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Title: Jenseits von Gut und Böse
Author: Nietzsche, Friedrich Wilhelm
Language: German
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Friedrich Nietzsche

Jenseits von Gut und Böse



Inhalt

    Vorrede
    1. Hauptstück: Von den Vorurtheilen der Philosophen.
    2. Hauptstück: Der freie Geist.
    3. Hauptstück: Das religiöse Wesen.
    4. Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele.
    5. Hauptstück: Zur Naturgeschichte der Moral.
    6. Hauptstück: Wir Gelehrten.
    7. Hauptstück: Unsere Tugenden.
    8. Hauptstück: Völker und Vaterländer.
    9. Hauptstück: Was ist vornehm?
    Aus hohen Bergen. Nachgesang.



Jenseits von Gut und Böse

Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.



Vorrede.

Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist -, wie? ist der Verdacht
nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren,
sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst,
die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit
zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um
gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie
sich nicht hat einnehmen lassen: - und jede Art Dogmatik steht heute
mit betrübter und muthloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht!
Denn es giebt Spötter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle
Dogmatik liege zu Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten
Zügen. Ernstlich geredet, es giebt gute Gründe zu der Hoffnung, dass
alles Dogmatisiren in der Philosophie, so feierlich, so end- und
letztgültig es sich auch gebärdet hat, doch nur eine edle Kinderei
und Anfängerei gewesen sein möge; und die Zeit ist vielleicht sehr
nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, was eigentlich
schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und
unbedingten Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker
bisher aufbauten, - irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher
Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube
auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein
Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der Grammatik
her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr
persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Die
Philosophie der Dogmatiker war hoffentlich nur ein Versprechen über
Jahrtausende hinweg: wie es in noch früherer Zeit die Astrologie war,
für deren Dienst vielleicht mehr Arbeit, Geld, Scharfsinn, Geduld
aufgewendet worden ist, als bisher für irgend eine wirkliche
Wissenschaft: - man verdankt ihr und ihren "überirdischen" Ansprüchen
in Asien und Agypten den grossen Stil der Baukunst. Es scheint, dass
alle grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in
das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflössende
Fratzen über die Erde hinwandeln müssen: eine solche Fratze war die
dogmatische Philosophie, zum Beispiel die Vedanta-Lehre in Asien, der
Platonismus in Europa. Seien wir nicht undankbar gegen sie, so gewiss
es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste
und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum
gewesen ist, nämlich Plato's Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten
an sich. Aber nunmehr, wo er überwunden ist, wo Europa von diesem
Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen - Schlafs
geniessen darf, sind wir, deren Aufgabe das Wachsein selbst ist,
die Erben von all der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irrthum
grossgezüchtet hat. Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf
stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens,
selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato
gethan hat; ja man darf, als Arzt, fragen: "woher eine solche
Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch
der böse Sokrates verdorben? wäre Sokrates doch der Verderber der
Jugend gewesen? und hätte seinen Schlierling verdient?" - Aber der
Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für's "Volk"
zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von
Jahrtausenden - denn Christenthum ist Platonismus für's "Volk" - hat
in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie
auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man
nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europäische
Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon zwei
Mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal
durch den Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische
Aufklärung: - als welche mit Hülfe der Pressfreiheit und des
Zeitunglesens es in der That erreichen dürfte, dass der Geist sich
selbst nicht mehr so leicht als "Noth" empfindet! (Die Deutschen haben
das Pulver erfunden - alle Achtung! aber sie haben es wieder quitt
gemacht - sie erfanden die Presse.) Aber wir, die wir weder Jesuiten,
noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europäer
und freien, sehr freien Geister - wir haben sie noch, die ganze Noth
des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch
den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel.....

Sils-Maria,

Oberengadin im Juni 1885.



Erstes Hauptstück:

Von den Vorurtheilen der Philosophen.

1.

Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen
wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher
mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille
zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen
fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte, - und
doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn
wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns
ungeduldig umdrehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das
Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt?
Was in uns will eigentlich "zur Wahrheit"? - In der that, wir machten
langen Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, - bis
wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen
blieben. Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir
wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit?
Selbst Unwissenheit? - Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor
uns hin, - oder waren wir's, die vor das Problem hin traten? Wer von
uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es
scheint, von Fragen und Fragezeichen. - Und sollte man's glauben, dass
es uns schliesslich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher
gestellt, - als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in's Auge
gefasst, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei, und vielleicht giebt es
kein grösseres.


2.

"Wie könnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die
Wahrheit aus dem Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen
zur Täuschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze? Oder
das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der Begehrlichkeit?
Solcherlei Entstehung ist unmöglich; wer davon träumt, ein Narr, ja
Schlimmeres; die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, eigenen
Ursprung haben, - aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden
geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie
unableitbar! Vielmehr im Schoosse des Sein's, im Unvergänglichen,
im verborgenen Gotte, im `Ding an sich` - da muss ihr Grund liegen,
und sonst nirgendswo!" - Diese Art zu urtheilen macht das typische
Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder
erkennen lassen; diese Art von Werthschätzungen steht im Hintergrunde
aller ihrer logischen Prozeduren; aus diesem ihrem "Glauben" heraus
bemühn sie sich um ihr "Wissen", um Etwas, das feierlich am Ende als
"die Wahrheit" getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist der
Glaube an die Gegensätze der Werthe. Es ist auch den Vorsichtigsten
unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu
zweifeln, wo es doch am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt
hatten "de omnibus dubitandum". Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob
es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen
Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr
Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen
sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem
Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven
gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist?
Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen
zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur
Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer
und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar
noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge
ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar
entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft,
verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht! - Aber wer
ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern! Man
muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen
abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack
und Hang haben als die bisherigen, - Philosophen des gefährlichen
Vielleicht in jedem Verstande. - Und allen Ernstes gesprochen: ich
sehe solche neue Philosophen heraufkommen.


3.

Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf
die Finger gesehn habe, sage ich mir: man muss noch den grössten Theil
des bewussten Denkens unter die Instinkt-Thätigkeiten rechnen, und
sogar im Falle des philosophischen Denkens; man muss hier umlernen,
wie man in Betreff der Vererbung und des "Angeborenen" umgelernt hat.
So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der
Vererbung in Betracht kommt: ebenso wenig ist "Bewusstsein" in irgend
einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, - das
meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte
heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller
Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen
Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen
zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Zum Beispiel, dass das
Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte, der Schein weniger werth
als die "Wahrheit": dergleichen Schätzungen könnten, bei aller ihrer
regulativen Wichtigkeit für uns, doch nur Vordergrunds-Schätzungen
sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung
von Wesen, wie wir sind, noth thun mag. Gesetzt nämlich, dass nicht
gerade der Mensch das "Maass der Dinge" ist.....


4.

Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein
Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die
Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Arterhaltend,
vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu
behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen
Urtheile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass
ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen
der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten,
Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch
die Zahl der Mensch nicht leben könnte, - dass Verzichtleisten auf
falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des
Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst
freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen
Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich
damit allein schon jenseits von Gut und Böse.


5.

Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb spöttisch
zu blicken, ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie
unschuldig sie sind - wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und
verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit - sondern dass es bei
ihnen nicht redlich genug zugeht: während sie allesammt einen grossen
und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit
auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich sämmtlich, als
ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer
kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht
hätten (zum Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher
als sie und tölpelhafter sind - diese reden von "Inspiration" -):
während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine
"Eingebung", zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter
Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt
wird: - sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen,
und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile,
die sie "Wahrheiten" taufen - und sehr ferne von der Tapferkeit des
Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem
guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt,
sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Übermuth und
um ihrer selbst zu spotten. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie
des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege
lockt, welche zu seinem "kategorischen Imperativ" führen, richtiger
verführen - dies Schauspiel macht uns Verwöhnte lächeln, die wir keine
kleine Belustigung darin finden, den feinen Tücken alter Moralisten
und Moralprediger auf die Finger zu sehn. Oder gar jener Hocuspocus
von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie - "die
Liebe zu seiner Weisheit" zuletzt, das Wort richtig und billig
ausgelegt - wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von
vornherein den Muth des Angreifenden einzuschüchtern, der auf diese
unüberwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen
würde: - wie viel eigne Schüchternheit und Angreifbarkeit verräth
diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken!


6.

Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie
bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine
Art ungewollter und unvermerkter mémoires; insgleichen, dass die
moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den
eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze
gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung
davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen
eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen:
auf welche Moral will es (will er -) hinaus? Ich glaube demgemäss
nicht, dass ein "Trieb zur Erkenntniss" der Vater der Philosophie ist,
sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss
(und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber
die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade
hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und Kobolde -) ihr Spiel
getrieben haben mögen, wird finden, dass sie Alle schon einmal
Philosophie getrieben haben, - und dass jeder Einzelne von ihnen
gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als
berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn
jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu
philosophiren. - Freilich: bei den Gelehrten, den eigentlich
wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn - "besser", wenn man
will -, da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben,
irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen,
tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe
des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen
"Interessen" des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders,
etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist
beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene
Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der "hoffnungsvolle"
junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner
oder Chemiker macht: - es bezeichnet ihn nicht, dass er dies oder
jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts
Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes
und entscheidendes Zeugniss dafür ab, wer er ist - das heisst, in
welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander
gestellt sind.


7.

