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Title: Geschichte des Agathon. Teil 1
Author: Wieland, Christoph Martin
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Geschichte des Agathon. Teil 1" ***


Geschichte des Agathon

Christoph Martin Wieland


Erste Fassung (1766/1767)



--quid Virtus, et quid Sapientia possit Utile proposuit nobis exemplar.--



Geschichte des Agathon--Inhalt


Vorbericht

Erster Teil

  Erstes Buch

    Erstes Kapitel: Anfang dieser Geschichte
    Zweites Kapitel: Etwas ganz Unerwartetes
    Drittes Kapitel: Unvermutete Unterbrechung des
                     Bacchus-Festes
    Viertes Kapitel: Agathon wird zu Schiffe gebracht
    Fünftes Kapitel: Eine Entdeckung
    Sechstes Kapitel: Erzählung der Psyche
    Siebentes Kapitel: Fortsetzung der Erzählung der Psyche
    Achtes Kapitel: Psyche beschließt ihre Erzählung
    Neuntes Kapitel: Wie Psyche und Agathon wieder getrennt werden
    Zehntes Kapitel: Ein Selbstgespräch
    Eilftes Kapitel: Agathon kömmt zu Smyrna an, und wird verkauft

   Zweites Buch

    Erstes Kapitel: Wer der Käufer des Agathon gewesen
    Zweites Kapitel: Absichten des weisen Hippias
    Drittes Kapitel: Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird
    Viertes Kapitel: Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird,
                     daß diese Geschichte erdichtet sei
    Fünftes Kapitel: Schwärmerei des Agathon
    Sechstes Kapitel: Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven
    Siebentes Kapitel: Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut
                       räsoniert
    Achtes Kapitel: Vorbereitungen zum Folgenden

   Drittes Buch

    Erstes Kapitel: Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs
    Zweites Kapitel: Theorie der angenehmen Empfindungen
    Drittes Kapitel: Die Geisterlehre eines echten Materialisten
    Viertes Kapitel: Worin Hippias bessere Schlüsse macht
    Fünftes Kapitel: Der Anti-Platonismus in Nuce
    Sechstes Kapitel: Ungelehrigkeit des Agathon

   Viertes Buch

    Erstes Kapitel: Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend
                    unsers Helden macht
    Zweites Kapitel: Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab
    Drittes Kapitel: Geschichte der schönen Danae
    Viertes Kapitel: Wie gefährlich es ist, der Besitzer einer
                     verschönernden Einbildungskraft zu sein
    Fünftes Kapitel: Pantomimen
    Sechstes Kapitel: Geheime Nachrichten

   Fünftes Buch

    Erstes Kapitel: Was die Nacht durch in den Gemütern einiger von
                    unsern Personen vorgegangen
    Zweites Kapitel: Eine kleine metaphysische Abschweifung
    Drittes Kapitel: Worin die Absichten des Hippias einen merklichen
                     Schritt machen
    Viertes Kapitel: Veränderung der Szene
    Fünftes Kapitel: Natürliche Geschichte der Platonischen Liebe
    Sechstes Kapitel: Worin der Geschichtschreiber sich einiger
                      Indiskretion schuldig macht
    Siebentes Kapitel: Magische Kraft der Musik
    Achtes Kapitel: Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden
                    vorbereitet wird
    Neuntes Kapitel: Nachrichten zu Verhütung eines besorglichen
                     Mißverstandes
    Zehentes Kapitel: Welches alle unsre verheiratete Leser, wofern sie
                      nicht sehr glücklich oder vollkommne Stoiker sind,
                      überschlagen können
    Eilftes Kapitel: Eine bemerkenswürdige Würkung der Liebe, oder von
                     der Seelenmischung

   Sechstes Buch

    Erstes Kapitel: Ein Besuch des Hippias
    Zweites Kapitel: Eine Probe von den Talenten eines
                     Liebhabers
    Drittes Kapitel: Konvulsivische Bewegungen der
                     wiederauflebenden Tugend
    Viertes Kapitel: Daß Träume nicht allemal Schäume sind
    Fünftes Kapitel: Ein starker Schritt zu einer Katastrophe

   Siebentes Buch

    Erstes Kapitel: Die erste Jugend des Agathons
    Zweites Kapitel: En animam & mentem cum qua Di nocte
                     loquantur!
    Drittes Kapitel: Die Liebe in verschiedenen Gestalten
    Viertes Kapitel: Fortsetzung des Vorhergehenden
    Fünftes Kapitel: Agathon entfliehet von Delphi, und findet
                     seinen Vater
    Sechstes Kapitel: Agathon kommt nach Athen, und widmet sich
                      der Republik. Eine Probe der besondern Natur
                      desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura
                      popularis genennet wird
    Siebentes Kapitel: Agathon wird von Athen verbannt
    Achtes Kapitel: Agathon endigt seine Erzählung
    Neuntes Kapitel: Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers
                     Helden



Zweiter Teil

   Achtes Buch

    Erstes Kapitel: Vorbereitung zum Folgenden
    Zweites Kapitel: Verräterei des Hippias
    Drittes Kapitel: Folgen des Vorhergehenden
    Viertes Kapitel: Eine kleine Abschweifung
    Fünftes Kapitel: Schwachheit des Agathon; unverhoffter Zufall,
                     der seine Entschließungen bestimmt
    Sechstes Kapitel: Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze
    Siebentes Kapitel: Eine oder zwo Digressionen

   Neuntes Buch

    Erstes Kapitel: Veränderung der Szene. Charakter der Syracusaner,
                    des Dionysius und seines Hofes
    Zweites Kapitel: Charakter des Dion. Anmerkungen über denselben.
                     Eine Digression
    Drittes Kapitel: Eine Probe, daß die Philosophie so gut zaubern
                     könne, als die Liebe
    Viertes Kapitel: Philistus und Timocrates
    Fünftes Kapitel: Agathon wird der Günstling des Dionysius

   Zehentes Buch

    Erstes Kapitel: Von Haupt--und Staats-Aktionen. Betragen Agathons
                    am Hofe des Königs Dionys
    Zweites Kapitel: Beispiele, daß nicht alles, was gleißt, Gold ist
    Drittes Kapitel: Große Fehler wider die Staats-Kunst, welche Agathon
                     beging--Folgen davon
    Viertes Kapitel: Nachricht an den Leser
    Fünftes Kapitel: Moralischer Zustand unsers Helden

   Eilftes Buch

    Erstes Kapitel: Apologie des griechischen Autors
    Zweites Kapitel: Die Tarentiner. Charakter eines  liebenswürdigen
                     alten Mannes
    Drittes Kapitel: Eine unverhoffte Entdeckung
    Viertes Kapitel: Etwas, das man ohne Divination  vorhersehen konnte
    Fünftes Kapitel: Abdankung



VORBERICHT


Der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte siehet so wenig
Wahrscheinlichkeit vor sich, das Publicum überreden zu können, daß sie in
der Tat aus einem alten Griechischen Manuskript gezogen sei; daß er am
besten zu tun glaubt, über diesen Punkt gar nichts zu sagen, und dem Leser
zu überlassen, davon zu denken, was er will.

Gesetzt, daß wirklich einmal ein Agathon gewesen, (wie dann in der Tat, um
die Zeit, in welche die gegenwärtige Geschichte gesetzt worden ist, ein
komischer Dichter dieses Namens den Freunden der Schriften Platons bekannt
sein muß:) gesetzt aber auch, daß sich von diesem Agathon nichts
wichtigers sagen ließe, als wenn er geboren worden, wenn er sich
verheiratet, wie viel Kinder er gezeugt, und wenn, und an was für einer
Krankheit er gestorben sei: was würde uns bewegen können, seine Geschichte
zu lesen, und wenn es gleich gerichtlich erwiesen wäre, daß sie in den
Archiven des alten Athens gefunden worden sei?

Die Wahrheit, welche von einem Werke, wie dasjenige, so wir den Liebhabern
hiemit vorlegen, gefodert werden kann und soll, bestehet darin, daß alles
mit dem Lauf der Welt übereinstimme, daß die Charakter nicht willkürlich,
und bloß nach der Phantasie, oder den Absichten des Verfassers gebildet,
sondern aus dem unerschöpflichen Vorrat der Natur selbst hergenommen; in
der Entwicklung derselben so wohl die innere als die relative Möglichkeit,
die Beschaffenheit des menschlichen Herzens, die Natur einer jeden
Leidenschaft, mit allen den besondern Farben und Schattierungen, welche
sie durch den Individual-Charakter und die Umstände einer jeden Person
bekommen, aufs genaueste beibehalten; daneben auch der eigene Charakter
des Landes, des Orts, der Zeit, in welche die Geschichte gesetzt wird,
niemal aus den Augen gesetzt; und also alles so gedichtet sei, daß kein
hinlänglicher Grund angegeben werden könne, warum es nicht eben so wie es
erzählt wird, hätte geschehen können, oder noch einmal wirklich geschehen
werde.  Diese Wahrheit allein kann Werke von dieser Art nützlich machen,
und diese Wahrheit getrauet sich der Herausgeber den Lesern der Geschichte
des Agathons zu versprechen.

Seine Hauptabsicht war, sie mit einem Charakter, welcher gekannt zu werden
würdig wäre, in einem manchfaltigen Licht, und von allen seinen Seiten
bekannt zu machen.  Ohne Zweifel gibt es wichtigere als derjenige, auf den
seine Wahl gefallen ist.  Allein, da er selbst gewiß zu sein wünschte,
daß er der Welt keine Hirngespenster für Wahrheit verkaufe; so wählte er
denjenigen, den er am genauesten kennen zu lernen Gelegenheit gehabt hat.
Aus diesem Grunde kann er ganz zuverlässig versichern, daß Agathon und die
meisten übrigen Personen, welche in seine Geschichte eingeflochten sind,
wirkliche Personen sind, dergleichen es von je her viele gegeben hat, und
in dieser Stunde noch gibt, und daß (die Neben-Umstände, die Folge und
besondere Bestimmung der zufälligen Begebenheiten, und was sonsten nur zur
Auszierung, welche willkürlich ist, gehört, ausgenommen) alles, was das
Wesentliche dieser Geschichte ausmacht, eben so historisch, und vielleicht
noch um manchen Grad gewisser sei, als irgend ein Stück der
glaubwürdigsten politischen Geschichtschreiber, welche wir aufzuweisen
haben.

Es ist etwas bekanntes, daß öfters im menschlichen Leben weit
unwahrscheinlichere Dinge begegnen, als der Chevalier de Mouhy selbst zu
erdichten sich getrauen würde.  Es würde also sehr übereilt sein, die
Wahrheit des Charakters unsers Helden deswegen in Verdacht zu ziehen, weil
es öfters unwahrscheinlich ist, daß jemand so gedacht oder gehandelt habe,
wie er.  Wenn es unmöglich sein wird, zu beweisen, daß ein Mensch, und
ein Mensch unter den besondern Bestimmungen, unter welchen sich Agathon
von seiner Kindheit an befunden, nicht so denken oder handeln könne, oder
wenigstens es nicht ohne Wunderwerke, Einflüsse unsichtbarer Geister, oder
übernatürliche Bezauberung hätte tun können: So glaubt der Verfasser mit
Recht erwarten zu können, daß man ihm auf sein Wort glaube, wenn er
positiv versichert, daß Agathon wirklich so gedacht oder gehandelt habe.
Zu gutem Glücke finden sich in den beglaubtesten Geschichtschreibern, und
schon allein in den Lebensbeschreibungen des Plutarch Beispiele genug, daß
es möglich sei, so edel, so tugendhaft, so enthaltsam, oder, nach der
Sprache des Hippias, und einer ansehnlichen Klasse von Menschen zu reden,
so seltsam, so eigensinnig und albern zu sein als es unser Held in einigen
Gelegenheiten seines Lebens ist.

Man hat an verschiedenen Stellen des gegenwärtigen Werks die Ursachen
angegeben, warum man aus dem Agathon kein Modell eines vollkommen
tugendhaften Mannes gemacht hat.  Da die Welt mit ausführlichen
Lehrbüchern der Sittenlehre angefüllt ist, so steht einem jeden frei, (und
es ist nichts leichters) sich einen Menschen einzubilden, der von der
Wiege an bis ins Grab, in allen Umständen und Verhältnissen des Lebens,
allezeit und vollkommen so empfindt, denkt und handelt, wie eine Moral.
Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele
ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zuversichtlich,
nicht tugendhafter vorgestellt werden, als er ist; und wenn jemand hierin
andrer Meinung sein sollte, so wünschten wir, daß er uns (wenn es wahr ist,
daß derjenige der Beste ist, der die besten Eigenschaften mit den
wenigsten Fehlern hat,) denjenigen nenne, der unter allen nach dem
natürlichen Lauf Gebornen, in ähnlichen Umständen, und alles zusammen
genommen, tugendhafter gewesen wäre, als Agathon.

Es ist möglich, daß irgend ein junger Taugenichts, wenn er siehet, daß ein
Agathon den reizenden Verführungen der Liebe und einer Danae endlich
unterliegt, eben den Gebrauch davon machen kann, welchen der junge Chärea
beim Terenz von einem Gemälde machte, welches eine von den Schelmereien
des Vater Jupiters vorstellte,--und daß er, wenn er mit herzlicher Freude
gelesen haben wird, daß ein so vortrefflicher Mann habe fallen können, zu
sich selbst sagen mag: Ego homuncio hoc non facerem?  ego vero illud
faciam ac lubens.

Es ist eben so möglich, daß ein übelgesinnter oder ruchloser Mensch, den
Diskurs des Sophisten Hippias lesen, und sich einbilden kann, die
Rechtfertigung seines Unglaubens und seines lasterhaften Lebens darin zu
finden: Aber alle rechtschaffnen Leute werden mit uns überzeugt sein, daß
dieser junge Bube, und dieser ruchlose Freigeist beides gewesen und
geblieben wären, wenn gleich keine Geschichte des Agathon in der Welt wäre.


Dieses letztere Beispiel führt uns auf eine Erläuterung, wodurch wir der
Schwachheit gewisser gutgesinnter Leute, deren Wille besser ist, als ihre
Einsichten, zu Hülfe zu kommen, und sie vor unzeitig genommenem ärgernis
oder ungerechten Urteilen zu verwahren, uns verbunden glauben.  Wir
gestehen gerne, daß wir in das Bewußtsein der Redlichkeit unsrer Absichten
eingehüllt, nicht daran gedacht hätten, daß diese Sorgfalt nötig wäre,
wenn uns nicht die Anmerkung stutzen gemacht hätte, welche einer unsrer
Freunde, ohne unser Vorwissen, auf der Seite pag.  58, unter den Text zu
setzen, gut befunden.

Diese Erläuterung betrifft die Einführung des Sophisten Hippias in unsere
Geschichte, und den Diskurs, wodurch er den Agathon von seinem
liebenswürdigen und tugendhaften Enthusiasmus zu heilen, und zu einer
Denkungsart zu bringen hofft, welche er nicht ohne guten Grund für
geschickter hält, sein Glück in der Welt zu machen.  Leute, die aus
gesunden Augen gerade vor sich hin sehen, würden ohne unser Erinnern aus
dem ganzen Zusammenhang unsers Werkes, und aus der Art, wie wir bei aller
Gelegenheit von diesem Sophisten und seinen Grundsätzen reden, ganz
deutlich eingesehen haben, wie wenig wir dem Mann und dem System günstig
sind; und ob es sich gleich weder für unsere eigene Art zu denken, noch
für den Ton und die Absicht unsers Buches geschickt hätte, mit dem
heftigen Eifer gegen ihn auszubrechen, welcher einen jungen Magister
treibt, wenn er, um sich seinem Consistorio zu einer guten Pfründe zu
empfehlen, gegen einen Tindal oder Bolingbroke zu Felde zieht: So hoffen
wir doch bei vernünftigen und ehrlichen Lesern keinen Zweifel übrig
gelassen zu haben, daß wir den Hippias für einen schlimmen und
gefährlichen Mann, und sein System, (in so fern es den echten Grundsätzen
der Religion und der Rechtschaffenheit widerspricht) für ein Gewebe von
Trugschlüssen ansehen, welche die menschliche Gesellschaft zu grunde
richten würden, wenn es moralisch möglich wäre, daß der größere Teil der
Menschen damit angesteckt werden könnte.  Wir glauben also vor allem
Verdacht über diesen Artikel sicher zu sein.  Aber da unter unsern Lesern
ehrliche Leute sein können, welche uns wenigstens eine Unvorsichtigkeit
Schuld geben, und davor halten möchten, daß wir diesen Hippias entweder
gar nicht einführen, oder wenn dieses der Plan unsers Werkes ja erfodert
hätte, seine Lehrsätze ausführlich hätten widerlegen sollen: So sehen wir
für billig an, ihnen die Ursachen zu sagen, warum wir das erste getan, und
das andere unterlassen haben.

Weil nach unserm Plan der Charakter unsers Helden auf verschiedene Proben
gestellt werden sollte, durch welche seine Denkensart und seine Tugend
erläutert, und dasjenige, was darin übertrieben, und unecht war, nach und
nach abgesondert würde; so war es um so viel nötiger ihn auch dieser Probe
zu unterwerfen, da Hippias, bekannter maßen, eine historische Person ist,
und mit den übrigen Sophisten derselben Zeit sehr vieles zur Verderbnis
der Sitten unter den Griechen beigetragen hat.  überdem diente er den
Charakter und die Grundsätze unsers Helden durch den Kontrast, den er mit
selbigen macht, in ein desto höheres Licht zu setzen.  Und da es mehr als
zu gewiß ist, daß der größeste Teil derjenigen, welche die große Welt
ausmachen, wie Hippias denkt, oder doch nach seinen Grundsätzen handelt;
so war es auch in dem Plan der moralischen Absichten, welche wir uns bei
diesem Werke vorgesetzt haben, zu zeigen, was für einen Effekt diese
Grundsätze machen, wenn sie in den gehörigen Zusammenhang gebracht werden.
Und dieses sind die hauptsächlichsten Ursachen, warum wir diesen
Sophisten (welchen wir nicht schlimmer vorgestellt haben, als er wirklich
war, und als seine Brüder noch heutiges Tages sind) in die Geschichte des
Agathon eingeflochten haben.

Eine ausführliche Widerlegung dessen, was in seinen Grundsätzen irrig und
gefährlich ist: (Denn in der Tat hat er nicht allemal unrecht,) wäre in
Absicht unsers Plans ein wahres hors d'oeuvre gewesen, und schien uns auch
in Absicht der Leser überflüssig; indem nicht nur die Antwort, welche ihm
Agathon gibt, das beste enthält, was man dagegen sagen kann; sondern auch
das ganze Werk (wie einem jeden in die Augen fallen wird, sobald man das
Ganze wird übersehen können) als eine Widerlegung desselben anzusehen ist.
Agathon widerlegt den Hippias beinahe auf die nämliche Art wie Diogenes
den Sophisten, welcher leugnete, daß eine Bewegung sei: Diogenes ließ den
Sophisten schwatzen, so lang er wollte; und da er fertig war, begnügte er
sich vor seinen Augen ganz gelassen auf und ab zu gehen.  Dieses war
unstreitig die einzige Widerlegung, die er verdiente.

Wir würden dem zweiten Teile, dessen Ausgabe von der Aufnahme des ersten
abhangen wird, den Vorteil der Neuheit und den Lesern zu gleicher Zeit ein
künftiges Vergnügen rauben, wenn wir den Inhalt desselben vor der Zeit
bekannt machten.  Genug, daß man unsern Helden in der Folge in eben so
sonderbaren und interessanten Umständen und Verwicklungen sehen wird, als
in dem ersten Teil.  Alles, was wir vorläufig von der Entwicklung sagen
können, ist dieses: daß Agathon in der letzten Periode seines Lebens,
welche den Beschluß unsers Werkes macht, ein eben so weiser als
tugendhafter Mann sein wird, und (was uns hiebei das beste zu sein deucht,
) daß unsre Leser begreifen werden, wie und warum er es ist; warum
vielleicht viele unter ihnen, weder dieses noch jenes sind; und wie es
zugehen müßte, wenn sie es werden sollten.



ERSTER TEIL



ERSTES BUCH



ERSTES KAPITEL

Anfang dieser Geschichte


Die Sonne neigte sich bereits zum Untergang, als Agathon, der sich in
einem unwegsamen Walde verirret hatte, von der vergeblichen Bemühung einen
Ausgang zu finden abgemattet, an dem Fuß eines Berges anlangte, welchen er
noch zu ersteigen wünschte, in Hoffnung von dem Gipfel desselben irgend
einen bewohnten Ort zu entdecken, wo er die Nacht zubringen könnte.  Er
schleppte sich also mit Mühe durch einen Fußweg hinauf, den er zwischen
den Gesträuchen gewahr ward; allein da er ungefähr die Mitte des Berges
erreicht hatte, fühlt er sich so entkräftet, daß er den Mut verlor den
Gipfel erreichen zu können, der sich immer weiter von ihm zu entfernen
schien, je mehr er ihm näher kam.  Er warf sich also ganz Atemlos unter
einen Baum hin, der eine kleine Terrasse umschattete, auf welcher er die
einbrechende Nacht zuzubringen beschloß.

Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befunden hatte, die man
unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling in denjenigen, worin
wir ihn das erstemal mit unsern Lesern bekannt machen.  Vor wenigen Tagen
noch ein Günstling des Glücks, und der Gegenstand des Neides seiner
Mitbürger, befand er sich, durch einen plötzlichen Wechsel, seines
Vermögens, seiner Freunde, seines Vaterlands beraubt, allen Zufällen des
widrigen Glücks, und selbst der Ungewißheit ausgesetzt, wie er das nackte
Leben, das ihm allein übrig gelassen war, erhalten möchte.  Allein
ungeachtet so vieler Widerwärtigkeiten, die sich vereinigten seinen Mut
niederzuschlagen, versichert uns doch die Geschichte, daß derjenige, der
ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, weder in seiner Miene noch in
seinen Gebärden einige Spur von Verzweiflung, Ungeduld oder nur von
Mißvergnügen hätte bemerken können.

Vielleicht erinnern sich einige hiebei an den Weisen der Stoiker von
welchem man ehmals versicherte, daß er in dem glühenden Ochsen des
Phalaris zum wenigsten so glücklich sei, als ein Morgenländischer Bassa in
den weichen Armen einer jungen Circasserin.  Da sich aber in dem Lauf
dieser Geschichte verschiedne Proben einer nicht geringen Ungleichheit
unsers Helden mit dem Weisen des Seneca zeigen werden, so halten wir für
wahrscheinlicher, daß seine Seele von der Art derjenigen gewesen sei,
welche dem Vergnügen immer offen stehen, und bei denen eine einzige
angenehme Empfindung hinlänglich ist, sie alles vergangnen und künftigen
Kummers vergessen zu machen.  Eine öffnung des Waldes zwischen zween
Bergen zeigte ihm von fern die untergehende Sonne.  Es brauchte nichts
mehr als diesen Anblick, um die Empfindung seiner widrigen Umstände zu
unterbrechen.  Er überließ sich der Begeisterung, worin dieses
majestätische Schauspiel empfindliche Seelen zu setzen pflegt, ohne eine
lange Zeit sich seiner dringendsten Bedürfnisse zu erinnern.  Endlich
weckte ihn doch das Rauschen einer Quelle, die nicht weit von ihm aus
einem Felsen hervor sprudelte, aus dem angenehmen Staunen, worin er
etliche Minuten sich selbst vergessen hatte; er stand auf, und schöpfte
mit der hohlen Hand von diesem Wasser, dessen fließenden Kristall, seiner
Einbildung nach, eine wohltätige Nymphe seinen Durst zu stillen, aus ihrem
Marmorkrug entgegen goß; und anstatt die von Cyprischem Wein sprudelnde
Becher der Athenischen Gastmähler zu vermissen, deuchte ihm, daß er
niemals angenehmer getrunken habe.  Er legte sich hierauf wieder nieder,
entschlief unter dem sanftbetäubenden Gemurmel der Quelle, und träumte,
daß er seine geliebte Psyche wieder gefunden habe, deren Verlust das
einzige war, was ihm von Zeit zu Zeit einige Seufzer auspreßte.



ZWEITES KAPITEL

Etwas ganz Unerwartetes


Wenn es seine Richtigkeit hat, daß alle Dinge in der Welt in der
genauesten Beziehung auf einander stehen, so ist nicht minder gewiß, daß
diese Verbindung unter einzelnen Dingen oft ganz unmerklich ist; und daher
scheint es zu kommen, daß die Geschichte zuweilen viel seltsamere
Begebenheiten erzählt, als ein Romanen--Schreiber zu dichten wagen dürfte.
Dasjenige, was unserm Helden in dieser Nacht begegnete, gibt mir neue
Bekräftigung dieser Beobachtung ab.  Er genoß noch der Süßigkeit des
Schlafs, den Homer für ein so großes Gut hält, daß er ihn auch den
Unsterblichen zueignet; als er durch ein lärmendes Getöse plötzlich
aufgeschreckt wurde.  Er horchte gegen die Seite, woher es zu kommen
schiene, und glaubte in dem vermischten Getümmel ein seltsames Heulen und
Jauchzen zu unterscheiden, welches von den entgegenstehenden Felsen auf
eine fürchterliche Art widerhallte.  Agathon, der nur im Schlaf erschreckt
werden konnte, beschloß diesem Getöse mit eben dem Mut entgegen zu gehen,
womit in spätern Zeiten der unbezwingbare Ritter von Mancha dem
nächtlichen Klappern der Walkmühlen Trotz bot.  Er bestieg also den obern
Teil des Berges mit so vieler Eilfertigkeit als er konnte, und der Mond,
dessen voller Glanz die ganze Gegend weit umher aus den dämmernden
Schatten hob, begünstigte sein Unternehmen.  Das Getümmel nahm immer zu,
je näher er dem Rücken des Berges kam; er unterschied itzt den Schall von
Trummeln und das Flüstern regelloser Flöten, und fing an zu erraten, was
dieser Lärm zu bedeuten haben möchte; als sich ihm plötzlich ein
Schauspiel darstellte, welches fähig scheinen könnte, den Weisen selbst,
dessen wir oben erwähnet haben, seiner eingebildeten Göttlichkeit
vergessen zu machen.  Ein schwärmender Haufen von jungen Thracischen
Weibern war es, welche von der Orphischen Wut begeistert, sich in dieser
Nacht versammelt hatten, die unsinnigen Gebräuche zu begehen, die das
heidnische Altertum zum Andenken des berühmten Zuges des Bacchus aus
Indien eingesetzt hatte.  Ohne Zweifel könnte eine ausschweifende
Einbildungskraft, oder der Griffel eines la Fage von einer solchen Szene
ein ziemlich verführerisches Gemälde machen; allein die Eindrücke die der
wirkliche Anblick auf unsern jungen Helden machte, waren nichts weniger
als von der reizenden Art.  Das stürmisch fliegende Haar, die rollenden
Augen, die beschäumten Lippen und die aufgeschwollnen Muskeln, die wilden
Gebärden und die rasende Fröhlichkeit, mit der diese Unsinnigen in frechen
Stellungen, ihre mit zahmen Schlangen umwundnen Thyrsos schüttelten, ihre
Klapperbleche zusammen schlugen, oder abgebrochne Dithyramben mit
lallender Zunge stammelten; alle diese Ausbrüche einer fanatischen Wut,
die ihm nur desto schändlicher vorkam, weil sie den Aberglauben zur Quelle
hatte, machten seine Augen unempfindlich, und erweckten ihm einen Ekel vor
Reizungen, die mit der Schamhaftigkeit alle ihre Macht auf ihn verloren
hatten.  Er wollte zurück fliehen, aber es war unmöglich, weil er in eben
dem Augenblick, da er sie erblickte, von ihnen bemerkt worden war.  Der
unerwartete Anblick eines Jüngling, an einem Ort und bei einem Feste,
welches kein männliches Aug entweihen durfte, hemmte plötzlich den Lauf
ihrer lärmenden Fröhlichkeit, um alle ihre Aufmerksamkeit auf diese
Erscheinung zu wenden.

Hier können wir unsern Lesern einen Umstand nicht länger verhalten, der in
diese ganze Geschichte einen großen Einfluß hat.  Agathon war von einer so
wunderbaren Schönheit, daß die Rubens und Girardons seiner Zeit, weil sie
die Hoffnung aufgaben, eine vollkommnere Gestalt zu erfinden, oder aus den
zerstreuten Schönheiten der Natur zusammen zu setzen, die seinige zum
Muster nahmen, wenn sie den Apollo oder Bacchus vorstellen wollten.
Niemals hatte ihn ein weibliches Aug erblickt, ohne die Schuld ihres
Geschlechts zu bezahlen, welches die Natur für die Schönheit so
empfindlich gemacht zu haben scheint, daß diese einzige Eigenschaft den
meisten unter ihnen die Abwesenheit aller übrigen verbirgt.  Agathon hatte
ihr in diesem Augenblick noch mehr zu danken; sie rettete ihn von dem
Schicksal des Pentheus.  Seine Schönheit setzte diese Mänaden in
Erstaunen.  Ein Jüngling von einer solchen Gestalt, an einem solchen Ort,
zu einer solchen Zeit!  Konnten sie ihn für etwas geringers halten, als
für den Bacchus selbst?  In dem Taumel worin sich ihre Sinnen befanden,
war nichts natürlichers als dieser Gedanke; auch gab er ihrer Phantasie
auf einmal einen so feurigen Schwung, daß, da sie die Gestalt dieses
Gottes vor sich sahen, sie alles übrige hinzudichtete, was ihm zu einem
vollständigen Dionysus mangelte.  Ihre bezauberten Augen stellten ihnen
die Silenen und die Ziegenfüßigen Faunen vor, die um ihn her schwärmten,
und Tyger und Leoparden die mit liebkosender Zunge seine Füße leckten;
Blumen, so deucht es sie, entsprangen unter seinen Fußsohlen, und Quellen
von Wein und Honig sprudelten von jedem seiner Tritte auf, und rannen in
schäumenden Bächen die Felsen hinab.  Auf einmal erschallte der ganze
Berg, der Wald und die benachbarten Felsen von ihrem lauten "Evan, Evan!"
mit einem so entsetzlichen Getöse der Trummeln und Klapperbleche, daß
Agathon, bei dem das, was er in diesem Augenblick sah und hörte, alles
überstieg, was er jemals gesehen, gehört, gedichtet oder geträumt hatte,
von Entsetzen und Erstaunung gefesselt, wie eine Bildsäule stehen blieb,
indes, daß die entzückten Bacchantinnen gaukelnde Tänze um ihn her machten,
und durch tausend unsinnige Gebärden ihre Freude über die vermeinte
Gegenwart ihres Gottes ausdrückten.

Allein die unmäßigste Schwärmerei hat ihre Grenzen, und weicht endlich der
Obermacht der Sinnen.  Zum Unglück für den Helden unsrer Geschichte kamen
diese Unsinnigen allmählich aus einer Entzückung zurück, worüber sich
vermutlich ihre Einbildungskraft gänzlich abgemattet hatte, und bemerkten
immer mehr menschliches an demjenigen, den seine ungewöhnliche Schönheit
in ihren trunknen Augen vergöttert hatte.  Etliche, die das Bewußtsein
ihrer eignen stolz genug machte, die Ariadnen dieses neuen Bacchus zu sein,
näherten sich ihm, und setzten ihn durch die Art womit sie ihre
Empfindungen ausdrückten in eine desto größere Verlegenheit, je weniger er
geneigt war, ihre ungestümen Liebkosungen zu erwidern.  Dem Ansehn nach
würde unter ihnen selbst ein grimmiger Streit entstanden sein, und Agathon
zuletzt das tragische Schicksal des Orpheus, der ehmals aus ähnlichen
Ursachen von den thracischen Mänaden zerrissen worden war, erfahren haben,
wenn nicht die Unsterblichen, die das Gewebe der menschlichen Zufälle
leiten, in eben dem Augenblick ein Mittel seiner Errettung herbeigebracht
hätten, da weder seine Stärke, noch seine Tugend ihn zu retten hinlänglich
war.



DRITTES KAPITEL

Unvermutete Unterbrechung des Bacchus-Festes


Eine Schar Cilicischer Seeräuber, welche frisches Wasser einzunehmen bei
nächtlicher Weile an dieser Küste geländet, hatten von fern das Getümmel
der Bacchantinnen gehört, und sogleich für einen Aufruf zu einer
ansehnlichen Beute aufgenommen.  Sie erinnerten sich, daß die vornehmsten
Frauen dieser Gegend die geheimnisvollen Orgya um diese Zeit zu begehen
pflegten; und daß sie, wenn sie sich zu solchem Ende versammelten, in
ihrem schönsten Putz aufzuziehen pflegten, ob sie gleich vor Besteigung
des Berges sich dessen wieder entledigten, und alles bis zu ihrer
Wiederkunft von einer Anzahl Sklavinnen bewachen ließen.  Die Hoffnung,
außer diesen Weibern, von denen sie die schönsten für die Asiatischen
Harems bestimmten, eine Menge von kostbaren Kleidern und Juwelen zu
erbeuten, schien ihnen wohl wert, sich etwas länger aufzuhalten.  Sie
teilten sich also in zween Haufen, davon der eine sich derer bemächtigte,
welche die Kleider hüteten, indessen daß die übrigen den Berg bestiegen,
und mit großem Geschrei unter die Thracierinnen einstürmend, sich von
ihnen Meister machten, ehe sie Zeit oder Mut hatten, sich zur Wehr zu
setzen.  Die Umstände waren allerdings so beschaffen, daß sie sich allein
mit den gewöhnlichen und anständigsten Waffen ihres Geschlechts
verteidigen konnten.  Allein diese Cilicier waren allzusehr Seeräuber,
als daß sie auf die Tränen und Bitten, noch selbst auf die Reizungen
dieser Schönen einige Achtung gemacht hätten, welche doch in diesem
Augenblick, da Schrecken und Zagheit ihnen die Weiblichkeit (wenn es
erlaubt ist, dieses Wort einem großen Dichter abzuborgen) wiedergegeben
hatte, selbst dem sittsamen Agathon so verführerisch vorkamen, daß er vor
gut befand, seine nicht gerne gehorchende Augen an den Boden zu heften.
Allein die Räuber hatten itzt andre Sorgen, und waren nur darauf bedacht,
wie sie ihre Beute aufs schleunigste in Sicherheit bringen möchten.  Und
so entging Agathon, für etliche nicht allzufeine Scherze über die
Gesellschaft, worin man ihn gefunden hatte, und für seine Freiheit, einer
Gefahr, aus der er seinen Gedanken nach sich nicht zu teuer loskaufen
konnte.  Der Verlust der Freiheit schien ihn in den Umständen worin er war,
wenig zu bekümmern; und in der Tat, da er alles übrige verloren hatte,
was die Freiheit schätzbar macht, so hatte er wenig Ursache sich wegen
eines Verlusts zu kränken, der ihm wenigstens eine Veränderung im Unglück
versprach.



VIERTES KAPITEL

Agathon wird zu Schiffe gebracht


Nachdem die Cilicier mit ihrer gesamten Beute wieder zu Schiffe gegangen,
und die Teilung derselben mit größerer Eintracht, als womit die Vorsteher
einer kleinen Republik sich in die öffentlichen Einkünfte zu teilen
pflegen, geendiget hatten; brachten sie den Rest der Nacht mit einem
Schmause zu, bei welchem sie nicht vergaßen, sich wegen der mehr als
stoischen Unempfindlichkeit, die sie bei Eroberung der thracischen Schönen
bewiesen hatten, schadlos zu halten.  Unterdessen aber, daß das ganze
Schiff beschäftiget war, das angefangne Bacchusfest zu vollenden, hatte
sich Agathon unbemerkt in einen Winkel zurück gezogen, wo er vor Müdigkeit
abermals einschlummerte, und den Traum gerne fortgesetzt hätte, aus
welchem ihn das "Evan Evan" der berauschten Mänaden geweckt hatte.



FÜNFTES KAPITEL

Eine Entdeckung


Die aufgehende Sonne, die von der rosenfingrichten Aurora angekündiget,
das jonische Meer mit ihren ersten Strahlen vergoldete, fand alle
diejenigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche
die Nacht durch dem Bacchus und seiner Göttin Schwester geopfert hatten.
Nur Agathon, der gewohnt war mit der Morgenröte zu erwachen, wurde von den
ersten Strahlen geweckt, die in horizontalen Linien an seiner Stirne
hinschlüpften.  Indem er die Augen aufschlug, sah er einen jungen Menschen
in einer Sklaven-Kleidung vor sich stehen, der ihn mit großer
Aufmerksamkeit betrachtete.  So schön als Agathon war, so schien er doch
von diesem liebenswürdigen Jüngling an Feinheit der Gestalt und Farbe
übertroffen zu werden; in der Tat hatte er in seiner Gesichtsbildung und
in seiner ganzen Figur etwas so jungfräuliches, daß er, gleich dem schönen
Liebling des Horaz, in weiblicher Kleidung unter einer Schar von Mädchen
gemischt, gar leicht das Auge des schärfsten Kenners betrogen haben würde.
Agathon erwiderte den Anblick dieses jungen Sklaven mit einer
Aufmerksamkeit, in welcher ein angenehmes Erstaunen nach und nach sich bis
zur Entzückung erhob.  Eben diese Bewegungen enthüllten sich auch in dem
anmutigen Gesichte des jungen Sklaven; ihre Seelen erkannten einander in
eben demselben Augenblicke, und schienen durch ihre Blicke schon in
einander zu fließen, eh ihre Arme sich umfangen, und die von Entzückung
bebende Lippen "Psyche--Agathon", ausrufen konnten.  Sie schwiegen eine
lange Zeit; dasjenige, was sie empfanden, war über allen Ausdruck; und
wozu bedurften sie der Worte?  Der Gebrauch der Sprache hört auf, wenn
sich die Seelen einander unmittelbar mitteilen, sich unmittelbar anschauen
und berühren, und in einem Augenblick mehr empfinden, als die Zunge der
Musen selbst in ganzen Jahren auszusprechen vermöchte.  Die Sonne würde
vielleicht unbemerkt über ihrem Haupt hinweg, und wieder in den Ozean
hinab gestiegen sein, ohne daß sie in dem fortdaurenden Augenblick der
Entzückung den Wechsel der Stunden bemerkt hätten; wenn nicht Agathon dem
es allerdings zukam hierin der erste zu sein, sich mit sanfter Gewalt aus
den Armen seiner Psyche losgewunden hätte, um von ihr zu erfahren, durch
was für einen Zufall sie in die Gewalt der Seeräuber gekommen sei.  "Die
Zeit ist kostbar, liebste Psyche" sagte er, "wir müssen uns der
Augenblicke bemächtigen, da diese Barbaren, von der Gewalt ihres Gottes
bezwungen, zu Boden liegen.  Erzähle mir, durch was für einen Zufall
wurdest du von meiner Seite gerissen, ohne daß es mir möglich war zu
erfahren, wie oder wohin?  Und wie finde ich dich itzt in diesem
Sklavenkleid, und in der Gewalt dieser Seeräuber?"



SECHSTES KAPITEL

Erzählung der Psyche


"Du erinnerst dich", antwortete ihm Psyche, "jener unglücklichen Stunde,
da die eifersüchtige Pythia unsre Liebe, so geheim wir sie zu halten
vermeinten, entdeckte.  Nichts war ihrer Wut zu vergleichen, und es fehlte
nur noch, daß ihre Rache nicht mein Leben zum Opfer verlangte; denn sie
ließ mich einige Tage alles erfahren, was verschmähte Liebe erfinden kann,
eine glückliche Nebenbuhlerin zu quälen.  Ob sie es nun gleich in ihrer
Gewalt hatte, mich deinen Augen gänzlich zu entziehen, so hielt sie sich
doch niemals sicher, so lang ich zu Delphi sein würde.  Sie machte bald
ein Mittel ausfündig, sich meiner zu entledigen, ohne einigen Argwohn zu
erwecken; sie schenkte mich einer Verwandten, die sie zu Syracus hatte,
und weil sie mich an diesem Orte weit genug von dir entfernt hielt, säumte
sie nicht, mich in der größten Stille nach Corinth, und von da nach
Sicilien bringen zu lassen.  Die Törin! kannte sie die Macht der Liebe
nicht, die Agathon einflößt? Wußte sie nicht, daß keine Scheidung der
Leiber durch Länder und Meere meine Seele verhindern könne, aus einer Zone
in die andre zu fliegen, und gleich einem liebenden Schatten um dich her
zu schweben?  Oder hoffte sie, reizender in deinen Augen zu werden, wenn
du mich nicht mehr neben ihr sehen würdest? Wie wenig kannte sie unsre
Liebe!  Nein, wahre Liebe kann so wenig eifersüchtig sein, als sich selbst
fühlende Stärke zittern kann.--Ich verließ Delphi mit zerrißnem Herzen.
Als ich den letzten Blick auf diese bezauberten Haine heftete, wo deine
Liebe mir ein neues Wesen gab, eine neue Würklichkeit, gegen die mein
voriges Leben eine ekelhafte Abwechslung von einförmigen Tagen und Nächten,
ein ungefühltes Pflanzen-Leben war, als ich diese geliebte Gegend endlich
ganz aus den Augen verlor.--Nein, Agathon, ich kann es nicht beschreiben,
du kannst es empfinden, du allein--Als ich mich selbst wieder fühlte,
erleichtert ein Strom von Tränen mein gepreßtes Herz.  Es war eine Art von
Wollust in diesen Tränen, ich ließ ihnen freien Lauf, ohne mich zu
bekümmern, daß sie gesehen würden.  Die Welt schien mir ein leerer Raum,
und alle Gegenstände um mich her Träume und Schatten; du und ich waren
allein; ich sah, ich hörte nur dich, ich lag an deiner Brust, ich legte
meinen Arm um deinen Hals, ich zeigte dir meine Seele in meinen Augen; ich
führte dich in die heiligen Schatten, wo du mich die Gegenwart der
Unsterblichen fühlen lehrtest; ich lag zu deinen Füßen, und meine an
deinen Lippen hangende Seele glaubte den Gesang der Musen zu hören, wenn
du sprächest; wir wandelten Hand in Hand beim sanften Mondschein durch
elysische Gegenden, oder setzten uns unter die Blumen, stillschweigend,
indem unsre Seelen, in ihrer eignen geistigen Sprache sich einander
enthüllten, und lauter Licht und Wonne um sich her sahen, und unsterblich
zu sein wünschten, um sich ewig lieben zu können.  Unter diesen
Erinnerungen, deren Lebhaftigkeit alle äußre Empfindungen verdunkelte,
beruhigte sich mein Herz allgemach.  Ich, die sich selbst nur für einen
Teil deines Wesens hielt, konnte nicht glauben, daß wir immer getrennt
bleiben würden.  Diese Hoffnung machte nun mein Leben aus, und bemächtigte
sich meiner so sehr, daß ich wieder heiter wurde.  Denn ich zweifelte
nicht, ich wußte es, daß du nicht aufhören könntest, mich zu lieben.  Ich
überließ dich der glühenden Leidenschaft einer mächtigen und reizenden
Nebenbuhlerin, ohne sie einen Augenblick zu fürchten.  Ich wußte, daß
wenn sie es auch so weit bringen könnte, deine Sinnen zu verführen, sie
doch unfähig sei, dir eine Liebe einzuflößen wie die unsrige, und daß du
dich bald wieder nach derjenigen sehnen würdest, die dich allein glücklich
machen, weil sie allein dich lieben kann, wie du geliebt zu sein wünschest.
Unter tausend solchen Gedanken kam ich endlich zu Syracus an.  Die
vorsichtige Priesterin hatte Anstalt gemacht, daß ich nirgend Mittel
finden konnte, dir von meinem Aufenthalt Nachricht zu geben.  Meine neue
Gebieterin war von der guten Art von Geschöpfen, die gemacht sind sich
selbst zu gefallen, und sich alles gefallen zu lassen.  Ich wurde zu der
Ehre bestimmt, den Aufputz ihres schönen Kopfes zu besorgen; und die Art,
wie ich dieses Amt verwaltete, erwarb mir ihre Gunst so sehr, daß sie mich
beinahe so viel liebte, als ihren Schoßhund.  In diesem Zustand hielt ich
mich für so glücklich, als ich es ohne deine Gegenwart in einem jeden
andern hätte sein können, bis die Ankunft des Sohnes meiner Gebieterin die
Szene veränderte."



SIEBENTES KAPITEL

Fortsetzung der Erzählung der Psyche


"Narcissus, so hieß dieser junge Herr, war von seiner Mutter nach Athen
geschickt worden, die Weisen daselbst zu hören, und die feinen Sitten der
Athenienser an sich zu nehmen.  Allein er hatte keine Zeit gefunden, weder
das eine noch das andre zu tun.  Einige junge Leute, die er seine Freunde
nannte, machten jeden Tag eine neue Lustbarkeit ausfündig, die ihn
verhinderte, die schwermütigen Spaziergänge der Philosophen zu besuchen.
überdas hatten ihm die artigsten Sträußermädchen von Athen gesagt, daß er
ein sehr liebenswürdiger junger Herr wäre; er hatte es ihnen geglaubt, und
sich also keine Mühe gegeben, erst zu werden, was er nach einem so
vollgültigen Zeugnis, schon war.  Er hatte sich also mit nichts
beschäftiget, als seine Person in das gehörige Licht zu setzen; niemand in
Athen konnte sich rühmen lächerlicher geputzt zu sein, weißere Zähne und
sanftere Hände zu haben als Narcissus.  Er war der erste in der Kunst,
sich in einem Augenblick zweimal auf einem Fuß herum zu drehen, einen
Fächer aufzuheben, oder ein Blumensträußchen an die Stirne einer Dame zu
stecken.  Bei solchen Vorzügen glaubte er einen natürlichen Beruf zu haben,
sich dem weiblichen Geschlecht anzubieten.  Die Leichtigkeit womit seine
Verdienste über die zärtlichen Herzen der Sträußermädchen gesiegt hatten,
machte ihm Mut sich an die Kammermädchen zu wagen, und von diesen Nymphen
erhob er sich endlich zu den Göttinnen selbst.  Ohne sich zu bekümmern,
wie sein Herz aufgenommen wurde, hatte er sich angewöhnt zu glauben, daß
er unwiderstehlich sei; und wenn er nicht allemal Proben davon erhielt, so
machte er sich dafür schadlos, indem er sich der Gunstbezeugungen am
meisten rühmte, die er nicht genossen hatte.--Wunderst du dich, Agathon,
woher ich so wohl von ihm unterrichtet bin?  Von ihm selbst.  Was meine
Augen nicht an ihm entdeckten, das sagte mir sein Mund.  Denn er selbst
war der unerschöpfliche Inhalt seiner Gespräche, so wie der einzige
Gegenstand seiner Bewunderung.  Ein Liebhaber von dieser Art sollte dem
Ansehen nach wenig zu bedeuten haben.  Eine Zeit lang belustigte mich
seine Torheit; allein er wurde ungestüm.  Er fand es unanständig, daß eine
Aufwärterin seiner Mutter unempfindlich gegen ein Herz bleiben sollte, um
welches die Sträußer-Mädchen zu Athen einander beneidet hatten.  Ich ward
endlich genötiget, meine Zuflucht zu seiner Mutter zu nehmen.  Allein eben
diese leutselige Organisation, welche sie gütig gegen sich selbst, gegen
ihr Schoßhündchen und gegen alle Welt machte, machte sie auch gütig gegen
die Torheiten ihres Sohnes.  Sie schien es so gar übel zu nehmen, daß ich
von den Vorzügen eines so liebreizenden jungen Herrn nicht stärker gerührt
würde.  Die Ungeduld über die Anfälle, denen ich beständig ausgesetzt war,
gab mir tausendmal den Gedanken ein, mich heimlich hinweg zu stehlen.
Allein ich hatte keine Nachricht von dir; ein Reisender von Delphi hatte
uns zwar gesagt, daß du daselbst unsichtbar geworden, aber niemand konnte
sagen wo du seiest.  Diese Ungewißheit stürzte mich in eine Unruhe, die
meiner Gesundheit nachteilig zu werden anfing; als eben dieser Narcissus,
dessen lächerliche Liebe zu sich selbst mich so lange gequält hatte, mir
ohne seine Absicht das Leben wieder gab, indem er erzählte, daß ein
gewisser Agathon von Athen, nach einem Sieg über die aufrührischen
Einwohner von Euböa, diese Insel seiner Republik wieder unterworfen habe.
Die Umstände die er von diesem Agathon hinzu fügte, ließen mich nicht
zweifeln, daß du es seiest.  Eine Sklavin, die mir gewogen war, beförderte
meine Flucht.  Sie hatte einen Liebhaber, der sie beredet hatte, sich von
ihm entführen zu lassen.  Ich half ihr, dieses Vorhaben auszuführen und
begleitete sie; der junge Sicilianer verschaffte mir zur Dankbarkeit
dieses Sklavenkleid, und brachte mich auf ein Schiff, welches nach Athen
bestimmt war.  Ich wurde für einen Sklaven ausgegeben, der seinen Herrn zu
Athen suchte, und überließ mich zum zweitenmal den Wellen, aber mit ganz
andern Empfindungen als das erstemal, da sie nun anstatt mich von dir zu
entfernen, uns wieder zusammen bringen sollten."



ACHTES KAPITEL

Psyche beschließt ihre Erzählung


"Unsre Fahrt war einige Tage glücklich, außer daß ein Wind der uns
westwärts trieb, unsre Reise ungewöhnlich verlängerte.  Allein am Abend
des sechsten Tages erhob sich ein heftiger Sturm, der uns in wenigen
Stunden wieder einen großen Weg zurück machen ließ; unsre Schiffer waren
endlich so glücklich, eine von den unbewohnten Cycladen zu erreichen, wo
wir uns vor dem Sturm in Sicherheit setzten.  Wir fanden in eben der Bucht
wohin wir uns geflüchtet hatten, ein anders Schiff liegen, worin sich eben
diese Cilicier befanden, denen wir itzt zugehören.  Sie hatten eine
griechische Flagge aufgesteckt, sie grüßten uns, sie kamen zu uns herüber,
und weil sie unsre Sprache redeten, so hatten sie keine Mühe uns so viele
Märchen vorzuschwatzen, als sie nötig fanden, uns sicher zu machen.  Nach
und nach wurde unser Volk vertraulich mit ihnen; sie brachten etliche
große Krüge mit Cyprischem Weine, wodurch sie in wenig Stunden alle unsre
Leute wehrlos machten.  Sie bemächtigten sich hierauf unsers ganzen
Schiffes, und begaben sich, so bald sich der Sturm in etwas gelegt hatte,
wieder in die See.  Bei der Teilung wurde ich einmütig dem Hauptmann der
Räuber zuerkannt.  Man bewunderte meine Gestalt ohne mein Geschlecht zu
mutmaßen.  Allein diese Verborgenheit half mir nicht so viel, als ich
gehofft hatte.  Der Cilicier, den ich für meinen Herrn erkennen mußte,
verzog nicht lange, mich mit einer ekelhaften Leidenschaft zu quälen.  Er
nannte mich Ganymedes, und schwur bei allen Tritonen und Nereiden, daß ich
ihm sein müßte, was dieser trojanische Prinz dem Jupiter gewesen sei.  Wie
er sah, daß seine Schmeicheleien ohne Würkung waren, nötigte er mich
zuletzt, ihm zu zeigen, daß ich mein Leben gegen meine Ehre für nichts
halte.  Dieses verschaffte mir bisher einige Ruhe, und ich fing an, auf
ein Mittel meiner Befreiung zu denken.  Ich gab dem Räuber zu verstehen,
daß ich von einem ganz andern Stande sei, als mein Sklavenmäßiger Anzug zu
erkennen gäbe, und bat ihn aufs inständigste mich nach Athen zu führen, wo
er für meine Erledigung erhalten würde, was er nur fodern wollte.  Allein
über diesen Punkt war er unerbittlich, und jeder Tag entfernte uns weiter
von diesem geliebten Athen, welches, wie ich glaubte, meinen Agathon in
sich hielt.  Wie wenig dachte ich, daß eben diese Entfernung, über die ich
so untröstbar war, uns wieder zusammen bringen würde? Aber, ach!  in was
für Umständen finden wir uns wieder! Beide der Freiheit beraubt, ohne
Freunde, ohne Hülfe, ohne Hoffnung befreit zu werden; verurteilt
ungesitteten Barbaren dienstbar zu sein.  Die unsinnige Leidenschaft
meines Herrn wird uns so gar des einzigen Vergnügens berauben, das unsern
Zustand erleichtern könnte.  Seitdem ihm meine Entschlossenheit die
Hoffnung benommen seinen Endzweck zu erreichen, scheint sich seine Liebe
in eine wütende Eifersucht verwandelt zu haben, die sich bemüht, dasjenige
was man selbst nicht genießen kann, wenigstens keinem andern zu Teil
werden zu lassen.  Der Barbar wird dir keinen Umgang mit mir verstatten,
da er mir kaum sichtbar zu sein erlaubt.  Doch die ungewisse Zukunft soll
mir nicht einen Augenblick von der gegenwärtigen Wonne rauben.  Ich sehe
dich, Agathon, und bin glücklich.  Wie begierig hätte ich vor wenigen
Stunden einen Augenblick wie diesen mit meinem Leben erkauft!"  Indem sie
dieses sagte, umarmte sie den glücklichen Agathon mit einer so rührenden
Zärtlichkeit, daß die Entzückung, die ihre Herzen einander mitteilten,
eine zweite sprachlose Stille hervorbrachte; und wie sollten wir
beschreiben können, was sie empfanden, da der Mund der Liebe selbst nicht
beredt genug war, es auszudrucken?



NEUNTES KAPITEL

Wie Psyche und Agathon wieder getrennt werden


Nachdem unsre Liebhaber aus ihrer Entzückung zurückgekommen waren,
verlangte Psyche von Agathon eben dieselbe Gefälligkeit, die sie durch
Erzählung ihrer Begebenheiten für seine Neugierde gehabt hatte.  Er
meldete ihr also, wiewohl ihm die Zeit nicht erlaubte umständlich zu sein,
auf was Weise er von Delphi entflohen, wie er mit einem Athenienser
bekannt geworden, und wie sich entdecket habe, daß dieser Athenienser sein
Vater sei; wie er durch einen Zufall in die öffentlichen Angelegenheiten
verwickelt und durch seine Beredsamkeit dem Volke angenehm geworden; die
Dienste, die er der Republik geleistet; durch was für Mittel seine Neider
das Volk wider ihn aufgebracht, und wie er vor wenig Tagen mit Verlust
aller seiner väterlichen Güter und Ansprüche lebenslänglich aus Athen
verbannt worden; wie er den Entschluß gefaßt, eine Reise in die
Morgenländer vorzunehmen, und durch was für einen Zufall er in die Hände
der Cilicier geraten.  Sie fingen nun auch an, sich über die Mittel ihrer
Befreiung zu beratschlagen; allein die Bewegungen, welche die allmählich
erwachenden Räuber machten, nötigten Psyche sich aufs eilfertigste zu
verbergen, um einem Verdacht zuvorzukommen, wovon der Schatten genug war,
ihren Geliebten das Leben zu kosten.  Sie beklagten itzt bei sich selbst,
daß sie, nach dem Beispiel der Liebhaber in den Romanen, eine so günstige
Zeit mit unnötigen Erzählungen verloren, da sie doch voraus sehen konnten,
daß ihnen künftig wenig Gelegenheit würde gegeben werden, sich zu
besprechen.  Allein was sie hierüber hätte trösten können, war, daß alle
ihre Beratschlagungen und Erfindungen vergeblich gewesen wären.  Denn an
eben diesem Morgen erhielt der Hauptmann Nachricht von einem reichbeladnen
Schiffe, welches im Begriff sei, von Lesbos nach Corinth abzugehen, und
welches, nach den Umständen die der Bericht angab, unterwegs aufgefangen
werden könnte.  Diese Zeitung veranlaßte eine geheime Beratschlagung unter
den Häuptern der Räuber, wovon der Ausschlag war, daß Agathon mit den
gefangnen Thracierinnen und einigen andern jungen Sklaven unter einer
Bedeckung in eine Barke gesetzt wurde, um ungesäumt nach Smirna geführt
und daselbst verkauft zu werden; indes, daß die Galeere mit dem größten
Teil der Seeräuber sich fertig machte, der reichen Beute, die sie schon in
Gedanken verschlangen, entgegen zu gehen.  In diesem Augenblick verlor
Agathon die Gelassenheit, mit der er bisher alle Stürme des widrigen
Glücks ausgehalten hatte.  Der Gedanke, von seiner Psyche wieder getrennt
zu werden, setzte ihn außer sich selbst.  Er warf sich zu den Füßen des
Ciliciers, er schwur ihm, daß der verkleidete Ganymedes sein Bruder sei;
er bot sich selbst zu seinem Sklaven an, er flehte, er weinte.--Aber
umsonst.  Der Seeräuber hatte die Natur des Elements, welches er bewohnte,
und die Syrenen selbst hätten ihn nicht bereden können, seinen Entschluß
zu ändern.  Agathon erhielt nicht einmal die Erlaubnis, von seinem
geliebten Bruder Abschied zu nehmen; die Lebhaftigkeit, die er bei diesem
Anlaß gezeigt, hatte ihn dem Hauptmann verdächtig gemacht.  Er wurde also,
von Schmerz und Verzweiflung betäubt, in die Barke getragen, und befand
sich schon eine geraume Zeit außer dem Gesichtskreis seiner Psyche, eh er
wieder erwachte, um den ganzen Umfang seines Elends zu fühlen.



ZEHNTES KAPITEL

Ein Selbstgespräch


Da wir uns zum unverbrüchlichen Gesetze gemacht haben, in dieser
Geschichte alles sorgfältig zu vermeiden, was gegen die historische
Wahrheit derselben einigen gerechten Verdacht erwecken könnte; so würden
wir uns ein Bedenken gemacht haben, das Selbstgespräch, welches wir hier
in unserm Manuskript vor uns finden, mitzuteilen, wenn nicht der
ungenannte Verfasser die Vorsicht gebraucht hätte uns zu melden, daß seine
Erzählung sich in den meisten Umständen auf eine Art von Tagebuch gründe,
welches (sichern Anzeigen nach) von der eignen Hand des Agathon sei, und
wovon er durch einen Freund zu Crotona eine Abschrift erhalten.  Dieser
Umstand macht begreiflich, wie der Geschichtschreiber habe wissen können,
was Agathon bei dieser und andern Gelegenheiten mit sich selbst gesprochen;
und schützet uns gegen die Einwürfe, die man gegen die Selbstgespräche
machen kann, worin die Geschichtschreiber den Poeten so gerne nachzuahmen
pflegen, ohne sich, wie sie, auf die Eingebung der Musen berufen zu können.


Unsre Urkunde meldet also, nachdem die erste Wut des Schmerzens, welche
allezeit stumm und Gedankenlos zu sein pflegt, sich geleget, habe Agathon
sich umgesehen; und da er von allen Seiten nichts als Luft und Wasser um
sich her erblickt, habe er, seiner Gewohnheit nach, also mit sich selbst
zu philosophieren angefangen:

"War es ein Traum, was mir begegnet ist, oder sah ich sie würklich, hört'
ich würklich den rührenden Akzent ihrer süßen Stimme, und umfingen meine
Arme keinen Schatten?  Wenn es mehr als ein Traum war, warum ist mir von
einem Gegenstand, der alle andern aus meiner Seele auslöschte nichts als
die Erinnerung übrig?  Wenn Ordnung und Zusammenhang die Kennzeichen der
Wahrheit sind, o!  wie ähnlich dem ungefähren Spiel der träumenden
Phantasie sind die Zufälle meines ganzen Lebens!--Von Kindheit an unter
den heiligen Lorbeern des Delphischen Gottes erzogen, schmeichle ich mir
unter seinem Schutz, in Beschauung der Wahrheit und im geheimen Umgang mit
den Unsterblichen, ein stilles und sorgenfreies Leben zuzubringen.  Tage
voll Unschuld, einer dem andern gleich, fließen in ruhiger Stille, wie
Augenblicke vorbei, und ich werde unvermerkt ein Jüngling.  Eine
Priesterin, deren Seele eine Wohnung der Götter sein soll, wie ihre Zunge
das Werkzeug ihrer Aussprüche, vergißt ihre Gelübde, und bemüht sich meine
unerfahrne Jugend zu Befriedigung ihrer Begierde zu mißbrauchen.  Ihre
Leidenschaft beraubt mich derjenigen, die ich liebe; ihre Nachstellungen
treiben mich endlich aus dem geheiligten Schutzort, wo ich, seit dem ich
mich selbst empfand, von Bildern der Götter und Helden umgeben, mich
einzig beschäftigt hatte, ihnen ähnlich zu werden.  In eine unbekannte
Welt ausgestoßen, finde ich unvermutet einen Vater und ein Vaterland, die
ich nicht kannte.  Ein schneller Wechsel von Umständen setzt mich eben so
unvermutet in den Besitz des größten Ansehens in Athen.  Das blinde
Zutrauen eines Volkes, das in seiner Gunst so wenig Maß hält als in seinem
Unwillen, nötigt mir die Anführung seines Kriegsheers auf; ein wunderbares
Glück kömmt allen meinen Unternehmungen entgegen, und führt meine
Anschläge aus; ich kehre siegreich zurück.  Welch ein Triumph!  Welch ein
Zujauchzen!  Welche Vergötterung!  Und wofür?  Für Taten, an denen ich den
wenigsten Anteil hatte.  Aber kaum schimmert meine Bildsäule zwischen den
Bildern des Cecrops und Theseus, so reißt mich eben dieser Pöbel, der vor
wenigen Tagen bereit war, mir Altäre aufzurichten, mit ungestümer Wut zum
Gerichtsplatz hin.  Die Mißgunst derer, die das übermaß meines Glücks
beleidigte, hat schon alle Gemüter wider mich eingenommen, und alle Ohren
gegen meine Verteidigung verstopft; Handlungen, worüber mein Herz mir
Beifall gibt, werden auf den Lippen meiner Ankläger zu Verbrechen, mein
Verdammungs-Urteil wird ausgesprochen.  Von allen verlassen, die sich
meine Freunde genannt hatten, und kurz zuvor die eifrigsten gewesen waren,
neue Ehrenbezeugungen für mich zu erfinden, fliehe ich aus Athen, mit
leichterm Herzen, als womit ich vor wenigen Wochen, unter dem Zujauchzen
einer unzählbaren Menge, durch ihre Tore eingeführt wurde; und entschließe
mich den Erdboden zu durchwandern, ob ich einen Ort finden möchte, wo die
Tugend, von auswärtigen Beleidigungen sicher, ihrer eigentümlichen
Glückseligkeit genießen könnte, ohne sich aus der Gesellschaft der
Menschen zu verbannen.  Ich nahm den Weg nach Asien, um an den Ufern des
Oxus die Quellen zu besuchen, aus denen die Geheimnisse des Orphischen
Gottesdiensts zu uns geflossen sind.  Ein Zufall führt mich unter einen
Schwarm rasender Bachantinnen, und ich entrinne ihrer verliebten Wut bloß
dadurch, daß ich in die Hände seeräuberischer Barbaren falle.  In diesem
Augenblicke, da mir von allem was man verlieren kann nur noch das Leben
übrig ist, finde ich meine Psyche wieder; aber kaum fange ich an meinen
Sinnen zu glauben, daß sie es sei, die ich in meinen Armen umschlossen
halte, so verschwindet sie wieder, und ich finde mich auf diesem Schiffe,
um zu Smyrna als ein Sklave verkauft zu werden--Wie ähnlich ist alles
dieses einem Traum, wo die schwärmende Phantasie, ohne Ordnung, ohne
Wahrscheinlichkeit, ohne Zeit oder Ort in Betracht zu ziehen, die betäubte
Seele von einem Abenteur zu dem andern, von der Krone zum Bettlers-Mantel,
von der Wonne zur Verzweiflung, vom Tartarus ins Elysium fortreißt?--Und
ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so unwesentlich,
so unbedeutend als ein Traum?  Ein unbeständiges Spiel des blinden Zufalls,
oder unsichtbarer Geister, die eine grausame Belustigung darin finden,
uns zum Scherz bald glücklich bald unglücklich zu machen?  Oder, ist es
eben diese allgemeine Seele der Welt, deren Dasein die geheimnisvolle
Majestät der Natur ankündiget; ist es dieser allesbelebende Geist, der die
menschlichen Sachen anordnet; warum herrschet in der moralischen Welt
nicht eben diese unveränderliche Ordnung und Zusammenstimmung, wodurch die
Elemente die Jahres--und Tages-Zeiten, die Gestirne und die Kreise des
Himmels in ihrem gleichförmigen Lauf erhalten werden?  Warum leidet der
Unschuldige?  Warum sieget der Betrüger? Warum verfolgt ein unerbittliches
Schicksal die Tugendhaften? Sind unsre Seelen den Unsterblichen verwandt,
sind sie Kinder des Himmels; warum verkennt der Himmel sein Geschlecht,
und tritt auf die Seite seiner Feinde?  Oder hat er uns die Sorge für uns
selbst gänzlich überlassen, warum sind wir keinen Augenblick unsers
Zustandes Meister?  Warum vernichtet bald Notwendigkeit, bald Zufall, die
weisesten Entwürfe?  -"

Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; sein in Zweifeln verwickelter Geist
arbeitete sich loszuwinden, bis ein neuer Blick auf die majestätische
Natur die ihn umgab, eine andre Reihe von Vorstellungen in ihm entwickelte.
--"Was sind", fuhr er mit sich selbst fort, "meine Zweifel anders, als
Eingebungen der eigennützigen Leidenschaft?  Wer war diesen Morgen
glücklicher als ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her.  Hat sich
die Natur binnen dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplatz
einer grenzenlosen Vollkommenheit, weil Agathon ein Sklave, und von Psyche
getrennet ist?  Schäme dich, Kleinmütiger, deiner trübsinnigen Zweifel,
und deiner unmännlichen Klagen!  Wie kannst du Verlust nennen, dessen
Besitz kein Gut war? Ist es ein übel, deines Ansehens, deines Vermögens,
deines Vaterlandes beraubt zu sein?  Alles dessen beraubt warst du in
Delphi glücklich, und vermißtest es nicht.  Und warum nennest du Dinge
dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall gibt und nimmt, ohne
daß es in deiner Willkür steht sie zu erlangen oder zu erhalten?  Wie
ruhig, wie heiter und glücklich floß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die
Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechselungen
kannte; eh ich genötiget war, mit den Leidenschaften andrer Menschen, oder
mit meinen eigenen zu kämpfen, mich selbst und den Genuß meines Daseins
einem undankbaren Volke aufzuopfern, und unter der vergeblichen Bemühung,
Toren oder Lasterhafte glücklich zu machen, selbst unglücklich zu sein!
--Meine eigene Erfahrung widerlegt die ungerechten Zweifel des
Mißvergnügens am besten.  Es waren Augenblicke, Tage, lange Reihen von
Tagen, da ich glücklich war, glücklich in den frohen Stunden, da meine
Seele, vom Anblick der Natur begeistert, in tiefsinnigen Betrachtungen und
süßen Ahnungen, wie in den bezauberten Gärten der Hesperiden irrte;
glücklich, wenn mein befriedigtes Herz in den Armen der Liebe, aller
Bedürfnisse, aller Wünsche vergaß, und nun zu verstehen glaubte, was die
Wonne der Götter sei; glücklicher, wenn in Augenblicken, deren Erinnerung
den bittersten Schmerz zu versüßen genug ist, mein Geist in der großen
Betrachtung des Ewigen und Unbegrenzten sich verlor--Ja du bist, alles
beseelende, alles regierende Güte--ich sah, ich fühlte dich!  Ich empfand
die Schönheit der Tugend, die dir ähnlich macht; ich genoß die
Glückseligkeit, welche Tagen die Schnelligkeit der Augenblicke, und
Augenblicken den Wert von Jahrhunderten gibt.  Die Macht der Empfindung
zerstreut meine Zweifel; die Erinnerung der genossenen Glückseligkeit
heilet den gegenwärtigen Schmerz, und verspricht eine bessere Zukunft.
Alle diese allgemeine Quellen der Freude, woraus alle Wesen schöpfen,
fließen, wie ehmals, um mich her; meine Seele ist noch eben dieselbige,
wie die Natur, die mich umgibt--O Ruhe meines Delphischen Lebens, und du,
meine Psyche!  Dich allein, von allem, was außer mir ist, nenne ich mein,
weil du die wehrtere Hälfte meines Wesens bist--Wenn ihr auf ewig verloren
wäret, dann würde meine untröstbare Seele nichts auf Erde finden, das ihr
die Liebe zum Leben wieder geben könnte.  Aber ich besaß beide, ohne sie
mir selbst gegeben zu haben, und die wohltätige Macht, die sie gab, kann
sie wiedergeben.  Teure Hoffnung, du bist schon ein Anfang der
Glückseligkeit, die du versprichst! Es wäre zugleich gottlos und töricht,
sich einem Kummer zu überlassen, der den Himmel beleidigt, und uns selbst
der Kräfte beraubt, dem Unglück zu widerstehen, und der Mittel, wieder
glücklich zu werden.  Komm denn, du süße Hoffnung einer bessern Zukunft,
und feßle meine Seele mit deinen schmeichelnden Bezauberungen!  Ruhe und
Psyche--Dieses allein, ihr Götter, so möget ihr Lorbeer-Kränze und Schätze
geben, wem ihr wollt!"



EILFTES KAPITEL

Agathon kömmt zu Smyrna an, und wird verkauft


Das Wetter war unsern Seefahrern so günstig, daß Agathon gute Muße hatte,
seinen Betrachtungen so lange nachzuhängen, als er wollte; zumal da seine
Reise von keinem der 5 Umstände begleitet war, womit eine poetische
Seefahrt ausgeschmückt zu sein pflegt.  Denn man sahe da weder Tritonen,
die aus krummen Ammons-Hörnern bliesen, noch Nereiden, die auf Delphinen,
mit Blumen-Kränzen gezäumet, über den Wellen daherritten; noch Syrenen,
die mit halbem Leib aus dem Wasser hervorragend, die Augen durch ihre
Schönheit, und das Ohr durch die Süßigkeit ihrer Stimme bezaubert hätten.
Die Winde selbst waren etliche Tage lang so zahm, als ob sie es mit
einander abgeredet hätten, uns keine Gelegenheit zu irgend einer schönen
Beschreibung eines Sturms oder eines Schiffbruchs zu geben; kurz, die
Reise ging so glücklich von statten, daß die Barke am Abend des dritten
Tages in den Hafen von Smyrna einlief; wo die Räuber, nunmehr unter dem
Schutz des großen Königs gesichert, sich nicht säumten, ihre Gefangenen
ans Land zu setzen, in der Hoffnung, auf dem Sklaven-Markte keinen
geringen Vorteil aus ihnen zu ziehen.  Ihre erste Sorge war, sie in eines
der öffentlichen Bäder zu führen, wo man nichts vergaß, was dazu dienen
konnte, sie den folgenden Tag verkäuflicher zu machen.  Agathon war noch
zu sehr von allem demjenigen, was mit ihm vorgegangen war, eingenommen,
als daß er auf das gegenwärtige aufmerksam sein konnte.  Er wurde gebadet,
abgerieben, mit Salben und wohlriechenden Wassern begossen, mit einem
Sklaven-Kleid von vielfarbichter Seide angetan, mit allem was seine
Gestalt erheben konnte, ausgeschmückt, und von allen, die ihn sahen,
bewundert; ohne daß ihn etwas aus der vollkommnen Unempfindlichkeit
erwecken konnte, welche in gewissen Umständen eine Folge der übermäßigen
Empfindlichkeit ist.  In dasjenige vertieft, was in seiner Seele vorging,
schien er, weder zu sehen, noch zu hören; weil er nichts sah, oder hörte,
was er wünschte; und nichts als der Anblick, der sich ihm auf dem
Sklaven-Markte darstellte, war vermögend, ihn aus dieser wachenden
Träumerei aufzurütteln.  Diese Szene hatte zwar das Abscheuliche nicht,
das ein Sklaven-Markt zu Barbados so gar für einen Europäer haben könnte,
dem die Vorurteile der gesitteten Völker noch einige überbleibsel des
angebornen menschlichen Gefühls gelassen hätten; allein sie hatte doch
genug, um eine Seele zu empören, die sich gewöhnt hatte, in den Menschen
mehr die Schönheit ihrer Natur, als die Erniedrigung ihres Zustands; mehr
das, was sie nach gewissen Voraussetzungen sein könnten, als was sie
würklich waren, zu sehen.  Eine Menge von traurigen Vorstellungen stieg in
gedrängter Verwirrung bei diesem Anblick in ihm auf; und in eben dem
Augenblick, da sein Herz von Mitleiden und Wehmut zerfloß, brannte es von
einem zürnenden Abscheu vor den Menschen, dessen nur diejenigen fähig sind,
welche die Menschheit lieben.  Er vergaß über diesen Empfindungen seines
eignen Unglücks, als ein Mann von edelm Ansehen, welcher schon bei Jahren
zu sein schien, im Vorübergehn seiner gewahr ward, stehen blieb, und ihn
mit besondrer Aufmerksamkeit betrachtete.  "Wem gehört dieser junge
Leibeigene?"  fragte endlich der Mann einen von den Ciliciern, der neben
ihm stand.  "Dem, der ihn von mir kaufen wird", versetzte dieser.  "Was
versteht er für eine Kunst?"  fuhr jener fort.  "Das wird er dir selbst am
besten sagen können", erwiderte der Cilicier.  Der Mann wandte sich also
an den Agathon selbst, und fragte ihn, ob er nicht ein Grieche sei?  ob er
sich nicht in Athen aufgehalten?  und ob er in den Künsten der Musen
unterrichtet worden?  Agathon bejahete diese Fragen: "Kannst du den Homer
lesen?"  "Ich kann lesen; und ich meine, daß ich den Homer empfinden könne."
"Kennst du die Schriften der Philosophen?"  "Nein, denn ich verstehe
sie nicht."  "Du gefällst mir, junger Mensch!  Wie hoch haltet ihr ihn,
mein Freund?"  "Er sollte, wie die andern, durch den Herold ausgerufen
werden", antwortete der Cilicier, "aber für zwei Talente ist er euer."
"Begleite mich mit ihm in mein Haus", erwiderte der Alte, "du sollst zwei
Talente haben, und der Sklave ist mein." "Dein Geld muß dir sehr
beschwerlich sein", sagte Agathon; "woher weißt du, daß ich dir für zwei
Talente nützlich sein werde?"  "Wenn du es nicht wärest", versetzte der
Käufer, "so bin ich unbesorgt, unter den Damen von Smyrna zwanzig für eine
zu finden, die mir auf deine bloße Miene hin wieder zwei Talente für dich
geben."  Und mit diesen Worten befahl er dem Agathon, ihm in sein Haus zu
folgen.



ZWEITES BUCH



ERSTES KAPITEL

Wer der Käufer des Agathon gewesen


Der Mann, der sich für zwei Talente das Recht erworben hatte, den Agathon
als seinen Leibeignen zu behandeln, war einer von den merkwürdigen Leuten,
die unter dem Namen der Sophisten in den griechischen Städten umherzogen,
sich der edelsten und reichsten Jünglinge bemächtigten, und durch die
Annehmlichkeiten ihres Umgangs und die prächtigen Versprechungen, ihre
Freunde zu vollkommnen Rednern, Staatsmännern und Feldherren zu machen,
das Geheimnis gefunden hatten, welches die Alchymisten bis auf den
heutigen Tag vergeblich gesucht haben.  Sie wurden von aller Welt mit dem
ehrenvollen Namen der Sophisten oder Weisen benennt; allein die Weisheit,
von der sie Profession machten, war von der Socratischen, die durch einige
Verehrer dieses Atheniensischen Bürgers so berühmt worden ist, so wohl in
ihrer Beschaffenheit, als in ihren Würkungen unendlich unterschieden; oder
besser zu sagen, sie war die vollkommne Antipode derselbigen.  Die
Sophisten lehrten die Kunst, die Leidenschaften andrer Menschen zu erregen;
Socrates die Kunst, seine eigene zu dämpfen.  Jene lehrten, wie man es
machen müsse, um weise und tugendhaft zu scheinen; dieser lehrte, wie man
es sei.  Jene munterten die Jünglinge von Athen auf, sich der Regierung
des Staats anzumaßen; Socrates, daß sie vorher die Hälfte ihres Lebens
anwenden sollten, sich selbst regieren zu lernen.  Jene spotteten der
Socratischen Weisheit, die nur in einem schlechten Mantel aufzog, und sich
mit einer Mahlzeit für sechs Pfenninge begnügte, da die ihrige in Purpur
schimmerte, und offne Tafel hielt.  Die Socratische Weisheit war stolz
darauf, den Reichtum entbehren zu können; die ihrige wußte, ihn zu
erwerben.  Sie war gefällig, einschmeichelnd, und wußte alle Gestalten
anzunehmen; sie vergötterte die Großen, kroch vor ihren Dienern, tändelte
mit den Damen, und schmeichelte allen, welche es bezahlten.  Sie war
allenthalben an ihrem rechten Platz; beliebt bei Hofe, beliebt an der
Toilette, beliebt beim Spiel-Tisch, beliebt beim Adel, beliebt bei den
Finanz-Pachtern, beliebt bei den Theater-Göttinnen, beliebt so gar bei der
Priesterschaft.  Die Socratische war weit entfernt, so liebenswürdig zu
sein; sie war trocken und langweilig; sie wußte nicht zu leben; sie war
unerträglich, weil sie alles tadelte, und immer Recht hatte; sie wurde von
dem geschäftigen Teil der Welt für unnützlich, von dem müßigen für
abgeschmackt, und von dem andächtigen gar für gefährlich erklärt.  Wir
würden nicht fertig werden, wenn wir diese Gegensätze so weit treiben
wollten, als wir könnten.  Genug, daß die Weisheit der Sophisten einen
Vorzug hatte, den ihr die Socratische nicht streitig machen konnte; sie
verschaffte ihren Besitzern Reichtum, Ansehen, Ruhm, und ein Leben, das
von allem, was die Welt glücklich nennet, überfloß.

Hippias (so hieß der neue Herr unsers Agathon) war einer von diesen
Glücklichen, dem die Kunst, sich die Torheiten andrer Leute zinsbar zu
machen, ein Vermögen erworben hatte; wodurch er sich im Stande sah, sich
der Ausübung derselben zu begeben, und die andre Hälfte seines Lebens in
den Ergötzungen eines begüterten Müßiggangs zu zubringen; zu deren
angenehmsten Genuß das zunehmende Alter viel geschickter scheint, als die
ungestüme Jugend.  Er hatte sich zu diesem Ende Smyrna zu seinem Wohn-Ort
ausersehen, weil die Annehmlichkeiten des jonischen Klima, die schöne Lage
dieser Stadt, der überfluß, der ihr durch die Handlung aus allen Teilen
des Erdbodens zuströmte, und die Verbindung des griechischen Geschmacks
mit der wollüstigen üppigkeit der Morgenländer ihm diesen Aufenthalt vor
allen andern, die er kannte, vorzüglich machte.  Hippias hatte den Ruhm,
daß ihm in den Talenten seiner Profession wenige den Vorzug streitig
machen könnten.  Ob er gleich über fünfzig Jahre hatte, so war ihm doch
von der Gabe zu gefallen, die ihm in seiner Jugend so nützlich gewesen war,
noch genug übrig geblieben, daß sein Umgang von den artigsten Personen
des einen und andern Geschlechts gesucht wurde.  Er hatte alles, was die
Art von Weisheit, die er ausübte, verführisch machen konnte; eine edle
Gestalt, eine einnehmende Gesichts-Bildung, einen angenehmen Ton der
Stimme, einen behenden und geschmeidigen Witz, und eine Beredsamkeit, die
desto mehr gefiel, weil sie mehr ein Geschenk der Natur, als eine durch
Fleiß erworbene Kunst zu sein schien.  Diese Beredsamkeit, oder vielmehr
diese Gabe angenehm zu schwatzen, mit einer Tinktur von allen
Wissenschaften, einem feinen Geschmack in dem Schönen und Angenehmen, und
eine vollständige Kenntnis der Welt, war mehr als er nötig hatte, um in
den Augen aller derjenigen, mit denen er umging, (denn er ging mit keinen
Socraten um) für einen Genie vom ersten Rang, für einen Mann zu gelten,
welcher alles wisse; welchem schon zugelächelt wurde, eh man wußte, was er
sagen wollte, und wider dessen Aussprüche nicht erlaubt war, etwas
einzuwenden.  Indessen war doch dasjenige, dem er sein Glück vornehmlich
zu danken hatte, die besondere Gabe, die er besaß, sich der schönern
Hälfte der Gesellschaft gefällig zu machen.  Er war so klug, frühzeitig zu
entdecken, wie viel an der Gunst dieser reizenden Geschöpfe gelegen ist,
welche in den policierten Teilen des Erdbodens die Macht würklich ausüben,
die in den Märchen den Feen beigelegt wird; die mit einem einzigen Blick,
oder durch eine kleine Verschiebung des Halstuchs stärker überzeugen, als
Demosthenes und Lysias durch lange Reden; die mit einer einzigen Träne den
Gebieter über Legionen entwaffnen, und durch den bloßen Vorteil, den sie
von ihrer Gestalt und einem gewissen Bedürfnis des stärkern Geschlechts zu
ziehen wissen, sich zu unumschränkten Beherrscherinnen derjenigen machen,
in deren Händen das Schicksal ganzer Völker liegt.  Hippias hatte diese
Entdeckung von so großem Nutzen gefunden, daß er keine Mühe gesparet hatte,
es in der Anwendung derselben zu dem höchsten Grade der Vollkommenheit zu
bringen; und dasjenige, was er in seinem Alter noch davon hatte, bewies,
was er in seinen schönen Jahren gewesen sein müsse.  Seine Eitelkeit ging
so weit, daß er sich nicht enthalten konnte, die Kunst, die Zauberinnen zu
bezaubern, in die Form eines Lehr-Begriffs zu bringen, und seine
Erfahrungen und Beobachtungen hierüber der Welt in einer sehr gelehrten
Abhandlung mitzuteilen, deren Verlust nicht wenig zu bedauern ist, und
schwerlich von einem heutigen Schriftsteller unsrer Nation zu ersetzen
sein möchte.

