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Title: Die Geschwister: Ein Schauspiel in einem Akt
Author: Goethe, Johann Wolfgang von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Geschwister: Ein Schauspiel in einem Akt" ***


globaltraveler5565@yahoo.com.



Die Geschwister
(1776)
Ein Schauspiel in einem Akt
Johann Wolfgang Goethe



Personen:
Wilhelm, ein Kaufmann
Marianne, seine Schwester
Fabrice
Briefträger



WILHELM (an einem Pult mit Handelsbüchern und Papieren).  Diese
Woche  wieder zwei neue Kunden!  Wenn man sich rührt, gibt's doch
immer etwas;  sollt' es auch nur wenig sein, am Ende summiert sich's
doch, und wer klein  Spiel spielt, hat immer Freude, auch am kleinen
Gewinn, und der kleine  Verlust ist zu verschmerzen.  Was gibt's?

(Briefträger kommt.)

BRIEFTRäGER.  Einen beschwerten Brief, zwanzig Dukaten, franko halb.

WILHELM.  Gut! sehr gut!  Notier Er mir's zum übrigen.

(Briefträger ab.)

WILHELM (den Brief ansehend).  Ich wollte mir heute den ganzen Tag
nicht  sagen, daß ich sie erwartete.  Nun kann ich Fabricen gerade
bezahlen und  mißbrauche seine Gutheit nicht weiter.  Gestern sagte er
mir: Morgen komm'  ich zu dir!  Es war mir nicht recht.  Ich wußte,
daß er mich nicht mahnen  würde, und so mahnt mich seine Gegenwart
just doppelt.  (Indem der die  Schatulle aufmacht und zählt).  In
vorigen Zeiten, wo ich ein bißchen  bunter wirtschaftete, konnt' ich
die stillen Gläubiger am wenigsten  leiden.  Gegen einen, der mich
überläuft, belagert, gegen den gilt  Unverschämtheit und alles, was
dran hängt; der andere, der schweigt,  geht gerade ans Herz und
fordert am dringendsten, da er mir sein  Anliegen überläßt.  (Er legt
Geld zusammen auf den Tisch.) Lieber Gott,  wie dank' ich dir, daß ich
aus der Wirtschaft heraus und wieder geborgen  bin!  (Er hebt ein Buch
auf.) Deinen Segen im kleinen! mir, der ich  deine Gaben im großen
verschleuderte.--Und so--Kann ich's ausdrücken?--Doch du tust nichts
für mich, wie ich nichts für mich tue.  Wenn das  holde liebe Geschöpf
nicht wäre, säß' ich hier und verglich' Brüche?--O Marianne! wenn du
wüßtest, daß der, den du für deinen Bruder hältst,  daß der mit ganz
anderm Herzen, ganz andern Hoffnungen für dich  arbeitet!--Vielleicht!
--ach!--es ist doch bitter--Sie liebt mich--ja, als Bruder--Nein,
pfui! das ist wieder Unglaube, und der hat nie  was Gutes gestiftet.
--Marianne! ich werde glücklich sein, du wirst's  sein, Marianne!

(Marianne kommt.)

MARIANNE.   Was willst du, Bruder?  Du riefst mich.

WILHELM.  Ich nicht, Marianne.

MARIANNE.   Stiert dich der Mutwille, daß du mich aus der Küche
hereinvexierst?

WILHELM.  Du siehst Geister.

MARIANNE.   Sonst wohl.  Nur deine Stimme kenn' ich zu gut, Wilhelm!

WILHELM.  Nun, was machst du draußen?

MARIANNE.   Ich habe nur ein paar Tauben gerupft, weil doch wohl
Fabrice  heut abend mitessen wird.

WILHELM.  Vielleicht.

MARIANNE.   Sie sind bald fertig, du darfst es nachher nur sagen.  Er
muß  mich auch sein neues Liedchen lehren.

WILHELM.  Du lernst wohl gern was von ihm?

MARIANNE.   Liedchen kann er recht hübsch.  Und wenn du hernach bei
Tische  sitzest und den Kopf hängst, da fang' ich gleich an.  Denn ich
weiß doch,  daß du lachst, wenn ich ein Liedchen anfange, das dir lieb
ist.

WILHELM.  Hast du mir's abgemerkt?

MARIANNE.   Ja, wer euch Mannsleuten auch nichts abmerkte!--Wenn du
sonst  nichts hast, so geh' ich wieder; denn ich habe noch allerlei zu
tun.  Adieu.--Nun gib mir noch einen Kuß.

WILHELM.  Wenn die Tauben gut gebraten sind, sollst du einen zum
Nachtisch haben.

MARIANNE.   Es ist doch verwünscht, was die Brüder grob sind!  Wenn
Fabrice  oder sonst ein guter Junge einen Kuß nehmen dürfte, die
sprängen  wändehoch, und der Herr da verschmäht einen, den ich geben
will.--Jetzt  verbrenn' ich die Tauben.  (Ab.)

WILHELM.  Engel! lieber Engel! daß ich mich halte, daß ich ihr nicht
um  den Hals falle, ihr alles entdecke!--Siehst du denn auf uns
herunter,  heilige Frau, die du mir diesen Schatz aufzuheben
gabst?--Ja, sie  wissen von uns droben! sie wissen von uns!--Charlotte,
du konntest  meine Liebe zu dir nicht herrlicher, heiliger belohnen,
als daß du mir  scheidend deine Tochter anvertrautest!  Du gabst mir
alles, was ich  bedurfte, knüpftest mich ans Leben!  Ich liebte sie
als dein Kind--und  nun!--Noch ist mir's Täuschung.  Ich glaube dich
wiederzusehen,  glaube, daß mir das Schicksal verjüngt dich
wiedergegeben hat, daß ich  nun mit dir vereinigt bleiben und wohnen
kann, wie ich's in jenem ersten  Traum des Lebens nicht konnte! nicht
sollte!--Glücklich! glücklich!  All  deinen Segen, Vater im Himmel!

