerlei. »Das ist nichts für unsere Alette, die fährt nur,« rief sie protzig, »die hat auch nur Prinzessinnenschuhe.« »O du lieber Himmel, das arme Kind,« entfuhr es Frau Tippelmann. Kasperle aber fragte neugierig: »Sind die von Gold?« »Nein,« erwiderte Alette rasch, »ich kann mit meinen Schuhen schon gut spazierengehen. Ach, bitte, bitte, ich will mit!« »Na, meinetwegen,« brummte Laura, »mir soll's recht sein, aber wenn das die gnädige Frau van Bachhoven hört, die fällt gleich um vor Schreck.« »Sie steht auch wieder auf,« erklärte Frau Tippelmann. »Märzensonne ist gesund.« »Und allzu viele Sprichwörter sind ungesund,« schalt Laura halblaut, die fand, Frau Tippelmann habe gar nichts drein zu reden. Dann ging sie aber doch, für Alette die Sachen zu rüsten, und als sie dabei geschwind zum Fenster hinausblickte und die Gasse so freundlich im Sonnenschein liegen sah, wäre sie am liebsten auch spazierengegangen. Sie sputete sich darum; wenigstens sollte Alette noch recht im Sonnenschein wandern. Ein paar Minuten später standen die Wanderlustigen wirklich auf der Löwengasse, und Alette bekam ganz blinkeblanke Augen vor Freude. Die Grillschen Kinder lachten darüber und sagten: »Du tust, als wärst du noch nie spazierengegangen.« Nein, eigentlich hatte das Alette auch noch nie getan. Sie war gefahren, so behaglich als möglich, auf großen Schiffen, in Kraftwagen, in den schnellsten Schnellzügen, aber noch niemals war sie auf Wiesen- und Feldwegen richtig spazierengelaufen. Täglich hatten kostbare Blüten die Zimmer, die sie bewohnte, geschmückt, aber noch nie hatte Alette Amhag ein paar winzige weiße Schneeglöckchen selbst gepflückt, wie es Trinle Grill an diesem Nachmittag tat. Sie patschte dabei tief in den weichen Frühlingsschmutz hinein, und Alette patschte ihr jauchzend nach, und sie tat, als hätte sie einen goldenen Schatz gefunden, so sehr freute sie sich. Ihre Freude steckte die andern an, und es wurde ein sehr fröhlicher Spaziergang. Die Grills gingen andere Wege als Herr Häferlein, aber sie fanden die Heimat von rechtsum so lieblich als der Kaufmann es von linksum tat. Und Alette war begeistert und schloß Freundschaft mit Trinle, Veit und Steffen und vergaß Frau van Bachhoven, Paris und die ganze weite Welt über Breitenwert und dem Löwengäßle. [Illustration] Viertes Kapitel. Im Silbernen Stern. Die Sternbuben finden eine Zigarre. Frau Sektretär Schmidt ärgert sich, und Herr Häferlein kommt dazu und gibt guten Rat. Gundel Hinz muß eine Geschichte erzählen, und das schlimmste Teufele heißt Herr Häferlein. Käthle läßt sich auf keine Verhandlungen ein, und die Sternbuben drohen dem Kaufmann. Drei Augenpaare hatten lange den Grills und Alette Amhag nachgesehen, als die durch die Löwengasse schritten, um spazierenzugehen. Neidisch und sehnsüchtig waren die Blicke gewesen, wie solche sind von Kindern, die gern auch dabei wären. Am Ende der Löwengasse, halb schon am Untermarkt, lag das Gasthaus zum Silbernen Stern, das Heimathaus der schlimmen Sternbuben. Es war ein uralter, wohlangesehener Gasthof. Der Silberne Stern prangte schon zweihundert Jahre im Torschild, und viele, auch vornehme und reiche Gäste waren im Laufe der Zeit darin eingekehrt. Zwei Täfelchen an der Mauer, dicht neben dem Tor, verkündeten, daß einstmals ein König und später ein sehr berühmter Mann im Silbernen Stern gewohnt hatten. Das Haus hatte innen weite Flure und große Zimmer, viele Kammern und Bodengelasse, und wenn die Sternbuben darin Versteckens spielten, fanden sie sich beinahe selbst nicht zurecht. Den Gasthof verwaltete allein nach dem Tode ihres Mannes Frau Marianne Hinz. Das war eine umsichtige, fleißige Frau, die von früh bis spät im Hause schaffte. Die Gäste im Silbernen Stern spendeten ihr reiches Lob; wer einmal einkehrte, vergaß selten das Wiederkommen. Eins vergaß Frau Marianne aber mehr und mehr über ihrer Arbeit, das waren ihre Kinder, nicht deren leibliches Wohl, aber ihre Erziehung. Die Kinder wurden satt, wurden gut gekleidet und litten keinerlei Mangel, was sie aber sonst den lieben langen Tag taten, danach fragte die Frau wenig. Am Zeugnistag gab es freilich immer Schelte, mitunter griff Frau Marianne auch zum Stock, damit war es jedoch abgetan. In der übrigen Zeit fragte die Mutter nie, wie es in der Schule ging, sie merkte nicht einmal das Nachsitzen. Sie wußte wohl, ihre beiden waren rechte Wildlinge, aber sie dachte leichtherzig, das gibt sich, Buben sind nun einmal so. Noch weniger beinahe kümmerte sich Frau Hinz um ihr einziges Mädelchen. Da brauchte sie nicht einmal an den Zeugnistagen zu schelten, denn Gundel brachte immer gute Nummern heim. Gundel Hinz war ein scheues, stilles Kind, durch frühes Leiden ernst geworden; sie hinkte, und schon darum konnte sie nicht, wie es Trinle Grill tat, an den Spielen der Brüder teilnehmen. Mathes und Peter verlangten freilich auch nicht danach. Sie vertrugen sich nach ihrer Art sehr gut mit der Schwester, sie kümmerten sich jedoch nur um sie, wenn sie etwas von ihr haben wollten, wenn z. B. die Löcher in Hosen und Kitteln so groß waren, daß es selbst ihnen zu arg schien. Die langjährige Hausmagd Mina im Silbernen Stern, die für Wäsche und Kleider Sorge trug, verstand nämlich in solchen Dingen keinen Spaß. Sie ging nicht erst zur Mutter, um anzuklagen, sondern strafte selbst, meist sehr handfest und grob. Es kam auch vor, daß sie an einem Sonntag den Buben sämtliche Kleidungsstücke wegnahm und die beiden dann den schönen freien Tag im Bett verbringen mußten. Das Haus und die Gasse hatte dann Ruhe vor den beiden, und die schadenfrohen Nachbarn sagten wohl schmunzelnd: »Haha, heute werden den Sternbübles die Hosen geflickt!« Die Gasse sagte den Buben viel Schlimmes nach, und die Grills waren nicht die einzigen, die mit ihnen nichts zu tun haben wollten. Herr Häferlein mochte sie gar nicht in seinem Laden sehen. Herr Baldan drohte gar mit dem Stock, und der dicke Bäcker Hering an der Ecke vom Untermarkt sagte, er würde es noch einmal mit ihnen machen, wie es Max und Moritz geschehen war. An diesem Nachmittag hatten sich die Sternbuben in eine der leerstehenden Fremdenstuben geschlichen, um ganz ungestört zu sein. Es war keine Zeit, wo viele Fremde kamen, und etliche Stuben standen darum verschlossen und verhängt. Mathes hatte unbemerkt einen Schlüssel vom Brett genommen, und nun saßen sie vergnügt in dem großen Zimmer und -- rauchten. Sie hatten auf der Straße eine dicke, große Zigarre gefunden und beschlossen, diese gemeinschaftlich zu rauchen. Einmal zog Mathes daran, dann Peter, und obgleich es ihnen eigentlich abscheulich schmeckte, sagte doch immer einer zum andern: »Fein!« Sie hatten sich auf das Fensterbrett gesetzt und sahen auf die Gasse hinaus, denn wenn sie auch heimlich rauchten, so kamen sie sich doch sehr wichtig vor und meinten, ein paar Leute könnten es schon sehen, wie gut sie zu rauchen verstanden. Dabei sahen sie auf der Gasse Grills wandern mit Alette Amhag. Die lachten gerade, als sie am Hause vorbeigingen; sie sahen sehr vergnügt aus, und den beiden Wildfängen schmeckte die Zigarre auf einmal noch schlechter als zuvor. In der Gasse dachten alle: Die Sternbuben kann man schelten und schief ansehen, so viel man nur will, sie machen sich nichts daraus, die haben eine dicke Haut. Aber das war nicht richtig, die Sternbuben kränkten sich wohl darüber, viel mehr als irgend jemand ahnte, und im Grunde wären sie viel lieber so gern gesehen und wohl gelitten gewesen, wie es die Grillschen Kinder waren. Die waren zwar auch wild, aber dann doch wieder folgsam und höflich und fleißig dazu, auch schimpften und fluchten sie nicht und streckten nicht ihre Zunge andern Leuten heraus. Neidisch und sehnsüchtig zugleich sahen die beiden Raucher auf die lustigen Spaziergänger herab. »Die Neue aus Indien geht gleich mit ihnen,« brummte Mathes. »Hm,« knurrte Peter, »uns wird sie net anschauen!« Mathes seufzte schwer, und der Bruder fragte kleinlaut: »Was hast, wird's dir auch übel?« »Ich hab solche Sehnsucht!« »Nach -- -- der Indianerin?« schrie Peter. »Noi, nach dem Äffle, dem August.« »Ja so -- ich auch!« Eine Weile schwiegen beide, dann sagte Mathes plötzlich: »Weißt, wir besuchen mal gleich Frau Tippelmann!« »Ach, die -- die tut uns rausschmeisse!« Mathes seufzte wieder. Es wurde ihm so sonderbar zumute, gewiß vom Nachdenken. Der Bruder reichte ihm die Zigarre: »Jetzt rauch du wieder!« »Ja -- aber ...« Mathes nahm das Zigarrenstümpfchen nur zögernd in den Mund, da sah er, daß drüben die Frau Sekretär Schmidt zum Fenster heraussah. Das war eine Dame, die sehr oft und sehr viel auf die Sternbuben schalt, und Mathes dachte trotzig: Nun gerade! Er paffte kräftig, blies den Rauch mit vollen Backen zum Fenster hinaus, und drüben schlug Frau Schmidt die Hände zusammen über die unnützen Buben. »Gib mir noch mal!« Peter nahm die Zigarre und tat auch noch ein paar Züge, und drüben klappte Frau Schmidt ärgerlich das Fenster zu. Die Sternbuben werden immer ärger, dachte sie. »Jetzt, wenn wir das Äffle hier hätten, wär's noch feiner,« sagte Peter. Da beugte sich Mathes rasch vor und sagte halblaut: »Wir -- borgen uns das Äffle mal.« »Hm, borgen!« Peter warf das letzte Zigarrenendchen weg; er neigte sich auch zu dem Bruder hin, und trotzdem sie ganz mutterseelenallein in dem Zimmer waren, tuschelten sie doch heimlich miteinander. Sie kicherten verschmitzt, es fiel ihnen dies und das ein. Peter sagte: »Komisch, daß das Äffle August heißt wie Herr Häferlein!« »Wie Herr Baldan!« »Au jeh,« kreischte Peter plötzlich, »mir wird so übel!« »Mir auch! Oh, oh mein Bauch!« jammerte Peter. Sie rutschten vom Fensterbrett herab und krümmten sich auf der Diele herum, denn auf einmal rumpelte und pumpelte das in ihren Bäuchlein ganz unverschämt herum. Sie meinten außerdem, im Zimmer führe aller Hausrat, Betten, Tisch, Schrank und Stühle, einen wilden Tanz auf; alles wackelte und schwankte, und Peter, der sich aufrichten wollte, purzelte auch gleich um. Platsch, lag er da, käseweiß sah er aus. Er stirbt, dachte Mathes angsterfüllt und brüllte, so laut er nur konnte. Und das Schreien verstanden die Sternbuben gut. Angst und Schmerzen stärkten noch Mathesles Stimme, er brüllte wirklich wie ein kleiner Ochse. Das Zimmer lag im zweiten Stock; niemand war um diese Zeit oben, und in den Wirtschaftsräumen war nichts zu hören. Auf der Straße vernahm man das Jammergeschrei. Haha, die Sternbübles kriegen Haue! dachten ein paar Nachbarsleute, aber Herr Häferlein, der eben von seinem Spaziergang heimkam, hörte den Hilferuf heraus. Er lief in den Stern hinein, und ein paar Minuten später rannten die Wirtin, die Mägde und der freundliche Kaufmann dazu die Treppen hinauf und fanden oben die beiden Missetäter. »Haha! geraucht!« Herr Häferlein schnupperte in der Luft herum. »Das ist keine schlimme Krankheit, Frau Wirtin,« sagte er lachend. »Die beiden gehören ins Bett und dann -- meine Nachbarin Tippelmann würde sagen: Der Stock muß helfen.« O der böse, hartherzige Herr Häferlein! Peter war muckstill, dem war es zu übel, aber Mathes brüllte noch jammervoller, ganz schaurig klang es. Frau Hinz sah doch etwas ängstlich drein, aber Herr Häferlein tröstete sie gutmütig und versicherte: »Das geht bald vorüber. Heute dürfen Sie ihnen nichts mehr zu essen geben, dann sind die beiden morgen putzmunter, und dann -- den Stock nicht vergessen, den ja nicht.« Nach diesem freundlichen Zuspruch ging Herr Häferlein, und die Sternwirtin handelte wirklich nach seinen Worten. Dies war nun Mathes und Peter sehr, sehr unangenehm, sie fühlten sich sehr unglücklich und warfen beide einen tiefen Haß auf Herrn Häferlein. Sie wurden in das Bett gesteckt, bekamen jeder bittere Tropfen zu schlucken, und danach wurde ihnen jegliches Jammergebrüll ernsthaft untersagt, sonst --. Die Mutter sah dahin, wo der Stock stand. Da krochen die Sternbübles flugs unter die Decken, und von dorther tönte noch eine Weile ihr klägliches Weinen. Gleich den Brüdern hatte Gundel den Grills und Alette Amhag nachgeblickt, solange sie nur ein Zipfelchen von ihnen sehen konnte. Sie tat das ohne Neid über die Fröhlichkeit der andern, aber mit tiefer Sehnsucht, auch einmal so in lustiger Gesellschaft dahinwandern zu können. Ihr Leiden hatte sie zwar äußerlich scheu und verschlossen gemacht, und wer das blasse Kind mit den ernsthaften großen Augen sah, der ahnte gar nicht, in was für fröhlichen Gärten Gundel manchmal spazierenging, Traumgärten, in denen sie heiter und schwatzlustig war. Sie redete, wenn sie allein war, mit allen Dingen in Haus und Garten. Da waren Bäume Märchenprinzen, Blumen feinliebe Elfenkinder, da war der große Schrank ein alter König und die alte Standuhr eine kluge Fee. Sie selbst war eine Prinzessin oder ein Gänsemädchen, manchmal auch eine Mutter mit vielen Kindern, die schrecklich viel zu tun hatte, und die ihren Kindern doch Geschichten erzählte. Mitunter setzte Gundel ringsum Stühle, gab denen Namen, setzte sich in die Mitte, erzählte Märchen oder hielt Schule ab. Einen alten hochlehnigen Polsterstuhl, den sie besonders schön fand, nannte sie immer Trinle Grill, denn in aller Heimlichkeit liebte Gundel das wilde, frohe Nachbarskind, und bitter kränkte sie der Streit, den ihre Brüder mit den Grills hatten. An diesem Tage erhielt der Polsterstuhl einen feinen Nachbarn, einen, auf dem ein gesticktes Kissen lag; den nannte Gundel Prinzessin Amhag nach Alette, deren Vornamen sie noch nicht wußte. Vor dieser Stuhlprinzessin machte Gundel gerade einen feierlichen Knicks, sagte, sie wolle ihr eine sehr schöne Geschichte vorlesen, als das wilde Brüllen der Brüder zu ihr herüberklang. Da lief sie erschrocken, so schnell sie mit ihrem Hinkefüßchen laufen konnte, dem Schreien nach, aber kurz vor dem Ziel hielt Mina sie fest: »Die kriegen Schläge, Gundele, das ist ihnen arg gesund, du komm nur mit mir! Verwunderlich ist's, wie ein solch brav Mädele zu solch unnütze Brüderle kommt,« sagte sie. Mina meinte es gut mit Gundel, sie hatte nur, genau wie Frau Hinz, zu wenig Zeit, sich viel um das stille Kind zu kümmern. Ein Weilchen blieb Gundel in der Küche, dann schlich sie sich davon und suchte die Brüder auf. Sie öffnete sachte die Türe. Die beiden heulten und stöhnten noch, aber nun schon mehr aus Langeweile als aus Schmerz. Der Schwester Besuch kam ihnen sehr gelegen, und sie forderten: »Erzähl uns was!« Statt ihrer Stuhlgesellschaft erzählte nun Gundel den Brüdern ein langes Märchen. Weil die immer viel haben wollten von allem, kamen darin etliche Prinzessinnen und Könige vor, gleich ein halbes Dutzend gute Feen und nicht ein, sondern drei Teufel. Der jüngste Teufel war besonders schlimm, und Peter, dem es schon wieder ganz gut ging, fragte: »Gelt, das Teufele heißt Herr Häferlein?« »Eigentlich nicht,« sagte Gundel ganz erschrocken, denn sie fand Herrn Häferlein viel zu nett und freundlich, um ein Teufele nach ihm zu benennen. »Eigentlich doch!« schrie Mathes. »Das ist fein! Mach fix, daß er eingesperrt wird!« Da ergab sich Gundel drein. Sie ließ das Teufele Häferlein zum Ergötzen der Brüder noch allerlei schlimme Dinge erleben, und zuletzt geriet es mit seinem Schwanz zwischen zwei schwere eiserne Torflügel, und da saß es, konnte nicht heraus aus der Falle und mußte große Schmerzen leiden. »Und wenn es nicht gestorben ist, dann sitzt es heute noch da,« schloß Mathes sehr eigenmächtig die Geschichte. »Fein!« »Ich hab Hunger,« rief Peter, der sehr geschwind aus der Märchenwelt in den Alltag zurückfand. »Geh, Gundele, hol mir was!« »Mir auch,« verlangte Mathes, und Gundel ging auch, den Wunsch der beiden zu erfüllen. Unten fand sie Mina am Herd stehen, die briet Hühner und sagte dabei kaltherzig: »Die Bübles müssen heute hungern, das ist gesund. Ein Krankensüpple gibt's gleich, mehr nicht.« Gundel schlich sich traurig wieder hinauf und verkündete beiden mitleidig das harte Urteil. Das gab neues Jammergeschrei, und Mathes rief bitterböse: »Daran ist Herr Häferlein schuld! Och, och, ich hab so großen Hunger!« »Mein Bauch tut so weh!« Peter stöhnte arg. »Gerade darum ist das Süpple gut,« sagte von der Türe her die zweite Sternmagd Käthle, die die Krankensuppe kochte. »Er tut vor Hunger so weh!« Aber Käthle ließ sich auf keine Verhandlung ein, und als Mathes schlau fragte: »Kriegt Gundele ihr Abendessen net auch?« da antwortete sie spöttisch: »Gundele ißt unten. Das wär was, hier oben eßt ihr ihr alles weg, und sie bekommt nichts.« »Gundele muß bleiben; wir haben so viel Sehnsucht nach ihr,« klagten die beiden. »Gundele bleib!« »Eure Sehnsucht, die kenn ich.« Käthle war genau so unbarmherzig wie Mina, nichts rührte sie, auch Gundeles Bitten nicht, die wirklich gern ihr Abendbrot den Brüdern geopfert hätte. Sie taten ihr so leid, und sie folgte traurig der Magd. Die Buben aber löffelten trübselig ihre Suppe aus, klagten sich noch eine Weile ihre Not, schalten auf Herrn Häferlein, dem sie alle Schuld gaben, und schliefen dann ein. Als die Mutter später noch nach ihnen sehen kam, da pusteten und schnarchten sie wie zwei kleine Bären, nichts bedrückte sie mehr, nicht einmal die ungemachten Schulaufgaben. Am nächsten Morgen hatten dann Mathes und Peter die Sehnsucht nach Gundel ganz vergessen, sie liefen der Schwester wie alle Morgen einfach davon, und Gundel hinkte wieder einsam ihren Schulweg entlang. Die Sternbuben rannten auch an diesem Morgen an Herrn Häferleins Laden vorbei, und als der sie laufen sah, rief er ihnen spöttisch nach: »Wollt ihr eine Zigarre? Hab schon gehört, daß euch der Stock gut geschmeckt hat!« Wart nur, Herr Häferlein! Mathes ballte drohend die Hand zur Faust, und Peter tat es ihm nach. Beide sahen sich an, und beide nickten sich vergnügt zu. Der Herr Häferlein sollte schon seine Strafe erhalten! Fünftes Kapitel. Spektakel auf der Löwengasse. Fräulein Laura hat einen seltsamen Traum und ärgert sich über Frau Tippelmann. Die Sternbübles kommen sehr geschwind aus der Schule heim, und Herr Häferlein hat vielen Grund, sich zu wundern. Einer hat es dem andern gesagt, aber die Schuldigen werden erwischt. Warum Alette bittet und Herr Häferlein erst traurig, dann wieder vergnügt ist. Alette Amhag hatte die erste Nacht in dem alten Familienhaus tief und fest geschlafen. Laura hatte sie am Abend noch ermahnt: »Achte darauf, was du träumst. Träume der ersten Nacht im neuen Heim gehen in Erfüllung.« Darauf hatte Frau Tippelmann ärgerlich gesagt: »Träume sind Lügen, die sichtlich betrügen,« aber Alette hatte doch gedacht: Ich paß auf. Doch als sie sich am nächsten Morgen schlaftrunken in dem ihr noch so neuen Zimmer umsah, da wußte sie von keinem Traum der Nacht mehr. Laura kam, um sie anzuziehen, und Alette ließ sich bedienen wie eine richtige kleine Prinzessin, und dabei erzählte ihr Laura, sie hätte geträumt, sie wäre in einem ganz wunderbaren Kleid, angetan mit vielem Geschmeide, immer die Löwengasse auf und ab spaziert, und alle Leute hätten geschrieen: Unsere Königin soll leben! »Ein feiner Traum, nicht wahr?« sagte sie. »Aber in diesem dummen, alten Haus kann man sich nicht einmal recht an seinen Träumen freuen.« »Warum denn nicht?« fragte Alette, die diesen Traum sehr vergnüglich fand. »Ach,« brummte Laura unwirsch, »diese Frau Tippelmann mit ihren ewigen Sprichwörtern verdirbt einem gleich den Spaß! Ich erzählte ihr meinen Traum, da sagt sie: ›Träume machen weder reich noch satt!‹ Da habe ich mich recht geärgert und gesagt: ›Na, Frau Tippelmann, Träume haben manchmal ihre Vorbedeutung; wer weiß, was noch aus mir wird. Wenn auch nicht gleich eine Königin, dann doch vielleicht eine sehr vornehme Dame.‹ Und darauf erwiderte die Frau -- nein, ich sag's doch nicht, ich schäme mich zu sehr.« Aber Alette flehte: »Sag's doch, bitte, bitte!« »Sie hat gesagt: Eine Gans wird kein Schwan, und wenn sie den Hals noch so lang macht!« Alette lachte. »Laura,« rief sie fröhlich, »damit hat sie dich doch gewiß nicht gemeint!« »Na, wen denn sonst?« murrte Laura. »Eine dumme Mode ist das, immer mit einem Sprichwort zu antworten.« »Weißt du, Laura,« sagte Alette nachdenklich, »mein Großvater hat immer erzählt, seine Mutter hätte auch so viele Sprichwörter gewußt; vielleicht weiß Frau Tippelmann sie daher.« »Schnickschnack,« rief Laura, »was hat Frau Tippelmann mit deiner Urgroßmutter zu tun? Eine alberne Mode ist das für heutige Tage, für Urgroßmütter mag das gepaßt haben; ich ziehe mir doch aber auch nicht mehr solche Kleider an wie die von Anno dazumal, also brauche ich auch nicht so zu reden.« Sie ging an die Türe, und weil es sehr zu ihrem Ärger keine Klingeln im Hause gab, rief sie laut und gebieterisch in das Treppenhaus hinab: »Frau Tippelmann, Alette will ihre Schokolade, aber schnell!« »Das geht nicht so schnell wie 's Heftelmachen,« rief Frau Tippelmann zurück. »Mit Geduld und Zeit wird 's Maulbeerblatt zum Atlaskleid.« »Schon wieder eins,« schalt Laura, »und darüber wird es mit dem Frühstück wohl dauern bis zum nächsten Neumond.« So lange brauchte Alette nun aber nicht zu warten. Frau Tippelmann kam bald und berichtete, sie hätte im Speisezimmer alles angerichtet. Sie hatte es, so gut sie es wußte, getan; der Frühstückstisch sah sauber und nett aus, aber Laura, der noch der Ärger im Herzen saß, rümpfte doch die Nase und sagte spöttisch: »Wir sind's freilich anders gewöhnt!« »Jeder macht's, wie er's versteht,« antwortete Frau Tippelmann kurz. Hoho! dachte Laura, hier weiß ich auch mal so ein Sprichwort, und sie erwiderte schnell: »Na ja, Bauer läßt nicht von Bauernart.« Doch Alette rief vorwurfsvoll: »Ach Laura!« Sie blickte ganz ängstlich zu der Hausverwalterin auf. Aber die lächelte sogar ein bißchen und gab gelassen zur Antwort: »Das ist ein richtiges Wort. Ich weiß aber auch eins, das heißt: Bauer werden ist nicht schwer, Bauer bleiben eine Ehr!« »Frau Tippelmann,« fragte Alette rasch, »mein Großvater hat erzählt, seine Mutter hätte immer viele Sprichwörter gewußt, haben Sie die ...« Alette stockte verlegen; eine Urgroßmutter war doch wohl etwas schrecklich Altes, und Frau Tippelmann sah doch noch nicht so alt aus. »Gekannt,« vollendete die Frau. »Nein, Kind, aber mein Vater hat sie gut gekannt, der wußte auch von ihr viele, viele Sprichwörter. Deinen Großvater habe ich mal gesehen, da war ich ein ganz kleines Ding, als er fortzog seinen älteren Geschwistern nach. Er war damals sechzehn Jahre.« Frau Tippelmann sagte nicht: Ich habe auch Amhag geheißen, bin eigentlich eine Großtante von dir; sie ging still hinaus, denn sie war zu bescheiden und zu stolz zugleich, um sich den reichen Verwandten aufzudrängen. »Die gefällt mir nun ganz und gar nicht,« sagte Laura hinter ihr her. »Brr, der reine Sauertopf! Gut, daß wir bald wieder weggehen!« Damit war Alette nicht einverstanden. »Ich will nicht weggehen,« rief sie, »ich will hierbleiben und mit in Trinles Schule gehen. Gleich schreib ich das an meinen Papa.« »Tu das nur,« riet Laura, »da hast du etwas zu tun.« Sie dachte bei sich, ehe der Brief ankommt, hat uns Frau van Bachhoven längst fortgeholt. Bis dahin will ich mir aber doch noch dies närrische Nest ansehen. Alette war gerade mit ihrem Brief fertig, da kam Kasperle, seine neue Freundin und Augustle zu besuchen, und der Vormittag verging rasch. Laura hatte mit Auspacken und Einräumen zu tun und konnte nicht einmal die Nase vor die Türe stecken; sie tröstete sich aber selbst: Nachmittags gehen wir spazieren. Daran, daß man einfach ohne Hut und Mantel auf die Gasse laufen könnte, dachte sie nicht, und sie erschrak sehr, als sie von Frau Tippelmann hörte, Alette sei draußen. »So, wie sie geht und steht?« rief Laura entrüstet. »Unsere Alette ist ein vornehmes Mädchen, für die ist so etwas nicht.« »Nun, solange die Amhags in der Löwengasse gewohnt haben, so lange haben sie sich mit ihren Nachbarn gut vertragen. Warum soll das Kind nicht draußen den Nachbarskindern guten Tag sagen? Es fällt ihm kein Stein aus der Krone,« brummte Frau Tippelmann. Laura gab sich nicht zufrieden, die lief hinaus, um Alette zu holen. Als sie aus der Türe trat, dienerte nebenan vor seiner Ladentüre Herr Häferlein und sagte höflich: »Schön guten Morgen! Gut geschlafen in der Löwengasse?« Laura fiel ihr Traum ein, und sie lachte. Da verneigte sich Herr Häferlein gleich noch zweimal; ihm gefiel Laura sehr, wenn sie lachte, er mochte überhaupt vergnügte Menschen gern leiden, und darüber vergaß er ganz seinen kleinen schwarzen Namensvetter. Den hatte Alette auf dem Arm, und die Grills standen drumrum, und alle miteinander lachten und schwatzten, als wäre die Gasse eine Familienstube. »Aber Alette,« rief Laura vorwurfsvoll, »du hast ja keinen Hut auf und keinen Mantel an, komm doch herein!« »Ich friere nicht,« rief Alette vergnügt, »es ist so hübsch draußen.« »Aber das schickt sich nicht, so auf der Gasse zu stehen.« Da fielen Alette ihres Großvaters Erzählungen ein, und sie antwortete treuherzig: »Laura, das schadet nichts, Großvater hat auch immer auf der Löwengasse gespielt, und da hatte sein Papa gewiß nichts dagegen.« »Da hat das kleine Fräulein Amhag schon recht,« sagte Herr Häferlein. »Unsere Breitenwerter Gäßle sind keine solchen wüsten, lauten Straßen, wie man sie in Berlin hat. Na, und namentlich das Löwengäßle!« »Was sagen Sie? Wüst, die Berliner Straßen?« Laura sah bitterböse aus. »Ich bin nämlich aus Berlin,« rief sie gekränkt, »und habe davon nie etwas gemerkt. Aber Sie vielleicht, waren Sie denn schon dort?« Der gute Herr Häferlein war wirklich noch nie in Berlin gewesen, und dies schien ihm auf einmal sehr beschämend. Vor lauter Verlegenheit lief er geschwind in seinen Laden hinein, und Laura kehrte ebenfalls in die Rose zurück. Mochte Alette draußen stehen, lange dauerte ihr Aufenthalt in diesem schrecklichen Hause, in dieser schrecklichen Gasse ohnehin nicht. Alette war putzvergnügt. Die Grills erzählten ihr von der Schule, August wurde bewundert, und dann verabredeten sie sich miteinander, sie wollten am Nachmittag nach der Schule noch ein Weilchen zusammen spielen. Alette sollte zu den Grills kommen, und die wollten ihr das Haus zeigen. »Bei uns tut's fein rieche!« versicherte Trinle. »Ja,« wisperte Kasperle, »Herr Baldan sagt immer, wie lauter Bauchwehtröpfle.« Alette lachte hell auf, und weil Lachen ansteckt, fielen die Grills jubelnd ein. Die Gasse hallte wider von dem frohen Lachen, nur allein Herr Baldan schaute drüben griesgrämig drein. Ihn bedrückte noch der Ärger mit Herrn Häferlein. Der hätte seiner Meinung nach an diesem Morgen zu ihm kommen müssen, aber er war nicht gekommen. »Der Lärm auf der Gasse wird immer ärger,« grollte er. Dafür war es am Nachmittag recht still. Es war Schulnachmittag, und die sonnige Gasse lag wie eingeschlafen da. Als es halb vier Uhr schlug, tat sich das Haus zur Rose auf, und Alette spazierte fein angetan heraus. Laura folgte ihr, ganz wie ein feines Fräulein gekleidet. Frau Grill hatte hinübergeschickt und Alette einladen lassen, mit drüben zu vespern, wenn die Kinder aus der Schule heimkämen. Laura hatte ein sehr schönes Kleid herausgesucht und den Vorschlag gemacht, sie wollten beide noch einmal die Löwengasse auf und ab gehen. »Man muß doch wissen, wo man wohnt,« meinte sie. Beide gingen bis zum Obermarkt hinauf, wo sie sich eine schöne alte Kirche und das wirklich prächtige Rathaus ansahen. Der ganze Platz gefiel ihnen ungemein, und Laura erklärte, er sei viel zu schön für Breitenwert. »Sieh mal da!« rief Alette. »Von dem Brunnen mit dem steinernen Männle hat mir der Großvater erzählt, und auf dem Untermarkt muß einer mit einem Löwen stehen. Komm geschwind, wir wollen ihn mal ansehen.« Sie wanderten beide die Löwengasse hinab, und just als sie am Silbernen Stern anlangten, kamen zwei Buben in allerhöchster Eile angerast. Die verschwanden im Torweg des Gasthauses, und Alette Amhag sah ihnen neugierig nach. »Das waren die Sternbübles,« sagte sie. Ihre neuen Freunde hatten ihr schon von denen erzählt. Ein paar Minuten später kamen die Sternbuben wieder zum Hause heraus, diesmal ohne Schultaschen, jeder mit einem dicken Butterbrot bewaffnet. Sie schmausten und schritten dabei ganz, ganz langsam die Gasse hinauf, und dabei kamen Laura und Alette an ihnen vorbei, denn Alette eilte nun, um die Grills nicht zu verpassen. Trapp, trapp! kam da plötzlich eine Anzahl Buben die Gasse entlang, sehr eilig, als fürchteten sie, etwas zu versäumen. Bei ihrem Anblick witschten die Sternbuben eilig in den Torweg eines Hauses, das neben der Apotheke lag. Ein altes Ehepaar wohnte darin, selten ging jemand aus und ein, und Peter und Mathes konnten sich ungestört in dem Flur aufhalten. Trapp, trapp! kamen vom Obermarkt her andere Buben gelaufen, dann ging es klipp, klapp, klipp, klapp! ein neuer Trupp erschien; da waren aber auch Mädel dabei. »Die vielen Kinder! Lieber Himmel, gehören die alle in die Löwengasse?« rief Laura. »Je, da kommt eine ganze Masse! Warum kommen die nur alle hierher?« Trapp, trapp, klipp, klapp! immer neue Trupps kamen, und alle sehr eilig, alle sehr neugierig, und alle liefen sie auf Herrn Häferleins Laden zu. Der Kaufmann arbeitete gerade in seinem Vorratsraume, der merkte nichts, und der Gehilfe sah nur staunend immer mehr und mehr Buben und Mädel sich vor dem Laden versammeln. Die Grills kamen heim, und ihre erste Frage war, was los sei. Niemand wußte es. Da und dort trat jemand aus seinem Hause und sah staunend auf die immer wachsende Kinderschar. Auch Herr Baldan trat vor die Apotheke. »Was soll das?« rief er zu den Kindern hinüber. »Wir wollen ihn sehen,« brüllten sie zurück. Tripp, trapp! kamen da in allerhöchster Eile noch vier Buben an, die schrieen schon von weitem: »Ist er da?« »Noch nicht!« tönte es zurück. »Laßt uns durch, macht Platz!« Die zuletzt gekommen waren, versuchten sich vorzudrängen. Das wollten die andern nicht dulden, sie drängten und stießen einander, pufften sich, schrieen, schalten, drohten, lachten; der Lärm wurde immer größer, und wenn die Erwachsenen fragten, was los sei, dann brüllten alle so durcheinander, daß kein Wort zu verstehen war. Auf einmal schrie vorn ein langer Bube mit einer lustigen kleinen Himmelfahrtsnase und strohblondem Haarschopf: »Jetzt kommt er, aufgepaßt!« »Hurra, hurra!« jauchzten viele. »Wir sehen nichts, wir sehen nichts,« jammerten, die hinten standen. »Nicht so drängen!« mahnten die vorderen. »Sapperlot, Kinder, was soll der Mummenschanz?« rief der Bäckermeister Hering, der die Löwengasse entlang kam. »Man muß den Schutzmann holen,« drohte Herr Baldan. »Jetzt kommt er, jetzt!« Ein wahres Indianergebrüll entstand. In seiner Türe erschien Herr Häferlein, aber nur einen Augenblick stand er da, dann segelten plötzlich seine Beine in der Luft herum. Der Gehilfe schrie aus Leibeskräften, die Kinder brüllten durcheinander, die hinten standen, schrieen: »Wir wollen ihn auch sehen!« Die vorderen drängten zurück, es sah wirklich gefährlich aus. Herr Grill, der, gestört von dem wüsten Lärm, aus dem Hause trat, sprang erschrocken in das Getümmel hinein, und der Bäckermeister folgte seinem Beispiel. Eins, zwei, drei, nahm der ein paar der wildesten Schreier am Kragen und zerrte sie heraus; Herr Grill holte ein paar Mädelchen aus dem Gedränge, und kaum sahen das Veit und Steffen, als sie zur Hilfe heraneilten. Es gelang ihnen, einen jämmerlich schreienden Knirps zu fassen, und als sie ihn hatten, sahen sie erst, daß es Kasperle war. Herr Baldan hatte so viel nach dem Schutzmann geschrieen, daß niemand sich wunderte, als ein solcher mit langen Schritten vom Obermarkt her kam. Der griff auch noch zu, nicht sanft, und schon sein Anblick brachte manchen vorwitzigen Buben, manches ängstliche Mädel dazu, lieber auszureißen. Vor Herrn Häferleins Laden lichtete sich das Gedränge, und der arme Kaufmann erschien schreckensbleich, ganz bestaubt, mit zerrissenem Rock in der Türe, ihn hatte die wilde Horde einfach über den Haufen gerannt, und wenn sich sein Gehilfe nicht dazwischengeworfen hätte, dann wäre es ihm wohl übel ergangen. »Ich weiß nicht, was dieser Bande, diesen Räubern einfällt!« rief er kläglich. »Mich haben sie sehen wollen, ja warum denn eigentlich?« »Noi,« rief ein dicker, stämmiger Bube, der noch immer vor dem Laden stand. »Sie wollten wir nicht sehen, das Äffle!« »Das Augustle!« schrieen ein paar von hinten. »Dummes Volk,« schalt Herr Häferlein, »ich hab' doch keinen Affen, ich doch nicht! Wer hat denn das gesagt?« »Der Heinrich!« »Schulzens Emil!« »Fritzele! Paule! Liesle! Eisendrehers Mariele! Bärble Husch! Nandle! Moritzle! Wagners Dicker!« So rief es durcheinander. Jeder wußte jemand anders zu nennen, und da die Genannten meist mit dastanden, riefen die entrüstet wieder einen Namen und behaupteten, der oder die hätte es gesagt. »Was denn, zum Donnerwetter!« »Heute nachmittag würde Herrn Häferleins Äffle auf dem Gäßle tanzen.« »Das ist frech, ganz frech, ein Schabernack!« schrie Herr Häferlein aufgebracht. »Wer ...,« er stockte. Drüben im Flur des gegenüberliegenden Hauses hatte er zwei lachende unnütze Bubengesichter erblickt, die Sternbuben. »Na wartet,« dachte er, »euch werd' ich mal befragen, ihr werdet schon etwas wissen.« Und während der Schutzmann, Herr Grill und der Bäckermeister mit den Kindern verhandelten, tat er ein paar lange Sprünge, sprang an Fräulein Laura vorbei, die erschrocken zurückwich, wutschte in den Hausflur hinein und packte die beiden, ehe die noch begriffen hatten, daß die Sprünge, die ihnen so viel Spaß machten, ihnen galten. »Kommt ihr mal mit!« Die Sternbuben brachen in ein wildes Geheul aus, und jäh verstummte darüber aller andere Lärm auf der Gasse. »Die Sternbübles!« wisperte und raunte es da und dort, und ein paar Stimmen wurden laut: »Mir hat's Mathes gesagt, mir Peterle!« »Hab' ich mir gleich gedacht.« Herr Häferlein schleppte die beiden vor seine Ladentüre, und sein Gehilfe, der auf die Sternbuben auch nicht gut zu sprechen war, half beim Festhalten. »Die sind's wohl gewesen?« fragte er. »Werden wir gleich wissen.« Herr Häferlein sah die beiden drohend an, und der Schutzmann sah sie noch drohender an, und beide fragten in einem fürchterlich strengen Ton: »Habt ihr es gesagt, daß hier heute ein Affe gezeigt wird?« »Nn« -- Peter druckste, aber Mathes stieß ihn an, da schwieg er. Die Sternbuben waren nämlich ein paar heillose, unnütze Wildlinge, aber eins taten sie nicht, sie logen nicht. Sie gingen wohl manchmal der Wahrheit etwas aus dem Wege, aber eine richtige Lüge sagten sie nicht. Sie senkten schuldbewußt die Köpfe, und im Kreise ringsum flüsterte und raunte es: »Die kriegen Haue, na, das wird schlimm!« Herr Häferlein machte ein sehr freundliches Gesicht; er sagte: »Kommt einmal mit hinein, ihr könnt mal meinen netten Stock ansehen.« »Nein, nein, huhuhu!« Die Bübles schrieen immer lauter vor Angst. Sie schielten nach rechts, sie schielten nach links, -- kein Ausweg. Sie mochten es wohl merken, ihre gefoppten Schulkameraden waren nicht bereit, ihnen zu helfen. Ach, und so schlau hatten sie den Spaß, dafür hielten sie es nämlich, eingeleitet! Sie hatten immer nur zu einem heimlich von dem Affen in Herrn Häferleins Laden gesprochen und immer gesagt: »Darfst zu niemand davon sprechen.« Natürlich hatte es geschwind jeder weiter erzählt, aber daß so viele, viele herbeigelaufen waren, wunderte die Sternbuben selbst. Die halbe Breitenwerter Jugend stand in der Gasse, und vor allen sagte Herr Häferlein so gräßliche Sachen. Die beiden heulten zum Steinerbarmen, und Alette Amhag, die grenzenlos verwundert und recht ängstlich dem Spektakel auf der Gasse zugeschaut hatte, fühlte tiefes Mitleid mit den ihr fremden Buben. »Na, nur hereinspaziert,« sagte Herr Häferlein, »drinnen gibt's Zuckerstengel!