Nach allem, was wir bereits von diesem weisen Manne gesagt haben, wär es
überflüssig, eine Abschilderung von seinen Sitten zu machen.  Sein
Lehr-Begriff, von der Kunst zu leben, wird uns in kurzem umständlich
vorgelegt werden; und er besaß eine Tugend, welche nicht die Tugend der
Moralisten zu sein pflegt; er lebte nach seinen Grundsätzen.



ZWEITES KAPITEL

Absichten des weisen Hippias


Unter andern Neigungen, in deren Befriedigung man den rechten Gebrauch des
Reichtums zu setzen pflegt, hatte Hippias einen besondern Geschmack an
allem, was gut in die Augen fiel.  Er wollte, daß die Seinigen, in seinem
Hause wenigstens, sich nirgends hinwenden sollten, ohne einem schönen
Gegenstande zu begegnen.  Die schönsten Gemälde, die schönsten Bildsäulen
und Schnitzwerke, die reichsten Tapeten, das schönste Hausgeräte, die
schönsten Gefäße befriedigten seinen Geschmack noch nicht; er wollte auch,
daß der belebte Teil seines Hauses mit dieser allgemeinen Schönheit
übereinstimmen sollte; und seine Bediente und Sklavinnen waren die
ausgesuchtesten Gestalten, die er in einem Lande, wo die Schönheit
gewöhnlich ist, hatte finden können.  Die Gestalt Agathons möchte also
allein hinreichend gewesen sein, ihm seine Gunst zu erwerben; zumal da er
eben einen Leser nötig hatte, und aus dem Anblick und den ersten Worten
desselben urteilte, daß er sich zu einem Dienst vollkommen schicken würde,
wozu eine gefallende Gesichts-Bildung und eine musikalische Stimme die
nötigsten Gaben sind.  Allein Hippias hatte noch eine geheime Absicht, die
er durch diesen Jüngling zu erreichen hoffte.  Obgleich die Liebe zu den
Wollüsten der Sinne seine herrschende Neigung zu sein schien, so hatte
doch die Eitelkeit nicht weniger Anteil an den meisten Handlungen seines
Lebens.  Er hatte, bevor er sich nach Smyrna begab, um die Früchte seiner
Arbeit zu genießen, den schönsten Teil seines Lebens zugebracht, die
edelste Jugend der griechischen Städte zu bilden; er hatte Redner gebildet,
die durch eine künstliche Vermischung des Wahren und Falschen, und den
klugen Gebrauch gewisser Figuren, einer schlimmen Sache den Schein und die
Würkung einer guten zu geben wußten; Staats-Männer, welche die Kunst
besaßen, mitten unter den Zujauchzungen eines betörten Volks die Gesetze
durch die Freiheit und die Freiheit durch schlimme Sitten zu vernichten;
um diejenigen, die sich der heilsamen Zucht der Gesetze nicht unterwerfen
wollten, der willkürlichen Gewalt ihrer Leidenschaften zu unterwerfen;
kurz, er hatte Leute gebildet, die sich Ehren-Säulen dafür aufrichten
ließen, daß sie ihr Vaterland zu Grunde richteten.  Allein dieses
befriedigte seine Eitelkeit noch nicht: Er wollte auch jemand hinterlassen,
der seine Kunst fortzusetzen geschickt wäre; eine Kunst, die in seinen
Augen allzuschön war, als daß sie mit ihm sterben sollte.  Schon lange
hatte er einen jungen Menschen gesucht, bei dem er das natürliche
Geschicke, der Nachfolger eines Hippias zu sein, in derjenigen
Vollkommenheit finden möchte, die dazu erfodert wurde.  Seine Gabe, aus
der Gestalt und Miene das Inwendige eines Menschen zu erraten, beredete
ihn, im Agathon zu finden, was er suchte; wenigstens hielt er es der Mühe
wert, den Versuch mit ihm zu machen; und da er von seiner Tüchtigkeit ein
so gutes Vorurteil gefasset hatte, so fiel ihm nur nicht ein, in seine
Willigkeit zu den großen Absichten, die er mit ihm vorhatte, einigen
Zweifel zu setzen.



DRITTES KAPITEL

Verwunderung, in welche Agathon gesetzt wird


Agathon wußte noch nichts, als daß er einem Manne zugehöre, dessen
äußerliches Ansehen ihm gefiel; als er bei dem Eintritt in sein Haus durch
die Schönheit des Gebäudes, die Bequemlichkeiten der Einrichtung, die
Menge und die gute Miene der Bedienten, und durch einen Schimmer von
Pracht und üppigkeit, der ihm allenthalben entgegen glänzte, in eine Art
von Verwunderung gesetzt wurde, die ihm sonst nicht gewöhnlich war, und
die nur desto mehr zunahm, wie er hörte, daß er die Ehre haben sollte, ein
Haus-Genosse von Hippias, dem Weisen, zu werden.  Er war noch im
Nachdenken begriffen, was für eine Art von Weisheit dieses sein möchte,
als Hippias, der indes seinem Zahlmeister befohlen hatte, den Cilicier zu
befriedigen, ihn in sein Cabinet rufen ließ, und ihm seine künftige
Bestimmung in diesen Worten ankündigte: "Die Gesetze, Callias, (denn
dieses soll künftig dein Name sein) geben mir zwar das Recht, dich als
meinen Leibeigenen anzusehen; aber es wird nur von dir abhangen, so
glücklich in meinem Hause zu sein, als ich selbst.  Alle deine
Verrichtungen werden darin bestehen, den Homer bei meinem Tische, und die
Aufsätze, mit deren Ausarbeitung ich mir die Zeit vertreibe, in meinem
Hör-Saal vorzulesen.  Wenn dieses Amt leicht zu sein scheint, so versichre
ich dich, daß ich nicht leicht zu befriedigen bin, und daß du Kenner zu
Hörern haben wirst.  Ein jonisches Ohr will nicht nur ergötzt, es will
bezaubert sein.  Die Annehmlichkeit der Stimme, die Reinigkeit und das
Weiche der Aussprache, die Richtigkeit des Akzents, das Muntre, das
Ungezwungene, das Musikalische ist nicht hinlänglich; wir fodern eine
vollkommne Nachahmung, einen Ausdruck, der jedem Teile des Stücks, jeder
Periode, jedem Vers das Leben, den Affekt, die Seele gibt, die sie haben
sollen; kurz, die Art, wie gelesen wird, soll das Ohr an die Stelle aller
übrigen Sinne setzen.  Das Gastmahl des Alcinous soll diesen Abend dein
Probstück sein.  Die Fähigkeiten, die ich an dir zu entdecken hoffe,
werden meine Absichten mit dir bestimmen; und vielleicht wirst du in der
Zukunft Ursache finden, den Tag, an dem du dem Hippias gefallen hast,
unter deine Glücklichen zu zählen."  Mit diesen Worten verließ er unsern
Jüngling, und ersparte sich dadurch die Demütigung zu sehen, wie wenig der
neue Callias durch die Hoffnungen gerührt schien, wozu ihn diese Erklärung
berechtigte.  In der Tat hatte die Bestimmung, die jonischen Ohren zu
bezaubern, in Agathons Augen nicht edels genug, daß er sich deswegen hätte
glücklich schätzen sollen; und über dem war etwas in dem Ton dieser Anrede,
welches ihm mißfiel, ohne daß er eigentlich wußte, warum?  Inzwischen
vermehrte sich seine Verwunderung, je mehr er sich in dem Hause des weisen
Hippias umsah; und er begriff nun ganz deutlich, daß sein Herr, was auch
sonst seine Grundsätze sein möchten, wenigstens von der Ertödung der
Sinnlichkeit, wovon er ehmals den Plato zu Athen sehr schöne Dinge sagen
gehört hatte, keine Profession mache.  Allein wie er sah, was die Weisheit
in diesem Hause für eine Tafel hielt, wie prächtig sie sich bedienen ließ,
was für reizende Gegenstände ihre Augen, und was für wollüstige Harmonien
ihre Ohren ergötzten, während daß der Schenk-Tisch mit den ausgesuchtesten
Weinen und den angenehm-betäubenden Getränken der Asiaten beladen, den
Sinnen zum Genuß so vieler Wollüste neue Kräfte zu geben schien; wie er
die Menge von jungen Sklaven sah, die den Liebes-Göttern ähnlich schienen,
die Chöre von Tänzerinnen und Lauten-Spielerinnen, die durch die Reizungen
ihrer Gestalt so sehr als durch ihre Geschicklichkeit bezauberten, und die
nachahmenden Tänze, in denen sie die Geschichte der Leda oder Danae durch
bloße Bewegungen mit einer Lebhaftigkeit vorstellten, die einen Nestor
hätte verjüngern können; wie er die üppigen Bäder, die bezauberten Gärten,
kurz, wie er alles sah, was das Haus des weisen Hippias zu einem Tempel
der ausgekünsteltsten Sinnlichkeit machte, so stieg seine Verwunderung bis
zum Erstaunen; und er konnte nicht begreifen, was dieser Sybarite getan
haben müsse, um den Namen eines Weisen zu verdienen, oder wie er sich
einer Benennung nicht schäme, die ihm, seinen Gedanken nach, eben so gut
anstund, als dem Alexander von Phera, wenn man ihn den Leutseligen, oder
der Phryne, wenn man sie die Keusche hätte nennen wollen.  Alle
Auflösungen, die er sich selbst hierüber machen konnte, befriedigten ihn
so wenig, daß er sich vornahm, bei der ersten Gelegenheit dieses Problem
dem Hippias selbst vorzulegen.



VIERTES KAPITEL

Welches bei einigen den Verdacht erwecken wird, daß diese Geschichte
erdichtet sei


Die Verrichtungen des Agathon ließen ihm so viel Zeit übrig, daß er in
wenigen Tagen in einem Hause, wo alles Freude atmete, sehr lange Weile
hatte.  Zwar lag die Schuld nur an ihm selbst, wenn es ihm an einem
Zeit-Vertreib mangelte, der sonst die hauptsächlichste Beschäftigung der
Leute von seinem Alter auszumachen pflegt.  Die Nymphen dieses Hauses
waren von einer so gefälligen Gemüts-Art, von einer so anziehenden Figur,
und von einem so günstigen Vorurteil für den neuen Haus-Genossen
eingenommen, daß es weder die Furcht abgewiesen zu werden, noch der Fehler
ihrer Reizungen war, was den schönen Callias so zurückhaltend oder
unempfindlich machte.

Verschiedene, die aus seinem Betragen schlossen, daß er noch ein Neuling
sein müsse, ließen sich die Mühe nicht dauern, ihm die Schwierigkeiten,
die ihm seine Schüchternheit, ihren Gedanken nach, in den Weg legte, zu
erleichtern; sie gaben ihm Gelegenheiten, die den Zaghaftesten hätten
unternehmend machen sollen.  Allein (wir müssen es nur gestehen, was man
auch von unserm Helden deswegen denken mag) er gab sich eben so viel Mühe,
diese Gelegenheiten auszuweichen, als man sich geben konnte, sie ihm zu
machen.  Wenn dieses anzuzeigen scheint, daß er entweder einiges Mißtrauen
in sich selbst, oder ein allzugroßes Vertrauen in die Reizungen dieser
schönen Verführerinnen gesetzt habe, so dienet vielleicht zu seiner
Entschuldigung, daß er noch nicht alt genug war, ein Xenocrates zu sein;
und daß er, vermutlich nicht ohne Ursache, ein Vorurteil wider dasjenige
gefaßt hatte, was man im Umgang von jungen Personen beiderlei Geschlechts
unschuldige Freiheiten zu nennen pflegt.  Dem sei inzwischen wie ihm wolle,
so ist gewiß, daß Agathon durch dieses seltsame Bezeugen einen Argwohn
erweckte, der ihm bei allen Gelegenheiten sehr beißende Spöttereien von
den übrigen Hausgenossen, und selbst von den Schönen zuzog, die sich durch
seine Sprödigkeit nicht wenig beleidigt fanden, und ihm auf eine feine Art
zu verstehen gaben, daß sie ihn für geschickter hielten, die Tugend der
Damen zu bewachen, als auf die Probe zu stellen.  Agathon fand nicht
ratsam, sich in einen Wett-Streit einzulassen, wo er besorgen mußte, daß
die Begierde, recht zu haben, die sich in der Hitze des Streites auch der
Klügsten zu bemeistern pflegt, ihn zu gefährlichen Erörterungen führen
könnte.  Er machte daher bei solchen Anlässen eine so alberne Figur, daß
man von seinem Witz eine eben so verdächtige Meinung bekommen mußte, als
man schon von seiner Person gefaßt hatte; und die Verachtung, in die er
deswegen bei jedermann fiel, trug vielleicht nicht wenig dazu bei, ihm den
Aufenthalt in einem Hause beschwerlich zu machen, wo ihm ohnehin, alles,
was er sah und hörte, ärgerlich war.  Er liebte diejenigen Künste sehr,
über welche, nach dem Glauben der Griechen, die Musen die Aufsicht hatten.
Allein die Gemälde, womit alle Säle und Gänge dieses Hauses ausgeziert
waren, stellten so schlüpfrige und unsittliche Gegenstände vor, daß er
seinen Augen um so weniger erlauben konnte, sich darauf zu verweilen, je
vollkommner die Natur darin nachgeahmt war, und je mehr sich der Genie
bemüht hatte, der Natur selbst neue Reizungen zu leihen.  Eben so weit war
die Musik, die er alle Abende nach der Tafel hören konnte, von derjenigen
unterschieden, die seiner Einbildung nach allein der Musen würdig war.  Er
liebte eine Musik, welche die Leidenschaften besänftigte, und die Seele in
ein angenehmes Staunen wiegte, oder das Lob der Unsterblichen mit einem
feurigen Schwung von Begeistrung sang, wodurch das Herz in heiliges
Entzücken und in ein schauervolles Gefühl der gegenwärtigen Gottheit
gesetzt wurde; und wenn sie Zärtlichkeit und Freude ausdrückte, so sollte
es die Zärtlichkeit der Unschuld und die rührende Freude der einfältigen
Natur sein.  Allein in diesem Hause hatte man einen ganz andern Geschmack.
Was Agathon hörte, waren Syrenen-Gesänge, die den üppigsten Liedern des
tejischen Dichters einen Reiz gaben, der auch aus unangenehmen Lippen
verführerisch gewesen wäre; Gesänge, die durch den nachahmenden Ausdruck
des verschiednen Tons der schmeichelnden, seufzenden und schmachtenden,
oder der triumphierenden und in Entzückung aufgelösten Leidenschaft die
Begierde erregten, dasjenige zu erfahren, was in der Nachahmung schon so
reizend war; Lydische Flöten, deren girrendes, verliebtes Flüstern die
redenden Bewegungen der Tänzerinnen ergänzte, und ihrem Spiel eine
Deutlichkeit gab, die der Einbildungs-Kraft nichts zu erraten übrig ließ;
Symphonien, welche die Seele in ein bezaubertes Vergessen ihrer selbst
versenkten, und, nachdem sie alle ihre edlere Kräfte entwaffnet hatte, die
erregte und willige Sinnlichkeit der ganzen Gewalt der von allen Seiten
eindringenden Wollust auslieferten.  Agathon konnte bei diesen Szenen, wo
so viele Künste, so viele Zauber-Mittel sich vereinigten, den Widerstand
der Tugend zu ermüden, nicht so gleichgültig bleiben, als diejenigen zu
sein schienen, die derselben gewohnt waren; und die Unruhe, in die er
dadurch gesetzt wurde, machte ihm, was auch die Stoiker sagen mögen, mehr
Ehre, als dem Hippias und seinen Freunden ihre Gelassenheit.  Er befand
also für gut, sich allemal, wenn er seine Rolle, als Homerist, geendiget
hatte, hinweg und an einen Ort zu begeben, wo er in ungestörter Einsamkeit
sich von den widrigen Eindrücken befreien konnte, die das geschäftige und
fröhliche Getümmel des Hauses, und der Anblick von so vielen Gegenständen,
die seine moralischen Sinne beleidigten, den Tag über auf sein Gemüte
gemacht hatten.



FÜNFTES KAPITEL

Schwärmerei des Agathon


Die Wohnung des Hippias war auf der mittäglichen Seite von Gärten umgeben,
in deren weitläufigem Bezirk die Kunst und der Reichtum alle ihre Kräfte
aufgewandt hatten, die einfältige Natur mit ihren eignen und mit fremden
Schönheiten zu überladen.  Gefilde voll Blumen, die aus allen Teilen der
Erde gesammelt, jeden Monat zum Frühling eines andern Klima machten,
Lauben von allerlei wohlriechenden Stauden, Lust-Gänge von Zitronen-Bäumen,
öl-Bäumen und Zedern, in deren Länge der schärfste Blick sich verlor,
Haine von allen Arten der fruchtbaren Bäume, und Irrgänge von Myrten und
Lorbeer-Hecken, mit Rosen von allen Farben durchwunden, wo tausend
marmorne Najaden, die sich zu regen und zu atmen schienen, kleine
murmelnde Bäche zwischen die Blumen hingossen, oder mit mutwilligem
Plätschern in spiegelhellen Brunnen spielten, oder unter überhangenden
Schatten von ihren Spielen auszuruhen schienen.  Alles dieses machte die
Gärten des Hippias den bezauberten Gegenden ähnlich, diesen Spielen einer
dichtrischen und malerischen Phantasie, die man erstaunt ist, außerhalb
seiner Einbildung zu sehen.  Hier war es, wo Agathon seine angenehmsten
Stunden zubrachte; hier fand er die Heiterkeit der Seele wieder, die er
dem angenehmsten Taumel der Sinne unendlich weit vorzog; hier konnt' er
sich mit sich selbst besprechen; hier war er von Gegenständen umgeben, die
sich zu seiner Gemüts-Beschaffenheit schickten, obgleich die seltsame
Denk-Art, wodurch er die Erwartung des Hippias so sehr betrog, auch hier
nicht ermangelte, sein Vergnügen durch den Gedanken zu vermindern, daß
alle diese Gegenstände weit schöner wären, wenn sich die Kunst nicht
angemaßet hätte, die Natur ihrer Freiheit und rührenden Einfältigkeit zu
berauben.  Oft wenn er beim Mond-Schein, den er mehr als den Tag liebte,
so einsam im Schatten lag, erinnert' er sich der frohen Szenen seiner
ersten Jugend, der unbeschreiblichen Eindrücke, die jeder schöne
Gegenstand, jeder ihm neue Auftritt der Natur auf seine jugendlichen
unverwöhnten Sinnen gemacht hatte, der süßen Stunden, die ihm in den
Entzückungen einer ersten und unschuldigen Liebe zu Augenblicken geworden
waren.  Diese Erinnerungen, mit der Stille der Nacht und dem Gemurmel
sanfter Bäche und der sanft wehenden Sommer-Lüfte, wiegten seine Sinnen in
eine Art von leichtem Schlummer ein, worin die innerlichen Kräfte der
Seele mit verdoppelter Stärke würken; dann bildeten sich ihm die reizenden
Aussichten einer bessern Zukunft vor; er sah alle seine Wünsch' erfüllt,
er fühlte sich etliche Augenblicke glücklich; und wenn sie vorbei waren,
beredete er sich, daß diese Hoffnungen ihn nicht so lebhaft rühren, nicht
in eine so gelassene Zufriedenheit senken würden, wenn es nur nächtliche
Spiele der Phantasie, und nicht vielmehr innerliche Ahnungen wären, Blicke,
welche der Geist in der Stille und Freiheit, die ihm die schlummernden
Sinne lassen, in die Zukunft und in eine weitere Sphäre tut, als diejenige,
die von der Schwäche ihrer körperlichen Sinne umschrieben wird.

In einer solchen Stunde war es, als Hippias, den die Anmut einer schönen
Sommer-Nacht zum Spaziergang einlud, ihn unter diesen Beschauungen
überraschte, denen er, in der Meinung, allein zu sein, sich zu überlassen
pflegte.  Hippias blieb eine Weile vor ihm stehen, ohne daß Agathon seiner
gewahr wurde; endlich aber redet' er ihn an, und ließ sich in ein Gespräch
mit ihm ein; welches ihn nur allzusehr in dem Argwohn bestärkte, den er
von dem Hang unsers Helden zu demjenigen, was er Schwärmerei nannte,
bereits gefaßt hatte.



SECHSTES KAPITEL

Ein Gespräch zwischen Hippias und seinem Sklaven


HIPPIAS "Du scheinst in Gedanken vertieft, Callias?"

AGATHON "Ich glaubte allein zu sein."

HIPPIAS "Ein andrer an deiner Stelle würde sich die Freiheit meines Hauses
besser zu Nutze machen.  Doch vielleicht gefällst du mir um dieser
Zurückhaltung willen nur desto besser.  Aber mit was für Gedanken
vertreibst du dir die Zeit, wenn man fragen darf?"

AGATHON "Die allgemeine Stille, der Mondschein, die rührende Schönheit der
schlummernden Natur, die mit den Ausdünstungen der Blumen durchwürzte
Nachtluft, tausend angenehme Empfindungen, deren liebliche Verwirrung
meine Seele trunken machte, setzte sie in eine Art von Entzückung,
worinnen ein andrer Schauplatz von unbekannten Schönheiten sich vor mir
auftat; es war nur ein Augenblick, aber ein Augenblick, den ich um eines
von den Jahren des Königs von Persien nicht vertauschen wollte."

HIPPIAS (lächelt.)

AGATHON "Dieses brachte mich hernach auf die Gedanken, wie glücklich der
Zustand der Geister sei, die den groben tierischen Leib abgelegt haben,
und im Anschauen des wesentlichen Schönen, des Unvergänglichen, Ewigen und
Göttlichen, Jahrtausende durchleben, die ihnen nicht länger scheinen als
mir dieser Augenblick; und in den Betrachtungen, denen ich hierüber
nachhing, bin ich von dir überraschet worden."

HIPPIAS "Du schliefst doch nicht, Callias; du hast wie ich sehe, mehr
Talente als du nötig hast; du kannst auch wachend träumen?"

AGATHON "Es gibt vielerlei Arten von Träumen, und bei einigen Menschen
scheint ihr ganzes Leben Traum zu sein; wenn dieses Träume sind, so sind
sie wenigstens angenehmer als alles, was ich in dieser Zeit wachend hätte
erfahren können."

HIPPIAS "Du gedenkest also vielleicht einer von diesen Geistern zu werden,
die du so glücklich preisest?"

AGATHON "Ich hoff' es zu werden, und würde ohne diese Hoffnung mein Dasein
für kein Gut achten."

HIPPIAS "Besitzest du etwan ein Geheimnis, körperliche Wesen in geistige
zu erhöhen, einen Zaubertrank von der Art derjenigen, womit die Medeen und
Circen der Dichter so wunderbare Verwandlungen zuwege bringen?"

AGATHON "Ich verstehe dich nicht, Hippias."

HIPPIAS "So will ich deutlicher sein.  Wenn ich anders dich verstanden
habe, so hältst du dich für einen Geist, der in einen tierischen Leib
eingekerkert ist?"

AGATHON "Wofür sollt ich mich sonst halten?"

HIPPIAS "Sind die vierfüßigen Tiere, die Vögel, die Fische, die Gewürme,
auch Geister, die in einen tierischen Leib eingeschlossen sind?"

AGATHON "Vielleicht."

HIPPIAS "Und die Pflanzen?"

AGATHON "Vielleicht auch diese."

HIPPIAS "Du bauest also deine Hoffnung auf ein Vielleicht.  Wenn die
Tiere vielleicht auch nicht Geister sind, so bist du vielleicht eben so
wenig einer; denn das ist einmal gewiß, daß du ein Tier bist.  Du
entstehest wie die Tiere, wächsest wie sie, hast ihre Bedürfnisse, ihre
Sinnen, ihre Leidenschaften, wirst erhalten wie sie, vermehrest dich wie
sie, stirbst wie sie, und wirst wie sie wieder zu einem bißchen Wasser und
Erde, wie du vorher gewesen warst.  Wenn du einen Vorzug vor ihnen hast,
so ist es eine schönere Gestalt, ein paar Hände, mit denen du mehr
ausrichten kannst als ein Tier mit seinen Pfoten, eine Bildung gewisser
Gliedmaßen, die dich der Rede fähig macht, und ein lebhafterer Witz, der
von einer schwächern und reizbarern Beschaffenheit deiner Fibern herkommt;
und der doch alle Künste, womit wir uns so groß zu machen pflegen, den
Tieren abgelernt hat."

AGATHON "Wir haben also sehr verschiedene Begriffe von der menschlichen
Natur, du und ich."

HIPPIAS "Vermutlich, weil ich sie für nichts anders halte, als wofür meine
Sinnen und eine Beobachtung ohne Vorurteile sie mir geben.  Doch ich will
freigebig sein; ich will dir zugeben, dasjenige was in dir denkt sei ein
Geist, und wesentlich von deinem Körper unterschieden.--Worauf gründest du
die Hoffnung, daß dieser Geist noch denken werde, wenn dein Leib zerstört
sein wird?  Was für eine Erfahrung hast du, eine Meinung zu bestätigen,
die von so vielen Erfahrungen bestritten wird? Ich will nicht sagen, daß
er zu nichts werde; aber dein Leib verliert durch den Tod die Form die ihn
zu deinem Leibe machte; woher hoffest du, daß dein Geist die Form nicht
verlieren werde, die ihn zu deinem Geiste macht?"

AGATHON "Weil ich mir unmöglich vorstellen kann, daß der Oberste Geist,
dessen Geschöpfe oder Ausflüsse die übrigen Geister sind, ein Wesen
zerstören werde, das er fähig gemacht hat, so glücklich zu sein, als ich
es schon gewesen bin."

HIPPIAS "Ein neues Vielleicht?  Woher kennst du diesen obersten Geist?"

AGATHON "Woher kennst du den Phidias, der diesen Amor gemacht hat?"

HIPPIAS "Weil ich ihm zusah wie er ihn machte; denn vielleicht könnt eine
Bildsäule auch entstehn, ohne daß sie von einem Künstler gemacht würde."

AGATHON "Wieso?"

HIPPIAS "Eine ungefähre Bewegung ihrer kleinsten Elemente könnte diese
Form endlich hervorbringen."

AGATHON "Eine regellose Bewegung ein regelmäßiges Werk?"

HIPPIAS "Warum das nicht?  Du kannst im Würfelspiel von ungefähr alle drei
werfen.  So gut als dieses möglich ist, könntest du auch unter etlichen
Billionen von Würfen einen werfen, wodurch eine gewisse Anzahl Sandkörner
in eine zirkelrunde Figur fallen würde.  Die Anwendung ist leicht zu
machen."

AGATHON "Ich verstehe dich.  Aber es bleibt allemal unendlich
unwahrscheinlich, daß die ungefähre Bewegung der Elemente nur eine Muschel,
deren so unzählich viele an jenem Ufer liegen, hervorbringen; und die
Ewigkeit selbst scheint nicht lange genug zu sein, nur diese Erdkugel,
diesen kleinen Atomen des ganzen Weltalls auf solche Weise entstehen zu
machen."

HIPPIAS "Es ist genug, daß unter unendlich vielen ungefähren Bewegungen,
die nichts regelmäßiges und dauerhaftes hervorbringen, eine möglich ist,
die eine Welt hervorbringen kann.  Dieses setzt der Wahrscheinlichkeit
deiner Meinung ein Vielleicht entgegen, wodurch sie auf einmal entkräftet
wird."

AGATHON "So viel als das Gewicht einer unendlichen Last, durch die
Hinwegnahme eines einzigen Sandkorns."

HIPPIAS "Du hast vergessen, daß eine unendliche Zeit in die andere
Waagschale gelegt werden muß.  Doch ich will diesen Einwurf fahren lassen,
ob er gleich weiter getrieben werden kann; was gewinnt deine Meinung
dadurch?  Vielleicht ist die Welt immer in der allgemeinen Verfassung
gewesen, worin sie ist?--Vielleicht ist sie selbst das einzige Wesen, das
durch sich selbst bestehet?  Vielleicht ist der Geist von dem du sagtest,
durch die wesentliche Beschaffenheit seiner Natur gezwungen, diesen
allgemeinen Weltkörper nach den Gesetzen einer unveränderlichen
Notwendigkeit zu beleben?  Und gesetzt, die Welt sei, wie du meinest, das
Werk eines verständigen und freien Entschlusses; vielleicht hat sie viele
Urheber?  Mit einem Worte, Callias, du hast viele mögliche Fälle zu
vernichten, eh du nur das Dasein deines obersten Geistes außer Zweifel
gesetzt hast."

AGATHON "Ich brauche zu meiner eignen Beruhigung keinen so weitläufigen
Weg.  Ich sehe die Sonne, sie ist also; ich empfinde mich selbst, ich bin
also; ich empfinde, ich sehe diesen obersten Geist, er ist also."

HIPPIAS "Ein Träumender, ein Kranker, ein Wahnwitziger sieht; und doch ist
das nicht, was er sieht."

AGATHON "Weil er in diesem Zustande nicht recht sehen kann."

HIPPIAS "Wie kannst du beweisen, daß du nicht gerad in diesem Punkt krank
bist?  Frage die ärzte; man kann in einem einzigen Stück wahnwitzig, und
in allen übrigen klug sein; so wie eine Laute bis auf eine einzige falsche
Saite wohl gestimmt sein kann.  Der rasende Ajax sieht zwo Sonnen, ein
doppeltes Thebe.  Was für ein untrügliches Kennzeichen hast du, das Wahre
von dem was nur scheint; das was du würklich empfindest, von dem was du
dir nur einbildest; das was du richtig empfindest, von dem was eine
verstimmte Nerve dich empfinden macht, zu unterscheiden?  Und wie, wenn
alle Empfindung betröge, und nichts von allem was ist, so wäre, wie du es
empfindest?"

AGATHON "Darum bekümmere ich mich wenig.  Gesetzt, die Sonne sei nicht so,
wie ich sie sehe und fühle; für mich ist sie darum nicht minder so, wie
ich sie sehe und fühle, und das ist für mich genug.  Ihr Einfluß in das
System aller meiner übrigen Empfindungen ist darum nicht weniger würklich,
wenn sie gleich nicht so ist, wie sie sich meinen Sinnen darstellt, ja
wenn sie gar nicht ist."

HIPPIAS "Die Anwendung hievon, wenn dirs beliebt?"

AGATHON "Die Empfindung, die ich von dem höchsten Geiste habe, hat in das
innerliche System des meinigen den nämlichen Einfluß, den die Empfindung
die ich von der Sonne habe, auf mein körperliches System hat."

HIPPIAS "Wie so?"

AGATHON "Wenn sich mein Leib übel befindet, so vermehrt die Abwesenheit
der Sonne das Unbehagliche dieses Zustands.  Der wiederkehrende
Sonnenschein belebt, ermuntert, erquicket meinen Körper wieder, und ich
befinde mich wohl, oder doch erleichtert.  Eben diese Würkung tut die
Empfindung des alles beseelenden Geistes auf meine Seele; sie erheitert,
sie beruhiget, sie ermuntert mich; sie zerstreut meinen Unmut, sie belebt
meine Hoffnung; sie macht, daß ich in einem Zustande nicht unglücklich bin,
der mir ohne sie unerträglich wäre."

HIPPIAS "Ich bin also glücklicher als du, weil ich alles dieses nicht
nötig habe.  Erfahrung und Nachdenken haben mich von Vorurteilen frei
gemacht; ich genieße alles was ich wünsche, und wünsche nichts, dessen
Genuß nicht in meiner Gewalt ist.  Ich weiß also wenig von Unmut und
Sorgen.  Ich hoffe wenig, weil ich mit dem Genuß des Gegenwärtigen
zufrieden bin.  Ich genieße mit Mäßigung, damit ich desto länger genießen
könne, und wenn ich einen Schmerz fühle, so leide ich mit Geduld, weil
dieses das beste Mittel ist, seine Dauer abzukürzen."

AGATHON "Und worauf gründest du deine Tugend?  Womit nährest und belebest
du sie?  Womit überwindest du die Hinternisse, die sie aufhalten; die
Versuchungen, die von ihr ablocken, das ansteckende der Beispiele, die
Unordnung der Begierden, und die Trägheit, welche die Seele so oft erfährt,
wenn sie sich erheben will?"

HIPPIAS "O Jüngling, lange genug hab ich deinen Ausschweifungen zugehört.
In was für ein Gewebe von Hirngespinsten hat dich die Lebhaftigkeit deiner
Einbildungskraft verwickelt?  Deine Seele schwebt in einer beständigen
Bezauberung, in einer Abwechselung von quälenden und entzückenden Träumen,
und die wahre Beschaffenheit der Dinge bleibt dir so verborgen, als die
sichtbare Gestalt der Welt einem Blindgebornen.  Ich bedaure dich,
Callias.  Deine Gestalt, deine Gaben berechtigen dich nach allem zu
trachten, was das menschliche Leben glückliches hat; deine Denkungsart
allein wird dich unglücklich machen.  Angewöhnt lauter idealische Wesen
um dich her zu sehen, wirst du die Kunst niemals lernen, von den Menschen
Vorteil zu ziehen.  Du wirst in einer Welt, die dich so wenig kennen wird
als du sie, wie ein Einwohner des Monds herum irren, und nirgends am
rechten Platze sein, als in einer Einöde oder im Fasse des Diogenes.  Was
soll man mit einem Menschen anfangen, der Geister sieht?  Der von der
Tugend fodert, daß sie mit aller Welt und mit sich selbst in beständigem
Kriege leben soll?  Mit einem Menschen, der sich in den Mondschein
hinsetzt, und Betrachtungen über das Glück der entkörperten Geister
anstellt?  Glaube mir, Callias, (ich kenne die Welt und sehe keine
Geister) deine Philosophie mag vielleicht gut genug sein eine Gesellschaft
müßiger Köpfe statt eines andern Spiels zu belustigen; aber es ist eine
Torheit sie ausüben zu wollen.  Doch du bist jung; die Einsamkeit deiner
ersten Jugend und die morgenländischen Schwärmereien, die etliche
griechische Müßiggänger von den Egyptern und Chaldäern nach Hause gebracht,
haben deiner Phantasie einen romanhaften Schwung gegeben; die übermäßige
Empfindlichkeit deiner Organisation hat den angenehmen Betrug befödert;
Leuten von dieser Art ist nichts schön genug, was sie sehen, nichts
angenehm genug, was sie fühlen; die Phantasie muß ihnen andre Welten
erschaffen, die Unersättlichkeit ihres Herzens zu befriedigen.  Allein
diesem übel kann noch geholfen werden.  Selbst in den Ausschweifungen
deiner Einbildungskraft entdeckt sich eine natürliche Richtigkeit des
Verstandes, der nichts fehlt als auf andre Gegenstände angewendet zu
werden.  Ein wenig Gelehrigkeit und eine unparteiische überlegung dessen,
was ich dir sagen werde, ist alles was du nötig hast, um von dieser
seltsamen Art von Wahnwitz geheilt zu werden, die du für Weisheit hältst.
überlaß es mir, dich aus den unsichtbaren Welten in die wirkliche
herabzuführen; sie wird dich anfangs befremden, aber nur weil sie dir neu
ist, und wenn du sie einmal gewohnt bist, wirst du die ätherischen so
wenig vermissen als ein erwachsner die Spiele seiner Kindheit.  Diese
Schwärmereien sind Kinder der Einsamkeit und der Muße; ein Mensch der nach
angenehmen Empfindungen dürstet, und der Mittel beraubt ist, sich
würkliche zu verschaffen, ist genötiget sich mit Einbildungen zu speisen,
und aus Mangel einer bessern Gesellschaft mit den Sylphen umzugehen.  Die
Erfahrung wird dich hievon am besten überzeugen können.  Ich will dir die
Geheimnisse einer Weisheit entdecken, die zum Genuß alles dessen führt,
was die Natur, die Kunst, die Gesellschaft, und selbst die Einbildung
(denn der Mensch ist doch nicht gemacht immer weise zu sein) Gutes und
Angenehmes zu geben haben; und ich müßte mich ganz mit dir betrügen, wenn
die Stimme der Vernunft, die du noch niemals gehört zu haben scheinst,
dich nicht von einem Irrwege zurückrufen könnte, wo du am Ende deiner
Reise in das Land der Hoffnungen dich um nichts reicher befinden würdest,
als um die Erfahrung dich betrogen zu haben.  Itzo ist es Zeit schlafen zu
gehen; aber der nächste ruhige Morgen den ich habe, soll dein sein.  Ich
brauche dir nicht zu sagen, wie zufrieden ich mit der Art bin, wie du
bisher dein Amt versehen hast; und ich wünsche nichts, als daß eine
bessere übereinstimmung unsrer Denkungsart mich in den Stand setze, dir
Beweise von meiner Freundschaft zu geben."  Mit diesen Worten begab sich
Hippias hinweg, und ließ unsern Agathon in einer Verfassung, die der Leser
aus dem folgenden Kapitel ersehen wird.



SIEBENTES KAPITEL

Worin Agathon für einen Schwärmer ziemlich gut räsoniert



Wir zweifeln nicht, daß verschiedene Leser dieser Geschichte in der
Vermutung stehen werden, Agathon müsse über diese nachdrucksvolle
Apostrophe des weisen Hippias nicht wenig betroffen, oder doch wenigstens
in einige Unruhe gesetzt worden sein.  Das Alter des Hippias, der Ruf der
Weisheit, worin er stand, der zuversichtliche Ton, womit er sprach, der
Schein von Wahrheit der über seine Rede ausgebreitet war; und was nicht
das wenigste scheint, das Ansehen, welches ihm seine Reichtümer gaben;
alle diese Umstände hätten nicht fehlen sollen, einen Menschen aus der
Fassung zu setzen, der ihm so viele Vorzüge eingestehen mußte, und überdas
noch sein Sklave war.  Allein man kann sich irren.  Agathon hatte diese
ganze emphatische Rede mit einem Lächeln angehört, welches fähig gewesen
wäre, alle Sophisten der Welt irre zu machen, wenn die Dunkelheit und das
Vorurteil des Redners für sich selbst es hätten bemerken lassen; und kaum
befand er sich allein, so war die erste Würkung derselben, daß dieses
Lächeln sich in ein Lachen verwandelte, welches er zum Nachteil seines
Zwerchfells länger zurückzuhalten unnötig hielt, und welches immer wieder
anfing, so oft er sich die Miene, den Ton und die Gebärden vorstellte,
womit der weise Hippias die nachdrücklichsten Stellen seiner Rede von sich
gegeben hatte.  Allein diese mechanische Bewegung machte bald ernsthaftern
Gedanken Platz, und es fehlte wenig, so hätte er sich selbst Vorwürfe
darüber gemacht, daß er fähig gewesen darüber zu lachen, daß ein so großer
Unterschied zwischen Hippias und Agathon war.  "Ein Mensch, der so lebt
wie Hippias", dacht' er, "muß so denken; und wer so denkt wie Hippias
würde unglücklich sein, wenn er nicht so leben könnte.  Ich muß lachen",
fuhr er mit sich selbst fort, "wenn ich an den Ton der Unfehlbarkeit denke,
womit er sprach.  Dieser Ton ist mir nicht so neu, als der weise Hippias
glauben mag.  Ich habe Gerber und Sackträger zu Athen gekannt, die sich
nicht zu wenig deuchten, mit dem ganzen Volk in diesem Ton zu sprechen.
Du glaubst mir etwas neues gesagt zu haben, wenn du meine Denkungsart
Schwärmerei nennst, und mir mit der Gewißheit eines Propheten die
Schicksale ankündigest, die sie mir zuziehen wird.  Wie sehr betrügst du
dich, wenn du mich dadurch erschreckt zu haben glaubst!  O!  Hippias, was
ist das, was du Glückseligkeit nennest?  Niemals wirst du fähig sein, zu
wissen was Glückseligkeit ist.  Was du so nennst ist Glückseligkeit, wie
das Liebe ist, was dir deine Tänzerinnen einflößen.  Du nennst die meinige
Schwärmerei; laß mich immer ein Schwärmer sein, und sei du ein Weiser.
Die Natur hat dir diese Empfindlichkeit, diese innerlichen Sinnen versagt,
die den Unterschied zwischen uns beiden machen; du bist einem Tauben
ähnlich, der die fröhlichen Bewegungen, welche die begeisternde Flöte
eines Damon in alle Glieder seiner Hörer bringt, dem Wein oder der
Unsinnigkeit zuschreibt; er würde tanzen wie sie, wenn er hören könnte.
Die Weltleute sind in der Tat nicht zu verdenken, wenn sie uns andre für
ein wenig mondsüchtig halten; wer will ihnen zumuten, daß sie glauben
sollen, es fehle ihnen etwas, das zu einem vollständigen Menschen gehört?
Ich kannte zu Athen ein junges Frauenzimmer, welches die Natur wegen der
Häßlichkeit ihrer übrigen Figur durch sehr artige Füße getröstet hatte.
'Ich möchte doch wissen', sagte sie zu einer Freundin, 'was diese jungen
Gecken an der einbildischen Timandra sehen, daß sie sonst für niemand
Augen haben als für sie?  Es ist wahr, sie hat keine unfeine Farbe, ihre
Züge sind so so, ihre Augen wenigstens aufmunternd genug, und sie ist sehr
besorgt, ihre Bewunderer durch Auslegung gewisser schlüpfriger Schönheiten
für die Gleichgültigkeit ihres Gesichts schadlos zu halten; aber was sie
für Füße hat! Wie kann man einen Anspruch an Schönheit machen, ohne einen
feinen Fuß zu haben?' 'Du hast Recht', versetzte die Freundin, die der
Natur nichts schönes zu danken hatte, als ein paar überaus kleine Ohren;
'man muß einen Fuß haben wie du, um schön zu sein; aber was sagst du zu
ihren Ohren, Hermia?  So wahr mir Diana gnädig sei, sie würden einem
Faunen Ehre machen.' So sind die Menschen, und es wäre unbillig ihnen übel
zu nehmen, daß sie so sind.  Die Nachtigall singt, der Rabe krächzt, und
er müßte kein Rabe sein, wenn er nicht dächte, daß er gut krächze; er hat
noch recht, wenn er denkt, die Nachtigall krächze nicht gut; es ist wahr,
dann geht er zu weit, wenn er über die Nachtigall spottet, daß sie nicht
so gut krächzt wie er; aber sie würde eben so Unrecht haben, wenn sie über
ihn lachte, daß er nicht singe wie sie; er singt nicht, aber er krächzt
doch gut, und das ist für ihn genug.  Aber Hippias ist besorgt für mich,
er bedaurt mich, er will mich so glücklich machen, wie er ist.  Das ist
großmütig! Er hat ausfindig gemacht, daß ich das Schöne liebe, daß ich
gegen den Reiz, des Vergnügens nicht unempfindlich bin.  Diese Entdeckung
war leicht zu machen; aber in den Schlüssen, die er daraus zieht, könnt'
er sich betrogen haben.  Der kluge Ulysses zog sein steinichtes kleines
Ithaca, wo er frei war, und sein altes Weib mit der er vor zwanzig Jahren
jung gewesen war, der bezauberten Insel der schönen Calypso vor, wo er
unsterblich und ein Sklave gewesen wäre; und der Schwärmer Agathon würde
mit allem seinem Geschmack für das Schöne, und mit aller seiner
Empfindlichkeit für die Ergötzungen, ohne sich einen Augenblick zu
bedenken, lieber in das Faß des Diogenes kriechen, als den Palast, die
Gärten, das Serail und die Reichtümer des weisen Hippias besitzen, und
Hippias sein."

Immer Selbstgespräche, hören wir den Leser sagen.  Wenigstens ist dieses
eines, und wer kann davor?  Agathon hatte sonst niemand, mit dem er hätte
reden können als sich selbst; denn mit den Bäumen und Nymphen reden nur
die Verliebten.  Wir müssen uns schon entschließen, ihm diese Unart zu gut
zu halten, und wir sollten es desto eher tun können, da ein so feiner
Weltmann als Horaz unstreitig war, sich nicht geschämt hat zu gestehen,
daß er öfters mit sich selbst zu reden pflege.



ACHTES KAPITEL

Vorbereitungen zum Folgenden


Agathon hatte noch nicht lange genug unter den Menschen gelebt, um die
Welt so gut zu kennen, als ein Theophrast sie zu der Zeit kannte, da er
sie verlassen mußte.  Allein was ihm an Erfahrung abging, ersetzte seine
natürliche Gabe in den Seelen zu lesen, die durch die Aufmerksamkeit
geschärft worden war, womit er die Menschen und die Auftritte des Lebens,
die er zu sehen Gelegenheit gehabt, beobachtet hatte.  Daher kam es, daß
seine letzte Unterredung mit dem Hippias, anstatt ihn etwas zu lehren, nur
den Verdacht rechtfertigte, den er schon einige Zeit gegen den Charakter
und die Denkungsart dieses Sophisten gefaßt hatte.  Er konnte also auch
leicht erraten, von was für einer Art die geheime Philosophie sein würde,
von welcher er ihm so große Vorteile versprochen hatte.  Dem ungeachtet
verlangte ihn nach dieser Zusammenkunft, teils weil er neugierig war, die
Denkungsart eines Hippias in ein System gebracht zu sehen, teils weil er
sich von der Beredsamkeit desselben diejenige Art von Ergötzung versprach,
die uns ein geschickter Gaukler macht, der uns einen Augenblick sehen läßt,
was wir nicht sehen, ohne es bei einem klugen Menschen so weit zu bringen,
daß man in eben demselben Augenblick nur daran zweifeln sollte, daß man
betrogen wird.  Mit einer Gemütsverfassung, die so wenig von der
Gelehrigkeit hatte, welche Hippias foderte, fand sich Agathon ein, als er
nach Verfluß einiger Tage an einem Morgen in das Zimmer des Sophisten
gerufen wurde, welcher auf einem Ruhbette liegend seiner erwartete, und
ihm befahl sich neben ihm niederzusetzen und das Frühstück mit ihm zu
nehmen.  Diese Höflichkeit war nach der Absicht des weisen Hippias eine
Vorbereitung, und er hatte, um die Würkung derselben zu befördern, das
schönste Mädchen in seinem Hause ausersehen, sie hiebei zu bedienen.  In
der Tat die Gestalt dieser Nymphe, und die gute Art womit sie ihr Amt
versah, machten ihre Aufwartung für einen Weisen von Agathons Alter ein
wenig beunruhigend.  Das schlimmste war, daß die kleine Hexe, um sich
wegen der Gleichgültigkeit zu rächen, womit Agathon ihre zuvorkommende
Gütigkeit bisher vernachlässiget hatte, keinen von den Kunstgriffen
verabsäumte, wodurch sie den Wert des von ihm verscherzten Glückes
empfindlicher zu machen glaubte.  Sie hatte die Bosheit gehabt, sich in
einem so niedlichen, so sittsamen und doch so verführerischen Morgen-Anzug
darzustellen, daß Agathon sich nicht verhindern konnte zu denken, die
Grazien selbst könnten, wenn sie gekleidet erscheinen wollten, keinen
Anzug erfinden, der auf eine wohlanständigere Art das Mittel, zwischen der
eigentlichen Kleidung und ihrer gewöhnlichen Art sich sehen zu lassen,
hielte.  Die Wahrheit zu sagen, das rosenfarbe Gewand, welches sie umfloß,
war eher demjenigen ähnlich, was Petron einen gewebten Wind oder einen
leinenen Nebel nennt, als einem Zeug der den Augen etwas entziehen soll;
und die kleinste Bewegung entdeckte Reizungen, die desto gefährlicher
waren, da sie sich gleich wieder in verräterische Schatten verbargen, und
der Einbildungskraft noch mehr als den Augen nachzustellen schienen.  Dem
ungeachtet würde unser Held sich vielleicht ganz wohl aus der Sache
gezogen haben, wenn er nicht beim ersten Anblick die Absichten des Hippias
und der schönen Cyana (so hieß das junge Frauenzimmer) erraten hätte.
Diese Entdeckung setzte ihn in eine Art von Verlegenheit, die desto
merklicher wurde, je größere Gewalt er sich antat, sie zu verbergen; er
errötete zu seinem größten Verdruß bis an die Ohren, er machte allerlei
gezwungne Gebärden, und sah alle Gemälde in dem Zimmer nach einander an,
um seine Verwirrung unmerklich zu machen; aber alle seine Mühe war umsonst,
und die Geschäftigkeit der schalkhaften Cyane fand immer neuen Vorwand
seinen zerstreuten Blick auf sich zu ziehen.  Doch der Triumph, dessen
sie in diesen Augenblicken genoß, währte nicht lange.  So empfindlich die
Augen Agathons waren, so waren sie es doch nicht mehr als sein moralischer
Sinn; und ein Gegenstand, der diesen beleidigte, konnte keinen so
angenehmen Eindruck auf jene machen, daß er nicht von der unangenehmen
Empfindung des andern wäre überwogen worden.  Die Forderungen der schönen
Cyane, das Gekünstelte, das Schlaue, das Schlüpfrige, das ihm an ihrer
ganzen Person anstößig war, löschte das Reizende so sehr aus, und
erkaltete seine Sinnen so sehr, daß ein größerer Grad davon, gleich dem
Anblick der Medusa, fähig gewesen wäre, ihn in einen Stein zu verwandeln.
Die Freiheit und Gleichgültigkeit, die ihm dieses gab, blieb Cyanen nicht
verborgen; und er sorgte dafür, sie durch gewisse Blicke, und ein gewisses
Lächeln, dessen Bedeutung ihr ganz deutlich war, zu überzeugen, daß sie zu
früh triumphiert habe.  Dieses Betragen war für ihre Reizungen allzu
beleidigend, als daß sie es so gleich für ungezwungen hätte halten sollen;
der Widerstand, den sie fand, forderte sie zu einem Wettstreit heraus,
worin sie alle ihre Künste anwandte, den Sieg zu erhalten; allein die
Stärke ihres Gegners ermüdete endlich ihre Hoffnung, und sie behielt kaum
noch so viel Gewalt über sich selbst, den Verdruß zu verbergen, den sie
über diese Demütigung ihrer Eitelkeit empfand.  Hippias, der sich eine
zeitlang stillschweigend mit diesem Spiel belustigte, urteilte bei sich
selbst, daß es nicht leicht sein werde, den Verstand eines Menschen zu
fangen, dessen Herz selbst auf der schwächsten Seite, sowohl befestiget
schien.  Allein diese Anmerkung bekräftigte ihn nur in seinen Gedanken von
der Methode, die er bei seinem neuen Schüler gebrauchen müsse; und da er
selbst von seinem System besser überzeugt war, als irgend ein Bonze von
der Kraft der Amulete, die er seinen dankbaren Gläubigen austeilt, so
zweifelte er nicht, daß Agathon durch einen freimütigen Vortrag besser zu
gewinnen sein würde, als durch die rednerischen Kunstgriffe, deren er sich
bei schwachem Seelen mit gutem Erfolg zu bedienen pflegte.  Sobald also
das Frühstück genommen, und die beschämte Cyane abgetreten war, fing er
nach einem kleinen Vorbereitungs-Gespräch, den merkwürdigen Diskurs an,
durch dessen vollständige Mitteilung wir desto mehr Dank zu verdienen
hoffen, da wir von Kennern versichert worden, daß der geheime Verstand
desselben den buchstäblichen an Wichtigkeit noch weit übertreffe, und der
wahre und unfehlbare Prozeß, den Stein der Weisen zu finden, darin
verborgen liege.



DRITTES BUCH



ERSTES KAPITEL

Vorbereitung zu einem sehr interessanten Diskurs


"Wenn wir auf das Tun und Lassen der Menschen acht geben, mein lieber
Callias, so scheint zwar, daß alle ihre Sorgen und Bemühungen kein andres
Ziel haben als sich glücklich zu machen; allein die Seltenheit
dererjenigen die es würklich sind, oder es doch zu sein glauben, beweiset
zugleich, daß die meisten nicht wissen, durch was für Mittel sie sich
glücklich machen sollen, wenn sie es nicht sind; oder wie sie sich ihres
guten Glückes bedienen sollen, um in denjenigen Zustand zu kommen den man
Glückseligkeit nennt.  Es gibt eben so viele die im Schoße des Ansehens,
des Glücks und der Wollust, als solche die in einem Zustande von Mangel,
Dienstbarkeit und Unterdrückung elend sind.  Einige haben sich aus diesem
letztern Zustand emporgearbeitet, in der Meinung, daß sie nur darum
unglückselig sein, weil es ihnen am Besitz der Güter des Glücks fehle.
Allein die Erfahrung hat sie gelehrt, daß wenn es eine Kunst gibt, die
Mittel zur Glückseligkeit zu erwerben, es vielleicht eine noch schwerere,
zum wenigsten eine seltnere Kunst sei, diese Mittel recht zu gebrauchen.
Es ist daher allezeit die Beschäftigung der Verständigsten unter den
Menschen gewesen, durch Verbindung dieser beiden Künste diejenige heraus
zu bringen, die man die Kunst glücklich zu leben nennen kann, und in deren
würklichen Ausübung, nach meinem Begriffe, die Weisheit besteht, die so
selten ein Anteil der Sterblichen ist.  Ich nenne sie eine Kunst, weil sie
von der fertigen Anwendung gewisser Regeln abhängt, die nur durch die
übung erlangt werden kann: Allein sie setzt wie alle Künste einen gewissen
Grad von Fähigkeit voraus, den nur die Natur gibt, und den sie nicht allen
zu geben pflegt.  Einige Menschen scheinen kaum einer größern
Glückseligkeit fähig zu sein als die Austern, und wenn sie ja eine Seele
haben, so ist es nur so viel als sie brauchen, um ihren Leib eine Zeitlang
vor der Fäulnis zu bewahren.  Ein größerer und vielleicht der größte Teil
der Menschen befindet sich nicht in diesem Fall; aber weil es ihnen an
genugsamer Stärke des Gemüts, und an einer gewissen Zärtlichkeit der
Empfindung mangelt, so ist ihr Leben gleich dem Leben der übrigen Tiere
des Erdbodens, zwischen Vergnügen, die sie weder zu wählen noch zu
genießen, und Schmerzen, denen sie weder zu widerstehen noch zu entfliehen
wissen, geteilt.  Wahn und Leidenschaften sind die Triebfedern dieser
menschlichen Maschinen; beide setzen sie einer unendlichen Menge von übeln
aus, die es nur in einer betrognen Einbildung, aber eben darum wo nicht
schmerzlicher doch anhaltender und unheilbarer sind, als diejenigen die
uns die Natur auferlegt.  Diese Art von Menschen ist keines gesetzten und
anhaltenden Vergnügens, keines Zustandes von Glückseligkeit fähig; ihre
Freuden sind Augenblicke, und ihre übrige Dauer ist entweder ein
würkliches Leiden, oder ein unaufhörliches Gefühl verworrner Wünsche, eine
immerwährende Ebbe und Flut von Furcht und Hoffnung, von Phantasien und
Gelüsten; kurz eine unruhige Bewegung die weder ein gewisses Maß noch ein
festes Ziel hat, und also weder ein Mittel zur Erhaltung dessen was gut
ist sein kann, noch dasjenige genießen läßt, was man würklich besitzt.  Es
scheint also unmöglich zu sein, ohne eine gewisse Zärtlichkeit der
Empfindung, die uns in einer weitern Sphäre, mit feinern Sinnen und auf
eine angenehmere Art genießen läßt, und ohne diejenige Stärke der Seele,
die uns fähig macht das Joch der Phantasie und des Wahns abzuschütteln,
und die Leidenschaften in unsrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ruhigen
Zustande von Genuß und Zufriedenheit zu kommen, der die Glückseligkeit
ausmacht.  Nur derjenige ist in der Tat glücklich, der sich von den übeln
die nur in der Einbildung bestehen, gänzlich frei zu machen; diejenigen
aber, denen die Natur den Menschen unterworfen hat, entweder zu vermeiden,
oder doch zu vermindern--und das Gefühl derselben einzuschläfern, hingegen
sich in den Besitz alles des Guten, dessen uns die Natur fähig gemacht hat,
zu setzen, und was er besitzt, auf die angenehmste Art zu genießen weiß;
und dieser Glückselige allein ist der Weise.

Wenn ich dich anders recht kenne, Callias, so hat dich die Natur mit den
Fähigkeiten es zu sein so reichlich begabt, als mit den Vorzügen, deren
kluger Gebrauch uns die Gunstbezeugungen des Glücks zu verschaffen pflegt.
Dem ungeachtet bist du weder glücklich, noch hast du die Miene es jemals
zu werden, so lange du nicht gelernt haben wirst, von beiden einen andern
Gebrauch zu machen als du bisher getan hast.  Du wendest die Stärke deiner
Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnügen unempfindlich zu machen, und
beschäftigest deine Empfindlichkeit mit unwesentlichen Gegenständen, die
du nur in der Einbildung siehest, und nur im Traume genießest; die
Vergnügungen, welche die Natur dem Menschen zugeteilt hat, sind für dich
Schmerzen, weil du dir Gewalt antun mußt sie zu entbehren; und du setzest
dich allen übeln aus, die sie uns vermeiden lehrt, indem du anstatt einer
nützlichen Geschäftigkeit dein Leben mit den süßen Einbildungen
wegträumest, womit du dir die Beraubung des würklichen Vergnügens zu
ersetzen suchst.  Dein übel, mein lieber Callias, entspringt von einer
Einbildungskraft, die dir ihre Geschöpfe in einem überirdischen Glanze
zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falsches Licht über das was
würklich ist ausbreitet; einer dichterischen Einbildungskraft, die sich
beschäftiget schönere Schönheiten, und angenehmere Vergnügungen zu
erfinden als die Natur hat; einer Einbildungskraft, ohne welche weder
Homere, noch Alcamene, noch Polygnote wären; welche gemacht ist unsre
Ergötzungen zu verschönern, aber nicht die Führerin unsers Lebens zu sein.
Um weise zu sein, hast du nichts nötig als die gesunde Vernunft an die
Stelle dieser begeisterten Zauberin, und die kalte überlegung an den Platz
eines sehr oft betrüglichen Gefühls zu setzen.  Bilde dir auf etliche
Augenblick' ein, daß du den Weg zur Glückseligkeit erst suchen müssest;
frage die Natur, höre ihre Antwort, und folge dem Pfade, den sie dir
vorzeichnen wird."



ZWEITES KAPITEL

Theorie der angenehmen Empfindungen


"Und wen anders als die Natur können wir fragen, um zu wissen wie wir
leben sollen, um wohl zu leben?  Die Götter? Wenn eine Gottheit ist, so
ist sie entweder die Natur selbst, oder die Urheberin der Natur; in beiden
Fällen ist die Stimme der Natur die Stimme der Gottheit.  Sie ist die
allgemeine Lehrerin aller Wesen; sie lehrt jedes Tier vom Elephanten bis
zum Insekt, was seiner besondern Verfassung gut oder schädlich ist.  Um so
glücklich zu sein als es diese innerliche Einrichtung erlaubt, braucht das
Tier nichts weiter, als dieser Stimme der Natur zu folgen, welche bald
durch den süßen Zug des Vergnügens, bald durch das ungedultige Fodern des
Bedürfnisses, bald durch das ängstliche Pochen des Schmerzens es zu
demjenigen locket, was ihm zuträglich ist, oder es zur Erhaltung seines
Lebens und seiner Gattung auffordert, oder es vor demjenigen warnet, was
seinem Wesen die Zerstörung dräuet.  Sollte der Mensch allein von dieser
mütterlichen Vorsorge ausgenommen sein, oder er allein irren können, wenn
er der Stimme folget, die zu allen Wesen redet?  Oder ist nicht vielmehr
die Unachtsamkeit und der Ungehorsam gegen ihre Erinnerungen die einzige
wahre Ursache, warum unter einer unendlichen Menge von lebenden Wesen der
Mensch das einzige Unglückselige ist?

Die Natur hat allen ihren Werken eine gewisse Einfalt eingedrückt, die
ihre mühsamen Anstalten und eine genaue Regelmäßigkeit unter einem Schein
von Leichtigkeit und ungezwungner Anmut verbirgt.  Mit diesem Stempel
sind auch die Gesetze der Glückseligkeit bezeichnet, die sie dem Menschen
vorgeschrieben hat.  Sie sind einfältig, leicht auszuüben, und führen
gerade und sicher zum Zweck.  Die Kunst glücklich zu leben, würde die
gemeinste unter allen Künsten sein, wie sie die leichteste ist, wenn die
Menschen nicht gewohnt wären sich einzubilden, daß man große Absichten
nicht anders, als durch große Anstalten erreichen könne.  Es scheint ihnen
zu einfältig, daß alles was ihnen die Natur durch den Mund der Weisheit zu
sagen hat, in diese drei Erinnerungen zusammen fließen soll: Befriedige
deine Bedürfnisse, vergnüge alle deine Sinnen, und erspare dir so viel du
kannst alle schmerzhaften Empfindungen.  Und doch wird dich eine kleine
Aufmerksamkeit überführen, daß die vollständigste Glückseligkeit deren die
Sterblichen fähig sind, in die Linie eingeschlossen ist, die von diesen
dreien Formuln bezeichnet wird.

Es hat Narren gegeben, welche die Frage mühsam untersucht haben, ob das
Vergnügen ein Gut, und der Schmerz ein übel sei?  Es hat noch größere
Narren gegeben, welche würklich behaupteten, der Schmerz sei kein übel,
und das Vergnügen kein Gut; und was das lustigste dabei ist, beide haben
Toren gefunden, die albern genug waren, diese Narren für weise zu halten.
Das Vergnügen ist kein Gut, sagen sie, weil es Fälle gibt wo der Schmerz
ein größeres Gut ist; und der Schmerz ist kein übel, weil er zuweilen
besser ist als das Vergnügen.  Sind diese Wortspiele einer Antwort wert?
Was würd' ein Zustand sein, der in einem vollständigen unaufhörlichen
Gefühl des höchsten Grades aller möglichen Schmerzen bestünde? Wenn dieser
Zustand das höchste übel ist, so ist der Schmerz ein übel.  Doch wir
wollen die Schwätzer mit Worten spielen lassen, die ihnen bedeuten müssen
was sie wollen.  Die Natur entscheidet diese Frage, wenn es eine sein kann,
auf eine Art, die keinen Zweifel übrig läßt.  Wer ist, der nicht lieber
vernichtet als unaufhörlich gepeiniget werden wollte?  Wer sieht nicht
einen schönen Gegenstand lieber, als einen ekelhaften?  Wer hört nicht
lieber den Gesang der Grasmücke, als das Geheul der Nachteule?  Wer zieht
nicht einen angenehmen Geruch oder Geschmack einem widrigen vor?  Und
würde nicht der enthaltsame Callias selbst lieber auf einem Lager von
Blumen in den Rosenarmen irgend einer schönen Nymphe ruhen, als in den
glühenden Armen des ehernen Götzenbildes, welchem die Andacht gewisser
Syrischer Völker, wie man sagt, ihre Kinder opfert?  Eben so wenig scheint
es einem Zweifel unterworfen zu sein, daß der Schmerz und das Vergnügen so
unverträglich sind, daß eine einzige gepeinigte Nerve genug ist, uns gegen
die vereinigten Reizungen aller Wollüste unempfindlich zu machen.  Die
Freiheit von allen Arten der Schmerzen ist also unstreitig eine
unumgängliche Bedingung der Glückseligkeit; allein da sie nichts positives
ist, so ist sie nicht so wohl ein Gut, als der Zustand, worin man des
Genusses des Guten fähig ist.  Dieser Genuß allein ist es, dessen Dauer
den Stand hervorbringt, den man Glückseligkeit nennt.

Es ist unleugbar, daß nicht alle Arten und Grade des Vergnügens gut sind.
Die Natur allein hat das Recht uns die Vergnügen anzuzeigen, die sie uns
bestimmt hat.  So unendlich die Menge dieser angenehmen Empfindungen zu
sein scheint, so ist doch leicht zu sehen, daß sie alle entweder zu den
Vergnügungen der Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer dritten
Klasse, die aus beiden zusammen gesetzt ist, gehören.  Die Vergnügen der
Einbildungskraft sind entweder Erinnerungen an ehmals genossene sinnliche
Vergnügen; oder Mittel uns den Genuß derselben reizender zu machen; oder
angenehme Dichtungen und Träume, die entweder in einer neuen willkürlichen
Zusammensetzung der angenehmen Ideen, die uns die Sinne gegeben, oder in
einer dunkel eingebildeten Erhöhung der Grade jener Vergnügen, die wir
erfahren haben, bestehen.  Es sind also, wenn man genau reden will, alle
Vergnügungen im Grunde sinnlich, indem sie, es sei nun unmittelbar oder
vermittelst der Einbildungskraft, von keinen andern als sinnlichen
Vorstellungen entstehen können.

Die Philosophen reden von Vergnügen des Geistes, von Vergnügen des Herzens,
von Vergnügen der Tugend.  Alle diese Vergnügen sind es für die Sinnen
oder für die Einbildungskraft, oder sie sind nichts.  Warum ist Homer
unendlich mal angenehmer zu lesen als Heraclitus?  Weil die Gedichte des
ersten eine Reihe von Gemälden darstellen, die entweder durch die
eigentümliche Reizungen des Gegenstandes, oder die Lebhaftigkeit der
Farben, oder einen Kontrast, der das Vergnügen durch eine kleine Mischung
mit widrigen Empfindungen erhöhet, oder die Erregung angenehmer Bewegungen,
unsre Phantasie bezaubern.--Da die trocknen Schriften des Philosophen
nichts darstellen, als eine Reihe von Wörtern, womit man abgezogne
Begriffe bezeichnet, von denen sich die Einbildungskraft nicht anders als
mit vieler Anstrengung und einer beständigen Bemühung, die gänzliche
Verwirrung so vieler unbestimmter Schattenbilder zu verhüten, einige Ideen
machen kann; wenn anders dasjenige so genennt zu werden verdient, was in
Absicht seines wirklichen Gegenstands in der Natur, kaum so viel ist als
ein Schatten gegen den Körper der ihn zu werfen scheint.  Es ist wahr, es
gibt abgezogene Begriffe, die für gewisse enthusiastische Seelen
entzückend sind; aber warum sind sie es?  In der Tat bloß darum, weil ihre
Einbildungskraft sie auf eine schlaue Art zu verkörpern weiß.  Untersuche
alle angenehmen Ideen von dieser Art, so unkörperlich und geistig sie
scheinen mögen, und du wirst finden, daß das Vergnügen, so sie deiner
Seele machen, von den sinnlichen Vorstellungen entsteht, womit sie
begleitet sind.  Bemühe dich so sehr als du willst, dir Götter ohne
Gestalt, ohne Glanz, ohne etwas das die Sinnen rührt, vorzustellen; es
wird dir unmöglich sein.  Der Jupiter des Homer und Phidias, die Idee
eines Hercules oder Theseus, wie unsre Einbildungskraft sich diese Helden
vorzustellen pflegt, die Ideen eines überirdischen Glanzes, einer mehr als
menschlichen Schönheit, eines ambrosischen Geruchs, werden sich unvermerkt
an die Stelle derjenigen setzen, die du dich vergeblich zu machen
bestrebest; und du wirst noch immer an dem irdischen Boden kleben, wenn du
schon in den empyreischen Gegenden zu schweben glaubst.  Sind die
Vergnügen des Herzens weniger sinnlich?  Sie sind die Allersinnlichsten.
Ein gewisser Grad derselben verbreitet eine wollüstige Wärme durch unser
ganzes Wesen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das Spiel der Fibern,
und setzt unsre ganze Maschine in einen Zustand von Behaglichkeit, der
sich der Seele um so mehr mitteilet, als ihre eigne natürliche
Verrichtungen auf eine angenehme Art dadurch erleichtert werden.  Die
Bewunderung, die Liebe, das Verlangen, die Hoffnung, das Mitleiden, jeder
zärtliche Affekt bringt diese Würkung in einigem Grad hervor, und ist
desto angenehmer, je mehr er sich derjenigen Wollust nähert, die unsre
Alten würdig gefunden haben, in der Gestalt der personifizierten Schönheit,
aus deren Genuß sie entspringt, unter die Götter gesetzt zu werden.
Derjenige, den sein Freund niemals in Entzückungen gesetzt hat, die den
Entzückungen der Liebe ähnlich sind, ist nicht berechtiget von den
Vergnügen der Freundschaft zu reden.  Was ist das Mitleiden, welches uns
zur Guttätigkeit treibt?  Wer anders ist desselben fähig als diese
empfindlichen Seelen, deren Auge durch den Anblick, deren Ohr durch den
ächzenden Ton des Schmerzens und Elends gequälet wird, und die in dem
Augenblick, da sie die Not eines Unglücklichen erleichtern, beinahe
dasselbige Vergnügen fühlen, welches sie in eben diesem Augenblick an
seiner Stelle gefühlt hätten?  Wenn das Mitleiden nicht ein wollüstiges
Gefühl ist, warum rührt uns nichts so sehr als die leidende Schönheit?
Warum lockt die klagende Phädra in der Nachahmung zärtliche Tränen aus
unsern Augen, da die winselnde Häßlichkeit in der Natur nichts als Ekel
erweckt?  Und sind etwan die Vergnügen der Wohltätigkeit und Menschenliebe
weniger sinnlich?  Dasjenige, was in dir vorgehen wird, wenn du dir die
kontrastierenden Gemälde einer geängstigten und einer fröhlichen Stadt
vorstellest, die Homer auf den Schild des Achilles setzt, wird dir diese
Frage auflösen! Nur diejenigen, die der Genuß des Vergnügens in die
lebhafteste Entzückung setzt, sind fähig, von den lachenden Bildern einer
allgemeinen Freude und Wonne so sehr gerührt zu werden, daß sie dieselbige
außer sich zu sehen wünschen; das Vergnügen der Guttätigkeit wird allemal
mit demjenigen in Verhältnis stehen, welches ihnen der Anblick eines
vergnügten Gesichts, eines fröhlichen Tanzes, einer öffentlichen
Lustbarkeit macht; und es ist nur der Vorteil ihres Vergnügens, je
allgemeiner diese Szene ist.  Je größer die Anzahl der Fröhlichen und die
Mannigfaltigkeit der Freuden, desto größer die Wollust, wovon diese Art
von Menschen, an denen alles Sinn, alles Herz und Seele ist, beim Anblick
derselben überströmet werden.  Laß uns also gestehen, Callias, daß alle
Vergnügen, die uns die Natur anbeut, sinnlich sind; und daß die
hochfliegendste, abgezogenste und geistigste Einbildungskraft uns keine
andre verschaffen kann, als solche, die wir auf eine weit vollkommnere Art
aus dem rosenbekränzten Becher, und von den Lippen der schönen Cyane
saugen könnten.

Es ist wahr, es gibt noch eine Art von Vergnügen, die beim ersten Anblick
eine Ausnahme von meinem Satz zu machen scheint.  Man könnte sie
künstliche nennen, weil wir sie nicht aus den Händen der Natur empfangen,
sondern nur gewissen übereinkommnissen der menschlichen Gesellschaft zu
danken haben, durch welche dasjenige, was uns dieses Vergnügen macht, die
Bedeutung eines Gutes erhalten hat.  Allein die kleinste überlegung ist
hinlänglich uns zu überzeugen, daß diese Dinge uns keine andre Art von
Vergnügen machen, als die wir vom Besitz des Geldes haben; welches wir mit
Gleichgültigkeit ansehen würden, wenn es uns nicht für alle die würklichen
Vergnügen Gewähr leistete, die wir uns dadurch verschaffen können.  Von
dieser Art ist dasjenige, welches der Ehrgeizige empfindet, wenn ihm
Bezeugungen einer scheinbaren Hochachtung oder Unterwürfigkeit gemacht
werden, die ihm als Zeichen seines Ansehens und der Macht, die ihm
dasselbe über andre gibt, angenehm sind.  Ein morgenländischer Despot
bekümmert sich wenig um die Hochachtung seiner Völker; sklavische
Unterwürfigkeit ist für ihn genug.  Ein Mensch hingegen, dessen Glück in
den Händen solcher Leute liegt, die seines gleichen sind, ist genötiget,
sich ihre Hochachtung zu erwerben.  Allein diese Unterwürfigkeit ist dem
Despoten, diese Hochachtung ist dem Republikaner nur darum angenehm, weil
sie das Vermögen oder die Gelegenheit gibt, die Leidenschaften und die
Begierden desto besser zu befriedigen, welche die unmittelbaren Quellen
des Vergnügens sind.  Warum ist Alcibiades ehrgeizig?  Alcibiades bewirbt
sich um einen Ruhm, der seine Ausschweifungen, seinen übermut, seinen
schleppenden Purpur, seine Schmäuse und Liebeshändel bedeckt; der es den
Atheniensern erträglich macht, den Liebesgott, mit dem Blitze Jupiters
bewaffnet, auf dem Schilde seines Feldherrn zu sehen; der die Gemahlin
eines spartanischen Königs so sehr verblendet, daß sie stolz darauf ist,
für seine Buhlerin gehalten zu werden.  Ohne diese Vorteile würde ihm
Ansehn und Ruhm so gleichgültig sein, als ein Haufen Rechenpfennige einem
corinthischen Wucherer.  'Allein', spricht man, 'wenn es seine Richtigkeit
hat, daß die Vergnügen der Sinne alles sind, was uns die Natur zuerkannt
hat, was ist leichter und was braucht weniger Kunst und Anstalten, als
glücklich zu sein?  Wie wenig bedarf die Natur um zu frieden zu sein?' Es
ist wahr, die rohe Natur bedarf wenig.  Ihre Unwissenheit ist ihr Reichtum.
Eine Bewegung, die seinen Körper munter erhält, eine Nahrung die den
Hunger stillt, ein Weib, schön oder häßlich, wenn ihn die Ungeduld eines
gewissen Bedürfnisses beunruhiget, ein schattichter Rasen, wenn er des
Schlafs bedarf, und eine Höhle, sich vor dem Ungewitter zu sichern, ist
alles was der wilde Mensch nötig hat, um in dem Lauf von achtzig oder
hundert Jahren sich nur nicht einmal einfallen zu lassen, daß man mehr
brauchen könne.  Die Vergnügen der Einbildungskraft und des Geschmacks
sind nicht für ihn; er genießt nicht mehr als die übrigen Tiere, und
genießt wie sie.  Wenn er glücklich ist, weil er sich nicht für
unglücklich hält, so ist er es doch nicht in Vergleichung mit demjenigen,
für den die Künste des Witzes und des Geschmacks die angenehmste Art der
Bedürfnisse der Natur zu genießen, und eine unendliche Menge von
Ergötzungen der Sinne und der Einbildung erfunden haben, wovon die Natur
in dem rohen Zustande, worin wir sie uns in den ältesten Zeiten vorstellen,
keinen Begriff hat.  Diese Vergleichung, es ist wahr, findet nur in dem
Stand einer Gesellschaft statt, die sich in einer langen Reihe von
Jahrhunderten endlich zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit erhoben
hat.  In einem solchen aber wird alles das zum Bedürfnis, was der Wilde
nur darum nicht vermisset, weil es ihm unbekannt ist; und ein Diogenes
könnte zu Corinth nicht glücklich sein, wenn er nicht ein Narr wäre.
Gewisse poetische Köpfe haben sich ein goldnes Alter, ein Arcadien, ein
angenehmes Hirtenleben geträumt, welches zwischen der rohen Natur und der
Lebensart des begüterten Teils eines gesitteten und sinnreichen Volkes das
Mittel halten soll.  Sie haben die verschönerte Natur von allem demjenigen
entkleidet, wodurch sie verschönert worden ist, und dieses idealische
Wesen die schöne Natur genannt.  Allein außerdem, daß diese schöne Natur,
in dieser nackten Einfalt, welche man ihr gibt, niemals irgendwo vorhanden
war; wer siehet nicht, daß die Lebensart des goldnen Alters der Dichter,
zu derjenigen, welche durch die Künste mit allem bereichert und ausgeziert
worden, was der Witz zu erfinden fähig ist, um uns in den Armen einer
ununterbrochnen Wollust, vor dem überdruß der Sättigung zu bewahren; daß,
sage ich, jene dichtrische Lebensart zu dieser sich eben so verhält, wie
die Lebensart des wildesten Sogdianers zu jener?  Wenn es angenehmer ist
in einer bequemen Hütte zu wohnen als in einem hohlen Baum, so ist es noch
angenehmer in einem geräumigen Hause zu wohnen, das mit den
ausgesuchtesten und wollüstigsten Bequemlichkeiten versehen, und, wohin
man die Augen wendet, mit Bildern des Vergnügens ausgeziert ist; und wenn
eine mit Bändern und Blumen geschmückte Phyllis reizender ist als eine
schmutzige und zottichte Wilde, muß nicht eine von unsern Schönen, deren
natürliche Reizungen durch einen wohlausgesonnenen und schimmernden Putz
erhoben werden, um eben so viel besser gefallen als eine Phyllis?"



DRITTES KAPITEL

Die Geisterlehre eines echten Materialisten


"Wir haben die Natur gefragt, Callias, worin die Glückseligkeit bestehe,
die sie uns zugedacht habe, und wir haben ihre Antwort.  Ein
schmerzenfreies Leben, die angenehmste Befriedigung unsrer natürlichen
Bedürfnisse, und der abwechslende Genuß aller Arten von Vergnügen, womit
die Einbildungskraft, der Witz und die Künste unsern Sinnen zu schmeicheln
fähig sind.--Dieses ist alles was der Mensch fodern kann, und wenn es eine
erhabnere Art von Glückseligkeit gibt, so können wir wenigstens gewiß sein,
daß sie nicht für uns gehört, da wir nicht einmal fähig sind, uns eine
Vorstellung davon zu machen.  Es ist wahr, der enthusiastische Teil unter
den Verehrern der Götter schmeichelt sich mit einer zukünftigen
Glückseligkeit, zu welcher die Seele nach der Zerstörung des Körpers erst
gelangen soll.  Die Seele, sagen sie, war ehmals eine Freundin und
Gespielin der Götter, sie war unsterblich wie sie, und begleitete (wie
Plato homerisiert) den geflügelten Wagen Jupiters, um mit den übrigen
Unsterblichen die unvergängliche Schönheiten zu beschauen, womit die
unermeßlichen Räume über den Sphären erfüllt sind.  Ein Krieg, der unter
den Bewohnern der unsichtbaren Welt entstand, verwickelte sie in den Fall
der Besiegten; sie ward vom Himmel gestürzt, und in den Kerker eines
tierischen Leibes eingeschlossen, um durch den Verlust ihrer ehmaligen
Wonne, in einem Zustand, der eine Kette von Plagen und Schmerzen ist, ihre
Schuld auszutilgen.  Das unendliche Verlangen, der nie gestillte Durst
nach einer Glückseligkeit, die sie in keinem irdischen Gut findet, ist das
einzige, das ihr zu ihrer Qual von ihrem vormaligen Zustand übrig
geblieben ist; und es ist unmöglich, daß sie diese vollkommne Seligkeit,
wodurch sie allein befriediget werden kann, wieder erlange, eh sie sich
wieder in ihren ursprünglichen Stand, in das reine Element der Geister
empor geschwungen hat.  Sie ist also vor dem Tode keiner andern
Glückseligkeit fähig als derjenigen, deren sie durch eine freiwillige
Absonderung von allen irdischen Dingen, durch Ertödung aller irdischen
Leidenschaften und Entbehrung aller sinnlichen Vergnügen, fähig gemacht
wird.  Nur durch diese Entkörperung wird sie der Beschauung der
wesentlichen und göttlichen Dinge fähig, worin die Geister ihre einzige
Nahrung und diese vollkommne Wonne finden, wovon die sinnlichen Menschen
sich keinen Begriff machen können.  Solchergestalt kann sie nur, nachdem
sie durch verschiedne Grade der Reinigung, von allem was tierisch und
körperlich ist, gesäubert worden, sich wieder zu der überirdischen Sphäre
erheben, mit den Göttern leben, und im Unverwandten Anschauen des
wesentlichen und ewigen Schönen, wovon alles Sichtbare bloß der Schatten
ist, Ewigkeiten durchleben, die eben so grenzenlos sind, als die Wonne,
von der sie überströmet werden.

