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Title: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 2
Author: Goethe, Johann Wolfgang von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 2" ***


globaltraveler5565@yahoo.com.



Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 2

Johann Wolfgang von Goethe



Zweites Buch

Erstes Kapitel

Jeder, der mit lebhaften Kräften vor unsern Augen eine Absicht zu
erreichen strebt, kann, wir mögen seinen Zweck loben oder tadeln, sich
unsre Teilnahme versprechen; sobald aber die Sache entschieden ist,
wenden wir unser Auge sogleich von ihm weg; alles, was geendigt, was
abgetan daliegt, kann unsre Aufmerksamkeit keineswegs fesseln,
besonders wenn wir schon frühe der Unternehmung einen übeln Ausgang
prophezeit haben.

Deswegen sollen unsre Leser nicht umständlich mit dem Jammer und der
Not unsers verunglückten Freundes, in die er geriet, als er seine
Hoffnungen und Wünsche auf eine so unerwartete Weise zerstört sah,
unterhalten werden.  Wir überspringen vielmehr einige Jahre und suchen
ihn erst da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von Tätigkeit und
Genuß zu finden hoffen, wenn wir vorher nur kürzlich so viel, als zum
Zusammenhang der Geschichte nötig ist, vorgetragen haben.

Die Pest oder ein böses Fieber rasen in einem gesunden, vollsaftigen
Körper, den sie anfallen, schneller und heftiger, und so ward der arme
Wilhelm unvermutet von einem unglücklichen Schicksale überwältigt, daß
in einem Augenblicke sein ganzes Wesen zerrüttet war.  Wie wenn von
ungefähr unter der Zurüstung ein Feuerwerk in Brand gerät und die
künstlich gebohrten und gefüllten Hülsen, die, nach einem gewissen
Plane geordnet und abgebrannt, prächtig abwechselnde Feuerbilder in
die Luft zeichnen sollten, nunmehr unordentlich und gefährlich
durcheinander zischen und sausen: so gingen auch jetzt in seinem Busen
Glück und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Geträumtes auf
einmal scheiternd durcheinander.  In solchen wüsten Augenblicken
erstarrt der Freund, der zur Rettung hinzueilt, und dem, den es trifft,
ist es eine Wohltat, daß ihn die Sinne verlassen.

Tage des lauten, ewig wiederkehrenden und mit Vorsatz erneuerten
Schmerzens folgten darauf; doch sind auch diese für eine Gnade der
Natur zu achten.  In solchen Stunden hatte Wilhelm seine Geliebte noch
nicht ganz verloren; seine Schmerzen waren unermüdet erneuerte
Versuche, das Glück, das ihm aus der Seele entfloh, noch festzuhalten,
die Möglichkeit desselben in der Vorstellung wieder zu erhaschen,
seinen auf immer abgeschiedenen Freuden ein kurzes Nachleben zu
verschaffen.  Wie man einen Körper, solange die Verwesung dauert,
nicht ganz tot nennen kann, solange die Kräfte, die vergebens nach
ihren alten Bestimmungen zu wirken suchen, an der Zerstörung der Teile,
die sie sonst belebten, sich abarbeiten; nur dann, wenn sich alles
aneinander aufgerieben hat, wenn wir das Ganze in gleichgültigen Staub
zerlegt sehen, dann entsteht das erbärmliche, leere Gefühl des Todes
in uns, nur durch den Atem des Ewiglebenden zu erquicken.

In einem so neuen, ganzen, lieblichen Gemüte war viel zu zerreißen, zu
zerstören, zu ertöten, und die schnellheilende Kraft der Jugend gab
selbst der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit.  Der
Streich hatte sein ganzes Dasein an der Wurzel getroffen.  Werner, aus
Not sein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer und Schwert, um einer
verhaßten Leidenschaft, dem Ungeheuer, ins innerste Leben zu dringen.
Die Gelegenheit war so glücklich, das Zeugnis so bei der Hand, und
wieviel Geschichten und Erzählungen wußt er nicht zu nutzen.  Er
trieb's mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt,
ließ dem Freunde nicht das Labsal des mindesten augenblicklichen
Betruges, vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, in welchen er sich vor der
Verzweiflung hätte retten können, daß die Natur, die ihren Liebling
nicht wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm
von der andern Seite Luft zu machen.

Ein lebhaftes Fieber mit seinem Gefolge, den Arzeneien, der
überspannung und der Mattigkeit; dabei die Bemühungen der Familie, die
Liebe der Mitgebornen, die durch Mangel und Bedürfnisse sich erst
recht fühlbar macht, waren so viele Zerstreuungen eines veränderten
Zustandes und eine kümmerliche Unterhaltung.  Erst als er wieder
besser wurde, das heißt, als seine Kräfte erschöpft waren, sah Wilhelm
mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines dürren Elendes hinab,
wie man in den ausgebrannten, hohlen Becher eines Vulkans
hinunterblickt.

Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwürfe, daß er nach so
großem Verlust noch einen schmerzenlosen, ruhigen, gleichgültigen
Augenblick haben könne.  Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich
nach dem Labsal des Jammers und der Tränen.

Um diese wieder in sich zu erwecken, brachte er vor sein Andenken alle
Szenen des vergangenen Glücks.  Mit der größten Lebhaftigkeit malte er
sie sich aus, strebte wieder in sie hinein, und wenn er sich zur
möglichsten Höhe hinaufgearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenschein
voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Busen zu heben schien,
sah er rückwärts auf den schrecklichen Abgrund, labte sein Auge an der
zerschmetternden Tiefe, warf sich hinunter und erzwang von der Natur
die bittersten Schmerzen.  Mit so wiederholter Grausamkeit zerriß er
sich selbst; denn die Jugend, die so reich an eingehüllten Kräften ist,
weiß nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein
Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden zugesellt, als wollte
sie dem Verlornen dadurch noch erst einen rechten Wert geben.  Auch
war er so überzeugt, daß dieser Verlust der einzige, der erste und
letzte sei, den er in seinem Leben empfinden könne, daß er jeden Trost
verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorzustellen unternahm.



II. Buch, 2. Kapitel



Zweites Kapitel

Gewöhnt, auf diese Weise sich selbst zu quälen, griff er nun auch das
übrige, was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die größten Freuden
und Hoffnungen gegeben hatte, sein Talent als Dichter und Schauspieler,
mit hämischer Kritik von allen Seiten an.  Er sah in seinen Arbeiten
nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen,
ohne innern Wert; er wollte darin nur steife Schulexerzitien erkennen,
denen es an jedem Funken von Naturell, Wahrheit und Begeisterung fehle.
In seinen Gedichten fand er nur ein monotones Silbenmaß, in welchem,
durch einen armseligen Reim zusammengehalten, ganz gemeine Gedanken
und Empfindungen sich hinschleppten; und so benahm er sich auch jede
Aussicht, jede Lust, die ihn von dieser Seite noch allenfalls hätte
wieder aufrichten können.

Seinem Schauspielertalente ging es nicht besser.  Er schalt sich, daß
er nicht früher die Eitelkeit entdeckt, die allein dieser Anmaßung zum
Grunde gelegen.  Seine Figur, sein Gang, seine Bewegung und
Deklamation mußten herhalten; er sprach sich jede Art von Vorzug,
jedes Verdienst, das ihn über das Gemeine emporgehoben hätte,
entscheidend ab und vermehrte seine stumme Verzweiflung dadurch auf
den höchsten Grad.  Denn wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu
entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich, von dem
Umgange der Musen sich loszureißen, sich ihrer Gemeinschaft auf immer
unwürdig zu erklären und auf den schönsten und nächsten Beifall, der
unsrer Person, unserm Betragen, unsrer Stimme öffentlich gegeben wird,
Verzicht zu tun.

So hatte sich denn unser Freund völlig resigniert und sich zugleich
mit großem Eifer den Handelsgeschäften gewidmet.  Zum Erstaunen seines
Freundes und zur größten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf
dem Comptoir und der Börse, im Laden und Gewölbe tätiger als er;
Korrespondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen wurde, besorgte
und verrichtete er mit größtem Fleiß und Eifer.  Freilich nicht mit
dem heitern Fleiße, der zugleich dem Geschäftigen Belohnung ist, wenn
wir dasjenige, wozu wir geboren sind, mit Ordnung und Folge verrichten,
sondern mit dem stillen Fleiße der Pflicht, der den besten Vorsatz
zum Grunde hat, der durch überzeugung genährt und durch ein innres
Selbstgefühl belohnt wird; der aber doch oft, selbst dann, wenn ihm
das schönste Bewußtsein die Krone reicht, einen vordringenden Seufzer
kaum zu ersticken vermag.

Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig fortgelebt und
sich überzeugt, daß jene harte Prüfung vom Schicksale zu seinem Besten
veranstaltet worden.  Er war froh, auf dem Wege des Lebens sich
beizeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt zu sehen, anstatt daß
andere später und schwerer die Mißgriffe büßen, wozu sie ein
jugendlicher Dünkel verleitet hat.  Denn gewöhnlich wehrt sich der
Mensch so lange, als er kann, den Toren, den er im Busen hegt, zu
verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit
einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt.

So entschlossen er war, seinen liebsten Vorstellungen zu entsagen, so
war doch einige Zeit nötig, um ihn von seinem Unglücke völlig zu
überzeugen.  Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Liebe, des
poetischen Hervorbringens und der persönlichen Darstellung mit
triftigen Gründen so ganz in sich vernichtet, daß er Mut faßte, alle
Spuren seiner Torheit, alles, was ihn irgend noch daran erinnern
könnte, völlig auszulöschen.  Er hatte daher an einem kühlen Abende
ein Kaminfeuer angezündet und holte ein Reliquienkästchen hervor, in
welchem sich hunderterlei Kleinigkeiten fanden, die er in bedeutenden
Augenblicken von Marianen erhalten oder derselben geraubt hatte.  Jede
vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit, da sie noch frisch in
ihren Haaren blühte; jedes Zettelchen an die glückliche Stunde, wozu
sie ihn dadurch einlud; jede Schleife an den lieblichen Ruheplatz
seines Hauptes, ihren schönen Busen.  Mußte nicht auf diese Weise jede
Empfindung, die er schon lange getötet glaubte, sich wieder zu bewegen
anfangen?  Mußte nicht die Leidenschaft, über die er, abgeschieden von
seiner Geliebten, Herr geworden war, in der Gegenwart dieser
Kleinigkeiten wieder mächtig werden?  Denn wir merken erst, wie
traurig und unangenehm ein trüber Tag ist, wenn ein einziger
durchdringender Sonnenblick uns den aufmunternden Glanz einer heitern
Stunde darstellt.

Nicht ohne Bewegung sah er daher diese so lange bewahrten Heiligtümer
nacheinander in Rauch und Flamme vor sich aufgehen.  Einigemal hielt
er zaudernd inne und hatte noch eine Perlenschnur und ein flornes
Halstuch übrig, als er sich entschloß, mit den dichterischen Versuchen
seiner Jugend das abnehmende Feuer wieder aufzufrischen.

Bis jetzt hatte er alles sorgfältig aufgehoben, was ihm, von der
frühsten Entwicklung seines Geistes an, aus der Feder geflossen war.
Noch lagen seine Schriften in Bündel gebunden auf dem Boden des
Koffers, wohin er sie gepackt hatte, als er sie auf seiner Flucht
mitzunehmen hoffte.  Wie ganz anders eröffnete er sie jetzt, als er
sie damals zusammenband!

Wenn wir einen Brief, den wir unter gewissen Umständen geschrieben und
gesiegelt haben, der aber den Freund, an den er gerichtet war, nicht
antrifft, sondern wieder zu uns zurückgebracht wird, nach einiger Zeit
eröffnen, überfällt uns eine sonderbare Empfindung, indem wir unser
eignes Siegel erbrechen und uns mit unserm veränderten Selbst wie mit
einer dritten Person unterhalten.  Ein ähnliches Gefühl ergriff mit
Heftigkeit unsern Freund, als er das erste Paket eröffnete und die
zerteilten Hefte ins Feuer warf, die eben gewaltsam aufloderten, als
Werner hereintrat, sich über die lebhafte Flamme verwunderte und
fragte, was hier vorgehe.

"Ich gebe einen Beweis", sagte Wilhelm, "daß es mir Ernst sei, ein
Handwerk aufzugeben, wozu ich nicht geboren ward"; und mit diesen
Worten warf er das zweite Paket in das Feuer.  Werner wollte ihn
abhalten, allein es war geschehen.

"Ich sehe nicht ein, wie du zu diesem Extrem kommst", sagte dieser.
"Warum sollen denn nun diese Arbeiten, wenn sie nicht vortrefflich
sind, gar vernichtet werden?"

"Weil ein Gedicht entweder vortrefflich sein oder gar nicht existieren
soll; weil jeder, der keine Anlage hat, das Beste zu leisten, sich der
Kunst enthalten und sich vor jeder Verführung dazu ernstlich in acht
nehmen sollte.  Denn freilich regt sich in jedem Menschen ein gewisses
unbestimmtes Verlangen, dasjenige, was er sieht, nachzuahmen; aber
dieses Verlangen beweist gar nicht, daß auch die Kraft in uns wohne,
mit dem, was wir unternehmen, zustande zu kommen.  Sieh nur die Knaben
an, wie sie jedesmal, sooft Seiltänzer in der Stadt gewesen, auf allen
Planken und Balken hin und wider gehen und balancieren, bis ein
anderer Reiz sie wieder zu einem ähnlichen Spiele hinzieht.  Hast du
es nicht in dem Zirkel unsrer Freunde bemerkt?  Sooft sich ein
Virtuose hören läßt, finden sich immer einige, die sogleich dasselbe
Instrument zu lernen anfangen.  Wie viele irren auf diesem Wege herum!
Glücklich, wer den Fehlschluß von seinen Wünschen auf seine Kräfte
bald gewahr wird!"

Werner widersprach; die Unterredung ward lebhaft, und Wilhelm konnte
nicht ohne Bewegung die Argumente, mit denen er sich selbst so oft
gequält hatte, gegen seinen Freund wiederholen.  Werner behauptete, es
sei nicht vernünftig, ein Talent, zu dem man nur einigermaßen Neigung
und Geschick habe, deswegen, weil man es niemals in der größten
Vollkommenheit ausüben werde, ganz aufzugeben.  Es finde sich ja so
manche leere Zeit, die man dadurch ausfüllen und nach und nach etwas
hervorbringen könne, wodurch wir uns und andern ein Vergnügen bereiten.


Unser Freund, der hierin ganz anderer Meinung war, fiel ihm sogleich
ein und sagte mit großer Lebhaftigkeit:

"Wie sehr irrst du, lieber Freund, wenn du glaubst, daß ein Werk,
dessen erste Vorstellung die ganze Seele füllen muß, in unterbrochenen,
zusammengegeizten Stunden könne hervorgebracht werden.  Nein, der
Dichter muß ganz sich, ganz in seinen geliebten Gegenständen leben.
Er, der vom Himmel innerlich auf das köstlichste begabt ist, der einen
sich immer selbst vermehrenden Schatz im Busen bewahrt, er muß auch
von außen ungestört mit seinen Schätzen in der stillen Glückseligkeit
leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich
hervorzubringen sucht.  Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und
Vergnügen rennen!  Ihre Wünsche, ihre Mühe, ihr Geld jagen rastlos,
und wonach?  Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat,
nach dem Genuß der Welt, nach dem Mitgefühl seiner selbst in andern,
nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren
Dingen.

Was beunruhiget die Menschen, als daß sie ihre Begriffe nicht mit den
Sachen verbinden können, daß der Genuß sich ihnen unter den Händen
wegstiehlt, daß das Gewünschte zu spät kommt und daß alles Erreichte
und Erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde
uns in der Ferne ahnen läßt.  Gleichsam wie einen Gott hat das
Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt.  Er sieht das
Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen,
er sieht die unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse, denen oft nur
ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsäglich verderbliche
Verwirrungen verursachen.  Er fühlt das Traurige und das Freudige
jedes Menschenschicksals mit.  Wenn der Weltmensch in einer
abzehrenden Melancholie über großen Verlust seine Tage hinschleicht
oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengeht, so
schreitet die empfängliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie
die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag fort, und mit leisen übergängen
stimmt seine Harfe zu Freude und Leid.  Eingeboren auf dem Grund
seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn
die andern wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen
ihren Sinnen geängstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als
ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich
Vergangenheit und Zukunft.  Und so ist der Dichter zugleich Lehrer
Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen.  Wie! willst du, daß er
zu einem kümmerlichen Gewerbe heruntersteige?  Er, der wie ein Vogel
gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten
und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern
leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am
Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Fährte gewöhnen oder
vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein
Bellen sichern?"

Werner hatte, wie man sich denken kann, mit Verwunderung zugehört.
"Wenn nur auch die Menschen", fiel er ihm ein, "wie die Vögel gemacht
wären und, ohne daß sie spinnen und weben, holdselige Tage in
beständigem Genuß zubringen könnten!  Wenn sie nur auch bei Ankunft
des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begäben, dem Mangel
auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!"

"So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo das Ehrwürdige mehr erkannt
ward", rief Wilhelm aus, "und so sollten sie immer leben.  Genugsam in
ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig von außen; die Gabe,
schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in süßen, sich an
jeden Gegenstand anschmiegenden Worten und Melodien mitzuteilen,
bezauberte von jeher die Welt und war für den Begabten ein reichliches
Erbteil.  An der Könige Höfen, an den Tischen der Reichen, vor den
Türen der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die
Seele für alles andere verschloß, wie man sich seligpreist und
entzückt stillesteht, wenn aus den Gebüschen, durch die man wandelt,
die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervordringt!  Sie fanden
eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhöhte sie nur
desto mehr.  Der Held lauschte ihren Gesängen, und der überwinder der
Welt huldigte einem Dichter, weil er fühlte, daß ohne diesen sein
ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; der
Liebende wünschte sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und
so harmonisch zu fühlen, als ihn die beseelte Lippe zu schildern
verstand; und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer, seine
Abgötter, nicht mit eigenen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom
Glanz des allen Wert fühlenden und erhöhenden Geistes beleuchtet
erschienen.  Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu
ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?"

"Mein Freund", versetzte Werner nach einigem Nachdenken, "ich habe
schon oft bedauert, daß du das, was du so lebhaft fühlst, mit Gewalt
aus deiner Seele zu verbannen strebst.  Ich müßte mich sehr irren,
wenn du nicht besser tätest, dir selbst einigermaßen nachzugeben, als
dich durch die Widersprüche eines so harten Entsagens aufzureiben und
dir mit der einen unschuldigen Freude den Genuß aller übrigen zu
entziehen."