« »Huhuhu,« jammerten die zwei, und da riß sich Alette jäh von Lauras Hand los, bahnte sich aufgeregt einen Weg durch die lebendige Mauer und rief Herrn Häferlein zitternd zu: »Nicht schlagen, so -- so böse haben die's doch nicht gemeint; es war nur Spaß!« »Ja, nur -- Spaaaaß,« heulten Mathes und Peterle. Herr Häferlein sah verdutzt auf die liebliche Fürsprecherin. Die sah ihn flehend und auch ein wenig drohend an, sie fand Herrn Häferlein in diesem Augenblick gar nicht nett. Laura auch nicht. Die eilte Alette zu Hilfe, stellte sich neben sie und sagte kampfbereit: »So etwas, mit dem Stock drohen! Das nennen Sie wohl nicht wüst, Herr -- Herr August? In Berlin käme das nicht vor, das kann ich Ihnen versichern.« Der freundliche Herr Häferlein erschrak. O je, die Fremden hielten ihn wohl für einen rechten Wüterich, das war er doch nicht. Aber die Sternbuben konnten wirklich den Geduldigsten in Zorn bringen. »Die beiden haben Strafe verdient, sie sind zu unnütze Buben,« beteuerte er. Da schluchzte Alette auf: »Nicht schlagen!« Und Laura rief erbost: »Sie sind ein hartherziger, grausamer Mann. Wenn unser Alettchen bittet, dann können Sie doch wirklich die Jungen laufen lassen. Wenn die zu Ihnen kommen und einen Affen sehen wollen, ist das doch kein Unrecht.« »Ich bin doch nicht hartherzig und grausam, und bei mir kann niemand einen Affen sehen,« rief Herr Häferlein gekränkt, »aber meinetwegen lauft!« Er ließ die beiden los, und unwillkürlich tat sich zwischen den Zuschauern ein Gäßlein auf, da konnten die Schelme hindurchschlüpfen, ohne Gruß und Dank -- weg waren sie. Der arme Herr Häferlein hatte den Ärger gehabt, und einen Dank bekam er auch nicht, denn Laura führte Alette fort; die wurde gleich von den Grills in die Mitte genommen und wie ein richtiges Prinzeßchen in das Haus zur Linde geführt. Die Zuschauer verliefen sich, sie lachten nun doch über den Spaß. Auch der Polizist ging von dannen, der Bäckermeister tat es auch, brummend freilich, denn er hätte den Sternbuben eine tüchtige Strafe gegönnt, und nur Herr Häferlein blieb vor seinem Laden stehen. Er war ganz traurig. Hartherzig, grausam sollte er sein, bloß weil er die unnützen Buben hatte strafen wollen. Er seufzte schwer; eine verkehrte Welt, eine ganz verkehrte Welt, dachte er. Da kam Fräulein Laura aus der Linde zurück. Sie blieb ein Weilchen mitten auf der Gasse stehen, die lag noch halb in der Sonne, halb schon im Schatten, die Rose aber stand auf der Sonnenseite. Eigentlich ist's doch ein hübsches Haus, dachte Laura, sehr hübsch. Auf einmal sah sie Herrn Häferlein vor seiner Türe stehen mit einem Gesicht wie ein Novembertag. Dem gutmütigen Fräulein tat das leid. Sie trat rasch näher und sagte freundlich: »Es war sehr nett von Ihnen, daß Sie die Buben laufen ließen, Herr -- Herr --« Laura sah zu dem Ladenschild empor, »ach, Sie heißen ja Häferlein, August ist nur Ihr Vorname.« »Ja!« Der Kaufmann sah immer noch etwas gekränkt drein. »Eigentlich ist's ein guter Name. Mein Vater hieß so und mein Großvater, aber freilich, -- einen Affen habe ich noch nie August nennen hören.« »Daran bin ich schuld,« antwortete Laura. »Als ich den Affen sah, mußte ich lachen und sagte: ›Nein, so ein komischer August!‹ Dies hat Alette so gefallen, daß sie das Tierchen dann August genannt hat. Ich will ihr's aber sagen, sie soll es wieder Pussie nennen wie früher, solange wir hier sind.« Herrn Häferleins Gesicht wurde nun ganz hell, das letzte Restchen Groll entwich daraus. Und weil er ein höflicher Mann war, verneigte er sich und sagte wohl sechsmal: »Das ist zu nett, zu nett.« Und als er mit aller Dienerei und Nettsagerei endlich fertig war, klappte die Türe, Laura war in das Haus zur Rose eingetreten, und Herr Häferlein stand wieder allein auf der Gasse. [Illustration] Sechstes Kapitel. In der Linde. Schnupperle begrüßt den Gast etwas seltsam, und Steffen schlägt vor, in das Räuberschlößle zu gehen. Die Kinder erleben dort wundersame Abenteuer. Herr Baldan spricht mit Herrn Häferlein, und Herr Häferlein ist nicht zu sehen. Trinle Grill sagt, um ein gutes Kleidle muß man sich grämen. Laura erscheint, muß aber flüchten; sie wird böse und und wird wieder gut und lädt zu Schokolade und Kuchen ein. »Nun bist du endlich bei uns,« rief Trinle Grill, als Alette den Hausflur betreten hatte. »Ja, endlich,« rief Kasperle. Sie taten, als hätten sie mitsammen schon zehn Jahre auf Alettes Besuch gewartet. Und just als wäre sie schon seit zehn Jahren mit den Grills in Freundschaft verbunden, so heimatlich, traulich, so zu Hause fühlte sich Alette Amhag gleich in der Linde. Sie saß unter den andern am Familientisch und vergaß darüber allen Gassenlärm, und sie lachte so herzhaft, wie sie noch wenig gelacht hatte. Alles gefiel ihr, und selbst den Bauchwehtröpflegeruch fand sie lieblich, und das Honigbrot schmeckte ihr wie selten etwas. Nach der Schmauserei mußte sie das Haus sehen. Die Buben fanden dies zwar überflüssig, aber Trinle entschied: »Sie muß doch wissen, wie's bei uns ist!« Das war richtig, und alle fünf zogen sie treppauf, treppab. In alle Stuben und Kammern schauten sie hinein, auch in die, in denen eigentlich nichts zu sehen war. Ein paarmal verlangten die Buben: »Mach Schluß!« Aber immer behauptete Alette: »Es gefällt mir.« Und es gefiel ihr auch wirklich. Es war nämlich, als säße sie auf einmal mitten drin in einer Geschichte ihres Großvaters. Breitenwert und das Löwengäßle waren dem über alles gegangen, und die Linde stimmte viel mehr in seine Erzählungen hinein als die Rose. Drüben war der Hausrat neu, alles war still und kühl, aber hier war es so, wie es der Großvater geschildert hatte. Doch die Buben sagten endlich: »Nun ist's genug, jetzt gehen wir in den Kaninchenstall und dann ins Räuberschlößle; da wirst du staunen, das ist am feinsten!« »Geht net, das darf sie net,« rief Trinle plötzlich. »Hoho, Trinle, rappelt's bei dir, warum net?« riefen Veit und Steffen entrüstet. »In unsern Kaninchenstall kann man einen König führen, warum nicht Alette?« Trinle schüttelte ihren Kopf, als wäre der ein Apfelbaum. »Geht net, ihr Kleidle ist zu fein.« Die Buben schauten betroffen das Kleid von oben bis unten an, liefen um ihren Gast rund herum und sagten schließlich beide kleinlaut: »Seide ist's.« Und auf einmal fühlte Alette, wie die Blicke der vier Geschwister staunend, ja ein wenig fremd und scheu auf ihr ruhten, und es war ihr, als trenne sie das schöne Kleid wieder von den neuen Freunden. Sie schluchzte auf und klagte. »Das dumme Kleid, ach, und ich will doch so gern in den Kaninchenstall, so furchtbar gern!« Der Wunsch war den Geschwistern begreiflich, aber das Kleid war doch bedenklich. Sie selbst wurden gehalten, ihre Sachen gut zu schonen, und Feiertagskleider paßten nicht für alle Spiele. »Ich hab' doch noch so viele seidene Kleider!« jammerte Alette Amhag. Sie tat dies in einem Ton, als verkünde sie, sie sei arm wie eine Kirchenmaus. »Viele?« rief Steffen. »Oh, wenn du noch viele hast, kannst du mit!« Aber Trinle forschte erst vorsichtig: »Sag mal, wie viele, und trägst du oft alltags so feine Kleidle?« »Ja,« flüsterte Alette bedrückt, »ich habe drei Koffer voll.« Da war auch Trinle beruhigt, und alle vier führten ihren Gast in den Kaninchenstall, der in einem Hofwinkel lag, und in dem nicht allein Kaninchen, sondern auch eine weiße Ziege wohnte. Die gehörte Veit zu eigen, aber die andern taten meist, als gehöre ihnen die Ziege ebenfalls, womit Veit nicht immer einverstanden war. Er war von ihrer Klugheit und Schönheit entzückt und erzählte Alette gleich: »Sie ist furchtbar klug; wenn man sie was fragt, antwortet sie. Paß mal auf!« Er schrie die Ziege laut an: »Schnupperle, hast du Hunger?« »Mmmäh!« machte die schläfrig. »Siehst du, sie hat geantwortet!« erklärte der Eigentümer triumphierend. »Was denn?« fragte Alette verdutzt »Nein hat sie gesagt; das versteht doch jeder!« rief Veit. Das Lachen der Geschwister ärgerte ihn, und er bat: »Sag, Schnupperle, kennst du mich?« »Mmmäh!« Die Ziege glotzte ihren kleinen Herrn dumm an, aber der erklärte stolz: »Jetzt hat sie ›ja‹ gesagt.« »Ich will sie auch was fragen,« sagte Alette eifrig. Sie trat neben die Ziege und bat: »Sag mir, wie du heißt.« »Mmmäh!« Schnupperle hielt den Kopf schief und schielte Alette von der Seite an. Ob der Ziege das seidene Kleid so gut gefiel, oder ob sie dem Gast besondere Höflichkeit erweisen wollte, verriet sie nicht, aber sie sprang urplötzlich auf Alette zu. Die verlor das Gleichgewicht und purzelte in das Stroh hinein, das auf dem Boden lag. »Pfui, aber pfui, Schnupperle!« schalt Trinle. »Du bist dumm; Alette hat doch ein seidenes Kleidle an!« Ängstlich half sie der Freundin empor und strich ihr das Kleid zurecht. »So ein dummes Schnupperle!« Alette sah etwas erschrocken aus, aber sie weinte nicht. Damit erntete sie Veits Anerkennung. Der sagte: »Na, wenigstens flennst du net gleich! Schnupperle wollte dir nämlich nur guten Tag sagen, so nett ist das Tierle -- uff!« Patsch, lag Veit im Stroh, und das liebenswürdige Schnupperle sah aus, als wolle es dies sonderbare Spiel mit allen seinen Besuchern fortsetzen. Die hatten keine Lust dazu, und da die Kaninchen sich in allen Winkeln verkrochen hatten, schlug Steffen vor: »Wir gehen ins Räuberschlößle, das ist am allerfeinsten.« »Räuberschlößle!« Alette riß ihre Augen weit auf. Das klang wie finsterer Wald, wie Schreck und Grauen, klang gar nicht verlockend. Doch die vier Geschwister erzählten alle auf einmal, ungeheuer schön sei's und gar nicht graulich. »Es sind nur manchmal 'n paar Mäusle drin, sonst nichts,« versicherte Veit, und Steffen erzählte: »Herr Baldan sagt: es geistert, aber der will uns nur schrecken.« »Es hat einen Turm,« berichtete Trinle. »Johann freilich, unser Gärtner, sagt, der fällt bald ein und die Decke auch, aber fein ist's doch!« »Und schmutzig auch nicht,« schwätzte Kasperle. »Nur Berta nennt mich immer Dreckbartele, der aus dem Schmierwinkele kommt.« Da ging denn Alette neugierig mit, um dieses seltsame Wunderwerk zu schauen. Sie dachte es sich groß und düster, fürchtete sich heimlich ein wenig und blieb dann höchst verdutzt vor einem kleinen Gartenhaus stehen, das einen lächerlich kurzen, dicken Turm hatte. Das ganze Ding sah aus, als hätte beim Bauen einer aus Versehen den Turm wo anders hergenommen. »Gelt, fein ist's!« rief Steffen und stieß die Türe auf, die schon etwas morsch war. Drinnen standen Gartengeräte, ein paar Stühle und Tische, die offenbar hier überwintert hatten. Eine blitzeblaue Tapete bedeckte die Wände, und an der Seite führte eine altersschwache Holztreppe zum Turm hinauf. »Dort oben ist's am schönsten, dort sitzen wir immer, wenn wir Ritter und Räuber spielen,« erklärte Veit mit stolzer Handbewegung. »So gut spielt sich's nirgends wie hier.« »Aber,« klagte Kasperle, »allweil muß ich 's Prinzeßle sein; Trinle will net.« »Ich bin Räuber,« rief Trinle kühn; »weißt, Alette, du kannst fein Prinzessin sein, und ich raube dich und verstecke dich im Kaninchenstall oder im Kartoffelkeller, und die Buben befreien dich.« »Ja, wir sind zusammen Prinzeßle,« bettelte Kasperle, und seine kleine, dicke Hand legte sich in die der Freundin. Da erschien der der Kaninchenstall und der Keller nicht mehr so furchtbar; mit dem Kasperle zusammen hielt sie es dort wohl aus. Und sie stieg auch ganz tapfer mit den Geschwistern die wackelige Treppe empor und überschaute von dort aus das Gewirr von Gärten und Höfen, das sich unter dem Turm ausbreitete. Über den Büschen lagen grüne Schleier, die Bäume schimmerten rötlich, alles erzählte vom Frühling, der bald kommen würde. »Die Störche sind schon da,« rief Trinle froh, und Kasperle tat gleich seinen Mund auf und sang den Heimgekehrten jubelnd zu: »Storch, Storch, Steiner, Mit den langen Beiner, Flieg mir in das Bäckerhaus, Hol mir einen Weck heraus. Ist der Storch nicht ein schönes Tier, Hat 'nen langen Schnabel und säuft kein Bier?« [Illustration] Alette Amhag hatte noch nie einen Storch gesehen, sie hatte noch nie mit Gesang einen Vogel begrüßt und sich so auf den Frühling gefreut, wie es die Grills taten. Die zeigten ihr das runde Nest auf einem spitzgegiebelten Haus und erzählten ihr von kommenden Sonnentagen, von ihren Gartenspielen und den Festen, denn alle vier waren Sommerkinder und feierten darum so viele Sommerfeste. Über dem Schwatzen vergaßen alle ein wenig die Zeit. Plötzlich duckte sich Veit und sagte rasch: »Kauert euch zusammen, unten geht Herr Baldan.« Der Provisor konnte das Räuberschlößle nicht leiden. Er sagte immer, es sei zu baufällig, behauptete, es könnte einfallen, und wenn er darum die Kinder drinnen traf, schalt er und trieb sie hinaus. Denen gefiel das nicht. Sie huschelten sich geschwinde zusammen, und Veit legte sich platt auf den Boden, um ein wenig hinabsehen zu können. Trinle vertraute Alette flüsternd an, warum sie sich vor Herrn Baldan versteckten, bis Veit ihr zuraunte: »Still doch, er kommt!« Unten knarrte die Türe, und der Eintretende brummte: »Schon wieder nicht verschlossen!« Herr Baldan hatte die Eigenschaft, laut mit sich selbst zu reden, zumal wenn er sich über irgend etwas oder irgend jemand geärgert hatte. Da dies oft vorkam, mußte er viel mit sich reden. Dazu suchte er gern das Räuberschlößle auf und ärgerte sich, wenn er die Kinder darin fand. An diesem Tage galt sein Groll noch immer Herrn Häferlein, und da er um diese Stunde gerade wenig zu tun hatte, suchte er das Gartenhaus auf und schritt nun in dem kleinen Raum aufgeregt hin und her. »Herr Häferlein, das war nicht nett von Ihnen,« schrie er plötzlich, und die Kinder im Turmstübchen erschraken. War denn Herr Häferlein unten? Veit tuschelte: »Der ist gar net da!« »Nein, freundschaftlich war das nicht, Herr Häferlein, auf so ein dummes Kindergeschwätz hin mich gleich anzuschreien. Kasperle ist doch ein Dummkopf!« schalt Herr Baldan. Kasperle riß Mund und Augen auf, und Trinle legte rasch ihre Hand auf seinen Plappermund. »Still, still!« flüsterte sie. »Es ist freilich schrecklich, daß so ein unvernünftiges Tier August heißt, man muß sich ja ärgern, ja ärgern!« Herrn Baldans Stimme schwoll an: »Ich werde den Affen umbringen, jawohl, umbringen!« Alette, die mit ängstlichen Augen zuhörte, bekam gleich zwei Hände auf den Mund. Trinle und Steffen machten gleichzeitig »pst, pst«. »Sind Mäuse hier?« rief Herr Baldan unten und rasselte mit einem Stuhl. Die Kinder, die wohl wußten, daß der gute Herr Baldan ein wenig furchtsam war, unterdrückten ein Kichern, und dabei entrutschte dem Kasperle sein Murmelsäckchen, das er zu Lust und Zeitvertreib immer mit sich herumtrug. Es ging auf, und gerade als unten Herr Baldan vorwurfsvoll rief: »Sie sind schuld, Herr Häferlein,« rollerten und kollerten alle grauen, blauen, roten und grünen Murmeln über den Boden der Turmstube dahin, und etliche hopsten und sprangen mit viel Getöse die Treppe hinab. Herr Baldan meinte nicht anders, als der ganze Turm fiele zusammen. Vielleicht, ja vielleicht waren es auch wirklich Ratten, Mäuse oder sonst unheimliche Wesen! Herr Baldan sah nicht erst nach, Herr Baldan riß aus. Rutsch, war er draußen, warf die Türe zu, schloß auch noch den Schlüssel herum, und Veit, der an eins der Fenster gesprungen war, rief: »Er rennt weg!« »Er holt jemand,« sagte Steffen bedächtig, »kommt fix raus.« »Meine Murmeln!« klagte Kasperle, und Trinle bückte sich rasch, hob auf, so viel sie erwischen konnte, und versprach: »Wir suchen die andern morgen.« Damit war Kasperle zufrieden, und alle kletterten die Treppe hinab, um das Räuberschlößle zu verlassen, aber wie es wohl einst in richtigen Räuberwohnungen manchem ergangen sein mochte, sie fanden die Tür verschlossen, sich gefangen. Alette Amhag erschrak sehr, aber die Grills lachten sie aus. »Ich steige durch das Fensterle und schließe euch die Türe auf,« erklärte Veit. Er öffnete das kleine Fenster und sprang hinaus; Steffen folgte. Beide liefen zur Türe und riefen von dort: »Er hat den Schlüssel mitgenommen.« »Da springen wir auch durch das Fensterle,« sagte Trinle gelassen. Sie fand das weder aufregend noch sonderbar; aber Alette, die noch nie in ihrem Leben so etwas getan hatte, wehrte sich ängstlich: »Nein, nein, ich will nicht.« Sie ist doch eine Zimpersuse, dachte Veit, und er sagte ein bißchen von oben herab: »Na, freilich, du bist ja auch net aus dem Löwengäßle!« Alette Amhag erglühte tief. Das Wort kränkte sie, und schon stiegen ihr langsam die Tränen in die Augen, als Trinle sie tröstend umfing. »Ich helfe dir, das lernst du schon.« Trinle half, Steffen half, Veit wollte helfen und Kasperle auch, und es ging nach dem Wort, daß viele Köche den Brei verderben. Alette kam so ungeschickt als möglich aus dem Räuberschlößle heraus: ihr seidenes Kleid trug drei lange Risse davon, und daß sie nicht auf die Nase fiel, war ein Wunder zu nennen. Über das zerrissene Kleid war Trinle außer sich, Alette gar nicht; die tröstete: »Ich gehe gleich hinüber und ziehe ein anderes an.« Doch Trinle stellte ihr Jammern nicht ein, und die Brüder riefen geärgert: »Na, wenn sie sich selbst net grämt und noch so viele hat, dann brauchst du doch net zu jammern, als hätte sich Alette den Kopf abgerissen.« Aber da wurde Trinle böse. »Über ein zerrissenes Sonntagskleidle muß man sich wohl grämen,« rief sie, »sonst ist man ein Schlumperle.« »Na, da gräm dich!« fuhr Steffen Alette an, und obgleich die gar nicht wußte, was eigentlich ein Schlumperle war, fing sie doch gleich an zu weinen, und die Geschwister mußten sie alle miteinander trösten. Zum Unglück kam just Laura, um Alette abzuholen, und als sie die letzten Tränen sah, -- denn Alette wollte gerade lachen -- erhob sie ein lautes Klagegeschrei. »Was haben sie dir getan, mein Zuckerlämmchen?« jammerte sie. »Sei doch still,« flehte Alette erschrocken, »wir waren doch nur im Räuberschlößle!« »Wo?« kreischte Laura entsetzt, »wo haben sie dich hingeführt?« »Alette ist nur zum Fensterle rausgesprungen,« erzählte Kasperle. »Ja, weil Herr Baldan kam,« erklärte Trinle, »da mußten wir flüchten.« »Um des Himmels willen!« Laura schlug die Hände zusammen; sie hatte keine Ahnung, wer Herr Baldan war. Der Gedanke, Alette habe flüchten müssen, und der Name Räuberschlößle brachten sie in die größte Aufregung. Den Kindern war das Geschrei sehr unangenehm; wenn es drinnen im Hause gehört wurde, wenn es gar Herr Baldan ... »Da kommt Herr Baldan,« rief Kasperle, und Steffen, der immer sehr dafür war, geheimnisvoll zu flüchten, zu tun, als wären Indianer im Anzug, tuschelte erschrocken: »Fliehen, wir müssen fliehen!« »Alle guten Geister,« stöhnte Laura, »das ist ja gräßlich! Wer überfällt uns denn?« »Schnell, schnell,« drängten die Buben, »er kommt!« Sie schoben Laura; Trinle, Alette und Kasperle zogen, Steffen befahl: »In den Stall!« In rasender Eile ging es durch den Garten auf den Hof, und Laura befand sich auf einmal in einem Kaninchenstall, und Schnupperle begrüßte die Gesellschaft mit lautem »Mäh!« »Hu!« kreischte Laura und wich entsetzt zurück, »was für 'n Tier!« »Das ist doch nur Schnupperle!« rief Veit gekränkt. »Und überhaupt, hier ist's doch fein!« »Was, fein? Ich möchte wissen, was hier fein ist!« schalt Laura. »Und nun sagt einmal, warum sind wir eigentlich ausgerissen?« »Wegen Herrn Baldan; weil der mit Herrn Häferlein geredet hat und Herr Häferlein doch nicht da war, und sich Herr Baldan darum ärgert, wenn man das hört, darum!« erklärte Veit. »Ach!« Laura riß Mund und Augen sperrangelweit auf; sie war noch genau so klug wie vorher, und wenn ihr jemand etwas auf Chaldäisch gesagt hätte, so hätte sie nicht weniger verstanden. Eins nur merkte sie, daß die Flucht nicht so nötig gewesen war, und sie sagte: »Alette, erzähl du mal, wo --« »Im Räuberschlößle habe ich mein Kleid zerrissen,« unterbrach sie Alette rasch, die dachte, die Frage gelte dem Kleid. »Dein Kleid?« Nun erst sah Laura die drei Risse; sie wollte schelten, aber sie kam nicht dazu, denn nun redete Trinle, und Kasperle, Veit und Steffen sagten auch etwas. Alette sprach mit hinein, und Schnupperle schrie fortgesetzt »mäh, mäh!« Dazu war es so eng im Stall und roch sehr schlecht. Laura stöhnte: »Laßt mich raus, und du, Alette, komm, du erzählst mir drüben alles!« Die Grills fanden Laura etwas sehr schwer von Begriffen; sie hatten sich doch so viele Mühe gegeben, ihr alles zu erklären. Sie söhnten sich aber rasch mit ihr aus, da Laura, die sah, wie ungern sich Alette von den neuen Freunden trennte, gutmütig alle vier Nachbarskinder zu Schokolade und Kuchen einlud. »Samstag,« sagte sie; das war übermorgen, also bald. Nur Kasperle klagte: »So lange!« »Drüben gibt's wenigstens keine Räuberhöhle und keinen Stall!« meinte Laura. »Aber Augustle ist drüben, grüß Augustle schön!« Und an den Affen dachten die Kinder noch, als Alette wieder mit Laura über die Straße schritt, und alle vier riefen beiden nach: »Viele Grüße an Augustle; er soll uns mal besuchen.« Gleichzeitig sagten Herr Häferlein in seinem Laden und Herr Baldan in der Apotheke: »Unerhört ist's doch, einen Affen August zu nennen, ganz unerhört; so einen schönen Namen gibt man doch nicht einem Affen!« Siebentes Kapitel. Gundels Kummer. Laura ärgert sich über Frau Tippelmanns Sprichwörter, aber Herr Häferlein freut sich darüber. Er will versöhnen, läuft in den Silbernen Stern und ärgert sich wieder. Die Sternbuben kommen gut weg; sie wollen Alette Amhag heiraten und haben am nächsten Morgen ihre guten Vorsätze noch nicht vergessen. Ein trauriger Schulweg. Gundel geht heim, die Sonne schmunzelt, und Alette verspricht, August zu holen. In der Rose erzählte Alette Amhag die Erlebnisse des Nachmittags, und ihre Augen strahlten dabei. Sie fand, es sei doch wunderwunderhübsch gewesen. Aber Laura war unzufrieden. »Im Grunde ist das kein Verkehr für dich,« schalt sie, »na, wenigstens dauert es nicht lange!« »Sie ist doch keine Prinzessin auf der Erbse!« brummelte Frau Tippelmann. Sie meinte, eine Amhag aus der Rose passe wohl zu denen aus der Linde. Alette fing das Wort auf. »Was ist das, eine Prinzessin auf der Erbse?« fragte sie. »Wo wohnt die?« »Im Märchen!« Frau Tippelmann kannte nur dies Wort, nicht das Märchen, und sie geriet in Verlegenheit, als Alette sehr stürmisch flehte, sie solle ihr das Märchen erzählen. »Ich weiß es nicht, wirklich nicht,« beteuerte sie, als sie in die enttäuschten Augen der Kleinen sah; »Märchen kann ich nicht erzählen, nur Geschichten, wahre Geschichten aus alten Zeiten.« Wenn Frau Tippelmann gedacht hatte, sie würde damit Alette abschrecken, so irrte sie sich. Alette bat immer dringlicher um eine Geschichte. Weil ihre Bäckchen aber schon glühten und sie ungewöhnlich aufgeregt war, erklärte Laura, heute nicht mehr, heute müsse sie schlafen, morgen dann. »Ja, morgen,« versprach Frau Tippelmann, »morgen ist auch ein Tag. Jetzt muß ich noch zu Herrn Häferlein gehen und einkaufen.« Da gab sich Alette zufrieden. »Ich freue mich sehr,« sagte sie und streckte Frau Tippelmann zutraulich die Hand hin. Die strich ihr zum erstenmal liebkosend über das sanftgelockte Haar und sagte den alten Spruch, den einst vor langen Jahren ihr die eigene Mutter allabendlich mitgegeben hatte: »Schlaf gut in Gottes Hut. Es schüttle dir ein Engelein ein flitterbuntes Träumelein von seinem Himmelsbäumelein!« Laura, die eifersüchtig war, brummte: »Ewig die Sprichwörter, zu langweilig ist's!« Aber drüben bei Herrn Häferlein erntete Frau Tippelmann dann mehr Dank. Der Kaufmann hatte bis zu dieser Abendstunde sehr viel zu tun gehabt; seine Ladenklingel war nur so gehopst und gesprungen, ganz atemlos zitterte sie und kam gar nicht zur Ruhe. Die Käufer strömten unablässig in den Laden hinein, und jeder tat zuerst die Frage: »Was war denn heute hier los?« Man hatte die wunderlichsten Geschichten in Breitenwert erzählt von den Vorfällen am Nachmittag. Die einen sagten, Herr Häferlein habe einen tollgewordenen Affen in seinem Geschäft, die andern wußten zu berichten, alles sei zerschlagen im Laden, Herr Häferlein selbst sei halbtot. Wieder andere wollten wissen, der Kaufmann sei selbst toll geworden, und aus lauter Neugier kamen die Leute und kauften. Da hieß es: »Bitte, für zwanzig Pfennige Mandeln, und erzählen Sie doch mal, was hier los war!« Oder eine Frau verlangte für fünf Pfennige Pfeffer und sagte dazu: »Aber recht genau erzählen, ich habe Zeit!« Herr Häferlein hatte gewogen, eingepackt und erzählt und wieder gewogen und eingepackt und erzählt, und als Frau Tippelmann kam, war er schon rechtschaffen müde, aber doch sehr vergnügt. Er rief der Frau gleich entgegen, er wolle in den Silbernen Stern gehen und sich dort mit Herrn Baldan versöhnen, der abends meist ein Stündchen das Gasthaus aufsuchte. »Ist recht so!« Frau Tippelmann nickte zufrieden. »Wer seine Nachbarn schilt, weiß bald, was er selber gilt,« sagte sie. »Ich bin ja auch friedfertig,« versicherte Herr Häferlein, »nur den Sternbübles verzeih ich's nicht; die werden heute noch bei ihrer Mutter verklagt. Sonst bin ich nicht für Zank und Streit.« »Kommt auch nichts dabei heraus. Denn wenn zwei zanken um ein Ei, steckt's der dritte bei,« gab Frau Tippelmann zur Antwort. »Und nun gute Nacht!« Herr Häferlein sah seiner Nachbarin voll Bewunderung nach. Sie ist doch eine erstaunlich kluge Frau, dachte er, immer weiß sie für alles das rechte Wort. Na ja, an mir soll es nicht liegen, ich will mich schon mit Herrn Baldan versöhnen! Nur die Sternbuben, die müssen eins ausgewischt kriegen. Herr Häferlein schloß seinen Laden und lief auf einem Umweg in den Stern. Herr Baldan verließ nur um zehn Minuten später die Lindenapotheke und kam eine halbe Minute vor dem Kaufmann im Stern an. Ihm wäre ein Umweg auch gut gewesen, da hätte er sich vielleicht ausgescholten. Seit er am Nachmittag so sonderbar im Räuberschlößle in seiner Rede gestört worden war, hatte er noch keinen Augenblick Zeit gehabt, weiter mit Herrn Häferlein abzurechnen. Sein Groll lebte noch, und kaum erblickte er den freundlichen Nachbar, da fuhr er diesen an: »Ei, pfui, Herr Häferlein, Sie haben sich aber nicht nett benommen!« Wenn nun einer, der gerade versöhnliche Gedanken im Herzen trägt, so angeschrien wird, dann ärgert er sich meist, und Herr Häferlein ärgerte sich sehr. Er gab eine patzige Antwort, und zum Überfluß fragte noch jemand: »Haben Sie Ihren Affen mitgebracht?« Da war es aus. Hui, fuhr Herr Häferlein auf! Frau Tippelmann hatte einmal von ihm gesagt, er gliche einem Töpfchen voll Sahne, er sei sanft und mild, aber wenn er einmal ins Kochen gerate, dann sei kein Halten mehr, er brodele über. So war es jetzt. Ein paar Gäste redeten freundlich zu. Herr Baldan selbst hätte gern eingelenkt, aber das half nichts. Der Kaufmann sagte seinem ehemaligen Freund bitterböse Worte; dann lief er zu der einen Türe hinaus, Herr Baldan zur andern. Draußen rannte einer nach rechts, der andere nach links, und dann kamen sie doch beide zu gleicher Zeit in der Löwengasse an. Hier fuhren sie noch einmal aufeinander los, und jeder dachte bei sich: Nun ist es aus, ganz aus mit der Freundschaft. Bei diesem Streit, der den beiden ehemaligen Freunden trübe Stunden genug schaffte, waren die beiden Sternbuben gut weggekommen, denn Herr Häferlein hatte in seinem Ärger vergessen, sie bei der Mutter zu verklagen. Die hatte gedroht: »Kommt Herr Häferlein, dann mag er euch selbst bestrafen.« Doch dies Ungemach ging an beiden vorüber, und sie spazierten an diesem Abend höchst vergnügt zu Bett. Es war leider so, die Sternbuben fanden ihren Streich sehr lustig, und obgleich ihre Schwester Gundel geklagt hatte, sie wären böse, erklärten sie doch immer wieder, es wäre fein gewesen. Freilich meinten sie nicht die Minuten damit, die sie in Herrn Häferleins Händen gewesen waren; da schüttelten sie sich noch in der Erinnerung. Sie hatten das Gundel mit großem Eifer geschildert; grausig war es gewesen, wie Herr Häferlein sie gepackt hatte und sie beinahe geschlagen hätte, -- wenn nicht Alette Amhag gekommen wäre. O Alette! Die Sternbuben waren ein paar wilde, unnütze Schlingel, frech, faul, borstig, meist auch etwas schmutzig, zu vielerlei Missetaten aufgelegt, und doch blühten auch in den Gärtlein ihrer Herzen schöne Blumen. Vor lauter Unkraut waren sie oft nicht zu sehen, aber vorhanden waren sie, und an diesem Tag hatte die Dankbarkeit ihren lichten Kelch entfaltet, die Dankbarkeit für das freundliebe Mädchen, das sie aus Herrn Häferleins Händen befreit hatte. Immer wieder erzählten sie Gundel von ihr, und immer wieder wollte Gundel von Alette hören. Peter, der ein dicker, kleiner Stöpsel war, ahmte mit viel Gepolter nach, wie Alette angekommen sei. Er quiekte dabei wie ein kleiner Hund, der sich den Schwanz einklemmt; das sollte Alettes flehendes Rufen vorstellen, und Mathes sagte auch jedesmal: »So hat sie's gemacht.« Und wieder dachte Gundel ohne Neid, aber mit viel Sehnsucht: Wäre das fremde Mädchen doch meine Freundin! »Ihr müßt euch bedanken,« sagte sie zu den Brüdern. Die hätten das schon gern getan, aber wie? Einfach hingehen und sagen: »Danke schön,« das ging doch nicht! Dazu waren die frechen Sternbübles wieder viel zu schüchtern. Auch Gundel fand diesen einfachen Weg furchtbar schwer; sie riet: »Ihr müßt ihr schreiben.« Die Brüder lagen schon im Bett, als sie ihnen diesen Vorschlag machte, und beide krochen mit einem wilden Aufschrei unter ihre Deckbetten. Einen Brief zu schreiben, etwas so Ungeheuerliches mutete ihnen die Schwester zu! »Uff!« stöhnte Peter, aber Mathes fand einen Ausweg: »Schreib du; du nimmst so ein feines Bögle mit Vergißmeinnichtle drauf, wie du an Weihnachten bekommen hast. Da freut sie sich.« »Ja, schreib du!« Peterle kam auch wieder unter dem Deckbett vor. »Wir tragen's hin und werfen's rein.« »Wie heißt sie denn?« fragte Gundel zögernd. Die Buben sahen sich an; ja, ja, das wußten sie gar nicht. Gundel atmete erleichtert auf. »Dann kann ich net schreiben. Aber ein Blumensträußle könntet ihr hintragen.« Huje, ein Sträußle! Die Buben kreischten vor Vergnügen und strampelten in ihren Betten hin und her. Der Gedanke, mit einem Strauß in die Rose zu gehen, erschien ihnen zu närrisch, und Mathes prustete endlich heraus: »Wir sind doch kein Mädle!« »So dumm ist das gar net,« verteidigte Gundel gekränkt ihren Vorschlag. »In einem Geschichtenbüchle von mir steht von einem Büble, der das getan hat. Erst hat er Gänsle gehütet und dann das vornehme Fräulein geheiratet.« Heiraten, Alette Amhag heiraten, ja, das war etwas Feines! »Ich heirate sie auch,« schrie Peter sehr bereitwillig. »Nein, ich will sie heiraten,« brüllte Mathes. »Ich hab's zuerst gesagt, gelt Gundel?« »Ich bin aber älter, ich heirate sie.« Peter besann sich einen Augenblick, dann rief er rasch: »Du heiratest sie, und ich krieg's Äffle.« »Nein, das will ich,« rief Mathes kirschrot, »dann heirate du sie.« »Aber hört doch,« rief Gundel erschrocken ob dieses Geschreis, »sie will euch doch gar net heiraten!« »Warum denn net?« Peter und Mathes fragten es erstaunt wie aus einem Munde; sie selbst fanden ihren Plan, Alette Amhag dereinst aus Dankbarkeit heiraten zu wollen, wundervoll. Gundels sanfte Augen füllten sich mit Tränen, und sie sagte traurig, so recht aus bekümmertem Schwesternherzen: »Weil -- ach, weil sie euch doch alle die wüsten Sternbuben nennen und -- und -- euch niemand im Gäßle leiden mag!« Das stimmte nun freilich, nur vergaßen es die beiden immer wieder. Das Erinnern daran aber war schmerzlich. Die Bübles verschwanden jäh wieder unter ihren Deckbetten, und aus der Tiefe klang nun ein dumpfes Ächzen und Heulen; sie fühlten beide, wie schwer es ist, in einem so schlimmen Ruf zu stehen. Zuerst steckte Mathes seine Nase wieder heraus; er jammerte: »So arg ist's doch net!« Da kam auch Peters Kopf zum Vorschein; der kleine Stöpsel heulte: »Wir meinen's doch net so!« »Mina kommt,« sagte Gundel plötzlich erschrocken. Jemand kam die Treppe herauf, ging draußen entlang, und die drei hielten fast den Atem an; sie sollten eigentlich schon schlafen, und heute mochten sie nicht gerade Minas Zorn reizen. Die Schritte entfernten sich, und Gundel schlich sich hastig aus dem Zimmer, ihr Lichtlein vorsichtig in der Hand tragend. Nun war es dunkel und still in der Stube der Sternbuben, und der Schlaf hätte kommen können. Aber die beiden, die sonst schliefen, ehe sie noch recht im Bett drin waren, lagen noch eine Weile wach; zum erstenmal bedrückte es sie, daß die Löwengasse sie nicht leiden mochte. Um Alettes willen hätten sie schon gern einen bessern Ruf gehabt. Und Peter sagte plötzlich in das Dunkel hinein: »Morgen sind wir brav.« »Ja,« murmelte Mathes kleinlaut, »aber -- die Schularbeiten!« Da seufzten sie beide tief und schwiegen -- die Schularbeiten hatten sie beide nicht gemacht. Als die Sternbuben am nächsten Morgen aufwachten, hatten sie, merkwürdig genug, die guten Vorsätze des Abends nicht ganz vergessen. Daher rasten sie nicht wie sonst der Schwester davon, sondern warteten auf sie. Sie fanden nämlich auch, es ginge sich leichter zu dreien an Herrn Häferleins Laden vorbei. Der Kaufmann stand nicht vor seiner Türe; der saß verdrießlich innen. Hätte er zwei linke Füße gehabt, er wäre an diesem Morgen mit ihnen beiden zuerst aufgestanden, so schlecht war seine Laune. Trotzdem war der Schulweg nicht lustig für die Sternbuben, und in der Schule erging es ihnen auch übel genug. Man narrt nicht ungestraft seine Kameraden, dies bekamen sie an diesem Morgen reichlich zu spüren. Gundel hatte auf dem Schulweg viel um der Brüder willen zu leiden. Sie sah den Zorn der andern, hörte die vielen Spottworte, konnte diese und die vielen Püffe dazu nicht von ihren Brüdern abwenden; nur weinen konnte sie. Weinend kam sie vor der Schule an, weinend trennte sie sich von den Brüdern, und bitterlich weinend betrat sie ihre Klasse. Ihre Kameradinnen fragten sie mitleidig nach ihrem Jammer; auch die Lehrerin, Fräulein Raimund, tat das. Die hatte das sanfte, stille Kind gern, und sie spürte es auch, das waren wirkliche Kummertränen. »Sag, Gundel, was fehlt dir?« mahnte sie. Doch Gundel blieb stumm, und dabei hätte sie so herzensgern von ihrem Leid gesprochen, hätte sich so gern einmal liebreich trösten lassen. Sie wäre auch gern wieder froh gewesen, aber sie konnte nicht; immerzu mußte sie an ihre Brüder denken, die niemand leiden konnte, und zu denen andere Buben gesagt hatten: »Nach der Schule gibt's was!« »Geh heim, Gundel Hinz,« sagte Fräulein Raimund endlich. Sie begann sich zu ängstigen, vielleicht war Gundel krank. Da stand Gundel auf und schlich sich zur Klasse hinaus, und der jungen Lehrerin tat das Herz weh, als sie das blasse Kind so kummerbeladen zur Türe hinken sah. Sie ging ihr rasch nach und fragte sie draußen noch einmal nach dem, was sie bedrückte, aber wieder vermochte Gundel nicht zu sprechen, sie brachte nicht einmal heraus, daß sie lieber in der Schule bleiben wollte. »So geh denn, mein armes Mädle,« sagte die Lehrerin endlich gütig, »vielleicht wird es zu Hause besser.« Und Gundel ging. Sie schlich mit schwerem Herzen scheu durch die Gassen, meinte, jeder müßte ihr die schlimmen Brüder am verweinten Gesichtchen ansehen. Zu Hause, was sollte sie da? Dort hatte niemand Zeit für sie, und Mina schalt gewiß, weil sie aus der Schule so früh heimkam. Es war wieder einer von den hellen, frohen Tagen, an denen sich alles vom Frühling erzählt. Da flüstern und raunen sich die Bäume und Büsche, die Blumen, die noch unter der Erde träumen, zu: »Bald, bald kommt der Frühling.