(Fabrice kommt.)

FABRICE.   Guten Abend.

WILHELM.  Lieber Fabrice, ich bin gar glücklich; es ist alles Gute
über  mich gekommen diesen Abend.  Nun, nichts von Geschäften!  Da
liegen deine  dreihundert Taler!  Frisch in die Tasche!  Meinen Schein
gibst du mir  gelegentlich wieder.  Und laß uns eins plaudern!

FABRICE.   Wenn du sie weiter brauchst--

WILHELM.  Wenn ich sie wieder brauche, gut!  Ich bin dir immer
dankbar,  nur jetzt nimm sie zu dir.--Höre, Charlottens Andenken ist
diesen Abend  wieder unendlich neu und lebendig vor mir geworden.

FABRICE.   Das tut's wohl öfters.

WILHELM.  Du hättest sie kennen sollen!  Ich sage dir, es war eins
der  herrlichsten Geschöpfe.

FABRICE.   Sie war Witwe, wie du sie kennenlerntest?

WILHELM.  So rein und groß!  Da las ich gestern noch einen ihrer
Briefe.  Du bist der einzige Mensch, der je was davon gesehen hat.
(Er geht nach  der Schatulle.)

FABRICE (für sich).  Wenn er mich nur jetzt verschonte!  Ich habe
die  Geschichte schon so oft gehört!  Ich höre ihm sonst auch gern zu,
denn es  geht ihm immer vom Herzen; nur heute hab' ich ganz andere
Sachen im  Kopf, und just möcht' ich ihn in guter Laune erhalten.

WILHELM.  Es war in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft.  "Die
Welt  wird mir wieder lieb", schreibt sie, "ich hatte mich so los von
ihr  gemacht, wieder lieb durch Sie.  Mein Herz macht mir Vorwürfe;
ich fühle,  daß ich Ihnen und mir Qualen zubereite.  Vor einem halben
Jahre war ich  so bereit, zu sterben, und bin's nicht mehr."

FABRICE.   Eine schöne Seele!

WILHELM.  Die Erde war sie nicht wert.  Fabrice, ich hab' dir schon
oft  gesagt, wie ich durch sie ein ganz anderer Mensch wurde.
Beschreiben  kann ich die Schmerzen nicht, wenn ich dann zurück und
mein väterliches  Vermögen von mir verschwendet sah!  Ich durfte ihr
meine Hand nicht  anbieten, konnte ihren Zustand nicht erträglicher
machen.  Ich fühlte zum  erstenmal den Trieb, mir einen nötigen
schicklichen Unterhalt zu  erwerben; aus der Verdrossenheit, in der
ich einen Tag nach dem andern  kümmerlich hingelebt hatte, mich
herauszureißen.  Ich arbeitete--aber  was war das?--Ich hielt an,
brachte so ein mühseliges Jahr durch;  endlich kam mir ein Schein von
Hoffnung; mein Weniges vermehrte sich  zusehends--und sie starb--Ich
konnte nicht bleiben.  Du ahnest nicht,  was ich litt.  Ich konnte die
Gegend nicht mehr sehen, wo ich mit ihr  gelebt hatte, und den Boden
nicht verlassen, wo sie ruhte.  Sie schrieb  mir kurz vor ihrem
Ende--(Er nimmt einen Brief aus der Schatulle.)

FABRICE.   Es ist ein herrlicher Brief, du hast ihn mir neulich
gelesen.--Höre, Wilhelm--

WILHELM.  Ich kann ihn auswendig und les' ihn immer.  Wenn ich ihre
Schrift sehe, das Blatt, wo ihre Hand geruht hat, mein' ich wieder,
sie  sei noch da--Sie ist auch noch da!--(Man hört ein Kind schreien.)
Daß doch Marianne nicht ruhen kann!  Da hat sie wieder den Jungen
unseres  Nachbars; mit dem treibt sie sich täglich herum und stört
mich zur  unrechten Zeit.  (An der Tür).  Marianne, sei still mit dem
Jungen, oder  schick ihn fort, wenn er unartig ist.  Wir haben zu
reden.  (Er steht in  sich gekehrt.)

FABRICE.   Du solltest diese Erinnerungen nicht so oft reizen.

WILHELM.  Diese Zeilen sind's! diese letzten! der Abschiedshauch des
scheidenden Engels.  (Er legt den Brief wieder zusammen.) Du hast
recht,  es ist sündlich.  Wie selten sind wir wert, die vergangenen
selig-elenden  Augenblicke unseres Lebens wieder zu fühlen!

FABRICE.   Dein Schicksal geht mir immer zu Herzen.  Sie hinterließ
eine  Tochter, erzähltest du mir, die ihrer Mutter leider bald folgte.
Wenn  die nur leben geblieben wäre, du hättest wenigstens etwas von
ihr  übrig gehabt, etwas gehabt, woran sich deine Sorgen und dein
Schmerz  geheftet hätten.

