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Title: Immensee
Author: Storm, Theodor
Language: German
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Team.



IMMENSEE

VON

THEODOR W. STORM



VORREDE

Wir befinden uns am Anfang einer neuen \xC4ra, deren haupts\xE4chliches
Kennzeichen hoffentlich eine allgemeine Ann\xE4herung der Nationen unter
einander sein wird. Immer mehr wird es als Notwendigkeit empfunden,
da\xDF wir uns gegenseitig besser kennen und verstehen lernen. Daraus
ergiebt sich, da\xDF das Erlernen der fremden Sprachen immer eine
wichtigere Rolle spielen wird; denn soweit die Sprache, die Literatur
und die Musik in Betracht kommen, kann man mit vollem Recht behaupten:
_fas est et ab hoste doceri_.

Also werden diejenigen, welche sich mit der Sprache irgend eines
Nachbarvolkes vertraut machen wollen, oder ihre vor l\xE4ngerer Zeit
erworbenen Kenntnisse schon teilweise verlernt haben sollten, diese
Ausgabe willkommen hei\xDFen, welche sie in den Stand setzen wird,
derartigen Sprachstudien die Zeit zu widmen, \xFCber welche sie im Laufe
des Tages f\xFCr solche Zwecke verf\xFCgen k\xF6nnen, ohne auf gro\xDFe und
schwere W\xF6rterb\xFCcher angewiesen zu sein.

Die Wahl der Texte hat nicht nur ihr literarischer Wert beeinflu\xDFt,
sondern auch die N\xFCtzlichkeit ihres Wortschatzes, und gleicherweise im
Bezug auf die \xDCbersetzungen wurde es bezweckt, mit einem vornehmen
Stil die m\xF6glichste Worttreue zu vereinigen.



EINLEITUNG

THEODOR W. STORM, Dichter und Novellist (1817-1888), stammte aus
Schleswig, lie\xDF sich 1842 als Advokat in seiner Vaterstadt Husum
nieder, verlor aber 1853 als \xBBDeutschgesinnter\xAB sein Amt, und mu\xDFte
sich nach Deutschland wenden. Erst 1864 durfte er nach Husum
zur\xFCckkehren, wo er 1874 zum Oberamtsrichter bef\xF6rdert wurde.

Schon 1843 machte er sich als Lyriker und Romantiker bekannt, nahm
aber erst als Novellist eine hervorragende Stellung ein, und zwar als
er 1852 mit der Erz\xE4hlung _Immensee_ aufs gl\xFCcklichste
deb\xFCtierte.

In der langen Reihe von phantasie- und gem\xFCtsreichen Novellen, die
darauf folgten, und deren Stoff meist aus dem l\xE4ndlichen und
b\xFCrgerlichen Kleinleben seiner n\xE4chsten Umgebung entnommen ist, hat er
nichts geschrieben, das diese anmutige Erz\xE4hlung an Tiefe und Zartheit
der Empfindung \xFCbertrifft; und ist die deutsche Literatur an
Novellendichtung au\xDFerordentlich reich, so z\xE4hlt doch Storm \xFCberhaupt
noch heute unter den Meistern.



DER ALTE

An einem Sp\xE4therbstnachmittage ging ein alter wohlgekleideter Mann
langsam die Stra\xDFe hinab. Er schien von einem Spaziergange nach Hause
zur\xFCckzukehren, denn seine Schnallenschuhe, die einer vor\xFCbergegangenen
Mode angeh\xF6rten, waren best\xE4ubt.

Den langen Rohrstock mit goldenem Knopf trug er unter dem Arm; mit
seinen dunklen Augen, in welche sich die ganze verlorene Jugend
gerettet zu haben schien, und welche eigent\xFCmlich von den schneewei\xDFen
Haaren abstachen, sah er ruhig umher oder in die Stadt hinab, welche
im Abendsonnendufte vor ihm lag.

Er schien fast ein Fremder, denn von den Vor\xFCbergehenden gr\xFC\xDFten ihn
nur wenige, obgleich mancher unwillk\xFCrlich in diese ernsten Augen zu
sehen gezwungen wurde.

Endlich stand er vor einem hohen Giebelhause still, sah noch einmal in
die Stadt hinaus und trat dann in die Hausdiele. Bei dem Schall der
T\xFCrglocke wurde drinnen in der Stube von einem Guckfenster, welches
nach der Diele hinausging, der gr\xFCne Vorhang weggeschoben und das
Gesicht einer alten Frau dahinter sichtbar. Der Mann winkte ihr mit
seinem Rohrstock.

\xBBNoch kein Licht!\xAB sagte er in einem etwas s\xFCdlichen Akzent, und die
Haush\xE4lterin lie\xDF den Vorhang wieder fallen.

Der Alte ging nun \xFCber die weite Hausdiele, durch einen Pesel, wo
gro\xDFe eichene Schr\xE4nke mit Porzellanvasen an den W\xE4nden standen; durch
die gegen\xFCberstehende T\xFCr trat er in einen kleinen Flur, von wo aus
eine enge Treppe zu den obern Zimmern des Hinterhauses f\xFChrte. Er
stieg sie langsam hinauf, schlo\xDF oben eine T\xFCr auf und trat dann in
ein m\xE4\xDFig gro\xDFes Zimmer.

Hier war es heimlich und still; die eine Wand war fast mit
Repositorien und B\xFCcherschr\xE4nken bedeckt, an den andern hingen Bilder
von Menschen und Gegenden; vor einem Tisch mit gr\xFCner Decke, auf dem
einzelne aufgeschlagene B\xFCcher umherlagen, stand ein schwerf\xE4lliger
Lehnstuhl mit rotem Samtkissen.

Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er
sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten H\xE4nden von seinem
Spaziergange auszuruhen. Wie er so sa\xDF, wurde es allm\xE4hlich dunkler;
endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gem\xE4lde
an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter r\xFCckte, folgten
die Augen des Mannes unwillk\xFCrlich.

Nun trat er \xFCber ein kleines Bild in schlichtem schwarzem Rahmen.
\xBBElisabeth!\xAB sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war
die Zeit verwandelt: er war in seiner Jugend.

*       *       *       *       *


DIE KINDER

Bald trat die anmutige Gestalt eines kleinen M\xE4dchens zu ihm. Sie hie\xDF
Elisabeth und mochte f\xFCnf Jahre z\xE4hlen, er selbst war doppelt so alt.
Um den Hals trug sie ein rotseidenes T\xFCchelchen; das lie\xDF ihr h\xFCbsch
zu den braunen Augen.

\xBBReinhard!\xAB rief sie, \xBBwir haben frei, frei! den ganzen Tag keine
Schule, und morgen auch nicht.\xAB

Reinhard stellte die Rechentafel, die er schon unterm Arm hatte, flink
hinter die Haust\xFCr, und dann liefen beide Kinder durchs Haus in den
Garten und durch die Gartenpforte hinaus auf die Wiese. Die
unverhofften Ferien kamen ihnen herrlich zustatten.

Reinhard hatte hier mit Elisabeths Hilfe ein Haus aus Rasenst\xFCcken
aufgef\xFChrt; darin wollten sie die Sommerabende wohnen; aber es fehlte
noch die Bank. Nun ging er gleich an die Arbeit; N\xE4gel, Hammer und die
n\xF6tigen Bretter waren schon bereit.

W\xE4hrend dessen ging Elisabeth an dem Wall entlang und sammelte den
ringf\xF6rmigen Samen der wilden Malve in ihre Sch\xFCrze; davon wollte sie
sich Ketten und Halsb\xE4nder machen; und als Reinhard endlich trotz
manches krumm geschlagenen Nagels seine Bank dennoch zustande gebracht
hatte und nun wieder in die Sonne hinaustrat, ging sie schon weit
davon am andern Ende der Wiese.

\xBBElisabeth!\xAB rief er, \xBBElisabeth!\xAB und da kam sie, und ihre Locken
flogen.

\xBBKomm,\xAB sagte er, \xBBnun ist unser Haus fertig. Du bist ja ganz hei\xDF
geworden; komm herein, wir wollen uns auf die neue Bank setzen. Ich
erz\xE4hl' dir etwas.\xAB

Dann gingen sie beide hinein und setzten sich auf die neue Bank.
Elisabeth nahm ihre Ringelchen aus der Sch\xFCrze und zog sie auf lange
Bindf\xE4den; Reinhard fing an zu erz\xE4hlen: \xBBEs waren einmal drei
Spinnfrauen--\xAB [Fu\xDFnote: So f\xE4ngt ein wohlbekanntes M\xE4rchen von den
Gebr\xFCdern Grimm an.]

\xBBAch,\xAB sagte Elisabeth, \xBBdas wei\xDF ich ja auswendig; du mu\xDFt auch nicht
immer dasselbe erz\xE4hlen.\xAB

Da mu\xDFte Reinhard die Geschichte von den drei Spinnfrauen stecken
lassen, und statt dessen erz\xE4hlte er die Geschichte von dem armen
Mann, der in die L\xF6wengrube geworfen war.

\xBBNun war es Nacht,\xAB sagte er, \xBBwei\xDFt du? ganz finstere, und die L\xF6wen
schliefen. Mitunter aber g\xE4hnten sie im Schlaf und reckten die roten
Zungen aus; dann schauderte der Mann und meinte, da\xDF der Morgen komme.
Da warf es um ihn her auf einmal einen hellen Schein, und als er
aufsah, stand ein Engel vor ihm. Der winkte ihm mit der Hand und ging
dann gerade in die Felsen hinein.\xAB

Elisabeth hatte aufmerksam zugeh\xF6rt. \xBBEin Engel?\xAB sagte sie: \xBBHatte er
denn Fl\xFCgel?\xAB

\xBBEs ist nur so eine Geschichte,\xAB antwortete Reinhard; \xBBes gibt ja gar
keine Engel.\xAB

\xBBO pfui, Reinhard!\xAB sagte sie und sah ihm starr ins Gesicht.

Als er sie aber finster anblickte, fragte sie ihn zweifelnd: \xBBWarum
sagen sie es denn immer? Mutter und Tante und auch in der Schule?\xAB

\xBBDas wei\xDF ich nicht,\xAB antwortete er.

\xBBAber du,\xAB sagte Elisabeth, \xBBgibt es denn auch keine L\xF6wen?\xAB

\xBBL\xF6wen? Ob es L\xF6wen gibt? In Indien; da spannen die G\xF6tzenpriester sie
vor den Wagen und fahren mit ihnen durch die W\xFCste. Wenn ich gro\xDF bin,
will ich einmal selber hin. Da ist es viel tausendmal sch\xF6ner als hier
bei uns; da gibt es gar keinen Winter. Du mu\xDFt auch mit mir. Willst
du?\xAB

\xBBJa,\xAB sagte Elisabeth; \xBBaber Mutter mu\xDF dann auch mit, und deine
Mutter auch.\xAB

\xBBNein,\xAB sagte Reinhard, \xBBdie sind dann zu alt, die k\xF6nnen nicht mit.\xAB

\xBBIch darf aber nicht allein.\xAB

\xBBDu sollst schon d\xFCrfen; du wirst dann wirklich meine Frau, und dann
haben die andern dir nichts zu befehlen.\xAB

\xBBAber meine Mutter wird weinen.\xAB

\xBBWir kommen ja wieder,\xAB sagte Reinhard heftig; \xBBsag es nur gerade
heraus, willst du mit mir reisen? Sonst geh' ich allein, und dann
komme ich nimmer wieder.\xAB

Der Kleinen kam das Weinen nahe. \xBBMach nur nicht so b\xF6se Augen,\xAB sagte
sie; \xBBich will ja mit nach Indien.\xAB

Reinhard fa\xDFte sie mit ausgelassener Freude bei beiden H\xE4nden und zog
sie hinaus auf die Wiese.

