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Title: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 6
Author: Goethe, Johann Wolfgang von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 6" ***


globaltraveler5565@yahoo.com.



Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 6

Johann Wolfgang von Goethe



Sechstes Buch

Bekenntnisse einer schönen Seele

Bis in mein achtes Jahr war ich ein ganz gesundes Kind, weiß mich aber
von dieser Zeit so wenig zu erinnern als von dem Tage meiner Geburt.
Mit dem Anfange des achten Jahres bekam ich einen Blutsturz, und in
dem Augenblick war meine Seele ganz Empfindung und Gedächtnis.  Die
kleinsten Umstände dieses Zufalls stehn mir noch vor Augen, als hätte
er sich gestern ereignet.

Während des neunmonatlichen Krankenlagers, das ich mit Geduld aushielt,
ward, so wie mich dünkt, der Grund zu meiner ganzen Denkart gelegt,
indem meinem Geiste die ersten Hülfsmittel gereicht wurden, sich nach
seiner eigenen Art zu entwickeln.

Ich litt und liebte, das war die eigentliche Gestalt meines Herzens.
In dem heftigsten Husten und abmattenden Fieber war ich stille wie
eine Schnecke, die sich in ihr Haus zieht; sobald ich ein wenig Luft
hatte, wollte ich etwas Angenehmes fühlen, und da mir aller übrige
Genuß versagt war, suchte ich mich durch Augen und Ohren schadlos zu
halten.  Man brachte mir Puppenwerk und Bilderbücher, und wer Sitz an
meinem Bette haben wollte, mußte mir etwas erzählen.

Von meiner Mutter hörte ich die biblischen Geschichten gern an; der
Vater unterhielt mich mit Gegenständen der Natur.  Er besaß ein
artiges Kabinett.  Davon brachte er gelegentlich eine Schublade nach
der andern herunter, zeigte mir die Dinge und erklärte sie mir nach
der Wahrheit.  Getrocknete Pflanzen und Insekten und manche Arten von
anatomischen Präparaten, Menschenhaut, Knochen, Mumien und dergleichen
kamen auf das Krankenbette der Kleinen; Vögel und Tiere, die er auf
der Jagd erlegte, wurden mir vorgezeigt, ehe sie nach der Küche gingen;
und damit doch auch der Fürst der Welt eine Stimme in dieser
Versammlung behielte, erzählte mir die Tante Liebesgeschichten und
Feenmärchen.  Alles ward angenommen, und alles faßte Wurzel.  Ich
hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit dem unsichtbaren Wesen
unterhielt; ich weiß noch einige Verse, die ich der Mutter damals in
die Feder diktierte.

Oft erzählte ich dem Vater wieder, was ich von ihm gelernt hatte.  Ich
nahm nicht leicht eine Arzenei, ohne zu fragen: "Wo wachsen die Dinge,
aus denen sie gemacht ist? wie sehen sie aus? wie heißen sie?"  Aber
die Erzählungen meiner Tante waren auch nicht auf einen Stein gefallen.
Ich dachte mich in schöne Kleider und begegnete den allerliebsten
Prinzen, die nicht ruhen noch rasten konnten, bis sie wußten, wer die
unbekannte Schöne war.  Ein ähnliches Abenteuer mit einem reizenden
kleinen Engel, der in weißem Gewand und goldnen Flügeln sich sehr um
mich bemühte, setzte ich so lange fort, daß meine Einbildungskraft
sein Bild fast bis zur Erscheinung erhöhte.

Nach Jahresfrist war ich ziemlich wiederhergestellt; aber es war mir
aus der Kindheit nichts Wildes übriggeblieben.  Ich konnte nicht
einmal mit Puppen spielen, ich verlangte nach Wesen, die meine Liebe
erwiderten.  Hunde, Katzen und Vögel, dergleichen mein Vater von allen
Arten ernährte, vergnügten mich sehr; aber was hätte ich nicht gegeben,
ein Geschöpf zu besitzen, das in einem der Märchen meiner Tante eine
sehr wichtige Rolle spielte.  Es war ein Schäfchen, das von einem
Bauermädchen in dem Walde aufgefangen und ernährt worden war, aber in
diesem artigen Tiere stak ein verwünschter Prinz, der sich endlich
wieder als schöner Jüngling zeigte und seine Wohltäterin durch seine
Hand belohnte.  So ein Schäfchen hätte ich gar zu gerne besessen!

Nun wollte sich aber keines finden, und da alles neben mir so ganz
natürlich zuging, mußte mir nach und nach die Hoffnung auf einen so
köstlichen Besitz fast vergehen.  Unterdessen tröstete ich mich, indem
ich solche Bücher las, in denen wunderbare Begebenheiten beschrieben
wurden.  Unter allen war mir der "Christliche deutsche Herkules" der
liebste; die andächtige Liebesgeschichte war ganz nach meinem Sinne.
Begegnete seiner Valiska irgend etwas, und es begegneten ihr grausame
Dinge, so betete er erst, eh er ihr zu Hülfe eilte, und die Gebete
standen ausführlich im Buche.  Wie wohl gefiel mir das!  Mein Hang zu
dem Unsichtbaren, den ich immer auf eine dunkle Weise fühlte, ward
dadurch nur vermehrt; denn ein für allemal sollte Gott auch mein
Vertrauter sein.

Als ich weiter heranwuchs, las ich, der Himmel weiß was, alles
durcheinander; aber die "Römische Oktavia" behielt vor allen den Preis.
Die Verfolgungen der ersten Christen, in einen Roman gekleidet,
erregten bei mir das lebhafteste Interesse.

Nun fing die Mutter an, über das stete Lesen zu schmälen; der Vater
nahm ihr zuliebe mir einen Tag die Bücher aus der Hand und gab sie mir
den andern wieder.  Sie war klug genug zu bemerken, daß hier nichts
auszurichten war, und drang nur darauf, daß auch die Bibel ebenso
fleißig gelesen wurde.  Auch dazu ließ ich mich nicht treiben, und ich
las die heiligen Bücher mit vielem Anteil.  Dabei war meine Mutter
immer sorgfältig, daß keine verführerischen Bücher in meine Hände
kämen, und ich selbst würde jede schändliche Schrift aus der Hand
geworfen haben; denn meine Prinzen und Prinzessinnen waren alle
äußerst tugendhaft, und ich wußte übrigens von der natürlichen
Geschichte des menschlichen Geschlechts mehr, als ich merken ließ, und
hatte es meistens aus der Bibel gelernt.  Bedenkliche Stellen hielt
ich mit Worten und Dingen, die mir vor Augen kamen, zusammen und
brachte bei meiner Wißbegierde und Kombinationsgabe die Wahrheit
glücklich heraus.  Hätte ich von Hexen gehört, so hätte ich auch mit
der Hexerei bekannt werden müssen.

Meiner Mutter und dieser Wißbegierde hatte ich es zu danken, daß ich
bei dem heftigen Hang zu Büchern doch kochen lernte; aber dabei war
etwas zu sehen.  Ein Huhn, ein Ferkel aufzuschneiden war für mich ein
Fest.  Dem Vater brachte ich die Eingeweide, und er redete mit mir
darüber wie mit einem jungen Studenten und pflegte mich oft mit
inniger Freude seinen mißratenen Sohn zu nennen.

Nun war das zwölfte Jahr zurückgelegt.  Ich lernte Französisch, Tanzen
und Zeichnen und erhielt den gewöhnlichen Religionsunterricht.  Bei
dem letzten wurden manche Empfindungen und Gedanken rege, aber nichts,
was sich auf meinen Zustand bezogen hätte.  Ich hörte gern von Gott
reden, ich war stolz darauf, besser als meinesgleichen von ihm reden
zu können; ich las nun mit Eifer manche Bücher, die mich in den Stand
setzten, von Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken,
wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so gestaltet sei, ob
sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne widerglänzen könnte;
das hatte ich ein für allemal schon vorausgesetzt.

Französisch lernte ich mit vieler Begierde.  Mein Sprachmeister war
ein wackerer Mann.  Er war nicht ein leichtsinniger Empiriker, nicht
ein trocknet Grammatiker; er hatte Wissenschaften, er hatte die Welt
gesehen.  Zugleich mit dem Sprachunterrichte sättigte er meine
Wißbegierde auf mancherlei Weise.  Ich liebte ihn so sehr, daß ich
seine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete.  Das Zeichnen fiel mir
nicht schwer, und ich würde es weiter gebracht haben, wenn mein
Meister Kopf und Kenntnisse gehabt hätte; er hatte aber nur Hände und
übung.

Tanzen war anfangs nur meine geringste Freude; mein Körper war zu
empfindlich, und ich lernte nur in der Gesellschaft meiner Schwester.
Durch den Einfall unsers Tanzmeisters, allen seinen Schülern und
Schülerinnen einen Ball zu geben, ward aber die Lust zu dieser übung
ganz anders belebt.

Unter vielen Knaben und Mädchen zeichneten sich zwei Söhne des
Hofmarschalls aus: der jüngste so alt wie ich, der andere zwei Jahre
älter, Kinder von einer solchen Schönheit, daß sie nach dem
allgemeinen Geständnis alles übertrafen, was man je von schönen
Kindern gesehen hatte.  Auch ich hatte sie kaum erblickt, so sah ich
niemand mehr vom ganzen Haufen.  In dem Augenblicke tanzte ich mit
Aufmerksamkeit und wünschte schön zu tanzen.  Wie es kam, daß auch
diese Knaben unter allen andern mich vorzüglich bemerkten?--Genug, in
der ersten Stunde waren wir die besten Freunde, und die kleine
Lustbarkeit ging noch nicht zu Ende, so hatten wir schon ausgemacht,
wo wir uns nächstens wiedersehen wollten.  Eine große Freude für mich!
Aber ganz entzückt war ich, als beide den andern Morgen, jeder in
einem galanten Billett, das mit einem Blumenstrauß begleitet war, sich
nach meinem Befinden erkundigten.  So fühlte ich nie mehr, wie ich da
fühlte!  Artigkeiten wurden mit Artigkeiten, Briefchen mit Briefchen
erwidert.  Kirche und Promenaden wurden von nun an zu Rendezvous;
unsre jungen Bekannten luden uns schon jederzeit zusammen ein, wir
aber waren schlau genug, die Sache dergestalt zu verdecken, daß die
Eltern nicht mehr davon einsahen, als wir für gut hielten.

Nun hatte ich auf einmal zwei Liebhaber bekommen.  Ich war für keinen
entschieden; sie gefielen mir beide, und wir standen aufs beste
zusammen.  Auf einmal ward der ältere sehr krank; ich war selbst schon
oft sehr krank gewesen und wußte den Leidenden durch übersendung
mancher Artigkeiten und für einen Kranken schicklicher Leckerbissen zu
erfreuen, daß seine Eltern die Aufmerksamkeit dankbar erkannten, der
Bitte des lieben Sohns Gehör gaben und mich samt meinen Schwestern,
sobald er nur das Bette verlassen hatte, zu ihm einluden.  Die
Zärtlichkeit, womit er mich empfing, war nicht kindisch, und von dem
Tage an war ich für ihn entschieden.  Er warnte mich gleich, vor
seinem Bruder geheim zu sein; allein das Feuer war nicht mehr zu
verbergen, und die Eifersucht des Jüngern machte den Roman vollkommen.
Er spielte uns tausend Streiche; mit Lust vernichtete er unsre
Freunde und vermehrte dadurch die Leidenschaft, die er zu zerstören
suchte.

Nun hatte ich denn wirklich das gewünschte Schäfchen gefunden, und
diese Leidenschaft hatte, wie sonst eine Krankheit, die Wirkung auf
mich, daß sie mich still machte und mich von der schwärmenden Freude
zurückzog.  Ich war einsam und gerührt, und Gott fiel mir wieder ein.
Er blieb mein Vertrauter, und ich weiß wohl, mit welchen Tränen ich
für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten anhielt.

Soviel Kindisches in dem Vorgang war, soviel trug er zur Bildung
meines Herzens bei.  Unserm französischen Sprachmeister mußten wir
täglich statt der sonst gewöhnlichen übersetzung Briefe von unsrer
eignen Erfindung schreiben.  Ich brachte meine Liebesgeschichte unter
dem Namen Phyllis und Damon zu Markte.  Der Alte sah bald durch, und
um mich treuherzig zu machen, lobte er meine Arbeit gar sehr.  Ich
wurde immer kühner, ging offenherzig heraus und war bis ins Detail der
Wahrheit getreu.  Ich weiß nicht mehr, bei welcher Stelle er einst
Gelegenheit nahm zu sagen: "Wie das artig, wie das natürlich ist!
Aber die gute Phyllis mag sich in acht nehmen, es kann bald ernsthaft
werden."

Mich verdroß, daß er die Sache nicht schon für ernsthaft hielt, und
fragte ihn pikiert, was er unter ernsthaft verstehe?  Er ließ sich
nicht zweimal fragen und erklärte sich so deutlich, daß ich meinen
Schrecken kaum verbergen konnte.  Doch da sich gleich darauf bei mir
der Verdruß einstellte und ich ihm übelnahm, daß er solche Gedanken
hegen könne, faßte ich mich, wollte meine Schöne rechtfertigen und
sagte mit feuerroten Wangen: "Aber, mein Herr, Phyllis ist ein
ehrbares Mädchen!"

Nun war er boshaft genug, mich mit meiner ehrbaren Heldin aufzuziehen
und, indem wir Französisch sprachen, mit dem "honnete" zu spielen, um
die Ehrbarkeit der Phyllis durch alle Bedeutungen durchzuführen.  Ich
fühlte das Lächerliche und war äußerst verwirrt.  Er, der mich nicht
furchtsam machen wollte, brach ab, brachte aber das Gespräch bei
andern Gelegenheiten wieder auf die Bahn.  Schauspiele und kleine
Geschichten, die ich bei ihm las und übersetzte, gaben ihm oft Anlaß
zu zeigen, was für ein schwacher Schutz die sogenannte Tugend gegen
die Aufforderungen eines Affekts sei.  Ich widersprach nicht mehr,
ärgerte mich aber immer heimlich, und seine Anmerkungen wurden mir zur
Last.

Mit meinem guten Damon kam ich auch nach und nach aus aller Verbindung.
Die Schikanen des Jüngern hatten unsern Umgang zerrissen.  Nicht
lange Zeit darauf starben beide blühende Jünglinge.  Es tat mir weh,
aber bald waren sie vergessen.

Phyllis wuchs nun schnell heran, war ganz gesund und fing an, die Welt
zu sehen.  Der Erbprinz vermählte sich und trat bald darauf nach dem
Tode seines Vaters die Regierung an.  Hof und Stadt waren in lebhafter
Bewegung.  Nun hatte meine Neugierde mancherlei Nahrung.  Nun gab es
Komödien, Bälle und was sich daran anschließt, und ob uns gleich die
Eltern soviel als möglich zurückhielten, so mußte man doch bei Hof, wo
ich eingeführt war, erscheinen.  Die Fremden strömten herbei, in allen
Häusern war große Welt, an uns selbst waren einige Kavaliere empfohlen
und andre introduziert, und bei meinem Oheim waren alle Nationen
anzutreffen.

Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich auf eine bescheidene und doch
treffende Weise zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich übel.
Ich war keinesweges von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt, und
vielleicht hatte ich auch damals recht, vielleicht hatte er unrecht,
die Frauen unter allen Umständen für so schwach zu halten; aber er
redete zugleich so zudringlich, daß mir einst bange wurde, er möchte
recht haben, da ich denn sehr lebhaft zu ihm sagte: "Weil die Gefahr
so groß und das menschliche Herz so schwach ist, so will ich Gott
bitten, daß er mich bewahre."

Die naive Antwort schien ihn zu freuen, er lobte meinen Vorsatz; aber
es war bei mir nichts weniger als ernstlich gemeint; diesmal war es
nur ein leeres Wort: denn die Empfindungen für den Unsichtbaren waren
bei mir fast ganz verloschen.  Der große Schwarm, mit dem ich umgeben
war, zerstreute mich und riß mich wie ein starker Strom mit fort.  Es
waren die leersten Jahre meines Lebens.  Tagelang von nichts zu reden,
keinen gesunden Gedanken zu haben und nur zu schwärmen, das war meine
Sache.  Nicht einmal der geliebten Bücher wurde gedacht.  Die Leute,
mit denen ich umgeben war, hatten keine Ahnung von Wissenschaften; es
waren deutsche Hofleute, und diese Klasse hatte damals nicht die
mindeste Kultur.

Ein solcher Umgang, sollte man denken, hätte mich an den Rand des
Verderbens führen müssen.  Ich lebte in sinnlicher Munterkeit nur so
hin, ich sammelte mich nicht, ich betete nicht, ich dachte nicht an
mich noch an Gott; aber ich sah es als eine Führung an, daß mir keiner
von den vielen schönen, reichen und wohlgekleideten Männern gefiel.
Sie waren liederlich und versteckten es nicht, das schreckte mich
zurück; ihr Gespräch zierten sie mit Zweideutigkeiten, das beleidigte
mich, und ich hielt mich kalt gegen sie; ihre Unart überstieg manchmal
allen Glauben, und ich erlaubte mir, grob zu sein.

überdies hatte mir mein Alter einmal vertraulich eröffnet, daß mit den
meisten dieser leidigen Bursche nicht allein die Tugend, sondern auch
die Gesundheit eines Mädchens in Gefahr sei.  Nun graute mir erst vor
ihnen, und ich war schon besorgt, wenn mir einer auf irgendeine Weise
zu nahe kam.  Ich hütete mich vor Gläsern und Tassen wie vor dem
Stuhle, von dem einer aufgestanden war.  Auf diese Weise war ich
moralisch und physisch sehr isoliert, und alle die Artigkeiten, die
sie mir sagten, nahm ich stolz für schuldigen Weihrauch auf.

Unter den Fremden, die sich damals bei uns aufhielten, zeichnete sich
ein junger Mann besonders aus, den wir im Scherz Narziß nannten.  Er
hatte sich in der diplomatischen Laufbahn guten Ruf erworben und
hoffte bei verschiedenen Veränderungen, die an unserm neuen Hofe
vorgingen, vorteilhaft plaziert zu werden.  Er ward mit meinem Vater
bald bekannt, und seine Kenntnisse und sein Betragen öffneten ihm den
Weg in eine geschlossene Gesellschaft der würdigsten Männer.  Mein
Vater sprach viel zu seinem Lobe, und seine schöne Gestalt hätte noch
mehr Eindruck gemacht, wenn sein ganzes Wesen nicht eine Art von
Selbstgefälligkeit gezeigt hätte.  Ich hatte ihn gesehen, dachte gut
von ihm, aber wir hatten uns nie gesprochen.

Auf einem großen Balle, auf dem er sich auch befand, tanzten wir eine
Menuett zusammen; auch das ging ohne nähere Bekanntschaft ab.  Als die
heftigen Tänze angingen, die ich meinem Vater zuliebe, der für meine
Gesundheit besorgt war, zu vermeiden pflegte, begab ich mich in ein
Nebenzimmer und unterhielt mich mit ältern Freundinnen, die sich zum
Spiele gesetzt hatten.