Ich zweifle nicht daran, Callias, daß es Leute geben mag, bei denen die
Milzsucht hoch genug gestiegen ist, daß diese Begriffe eine Art von
Wahrheit für sie haben.  Es ist auch nichts leichters, als daß junge Leute
von lebhafter Empfindung und feurigen Einbildungskraft, durch eine einsame
Lebensart und den Mangel solcher Gegenstände und Freuden, worin sich
dieses übermäßige Feuer verzehren könnte, von diesen hochfliegenden
Schimären eingenommen werden, welche so geschickt sind, ihre nach
Vergnügen lechzende Einbildungskraft durch eine Art von Wollust zu
täuschen, die nur desto lebhafter ist, je verworrener und dunkler die
bezaubernden Phantomen sind die sie hervorbringen; allein ob diese Träume
außer dem Gehirn ihrer Erfinder, und derjenigen, deren Einbildungskraft so
glücklich ist ihnen nachfliegen zu können, einige Wahrheit oder
Würklichkeit haben, ist eine Frage, deren Erörterung nicht zum Vorteil
derselben ausfällt, wenn sie der gesunden Vernunft aufgetragen wird.  Je
weniger die Menschen wissen, desto geneigter sind sie, zu wähnen und zu
glauben.  Wem anders als der Unwissenheit und dem Aberglauben der ältesten
Welt haben die Nymphen und Faunen, die Najaden und Tritonen, die Furien
und die erscheinenden Schatten der Verstorbnen ihre vermeinte Würklichkeit
zu danken?  Je besser wir die Körperwelt kennen lernen, desto enger werden
die Grenzen des Geister-Reichs.  Ich will itzo nichts davon sagen, ob es
wahrscheinlich sei, daß die Priesterschaft, die von jeher einen so
zahlreichen Orden unter den Menschen ausgemacht, bald genug die Entdeckung
machen mußte, was für große Vorteile man durch diesen Hang der Menschen
zum Wunderbaren von ihren beiden heftigsten Leidenschaften, der Furcht und
der Hoffnung, ziehen könne.  Wir wollen bei der Sache selbst bleiben.
Worauf gründet sich die erhabne Theorie, von der wir reden?  Wer hat
jemals diese Götter, diese Geister gesehen, deren Dasein sie voraussetzt?
Welcher Mensch erinnert sich dessen, daß er ehmals ohne Körper in den
ätherischen Gegenden geschwebt, den geflügelten Wagen Jupiters begleitet,
und mit den Göttern Nektar getrunken habe?  Was für einen sechsten oder
siebenten Sinn haben wir, um die Würklichkeit der Gegenstände damit zu
erkennen, womit man die Geisterwelt bevölkert?  Sind es unsre innerlichen
Sinnen?  Was sind diese anders als das Vermögen der Einbildungskraft die
Würkungen der äußern Sinnen nachzuäffen?  Was sieht das inwendige Auge
eines Blindgebornen?  Was hört das innere Ohr eines gebornen Tauben?  Oder
was sind diese Szenen, in welche die erhabenste Einbildungskraft
auszuschweifen fähig ist, anders als neue Zusammensetzungen, die sie
gerade so macht, wie ein Mädchen aus den Blumen, die in einem Parterre
zerstreut stehen, einen Kranz flicht; oder höhere Grade dessen was die
Sinnen würklich empfunden haben, von welchen man jedoch immer unfähig
bleibt, sich einige klare Vorstellung zu machen; denn was empfinden wir
bei dem ätherischen Schimmer, oder den ambrosischen Gerüchen der
homerischen Götter?  Wir sehen, wenn ich so sagen kann, den Schatten eines
Glanzes in unsrer Einbildung; wir glauben einen lieblichen Geruch zu
empfinden; aber wir sehen keinen ätherischen Glanz, und empfinden keinen
ambrosischen Geruch.  Kurz, man verbiete den Schöpfern der überirdischen
Welten sich keiner irdischen und sinnlichen Materialien zu bedienen, so
werden ihre Welten, um mich eines ihrer Ausdrücke zu bedienen, plötzlich
wieder in den Schoß des Nichts zurückfallen, woraus sie gezogen worden.
Und brauchen wir wohl noch einen andern Beweis, um uns diese ganze Theorie
verdächtig zu machen, als die Methode, die man uns vorschreibt, um zu der
geheimnisvollen Glückseligkeit zu gelangen, welcher wir diejenige
aufopfern sollen, die uns die Natur und unsre Sinnen anbieten?  Wir sollen
uns den sichtbaren Dingen entziehen, um die unsichtbaren zu sehen; wir
sollen aufhören zu empfinden, damit wir desto lebhafter phantasieren
können.  'Verstopfet eure Sinnen', sagen sie, 'so werdet ihr Dinge sehen
und hören, wovon diese tierischen Menschen, die gleich dem Vieh mit den
Augen sehen, und mit den Ohren hören, sich keinen Begriff machen können.'
Eine vortreffliche Diät, in Wahrheit; die Schüler des Hippokrates werden
dir beweisen, daß man keine bessere erfinden kann, um wahnwitzig zu werden.
Es scheint also sehr wahrscheinlich, daß alle diese Geister, diese
Welten, welche sie bewohnen, und diese Glückseligkeiten, welche man nach
dem Tode mit ihnen zu teilen hofft, nicht mehr Wahrheit haben, als die
Nymphen, die Liebesgötter und die Grazien der Dichter, als die Gärten der
Hesperiden und die Inseln der Circe und Calypso; kurz, als alle diese
Spiele der Einbildungskraft, welche uns belustigen, ohne daß wir sie für
würklich halten.  Die Religion unsrer Väter befiehlt uns einen Jupiter,
eine Venus zu glauben; ganz gut; aber was für eine Vorstellung macht man
uns von ihnen?  Jupiter soll ein Gott, Venus eine Göttin sein: Allein der
Jupiter des Phidias ist nichts mehr als ein heroischer Mann, noch die
Venus des Praxiteles mehr als ein schönes Weib; von dem Gott und der
Göttin hat kein Mensch in Griechenland den mindesten Begriff.  Man
verspricht uns nach dem Tod ein unsterbliches Leben bei den Göttern; aber
die Begriffe die wir uns davon machen, sind entweder aus den sinnlichen
Wollüsten, oder den feinern und geistigern Freuden, die wir in diesem
Leben erfahren haben, zusammengesetzt; es ist also klar, daß wir gar keine
echte Vorstellung von dem Leben der Geister und von ihren Freuden haben.
Ich will hiemit nicht leugnen, daß es Götter, Geister oder vollkommnere
Wesen als wir sind, haben könne oder würklich habe.  Alles was meine
Schlüsse zu beweisen scheinen, ist dieses, daß wir unfähig sind, uns eine
richtige Idee von ihnen zu machen, oder kurz, daß wir nichts von ihnen
wissen.  Wissen wir aber nichts, weder von ihrem Zustande noch von ihrer
Natur, so ist es für uns eben so viel, als ob sie gar nicht wären.
Anaxagoras bewies mir einst mit dem ganzen Enthusiasmus eines Sternsehers,
daß der Mond Einwohner habe.  Vielleicht sagte er die Wahrheit.  Allein
was sind diese Mondbewohner für uns?  Meinest du, der König Philippus
werde sich die mindeste Sorge machen, die Griechen möchten sie gegen ihn
zu Hülfe rufen?  Es mögen Einwohner im Monde sein; für uns ist der Mond
weder mehr noch weniger als eine leere glänzende Scheibe, die unsre Nächte
erheitert, und unsre Zeit abmißt.  Hat es aber diese Bewandtnis, wie es
denn nicht anders sein kann, wie töricht ist es, den Plan seines Lebens
nach Schimären einzurichten, und sich der Glückseligkeit deren man
würklich genießen könnte, zu begeben, um sich mit ungewissen Hoffnungen zu
weiden; die Frucht seines Daseins zu verlieren, so lange man lebt, in
Hoffnung sich dafür schadlos zu halten, wenn man nicht mehr sein wird!
Denn daß wir itzt leben, und daß dieses Leben aufhören wird, das wissen
wir gewiß; ob ein andres alsdann anfange, ist wenigstens ungewiß, und wenn
es auch wäre, so ist es doch unmöglich, das Verhältnis desselben gegen das
itzige zu bestimmen, da wir kein Mittel haben uns einen echten Begriff
davon zu machen.  Laß uns also den Plan unsers Lebens auf das gründen, was
wir kennen und wissen; und nachdem wir gefunden haben, was das glückliche
Leben ist, den geradesten und sichersten Weg suchen, auf dem wir dazu
gelangen können."



VIERTES KAPITEL

Worin Hippias bessere Schlüsse macht


"Ich habe schon bemerkt, daß die Glückseligkeit, welche wir suchen, nur in
dem Stand einer Gesellschaft, die sich schon zu einem gewissen Grade der
Vollkommenheit erhoben hat, statt finde.  In einer solchen Gesellschaft
entwickeln sich alle diese mannichfaltigen Geschicklichkeiten, die bei dem
wilden Menschen, der so wenig bedarf, so einsam lebt, und so wenig
Leidenschaften hat, immer müßige Fähigkeiten bleiben.  Die Einführung des
Eigentums, die Ungleichheit der Güter und Stände, die Armut der einen, der
überfluß, die üppigkeit und die Trägheit der andern, dieses sind die
wahren Götter der Künste, die Mercure und die Musen, denen wir ihre
Erfindung oder doch ihre Vollkommenheit zu danken haben.  Wie viel
Menschen müssen ihre Bemühungen vereinigen, um einen einzigen Reichen zu
befriedigen!  Diese bauen seine Felder und Weinberge, andre pflanzen seine
Lustgärten, noch andre bearbeiten den Marmor, woraus seine Wohnung
aufgeführt wird; tausende durchschiffen den Ozean um ihm die Reichtümer
fremder Länder zuzuführen; tausende beschäftigen sich, die Seide und den
Purpur zu bereiten, die ihn kleiden; die Tapeten, die seine Zimmer
schmücken; die kostbaren Gefäße, woraus er ißt und trinkt; und die weichen
Lager, worauf er der wollüstigsten Ruhe genießt.  Tausende müssen in
schlaflosen Nächten ihren Witz verzehren, um neue Bequemlichkeiten, neue
Wollüste, eine leichtere und angenehmere Art die leichtesten und
angenehmsten Verrichtungen, die uns die Natur auferlegt, zu tun, für ihn
zu erfinden, und durch die Zaubereien der Kunst, die den gemeinsten Dingen
einen Schein der Neuheit zu geben weiß, seinen Ekel zu täuschen, und seine
vom Genuß ermüdeten Sinnen aufzuwecken.  Für ihn arbeitet der Maler, der
Tonkünstler, der Dichter, der Schauspieler, und überwindet unendliche
Schwierigkeiten, um Künste zur Vollkommenheit zu treiben, welche die
Anzahl seiner Ergötzungen vermehren sollen.  Allein alle diese Leute,
welche für den glücklichen Menschen arbeiten, würden es nicht tun, wenn
sie nicht selbst glücklich zu sein wünschten.  Sie arbeiten nur für
denjenigen, der ihre Bemühung für sein Vergnügen belohnen kann.  Der König
von Persien selbst ist nicht mächtig genug, den Zeuxes zu zwingen, daß er
ihm eine Leda male.  Nur die Zauberkraft des Goldes, welchem eine
allgemeine übereinkunft der gesitteten Völker den Wert aller nützlichen
und angenehmen Dinge beigelegt hat, kann den Genie und den Fleiß einem
Midas dienstbar machen, der ohne seine Schätze kaum so viel wert wäre, dem
Maler, der für ihn arbeitet, die Farben zu reiben.  Die Kunst, sich die
Mittel zur Glückseligkeit zu verschaffen, ist also schon gefunden, mein
lieber Callias, sobald wir die Kunst gefunden haben, einen genugsamen
Vorrat von diesem Steine der Weisen zu bekommen, der uns die ganze Natur
unterwirft, der Millionen von unsers Gleichen zu freiwilligen Sklaven
unsrer üppigkeit macht, und der uns in jedem schlauen Kopf einen
dienstwilligen Mercur, und durch den unwiderstehlichen Glanz eines goldnen
Regens, in jeder Schönen eine Danae finden läßt.  Die Kunst reich zu
werden, Callias, ist im Grunde nichts anders, als die Kunst, sich des
Eigentums andrer Leute mit ihrem guten Willen zu bemächtigen.  Ein Despot
hat unter dem Schutz eines Vorurteils, welches demjenigen sehr ähnlich ist,
womit die Egypter den Krokodil vergötterten, in diesem Stück einen
ungemeinen Vorteil: Da sich seine Rechte so weit erstrecken als seine
Macht, und diese Macht durch keine Pflichten eingeschränkt ist, weil ihn
niemand zwingen kann, sie zu erfüllen; so kann er sich das Vermögen seiner
Untertanen zueignen, ohne sich darum zu bekümmern, ob es mit ihrem guten
Willen geschieht.  Es kostet ihn keine Mühe, unermeßliche Reichtümer zu
erwerben, und, um mit der unmäßigsten Schwelgerei in einem Tag Millionen
zu verschwenden, hat er nichts nötig, als denjenigen Teil des Volkes, den
seine Dürftigkeit zu einer immerwährenden Arbeit verdammt, an diesem Tage
fasten zu lassen.  Allein außer dem, daß dieser Vorteil nur sehr wenigen
Sterblichen zu Teil werden kann, so ist er nicht so beschaffen, daß ein
weiser Mann ihn beneiden könnte.  Das Vergnügen höret auf Vergnügen zu
sein, so bald es über einen gewissen Grad getrieben wird.  Das übermaß
der sinnlichen Wollüste zerstöret die Werkzeuge der Empfindung; das
übermaß der Vergnügen der Einbildungskraft, verderbt den Geschmack des
echten Schönen, indem für unmäßige Begierden nichts reizend sein kann, was
in die Verhältnisse und das Ebenmaß der Natur eingeschlossen ist.  Daher
ist das gewöhnliche Schicksal der morgenländischen Fürsten, die in die
Mauern ihres Serails eingekerkert sind, in den Armen der Wollust vor
Ersättigung und überdruß umzukommen; indessen, daß die süßesten Gerüche
von Arabien vergeblich für sie düften, daß die geistigen Weine ihnen
ungekostet aus Kristallen entgegenblinken, daß tausend Schönheiten, deren
jede zu Paphos einen Altar erhielte, alle ihre Reizungen, alle ihre
buhlerische Künste umsonst verschwenden, ihre schlaffen Sinnen zu erwecken,
und zehen tausend Sklaven ihrer üppigkeit in die Wette eifern, um
unerhörte und ungeheure Wollüste zu erdenken, welche fähig sein möchten,
wenigstens die glühende Phantasie dieser unglückseligen Glücklichen auf
etliche Augenblicke zu betrügen.  Wir haben also mehr Ursache, als man
insgemein glaubt, der Natur zu danken, wenn sie uns in einen Stand setzt,
wo wir das Vergnügen durch Arbeit erkaufen müssen, und vorher unsre
Leidenschaften mäßigen lernen, eh wir zu einer Glückseligkeit gelangen,
die wir ohne diese Mäßigung nicht genießen könnten.

Da nun die Despoten und die Straßenräuber die einzigen sind, denen es,
jedoch auf ihre Gefahr, zusteht, sich des Vermögens andrer Leute mit
Gewalt zu bemächtigen: So bleibt demjenigen, der sich aus einem Zustand
von Mangel und Abhänglichkeit empor schwingen will, nichts anders übrig,
als daß er sich die Geschicklichkeit erwerbe, den Vorteil und das
Vergnügen der Lieblinge des Glückes zu befördern.  Unter den vielerlei
Arten, wie dieses geschehen kann, sind einige dem Menschen von Genie, mit
Ausschluß aller übrigen, vorbehalten, und teilen sich nach ihrem
verschiednen Endzweck in zwo Klassen ein, wovon die erste die Vorteile,
und die andre das Vergnügen des beträchtlichsten Teils einer Nation zum
Gegenstand hat.  Die erste, welche die Regierungs--und Kriegs-Künste in
sich begreift, scheint ordentlicher Weise nur in freien Staaten Platz zu
finden; die andre hat keine Grenzen als den Grad des Reichtums und der
üppigkeit eines jeden Volks, von welcher Art seine Staatsverfassung sein
mag.  In dem armen Athen wurde ein guter Feld-Herr unendlichmal höher
geschätzt, als ein guter Maler; in dem reichen und wollüstigen Athen gibt
man sich keine Mühe zu untersuchen, wer der tüchtigste sei, ein Kriegsheer
anzuführen; man hat wichtigere Dinge zu entscheiden; die Frage ist, welche
unter etlichen Tänzerinnen die artigsten Füße hat, und die schönsten
Sprünge macht? ob die Venus des Praxiteles, oder des Alcamenes die
schönere ist?--Die Künste des Genie von der ersten Klasse führen für sich
allein selten zum Reichtum.  Die großen Talente, die großen Verdienste und
Tugenden, die dazu erfodert werden, finden sich gemeiniglich nur in armen
und emporstrebenden Republiken, die alles, was man für sie tut, nur mit
Lorbeerkränzen bezahlen.  In Staaten aber, wo Reichtum und üppigkeit schon
die Oberhand gewonnen haben, braucht man alle diese Talente und Tugenden
nicht, welche die Regierungskunst zu erfodern scheint.  Man kann in
solchen Staaten Gesetze geben, ohne ein Solon zu sein; man kann ihre
Kriegsheere anführen, ohne ein Leonidas oder Themistokles zu sein.
Perikles, Alcibiades, regierten zu Athen den Staat, und führten die Völker
an; obgleich jener nur ein Redner war, und dieser keine andre Kunst kannte,
als die Kunst sich der Herzen zu bemeistern.  In solchen Republiken hat
das Volk die Eigenschaften, die in einem despotischen Staate der Einzige
hat, der kein Sklave ist; man braucht ihm nur zu gefallen, um zu allem
tüchtig befunden zu werden.  Perikles herrschte, ohne die äußerlichen
Zeichen der königlichen Würde zu tragen, so unumschränkt in dem freien
Athen, als Artaxerxes in dem untertänigen Asien.  Seine Talente, und die
Künste die er von der schönen Aspasia gelernt hatte, erwarben ihm eine Art
von Oberherrschaft, die nur desto unumschränkter war, da sie ihm
freiwillig zugestanden wurde; die Kunst eine große Meinung von sich zu
erwecken, die Kunst zu überreden, die Kunst von der Eitelkeit der
Athenienser Vorteil zu ziehen und ihre Leidenschaften zu lenken; diese
machten seine ganze Regierungskunst aus.  Er verwickelte die Republik in
ungerechte und unglückliche Kriege, er erschöpfte die öffentliche
Schatzkammer, er erbitterte die Bundsgenossen durch gewaltsame
Erpressungen; und damit das Volk keine Zeit hätte, eine so schöne
Staats-Verwaltung genauer zu beobachten, so bauete er Schauspielhäuser,
gab ihnen schöne Statuen und Gemälde zu sehen, unterhielt sie mit
Tänzerinnen und Virtuosen, und gewöhnte sie so sehr an diese abwechselnden
Ergötzungen, daß die Vorstellung eines neuen Stücks, oder der Wettstreit
unter etlichen Flötenspielern zuletzt Staats-Angelegenheiten wurden, über
welchen man diejenigen vergaß die es in der Tat waren.  Hundert Jahre
früher würde man einen Perikles für eine Pest der Republik angesehen haben;
allein damals würde Perikles ein Aristides gewesen sein.  In der Zeit
worin er lebte, war Perikles, so wie er war, der größte Mann der Republik;
der Mann der Athen zu dem höchsten Grade der Macht und des Glanzes erhub,
den es zu erreichen fähig war; der Mann, dessen Zeit als das goldne Alter
der Musen in allen künftigen Jahrhunderten angezogen werden wird; und, was
für ihn selbst das interessanteste war, der Mann, für den die Natur die
Euripiden und Aristophane, die Phidias, die Zeuxes, die Damonen, und die
Aspasien zusammen brachte, um sein Privatleben so angenehm zu machen, als
sein öffentliches Leben glänzend war.  Die Kunst über die Einbildungskraft
der Menschen zu herrschen, die geheimen, ihnen selbst verborgnen
Triebfedern ihrer Bewegungen nach unserm Gefallen zu lenken, und sie zu
Werkzeugen unsrer Absichten zu machen, indem wir sie in der Meinung
erhalten, daß wir es von den ihrigen sind, ist also, ohne Zweifel,
diejenige, die ihrem Besitzer am nützlichsten ist, und dieses ist die
Kunst welche die Sophisten lehren und ausüben; die Kunst, welcher sie das
Ansehen, die Unabhänglichkeit und die glücklichen Tage, deren sie genießen,
zu danken haben.  Du kannst dir leicht vorstellen, Callias, daß sie sich
in etlichen Stunden weder lehren noch lernen läßt; allein meine Absicht
ist auch für itzt nur, dir überhaupt einen Begriff davon zu geben.
Dasjenige, was man die Weisheit der Sophisten nennt, ist die
Geschicklichkeit sich der Menschen so zu bedienen, daß sie geneigt sind,
unser Vergnügen zu befördern, oder überhaupt die Werkzeuge unsrer
Absichten zu sein.  Die Beredsamkeit, welche diesen Namen erst alsdann
verdient, wenn sie im Stand ist, die Zuhörer, wer sie auch sein mögen, von
allem zu überreden, was wir wollen, und in jeden Grad einer jeden
Leidenschaft zu setzen, die zu unsrer Absicht nötig ist; eine solche
Beredsamkeit ist unstreitig ein unentbehrliches Werkzeug, und das
vornehmste wodurch die Sophisten diesen Zweck erreichen.  Die Grammatici
bemühen sich, junge Leute zu Rednern zu bilden; die Sophisten tun mehr,
sie lehren sie überreder zu werden, wenn mir dieses Wort erlaubt ist.
Hierin allein besteht das Erhabne einer Kunst, die vielleicht noch niemand
in dem Grade besessen hat, wie Alcibiades, der in unsern Zeiten so viel
Aufsehens gemacht hat.  Der Weise bedient sich dieser überredungs-Gabe nur
als eines Werkzeugs zu höhern Absichten.  Alcibiades überläßt es einem
Antiphon, sich mit Ausfeilung einer künstlichgesetzten Rede zu bemühen; er
überredet indessen seine Landsleute, daß ein so liebenswürdiger Mann wie
Alcibiades das Recht habe zu tun, was ihm einfalle; er überredet die
Spartaner zu vergessen, daß er ihr Feind gewesen, und daß er es bei der
ersten Gelegenheit wieder sein wird; er überredet die Königin Timea, daß
sie ihn bei sich schlafen lasse, und die Satrapen des großen Königs, daß
er ihnen die Athenienser zu eben der Zeit verraten wolle, da er die
Athenienser überredet, daß sie ihm Unrecht tun, ihn für einen Verräter zu
halten.  Diese überredungskraft setzt die Geschicklichkeit voraus, jede
Gestalt anzunehmen, wodurch wir demjenigen gefällig werden können, auf den
wir Absichten haben; die Geschicklichkeit, sich der verborgensten Zugänge
seines Herzens zu versichern, seine Leidenschaften, je nachdem wir es
nötig finden, zu erregen, zu liebkosen, eine durch die andre zu verstärken,
oder zu schwächen, oder gar zu unterdrucken; sie erfodert eine
Gefälligkeit, die von den Sittenlehrern Schmeichelei genennt wird, aber
diesen Namen nur alsdann verdient, wenn sie von den Gnathonen die um die
Tafeln der Reichen sumsen, nachgeäffet wird,--eine Gefälligkeit, die aus
einer tiefen Kenntnis der Menschen entspringt, und das Gegenteil von der
lächerlichen Sprödigkeit gewisser Phantasten ist, die den Menschen übel
nehmen, daß sie anders sind, als wie diese ungebetenen Gesetzgeber es
haben wollen; kurz, diejenige Gefälligkeit ohne welche es vielleicht
möglich ist, die Hochachtung, aber niemals die Liebe der Menschen zu
erlangen; weil wir nur diejenigen lieben können, die uns ähnlich sind, die
unsern Geschmack haben oder zu haben scheinen, und so eifrig sind, unser
Vergnügen zu befördern, daß sie hierin die Aspasia von Milet zum Muster
nehmen, welche sich bis ans Ende in der Gunst des Perikles erhielt, indem
sie in demjenigen Alter, worin man die Seele der Damen zu lieben pflegt,
sich in die Grenzen der Platonischen Liebe zurückzog, und die Rolle des
Körpers durch andre spielen ließ.  Ich lese in deinen Augen Callias, was
du gegen diese Künste einzuwenden hast, die sich so übel mit den
Vorurteilen vertragen, die du gewohnt bist für Grundsätze zu halten.  Es
ist wahr, die Kunst zu leben, welche die Sophisten lehren, ist auf ganz
andre Begriffe von dem, was in sittlichem Verstande schön und gut ist
gebaut, als diejenigen hegen, die von dem idealischen Schönen, und von
einer gewissen Tugend, die ihr eigner Lohn sein soll, so viel schöne Dinge
zu sagen wissen.  Allein, wenn du noch nicht müde bist mir zuzuhören, als
ich es bin zu schwatzen; so denke ich, daß es nicht schwer sein werde dich
zu überzeugen, daß das idealische Schöne und die idealische Tugend mit
jenen Geistermärchen, wovon wir erst gesprochen haben, in die nämliche
Klasse gehören."



FÜNFTES KAPITEL

Der Anti-Platonismus in Nuce


"Was ist das Schöne?  Was ist das Gute?  Eh wir diese Fragen beantworten
können, müssen wir, deucht mich, vorher fragen: Was ist das, was die
Menschen schön und gut nennen?  Wir wollen vom Schönen den Anfang machen.
Was für eine unendliche Verschiedenheit in den Begriffen, die man sich bei
den verschiedenen Völkern des Erdbodens von der Schönheit macht!  Alle
Welt kommt darin überein, daß ein schönes Weib das schönste unter allen
Werken der Natur sei.  Allein wie muß sie sein, um für eine vollkommne
Schönheit in ihrer Art gehalten zu werden?  Hier fängt der Widerspruch an.
Stelle dir eine Versammlung von so vielen Liebhabern vor, als es
verschiedne Nationen unter verschiednen Himmelsstrichen gibt; was ist
gewisser, als daß ein jeder den Vorzug seiner Geliebten vor den übrigen
behaupten wird?  Der Europäer wird die blendende weiße, der Mohr die
rabengleiche Schwärze der seinigen vorziehen; der Grieche wird einen
kleinen Mund, eine Brust, die mit der hohlen Hand bedeckt werden kann, und
das angenehme Ebenmaß einer feinen Gestalt; der Africaner wird die
eingedrückte Nase, und die aufgeschwollnen dickroten Lippen; der Persianer
die großen Augen und den schlanken Wuchs, der Serer, die kleinen Augen,
die Kegelrunde dicke und winzigen Füße an der seinigen bezaubernd finden.
Hat es mit dem Schönen in sittlichen Verstande, mit dem was sich geziemt,
eine andre Bewandtnis?  Die Spartanischen Töchter scheuen sich nicht, in
einem Aufzug gesehen zu werden, wodurch in Athen die geringste öffentliche
Metze sich entehrt hielte.  In Persien würd' ein Frauenzimmer, das an
einem öffentlichen Orte sein Gesicht entblößte, eben so angesehen, als in
Smyrna eine die sich nackend sehen ließe.  Bei den morgenländischen
Völkern erfodert der Wohlstand eine Menge von Beugungen und untertänigen
Gebärden, die man gegen diejenigen macht, die man ehren will; bei den
Griechen würde diese Höflichkeit für eben so schändlich und sklavenmäßig
gehalten werden, als die attische Politesse zu Persepolis grob und
bäurisch scheinen würde.  Bei den Griechen hat eine freigeborne ihre Ehre
verloren, die sich den jungfräulichen Gürtel von einem andern, als ihrem
Manne auflösen läßt; bei gewissen Völkern die jenseits des Ganges wohnen,
ist ein Mädchen desto vorzüglicher, je mehr es Liebhaber gehabt hat, die
seine Reizungen aus Erfahrung anzurühmen wissen.  Diese Verschiedenheit
der Begriffe vom sittlichen Schönen zeigt sich nicht nur in besondern
Gebräuchen und Gewohnheiten verschiedner Völker, wovon sich die Beispiele
ins Unendliche häufen ließen; sondern selbst in dem Begriff, den sie sich
überhaupt von der Tugend machen.  Bei den Römern ist Tugend und Tapferkeit
einerlei; bei den Atheniensern schließt dieses Wort alle Arten von
nützlichen und angenehmen Eigenschaften in sich.  Zu Sparta kennt man
keine andre Tugend als den Gehorsam gegen die Gesetze; in despotischen
Reichen keine andre, als die sklavische Untertänigkeit gegen den Monarchen
und seine Satrapen; am caspischen Meere ist der tugenhafteste der am
besten rauben kann, und die meisten Feinde erschlagen hat; und in dem
wärmsten Striche von Indien hat nur der die höchste Tugend erreicht, der
sich durch eine völlige Untätigkeit, ihrer Meinung nach, den Göttern
ähnlich macht.  Was folget nun aus allen diesen Beispielen?  Ist nichts an
sich selbst schön oder recht?  Gibt es kein gewisses Modell, wornach
dasjenige, was schön oder sittlich ist, beurteilt werden muß?  Wir wollen
sehen.  Wenn ein solches Modell ist, so muß es in der Natur sein.  Denn es
wäre Torheit, sich einzubilden, daß ein Pygmalion eine Bildsäule schnitzen
könne, welche schöner sei als Phryne, die kühn genug war, bei den
Olympischen Spielen, in eben dem Aufzug worin die drei Göttinnen um den
Preis der Schönheit stritten, das ganze Griechenland zum Richter über die
ihrige zu machen.  Die Venus eines jeden Volks ist nichts anders als die
Abbildung eines Weibes, die bei einer allgemeinen Versammlung dieses Volks
für diejenige erklärt würde, bei der sich die National-Schönheit im
höchsten Grade befinde.  Allein welches unter so vielerlei Modellen ist
denn an sich selbst das schönste?  Der Grieche wird für seine
rosenwangichte, der Mohr für seine rabenschwarze, der Perser für seine
schlanke, und der Serer für seine runde Venus mit dem dreifachen Kinn
streiten.  Wer soll den Ausschlag geben?  Wir wollen es versuchen.
Gesetzt, es würde eine allgemeine Versammlung angestellt, wozu eine jede
Nation den schönsten Mann und das schönste Weib, nach ihrem
National-Modell zu urteilen, geschickt hätten; und wo die Weiber zu
entscheiden hätten, welcher unter allen diesen Mitwerbern um den Preis der
Schönheit der schönste Mann, und die Männer, welche unter allen das
schönste Weib wäre: Ich sage also, man würde gar bald diejenigen aus allen
übrigen aussondern, die unter diesen milden und gemäßigten Himmelsstrichen
geboren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feineres Ebenmaß der
Gestalt, und eine angenehmere Mischung der Farben zu geben pflegt.  Denn
die vorzügliche Schönheit der Natur in den gemäßigten Zonen erstreckt sich
vom Menschen bis auf die Pflanzen.  Unter diesen Auserlesnen von beiden
Geschlechtern würde vielleicht der Vorzug lange zweifelhaft sein; allein
endlich würde doch unter den Männern derjenige den Preis erhalten, bei
dessen Landesleuten die verschiednen gymnastischen übungen am stärksten,
und Verhältnisweise in dem höchsten Grade der Vollkommenheit getrieben
würden; und alle Männer würden mit einer Stimme diejenige für die schönste
unter den Schönen erklären, die von einem Volke abgeschickt worden,
welches bei der Erziehung der Töchter die möglichste Entwicklung und
Kultur der natürlichen Schönheit zur Hauptsache machte.  Der Spartaner
würde also vermutlich für den schönsten Mann, und die Perserin für das
schönste Weib erklärt werden.  Der Grieche, welcher der Anmut den Vorzug
vor der Schönheit gibt, weil die griechischen Weiber mehr reizend als
schön sind, würde nichts desto weniger zu eben der Zeit, da sein Herz
einem Mädchen von Paphos oder Milet den Vorzug gäbe, bekennen müssen, daß
die Perserin schöner sei; und eben dieses würde der Serer tun, ob er
gleich das dreifache Kinn und den Wanst seiner Landsmännin reizender
finden würde.--Laß uns zu dem sittlichen Schönen fortgehen.  So groß auch
hierin die Verschiedenheit der Begriffe unter verschiednen Zonen ist, so
wird doch schwerlich geleugnet werden können, daß die Sitten derjenigen
Nation, welche die geistreichste, die munterste, die geselligste, die
angenehmste ist, den Vorzug der Schönheit haben.  Die ungezwungne und
einnehmende Höflichkeit des Atheniensers muß einem jeden Fremden
angenehmer sein, als die abgemessene, ernsthafte und zeremonienvolle
Höflichkeit der Morgenländer; das verbindliche Wesen, der Schein von
Leutseligkeit, so der erste seinen kleinsten Handlungen zu geben weiß, muß
vor dem steifen Ernst des Persers, oder der rauhen Gutherzigkeit des
Scythen eben so sehr den Vorzug erhalten, als der Putz einer Dame von
Smyrna, der die Schönheit weder ganz verhüllt, noch ganz den Augen preis
gibt, vor der Vermummung der Morgenländerin oder der tierischen Blöße
einer Wilden.  Das Muster der aufgeklärtesten und geselligsten Nation
scheint also die wahre Regul des sittlichen Schönen, oder des Anständigen
zu sein, und Athen und Smyrna sind die Schulen, worin man seinen Geschmack
und seine Sitten bilden muß.  Allein nachdem wir eine Regul für das Schöne
gefunden haben, was für eine werden wir für das, was Recht ist finden?
wovon so verschiedene und widersprechende Begriffe unter den Menschen
herrschen, daß eben dieselbe Handlung, die bei dem einen Volke mit
Lorbeerkränzen und Statuen belohnt wird, bei der andern eine schmähliche
Todesstrafe verdient; und daß kaum ein Laster ist, welches nicht irgendwo
seinen Altar und seinen Priester habe.  Es ist wahr, die Gesetze sind bei
dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und
Unrechts; allein was bei diesem Volk durch das Gesetz befohlen wird, wird
bei einem andern durch das Gesetz verboten.  Die Frage ist also: Gibt es
nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht
ist?  Ich antworte ja, und dieses allgemeine Gesetz kann kein andres sein,
als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: Suche dein Bestes;
oder mit andern Worten: Befriedige deine natürliche Begierden, und genieße
so viel Vergnügen als du kannst.  Dieses ist das einzige Gesetz, das die
Natur dem Menschen gegeben hat; und so lang er sich im Stande der Natur
befindet, ist das Recht, das er an alles hat, was seine Begierden
verlangen, oder was ihm gut ist, durch nichts anders als das Maß seiner
Stärke eingeschränkt; er darf alles, was er kann, und ist keinem andern
nichts schuldig.  Allein der Stand der Gesellschaft, welcher eine Anzahl
von Menschen zu ihrem gemeinschaftlichen Besten vereiniget, setzt zu jenem
einzigen Gesetz der Natur, suche dein eignes Bestes, die Einschränkung,
ohne einem andern zu schaden.  Wie also im Stande der Natur einem jeden
Menschen alles recht ist, was ihm nützlich ist; so erklärt im Stande der
Gesellschaft das Gesetz alles für unrecht und strafwürdig, was der
Gesellschaft schädlich ist, und verbindet hingegen die Vorstellung eines
Vorzugs und belohnungswürdigen Verdienstes mit allen Handlungen, wodurch
der Nutzen oder das Vergnügen der Gesellschaft befördert wird.  Die
Begriffe von Tugend und Laster gründen sich also eines Teils auf den
Vertrag den eine gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und in so
ferne sind sie willkürlich; andern Teils auf dasjenige, was einem jeden
Volke nützlich oder schädlich ist; und daher kommt es, daß ein so großer
Widerspruch unter den Gesetzen verschiedner Nationen herrschet.  Das Klima,
die Lage, die Regierungsform, die Religion, das eigne Temperament und der
National-Charakter eines jeden Volks, seine Lebensart, seine Stärke oder
Schwäche, seine Armut oder sein Reichtum, bestimmen seine Begriffe von dem,
was ihm gut oder schädlich ist; daher diese unendliche Verschiedenheit
des Rechts oder Unrechts unter den policiertesten Nationen; daher der
Kontrast der Moral der glühenden Zonen mit der Moral der kalten Länder,
der Moral der freien Staaten mit der Moral der despotischen Reiche; der
Moral einer armen Republik, welche nur durch den kriegerischen Geist
gewinnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren Wohlstand dem Geist
der Handelschaft und dem Frieden zu danken hat; daher endlich die
Albernheit der Moralisten, welche sich den Kopf zerbrechen, um zu
bestimmen, was für alle Nationen recht sei, ehe sie die Auflösung der
Aufgabe gefunden haben, wie man machen könne, daß eben dasselbe für alle
Nationen gleich nützlich sei.


Die Sophisten, deren Sittenlehre sich nicht auf abstrakte Ideen, sondern
auf die Natur und wirkliche Beschaffenheit der Dinge gründet, finden die
Menschen an einem jeden Ort, so, wie sie sein können.  Sie schätzen einen
Staatsmann zu Athen, an sich selbst, nicht höher als einen Gaukler zu
Persepolis, und eine ehrbare Matrone von Sparta ist in ihren Augen kein
vortrefflicheres Wesen als eine Lais zu Corinth.  Es ist wahr, der Gaukler
würde zu Athen, und die Lais zu Sparta schädlich sein; allein ein
Aristides würde zu Persepolis, und eine Spartanerin zu Corinth wo nicht
eben so schädlich, doch wenigstens ganz unnützlich sein.  Die Idealisten,
wie ich diese Philosophen zu nennen pflege, welche die Welt nach ihren
Ideen umschmelzen wollen, bilden ihre Lehrjünger zu Menschen, die man
nirgends für einheimisch erkennen kann, weil ihre Moral eine Gesetzgebung
voraussetzt, welche nirgends vorhanden ist.  Sie bleiben arm und
ungeachtet, weil ein Volk nur demjenigen Hochachtung und Belohnung
zuerkennt, der seinen Nutzen befördert oder doch zu befördern scheint; ja
sie werden als Verderber der Jugend, und als heimliche Feinde der
Gesellschaft angesehen, und die Landesverweisung oder der Giftbecher ist
zuletzt alles, was sie für die undankbare Bemühung davon tragen, die
Menschen zu entkörpern, um sie in die Klasse der idealischen Wesen, der
mathematischen Punkte, Linien und Dreiecke zu erhöhen.  Klüger, als diese
eingebildeten Weisen, die, wie jener Flötenspieler von Aspondus, nur für
sich selbst singen, überlassen die Sophisten den Gesetzen eines jeden
Volks ihre Bürger zu lehren, was Recht oder Unrecht sei.  Da sie selbst zu
keinem besondern Staatskörper gehören, so genießen sie die Vorrechte eines
Weltbürgers, und indem sie den Gesetzen und der Religion eines jeden
Volkes bei dem sie sich befinden, eine äußerliche Achtung bezeugen,
wodurch sie vor allen Ungelegenheiten mit den Handhabern derselben
gesichert werden; so erkennen und befolgen sie doch in der Tat kein andres
als jenes allgemeine Gesetz der Natur, welches dem Menschen sein eignes
Bestes zur einzigen Richtschnur gibt.  Alles wodurch ihre natürliche
Freiheit eingeschränkt wird, ist die Beobachtung einer nützlichen Klugheit,
die ihnen vorschreibt ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und die
Auszierung zu geben, wodurch sie denjenigen, mit welchen sie zu tun haben,
am gefälligsten werden.  Das moralische Schöne ist für unsre Handlungen
eben das, was der Putz für unsern Leib; und es ist eben so nötig, seine
Aufführung nach den Vorurteilen und dem Geschmack derjenigen zu modeln,
mit denen man lebt, als es nötig ist sich so zu kleiden wie sie.  Ein
Mensch, der nach einem gewissen besondern Modell gebildet worden, sollte,
wie die wandelnden Bildsäulen des Dädalus, an seinen väterlichen Boden
angefesselt werden; denn er ist nirgends an seinem Platz als unter seines
gleichen.  Ein Spartaner würde sich nicht besser schicken, die Rolle eines
obersten Sklaven des Artaxerxes zu spielen, als ein Sarmater sich schickte
Polemarchus zu Athen zu sein.  Der Weise hingegen ist der allgemeine
Mensch, der Mensch, dem alle Farben, alle Umstände, alle Verfassungen und
Stellungen anstehen, und er ist es eben darum, weil er keine besondre
Vorurteile und Leidenschaften hat, weil er nichts als ein Mensch ist.  Er
gefällt allenthalben, weil er, wohin er kommt, sich die Vorurteile und
Torheiten gefallen läßt, die er antrifft.  Wie sollte er nicht geliebt
werden, er, der immer bereit ist sich für die Vorteile andrer zu beeifern,
ihre Begriffe zu billigen, ihren Leidenschaften zu schmeicheln?  Er weiß,
daß die Menschen von nichts überzeugter sind, als von ihren Irrtümern, und
nichts zärtlicher lieben als ihre Fehler; und daß es kein gewisseres
Mittel gibt sich ihren Abscheu zuzuziehen, als wenn man ihnen eine
Wahrheit entdeckt, die sie nicht wissen wollen.  Weit entfernt also,
ihnen die Augen wider ihren Willen zu eröffnen, oder ihnen einen Spiegel
vorzuhalten, der ihnen ihre Häßlichkeit vorrückte, bestärkt er den Toren
in dem Gedanken, daß nichts abgeschmackter sei als Verstand haben, den
Verschwender in dem Wahn, daß er großmütig, den Knicker in den Gedanken,
daß er ein guter Haushalter, die Häßliche in der süßen Einbildung, daß sie
desto geistreicher, und den Reichen in der überredung, daß er ein
Staatsmann, ein Gelehrter, ein Held, ein Gönner der Musen und ein Liebling
der Damen sei.  Er bewundert das System des Philosophen, die einbildische
Unwissenheit des Hofmanns, und die großen Taten des Generals; er gestehet
dem Tanzmeister ohne Widerrede zu, daß Cimon der größte Mann in
Griechenland gewesen wäre, wenn er die Füße besser zu setzen gewußt hätte;
und dem Maler, daß man mehr Genie braucht, ein Zeuxes als ein Homer zu
sein.  Diese Art mit den Menschen umzugehen, ist von unendlich größerm
Vorteil als man beim ersten Anblick denken möchte.  Sie erwirbt ihm ihre
Liebe, ihr Zutrauen, und eine desto größere Meinung von seinen Verdienste,
je größer diejenige ist, die er von den ihrigen zu haben scheint.  Sie ist
das gewisseste Mittel, zu den höchsten Stufen des Glücks empor zu steigen.
Meinest du, daß es allein die größten Talente, die vorzüglichsten
Verdienste seien, die einen Archonten, einen Heerführer, einen Satrapen,
oder den Günstling eines Fürsten machen? Siehe dich in den Republiken um;
du wirst finden, daß dieser sein Ansehen der lächelnden Miene zu danken
hat, womit er die Bürger grüßt; ein andrer der emphatischen Peripherie
seines Wanstes; ein dritter der Schönheit seiner Gemahlin, und ein vierter
seiner brüllenden Stimme.  Gehe an die Höfe, du wirst Leute finden, welche
das Glück, worin sie schimmern, der Empfehlung eines Kammerdieners, der
Gunst einer Dame, die sich für ihre Talente verbürgt hat, oder der Gabe
des Schlafs schuldig sind, womit sie befallen werden, wenn der Vezier mit
ihren Weibern scherzt.  Nichts ist in diesem Lande der Bezauberungen
gewöhnlicher, als einen unbärtigen Knaben in einen General, einen
Pantomimen in einen Staatsminister, einen Kuppler in einen Oberpriester
verwandelt zu sehen; ein Mensch ohne alle Verdienste kann oft durch ein
einziges Talent, und wenn es auch nur das Talent eines Esels wäre, zu
einem Glücke gelangen, das ein andrer durch die größten Verdienste
vergeblich zu erhalten gesucht hat.  Wer könnte demnach zweifeln, daß die
Kunst der Sophisten nicht fähig sein sollte, ihrem Besitzer auf diese oder
jene Art die Gunst des Glückes zu verschaffen?  Vorausgesetzt, daß er die
natürlichen Gaben besitze, ohne welche der Mann von Verstand in der Welt
allezeit dem Narren Platz machen muß, der damit versehen ist.  Allein
selbst auf dem Wege der Verdienste ist niemand gewisser sein Glück zu
machen, als ein Sophist.  Wo ist der Platz, den er nicht mit Ruhm
bekleiden wird?  Wer ist geschickter die Menschen zu regieren als
derjenige, der am besten mit ihnen umzugehen weiß?  Wer schickt sich
besser zu öffentlichen Unterhandlungen?  Wer ist fähiger der Ratgeber
eines Fürsten zu sein?  Ja, wofern er nur das Glück auf seiner Seite hat,
wer wird mit größerm Ruhm ein Kriegsheer anführen als er?  Wer wird die
Kunst besser verstehen, sich für die Geschicklichkeit und die Verdienste
seiner Subalternen belohnen zu lassen?  Wer wird die Vorsicht, die er
nicht gehabt, die klugen Anstalten, die er nicht gemacht, die Wunden, die
er nicht bekommen hat, besser gelten zu machen wissen, als er?

Doch es ist Zeit einen Diskurs zu enden, der für beide ermüdend zu werden
anfangt.  Ich habe dir genug gesagt, um den Zauber zu vernichten, den die
Schwärmerei auf deine Seele gelegt hat; und wenn dieses nicht genug ist,
so würde alles überflüssig sein was ich sagen könnte.  Glaube übrigens
nicht, Callias, daß der Orden der Sophisten einen unansehnlichen Teil der
menschlichen Gesellschaft ausmache.  Die Anzahl derjenigen die unsre Kunst
ausüben, ist in allen Ständen sehr beträchtlich, und du wirst unter denen
die ein großes Glück gemacht haben, schwerlich einen einzigen finden, der
es nicht einer geschickten Anwendung unsrer Grundsätze zu danken habe.
Diese Grundsätze machen die gewöhnliche Denkungsart der Hofleute, der
Leute die sich dem Dienste der Großen gewidmet haben, und überhaupt
derjenigen Klasse von Menschen aus, die an jedem Orte die edelsten und
angesehensten sind, und (die wenigen Fälle ausgenommen, wo das spielende
Glück durch einen blinden Wurf einen Narren an den Platz eines klugen
Menschen fallen läßt) sind die geschickten Köpfe, die von diesen Maximen
den besten Gebrauch zu machen wissen, allezeit diejenigen, die es auf der
Bahn der Ehre und des Glücks am weitesten bringen."



SECHSTES KAPITEL

Ungelehrigkeit des Agathon


Hippias konnte sich wohl berechtiget halten, einigen Dank bei seinem
Lehrjünger verdient zu haben, da er sich so viele Mühe gegeben hatte, ihn
weise zu machen.  Allein wir müssen es nur gestehen, er hatte es mit einem
Menschen zu tun, der nicht fähig war, die Wichtigkeit dieses Dienstes
einzusehen, oder die Schönheit eines Systems zu empfinden, welches seinen
vermeinten Empfindungen so zuwider war.  Seine Erwartung wurde also nicht
wenig betrogen, als Agathon, wie er sah, daß der weise Hippias zu reden
aufgehört hatte, ihm diese kurze Antwort gab: "Du hast eine schöne Rede
gehalten, Hippias; deine Beobachtungen sind sehr fein, deine Schlüsse sehr
bündig, deine Maximen sehr praktisch, und ich zweifle nicht, daß der Weg,
den du mir vorgezeichnet hast, zu der Glückseligkeit würklich führe, deren
Vorzüge vor meiner Art glücklich zu sein, du in ein so helles Licht
gesetzt.  Dem ungeachtet empfinde ich nicht die mindeste Lust so glücklich
zu sein, und wenn ich mich anders recht kenne, so werde ich schwerlich
eher ein Sophist werden, bis du deine Tänzerinnen entlässest, dein Haus zu
einem öffentlichen Tempel der Diana widmest, und nach Indien ziehst, ein
Bramine zu werden."  Hippias lachte über diese Antwort, ohne daß sie ihm
desto besser gefiel.  "Und was hast du gegen mein System einzuwenden?"
fragte er.  "Daß es mich nicht überzeugt", erwiderte Agathon.  "Und warum
nicht?"  "Weil meine Erfahrung und Empfindung deinen Schlüssen
widerspricht."  "Ich möchte wohl wissen, was dieses für Erfahrungen und
Empfindungen sind, die demjenigen widersprechen, was alle Welt erfährt und
empfindt."  "Du würdest beweisen, daß es Schimären sind."  "Und wenn ich
es bewiesen hätte?" "Du würdest es nur dir beweisen, Hippias; du würdest
nichts beweisen, als daß du nicht Callias bist."  "Aber die Frage ist, ob
Hippias oder Callias richtig denkt?"  "Wer soll Richter sein?"  "Das ganze
menschliche Geschlecht." "Was würde das wider mich beweisen?"  "Sehr viel.
Wenn zehen Millionen Menschen urteilen, daß zween oder drei aus ihrem
Mittel Narren sind, so sind sie es; das ist unleugbar."  "Aber wie, wenn
die zehen Millionen, deren Ausspruch dir so entscheidend vorkommt, zehn
Millionen Toren wären, und die drei wären klug?"  "Wie müßte das zugehen?"
"Können nicht zehn Millionen die Pest haben, und Sokrates allein gesund
herum gehen?"  "Diese Instanz beweist nichts für dich.  Ein Volk hat nicht
immer die Pest; Allein die zehn Millionen denken immer so wie ich.  Sie
sind also in ihrem natürlichen Zustande, wenn sie so denken; und wer
anders denkt, gehört folglich entweder zu einer andern Gattung von Wesen,
oder zu den Wesen, die man Toren nennt." "So ergeb ich mich in mein
Schicksal."  "Es gibt noch eine Alternative, junger Mensch.  Du schämest
dich, entweder deine Gedanken so schnell zu verändern, oder du bist ein
Heuchler."  "Keines von beiden, Hippias."  "Leugne mir zum Exempel, wenn
du kannst, daß dir die schöne Cyane, die uns beim Frühstück bediente,
Begierden eingeflößt hat, und daß du verstohlne Blicke -" "Ich leugne
nichts."  "So gestehe, daß das Anschauen dieser runden schneeweißen Arme,
dieses aus der flatternden Seide hervoratmenden Busens, die Begierde in
dir erregt, ihrer zu genießen." "Ist das Anschauen kein Genuß?"  "Keine
Ausflüchte, junger Mensch!"  "Du betrügst dich, Hippias, wenn es erlaubt
ist einem Weisen das zu sagen; ich bedarf keiner Ausflüchte.  Ich mache
nur einen Unterschied zwischen einem mechanischen Instinkt, der nicht
gänzlich von mir abhängt, und dem Willen meiner Seele.  Ich habe den
Willen nicht gehabt, dessen du mich beschuldigest." "Ich beschuldige dich
nichts, als daß du meiner spottest.  Ich denke, daß ich die Natur kennen
sollte.  Die Schwärmerei kann in deinen Jahren keine so unheilbare
Krankheit sein, daß sie wider die Reizung des Vergnügens sollte aushalten
können." "Deswegen vermeide ich die Gelegenheiten."  "Du gestehest also,
daß Cyane reizend ist?"  "Sehr reizend."  "Und daß ihr Genuß ein Vergnügen
wäre?"  "Vermutlich."  "Warum quälest du dich dann, dir ein Vergnügen zu
versagen, das in deiner Gewalt ist."  "Weil ich mich dadurch vieler andern
Vergnügen berauben würde, die ich höher schätze."  "Kann man in deinem
Alter so sehr ein Neuling sein?  Was für Vergnügen, die allen übrigen
Menschen unbekannt sind, hat die Natur für dich allein aufbehalten?  Wenn
du noch größere kennest als dieses,--doch ich merke dich.  Du wirst mir
wieder von den Vergnügungen der Geister, von Nektar und Ambrosia sprechen;
aber wir spielen itzt keine Komödie, mein Freund.  Die Erscheinung einer
Cyane in einem von den Gebüschen meiner Gärten würde fähig sein, so gar
deinen Geistern Körper zu geben."  "Hippias, ich rede wie ich denke.  Ich
kenne Vergnügen, die ich höher schätze als diejenigen, die der Mensch mit
den Tieren gemein hat."  "Zum Exempel?"  "Das Vergnügen eine gute Handlung
zu tun."  "Was nennest du eine gute Handlung?"  "Eine Handlung, wodurch
ich, mit einiger Anstrengung meiner Kräfte, oder Aufopferung eines
Vorteils oder Vergnügens, andrer Bestes befördere."  "Du bist also töricht
genug zu glauben, daß du andern mehr schuldig seiest, als dir selbst?"
"Das nicht; sondern ich finde für gut, ein geringeres Vergnügen dem
größern aufzuopfern, welches ich alsdann genieße, wenn ich das Glück
meiner Nebengeschöpfe befördern kann."  "Du bist sehr dienstfertig;
gesetzt aber es sei so, wie hängt dieses mit demjenigen zusammen, wovon
itzt die Rede ist?"  "Das ist leicht zu sehen.  Gesetzt, ich überließe
mich den Eindrücken, welche die Reizungen der schönen Cyane auf mich
machen könnten; gesetzt, sie liebte mich, und ließe mich alles erfahren,
was die Wollust berauschendes hat; eine Verbindung von dieser Art könnte
von keiner langen Dauer sein;" "aber würden die Erinnerungen der genoßnen
Freuden nicht die Begierde erwecken, sie wieder zu genießen?  Eine neue
Cyane"--"würde mir wieder gleichgültig werden, und eben diese Begierden
zurück lassen."  "Eine immerwährende Abwechslung ist also hierin, wie du
siehst, das Gesetz der Natur."  "Aber auf diese Art würde ichs gar bald so
weit bringen, keiner Begierde widerstehen zu können."  "Wozu brauchst du
zu widerstehen, so lange deine Begierden in den Schranken der Natur und
der Mäßigung bleiben?"  "Wie aber, wenn endlich das Weib meines Freundes,
oder welche es sonst wäre, die der ehrwürdige Name einer Mutter gegen den
bloßen Gedanken eines unkeuschen Anfalls sicher stellen soll; oder wie,
wenn die unschuldige Jugend einer Tochter, die vielleicht kein andres
Heuratsgut als ihre Unschuld und Schönheit hat; der Gegenstand dieser
Begierden würde, über die ich durch so vieles Nachgeben alle Gewalt
verloren hätte?"  "So hättest du dich in Griechenland wenigstens vor den
Gesetzen vorzusehen.  Allein was müßte das für ein Hirn sein, das in
solchen Umständen kein Mittel ausfündig machen könnte, seine Leidenschaft
zu vergnügen, ohne sich mit den Gesetzen abzuwerfen?  Ich sehe, du kennest
die Damen zu Athen und Sparta nicht."  "O! was das betrifft, ich kenne so
gar die Priesterinnen zu Delphi.  Aber ists möglich, daß du im Ernste
gesprochen hast?" "Ich habe nach meinen Grundsätzen gesprochen.  Die
Gesetze haben in gewissen Staaten, (denn es gibt einige, wo sie mehr
Nachsicht haben) nötig gefunden, unser natürliches Recht an eine jede, die
unsre Begierden erregt, einzuschränken.  Allein da dieses nur geschah, um
gewisse Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungescheuten Gebrauch
jenes Rechts in solchen Staaten zu besorgen wären, so siehst du, daß der
Geist und die Absicht des Gesetzes nicht verletzt wird, wenn man
vorsichtig genug ist zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu
nehmen" "O Hippias!"  rief Agathon hier aus, "ich habe dich, wohin ich
dich bringen wollte.  Du siehest die Folgen deiner Grundsätze.  Wenn alles
an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen; wenn die
ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Namen des
Nützlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer
Handlungen sind; wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen
werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend, und die
Hoffnungen der Tugend nur Schimären sind; was hindert die Kinder, sich
wider ihre Eltern zu verschwören?  Was hindert die Mutter, sich selbst und
ihre Tochter dem meistbietenden Preis zu geben? Was hindert mich, wenn ich
dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Brust meines Freundes zu stoßen,
die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich
an die Spitze einer Räuberbande zu stellen; und, wenn ich anders Macht
genug habe, ganze Länder zu verwüsten, ganze Völker in ihrem Blute zu
ertränken?  Siehest du nicht, daß deine Grundsätze, die du so unverschämt
Weisheit nennest, und durch eine künstliche Vermischung des Wahren mit dem
Falschen scheinbar zu machen suchst, wenn sie allgemein würden, die
Menschen in weit ärgere Ungeheuer, als Hyänen, Tyger und Krokodille sind,
verwandeln würden?  Du spottest der Tugend und Religion?  Wisse, nur den
unauslöschlichen Zügen, womit ihr Bild in unsre Seelen eingegraben ist,
nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahrheit, Ordnung und
Güte zieht, und den Gesetzen besser zu statten kommt, als alle Belohnungen
und Strafen, ist es zuzuschreiben, daß es noch Menschen auf dem Erdboden
gibt, und daß unter diesen Menschen noch ein Schatten von Sittlichkeit und
Güte zu finden ist.  Du erklärst die Ideen von Tugend und sittlicher
Vollkommenheit für Phantasien.  Siehe mich hier, Hippias, so wie ich hier
bin, biete ich den Verführungen aller deiner Cyanen, den scheinbarsten
überredungen deiner Weisheit, und allen Vorteilen, die mir deine
Grundsätze und dein Beispiel versprechen, trotz.  Eine einzige von diesen
Phantasien ist hinreichend die unwesentliche Zauberei aller dieser
Blendwerke zu zerstreuen.  Laß die Tugend immer eine Schwärmerei sein,
diese Schwärmerei macht mich glücklich, und würde alle Menschen glücklich,
und den ganzen Erdboden zu einem Himmel machen, wenn deine Grundsätze, und
diejenige, welche sie ausüben, nicht, so weit ihr ansteckendes Gift dringt,
Elend und Verderbnis ausbreiteten."

Agathon wurde ganz glühend, indem er dieses sagte; und ein Maler, um den
zürnenden Apollo zu malen, hätte sein Gesicht in diesem Augenblick zum
Urbild nehmen müssen.  Allein der weise Hippias erwiderte diesen Eifer mit
einem Lächeln, welches dem Momus selbst Ehre gemacht hätte, und sagte ohne
seine Stimme zu verändern: "Nunmehr glaube ich dich zu kennen, Callias,
und du wirst von meinen Verführungen weiter nichts zu besorgen haben.  Die
gesunde Vernunft ist nicht für so warme Köpfe gemacht, wie der deinige.
Wie leicht, wenn du mich zu verstehen fähig gewesen wärest, hättest du dir
den Einwurf selbst beantworten können, daß die Grundsätze der Sophisten
und Weltleute verderblich wären, wenn sie allgemein würden?  Die Natur hat
schon davor gesorgt, daß sie nicht allgemein werden,--doch ich würde mir
selbst lächerlich sein, wenn ich deine begeisterte Apostrophe beantworten,
oder dir zeigen wollte, wie sehr auch der Affekt der Tugend das Gesicht
verfälschen kann.  Sei tugendhaft, Callias; fahre fort dich um den Beifall
der Geister, und die Gunst der ätherischen Schönen zu bewerben; rüste dich,
dem Ungemach, das dein Platonismus dir in dieser Unterwelt zuziehen wird,
großmütig entgegen zu gehen, und tröste dich, wenn du Leute siehst, die
niedrig genug sind, sich an irdischen Glückseligkeiten zu weiden, mit dem
frommen Gedanken, daß sie in dem andern Leben, wo die Reihe an dich kommt,
glücklich zu sein, sich in den Flammen des Phlegeton wälzen werden."

Mit diesen Worten stund Hippias auf, warf einen verächtlichmitleidigen
Blick auf den Agathon, und wandte ihm den Rücken zu, um ihm mit einer
unter seines gleichen gewöhnlichen Höflichkeit zu verstehen zu geben, daß
er sich zurückziehen könne.



VIERTES BUCH



ERSTES KAPITEL

Geheimer Anschlag, den Hippias gegen die Tugend unsers Helden macht


Wir vermuten, daß es einigen Lesern scheinen werde, Hippias habe in seinem
Diskurs bei Agathon einen größern Mangel von Erfahrung und Kenntnis der
Welt vorausgesetzt, als er, nach allem, was bereits mit ihm vorgegangen
war, haben konnte.  Wir müssen also zur Entschuldigung dieses Weisen sagen,
daß Agathon, aus Ursachen, die uns unbekannt geblieben, für gut befunden
habe, von dem glänzenden Teil seiner Begebenheiten, und sogar von seinem
Namen ein Geheimnis zu machen.  Denn sein Name war durch die Rolle, die er
zu Athen gespielt hatte, in den griechischen Städten allzubekannt worden,
als daß er es nicht auch dem Hippias hätte sein sollen; ob dieser gleich,
seit dem er in Smyrna wohnte, sich wenig um die Staatsangelegenheiten der
Griechen bekümmerte, die er in den Händen seiner Freunde und Schüler ganz
wohl versorgt hielte.  Da nun Agathon so sorgfältig gewesen war, ihm alles
zu verbergen, was einigen Verdacht hätte erwecken können, daß er jemals
etwas mehr als ein Aufwärter in dem Tempel zu Delphi gewesen; so konnte
Hippias mit desto besserm Grunde voraussetzen, daß er noch ein vollkommner
Neuling in der Welt sei, als weder die Denkungsart noch das Betragen
dieses jungen Menschen so beschaffen war, daß ein Kenner auf günstigere
Gedanken hätte gebracht werden sollen.  Leute von seiner Art können, in
der Tat zehen Jahre hinter einander in der großen Welt gelebt haben, ohne
daß sie dieses fremde und entlehnte Ansehen verlieren, welches beim ersten
Blick verkündiget, daß sie hier nicht einheimisch sind; geschweige, daß
sie fähig wären, sich jemals zu dieser edeln Freiheit von den Fesseln der
gesunden Vernunft, zu dieser weisen Gleichgültigkeit gegen alles was die
schwärmerischen Seelen Empfindung nennen, und zu dieser verzärtelten
Feinheit des Geschmacks zu erheben, wodurch die Weltleute sich auf eine so
vorteilhafte Art unterscheiden.  Solche Leute können wohl Beobachtungen
machen; allein da ihnen dieser Instinkt, dieses sympathetische Gefühl
mangelt, mittelst dessen jene einander so schnell und zuverlässig
ausfindig machen; oder deutlicher zu reden, da sie von allem auf eine
andre Art gerührt werden, als jene; und sich, so sehr sie sich auch
anstrengten, niemals an ihre Stelle setzen können: so bleiben sie doch
immer in einem unbekannten Lande, wo ihre Erkenntnis nur bei Mutmaßungen
stehen bleibt, und ihre Erwartung alle Augenblicke durch unbegreifliche
Zufälle und unverhoffte Veränderungen betrogen wird.  Mit allen seinen
Vorzügen war Agathon doch in eben dieser Klasse, und es ist also kein
Wunder, daß er, ungeachtet der tiefen Betrachtungen die er über seine
Unterredung mit dem Hippias bei sich selbst anstellte, sehr weit entfernt
war, die Gedanken zu erraten, womit dieser Sophist itzt umging, dessen
Eitelkeit durch den schlechten Fortgang seines Vorhabens, und den
Eigensinn dieses seltsamen Jünglings weit mehr beleidiget war, als er sich
hatte anmerken lassen.  Agathon, wenn er das würklich wäre, was er zu sein
schien, wäre (dachte der weise Mann nicht ohne Grund) eine lebendige
Widerlegung seines Systems.  "Wie?"  sagte er zu sich selbst, (ein Umstand,
der ihm selten begegnete) "ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt
gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menschen von allen Ständen
und Klassen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der
menschlichen Natur nicht bestätiget hätte, und dieser junge Mensch sollte
mich noch an die Tugend glauben lehren?  Es kann nicht sein; er ist ein
Phantast oder ein Heuchler.  Was er auch sein mag, ich will es ausfündig
machen.--Gut!  Das ist ein vortrefflicher Einfall! Ich will ihn auf eine
Probe stellen, wo er unterliegen muß, wenn er ein Schwärmer, und wo er die
Maske ablegen wird, wenn er ein Komödiant ist.  Er hat gegen Cyane
ausgehalten, dies hat ihn stolz und sicher gemacht.  Aber das beweist noch
nichts.  Wir wollen ihn auf eine stärkere Probe setzen; wenn er in dieser
den Sieg erhält, so muß er--ja, so will ich meine Nymphen entlassen, mein
Haus den Priestern der Cybele vermachen, und an den Ganges ziehen, und in
der Höhle eines alten Palmbaums, mit geschloßnen Augen und den Kopf
zwischen den Knien, so lange in der nämlichen Positur sitzen bleiben, bis
ich, allen meinen Sinnen zu trotz, mir einbilde, daß ich nicht mehr bin!
"--Dies war ein hartes Gelübde; auch hielt sich Hippias sehr überzeugt,
daß es so weit nicht kommen würde, und damit er keine Zeit versäumen
möchte; so machte er noch an demselbigen Tag Anstalt, seinen Anschlag
auszuführen.



ZWEITES KAPITEL

Hippias stattet einer Dame einen Besuch ab


Die Damen zu Smyrna hatten damals eine Gewohnheit, welche ihrer Schönheit
mehr Ehre machte als ihrer Sittsamkeit.  Sie pflegten sich in den warmen
Monaten gemeiniglich alle Nachmittage eines kühlenden Bades zu bedienen,
und, um keine lange Weile zu haben, nahmen sie um diese Zeit die Besuche
derjenigen Mannspersonen an, die das Recht eines freien Zutritts in ihren
Häusern hatten.  Diese Gewohnheit war in Smyrna eben so unschuldig als es
der Gebrauch bei unsern westlichen Nachbarinnen ist, Mannspersonen bei der
Toilette um sich zu haben; auch kam diese Freiheit nur den Freunden zu
statten, und, den besondern Fall ausgenommen, wenn die hartnäckige
Blödigkeit eines noch unerfahrnen Neulings einiger Aufmunterung nötig
hatte, waren die Liebhaber gänzlich davon ausgeschlossen.  Unter einer
großen Anzahl von Schönen, bei denen der weise Hippias dieses Vorrecht
genoß, war auch eine, die unter dem Namen Danae den ersten Rang in
derjenigen Klasse von Frauenzimmern einnahm, die man bei den Griechen
Freundinnen, oder noch eigentlicher Gesellschafterinnen zu nennen pflegte.
Diese Gattung von Damen war damals unter ihrem Geschlecht, was die
Sophisten unter dem männlichen; sie stunden in keiner geringern Achtung,
und konnten sich rühmen, daß die vollkommensten Modelle aller Vorzüge
ihres Geschlechts, wenn man die strenge Tugend ausnimmt, die Aspasien, die
Leontium und die Phrynen sich kein Bedenken machten von ihrem Orden zu
sein.  Was die Danae betrifft, so machten die Mannspersonen zu Smyrna kein
Geheimnis daraus, daß sie, ihrem Urteil nach, an Schönheit und Artigkeit
alle andre Frauenzimmer, galante und spröde, tugendhafte und andächtige,
übertreffe.  Es ist wahr, die Geschichte meldet nicht, daß die Damen sich
sehr beeifert hätten, das Urteil der Mannspersonen durch ihren
öffentlichen Beitritt zu bestätigen; allein soviel ist gewiß, daß keine
unter ihnen war, die sich selbst nicht gestanden hätte, daß, eine einzige
Person ausgenommen, die sie niemals öffentlich nennen wollten, die schöne
Danae alle übrigen eben so weit übertreffe, als sie von dieser einzigen
Ungenannten übertroffen werde.  In der Tat war ihr Ruhm von dieser Seite
so festgesetzt, daß man das Gerücht nicht unwahrscheinlich fand, welches
versicherte, daß sie in ihrer ersten Jugend den berühmtesten Malern zum
Modell gedient habe; und daß sie bei einer solchen Gelegenheit den Namen
erhalten, unter welchem sie in Jonien berühmt war.  Itzo hatte sie zwar
das dreißigste Jahr schon zurückgelegt, allein ihre Schönheit hatte
dadurch mehr gewonnen als verloren; und der blendende Jugendglanz, der mit
dem Mai des Lebens zu verschwinden pflegt, wurde durch tausend andre
Reizungen ersetzt, welche ihr, nach dem Urteil der Kenner, eine gewisse
Anziehungskraft gaben, die man, ohne sich eines schwülstigen Ausdrucks
schuldig zu machen, in gewissen Umständen für unwiderstehlich halten
konnte.  Dem ungeachtet scheute sich, unter der ägide der Gleichgültigkeit,
worin ihn damals ordentlicher Weise auch die schönsten Figuren zulassen
pflegten, der weise Hippias nicht, seine Tugend öfters dieser Gefahr
auszusetzen.  Er war der schönen Danae unter dem Titel eines Freundes
vorzüglich angenehm, und die geheime Geschichte sagt so gar, daß sie ihn
ehmals nicht unwürdig gefunden, ihm eine Zeitlang eine noch interessantere
Stelle, bei ihrer Person anzuvertrauen; eine Stelle die nur von den
liebenswürdigsten seines Geschlechts bekleidet zu werden pflegte.  Diese
Dame war es, deren Beihülfe Hippias sich zu Ausführung seines Anschlags
wider den Agathon bedienen wollte, dessen schwärmerische Tugend, seinen
Gedanken nach, eine Beschimpfung seiner Grundsätze war, die er viel
weniger leiden konnte, als die allerscharfsinnigste Widerlegung in forma.
Er begab sich also zu der gewöhnlichen Stunde zu ihr, und war kaum in den
Saal getreten, wo sie sich befand, und in den Bedürfnissen des Bades, von
zween jungen Knaben, welche eher ein paar Liebesgötter zu sein schienen,
bedient wurde; als sie schon in seinem Gesicht etwas bemerkte, das mit
seiner gewöhnlichen Heiterkeit einen Absatz machte.  "Was hast du,
Hippias", sagte sie zu ihm, "daß du eine so tiefsinnige Miene mitbringst?"
"Ich weiß nicht", antwortete er, "warum ich tiefsinnig aussehen sollte,
wenn ich eine Dame im Bade besuche; aber das weiß ich, daß ich dich noch
nie so schön gesehen habe, als diesen Augenblick." "Gut", sagte sie, "das
beweist, daß ich recht geraten habe.  Ich bin gewiß, daß ich heute nicht
besser aussehe als das letztemal, da du mich sahest; aber deine Phantasie
ist höher gestimmt als gewöhnlich, und du schreibst den Einfluß, den sie
auf deine Augen hat, großmütig auf die Rechnung des Gegenstands, den du
vor dir hast; ich wollte wetten, daß die häßlichste meiner Kammermädchen,
dir in diesem Augenblick eine Grazie scheinen würde." "Ich habe",
versetzte Hippias, "keine Ansprüche an eine lebhaftere Einbildungskraft zu
machen als Zeuxes und Aglaophon, welche sich nichts vollkommners zu
erfinden getrauten als Danae.  Welche schöne Gelegenheit zu einer neuen
Verwandlung, wenn ich Jupiter wäre!"--"Und was für eine Gestalt wolltest
du annehmen, um zu gleicher Zeit meine Sprödigkeit und deine liebe
Gemahlin zu hintergehen?  Denn ich glaube kaum, daß unter allen
geflügelten, vierfüßigen und kriechenden Tieren eines ist, das nicht schon
einem Unsterblichen hätte dienen müssen, irgend ein ehrliches Mädchen zu
beschleichen."  "Ich würde mich nicht lange besinnen", sagte Hippias; "was
für eine Gestalt könnte ich annehmen, die dir angenehmer und mir zu meiner
Absicht bequemer wäre, als dieses Sperlings, der deine Liebhaber so oft zu
einer gerechten Eifersucht reizt; der, durch die zärtlichsten Namen
aufgemuntert, mit solcher Freiheit um deinen Nacken flattert, oder mit
mutwilligem Schnabel den schönsten Busen neckt, und die Liebkosungen
allezeit doppelt wieder empfängt, die er dir gemacht hat."  "Es ist dir
leichter wie es scheint", versetzte Danae, "einen Sperling an deine Stelle,
als dich an die Stelle eines Sperlings zu setzen; bald könntest du mir
die Schmeicheleien meines kleinen Lieblings verdächtig machen.  Aber genug
von den Wundern, die du meiner Schönheit zutrauest; wir wollen von was
anderm reden.  Weißest du, daß ich meinem Liebhaber den Abschied gegeben
habe?" "Dem schönen Hiacinthus?"  "Ihm selbst, und was noch mehr ist, mit
dem festen Entschluß, seine Stelle nimmer zu ersetzen."  "Das ist eine
tragische Entschließung, schöne Danae."  "Nicht so sehr als du denkest.
Ich versichre dich, Hippias, meine Geduld reicht nicht mehr zu, alle
Torheiten dieser abgeschmackten Gecken auszustehen, welche die Sprache der
Empfindung reden wollen und nichts fühlen; deren Herz nicht so viel als
mit einer Nadelritze verwundet ist, ob sie gleich von Martern und von
Flammen reden; die unfähig sind etwas anders zu lieben als sich, und denen
meine Augen nur zum Spiegel dienen sollen, um darin den Wert ihrer kleinen
unverschämten Figur zu bewundern.  Kaum glauben sie ein Recht an unsre
Gütigkeit zu haben, so bilden sie sich ein, daß sie uns viel Ehre erweisen,
wenn sie unsere Liebkosungen mit einer zerstreuten Miene dulden.  Ein
jeder Blick, den sie auf mich werfen, sagt mir, daß ich ihnen nur zum
Spielzeug diene; und die Hälfte meiner Reizungen geht an ihnen verloren,
weil sie keine Seele haben, um die Schönheiten einer Seele zu empfinden."
"Dein Unwille ist gerecht", versetzte der Sophist; "es ist verdrießlich,
daß man diesen Mannsleuten nicht begreiflich machen kann, daß die Seele
das liebenswürdigste an einem schönen Frauenzimmer ist.  Aber beruhige
dich; nicht alle Männer denken so unedel, und ich kenne einen, der dir
gefallen würde, wenn du, zur Abwechslung, einmal Lust hättest, es mit
einem geistigen Liebhaber zu versuchen."  "Und wer kann das sein, wenn man
fragen darf?"  "Es ist ein Jüngling, gegen den deine Hyacinthe nur
Meerkatzengesichter sind, schöner als Adonis."--"Fi, Hippias, das ist als
wie wenn du sagtest, süßer als Honigseim.  Du begreifst nicht, wie sehr
mir vor diesen schönen Herren ekelt." "O!  das hat nichts zu bedeuten; ich
stehe dir für diesen.  Er hat keinen von den Fehlern der schönen
Narcissen, die dir so ärgerlich sind.  Kaum scheint er es zu wissen, daß
er einen Leib hat.  Das ist ein Mensch wie man nicht viele sieht, schön
wie Apollo, aber geistig wie ein Zephyr; ein Mensch, der lauter Seele ist,
der dich, wie du hier bist, für eine bloße Seele ansehen würde, und der
alles auf eine geistige Art tut, was wir andere körperlich tun.  Du
verstehst mich ja, schöne Danae?"  "Nicht allzuwohl; aber deine
Beschreibung gefällt mir nichts desto minder.  Du sprichst doch im Ernst?"
"In ganzem Ernst: Wenn du Lust hast die metaphysische Liebe zu kosten, so
habe ich deinen Mann gefunden.  Er ist platonischer als Plato
selbst--denn ich denke, du könntest uns geheime Nachrichten von diesem
berühmten Weisen geben." "Ich erinnere mich", antwortete Danae lächelnd,
"daß er einmal mit einer meiner Freundinnen eine kleine Zerstreuung gehabt
hat, die du ihm nicht übel nehmen mußt.  Wo ist ein Geist, dem ein
hübsches Mädchen von achtzehn Jahren nicht einen Körper geben könnte?"
"Du kennest meinen Mann noch nicht", erwiderte Hippias; "die Göttin von
Paphos, ja du selbst würdest es bei ihm so weit nicht bringen.  Du kannst
ihn Tag und Nacht um dich haben.  Du kannst ihn auf alle Proben stellen,
du kannst ihn--bei dir schlafen lassen, Danae, ohne daß er dir Gelegenheit
geben wird, nur die mindeste kleine Ausrufung anzubringen; kurz, bei ihm
kann deine Tugend ganz ruhig einschlummern, ohne jemals in Gefahr zu
kommen, aufgeweckt zu werden."  "Ach!  nun verstehe ich dich; es verlohnte
sich der Mühe nicht, den Scherz so weit zu treiben.  Ich verlange keinen
Liebhaber der sich nur darum an meine Seele hält, weil ihm das übrige zu
nichts nütze ist."  "Auch ist derjenige, den ich dir anpreise, weit
entfernt in diese Klasse zu gehören; mache dir darüber keinen Kummer.  Was
du für die Folge einer physischen Notwendigkeit hältst, ist bei ihm die
Würkung der Tugend, und der erhabnen Philosophie, von der er Profession
macht."  "Du machst mich sehr neugierig ihn zu sehen; aber weißt du,
Hippias, daß meine Eitelkeit nicht zu frieden wäre, auf eine so
kaltsinnige Art geliebt zu sein.  Es ist wahr, ich bin dieser mechanischen
Liebhaber von Herzen überdrüssig; aber ich würde mit einem andern eben so
übel zu frieden sein, der gegen dasjenige ganz unempfindlich wäre, wofür
jene allein empfindlich sind.  Ein Frauenzimmer findet allezeit ein
Vergnügen darin, Begierden einzuflößen, auch wann sie nicht im Sinn hat,
sie zu vergnügen.  Die Spröden selbst sind von dieser Schwachheit nicht
ausgenommen.  Wozu haben wir nötig, daß uns ein Liebhaber sagt, daß wir
reizend sind?  Wir wollen es aus den Würkungen sehen, die wir auf ihn
machen.  Je weiser er ist, desto schmeichelnder ist es für unsre Eitelkeit,
wenn wir ihn aus seiner Fassung setzen können.  Nein, du begreifst nicht,
wie sehr das Vergnügen, das uns der Anblick aller der Torheiten macht,
wozu wir diese Herren der Schöpfung bringen können, alle andre übertrifft,
die sie uns zu machen fähig sind.  Ein Philosoph, der zu meinen Füßen wie
eine Turteldaube girret, der mir zu Gefallen seine Haare und seinen Bart
kräuseln läßt, der so wohl riecht wie ein arabischer Salbenhändler, der
mir den Hof zu machen, mit meinem Schoßhund schwatzt und Oden auf meinen
Sperling macht--ah!  Hippias, man muß ein Frauenzimmer sein, um zu
begreifen, was das für ein Vergnügen ist!"--"Ich bedaure dich"; erwiderte
der schalkhafte Sophist, "daß du diesem Vergnügen bei dem Liebhaber, von
dem ich rede, entsagen mußt.  Er hat seine Proben schon gemacht.  Er ist
zärtlich wie ein junger Seufzer, aber, wie gesagt, er ist es nur für die
Seele der Schönen; alles übrige macht keinen größern Eindruck auf ihn, als
ein Gemälde, oder eine Bildsäule."  "Das wollen wir sehen", versetzte
Danae; "ich verlange schlechterdings, daß du ihn diesen Abend zu mir
bringest; du wirst nur eine kleine Gesellschaft finden, die uns nicht
hindern soll.  Aber wer ist denn dieser Ungenannte, von dem wir schon so
lange schwatzen?" "Es ist ein Sklave, den ich vor etlichen Wochen von
einem Cilicier gekauft habe, aber ein Sklave, wie man sonst nirgends sieht.
Er ist zu Delphi im Tempel des Apollo erzogen worden, und, so viel ich
vermute, wird er sein Dasein der antiplatonischen Liebe dieses Gottes zu
irgend einer artigen Schäferin zu danken haben, die sich zu weit in seinen
Lorbeerhain gewagt haben mag.  Er ist hernach eine geraume Zeit zu Athen
gewesen, und die schönen Reden des Plato haben die romanhafte Erziehung
vollendet, die er in den geheiligten Hainen zu Delphi erhalten.  Er geriet
durch einen Zufall in die Hände Cilicischer Seeräuber, und aus diesen in
die meinige.  Er nannte sich Pythokles; aber weil ich diese Art von Namen
nicht leiden kann, so hieß ich ihn Callias, und er verdient so zu heißen,
denn er ist der schönste Mensch, den ich jemals gesehen habe.  Seine
übrigen Gaben bestätigen die gute Meinung, die sein Anblick von ihm
erweckt.  Er hat Verstand, Geschmack, und Wissenschaft; er ist ein
Liebhaber und ein Günstling der Musen; aber mit allen diesen Vorzügen ist
er doch nichts weiter als ein wunderlicher Kopf, ein Schwärmer und ein
unbrauchbarer Mensch.  Er nennt seinen Eigensinn Tugend, weil er sich
einbildet, die Tugend müsse die Antipode der Natur sein; er hält die
Ausschweifungen seiner Phantasie für Vernunft, weil er sie in einen
gewissen Zusammenhang gebracht hat; und sich selbst für weise, weil er auf
eine methodische Art raset.  Er gefiel mir beim ersten Anblick, ich faßte
den Entschluß, etwas aus diesem jungen Menschen zu machen; aber alle meine
Mühe war umsonst; und wenn es möglich ist, daß er durch jemand zu recht
gebracht werden kann, so muß es durch ein Frauenzimmer geschehen; denn ich
glaube bemerkt zu haben, daß man nur durch sein Herz in seinen Kopf kommen
kann.  Die Unternehmung wäre deiner würdig, schöne Danae, und wenn sie dir
nicht gelingt, so ist er unverbesserlich, und verdient nichts, als daß man
ihn seiner Torheit und seinem Schicksal überlasse."

"Du hast meinen ganzen Ehrgeiz rege gemacht, Hippias", versetzte die
schöne Danae; "bringe ihn diesen Abend mit; ich will ihn sehen, und wenn
er aus eben denselben Elementen zusammengesetzt ist, wie andre Erden-Söhne,
so wollen wir eine Probe machen, ob Danae ihrer Lehrmeisterin würdig ist."

Hippias war sehr erfreut, den Zweck seines Besuchs so glücklich erreicht
zu haben, und versprach beim Abschied, zur bestimmten Zeit diesen
wunderbaren Jüngling aufzuführen, an welchem die schöne Danae so begierig
war, die Macht ihrer Reizungen zu versuchen.



DRITTES KAPITEL

Geschichte der schönen Danae


Die Dame, mit welcher unsre Leser im vorigen Kapitel Bekanntschaft gemacht,
hat vermutlich einem guten Teil derselben nicht so übel gefallen, daß sie
nicht eine nähere Nachricht von dem Charakter und der Geschichte derselben
erwarten sollten; und wir sind desto geneigter, ihrem Verlangen ein Genüge
zu tun, je nötiger der Verfolg unsrer Geschichten zu machen scheint, daß
der Leser in den Stand gesetzt werde, der schönen Danae Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen.