\xBBNach Indien, nach Indien!\xAB sang er und schwenkte sich mit ihr im
Kreise, da\xDF ihr das rote T\xFCchelchen vom Halse flog. Dann aber lie\xDF er
sie pl\xF6tzlich los und sagte ernst:

\xBBEs wird doch nichts daraus werden; du hast keine Courage.\xAB

\xBBElisabeth! Reinhard!\xAB rief es jetzt von der Gartenpforte. \xBBHier!
Hier!\xAB antworteten die Kinder und sprangen Hand in Hand nach Hause.

*       *       *       *       *


IM WALDE

So lebten die Kinder zusammen; sie war ihm oft zu still, er war ihr
oft zu heftig, aber sie lie\xDFen deshalb nicht von einander; fast alle
Freistunden teilten sie: winters in den beschr\xE4nkten Zimmern ihrer
M\xFCtter, sommers in Busch und Feld.

Als Elisabeth einmal in Reinhards Gegenwart von dem Schullehrer
gescholten wurde, stie\xDF er seine Tafel zornig auf den Tisch, um den
Eifer des Mannes auf sich zu lenken. Es wurde nicht bemerkt.

Aber Reinhard verlor alle Aufmerksamkeit an den geographischen
Vortr\xE4gen; statt dessen verfa\xDFte er ein langes Gedicht; darin verglich
er sich selbst mit einem jungen Adler, den Schulmeister mit einer
grauen Kr\xE4he, Elisabeth war die wei\xDFe Taube; der Adler gelobte an der
grauen Kr\xE4he Rache zu nehmen, sobald ihm die Fl\xFCgel gewachsen sein
w\xFCrden.

Dem jungen Dichter standen die Tr\xE4nen in den Augen; er kam sich sehr
erhaben vor. Als er nach Hause gekommen war, wu\xDFte er sich einen
kleinen Pergamentband mit vielen wei\xDFen Bl\xE4ttern zu verschaffen; auf
die ersten Seiten schrieb er mit sorgsamer Hand sein erstes Gedicht.

Bald darauf kam er in eine andere Schule; hier schlo\xDF er manche neue
Kameradschaft mit Knaben seines Alters, aber sein Verkehr mit
Elisabeth wurde dadurch nicht gest\xF6rt. Von den M\xE4rchen, welche er ihr
sonst erz\xE4hlt und wieder erz\xE4hlt hatte, fing er jetzt an, die, welche
ihr am besten gefallen hatten, aufzuschreiben; dabei wandelte ihn oft
die Lust an, etwas von seinen eigenen Gedanken hineinzudichten; aber,
er wu\xDFte nicht weshalb, er konnte immer nicht dazu gelangen.

So schrieb er sie genau auf, wie er sie selber geh\xF6rt hatte. Dann gab
er die Bl\xE4tter an Elisabeth, die sie in einem Schubfach ihrer
Schatulle sorgf\xE4ltig aufbewahrte; und es gew\xE4hrte ihm eine anmutige
Befriedigung, wenn er sie mitunter abends diese Geschichtchen in
seiner Gegenwart aus den von ihm geschriebenen Heften ihrer Mutter
vorlesen h\xF6rte.

Sieben Jahre waren vor\xFCber. Reinhard sollte zu seiner weitern
Ausbildung die Stadt verlassen. Elisabeth konnte sich nicht in den
Gedanken finden, da\xDF es nun eine Zeit ganz ohne Reinhard geben werde.
Es freute sie, als er ihr eines Tages sagte, er werde, wie sonst,
M\xE4rchen f\xFCr sie aufschreiben; er wolle sie ihr mit den Briefen an
seine Mutter schicken; sie m\xFCsse ihm dann wieder schreiben, wie sie
ihr gefallen h\xE4tten.

Die Abreise r\xFCckte heran; vorher aber kam noch mancher Reim in den
Pergamentband. Das allein war f\xFCr Elisabeth ein Geheimnis, obgleich
sie die Veranlassung zu dem ganzen Buche und zu den meisten Liedern
war, welche nach und nach fast die H\xE4lfte der wei\xDFen Bl\xE4tter gef\xFCllt
hatten.

Es war im Juni; Reinhard sollte am andern Tage reisen. Nun wollte man
noch einmal einen festlichen Tag zusammen begehen. Dazu wurde eine
Landpartie nach einer der nahe gelegenen Holzungen in gr\xF6\xDFerer
Gesellschaft veranstaltet.

Der stundenlange Weg bis an den Saum des Waldes wurde zu Wagen
zur\xFCckgelegt; dann nahm man die Proviantk\xF6rbe herunter und marschierte
weiter. Ein Tannengeh\xF6lz mu\xDFte zuerst durchwandert werden; es war k\xFChl
und d\xE4mmerig und der Boden \xFCberall mit feinen Nadeln bestreut.

Nach halbst\xFCndigem Wandern kam man aus dem Tannendunkel in eine
frische Buchenwaldung; hier war alles licht und gr\xFCn; mitunter brach
ein Sonnenstrahl durch die bl\xE4tterreichen Zweige; ein Eichk\xE4tzchen
sprang \xFCber ihren K\xF6pfen von Ast zu Ast.

Auf einem Platze, \xFCber welchem uralte Buchen mit ihren Kronen zu einem
durchsichtigen Laubgew\xF6lbe zusammenwuchsen, machte die Gesellschaft
Halt. Elisabeths Mutter \xF6ffnete einen der K\xF6rbe; ein alter Herr warf
sich zum Proviantmeister auf.

\xBBAlle um mich herum, ihr jungen V\xF6gel!\xAB rief er, \xBBund merket genau,
was ich euch zu sagen habe. Zum Fr\xFChst\xFCck erh\xE4lt jetzt ein jeder von
euch zwei trockene Wecken; die Butter ist zu Hause geblieben; die
Zukost mu\xDF sich ein jeder selber suchen. Es stehen genug Erdbeeren im
Walde, das hei\xDFt, f\xFCr den, der sie zu finden wei\xDF. Wer ungeschickt
ist, mu\xDF sein Brot trocken essen; so geht es \xFCberall im Leben. Habt
ihr meine Rede begriffen?\xAB

\xBBJa wohl!\xAB riefen die Jungen.

\xBBJa, seht,\xAB sagte der Alte, \xBBsie ist aber noch nicht zu Ende. Wir
Alten haben uns im Leben schon genug umhergetrieben; darum bleiben wir
jetzt zu Haus, das hei\xDFt, hier unter diesen breiten B\xE4umen, und
sch\xE4len die Kartoffeln und machen Feuer und r\xFCsten die Tafel, und wenn
die Uhr zw\xF6lf ist, so sollen auch die Eier gekocht werden.

\xBBDaf\xFCr seid ihr uns von euren Erdbeeren die H\xE4lfte schuldig, damit wir
auch einen Nachtisch servieren k\xF6nnen. Und nun geht nach Ost und West
und seid ehrlich.\xAB

Die Jungen machten allerlei schelmische Gesichter.

\xBBHalt!\xAB rief der alte Herr noch einmal. \xBBDas brauche ich euch wohl
nicht zu sagen, wer keine findet, braucht auch keine abzuliefern; aber
das schreibt euch wohl hinter eure feinen Ohren, von uns Alten bekommt
er auch nichts. Und nun habt ihr f\xFCr diesen Tag gute Lehren genug;
wenn ihr nun noch Erdbeeren dazu habt, so werdet ihr f\xFCr heute schon
durchs Leben kommen.\xAB

Die Jungen waren derselben Meinung und begannen sich paarweise auf die
Fahrt zu machen.

\xBBKomm, Elisabeth,\xAB sagte Reinhard, \xBBich wei\xDF einen Erdbeerenschlag; du
sollst kein trockenes Brot essen.\xAB

Elisabeth kn\xFCpfte die gr\xFCnen B\xE4nder ihres Strohhuts zusammen und hing
ihn \xFCber den Arm. \xBBSo komm,\xAB sagte sie, \xBBder Korb ist fertig.\xAB

Dann gingen sie in den Wald hinein, tiefer und tiefer; durch feuchte
Baumschatten, wo alles still war, nur unsichtbar \xFCber ihnen in den
L\xFCften das Geschrei der Falken; dann wieder durch dichtes Gestr\xFCpp, so
dicht, da\xDF Reinhard vorangehen mu\xDFte, um einen Pfad zu machen, hier
einen Zweig zu knicken, dort eine Ranke beiseite zu biegen. Bald aber
h\xF6rte er hinter sich Elisabeth seinen Namen rufen. Er wandte sich um.

\xBBReinhard!\xAB rief sie, \xBBwarte doch, Reinhard!\xAB

Er konnte sie nicht gewahr werden; endlich sah er sie in einiger
Entfernung mit den Str\xE4uchern k\xE4mpfen; ihr feines K\xF6pfchen schwamm nur
kaum \xFCber den Spitzen der Farnkr\xE4uter. Nun ging er noch einmal zur\xFCck
und f\xFChrte sie durch das Wirrnis der Kr\xE4uter und Stauden auf einen
freien Platz hinaus, wo blaue Falter zwischen den einsamen Waldblumen
flatterten.

Reinhard strich ihr die feuchten Haare aus dem erhitzten Gesichtchen;
dann wollte er ihr den Strohhut aufsetzen, und sie wollte es nicht
leiden; aber dann bat er sie, und nun lie\xDF sie es doch geschehen.

\xBBWo bleiben denn aber deine Erdbeeren?\xAB fragte sie endlich, indem sie
stehen blieb und einen tiefen Atemzug tat.

\xBBHier haben sie gestanden,\xAB sagte er, \xBBaber die Kr\xF6ten sind uns
zuvorgekommen oder die Marder oder vielleicht die Elfen.\xAB

\xBBJa,\xAB sagte Elisabeth, \xBBdie Bl\xE4tter stehen noch da; aber sprich hier
nicht von Elfen. Komm nur, ich bin noch gar nicht m\xFCde; wir wollen
weiter suchen.\xAB

Vor ihnen war ein kleiner Bach, jenseits wieder der Wald. Reinhard hob
Elisabeth auf seine Arme und trug sie hin\xFCber. Nach einer Weile traten
sie aus dem schattigen Laube wieder in eine weite Lichtung hinaus.

\xBBHier m\xFCssen Erdbeeren sein,\xAB sagte das M\xE4dchen, \xBBes duftet so s\xFC\xDF.