VI. Buch--2



Narziß, der eine Weile mit herumgesprungen war, kam auch einmal in
das Zimmer, in dem ich mich befand, und fing, nachdem er sich von
einem Nasenbluten, das ihn beim Tanzen überfiel, erholt hatte, mit mir
über mancherlei zu sprechen an.  Binnen einer halben Stunde war der
Diskurs so interessant, ob sich gleich keine Spur von Zärtlichkeit
dreinmischte, daß wir nun beide das Tanzen nicht mehr vertragen
konnten.  Wir wurden bald von den andern darüber geneckt, ohne daß wir
uns dadurch irremachen ließen.  Den andern Abend konnten wir unser
Gespräch wieder anknüpfen und schonten unsre Gesundheit sehr.

Nun war die Bekanntschaft gemacht.  Narziß wartete mir und meinen
Schwestern auf, und nun fing ich erst wieder an gewahr zu werden, was
ich alles wußte, worüber ich gedacht, was ich empfunden hatte und
worüber ich mich im Gespräche auszudrücken verstand.  Mein neuer
Freund, der von jeher in der besten Gesellschaft gewesen war, hatte
außer dem historischen und politischen Fache, das er ganz übersah,
sehr ausgebreitete literarische Kenntnisse, und ihm blieb nichts Neues,
besonders was in Frankreich herauskam, unbekannt.  Er brachte und
sendete mir manch angenehmes Buch, doch das mußte geheimer als ein
verbotenes Liebesverständnis gehalten werden.  Man hatte die gelehrten
Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten
nicht leiden, wahrscheinlich weil man für unhöflich hielt, so viel
unwissende Männer beschämen zu lassen.  Selbst mein Vater, dem diese
neue Gelegenheit, meinen Geist auszubilden, sehr erwünscht war,
verlangte ausdrücklich, daß dieses literarische Kommerz ein Geheimnis
bleiben sollte.

So währte unser Umgang beinahe Jahr und Tag, und ich konnte nicht
sagen, daß Narziß auf irgendeine Weise Liebe oder Zärtlichkeit gegen
mich geäußert hätte.  Er blieb artig und verbindlich, aber zeigte
keinen Affekt; vielmehr schien der Reiz meiner jüngsten Schwester, die
damals außerordentlich schön war, ihn nicht gleichgültig zu lassen.
Er gab ihr im Scherze allerlei freundliche Namen aus fremden Sprachen,
deren mehrere er sehr gut sprach und deren eigentümliche Redensarten
er gern ins deutsche Gespräch mischte.  Sie erwiderte seine
Artigkeiten nicht sonderlich; sie war von einem andern Fädchen
gebunden, und da sie überhaupt sehr rasch und er empfindlich war, so
wurden sie nicht selten über Kleinigkeiten uneins.  Mit der Mutter und
den Tanten wußte er sich gut zu halten, und so war er nach und nach
ein Glied der Familie geworden.

Wer weiß, wie lange wir noch auf diese Weise fortgelebt hätten, wären
durch einen sonderbaren Zufall unsere Verhältnisse nicht auf einmal
verändert worden.  Ich ward mit meinen Schwestern in ein gewisses Haus
gebeten, wohin ich nicht gerne ging.  Die Gesellschaft war zu gemischt,
und es fanden sich dort oft Menschen, wo nicht vom rohsten, doch vom
plattsten Schlage mit ein.  Diesmal war Narziß auch mit geladen, und
um seinetwillen war ich geneigt hinzugehen: denn ich war doch gewiß,
jemanden zu finden, mit dem ich mich auf meine Weise unterhalten
konnte.  Schon bei Tafel hatten wir manches auszustehen, denn einige
Männer hatten stark getrunken; nach Tische sollten und mußten Pfänder
gespielt werden.  Es ging dabei sehr rauschend und lebhaft zu.  Narziß
hatte ein Pfand zu lösen; man gab ihm auf, der ganzen Gesellschaft
etwas ins Ohr zu sagen, das jedermann angenehm wäre.  Er mochte sich
bei meiner Nachbarin, der Frau eines Hauptmanns, zu lange verweilen.
Auf einmal gab ihm dieser eine Ohrfeige, daß mir, die ich gleich daran
saß, der Puder in die Augen flog.  Als ich die Augen ausgewischt und
mich vom Schrecken einigermaßen erholt hatte, sah ich beide Männer mit
bloßen Degen.  Narziß blutete, und der andere, außer sich von Wein,
Zorn und Eifersucht, konnte kaum von der ganzen übrigen Gesellschaft
zurückgehalten werden.  Ich nahm Narzissen beim Arm und führte ihn zur
Türe hinaus, eine Treppe hinauf in ein ander Zimmer, und weil ich
meinen Freund vor seinem tollen Gegner nicht sicher glaubte, riegelte
ich die Türe sogleich zu.

Wir hielten beide die Wunde nicht für ernsthaft, denn wir sahen nur
einen leichten Hieb über die Hand; bald aber wurden wir einen Strom
von Blut, der den Rücken hinunterfloß, gewahr, und es zeigte sich eine
große Wunde auf dem Kopfe.  Nun ward mir bange.  Ich eilte auf den
Vorplatz, um nach Hülfe zu schicken, konnte aber niemand ansichtig
werden, denn alles war unten geblieben, den rasenden Menschen zu
bändigen.  Endlich kam eine Tochter des Hauses heraufgesprungen, und
ihre Munterkeit ängstigte mich nicht wenig, da sie sich über den
tollen Spektakel und über die verfluchte Komödie fast zu Tode lachen
wollte.  Ich bat sie dringend, mir einen Wundarzt zu schaffen, und sie,
nach ihrer wilden Art, sprang gleich die Treppe hinunter, selbst
einen zu holen.

Ich ging wieder zu meinem Verwundeten, band ihm mein Schnupftuch um
die Hand und ein Handtuch, das an der Türe hing, um den Kopf.  Er
blutete noch immer heftig: der Verwundete erblaßte und schien in
Ohnmacht zu sinken.  Niemand war in der Nähe, der mir hätte beistehen
können; ich nahm ihn sehr ungezwungen in den Arm und suchte ihn durch
Streicheln und Schmeicheln aufzumuntern.  Es schien die Wirkung eines
geistigen Heilmittels zu tun; er blieb bei sich, aber saß totenbleich
da.

Nun kam endlich die tätige Hausfrau, und wie erschrak sie, als sie den
Freund in dieser Gestalt in meinen Armen liegen und uns alle beide mit
Blut überströmt sah: denn niemand hatte sich vorgestellt, daß Narziß
verwundet sei; alle meinten, ich habe ihn glücklich hinausgebracht.

Nun war Wein, wohlriechendes Wasser, und was nur erquicken und
erfrischen konnte, im überfluß da, nun kam auch der Wundarzt, und ich
hätte wohl abtreten können; allein Narziß hielt mich fest bei der Hand,
und ich wäre, ohne gehalten zu werden, stehengeblieben.  Ich fuhr
während des Verbandes fort, ihn mit Wein anzustreichen, und achtete es
wenig, daß die ganze Gesellschaft nunmehr umherstand.  Der Wundarzt
hatte geendigt, der Verwundete nahm einen stummen, verbindlichen
Abschied von mir und wurde nach Hause getragen.

Nun führte mich die Hausfrau in ihr Schlafzimmer; sie mußte mich ganz
auskleiden, und ich darf nicht verschweigen, daß ich, da man sein Blut
von meinem Körper abwusch, zum erstenmal zufällig im Spiegel gewahr
wurde, daß ich mich auch ohne Hülle für schön halten durfte.  Ich
konnte keines meiner Kleidungsstücke wieder anziehn, und da die
Personen im Hause alle kleiner oder stärker waren als ich, so kam ich
in einer seltsamen Verkleidung zum größten Erstaunen meiner Eltern
nach Hause.  Sie waren über mein Schrecken, über die Wunden des
Freundes, über den Unsinn des Hauptmanns, über den ganzen Vorfall
äußerst verdrießlich.  Wenig fehlte, so hätte mein Vater selbst,
seinen Freund auf der Stelle zu rächen, den Hauptmann herausgefordert.
Er schalt die anwesenden Herren, daß sie ein solches meuchlerisches
Beginnen nicht auf der Stelle geahndet; denn es war nur zu offenbar,
daß der Hauptmann sogleich, nachdem er geschlagen, den Degen gezogen
und Narzissen von hinten verwundet habe; der Hieb über die Hand war
erst geführt worden, als Narziß selbst zum Degen griff.  Ich war
unbeschreiblich alteriert und affiziert, oder wie soll ich es
ausdrücken; der Affekt, der im tiefsten Grunde des Herzens ruhte, war
auf einmal losgebrochen wie eine Flamme, welche Luft bekömmt.  Und
wenn Lust und Freude sehr geschickt sind, die Liebe zuerst zu erzeugen
und im stillen zu nähren, so wird sie, die von Natur herzhaft ist,
durch den Schrecken am leichtesten angetrieben, sich zu entscheiden
und zu erklären.  Man gab dem Töchterchen Arznei ein und legte es zu
Bette.  Mit dem frühesten Morgen eilte mein Vater zu dem verwundeten
Freund, der an einem starken Wundfieber recht krank darniederlag.

Mein Vater sagte mir wenig von dem, was er mit ihm geredet hatte, und
suchte mich wegen der Folgen, die dieser Vorfall haben könnte, zu
beruhigen.  Es war die Rede, ob man sich mit einer Abbitte begnügen
könne, ob die Sache gerichtlich werden müsse, und was dergleichen mehr
war.  Ich kannte meinen Vater zu wohl, als daß ich ihm geglaubt hätte,
daß er diese Sache ohne Zweikampf geendigt zu sehen wünschte; allein
ich blieb still, denn ich hatte von meinem Vater früh gelernt, daß
Weiber in solche Händel sich nicht zu mischen hätten. übrigens schien
es nicht, als wenn zwischen den beiden Freunden etwas vorgefallen wäre,
das mich betroffen hätte; doch bald vertraute mein Vater den Inhalt
seiner weitern Unterredung meiner Mutter.  Narziß, sagte er, sei
äußerst gerührt von meinem geleisteten Beistand, habe ihn umarmt, sich
für meinen ewigen Schuldner erklärt, bezeigt, er verlange kein Glück,
wenn er es nicht mit mir teilen sollte; er habe sich die Erlaubnis
ausgebeten, ihn als Vater ansehn zu dürfen.  Mama sagte mir das alles
treulich wieder, hängte aber die wohlmeinende Erinnerung daran, auf so
etwas, das in der ersten Bewegung gesagt worden, dürfe man so sehr
nicht achten.  "Ja freilich", antwortete ich mit angenommener Kälte
und fühlte der Himmel weiß was und wieviel dabei.

Narziß blieb zwei Monate krank, konnte wegen der Wunde an der rechten
Hand nicht einmal schreiben, bezeigte mir aber inzwischen sein
Andenken durch die verbindlichste Aufmerksamkeit.  Alle diese mehr als
gewöhnlichen Höflichkeiten hielt ich mit dem, was ich von der Mutter
erfahren hatte, zusammen, und beständig war mein Kopf voller Grillen.
Die ganze Stadt unterhielt sich von der Begebenheit.  Man sprach mit
mir davon in einem besondern Tone, man zog Folgerungen daraus, die,
sosehr ich sie abzulehnen suchte, mir immer sehr nahegingen.  Was
vorher Tändelei und Gewohnheit gewesen war, ward nun Ernst und Neigung.
Die Unruhe, in der ich lebte, war um so heftiger, je sorgfältiger
ich sie vor allen Menschen zu verbergen suchte.  Der Gedanke, ihn zu
verlieren, erschreckte mich, und die Möglichkeit einer nähern
Verbindung machte mich zittern.  Der Gedanke des Ehestandes hat für
ein halbkluges Mädchen gewiß etwas Schreckhaftes.

Durch diese heftigen Erschütterungen ward ich wieder an mich selbst
erinnert.  Die bunten Bilder eines zerstreuten Lebens, die mir sonst
Tag und Nacht vor den Augen schwebten, waren auf einmal weggeblasen.
Meine Seele fing wieder an, sich zu regen; allein die sehr
unterbrochene Bekanntschaft mit dem unsichtbaren Freunde war so leicht
nicht wiederhergestellt.  Wir blieben noch immer in ziemlicher
Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen sonst ein großer
Unterschied.

Ein Zweikampf, worin der Hauptmann stark verwundet wurde, war vorüber,
ohne daß ich etwas davon erfahren hatte, und die öffentliche Meinung
war in jedem Sinne auf der Seite meines Geliebten, der endlich wieder
auf dem Schauplatze erschien.  Vor allen Dingen ließ er sich mit
verbundnem Haupt und eingewickelter Hand in unser Haus tragen.  Wie
klopfte mir das Herz bei diesem Besuche!  Die ganze Familie war
gegenwärtig; es blieb auf beiden Seiten nur bei allgemeinen
Danksagungen und Höflichkeiten; doch fand er Gelegenheit, mir einige
geheime Zeichen seiner Zärtlichkeit zu geben, wodurch meine Unruhe nur
zu sehr vermehrt ward.  Nachdem er sich völlig wieder erholt, besuchte
er uns den ganzen Winter auf ebendem Fuß wie ehemals, und bei allen
leisen Zeichen von Empfindung und Liebe, die er mir gab, blieb alles
unerörtert.

Auf diese Weise ward ich in steter übung gehalten.  Ich konnte mich
keinem Menschen vertrauen, und von Gott war ich zu weit entfernt.  Ich
hatte diesen während vier wilder Jahre ganz vergessen; nun dachte ich
dann und wann wieder an ihn, aber die Bekanntschaft war erkaltet; es
waren nur Zeremonienvisiten, die ich ihm machte, und da ich überdies,
wenn ich vor ihm erschien, immer schöne Kleider anlegte, meine Tugend,
Ehrbarkeit und Vorzüge, die ich vor andern zu haben glaubte, ihm mit
Zufriedenheit vorwies, so schien er mich in dem Schmucke gar nicht zu
bemerken.

Ein Höfling würde, wenn sein Fürst, von dem er sein Glück erwartet,
sich so gegen ihn betrüge, sehr beunruhigt werden; mir aber war nicht
übel dabei zumute.  Ich hatte, was ich brauchte, Gesundheit und
Bequemlichkeit; wollte sich Gott mein Andenken gefallen lassen, so war
es gut; wo nicht, so glaubte ich doch meine Schuldigkeit getan zu
haben.

So dachte ich freilich damals nicht von mir; aber es war doch die
wahrhafte Gestalt meiner Seele.  Meine Gesinnungen zu ändern und zu
reinigen, waren aber auch schon Anstalten gemacht.

Der Frühling kam heran, und Narziß besuchte mich unangemeldet zu einer
Zeit, da ich ganz allein zu Hause war.  Nun erschien er als Liebhaber
und fragte mich, ob ich ihm mein Herz und, wenn er eine ehrenvolle,
wohlbesoldete Stelle erhielte, auch dereinst meine Hand schenken
wollte.

Man hatte ihn zwar in unsre Dienste genommen; allein anfangs hielt man
ihn, weil man sich vor seinem Ehrgeiz fürchtete, mehr zurück, als daß
man ihn schnell emporgehoben hätte, und ließ ihn, weil er eignes
Vermögen hatte, bei einer kleinen Besoldung.

Bei aller meiner Neigung zu ihm wußte ich, daß er der Mann nicht war,
mit dem man ganz gerade handeln konnte.  Ich nahm mich daher zusammen
und verwies ihn an meinen Vater, an dessen Einwilligung er nicht zu
zweifeln schien und mit mir erst auf der Stelle einig sein wollte.
Endlich sagte ich ja, indem ich die Beistimmung meiner Eltern zur
notwendigen Bedingung machte.  Er sprach alsdann mit beiden förmlich;
sie zeigten ihre Zufriedenheit, man gab sich das Wort auf den bald zu
hoffenden Fall, daß man ihn weiter avancieren werde.  Schwestern und
Tanten wurden davon benachrichtigt und ihnen das Geheimnis auf das
strengste anbefohlen.

Nun war aus einem Liebhaber ein Bräutigam geworden.  Die
Verschiedenheit zwischen beiden zeigte sich sehr groß.  Könnte jemand
die Liebhaber aller wohldenkenden Mädchen in Bräutigame verwandeln, so
wäre es eine große Wohltat für unser Geschlecht, selbst wenn auf
dieses Verhältnis keine Ehe erfolgen sollte.  Die Liebe zwischen
beiden Personen nimmt dadurch nicht ab, aber sie wird vernünftiger.
Unzählige kleine Torheiten, alle Koketterien und Launen fallen gleich
hinweg. äußert uns der Bräutigam, daß wir ihm in einer Morgenhaube
besser als in dem schönsten Aufsatze gefallen, dann wird einem
wohldenkenden Mädchen gewiß die Frisur gleichgültig, und es ist nichts
natürlicher, als daß er auch solid denkt und lieber sich eine Hausfrau
als der Welt eine Putzdocke zu bilden wünscht.  Und so geht es durch
alle Fächer durch.

Hat ein solches Mädchen dabei das Glück, daß ihr Bräutigam Verstand
und Kenntnisse besitzt, so lernt sie mehr, als hohe Schulen und fremde
Länder geben können.  Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an, die er
ihr gibt, sondern sie sucht sich auch auf diesem Wege so immer
weiterzubringen.  Die Liebe macht vieles Unmögliche möglich, und
endlich geht die dem weiblichen Geschlecht so nötige und anständige
Unterwerfung sogleich an; der Bräutigam herrscht nicht wie der Ehemann;
er bittet nur, und seine Geliebte sucht ihm abzumerken, was er
wünscht, um es noch eher zu vollbringen, als er bittet.

So hat mich die Erfahrung gelehrt, was ich nicht um vieles missen
möchte.  Ich war glücklich, wahrhaft glücklich, wie man es in der Welt
sein kann, das heißt auf kurze Zeit.

Ein Sommer ging unter diesen stillen Freuden hin.  Narziß gab mir
nicht die mindeste Gelegenheit zu Beschwerden; er ward mir immer
lieber, meine ganze Seele hing an ihm, das wußte er wohl und wußte es
zu schätzen.  Inzwischen entspann sich aus anscheinenden Kleinigkeiten
etwas, das unserm Verhältnisse nach und nach schädlich wurde.

Narziß ging als Bräutigam mit mir um, und nie wagte er es, das von mir
zu begehren, was uns noch verboten war.  Allein über die Grenzen der
Tugend und Sittsamkeit waren wir sehr verschiedener Meinung.  Ich
wollte sichergehen und erlaubte durchaus keine Freiheit, als welche
allenfalls die ganze Welt hätte wissen dürfen.  Er, an Näschereien
gewöhnt, fand diese Diät sehr streng; hier setzte es nun beständigen
Widerspruch; er lobte mein Verhalten und suchte meinen Entschluß zu
untergraben.

Mir fiel das "ernsthaft" meines alten Sprachmeisters wieder ein und
zugleich das Hülfsmittel, das ich damals dagegen angegeben hatte.

Mit Gott war ich wieder ein wenig bekannter geworden.  Er hatte mir so
einen lieben Bräutigam gegeben, und dafür wußte ich ihm Dank.  Die
irdische Liebe selbst konzentrierte meinen Geist und setzte ihn in
Bewegung, und meine Beschäftigung mit Gott widersprach ihr nicht.
Ganz natürlich klagte ich ihm, was mich bange machte, und bemerkte
nicht, daß ich selbst das, was mich bange machte, wünschte und
begehrte.  Ich kam mir sehr stark vor und betete nicht etwa: "Bewahre
mich vor Versuchung!" über die Versuchung war ich meinen Gedanken nach
weit hinaus.  In diesem losen Flitterschmuck eigner Tugend erschien
ich dreist vor Gott; er stieß mich nicht weg; auf die geringste
Bewegung zu ihm hinterließ er einen sanften Eindruck in meiner Seele,
und dieser Eindruck bewegte mich, ihn immer wieder aufzusuchen.