« Ganz alte Bäume wissen lustige liebe kleine Frühlingsgeschichten zu erzählen; sie erzählen sie jedes Jahr, und jedes Jahr freuen sich alle daran. Die Sonne schmunzelt dazu und mahnt: Sputet euch, sputet euch, wachst, sproßt hervor, fühlt nur, wie warm ich schon scheine! Alette Amhag hatte sich von der Sonne verlocken lassen und war, trotz Lauras Schelten, auf die Löwengasse gelaufen. Ach, wie warm und hell die Sonne schien! Alette wartete auf Kasperle und lief die Gasse auf und ab. Ganz still war es. Dem Untermarkt zu ging ein alter Mann, sonst war niemand zu sehen. Da kam Gundel. Sie ging mit gesenktem Kopf und schluchzte noch immer leise vor sich hin. Vor Tränen sah sie niemand und nichts, und sie blieb erschrocken stehen, als Alette Amhag sie mitleidig fragte: »Warum weinst du denn?« Gundel brachte wieder kein Wort heraus; sie stand und atmete schwer. Ach, so gern, so himmelgern hätte sie dem heimlich bewunderten fremden Mädchen alles gesagt! Von den Brüdern hätte sie reden mögen, und wie dankbar für die Hilfe gestern sie war, aber Gundel war eben ein armes Schüchterle, dem nur schwer die Worte kamen. Doch ihre Tränen flossen allmählich sachter, und als Alette wieder und wieder fragte, tat sie den Mund auf, sie wollte sprechen. Aber da kam Kasperle leider dazwischen. Schwatz- und spiellustig trat der aus dem Hause und krähte vor Vergnügen wie ein Hähnlein, als er Alette erblickte. Kasperle begrüßte Alette und schaute Gundel prüfend an. »Das ist die Schwester von den Sternbuben,« rief er. »Nicht wahr, du bist Hinkegundele?« Dies war der Name, den die Löwengasse der armen Gundel gegeben hatte. Niemand ahnte dabei, wie weh der Ruf dem armen Kinde tat. Der Name und das Wort von den schlimmen Brüdern brachte Gundel um alle Fassung. Sie knickte auf dem Bürgersteig zusammen wie ein Bäumchen, über das der Sturm kommt, barg ihr Gesicht in ihre Schürze und schluchzte zum Steinerweichen. Alette suchte erschrocken sie zu trösten; sie streichelte sie ungeschickt und sagte immerzu: »Weine doch nicht, ach, weine doch nicht! Bitte, bitte, weine nicht mehr!« Kasperle stand betrübt dabei; er trat ungeduldig von einem Bein auf das andere und fragte endlich seufzend: »Weinst du noch lange? Augustle wartet doch!« August vielleicht vermochte Gundel zu trösten. Alette kam das jäh in den Sinn, und sie sagte eilig: »Wir holen ihn einmal heraus, da lachst du vielleicht. Willst du?« Gundel gab keine Antwort, aber Kasperle schrie begeistert: »Ja, fein!« Er stapfte auch gleich über die Gasse, und Alette lief ihm nach. »Wir kommen wieder, warte,« rief sie Gundel zu; dann verschwand sie im Rosenhaus. Aber mit dem Wiederkommen ging das nicht so rasch, denn August war leider nicht da, wo er sein sollte. Frau Tippelmann brummte, Laura schalt, und Alette und Kasperle riefen klagend des Äffchens Namen. Alle miteinander liefen im Hause hin und her, suchten oben, suchten unten und fanden ihn schließlich da, wo sie ihn am wenigsten gesucht hätten: in Frau Tippelmanns Wohnzimmer. Da saß er sehr vergnügt auf dem Nähtisch und wirrte alles durcheinander. Er hatte schon eine heillose Unordnung angerichtet. Frau Tippelmann packte ihn zornig und schalt heftig: »So ein Hans Unnütz, so ein abscheulicher Wicht!« August schrie gellend los. Frau Tippelmann hatte eine feste Hand, ihr Griff tat nicht gut, und Laura rief erzürnt: »Sie drücken ihn ja tot!« »I wo,« erwiderte Frau Tippelmann gelassen, »vom Geschrei stirbt einer nicht!« Sie gab aber den Affen Alette, ohne ihn, wie diese gefürchtet hatte, zu strafen. Sie selbst bückte sich still und hob ein paar Glasscherben auf vom Boden. »Hat August was zerbrochen?« fragte Alette ängstlich. »Eine kleine Glasvase scheint's,« erwiderte Laura gleichgültig, »ärgern Sie sich nur nicht, Frau Tippelmann, wir kaufen eine andere.« Es war gut gemeint von Laura, aber es klang doch hochmütig und protzig, und die alte Frau sah ernst das junge Mädchen an. »Man kann nicht alles mit Geld bezahlen,« sagte sie ruhig; »das Gläsle stammt noch von meiner Mutter, es kann mir nicht mit Gold und Silber ersetzt werden.« Da setzte Alette ihren kleinen Liebling rasch zu Boden und schalt ihn nun selbst. »Pfui, August, was hast du getan!« Sie lief auf Frau Tippelmann zu, schmiegte sich an diese an und bat kummervoll: »Seien Sie nicht böse!« Frau Tippelmanns Gesicht hellte sich auf; es war, als hätte sie sich geschwind mit Sonnenschein eingerieben, und freundlich versicherte sie: »Ich bin nicht böse, Kind. Nein, gewiß nicht! Nun nimm nur deinen dummen August, was wolltest du eigentlich mit ihm?« »Der Hinkegundel zeigen,« schrie Kasperle; »die wartet.« »Ach ja,« rief Alette erschrocken, »die sitzt auf dem Gäßle und weint. Ich will schnell, schnell zu ihr.« »Alette, Alette,« mahnte Laura erschrocken, »du kannst doch nicht mit jedem Gassenkind spielen!« Doch Alette Amhag war schon aus der Stube und trabte draußen durch den Hausflur mit Kasperle. Frau Tippelmann aber sagte lächelnd: »Das ist nun mal in der Löwengasse so, und die Amhags stammten halt daher, daran ist nichts zu deuteln und zu drehen.« »Ach was,« rief Laura geärgert, »für die Großmütter mag's gepaßt haben, Alette ist ein vornehmes Kind, das darf nicht hier bleiben! Ich hab's schon an Frau van Bachhoven geschrieben. Wir wollen nach Paris, das ist besser.« »Bleibe im Lande und nähre dich redlich!« murmelte Frau Tippelmann. »Eine Amhag gehört in die Löwengasse, und ein Schnattergänschen mag meinetwegen über den Rhein fliegen.« Das hörte Laura leider nicht mehr, die war den Kindern nachgelaufen und fand die beiden enttäuscht auf der Gasse stehen. Gundel war fort. Sie hatte lange und sehnsüchtig auf Alettes Wiederkehr gewartet, doch endlich war sie heimgehinkt mit schwerem Herzen. Aber sie dachte nicht mit Groll an Alette; für die hatte sie keinen Vorwurf. Nur als sie wieder daheim in ihrem Zimmer war, da flossen ihre Tränen von neuem, und diesmal rannen sie nicht allein aus Kummer um die Brüder, Alette Amhag war auch schuld daran. Ach, warum war sie nicht gekommen! Achtes Kapitel. Eine seltsame Entdeckung. Alette wird traurig und wieder froh; sie geht einkaufen, und Laura sagt zu Herrn Häferlein, es sei gewiß langweilig in seinem Laden. Die Sternbuben sehen die Lindenkinder in die Rose gehen. Sie wollen arbeiten und denken an den ersten April. Wie sich die Nachbarsleute ganz unvermutet im Keller treffen, nachdem Herr Häferlein erst auf der Sauerkrauttonne gesessen hat. Frau Tippelmann schilt nicht, aber Laura denkt doch an die Abreise. Alette war traurig über Gundels Fortgehen, und Alette wurde wieder fröhlich. Sie spielte mit Kasperle, spielte sich hungrig und bekam rote Bäcklein, die ihr sehr gut standen, und über die Frau Tippelmann ihre Freude hatte. Laura dagegen sprach: »Vornehme Kinder sehen nicht so erhitzt aus; es wird Zeit, daß wir aus der Löwengasse herauskommen.« Am Nachmittag wollte Alette zu Frau Tippelmann gehen, die sollte ihr die versprochene Geschichte aus vergangener Zeit erzählen, aber Laura, die eifersüchtig war und Alettes Liebe niemand gönnte, sagte geschwind: »Wir wollen spazierengehen. Frau Tippelmann laß nur, die ist froh, wenn wir aus dem Hause sind.« »Mag sie uns denn nicht leiden?« fragte Alette erschrocken. »Nein, gar nicht.« Laura log und wußte es wohl, daß sie es tat; sie entschuldigte sich aber vor sich selbst: Es ist besser so, Alette soll hier niemand lieb gewinnen; sie bleibt ja doch nicht hier! Sie gingen beide spazieren, und Frau Tippelmann sah ihnen traurig nach. Sie hatte in ihrem Zimmer einen kleinen Tisch gedeckt, hatte ein paar schöne Tassen daraufgestellt, die noch aus der Zeit stammten, da die Amhags wohlhäbig in der Rose gehaust hatten. Aus ihnen sollte Alette an diesem Nachmittag Schokolade trinken. Dabei wollte sie der Kleinen von den Amhags erzählen und sagen, daß sie auch eine Amhag sei. Doch der Tag verging, Alette kam nicht. Sie wich Frau Tippelmann scheu aus, und die fühlte es wohl, und das Herz tat ihr weh. Sie wurde wieder finster und verdrießlich, stellte die schönen Familientassen weg und erzählte nicht, daß sie auch eine Amhag sei. Und wieder wurde Alette traurig, und wieder wurde sie froh, denn gegen Abend kam ganz geschwind Trinle Grill noch einmal gelaufen, erzählte ihr von der Schule und wollte wissen, ob Alette Ostern hineinkäme. »Ich hab's schon meinem Papa geschrieben; er erlaubt es gewiß,« versicherte Alette. »Ach, ich will so gern in die Schule gehen!« Trinle sprang vor Vergnügen. Sie hatte zwar schon acht allerbeste Freundinnen in der Schule, aber für Alette Amhag war noch viel Platz in ihrem kleinen zärtlichen Herzen. »Ich freue mich, ich freue mich!« jauchzte sie. Und dann gab es einen langen zärtlichen Abschied, und beide sagten: »Morgen wird's fein.« Alette hatte noch nie einen richtigen Kinderbesuch gehabt, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, rief sie gleich: »Laura, deckst du bald den Tisch?« Daran dachte Laura nun freilich nicht, aber sie redete mit Alette denn doch von dem Besuch, und wie es sein sollte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, fühlte sich auch im Unrecht gegen Frau Tippelmann und dachte immer: Lange bleibt Alette doch nicht hier, da mag sie meinetwegen in der kurzen Zeit tun, was sie mag. Also ging sie und sprach versöhnlich mit Frau Tippelmann. Die sah wieder um ein bißchen freundlicher drein und gab gute Ratschläge, wie alles herzurichten sei. »Warum sie mich nur nicht leiden mag?« Alette sann darüber nach und kam schließlich auf den Gedanken: Es ist um Augusts willen, denn der kleine Schelm beging an diesem Morgen wieder allerlei unnütze Streiche, und Frau Tippelmann nannte ihn eine Landplage und sagte wieder: »Affen und wilde Bären soll niemand in sein Haus begehren.« Zum erstenmal in ihrem Leben ging Alette an diesem Vormittag richtig einkaufen. Zu dem Zuckerbäcker auf dem Obermarkt und zu Herrn Häferlein. Damit August inzwischen nichts Dummes beging, nahm sie ihn mit. So sah Herr Häferlein auf einmal seinen kleinen schwarzen Namensvetter in seinem Laden. Er sah ihn etwas schief an, aber weil Laura so freundlich lachte, lachte er schließlich auch, er gab dem Äffchen sogar eine Handvoll Rosinen und freute sich mit, wie geschwind der diese verschlang. Da schenkte er ihm noch Zuckerkand, und Laura sagte: »Er wird Sie noch besuchen, wenn Sie ihn so verwöhnen.« Herr Häferlein war wirklich ein überaus höflicher Mann, und weil er dachte, Fremden muß man etwas erzählen, erzählte er dies und das aus Breitenwert. Laura lachte viel; sie fand Herrn Häferlein sehr schnurrig, und Alette Amhag sah sich neugierig in dem Lädchen um. So etwas hatte sie noch nie gesehen, und alle die Kästen mit den kleinen weißen Schildern, auf denen stand, was sie enthielten, bereiteten ihr vielen Spaß. »Nicht wahr,« fragte sie plötzlich, »so einen Laden gibt's nirgendswo als hier im Löwengäßle?« Herr Häferlein lächelte geschmeichelt. »Der ist freilich schön,« sagte er stolz. Doch Laura murmelte etwas verlegen: »Solche Läden gibt's überall in Deutschland -- selbst in Berlin,« fügte sie zögernd hinzu. Sie dachte dabei an den kleinen Vorstadtladen, den ihre Eltern besessen hatten, und in dem sie schon helfen mußte, als sie so alt wie Alette war. Laura redete nicht gern davon. Sie gehörte zu den Menschen, die meinen, ein schlichtes Herkommen und bescheidene Lebensverhältnisse wären eine Schande. Jetzt war sie Fräulein Laura, halb Zofe, halb Gesellschafterin; sie trug schöne Kleider und bildete sich ein, sehr vornehm zu sein, wenn sie Englisch oder Holländisch sprach und von ihren weiten Reisen erzählte. »Ein bißchen langweilig mag's schon sein, alle Tage im Laden zu stehen,« sagte sie dann herablassend und mitleidig und rümpfte ihre Nase. »Komm, Alette, wir müssen gehen.« »Nun, nun,« rief Herr Häferlein, »langweilig ist's gar net. Mir gefällt es ganz gut, und Frau Tippelmann sagt immer: ›Zufriedenheit macht Wasser zu Wein,‹ und da hat sie ganz recht. Ich bin recht zufrieden in meinem Lädle und will's net besser haben auf der Welt.« In Lauras Herzen sang es, ein Klang aus vergangenen Tagen war es, da hatte der Vater auch oft gesagt, wenn die Kinder von größerem Reichtum redeten: »Seid zufrieden, Kinder, mit dem, was ihr habt, denn wer nicht zufrieden ist, trägt an seiner Bürde doppelt schwer.« »Du bist so still geworden, Laura,« fragte Alette draußen, »hat dich Herr Häferlein geärgert?« »Nein,« antwortete Laura hastig, »aber die Löwengasse ist mir langweilig, und den kleinen Laden finde ich gräßlich. Wenn uns nur erst Frau van Bachhoven holte!« »Ich bleibe hier,« rief Alette erschrocken, und es war ihr auf einmal, als sei ihr die ganze Freude an dem schönen Tag vergangen. Sie kam aber wieder, als sie den festlich gedeckten Tisch überblickte und von drüben aus der Linde die Grills herüberkommen sah. Die gingen ganz langsam und feierlich, denn sie hatten sich fein gemacht, und sie fanden, die Löwengasse dürfte es wohl sehen, daß sie in die Rose zu Besuch gingen. Die Sternbuben erkannten das auch wirklich von ferne, und ihre Herzen wurden ihnen schwer. Sie wären gerne auf einmal brave, fleißige Sternbübles gewesen, hätten einen guten Ruf gehabt, um auch von Alette Amhag eingeladen zu werden. Sie rannten denn auch eilig in den Stern zurück, suchten ihre Schwester Gundel und erklärten, sie wollten Schularbeiten machen, und sie sollte ihnen helfen. Das war ein seltener Entschluß. Gundel fragte auch darum ganz bedrückt: »Habt ihr wieder ein dummes Streichle gemacht?« Bewahre! Die beiden verteidigten sich lebhaft. Ihr Gewissen war an diesem Tage so rein wie ein frischgewaschenes Mundtuch, und sie fingen auch wirklich sehr emsig zu arbeiten an, bis auf einmal Mathes sagte: »Am Dienstag ist erster April -- ujeh!« »Erster April!« Peters Augen blinkerten und glänzten da gleich vor lauter Lust, und Gundel rief erschrocken: »Ach je, ihr denkt schon wieder auf ein Dummheitle!« Die beiden verteidigten sich wieder, versicherten, sie wüßten nicht das kleinste Späßle, sie hätten nur so gelacht. »Jetzt wißt ihr noch keins, aber dann fällt euch eins ein,« sagte Gundel traurig, »ihr wollt doch brav werden!« Ja, freilich, das wollten sie doch alle beide. Sie versuchten es also, den ersten April zu vergessen, und steckten wieder emsig die Nasen ins Buch. Sie waren augenblicklich viel gesetzter als die Grillschen, die im Haus zur Rose so viel schwatzten, daß Laura dachte: Das vertrage ich nicht. Sie hörte aber doch zu, was die Geschwister zu berichten hatten, eine ungeheuer wichtige Neuigkeit. Kaum waren sie im Hause, da riefen sie alle stolz: »Wir verreisen.« »Bald, nächste Woche schon,« sagte Veit, und Kasperle fügte hinzu: »Wir bleiben schrecklich lange, und ich fahr mit.« Schrecklich lange! Alette Amhag sah tief erschrocken drein, und Trinle tröstete eifrig: »Schrecklich lange nicht, nur drei Tage.« Dann erzählten sie. Die Großmutter, Frau Grills Mutter, die zwei Stunden Bahnfahrt von Breitenwert entfernt wohnte, feierte am nächsten Sonnabend ihren siebzigsten Geburtstag. Dazu reisten sie alle am Freitag schon hin, und da dort alle Kinder und Kindeskinder der sehr geliebten Großmutter zusammenkamen, kehrten die Grills erst Dienstags heim. Weil ein siebzigster Geburtstag nicht alle Tage in einer Familie gefeiert wird und der Tag nun einmal nicht in die Ferien fallen wollte, hatten die Kinder frei bekommen. Schulfrei, so kurz vor den Ferien! Sie sagten alle vier, dies sei besonders fein, obgleich Kasperle doch noch immer Ferien hatte. Alette wunderte sich etwas. Die Geschwister hatten ihr so viel davon erzählt, wie gern sie in die Schule gingen, daß sie dachte, die müßten nun eigentlich sehr betrübt sein über die versäumten Tage. »Du bist aber dumm!« verwies sie Veit mehr offen als höflich, und Trinle belehrte sie, das sei nun einmal so. Auf Ferien freue man sich immer furchtbar, auf besondere Feiertage noch furchtbarer, und in die Schule ginge man gern. »Du mußt dich aber nicht zu sehr nach uns bangen,« schloß sie, »nachher erzähle ich dir viel, und vielleicht bringe ich dir auch Kuchen mit.« »Vielleicht,« sagte Laura zu sich. Der paßte die Reise der Grills gut, und als das Schokoladetrinken vorbei war und die Kinder ein Spiel beschlossen, ging sie in ihr Zimmer, um an Frau Juana van Bachhoven zu schreiben. Sie dachte, den Geburtstagskuchen soll unsere Alette nicht mehr essen, die Tage sind gut zur Abreise, da gibt es dann keinen Abschiedsjammer. Sie schrieb dies und das und schrieb auch, Alette freue sich auf Paris, sie würde gern hingehen. Es war wieder eine Unwahrheit, aber Laura wollte fort, sie hatte die Löwengasse satt. Frau Tippelmann hatte gemeint, Laura würde bei den Kindern bleiben. Sie selbst hätte es gern getan, aber sie kannte doch Alettes Scheu vor ihr. Die tat ihr weh, und sie ging still in ihr Zimmer, hörte das Lachen der Kinder von fern und fühlte sich so einsam wie nie zuvor. Die Gäste merkten nichts von Lauras Ärger und Frau Tippelmanns Traurigkeit, sie waren vergnügt und Alette mit ihnen. Veit und Steffen waren sehr für Entdeckungsfahrten eingenommen, und ihre Lust am richtigen Spiel war bald vorbei. »Zeig uns den Garten, Alette,« baten sie, und Alette führte ihre Gäste gern hinaus. Der Garten war nicht sehr groß und glich mehr einer kleinen struppigen Wildnis. Frau Tippelmann hatte nur immer dicht am Hause Blumen und Gemüse gepflanzt und hatte die alten Bäume und Sträucher stehen und wachsen lassen, wie sie wollten. »Da ist ein Räuberschlößle,« schrie Kasperle, der durch das zarte Grün des Buschwerkes ein Gartenhäuschen schimmern sah. Hart an der Mauer des Nachbargartens lag es. »Ach, es ist nicht schön,« sagte Alette, und ihre Gäste bestätigten das bald, als sie vor dem halbverfallenen Budchen standen. Nein, schön war es nicht. »Aber reinsehen muß man,« erklärte Veit und rüttelte an der Türe. Die gab nach; ein leerer, halbdunkler Raum gähnte den Kindern entgegen, nicht einmal altes Rumpelzeug war darin. Nur sehr viel Staub und Spinngewebe hing in den Ecken, es mochte wohl seit Jahren niemand hier dringewesen sein. »Da ist eine Klappe, da geht es in einen Keller,« rief Veit plötzlich. Ein eiserner Ring war im Boden eingelassen, und die Buben stürzten eilfertig darauf zu und zerrten und zogen daran. Sie mußten sich ordentlich plagen, aber dann gab die Klappe nach und ging auf. Die Kinder sahen nun ein Treppchen vor sich, das in die Tiefe führte. »Ein Keller,« rief Alette ängstlich. »Ja, freilich, und wer weiß, was da unten verborgen ist!« riefen Veit und Steffen. »Früher haben die Menschen manchmal in solchen Kellern Schätze versteckt.« Veit besonders war ganz aufgeregt; das war doch etwas Geheimnisvolles, etwas, das er erforschen konnte! »Vielleicht finden wir unten einen Schatz, vielleicht eine Kiste, vielleicht einen Topf mit Geld, vielleicht --« »Mäusle,« rief Trinle, aber der Bruder hörte nicht darauf. Der sagte eifrig: »Wir müssen hinunter.« »Nein, ach nein,« jammerte Alette erschrocken, »nicht da hinein, ich fürchte mich so sehr!« »Pah, Furchthäsle du!« rief Veit. »Fürchtest du dich auch, Trinle?« Eigentlich graulte sich Trinle wirklich sehr vor dem unbekannten Kellerloch und vor den Mäusles drinnen, aber sie schämte sich vor den Brüdern ihrer Angst und sagte ganz kühn, ordentlich etwas protzig: »Natürlich geh ich mit runter. Fürchten? Pah!« »Ich geh auch mit!« Kasperle jauchzte vor Abenteuerlust. Er wollte auch gleich das Treppchen abwärts steigen, aber Alette hielt ihn fest. »Du mußt hierbleiben,« bat sie angstvoll. »Du bist zu klein, sonst -- sonst hole ich Frau Tippelmann.« Die Geschwister überlegten, und Veit entschied. »Ja, Kasperle bleibt mit Alette erst mal oben, wir sehen, was unten ist.« »Ich will mit,« kreischte Kasperle ungestüm. Er riß sich empört von seiner guten Freundin los, aber zu seinem Kummer sagten beide Brüder: »Du bleibst!« Kasperle zog einen schiefen Mund, er war gar nicht mit seinen Brüdern darin einer Meinung, daß die Jüngeren den Älteren manchmal folgen müssen. Er fügte sich aber, wenn auch sehr traurig, und trotzig brummte er seine Freundin Alette an: »Ich besuch dich nicht mehr.« In Alettes Augen standen Tränen. Sie fürchtete sich entsetzlich vor dem dunklen Loch, sah mit Zittern und Zagen die Geschwister die Treppe hinabsteigen und sehnte Frau Tippelmann herbei. Doch die blieb fern, und Steffen, Veit und Trinle stiegen kühn in die unbekannte Tiefe hinab. Veit hatte vor kurzem von seinem Paten eine kleine elektrische Taschenlampe bekommen, die er ungeheuer stolz immer bei sich trug. Sie diente jetzt als Leuchte, und bei jedem Schritt sagte darum Veit: »Gut, daß ich meine Lampe habe!« Das Lämpchen erhellte unten notdürftig einen kleinen Kellerraum. Er war leer, aber Trinle erschien er schauriger als das ganze Räuberschlößle. »Es ist nichts hier,« flüsterte sie zitternd, »wir wollen zurückgehen, -- Alette grault sich.« »Du wohl auch?« Veit fragte dies sehr hohnvoll, und Trinle nahm ihr letztes kärgliches Restlein Mut zusammen und behauptete tapfer: »I wo!« »Da geht's weiter,« schrie Steffen und deutete auf einen Gang. »Paßt auf, wir finden noch was!« »Eine Tür!« Veit war, unbekümmert darum, ob die andern sehen konnten, mit seinem Lämpchen vorausgelaufen und beleuchtete eine Tür, die den Keller nach irgendwohin abschloß. Was lag dahinter? Eine Schatzkammer, verborgene, vergessene Herrlichkeiten? »Wir müssen die Tür aufkriegen,« rief Veit und rüttelte und rappelte an dem alten Holzpförtlein herum. »Auf, auf, auf, Schatzkammer, öffne dich!« dachte er. »Mit einem Beil einschlagen,« riet Steffen kühn. »Aber was ist denn da los?« Von oben herab tönte zitterndes Angstgeschrei. Alette und Kasperle hatten das Dröhnen gehört; sie kauerten am Treppchen und jammerten entsetzlich, sie meinten, denen unten sei etwas geschehen. »Furchthasen,« schalt Veit grollend und brüllte: »Kommt runter, hier ist's fein, wir finden was, kommt nur!« »Kommt,« rief auch Trinle zaghaft. Da wurden die oben still. Hinunter wagten sie sich nicht, aber sie lauschten nun doch etwas beruhigter hinab. Nur merkwürdig war es, denen unten schien das Schreien fortzutönen, jämmerlich klang es, bis es allmählich verhallte. »Ein Echo,« sagte Steffen und hieb mit aller Macht gegen die Türe. »Wenn wir nur einen Schlüssel hätten!« brummte Veit und rüttelte an dem verrosteten Schloß herum. Das knarrte, wackelte, und auf einmal sprang die Türe mit einem lauten Krach auf, und die drei Entdecker blickten in einen mit Fässern und Kisten gefüllten Keller, der gar nicht sehr unheimlich aussah, sondern recht sauber und ordentlich. Die drei waren plötzlich ganz still geworden. Was war da? Wo waren sie hingelangt? Waren hier nun wirklich vergessene Reichtümer aufgestapelt? Oben hatten Alette und Kasperle den Krach gehört, mit dem die Türe aufgesprungen war. Trinles Schrei dabei war der letzte Laut gewesen, dann wurde unten alles still, und auf Alettes bebendes Rufen kam keine Antwort. Da packte die beiden eine jämmerliche Angst, und alle beide rannten klagend zum Gartenhäuschen hinaus und schrieen draußen voll Angst nach Frau Tippelmann. Im gleichen Augenblick gellte vorn nach der Löwengasse hinaus ein nicht minder ängstliches Rufen, und in der Nachbarschaft taten sich Türen und Fenster auf. Was war geschehen? Leute stürzten auf das Gäßlein hinaus, und aus der Lindenapotheke kam Herr Baldan mit langen Schritten angerast. »Bei Häferlein brennt's,« rief es, »dort ist was los!« In Herrn Häferleins Laden war wirklich etwas los. Bleich, zitternd saß der Kaufmann auf einer Sauerkrauttonne, und sein schläfriger Gehilfe saß auf einer Siruptonne, und beide stöhnten nur immer: »Diebe! Diebe! Hilfe! Hilfe!« Herr Baldan stürzte als erster in den Laden, ihn hatte der Hilferuf namenlos erschreckt; wie die Posaune des jüngsten Gerichts gellte ihm der in den Ohren. Sein Freund war in Not, mit dem er sich gestritten und noch nicht wieder versöhnt hatte. Schwer bedrückte ihn das, und als er Herrn Häferlein noch lebendig auf der Sauerkrauttonne sitzen sah, umfaßte er den Freund mit einem lauten Jubelschrei: »Gottlob, Sie leben, lieber Häferlein!« »Lieber Baldan!« Der Kaufmann umarmte den Freund gerührt, all sein Groll war im Augenblick verflogen, und er war fast ärgerlich, daß so viele andere Leute auch in den Laden kamen. Aber freilich, die wollten ihm alle helfen, alle forschten und fragten: »Was ist los? Wo sind die Diebe?« »Im Keller,« ächzte Herr Häferlein. »Na, die wollen wir schon fassen!« Der dicke Bäckermeister Hering, er war natürlich auch dabei, sagte es entschlossen, und Herr Baldan rief mutig: »Die sollen uns nicht entwischen. Fritz, zeigen Sie uns den Weg!« Doch Fritz blieb einem Jammerbilde gleich auf seinem Sirupfasse sitzen. »Ich kann nicht,« ächzte er nur. »Na, Gott sei Dank, die Polizei!« Herr Häferlein atmete auf, als er einen Schutzmannshelm im Türrahmen erblickte, und Herr Baldan atmete auch auf. Der Kaufmann rutschte von seinem Krautthron herab und sagte nun, da der bewaffnete Helfer an seiner Seite stand: »Im Keller sind sie; gehen Sie voran, -- ich komme mit. Fritz, schlafen Sie nicht, und passen Sie hier auf!« Drüben in der Rose hatten auch Hilferufe das Haus durchgellt. Die waren aber nicht auf die Straße hinaus gedrungen, die hatten nur Frau Tippelmann und Laura arg erschreckt. Laura schrie gleich, als könnte sie damit Hilfe schaffen, Frau Tippelmann aber nahm kurz entschlossen einen Besen und ein Licht und herrschte Laura grob an: »Viel Geschrei und nichts dabei.« Da nahm sich Laura zusammen und folgte der Frau und den verweinten Kindern nach dem Gartenhaus. Was dort eigentlich geschehen, wußten aber weder Alette noch Kasperle zu sagen; nur von einem Kellerloch und einer Treppe erzählten sie schluchzend, und Frau Tippelmann lief immer schneller. Die Angst trieb sie vorwärts. Von all dem Lärm und aller Angst merkten die drei kühnen Entdecker in ihrem Schatzkeller nichts. Die berieten noch immer, was sie tun sollten, in dem gefüllten Keller weitergehen oder doch lieber umkehren und Frau Tippelmann von dem geheimnisvollen Fund erzählen. Gerade hatten sie sich für dies letztere entschieden, als hinter ihnen Frau Tippelmann mit Laura auftauchte. »Na nu -- was ist denn das?« Frau Tippelmann sah verdutzt auf die drei Kinder, die ganz unversehrt zwischen Kisten und Fässern standen, aber offenbar auch nicht recht wußten, was sie sagen sollten. Ehe sie noch erzählen konnten, wie sie hier hereingekommen, klirrte das irgendwo, eine Tür sprang auf, Lichtschimmer fiel herein, und jemand rief: »Da sind sie noch -- herrje, Frau Tippelmann, Sie hier?« »Herrje, Herr Häferlein, Sie sind's?« »Du meine Güte, wie kommen denn Sie in meinen Keller?« »Na, nun schlägt's dreizehn, das sind ja unsere Kinder!« schrie der Provisor dazwischen. Der Schutzmann grinste. »Die Diebe scheinen Ihnen ja bekannt zu sein, Herr Häferlein,« sagte er. »Nein, so etwas! Frau Tippelmann, Sie hätte ich aber net in Ihres Nachbars Keller vermutet!« »Du lieber Himmel,« rief Frau Tippelmann entrüstet, »nun werde ich wohl gar noch als Einbrecherin angesehen! Aber so etwas kommt von so etwas, und Jugend ohne Hut tut selten gut, man hätte aufpassen sollen.« Fräulein Laura wurde verlegen; sie fühlte es wohl, der Vorwurf galt ihr, und berechtigt war er auch. Aber eine Antwort brauchte sie nicht zu geben. Herr Häferlein schaute sich um und fragte: »Wissen möchte ich aber doch, wie Sie in meinen Keller hineingekommen sind, Frau Nachbarin!« »Doch, kommen Sie durch das Loch wieder mit hinaus, da werden Sie es sehen,« brummte Frau Tippelmann. Sie hielt ihr Licht hoch und beleuchtete die verborgene Tür. »Hier geht es durch,« sagte sie, »und verwunderlich ist die Sache nicht. Die Häuser gehörten früher beide den Amhags, da mag der Keller angelegt worden sein. Übrigens ist es ein rechtes Rattenloch, darum --« »Hui, hui!« Laura, Alette, Trinle und Kasperle flüchteten kreischend, und dabei rannten sie beinahe Herrn Häferlein und Herrn Baldan um. Die purzelten gegeneinander und kamen so zu einer zweiten Umarmung an diesem Tage. Flink, flink, flink kletterten die Angsthasen die Treppe hinauf. Veit und Steffen zögerten noch, aber da erzählte Frau Tippelmann gelassen weiter: »Ja, Ratten gibt's in Massen hier, sie haben immer alles angefressen und --« Da kletterten auch die Buben sehr geschwind die Treppe hinan, und Frau Tippelmann sah ihnen lächelnd nach und sagte schmunzelnd: »Angst macht nicht allein ein altes Weib traben, es bringt auch junge Fürwitze auf die Beine. Übrigens brauchen Sie keine Sorge zu haben, Nachbar Häferlein, so schlimm ist es mit den Ratten nicht; ich wollte dem Kindervolk nur die Kellerreisen vergraulen.« Das war Frau Tippelmann freilich gelungen. Als sie wieder nach oben kam, nachdem sie unten die Türe sorgfältig verwahrt hatten, fand sie Alette und ihre Gäste ein wenig bedrückt beieinandersitzen, Laura dabei mit einem Gesicht wie eine Gewitterwolke. Jetzt kommt's, dachte die. In diesem gräßlichen Nest, in diesem gräßlichen Haus muß man sich wirklich noch von einer alten Frau ausschelten lassen. Doch Frau Tippelmann schalt nicht; sie schaute nur die blasse Alette besorgt an, dann sagte sie: »Ich bringe euch noch heiße Milch, Kuchen ist auch noch da; nach der Kellerluft wird ein heißer Trunk euch gut tun. Wenn ihr einmal wieder auf Entdeckungsreisen ausgehen wollt, fragt lieber vorher, ob ihr dürft.« Die Frau nickte den Kindern zu und ging hinaus, und kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da rief Trinle: »Sie ist gar net bös.« »Nein, sie ist gut,« sagte Alette leise, aber Laura hörte es doch, und Laura ärgerte sich. Und dann, als die Kinder schmausten, ging sie wieder in ihr Zimmer und schrieb eilig den Brief fertig, in dem stand: »Alette wird hier ganz verdorben, es ist gar kein Umgang für sie, sie muß fort, nächste Woche schon.« [Illustration] Neuntes Kapitel. April, April! Die Sternbübles helfen ihrem Oheim aufräumen, und Mina muß Kleister kochen. Was der Mond sieht, warum er sich über die Wolken ärgert. Die Breitenwerter erleben eine Überraschung. Herr Schmidt und noch mehr Leute ärgern sich, und August ist da, wo er nicht sein soll. Die Kinder aus der Linde fürchteten sich ein wenig vor Herrn Baldans Scheltworten und spitzen Reden bei ihrer Heimkehr. Aber Wunder über Wunder! Herr Baldan redete sanft wie Honigmilch. Er lachte und scherzte mit den Geschwistern über das Kellerabenteuer, nannte Frau Tippelmann eine prächtige Frau und sagte kein böses Wörtlein. Herr Baldan war so vergnügt wie seit langem nicht, weil er sich mit seinem Freund Häferlein ausgesöhnt hatte. Der Provisor gehörte zu den Leuten, die schwer die Bitte »Verzeih mir!« sagen können. Sie leiden im Herzen, quälen sich Tag und Nacht, möchten gern versöhnt sein, wissen auch ihr eigenes Unrecht und bringen doch das kleine Wort »Vergib!« so schwer über ihre Lippen. Schreck und Angst hatten die Freunde wieder zusammengebracht, und nun saß Herr Baldan in der Apotheke, scherzte mit den Kindern und hätte am liebsten alle bitteren Pülverlein und Pillen, die er zu mischen und zu rollen hatte, in Zucker getaucht. Andere sollten auch froh sein, andern sollte auch alles honigsüß schmecken. Herr Häferlein saß nicht minder vergnügt in seinem Lädchen. Sein Gesicht glänzte vor Freude, und wenn jemand kam und zu ihm sagte: »Ach, Herr Häferlein, was haben Sie wieder für einen Schreck gehabt!« dann sagte er allemal: »Gar nicht schlimm war es, ein rechter Spaß!« Natürlich redeten die Leute in der Löwengasse viel von dem Einbruch bei Herrn Häferlein; sie lachten darüber, weil der Kaufmann lachte, und am liebsten wären sie alle in den Keller geklettert und hätten sich das Loch angesehen. Am allerliebsten aber hätten dies die Sternbuben getan. Denen war es bitter leid, nicht dabeigewesen zu sein. Sie klagten grollend der Schwester: »Wenn wir so etwas machen, geht's uns gleich schlimm!« Damit hatten sie nun freilich recht, sie vergaßen nur einmal wieder, daß sie sehr oft dumme Streiche begingen und in ihrem Schuldbuch schon viele schwarze Striche standen. Im Ärger, nicht dabeigewesen zu sein, vergaßen sie auch wieder ihre guten Vorsätze vollständig, die vergingen wie der Schnee, der am letzten Märztag auf alle leise keimende Frühlingsherrlichkeit niedersank. Es wurde recht ein Wetter, wie es der April liebt, Regen, Schnee, Sonnenschein und Wind, und Frau Tippelmann sagte: »Na ja, man merkt es, morgen ist erster April, ist der noch so gut, er schickt dem Bauer doch Schnee auf den Hut.« »Morgen ist erster April.« Die Sternbuben sagten das zueinander; ein wenig trübselig klang es. Sie standen im Torweg des Silbernen Stern und schauten dem Flockentreiben zu, aber die großen weißen Flocken brachten ihnen keinen guten Einfall für einen Aprilscherz. Sie hätten gar zu gern einen Spaß gemacht, hätten gar zu gern jemand recht tüchtig in den April geschickt, aber nichts fiel ihnen ein. Sie wußten auch ganz genau, man würde ihnen morgen aus dem Wege gehen. Mina hatte schon gedroht: »Wenn ihr morgen mit euren Narreteien anfangt, dann wehe euch!« »Mathes, Peter,« rief da innen der Mutter Stimme ihre Namen. Ein Weilchen hörten sie beide träge an dem Ruf vorbei, endlich, da die Mutter ungeduldig zu werden schien, trotteten sie in das Haus hinein. Sie gingen wie ein paar müde alte Männlein vor Faulheit, als sie aber von der Mutter hörten, sie sollten dem Onkel Adam frische Wurst hintragen, da wurden sie schnell putzmunter. Zu dem Onkel Adam gingen sie immer gern. Der besaß einen Papierladen und hatte lauter Dinge zu verkaufen, die Mathes und Peter immer brauchten. Sie verloren viele Stifte und verschmierten viele Hefte, sie liebten außerdem sehr buntes Papier, Taschenmesser, Blaustifte und dergleichen, und alles das gab es bei Onkel Adam mitunter als Bringelohn. In dem Laden des Herrn Adam Hinz sah es an diesem Nachmittag, als die Sternbuben eintraten, etwas kunterbunt aus, und der Onkel machte gar kein vergnügtes Gesicht. »Ich muß aufräumen,« bemerkte er, »der Frühling kommt, da schickt sich das. Besuche kann ich nicht brauchen.« Sein Gesicht hellte sich aber gleich auf, als er die frische Wurst erblickte, die aß er besonders gern, und er sagte viel freundlicher als vorher: »Na, bleibt nur noch ein paar Minuten hier!« Das war den beiden schon recht. Die Unordnung im Laden gefiel ihnen besonders; sie kramten da und dort herum, und wenn ein Käufer kam, taten sie sehr wichtig, beinahe als gehöre ihnen der Laden. Über dem Kramen und Ordnen geriet Onkel Adam an ein Paket großer Zettel, auf denen allerlei stand: »Wohnung zu vermieten« und dergleichen. Auf einigen stand auch »Herzlich willkommen!« und Herr Hinz schob den Buben das Paket hin mit den Worten: »Die könnt ihr mal ordnen, so daß immer die verschiedenen Aufschriften zusammen liegen. Versteht ihr das?« »Es sind aber welche zerrissen,« rief Mathes gleich sehr eifrig. »Die tut fort.« »Können wir die nehmen?« »Meinetwegen,« brummte Onkel Adam. Er wollte noch etwas sagen, aber da kam eine Frau, die einen Briefbogen kaufen wollte. Zu dem Kauf brauchte sie so viel Zeit wie andere zu einem Hauskauf. Die Buben ordneten unterdessen emsig die Zettel, dabei tuschelten und kicherten sie immerzu miteinander, sagten ein paarmal: »Das ist nicht mehr gut« und legten sich so allmählich ein ansehnliches Stößlein beiseite; obenauf lag ein ganz zerrissenes, beschmutztes Willkommenblatt. »Wir sind fertig, und die da sind kaputt,« erklärten sie beide nach einer Weile. »Na, gut!« Onkel Adam nickte, schenkte jedem noch einen Bleistift, und dann zogen die beiden Schelme ab, und der gute Onkel brummte hinter ihnen her: »Sie machen's auch zu arg mit den Sternbübles, so schlimm sind sie gar nicht!