Sie gingen suchend durch den sonnigen Raum; aber sie fanden keine.
\xBBNein,\xAB sagte Reinhard, \xBBes ist nur der Duft des Heidekrautes.\xAB

Himbeerb\xFCsche und H\xFClsendorn standen \xFCberall durcheinander, ein
starker Geruch von Heidekr\xE4utern, welche abwechselnd mit kurzem Grase
die freien Stellen des Bodens bedeckten, erf\xFCllte die Luft.

\xBBHier ist es einsam,\xAB sagte Elisabeth; \xBBwo m\xF6gen die andern sein?\xAB

An den R\xFCckweg hatte Reinhard nicht gedacht.

\xBBWarte nur: woher kommt der Wind?\xAB sagte er und hob seine Hand in die
H\xF6he. Aber es kam kein Wind.

\xBBStill,\xAB sagte Elisabeth, \xBBmich d\xFCnkt, ich h\xF6rte sie sprechen. Rufe
einmal dahinunter.\xAB

Reinhard rief durch die hohle Hand. \xBBKommt hierher!\xAB

\xBBHierher!\xAB rief es zur\xFCck.

\xBBSie antworteten!\xAB sagte Elisabeth und klatschte in die H\xE4nde.

\xBBNein, es war nichts, es war nur der Widerhall.\xAB

Elisabeth fa\xDFte Reinhards Hand. \xBBMir graut!\xAB sagte sie.

\xBBNein,\xAB sagte Reinhard, \xBBdas mu\xDF es nicht. Hier ist es pr\xE4chtig. Setz
dich dort in den Schatten zwischen die Kr\xE4uter. La\xDF uns eine Weile
ausruhen; wir finden die andern schon.\xAB

Elisabeth setzte sich unter eine \xFCberh\xE4ngende Buche und lauschte
aufmerksam nach allen Seiten; Reinhard sa\xDF einige Schritte davon auf
einem Baumstumpf und sah schweigend nach ihr hin\xFCber.

Die Sonne stand gerade \xFCber ihnen; es war gl\xFChende Mittagshitze;
kleine goldgl\xE4nzende, stahlblaue Fliegen standen fl\xFCgelschwingend in
der Luft; rings um sie her ein feines Schwirren und Summen, und
manchmal h\xF6rte man tief im Walde das H\xE4mmern der Spechte und das
Kreischen der andern Waldv\xF6gel.

\xBBHorch,\xAB sagte Elisabeth, \xBBes l\xE4utet.\xAB

\xBBWo?\xAB fragte Reinhard.

\xBBHinter uns. H\xF6rst du? Es ist Mittag.\xAB

\xBBDann liegt hinter uns die Stadt, und wenn wir in dieser Richtung
gerade durchgehen, so m\xFCssen wir die andern treffen.\xAB

So traten sie ihren R\xFCckweg an; das Erdbeerensuchen hatten sie
aufgegeben, denn Elisabeth war m\xFCde geworden. Endlich klang zwischen
den B\xE4umen hindurch das Lachen der Gesellschaft; dann sahen sie auch
ein wei\xDFes Tuch am Boden schimmern, das war die Tafel, und darauf
standen Erdbeeren in H\xFClle und F\xFClle.

Der alte Herr hatte eine Serviette im Knopfloch und hielt den Jungen
die Fortsetzung seiner moralischen Reden, w\xE4hrend er eifrig an einem
Braten herumtranchierte.

\xBBDa sind die Nachz\xFCgler,\xAB riefen die Jungen, als sie Reinhard und
Elisabeth durch die B\xE4ume kommen sahen.

\xBBHierher!\xAB rief der alte Herr, \xBBT\xFCcher ausgeleert, H\xFCte umgekehrt! Nun
zeigt her, was ihr gefunden habt.\xAB

\xBBHunger und Durst!\xAB sagte Reinhard.

\xBBWenn, das alles ist,\xAB erwiderte der Alte und hob ihnen die volle
Sch\xFCssel entgegen, \xBBso m\xFC\xDFt ihr es auch behalten. Ihr kennt die
Abrede; hier werden keine M\xFC\xDFigg\xE4nger gef\xFCttert.\xAB

Endlich lie\xDF er sich aber doch erbitten, und nun wurde Tafel gehalten;
dazu schlug die Drossel aus den Wacholderb\xFCschen.

So ging der Tag hin.--Reinhard hatte aber doch etwas gefunden; waren
es keine Erdbeeren, so war es doch auch im Walde gewachsen. Als er
nach Hause gekommen war, schrieb er in seinen alten Pergamentband:

  Hier an der Bergeshalde
  Verstummet ganz der Wind;
  Die Zweige h\xE4ngen nieder,
  Darunter sitzt das Kind

  Sie sitzt im Thymiane,
  Sie sitzt in lauter Duft;
  Die blauen Fliegen summen
  Und blitzen durch die Luft.

  Es steht der Wald so schweigend,
  Sie schaut so klug darein;
  Um ihre braunen Locken
  Hinflie\xDFt der Sonnenschein.

  Der Kuckuck lacht von ferne,
  Es geht mir durch den Sinn:
  Sie hat die goldnen Augen
  Der Waldesk\xF6nigin.

So war sie nicht allein sein Sch\xFCtzling, sie war ihm auch der Ausdruck
f\xFCr alles Liebliche und Wunderbare seines aufgehenden Lebens.



 DA STAND DAS KIND AM WEGE

Weihnachtsabend kam heran. Es war noch nachmittags, als Reinhard mit
andern Studenten im Ratskeller [Fu\xDFnote: Oder Rathauskeller. In fast
jeder gro\xDFen Stadt Deutschlands ist der Rathauskeller in ein Speise-
und Bierhaus verwandelt worden.] am alten Eichentisch zusammensa\xDF. Die
Lampen an den W\xE4nden waren angez\xFCndet, denn hier unten d\xE4mmerte es
schon; aber die G\xE4ste waren sparsam versammelt, die Kellner lehnten
m\xFC\xDFig an den Mauerpfeilern.

In einem Winkel des Gew\xF6lbes sa\xDFen ein Geigenspieler und ein
Zitherm\xE4dchen mit feinen zigeunerhaften Z\xFCgen; sie hatten ihre
Instrumente auf dem Scho\xDF liegen und schienen teilnahmslos vor sich
hinzusehen.

Am Studententische knallte ein Champagnerpfropfen. \xBBTrinke, mein
b\xF6hmisch Liebchen!\xAB rief ein junger Mann von junkerhaftem \xC4u\xDFern,
indem er ein volles Glas zu dem M\xE4dchen hin\xFCberreichte.

\xBBIch mag nicht,\xAB sagte sie, ohne ihre Stellung zu ver\xE4ndern.

\xBBSo singe!\xAB rief der Junker und warf ihr eine Silberm\xFCnze in den
Scho\xDF. Das M\xE4dchen strich sich langsam mit den Fingern durch ihr
schwarzes Haar, w\xE4hrend der Geigenspieler ihr ins Ohr fl\xFCsterte; aber
sie warf den Kopf zur\xFCck und st\xFCtzte das Kinn auf ihre Zither.

\xBBF\xFCr den spiel' ich nicht,\xAB sagte sie.

Reinhard sprang mit dem Glase in der Hand auf und stellte sich vor
sie.

\xBBWas willst du?\xAB fragte sie trotzig.

\xBBDeine Augen sehen.\xAB

\xBBWas geh'n dich meine Augen an?\xAB

Reinhard sah funkelnd auf sie nieder.

\xBBIch wei\xDF wohl, sie sind falsch!\xAB

Sie legte ihre Wange in die flache Hand und sah ihn lauernd an.
Reinhard hob sein Glas an den Mund.

\xBBAuf deine sch\xF6nen s\xFCndhaften Augen!\xAB sagte er und trank.

Sie lachte und warf den Kopf herum.

\xBBGib!\xAB sagte sie, und indem sie ihre schwarzen Augen in die seinen
heftete, trank sie langsam den Rest. Dann griff sie einen Dreiklang
und sang mit tiefer leidenschaftlicher Stimme:

  Heute, nur heute
  Bin ich so sch\xF6n
  Morgen, ach morgen
  Mu\xDF alles vergeh'n!
  Nur diese Stunde
  Bist du noch mein;
  Sterben, ach sterben
  Soll ich allein!

W\xE4hrend der Geigenspieler in raschem Tempo das Nachspiel einsetzte,
gesellte sich ein neuer Ank\xF6mmling zu der Gruppe.

\xBBIch wollte dich abholen, Reinhard,\xAB sagte er. \xBBDu warst schon fort;
aber das Christkind war bei dir eingekehrt.\xAB

\xBBDas Christkind?\xAB sagte Reinhard, \xBBdas kommt nicht mehr zu mir.\xAB

\xBBEi was! Dein ganzes Zimmer roch nach Tannenbaum und braunen Kuchen.\xAB

Reinhard setzte das Glas aus seiner Hand und griff nach seiner M\xFCtze.

\xBBWas willst du?\xAB fragte das M\xE4dchen.

\xBBIch komme schon wieder.\xAB

Sie runzelte die Stirn. \xBBBleib!\xAB rief sie leise und sah ihn
vertraulich an.

Reinhard z\xF6gerte. \xBBIch kann nicht,\xAB sagte er.

Sie stie\xDF ihn lachend mit der Fu\xDFspitze. \xBBGeh!\xAB sagte sie, \xBBdu taugst
nichts; ihr taugt alle mit einander nichts.\xAB Und w\xE4hrend sie sich
abwandte, stieg Reinhard langsam die Kellertreppe hinauf.

Drau\xDFen auf der Stra\xDFe war es tiefe D\xE4mmerung; er f\xFChlte die frische
Winterluft an seiner hei\xDFen Stirn. Hier und da fiel der helle Schein
eines brennenden Tannenbaums aus den Fenstern, dann und wann h\xF6rte man
von drinnen das Ger\xE4usch von kleinen Pfeifen und Blechtrompeten und
dazwischen jubelnde Kinderstimmen.

Scharen von Bettelkindern gingen von Haus zu Haus oder stiegen auf die
Treppengel\xE4nder und suchten durch die Fenster einen Blick in die
versagte Herrlichkeit zu gewinnen. Mitunter wurde auch eine T\xFCr
pl\xF6tzlich aufgerissen, und scheltende Stimmen trieben einen ganzen
Schwarm solcher kleinen G\xE4ste aus dem hellen Hause auf die dunkle
Gasse hinaus; anderswo wurde auf dem Hausflur ein altes Weihnachtslied
gesungen; es waren klare M\xE4dchenstimmen darunter.

Reinhard h\xF6rte sie nicht, er ging rasch an allem vor\xFCber, aus einer
Stra\xDFe in die andere. Als er an seine Wohnung gekommen, war es fast
v\xF6llig dunkel geworden; er stolperte die Treppe hinauf und trat in
seine Stube.