VI. Buch--3



Die ganze Welt war mir außer Narzissen tot, nichts hatte außer ihm
einen Reiz für mich.  Selbst meine Liebe zum Putz hatte nur den Zweck,
ihm zu gefallen; wußte ich, daß er mich nicht sah, so konnte ich keine
Sorgfalt darauf wenden.  Ich tanzte gern; wenn er aber nicht dabei war,
so schien mir, als wenn ich die Bewegung nicht vertragen könnte.  Auf
ein brillantes Fest, bei dem er nicht zugegen war, konnte ich mir
weder etwas Neues anschaffen noch das Alte der Mode gemäß aufstutzen.
Einer war mir so lieb als der andere, doch möchte ich lieber sagen:
einer so lästig als der andere.  Ich glaubte meinen Abend recht gut
zugebracht zu haben, wenn ich mir mit ältern Personen ein Spiel
ausmachen konnte, wozu ich sonst nicht die mindeste Lust hatte, und
wenn ein alter, guter Freund mich etwa scherzhaft darüber aufzog,
lächelte ich vielleicht das erstemal den ganzen Abend.  So ging es mit
Promenaden und allen gesellschaftlichen Vergnügungen, die sich nur
denken lassen:


Ich hatt ihn einzig mir erkoren; Ich schien mir nur für ihn geboren,
Begehrte nichts als seine Gunst.


So war ich oft in der Gesellschaft einsam, und die völlige Einsamkeit
war mir meistens lieber.  Allein mein geschäftiger Geist konnte weder
schlafen noch träumen; ich fühlte und dachte und erlangte nach und
nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindungen und Gedanken mit Gott zu
reden.  Da entwickelten sich Empfindungen anderer Art in meiner Seele,
die jenen nicht widersprachen.  Denn meine Liebe zu Narziß war dem
ganzen Schöpfungsplane gemäß und stieß nirgend gegen meine Pflichten
an.  Sie widersprachen sich nicht und waren doch unendlich verschieden.
Narziß war das einzige Bild, das mir vorschwebte, auf das sich meine
ganze Liebe bezog; aber das andere Gefühl bezog sich auf kein Bild und
war unaussprechlich angenehm.  Ich habe es nicht mehr und kann es mir
nicht mehr geben.

Mein Geliebter, der sonst alle meine Geheimnisse wußte, erfuhr nichts
hiervon.  Ich merkte bald, daß er anders dachte; er gab mir öfters
Schriften, die alles, was man Zusammenhang mit dem Unsichtbaren heißen
kann, mit leichten und schweren Waffen bestritten.  Ich las die Bücher,
weil sie von ihm kamen, und wußte am Ende kein Wort von allem dem,
was darin gestanden hatte.

über Wissenschaften und Kenntnisse ging es auch nicht ohne Widerspruch
ab; er machte es wie alle Männer, spottete über gelehrte Frauen und
bildete unaufhörlich an mir. über alle Gegenstände, die
Rechtsgelehrsamkeit ausgenommen, pflegte er mit mir zu sprechen, und
indem er mir Schriften von allerlei Art beständig zubrachte,
wiederholte er oft die bedenkliche Lehre: daß ein Frauenzimmer sein
Wissen heimlicher halten müsse als der Kalvinist seinen Glauben im
katholischen Lande; und indem ich wirklich auf eine ganz natürliche
Weise vor der Welt mich nicht klüger und unterrichteter als sonst zu
zeigen pflegte, war er der erste, der gelegentlich der Eitelkeit nicht
widerstehen konnte, von meinen Vorzügen zu sprechen.

Ein berühmter und damals wegen seines Einflusses, seiner Talente und
seines Geistes sehr geschätzter Weltmann fand an unserm Hofe großen
Beifall.  Er zeichnete Narzissen besonders aus und hatte ihn beständig
um sich.  Sie stritten auch über die Tugend der Frauen.  Narziß
vertraute mir weitläufig ihre Unterredung; ich blieb mit meinen
Anmerkungen nicht dahinten, und mein Freund verlangte von mir einen
schriftlichen Aufsatz.  Ich schrieb ziemlich geläufig Französisch: ich
hatte bei meinem Alten einen guten Grund gelegt.  Die Korrespondenz
mit meinem Freunde war in dieser Sprache geführt, und eine feinere
Bildung konnte man überhaupt damals nur aus französischen Büchern
nehmen.  Mein Aufsatz hatte dem Grafen gefallen; ich mußte einige
kleine Lieder hergeben, die ich vor kurzem gedichtet hatte.  Genug,
Narziß schien sich auf seine Geliebte ohne Rückhalt etwas zugute zu
tun, und die Geschichte endigte zu seiner großen Zufriedenheit mit
einer geistreichen Epistel in französischen Versen, die ihm der Graf
bei seiner Abreise zusandte, worin ihres freundschaftlichen Streites
gedacht war und mein Freund am Ende glücklich gepriesen wurde, daß er,
nach so manchen Zweifeln und Irrtümern, in den Armen einer reizenden
und tugendhaften Gattin, was Tugend sei, am sichersten erfahren würde.

Dieses Gedicht ward mir vor allen und dann aber auch fast jedermann
gezeigt, und jeder dachte dabei, was er wollte.  So ging es in
mehreren Fällen, und so mußten alle Fremden, die er schätzte, in
unserm Hause bekannt werden.

Eine gräfliche Familie hielt sich wegen unsres geschickten Arztes eine
Zeitlang hier auf.  Auch in diesem Hause war Narziß wie ein Sohn
gehalten; er führte mich daselbst ein, man fand bei diesen würdigen
Personen eine angenehme Unterhaltung für Geist und Herz, und selbst
die gewöhnlichen Zeitvertreibe der Gesellschaft schienen in diesem
Hause nicht so leer wie anderwärts.  Jedermann wußte, wie wir zusammen
standen; man behandelte uns, wie es die Umstände mit sich brachten,
und ließ das Hauptverhältnis unberührt.  Ich erwähne dieser einen
Bekanntschaft, weil sie in der Folge meines Lebens manchen Einfluß auf
mich hatte.

Nun war fast ein Jahr unserer Verbindung verstrichen, und mit ihm war
auch unser Frühling dahin.  Der Sommer kam, und alles wurde
ernsthafter und heißer.

Durch einige unerwartete Todesfälle waren ämter erledigt, auf die
Narziß Anspruch machen konnte.  Der Augenblick war nahe, in dem sich
mein ganzes Schicksal entscheiden sollte, und indes Narziß und alle
Freunde sich bei Hofe die möglichste Mühe gaben, gewisse Eindrücke,
die ihm ungünstig waren, zu vertilgen und ihm den erwünschten Platz zu
verschaffen, wendete ich mich mit meinem Anliegen zu dem unsichtbaren
Freunde.  Ich ward so freundlich aufgenommen, daß ich gern wiederkam.
Ganz frei gestand ich meinen Wunsch, Narziß möchte zu der Stelle
gelangen; allein meine Bitte war nicht ungestüm, und ich forderte
nicht, daß es um meines Gebets willen geschehen sollte.

Die Stelle ward durch einen viel geringern Konkurrenten besetzt.  Ich
erschrak heftig über die Zeitung und eilte in mein Zimmer, das ich
fest hinter mir zumachte.  Der erste Schmerz löste sich in Tränen auf;
der nächste Gedanke war: Es ist aber doch nicht von ungefähr geschehen,
und sogleich folgte die Entschließung, es mir recht wohl gefallen zu
lassen, weil auch dieses anscheinende übel zu meinem wahren Besten
gereichen würde.  Nun drangen die sanftesten Empfindungen, die alle
Wolken des Kummers zerteilten, herbei; ich fühlte, daß sich mit dieser
Hülfe alles ausstehen ließ.  Ich ging heiter zu Tische, zum Erstaunen
meiner Hausgenossen.

Narziß hatte weniger Kraft als ich, und ich mußte ihn trösten.  Auch
in seiner Familie begegneten ihm Widerwärtigkeiten, die ihn sehr
drückten, und bei dem wahren Vertrauen, das unter uns statthatte,
vertraute er mir alles.  Seine Negoziationen, in fremde Dienste zu
gehen, waren auch nicht glücklicher; alles fühlte ich tief um seinet-
und meinetwillen, und alles trug ich zuletzt an den Ort, wo mein
Anliegen so wohl aufgenommen wurde.

Je sanfter diese Erfahrungen waren, desto öfter suchte ich sie zu
erneuern und den Trost immer da, wo ich ihn so oft gefunden hatte;
allein ich fand ihn nicht immer: es war mir wie einem, der sich an der
Sonne wärmen will und dem etwas im Wege steht, das Schatten macht.
"Was ist das?" fragte ich mich selbst.  Ich spürte der Sache eifrig
nach und bemerkte deutlich, daß alles von der Beschaffenheit meiner
Seele abhing; wenn die nicht ganz in der geradesten Richtung zu Gott
gekehrt war, so blieb ich kalt; ich fühlte seine Rückwirkung nicht und
konnte seine Antwort nicht vernehmen.  Nun war die zweite Frage: Was
verhindert diese Richtung?  Hier war ich in einem weiten Feld und
verwickelte mich in eine Untersuchung, die beinahe das ganze zweite
Jahr meiner Liebesgeschichte fortdauerte.  Ich hätte sie früher
endigen können, denn ich kam bald auf die Spur; aber ich wollte es
nicht gestehen und suchte tausend Ausflüchte.

Ich fand sehr bald, daß die gerade Richtung meiner Seele durch
törichte Zerstreuung und Beschäftigung mit unwürdigen Sachen gestört
werde; das Wie und Wo war mir bald klar genug.  Nun aber wie
herauskommen in einer Welt, wo alles gleichgültig oder toll ist?  Gern
hätte ich die Sache an ihren Ort gestellt sein lassen und hätte auf
Geratewohl hingelebt wie andere Leute auch, die ich ganz wohlauf sah;
allein ich durfte nicht: mein Inneres widersprach mir zu oft.  Wollte
ich mich der Gesellschaft entziehen und meine Verhältnisse verändern,
so konnte ich nicht.  Ich war nun einmal in einen Kreis hineingesperrt;
gewisse Verbindungen konnte ich nicht loswerden, und in der mir so
angelegenen Sache drängten und häuften sich die Fatalitäten.  Ich
legte mich oft mit Tränen zu Bette und stand nach einer schlaflosen
Nacht auch wieder so auf; ich bedurfte einer kräftigen Unterstützung,
und die verlieh mir Gott nicht, wenn ich mit der Schellenkappe
herumlief.

Nun ging es an ein Abwiegen aller und jeder Handlungen; Tanzen und
Spielen wurden am ersten in Untersuchung genommen.  Nie ist etwas für
oder gegen diese Dinge geredet, gedacht oder geschrieben worden, das
ich nicht aufsuchte, besprach, las, erwog, vermehrte, verwarf und mich
unerhört herumplagte.  Unterließ ich diese Dinge, so war ich gewiß,
Narzissen zu beleidigen; denn er fürchtete sich äußerst vor dem
Lächerlichen, das uns der Anschein ängstlicher Gewissenhaftigkeit vor
der Welt gibt.  Weil ich nun das, was ich für Torheit, für schädliche
Torheit hielt, nicht einmal aus Geschmack, sondern bloß um
seinetwillen tat, so wurde mir alles entsetzlich schwer.

Ohne unangenehme Weitläufigkeiten und Wiederholungen würde ich die
Bemühungen nicht darstellen können, welche ich anwendete, um jene
Handlungen, die mich nun einmal zerstreuten und meinen innern Frieden
störten, so zu verrichten, daß dabei mein Herz für die Einwirkungen
des unsichtbaren Wesens offenblieben und wie schmerzlich ich empfinden
mußte, daß der Streit auf diese Weise nicht beigelegt werden könne.
Denn sobald ich mich in das Gewand der Torheit kleidete, blieb es
nicht bloß bei der Maske, sondern die Narrheit durchdrang mich
sogleich durch und durch.

Darf ich hier das Gesetz einer bloß historischen Darstellung
überschreiten und einige Betrachtungen über dasjenige machen, was in
mir vorging?  Was konnte das sein, das meinen Geschmack und meine
Sinnesart so änderte, daß ich im zweiundzwanzigsten Jahre, ja früher,
kein Vergnügen an Dingen fand, die Leute von diesem Alter unschuldig
belustigen können?  Warum waren sie mir nicht unschuldig?  Ich darf
wohl antworten: eben weil sie mir nicht unschuldig waren, weil ich
nicht wie andre meinesgleichen unbekannt mit meiner Seele war.  Nein,
ich wußte aus Erfahrungen, die ich ungesucht erlangt hatte, daß es
höhere Empfindungen gebe, die uns ein Vergnügen wahrhaftig gewährten,
das man vergebens bei Lustbarkeiten sucht, und daß in diesen höhern
Freuden zugleich ein geheimer Schatz zur Stärkung im Unglück
aufbewahrt sei.

Aber die geselligen Vergnügungen und Zerstreuungen der Jugend mußten
doch notwendig einen starken Reiz für mich haben, weil es mir nicht
möglich war, sie zu tun, als täte ich sie nicht.  Wie manches könnte
ich jetzt mit großer Kälte tun, wenn ich nur wollte, was mich damals
irremachte, ja Meister über mich zu werden drohte.  Hier konnte kein
Mittelweg gehalten werden: ich mußte entweder die reizenden
Vergnügungen oder die erquickenden innerlichen Empfindungen entbehren.

Aber schon war der Streit in meiner Seele ohne mein eigentliches
Bewußtsein entschieden.  Wenn auch etwas in mir war, das sich nach den
sinnlichen Freuden hinsehnte, so konnte ich sie doch nicht mehr
genießen.  Wer den Wein noch so sehr liebt, dem wird alle Lust zum
Trinken vergehen, wenn er sich bei vollen Fässern in einem Keller
befände, in welchem die verdorbene Luft ihn zu ersticken drohte.
Reine Luft ist mehr als Wein, das fühlte ich nur zu lebhaft, und es
hätte gleich von Anfang an wenig überlegung bei mir gekostet, das Gute
dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich die Furcht, Narzissens Gunst zu
verlieren, nicht abgehalten hätte.  Aber da ich endlich nach
tausendfältigem Streit, nach immer wiederholter Betrachtung auch
scharfe Blicke auf das Band warf, das mich an ihm festhielt, entdeckte
ich, daß es nur schwach war, daß es sich zerreißen lasse.  Ich
erkannte auf einmal, daß es nur eine Glasglocke sei, die mich in den
luftleeren Raum sperrte; nur noch so viel Kraft, sie entzweizuschlagen,
und du bist gerettet!

Gedacht, gewagt.  Ich zog die Maske ab und handelte jedesmal, wie
mir's ums Herz war.  Narzissen hatte ich immer zärtlich lieb; aber das
Thermometer, das vorher im heißen Wasser gestanden, hing nun an der
natürlichen Luft; es konnte nicht höher steigen, als die Atmosphäre
warm war.

Unglücklicherweise erkältete sie sich sehr.  Narziß fing an, sich
zurückzuziehen und fremd zu tun; das stand ihm frei; aber mein
Thermometer fiel, so wie er sich zurückzog.  Meine Familie bemerkte es,
man befragte mich, man wollte sich verwundern.  Ich erklärte mit
männlichem Trotz, daß ich mich bisher genug aufgeopfert habe, daß ich
bereit sei, noch ferner und bis ans Ende meines Lebens alle
Widerwärtigkeiten mit ihm zu teilen; daß ich aber für meine Handlungen
völlige Freiheit verlange, daß mein Tun und Lassen von meiner
überzeugung abhängen müsse; daß ich zwar niemals eigensinnig auf
meiner Meinung beharren, vielmehr jede Gründe gerne anhören wolle,
aber da es mein eignes Glück betreffe, müsse die Entscheidung von mir
abhängen, und keine Art von Zwang würde ich dulden.  Sowenig das
Räsonnement des größten Arztes mich bewegen würde, eine sonst
vielleicht ganz gesunde und von vielen sehr geliebte Speise zu mir zu
nehmen, sobald mir meine Erfahrung bewiesen daß sie mir jederzeit
schädlich sei, wie ich den Gebrauch des Kaffees zum Beispiel anführen
könnte, sowenig und noch viel weniger würde ich mir irgend eine
Handlung, die mich verwirrte, als für mich moralisch zuträglich
aufdemonstrieren lassen.

Da ich mich so lange im stillen vorbereitet hatte, so waren mir die
Debatten hierüber eher angenehm als verdrießlich.  Ich machte meinem
Herzen Luft und fühlte den ganzen Wert meines Entschlusses.  Ich wich
nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kindlichen Respekt schuldig
war, der wurde derb abgefertigt.  In meinem Hause siegte ich bald.
Meine Mutter hatte von Jugend auf ähnliche Gesinnungen, nur waren sie
bei ihr nicht zur Reife gediehen; keine Not hatte sie gedrängt und den
Mut, ihre überzeugung durchzusetzen, erhöht.  Sie freute sich, durch
mich ihre stillen Wünsche erfüllt zu sehen.  Die jüngere Schwester
schien sich an mich anzuschließen; die zweite war aufmerksam und still.
Die Tante hatte am meisten einzuwenden.  Die Gründe, die sie
vorbrachte, schienen ihr unwiderleglich und waren es auch, weil sie
ganz gemein waren.  Ich war endlich genötigt, ihr zu zeigen, daß sie
in keinem Sinne eine Stimme in dieser Sache habe, und sie ließ nur
selten merken, daß sie auf ihrem Sinne verharre.  Auch war sie die
einzige, die diese Begebenheit von nahem ansah und ganz ohne
Empfindung blieb.  Ich tue ihr nicht zuviel, wenn ich sage, daß sie
kein Gemüt und die eingeschränktesten Begriffe hatte.

Der Vater benahm sich ganz seiner Denkart gemäß.  Er sprach weniges,
aber öfter mit mir über die Sache, und seine Gründe waren verständig
und als seine Gründe unwiderleglich; nur das tiefe Gefühl meines
Rechts gab mir Stärke, gegen ihn zu disputieren.  Aber bald
veränderten sich die Szenen; ich mußte an sein Herz Anspruch machen.
Gedrängt von seinem Verstande, brach ich in die affektvollsten
Vorstellungen aus.  Ich ließ meiner Zunge und meinen Tränen freien
Lauf.  Ich zeigte ihm, wie sehr ich Narzissen liebte und welchen Zwang
ich mir seit zwei Jahren angetan hatte, wie gewiß ich sei, daß ich
recht handle, daß ich bereit sei, diese Gewißheit mit dem Verlust des
geliebten Bräutigams und anscheinenden Glücks, ja wenn es nötig wäre,
mit Hab und Gut zu versiegeln; daß ich lieber mein Vaterland, Eltern
und Freunde verlassen und mein Brot in der Fremde verdienen als gegen
meine Einsichten handeln wolle.  Er verbarg seine Rührung, schwieg
einige Zeit stille und erklärte sich endlich öffentlich für mich.