« Mina war ein Weilchen später sehr erstaunt, als die Buben von ihr einen Topf voll Kleister forderten, der Onkel hätte ihnen Papier zum Verkleben geschenkt, erklärten sie. »Na, ein Täßle wird wohl genug sein,« erwiderte Mina. »Nein, ein Töpfle muß es sein, ein großes Töpfle voll,« riefen die Buben einstimmig. »Pah, ein Täßle ist viel zu wenig!« Weil im Silbernen Stern nun ohnehin mehr große als kleine Töpfe auf dem Herde standen, dachte Mina, es kommt ja nicht darauf an, und kochte einen Litertopf Kleister, mit dem die Buben vergnügt von dannen zogen. Sie waren an diesem Nachmittag weiter sehr brav, machten ihre Schularbeiten, spielten mit Gundel und gingen so nett und brav ins Bett, als wären sie nie in ihrem Leben die wilden Sternbübles gewesen. Es war an diesem Abend in dem Gasthaus viel zu tun, eine große Hochzeit wurde darin gefeiert, und Wirtin wie Dienstleute hatten alle Hände voll zu tun. Nach den Kindern zu sehen, dazu hatte niemand Zeit. Am Himmel zogen dunkle Wolken dahin, Sturmwolken, Regenwolken, und der Mond hatte seinen rechten Ärger mit ihnen. Der hatte ohnehin ein schiefes Gesicht, eine dünne und eine dicke Backe; vor lauter Verdruß wurde es aber noch schiefer. Unten in Breitenwert gab es etwas höchst Sonderbares zu sehen, doch gerade wenn der gute Mond recht genau hinschauen wollte, husch, husch! flog ihm so eine dumme dunkle Wolke am Gesicht vorbei. »Was fällt euch ein, ihr naseweises Luftgesindel!« schalt er. »Weg mit euch, ich will sehen, was -- -- --« Rutsch! saß ihm eine kohlschwarze Sturmwolke vor der Nase, die heulte: »Schimpf nicht, alter Gesell, morgen ist erster April, da müssen wir da sein.« »Und ich muß aufpassen, was da unten geschieht; Platz da!« schrie der Mond. Er wehrte sich, sah über die Wolke hinweg auf Breitenwert hinab und rief: »Nein, die Sternbübles, was wollen denn die bei Nacht auf dem Obermarkt, sie -- -- --« »Man muß nicht neugierig sein, alter Papa,« mahnte eine große Schneewolke und setzte sich dem Mond auf den Kopf. Da konnte er gar nichts mehr sehen. Eine Weile balgte er sich mit den Wolken herum, und als er wieder etwas sehen konnte, da erblickte er die Sternbuben in einem Torweg. Wie sein Licht sie traf, wichen sie noch mehr zurück, und er konnte nicht einmal sehen, was sie eigentlich in der Hand hatten. »Die Sache muß ich mir ganz genau ansehen; mit den Sternbübles ist's nicht geheuer,« brummte der Mond, aber da kamen die Wolken wieder, der Kampf begann von neuem, bis es der Mond müde wurde. Ganz blaß und angegriffen rief er noch der Sonne zu: »Na, meine gute Sonne, nun ärgere du dich!« Die ärgerte sich und schalt, und die Menschen auf der Erde ärgerten sich auch und schalten und namentlich die Bauersleute, die in aller Morgenfrühe nach Breitenwert fuhren, um dort auf dem Wochenmarkt die Butter, und was sie sonst noch hatten, zu verkaufen. Die Bauern kamen immer zeitig zur Stadt; meist packten sie schon die Waren aus, wenn die Städter ihre Geschäfte erst aufschlossen, und wenn die Kinder zur Schule gingen, war der Marktbetrieb meist schon im Gange. An diesem Tage aber herrschte auf dem Obermarkt ein besonderes Leben. Da drängten sich die Landleute vor einem Laden zusammen, jeder wollte der erste Käufer sein, wenn aufgemacht wurde. In dem Geschäft gab es Wirtschaftsgeräte zu kaufen, Teller, Tassen, Schüsseln, Butterdosen, Kannen, Gläser, was man nur wollte. Der Besitzer, Herr Schmidt, pflegte zu sagen: »Ich habe ein feines Geschäft, eins wie in einer Großstadt.« Das war wirklich beinahe so, selbst Fräulein Laura hatte in diesem Geschäft nicht die Nase gerümpft, wie sie es in den Breitenwerter Läden zu tun pflegte. Die Landleute kauften sonst nicht viel bei Herrn Schmidt, der war ihnen zu fein und zu teuer. An diesem Tage hatte aber auf einmal jeder Lust, etwas zu kaufen, und als Herr Schmidt von innen den Rolladen hoch zog, erschrak er sehr vor den vielen Menschen, die draußen standen. Was wollten sie nur alle bei ihm? Die redeten draußen, was sie kaufen wollten. Eine Frau sagte: »Das Körble, das da so aussieht wie Silber, nehme ich,« und eine andere sagte: »Ich möchte das Glasschüssele haben dort mit dem Füßle.« »Das nehme ich,« schrie eine dritte, sie stand schon an der Türe und sah ordentlich kampflustig drein. Das ärgerte jene, die zuerst das Glasschüssele gewollt hatte. Sie begann zu schelten, andere mischten sich hinein, und der Lärm wuchs. Zum Überfluß kamen noch Schulkinder dazu; die wollten natürlich auch wissen, was los sei, und drinnen sah Herr Schmidt immer ängstlicher auf das Getriebe. Er wagte es gar nicht, seinen Laden aufzuschließen, und die draußen ärgerten sich wieder, daß es so lange dauerte. Sie riefen immer lauter: »Auf, auf, auf!« Das kann jeder schreien, ich lasse zu! dachte Herr Schmidt, und nun ließ er seine Rolladen wieder herab. Dann lief er zur Hintertür hinaus, um zu sehen, was eigentlich los war. Ein Zetergeschrei empfing ihn. Gleich zehn, zwanzig Menschen schrieen auf ihn ein, was das sei, warum er erst einen Ausverkauf anzeige und dann seinen Laden nicht aufmache. Abscheulich sei das von ihm, ganz abscheulich! »Aber,« rief Herr Schmidt, »aber -- -- --« »Ich will das Körble von Silber kaufen.« »Ich möchte die Eierbecherle haben und das blaue Bierkrügle.« »Aber -- also, Leute, hört -- -- --« »Das Teekännle da, wo zwanzig Täßle reingehen, will ich und das große Glasschüssele.« »Das Taschenmesser kauf ich,« schrie ein Bube. »Aber --« Auf einmal blieb Herrn Schmidt die Sprache ganz weg. Was war denn das, was stand da an seinem Laden angeschrieben? »Das ist falsch, das ist falsch,« rief er, »das stimmt nicht, ich habe keinen Ausverkauf!« »So? Ei, das wäre doch, da steht's ja!« Wohl zwanzig dicke und dünne Zeigefinger deuteten nach Herrn Schmidts Laden hin; da klebten überall große Zettel, auf denen stand: »Gänzlicher Ausverkauf,« und auf zwei Zetteln stand noch: »Jedes Stück nur fünfzig Pfennige.« »Was, das soll ich angeklebt haben?« rief der Kaufmann empört. »Ich will ja gar nichts ausverkaufen, fällt mir nicht ein! Was, und fünfzig Pfennig sollen meine guten, teuren Sachen nur kosten? Ei, das wäre ein Spaß!« »Vielleicht ist's auch nur ein Spaß,« sagte ein alter Bauer plötzlich bedächtig dazwischen, »heute ist ja erster April.« »Pfui, Herr Schmidt, wie können Sie uns so zum Narren halten!« rief es gleich da und dort, und der arme Herr Schmidt hatte Not und Mühe genug, es den Leuten begreiflich zu machen, daß er wirklich nichts dafür konnte, gar nichts, er sei selbst genarrt worden. Etliche glaubten ihm dies sogar erst, als ein paar Buben angerannt kamen, die erzählten, auf dem Untermarkt, vor dem Zuckerwarenladen von Frau Kümmel sei es genau so, dort wäre auch ein Ausverkauf angezeigt, und man hätte die arme Frau Kümmel in ihrem Laden beinahe erdrückt. »So etwas, nein, so etwas!« riefen die Leute. »Was auch alles in Breitenwert vorkommt! Wer mag es nur gewesen sein?« Ja, wer? Man redete noch hin und her, da kamen ein paar aus der Löwengasse gelaufen, die erzählten, an der Lindenapotheke klebten Zettel, auf denen stehe: »Neue Heringe.« Darüber sei Herr Baldan fuchswild, und Herr Häferlein schimpfe auch, denn an seinem Hause stünde überall: »Wohnung zu vermieten,« und allemal darunter: »Herzlich willkommen!« Es war kein Wunder, daß die Buben und Mädel, die am Obermarkt, in der Löwengasse und am Untermarkt wohnten, nur gerade noch im letzten Augenblick in die Schule kamen. Ja etliche konnten sich gar nicht losreißen, die rannten erst noch einmal dahin und dorthin, jeden Zettel staunten sie an, und natürlich kamen sie zu spät zur Schule, und natürlich gehörten zu denen die Sternbuben. Die hatten blinkeblanke Augen und wußten viel zu berichten, wie es da hergegangen war, hier bei Herrn Schmidt und da bei Frau Kümmel. Wenn aber jemand sagte: »Wer es nur gewesen sein mag?« dann guckten die Sternbuben in die Luft, als ginge der ganze Lärm sie gar nichts an. Man wurde an diesem Tag in Breitenwert nicht fertig, über den Aprilstreich zu reden, zu lachen und sich zu ärgern. Und immer wieder fragte einer den andern: »Wer mag's nur gewesen sein? Wie bekommt man das heraus?« Davon redete aufgeregt am Nachmittag auch Herr Häferlein mit Herrn Baldan, und die Sternbuben -- sie gingen wohl zum zehnten Male an Herrn Häferleins Laden vorbei an diesem Tage -- hörten gerade die Herren reden. Sie stellten sich breitbeinig vor das Schaufenster, sagten, sie wollten dies kaufen und jenes, und dabei spitzten sie gewaltig ihre Ohren. Herr Häferlein ärgerte sich über die Buben. Wegjagen konnte er sie aber nicht, denn sie waren kein bißchen unnütz, und vielleicht sollten sie einkaufen; er konnte das nicht wissen. Er redete also weiter mit Herrn Baldan und sagte ein paarmal: »Erwischen muß man die Übeltäter. Na, ich falle heute auf keinen Aprilscherz mehr herein!« »Ich auch nicht,« rief der Bäckermeister Hering, der gerade vorbeiging, und er erzählte, sein Lehrjunge sei gekommen und habe gerufen, in der Backstube wären Ratten, und dann seien gar keine dringewesen. »Eine zu dumme Sitte!« brummte Herr Baldan. »Mich sollte nur einmal jemand necken wollen, dem bekäme das schlecht!« »Da kommt Ihr Fritz,« rief der Bäckermeister, »der will Sie auch in den April schicken.« Wirklich kam Fritz, der schläfrige Gehilfe, aus dem Laden heraus und sagte langsam: »Herr Hää--ferlein, der Auuuguuust friißt alle Rooosiiinen auf!« »So ein Dummkopf!« Herr Häferlein wurde hochrot vor Ärger. »Wer an meine Rosinen geht, weiß ich schon, der heißt nicht August, der heißt Fritz!« »Jaaah,« murmelte Fritz schläfrig und trottete zurück, und Herr Häferlein sagte böse hinter ihm her: »Ein schrecklicher Faulpelz, der denkt nur an Schlafen und Essen. Jetzt hat er mir sicher wieder genascht. Wozu so ein erster April nicht alles gut ist! Jetzt gehe ich aber mal zu Herrn Adam Hinz, vielleicht weiß der, wo die Zettel her sind; vielleicht hat sie jemand bei ihm gekauft.« Den Sternbuben schien plötzlich Herrn Häferleins Schaufenster langweilig zu werden, sie trabten los mit gesenkten Köpfen. In diesem Augenblicke aber gab es drinnen in Herrn Häferleins Laden ein lautes Getöse und Geklirr, und gleich darauf erklang Fritzens Stimme: »Herr Häääferlein, Auuuguuust hat waaas umgeworfen.« Die beiden Freunde und der Bäckermeister eilten in den Laden, und die Sternbuben vergaßen das Fortlaufen. Flugs steckten sie auch ihre Nasen zur Ladentüre hinein und sahen innen auf dem Boden ein Durcheinander von Kästen, Schalen, Zuckerstangen und Rosinen. Fritz aber hockte wieder auf dem Sauerkrautfaß und klagte: »August war's!« Es war wirklich August gewesen. Der Schelm war durch ein Fenster der kleinen Ladenstube, das nach dem Garten der Rose hinaussah, hereingeklettert, und Fritz hatte in seiner Schläfrigkeit erst lange nichts von des Äffleins unnützem Wesen gemerkt; als er es melden ging, war schon viel Unheil geschehen. August hatte überall genascht, hatte Tüten abgerissen, Kästen heruntergeworfen, und kein Mensch konnte es Herrn Häferlein verdenken, daß er bitterböse war. Er schalt heftig, Herr Baldan schalt noch heftiger, und der Bäckermeister rief, man müsse dem schwarzen Ungetüm das Genick umdrehen. Die Sternbübles hörten das draußen, und sie fanden es sehr hart und böse; sie liefen alle beide zur Rose, rissen stürmisch an der Klingel und schrieen Frau Tippelmann entgegen: »August wird umgebracht; Herr Häferlein dreht ihm den Hals um!« »Quatsch! Ihr denkt wohl auch, am ersten April schickt man die Narren, wohin man sie will?« rief Frau Tippelmann und schlug den beiden die Türe vor der Nase zu. Da merkten sie, daß es manchmal für die schwer ist, Glauben zu finden, die die Leute einmal für Schelme halten. Doch Alette Amhag hatte auch der Buben Angstgeschrei gehört, und sie hielt es nicht für einen Aprilscherz, so oft ihr dies Frau Tippelmann auch versicherte. Sie wollte hinaus, wollte ihrem kleinen Liebling helfen. Da öffnete Frau Tippelmann wieder die Türe, und als die Sternbuben Alette sahen, brachen sie in ein gellendes Jammergeschrei aus. »Er bringt ihn um, er bringt ihn um; Herr Häferlein macht August tot!« Dies angstvolle Rufen lockte Laura herbei, es lockte auch die Grillschen Kinder auf die Straße, es lockte da und dort jemand ans Fenster, und der gute Herr Häferlein hatte wieder einmal recht zu seinem Ärger Neugierige genug um seinen Laden. Alle riefen sie nach August, und darüber ärgerten sich die beiden Auguste mehr und mehr. August Baldan sagte zu August Häferlein: »Es ist eine Schande, unsern schönen Namen einem Affen zu geben,« und August Häferlein rief dem schwarzen kleinen August wütend zu: »Na, warte nur, wenn ich dich erst habe!« »Pfui, Herr Häferlein, wie hartherzig Sie sind!« sagte da Laura, die just hinter Alette den Laden betrat. »Unsern armen kleinen August wollen Sie töten?« »Der Himmel bewahre mich,« rief Herr Häferlein entrüstet, »so etwas habe ich nie gewollt, so grausam -- -- --« »Herr Häferlein macht den August tot,« brüllten draußen die Sternbuben so lange, bis Herr Baldan scheltend aus dem Laden herauskam und mit einem finsteren Gesicht Ruhe gebot. Da erschraken Mathes und Peter doch darob ganz ungeheuer. Innen hatte inzwischen Alette Amhag ihr Äffchen zärtlich gelockt. Das war auch gekommen, und Herr Häferlein tat ihm nichts, ja er sagte sogar gutmütig: »Hoffentlich hat er sich nicht den Magen verdorben!« Dies war nun wirklich nett von Herrn Häferlein. Alette spürte es dankbar, und dankbar gab sie dem Kaufmann die Hand und versicherte dann: »Augustle hat's nicht böse gemeint. Er ist so lieb!« Na ja! Herr Häferlein lächelte zwar ein wenig sauersüß, aber er öffnete doch höflich selbst die Türe und ärgerte sich dann wieder über das laute Geschrei, das Alette empfing. »Er lebt, er lebt, Augustle ist nicht tot!« brüllten die Kinder, am lautesten wieder die Sternbuben. Die drängten sich auch keck und unverzagt mit vor, und Alette lächelte ihnen zu, ja Augustle ließ sich von ihnen streicheln, und so standen die Sternbübles plötzlich im Kinderkreis, als wären sie mit allen gut Freund. Das gefiel ihnen wohl, und als Laura sie nach ihren Namen fragte, gaben sie so nett und bescheiden Antwort, verbeugten sich so höflich, daß selbst Herr Baldan dachte: »So übel sind sie eigentlich nicht, die Sternbübles.« Und gerade da kam der Onkel Adam Hinz durch die Löwengasse, neben ihm ging Herr Schmidt, und ehe die beiden Schelme noch an Ausreißen denken konnten, fühlten sie sich ergriffen, und Herr Schmidt sagte zornig: »Jetzt sollt ihr mir mal sagen, wer bei mir die Zettel angeklebt hat, kommt mal mit!« Da gab es kein Sträuben, selbst Alettes angstvolles Rufen half nichts. Herr Schmidt nahm Mathes, Onkel Adam nahm Peter, und so ging es in den Silbernen Stern hinein, und dort gab es ein böses Strafgericht. »Die Sternbuben sind's gewesen, natürlich, wer anders als die Sternbuben!« sagten sie in der Löwengasse, auf dem Obermarkt und dem Untermarkt. »Das konnte man sich denken! Wie soll es nur noch einmal mit den Buben werden, die geraten nicht gut!« Im Silbernen Stern, ganz allein in einem der großen Zimmer des altertümlichen Hauses aber saß eine, die den allertiefsten Kummer um die schlimmen Bübles im Herzen trug, das war Gundel. Die weinte und weinte und meinte, sie könnte nimmer froh werden vor Scham und Trauer. Sie wollte ihnen zürnen und konnte es doch nicht, denn leise, leise klang und tönte in ihrem Herzen ein Glöckchen, das hieß Vertrauen. »Sie sind nicht so schlimm, sie sind nicht so schlimm,« tönte das fort und fort. Zuletzt faltete Gundel die Hände und betete in ihres Herzens tiefer Not: »Lieber Gott, hilf, mach, daß alle im Gäßle die Bübles liebhaben! Lieber Gott, sie sind wirklich net so bös, glaub es, sie sind net bös!« [Illustration] Zehntes Kapitel. Frühlingsregen. Es fließt viel Wasser vom Himmel, und viele Tränen werden vergossen. Die Lindenkinder verreisen, und die Sternbuben rennen Alette nach. Was geschieht, wenn eine Brücke morsch ist. In die Löwengasse dringt eine schlimme Kunde, Frau Tippelmann erschrickt, Laura denkt, die Gasse tanzt, und Frau Hinz trägt ihr Gundele und findet ihre Buben wieder. Die Löwengasse war bitterböse auf die Sternbuben. Alle sagten, die wären eine Schande für die Gasse, und dieses schlimme Wort kam auch der Sternwirtin zu Ohren. Es kränkte sie tief, und sie strafte ihre Buben tüchtig, ja sie sagte sogar, sie würde die Buben fortgeben, zu einem Verwandten, der Lehrer war in einer etwas größeren Stadt, und der schon etliche Buben in seinem Haus erzog. »Wenn ihr sitzen bleibt, kommt ihr fort,« sagte Frau Hinz, »da gibt es kein Federlesen mehr.« Damit war den Sternbuben eigentlich das Urteil gesprochen, denn an ein Versetztwerden glaubten sie selbst in ihren allerkühnsten Träumen nicht mehr. Und wenn sie jetzt fleißig waren und nach Frau Tippelmanns Wort aus einem Tag zwei gemacht hätten, sie waren zu weit unten, es half ihnen nichts mehr. Die Sternbuben waren wirklich tief bedrückt und Gundel mit ihnen. Alle drei miteinander taten, als müßten sie dem April regnen helfen; ihre Tränen flossen wie Gießbäche, und dabei regnete es in den ersten Apriltagen wirklich genug. Der Regen rann und rauschte immerzu, immerzu, und der kleine Fluß, der das Breitenwerter Tal durchfloß, wurde fast zu einem Strom. Von überall her rannen kleine Bäche hinein, und davon schwoll er so an, daß die Leute im Städtchen sagten: »Es gibt gewiß noch eine Überschwemmung.« Vorsichtige warnten auch die Kinder: »Geht nicht über die Torbrücke, die steht nicht mehr fest auf ihren Pfeilern.« Es waren wirklich wasserreiche Tage. Die Tränenbächlein flossen nicht allein im Silbernen Stern; auch in der Rose und in der Linde flossen sie. Den Sternbuben war der erste April schlecht bekommen, dem Affen August noch viel schlechter, der war krank geworden. Nett war es nicht von Herrn Häferlein zu sagen: »Er hat sich in meinem Laden überfressen.« Laura grollte dem Nachbar darum bitter, sie erklärte: »August verträgt die Breitenwerter Luft nicht.« Aber Alette meinte, er habe sich zu sehr geängstigt. Frau Tippelmann jedoch brummte: »Gründe gibt's wie Brombeeren, und meist braucht man nicht nach einer Krankheit zu suchen, die lauert vor der Türe.« Sie ging dann selbst zum Tierarzt, der verschrieb ein Pulver, aber weder das noch die warmen Umschläge, die Frau Tippelmann dem kranken kleinen Schelm machte, vermochten ihm recht zu helfen. Er wurde schwächer und schwächer, und der Blick seiner dunklen Augen wurde immer trauriger. Vielleicht sehnte er sich wirklich zu sehr nach seiner sonnenheißen schönen Heimat. Der Sturm, der das alte Haus umheulte, der Regen, der gegen die Scheiben schlug, mochte ihm wenig gefallen, und wenn ihm Alette erzählte: »Wenn erst Sommer ist,« dann schloß er nur müde die Augen. Alette kauerte stundenlang neben ihrem kleinen Freund. Frau Tippelmann wollte es nicht recht leiden, und Laura nannte sie darum hartherzig. Auch die Lindenkinder entrüsteten sich darüber; freilich ihre Mutter sagte: »Frau Tippelmann hat recht, es ist für Alette nicht gesund, immer neben dem kranken Tierchen zu sitzen.« Trotz all ihrer Teilnahme konnten sie sich in der Linde in diesen Tagen doch nicht so viel als sonst um die Nachbarn in der Rose kümmern, denn die Geburtstagsreise nahm alle Gedanken in Anspruch. Was gab es da auch zu tun und zu bedenken! Gedichte mußten gelernt werden, Trinle stickte noch mit Feuereifer an einer Decke, und es mußte bedacht werden, welche Sachen man mitnehmen wollte. Am letzten Tag überlegte es sich Trinle sechsmal: »Jetzt geh' ich zu Alette,« und immer kam etwas dazwischen. »Geh du,« sagte sie zu Kasperle, und Kasperle lief hinaus, und wie er draußen auf der Löwengasse war, kam ein Bote, der eine Schachtel brachte. Flink lief Kasperle-Neugier in das Haus zurück; er mußte doch sehen, was in der Schachtel drin war. »Alette könnte auch zu mir kommen,« schalt Trinle, und als sie dann endlich Zeit hatte und hinüberlief, da fand sie Alette in bitterwehem Schmerz an Augustles Korb sitzen. Das Äffchen war tot. Augustle tot! Dieser lustige kleine Schelm hatte wirklich seine dunklen Augen für immer geschlossen, auf Alettes Schoß war er still eingeschlafen. Es flossen viele, viele Tränen um ihn. Den Grills war es erst, als sei all ihre selige Reisefreude mit dem Regen weggeschwommen, und Trinle versicherte schluchzend: »Ich freu' mich gar nicht mehr.« Sie kamen auch tiefbetrübt heim. Aber als sie am nächsten Morgen vor Tau und Tag geweckt wurden und dann mit den Eltern durch das tiefstille Gäßchen wanderten, husch, war die Reiselust wieder da. Sie schwatzten und lachten, und Alette hörte ihre frohen Stimmen. Die lag noch in ihrem Bett, und ihre kaum versiegten Tränen brachen auf's neue hervor. Ach, so einsam, so sehr verlassen fühlte sie sich! Sie weinte und weinte und wußte selbst nicht mehr, ob sie nun tiefer um die Abreise der Freunde oder um Augustles Tod klagte. An diesem Vormittag brachte der Postbote einen eiligen Brief in das Haus zur Rose, und Lauras Gesicht wurde ganz hell, als sie den las. Sie ging zu Alette, die trotz Frau Tippelmanns Einsprache immer noch neben dem toten Augustle kauerte, und sagte vergnügt: »Alette, freue dich, wir reisen morgen ab!« »Reisen morgen ab?« wiederholte Alette wie in einem Traum. »Ja, ja, sieh nur nicht so schrecklich erstaunt drein! Es ist so und bleibt so. Morgen reisen wir. Frau van Bachhoven hat eben geschrieben; sie will uns morgen in Köln treffen.« »Und dann?« Alettes Stimme zitterte wie eine kleine Flamme, gegen die der Wind steht. »Dann?« Laura war ein wenig verlegen; die Angst in des Kindes Augen erschreckte sie, und sie murmelte leise: »Dann reisen wir nach Paris.« Alette schrie auf: »Ich will nicht, ich will in Breitenwert bleiben, ich --« Ihre letzten Worte erstickten ein heftiges Schluchzen, und so hörte Laura nicht, daß sie sagen wollte: »Ich liebe Frau van Bachhoven gar nicht.« Laura wurde böse. Ihrer Meinung nach hatte sie alles sehr gut eingerichtet, und sie kränkte sich über Alettes Widerspruch. Daß sie eigentlich nur an sich gedacht hatte, nur an ihr Vergnügen, nach Paris zu kommen, gestand sie sich nicht ein, und sie warf Alette heftig vor: »Du bist undankbar, pfui, schäme dich!« In dem Augenblick öffnete sich die Türe, Frau Tippelmann trat ein, eine große weiße Schachtel im Arm. In der wollte sie den Affen begraben. Sie sagte das ein wenig kurz und trocken, wie es ihre Art war. Sie meinte, Alettes Tränen flössen noch immer um August, und sie glaubte, es würde besser sein, wenn die Kleine den toten Liebling nicht mehr sehen könnte. Die Freunde fort, August tot, Laura böse, und morgen sollte sie auch noch die Löwengasse verlassen! Es war Alette, es müsse ihr das Herz brechen, sie konnte nicht einmal mehr weinen, und ganz stumm stand sie auf und verließ das Zimmer. Frau Tippelmann hätte sie gern in die Arme genommen und sie getröstet, aber sie dachte traurig: »Alette hat ja Laura, und mich liebt sie nicht.« Fräulein Laura war über Alettes Hinausgehen froh. Nun konnte sie Frau Tippelmann von der Reise sprechen. Sie log wieder einmal ein bißchen und sagte: »Alette freut sich auch.« »Na gut,« murmelte Frau Tippelmann, »mir kann's ja recht sein!« Sie seufzte tief, nahm August, bettete ihn sorgsam in die Schachtel und trug sie in den Garten. Ihr war das Herz schwer. So viele Jahre hatte sie allein in dem alten Haus gewohnt und war zufrieden damit gewesen, aber jetzt, seit Alette Amhag darin gewohnt hatte, fürchtete sie sich fast vor der Einsamkeit. Nun würden keine flinken Füßchen mehr die alten Treppen auf- und absteigen, kein helles Stimmlein würde mehr das Haus durchtönen, und die Nachbarskinder kamen wohl auch nicht mehr mit Lachen und Lärmen über die Gasse gerannt. Frau Tippelmann stellte die Schachtel still unter einen Baum, später wollte sie das Äffchen darunter begraben. Oben begann Fräulein Laura in Hast und Eile die Sachen zu packen. Um Alette kümmerte sie sich nicht weiter. Die würde weinen, nun ja, sie würde aber auch wieder aufhören, und wenn morgen die Reise losging, da gab es keinen Abschiedsschmerz, kein Jammergeschrei von denen drüben. Gut war es so, sehr gut. »Und morgen geht es fort, geht's nach Paris,« trällerte sie vergnügt. Alette Amhag wurde es an diesem traurigen Vormittag zu eng in dem Haus. Lauras Singsang trieb sie von Stube zu Stube, sie schlich die Treppe hinab, da hörte sie Frau Tippelmann in der Küche klappern und laut mit sich reden. Ach, die war wohl froh, daß sie abreiste, Augustle würde sie nun nicht mehr ärgern, und so viele Arbeit gab es dann auch nicht mehr. Alette seufzte tief. Wie traurig es doch war! Sie schlüpfte endlich sachte zur Haustüre hinaus und schaute hinüber nach der Linde. Da stand nicht wie sonst so oft Kasperle vor der Türe, und Herr Baldan war auch nicht zu sehen. Die Freunde waren nun schon bei der Großmutter, sie feierten und freuten sich, und wenn sie wiederkamen -- -- -- da war Alette wer weiß wo! Die grauen Wolken, aus denen in den letzten Tagen so viel Regen herabgeflossen war, hatten sich fast alle verzogen, leichte, zarte Weißwolken segelten lustig im blauen Luftmeer dahin, und die Sonne sah freundlich in die Löwengasse hinein. Alette dachte, sie würde nun vielleicht nie mehr die schnurrige kleine Gasse sehen, und meinte, das Herz müsse ihr brechen vor Leid. Wäre ihr Vater doch da, er müßte ihr gewiß helfen und würde sie nicht zwingen, zu Frau van Bachhoven zu reisen! Wie sie sich fürchtete vor der Frau, die so laut und herrisch war! Eine tiefe Sehnsucht nach dem Vater erfaßte sie, und ihre Tränen begannen schon wieder zu fließen. Es war ihr, als müsse sie wandern und wandern, um den fernen Vater zu suchen, und unwillkürlich lief sie die Löwengasse hinab, dem Untermarkt zu. Sie kam am Silbernen Stern vorbei. Dort waren eben die Kinder aus der Schule heimgekommen und standen in dem Hausflur zusammen. Sie ließen alle drei die Nasen gewaltig hängen, denn den Buben war heute in der Schule die letzte karge Hoffnung auf Versetztwerden zerronnen. Da sagte auf einmal Gundel: »Dort geht sie und weint.« Mathes und Peter wußten gleich, wen die Schwester meinte, und sie vergaßen im Augenblick den eigenen Kummer und starrten Alette nach. »Die hat Schelte gekriegt,« murmelte Mathes niedergeschlagen. »Sie sah so traurig aus!« Gundeles Stimme klang unendlich mitleidig. Sie sah selbst gleich ganz unglücklich drein, und die Brüder riefen geschwind: »Wir laufen und fragen sie, warum sie flennt.« Beim letzten Wort liefen sie schon, und am Untermarkt holten sie Alette ein. Statt sie aber zu fragen, was ihr fehle, trotteten sie wie ein paar getreue Hundchen immer hinter der Kleinen her. Ihre sonstige Keckheit hatte sie ganz verlassen, und sie wagten die Frage nicht. Alette Amhag lief und lief ganz ziellos weiter. Sie riß eigentlich vor ihrem eigenen Kummer aus, aber der blieb in ihrem Herzen und klagte laut: »Morgen geht es fort, morgen, morgen, morgen!« »Wohin sie nur rennt?« sagten die Sternbübles zueinander. »Ob Augustle ausgerissen ist?« Da klang es plötzlich neben ihnen: »Hallo, heda, ihr Sternbuben! Wohin des Weges?« Das war Oheim Adam Hinz, der seinen unnützen Neffen den Weg verstellte. »Was habt ihr wieder angestiftet, ihr Rangen?« Mathes und Peter schauten gar nicht lustig drein ob dieser Begegnung. Sie hatten den Oheim seit dem bösen Strafgericht noch nicht gesehen, und gerade erfreulich ist solch ein Wiedersehen dann nicht. Sie wären himmelgern ausgerissen, aber der Oheim Adam mußte das ahnen, der hielt sie beide fest, und er redete natürlich von ihren Übeltaten. Die beiden Sternbübles seufzten schwer, sie standen wie auf einem Bratfeuerchen. Da sollten sie nun allerlei höchst peinliche Fragen beantworten, und inzwischen lief Alette Amhag wer weiß wohin. Ein rechtes Glück war es, daß jemand kam und den Oheim grüßte. Der griff natürlich als höflicher Mann an seinen Hut und ließ Peter los. Da rannte der eiligst davon, und als Oheim Adam ihn greifen wollte, entwischte Mathes. Sie jagten die Straße hinab und trafen sich erst in einer Nebengasse wieder, und in der ersten Freude über ihre gelungene Flucht vergaßen sie Alette. Als sie ihnen wieder einfiel, war sie ihren Blicken ganz entschwunden, und sie rannten nun eine Weile ziellos weiter, bis sie am Flußweg von ferne Alettes helles Kleid schimmern sahen. [Illustration] Der kleine Fluß sah an diesem Tage wirklich gefährlich aus. Gar nicht sanft und klar wie sonst, dunkelgelb und dick geschwollen rauschte er wild daher. Er war sehr böse, weil die vielen kleinen Rinnsale, die er aufgenommen hatte, ihm alle erzählten, wie schlimm der Winter sie geplagt hätte. Der hätte sie mit Eisfesseln gebunden; sie hätten nicht hüpfen und eilen können, nicht lustig schwätzen wie sonst; ganz schrecklich langweilig wäre es gewesen! »Unerhört, so ein Benehmen!« schalt der Fluß, und er rüttelte an allem, was er antraf. »Heisa, mich soll niemand mehr binden!« schrie er, und er nahm Bretter und Äste, auch einen alten Schuh, was er gerade fand, und warf alles gegen die Pfeiler einer kleinen alten Holzbrücke. Dies Brücklein ärgerte den Fluß immer sehr, es war ihm zu alt und unscheinbar. Er wollte es schon seit Jahren einreißen, und nie gelang es ihm. »Na warte, diesmal gelingt es!« jauchzte er und tobte mit aller Kraft dagegen. »Ich zerbreche dich, ich zerbreche dich doch!« Auf der Torbrücke stand Alette Amhag. Sie starrte ängstlich in den Fluß hinab und traute sich auf einmal nicht weiter zu gehen. Sie wußte gar nicht recht, wo sie war, und so grenzenlos verlassen kam sie sich vor, daß sie in ihrem Kummer auf der Brücke niederkauerte und verzweifelt in das rauschende Wasser starrte. Ahnte sie es nicht, wie böse der Fluß war? »Dort ist sie,« schrieen am Ufer die Sternbübles erschrocken. »Hei, über das Torbrückle darf man net gehen, das soll einfallen!« »Wir holen sie runter,« schlug Mathes vor, »davon fällt's net gleich.« Trapp, trapp, rannten sie der Brücke zu. Da hörten sie, wie von irgendwoher jemand schrie: »Runter von der Brücke, geschwind, geschwind!« Alette Amhag hörte über dem Tosen des Wassers keine warnende Stimme. Sie sah auch nicht, wie die Sternbuben links und ein Mann rechts vom Ufer her eifrig zu winken begannen; sie sah nur das Wasser, hörte es donnern und tosen und fühlte auf einmal, wie die Brücke zu schwanken begann, just so, als führe sie auf einem Schiff. Und plötzlich ein furchtbarer Stoß! Sie fühlte sich hochgeschleudert, ein lauter Angstschrei gellte auf -- die Brücke stand nicht mehr. Im Wasser wirbelten Balken und Bretter durcheinander, der Fluß jauchzte in toller, böser Lust und hob etwas Weißes empor, riß es wieder in seine dunkle Tiefe hinab, auf, nieder, auf, nieder. Einen Herzschlag lang nur zögerten die Sternbübles am Ufer, sie schrieen nicht, sie sahen sich nur an, nickten sich zu, und dann sprangen sie ohne Besinnen in die rauschende Flut. Die Sternbübles konnten schwimmen wie die Fische; sie hatten schon oft im Flusse herumgeplanscht, aber so schwer war das noch nie gewesen. Der wilde Strudel packte sie, schleuderte sie hoch, da -- Peter ergriff zuerst Alettes Kleid, und nun hatte es auch Mathes. Sie zerrten und zogen; wie schwer es doch war, wie furchtbar schwer! Das rauschte, wirbelte, platschte; der Fluß schrie vor Wut, Balken kamen angeschwommen, und die Buben kämpften einen harten Kampf. Auf, nieder, wieder empor, und da -- war das Ufer. Ein paar Männer kamen gerade angerannt, als die Buben mit letzter Kraft das Ufer zu erklimmen versuchten, sie rissen sie empor und brachten die beiden mit ihrer geretteten Bürde auf das trockene Land. Die Sternbübles pusteten und spuckten. Sie konnten nichts sehen, so rann das Wasser an ihnen herab; aber sie waren doch noch höchst lebendig. Alette Amhag dagegen lag blaß, still, leblos auf der braunen Erde. Ein alter Mann beugte sich über sie und sagte trübe: »Sie ist tot.« »Noi,« kreischten die Sternbübles, »sie muß lebendig sein.« Sie brüllten laut und verzweifelt los, und dies Geschrei lockte mehr Menschen herbei. Ein Mann nahm Alette empor, der sagte: »Hier tut schnelle Hilfe not, ich trag's Mädele rüber ins erste Haus.« »Ins Spital,« rief jemand, »dort ist die beste Hilfe.« Das Krankenhaus war nicht weit, es lag nur wenige Schritte entfernt, und der Mann, der Alette emporgehoben, trug sie nun eiligst hin. Die Sternbuben folgten triefend, zähneklappernd, aber sie konnten doch auf ihren Füßen stehen. Ein paar Männer erboten sich, sie nach Hause zu tragen, aber da schrieen beide wie aus einem Munde: »Noi, wir müssen bei dem Mädle bleiben, bis es lebendig ist.« So schnell ging das freilich nicht. Der Arzt im Krankenhaus sah bedenklich drein, als er Alette erblickte, und als er hörte, wie die Buben die Kleine gerettet hatten, sagte er schnell: »Die sollen hierbleiben, die haben ein Recht dazu.« Da taten die Schwestern, als wären die Sternbübles wirklich krank und müßten gepflegt werden, worüber die beiden mächtig stolz waren. Sie wurden gerieben, gerumpelt, bekamen einen heißen Trank und wurden in gewärmte Betten gesteckt. In denen wurde es ihnen so wohlig warm, als wären Hundstage draußen. Fein wäre es gewesen, nur die Angst um Alette quälte sie. Um die hatten sie wirklich herzhafte Angst, und immer wieder fragten sie: »Lebt sie schon?« »Jetzt ist das Mädle gottlob aufgewacht!« rief da endlich eine Schwester zur Türe herein. »Der Himmel gebe, daß sie nun auch gesund wird!« »Na freilich!« rief Mathes unverzagt, und dann tat er einen tiefen Seufzer: »Ich bin müde.« »Ich auch,« brummte Peter. »So schlaft ein Stündchen,« riet die Schwester. Wenn sie gedacht, sie müßte mehr zureden, dann hatte sie sich gewaltig geirrt. Die Buben wuschelten sich in ihre Betten ein und schliefen im Handumdrehen, und sie schliefen so fest, daß sie nichts von dem hörten, was um sie herum vorging. Inzwischen lief die schlimme Kunde in die Löwengasse. Einer, der Alettes Unfall und ihre Rettung angesehen hatte, langte gerade an der Rose an, als Frau Tippelmann vor die Türe trat und nach Alette Ausschau hielt. Auch Laura kam dazu, auch die hatte nun doch Alette gesucht, und beiden Frauen teilte der Bote das Geschehene mit: »Ins Wasser gefallen und vielleicht ertrunken.« Frau Tippelmann vergaß zum erstenmal, daß sie die Hüterin eines fremden Hauses war; sie rannte einfach die Löwengasse hinab, und Laura wollte ihr nachrennen, aber sie konnte nicht. Es schwankte ihr alles vor den Augen, die ganze Löwengasse fing an sich vor ihr zu drehen, und sie sank mit einem Wehlaut an der Türschwelle nieder. »Alette,« stöhnte sie, »Alette, was habe ich getan?« »Herrjeh, Fräulein Laura fällt in Ohnmacht!« rief Herr Häferlein, der wieder einmal zu rechter Zeit die Nase aus seinem Laden herausstreckte. Er sprang herbei und suchte Laura zu stützen. »Fräulein Laura, Fräulein Laura,« jammerte er, »bitte sehr, sterben Sie nicht, ach, bitte nein, nein, bitte, tun Sie es nicht!« »Die muß ein paar Tropfen haben, irgend so was aus der Apotheke,« sagte der Bote, und da lief auch schon Herr Häferlein hinüber, riß die Türe auf und schrie: »Baldrian, Baldrian!« »Fangen Sie schon wieder an?« Herr Baldan stürzte hochrot vor Zorn hervor und brüllte den Freund an: »Narrenpossen, schämen Sie sich!« »Baldrian, ich will Baldrian! Sie stirbt, und das sind keine Narrenpossen,« brüllte Herr Häferlein zurück, und da erst merkte der Provisor, die Sache war ernsthaft, und er fragte sehr sanft: »Wer stirbt?« »Es wird ihr schon wieder besser!« Der Mann, der die Unglücksbotschaft überbracht hatte, steckte den Kopf zur Türe herein und meldete noch: »Sie ist wieder aufgestanden.