Ein s\xFC\xDFer Duft schlug ihm entgegen; das heimelte ihn an, das roch wie
zu Haus der Mutter Weihnachtsstube. Mit zitternder Hand z\xFCndete er
sein Licht an; da lag ein m\xE4chtiges Paket auf dem Tisch, und als er es
\xF6ffnete, fielen die wohlbekannten braunen Festkuchen heraus; auf
einigen waren die Anfangsbuchstaben seines Namens in Zucker
ausgestreut; das konnte niemand anders als Elisabeth getan haben.

Dann kam ein P\xE4ckchen mit feiner gestickter W\xE4sche zum Vorschein,
T\xFCcher und Manschetten, zuletzt Briefe von der Mutter und Elisabeth.
Reinhard \xF6ffnete zuerst den letzteren; Elisabeth schrieb:

\xBBDie sch\xF6nen Zuckerbuchstaben k\xF6nnen Dir wohl erz\xE4hlen, wer bei den
Kuchen mitgeholfen hat; dieselbe Person hat die Manschetten f\xFCr Dich
gestickt. Bei uns wird es nun am Weihnachtsabend sehr still werden;
meine Mutter stellt immer schon um halb zehn ihr Spinnrad in die Ecke;
es ist gar so einsam diesen Winter, wo Du nicht hier bist.

\xBBNun ist auch vorigen Sonntag der H\xE4nfling gestorben, den Du mir
geschenkt hattest; ich habe sehr geweint, aber ich hab' ihn doch immer
gut gewartet.

\xBBDer sang sonst immer nachmittags, wenn die Sonne auf sein Bauer
schien; Du wei\xDFt, die Mutter hing so oft ein Tuch \xFCber, um ihn zu
geschweigen, wenn er so recht aus Kr\xE4ften sang.

\xBBDa ist es nun noch stiller in der Kammer, nur da\xDF Dein alter Freund
Erich uns jetzt mitunter besucht. Du sagtest uns einmal, er s\xE4he
seinem braunen \xDCberrock \xE4hnlich. Daran mu\xDF ich nun immer denken, wenn
er zur T\xFCr hereinkommt, und es ist gar zu komisch; sag es aber nicht
zur Mutter, sie wird dann leicht verdrie\xDFlich.

\xBBRat, was ich Deiner Mutter zu Weihnachten schenke! Du r\xE4tst es nicht?
Mich selber! Der Erich zeichnet mich in schwarzer Kreide; ich habe ihm
dreimal sitzen m\xFCssen, jedesmal eine ganze Stunde.

\xBBEs war mir recht zuwider, da\xDF der fremde Mensch mein Gesicht so
auswendig lernte. Ich wollte auch nicht, aber die Mutter redete mir
zu; sie sagte, es w\xFCrde der guten Frau Werner eine gar gro\xDFe Freude
machen.

\xBBAber Du h\xE4ltst nicht Wort, Reinhard. Du hast keine M\xE4rchen geschickt.
Ich habe Dich oft bei Deiner Mutter verklagt; sie sagt dann immer, Du
habest jetzt mehr zu tun, als solche Kindereien. Ich glaub' es aber
nicht; es ist wohl anders.\xAB

Nun las Reinhard auch den Brief seiner Mutter, und als er beide Briefe
gelesen und langsam wieder zusammengefaltet und weggelegt hatte,
\xFCberfiel ihn ein unerbittliches Heimweh. Er ging eine Zeitlang in
seinem Zimmer auf und nieder: er sprach leise und dann
halbverst\xE4ndlich zu sich selbst:

  Er w\xE4re fast verirret
  Und wu\xDFte nicht hinaus;
  Da stand das Kind am Wege
  Und winkte ihm nach Haus.

Dann trat er an sein Pult, nahm einiges Geld heraus und ging wieder
auf die Stra\xDFe hinab. Hier war es mittlerweile stiller geworden; die
Weihnachtsb\xE4ume waren ausgebrannt, die Umz\xFCge der Kinder hatten
aufgeh\xF6rt. Der Wind fegte durch die einsamen Stra\xDFen; Alte und Junge
sa\xDFen in ihren H\xE4usern familienweise zusammen; der zweite Abschnitt
des Weihnachtsabends hatte begonnen.

Als Reinhard in die N\xE4he des Ratskellers kam, h\xF6rte er aus der Tiefe
herauf Geigenstrich und den Gesang des Zitherm\xE4dchens; nun klingelte
unten die Kellert\xFCr, und eine dunkle Gestalt schwankte die breite,
matt erleuchtete Treppe herauf.

Reinhard trat in den H\xE4userschatten und ging dann rasch vor\xFCber. Nach
einer Weile erreichte er den erleuchteten Laden eines Juweliers, und
nachdem er hier ein kleines Kreuz mit roten Korallen eingehandelt
hatte, ging er auf demselben Wege, den er gekommen war, wieder zur\xFCck.

Nicht weit von seiner Wohnung bemerkte er ein kleines, in kl\xE4gliche
Lumpen geh\xFClltes M\xE4dchen an einer hohen Haust\xFCr stehen, in
vergeblicher Bem\xFChung, sie zu \xF6ffnen.

\xBBSoll ich dir helfen?\xAB sagte er.

Das Kind erwiderte nichts, lie\xDF aber die schwere T\xFCrklinke fahren.
Reinhard hatte schon die T\xFCr ge\xF6ffnet.

\xBBNein,\xAB sagte er, \xBBsie k\xF6nnten dich hinausjagen; komm mit mir! ich
will dir Weihnachtskuchen geben.\xAB

Dann machte er die T\xFCr wieder zu und fa\xDFte das kleine M\xE4dchen an der
Hand, das stillschweigend mit ihm in seine Wohnung ging.

Er hatte das Licht beim Weggehen brennen lassen.

\xBBHier hast du Kuchen,\xAB sagte er und gab ihr die H\xE4lfte seines ganzen
Schatzes in ihre Sch\xFCrze, nur keine mit den Zuckerbuchstaben.

\xBBNun geh nach Haus und gib deiner Mutter auch davon.\xAB

Das Kind sah mit einem scheuen Blick zu ihm hinauf; es schien solcher
Freundlichkeit ungewohnt und nichts darauf erwidern zu k\xF6nnen.
Reinhard machte die T\xFCr auf und leuchtete ihr, und nun flog die Kleine
wie ein Vogel mit ihrem Kuchen die Treppe hinab und zum Hause hinaus.

Reinhard sch\xFCrte das Feuer in seinem Ofen an und stellte das bestaubte
Tintenfa\xDF auf seinen Tisch; dann setzte er sich hin und schrieb und
schrieb die ganze Nacht Briefe an seine Mutter, an Elisabeth.

Der Rest der Weihnachtskuchen lag unber\xFChrt neben ihm; aber die
Manschetten von Elisabeth hatte er angekn\xF6pft, was sich gar wunderlich
zu seinem wei\xDFen Flausrock ausnahm. So sa\xDF er noch, als die
Wintersonne auf die gefrorenen Fensterscheiben fiel und ihm gegen\xFCber
im Spiegel ein blasses, ernstes Antlitz zeigte.

*       *       *       *       *


DAHEIM

Als es Ostern geworden war, reiste Reinhard in die Heimat. Am Morgen
nach seiner Ankunft ging er zu Elisabeth.

\xBBWie gro\xDF du geworden bist,\xAB sagte er, als das sch\xF6ne, schm\xE4chtige
M\xE4dchen ihm l\xE4chelnd entgegenkam. Sie err\xF6tete, aber sie erwiderte
nichts; ihre Hand, die er beim Willkommen in die seine genommen,
suchte sie ihm sanft zu entziehen. Er sah sie zweifelnd an, das hatte
sie fr\xFCher nicht getan; nun war es, als trete etwas Fremdes zwischen
sie.

Das blieb auch, als er schon l\xE4nger dagewesen, und als er Tag f\xFCr Tag
immer wiedergekommen war. Wenn sie allein zusammensa\xDFen, entstanden
Pausen, die ihm peinlich waren, und denen er dann \xE4ngstlich
zuvorzukommen suchte. Um w\xE4hrend der Ferienzeit eine bestimmte
Unterhaltung zu haben, fing er an, Elisabeth in der Botanik zu
unterrichten, womit er sich in den ersten Monaten seines
Universit\xE4tslebens angelegentlich besch\xE4ftigt hatte.

Elisabeth, die ihm in allem zu folgen gewohnt und \xFCberdies lehrhaft
war, ging bereitwillig darauf ein. Nun wurden mehrere Male in der
Woche Exkursionen ins Feld oder in die Heide gemacht, und hatten sie
dann mittags die gr\xFCne Botanisierkapsel voll Kraut und Blumen nach
Hause gebracht, so kam Reinhard einige Stunden sp\xE4ter wieder, um mit
Elisabeth den gemeinschaftlichen Fund zu teilen.

In solcher Absicht trat er eines Nachmittags ins Zimmer, als Elisabeth
am Fenster stand und ein vergoldetes Vogelbauer, das er sonst dort
nicht gesehen, mit frischem H\xFChnerschwarm besteckte. Im Bauer sa\xDF ein
Kanarienvogel, der mit den Fl\xFCgeln schlug und kreischend nach
Elisabeths Finger pickte. Sonst hatte Reinhards Vogel an dieser Stelle
gehangen.

\xBBHat mein armer H\xE4nfling sich nach seinem Tode in einen Goldfinken
verwandelt?\xAB fragte er heiter.

\xBBDas pflegen die H\xE4nflinge nicht,\xAB sagte die Mutter, welche spinnend
im Lehnstuhl sa\xDF. \xBBIhr Freund Erich hat ihn heut' Mittag f\xFCr Elisabeth
von seinem Hofe hereingeschickt.\xAB

\xBBVon welchem Hofe?\xAB

\xBBDas wissen Sie nicht?\xAB

\xBBWas denn?\xAB

\xBBDa\xDF Erich seit einem Monat den zweiten Hof seines Vaters am Immensee
[Fu\xDFnote: Der See der Immen, d. h. der Bienen.] angetreten hat?\xAB

\xBBAber Sie haben mir kein Wort davon gesagt.\xAB

\xBBEi,\xAB sagte die Mutter, \xBBSie haben sich auch noch mit keinem Worte
nach Ihrem Freunde erkundigt. Er ist ein gar lieber, verst\xE4ndiger
junger Mann.\xAB

Die Mutter ging hinaus, um den Kaffee zu besorgen; Elisabeth hatte
Reinhard den R\xFCcken zugewandt und war noch mit dem Bau ihrer kleinen
Laube besch\xE4ftigt.

\xBBBitte, nur ein kleines Weilchen,\xAB sagte sie; \xBBgleich bin ich fertig.\xAB

Da Reinhard wider seine Gewohnheit nicht antwortete, so wandte sie
sich um. In seinen Augen lag ein pl\xF6tzlicher Ausdruck von Kummer, den
sie nie darin gewahrt hatte.

\xBBWas fehlt dir, Reinhard?\xAB fragte sie, indem sie nahe zu ihm trat.

\xBBMir?\xAB sagte er gedankenlos und lie\xDF seine Augen tr\xE4umerisch in den
ihren ruhen.

\xBBDu siehst so traurig aus.\xAB

\xBBElisabeth,\xAB sagte er, \xBBich kann den gelben

Vogel nicht leiden.\xAB

Sie sah ihn staunend an, sie verstand ihn nicht. \xBBDu bist so
sonderbar,\xAB sagte sie.