Wie boshaft Philosophen sein können! Ich kenne nichts Giftigeres als
den Scherz, den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte:
er nannte sie Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im
Vordergrunde "Schmeichler des Dionysios", also Tyrannen-Zubehör und
Speichellecker; zu alledem will es aber noch sagen "das sind Alles
Schauspieler, daran ist nichts Ächtes" (denn Dionysokolax war eine
populäre Bezeichnung des Schauspielers). Und das Letztere ist
eigentlich die Bosheit, welche Epicur gegen Plato abschoss: ihn
verdross die grossartige Manier, das Sich-in-Scene-Setzen, worauf
sich Plato sammt seinen Schülern verstand, - worauf sich Epicur nicht
verstand! er, der alte Schulmeister von Samos, der in seinem Gärtchen
zu Athen versteckt sass und dreihundert Bücher schrieb, wer weiss?
vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato? - Es brauchte hundert
Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur
gewesen war. - Kam es dahinter? -


8.

In jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die "Überzeugung" des
Philosophen auf die Bühne tritt: oder, um es in der Sprache eines
alten Mysteriums zu sagen:

    adventavit asinus
    pulcher et fortissimus.


9.

"Gemäss der Natur" wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche
Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist,
verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten
und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde
und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht
- wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz leben? Leben - ist
das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist
Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein,
Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ "gemäss der Natur
leben" bedeute im Grunde soviel als "gemäss dem Leben leben" - wie
könntet ihr's denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr
selbst seid und sein müsst? - In Wahrheit steht es ganz anders: indem
ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt,
wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und
Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure
Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt,
dass sie "der Stoa gemäss" Natur sei und möchtet alles Dasein nur
nach eurem eignen Bilde dasein machen - als eine ungeheure ewige
Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus! Mit aller eurer
Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so
hypnotisch-starr, die Natur falsch, nämlich stoisch zu sehn, bis ihr
sie nicht mehr anders zu sehen vermögt, - und irgend ein abgründlicher
Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollhäusler-Hoffnung ein, dass,
weil ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht - Stoicismus ist
Selbst-Tyrannei -, auch die Natur sich tyrannisiren lässt: ist denn
der Stoiker nicht ein Stück Natur? Aber dies ist eine alte ewige
Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute
noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben.
Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders;
Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille
zur Macht, zur "Schaffung der Welt", zur causa prima.


10.

Der Eifer und die Feinheit, ich möchte sogar sagen: Schlauheit, mit
denen man heute überall in Europa dem Probleme "von der wirklichen
und der scheinbaren Welt" auf den Leib rückt, giebt zu denken und zu
horchen; und wer hier im Hintergrunde nur einen "Willen zur Wahrheit"
und nichts weiter hört, erfreut sich gewiss nicht der schärfsten
Ohren. In einzelnen und seltenen Fällen mag wirklich ein solcher Wille
zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und abenteuernder Muth, ein
Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens dabei betheiligt sein, der
zuletzt eine Handvoll "Gewissheit" immer noch einem ganzen Wagen voll
schöner Möglichkeiten vorzieht; es mag sogar puritanische Fanatiker
des Gewissens geben, welche lieber noch sich auf ein sicheres Nichts
als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist Nihilismus
und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele: wie tapfer
auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen mögen. Bei den
stärkeren, lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern scheint
es aber anders zu stehen: indem sie Partei gegen den Schein nehmen und
das Wort "perspektivisch" bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie
die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungefähr so gering anschlagen
wie die Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt "die Erde steht
still", und dermaassen anscheinend gut gelaunt den sichersten Besitz
aus den Händen lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen
Leib?) wer weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zurückerobern wollen,
das man ehemals noch sicherer besessen hat, irgend Etwas vom alten
Grundbesitz des Glaubens von Ehedem, vielleicht "die unsterbliche
Seele", vielleicht "den alten Gott", kurz, Ideen, auf welchen sich
besser, nämlich kräftiger und heiterer leben liess als auf den
"modernen Ideen"? Es ist Misstrauen gegen diese modernen Ideen darin,
es ist Unglauben an alles Das, was gestern und heute gebaut worden
ist; es ist vielleicht ein leichter Überdruss und Hohn eingemischt,
der das bric-à-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht
mehr aushält, als welches sich heute der sogenannte Positivismus
auf den Markt bringt, ein Ekel des verwöhnteren Geschmacks
vor der Jahrmarkts-Buntheit und Lappenhaftigkeit aller dieser
Wirklichkeits-Philosophaster, an denen nichts neu und ächt ist als
diese Buntheit. Man soll darin, wie mich dünkt, diesen skeptischen
Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht geben:
ihr Instinkt, welcher sie aus der modernen Wirklichkeit hinwegtreibt,
ist unwiderlegt, - was gehen uns ihre rückläufigen Schleichwege an!
Das Wesentliche an ihnen ist nicht, dass sie "zurück" wollen: sondern,
dass sie - weg wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr
und sie würden hinaus wollen, - und nicht zurück! -


11.

Es scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist, von dem
eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausgeübt
hat, den Blick abzulenken und namentlich über den Werth, den er sich
selbst zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und
zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel
in den Händen: "das ist das Schwerste, was jemals zum Behufe der
Metaphysik unternommen werden konnte". - Man verstehe doch dies
"werden konnte"! er war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen,
das Vermögen zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben.
Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und
rasche Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze und an
dem Wetteifer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken -
und jedenfalls "neue Vermögen"! - Aber besinnen wir uns: es ist an der
Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? fragte sich
Kant, - und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermögens:
leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig
und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne,
dass man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer
solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über dieses neue
Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein
moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte: - denn damals
waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht
"real-politisch". - Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie;
alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die
Büsche, - alle suchten nach "Vermögen". Und was fand man nicht Alles -
in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen
Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies,
hineinsang, damals, als man "finden" und "erfinden" noch nicht
auseinander zu halten wusste! Vor Allem ein Vermögen für's
"übersinnliche": Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und
kam damit den herzlichsten Gelüsten seiner im Grunde frommgelüsteten
Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen übermüthigen und
schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in
graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht
thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer
Entrüstung behandelt; genug, man wurde älter, - der Traum verflog. Es
kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb: man reibt sie sich heute
noch. Man hatte geträumt: voran und zuerst - der alte Kant. "Vermöge
eines Vermögens" - hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn
das - eine Antwort? Eine Erklärung? Oder nicht vielmehr nur eine
Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium schlafen? "Vermöge
eines Vermögens", nämlich der virtus dormitiva - antwortet jener Arzt
bei Molière,

    quia est in eo virtus dormitiva,
    cujus est natura sensus assoupire.

Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich
an der Zeit, die Kantische Frage "Wie sind synthetische Urtheile a
priori möglich?" durch eine andre Frage zu ersetzen "warum ist der
Glaube an solche Urtheile nöthig?" - nämlich zu begreifen, dass zum
Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr
geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile
sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich:
synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht "möglich sein": wir
haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche
Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig, als
ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik
des Lebens gehört. - Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu
gedenken, welche "die deutsche Philosophie" - man versteht, wie ich
hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüsschen? - in ganz Europa ausgeübt
hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus dormitiva
dabei betheiligt war: man war entzückt, unter edlen Müssiggängern,
Tugendhaften, Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und
politischen Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen
Philosophie, ein Gegengift gegen den noch übermächtigen Sensualismus
zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz
-"sensus assoupire".......


12.

Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu
den bestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in
Europa Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum
bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der
Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen - Dank
vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus,
bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war.
Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle
Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an
das Letzte, was von der Erde "feststand", abschwören, dem Glauben an
den "Stoff", an die "Materie", an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom:
es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden
errungen worden ist. - Man muss aber noch weiter gehn und auch dem
"atomistischen Bedürfnisse", das immer noch ein gefährliches Nachleben
führt, auf Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem berühmteren
"metaphysischen Bedürfnisse" - den Krieg erklären, einen
schonungslosen Krieg auf's Messer: - man muss zunächst auch jener
anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus machen,
welche das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der
Seelen-Atomistik. Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben
zu bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges,
Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt: diesen Glauben
soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen! Es ist, unter uns
gesagt, ganz und gar nicht nöthig, "die Seele" selbst dabei los zu
werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht
zu leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt,
welche, kaum dass sie an "die Seele" rühren, sie auch verlieren. Aber
der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese
steht offen: und Begriffe wie "sterbliche Seele" und "Seele als
Subjekts-Vielheit" und "Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und
Affekte" wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. Indem
der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um
die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit wucherte,
hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue Öde und ein
neues Misstrauen hinaus gestossen - es mag sein, dass die älteren
Psychologen es bequemer und lustiger hatten -: zuletzt aber weiss
er sich eben damit auch zum Erfinden verurtheilt - und, wer weiss?
vielleicht zum Finden. -


13.

Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als
kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will
etwas Lebendiges seine Kraft auslassen - Leben selbst ist Wille
zur Macht -: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten
und häufigsten Folgen davon. - Kurz, hier wie überall, Vorsicht
vor überflüssigen teleologischen Principien! - wie ein solches
der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz
Spinoza's -). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich
Principien-Sparsamkeit sein muss.


14.

Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch
nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub
gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf
den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange
hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und
Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit
für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack
bezaubernd, überredend, überzeugend, - es folgt ja instinktiv dem
Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. Was ist klar,
was "erklärt"? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, - bis so
weit muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben
gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen
Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war, - vielleicht unter
Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne
erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren
Triumph darin zu finden wussten, über diese Sinne Herr zu bleiben: und
dies mittels blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den
bunten Sinnen-Wirbel - den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte - warfen.
Es war eine andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und
Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen
uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und
Antitheologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip
der "kleinstmöglichen Kraft" und der grösstmöglichen Dummheit. "Wo der
Mensch nichts mehr zu sehen und zu greifen hat, da hat er auch nichts
mehr zu suchen" - das ist freilich ein anderer Imperativ als der
Platonische, welcher aber doch für ein derbes arbeitsames Geschlecht
von Maschinisten und Brückenbauern der Zukunft, die lauter grobe
Arbeit abzuthun haben, gerade der rechte Imperativ sein mag.


15.

Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf
halten, dass die Sinnesorgane nicht Erscheinungen sind im Sinne der
idealistischen Philosophie: als solche könnten sie ja keine Ursachen
sein! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht
zu sagen als heuristisches Princip. - Wie? und Andere sagen gar, die
Aussenwelt wäre das Werk unsrer Organe? Aber dann wäre ja unser Leib,
als ein Stück dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe! Aber dann
wären ja unsre Organe selbst - das Werk unsrer Organe! Dies ist, wie
mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum: gesetzt, dass der
Begriff causa sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die
Aussenwelt nicht das Werk unsrer Organe -?


16.

Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass
es "unmittelbare Gewissheiten" gebe, zum Beispiel "ich denke", oder,
wie es der Aberglaube Schopenhauer's war, "ich will": gleichsam als ob
hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme,
als "Ding an sich", und weder von Seiten des Subjekts, noch von
Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber "unmittelbare
Gewissheit", ebenso wie "absolute Erkenntniss" und "Ding an sich",
eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal
wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte
losmachen! Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-Kennen sei,
der Philosoph muss sich sagen: "wenn ich den Vorgang zerlege, der in
dem Satz `ich denke` ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von
verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich
ist, - zum Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein
Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung
seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es
ein `Ich` giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken
zu bezeichnen ist, - dass ich weiss, was Denken ist. Denn wenn ich
nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte, wonach sollte ich
abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht `Wollen` oder
`Fühlen` sei? Genug, jenes `ich denke` setzt voraus, dass ich meinen
augenblicklichen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne,
vergleiche, um so festzusetzen, was er ist: wegen dieser Rückbeziehung
auf anderweitiges `Wissen` hat er für mich jedenfalls keine
unmittelbare `Gewissheit`." - An Stelle jener "unmittelbaren
Gewissheit", an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag,
bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik
in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche
heissen: "Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an
Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und
gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als
Gedanken-Ursache zu reden?" Wer sich mit der Berufung auf eine Art
Intuition der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort
zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt: "ich, denke, und weiss,
dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist" - der wird bei einem
Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit finden.
"Mein Herr, wird der Philosoph vielleicht ihm zu verstehen geben,
es ist unwahrscheinlich, dass Sie sich nicht irren: aber warum auch
durchaus Wahrheit?" -


17.

Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde
werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen,
welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, - nämlich,
dass ein Gedanke kommt, wenn "er" will, und nicht wenn "ich" will; so
dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt
"ich" ist die Bedingung des Prädikats "denke". Es denkt: aber dass
dies "es" gerade jenes alte berühmte "Ich" sei, ist, milde geredet,
nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine "unmittelbare
Gewissheit". Zuletzt ist schon mit diesem "es denkt" zu viel gethan:
schon dies "es" enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht
zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen
Gewohnheit "Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört
Einer, der thätig ist, folglich -". Ungefähr nach dem gleichen Schema
suchte die ältere Atomistik zu der "Kraft", die wirkt, noch jenes
Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das
Atom; strengere Köpfe lernten endlich ohne diesen "Erdenrest"
auskommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran,
auch seitens der Logiker ohne jenes kleine "es" (zu dem sich das
ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen.


18.

An einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie
widerlegbar ist: gerade damit zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint,
dass die hundertfach widerlegte Theorie vom "freien Willen" ihre
Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt -: immer wieder kommt jemand
und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen.


19.

Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die
bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen,
der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt,
ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass
Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen
eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil übernommen und
übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes,
Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, - und eben im Einen Worte
steckt das Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht
der Philosophen Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger,
seien wir "unphilosophisch" -, sagen wir: in jedem Wollen ist erstens
eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem
weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem "weg"
und "hin" selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches,
auch ohne dass wir "Arme und Beine" in Bewegung setzen, durch eine Art
Gewohnheit, sobald wir "wollen", sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen
und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist,
so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen
commandirenden Gedanken; - und man soll ja nicht glauben, diesen
Gedanken von dem "Wollen" abscheiden zu können, wie als ob dann noch
Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von
Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener
Affekt des Commando's. Das, was "Freiheit des Willens" genannt wird,
ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der
gehorchen muss: "ich bin frei, "er" muss gehorchen" - dies Bewusstsein
steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit,
jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte
Werthschätzung "jetzt thut dies und nichts Anderes Noth", jene innere
Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum
Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der will -, befiehlt
einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es
gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am Willen ist,
- an diesem so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort
hat: insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und
Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gefühle des Zwingens,
Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort nach
dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir andererseits
die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge des
synthetischen Begriffs "ich" hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen, hat
sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen
und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selbst
angehängt, - dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt,
Wollen genüge zur Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt
worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also
die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das
Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit von Wirkung gäbe;
genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad von Sicherheit,
dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien -, er rechnet das Gelingen,
die Ausführung des Wollens noch dem Willen selbst zu und geniesst
dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit
sich bringt. "Freiheit des Willens" - das ist das Wort für jenen
vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich
mit dem Ausführenden als Eins setzt, - der als solcher den Triumph
über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille
selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. Der Wollende
nimmt dergestalt die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen
Werkzeuge, der dienstbaren "Unterwillen" oder Unter-Seelen - unser
Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen - zu seinem
Lustgefühle als Befehlender hinzu. L'effet c'est moi: es begiebt sich
hier, was sich in jedem gut gebauten und glücklichen Gemeinwesen
begiebt, dass die regierende Klasse sich mit den Erfolgen des
Gemeinwesens identificirt. Bei allem Wollen handelt es sich
schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie
gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler "Seelen": weshalb ein Philosoph
sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon unter den
Gesichtskreis der Moral zu fassen: Moral nämlich als Lehre von den
Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen "Leben"
entsteht. -


20.

Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts
Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu
einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch
in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so
gut einem Systeme angehören als die sämmtlichen Glieder der Fauna
eines Erdtheils: das verräth sich zuletzt noch darin, wie sicher die
verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von möglichen
Philosophien immer wieder ausfüllen. Unter einem unsichtbaren Banne
laufen sie immer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn: sie
mögen sich noch so unabhängig von einander mit ihrem kritischen oder
systematischen Willen fühlen: irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend
Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene
eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken
ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen,
Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten
Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals
herausgewachsen sind: - Philosophiren ist insofern eine Art von
Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ahnlichkeit alles
indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach
genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht
zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik -
ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche
grammatische Funktionen - von vornherein Alles für eine gleichartige
Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet
liegt: ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung
der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen
Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt
ist) werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders "in die Welt"
blicken und auf andern Pfaden zu finden sein, als Indogermanen
oder Muselmänner: der Bann bestimmter grammatischer Funktionen
ist im letzten Grunde der Bann physiologischer Werthurtheile
und Rasse-Bedingungen. - So viel zur Zurückweisung von Locke's
Oberflächlichkeit in Bezug auf die Herkunft der Ideen.


21.

Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht
worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur: aber der
ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich
tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das
Verlangen nach "Freiheit des Willens", in jenem metaphysischen
Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der
Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte
Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott,
Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich
nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr
als Münchhausen'schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des
Nichts an den Haaren in's Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt
dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses berühmten Begriffs
"freier Wille" und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn
nunmehr, seine "Aufklärung" noch um einen Schritt weiter zu treiben
und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs "freier Wille" aus seinem
Kopfe zu streichen: ich meine den "unfreien Willen", der auf einen
Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht
"Ursache" und "Wirkung" fehlerhaft verdinglichen, wie es die
Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt
-) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die
Ursache drücken und stossen lässt, bis sie "Wirkt"; man soll sich der
"Ursache", der "Wirkung" eben nur als reiner Begriffe bedienen, das
heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der
Verständigung, nicht der Erklärung. Im "An-sich" giebt es nichts
von "Causal-Verbänden", von "Nothwendigkeit", von "psychologischer
Unfreiheit", da folgt nicht "die Wirkung auf die Ursache", das regiert
kein "Gesetz". Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander,
das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz,
die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wenn wir diese
Zeichen-Welt als "an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen,
so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben,
nämlich mythologisch. Der "unfreie Wille" ist Mythologie: im
wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen.
- Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber
mangelt, wenn ein Denker bereits in aller "Causal-Verknüpfung" und
"psychologischer Nothwendigkeit" etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen,
Druck, Unfreiheit herausfühlt: es ist verrätherisch, gerade so zu
fühlen, - die Person verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht
beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber
immer auf eine tief persönliche Weise die "Unfreiheit des Willens"
als Problem gefasst: die Einen wollen um keinen Preis ihre
"Verantwortlichkeit", den Glauben an sich, das persönliche Anrecht auf
ihr Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen gehören dahin -); die
Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein
und verlangen, aus einer innerlichen Selbst-Verachtung heraus, sich
selbst irgend wohin abwälzen zu können. Diese Letzteren pflegen sich,
wenn sie Bücher schreiben, heute der Verbrecher anzunehmen; eine Art
von socialistischem Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung. Und
in der That, der Fatalismus der Willensschwachen verschönert sich
erstaunlich, wenn er sich als "la religion de la souffrance humaine"
einzuführen versteht: es ist sein "guter Geschmack".