"Darf ich dir's gestehen, mein Freund",versetzte der andre, "und wirst
du mich nicht lächerlich finden, wenn ich dir bekenne, daß jene Bilder
mich noch immer verfolgen, sosehr ich sie fliehe, und daß, wenn ich
mein Herz untersuche, alle frühen Wünsche fest, ja noch fester als
sonst darin haften?  Doch was bleibt mir Unglücklichem gegenwärtig
übrig?  Ach, wer mir vorausgesagt hätte, daß die Arme meines Geistes
so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche
griff und mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfassen hoffte, wer
mir das vorausgesagt hätte, würde mich zur Verzweiflung gebracht haben.
Und noch jetzt, da das Gericht über mich ergangen ist, jetzt, da ich
die verloren habe, die anstatt einer Gottheit mich zu meinen Wünschen
hinüberführen sollte, was bleibt mir übrig, als mich den bittersten
Schmerzen zu überlassen?  O mein Bruder", fuhr er fort, "ich leugne
nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschlägen der Kloben, an den
eine Strickleiter befestigt ist; gefährlich hoffend schwebt der
Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert
am Fuße seiner Wünsche.  Es ist auch nun für mich kein Trost, keine
Hoffnung mehr!  Ich werde", rief er aus, indem er aufsprang, "von
diesen unglückseligen Papieren keines übriglassen."  Er faßte abermals
ein paar Hefte an, riß sie auf und warf sie ins Feuer.  Werner wollte
ihn abhalten, aber vergebens.  "Laß mich!" rief Wilhelm, "was sollen
diese elenden Blätter?  Für mich sind sie weder Stufe noch
Aufmunterung mehr.  Sollen sie übrigbleiben, um mich bis ans Ende
meines Lebens zu peinigen?  Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum
Gespötte dienen, anstatt Mitleiden und Schauer zu erregen?  Weh über
mich und über mein Schicksal!  Nun verstehe ich erst die Klagen der
Dichter, der aus Not weise gewordnen Traurigen.  Wie lange hielt ich
mich für unzerstörbar, für unverwundlich, und ach! nun seh ich, daß
ein tiefer früher Schade nicht wieder auswachsen, sich nicht wieder
herstellen kann; ich fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen muß.  Nein!
keinen Tag des Lebens soll der Schmerz von mir weichen, der mich noch
zuletzt umbringt, und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben, mit mir
leben und sterben, das Andenken der Unwürdigen--ach, mein Freund! wenn
ich von Herzen reden soll--der gewiß nicht ganz Unwürdigen!  Ihr Stand,
ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt.  Ich bin
zu grausam gewesen, du hast mich in deine Kälte, in deine Härte
unbarmherzig eingeweiht, meine zerrütteten Sinne gefangengehalten und
mich verhindert, das für sie und für mich zu tun, was ich uns beiden
schuldig war.  Wer weiß, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und
erst nach und nach fällt mir's aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung,
in welcher Hülflosigkeit ich sie verließ!  War's nicht möglich, daß
sie sich entschuldigen konnte?  War's nicht möglich?  Wieviel
Mißverständnisse können die Welt verwirren, wieviel Umstände können
dem größten Fehler Vergebung erflehen!--Wie oft denke ich mir sie, in
der Stille für sich sitzend, auf ihren Ellenbogen gestützt.--"Das ist",
sagt sie, "die Treue, die Liebe, die er mir zuschwur!  Mit diesem
unsanften Schlag das schöne Leben zu endigen, das uns verband!""--Er
brach in einen Strom von Tränen aus, indem er sich mit dem Gesichte
auf den Tisch warf und die übergebliebenen Papiere benetzte.

Werner stand in der größten Verlegenheit dabei.  Er hatte sich dieses
rasche Auflodern der Leidenschaft nicht vermutet.  Etlichemal wollte
er seinem Freunde in die Rede fallen, etlichemal das Gespräch
woandershin lenken, vergebens! er widerstand dem Strome nicht.  Auch
hier übernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt.  Er ließ
den heftigsten Anfall des Schmerzens vorüber, indem er durch seine
stille Gegenwart eine aufrichtige, reine Teilnehmung am besten sehen
ließ, und so blieben sie diesen Abend; Wilhelm ins stille Nachgefühl
des Schmerzens versenkt und der andere erschreckt durch den neuen
Ausbruch einer Leidenschaft, die er lange bemeistert und durch guten
Rat und eifriges Zureden überwältigt zu haben glaubte.



II. Buch, 3. Kapitel



Drittes Kapitel

Nach solchen Rückfällen pflegte Wilhelm meist nur desto eifriger sich
den Geschäften und der Tätigkeit zu widmen, und es war der beste Weg,
dem Labyrinthe, das ihn wieder anzulocken suchte, zu entfliehen.
Seine gute Art, sich gegen Fremde zu betragen, seine Leichtigkeit,
fast in allen lebenden Sprachen Korrespondenz zu führen, gaben seinem
Vater und dessen Handelsfreunde immer mehr Hoffnung und trösteten sie
über die Krankheit, deren Ursache ihnen nicht bekannt geworden war,
und über die Pause, die ihren Plan unterbrochen hatte.  Man beschloß
Wilhelms Abreise zum zweitenmal, und wir finden ihn auf seinem Pferde,
den Mantelsack hinter sich, erheitert durch freie Luft und Bewegung,
dem Gebirge sich nähern, wo er einige Aufträge ausrichten sollte.

Er durchstrich langsam Täler und Berge mit der Empfindung des größten
Vergnügens. überhangende Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene
Wände, tiefe Gründe sah er hier zum erstenmal, und doch hatten seine
frühsten Jugendträume schon in solchen Gegenden geschwebt.  Er fühlte
sich bei diesem Anblicke wieder verjüngt; alle erduldeten Schmerzen
waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit völliger Heiterkeit sagte
er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem "Pastor
fido" vor, die an diesen einsamen Plätzen scharenweis seinem
Gedächtnisse zuflossen.  Auch erinnerte er sich mancher Stellen aus
seinen eigenen Liedern, die er mit einer besondern Zufriedenheit
rezitierte.  Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten
der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll
Ahnung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten.

Mehrere Menschen, die aufeinanderfolgend hinter ihm herkamen, an ihm
mit einem Gruße vorbeigingen und den Weg ins Gebirge, durch steile
Fußpfade, eilig fortsetzten, unterbrachen einigemal seine stille
Unterhaltung, ohne daß er jedoch aufmerksam auf sie geworden wäre.
Endlich gesellte sich ein gesprächiger Gefährte zu ihm und erzählte
die Ursache der starken Pilgerschaft.

"Zu Hochdorf", sagte er, "wird heute abend eine Komödie gegeben, wozu
sich die ganze Nachbarschaft versammelt."

"Wie!" rief Wilhelm, "in diesen einsamen Gebirgen, zwischen diesen
undurchdringlichen Wäldern hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden
und sich einen Tempel aufgebaut? und ich muß zu ihrem Feste
wallfahrten?"

"Sie werden sich noch mehr wundern", sagte der andere, "wenn Sie hören,
durch wen das Stück aufgeführt wird.  Es ist eine große Fabrik in dem
Orte, die viel Leute ernährt.  Der Unternehmer, der sozusagen von
aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, weiß seine Arbeiter im
Winter nicht besser zu beschäftigen, als daß er sie veranlaßt hat,
Komödie zu spielen.  Er leidet keine Karten unter ihnen und wünscht
sie auch sonst von rohen Sitten abzuhalten.  So bringen sie die langen
Abende zu, und heute, da des Alten Geburtstag ist, geben sie ihm zu
Ehren eine besondere Festlichkeit."

Wilhelm kam zu Hochdorf an, wo er übernachten sollte, und stieg bei
der Fabrik ab, deren Unternehmer auch als Schuldner auf seiner Liste
stand.

Als er seinen Namen nannte, rief der Alte verwundert aus: "Ei, mein
Herr, sind Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich so viel Dank und
bis jetzt noch Geld schuldig bin?  Ihr Herr Vater hat so viel Geduld
mit mir gehabt, daß ich ein Bösewicht sein müßte, wenn ich nicht eilig
und fröhlich bezahlte.  Sie kommen eben zur rechten Zeit, um zu sehen,
daß es mir Ernst ist."

Er rief seine Frau herbei, welche ebenso erfreut war, den jungen Mann
zu sehen; sie versicherte, daß er seinem Vater gleiche, und bedauerte,
daß sie ihn wegen der vielen Fremden die Nacht nicht beherbergen könne.


Das Geschäft war klar und bald berichtigt; Wilhelm steckte ein
Röllchen Gold in die Tasche und wünschte, daß seine übrigen Geschäfte
auch so leicht gehen möchten.

Die Stunde des Schauspiels kam heran, man erwartete nur noch den
Oberforstmeister, der endlich auch anlangte, mit einigen Jägern
eintrat und mit der größten Verehrung empfangen wurde.

Die Gesellschaft wurde nunmehr ins Schauspielhaus geführt, wozu man
eine Scheune eingerichtet hatte, die gleich am Garten lag.  Haus und
Theater waren, ohne sonderlichen Geschmack, munter und artig genug
angelegt.  Einer von den Malern, die auf der Fabrik arbeiteten, hatte
bei dem Theater in der Residenz gehandlangt und hatte nun Wald, Straße
und Zimmer, freilich etwas roh, hingestellt.  Das Stück hatten sie von
einer herumziehenden Truppe geborgt und nach ihrer eigenen Weise
zurechtgeschnitten.  So wie es war, unterhielt es.  Die Intrige, daß
zwei Liebhaber ein Mädchen ihrem Vormunde und wechselsweise sich
selbst entreißen wollen, brachte allerlei interessante Situationen
hervor.  Es war das erste Stück, das unser Freund nach einer so langen
Zeit wieder sah; er machte mancherlei Betrachtungen.  Es war voller
Handlung, aber ohne Schilderung wahrer Charaktere.  Es gefiel und
ergötzte.  So sind die Anfänge aller Schauspielkunst.  Der rohe Mensch
ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht; der gebildete will
empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.

Den Schauspielern hätte er hie und da gerne nachgeholfen; denn es
fehlte nur wenig, so hätten sie um vieles besser sein können.

In seinen stillen Betrachtungen störte ihn der Tabaksdampf, der immer
stärker und stärker wurde.  Der Oberforstmeister hatte bald nach
Anfang des Stücks seine Pfeife angezündet, und nach und nach nahmen
sich mehrere diese Freiheit heraus.  Auch machten die großen Hunde
dieses Herrn schlimme Auftritte.  Man hatte sie zwar ausgesperrt;
allein sie fanden bald den Weg zur Hintertüre herein, liefen auf das
Theater, rannten wider die Akteurs und gesellten sich endlich durch
einen Sprung über das Orchester zu ihrem Herrn, der den ersten Platz
im Parterre eingenommen hatte.

Zum Nachspiel ward ein Opfer dargebracht.  Ein Porträt, das den Alten
in seinem Bräutigamskleide vorstellte, stand auf einem Altar, mit
Kränzen behangen.  Alle Schauspieler huldigten ihm in demutvollen
Stellungen.  Das jüngste Kind trat, weiß gekleidet, hervor und hielt
eine Rede in Versen, wodurch die ganze Familie und sogar der
Oberforstmeister, der sich dabei an seine Kinder erinnerte, zu Tränen
bewegt wurde.  So endigte sich das Stück, und Wilhelm konnte nicht
umhin, das Theater zu besteigen, die Aktricen in der Nähe zu besehen,
sie wegen ihres Spiels zu loben und ihnen auf die Zukunft einigen Rat
zu geben.

Die übrigen Geschäfte unsers Freundes, die er nach und nach in größern
und kleinern Gebirgsorten verrichtete, liefen nicht alle so glücklich
noch so vergnügt ab.  Manche Schuldner baten um Aufschub, manche waren
unhöflich, manche leugneten.  Nach seinem Auftrage sollte er einige
verklagen; er mußte einen Advokaten aufsuchen, diesen instruieren,
sich vor Gericht stellen und was dergleichen verdrießliche Geschäfte
noch mehr waren.

Ebensoschlimm erging es ihm, wenn man ihm eine Ehre erzeigen wollte.
Nur wenig Leute fand er, die ihn einigermaßen unterrichten konnten;
wenige, mit denen er in ein nützliches Handelsverhältnis zu kommen
hoffte.  Da nun auch unglücklicherweise Regentage einfielen und eine
Reise zu Pferd in diesen Gegenden mit unerträglichen Beschwerden
verknüpft war, so dankte er dem Himmel, als er sich dem flachen Lande
wieder näherte und am Fuße des Gebirges in einer schönen und
fruchtbaren Ebene, an einem sanften Flusse, im Sonnenscheine ein
heiteres Landstädtchen liegen sah, in welchem er zwar keine Geschäfte
hatte, aber eben deswegen sich entschloß, ein paar Tage daselbst zu
verweilen, um sich und seinem Pferde, das von dem schlimmen Wege sehr
gelitten hatte, einige Erholung zu verschaffen.



II. Buch, 4. Kapitel--1



Viertes Kapitel

Als er in einem Wirtshause auf dem Markte abtrat, ging es darin sehr
lustig, wenigstens sehr lebhaft zu.  Eine große Gesellschaft
Seiltänzer, Springer und Gaukler, die einen starken Mann bei sich
hatten, waren mit Weib und Kindern eingezogen und machten, indem sie
sich auf eine öffentliche Erscheinung bereiteten, einen Unfug über den
andern.  Bald stritten sie mit dem Wirte, bald unter sich selbst; und
wenn ihr Zank unleidlich war, so waren die äußerungen ihres Vergnügens
ganz und gar unerträglich.  Unschlüssig, ob er gehen oder bleiben
sollte, stand er unter dem Tore und sah den Arbeitern zu, die auf dem
Platze ein Gerüst aufzuschlagen anfingen.

Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb
dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei
anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines
an der Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich auftat und
ein wohlgebildetes Frauenzimmer sich an demselben zeigte.  Er konnte
ungeachtet der Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr
Gesicht belebte.  Ihre blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um
ihren Nacken; sie schien sich nach dem Fremden umzusehen.  Einige Zeit
darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze umgegürtet und ein
weißes Jäckchen anhatte, aus der Türe jenes Hauses, ging auf Wilhelmen
zu, begrüßte ihn und sagte: "Das Frauenzimmer am Fenster läßt Sie
fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen abtreten
wollen?"--"Sie stehn ihr alle zu Diensten", versetzte Wilhelm, indem
er dem leichten Boten das Bouquet überreichte und zugleich der Schönen
ein Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß
erwiderte und sich vom Fenster zurückzog.

Nachdenkend über dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer
die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm entgegensprang, das
seine Aufmerksamkeit auf sich zog.  Ein kurzes seidnes Westchen mit
geschlitzten spanischen ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen
standen dem Kinde gar artig.  Lange schwarze Haare waren in Locken und
Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden.  Er sah die Gestalt mit
Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für
einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte.  Doch entschied er
sich bald für das letzte und hielt sie auf, da sie bei ihm vorbeikam,
bot ihr einen guten Tag und fragte sie, wem sie angehöre, ob er schon
leicht sehen konnte, daß sie ein Glied der springenden und tanzenden
Gesellschaft sein müsse.  Mit einem scharfen schwarzen Seitenblick sah
sie ihn an, indem sie sich von ihm losmachte und in die Küche lief,
ohne zu antworten.

Als er die Treppe hinaufkam, fand er auf dem weiten Vorsaale zwei
Mannspersonen, die sich im Fechten übten oder vielmehr ihre
Geschicklichkeit aneinander zu versuchen schienen.  Der eine war
offenbar von der Gesellschaft, die sich im Hause befand, der andere
hatte ein weniger wildes Ansehn.  Wilhelm sah ihnen zu und hatte
Ursache, sie beide zu bewundern, und als nicht lange darauf der
schwarzbärtige, nervige Streiter den Kampfplatz verließ, bot der
andere mit vieler Artigkeit Wilhelmen das Rapier an.

"Wenn Sie einen Schüler", versetzte dieser, "in die Lehre nehmen
wollen, so bin ich wohl zufrieden, mit Ihnen einige Gänge zu wagen."
Sie fochten zusammen, und obgleich der Fremde dem Ankömmling weit
überlegen war, so war er doch höflich genug zu versichern, daß alles
nur auf übung ankomme; und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt, daß er
früher von einem guten und gründlichen deutschen Fechtmeister
unterrichtet worden war.

Ihre Unterhaltung ward durch das Getöse unterbrochen, mit welchem die
bunte Gesellschaft aus dem Wirtshause auszog, um die Stadt von ihrem
Schauspiel zu benachrichtigen und auf ihre Künste begierig zu machen.
Einem Tambour folgte der Entrepreneur zu Pferde, hinter ihm eine
Tänzerin auf einem ähnlichen Gerippe, die ein Kind vor sich hielt, das
mit Bändern und Flintern wohl herausgeputzt war.  Darauf kam die
übrige Truppe zu Fuß, wovon einige auf ihren Schultern Kinder, in
abenteuerlichen Stellungen, leicht und bequem dahertrugen, unter denen
die junge, schwarzköpfige, düstere Gestalt Wilhelms Aufmerksamkeit
aufs neue erregte.

Pagliasso lief unter der andringenden Menge drollig hin und her und
teilte mit sehr begreiflichen Späßen, indem er bald ein Mädchen küßte,
bald einen Knaben pritschte, seine Zettel aus und erweckte unter dem
Volke eine unüberwindliche Begierde, ihn näher kennenzulernen.

In den gedruckten Anzeigen waren die mannigfaltigen Künste der
Gesellschaft, besonders eines Monsieur Narziß und der Demoiselle
Landrinette herausgestrichen, welche beide als Hauptpersonen die
Klugheit gehabt hatten, sich von dem Zuge zu enthalten, sich dadurch
ein vornehmeres Ansehn zu geben und größere Neugier zu erwecken.

Während des Zuges hatte sich auch die schöne Nachbarin wieder am
Fenster sehen lassen, und Wilhelm hatte nicht verfehlt, sich bei
seinem Gesellschafter nach ihr zu erkundigen.  Dieser, den wir
einstweilen Laertes nennen wollen, erbot sich, Wilhelmen zu ihr
hinüber zu begleiten.  "Ich und das Frauenzimmer", sagte er lächelnd,
"sind ein paar Trümmer einer Schauspielergesellschaft, die vor kurzem
hier scheiterte.  Die Anmut des Orts hat uns bewogen, einige Zeit hier
zu bleiben und unsre wenige gesammelte Barschaft in Ruhe zu verzehren,
indes ein Freund ausgezogen ist, ein Unterkommen für sich und uns zu
suchen."

Laertes begleitete sogleich seinen neuen Bekannten zu Philinens Türe,
wo er ihn einen Augenblick stehenließ, um in einem benachbarten Laden
Zuckerwerk zu holen.  "Sie werden mir es gewiß danken", sagte er,
indem er zurückkam, "daß ich Ihnen diese artige Bekanntschaft
verschaffe."

Das Frauenzimmer kam ihnen auf ein Paar leichten Pantöffelchen mit
hohen Absätzen aus der Stube entgegengetreten.  Sie hatte eine
schwarze Mantille über ein weißes Neglige geworfen, das, eben weil es
nicht ganz reinlich war, ihr ein häusliches und bequemes Ansehn gab;
ihr kurzes Röckchen ließ die niedlichsten Füße von der Welt sehen.

"Sein Sie mir willkommen!" rief sie Wilhelmen zu, "und nehmen Sie
meinen Dank für die schönen Blumen."  Sie führte ihn mit der einen
Hand ins Zimmer, indem sie mit der andern den Strauß an die Brust
drückte.  Als sie sich niedergesetzt hatten und in gleichgültigen
Gesprächen begriffen waren, denen sie eine reizende Wendung zu geben
wußte, schüttete ihr Laertes gebrannte Mandeln in den Schoß, von denen
sie sogleich zu naschen anfing.  "Sehn Sie, welch ein Kind dieser
junge Mensch ist!" rief sie aus, "er wird Sie überreden wollen, daß
ich eine große Freundin von solchen Näschereien sei, und er ist's, der
nicht leben kann, ohne irgend etwas Leckeres zu genießen."