Er nahm ihre beiden H\xE4nde, die sie ruhig in den seinen lie\xDF. Bald trat
die Mutter wieder herein. Nach dem Kaffee setzte diese sich an ihr
Spinnrad; Reinhard und Elisabeth gingen ins Nebenzimmer, um ihre
Pflanzen zu ordnen.

Nun wurden Staubf\xE4den gez\xE4hlt, Bl\xE4tter und Bl\xFCten sorgf\xE4ltig
ausgebreitet und von jeder Art zwei Exemplare zum Trocknen zwischen
die Bl\xE4tter eines gro\xDFen Folianten gelegt.

Es war sonnige Nachmittagsstille; nur nebenan schnurrte der Mutter
Spinnrad, und von Zeit zu Zeit wurde Reinhards ged\xE4mpfte Stimme
geh\xF6rt, wenn er die Ordnungen der Klassen der Pflanzen nannte oder
Elisabeths ungeschickte Aussprache der lateinischen Namen korrigierte.

\xBBMir fehlt noch von neulich die Maiblume,\xAB sagte sie jetzt, als der
ganze Fund bestimmt und geordnet war.

Reinhard zog einen kleinen wei\xDFen Pergamentband aus der Tasche. \xBBHier
ist ein Maiblumenstengel f\xFCr dich,\xAB sagte er, indem er die
halbgetrocknete Pflanze herausnahm.

Als Elisabeth die beschriebenen Bl\xE4tter sah, fragte sie: \xBBHast du
wieder M\xE4rchen gedichtet?\xAB

\xBBEs sind keine M\xE4rchen,\xAB antwortete er und reichte ihr das Buch.

Es waren lauter Verse, die meisten f\xFCllten h\xF6chstens eine Seite.
Elisabeth wandte ein Blatt nach dem andern um; sie schien nur die
\xDCberschriften zu lesen. \xBBAls sie vom Schulmeister gescholten war.\xAB
\xBBAls sie sich im Walde verirrt hatten.\xAB \xBBMit dem Osterm\xE4rchen.\xAB \xBBAls
sie mir zum erstenmal geschrieben hatte;\xAB in der Weise lauteten fast
alle.

Reinhard blickte forschend zu ihr hin, und indem sie immer weiter
bl\xE4tterte, sah er, wie zuletzt auf ihrem klaren Antlitz ein zartes Rot
hervorbrach und es allm\xE4hlich ganz \xFCberzog. Er wollte ihre Augen
sehen, aber Elisabeth sah nicht auf und legte das Buch am Ende
schweigend vor ihn hin.

\xBBGib mir es nicht so zur\xFCck!\xAB sagte er.

Sie nahm ein braunes Reis aus der Blechkapsel. \xBBIch will dein
Lieblingskraut hineinlegen,\xAB sagte sie und gab ihm das Buch in seine
H\xE4nde.

Endlich kam der letzte Tag der Ferienzeit und der Morgen der Abreise.
Auf ihre Bitte erhielt Elisabeth von der Mutter die Erlaubnis, ihren
Freund an den Postwagen zu begleiten, der einige Stra\xDFen von ihrer
Wohnung seine Station hatte.

Als sie vor die Haust\xFCr traten, gab Reinhard ihr den Arm; so ging er
schweigend neben dem schlanken M\xE4dchen her. Je n\xE4her sie ihrem Ziele
kamen, desto mehr war es ihm, er habe ihr, ehe er auf so lange
Abschied nehme, etwas Notwendiges mitzuteilen, etwas, wovon aller Wert
und alle Lieblichkeit seines k\xFCnftigen Lebens abh\xE4nge, und doch konnte
er sich des erl\xF6senden Wortes nicht bewu\xDFt werden. Das \xE4ngstigte ihn;
er ging immer langsamer.

\xBBDu kommst zu sp\xE4t,\xAB sagte sie, \xBBes hat schon zehn geschlagen auf St.
Marien.\xAB

Er ging aber darum nicht schneller. Endlich sagte er stammelnd:

\xBBElisabeth, du wirst mich nun in zwei Jahren gar nicht sehen--wirst du
mich wohl noch eben so lieb haben wie jetzt, wenn ich wieder da bin?\xAB

Sie nickte und sah ihm freundlich ins Gesicht.

\xBBIch habe dich auch verteidigt;\xAB sagte sie nach einer Pause.

\xBBMich? Gegen wen hattest du es n\xF6tig?\xAB

\xBBGegen meine Mutter. Wir sprachen gestern abend, als du weggegangen
warst, noch lange \xFCber dich. Sie meinte, du seiest nicht mehr so gut,
wie du gewesen.\xAB

Reinhard schwieg einen Augenblick; dann aber nahm er ihre Hand in die
seine, und indem er ihr ernst in ihre Kinderaugen blickte, sagte er:

\xBBIch bin noch eben so gut, wie ich gewesen bin; glaube du das nur
fest! Glaubst du es, Elisabeth?\xAB

\xBBJa,\xAB sagte sie.

Er lie\xDF ihre Hand los und ging rasch mit ihr durch die letzte Stra\xDFe.
Je n\xE4her ihm der Abschied kam, desto freudiger war sein Gesicht; er
ging ihr fast zu schnell.

\xBBWas hast du, Reinhard?\xAB fragte sie.

\xBBIch habe ein Geheimnis, ein sch\xF6nes!\xAB sagte er und sah sie mit
leuchtenden Augen an. \xBBWenn ich nach zwei Jahren wieder da bin, dann
sollst du es erfahren.\xAB

Mittlerweile hatten sie den Postwagen erreicht; es war noch eben Zeit
genug. Noch einmal nahm Reinhard ihre Hand. \xBBLeb wohl!\xAB sagte er, \xBBleb
wohl, Elisabeth! Vergi\xDF es nicht!\xAB

Sie sch\xFCttelte mit dem Kopf. \xBBLeb wohl!\xAB sagte sie. Reinhard stieg
hinein, und die Pferde zogen an. Als der Wagen um die Stra\xDFenecke
rollte, sah er noch einmal ihre liebe Gestalt, wie sie langsam den Weg
zur\xFCckging.

*       *       *       *       *


EIN BRIEF

Fast zwei Jahre nachher sa\xDF Reinhard vor seiner Lampe zwischen B\xFCchern
und Papieren in Erwartung eines Freundes, mit welchem er
gemeinschaftliche Studien \xFCbte. Man kam die Treppe herauf. \xBBHerein!\xAB
Es war die Wirtin. \xBBEin Brief f\xFCr Sie, Herr Werner!\xAB Dann entfernte
sie sich wieder.

Reinhard hatte seit seinem Besuch in der Heimat nicht an Elisabeth
geschrieben und von ihr keinen Brief mehr erhalten. Auch dieser war
nicht von ihr; es war die Hand seiner Mutter.

Reinhard brach und las, und bald las er folgendes:

\xBBIn Deinem Alter, mein liebes Kind, hat noch fast jedes Jahr sein
eigenes Gesicht: denn die Jugend l\xE4\xDFt sich nicht \xE4rmer machen. Hier
ist auch manches anders geworden, was Dir wohl erstan weh tun wird,
wenn ich Dich sonst recht verstanden habe.

\xBBErich hat sich gestern endlich das Jawort von Elisabeth geholt,
nachdem er in dem letzten Vierteljahr zweimal vergebens angefragt
hatte. Sie hatte sich immer nicht dazu entschlie\xDFen k\xF6nnen; nun hat
sie es endlich doch getan; sie ist auch noch gar zu jung. Die Hochzeit
wird bald sein, und die Mutter wird dann mit ihnen fortgehen.\xAB

*       *       *       *       *


IMMENSEE

Wiederum waren Jahre vor\xFCber.--Auf einem abw\xE4rts f\xFChrenden schattigen
Waldwege wanderte an einem warmen Fr\xFChlingsnachmittage ein junger Mann
mit kr\xE4ftigem, gebr\xE4untem Antlitz.

Mit seinen ernsten dunkeln Augen sah er gespannt in die Ferne, als
erwarte er endlich eine Ver\xE4nderung des einf\xF6rmigen Weges, die jedoch
immer nicht eintreten wollte. Endlich kam ein Karrenfuhrwerk langsam
von unten herauf.

\xBBHollah! guter Freund!\xAB rief der Wanderer dem nebengehenden Bauer zu,
\xBBgeht's hier recht nach Immensee?\xAB

\xBBImmer gerad' aus,\xAB antwortete der Mann, und r\xFCckte an seinem
Rundhute.

\xBBHat's denn noch weit dahin?\xAB

\xBBDer Herr ist dicht davor. Keine halbe Pfeif' Tabak, so haben's den
See; das Herrenhaus liegt hart daran.\xAB

Der Bauer fuhr vor\xFCber; der andere ging eiliger unter den B\xE4umen
entlang. Nach einer Viertelstunde h\xF6rte ihm zur Linken pl\xF6tzlich der
Schatten auf; der Weg f\xFChrte an einen Abhang, aus dem die Gipfel
hundertj\xE4hriger Eichen nur kaum hervorragten.

\xDCber sie hinweg \xF6ffnete sich eine weite, sonnige Landschaft. Tief
unten lag der See, ruhig, dunkelblau, fast ringsum von gr\xFCnen,
sonnenbeschienenen W\xE4ldern umgeben; nur an einer Stelle traten sie
auseinander und gew\xE4hrten eine tiefe Fernsicht, bis auch diese durch
blaue Berge geschlossen wurde.

Quer gegen\xFCber, mitten in dem gr\xFCnen Laub der W\xE4lder, lag es wie
Schnee dar\xFCber her; das waren bl\xFChende Obstb\xE4ume, und daraus hervor
auf dem hohen Ufer erhob sich das Herrenhaus, wei\xDF mit roten Ziegeln.
Ein Storch flog vom Schornstein auf und kreiste langsam \xFCber dem
Wasser.

\xBBImmensee!\xAB rief der Wanderer.

Es war fast, als h\xE4tte er jetzt das Ziel seiner Reise erreicht, denn
er stand unbeweglich und sah \xFCber die Gipfel der B\xE4ume zu seinen F\xFC\xDFen
hin\xFCber ans andere Ufer, wo das Spiegelbild des Herrenhauses leise
schaukelnd auf dem Wasser schwamm. Dann setzte er pl\xF6tzlich seinen Weg
fort.

Es ging jetzt fast steil den Berg hinab, so da\xDF die unten stehenden
B\xE4ume wieder Schatten gew\xE4hrten, zugleich aber die Aussicht auf den
See verdeckten, der nur zuweilen zwischen den L\xFCcken der Zweige
hindurchblitzte.