22.

Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit
nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu
legen - aber jene "Gesetzmässigkeit der Natur", von der ihr Physiker
so stolz redet, wie als ob - - besteht nur Dank eurer Ausdeutung und
schlechten "Philologie", - sie ist kein Thatbestand, kein "Text",
vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung,
mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam
entgegenkommt! "Überall Gleichheit vor dem Gesetz, - die Natur
hat es darin nicht anders und nicht besser als wir": ein artiger
Hintergedanke, in dem noch einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen
alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, insgleichen ein zweiter und
feinerer Atheismus verkleidet liegt. "Ni dieu, ni maître" - so wollt
auch ihr's.- und darum "hoch das Naturgesetz"! - nicht wahr? Aber,
wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte
Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und
Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf
die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose
und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen
verstünde, - ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und
Unbedingtheit in allem "Willen zur Macht" dermaassen euch vor
Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort "Tyrannei"
schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde
Metapher - als zu menschlich - erschiene; und der dennoch damit
endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet,
nämlich dass sie einen "nothwendigen" und "berechenbaren" Verlauf
habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut
die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte
Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist - und
ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? - nun, um so besser. -


23.

Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und
Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe
gewagt. Dieselbe als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur
Macht zufassen, wie ich sie fasse - daran hat noch Niemand in seinen
Gedanken selbst gestreift: sofern es nämlich erlaubt ist, in dem, was
bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher verschwiegen
wurde, zu erkennen. Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in
die geistigste, in die anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste
Welt gedrungen - und, wie es sich von selbst versteht, schädigend,
hemmend, blendend, verdrehend. Eine eigentliche Physio-Psychologie hat
mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie
hat "das Herz" gegen sich: schon eine Lehre von der gegenseitigen
Bedingtheit der "guten" und der "schlimmen" Triebe, macht, als feinere
Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und
Überdruss, - noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten
Triebe aus den schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte
Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte,
als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und
grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden
muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, - der leidet an
einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit. Und
doch ist auch diese Hypothese bei weitem nicht die peinlichste und
fremdeste in diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gefährlicher
Erkenntnisse: - und es giebt in der That hundert gute Gründe dafür,
dass Jeder von ihm fernbleibt, der es - kann! Andrerseits: ist man
einmal mit seinem Schiffe hierhin verschlagen, nun! wohlan! jetzt
tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufgemacht! die Hand
fest am Steuer! - wir fahren geradewegs über die Moral weg, wir
erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest
Moralität, indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, - aber
was liegt an uns! Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden und
Abenteurern eine tiefere Welt der Einsicht eröffnet: und der
Psychologe, welcher dergestalt "Opfer bringt" - es ist nicht das
sacrifizio dell'intelletto, im Gegentheil! - wird zum Mindesten
dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der
Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die
übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder
der Weg zu den Grundproblemen.



Zweites Hauptstück:

Der freie Geist.

24.

O sancta simplicitas! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung
lebt der Mensch! Man kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich
erst einmal die Augen für dies Wunder eingesetzt hat! Wie haben wir
Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht! wie wussten
wir unsern Sinnen einen Freipass für alles Oberflächliche, unserm
Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprüngen und
Fehlschlüssen zu geben! - wie haben wir es von Anfang an verstanden,
uns unsre Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreifliche
Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit,
Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu geniessen! Und erst auf diesem
nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich
bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde
eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum
Ungewissen, zum Unwahren! Nicht als sein Gegensatz, sondern - als
seine Verfeinerung! Mag nämlich auch die Sprache, hier wie anderwärts,
nicht über ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen
zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt;
mag ebenfalls die eingefleischte Tartüfferie der Moral, welche jetzt
zu unserm unüberwindlichen "Fleisch und Blut" gehört, uns Wissenden
selbst die Worte im Munde umdrehen: hier und da begreifen wir es und
lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten
in dieser vereinfachten, durch und durch künstlichen, zurecht
gedichteten, zurecht gefälschten Welt festhalten will, wie sie
unfreiwillig-willig den Irrthum liebt, weil sie, die Lebendige, - das
Leben liebt!


25.

Nach einem so fröhlichen Eingang möchte ein ernstes Wort nicht
überhört werden: es wendet sich an die Ernstesten. Seht euch vor,
ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und hütet euch vor dem
Martyrium! Vor dem Leiden "um der Wahrheit willen"! Selbst vor der
eigenen Vertheidigung! Es verdirbt eurem Gewissen alle Unschuld und
feine Neutralität, es macht euch halsstarrig gegen Einwände und rothe
Tücher, es verdummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im Kampfe mit
Gefahr, Verlästerung, Verdächtigung, Ausstossung und noch gröberen
Folgen der Feindschaft, zuletzt euch gar als Vertheidiger der Wahrheit
auf Erden ausspielen müsst: - als ob "die Wahrheit" eine so harmlose
und täppische Person wäre, dass sie Vertheidiger nöthig hätte! und
gerade euch, ihr Ritter von der traurigsten Gestalt, meine Herren
Eckensteher und Spinneweber des Geistes! Zuletzt wisst ihr gut genug,
dass nichts daran liegen darf, ob gerade ihr Recht behaltet, ebenfalls
dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat, und dass eine
preiswürdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen
dürfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und
gelegentlich hinter euch selbst) setzt, als in allen feierlichen
Gebärden und Trümpfen vor Anklägern und Gerichtshöfen! Geht lieber bei
Seite! Flieht in's Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass
man euch verwechsele! Oder ein Wenig fürchte! Und vergesst mir den
Garten nicht, den Garten mit goldenem Gitterwerk! Und habt Menschen um
euch, die wie ein Garten sind, - oder wie Musik über Wassern, zur Zeit
des Abends, wo der Tag schon zur Erinnerung wird: - wählt die gute
Einsamkeit, die freie muthwillige leichte Einsamkeit, welche euch auch
ein Recht giebt, selbst in irgend einem Sinne noch gut zu bleiben! Wie
giftig, wie listig, wie schlecht macht jeder lange Krieg, der sich
nicht mit offener Gewalt führen lässt! Wie persönlich macht eine
lange Furcht, ein langes Augenmerk auf Feinde, auf mögliche Feinde!
Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten,
Schlimm-Gehetzten, - auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinoza's
oder Giordano Bruno's - werden zuletzt immer, und sei es unter der
geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst es wissen,
zu raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern (man grabe doch einmal
den Grund der Ethik und Theologie Spinoza's auf!) - gar nicht
zu reden von der Tölpelei der moralischen Entrüstung, welche an
einem Philosophen das unfehlbare Zeichen dafür ist, dass ihm der
philosophische Humor davon lief. Das Martyrium des Philosophen, seine
"Aufopferung für die Wahrheit" zwingt an's Licht heraus, was vom
Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte; und gesetzt, dass man
ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so
kann in Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich
begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn
(entartet zum "Märtyrer", zum Bühnen- und Tribünen-Schreihals). Nur
dass man sich, mit einem solchen Wunsche, darüber klar sein muss, was
man jedenfalls dabei zu sehen bekommen wird: - nur ein Satyrspiel, nur
eine Nachspiel-Farce, nur den fortwährenden Beweis dafür, dass die
lange eigentliche Tragödie zu Ende ist: vorausgesetzt, dass jede
Philosophie im Entstehen eine lange Tragödie war. -


26.

Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und
Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten erlöst
ist, wo er die Regel "Mensch" vergessen darf, als deren Ausnahme: -
den Einen Fall ausgenommen, dass er von einem noch stärkeren Instinkte
geradewegs auf diese Regel gestossen wird, als Erkennender im
grossen und ausnahmsweisen Sinne. Wer nicht im Verkehr mit Menschen
gelegentlich in allen Farben der Noth, grün und grau vor Ekel,
Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert, der ist
gewiss kein Mensch höheren Geschmacks; gesetzt aber, er nimmt alle
diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr
immerdar aus und bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg
versteckt, nun, so ist Eins gewiss: er ist zur Erkenntniss nicht
gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als solcher würde er eines Tages
sich sagen müssen "hole der Teufel meinen guten Geschmack! aber die
Regel ist interessanter als die Ausnahme, - als ich, die Ausnahme!"
- und würde sich hinab begeben, vor Allem "hinein". Das Studium des
durchschnittlichen Menschen, lang, ernsthaft, und zu diesem Zwecke
viel Verkleidung, Selbstüberwindung, Vertraulichkeit, schlechter
Umgang - jeder Umgang ist schlechter Umgang ausser dem mit
Seines-Gleichen -: das macht ein nothwendiges Stück der
Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste,
übelriechendste, an Enttäuschungen reichste Stück. Hat er aber Glück,
wie es einem Glückskinde der Erkenntniss geziemt, so begegnet er
eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe, - ich meine
sogenannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit,
die "Regel" an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von
Geistigkeit und Kitzel haben, um über sich und ihres Gleichen vor
Zeugen reden zu müssen: - mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern
wie auf ihrem eignen Miste. Cynismus ist die einzige Form, in welcher
gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist; und der höhere
Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Cynismus die Ohren
aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm
der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut
werden. Es giebt sogar Fälle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt:
da nämlich, wo an einen solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine
Laune der Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abbé Galiani, dem
tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen
seines Jahrhunderts - er war viel tiefer als Voltaire und folglich
auch ein gut Theil schweigsamer. Häufiger schon geschieht es, dass,
wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib, ein
feiner Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist, - unter
Ärzten und Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommniss. Und
wo nur Einer ohne Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als
von einem Bauche mit zweierlei Bedürfnissen und einem Kopfe mit Einem;
überall wo Jemand immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit
sieht, sucht und sehn will, als seien es die eigentlichen und einzigen
Triebfedern der menschlichen Handlungen; kurz, wo man "schlecht" vom
Menschen redet - und nicht einmal schlimm -, da soll der Liebhaber
der Erkenntniss fein und fleissig hinhorchen, er soll seine Ohren
überhaupt dort haben, wo ohne Entrüstung geredet wird. Denn der
entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen sich selbst
(oder, zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft)
zerreisst und zerfleischt, mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn
als der lachende und selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne
aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall.
Und Niemand lügt soviel als der Entrüstete. -


27.

Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati
denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben,
nämlich kurmagati oder besten Falles "nach der Gangart des Frosches"
mandeikagati - ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu
werden? - und man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit
der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber "die guten
Freunde" anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als
Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut
man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des
Missverständnisses zuzugestehn: - so hat man noch, zu lachen; - oder
sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, - und auch zu lachen!


28.

Was sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere übersetzen
lässt, ist das tempo ihres Stils: als welcher im Charakter der Rasse
seinen Grund hat, physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo
ihres "Stoffwechsels". Es giebt ehrlich gemeinte Übersetzungen, die
beinahe Fälschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des
Originals, bloss weil sein tapferes und lustiges tempo nicht mit
übersetzt werden konnte, welches über alles Gefährliche in Dingen und
Worten wegspringt, weghilft. Der Deutsche ist beinahe des Presto in
seiner Sprache unfähig: also, wie man billig schliessen darf, auch
vieler der ergötzlichsten und verwegensten Nuances des freien,
freigeisterischen Gedankens. So gut ihm der Buffo und der Satyr fremd
ist, in Leib und Gewissen, so gut ist ihm Aristophanes und Petronius
unübersetzbar. Alles Gravitätische, Schwerflüssige, Feierlich-Plumpe,
alle langwierigen und langweiligen Gattungen des Stils sind bei den
Deutschen in überreicher Mannichfaltigkeit entwickelt, - man vergebe
mir die Thatsache, dass selbst Goethe's Prosa, in ihrer Mischung von
Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme macht, als ein Spiegelbild
der "alten guten Zeit", zu der sie gehört, und als Ausdruck des
deutschen Geschmacks, zur Zeit, wo es noch einen "deutschen Geschmack"
gab: der ein Rokoko-Geschmack war, in moribus et artibus. Lessing
macht eine Ausnahme, Dank seiner Schauspieler-Natur, die Vieles
verstand und sich auf Vieles verstand: er, der nicht umsonst der
Übersetzer Bayle's war und sich gerne in die Nähe Diderot's und
Voltaire's, noch lieber unter die römischen Lustspieldichter
flüchtete: - Lessing liebte auch im tempo die Freigeisterei, die
Flucht aus Deutschland. Aber wie vermöchte die deutsche Sprache, und
sei es selbst in der Prosa eines Lessing, das tempo Macchiavell's
nachzuahmen, der, in seinem principe, die trockne feine Luft von
Florenz athmen lässt und nicht umhin kann, die ernsteste Angelegenheit
in einem unbändigen Allegrissimo vorzutragen: vielleicht nicht ohne
ein boshaftes Artisten-Gefühl davon, welchen Gegensatz er wagt, -
Gedanken, lang, schwer, hart, gefährlich, und ein tempo des Galopps
und der allerbesten muthwilligsten Laune. Wer endlich dürfte gar eine
deutsche Übersetzung des Petronius wagen, der, mehr als irgend ein
grosser Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in
Erfindungen, Einfällen, Worten: - was liegt zuletzt an allen Sümpfen
der kranken, schlimmen Welt, auch der "alten Welt", wenn man, wie er,
die Füsse eines Windes hat, den Zug und Athem, den befreienden Hohn
eines Windes, der Alles gesund macht, indem er Alles laufen macht! Und
was Aristophanes angeht, jenen verklärenden, complementären Geist, um
dessentwillen man dem ganzen Griechenthum verzeiht, dass es da war,
gesetzt, dass man in aller Tiefe begriffen hat, was da Alles der
Verzeihung, der Verklärung bedarf: - so wüsste ich nichts, was mich
über Plato's Verborgenheit und Sphinx-Natur mehr hat träumen lassen
als jenes glücklich erhaltene petit falt: dass man unter dem
Kopfkissen seines Sterbelagers keine "Bibel" vorfand, nichts
Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches, - sondern den
Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten - ein
griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, - ohne einen Aristophanes! -


29.

Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein: - es ist ein
Vorrecht der Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte
dazu, aber ohne es zu müssen, beweist damit, dass er wahrscheinlich
nicht nur stark, sondern bis zur Ausgelassenheit verwegen ist. Er
begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren,
welche das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht die
kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt,
vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des
Gewissens zerrissen wird. Gesetzt, ein Solcher geht zu Grunde, so
geschieht es so ferne vom Verständniss der Menschen, dass sie es nicht
fühlen und mitfühlen: - und er kann nicht mehr zurück! er kann auch
zum Mitleiden der Menschen nicht mehr zurück! - -


30.

Unsre höchsten Einsichten müssen - und sollen! - wie Thorheiten, unter
Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu
Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. Das
Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen
unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern,
kurz überall, wo man eine Rangordnung und nicht an Gleichheit und
gleiche Rechte glaubte, - das hebt sich nicht sowohl dadurch von
einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen
her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt: das
Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, - der
Esoteriker aber von Oben herab! Es giebt Höhen der Seele, von wo aus
gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken; und, alles
Weh der Welt in Eins genommen, wer dürfte zu entscheiden wagen, ob
sein Anblick nothwendig gerade zum Mitleiden und dergestalt zur
Verdoppelung des Wehs verführen und zwingen werde?... Was der höheren
Art von Menschen zur Nahrung oder zur Labsal dient, muss einer sehr
unterschiedlichen und geringeren Art beinahe Gift sein. Die Tugenden
des gemeinen Manns würden vielleicht an einem Philosophen Laster und
Schwächen bedeuten; es wäre möglich, dass ein hochgearteter Mensch,
gesetzt, dass er entartete und zu Grunde gienge, erst dadurch in den
Besitz von Eigenschaften käme, derentwegen man nöthig hätte, ihn in
der niederen Welt, in welche er hinab sank, nunmehr wie einen Heiligen
zu verehren. Es giebt Bücher, welche für Seele und Gesundheit einen
umgekehrten Werth haben, je nachdem die niedere Seele, die niedrigere
Lebenskraft oder aber die höhere und gewaltigere sich ihrer bedienen:
im ersten Falle sind es gefährliche, anbröckelnde, auflösende Bücher,
im anderen Heroldsrufe, welche die Tapfersten zu ihrer Tapferkeit
herausfordern. Allerwelts-Bücher sind immer übelriechende Bücher: der
Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt, selbst
wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen
gehn, wenn man reine Luft athmen will. - -


31.

Man verehrt und verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der
Nuance, welche den besten Gewinn des Lebens ausmacht, und muss es
billigerweise hart büssen, solchergestalt Menschen und Dinge mit Ja
und Nein überfallen zu haben. Es ist Alles darauf eingerichtet, dass
der schlechteste aller Geschmäcker, der Geschmack für das Unbedingte
grausam genarrt und gemissbraucht werde, bis der Mensch lernt, etwas
Kunst in seine Gefühle zu legen und lieber noch mit dem Künstlichen
den Versuch zu wagen: wie es die rechten Artisten des Lebens thun. Das
Zornige und Ehrfürchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine
Ruhe zu geben, bevor es nicht Menschen und Dinge so zurecht gefälscht
hat, dass es sich an ihnen auslassen kann: - Jugend ist an sich schon
etwas Fälschendes und Betrügerisches. Später, wenn die junge Seele,
durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich endlich argwöhnisch
gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss und wild, auch in
ihrem Argwohne und Gewissensbisse: wie zürnt sie sich nunmehr, wie
zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange
Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen
sei! In diesem Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen
gegen sein Gefühl; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel,
ja man fühlt schon das gute Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als
Selbst-Verschleierung und Ermüdung der feineren Redlichkeit; und vor
Allem, man nimmt Partei, grundsätzlich Partei gegen "die Jugend". -
Ein Jahrzehend später: und man begreift, dass auch dies Alles noch -
Jugend war!


32.