"Lassen Sie uns nur gestehn", versetzte Laertes, "daß wir hierin, wie
in mehrerem, einander gern Gesellschaft leisten.  Zum Beispiel", sagte
er, "es ist heute ein sehr schöner Tag; ich dächte, wir führen
spazieren und nähmen unser Mittagsmahl auf der Mühle."--"Recht gern",
sagte Philine, "wir müssen unserm neuen Bekannten eine kleine
Veränderung machen."  Laertes sprang fort, denn er ging niemals, und
Wilhelm wollte einen Augenblick nach Hause, um seine Haare, die von
der Reise noch verworren aussahen, in Ordnung bringen zu lassen.  "Das
können Sie hier!" sagte sie, rief ihren kleinen Diener, nötigte
Wilhelmen auf die artigste Weise, seinen Rock auszuziehen, ihren
Pudermantel anzulegen und sich in ihrer Gegenwart frisieren zu lassen.
"Man muß ja keine Zeit versäumen", sagte sie; "man weiß nicht, wie
lange man beisammen bleibt."

Der Knabe, mehr trotzig und unwillig als ungeschickt, benahm sich
nicht zum besten, raufte Wilhelmen und schien so bald nicht fertig
werden zu wollen.  Philine verwies ihm einigemal seine Unart, stieß
ihn endlich ungeduldig hinweg und jagte ihn zur Türe hinaus.  Nun
übernahm sie selbst die Bemühung und kräuselte die Haare unsers
Freundes mit großer Leichtigkeit und Zierlichkeit, ob sie gleich auch
nicht zu eilen schien und bald dieses, bald jenes an ihrer Arbeit
auszusetzen hatte, indem sie nicht vermeiden konnte, mit ihren Knien
die seinigen zu berühren und Strauß und Busen so nahe an seine Lippen
zu bringen, daß er mehr als einmal in Versuchung gesetzt ward, einen
Kuß darauf zu drücken.

Als Wilhelm mit einem kleinen Pudermesser seine Stirne gereinigt hatte,
sagte sie zu ihm: "Stecken Sie es ein, und gedenken Sie meiner dabei."
Es war ein artiges Messer; der Griff von eingelegtem Stahl zeigte
die freundlichen Worte: "Gedenkt mein".  Wilhelm steckte es zu sich,
dankte ihr und bat um die Erlaubnis, ihr ein kleines Gegengeschenk
machen zu dürfen.

Nun war man fertig geworden.  Laertes hatte die Kutsche gebracht, und
nun begann eine sehr lustige Fahrt.  Philine warf jedem Armen, der sie
anbettelte, etwas zum Schlage hinaus, indem sie ihm zugleich ein
munteres und freundliches Wort zurief.

Sie waren kaum auf der Mühle angekommen und hatten ein Essen bestellt,
als eine Musik vor dem Hause sich hören ließ.  Es waren Bergleute, die
zu Zither und Triangel mit lebhaften und grellen Stimmen verschiedene
artige Lieder vortrugen.  Es dauerte nicht lange, so hatte eine
herbeiströmende Menge einen Kreis um sie geschlossen, und die
Gesellschaft nickte ihnen ihren Beifall aus den Fenstern zu.  Als sie
diese Aufmerksamkeit gesehen, erweiterten sie ihren Kreis und schienen
sich zu ihrem wichtigsten Stückchen vorzubereiten.  Nach einer Pause
trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor und stellte, indes die andern
eine ernsthafte Melodie spielten, die Handlung des Schürfens vor.

Es währte nicht lange, so trat ein Bauer aus der Menge und gab jenem
pantomimisch drohend zu verstehen, daß er sich von hier hinwegbegeben
solle.  Die Gesellschaft war darüber verwundert und erkannte erst den
in einen Bauer verkleideten Bergmann, als er den Mund auftat und in
einer Art von Rezitativ den andern schalt, daß er wage, auf seinem
Acker zu hantieren.  Jener kam nicht aus der Fassung, sondern fing an,
den Landmann zu belehren, daß er recht habe, hier einzuschlagen, und
gab ihm dabei die ersten Begriffe vom Bergbau.  Der Bauer, der die
fremde Terminologie nicht verstand, tat allerlei alberne Fragen,
worüber die Zuschauer, die sich klüger fühlten, ein herzliches
Gelächter aufschlugen.  Der Bergmann suchte ihn zu berichten und
bewies ihm den Vorteil, der zuletzt auch auf ihn fließe, wenn die
unterirdischen Schätze des Landes herausgewühlt würden.  Der Bauer,
der jenem zuerst mit Schlägen gedroht hatte, ließ sich nach und nach
besänftigen, und sie schieden als gute Freunde voneinander; besonders
aber zog sich der Bergmann auf die honorabelste Art aus diesem Streite.


"Wir haben", sagte Wilhelm bei Tische, "an diesem kleinen Dialog das
lebhafteste Beispiel, wie nützlich allen Ständen das Theater sein
könnte, wie vielen Vorteil der Staat selbst daraus ziehen müßte, wenn
man die Handlungen, Gewerbe und Unternehmungen der Menschen von ihrer
guten, lobenswürdigen Seite und in dem Gesichtspunkte auf das Theater
brächte, aus welchem sie der Staat selbst ehren und schützen muß.
Jetzt stellen wir nur die lächerliche Seite der Menschen dar; der
Lustspieldichter ist gleichsam nur ein hämischer Kontrolleur, der auf
die Fehler seiner Mitbürger überall ein wachsames Auge hat und froh zu
sein scheint, wenn er ihnen eins anhängen kann.  Sollte es nicht eine
angenehme und würdige Arbeit für einen Staatsmann sein, den
natürlichen, wechselseitigen Einfluß aller Stände zu überschauen und
einen Dichter, der Humor genug hätte, bei seinen Arbeiten zu leiten?
Ich bin überzeugt, es könnten auf diesem Wege manche sehr
unterhaltende, zugleich nützliche und lustige Stücke ersonnen werden."

"Soviel ich", sagte Laertes, "überall, wo ich herumgeschwärmt bin,
habe bemerken können, weiß man nur zu verbieten, zu hindern und
abzulehnen; selten aber zu gebieten, zu befördern und zu belohnen.
Man läßt alles in der Welt gehn, bis es schädlich wird; dann zürnt man
und schlägt drein."

"Laßt mit den Staat und die Staatsleute weg", sagte Philine, "ich kann
mir sie nicht anders als in Perücken vorstellen, und eine Perücke, es
mag sie aufhaben, wer da will, erregt in meinen Fingern eine
krampfhafte Bewegung; ich möchte sie gleich dem ehrwürdigen Herrn
herunternehmen, in der Stube herumspringen und den Kahlkopf auslachen."

Mit einigen lebhaften Gesängen, welche sie sehr schön vortrug, schnitt
Philine das Gespräch ab und trieb zu einer schnellen Rückfahrt, damit
man die Künste der Seiltänzer am Abende zu sehen nicht versäumen
möchte.  Drollig bis zur Ausgelassenheit, setzte sie ihre
Freigebigkeit gegen die Armen auf dem Heimwege fort, indem sie zuletzt,
da ihr und ihren Reisegefährten das Geld ausging, einem Mädchen ihren
Strohhut und einem alten Weibe ihr Halstuch zum Schlage hinauswarf.

Philine lud beide Begleiter zu sich in ihre Wohnung, weil man, wie sie
sagte, aus ihren Fenstern das öffentliche Schauspiel besser als im
andern Wirtshause sehen könne.

Als sie ankamen, fanden sie das Gerüst aufgeschlagen und den
Hintergrund mit aufgehängten Teppichen geziert.  Die Schwungbretter
waren schon gelegt, das Schlappseil an die Pfosten befestigt und das
straffe Seil über die Böcke gezogen.  Der Platz war ziemlich mit Volk
gefüllt und die Fenster mit Zuschauern einiger Art besetzt.

Pagliaß bereitete erst die Versammlung mit einigen Albernheiten,
worüber die Zuschauer immer zu lachen pflegen, zur Aufmerksamkeit und
guten Laune vor.  Einige Kinder, deren Körper die seltsamsten
Verrenkungen darstellten, erregten bald Verwunderung, bald Grausen,
und Wilhelm konnte sich des tiefen Mitleidens nicht enthalten, als er
das Kind, an dem er beim ersten Anblicke teilgenommen, mit einiger
Mühe die sonderbaren Stellungen hervorbringen sah.  Doch bald erregten
die lustigen Springer ein lebhaftes Vergnügen, wenn sie erst einzeln,
dann hintereinander und zuletzt alle zusammen sich vorwärts und
rückwärts in der Luft überschlugen.  Ein lautes Händeklatschen und
Jauchzen erscholl aus der ganzen Versammlung.

Nun aber ward die Aufmerksamkeit auf einen ganz andern Gegenstand
gewendet.  Die Kinder, eins nach dem andern, mußten das Seil betreten,
und zwar die Lehrlinge zuerst, damit sie durch ihre übungen das
Schauspiel verlängerten und die Schwierigkeit der Kunst ins Licht
setzten.  Es zeigten sich auch einige Männer und erwachsene
Frauenspersonen mit ziemlicher Geschicklichkeit; allein es war noch
nicht Monsieur Narziß, noch nicht Demoiselle Landrinette.

Endlich traten auch diese aus einer Art von Zelt hinter aufgespannten
roten Vorhängen hervor und erfüllten durch ihre angenehme Gestalt und
zierlichen Putz die bisher glücklich genährte Hoffnung der Zuschauer.
Er ein munteres Bürschchen von mittlerer Größe, schwarzen Augen und
einem starken Haarzopf; sie nicht minder wohl und kräftig gebildet;
beide zeigten sich nacheinander auf dem Seile mit leichten Bewegungen,
Sprüngen und seltsamen Posituren.  Ihre Leichtigkeit, seine
Verwegenheit, die Genauigkeit, womit beide ihre Kunststücke ausführten,
erhöhten mit jedem Schritt und Sprung das allgemeine Vergnügen.  Der
Anstand, womit sie sich betrugen, die anscheinenden Bemühungen der
andern um sie gaben ihnen das Ansehn, als wenn sie Herr und Meister
der ganzen Truppe wären, und jedermann hielt sie des Ranges wert.

Die Begeisterung des Volks teilte sich den Zuschauern an den Fenstern
mit, die Damen sahen unverwandt nach Narzissen, die Herren nach
Landrinetten.  Das Volk jauchzte, und das feinere Publikum enthielt
sich nicht des Klatschens; kaum daß man noch über Pagliassen lachte.
Wenige nur schlichen sich weg, als einige von der Truppe, um Geld zu
sammeln, sich mit zinnernen Tellern durch die Menge drängten.

"Sie haben ihre Sache, dünkt mich, gut gemacht", sagte Wilhelm zu
Philinen, die bei ihm am Fenster lag, "ich bewundere ihren Verstand,
womit sie auch geringe Kunststückchen, nach und nach und zur rechten
Zeit angebracht, gelten zu machen wußten, und wie sie aus der
Ungeschicklichkeit ihrer Kinder und aus der Virtuosität ihrer Besten
ein Ganzes zusammenarbeiteten, das erst unsre Aufmerksamkeit erregte
und dann uns auf das angenehmste unterhielt."

Das Volk hatte sich nach und nach verlaufen, und der Platz war leer
geworden, indes Philine und Laertes über die Gestalt und die
Geschicklichkeit Narzissens und Landrinettens in Streit gerieten und
sich wechselsweise neckten.  Wilhelm sah das wunderbare Kind auf der
Straße bei andern spielenden Kindern stehen, machte Philinen darauf
aufmerksam, die sogleich nach ihrer lebhaften Art dem Kinde rief und
winkte und, da es nicht kommen wollte, singend die Treppe
hinunterklapperte und es heraufführte.



II. Buch, 4. Kapitel--2



"Hier ist das Rätsel", rief sie, als sie das Kind zur Türe hereinzog.
Es blieb am Eingange stehen, eben als wenn es gleich wieder
hinausschlüpfen wollte, legte die rechte Hand vor die Brust, die linke
vor die Stirn und bückte sich tief.  "Fürchte dich nicht, liebe
Kleine", sagte Wilhelm, indem er auf sie losging.  Sie sah ihn mit
unsicheren Blick an und trat einige Schritte näher.

"Wie nennest du dich?" fragte er.  "Sie heißen mich Mignon."--"Wieviel
Jahre hast du?"--"Es hat sie niemand gezählt."--"Wer war dein
Vater?"--"Der große Teufel ist tot."

"Nun, das ist wunderlich genug!" rief Philine aus.  Man fragte sie
noch einiges; sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch
und mit einer sonderbar feierlichen Art vor; dabei legte sie jedesmal
die Hände an Brust und Haupt und neigte sich tief.

Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen.  Seine Augen und sein Herz
wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens
angezogen.  Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre; ihr Körper war
gut gebaut, nur daß ihre Glieder einen stärkern Wuchs versprachen oder
einen zurückgehaltenen ankündigten.  Ihre Bildung war nicht regelmäßig,
aber auffallend; ihre Stirne geheimnisvoll, ihre Nase außerordentlich
schön, und der Mund, ob er schon für ihr Alter zu sehr geschlossen
schien und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch
immer treuherzig und reizend genug.  Ihre bräunliche Gesichtsfarbe
konnte man durch die Schminke kaum erkennen.  Diese Gestalt prägte
sich Wilhelmen sehr tief ein; er sah sie noch immer an, schwieg und
vergaß der Gegenwärtigen über seinen Betrachtungen.  Philine weckte
ihn aus seinem Halbtraume, indem sie dem Kinde etwas übriggebliebenes
Zuckerwerk reichte und ihm ein Zeichen gab, sich zu entfernen.  Es
machte seinen Bückling wie oben und fuhr blitzschnell zur Türe hinaus.

Als die Zeit nunmehr herbeikam, daß unsre neuen Bekannten sich für
diesen Abend trennen sollten, redeten sie vorher noch eine
Spazierfahrt auf den morgenden Tag ab.  Sie wollten abermals an einem
andern Orte, auf einem benachbarten Jägerhause, ihr Mittagsmahl
einnehmen.  Wilhelm sprach diesen Abend noch manches zu Philinens Lobe,
worauf Laertes nur kurz und leichtsinnig antwortete.

Den andern Morgen, als sie sich abermals eine Stunde im Fechten geübt
hatten, gingen sie nach Philinens Gasthofe, vor welchem sie die
bestellte Kutsche schon hatten anfahren sehen.  Aber wie verwundert
war Wilhelm, als die Kutsche verschwunden, und wie noch mehr, als
Philine nicht zu Hause anzutreffen war.  Sie hatte sich, so erzählte
man, mit ein paar Fremden, die diesen Morgen angekommen waren, in den
Wagen gesetzt und war mit ihnen davongefahren.  Unser Freund, der sich
in ihrer Gesellschaft eine angenehme Unterhaltung versprochen hatte,
konnte seinen Verdruß nicht verbergen.  Dagegen lachte Laertes und
rief: "So gefällt sie mir!  Das sieht ihr ganz ähnlich!  Lassen Sie
uns nur gerade nach dem Jagdhause gehen; sie mag sein, wo sie will,
wir wollen ihretwegen unsere Promenade nicht versäumen."

Als Wilhelm unterwegs diese Inkonsequenz des Betragens zu tadeln
fortfuhr, sagte Laertes: "Ich kann nicht inkonsequent finden, wenn
jemand seinem Charakter treu bleibt.  Wenn sie sich etwas vornimmt
oder jemanden etwas verspricht, so geschieht es nur unter der
stillschweigenden Bedingung, daß es ihr auch bequem sein werde, den
Vorsatz auszuführen oder ihr Versprechen zu halten.  Sie verschenkt
gern, aber man muß immer bereit sein, ihr das Geschenkte wiederzugeben."

"Dies ist ein seltsamer Charakter", versetzte Wilhelm.

"Nichts weniger als seltsam, nur daß sie keine Heuchlerin ist.  Ich
liebe sie deswegen, ja ich bin ihr Freund, weil sie mir das Geschlecht
so rein darstellt, das ich zu hassen so viel Ursache habe.  Sie ist
mir die wahre Eva, die Stammutter des weiblichen Geschlechts; so sind
alle, nur wollen sie es nicht Wort haben."

Unter mancherlei Gesprächen, in welchen Laertes seinen Haß gegen das
weibliche Geschlecht sehr lebhaft ausdrückte, ohne jedoch die Ursache
davon anzugeben, waren sie in den Wald gekommen, in welchen Wilhelm
sehr verstimmt eintrat, weil die äußerungen des Laertes ihm die
Erinnerung an sein Verhältnis zu Marianen wieder lebendig gemacht
hatten.  Sie fanden nicht weit von einer beschatteten Quelle unter
herrlichen alten Bäumen Philinen allein an einem steinernen Tische
sitzen.  Sie sang ihnen ein lustiges Liedchen entgegen, und als
Laertes nach ihrer Gesellschaft fragte, rief sie aus: "Ich habe sie
schön angeführt; ich habe sie zum besten gehabt, wie sie es verdienten.
Schon unterwegs setzte ich ihre Freigebigkeit auf die Probe, und da
ich bemerkte, daß sie von den kargen Näschern waren, nahm ich mir
gleich vor, sie zu bestrafen.  Nach unsrer Ankunft fragten sie den
Kellner, was zu haben sei, der mit der gewöhnlichen Geläufigkeit
seiner Zunge alles, was da war, und mehr als da war, hererzählte.  Ich
sah ihre Verlegenheit, sie blickten einander an, stotterten und
fragten nach dem Preise; "Was bedenken Sie sich lange", rief ich aus,
"die Tafel ist das Geschäft eines Frauenzimmers, lassen Sie mich dafür
sorgen."  Ich fing darauf an, ein unsinniges Mittagmahl zu bestellen,
wozu noch manches durch Boten aus der Nachbarschaft geholt werden
sollte.  Der Kellner, den ich durch ein paar schiefe Mäuler zum
Vertrauten gemacht hatte, half mir endlich, und so haben wir sie durch
die Vorstellung eines herrlichen Gastmahls dergestalt geängstigt, daß
sie sich kurz und gut zu einem Spaziergange in den Wald entschlossen,
von dem sie wohl schwerlich zurückkommen werden.  Ich habe eine
Viertelstunde auf meine eigene Hand gelacht und werde lachen, sooft
ich an die Gesichter denke."  Bei Tische erinnerte sich Laertes an
ähnliche Fälle; sie kamen in den Gang, lustige Geschichten,
Mißverständnisse und Prellereien zu erzählen.

Ein junger Mann von ihrer Bekanntschaft aus der Stadt kam mit einem
Buche durch den Wald geschlichen, setzte sich zu ihnen und rühmte den
schönen Platz.  Er machte sie auf das Rieseln der Quelle, auf die
Bewegung der Zweige, auf die einfallenden Lichter und auf den Gesang
der Vögel aufmerksam.  Philine sang ein Liedchen vom Kuckuck, welches
dem Ankömmling nicht zu behagen schien; er empfahl sich bald.

"Wenn ich nur nichts mehr von Natur und Naturszenen hören sollte",
rief Philine aus, als er weg war; "es ist nichts unerträglicher, als
sich das Vergnügen vorrechnen zu lassen, das man genießt.  Wenn schön
Wetter ist, geht man spazieren, wie man tanzt wenn aufgespielt wird.
Wer mag aber nur einen Augenblick an die Musik, wer ans schöne Wetter
denken?  Der Tänzer interessiert uns, nicht die Violine, und in ein
Paar schöne schwarze Augen zu sehen, tut einem Paar blauen Augen gar
zu wohl.  Was sollen dagegen Quellen und Brunnen und alte, morsche
Linden!"  Sie sah, indem sie so sprach, Wilhelmen, der ihr gegenüber
saß, mit einem Blick in die Augen, dem er nicht wehren konnte,
wenigstens bis an die Türe seines Herzens vorzudringen.