Bald ging es wieder sanft empor, und nun verschwand rechts und links
die Holzung; statt dessen streckten sich dichtbelaubte Weinh\xFCgel am
Wege entlang; zu beiden Seiten desselben standen bl\xFChende Obstb\xE4ume
voll summender w\xFChlender Bienen. Ein stattlicher Mann in braunem
\xDCberrock kam dem Wanderer entgegen. Als er ihn fast erreicht hatte,
schwenkte er seine M\xFCtze und rief mit heller Stimme:

\xBBWillkommen, willkommen, Bruder Reinhard! Willkommen auf Gut
Immensee!\xAB

\xBBGott gr\xFC\xDF' dich, [Fu\xDFnote: Dieser Gru\xDF wird besonders in
Suddeutschland gebraucht.] Erich, und Dank f\xFCr dein Willkommen!\xAB rief
ihm der andere entgegen.

Dann waren sie zu einander gekommen und reichten sich die H\xE4nde.

\xBBBist du es denn aber auch?\xAB sagte Erich, als er so nahe in das ernste
Gesicht seines alten Schulkameraden sah.

\xBBFreilich bin ich's, Erich, und du bist es auch; nur siehst du fast
noch heiterer aus, als du schon sonst immer getan hast.\xAB

Ein frohes L\xE4cheln machte Erichs einfache Z\xFCge bei diesen Worten noch
um vieles heiterer.

\xBBJa, Bruder Reinhard,\xAB sagte er, diesem noch einmal seine Hand
reichend, \xBBich habe aber auch seitdem das gro\xDFe Los gezogen; du wei\xDFt
es ja.\xAB

Dann rieb er sich die H\xE4nde und rief vergn\xFCgt: \xBBDas wird eine
\xDCberraschung! Den erwartet sie nicht, in alle Ewigkeit nicht!\xAB

\xBBEine \xDCberraschung?\xAB fragte Reinhard. \xBBF\xFCr wen denn?\xAB

\xBBF\xFCr Elisabeth.\xAB

\xBBElisabeth! Du hast ihr nicht von meinem Besuch gesagt?\xAB

\xBBKein Wort, Bruder Reinhard; sie denkt nicht an dich, die Mutter auch
nicht. Ich hab' dich ganz im geheimen verschrieben, damit die Freude
desto gr\xF6\xDFer sei. Du wei\xDFt, ich hatte immer so meine stillen
Pl\xE4nchen.\xAB

Reinhard wurde nachdenklich; der Atem schien ihm schwer zu werden, je
n\xE4her sie dem Hofe kamen.

An der linken Seite des Weges h\xF6rten nun auch die Weing\xE4rten auf und
machten einem weitl\xE4ufigen K\xFCchengarten Platz, der sich bis fast an
das Ufer des Sees hinabzog. Der Storch hatte sich mittlerweile
niedergelassen und spazierte gravit\xE4tisch zwischen den Gem\xFCsebeeten
umher.

\xBBHollah!\xAB rief Erich, in die H\xE4nde klatschend, \xBBstiehlt mir der
hochbeinige \xC4gypter schon wieder meine kurzen Erbsenstangen!\xAB

Der Vogel erhob sich langsam und flog auf das Dach eines neuen
Geb\xE4udes, das am Ende des K\xFCchengartens lag und dessen Mauern mit
aufgebundenen Pfirsich- und Aprikosenb\xE4umen \xFCberzweigt waren.

\xBBDas ist die Spritfabrik,\xAB sagte Erich; \xBBich habe sie erst vor zwei
Jahren angelegt. Die Wirtschaftsgeb\xE4ude hat mein seliger Vater neu
aussetzen lassen; das Wohnhaus ist schon von meinem Gro\xDFvater gebaut
worden. So kommt man immer ein bi\xDFchen weiter.\xAB

Sie waren bei diesen Worten auf einen ger\xE4umigen Platz gekommen, der
an den Seiten durch die l\xE4ndlichen Wirtschaftsgeb\xE4ude, im Hintergrunde
durch das Herrenhaus begrenzt wurde, an dessen beide Fl\xFCgel sich eine
hohe Gartenmauer anschlo\xDF; hinter dieser sah man die Z\xFCge dunkler
Taxusw\xE4nde und hin und wieder lie\xDFen Syringenb\xE4ume ihre bl\xFChenden
Zweige in den Hofraum hinunterh\xE4ngen.

M\xE4nner mit sonnen- und arbeitshei\xDFen Gesichtern gingen \xFCber den Platz
und gr\xFC\xDFten die Freunde, w\xE4hrend Erich dem einen oder dem andern einen
Auftrag oder eine Frage \xFCber ihr Tagewerk entgegenrief.

Dann hatten sie das Haus erreicht. Ein hoher, k\xFChler Hausflur nahm sie
auf, an dessen Ende sie links in einen etwas dunkleren Seitengang
einbogen.

Hier \xF6ffnete Erich eine T\xFCr, und sie traten in einen ger\xE4umigen
Gartensaal, der durch das Laubgedr\xE4nge, welches die gegen\xFCberliegenden
Fenster bedeckte, zu beiden Seiten mit gr\xFCner D\xE4mmerung erf\xFCllt war;
zwischen diesen aber lie\xDFen zwei hohe, weit ge\xF6ffnete Fl\xFCgelt\xFCren den
vollen Glanz der Fr\xFChlingssonne hereinfallen und gew\xE4hrten die
Aussicht in einen Garten mit gezirkelten Blumenbeeten und hohen
steilen Laubw\xE4nden, geteilt durch einen geraden, breiten Gang, durch
welchen man auf den See und weiter auf die gegen\xFCberliegenden W\xE4lder
hinaussah.

Als die Freunde hineintraten, trug die Zugluft ihnen einen Strom von
Duft entgegen.

Auf einer Terrasse vor der Gartent\xFCr sa\xDF eine wei\xDFe, m\xE4dchenhafte
Frauengestalt. Sie stand auf und ging den Eintretenden entgegen; auf
halbem Wege blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte den Fremden
unbeweglich an. Er streckte ihr l\xE4chelnd die Hand entgegen.

\xBBReinhard!\xAB rief sie, \xBBReinhard! Mein Gott, du bist es!--Wir haben uns
lange nicht gesehen.\xAB

\xBBLange nicht,\xAB sagte er und konnte nichts weiter sagen; denn als er
ihre Stimme h\xF6rte, f\xFChlte er einen feinen k\xF6rperlichen Schmerz am
Herzen, und wie er zu ihr aufblickte, stand sie vor ihm, dieselbe
leichte z\xE4rtliche Gestalt, der er vor Jahren in seiner Vaterstadt
Lebewohl gesagt hatte.

Erich war mit freudestrahlendem Antlitz an der T\xFCr zur\xFCckgeblieben.

\xBBNun, Elisabeth?\xAB sagte er; \xBBgelt! den h\xE4ttest du nicht erwartet, den
in alle Ewigkeit nicht!\xAB

Elisabeth sah ihn mit schwesterlichen Augen an.

\xBBDu bist so gut, Erich!\xAB sagte sie.

Er nahm ihre schmale Hand liebkosend in die seinen. \xBBUnd nun wir ihn
haben,\xAB sagte er, \xBBnun lassen wir ihn so bald nicht wieder los. Er ist
so lange drau\xDFen gewesen; wir wollen ihn wieder heimisch machen. Schau
nur, wie fremd und vornehm aussehend er worden ist!\xAB

Ein scheuer Blick Elisabeths streifte Reinhards Antlitz. \xBBEs ist nur
die Zeit, die wir nicht beisammen waren,\xAB sagte er.

In diesem Augenblick kam die Mutter, mit einem Schl\xFCsselk\xF6rbchen am
Arm, zur T\xFCr herein.

\xBBHerr Werner!\xAB sagte sie, als sie Reinhard erblickte; \xBBei, ein eben so
lieber als unerwarteter Gast.\xAB

Und nun ging die Unterhaltung in Fragen und Antworten ihren ebenen
Tritt. Die Frauen setzten sich zu ihrer Arbeit, und w\xE4hrend Reinhard
die f\xFCr ihn bereiteten Erfrischungen geno\xDF, hatte Erich seinen soliden
Meerschaumkopf angebrannt und sa\xDF dampfend und diskutierend an seiner
Seite.

Am andern Tage mu\xDFte Reinhard mit ihm hinaus auf die \xC4cker, in die
Weinberge, in den Hopfengarten, in die Spritfabrik. Es war alles wohl
bestellt; die Leute, welche auf dem Felde und bei den Kesseln
arbeiteten, hatten alle ein gesundes und zufriedenes Aussehen.

Zu Mittag kam die Familie im Gartensaal zusammen, und der Tag wurde
dann, je nach der Mu\xDFe der Wirte, mehr oder minder gemeinschaftlich
verlebt. Nur die Stunden vor dem Abendessen, wie die ersten des
Vormittags, blieb Reinhard arbeitend auf seinem Zimmer.

Er hatte seit Jahren, wo er deren habhaft werden konnte, die im Volke
lebenden Reime und Lieder gesammelt und ging nun daran, seinen Schatz
zu ordnen und wo m\xF6glich mit neuen Aufzeichnungen aus der Umgegend zu
vermehren.

Elisabeth war zu allen Zeiten sanft und freundlich; Erichs immer
gleichbleibende Aufmerksamkeit nahm sie mit einer fast dem\xFCtigen
Dankbarkeit auf, und Reinhard dachte mitunter, das heitere Kind von
ehedem habe wohl eine weniger stille Frau versprochen.

Seit dem zweiten Tage seines Hierseins pflegte er abends einen
Spaziergang an den Ufern des Sees zu machen. Der Weg f\xFChrte hart unter
dem Garten vorbei. Am Ende desselben, auf einer vorspringenden Bastei,
stand eine Bank unter hohen Birken; die Mutter hatte sie die Abendbank
getauft, weil der Platz gegen Abend lag und des Sonnenuntergangs
halber um diese Zeit am meisten benutzt wurde.

Von einem Spaziergange auf diesem Wege kehrte Reinhard eines Abends
zur\xFCck, als er vom Regen \xFCberrascht wurde. Er suchte Schutz unter
einer am Wasser stehenden Linde, aber die schweren Tropfen schlugen
bald durch die Bl\xE4tter. Durchn\xE4\xDFt, wie er war, ergab er sich darein
und setzte langsam seinen R\xFCckweg fort.

Es war fast dunkel; der Regen fiel immer dichter. Als er sich der
Abendbank n\xE4herte, glaubte er zwischen den schimmernden Birkenst\xE4mmen
eine wei\xDFe Frauengestalt zu unterscheiden. Sie stand unbeweglich und,
wie er beim N\xE4herkommen zu erkennen meinte, zu ihm hingewandt, als
wenn sie jemanden erwarte.

Er glaubte, es sei Elisabeth. Als er aber rascher zuschritt, um sie zu
erreichen und dann mit ihr zusammen durch den Garten ins Haus
zur\xFCckzukehren, wandte sie sich langsam ab und verschwand in den
dunkeln Seiteng\xE4ngen.

Er konnte das nicht reimen; er war aber fast zornig auf Elisabeth, und
dennoch zweifelte er, ob sie es gewesen sei; aber er scheute sich, sie
darnach zu fragen; ja, er ging bei seiner R\xFCckkehr nicht in den
Gartensaal, nur um Elisabeth nicht etwa durch die Gartent\xFCr
hereintreten zu sehen.