« Herr Häferlein eilte hinaus, und Herr Baldan ergriff eine Flasche und lief ihm nach. Draußen fanden sie Laura, die wirklich wieder auf ihren Beinen stand, sich aber ganz hilflos umsah, denn sie hatte keine Ahnung, wo das Spital liegen sollte, in das man Alette gebracht hatte. Der Kaufmann erbot sich gleich, er wolle sie begleiten. Dies sei Nachbarspflicht, dem andern in der Not beizustehen. Das Wort traf Laura wunderlich. Was ein guter Nachbar ist, hatte sie in ihrem Wanderleben noch nicht erfahren, und hier in Breitenwert hatte sie oft heimlich über die Leute gelacht, die sich alle kannten, alle taten, als wäre Nachbarsein etwas Besonderes. Jetzt spürte sie, wie gut das hilfreiche Beistehen tat. Herr Baldan versprach, das Haus zu verschließen und auf Herrn Häferleins Laden einen Blick zu werfen. Er tröstete sie selbst noch herzlich, gewiß sei es nicht so schlimm, in dem Flüßchen könne kaum jemand ertrinken, so seicht wäre es. Ach, trotz dieses Trostes meinte Laura noch nie in ihrem Leben einen schwereren Gang getan zu haben. Nichts, kein noch so gutes Freundeswort konnte die Stimme in ihrem Herzen übertönen, die immer redete: »Du trägst die Schuld, du, du.« -- In den Silbernen Stern trug auch jemand die Kunde von dem Unfall auf der Brücke. Frau Hinz stand in der Küche; recht wie ein Feldherr befahl sie ihren Leuten, und sie hatte wieder einmal über ihrer Wirtschaft ihre Kinder völlig vergessen. Da kam Mina angelaufen und schrie: »Unsere Bübles sind beinahe ertrunken mit dem fremden Mädle von drüben; sie liegen im Spital.« Beinahe ertrunken! Im Augenblick vergaß Frau Hinz ihr stattliches Gasthaus, an dem sie viel Freude hatte, und sie dachte nur an ihre Buben. Sie wurde totenbleich, und ein paar Sekunden lang meinte auch sie, ihre Küche tanze. Aber sie war eine entschlossene Frau; sie nahm sich zusammen und sagte kurz: »Ich muß hin.« »Nimm mich mit!« Aus der Tiefe der Küche erklang flehend Gundels Stimme. Die Angst um die Brüder zitterte darin, und die Mutter sagte wieder kurz, wie es ihre Art war: »So komm!« Sie nahm Gundel an der Hand und verließ so, wie sie ging und stand, das Haus. Als sie auf die Gasse kam, rannten eben Laura und Herr Häferlein vorbei, auch getrieben von der Angst, und Frau Hinz hastete ihnen nach so schnell als möglich. Gundel versuchte Schritt zu halten, doch ihr lahmes Füßchen versagte, und langsam löste sie ihre Hand aus der der Mutter. Frau Hinz achtete nicht darauf, sondern lief weiter, weiter, bis sie es plötzlich doch merkte, daß Gundel nicht mehr mit ihr ging. Da drehte sie sich um, unwillig über das Aufgehaltenwerden, und sah nun weit zurück Gundel mühsam ihr nachhinken. Die Sternwirtin hatte ihr lahmes Mädelchen lieb. Sie war auch anfangs, als Gundel noch klein war, rechtschaffen betrübt über deren Unglück gewesen; allmählich hatte sie es vergessen. Es war eben so, und da Gundel selbst nie klagte, dachte die Mutter kaum noch an dieses Leid. Jetzt, als sie die Kleine so mühsam daherkommen sah, erschrak sie zum andernmal tief im Herzen. Und sie lief rasch zurück und nahm ihr Mädele auf den Arm. »Ich trag dich,« murmelte sie. »Mutter!« Gundels blasses Gesichtchen färbte sich rosenrot vor Freude. Die Mutter nahm sie auf den Arm, wie schön das war! Sie legte ganz still ihren Kopf an der Mutter Brust, und in dem Glücksgefühl, dies tun zu dürfen, ließ ihre Angst um die Brüder ein wenig nach, und sie sagte leise, sich und der Mutter zum Trost: »Unsere Bübles sind gewiß net tot.« Frau Hinz seufzte. »Ach, wer weiß, was die wieder angestellt haben!« Wie es gewesen war, hatte der Bote selbst nicht gewußt, und so ahnte die Mutter noch nichts von ihrer Buben Heldentat. Sie seufzte schwer, und Gundel schmiegte sich fester an sie. »Unsere Bübles sind gar net so schlimm,« flüsterte sie, »nur halt ein bißchen wild!« Das Wort bewegte die Mutter tief, und sie sagte es ihrem Kinde unwillkürlich nach: »Nein, sie sind net so schlimm.« Gundel war, wenn auch zierlich und schlank, doch immerhin kein rechtes Tragekind mehr. Die Mutter spürte die Last wohl. Die zwang sie, langsam zu gehen, und doch war es ihr, als würde ihre Angst leichter, je fester Gundel in ihren Armen ruhte. Sie hatte sich ihrem Mädele noch nie so nah gefühlt wie in dieser Stunde gemeinsamer Sorge, und jetzt erst, wo sie zwei Kinder zu verlieren fürchtete, merkte sie erst, wie reich sie durch alle drei gewesen war. »Ich werde dir zu schwer,« klagte Gundel, und sacht streichelte sie der Mutter das erhitzte Gesicht. »Du bist mir nie zu schwer,« sagte sie, »leg dich nur an, mein armes Käferle du!« Da wagte Gundel, was sie noch nie gewagt hatte, sie küßte ihre Mutter und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich hab dich so lieb!« Frau Hinz sagte nichts, sie drückte nur ihr Kind fester an ihre Brust und spürte nicht mehr, daß der Weg lang und schwer war, denn ihre Sorge wurde milder. Gundels Liebe war ihr wie Licht, das warm und sanft eine dunkle Nacht erhellt. Diese Liebe gab ihr Mut und Kraft, und ganz tapfer schritt sie in das Spital hinein und empfing dort die Kunde: »Die Bübles leben und schlafen, und die schlimmen Schelme haben eine tapfere Tat getan.« Als Mathes und Peter erwachten, meinten sie zuerst, sie wären in eins von den Märchenländern geraten, aus denen ihnen Gundel so lieblich zu erzählen wußte. Da lagen sie selbst in schneeweißen Betten, und Mutter und Schwester saßen daran, und die Mutter sah gar nicht mehr böse aus, sondern so freundlich wie sonst nur am Weihnachtstag. Sie redete auch so und streichelte ihre Buben, was sie auch so selten einmal tat, und was denen doch ausnehmend gut gefiel. Wie sie das eben sagen wollten, kam die Schwester in die Stube und der Arzt auch, und der sagte gleich: »Na, ihr Lebensretter, habt ihr ausgeschlafen? Ihr habt das wirklich brav gemacht, denn mit dem Mädle wär's alle, wenn ihr's nicht so geschwind herausgeholt hättet.« »Ja, sehr brav, merkwürdig brav,« sagte da noch jemand, und das war -- Herr Häferlein. Wirklich und wahrhaftig, Herr Häferlein! Der tat, als wäre er mit den Sternbuben sehr gut Freund, er versprach ihnen sogar Rosinen, und er sah dabei selbst aus wie die allergrößte, süßeste Rosine aus seinem Laden. O Wunder über Wunder! Auch Frau Tippelmann kam und lobte die Sternbuben. Sie lachte nicht so vergnügt wie Herr Häferlein, sie sah sogar sehr kummervoll drein, aber wie sie sagte: »Ihr habt's brav gemacht, Gott lohn's euch!« da war es den Sternbübles, als säßen sie in der schönen alten Stadtkirche und hörten die Orgel spielen. Und wie immer, wenn sie dort saßen, weiteten sich ihre Herzen. Gute, fromme Gedanken zogen ein, die strahlten aus ihren Augen, und die Mutter, Herr Häferlein, die Schwester, der Arzt und auch Frau Tippelmann dachten in dem Augenblick: »Wie lieb sie aussehen, die Bübles, ei, die sind doch gar nicht so schlimm!« Gundel aber umschlang plötzlich die Mutter und flehte: »Gelt, Mutterle, unsere Bübles kommen net fort, die bleiben bei uns?« »Die bleiben bei uns, ja,« sagte die Sternwirtin nachdenklich. »Meine Buben geb ich nicht her. Jetzt werd ich's schon fertig bringen, sie zu erziehen.« »Ist recht so, ganz recht, und ich helfe Ihnen dabei, Frau Sternwirtin,« rief derselbe Herr Häferlein, der noch am Morgen gesagt hatte, es wäre ein wahres Glück für die Löwengasse, wenn die Sternbübles daraus fortkämen. So wandeln sich Meinungen. Fräulein Laura hatte auch vor wenigen Stunden noch gedacht, Frau Tippelmann sei eine ungute, mürrische Frau; nun sagte sie: »Gott sei Dank, daß Frau Tippelmann da ist!« Alette Amhag sagte dies nicht, aber sie fühlte es, was manchmal besser ist. Als Frau Tippelmann zu ihr, die sich wie ein kleiner verflogener Vogel so angstvoll in dem weißen Spitalzimmer umsah, trat und fragte: »Willst du heimfahren in die Rose und dort gesund werden?« nickte sie stumm, aber heftig. »Doch ich lasse dich nicht fort, kleine Alette, bis nicht dein Vater selbst dich holen kommt; ist das recht so?« fragte die alte Frau, die auf einmal verstand, was Alette fortgetrieben hatte. Da umschlang sie Alette jäh mit beiden Armen und ließ sie nicht mehr los, und Frau Tippelmann trug sie in den Wagen und trug sie daheim in das Bett und wachte an dem Bett die ganze lange Nacht hindurch. Die Sorge um das fremde, einsame Kind ließ sie nicht schlafen, und diese Sorge kam aus einem Herzen voller Liebe. [Illustration] Elftes Kapitel. Schwere Tage. Die Löwengasse fängt an, die Sternbübles mit anderen Augen anzusehen, und die merken es. Brav werden ist schwer. Die Lindenkinder kehren zurück, und Herr Häferlein läuft in die Nacht und holt den Arzt herbei. Laura und Frau Tippelmann sitzen Hand in Hand, und am Morgen gibt es Streit auf der Löwengasse. Warum Trinle und Gundel so lange auf der Treppe sitzen und es sich dann vornehmen, Friedensengel zu sein. Den Sternbübles bekam das kalte Bad ausnehmend gut; nicht einmal ein Schnüpflein trugen sie davon. Nur ihr Magen mußte sich schrecklich erweitert haben, sie aßen am Abend wie ein paar Scheunendrescher, und sie seufzten am Morgen schon wieder vor Hunger. Nachdem sie leidlich satt waren, wanderten sie so brav und bieder mit Gundel zur Schule, als wären sie immer so gegangen, und selbst Frau Sekretär Schneider, die just ihren Staublappen zum Fenster herauswehen ließ, sagte, den Buben nachsehend: »Man sollte nicht denken, daß die netten Buben so schlimm sein könnten! Aber vielleicht wird's nun mit ihnen.« Ähnlich dachte auch Herr Häferlein. Der sah die Sternkinder kommen, und dieses Mal nickte er ihnen zu und rief: »Wenn ihr heimkommt, besucht mich mal.« Hui! Da rissen die Bübles geschwind ihre Mützen vom Kopf, grüßten so höflich und sagten so höflich »Ja!«, daß Herr Häferlein seine rechte Freude an ihnen hatte. »Die werden noch, die werden noch,« redete er ihnen nach. Vor der Rose blieben die Kinder einen Augenblick stehen und schauten zu den verhängten Fenstern des ersten Stockes empor. Alette Amhag schlief wohl noch; sie hatte es ja gut, sie brauchte nicht in die Schule zu gehen. Heimlich dachten sie alle drei, wenn wir zurückkommen, steht Alette Amhag vielleicht auf dem Gäßle, sagt uns guten Tag, ja vielleicht wird es so, vielleicht. Doch Alette Amhag schlief nicht mehr, aber aufstehen und auf das Gäßle gehen konnte sie auch nicht; sie war krank. Eine lange bange Nacht lag hinter Frau Tippelmann, und Laura und der Arzt, der gleich am frühen Morgen kam, sprach von manchen sorgenvollen Tagen und Nächten, die noch kommen würden; er sagte es ernst: »Das Kind ist sehr krank.« Laura weinte bitterlich, Frau Tippelmann jedoch blieb ruhig; sie klagte nicht, sie vergoß keine Träne, aber sie tat sacht und lind alles dem kranken Kind zuliebe, und der Arzt sah ihr zu und erklärte zufrieden: »In Ihrer Hut ist die Kleine gut verwahrt, eine bessere Pflegerin könnte ich nicht finden.« Laura hörte das Wort, und sie schämte sich. Sie, die so viele Schuld an dem Unglück trug, die Alettes Kummer nicht hatte hören wollen, kam sich auf einmal sehr überflüssig vor. »Wäre Alette doch nie hierhergekommen,« stöhnte sie, »wäre sie bei Frau van Bachhoven geblieben!« Vielleicht hatte Alette den Namen verstanden, sie schrie plötzlich angstvoll auf: »Trinle, Trinle, hilf mir, Frau van Bachhoven holt mich! Kasperle, hilf, ach, helft mir doch, ich will hierbleiben!« »Hm, mir scheint, das Kind ist durch etwas sehr geängstigt worden,« sagte der Arzt streng. Er sah von Laura zu Frau Tippelmann, sah die fragend an, und Laura dachte, jetzt verklagt sie mich. Frau Tippelmann tat dies aber nicht. »Wir sind alle schuld, Herr Doktor,« sagte sie einfach, »wir verstanden das schüchterne Kind nicht, ich auch nicht. Doch wir werden alles tun, um unsere Schuld gutzumachen. An Pflege soll's nicht fehlen. Gelt, Fräulein Laura?« Stumm legte Laura ihre Hand in die harte, feste Rechte der alten Frau, und zum ersten Mal dachte sie: »Gott sei Dank, daß wir hier sind! Ich will alles tun, was Sie sagen, Frau Tippelmann,« murmelte sie bedrückt; »so wird's am besten sein. Wenn wir nur das Kind am Leben erhalten.« »Das denke ich auch!« Der Arzt nickte. »Nun laufen Sie schnell einmal hinüber in die Lindenapotheke; die Medizin hier muß ich haben,« gebot er. Da rannte Laura ohne Hut und Mantel über die Gasse. Herr Baldan bediente sie schnell und sprach ihr tröstlich Mut zu, ihm fielen gleich sechs Kinder ein, die auch auf irgendeine rätselhafte Weise ins Wasser geplumpst und wieder gesund geworden waren. Wie er beim sechsten Kind angelangt war und die Medizin beinahe fertig hatte, trat Herr Häferlein ein. Der wollte wissen, wie es Alette ging. Er wußte noch von drei Wasserkindern zu erzählen, und er erbot sich auch zu allen nur erdenklichen Hilfeleistungen. »Fräulein Laura,« sagte er, »wenn es schlimmer werden sollte und Sie brauchen jemand, der Ihnen nachts den Doktor holt, dann bitte, werfen Sie mir dort an das dritte Fenster einen Stein. Es schadet nichts, wenn die Scheibe entzweigeht, ich höre es dann besser. Vielleicht fällt mir der Stein ins Bett, aber dies schadet auch nichts.« »Und vielleicht schlägt Ihnen der Stein ein Loch in den Kopf, und das schadet dann wohl auch nichts?« fragte Laura, die trotz ihrer Sorge lächeln mußte. »Nun, nun, so schlimm wird es nicht gleich werden,« rief der höfliche Kaufmann, »wir sind doch Nachbarn!« »Ja,« murmelte Laura dankbar, »Frau Tippelmann sagt auch immer: Ein guter Nachbar in der Not ist besser als ein fremder Bruder.« »Und Frau Tippelmann hat recht,« rief Herr Baldan. »Freilich hat sie recht.« Laura nahm ihre Arznei und lief eilig wieder über die Straße. An der Haustüre traf sie Frau Hinz. Die Sternwirtin kam, auch ihre Hilfe anzubieten, wenn es not sei, und wie sie kam an diesem Tage noch manche andere. Nur die eine konnte nicht kommen, nach der Alette im Fieber sehnsüchtig verlangte, Frau Grill. Die Grills feierten Geburtstag und ahnten nichts, wie oft und bang Alette nach ihnen rief. Laura, die zuerst so froh über diese Reise gewesen war, seufzte jetzt darüber: »Warum sind sie gerade jetzt nicht da!« Hierüber waren nun die Sternbübles anderer Meinung. Die fanden, die Reise der Lindenkinder sei zu rechter Zeit geschehen, denn da machte ihnen niemand den Platz vor der Rose streitig. Mit Gundel hockten sie auf den Bordsteinen der Rose gegenüber, trotzdem es noch gar kein rechtes Wetter zum lange Draußenbleiben war, und starrten zu den verhüllten Fenstern empor. Herr Häferlein sah es, wie er alles sah, was auf dem Löwengäßle geschah. Er rief die drei in seinen Laden und mahnte, sie würden sich erkälten. »Es hat ja keinen Zweck, daß ihr da sitzt und hinüberschaut, helfen könnt ihr doch nichts.« Dies sagte Herr Häferlein, und ein Minütchen später wurde die Hilfe der Sternbübles doch gebraucht, und es ist nicht zu leugnen, Mathes und Peter dachten da triumphierend in ihren Herzen: Ätsch, Herr Häferlein! Fräulein Laura fiel es ein, daß sie an Frau van Bachhoven drahten müßte, und sie lief einfach auf das Löwengäßle; vielleicht war da jemand, der für sie zur Post lief, und so fand sie die Sternbübles. Die rannten zur Post, setzten dazu sehr wichtige Mienen auf, denn sie waren ungeheuer stolz, daß man ihnen eine Drahtnachricht anvertraute. Und als sie zurückkamen, stand Fräulein Laura schon wieder vor der Türe und bat: »Nicht wahr, ihr holt mir einen Eimer Eis von eurer Mutter? Ihr seid ja so brav!« Wenn nun zwei ausgemachte Schelme auf einmal brav werden wollen, ist das keine leichte Sache. Die Sternbübles begannen das bald zu spüren. Vielleicht, ja vielleicht hätten sie das kühne Unternehmen aufgegeben, wenn nicht das große Zutrauen der andern gewesen wäre. Nicht allein Fräulein Laura, sondern alle andern Leute in der Löwengasse schauten auf einmal die beiden immer sehr freundlich und zuversichtlich an. Und wenn nun jemand die eigene Bravheit immer wie ein schöner, duftender Blumenstrauß vor die Nase gehalten wird: »Seht einmal, wie nett, seht einmal, daran hat man doch seine Freude!« dann bleibt doch nichts anderes übrig, als selbst daran zu glauben. Wie daheim, wie in der Gasse, so ging es in der Schule. Auch die Lehrer sahen die Sternbübles mit andern Augen an. Zwei, die so hops und platsch ins Wasser springen, um ein fremdes Kind zu retten, ja, aus denen muß doch noch etwas werden. Und wieder fühlten die Bübles das Zutrauen, und wenn sie heimkamen, rannten sie zur Schwester und baten: »Gundele, hilf uns.« Da half ihnen Gundele eifrig und sacht bei den Schularbeiten, und sie sagte so lange: »Ihr seid gar net so dumm!« bis auch das die Bübles zu glauben begannen. Doch alle Bravheit und Nettigkeit geriet in die größte Gefahr wieder wegzufliegen, als die Grills heimkamen. Purzelvergnügt kehrten die von ihrer Geburtstagsreise zurück; doch schon auf dem Bahnhof erfuhren sie von Alettes Unfall, ihrer Rettung und Krankheit. Es war an dem Tage, an dem der Arzt am Morgen sorgenvoller denn je dreingesehen hatte, und an dem es einer dem andern in der Löwengasse zuraunte: »Die kleine Alette Amhag ist sehr, sehr krank -- vielleicht wird sie sterben.« Frau Grill ging gleich in das Nachbarhaus hinüber, und ihre vier Kinder blieben vor der Linde sitzen, um die Mutter zu erwarten. Da sahen sie die Sternkinder drüben auf Herrn Häferleins Schwelle hocken, und der Kaufmann redete freundlich mit ihnen. Auf einmal tat sich die Türe in der Rose auf. Laura trat heraus und winkte. Mathes und Peter kamen angerannt, die Grills hörten, wie Laura sie bat, Eis zu holen, und dann rasten die Bübles in Windeseile die Gasse hinab, und Laura schloß wieder die Haustüre. Herr Häferlein aber rief den Nachbarskindern über die Gasse zu: »Ist gut, daß wir die Sternbübles haben, die sind jetzt erstaunlich brav.« Die und brav! Veit und Steffen machten lange Gesichter. Über die schlimmen Sternbübles hatten sie sich geärgert, auf die braven Sternbübles wurden sie eifersüchtig. Sie sahen ihnen entrüstet nach, und Veit sagte: »Die drängen sich auf, hier haben sie nichts zu suchen; das sagen wir ihnen noch.« Doch ehe Mathes und Peter wiederkehrten, kam Frau Grill aus der Rose zurück. Sie sah recht ernst und traurig drein, und als ihre Kinder sie mit Fragen bestürmten, sagte sie: »Kommt mit ins Haus. Lärmt nicht so viel auf der Gasse, denkt immer daran, dort oben liegt Alette, und sie ist recht, recht krank.« Für Frau Tippelmann und Laura kam wieder eine lange bange Nacht. In dieser Nacht lief Laura wirklich auf die Löwengasse und warf einen Stein an Herrn Häferleins Fenster. Davon sprang die Scheibe, und Herr Häferlein wachte auf. Er lief dann wirklich schneller als schnell und holte den Arzt herbei. Aber bis er mit ihm zurückkam, das dauerte für jemand, der in Sorge wartet, schon immer eine Zeit. Laura kauerte an Alettes Bett, sie konnte nichts mehr tun als weinen, immerzu weinen. Einmal sagte sie: »Frau Tippelmann, ach, Sie sind so ruhig; wenn nun Alette stirbt, was tun wir dann?« Die alte Frau, die aufrecht an dem Krankenbett saß und jeden Atemzug Alettes belauschte, antwortete einfach: »Ich halt's mit dem Wort: Vertrau auf Gott und laß ihn walten, er wird dich wunderbar erhalten.« Lauras Weisen verstummte. Das schlichte Wort tat ihr unendlich gut. Sie kauerte neben Frau Tippelmann nieder und legte den Kopf an ihren Schoß. So saßen die beiden Frauen still zusammen, zählten die Minuten, die verrannen, und lauschten, ob auf der Gasse nicht Schritte hörbar wurden. Dabei fiel es Laura ein, wie sie als Kind einmal krank gewesen war, da hatte ihre Großmutter viel an ihrem Bett gesessen, und sie mußte denken, die sah aus wie Frau Tippelmann. Und wie die war sie auch gewesen, so schlicht, etwas wortkarg, so scheinbar rauh und doch so gut. Das war nun freilich lange her. Die Großmutter war tot, die Eltern auch. Und die Geschwister! Laura seufzte. Um die hatte sie sich gar nicht mehr gekümmert. Sie war zu vornehm geworden und hatte sich zu viel eingebildet auf ihre schönen Kleider, auf ihre Stellung im reichen Hause. Laura seufzte wieder und flüsterte: »Ach, Frau Tippelmann, ich bin recht schlecht, und daß Alette so krank ist, ist auch meine Schuld.« Frau Tippelmann strich mit ihrer harten Arbeitshand, die doch so linde zufassen konnte, über Lauras Stirn. »Schuld haben wir beide,« murmelte sie, »aber Reu ist des Herzens Arznei.« Da klappten unten auf der Straße Schritte, sie kamen näher und hielten vor dem Hause an -- der Arzt. Die beiden Frauen atmeten auf. Endlich kam er, endlich! Es schien ihnen, als wäre eine furchtbar lange Zeit verflossen, seit sie nach ihm ausgeschickt hatten, und doch war der gute Herr Häferlein völlig atemlos, so sehr war er gerannt. Nachdem er den Arzt herbeigeholt, hätte Herr Häferlein ja nun in sein Bett zurückgehen können, denn gerade sehr gemütlich war es nicht auf der Löwengasse. Der Wind blies kalt von Osten her, aber der Kaufmann kümmerte sich nicht darum; der dachte, ich muß erst wissen, ob es dem Kind da drinnen besser geht. Er mußte lange warten, doch dann wurde seine Ausdauer belohnt. Der Arzt kam wieder und sagte: »Es geht besser, nun können wir wieder hoffen.« »Wieder hoffen, Gott sei Dank!« rief der treue Nachbar froh. Der Arzt ging heim, Herr Häferlein legte sich wieder in sein Bett, und im Haus zur Rose saßen Frau Tippelmann und Laura Hand in Hand. Sie sprachen nicht zusammen, aber in ihren Herzen tönten unablässig die Freudenglocken: »Es geht besser, besser, Alette wird gesund.« Am nächsten Morgen trabten die Sternkinder am Haus zur Rose vorbei und nickten zu den verhüllten Fenstern empor. Das sahen die Lindenkinder, die eben aus ihrem Hause kamen. Die ärgerten sich. Sie fanden die Sternkinder wieder aufdringlich, und als die auf dem Heimweg gar vor der Rose stehenblieben, begannen Steffen und Veit darüber zu schelten. »Hier oben im Gäßle habt ihr nichts zu suchen, marsch fort!« schrieen sie. »Hoho!« brüllten die Sternbuben empört, »ihr habt uns nichts zu verbieten, wir können auf dem Gäßle stehen, wo wir wollen.« »Hier nicht, für die argen Sternbuben ist hier kein Platz!« höhnten Veit und Steffen. »Wohl nur für Pillendreherbuben, he?« kreischten die Sternbübles wütend zurück. Pillendreherbuben war den Grills ein arges Scheltwort, und alle vier, denn Trinle und Kasperle taten mit, stürzten sie sich auf die Sternbuben. »Das sollt ihr büßen!« »Alette, Alette, wenn sie es hört!« jammerte Gundel. Sie, die sonst so Zaghafte, drängte sich zwischen die Streitenden. »Seid doch still, ach, seid doch still!« Puff puff rechts, puff puff links! Gundel geriet in das Kampfgemenge, aber ihr flehendes Rufen verstummte nicht, und Trinle hörte zuerst darauf. Richtig ja, Alette lag krank, Alette hörte vielleicht den Lärm, und Alette sollte nicht aufgeregt und gestört werden. Da mahnte sie auch: »Seid doch still; wenn es Alette hört!« Gundel hatte Mathes erwischt; sie flehte: »Mathesle, geh heim, denk doch, wenn es Alette hört!« Trinle zerrte Steffen am Arm und bettelte: »Streit doch nicht, Alette hört's gewiß; je, jetzt kommt Frau Tippelmann!« Frau Tippelmann kam wirklich aus dem Haus. Sie sah gerade noch fünf Paar Bubenbeine eiligst entfliehen; die drei Grills verschwanden in der Linde, die Sternbuben rasten die Gasse hinab, nur Gundel und Trinle blieben auf dem Kampfplatz. Frau Tippelmann ging schnell an beiden vorüber, sie wollte etwas besorgen. Auf die beiden Kinder achtete sie gar nicht, denn sie hatte den Streit nur halb gehört. Erst als Trinle eine ängstliche Frage nach Alette tat, blieb sie einen Augenblick stehen und erzählte rasch, wie schlimm die Nacht gewesen war. Dann mahnte sie noch: »Seid ja recht still auf dem Gäßle!« und schritt eilig zum Obermarkt hinauf. Die beiden Mädels standen wie erstarrt. Beinahe gestorben war Alette! Sie vergaßen vor Schreck und Schmerz, daß sie eigentlich in Feindschaft miteinander lebten; weinend, klagend sanken sie sich plötzlich in die Arme und hielten sich fest, fest umschlungen. Tripp, tripp, rannen Gundeles Tränen auf Trinles Schulter, und Trinle heulte gleich so arg, daß Gundels Bluse ganz naß wurde. Beinahe gestorben, beinahe gestorben! Sie konnten ein Weilchen gar nichts anderes denken, erst nahende Schritte rissen sie aus ihrer Versunkenheit. Gundel löste erschrocken ihre Arme von Trinles Hals und flüsterte scheu: »Es kommt jemand.« »Es kommt jemand,« wiederholte Trinle verlegen. Was sollte der Jemand von ihrem Geheule denken! Aber sie ließ Gundel nicht los. »Komm mit in unser Haus,« tuschelte sie und zog die andere so geheimnisvoll in den Hausflur der Linde hinein, als hätten sie mitsammen ein Streichle ausgeführt nach dem Muster der Sternbübles. Im dämmerstillen Flur der Linde, in dem es mehr denn je nach Bauchwehtröpfles roch, standen sie erst ein paar Herzschläge lang stumm nebeneinander. Ihre Tränen versiegten langsam, ein paarmal schluchzten sie noch auf, aber dann überkam Trinle auf einmal eine herzhafte Lachlust. Sie kicherte und kicherte; das steckte an wie vorher die Tränen, Gundel lachte auch. Dann sanken sie sich lachend in die Arme, und ein Weilchen prusteten, kicherten und quiekten sie vor Vergnügen, und darüber schwand ihnen die letzte Scheu vor einander. »Wer schwätzt hier nur so sehr?« sagte ein paar Minuten später Herr Baldan. Er öffnete die Türe seines Arbeitszimmers, steckte den Kopf heraus und sah Trinle und Gundel auf der untersten Treppenstufe sitzen. »Na ja, unser Trinle hat seine Freundin mitgebracht, konnt' mir's denken,« brummte er und klappte die Türe wieder zu. Die beiden Mädel ließen sich nicht stören, mochte Herr Baldan denken, was er wollte, es kümmerte sie nicht. Sie schwatzten und schwatzten, sie hatten sich ganze Bände voll zu erzählen, von Trinles Reise und Alettes Unfall. Den mußte Gundel genau beschreiben, und dabei sagte sie wieder und wieder: »Unsere Bübles sind jetzt so brav.« Trinle hegte keinen Zweifel mehr, und gutherzig gelobte sie, ihren Brüdern von der Bravheit der Sternbübles zu erzählen. »Eigentlich ist's dumm,« rief sie, »wir könnten alle so gut auf dem Gäßle spielen und dann bei uns.« »Und bei uns,« flüsterte Gundel, »da gibt's so arg viel Platz.« »Ha, fein! Erzähl mal, wie ist's bei euch?« Da mußte Gundel erzählen, und Trinle fragte und fragte. Die Zeit verging, die beiden spürten keinen Hunger, merkten nicht, wie sich Minute zu Minute reihte, und schraken dann heftig auf, als in der Linde die Tischglocke ertönte. O je, schon Essenszeit! Und Trinle hatte ihre Bücher noch nicht fortgelegt, noch nicht ihr Haar gekämmt und ihre Hände gewaschen. Da mußte es einen schnellen Abschied geben. »Leb wohl, leb wohl, auf Wiedersehen!« »Ja, auf Wiedersehen, morgen!« »Nein, heute auf dem Gäßle!« Gundel hinkte eilig zum Hause hinaus. Trinle raste die Treppe hinauf, husch, husch! die Hände gewaschen, und husch, husch! wieder hinab ins Speisezimmer. Sie war die Letzte, die kam, und die Mutter sah sie fragend an: »So in Eile? Mit wem hast du denn so lange im Hausflur gesessen?« »Mit -- mit meiner Freundin.« Trinle wurde rot. Was würden die Brüder sagen zu dieser Freundschaft! Aber sie überwand ihre Verlegenheit und sagte rasch: »Mit Hinkegundele -- die ist jetzt meine Freundin.« »Hallo, die Schwester von den Sternbübles, eine feine Freundschaft!« »Ruhe bei Tisch!« Der Vater sah die Buben strafend an. »Was soll dies Geschrei, schämt euch doch!« Veit und Steffen wollten sich verteidigen, und sie begannen bitterböse auf die Sternbübles zu schelten. Mit deren Schwester dürfte Trinle nicht verkehren. »So, wo steht das?« Frau Grill legte ihre Hand auf Trinles Mund, die glühend rot vor Zorn, hitzig auffahren wollte. »Streit bei Tisch gibt es nicht. Frau Tippelmann würde sagen: Wem das Essen soll gedeihn, der muß guter Dinge sein. Und auf die Sternbübles sollt ihr nicht schelten. Die haben sich brav benommen, haben Alette Amhag gerettet, und jeder sagt es, seitdem wären sie sehr nett.« »So ist's,« rief Herr Baldan, »ich glaub's jetzt auch, aus den Sternbübles wird noch etwas.« Den Sternbübles hätten eigentlich die Ohren klingen müssen, so laut ertönte ihr Lob in der Linde. Nicht allein Herr Baldan, auch der andere Gehilfe wußte allerlei Gutes von ihnen zu sagen, sehr zum Ärger von Veit und Steffen. Die grollten und schmollten, und nach Tisch gab es am Räuberschlößle zwischen den Geschwistern einen bitterbösen Streit. Es kam, was selten genug geschah bei den Grills, Trinle trennte sich im Zorn von den Brüdern; sie lief weinend auf die Löwengasse, statt wie sonst mit den Brüdern zu spielen. Auf der Gasse fand sie Gundel, und da wurde gleich die neue Freundschaft erprobt, denn Gundel mußte trösten und beruhigen, und sie tat das sehr linde und sacht, und Trinles Zorn legte sich auch bald. Bei ihr ging es geschwinde obenhinaus, aber sie war dann auch wieder schnell zum Frieden bereit. Gundel nun war immer friedlich gesinnt, und so redeten sie beide bald davon, daß sie ihre Brüder miteinander versöhnen und Frieden auf der Gasse stiften wollten. Es sollte nicht mehr Feindschaft sein zwischen der Linde und dem Silbernen Stern, sie, Trinle und Gundel, wollten als ein paar rechte Friedensengel die Versöhnung zustande bringen. Zwölftes Kapitel. Eine schwierige Versöhnung. Trinle und Gundel denken sich wundersame Erlebnisse aus und müssen schließlich Hösles flicken. Trine läuft auf die Löwengasse, und die Sternbuben finden das Räuberschlößle fein und reden von den römischen Kaisern. Frau Tippelmann erzählt Alette, was geschehen ist. Laura rennt zu Herrn Häferlein, Herr Häferlein holt den Arzt, aber Alette Amhag lacht und will in die Schule gehen. Lieber Himmel ja, ist das eine schwere Sache, Friedensengel zu sein! Gundel und Trinle merkten das bald. Vier widerborstige Buben zu versöhnen, ist nicht leicht, zumal wenn die Buben, wie Veit und Steffen, nicht einmal anhören, was die Schwester zu sagen hat. »Entweder du läßt von Hinkegundele, oder mit uns ist's aus!« erklärten sie, als Trinle ganz gespickt mit guten Versöhnungsgedanken heimkam. Kasperle nahm der Schwester Partei, denn Trinles Tränen rührten sein weiches kleines Herz. Und Trinle weinte und weinte, als müsse sie der Frühjahrsüberschwemmung neues Wasser zuführen. Zum Abendessen erschien sie mit so dick verweinten Augen, daß die Mutter erschrak. »Ja, Trinle, was fehlt dir denn, was hat's denn gegeben?« Nun verpetzt sie uns, dachten die Buben, aber Trinle tat das nicht. Nur ihre kaum versiegten Tränen flossen aufs neue, und Frau Grill, die merkte, hier stimmt etwas nicht, fragte nicht weiter. Sie sah nur Veit und Steffen forschend an, und die senkten verlegen die Köpfe. Trinle tat ihnen ja selbst leid, aber warum schloß sie auch mit Hinkegundele Freundschaft, das mußte bestraft werden! Sie verschliefen auch über Nacht ihren Groll nicht und rannten am nächsten Morgen der Schwester davon. Zum ersten Male mußte Trinle allein den Schulweg machen, ohne die Brüder. Kummerschwer trat sie den Weg an, und auf der Löwengasse traf sie Gundele, die auch allein ging. Die Sternbübles hatten wieder einmal vergessen, daß sie mit der Schwester gehen wollten. Gundel war zu sehr daran gewöhnt, um sich besonders zu grämen, und sie tröstete auch Trinle in ihrem Leid. Trinle Grill trug ihr Herz auf der Zunge; sie verriet, warum Veit und Steffen ihr davongelaufen waren, aber gleich darauf tat ihr ihr vorschnelles Wort leid, denn Gundel seufzte schwer. Leise, traurig bat sie: »Laß mich lieber allein; um meinetwillen sollst du net mit den Buben in Unfrieden sein.« »Nein, ich laß dich net,« rief Trinle rasch, »das wäre feige.« Sie nahm Gundels Arm, und alle zwei gingen sie einträchtig zur Schule. Unterwegs berieten sie, wie sie die Buben versöhnen sollten. Sie schmiedeten allerlei wundersame Pläne und dachten sich schöne Reden aus, die sie halten wollten, und so langten sie sehr lieb und versöhnlich gestimmt in der Schule an. Aber Friedensengel sein ist nicht leicht. Die Bübles setzten alle miteinander ihre dicksten Köpfe auf, sie wollten nicht. Die Grillschen sagten, die Sternbübles taugen doch nichts, und die wieder redeten denen aus der Linde nach: »Sie sind eingebildet und hochmütig.« Die beiden Schwestern hatten ihre liebe Not, aber wie es manchmal so geht, der gemeinsame Kummer brachte sie noch näher zusammen, und je trotziger die Buben wurden, je fester schlossen sie Freundschaft miteinander. Zwei Tage in Unfrieden und Hader waren vergangen, und wo auch immer sich die Lindenbuben und die Sternbübles trafen, fuhren sie aufeinander los wie zornige kleine Hähne. Nur vor der Rose nahmen sie sich in acht, denn Alette Amhag lag noch immer sehr krank, und noch immer sahen die Kinder scheu zu den verhüllten Fenstern hinauf: Würde Alette nicht bald gesund sein? Trinle und Gundel hatten sich immer neue seltsame, wunderbare Ereignisse ausgesonnen, die zur Versöhnung führen könnten; an zerrissene Bubenhosen hatten sie nicht gedacht. Aber wie es so kommt! »Kleine Ursachen -- große Wirkungen,« pflegte Frau Tippelmann in solchen Fällen zu sagen. Gundel war bei Trinle, das erste Mal in Trinles Stübchen, um der Freundin Besitztümer zu bewundern, da tat sich die Türe auf, und Kasperle erschien. Er setzte eine geheimnisvolle Miene auf und sagte: »Trinle, sollst mal geschwind zum Räuberschlößle kommen.« »Was soll ich da?« »Sollst kommen -- und dein Nähtäschele mitbringen.« »Mein Nähtäschele? Die Buben haben sich wohl was zerrissen?« rief Trinle ahnungsvoll. Kasperle nickte betrübt, und er antwortete so geheimnisvoll, als handle es sich um eine Staatsangelegenheit: »Die Hösles haben sie zerrissen!« »Beide,« schrie Trinle, »und die guten?« »Beide!« Kasperle seufzte schwer. »Sie sind im Räuberschlößle vom Turm gefallen.« »O je!« Trinle kreischte entsetzt, das war eine schlimme Sache. Veit und Steffen hatten, das wußte sie, ihre guten Anzüge an, weil sie nachher ihren Lehrer besuchen sollten. Die Mutter war nicht daheim, und mit Berta, des Hauses Stütze, war in diesen Tagen nicht gut reden, die dachte nur an das große Frühlingsscheuerfest, das nächstens beginnen sollte. »Gute Hösles kann ich net flicken,« klagte Trinle, »das gerät mir net.« »Darf ich helfen?« fragte da Gundel sanft. Sie konnte das Hösleflicken besonders gut; ihre Brüder sorgten für die rechte Übung. »Ja, hilf du,« rief Trinle froh. Daran, daß Gundel eigentlich mit Veit und Steffen nicht gerade auf dem Fuß des Hösleflickens stand, dachte sie nicht. Sie vergaß auch im Eifer, den Brüdern zu helfen, den eigenen Groll und packte ihr Nähtäschele zusammen, tat hinein, was nur irgend gebraucht wurde, und zog mit Gundel und Kasperle nach dem Räuberschlößle. Potzwetter, sah es da innen wüst aus! Herr Baldans lang vorausgesagter Einsturz war wirklich erfolgt. Die Turmtreppe war halb eingestürzt. Veit und Steffen saßen in ziemlich kläglicher Lage auf einem Trümmerhaufen, und wer sie nicht kannte, hätte sie gut und gern auf den ersten Blick für Räuberbuben halten können. »Hu,« kreischte Trinle, »wie seht ihr aus! Und die guten Sachen habt ihr an?« »Sei froh, daß wir net was gebrochen haben,« brummte Veit. Er betrachtete tiefsinnig ein großes Dreieck auf seinem Knie. Steffen rieb sich den linken Arm; da klaffte ein Loch, und er fragte kleinlaut: »Hast du dein Nähtäschle mit?« »Freilich,« rief Trinle, »und Gundele auch; Gundele hilft flicken.« »Hm,« brummelten die Buben verlegen. Gundels Hilfe war ihnen nicht recht, sie sahen aber ein, daß zwei Flickerinnen schneller schaffen konnten, und eilig war es. Also taten sie, als wüßten sie nichts von einem Streit der letzten Tage, und Steffen zog als erster seine Jacke aus. Dabei stand er auf, und Trinle schrie erschrocken: »O je, hinten hast du aber ein Rißle, das schaff' ich nimmer!« »So schlimm ist's noch nicht!« Steffen seufzte und tastete nach der verletzten Stelle. Da sagte Gundel tapfer: »Ich flick's schon, nur ausziehen mußt du die Hösles.