WILHELM (sich lebhaft nach ihm wendend).  Ihre Tochter?  Es war ein
holdes  Blütchen.  Sie übergab mir's--Es ist zu viel, was das
Schicksal für mich  getan hat!--Fabrice, wenn ich dir alles sagen
könnte--

FABRICE.   Wenn dir's einmal ums Herz ist.

WILHELM.  Warum sollt' ich nicht--

(Marianne mit einem Knaben.)

MARIANNE.   Er will noch Gutenacht sagen, Bruder.  Du mußt ihm kein
finster  Gesicht machen, und mir auch nicht.  Du sagst immer, du
wolltest heiraten  und möchtest gerne viel Kinder haben.  Die hat man
nicht immer so am  Schnürchen, daß sie nur schreien, wenn's dich nicht
stört.

WILHELM.  Wenn's meine Kinder sind.

MARIANNE.   Das mag wohl auch ein Unterschied sein.

FABRICE.   Meinen Sie, Marianne?

MARIANNE.   Das muß gar zu glücklich sein!  (Sie kauert sich zum
Knaben und  küßt ihn.) Ich habe Christeln so lieb!  Wenn er erst mein
wäre!--Er kann  schon buchstabieren; er lernt's bei mir.

WILHELM.  Und da meinst du, deiner könnte schon lesen?

MARIANNE.   Jawohl!  Denn da tät' ich mich den ganzen Tag mit nichts
abgeben, als ihn aus--und anziehen, und lehren, und zu essen geben,
und  putzen, und allerlei sonst.

FABRICE.   Und der Mann?

MARIANNE.   Der täte mitspielen: der würd' ihn ja wohl so liebhaben
wie  ich.  Christel muß nach Haus und empfiehlt sich.  (Sie führt ihn
zu  Wilhelmen.) Hier, gib eine schöne Hand, eine rechte Patschhand!

FABRICE.   (für sich).  Sie ist gar zu lieb; ich muß mich erklären.

MARIANNE.   (das Kind zu Fabricen führend).  Hier dem Herrn auch.

WILHELM (für sich).  Sie wird dein sein!  Du wirst--Es ist zu viel,
ich  verdien's nicht.--(Laut).  Marianne, schaff das Kind weg;
unterhalt  Herrn Fabricen bis zum Nachtessen; ich will nur ein paar
Gassen auf und  ab laufen; ich habe den ganzen Tag gesessen.
(Marianne ab.) Unter dem  Sternhimmel nur einen freien Atemzug!--Mein
Herz ist so voll.--Ich bin  gleich wieder da!  (Ab.)

(Fabrice allein.)

FABRICE.   Mach der Sache ein Ende, Fabrice.  Wenn du's nun immer
länger  und länger trägst, wird's doch nicht reifer.  Du hast's
beschlossen.  Es  ist gut, es ist trefflich!  Du hilfst ihrem Bruder
weiter, und sie--sie  liebt mich nicht, wie ich sie liebe.  Aber sie
kann auch nicht heftig  lieben, sie soll nicht heftig lieben!--Liebes
Mädchen!--Sie vermutet  wohl keine andere als freundschaftliche
Gesinnungen in mir!--Es wird  uns wohlgehen, Marianne!--Ganz erwünscht
und wie bestellt, die  Gelegenheit!  Ich muß mich ihr entdecken--und
wenn mich ihr Herz nicht  verschmäht--von dem Herzen des Bruders bin
ich sicher.

(Marianne kommt.)

FABRICE.   Haben Sie den Kleinen weggeschafft?

MARIANNE.   Ich hätt' ihn gern dabehalten; ich weiß nur, der Bruder
hat's  nicht gern, und da unterlass' ich's.  Manchmal erbettelt sich
der kleine  Dieb selbst die Erlaubnis von ihm, mein Schlafkamerad zu
sein.

FABRICE.   Ist er Ihnen denn nicht lästig?

MARIANNE.   Ach, gar nicht.  Er ist so wild den ganzen Tag, und wenn
ich zu  ihm ins Bette komm', ist er so gut wie ein Lämmchen!  Ein
Schmeichelkätzchen! und herzt mich, was er kann; manchmal kann ich ihn
gar nicht zum Schlafen bringen.

FABRICE (halb für sich).  Die liebe Natur.

MARIANNE.   Er hat mich auch lieber als seine Mutter.

FABRICE.   Sie sind ihm auch Mutter.  (Marianne steht in Gedanken,
Fabrice  sieht sie eine Zeitlang an.) Macht Sie der Name Mutter
traurig?

MARIANNE.  Nicht traurig, ich denke nur so.

FABRICE.  Was, süße Marianne?

MARIANNE.  Ich denke--ich denke auch nichts.  Es ist mir nur manchmal
so  wunderbar.

FABRICE.  Sollten Sie nie gewünscht haben--?

MARIANNE.  Was tun Sie für Fragen?

FABRICE.  Fabrice wird's doch dürfen?

MARIANNE.  Gewünscht nie, Fabrice.  Und wenn mir auch einmal so ein
Gedanke durch den Kopf fuhr, war er gleich wieder weg. Meinen Bruder
zu  verlassen, wäre mir unerträglich--unmöglich--, alle übrige
Aussicht  möchte auch noch so reizend sein.

FABRICE.  Das ist doch wunderbar!  Wenn Sie in einer Stadt
beieinander  wohnten, hieße das ihn verlassen?

MARIANNE.  O nimmermehr!  Wer sollte seine Wirtschaft führen? wer für
ihn  sorgen?--Mit einer Magd?--oder gar heiraten?--Nein, das geht
nicht!