Die allgemeine Meinung zu Smyrna war, daß sie eine Tochter der berühmten
Aspasia von Milet sei, die, nachdem sie in ihrer Vaterstadt die Kunst der
Galanterie, wovon sie Profession machte, durch die Verbindung derselben
mit der Philosophie und den Künsten der Musen, zu jenem Grade der
Vollkommenheit erhoben hatte, der sie zur wahren Erfinderin derselben zu
machen schien, nach Athen gezogen war, wo sie sich ihrer seltnen Vorzüge
auf eine so kluge Art zu bedienen gewußt, daß sie sich endlich zur
unumschränkten Beherrscherin des großen Perikles, der das ganze
Griechenland beherrschte, oder wie die komischen Dichter ihrer Zeit sich
ausdrückten, zur Juno dieses atheniensischen Jupiters erhoben hatte.
Allein die Vermutungen, worauf sich diese Meinung von der Abkunft der
Danae gründeten, können nicht für hinlänglich angesehen werden, das
Zeugnis verschiedner Geschichtschreiber zu überwägen, welche versichern,
daß sie aus der Insel Scios gebürtig gewesen, und nach dem Tod ihrer
Eltern, in ihrem vierzehnten Jahr mit einem Bruder nach Athen gekommen, um
in dieser Stadt, worin alle angenehmen Talente willkommen waren, durch die
ihrigen ihren Unterhalt zu gewinnen.  Die Kunst, welche sie hier trieb,
war eine Art von pantomimischen Tänzen, wozu gemeiniglich nur eine oder
zwo Personen erfordert wurden, und worin die tanzende Person, nach der
Modulation einer Flöte oder Leier, gewisse Stücke aus der Götter--und
Heldengeschichte der Griechen, durch Gebärden und Bewegungen vorstellte.
Allein, da diese Kunst wegen der Menge derer die sie trieben, nicht
zureichte sie zu unterhalten, so sahe sich die junge Danae genötiget, den
Künstlern zu Athen die Dienste eines Models zu tun; und erhielt dadurch
außer dem Nutzen, den sie davon zog, die schmeichelnde Ehre, bald als
Diana, bald als Venus auf die Altäre gestellt, die Bewunderung der Kenner
und die Anbetung des Pöbels zu erhalten.  Bei einer solchen Gelegenheit
trug es sich zu, daß sie von dem jungen Alcibiades überraschet, und in der
Stellung der Danae des Acrisius, welche sie eben vorstellte, allzureizend
befunden wurde, als daß einem geringern als Alcibiades auch nur der
Anblick so vieler Schönheiten erlaubt sein sollte.  Auf der andern Seite
wurde die junge Danae von der Figur, den Manieren, dem Stand und den
Reichtümern dieses liebenswürdigen Verführers so sehr eingenommen, daß er
keine große Mühe hatte, sie zu bereden sich in seinen Schutz zu begeben.
Er brachte sie also in das Haus der Aspasia, welches zu gleicher Zeit eine
Akademie der schönsten Geister von Athen, und eine Frauenzimmer-Schule war,
worin junge Mädchen von den vorzüglichsten Gaben, unter der Aufsicht
einer so vollkommen Meisterin, eine Erziehung erhielten, welche sie zu der
Bestimmung geschickt machen sollte, die Großen und die Weisen der Republik
in ihren Ruhestunden zu ergötzen.  Danae machte sich diese Gelegenheit
sowohl zu Nutze, daß sie die Gunst, und endlich selbst die Vertraulichkeit
der Aspasia erhielt, welche, weit über die Niederträchtigkeit gemeiner
Seelen erhaben, sich mit so vielem Vergnügen in dieser jungen Person
wieder hervorgebracht sah, daß sie dadurch zu der Vermutung Anlaß gab,
deren wir bereits Erwähnung getan haben.  Inzwischen genoß Alcibiades
allein der Früchte einer Erziehung, wodurch die natürlichen Gaben seiner
jungen Freundin zu einer Vollkommenheit entwickelt wurden, die ihr den
Namen der zweiten Aspasia erwarb; und die schöne Danae legte sich selbst
die Pflicht auf, eine Treue gegen ihn zu beobachten, die er nicht zu
erwidern nötig fand.  Da die Liebe zur Veränderung eine stärkere
Leidenschaft bei ihm war, als die Liebe die ihm irgend ein Frauenzimmer
einflößen konnte, so mußte auch Danae, nachdem sie sich eine geraume Zeit
in dem ersten Platz bei ihm erhalten hatte, einer andern weichen, die
keinen Vorzug vor ihr hatte, als daß sie ihm neu war.  So schwach Danae
von einer gewissen Seite sein mochte, so edel war ihr Herz in andern
Stücken.  Sie liebte den Alcibiades, weil sie von seiner Person und von
seinen Eigenschaften bezaubert war, und dachte wenig daran, von seinen
Reichtümern Vorteil zu ziehen.  Sie würde also nichts von ihm übrig
behalten haben, als das Andenken von dem liebenswürdigsten Mann ihrer Zeit
geliebt worden zu sein; wenn er nicht eben so stolz und freigebig gewesen
wäre, als sie, wider die Gewohnheit ihrer Gespielen, uneigennützig war.
"Ich verlasse dich Danae", sagte er zu ihr, "allein ich werde nicht
zugeben, daß diejenige, die einst dem Alcibiades zugehörte, jemals
genötiget sein soll, dem Reichsten zu überlassen, was nur dem
Liebenswürdigsten gehört."  Mit diesen Worten drang er ihr eine Summe auf,
die mehr als zulänglich war, sie von dieser Seite außer aller Gefahr zu
setzen.  Der Tod der Aspasia und die Veränderungen, die er nach sich zog,
bewogen sie, wenige Jahre darauf Athen zu verlassen, und nach etlichen
Begebenheiten, an denen ihr Herz keinen geringen Anteil hatte, Smyrna zu
ihrem beständigen Sitz zu erwählen.  Hier hatte sie Gelegenheit dem
jüngern Cyrus bekannt zu werden, dessen liebenswürdige Eigenschaften durch
die Feder des Xenophon eben so bekannt worden sind, als der unglückliche
Ausgang der Unternehmung, wodurch er sich auf den Thron des ersten Cyrus
zu schwingen hoffte.  Ihr erster Anblick unterwarf ihr das Herz dieses
Prinzen, der so empfindlich gegen diejenige Art von Reizungen war, wodurch
sich die Schülerinnen der Aspasia von den lebenden Statuen unterschieden,
die in den Morgenländern zum Vergnügen der Großen bestimmt werden, und in
der Tat zu dem einzigen Gebrauch den diese von ihnen zu machen wissen,
wenig Seele nötig haben.  Allein so schmeichelhaft diese Eroberung für sie
war, so konnte sie doch nichts bewegen, ihn nach Sardes zu begleiten, und
ihre Freiheit der Ehre aufzuopfern, die erste seiner Sklavinnen zu sein.
Sie blieb also in Smyrna zurück, wo sie durch die großmütige Freigebigkeit
des Cyrus, der sich hierin von keinem Athenienser übertreffen lassen
wollte, in den Stand gesetzt war, ihre einzige Sorge sein zu lassen, wie
sie auf die angenehmste Art leben wollte.  Sie bediente sich dieses Glücks,
wie es der Name der zwoten Aspasia erfoderte.  Ihre Wohnung schien ein
Tempel der Musen und Grazien zu sein, und wenn Amor von einer so reizenden
Gesellschaft nicht ausgeschlossen war, so war es jener Amor, den die Musen
beim Anacreon mit Blumenkränzen binden, und der sich in dieser
Gefangenschaft so wohl gefällt, daß Venus ihn vergeblich bereden will,
sich in seine vorige Freiheit setzen zu lassen.  Die Spiele, die Scherze
und die Freuden, (wenn es uns erlaubt ist, die Sprache Homers zu
gebrauchen, wo die gewöhnliche zu matt scheint), schlossen mit den
lächelnden Stunden einen unauflöslichen Reihentanz um sie her, und
Schwermut, überdruß, und Langeweile waren mit allen andern Feinden der
Ruhe und des Vergnügens aus diesem Wohnplatz der Freude verbannt.

Wir haben, deucht uns, schon mehr als genug gesagt, um unsre Leser in
keine mittelmäßige Sorge für die Tugend unsers Helden zu setzen.  In der
Tat hatte er sich noch niemals in Umständen befunden, wo wir weniger
hoffen dürfen, daß sie sich werde erhalten können; die Gefahr worin sie
bei der üppigen Pythia, unter den rasenden Bachantinnen und in dem Hause
des weisen Hippias, welches dem Stalle der Circe so ähnlich sah,
geschwebet hatte, verdient nur nicht neben derjenigen genannt zu werden,
welcher wir ihn bald ausgesetzt sehen werden, und deren wir ihn gerne
überhoben hätten, wenn uns die Pflichten eines Geschichtschreibers
erlaubten, unsrer freundschaftlichen Parteilichkeit für ihn, auf Unkosten
der Wahrheit nachzugeben.



VIERTES KAPITEL

Wie gefährlich es ist, der Besitzer einer verschönernden Einbildungskraft
zu sein


Wenn eine lebhafte Einbildungskraft ihrem Besitzer eine unendliche Menge
von Vergnügen gewährt, die den übrigen Sterblichen versagt sind; wenn ihre
magische Würkung alles Schöne in seinen Augen verschönert, und ihn da in
Entzückung setzt, wo andre kaum empfinden; wenn sie in glücklichen Stunden,
ihm diese Welt zu einem Paradiese macht, und in traurigen seine Seele von
der Szene seines Kummers hinwegzieht, und in andre Welten versetzt, die
durch die vergrößernden Schatten einer vollkommnen Wonne seinen Schmerz
bezaubern: So müssen wir auf der andern Seite gestehen, daß sie nicht
weniger eine Quelle von Irrtümern, von Ausschweifungen und von Qualen für
ihn ist, wovon er, selbst mit Beihülfe der Weisheit und mit der feurigsten
Liebe zur Tugend, sich nicht eher losmachen kann, bis er, auf welche Art
es nun sein mag, so weit gekommen ist, die allzugroße Lebhaftigkeit
derselben zu mäßigen.  Der weise Hippias hatte, die Wahrheit zu gestehen,
unserm Helden sehr wenig Unrecht getan, als er ihm eine Einbildungskraft
von dieser Art zuschrieb; ob wir ihm gleich in Absicht des Mittels nicht
völlig beifallen können, wodurch selbige, seiner Meinung nach, am besten
in das gehörige Gleichgewicht mit den übrigen Kräften der Seele gesetzt
werden könne.  Die schlaue Danae hatte sich aus der Beschreibung des
Hippias eine solche Vorstellung von dem Agathon gemacht, daß sie alles
gewonnen zu haben glaubte, wenn sie nur seine Einbildungskraft auf ihre
Seite gebracht haben würde.  Hippias, dachte sie, hatte nur darin gefehlt,
daß er ihn durch die Sinnen verführen wollte.  Auf diese Voraussetzung
machte sie einen Plan, über den sie nicht wenig vergnügt war; und dachte
so wenig daran, daß die Ausführung sie ihr eignes Herz kosten könnte, als
Agathon sich von der Gefahr träumen ließ, die dem seinigen zubereitet
wurde.  Endlich kam die Stunde, die dem Hippias bestimmt worden war.
Agathon begleitete seinen Herrn, ohne zu wissen wohin.  Sie traten in
einen Palast, der auf einer doppelten Reihe von jonischen Säulen ruhte,
und mit vielen vergoldeten Bildsäulen ausgezieret war.  Das Inwendige
dieses Hauses stimmte vollkommen mit der Pracht des äußerlichen Anblicks
überein.  Allenthalben begegnete ihm das geschäftige Gewimmel von
unzählichen Sklaven und Sklavinnen, wovon die erstern alle unter zwölf
Jahren zu sein schienen, und so wie die letztern von außerordentlicher
Schönheit waren.  Ihre Kleidung stellte dem Aug' eine angenehme
Verbindung der Einförmigkeit mit der Abwechslung vor; einige waren in weiß,
andre in himmelblau, andre in rosenfarb, andre in andre Farben gekleidet,
und jede Farbe schien eine besondere Klasse zu bezeichnen, welcher ihre
eigne Dienste angewiesen waren.  Agathon, auf den alles lebhaftere
Eindrücke machte, als es nötig war, um nach dem Maßstab der Moralisten
genug zu sein, wurde durch alles was er sah, so sehr bezaubert, daß er
sich in eine von seinen idealischen Welten versetzt glaubte.  Allein eh er
Zeit hatte zu sich selbst zu kommen, führte ihn Hippias in einen großen
und hellerleuchteten Saal, worin die Gesellschaft versammelt war, welche
sie vermehren sollten.  Er hatte kaum einen Blick auf sie geworfen, als
die schöne Danae ihm mit einer Anmut und Leutseligkeit die ihr eigen war,
entgegen kam, und ihm sagte, daß ein Freund des Hippias das Recht habe,
sich in ihrem Hause und in dieser Gesellschaft als einheimisch anzusehen.
Ein so verbindliches Kompliment verdiente wohl eine Antwort in eben diesem
Ton; allein Agathon war in diesem Augenblick außer Stand, höflich zu sein:
Ein Blick, womit man den äußersten Grad des angenehmsten Erstaunens malen
müßte, war alles, was er auf diese Anred' erwidern konnte.  Die
Gesellschaft, die er versammelt fand, war aus lauter solchen Personen
zusammengesetzt, welche die Vorrechte des vertrautesten Umgangs in diesem
Hause genossen, und die attische Urbanität, die von der spröden,
regelmäßigen und manierenreichen Politesse der heutigen Europäer so sehr
verschieden war, in einem so hohen Grad als Danae selbst, besaßen.  In
einer Gesellschaft nach der heutigen Art würde Agathon, in den ersten
Augenblicken, da er sich darstellte, zu einer unendlichen Menge von
boshaften und spöttischen Anmerkungen Stoff gegeben haben; allein in
dieser war ein flüchtiger Blick alles, was er auszuhalten hatte.  Die
Unterredung wurde fortgesetzt, niemand zischelte dem andern ins Ohr, oder
schien das Erstaunen zu bemerken, mit der seine Augen die schöne Danae zu
verschlingen schienen; kurz, man ließ ihm alle Zeit die er brauchte um
wieder zu sich selbst zu kommen, wofern sich anders dieser Ausdruck für
die Verfassung schickt, in der er sich diesen ganzen Abend durch befand.
Vielleicht erwartet man, daß wir eine nähere Erläuterung über diesen
außerordentlichen Eindruck geben sollen, welchen Danae auf unsern
allzureizbaren Helden machte; allein wir sehen uns noch außer Stand, die
Neugierde des Lesers über einen Punkt zu befriedigen, wovon Agathon selbst
noch nicht fähig gewesen wäre, Rechenschaft zu geben: Soviel können wir
inzwischen sagen, daß diese Dame dem Anschein nach niemals weniger
erwarten konnte, eine solche Würkung zu machen; so wenig Mühe hatte sie
sich gegeben, durch einen schlauen Putz ihre Reizungen in ein günstiges
Licht zu setzen.  Ein Kleid von weißem Taft, mit kleinen Streifen von
Purpur, und eine halberöffnete Rose in ihrem schwarzen Haar, machte ihren
ganzen Staat aus; und von der Durchsichtigkeit, wodurch die Kleidung der
Cyane den Augen unsers Helden anstößig gewesen, war die ihrige so weit
entfernt, daß man mit besserm Recht an ihr hätte aussetzen können, daß sie
zu sehr verhüllt sei.  Es ist wahr, sie hatte Sorge getragen, daß ein
kleiner niedlicher Fuß, der an Weiße den Alabaster übertraf, dem Auge
nicht immer entzogen würde; und die ganze Schönheit ihres Gesichts war
nicht vermögend, den Agathon aufmerksam zu erhalten, wenn sich dieser
reizende Fuß sehen ließ.  Allein dieses, und eine schneeweiße Hand mit dem
Anfang eines vollkommen schönen Arms war alles, was das neidische Gewand
den vorwitzigen Blicken nicht versagte; was es also auch sein mochte, was
in seinem Herzen vorging, so ist doch dieses gewiß, daß an der Person und
dem Betragen der schönen Danae nicht das mindeste zu entdecken war, das
einige besondere Absicht auf unsern Helden hätte anzeigen können; und daß
sie, es sei nun aus Unachtsamkeit oder Bescheidenheit, nicht einmal zu
bemerken schien, daß Agathon für sie allein Augen, und über ihrem
Anschauen den Gebrauch aller andern Sinnen verloren hatte.



FÜNFTES KAPITEL

Pantomimen


Nach Endigung der Mahlzeit, bei welcher Agathon beinahe einen bloßen
Zuschauer abgegeben hatte, trat ein Tänzer und eine junge Tänzerin herein,
die nach der Modulation eben so vieler Flöten die Geschichte des Apollo
und der Daphne tanzten.  Die Geschicklichkeit der Tanzenden befriedigte
alle Zuschauer; alles an ihnen war Seele und Ausdruck, und man glaubte sie
immer zu hören, ob man sie gleich nur sah.  "Wie gefällt dir diese
Tänzerin, Callias", fragte Danae den Agathon, welcher nur mittelmäßig
aufmerksam auf dieses Spiel zu sein schien, und der einzige war, der nicht
beobachtete, daß die Tänzerin von ungemeiner Schönheit, und eben so wie
Cyane, kaum mit etwas mehr als gewebter Luft umhüllt war.  "Mich deucht",
versetzte Agathon, der itzt erst anfing sie aufmerksamer anzusehen, "mich
deucht, daß sie, vielleicht aus allzugroßer Begierde zu gefallen, den
Charakter verläßt den sie vorstellen soll.  Warum sieht sie sich im
Fliehen um?  Und mit einem Blick, der es ihrem Verfolger zu verweisen
scheint, daß er nicht schneller ist als sie?--Gut, sehr gut!"  (fuhr er
fort, wie die Stelle kam, wo Daphne den Flußgott um Hülfe anruft,)
"unverbesserlich! Wie sie mitten in ihrem Gebet sich verwandelt!  Wie sie
erbleicht! Wie sie schauert!  Ihre Füße wurzeln mitten in einer
schreckhaften Bewegung ein; umsonst will sie ihre ausgebreiteten Arme
zurückziehen.--Aber warum dieser zärtlichbange Blick auf ihren Liebhaber?
Warum diese Träne, die in ihrem Auge zu erstarren scheint?"--Ein
allgemeines Lächeln beantwortete die Frage Agathons.  "Du tadelst gerade",
versetzte zuletzt einer von den Gästen, "was wir am meisten bewundern.
Eine gewöhnliche Tänzerin würde nicht fähig gewesen sein, deinen Tadel zu
verdienen.  Es ist unmöglich mehr Geist, mehr Feinheit und einen schönern
Kontrast in diese Rolle zu bringen, als die kleine Psyche, (so hieß die
Tänzerin) getan hat."  Daphne selbst war nicht bestürzter gewesen, da sie
sich verwandelt fühlte, als Agathon in dem Augenblick, als er den Namen
Psyche hörte; er stockte mitten in einem Worte, das er sagen wollte; er
errötete, und seine Verwirrung war so merklich, daß Danae, welche sie der
Beschämung seines Tadels zuschrieb, für nötig hielt, ihm zu Hülfe zu
kommen.  "Der Tadel des Callias", sagte sie, "beweist, daß er den Geist,
womit Psyche ihre Rolle gespielt, so gut empfunden hat, als Phädrias.
Aber vielleicht ist er darum nicht minder gegründet.  Psyche sollte die
Person der Daphne gespielt haben, und hat ihre eigene gespielt; ist es
nicht so, Psyche?  Du dachtest, wie würde mir's an Daphnens Stelle gewesen
sein?"--"Und wie hätte ichs anders machen können, meine Gebieterin?"
fragte die kleine Tänzerin.  "Du hättest den Charakter annehmen sollen,
den ihr die Dichter geben, und hast dich begnügt dich selbst in ihre
Umstände zu setzen."  "Was für ein Charakter ist denn das", erwiderte
Psyche.  "Einer Spröden", sagte der weise Hippias; "das ist der
Lieblings-Charakter des Callias."  Abermalige Gelegenheit zum Erröten für
den guten Agathon.  "Du hast es nicht erraten", sagte er; "der Charakter,
den Daphne nach meiner Idee haben soll, ist Gleichgültigkeit und Unschuld;
sie kann beides haben, ohne eine Spröde zu sein."  "Psyche verdient also
desto mehr Lob", erwiderte Phädrias (für den sie, wie die Geschichte
meldet, noch etwas mehr als eine Tänzerin war) "weil sie den Charakter
verschönert hat, den sie vorstellen sollte.  Der Streit zwischen Liebe und
Ehre erfordert mehr Genie um nachgeahmt zu werden, und ist für den
Zuschauer rührender, als die Gleichgültigkeit, die ihr Callias geben will.
Und zudem, wo ist die junge Nymphe, die gegen die Liebe eines so schönen
Gottes wie Apollo ist, gleichgültig sein könnte?"  "Ich bin deiner
Meinung", sagte Hippias.  "Daphne flieht vor dem Apollo, weil sie ein
junges Mädchen ist; und weil sie ein junges Mädchen ist, so wünscht sie
heimlich, daß er sie erhaschen möge.  Warum sieht sie sich so oft um, als
um ihm zu verweisen, daß er nicht schneller sei?  Wie er ihr so nahe ist,
daß sie nicht mehr entfliehen kann, so fleht sie dem Flußgotte, daß er sie
verwandeln soll.  Grimasse!  Warum stürzte sie sich nicht in den Fluß,
wenn es ihr Ernst war?  Sie tat was eine Nymphe tun soll, da sie den
Flußgott anrief; das war in der Ordnung: Aber wer konnte auch fürchten, so
schnell erhört zu werden?  Und in welchem Augenblick konnte sie es weniger
wünschen, als in eben diesem, da sie sich von den begierigen Armen ihres
Liebhabers schon umschlungen fühlte? Hatte sie sich denn aus einem andern
Grund außer Atem geloffen, als damit er sie desto gewisser erhaschen
möchte?  Was ist also natürlicher als der Unwille, der Schmerz und die
Traurigkeit, womit sie sein Betragen erwidert, da sie die Arme, womit sie
ihn--zurückstoßen will, zu Lorbeerzweigen erstarret fühlt? Selbst der
zärtliche Blick ist natürlich; die Verstellung hört auf, wenn man in einen
Lorbeerbaum verwandelt wird.  War nicht dieses das ganze Spiel der
Psyche?  Und kann etwas natürlicher sein?  Es ist der Charakter eines
jungen Mädchens; eines von denen jungen Mädchen, versteht sichs, mein
lieber Callias, wie man sie in dieser materiellen Welt findet."  "Ich
ergebe mich", versetzte Agathon; "die Tänzerin hat alles getan, was man
von ihr fodern konnte, und ich war lächerlich zu erwarten, daß sie die
Idee ausführen sollte, die ich von einer Daphne in meiner Phantasie habe."
Agathon hatte dieses kaum gesprochen, als Danae, ohne ein Wort zu sagen,
aufstund, der Tänzerin einen Wink gab, und mit ihr verschwand.  In einer
kleinen Weile kam die Tänzerin allein wieder zurück, die Flöten fingen
wieder an, und Apollo und Daphne wiederholten ihre Pantomime.  Aber wie
erstaunte Agathon als er sah, daß es Danae selbst war, die in der Kleidung
der Tänzerin die Person der Daphne spielte!  Armer Agathon!  Allzureizende
Danae! Wer hätte es glauben sollen?  Ihr ganzes Spiel drückte die eigenste
Idee des Agathon aus, aber mit einer Anmut, mit einer Zauberei, wovon ihm
seine Phantasie keine Idee gegeben hatte.  Die Empfindungen, von denen
seine Seele in diesen Augenblicken überfallen wurde, waren so lebhaft, daß
er sich bemühte, seine Augen von diesem zu sehr bezaubernden Gegenstand
abzuziehen; aber vergeblich!  Eine unwiderstehliche Gewalt zog sie zurück.
Wie edel, wie schön waren ihre Bewegungen!  Mit welch einer rührenden
Einfalt drückte sie den Charakter der Unschuld aus!  Er sah noch in
sprachloser Entzückung nach dem Orte, wo sie zum Lorbeerbaum erstarrte,
als sie schon wieder verschwunden war, ohne das Lob und das Händeklatschen
der Zuschauer zu erwarten, welche nicht Worte genug finden konnten, das
Vergnügen auszudrücken, das ihnen Danae durch diese unerwartete Probe
ihres Talents gemacht hatte.  In wenigen Minuten kam sie schon wieder in
ihrer eignen Person zurück.  "Wie sehr ist Callias dir verbunden, schöne
Danae", sagte Phädrias indem sie hereintrat!  "Du allein konntest seinen
Tadel rechtfertigen, nur diejenige konnte es, die liebenswürdig genug ist,
um die Sprödigkeit selbst reizend zu machen.  Wie sehr wäre ein Apollo zu
bedauren, für den du Daphne wärest!" Es war glücklich für den guten
Agathon, daß er, indem dieses mit einem bedeutenden Blick gesagt wurde, in
dem Anschauen der schönen Danae so verloren war, daß er nichts hörte; denn
sonst würde ein abermaliges Erröten die Auslegung zu diesem Text gemacht
haben.  Das Lob dieser Dame, und ein Gespräch über die Tanzkunst füllte
den überrest der Zeit aus, welche diese Gesellschaft noch beieinander
zubrachte; ein Gespräch, dessen Mitteilung uns der Leser gerne nachlassen
wird, da wir seine Begierde nach angelegenern Materien zu befriedigen
haben.  Nur diesen Umstand können wir nicht vorbeigehen, daß Agathon bei
diesem Anlaß auf einmal so beredt wurde, als er vorher tiefsinnig und
stillschweigend gewesen war; eine lächelnde Heiterkeit schimmerte um sein
ganzes Gesicht, und noch niemal hatte sein Witz sich mit solcher
Lebhaftigkeit hervorgetan.  Er erhielt den Beifall der ganzen Gesellschaft,
und die schöne Danae selbst konnte sich nicht enthalten, ihn von Zeit zu
Zeit mit einem Ausdruck von Vergnügen und Zufriedenheit anzusehen;
indessen daß in seinen nur selten von ihr abgewandten Augen etwas glänzte,
für welches wir uns umsonst bemühet haben, in der Sprache der Menschen
einen Namen zu finden.



SECHSTES KAPITEL

Geheime Nachrichten


Wir haben von unserm Freunde Plutarch gelernt, daß sehr kleine
Begebenheiten öfters durch große Folgen merkwürdig werden, und sehr kleine
Handlungen uns nicht selten tiefere Blicke in das Inwendige der Menschen
tun lassen, als die feierlichen Handlungen, wozu man, weil sie dem
öffentlichen Urteil ausgesetzt sind, sich ordentlicher Weise in eine
gewisse mit sich selbst abgeredete Verfassung zu setzen pflegt.  Die
Gründlichkeit dieser Beobachtung hat uns bewogen, in der Geschichte der
Pantomime, welche das vorige Kapitel ausfüllt, so umständlich zu sein; und
wir hoffen uns deshalb vollkommen zu rechtfertigen, wenn wir diese
Erzählung durch dasjenige ergänzen, was die liebenswürdige Psyche betrifft,
mit welcher der Leser schon im ersten Buche, wiewohl nur im Vorbeigehen,
bekannt zu werden angefangen hat.  Diese Psyche, so wie sie war, hatte
bisher unter allen Wesen, welche in die Sinne fallen, (wir setzen diese
Einschränkung nicht ohne Ursach hinzu, so seltsam sie auch in
anti-platonischen Ohren klingen mag) den ersten Platz in seinem Herzen
eingenommen, und er hatte, seitdem sie von ihm entfernt war, kein
Frauenzimmer gesehen, die nicht durch die bloße Erinnerung an Psyche alle
Macht über sein Herz und selbst über seine Sinnen verloren hätte; deren
Bewegungen, wie man weiß, sonst nicht immer mit den erstern so parallel
laufen, als gewisse Romanenschreiber vorauszusetzen scheinen.  Die
Wahrheit zu gestehen, so war dieses nicht die Würkung derjenigen
heroischen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe, welche in besagten
Romanen zu einer Tugend von der ersten Klasse gemacht wird; Psyche erhielt
sich im Besitz seines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die er von ihr
hatte, angenehmer waren, als die Empfindungen, die ihm irgend eine andre
Schöne einzuflößen vermocht, oder weil er bisher keine andre gesehen hatte,
die so sehr nach seinem Herzen gewesen wäre.  Eine Erfahrung von etlichen
Jahren beredete ihn, daß es allezeit so sein würde, und daher kam
vielleicht die Bestürzung, wovon er befallen wurde, als der erste Anblick
der schönen Danae ihm eine Vollkommenheit darstellte, die seiner
Einbildung nach allein jenseits des Mondes anzutreffen sein sollte.  Er
müßte nicht Agathon gewesen sein, wenn diese Erscheinung sich nicht seiner
ganzen Seele so sehr bemeistert hätte, wie wir gesehen haben.  Niemals,
deuchte ihn, hatte er in einem so hohen Grad und in einer so seltnen
Harmonie alle diese feinern Schönheiten, von denen gemeine Seelen nicht
gerührt zu werden fähig sind, vereiniget gesehen.  Ihre Gestalt, ihre
Blicke, ihr Lächeln, ihre Gebärden, ihr Gang, alles hatte diese
Vollkommenheit, welche die Dichter den Göttinnen zuzuschreiben pflegen.
Was Wunder also, daß er in den ersten Stunden nichts als anschauen und
bewundern konnte, und daß seine entzückte Seele noch keine Zeit hatte auf
dasjenige acht zu geben, was in ihr vorging.  In der Tat waren alle ihre
übrigen Kräfte so gebunden, daß er wider seine Gewohnheit in dieser ganzen
Zeit sich seiner Psyche eben so wenig erinnerte, als ob sie nie gewesen
wäre.  Allein als die junge Tänzerin zum Vorschein kam, welche die Person
der Daphne spielte, so stellte einige ähnlichkeit, die sie würklich in der
Gesichtsbildung und Figur mit Psyche hatte, ihm auf einmal, wiewohl ohne
daß er sich dessen deutlich bewußt war, das Bild seiner abwesenden
Geliebten vor die Augen; seine Einbildungskraft setzte durch eine
gewöhnliche mechanische Würkung Psyche an die Stelle dieser Daphne, und
wenn er so vieles an der Tänzerin auszusetzen fand, so war es im Grunde
nur darum, weil die Vergleichung den Betrug des ersten Anblicks entdeckte,
oder weil sie nicht Psyche war.  So gewöhnlich dergleichen Spiele der
Einbildung sind, so selten ist es, daß man den Einfluß deutlich
unterscheidet, den sie auf unsre Urteile oder Neigungen zu haben pflegen.
Agathon selbst, der sich von seiner ersten Jugend an eine Beschäftigung
daraus gemacht hatte, den geheimen Triebfedern seiner innerlichen
Bewegungen nachzuspüren, merkte dennoch nicht eher, was bei diesem Anlaß
in seiner Phantasie vorging, bis der Name Psyche, dieser Name, dessen
bloßer Ton sonst Musik in seinen Ohren gewesen war, ihn erschütterte, und
in eine Verwirrung von Empfindungen setzte, die er selbst zu beschreiben
Mühe gehabt hat; wenn wir anders hievon nach der besondern Dunkelheit, die
in unsrer Urkunde über diese Stelle liegt, urteilen dürfen.  Was auch die
Ursache dieser Bestürzung gewesen sein mag, so ist gewiß, daß er weit
davon entfernt war nur zu argwöhnen, der Genius seiner ersten Liebe stutze
vielleicht darüber, eine Nebenbuhlerin in einem Herzen zu finden, welches
er von Psyche allein ausgefüllt zu sehen gewohnt war.  Sein Selbstbetrug,
wofern es anders einer war, scheint desto mehr Entschuldigung zu verdienen,
weil dieser geliebte Name würklich in wenig Augenblicken seine ganze
Zärtlichkeit rege machte.  Er bemerkte nun erst deutlich die ähnlichkeiten,
welche die beiden Psychen mit einander hatten; er verglich sie mit einem
Vorurteile, welches der Abwesenden so günstig war, daß die Gegenwärtige
ihr nur zum Schatten dienen mußte; ja wir wissen nicht, ob eine so
lebhafte Erinnerung nicht endlich der schönen Danae selbst Abbruch getan
hätte, wenn diese, gleich als ob sie durch eine Art von Divination erraten
hätte was in seiner Seele vorging, nicht auf den glücklichen Einfall
gekommen wäre, sich an den Platz der kleinen Tänzerin zu setzen, um die
Vorstellung auszuführen, welche sich Agathon von einer idealischen Daphne
gemacht, und deren die Geschmeidigkeit ihres Geistes sich so schnell und
so glücklich zu bemächtigen gewußt hatte.  Einen schlimmern Streich konnte
sie in der Tat der einen und der andern Psyche nicht spielen.  Beide
wurden von ihrem blendenden Glanze, wie benachbarte Sterne von dem vollen
Mond, ausgelöscht.  Und wie hätte ihn auch das Bild seiner abwesenden
Geliebten noch länger beschäftigen können, da alle Anschauungskräfte
seiner Seele, auf diesen einzigen bezaubernden Gegenstand geheftet, ihm
kaum zureichend schienen, dessen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da er
diese sittliche Venus mit allen ihren geistigen Grazien würklich vor sich
sah, zu deren bloßen Schattenbild ihn Psyche zu erheben vermocht hatte?

Wir wissen nicht, ob man eben ein Hippias sein müßte, um zu glauben, daß
gewisse Schönheiten von einer nicht so unkörperlichen, wiewohl in ihrer
Art eben so vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon selbst gewahr wurde,
zu dieser Verzückung in die idealischen Welten beigetragen haben könnten,
worin er während dem pantomimischen Tanz der Danae sich befand.  Die
Nymphen-mäßige Kleidung, welche dieser Tanz erforderte, war nur
allzugeschickt diese Reizungen in ihrer ganzen Macht und in dem
mannigfaltigsten Lichte zu entwickeln; und wir müssen gestehen, die Göttin
der Liebe selbst hätte sich nicht zuversichtlicher als die untadelliche
Danae dem Auge der schärfsten Kenner, ja selbst den Augen einer
Nebenbuhlerin, in diesem Aufzug überlassen dürfen.  Der Charakter der
ungeschminkten Unschuld, welchen sie so unverbesserlich nachahmte, schien
dadurch einen noch lebhaftern Ausdruck zu erhalten; aber einen so
lebhaften, daß ein jeder andrer als ein Agathon dabei in Gefahr gewesen
wäre, die seinige zu verlieren.  Freilich hatten die übrigen Zuschauer
Mühe genug, sich zu enthalten, die Rolle des Apollo in ganzem Ernste zu
machen; aber von unsern Helden hatte Danae nichts zu besorgen; und sie
fand, daß Hippias nicht zuviel von ihm versprochen hatte.  Diese
materiellen Schönheiten, die er nicht einmal deutlich unterschied, weil
sie in seinen Augen mit den geistigen in Eins zusammengeflossen waren,
mochten den Grad der Lebhaftigkeit seiner Empfindungen noch so sehr
erhöhen, so konnten sie doch die Natur derselben nicht verändern; niemals
in seinem Leben waren sie reiner, Begierden-freier, unkörperlicher gewesen.
Kurz, so widersinnisch es jenen aus gröberm Stoff gebildeten Erdensöhnen,
welche in dem vollkommensten Weibe nur ein Weib sehen, scheinen mag, so
gewiß war es, daß Danae mit einer Gestalt und in einem Aufzug, welcher
(mit dem weisen Hippias zu reden) einen Geist hätte verkörpern mögen,
diesen seltsamen Jüngling in einen so völligen Geist verwandelte, als man
jemals diesseits und vielleicht auch jenseits des Mondes gesehen hat.



FÜNFTES BUCH



ERSTES KAPITEL

Was die Nacht durch in den Gemütern einiger von unsern Personen
vorgegangen


Wir haben schon so viel von der gegenwärtigen Gemütsverfassung unsers
Helden gesagt, daß man sich nicht verwundern wird, wenn wir hinzusetzen,
daß er den übrigen Teil der Nacht in ununterbrochenem Anschauen dieser
idealen Vollkommenheit zubrachte, die seine Einbildungskraft mit einer ihr
gewöhnlichen Kunst, und ohne daß er den Betrug merkte, an die Stelle der
schönen Danae geschoben hatte.  Dieses Anschauen setzte sein Gemüt in eine
so angenehme und ruhige Entzückung, daß er, gleich als ob nun alle seine
Wünsche befriediget wären, nicht das geringste von der Unruhe, den
Begierden, der innerlichen Gärung, der Abwechslung von Frost und Hitze
fühlte, womit die Leidenschaft, mit der man ihn, nicht ohne
Wahrscheinlichkeit, behaftet glauben konnte, sich ordentlicher Weise
anzukündigen pflegt.

Was die Danae betrifft, welche die Ehre hatte, diese erhabene Entzückungen
in ihm zu erwecken, so brachte sie den Rest der Nacht wo nicht mit eben so
erhabenen doch in ihrer Art mit eben so angenehmen Betrachtungen zu.
Agathon hatte ihr gefallen, sie war mit dem Eindruck, den sie auf ihn
gemacht, zufrieden; und sie glaubte, nach den Beobachtungen, die ihr
dieser Abend bereits an die Hand gegeben, daß sie sich selbst mit gutem
Grunde zutrauen könne, ihn, durch die gehörigen Gradationen, zu einem
zweiten und vielleicht standhaftern Alcibiades zu machen.  Nichts war ihr
hiebei angenehmer als die Bestätigung des Plans, den sie sich über die Art
und Weise, wie man seinem Herzen am leichtesten beikommen könne, gemacht
hatte.  Es ist wahr, daß der Einfall, sich an die Stelle der Tänzerin zu
setzen, ihr erst in dem Augenblick gekommen war, da sie ihn ausführte;
allein sie würde ihn nicht ausgeführt haben, wenn sie nicht die gute
Würkung davon mit einer Art von Gewißheit vorausgesehen hätte.  Hätte sie
in dem ersten Augenblick, da sie sich ihm darstellte, in ihren Gebärden,
oder in ihrem Anzug das mindeste gehabt, das ihm anstößig hätte sein
können, so würde es ihr schwer gewesen sein, den widrigen Eindruck dieses
ersten Augenblicks jemals wieder gut zu machen.  Agathon mußte in den Fall
gesetzt werden, sich selbst zu hintergehen, ohne es gewahr zu werden; und
wenn er für subalterne Reizungen empfindlich gemacht werden sollte, so
mußte es durch Vermittlung der Einbildungskraft und auf eine solche Art
geschehen, daß die geistigen und die materiellen Schönheiten sich in
seinen Augen vermengten, und daß er in den letztern nichts als den
Widerschein der ersten zu sehen glaubte.  Danae wußte sehr wohl, daß die
intelligible Schönheit keine Leidenschaft erweckt, und daß die Tugend
selbst, wenn sie (wie Plato sagt) in sichtbarer Gestalt unaussprechliche
Liebe einflößen würde, diese Würkung mehr der blendenden Weiße und dem
reizenden Contour eines schönen Busens, als der Unschuld, die aus
demselben hervorschimmerte, zuzuschreiben haben würde.  Allein das wußte
Agathon noch nicht; er mußte also betrogen werden, und, so wie sie es
anging, konnte sie mit der größten Wahrscheinlichkeit hoffen, daß es ihr
gelingen würde.

Der weise Hippias hatte zuviel Ursache, den Agathon bei dieser Gelegenheit
zu beobachten, als daß ihm das geringste entgangen wäre, was ihn von dem
glücklichen Fortgang seines Anschlags zu versichern schien.  Allein er
schmeichelte sich zuviel, wenn er hoffte, Callias werde, in dem
ekstatischen Zustande, worin er zu sein schien, ihn zum Vertrauten seiner
Empfindungen machen.  Das Vorurteil, welches dieser wider ihn gefaßt
hatte, verschloß ihm den Mund, so gern er auch dem Strome seiner
Begeisterung den Lauf gelassen hätte.  Eine Danae war in seinen Augen ein
so vortrefflicher Gegenstand, und das was er für sie empfand, so rein, so
weit über die brutale Denkungsart eines Hippias erhaben; daß er durch eine
unzeitige Vertraulichkeit gegen diesen Ungeweihten beides zu entheiligen
geglaubt hätte.



ZWEITES KAPITEL

Eine kleine metaphysische Abschweifung


Es gibt so verschiedne Gattungen von Liebe, daß es, wie uns ein Kenner
derselben versichert hat, nicht unmöglich wäre, drei oder vier Personen zu
gleicher Zeit zu lieben, ohne daß sich eine derselben über Untreue zu
beklagen hätte.  Agathon hatte in einem Alter von siebzehn Jahren für die
Priesterin zu Delphi etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art von
Liebe glich, die, nach dem Ausdruck des Fieldings, ein wohlzubereiteter
Rostbeef einem Menschen einflößt, der guten Appetit hat.  Diese Liebe
hatte, ehe er selbst noch wußte, was daraus werden könnte, der
Zärtlichkeit weichen müssen, welche ihm Psyche einflößte.  Die Zuneigung,
die er zu diesem liebenswürdigen Geschöpfe trug, war eine Liebe der
Sympathie, eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwandtschaft der
Seelen, die sich denen, so sie nicht aus Erfahrung kennen, unmöglich
beschreiben läßt; eine Liebe an der das Herz und der Geist mehr Anteil
nimmt als die Sinnen, und die vielleicht die einzige Art von Verbindung
ist, welche, (wofern sie allgemein sein könnte) den Sterblichen einigen
Begriff von den Verbindungen und Vergnügen himmlischer Geister zu geben
fähig wäre.  Wir sehen voraus, daß unsre meisten Leser bei dieser Stelle
die Nase rümpfen, und zweifeln werden, ob wir uns selbst verstehen; allein
wir lassen uns dieses gar nicht anfechten.  Sancho, wenn er (wie es ihm
zuweilen begegnete) eine Menge schöner Sachen vorgebracht hatte, wovon
weder sein Herr noch irgend ein andrer, oder auch er selbst etwas
verstehen konnte, pflegte sich damit zu trösten, daß er sagte: "Gott
versteht mich"; und der Geschichtschreiber des Agathons kann es ganz wohl
leiden, daß diese und ähnliche Stellen seines Werkes von allen andern
Lesern für Galimathias gehalten werden, da er versichert ist, daß *** ihn
versteht--Agathon könnte also von dieser gedoppelten Art von Liebe, wovon
eine die Antipode der andern ist, aus Erfahrung sprechen; allein diejenige,
worin jene beiden sich in einander mischen, die Liebe, welche die Sinnen,
den Geist und das Herz zugleich bezaubert, die heftigste, die reizendste
und gefährlichste aller Leidenschaften, war ihm mit allen ihren Symptomen
und Würkungen noch unbekannt; und es ist also kein Wunder, daß sie sich
schon seines ganzen Wesens bemeistert hatte, eh es ihm nur eingefallen war,
ihr zu widerstehen.  Es ist wahr, dasjenige was in seinem Gemüte vorging,
nachdem er in zween oder drei Tagen die schöne Danae weder gesehen, noch
etwas von ihr gehört hatte, hätte den Zustand seines Herzens einem
unbefangnen Zuschauer verdächtig gemacht; aber er selbst war weit entfernt
das geringste Mißtrauen in die Unschuld seiner Gesinnungen zu setzen.  Was
ist natürlicher, als das Verlangen, das vollkommenste und liebenswürdigste
unter allen Wesen, nachdem man es einmal gesehen hat, immer zu sehen?
Solche Schlüsse macht die Leidenschaft.  Aber was sagte denn die Vernunft
dazu?  die Vernunft?  O, die sagte gar nichts.  übrigens müssen wir doch,
es mag nun zur Entschuldigung unsers Helden dienen oder nicht, den Umstand
nicht aus der Acht lassen, daß er von der schönen Danae nichts anders
wußte, als was er gesehen hatte.  Der Charakter, den ihr die Welt beilegte,
war ihm gänzlich unbekannt; er hatte noch keinen Anlaß, und, die Wahrheit
zu sagen, auch kein Verlangen gehabt, sich darnach zu erkundigen.



DRITTES KAPITEL

Worin die Absichten des Hippias einen merklichen Schritt machen



Inzwischen waren ungefähr acht Tage verflossen, welche dem
stillschweigenden und melancholischen Agathon, zu großem Vergnügen des
boshaften Sophisten, achthundert Jahre dauchten, als dieser an einem
Morgen zu ihm kam, und mit einer gleichgültigen Art zu ihm sagte: "Danae
hat einen Aufseher über ihre Gärten und Landgüter vonnöten; was sagst du
zu dem Einfall, den ich habe, dich an diesen Platz zu setzen?  Mich daucht,
du würdest dich nicht übel zu einem solchen Amte schicken; hast du nicht
Lust in ihre Dienste zu treten?" Ein Wort, welches Bestürzung und
übermäßige Freude, Mißtrauen und Hoffnung, Erblassen und Glühen zu
gleicher Zeit ausdrückte, würde uns wohl zustatten kommen, die Verwirrung
auszudrücken, worein diese Anrede den guten Agathon setzte.  Sie war zu
groß, als daß er sogleich hätte antworten können.  Allein die Augen des
Hippias, in denen er einen Teil der Bosheit lase, die der Sophist zu
verbergen sich bemühte, gaben ihm bald die Sprache wieder.  "Wenn du Lust
hast, dich auf diese Art von mir los zu machen", versetzte er mit so
vieler Fassung als ihm möglich war, "so hab ich nur eine Bedenklichkeit -"
"Und diese ist?"  "--daß ich mich sehr schlecht auf die Landwirtschaft
verstehe."  "Das hat nichts zu bedeuten", antwortete der Sophist; "du
wirst Leute unter dir haben, die sich desto besser darauf verstehen, und
das ist genug.  Im übrigen glaube ich, daß du mit Vergnügen in diesem
Hause sein wirst.  Du liebest das Landleben, und du wirst Gelegenheit
haben alle seine Annehmlichkeiten zu schmecken.  Wenn du es zufrieden bist,
so geh ich, um diese Sache in Richtigkeit zu bringen." "Du hast dir das
Recht erkauft, mit mir zu machen was du willt", erwiderte Agathon.  "Die
Wahrheit zu sagen", fuhr Hippias fort, "ungeachtet der kleinen
Mißhelligkeiten unsrer Köpfe, verlier ich dich ungern: Allein Danae
scheint es zu wünschen, und ich habe Verbindlichkeiten gegen sie; sie hat,
ich weiß nicht woher, eine große Meinung von deiner Fähigkeit gefaßt, und
da ich alle Tage Gelegenheit haben werde, dich in ihrem Hause zu sehen, so
kann ich mirs um so eher gefallen lassen, dich an eine Freundin abzutreten,
von der ich gewiß bin, daß dir so begegnet werden wird, wie du es
verdienest."  Agathon beharrte in dem Ton der Gleichgültigkeit, den er
angenommen hatte, und Hippias, dem es Mühe genug kostete, die Spöttereien
zurückzuhalten, die ihm alle Augenblicke auf die Lippen kamen, verließ ihn,
ohne sich merken zu lassen, daß er wüßte, was er von dieser
Gleichgültigkeit denken sollte.  Das Betragen Agathons bei diesem Anlaß
wird ihn vielleicht in den Verdacht setzen, daß er sich bewußt gewesen sei,
daß es nicht richtig in seinem Herzen stehe, warum hätte er sonst nötig
gehabt sich zu verbergen? Allein man muß sich der Vorurteile erinnern, die
er wider den Sophisten gefaßt hatte, um zu sehen, daß er vollkommen in
seinem Charakter blieb, indem er Empfindungen vor ihm zu verbergen suchte,
die einem so unverbesserlichen Anti-Platon ganz unverständlich oder
vollkommen lächerlich gewesen wären.  Die Freude, welcher er sich überließ,
so bald er sich allein sah, läßt uns keinen Zweifel übrig, daß er damals
noch nicht das geringste Mißtrauen in sein Herz gesetzt habe.  Diese
Freude war über allen Ausdruck.

Liebhaber von einer gewissen Art können sich eine Vorstellung davon machen,
welche der allerbesten Beschreibung wert ist; und den übrigen würde diese
Beschreibung ohngefähr so viel helfen, als eine Seekarte einem Fußgänger.
Die unvergleichliche Danae wieder zu sehen; nicht nur wieder zu sehen, in
ihrem Hause zu sein, unter ihren Augen zu leben, ihres Umgangs zu genießen,
vielleicht--ihrer Freundschaft gewürdiget zu werden--hier hielt seine
entzückte Einbildungskraft stille.  Die Hoffnungen eines gewöhnlichen
Liebhabers würden weiter gegangen sein; allein Agathon war kein
gewöhnlicher Liebhaber.  "Ich liebe die schöne Danae", sagte Hyacinthus,
da er nach ihrem Genuß lüstern war; "eben darum liebt ihr sie nicht",
würde ihm die Sokratische Diotima geantwortet haben.  Derjenige, der in
dem Augenblick, da ihm seine Geliebte den ersten Kuß auf ihre Hand
gestattet, einen Wunsch nach einer größern Glückseligkeit hat, muß nicht
sagen, daß er liebe.



VIERTES KAPITEL

Veränderung der Szene


Danae hatte von der Freigebigkeit des Prinzen Cyrus, außer dem Hause,
welches sie zu Smyrna bewohnte, ein Landgut, in der anmutigsten Gegend
außerhalb dieser Stadt, wo sie von Zeit zu Zeit einige dem Vergnügen
geweihte Tage zuzubringen pflegte.  Hieher mußte sich Agathon begeben, um
von seinem neuen Amte Besitz zu nehmen, und dasjenige zu veranstalten, was
zum Empfang seiner Gebieterin nötig war, welche sich vorgenommen hatte,
den Rest der schönen Jahrszeit auf dem Lande zu genießen.  Wir
widerstehen der Versuchung, eine Beschreibung von diesem Landgut zu machen,
um dem Leser das Vergnügen zu lassen, sich dasselbe so wohlangelegt, so
prächtig und so angenehm vorzustellen als er selbst es will.  Alles, was
wir davon sagen wollen, ist, daß diejenigen, deren Einbildungskraft
einiger Unterstützung nötig hat, den sechszehnten Gesang des "befreiten
Jerusalems" lesen müßten, um sich eine Vorstellung von dem Orte zu machen,
den sich diese griechische Armide zum Schauplatz der Siege auswählte, die
sie über unsern Helden zu erhalten hoffte.  Sie fand nicht für gut, oder
konnte es nicht über sich selbst erhalten, ihn lange auf ihre Ankunft
warten zu lassen; und sie war kaum angelangt, als sie ihn zu sich rufen
ließ, und ihn durch folgende Anrede in eine angenehme Bestürzung setzte:
"Die Bekanntschaft, die wir vor einigen Tagen mit einander gemacht haben,
wäre, auch ohne die Nachrichten, die mir Hippias von dir gegeben, schon
genug gewesen, mich zu überzeugen, daß du für den Stand nicht geboren bist,
in den dich ein widriger Zufall gesetzt hat.  Die Gerechtigkeit, die ich
Personen von Verdiensten widerfahren zu lassen fähig bin, gab mir das
Verlangen ein, dich aus einer Abhänglichkeit von dem Hippias zu setzen,
welche die Verschiedenheit deiner Denkungsart von der seinigen, dir in die
Länge beschwerlich gemacht hätte.  Er hatte die Gefälligkeit, dich mir
als eine Person vorzuschlagen, die sich schickte, die Stelle eines
Aufsehers in meinem Hause zu vertreten.  Ich nahm sein Erbieten an, um das
Vergnügen zu haben, den Gebrauch davon zu machen, den ich deinen
Verdiensten und meiner Denkungsart schuldig bin.  Du bist frei, Callias,
und vollkommen Meister zu tun was du für gut befindest.  Kann die
Freundschaft, die ich dir anbiete, dich bewegen bei mir zu bleiben, so
wird der Name eines Amtes, von dessen Pflichten ich dich völlig
freispreche, wenigstens dazu dienen, der Welt eine begreifliche Ursache zu
geben, warum du in meinem Hause bist; wo nicht, so soll das Vergnügen,
womit ich zu Beförderung der Entwürfe, die du wegen deines künftigen
Lebens machen kannst, die Hand bieten werde, dich von der Lauterkeit der
Bewegungsgründe überzeugen, welche mich so gegen dich zu handeln
angetrieben haben."  Die edle und ungezwungene Anmut, womit dieses
gesprochen wurde, vollendete die Würkung, die eine so großmütige Erklärung
auf den Empfindungs-vollen Agathon machen mußte, "was für eine Art zu
denken!  was für eine Seele!" Konnt' er weniger tun, als sich zu ihren
Füßen werfen, um in Ausdrücken, deren Verwirrung ihre ganze Beredsamkeit
ausmachte, der Bewundrung und der Dankbarkeit Luft zu machen, deren
übermaß seine Brust zersprengen zu wollen schien.  "Keine Danksagungen,
Callias", unterbrach ihn die großmütige Danae, "was ich getan habe, ist
nicht mehr als ich einem jeden andern, der deine Verdienste hätte, eben
sowohl schuldig zu sein glaubte -" "Ich habe keine Ausdrücke für das was
ich empfinde, anbetungswürdige Danae", rief der entzückte Agathon, "ich
nehme dein Geschenk an, um das Vergnügen zu genießen, dein freiwilliger
Sklave zu sein; eine Ehre, gegen die ich die Krone des Königs von Persien
verschmähen würde.  Ja, schönste Danae, seitdem ich dich gesehen habe,
kenne ich kein größeres Glück als dich zu sehen; und wenn alles, was ich
in deinem Dienste tun kann, fähig sein kann, dich von der
unaussprechlichen Empfindung, die ich von deinem Werte habe, zu überzeugen;
würdig sein kann, mit einem zufriednen Blick von dir belohnt zu werden--o
Danae!  wer wird denn so glücklich sein als ich?"  "Laßt uns", sagte die
bescheidne Nymphe, "ein Gespräch enden, das die allzugroße Dankbarkeit
deines Herzens auf einen zu hohen Ton gestimmt hat.  Ich habe dir gesagt,
auf was für einem Fuß du hier sein wirst.  Ich sehe dich als einen Freund
meines Hauses an, dessen Gegenwart mir Vergnügen macht, dessen Wert ich
hoch schätze, und dessen Dienste mir in meinen Angelegenheiten desto
nützlicher sein können, da sie freiwillig und die Frucht einer
uneigennützigen Freundschaft sein werden."  Mit diesen Worten verließ sie
den dankbaren Agathon, in dessen Erklärung einige vielleicht Schwulst und
Unsinn, oder wenigstens zuviel Feuer und Entzückung gefunden haben werden.
Allein sie werden sich zu erinnern belieben, daß Agathon weder in einer
so gelassenen Gemütsverfassung war, wie sie; noch alles wußte, was sie
durch unsere Indiskretion von der schönen Danae erfahren haben.  Wir
wissen freilich was wir ungefähr von ihr denken sollen; allein in seinen
Augen war sie eine Göttin; und zu ihren Füßen liegend konnte er, zumal bei
der Verbindlichkeit, die er ihr hatte, natürlicher Weise, diese Danae
nicht mit einer so philosophischen Gleichgültigkeit ansehen, wie wir
andern.

Agathon war nun also ein Hausgenosse der schönen Danae, und entfaltete mit
jedem Tage neue Verdienste, die ihm dieses Glück würdig zeigten, und die
seine geringe Achtung für den Hippias ihn verhindert hatte, in dessen
Hause sehen zu lassen.  Da nebst den besondern Ergötzungen des Landlebens
diese feinere Art von Belustigungen, an denen der Witz und die Musen den
meisten Anteil haben, die hauptsächlichste Beschäftigung war, wozu man die
Zeit in diesem angenehmen Aufenthalt anwendete; so hatte er Gelegenheit
genug, seine Talente von dieser Seite schimmern zu lassen; und seine
bezauberte Phantasie gab ihm so viele Erfindungen an die Hand, daß er
keine andre Mühe hatte, als diejenigen auszuwählen, die er am
geschicktesten glaubte, seine Gebieterin und die kleine Gesellschaft von
vertrauten Freunden, die sich bei ihr einfanden, zu ergötzen.  So weit war
es schon mit demjenigen gekommen, der vor wenigen Wochen es für eine
geringschätzige Bestimmung hielt, in der Person eines unschuldigen
Anagnosten die jonischen Ohren zu bezaubern.

In der Tat können wir länger nicht verbergen, daß diese unbeschreibliche
Empfindung (wie er dasjenige nannte was ihm die schöne Danae eingeflößt
hatte) dieses ich weiß nicht was, welches wir, so wenig er es auch
gestanden hätte, ganz ungescheut Liebe nennen wollen, in dem Lauf von
wenigen Tagen so sehr zugenommen hatte, daß einem jeden andern als einem
Agathon die Augen über den wahren Zustand seines Herzens aufgegangen wären.
Wir wissen wohl, daß die Umständlichkeit unsrer Erzählung bei diesem
Teile seiner Geschichte, den Ernsthaftern unter unsern Lesern, wenn wir
anders dergleichen haben werden, sehr langweilig vorkommen wird.  Allein
die Achtung, die wir ihnen schuldig sind, kann uns nicht verhindern, uns
die Vorstellung zu machen, daß diese Geschichte vielleicht künftig, und
wenn es auch nur aus einem Gewürzladen wäre, einem jungen noch nicht ganz
ausgebrüteten Agathon in die Hände fallen könnte, der aus einer genauern
Beschreibung der Veränderungen, welche die Göttin Danae nach und nach in
dem Herzen und der Denkungsart unsers Helden hervorgebracht, sich gewisse
Beobachtungen und Kautelen ziehen könnte, von denen er vielleicht einen
guten Gebrauch zu machen Gelegenheit bekommen möchte.  Wir glauben also,
wenn wir diesem zukünftigen Agathon zu Gefallen uns die Mühe nehmen, der
Leidenschaft unsers Helden von der Quelle an in ihrem wiewohl noch
geheimen Lauf nachzugehen, desto eher entschuldiget zu sein, da es allen
übrigen, die mit diesen Anekdoten nichts zu machen wissen, frei steht, das
folgende Kapitel zu überschlagen.



FÜNFTES KAPITEL

Natürliche Geschichte der Platonischen Liebe


"Die Quelle der Liebe", sagt Zoroaster, oder hätte es doch sagen können,
"ist das Anschauen eines Gegenstandes, der unsre Einbildungskraft
bezaubert."  Der Wunsch diesen Gegenstand immer anzuschauen, ist der erste
Grad derselben.  Je bezaubernder dieses Anschauen ist, und je mehr die an
dieses Bild der Vollkommenheit angeheftete Seele daran zu entdecken und zu
bewundern findet, desto länger bleibt sie in den Grenzen dieses ersten
Grades der Liebe stehen.  Dasjenige was sie hiebei erfährt, kommt anfangs
demjenigen außerordentlichen Zustande ganz nahe, den man Verzückung nennt;
alle andere Sinnen, alle wirksamen Kräfte der Seele scheinen stille zu
stehen, und in einen einzigen Blick, worin man keiner Zeitfolge gewahr
wird, verschlungen zu sein.  Dieser Zustand ist zu gewaltsam, als daß er
lange dauern könnte; langsamer oder schneller macht er der Empfindung
eines unaussprechlichen Vergnügens Platz, welches die natürliche Folge
jenes ekstatischen Anschauens ist, und wovon, wie einige Adepten uns
versichert haben, keine andre Art von Vergnügen oder Wollust uns einen
bessern Begriff geben kann, als der unreine und düstre Schein einer
Pechfackel von der Klarheit des unkörperlichen Lichts, worin, nach der
Meinung der Morgenländischen Weisen, die Geister als in ihrem Elemente
leben.  Dieses innerliche Vergnügen äußert sich bald durch die
Veränderungen, die es in dem mechanischen Teil unsers Wesens hervorbringt;
es wallt mit hüpfender Munterkeit in unsern Adern, es schimmert aus unsern
Augen, es gießt eine lächelnde Heiterkeit über unser Gesicht, und gibt
allen unsern Bewegungen eine neue Lebhaftigkeit und Anmut: es stimmt und
erhöhet alle Kräfte unsrer Seele, belebt das Spiel der Phantasie und des
Witzes, und kleidet, so zu sagen, alle unsre Ideen in den Schimmer und die
Farbe der Liebe.  Ein Liebhaber ist in diesem Augenblick mehr als ein
gewöhnlicher Mensch; er ist (wie Plato sagt) von einer Gottheit voll, die
aus ihm redet und würket; und es ist keine Vollkommenheit, keine Tugend,
keine Heldentat so groß, wozu er in diesem Stande der Begeistrung und
unter den Augen des geliebten Gegenstands nicht fähig wäre.  Dieser
Zustand dauert noch fort, wenn er gleich von demselben entfernt wird, und
das Bild desselben, das seine ganze Seele auszufüllen scheint, ist so
lebhaft, daß es einige Zeit braucht, bis er der Abwesenheit des Urbildes
gewahr wird.  Aber kaum empfindet die Seele diese Abwesenheit, so
verschwindet jenes Vergnügen mit seinem ganzen bezauberten Gefolge; man
erfährt in immer zunehmenden Graden das Gegenteil von allen Würkungen
jener Begeisterung, wovon wir geredet haben; und derjenige der vor kurzem
mehr als ein Mensch schien, scheint nun nichts als der Schatten von sich
selbst, ohne Leben, ohne Geist, zu nichts geschickt als in einöden
Wildnissen wie ein Gespenst umherzuirren, den Namen seiner Göttin in
Felsen einzugraben, und den tauben Bäumen seine Schmerzen vorzuseufzen;
ein kläglicher Zustand, in Wahrheit, wenn nicht ein einziger Blick des
Gegenstands, von dem diese seltsame Bezauberung herrührt, hinlänglich wäre,
in einem Wink diesem Schatten wieder einen Leib, dem Leib eine Seele, und
der Seele diese Begeisterung wieder zu geben, durch welche sie ohne
Beobachtung einiger Gradation von der Verzweiflung zu unermeßlicher Wonne
übergeht.  Wenn Agathon dieses alles nicht völlig in so hohem Grad erfuhr,
als andre von seiner Art, so muß dieses vermutlich allein dem Einfluß
beigemessen werden, den seine werte Psyche noch in dasjenige hatte, was in
seinem Herzen vorging.  Allein wir müssen gestehen, dieser Einfluß wurde
immer schwächer; die lebhaften Farben, womit ihr Bild seiner Phantasie
ehemals vorgeschwebt hatte, wurden immer matter; und anstatt daß ihn sonst
sein Herz an sie erinnert hatte, mußte es itzt von ohngefähr und durch
einen Zufall geschehen.  Endlich verschwand dieses Bild gänzlich; Psyche
hörte auf für ihn zu existieren, ja kaum erinnerte er sich alles dessen,
was vor seiner Bekanntschaft mit der schönen Danae vorgegangen war anders,
als ein erwachsener Mensch sich seiner ersten Kindheit erinnert.  Es ist
also leicht zu begreifen, daß seine ganze vormalige Art zu empfinden und
zu sein, einige Veränderung erlitt, und gleichsam die Farbe und den Ton
des Gegenstands bekam, der mit einer so unumschränkten Macht auf ihn
würkte.  Sein ernsthaftes Wesen machte nach und nach einer gewissen
Munterkeit Platz, die ihm vieles, das er ehmals mißbilligst hatte, in
einem günstigern Lichte zeigte; seine Sittenlehre wurde unvermerkt freier
und gefälliger, und seine ehmaligen guten Freunde, die ätherischen Geister,
wenn sie ja noch einigen Zutritt bei ihm hatten, mußten sich gefallen
lassen, die Gestalt der schönen Danae anzunehmen, um vorgelassen zu werden.
Vor Begierde der Beherrscherin seines Herzens zu gefallen, vergaß er,
sich um den Beifall unsichtbarer Zuschauer seines Lebens zu bekümmern; und
der Zustand der entkörperten Seelen deuchte ihn nicht mehr so
beneidenswürdig, seitdem er im Anschauen dieser irdischen Göttin ein
Vergnügen genoß, welches alle seine Einbildungen überstieg.  Der Wunsch
immer bei ihr zu sein, war nun erfüllt, dem zweiten, der auf diesen
gefolget sein würde, dem Verlangen ihre Freundschaft zu besitzen war sie
selbst gleich anfangs großmütiger Weise zuvorgekommen, und die
verbindliche und vertraute Art, wie sie etliche Tage lang mit ihm umging,
ließ ihm von dieser Seite nichts zu wünschen übrig.  Er hatte ihre
Freundschaft, nun wünschte er auch ihre Zärtlichkeit zu haben--Ihre
Zärtlichkeit!--Ja, aber eine Zärtlichkeit, wie nur die Einbildungskraft
eines Agathons fähig ist, sich vorzustellen.  Kurz, da er anfing zu
merken, daß er sie liebe, so wünschte er wieder geliebt zu werden.  Allein
er liebte sie mit einer so uneigennützigen, so geistigen, so
begierdenfreien Liebe, als ob sie eine Sylphide gewesen wäre; und der
kühnste Wunsch, den er zu wagen fähig war, war nur, in derjenigen
sympathetischen Verbindung der Seelen mit ihr zu stehen, wovon ihm Psyche
die Erfahrung gegeben hatte.  "Wie angenehm" (dacht er) "wie
entzückungsvoll, wie sehr über alles, was die Sprache der Sterblichen
ausdrücken kann, mußte eine solche Sympathie mit einer Danae sein, da sie
mit Psyche schon so angenehm gewesen war!"  Zum Unglück für unsern
Platoniker war dieses ein Plan, wozu Danae, welche dieses mal keine
Sylphide spielen wollte, sich nicht so gut anließ, als er es gewünscht
hatte.  Sie fuhr immer fort sich in den Grenzen der Freundschaft zu halten,
und, die Wahrheit zu sagen, sie war entweder nicht geistig genug, sich
von dieser intellektualischen Liebe, von der er ihr so viel schönes
vorsagte, einen rechten Begriff zu machen; oder sie fand es lächerlich, in
ihrem Alter und mit ihrer Figur eine Rolle zu spielen, die, nach ihrer
Denkungsart, sich nur für eine Person schickte, die im Bade keine Besuche
mehr annimmt; wenn sie gleich allzu bescheiden war, ihm dieses mit Worten
zu sagen, so fand sie doch Mittel genug, ihm ihre Gedanken über diesen
Punkt auf eine vielleicht eben so nachdrückliche Art zu erkennen zu geben.
Gewisse kleine Nachlässigkeiten in ihrem Putz, ein verräterischer Zephir,
oder ihr Sperling, der indem sie neben Agathon auf einer Ruhebank saß, mit
mutwilligem Schnabel an dem Gewand zerrte, das zu ihren Füßen herabfloß,
schienen seiner ätherischen Liebe zu spotten, und ihm Aufmunterungen zu
geben, die ein minder bezauberter Liebhaber nicht nötig gehabt hätte.
Danae hatte Ursache mit der Würkung dieser kleinen Kunstgriffe zufrieden
zu sein.  Agathon, welcher sich angewöhnt hatte, den Leib und die Seele
als zwei verschiedene Wesen zu betrachten, und in dessen Augen Danae eine
geraume Zeit nichts anders, als (nach dem Ausdruck des Guidi) eine
himmlische Schönheit in einem irdischen Schleier gewesen war, vermengte
diese beiden Wesen je länger je mehr in seiner Phantasie mit einander, und
er konnte es desto leichter, da in der Tat alle körperlichen Schönheiten
seiner Göttin so beseelt waren, und alle Schönheiten ihrer Seele so
lebhaft aus diesem reizenden Schleier hervorschimmerten, daß es beinahe
unmöglich war, sich eine ohne die andre vorzustellen.  Dieser Umstand
brachte zwar keine wesentliche Veränderung in seiner Art zu lieben hervor;
doch ist gewiß, daß er nicht wenig dazu beitrug, ihn unvermerkt in eine
Verfassung zu setzen, welche die Absichten der schlauen Danae mehr zu
begünstigen als abzuschrecken schien.  "O du, für den wir aus großmütiger
Freundschaft uns die Mühe gegeben haben, dieses dir allein gewidmete
Kapitel zu schreiben, halte hier ein und frage dein Herz.  Wenn du eine
Danae gefunden hast (armer Jüngling!  welche Molly Seagrim kann es nicht
in deinen bezauberten Augen sein?) und du verstehest den Schluß dieses
Kapitels, so kömmt unsre Warnung schon zu spät, und du bist verloren,
fliehe, von dem Augenblick an, da du sie gesehen; fliehe, und ersticke den
Wunsch sie wieder zu sehen!  Wenn du das nicht kannst; wenn du, nachdem du
diese Warnung gelesen, nicht willst: so bist du kein Agathon mehr, so bist
du was wir andern alle sind; tue was du willst, es ist nichts mehr an dir
zu verderben."



SECHSTES KAPITEL

Worin der Geschichtschreiber sich einiger Indiskretion schuldig macht


Die schöne Danae war sehr weit entfernt, gleichgültig gegen die Vorzüge
des Callias zu sein, und es kostete ihr würklich, so gesetzt sie auch war,
einige Mühe, ihm zu verbergen, wie sehr sie von seiner Liebe gerührt war,
und wie gern sie sich dieselbe zu Nutz gemacht hätte.  Allein aus einem
Agathon einen Alcibiades zu machen, das konnte nicht das Werk von etlichen
Tagen sein, und um so viel weniger, da er durch unmerkliche Schritte, und
ohne, daß sie selbst etwas dabei zu tun schien, zu einer so großen
Veränderung gebracht werden mußte, wenn sie anders dauerhaft sein sollte.
Die große Kunst war, unter der Masque der Freundschaft seine Begierden zu
eben der Zeit zu reizen, da sie selbige durch eine unaffektierte
Zurückhaltung abzuschrecken schien.  Allein auch dieses war nicht genug;
er mußte vorher die Macht zu widerstehen verlieren; wenn der Augenblick
einmal gekommen sein würde, da sie die ganze Gewalt ihrer Reizungen an ihm
zu prüfen entschlossen war.  Eine zärtliche Weichlichkeit mußte sich
vorher seiner ganzen Seele bemeistern, und seine in Vergnügen schwimmende
Sinnen mußten von einer süßen Unruhe und wollüstigen Sehnsucht eingenommen
werden, ehe sie es wagen wollte, einen Versuch zu machen, der, wenn er zu
früh gemacht worden wäre, gar leicht ihren ganzen Plan hätte vereiteln
können.  Zum Unglück für unsern Helden ersparte ihr seine magische
Einbildungskraft die Hälfte der Mühe, welche sie aus einem übermaß von
Freundschaft anwenden wollte, ihm die Verwandlung, die mit ihm vorgehen
sollte, zu verbergen.  Ein Lächeln seiner Göttin war genug, ihn in
Vergnügen zu zerschmelzen; ihre Blicke schienen ihm einen überirdischen
Glanz über alles auszugießen, und ihr Atem der ganzen Natur den Geist der
Liebe einzuhauchen: Was mußte denn aus ihm werden, da sie zu Vollendung
ihres Sieges alles anwendete, was auch den unempfindlichsten unter allen
Menschen zu ihren Füßen hätte legen können?  Agathon wußte noch nicht, daß
sie die Laute spielte, und in der Musik eine eben so große Virtuosin als
in der Tanzkunst war.  Die Feste und Lustbarkeiten, in deren Erfindung er
unerschöpflich war, um ihr den ländlichen Aufenthalt angenehmer zu machen,
gaben ihr Anlaß, ihn durch Entdeckung dieser neuen Reizungen in Erstaunung
zu setzen.  "Es ist billig", sagte sie zu ihm, "daß ich deine Bemühungen,
mir Vergnügen zu machen, durch eine Erfindung von meiner Art erwidre.
Diesen Abend will ich dir den Wettstreit der Sirenen und der Musen geben,
ein Stück des berühmten Damons, das ich noch aus Aspasiens Zeiten übrig
habe, und das von den Kennern für das Meisterstück der Tonkunst erklärt
wurde.  Die Anstalten sind schon dazu gemacht, und du allein sollst der
Zuhörer und Richter dieses Wettgesangs sein."  Niemals hatte den Agathon
eine Zeit länger gedaucht, als die wenigen Stunden, die er in Erwartung
dieses versprochenen Vergnügens zubrachte.  Danae hatte ihn verlassen, um
durch ein erfrischendes Bad ihrer Schönheit einen neuen Glanz zu geben,
indessen daß er die verschwindenden Strahlen der untergehenden Sonne einen
nach dem andern zu zählen schien.  Endlich kam die angesetzte Stunde.
Der schönste Tag hatte der anmutigsten Nacht Platz gemacht, und eine süße
Dämmerung hatte schon die ganze schlummernde Natur eingeschleiert; als
plötzlich ein neuer zauberischer Tag, den eine unendliche Menge künstlich
versteckter Lampen verursachte, den reizenden Schauplatz sichtbar machte,
welchen die Fee dieses Orts zu diesem Lustspiel hatte zubereiten lassen.
Eine mit Lorbeerbäumen beschattete Anhöhe erhob sich aus einem
spiegelhellen See, der mit Marmor gepflastert, und ringsum mit Myrten und
Rosenhecken eingefaßt war.  Kleine Quellen schlängelten den Lorbeerhain
herab, und rieselten mit sanftem Murmeln oder lächelndem Klatschen in den
See, an dessen Ufer hier und da kleine Grotten, mit Korallenmuscheln und
andern Seegewächsen ausgeschmückt hervorragten, und die Wohnung der
Nymphen dieses Wassers zu sein schienen.  Ein kleiner Nachen in Gestalt
einer Perlenmuschel, der von einem marmornen Triton emporgehalten wurde,
stund der Anhöhe gegen über am Ufer, und war der Sitz, auf welchem Agathon
als Richter den Wettgesang hören sollte.



SIEBENTES KAPITEL

Magische Kraft der Musik


Agathon hatte seinen Platz kaum eingenommen, als man in dem Wasser ein
wühlendes Plätschern, und aus der Ferne, wie es ließ, eine sanft
zerflossene Harmonie hörte, ohne jemand zu sehen, von dem sie herkäme.
Unser Liebhaber, den dieser Anfang in ein stilles Entzücken setzte, wurde,
ungeachtet er zu diesem Spiele vorbereitet war, zu glauben versucht, daß
er die Harmonie der Sphären höre, von deren Würklichkeit ihn die
Pythagorischen Weisen beredet hatten; allein, während daß sie immer näher
kam und deutlicher wurde, sah er zu gleicher Zeit die Musen aus dem
kleinen Lorbeerwäldchen und die Sirenen aus ihren Grotten hervorkommen.
Danae hatte die jüngsten und schönsten aus ihren Aufwärterinnen ausgelesen,
diese Meernymphen vorzustellen, die, nur von einem wallenden Streif von
himmelblauem Byssus umflattert, mit Cithern und Flöten in der Hand sich
über die Wellen erhuben, und mit jugendlichem Stolz untadeliche
Schönheiten vor den Augen ihrer eifersüchtigen Gespielen entdeckten.
Allein kleine Tritonen, bliesen, um sie her schwimmend, aus krummen
Hörnern, und neckten sie durch mutwillige Spiele; indes daß Danae mitten
unter den Musen, an den Rand der kleinen Halbinsel herabstieg, und, wie
Venus unter den Grazien, oder Diana unter ihren Nymphen hervorglänzend,
dem Auge keine Freiheit ließ, auf einem andern Gegenstande zu verweilen.
Ein langes schneeweißes Gewand floß, unter dem halbentblößten Busen mit
einem goldnen Gürtel umfaßt, in kleinen wallenden Falten zu ihren Füßen
herab; ein Kranz von Rosen wand sich um ihre Locken, wovon ein Teil in
kunstloser Anmut um ihren Nacken schwebte; ihr rechter Arm, auf dessen
Weiße die Homerische Juno eifersüchtig hätte sein dürfen, umfaßte eine
Laute von Elfenbein.  Die übrigen Musen, mit verschiednen
Saiteninstrumenten versehen, lagerten sich zu ihren Füßen; sie allein
blieb in einer unnachahmlich reizenden Stellung stehen, und hörte lächelnd
der Aufforderung zu, welche die übermütigen Syrenen ihr entgegensangen.
Man muß ohne Zweifel gestehen, daß das Gemälde, welches sich in diesem
Augenblick unserm Helden darstellte, nicht sehr geschickt war, weder sein
Herz noch seine Sinnen in Ruhe zu lassen; allein die Absicht der Danae war
nur, ihn durch die Augen zu den Vergnügungen eines andern Sinnes
vorzubereiten, und ihr Stolz verlangte keinen geringern Triumph, als ein
so reizendes Gemälde durch die Zaubergewalt ihrer Stimme und ihrer Saiten
in seiner Seele auszulöschen.  Sie schmeichelte sich nicht zu viel.  Die
Sirenen hörten auf zu singen, und die Musen antworteten ihrer Ausforderung
durch eine Symphonie, welche auszudrucken schien, wie gewiß sie sich des
Sieges hielten.  Nach und nach verlor sich die Munterkeit, die in dieser
Symphonie herrschte; ein feierlicher Ernst nahm ihren Platz ein, das Getön
wurde immer einförmiger, bis es nach und nach in ein dunkles gedämpftes
Murmeln und zuletzt in eine gänzliche Stille erstarb.  Ein allgemeines
Erwarten schien dem Erfolg dieser vorbereitenden Stille entgegen zu
horchen, als es auf einmal durch eine liebliche Harmonie unterbrochen
wurde, welche die geflügelten und seelenvollen Finger der schönen Danae
aus ihrer Laute lockten.  Eine Stimme, welche fähig schien, die Seelen
ihren Leibern zu entführen, und Tote wieder zu beseelen (wenn wir einen
Ausdruck des Liebhabers der schönen Laura entlehnen dürfen) eine so
bezaubernde Stimme beseelte diese reizende Anrede.  Der Inhalt des
Wettgesangs war über den Vorzug der Liebe, die sich auf die Empfindung,
oder derjenigen, die sich auf die bloße Begierde gründet.  Nichts könnte
rührender sein, als das Gemälde, welches Danae von der ersten Art der
Liebe machte; "in solchen Tönen", dacht Agathon, "ganz gewiß in keinen
andern, drücken die Unsterblichen einander aus, was sie empfinden; nur
eine solche Sprache ist der Götter würdig." Die ganze Zeit da dieser
Gesang dauerte, deuchte ihn ein Augenblick, und er wurde ganz unwillig,
als Danae auf einmal aufhörte, und eine der Sirenen, von den Flöten ihrer
Schwestern begleitet, kühn genug war, es mit seiner Göttin aufzunehmen.
Allein er wurde bald gezwungen anders Sinnes zu werden, als er sie hörte;
alle seine Vorurteile für die Muse konnten ihn nicht verhindern, sich
selbst zu gestehen, daß eine fast unwiderstehliche Verführung in ihren
Tönen atmete.  Ihre Stimme, die an Weichheit und Biegsamkeit nicht
übertroffen werden konnte, schien alle Grade der Entzückungen auszudrücken,
deren die sinnliche Liebe fähig ist; und das weiche Getön der Flöten
erhöhte die Lebhaftigkeit dieses Ausdrucks auf einen Grad, der kaum einen
Unterschied zwischen der Nachahmung und der Wahrheit übrig ließ.  "Wenn
die Sirenen, bei denen der kluge Ulysses vorbeifahren mußte, so gesungen
haben", (dachte Agathon) "so hatte er wohl Ursache, sich an Händen und
Füßen an den Mastbaum binden zu lassen."  Kaum hatten die Sirenen diesen
Gesang geendiget, so erhub sich ein frohlockendes Klatschen aus dem Wasser,
und die kleinen Tritonen stießen in ihre Hörner, den Sieg anzudeuten, den
sie über die Musen erhalten zu haben glaubten.  Allein diese hatten den
Mut nicht verloren: Sie ermunterten sich bald wieder, und fingen eine
Symphonie an, wovon der Anfang eine spottende Nachahmung des Gesanges der
Sirenen zu sein schien.  Nach einer Weile wechselten sie die Tonart und
den Rhythmus durch ein Andante, welches in wenigen Takten nicht die
mindeste Spur von den Eindrücken übrig ließ, die der Syrenen Gesang auf
das Gemüte der Hörenden gemacht haben konnte.  Eine süße Schwermut
bemächtigte sich Agathons; er sank in ein angenehmes Staunen,
unfreiwillige Seufzer entflohen seiner Brust, und wollüstige Tränen
rollten über seine Wangen herab.  Mitten aus dieser rührenden Harmonie
erhob sich der Gesang der schönen Danae, welche durch die eifersüchtigen
Bestrebungen ihrer Nebenbuhlerin aufgefordert war, die ganze
Vollkommenheit ihrer Stimme, und alle Zauberkräfte der Kunst anzuwenden,
um den Sieg gänzlich auf die Seite der Musen zu entscheiden.  Ihr Gesang
schilderte die rührenden Schmerzen einer wahren Liebe, die in ihrem
Schmerzen selbst ein melancholisches Vergnügen findet; ihre standhafte
Treue und die Belohnung, die sie zuletzt von der zärtlichsten Gegenliebe
erhält.  Die Art wie sie dieses ausführte, oder vielmehr die Eindrücke,
die sie dadurch auf ihren Liebhaber machte, übertrafen alles was man sich
davon vorstellen kann.  Sein ganzes Wesen war Ohr, und seine ganze Seele
zerfloß in die Empfindungen, die in ihrem Gesange herrscheten.  Er war
nicht so weit entfernt, daß Danae nicht bemerkt hätte, wie sehr er außer
sich selbst war, und wie viel Mühe er hatte, um sich zu halten, aus seinem
Sitz sich in das Wasser herabzustürzen, zu ihr hinüber zu schwimmen, und
seine in Entzückung und Liebe zerschmolzene Seele zu ihren Füßen
auszuhauchen.  Sie wurde durch diesen Anblick selbst so gerührt, daß sie
genötiget war, die Augen von ihm abzuwenden, um ihren Gesang vollenden zu
können: Allein sie beschloß bei sich selbst, die Belohnung nicht länger
aufzuschieben, welche sie einer so vollkommenen Liebe schuldig zu sein
glaubte.  Endlich endigte sich ihr Lied; die begleitende Symphonie hörte
auf; die beschämten Sirenen flohen in ihre Grotten; die Musen verschwanden;
und der staunende Agathon blieb in trauriger Entzückung allein.



ACHTES KAPITEL

Eine Abschweifung, wodurch der Leser zum Folgenden vorbereitet wird


Wir können die Verlegenheit nicht verbergen, in welche wir uns durch die
Umstände gesetzt finden, worin wir unsern Helden zu Ende des vorigen
Kapitels verlassen haben.  Sie drohen dem erhabnen Charakter, den er
bisher mit einer so rühmlichen Standhaftigkeit behauptet, und wodurch er
sich zweifelsohne in eine nicht gemeine Hochachtung bei unsern Lesern
gesetzt hat, einen Abfall, der denenjenigen, welche von einem Helden eine
vollkommene Tugend fordern, eben so anstößig sein wird, als ob sie, nach
allem was bereits mit ihm vorgegangen, natürlicher Weise etwas bessers
hätten erwarten können.