Narziß vermied seit jener Zeit unser Haus, und nun gab mein Vater die
wöchentliche Gesellschaft auf, in der sich dieser befand.  Die Sache
machte Aufsehn bei Hofe und in der Stadt.  Man sprach darüber wie
gewöhnlich in solchen Fällen, an denen das Publikum heftigen Teil zu
nehmen pflegt, weil es verwöhnt ist, auf die Entschließungen schwacher
Gemüter einigen Einfluß zu haben.  Ich kannte die Welt genug und wußte,
daß man oft von ebenden Personen über das getadelt wird, wozu man
sich durch sie hat bereden lassen, und auch ohne das würden mir bei
meiner innern Verfassung alle solche vorübergehende Meinungen weniger
als nichts gewesen sein.



VI. Buch--4



Dagegen versagte ich mir nicht, meiner Neigung zu Narzissen
nachzuhängen.  Er war mir unsichtbar geworden, und mein Herz hatte
sich nicht gegen ihn geändert.  Ich liebte ihn zärtlich, gleichsam auf
das neue und viel gesetzter als vorher.  Wollte er meine überzeugung
nicht stören, so war ich die Seine; ohne diese Bedingung hätte ich ein
Königreich mit ihm ausgeschlagen.  Mehrere Monate lang trug ich diese
Empfindungen und Gedanken mit mir herum, und da ich mich endlich still
und stark genug fühlte, um ruhig und gesetzt zu Werke zu gehen, so
schrieb ich ihm ein höfliches, nicht zärtliches Billett und fragte ihn,
warum er nicht mehr zu mir komme.

Da ich seine Art kannte, sich selbst in geringern Dingen nicht gern zu
erklären, sondern stillschweigend zu tun, was ihm gut deuchte, so
drang ich gegenwärtig mit Vorsatz in ihn.  Ich erhielt eine lange und,
wie mir schien, abgeschmackte Antwort in einem weitläufigen Stil und
unbedeutenden Phrasen: daß er ohne bessere Stellen sich nicht
einrichten und mir seine Hand anbieten könne, daß ich am besten wisse,
wie hinderlich es ihm bisher gegangen, daß er glaube, ein so lang
fortgesetzter fruchtloser Umgang könne meiner Renommee schaden, ich
würde ihm erlauben, sich in der bisherigen Entfernung zu halten;
sobald er imstande wäre, mich glücklich zu machen, würde ihm das Wort,
das er mir gegeben, heilig sein.

Ich antwortete ihm auf der Stelle: da die Sache aller Welt bekannt sei,
möge es zu spät sein, meine Renommee zu menagieren, und für diese
wären mir mein Gewissen und meine Unschuld die sichersten Bürgen; ihm
aber gäbe ich hiermit sein Wort ohne Bedenken zurück und wünschte, daß
er dabei sein Glück finden möchte.  In ebender Stunde erhielt ich eine
kurze Antwort, die im wesentlichen mit der ersten völlig gleichlautend
war.  Er blieb dabei, daß er nach erhaltener Stelle bei mir anfragen
würde, ob ich sein Glück mit ihm teilen wollte.

Mir hieß das nun soviel als nichts gesagt.  Ich erklärte meinen
Verwandten und Bekannten, die Sache sei abgetan, und sie war es auch
wirklich.  Denn als er neun Monate hernach auf das erwünschteste
befördert wurde, ließ er mir seine Hand nochmals antragen, freilich
mit der Bedingung, daß ich als Gattin eines Mannes, der ein Haus
machen müßte, meine Gesinnungen würde zu ändern haben.  Ich dankte
höflich und eilte mit Herz und Sinn von dieser Geschichte weg, wie man
sich aus dem Schauspielhause heraussehnt, wenn der Vorhang gefallen
ist.  Und da er kurze Zeit darauf, wie es ihm nun sehr leicht war,
eine reiche und ansehnliche Partie gefunden hatte und ich ihn nach
seiner Art glücklich wußte, so war meine Beruhigung ganz vollkommen.

Ich darf nicht mit Stillschweigen übergehen, daß einigemal, noch eh er
eine Bedienung erhielt, auch nachher, ansehnliche Heiratsanträge an
mich getan wurden, die ich aber ganz ohne Bedenken ausschlug, sosehr
Vater und Mutter mehr Nachgiebigkeit von meiner Seite gewünscht hätten.


Nun schien mir nach einem stürmischen März und April das schönste
Maiwetter beschert zu sein.  Ich genoß bei einer guten Gesundheit eine
unbeschreibliche Gemütsruhe; ich mochte mich umsehen, wie ich wollte,
so hatte ich bei meinem Verluste noch gewonnen.  Jung und voll
Empfindung, wie ich war, deuchte mir die Schöpfung tausendmal schöner
als vorher, da ich Gesellschaften und Spiele haben mußte, damit mir
die Weile in dem schönen Garten nicht zu lang wurde.  Da ich mich
einmal meiner Frömmigkeit nicht schämte, so hatte ich Herz, meine
Liebe zu Künsten und Wissenschaften nicht zu verbergen.  Ich zeichnete,
malte, las und fand Menschen genug, die mich unterstützten; statt der
großen Welt, die ich verlassen hatte, oder vielmehr die mich verließ,
bildete sich eine kleinere um mich her, die weit reicher und
unterhaltender war.  Ich hatte eine Neigung zum gesellschaftlichen
Leben, und ich leugne nicht, daß mir, als ich meine ältern
Bekanntschaften aufgab, vor der Einsamkeit grauete.  Nun fand ich mich
hinlänglich, ja vielleicht zu sehr entschädigt.  Meine Bekanntschaften
wurden erst recht weitläufig, nicht nur mit Einheimischen, deren
Gesinnungen mit den meinigen übereinstimmten, sondern auch mit Fremden.
Meine Geschichte war ruchtbar geworden, und es waren viele Menschen
neugierig, das Mädchen zu sehen, die Gott mehr schätzte als ihren
Bräutigam.  Es war damals überhaupt eine gewisse religiöse Stimmung in
Deutschland bemerkbar.  In mehreren fürstlichen und gräflichen Häusern
war eine Sorge für das Heil der Seele lebendig.  Es fehlte nicht an
Edelleuten, die gleiche Aufmerksamkeit hegten, und in den geringern
Ständen war durchaus diese Gesinnung verbreitet.

Die gräfliche Familie, deren ich oben erwähnt, zog mich nun näher an
sich.  Sie hatte sich indessen verstärkt, indem sich einige Verwandte
in die Stadt gewendet hatten.  Diese schätzbaren Personen suchten
meinen Umgang wie ich den ihrigen.  Sie hatten große Verwandtschaft,
und ich lernte in diesem Hause einen großen Teil der Fürsten, Grafen
und Herren des Reichs kennen.  Meine Gesinnungen waren niemanden ein
Geheimnis, und man mochte sie ehren oder auch nur schonen, so erlangte
ich doch meinen Zweck und blieb ohne Anfechtung.

Noch auf eine andere Weise sollte ich wieder in die Welt geführt
werden.  Zu eben der Zeit verweilte ein Stiefbruder meines Vaters, der
uns sonst nur im Vorbeigehn besucht hatte, länger bei uns.  Er hatte
die Dienste seines Hofes, wo er geehrt und von Einfluß war, nur
deswegen verlassen, weil nicht alles nach seinem Sinne ging.  Sein
Verstand war richtig und sein Charakter streng, und er war darin
meinem Vater sehr ähnlich; nur hatte dieser dabei einen gewissen Grad
von Weichheit, wodurch ihm leichter ward, in Geschäften nachzugeben
und etwas gegen seine überzeugung nicht zu tun, aber geschehen zu
lassen und den Unwillen darüber alsdann entweder in der Stille für
sich oder vertraulich mit seiner Familie zu verkochen.  Mein Oheim war
um vieles jünger, und seine Selbständigkeit ward durch seine äußern
Umstände nicht wenig bestätigt.  Er hatte eine sehr reiche Mutter
gehabt und hatte von ihren nahen und fernen Verwandten noch ein großes
Vermögen zu hoffen; er bedurfte keines fremden Zuschusses, anstatt daß
mein Vater bei seinem mäßigen Vermögen durch Besoldung an den Dienst
fest geknüpft war.

Noch unbiegsamer war mein Oheim durch häusliches Unglück geworden.  Er
hatte eine liebenswürdige Frau und einen hoffnungsvollen Sohn früh
verloren, und er schien von der Zeit an alles von sich entfernen zu
wollen, was nicht von seinem Willen abhing.

In der Familie sagte man sich gelegentlich mit einiger
Selbstgefälligkeit in die Ohren, daß er wahrscheinlich nicht wieder
heiraten werde und daß wir Kinder uns schon als Erben seines großen
Vermögens ansehen könnten.  Ich achtete nicht weiter darauf; allein
das Betragen der übrigen ward nach diesen Hoffnungen nicht wenig
gestimmt.  Bei der Festigkeit seines Charakters hatte er sich gewöhnt,
in der Unterredung niemand zu widersprechen, vielmehr die Meinung
eines jeden freundlich anzuhören und die Art, wie sich jeder eine
Sache dachte, noch selbst durch Argumente und Beispiele zu erheben.
Wer ihn nicht kannte, glaubte stets mit ihm einerlei Meinung zu sein;
denn er hatte einen überwiegenden Verstand und konnte sich in alle
Vorstellungsarten versetzen.  Mit mir ging es ihm nicht so glücklich,
denn hier war von Empfindungen die Rede, von denen er gar keine Ahnung
hatte, und so schonend, teilnehmend und verständig er mit mir über
meine Gesinnungen sprach, so war es mir doch auffallend, daß er von
dem, worin der Grund aller meiner Handlungen lag, offenbar keinen
Begriff hatte.

So geheim er übrigens war, entdeckte sich doch der Endzweck seines
ungewöhnlichen Aufenthalts bei uns nach einiger Zeit.  Er hatte, wie
man endlich bemerken konnte, sich unter uns die jüngste Schwester
ausersehen, um sie nach seinem Sinne zu verheiraten und glücklich zu
machen; und gewiß, sie konnte nach ihren körperlichen und geistigen
Gaben, besonders wenn sich ein ansehnliches Vermögen noch mit auf die
Schale legte, auf die ersten Partien Anspruch machen.  Seine
Gesinnungen gegen mich gab er gleichfalls pantomimisch zu erkennen,
indem er mir den Platz einer Stiftsdame verschaffte, wovon ich sehr
bald auch die Einkünfte zog.

Meine Schwester war mit seiner Fürsorge nicht so zufrieden und nicht
so dankbar wie ich.  Sie entdeckte mir eine Herzensangelegenheit, die
sie bisher sehr weislich verborgen hatte: denn sie fürchtete wohl, was
auch wirklich geschah, daß ich ihr auf alle mögliche Weise die
Verbindung mit einem Manne, der ihr nicht hätte gefallen sollen,
widerraten würde.  Ich tat mein möglichstes, und es gelang mir.  Die
Absichten des Oheims waren zu ernsthaft und zu deutlich und die
Aussicht für meine Schwester bei ihrem Weltsinne zu reizend, als daß
sie nicht eine Neigung, die ihr Verstand selbst mißbilligte,
aufzugeben Kraft hätte haben sollen.

Da sie nun den sanften Leitungen des Oheims nicht mehr wie bisher
auswich, so war der Grund zu seinem Plane bald gelegt.  Sie ward
Hofdame an einem benachbarten Hofe, wo er sie einer Freundin, die als
Oberhofmeisterin in großem Ansehn stand, zur Aufsicht und Ausbildung
übergeben konnte.  Ich begleitete sie zu dem Ort ihres neuen
Aufenthaltes.  Wir konnten beide mit der Aufnahme, die wir erfuhren,
sehr zufrieden sein, und manchmal mußte ich über die Person, die ich
nun als Stiftsdame, als junge und fromme Stiftsdame, in der Welt
spielte, heimlich lächeln.

In frühern Zeiten würde ein solches Verhältnis mich sehr verwirrt, ja
mir vielleicht den Kopf verrückt haben; nun aber war ich bei allem,
was mich umgab, sehr gelassen.  Ich ließ mich in großer Stille ein
paar Stunden frisieren, putzte mich und dachte nichts dabei, als daß
ich in meinem Verhältnisse diese Galalivree anzuziehen schuldig sei.
In den angefüllten Sälen sprach ich mit allen und jeden, ohne daß mir
irgendeine Gestalt oder ein Wesen einen starken Eindruck
zurückgelassen hätte.  Wenn ich wieder nach Hause kam, waren müde
Beine meist alles Gefühl, was ich mit zurückbrachte.  Meinem Verstande
nützten die vielen Menschen, die ich sah; und als Muster aller
menschlichen Tugenden, eines guten und edlen Betragens lernte ich
einige Frauen, besonders die Oberhofmeisterin, kennen, unter der meine
Schwester sich zu bilden das Glück hatte.

Doch fühlte ich bei meiner Rückkunft nicht so glückliche körperliche
Folgen von dieser Reise.  Bei der größten Enthaltsamkeit und der
genausten Diät war ich doch nicht wie sonst Herr von meiner Zeit und
meinen Kräften.  Nahrung, Bewegung, Aufstehn und Schlafengehn,
Ankleiden und Ausfahren hing nicht wie zu Hause von meinem Willen und
meinem Empfinden ab.  Im Laufe des geselligen Kreises darf man nicht
stocken, ohne unhöflich zu sein, und alles, was nötig war, leistete
ich gern, weil ich es für Pflicht hielt, weil ich wußte, daß es bald
vorübergehen würde, und weil ich mich gesunder als jemals fühlte.
Dessenungeachtet mußte dieses fremde, unruhige Leben auf mich stärker,
als ich fühlte, gewirkt haben.  Denn kaum war ich zu Hause angekommen
und hatte meine Eltern mit einer befriedigenden Erzählung erfreut, so
überfiel mich ein Blutsturz, der, ob er gleich nicht gefährlich war
und schnell vorüberging, doch lange Zeit eine merkliche Schwachheit
hinterließ.

Hier hatte ich nun wieder eine neue Lektion aufzusagen.  Ich tat es
freudig.  Nichts fesselte mich an die Welt, und ich war überzeugt, daß
ich hier das Rechte niemals finden würde, und so war ich in dem
heitersten und ruhigsten Zustande und ward, indem ich Verzicht aufs
Leben getan hatte, beim Leben erhalten.

Eine neue Prüfung hatte ich auszustehen, da meine Mutter mit einer
drückenden Beschwerde überfallen wurde, die sie noch fünf Jahre trug,
ehe sie die Schuld der Natur bezahlte.  In dieser Zeit gab es manche
übung.  Oft, wenn ihr die Bangigkeit zu stark wurde, ließ sie uns des
Nachts alle vor ihr Bette rufen, um wenigstens durch unsre Gegenwart
zerstreut, wo nicht gebessert zu werden.  Schwerer, ja kaum zu tragen
war der Druck, als mein Vater auch elend zu werden anfing.  Von Jugend
auf hatte er öfters heftige Kopfschmerzen, die aber aufs längste nur
sechsunddreißig Stunden anhielten.  Nun aber wurden sie bleibend, und
wenn sie auf einen hohen Grad stiegen, so zerriß der Jammer mir das
Herz.  Bei diesen Stürmen fühlte ich meine körperliche Schwäche am
meisten, weil sie mich hinderte, meine heiligsten, liebsten Pflichten
zu erfüllen, oder mir doch ihre Ausübung äußerst beschwerlich machte.

Nun konnte ich mich prüfen, ob auf dem Wege, den ich eingeschlagen,
Wahrheit oder Phantasie sei, ob ich vielleicht nur nach andern gedacht
oder ob der Gegenstand meines Glaubens eine Realität habe, und zu
meiner größten Unterstützung fand ich immer das letztere.  Die gerade
Richtung meines Herzens zu Gott, den Umgang mit den "beloved ones"
hatte ich gesucht und gefunden, und das war, was mir alles
erleichterte.  Wie der Wanderer in den Schatten, so eilte meine Seele
nach diesem Schutzort, wenn mich alles von außen drückte, und kam
niemals leer zurück.

In der neuern Zeit haben einige Verfechter der Religion, die mehr
Eifer als Gefühl für dieselbe zu haben scheinen, ihre Mitgläubigen
aufgefordert, Beispiele von wirklichen Gebetserhörungen
bekanntzumachen, wahrscheinlich weil sie sich Brief und Siegel
wünschten, um ihren Gegnern recht diplomatisch und juristisch zu Leibe
zu gehen.  Wie unbekannt muß ihnen das wahre Gefühl sein, und wie
wenig echte Erfahrungen mögen sie selbst gemacht haben!

Ich darf sagen, ich kam nie leer zurück, wenn ich unter Druck und Not
Gott gesucht hatte.  Es ist unendlich viel gesagt, und doch kann und
darf ich nicht mehr sagen.  So wichtig jede Erfahrung in dem
kritischen Augenblicke für mich war, so matt, so unbedeutend,
unwahrscheinlich würde die Erzählung werden, wenn ich einzelne Fälle
anführen wollte.  Wie glücklich war ich, daß tausend kleine Vorgänge
zusammen, so gewiß als das Atemholen Zeichen meines Lebens ist, mir
bewiesen, daß ich nicht ohne Gott auf der Welt sei.  Er war mir nahe,
ich war vor ihm.  Das ist's, was ich mit geflissentlicher Vermeidung
aller theologischen Systemsprache mit größter Wahrheit sagen kann.

Wie sehr wünschte ich, daß ich mich auch damals ganz ohne System
befunden hätte; aber wer kommt früh zu dem Glücke, sich seines eignen
Selbsts, ohne fremde Formen, in reinem Zusammenhang bewußt zu sein?
Mir war es Ernst mit meiner Seligkeit.  Bescheiden vertraute ich
fremdem Ansehn; ich ergab mich völlig dem Hallischen Bekehrungssystem,
und mein ganzes Wesen wollte auf keine Wege hineinpassen.

Nach diesem Lehrplan muß die Veränderung des Herzens mit einem tiefen
Schrecken über die Sünde anfangen; das Herz muß in dieser Not bald
mehr, bald weniger die verschuldete Strafe erkennen und den Vorschmack
der Hölle kosten, der die Lust der Sünde verbittert.  Endlich muß man
eine sehr merkliche Versicherung der Gnade fühlen, die aber im
Fortgange sich oft versteckt und mit Ernst wieder gesucht werden muß.

Das alles traf bei mir weder nahe noch ferne zu.  Wenn ich Gott
aufrichtig suchte, so ließ er sich finden und hielt mir von
vergangenen Dingen nichts vor.  Ich sah hintennach wohl ein, wo ich
unwürdig gewesen, und wußte auch, wo ich es noch war; aber die
Erkenntnis meiner Gebrechen war ohne alle Angst.  Nicht einen
Augenblick ist mir eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja die Idee
eines bösen Geistes und eines Straf- und Quälortes nach dem Tode
konnte keinesweges in dem Kreise meiner Ideen Platz finden.  Ich fand
die Menschen, die ohne Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und der
Liebe gegen den Unsichtbaren zugeschlossen war, schon so unglücklich,
daß eine Hölle und äußere Strafen mir eher für sie eine Linderung zu
versprechen als eine Schärfung der Strafe zu drohen schienen.  Ich
durfte nur Menschen auf dieser Welt ansehen, die gehässigen Gefühlen
in ihrem Busen Raum geben, die sich gegen das Gute von irgendeiner Art
verstecken und sich und andern das Schlechte aufdringen wollen, die
lieber bei Tage die Augen zuschließen, um nur behaupten zu können, die
Sonne gebe keinen Schein von sich--wie über allen Ausdruck schienen
mir diese Menschen elend!  Wer hätte eine Hölle schaffen können, um
ihren Zustand zu verschlimmern!