FABRICE.  Könnte er nicht mit Ihnen ziehen?  Könnte Ihr Mann nicht
sein  Freund sein?  Könnten Sie drei nicht ebenso eine glückliche,
eine  glücklichere Wirtschaft führen?  Könnte Ihr Bruder nicht dadurch
in  seinen sauern Geschäften erleichtert werden?--Was für ein Leben
könnte  das sein!

MARIANNE.  Man sollt's denken.  Wenn ich's überlege, ist's wohl wahr.
Und  hernach ist mir's wieder so, als wenn's nicht anginge.

FABRICE.  Ich begreife Sie nicht.

MARIANNE.  Es ist nun so.--Wenn ich aufwache, horch' ich, ob der
Bruder  schon auf ist; rührt sich nichts, hui bin ich aus dem Bette in
der  Küche, mache Feuer an, daß das Wasser über und über kocht, bis
die Magd  aufsteht und er seinen Kaffee hat, wie er die Augen auftut.

FABRICE.  Hausmütterchen.

MARIANNE.  Und dann setze ich mich hin und stricke Strümpfe für
meinen  Bruder, und hab' eine Wirtschaft, und messe sie ihm zehnmal an,
ob sie  auch lang genug sind, ob die Wade recht sitzt, ob der Fuß
nicht zu kurz  ist, daß er manchmal ungeduldig wird.  Es ist mir auch
nicht ums Messen,  es ist mir nur, daß ich was um ihn zu tun habe, daß
er mich einmal  ansehen muß, wenn er ein paar Stunden geschrieben hat,
und er mir nicht  Hypochonder wird.  Denn es tut ihm doch wohl, wenn
er mich ansieht; ich  seh's ihm an den Augen ab, wenn er mir's gleich
sonst nicht will merken  lassen.  Ich lache manchmal heimlich, daß er
tut, als wenn er ernst wäre  oder böse.  Er tut wohl; ich peinigte ihn
sonst den ganzen Tag.

FABRICE.  Er ist glücklich.

MARIANNE.  Nein, ich bin's.  Wenn ich ihn nicht hätte, wüßt' ich
nicht,  was ich in der Welt anfangen sollte.  Ich tue doch auch alles
für mich,  und mir ist, als wenn ich alles für ihn täte, weil ich auch
bei dem, was  ich für mich tue, immer an ihn denke.

FABRICE.  Und wenn Sie nun das alles für einen Gatten täten, wie ganz
glücklich würde er sein!  Wie dankbar würde er sein, und welch ein
häuslich Leben würde das werden!

MARIANNE.  Manchmal stell' ich mir's auch vor und kann mir ein langes
Märchen erzählen, wenn ich so sitze und stricke oder nähe, wie alles
gehen könnte und gehen möchte.  Komm' ich aber hernach aufs Wahre
zurück,  so will's immer nicht werden.

FABRICE.  Warum?

MARIANNE.  Wo wollt' ich einen Gatten finden, der zufrieden wäre,
wenn  ich sagte: "Ich will Euch liebhaben", und müßte gleich
dazusetzen:  "Lieber als meinen Bruder kann ich Euch nicht haben, für
den muß ich  alles tun dürfen, wie bisher."--Ach, Sie sehen, daß das
nicht geht!

FABRICE.  Sie würden nachher einen Teil für den Mann tun, Sie würden
die  Liebe auf ihn übertragen.--

MARIANNE.  Da sitzt der Knoten!  Ja, wenn sich Liebe herüber und
hinüber  zahlen ließe wie Geld, oder den Herrn alle Quartal veränderte
wie eine  schlechte Dienstmagd.  Bei einem Manne würde das alles erst
werden  müssen, was hier schon ist, was nie so wieder werden kann.

FABRICE.  Es macht sich viel.

MARIANNE.  Ich weiß nicht.  Wenn er so bei Tische sitzt und den Kopf
auf  die Hand stemmt, niedersieht und still ist in Sorgen--ich kann
halbe  Stunden lang sitzen und ihn ansehen.  Er ist nicht schön, sag'
ich  manchmal so zu mir selbst, und mir ist's so wohl, wenn ich ihn
ansehe.--Freilich fühl' ich nun wohl, daß es mit für mich ist, wenn
er sorgt;  freilich sagt mir das der erste Blick, wenn er wieder
aufsieht, und das  tut ein Großes.

FABRICE.  Alles, Marianne.  Und ein Gatte, der für Sie sorgte!--

MARIANNE.  Da ist noch eins; da sind eure Launen.  Wilhelm hat auch
seine  Launen; von ihm drücken sie mich nicht, von jedem andern wären
sie mir  unerträglich.  Er hat leise Launen, ich fühl' sie doch
manchmal.  Wenn er  in unholden Augenblicken eine gute teilnehmende
liebevolle Empfindung  wegstößt--es trifft mich! freilich nur einen
Augenblick; und wenn ich  auch über ihn knurre, so ist's mehr, daß er
meine Liebe nicht erkennt,  als daß ich ihn weniger liebe.

FABRICE.  Wenn sich nun aber einer fände, der es auf alles das hin
wagen  sollte, Ihnen seine Hand anzubieten?

MARIANNE.  Er wird sich nicht finden!  Und dann wäre die Frage, ob
ich's  mit ihm wagen dürfte.

FABRICE.  Warum nicht?

MARIANNE.  Er wird sich nicht finden!