*       *       *       *       *


MEINE MUTTER HAT'S GEWOLLT

Einige Tage nachher, es ging schon gegen Abend, sa\xDF die Familie, wie
gew\xF6hnlich um diese Zeit, im Gartensaal zusammen. Die T\xFCren standen
offen; die Sonne war schon hinter den W\xE4ldern jenseits des Sees.

Reinhard wurde um die Mitteilung einiger Volkslieder gebeten, welche
er am Nachmittage von einem auf dem Lande wohnenden Freunde geschickt
bekommen hatte. Er ging auf sein Zimmer und kam gleich darauf mit
einer Papierrolle zur\xFCck, welche aus einzelnen sauber geschriebenen
Bl\xE4ttern zu bestehen schien.

Man setzte sich an den Tisch, Elisabeth an Reinhards Seite. \xBBWir lesen
auf gut Gl\xFCck,\xAB sagte er, \xBBich habe sie selber noch nicht
durchgesehen.\xAB

Elisabeth rollte das Manuskript auf. \xBBHier sind Noten,\xAB sagte sie,
\xBBdas mu\xDFt du singen, Reinhard.\xAB

Und dieser las nun zuerst einige tiroler Schnaderh\xFCpfel, [Fu\xDFnote:
Dialektisch f\xFCr \xBBSchnitterh\xFCpfen,\xAB d. h. Schnitter-T\xE4nze oder Lieder,
die besonders in Tirol und in Bayern gesungen werden.] indem er beim
Lesen zuweilen die lustige Melodie mit halber Stimme anklingen lie\xDF.
Eine allgemeine Heiterkeit bem\xE4chtigte sich der kleinen Gesellschaft.
\xBBWer hat doch aber die sch\xF6nen Lieder gemacht?\xAB fragte Elisabeth.

\xBBEi,\xAB sagte Erich, \xBBdas h\xF6rt man den Dingern schon an,
Schneidergesellen und Friseure und derlei lustiges Gesindel.\xAB

Reinhard sagte: \xBBSie werden gar nicht gemacht; sie wachsen; sie fallen
aus der Luft, sie fliegen \xFCber Land wie Mariengarn, [Fu\xDFnote: Der
Volksglaube hat dieses feine Gewebe von Feldspinnen immer in
Verbindung mit den G\xF6ttern gebracht. Nach Einf\xFChrung des Christentums
wurde es auf die Jungfrau Maria bezogen: aus dem feinsten Faden soll
das Leichenkleid gewoben worden sein, worin Maria nach ihrem Tod
eingeh\xFCllt wurde. W\xE4hrend ihrer Himmelfahrt w\xE4re das Gewebe wieder von
ihr losgebrochen.] hierhin und dorthin und werden an tausend Stellen
zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen
Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen h\xE4tten.\xAB

Er nahm ein anderes Blatt: \xBBIch stand auf hohen Bergen...\xAB [Fu\xDFnote:
Ein altes Volkslied von einem sch\xF6nen aber armen M\xE4dchen, das den
jungen Grafen nicht heiraten konnte, und sich in ein Kloster
zur\xFCckzog.]

\xBBDas kenne ich!\xAB rief Elisabeth. \xBBStimme nur an, Reinhard; ich will
dir helfen.\xAB

Und nun sangen sie jene Melodie, die so r\xE4tselhaft ist, da\xDF man nicht
glauben kann, sie sei von Menschen erdacht worden; Elisabeth mit ihrer
etwas verdeckten Altstimme dem Tenor sekundierend.

Die Mutter sa\xDF inzwischen emsig an ihrer N\xE4herei; Erich hatte die
H\xE4nde in einander gelegt und h\xF6rte and\xE4chtig zu. Als das Lied zu Ende
war, legte Reinhard das Blatt schweigend bei Seite. Vom Ufer des Sees
herauf kam durch die Abendstille das Gel\xE4ute der Herdenglocken; sie
horchten unwillk\xFCrlich; da h\xF6rten sie eine klare Knabenstimme singen:

  Ich stand auf hohen Bergen
  Und sah ins tiefe Tal...

Reinhard l\xE4chelte: \xBBH\xF6rt ihr es wohl? So geht's von Mund zu Mund.\xAB

\xBBEs wird oft in dieser Gegend gesungen,\xAB sagte Elisabeth.

\xBBJa,\xAB sagte Erich, \xBBes ist der Hirtenkasper; er treibt die Starken
[Fu\xDFnote: S\xFCddialektisch f\xFCr \xBBdie F\xE4rsen.\xAB] heim.\xAB

Sie horchten noch eine Weile, bis das Gel\xE4ute hinter den
Wirtschaftsgeb\xE4uden verschwunden war. \xBBDas sind Urt\xF6ne,\xAB sagte
Reinhard; \xBBsie schlafen in Waldesgr\xFCnden; Gott wei\xDF, wer sie gefunden
hat.\xAB

Er zog ein neues Blatt heraus.

Es war schon dunkler geworden; ein roter Abendschein lag wie Schaum
auf den W\xE4ldern jenseits des Sees. Reinhard rollte das Blatt auf,
Elisabeth legte an der einen Seite ihre Hand darauf und sah mit
hinein. Dann las Reinhard:

  Meine Mutter hat's gewollt,
  Den andern ich nehmen sollt':
  Was ich zuvor besessen,
  Mein Herz sollt' es vergessen;
  Das hat es nicht gewollt.

  Meine Mutter klag' ich an,
  Sie hat nicht wohl getan;
  Was sonst in Ehren st\xFCnde,
  Nun ist es worden S\xFCnde.
  Was fang' ich an!

  F\xFCr all' mein' Stolz und Freud'
  Gewonnen hab' ich Leid.
  Ach, w\xE4r' das nicht geschehen,
  Ach, k\xF6nnt' ich betteln gehen
  \xDCber die braune Heid'!

W\xE4hrend des Lesens hatte Reinhard ein unmerkliches Zittern des Papiers
empfunden; als er zu Ende war, schob Elisabeth leise ihren Stuhl
zur\xFCck und ging schweigend in den Garten hinab. Ein Blick der Mutter
folgte ihr. Erich wollte nachgehen; doch die Mutter sagte: \xBBElisabeth
hat drau\xDFen zu tun.\xAB So unterblieb es.

Drau\xDFen aber legte sich der Abend mehr und mehr \xFCber Garten und See;
die Nachtschmetterlinge schossen surrend an den offenen T\xFCren vor\xFCber,
durch welche der Duft der Blumen und Gestr\xE4uche immer st\xE4rker
hereindrang; vom Wasser herauf kam das Geschrei der Fr\xF6sche, unter den
Fenstern schlug eine Nachtigall, tiefer im Garten eine andere; der
Mond sah \xFCber die B\xE4ume.

Reinhard blickte noch eine Weile auf die Stelle, wo Elisabeths feine
Gestalt zwischen den Laubg\xE4ngen verschwunden war; dann rollte er sein
Manuskript zusammen, gr\xFC\xDFte die Anwesenden und ging durchs Haus an das
Wasser hinab.

Die W\xE4lder standen schweigend und warfen ihr Dunkel weit auf den See
hinaus, w\xE4hrend die Mitte desselben in schw\xFCler Mondesd\xE4mmerung lag.
Mitunter schauerte ein leises S\xE4useln durch die B\xE4ume; aber es war
kein Wind, es war nur das Atmen der Sommernacht.

Reinhard ging immer am Ufer entlang. Einen Steinwurf vom Lande konnte
er eine wei\xDFe Wasserlilie erkennen. Auf einmal wandelte ihn die Lust
an, sie in der N\xE4he zu sehen; er warf seine Kleider ab und stieg ins
Wasser. Es war flach; scharfe Pflanzen und Steine schnitten ihn an
den F\xFC\xDFen, und er kam immer nicht in die zum Schwimmen n\xF6tige Tiefe.

Dann war es pl\xF6tzlich unter ihm weg, die Wasser quirlten \xFCber ihm
zusammen, und es dauerte eine Zeitlang, ehe er wieder auf die
Oberfl\xE4che kam. Nun regte er Hand und Fu\xDF und schwamm im Kreise umher,
bis er sich bewu\xDFt geworden, von wo er hineingegangen war. Bald sah er
auch die Lilie wieder; sie lag einsam zwischen den gro\xDFen blanken
Bl\xE4ttern.

Er schwamm langsam hinaus und hob mitunter die Arme aus dem Wasser,
da\xDF die herabrieselnden Tropfen im Mondlichte blitzten; aber es war,
als ob die Entfernung zwischen ihm und der Blume dieselbe bliebe; nur
das Ufer lag, wenn er sich umblickte, in immer ungewisserem Dufte
hinter ihm. Er gab indes sein Unternehmen nicht auf, sondern schwamm
r\xFCstig in derselben Richtung fort.

Endlich war er der Blume so nahe gekommen, da\xDF er die silbernen
Bl\xE4tter deutlich im Mondlicht unterscheiden konnte; zugleich aber
f\xFChlte er sich in einem Netze verstrickt, die glatten Stengel langten
vom Grunde herauf und rankten sich an seine nackten Glieder.

Das unbekannte Wasser lag so schwarz um ihn her, hinter sich h\xF6rte er
das Springen eines Fisches; es wurde ihm pl\xF6tzlich so unheimlich in
dem fremden Elemente, da\xDF er mit Gewalt das Gestrick der Pflanzen
zerri\xDF und in atemloser Hast dem Lande zuschwamm. Als er von hier auf
den See zur\xFCckblickte, lag die Lilie wie zuvor fern und einsam \xFCber
der dunklen Tiefe.

Er kleidete sich an und ging langsam nach Hause zur\xFCck. Als er aus dem
Garten in den Saal trat, fand er Erich und die Mutter in den
Vorbereitungen einer kleinen Gesch\xE4ftsreise, welche am andern Tage vor
sich gehen sollte.

\xBBWo sind Sie denn so sp\xE4t in der Nacht gewesen?\xAB rief ihm die Mutter
entgegen.

\xBBIch?\xAB erwiderte er; \xBBich wollte die Wasserlilie besuchen; es ist aber
nichts daraus geworden.\xAB

\xBBDas versteht wieder einmal kein Mensch!\xAB sagte Erich. \xBBWas Tausend
hattest du denn mit der Wasserlilie zu tun?\xAB

\xBBIch habe sie fr\xFCher einmal gekannt,\xAB sagte Reinhard; \xBBes ist aber
schon lange her.\xAB

*       *       *       *       *


ELISABETH

Am folgenden Nachmittag wanderten Reinhard und Elisabeth jenseits des
Sees bald durch die Holzung, bald auf dem vorspringenden Uferrande.
Elisabeth hatte von Erich den Auftrag erhalten, w\xE4hrend seiner und der
Mutter Abwesenheit Reinhard mit den sch\xF6nsten Aussichten der n\xE4chsten
Umgegend, namentlich von der andern Uferseite auf den Hof selber,
bekannt zu machen. Nun gingen sie von einem Punkt zum andern.