Wie groß ist in diesem Stücke der Vorteil eines Romanendichters vor
demjenigen, welcher sich anheischig gemacht hat, ohne Vorurteil oder
Parteilichkeit, mit Verleugnung des Ruhms, den er vielleicht durch
Verschönerung seiner Charakter, und durch Erhebung des Natürlichen ins
Wunderbare sich hätte erwerben können, der Natur und Wahrheit in
gewissenhafter Aufrichtigkeit durchaus getreu zu bleiben!  Wenn jener die
ganze grenzenlose Welt des Möglichen zu freiem Gebrauch vor sich
ausgebreitet sieht; wenn seine Dichtungen durch den mächtigen Reiz des
Erhabnen und Erstaunlichen schon sicher genug sind, unsre Einbildungskraft
und unsre Eitelkeit auf seine Seite zu bringen; wenn schon der kleinste
Schein von übereinstimmung mit der Natur hinlänglich ist, die Freunde des
Wunderbaren, welche immer die größeste Zahl ausmachen, von ihrer
Möglichkeit zu überzeugen; ja, wenn er volle Freiheit hat, die Natur
selbst umzuschaffen, und, als ein andrer Prometheus, den geschmeidigen Ton,
aus welchem er seine Halbgötter und Halbgöttinnen bildet, zu gestalten
wie es ihm beliebt, oder wie es die Absicht, die er auf uns haben mag,
erheischet: So sieht sich hingegen der arme Geschichtschreiber genötiget,
auf einem engen Pfade, Schritt vor Schritt in die Fußstapfen der vor ihm
hergehenden Wahrheit einzutreten, jeden Gegenstand so groß oder so klein,
so schön oder so häßlich, wie er ihn würklich findet, abzumalen; die
Würkungen so anzugeben, wie sie vermöge der unveränderlichen Gesetze der
Natur aus ihren Ursachen herfließen; und wenn er seiner Pflicht ein
völliges Genügen getan hat, sich gefallen zu lassen, daß man seinen Helden
am Ende um wenig oder nichts schätzbarer findet, als der schlechteste
unter seinen Lesern sich ohngefähr selbst zu schätzen pflegt.

Vielleicht ist kein unfehlbarers Mittel mit dem wenigsten Aufwand von
Genie, Wissenschaft und Erfahrenheit ein gepriesener Schriftsteller zu
werden, als wenn man sich damit abgibt, Menschen (denn Menschen sollen es
doch sein) ohne Leidenschaften, ohne Schwachheit, ohne allen Mangel und
Gebrechen, durch etliche Bände voll wunderreicher Abenteure, in der
einförmigsten Gleichheit mit sich selbst, herumzuführen.  Eh ihr es euch
verseht, ist ein Buch fertig, das durch den erbaulichen Ton einer strengen
Sittenlehre, durch blendende Sentenzen, durch Charaktere und Handlungen,
die eben so viele Muster sind, den Beifall aller der gutherzigen Leute
überraschet, welche jedes Buch, das die Tugend anpreist, vortrefflich
finden.  Und was für einen Beifall kann sich ein solches Werk erst alsdenn
versprechen, wenn der Verfasser die Kunst oder die natürliche Gabe besitzt,
seine Schreibart auf den Ton der Begeisterung zu stimmen, und, verliebt
in die schönen Geschöpfe seiner erhitzten Einbildungskraft, die Meinung
von sich zu erwecken, daß ers in die Tugend selber sei.  Umsonst mag dann
ein verdächtiger Kunstrichter sich heiser schreien, daß ein solches Werk
eben so wenig für die Talente seines Urhebers beweise, als es der Welt
Nutzen schaffe; umsonst mag er vorstellen, wie leicht es sei, die
Definitionen eines Auszugs der Sittenlehre in Personen, und die Maximen
des Epictets in Handlungen zu verwandeln; umsonst mag er beweisen, daß die
unfruchtbare Bewunderung einer schimärischen Vollkommenheit, welche man
nachzuahmen eben so wenig wahren Vorsatz als Vermögen hat, das äußerste
sei, was diese wackere Leute von ihren hochfliegenden Bemühungen zum
Besten einer ungelehrigen Welt erwarten können: Der weisere Tadler heißt
ihnen ein Zoilus, und hat von Glück zu sagen, wenn das Urteil das er von
einem so moralischen Werke des Witzes fällt, nicht auf seinen eignen
sittlichen Charakter zurückprallt, und die gesundere Beschaffenheit seines
Gehirns nicht zu einem Beweise seines schlimmen Herzens gemacht wird.
Und wie sollte es auch anders sein können?  Unsre Eitelkeit ist zusehr
dabei interessiert, als daß wir uns derjenigen nicht annehmen sollten,
welche unsre Natur, wiewohl eignen Gewalts, zu einer so großen Hoheit und
Würdigkeit erhalten.  Es schmeichelt unserm Stolze, der sich ungern durch
so viele Zeichen von Vorzügen des Stands, des Ansehens, der Macht und des
äußerlichen Glanzes unter andre erniedriget sieht, die Mittel (wenigstens
so lange das angenehme Blendwerk daurt) in seiner Gewalt zu sehen, sich
über die Gegenstände seines Neides hinauf schwingen, und sie tief im
Staube unter sich zurücklassen zu können.  Und wenn gleich die
unverhehlbare Schwäche unsrer Natur uns auf der einen Seite, zu großem
Vorteil unsrer Trägheit, von der Ausübung heroischer Tugenden loszählt; so
ergötzt sich doch inzwischen unsre Eigenliebe an dem süßen Wahne, daß wir
eben so wundertätige Helden gewesen sein würden, wenn uns das Schicksal an
ihren Platz gesetzt hätte.

Wir müssen uns gefallen lassen, wie diese gewagten Gedanken, so natürlich
und wahr sie uns scheinen, von den verschiednen Klassen unsrer Leser
aufgenommen werden mögen: Und wenn wir auch gleich Gefahr laufen sollten,
uns ungünstige Vorurteile zuzuziehen; so können wir doch nicht umhin,
diese angefangene Betrachtung um so mehr fortzusetzen, je größer die
Beziehung ist, welche sie auf den ganzen Inhalt der vorliegenden
Geschichte hat.

Unter allen den übernatürlichen Charaktern, welche die mehrbelobten
romanhaften Sittenlehrer in einen gewissen Schwung von Hochachtung
gebracht haben, sind sie mit keinem glücklicher gewesen, als mit dem
Heldentum in der Großmut, in der Tapferkeit und in der verliebten Treue.
Daher finden wir die Liebensgeschichten, Ritterbücher und Romanen, von den
Zeiten des guten Bischofs Heliodorus bis zu den unsrigen, von Freunden,
die einander alles, sogar die Forderungen ihrer stärksten Leidenschaften,
und das angelegenste Interesse ihres Herzens aufopfern; von Rittern,
welche immer bereit sind, der ersten Infantin, die ihnen begegnet, zu
gefallen, sich mit allen Riesen und Ungeheuern der Welt herumzuhauen; und
(bis Crebillon eine bequemere Mode unter unsre Nachbarn jenseits des
Rheins aufgebracht hat) beinahe von lauter Liebhabern angefüllt, welche
nichts angelegners haben, als in der Welt herumzuziehen, um die Namen
ihrer Geliebten in die Bäume zu schneiden, ohne daß die reizendesten
Versuchungen, denen sie von Zeit zu Zeit ausgesetzt sind, vermögend wären,
ihre Treue nur einen Augenblick zu erschüttern.  Man müßte wohl sehr
eingenommen sein, wenn man nicht sehen sollte, warum diese vermeinten
Heldentugenden in eine so große Hochachtung gekommen sind.  Von je her
haben die Schönen sich berechtiget gehalten, eine Liebe, welche ihnen
alles aufopfert, und eine Beständigkeit, die gegen alle andre Reizungen
unempfindlich ist, zu erwarten.  Sie gleichen in diesem Stücke den großen
Herren, welche verlangen, daß unserm Eifer nichts unmöglich sein solle,
und die sich sehr wenig darum bekümmern, ob uns dasjenige, was sie von uns
fordern, gelegen, oder ob es überhaupt recht und billig sei, oder nicht.
Eben so ist es für unsre Beherrscherinnen schon genug, daß der Vorteil
ihrer Eitelkeit und ihrer übrigen Leidenschaften sich bei diesen
vorgeblichen Tugenden am besten befindet, um einen Artabanus oder einen
Grafen von Comminges zu einem größern Mann in ihren Augen zu machen, als
alle Helden des Plutarchs zusammengenommen.  Und ist die unedle
Eigennützigkeit oder der feige Kleinmut, womit wir (zumal bei jenen
Völkern, wo der Tod aus sittlichen Ursachen mehr als natürlich ist,
gefürchtet wird) den größesten Teil der bürgerlichen Gesellschaft
angesteckt sehen, vielleicht weniger interessiert, eine sich selbst ganz
vergessende Großmut und eine Tapferkeit, die von nichts erzittert, zu
vergöttern?  Je vollkommener andre sind, desto weniger haben wir nötig es
zu sein; und je höher sie ihre Tugend treiben, desto weniger haben wir bei
unsern Lastern zu besorgen.

Der Himmel verhüte, daß unsre Absicht jemals sei, in schönen Seelen diese
liebenswürdige Schwärmerei für die Tugend abzuschrecken, welche ihnen so
natürlich und öfters die Quelle der lobenswürdigsten Handlungen ist.
Alles was wir mit diesen Bemerkungen abzielen, ist allein, daß die
romanhaften Helden, von denen die Rede ist, noch weniger in dem Bezirke
der Natur zu suchen seien als die geflügelten Löwen und die Fische mit
Mädchenleibern; daß es moralische Grotesken seien, welche eine müßige
Einbildungskraft ausbrütet, und ein verdorbner moralischer Sinn, nach Art
gewisser Indianer, destomehr vergöttert, je weiter ihre verhältniswürdige
Mißgestalt von der menschlichen Natur sich entfernet, welche doch, mit
allen ihren Mängeln, das beste, liebenswürdigste und vollkommenste Wesen
ist, das wir würklich kennen--und daß also der Held unsrer Geschichte,
durch die Veränderungen und Schwachheiten, denen wir ihn unterworfen sehen,
zwar allerdings, wir gestehen es, weniger ein Held, aber destomehr ein
Mensch, und also desto geschickter sei, uns durch seine Erfahrungen, und
selbst durch seine Fehler zu belehren.

Wir können indes nicht bergen, daß wir aus verschiednen Gründen in
Versuchung geraten sind, der historischen Wahrheit dieses einzige mal
Gewalt anzutun, und unsern Agathon, wenn es auch durch irgend einen Deum
ex Machina hätte geschehen müssen, so unversehrt aus der Gefahr, worin er
sich würklich befindet, herauszuwickeln, als es für die Ehre des
Platonismus, die er bisher so schön behauptet hat, allerdings zu wünschen
gewesen wäre.  Allein da wir in Erwägung zogen, daß diese einzige
poetische Freiheit uns nötigen würde, in der Folge seiner Begebenheiten so
viele andre Veränderungen vorzunehmen, daß die Geschichte Agathons
würklich die Natur einer Geschichte verloren hätte, und zur Legende irgend
eines moralischen Don Esplandians geworden wäre: So haben wir uns
aufgemuntert, über alle die ekeln Bedenklichkeiten hinauszugehen, die uns
anfänglich stutzen gemacht hatten, und uns zu überreden, daß der Nutzen,
den unsre verständigen Leser sogar von den Schwachheiten unsers Helden in
der Folge zu ziehen Gelegenheit bekommen könnten, ungleich größer sein
dürfte, als der zweideutige Vorteil, den die Tugend dadurch erhalten hätte,
wenn wir, durch eine unwahrscheinlichere Dichtung als man im ganzen
"Orlando" unsers Freunds Ariost finden wird, die schöne Danae in die
Notwendigkeit gesetzt hätten, in der Stille von ihm zu denken, was die
berühmte Phryne bei einer gewissen Gelegenheit von dem weisen Xenocrates
öffentlich gesagt haben soll.

So wisset dann, schöne Leserinnen, (und hütet euch, stolz auf diesen Sieg
eurer Zaubermacht zu sein,) daß Agathon, nachdem er eine ziemliche Weile
in einem Gemütszustand, dessen Abschilderung den Pinsel eines Thomsons
oder Geßners erfoderte, allein zurückgeblieben war, wir wissen nicht ob
aus eigner Bewegung oder durch den geheimen Antrieb irgend eines
antiplatonischen Genius den Weg gegen einen Pavillion genommen, der auf
der Morgenseite des Gartens in einem kleinen Hain von Zitronen-,
Granaten--und Myrtenbäumen auf jonischen Säulen von Jaspis ruhte; daß er,
weil er ihn erleuchtet gefunden, hineingegangen, und nachdem er einen Saal,
dessen herrliche Auszierung ihn nicht einen Augenblick aufhalten konnte,
und zwei oder drei kleinere Zimmer durchgeeilet, in einem Cabinet, welches
für die Ruhe der Liebesgöttin bestimmt schien, die schöne Danae auf einem
Sofa von nelkenfarbem Atlas schlafend angetroffen; daß er, nachdem er sie
eine lange Zeit in unbeweglicher Entzückung und mit einer Zärtlichkeit,
deren innerliches Gefühl alle körperliche Wollust an Süßigkeit übertrifft,
betrachtet hatte, endlich--von der Gewalt der allmächtigen Liebe bezwungen,
sich nicht länger zu enthalten vermocht, zu ihren Füßen kniend, eine von
ihren nachlässig ausgestreckten schönen Händen mit einer Inbrunst, wovon
wenige Liebhaber sich eine Vorstellung zu machen jemals verliebt genug
gewesen sind, zu küssen, ohne daß sie daran erwacht wäre; daß er hierauf
noch weniger als zuvor sich entschließen können, so unbemerkt als er
gekommen, sich wieder hinwegzuschleichen; und kurz, daß die kleine Psyche,
die Tänzerin, welche seit der Pantomime, man weiß nicht warum, gar nicht
seine Freundin war, mit ihren Augen gesehen haben wollte, daß er eine
ziemliche Weile nach Anbruch des Tages, allein, und mit einer Miene, aus
welcher sich sehr vieles habe schließen lassen, aus dem Pavillion hinter
die Myrtenhecken sich weggestohlen habe.



NEUNTES KAPITEL

Nachrichten zu Verhütung eines besorglichen Mißverstandes



Die Tugend (pflegt man dem Horaz nachzusagen) ist die Mittelstraße
zwischen zween Abwegen, welche beide gleich sorgfältig zu vermeiden sind.
Es ist ohne Zweifel wohl getan, wenn ein Schriftsteller, der sich einen
wichtigern Zweck als die bloße Ergötzung seiner Leser vorgesetzt hat, bei
gewissen Anlässen, anstatt des zaumlosen Mutwillens vieler von den neuern
Franzosen, lieber die bescheidne Zurückhaltung des jungfräulichen Virgils
nachahmet, welcher bei einer Gelegenheit, wo die Angola's und Versorand's
alle ihre Malerkunst verschwendet, und sonst nichts besorget hätten, als
daß sie nicht lebhaft und deutlich genug sein möchten, sich begnügt uns zu
sagen:

"Daß Dido und der Held in Eine Höhle kamen."


Allein wenn diese Zurückhaltung so weit ginge, daß die Dunkelheit, welche
man über einen schlüpfrigen Gegenstand ausbreitete, zu Mißverstand und
Irrtum Anlaß geben könnte: So würde sie, deucht uns, in eine falsche Scham
ausarten; und in solchen Fällen scheint uns ratsamer zu sein, den Vorhang
ein wenig wegzuziehen, als aus übertriebener Bedenklichkeit Gefahr zu
laufen, vielleicht die Unschuld selbst ungegründeten Vermutungen
auszusetzen.  So ärgerlich also gewissen Leserinnen, deren strenge Tugend
bei dem bloßen Namen der Liebe Dampf und Flammen speit, der Anblick eines
schönen Jünglings zu den Füßen einer selbst im Schlummer lauter Liebe und
Wollust atmenden Danae billig sein mag; so können wir doch nicht
vorbeigehen, uns noch etliche Augenblicke bei diesem anstößigen
Gegenstande aufzuhalten.  Man ist so geneigt, in solchen Fällen der
Einbildungskraft den Zügel schießen zu lassen, daß wir uns lächerlich
machen würden, wenn wir behaupten wollten, daß unser Held die ganze Zeit,
die er (nach dem Vorgeben der kleinen Tänzerin) in dem Pavillion
zugebracht haben soll, sich immer in der ehrfurchtsvollen Stellung
gehalten habe, worin man ihn zu Ende des vorigen Kapitels gesehen hat.
Wir müssen vielmehr besorgen, daß Leute, welche nichts dafür können, daß
sie keine Agathons sind, vielleicht so weit gehen möchten, ihn im Verdacht
zu haben, daß er sich den tiefen Schlaf, worin Danae zu liegen schien, auf
eine Art zu Nutze gemacht haben könnte, welche sich ordentlicher Weise nur
für einen Faunen schickt, und welche unser Freund Johann Jacob Rousseau
selbst nicht schlechterdings gebilliget hätte, so scharfsinnig er auch (in
einer Stelle seines Schreibens an Herrn Dalembert) dasjenige zu
rechtfertigen weiß, was er "eine stillschweigende Einwilligung abnötigen"
nennet.  Um nun unsern Agathon gegen alle solche unverschuldete
Mutmaßungen sicher zu stellen, müssen wir zur Steuer der Wahrheit melden,
daß selbst die reizende Lage der schönen Schläferin, und die günstige
Leichtigkeit ihres Anzugs, welche ihn einzuladen schien, seinen Augen
alles zu erlauben, seine Bescheidenheit schwerlich überrascht haben würden,
wenn es ihm möglich gewesen wäre, der zauberischen Gewalt der Empfindung,
in welche alle Kräfte seines Wesens zerflossen schienen, Widerstand zu tun.
Wir wagen nicht zuviel, wenn wir einen solchen Widerstand in seinen
Umständen für unmöglich erklären, nachdem er einem Agathon unmöglich
gewesen ist.  Er überließ also endlich seine Seele der vollkommensten
Wonne ihres edelsten Sinnes, dem Anschauen einer Schönheit, welche selbst
seine idealische Einbildungskraft weit hinter sich zurücke ließ; und (was
nur diejenigen begreifen werden, welche die wahre Liebe kennen,) dieses
Anschauen erfüllte sein Herz mit einer so reinen, vollkommnen,
unbeschreiblichen Befriedigung, daß er alle Wünsche, alle Ahnungen einer
noch größern Glückseligkeit darüber vergessen zu haben schien.  Vermutlich
(denn gewiß können wir hierüber nichts entscheiden) würde die Schönheit
des Gegenstands allein, so außerordentlich sie war, diese sonderbare
Würkung nicht getan haben; allein dieser Gegenstand war seine Geliebte,
und dieser Umstand verstärkte die Bewundrung, womit auch die
Kaltsinnigsten die Schönheit ansehen müssen, mit einer Empfindung, welche
noch kein Dichter zu beschreiben fähig gewesen ist, so sehr sich auch
vermuten läßt, daß sie den mehresten aus Erfahrung bekannt gewesen sein
könne.  Diese namenlose Empfindung ist es allein, was den wahren Liebhaber
von einem Satyren unterscheidet, und was eine Art von sittlichen Grazien
sogar über dasjenige ausbreitet, was bei diesem nur das Werk des Instinkts,
oder eines animalischen Hungers ist.  Welcher Satyr würde in solchen
Augenblicken fähig gewesen sein, wie Agathon zu handeln?--Behutsam und mit
der leichten Hand eines Sylphen zog er das seidene Gewand, welches Amor
verräterisch aufgedeckt hatte, wieder über die schöne Schlafende her, warf
sich wieder zu den Füßen ihres Ruhebettes, und begnügte sich, ihre
nachlässig ausgestreckte Hand, aber mit einer Zärtlichkeit, mit einer
Entzückung und Sehnsucht an seinen Mund zu drücken, daß eine Bildsäule
davon hätte erweckt werden mögen.  Sie mußte also endlich erwachen.  Und
wie hätte sie auch sich dessen länger erwehren können, da ihr bisheriger
Schlummer würklich nur erdichtet gewesen war? Sie hatte aus einer
Neugierigkeit, die in ihrer Verfassung natürlich scheinen kann, sehen
wollen, wie ein Agathon bei einer so schlüpfrigen Gelegenheit sich
betragen würde; und dieser letzte Beweis einer vollkommnen Liebe, welche,
ungeachtet ihrer Erfahrenheit, alle Annehmlichkeiten der Neuheit für sie
hatte, rührte sie so sehr, daß sie, von einer ungewohnten und
unwiderstehlichen Empfindung überwunden, in einem Augenblick, wo sie zum
erstenmal zu lieben und geliebt zu werden glaubte, nicht mehr Meisterin
von ihren Bewegungen war.  Sie schlug ihre schönen Augen auf, Augen die in
den wollüstigen Tränen der Liebe schwammen, und dem entzückten Agathon
sein ganzes Glück auf eine unendlich vollkommnere Art entdeckten, als es
das beredteste Liebesgeständnis hätte tun können.  "O Callias!"  (rief sie
endlich mit einem Ton der Stimme, der alle Saiten seines Herzens
widerhallen machte, indem sie, ihre schönen Arme um ihn windend, den
Glückseligsten aller Liebhaber an ihren Busen drückte,) "--was für ein
neues Wesen gibst du mir?  Genieße, o!  genieße, du Liebenswürdigster
unter den Sterblichen, der ganzen unbegrenzten Zärtlichkeit, die du mir
einflößest." Und hier, ohne den Leser unnötiger Weise damit aufzuhalten,
was sie ferner sagte, und was er antwortete, überlassen wir den Pinsel
einem Correggio, und schleichen uns davon.

Aber wir fangen an, zu merken, wiewohl zu späte, daß wir unsern Freund
Agathon auf Unkosten seiner schönen Freundin gerechtfertiget haben.  Es
ist leicht vorauszusehen, wie wenig Gnade sie vor dem ehrwürdigen und
glücklichen Teil unsrer Leserinnen finden werde, welche sich bereden (und
vermutlich Ursache dazu haben) daß sie in ähnlichen Umständen sich ganz
anders als Danae betragen haben würden.  Auch sind wir weit davon entfernt,
diese allzuzärtliche Nymphe entschuldigen zu wollen, so scheinbar auch
immer die Liebe ihre Vergehungen zu bemänteln weiß.  Indessen bitten wir
doch die vorbelobten Lukretien um Erlaubnis, dieses Kapitel mit einer
kleinen Nutzanwendung, auf die sie sich vielleicht nicht gefaßt gemacht
haben, schließen zu dürfen.  Diese Damen (mit aller Ehrfurcht die wir
ihnen schuldig sind, sei es gesagt) würden sich sehr betrügen, wenn sie
glaubten, daß wir die Schwachheiten einer so liebenswürdigen Kreatur, als
die schöne Danae ist, nur darum verraten hätten, damit sie Gelegenheit
bekämen, ihre Eigenliebe daran zu kitzeln.  Wir sind in der Tat nicht so
sehr Neulinge in der Welt, daß wir uns überreden lassen sollten, daß eine
jede, welche sich über das Betragen unsrer Danae ärgern wird, an ihrer
Stelle weiser gewesen wäre.  Wir wissen sehr wohl, daß nicht alles, was
das Gepräge der Tugend führt, würklich echte und vollhaltige Tugend ist;
und daß sechszig Jahre, oder eine Figur, die einen Satyren entwaffnen
könnte, kein oder sehr wenig Recht geben, sich viel auf eine Tugend zu gut
zu tun, welche vielleicht niemand jemals versucht gewesen ist, auf die
Probe zu stellen.  Wir zweifeln mit gutem Grunde sehr daran, daß
diejenigen, welche von einer Danae am unbarmherzigsten urteilen, an ihrem
Platz einem viel weniger gefährlichen Versucher als Agathon war, die Augen
auskratzen würden: Und wenn sie es auch täten, so würden wir vielleicht
anstehen, ihrer Tugend beizumessen, was eben sowohl die mechanische
Würkung unreizbarer Sinnen, und eines unzärtlichen Herzens, hätte gewesen
sein können.  Unser Augenmerk ist bloß auf euch gerichtet, ihr
liebreizenden Geschöpfe, denen die Natur die schönste ihrer Gaben, die
Gabe zu gefallen, geschenkt--ihr, welche sie bestimmt hat, uns glücklich
zu machen; aber, welche eine einzige kleine Unvorsichtigkeit in Erfüllung
dieser schönen Bestimmung so leicht in Gefahr setzen kann, durch die
schätzbarste eurer Eigenschaften, durch das was die Anlage zu jeder Tugend
ist, durch die Zärtlichkeit eures Herzens selbst, unglücklich zu werden:
Euch allein wünschten wir überreden zu können, wie gefährlich jene
Einbildung ist, womit euch das Bewußtsein eurer Unschuld schmeichelt, daß
es allezeit in eurer Macht stehe, der Liebe und ihren Forderungen Grenzen
zu setzen.  Möchten die Unsterblichen (wenn anders, wie wir hoffen, die
Unschuld und die Güte des Herzens himmlische Beschützer hat,) möchten sie
über die eurige wachen!  Möchten sie euch zu rechter Zeit warnen, euch
einer Zärtlichkeit nicht zu vertrauen, welche, bezaubert von dem
großmütigen Vergnügen, den Gegenstand ihrer Liebe glücklich zu machen, so
leicht sich selbst vergessen kann!  Möchten sie endlich in jenen
Augenblicken, wo das Anschauen der Entzückungen, in die ihr zu setzen
fähig seid, eure Klugheit überraschen könnte, euch in die Ohren flüstern:
Daß selbst ein Agathon, weder Verdienst noch Liebe genug hat, um wert zu
sein, daß die Befriedigung seiner Wünsche euch die Ruhe eures Herzens
koste.



ZEHENTES KAPITEL

Welches alle unsre verheiratete Leser, wofern sie nicht sehr glücklich
oder vollkommne Stoiker sind, überschlagen können


Die schöne Danae war keine von denen, welche das, was sie tun, nur zur
Hälfte tun.  Nachdem sie einmal beschlossen hatte, ihren Freund glücklich
zu machen, so vollführte sie es auf eine Art, welche alles was er bisher
Vergnügen und Wonne genannt hatte, in Schatten und Wolkenbilder
verwandelte.  Man erinnert sich vermutlich noch, daß eine Art von Vorwitz
oder vielmehr ein launischer Einfall, die Macht ihrer Reizungen an unserm
Helden zu probieren, anfangs die einzige Triebfeder der Anschläge war,
welche sie auf sein Herz gemacht hatte.  Die persönliche Bekanntschaft
belebte dieses Vorhaben durch den Geschmack, den sie an ihm fand; und der
tägliche Umgang, die Vorzüge Agathons, und, was in den meisten Fällen die
Niederlage der weiblichen Tugend wo nicht allein verursacht, doch sehr
befördert, die ansteckende Kraft, das Sympathetische der verliebten
Begeisterung, welcher der göttliche Plato mit Recht die wundertätigsten
Kräfte zuschreibt; alles dieses zusammen genommen, verwandelte zuletzt
diesen Geschmack in Liebe, aber in die wahreste, zärtlichste und heftigste,
welche jemals gewesen ist.  Unserm Helden allein war die Ehre aufbehalten
(wenn es eine war) ihr eine Art von Liebe einzuflößen, worin sie,
ungeachtet alles dessen, was uns von ihrer Geschichte schon entdeckt
worden ist, noch so sehr ein Neuling war, als es eine Vestalin in jeder
Art von Liebe sein soll.  Kurz, er, und er allein, war darzu gemacht, den
Widerwillen zu überwinden, den ihr die gemeinen Liebhaber, die schönen
Hyacinthe, diese tändelnden Gecken, an denen (um uns ihres eigenen
Ausdrucks zu bedienen) die Hälfte ihrer Reizungen verloren ging; gegen
alles was die Miene der Liebe trug, einzuflößen angefangen hatten.

Die meisten von derjenigen Klasse der Naturkündiger, welche mit dem Herrn
von Büffon davorhalten, daß das Physikalische der Liebe das beste davon
sei, werden ohne Bedenken eingestehen, daß der Besitz, oder (um unsern
Ausdruck genauer nach ihren Ideen zu bestimmen) der Genuß einer so schönen
Frau als Danae war, an sich selbst betrachtet die vollkommenste Art von
Vergnügungen in sich schließe, deren unsre Sinnen fähig sind; eine
Wahrheit, welche, ungeachtet einer Art von stillschweigender übereinkunft,
daß man sie nicht laut gestehen wolle, von allen Völkern und zu allen
Zeiten so allgemein anerkannt worden ist, daß Carneades, Sextus, Cornelius
Agrippa, und Bayle selbst sich nicht getrauet haben, sie in Zweifel zu
ziehen.  Ob wir nun gleich nicht Mut genug besitzen, gegen einen so
ehrwürdigen Beweis als das einhellige Gefühl des ganzen menschlichen
Geschlechts abgibt, öffentlich zu behaupten, daß diejenigen Vergnügungen
der Liebe, welche der Seele eigen sind, den Vorzug vor jenen haben: So
werden doch nicht wenige mit uns einstimmig sein, daß ein Liebhaber, der
selbst eine Seele hat, im Besitz der schönsten Statue von Fleisch und Blut,
die man nur immer finden kann, selbst jene von den neuern Epicuräern so
hoch gepriesene Wollust nur in einem sehr unvollkommnen Grade erfahren
würde; und daß diese allein von der Empfindung des Herzens jenen
wunderbaren Reiz erhalte, welcher immer für unaussprechlich gehalten
worden ist, bis Rousseau, der Stoiker, sich herabgelassen, sie in dem fünf
und vierzigsten der Briefe der neuen Heloise, in einer Vollkommenheit zu
schildern, welche sehr deutlich beweist, was für eine begeisternde Kraft
die bloße halberloschene Erinnerung an die Erfahrungen seiner glücklichen
Jugend über die Seele des Helvetischen Epictets ausgeübt haben müsse.
Ohne Zweifel sind es Liebhaber von dieser Art, Saint Preux und Agathons,
welchen es zukömmt, über die berührte Streitfrage einen entscheidenden
Ausspruch zu tun; sie, welche durch die Feinheit und Lebhaftigkeit ihres
Gefühls eben so geschickt gemacht werden, von den physikalischen, als
durch die Zärtlichkeit ihres Herzens, oder durch ihren innerlichen Sinn
für das sittliche Schöne, von den moralischen Vergnügungen der Liebe zu
urteilen.  Und wie wahr, wie natürlich werden nicht diese jene Stelle
finden, die den Verehrern der animalischen Liebe unverständlicher ist als
eine Hetruscische Aufschrift den Gelehrten,--"O, entziehe mir immer diese
berauschenden Entzückungen, für die ich tausend Leben gäbe!--Gib mir nur
das alles wieder was nicht sie, aber tausendmal süßer ist als sie"-Die
schöne Danae war so sinnreich, so unerschöpflich in der Kunst (wenn man
anders dasjenige so nennen kann, was Natur und Liebe allein, und keine
ohne die andre geben kann) ihre Gunstbezeugungen zu vervielfältigen, den
innerlichen Wert derselben durch die Annehmlichkeiten der Verzierung zu
erhöhen, ihnen immer die frische Blüte der Neuheit zu erhalten, und alles
Eintönige, alles was die Bezauberung hätte auflösen, und dem überdruß den
Zugang öffnen können, klüglich zu entfernen; daß sie oder eine andre ihres
gleichen den Herrn von Büffon selbst dahin gebracht hätte, seine Gedanken
von der Liebe zu ändern, welches vielleicht alle Marquisinnen von Paris
zusammengenommen nicht von ihm erhalten würden.  Diese glückseligen
Liebenden, brauchten, um ihrer Empfindung nach, den Göttern an Wonne
gleich zu sein, nichts als ihre Liebe: Sie verschmähten itzt alle diese
Lustbarkeiten, an denen sie vorher so viel Geschmack gefunden hatten; ihre
Liebe machte alle ihre Beschäftigungen und alle ihre Ergötzungen aus: Sie
empfanden nichts anders, sie dachten an nichts anders, sie unterhielten
sich mit nichts anderm; und doch schienen sie sich immer zum erstenmal zu
sehen, zum erstenmal zu umarmen, zum erstenmal einander zu sagen, daß sie
sich liebten; und wenn sie von einer Morgenröte zur andern nichts anders
getan hatten, so beklagten sie sich doch über die Kargheit der Zeit,
welche zu einem Leben, das sie zum Besten ihrer Liebe unsterblich
gewünscht hätten, ihnen Augenblicke für Tage anrechne.  "Welch ein Zustand,
wenn er dauern könnte!"--ruft hier der griechische Autor aus.



EILFTES KAPITEL

Eine bemerkenswürdige Würkung der Liebe, oder von der Seelenmischung


Ein alter Schriftsteller, den gewiß niemand beschuldigen wird, daß er die
Liebe zu metaphysisch behandelt habe, und den wir nur zu nennen brauchen,
um allen Verdacht dessen, was materielle Seelen für Platonische Grillen
erklären, von ihm zu entfernen; mit einem Worte, Petronius, bedient sich
irgendwo eines Ausdrucks, welcher ganz deutlich zu erkennen gibt, daß er
eine verliebte Vermischung der Seelen nicht nur für möglich, sondern für
einen solchen Umstand gehalten habe, der die Geheimnisse der Liebesgöttin
natürlicher Weise zu begleiten pflege.  Jam alligata mutuo ambitu corpora
animarum quoque mixturam fecerant, sagt dieser Oberaufseher der
Ergötzlichkeiten des Kaisers Nero; um vermutlich eben dasselbe zu
bezeichnen, was er an einem andern Ort ungleich schöner also ausdrückt:

Et transfudimus hinc & hinc labellis Errantes animas- Ob er selbst die
ganze Stärke dieses Ausdrucks eingesehen, oder ihm so viel Bedeutung
beigelegt habe, als wir; ist eine Frage, die uns (nach Gewohnheit der
meisten Ausleger) sehr wenig bekümmert.  Genug, daß wir diese Stellen
einer Hypothese günstig finden, ohne welche sich, unsrer Meinung nach,
verschiedene Phänomena der Liebe nicht wohl erklären lassen, und vermöge
welcher wir annehmen, daß bei wahren Liebenden, in gewissen Umständen,
nicht (wie einer unsrer tugendhaftesten Dichter meint) ein Tausch, sondern
eine wirkliche Mischung der Seelen vorgehe.  Wie dieses möglich sei zu
untersuchen, überlassen wir billig den weisen und tiefsinnigen Leuten,
welche sich, in stolzer Muße und seliger Abgeschiedenheit von dem Getümmel
dieser sublunarischen Welt, mit der nützlichen Spekulation beschäftigen,
die Art und Weise ausfindig zu machen, wie dasjenige was würklich ist,
ohne Nachteil ihrer Meinungen und Lehrgebäude, möglich sein könne.  Für
uns ist genug, daß eine durch unzähliche Beispiele bestätigte Erfahrung
außer allen Zweifel setzt, daß diejenige Gattung von Liebe, welche
Shaftesbury mit bestem Recht zu einer Art des Enthusiasmus macht, und
gegen welche Lucrez aus eben diesem Grunde sich mit so vielem Eifer
erklärt, solche Würkungen hervorbringe, welche nicht besser als durch
jenen Petronischen Ausdruck abgemalt werden können.

Agathon und Danae, die uns zu dieser Anmerkung Anlaß gegeben haben, hatten
kaum vierzehn Tage, welche freilich nach dem Kalender der Liebe nur
vierzehn Augenblicke waren, in diesem glückseligen Zustande, worin wir sie
im vorigen Kapitel verlassen haben, zugebracht: als diese Seelenmischung
sich in einem solchen Grade bei ihnen äußerte, daß sie nur von einer
einzigen gemeinschaftlichen Seele belebt und begeistert zu werden schienen.
Würklich war die Veränderung und der Absatz ihrer gegenwärtigen Art zu
sein, mit ihrer vorigen so groß, daß weder Alcibiades seine Danae, noch
die Priesterin zu Delphi den spröden und unkörperlichen Agathon wieder
erkannt haben würden.  Daß dieser aus einem spekulativen Platoniker ein
praktischer Aristipp geworden; daß er eine Philosophie, welche die reinste
Glückseligkeit in Beschauung unsichtbarer Schönheiten setzt, gegen eine
Philosophie, welche sie in angenehmen Empfindungen, und die angenehmen
Empfindungen in ihren nächsten Quellen, in der Natur, in unsern Sinnen und
in unsern Herzen sucht, vertauschte; daß er von den Göttern und
Halbgöttern, mit denen er vorher umgegangen war, nur die Grazien und
Liebesgötter beibehielt; daß dieser Agathon, der ehmals von seinen Minuten,
von seinen Augenblicken der Weisheit Rechenschaft geben konnte, itzt
fähig war (wir schämen uns es zu sagen) ganze Stunden, ganze Tage in
zärtlicher Trunkenheit wegzutändeln--Alles dieses, so stark der Abfall
auch ist, wird dennoch den meisten begreiflich scheinen.  Aber daß Danae,
welche die Schönsten und Edelsten von Asien, welche Fürsten und Satrapen
zu ihren Füßen gesehen hatte, welche gewohnt war, in den schimmerndsten
Versammlungen am meisten zu glänzen, einen Hof von allem, was durch
Vorzüge der Geburt, des Geistes, des Reichtums und der Talente würdig war,
nach ihrem Beifall zu streben, um sich her zu sehen: Daß diese Danae itzt
verächtliche Blicke in die große Welt zurückwarf, und nichts angenehmers
fand als die ländliche Einfalt, nichts schöners als in Hainen herumzuirren,
Blumenkränze für ihren Schäfer zu winden, an einer murmelnden Quelle in
seinem Arm einzuschlummern, von der Welt vergessen zu sein, und die Welt
zu vergessen--daß sie, für welche die Liebe der Empfindung sonst ein
unerschöpflicher Gegenstand von witzigen Spöttereien gewesen war, itzt von
den zärtlichen Klagen der Nachtigall in stillheitern Nächten bis zu Tränen
gerührt werden--oder wenn sie ihren Geliebten unter einer schattichten
Laube schlafend fand, ganze Stunden, unbeweglich, in zärtliches Staunen
und in den Genuß ihrer Empfindungen versenkt, neben ihm sitzen konnte,
ohne daran zu denken, ihn durch einen eigennützigen Kuß aufzuwecken,--daß
diese Schülerin des Hippias, welche gewohnt gewesen war, nichts
lächerlichers zu finden, als die Hoffnung der Unsterblichkeit, und diese
süßen Träume von bessern Welten, in welche sich empfindliche Seelen so
gerne zu wiegen pflegen--daß sie itzt, beim dämmernden Schein des Monds,
an Agathons Seite auf Blumen hingegossen, schon entkörpert zu sein, schon
in den seligen Tälern des Elysiums zu schweben glaubte--mitten aus den
berauschenden Freuden der Liebe sich zu Gedanken von Gräbern und Urnen
verlieren, dann ihren Geliebten zärtlicher an ihre Brust drückend den
gestirnten Himmel anschauen, und ganze Stunden von der Wonne der
Unsterblichen, von unvergänglichen Schönheiten und himmlischen Welten
phantasieren konnte, und, von den Wünschen ihrer grenzenlosen Liebe
getäuscht, in der Hoffnung einer immerwährenden Dauer itzt so wenig
Ausschweifendes fand, daß ihr kein Gedanke natürlicher, keine Hoffnung
gewisser schien; dieses waren in der Tat Wunderwerke der Liebe, und
Wunderwerke, welche nur die Liebe eines Agathons, nur jene Vermischung der
Seelen, durch welche ihrer beider Denkungsart, Ideen, Geschmack und
Neigungen in einander zerflossen, zuwege bringen konnte.  Welches von
beiden bei dieser Vermischung gewonnen oder verloren habe, wollen wir
unsern Lesern zu entscheiden überlassen, von denen der zärtlichere Teil
vielleicht der schönen Danae den Vorteil zuerkennen wird: Aber dieses,
deucht uns, wird niemand so roh oder so stoisch sein zu leugnen, daß sie
glücklich waren--felices errore suo--glücklich in dieser süßen Betörung,
welcher, um dasjenige zu sein, was die Weisen schon so lange gesucht und
nie gefunden haben, nichts abgeht, als daß sie (wie der griechische Autor
hier abermal mit Bedauern ausruft) nicht immer währen kann.



SECHSTES BUCH



ERSTES KAPITEL

Ein Besuch des Hippias


Zufällige Ursachen hatten es so gefüget, daß Hippias sich auf einiche
Wochen von Smirna hatte entfernen müssen, und daß die Zeit seiner
Abwesenheit gerade in diejenige Zeit fiel, worin die Liebe unsers Helden
und der schönen Danae den äußersten Punkt ihrer Höhe erreichte.  Dieser
Umstand hatte sie gänzlich Meister von einer Zeit gelassen, welche sie zum
Vorteil der Liebe und des Vergnügens so wohl anzuwenden wußten.  Keiner
von Danaes ehemaligen Verehrern hatte sich erkühnt, ihre Einsamkeit zu
stören; und die Freundinnen, mit denen sie ehmals in Gesellschaft
gestanden war, hatten zu gutem Glück alle mit ihren eignen Angelegenheiten
so viel zu tun, daß sie keine Zeit behielten, sich um Fremde zu bekümmern.
Zudem war ihr Aufenthalt auf dem Lande nichts ungewöhnliches, und der
allgemeine Genius der Stadt Smirna war der Freiheit in der Wahl der
Vergnügungen allzugünstig, als daß eine Danae (von der man ohnehin keine
vestalische Tugend foderte) über die ihrigen, wenn sie auch bekannt
gewesen wären, sehr strenge Urteile zu besorgen gehabt hätte.

Allein Hippias war kaum von seiner Reise zurückgekommen, so ließ er eine
seiner ersten Sorgen sein, sich in eigner Person nach dem Fortgang des
Entwurfs zu erkundigen, den er mit ihr zu Bekehrung des allzuplatonischen
Callias gemeinschaftlich angelegt hatte.  Die besondere Vertraulichkeit,
worin er seit mehr als zehn Jahren mit ihr gelebt hatte, gab ihm das
vorzügliche Recht, sie auch alsdann zu überraschen, wenn sie sonst für
niemand sichtbar war.  Er eilte also, so bald er nur konnte, nach ihrem
Landgute; und hier brauchte er nur einen Blick auf unsre Liebende zu
werfen, um zu sehen, wie viel in seiner Abwesenheit mit ihnen vorgegangen
war.  Ein gewisser Zwang, eine gewisse Zurückhaltung, eine Art von
schamhafter Schüchternheit, welche ihm besonders an der Pflegtochter
Aspasiens fast lächerlich vorkam, war das erste, was ihm an beiden in die
Augen fiel.  Wahre Liebe (wie man längst beobachtet hat) ist eben so
sorgfältig ihre Glückseligkeit zu verbergen, als jene frostige Liebe,
welche Coquetterie oder Langeweile zur Mutter hat, begierig ist, ihre
Siege auszuposaunen.  Allein dieses war weder die einzige noch die
vornehmste Ursache einer Zurückhaltung, welche unsre Liebenden, aller
angewandten Mühe ungeachtet, einem so scharfsichtigen Beobachter nicht
entziehen konnten.  Das Bewußtsein der Verwandlung, welche sie erlitten
hatten; die Furcht vor dem komischen Ansehen, welches sie ihnen in den
Augen des Sophisten geben möchte; die Furcht von einem Spott, vor dem sie
die mutwilligen Ergießungen bei jedem Blicke, bei jedem Lächeln erwarteten;
dieses war es, was sie in Verlegenheit setzte, und was den artigsten
Gesichtern in ganz Jonien etwas Verdrießliches gab, welches von einem
jeden andern als Hippias für ein Zeichen, daß seine Gegenwart unangenehm
sei, hätte aufgenommen werden müssen.  Allein dieser nahm es für das auf,
was es in der Tat war; und da niemand besser zu leben wußte, so schien er
so wenig zu bemerken, was in ihnen vorging, machte den Unachtsamen und
Sorglosen so natürlich, hatte so viel von seiner Reise und tausend
gleichgültigen Dingen zu schwatzen, und wußte dem Gespräch einen so freien
Schwung von Munterkeit zu geben, daß sie alle erforderliche Zeit gewannen,
sich wieder zu erholen, und sich in eine ungezwungene Verfassung zu setzen.
Wenn Agathon hiedurch so sehr beruhigst wurde, daß er würklich hoffte,
sich in seinen ersten Besorgnissen betrogen zu haben, so war die feinere
Danae weit davon entfernt, sich durch die Kunstgriffe des Sophisten ein
Blendwerk vormachen zu lassen.  Sie kannte ihn zu gut, um nicht in seiner
Seele zu lesen; sie sah wohl, daß es zu einer Erörterung mit ihm kommen
müsse, und war nur darüber unruhig, wie sie sich entschuldigen wollte, daß
sie, über der Bemühung den Charakter des Agathons umzubilden, ihren eignen
oder doch einen guten Teil davon verloren hatte.  Mit diesen Gedanken
hatte sie sich in den Stunden der gewöhnlichen Mittagsruhe beschäftiget,
und war noch nicht recht mit sich selbst einig, wie weit sie sich dem
Sophisten vertrauen wolle; als er in ihr Zimmer trat, und mit der
vertraulichen Freimütigkeit eines alten Freundes ihr entdeckte, daß es die
Neugier über den Fortgang ihres geheimen Anschlags sei, was ihn so bald
nach seiner Wiederkunft zu ihr gezogen habe.  "Die Glückseligkeit des
Callias" (setzte er hinzu) "schimmert zu lebhaft aus seinen Augen und aus
seinem ganzen Betragen hervor, schöne Danae, als daß ich durch
überflüssige Fragstücke das reizende Inkarnat dieser liebenswürdigen
Wangen zu erhöhen suchen sollte.  Und findest du ihn also der Mühe würdig,
die du auf seine Bekehrung ohne Zweifel verwenden mußtest?" "Der Mühe?"
sagte Danae lächelnd; "ich schwöre dir, daß mir in meinem Leben keine Mühe
so leicht geworden ist, als mich von dem liebenswürdigsten Sterblichen,
den ich jemals gekannt habe, lieben zu lassen.  Denn das war doch alle
Mühe -" "Nicht ganz und gar", (unterbrach sie Hippias) "wenn du so
aufrichtig sein willt, als es unsrer Freundschaft gemäß ist.  Ich bin
gewiß, daß er an keine Verstellung dachte, da er noch in meinem Hause war;
und die Veränderung, die ich an ihm wahrnehme ist so groß, verbreitet sich
so sehr über seine ganze Person, hat ihn so unkenntlich gemacht, daß Danae
selbst, auf deren Lippen die überredung wohnt, mich nicht überreden soll,
daß eine solche Seelenwandlung im Schlafe vorgehen könne.  Keine
Zurückhaltungen, schöne Danae, die Würkungen zeugen von ihren Ursachen;
ein großes Werk setzt große Anstalten voraus; wenn ein Callias dahin
gebracht wird, daß er wie ein Liebling der Venus herausgeputzt ist, daß er
mit einer Sybaritischen Zunge von der Niedlichkeit der Speisen und dem
Geschmack der Weine urteilt; daß er die wollüstigsten Läufe eines in Liebe
schmelzenden Liedes mit entzücktem Händeklatschen wiederholen heißt, und
sich die Trinkschale von einer jungen Circasserin mit unverhülltem Busen
eben so gleichgültig reichen läßt, als er sich in die weichen Polster
eines Persischen Ruhebettes hineinsenkt--wahrhaftig, schöne Danae, das
nenn ich eine Verwandlung, welche in so kurzer Zeit zu bewerkstelligen,
ich keiner von allen unsterblichen Göttinnen zugetraut hätte."  "Ich weiß
nicht, was du damit sagen willst", erwiderte Danae mit einer angenommenen
Zerstreuung; "mich deucht nichts natürlichers, als alles, worüber du dich
so verwundert stellst; und gesetzt, daß du dich in deinem Urteil von
Callias betrogen hättest, ist es seine Schuld?  Wenn ich dir die Wahrheit
sagen soll, so kann nichts unähnlichers sein, als wie du ihn mir
abgeschildert und wie ich ihn gefunden habe.  Du machtest mich einen
Pedantischen Toren, den Gegenstand einer Komödie erwarten, und ich
wiederhole es, du magst über mich lachen so lange du willt, Alcibiades
selbst im Frühling seiner Jahre und Reizungen war nicht liebenswürdiger
als derjenige, den du mir für ein komisches Mittelding von einem
Phantasten und von einer Bildsäule gegeben hast.  Wenn eine
Verschiedenheit zwischen Agathon und den Besten ist, für welche ich ehmals
aus Dankbarkeit, Geschmack oder Laune, Gefälligkeiten gehabt habe, so ist
sie gänzlich zu seinem Vorteil; so ist es, daß er edler, aufrichtiger,
zärtlicher ist, daß er mich liebet, da jene nur sich selbst in mir liebten;
daß ihn mein Vergnügen glücklicher macht als sein eignes; daß er das
großmütigste und erkenntlichste Herz mit den glänzendesten Vorzügen des
Geistes, mit allem was den Umgang reizend macht, vereinigt besitzt.
"--"Welch ein Strom von Beredsamkeit", rief Hippias mit dem Lächeln eines
Fauns aus; "du sprichst nicht anders als ob du seine Apologie gegen mich
machen müßtest; und wenn habe ich denn was anders gesagt?  Beschrieb ich
ihn nicht als liebenswürdig? Sagt' ich dir nicht, daß er dir die Hyacinthe,
und alle diese artigen gaukelnden Sommervögel unerträglich machen würde?
Aber wir wollen uns nicht zanken, schöne Danae.  Ich sehe, daß Amor hier
mehr Arbeit gemacht als ihm aufgetragen war; er sollte dir nur helfen, den
Agathon zu unterwerfen; aber der übermütige kleine Bube hat es für eine
größere Ehre gehalten, dich selbst zu besiegen; diese Danae, welche bisher
mit seinen Pfeilen nur gescherzt hatte.  Bekenne, Danae -" "Ja", (fiel sie
ihm lebhaft ein) "ich bekenne, daß ich liebe wie ich nie geliebt habe; daß
alles was ich sonst Glückseligkeit nannte, kaum den Namen des Daseins
verdient hat; ich bekenne es, Hippias, und bin stolz darauf, daß ich fähig
wäre, alles was ich besitze, alle Ergötzlichkeiten von Smirna, alle
Ansprüche an Beifall, alle Befriedigungen der Eitelkeit, und eine ganze
Welt voll Liebhaber wie eine Nußschale hinzuwerfen, um mit Callias in
einer mit Stroh bedeckten Hütte zu leben, und mit diesen Händen, welche
nicht zu weiß und zärtlich dazu sein sollten, die Milch zuzubereiten, die
ihm, vom Felde wiederkommend, weil ich sie ihm reichte, lieblicher
schmecken würde, als Nektar aus den Händen der Liebesgöttin."

"O, das ist was anders", rief Hippias, der sich nun nicht länger halten
konnte, in ein lautes Gelächter auszubrechen; "wenn Danae aus diesem Tone
spricht, so hat Hippias nichts mehr zu sagen.  Aber", fuhr er fort,
nachdem er sich die Augen gewischt und den Mund in Falten gelegt hatte;
"in der Tat, schöne Freundin, ich lache zur Unzeit; die Sache ist
ernsthafter als ich beim ersten Anblick dachte, und ich besorge nun in
ganzem Ernste, daß Callias, so sehr er dich anzubeten scheint, nicht Liebe
genug haben möchte, die deinige zu erwidern."  "Ich erlasse dem Hippias
diese Sorge", sagte Danae mit einem spöttischen Lächeln, welches ihr sehr
reizend ließ; "das soll meine Sorge sein; und mich deucht, Hippias,
welcher ein so großer Meister ist, von den Würkungen auf die Ursachen zu
schließen, sollte ganz ruhig darüber sein können, daß sich Danae nicht wie
ein vierzehnjähriges Mädchen fangen läßt."  "Die Götter der Liebe und
Freude verhüten, daß meine Worte einen übelweissagenden Sinn in sich
fassen", erwiderte Hippias!  "Du liebest, schöne Danae; du wirst geliebt;
kein würdigers Paar glücklich zu sein, kein geschickteres sich glücklich
zu machen, hat Amor nie vereiniget.  Erschöpfet alles, was die Liebe
reizendes hat!  Trinket immer neue Entzückungen aus ihrem nektarischen
Becher; und möge die neidenswerte Bezauberung so lang als euer Leben
dauern!"



ZWEITES KAPITEL

Eine Probe von den Talenten eines Liebhabers


In einem so freundschaftlichen und schwärmerischen Ton stimmte der
gefällige Sophist seine Sprache um, als Agathon hereintrat, und ihnen
einen Spaziergang in die Gärten vorschlug, worin er sich das Vergnügen
machen wollte, sie mit einer in geheim veranstalteten Ergötzung zu
überraschen.  Man ließ sich den Vorschlag gefallen, und nachdem Hippias
eine Reihe von neuen Gemälden, womit die Galerie vermehrt worden war,
gesehen hatte, begab man sich in den Garten, in welchem, nach Persischem
Geschmack, große Blumenstücke, Spaziergänge von hohen Bäumen, kleine
Weiher, künstliche Wildnisse, Lauben und Grotten in anmutiger Unordnung
unter einander geworfen schienen.  Das Gespräch ward itzt wieder
gleichgültig, und Hippias wußte es so zu lenken, daß Agathon unvermerkt
veranlaßt wurde, die neue Wendung, welche seine Einbildungskraft bekommen
hatte, auf hundertfältige Art zu verraten.  Inzwischen neigte sich die
Sonne, als sie beim Eintritt in einen kleinen Wald von Myrten--und
Zitronenbäumen, an welchen die Kunst keine Hand angelegt zu haben schien,
von einem versteckten Konzert, welches alle Arten von Singvögel nachahmte,
empfangen wurden.  Aus jedem Zweig, aus jedem Blatte schien eine besondere
Stimme hervorzugehen; so volltönig war diese Musik, in welcher die
Nachahmung der kunstlosen Natur in der scheinbaren Unregelmäßigkeit
phantasierender Töne, die lieblichste Harmonie hervorbrachte, die man
jemals gehört hatte.  Die Dämmerung des heitersten Abends, und die eigne
Anmut des Orts vereinigten sich damit, um diesem Lusthain die Gestalt der
Bezauberung zu geben.  Danae, welche seit wenigen Wochen eine ganz neue
Empfindlichkeit für das Schöne der Natur und die Vergnügungen der
Einbildungskraft bekommen hatte, sahe ihren sich ganz unwissend stellenden
Liebling mit Augen an, welche ihm sagten, daß nur die Gegenwart des
Hippias sie verhindere, ihre schönen Arme um seinen Hals zu werfen: als
unversehens eine Anzahl von kleinen Liebesgöttern und Faunen aus dem Hain
hervorhüpfte; jene von flatterndem Silberflor, der mit nachgeahmten Rosen
durchwürkt war, leicht bedeckt; diese nackend, außer daß ein Efeukranz,
mit gelben Rosen durchflochten, ihre milchweißen Hüften schützten, und um
die kleinen verguldeten Hörner sich schlangen, die aus ihren schwarzen
kurzlockichten Haaren hervorstachen.  Alle diese kleine Genii streuten
aus zierlichen Körbchen von Silberdraht die schönsten Blumen vor Danae her,
und führten sie tanzend in die Mitte des Wäldchens, wo Gebüsche von
Jasminen, Rosen und Acacia eine Art von halbzirkelndem Amphitheater
machten, unter welchem ein zierlicher Thron von Laubwerk und Blumenkränzen
für die schöne Danae bereitet stand.  Nachdem sie sich hier gesetzt hatte,
breiteten die Liebesgötter einen Persischen Teppich vor ihr aus, indem von
den kleinen Faunen einige beschäftigt waren, den Boden mit goldnen und
kristallenen Trinkschalen von allerlei niedlichen Formen zu besetzen,
andre unter der Last voller Schläuche mit possierlichen Gebärden
herbeigekrochen kamen, und im Vorbeigehen den weisen Hippias durch hundert
mutwillige Spiele neckten.  Auf einmal schlupften die Grazien hinter einer
Myrtenhecke hervor, drei jugendliche Schwestern, deren halbaufgeblühte
Schönheit ein leichtes Gewölk von Gase mehr zu entwickeln als zu verhüllen
eifersüchtig schien.  Sie umgaben ihre Gebieterin, und indem die erste
einen frischen Blumenkranz um ihre schöne Stirne wand, reichten ihr die
beiden andern kniend in goldnen Schalen die auserlesensten Früchte und
Erfrischungen dar; indes die Faunen den Hippias mit Efeu kränzten, und
wohlriechende Salben über seine Glatze und seinen halbgrauen Bart
heruntergossen.  Beide bezeugten ihr Vergnügen über dieses kleine
Schauspiel, welches das lachendste Gemälde von der Welt machte; als eine
zärtliche Symphonie von Flöten aus der Luft, wie es schien, herabtönend,
die Augen zu einer neuen Erscheinung aufmerksam machte.  Die Liebesgötter,
die Faunen und die Grazien waren indes verschwunden, und es öffnete sich
der Danae gegenüber die waldichte Szene, um den Liebesgott darzustellen,
auf einem goldnen Gewölke sitzend, welches über den Rosenbüschen von
Zephyren emporgehalten wurde.  Ein schalkhaftes Lächeln, das sein
liebliches Gesicht umscherzte, schien die Herzen zu warnen, sich von der
tändelnden Unschuld dieses schönen Götterknabens nicht sorglos machen zu
lassen.  Er sang mit lieblicher Stimme, und der Inhalt seines Gesangs
drückte seine Freude aus, daß er endlich eine bequeme Gelegenheit gefunden
habe, sich an der schönen Danae zu rächen.  "Gleich der Liebesgöttin,
meiner Mutter" (sang er) "herrscht sie unumschränkt über die Herzen, und
haucht allgemeine Liebe umher: Von ihren Blicken beseelt, wendet ihr die
Natur, als ihrer Göttin, sich zu; verschönert, wenn sie lächelt, traurig
und welkend, wenn sie sich von ihr kehrt: Verlassen stehn die Altäre zu
Paphos, die Seufzer der Liebenden wallen nur ihr entgegen; und indem ihre
siegreichen Augen ringsum sie her jedes Herz verwunden und entzücken,
lacht sie, die Stolze, meiner Pfeile, und trotzt mit unbezwungner Brust
der Macht, vor welcher Götter zittern: Aber nicht länger soll sie trotzen;
hier ist der schärfste Pfeil, scharf genug einen Busen von Marmor zu
spalten, und die kälteste Seele in Liebesflammen hinwegzuschmelzen.
Zittre, ungewahrsame Schöne! dieser Augenblick soll Amorn und seine Mutter
rächen!  Tiefseufzend sollst du auffahren, wie ein junges Reh auffährt,
das unter Rosen schlummernd den geflügelten Pfeil des Jägers fühlt;
schmerzenvoll und trostlos sollst du in einsamen Hainen irren, und auf
öden Felsen sitzend den schleichenden Bach mit deinen Tränen mehren."

So sang er und spannte boshaft-lächelnd den Bogen; schon war der Pfeil
angelegt, schon zielte er nach ihrem leichtbedeckten Busen: als er
plötzlich mit einem lauten Schrei zurückfuhr, seinen Pfeil zerbrach, den
Bogen von sich warf, und mit zärtlich schüchterner Gebärde auf die schöne
Danae zuflatterte.  "O Göttin, vergib", (sang er, indem er bittend ihre
Knie umfaßte) "vergib, vergib, schöne Mutter, dem Irrtum meiner Augen!
wie leicht war es zu irren?  Ich sahe dich für Danae an."

In dem nämlichen Augenblick, da er dieses gesungen hatte, erschienen die
Grazien, die Liebesgötter und die kleinen Faunen wieder, und endigten
diese Szene mit Tänzen und Gesängen, zum Preis derjenigen, welche auf eine
so schmeichelhafte Art zur Göttin der Schönheit und der Liebe erklärt
worden war.  Dieses überraschende Kompliment, welches damals noch den Reiz
der Neuheit hatte, weil es noch nicht an die Daphnen und Chloen so vieler
neuern Poeten verschwendet worden war, schien ihr Vergnügen zu machen; und
der doppelt belustigte Hippias gestand, daß sein junger Freund einen sehr
guten Gebrauch von seiner Einbildungskraft zu machen gelernt habe.
"Dachte ich nicht, Callias", sagte er leise zu ihm, indem er ihn auf die
Schultern klopfte, "daß ein Monat unter den Augen der schönen Danae dich
von den Vorurteilen heilen würde, womit du gegen Grundsätze eingenommen
warest, die du bereits so meisterhaft auszuüben gelernt hast."

Der übrige Teil des Abends wurde auf eine eben so angenehme Weise
zugebracht, bis endlich Hippias, welcher den folgenden Morgen wieder in
Smirna sein mußte, in einem Zustande, worin er mehr dem Vater Silen als
einem Weisen glich, von den kleinen Faunen zu Bette gebracht wurde.

Agathon hatte nun nichts dringenders als von Danae zu erfahren, was der
Gegenstand ihrer einzelnen Unterredung mit dem Hippias gewesen sei.  Man
wird es dieser Dame zu gut halten können, daß sie die Aufrichtigkeit ihres
Berichts nicht so weit trieb, ihm das Complot einzugestehen, worein sie
sich von dem Sophisten anfangs hatte ziehen lassen; und dessen Ausgang so
weit von der Anlage des ersten Plans entfernt gewesen war.  Die
zärtlichste und vertrauteste Liebe verhindert nicht, daß man sich nicht
kleine Geheimnisse vorbehalten sollte, bei deren Entdeckung die Eigenliebe
ihre Rechnung nicht finden würde.  Sie begnügte sich also ihm zu sagen,
daß Hippias viel Gutes von ihm gesprochen, und sie versichert habe, daß er
ihn weit aufgeweckter und artiger finde als er vorher gewesen; es hätte
sie bedünkt, daß er mehr damit sagen wollen, als seine Worte an sich
selbst gesagt hätten; sie hätte aber eben so wenig daran gedacht ihn zum
Vertrauten ihrer Liebe zu machen, als sie Ursache hätte, eine Achtung zu
verbergen, welche man den persönlichen Verdiensten des Callias nicht
versagen könne; im übrigen hätte sie seine Munterkeit auf die Rechnung der
Zeit, welche das Andenken seiner Unglücksfälle schwäche, und der
vollkommnern Freiheit geschrieben, die er in ihrem Hause hätte.  Agathon
ließ sich durch diese Erzählung nicht nur beruhigen; sondern, wie seine
Einbildungskraft gewohnt war, ihn immer weiter zu führen, als er im Sinne
hatte zu gehen, so fühlte er sich, nachdem sie eine Zeitlang von dieser
Materie gesprochen hatten, so mutig, daß er sich vornahm den Scherzen des
Hippias, wofern es demselben je einfallen sollte über seine Freundschaft
mit Danae zu scherzen, in gleichem Ton zu antworten; eine Entschließung,
welche (ob er es gleich nicht gewahr wurde) in der Tat mehr
Unverschämtheit voraussetzte, als selbst ein langwieriger Fortgang auf den
Abwegen, auf die er verirrt war, einem Agathon jemals geben konnte.



DRITTES KAPITEL

Konvulsivische Bewegungen der wiederauflebenden Tugend


Wenige Tage waren seit dem Besuch des Hippias verflossen; als ein Fest,
welches er alle Jahre seinen Freunden zu geben pflegte, Gelegenheit machte,
der schönen Danae und ihrem Freunde eine Einladung zuzusenden.  Weil sie
keinen guten Vorwand zu geben hatten, ihr Ausbleiben zu entschuldigen, so
erschienen sie auf den bestimmten Tag, und Agathon brachte eine
Lebhaftigkeit mit, welche ihm selbst Hoffnung machte, daß er sich so gut
halten würde, als es die Anfälle, die er von der Schalkhaftigkeit des
Sophisten erwartete, nur immer erfordern könnten.  Hippias hatte nichts
vergessen, was die Pracht seines Fests vermehren konnte; und nach
demjenigen, was im zweiten Buch von den Grundsätzen, der Lebensart und den
Reichtümern dieses Mannes gemeldet worden, können unsre Leser sich so viel
davon einbilden als sie wollen, ohne zu besorgen, daß wir sie durch
überflüssige Beschreibungen von den wichtigern Gegenständen, die wir vor
uns haben, aufhalten würden.

Agathon hatte über der Tafel die Rolle eines witzigen Kopfs so gut
gespielt; er hatte so fein und so lebhaft gescherzt, und bei Gelegenheiten
die Ideen, wovon seine Seele damals beherrscht wurde, so deutlich verraten;
daß Hippias sich nicht enthalten konnte, ihm in einem Augenblick, wo sie
allein waren, seine ganze Freude darüber auszudrücken.  "Ich bin erfreut,
Callias" (sagte er zu ihm) "daß du, wie ich sehe, einer von den Unsrigen
worden bist.  Du rechtfertigest die gute Meinung vollkommen, die ich beim
ersten Anblick von dir faßte; ich sagte immer, daß einer so feurigen Seele
wie die deinige, nur wirkliche Gegenstände mangelten, um ohne Mühe von den
Schimären zurückzukommen, woran du vor einigen Wochen noch so stark zu
hängen schienest."  Zum Glück für den guten Agathon rettete ihn die
Darzwischenkunft einiger Personen von der Gesellschaft, mitten in der
Antwort, die er zu stottern angefangen hatte; aber aus der Unruhe, welche
diese wenige Worte des Sophisten in sein Gemüt geworfen hatten, konnte ihn
nichts retten.

Alle Mühe, die er anstrengte, alle Zeitkürzungen, wovon er sich umgeben
sah, waren zu schwach ihn wieder aus einer Verwirrung herauszuziehen,
welche sogar durch den Anblick der schönen Danae vermehrt wurde.  Er mußte
einen Anstoß von übelkeit vorschützen, um sich eine Zeitlang aus der
Gesellschaft wegzubegeben, um in einem entlegnen Cabinet den Gedanken
nachzuhängen, deren auf einmal daherstürmende Menge ihm eine Weile alles
Vermögen benahm, einen von dem andern zu unterscheiden.  Endlich faßte er
sich doch so weit, daß er seinem beklemmten Herzen durch dieses oft
abgebrochene Selbstgespräch Luft machen konnte: "Wie?--'Ich bin erfreut,
daß du einer von den Unsrigen geworden?'--Ists möglich?  Einer von den
Seinigen?--Dem Hippias ähnlich?--Ihm, dessen Grundsätze, dessen Leben,
dessen vermeinte Weisheit mir vor kurzem noch so viel Abscheu
einflößten?--Und die Verwandlung ist so groß, daß sie ihm keinen Zweifel
übrig läßt? Gütige Götter!  Wo ist euer Agathon?--Ach!  es ist mehr als zu
gewiß, daß ich nicht mehr ich selbst bin!--Wie?  sind mir nicht alle
Gegenstände dieses Hauses, von denen meine Seele sich ehmals mit Ekel und
Grauen wegwandte, gleichgültig oder gar angenehm worden?  Diese üppigen
Gemälde--diese schlüpfrigen Nymphen--diese Gespräche, worin alles, was dem
Menschen groß und ehrwürdig sein soll, in ein komisches Licht gestellt
wird--diese Verschwendung der Zeit--diese mühsam ausgesonnenen und über
die Forderung der Natur getriebenen Ergötzungen--Himmel!  wo bin ich?  An
was für einem jähen Abhang find ich mich selbst--welch einen Abgrund unter
mir--O Danae, Danae!--"hier hielt er inn, um den trostvollen Einflüssen
Raum zu lassen, welche dieser Name und die zauberischen Bilder, so er mit
sich brachte, über seine sich selbst quälende Seele ausbreiteten.  Mit
einem schleunigen übergang von Schwermut zu Entzückung, durchflog sie itzt
alle diese Szenen von Liebe und Glückseligkeit, welche ihr die
letztverfloßnen Tage zu Augenblicken gemacht hatten; und von diesen
Erinnerungen mit einer innigen Wollust durchströmt, konnte sie oder wollte
sie vielmehr den Gedanken nicht ertragen, daß sie in einem so
beneidenswürdigen Zustand unter sich selbst heruntergesunken sein könne.
"Göttliche Danae", rief der arme Kranke in einem verdoppelten Anstoß des
wiederkehrenden Taumels aus; "wie?  Kann es ein Verbrechen sein, das
Vollkommenste unter allen Geschöpfen zu lieben? Ist es ein Verbrechen
glücklich zu sein?"--In diesem Ton fuhr Amor, (welchen Plato sehr richtig
den größten unter allen Sophisten nennt) desto ungehinderter fort ihm
zuzureden, da ihm die Eigenliebe zu Hilfe kam, und seine Sache zu der
ihrigen machte.  Denn was ist unangenehmers, als sich selbst zugleich
anklagen und verurteilen müssen?  Und wie gerne hören wir die Stimme der
sich selbst verteidigenden Leidenschaft?  Wie gründlich finden wir jedes
Blendwerk, womit sie die richterliche Vernunft zu einem falschen Ausspruch
zu verleiten sucht?  Agathon hörte diese betriegliche Apologistin so gerne,
daß es ihr gelang, sein Gemüte wieder zu besänftigen.  Er schmeichelte
sich, daß ungeachtet einer Veränderung seiner Denkungsart, die er sich
selbst für eine Verbesserung zu geben suchte, der Unterscheid zwischen ihm
und Hippias noch so groß, so wesentlich sei als jemals.  Er verbarg seine
schwache Seite hinter die Tugenden, deren er sich bewußt zu sein glaubte;
und beruhigte sich endlich völlig mit einem idealischen Entwurf eines
seinen eignen Grundsätzen gemäßen Lebens, zu welchem er seine geliebte
Danae schon genug vorbereitet glaubte, um ihr selbigen ohne längern
Aufschub vorzulegen.  Er kehrte nunmehr, nachdem er ungefähr eine Stunde
allein gewesen war, mit einem so aufgeheiterten Gesicht zur Gesellschaft,
welche sich in einem Saale des Gartens versammelt hatte, zurück, daß Danae
und Hippias selbst sich bereden ließen, seinen vorigen Anstoß einer
vorübergehenden übelkeit zuzuschreiben.  Ergötzlichkeiten folgten itzt
auf Ergötzlichkeiten so dicht aneinander, und so mannigfaltig, daß die
überladene Seele keine Zeit behielt sich Rechenschaft von ihren
Empfindungen zu geben; und nach Gewohnheit des Landes wurde die ganze
Nacht bis zum Anbruch der Morgenröte in brausenden Vergnügungen
hingebracht.  Die Gegenwart der liebenswürdigen Danae würkte mit ihrer
ganzen magischen Kraft auf unsern Helden, ohne verhindern zu können, daß
er von Zeit zu Zeit in eine Zerstreuung fiel, aus welcher sie ihn, sobald
sie es gewahr wurde, zu ziehen bemüht war.  Die Gegenstände, welche seinen
sittlichen Geschmack ehmals beleidigst hatten, waren hier zu häufig, als
daß nicht mitten unter den flüchtigen Vergnügungen, womit sie gleichsam
über die Oberfläche seiner Seele hinglitscheten, ein geheimes Gefühl
seiner Erniedrigung seine Wangen mit Schamröte vor sich selbst, dem
Vorboten der wiederkehrenden Tugend, hätte überziehen sollen.

Dieses begegnete insonderheit bei einem pantomimischen Tanze, womit
Hippias seine größtenteils vom Bacchus glühenden Gäste noch eine geraume
Zeit nach Mitternacht vom Einschlummern abzuhalten suchte.  Die Tänzerin,
ein schönes Mädchen, welches ungeachtet seiner Jugend, schon lange in den
Geheimnissen von Cythere eingeweiht war, tanzte die Fabel der Leda.
Dieses berüchtigte Meisterstück der eben so vollkommnen als üppigen
Tanzkunst der Alten, von dessen Würkungen Juvenal in einer von seinen
Satyren ein so zügelloses Gemälde macht.  Hippias und die meisten seiner
Gäste bezeugten ein unmäßiges Vergnügen über die Art, wie seine Tänzerin
diese schlüpfrige Geschichte nach der wollüstigen Modulation zwoer Flöten,
allein durch die stumme Sprache der Bewegung, von Szene zu Szene bis zur
Entwicklung fortzuwinden wußte.--Zeuxes, und Homer selbst, riefen sie,
konnte nicht besser, nicht deutlicher mit Farben oder Worten, als die
Tänzerin durch ihre Bewegungen malen.  Die Damen glaubten genug getan zu
haben, daß sie auf dieses Schauspiel nicht Acht zu geben schienen; aber
Agathon konnte den widrigen Eindruck, den es auf ihn machte, und den
innerlichen Grauen, womit sein Gemüt dabei erfüllt wurde, kaum in sich
selbst verschließen.  Er wollte würklich etwas sagen, welches allerdings
in der Gesellschaft, worin er war, übel angebracht gewesen wäre; als ein
beschämter Blick auf sich selbst, und vielleicht die Furcht belacht zu
werden, und den ausgelassenen Hippias zu einer allzuscharfen Rache zu
reizen, seine Rede auf seinen Lippen erstickte; und weil doch die ersten
Worte nun einmal gesagt waren, den vorgehabten Tadel in einen gezwungenen
Beifall verwandelten.  Er hatte nun keine Ruhe, bis er die schöne Danae
bewogen hatte, sich mit einer von ihren Freundinnen aus einer Gesellschaft
wegzuschleichen, aus welcher die Grazien schamrot wegzufliehen anfingen;
und sein Unwille ergoß sich während daß sie nach Hause fuhren, in eine
scharfe Verurteilung des verdorbenen Geschmacks des Sophisten, welche so
lange dauerte, bis sie bei Anbruche des Tages wieder auf dem Landhause der
Danae anlangten, um die von Ergötzungen abgemattete Natur zu derjenigen
Zeit, welche zu den Geschäften des Lebens bestimmt ist, durch Ruhe und
Schlummer wiederherzustellen.



VIERTES KAPITEL

Daß Träume nicht allemal Schäume sind


Die Stoiker, dieser strenge moralische Orden, dessen Abgang der
vortreffliche Präsident von Montesquieu als einen Verlust für das
menschliche Geschlecht ansieht, hatten unter andern Sonderlichkeiten, eine
große Meinung von der Natur und Bestimmung der Träume.  Sie trieben es so
weit, daß sie sich die Mühe gaben, eben so große Bücher über diese Materie
zu schreiben, als diejenigen, womit die gelehrte Welt noch in unsern Tagen,
von einigen weisen Mönchen über die erhabne Kunst, die Gespenster zu
prüfen und zu bannen, beschenkt worden ist.  Sie teilten die Träume in
mancherlei Gattungen und Arten ein, wiesen ihnen ihre geheime Bedeutungen
an, gaben den Schlüssel dazu, und trugen kein Bedenken, einige Arten
derselben ganz zuversichtlich dem Einfluß derjenigen Geister zuzuschreiben,
womit sie alle Teile der Natur reichlich bevölkert hatten.  In der Tat
scheinen sie sich in diesem Stück lediglich nach einem allgemeinen Glauben,
der sich von je her unter allen Völkern und Zeiten erhalten hat,
gerichtet, und dasjenige in die Form einer schlußförmigen Theorie gebracht
zu haben, was bei ihren Großmüttern ein sehr unsichers Gemische von
Tradition, Einbildung und Blödigkeit des Geistes gewesen sein möchte.  Dem
sei nun wie ihm wolle, so ist gewiß, daß wir zuweilen Träume haben, in
denen so viel Zusammenhang, so viel Beziehung auf unsre vergangne und
gegenwärtige Umstände, wiewohl allezeit mit einem kleinen Zusatz von
Wunderbarem und Unbegreiflichem, anzutreffen ist; daß wir uns um jener
Merkmale der Wahrheit willen geneigt finden, in diesem letztern etwas
geheimnisvolles und vorbedeutendes zu suchen.  Träume von dieser Art den
Geistern außer uns, oder, wie die Pythagoräer taten, einer gewissen
prophetischen Kraft und Divination unsrer Seele beizumessen, welche unter
dem tiefen Schlummer der Sinne bessere Freiheit habe, sich zu entwickeln:
So sinnreiche Auflösungen überlassen wir denjenigen, welche zum Besitz
jener von Lucrez so enthusiastisch gepriesenen Glückseligkeit, die
Ursachen der Dinge einzusehen, in einem vollern Maße gelangt sind als wir.
Indessen haben wir uns doch zum Gesetz gemacht, den guten Rat unsrer Amme
nicht zu verachten, welche uns, da wir noch das Glück ihrer
einsichtsvollen Erziehung genossen, unter Anführung einer langen Reihe von
Familienbeispielen, ernstlich zu vermahnen pflegte, die Warnungen und
Fingerzeige der Träume ja nicht für gleichgültig anzusehen.

Agathon hatte diesen Morgen, nachdem er in einer Verwirrung von uneinigen
Gedanken und Gemütsbewegungen endlich eingeschlummert war, einen Traum,
den wir mit einigem Recht zu den kleinen Ursachen zählen können, durch
welche große Begebenheiten hervorgebracht worden sind.  Wir wollen ihn
erzählen, wie wir ihn in unsrer Urkunde finden, und dem Leser überlassen,
was er davon urteilen will.  Ihn deuchte also, daß er in einer
Gesellschaft von Nymphen und Liebesgöttern auf einer anmutigen Ebne sich
erlustige.  Danae war unter ihnen.  Mit zauberischem Lächeln reichte sie
ihm, wie Ariadne ihrem Bacchus, eine Schale voll Nektars, welchen er an
ihren Blicken hangend mit wollüstigen Zügen hinunterschlürfte.  Auf einmal
fing alles um ihn her zu tanzen an; er tanzte mit; ein Nebel von süßen
Düften schien rings um ihn her die wahre Gestalt der Dinge zu verbergen,
und tausend liebliche Gestalten gaukelten vor seiner Stirne, welche wie
Seifenblasen eben so schnell zerflossen als entstunden.  In diesem Taumel
tanzte und hüpfte er eine Zeit lang fort, bis auf einmal der Nebel und
seine ganze fröhliche Gesellschaft verschwand: Ihm war als ob er aus einem
tiefen Schlaf erwachte; und da er die Augen aufschlug, sah er sich an der
Spitze eines jähen Felsens, unter welchem ein reißender Strom seine
sprudelnden Wellen fortwälzte.  Gegen ihm über, auf dem andern Ufer des
Flusses, stand Psyche; ein schneeweißes Gewand floß zu ihren Füßen herab;
ganz einsam und traurig stand sie, und heftete Blicke auf ihn, die ihm das
Herz durchbohrten.  Ohne sich einen Augenblick zu besinnen, stürzte er
sich in den Fluß hinab, arbeitete sich ans andre Ufer hinüber, und eilte,
sich seiner Psyche zu Füßen zu werfen.  Aber sie entschlüpfte wie ein
Schatten vor ihm her, ohne daß sie aufhörte, sichtbar zu sein; ihr Gesicht
war traurig, und ihre rechte Hand wies in die Ferne, wo er die goldnen
Türme und die heiligen Haine des delphischen Tempels ganz deutlich zu
unterscheiden glaubte.  Tränen liefen bei diesem Anblick über seine Wangen
herab; er streckte seine Arme, flehend, und von unaussprechlichen
Empfindungen beklemmt, nach der geliebten Psyche aus; aber sie floh
eilends von ihm weg, einer Bildsäule der Tugend zu, welche unter den
Trümmern eines verfallnen Tempels, einsam und unversehrt, in
majestätischer Ruhe auf einem unbeweglichen Cubus stand.  Psyche umarmte
diese Bildsäule, warf noch einen tiefsinnigen Blick auf ihn und verschwand.
Verzweifelnd wollte er ihr nacheilen, als er sich plötzlich in einem
tiefen Schlamme versenket sah; und die Bestrebung, die er anwendete, sich
herauszuarbeiten, war so heftig, daß er daran erwachte.

Ein Strom von Tränen, in welchen sein berstendes Herz ausbrach, war die
erste Würkung des tiefen Eindruckes, den dieser sonderbare Traum in seiner
erwachten aber noch ganz von ihren Gesichten umgebnen Seele zurückließ.
Er weinte so lange und so heftig, daß sein Hauptküssen ganz davon
durchnetzt wurde.  "Ach Psyche!  Psyche!"  rief er von Zeit zu Zeit aus,
indem er seine gerungenen Arme wie nach ihrem Bilde ausstreckte; und dann
brach eine neue Flut aus seinen schwellenden Augen.  "Wo bin ich", rief er
wiederum aus, und sah sich um, als ob er bestürzt wäre, sich in einem mit
Persischen Tapeten behangnen, und von tausend Kostbarkeiten schimmernden
Zimmer auf dem weichsten Ruhebette liegend zu finden--"O Psyche--was ist
aus deinem Agathon worden?--O unglücklicher Tag, an dem mich die verhaßten
Räuber deinem Arm entrissen!"--Unter solchen Vorstellungen und Ausrufungen
stund er auf; ging in heftiger Bewegung auf und nieder, warf sich abermal
auf das Ruhbette, und blieb eine lange Zeit stumm, und mit zu Boden
starrenden Blicken unbeweglich, wie in Gedanken verloren, sitzen.  Endlich
raffte er sich wieder auf, kleidete sich an, und stieg in die Gärten herab,
um in dem einsamsten Teil des Hains die Ruhe zu suchen, welche er nötig
hatte, über seinen Traum, seinen gegenwärtigen Zustand und die
Entschließungen, die er zu fassen habe, nachdenken zu können.  Unter allen
Bildern, welche der Traum in seinem Gemüte zurückgelassen hatte, rührte
ihn keines lebhafter als die Vorstellung der Psyche, wie sie mit ernstem
Gesicht auf den Tempel und die Haine von Delphi wies--die geheiligten
örter, wo sie einander zuerst gesehen, wo sie so oft sich eine ewige Liebe
geschworen, wo sie so rein, so tugendhaft sich geliebt hatten, wie sich im
hohen Olymp die Unverkörperten lieben.