FABRICE.  Marianne, Sie haben ihn!

MARIANNE.  Fabrice!

FABRICE.  Sie sehen ihn vor sich.  Soll ich eine lange Rede halten?
Soll  ich Ihnen hinschütten, was mein Herz so lange bewahrt?  Ich
liebe Sie,  das wissen Sie lange; ich biete Ihnen meine Hand an, das
vermuteten Sie  nicht.  Nie hab' ich ein Mädchen gesehen, das so wenig
dachte, daß es  Gefühle dem, der sie sieht, erregen muß, als dich.
--Marianne, es ist  nicht ein feuriger, unbedachter Liebhaber, der mit
Ihnen spricht; ich  kenne Sie, ich habe Sie erkoren, mein Haus ist
eingerichtet; wollen Sie  mein sein?--Ich habe in der Liebe mancherlei
Schicksale gehabt, war  mehr als einmal entschlossen, mein Leben als
Hagestolz zu enden.  Sie  haben mich nun--Widerstehen Sie nicht!--Sie
kennen mich; ich bin eins  mit Ihrem Bruder; Sie können kein reineres
Band denken.--öffnen Sie Ihr  Herz!--Ein Wort, Marianne!

MARIANNE.  Lieber Fabrice, lassen Sie mir Zeit, ich bin Ihnen gut.

FABRICE.  Sagen Sie, daß Sie mich lieben!  Ich lasse Ihrem Bruder
seinen  Platz; ich will Bruder Ihres Bruders sein, wir wollen vereint
für ihn  sorgen.  Mein Vermögen, zu dem seinen geschlagen, wird ihn
mancher  kummervollen Stunde überheben, er wird Mut kriegen, er
wird--Marianne,  ich möchte Sie nicht gern überreden.  (Er faßte ihre
Hand.)

MARIANNE.  Fabrice, es ist mir nie eingefallen--In welche
Verlegenheit  setzen Sie mich!--

FABRICE.  Nur ein Wort!  Darf ich hoffen?

MARIANNE.  Reden Sie mit meinem Bruder!

FABRICE (kniet).  Engel!  Allerliebste!

MARIANNE (einen Augenblick still).  Gott! was hab' ich gesagt!  (Ab.
)

(Fabrice allein.)

FABRICE.  Sie ist dein!--Ich kann dem lieben kleinen Narren wohl die
Tändelei mit dem Bruder erlauben; das wird sich so nach und nach
herüber  begeben, wenn wir einander näher kennenlernen, und er soll
nichts dabei  verlieren.  Es tut mir gar wohl, wieder so zu lieben und
gelegentlich  wieder so geliebt zu werden!  Es ist doch eine Sache,
woran man nie den  Geschmack verliert.--Wir wollen zusammen wohnen.
Ohne das hätt' ich des  guten Menschen gewissenhafte Häuslichkeit
zeither schon gern ein bißchen  ausgeweitet; als Schwager wird's schon
gehen.  Er wird sonst ganz  Hypochonder mit seinen ewigen Erinnerungen,
Bedenklichkeiten,  Nahrungssorgen und Geheimnissen.  Es wird alles
hübsch!  Er soll freiere  Luft atmen; das Mädchen soll einen Mann
haben--das nicht wenig ist; und  du kriegst noch mit Ehren eine
Frau--das viel ist!

(Wilhelm kommt.)

FABRICE.  Ist dein Spaziergang zu Ende?

WILHELM.  Ich ging auf den Markt und die Pfarrgasse hinauf und an der
Börse zurück.  Mir ist's eine wunderliche Empfindung, nachts durch
die  Stadt zu gehen.  Wie von der Arbeit des Tages alles teils zur
Ruh' ist,  teils darnach eilt, und man nur noch die Emsigkeit des
kleinen Gewerbes  in Bewegung sieht!  Ich hatte meine Freude an einer
alten Käsefrau, die,  mit der Brille auf der Nase, beim Stümpfchen
Licht ein Stück nach dem  andern auf die Waage legte und ab--und
zuschnitt, bis die Käuferin ihr  Gewicht hatte.

FABRICE.  Jeder bemerkt in seiner Art.  Ich glaub', es sind viele die
Straße gegangen, die nicht nach den Käsemüttern und ihren Brillen
geguckt haben.

WILHELM.  Was man treibt, kriegt man lieb, und der Erwerb im kleinen
ist  mir ehrwürdig, seit ich weiß, wie sauer ein Taler wird, wenn man
ihn  groschenweise verdienen soll.  (Steht einige Augenblicke in sich
gekehrt.) Mir ist ganz wunderbar geworden auf dem Wege.  Es sind mir
so  viel Sachen auf einmal und durcheinander eingefallen--und das, was
mich  im Tiefsten meiner Seele beschäftigt--(Er wird nachdenkend).

FABRICE (für sich).  Es geht mir närrisch; sobald er gegenwärtig ist,
untersteh' ich mich nicht recht, zu bekennen, daß ich Mariannen
liebe.--Ich muß ihm doch erzählen, was vorgegangen ist.--(Laut.)
Wilhelm! sag  mir! du wolltest hier ausziehen?  Du hast wenig Gelaß
und sitzest teuer.  Weißt du ein ander Quartier?

WILHELM (zerstreut).  Nein.

FABRICE.  Ich dächte, wir könnten uns beide erleichtern.  Ich habe da
mein  väterliches Haus und bewohne nur den obern Stock, und den untern
könntest du einnehmen; du verheiratest dich doch so bald nicht.--Du
hast den Hof und eine kleine Niederlage für deine Spedition und gibst
mir einen leidlichen Hauszins, so ist uns beiden geholfen.