Die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch - man nennt
sie die prähistorische Zeit - wurde der Werth oder der Unwerth einer
Handlung aus ihren Folgen abgeleitet: die Handlung an sich kam dabei
ebensowenig als ihre Herkunft in Betracht, sondern ungefähr so, wie
heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande vom Kinde auf die
Eltern zurückgreift, so war es die rückwirkende Kraft des Erfolgs oder
Misserfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder schlecht von
einer Handlung zu denken. Nennen wir diese Periode die vormoralische
Periode der Menschheit: der Imperativ "erkenne dich selbst!" war
damals noch unbekannt. In den letzten zehn Jahrtausenden ist man
hingegen auf einigen grossen Flächen der Erde Schritt für Schritt
so weit gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die Herkunft der
Handlung über ihren Werth entscheiden zu lassen: ein grosses Ereigniss
als Ganzes, eine erhebliche Verfeinerung des Blicks und Maassstabs,
die unbewusste Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werthe
und des Glaubens an "Herkunft", das Abzeichen einer Periode, welche
man im engeren Sinne als die moralische bezeichnen darf: der erste
Versuch zur Selbst-Erkenntniss ist damit gemacht. Statt der Folgen die
Herkunft: welche Umkehrung der Perspektive! Und sicherlich eine erst
nach langen Kämpfen und Schwankungen erreichte Umkehrung! Freilich:
ein verhängnissvoller neuer Aberglaube, eine eigenthümliche Engigkeit
der Interpretation kam eben damit zur Herrschaft: man interpretirte
die Herkunft einer Handlung im allerbestimmtesten Sinne als Herkunft
aus einer Absicht; man wurde Eins im Glauben daran, dass der Werth
einer Handlung im Werthe ihrer Absicht belegen sei. Die Absicht als
die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer Handlung: unter diesem
Vorurtheile ist fast bis auf die neueste Zeit auf Erden moralisch
gelobt, getadelt, gerichtet, auch philosophirt worden. - Sollten wir
aber heute nicht bei der Nothwendigkeit angelangt sein, uns nochmals
über eine Umkehrung und Grundverschiebung der Werthe schlüssig zu
machen, Dank einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des
Menschen, - sollten wir nicht an der Schwelle einer Periode stehen,
welche, negativ, zunächst als die aussermoralische zu, bezeichnen
wäre: heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich
regt, dass gerade in dem, was nicht-absichtlich an einer Handlung
ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre
Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, "bewusst" werden
kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, - welche, wie jede
Haut, Etwas verräth, aber noch mehr verbirgt? Kurz, wir glauben, dass
die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung
bedarf, dazu ein Zeichen, das zu Vielerlei und folglich für sich
allein fast nichts bedeutet, - dass Moral, im bisherigen Sinne, also
Absichten-Moral ein Vorurtheil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine
Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und
Alchymie, aber jedenfalls Etwas, das überwunden werden muss. Die
Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die
Selbstüberwindung der Moral: mag das der Name für jene lange
geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den
boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probirsteinen der
Seele, vorbehalten blieb. -


33.

Es hilft nichts: man muss die Gefühle der Hingebung, der Aufopferung
für den Nächsten, die ganze Selbstentäusserungs-Moral erbarmungslos
zur Rede stellen und vor Gericht führen: ebenso wie die Ästhetik der
"interesselosen Anschauung", unter welcher sich die Entmännlichung der
Kunst verführerisch genug heute ein gutes Gewissen zu schaffen sucht.
Es ist viel zu viel Zauber und Zucker in jenen Gefühlen des "für
Andere", des "nicht für mich", als dass man nicht nöthig hätte,
hier doppelt misstrauisch zu werden und zu fragen: "sind es nicht
vielleicht - Verführungen?" - Dass sie gefallen - Dem, der sie hat,
und Dem, der ihre Früchte geniesst, auch dem blossen Zuschauer, -
dies giebt noch kein Argument für sie ab, sondern fordert gerade zur
Vorsicht auf. Seien wir also vorsichtig!


34.

Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen
mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in
der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser
Auge noch habhaft werden kann: - wir finden Gründe über Gründe dafür,
die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im "Wesen
der Dinge" verlocken möchten. Wer aber unser Denken selbst, also
"den Geist" für die Falschheit der Welt verantwortlich macht - ein
ehrenhafter Ausweg, den jeder bewusste oder unbewusste advocatus dei
geht -: wer diese Welt, sammt Raum, Zeit, Gestalt, Bewegung, als
falsch erschlossen nimmt: ein Solcher hätte mindestens guten Anlass,
gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen zu lernen: hätte es
uns nicht bisher den allergrössten Schabernack gespielt? und welche
Bürgschaft dafür gäbe es, dass es nicht fortführe, zu thun, was es
immer gethan hat? In allem Ernste: die Unschuld der Denker hat etwas
Rührendes und Ehrfurcht Einflössendes, welche ihnen erlaubt, sich auch
heute noch vor das Bewusstsein hinzustellen, mit der Bitte, dass es
ihnen ehrliche Antworten gebe: zum Beispiel ob es "real" sei, und
warum es eigentlich die äussere Welt sich so entschlossen vom
Halse halte, und was dergleichen Fragen mehr sind. Der Glaube an
"unmittelbare Gewissheiten" ist eine moralische Naivetät, welche
uns Philosophen Ehre macht: aber - wir sollen nun einmal nicht "nur
moralische" Menschen sein! Von der Moral abgesehn, ist jener Glaube
eine Dummheit, die uns wenig Ehre macht! Mag im bürgerlichen Leben das
allzeit bereite Misstrauen als Zeichen des "schlechten Charakters"
gelten und folglich unter die Unklugheiten gehören: hier unter uns,
jenseits der bürgerlichen Welt und ihres Ja's und Nein's, - was sollte
uns hindern, unklug zu sein und zu sagen: der Philosoph hat nachgerade
ein Recht auf "schlechten Charakter", als das Wesen, welches bisher
auf Erden immer am besten genarrt worden ist, - er hat heute die
Pflicht zum Misstrauen, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde
des Verdachts heraus. - Man vergebe mir den Scherz dieser düsteren
Fratze und Wendung: denn ich selbst gerade habe längst über Betrügen
und Betrogenwerden anders denken, anders schätzen gelernt und halte
mindestens ein paar Rippenstösse für die blinde Wuth bereit, mit der
die Philosophen sich dagegen sträuben, betrogen zu werden. Warum
nicht? Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit
mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene
Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein:
es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer
Schätzungen und Scheinbarkeiten; und wollte man, mit der tugendhaften
Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die "scheinbare
Welt" ganz abschlaffen, nun, gesetzt, ihr könntet das, - so bliebe
mindestens dabei auch von eurer "Wahrheit" nichts mehr übrig! Ja,
was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften
Gegensatz von "wahr" und "falsch" giebt? Genügt es nicht, Stufen der
Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten
und Gesammttöne des Scheins, - verschiedene valeurs, um die Sprache
der Maler zu reden? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht -,
nicht eine Fiktion sein? Und wer da fragt: "aber zur Fiktion gehört
ein Urheber?" - dürfte dem nicht rund geantwortet werden: Warum?
Gehört dieses "Gehört" nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist es
denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt,
nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht
über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den
Gouvernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem
Gouvernanten-Glauben absagte? -


35.

Oh Voltaire! Oh Humanität! Oh Blödsinn! Mit der "Wahrheit", mit dem
Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es
dabei gar zu menschlich treibt - "il ne cherche le vrai que pour faire
le bien" - ich wette, er findet nichts!


36.

Gesetzt, dass nichts Anderes als real "gegeben" ist als unsre Welt der
Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen "Realität"
hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe - denn
Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander -: ist es
nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies
Gegeben nicht ausreicht, um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte
mechanistische (oder "materielle") Welt zu verstehen? Ich meine
nicht als eine Täuschung, einen "Schein", eine "Vorstellung" (im
Berkeley'schen und Schopenhauerischen Sinne), sondern als vom
gleichen Realitäts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, - als eine
primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger
Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse
abzweigt und ausgestaltet (auch, wie billig, verzärtelt und abschwächt
-), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische
Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung,
Ausscheidung, Stoffwechsel, synthetisch gebunden in einander sind,
- als eine Vorform des Lebens? - Zuletzt ist es nicht nur erlaubt,
diesen Versuch zu machen: es ist, vom Gewissen der Methode aus,
geboten. Nicht mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht
der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste
Grenze getrieben ist (- bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen): das ist
eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf; - es
folgt "aus ihrer Definition", wie ein Mathematiker sagen würde. Die
Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als wirkend anerkennen,
ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das - und im
Grunde ist der Glaube daran eben unser Glaube an Causalität selbst -,
so müssen wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch
als die einzige zu setzen. "Wille" kann natürlich nur auf "Wille"
wirken - und nicht auf "Stoffe" (nicht auf "Nerven" zum Beispiel -):
genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo "Wirkungen"
anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht alles
mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben
Willenskraft, Willens-Wirkung ist. - Gesetzt endlich, dass es gelänge,
unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer
Grundform des Willens zu erklären - nämlich des Willens zur Macht, wie
es in ein Satz ist -; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen
auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die
Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung - es ist Ein Problem -
fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende
Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen
gesehen, die Welt auf ihren "intelligiblen Charakter" hin bestimmt und
bezeichnet - sie wäre eben "Wille zur Macht" und nichts ausserdem. -


37.

"Wie? Heisst das nicht, populär geredet: Gott ist widerlegt, der
Teufel aber nicht -?" Im Gegentheil! Im Gegentheil, meine Freunde!
Und, zum Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden! -


38.

Wie es zuletzt noch, in aller Helligkeit der neueren Zeiten, mit der
französischen Revolution gegangen ist, jener schauerlichen und, aus
der Nähe beurtheilt, überflüssigen Posse, in welche aber die edlen und
schwärmerischen Zuschauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange
und so leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und Begeisterungen
hinein interpretirt haben, bis der Text unter der Interpretation
verschwand: so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze
Vergangenheit missverstehen und dadurch vielleicht erst ihren Anblick
erträglich machen. - Oder vielmehr: ist dies nicht bereits geschehen?
waren wir nicht selbst - diese "edle Nachwelt"? Und ist es nicht
gerade jetzt, insofern wir dies begreifen, - damit vorbei?