Diese Bilder hatten etwas so rührendes, und der Schmerz, womit sie ihn
durchdrangen, wurde durch die lebhaftesten Erinnerungen seiner ehmaligen
Glückseligkeit so sanft gemildert, daß er eine Art von Wollust darin
empfand, sich der zärtlichen Wehmut zu überlassen, wovon seine Seele dabei
eingenommen wurde.  Er verglich seinen itzigen Zustand mit jener seligen
Stille des Herzens, mit jener immer lächelnden Heiterkeit der Seele, mit
jenen sanften und unschuldsvollen Freuden, zu welchen, seiner Einbildung
nach, unsterbliche Zuschauer ihren Beifall gegeben hatten: Und indem er
unvermerkt, anstatt die Vergleichung unparteiisch fortzusetzen, sich dem
schleichenden Lauf seiner erregten Einbildungskraft überließ; deuchte ihn
nicht anders, als ob seine Seele nach jener elysischen Ruhe, wie nach
ihrem angebornen Elemente, sich zurücksehne.  "Wenn es auch Schwärmereien
waren", rief er seufzend aus, "wenn es auch bloße Träume waren, in die
mein halbabgeschiedner, halbvergötterter Geist sich wiegte--welch eine
selige Schwärmerei!  Und wie viel glücklicher machten mich diese Träume,
als alle die rauschenden Freuden, welche die Sinnen in einem Wirbel von
Wollust dahinreißen, und wenn sie vorüber sind, nichts als Beschämung und
Reue, und ein schwermütiges Leeres im unbefriedigten Geist zurücklassen!"

Vielleicht werden unsre Leser aus demjenigen, was damals in dem Gemüte
unsers Helden vorging, sich viel Gutes für seine Wiederkehr zur Tugend
weissagen.  Aber mit Bedauern müssen wir gestehen, daß sich eine andre
Seele in seinem Inwendigen erhob, welche die Würkung dieser guten Regungen
in kurzem wieder unkräftig machte; es sei nun, daß es die Stimme der Natur
oder der Leidenschaft war, oder daß beide sich vereinigten, ihn ohne
Abbruch seiner Eigenliebe wieder mit sich selbst und dem Gegenwärtigen
auszusöhnen.

In der Tat war es bei der Lebhaftigkeit, welche alle Ideen und
Gemütsbewegungen dieses sonderbaren Menschens charakterisierte, kaum
möglich, daß der überspannte Affekt, worin wir ihn gesehen haben, von
langer Dauer hätte sein können.  Die Stärke seiner Empfindungen rieb sich
an sich selbst ab; seine Einbildungskraft pflegte in solchen Fällen so
lange in geradem Lauf fortzuschießen, bis sie sich genötiget fand, wieder
umzukehren.  Er fing nun an, sich zu überreden, daß mehr Schwärmerei als
Wahrheit und Vernunft in seiner Betrübnis sei; er glaubte bei näherer
Vergleichung zu finden, daß seine Leidenschaft für Danae durch die
Vollkommenheit des Gegenstands gänzlich gerechtfertiget würde, und so
vorzüglich ihm kurz zuvor die Glückseligkeit seines delphischen Lebens,
und die unschuldigen Freuden der ersten noch unerfahrnen Liebe geschienen
hatten; so unwesentlich fand er sie itzt in Vergleichung mit demjenigen,
was ihn die schöne Danae in ihren Armen hatte erfahren lassen.  Das bloße
Andenken daran setzte sein Blut in Feuer, und seine Seele in Entzückung;
seine angestrengteste Einbildung erlag unter der Bestrebung eine
vollkommnere Wonne zu erfinden.

Psyche schien ihm itzt, so liebenswürdig sie immer sein mochte, zu nichts
anderm bestimmt gewesen zu sein, als die Empfindlichkeit seines Herzens zu
entwickeln, um ihn fähig zu machen, die Vorzüge der unvergleichlichen
Danae zu empfinden.  Er schrieb es einem Rückfall in seine ehmalige
Schwärmerei zu, daß er sich durch einen Traum, welchen er mit aller seiner
sonderbaren Beschaffenheit, doch für nichts mehr als ein Spiel der
Phantasie halten konnte, in so heftige Bewegungen hätte setzen lassen.
Das einzige, was ihn noch beunruhigte, war der Vorwurf der Untreue gegen
seine einst so zärtlich geliebte und so zärtlich wieder liebende Psyche.
Allein die Unmöglichkeit von der unwiderstehlichen Danae nicht überwunden
zu werden; (ein Punkt, wovon er so vollkommen als von seinem eignen Dasein
überzeugt zu sein glaubte.) Der Verlust aller Hoffnung, Psyche jemals
wieder zu finden, (welchen er, ohne genauere Untersuchung, für ausgemacht
annahm;) beides schien ihm gegen diesen Vorwurf von großem Gewicht zu sein;
und um sich desselben gänzlich zu entledigen, geriet er endlich gar auf
den Gedanken, daß seine Verbindung mit Psyche mehr die Liebe eines Bruders
zu einer Schwester, eine bloße Liebe der Seelen, als dasjenige gewesen sei,
was im eigentlichen Sinn Liebe genennt werden sollte; eine Entdeckung,
die ihm bei Vergleichung der Symptomen dieser beiden Arten von Liebe,
unwidersprechlich zu sein deuchte.  Diese Vorstellungen stiegen nach und
nach, zumal an einem Orte, wo jede schattichte Laube, jede Blumenbank,
jede Grotte, ein Zeuge genoßner Glückseligkeiten war, zu einer solchen
Lebhaftigkeit, daß sie eine Art von Ruhe in seinem Gemüte wieder
herstellten; wenn anders die Verblendung eines Kranken, der in der Hitze
seines Fiebers gesund zu sein wähnt, diesen Namen verdienen kann.  Doch
verhinderten sie nicht, daß, diesen ganzen Tag über, ein Eindruck von
Schwermut und Traurigkeit in seinem Gemüte zurückblieb; die Bilder der
Psyche und der Tugend, welche er so lange gewohnt gewesen war zu vermengen,
stellten sich immer wieder vor seine Augen; umsonst suchte er sie durch
Zerstreuungen zu entfernen; sie überraschten ihn in seinen Arbeiten, und
beunruhigten ihn in seinen Ergötzungen; er suchte ihnen auszuweichen, der
Unglückliche!  und wurde nicht gewahr, daß eben dieses ein vollständiger
Beweis sei, daß es nicht so richtig mit ihm stehe, als er sich selbst zu
überreden suchte.



FÜNFTES KAPITEL

Ein starker Schritt zu einer Katastrophe


Danae liebte zu zärtlich, als daß ihr der stille Kummer, der eine wiewohl
anmutige Düsternheit über das schöne Gesicht unsers Helden ausbreitete,
hätte unbemerkt bleiben können; aber aus eben diesem Grunde war sie zu
schüchtern, ihn voreilig um die Ursache einer so unerwarteten Veränderung
zu befragen.  Es war leicht zu sehen, daß sein Herz leiden müsse; aber mit
aller Scharfsichtigkeit, welche den Augen der Liebe eigen ist, konnte sie
doch nicht mit sich selbst einig werden, was die Ursache davon sein könne.
Ihr erster Gedanke war, daß ihm vielleicht ein zu weit getriebner Scherz
des boshaften Hippias anstößig gewesen sein möchte.  Allein was auch
Hippias gesagt haben konnte, schien ihr nicht genugsam, eine so tiefe
Wunde zu machen, als sie in seinem Herzen zu sehen glaubte.  Das Interesse
ihres eignen brachte sie bald auf einen andern Gedanken, dessen sie
vermutlich nicht fähig gewesen wäre, wenn ihre Liebe nicht die Eitelkeit
überwogen hätte, welche bei den meisten Schönen die wahre Quelle dessen
ist, was sie uns für Liebe geben wollen.  "Wie, wenn seine Liebe zu
erkalten anfinge"; sagte sie zu sich selbst--"erkalten?  Himmel!  wenn das
möglich ist, so werde ich bald gar nicht mehr geliebt sein."--Dieser
Gedanke war zu entsetzlich für ein so völlig eingenommenes Herz, als daß
sie ihn sogleich hätte verbannen können--wie bescheiden macht die wahre
Liebe!--Sie, welche gewohnt gewesen war, in allen Augen die Würkungen
ihres alles besiegenden Reizes zu sehen; sie, welche unter den
Vollkommensten ihres Geschlechts nicht Eine kannte, von der sie jemals in
dem süßen Bewußtsein ihrer Vorzüglichkeit nur einen Augenblick gestört
worden wäre--mit einem Wort--Danae--fing an mit Zittern sich selbst zu
fragen: ob sie auch liebenswürdig genug sei, das Herz eines so
außerordentlichen Mannes in ihren Fesseln zu behalten?  Und wenn gleich
die Eigenliebe sie von Seiten ihres persönlichen Wertes hierüber beruhigte;
so war sie doch nicht ohne Sorgen, daß in ihrem Betragen etwas gewesen
sein möchte, wodurch das Sonderbare in seiner Denkungsart, oder die edle
Zärtlichkeit seiner Empfindungen hätte beleidiget werden können.  Hatte
sie ihm nicht zuviel Beweise von ihrer Liebe gegeben?  Hätte sie ihm
seinen Sieg nicht schwerer machen sollen?  War es sicher, ihn die ganze
Stärke ihrer Leidenschaft sehen zu lassen, und sich wegen der Erhaltung
seines Herzens allein auf die gänzliche Dahingebung des Ihrigen zu
verlassen?--Diese Fragen waren weder spitzfindig noch so leicht zu
beantworten, als manches gute Ding sich einbildet, dem man eine ewige
Liebe geschworen hat, und dessen geringster Kummer nun ist, ob man ihr
werde Wort halten können.  Die schöne Danae kannte die Wichtigkeit
derselben in ihrem ganzen Umfange; und alles was sie sich selbst darüber
sagen konnte, stellte sie doch nicht so zufrieden, daß sie nicht für nötig
befunden hätte, einen gelegnen Augenblick zu belauschen, um sich über alle
ihre Zweifel ins Klare zu setzen; im übrigen sehr überzeugt, daß es ihr
nicht an Mitteln fehlen werde, dem entdeckten übel zu helfen, es möchte
nun auch bestehen, worin es immer wollte.  Agathon ermangelte nicht, ihr
noch an dem nämlichen Tag Gelegenheit dazu zu geben.

Schwermut und Traurigkeit machen die Seele nach und nach schlaff, und
eröffnen sie allen weichen und zärtlichen Regungen.  Dieser Satz ist so
wahr, daß tausend Liebesverbindungen in der Welt keinen andern Ursprung
haben.  Ein Liebhaber verliert einen Gegenstand, den er anbetet; er
ergießt seine Klagen in den Busen einer Freundin, für deren Reizungen er
bisher vollkommen gleichgültig gewesen war--Sie bedauert ihn; er findet
sich dadurch erleichtert, daß er sich frei und ungehindert beklagen kann;
und die Schöne ist erfreut, daß sie Gelegenheit hat, ihr gutes Herz zu
zeigen: Ihr Mitleiden rührt ihn, und erregt seine Aufmerksamkeit: Sobald
eine Frauensperson zu interessieren anfängt, sobald entdeckt man Reizungen
an ihr: Die Regungen, worin beide sich befinden, sind der Liebe günstig;
sie verschönern die Freundin, und blenden die Augen des Freundes: überdem
sucht der Schmerz natürlicher Weise eine Zerstreuung, und ist geneigt sich
an alles zu hängen, was ihm Trost und Linderung verspricht: Eine dunkle
Ahnung neuer Vergnügungen; der Anblick eines Gegenstands, der solche geben
kann; die günstige Gemütsstellung, worin man denselben sieht, auf der
Einen--die Eitelkeit, diese große Treibfeder des weiblichen Herzens; das
Vergnügen, so zu sagen, einen Sieg über eine Nebenbuhlerin davon zu tragen,
indem man liebenswürdig genug ist, ihren Verlust zu ersetzen; die
Begierde, selbst ihr Andenken auszulöschen; vielleicht, auch die
Gutherzigkeit der menschlichen Natur, und das Vergnügen glücklich zu
machen, auf der andern Seite--wie viel Umstände, welche sich vereinigen,
unvermerkt den Freund in einen Liebhaber, und die Vertraute in die
Hauptperson eines neuen Romans zu verwandeln.

In einer Gemütsverfassung von dieser Art befand sich Agathon, als Danae,
welche vernommen hatte, daß er den ganzen Abend in der einsamsten Gegend
des Gartens zugebracht, sich nicht mehr zurückhalten konnte ihn
aufzusuchen.  Sie fand ihn mit halbem Leib auf einer grünen Bank liegen,
das Haupt unterstützt, und so zerstreut, daß sie eine Weile vor ihm stand,
ehe er sie gewahr wurde.  "Du bist traurig, Callias", sagte sie endlich
mit einer gerührten Stimme, indem sie Augen voll mitleidender Liebe auf
ihn heftete.  "Kann ich traurig sein, wenn ich dich sehe?"  erwiderte
Agathon, mit einem Seufzer, welcher seine Frage zu beantworten schien.
Auch gab ihm Danae keine Antwort auf ein so verbindliches Kompliment,
sondern fuhr fort, ihn stillschweigend, aber mit einem Gesicht voll Seele,
und Augen die voller Wasser standen, anzusehen.  Er richtete sich auf, und
sahe sie eine Weile an, als ob er bis in den Grund ihrer Seele schauen
wollte.  Ihre Herzen schienen durch ihre Blicke in einander zu zerfließen.
"Liebest du mich, Danae?" fragte endlich Agathon mit einer von
Zärtlichkeit und Wehmut halberstickten Stimme, indem er einen Arm um sie
schlang, und fortfuhr sie mit wäßrichten Augen anzusehen.  Sie schwieg
eine Zeit lang.  "Ob ich dich liebe?  -" War alles was sie sagen konnte;
aber der Ausdruck, der Ton, womit sie es sagte, hätte durch alle
Beredsamkeit des Demosthenes nicht ersetzt werden können.  "Ach Danae!"
(erwidert Agathon) "ich frage nicht, weil ich zweifle--Kann ich eine
Versichrung, von welcher das ganze Glück meines Lebens abhängt, zu oft von
diesen geliebten Lippen empfangen?  Wenn du mich nicht liebtest--wenn du
aufhören könntest mich zu lieben -" "Was für Gedanken, mein liebster
Callias?" unterbrach sie ihn: "Wie elend wär ich, wenn du sie in deinem
Herzen fändest--wenn dieses dir sagte, daß eine Liebe wie die unsrige
aufhören könne?"--Ein übelverhehlter Seufzer war alles was er antworten
konnte.  "Du bist traurig, Callias", fuhr sie fort; "ein geheimer Kummer
bricht aus allen deinen Zügen hervor--Du begreifst nicht, nein, du
begreifst nicht, was ich leide, dich traurig zu sehen, ohne die Ursache
davon zu wissen.  Wenn mein Vermögen, wenn meine Liebe, wenn mein Leben
selbst hinlänglich ist, sie von dir zu entfernen, mein Geliebter, o!  so
verzögre keinen Augenblick, dein Innerstes mir aufzuschließen -" Der
Ausdruck, die Blicke, der Ton der Stimme, womit sie dieses sagte, rührte
den gefühlvollen Agathon bis zu sprachloser Entzückung.  Er wand seine
Arme um sie, druckte sein Gesicht auf ihre klopfende Brust, und konnte
lange nur durch die Tränen reden, womit er sie benetzte.

Nichts ist ansteckenders als der Affekt einer in Empfindung zerfließenden
Seele.  Danae, ohne die Ursach aller dieser Bewegungen zu wissen, wurde so
sehr von dem Zustand gerührt, worin sie ihren Liebhaber sah, daß sie eben
so sprachlos als er selbst, sympathetische Tränen mit den Seinigen
vermischte.  Diese Szene, welche für den gleichgültigen Leser nicht so
interessant sein kann, als sie es für unsre Verliebten war, dauerte eine
ziemliche Weile.  Endlich faßte sich Agathon, und sagte in einer von
diesen zärtlichen Ergießungen der Seele, an welchen die überlegung keinen
Anteil hat, und worin man keine andre Absicht hat als ein volles Herz zu
erleichtern: "Ich liebe dich zu sehr, unvergleichliche Danae, und fühle zu
sehr, daß ich dich nicht genug lieben kann, um dir länger zu verhehlen,
wer dieser Callias ist, den du, ohne ihn zu kennen, deines Herzens würdig
geachtet hast.  Ich will dir das Geheimnis meines Namens und die ganze
Geschichte meines Lebens, so weit ich in selbiges zurückzusehen vermag,
entdecken; und wenn du alles wissen wirst--ich weiß es, daß ich einer so
großen Seele, wie die deinige, alles entdecken darf--Denn wirst du
vielleicht natürlich finden, daß der flüchtigste Zweifel, ob es möglich
sein könne deine Liebe zu verlieren, hinlänglich ist, mich elend zu machen."
Danae stutzte, wie man sich vorstellen kann, bei einer so unerwarteten
Vorrede; sie sah unsern Helden so aufmerksam an, als ob sie ihn noch nie
gesehen hätte, und verwunderte sich itzt über sich selbst, daß ihr nicht
längst in die Augen gefallen war, daß weit mehr unter ihrem Liebhaber
verborgen sei, als die Nachrichten des Hippias, und die Umstände, worin
sich ihre Bekanntschaft angefangen, vermuten ließen.  Sie dankte ihm auf
die zärtlichste Art für die Probe eines vollkommnen Zutrauens, welche er
ihr geben wolle, und nach einigen vorbereitenden Liebkosungen, womit sie
ihre Dankbarkeit bestätigte, fing Agathon die folgende Erzählung an:



SIEBENTES BUCH



ERSTES KAPITEL

Die erste Jugend des Agathons


"Ich war schon achtzehn Jahre alt, eh ich denjenigen kannte, dem ich mein
Dasein zu danken habe.  Von der ersten Kindheit an, in den Hallen des
delphischen Tempels erzogen, war ich gewöhnt, die Priester des Apollo mit
diesen kindlichen Empfindungen anzusehen, welche das erste Alter über alle,
die für unsre Erhaltung Sorge tragen, zu ergießen pflegt.  Ich war noch
ein kleiner Knabe, als ich schon mit dem geheiligten Gewand, welches die
jungen Diener des Gottes von den Sklaven der Priester unterschied,
bekleidet, und zum Dienst des Tempels, wozu ich gewidmet war, zubereitet
wurde.

Wer Delphi gesehen hat, wird sich nicht verwundern, daß ein Knabe von
gefühlvoller Art, der beinahe von der Wiegen an daselbst erzogen worden,
unvermerkt eine Gemütsbildung bekommen muß, welche ihn von den
gewöhnlichen Menschen unterscheidet.  Außer der besondern Heiligkeit,
welche ein uraltes Vorurteil und die geglaubte Gegenwart des Pythischen
Gottes der ganzen delphischen Landschaft beigelegt hat, war in den
Bezirken des Tempels selbst kein Platz, der nicht von irgend einem
ehrwürdigen oder glänzenden Gegenstand erfüllt, oder durch das Andenken
irgend eines Wunders verherrlichet war.  Wie nun der Anblick so vieler
wundervoller Dinge das erste war, woran meine Augen gewöhnt wurden: So war
die Erzählung wunderbarer Begebenheiten die erste mündliche Unterweisung,
die ich von meinen Vorgesetzten erhielt; eine Art von Unterricht, den ich
nötig hatte, weil es ein Teil meines Berufs sein sollte, den Fremden, von
welchen der Tempel immer angefüllt war, die Gemälde, die Schnitzwerke und
Bilder, und den unsäglichen Reichtum von Geschenken, wovon die Hallen und
Gewölbe desselben schimmerten, zu erklären.

Für ungewohnte Augen ist vielleicht nichts blendenders als der Anblick
eines von so vielen Königen, Städten und reichen Partikularen in ganzen
Jahrhunderten zusammengehäuften Schatzes von Gold, Silber, Edelsteinen,
Perlen, Elfenbein und andern Kostbarkeiten: Für mich, der dieses Anblicks
gewohnt war, hatte die bescheidne Bildsäule eines Solon mehr Reiz, als
alle diese schimmernde Trophäen einer abergläubischen Andacht, welche ich
gar bald mit eben der verachtenden Gleichgültigkeit ansahe, womit ein
Knabe die Puppen und Spielwerke seiner Kindheit anzusehen pflegt.  Noch
unfähig, von den Verdiensten und dem wahren Wert der vergötterten Helden
mir einen echten Begriff zu machen, stand ich oft vor ihren Bildern, und
fühlte, indem ich sie betrachtete, mein Herz mit geheimen Empfindungen
ihrer Größe und mit einer Bewundrung erfüllt, wovon ich keine andre
Ursache als mein innres Gefühl hätte angeben können.  Einen noch stärkern
Eindruck machte auf mich die große Menge von Bildern der verschiednen
Gottheiten, unter welchen unsre Voreltern die erhaltenden Kräfte der Natur,
die manchfaltigen Vollkommenheiten des menschlichen Geistes und die
Tugenden des geselligen Lebens personifiziert haben, und wovon ich im
Tempel und in den Hainen von Delphi mich allenthalben umgeben fand.  Meine
damalige Erfahrung, schöne Danae, hat mich seitdem oftmals auf die
Betrachtung geleitet, wie groß der Beitrag sei, welchen die schönen Künste
zu Bildung des sittlichen Menschen tun können; und wie weislich die
Priester der Griechen gehandelt, da sie die Musen und Grazien, deren
Lieblinge ihnen so große Dienste getan, selbst unter die Zahl der
Gottheiten aufgenommen haben.  Der wahre Vorteil der Religion, in so fern
sie eine besondere Angelegenheit des priesterlichen Ordens ist, scheinet
von der Stärke der Eindrücke abzuhängen, die wir in denjenigen Jahren
empfangen, worin wir noch unfähig sind, Untersuchungen anzustellen.
Würden unsre Seelen in Absicht der Götter und ihres Dienstes von der
Kindheit an leere Tafeln gelassen, und anstatt der unsichern und
verworrenen aber desto lebhaftern Begriffe, welche wir durch Fabeln und
Wunder-Geschichte, und in etwas zunehmendem Alter durch die Musik und die
abbildenden Künste von den übernatürlichen Gegenständen bekommen, allein
mit den unverfälschten Eindrücken der Natur und den Grundsätzen der
Vernunft überschrieben; so ist sehr zu vermuten, daß der Aberglaube noch
größere Mühe haben würde, die Vernunft--als, in dem Falle, worin die
meisten sich befinden, die Vernunft Mühe hat, den Aberglauben von der
einmal eingenommenen Herrschaft zu verdrängen.  Der größte Vorteil, den
dieser über jene hat, hanget davon ab, daß er ihr zuvorkommt.  Aber wie
leicht wird es ihm alsdenn sich einer noch unmündigen Seele zu bemeistern,
wenn alle diese zauberische Künste, welche die Natur im Nachahmen selbst
zu übertreffen scheinen, ihre Kräfte vereinigen, die entzückten Sinnen zu
überraschen?  Wie natürlich muß es demjenigen werden die Gottheit des
Apollo zu glauben, ja endlich sich zu bereden, daß er ihre Gegenwart und
Einflüsse fühle, der in einem Tempel aufgewachsen ist, dessen erster
Anblick das Werk und die Wohnung eines Gottes ankündet?  Demjenigen, der
gewohnt ist den Apollo eines Phidias vor sich zu sehen, und das mehr als
menschliche, welches die Kenner so sehr bewundern, der Natur des
Gegenstands, nicht dem schöpferischen Geiste des Künstlers zuzuschreiben?

So viel ich die Natur unsrer Seele kenne, deucht mich, daß sich in einer
jeden, die zu einem gewissen Grade von Entwicklung gelangt, nach und nach
ein gewisses idealisches Schöne bilde, welches (auch ohne daß man sich's
bewußt ist) unsern Geschmack und unsre sittliche Urteile bestimmt, und das
Modell abgibt, wornach unsre Einbildungskraft die besondern Bilder dessen
was wir groß, schön und vortrefflich nennen, zu entwerfen scheint.  Dieses
idealische Modell formiert sich (wie mich itzo wenigstens deucht, nachdem
neue Erfahrungen mich auf neue oder erweiterte Betrachtungen geleitet
haben) aus der Beschaffenheit und dem Zusammenhang der Gegenstände, worin
wir zu leben anfangen.

Daher (wie die Erfahrung zu bestätigen scheint) so viele besondere
Denk--und Sinnesarten als man verschiedene Erziehungen und Stände in der
menschlichen Gesellschaft antrifft.  Daher der Spartanische Heldenmut, die
Attische Urbanität, und der aufgedunsene Stolz der Asiaten; daher die
Verachtung des Geometers für den Dichter, oder des spekulierenden
Kaufmanns gegen die Spekulationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar
scheinen, weil sie sich in keine Darici verwandeln wie die seinigen; daher
der grobe Materialismus des plumpen Handwerkers, der rauhe Ungestüm des
Seefahrers, die mechanische Unempfindlichkeit des Soldaten, und die
einfältige Schlauheit des Landvolks; daher endlich, schöne Danae, die
Schwärmerei, welche der weise Hippias deinem Callias vorwirft; diese
Schwärmerei, die ich vielleicht in einem minder erhabnen Licht sehe,
seitdem ich ihre wahre Quelle entdeckt zu haben glaube; aber die ich
nichts desto weniger für diejenige Gemütsbeschaffenheit halte, welche uns,
unter den nötigen Einschränkungen, glücklicher als irgend eine andre
machen kann.

Du begreifest leicht, schöne Danae, daß unter lauter Gegenständen, welche
über die gewöhnliche Natur erhaben, und selbst schon idealisch sind, jenes
phantastische Modell, dessen ich vorhin erwähnte, in einem so
ungewöhnlichen Grade abgezogen und überirdisch werden mußte, daß bei
zunehmendem Alter alles was ich würklich sah, weit unter demjenigen war,
was sich meine Einbildungskraft zu sehen wünschte.  In dieser
Gemütsverfassung war ich, als einer von den Priestern zu Delphi aus
Absichten, welche sich erst in der Folg' entwickelten, es übernahm, mich
in den Geheimnissen der Orphischen Philosophie einzuweihen; der einzigen,
die von unsern Priestern hochgeachtet wurde, weil sie die Vernunft selbst
auf ihre Partei zu ziehen, und den Glauben von dessen unbeweglichem
Ansehen das ihrige abhing, einen festern Grund als die Tradition und die
Fabeln der Dichter, zu geben schien.

Nichts, was ich jemals empfunden habe, gleicht der Entzückung, in die ich
hingezogen wurde, als ich in den Händen dieses Egyptiers, der die geheime
Götterlehre seiner Nation zu uns gebracht hat, in das Reich der Geister
eingeführt, und zu einer Zeit, da die erhabensten Gemälde Homers und
Pindars ihren Reiz für mich verloren hatten, mitten in der materiellen
Welt mir eine Neue, mit lauter unsterblichen Schönheiten erfüllt, und von
lauter Göttern bewohnt, eröffnet wurde.

Das Alter, worin ich damals war, ist dasjenige, worin wir, aus dem langen
Traum der Kindheit erwachend, uns selbst zuerst zu finden glauben, die
Welt um uns her mit erstaunten Augen betrachten, und neugierig sind, unsre
eigne Natur und den Schauplatz, worauf wir uns ohn unser Zutun versetzt
sehen, kennen zu lernen.  Wie willkommen ist uns in diesem Alter eine
Philosophie, welche den Vorteil unsrer Wissensbegierde mit dieser Neigung
zum Wunderbaren und dieser arbeitscheuen Flüchtigkeit, welche der Jugend
eigen sind, vereiniget, welche alle unsre Fragen beantwortet, alle Rätsel
erklärt, alle Aufgaben auflöset; eine Philosophie, welche destomehr mit
dem warmen und gefühlvollen Herzen der Jugend sympathisiert, weil sie
alles Unempfindliche und Tote aus der Natur verbannet, und jeden Atom der
Schöpfung mit lebenden und geistigen Wesen bevölkert, jeden Punkt der Zeit
mit verborgnen Begebenheiten und großen Szenen befruchtet, welche für
künftige Ewigkeiten heranreifen; ein System, welches die Schöpfung so
unermeßlich macht, als ihr Urheber ist; welches uns in der anscheinenden
Verwirrung der Natur eine majestätische Symmetrie, in der Regierung der
moralischen Welt einen unveränderlichen Plan, in der unzählbaren Menge von
Klassen und Geschlechtern der Wesen einen einzigen Staat, in den
verwickelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Richtpunkt, in
unsrer Seele einen künftigen Gott, in der Zerstörung unsers Körpers die
Wiedereinsetzung in unsre ursprüngliche Vollkommenheit, und in dem
nachtvollen Abgrund der Zukunft helle Aussichten in grenzenlose Wonne
zeigt?  Ein solches System ist zu schön an sich selbst, zu schmeichelhaft
für unsern Stolz, unsern innersten Wünschen und wesentlichsten Trieben zu
angemessen, als daß wir es in einem Alter, wo alles Große und Rührende so
viel Macht über uns hat, nicht beim ersten Anblick wahr finden sollten.
Vermutungen und Wünsche werden hier zu desto stärkern Beweisen, da wir in
dem bloßen Anschauen der Natur zuviel Majestät, zuviel Geheimnisreiches
und Göttliches zu sehen glauben, um besorgen zu können, daß wir jemals
zugroß von ihr denken möchten.  Und, soll ich dirs gestehen, schöne
Danae?  Selbst itzt, da mich glückliche Erfahrungen das Schwärmende und
Unzuverlässige dieser Art von Philosophie gelehrt haben, fühle ich mit
einer innerlichen Gewalt, die sich gegen jeden Zweifel empört, daß diese
übereinstimmung mit unsern edelsten Neigungen, welche ihr das Wort redet,
der rechte Stempel der Wahrheit ist, und daß selbst in diesen Träumen,
welche dem materialischen Menschen so ausschweifend scheinen, für unsern
Geist mehr Würklichkeit, mehr Unterhaltung und Aufmunterung, eine reichere
Quelle von ruhiger Freude und ein festerer Grund der Selbstzufriedenheit
liegt, als in allem was die Sinne uns angenehmes und Gutes anzubieten
haben.  Doch ich erinnere mich, daß es die Geschichte meiner Seele, und
nicht die Rechtfertigung meiner Denkensart ist, wozu ich mich anheischig
gemacht habe.  Es sei also genug, wenn ich sage, daß die Lehrsätze des
Orpheus und des Pythagoras, von den Göttern, von der Natur, von unsrer
Seele, von der Tugend, und von dem was das höchste Gut des Menschen ist,
sich meines Gemüts so gänzlich bemeisterten, daß alle meine Begriffe nach
diesem Urbilde gemodelt, alle meine Reizungen davon beseelt, und mein
ganzes Betragen, so wie alle meine Entwürfe für die Zukunft, mit dem Plan
eines nach diesen Grundsätzen abgemessenen Lebens, dessen Beurteilung mich
unaufhörlich in mir selbst beschäftigte, übereinstimmig waren."



ZWEITES KAPITEL

En animam & mentem cum qua Di nocte loquantur!


"Der Priester, der sich zu meinem Mentor aufgeworfen hatte, schien über
den außerordentlichen Geschmack, den ich an seinen erhabnen Unterweisungen
fand, sehr vergnügt zu sein, und ermangelte nicht, meinen Enthusiasmus bis
auf einen Grad zu erhöhen, welcher mich, seiner Meinung nach, alles zu
glauben und alles zu leiden fähig machen müßte.  Ich war zu jung und zu
unschuldig, um das kleinste Mißtrauen in seine Bemühungen zu setzen, bei
welchen die Aufrichtigkeit meines eignen Herzens die edelsten Absichten
voraussetzte.  Er hatte die Vorsicht gebraucht, es so einzuleiten, daß ich
endlich aus eigner Bewegung auf die Frage geraten mußte, ob es nicht
möglich sei, schon in diesem Leben mit den höhern Geistern in Gemeinschaft
zu kommen?  Dieser Gedanke beschäftigte mich lange bei mir selbst; ich
fand möglich, was ich mit der größesten Lebhaftigkeit wünschte.  Die
Geschichte der ersten Zeiten schien meine Hoffnung zu bestätigen.  Die
Götter hatten sich den Menschen bald in Träumen, bald in Erscheinungen
entdeckt; verschiedene waren so gar glücklich genug gewesen, Günstlinge
der Götter zu sein.  Hier kam mir Ganymed, Endymion und so viele andre zu
statten, welche von Gottheiten geliebt worden waren.  Ich gab demjenigen,
was die Dichter davon erzählen, eine Auslegung, welche den erhabenen
Begriffen gemäß war, die ich von den höhern Wesen gefasset hatte; die
Schönheit und Reinigkeit der Seele, die Abgezogenheit von den Gegenständen
der Sinne, die Liebe zu den unsterblichen und ewigen Dingen, schien mir
dasjenige zu sein, was diese Personen den Göttern angenehm, und zu ihrem
Umgang geschickt gemacht hatte.  Ich entdeckte endlich dem Theogiton (so
hieß der Priester) meine lange geheim gehaltene Gedanken.  Er erklärte
sich auf eine Art darüber, welche meine Neubegierde rege machte, ohne sie
zu befriedigen; er ließ mich merken, daß dieses Geheimnisse seien, welche
er Bedenken trage, meiner Jugend anzuvertrauen: Doch sagte er mir, daß die
Möglichkeit der Sache keinem Zweifel unterworfen sei, und bezauberte mich
ganz mit dem Gemälde, so er mir von der Glückseligkeit derjenigen machte,
welche von den Göttern würdig geachtet würden, zu ihrem geheimen Umgang
zugelassen zu werden.  Die geheimnisvolle Miene, die er annahm, so bald
ich nach den Mitteln hiezu zu gelangen fragte, bewog mich, den Vorsatz zu
fassen, zu warten, bis er selbst für gut finden würde, sich deutlicher zu
entdecken.  Er tat es nicht; aber er machte so viele Gelegenheiten, meine
erregte Neugierigkeit zu entflammen, daß ich mich nicht lange enthalten
konnte, neue Fragen zu tun.  Endlich führte er mich einsmals tief im
geheiligten Hain des Apollo in eine Grotte, welche ein uralter Glaube der
Bewohner des Landes von den Nymphen bewohnt glaubte, deren Bilder, aus
Zypressenholz geschnitzt, in Blinden von Muschelwerk das Innerste der
Höhle zierten.

Hier ließ er mich auf eine bemooste Bank niedersetzen, und fing nach einer
viel versprechenden Vorrede an, mir, wie er sagte, das geheime Heiligtum
der göttlichen Philosophie des Hermes und Orpheus aufzuschließen.
Unzähliche religiöse Waschungen, und eine Menge von Gebeten, Räucherungen
und andre geheimen Anstalten mußten vorhergehen, einen noch in irdische
Glieder gefesselten Geist zum Anschauen der himmlischen Naturen
vorzubereiten.  Und auch alsdenn würde unser sterblicher Teil den Glanz
der göttlichen Vollkommenheit nicht ertragen, sondern (wie die Dichter
unter der Geschichte der Semele zu erkennen gegeben) gänzlich davon
verzehrt und vernichtet werden, wenn sie sich nicht mit einer Art von
körperlichem Schleier umhüllen, und durch diese Herablassung uns nach und
nach fähig machen würden, sie endlich selbst, entkörpert und in ihrer
wesentlichen Gestalt anzuschauen.  Ich war einfältig genug alle diese
vorgegebene Geheimnisse für echt zu halten; ich hörte dem ernsten
Theogiton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir seine
Unterweisungen so wohl zu Nutze, daß ich Tag und Nacht an nichts anders
dachte als an die außerordentliche Dinge, wovon ich in kurzem die
Erfahrung bekommen würde.

Du kannst dir einbilden, Danae, ob meine Phantasie in dieser Zeit müßig
war.  Ich würde nicht fertig werden, wenn ich alles beschreiben wollte,
was damals in ihr vorging, und mit welch einer Zauberei sie mich in meinen
Träumen bald in die glücklichen Inseln, welche Pindar so prächtig
schildert, bald zum Gastmahl der Götter, bald in die Elysischen Täler, der
Wohnung seliger Schatten, versetzte.

So seltsam es klingt, so gewiß ist es doch, daß die Kräfte der Einbildung
dasjenige weit übersteigen, was die Natur unsern Sinnen darstellt: Sie hat
etwas glänzenders als Sonnenglanz, etwas lieblichers als die süßesten
Düfte des Frühlings zu ihren Diensten, unsre innern Sinnen in Entzückung
zu setzen; sie hat neue Gestalten, höhere Farben, vollkommnere Schönheiten,
schnellere Veranstaltungen, eine neue Verknüpfung der Ursachen und
Würkungen, eine andere Zeit--kurz, sie erschafft eine neue Natur, und
versetzt uns in der Tat in fremde Welten, welche nach ganz andern Gesetzen
als die unsrige regiert werden.  In unsrer ersten Jugend sind wir noch zu
unbekannt mit den Triebfedern unsers eignen Wesens, um deutlich einzusehen,
wie sehr diese scheinbare Magie der Einbildungskraft in der Tat natürlich
ist.  Wenigstens war ich damals leichtgläubig genug, Träume von dieser Art,
übernatürlichen Einflüssen beizumessen, und sie für Vorboten der
Wunderdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu erfahren hoffte.

Einsmals, als ich nach der Vorschrift des Theogitons acht Tage lang mit
geheimen Zeremonien und Weihungen, und in einer unablässigen Anstrengung
mein Gemüt von allen äußerlichen Gegenständen abzuziehen, zugebracht hatte,
und mich nunmehr berechtiget hielt, etwas mehr zu erwarten, als was mir
bisher begegnet war, begab ich mich in später Nacht, da alles schlief, in
die Grotte der Nymphen, und nachdem ich eine Menge von schwülstigen
Liedern und Anrufungsformeln hergesagt hatte, legte ich mich, mit dem
Angesicht gegen den vollen Mond gekehrt, welcher eben damals in die Grotte
schien, auf die Ruhebank zurück, und überließ mich der Vorstellung, wie
mir sein würde, wenn Luna aus ihrer Silbersphäre herabsteigen, und mich zu
ihrem Endymion machen würde.  Mitten in diesen ausschweifenden
Vorstellungen, unter denen ich allmählich zu entschlummern anfing, weckte
mich plötzlich ein liebliches Getön, welches in einiger Entfernung über
mir zu schweben schien, und wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von
Saitenspiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen pflegt.  Einem
natürlich gestimmten Menschen würde gedeucht haben, er höre ein gutes
Stück von einer geschickten Hand ausgeführt; und so hätte er sich nicht
betrügen können.  Aber in der Verfassung, worin ich damals war, hätte ich
vielleicht das Gequäke eines Chors von Fröschen für den Gesang der Musen
gehalten.  Die Musik, die ich hörte, rührte, fesselte, entzückte mich; sie
übertraf, meiner eingebildeten Empfindung nach (denn die Phantasie hat
auch ihre Empfindungen,) alles was ich jemals gehört hatte; nur Apollo,
der Vater der Harmonie, dessen Laute die Sphären ihre Götter-vergnügende
Harmonien gelehrt hatte, konnte so überirdische Töne hervorbringen.  Meine
Seele schien davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen zu werden, und, lauter
Ohr, über den Wolken zu schweben; als diese Musik plötzlich aufhörte, und
mich in einer Verwirrung von Gedanken und Gemütsregungen zurückließ, die
mir diese ganze Nacht kein Auge zu schließen, gestattete.

Des folgenden Tages erzählte ich dem Theogiton, was mir begegnet war.  Er
schien nichts sehr besonders daraus zu machen; doch gab er, nachdem er
mich um alle Umstände befragt hatte, zu, daß es Apollo, oder eine von den
Musen gewesen sein könne.  Du wirst lächeln, Danae, wenn ich dir gestehe,
daß ich, so jung ich war, und ohne mir selbst recht bewußt zu sein, warum?
doch lieber gesehen hätte, wenn es eine Muse gewesen wäre.  Ich unterließ
nun keine Nacht, mich in der Grotte einzufinden, um die vermeinte Muse
wieder zu hören: Aber meine Erwartung betrog mich; es war Apollo selbst.
Nach etlichen Nächten, worin ich mich mit der stummen Gegenwart der
Nymphen von Zypressenholz hatte begnügen müssen, kündigte mir ein heller
Schein, der auf einmal in die Grotte fiel, und durch die allgemeine
Dunkelheit und meinen Wahnwitz zu einem überirdischen Licht erhoben wurde,
irgend eine außerordentliche Begebenheit an.  Urteile, wie bestürzt ich
war, als ich mitten in der Nacht, den Gott des Tages, auf einer
hellglänzenden Wolke sitzend, vor mir sah, der sich mir zu lieb den Armen
der schönen Thetis entrissen hatte.  Goldgelbe Locken flossen um seine
weißen Schultern; eine Krone von Strahlen schmückte seine Scheitel; das
silberne Gewand, das ihn umfloß, funkelte von tausend Edelsteinen; und
eine goldne Leier lag in seinem linken Arm.  Meine Einbildung tat das
übrige hinzu, was zu Vollendung einer idealischen Schönheit nötig war.
Allein Bestürzung und Ehrfurcht erlaubte mir nicht, dem Gott genauer ins
Gesicht zu sehen; ich glaubte geblendet zu sein, und den Glanz von Augen,
welche die ganze Welt erleuchteten, nicht ertragen zu können.  Er redete
mich an; er bezeugte mir sein Wohlgefallen an meinem Dienst, und an der
feurigen Begierde, womit ich, mit Verachtung der irdischen Dinge mich den
himmlischen widmete.  Er munterte mich auf, in diesem Wege fortzugehen,
und mich den Einflüssen der Unsterblichen leidend zu überlassen; mit der
Versicherung, daß ich bestimmt sei, die Anzahl der Glücklichen zu
vermehren, welche er seiner besondern Gunst gewürdiget habe.  Er
verschwand, indem er diese Worte sagte, so plötzlich, daß ich nichts dabei
beobachten konnte; und so voreingenommen als mein Gemüt war, hätte dieser
Apollo seine Rolle viel ungeschickter spielen können, ohne daß mir ein
Zweifel gegen seine Gottheit aufgestiegen wäre.  Theogiton, dem ich von
dieser Erscheinung Nachricht gab, wünschte mir Glück dazu, und sagte mir
von den alten Helden unsrer Nation, welche einst Lieblinge der Götter
gewesen, und nun als Halbgötter selbst Altäre und Priester hätten, so viel
herrliche Sachen vor, als er nötig erachten mochte, meine Betörung
vollkommen zu machen.  Am Ende vergaß er nicht, mir Anweisung zu geben,
wie ich mich bei einer zweiten Erscheinung gegen den Gott zu verhalten
hätte.  Insonderheit ermahnte er mich, mein Urteil über alles
zurückzuhalten, mich durch nichts befremden zu lassen, und der Vorschrift
unsrer Philosophie immer eingedenk zu bleiben, welche eine gänzliche
Untätigkeit von uns fodert, wenn die Götter auf uns würken sollen.  Man
mußte so unerfahren sein, als ich war, um keine Schlange unter diesen
Blumen zu merken.  Nichts als die Entwicklung dieser heiligen Mummerei
konnte mir die Augen öffnen.  Ich konnte unmöglich aus mir selbst auf den
Argwohn geraten, daß die Zuneigung einer Gottheit eigennützig sein könne.
Ich hatte vielmehr gehofft, die größesten Vorteile für meine
Wissens-Begierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als menschlichen Vorzügen
begabt zu werden.  Die Erklärungen des Apollo befremdeten mich endlich,
und seine Handlungen noch mehr; zuletzt entdeckte ich, was du schon lange
vorher gesehen haben mußt, daß der vermeinte Gott kein andrer als
Theogiton selber war; welcher, sobald er sein Spiel entdeckt sah, auf
einmal die Sprache änderte, und mich bereden wollte, daß er diese Komödie
nur zu dem Ende angestellt habe, um mich von der Eitelkeit der Theosophie,
in die er mich so verliebt gesehen hätte, desto besser überzeugen zu
können.  Er zog die Folge daraus: Daß alles, was man von den Göttern
sagte, Erfindungen schlauer Köpfe wären, womit sie Weiber und
leichtgläubige Knaben in ihr Netz zu ziehen suchten; Kurz, er wandte alles
an, was eine unsittliche Leidenschaft einem schamlosen Verächter der
Götter eingeben kann, um die Mühe einer so wohl ausgesonnenen und mit so
vielen Maschinen aufgestützten Verführung nicht umsonst gehabt zu haben.
Ich verwies ihm seine Bosheit mit einem Zorne, der mich stark genug machte,
mich von ihm loszureißen.  Des folgenden Tags hatte er die
Unverschämtheit, die priesterlichen Verrichtungen mit eben der
heuchlerischen Andacht fortzusetzen, womit er mich und jeden andern bisher
hintergangen hatte.  Er ließ nicht die geringste Veränderung in seinem
Betragen gegen mich merken, und schien sich des Vergangenen eben so wenig
zu erinnern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken hätte.  Diese
Aufführung vermehrte meine Unruhe sehr; ich konnte noch nicht begreifen,
daß es Leute geben könne, welche, mitten in den Ausschweifungen des
Lasters, Ruhe und Heiterkeit, die natürlichen Gefährten der Unschuld,
beizubehalten wissen.  Allein in weniger Zeit darauf befreite mich die
Unvorsichtigkeit dieses Betrügers von den Besorgnissen, worin ich seit der
Geschichte in der Grotte geschwebet hatte.  Theogiton verschwand aus
Delphi, ohne daß man die eigentliche Ursache davon erfuhr.  Aus dem, was
man sich in die Ohren murmelte, erriet ich, daß Apollo endlich überdrüssig
geworden sein möchte, seine Person von einem andern spielen zu lassen.
Einer von unsern Knaben, der ein Verwandter des Ober-Priesters war, hatte
(wie man sagte) den Anlaß dazu gegeben.

Diese Begebenheiten führten mich natürlicher Weise auf viele neue
Betrachtungen; aber meine Neigung zum Wunderbaren und meine
Lieblings-Ideen verloren nichts dabei; sie gewannen vielmehr, indem ich
sie nun in mich selbst verschloß, und die Unsterblichen allein zu Zeugen
desjenigen machte, was in meiner Seele vorging.  Ich fuhr fort, die
Verbesserung derselben nach den Grundsätzen der Orphischen Philosophie
mein vornehmstes Geschäfte sein zu lassen.  Ich fing nun an zu glauben,
daß keine andre als eine idealische Gemeinschaft zwischen den Höhern Wesen
und den Menschen möglich sei; daß nichts als die Reinigkeit und Schönheit
unsrer Seele vermögend sei, uns zu einem Gegenstande des Wohlgefallens
jenes Unnennbaren, Allgemeinen, Obersten Geistes zu machen, von welchem
alle übrige, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht und die ganze Natur
ihre Schönheit und unwandelbare Ordnung erhalten; und daß endlich in der
übereinstimmung aller unsrer Kräfte, Gedanken und geheimsten Neigungen mit
den großen Absichten und den allgemeinen Gesetzen dieses Beherrschers der
sichtbaren und unsichtbaren Welt, das wahre Geheimnis liege, zu derjenigen
Vereinigung mit demselben zu gelangen, welche ich für die natürliche
Bestimmung und das letzte Ziel aller Wünsche eines unsterblichen Wesens
ansah.  Beides, jene geistige Schönheit der Seele und diese erhabene
Richtung ihrer Würksamkeit nach den Absichten des Gesetzgebers der Wesen,
glaubte ich am sichersten durch die Betrachtung der Natur zu erhalten;
welche ich mir als einen Spiegel vorstellte, aus welchem das Wesentliche,
Unvergängliche und Göttliche in unsern Geist zurückstrahle, und ihn nach
und nach eben so durchdringe und erfülle, wie die Sonne einen
angestrahlten Wasser-Tropfen.  Ich überredete mich, daß die unverrückte
Beschauung der Weisheit und Güte, welche so wohl aus der besondern Natur
eines jeden Teils der Schöpfung, als aus dem Plan und der allgemeinen
ökonomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare Mittel sei, selbst weise
und gut zu werden.  Ich brachte alle diese Grundsätze in Ausübung.  Jeder
neue Gedanke, der sich in mir entwickelte, wurde zu einer Empfindung
meines Herzens; und so lebte ich in einem stillen und lichtvollen Zustand
des Gemüts, dessen ich mich niemals anders als mit wehmütigem Vergnügen
erinnern werde, etliche glückliche Jahre hin; unwissend (und glücklich
durch diese Unwissenheit) daß dieser Zustand nicht dauern könne; weil die
Leidenschaften des reifenden Alters, und (wenn auch diese nicht wären) die
unvermeidliche Verwicklung in dem Wechsel der menschlichen Dinge jene
Fortdauer von innerlicher Heiterkeit und Ruhe nicht gestatten, welche nur
ein Anteil entkörperter Wesen sein kann."



DRITTES KAPITEL

Die Liebe in verschiedenen Gestalten


"Inzwischen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und fing nun an,
mitten unter den angenehmen Empfindungen, von denen meine Denkungs-Art und
meine Beschäftigungen unerschöpfliche Quellen zu sein schienen, ein Leeres
in mir zu fühlen, welches sich durch keine Ideen ausfüllen lassen wollte.
Ich sah die manchfaltigen Szenen der Natur wie mit neuen Augen an; ihre
Schönheiten hatten für mich etwas Herz-rührendes, welches ich sonst nie
auf diese Art empfunden hatte.  Der Gesang der Vögel im Haine schien mir
was zu sagen, das er mir nie gesagt hatte, ohne daß ich wußte, was es war;
und die neu belaubten Wälder schienen mich einzuladen, in ihren Schatten
einer wollüstigen Schwermut nachzuhängen, von welcher ich mitten in den
erhabensten Betrachtungen wider meinen Willen überwältiget wurde.  Nach
und nach verfiel ich in eine weichliche Untätigkeit: Mich deuchte, ich sei
bisher nur in der Einbildung glücklich gewesen; und mein Herz sehnete sich
nach einem Gegenstand, in welchem ich jene idealische Vollkommenheiten
würklich genießen möchte, an denen ich mich bisher nur wie an einem
geträumten Gastmahle geweidet hatte.  Damals zuerst stellten sich mir die
Reizungen der Freundschaft in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit
dar: Ein Freund (bildete ich mir ein) ein Freund würde diese geheime
Sehnsucht meines Herzens befriedigen.  Meine Phantasie malte sich einen
Pylades aus, und mein verlangendes Herz bekränzte dieses schöne Bild mit
allem, was mir das Liebenswürdigste schien, selbst mit jenen äußerlichen
Annehmlichkeiten, welche in meinem System den natürlichen Schmuck der
Tugend ausmachten.  Ich suchte diesen Freund unter der blühenden Jugend,
welche mich umgab.  Mehr als einmal betrog mich mein Herz, ihn gefunden zu
haben; aber eine kurze Erfahrung machte mich meines Irrtums bald gewahr
werden.  Unter einer so großen Anzahl von auserlesenen Jünglingen, welche
die Liverei des Gottes zu Delphi trugen, war nicht ein einziger, den die
Natur so vollkommen mit mir zusammen gestimmt hatte, als die
Spitzfindigkeit meiner Begriffe es erfoderte.

Um diese Zeit geschah es, daß ich das Unglück hatte, der Ober-Priesterin
eine Neigung einzuflößen, welche mit ihrem geheiligten Stande und mit
ihrem Alter einen gleich starken Absatz machte; sie hatte mich schon seit
geraumer Zeit mit einer vorzüglichen Gütigkeit angesehen, welche ich, so
lang ich konnte, einer mütterlichen Gesinnung beimaß, und mit aller der
Ehrerbietung erwiderte, die ich der Vertrauten des Delphischen Gottes
schuldig war.  Stelle dir vor, schöne Danae, was für ein Modell zu einer
Bild-Säule des Erstaunens ich abgegeben hätte, als sich eine so ehrwürdige
Person herabließ, mir zu entdecken, daß alle Vertraulichkeit, die ich
zwischen ihr und dem Apollo voraussetzte, nicht zureiche, sie über die
Schwachheiten der gemeinsten Erden-Töchter hinwegzusetzen.  Die gute Dame
war bereits in demjenigen Alter, worin es lächerlich wäre, das Herz eines
Mannes von einiger Erfahrung einer jungen Nebenbuhlerin streitig machen zu
wollen.  Allein einem Neuling, wofür sie mich mit gutem Grund ansah, die
ersten Unterweisungen zu geben, dazu konnte sie sich ohne übertriebene
Eitelkeit für reizend genug halten.  Sie war zu den Zeiten des Heiligen
Kriegs in der Blüte ihrer Schönheit gewesen; hatte sich aber, wie die
meisten ihres Standes, so gut erhalten, daß sie noch immer Hoffnung haben
konnte, in einer Versammlung herbstlicher Schönheiten vorzüglich bemerkt
zu werden.  Setze zu diesen ehrwürdigen überbleibseln einer vormals
berühmten Schönheit eine Figur, wie man die blonde Ceres zu bilden pflegt,
große schwarze Augen, unter deren affektiertem Ernst eine wollüstige Glut
hervorglimmte, und zu allem diesem eine ungemeine Sorgfalt für ihre Person,
und die schlaue Kunst, die Vorteile ihrer Reizungen mit der strengen
Sittsamkeit ihrer priesterlichen Kleidung zu verbinden: so kannst du dir
eine genugsame Vorstellung von dieser Pythia machen, um den Grad der
Gefahr abnehmen zu können, worin sich die Einfalt meiner Jugend bei ihren
Nachstellungen befand.

Es ist leicht zu erachten, wie viel es sie Mühe kosten mußte, die ersten
Schwierigkeiten zu überwinden, welche ein mehr Ehrfurcht als Liebe
einflößendes Frauenzimmer, in den hartnäckigen Vorurteilen eines
achtzehnjährigen Jünglings findet.  Ihr Stand erlaubte ihr nicht, sich
deutlich zu erklären; und meine Blödigkeit verstand die Sprache nicht,
deren sie sich zu bedienen genötigt war.  Zwar braucht man sonst zu dieser
Sprache keinen andern Lehrmeister als sein Herz; allein unglücklicher
Weise sagte mir mein Herz nichts.  Es bedurfte der lange geübten Geduld
einer bejahrten Priesterin, um nicht tausendmal das Vorhaben aufzugeben,
einem Menschen, der aus lauter Ideen zusammengesetzt war, ihre Absichten
begreiflich zu machen.  Und dennoch fand sie sich endlich genötigt, sich
des einzigen Kunstgriffs zu bedienen, von dem man in solchen Fällen eine
gewisse Würkung erwarten kann; sie hatte noch Reizungen, welche die
ungewohnten Augen eines Neulings blenden konnten.  Die Verwirrung, worein
sie mich durch den ersten Versuch von dieser Art gesetzt sah, schien ihr
von guter Vorbedeutung zu sein; und vielleicht hätte sie sich weniger in
ihrer Erwartung betrogen, wenn nicht ein Umstand, von dem ihr nichts
bekannt war, meinem Herzen eine mehr als gewöhnliche Stärke gegeben hätte.

Unsre Tugend, oder diejenigen Würkungen, welche das Ansehen haben, aus
einer so edeln Quelle zu fließen, haben insgemein geheime Triebfedern, die
uns, wenn sie gesehen würden, wo nicht alles, doch einen großen Teil
unsers Verdienstes dabei entziehen würden.  Wie leicht ist es, der
Versuchung einer Leidenschaft zu widerstehen, wenn ihr von einer stärkern
die Waage gehalten wird?

Kurz zuvor, eh die schöne Pythia ihren physikalischen Versuch machte, war
das Fest der Diana eingefallen, welches zu Delphi mit aller der
Feierlichkeit begangen wird, die man der Schwester des Apollo schuldig zu
sein vermeint.  Alle Jungfrauen über vierzehn Jahre erschienen dabei in
schneeweißem Gewand, mit aufgelösten fliegenden Haaren, den Kopf und die
Arme mit Blumen-Kränzen umwunden, und sangen Hymnen zum Preis der
jungfräulichen Göttin.  Auch alte halb verloschne Augen heiterten sich
beim Anblick einer so zahlreichen Menge junger Schönen auf, deren
geringster Reiz die frischeste Blum der Jugend war.  Urteile, schöne Danae,
ob derjenige, den der bunte Schimmer eines blühenden Blumen-Stücks schon
in eine Art von Entzückung setzte, bei einem solchen Auftritt
unempfindlich bleiben konnte?  Meine Blicke irrten in einer zärtlichen
Verwirrung unter diesen anmutsvollen Geschöpfen herum; bis sie sich
plötzlich auf einer einzigen sammelten, deren erster Anblick meinem Herzen
keinen Wunsch übrig ließ, etwas anders zu sehen.  Vielleicht würde mancher
sie unter so vielen Schönen kaum besonders wahrgenommen haben; denn der
schönste Wuchs, die regelmäßigsten Züge, langes Haar, dessen wallende
Locken bis zu den Knien herunterflossen, und eine Farbe, welche Lilien und
Rosen, wenn sie ihre eigene Schönheit fühlen könnten, beschämt hätte, alle
diese Reizungen waren ihr mit ihren Gespielen gemein; viele übertrafen sie
noch in einem und dem andern Stücke der Schönheit, und wenn ein Maler
unter der ganzen Schar hätte entscheiden sollen, welche die Schönste sei,
so würde sie vielleicht übergangen worden sein; allein mein Herz urteilte
nicht nach den Regeln der Kunst.  Ich empfand, oder glaubte zu empfinden,
(und dieses ist in Absicht der Würkung allemal eins) daß nichts
liebenswürdigers als dieses junge Mädchen sein könne, ohne daß ich daran
gedachte, sie mit den übrigen zu vergleichen; sie löschte alles andre aus
meinen Augen aus.  So (dacht ich) müßte die Unschuld aussehen, wenn sie,
um sichtbar zu werden, die Gestalt einer Grazie entlehnte; so rührend
würden ihre Gesichts-Züge sein; so still-heiter würden ihre Augen; so
holdselig ihre Wangen lächeln; so würden ihre Blicke, so ihr Gang, so jede
ihrer Bewegungen sein.  Dieser Augenblick brachte in meiner Seele eine
Veränderung hervor, welche mir, da ich in der Folge fähig wurde, über
meinen Zustand zu denken, dem übergang in eine neue und vollkommnere Art
des Daseins gleich zu sein schien.  Aber damals war ich zu stark gerührt,
zu sehr von Empfindungen verschlungen, um mir meiner selbst recht bewußt
zu sein.  Meine Entzückung ging so weit, daß ich nichts mehr von dem Pomp
des Festes bemerkte; und erst, nachdem alles gänzlich aus meinen Augen
verschwunden war, ward ich, wie durch einen plötzlichen Schlag, wieder zu
mir selbst gebracht.  Itzt hatte ich Mühe, mich zu überzeugen, daß ich
nicht aus einem von den Träumen erwacht sei, worin meine Phantasie, in
überirdische Sphären verzückt, mir zuweilen ähnliche Gestalten vorgestellt
hatte.  Der Schmerz, eines so süßen Anblicks beraubt zu sein, konnte das
vollkommene Vergnügen nicht schwächen, womit das Innerste meines Wesens
erfüllt war.  Selbigen ganzen Abend, und den größesten Teil der Nacht,
hatten alle Kräfte meiner Seele keine andere Beschäftigung, als sich
dieses geliebte Bild bis auf die kleinsten Züge mit allen diesen
namenlosen Reizen,--welche vielleicht ich allein an dem Urbilde bemerkt
hatte,--und mit einer Lebhaftigkeit vorzumalen, die ihm immer neue
Schönheiten lehnte; mein Herz schmückte es mit allem, was die Natur
Anmutiges hat, mit allen Vorzügen des Geistes, mit jeder sittlichen
Schönheit, mit allem was nach meiner Denkungs-Art das Vollkommenste und
Beste war, aus--was für ein Gemälde, wozu die Liebe die Farben gibt!--Und
doch glaubte ich immer, zu wenig zu tun; und bearbeitete mich in mir
selbst, noch etwas schöners als das Schönste zu finden, um die Idee, die
ich mir von meiner Unbekannten machte, gänzlich zu vollenden, und
gleichsam in das Urbild selbst zu verwandeln.--Diese liebenswürdige Person
hatte mich zu eben der Zeit, da ich sie erblickte, wahrgenommen; und es
war (wie sie mir in der Folge entdeckte) etwas mit den Regungen meines
Herzens übereinstimmendes in dem ihrigen vorgegangen.  Ich erinnerte mich,
(denn wie hätte ich die kleinste Bewegung, die sie gemacht hatte,
vergessen können?) daß unsre Blicke sich mehr als ein mal begegnet waren,
und daß sie sogleich mit einer Scham-Röte, welche ihr ganzes liebliches
Gesicht mit Rosen überzog, die Augen niedergeschlagen hatte.  Ich war zu
unerfahren, und in der Tat auch zu bescheiden, aus diesem Umstand etwas
besonderes zu meinem Vorteil zu schließen; aber doch erinnerte ich mich
desselben mit einem so innigen Vergnügen, als ob es mir geahnet hätte, wie
glücklich mich die Folge davon machen würde.  Ich hatte die Eitelkeit
nicht, welche uns zu schmeicheln pflegt, daß wir liebenswürdig seien; ich
dachte an nichts weniger, als auf Mittel, wie ich mich lieben machen
wollte.  Aber die Schönheit der Seele, die ich in ihrem Gesichte
ausgedrückt gesehen hatte; diese sanfte Heiterkeit, die aus dem
natürlichen Ernst ihrer Züge hervorlächelte, hauchten mir Hoffnung ein,
daß ich geliebet werden würde.--Und welch einen Himmel von Wonne eröffnete
diese Hoffnung vor mir!  Was für Aussichten! Welches Entzücken!--Wenn ich
mir vorstellte, daß mein ganzes Leben, daß selbst die Ewigkeiten, in deren
grenzenlosen Tiefen, der Glückliche die Dauer seiner Wonne so gerne sich
verlieren läßt, in ihrem Anschauen und an ihrer Seite dahinfließen würden!


So lebhafte Hoffnungen setzten voraus, daß ich sie wieder finden würde;
und dieser Wunsch brachte die Begierde mit sich, zu wissen wer sie sei.
Aber wen konnt' ich fragen?  Ich hatte keinen Freund, dem ich mich
entdecken durfte; von einem jeden andern glaubte ich, daß er bei einer
solchen Frage mein ganzes Geheimnis in meinen Augen lesen würde; und die
Liebe, die ein sehr guter Ratgeber ist, hatte mich schon einsehen gemacht,
wie viel daran gelegen sei, daß der Pythia nicht das Geringste zu Ohren
komme, was ihr den Zustand meines Herzens hätte verraten, oder sie zu
einer mißtrauischen Beobachtung meines Betragens veranlassen können.  Ich
verschloß also mein Verlangen in mich selbst, und erwartete mit Ungeduld,
bis irgend ein meiner Liebe günstiger Schutz-Geist mir zu dieser
gewünschten Entdeckung verhelfen würde.  Nach einigen Tagen fügte es sich,
daß ich meiner geliebten Unbekannten in einem der Vorhöfe des Tempels
begegnete.  Die Furcht, von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in
eben dem Augenblick zurück, da ich auf sie zueilen und meine Entzückung
über diesen unverhofften Anblick in Gebärden, und vielleicht in
Ausrufungen, ausbrechen lassen wollte.  Sie blieb, indem sie mich
erblickte, einige Augenblicke stehen, und sah mich an.  Ich glaubte ein
plötzliches Vergnügen in ihrem schönen Gesicht aufgehen zu sehen; sie
errötete, schlug die Augen wieder nieder, und eilte davon.  Ich durft' es
nicht wagen, ihr zu folgen; aber meine Augen folgten ihr, so lang es
möglich war; und ich sahe, daß sie zu einer Tür einging, welche in die
Wohnung der Priesterin führte.  Ich begab mich in den Hain, um meinen
Gedanken über diese angenehme Erscheinung ungestörter nachzuhängen.  Der
letzte Umstand, den ich bemerkt hatte, und ihre Kleidung, brachte mich auf
die Vermutung, daß sie vielleicht eine von den Aufwärterinnen der Pythia
sei, deren diese Dame eine große Anzahl hatte, die aber (außer bei
besondern Feierlichkeiten) selten sichtbar wurden.  Diese Entdeckung
beschäftigte mich noch nach der ganzen Wichtigkeit, die sie für mich hatte,
als ich, in der Tat zur ungelegensten Zeit von der Welt, zu der
zärtlichen Priesterin gerufen wurde.--Die Begierde und die Hoffnung, meine
Geliebte bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen, machte mir anfänglich
diese Einladung sehr willkommen; aber meine Freude wurde bald von dem
Gedanken vertrieben, wie schwer es mir sein würde, wenn meine Unbekannte
zugegen wäre, meine Empfindungen für sie den Augen einer Nebenbuhlerin zu
verbergen.  Die Künste der Verstellung waren mir zu unbekannt, und meine
Gemüts-Regungen bildeten sich (auch wider meinen Willen) zu schnell und zu
deutlich in meinem äußerlichen ab, als daß ich mich bei allen meinen
Bestrebungen, vorsichtig zu sein, sicher genug halten konnte.  Diese
Gedanken gaben mir (wie ich glaube) ein ziemlich verwirrtes Aussehen, als
ich vor die Pythia geführt wurde.  Allein, da ich niemand, als eine
kleine Sklavin von neun oder zehen Jahren, bei ihr fand, erholte ich mich
bald wieder; und sie selbst schien mit ihren eigenen Bewegungen zu sehr
beschäftigt, um auf die meinige genau Acht zu geben,--oder (welches
wenigstens eben so wahrscheinlich ist) sie legte die Veränderung, die sie
in meinem Gesichte wahrnehmen mußte, zu Gunsten ihrer Reizungen aus, von
denen sie sich dieses mal desto mehr Würkung versprechen konnte, je mehr
sie vermutlich darauf studiert hatte, sie in dieses reizende
Schatten-Licht zu setzen, welches die Einbildungs-Kraft so lebhaft zum
Vorteil der Sinnen ins Spiel zu ziehen pflegt.  Sie saß oder lag (denn
ihre Stellung war ein Mittelding von beiden) auf einem mit Silber und
Perlen reich gestickten Ruhe-Bette; ihr ganzer Putz hatte dieses
Zierlich-Nachlässige, hinter welches die Kunst sich auf eine schlaue Art
versteckt, wenn sie nicht dafür angesehen sein will, daß sie der Natur zu
Hülfe komme; ihr Gewand, dessen bescheidene Farbe ihrer eigenen eben so
sehr als der Anständigkeit ihrer Würde angemessen war, wallte zwar in
vielen Falten um sie her; aber es war schon dafür gesorgt, daß hier und da
der schöne Contour dessen, was damit bedeckt war, deutlich genug wurde, um
die Augen auf sich zu ziehen, und die Neugier lüstern zu machen.  Ihre
Arme, die sie sehr schön hatte, waren in weiten und halb auf geschürzten
ärmeln fast ganz zu sehen; und eine Bewegung, welche sie, während unsers
Gesprächs, unwissender Weise gemacht haben wollte, trieb einen Busen aus
seiner Verhüllung hervor, welcher reizend genug war, ihr Gesicht um
zwanzig Jahre jünger zu machen.  Sie bemerkte diese kleine
Unregelmäßigkeit endlich; aber das Mittel, wodurch sie die Sachen wieder
in Ordnung zu bringen suchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß
dadurch ein Fuß bis zur Hälfte sichtbar wurde, dessen die schönste
Spartanerin sich hätte rühmen dürfen.  Die tiefe Gleichgültigkeit, worin
mich alle diese Reizungen ließen, machte ohne Zweifel, daß ich
Beobachtungen machen konnte, wozu ein gerührter Zuschauer die Freiheit
nicht gehabt hätte.  Indes gab mir doch eine Art von Scham, die ich
anstatt der guten Pythia auf meinen Wangen glühen fühlte, ein Ansehen von
Verwirrung, womit die Dame, welche in zweifelhaften Fällen alle mal zu
Gunsten ihrer Eigenliebe urteilte, ziemlich wohl zufrieden schien.  Sie
schrieb es vermutlich einer schüchternen Unentschlossenheit oder einem
Streit zwischen Ehrfurcht und Liebe bei, daß ich (ungeachtet des starken
Eindrucks, den sie auf mich machte) ihr keine Gelegenheit gab, die
Delikatesse ihrer Tugend sehen zu lassen.  Ich hatte Aufmunterungen nötig,
zu welchen man bei einem geübtern Liebhaber sich nicht herablassen würde.
Die Geschicklichkeit, die man mir in der Kunst, die Dichter zu lesen,
beilegte, diente ihr zum Vorwand, mir einen Zeit-Vertrieb vorzuschlagen,
von dem sie sich einige Beföderung dieser Absicht versprechen konnte.  Sie
versicherte mich, daß Homer ihr Lieblings-Autor sei, und bat mich, ihr das
Vergnügen zu machen, sie eine Probe meines gepriesenen Talents hören zu
lassen.  Sie nahm einen Homer, der neben ihr lag, und stellte sich,
nachdem sie eine Weile gesucht hatte, als ob es ihr gleichgültig sei,
welcher Gesang es wäre; sie gab mir den ersten den besten in die Hände;
aber zu gutem Glücke war es gerade derjenige, worin Juno, mit dem Gürtel
der Venus geschmückt, den Vater der Götter in eine so lebhafte Erinnerung
der Jugend ihrer ehelichen Liebe setzt.--Von dem dichterischen Feuer,
welches in diesem Gemälde glühet, und dem süßen Wohlklang der Homerischen
Verse entzückt, beobachtete sie nicht, in was für eine verführische
Unordnung ein Teil ihres Putzes durch eine Bewegung der Bewunderung,
welche sie machte, gekommen war.  Sie nahm von dieser Stelle Anlaß, die
unumschränkte Gewalt des Liebes-Gottes zum Gegenstande der Unterredung zu
machen.  Sie schien der Meinung derjenigen günstig zu sein, welche
behaupten, daß der Gedanke, einer so mächtigen Gottheit widerstehen zu
wollen, nur in einer vermessenen und ruchlosen Seele geboren werden könne.
Ich pflichtete ihr bei, behauptete aber, daß die meisten in den Begriffen,
welche sie sich von diesem Gotte machten, der großen Pflicht, von der
Gottheit nur das Würdigste und Vollkommenste zu denken, sehr zu nahe
träten; und daß die Dichter durch die allzusinnliche Ausbildung ihrer
allegorischen Fabeln in diesem Stücke sich keines geringen Vergehens
schuldig gemacht hätten.  Unvermerkt schwatzte ich mich in einen
Enthusiasmus hinein, in welchem ich, nach den Grundsätzen meiner
geheimnisreichen Philosophie, von der intellektualischen Liebe, von der
Liebe welche der Weg zum Anschauen des wesentlichen Schönen ist, von der
Liebe welche die geistigen Flügel der Seele entwickelt, sie mit jeder
Tugend und Vollkommenheit schwellt, und zuletzt durch die Vereinigung mit
dem Urbild und Urquell des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe und
unveränderlicher Wonne hineinzieht, worin sie gänzlich verschlungen und zu
gleicher Zeit vernichtigt und vergöttert wird--so erhabne, mir selbst
meiner Einbildung nach sehr deutliche, der schönen Priesterin aber so
unverständliche Dinge sagte, daß sie in eben der Proportion, nach welcher
sich meine Einbildungs-Kraft dabei erwärmte, nach und nach davon
eingeschläfert wurde.  In der Tat konnte im Prospekt eines so schönen
Busens, als ich vor mir sahe, nichts seltsamere sein, als eine Lob-Rede
auf die intellektualische Liebe; auch gab die betrogne Pythia nach einer
solchen Probe alle Hoffnung auf, mich, diesen Abend wenigstens, zu einer
natürlichen Art zu denken und zu lieben herumzustimmen.  Sie entließ mich
alsobald darauf, nachdem sie mir, wiewohl auf eine ziemlich rätselhafte
Art, zu vernehmen gegeben hatte, daß sie besondere Ursachen habe, sich
meiner mehr anzunehmen, als irgend eines andern Kostgängers des Apollo.
Ich verstund aus dem, was sie mir davon sagte, so viel, daß sie eine nahe
Anverwandtin meines mir selbst noch unbekannten Vaters sei; daß es ihr
vielleicht bald erlaubt sein werde, mir das Geheimnis meiner Geburt zu
entdecken; und daß ich es allein diesem nähern Verhältnis zu zuschreiben
habe, wenn sie mich durch eine Freundschaft unterscheide, welche mich,
ohne diesen Umstand, vielleicht hätte befremden können.  Diese Eröffnung,
an deren Wahrheit mich ihre Miene nicht zweifeln ließ, hatte die
gedoppelte Würkung--mich zu bereden, daß ich mich in meinen Gedanken von
ihren Gesinnungen betrogen haben könne--und sie auf einmal zu einem
interessanten Gegenstande für mein Herz zu machen.  In der Tat fing ich,
von dem Augenblick, da ich hörte, daß sie mit meinem Vater befreundet sei,
an, sie mit ganz andern Augen anzusehen; und vielleicht würde sie von den
Dispositionen, in welche ich dadurch gesetzt wurde, in kurzer Zeit mehr
Vorteil haben ziehen können, als von allen den Kunstgriffen, womit sie
meine Sinnen hatte überraschen wollen.  Aber die gute Dame wußte entweder
nicht, wie viel man bei gewissen Leuten gewonnen, wenn man Mittel findet,
ihr Herz auf seine Seite zu ziehen; oder sie war über mein seltsames
Betragen erbittert, und glaubte, ihre verachteten Reizungen nicht besser
rächen zu können, als wenn sie mich in eben dem Augenblick von sich
entfernte, da sie in meinen Augen las, daß ich gerne länger geblieben wäre.
Alles Bitten, daß sie ihre Gütigkeit durch eine deutlichere Entdeckung
des Geheimnisses meiner Geburt vollkommen machen möchte, war umsonst; sie
schickte mich fort, und hatte Grausamkeit genug, eine geraume Zeit vorbei
gehen zu lassen, eh sie mich wieder vor sich kommen ließ.  Zu einer andern
Zeit würde das Verlangen, diejenigen zu kennen, denen ich das Leben zu
danken hätte, mir diesen Aufschub zu einer harten Strafe gemacht haben;
aber damals brauchte es nur wenige Minuten, wieder allein zu sein, und
einen Gedanken an meine geliebte Unbekannte, um die Priesterin mit allen
ihren Reizen, und mit allem was sie mir gesagt und nicht gesagt hatte, aus
meinem Gemüte wieder auszulöschen.  Es war mir unendlich mal angelegener
zu wissen, wer diese Unbekannte sei, und ob sie würklich (wie ich mir
schmeichelte) für mich empfinde, was ich für sie empfand, als in Absicht
meiner selbst aus einer Unwissenheit gezogen zu werden, gegen welche die
Gewohnheit mich fast ganz gleichgültig gemacht hatte: So lange ich das
nicht wußte, würde ich die Entdeckung, der Erbe eines Königs zu sein, mit
Kaltsinn angesehen haben.  Der Blick, den sie diesen Abend auf mich
geheftet hatte, schien mir etwas zu versprechen, das für mein Herz
unendlich mehr Reiz hatte, als alle Vorteile der glänzendsten Geburt.
Mein ganzes Wesen schien von diesem Blicke, wie von einem überirdischen
Lichte, durchstrahlt und verklärt--ich unterschied zwar nicht deutlich,
was in mir vorging--aber so oft ich sie mir wieder in dieser Stellung, mit
diesem Blicke, mit diesem Ausdruck in ihrem lieblichen Gesichte vorstellte,
(und dieses geschah allemal so lebhaft, als ob ich sie würklich mit Augen
sähe) so schien mir mein Herz vor Liebe und Vergnügen in Empfindungen zu
zerfließen, für deren durchdringende Süßigkeit keine Worte erfunden sind.
"--Hier wurde Agathon (dessen Einbildungs-Kraft, von den Erinnerungen
seiner ersten Liebe erhitzt, einen hübschen Schwung, wie man sieht, zu
nehmen anfing,) durch eine ziemlich merkliche Veränderung in dem Gesichte
seiner schönen Zuhörerin, mitten in dem Lauf seiner unzeitigen Schwärmerei
aufgehalten, und aus seinem achtzehnten Jahr, in welches er in dieser
kleinen Ekstase zurückversetzt worden war, auf einmal wieder nach Smyrna,
zu sich selbst und der schönen Danae gegenüber, gebracht.



VIERTES KAPITEL

Fortsetzung des Vorhergehenden


Es ist eine alte Bemerkung, daß man einer schönen Dame die Zeit nur
schlecht vertreibt, wenn man sie von den Eindrücken, die eine andre auf
unser Herz gemacht hat, unterhält.  Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, je
mehr Beredsamkeit wir in einem solchen Falle zeigen, je reizender unsre
Schilderungen, je schöner unsre Bilder, je beseelter unser Ausdruck ist,
desto gewisser dürfen wir uns versprechen, unsre Zuhörerin einzuschläfern.
Diese Beobachtung sollten sich besonders diejenigen empfohlen sein
lassen, welche eine würklich im Besitz stehende Geliebte mit der
Geschichte ihrer ehemaligen verliebtet Abenteuer unterhalten.  Agathon,
welcher noch weit davon entfernt war, von seiner Einbildungs-Kraft Meister
zu sein, hatte diese Regel gänzlich aus den Augen verloren, da er einmal
auf die Erzählung seiner ersten Liebe gekommen war.  Die Lebhaftigkeit
seiner Wiedererinnerungen schien sie in Empfindungen zu verwandeln; er
bedachte nicht, daß es weniger anstößig wäre, eine Geliebte, wie Danae,
mit der ganzen Metaphysik der intellektualischen Liebe, als mit so
enthusiastischen Beschreibungen der Vorzüge einer andern, und der
Empfindungen, welche sie eingeflößt, zu unterhalten.  Eine Art von
Mittelding zwischen Gähnen und Seufzen, welches ihr an der Stelle, wo wir
seine Erzählungen abgebrochen haben, entfuhr, und ein gewisser Ausdruck
von langer Weile, der aus einer erzwungnen Miene von vergnügter
Aufmerksamkeit hervorbrach, machte ihn endlich seiner Unbesonnenheit
gewahr werden; er stutzte einen Augenblick, er errötete, und es fehlte
wenig, daß er den Zusammenhang seiner Geschichte darüber verloren hätte.
Doch erholte er sich noch geschwinde genug wieder, um seiner Verwirrung
irgend einen zufälligen Vorwand zu geben, und setzte seine Erzählung fort,
indem er fest bei sich beschloß, genauer auf sich selbst Acht zu geben,
und seine Beschreibungen so sehr abzukürzen, als es nur immer möglich sein
würde; ein Vorsatz, bei welchem unsre Leser sich wenigstens eben so wohl
befinden werden, als die schöne Danae, wenn er anders fähig sein wird,
sich selbst Wort zu halten.