WILHELM.  Du bist gar gut.  Es ist mir wahrlich auch manchmal
eingefallen,  wenn ich zu dir kam und so viel leer stehen sah, und ich
muß mich so  ängstlich behelfen.--Dann sind wieder andere Sachen--Man
muß es  eben sein lassen, es geht doch nicht.

FABRICE.  Warum nicht?

WILHELM.  Wenn ich nun heirate?

FABRICE.  Dem wäre zu helfen.  Ledig hättest du mit deiner Schwester
Platz, und mit einer Frau ging's ebensowohl.

WILHELM (lächelnd).  Und meine Schwester?

FABRICE.  Die nähm' ich allenfalls zu mir.  (Wilhelm ist still.) Und
auch  ohne das.  Laß uns ein klug Wort reden.--Ich liebe Mariannen;
gib mir  sie zur Frau!

WILHELM.  Wie?

FABRICE.  Warum nicht?  Gib dein Wort!  Höre mich, Bruder!  Ich liebe
Mariannen!  Ich hab's lang überlegt: sie allein, du allein, ihr könnt
mich so glücklich machen, als ich auf der Welt noch sein kann.  Gib
mir  sie!  Gib mir sie!

WILHELM (verworren).  Du weißt nicht, was du willst.

FABRICE.  Ach, wie weiß ich's!  Soll ich dir alles erzählen, was mir
fehlt  und was ich haben werde, wenn sie meine Frau und du mein
Schwager werden  wirst?

WILHELM (aus Gedanken auffahrend, hastig).  Nimmermehr! nimmermehr!

FABRICE.  Was hast du?--Mir tut's weh!--Den Abscheu!--Wenn du einen
Schwager haben sollst, wie sich's doch früh oder spät macht, warum
mich nicht? den du so kennst, den du liebst!  Wenigstens glaubt' ich--


WILHELM.  Laß mich!--ich hab' keinen Verstand.

FABRICE.  Ich muß alles sagen.  Von dir allein hängt mein Schicksal
ab.  Ihr Herz ist mir geneigt, das mußt du gemerkt haben.  Sie liebt
dich  mehr, als sie mich liebt; ich bin's zufrieden.  Den Mann wird
sie mehr  als den Bruder lieben; ich werde in deine Rechte treten, du
in meine,  und wir werden alle vergnügt sein.  Ich habe noch keinen
Knoten gesehen,  der sich so menschlich schön knüpfte.  (Wilhelm stumm.
) Und was alles  fest macht--Bester, gib du nur dein Wort, deine
Einwilligung! sag ihr,  daß dich's freut, daß dich's glücklich macht!
--Ich hab' ihr Wort.

WILHELM.  Ihr Wort?

FABRICE.  Sie warf's hin, wie einen scheidenden Blick, der mehr sagte,
als alles Bleiben gesagt hätte.  Ihre Verlegenheit und ihre Liebe,
ihr  Wollen und Zittern, es war so schön!

WILHELM.  Nein! nein!

FABRICE.  Ich versteh' dich nicht.  Ich fühle, du hast keinen
Widerwillen  gegen mich, und bist mir so entgegen?  Sei's nicht!  Sei
ihrem Glücke, sei  meinem nicht hinderlich!--Und ich denke immer, du
sollst mit uns  glücklich sein!--Versag meinen Wünschen dein Wort
nicht! dein  freundlich Wort!  (Wilhelm stumm in streitenden Qualen.)
Ich begreife  dich nicht--

WILHELM.  Sie?--du willst sie haben?

FABRICE.  Was ist das?

WILHELM.  Und sie dich?

FABRICE.  Sie antwortete, wie's einem Mädchen ziemt.

WILHELM.  Geh! geh!--Marianne!--Ich ahnt' es! ich fühlt' es!

FABRICE.  Sag mir nur--

WILHELM.  Was sagen!--Das war's, was mir auf der Seele lag diesen
Abend,  wie eine Wetterwolke.  Es zuckt, es schlägt!--Nimm sie!--Nimm
sie!--Mein Einziges--mein Alles!  (Fabrice ihn stumm ansehend.) Nimm
sie!--Und daß du weißt, was du mir nimmst--(Pause.  Er rafft sich
zusammen.)  Von Charlotten erzählt' ich dir, dem Engel, der meinen
Händen entwich  und mir sein Ebenbild, eine Tochter, hinterließ--und
diese Tochter--ich habe dich belogen--sie ist nicht tot; diese
Tochter ist Marianne!--Marianne ist nicht meine Schwester.

FABRICE.  Darauf war ich nicht vorbereitet.

WILHELM.  Und von dir hätt' ich das fürchten sollen!--Warum folgt'
ich  meinem Herzen nicht und verschloß dir mein Haus wie jedem in den
ersten  Tagen, da ich herkam?  Dir allein vergönnt' ich einen Zutritt
in dies  Heiligtum, und du wußtest mich durch Güte, Freundschaft,
Unterstützung,  scheinbare Kälte gegen die Weiber einzuschläfern.  Wie
ich dem Schein  nach ihr Bruder war, hielt ich dein Gefühl für sie für
das wahre  brüderliche, und wenn mir ja auch manchmal ein Argwohn
kommen wollte,  warf ich ihn weg als unedel, schrieb ihre Gutheit für
dich auf Rechnung  des Engelherzens, das eben alle Welt mit einem
liebevollen Blick  ansieht.--Und du!--Und sie!--

FABRICE.  Ich mag nichts weiter hören, und zu sagen hab' ich auch
nichts.  Also adieu!  (Ab.)