« Freilich, das mußte geschehen. Es war aber nicht gerade warm im Räuberschlößle, und sonst war es auch nicht angenehm, ohne Jacke und Hose dazustehen. Aber da wußte Trinle Rat. »Dort im Schränkle liegen die Gartendecken, nehmt die um,« riet sie, »und da im Eckle zieht ihr euch aus.« Veit und Steffen sagten nicht »Unsinn« wie so manchmal bei der Schwester Ratschlägen; sie holten rasch die Decken heraus, und wenige Sekunden später lagen Hosen und Jacken vor den Mädels. Veit und Steffen aber saßen, in rotkarierte Decken gehüllt, auf einer alten Gartenbank. Sie schauten ziemlich kläglich drein, denn Trinle jammerte verzweifelt über die großen Löcher, an denen ihre Flickkunst zu scheitern drohte. Gundel sagte nichts; die ging tapfer an die Arbeit, und die Nadel flog so flink auf und ab, daß Trinle voll Bewunderung rief: »Du kannst es beinahe so gut wie Mutter!« Gundel seufzte. »Ja, aber ein Stündele wird's dauern,« sagte sie bedrückt, »und -- -- --« »Ha, ich weiß,« Trinle entsank gleich vor Schreck die Nadel, »du willst ja mit deinen Brüdern in die Bachmühle gehen!« »Ja,« flüsterte Gundel, »die warten wohl schon auf dem Gäßle!« Ein paar Augenblicke war es ganz still im Räuberschlößle. Veit und Steffen sahen ein, daß Gundel um ihrer Hösles willen nicht auf ihren Spaziergang verzichten konnte, sie ahnten aber dumpf, Trinle schaffe es nicht allein, und Trinle erkannte das selbst. Sie begann kläglich zu weinen: »Ich werde net fertig, wenn du gehst.« Gundel überlegte. Sie wollte gern helfen, aber die Brüder so einfach im Stich lassen wollte sie auch nicht, und sie schlug schließlich vor: »Ich gehe aufs Gäßle und sag' es ihnen.« »Nein, dann kommst du net wieder, ich -- ich sag's ihnen,« schrie Trinle ängstlich. »Kasperle geht mit.« »Ja,« riefen Steffen und Veit, »sag du's!« Sie spürten es nämlich beide, Gundel verstand das Flicken besser als Trinle; die brachte in fünf Minuten so viel fertig wie die Schwester in einer Viertelstunde. Da war es schon besser, sie blieb. »Ich geh!« Trinle sprang jäh auf; ihr war plötzlich etwas eingefallen, und sie nahm Kasperle bei der Hand, zog ihn mit hinaus und rannte eilig durch den Garten dem Hause zu, ohne auf Gundels und der Brüder Rufen zu achten. Die Sternbübles warteten wirklich schon in der Löwengasse auf die Schwester, und sie waren höchst verwundert, als Trinle statt dieser auf sie zukam. Trinle hatte sich gedacht: Ich hol die Sternbübles schwipp schwapp hinein. Jetzt können Veit und Steffen net ausreißen, weil sie keine Hösles haben, und da versöhnen sie sich. Aber so schwipp schwapp ging das nicht; die Sternbübles wollten nicht. Die stellten sich ganz widerborstig vor Trinle hin und erklärten: »Nein, zu euch in die Linde kommen wir net, ihr seid zu wüst.« Das war arg, und Trinle sah ein paar Herzschläge lang gar nicht wie ein Friedensengel aus, sondern viel eher wie ein kleiner Kriegsteufel. Sie schnappte nach Luft, wollte bitterböse Worte sagen, besann sich aber noch rechtzeitig und rief: »Wir sind doch net im Haus, wir sind im Räuberschlößle, und Gundel -- ja Gundel will euch was sagen!« Im Räuberschlößle! Den Sternbübles blinkerten die Augen. Sie hatten schon viel von dem Grillschen Räuberschloß gehört, hätten es himmelgern längst gesehen, und nun sollten sie hinein, wurden sogar darum gebeten. Sollten sie da nein sagen? »Na ja,« brummelten sie endlich, »wenn Gundele will.« An ihren Nasenspitzen konnte man es ihnen freilich ansehen, daß sie selbst wollten, denn sie trabten höchst vergnügt neben Trinle und Kasperle durch das Haus in den Garten hinein. Und da war das Räuberschlößle und -- -- Die Überraschung war auf beiden Seiten groß. Die vier Buben starrten sich sprachlos an, und Trinle, das hinterlistige Trinle tat, als wäre alles in schönster Ordnung. Sie sagte zu Gundel: »Da sind die Bübles, sie warten, bis du fertig bist.« Veit und Steffen hatten just gedacht: Wir werfen sie hinaus, da fielen ihnen die ungestopften Hosen ein. Ja, wenn sie die Brüder rauswarfen, dann ging auch Gundel, und dann -- -- -- »Wie fein du das machst!« rief Trinle schlau und voller Bewunderung. »Ich brächt's net in drei Stunden so gut fertig.« Gundel flickte in tödlicher Verlegenheit, so schnell sie konnte. Die Anwesenheit der Brüder bedrückte sie. Wenn es nun Streit gab! Doch es gab keinen Streit. Mathes und Peter waren so entzückt von dem Räuberschlößle, das mit seiner eingepurzelten Treppe mehr als je einer Rumpelbude glich, daß sie beide sagten: »Hier ist's fein.« Diese Bewunderung erfreute Veit und Steffen sehr, auch erzählten sie gern, wie die Treppe eingefallen war, sie beinahe herabgestürzt wären und eigentlich von rechtswegen jetzt halb tot daliegen müßten. Ein überstandenes Abenteuer zu erzählen, ist immer sehr vergnüglich, namentlich wenn zwei so mit Lust zuhören wie die Sternbübles. Denen wieder tat die Erkenntnis sehr wohl, daß die braven Lindenbuben sich auch einmal die Hösles zerrissen, auch dumme Streiche machten, und am meisten gefielen ihnen die umgehängten Tischdecken. Mathes sagte: »Ich glaub', wie ihr haben die römischen Kaiser ausgesehen.« Das war ein Wort. Darüber flog alle Feindschaft zum Fenster hinaus, denn allen vier Buben fiel ein, sie könnten einmal gut Römer spielen; das Räuberschlößle konnte das Kapitol sein, das verteidigt wurde. Trinle redete eifrig mit, Kasperle schrie, er wolle auch Römer sein, nur Gundel schwieg. Als sie aber aufatmend Veits Hösle fortlegte und sagte: »Die sind fertig,« riefen die Buben begeistert: »Gundele wird dann die Mutter der Gracchen.« Die hohe Ehre ließ Gundel tief erröten, und wenn möglich nahm sie sich noch eifriger Steffens Hösles an, denn Trinle erklärte: »Ich bring das Löchle net zu, es ist zu groß.« Gundel aber brachte das Löchle zu, gerade noch zur rechten Zeit. Zwei Minuten blieben Veit und Steffen noch, um sich wieder aus römischen Kaisern in zwei Breitenwerter Schulbuben zu verwandeln. Dann aber war es die höchste Zeit; zum Abschiednehmen blieb keine Zeit. Im Davonrasen rief Veit nur noch: »Morgen spielen wir.« »Ja, morgen,« schrieen die Sternbübles zurück. »Kommt vorbei, wenn ihr in die Schule geht,« brüllte Steffen. Da schlug die Gartentüre hinter ihm zu, und Gundel, die Trinles Nähtäschele eingepackt hatte, sagte sanft: »Nun müssen wir uns aber eilen, sonst wird's zu spät.« »Wir begleiten euch ein Stückle, Kasperle und ich,« sagte Trinle rasch, und dann wanderten sie alle fünf einträchtig die Löwengasse entlang. Dabei trafen sie Frau Tippelmann, die eben von Veit und Steffen beinahe umgerannt worden wäre. Als die Trinle, Kasperle und die Sternkinder so einträchtig daherkommen sah, blieb sie stehen und fragte erstaunt: »Je, ihr seid wohl jetzt gut miteinander?« »Ja,« antwortete Trinle geschwind, »wir haben uns versöhnt.« »Und deine Brüderles, warum sind die denn ausgerissen?« »Ausgerissen sind die net, die machen nur einen Besuch.« Und geschwind erzählte Trinle die Geschichte von den zerrissenen Hösles, rühmte Gundels Flickkunst und schloß zufrieden: »Nun sind wir alle Freunde.« »Ist recht,« sagte Frau Tippelmann, »vertragt euch miteinander. Haß und Streit bringen nur Leid. Ich will's Alette erzählen, vielleicht freut sie sich über eure Versöhnung.« Die letzten Worte sagte Frau Tippelmann mit einem tiefen Seufzer, denn noch immer zeigte Alette keine Teilnahme für irgend etwas. Sie lag meist mit geschlossenen Augen da, nichts freute sie, und selten, ach, sehr selten sprach sie einmal. »Viele Grüße für Alette,« riefen die Kinder, »wir besuchen sie bald, sobald wir dürfen.« Dann rannten sie, so schnell Gundel vorwärts kam, weiter. Frau Tippelmann ging in das Haus und betrat innen Alettes Zimmer. Beim Anblick des blassen, stillen Kindes tat ihr das Herz wieder weh, und Laura sah ihr auch kummervoll entgegen. »Sie hat die ganze Zeit, während Sie fort waren, kein Wort gesprochen,« klagte sie traurig. »Wenn ich nur wüßte, was ihr Freude macht!« Frau Tippelmann trat an Alettes Bett, beugte sich über die Kleine und erzählte der, so heiter sie es vermochte: »Die Sternbübles haben sich nun mit deinen Freunden aus der Linde ausgesöhnt; soll ich dir erzählen, wie das kam?« »Ja,« flüsterte Alette und schlug die Augen auf, »wo sind sie denn?« »Spazierengelaufen.« Frau Tippelmann rückte sich einen Stuhl zurecht und erzählte die Geschichte von den zerrissenen und wieder geflickten Hösles, und daß nun die Grills mit den Sternkindern Freundschaft geschlossen hätten. Und zum erstenmal lächelte Alette ein wenig, und als Frau Tippelmann schloß: »Sie wollen dich alle gern besuchen,« fragte sie rasch: »Dürfen sie?« »Freilich, sobald du nur erst ein bißchen gesünder bist, dürfen sie kommen, sooft du sie haben willst!« »Alle -- auch die Sternbübles?« »Gewiß doch, alle, und die Sternbübles erst recht, und Gundele dazu, und wenn du erst wieder gesund bist, gehst du mit Trinle in die Schule.« »In die Schule!« Alette richtete sich plötzlich auf, und ihre Augen strahlten. »Dann darf ich doch hier bleiben?« fragte sie atemlos. »Freilich, solange du willst! Nur dein Vater darf dich holen, niemand sonst. Aber Kind, Herzenskind, um Gotteswillen, was hast du?« Alette hatte mit einem Jubelschrei Frau Tippelmann umschlungen, und an dem Halse der alten treuen Frau weinte sie heiße, heiße Tränen. »Das Kind wird kränker,« schluchzte Laura, »Herr Häferlein muß den Doktor holen.« Sie rannte hinaus, lief zu dem Nachbar hinüber, und der eilte wirklich, wie er ging und stand, und holte den Arzt herbei. Er traf ihn unterwegs, und der gute, freundliche Doktor, der nicht mehr so jung und etwas wohlbeleibt war, kam völlig außer Atem in der Löwengasse an, denn Herr Häferlein trieb unablässig zur Eile. Und zuletzt zerrte und zog Laura den Arzt noch die Treppe hinauf, daß der meinte, Alette Amhag sei nun wohl schon tot. Als er aber das Zimmer betrat, fand er die Kranke in Frau Tippelmanns Armen liegend, ein glückseliges Lächeln auf dem blassen Gesichtchen. »Sie wird gesund, nun gewiß,« rief Frau Tippelmann dem Arzt entgegen. »Ja, das scheint mir auch so,« sagte der heiter. »Da hätte ich freilich langsamer gehen können. Herr Häferlein hat wohl gedacht, ich wäre ein Automobil geworden und könnte so flink rennen?« Alette Amhag lachte ihr frohes Glöckchenlachen, über das sich Frau Tippelmann am ersten Tage so gefreut hatte, und der Doktor lachte herzhaft mit. »Na, mir ist die Rennerei schon recht; wer erst wieder lachen kann, der spaziert der Gesundheit entgegen. Aber nun fein brav sein, damit -- -- --« »Ich Ostern in die Schule gehen kann,« flüsterte Alette. »Ach, ich freu' mich so!« [Illustration] Dreizehntes Kapitel. Was aus Frau Tippelmann wird. Herr Häferlein fragt nicht nach den Zeugnissen. Die Sternbuben finden, die Uhren hätten es eilig, aber Alette Amhag meint, sie gingen im Schneckengang. Es ist Feiertagswetter, und Gundel erzählt Märchen. Jemand findet Breitenwert sehr häßlich. Herr Häferlein rennt noch einmal zum Doktor, und Frau von Bachhoven redet mit Frau Tippelmann; sie ärgert sich über das deutsche Gemüt, und die Sternbuben müssen erzählen, und schließlich sind alle froh über den Besuch. »Jetzt wird unsere Alette bald gesund; heute hat sie geschlafen wie ein Murmeltier,« erzählte Laura am nächsten Tage Herrn Häferlein. »Nun werfe ich Ihnen keinen Stein mehr an das Fenster.« »Ei, was das Steinwerfen anbelangt, das war nicht schlimm,« sagte der höfliche Kaufmann, »aber das Gesundwerden freut mich und sicher alle Leute in der Löwengasse!« Damit sagte der gute Herr Häferlein nicht zu viel. Die ganze Löwengasse freute sich wirklich über Alette Amhags Genesung, am meisten aber Linde und Stern. Frau Grill ging jeden Tag in die Rose; die Sternwirtin schickte dies und das, und die Kinder stürzten wie Habichte auf Frau Tippelmann oder Laura zu, wenn sich eine von ihnen blicken ließ. »Wie geht's Alette? Steht sie bald auf? Dürfen wir sie bald besuchen?« »Ja, bald, bald; sie freut sich schon auf euch!« Es vergingen aber immer noch etliche Tage, ehe Trinle Grill als erste Besucherin das Krankenzimmer betreten durfte, just am ersten Ferientag dazu. Als Trinle eintrat in das Zimmer, dessen Fenster offen standen, um die Sonne, die heute wieder frühlingslustig schien, einzulassen, hörte sie lauten Lärm. Sie blieb erschrocken stehen und sah scheu nach dem Bett hin, in dem Alette noch blaß wie ein weißes Blümchen lag. »Die Bübles schreien so arg,« stammelte Trinle. »Das klingt lustig!« Alette streckte der Freundin die Hand hin, und da vergaß Trinle den Lärm draußen in der Freude, die Kameradin wiederzusehen. Ein Viertelstündchen war ihnen beiden nur vergönnt, da mußte sich Trinle arg sputen, um nur ein Hundertstel von allem, was sie auf dem Herzen hatte, herauszuschwätzen. Die Viertelstunde tat einen Hopser -- aus war sie. Beim Abschied aber konnten doch beide sagen: »Morgen.« Am nächsten Tag hieß es dann: »Und morgen bringe ich Gundele mit.« Und Gundel kam, und die Buben alle, Kasperle zuerst; der wollte gar nicht wieder fort. Gundel war schüchtern, aber gegen Mathes und Peter war sie fast geschwätzig. So etwas! Die Sternbübles taten den Mund nicht auf, aber am nächsten Tage kamen sie doch wieder, sogar eine halbe Stunde zu früh. Da wanderten sie vor der Rose auf und ab und unterhielten sich mit Herrn Häferlein genau so, als wären sie nie die schlimmen, gefürchteten Sternbübles gewesen. Herr Häferlein war auch wirklich sehr nett; der tat keine Frage nach den Zeugnissen, wie es damit und mit dem Versetztsein bestellt sei. Das war gut, denn daran hatten die beiden Schelme gesehen, daß einer nicht im Handumdrehen auf den ersten Platz im Leben kommt. Die Mutter hatte doch ein wenig geseufzt über die Zeugnisse, aber dann dachte sie an den Tag, da sie ihre Buben im Krankenhaus gefunden, und sie fragte mild: »Wird's besser werden das nächste Mal?« »Ja,« sagten die Bübles schnell ganz fest und ehrlich, und Gundel sagte auch ja; sie sagte es für die Brüder mit, und da lächelte die Mutter froh: »Ich glaub's schon,« erwiderte sie, »wenn Gundele es auch sagt, wird es schon werden.« Freilich trauerten die Sternbübles doch trotz ihrer guten Fleißvorsätze jedem Ferientag nach. Wieder einer vorbei, wie schnell das ging! Unglaublich, welche Eile die Uhren in Ferienzeiten haben; es fällt ihnen gar nicht ein, einmal ein bißchen still zu stehen und sich zu besinnen: heute ist's gerade so schön, da wollen wir einmal langsamer unser Ticktack schlagen. Nur Alette Amhag fand, die Uhren gingen im Schneckengang. Ihr dehnten sich die Stunden, und wenn sie die Freunde draußen auf der Löwengasse jauchzen hörte, dann seufzte sie und dachte: Ach, wär ich dabei! Sie mußte noch immer viele Stunden im Bett liegen, und die Zeit für Besuche war karg bemessen. »Sie sind alle sehr nett, aber für Krankenbesuche nicht recht geeignet,« sagte Frau Tippelmann. Trotzdem tat es ihr selbst bitter leid, als sie hörte, am ersten Osterfeiertag wollten sie allesamt über Land fahren, die aus der Linde und die aus dem Stern. »Niemand bleibt bei mir,« klagte Alette, als Trinle ihr dies am Ostersonnabend erzählte. Die Grills wollten zu einem Onkel Pfarrer, der auf einem Dorf, zwei Stunden von Breitenwert entfernt, wohnte, und die Sternkinder waren auch von einer Landmuhme eingeladen worden. Draußen lockte und lachte die Sonne auch gar zu fröhlich, und überall hatte der Frühling schon seine holde Arbeit begonnen. Wer wollte da daheim bleiben? Die Löwengasse war ja hübsch, aber draußen, ja draußen war es doch schöner im Frühlingssonnenschein und im ersten frischen Grün. Alettes Klage ging Trinle Grill freilich sehr zu Herzen, und sie erzählte Gundel davon, just als die von ihrer Freude sprach, daß sie zur Landmuhme fahren dürfte. Gundel wurde still, Alettes Einsamkeit nahm ihr die rechte Freude, und sie sagte endlich, fast wie frohes Hoffen klang es: »Vielleicht regnet's gar am Ostertag.« Es regnete aber nicht. Die Sonne schien schon am Samstag, als wollte sie allen zurufen: »Rüstet euch, rüstet euch, morgen gibt's Feiertagswetter!« Und dann gab es einen köstlichen Morgen, und in der Linde und im Silbernen Stern purzelten die Kinder beinahe vor lauter Eilfertigkeit aus den Betten, nur Gundel Hinz nicht. Die blieb daheim, sie hatte ihre Mutter darum gebeten, und die hatte es erlaubt. Den Bübles war es nicht ganz recht, aber als sie hörten, Gundel blieb, um Alette zu besuchen, da stimmten sie zu. Sie versprachen der Schwester Frühlingsblumen und Festtagskuchen, versprachen der Mutter allergrößte Bravheit und zogen dann genau so selig in die Frühlingsherrlichkeit hinaus wie die Lindenkinder. Alette Amhag hörte wieder das Jubeln und Jauchzen auf der Löwengasse, und sie wurde darüber traurig. Nicht einmal die schönen Ostereier, die ihr Laura aufbaute, konnten sie recht trösten; der Tag lag gar zu lang und einsam vor ihr. Doch als draußen die Kirchenglocken wieder sangen und auf der Löwengasse die Stimmen der heimkehrenden Kirchengänger ertönten, klopfte es an Alettes Tür. Gundel kam, der Kranken zu Trost und Freude. An diesem Tage gewann sich Hinkegundel eine zweite Freundin, und für die beiden Mädeles wurde es ein schöner, fröhlicher Feiertag. Gundels Traum wurde zur Wahrheit; sie konnte der wirklichen Alette Amhag Geschichten erzählen, feine, liebe Märchen, und Alette, die noch wenig Märchen kannte, lauschte so still und zufrieden, daß Frau Tippelmann sagte: »Gundel kann kommen, sooft sie mag; die paßt gut an ein Krankenbett. Wie gut, daß sie daheimgeblieben ist.« Am nächsten Morgen standen schöne Frühlingsblumen an Alettes Bett; die Ausflügler hatten ihre kranke Freundin nicht vergessen. Sie kamen auch, erzählten, es wäre wunderschön gewesen, und Alette bekam die allergrößte Lust, bald, bald im Frühlingssonnenschein spazierenzugehen. Selbst Laura sagte: »Wenn man die Kinder reden hört, meint man, eine schönere Gegend als die Breitenwerter gibt's in der ganzen Welt nicht. Herr Häferlein tut auch, als hätte hier mindestens das Paradies gelegen.« Ein paar Tage später aber schimpfte jemand laut und vernehmlich über das häßliche Breitenwert, seine krummen Gäßlein und seine Menschen, die allzu neugierig und vorwitzig wären. Frau van Bachhoven war es. Sie kam auf einmal -- eins, zwei, drei -- ganz unerwartet schnell angereist. Sie wollte Alette holen. Das gab eine Aufregung in der Rose und drüben in der Linde, und als die Nachricht in den Silbernen Stern gelangte, stürzten die Bübles auf die Straße, als müßten sie Alette Amhag wieder aus Wassersnot befreien. Am heftigsten aber erschrak Alette Amhag selbst. Als die die tiefe, etwas rollende Stimme Frau van Bachhovens hörte, wurde sie totenbleich, und diesmal lief Frau Tippelmann, um Herrn Häferlein nach dem Arzt zu schicken. Der sollte kommen und helfen. Inzwischen gab es einen bösen Auftritt zwischen der Dame und Fräulein Laura. Frau van Bachhoven machte Laura die allerbittersten Vorwürfe, meinte, die sei schuld, daß Alette noch hier sei, und verlangte, sie solle sofort die Sachen packen. »Ich darf nicht, Frau Tippelmann erlaubt das nicht,« rief Laura, die sich gar nicht mehr zu helfen wußte. »Die Frau hat nichts zu erlauben, sie ist eine Dienerin, damit fertig!« schrie Frau van Bachhoven geärgert. Nun gerade, weil alle nicht wollten, sollte Alette zu ihr kommen. Sie war es so gewohnt, um ihres Reichtums willen jeden Wunsch erfüllt zu sehen, daß dieser unerhörte Widerstand sie heftig reizte. Alette Amhag erschien ihr wie ein Spielzeug; sie wollte sie haben um jeden Preis. Sie schrie Frau Tippelmann zornig an, als die kam, sie zu begrüßen: »Sofort wird eingepackt, das Kind kommt mit mir; da gibt es keinen Widerspruch.« »Den gibt es doch,« sagte Frau Tippelmann ganz ruhig. Sie war an Alettes Lehnstuhl getreten, in dem die Kleine in der Sonne saß, und streichelte sanft das weinende Kind. »Du bleibst hier, Alette Amhag.« Frau van Bachhoven rollte ihre Augen ganz fürchterlich, und Laura kroch entsetzt in einen Winkel. Lieber Himmel, dachte sie, Frau Tippelmann weiß gar nicht, wie böse die Dame werden kann, und schließlich müssen wir ihr doch gehorchen und mitreisen, da ist nichts zu machen. »Was erdreisten Sie sich?« rief Frau van Bachhoven. »Sie sind eine Dienerin und haben zu gehorchen, verstanden?« »Mit Verlaub, das habe ich nicht!« Frau Tippelmanns Stimme klang ganz ruhig. »Ich bin eine Amhag wie das Kind hier. Mein Vater selig und Herrn Amhags Großvater waren Brüder; ich bin also Alettes Großtante. Ihr Vater hat mir damals geschrieben, ich möchte für sein Kind sorgen; das tue ich. Erst habe ich gemeint, Alette wollte nicht hierbleiben, nun ich aber weiß, daß Alette hier glücklich ist, lasse ich sie nicht fort, bis ihr Vater es anders bestimmt.« »Sie -- eine -- Verwandte?« Frau van Bachhoven sah die in ein ganz einfaches blaues Hauskleid gekleidete alte Frau von oben bis unten verächtlich an. Sie lachte höhnisch: »Wer Ihnen das glaubt!« »Das ist schon wahr, ganz gewiß wahr, meine Gnädige,« sagte da von der Türe her der alte freundliche Doktor. »Frau Tippelmann ist eine Amhag und des Kindes leibhaftige Großtante. Und die Reise darf sie nicht einmal erlauben, denn die erlaube ich auch nicht. Das Kind ist noch krank und darf nicht in der Welt herumgeschleppt werden, damit basta! Gelt, kleine Alette, du willst noch bei uns bleiben?« Alette gab keine Antwort. Die hielt Frau Tippelmanns Hand fest umschlungen und sah mit strahlenden Augen zu der alten Frau auf. »Meine Großtante,« flüsterte sie, »meine Großtante!« »Ja, Kind, die bin ich. Und deinen Großvater habe ich noch gekannt. Ich war damals ein kleines, dummes Mädele, als er die Heimat verließ. Aber ich sehe ihn noch heute hinten im Garten an der alten Linde lehnen. Er hat geweint, als sollte ihm das Herz brechen, daß er fort mußte aus einer lieben Heimat. Ich habe dann manchmal gedacht, er ist wohl nie wieder gekommen, weil er den neuen Abschied gefürchtet hat, denn Breitenwert und das alte Rosenhaus war ihm der liebste Ort der Welt. Die Heimat ist eben die Heimat.« Frau van Bachhoven war ganz still geworden. Sie begriff nicht, wie jemand an einer so kleinen Stadt, an einem alten Hause so hängen konnte. Es war ihr, als spräche die alte Frau da eine ganz fremde Sprache. Doch merkwürdigerweise schien Alette Amhag, dieses Kind, das sie zum Zeitvertreib gern bei sich haben wollte, die fremde Sprache zu verstehen. Auch Laura, das törichte Mädchen, sah ganz so aus, als hätte Frau Tippelmann etwas Wunderschönes gesagt. »Das ist das dumme deutsche Gemüt!« rief die reiche Dame endlich ärgerlich. »Was ist an einem solchen alten Haus? Alette, besinne dich, ich will dich mit nach Paris nehmen und dann in die Schweiz, da ist es doch schöner als hier.« »Ich will hierbleiben bei -- meiner Großtante,« sagte Alette leise. »Und Sie, Laura?« Frau van Bachhoven sah Laura forschend an. Die knickste verlegen, einmal, zweimal. Freilich, Breitenwert war ein rechtes Nest, die Rose immerhin ein einfaches Haus, aber da war Alette, die Löwengasse, die Kinder, Herr Häferlein, der gute Nachbar, in dessen Laden sie immer an ihre glückliche Kindheit denken mußte; sie atmete tief und sagte dann schnell: »Wenn es Ihnen recht ist, gnädige Frau, dann möchte ich schon hier bei Alette bleiben, bis ihr Vater kommt.« »Meinetwegen,« brummte die Dame. »Hier scheinen alle verhext zu sein.« Sie stockte und sah sich in dem großen Zimmer um, an dessen Fenster Frühlingsblumen blühten, und das so einfach, so hell und freundlich aussah. »Vielleicht würde ich es auch noch, wenn ich hierbliebe.« Da trat Frau Tippelmann rasch vor und bat: »Ein paar Stunden sollten Sie doch bleiben, gnädige Frau. Alette ist Ihnen doch dankbar, daß Sie gekommen sind.« Je, wenn Frau Tippelmann glaubt, Frau van Bachhoven, der kein Hotel gut genug ist, würde hierbleiben, dachte wieder Laura, na, da irrt sie sich aber! Doch diesmal irrte sich Laura. Die reiche Dame blieb wirklich bis zum Nachmittag als Gast in der Rose. Nun erst merkte Alette Amhag, daß die gefürchtete Frau im Grunde sehr gutherzig war, und sie verlor ihre Scheu vor ihr. Sie erzählte ihr selbst von ihrem Sturz ins Wasser, und wie die Sternbübles sie gerettet hatten. Da verlangte Frau van Bachhoven die zu sehen, und die andern Kinder auch, und Laura mußte laufen, um sie alle in die Rose zu holen. Sie kamen an, verlegen und schrecklich neugierig dazu. Die Sternbübles glühten wie zwei Himbeeräpfel, als sie erzählen sollten, wie es gewesen war, als sie Alette gerettet hatten. Sie stießen sich an, blinkerten sich zu, und Peter sagte zu Mathes: »Sag's du!« Aber Mathes wieder tuschelte: »Du sollst es sagen.« Endlich besann sich Mathes auf seine Ältestenwürde und begann: »Alette ist gelaufen wie'n Häsle.« »Und wir hintennach,« schrie Peter. »Dann kam das Flüßle und das Brückle,« fuhr Mathes fort, »und da -- und da -- und da plumpste sie rein.« »Wir haben sie rausgefischt,« ergänzte Peter wieder. »So war's,« rief Mathes. »So war's,« schrie Peter, und beide sahen sich stolz ob dieser ausführlichen Erzählung an. Frau van Bachhoven lachte. Dabei zeigte sie ihre weißen Zähne und rollte ihre großen dunkeln Augen, und das gefiel den Bübles so, daß sie auch in ein jauchzendes Gelächter ausbrachen. »Die gefallen mir,« rief die Dame, »die möchte ich haben.« Aber auch die Sternbübles wollten vom Mitreisen nichts wissen. Der Silberne Stern und die Löwengasse gefielen ihnen vorläufig noch besser als die weite Welt draußen. Sehr gefiel es ihnen dagegen, als Frau van Bachhoven ihnen allerlei sehr schöne Dinge schenkte. Eigentlich sollten zwar all das kostbare Spielzeug, die feinen Zuckersachen und Früchte für Alette sein, doch die teilte gern mit den Freunden, ja sie gab sogar die beiden Staatspuppen an Trinle und Gundel, und so wurde schließlich für alle der Besuch, über den sie zuerst so erschrocken waren, eine große Freude. Am frohesten aber war doch Alette. Nun brauchte sie nicht mehr heimlich zu befürchten, daß Frau van Bachhoven sie holte. Die war fort, und sie durfte bei ihrer Großtante bleiben, bis ihr Vater sie holen kam. Auch Laura war nun ganz zufrieden, auch sie sagte vergnügt: »Ja ja, ein Weilchen bleibe ich schon noch gern in der Löwengasse. Aber das muß ich doch sagen, Frau Tippelmann, recht war es nicht, daß Sie sich nicht gleich als Alettes Tante zu erkennen gegeben haben, es wäre manches anders gewesen.« »So ist's im Leben,« antwortete Frau Tippelmann schelmisch, »wenn mancher Mann wüßte, wer mancher Mann wär, gäb mancher Mann manchem Mann manchmal mehr Ehr.« »O je, schon wieder ein Sprichwort!« rief Laura lachend. »So viele habe ich ja nicht in der Schule gelernt; hier werde ich noch gelehrt wie ein Professor.« »Hm,« sagte Frau Tippelmann schmunzelnd, »es heißt aber: Je mehr einer lernt, desto mehr sieht er ein, wie wenig er kann. Doch nun muß unser Kind zu Bette gehen. Draußen auf dem Löwengäßle ist's schon ganz dunkel, und mir scheint, der Sandmann spaziert schon herein.« [Illustration] Vierzehntes Kapitel. Der Zöpflesstreit. Alette möchte eine Geschichte hören, Laura will erzählen, Frau Tippelmann will erzählen, aber die Sternbuben zeigen sich als sehr ungläubig, und schließlich wird aus der Geschichte keine Geschichte, und die Kinder kommen so geschwind wie noch nie aus dem Rosenhaus auf das Löwengäßle hinaus. Wenn einer krank liegt, hat er viel Zeit zum Sinnen und Denken. Das sind dann oft wunderreiche Tage, namentlich wenn die Krankheit schon an der Türe steht und sagt: »Nun mach ich mich wieder davon; ich habe dich genug geplagt, du armes Menschlein.« Man sieht die böse Krankheit gehen, ist noch matt, aber fühlt es doch jeden Tag: ich werde gesund. Und das Stilleliegen und Stilleseinmüssen tut dann so wohl, und der Kranke, der sonst in aller Unruhe seines Lebens nicht Zeit zum Nachdenken hat, kann dann einmal im eigenen Herzen spazierengehen und sich darin umsehen. Es tut gut dieses Spazierengehen in seinem Herzen. Da findet der Mensch manchmal Winkel, die er selbst nicht recht kennt, und erstaunt wohl über all die unguten Dinge, die da aufgestapelt liegen. In einer Ecke liegt da ein Häuflein Neid und Eifersucht, in der andern ein Bündelchen Hochmut und ein Reis Überheblichkeit schießt daneben empor. Ein anderer sieht bei solchem Umschauen die Eitelkeit protzig im Winkel sitzen, er blickt der Lüge in die falschen Augen, und dem oder jenem fällt allerlei ein, was er über liebe Menschen Häßliches gesagt hat. Doch wer erst die schlimme Unordnung sieht, der findet wohl auch die Kraft aufzuräumen. In den Tagen des langsamen Besserwerdens ist die Seele des Menschen oft wie ein Gärtlein im Lenz. Liebliche Blumen blühen empor, köstlicher Same keimt, und der Mensch selbst hat Zeit, fein säuberlich das Unkraut zu jäten. Es läßt sich aber auch gut träumen von vergangenen Tagen in der Zeit der Genesung, auch an heitere Stunden der Zukunft denkt der Mensch da gern. Alette Amhag nun gehörte zu jenen, die still nachdenken können, und weil ihre Herzstübchen alle blank und heil waren, kein Unrat in den Winkeln lag, dachte sie viel an ihren fernen Vater, an die große Welt und das kleine Löwengäßle. Darum lag sie auch, als es ihr besser ging, mit frohen Augen im Bett, und Frau Tippelmann und Fräulein Laura sagten oft zueinander: »Unsere Alette pflegen, ist wirklich leicht; mit den Sternbübles wäre das wohl ein schlimmes Ding.« Ja, manchmal seufzte Frau Tippelmann ein wenig und meinte: »Es wäre gut, wenn Alette manchmal einen Wunsch hätte.« Und eines Tages hatte Alette Amhag dann wirklich einen großen Wunsch; ihr fiel auf einmal der Großtante Geschichte ein, die ihr die noch nicht erzählt hatte. Ganz eilig rief Alette, nachdem ihr die unterschlagene Geschichte eingefallen war: »Laura, liebste Laura, hole doch die Tante, sie muß mir eine Geschichte erzählen.« »Na, das kann ich doch auch!« sagte Laura etwas gekränkt. »Ich weiß alle möglichen Geschichten, eine von einem Jungen, der in den Krieg zog und dann auf einmal einen Grafen heiratete, weil er nämlich gar kein Junge, sondern ein wunderschönes Mädchen war, und dann noch eine von einer Frau, die so gerne Rosinen und Mandeln aß, daß sie schließlich träumte, sie wäre ein riesengroßer Kuchen geworden, und -- -- --« »Nein, nein,« rief Alette lachend, »die Geschichten will ich nicht hören, Laura; ich will eine hören von damals, als noch meine Ururgroßeltern in der Löwengasse wohnten.« »Ach, das werden gewiß recht langweilige Geschichten sein,« brummelte Laura; »aber meinetwegen, es gibt ja auch Menschen, die hören lieber Leierkasten spielen als Klavier, und ich mag lieber Blechmusik; so ist das nun einmal.« Nach dieser schönen Rede ging sie dann doch, um Frau Tippelmann zu holen. Nach einem Weilchen kam sie wieder und sagte betrübt. »Frau Tippelmann kann nicht erzählen.« »Warum denn nicht?« fragte Alette erschrocken. »Sie hat es mir doch versprochen!« »Ja freilich, und ein Versprechen muß man halten, das ist schon wahr, aber Frau Tippelmann kann das nun jetzt nicht tun, sie ist nämlich weggegangen.« Da konnte sie freilich keine Geschichte erzählen. Alette sah das ein, doch weil sie nun gerade zuhörlustig war, ließ sie sich von Laura die merkwürdige Begebenheit berichten von der Dame, die so gerne Rosinen und Mandeln gegessen hatte. Laura erzählte sehr eifrig. Alette hörte nicht minder eifrig zu, und just als die sonderbare Dame dabei war, sich für einen schönen dicken Weihnachtskuchen zu halten, ging es tripp, trapp im Hausflur, und Laura und Alette purzelten beide aus der Geschichte in die Wirklichkeit zurück und riefen: »Die Sternbübles.« Die waren es wirklich, aber sie kamen nicht allein; zwei Minuten später ging es wieder tripp, trapp, da kamen sie aus der Linde, und zuletzt tönte ein langsamer bedächtiger Schritt: Frau Tippelmann kehrte heim. Laura berichtete von Alettes Wunsch, sie sagte: »Schade, daß nun gerade die Kinder gekommen sind, da wird es nichts aus der Geschichte werden.« »Warum nicht?« erwiderte Frau Tippelmann. »Es ist besser, ich erzähle eine Geschichte, da sind die andern ruhig; die Sternbübles schreien heute ohnehin wieder, als wären sie Jahrmarktsausrufer. Davon wird unser Alettchen nur müde und matt; das stille Zuhören ist gesünder.« Dieser Meinung waren die Gäste just an diesem Nachmittag nicht, am wenigsten die Sternbübles. So gern sie auch sonst Geschichten hörten, heute hatten sie selbst allerlei zu erzählen und zu fragen. Da war am Morgen einer Bauersfrau eine höchst sonderbare Sache zugestoßen; die hatte sich aus einem ganz unerfindlichen Grunde auf ihren eigenen Eierkorb gesetzt, was weder ihrem Rock noch den Eiern gut bekommen war. Die Sternbübles hatten schon Bauchschmerzen vor Lachen darüber bekommen, und sie brannten darauf, reden zu dürfen. Aber Frau Tippelmann fragte wenig danach, was sie wollten oder nicht; sie sagte einfach: »Ich erzähle, damit Punktum, Streusand drauf, und nun aufgepaßt!« »Erst mal -- -- --« schrie Mathes. »Nachher,« sagte Frau Tippelmann ruhig; »also hört. Alette will eine Geschichte aus dem alten Amhaghaus; da gibt es natürlich viele, denn in einem rechten Familienhaus geschieht im Laufe der Zeit immer allerlei. Da gibt es lustige und ernsthafte Geschichten, seltsame, aufregende und auch rührende. Leider wissen die Menschen immer viel zu wenig Geschichten aus der Vergangenheit ihrer Familien, und die Kinder sind jetzt auch schon so töricht, die denken, wenn es heißt, das ist aus deiner Urgroßmutter Leben eine Geschichte, »Ach, wie langweilig!« Weil unsere Alette glücklicherweise anders denkt, soll sie auch so viele Geschichten, als ich noch selbst weiß, aus dem alten Amhaghaus und dem Löwengäßle erfahren. Das Löwengäßle nun war immer ein schnurriges Sträßlein, in dem die wunderlichsten Dinge sich zutrugen, und von all den Geschichten ist mir besonders eine recht im Gedächtnis geblieben. Das war damals, als die Damen noch mit hochgetürmtem Haar einhergingen, weite Reifröcke trugen und jeder Mann ein Zöpfle hinten hängen hatte -- -- --« »Hoho,« schrie Mathes dazwischen, »das ist net wahr, Zöpfles tragen Männer net!« Frau Tippelmann sah über ihre Brille hinweg lachend auf das empörte Büble. »So ein Dummköpfle, wie du auch bist!« brummelte sie. »Jetzt tragen Männer freilich keine Zöpfe mehr, aber damals, als die Geschichte spielte, trug jeder Mann seinen Zopf und -- -- --« »Ich glaub's net,« trotzte Mathes auf, den Frau Tippelmanns Lachen und das Gekicher der Mädchen reizte, »noi, ich glaub's net!« »Ich auch net,« redete Peter dem Bruder eifrig nach. »Zöpfles trägt kein Mann.« »Doch einmal war es so,« riefen die Grills, und dabei schauten sie ein wenig mitleidig über diese Unwissenheit auf die Sternbübles herab. Diese gerieten erst recht in Eifer. Zum Überfluß fuhr sie nun auch noch Frau Tippelmann unwirsch an und gebot: »Haltet euren Schnabel, das Zwischenreden mag ich net leiden.« Da schrieen die Bübles lauter als vorher: »Wir glauben das mit den Zöpfles net; Männer tragen keine.« »Seid doch stille -- -- --« »Männer tragen keine, Männer tragen keine.« »Nun hört doch einer diese dummen Buben an!« schalt Frau Tippelmann erzürnt. »Dabei ist euer eigener Ururgroßvater, der Sternwirt Jakob, der Mann gewesen, der am längsten ein Zöpfle in Breitenwert getragen hat. Den Zöpflewirt haben sie ihn genannt, mein Großvater hat mir noch von ihm erzählt. Fragt nur eure Mutter, die wird's schon wissen. Also nun weiter, damals trugen die Männer noch ihre Zöpfles und -- -- --« »Noi, ich glaub's doch net, Männer sind net so dumm!« schrie Mathes, und dabei wurde er vor Zorn so rot wie ein Krebs im heißen Wasser. »Ich glaub's auch net.« Peter ließ den Bruder nicht im Stich, dessen Glaube war sein Glaube, und Gundel flüsterte und ermahnte vergeblich, sie möchten doch stille sein; die Brüder blieben bei ihrem Widerspruch: »Männer tragen keine Zöpfles.