"Sie haben recht", versetzte er mit einiger Verlegenheit, "der Mensch
ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz
allein interessieren.  Alles andere, was uns umgibt, ist entweder nur
Element, in dem wir leben, oder Werkzeug, dessen wir uns bedienen.  Je
mehr wir uns dabei aufhalten, je mehr wir darauf merken und teil daran
nehmen, desto schwächer wird das Gefühl unsers eignen Wertes und das
Gefühl der Gesellschaft.  Die Menschen, die einen großen Wert auf
Gärten, Gebäude, Kleider, Schmuck oder irgend ein Besitztum legen,
sind weniger gesellig und gefällig; sie verlieren die Menschen aus den
Augen, welche zu erfreuen und zu versammeln nur sehr wenigen glückt.
Sehn wir es nicht auch auf dem Theater?  Ein guter Schauspieler macht
uns bald eine elende, unschickliche Dekoration vergessen, dahingegen
das schönste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht
fühlbar macht."

Nach Tische setzte Philine sich in das beschattete hohe Gras.  Ihre
beiden Freunde mußten ihr Blumen in Menge herbeischaffen.  Sie wand
sich einen vollen Kranz und setzte ihn auf; sie sah unglaublich
reizend aus.  Die Blumen reichten noch zu einem andern hin; auch den
flocht sie, indem sich beide Männer neben sie setzten.  Als er unter
allerlei Scherz und Anspielungen fertig geworden war, drückte sie ihn
Wilhelmen mit der größten Anmut aufs Haupt und rückte ihn mehr als
einmal anders, bis er recht zu sitzen schien.  "Und ich werde, wie es
scheint, leer ausgehen", sagte Laertes.

"Mitnichten", versetzte Philine.  "Ihr sollt Euch keinesweges beklagen."
Sie nahm ihren Kranz vom Haupte und setzte ihn Laertes auf.

"Wären wir Nebenbuhler", sagte dieser, "so würden wir sehr heftig
streiten können, welchen von beiden du am meisten begünstigst."

"Da wärt ihr rechte Toren", versetzte sie, indem sie sich zu ihm
hinüberbog und ihm den Mund zum Kuß reichte, sich aber sogleich
umwendete, ihren Arm um Wilhelmen schlang und einen lebhaften Kuß auf
seine Lippen drückte.  "Welcher schmeckt am besten?" fragte sie
neckisch.

"Wunderlich!" rief Laertes.  "Es scheint, als wenn so etwas niemals
nach Wermut schmecken könne."

"Sowenig", sagte Philine, "als irgend eine Gabe, die jemand ohne Neid
und Eigensinn genießt.  Nun hätte ich", rief sie aus, "noch Lust, eine
Stunde zu tanzen, und dann müssen wir wohl wieder nach unsern
Springern sehen."

Man ging nach dem Hause und fand Musik daselbst.  Philine, die eine
gute Tänzerin war, belebte ihre beiden Gesellschafter.  Wilhelm war
nicht ungeschickt, allein es fehlte ihm an einer künstlichen übung.
Seine beiden Freunde nahmen sich vor, ihn zu unterrichten.

Man verspätete sich.  Die Seiltänzer hatten ihre Künste schon zu
produzieren angefangen.  Auf dem Platze hatten sich viele Zuschauer
eingefunden, doch war unsern Freunden, als sie ausstiegen, ein
Getümmel merkwürdig, das eine große Anzahl Menschen nach dem Tore des
Gasthofes, in welchem Wilhelm eingekehrt war, hingezogen hatte.
Wilhelm sprang hinüber, um zu sehen, was es sei, und mit Entsetzen
erblickte er, als er sich durchs Volk drängte, den Herrn der
Seiltänzergesellschaft, der das interessante Kind bei den Haaren aus
dem Hause zu schleppen bemüht war und mit einem Peitschenstiel
unbarmherzig auf den kleinen Körper losschlug.

Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den Mann zu und faßte ihn bei der Brust.
"Laß das Kind los!" schrie er wie ein Rasender, "Oder einer von uns
bleibt hier auf der Stelle."  Er faßte zugleich den Kerl mit einer
Gewalt, die nur der Zorn geben kann, bei der Kehle, daß dieser zu
ersticken glaubte, das Kind losließ und sich gegen den Angreifenden zu
verteidigen suchte.  Einige Leute, die mit dem Kinde Mitleiden fühlten,
aber Streit anzufangen nicht gewagt hatten, fielen dem Seiltänzer
sogleich in die Arme, entwaffneten ihn und drohten ihm mit vielen
Schimpfreden.  Dieser, der sich jetzt nur auf die Waffen seines Mundes
reduziert sah, fing gräßlich zu drohen und zu fluchen an: die faule,
unnütze Kreatur wolle ihre Schuldigkeit nicht tun; sie verweigere, den
Eiertanz zu tanzen, den er dem Publiko versprochen habe; er wolle sie
totschlagen, und es solle ihn niemand daran hindern.  Er suchte sich
loszumachen, um das Kind, das sich unter der Menge verkrochen hatte,
aufzusuchen.  Wilhelm hielt ihn zurück und rief: "Du sollst nicht eher
dieses Geschöpf weder sehen noch berühren, bis du vor Gericht
Rechenschaft gibst, wo du es gestohlen hast; ich werde dich aufs
äußerste treiben; du sollst mir nicht entgehen."  Diese Rede, welche
Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken und Absicht, aus einem dunklen
Gefühl oder, wenn man will, aus Inspiration ausgesprochen hatte,
brachte den wütenden Menschen auf einmal zur Ruhe.  Er rief: "Was hab
ich mit der unnützen Kreatur zu schaffen!  Zahlen Sie mir, was mich
ihre Kleider kosten, und Sie mögen sie behalten; wir wollen diesen
Abend noch einig werden."  Er eilte darauf, die unterbrochene
Vorstellung fortzusetzen und die Unruhe des Publikums durch einige
bedeutende Kunststücke zu befriedigen.

Wilhelm suchte nunmehr, da es stille geworden war, nach dem Kinde, das
sich aber nirgends fand.  Einige wollten es auf dem Boden, andere auf
den Dächern der benachbarten Häuser gesehen haben.  Nachdem man es
allerorten gesucht hatte, mußte man sich beruhigen und abwarten, ob es
nicht von selbst wieder herbeikommen wolle.

Indes war Narziß nach Hause gekommen, welchen Wilhelm über die
Schicksale und die Herkunft des Kindes befragte.  Dieser wußte nichts
davon, denn er war nicht lange bei der Gesellschaft, erzählte dagegen
mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtsinne seine eigenen
Schicksale.  Als ihm Wilhelm zu dem großen Beifall Glück wünschte,
dessen er sich zu erfreuen hatte, äußerte er sich sehr gleichgültig
darüber.  "Wir sind gewohnt" sagte er, "daß man über uns lacht und
unsre Künste bewundert; aber wir werden durch den außerordentlichen
Beifall um nichts gebessert.  Der Entrepreneur zahlt uns und mag sehen,
wie er zurechtekömmt."  Er beurlaubte sich darauf und wollte sich
eilig entfernen.

Auf die Frage, wo er so schnell hinwolle, lächelte der junge Mensch
und gestand, daß seine Figur und Talente ihm einen solidern Beifall
zugezogen, als der des großen Publikums sei.  Er habe von einigen
Frauenzimmern Botschaft erhalten, die sehr eifrig verlangten, ihn
näher kennenzulernen, und er fürchte, mit den Besuchen, die er
abzulegen habe, vor Mitternacht kaum fertig zu werden.  Er fuhr fort,
mit der größten Aufrichtigkeit seine Abenteuer zu erzählen, und hätte
die Namen, Straßen und Häuser angezeigt, wenn nicht Wilhelm eine
solche Indiskretion abgelehnt und ihn höflich entlassen hätte.

Laertes hatte indessen Landrinetten unterhalten und versicherte, sie
sei vollkommen würdig, ein Weib zu sein und zu bleiben.

Nun ging die Unterhandlung mit dem Entrepreneur wegen des Kindes an,
das unserm Freunde für dreißig Taler überlassen wurde, gegen welche
der schwarzbärtige, heftige Italiener seine Ansprüche völlig abtrat,
von der Herkunft des Kindes aber weiter nichts bekennen wollte, als
daß er solches nach dem Tode seines Bruders, den man wegen seiner
außerordentlichen Geschicklichkeit den großen Teufel genannt, zu sich
genommen habe.

Der andere Morgen ging meist mit Aufsuchen des Kindes hin.  Vergebens
durchkroch man alle Winkel des Hauses und der Nachbarschaft; es war
verschwunden, und man fürchtete, es möchte in ein Wasser gesprungen
sein oder sich sonst ein Leids angetan haben.

Philinens Reize konnten die Unruhe unsers Freundes nicht ableiten.  Er
brachte einen traurigen, nachdenklichen Tag zu.  Auch des Abends, da
Springer und Tänzer alle ihre Kräfte aufboten, um sich dem Publiko
aufs beste zu empfehlen, konnte sein Gemüt nicht erheitert und
zerstreut werden.

Durch den Zulauf aus benachbarten Ortschaften hatte die Anzahl der
Menschen außerordentlich zugenommen, und so wälzte sich auch der
Schneeball des Beifalls zu einer ungeheuren Größe.  Der Sprung über
die Degen und durch das Faß mit papiernen Böden machte eine große
Sensation.  Der starke Mann ließ zum allgemeinen Grausen, Entsetzen
und Erstaunen, indem er sich mit dem Kopf und den Füßen auf ein Paar
auseinandergeschobene Stühle legte, auf seinen hohlschwebenden Leib
einen Amboß heben und auf demselben von einigen wackern
Schmiedegesellen ein Hufeisen fertig schmieden.

Auch war die sogenannte Herkulesstärke, da eine Reihe Männer, auf den
Schultern einer ersten Reihe stehend, abermals Frauen und Jünglinge
trägt, so daß zuletzt eine lebendige Pyramide entsteht, deren Spitze
ein Kind, auf den Kopf gestellt, als Knopf und Wetterfahne ziert, in
diesen Gegenden noch nie gesehen worden und endigte würdig das ganze
Schauspiel.  Narziß und Landrinette ließen sich in Tragsesseln auf den
Schultern der übrigen durch die vornehmsten Straßen der Stadt unter
lautem Freudengeschrei des Volks tragen.  Man warf ihnen Bänder,
Blumensträuße und seidene Tücher zu und drängte sich, sie ins Gesicht
zu fassen.  Jedermann schien glücklich zu sein, sie anzusehn und von
ihnen eines Blicks gewürdigt zu werden.

"Welcher Schauspieler, welcher Schriftsteller, ja welcher Mensch
überhaupt würde sich nicht auf dem Gipfel seiner Wünsche sehen, wenn
er durch irgendein edles Wort oder eine gute Tat einen so allgemeinen
Eindruck hervorbrächte?  Welche köstliche Empfindung müßte es sein,
wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle ebenso schnell
durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entzücken
unter dem Volke erregen könnte, als diese Leute durch ihre körperliche
Geschicklichkeit getan haben; wenn man der Menge das Mitgefühl alles
Menschlichen geben, wenn man sie mit der Vorstellung des Glücks und
Unglücks, der Weisheit und Torheit, ja des Unsinns und der Albernheit
entzünden, erschüttern und ihr stockendes Innere in freie, lebhafte
und reine Bewegung setzen könntet" So sprach unser Freund, und da
weder Philine noch Laertes gestimmt schienen, einen solchen Diskurs
fortzusetzen, unterhielt er sich allein mit diesen
Lieblingsbetrachtungen, als er bis spät in die Nacht um die Stadt
spazierte und seinen alten Wunsch, das Gute, Edle, Große durch das
Schauspiel zu versinnlichen, wieder einmal mit aller Lebhaftigkeit und
aller Freiheit einer losgebundenen Einbildungskraft verfolgte.



II. Buch, 5. Kapitel



Fünftes Kapitel

Des andern Tages, als die Seiltänzer mit großem Geräusch abgezogen
waren, fand sich Mignon sogleich wieder ein und trat hinzu, als
Wilhelm und Laertes ihre Fechtübungen auf dem Saale fortsetzten.  "Wo
hast du gesteckt?" fragte Wilhelm freundlich, "du hast uns viel Sorge
gemacht."  Das Kind antwortete nichts und sah ihn an.  "Du bist nun
unser", rief Laertes, "wir haben dich gekauft"--"Was hast du bezahlt?"
fragte das Kind ganz trocken.  "Hundert Dukaten", versetzte Laertes;
"wenn du sie wiedergibst, kannst du frei sein."--"Das ist wohl viel?"
fragte das Kind.  "O ja, du magst dich nur gut aufführen."--"Ich will
dienen", versetzte sie.

Von dem Augenblicke an merkte sie genau, was der Kellner den beiden
Freunden für Dienste zu leisten hatte, und litt schon des andern Tages
nicht mehr, daß er ins Zimmer kam.  Sie wollte alles selbst tun und
machte auch ihre Geschäfte, zwar langsam und mitunter unbehülflich,
doch genau und mit großer Sorgfalt.

Sie stellte sich oft an ein Gefäß mit Wasser und wusch ihr Gesicht mit
so großer Emsigkeit und Heftigkeit, daß sie sich fast die Backen
aufrieb, bis Laertes durch Fragen und Necken erfuhr, daß sie die
Schminke von ihren Wangen auf alle Weise loszuwerden suche und über
dem Eifer, womit sie es tat, die Röte, die sie durchs Reiben
hervorgebracht hatte, für die hartnäckigste Schminke halte.  Man
bedeutete sie, und sie ließ ab, und nachdem sie wieder zur Ruhe
gekommen war, zeigte sich eine schöne braune, obgleich nur von wenigem
Rot erhöhte Gesichtsfarbe.

Durch die frevelhaften Reize Philinens, durch die geheimnisvolle
Gegenwart des Kindes mehr, als er sich selbst gestehen durfte,
unterhalten, brachte Wilhelm verschiedene Tage in dieser sonderbaren
Gesellschaft zu und rechtfertigte sich bei sich selbst durch eine
fleißige übung in der Fecht- und Tanzkunst, wozu er so leicht nicht
wieder Gelegenheit zu finden glaubte.

Nicht wenig verwundert und gewissermaßen erfreut war er, als er eines
Tages Herrn und Frau Melina ankommen sah, welche gleich nach dem
ersten frohen Gruße sich nach der Direktrice und den übrigen
Schauspielern erkundigten und mit großem Schrecken vernahmen, daß jene
sich schon lange entfernt habe und diese bis auf wenige zerstreut
seien.

Das junge Paar hatte sich nach ihrer Verbindung, zu der, wie wir
wissen, Wilhelm behilflich gewesen, an einigen Orten nach Engagement
umgesehen, keines gefunden und war endlich in dieses Städtchen
gewiesen worden, wo einige Personen, die ihnen unterwegs begegneten,
ein gutes Theater gesehen haben wollten.

Philinen wollte Madame Melina, und Herr Melina dem lebhaften Laertes,
als sie Bekanntschaft machten, keinesweges gefallen.  Sie wünschten
die neuen Ankömmlinge gleich wieder los zu sein, und Wilhelm konnte
ihnen keine günstigen Gesinnungen beibringen, ob er ihnen gleich
wiederholt versicherte, daß es recht gute Leute seien.

Eigentlich war auch das bisherige lustige Leben unsrer drei Abenteurer
durch die Erweiterung der Gesellschaft auf mehr als eine Weise gestört;
denn Melina fing im Wirtshause (er hatte in ebendemselben, in welchem
Philine wohnte, Platz gefunden) gleich zu markten und zu quengeln an.
Er wollte für weniges Geld besseres Quartier, reichlichere Mahlzeit
und promptere Bedienung haben.  In kurzer Zeit machten Wirt und
Kellner verdrießliche Gesichter, und wenn die andern, um froh zu leben,
sich alles gefallen ließen und nur geschwind bezahlten, um nicht
länger an das zu denken, was schon verzehrt war, so mußte die Mahlzeit,
die Melina regelmäßig sogleich berichtigte, jederzeit von vorn wieder
durchgenommen werden, so daß Philine ihn ohne Umstände ein
wiederkäuendes Tier nannte.

Noch verhaßter war Madame Melina dem lustigen Mädchen.  Diese junge
Frau war nicht ohne Bildung, doch fehlte es ihr gänzlich an Geist und
Seele.  Sie deklamierte nicht übel und wollte immer deklamieren;
allein man merkte bald, daß es nur eine Wortdeklamation war, die auf
einzelnen Stellen lastete und die Empfindung des Ganzen nicht
ausdrückte.  Bei diesem allen war sie nicht leicht jemanden, besonders
Männern, unangenehm.  Vielmehr schrieben ihr diejenigen, die mit ihr
umgingen, gewöhnlich einen schönen Verstand zu: denn sie war, was ich
mit einem Worte eine Anempfinderin nennen möchte; sie wußte einem
Freunde, um dessen Achtung ihr zu tun war, mit einer besondern
Aufmerksamkeit zu schmeicheln, in seine Ideen so lange als möglich
einzugehen, sobald sie aber ganz über ihren Horizont waren, mit
Ekstase eine solche neue Erscheinung aufzunehmen.  Sie verstand zu
sprechen und zu schweigen und, ob sie gleich kein tückisches Gemüt
hatte, mit großer Vorsicht aufzupassen, wo des andern schwache Seite
sein möchte.



II. Buch, 6. Kapitel



Sechstes Kapitel

Melina hatte sich indessen nach den Trümmern der vorigen Direktion
genau erkundigt.  Sowohl Dekorationen als Garderobe waren an einige
Handelsleute versetzt, und ein Notarius hatte den Auftrag von der
Direktrice erhalten, unter gewissen Bedingungen, wenn sich Liebhaber
fänden, in den Verkauf aus freier Hand zu willigen.  Melina wollte die
Sachen besehen und zog Wilhelmen mit sich.  Dieser empfand, als man
ihnen die Zimmer eröffnete, eine gewisse Neigung dazu, die er sich
jedoch selbst nicht gestand.  In so einem schlechten Zustande auch die
geklecksten Dekorationen waren, so wenig scheinbar auch türkische und
heidnische Kleider, alte Karikaturröcke für Männer und Frauen, Kutten
für Zauberer, Juden und Pfaffen sein mochten, so konnt er sich doch
der Empfindung nicht erwehren, daß er die glücklichsten Augenblicke
seines Lebens in der Nähe eines ähnlichen Trödelkrams gefunden hatte.
Hätte Melina in sein Herz sehen können, so würde er ihm eifriger
zugesetzt haben, eine Summe Geldes auf die Befreiung, Aufstellung und
neue Belebung dieser zerstreuten Glieder zu einem schönen Ganzen
herzugeben.  "Welch ein glücklicher Mensch", rief Melina aus, "könnte
ich sein, wenn ich nur zweihundert Taler besäße, um zum Anfange den
Besitz dieser ersten theatralischen Bedürfnisse zu erlangen.  Wie bald
wollt ich ein kleines Schauspiel beisammen haben, das uns in dieser
Stadt, in dieser Gegend gewiß sogleich ernähren sollte."  Wilhelm
schwieg, und beide verließen nachdenklich die wieder eingesperrten
Schätze.

Melina hatte von dieser Zeit an keinen andern Diskurs als Projekte und
Vorschläge, wie man ein Theater einrichten und dabei seinen Vorteil
finden könnte.  Er suchte Philinen und Laertes zu interessieren, und
man tat Wilhelmen Vorschläge, Geld herzuschießen und Sicherheit
dagegen anzunehmen.  Diesem fiel aber erst bei dieser Gelegenheit
recht auf, daß er hier so lange nicht hätte verweilen sollen; er
entschuldigte sich und wollte Anstalten machen, seine Reise
fortzusetzen.