WILHELM.  Geh nur!--Du trägst sie alle mit dir weg, meine ganze
Seligkeit.  So weggeschnitten, weggebrochen alle Aussichten--die
nächsten--auf einmal--Am Abgrunde!  Und zusammengestürzt die goldne
Zauberbrücke, die mich in die Wonne der Himmel hinüberführen sollte--
Weg! und durch ihn, den Verräter, der so mißbraucht hat die Offenheit,
das Zutrauen!--O Wilhelm!  Wilhelm! du bist so weit gebracht, daß du
gegen den guten Menschen ungerecht sein mußt?--Was hat er
verbrochen?----Du liegst schwer über mir und bist gerecht,
vergeltendes Schicksal!--Warum stehst du da? und du?  Just in dem
Augenblicke!--Verzeiht mir!  Hab' ich nicht gelitten dafür?--Verzeiht!
es ist lange!--Ich habe unendlich  gelitten.  Ich schien euch zu
lieben, ich glaubte euch zu lieben; mit  leichtsinnigen Gefälligkeiten
schloß ich euer Herz auf und machte euch  elend!--Verzeiht und laßt
mich--Soll ich so gestraft werden?--Soll ich Mariannen verlieren,
die letzte meiner Hoffnungen, den  Inbegriff meiner Sorgen?--Es kann
nicht! es kann nicht!  (Er bleibt  stille.)

(Marianne kommt.)

MARIANNE (naht verlegen).  Bruder!

WILHELM.  Ah!

MARIANNE.  Lieber Bruder, du mußt mir vergeben, ich bitte dich um
alles.  Du bist böse, ich dacht' es wohl.  Ich habe eine Torheit
begangen--es  ist mir ganz wunderlich.

WILHELM (sich zusammennehmend).  Was hast du, Mädchen?

MARIANNE.  Ich wollte, daß ich dir's erzählen könnte.--Mir geht's so
konfus im Kopf herum.--Fabrice will mich zur Frau, und ich--

WILHELM (halb bitter).  Sag's heraus, du schlägst ein?

MARIANNE.  Nein, nicht ums Leben!  Nimmermehr werd' ich ihn heiraten!
ich kann ihn nicht heiraten.

WILHELM.  Wie anders klingt das!

MARIANNE.  Wunderlich genug.  Du bist gar unhold, Bruder; ich ginge
gern  und wartete eine gute Stunde ab, wenn mir's nicht gleich vom
Herzen  müßte.  Ein für allemal, ich kann Fabricen nicht heiraten.

WILHELM (steht auf und nimmt sie bei der Hand.) Wie, Marianne?

MARIANNE.  Er war da und redete so viel und stellte mir so allerlei
vor,  daß ich mir einbildete, es wäre möglich.  Er drang so, und in
der  Unbesonnenheit sagt' ich, er sollte mit dir reden.--Er nahm das
als  Jawort, und im Augenblicke fühlt' ich, daß es nicht werden konnte.


WILHELM.  Er hat mit mir gesprochen.

MARIANNE.  Ich bitte dich, was ich kann und mag, mit all der Liebe,
die ich  zu dir habe, bei all der Liebe, mit  der du mich liebst, mach
es wieder gut, bedeut ihn.

WILHELM (für sich).  Ewiger Gott!

MARIANNE.  Sei nicht böse!  Er soll auch nicht böse sein.  Wir wollen
wieder leben wie vorher und immer so fort.--Denn nur mit dir kann ich
leben, mit dir allein mag ich leben.  Es liegt von jeher in meiner
Seele,  und dieses hat's herausgeschlagen, gewaltsam
herausgeschlagen--Ich  liebe nur dich!

WILHELM.  Marianne!

MARIANNE.  Bester Bruder!  Diese Viertelstunde über--ich kann dir
nicht  sagen, was in meinem Herzen auf--und abgerannt ist.--Es ist mir
wie  neulich, da es auf dem Markte brannte und erst Rauch und Dampf
über  alles zog, bis auf einmal das Feuer das Dach hob und das ganze
Haus in  einer Flamme stand.--Verlaß mich nicht! stoß mich nicht von
dir,  Bruder!

WILHELM.  Es kann doch nicht immer so bleiben.

MARIANNE.  Das eben ängstet mich so!--Ich will dir gern versprechen,
nicht zu heiraten, ich will immer für dich sorgen, immer, immer so
fort.--Da drüben wohnen so ein paar alte Geschwister zusammen; da
denk' ich  manchmal zum Spaß: wenn du so alt und schrumpflich bist,
wenn ihr nur  zusammen seid!

WILHELM (sein Herz haltend, halb für sich).  Wenn du das aushältst,
bist  du nie wieder zu enge.

MARIANNE.  Dir ist's nun wohl nicht so; du nimmst doch wohl eine Frau
mit  der Zeit, und es würde mir immer leid tun, wenn ich sie auch noch
so  gern lieben wollte--Es hat dich niemand so lieb wie ich; es kann
dich  niemand so lieb haben.  (Wilhelm versucht zu reden.) Du bist
immer so  zurückhaltend, und ich hab's immer im Munde, dir ganz zu
sagen, wie  mir's ist, und wag's nicht.  Gott sei Dank, daß mir der
Zufall die Zunge  löst.