Diese Gemütsbeschaffenheit blieb mir, einen Tag wie den andern, zehn
Jahre lang.  Sie erhielt sich durch viele Proben, auch am
schmerzhaften Sterbebette meiner geliebten Mutter.  Ich war offen
genug, um bei dieser Gelegenheit meine heitere Gemütsverfassung
frommen, aber ganz schulgerechten Leuten nicht zu verbergen, und ich
mußte darüber manchen freundschaftlichen Verweis erdulden.  Man meinte
mir eben zur rechten Zeit vorzustellen, welchen Ernst man anzuwenden
hätte, um in gesunden Tagen einen guten Grund zu legen.

An Ernst wollte ich es auch nicht fehlen lassen.  Ich ließ mich für
den Augenblick überzeugen und wäre um mein Leben gern traurig und voll
Schrecken gewesen.  Wie verwundert war ich aber, da es ein für allemal
nicht möglich war.  Wenn ich an Gott dachte, war ich heiter und
vergnügt; auch bei meiner lieben Mutter schmerzensvollem Ende graute
mir vor dem Tode nicht.  Doch lernte ich vieles und ganz andere Sachen,
als meine unberufenen Lehrmeister glaubten, in diesen großen Stunden.



VI. Buch--5



Nach und nach ward ich an den Einsichten so mancher hochberühmten
Leute zweifelhaft und bewahrte meine Gesinnungen in der Stille.  Eine
gewisse Freundin, der ich erst zuviel eingeräumt hatte, wollte sich
immer in meine Angelegenheiten mengen; auch von dieser war ich
genötigt mich loszumachen, und einst sagte ich ihr ganz entschieden,
sie solle ohne Mühe bleiben, ich brauche ihren Rat nicht; ich kenne
meinen Gott und wolle ihn ganz allein zum Führer haben.  Sie fand sich
sehr beleidigt, und ich glaube, sie hat mir's nie ganz verziehen.

Dieser Entschluß, mich dem Rate und der Einwirkung meiner Freunde in
geistlichen Sachen zu entziehen, hatte die Folge, daß ich auch in
äußerlichen Verhältnissen meinen eigenen Weg zu gehen Mut gewann.
Ohne den Beistand meines treuen unsichtbaren Führers hätte es mir übel
geraten können, und noch muß ich über diese weise und glückliche
Leitung erstaunen.  Niemand wußte eigentlich, worauf es bei mir ankam,
und ich wußte es selbst nicht.

Das Ding, das noch nie erklärte böse Ding, das uns von dem Wesen
trennt, dem wir das Leben verdanken, von dem Wesen, aus dem alles, was
Leben genannt werden soll, sich unterhalten muß, das Ding, das man
Sünde nennt, kannte ich noch gar nicht.

In dem Umgange mit dem unsichtbaren Freunde fühlte ich den süßesten
Genuß aller meiner Lebenskräfte.  Das Verlangen, dieses Glück immer zu
genießen, war so groß, daß ich gern unterließ, was diesen Umgang
störte, und hierin war die Erfahrung mein bester Lehrmeister.  Allein
es ging mir wie Kranken, die keine Arznei haben und sich mit der Diät
zu helfen suchen.  Es tut etwas, aber lange nicht genug.

In der Einsamkeit konnte ich nicht immer bleiben, ob ich gleich in ihr
das beste Mittel gegen die mir so eigene Zerstreuung der Gedanken fand.
Kam ich nachher in Getümmel, so machte es einen desto größern
Eindruck auf mich.  Mein eigentlichster Vorteil bestand darin, daß die
Liebe zur Stille herrschend war und ich mich am Ende immer dahin
wieder zurückzog.  Ich erkannte, wie in einer Art von Dämmerung, mein
Elend und meine Schwäche, und ich suchte mir dadurch zu helfen, daß
ich mich schonte, daß ich mich nicht aussetzte.

Sieben Jahre lang hatte ich meine diätetische Vorsicht ausgeübt.  Ich
hielt mich nicht für schlimm und fand meinen Zustand wünschenswert.
Ohne sonderbare Umstände und Verhältnisse wäre ich auf dieser Stufe
stehengeblieben, und ich kam nur auf einem sonderbaren Wege weiter.
Gegen den Rat aller meiner Freunde knüpfte ich ein neues Verhältnis an.
Ihre Einwendungen machten mich anfangs stutzig.  Sogleich wandte ich
mich an meinen unsichtbaren Führer, und da dieser es mir vergönnte,
ging ich ohne Bedenken auf meinem Wege fort.

Ein Mann von Geist, Herz und Talenten hatte sich in der Nachbarschaft
angekauft.  Unter den Fremden, die ich kennenlernte, war auch er und
seine Familie.  Wir stimmten in unsern Sitten, Hausverfassungen und
Gewohnheiten sehr überein und konnten uns daher bald aneinander
anschließen.

Philo, so will ich ihn nennen, war schon in gewissen Jahren und meinem
Vater, dessen Kräfte abzunehmen anfingen, in gewissen Geschäften von
der größten Beihülfe.  Er ward bald der innige Freund unsers Hauses,
und da er, wie er sagte, an mir eine Person fand, die nicht das
Ausschweifende und Leere der großen Welt und nicht das Trockne und
ängstliche der "Stillen im Lande" habe, so waren wir bald vertraute
Freunde.  Er war mir sehr angenehm und sehr brauchbar.

Ob ich gleich nicht die mindeste Anlage noch Neigung hatte, mich in
weltliche Geschäfte zu mischen und irgendeinen Einfluß zu suchen, so
hörte ich doch gerne davon und wußte gern, was in der Nähe und Ferne
vorging.  Von weltlichen Dingen liebte ich mir eine gefühllose
Deutlichkeit zu verschaffen; Empfindung, Innigkeit, Neigung bewahrte
ich für meinen Gott, für die Meinigen und für meine Freunde.

Diese letzten waren, wenn ich so sagen darf, auf meine neue Verbindung
mit Philo eifersüchtig und hatten dabei von mehr als einer Seite recht,
wenn sie mich hierüber warnten.  Ich litt viel in der Stille, denn
ich konnte selbst ihre Einwendungen nicht ganz für leer oder
eigennützig halten.  Ich war von jeher gewohnt, meine Einsichten
unterzuordnen, und doch wollte diesmal meine überzeugung nicht nach.
Ich flehte zu meinem Gott, auch hier mich zu warnen, zu hindern, zu
leiten, und da mich hierauf mein Herz nicht abmahnte, so ging ich
meinen Pfad getrost fort.

Philo hatte im ganzen eine entfernte ähnlichkeit mit Narzissen; nur
hatte eine fromme Erziehung sein Gefühl mehr zusammengehalten und
belebt.  Er hatte weniger Eitelkeit, mehr Charakter, und wenn jener in
weltlichen Geschäften fein, genau, anhaltend und unermüdlich war, so
war dieser klar, scharf, schnell und arbeitete mit einer unglaublichen
Leichtigkeit.  Durch ihn erfuhr ich die innersten Verhältnisse fast
aller der vornehmen Personen, deren äußeres ich in der Gesellschaft
hatte kennenlernen, und ich war froh, von meiner Warte dem Getümmel
von weiten zuzusehen.  Philo konnte mir nichts mehr verhehlen: er
vertraute mir nach und nach seine äußern und innern Verbindungen.  Ich
fürchtete für ihn, denn ich sah gewisse Umstände und Verwickelungen
voraus, und das übel kam schneller, als ich vermutet hatte; denn er
hatte mit gewissen Bekenntnissen immer zurückgehalten, und auch
zuletzt entdeckte er mir nur so viel, daß ich das Schlimmste vermuten
konnte.

Welche Wirkung hatte das auf mein Herz!  Ich gelangte zu Erfahrungen,
die mir ganz neu waren.  Ich sah mit unbeschreiblicher Wehmut einen
Agathon, der, in den Hainen von Delphi erzogen, das Lehrgeld noch
schuldig war und es nun mit schweren, rückständigen Zinsen abzahlte,
und dieser Agathon war mein genau verbundener Freund.  Meine Teilnahme
war lebhaft und vollkommen; ich litt mit ihm, und wir befanden uns
beide in dem sonderbarsten Zustande.

Nachdem ich mich lange mit seiner Gemütsverfassung beschäftigt hatte,
wendete sich meine Betrachtung auf mich selbst.  Der Gedanke: "Du bist
nicht besser als er", stieg wie eine kleine Wolke vor mir auf,
breitete sich nach und nach aus und verfinsterte meine ganze Seele.

Nun dachte ich nicht mehr bloß: "Du bist nicht besser als er"; ich
fühlte es und fühlte es so, daß ich es nicht noch einmal fühlen möchte:
und es war kein schneller übergang.  Mehr als ein Jahr mußte ich
empfinden, daß, wenn mich eine unsichtbare Hand nicht umschränkt hätte,
ich ein Girard, ein Cartouche, ein Damiens, und welches Ungeheuer man
nennen will, hätte werden können: die Anlage dazu fühlte ich deutlich
in meinem Herzen.  Gott, welche Entdeckung!

Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der Sünde in mir durch die
Erfahrung nicht einmal auf das leiseste gewahr werden können, so war
mir jetzt die Möglichkeit derselben in der Ahnung aufs schrecklichste
deutlich geworden, und doch kannte ich das übel nicht, ich fürchtete
es nur; ich fühlte, daß ich schuldig sein könnte, und hatte mich nicht
anzuklagen.

So tief ich überzeugt war, daß eine solche Geistesbeschaffenheit,
wofür ich die meinige anerkennen mußte, sich nicht zu einer
Vereinigung mit dem höchsten Wesen, die ich nach dem Tode hoffte,
schicken könne, so wenig fürchtete ich, in eine solche Trennung zu
geraten.  Bei allem Bösen, das ich in mir entdeckte, hatte ich ihn
lieb und haßte, was ich fühlte, ja ich wünschte es noch ernstlicher zu
hassen, und mein ganzer Wunsch war, von dieser Krankheit und dieser
Anlage zur Krankheit erlöst zu werden, und ich war gewiß, daß mir der
große Arzt seine Hülfe nicht versagen würde.

Die einzige Frage war: Was heilt diesen Schaden?  Tugendübungen?  An
die konnte ich nicht einmal denken; denn zehn Jahre hatte ich schon
mehr als nur bloße Tugend geübt, und die nun erkannten Greuel hatten
dabei tief in meiner Seele verborgen gelegen.  Hätten sie nicht auch
wie bei David losbrechen können, als er Bathseba erblickte, und war er
nicht auch ein Freund Gottes, und war ich nicht im Innersten überzeugt,
daß Gott mein Freund sei?

Sollte es also wohl eine unvermeidliche Schwäche der Menschheit sein?
Müssen wir uns nun gefallen lassen, daß wir irgendeinmal die
Herrschaft unsrer Neigung empfinden, und bleibt uns bei dem besten
Willen nichts andres übrig, als den Fall, den wir getan, zu
verabscheuen und bei einer ähnlichen Gelegenheit wieder zu fallen?

Aus der Sittenlehre konnte ich keinen Trost schöpfen.  Weder ihre
Strenge, wodurch sie unsre Neigung meistern will, noch ihre
Gefälligkeit, mit der sie unsre Neigungen zu Tugenden machen möchte,
konnte mir genügen.  Die Grundbegriffe, die mir der Umgang mit dem
unsichtbaren Freunde eingeflößt hatte, hatten für mich schon einen
viel entschiedenern Wert.

Indem ich einst die Lieder studierte, welche David nach jener
häßlichen Katastrophe gedichtet hatte, war mir sehr auffallend, daß er
das in ihm wohnende Böse schon in dem Stoff, woraus er geworden war,
erblickte, daß er aber entsündigt sein wollte und daß er auf das
dringendste um ein reines Herz flehte.

Wie nun aber dazu zu gelangen?  Die Antwort aus den symbolischen
Büchern wußte ich wohl: es war mir auch eine Bibelwahrheit, daß das
Blut Jesu Christi uns von allen Sünden reinige.  Nun aber bemerkte ich
erst, daß ich diesen so oft wiederholten Spruch noch nie verstanden
hatte.  Die Fragen: Was heißt das?  Wie soll das zugehen? arbeiteten
Tag und Nacht in mir sich durch.  Endlich glaubte ich bei einem
Schimmer zu sehen, daß das, was ich suchte, in der Menschwerdung des
ewigen Worts, durch das alles und auch wir erschaffen sind, zu suchen
sei.  Daß der Uranfängliche sich in die Tiefen, in denen wir stecken,
die er durchschaut und umfaßt, einstmal als Bewohner begeben habe,
durch unser Verhältnis von Stufe zu Stufe, von der Empfängnis und
Geburt bis zu dem Grabe, durchgegangen sei, daß er durch diesen
sonderbaren Umweg wieder zu den lichten Höhen aufgestiegen, wo wir
auch wohnen sollten, um glücklich zu sein: das ward mir, wie in einer
dämmernden Ferne, offenbart.

O warum müssen wir, um von solchen Dingen zu reden, Bilder gebrauchen,
die nur äußere Zustände anzeigen!  Wo ist vor ihm etwas Hohes oder
Tiefes, etwas Dunkles oder Helles?  Wir nur haben ein Oben und Unten,
einen Tag und eine Nacht.  Und eben darum ist er uns ähnlich geworden,
weil wir sonst keinen Teil an ihm haben könnten.

Wie können wir aber an dieser unschätzbaren Wohltat teilnehmen?
"Durch den Glauben", antwortet uns die Schrift.  Was ist denn Glauben?
Die Erzählung einer Begebenheit für wahr halten, was kann mir das
helfen?  Ich muß mir ihre Wirkungen, ihre Folgen zueignen können.
Dieser zueignende Glaube muß ein eigener, dem natürlichen Menschen
ungewöhnlicher Zustand des Gemüts sein.

"Nun, Allmächtiger! so schenke mir Glauben!" flehte ich einst in dem
größten Druck des Herzens.  Ich lehnte mich auf einen kleinen Tisch,
an dem ich saß, und verbarg mein beträntes Gesicht in meinen Händen.
Hier war ich in der Lage, in der man sein muß, wenn Gott auf unser
Gebet achten soll, und in der man selten ist.

Ja, wer nur schildern könnte, was ich da fühlte!  Ein Zug brachte
meine Seele nach dem Kreuze hin, an dem Jesus einst erblaßte; ein Zug
war es, ich kann es nicht anders nennen, demjenigen völlig gleich,
wodurch unsre Seele zu einem abwesenden Geliebten geführt wird, ein
Zunahen, das vermutlich viel wesentlicher und wahrhafter ist, als wir
vermuten.  So nahte meine Seele dem Menschgewordnen und am Kreuz
Gestorbenen, und in dem Augenblicke wußte ich, was Glauben war.

"Das ist Glauben!" sagte ich und sprang wie halb erschreckt in die
Höhe.  Ich suchte nun, meiner Empfindung, meines Anschauens gewiß zu
werden, und in kurzem war ich überzeugt, daß mein Geist eine Fähigkeit
sich aufzuschwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war.

Bei diesen Empfindungen verlassen uns die Worte.  Ich konnte sie ganz
deutlich von aller Phantasie unterscheiden; sie waren ganz ohne
Phantasie, ohne Bild, und gaben doch ebendie Gewißheit eines
Gegenstandes, auf den sie sich bezogen, als die Einbildungskraft,
indem sie uns die Züge eines abwesenden Geliebten vormalt.

Als das erste Entzücken vorüber war, bemerkte ich, daß mir dieser
Zustand der Seele schon vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn
nie in dieser Stärke empfunden.  Ich hatte ihn niemals festhalten, nie
zu eigen behalten können.  Ich glaube überhaupt, daß jede
Menschenseele ein und das andere Mal davon etwas empfunden hat.  Ohne
Zweifel ist er das, was einem jeden lehrt, daß ein Gott ist.

Mit dieser mich ehemals von Zeit zu Zeit nur anwandelnden Kraft war
ich bisher sehr zufrieden gewesen, und wäre mir nicht durch sonderbare
Schickung seit Jahr und Tag die unerwartete Plage widerfahren, wäre
nicht dabei mein Können und Vermögen bei mir selbst außer allen Kredit
gekommen, so wäre ich vielleicht mit jenem Zustande immer zufrieden
geblieben.

Nun hatte ich aber seit jenem großen Augenblicke Flügel bekommen.  Ich
konnte mich über das, was mich vorher bedrohete, aufschwingen, wie ein
Vogel singend über den schnellsten Strom ohne Mühe fliegt, vor welchem
das Hündchen ängstlich bellend stehenbleibt.

Meine Freude war unbeschreiblich, und ob ich gleich niemand etwas
davon entdeckte, so merkten doch die Meinigen eine ungewöhnliche
Heiterkeit an mir, ohne begreifen zu können, was die Ursache meines
Vergnügens wäre.  Hätte ich doch immer geschwiegen und die reine
Stimmung in meiner Seele zu erhalten gesucht!  Hätte ich mich doch
nicht durch Umstände verleiten lassen, mit meinem Geheimnisse
hervorzutreten! dann hätte ich mir abermals einen großen Umweg
ersparen können.

Da in meinem vorhergehenden zehnjährigen Christenlauf diese notwendige
Kraft nicht in meiner Seele war, so hatte ich mich in dem Fall anderer
redlichen Leute auch befunden; ich hatte mir dadurch geholfen, daß ich
die Phantasie immer mit Bildern erfüllte, die einen Bezug auf Gott
hatten, und auch dieses ist schon wahrhaft nützlich: denn schädliche
Bilder und ihre bösen Folgen werden dadurch abgehalten.  Sodann
ergreift unsre Seele oft ein und das andere von den geistigen Bildern
und schwingt sich ein wenig damit in die Höhe, wie ein junger Vogel
von einem Zweige auf den andern flattert.  Solange man nichts Besseres
hat, ist doch diese übung nicht ganz zu verwerfen.

Auf Gott zielende Bilder und Eindrücke verschaffen uns kirchliche
Anstalten, Glocken, Orgeln und Gesänge und besonders die Vorträge
unsrer Lehrer.  Auf sie war ich ganz unsäglich begierig; keine
Witterung, keine körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kirchen zu
besuchen, und nur das sonntägige Geläute konnte mir auf meinem
Krankenlager einige Ungeduld verursachen.  Unsern Oberhofprediger, der
ein trefflicher Mann war, hörte ich mit großer Neigung; auch seine
Kollegen waren mir wert, und ich wußte die goldnen äpfel des
göttlichen Wortes auch aus irdenen Schalen unter gemeinem Obste
herauszufinden.  Den öffentlichen übungen wurden alle möglichen
Privaterbauungen, wie man sie nennt, hinzugefügt und auch dadurch nur
Phantasie und feinere Sinnlichkeit genährt.  Ich war so an diesen Gang
gewöhnt, ich respektierte ihn so sehr, daß mir auch jetzt nichts
Höheres einfiel.  Denn meine Seele hat nur Fühlhörner und keine Augen;
sie tastet nur und sieht nicht; ach! daß sie Augen bekäme und schauen
dürfte!

Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die Predigten; aber ach, wie
geschah mir!  Ich fand das nicht mehr, was ich sonst gefunden.  Diese
Prediger stumpften sich die Zähne an den Schalen ab, indessen ich den
Kern genoß.  Ich mußte ihrer nun bald müde werden; aber mich an den
allein zu halten, den ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu
verwöhnt.  Bilder wollte ich haben, äußere Eindrücke bedurfte ich und
glaubte ein reines geistiges Bedürfnis zu fühlen.