"Die süßen Träume", (fuhr der Held unsrer Geschichte fort) "worin mein
Herz sich so gerne zu wiegen pflegte, hatten nicht würkliches genug,
diesen angenehmen Zustand meines Gemütes lange zu unterhalten.  Eine
zärtliche Schwermut, welche jedoch nicht ohne eine Art von Wollust war,
bemächtigte sich meiner so stark, daß ich Mühe hatte, sie vor denjenigen
zu verbergen, mit denen ich einen Teil des Tages zubringen mußte.  Ich
suchte die Einsamkeit; und weil ich den Tag über, nur wenige Stunden in
meiner Gewalt hatte, so fing ich wieder an, den größten Teil der Zeit,
worin andere schliefen, in den angenehmen Hainen, die den Tempel umgeben,
mit meinen Gedanken und dem Bilde meiner Unbekannten zu durchwachen.  In
einer dieser Nächte begegnete es, daß ich von ungefähr in eine Gegend des
Hains verirrte, welche das Ansehen einer Wildnis, aber der anmutigsten,
die man sich nur einbilden kann, hatte.  Mitten darin ließ das Gebüsche,
welches in labyrinthischen Krümmungen mit hohen Zypressen und vielen
selbst gewachsenen Lauben abgesetzt, sich um sich selbst herumwand, einen
offnen Platz, der mit einem halben Circul von wilden Lorbeer-Bäumen, von
denen sich immer eine Reihe über die andere erhub, eingefaßt, auf der
andern Seite aber nur mit niedrigem Myrten-Gesträuch und Rosen-Hecken
leicht umkränzt war.  Mitten darin lagen einige Nymphen von weißem Marmor,
von überhangendem Rosen-Gesträuche beschattet, welche auf ihren Urnen zu
schlafen schienen, indes sich aus jeder Urne eine Quelle in ein geräumiges
Becken von poliertem schwarzem Granit-Marmor ergoß, worin die
Frauens-Personen, welche unter dem Schutz des delphischen Apollo stunden,
sich im Sommer zu baden pflegten.  Dieser Ort war (einer alten Sage nach)
der Diana heilig; und kein männlicher Fuß durfte, bei Strafe, sich den
Zorn dieser unerbittlichen Göttin zu zuziehen, sich unterstehen, ihrem
geheiligten Ruhe-Platz nahe zu kommen.  Vermutlich machte die Göttin eine
Ausnahme zu Gunsten eines unschuldigen Schwärmers, der (ohne den mindesten
Vorsatz, ihre Ruhe zu stören, und ohne einmal zu wissen, wohin er kam),
sich hieher verirrt hatte.  Denn anstatt mich ihren Zorn empfinden zu
lassen, begünstigte sie mich vielmehr mit einer Erscheinung, welche mir
angenehmer war, als wenn sie selbst, mich zu ihrem Endymion zu machen, zu
mir herabgestiegen wäre.  Weil ich in eben dem Augenblick, da ich diese
Erscheinung hatte, den Ort, wo ich mich befand, für denjenigen erkannte,
der mir öfters, um ihn desto gewisser vermeiden zu können, beschrieben
worden war; so war würklich mein erster Gedanke, daß es die Göttin sei,
welche, von der Jagd ermüdet, unter ihren Nymphen schlummre.  Von einem
heiligen Schauer erschüttert, wollte ich schon den Fuß zurückziehn; als
ich beim Glanz des seitwärts einfallenden Mond-Lichts gewahr wurde, daß es
meine Unbekannte war.  Ich will es nicht versuchen, zu beschreiben wie mir
in diesem Augenblicke zu Mute war; es war einer von denen, an welche ich
mich nur erinnern darf, um zu glauben, daß ein Wesen, welches einer
solchen Wonne fähig ist, zu nichts geringers als zu der Wonne der Götter
bestimmt sein könne.  Itzt konnt' ich natürlicher Weise nicht mehr denken,
mich unbemerkt zurückzuziehen; meine einzige Sorge war, die liebenswürdige
Einsame zu einer Zeit und an einem Orte, wo sie keinen Zeugen, am
allerwenigsten einen männlichen vermuten konnte, durch keine plötzliche
überraschung zu erschrecken.  Die Stellung, worin sie an eine der
marmornen Nymphen angelegt lag, gab zu erkennen, daß sie staunte; ich
betrachtete sie eine geraume Weile, ohne daß sie mich gewahr wurde.
Dieser Umstand erlaubte mir meine eigene Stelle zu verändern, und eine
solche zu nehmen, daß sie, so bald sie die Augen aufschlage, mich
unfehlbar erkennen müßte.  Diese Vorsicht hatte die verlangte Würkung.
Sie erblickte mich; sie stutzte; aber sie erkannte mich doch zu schnell,
um mich für einen Satyren anzusehen.  Meine Erscheinung schien ihr mehr
Vergnügen als Unruhe zu machen.  Ein jeder andrer, so gar ein Satyr, würde
irgend ein artig gedrehtes Kompliment in Bereitschaft gehabt haben, um
seine Freude über eine so reizende Erscheinung auszudrücken; die
Gelegenheit konnte nicht schöner sein, sie für eine Göttin, oder
wenigstens für eine der Gespielen Dianens anzusehen, und diesem Irrtum
gemäß zu begrüßen.  Aber ich, von neuen, nie gefehlten, unbeschreiblichen
Empfindungen gedrückt, ich konnte gar nichts sagen.  Zu ihren Füßen hätte
ich mich werfen mögen; aber die Schüchternheit, welche (zumal in meinem
damaligen Alter) mit der ersten Liebe so unzertrennlich verbunden ist,
hielt mich zurück; ich besorgte, daß sie sich einen nachteiligen Begriff
von der tiefen Ehrerbietung, die ich für sie empfand, aus einer solchen
Freiheit machen möchte.  Meine Unbekannte war nicht so schüchtern; sie hub
sich, mit dieser sittsamen Anmut, wodurch sie sich das erste mal, als ich
sie gesehen, in meinen Augen von allen ihren Gespielen unterschieden hatte,
vom Boden auf, und ging ein paar Schritte gegen mich.  'Wie finde ich den
Agathon hier?' sagte sie mit einer Stimme, die ich noch zu hören glaube;
so lieblich, so rührend schien sie unmittelbar in meine Seele sich
einzuschmeicheln.  In der süßen Verwirrung, worin ich war, fand ich keine
bessere Antwort, als sie zu versichern, daß ich nicht so verwegen gewesen
wäre, ihre Einsamkeit zu stören, wenn ich vermutet hätte, sie hier zu
finden.  Das Kompliment war nicht so artig, als es ein junger Athenienser
bei einer solchen Gelegenheit gemacht hätte; aber Psyche (so erfuhr ich in
der Folge, daß meine Unbekannte genennt werde) war zu unschuldig, um
Komplimente zu erwarten.  'Ich erkenne meine Unvorsichtigkeit, wiewohl zu
spät', versetzte sie: 'Was wird Agathon von mir denken, da er mich an
diesem abgelegenen Ort in einer solchen Stunde allein findet?  Und doch'
(setzte sie errötend hinzu) 'ist es glücklich für mich, wenn ich ja einen
Zeugen meiner Unbesonnenheit haben mußte, daß es Agathon war.' Ich
versicherte sie, daß mir nichts natürlicher vorkomme, als der Geschmack,
den sie in der Einsamkeit, in der Stille einer so schönen Nacht, und in
einer so anmutigen Gegend zu finden scheine.  Ich setzte noch vieles von
den Annehmlichkeiten des Mondscheins, von der majestätischen Pracht des
sternvollen Himmels, von der Begeistrung, welche die Seele in diesem
feierlichen Schweigen der ganzen Natur erfahre, von dem Einschlummern der
Sinne, und dem Erwachen der innern geheimnisvollen Kräfte unsers
unsterblichen Teils, hinzu--Dinge, welche bei den meisten Schönen, zumal
in einem so anmutigen Myrten-Gebüsche, und in der einladenden Dämmerung
einer so lauen Sommer-Nacht, sehr übel angebracht gewesen wären; aber bei
der gefühlvollen Psyche rührten sie die empfindlichsten Saiten ihres
Herzens.  Das Gespräch, worin wir uns unvermerkt verwickelten, entdeckte
eine übereinstimmung in unserm Geschmack und in unsern Neigungen, welche
gar bald ein eben so freundschaftliches und vertrauliches Verständnis
zwischen unsern Seelen hervorbrachte, als ob wir uns schon viele Jahre
geliebet hätten.  Mir war, als ob ich alles, was sie sagte, durch eine
unmittelbare Anschauung in ihrer Seele lese; und hinwieder schien das, was
ich sagte, so abgezogen, idealisch und dichterisch, es immer sein mochte,
ein bloßer Widerhall oder die Entwicklung ihrer eigenen Empfindungen und
solcher Ideen zu sein, welche als Embryonen in ihrer Seele lagen, und nur
den erwärmenden Einfluß eines geübtern Geistes nötig hatten, um sich zu
entfalten, und durch ihre naive Schönheit die erhabensten und
sinnreichsten Gedanken der Weisen zu beschämen.  Die Zeit wurde uns bei
dieser Unterhaltung so kurz, daß wir kaum eine Stunde bei einander gewesen
zu sein glaubten, als uns die aufgehende Morgenröte erinnerte, daß wir uns
trennen mußten.  Ich hatte durch diese Unterredung erfahren, daß meine
Geliebte von ihrer Herkunft eben so wenig wisse, als ich von der meinigen;
daß sie von ihrer Amme, in der Gegend von Corinth bis ins sechste Jahr
erzogen, hernach aber von Räubern entführt, und an die Priesterin zu
Delphi verkauft worden, welche sie in allen weiblichen Künsten, und da sie
eine besondere Neigung zum Lesen an ihr bemerkt, auch in der Kunst die
Dichter recht zu lesen, habe unterrichten lassen, und sie in der Folge zu
ihrer Leserin gemacht habe.  Diese Umstände waren für meine Liebe zu der
jungen Psyche nicht sehr schmeichelhaft; allein das Vergnügen der
gegenwärtigen Augenblicke ließ mich gar nicht an das Künftige denken;
unbekümmert, wohin die Empfindungen, von denen ich eingenommen war, in
ihren Folgen endlich führen könnten, überließ ich mich ihnen mit aller
Gutherzigkeit der jugendlichen Unschuld; meine kleine Psyche zu sehen, zu
lieben, es ihr zu sagen, und aus ihrem schönen Munde zu hören, in ihren
seelenvollen Augen zu sehen, daß ich wieder geliebt werde.--Das waren itzt
alle Glückseligkeiten, die ich wünschte, und über welche hinaus ich keine
andere kannte.  Ich hatte ihr etwas von den Eindrücken gesagt, die ihr
erster Anblick auf mein Herz gemacht hatte; und sie hatte diese
Eröffnungen mit dem Geständnis der vorzüglichen Meinung, welche ihr das
allgemeine Urteil zu Delphi von mir gegeben hätte, erwidert; aber meine
zärtliche und ehrfurchtsvolle Schüchternheit erlaubte mir nicht, ihr alles
zu sagen, was mein Herz für sie empfand.  Meine Ausdrücke waren lebhaft
und feuerig; aber sie hatten mit der gewöhnlichen Sprache der Liebe so
wenig ähnliches, daß ich weniger zu sagen glaubte, indem ich in der Tat
unendlich mal mehr sagte, als ein gewöhnlicher Liebhaber, der mehr von
seinen Begierden beunruhigt, als von dem Werte seiner Geliebten gerührt
ist.  Allein da wir uns scheiden mußten, würde mich mein allzuvolles Herz
verraten haben, wenn die unerfahrne Jugend der guten Psyche ihr erlaubt
hätte, einiges Mißtrauen in Empfindungen zu setzen, welche sie nach der
Unschuld ihrer eigenen beurteilte.  Ich zerfloß in Tränen, und setzte ihr
auf eine so zärtliche, so bewegliche Art zu, mir zu versprechen, sich in
der folgenden Nacht wieder in dieser Gegend finden zu lassen, daß es ihr
unmöglich war, mich ungetröstet wegzuschicken.  Wir setzten also, da uns
alle Gelegenheit, uns bei Tage zu sprechen, abgeschnitten war, diese
nächtliche Zusammenkünfte fort; und unsere Liebe wuchs und verschönerte
sich zusehends, ohne daß wir dachten, daß es Liebe sei.  Wir nannten es
Freundschaft; und genossen ihrer reinsten Süßigkeiten, ohne durch einige
Besorgnisse, Bedenklichkeiten oder andre Symptome der Leidenschaft,
beunruhigt zu werden.  Psyche hatte sich eine Freundin, wie ich mir einen
Freund, gewünscht; nun glaubten wir beide gefunden zu haben, was wir
wünschten.  Unsere Denkungs-Art, und die Güte unserer Herzen, flößte uns
ein vollkommenes und unbegrenztes Zutrauen gegen einander ein.--Meine
Augen, welche schon lange gewöhnt waren, anders zu sehen, als man sonst in
meinen damaligen Jahren zu sehen pflegt, sahen in Psyche kein reizendes
Mädchen, sondern die schönste, die liebenswürdigste der Seelen, deren
geistige Reizungen aus dem durchsichtigen Flor eines irdischen Gewandes
hervorschimmerten; und die wissensbegierige Psyche, welche nie glücklicher
war, als wenn ich ihr die erhabenen Geheimnisse meiner dichterischen
Philosophie entfaltete, glaubte den göttlichen Orpheus oder den Apollo
selbst zu hören, wenn ich sprach.  Es ist in der Natur der Liebe (so
zärtlich und unkörperlich sie immer sein mag) so lange zuzunehmen, bis sie
das Ziel erreicht hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint.  Die unsrige
nahm auch zu, und ging nach und nach durch mehr als eine Verwandlung; aber
sie blieb sich selbst doch immer ähnlich.  Nachdem uns der Name der
Freundschaft nicht mehr bedeutend genug schien, dasjenige, was wir für
einander empfanden, auszudrücken, wurden wir eins, daß unter allen
Zuneigungen, derer uns die Natur fähig mache, die Liebe eines Bruders und
einer Schwester zugleich die stärkste und die reineste sei.  Die
Vorstellung, die wir uns davon machten, entzückte uns; und nachdem wir oft
bedauert hatten, daß uns die Natur diese Glückseligkeit versagt habe,
wunderten wir uns zuletzt, wie wir nicht bälder eingesehen hätten, daß es
nur von uns abhange, ihre Kargheit in diesem Stücke zu ersetzen.


Wir waren also Bruder und Schwester, und blieben es einige Zeit, ohne daß
die Vertraulichkeit und die unschuldigen Liebkosungen, wozu uns diese
Namen berechtigten, in unsern Augen wenigstens, der Tugend, welcher wir
zugleich mit der Liebe eine ewige Treue geschworen hatten, den geringsten
Abbruch taten.  Wir waren enthusiastisch genug, die Vermutung oder
vielmehr die bloße Möglichkeit, einander vielleicht so nahe verwandt zu
sein, als wir wünschten, in den zärtlichen Ergießungen unserer Herzen
zuweilen für die Stimme der Natur zu halten; zumal da eine wirkliche oder
eingebildete besondere ähnlichkeit unserer Gesichts-Züge diesen Wahn zu
rechtfertigen schien.  Da wir uns aber die Betrüglichkeit dieser
vermeinten Sprache des Blutes nicht immer verbergen konnten, so fanden wir
desto mehr Vergnügen darin, die Vorstellungen von einer natürlichen
Verschwisterung der Seelen, einem sympathetischen Zug der einen zu der
andern, einer schon in einem vorhergehenden Zustand in bessern Welten
angefangenen Bekanntschaft nachzuhängen, und sie in tausend angenehme
Träume auszubilden.  Aber auch bei diesem Grade ließ uns der phantastische
Schwung, den die Liebe unsern Seelen gegeben hatte, nicht stille stehen.
Wir strengten das äußerste Vermögen unserer Einbildungs-Kraft an, um uns
einen Begriff von derjenigen Art zu lieben zu machen, womit in den
überirdischen Sphären die Geister einander liebten.  Keine andere schien
uns zu gleicher Zeit der Stärke und der Reinigkeit unserer Empfindungen
genug zu tun, noch für Wesen sich zu schicken, die im Himmel entsprungen,
und dahin wiederzukehren bestimmt wären.  Ich gestehe dir, schöne Danae,
daß ich bei der Erinnerung an diese glückselige Schwärmerei meiner ersten
Jugend mich kaum erwehren kann zu wünschen, daß die Bezauberung ewig hätte
dauern können.  Und dennoch ist nichts gewissers, als daß sich diese
allzugeistige Empfindungen endlich verzehrt, und die Natur, welche ihre
Rechte nie verliert, uns zuletzt unvermerkt auf eine gewöhnlichere Art zu
lieben geführt haben würde; wenn uns nur die schöne Pythia so viel Zeit,
als dazu erfodert wurde, gelassen hätte.  Diese Dame hatte etliche Wochen
verstreichen lassen, ohne (dem Ansehen nach) sich meiner zu erinnern; und
ich hatte sie in dieser Zeit so gänzlich vergessen, daß ich ganz betroffen
war, als ich wieder zu ihr berufen wurde.  Ich fand gar bald, daß die
Göttin von Paphos, welche sich vielleicht wegen irgend einer ehemaligen
Beleidigung an ihr zu rächen beschlossen, sie in dieser Zwischen-Zeit
nicht so ruhig gelassen hatte, als es für sie und mich zu wünschen war.
Vermutlich hatte sie (wie die tragische Phädra) allen ihren weiblichen und
priesterlichen Stolz zusammengerafft, um eine Leidenschaft zu unterdrücken,
deren übelstand sie sich selbst unmöglich verbergen konnte; allein eben
so vermutlich mochte sie sich selbst durch die tröstlichen Trug-Schlüsse,
welche Euripides der Amme dieser unglückseligen Prinzessin in den Mund
legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaften Entschluß gefaßt haben,
ihrem Verhängnis nachzugeben.  Denn, nachdem sie alle ihre Mühe, mich das,
was sie mir zu sagen hatte, erraten zu lassen, verloren sah, brach sie
endlich ein Stillschweigen, dessen Bedeutung ich eben so wenig verstehen
wollte, und entdeckte mir mit einer Deutlichkeit und mit einem Feuer,
welche mich erröten und erzittern machten, daß sie liebe und wieder
geliebt sein wolle.  Der reizende Anzug und die verführische Stellung,
worin sie dieses Geständnis machte, schien ausgewählt zu sein, mich den
Wert des mit angebotenen Glückes mehr als jemals empfinden zu lassen.  Ich
muß noch itzt erröten, wenn ich an die Verwirrung denke, worin ich mit
allen meinen erhabenen Begriffen in diesem Augenblick war.--Die
menschliche Natur so erniedrigt--den Namen der Liebe so entweihet zu sehen!
In der Tat, die Pythia selbst konnte von der Art, wie ich ihre
Zumutungen abwies, nicht empfindlicher beschämt und gequält werden, als
ich es durch die Notwendigkeit war, worein ich mich gesetzt sah, ihr so
übel zu begegnen.  Ich bestrebte mich, die Härtigkeit meiner Antworten
durch die sanftesten Ausdrücke zu mildern, die ich in der Verwirrung
finden konnte.  Aber ich erfuhr bald, daß heftige Leidenschaften sich so
wenig als Sturm-Winde durch Worte beschwören lassen.  Die ihrer selbst
nicht mehr mächtige Priesterin nahm für beleidigenden Spott auf, was ich
aus der wohlgemeinten, aber allerdings unzeitigen Absicht, ihrer
versinkenden Tugend zu Hülfe zu kommen, sagte.  Sie geriet in eine Wut,
welche mich in die äußerste Verlegenheit setzte; sie brach in
Verwünschungen und Drohungen, und einen Augenblick darauf in einen Strom
von Tränen und in so bewegliche Apostrophen aus, daß ich beinahe schwach
genug gewesen wäre, mit ihr zu weinen, ohne mein Herz geneigter zu finden,
dem ihrigen zu antworten.  Ich ergriff endlich das einzige Mittel, das mir
übrig blieb, mich der albernen Rolle, die ich in dieser Szene spielte, zu
erledigen; ich entfloh.  In eben dieser Nacht sah ich meine geliebte
Psyche wieder an dem gewöhnlichen Orte; mein Gemüt war von der Geschichte
dieses Abends zu sehr beunruhigt, als daß ich ihr ein Geheimnis davon
hätte machen können.  Wir bedaurten die Priesterin, so schwer es uns auch
war, von der Wut und den Qualen einer Liebe, welche mit der unserigen so
wenig ähnliches hatte, uns eine Vorstellung zu machen; aber wir bedaurten
noch vielmehr uns selbst.  Die Raserei, worin ich die Pythia verlassen
hatte, hieß uns das ärgste besorgen.  Wir zitterten eines für des andern
Sicherheit; und aus Furcht, daß sie unsere Zusammenkünfte entdecken möchte,
beschlossen wir, (so hart uns dieser Entschluß ankam) sie eine Zeitlang
seltner zu machen.  Dieses war das erste mal, daß die reinen Vergnügungen
unserer schuldlosen Liebe von Sorgen und Unruhe unterbrochen wurden, und
wir mit schwerem Herzen von einander Abschied nahmen.  Es war, als ob es
uns ahnete, daß dieses das letzte mal sei, da wir uns zu Delphi sähen; und
wir sagten uns wohl tausend mal Lebe wohl; ohne uns eines aus des andern
Armen loswinden zu können.  Wir redeten mit einander ab, uns erst in der
dritten Nacht wieder zu sehen.  Zufälliger Weise fügte sichs, daß ich in
der Zwischen-Zeit mit der Priesterin in Gesellschaft zusammenkam.  Es war
natürlich, daß sie in Gegenwart fremder Leute ihrem Betragen gegen mich
den freundschaftlichen Ton der Anverwandtschaft gab, welche zwischen uns
vorausgesetzt wurde, und durch welche sie nötig befunden hatte, ihren
Umgang mit mir gegen die Urteile strenger Sitten-Richter sicher zu stellen.
Allein außer diesem bemerkte ich, daß sie etliche mal, da sie von
niemand beobachtet zu sein glaubte, die zärtlichsten Blicke auf mich
heftete.  Ich war zu gutherzig, Verstellung unter diesen Zeichen der
wiederkehrenden Liebe zu argwöhnen; und der Schluß, den ich daraus zog,
beruhigte mich gänzlich über die Besorgnis, daß sie meinen Umgang mit
Psyche entdeckt haben möchte.  Ich flog mit ungedultiger Freude zu unserer
abgeredeten Zusammenkunft; ich wartete so lange, daß mich der Tag beinahe
überrascht hätte; ich durchsuchte den ganzen Hain: aber da war keine
Psyche.  Eben so ging es in der folgenden und dritten Nacht.  Mein Schmerz
und meine Betrachtungen waren unaussprechlich.  Damals erfuhr ich zum
ersten mal, daß meine Einbildungs-Kraft, welche bisher nur zu meinem
Vergnügen geschäftig war, in eben dem Maße, wie sie mich glücklich gemacht
hatte, mich elend zu machen fähig sei.  Ich zweifelte nun nicht mehr, daß
die Priesterin unsere Liebe entdeckt habe; und die Folgen, welche dieser
Umstand für Psyche haben konnte, stellten sich mir mit allen Schrecknissen
einer sich selbst quälenden Einbildung dar.  Ich faßte in der Wut meines
Schmerzens tausend heftige Entschließungen, von denen immer eine die
andere verschlang; ich wollte zu der Priesterin gehen, und meine Psyche
von ihr fodern--ich wollte--das Ausschweifendste, was man in der
Verzweiflung wollen kann; ich glaube, daß ich fähig gewesen wäre, den
Tempel anzuzünden, wenn ich hätte hoffen können, meine Psyche dadurch zu
retten.  Und doch hielt mich ein Schatten von Hoffnung, daß sie durch
zufällige Ursachen habe verhindert werden können, ihr Wort zu halten, noch
zurück, einen unbesonnenen Schritt zu tun, welcher ein bloß eingebildetes
übel würklich und unheilbar hätte machen können.  Vielleicht (dachte ich)
weiß die Priesterin noch nichts von unserm Geheimnis; und wie unselig wär'
ich in diesem Fall, wenn ich selbst der Verräter davon wäre?  Dieser
Gedanke führte mich zum vierten mal in den Ruhe-Platz der Diana.  Nachdem
ich wohl zwo Stunden vergebens gewartet hatte, warf ich mich, in einer
Betäubung von Schmerz und Verzweiflung, zu den Füßen einer von den Nymphen
hin.  Ich lag eine Weile, ohne meiner selbst mächtig zu sein.  Als ich
mich wieder erholt hatte, sah ich einen frischen Blumen-Kranz um den Hals
und die Arme einer von den Nymphen gewunden; ich sprang auf, um genauer zu
erkundigen, was dieses bedeuten möchte, und fand ein Briefchen an den
Kranz geheftet, worin mir Psyche meldete: daß ich sie in der folgenden
Nacht um eine bestimmte Stunde unfehlbar an diesem Platz antreffen würde;
sie versparete es auf diese Besprechung, mir zu sagen, durch was für
Zufälle sie diese Zeit über verhindert worden, mich zu sehen, oder mir
Nachricht von ihr zu geben; ich dürfte aber vollkommen ruhig und gewiß
sein, daß die Priesterin nichts von unserer Bekanntschaft wisse.  Die
heftige Begierde, womit ich wünschte, daß dieses Briefchen von Psyche
geschrieben sein möchte, ließ mich nicht daran denken, ein Mißtrauen
darein zu setzen, ungeachtet mir ihre Handschrift unbekannt war.  Ich ging
also plötzlich von dem äußersten Grade des Schmerzens zu der äußersten
Freude über.  Ich wand den Glück-weissagenden Blumen-Kranz um mich herum,
nachdem ich die unsichtbaren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden
hatten, auf jeder Blume weggeküßt hatte.  Den folgenden Abend wurde mir
jeder Augenblick bis zur bestimmten Zeit ein Jahrhundert.  Ich ging eine
halbe Stunde früher, den guten Nymphen zu danken, daß sie unsere Liebe in
ihren Schutz genommen hatten.  Endlich glaubte ich, Psyche zwischen den
Myrten-Hecken hervorkommen zu sehen.  Die Nacht war nur durch den Schimmer
der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte die gewöhnliche Kleidung der
Psyche, und war von dem ersten Rauschen ihrer Annäherung schon zu sehr
entzückt, um gewahr zu werden, daß die Gestalt, die sich mir näherte, mehr
von dem üppigen Contour einer Bacchantin als von der jungfräulichen
Geschmeidigkeit meiner Freundin hatte.  Wir flogen einander mit gleichem
Verlangen in die Arme.  Die sprachlose Trunkenheit des ersten Augenblicks
verstattet nicht, Bemerkungen zu machen; aber es währte doch nicht lange,
bis ich notwendig fühlen mußte, daß ich mit einer Heftigkeit, welche mit
der unschuldigen Zärtlichkeit einer Psyche den stärksten Absatz machte, an
einen kaum verhüllten und ungestüm klopfenden Busen gedrückt wurde.--Das
konnte nicht Psyche sein.--Ich wollte mich aus ihren Armen loswinden; aber
sie verdoppelte die Stärke, womit sie mich umschlang, zugleich mit ihren
wollüstigen Liebkosungen; und da ich nun auf einmal mit einem Entsetzen,
welches mir alle Sehnen lähmte, meinen Irrtum erkannte; so machte die
Gewalt, die ich anwenden wollte, mich von der rasenden Priesterin
loszureißen, daß wir mit einander zu Boden sanken.  Ich wünschte aus
Hochschätzung des Geschlechts, welches in meinen Augen der
liebenswürdigste Teil der Schöpfung ist, daß ich diese Szene aus meinem
Gedächtnis auslöschen könnte.--Die Bestrebungen dieser Unglückseligen
empörten endlich alle meine Geister zu einem Grimm, der mich ihrer eigenen
Wut überlegen machte.  Ich hatte alle meine Vernunft nötig, um nicht alle
Achtung, die ich wenigstens ihrem Geschlecht schuldig war, aus den Augen
zu setzen.  Aber ich zweifle nicht, daß eine jede Frauens-Person, welche
noch einen Funken von sittlichem Gefühl übrig hätte, lieber den Tod, als
die Vorwürfe und die Verwünschungen, womit sie überströmt wurde, ausstehen
wollte.  Sie krümmete sich, in Tränen berstend zu meinen Füßen.--Dieser
Anblick war mir unerträglich--ich wollte entfliehen; sie verfolgte mich,
sie hing sich an, und bat mich, ihr den Tod zu geben.  Ich verlangte mit
Heftigkeit, daß sie mir meine Psyche wieder geben sollte.  Diese Worte
schienen sie unsinnig zu machen.  Sie erklärte mir, daß das Leben dieser
Sklavin in ihrer Gewalt sei, und von dem Entschluß, den ich nehmen würde,
abhange.  Sie sah die Veränderung, die diese Drohung auf einmal in meinem
ganzen Wesen machte; wir verstummten beide eine Weile.  Endlich nahm sie
einen sanftern, aber nicht weniger entschlossenen Ton an, um mir ihre
vorige Erklärung zu bekräftigen.  Die Eifersucht machte sie so vieles
sagen, daß ich Zeit bekam mich zu fassen, und eine Drohung weniger
fürchterlich zu finden, zu deren Ausführung ich sie, wenigstens aus Liebe
zu sich selbst, unfähig glaubte.  Ich antwortete ihr also mit einem kalten
Blute, welches sie stutzen machte: daß sie auf ihre eigene Gefahr über das
Leben meiner jungen Freundin disponieren könne.  Doch ersuchte ich sie,
sich zu erinnern, daß sie selbst mich zum Meister über das Ihrige, und
über das, was ihr noch lieber als das Leben sein sollte, gemacht habe.
Das meinige (setzte ich lebhafter hinzu) hört mit dem Augenblick auf, da
Psyche für mich verloren ist; denn bei dem Gott, dessen Gegenwart dieses
heilige Land erfüllt, keine menschliche Gewalt soll mich aufhalten, ihrem
geliebten Geist in eine bessere Welt zu folgen, wohin uns das Laster nicht
folgen kann, unsere geheiligte Liebe zu beunruhigen!--Meine
Standhaftigkeit schien, den Mut der Priesterin niederzuschlagen.  Sie
sagte mir endlich: Sie merkte sehr wohl, daß ich trotzig darauf sei, daß
ich in meiner Gewalt habe, sie zu Grunde zu richten--ich könnte tun, was
ich wollte; nur sollte ich versichert sein, daß ihr Psyche für jeden
Schritt antworten sollte, den ich machen würde.  Mit diesen Worten
entfernte sie sich, und ließ mich in einem Zustande, dessen
Abscheulichkeit, nach der Empfindung die ich davon hatte, abgemessen, über
allen Ausdruck ging.  Ich wußte nun, daß die Priesterin Mittel gefunden
haben müsse, unser Geheimnis zu entdecken, und daß der Blumen-Kranz ein
Kunstgriff von ihrer Erfindung gewesen war.  Nach dieser
Niederträchtigkeit war keine Bosheit so ungeheuer, deren ich diese Elende
nicht fähig gehalten hätte.  Ich besorgte nichts für mich selbst, aber
alles für die arme Psyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin
überlassen mußte, ohne daß mir alle meine Zärtlichkeit für sie das
Vermögen geben konnte, sie davon zu befreien."



FÜNFTES KAPITEL

Agathon entfliehet von Delphi, und findet seinen Vater


"Nachdem ich etliche Tage in der grausamen Ungewißheit, was aus meiner
Geliebten geworden sein möchte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von
einer Sklavin der Pythia, welche ihre Freundin gewesen war, daß sie nicht
mehr in Delphi sei.  Dieses war alle Nachricht, die ich von ihr ziehen
konnte; aber es war genug, mir den Aufenthalt von Delphi unerträglich zu
machen.  Nunmehr bedacht' ich mich keinen Augenblick, was ich tun wollte.
Ich stahl mich in der nächsten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines so
unbesonnenen Schrittes bekümmert zu sein; oder richtiger zu sagen, in
einem Gemüts-Zustande, worin ich unfähig war, einige vernünftige
überlegung zu machen.  Ich irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo
ich eine Spur von meiner Freundin zu entdecken hoffte; töricht genug mir
einzubilden, daß sie mich, wo sie auch sein möchte, durch die magische
Gewalt der Sympathie unsrer Seelen nach sich ziehen werde.  Aber meine
Hoffnung betrog mich; niemand konnte mir die geringste Nachricht von ihr
geben.  Unempfindlich gegen alles Elend, welches ich auf dieser unsinnigen
Wanderschaft erfahren mußte, fühlte ich keinen andern Schmerz als die
Trennung von meiner Geliebten und die Ungewißheit, was ihr Schicksal sei;
ich würde die Versicherung, daß es ihr wohl gehe, gerne mit meinem Leben
bezahlt haben.  Endlich führte mich der Zufall oder eine mitleidige
Gottheit nach Corinth.  Die Sonne war eben untergegangen, als ich von den
Beschwerlichkeiten der Reise, und einer Diät, deren ich nicht gewohnt war,
äußerst abgemattet, vor dem Hofe eines von den prächtigen Landgütern ankam,
welche die Küsten des Corinthischen Meeres verschönern.  Ich warf mich
unter eine hohe Zypresse nieder, und verlor mich in den Vorstellungen der
natürlichen, und dennoch in der Hitze der Leidenschaft nicht
vorhergesehenen Folgen meiner Flucht von Delphi.  In der Tat war meine
Situation fähig, den herzhaftesten Mut niederzuschlagen.  In eine Welt
ausgestoßen, worin mir alles fremd war, ohne Freunde, unwissend wie ich
ein Leben werde erhalten können, dessen Urheber mir nicht einmal bekannt
war--warf ich traurige Blicke um mich her--die ganze Natur schien mich
verlassen zu haben--auf dem weiten Umfang der mütterlichen Erde sah ich
nichts, worauf ich einen Anspruch machen konnte als ein Grab, wenn mich
die Last des Elends endlich aufgerieben haben würde; und selbst dieses
konnte ich nur von der Frömmigkeit irgend eines mitleidigen Wanderers
hoffen.  Diese melancholischen Gedanken wurden durch die Erinnerung meiner
vergangnen Glückseligkeit, und durch das Bewußtsein, daß ich mein Elend
durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende übeltat
verdient hätte, noch empfindlicher gemacht.  Ich sah mit tränenvollen
Augen um mich her, als ob ich ein Wesen in der Natur suchen wollte, dem
mein Zustand zu Herzen ginge.  In diesem Augenblick erfuhr ich den
wohltätigen Einfluß dieser glückseligen Schwärmerei, welche die Natur dem
empfindlichsten Teil der Sterblichen, zu einem Gegenmittel gegen die übel,
denen sie durch die Schwäche ihres Herzens ausgesetzt sind, gegeben zu
haben scheint.  Ich wandte mich an die Unsterblichen, mit denen meine
Seele schon so lange in einer Art von unsichtbarer Gemeinschaft gestanden
war.  Der Gedanke daß sie die Zeugen meines Lebens, meiner Gedanken,
meiner geheimsten Neigungen gewesen seien, goß lindernden Trost in mein
verwundetes Herz.  Ich sahe meine geliebte Psyche unter ihre Flügel
gesichert.  'Nein', rief ich aus, 'die Unschuld kann nicht unglücklich
sein, noch das Laster seine Absichten ganz erhalten!  In diesem
majestätischen All, worin Sphären und Atomen sich mit gleicher
Unterwürfigkeit nach den Winken einer weisen und wohltätigen Macht bewegen,
wär es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer entnervenden Kleinmut zu
überlassen.--Mein Dasein ist der Beweis, daß ich eine Bestimmung habe.
--Hab' ich nicht eine Seele welche denken kann, und Gliedmaßen, welche ihr
als Sklaven zur Ausrichtung ihrer Gedanken zugegeben sind?--Bin ich nicht
ein Grieche?  Und wenn mich mein Vaterland nicht erkennen will, bin ich
nicht ein Mensch?  Ist nicht die Erde mein Vaterland?  Und gibt mir nicht
die Natur ein unverlierbares Recht an Erhaltung und jedes wesentliche
Stück der Glückseligkeit, sobald ich meine Kräfte anwende die Pflichten zu
erfüllen, die mich mit der Welt verbinden?'--Diese Gedanken beschämten
meine Tränen, und richteten mein Herz wieder auf.  Ich fing an, die Mittel
zu überlegen, die ich in meiner Gewalt hatte, mich in bessere Umstände zu
setzen; als ich einen Mann von mittlerm Alter gegen mich herkommen sah,
dessen Ansehen und Miene mir beim ersten Anblick Zutrauen und Ehrerbietung
einflößten.  Ich raffte mich sogleich vom Boden auf, und beschloß mit mir
selbst, ihn anzureden, ihm meine Umstände zu entdecken, und mir seinen Rat
auszubitten.  Er kam mir zuvor.--'Du scheinest vom Weg ermüdet zu sein,
junger Fremdling', sagte er zu mir, mit einem Ton, der ihm sogleich mein
Herz entgegen wallen machte; 'und da ich dich unter dem wirtschaftlichen
Schatten meines Baumes gefunden habe, so hoffe ich, du werdest mir das
Vergnügen nicht versagen, dich diese Nacht in meinem Hause zu beherbergen.
' Dieser Mann, den ich hieraus für den Herrn des Hauses, welches ich vor
mir sah, erkannte, betrachtete mich mit einer sonderbaren Aufmerksamkeit,
indem ich ihm für seine Leutseligkeit dankte, und mit einer
Offenherzigkeit, welche von meiner wenigen Kenntnis der Welt zeugte,
bekannte; daß ich im Begriff gewesen sei, ihn um dasjenige zu ersuchen,
was er mir auf eine so edle Art anbiete; nachdem ich durch einen Zufall in
diese Gegenden, wo ich niemand kenne, geraten sei.  Ich weiß nicht, was
ihn zu meinem Vorteil einzunehmen schien; mein Aufzug wenigstens konnte es
nicht sein; denn ich hatte, aus Sorge entdeckt zu werden, meine Delphische
Kleidung gegen eine schlechtere vertauscht, welche auf meiner Wanderschaft
ziemlich abgenutzt worden war.  Er wiederholte mir wie angenehm es ihm sei,
daß mich der Zufall vielmehr ihm als einem seiner Nachbarn zugeführt habe;
und so folgte ich ihm in sein Haus, dessen Weitläufigkeit, Bauart und
Pracht einen Besitzer von großem Reichtum und vielem Geschmack ankündigte.
Der Saal in dem wir zuerst abtraten, war mit Gemälden von den
berühmtesten Meistern, und mit einigen Bild-Säulen und Brust-Bildern vom
Phidias und Alcamenes ausgeziert.  Ich liebe wie dir bekannt ist, die
Werke der schönen Künste bis zur Schwärmerei, und mein langer Aufenthalt
in Delphi hatte mir einige Kenntnis davon gegeben.  Ich bewunderte einige
Stücke, setzte an andern dieses oder jenes aus, nannte die Künstler, deren
Hand oder Manier ich erkannte, und nahm Gelegenheit von andern
Meisterstücken zu reden, die mir von ihnen bekannt waren.  Ich bemerkte,
daß mein Wirt mich mit Verwunderung von neuem betrachtete, und so aussah,
als ob er betroffen wäre, einen jungen Menschen, den er in einem so wenig
versprechenden Aufzug unter einem Baum liegend gefunden, mit so vieler
Kenntnis von Künsten sprechen zu hören, von denen gemeiniglich nur Leute
von Stand und Vermögen im Ton der Kenner zu reden pflegen.  Nach einer
kleinen Weile wurde gemeldet, daß das Abend-Essen aufgetragen sei.  Er
führte mich hierauf in einen kleinen Saal, dessen Mauern von einem der
besten Schüler des Parrhasius mit Wasser-Farben niedlich übermalt waren.
Wir speiseten ganz allein.  Die Tafel, das Geräte, die Aufwärter, alles
stimmte mit dem Begriff überein, den ich mir bereits von dem Geschmack und
dem Stande des Haus-Herrn gemacht hatte.  Unter dem Essen trat ein junger
Mensch von feinem Ansehen und zierlich gekleidet, auf, und rezitierte ein
Stuck aus der Odyssee mit vieler Geschicklichkeit.  Mein Wirt sagte mir,
daß er bei Tische diese Art von Gemüts-Ergötzung den Tänzerinnen und
Flötenspielerinnen vorzöge, womit man sonst bei den Tafeln der Griechen
sich zu unterhalten pflege.  Das Lob das ich seinem Leser beilegte, gab zu
einem Gespräch über die beste Art zu rezitieren, und über die Griechischen
Dichter Anlaß, wobei ich meinem Wirte abermal Gelegenheit gab, zu stutzen,
und mich immer aufmerksamer, und wie mich deuchte, mit einer Art von
zärtlicher Gemüts-Bewegung anzusehen.  Er sah daß ich es gewahr wurde,
und sagte mir hierauf, daß mich die Verwunderung womit er mich von Zeit zu
Zeit betrachtete, weniger befremden würde, wenn ich die außerordentliche
ähnlichkeit meiner Gesichts-Bildung und Miene mit einer Person, welche er
ehmals gekannt habe, wißte; 'doch du sollst selbst hievon urteilen',
setzte er hinzu, und hierauf fing er an von andern Dingen zu reden, bis
der Wein und die Früchte aufgestellt wurden.  Bald darauf stunden wir auf,
und nachdem wir eine Weile in einer langen Galerie, die auf einer
doppelten Reihe Corinthischer Säulen von buntem Marmor ruhte, und prächtig
erleuchtet war, auf und abgegangen waren, führte er mich in ein Cabinet,
worin ein Schreibtisch, ein Büchergestell, einige Polster, und ein Gemälde
in Lebensgröße auf welches ich nicht gleich acht gab, alle Möbeln und
Zierraten ausmachten.  Er hieß mich niedersetzen, und nachdem er das
Bildnis, welches ihm gegenüber hing, eine ziemliche Weile mit Bewegung
angesehen hatte, redete er mich also an: 'Deine Jugend, liebenswürdiger
Fremdling, die Art wie sich unsere Bekanntschaft angefangen, die
Eigenschaften die ich in dieser kurzen Zeit an dir entdeckt, und die
Zuneigung die ich in meinem Herzen für dich finde, rechtfertigen mein
Verlangen, von deinem Namen, und von den Umständen benachrichtiget zu sein,
welche dich in einem solchen Alter von deiner Heimat entfernt und in
diese fremde Gegenden geführt haben können.  Es ist sonst meine
Gewohnheit nicht, mich beim ersten Anblick für jemand einzunehmen.  Aber
bei deiner Erblickung hab ich einem geheimen Reiz, der mich gegen dich zog
nicht widerstehen können; und du hast in diesen wenigen Stunden meine
voreilige Neigung so sehr gerechtfertiget, daß ich mir selbst Glück
wünsche, ihr Gehör gegeben zu haben.  Befriedige also mein Verlangen, und
sei versichert, daß die Hoffnung, dir vielleicht nützlich sein zu können,
weit mehr Anteil daran hat, als ein unbescheidener Vorwitz.  Du siehest
einen Freund in mir, dem du dich, ungeachtet der kurzen Dauer unsrer
Bekanntschaft, mit allem Zutrauen eines langwierigen und bewährten Umgangs
entdecken darfst.' Ich wurde durch diese Anrede so sehr gerührt, daß sich
meine Augen mit Tränen füllten--ich glaube, daß er darin lesen konnte was
ihm mein Herz antwortete, ob ich gleich eine Weile keine Worte finden
konnte.  Endlich sagte ich ihm, daß ich von Delphi käme; daß ich daselbst
erzogen worden; daß man mich Agathon genennt hätte; daß ich niemalen habe
entdecken können, wem ich das Leben zu danken habe; und daß alles was ich
davon wisse, dieses sei, daß ich in einem Alter von vier oder fünf Jahren
in den Tempel gebracht, mit andern Knaben, welche man dem Dienst des
Gottes zu Delphi gewidmet, erzogen, und nachdem ich zu mehrern Jahren
gekommen, von den Priestern mit einer vorzüglichen Achtung angesehen, und
in allem was zur Erziehung eines freigebornen Griechen erfordert werde,
geübet worden sei.  Stratonicus (so wurde mein Wirt genannt) hatte während
daß ich dieses sagte, Mühe sich ruhig zu halten; sein Gesicht veränderte
sich; er wollte anfangen zu reden, schien sich aber wieder anders zu
bedenken, und ersuchte mich nur, ihm zu sagen, warum ich Delphi verlassen
hätte.  So natürlich die Aufrichtigkeit sonst meinem Herzen war, so konnte
ich doch dieses mal unmöglich über die Bedenklichkeiten hinaus kommen,
welche mir über meine Liebe zu Psyche den Mund verschlossen.  Einem
Freunde von meinen Jahren, für den ich mein Herz eben so eingenommen
gefunden hätte, als für den Stratonicus, würde ich das Innerste meines
Herzens ohne Bedenken aufgeschlossen haben, so bald ich hätte vermuten
können, daß er meine Empfindungen zu verstehen fähig sei: Aber hier hielt
mich etwas zurück, davon ich mir selbst die Ursache nicht recht angeben
konnte.  Ich schob also die ganze Schuld meiner Entweichung von Delphi auf
die Pythia, indem ich ihm so ausführlich, als es meine jugendliche
Schamhaftigkeit gestatten wollte, von den Versuchungen, in welche sie
meine Tugend geführt hatte, Nachricht gab.  Er schien sehr wohl mit meiner
Aufführung zufrieden, und nachdem ich meine Erzählung bis auf den
Augenblick, wo ich ihn zuerst erblickt, und dasjenige was ich sogleich für
ihn empfunden, fortgeführt; stund er mit einer lebhaften Bewegung auf,
warf seine Arme um meinen Hals, und sagte mit Tränen der Freude und
Zärtlichkeit in seinen Augen:--'Mein liebster Agathon, siehe deinen
Vater--hier', setzte er hinzu, indem er mich sanft umwendete, und auf das
Gemälde wies, welchem ich bisher den Rücken zugekehrt hatte,--'hier, in
diesem Bilde, erkenne die Mutter, deren geliebte Züge mich beim ersten
Anblick in deiner Gesichts-Bildung gerührt, und diese Bewegung erregt
haben, die ich nun für die Stimme der Natur erkenne.'


Du kennest mich zu gut, liebenswürdige Danae, um dir meine Empfindungen in
diesem Augenblicke nicht lebhafter einzubilden, als ich sie beschreiben
könnte.  Solche Augenblicke sind keiner Beschreibung fähig; für solche
Freuden hat die Sprache keine Namen, die Natur keine Bilder, und die
Phantasie selbst keine Farben.--Das Beste ist, zu schweigen, und den
Zuhörer seinem eigenen Herzen zu überlassen.  Mein Vater schien durch
meine Entzückung, welche sich lange Zeit nur durch Tränen und sprachlose
Umarmungen und abgebrochene Töne der zärtlichsten Regungen, deren die
Natur fähig ist, ausdrücken konnte, doppelt glücklich zu sein.  Das
Vergnügen, womit er mich für seinen Sohn erkannte, schien ihn selbst
wieder in die glücklichsten Augenblicke seiner Jugend zu versetzen, und
Erinnerungen wieder aufzuwecken, denen mein Anblick ein neues Leben gab.
Da er natürlicher Weise voraussetzen konnte, daß ich begierig sein werde,
die Ursachen zu wissen, welche meinen Vater, der mich mit so vielem
Vergnügen für seinen Sohn erkannte, hatten bewegen können, mich so viele
Jahre von sich verbannt zu halten; so gab er mir hierüber alle
Erläuterungen, die ich nur wünschen konnte, durch eine umständliche
Erzählung der Geschichte seiner Liebe zu meiner Mutter.  Seine
Bekanntschaft mit ihr hatte sich zufälliger Weise in einem Alter
angefangen, worin er noch gänzlich unter der väterlichen Gewalt stund.
Sein Vater war das Haupt eines von den edelsten Geschlechtern in Athen.
Meine Mutter war sehr jung, sehr schön, und eben so tugendhaft als schön,
unter der Aufsicht einer alten Frau, die sich ihre Mutter nannte, dahin
gekommen.  Die strenge Eingezogenheit, worin sie sehr kümmerlich von ihrer
Hand-Arbeit lebte, verwahrte die junge Musarion vor den Augen und vor den
Nachstellungen der mäßigen reichen Jünglinge, welche gewohnt sind, junge
Mädchen, die keinen andern Schutz als ihre Unschuld, und keinen andern
Reichtum als ihre Reizungen haben, für ihre natürliche Beute anzusehen.
Dem ungeachtet konnte sie nicht verhintern, durch einen Zufall, den ich
übergehen will, meinem Vater bekannt zu werden, welcher sich durch seine
gesittete und bescheidene Lebens-Art von den meisten jungen Atheniensern
seiner Zeit unterschied.  Sein tugendhafter Charakter konnte ihn nicht
verwahren, von den Reizungen der jungen Musarion gerührt zu werden; aber
er machte, daß seine Liebe die Eigenschaft seines Charakters annahm.  Sie
war tugendhaft, bescheiden, und eben dadurch stärker und dauerhafter.
Sein Stand, sein guter Ruf und sein zurückhaltendes Betragen gegen den
unschuldigen Gegenstand seiner Liebe gaben zusammengenommen einen
Beweg-Grund ab, der die Nachsicht entschuldigen konnte, womit die Alte
seine geheime Besuche duldete, ob sie gleich immer häufiger wurden.
Nichts kann natürlicher sein, als dasjenige, was man liebt, dem Mangel
nicht ausgesetzt sehen zu können; aber nichts ist auch in den Augen der
Welt zweideutiger, als die Freigebigkeit eines jungen Menschen gegen eine
junge Person, welche das Unglück hat, durch ihre Annehmlichkeiten den Neid,
und durch ihre Armut die Verachtung des großen Haufens zu erregen.  Man
kann sich nicht bereden, daß in einem solchen Fall derjenige, welcher gibt,
nicht eigennützige Absichten habe; oder diejenige, welche annimmt, ihre
Dankbarkeit nicht auf Unkosten ihrer Unschuld beweise.  Stratonicus
gebrauchte deswegen die äußerste Vorsichtigkeit, um die Wohltaten, womit
er diese kleine Familie von Zeit zu Zeit unterstützte, vor aller Welt und
vor ihnen selbst zu verbergen.  Allein sie entdeckten doch zuletzt ihren
unbekannten Wohltäter; und diese neue Proben seiner edelmütigen Sinnes-Art
vollendeten den Eindruck, den er schon lange auf das unerfahrne Herz der
zärtlichen Musarion gemacht hatte, und gewannen es ihm gänzlich.  Niemals
würde die Liebe von der zärtlichsten Gegenliebe erwidert, zwei Herzen
glücklicher gemacht haben, wenn die Umstände der jungen Schönen einer
gesetzmäßigen Vereinigung nicht Schwierigkeiten in den Weg gelegt hätten,
welche ein jeder anderer als ein Liebhaber für unüberwindlich gehalten
hätte.  Endlich war Stratonicus so glücklich, zu entdecken, daß seine
Geliebte würklich eine Atheniensische Bürgerin sei, die Tochter eines zwar
armen, aber rechtschaffenen Mannes, welcher im Pelopponesischen Kriege
sein Leben auf eine rühmliche Art verloren hatte.  Nunmehr wagte er es,
seinem Vater das Geheimnis seiner Liebe zu entdecken; er wandte alles an,
seine Einwilligung zu erhalten; aber der Alte, welcher alle Reizungen und
alle Tugenden der jungen Musarion für keinen genugsamen Ersatz des
Reichtums, der ihr fehlte, ansah, blieb unerbittlich.  Stratonicus liebte
zu inbrünstig, um dem Befehl, nicht weiter an seine Geliebte zu denken,
gehorsam zu sein; er würde sich selbst für den Unwürdigsten unter den
Menschen gehalten haben, wenn er fähig gewesen wäre, ihr nur das Wenigste
von seinen Empfindungen zu entziehen.  Die Widerwärtigkeiten und
Hinternisse, womit seine Liebe kämpfen mußte, taten vielmehr die Würkung,
welche sie in einem solchen Falle bei edeln und wahrhaftig eingenommenen
Gemütern allemal tun werden; sie konzentrierten das Feuer ihrer
gegenseitigem Zuneigung, und bliesen eine Flamme, welche, so lange sie von
Hoffnung genährt wurde, drei Jahre lang sanft und rein fortgebrannt hatte,
zu der heftigsten Leidenschaft an.  Das Herz ermüdet endlich durch den
langen Kampf mit seinen süßesten Regungen; es verliert die Kraft zu
widerstehen; und je länger es unter den Qualen einer zugleich verfolgten
und unbefriedigten Liebe geseufzet hat, je heftiger sehnet es sich nach
einer Glückseligkeit, wovon ein einziger Augenblick genugsam ist, das
Andenken aller ausgestandenen Leiden auszulöschen, das Gefühl der
gegenwärtigen zu ersticken, und die Augen, von der süßen Trunkenheit der
glücklichen Liebe benebelt, gegen alle künftige Not blind zu machen.
Außer diesem hatte Musarion noch den Beweg-Grund einer Dankbarkeit, von
deren drückender Last ihr Herz sich zu erleichtern suchte.  Kurz: Sie
schwuren einander eine ewige Treue, überließen sich dem sympathetischen
Verlangen ihres Herzens, und bedienten sich der Gewalt, die ihnen die
Liebe gab, einander glücklich zu machen.  Die Glückseligkeit, welche eines
dem andern zu danken hatte, unterhielt und befestigte die zärtliche
Vereinigung ihrer Herzen, anstatt sie zu schwächen oder gar aufzulösen;
denn noch niemals ist der Genuß das Grab der wahren Zärtlichkeit gewesen.
Ich, schöne Danae, war die erste Frucht ihrer Liebe.  Glücklicher Weise
fiel meinem Vater eben damals durch den letzten Willen eines Oheims ein
kleines Vorwerk auf einer von den Insuln zu, welche unter der Botmäßigkeit
der Athenienser stehen.  Dieses mußte meiner Mutter zur Zuflucht dienen;
ich wurde daselbst geboren, und genoß drei Jahre lang ihrer eigenen Pflege;
bis sie mir durch eine Schwester entzogen wurde, deren Leben der
liebenswürdigen Musarion das ihrige kostete.  Stratonicus hatte inzwischen
manchen Versuch gemacht, das Herz seines Vaters zu erweichen; aber allemal
vergebens.  Es blieb ihm also nichts übrig, als seine Verbindung mit
meiner Mutter und die Folgen derselben geheim zu halten.  Ihr frühzeitiger
Tod vernichtete die Entwürfe von Glückseligkeit, die er für die Zukunft
gemacht hatte, ohne die zärtliche Treue, die er ihrem Andenken widmete, zu
schwächen.  Die Sorge für das, was ihm von ihr übrig geblieben war, hielt
ihn zurück, sich einer Traurigkeit völlig zu überlassen, welche ihn lange
Zeit gegen alle Freuden des Lebens gleichgültig, und zu allen
Beschäftigungen desselben verdrossen machte.  Der Tempel zu Delphi schien
ihm der tauglichste Ort zu sein, mich zu gleicher Zeit zu verbergen, und
einer guten Erziehung teilhaft zu machen.  Er hatte Freunde daselbst,
denen ich besonders empfohlen wurde, mit dem gemessensten Auftrag, mich in
einer gänzlichen Unwissenheit über meinen Ursprung zu lassen.  Sein
Vorsatz war, so bald der Tod seines Vaters ihn zum Meister über sich
selbst und seine Güter gemacht haben würde, mich von Delphi abzuholen, und
nach Athen zu bringen, wo er so dann seine Verbindung mit meiner Mutter
bekannt machen, und mich öffentlich für seinen Sohn und Erben erklären
wollte.  Aber dieser Zufall erfolgte erst wenige Monate vor meiner Flucht,
und seit demselben hatten ihn dringendere Geschäfte genötigt, meine
Abholung aufzuschieben.

Nachdem mein Vater diese Erzählung geendigt hatte, ließ er einen alten
Freigelassenen zu sich rufen, und fragte ihn: Ob er den kleinen Agathon
kenne, den er vor vierzehn Jahren dem Schutz des Delphischen Apollo
überliefert habe?  Der gute Alte, dessen Züge mir selbst nicht unbekannt
waren, erkannte mich desto leichter, da er binnen dieser Zeit von meinem
Vater etliche male nach Delphi abgeschickt worden war, sich meines
Wohlbefindens zu erkundigen.  Nunmehr wurde in wenigen Augenblicken das
ganze Haus mit allgemeiner Freude erfüllt; die Zufriedenheit meines Vaters
über mich, und das Vergnügen, womit alle seine Haus-Genossen mich, als den
einzigen Sohn ihres Herrn, bewillkommten, machte die Freude vollkommen,
die ich bei einem so unverhofften und plötzlichen übergang von dem Elend
eines sich selbst unbekannten, nackten und allen Zufällen des Schicksals
preis gegebenen Flüchtlings zu einem so blendenden Glücks-Stand notwendig
empfinden mußte.  Blendend hätte er wenigstens für manchen andern sein
können, der durch die Art seiner Erziehung weniger als ich vorbereitet
gewesen wäre, einen solchen Wechsel mit Bescheidenheit zu ertragen.
Inzwischen bin ich mir selbst die Gerechtigkeit schuldig, zu sagen, daß
die Versicherung, ein Bürger von Athen, und durch meine Geburt und die
Tugend meiner Voreltern zu Verdiensten und schönen Taten berufen zu sein,
mir ungleich mehr Vergnügen machte, als der Anblick der Reichtümer, welche
die Gütigkeit meines Vaters mit mir zu teilen so begierig war, und welche
in meinen Augen nur dadurch einen Wert erhielten, weil sie mir das
Vermögen zu Leben schienen, desto freier und vollkommener nach den
Grund-Sätzen, die ich eingezogen hatte, leben zu können.  Ich unterhielt
mich nun mit einer neuen Art von Träumen, welche durch ihre Beziehung auf
meine neu entdeckten Verhältnisse für mich so wichtig, als durch ihre
Ausführung eben so viele Wohltaten für das menschliche Geschlecht zu sein
schienen.  Ich machte Entwürfe, wie die erhabenen Lehr-Sätze meiner
idealischen Sitten-Lehre auf die Einrichtung und Verwaltung eines gemeinen
Wesens angewendet werden könnten.  Diese Betrachtungen, welche einen guten
Teil meiner Nächte wegnahmen, erfüllten mich mit dem lebhaftesten Eifer
für ein Vaterland, welches ich nur aus Geschichtschreibern kannte; ich
zeichnete mir selbst, auf den Fußstapfen der Solons und Aristiden, einen
Weg aus, bei welchem ich an keine andere Hinternisse dachte, als solche,
die durch Mut und Tugend zu überwinden sind.  Dann setzte ich mich in
meinen patriotischen Entzückungen an das Ende meiner Laufbahn, und sah in
Athen, nichts geringers als die Hauptstadt der Welt, die Gesetzgeberin der
Nationen, die Mutter der Wissenschaften und Künste, die Königin des Meers,
den Mittelpunkt der Vereinigung des ganzen menschlichen Geschlechts.--Kurz,
ich machte ungefähr eben so schimärische, und eben so ungeheure Projekte,
als Alcibiades; aber mit dem wesentlichen Unterscheid, daß ein von Güte
und allgemeiner Wohltätigkeit beseeltes Herz die Quelle der meinigen war.
Sie hatten noch dieses Besondere, daß ihre Ausführung, (die moralische
Möglichkeit derselben vorausgesetzt,) keiner Mutter eine Träne, und keinem
Menschen in der Welt mehr, als die Aufopferung seiner Vorurteile, und
solcher Leidenschaften, welche die Ursachen alles Privat-Elends sind,
gekostet hätten.  Ihre Ausführung schien mir, weil ich mir die Hinternisse
nur einzeln, und nicht in ihrem Zusammenhang und vereinigtem Gewichte
vorstellte, so leicht zu sein, daß ich nur allein darüber verwundert war,
daß ein Perikles unter den kleinfügigen Bemühungen Athen zur Meisterin von
Griechenland zu machen, habe übersehen können, wie viel leichter es sei,
es zum Tempel eines ewigen Friedens und der allgemeinen Glückseligkeit der
Welt zu machen.  Diese schönen Spekulationen gaben etliche mal den Stoff
zu den Unterredungen ab, womit ich meinem Vater des Abends die Zeit zu
verkürzen pflegte.  Die Lebhaftigkeit meiner Einbildungskraft schien ihn
eben so sehr zu belustigen, als sein Herz, dessen Ebenbild er in dem
meinigen erkannte, sich an den tugendhaften Gesinnungen vergnügte, welche
er, wie ich selbst, (vielleicht beide ein wenig zu parteiisch) für die
Triebfedern meiner politischen Träume hielt.  Alles, was er mir von den
Schwierigkeiten ihrer Ausführung, die er mit der Quadratur des Zirkels in
eine Klasse setzte, sagen konnte, überzeugte mich so wenig, als einen
Verliebten die Einwendungen eines Freundes, der bei kaltem Blut ist,
überzeugen werden.  Ich hatte eine Antwort für alle; und dieser neue
Schwung, den mein Enthusiasmus bekommen hatte, wurde bald so stark, daß
ich es kaum erwarten konnte, mich in Athen, und in Umständen zu sehen, wo
ich die erste Hand an dieses große Werk, wozu ich gewidmet zu sein glaubte,
legen könnte."



SECHSTES KAPITEL

Agathon kommt nach Athen, und widmet sich der Republik.  Eine Probe der
besondern Natur desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura popularis
genennet wird


"Mein Vater hielt sich nur so lange zu Corinth auf, als es seine Geschäfte
erfoderten, und eilte selbst, mich so bald es nur möglich war, in dieses
Athen zu versetzen, welches sich meiner verschönernden Einbildung in einem
so herrlichen Lichte darstellte.  Ich gestehe dir, Danae, (und hoffe, die
fromme Pflicht gegen meine Vaterstadt nicht dadurch zu beleidigen) daß der
erste Anblick mit dem was ich erwartete einen starken Absatz machte.  Mein
Geschmack war zu sehr verwöhnt, um das Mittelmäßige, worin es auch sein
möchte, erträglich zu finden; er wollte gleichsam alles in diese feine
Linie eingeschlossen sehen, in welcher das Erhabene mit dem Schönen
zusammenfließt; und wenn er diese Vollkommenheit an einzelnen Teilen
gewahr wurde, so wollte er, daß alle zusammenstimmen, und ein sich selbst
durchaus ähnliches, symmetrisches Ganzes ausmachen sollten.  Von diesem
Grade der Schönheit war Athen, so wie vielleicht eine jede andere Stadt in
der Welt, noch weit entfernt; indessen hatte sie doch der gute Geschmack
und die Verschwendung des Pericles, mit Hülfe der Phidias, der Alcamenen,
und andrer großer Meister, in einen solchen Stand gestellt, daß sie mit
den prächtigsten Städten des politesten Teils der Welt um den Vorzug
streiten konnte; und ich hielt mit Recht davor, daß die Ergänzung und
Vollendung dessen, was ihr von dieser Seite noch abging, der leichteste
Teil meiner Entwürfe, und eine natürliche Folge derjenigen Veranstaltungen
sein werde, welche sie, meiner Einbildung nach, zum Mittelpunkt der Stärke,
und der Reichtümer des ganzen Erdbodens machen sollten.

Sobald wir in Athen angekommen waren, ließ mein Vater seine erste Sorge
sein, mich auf eine gesetzmäßige und öffentliche Art für seinen Sohn
erkennen, und unter die Atheniensischen Bürger aufnehmen zu lassen.
Dieses machte mich eine Zeit lang zu einem Gegenstand der allgemeinen
Aufmerksamkeit.  Die Athenienser sind, wie dir nicht unbekannt ist, mehr
als irgend ein anders Volk in der Welt geneigt, sich plötzlich mit der
äußersten Lebhaftigkeit für oder wider etwas einnehmen zu lassen.  Ich
hatte das Glück, ihnen beim ersten Anblick zu gefallen; die Begierde mich
zu sehen, und Bekanntschaft mit mir zu machen, wurde eine Art von
epidemischer Leidenschaft unter Jungen und Alten; jene machten in kurzem
einen glänzenden Hof um mich, und diese faßten Hoffnungen von mir, welche
mich, ohne es an mir selbst gewahr zu werden, mit einem geheimen Stolz
erfüllten, und die allzuhochfliegende Meinung, die ich ohnehin geneigt war,
von meiner Bestimmung zu fassen, bestätigten.  Dieser subtile Stolz, der
sich hinter meinen besten Neigungen und tugendhaftesten Gesinnungen
verbarg, und dadurch meinem Bewußtsein sich entzog, benahm mir nichts von
einer Bescheidenheit, wodurch ich vor den meisten jungen Leuten meiner
Gattung mich zu unterscheiden schien; und ich gewann dadurch, nebst der
allgemeinen Achtung des geringern Teils des Volkes, den Vorteil, daß die
Vornehmsten, die Weisesten und Erfahrensten mich gerne um sich haben
mochten, und mir durch ihren Umgang eine Menge besondere Kenntnisse
mitteilten, welche mir bei meinem frühzeitigen Auftritt in der Republik
sehr wohl zu statten kamen.  Die Reinigkeit meiner Sitten, der gute
Gebrauch, den ich von meiner Zeit machte, der Eifer, womit ich mich zum
künftigen Dienst meines Vaterlandes vorbereitete, die fleißige Besuchung
der Gymnasien, und der Preis, den ich in den übungen von den mehresten
meines Alters davon trug: Alles dieses vereinigte sich, das günstige
Vorurteil zu unterhalten, welches man einmal für mich gefaßt hatte; und da
mir noch die Verdienste meines Vaters, und einer langen Reihe von
Voreltern den Weg zur Republik bahnten; so ist es nicht zu verwundern, daß
ich in einem Alter, worin die meisten Jünglinge nur mit ihren Vergnügungen
beschäftiget sind, den Mut hatte, in den öffentlichen Versammlungen
aufzutreten, und das Glück, mit einem Beifall aufgenommen zu werden,
welcher mich in Gefahr setzte, eben so schnell, als ich empor gehoben
wurde, so wohl durch meine eigene Vermessenheit, als durch den Neid meiner
Nebenbuhler wieder gestürzt zu werden.

Die Beredsamkeit ist in Athen, und in allen Freistaaten, wo das Volk
Anteil an der öffentlichen Verwaltung hat, der nächste Weg zu Ehrenstellen,
und das gewisseste Mittel sich auch ohne dieselben Ansehen und Einfluß zu
verschaffen.  Ich ließ es mir also sehr angelegen sein, die Geheimnisse
einer Kunst zu studieren, von deren Ausübung und dem Grade der
Geschicklichkeit, den ich mir darin erwerben würde, die glückliche
Ausführung aller meiner Entwürfe abzuhängen schien.  Denn wenn ich
bedachte, wozu Perikles und Alcibiades die Athenienser zu bereden gewußt
hatten: So zweifelte ich keinen Augenblick, daß ich sie mit einer gleichen
Geschicklichkeit zu Maßnehmungen würde überreden können, welche, außerdem,
daß sie an sich selbst edler waren, zu weit glänzendern Vorteilen führten,
ohne so ungewiß und gefährlich zu sein.  In dieser Absicht besuchte ich
die Schule des Platons, welcher damals zu Athen in seinem größesten
Ansehen stund, und indem er die Weisheit des Socrates mit der Beredsamkeit
eines Gorgias und Prodicus vereinigte, nach dem Urteil meiner alten
Freunde, weit geschickter, als diese Wortkünstler, war, einen Redner zu
bilden, der vielmehr durch die Stärke der Wahrheit, als durch die
Blendwerke und Kunstgriffe einer hinterlistigen Dialektik sich die Gemüter
seiner Zuhörer unterwerfen wollte.  Der vertrautere Zutritt, den mir
dieser berühmte Weise vergönnte, entdeckte eine übereinstimmung meiner
Denkungsart mit seinen Grundsätzen, welche die Freundschaft, die ich für
ihn faßte, in eine fast schwärmerische Leidenschaft verwandelte.  Sie
würde mir schädlich gewesen sein, wenn man damals schon so von ihm gedacht
hätte, wie man dachte, nachdem er, durch die Bekanntmachung seiner
metaphysischen Dialogen, bei den Staatsleuten, und selbst bei vielen,
welche seine Bewundrer gewesen waren, den Vorwurf, welchen Aristophanes
ehemals (wiewohl höchst unbillig) dem weisen Socrates gemacht, sich mit
besserm Grund oder mehr Scheinbarkeit zugezogen hatte.  Aber damals hatte
Plato weder seinen 'Timäus' noch seine 'Republik' geschrieben.  Indessen
existierte diese letztere doch bereits in seinem Gehirne; sie gab sehr oft
den Stoff zu unsern Gesprächen in den Spaziergängen der Akademie ab; und
er bemühete sich desto eifriger, mir seine Begriffe von der besten Art,
die menschliche Gesellschaft einzurichten, und zu regieren, eigen zu
machen, da er das Vergnügen zu haben hoffte, sie wenigstens in so fern es
die Umstände zulassen würden, durch mich realisiert zu sehen.  Sein Eifer
in diesem Stücke mag so groß gewesen sein, als er will, so war er doch
gewiß nicht größer, als meine Begierde, dasjenige auszuüben, was er
spekulierte.  Allein, da meine Vorstellung von der Wichtigkeit der
Pflichten, welche derjenige auf sich nimmt, der sich in die öffentlichen
Angelegenheiten mischet, der Lauterkeit und innerlichen Güte meiner
Absichten proportioniert war, und ich desto weiter von Ehrsucht, und
andern eigennützigen Leidenschaften entfernt zu sein glaubte, je gewisser
ich mir bewußt war, daß ich (wenn ich es für erlaubt gehalten hätte, mich
in der Wahl einer Lebensart bloß meiner Privatneigung zu überlassen,) eine
von dem Städtischen Getümmel entfernte Muße, und den Umgang mit den Musen,
die ich alle zugleich liebte, der Ehre, eine ganze Welt zu beherrschen,
vorgezogen hätte: So glaubte ich mich nicht genug vorbereiten zu können,
eh ich auf einem Theater erschiene, wo der erste Auftritt gemeiniglich das
Glück des ganzen Schauspiels entscheidet.  Ich widerstund bei etlichen
Gelegenheiten, welche mich aufzufodern schienen, so wohl dem Zudringen
meiner Freunde, als meiner eigenen Neigung, ob es gleich, seit dem
Alcibiades mit so gutem Erfolg den Anfang gemacht hatte, nicht an jungen
Leuten fehlte, welche, ohne sich durch andre Talente, als die
Geschicklichkeit ein Gastmahl anzuordnen, sich zierlich zu kleiden, zu
tanzen, und die Cithar zu spielen, bekannt gemacht zu haben, vermessen
genug waren, nach einer durchgeschwärmten Nacht aus den Armen einer
Buhlerin in die Versammlung des Volks zu hüpfen, und von Salben triefend
mit einer tändelhaften Geschwätzigkeit von den Gebrechen des Staats, und
den Fehlern der öffentlichen Verwaltung zu plaudern.

Endlich ereignete sich ein Fall, wo das Interesse eines Freundes, den ich
vorzüglich liebte, alle meine Bedenklichkeiten überwog.  Eine mächtige
Kabale hatte seinen Untergang geschworen; er war unschuldig; aber die
Anscheinungen waren gegen ihn; die Gemüter waren wider ihn eingenommen;
und die Furcht, sich den Unwillen seiner Feinde zu zuziehen, hielt die
wenigen, welche besser von ihm dachten, zurück, sich seiner öffentlich
anzunehmen.  In diesen Umständen stellte ich mich als sein Verteidiger
dar.  Da ich von seiner Unschuld überzeugt war, so würkten alle diese
Betrachtungen, wodurch sich seine übrigen Freunde abschrecken ließen, bei
mir gerade das Widerspiel.  Ganz Athen wurde aufmerksam, da es bekannt
wurde, daß Agathon, des Stratonicus Sohn, auftreten würde, die Sache des
schon zum voraus verurteilten Lysias zu führen.  Die Zuneigung, welche das
Volk zu mir trug, veränderte auf einmal die Meinung, die man von dieser
Sache gefaßt hatte; die Athenienser fanden eine Schönheit, von der sie
ganz bezaubert waren, in der Großmut und Herzhaftigkeit, womit ich (wie
sie sagten) mich für einen Freund erklärte, den alle Welt verlassen und
der Wut und übermacht seiner Feinde preis gegeben hatte.  Man tat nun die
eifrigsten Gelübde, daß ich den Sieg davon tragen möchte, und der
Enthusiasmus, womit einer den andern ansteckte, wurde so groß, daß die
Gegenpartei sich genötigt sah, den Tag der Entscheidung so weit
hinauszusetzen, als sie für nötig hielten, um die erhitzten Gemüter sich
wieder abkühlen zu lassen.  Sie sparten inzwischen keine Kunstgriffe,
wodurch sie sich des Ausgangs zu versichern glaubten; allein der Erfolg
vereitelte alle ihre Maßnehmungen.  Die Zujauchzungen, womit ich von einem
großen Teil des Volkes empfangen wurde, munterten mich auf; ich sprach mit
einem gesetztern Mut, als man sonst von einem jungen Menschen erwarten
konnte, der zum ersten mal vor einer so zahlreichen Versammlung redete;
und vor einer Versammlung, wo der geringste Handwerksmann sich für einen
Kenner und rechtmäßigen Richter der Beredsamkeit hielt.  Die Wahrheit tat
auch hier die Würkung, die sie alle mal tut, wenn sie in ihrem eigenen
Lichte und mit derjenigen Lebhaftigkeit, welche die eigene überzeugung des
Redners gibt, vorgetragen wird; sie überwältigte alle Gemüter.  Lysias
wurde losgesprochen, und Agathon, der nunmehr der Held der Athenienser war,
im Triumph nach Hause begleitet.  Von dieser Zeit erschien ich öfters in
den öffentlichen Versammlungen; die Leidenschaft, welche das Volk für mich
gefaßt hatte, und der Beifall, der mir, wenn ich redete, entgegen flog,
machten mir Mut, nun auch an den allgemeinen Angelegenheiten Teil zu
nehmen; und da das Glück beschlossen zu haben schien, mich nicht eher zu
verlassen, bis es mich auf den Gipfel der Republikanischen Größe erhoben
haben würde; so machte ich auch in dieser neuen Lauf-Bahn so schnelle
Schritte, daß in kurzem die Gunst, worin ich bei dem Volk stund, das
Ansehen der Mächtigsten zu Athen im Gleichgewicht erhielt; und daß meine
heimlichen Feinde selbst, um dem Volk angenehm zu sein, genötigt waren,
öffentlich die Zahl meiner Bewunderer zu vermehren.  Der Tod meines Vaters,
der um diese Zeit erfolgte, beraubte mich eines Freundes und Führers,
dessen Klugheit mir in dem gefahrvollen Ozean des politischen Lebens
unentbehrlich war.  Ich wurde dadurch in den Besitz der großen Reichtümer
gesetzt, mit denen er nur dadurch dem Neid entgangen war, weil er sie mit
großer Bescheidenheit gebrauchte.  Ich war nicht so vorsichtig.  Der
Gebrauch, den ich davon machte, war zwar an sich selbst edel und löblich;
ich verschwendete sie, um Gutes zu tun; ich unterstützte alle Arten von
Bürgern, welche ohne ihre Schuld in Unglück geraten waren; mein Haus war
der Sammel-Platz der Gelehrten, der Künstler und der Fremden; mein
Vermögen stund jedem zu Diensten, der es benötigt war: aber eben dieses
war es, was in der Folge meinen Fall beförderte.  Man würde mir eher zu
gut gehalten haben, wenn ich es mit Gastmählern, mit Buhlerinnen und mit
einer immerwährenden Abwechslung prächtiger und ausschweifender
Lustbarkeiten durchgebracht hätte.  Indes stund es eine geraume Zeit an,
bis die Eifersucht, welche ich durch eine solche Lebens-Art in den
Gemütern der Angesehensten unter den Edeln zu Athen erregte, es wagen
durfte, in sichtbare Würkungen auszubrechen.  Das Volk, welches mich
vorhin geliebet hatte, fing nun an, mich zu vergöttern.  Der Ausdruck, den
ich hier gebrauche, ist nicht zu stark; denn da ein gewisser Dichter, der
sich meines Tisches zu bedienen pflegte, sich einst einfallen ließ, in
einem großen und elenden Gedicht mir den Apollo zum Vater zu geben, so
fand diese mir selbst lächerliche Schmeichelei bei dem Pöbel (dem ohnehin
das Wunderbare allemal besser als das Natürliche einleuchtet) so großen
Beifall, daß sich nach und nach eine Art von Sage unter dem Volk
befestigte, welche meiner Mutter die Ehre beilegte, den Gott zu Delphi für
ihre Reizungen empfindlich gemacht zu haben.  So ausschweifend dieser Wahn
war, so wahrscheinlich schien er meinen Gönnern aus der untersten Klasse;
dadurch allein glaubten sie die mehr als menschliche Vollkommenheiten, die
sie mir zuschrieben, erklären, und die ungereimten Hoffnungen, welche sie
sich von mir machten, rechtfertigen zu können.  Denn das Vorurteil des
großen Haufens ging weit genug, daß viele öffentlich sagten, Athen könne
durch mich allein zur Gebieterin des ganzen Erdbodens gemacht werden, und
man könne nicht genug eilen, mir eine einzelne und unumschränkte Gewalt zu
übertragen, von welcher sie sich nichts geringers als die Wiederkehr der
göldenen Zeit, die gänzliche Aufhebung des verhaßten Unterscheids zwischen
Armen und Reichen, und einen seligen Müßiggang mitten unter allen
Wollüsten und Ergötzlichkeiten des Lebens versprachen.


Bei diesen Gesinnungen, womit in größerm oder kleinerm Grade der
Schwärmerei das ganze Volk zu Athen für mich eingenommen war, brauchte es
nur eine Gelegenheit, um sie dahin zu bringen, die Gesetze selbst zu
Gunsten ihres Lieblings zu überspringen.  Diese zeigte sich, da Euböa und
einige andre Insuln sich des ziemlich harten Joches, welches ihnen die
Athenienser aufgelegt hatten, zu entledigen, einen Aufstand erregten,
worin sie von den Spartanern heimlich unterstützt wurden.  Man konnte
(diejenige Theorie, welche man zu Hause erwerben kann, ausgenommen) des
Kriegs-Wesens nicht unerfahrner sein, als ich es war.  Ich hatte das Alter
noch nicht erreicht, welches die Gesetze zu Bekleidung eines öffentlichen
Amts erfoderten; wir hatten keinen Mangel an geschickten und geübten
Kriegs-Leuten; ich selbst wandte alles Ansehen, das ich hatte, an, um
einen davon, den ich, seines moralischen Charakters wegen, vorzüglich hoch
schätzte, zum Feld-Herrn gegen die Empörten erwählen zu machen; aber das
alles half nichts gegen die warme Einbildungs-Kraft des lebhaftesten und
leichtsinnigsten Volks in der Welt.  Agathon, welchem man alle Talente
zutraute, und von welchem man sich berechtigt hielt, Wunder zu erwarten,
war allein tauglich, die Ehre des Atheniensischen Namens zu behaupten, und
die hochfliegenden Träume der politischen Müßiggänger zu Athen, welche bei
diesem Anlaß in die Wette eiferten, wer die lächerlichsten Projekte machen
könne, in die Würklichkeit zu setzen.  Diese Art von Leuten war so
geschäftig, daß es ihnen gelang, den größesten Teil ihrer Mitbürger mit
ihrer Torheit anzustecken.  Jede Nachricht, daß sich wieder eine andere
Insul aufzulehnen anfange, verursachte eine allgemeine Freude; man würde
es gerne gesehen haben, wenn das ganze Griechenland an dieser Sache Anteil
genommen hätte; auch fehlte es nicht an Zeitungen, welche das Feuer größer
machten, als es war, und endlich so gar den König von Persien in den
Aufstand von Euböa verwickelten, um dem Agathon einen desto größern
Schau-Platz zu geben, die Athenienser durch Heldentaten zu belustigen und
durch Eroberungen zu bereichern.  Ich wurde also (so sehr ich mich
entgegensträubte) mit unumschränkter Gewalt über die Armee, über die
Flotten, und über die Schatz-Kammer, zum Feld-Herrn gegen die abtrünnigen
Insuln ernannt; und da ich nun einmal genötigt war, dem Eigensinn meiner
Mitbürger nachzugeben, so entschloß ich mich, es mit einer guten Art zu
tun, und die Sache von derjenigen Seite anzusehen, welche mir eine
erwünschte Gelegenheit zu geben schien, den Anfang zur Ausführung meiner
eigenen Entwürfe zu machen.  Da ich wußte, daß die Insulaner gerechte
Klagen gegen Athen zu führen hatten, und eine Regierung nicht lieben
konnten, von der sie unterdrückt, ausgezogen, und mit Füßen getreten
wurden; so gründete ich meinen ganzen Plan ihrer Beruhigung und
Wiederbringung auf den Weg der Güte, auf Abstellung der Mißbräuche,
wodurch sie erbittert worden waren, auf eine billige Mäßigung der Abgaben,
welche man gegen ihre Freiheiten und über ihr Vermögen, von ihnen erpreßt
hatte; und auf ihre Wiedereinsetzung in alle Rechte und Vorteile, deren
sie sich als Griechen und als Bunds-Genossen, vermöge vieler besondern
Verträge, zu erfreuen haben sollten.  Allein ehe ich von Athen abreisen
konnte, war es um so nötiger, die Gemüter vorzubereiten und auf einen Ton
zu stimmen, der mit meinen Grund-Sätzen und Absichten übereinkäme, da ich
sahe, wie lebhaft die ausschweifenden Projekte, womit die Eitelkeit des
Alcibiades sie ehemals bezaubert hatte, bei dieser Gelegenheit wieder
aufgewacht waren.  Ich versammelte also das Volk, und wandte alle Kräfte
der Rede-Kunst, welche bei keinem Volk der Welt so viel vermag, als bei
den Atheniensern, dazu an, sie von der Gründlichkeit meiner Entwürfe zu
überzeugen, von welchen ich sie so viel sehen ließ, als zu Erreichung
meiner Absicht nötig war.  Nachdem ich ihnen die Größe und den Flor, wozu
die Republik, vermöge ihrer natürlichen Vorteile und innerlichen Stärke,
gelangen könne, mit den reizendesten Farben abgemalt hatte; bemühte ich
mich zu beweisen, daß weitläufige Eroberungen, außer der Gefahr, womit sie
durch die Unbeständigkeit des Kriegs-Glücks verbunden seien, den Staat
endlich notwendiger Weise unter der Last ihrer eigenen Größe erdrücken
müßten; daß es einen weit sichern und kürzern Weg gebe, Athen zur Königin
des Erdbodens zu machen, indem etwas unleugbares sei, daß allezeit
diejenige Nation den übrigen Gesetze vorschreiben werde, welche zu
gleicher Zeit die klügste und die reichste sei; daß der Reichtum allezeit
Macht gebe, so wie die Klugheit den rechten Gebrauch der Macht lehre; daß
Athen in beidem allen andern Völkern überlegen sein werde, wenn sie auf
der einen Seite fortfahre, die Pfleg-Mutter der Wissenschaften und aller
nützlichen und schönen Künste zu sein; auf der andern aber alle ihre
Gedanken darauf richte, sich in der Herrschaft über das Meer fest zu
setzen; nicht in der Absicht Eroberungen zu machen, sondern sich in eine
solche Achtung bei den Auswärtigen zu setzen, daß jedermann ihre
Freundschaft suche, und niemand es wagen dürfe, ihren Unwillen zu reizen;
daß für einen am Meer gelegenen Frei-Staat ein gutes Vernehmen mit allen
übrigen Völkern, und eine so weit als nur möglich ausgebreitete Handlung,
der natürliche und unfehlbare Weg sei, nach und nach zu einer Größe zu
gelangen, deren Ziel nicht abzusehen sei; daß aber hiezu die Erhaltung
seiner eigenen Freiheit, und zu dieser die Freiheit aller übrigen,
sonderheitlich der benachbarten, oder wenigstens ihre Erhaltung bei ihrer
alten und natürlichen Form und Verfassung, nötig sei; daß Bündnisse mit
seinen Nachbarn, und eine solche Freundschaft, wobei der andere eben so
wohl seinen Vorteil finde, als wir den unsrigen, einem solchen Staat weit
mehr Macht, Ansehen und Einfluß auf die allgemeine Verfassung des
politischen Systems der Welt geben müßten, als die Unterwerfung derselben,
weil ein Freund allezeit mehr wert sei, als ein Sklave; daß die
Gerechtigkeit der einzige Grund der Macht und Dauer eines Staats, so wie
das einzige Band der Gesellschaft zwischen einzelnen Menschen und ganzen
Nationen, sei; daß diese Gerechtigkeit fodre, eine jede politische
Gesellschaft (sie möge groß oder klein sein) als unsers gleichen anzusehen,
und ihr eben die Rechte zu zugestehen, welche wir für uns selbst foderten;
daß ein nach diesen Grund-Sätzen eingerichtetes Betragen das gewisseste
Mittel sei, sich ein allgemeines Zutrauen zu erwerben, und anstatt einer
gewaltsamen, und mit allen Gefahren der Tyrannie verknüpften
Oberherrschaft eine freiwillig eingestandene Autorität zu behaupten,
welche in der Tat von allen Vorteilen der erstern begleitet sei, ohne die
verhaßte Gestalt und schlimmen Folgen derselben zu haben.  Nachdem ich
alle diese Wahrheiten in ihrer besondern Anwendung auf Griechenland und
Athen, in das stärkste Licht gesetzt, und bei dieser Gelegenheit die
Torheit der Projekte des Alcibiades und andrer ehrsüchtiger Schwindelköpfe
ausführlich erwiesen hatte: Bemühte ich mich darzutun, daß der Aufstand
der Inseln, welche bisher unter dem Schutz der Athenienser gestanden, in
neuerlichen Zeiten aber durch Schuld einiger böser Ratgeber der Republik,
als unterworfene Sklaven behandelt worden seien, die glücklichste
Gelegenheit anbiete, auf der einen Seite das ganze Griechenland von der
gerechten und edelmütigen Denkungsart der Athenienser zu überzeugen, auf
der andern durch eine ansehnliche Vermehrung der Seemacht, wovon die
Unkosten durch die größere Sicherheit und Erweiterung der Handelschaft
reichlich ersetzt würden, sich in ein solches Ansehen zu setzen, daß
niemand jenes gelinde und großmütige Verfahren, mit dem mindesten Schein,
einem Mangel an Vermögen sich Genugtuung zu verschaffen, werde beimessen
können.  Ich unterstützte diese Vorschläge mit allen den Gründen, welche
auf die lebhafte Einbildungskraft meiner Zuhörer den stärksten Eindruck
machen konnten, und hatte das Vergnügen, daß meine Rede mit einem Beifall,
der meine Erwartung weit übertraf, aufgenommen wurde.  Außerdem, daß die
Athenienser, ihrer Gemütsart nach, sich von Wahrheit und gesunden
Grundsätzen eben so leicht einnehmen ließen, als von den Blendwerken einer
falschen Staatskunst, wenn ihnen jene nur in einem eben so reizenden Licht,
und mit eben so lebhaften Farben vorgetragen wurden, als sie verwöhnt
worden waren, von einem jeden, der zu den öffentlichen Angelegenheiten
redete, zu fodern; so waren sie gleichgültig, durch was für Mittel Athen
zu derjenigen Größe gelangen möge, welche das Ziel aller ihrer Wünsche war;
und ein großer Teil der Bürger, denen der Friede mehr Vorteile brachte,
als der Krieg, ließen sichs vielmehr wohlgefallen, daß dieses Ziel ihrer
Eitelkeit auf eine mit ihrem Privatnutzen übereinstimmigere Art erhalten
werde.  Meine heimlichen Feinde, welche nicht zweifelten, daß diese
Expedition auf eine oder andere Art Gelegenheit zu meinem Fall geben würde,
waren weit entfernt, meinen Maßnehmungen öffentlich zu widerstehen; aber
(wie ich in der Folge erfuhr) unter der Hand desto geschäftiger, ihren
Erfolg zu hemmen, Schwierigkeiten aus Schwierigkeiten hervor zu spinnen,
und die mißvergnügten Insulaner selbst durch geheime Aufstiftungen
übermütig, und zu billigen Bedingungen abgeneigt zu machen.  Die
Verachtung, womit man anfangs diesen Aufstand zu Athen angesehen hatte;
das ansteckende Beispiel, und die Ränke andrer Griechischen Städte, welche
die Obermacht der Athenienser mit eifersüchtigen Augen ansahen, hatten zu
wege gebracht, daß indessen auch die Attischen Kolonien, und der größeste
Teil der Bundesgenossen kühn genug worden waren, sich einer
Unabhänglichkeit anzumaßen, deren schädliche Folgen sie sich selbst unter
dem reizenden Namen der Freiheit verbargen; es war die höchste Zeit, einer
allgemeinen Empörung und Zusammenverschwörung gegen Athen zuvorzukommen;
und meine Landsleute, welche bei Annäherung einer Gefahr, die ihnen in der
Ferne nur Stoff zu witzigen Einfällen und Gassenliedern gegeben hatte,
sehr schnell von der leichtsinnigsten Gleichgültigkeit zu einer eben so
übermäßigen Kleinmütigkeit übergingen, vergrößerten sich selbst das übel
so sehr, daß ich genötiget wurde unter Segel zu gehen, ehe die Zurüstungen
noch zur Hälfte fertig waren.  Ich hatte die Vorsichtigkeit gebraucht,
meinen Freund, über welchen mir die Gunst des Volks einen so unbilligen
Vorzug gegeben hatte, als meinen Unterbefehlshaber mitzunehmen; die
Bescheidenheit, womit ich mich des Ansehens, welches mir meine Kommission
über ihn gab, bediente, kam einer Eifersucht zuvor, die den Erfolg unsrer
Unternehmung hätte vereiteln können; wir handelten aufrichtig, und ohne
Nebenabsichten, nach einem gemeinschaftlich abgeredeten Plan, und das
Glück begünstigte uns so sehr, daß in einer einzigen Expedition alle
Inseln, Kolonien und Schutzverwandte der Athenienser nicht nur beruhiget,
und wieder in die alte Schranken gesetzt, sondern durch die Abstellung
alles dessen, wodurch sie unbilliger Weise beschweret worden waren, und
durch die Bestätigung ihrer Freiheiten, die ich ihnen bewilligte, mehr als
jemals geneigt gemacht wurden, die Freundschaft der Athenienser allen
andern Verbindungen, die ihnen angetragen worden waren, vorzuziehen.  In
allem diesem folgte ich, ohne besondere Verhaltungsbefehle einzuholen,
meiner eignen Denkungsart mit desto größter Zuversicht, da ich den
ehemaligen Mißvergnügten nichts zugestanden hatte, was sie nicht so wohl
nach dem Naturrecht als in Kraft älterer Verträge zu fodern vollkommen
berechtiget waren, hingegen durch diese Nachgiebigkeit neue und sehr
beträchtliche Vorteile für die Athenienser erkaufte; Vorteile, welche dem
ganzen gemeinen Wesen zuflossen, da hingegen aller Nutzen der
Unterdrückung, worunter sie geseufzet hatten, lediglich in die Kassen
einiger Privatleute und ehmaligen Günstlinge des Volks geleitet worden war.