39.

Niemand wird so leicht eine Lehre, bloss weil sie glücklich macht,
oder tugendhaft macht, deshalb für wahr halten: die lieblichen
"Idealisten" etwa ausgenommen, welche für das Gute, Wahre, Schöne
schwärmen und in ihrem Teiche alle Arten von bunten plumpen und
gutmüthigen Wünschbarkeiten durcheinander schwimmen lassen. Glück
und Tugend sind keine Argumente. Man vergisst aber gerne, auch auf
Seiten besonnener Geister, dass Unglücklich-machen und Böse-machen
ebensowenig Gegenargumente sind. Etwas dürfte wahr sein: ob es gleich
im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre; ja es könnte selbst
zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner
völligen Erkenntniss zu Grunde gienge, - so dass sich die Stärke eines
Geistes darnach bemässe, wie viel er von der "Wahrheit" gerade noch
aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt,
versüsst, verdumpft, verfälscht nöthig hätte. Aber keinem Zweifel
unterliegt es, dass für die Entdeckung gewisser Theile der Wahrheit
die Bösen und Unglücklichen begünstigter sind und eine grössere
Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben; nicht zu reden von den
Bösen, die glücklich sind, - eine Species, welche von den Moralisten
verschwiegen wird. Vielleicht, dass Härte und List günstigere
Bedingungen zur Entstehung des starken, unabhängigen Geistes und
Philosophen abgeben, als jene sanfte feine nachgebende Gutartigkeit
und Kunst des Leicht-nehmens, welche man an einem Gelehrten schätzt
und mit Recht schätzt. Vorausgesetzt, was voran steht, dass man den
Begriff "Philosoph" nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher
schreibt - oder gar seine Philosophie in Bücher bringt! - Einen
letzten Zug zum Bilde des freigeisterischen Philosophen bringt
Stendhal bei, den ich um des deutschen Geschmacks willen nicht
unterlassen will zu unterstreichen: - denn er geht wider den deutschen
Geschmack. "Pour être bon philosophe", sagt dieser letzte grosse
Psycholog, "il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier,
qui a fait fortune, a une partie du caractère requis pour faire des
découvertes en philosophie, c'est-'á-dire pour voir clair dans ce qui
est."


40.

Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben
sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss. Sollte nicht erst der
Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes
einhergienge? Eine fragwürdige Frage: es wäre wunderlich, wenn nicht
irgend ein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte. Es giebt
Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu
verschütten und unkenntlich zu machen; es giebt Handlungen der Liebe
und einer ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher
ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeugen durchzuprügeln:
damit trübt man dessen Gedächtniss. Mancher versteht sich darauf,
das eigne Gedächtniss zu trüben und zu misshandeln, um wenigstens
an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben: - die Scham ist
erfinderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am
schlimmsten schämt: es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, -
es giebt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein
Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob
und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch's
Leben rollte: die Feinheit seiner Scham will es so. Einem Menschen,
der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten
Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren
Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen:
seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wieder
eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt
das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich
ist in der Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass
eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner
Freunde herum wandelt; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm
eines Tages die Augen darüber aufgehn, dass es trotzdem dort eine
Maske von ihm giebt, - und dass es gut so ist. Jeder tiefe Geist
braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst
fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen
Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er
giebt. -


41.

Man muss sich selbst seine Proben geben, dafür dass man zur
Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist; und dies zur rechten
Zeit. Man soll seinen Proben nicht aus dem Wege gehn, obgleich sie
vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das man spielen kann, und
zuletzt nur Proben, die vor uns selber als Zeugen und vor keinem
anderen Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben:
und sei sie die geliebteste, - jede Person ist ein Gefängniss, auch
ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben: und sei es das
leidendste und hülfbedürftigste, - es ist schon weniger schwer, sein
Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu binden. Nicht an einem
Mitleiden hängen bleiben: und gälte es höheren Menschen, in deren
seltne Marter und Hülflosigkeit uns ein Zufall hat blicken lassen.
Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben: und locke sie Einen mit
den kostbarsten, anscheinend gerade uns aufgesparten Funden. Nicht an
seiner eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und
Fremde des Vogels, der immer weiter in die Höhe flieht, um immer mehr
unter sich zu sehn: - die Gefahr des Fliegenden. Nicht an unsern
eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgend einer
Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer "Gastfreundschaft": wie
es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten und reichen Seelen ist,
welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich selbst umgehn und
die Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben. Man muss wissen,
sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit.


42.

Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es, sie auf
einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errathe,
so wie sie sich errathen lassen - denn es gehört zu ihrer Art, irgend
worin Räthsel bleiben zu wollen -, möchten diese Philosophen der
Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als
Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein
Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.


43.

Sind es neue Freunde der "Wahrheit", diese kommenden Philosophen?
Wahrscheinlich genug: denn alle Philosophen liebten bisher ihre
Wahrheiten. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss
ihnen wider den Stolz gehn, auch wider den Geschmack, wenn ihre
Wahrheit gar noch eine Wahrheit für Jedermann sein soll: was bisher
der geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war.
"Mein Urtheil ist mein Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer
das Recht" - sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft. Man muss
den schlechten Geschmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen
zu wollen. "Gut" ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den
Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein "Gemeingut" geben! Das Wort
widerspricht sich selbst: was gemein sein kann, hat immer nur wenig
Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie es steht und immer stand: die
grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die Abgründe für die
Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im Ganzen und
Kurzen, alles Seltene für die Seltenen. -


44.

Brauche ich nach alledem noch eigens zu sagen, dass auch sie freie,
sehr freie Geister sein werden, diese Philosophen der Zukunft, - so
gewiss sie auch nicht bloss freie Geister sein werden, sondern etwas
Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt
und verwechselt werden will? Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast
ebenso sehr gegen sie selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und
Vorläufer sind, wir freien Geister! - die Schuldigkeit, ein altes
dummes Vorurtheil und Missverständniss von uns gemeinsam fortzublasen,
welches allzulange wie ein Nebel den Begriff "freier Geist"
undurchsichtig gemacht hat. In allen Ländern Europa's und ebenso in
Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt,
eine sehr enge, eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern,
welche ungefähr das Gegentheil von dem wollen, was in unsern Absichten
und Instinkten liegt, - nicht zu reden davon, dass sie in Hinsicht auf
jene heraufkommenden neuen Philosophen erst recht zugemachte Fenster
und verriegelte Thüren sein müssen. Sie gehören, kurz und schlimm,
unter die Nivellirer, diese fälschlich genannten "freien Geister" -
als beredte und schreibfingrige Sklaven des demokratischen Geschmacks
und seiner "modernen Ideen": allesammt Menschen ohne Einsamkeit, ohne
eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch
achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und
zum Lachen oberflächlich sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den
Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für
alles menschliche Elend und Missrathen zu sehn: wobei die Wahrheit
glücklich auf den Kopf zu stehn kommt! Was sie mit allen Kräften
erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde,
mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens
für Jedermann; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lieder und
Lehren heissen "Gleichheit der Rechte" und "Mitgefühl für alles
Leidende", - und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen,
das man abschaffen muss. Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein
Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze
"Mensch" am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass
dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass
dazu die Gefährlichkeit seiner Lage erst in's Ungeheure wachsen, seine
Erfindungs- und Verstellungskraft (sein "Geist" -) unter langem Druck
und Zwang sich in's Feine und Verwegene entwickeln, sein Lebens-Wille
bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden musste: - wir
vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse
und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei
jeder Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und
Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species "Mensch"
dient, als sein Gegensatz: - wir sagen sogar nicht einmal genug,
wenn wir nur so viel sagen, und befinden uns jedenfalls, mit unserm
Reden und Schweigen an dieser Stelle, am andern Ende aller modernen
Ideologie und Heerden-Wünschbarkeit: als deren Antipoden vielleicht?
Was Wunder, dass wir "freien Geister" nicht gerade die mittheilsamsten
Geister sind? dass wir nicht in jedem Betrachte zu verrathen wünschen,
wovon ein Geist sich frei machen kann und wohin er dann vielleicht
getrieben wird? Und was es mit der gefährlichen Formel "jenseits
von Gut und Böse" auf sich hat, mit der wir uns zum Mindesten vor
Verwechslung behüten: wir sind etwas Anderes als "libres-penseurs",
"liberi pensatori", "Freidenker" und wie alle diese braven Fürsprecher
der "modernen Ideen" sich zu benennen lieben. In vielen Ländern des
Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen
Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass,
Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die
Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit gegen
die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder
Ämtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar
gegen Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend
einer Regel und ihrem "Vorurtheil" losmachte, dankbar gegen Gott,
Teufel, Schlaf und Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher
bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfassbares, mit
Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk,
das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagniss,
Dank einem Überschusse von "freiem Willen", mit Vorder- und
Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit
Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte,
Verborgene unter den Mänteln des Lichts, Erobernde, ob wir gleich
Erben und Verschwendern gleich sehn, Ordner und Sammler von früh
bis Abend, Geizhälse unsres Reichthums und unsrer vollgestopften
Schubfächer, haushälterisch im Lernen und Vergessen, erfinderisch in
Schematen, mitunter stolz auf Kategorien-Tafeln, mitunter Pedanten,
mitunter Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage; ja, wenn es noth
thut, selbst Vogelscheuchen - und heute thut es noth: nämlich insofern
wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit
sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten mittäglichsten
Einsamkeit: - eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister!
und vielleicht seid auch ihr etwas davon, ihr Kommenden? ihr neuen
Philosophen? -



Drittes Hauptstück:

Das religiöse Wesen.