VI. Buch--6



Philos Eltern hatten mit der herrnhutischen Gemeinde in Verbindung
gestanden; in seiner Bibliothek fanden sich noch viele Schriften des
Grafen.  Er hatte mir einigemal sehr klar und billig darüber
gesprochen und mich ersucht, einige dieser Schriften durchzublättern,
und wäre es auch nur, um ein psychologisches Phänomen kennenzulernen.
Ich hielt den Grafen für einen gar zu argen Ketzer; so ließ ich auch
das Ebersdorfer Gesangbuch bei mir liegen, das mir der Freund in
ähnlicher Absicht gleichsam aufgedrungen hatte.

In dem völligen Mangel aller äußeren Ermunterungsmittel ergriff ich
wie von ungefähr das gedachte Gesangbuch und fand zu meinem Erstaunen
wirklich Lieder darin, die, freilich unter sehr seltsamen Formen, auf
dasjenige zu deuten schienen, was ich fühlte; die Originalität und
Naivetät der Ausdrücke zog mich an.  Eigene Empfindungen schienen auf
eine eigene Weise ausgedrückt; keine Schulterminologie erinnerte an
etwas Steifes oder Gemeines.  Ich ward überzeugt, die Leute fühlten,
was ich fühlte, und ich fand mich nun sehr glücklich, ein solches
Verschen ins Gedächtnis zu fassen und mich einige Tage damit zu tragen.


Seit jenem Augenblick, in welchem mir das Wahre geschenkt worden war,
verflossen auf diese Weise ungefähr drei Monate.  Endlich faßte ich
den Entschluß, meinem Freunde Philo alles zu entdecken und ihn um die
Mitteilung jener Schriften zu bitten, auf die ich nun über die Maßen
neugierig geworden war.  Ich tat es auch wirklich, ungeachtet mir ein
Etwas im Herzen ernstlich davon abriet.

Ich erzählte Philo die ganze Geschichte umständlich, und da er selbst
darin eine Hauptperson war, da meine Erzählung auch für ihn die
strengste Bußpredigt enthielt, war er äußerst betroffen und gerührt.
Er zerfloß in Tränen.  Ich freute mich und glaubte, auch bei ihm sei
eine völlige Sinnesänderung bewirkt worden.

Er versorgte mich mit allen Schriften, die ich nur verlangte, und nun
hatte ich überflüssige Nahrung für meine Einbildungskraft.  Ich machte
große Fortschritte in der Zinzendorfischen Art, zu denken und zu
sprechen.  Man glaube nicht, daß ich die Art und Weise des Grafen
nicht auch gegenwärtig zu schätzen wisse; ich lasse ihm gern
Gerechtigkeit widerfahren; er ist kein leerer Phantast; er spricht von
großen Wahrheiten meist in einem kühnen Fluge der Einbildungskraft,
und die ihn geschmäht haben, wußten seine Eigenschaften weder zu
schätzen noch zu unterscheiden.

Ich gewann ihn unbeschreiblich lieb.  Wäre ich mein eigner Herr
gewesen, so hätte ich gewiß Vaterland und Freunde verlassen, wäre zu
ihm gezogen; unfehlbar hätten wir uns verstanden, und schwerlich
hätten wir uns lange vertragen.

Dank sei meinem Genius, der mich damals in meiner häuslichen
Verfassung so eingeschränkt hielt!  Es war schon eine große Reise,
wenn ich nur in den Hausgarten gehen konnte.  Die Pflege meines alten
und schwächlichen Vaters machte mir Arbeit genug, und in den
Ergötzungsstunden war die edle Phantasie mein Zeitvertreib.  Der
einzige Mensch, den ich sah, war Philo, den mein Vater sehr liebte,
dessen offnes Verhältnis zu mir aber durch die letzte Erklärung
einigermaßen gelitten hatte.  Bei ihm war die Rührung nicht tief
gedrungen, und da ihm einige Versuche, in meiner Sprache zu reden,
nicht gelungen waren, so vermied er diese Materie um so leichter, als
er durch seine ausgebreiteten Kenntnisse immer neue Gegenstände des
Gesprächs herbeizuführen wußte.

Ich war also eine herrnhutische Schwester auf meine eigene Hand und
hatte diese neue Wendung meines Gemüts und meiner Neigungen besonders
vor dem Oberhofprediger zu verbergen, den ich als meinen Beichtvater
zu schätzen sehr Ursache hatte und dessen große Verdienste auch
gegenwärtig durch seine äußerste Abneigung gegen die herrnhutische
Gemeinde in meinen Augen nicht geschmälert wurden.  Leider sollte
dieser würdige Mann an mir und andern viele Betrübnis erleben!

Er hatte vor mehreren Jahren auswärts einen Kavalier als einen
redlichen, frommen Mann kennenlernen und war mit ihm als einem, der
Gott ernstlich suchte, in einem ununterbrochenen Briefwechsel
geblieben.  Wie schmerzhaft war es daher für seinen geistlichen Führer,
als dieser Kavalier sich in der Folge mit der herrnhutischen Gemeinde
einließ und sich lange unter den Brüdern aufhielt; wie angenehm
dagegen, als sein Freund sich mit den Brüdern wieder entzweite, in
seiner Nähe zu wohnen sich entschloß und sich seiner Leitung aufs neue
völlig zu überlassen schien.

Nun wurde der Neuangekommene gleichsam im Triumph allen besonders
geliebten Schäfchen des Oberhirten vorgestellt.  Nur in unser Haus
ward er nicht eingeführt, weil mein Vater niemand mehr zu sehen
pflegte.  Der Kavalier fand große Approbation; er hatte das Gesittete
des Hofs und das Einnehmende der Gemeinde, dabei viel schöne
natürliche Eigenschaften und ward bald der große Heilige für alle, die
ihn kennenlernten, worüber sich sein geistlicher Gönner äußerst freute.
Leider war jener nur über äußere Umstände mit der Gemeine
brouilliert und im Herzen noch ganz Herrnhuter.  Er hing zwar wirklich
an der Realität der Sache; allein auch ihm war das Tändelwerk, das der
Graf darumgehängt hatte, höchst angemessen.  Er war an jene
Vorstellungs- und Redensarten nun einmal gewöhnt, und wenn er sich
nunmehr vor seinem alten Freunde sorgfältig verbergen mußte, so war es
ihm desto notwendiger, sobald er ein Häufchen vertrauter Personen um
sich erblickte, mit seinen Verschen, Litaneien und Bilderchen
hervorzurücken, und er fand, wie man denken kann, großen Beifall.

Ich wußte von der ganzen Sache nichts und tändelte auf meine eigene
Art fort.  Lange Zeit blieben wir uns unbekannt.

Einst besuchte ich in einer freien Stunde eine kranke Freundin.  Ich
traf mehrere Bekannte dort an und merkte bald, daß ich sie in einer
Unterredung gestört hatte.  Ich ließ mir nichts merken, erblickte aber
zu meiner großen Verwunderung an der Wand einige herrnhutische Bilder,
in zierlichen Rahmen.  Ich faßte geschwinde, was in der Zeit, da ich
nicht im Hause gewesen, vorgegangen sein mochte, und bewillkommte
diese neue Erscheinung mit einigen angemessenen Versen.

Man denke sich das Erstaunen meiner Freundinnen.  Wir erklärten uns
und waren auf der Stelle einig und vertraut.

Ich suchte nun öfter Gelegenheit auszugehn.  Leider fand ich sie nur
alle drei bis vier Wochen, ward mit dem adeligen Apostel und nach und
nach mit der ganzen heimlichen Gemeinde bekannt.  Ich besuchte, wenn
ich konnte, ihre Versammlungen, und bei meinem geselligen Sinn war es
mir unendlich angenehm, das von andern zu vernehmen und andern
mitzuteilen, was ich nur bisher in und mit mir selbst ausgearbeitet
hatte.

Ich war nicht so eingenommen, daß ich nicht bemerkt hätte, wie nur
wenige den Sinn der zarten Worte und Ausdrücke fühlten und wie sie
dadurch auch nicht mehr als ehemals durch die kirchlich symbolische
Sprache gefördert waren.  Dessenungeachtet ging ich mit ihnen fort und
ließ mich nicht irremachen.  Ich dachte, daß ich nicht zur
Untersuchung und Herzensprüfung berufen sei.  War ich doch auch durch
manche unschuldige übung zum Besseren vorbereitet worden.  Ich nahm
meinen Teil hinweg, drang, wo ich zur Rede kam, auf den Sinn, der bei
so zarten Gegenständen eher durch Worte versteckt als angedeutet wird,
und ließ übrigens mit stiller Verträglichkeit einen jeden nach seiner
Art gewähren.

Auf diese ruhigen Zeiten des heimlichen gesellschaftlichen Genusses
folgten bald die Stürme öffentlicher Streitigkeiten und
Widerwärtigkeiten, die am Hofe und in der Stadt große Bewegungen
erregten und, ich möchte beinahe sagen, manches Skandal verursachten.
Der Zeitpunkt war gekommen, in welchem unser Oberhofprediger, dieser
große Widersacher der herrnhutischen Gemeinde, zu seiner gesegneten
Demütigung entdecken sollte, daß seine besten und sonst anhänglichsten
Zuhörer sich sämtlich auf die Seite der Gemeinde neigten.  Er war
äußerst gekränkt, vergaß im ersten Augenblicke alle Mäßigung und
konnte in der Folge sich nicht, selbst wenn er gewollt hätte,
zurückziehn.  Es gab heftige Debatten, bei denen ich glücklicherweise
nicht genannt wurde, da ich nur ein zufälliges Mitglied der so sehr
verhaßten Zusammenkünfte war und unser eifriger Führer meinen Vater
und meinen Freund in bürgerlichen Angelegenheiten nicht entbehren
konnte.  Ich erhielt meine Neutralität mit stiller Zufriedenheit; denn
mich von solchen Empfindungen und Gegenständen selbst mit
wohlwollenden Menschen zu unterhalten war mir schon verdrießlich, wenn
sie den tiefsten Sinn nicht fassen konnten und nur auf der Oberfläche
verweilten.  Nun aber gar über das mit Widersachern zu streiten,
worüber man sich kaum mit Freunden verstand, schien mir unnütz, ja
verderblich.  Denn bald konnte ich bemerken, daß liebevolle, edle
Menschen, die in diesem Falle ihr Herz von Widerwillen und Haß nicht
rein halten konnten, gar bald zur Ungerechtigkeit übergingen und, um
eine äußere Form zu verteidigen, ihr bestes Innerste beinahe
zerstörten.

Sosehr auch der würdige Mann in diesem Fall unrecht haben mochte und
sosehr man mich auch gegen ihn aufzubringen suchte, konnte ich ihm
doch niemals eine herzliche Achtung versagen.  Ich kannte ihn genau;
ich konnte mich in seine Art, diese Sachen anzusehen, mit Billigkeit
versetzen.  Ich hatte niemals einen Menschen ohne Schwäche gesehen;
nur ist sie auffallender bei vorzüglichen Menschen.  Wir wünschen und
wollen nun ein für allemal, daß die, die so sehr privilegiert sind,
auch gar keinen Tribut, keine Abgaben zahlen sollen.  Ich ehrte ihn
als einen vorzüglichen Mann und hoffte den Einfluß meiner stillen
Neutralität, wo nicht zu einem Frieden, doch zu einem
Waffenstillstande zu nutzen.  Ich weiß nicht, was ich bewirkt hätte;
Gott faßte die Sache kürzer und nahm ihn zu sich.  Bei seiner Bahre
weinten alle, die noch kurz vorher um Worte mit ihm gestritten hatten.
Seine Rechtschaffenheit, seine Gottesfurcht hatte niemals jemand
bezweifelt.

Auch ich mußte um diese Zeit das Puppenwerk aus den Händen legen, das
mir durch diese Streitigkeiten gewissermaßen in einem andern Lichte
erschienen war.  Der Oheim hatte seine Plane auf meine Schwester in
der Stille durchgeführt.  Er stellte ihr einen jungen Mann von Stande
und Vermögen als ihren Bräutigam vor und zeigte sich in einer
reichlichen Aussteuer, wie man es von ihm erwarten konnte.  Mein Vater
willigte mit Freuden ein; die Schwester war frei und vorbereitet und
veränderte gerne ihren Stand.  Die Hochzeit wurde auf des Oheims
Schloß ausgerichtet, Familie und Freunde waren eingeladen, und wir
kamen alle mit heiterm Geiste.

Zum erstenmal in meinem Leben erregte mir der Eintritt in ein Haus
Bewunderung.  Ich hatte wohl oft von des Oheims Geschmack, von seinem
italienischen Baumeister, von seinen Sammlungen und seiner Bibliothek
reden hören; ich verglich aber das alles mit dem, was ich schon
gesehen hatte, und machte mir ein sehr buntes Bild davon in Gedanken.
Wie verwundert war ich daher über den ernsten und harmonischen
Eindruck, den ich beim Eintritt in das Haus empfand und der sich in
jedem Saal und Zimmer verstärkte.  Hatte Pracht und Zierat mich sonst
nur zerstreut, so fühlte ich mich hier gesammelt und auf mich selbst
zurückgeführt.  Auch in allen Anstalten zu Feierlichkeiten und Festen
erregten Pracht und Würde ein stilles Gefallen, und es war mir ebenso
unbegreiflich, daß ein Mensch das alles hätte erfinden und anordnen
können, als daß mehrere sich vereinigen könnten, um in einem so großen
Sinne zusammenzuwirken.  Und bei dem allen schienen der Wirt und die
Seinigen so natürlich; es war keine Spur von Steifheit noch von leerem
Zeremoniell zu bemerken.

Die Trauung selbst ward unvermutet auf eine herzliche Art eingeleitet;
eine vortreffliche Vokalmusik überraschte uns, und der Geistliche
wußte dieser Zeremonie alle Feierlichkeit der Wahrheit zu geben.  Ich
stand neben Philo, und statt mir Glück zu wünschen, sagte er mit einem
tiefen Seufzer: "Als ich die Schwester sah die Hand hingeben, war
mir's, als ob man mich mit siedheißem Wasser begossen hätte.
"--"Warum?" fragte ich.  "Es ist mir allezeit so, wenn ich eine
Kopulation ansehe", versetzte er.  Ich lachte über ihn und habe
nachher oft genug an seine Worte zu denken gehabt.

Die Heiterkeit der Gesellschaft, worunter viel junge Leute waren,
schien noch einmal so glänzend, indem alles, was uns umgab, würdig und
ernsthaft war.  Aller Hausrat, Tafelzeug, Service und Tischaufsätze
stimmten zu dem Ganzen, und wenn mir sonst die Baumeister mit den
Konditoren aus einer Schule entsprungen zu sein schienen, so war hier
Konditor und Tafeldecker bei dem Architekten in die Schule gegangen.

Da man mehrere Tage zusammenblieb, hatte der geistreiche und
verständige Wirt für die Unterhaltung der Gesellschaft auf das
mannigfaltigste gesorgt.  Ich wiederholte hier nicht die traurige
Erfahrung, die ich so oft in meinem Leben gehabt hatte, wie übel eine
große gemischte Gesellschaft sich befinde, die, sich selbst überlassen,
zu den allgemeinsten und schalsten Zeitvertreiben greifen muß, damit
ja eher die guten als die schlechten Subjekte Mangel der Unterhaltung
fühlen.

Ganz anders hatte es der Oheim veranstaltet.  Er hatte zwei bis drei
Marschälle, wenn ich sie so nennen darf, bestellt; der eine hatte für
die Freuden der jungen Welt zu sorgen: Tänze, Spazierfahrten, kleine
Spiele waren von seiner Erfindung und standen unter seiner Direktion,
und da junge Leute gern im Freien leben und die Einflüsse der Luft
nicht scheuen, so war ihnen der Garten und der große Gartensaal
übergeben, an den zu diesem Endzwecke noch einige Galerien und
Pavillons angebauet waren, zwar nur von Brettern und Leinwand, aber in
so edlen Verhältnissen, daß man nur an Stein und Marmor dabei erinnert
ward.

Wie selten ist eine Fete, wobei derjenige, der die Gäste
zusammenberuft, auch die Schuldigkeit empfindet, für ihre Bedürfnisse
und Bequemlichkeiten auf alle Weise zu sorgen!

Jagd und Spielpartien, kurze Promenaden, Gelegenheiten zu
vertraulichen, einsamen Gesprächen waren für die ältern Personen
bereitet, und derjenige, der am frühsten zu Bette ging, war auch gewiß
am weitesten von allem Lärm einquartiert.

Durch diese gute Ordnung schien der Raum, in dem wir uns befanden,
eine kleine Welt zu sein, und doch, wenn man es bei nahem betrachtete,
war das Schloß nicht groß, und man würde ohne genaue Kenntnis
desselben und ohne den Geist des Wirtes wohl schwerlich so viele Leute
darin beherbergt und jeden nach seiner Art bewirtet haben.

So angenehm uns der Anblick eines wohlgestalteten Menschen ist, so
angenehm ist uns eine ganze Einrichtung, aus der uns die Gegenwart
eines verständigen, vernünftigen Wesens fühlbar wird.  Schon in ein
reinliches Haus zu kommen ist eine Freude, wenn es auch sonst
geschmacklos gebauet und verziert ist: denn es zeigt uns die Gegenwart
wenigstens von einer Seite gebildeter Menschen.  Wie doppelt angenehm
ist es uns also, wenn aus einer menschlichen Wohnung uns der Geist
einer höhern, obgleich auch nur sinnlichen Kultur entgegenspricht.

Mit vieler Lebhaftigkeit ward mir dieses auf dem Schlosse meines
Oheims anschaulich.  Ich hatte vieles von Kunst gehört und gelesen;
Philo selbst war ein großer Liebhaber von Gemälden und hatte eine
schöne Sammlung; auch ich selbst hatte viel gezeichnet; aber teils war
ich zu sehr mit meinen Empfindungen beschäftigt und trachtete nur, das
eine, was not ist, erst recht ins reine zu bringen, teils schienen
doch alle die Sachen, die ich gesehen hatte, mich wie die übrigen
weltlichen Dinge zu zerstreuen.  Nun war ich zum erstenmal durch etwas
äußerliches auf mich selbst zurückgeführt, und ich lernte den
Unterschied zwischen dem natürlichen, vortrefflichen Gesang der
Nachtigall und einem vierstimmigen Halleluja aus gefühlvollen
Menschenkehlen zu meiner größten Verwunderung erst kennen.

Ich verbarg meine Freude über diese neue Anschauung meinem Oheim nicht,
der, wenn alles andere in sein Teil gegangen war, sich mit mir
besonders zu unterhalten pflegte.  Er sprach mit großer Bescheidenheit
von dem, was er besaß und hervorgebracht hatte, mit großer Sicherheit
von dem Sinne, in dem es gesammelt und aufgestellt worden war, und ich
konnte wohl merken, daß er mit Schonung für mich redete, indem er nach
seiner alten Art das Gute, wovon er Herr und Meister zu sein glaubte,
demjenigen unterzuordnen schien, was nach meiner überzeugung das
Rechte und Beste war.