Indessen war ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender geworden.
In alle seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares.  Es
ging die Treppe weder auf noch ab, sondern sprang; es stieg auf den
Geländern der Gänge weg, und eh man sich's versah, saß es oben auf dem
Schranke und blieb eine Weile ruhig.  Auch hatte Wilhelm bemerkt, daß
es für jeden eine besondere Art von Gruß hatte.  Ihn grüßte sie seit
einiger Zeit mit über die Brust geschlagenen Armen.  Manche Tage war
sie ganz stumm, zuzeiten antwortete sie mehr auf verschiedene Fragen,
immer sonderbar, doch so, daß man nicht unterscheiden konnte, ob es
Witz oder Unkenntnis der Sprache war, indem sie ein gebrochnes, mit
Französisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach.  In seinem
Dienste war das Kind unermüdet und früh mit der Sonne auf; es verlor
sich dagegen abends zeitig, schlief in einer Kammer auf der nackten
Erde und war durch nichts zu bewegen, ein Bette oder einen Strohsack
anzunehmen.  Er fand sie oft, daß sie sich wusch.  Auch ihre Kleider
waren reinlich, obgleich alles fast doppelt und dreifach an ihr
geflickt war.  Man sagte Wilhelmen auch, daß sie alle Morgen ganz früh
in die Messe gehe, wohin er ihr einmal folgte und sie in der Ecke der
Kirche mit dem Rosenkranze knien und andächtig beten sah.  Sie
bemerkte ihn nicht, er ging nach Hause, machte sich vielerlei Gedanken
über diese Gestalt und konnte sich bei ihr nichts Bestimmtes denken.

Neues Andringen Melinas um eine Summe Geldes zur Auslösung der mehr
erwähnten Theatergerätschaften bestimmte Wilhelmen noch mehr, an seine
Abreise zu denken.  Er wollte den Seinigen, die lange nichts von ihm
gehört hatten, noch mit dem heutigen Posttage schreiben; er fing auch
wirklich einen Brief an Wernern an und war mit Erzählung seiner
Abenteuer, wobei er, ohne es selbst zu bemerken, sich mehrmal von der
Wahrheit entfernt hatte, schon ziemlich weit gekommen, als er zu
seinem Verdruß auf der hintern Seite des Briefblatts schon einige
Verse geschrieben fand, die er für Madame Melina aus seiner
Schreibtafel zu kopieren angefangen hatte.  Unwillig zerriß er das
Blatt und verschob die Wiederholung seines Bekenntnisses auf den
nächsten Posttag.



II. Buch, 7. Kapitel



Siebentes Kapitel

Unsre Gesellschaft befand sich abermals beisammen, und Philine, die
auf jedes Pferd, das vorbeikam, auf jeden Wagen, der anfuhr, äußerst
aufmerksam war, rief mit großer Lebhaftigkeit: "Unser Pedant!  Da
kommt unser allerliebster Pedant!  Wen mag er bei sich haben?"  Sie
rief und winkte zum Fenster hinaus, und der Wagen hielt stille.

Ein kümmerlich armer Teufel, den man an seinem verschabten,
graulich-braunen Rocke und an seinen übelkonditionierten Unterkleidern
für einen Magister, wie sie auf Akademien zu vermodern pflegen, hätte
halten sollen, stieg aus dem Wagen und entblößte, indem er, Philinen
zu grüßen, den Hut abtat, eine übelgepuderte, aber übrigens sehr
steife Perücke, und Philine warf ihm hundert Kußhände zu.

So wie sie ihre Glückseligkeit fand, einen Teil der Männer zu lieben
und ihre Liebe zu genießen, so war das Vergnügen nicht viel geringer,
das sie sich sooft als möglich gab, die übrigen, die sie eben in
diesem Augenblicke nicht liebte, auf eine sehr leichtfertige Weise zum
besten zu haben.

über den Lärm, womit sie diesen alten Freund empfing, vergaß man, auf
die übrigen zu achten, die ihm nachfolgten.  Doch glaubte Wilhelm die
zwei Frauenzimmer und einen ältlichen Mann, der mit ihnen hereintrat,
zu kennen.  Auch entdeckte sich's bald, daß er sie alle drei vor
einigen Jahren bei der Gesellschaft, die in seiner Vaterstadt spielte,
mehrmals gesehen hatte.  Die Töchter waren seit der Zeit
herangewachsen; der Alte aber hatte sich wenig verändert.  Dieser
spielte gewöhnlich die gutmütigen, polternden Alten, wovon das
deutsche Theater nicht leer wird und die man auch im gemeinen Leben
nicht selten antrifft.  Denn da es der Charakter unsrer Landsleute ist,
das Gute ohne viel Prunk zu tun und zu leisten, so denken sie selten
daran, daß es auch eine Art gebe, das Rechte mit Zierlichkeit und
Anmut zu tun, und verfallen vielmehr, von einem Geiste des
Widerspruchs getrieben, leicht in den Fehler, durch ein mürrisches
Wesen ihre liebste Tugend im Kontraste darzustellen.

Solche Rollen spielte unser Schauspieler sehr gut, und er spielte sie
so oft und ausschließlich, daß er darüber eine ähnliche Art sich zu
betragen im gemeinen Leben angenommen hatte.

Wilhelm geriet in große Bewegung, sobald er ihn erkannte; denn er
erinnerte sich, wie oft er diesen Mann neben seiner geliebten Mariane
auf dem Theater gesehen hatte; er hörte ihn noch schelten, er hörte
ihre schmeichelnde Stimme, mit der sie seinem rauhen Wesen in manchen
Rollen zu begegnen hatte.

Die erste lebhafte Frage an die neuen Ankömmlinge, ob ein Unterkommen
auswärts zu finden und zu hoffen sei, ward leider mit Nein beantwortet,
und man mußte vernehmen, daß die Gesellschaften, bei denen man sich
erkundigt, besetzt und einige davon sogar in Sorgen seien, wegen des
bevorstehenden Krieges auseinandergehen zu müssen.  Der polternde Alte
hatte mit seinen Töchtern aus Verdruß und Liebe zur Abwechselung ein
vorteilhaftes Engagement aufgegeben, hatte mit dem Pedanten, den er
unterwegs antraf, einen Wagen gemietet, um hieherzukommen, wo denn
auch, wie sie fanden, guter Rat teuer war.

Die Zeit, in welcher sich die übrigen über ihre Angelegenheiten sehr
lebhaft unterhielten, brachte Wilhelm nachdenklich zu.  Er wünschte
den Alten allein zu sprechen, wünschte und fürchtete, von Marianen zu
hören, und befand sich in der größten Unruhe.

Die Artigkeiten der neuangekommenen Frauenzimmer konnten ihn nicht aus
seinem Traume reißen; aber ein Wortwechsel, der sich erhub, machte ihn
aufmerksam.  Es war Friedrich, der blonde Knabe, der Philinen
aufzuwerten pflegte, sich aber diesmal lebhaft widersetzte, als er den
Tisch decken und Essen herbeischaffen sollte.  "Ich habe mich
verpflichtet", rief er aus, "Ihnen zu dienen, aber nicht, allen
Menschen aufzuwarten."  Sie gerieten darüber in einen heftigen Streit.
Philine bestand darauf, er habe seine Schuldigkeit zu tun, und als er
sich hartnäckig widersetzte, sagte sie ihm ohne Umstände, er könnte
gehn, wohin er wolle.

"Glauben Sie etwa, daß ich mich nicht von Ihnen entfernen könne?" rief
er aus, ging trotzig weg, machte seinen Bündel zusammen und eilte
sogleich zum Hause hinaus.  "Geh, Mignon", sagte Philine, "und schaff
uns, was wir brauchen; sag es dem Kellner, und hilf aufwarten!"

Mignon trat vor Wilhelm hin und fragte in ihrer lakonischen Art: "Soll
ich? darf ich?"  Und Wilhelm versetzte: "Tu, mein Kind, was
Mademoiselle dir sagt."

Das Kind besorgte alles und wartete den ganzen Abend mit großer
Sorgfalt den Gästen auf.  Nach Tische suchte Wilhelm mit dem Alten
einen Spaziergang allein zu machen: es gelang ihm, und nach mancherlei
Fragen, wie es ihm bisher gegangen, wendete sich das Gespräch auf die
ehemalige Gesellschaft, und Wilhelm wagte zuletzt, nach Marianen zu
fragen.

"Sagen Sie mir nichts von dem abscheulichen Geschöpf!" rief der Alte,
"ich habe verschworen, nicht mehr an sie zu denken."  Wilhelm erschrak
über diese äußerung, war aber noch in größerer Verlegenheit, als der
Alte fortfuhr, auf ihre Leichtfertigkeit und Liederlichkeit zu
schmälen.  Wie gern hätte unser Freund das Gespräch abgebrochen;
allein er mußte nun einmal die polternden Ergießungen des wunderlichen
Mannes aushalten.

"Ich schäme mich", fuhr dieser fort, "daß ich ihr so geneigt war.
Doch hätten Sie das Mädchen näher gekannt, Sie würden mich gewiß
entschuldigen.  Sie war so artig, natürlich und gut, so gefällig und
in jedem Sinne leidlich.  Nie hätt ich mir vorgestellt, daß Frechheit
und Undank die Hauptzüge ihres Charakters sein sollten."

Schon hatte sich Wilhelm gefaßt gemacht, das Schlimmste von ihr zu
hören, als er auf einmal mit Verwunderung bemerkte, daß der Ton des
Alten milder wurde, seine Rede endlich stockte und er ein Schnupftuch
aus der Tasche nahm, um die Tränen zu trocknen, die zuletzt seine Rede
unterbrachen.

"Was ist Ihnen?" rief Wilhelm aus.  "Was gibt Ihren Empfindungen auf
einmal eine so entgegengesetzte Richtung?  Verbergen Sie mir es nicht;
ich nehme an dem Schicksale dieses Mädchens mehr Anteil, als Sie
glauben; nur lassen Sie mich alles wissen."

"Ich habe wenig zu sagen", versetzte der Alte, indem er wieder in
seinen ernstlichen, verdrießlichen Ton überging, "ich werde es ihr nie
vergeben, was ich um sie geduldet habe.  Sie hatte", fuhr er fort,
"immer ein gewisses Zutrauen zu mir; ich liebte sie wie meine Tochter
und hatte, da meine Frau noch lebte, den Entschluß gefaßt, sie zu mir
zu nehmen und sie aus den Händen der Alten zu retten, von deren
Anleitung ich mir nicht viel Gutes versprach.  Meine Frau starb, das
Projekt zerschlug sich.

Gegen das Ende des Aufenthalts in Ihrer Vaterstadt, es sind nicht gar
drei Jahre, merkte ich ihr eine sichtbare Traurigkeit an; ich fragte
sie, aber sie wich aus.  Endlich machten wir uns auf die Reise.  Sie
fuhr mit mir in einem Wagen, und ich bemerkte, was sie mir auch bald
gestand, daß sie guter Hoffnung sei und in der größten Furcht schwebe,
von unserm Direktor verstoßen zu werden.  Auch dauerte es nur kurze
Zeit, so machte er die Entdeckung, kündigte ihr den Kontrakt, der
ohnedies nur auf sechs Wochen stand, sogleich auf, zahlte, was sie zu
fordern hatte, und ließ sie, aller Vorstellungen ungeachtet, in einem
kleinen Städtchen, in einem schlechten Wirtshause zurück.

Der Henker hole alle liederlichen Dirnen!" rief der Alte mit Verdruß,
"und besonders diese, die mir so manche Stunde meines Lebens verdorben
hat.  Was soll ich lange erzählen, wie ich mich ihrer angenommen, was
ich für sie getan, was ich an sie gehängt, wie ich auch in der
Abwesenheit für sie gesorgt habe.  Ich wollte lieber mein Geld in den
Teich werfen und meine Zeit hinbringen, räudige Hunde zu erziehen, als
nur jemals wieder auf so ein Geschöpf die mindeste Aufmerksamkeit
wenden.  Was war's?  Im Anfang erhielt ich Danksagungsbriefe,
Nachricht von einigen Orten ihres Aufenthalts, und zuletzt kein Wort
mehr, nicht einmal Dank für das Geld, das ich ihr zu ihren Wochen
geschickt hatte.  O die Verstellung und der Leichtsinn der Weiber ist
so recht zusammengepaart, um ihnen ein bequemes Leben und einem
ehrlichen Kerl manche verdrießliche Stunde zu schaffen!"



II. Buch, 8. Kapitel



Achtes Kapitel

Man denke sich Wilhelms Zustand, als er von dieser Unterredung nach
Hause kam.  Alle seine alten Wunden waren wieder aufgerissen und das
Gefühl, daß sie seiner Liebe nicht ganz unwürdig gewesen, wieder
lebhaft geworden; denn in dem Interesse des Alten, in dem Lobe, das er
ihr wider Willen geben mußte, war unserm Freunde ihre ganze
Liebenswürdigkeit wieder erschienen; ja selbst die heftige Anklage des
leidenschaftlichen Mannes enthielt nichts, was sie vor Wilhelms Augen
hätte herabsetzen können.  Denn dieser bekannte sich selbst als
Mitschuldigen ihrer Vergehungen, und ihr Schweigen zuletzt schien ihm
nicht tadelhaft; er machte sich vielmehr nur traurige Gedanken darüber,
sah sie als Wöchnerin, als Mutter in der Welt ohne Hülfe herumirren,
wahrscheinlich mit seinem eigenen Kinde herumirren; Vorstellungen,
welche das schmerzlichste Gefühl in ihm erregten.

Mignon hatte auf ihn gewartet und leuchtete ihm die Treppe hinauf.
Als sie das Licht niedergesetzt hatte, bat sie ihn zu erlauben, daß
sie ihm heute abend mit einem Kunststücke aufwarten dürfe.  Er hätte
es lieber verbeten, besonders da er nicht wußte, was es werden sollte.
Allein er konnte diesem guten Geschöpfe nichts abschlagen.  Nach
einer kurzen Zeit trat sie wieder herein.  Sie trug einen Teppich
unter dem Arme, den sie auf der Erde ausbreitete.  Wilhelm ließ sie
gewähren.  Sie brachte darauf vier Lichter, stellte eins auf jeden
Zipfel des Teppichs.  Ein Körbchen mit Eiern, das sie darauf holte,
machte die Absicht deutlicher.  Künstlich abgemessen schritt sie
nunmehr auf dem Teppich hin und her und legte in gewissen Maßen die
Eier auseinander, dann rief sie einen Menschen herein, der im Hause
aufwartete und die Violine spielte.  Er trat mit seinem Instrumente in
die Ecke; sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing
zugleich mit der Musik, wie ein aufgezogenes Räderwerk, ihre
Bewegungen an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der
Kastagnetten begleitete.

Behende, leicht, rasch, genau führte sie den Tanz.  Sie trat so scharf
und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, daß man
jeden Augenblick dachte, sie müsse eins zertreten oder bei schnellen
Wendungen das andre fortschleudern.  Mitnichten!  Sie berührte keines,
ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja
sogar mit Sprüngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen
durchwand.

Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg, und die sonderbare
Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden
Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß.  Wilhelm war von dem
sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen; er vergaß seiner Sorgen,
folgte jeder Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert, wie in
diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte.

Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr
feierlich als angenehm zeigte sie sich.  Er empfand, was er schon für
Mignon gefühlt, in diesem Augenblicke auf einmal.  Er sehnte sich,
dieses verlassene Wesen an Kindes Statt seinem Herzen einzuverleiben,
es in seine Arme zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters Freude des
Lebens in ihm zu erwecken.

Der Tanz ging zu Ende; sie rollte die Eier mit den Füßen sachte
zusammen auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte keines und
stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr
Kunststück mit einem Bücklinge endigte.

Wilhelm dankte ihr, daß sie ihm den Tanz, den er zu sehen gewünscht,
so artig und unvermutet vorgetragen habe.  Er streichelte sie und
bedauerte, daß sie sich's habe so sauer werden lassen.  Er versprach
ihr ein neues Kleid, worauf sie heftig antwortete: "Deine Farbe!"
Auch das versprach er ihr, ob er gleich nicht deutlich wußte, was sie
darunter meine.  Sie nahm die Eier zusammen, den Teppich unter den Arm,
fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe, und schwang sich zur Türe
hinaus.

Von dem Musikus erfuhr er, daß sie sich seit einiger Zeit viele Mühe
gegeben, ihm den Tanz, welches der bekannte Fandango war, so lange
vorzusingen, bis er ihn habe spielen können.  Auch habe sie ihm für
seine Bemühungen etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen wollen.



II. Buch, 9. Kapitel



Neuntes Kapitel

Nach einer unruhigen Nacht, die unser Freund teils wachend, teils von
schweren Träumen geängstigt zubrachte, in denen er Marianen bald in
aller Schönheit, bald in kümmerlicher Gestalt, jetzt mit einem Kinde
auf dem Arm, bald desselben beraubt sah, war der Morgen kaum
angebrochen, als Mignon schon mit einem Schneider hereintrat.  Sie
brachte graues Tuch und blauen Taffet und erklärte nach ihrer Art, daß
sie ein neues Westchen und Schifferhosen, wie sie solche an den Knaben
in der Stadt gesehen, mit blauen Aufschlägen und Bändern haben wolle.

Wilhelm hatte seit dem Verlust Marianens alle muntern Farben abgelegt.
Er hatte sich an das Grau, an die Kleidung der Schatten, gewöhnt, und
nur etwa ein himmelblaues Futter oder ein kleiner Kragen von dieser
Farbe belebte einigermaßen jene stille Kleidung.  Mignon, begierig,
seine Farbe zu tragen, trieb den Schneider, der in kurzem die Arbeit
zu liefern versprach.

Die Tanz- und Fechtstunden, die unser Freund heute mit Laertes nahm,
wollten nicht zum besten glücken.  Auch wurden sie bald durch Melinas
Ankunft unterbrochen, der umständlich zeigte, wie jetzt eine kleine
Gesellschaft beisammen sei, mit welcher man schon Stücke genug
aufführen könne.  Er erneuerte seinen Antrag, daß Wilhelm einiges Geld
zum Etablissement vorstrecken solle, wobei dieser abermals seine
Unentschlossenheit zeigte.

Philine und die Mädchen kamen bald hierauf mit Lachen und Lärmen
herein.  Sie hatten sich abermals eine Spazierfahrt ausgedacht: denn
Veränderung des Orts und der Gegenstände war eine Lust, nach der sie
sich immer sehnten.  Täglich an einem andern Orte zu essen war ihr
höchster Wunsch.  Diesmal sollte es eine Wasserfahrt werden.

Das Schiff, womit sie die Krümmungen des angenehmen Flusses
hinunterfahren wollten, war schon durch den Pedanten bestellt.
Philine trieb, die Gesellschaft zauderte nicht und war bald
eingeschifft.

"Was fangen wir nun an?" sagte Philine, indem sich alle auf die Bänke
niedergelassen hatten.

"Das kürzeste wäre", versetzte Laertes, "wir extemporierten ein Stück.
Nehme jeder eine Rolle, die seinem Charakter am angemessensten ist,
und wir wollen sehen, wie es uns gelingt."