Ich kehrete also mit dem Vergnügen, Gutes getan zu haben, mit dem Beifall
und der lebhaftesten Zuneigung der sämtlichen Kolonien und Bundesgenossen,
und mit der vollen Zuversicht, daß ich die Belohnung, die ich verdient zu
haben glaubte, in der Zufriedenheit meiner Mitbürger einernten würde, an
der Spitze einer dreimal stärkern Flotte, als womit ich ausgelaufen war,
nach Athen zurück.  Ich schmeichelte mir, daß ich mir durch eine so
schleunige Beilegung einer Unruhe, welche so weitaussehend und gefährlich
geschienen, einiges Verdienst um mein Vaterland erworben hätte.  Ich hatte
aus unsern Feinden, Freunde, und aus unsichern Untertanen, zuverlässige
Bundesgenossen gemacht, deren Treu desto weniger zweifelhaft sein mußte,
da ich ihre Sicherheit und ihren Wohlstand durch unzertrennliche Bande mit
dem Interesse von Athen verknüpft hatte; ich hatte, des gemeinen Schatzes
zu schonen, mein eignes Vermögen zugesetzt, und durch mehr als hundert
ausgerüstete Galeeren, die ich von dem guten Willen der wieder beruhigten
Insulaner erhalten, unsrer Seemacht eine ansehnliche Verstärkung gegeben;
ich hatte das Ansehen der Athenienser befestiget, ihre Neider abgeschreckt,
und ihrer Handlung einen Ruhestand verschafft, dessen Fortdauer nunmehr,
wenigstens auf lange Zeiten, von ihrem eigenen Betragen abhing.  Das
Vergnügen, welches sich über mein Gemüt ausbreitete, wenn ich alle diese
Vorteile meiner Verrichtung überdachte, war so lebhaft, daß ich über alle
andere Belohnungen, außer dem Beifall und Zutrauen meiner Mitbürger, weit
hinaus sah: Aber die Athenienser waren, in dem ersten Anstoß ihrer
Erkenntlichkeit, keine Leute, welche Maß halten konnten.  Ich wurde im
Triumph eingeholt, und mit allen Arten der Ehrenbezeugungen in die Wette
überhäuft; die Bildhauer mußten sich Tag und Nacht an meinen Statuen müde
arbeiten; alle Tempel, alle öffentlichen Plätze und Hallen wurden mit
Denkmälern meines Ruhms ausgeziert; und diejenige, welche in der Folge mit
der größesten Heftigkeit an meinem Verderben arbeiteten, waren itzt die
eifrigsten, übermäßige und zuvor nie erhörte Belohnungen vorzuschlagen,
welche das Volk in dem Feuer seiner schwärmerischen Zuneigung gutherziger
Weise bewilligte, ohne daran zu denken, daß mir diese Ausschweifungen
seiner Hochachtung in kurzem von ihm selbst zu eben so vielen Verbrechen
gemacht werden würden.

Da ich sahe, daß alle meine Bescheidenheit nicht zureichend war, dem
überfließenden Strom der popularen Dankbarkeit Einhalt zu tun; so glaubte
ich am besten zu tun, wenn ich mich eine Zeitlang von Athen entfernte, und
bis die Atheniensische Lebhaftigkeit durch irgend eine neue Komödie, einen
fremden Gaukler, oder eine frisch angekommene Tänzerin einen andern
Schwung bekommen haben würde, auf meinem Landgut zu Corinth in
Gesellschaft der Musen und Grazien einer Muße zu genießen, welche ich
durch die Arbeiten eines ganzen Jahres verdient zu haben glaubte.  Ich
dachte wenig daran, daß ich in einer Stadt, deren Liebling ich zu sein
schien, Feinde habe, die indessen, daß ich mich mit aller Sorglosigkeit
der Unschuld den Vergnügungen des Landlebens, und der geselligen Freiheit
überließ, einen eben so boshaften als wohlausgesonnenen Plan zu meinem
Untergang anzulegen beschäftiget seien.

Alles, womit ich mir bei der schärfsten Prüfung meines öffentlichen und
Privatlebens in Athen, bewußt bin, mein Unglück, wo nicht verdient, doch
befödert zu haben, ist Unvorsichtigkeit, oder der Mangel an einer gewissen
Republikanischen Klugheit, welche nur die Erfahrung geben kann.  Ich lebte
nach meinem Geschmack, und nach meinem Herzen, weil ich gewiß wußte, daß
beide gut waren, ohne daran zu denken, daß man mir andre Absichten bei
meinen Handlungen andichten könne, als ich wirklich hatte.  Ich lebte mit
einer gewissen Pracht, weil ich das Schöne liebte, und Vermögen hatte; ich
tat jedermann gutes, weil ich meinem Herzen dadurch ein Vergnügen
verschaffte, welches ich allen andern Freuden vorzog; ich beschäftigte
mich mit dem gemeinen Besten der Republik, weil ich dazu geboren war, weil
ich eine Tüchtigkeit dazu in mir fühlte, und weil ich durch die Zuneigung
meiner Mitbürger in den Stand gesetzt zu werden hoffte, meinem Vaterland
und der Welt nützlich zu sein.  Ich hatte keine andere Absichten, und
würde mir eher haben träumen lassen, daß man mich beschuldigen werde, nach
der Krone des Königs von Persien, als nach der Unterdrückung meines
Vaterlands zu streben.  Da ich mir bewußt war niemands Haß verdient zu
haben, so hielt ich einen jeden für meinen Freund, der sich dafür ausgab,
um so mehr, als kaum jemand in Athen war, dem ich nicht Dienste geleistet
hatte.  Aus eben diesem Grunde dachte ich gleich wenig daran, wie ich mir
einen Anhang mache, als wie ich die geheimen Anschläge von Feinden, welche
mir unsichtbar waren, vereiteln wolle.  Denn ich glaubte nicht, daß die
Freimütigkeit, womit ich, ohne Galle oder übermut, meine Meinung bei jeder
Gelegenheit sagte, eine Ursache sein könne, mir Feinde zu machen.  Mit
einem Wort, ich wußte noch nicht, daß Tugend, Verdienste und Wohltaten
gerade dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem tödlichsten Haß
erbittern kann.  Eine traurige Erfahrung konnte mir allein zu dieser
Einsicht verhelfen; und es ist billig, daß ich sie wert halte, da sie mir
nicht weniger, als mein Vaterland, die Liebe meiner Mitbürger, meine
schönsten Hoffnungen, und das glückselige Vermögen, vielen Gutes zu tun,
und von niemand abzuhängen, gekostet hat."



SIEBENTES KAPITEL

Agathon wird von Athen verbannt


"Der Zeitpunkt meines Lebens, auf den ich nunmehr gekommen bin, führt
allzuunangenehme Erinnerungen mit sich, als daß ich nicht entschuldiget
sein sollte, wenn ich so schnell davon wegeile, als es die Gerechtigkeit
zulassen wird, die ich mir selbst schuldig bin.  Es mag sein, daß einige
von meinen Feinden aus Beweggründen eines republikanischen Eifers gegen
mich aufgestanden sind, und sich durch meinen Sturz eben so verdient um
ihr Vaterland zu machen geglaubt haben, als Harmodius und Aristogiton
durch die Ermordung der Pisistratiden.  Aber es ist doch gewiß, daß
diejenige, welche die Sache mit der größesten Wut betrieben, keinen andern
Beweggrund hatten, als die Eifersucht über das Ansehen, welches mir die
allgemeine Gunst des Volkes gab, und welches sie, nicht ohne Ursache, für
ein Hinternis ihrer ehrgeizigen und gewinnsüchtigen Absichten hielten.
Die meisten glaubten auch, daß sie Privatbeleidigungen zu rächen hätten.
Einige nährten noch den alten Groll, den sie bei meinem ersten Auftritt in
der Republik gegen mich faßten, da ich meinen rechtschaffenen Freund, den
Wirkungen ihrer Bosheit entriß; andere schmerzte es, daß ich ihnen bei der
Wahl eines Befehlshabers gegen die Empörten Inseln vorgezogen worden war;
viele waren durch den Verlust des Vorteils, welchen sie von den
ungerechten Bedrückungen derselben gezogen hatten, beleidiget worden.  Bei
diesen allen half mir nichts, daß ich keine Absicht gehabt hatte sie zu
beleidigen, und daß es nur zufälliger Weise dadurch geschehen war, daß ich
meiner überzeugung und meinen Pflichten gemäß gehandelt hatte.  Sie
beurteilten meine Handlungen aus einem ganz andern Gesichtspunkte, und es
war bei ihnen ein ausgemachter Grundsatz, daß derjenige kein ehrlicher
Mann sein könne, der ihren Privatabsichten Schranken setzte.  Zum Unglück
für mich, machten diese Leute einen großen Teil von den Edelsten und
Reichesten in Athen aus.  Hiezu kam noch, daß ich meiner immer
fortdauernden Liebe zu Psyche, die vorteilhaftesten Verbindungen, welche
mir angeboten worden waren, aufgeopfert, und mich dadurch der
Unterstützung und des Schutzes beraubet hatte, den ich mir von der
Verschwägerung mit einem mächtigen Geschlechte hätte versprechen können.
Ich hatte nichts, was ich den Ränken und der vereinigten Gewalt so vieler
Feinde entgegen setzen konnte, als meine Unschuld, einige Verdienste, und
die Zuneigung des Volks; schwache Brustwehren, welche noch nie gegen die
Angriffe des Neides, der Arglist und der Gewalttätigkeit ausgehalten haben.
Die Unschuld kann verdächtig gemacht, und Verdiensten selbst durch ein
falsches Licht das Ansehen von Verbrechen gegeben werden; und was ist die
Gunst eines enthusiastischen Volkes, dessen Bewegungen immer seinen
überlegungen zuvorkommen; welches mit gleichem übermaß liebet und hasset,
und wenn es einmal in eine fiebrische Hitze gesetzt ist, gleich geneigt
ist, dieser oder einer entgegengesetzten Direktion, je nachdem es gestoßen
wird, zu folgen?  Was konnte ich mir von der Gunst eines Volkes
versprechen, welches den großen Beschützer der griechischen Freiheit im
Gefängnis hatte verschmachten lassen?  Welches den tugendhaften Aristides,
bloß darum, weil er den Beinamen des Gerechten verdiente, verbannet, und
in einer von seinen gewöhnlichen Launen so gar den Socrates zum
Gift-Becher verurteilt hatte, weil er der weiseste und tugendhafteste Mann
seines Jahrhunderts war.  Diese Beispiele sagten mir sogleich bei der
ersten Nachricht, die ich von dem über mir sich zusammenziehenden
Ungewitter erhielt, zuverlässig vorher, was ich von den Atheniensern zu
erwarten hätte; sie machten, daß ich ihnen nicht mehr zutraute, als sie
leisteten; und trugen nicht wenig dazu bei, mich ein Unglück mit
Standhaftigkeit ertragen zu machen, in welchem ich so vortreffliche Männer
zu Vorgängern gehabt hatte.

Derjenige, den meine Feinde zu meinem Ankläger auserkoren hatten, war
einer von diesen witzigen Schwätzern, deren feiles Talent gleich fertig
ist, Recht oder Unrecht zu verfechten.  Er hatte in der Schule des
berüchtigten Gorgias gelernt, durch die Zaubergriffe der Rede-Kunst den
Verstand seiner Zuhörer zu blenden, und sie zu bereden, daß sie sähen, was
sie nicht sahen.  Er bekümmerte sich wenig darum, dasjenige zu beweisen,
was er mit der größesten Dreistigkeit behauptete; aber er wußte ihm einen
so lebhaften Schein zu geben, und durch eine zwar willkürliche, aber desto
künstlichere Verbindung seiner Sätze die Schwäche eines jeden, wenn er an
sich und allein betrachtet würde, so geschickt zu verbergen, daß man, so
gar mit einer gründlichen Beurteilungs-Kraft, auf seiner Hut sein mußte,
um nicht von ihm überrascht zu werden.  Der hauptsächlichste Vorwurf
seiner Anklage sollte, seinem Vorgeben nach, die schlimme Verwaltung sein,
deren ich mich als Ober-Befehlshaber in der Angelegenheit der empörten
Schutz-Verwandten schuldig gemacht haben sollte; denn er bewies mit großem
Wort-Gepränge, daß ich in dieser ganzen Expedition nichts getan hätte, das
der Rede wert wäre; daß ich vielmehr, anstatt die Empörten zu züchtigen
und zum Gehorsam zu bringen, ihren Sachwalter vorgestellt; sie für ihren
Aufruhr belohnt; ihnen noch mehr, als sie selbst zu fodern die
Verwegenheit gehabt, zugestanden; und durch diese unbegreifliche Art zu
verfahren, ihnen Mut und Kräfte gegeben hätte, bei der ersten Gelegenheit
sich von Athen gänzlich unabhängig zu machen; er bewies (sage ich) alles
dieses nach den Grund-Sätzen einer Politik, welche das Widerspiel von der
meinigen war, aber den Leidenschaften der Athenienser und eines jeden
andern Volks allzusehr schmeichelte, um nicht Eingang zu finden.  Er hatte
noch die Bosheit, nicht entscheiden zu wollen, ob ich aus Unverstand oder
geflissentlich so gehandelt habe; doch erhub er auf der einen Seite meine
Fähigkeiten so sehr, und legte so viel Wahrscheinlichkeiten in die andere
Waag-Schale, daß sich der Ausschlag von selbst geben mußte.  Dieses führte
ihn zu dem zweiten Teil seiner Anklage, welcher in der Tat (ob er es
gleich nicht gestehen wollte) das Hauptwerk davon ausmachte.  Und hier
wurden Beschuldigungen auf Beschuldigungen gehäuft, um mich dem Volk als
einen Ehrsüchtigen abzumalen, der sich einen Plan gemacht habe, sein
Vaterland zu unterdrücken, und unter dem Schein der Großmut, der
Freigebigkeit und der Popularität, sich zum unumschränkten Herrn desselben
aufzuwerfen.  Eine jede meiner Tugenden war die Maske eines Lasters,
welches im Verborgenen am Untergang der Freiheit und Glückseligkeit der
Athenienser arbeitete.  In der Tat hatte die Beredsamkeit meines Anklägers
hier ein schönes Feld, sich zu ihrem Vorteil zu zeigen, und seinen
Zuhörern das republikanische Vergnügen zu machen, eine Tugend, welche mir
zu große Vorzüge vor meinen Mitbürgern zu geben schien, heruntergesetzt zu
sehen.  Indessen, ob er gleich keinen Teil meines Privat-Lebens (so
untadelhaft es ehemals meinen Gönnern geschienen hatte) unbeschmutzt ließ;
so mochte er doch besorgen, daß die Kunstgriffe, deren er sich dazu
bedienen mußte, zu stark in die Augen fallen möchten.  Er raffte also
alles zusammen, was nur immer fähig sein konnte, mich in ein verhaßtes
Licht zu stellen; und da es ihm an Verbrechen, die er mir mit einiger
Wahrscheinlichkeit hätte aufbürden können, mangelte, so legte er mir
fremde Torheiten, und selbst die ausschweifenden Ehren-Bezeugungen zur
Last, welche mir in der Flut meines Glückes und meiner Gunst bei dem Volk
aufgedrungen worden waren.  Ich mußte itzt so gar für die elenden Verse
Rechenschaft geben, womit einige Dichter, denen ich aus einem vielleicht
zu weit getriebenen Mitleiden erlaubte, mir täglich um die Essens-Zeit
ihren Besuch abzustatten, mir die Dankbarkeit ihres Magens, auf Unkosten
ihres Ruhms und des meinigen, zu beweisen gesucht hatten.  Man
beschuldigte mich in ganzem Ernst, daß ich übermütig und gottlos genug
gewesen sei, mich für einen Sohn des delphischen Apollo auszugeben; und
mein Ankläger ließ diese Gelegenheit nicht entgehen, über meine wahre
Geburt Zweifel zu erregen, und, unter vielen scherzhaften Wendungen, die
Meinung derjenigen wahrscheinlich zu finden, welche (wie er sagte)
benachrichtigt zu sein glaubten, daß ich mein Dasein den verstohlenen
Liebes-Händeln irgend eines delphischen Priesters zu danken hätte.  In
dieser ganzen Rede ersetzte ein von Bosheit beseelter Witz den Abgang
gründlicher Beweise; aber die Athenienser waren schon lange gewohnt, sich
Witz für Wahrheit verkaufen zu lassen, und sich einzubilden, daß sie
überzeugt würden, wenn ihr Geschmack belustigt und ihre Ohren gekitzelt
wurden.  Sie machte also allen den Eindruck, und vielleicht noch mehr, als
meine Feinde sich davon versprochen hatten.  Die Eifersucht, welche sie in
den Gemütern anblies, verwandelte die übermäßige Zuneigung, deren
Gegenstand ich zwei Jahre lang gewesen war, in einer Zeit von zwo Stunden
in den bittersten Haß.  Die Athenienser erschraken vor dem Abgrund, an
dessen Rand sie sich, durch ihre Verblendung für mich, unvermerkt
hingezogen sahen.--Sie erstaunten, daß sie meine Unfähigkeit zur
Staats-Verwaltung, meine Begierde nach einer unumschränkten Gewalt, meine
weit aussehenden Absichten, und mein heimliches Verständnis mit ihren
Feinden nicht eher wahrgenommen hätten; und da es nicht natürlich gewesen
wäre, die Schuld davon auf sich selbst zu nehmen, so schrieben sie es
lieber einer Bezauberung zu, wodurch ich ihre Augen eine Zeitlang zu
verschließen gewußt hätte.  Ein jeder glaubte nun, durch die verderblichen
Anschläge, welche ich gegen die Republik gefaßt habe, von der Dankbarkeit
vollkommen losgezählt zu sein, die er mir für Dienste oder Wohltaten
schuldig sein mochte; welche nun als die Lockspeise angesehen wurden,
womit ich die Freiheit, und mit ihr das Eigentum meiner Mitbürger,
wegzuangeln getrachtet.  Kurz: Eben dieses Volk, welches vor wenigen
Monaten mehr als menschliche Vollkommenheiten an mir bewunderte, war itzt
unbillig genug, mir nicht das geringste Verdienst übrig zu lassen; und
eben diejenigen, welche auf den ersten Wink bereit gewesen wären, mir die
Oberherrschaft in einem allgemeinen Zusammenlauf aufzudrängen, waren itzt
begierig, mich einen Anschlag, den ich nie gefaßt, gegen eine Freiheit,
deren sie sich in diesem Augenblicke selbst begaben, mit meinem Blute
büßen zu sehen.  Mein Urteil war zu eben der Zeit, da mir die gewöhnliche
Frist zur Verantwortung gegeben wurde, durch die Mehrheit der Stimmen
schon gefällt; und das Vergnügen, womit ich von einer unzählbaren Menge
Volks ins Gefängnis begleitet wurde, würde vollkommen gewesen sein, wenn
die Gesetze gestattet hätten, mich, anstatt dahin, ohne weitere
Prozeß-Förmlichkeiten, zum Richt-Platz zu führen.

So glücklich meinen Feinden ihr Anschlag von statten gegangen war, so
glaubten sie doch, sich meines Untergangs noch nicht genugsam versichert
zu haben; sie fürchteten die Unbeständigkeit eines Volks, von welchem sie
allzuwohl wußten, wie leicht es in entgegengesetzte Bewegungen zu setzen
war.  Es blieb möglich, daß ich mit einer bloßen Verbannung auf einige
Jahre durchwischen konnte; und diese ließ eine Veränderung der Szene
besorgen, bei welcher weder ihr Haß gegen mich, noch ihre Sicherheit, ihre
Rechnung fanden.  Man mußte also noch eine andere Mine springen lassen,
durch die mir, wenn ich einmal aus Athen vertrieben wäre, alle Hoffnung,
jemals wieder zurückzukommen, abgeschnitten würde.  Man mußte beweisen,
daß ich kein Bürger von Athen sei; daß meine Mutter keine Bürgerin, und
Stratonicus nicht mein Vater gewesen; daß er mich, in Ermanglung eines
Erben von seinem eigenen Blute, aus Haß gegen denjenigen, der es, den
Gesetzen nach, gewesen wäre, angenommen und unterschoben habe; und daß
also die Gesetze mir kein Recht an seine Erbschaft zugestanden.  Da es zu
Athen an Leuten niemal fehlt, welche gegen eine proportionierte Belohnung
alles gesehen und gehört haben, was man will; und da alle diejenigen
gestorben waren, welche der Wahrheit das beste Zeugnis hätten geben können:
so war es meinen Gegnern ein Leichtes, alles dieses eben so gut zu
beweisen, als sie meine Staats-Verbrechen bewiesen hatten.  Es wurde also
eine neue Klage angestellt.  Derjenige, der sich zum Kläger wider mich
aufwarf, war ein Neffe von meinem Vater, durch nichts als durch die
lüderlichste Lebens-Art bekannt, wodurch er sein Erb-Gut schon vor einigen
Jahren verprasset hatte.  Seine Unverbesserlichkeit hatte ihn endlich der
Freundschaft meines Vaters, so wie der Achtung aller rechtschaffenen Leute,
beraubt; und dieses Umstands bediente er sich nun, mich um eine Erbschaft
zu bringen, die er, als der nächste Erbe, eh mich Stratonicus für seinen
Sohn erklärte, in seinen Gedanken schon verschlungen hatte.  Die
Geschicklichkeit des Redners, dessen Dienste er zu Ausführung seines
Bubenstücks erkaufte, der mächtige Beistand meiner Feinde, die Umstände
selbst, in denen er mich unvermutet überfiel, und vornehmlich die
Gefälligkeit seiner Zeugen, alle die Unwahrheiten zu beschwören, welche er
zu seiner Absicht nötig hatte: Alles dieses zusammen genommen, versicherte
ihn des glücklichen Ausgangs seiner Verräterei; und die Reichtümer, die
ihm dadurch zufielen, waren in den Augen eines gefühllosen, Elenden, wie
er war, wichtig genug, um mit Verbrechen, die ihn so wenig kosteten,
erkauft zu werden.

Dieser letzte Streich, der vollständigste Beweis, auf was für einen Grad
die Wut meiner Feinde gestiegen war, und wie gewiß sie sich des Erfolgs
hielten, ließ mir keine Hoffnung übrig, die ihrige zu Schanden zu machen.
Denn alle meine vermeinten Freunde, bis auf wenige, deren guter Wille ohne
Vermögen war, hatten, so bald sie mich vom Glück verlassen sahen, mich
auch verlassen; andere, welche zwar von dem Unrecht, das mir angetan wurde,
überzeugt waren, hatten den Mut nicht, sich für eine Sache, welche sie
nicht unmittelbar anging, in Gefahr zu setzen; und der einzige, dessen
Charakter, Ansehen und Freundschaft mir vielleicht hätte zu statten kommen
können, befand sich seit einiger Zeit am Hofe des jungen Dionysius zu
Syracus.  Ich gestehe, daß ich, so lange die ersten Bewegungen dauerten,
mein Unglück in seinem ganzen Umfang fühlte.  Für ein redliches, und
dabei noch wenig erfahrnes Gemüt ist es entsetzlich zu empfinden, daß man
sich in seiner guten Meinung von den Menschen betrogen habe, und sich zu
der abscheulichen Wahl genötiget zu sehen, entweder in einer beständigen
Unsicherheit vor der Schwachheit der einen, und vor der Bosheit der andern
zu leben, oder sich gänzlich aus ihrer Gesellschaft zu verbannen.  Aber
die Kleinmütigkeit, welche eine Folge meiner ersten melancholischen
Betrachtungen war, dauerte nicht lange.  Die Erfahrungen, die ich seit
meiner Versetzung auf den Schauplatz einer größern Welt, in so kurzer Zeit
gemacht hatte, weckten die Erinnerungen meiner glücklichen Jugend in
Delphi mit einer Lebhaftigkeit wieder auf, worin sie sich mir unter dem
Getümmel des Städtischen und politischen Lebens niemals dargestellt hatten.
Die Bewegung meines Gemüts, die Wehmut, wovon es durchdrungen war, die
Gewißheit, daß ich in wenigen Tagen von allen den Gunstbezeugungen, womit
mich das Glück so schnell, und mit solchem übermaß überschüttet hatte,
nichts, als die Erinnerung, die uns von einem Traum übrig bleibt, und von
allem, was ich mein genannt hatte, nichts als das Bewußtsein meiner
Redlichkeit, aus Athen mit mir nehmen würde; setzten mich auf einmal
wieder in diesen glückseligen Enthusiasmus, worin wir fähig sind, dem
äußersten, was die vereinigte Gewalt des Glücks und der menschlichen
Bosheit gegen uns vermag, ein standhaftes Herz und ein heiters Gesicht
entgegen zu stellen.  Der unmittelbare Trost, den meine Grundsätze über
mein Gemüt ergossen, die Wärme und neubeseelte Stärke die sie meiner Seele
gaben, überzeugten mich von neuem von ihrer Wahrheit.  Ich verwies es der
Tugend nicht, daß sie mir den Haß und die Verfolgungen der Bösen zugezogen
hatte; ich fühlte, daß sie sich selbst belohnt.  Das Unglück schien mich
nur desto stärker mit ihr zu verbinden; so wie uns eine geliebte Person
desto teurer wird, je mehr wir um ihrentwillen leiden.  Die Betrachtungen,
auf welche mich diese Gesinnungen leiteten, lehrten mich, wie geringhaltig
auf der Waage der Weisheit, alle diese schimmernden Güter sind, welche ich
im Begriff war, dem Glück wieder zurückzugeben, und wie wichtig diejenige
seien, welche mir keine republikanische Kabale, kein Dekret des Volks zu
Athen, keine Macht in der Welt nehmen konnte.  Ich verglich meinen Zustand
in der höchsten Flut meines Glückes zu Athen mit der seligen Ruhe des
kontemplativen Lebens, worin ich in einer glücklichen Unwissenheit des
glänzenden Elends und der wahren Beschwerden einer beneideten Größe, meine
schuldlose Jugend hinweggelebt; worin ich meines Daseins, und der innern
Reichtümer meines Geistes, meiner Gedanken, meiner Empfindungen, der
eigentümlichen und von aller äußerlichen Gewalt unabhängigen Wirksamkeit
meiner Seele froh geworden war,--und glaubte bei dieser Vergleichung,
alles gewonnen zu haben, wenn ich mich, mit freiwilliger Hingabe der
Vorteile, die mir indessen zugefallen waren, wieder in einen Zustand
zurückkaufen könnte, den mir meine Einbildungskraft mit ihren schönsten
Farben, und in diesem überirdischen Lichte, worin er dem Zustande der
himmlischen Wesen ähnlich schien, vormalte.  Der Gedanke, daß diese
Seligkeit nicht an die Haine von Delphi gebunden sei, daß die Quellen
davon in mir selbst lägen, und daß eben diese vermeintlichen Güter, welche
mir mitten in ihrem Genuß so viel Unruhe zugezogen, und mich in einem
immerwährenden Wirbel von mir selbst hinweggerissen hatten, die einzigen
Hinternisse meines wahren Glücks gewesen seien.--Dieser Gedanke setzte
mich in eine Entzückung, die mich, zum Erstaunen meiner wenigen noch
übriggebliebenen Freunde, gegen alle Bitterkeiten meines widrigen
Schicksals unempfindlich machte; und dieses ging zuletzt so weit, daß ich
nach dem Tage meiner Verurteilung ganz ungeduldig wurde.


Allein eben diese Denkart, welche mir so viel Gleichgültigkeit gegen den
Verlust meines Ansehens und Vermögens gab, machte, daß ich das Betragen
der Athenienser in einem moralischen Gesichtspunkt ansah, aus welchem es
mir Abscheu und Ekel erweckte.  Meine Feinde schienen mir durch die
Leidenschaften, von denen sie getrieben wurden, einigermaßen entschuldiget
zu sein: Aber das Volk, welches bei meinem Umsturz nichts gewann, welches
so viele Ursachen hatte, mich zu lieben, welches mich wirklich so sehr
geliebt hatte, und itzt durch eine bloße Folge seiner Unbeständigkeit und
Schwachheit, ohne selbst recht zu wissen, warum, sich dummer Weise zum
Werkzeug fremder Leidenschaften und Absichten machen ließ; dieses Volk
wurde mir so verächtlich, daß ich kein Vergnügen mehr an den Gedanken fand,
ihm Gutes getan zu haben.  Diese Athenienser, die auf ihre Vorzüge vor
allen andern Nationen der Welt so eitel waren, stellten sich meiner
beleidigten Eigenliebe, als ein abschätziger Haufen blöder Toren dar, die
sich von einer kleinen Rotte verschmitzter Spitzbuben bereden ließen, weiß
für schwarz anzusehen; die bei aller Feinheit ihres Geschmacks, wenn es
darauf ankam, über die Versifikation eines Trinklieds, oder die Füße einer
Tänzerin zu urteilen, weder Kenntnis noch Empfindung von Tugend und wahrem
Verdienst hatten; die bei der heftigsten Eifersucht über ihre Freiheit,
niemals größere Sklaven waren, als wenn sie ihr schimärisches Palladium am
tapfersten behauptet haben; die sich jederzeit der Führung ihrer
übelgesinntesten Schmeichler mit dem blindesten Vertrauen überlassen, und
nur in ihre tugendhaftesten Mitbürger, in ihre zuverlässigsten Freunde,
das größeste Mißtrauen gesetzt hatten.  Sie verdienen es, sagte ich zu mir
selbst, daß sie betrogen werden; aber diesen Triumph sollen sie nicht
haben, zu erleben, daß Agathon sich vor ihnen demütige.  Sie sollen fühlen,
was für ein Unterschied zwischen ihm und ihnen ist; sie sollen fühlen,
daß er nur desto größer ist, wenn sie ihm alle diese kindischen Zieraten
von Flittergold, womit sie ihn, wie Kinder, eine auf kurze Zeit geliebte
Puppe, umhängt haben wieder abnehmen; und eine zu späte Reue soll sie
vielleicht in kurzem lehren, daß Agathon ihrer leichter, als sie des
Agathons entbehren können.  Du siehest, schöne Danae, daß ich mich nicht
scheue, dir auch meine Schwachheiten zu gestehen.  Dieser Stolz, der zu
einer desto riesenmäßigern Gestalt aufschwoll, je mehr mich die
Athenienser zu Boden drücken wollten, hatte ohne Zweifel einen guten Teil
von eben der Eitelkeit in sich, welche ich ihnen zum Verbrechen machte;
aber vielleicht gehört er auch unter die Triebfedern, womit die Natur edle
Gemüter versehen hat, um dem Druck widerwärtiger Zufälle mit gleich
starker Reaktion zu widerstehen, und sich dadurch in ihrer eigenen Gestalt
und Größe zu erhalten.  Die Athenienser rühmten ehmals meine
Bescheidenheit und Mäßigung zu einer Zeit, da sie alles taten, was mich
diese Tugenden verlieren machen konnte; diese Bescheidenheit hatte mit dem
Stolz, der ihnen itzt so anstößig an mir war, daß er vielleicht mehr, als
alle Bemühungen meiner Feinde zu meinem Fall beitrug, einerlei Quelle; ich
war mir eben so wohl bewußt, daß ich ihre Mißhandlungen nicht verdiente,
wie ich ehmals fühlte, daß die Achtung übertrieben war, die sie mir
bewiesen; desto bescheidener, je mehr sie mich erhuben; desto stolzer und
trotziger, je mehr sie mich herunter setzen wollten.

Meine Freunde hatten sich inzwischen in der Stille so eifrig zu meinem
Besten verwendet, daß sie mir Hoffnung machten, alles könne noch gut gehen,
wenn ich mich entschließen könne, meine Apologie nach dem Geschmack, und
der Erwartung des Volks einzurichten.  Ich sollte mich zwar von Punkt zu
Punkt so vollständig rechtfertigen, als es immer möglich wäre; aber am
Ende sollte ich mich doch den Atheniensern auf Gnade oder Ungnade zu Füßen
werfen; meinen Feinden dürfte ich nach aller Schärfe des
Selbstverteidigungs--und Wiedervergeltungsrechts begegnen; aber den
Atheniensern sollte ich schmeicheln, und anstatt ihre Eigenliebe durch den
mindesten Vorwurf zu beleidigen, sollte ich bloß ihr Mitleiden zu erregen
suchen.  Es ist zu vermuten, daß der Erfolg diesen Rat meiner Freunde, der
sich auf die Kenntnis des Charakters eines freien Volks gründete,
gerechtfertiget hätte: Wenigstens ist gewiß, daß die erste Bewegungen
dieser Unbeständigen bereits angefangen hatten, dem Mitleiden und den
Regungen ihrer vormaligen Liebe zu weichen.  Ich lase es, da ich das
Gerüste bestieg, von welchem ich zu dem Volk redete, in vieler Augen, wie
sie nur darauf warteten, daß ich ihnen einen Weg zeigen möchte, mit guter
Art, und ohne etwas von ihrer demokratischen Majestät zu vergeben, wieder
zurück zu kommen.  Aber sie fanden sich in ihrer Erwartung sehr betrogen.
Die Verachtung, womit mein Gemüt beim Anblick dieses Volkes erfüllt wurde,
welches mich vor wenigen Tagen mit so ausschweifender Freude ins
Gefängnis begleitet hatte, und das Gefühl meines eigenen Wertes, waren
beide zu lebhaft; die Begierde, ihnen gutes zu tun, welche die Seele aller
meiner Handlungen und Entwürfe gewesen war, hatte aufgehört; ich würdigte
sie nicht, eine Apologie zu machen, die ich für eine Beschimpfung meines
Charakters und Lebens gehalten hätte; aber ich wollte ihnen zum letztenmal
die Wahrheit sagen: Ehmals, wenn es darum zu tun gewesen war, sie von
ihren eignen wahren Vorteilen zu überzeugen, hatte ich aller meiner
Beredsamkeit aufgeboten; aber itzo, da die Rede bloß von mir selbst war,
verschmähte ich den Beistand einer Kunst, worin der Ruf mir einige
Geschicklichkeit zuschrieb.  In diesem Stücke blieb ich meinem gefaßten
Vorsatz getreu; aber nicht der Kürze und Gelassenheit, die ich mir
vorgeschrieben hatte; der Affekt, in den ich unvermerkt geriet, machte
mich weitläufig und etlichemal bitter.

Meine Rede enthielt eine zusammengezogene Erzählung meines ganzen
Lebenslaufs in Athen; der Grundsätze, welchen ich in der Republik gefolgt
war; und meiner Gedanken von dem wahren Interesse der Athenienser.  Ich
ging bei dieser Gelegenheit ein wenig strenge mit ihren Urteilen und
Lieblingsprojekten um; und sagte ihnen, daß ich in der Sache der
Schutzverwandten eine Probe gegeben hätte, nach was für Maximen ich
jederzeit in Verwaltung des Staats gehandelt haben würde; und da diese
Maximen so weit von ihrer Gemütsbeschaffenheit und Denkart entfernt wären:
So würden sie sehr weislich handeln, einen Menschen aus ihrem Mittel zu
verbannen, welcher nicht gesonnen sei, der Wahrheit und den Pflichten
eines allgemeinen Freunds der Menschen zu entsagen, um ein guter Bürger
von Athen zu sein.

Der Schluß meiner Rede liegt mir noch so lebhaft im Gedächtnis, daß ich
ihn, zu einer Probe des Ganzen, wiederholen will.  'Die Götter', (sagte
ich) 'haben mich zu einer Zeit, da ich es am wenigsten hoffte, meinen
Vater finden lassen: Sein Ansehen und seine Reichtümer gaben mir viel
weniger Freude, als die Entdeckung, daß ich mein Leben einem
rechtschaffenen Mann zu danken hatte.  Athen wurde durch ihn mein
Vaterland.  Ich sah es als den Platz an, den mir die Götter angewiesen, um
das Beste der Menschen zu befödern.  Das Interesse dieser einzelnen Stadt,
war in meinen Augen ein zu kleiner Gegenstand, um dem allgemeinen Besten
der Menschheit vorgesetzt zu werden; aber ich sah beides so genau mit
einander verknüpft, daß ich nur alsdenn gewiß sein konnte, jenes wirklich
zu erhalten, wenn ich dieses beföderte.  Nach diesen Grundsätzen habe ich
in meinem öffentlichen Leben gehandelt, und diese Handlungen, deren sich
selbst belohnendes Bewußtsein mir in eine bessere Welt, den
unvergänglichen Wohnplatz der tugendhaften Seelen, folgen wird; diese
Handlungen haben mir euern Unwillen zugezogen.  Die Athenienser wollen
auf Unkosten des menschlichen Geschlechts groß sein; und das werden sie so
lange sein wollen, bis sie in Ketten, welche sie sich selbst schmieden,
und deren sie würdig sind, sobald sie über Sklaven gebieten wollen, allen
ihren Ehrgeiz auf den rühmlichen Vorzug einschränken werden, die besten
Sprachlehrer, und die gelenkigsten Pantomimen in der Welt zu sein.  Aber
Agathon ist nicht dazu gemacht, euern Lauf auf diesem Wege, den die
Gefälligkeit eurer Redner mit Blumen bestreut, beschleunigen zu helfen.
Mein Privatleben hat euch bewiesen, daß die Grundsätze, nach welchen ich
eure öffentlichen Handlungen zu leiten gewünscht hätte, die Maßregeln
meines eigenen Verhaltens sind.  Mein Vermögen hat mehr zum Gebrauch eines
jeden unter euch, als zu meinem eigenen gedienet.  Ich habe mir Undankbare
verbindlich gemacht, und diese Erfahrung lehrt mich, Güter mit
Gleichgültigkeit zurückzulassen, welche ich übel anwendete, da ich sie am
besten anzuwenden glaubte.  Dieses, ihr Athenienser, ist alles, was ich zu
meiner Verteidigung zu sagen habe.  Ihr seid nun, weil euch die Menge
eurer Arme zu meinen Herren macht, Meister über meine Umstände, und wenn
ihr wollt, über mein Leben.  Verlangt ihr meinen Tod, so meldet mir nur,
was ich in euerm Namen, dem weisen und guten Socrates sagen soll, zu dem
ihr mich schicken werdet.  Begnügt ihr euch aber, mich aus euern Augen zu
verbannen, so werde ich mit dem letzten Blicke nach einem einst geliebten
Vaterland, eine Träne auf das Grab eurer Glückseligkeit fallen lassen; und,
indem ich aufhöre ein Athenienser zu sein, in der Welt, die mir offen
steht, in einem jeden Winkel, wo es der Tugend erlaubt ist, sich zu
verbergen, ein besseres Vaterland finden.'

Es ist leicht zu vermuten, schöne Danae, daß eine Apologie aus diesem Ton
nicht geschickt war, mir ein günstiges Urteil auszuwirken.  Die
Erbitterung, die dadurch in den Gemütern der meisten erregt wurde, welche
das angenehme Schauspiel, mich vor ihnen gedemütiget zu sehen, zu genießen
erwartet hatten, war auf ihren Gesichtern ausgedrückt.  Dem ungeachtet sah
ich niemal eine größere Stille unter dem Volk, als da ich aufgehört hatte
zu reden.  Sie fühlten, wie es schien, wider ihren Willen, daß die Tugend
auch ihren Hässern Ehrfurcht einpräget; aber eben dadurch wurde sie ihnen
nur desto verhaßter, je stärker sie den Vorzug fühlten, den sie dem
beklagten, verlassenen und von allen Auszierungen des Glücks entblößtem
Agathon über die Herren seines Schicksals gab.  Ich weiß selbst nicht, wie
es zuging, daß mir mein guter Genius aus dieser Gefahr heraushalf: Aber,
wie die Stimmen gesammelt wurden, so fand sich, daß die Richter, gegen die
Hoffnung meiner Ankläger sich begnügten, mich auf ewig aus Griechenland zu
verbannen, die Hälfte meiner Güter zum gemeinen Wesen zu ziehen, und die
andre Hälfte meinen Verwandten zuzusprechen.  Die Gleichgültigkeit, womit
ich mich diesem Urteil unterwarf, wurde in diesem fatalen Augenblick, der
alle meine Handlungen in ein falsches Licht setzte, für einen Trotz
aufgenommen, welcher mich alles Mitleidens unwürdig machte; doch erlaubte
man meinen Freunden, sich um mich zu versammeln, mir ihre Dienste
anzubieten, und mich aus Athen zu begleiten: welches ich, ungeachtet mir
eine längere Frist gegeben worden war, noch in eben der Stunde, mit so
leichtem Herzen verließ, als wie ein Gefangener den Kerker verläßt, aus
dem er unverhofft in Freiheit gesetzt wird.  Die Tränen der wenigen,
welche mein Fall nicht von mir verscheucht hatte, und meiner guten
Hausgenossen, waren das einzige, was bei einem Abschiede, den wir auf ewig
von einander nahmen, mein Herz erweichte; und ihre guten Wünsche alles,
was ich von den Wirkungen ihrer mitleidigen und dankbaren Sorgfalt annahm.

Ich befand mich nun wieder ungefähr in eben den Umständen, worin ich vor
einigen Jahren unter dem Zypressenbaum im Vorhofe meines noch unbekannten
Vaters zu Corinth gelegen war.  Die großen Veränderungen, die
manchfaltigen Szenen von Reichtum, Ansehen, Gewalt und äußerlichem
Schimmer, durch welche mich das Glück in dieser kurzen Zwischenzeit
herumgedreht hatte, waren nun wie ein Traum vorüber; aber die wesentlichen
Vorteile, die von allen diesen Begegnissen in meinem Geist und Herzen
zurückgeblieben waren, überzeugten mich, daß ich nicht geträumt hatte.
Ich fand mich um eine Menge nützlicher und angenehmer Kenntnisse, um die
Entwicklung meiner Fähigkeiten, um das Bewußtsein vieler guten Handlungen,
und um eine Reihe wichtiger Erfahrungen, reicher als zuvor.  Ich hatte den
Geist der Republiken, den Charakter des Volks, und die Eigenschaften und
Wirkungen vieler mir vorher unbekannten Leidenschaften kennen gelernt, und
Gelegenheiten genug gehabt, vieler irrigen Einbildungen los zuwerden,
welche man sich von der Welt zu machen pflegt, wenn man sie nur von Ferne,
und ohne selbst in ihre Geschäfte eingeflochten zu sein, betrachtet.  Zu
Delphi hatte man mich (zum Exempel) gelehrt, daß sich das ganze Gebäude
der Republikanischen Verfassung auf die Tugend gründe; die Athenienser
lehrten mich hingegen, daß die Tugend an sich selbst nirgends weniger
geschätzt wird, als in einer Republik; den Fall ausgenommen, da man ihrer
vonnöten hat; und in diesem Fall wird sie unter einem jeden Tyrannen eben
so hoch geschätzt, und oft besser belohnt.  überhaupt hatte mein
Aufenthalt in Athen, die erhabene Theorie von der Vortrefflichkeit und
Würde der menschlichen Natur, wovon ich eingenommen war, sehr schlecht
bestätiget; aber ich fand mich nichts desto geneigter von ihr
zurückzukommen.  Ich legte alle Schuld auf die Contagion allzugroßer
Gesellschaften, auf die Mängel der Gesetzgebung, auf das Privatinteresse,
welches bei allen policierten Völkern, durch ein unbegreifliches Versehen
ihrer Gesetzgeber, in einem beständigen Streit mit dem gemeinen Besten
liegt.  Kurz, ich dachte darum nicht schlimmer von der Menschheit, weil
sich die Athenienser unbeständig, ungerecht und undankbar gegen mich
bewiesen hatten; aber ich faßte einen desto stärkern Widerwillen gegen
eine jede andere Gesellschaft, als eine solche, welche sich auf
übereinstimmende Grundsätze, Tugend und Bestrebung nach moralischer
Vollkommenheit gründete.  Der Verlust meiner Güter, und die Verbannung
aus Athen schien mir die wohltätige Veranstaltung einer für mich besorgten
Gottheit zu sein, welche mich dadurch meiner wahren Bestimmung habe
wiedergeben wollen.  Es ist sehr vermutlich, daß ich durch Anwendung
gehöriger Mittel, durch das Ansehen meiner auswärtigen Freunde, und selbst
durch die Unterstützung der Feinde der Athenienser, welche mir gleich
anfangs meines Prozesses, heimlich angeboten worden war, vielleicht in
kurzem wieder Wege gefunden haben könnte, meine Gegner in dem Genuß der
Früchte ihrer Bosheit zu stören, und im Triumphe wieder nach Athen zurück
zu kehren.  Allein solche Anschläge, und solche Mittel schickten sich nur
für einen Ehrgeizigen, welcher regieren will, um seine Leidenschaften zu
befriedigen.  Mir fiel es nicht ein, die Athenienser zwingen zu wollen,
daß sie sich von mir gutes tun lassen sollten.  Ich glaubte durch einen
Versuch, der mir durch ihre eigene Schuld mißlungen war, meiner Pflicht
gegen die bürgerliche Gesellschaft ein Genüge getan zu haben, und nun
vollkommen berechtiget zu sein, die natürliche Freiheit, welche mir meine
Verbannung wieder gab, zum Vorteil meiner eigenen Glückseligkeit
anzuwenden.  Ich beschloß also den Vorsatz, welchen ich zu Delphi schon
gefaßt hatte, nunmehr ins Werk zu setzen, und die Quellen der
morgenländischen Weisheit, die Magier, und die Gymnosophisten in Indien zu
besuchen, in deren geheiligten Einöden ich die wahren Gottheiten meiner
Seele, die Weisheit und die Tugend, von denen, wie ich glaubte, nur
unwesentliche Phantomen unter den übrigen Menschen herumschwärmten, zu
finden hoffte.

Aber eh ich auf die Zufälle komme, durch welche ich an der Ausführung
dieses Vorhabens gehintert, und in Gestalt eines Sklaven nach Smyrna
gebracht wurde; muß ich mich meiner jungen Freundin wieder erinnern, die
wir seit meiner Versetzung nach Athen aus dem Gesichte verloren haben."



ACHTES KAPITEL

Agathon endigt seine Erzählung


"Die Veränderung, welche mit mir vorging, da ich aus den Hainen von Delphi
auf den Schauplatz der geschäftigen Welt, in das Getümmel einer
volkreichen Stadt, in die unruhige Bewegungen einer zwischen der
Demokratie und Aristokratie hin und her treibenden Republik, und in das
moralische Chaos der bürgerlichen Gesellschaft, worin Leidenschaften mit
Leidenschaften, Absichten mit Absichten, in einem allgemeinen und ewigen
Streit gegen einander rennen, und unter dem unharmonischen Zusammenstoß
unförmlicher Mißgestalten, nichts beständiges, noch gewisses ist, nichts
das ist, was es scheint, noch die Gestalt behält die es hat.--Diese
Veränderung war so groß, daß ich ihre Wirkung, auf mein Gemüt durch nichts
anders zu bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der Betäubung,
worin nach meinem Freunde, Plato, unsre Seele eine Zeit lang, von sich
selbst entfremdet, liegen bleibt, nachdem sie aus dem Ozean des reinen
ursprünglichen Lichts, der die überhimmlischen Räume erfüllet, plötzlich
in den Schlamm des groben irdischen Stoffes heruntergestürzt worden ist.
Die Menge der neuen Gegenstände, welche von allen Seiten auf mich eindrang,
verschlang die Erinnerung derjenigen, welche mich so viele Jahre umgeben
hatten; und zuletzt hatte ich fast Mühe, mich selbst zu überreden, daß ich
eben derjenige sei, der im Tempel zu Delphi den Fremden die
Merkwürdigkeiten desselben gewiesen und erklärt hatte.  So gar das
Andenken meiner geliebten Psyche wurde eine Zeit lang von diesem Nebel,
der meine Seele umzog, verdunkelt; allein dieses dauerte nur so lange, bis
ich des neuen Elements, worin ich itzt lebte, gewohnt worden war; denn da
vermißte ich ihre Gegenwart desto lebhafter wieder, je größer das Leere
war, welches die Beschäftigungen und selbst die Ergötzungen meiner neuen
Lebensart in meinem Herzen ließen.  Die Schauspiele, die Gastmähler, die
Tänze, die Musikübungen, konnten mir jene seligen Nächte nicht ersetzen,
die ich in den Entzückungen einer zauberischen Schwärmerei, an ihrer Seite
zugebracht hatte.  Aber, so groß auch meine Sehnsucht nach diesen
verlornen Freuden war, so beunruhigte mich doch die Vorstellung des
unglücklichen Zustands noch weit mehr, worein die rachbegierige Eifersucht
der Pythia sie vermutlich versetzt hatte.  Den Ort ihres Aufenthalts
ausfindig zu machen, schien beinahe eine Unmöglichkeit; denn entweder
hatte die Priesterin sie (fern genug von Delphi, um uns alle Hoffnung des
Wiedersehens zu benehmen,) verkaufen, oder gar an irgend einer entlegnen
barbarischen Küste aussetzen und dem Zufall Preis geben lassen.  Allein da
der Liebe nichts unmöglich ist, so gab ich auch die Hoffnung nicht auf,
meine Psyche wieder zu bekommen.  Ich belud alle meine Freunde, alle
Fremden, die nach Athen kamen, alle Kaufleute, Reisende und Seefahrer mit
dem Auftrag, sich allenthalben, wohin sie kämen, nach ihr zu erkundigen;
und damit sie weniger verfehlt werden könnte, ließ ich eine unzählige
Menge Kopeien ihres Bildnisses machen, das ich selbst, oder vielmehr der
Gott der Liebe mit meiner Hand, in der vollkommensten ähnlichkeit, nach
dem gegenwärtigen Original, gezeichnet hatte, da wir noch in Delphi waren;
und diese Kopeien teilte ich unter alle diejenigen aus, welche ich durch
Verheißung großer Belohnungen, anzureizen suchte, sich für ihre Entdeckung
Mühe zu geben.  Ich gestehe dir so gar, daß das Verlangen meine Psyche
wieder zu finden, (anfänglich wenigstens) der hauptsächlichste Beweg-Grund
war, warum ich mich in der Republik hervorzutun suchte.  Denn, nachdem mir
alle andre Mittel fehlgeschlagen hatten, schien mir kein andres übrig zu
bleiben, als meinen Namen so bekannt zu machen, daß er ihr zu Ohren kommen
müßte; sie möchte auch sein, wo sie wollte.  Dieser Weg war in der Tat
etwas weitläufig; und ich hätte zwanzig Jahre in einem fort größere Taten
tun können, als Hercules und Theseus, ohne daß die Hyrcanier, die
Massageten, die Hibernier, oder die Lästrigonen, in deren Hände sie
inzwischen hätte geraten können, mehr von mir gewußt hätten, als die
Einwohner des Mondes.  Zu gutem Glück fand der Schutz-Geist unsrer Liebe
einen kürzern Weg, uns zusammenzubringen; aber in der Tat nur, um uns
Gelegenheit zu geben, auf ewig von einander Abscheid zu nehmen."-Hier fuhr
Agathon fort, der schönen Danae die Begebenheiten zu erzählen, die ihm auf
seiner Wanderschaft bis auf die Stunde, da er mit ihr bekannt wurde,
zugestoßen, und wovon wir dem geneigten Leser bereits im ersten und
zweiten Buche dieser Geschichte Rechenschaft gegeben haben; und nachdem er
sich auf Unkosten des weisen Hippias ein wenig lustig gemacht, entdeckte
er seiner schönen Freundin (welche seine ganze Erzählung nirgends weniger
langweilig fand, als an dieser Stelle,) alles, was von dem ersten
Augenblick an, da er sie gesehen, in seinem Herzen vorgegangen war.  Er
überredete sie mit eben der Aufrichtigkeit, womit er es zu empfinden
glaubte, daß sie allein dazu gemacht gewesen sei, seine Begriffe von
idealischen Vollkommenheiten und einem überirdischen Grade von
Glückseligkeit zu realisieren; daß er, seit dem er sie liebe, und von ihr
geliebet sei, ohne seiner ehemaligen Denkungs-Art ungetreu zu werden, von
dem, was darin übertrieben und schimärisch gewesen, bloß dadurch
zurückgekommen sei, weil er bei ihr alles dasjenige gefunden, wovon er
sich vorher, nur in der höchsten Begeisterung einer Einbildungs-Kraft
einige unvollkommene Schatten-Begriffe habe machen können; und weil es
natürlich sei, daß die Einbildungs-Kraft, als der Sitz der Schwärmerei, zu
würken aufhöre, so bald der Seele nichts zu tun übrig, als anzuschauen und
zu genießen.  Mit einem Wort: Agathon hatte vielleicht in seinem Leben nie
so sehr geschwärmt, als itzt, da er sich in dem höchsten Grade der
verliebten Betörung einbildete, daß er alles das, was er der
leichtgläubigen Danae vorsagte, eben so gewiß und unmittelbar sehe und
fühle, als er ihre schönen, von dem ganzen Geist der Liebe und von aller
seiner berauschenden Wollust trunknen Augen auf ihn geheftet sah, oder das
Klopfen ihres Herzens unter seinen verirrenden Lippen fühlte.  Er endigte
damit, daß er ihr aus seiner ganzen Erzählung begreiflich gemacht zu haben
glaube, warum es, nachdem er schon so oft bald von den Menschen, bald vom
Glücke, bald von seinen eigenen Einbildungen betrogen worden, entsetzlich
für ihn sein würde, wenn er jemals sich in der Hoffnung betrogen fände, so
vollkommen und beständig von ihr geliebt zu werden, als es zu seiner
Glückseligkeit nötig sei.  Er gestund ihr mit einer Offenherzigkeit,
welche vielleicht nur eine Danae ertragen konnte, daß eine lebhafte
Erinnerung an die Zeiten seiner ersten Liebe, zugleich mit der Vorstellung
aller der seltsamen Zufälle, Veränderungen und Katastrophen, die er in
einem Alter von fünf und zwanzig Jahren bereits erfahren habe, ihn auf
eine Reihe melancholischer Gedanken gebracht, worin er Mühe gehabt habe,
seine gegenwärtige Glückseligkeit für etwas wirkliches, und nicht für ein
abermaliges Blendwerk seiner Phantasie, zu halten.  "Eben das übermaß
derselben", sagte er, "eben dies ist es, was mich besorgen machte, jemals
aus einem so schönen Traum aufzuwachen.--Kannst du mich verdenken,
liebenswürdige Danae, o du, die durch die Reizungen deines Geistes, auch
ohne diese Liebe-atmende Gestalt, ohne diese Schönheit, deren Anschauen
himmlische Wesen dir gegenüber anzufesseln vermögend wäre, durch die bloße
Schönheit deiner Seele, und den magischen Reiz eines Geistes, der alle
Vorzüge, alle Gaben, alle Grazien in sich vereinigt, meinen Geist aus dem
Himmel selbst zu dir herunterziehen würdest.--Könntest du mich verdenken,
daß ich, vor dem Gedanken, deine Liebe jemals verlieren zu können, wie vor
der Vernichtung meines ganzen Wesens, erzittre?--Laß mich, laß mich die
Gewißheit, daß es nie geschehen werde, daß es unmöglich sei, immer in
deinen Augen lesen, immer von deinen Lippen hören, und in deinen Armen
fühlen; und wenn diese vergötternde Bezauberung jemals aufhören soll, so
nimm, im letzten Augenblick, alle deine Macht zusammen, und laß mich vor
Entzückung und Liebe zu deinen Füßen sterben."-Von der Antwort, womit
Danae diese Ergießungen einer glühenden Zärtlichkeit erwiderte, läßt sich
das Wenigste mit Worten ausdrücken; und dieses kann sich, nach allem, was
wir bereits von ihren Gesinnungen für unsern Helden gesagt haben, der
kaltsinnigste von unsern Lesern so gut vorstellen, als wir es ihm sagen
könnten--oder sich's auch nicht vorstellen, wenn es ihm beliebt.  Daß sie
ihm übrigens sehr höflich für die Erzählung seiner Geschichte gedankt, und
eine ungemeine Freude darüber empfunden habe, in diesem Sklaven, der die
Alcibiaden und den liebenswürdigen Cyrus selbst aus ihrem Herzen
ausgelöscht hatte, den ruhmvollen Agathon, den Mann, den das Gerüchte zum
Wunder seiner Zeit gemacht hatte, zu finden; und daß sie ihm hierüber viel
schönes gesagt haben werde--verstehst sich von selbst.  Dieses und alles,
was eine jede andere, die keine Danae gewesen wäre, in den vorliegenden
Umständen auch gesagt hätte, wollen wir, nebst allen den feinen
Anmerkungen und Scherzen, wodurch sie in gewissen Stellen seine Erzählung
unterbrochen hatte, überhüpfen, um zu andern Dingen, die in ihrem Gemüte
vorgingen, zu kommen, welche der größeste Teil unserer Leserinnen (wir
besorgen es, oder hoffen es vielmehr,) nicht aus sich selbst erraten hätte,
und welche wichtig genug sind, ein eigenes Kapitel zu verdienen.



NEUNTES KAPITEL

Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers Helden


Die vertrauliche Erzählung, welche Agathon seiner zärtlichen Freundin von
seinem ganzen Lebens-Lauf gemacht; die Offenherzigkeit, womit er ihr die
innersten Triebfedern seiner Seele aufgedeckt; und die vollständige
Kenntnis, welche sie dadurch von einem Liebhaber erhalten hatte, an dessen
Erhaltung ihr so viel gelegen war; ließen sie gar bald einsehen, daß sie
vielleicht mehr Ursache habe, über die Beständigkeit seiner Liebe
beunruhigt zu sein, als er über die Dauer der ihrigen.  So schmeichelhaft
es für ihre Eitelkeit war, von einem Agathon geliebt zu sein; so hätte sie
doch für die Ruhe ihres Herzens lieber gewollt, daß er keine so
schimmernde Rolle in der Welt gespielt hätte.  Sie besorgte nicht unbillig,
daß es schwer sein würde, einen jungen Helden, der durch so seltene
Talente und Tugenden zu den edelsten Auftritten des geschäftigen Lebens
bestimmt schien, immer in den Blumen-Fesseln der Liebe und eines
wollüstigen Müßiggangs gefangen zu halten.  Nun schien zwar die Art seiner
Erziehung, der sonderbare Schwung, den seine Einbildungs-Kraft dadurch
erhalten, seine herrschende Neigung zur Unabhängigkeit und Ruhe des
spekulativen Lebens, welche durch die Streiche, die ihm das Glück in einer
so großen Jugend bereits gespielt, eine neue Stärke bekommen hatte; und
der Hang zum Vergnügen, welcher, im Gleichmaß mit der außerordentlichen
Empfindlichkeit seines Herzens, die Ruhm-Begierde und die Ambition bei ihm
nur zu subalternen Leidenschaften machte--alles dieses schien ihr zwar in
dem Vorhaben, ihn der Welt zu rauben, und für sich selbst zu behalten,
nicht wenig beförderlich zu sein; aber eben diese schwärmerische
Einbildungs-Kraft, eben diese Lebhaftigkeit der Empfindungen schienen ihr,
auf einer andern Seite betrachtet, mit einer gewissen natürlichen
Unbeständigkeit verbunden zu sein, von welcher sie alles zu befürchten
hätte.  Konnte sie, mit aller Eitelkeit, wozu sie das Bewußtsein ihrer
selbst und der allgemeine Beifall berechtigte, sich selbst bereden, daß
sie diese idealische Vollkommenheit würklich besitze, welche die
bezauberten Augen ihres enthusiastischen Liebhabers an ihr sahen?  Und da
nicht sie selbst, sondern diese idealische Vollkommenheit der eigentliche
Gegenstand seiner Liebe war, auf was für einen unsichern Grund beruhete
also eine Hoffnung, welche voraussetzte, daß die Bezauberung immer dauern
werde?  Diese letzte Betrachtung machte sie zittern;--denn sie fühlte mit
einer immer zunehmenden Stärke, daß Agathon zu ihrer Glückseligkeit
unentbehrlich geworden war.--Aber (so ist die betrügliche Natur des
menschlichen Herzens!) eben darum, weil der Verlust ihres Liebhabers sie
elend gemacht haben würde, hatten alle Vorstellungen, welche ihr mit
seinem beständigen Besitz schmeichelten, doppelte Kraft ein Herz zu
überreden, welches nichts anders suchte, als getäuscht zu sein.  Sie
bildete sich also ein, daß der Hang zu demjenigen, was man die Wollust der
Seele nennen kann, den wesentlichsten Zug von der Gemüts-Beschaffenheit
unsers Helden ausmache.  Seine Philosophie selbst schien ihr diese Meinung
zu bestätigen, und, bei aller ihrer Erhabenheit über den groben
Materialismus des größten Haufens der Sterblichen, in der Tat mit den
Grundsätzen des Aristippus, welche vormals ihre eigenen gewesen waren, in
dem nämlichen Punkt zusammenzulaufen.  Der ganze Unterscheid schien ihr
darin zu liegen, daß dieser die Wollust, welche er zum letzten Ziel der
Weisheit machte, mehr in der angenehmen Bewegung der Sinnen, den
Befriedigungen eines geläuterten Geschmacks, und den Ergötzlichkeiten
eines von allen unruhigen Leidenschaften befreiten geselligen
Lebens--Agathon hingegen, diese feinere Wollust, von welcher er in den
stillen Hainen des Delphischen Tempels sich ein so liebenswürdiges Phantom
in den Kopf gesetzt hatte, mehr in den Vergnügen der Einbildungs-Kraft und
des Herzens suchte; eine Philosophie, bei welcher er (nach der
scharfsinnigen Beobachtung unsrer Schönen) so gar von Seiten der
sinnlichen Lust mehr gewann, als verlor; indem diese von den
verschönernden Einflüssen einer begeisterten Einbildung und den zärtlichen
Rührungen und Ergießungen eines gefühlvollen Herzens ihren mächtigsten
Reiz erhält.  Dieses als gewiß vorausgesetzt, glaubte sie von der
Unbeständigkeit, welche sie, nicht ohne Grund, als eine Eigenschaft einer
allzuwürksamen und hoch gespannten Einbildungs-Kraft ansah, nichts zu
besorgen zu haben; so lange es ihr nicht an Mitteln fehlen würde, seinen
Geist und sein Herz zugleich und, mit einer solchen Abwechslung und
Mannigfaltigkeit zu vergnügen, daß eine weit längere Zeit, als die Natur
dem Menschen zum Genießen angewiesen hat, nicht lange genug wäre, ihn
eines so angenehmen Zustandes überdrüssig zu machen.  Sie hatte Ursache,
dieses um so mehr zu glauben, da sie aus Erfahrung wußte, daß die
Würksamkeit der Einbildungs-Kraft desto mehr abnimmt, je weniger leeres
der Genuß wirklicher Vergnügungen im Herzen zurückläßt, und je weniger ihm
Zeit gelassen wird, etwas angenehmers als das Gegenwärtige zu wünschen.

Es ist dermalen noch nicht Zeit, daß wir über diese Grundsätze der schönen
Danae unsere eigenen Gedanken sagen.  Sie mochten, von einer Seite
betrachtet, richtig genug sein; aber wir besorgen sehr, daß sie sich in
dem Gebrauch der Mittel, wodurch sie ihren Zweck zu erhalten hoffte, von
der Liebe betrogen finden werde.  In der Tat liebte sie zu aufrichtig und
zu heftig, um gute Schlüsse zu machen; und ihr Herz führte sie nach und
nach, ohne daß sie es gewahr wurde, weit über die Grenzen der Mäßigung weg,
bei welcher sie sich anfangs so wohl befunden hatte.  Vielleicht mochte
auch eine geheime Eifersucht über die gute Psyche (so wenig sie gleich,
aller Wahrscheinlichkeit nach, zu befürchten hatte, daß sie jemals
persönlich auftreten, und das Herz ihres Liebhabers von ihr zurückfodern
werde) sich mit ins Spiel gemischt, und sie begierig gemacht haben, so gar
die Erinnerung an die Freuden seiner ersten Liebe, welche ihr vielleicht
noch allzulebhaft zu sein schien, aus seinem Gedächtnis auszulöschen.  So
viel ist gewiß, daß sie (vor lauter Begierde, unsern Helden mit
Glückseligkeiten zu überschütten,) ihm eine grenzenlose Liebe zu zeigen,
und ihn einen solchen Grad von Wonne, über welchem dem Herzen nichts zu
wünschen, und der Phantasie nichts zu denken übrig bliebe, erfahren zu
machen,--einen Weg einschlug, auf welchen sie ihres Zwecks fast notwendig
verfehlen mußte.  Der vortreffliche Brief des liebenswürdigsten Moralisten
der neuern Zeiten, des Saint Evremond, in den Briefen der Ninon Lenclos an
den Marquis von Sevigne, überhebt uns der Mühe, dem unerfahrnen Teil
unserer schönen Leserinnen zu erklären, wie es zugehe, daß die Liebe von
allzuvieler Nahrung abzehrt; und daß ein unvorsichtiges übermaß von
Zärtlichkeit gerade das gewisseste Mittel ist, einen Ungetreuen zu machen.
Wir wollen sie also auf die bemeldete Unterweisung eines der besten
Kenner des menschlichen Herzens verwiesen haben, und uns begnügen, ihnen
zu sagen, daß Agathon, nachdem er (dem neuen Plan seiner mehr zärtlichen
als behutsamen Geliebten zufolge) etliche Wochen lang von allem, was die
Liebe süßes und entzückendes hat, mehr erfahren hatte, als selbst die
glühende Einbildungs-Kraft des Marino fähig war, seinen Adon in den Armen
der Liebes-Göttin genießen zu lassen, unvermerkt in eine gewisse
Mattigkeit der Seele verfiel, welche wir nicht kürzer zu beschreiben
wissen, als wenn wir sagen, daß sie vollkommen das Widerspiel von der
Begeisterung war, worin wir ihn bisher gesehen haben.  Man würde sich
vermutlich sehr irren, wenn man diese Entgeisterung einer so unedeln
Ursache beimessen wollte, als diejenige war, welche den verachtenswürdigen
Helden des Petronius nötigte, seine Zuflucht zu den Beschwörungen und
Brenn-Nesseln der alten Enothea zu nehmen.  Nach allem, was wir von unserm
Helden wissen, kann kein Verdacht von dieser Art auf ihn fallen.  Wir
finden weit wahrscheinlicher, daß die wahre Ursache davon in seiner Seele
lag, und aus einer überfüllung mit Vergnügen, auf welche notwendig eine
Art von Betäubung folgen mußte, ihren Ursprung nahm.  Unsere Seele (mit
Erlaubnis derjenigen Philosophen, welche von der grenzenlosen Kapazität
und Unersättlichkeit ihrer Begierden so viel schönes zu sagen wissen,) ist
doch nur eines gewissen Maßes von Vergnügen fähig, und kann einen
anhaltenden Zustand von Entzückung eben so wenig ertragen, als eine lange
Dauer des äußersten Schmerzens.  Beides spannt endlich ihre Nerven ab, und
bringt sie zu einer Art von Ohnmacht, in welcher sie gar nichts mehr zu
empfinden fähig ist.  Was indessen auch die Ursache einer für die
Absichten der Danae so nachteiligen Veränderung gewesen sein mag; so ist
gewiß, daß die Würkungen derselben in kurzer Zeit so sehr überhand nahmen,
daß Agathon selbst Mühe hatte, sich in sich selbst zu erkennen, oder zu
begreifen, wie es mit dieser seltsamen Verwandlung der Szene zugegangen
sei.  Ein magischer Nebel schien vor seinen erstaunten Augen wegzufallen;
die ganze Natur zeigte sich ihm in einer andern Gestalt, verlor diesen
reizenden Firnis, den ihr der Geist der Liebe gegeben hatte; diese Gärten,
vor wenigen Tagen der geliebte Aufenthalt aller Freuden und Liebes-Götter,
diese elysischen Haine, diese mäandrischen Rosen-Gebüsche, worin die
lauschende Wollust sich so gerne verborgen hatte, um das Vergnügen zu
haben, sich erhaschen zu lassen--erweckten itzt durch ihren Anblick nichts
mehr, als jeder andre schattichte Platz, jedes andre Gebüsche; die Luft,
die er atmete, war nicht mehr dieser süße Atem der Liebe, von dem jeder
Hauch die Flammen seines Herzens stärker aufzuwehen schien; Danae war
bereits von der idealischen Vollkommenheit zu dem gewöhnlichen Wert einer
jeden andern schönen Frau herabgesunken; und er selbst, der vor kurzem
sich an Wonne den Göttern gleich geschätzet hatte, fing an, sehr starke
Zweifel zu bekommen: Ob er in dieser weibischen Gestalt, worein ihn die
Liebe verkleidet hatte, den Namen eines Mannes verdiene?  Man wird nicht
zweifeln, daß in diesem Zustand die Erinnerungen dessen, was er ehemals
gewesen war--der wundervolle Traum, den er je länger je mehr für die
Würkung irgend eines wohltätigen Geistes, und vielleicht des
abgeschiedenen Schattens seiner geliebten Psyche selbst, zu halten bewogen
war--die Stimme der Tugend, die er einst angebetet, und welcher er alles
aufgeopfert hatte--und die Vorwürfe, die sie ihm schon vor einiger Zeit
über ein in müßiger Wollust unrühmlich dahinschmelzendes Leben zu machen
angefangen,--gute Gelegenheit hatten, sein Herz, dessen beste Neigungen
selbst auf ihrer Seite waren, mit vereinigter Stärke wieder anzugreifen.
Sie hatten es fast gänzlich wieder eingenommen, als er erst deutlich
gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen, denen er sich überließ,
notwendig führen mußten.  Er erschrak, da er sah, daß ihm nichts als die
Flucht von dieser allzureizenden Zauberin seine vorige Gestalt wieder
geben könne.  Sich von Danae zu trennen!  auf ewig zu trennen!--Dieser
Gedanke benahm seiner Seele auf einmal alle die Stärke wieder, welche sie
wieder in sich zu fühlen anfing, und weckte alle Erinnerungen, alle
Empfindungen seiner entschlummerten Leidenschaft wieder auf.  Sie, die
ihn so inbrünstig liebte,--sie, die ihn so glücklich gemacht hatte--zu
verlassen--für alle ihre Liebe, für alles was sie für ihn getan hatte, und
auf eine so verbindliche, so edle Art getan hatte, den Qualen einer mit
Undank belohnten Liebe preis zu geben -: Nein, zu einer so
niederträchtigen, so häßlichen Tat, (wie diese in seinen Augen war) konnte
sich sein Herz nicht entschließen.  Die Tugend selbst, welcher er seine
eigene Befriedigung aufzuopfern bereit war, konnte ein so undankbares und
grausames Verfahren nicht gut heißen--Wir überlassen es der Entscheidung
kalter Sitten-Lehrer: ob die Tugend das konnte, oder nicht; aber unser
Held war von dem letztern so lebhaft überzeugt, daß er, anstatt auf Gründe
zu denken, womit er die Sophistereien der Liebe hätte vernichten können,
in vollem Ernst auf Mittel bedacht war, das Interesse seines Herzens und
die Tugend, welche ihm nicht unverträglich zu sein schienen, auf immer mit
einander zu vereinigen.

Die zärtliche Danae hatte inzwischen, wie leicht zu erachten ist, die
Veränderung, welche in der Seele unsers Helden vorgegangen war, im ersten
Augenblick, da sie merklich wurde, wahrgenommen.  Allein die gute Danae
war weit entfernt, seinem Herzen die Schuld davon zu geben; sie betrog
sich selbst über die wahre Ursache, und glaubte, daß die Veränderung des
Orts, und vielleicht eine kleine Entfernung, ihm in kurzem alle die
Lebhaftigkeit der Empfindung wieder geben würde, die er verloren zu haben
schien.  Die Wiederkehr in die Stadt, wo sie einander nicht immer sehen
würden, wo ihre Liebe sich zu verbergen genötigt sein, und dadurch den
Reiz eines geheimen Verständnisses erhalten würde, die Zerstreuungen des
Stadt-Lebens, die Gesellschaft, die Lustbarkeiten, würden ihn (glaubte
sie) bald genug wieder so feuerig als jemals wieder in ihre Arme führen.
Sie überredete ihn also, mit ihr nach Smyrna zurückzugehen, obgleich die
schöne Jahrs-Zeit noch nicht ganz zu Ende war.  Hier wußte sie, (ohne daß
es schien, daß sie Hand dabei habe,) eine Menge Gelegenheiten zu
veranstalten, wodurch sie einander seltner wurden; wenn sie sich wieder
allein befanden, flog sie ihm zwar eben so zärtlich in die Arme, als
ehemals; aber sie vermied alles, was zu jener allzuwollüstigen Berauschung
(in welche sie ihn, wenn sie wollte, durch einen einzigen Blick setzen
konnte) geführt hätte, und tat es mit einer so guten Art, daß er keinen
besondern Vorsatz dabei gewahr werden konnte: Kurz, sie wußte die
feurigste Liebe unvermerkt so geschickt in die zärtlichste Freundschaft zu
verwandeln, daß Agathon, welcher weder Kunst noch Absicht unter ihrem
Betragen argwohnte, ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in kurzem
wieder so zärtlich und dringend wurde, als ob er erst anfangen müßte, sich
um ihr Herz zu bewerben.  Zwar war es nicht in ihrer Gewalt, ihm diese
Begeisterung mit allem ihrem zauberischen Gefolge wieder zu geben, welche,
wenn sie einmal verschwunden ist, nicht wieder zu kommen pflegt; aber die
Lebhaftigkeit, womit ihre Reizungen auf seine Sinnen, und die Empfindungen
der Dankbarkeit und Freundschaft auf sein Herz würkten, brachten doch
ungefähr die nämliche Phänomena hervor; und da man gewohnt ist, gleiche
Würkungen gleichen Ursachen zu zuschreiben, so ist es nicht unbegreiflich,
wie beide sich eine Zeitlang hierin betrügen konnten, ohne nur zu vermuten,
daß sie betrogen würden.

Es ist sehr zu vermuten, daß es bei dieser schlauen Mäßigung, wodurch die
schöne Danae die Folgen ihrer vorigen Unvorsichtigkeit wieder gut zu
machen wußte, um unsern Helden geschehen gewesen wäre; und daß seine
Tugend unter diesem zweifelhaften Streit mit seiner Leidenschaft, bei
welchem wechselsweise bald die eine, bald die andere die Oberhand behielt,
endlich gefällig genug worden wäre, sich mit ihrer schönen Feindin in
einen vielleicht nicht allzurühmlichen Vergleich einzulassen, und die
Glückseligkeit der liebenswürdigen Danae dadurch auf immer sicher zu
stellen; wenn nicht der unglücklichste Zufall, der ihr mit einem so
sonderbaren Mann, als Agathon war, nur immer begegnen konnte, sie auf
einmal mit seiner Hochachtung alles dessen beraubt hätte, was sie noch im
Besitz seines Herzens erhalten hatte.  Eine einst geliebte Person behält
(auch wenn das Fieber der Liebe vorbei ist) noch immer eine große Gewalt
über unser Herz, so lange sie unsere Hochachtung nicht verloren hat.
Agathon war zu edelmütig, die schöne Danae für die Schwachheit, welche sie
gegen ihn gehabt hatte, (das einzige, was die Hochachtung hätte vermindern
können, welche sie durch so viele schöne Eigenschaften des Geistes und des
Herzens verdiente,) dadurch zu bestrafen, daß er ihr deswegen nur das
mindeste von der seinigen entzogen hätte.  Aber so bald es dahin gekommen
war, daß er sich in seiner Meinung von ihrem Charakter und moralischen
Werte betrogen zu haben glaubte; so bald er sich gezwungen sah, sie zu
verachten; hörte sie auf, Danae für ihn zu sein; und durch eine ganz
natürliche Folge wurde er in dem nämlichen Augenblick wieder Agathon.



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von Christoph Martin Wieland


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