VI. Buch--7



"Wenn wir uns", sagte er einmal, "als möglich denken können, daß der
Schöpfer der Welt selbst die Gestalt seiner Kreatur angenommen und auf
ihre Art und Weise sich eine Zeitlang auf der Welt befunden habe, so
muß uns dieses Geschöpf schon unendlich vollkommen erscheinen, weil
sich der Schöpfer so innig damit vereinigen konnte.  Es muß also in
dem Begriff des Menschen kein Widerspruch mit dem Begriff der Gottheit
liegen; und wenn wir auch oft eine gewisse Unähnlichkeit und
Entfernung von ihr empfinden, so ist es doch um desto mehr unsere
Schuldigkeit, nicht immer wie der Advokat des bösen Geistes nur auf
die Blößen und Schwächen unserer Natur zu sehen, sondern eher alle
Vollkommenheiten aufzusuchen, wodurch wir die Ansprüche unsrer
Gottähnlichkeit bestätigen können."

Ich lächelte und versetzte: "Beschämen Sie mich nicht zu sehr, lieber
Oheim, durch die Gefälligkeit, in meiner Sprache zu reden!  Das, was
Sie mir zu sagen haben, ist für mich von so großer Wichtigkeit, daß
ich es in Ihrer eigensten Sprache zu hören wünschte, und ich will
alsdann, was ich mir davon nicht ganz zueignen kann, schon zu
übersetzen suchen."

"Ich werde", sagte er darauf, "auch auf meine eigenste Weise ohne
Veränderung des Tons fortfahren können.  Des Menschen größtes
Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände soviel als möglich
bestimmt und sich sowenig als möglich von ihnen bestimmen läßt.  Das
ganze Weltwesen liegt vor uns wie ein großer Steinbruch vor dem
Baumeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen
zufälligen Naturmassen ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit
der größten ökonomie, Zweckmäßigkeit und Festigkeit zusammenstellt.
Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles an
uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu
erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt,
bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise,
dargestellt haben.  Sie, liebe Nichte, haben vielleicht das beste Teil
erwählt; Sie haben Ihr sittliches Wesen, Ihre tiefe, liebevolle Natur
mit sich selbst und mit dem höchsten Wesen übereinstimmend zu machen
gesucht, indes wir andern wohl auch nicht zu tadeln sind, wenn wir den
sinnlichen Menschen in seinem Umfange zu kennen und tätig in Einheit
zu bringen suchen."

Durch solche Gespräche wurden wir nach und nach vertrauter, und ich
erlangte von ihm, daß er mit mir ohne Kondeszendenz wie mit sich
selbst sprach.  "Glauben Sie nicht", sagte der Oheim zu mir, "daß ich
Ihnen schmeichle, wenn ich Ihre Art zu denken und zu handeln lobe.
Ich verehre den Menschen, der deutlich weiß, was er will, unablässig
vorschreitet, die Mittel zu seinem Zwecke kennt und sie zu ergreifen
und zu brauchen weiß; inwiefern sein Zweck groß oder klein sei, Lob
oder Tadel verdiene, das kommt bei mir erst nachher in Betrachtung.
Glauben Sie mir, meine Liebe, der größte Teil des Unheils und dessen,
was man bös in der Welt nennt, entsteht bloß, weil die Menschen zu
nachlässig sind, ihre Zwecke recht kennenzulernen und, wenn sie solche
kennen, ernsthaft darauf loszuarbeiten.  Sie kommen mir vor wie Leute,
die den Begriff haben, es könne und müsse ein Turm gebauet werden, und
die doch an den Grund nicht mehr Steine und Arbeit verwenden, als man
allenfalls einer Hütte unterschlüge.  Hätten Sie, meine Freundin,
deren höchstes Bedürfnis war, mit Ihrer innern sittlichen Natur ins
reine zu kommen, anstatt der großen und kühnen Aufopferungen sich
zwischen Ihrer Familie, einem Bräutigam, vielleicht einem Gemahl nur
so hin beholfen, Sie würden, in einem ewigen Widerspruch mit sich
selbst, niemals einen zufriedenen Augenblick genossen haben."

"Sie brauchen", versetzte ich hier, "das Wort Aufopferung, und ich
habe manchmal gedacht, wie wir einer höhern Absicht gleichsam wie
einer Gottheit das Geringere zum Opfer darbringen, ob es uns schon am
Herzen liegt, wie man ein geliebtes Schaf für die Gesundheit eines
verehrten Vaters gern und willig zum Altar führen würde."

"Was es auch sei", versetzte er, "der Verstand oder die Empfindung,
das uns eins für das andere hingeben, eins vor dem andern wählen heißt,
so ist Entschiedenheit und Folge nach meiner Meinung das
Verehrungswürdigste am Menschen.  Man kann die Ware und das Geld nicht
zugleich haben; und der ist ebenso übel daran, dem es immer nach der
Ware gelüstet, ohne daß er das Herz hat, das Geld hinzugeben, als der,
den der Kauf reut, wenn er die Ware in Händen hat.  Aber ich bin weit
entfernt, die Menschen deshalb zu tadeln; denn sie sind eigentlich
nicht schuld, sondern die verwickelte Lage, in der sie sich befinden
und in der sie sich nicht zu regieren wissen.  So werden Sie zum
Beispiel im Durchschnitt weniger üble Wirte auf dem Lande als in den
Städten finden und wieder in kleinen Städten weniger als in großen;
und warum?  Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren;
einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen, und er gewöhnt
sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er
aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will noch was er soll, und
es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut
oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde.
Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu
streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht
verbinden kann.

Fürwahr", fuhr er fort, "ohne Ernst ist in der Welt nichts möglich,
und unter denen, die wir gebildete Menschen nennen, ist eigentlich
wenig Ernst zu finden; sie gehen, ich möchte sagen, gegen Arbeiten und
Geschäfte, gegen Künste, ja gegen Vergnügungen nur mit einer Art von
Selbstverteidigung zu Werke; man lebt, wie man ein Pack Zeitungen
liest, nur damit man sie loswerde, und es fällt mir dabei jener junge
Engländer in Rom ein, der abends in einer Gesellschaft sehr zufrieden
erzählte: daß er doch heute sechs Kirchen und zwei Galerien beiseite
gebracht habe.  Man will mancherlei wissen und kennen, und gerade das,
was einen am wenigsten angeht, und man bemerkt nicht, daß kein Hunger
dadurch gestillt wird, wenn man nach der Luft schnappt.  Wenn ich
einen Menschen kennenlerne, frage ich sogleich: womit beschäftigt er
sich? und wie? und in welcher Folge? und mit der Beantwortung der
Frage ist auch mein Interesse an ihm auf zeitlebens entschieden."

"Sie sind, lieber Oheim", versetzte ich darauf, "vielleicht zu strenge
und entziehen manchem guten Menschen, dem Sie nützlich sein könnten,
Ihre hülfreiche Hand."

"Ist es dem zu verdenken", antwortete er, "der so lange vergebens an
ihnen und um sie gearbeitet hat?  Wie sehr leidet man nicht in der
Jugend von Menschen, die uns zu einer angenehmen Lustpartie einzuladen
glauben, wenn sie uns in die Gesellschaft der Danaiden oder des
Sisyphus zu bringen versprechen.  Gott sei Dank, ich habe mich von
ihnen losgemacht, und wenn einer unglücklicherweise in meinen Kreis
kommt, suche ich ihn auf die höflichste Art hinauszukomplimentieren:
denn gerade von diesen Leuten hört man die bittersten Klagen über den
verworrenen Lauf der Welthändel, über die Seichtigkeit der
Wissenschaften, über den Leichtsinn der Künstler, über die Leerheit
der Dichter und was alles noch mehr ist.  Sie bedenken am wenigsten,
daß eben sie selbst und die Menge, die ihnen gleich ist, gerade das
Buch nicht lesen würden, das geschrieben wäre, wie sie es fordern, daß
ihnen die echte Dichtung fremd sei und daß selbst ein gutes Kunstwerk
nur durch Vorurteil ihren Beifall erlangen könne.  Doch lassen Sie uns
abbrechen, es ist hier keine Zeit zu schelten noch zu klagen."

Er leitete meine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Gemälde, die an
der Wand aufgehängt waren; mein Auge hielt sich an die, deren Anblick
reizend oder deren Gegenstand bedeutend war; er ließ es eine Weile
geschehen, dann sagte er: "Gönnen Sie nun auch dem Genius, der diese
Werke hervorgebracht hat, einige Aufmerksamkeit.  Gute Gemüter sehen
so gerne den Finger Gottes in der Natur; warum sollte man nicht auch
der Hand seines Nachahmers einige Betrachtung schenken?"  Er machte
mich sodann auf unscheinbare Bilder aufmerksam und suchte mir
begreiflich zu machen, daß eigentlich die Geschichte der Kunst allein
uns den Begriff von dem Wert und der Würde eines Kunstwerks geben
könne, daß man erst die beschwerlichen Stufen des Mechanismus und des
Handwerks, an denen der fähige Mensch sich jahrhundertelang
hinaufarbeitet, kennen müsse, um zu begreifen, wie es möglich sei, daß
das Genie auf dem Gipfel, bei dessen bloßem Anblick uns schwindelt,
sich frei und fröhlich bewege.

Er hatte in diesem Sinne eine schöne Reihe zusammengebracht, und ich
konnte mich nicht enthalten, als er mir sie auslegte, die moralische
Bildung hier wie im Gleichnisse vor mir zu sehen.  Als ich ihm meine
Gedanken äußerte, versetzte er: "Sie haben vollkommen recht, und wir
sehen daraus, daß man nicht wohltut, der sittlichen Bildung einsam, in
sich selbst verschlossen nachzuhängen; vielmehr wird man finden, daß
derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Kultur strebt, alle
Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden,
damit er nicht in Gefahr komme, von seiner moralischen Höhe
herabzugleiten, indem er sich den Lockungen einer regellosen Phantasie
übergibt und in den Fall kommt, seine edlere Natur durch Vergnügen an
geschmacklosen Tändeleien, wo nicht an etwas Schlimmerem
herabzuwürdigen."

Ich hatte ihn nicht im Verdacht, daß er auf mich ziele, aber ich
fühlte mich getroffen, wenn ich zurückdachte, daß unter den Liedern,
die mich erbauet hatten, manches abgeschmackte mochte gewesen sein und
daß die Bildchen, die sich an meine geistlichen Ideen anschlossen,
wohl schwerlich vor den Augen des Oheims würden Gnade gefunden haben.

Philo hatte sich indessen öfters in der Bibliothek aufgehalten und
führte mich nunmehr auch in selbiger ein.  Wir bewunderten die Auswahl
und dabei die Menge der Bücher.  Sie waren in jenem Sinne gesammelt:
denn es waren beinahe auch nur solche darin zu finden, die uns zur
deutlichen Erkenntnis führen oder uns zur rechten Ordnung anweisen,
die uns entweder rechte Materialien geben oder uns von der Einheit
unsers Geistes überzeugen.

Ich hatte in meinem Leben unsäglich gelesen, und in gewissen Fächern
war mir fast kein Buch unbekannt; um desto angenehmer war mir's, hier
von der übersicht des Ganzen zu sprechen und Lücken zu bemerken, wo
ich sonst nur eine beschränkte Verwirrung oder eine unendliche
Ausdehnung gesehen hatte.

Zugleich machten wir die Bekanntschaft eines sehr interessanten,
stillen Mannes.  Er war Arzt und Naturforscher und schien mehr zu den
Penaten als zu den Bewohnern des Hauses zu gehören.  Er zeigte uns das
Naturalienkabinett, das, wie die Bibliothek, in verschlossenen
Glasschränken zugleich die Wände der Zimmer verzierte und den Raum
veredelte, ohne ihn zu verengen.  Hier erinnerte ich mich mit Freuden
meiner Jugend und zeigte meinem Vater mehrere Gegenstände, die er
ehemals auf das Krankenbette seines kaum in die Welt blickenden Kindes
gebracht hatte.  Dabei verhehlte der Arzt so wenig als bei folgenden
Unterredungen, daß er sich mir in Absicht auf religiöse Gesinnungen
nähere, lobte dabei den Oheim außerordentlich wegen seiner Toleranz
und Schätzung von allem, was den Wert und die Einheit der menschlichen
Natur anzeige und befördere, nur verlange er freilich von allen andern
Menschen ein Gleiches und pflege nichts so sehr als individuellen
Dünkel und ausschließende Beschränktheit zu verdammen oder zu fliehen.

Seit der Trauung meiner Schwester sah dem Oheim die Freude aus den
Augen, und er sprach verschiedenemal mit mir über das, was er für sie
und ihre Kinder zu tun denke.  Er hatte schöne Güter, die er selbst
bewirtschaftete und die er in dem besten Zustande seinen Neffen zu
übergeben hoffte.  Wegen des kleinen Gutes, auf dem wir uns befanden,
schien er besondere Gedanken zu hegen: "Ich werde es", sagte er, "nur
einer Person überlassen, die zu kennen, zu schätzen und zu genießen
weiß, was es enthält, und die einsieht, wie sehr ein Reicher und
Vornehmer, besonders in Deutschland, Ursache habe, etwas Mustermäßiges
aufzustellen."

Schon war der größte Teil der Gäste nach und nach verflogen; wir
bereiteten uns zum Abschied und glaubten die letzte Szene der
Feierlichkeit erlebt zu haben, als wir aufs neue durch seine
Aufmerksamkeit, uns ein würdiges Vergnügen zu machen, überrascht
wurden.  Wir hatten ihm das Entzücken nicht verbergen können, das wir
fühlten, als bei meiner Schwester Trauung ein Chor Menschenstimmen
sich ohne alle Begleitung irgendeines Instruments hören ließ.  Wir
legten es ihm nahe genug, uns das Vergnügen noch einmal zu verschaffen;
er schien nicht darauf zu merken.  Wie überrascht waren wir daher,
als er eines Abends zu uns sagte: "Die Tanzmusik hat sich entfernt;
die jungen, flüchtigen Freunde haben uns verlassen; das Ehepaar selbst
sieht schon ernsthafter aus als vor einigen Tagen, und in einer
solchen Epoche voneinander zu scheiden, da wir uns vielleicht nie,
wenigstens anders wiedersehen, regt uns zu einer feierlichen Stimmung,
die ich nicht edler nähren kann als durch eine Musik, deren
Wiederholung Sie schon früher zu wünschen schienen."

Er ließ durch das indes verstärkte und im stillen noch mehr geübte
Chor uns vierund achtstimmige Gesänge vortragen, die uns, ich darf
wohl sagen, wirklich einen Vorschmack der Seligkeit gaben.  Ich hatte
bisher nur den frommen Gesang gekannt, in welchem gute Seelen oft mit
heiserer Kehle wie die Waldvögelein Gott zu loben glauben, weil sie
sich selbst eine angenehme Empfindung machen; dann die eitle Musik der
Konzerte, in denen man allenfalls zur Bewunderung eines Talents,
selten aber auch nur zu einem vorübergehenden Vergnügen hingerissen
wird.  Nun vernahm ich eine Musik, aus dem tiefsten Sinne der
trefflichsten menschlichen Naturen entsprungen, die durch bestimmte
und geübte Organe in harmonischer Einheit wieder zum tiefsten, besten
Sinne des Menschen sprach und ihn wirklich in diesem Augenblicke seine
Gottähnlichkeit lebhaft empfinden ließ.  Alles waren lateinische
geistliche Gesänge, die sich wie Juwelen in dem goldnen Ringe einer
gesitteten weltlichen Gesellschaft ausnahmen und mich ohne Anforderung
einer sogenannten Erbauung auf das geistigste erhoben und glücklich
machten.

Bei unserer Abreise wurden wir alle auf das edelste beschenkt.  Mir
überreichte er das Ordenskreuz meines Stiftes, kunstmäßiger und
schöner gearbeitet und emailliert, als man es sonst zu sehen gewohnt
war.  Es hing an einem großen Brillanten, wodurch es zugleich an das
Band befestigt wurde, und den er als den edelsten Stein einer
Naturaliensammlung anzusehen bat.

Meine Schwester zog nun mit ihrem Gemahl auf seine Güter, wir andern
kehrten alle nach unsern Wohnungen zurück und schienen uns, was unsere
äußren Umstände anbetraf, in ein ganz gemeines Leben zurückgekehrt zu
sein.  Wir waren wie aus einem Feenschloß auf die platte Erde gesetzt
und mußten uns wieder nach unsrer Weise benehmen und behelfen.

Die sonderbaren Erfahrungen, die ich in jenem neuen Kreise gemacht
hatte, ließen einen schönen Eindruck bei mir zurück; doch blieb er
nicht lange in seiner ganzen Lebhaftigkeit, obgleich der Oheim ihn zu
unterhalten und zu erneuern suchte, indem er mir von Zeit zu Zeit von
seinen besten und gefälligsten Kunstwerken zusandte und, wenn ich sie
lange genug genossen hatte, wieder mit andern vertauschte.

Ich war zu sehr gewohnt, mich mit mir selbst zu beschäftigen, die
Angelegenheiten meines Herzens und meines Gemütes in Ordnung zu
bringen und mich davon mit ähnlich gesinnten Personen zu unterhalten,
als daß ich mit Aufmerksamkeit ein Kunstwerk hätte betrachten sollen,
ohne bald auf mich selbst zurückzukehren.  Ich war gewohnt, ein
Gemälde und einen Kupferstich nur anzusehen wie die Buchstaben eines
Buchs.  Ein schöner Druck gefällt wohl; aber wer wird ein Buch des
Druckes wegen in die Hand nehmen?  So sollte mir auch eine bildliche
Darstellung etwas sagen, sie sollte mich belehren, rühren, bessern;
und der Oheim mochte in seinen Briefen, mit denen er seine Kunstwerke
erläuterte, reden, was er wollte, so blieb es mit mir doch immer beim
alten.

Doch mehr als meine eigene Natur zogen mich äußere Begebenheiten, die
Veränderungen in meiner Familie von solchen Betrachtungen, ja eine
Weile von mir selbst ab; ich mußte dulden und wirken, mehr, als meine
schwachen Kräfte zu ertragen schienen.

Meine ledige Schwester war bisher mein rechter Arm gewesen; gesund,
stark und unbeschreiblich gütig hatte sie die Besorgung der
Haushaltung über sich genommen, wie mich die persönliche Pflege des
alten Vaters beschäftigte.  Es überfällt sie ein Katarrh, woraus eine
Brustkrankheit wird, und in drei Wochen liegt sie auf der Bahre; ihr
Tod schlug mir Wunden, deren Narben ich jetzt noch nicht gerne ansehe.

Ich lag krank zu Bette, ehe sie noch beerdiget war; der alte Schaden
auf meiner Brust schien aufzuwachen, ich hustete heftig und war so
heiser, daß ich keinen lauten Ton hervorbringen konnte.

Die verheiratete Schwester kam vor Schrecken und Betrübnis zu früh in
die Wochen.  Mein alter Vater fürchtete, seine Kinder und die Hoffnung
seiner Nachkommenschaft auf einmal zu verlieren; seine gerechten
Tränen vermehrten meinen Jammer; ich flehte zu Gott um Herstellung
einer leidlichen Gesundheit und bat ihn nur, mein Leben bis nach dem
Tode des Vaters zu fristen.  Ich genas und war nach meiner Art wohl,
konnte wieder meine Pflichten, obgleich nur auf eine kümmerliche Weise,
erfüllen.



VI. Buch--8



Meine Schwester ward wieder guter Hoffnung.  Mancherlei Sorgen, die
in solchen Fällen der Mutter anvertraut werden, wurden mir mitgeteilt;
sie lebte nicht ganz glücklich mit ihrem Manne, das sollte dem Vater
verborgen bleiben; ich mußte Schiedsrichter sein und konnte es um so
eher, da mein Schwager Zutrauen zu mir hatte und beide wirklich gute
Menschen waren, nur daß beide, anstatt einander nachzusehen,
miteinander rechteten und aus Begierde, völlig miteinander überein zu
leben, niemals einig werden konnten.  Nun lernte ich auch die
weltlichen Dinge mit Ernst angreifen und das ausüben, was ich sonst
nur gesungen hatte.