"Fürtrefflich!" sagte Wilhelm, "denn in einer Gesellschaft, in der man
sich nicht verstellt, in welcher jedes nur seinem Sinne folgt, kann
Anmut und Zufriedenheit nicht lange wohnen, und wo man sich immer
verstellt, dahin kommen sie gar nicht.  Es ist also nicht übel getan,
wir geben uns die Verstellung gleich von Anfang zu und sind nachher
unter der Maske so aufrichtig, als wir wollen."

"Ja", sagte Laertes, "deswegen geht sich's so angenehm mit Weibern um,
die sich niemals in ihrer natürlichen Gestalt sehen lassen."

"Das macht", versetzte Madame Melina, "daß sie nicht so eitel sind wie
die Männer, welche sich einbilden, sie seien schon immer liebenswürdig
genug, wie sie die Natur hervorgebracht hat."

Indessen war man zwischen angenehmen Büschen und Hügeln, zwischen
Gärten und Weinbergen hingefahren, und die jungen Frauenzimmer,
besonders aber Madame Melina, drückten ihr Entzücken über die Gegend
aus.  Letztre fing sogar an, ein artiges Gedicht von der
beschreibenden Gattung über eine ähnliche Naturszene feierlich
herzusagen; allein Philine unterbrach sie und schlug ein Gesetz vor,
daß sich niemand unterfangen solle, von einem unbelebten Gegenstande
zu sprechen; sie setzte vielmehr den Vorschlag zur extemporierten
Komödie mit Eifer durch.  Der polternde Alte sollte einen
pensionierten Offizier, Laertes einen vazierenden Fechtmeister, der
Pedant einen Juden vorstellen, sie selbst wolle eine Tirolerin machen
und überließ den übrigen, sich ihre Rollen zu wählen.  Man sollte
fingieren, als ob sie eine Gesellschaft weltfremder Menschen seien,
die soeben auf einem Marktschiffe zusammenkomme.

Sie fing sogleich mit dem Juden ihre Rolle zu spielen an, und eine
allgemeine Heiterkeit verbreitete sich.

Man war nicht lange gefahren, als der Schiffer stillehielt, um mit
Erlaubnis der Gesellschaft noch jemand einzunehmen, der am Ufer stand
und gewinkt hatte.

"Das ist eben noch, was wir brauchten", rief Philine, "ein blinder
Passagier fehlte noch der Reisegesellschaft."

Ein wohlgebildeter Mann stieg in das Schiff, den man an seiner
Kleidung und seiner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geistlichen hätte
nehmen können.  Er begrüßte die Gesellschaft, die ihm nach ihrer Weise
dankte und ihn bald mit ihrem Scherz bekannt machte.  Er nahm darauf
die Rolle eines Landgeistlichen an, die er zur Verwunderung aller auf
das artigste durchsetzte, indem er bald ermahnte, bald Histörchen
erzählte, einige schwache Seiten blicken ließ und sich doch im Respekt
zu erhalten wußte.

Indessen hatte jeder, der nur ein einziges Mal aus seinem Charakter
herausgegangen war, ein Pfand geben müssen.  Philine hatte sie mit
großer Sorgfalt gesammelt und besonders den geistlichen Herrn mit
vielen Küssen bei der künftigen Einlösung bedroht, ob er gleich selbst
nie in Strafe genommen ward.  Melina dagegen war völlig ausgeplündert,
Hemdenknöpfe und Schnallen und alles, was Bewegliches an seinem Leibe
war, hatte Philine zu sich genommen; denn er wollte einen reisenden
Engländer vorstellen und konnte auf keine Weise in seine Rolle
hineinkommen.

Die Zeit war indes auf das angenehmste vergangen, jedes hatte seine
Einbildungskraft und seinen Witz aufs möglichste angestrengt und jedes
seine Rolle mit angenehmen und unterhaltenden Scherzen ausstaffiert.
So kam man an dem Ort an, wo man sich den Tag über aufhalten wollte,
und Wilhelm geriet mit dem Geistlichen, wie wir ihn seinem Aussehn und
seiner Rolle nach nennen wollen, auf dem Spaziergange bald in ein
interessantes Gespräch.

"Ich finde diese übung", sagte der Unbekannte, "unter Schauspielern,
ja in Gesellschaft von Freunden und Bekannten sehr nützlich.  Es ist
die beste Art, die Menschen aus sich heraus- und durch einen Umweg
wieder in sich hineinzuführen.  Es sollte bei jeder Truppe eingeführt
sein, daß sie sich manchmal auf diese Weise üben müßte, und das
Publikum würde gewiß dabei gewinnen, wenn alle Monate ein nicht
geschriebenes Stück aufgeführt würde, worauf sich freilich die
Schauspieler in mehrern Proben müßten vorbereitet haben."

"Man dürfte sich", versetzte Wilhelm, "ein extemporiertes Stück nicht
als ein solches denken, das aus dem Stegreife sogleich komponiert
würde, sondern als ein solches, wovon zwar Plan, Handlung und
Szeneneinteilung gegeben wären, dessen Ausführung aber dem
Schauspieler überlassen bliebe."

"Ganz richtig", sagte der Unbekannte, "und eben was diese Ausführung
betrifft, würde ein solches Stück, sobald die Schauspieler nur einmal
im Gang wären, außerordentlich gewinnen.  Nicht die Ausführung durch
Worte, denn durch diese muß freilich der überlegende Schriftsteller
seine Arbeit zieren, sondern die Ausführung durch Gebärden und Mienen,
Ausrufungen und was dazu gehört, kurz, das stumme, halblaute Spiel,
welches nach und nach bei uns ganz verlorenzugehen scheint.  Es sind
wohl Schauspieler in Deutschland, deren Körper das zeigt, was sie
denken und fühlen, die durch Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch
zarte, anmutige Bewegungen des Körpers eine Rede vorzubereiten und die
Pausen des Gesprächs durch eine gefällige Pantomime mit dem Ganzen zu
verbinden wissen; aber eine übung, die einem glücklichen Naturell zu
Hülfe käme und es lehrte, mit dem Schriftsteller zu wetteifern, ist
nicht so im Gange, als es zum Troste derer, die das Theater besuchen,
wohl zu wünschen wäre."

"Sollte aber nicht", versetzte Wilhelm, "ein glückliches Naturell, als
das Erste und Letzte, einen Schauspieler wie jeden andern Künstler, ja
vielleicht wie jeden Menschen, allein zu einem so hochaufgesteckten
Ziele bringen?"

"Das Erste und Letzte, Anfang und Ende möchte es wohl sein und bleiben;
aber in der Mitte dürfte dem Künstler manches fehlen, wenn nicht
Bildung das erst aus ihm macht, was er sein soll, und zwar frühe
Bildung; denn vielleicht ist derjenige, dem man Genie zuschreibt,
übler daran als der, der nur gewöhnliche Fähigkeiten besitzt; denn
jener kann leichter verbildet und viel heftiger auf falsche Wege
gestoßen werden als dieser."

"Aber", versetzte Wilhelm, "wird das Genie sich nicht selbst retten,
die Wunden, die es sich geschlagen, selbst heilen?"

"Mitnichten", versetzte der andere, "Oder wenigstens nur notdürftig;
denn niemand glaube die ersten Eindrücke der Jugend überwinden zu
können.  Ist er in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und
edlen Gegenständen, in dem Umgange mit guten Menschen aufgewachsen,
haben ihn seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen mußte, um
das übrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu
verlernen braucht, wurden seine ersten Handlungen so geleitet, daß er
das Gute künftig leichter und bequemer vollbringen kann, ohne sich
irgend etwas abgewöhnen zu müssen, so wird dieser Mensch ein reineres,
vollkommneres und glücklicheres Leben führen als ein anderer, der
seine ersten Jugendkräfte im Widerstand und im Irrtum zugesetzt hat.
Es wird so viel von Erziehung gesprochen und geschrieben, und ich sehe
nur wenig Menschen, die den einfachen, aber großen Begriff, der alles
andere in sich schließt, fassen und in die Ausführung übertragen
können."

"Das mag wohl wahr sein", sagte Wilhelm, "denn jeder Mensch ist
beschränkt genug, den andern zu seinem Ebenbild erziehen zu wollen.
Glücklich sind diejenigen daher, deren sich das Schicksal annimmt, das
jeden nach seiner Weise erzieht!"

"Das Schicksal", versetzte lächelnd der andere, "ist ein vornehmer,
aber teurer Hofmeister.  Ich würde mich immer lieber an die Vernunft
eines menschlichen Meisters halten.  Das Schicksal, für dessen
Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall, durch den es
wirkt, ein sehr ungelenkes Organ haben.  Denn selten scheint dieser
genau und rein auszuführen, was jenes beschlossen hatte."

"Sie scheinen einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen",
versetzte Wilhelm.

"Mitnichten!  Das meiste, was in der Welt begegnet, rechtfertigt meine
Meinung.  Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht einen großen
Sinn, und gehen die meisten nicht auf etwas Albernes hinaus?"

"Sie wollen scherzen."

"Und ist es nicht", fuhr der andere fort, "mit dem, was einzelnen
Menschen begegnet, ebenso?  Gesetzt, das Schicksal hätte einen zu
einem guten Schauspieler bestimmt (und warum sollt es uns nicht auch
mit guten Schauspielern versorgen?), unglücklicherweise führte der
Zufall aber den jungen Mann in ein Puppenspiel, wo er sich früh nicht
enthalten könnte, an etwas Abgeschmacktem teilzunehmen, etwas Albernes
leidlich, wohl gar interessant zu finden und so die jugendlichen
Eindrücke, welche nie verlöschen, denen wir eine gewisse
Anhänglichkeit nie entziehen können, von einer falschen Seite zu
empfangen."

"Wie kommen Sie aufs Puppenspiel?" fiel ihm Wilhelm mit einiger
Bestürzung ein.

"Es war nur ein willkürliches Beispiel; wenn es Ihnen nicht gefällt,
so nehmen wir ein andres.  Gesetzt, das Schicksal hätte einen zu einem
großen Maler bestimmt, und dem Zufall beliebte es, seine Jugend in
schmutzige Hütten, Ställe und Scheunen zu verstoßen, glauben Sie, daß
ein solcher Mann sich jemals zur Reinlichkeit, zum Adel, zur Freiheit
der Seele erheben werde?  Mit je lebhafterm Sinn er das Unreine in
seiner Jugend angefaßt und nach seiner Art veredelt hat, desto
gewaltsamer wird es sich in der Folge seines Lebens an ihm rächen,
indem es sich, inzwischen daß er es zu überwinden suchte, mit ihm aufs
innigste verbunden hat.  Wer früh in schlechter, unbedeutender
Gesellschaft gelebt hat, wird sich, wenn er auch später eine bessere
haben kann, immer nach jener zurücksehnen, deren Eindruck ihm zugleich
mit der Erinnerung jugendlicher, nur selten zu wiederholender Freuden
geblieben ist."

Man kann denken, daß unter diesem Gespräch sich nach und nach die
übrige Gesellschaft entfernt hatte.  Besonders war Philine gleich vom
Anfang auf die Seite getreten.  Man kam durch einen Seitenweg zu ihnen
zurück.  Philine brachte die Pfänder hervor, welche auf allerlei Weise
gelöst werden mußten, wobei der Fremde sich durch die artigsten
Erfindungen und durch eine ungezwungene Teilnahme der ganzen
Gesellschaft und besonders den Frauenzimmern sehr empfahl, und so
flossen die Stunden des Tages unter Scherzen, Singen, Küssen und
allerlei Neckereien auf das angenehmste vorbei.



II. Buch, 10. Kapitel



Zehntes Kapitel

Als sie sich wieder nach Hause begeben wollten, sahen sie sich nach
ihrem Geistlichen um; allein er war verschwunden und an keinem Orte zu
finden.

"Es ist nicht artig von dem Manne, der sonst viel Lebensart zu haben
scheint", sagte Madame Melina, "eine Gesellschaft, die ihn so
freundlich aufgenommen, ohne Abschied zu verlassen."

"Ich habe mich die ganze Zeit her schon besonnen", sagte Laertes, "wo
ich diesen sonderbaren Mann schon ehemals möchte gesehen haben.  Ich
war eben im Begriff, ihn beim Abschiede darüber zu befragen."

"Mir ging es ebenso", versetzte Wilhelm, "und ich hätte ihn gewiß
nicht entlassen, bis er uns etwas Näheres von seinen Umständen
entdeckt hätte.  Ich müßte mich sehr irren, wenn ich ihn nicht schon
irgendwo gesprochen hätte."

"Und doch könntet ihr euch", sagte Philine, "darin wirklich irren.
Dieser Mann hat eigentlich nur das falsche Ansehen eines Bekannten,
weil er aussieht wie ein Mensch und nicht wie Hans oder Kunz."

"Was soll das heißen", sagte Laertes, "sehen wir nicht auch aus wie
Menschen?"

"Ich weiß, was ich sage", versetzte Philine, "und wenn ihr mich nicht
begreift, so laßt's gut sein.  Ich werde nicht am Ende noch gar meine
Worte auslegen sollen."

Zwei Kutschen fuhren vor.  Man lobte die Sorgfalt des Laertes, der sie
bestellt hatte.  Philine nahm neben Madame Melina, Wilhelmen gegenüber,
Platz, und die übrigen richteten sich ein, so gut sie konnten.
Laertes selbst ritt auf Wilhelms Pferde, das auch mit herausgekommen
war, nach der Stadt zurück.

Philine saß kaum in dem Wagen, als sie artige Lieder zu singen und das
Gespräch auf Geschichten zu lenken wußte, von denen sie behauptete,
daß sie mit Glück dramatisch behandelt werden könnten.  Durch diese
kluge Wendung hatte sie gar bald ihren jungen Freund in seine beste
Laune gesetzt, und er komponierte aus dem Reichtum seines lebendigen
Bildervorrats sogleich ein ganzes Schauspiel mit allen seinen Akten,
Szenen, Charakteren und Verwicklungen.  Man fand für gut, einige Arien
und Gesänge einzuflechten; man dichtete sie, und Philine, die in alles
einging, paßte ihnen gleich bekannte Melodien an und sang sie aus dem
Stegreife.

Sie hatte eben heute ihren schönen, sehr schönen Tag; sie wußte mit
allerlei Neckereien unsern Freund zu beleben; es ward ihm wohl, wie es
ihm lange nicht gewesen war.

Seitdem ihn jene grausame Entdeckung von der Seite Marianens gerissen
hatte, war er dem Gelübde treu geblieben, sich vor der
zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten, das
treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine
süßen Wünsche in seinem Busen zu verschließen.  Die Gewissenhaftigkeit,
womit er dies Gelübde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine
geheime Nahrung, und da sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben
konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung nun zum Bedürfnisse.  Er
ging wieder wie von dem ersten Jugendnebel begleitet umher, seine
Augen faßten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war
sein Urteil über eine liebenswürdige Gestalt schonender gewesen.  Wie
gefährlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Mädchen werden
mußte, läßt sich leider nur zu gut einsehen.

Zu Hause fanden sie auf Wilhelms Zimmer schon alles zum Empfange
bereit, die Stühle zu einer Vorlesung zurechtegestellt und den Tisch
in die Mitte gesetzt, auf welchem der Punschnapf seinen Platz nehmen
sollte.

Die deutschen Ritterstücke waren damals eben neu und hatten die
Aufmerksamkeit und Neigung des Publikums an sich gezogen.  Der alte
Polterer hatte eines dieser Art mitgebracht, und die Vorlesung war
beschlossen worden.  Man setzte sich nieder.  Wilhelm bemächtigte sich
des Exemplars und fing zu lesen an.

Die geharnischten Ritter, die alten Burgen, die Treuherzigkeit,
Rechtlichkeit und Redlichkeit, besonders aber die Unabhängigkeit der
handelnden Personen wurden mit großem Beifall aufgenommen.  Der
Vorleser tat sein möglichstes, und die Gesellschaft kam außer sich.
Zwischen dem zweiten und dritten Akt kam der Punsch in einem großen
Napfe, und da in dem Stücke selbst sehr viel getrunken und angestoßen
wurde, so war nichts natürlicher, als daß die Gesellschaft bei jedem
solchen Falle sich lebhaft an den Platz der Helden versetzte,
gleichfalls anklingte und die Günstlinge unter den handelnden Personen
hochleben ließ.

Jedermann war von dem Feuer des edelsten Nationalgeistes entzündet.
Wie sehr gefiel es dieser deutschen Gesellschaft, sich ihrem Charakter
gemäß auf eignem Grund und Boden poetisch zu ergötzen!  Besonders
taten die Gewölbe und Keller, die verfallenen Schlösser, das Moos und
die hohlen Bäume, über alles aber die nächtlichen Zigeunerszenen und
das heimliche Gericht eine ganz unglaubliche Wirkung.  Jeder
Schauspieler sah nun, wie er bald in Helm und Harnisch, jede
Schauspielerin, wie sie mit einem großen stehenden Kragen ihre
Deutschheit vor dem Publiko produzieren werde.  Jeder wollte sich
sogleich einen Namen aus dem Stücke oder aus der deutschen Geschichte
zueignen, und Madame Melina beteuerte, Sohn oder Tochter, wozu sie
Hoffnung hatte, nicht anders als Adelbert oder Mechtilde taufen zu
lassen.

Gegen den fünften Akt ward der Beifall lärmender und lauter, ja
zuletzt, als der Held wirklich seinem Unterdrücker entging und der
Tyrann gestraft wurde, war das Entzücken so groß, daß man schwur, man
habe nie so glückliche Stunden gehabt.  Melina, den der Trank
begeistert hatte, war der lauteste, und da der zweite Punschnapf
geleert war und Mitternacht herannahte, schwur Laertes hoch und teuer,
es sei kein Mensch würdig, an diese Gläser jemals wieder eine Lippe zu
setzen, und warf mit dieser Beteurung sein Glas hinter sich und durch
die Scheiben auf die Gasse hinaus.  Die übrigen folgten seinem
Beispiele, und ungeachtet der Protestationen des herbeieilenden Wirtes
wurde der Punschnapf selbst, der nach einem solchen Feste durch
unheiliges Getränk nicht wieder entweiht werden sollte, in tausend
Stücke geschlagen.  Philine, der man ihren Rausch am wenigsten ansah,
indes die beiden Mädchen nicht in den anständigsten Stellungen auf dem
Kanapee lagen, reizte die andern mit Schadenfreude zum Lärm.  Madame
Melina rezitierte einige erhabene Gedichte, und ihr Mann, der im
Rausche nicht sehr liebenswürdig war, fing an, auf die schlechte
Bereitung des Punsches zu schelten, versicherte, daß er ein Fest ganz
anders einzurichten verstehe, und ward zuletzt, als Laertes
Stillschweigen gebot, immer gröber und lauter, so daß dieser, ohne
sich lange zu bedenken, ihm die Scherben des Napfs an den Kopf warf
und dadurch den Lärm nicht wenig vermehrte.

Indessen war die Scharwache herbeigekommen und verlangte, ins Haus
eingelassen zu werden.  Wilhelm, vom Lesen sehr erhitzt, ob er gleich
nur wenig getrunken, hatte genug zu tun, um mit Beihülfe des Wirts die
Leute durch Geld und gute Worte zu befriedigen und die Glieder der
Gesellschaft in ihren mißlichen Umständen nach Hause zu schaffen.  Er
warf sich, als er zurückkam, vom Schlafe überwältigt, voller Unmut
unausgekleidet aufs Bette, und nichts glich der unangenehmen
Empfindung, als er des andern Morgens die Augen aufschlug und mit
düsterm Blick auf die Verwüstungen des vergangenen Tages, den Unrat
und die bösen Wirkungen hinsah, die ein geistreiches, lebhaftes und
wohlgemeintes Dichterwerk hervorgebracht hatte.