Endlich wurde Elisabeth m\xFCde und setzte sich in den Schatten
\xFCberh\xE4ngender Zweige; Reinhard stand ihr gegen\xFCber, an einen Baumstamm
gelehnt; da h\xF6rte er tiefer im Walde den Kuckuck rufen, und es kam ihm
pl\xF6tzlich, dies alles sei schon einmal eben so gewesen. Er sah sie
seltsam l\xE4chelnd an.

\xBBWollen wir Erdbeeren suchen?\xAB fragte er.

\xBBEs ist keine Erdbeerenzeit,\xAB sagte sie.

\xBBSie wird aber bald kommen.\xAB

Elisabeth sch\xFCttelte schweigend den Kopf; dann stand sie auf, und
beide setzten ihre Wanderung fort; und wie sie so an seiner Seite
ging, wandte sein Blick sich immer wieder nach ihr hin; denn sie ging
sch\xF6n, als wenn sie von ihren Kleidern getragen w\xFCrde. Er blieb oft
unwillk\xFCrlich einen Schritt zur\xFCck, um sie ganz und voll ins Auge
fassen zu k\xF6nnen.

So kamen sie an einen freien, heidebewachsenen Platz mit einer weit
ins Land reichenden Aussicht. Reinhard b\xFCckte sich und pfl\xFCckte etwas
von den am Boden wachsenden Kr\xE4utern. Als er wieder aufsah, trug sein
Gesicht den Ausdruck leidenschaftlichen Schmerzes.

\xBBKennst du diese Blume?\xAB fragte er.

Sie sah ihn fragend an. \xBBEs ist eine Erika. Ich habe sie oft im Walde
gepfl\xFCckt.\xAB

\xBBIch habe zu Hause ein altes Buch,\xAB sagte er; \xBBich pflegte sonst
allerlei Lieder und Reime hineinzuschreiben; es ist aber lange nicht
mehr geschehen. Zwischen den Bl\xE4ttern liegt auch eine Erika; aber es
ist nur eine verwelkte. Wei\xDFt du, wer sie mir gegeben hat?\xAB

Sie nickte stumm; aber sie schlug die Augen nieder und sah nur auf das
Kraut, das er in der Hand hielt. So standen sie lange. Als sie die
Augen gegen ihn aufschlug, sah er, da\xDF sie voll Tr\xE4nen waren.

\xBBElisabeth,\xAB sagte er,--\xBBhinter jenen blauen Bergen liegt unsere
Jugend. Wo ist sie geblieben?\xAB

Sie sprachen nichts mehr; sie gingen stumm neben einander zum See
hinab. Die Luft war schw\xFCl, im Westen stieg schwarzes Gew\xF6lk auf. Es
wird gewittern,\xAB sagte Elisabeth, indem sie ihren Schritt beeilte;
Reinhard nickte schweigend, und beide gingen rasch am Ufer entlang,
bis sie ihren Kahn erreicht hatten.

W\xE4hrend der \xDCberfahrt lie\xDF Elisabeth ihre Hand auf dem Rande des
Kahnes ruhen. Er blickte beim Rudern zu ihr hin\xFCber; sie aber sah an
ihm vorbei in die Ferne. So glitt sein Blick herunter und blieb auf
ihrer Hand; und die blasse Hand verriet ihm, was ihr Antlitz ihm
verschwiegen hatte.

Er sah auf ihr jenen feinen Zug geheimen Schmerzes, der sich so gern
sch\xF6ner Frauenh\xE4nde bem\xE4chtigt, die nachts auf krankem Herzen liegen.
Als Elisabeth sein Auge auf ihrer Hand ruhen f\xFChlte, lie\xDF sie sie
langsam \xFCber Bord ins Wasser gleiten.

Auf dem Hofe angekommen trafen sie einen Scherenschleiferkarren vor
dem Herrenhause; ein Mann mit schwarzen, niederh\xE4ngenden Locken trat
emsig das Rad und summte eine Zigeunermelodie zwischen den Z\xE4hnen,
w\xE4hrend ein eingeschirrter Hund schnaufend daneben lag. Auf dem
Hausflur stand in Lumpen geh\xFCllt ein M\xE4dchen mit verst\xF6rten sch\xF6nen
Z\xFCgen und streckte bettelnd die Hand gegen Elisabeth aus.

Reinhard griff in seine Tasche, aber Elisabeth kam ihm zuvor und
sch\xFCttete hastig den ganzen Inhalt ihrer B\xF6rse in die offene Hand der
Bettlerin. Dann wandte sie sich eilig ab, und Reinhard h\xF6rte, wie sie
schluchzend die Treppe hinaufging.

Er wollte sie aufhalten, aber er besann sich und blieb an der Treppe
zur\xFCck. Das M\xE4dchen stand noch immer auf dem Flur, unbeweglich, das
empfangene Almosen in der Hand.

\xBBWas willst du noch?\xAB fragte Reinhard.

Sie fuhr zusammen. \xBBIch will nichts mehr,\xAB sagte sie; dann den Kopf
nach ihm zur\xFCckwendend, ihn anstarrend mit den verirrten Augen, ging
sie langsam gegen die T\xFCr. Er rief einen Namen aus, aber sie h\xF6rte es
nicht mehr; mit gesenktem Haupte, mit \xFCber der Brust gekreuzten Armen
schritt sie \xFCber den Hof hinab:

  Sterben, ach! sterben
  Soll ich allein!/

Ein altes Lied brauste ihm ins Ohr, der Atem stand ihm still; eine
kurze Weile, dann wandte er sich ab und ging auf sein Zimmer.

Er setzte sich hin, um zu arbeiten, aber er hatte keine Gedanken.
Nachdem er es eine Stunde lang vergebens versucht hatte, ging er ins
Familienzimmer hinab. Es war niemand da, nur k\xFChle gr\xFCne D\xE4mmerung;
auf Elisabeths N\xE4htisch lag ein rotes Band, das sie am Nachmittag um
den Hals getragen hatte. Er nahm es in die Hand, aber es tat ihm weh,
und er legte es wieder hin.

Er hatte keine Ruhe, er ging an den See hinab und band den Kahn los;
er ruderte hin\xFCber und ging noch einmal alle Wege, die er kurz vorher
mit Elisabeth zusammen gegangen war. Als er wieder nach Hause kam, war
es dunkel; auf dem Hofe begegnete ihm der Kutscher, der die
Wagenpferde ins Gras bringen wollte; die Reisenden waren eben
zur\xFCckgekehrt.

Bei seinem Eintritt in den Hausflur h\xF6rte er Erich im Gartensaal auf
und ab schreiten. Er ging nicht zu ihm hinein; er stand einen
Augenblick still und stieg dann leise die Treppe hinauf nach seinem
Zimmer. Hier setzte er sich in den Lehnstuhl ans Fenster; er tat vor
sich selbst, als wolle er die Nachtigall h\xF6ren, die unten in den
Taxusw\xE4nden schlug; aber er h\xF6rte nur den Schlag seines eigenen
Herzens. Unter ihm im Hause ging alles zur Ruhe, die Nacht verrann, er
f\xFChlte es nicht.

So sa\xDF er stundenlang. Endlich stand er auf und legte sich ins offene
Fenster. Der Nachttau rieselte zwischen den Bl\xE4ttern, die Nachtigall
hatte aufgeh\xF6rt zu schlagen. Allm\xE4hlich wurde auch das tiefe Blau des
Nachthimmels vom Osten her durch einen bla\xDFgelben Schimmer verdr\xE4ngt;
ein frischer Wind erhob sich und streifte Reinhards hei\xDFe Stirne; die
erste Lerche stieg jauchzend in die Luft.

Reinhard kehrte sich pl\xF6tzlich um und trat an den Tisch: er tappte
nach einem Bleistift, und als er diesen gefunden, setzte er sich und
schrieb damit einige Zeilen auf einen wei\xDFen Bogen Papier. Nachdem er
hiermit fertig war, nahm er Hut und Stock, und das Papier
zur\xFCcklassend \xF6ffnete er behutsam die T\xFCr und stieg in den Flur hinab.

Die Morgend\xE4mmerung ruhte noch in allen Winkeln; die gro\xDFe Hauskatze
dehnte sich auf der Strohmatte und str\xE4ubte den R\xFCcken gegen seine
Hand, die er gedankenlos entgegenhielt. Drau\xDFen im Garten aber
priesterten [Fu\xDFnote: d. h. \xBBsangen schon die Sperlinge gro\xDFartig, wie
Priester.\xAB Das Wort scheint von Storm geschmiedet zu sein; es ist
nicht anderswo zu finden.] schon die Sperlinge von den Zweigen und
sagten es allen, da\xDF die Nacht vorbei sei.

Da h\xF6rte er oben im Hause eine T\xFCr gehen; es kam die Treppe herunter,
und als er aufsah, stand Elisabeth vor ihm. Sie legte die Hand auf
seinen Arm, sie bewegte die Lippen, aber er h\xF6rte keine Worte.

\xBBDu kommst nicht wieder,\xAB sagte sie endlich. \xBBIch wei\xDF es, l\xFCge nicht;
du kommst nie wieder.\xAB

\xBBNie,\xAB sagte er.

Sie lie\xDF ihre Hand sinken und sagte nichts mehr. Er ging \xFCber den Flur
der T\xFCre zu; dann wandte er sich noch einmal. Sie stand bewegungslos
an derselben Stelle und sah ihn mit toten Augen an. Er tat einen
Schritt vorw\xE4rts und streckte die Arme nach ihr aus. Dann kehrte er
sich gewaltsam ab und ging zur T\xFCr hinaus.

Drau\xDFen lag die Welt im frischen Morgenlichte, die Tauperlen, die in
den Spinnengeweben hingen, blitzten in den ersten Sonnenstrahlen. Er
sah nicht r\xFCckw\xE4rts; er wanderte rasch hinaus; und mehr und mehr
versank hinter ihm das stille Geh\xF6ft, und vor ihm auf stieg die gro\xDFe
weite Welt.

*       *       *       *       *


DER ALTE

Der Mond schien nicht mehr in die Fensterscheiben; es war dunkel
geworden; der Alte aber sa\xDF noch immer mit gefalteten H\xE4nden in seinem
Lehnstuhl und blickte vor sich hin in den Raum des Zimmers.

Allm\xE4hlich verzog sich vor seinen Augen die schwarze D\xE4mmerung um ihn
her zu einem breiten dunkeln See; ein schwarzes Gew\xE4sser legte sich
hinter das andere, immer tiefer und ferner, und auf dem letzten, so
fern, da\xDF die Augen des Alten sie kaum erreichten, schwamm einsam
zwischen breiten Bl\xE4ttern eine wei\xDFe Wasserlilie.

Die Stubent\xFCr ging auf, und ein heller Lichtschimmer fiel ins Zimmer.

\xBBEs ist gut, da\xDF Sie kommen, Brigitte,\xAB sagte der Alte. \xBBStellen Sie
das Licht auf den Tisch!\xAB

Dann r\xFCckte er auch den Stuhl zum Tisch, nahm eines der
aufgeschlagenen B\xFCcher und vertiefte sich in Studien, an denen er
einst die Kraft seiner Jugend ge\xFCbt hatte.





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