Meine Schwester gebar einen Sohn; die Unpäßlichkeit meines Vaters
verhinderte ihn nicht, zu ihr zu reisen.  Beim Anblick des Kindes war
er unglaublich heiter und froh, und bei der Taufe erschien er mir
gegen seine Art wie begeistert, ja ich möchte sagen, als ein Genius
mit zwei Gesichtern.  Mit dem einen blickte er freudig vorwärts in
jene Regionen, in die er bald einzugehen hoffte, mit dem andern auf
das neue, hoffnungsvolle irdische Leben, das in dem Knaben entsprungen
war, der von ihm abstammte.  Er ward nicht müde, auf dem Rückwege mich
von dem Kinde zu unterhalten, von seiner Gestalt, seiner Gesundheit
und dem Wunsche, daß die Anlagen dieses neuen Weltbürgers glücklich
ausgebildet werden möchten.  Seine Betrachtungen hierüber dauerten
fort, als wir zu Hause anlangten, und erst nach einigen Tagen bemerkte
man eine Art Fieber, das sich nach Tisch ohne Frost durch eine etwas
ermattende Hitze äußerte.  Er legte sich jedoch nicht nieder, fuhr des
Morgens aus und versah treulich seine Amtsgeschäfte, bis ihn endlich
anhaltende, ernsthafte Symptome davon abhielten.

Nie werde ich die Ruhe des Geistes, die Klarheit und Deutlichkeit
vergessen, womit er die Angelegenheiten seines Hauses, die Besorgung
seines Begräbnisses, als wie das Geschäft eines andern, mit der
größten Ordnung vornahm.

Mit einer Heiterkeit, die ihm sonst nicht eigen war und die bis zu
einer lebhaften Freude stieg, sagte er zu mir: "Wo ist die Todesfurcht
hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand?  Sollt ich zu sterben
scheuen?  Ich habe einen gnädigen Gott, das Grab erweckt mir kein
Grauen, ich habe ein ewiges Leben."

Mir die Umstände seines Todes zurückzurufen, der bald darauf erfolgte,
ist in meiner Einsamkeit eine meiner angenehmsten Unterhaltungen, und
die sichtbaren Wirkungen einer höhern Kraft dabei wird mir niemand
wegräsonieren.

Der Tod meines lieben Vaters veränderte meine bisherige Lebensart.
Aus dem strengsten Gehorsam, aus der größten Einschränkung kam ich in
die größte Freiheit, und ich genoß ihrer wie einer Speise, die man
lange entbehrt hat.  Sonst war ich selten zwei Stunden außer dem Hause;
nun verlebte ich kaum einen Tag in meinem Zimmer.  Meine Freunde, bei
denen ich sonst nur abgerissene Besuche machen konnte, wollten sich
meines anhaltenden Umgangs sowie ich mich des ihrigen erfreuen; öfters
wurde ich zu Tische geladen, Spazierfahrten und kleine Lustreisen
kamen hinzu, und ich blieb nirgends zurück.  Als aber der Zirkel
durchlaufen war, sah ich, daß das unschätzbare Glück der Freiheit
nicht darin besteht, daß man alles tut, was man tun mag und wozu uns
die Umstände einladen, sondern daß man das ohne Hindernis und Rückhalt
auf dem geraden Wege tun kann, was man für recht und schicklich hält,
und ich war alt genug, in diesem Falle ohne Lehrgeld zu der schönen
überzeugung zu gelangen.

Was ich mir nicht versagen konnte, war, so bald als nur möglich den
Umgang mit den Gliedern der herrnhutischen Gemeine fortzusetzen und
fester zu knüpfen, und ich eilte, eine ihrer nächsten Einrichtungen zu
besuchen: aber auch da fand ich keinesweges, was ich mir vorgestellt
hatte.  Ich war ehrlich genug, meine Meinung merken zu lassen, und man
suchte mir hinwieder beizubringen: diese Verfassung sei gar nichts
gegen eine ordentlich eingerichtete Gemeine.  Ich konnte mir das
gefallen lassen; doch hätte nach meiner überzeugung der wahre Geist
aus einer kleinen so gut als aus einer großen Anstalt hervorblicken
sollen.

Einer ihrer Bischöfe, der gegenwärtig war, ein unmittelbarer Schüler
des Grafen, beschäftigte sich viel mit mir; er sprach vollkommen
Englisch, und weil ich es ein wenig verstand, meinte er, es sei ein
Wink, daß wir zusammengehörten; ich meinte es aber ganz und gar nicht;
sein Umgang konnte mir nicht im geringsten gefallen.  Er war ein
Messerschmied, ein geborner Mähre; seine Art zu denken konnte das
Handwerksmäßige nicht verleugnen.  Besser verstand ich mich mit dem
Herrn von L***, der Major in französischen Diensten gewesen war; aber
zu der Untertänigkeit, die er gegen seine Vorgesetzten bezeigte,
fühlte ich mich niemals fähig; ja es war mir, als wenn man mir eine
Ohrfeige gäbe, wenn ich die Majorin und andere mehr oder weniger
angesehene Frauen dem Bischof die Hand küssen sah.  Indessen wurde
doch eine Reise nach Holland verabredet, die aber, und gewiß zu meinem
Besten, niemals zustande kam.

Meine Schwester war mit einer Tochter niedergekommen, und nun war die
Reihe an uns Frauen, zufrieden zu sein und zu denken, wie sie dereinst
uns ähnlich erzogen werden sollte.  Mein Schwager war dagegen sehr
unzufrieden, als in dem Jahr darauf abermals eine Tochter erfolgte; er
wünschte bei seinen großen Gütern Knaben um sich zu sehen, die ihm
einst in der Verwaltung beistehen könnten.

Ich hielt mich bei meiner schwachen Gesundheit still und bei einer
ruhigen Lebensart ziemlich im Gleichgewicht; ich fürchtete den Tod
nicht, ja ich wünschte zu sterben, aber ich fühlte in der Stille, daß
mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu untersuchen und ihm immer
näherzukommen.  In den vielen schlaflosen Nächten habe ich besonders
etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich beschreiben kann.

Es war, als wenn meine Seele ohne Gesellschaft des Körpers dächte; sie
sah den Körper selbst als ein ihr fremdes Wesen an, wie man etwa ein
Kleid ansieht.  Sie stellte sich mit einer außerordentlichen
Lebhaftigkeit die vergangenen Zeiten und Begebenheiten vor und fühlte
daraus, was folgen werde.  Alle diese Zeiten sind dahin; was folgt,
wird auch dahingehen: der Körper wird wie ein Kleid zerreißen, aber
ich, das wohlbekannte Ich, ich bin.

Diesem großen, erhabenen und tröstlichen Gefühle sowenig als nur
möglich nachzuhängen, lehrte mich ein edler Freund, der sich mir immer
näher verband; es war der Arzt, den ich in dem Hause meines Oheims
hatte kennenlernen und der sich von der Verfassung meines Körpers und
meines Geistes sehr gut unterrichtet hatte; er zeigte mir, wie sehr
diese Empfindungen, wenn wir sie unabhängig von äußern Gegenständen in
uns nähren, uns gewissermaßen aushöhlen und den Grund unseres Daseins
untergraben.  "Tätig zu sein", sagte er, "ist des Menschen erste
Bestimmung, und alle Zwischenzeiten, in denen er auszuruhen genötiget
ist, sollte er anwenden, eine deutliche Erkenntnis der äußerlichen
Dinge zu erlangen, die ihm in der Folge abermals seine Tätigkeit
erleichtert."

Da der Freund meine Gewohnheit kannte, meinen eigenen Körper als einen
äußern Gegenstand anzusehn, und da er wußte, daß ich meine
Konstitution, mein übel und die medizinischen Hülfsmittel ziemlich
kannte und ich wirklich durch anhaltende eigene und fremde Leiden ein
halber Arzt geworden war, so leitete er meine Aufmerksamkeit von der
Kenntnis des menschlichen Körpers und der Spezereien auf die übrigen
nachbarlichen Gegenstände der Schöpfung und führte mich wie im
Paradiese umher, und nur zuletzt, wenn ich mein Gleichnis fortsetzen
darf, ließ er mich den in der Abendkühle im Garten wandelnden Schöpfer
aus der Entfernung ahnen.

Wie gerne sah ich nunmehr Gott in der Natur, da ich ihn mit solcher
Gewißheit im Herzen trug; wie interessant war mir das Werk seiner
Hände, und wie dankbar war ich, daß er mich mit dem Atem seines Mundes
hatte beleben wollen!  Wir hofften aufs neue mit meiner Schwester auf
einen Knaben, dem mein Schwager so sehnlich entgegensah und dessen
Geburt er leider nicht erlebte.  Der wackere Mann starb an den Folgen
eines unglücklichen Sturzes vom Pferde, und meine Schwester folgte ihm,
nachdem sie der Welt einen schönen Knaben gegeben hatte.  Ihre vier
hinterlassenen Kinder konnte ich nur mit Wehmut ansehn.  So manche
gesunde Person war vor mir, der Kranken, hingegangen; sollte ich nicht
vielleicht von diesen hoffnungsvollen Blüten manche abfallen sehen?
Ich kannte die Welt genug, um zu wissen, unter wie vielen Gefahren ein
Kind, besonders in dem höheren Stande, heraufwächst, und es schien mir,
als wenn sie seit der Zeit meiner Jugend sich für die gegenwärtige
Welt noch vermehrt hätten.  Ich fühlte, daß ich bei meiner Schwäche
wenig oder nichts für die Kinder zu tun imstande sei; um desto
erwünschter war mir des Oheims Entschluß, der natürlich aus seiner
Denkungsart entsprang, seine ganze Aufmerksamkeit auf die Erziehung
dieser liebenswürdigen Geschöpfe zu verwenden.  Und gewiß, sie
verdienten es in jedem Sinne, sie waren wohlgebildet und versprachen
bei ihrer großen Verschiedenheit sämtlich gutartige und verständige
Menschen zu werden.

Seitdem mein guter Arzt mich aufmerksam gemacht hatte, betrachtete ich
gern die Familienähnlichkeit in Kindern und Verwandten.  Mein Vater
hatte sorgfältig die Bilder seiner Vorfahren aufbewahrt, sich selbst
und seine Kinder von leidlichen Meistern malen lassen, auch war meine
Mutter und ihre Verwandten nicht vergessen worden.  Wir kannten die
Charaktere der ganzen Familie genau, und da wir sie oft untereinander
verglichen hatten, so suchten wir nun bei den Kindern die
ähnlichkeiten des äußern und Innern wieder auf.  Der älteste Sohn
meiner Schwester schien seinem Großvater väterlicher Seite zu gleichen,
von dem ein jugendliches Bild, sehr gut gemalt, in der Sammlung
unseres Oheims aufgestellt war; auch liebte er wie jener, der sich
immer als ein braver Offizier gezeigt hatte, nichts so sehr als das
Gewehr, womit er sich immer, sooft er mich besuchte, beschäftigte.
Denn mein Vater hatte einen sehr schönen Gewehrschrank hinterlassen,
und der Kleine hatte nicht eher Ruhe, bis ich ihm ein paar Pistolen
und eine Jagdflinte schenkte und bis er herausgebracht hatte, wie ein
deutsches Schloß aufzuziehen sei. übrigens war er in seinen Handlungen
und seinem ganzen Wesen nichts weniger als rauh, sondern vielmehr
sanft und verständig.

Die älteste Tochter hatte meine ganze Neigung gefesselt, und es mochte
wohl daher kommen, weil sie mir ähnlich sah und weil sie sich von
allen vieren am meisten zu mir hielt.  Aber ich kann wohl sagen, je
genauer ich sie beobachtete, da sie heranwuchs, desto mehr beschämte
sie mich, und ich konnte das Kind nicht ohne Bewunderung, ja ich darf
beinahe sagen, nicht ohne Verehrung ansehn.  Man sah nicht leicht eine
edlere Gestalt, ein ruhiger Gemüt und eine immer gleiche, auf keinen
Gegenstand eingeschränkte Tätigkeit.  Sie war keinen Augenblick ihres
Lebens unbeschäftigt, und jedes Geschäft ward unter ihren Händen zur
würdigen Handlung.  Alles schien ihr gleich, wenn sie nur das
verrichten konnte, was in der Zeit und am Platz war, und ebenso konnte
sie ruhig, ohne Ungeduld bleiben, wenn sich nichts zu tun fand.  Diese
Tätigkeit ohne Bedürfnis einer Beschäftigung habe ich in meinem Leben
nicht wieder gesehen.  Unnachahmlich war von Jugend auf ihr Betragen
gegen Notleidende und Hülfsbedürftige.  Ich gestehe gern, daß ich
niemals das Talent hatte, mir aus der Wohltätigkeit ein Geschäft zu
machen; ich war nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in meinem
Verhältnisse zuviel dahin, aber gewissermaßen kaufte ich mich nur los,
und es mußte mir jemand angeboren sein, wenn er mir meine Sorgfalt
abgewinnen wollte.  Gerade das Gegenteil lobe ich an meiner Nichte.
Ich habe sie niemals einem Armen Geld geben sehen, und was sie von mir
zu diesem Endzweck erhielt, verwandelte sie immer erst in das nächste
Bedürfnis.  Niemals erschien sie mir liebenswürdiger, als wenn sie
meine Kleider- und Wäschschränke plünderte; immer fand sie etwas, das
ich nicht trug und nicht brauchte, und diese alten Sachen
zusammenzuschneiden und sie irgendeinem zerlumpten Kinde anzupassen
war ihre größte Glückseligkeit.

Die Gesinnungen ihrer Schwester zeigten sich schon anders; sie hatte
vieles von der Mutter, versprach schon frühe sehr zierlich und reizend
zu werden und scheint ihr Versprechen halten zu wollen; sie ist sehr
mit ihrem äußern beschäftigt und wußte sich von früher Zeit an auf
eine in die Augen fallende Weise zu putzen und zu tragen.  Ich
erinnere mich noch immer, mit welchem Entzücken sie sich als ein
kleines Kind im Spiegel besah, als ich ihr die schönen Perlen, die mir
meine Mutter hinterlassen hatte und die sie von ungefähr bei mir fand,
umbinden mußte.

Wenn ich diese verschiedenen Neigungen betrachtete, war es mir
angenehm zu denken, wie meine Besitzungen nach meinem Tode unter sie
zerfallen und durch sie wieder lebendig werden würden.  Ich sah die
Jagdflinten meines Vaters schon wieder auf dem Rücken des Neffen im
Felde herumwandeln und aus seiner Jagdtasche schon wieder Hühner
herausfallen; ich sah meine sämtliche Garderobe bei der
Osterkonfirmation, lauter kleinen Mädchen angepaßt, aus der Kirche
herauskommen und mit meinen besten Stoffen ein sittsames Bürgermädchen
an ihrem Brauttage geschmückt: denn zu Ausstattung solcher Kinder und
ehrbarer armer Mädchen hatte Natalie eine besondere Neigung, ob sie
gleich, wie ich hier bemerken muß, selbst keine Art von Liebe und,
wenn ich so sagen darf, kein Bedürfnis einer Anhänglichkeit an ein
sichtbares oder unsichtbares Wesen, wie es sich bei mir in meiner
Jugend so lebhaft gezeigt hatte, auf irgendeine Weise merken ließ.

Wenn ich nun dachte, daß die Jüngste an ebendemselben Tage meine
Perlen und Juwelen nach Hofe tragen werde, so sah ich mit Ruhe meine
Besitzungen wie meinen Körper den Elementen wiedergegeben.

Die Kinder wuchsen heran und sind zu meiner Zufriedenheit gesunde,
schöne und wackre Geschöpfe.  Ich ertrage es mit Geduld, daß der Oheim
sie von mir entfernt hält, und sehe sie, wenn sie in der Nähe oder
auch wohl gar in der Stadt sind, selten.

Ein wunderbarer Mann, den man für einen französischen Geistlichen hält,
ohne daß man recht von seiner Herkunft unterrichtet ist, hat die
Aufsicht über die sämtlichen Kinder, welche an verschiedenen Orten
erzogen werden und bald hier, bald da in der Kost sind.

Ich konnte anfangs keinen Plan in dieser Erziehung sehn, bis mir mein
Arzt zuletzt eröffnete: der Oheim habe sich durch den Abbe überzeugen
lassen, daß, wenn man an der Erziehung des Menschen etwas tun wolle,
müsse man sehen, wohin seine Neigungen und Wünsche gehen.  Sodann
müsse man ihn in die Lage versetzen, jene so bald als möglich zu
befriedigen, diese so bald als möglich zu erreichen, damit der Mensch,
wenn er sich geirret habe, früh genug seinen Irrtum gewahr werde, und
wenn er das getroffen hat, was für ihn paßt, desto eifriger daran
halte und sich desto emsiger fortbilde.  Ich wünsche, daß dieser
sonderbare Versuch gelingen möge; bei so guten Naturen ist es
vielleicht möglich.

Aber das, was ich nicht an diesen Erziehern billigen kann, ist, daß
sie alles von den Kindern zu entfernen suchen, was sie zu dem Umgange
mit sich selbst und mit dem unsichtbaren, einzigen treuen Freunde
führen könne.  Ja, es verdrießt mich oft von dem Oheim, daß er mich
deshalb für die Kinder für gefährlich hält.  Im Praktischen ist doch
kein Mensch tolerant!  Denn wer auch versichert, daß er jedem seine
Art und Wesen gerne lassen wolle, sucht doch immer diejenigen von der
Tätigkeit auszuschließen, die nicht so denken wie er.

Diese Art, die Kinder von mir zu entfernen, betrübt mich desto mehr,
je mehr ich von der Realität meines Glaubens überzeugt sein kann.
Warum sollte er nicht einen göttlichen Ursprung, nicht einen
wirklichen Gegenstand haben, da er sich im Praktischen so wirksam
erweiset?  Werden wir durchs Praktische doch unseres eigenen Daseins
selbst erst recht gewiß, warum sollten wir uns nicht auch auf ebendem
Wege von jenem Wesen überzeugen können, das uns zu allem Guten die
Hand reicht?

Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts gehe, daß meine Handlungen immer
mehr der Idee ähnlich werden, die ich mir von der Vollkommenheit
gemacht habe, daß ich täglich mehr Leichtigkeit fühle, das zu tun, was
ich für recht halte, selbst bei der Schwäche meines Körpers, der mir
so manchen Dienst versagt; läßt sich das alles aus der menschlichen
Natur, deren Verderben ich so tief eingesehen habe, erklären?  Für
mich nun einmal nicht.

Ich erinnere mich kaum eines Gebotes; nichts erscheint mir in Gestalt
eines Gesetzes; es ist ein Trieb, der mich leitet und mich immer recht
führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und weiß sowenig von
Einschränkung als von Reue.  Gott sei Dank, daß ich erkenne, wem ich
dieses Glück schuldig bin und daß ich an diese Vorzüge nur mit Demut
denken darf.  Denn niemals werde ich in Gefahr kommen, auf mein eignes
Können und Vermögen stolz zu werden, da ich so deutlich erkannt habe,
welch Ungeheuer in jedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft
uns nicht bewahrt, sich erzeugen und nähren könne.



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von Johann Wolfgang von Goethe.



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