II. Buch, 11. Kapitel



Eilftes Kapitel

Nach einem kurzen Bedenken rief er sogleich den Wirt herbei und ließ
sowohl den Schaden als die Zeche auf seine Rechnung schreiben.
Zugleich vernahm er nicht ohne Verdruß, daß sein Pferd von Laertes
gestern bei dem Hereinreiten dergestalt angegriffen worden, daß es
wahrscheinlich, wie man zu sagen pflegt, verschlagen habe und daß der
Schmied wenig Hoffnung zu seinem Aufkommen gebe.

Ein Gruß von Philinen, den sie ihm aus ihrem Fenster zuwinkte,
versetzte ihn dagegen wieder in einen heitern Zustand, und er ging
sogleich in den nächsten Laden, um ihr ein kleines Geschenk, das er
ihr gegen das Pudermesser noch schuldig war, zu kaufen, und wir müssen
bekennen, er hielt sich nicht in den Grenzen eines proportionierten
Gegengeschenks.  Er kaufte ihr nicht allein ein Paar sehr niedliche
Ohrringe, sondern nahm dazu noch einen Hut und Halstuch und einige
andere Kleinigkeiten, die er sie den ersten Tag hatte verschwenderisch
wegwerfen sehen.

Madame Melina, die ihn eben, als er seine Gaben überreichte, zu
beobachten kam, suchte noch vor Tische eine Gelegenheit, ihn sehr
ernstlich über die Empfindung für dieses Mädchen zur Rede zu setzen,
und er war um so erstaunter, als er nichts weniger denn diese Vorwürfe
zu verdienen glaubte.  Er schwur hoch und teuer, daß es ihm keineswegs
eingefallen sei, sich an diese Person, deren ganzen Wandel er wohl
kenne, zu wenden; er entschuldigte sich, so gut er konnte, über sein
freundliches und artiges Betragen gegen sie, befriedigte aber Madame
Melina auf keine Weise, vielmehr ward diese immer verdrießlicher, da
sie bemerken mußte, daß die Schmeichelei, wodurch sie sich eine Art
von Neigung unsers Freundes erworben hatte, nicht hinreiche, diesen
Besitz gegen die Angriffe einer lebhaften, jüngern und von der Natur
glücklicher begabten Person zu verteidigen.

Ihren Mann fanden sie gleichfalls, da sie zu Tische kamen, bei sehr
üblem Humor, und er fing schon an, ihn über Kleinigkeiten auszulassen,
als der Wirt hereintrat und einen Harfenspieler anmeldete.  "Sie
werden", sagte er, "gewiß Vergnügen an der Musik und an den Gesängen
dieses Mannes finden; es kann sich niemand, der ihn hört, enthalten,
ihn zu bewundern und ihm etwas weniges mitzuteilen."

"Lassen Sie ihn weg", versetzte Melina, "ich bin nichts weniger als
gestimmt, einen Leiermann zu hören, und wir haben allenfalls Sänger
unter uns, die gern etwas verdienten."  Er begleitete diese Worte mit
einem tückischen Seitenblicke, den er auf Philinen warf.  Sie verstand
ihn und war gleich bereit, zu seinem Verdruß den angemeldeten Sänger
zu beschützen.  Sie wendete sich zu Wilhelmen und sagte: "Sollen wir
den Mann nicht hören, sollen wir nichts tun, um uns aus der
erbärmlichen Langenweile zu retten?"

Melina wollte ihr antworten, und der Streit wäre lebhafter geworden,
wenn nicht Wilhelm den im Augenblick hereintretenden Mann begrüßt und
ihn herbeigewinkt hätte.

Die Gestalt dieses seltsamen Gastes setzte die ganze Gesellschaft in
Erstaunen, und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen, ehe
jemand ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte.
Sein kahler Scheitel war von wenig grauen Haaren umkränzt, große blaue
Augen blickten sanft unter langen weißen Augenbrauen hervor.  An eine
wohlgebildete Nase schloß sich ein langer weißer Bart an, ohne die
gefällige Lippe zu bedecken, und ein langes dunkelbraunes Gewand
umhüllte den schlanken Körper vom Halse bis zu den Füßen; und so fing
er auf der Harfe, die er vor sich genommen hatte, zu präludieren an.

Die angenehmen Töne, die er aus dem Instrumente hervorlockte,
erheiterten gar bald die Gesellschaft.

"Ihr pflegt auch zu singen, guter Alter", sagte Philine.

"Gebt uns etwas, das Herz und Geist zugleich mit den Sinnen ergötze",
sagte Wilhelm.  "Das Instrument sollte nur die Stimme begleiten; denn
Melodien, Gänge und Läufe ohne Worte und Sinn scheinen mir
Schmetterlingen oder schönen bunten Vögeln ähnlich zu sein, die in der
Luft vor unsern Augen herumschweben, die wir allenfalls haschen und
uns zueignen möchten; da sich der Gesang dagegen wie ein Genius gen
Himmel hebt und das bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt."

Der Alte sah Wilhelmen an, alsdann in die Höhe, tat einige Griffe auf
der Harfe und begann sein Lied.  Es enthielt ein Lob auf den Gesang,
pries das Glück der Sänger und ermahnte die Menschen, sie zu ehren.
Er trug das Lied mit so viel Leben und Wahrheit vor, daß es schien,
als hätte er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet.
Wilhelm enthielt sich kaum, ihm um den Hals zu fallen; nur die
Furcht, ein lautes Gelächter zu erregen, zog ihn auf seinen Stuhl
zurück; denn die übrigen machten schon halblaut einige alberne
Anmerkungen und stritten, ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei.

Als man nach dem Verfasser des Liedes fragte, gab er keine bestimmte
Antwort; nur versicherte er, daß er reich an Gesängen sei und wünsche
nur, daß sie gefallen möchten.  Der größte Teil der Gesellschaft war
fröhlich und freudig, ja selbst Melina nach seiner Art offen geworden,
und indem man untereinander schwatzte und scherzte, fing der Alte das
Lob des geselligen Lebens auf das geistreichste zu singen an.  Er
pries Einigkeit und Gefälligkeit mit einschmeichelnden Tönen.  Auf
einmal ward sein Gesang trocken, rauh und verworren, als er gehässige
Verschlossenheit, kurzsinnige Feindschaft und gefährlichen Zwiespalt
bedauerte, und gern warf jede Seele diese unbequemen Fesseln ab, als
er, auf den Fittichen einer vordringenden Melodie getragen, die
Friedensstifter pries und das Glück der Seelen, die sich wiederfinden,
sang.

Kaum hatte er geendigt, als ihm Wilhelm zurief: "Wer du auch seist,
der du als ein hülfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und
belebenden Stimme zu uns kommst, nimm meine Verehrung und meinen Dank!
fühle, daß wir alle dich bewundern, und vertrau uns, wenn du etwas
bedarfst!"

Der Alte schwieg, ließ erst seine Finger über die Saiten schleichen,
dann griff er sie stärker an und sang:


"Was hör ich draußen vor dem Tor,
Was auf der Brücke schallen?
Laßt den Gesang zu unserm Ohr
Im Saale widerhallen!"
Der König sprach's, der Page lief,
Der Knabe kam, der König rief:
"Bring ihn herein, den Alten!"


"Gegrüßet seid, ihr hohen Herrn,
Gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel!  Stern bei Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
Schließt, Augen, euch, hier ist nicht Zeit,
Sich staunend zu ergötzend


Der Sänger drückt' die Augen ein
Und schlug die vollen Töne;
Der Ritter schaute mutig drein,
Und in den Schoß die Schöne.
Der König, dem das Lied gefiel,
Ließ ihm, zum Lohne für sein Spiel,
Eine goldne Kette holen.


"Die goldne Kette gib mir nicht,
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern.
Gib sie dem Kanzler, den du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.


Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet.
Das Lied, das aus der Kehle dringt,
Ist Lohn, der reichlich lohnet;
Doch darf ich bitten, bitt ich eins:
Laß einen Trunk des besten Weins
In reinem Glase bringen."


Er setzt' es an, er trank es aus:
"O Trank der süßen Labe!
Oh! dreimal hochbeglücktes Haus,
Wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's euch wohl, so denkt an mich,
Und danket Gott so warm, als ich
Für diesen Trunk euch danke."



Da der Sänger nach geendigtem Liede ein Glas Wein, das für ihn
eingeschenkt dastand, ergriff und es mit freundlicher Miene, sich
gegen seine Wohltäter wendend, austrank, entstand eine allgemeine
Freude in der Versammlung.  Man klatschte und rief ihm zu, es möge
dieses Glas zu seiner Gesundheit, zur Stärkung seiner alten Glieder
gereichen.  Er sang noch einige Romanzen und erregte immer mehr
Munterkeit in der Gesellschaft.

"Kannst du die Melodie, Alter", rief Philine, ""Der Schäfer putzte
sich zum Tanz"?"

"O ja", versetzte er; "wenn Sie das Lied singen und aufführen wollen,
an mir soll es nicht fehlen."

Philine stand auf und hielt sich fertig.  Der Alte begann die Melodie,
und sie sang ein Lied, das wir unsern Lesern nicht mitteilen können,
weil sie es vielleicht abgeschmackt oder wohl gar unanständig finden
könnten.

Inzwischen hatte die Gesellschaft, die immer heiterer geworden war,
noch manche Flasche Wein ausgetrunken und fing an, sehr laut zu werden.
Da aber unserm Freunde die bösen Folgen ihrer Lust noch in frischem
Andenken schwebten, suchte er abzubrechen, steckte dem Alten für seine
Bemühung eine reichliche Belohnung in die Hand, die andern taten auch
etwas, man ließ ihn abtreten und ruhen und versprach sich auf den
Abend eine wiederholte Freude von seiner Geschicklichkeit.

Als er hinweg war, sagte Wilhelm zu Philinen: "Ich kann zwar in Ihrem
Leibgesange weder ein dichterisches oder sittliches Verdienst finden;
doch wenn Sie mit ebender Naivetät, Eigenheit und Zierlichkeit etwas
Schickliches auf dem Theater jemals ausführen, so wird Ihnen
allgemeiner, lebhafter Beifall gewiß zuteil werden."

"Ja", sagte Philine, "es müßte eine recht angenehme Empfindung sein,
sich am Eise zu wärmen."

"überhaupt", sagte Wilhelm, "wie sehr beschämt dieser Mann manchen
Schauspieler.  Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramatische Ausdruck
seiner Romanzen war?  Gewiß, es lebte mehr Darstellung in seinem
Gesang als in unsern steifen Personen auf der Bühne; man sollte die
Aufführung mancher Stücke eher für eine Erzählung halten und diesen
musikalischen Erzählungen eine sinnliche Gegenwart zuschreiben."

"Sie sind ungerecht!" versetzte Laertes, "ich gebe mich weder für
einen großen Schauspieler noch Sänger; aber das weiß ich, daß, wenn
die Musik die Bewegungen des Körpers leitet, ihnen Leben gibt und
ihnen zugleich das Maß vorschreibt; wenn Deklamation und Ausdruck
schon von dem Kompositeur auf mich übertragen werden: so bin ich ein
ganz andrer Mensch, als wenn ich im prosaischen Drama das alles erst
erschaffen und Takt und Deklamation mir erst erfinden soll, worin mich
noch dazu jeder Mitspielende stören kann."

"Soviel weiß ich", sagte Melina, "daß uns dieser Mann in einem Punkte
gewiß beschämt, und zwar in einem Hauptpunkte.  Die Stärke seiner
Talente zeigt sich in dem Nutzen, den er davon zieht.  Uns, die wir
vielleicht bald in Verlegenheit sein werden, wo wir eine Mahlzeit
hernehmen, bewegt er, unsre Mahlzeit mit ihm zu teilen.  Er weiß uns
das Geld, das wir anwenden könnten, um uns in einige Verfassung zu
setzen, durch ein Liedchen aus der Tasche zu locken.  Es scheint so
angenehm zu sein, das Geld zu verschleudern, womit man sich und andern
eine Existenz verschaffen könnte."

Das Gespräch bekam durch diese Bemerkung nicht die angenehmste Wendung.
Wilhelm, auf den der Vorwurf eigentlich gerichtet war, antwortete
mit einiger Leidenschaft, und Melina, der sich eben nicht der größten
Feinheit befliß, brachte zuletzt seine Beschwerden mit ziemlich
trockenen Worten vor.  "Es sind nun schon vierzehn Tage", sagte er,
"daß wir das hier verpfändete Theater und die Garderobe besehen haben,
und beides konnten wir für eine sehr leidliche Summe haben.  Sie
machten mir damals Hoffnung, daß Sie mir soviel kreditieren würden,
und bis jetzt habe ich noch nicht gesehen, daß Sie die Sache weiter
bedacht oder sich einem Entschluß genähert hätten.  Griffen Sie damals
zu, so wären wir jetzt im Gange.  Ihre Absicht zu verreisen haben Sie
auch noch nicht ausgeführt, und Geld scheinen Sie mir diese Zeit über
auch nicht gespart zu haben; wenigstens gibt es Personen, die immer
Gelegenheit zu verschaffen wissen, daß es geschwinder weggehe."

Dieser nicht ganz ungerechte Vorwurf traf unsern Freund.  Er versetzte
einiges darauf mit Lebhaftigkeit, ja mit Heftigkeit und ergriff, da
die Gesellschaft aufstund und sich zerstreute, die Türe, indem er
nicht undeutlich zu erkennen gab, daß er sich nicht lange mehr bei so
unfreundlichen und undankbaren Menschen aufhalten wolle.  Er eilte
verdrießlich hinunter, sich auf eine steinerne Bank zu setzen, die vor
dem Tore seines Gasthofs stand, und bemerkte nicht, daß er halb aus
Lust, halb aus Verdruß mehr als gewöhnlich getrunken hatte.



II. Buch, 12. Kapitel



Zwölftes Kapitel

Nach einer kurzen Zeit, die er, beunruhigt von mancherlei Gedanken,
sitzend und vor sich hin sehend zugebracht hatte, schlenderte Philine
singend zur Haustüre heraus, setzte sich zu ihm, ja man dürfte beinahe
sagen auf ihn, so nahe rückte sie an ihn heran, lehnte sich auf seine
Schultern, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die
besten Worte von der Welt.  Sie bat ihn, er möchte ja bleiben und sie
nicht in der Gesellschaft allein lassen, in der sie vor Langerweile
sterben müßte; sie könne nicht mehr mit Melina unter einem Dache
ausdauern und habe sich deswegen herüberquartiert.

Vergebens suchte er sie abzuweisen, ihr begreiflich zu machen, daß er
länger weder bleiben könne noch dürfe.  Sie ließ mit Bitten nicht ab,
ja unvermutet schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mit
dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens.

"Sind Sie toll, Philine?" rief Wilhelm aus, indem er sich loszumachen
suchte, "die öffentliche Straße zum Zeugen solcher Liebkosungen zu
machen, die ich auf keine Weise verdiene!  Lassen Sie mich los, ich
kann nicht und ich werde nicht bleiben."

"Und ich werde dich festhalten", sagte sie, "und ich werde dich hier
auf öffentlicher Gasse so lange küssen, bis du mir versprichst, was
ich wünsche.  Ich lache mich zu Tode", fuhr sie fort; "nach dieser
Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiß für deine Frau von vier
Wochen, und die Ehemänner, die eine so anmutige Szene sehen, werden
mich ihren Weibern als ein Muster einer kindlich unbefangenen
Zärtlichkeit anpreisen."

Eben gingen einige Leute vorbei, und sie liebkoste ihn auf das
anmutigste, und er, um kein Skandal zu geben, war gezwungen, die Rolle
des geduldigen Ehemannes zu spielen.  Dann schnitt sie den Leuten
Gesichter im Rücken und trieb voll übermut allerhand Ungezogenheiten,
bis er zuletzt versprechen mußte, noch heute und morgen und übermorgen
zu bleiben.

"Sie sind ein rechter Stock!" sagte sie darauf, indem sie von ihm
abließ, "und ich eine Törin, daß ich so viel Freundlichkeit an Sie
verschwende."  Sie stand verdrießlich auf und ging einige Schritte;
dann kehrte sie lachend zurück und rief: "Ich glaube eben, daß ich
darum in dich vernarrt bin, ich will nur gehen und meinen
Strickstrumpf holen, daß ich etwas zu tun habe.  Bleibe ja, damit ich
den steinernen Mann auf der steinernen Bank wiederfinde."

Diesmal tat sie ihm unrecht: denn sosehr er sich von ihr zu enthalten
strebte, so würde er doch in diesem Augenblicke, hätte er sich mit ihr
in einer einsamen Laube befunden, ihre Liebkosungen wahrscheinlich
nicht unerwidert gelassen haben.

Sie ging, nachdem sie ihm einen leichtfertigen Blick zugeworfen, in
das Haus.  Er hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr hatte ihr
Betragen einen neuen Widerwillen in ihm erregt; doch hob er sich, ohne
selbst recht zu wissen warum, von der Bank, um ihr nachzugehen.

Er war eben im Begriff, in die Türe zu treten, als Melina herbeikam,
ihn bescheiden anredete und ihn wegen einiger im Wortwechsel zu hart
ausgesprochenen Ausdrücke um Verzeihung bat.  "Sie nehmen mir nicht
übel", fuhr er fort, "wenn ich in dem Zustande, in dem ich mich
befinde, mich vielleicht zu ängstlich bezeige; aber die Sorge für eine
Frau, vielleicht bald für ein Kind, verhindert mich von einem Tag zum
andern, ruhig zu leben und meine Zeit mit dem Genuß angenehmer
Empfindungen hinzubringen, wie Ihnen noch erlaubt ist. überdenken Sie,
und wenn es Ihnen möglich ist, so setzen Sie mich in den Besitz der
theatralischen Gerätschaften, die sich hier vorfinden.  Ich werde
nicht lange Ihr Schuldner und Ihnen dafür ewig dankbar bleiben."

Wilhelm, der sich ungern auf der Schwelle aufgehalten sah, über die
ihn eine unwiderstehliche Neigung in diesem Augenblicke zu Philinen
hinüberzog, sagte mit einer überraschten Zerstreuung und eilfertigen
Gutmütigkeit: "Wenn ich Sie dadurch glücklich und zufrieden machen
kann, so will ich mich nicht länger bedenken.  Gehn Sie hin, machen
Sie alles richtig.  Ich bin bereit, noch diesen Abend oder morgen früh
das Geld zu zahlen."  Er gab hierauf Melinan die Hand zur Bestätigung
seines Versprechens und war sehr zufrieden, als er ihn eilig über die
Straße weggehen sah; leider aber wurde er von seinem Eindringen ins
Haus zum zweitenmal und auf eine unangenehmere Weise zurückgehalten.

Ein junger Mensch mit einem Bündel auf dem Rücken kam eilig die Straße
her und trat zu Wilhelmen, der ihn gleich für Friedrichen erkannte.

"Da bin ich wieder!" rief er aus, indem er seine großen blauen Augen
freudig umher und hinauf an alle Fenster gehen ließ; "wo ist Mamsell?
Der Henker mag es länger in der Welt aushalten, ohne sie zu sehen!"

Der Wirt, der eben dazugetreten war, versetzte: "Sie ist oben", und
mit wenigen Sprüngen war er die Treppe hinauf, und Wilhelm blieb auf
der Schwelle wie eingewurzelt stehen.  Er hätte in den ersten
Augenblicken den Jungen bei den Haaren rückwärts die Treppe
herunterreißen mögen; dann hemmte der heftige Krampf einer gewaltsamen
Eifersucht auf einmal den Lauf seiner Lebensgeister und seiner Ideen,
und da er sich nach und nach von seiner Erstarrung erholte, überfiel
ihn eine Unruhe, ein Unbehagen, dergleichen er in seinem Leben noch
nicht empfunden hatte.