« »Taten sie doch, es ist wahr,« riefen die Grills, denen die Sache nun auch zu dumm wurde, »wir wissen's genau. Zu dumm, so etwas nicht zu wissen!« »Wir glauben's doch net,« versicherten die Bübles grantig. »Pah, Zöpfles sind für Mädeles; Männer sind net so affig!« »Pfui,« schrie Trinle Grill entrüstet, »seid ihr frech! Mädeles sind net affig, wenn sie Zöpfles tragen.« Und zum Zeichen, daß sie sehr stolz auf ihren dicken Zopf war, schwenke sie den wie einen Uhrpendel hin und her. »Zöpfle sind fein, und daß Männer sie getragen haben, weiß ich auch.« »Wir auch!« wiederholten ihre Brüder noch einmal in kriegerischem Ton. »Es ist net wahr, net wahr, net wahr!« kreischten die Sternbübles. »Na, so ein paar widerhaarige Buben sind mir noch gar nicht vorgekommen,« rief Frau Tippelmann. Sie ärgerte sich und lachte dabei, und da sie sah, daß die Sternbübles durch Worte nicht zu überzeugen waren, stand sie auf und holte ein paar kleine Bilder herbei, die sie den Kindern vorlegte. »Da seht ihr's,« sagte sie. »Da sind Männer mit Zöpfles drauf; seht, das hier ist sogar ein Offizier, und der hat auch einen Zopf. Na, glaubt ihr es nun?« Ein paar Herzschläge lang starrten die Sternbübles stumm auf die Bilder nieder. Wirklich, da hingen den feinen Herren kleine steife Zöpfe herunter, und keiner sah darob sehr verwundert drein. Die Bübles sahen sich an, sahen wieder die Bilder an, sie hörten aber auch das schadenfrohe Lachen der andern, und der alte bitterböse Sternbüblestrotz wachte wieder in ihnen auf. Mathes rief als erster: »Die Bildles, die sind net wahr, die -- die -- sind aus -- Märchenbüchern.« »Jawohl, aus Märchenbüchern sind se,« schrie Peter nach, »sie sind net wahr.« »Was, meine Bilder sind net wahr?« rief Frau Tippelmann verdutzt. »Mein eigener Urgroßvater soll net wahr sein? Nun schlägt's aber dreizehn!« Die Lindenkinder waren nur einen Augenblick sprachlos, dann tobten sie los wie zur Zeit der schlimmsten Feindschaft mit den Sternbübles, und die blieben die Antworten nicht schuldig. Worte flogen hin und her wie Schneebälle. Frau Tippelmann schalt, Laura lachte, Gundel weinte, Alette weinte mit, und alle miteinander überhörten den Klingelton unten, hörten nicht, daß die neue Küchenmagd Selma mit jemand sprach, bis sich die Türe auftat und dieser Jemand ins Zimmer kam. »Potzwetter, nennt man das eine Krankenstube?« Da war es nun plötzlich still, und tief erschrocken schauten alle auf den Arzt. Frau Tippelmann aber seufzte schwer, fast schuldbewußt; es war ihr beinahe, als hätte sie den Lärm selbst verursacht. Ordentlich bedrückt sagte sie: »Gut, daß Sie kommen, Herr Doktor, mit diesen Sternbübles ist es ein Kreuz.« »Was haben sie denn getan?« Alle auf einmal wollten Antwort geben, diesmal aber gelang es Frau Tippelmann, sie zur Ruhe zu bringen; sie rief streng: »Schweigt, ich erzähle!« Und dann erzählte sie halb lachend, halb ärgerlich die Zopfgeschichte, und der gute Doktor machte ein Gesicht dazu, als könnte er das Lachen nicht mehr recht am Ausreißen hindern. »So ist's!« sagte er und sah die Sternbübles von oben bis unten an. »Hm, ihr glaubt also nicht an die Zöpfles?« »Noi,« beharrten die Bübles trotzig und gekränkt, »das ist net wahr!« »So, hm! Na, seht einmal an! Wer ist denn das hier, der euch allen vor der Nase hängt, und an dem ihr alle vorbeigesehen habt, obgleich man an dem in der Weltgeschichte wirklich nicht vorbeisehen kann?« Der Doktor nahm ein Bild von der Wand, hielt es Mathes und Peter vor die Augen und fragte: »Wer ist das?« »Der alte Fritz!« Die Lindenkinder riefen es zuerst, und dann schrieen sie alle zusammen: »Er hat ein Zöpfle!« »Na ja, freilich, der alte Fritz hat ein Zöpfle getragen, und was er, der große Held, getan hat, werden die andern Männer wohl auch getan haben. Glaubt ihr das nun, ihr Ungläubigen?« Ja, nun glaubten sie es schon; wenn der alte Fritz ein Zöpfle hatte, dann freilich! Die Sternbübles sahen ganz verdattert drein, und die Lindenkinder taten soeben ihre Münder sperrangelweit auf, um in ein riesenhaftes Jubelgeschrei auszubrechen, als der Doktor schnell rief: »Nun aber raus, allesamt, eine Krankenstube ist keine Lärmstube, wer schreien will, mag es draußen tun, obgleich es für das Löwengäßle angenehmer wäre, ihr ginget fein stille heim.« »Das werden sie ganz und gar nicht tun,« brummelte Frau Tippelmann, »die schon sicher nicht. Ich bin aber froh, daß sie gehen; so bald gibt es nicht wieder Besuch hier, das sage ich.« »Und die Geschichte?« rief da plötzlich Alette in einem so jämmerlichen Tone, daß es selbst den bockbeinigen Sternbübles an das Herz ging. Die taten jeder einen kellertiefen Seufzer und schauten drein, als wären Heim und Stube, Schulferien, das Löwengäßle, das Nachtessen und sonst etwas weggeschwommen. »Die Geschichte bleibt nun unerzählt,« sagte Frau Tippelmann streng. »Wer sich über ein Zöpfle net beruhigen kann, der braucht keine Geschichten zu hören.« Es war merkwürdig, Alette kannte ihre Tante doch erst seit kurzer Zeit, aber schon wußte sie, hinter der Strenge lauerte das Lachen, und ihr eben noch so betrübtes Gesicht hellte sich auf. Sie rief rasch: »Morgen erzählst du, bitte, bitte!« »Nein, morgen gewiß nicht.« »Dann übermorgen.« »Na, vielleicht, -- wollen mal sehen, aber nun Abschied!« Der war kurz, denn Frau Tippelmann schob die Gäste einfach zur Türe hinaus, der Doktor half, Laura auch, und so kamen die Kinder der Löwengasse so geschwind hinaus wie noch nie. Auf einmal standen sie auf dem Gäßle, die herbe Frühlingsluft umwehte sie, kühlte ihre heißen Stirnen und dämpfte auch ihre Streitlust. Für die Ruhe auf dem Gäßle war das recht gut. »Übermorgen erzählt sie uns,« sagten sie zueinander. »Vielleicht.« Gundel war zaghaft, aber die andern überstimmten sie: »Nicht vielleicht, sondern gewiß. Um das Zöpfle wird sie net lang böse sein, um ein dummes Zöpfle.« »Ein Zöpfle ist was Feines,« schrie Mathes plötzlich; »hurra, der alte Fritz hat auch eins getragen, hurra!« Und dann liefen sie heim, denn über das Löwengäßle sanken immer tiefer die Dämmerschatten, und die Abendbrotzeit war herangekommen. Nach dem Abendessen kam das Zubettgehen, und dabei geschah es, daß sich die Sternbübles gegenseitig ansahen, jäh verstummten und sich dann beide an die kugelrunden, glattgeschorenen Köpfe faßten und riefen: »Wir kriegen nie ein Zöpfle -- schade!« Und sie seufzten tief und stiegen nachdenklich in ihre Betten. Peter aber träumte in der Nacht von einem dicken, schwarzen Chinesenzopf. Doch den hatte nicht er, sondern Herr Baldan; der ging damit im Löwengäßle spazieren, schwenkte ihn hin und her und rief immer: »Platz da für mein Zöpfle, das hat mir der alte Fritz geschenkt.« O, der glückliche Herr Baldan! Fünfzehntes Kapitel. Hoher Besuch. Frau Tippelmann erzählt eine Geschichte von Sternbübles, und die lebendigen Sternbübles haben viel dreinzureden, und Fräulein Laura sagt, wenn von einem Herzog geredet wird, müsse es schneller gehen. Es kommt aber alles zu einem guten Ende, und die Sternwirtin weiß zuletzt nicht, von welchen Sternbübles ihre Kinder eigentlich erzählen. Ein paar Tage lang tat sich die Rosentüre allemal nur ein Schlitzchen weit auf, wenn eins der Nachbarskinder klingelte, und jedesmal hieß es: »Alette geht es gut, Alette läßt grüßen, aber Besuch darf nicht zu ihr.« Nur Gundele durfte einmal hinein, und als sie zaghaft an Alettes Bett trat, da lachte die ihr froh entgegen. »Ein paar Tage sollt ihr nicht kommen, aber nachher erzählt Tante Tippelmann doch die Geschichte, und denke dir nur, Gundele, Sternbübles kommen darin vor, richtige Sternbübles, die sind aber schon über hundert Jahre alt.« Als Gundele aus der Rose zurückkam, schlenderten die Grillschen Buben just mit ihren Brüdern zusammen das Gäßle hinab. Gundel lief ihnen nach und erzählte das Gehörte. Eine Geschichte von Sternbübles, die, wer weiß wann, gelebt hatten, ja die vielleicht mit Zöpfles einhergegangen waren, wollte Frau Tippelmann erzählen. Mathes und Peter wußten nicht recht, ob sie sich freuen oder ob sie sich ärgern sollten. »So was gibt's gar net,« rief Mathes patzig und rannte davon. Es fiel ihm nämlich ein, es könnte ganz gut sein, die Mutter zu fragen; vielleicht wußte die etwas, vielleicht erzählte sie es ihm, und vielleicht konnte er dann sagen: »Pah, die Geschichte kenn' ich schon!« Ach, vielleicht! Die Sternwirtin hatte wieder einmal alle Hände voll zu tun, als Mathes in die Küche stürmte und seine Frage tat. Sie konnte sich auch auf keine wichtige und sonderbare Geschichte besinnen und sagte: »Wenn ich Gemüse schmore und einen Braten begießen muß, kann ich nicht Geschichten erzählen. Jedes zu seiner Zeit; eine Geschichte verträgt sich höchstens mit einem Strickstrumpf oder einer Flickerei. Bübles hat's aber, Gott sei Dank, immer im Stern gegeben, und unnütz sind sie sicher alleweil gewesen, weil das nun mal in den Bübles liegt. Paßt nur gut auf, wenn Frau Tippelmann erzählt, damit ihr merkt, wie ihr es nicht machen sollt.« Das war nun eine magere Auskunft für die neugierigen Ungedulde, und es war gut, daß sich Frau Tippelmann schon am nächsten Tage bereit erklärte, die Geschichte zu erzählen. Und obgleich es eigentlich kein Geschichtenwetter war, denn die Sonne schmunzelte wie eine alte, gute Tante, und der Wind sang süße, sanfte Lieder, kamen die Zuhörer doch sehr pünktlich und vergnügt in der Rose an. Sie wollten leise gehen und trappsten die Treppe hinauf, daß der alle Stufen weh taten; sie knarrte und ächzte unwirsch, aber oben rief Alette vergnügt: »Sie kommen.« Frau Tippelmann saß schon am Bett der Nichte, und als die Gäste versammelt waren, sagte sie gleich: »Wer aber heute nicht richtig zuhört, sondern dazwischen schwätzt, der soll es gleich sagen, der muß hinaus.« Die alte Frau sah ernsthaft über ihre Brille hinweg von einem zum andern, prüfte namentlich die Gesichter der Sternbübles und fragte: »Na, wer geht lieber vorher?« »Ich -- -- --« »Also, dann hinaus!« »Noi, ich möcht nur mein Schnupftüchle holen,« rief Peter kläglich, fast niedergeschmettert von Frau Tippelmanns vorwurfsvollem Blick. »Es wird wieder nichts!« Trinle rief es klagend, »die Sternbübles stören wieder.« »Noi, wir stören net.« »Also, ich zähle jetzt bis drei, wer dann nicht still ist, muß hinaus. Eins -- zwei --« Peter nieste so heftig, daß Fräulein Laura beinahe vom Stuhl fiel, aber da Mathes in seiner linken Hosentasche ein Schnupftüchle entdeckte und dem Bruder half, sagte Frau Tippelmann drei, und da war es wirklich still, und sie begann: »Der Silberne Stern ist schon seit etlichen hundert Jahren ein berühmtes Gasthaus, in dem schon manchmal fürstliche Gäste eingekehrt sind. Sternbübles, hebt eure Nasen net so in die Luft, ihr habt noch nichts dazu getan, den Silbernen Stern in guten Ruf zu bringen, im Gegenteil!« Klapp, senkten die Sternbübles die Köpfe, und Frau Tippelmann fuhr fort: »Es war also um die Zeit, da noch, wie ihr nun wißt, die Männer Zöpfles trugen, als im Silbernen Stern ein sehr, sehr vornehmer Gast erwartet wurde.« »Ein König!« schrieen die Sternbübles aufgeregt. »Schnabel halten -- ein Herzog war's, nicht mehr und nicht weniger. Aber auch ein Herzog kam nicht alle Tage nach Breitenwert, und unser gutes Städtchen stand beinahe auf dem Kopf vor Aufregung. Wie er wohl aussehen mochte, der Herzog? Viele Tage lang redeten die Breitenwerter nur von dem Herzog, und jeder sagte: Ich muß ihn aber sehen, ich ganz bestimmt! Ihr könnt euch denken, daß dies vor allem die Kinder sagten.« »Die Mädeles.« »Die Bübles.« »Schnabel halten -- alle Mädeles und Bübles und Bübles und Mädeles waren neugieriger als sämtliche Elstern im deutschen Vaterland zusammen. Am allerneugierigsten aber waren die -- Sternbübles.« »Noi, das ist net wahr, wir waren's net,« schrieen Mathes und Peter entrüstet. »Dummhüte, ihr doch net! Eure Ururururgroßväter waren damals die Sternbübles. Auch zwei wie ihr, auch just in eurem Alter, und auch sie wurden im ganzen Städtle nur die »unnützen Sternbübles« genannt. Ja, seht nur nicht so bitterböse drein; es war schon so! Um diese Zeit gab es in der Linde ein einziges Mädele, das Gustele.« »Und in der Rose?« fragte Alette eifrig. »Da purzelten erst ein paar winzige Dreikäsehoch im Kinderzimmer herum, die zählten noch nicht mit, denn die durften noch nicht auf dem Gäßle spielen. Die Sternbübles und das Lindengustele nun waren die allerbesten Freunde; die stritten sich nicht und schmähten sich nicht, wie es später manchmal zwischen den Linden- und Sternkindern vorgekommen sein soll.« »Aber jetzt net mehr,« schrieen die Grills und die drei aus dem Stern zugleich, »das war früher mal.« »Freilich, freilich, das war einmal vor ewigen Zeiten, vor vier Wochen etwa!« Frau Tippelmann lachte, die Kinder lachten, nur Laura sah etwas brummig aus, als sie sagte: »Eine Geschichte, in der ein Herzog vorkommt, darf nicht so langsam erzählt werden; das muß geschwinder gehen. Kam denn der Herzog?« »Ja, freilich, er kam. Vorher wurde aber im Silbernen Stern geputzt und gescheuert, als müßten Weihnachten, Ostern und Pfingsten gleich an einem Tage gefeiert werden. Das Fürstenstüble wurde gerichtet, in dem ein großmächtiges Himmelbett stand, dessen Dach von vergoldeten Engeln getragen wurde.« »Das Bettle ist noch da,« schrieen die drei Sternkinder aufgeregt, »und die Mutter sagt, ein König hat drin geschlafen, doch, ein König, ein König!« »Potzwetter, ihr sollt den Schnabel halten!« Frau Tippelmann sah ganz grimmig drein. »Was habe ich gesagt?« rief sie. »Wer nicht still ist, der muß hinaus, aber in der Geschichte, die ich erzähle, hat ein Herzog drin geschlafen, und nun Punktum und Streusand drauf! Vorläufig also war der Herzog noch nicht in Breitenwert eingetroffen, und die Sternbübles Jaköble und Josefle standen mit Gustele aus der Linde mitten im Fürstenzimmer und schauten sich die Herrlichkeiten an, das schöne Bett mit der grünen Seidendecke darüber, die Gustele ganz vorsichtig streichelte.« »Durfte sie das?« Die Sternbübles hatten schon wieder einmal das Schweigegebot vergessen, und Frau Tippelmann runzelte die Stirn ob der neuen Unterbrechung. »Bewahre, sie durfte das natürlich nicht,« brummte sie. »Die Kinder hatten sich ganz heimlich in das Prachtzimmer geschlichen, in dem gerade der Malermeister Tänzer gewesen war, der den einen Engel noch einmal ein wenig überstrichen hatte. Der Herzog sollte an diesem Nachmittag kommen, und im Silbernen Stern lief alles in der größten Eile durcheinander. Zur Hilfe hatten sie auch den Meister Tänzer fortgeholt; er sollte den Willkommenspruch an der Haustüre annageln. In der Eile hatte er seine Leiter in dem Fürstenzimmer stehenlassen, und ich weiß nicht, wer es zuerst gesagt hat, das Jaköble oder das Josefle: ›Man müßte da mal hinaufsteigen,‹ getan haben es jedenfalls alle beide, und Gustele stieg auch hinauf, obgleich damals die Mädeles im allgemeinen nicht auf Leitern herumkletterten. Oben auf dem Betthimmel, neben den goldenen Engeln, die die seidenen Vorhänge in ihren Händchen hielten, ließ es sich ganz gut sitzen. Jaköble -- es kann auch Josefle gewesen sein -- rief: ›Ich bleib' hier, da sehe ich den Herzog ganz genau, da --‹ ›Bst, es kommt jemand!‹ Gustele verkroch sich erschrocken in den Falten des Vorhanges, und auch die Buben suchten erschrocken Schutz, denn draußen kamen rasche, laute Schritte näher. Die Tür wurde aufgerissen, Christian, Meister Tänzers Geselle, sprang herein, rasch ergriff er die Leiter und, husch, war er zur Türe hinaus, und man hörte ihn draußen mit seiner Last geschwind die Treppe hinabpoltern. Einen Augenblick freuten sich die drei; die Bübles riefen stolz: ›Ha, er hat uns net gesehen!‹ Aber gleich darauf fiel es ihnen ein, es möchte ein schweres Ding sein, von dem Betthimmel herabzukommen. Und herunter mußten sie und unbemerkt und möglichst geschwind dazu. ›Springen,‹ riet Jaköble oder Josefle. ›Das kann ich net,‹ klagte Gustele. ›Hm!‹ Die Buben überlegten; leicht war es nicht, und einer von ihnen sagte endlich: ›Wir müssen runterklettern.‹ ›Und wenn dabei was zerbricht oder das ganze Bettle umfällt?‹ Gustele zitterte vor Angst, und als sich die Buben die Sache recht beschauten, zitterten sie ein bißchen mit. So leicht wie hinauf kamen sie jedenfalls nicht hinab, und wie sie noch so redeten und beratschlagten, entstand auf dem Löwengäßle auf einmal ein ungeheurer Lärm, und zugleich polterten auch draußen auf dem Gang wieder Schritte. Trapp, trapp, ging es. Die Türe wurde aufgerissen, und eine Magd kam und raffte eiligst allerhand Werkzeug auf, das Meister Tänzer am Boden hatte liegen lassen. Der ersten nach stürzte eine zweite Magd in das Zimmer, die, husch, mit einem Staubtuche über Tische und Stühle wischte, aber da schrie auch schon eine dritte zur Türe herein: ›Schnell, schnell, eilt euch, huje, er ist schon auf der Treppe!‹ Die Mägde rannten hinaus, draußen gab es Gerappel und Gerumpel, mehrere Stimmen tönten durcheinander, dann ging wieder die Türe auf, und gefolgt von dem tief sich verneigenden Sternwirt, zwei Herren und etlichen Dienern, betrat ein großer, stattlicher Herr das Zimmer -- der Herzog.« »O je!« kreischten Peter und Mathes entsetzt, »und alleweil sitzen die noch oben.« »Ja, so war's,« sagte Frau Tippelmann, »die drei saßen noch oben auf dem Betthimmel, und es ist schon ein richtiges Wunder, daß sie nicht heruntergepurzelt sind, sondern noch so viel Verstand hatten, sich in den Falten der dicken Vorhänge zu verstecken. Zu ihrem Glück sah auch nicht gleich jemand nach oben. Der Herzog ging in das andere Zimmer hinein, blickte sich um und sagte zufrieden zu dem Sternwirt: ›Er hat ein recht stattliches Haus, ich denke, es wird mir bei ihm wohlergehen.‹ Der Sternwirt verneigte sich wieder und sagte, dies hoffe und wünsche er von Herzen. Der Herzog ging wieder in das Nebenzimmer, schaute auf die Gasse hinaus, und schließlich tat er einen Seufzer und sagte, er habe Hunger. Dies war nun ein rechtes Glück für Gustele und die Bübles. Das Mahl für den Herzog war im Saal angerichtet, also begab er sich dahin; seine Begleiter folgten ihm, die Diener liefen auch hinaus, und ein paar Minuten später war es still und leer in den Zimmern. Die drei Schelme wären nun himmelgern von ihrem hohen Sitz heruntergeklettert, sie merkten aber bald, daß dies ein schwieriges Unternehmen war. Als Jaköble, es kann auch Josefle gewesen sein, am Bettpfosten herabrutschen wollte, wankte und schwankte das ganze Himmelbett, und Josefle, es kann auch Jaköble gewesen sein, hielt den Bruder angstvoll fest, denn der drohte herunterzupurzeln, ganz schrecklich sah es aus. ›Wir kommen net runter,‹ stöhnte Gustele. ›Und wenn uns der Herzog sieht, o je!‹ ächzte Josefle, es kann aber auch Jaköble gewesen sein, so hinterher kann man net wissen, welcher von den Bübles gerade gesprochen hat.« »Noi, das kann man net,« redete Mathes dazwischen, aber Peter gab ihm einen Stoß und mahnte: »Sei still, sie müssen sonst so lange oben sitzen.« »Ja freilich, lang genug mußten sie oben sitzen,« fuhr Frau Tippelmann fort, »das stimmt. Jedes Mal nämlich, wenn Jaköble oder Josefle das Heruntergerutsche versuchen wollten, wackelte das Bett, schwankte wie ein Schiff auf hoher See, und immer wieder blieben die Kinder erschrocken oben sitzen. Gerade sagte Josefle oder Jaköble wieder: ›Ich rutsch', halt doch,‹ als sich leise die Tür öffnete. Ein herzoglicher Diener trat ein; aber der benahm sich höchst seltsam, er sah sich scheu um, und die drei auf dem Himmelbettdach meinten schon, er habe sie gehört und habe nun Angst vor ihnen. Dabei hatten sie selbst eine Heidenangst vor dem Diener, und so fürchteten die oben und der Mann unten sich arg. Der Diener blickte ängstlich in alle Ecken, lauschte, dann sprang er hastig auf das Gepäck des Herzogs zu, das noch uneröffnet im Zimmer lag, und versuchte den einen Reisesack zu öffnen. Das gelang ihm nicht gleich, er zog darum hastig ein Messer aus der Tasche und schnitt ritsch, ratsch ein Loch in die Hülle.« »Das ist frech,« brüllten Mathes und Peter, »das darf er nicht.« Frau Tippelmann erwiderte darauf gar nichts, nur Laura brummte: »Der längste Tag im Jahr ist nicht lang genug, um den Sternbübles eine Geschichte zu erzählen. Also, was machte der Diener?« »Der wühlte und kramte in dem Sack herum und zog schließlich ein Kästchen heraus, das er in seine Tasche steckte; dann zog er noch ein zweites größeres Kästchen hervor, damit ging er zum Ofen, öffnete das Ofenloch und warf den Kasten hinein. Dann huschte er eilig aus dem Zimmer. Das Gustele sah auf dem Himmelbettdach das Jaköble an, das Jaköble sah das Josefle an, und allen dreien kam die Sache höchst unheimlich und seltsam vor; ein wahres Grauen beschlich sie. Sie waren mit dem Verwundern noch nicht fertig, als sich schon wieder die Türe auftat und zwei andere Diener hereinkamen. Einer von ihnen war schon alt, ein würdiger, freundlicher Mann, den der andere fast wie den Herzog selbst behandelte. Der sah sich im Zimmer um, lobte die schöne, saubere Einrichtung, er trat auch an das Himmelbett heran --« »Jetzt sieht er sie,« kreischte Peter. »Nein, er sah sie nicht,« erzählte Frau Tippelmann weiter, »er sah eben nicht in die Höhe, sondern sagte zu dem zweiten Diener: ›Wir wollen rasch auspacken, Philipp; diesen Sack hier zuerst, da sind wichtige Schriftstücke von unserm Herzog darin, die hat er mir besonders ans Herz gelegt.« Philipp ging rasch ans Werk, und oben tuschelte das Jaköble -- es kann auch das Josefle gewesen sein -- alle Vorsicht vergessend: ›Jetzt finden sie das Loch.‹ Die beiden unten hörten aber das leise Flüstern nicht, denn sie fanden wirklich das ausgeschnittene Loch, und sie schrieen laut los. Der Alte riß zitternd das Gepäck auseinander, wühlte darin, suchte und stöhnte endlich: ›Fort, beraubt, die Papiere sind fort, die Juwelen sind fort! Mein Gott, was tun wir nun?‹ Philipp war schon an die Türe gestürzt, er riß sie auf und schrie laut in den Flur hinaus: ›Hilfe, Hilfe, Diebe, Diebe!‹ ›Um Himmelswillen, Philipp, sei doch still!‹ jammerte der Alte, aber seine Warnung kam zu spät. Der Ruf hatte schrecklich das Haus durchgellt, Hausdiener und Mägde, Gäste und Wirtsleute, alle rannten herbei, selbst der Herzog kam. Der hatte das Rufen gehört, hatte gefragt, und der Sternwirt hatte ihm, an allen Gliedern zitternd, berichtet, sein Reisegepäck sei bestohlen worden. ›Gestohlen in meinem Haus!‹ jammerte er. ›Hochfürstliche Gnaden, Erbarmen, ich kann nichts dafür!‹ ›Das werden wir sehen.‹ Der Herzog sah gar nicht mehr mild und freundlich aus, sondern bitterböse, als er das Zimmer betrat, und er fuhr den alten Diener zornig an: ›Erzähle Er, Friedrich, wie hat Er's gemerkt?‹ Der erzählte -- er konnte kaum sprechen vor Kummer --, alles habe er selbst bewacht beim Herauftragen, dann sei er nur mit den andern gegangen, um rasch etwas zu essen. In dieser Zeit müsse es geschehen sein; es könne wohl nur jemand aus dem Hause gewesen sein. Ja, das sei sicher, riefen des Herzogs Begleiter und Diener, und alle sahen dabei den Sternwirt drohend an. ›Hat Er Diebe im Haus?‹ ›Beileibe nicht! Noch nie ist so etwas hier vorgekommen, solange ich Wirt bin,‹ jammerte der. ›Fragt alle meine Leute, allergnädigster, durchlauchtigster Herr Herzog, niemand tut hier so etwas!‹ Der Herzog befahl nun, alle Leute sollten erscheinen, selbst die Köchin mußte den Braten brotzeln lassen. Zuallerletzt kam Michel, der älteste Hausknecht, der war nur widerwillig gekommen, weil er gemeint hatte, unten könne man nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Als er eintrat, deutete einer der Diener auf ihn und sagte: ›Den da sah ich vorhin die Treppe herabkommen, er sah sehr verlegen aus, vielleicht weil er so schwarz war; er mochte gerade einen Ofen ausgeräumt haben.‹ ›Stiefel hatte ich geputzt,‹ brummte Michel unwirsch. ›Michel,‹ schrie der Sternwirt zornig, ›ist Er hier im Zimmer gewesen?‹ ›Noi,‹ brummte Michel. ›Der Kerl sieht aus wie das leibhaftige schlechte Gewissen,‹ rief der Herzog. ›Gesteh Er's, Er hat gestohlen!‹ Michel erschrak. ›Bei meiner Seel' net!‹ jammerte er, ›ich war's net.‹ ›Man müßte suchen,‹ murmelte der Diener, der ihn angeklagt hatte. ›Nehmt ihn fest. Der Büttel soll kommen, man soll seine Sachen durchsuchen,‹ befahl der Herzog finster. ›Ich war's net, bei meiner Seel', ich war's net!‹ schrie Michel verzweifelt und wehrte sich gegen zwei Diener, die ihn packen wollten. ›Noi, er war's net,‹ schrie es da plötzlich von der Höhe herab, ›Michele hat's Kästele net genommen.‹ Drei runde Gesichter starrten aus den Falten des Bettvorhanges heraus, und drei Fingerlein -- sie waren reichlich schwarz -- deuteten auf den Diener, der Michel angeklagt hatte: ›Der da war's! Der hat die Kästeles herausgenommen, und eins hat er in den Ofen gesteckt.‹ Die Stimmen gellten aus der Höhe herab dem Schuldigen wie Posaunentöne ins Ohr. Er sah Gustele und die Sternbübles für himmlische Wesen an, und schluchzend brach er unter der Last seiner Schuld zusammen. ›Ich war's, ich war's,‹ stöhnte er, vor dem Herzog knieend, ›ich hab's getan. Gnade, ach, Gnade!‹ ›Die Engel sind lebendig geworden, um einen Unschuldigen zu retten,‹ rief der alte Diener andächtig. ›Noi, noi, Engele sind das da oben net; meine Bübles sind's. Gleich kommt ihr runter!‹ ›Wir können net,‹ jammerten die drei da oben, ›Christian hat's Leiterle weggeschleppt.‹ ›Eine höchst seltsame Geschichte, hm, hm, ungeheuer merkwürdig!‹ Der Herzog schüttelte erstaunt den Kopf, er konnte es sich gar nicht recht erklären, und er fragte den Sternwirt: ›Sag Er mir doch, warum sitzen seine Kinder dort oben?‹ ›Aus lauter Unnützigkeit, allergnädigster, durchlauchtigster Herr Herzog,‹ rief der Sternwirt ärgerlich. ›Wenn sie runter kommen, kriegen sie Haue.‹« »Noi,« schrieen die lebendigen Sternbübles im tiefsten Mitgefühl mit ihren Urahnen, »die haben doch den Michel gerettet!« »Das haben sie freilich getan,« sagte Frau Tippelmann, »weil nämlich manchmal eine höhere Macht gütig eine Dummheit in eine Guttat umwandelt. Ich meine aber doch, Haue -- -- --« »Noi, noi!« wehrten die Sternbübles aufgeregt, und auch Alette bat: »Lieber nicht!« »Na, seid nur still, sie haben ja auch an dem Tage keine Haue bekommen, denn der gute Herzog verzieh ihnen ihre Neugier, ihn zu sehen, als er alles erfahren hatte. Ja er schenkte jedem einen schönen, blanken Taler mit seinem Bilde darauf, und Michele bekam als Schmerzensgeld drei. Da wurde der so vergnügt, daß er den Bübles erlaubte, beim Stiefelputzen zu helfen; dies war nämlich in Michels Augen eine ganz besondere Gnade.« »Und der Spitzbube?« fragte Mathes eifrig, denn der war ihm wichtiger als Michels Stiefel. »Von dem weiß ich nichts weiter,« erwiderte Frau Tippelmann. Der gestand, daß er von einem Feind des Herzogs angestiftet worden war, die wichtigen Papiere zu rauben. Und um den Verdacht auf einen andern zu lenken, hatte er das Juwelenkästchen in den Ofen gesteckt. Er wird wohl seine Strafe erhalten haben, aber ich denke, der gute Herzog wird milde gewesen sein. Denn herzensgut war der wirklich und so freundlich gegen jedermann. Als er nach zwei Tagen abreiste, heulten Gustele und die Bübles jämmerlich darüber im Hausflur. Der Herzog, der es hörte, tröstete sie selbst, sagte, er werde wiederkommen, wenn sie unbeschreiblich brav würden. Die drei versprachen es und, was noch besser war, sie hielten auch ziemlich Wort. Unbeschreiblich wurde es mit dem Bravsein freilich nicht, aber alle drei wurden tüchtige Leute. Der Herzog kehrte auch wirklich noch etliche Male im Silbernen Stern ein und schlief dort sanft und ungestört. Damit ist meine Geschichte zu Ende.« »Sie war schon fein!« rief Fräulein Laura. »Nur das Gefrage und Gerede von den Sternbübles ging über die Hutschnur. Doch das Bett muß ich noch sehen; wo steht es denn?« Gundele sah die Brüder an, die Brüder sahen Gundele an, sie wurden rot und seufzten, und endlich bekannte Mathes: »Die Stube, wo's steht, ist zugesperrt, weil -- weil -- weil --« »Ihr gewiß einmal auf dem Bett herumgeklettert seid,« half Frau Tippelmann dem stotternden Mathes nach. »Ja,« bekannte der kleinlaut, »und alleweil ist einem Engele sein Köpfle abgebrochen und dem andern Engele sein Beinle und --« »Sternbübles bleiben Sternbübles, da darf man sich nicht wundern!« Frau Tippelmann sah über ihre Brille hinweg zu den Buben hin, nicht etwa böse, bewahre, ihre Augen lachten, ihr Mund lachte, und als Fräulein Laura das sah, lachte sie mit, und schließlich war Alettes Krankenstube erfüllt von einem hellen, frohen Lachen. Vergnügt gingen nach einem Weilchen die Löwengäßler heim, und die Sternkinder suchten ihre Mutter in der Küche auf. Dort schwätzten sie so viel von dem Himmelbett, erzählten alle drei so durcheinander, daß zuletzt niemand wußte, welche Sternbübles eigentlich auf dem Himmelbett gesessen hatten, die lebendigen oder ihre Ururururgroßväter. [Illustration] Sechzehntes Kapitel. Eine schauerliche Geschichte. Fräulein Laura seufzt, aber Frau Tippelmann will Pfingstkuchen backen. Im Räuberschlößle wird ein Plan geschmiedet, der auch zur Ausführung kommt. Drei Damen erzählen von einem furchtbaren Untier, der Gendarm Körble meint, es sei ein Füchsle gewesen oder Kräuterpeterle. Auf dem Berg wird nichts gefunden, aber im Bachwirtshaus gibt es eine wundersame Begegnung. Die Sternbübles bekommen ein Güßle und werden sehr vergnügt, und dem schönen Tag folgt ein schöner Abend. Wie schnell doch die Tage vergingen! Laura hätte den Tagen in Breitenwert nie so flinke Beine zugetraut. Ostern war doch kaum gewesen, und nun stand Pfingsten schon vor der Türe. Die Löwengasse roch vom Untermarkt bis zum Obermarkt nach frischem Kuchen und jungen Birken. In allen Häusern wurde gescheuert und geputzt. Alle freuten sich, nur Laura war traurig. Es war ein Brief von Herrn Amhag gekommen, er wäre unterwegs, um Alette zu holen. Er hatte von ihrer Krankheit erfahren und sorgte sich um sein Kind. Breitenwert erschien ihm doch nicht der rechte Platz für Alette. Hier waren sie alle zufrieden, hier war Alette ein glückliches Kind, und wo gab es wieder ein so gemütliches Haus wie die Rose? Laura wollte Frau Tippelmann nichts sagen; doch die sah ihr den Kummer an der Nasenspitze an, und als sie Herrn Amhags Brief gelesen hatte, wurde sie auch traurig. Sie sagte dann aber gelassen: »Man muß alles nehmen, wie es kommt. Zu viel Sorge zerbricht das Glas. Heute wollen wir Pfingstkuchen backen; kommt das Kind wieder fort, dann soll es wenigstens ein rechtes frohes Pfingstfest gefeiert haben im Löwengäßle, im alten Amhaghaus.« An Pfingstfreude fehlte es Alette schon an diesem Tage nicht. Die saß mit den Grillschen Kindern im wieder ausgebesserten Räuberschlößle und genoß die ersten richtigen Ferien ihres Lebens, nach erst vierzehn Tagen Schulzeit freilich; aber wunderfein war es doch. Sie waren allesamt so vergnügt, daß sie himmelgern etwas ganz Besonderes getan hätten, und sie spitzten alle die Ohren, als auf einmal Trinle rief: »Ich weiß was Feines.« »Ich ahn's schon,« brummte Steffen, »du kommst wieder mit deinem dummen Räuber- und Prinzessinnenspiel; öde ist's.« »Falsch geraten!« Trinle strich sich ihr blaues Leinenkleidchen glatt und sah so pfiffig und geheimnisvoll aus, daß es Alette gar nicht mehr erwarten konnte. Sie flehte: »Sag's doch endlich!« »Also --,« Trinle holte erst noch mal Atem, »wir machen einen Ausflug nach dem Burgbergle, und oben -- -- --« »Spielen wir Drachen,« jauchzten die Brüder. Alette Amhag riß die Augen weit auf. »Drachen?« fragte sie, »gibt's die da?« »O Alette, Alettle, dummes Nettchen,« riefen die Geschwister alle durcheinander, »wir spielen Drachen mit unserem Drachen.« »Habt ihr denn einen?« Trinle nickte sehr eifrig, dabei fielen ihr beide Zöpfe über die Nase. »Geschenkt bekommen von Onkel Valentin, damals zu Großmutters Geburtstag. Weil du krank warst, hast du ihn net gesehen. Komm mit!« Sie zerrten Alette in das Haus hinein und zeigten ihr dort in einer Kleiderkammer ihren Schatz. Der sogenannte Onkel Valentin, ein älterer Vetter der Kinder, war einmal zu einem kleinen Maskenfest als Krokodil gegangen; die grüne Hülle hatte er dann Trinle geschenkt. Damit gespielt hatten die Kinder freilich noch nie, sie hatten immer das märchenhafte Gewand zu einem besonderen Fest aufheben wollen. Heute schien ihnen der sonnenwarme Pfingstsonnabend aber recht geeignet, um an ihm ein neues, wunderbares Spiel zu spielen. »Wenn wir nur dürfen!« sagte Steffen etwas unsicher. »Ach, schon, heute ist doch halb Feiertag! Erst fragen wir bei uns, dann bei Frau Tippelmann,« bestimmte Veit, und die andern fanden auch, so sei es recht. Frau Grill zögerte mit der Erlaubnis; weil aber de Kinder gar so sehr baten und allergrößte Bravheit versprachen, sagte sie schließlich ja, und Frau Tippelmann zögerte erst auch und sagte dann auch ja. Auf dem Gäßle trafen sie dann die Sternkinder, alle drei; die erzählten, sie gingen zur Muhme Bachwirtin. Sie seufzten sehr, als sie den schönen Plan vom Drachenspiel hörten; sie redeten hin und her, die Bübles wären schon gern am Bachwirtshaus vorbeigelaufen, Gundel aber sagte: »Das geht net.« Da fiel Mathes etwas ein. »Kommt heim übers Bachwirtshaus,« riet er, »die Muhme läßt uns alle heimfahren mit dem Wägele.« »Ach, das wird fein!« schrie Trinle. »Ich muß erst die Großtante fragen,« meinte Alette ängstlich. Aber Veit belehrte sie rasch, dies sei nicht nötig. Die Burg, eine auf einem mäßig hohen Berg gelegene, ganz zerfallene Ruine sei nicht weit vom Bachwirtshaus. Dort waren die Grills schon oft mit ihren Eltern gewesen. Sie kannten den Weg in das Tal hinab gut und gaben gern die Zusage. Die Sternkinder waren noch nicht wanderbereit, sie sollten noch allerlei für die Muhme mitnehmen, also gab es kein Zusammenwandern. Mit Hurra und Hallo zogen die Grills und Alette durch die Löwengasse über den Untermarkt zum Tore hinaus. Alette sehnte sich förmlich nach der Burg, von der sie schon so viel gehört hatte, und sie war, wie Steffen sagte, »purzelvergnügt«. Von der Burg konnten die Breitenwerter in das anmutige Tal ihrer Heimat hinabschauen, und sie gingen gern hinauf. Manchmal kamen auch Fremde über den Burgberg nach dem Städtchen gewandert, weil es da einen überaus lieblichen Waldweg gab. Am Pfingstsamstag aber kam sicher niemand auf den Gedanken, auf die Burg zu gehen, und die Kinder ahnten, sie würden heute dort ungestört sein. Dieser Gedanke berauschte sie förmlich, und sie zogen singend durch das Städtchen und singend den Berg hinan. Auf halber Höhe war ein Gasthaus, in dem die Breitenwerter Kaffee zu trinken pflegten. An ihm schritten die Kinder stolz vorbei; pah, sie hatten Vorrat genug in ihren Rucksäcken! Als sie oben waren, schrie Kasperle gleich: »Ich habe ein Löchle im Bäuchle.« Trinle war mehr dafür, gleich zu spielen, aber die Brüder überstimmten sie. Also setzten sie sich auf die zerbröckelten Stufen, die zum alten Wartturm hinaufführten, schmausten und erzählten sich von ihrem Spiel. Trinle sagte zu Steffen: »Du mußt Drache sein, du kannst so gut brummen.« »Und Alette du 's Prinzeßle,« riefen alle, und Veit bestimmte noch: »Kasperle ist ihr Page, und ich bin Ritter, und du bist mein Knappe, Trinle.« Damit waren alle sehr einverstanden, und Trinle freute sich besonders über den Knappen. Heisa, da konnte sie gewiß den Drachen am Schwänzle ziehen, was sich für Ritter selbst nicht schickte. »Ihr müßt gehen,« sagte Steffen; »wenn ich pfeife, kommt ihr wieder, dann bin ich Drache.