WILHELM.  Nichts weiter.  Marianne!

MARIANNE.  Du sollst mich nicht hindern, laß mich alles sagen!  Dann
will  ich in die Küche gehen und tagelang an meiner Arbeit sitzen, nur
manchmal dich ansehen, als wollt' ich sagen: du weißt's!--(Wilhelm
stumm in dem Umfange seiner Freuden.) Du konntest es lange wissen, du
weißt's auch, seit dem Tod unserer Mutter, wie ich aufkam aus der
Kindheit und immer mit dir war.--Sieh, ich fühle mehr Vergnügen, bei
dir zu sein, als Dank für deine mehr als brüderliche Sorgfalt.  Und
nach  und nach nahmst du so mein ganzes Herz, meinen ganzen Kopf ein,
daß  jetzt noch etwas anders Mühe hat, ein Plätzchen drin zu gewinnen.
Ich  weiß wohl noch, daß du manchmal lachtest, wenn ich Romanen las;
es  geschah einmal mit der Julie Mandeville, und ich fragte, ob der
Heinrich, oder wie er heißt, nicht ausgesehen habe wie du?--Du
lachtest--das gefiel mir nicht.  Da schwieg ich ein andermal still.
Mir war's  aber ganz ernsthaft; denn was die liebsten, die besten
Menschen waren,  die sahen bei mir alle aus wie du.  Dich sah ich in
den großen Gärten  spazieren, und reiten, und reisen, und sich
duellieren--(Sie lacht  für sich.)

WILHELM.  Wie ist dir?

MARIANNE.  Daß ich's ebensomehr auch gestehe: wenn eine Dame recht
hübsch  war und recht gut und recht geliebt--und recht verliebt--das
war ich  immer selbst.--Nur zuletzt, wenn's an die Entwicklung kam und
sie sich  nach allen Hindernissen noch heirateten--Ich bin doch auch
gar ein  treuherziges, gutes, geschwätziges Ding!

WILHELM.  Fahr fort!  (Weggewendet.) Ich muß den Freudenkelch
austrinken.  Erhalte mich bei Sinnen, Gott im Himmel!

MARIANNE.  Unter allem konnt' ich am wenigsten leiden, wenn sich ein
paar  Leute liebhaben, und endlich kommt heraus, daß sie verwandt sind,
oder  Geschwister sind--Die Miß Fanny hätt' ich verbrennen können!
--Ich habe  so viel geweint!  Es ist so ein gar erbärmlich Schicksal!

(Sie wendet sich und weint bitterlich.)

WILHELM (auffahrend an ihrem Hals).  Marianne! meine Marianne!

MARIANNE.  Wilhelm! nein! nein!  Ewig lass' ich dich nicht!  Du bist
mein!--Ich halte dich! ich kann dich nicht lassen!

(Fabrice tritt auf.)

MARIANNE.  Ha, Fabrice, Sie kommen zur rechten Zeit!  Mein Herz ist
offen  und stark, daß ich's sagen kann.  Ich habe Ihnen nichts
zugesagt, Sei'n  Sie unser Freund! heiraten werd' ich Sie nie.

FABRICE (kalt und bitter).  Ich dacht' es, Wilhelm, wenn du dein
ganzes  Gewicht auf die Schale legtest, mußt' ich zu leicht erfunden
werden.  Ich  komme zurück, daß ich mir vom Herzen schaffe, was doch
herunter muß.  Ich  gebe alle Ansprüche auf und sehe, die Sachen haben
sich schon gemacht;  mir ist wenigstens lieb, daß ich unschuldige
Gelegenheit dazu gegeben  habe.

WILHELM.  Lästre nicht in dem Augenblick und raub dir nicht ein
Gefühl,  um das du vergebens in die weite Welt wallfahrtetest!  Siehe
hier das  Geschöpf--sie ist ganz mein--und sie weiß nicht--

FABRICE (halb spottend).  Sie weiß nicht?

MARIANNE.  Was weiß ich nicht?

WILHELM.  Hier lügen, Fabrice--?

FABRICE (getroffen).  Sie weiß nicht?

WILHELM.  Ich sag's.

FABRICE.  Behaltet einander, ihr seid einander wert!

MARIANNE.  Was ist das?

WILHELM (ihr um den Hals fallend).  Du bist mein, Marianne!

MARIANNE.  Gott! was ist das?--Darf ich dir diesen Kuß zurückgeben?--
Welch ein Kuß war das, Bruder?

WILHELM.  Nicht des zurückhaltenden, kaltscheinenden Bruders, der Kuß
eines ewig einzig glücklichen Liebhabers.--(Zu ihren Füßen.) Marianne,
du bist nicht meine Schwester!  Charlotte war deine Mutter, nicht
meine.

MARIANNE.  Du! du!

WILHELM.  Dein Geliebter!--von dem Augenblicke an dein Gatte, wenn du
ihn nicht verschmähst.

MARIANNE.  Sag mir, wie war's möglich?--

FABRICE.  Genießt, was euch Gott selbst nur einmal geben kann!  Nimm
es  an, Marianne, und frag nicht.--Ihr werdet noch Zeit genug finden,
euch  zu erklären.

MARIANNE (ihn ansehend).  Nein, es ist nicht möglich!

WILHELM.  Meine Geliebte! meine Gattin!

MARIANNE (an seinem Hals).  Wilhelm, es ist nicht möglich!

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Wolfgang von Goethe.



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