Er ging auf seine Stube und fand Mignon mit Schreiben beschäftigt.
Das Kind hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles, was
es auswendig wußte, zu schreiben, und hatte seinem Herrn und Freund
das Geschriebene zu korrigieren gegeben.  Sie war unermüdet und faßte
gut; aber die Buchstaben blieben ungleich und die Linien krumm.  Auch
hier schien ihr Körper dem Geiste zu widersprechen.  Wilhelm, dem die
Aufmerksamkeit des Kindes, wenn er ruhigen Sinnes war, große Freude
machte, achtete diesmal wenig auf das, was sie ihm zeigte; sie fühlte
es und betrübte sich darüber nur desto mehr, als sie glaubte, diesmal
ihre Sache recht gut gemacht zu haben.

Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gängen des Hauses auf und ab und
bald wieder an die Haustüre.  Ein Reiter sprengte vor, der ein gutes
Ansehn hatte und der bei gesetzten Jahren noch viel Munterkeit verriet.
Der Wirt eilte ihm entgegen, reichte ihm als einem bekannten Freunde
die Hand und rief: "Ei, Herr Stallmeister, sieht man Sie auch einmal
wieder!"

"Ich will nur hier füttern", versetzte der Fremde, "ich muß gleich
hinüber auf das Gut, um in der Geschwindigkeit allerlei einrichten zu
lassen.  Der Graf kömmt morgen mit seiner Gemahlin, sie werden sich
eine Zeitlang drüben aufhalten, um den Prinzen von *** auf das beste
zu bewirten, der in dieser Gegend wahrscheinlich sein Hauptquartier
aufschlägt."

"Es ist schade, daß Sie nicht bei uns bleiben können", versetzte der
Wirt, "wir haben gute Gesellschaft."  Der Reitknecht, der nachsprengte,
nahm dem Stallmeister das Pferd ab, der sich unter der Türe mit dem
Wirt unterhielt und Wilhelmen von der Seite ansah.

Dieser, da er merkte, daß von ihm die Rede sei, begab sich weg und
ging einige Straßen auf und ab.



II. Buch, 13. Kapitel



Dreizehntes Kapitel

In der verdrießlichen Unruhe, in der er sich befand, fiel ihm ein, den
Alten aufzusuchen, durch dessen Harfe er die bösen Geister zu
verscheuchen hoffte.  Man wies ihn, als er nach dem Manne fragte, an
ein schlechtes Wirtshaus in einem entfernten Winkel des Städtchens und
in demselben die Treppe hinauf bis auf den Boden, wo ihm der süße
Harfenklang aus einer Kammer entgegenschallte.  Es waren herzrührende,
klagende Töne, von einem traurigen, ängstlichen Gesange begleitet.
Wilhelm schlich an die Türe, und da der gute Alte eine Art von
Phantasie vortrug und wenige Strophen teils singend, teils rezitierend
immer wiederholte, konnte der Horcher nach einer kurzen Aufmerksamkeit
ungefähr folgendes verstehen:


Wer nie sein Brot mit Tränen aß, Wer nie die kummervollen Nächte Auf
seinem Bette weinend saß, Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.


Ihr führt ins Leben uns hinein, Ihr laßt den Armen schuldig werden,
Dann überlaßt ihr ihn der Pein; Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.


Die wehmütige, herzliche Klage drang tief in die Seele des Hörers.  Es
schien ihm, als ob der Alte manchmal von Tränen gehindert würde
fortzufahren; dann klangen die Saiten allein, bis sich wieder die
Stimme leise in gebrochenen Lauten dareinmischte.  Wilhelm stand an
dem Pfosten, seine Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten
schloß sein beklommenes Herz auf; er widerstand nicht dem Mitgefühl
und konnte und wollte die Tränen nicht zurückhalten, die des Alten
herzliche Klage endlich auch aus seinen Augen hervorlockte.  Alle
Schmerzen, die seine Seele drückten, lösten sich zu gleicher Zeit auf,
er überließ sich ihnen ganz, stieß die Kammertüre auf und stand vor
dem Alten, der ein schlechtes Bette, den einzigen Hausrat dieser
armseligen Wohnung, zu seinem Sitze zu nehmen genötigt gewesen.

"Was hast du mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter!" rief er
aus, "alles, was in meinem Herzen stockte, hast du losgelöst; laß dich
nicht stören, sondern fahre fort, indem du deine Leiden linderst,
einen Freund glücklich zu machen."  Der Alte wollte aufstehen und
etwas reden, Wilhelm verhinderte ihn daran; denn er hatte zu Mittage
bemerkt, daß der Mann ungern sprach; er setzte sich vielmehr zu ihm
auf den Strohsack nieder.

Der Alte trocknete seine Tränen und fragte mit einem freundlichen
Lächeln: "Wie kommen Sie hierher?  Ich wollte Ihnen diesen Abend
wieder aufwarten."

"Wir sind hier ruhiger", versetzte Wilhelm, "singe mir, was du willst,
was zu deiner Lage paßt, und tue nur, als ob ich gar nicht hier wäre.
Es scheint mir, als ob du heute nicht irren könntest.  Ich finde dich
sehr glücklich, daß du dich in der Einsamkeit so angenehm beschäftigen
und unterhalten kannst und, da du überall ein Fremdling bist, in
deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest."

Der Alte blickte auf seine Saiten, und nachdem er sanft präludiert
hatte, stimmte er an und sang:


Wer sich der Einsamkeit ergibt,
Ach! der ist bald allein;
Ein jeder lebt, ein jeder liebt
Und läßt ihn seiner Pein.


Ja! laßt mich meiner Qual!
Und kann ich nur einmal
Recht einsam sein,
Dann bin ich nicht allein.


Es schleicht ein Liebender lauschend sacht,
Ob seine Freundin allein?
So überschleicht bei Tag und Nacht
Mich Einsamen die Pein,


Mich Einsamen die Qual.
Ach werd ich erst einmal
Einsam im Grabe sein,
Da läßt sie mich allein!



Wir würden zu weitläufig werden und doch die Anmut der seltsamen
Unterredung nicht ausdrücken können, die unser Freund mit dem
abenteuerlichen Fremden hielt.  Auf alles, was der Jüngling zu ihm
sagte, antwortete der Alte mit der reinsten übereinstimmung durch
Anklänge, die alle verwandten Empfindungen rege machten und der
Einbildungskraft ein weites Feld eröffneten.

Wer einer Versammlung frommer Menschen, die sich, abgesondert von der
Kirche, reiner, herzlicher und geistreicher zu erbauen glauben,
beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von der gegenwärtigen
Szene machen können; er wird sich erinnern, wie der Liturg seinen
Worten den Vers eines Gesanges anzupassen weiß, der die Seele dahin
erhebt, wohin der Redner wünscht, daß sie ihren Flug nehmen möge, wie
bald darauf ein anderer aus der Gemeinde in einer andern Melodie den
Vers eines andern Liedes hinzufügt und an diesen wieder ein dritter
einen dritten anknüpft, wodurch die verwandten Ideen der Lieder, aus
denen sie entlehnt sind, zwar erregt werden, jede Stelle aber durch
die neue Verbindung neu und individuell wird, als wenn sie in dem
Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem bekannten
Kreise von Ideen, aus bekannten Liedern und Sprüchen für diese
besondere Gesellschaft, für diesen Augenblick ein eigenes Ganzes
entsteht, durch dessen Genuß sie belebt, gestärkt und erquickt wird.
So erbaute der Alte seinen Gast, indem er durch bekannte und
unbekannte Lieder und Stellen nahe und ferne Gefühle, wachende und
schlummernde, angenehme und schmerzliche Empfindungen in eine
Zirkulation brachte, von der in dem gegenwärtigen Zustande unsers
Freundes das Beste zu hoffen war.



II. Buch, 14. Kapitel



Vierzehntes Kapitel

Denn wirklich fing er auf dem Rückwege über seine Lage lebhafter, als
bisher geschehen, zu denken an und war mit dem Vorsatze, sich aus
derselben herauszureißen, nach Hause gelangt, als ihm der Wirt
sogleich im Vertrauen eröffnete, daß Mademoiselle Philine an dem
Stallmeister des Grafen eine Eroberung gemacht habe, der, nachdem er
seinen Auftrag auf dem Gute ausgerichtet, in höchster Eile
zurückgekommen sei und ein gutes Abendessen oben auf ihrem Zimmer mit
ihr verzehre.

In eben diesem Augenblicke trat Melina mit dem Notarius herein; sie
gingen zusammen auf Wilhelms Zimmer, wo dieser, wiewohl mit einigem
Zaudern, seinem Versprechen Genüge leistete, dreihundert Taler auf
Wechsel an Melina auszahlte, welche dieser sogleich dem Notarius
übergab und dagegen das Dokument über den geschlossenen Kauf der
ganzen theatralischen Gerätschaft erhielt, welche ihm morgen früh
übergeben werden sollte.

Kaum waren sie auseinandergegangen, als Wilhelm ein entsetzliches
Geschrei in dem Hause vernahm.  Er hörte eine jugendliche Stimme, die
zornig und drohend durch ein unmäßiges Weinen und Heulen durchbrach.
Er hörte diese Wehklage von oben herunter an seiner Stube vorbei nach
dem Hausplatze eilen.

Als die Neugierde unsern Freund herunterlockte, fand er Friedrichen in
einer Art von Raserei.  Der Knabe weinte, knirschte, stampfte, drohte
mit geballten Fäusten und stellte sich ganz ungebärdig vor Zorn und
Verdruß, Mignon stand gegenüber und sah mit Verwunderung zu, und der
Wirt erklärte einigermaßen diese Erscheinung.

Der Knabe sei nach seiner Rückkunft, da ihn Philine gut aufgenommen,
zufrieden, lustig und munter gewesen, habe gesungen und gesprungen bis
zur Zeit, da der Stallmeister mit Philinen Bekanntschaft gemacht.  Nun
habe das Mittelding zwischen Kind und Jüngling angefangen, seinen
Verdruß zu zeigen, die Türen zuzuschlagen und auf und nieder zu rennen.
Philine habe ihm befohlen, heute abend bei Tische aufzuwarten,
worüber er nur noch mürrischer und trotziger geworden; endlich habe er
eine Schüssel mit Ragout, anstatt sie auf den Tisch zu setzen,
zwischen Mademoiselle und den Gast, die ziemlich nahe zusammen
gesessen, hineingeworfen, worauf ihm der Stallmeister ein paar
tüchtige Ohrfeigen gegeben und ihn zur Türe hinausgeschmissen.  Er,
der Wirt, habe darauf die beiden Personen säubern helfen, deren
Kleider sehr übel zugerichtet gewesen.

Als der Knabe die gute Wirkung seiner Rache vernahm, fing er laut zu
lachen an, indem ihm noch immer die Tränen an den Backen
herunterliefen.  Er freute sich einige Zeit herzlich, bis ihm der
Schimpf, den ihm der Stärkere angetan, wieder einfiel, da er denn von
neuem zu heulen und zu drohen anfing.

Wilhelm stand nachdenklich und beschämt vor dieser Szene.  Er sah sein
eignes Innerstes mit starken und übertriebenen Zügen dargestellt; auch
er war von einer unüberwindlichen Eifersucht entzündet; auch er, wenn
ihn der Wohlstand nicht zurückgehalten hätte, würde gern seine wilde
Laune befriedigt, gern mit tückischer Schadenfreude den geliebten
Gegenstand verletzt und seinen Nebenbuhler ausgefordert haben; er
hätte die Menschen, die nur zu seinem Verdrusse dazusein schienen,
vertilgen mögen.

Laertes, der auch herbeigekommen war und die Geschichte vernommen
hatte, bestärkte schelmisch den aufgebrachten Knaben, als dieser
beteuerte und schwur: der Stallmeister müsse ihm Satisfaktion geben,
er habe noch keine Beleidigung auf sich sitzen lassen; weigere sich
der Stallmeister, so werde er sich zu rächen wissen.

Laertes war hier grade in seinem Fache.  Er ging ernsthaft hinauf, den
Stallmeister im Namen des Knaben herauszufordern.

"Das ist lustig", sagte dieser; "einen solchen Spaß hätte ich mir heut
abend kaum vorgestellt."  Sie gingen hinunter, und Philine folgte
ihnen.  "Mein Sohn", sagte der Stallmeister zu Friedrichen, "du bist
ein braver Junge, und ich weigere mich nicht, mit dir zu fechten; nur
da die Ungleichheit unsrer Jahre und Kräfte die Sache ohnehin etwas
abenteuerlich macht, so schlage ich statt anderer Waffen ein Paar
Rapiere vor; wir wollen die Knöpfe mit Kreide bestreichen, und wer dem
andern den ersten oder die meisten Stöße auf den Rock zeichnet, soll
für den überwinder gehalten und von dem andern mit dem besten Weine,
der in der Stadt zu haben ist, traktiert werden."

Laertes entschied, daß dieser Vorschlag angenommen werden könnte;
Friedrich gehorchte ihm als seinem Lehrmeister.  Die Rapiere kamen
herbei, Philine setzte sich hin, strickte und sah beiden Kämpfern mit
großer Gemütsruhe zu.

Der Stallmeister, der seht gut focht, war gefällig genug, seinen
Gegner zu schonen und sich einige Kreidenflecke auf den Rock bringen
zu lassen, worauf sie sich umarmten und Wein herbeigeschafft wurde.
Der Stallmeister wollte Friedrichs Herkunft und seine Geschichte
wissen, der denn ein Märchen erzählte, das er schon oft wiederholt
hatte und mit dem wir ein andermal unsre Leser bekannt zu machen
gedenken.

In Wilhelms Seele vollendete indessen dieser Zweikampf die Darstellung
seiner eigenen Gefühle: denn er konnte sich nicht leugnen, daß er das
Rapier, ja lieber noch einen Degen selbst gegen den Stallmeister zu
führen wünschte, wenn er schon einsah, daß ihm dieser in der
Fechtkunst weit überlegen sei.  Doch würdigte er Philinen nicht eines
Blicks, hütete sich vor jeder äußerung, die seine Empfindung hätte
verraten können, und eilte, nachdem er einigemal auf die Gesundheit
der Kämpfer Bescheid getan, auf sein Zimmer, wo sich tausend
unangenehme Gedanken auf ihn zudrängten.

Er erinnerte sich der Zeit, in der sein Geist durch ein unbedingtes,
hoffnungsreiches Streben emporgehoben wurde, wo er in dem lebhaftesten
Genusse aller Art wie in einem Elemente schwamm.  Es ward ihm deutlich,
wie er jetzt in ein unbestimmtes Schlendern geraten war, in welchem
er nur noch schlürfend kostete, was er sonst mit vollen Zügen
eingesogen hatte; aber deutlich konnte er nicht sehen, welches
unüberwindliche Bedürfnis ihm die Natur zum Gesetz gemacht hatte und
wie sehr dieses Bedürfnis durch Umstände nur gereizt, halb befriedigt
und irregeführt worden war.

Es darf also niemand wundern, wenn er bei Betrachtung seines Zustandes,
und indem er sich aus demselben herauszudenken arbeitete, in die
größte Verwirrung geriet.  Es war nicht genug, daß er durch seine
Freundschaft zu Laertes, durch seine Neigung zu Philinen, durch seinen
Anteil an Mignon länger als billig an einem Orte und in einer
Gesellschaft festgehalten wurde, in welcher er seine Lieblingsneigung
hegen, gleichsam verstohlen seine Wünsche befriedigen und, ohne sich
einen Zweck vorzusetzen, seinen alten Träumen nachschleichen konnte.
Aus diesen Verhältnissen sich loszureißen und gleich zu scheiden,
glaubte er Kraft genug zu besitzen.  Nun hatte er aber vor wenigen
Augenblicken sich mit Melina in ein Geldgeschäft eingelassen, er hatte
den rätselhaften Alten kennenlernen, welchen zu entziffern er eine
unbeschreibliche Begierde fühlte.  Allein auch dadurch sich nicht
zurückhalten zu lassen, war er nach lang hin und her geworfenen
Gedanken entschlossen oder glaubte wenigstens entschlossen zu sein.
"Ich muß fort", rief er aus, "ich will fort!"  Er warf sich in einen
Sessel und war sehr bewegt.  Mignon trat herein und fragte, ob sie ihn
aufwickeln dürfe.  Sie kam still; es schmerzte sie tief, daß er sie
heute so kurz abgefertigt hatte.

Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im stillen genährt,
eine Treue, die sich im verborgenen befestigt hat, endlich dem, der
ihrer bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahe kommt und ihm
offenbar wird.  Die lange und streng verschlossene Knospe war reif,
und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher sein.

Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe.  "Herr!" rief sie aus, "wenn
du unglücklich bist, was soll aus Mignon werden?"--"Liebes Geschöpf",
sagte er, indem er ihre Hände nahm, "du bist auch mit unter meinen
Schmerzen.--Ich muß fort."  Sie sah ihm in die Augen, die von
verhaltenen Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder.
Er behielt ihre Hände, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war
ganz still.  Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich.  Sie
blieb lange ruhig.  Endlich fühlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz
sachte anfing und sich durch alle Glieder wachsend verbreitete.  "Was
ist dir, Mignon?" rief er aus, "was ist dir?"  Sie richtete ihr
Köpfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit
einer Gebärde, welche Schmerzen verbeißt.  Er hob sie auf, und sie
fiel auf seinen Schoß; er drückte sie an sich und küßte sie.  Sie
antwortete durch keinen Händedruck, durch keine Bewegung.  Sie hielt
ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen
Bewegungen des Körpers begleitet war.  Sie fuhr auf und fiel auch
sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder.  Es war ein
gräßlicher Anblick!  "Mein Kind!" rief er aus, indem er sie aufhob und
fest umarmte, "mein Kind, was ist dir?"  Die Zuckung dauerte fort, die
vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte; sie hing nur in
seinen Armen.  Er schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen
Tränen.  Auf einmal schien sie wieder angespannt, wie eins, das den
höchsten körperlichen Schmerz erträgt; und bald mit einer neuen
Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich
ihm, wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem
Innersten wie ein gewaltiger Riß geschah, und in dem Augenblicke floß
ein Strom von Tränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen.
Er hielt sie fest.  Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt
dieser Tränen aus.  Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von
der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von
Tränen unaufhaltsam dahinzuschmelzen.  Ihre starren Glieder wurden
gelinde, es ergoß sich ihr Innerstes, und in der Verirrung des
Augenblickes fürchtete Wilhelm, sie werde in seinen Armen zerschmelzen
und er nichts von ihr übrigbehalten.  Er hielt sie nur fester und
fester.  "Mein Kind!" rief er aus, "mein Kind!  Du bist ja mein!  Wenn
dich das Wort trösten kann.  Du bist mein!  Ich werde dich behalten,
dich nicht verlassen!"  Ihre Tränen flossen noch immer.  Endlich
richtete sie sich auf.  Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem
Gesichte.  "Mein Vater!" rief sie, "du willst mich nicht verlassen!
willst mein Vater sein!--Ich bin dein Kind!"

Sanft fing vor der Türe die Harfe an zu klingen; der Alte brachte
seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind
immer fester in Armen haltend, des reinsten, unbeschreiblichsten
Glückes genoß.



Ende dieses LibraryBlog Etextes "Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 2"
von Johann Wolfgang von Goethe.



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