« Veit wollte nicht recht, aber die Mädel zogen ihn fort. Sie suchten Blumen, denn Alette sollte doch eine Prinzessinnenkrone erhalten. Ein paar Minuten später schritt dann Prinzessin Alette fromm und sittig, ein Blumenkränzlein im Haar, der Burg zu, Kasperle als Page hielt sie am Kleid fest. Auf einmal stürzte sich der Drache Steffen auf das arme Prinzeßlein; er sah so furchtbar aus, daß sich Alette wirklich zu fürchten begann und jämmerlich zu heulen anfing. Kasperle fiel ein, und beide wurden von Veit stolz in das sogenannte Verlies geschleppt. Dieses war der einzige noch gut erhaltene Raum der Burg, ein teilweise überdachtes halbhohes Gemach. Es mochte wohl einst als Halle gedient haben. Von seinen kleinen Fenstern aus, die in tiefen Nischen lagen, hatte man einen lieblichen Blick über das Tal, das heute schön im Frühlingsglanz lag. Alette kauerte am Fenster, Kasperle zu ihren Füßen, und beide warteten wirklich ein wenig voll ängstlicher Sehnsucht auf den Ritter Veit und Trinle, den Knappen. Steffen lag am Eingang; er fauchte von Zeit zu Zeit, und Kasperle sagte etliche Male: »Alette, ich graul mich.« Ritter und Knappe saßen inzwischen auf halber Bergeshöhe, und als oben das Geschrei losging, sagte Trinle befriedigt: »Jetzt hat er sie; fein, Steffen schreit prachtvoll!« »Nun komm!« Veit nahm seinen Stock, und als Trinle neben ihm bergan schreiten wollte, brummte er sie an: »Ein Knappe geht hinter seinem Ritter, weißt das net?« Beschämt trat Trinle zurück. Sie dachte bei sich: Den Drachen zwick' ich ordentlich! und darüber wurde sie wieder sehr vergnügt. Eine Prinzessin befreien ist aber keine leichte Sache. Der Drache Steffen wenigstens nahm es ungeheuer ernst, er fauchte, spuckte, brüllte und fuhr mit einem Stecken seinen Angreifern so wild zwischen die Beine, daß der Knappe Trinle das Schwanzzwicken aufgab und zuerst davonlief. Und dann -- Ritter Veit prallte rasch zurück -- entzündete der Drache zischend ein Rotfeuerhölzchen, und das wirkte so unheimlich, daß Prinzessin Alette und der Page Kasperle laut aufschrieen und der Ritter über seinen Stock stolperte, den zerbrach und waffenlos beinahe dem Drachen in die Hände gefallen wäre. Er gab das Kämpfen auf und floh seinem Knappen nach. Ganz atemlos fanden sich beide am Ruheplatz zusammen. »Ich muß erst ein neues Stöckle schneiden,« murmelte Veit. »Warum bist du mir ausgerissen?« »Fein war's,« rief Trinle, »ich hab mich richtig gegrault!« Oben lag der Drache am Boden und knurrte vor Behagen; er war mit seinem Tun zufrieden. Wenn die arme Prinzessin Alette sich nur rührte, dann fauchte er sie an, und Alette, die an solche Spiele noch nicht recht gewöhnt war, fürchtete sich mehr und mehr. Auch Kasperle war die ganze Geschichte unheimlich; er flüsterte ein paarmal Alette ins Ohr: »Wenn wir nur ausreißen könnten!« Das Fauchen und Knurren war draußen nicht zu hören, der Burgberg lag ganz still im Frühlingsfrieden, nur die Vögel sangen, und die Bienen schwirrten summend von Blüte zu Blüte. Plötzlich aber wurde diese Stille durch Stimmen unterbrochen, und Ritter Veit, der sich gerade zu einem neuen Kampfzug rüstete, sagte erschrocken: »Trinle, es kommt jemand!« Es kam wirklich jemand, daran konnte schon kein Zweifel sein. Die Stimmen wurden lauter und lauter, und als Veit und Trinle vorsichtig näher schlichen, sahen sie auf dem schmalen Fußweg, der zur Burg führte, drei Damen wandern, immer eine hinter der andern, und hinter ihnen kamen zwei Herren. Die erste der Damen schien recht schlechter Laune zu sein; sie schalt unaufhörlich in einem fremdklingenden Deutsch, das die Kinder nicht verstanden. Die sahen nur ihr bitterböses Gesicht. »Puh,« flüsterte Trinle, »aber die ist arg schlimm, so ein böses Gesichtle!« Den beiden andern Damen, die noch jünger waren, mochte das Schelten auch nicht gefallen; sie hatten gar keine rechten Maientaggesichter. Jetzt kamen sie alle drei so nahe, daß die Kinder auch verstehen konnten, was sie sagten. »Es ist Unsinn,« grollte die alte Dame, »bei dieser Hitze auf ein altes Burg zu gehen; das ist ein deutscher Einfall. Wer weiß, ob das da überhaupt ein echtes altes Burg ist!« »Wie frech,« tuschelte Trinle dem Bruder zu, »unsere Burg ist doch echt!« »Na ob!« Veit sah den dreien grollend und feindselig nach. Erstens störten sie das Spiel, und dann war es wirklich empörend, an der Echtheit der Burg zu zweifeln. Drache, Prinzessin und Page konnten in ihrem Verlies die Fremden nicht sehen, sie hörten nur undeutliches Stimmengewirr, und Steffen brummte zufrieden: »So dumm, wenn sie solchen Lärm machen, hör' ich sie doch kommen!« Er kugelte sich vor dem Eingang zusammen und hielt seine Schachtel Buntfeuer bereit, sein Drachengift. Heisa, er wollte ihnen schon zeigen, daß er ein tüchtiger, feuriger, kampfbereiter Drache war! »Die gehen rein ins Verliesle,« flüsterte im Gebüsch Trinle aufgeregt. Beide Kinder lagen flach auf dem Bauch und starrten gespannt den Fremden nach. »Hier scheint ja der Eingang zu sein,« sagte die alte Dame soeben; sie ging als erste vorsichtig die paar Stufen zu dem Verlies hinab. Die andern folgten nicht minder bedachtsam im Gänsemarsch. »Pffpff, ruruhuuh, schischischih!« fauchte, spuckte und kreischte es ihnen entgegen, und surr! stieg prasselnd ein rotes Flämmchen vor ihnen auf, und etwas Furchtbares erhob sich da in der halben Dämmerung und stürzte auf sie los. Dreifach tönte gellendes Geschrei: »Hilfe, Hilfe, Hilfe!« »Schiuih!« ging eine grüne Flamme in die Luft, und dann zuckte wieder ein rotes Flämmchen auf; wie ein Höllenschlund erschien es den dreien. [Illustration] Kreischend, schreiend, sich gegenseitig fast umrennend, purzelten und stürzten die drei Damen hinaus. »Hilfe, Hilfe, Hilfe!« Sie rasten den Bergabhang hinab, rissen die beiden Herren, die erschrocken stehengeblieben waren, mit fort und keuchten: »Kommt, kommt, Hilfe, ach, Hilfe!« »Was ist, was gibt es?« Der jüngere der beiden Herren, ein stattlicher, hochgewachsener Mann, wollte stehenbleiben, aber zwei Damen zerrten ihn hinweg, und ihr Schreien hallte vom Berg zu Tal. Trinle und Veit starrten den Fliehenden sprachlos vor Staunen nach. Konnten die schreien! Aber warum taten sie es nur? Plötzlich jauchzte Veit auf: »Trinle, sie haben den Drachen gesehen; o, das ist fein!« Und gerade als unten die Fliehenden an einer Wegbiegung verschwanden, sausten die beiden zur Burg hinauf und stürzten in die Halle. »Die sind vor dir ausgerissen, Steffen,« jubelten sie beide, »die haben dich für ein Teufele gehalten.« Drache Steffen, Prinzessin Alette und der Page Kasperle sahen ein wenig verstört drein; ihnen war die ganze Geschichte ziemlich dunkel. Der Drache blies seine Hand, denn seine Buntfeuerschachtel war ihm unversehens in Flammen aufgegangen, und dabei hatte er sich seine Finger verbrannt. »Was war das nur?« brummte er mißmutig. »Fremde waren's,« jubelte Trinle. Sie hüpfte vor Freude auf einem Bein hin und her und sang: »Ausgerissen, ausgerissen, ausgerissen!« »Ausgerissen, ausgerissen!« sang es ihr Kasperle nach, und Veit führte einen wahren Indianertanz auf. »Ausgerissen, fein, fein!« »Sie haben dich, hihihihi, für einen richtigen Drachen gehalten!« »Oder für ein richtiges Teufele.« Trinle tat einen Luftsprung. »Fein, fein!« ächzte sie. »Für einen richtigen Drachen, mich -- und ausgerissen sind sie?« Steffen war überwältigt von diesem Erfolg; kein König hätte in diesem Augenblick stolzer sein können. »Hurra,« jauchzte er, »hurra!« »Ausgerissen!« Alette Amhag bekam ganz große, runde Augen. Die ganze Sache war so seltsam, so märchenhaft, daß sie zu träumen vermeinte. Dann fiel ihr, der Zaghaften, aber jäh ein, die Ausgerissenen könnten wiederkehren. Was taten sie dann, wer waren sie?« Bebend sagte sie: »Wenn -- wenn sie wiederkommen!« »Ich jage sie wieder weg,« rief Steffen kühn. »Freilich, mein Feuerle ist alle!« Ob nun ein Drache ohne eine Schachtel Buntfeuer auch so wirksam sein würde, wußten die andern nicht, aber das Zurückkommen der Ausgerissenen erschien ihnen doch wahrscheinlich. Ja, und dann? Sie sahen sich an und kamen etwas bedrückt zu dem Entschluß, nun selbst einmal auszureißen, andersherum nach dem Bachwirtshaus hinab, zu dem ein schmaler, kaum sichtbarer Fußsteig hinabführte. Den breiteren Weg konnten sie nicht wählen, da wären sie vielleicht den Fremden begegnet. Die vier packten also eiligst ihre Sachen zusammen, der Drache nahm seine Haut über den Arm, und dann verließen sie die Burg. Trinle war es nicht recht; die sagte leichtherzig: »Wir könnten bleiben, sie kommen net wieder.« Aber Alette flüsterte ängstlich: »Ich höre Stimmen.« Einen Herzschlag lang lauschten alle. Sie brauchten jedoch ihre Ohren nicht allzusehr zu spitzen, die Stimmen wurden immer hörbarer, und Trinle rief selig: »Wir müssen fliehen, himmlisch ist das!« Auch die andern fanden die Flucht sehr aufregend, und Veit befahl: »Mädeles, ihr geht mit dem Rucksack voran, Kasperle mit; wir zwei sehen erst, wer kommt.« »I wo, ich geh net voran, ich leg mich aufs Bäuchle wie die Indianer,« erklärte Trinle begeistert. Doch die Brüder überstimmten sie. »Du mußt bei Alette bleiben,« geboten sie. Und wirklich brauchte Alette jemand; die zitterte wie ein Grashälmlein im Wind. Doch Kasperle fühlte sich als ihr getreuer Page. Der schob seine Hand in ihre und sagte gnädig: »Ich beschütze dich.« Da war Alette zufrieden, sie schlich mit Kasperle durch das Gebüsch, und die Buben und Trinle legten sich auf den Bauch. Noch waren die Fliehenden nicht drei Schritte weg, da tuschelte schon Trinle den Brüdern zu: »Ich sehe was Blankes.« »Der Gendarm!« flüsterte Veit zurück. So war es wirklich. Unten am Burgberg waren die schreienden, fliehenden Damen endlich stehengeblieben und hatten den beiden Herren erzählt, was ihnen begegnet war. »Ein furchtbares Tier kam,« schluchzte die eine. »Es war ein Löwe oder ein Räuber oder sonst ein Untier, ganz bestimmt,« behauptete die älteste von den dreien, und die jüngste jammerte: »Feuer, Feuer, es hat gebrannt!« »Unsinn!« sagten die Herren. »Kein Unsinn,« schrieen die Damen empört, »schrecklich war es!« »Bitte schön, was ist so schrecklich?« fragte da eine Stimme, und vor den Fremden stand dick und behaglich der Gendarm Körble. »O, Sie kommen zur rechten Zeit,« rief die ältere Dame, »hören Sie nur!« Und aufgeregt, von dem Klagen und Schluchzen der andern unterbrochen, erzählte sie das Abenteuer auf der Burg. »I noi!« Der gute Gendarm Körble riß Mund und Augen weit auf; so etwas war ihm in seinem Leben noch nie vorgekommen. Er schüttelte bedächtig den Kopf: »Räuberles gibt's hier net und, noi, solche Tierles auch net. Hm, vielleicht war's ein Füchsle?« »Schreit ein Fuchs, und spuckt ein Fuchs Feuer?« riefen die drei Damen empört. »Noi, so was tut ein Füchsle eigentlich nie net, das reißt immer aus!« Körble sah ganz bedenklich drein. »Hm, hm!« »Vielleicht war es ein -- ein Gespenst.« Die jüngste der drei Damen flüsterte es zitternd. »Hm,« brummte der dicke Gendarm, »mein Großmutterle selig hat alleweil erzählt, auf der Burg geistere ein altes Ritterfraule herum, aber doch net am hellen, lichten Tag. Noi, so was gibt's net. Ach, vielleicht war's Kräuterpeterle, der oben sein Pfeifele geraucht hat!« »Schreit der, spuckt der mal rotes, mal grünes Feuer?« rief die ältere Dame, die immer wütender wurde. »Noi, gewöhnlich net, der ist ein höflicher Mann.« Körble seufzte, das war doch eine höchst verzwickte Sache; so etwas war in Breitenwert noch gar nicht dagewesen. »Ich will mal nachsehen,« beschloß er endlich. »Wir gehen mit,« riefen die beiden Herren. »Mich bringen nicht zehn Pferde in das alte Räubernest,« erklärte die ältere Dame. Die jüngeren aber hatten Lust, mit hinaufzugehen, und ein paar Augenblicke redeten sie hin und her. Zuletzt blieben zwei Damen unten am Wegrand sitzen, während die andern alle bergauf stiegen, um das Ungeheuer zu sehen. Oben fanden sie nichts, der Drache war spurlos verschwunden, und soviel die vier auch suchten, so emsig sie auch in alle Winkel blickten, nichts war zu sehen. Die drei Paar lustigen Kinderaugen, die aus dem Haselgebüsch hervorlugten, sahen sie freilich nicht: Trinle und die Brüder aber sahen alles und hörten auch, was gesprochen wurde, und ein paarmal meinten sie vor Lachen ersticken zu müssen. »Wir wollen hier doch mal in den Büschen suchen,« sagte oben endlich der Gendarm. »Ja, das wollen wir,« rief die Dame eifrig. »Es war etwas da, und es muß etwas da sein; an ein Gespenst glaube ich freilich nicht. Deutschland mag noch so romantisch sein, Gespenster zur Mittagsstunde gibt es sicher nicht.« »Jetzt müssen wir ausreißen,« flüsterte Veit den Geschwistern zu. »Los, wir rutschen!« Eilfertig begann er den Berg abwärts zu rutschen. Trinle und Steffen folgten, und gerade als die oben sagten: »Hier raschelt es immer so,« hatten die beiden unten Alette und Kasperle erreicht. Denen tuschelten sie aufgeregt zu: »Wir müssen fliehen, rutscht auch weiter nach unten.« »Beinahe wie bei den Indianern ist's,« jubelte Trinle. Sie war zwar noch nie bei den Rothäuten gewesen, aber sie meinte, die Rutscherei würde dort wohl gebräuchlich sein. Alette Amhag aber klagte bänglich: »Wohin geht es denn? Ich -- ich fürchte mich so!« Doch das Rutschen war nicht sonderlich schwer, und da es im Walde trocken war, langten die fünf nicht allzu schmutzig mit heiler Haut und heilen Kleidern im Talgrund an. Dort ruhten sie ein Weilchen und überlegten, was sie tun sollten. Sie hörten die Stimmen oben näher klingen, und die Angst überkam sie, Körble könnte die Fremden hier hinabführen. »Wir laufen ins Bachwirtshaus,« schlug Veit vor, »vielleicht sind die aus dem Stern schon da.« Den Plan fanden alle gut. Selbst Alettes Gesicht hellte sich auf, als sie nun wieder auf ihren Beinchen stehen konnte, und das Bachwirtshaus als Ziel lockte sie sehr. Der Weg führte am Waldrand entlang durch ein liebliches Tal, durch das ein schneller Bach floß. Er hatte es eilig, und die Kinder hatten es eilig, die wollten im Bachwirtshaus sein, ehe die Fremden mit dem Gendarm vielleicht vom Berg herabkamen. Die Wirtin freute sich über den Besuch, und noch drei mit ihr, Gundel und die Brüder. Die waren vor einem Weilchen angelangt und saßen schon in der großen Wohnstube des Wirtshauses als Ehrengäste, denn nur die durften hier herein. Nach der Gaststube führte ein Fensterlein; aber die Wirtin brauchte nicht hindurchzusehen, denn an diesem Pfingstsonnabend war es sehr still in dem Wirtshaus. Erst morgen kamen wohl die Gäste. Jedenfalls durchzog ein lieblicher Duft nach frischem Kuchen das Haus, und die Bachwirtin sagte heiter: »Ihr kommt gerade recht. Und Pfingstsonnabendgäste haben es umsonst.« Es dauerte nicht lange, da stand Milch auf dem Tisch und ein riesengroßer Teller voll Kuchen. Die Wirtin setzte sich zu den Kindern und fragte: »Nun erzählt mal, wo waret ihr denn?« »Auf der Burg -- da und --« Sie stockten, sahen sich an und platzten dann alle auf einmal heraus: »Wir haben Drachen gespielt; fein war's!« »Drachen,« rief die Wirtin erstaunt, »ja, wie habt ihr denn das gemacht?« Da erzählten sie alle durcheinander das Erlebnis, und die Wirtin, die Sternbübles und Gundel lachten herzhaft darüber, am meisten die Sternbübles. Die hopsten vor Vergnügen, und Mathes flehte: »Sei doch noch mal Drache, Steffen!« »Soll ich?« Steffen war sehr stolz auf sein Drachensein, nur das Buntfeuer fehlte ihm. Aber die andern erklärten einstimmig, es ginge auch ohne Feuer, denn das Fauchen, Kreischen und Spucken sei eben doch die Hauptsache. Selbst die Bachwirtin sagte: »Spiel uns das Untierle nur mal vor! Was seid ihr nur für Kinderles im Löwengäßle, immer fällt euch was Rares ein!« Die Sternkinder mußten sich an die Wand stellen, sie durften nicht zusehen. Der Wirtin hielt Trinle die Augen zu und versicherte ihr: »Sie sind sonst net überrascht genug. Alette paß auf die Sternbübles auf, die blinzeln.« Also wurden die Sternbübles bewacht. Bei Gundel war es nicht nötig, die hielt sich ihr Schürzle fest vor das Gesicht, und die Wirtin ließ sich das Augenzuhalten auch gutmütig gefallen; sie versprach, ungeheuer überrascht zu sein. Das waren sie dann alle miteinander wirklich sehr, als sich Steffen in seiner graugrünen Krokodilshülle auf einmal vor ihnen auf dem Boden wand und schauervolle Töne ausstieß. Da kreischten die Wirtin und die Sternbuben laut auf, Gundel brach in Tränen aus und wurde von Alette, die immer noch das blumige Prinzessinnenkrönchen trug, liebevoll getröstet. »Wie er faucht, wie er spuckt!« schrie Trinle begeistert. »Gelt, er ist schön?« Steffen, geschmeichelt durch dies Lob, spuckte, kreischte, knurrte, grunzte und quietschte; er stand mal aufrecht, mal lag er auf der Erde, kurz, er benahm sich wie ein richtiger Drache. Das Lachen und Jauchzen der Zuschauer wurde immer lauter, am Fenster der Gaststube standen ein paar Mägde, die schauten auch zu, und alle miteinander vergaßen, daß in ein Wirtshaus auch Gäste kommen können. Steffen schrie dumpf aus seiner Hülle hervor: »Jetzt mache ich den Drachensprung und raube das Prinzeßle.« Alette quietschte, sie kletterte flink auf einen Stuhl, Kasperle und Trinle schrieen: »Wir schützen dich!« Die Sternbübles schauten sehr wild und kampfmutig drein, und Steffen kauerte sich in einer Ecke zusammen, zum Sprung bereit. Er brummte, heulte und sprang dann jäh mit wildem Gebrüll empor -- »Da ist er wieder, das ist das Untier,« kreischte eine Stimme, und die alte Dame vom Burgberg sank Körble in die Arme. »Ich sterbe!« ächzte sie. In der Türe, die Gastzimmer und Wohnstube verband, standen die Fremden mit dem Gendarm. Ihr Kommen hatte niemand bemerkt, die Mägde am Guckfensterchen auch nicht; sie alle hatten nur auf den Drachen gesehen, der jetzt matt und kraftlos am Boden lag. Er hatte sich in seinen Schwanz verwickelt und konnte nicht wieder aufstehen. Aber die schöne Haut hatte allerlei Risse bekommen, und ein Bubenbein und ein Bubenkittel wurden sichtbar. Nach und nach kam auch ein Gesicht zum Vorschein. Steffen kroch ein wenig aus seiner Drachenhaut heraus, in der es ihm anfing recht ungemütlich zu werden. »Ein Boy, wirklich ein Boy!« riefen die drei Damen. »Wie komisch! Was soll das bedeuten?« Trinle fand die Frage recht überflüssig; sie meinte, jeder müßte sehen, daß sie gespielt hatten. Sie kicherte ein wenig und flüsterte verschämt: »Wir haben doch nur gespielt! Steffen war der Drache; der hat Alette geraubt.« »Alettle war das Prinzeßle,« schrieen die Sternbübles dazwischen, die rechts und links wie zwei Schildwachen neben Alettes Stuhl standen, beinahe so, als müßten sie die Freundin gegen lauter Feinde verteidigen. »Alette!« rief da plötzlich der jüngere Herr erstaunt. »Mein Gott, das ist ja meine Alette!« »Papa, o Papa!« Der Stuhl, auf dem Alette stand, geriet ins Wanken, und die Sternbübles vergaßen vor lauter Staunen ihn zu halten, aber der Fremde sprang zu, und Alette lag da plötzlich in ihres Vaters Armen. Sie lachte und weinte und wußte wirklich nicht, träumte oder wachte sie. Herr Amhag sah gerührt, erstaunt, ja fast betroffen auf sein Kind nieder. War dies rosige Mädel denn wirklich sein blasses Kind, von dem Frau van Bachhoven ihm geschrieben, es würde sterben in der engen Kleinstadtgasse? »Alette, Kind, wie kommst du hierher, und -- wie siehst du aus?« Alette dachte, des Vaters Frage gelte dem Blumenkränzlein in ihrem Haar, sie griff verwirrt danach. »Es ist nur, weil ich ein Prinzeßle war,« stammelte sie. »O Papa, wir haben so schön gespielt!« »Gespielt, hier?« Ja, wo waren denn die vielen Kummertränen, die Alette weinen sollte nach Lauras früherer Angabe? »Kind,« fragte Herr Amhag, »bist du denn froh hier? Sehnst du dich nicht fort? Ich komme doch, dich zu holen!« Dich zu holen! Das Wort dröhnte den Linden- und den Sternkindern wie Posaunenton ins Ohr. Ihre Alette sollte fortgeholt werden! Trinle wohnte ohnehin immer zwischen Tränenbach und Lachbrünnlein, jetzt rann eilig der Tränenbach. Kaum sah das Kasperle, so fing er auch an zu schluchzen. »Alette soll nicht fort!« klagte er. Das war zu viel für der Sternbübles Fassung. Die brachen jäh in ein so ungeheures, gewaltiges Jammergebrüll aus, daß die alte Dame vor Schreck auf einen Stuhl sank. So etwas hatte sie noch nie gehört! »Um Himmelswillen, die beiden werden verrückt!« stöhnte sie. »Seid ihr unklug, Büble?« schalt die Bachwirtin. »Was soll das Geflenne?« »Alettle, Alettle!« heulten die Buben. Sie brüllten, als sollten sie wie zwei Öchslein über dem Feuer geröstet werden, und dieser schreckliche Schmerz der beiden bewegte Alette tief; auch sie brach in Schluchzen aus. Auf einmal heulte die ganze Kindergesellschaft, nur Veit und Steffen drückten und schluckten, sie hielten Tränen für unwürdig. Dafür schrie das Kasperle mit den Sternbübles um die Wette. In allem Schmerz versuchten sie einander doch zu übertreffen, und jeder dachte mit heimlicher Freude: »Ich kann's besser!« »Willst du denn so gern hierbleiben, Alette?« Herr Amhag mußte lachen, und wie das Alette sah, versiegten rasch ihre Tränen. Sie schlang beide Arme um ihres Vaters Hals und flehte: »Bleib auch hier, es ist so wunderschön im Löwengäßle!« »Ich will's mir überlegen. Ihr da, hört mal auf zu heulen! Heute oder morgen reist Alette bestimmt noch nicht ab.« Morgen noch nicht! Na, da konnte man freilich mit den Tränen noch warten, und flugs fand Trinle den Weg zum Lachbrünnlein wieder. Ihr Gesicht strahlte, Kasperle jauchzte gleich laut auf, und auch Gundel wischte sich bald die letzten Tränen ab. Nur die Sternbübles heulten weiter; schauerlich war ihr Gebrüll. Sie waren so gut in der Übung drin, da dachten sie, wenn schon, denn schon. »Man muß sie zum Aufhören bringen,« brummte ihre Muhme, die Bachwirtin. »Draußen die Hühner vergessen ja das Eierlegen vor Schreck bei so einem Geschrei!« Sie nahm eine Wasserkanne vom Tisch und schwapp! bekam Mathes einen Guß und schwapp! Peter einen. Da wurden die beiden plötzlich mäuschenstill. Klapp, schlossen sie ihre Münder, und sie sahen darob selbst so unglaublich verdutzt drein, daß die Bachwirtin herzlich lachen mußte. Ihr Lachen fand ein vielstimmiges Echo, einer nach dem andern fiel ein, und zuletzt lachten die Sternbübles am lautesten. Hatten sie vorher vor Kummer gebrüllt, so brüllten sie jetzt vor Lust, und die Muhme drohte: »Es gibt bald wieder ein Güßle, aber ein kräftiges!« Es gab aber kein Güßle mehr, kein Tränengüßle, kein Wassergüßle, und der Himmel sandte auch kein Regengüßle. Der schöne Tag wandelte sich zum schönen Abend, und just lugten sie in der Löwengasse ängstlich nach den Kindern aus, als sie heimkehrten. Herr Amhag kam mit ihnen und die Fremden auch. Die stiegen im Silbernen Stern ab, denn wer Breitenwert recht kennenlernen wollte, der mußte in der Löwengasse wohnen. Frau Tippelmann hatte eben nach alter Sitte zwei Maien an die Haustüre gestellt, als Alette an ihres Vaters Hand daherkam. Da sah der das Haus seiner Vorfahren im Festschmuck, und ihm, der die weite Welt durchreist hatte, gefiel doch dies alte Haus in der kleinen Gasse, und er sah heiter zu dem frohen, trotzigen Spruch des Ahnherrn auf, der über der Türe unter der Rose stand: »Ich bau' mein Haus, wie mir's gefällt.« Oben sah Fräulein Laura zum Fenster heraus. Die sah den Ankommenden und sie seufzte schwer. »O weh, da ist der Herr gekommen, nun geht's bald fort aus der Löwengasse!« Aber da hörte sie unten schon Herrn Amhag heiter sagen: »Und vorläufig bleibe ich hier, ich will mich einmal lange, lange ausruhen in dem alten Rosenhaus.« Siebzehntes Kapitel. Die Überraschung. Herr Häferlein ist betrübt, und Laura vergißt allerlei. Sie sagt vielerlei zum Lobe der Löwengasse. Herr Amhag geht mit Alette spazieren, und die Lindenkinder und die Sternkinder sinnen auf eine Überraschung. Was Herr Häferlein in seinem Laden findet, und warum Herr Baldan nun genug Sirup hat. Man war an diesem Pfingstsamstag sehr vergnügt in der Löwengasse in Breitenwert, nur der gute Herr Häferlein stand ein wenig betrübt vor seiner Ladentüre. Ein paar Käuferinnen waren noch dagewesen, er hatte ihnen allen gute Feiertage gewünscht, sie ihm auch, und nun wollte er eben seinen Laden schließen. Da kam noch flink Fräulein Laura aus der Rose gelaufen. Über Herrn Amhags Ankunft hatte sie das Einkaufen vergessen, nun wollte sie noch dies und das. Herr Häferlein gab ihr alles, er redete auch freundlich wie sonst, aber Laura sah doch, daß er traurig war. »Was fehlt Ihnen, Herr Nachbar,« fragte sie heiter, »fürchten Sie, es regnet morgen?« »Nein,« antwortete der Kaufmann, »es wird wohl nicht regnen, aber ich werde allein spazierengehen, und das macht mir keine Freude. An Wochentagen tu ich's gern, aber an Feiertagen will ich mit fröhlichen Menschen zusammensein. Meine Schwester wollte mich mit ihren Kindern besuchen, nun hat sie abgeschrieben, und ich bin allein!« Er seufzte und Fräulein Laura seufzte, und dann sagte Herr Häferlein wieder: »Es ist doch traurig, wenn man allein ist!« »Ja,« sagte Fräulein Laura, »das ist sehr schwer; ich wäre auch froh, wenn ich noch zu meinen Eltern fahren könnte.« Und dann erzählte sie zum ersten Mal von dem kleinen Laden, der ihrem Vater gehört hatte. In der Rose dachte Frau Tippelmann ein paarmal, Laura kommt ja gar nicht wieder, na, gewiß hat Herr Häferlein sehr viel zu tun. Endlich aber kam Laura an, und als sie auspackte, fand sich's, daß sie die Hälfte von dem, was sie besorgen wollte, vergessen hatte. »Nein, so etwas!« brummte Frau Tippelmann erstaunt. »Ja, so etwas!« sagte Laura und fiel ihr lachend um den Hals. »Es ist nämlich so, Herr Häferlein und ich, wir wollen uns heiraten, und darüber habe ich den Kaffee vergessen, das Mehl und die Zitronen, und ich weiß nicht, was noch alles.« »Lieber Himmel, Laura!« rief Frau Tippelmann. »Sie wollen in Breitenwert bleiben und in der krummen, häßlichen Löwengasse wohnen und gar in solch kleinem, dunklem Laden stehen?« »Frau Tippelmann,« schrie Laura empört, »die Löwengasse ist nicht krumm, nicht häßlich, sie ist sehr malerisch und freundlich, und der Laden ist nicht dunkel, der ist -- wie meines Vaters Laden war.« »So, ist mir ganz neu!« »Ach, Frau Tippelmann,« rief Laura wieder lachend, »ich weiß ja schon, Sie necken mich nur, und ich habe das einmal gesagt, aber heute sage ich nun doch: über die Löwengasse geht nichts. Und ich will mein Lebenlang hier bleiben; hier werde ich glücklich werden.« Im gleichen Augenblick sagte oben im großen Gartenzimmer Alette auch zu ihrem Vater: »Ich möchte immer, immer in der Löwengasse wohnen!« »Immer ist viel gesagt,« antwortete Herr Amhag; »wir wollen sagen einstweilen.« »Mußt du wieder fort?« fragte Alette erschrocken. »Ach, bleibe hier, hier ist's doch viel, viel schöner als in der ganzen Welt.« »Schöner als in der ganzen Welt, Kind,« wiederholte der Vater sinnend, »das ist es immer nur in der Heimat.« Er sah in den Garten hinab, der im sanften Schatten des Frühlingsabends träumte, und er dachte an seines Vaters Erzählungen, der hatte die alte Heimat auch über alles geliebt. Wohl dem, der einen Ort auf der Welt hat, an den er mit rechter Heimatsehnsucht denken kann. Auf einmal fühlte Herr Amhag, wie arm seine kleine Alette in allem Reichtum bisher gewesen war, und er strich ihr liebevoll die heißen Wangen. »Das Immer-hierbleiben kann ich dir freilich nicht versprechen, Kind,« sagte er, »aber fremd soll uns Breitenwert nie mehr werden. Morgen aber wollen wir ein fröhliches Pfingstfest feiern in der alten Heimat. Und nun geh schlafen, damit du morgen recht feiertagsfroh erwachst.« Am nächsten Tag war zwar kein rechtes Pfingstwetter; es war ziemlich grau und sonnenlos, aber sie feierten doch alle in der Löwengasse ein sehr fröhliches Fest. Herr Amhag ging mit Alette durch die Straßen des alten Städtchens, und oft blieb er stehen und sagte: »Davon hat mein Vater erzählt, hier ist er zur Schule gegangen, diesen alten Turm hat er besonders geliebt.« Sie besuchten auch beide die Freunde im Silbernen Stern. Denen gefiel es gut dort, sie sagten, in einem so hübschen alten Gasthaus hätten sie noch nie gewohnt. Die alte Dame war besonders stolz, sie hatte nämlich das Königszimmer. Sie sagte: »So etwas kann man in Amerika doch nicht haben; in einem Königszimmer kann man nicht wohnen, weil es keine Könige gibt, schade!« Die jungen Damen aber sagten: »Am besten gefallen uns die beiden Boys, die sind so nett; so nette Kinder haben wir noch nie gesehen.« Die netten Sternbübles hörten das Lob nicht; sie saßen mit den Grillschen Kindern auf dem Turm vom Räuberschlößle und überlegten sich, wie sie Herrn Häferlein recht feierlich zu seiner Verlobung Glück wünschen könnten. So einfach bums! hingehen und sagen: »Wir wünschen Glück,« wollten sie alle nicht. Herr Häferlein, der nette, gute Herr Häferlein verdiente schon eine Überraschung, eine recht feine Überraschung. Sie überlegten hin, sie überlegten her, viele Köpfe, viele Sinne, auf einmal aber schrieen alle: »Das wird fein!« Und danach hatten sie es alle sehr eilig. Blumen wurden gepflückt, Kränze gewunden. Die Sternbübles liefen zu ihrem Oheim Adam Hinz und gaben dem viele himmelgute Worte, bis er mit ihnen wirklich in seinen Laden ging, ihnen etwas daraus schenkte, dabei aber sagte: »Denkt an den ersten April.« Darauf versicherten die Sternbübles hoch und heilig, es würde keine Dummheit, sondern eine feine Überraschung, und die Lindenkinder täten mit. »Na, dann mag's sein,« sagte Onkel Adam Hinz, »wenn's nur gelingt!« Veit und Steffen hatten unterdessen den schläfrigen Fritz aufgesucht, der noch im Bette lag, denn für ihn war schlafen die schönste Feiertagsfreude. Die Buben weckten ihn, redeten sehr eifrig mit ihm, und der sagte: »Ja, ja, heute nachmittag geht es schon, da merkt es niemand.« Als am Nachmittag Alette mit ihrem Vater in die Linde kam, stürzte ihr Trinle gleich entgegen und tuschelte: »Sie sind alle im Räuberschlößle, es gibt eine Überraschung.« Im Räuberschlößle wurde Alette ins Geheimnis gezogen, und während die Erwachsenen zusammensaßen, gingen die Kinder alle auf das Gäßle, um dort zu spielen. Die Sternkinder kamen auch, aber merkwürdig, schließlich war doch niemand zu sehen. Herr Häferlein und Fräulein Laura waren zusammen spazierengegangen, und so hörte niemand, wie es in dem Laden mitunter rumpelte und klopfte, poch, poch, poch! Dann polterte etwas, innen sagte jemand: »Ich roll das Fäßle her, dann kann ich aufsteigen.« Irgend jemand kicherte unaufhörlich, jemand schrie: »Prachtvoll wird's! Herr Häferlein wird staunen ...« -- »Der freut sich gräßlich,« behauptete ein anderer Jemand. Dann ging es wieder poch, poch, poch, es klirrte und kollerte, irgendwo wurde eine Türe zugeklappt, ein Schlüssel rasselte, und danach wurde es still. Ein Weilchen später erschienen alle Kinder im Grillschen Garten, und Frau Grill sagte erstaunt: »Ihr seht ja so erhitzt aus, was habt ihr denn gemacht?« »Was Feines,« antworteten allesamt, und Trinle, die kleine Schwatzsuse, flüsterte noch: »Herr Häferlein wird sich freuen.« Aber dies hörte die Mutter glücklicherweise nicht mehr. Am nächsten Morgen besuchte Herr Baldan Herrn Häferlein, just als der gehen wollte, seinen Laden aufzuschließen. Es war nach der Kirche, und Herr Baldan, der noch etwas Zeit hatte, sagte: »Ich gehe mit hinüber in den Laden.« Der Kaufmann schloß die Hintertüre auf, und die Freunde betraten den halbdunklen Raum. Sie gingen ein paar Schritte vorwärts, da glitschte Herr Baldan auf einmal aus. »Na, na,« rief er, »was ist denn das auf dem Boden?« »Ich weiß nicht,« murmelte Herr Häferlein, »o je!« Er glitschte auch aus, verlor den Halt und fiel um, fiel in etwas Feuchtes, Klebriges hinein. »Sirup,« schrie er, »Baldan, das Sirupfaß ist ausgelaufen!« »Ich merk's,« stöhnte Herr Baldan, denn der lag auch auf dem Boden, und er war gerade mit der Nase in eine dicke, süße Tunke gefallen. »Pfui Teufel,« schimpfte er, »das ist ja gräßlich! Pff, pff, brrr, wie das schmeckt!« »Eine dumme Sache, hol's der Kuckuck!« ächzte Herr Häferlein, der sich mühsam erhob. Er versuchte die Ladentüre zu erreichen, da stolperte er über ein Faß, hielt sich an irgend etwas an und schrie: »Potzwetter, was ist denn das -- Blumen?« »Mach doch Licht, August!« rief Herr Baldan. »Au, mein Knie!« »Gleich, August! Au, meine Nase!« Da endlich hatte Herr Häferlein die Ladentüre erreicht, er zog den Rolladen hoch, und das helle Tageslicht strömte in den Raum. »Ah!« riefen die Freunde unwillkürlich. Über der Ladentafel prangte ein großes, mit Blumen umkränztes Blatt. Darauf stand in roter und blauer Schrift groß: »Wir gratulieren!« und darunter standen lauter Namen geschrieben. Es waren die der Lindenkinder und der Sternkinder, auch Alette Amhag fehlte nicht. Außerdem gab es noch viele Blumen in dem Lädchen, sogar das Sauerkrautfaß hatte einen grünen Kranz erhalten. Herr Häferlein vergaß das ausgelaufene Sirupfaß, vergaß seinen beschmierten Feiertagsanzug, er sah nur das große bunte: »Wir gratulieren!« und alle die Namen darunter, und er sagte gerührt: »Die guten Kinder, sie wollten mir eine Überraschung bereiten.« »Ich danke schön für solche Überraschungen!« knurrte Herr Baldan. »Pff, pff, brrr,« spuckte er, »potzhundert, so viel Sirup habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht geschluckt!« Da klopfte es stürmisch an die Ladentüre. Lachende, fröhliche Gesichter drückten sich an der Scheibe platt: »Herr Häferlein, Herr Häferlein, wir sind's!« Der Kaufmann ging hin und schloß die Türe auf, und acht Stimmen auf einmal riefen: »Gelt, Sie freuen sich sehr?« »Ganz ungemein, Kinder,« sagte Herr Häferlein, »nur, was habt ihr denn mit dem Sirupfaß gemacht?« »Mit dem Sirupfaß? Ha,« schrieen die Sternbübles, »das war das Fäßle, auf das wir 'n bißle gestiegen sind, weil wir net so hoch langen konnten.« »Sirup,« jauchzte Kasperle, »fein, das ganze Lädle ist voll Sirup!« Er tippte mit dem Finger an den süßen Brei und leckte, und die Sternbübles leckten, Gundel aber fragte erschrocken: »Herr Häferlein, sind Sie in den Sirup gefallen?« »Ja, mein Kind,« sagte Herr Häferlein gutmütig, »aber es ist nicht schlimm, gefreut habe ich mich doch. Und ihr müßt alle, hört ihr, alle, zu meiner Hochzeit kommen.« »Ich auch,« jauchzte Alette, »ich bleibe hier, ein Jahr, nein, vielleicht immer!« »Es wär' auch dumm, aus dem Löwengäßle wegzugehen,« rief Trinle wichtig, »so schön ist's nirgends.« »Nein, so schön ist's nirgends,« brummte Herr Baldan, »nur gerade in den Sirup braucht man nicht zu fallen. Brrr, pff, pff! Abscheuliches Zeug!« »Jetzt müssen wir Fräulein Laura holen, die muß auch die feine Überraschung sehen,« rief Steffen stolz. Denn da Herr Häferlein nicht über den Sirup schalt, war es doch nicht schlimm. »Ach ja, Laura!« Alette lief hinaus, und »Laura, Fräulein Laura!« klang es zur Rose hinauf. Ein paar Minuten später stand Laura an der Ladentüre und rief erschrocken: »Nein, so etwas -- das ist freilich eine Überraschung!« Von der Löwengasse herein aber tönte das Jubeln und Jauchzen der Kinder, die irgend jemand von der großen Überraschung erzählten. Herr Häferlein lachte, Fräulein Laura lachte, und zuletzt lachte auch Herr Baldan. »Ja, ja,« brummte der, »so etwas kommt auch nur im Löwengäßle vor, ist halt ein ganz besonderes Gäßle. So eins soll man suchen! Brrr, pff, pff, na, Sirup habe ich vorläufig genug geschluckt!« [Illustration] Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. Korrekturen (mit {} gekennzeichnet): S. 69: derin → drein Der Kaufmann sah immer noch etwas gekränkt {drein}. S. 101: taurig → traurig Und wieder wurde Alette {traurig} S. 104: Tippelman → Tippelmann und Frau {Tippelmann} sagt immer: S. 197: möche → möchte dann {möchte} ich schon hier bei Alette bleiben S. 233: hate → hatte die grüne Hülle {hatte} er dann Trinle geschenkt. *** End of this LibraryBlog Digital Book "Rose, Linde und Silberner Stern - Erzählung für die Jugend" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.