45.

Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte
Umfang menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen
dieser Erfahrungen, die ganze bisherige Geschichte der Seele und ihre
noch unausgetrunkenen Möglichkeiten: das ist für einen geborenen
Psychologen und Freund der "grossen Jagd" das vorbestimmte
Jagdbereich. Aber wie oft muss er sich verzweifelt sagen: "ein
Einzelner! ach, nur ein Einzelner! und dieser grosse Wald und Urwald!"
Und so wünscht er sich einige hundert Jagdgehülfen und feine gelehrte
Spürhunde, welche er in die Geschichte der menschlichen Seele treiben
könnte, um dort sein Wild zusammenzutreiben. Umsonst: er erprobt es
immer wieder, gründlich und bitterlich, wie schlecht zu allen Dingen,
die gerade seine Neugierde reizen, Gehülfen und Hunde zu finden
sind. Der Übelstand, den es hat, Gelehrte auf neue und gefährliche
Jagdbereiche auszuschicken, wo Muth, Klugheit, Feinheit in jedem Sinne
noth thun, liegt darin, dass sie gerade dort nicht mehr brauchbar
sind, wo die "grosse Jagd", aber auch die grosse Gefahr beginnt: -
gerade dort verlieren sie ihr Spürauge und ihre Spürnase. Um zum
Beispiel zu errathen und festzustellen, was für eine Geschichte bisher
das Problem von Wissen und Gewissen in der Seele der homines religiosi
gehabt hat, dazu müsste Einer vielleicht selbst so tief, so verwundet,
so ungeheuer sein, wie es das intellektuelle Gewissen Pascal's war:
und dann bedürfte es immer noch jenes ausgespannten Himmels von
heller, boshafter Geistigkeit, welcher von Oben herab dies Gewimmel
von gefährlichen und schmerzlichen Erlebnissen zu übersehn, zu ordnen,
in Formeln zu zwingen vermöchte. - Aber wer thäte mir diesen Dienst!
Aber wer hätte Zeit, auf solche Diener zu warten! - sie wachsen
ersichtlich zu selten, sie sind zu allen Zeiten so unwahrscheinlich!
Zuletzt muss man Alles selber thun, um selber Einiges zu wissen: das
heisst, man hat viel zu thun! - Aber eine Neugierde meiner Art bleibt
nun einmal das angenehmste aller Laster, - Verzeihung! ich wollte
sagen: die Liebe zur Wahrheit hat ihren Lohn im Himmel und schon auf
Erden. -


46.

Der Glaube, wie ihn das erste Christenthum verlangt und nicht selten
erreicht hat, inmitten einer skeptischen und südlich-freigeisterischen
Welt, die einen Jahrhunderte langen Kampf von Philosophenschulen
hinter sich und in sich hatte, hinzugerechnet die Erziehung zur
Toleranz, welche das imperium Romanum gab, - dieser Glaube ist nicht
jener treuherzige und bärbeissige Unterthanen-Glaube, mit dem etwa ein
Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer Barbar des Geistes
an ihrem Gotte und Christenthum gehangen haben; viel eher scholl
jener Glaube Pascal's, der auf schreckliche Weise einem dauernden
Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht, - einer zähen langlebigen
wurmhaften Vernunft, die nicht mit Einem Male und Einem Streiche
todtzumachen ist. Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung:
Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit
des Geistes; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung,
Selbst-Verstümmelung. Es ist Grausamkeit und religiöser Phönicismus
in diesem Glauben, der einem mürben, vielfachen und viel verwöhnten,
Gewissen zugemuthet wird: seine Voraussetzung ist, dass die
Unterwerfung des Geistes unbeschreiblich wehe thut, dass die ganze
Vergangenheit und Gewohnheit eines solchen Geistes sich gegen das
Absurdissimum wehrt, als welches ihm der "Glaube" entgegentritt.
Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle christliche
Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach,
das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel "Gott am
Kreuze" lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche
Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und
Fragwürdiges gegeben wie diese Formel: sie verhiess eine Umwerthung
aller antiken Werthe. - Es ist der Orient, der tiefe Orient, es ist
der orientalische Sklave, der auf diese Weise an Rom und seiner
vornehmen und frivolen Toleranz, am römischen "Katholicismus" des
Glaubens Rache nahm: - und immer war es nicht der Glaube, sondern die
Freiheit vom Glauben, jene halb stoische und lächelnde Unbekümmertheit
um den Ernst des Glaubens, was die Sklaven an ihren Herrn, gegen ihre
Herrn empört hat. Die "Aufklärung" empört: der Sklave nämlich will
Unbedingtes, er versteht nur das Tyrannische, auch in der Moral, er
liebt wie er hasst, ohne Nuance, bis in die Tiefe, bis zum Schmerz,
bis zur Krankheit, - sein vieles verborgenes Leiden empört sich
gegen den vornehmen Geschmack, der das Leiden zu leugnen scheint.
Die Skepsis gegen das Leiden, im Grunde nur eine Attitude der
aristokratischen Moral, ist nicht am wenigsten auch an der Entstehung
des letzten grossen Sklaven-Aufstandes betheiligt, welcher mit der
französischen Revolution begonnen hat.


47.

Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, finden
wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen: Einsamkeit,
Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit, - doch ohne dass hier mit
Sicherheit zu entscheiden wäre, was da Ursache, was Wirkung sei, und
ob hier überhaupt ein Verhältniss von Ursache und Wirkung vorliege.
Zum letzten Zweifel berechtigt, dass gerade zu ihren regelmässigsten
Symptomen, bei wilden wie bei zahmen Völkern, auch die plötzlichste
ausschweifendste Wollüstigkeit gehört, welche dann, ebenso plötzlich,
in Busskrampf und Welt- und Willens-Verneinung umschlägt: beides
vielleicht als maskirte Epilepsie deutbar? Aber nirgendswo sollte man
sich der Deutungen mehr entschlagen: um keinen Typus herum ist bisher
eine solche Fülle von Unsinn und Aberglauben aufgewachsen, keiner
scheint bisher die Menschen, selbst die Philosophen, mehr interessirt
zu haben, - es wäre an der Zeit, hier gerade ein Wenig kalt zu werden,
Vorsicht zu lernen, besser noch: wegzusehn, wegzugehn. - Noch im
Hintergrunde der letztgekommenen Philosophie, der Schopenhauerischen,
steht, beinahe als das Problem an sich, dieses schauerliche
Fragezeichen der religiösen Krisis und Erweckung. Wie ist
Willensverneinung möglich? wie ist der Heilige möglich? - das
scheint wirklich die Frage gewesen zu sein, bei der Schopenhauer
zum Philosophen wurde und anfieng. Und so war es eine ächt
Schopenhauerische Consequenz, dass sein überzeugtester Anhänger
(vielleicht auch sein letzter, was Deutschland betrifft -), nämlich
Richard Wagner, das eigne Lebenswerk gerade hier zu Ende brachte und
zuletzt noch jenen furchtbaren und ewigen Typus als Kundry auf der
Bühne vorführte, type vécu, und wie er leibt und lebt; zu gleicher
Zeit, wo die Irrenärzte fast aller Länder Europa's einen Anlass
hatten, ihn aus der Nähe zu studiren, überall, wo die religiöse
Neurose - oder, wie ich es nenne, "das religiöse Wesen" - als
"Heilsarmee" ihren letzten epidemischen Ausbruch und Aufzug gemacht
hat. - Fragt man sich aber, was eigentlich am ganzen Phänomen des
Heiligen den Menschen aller Art und Zeit, auch den Philosophen, so
unbändig interessant gewesen ist: so ist es ohne allen Zweifel der
ihm, anhaftende Anschein des Wunders, nämlich der unmittelbaren
Aufeinanderfolge von Gegensätzen, von moralisch entgegengesetzt
gewertheten Zuständen der Seele: man glaubte hier mit Händen zu
greifen, dass aus einem "schlechten Menschen" mit Einem Male ein
"Heiliger", ein guter Mensch werde. Die bisherige Psychologie litt an
dieser Stelle Schiffbruch: sollte es nicht vornehmlich darum geschehen
sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte,
weil sie an die moralischen Werth-Gegensätze selbst glaubte, und diese
Gegensätze in den Text und Thatbestand hineinsah, hineinlas, hinein
deutete? - Wie? Das "Wunder" nur ein Fehler der Interpretation? Ein
Mangel an Philologie? -


48.

Es scheint, dass den lateinischen Rassen ihr Katholicismus viel
innerlicher zugehört, als uns Nordländern das ganze Christentum
überhaupt: und dass folglich der Unglaube in katholischen Ländern
etwas ganz Anderes zu bedeuten hat, als in protestantischen - nämlich
eine Art Empörung gegen den Geist der Rasse, während er bei uns eher
eine Rückkehr zum Geist (oder Ungeist -) der Rasse ist. Wir Nordländer
stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf unsere
Begabung zur Religion: wir sind schlecht für sie begabt. Man darf
die Kelten ausnehmen, welche deshalb auch den besten Boden für die
Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben: - in
Frankreich kam das christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne
des Nordens erlaubt hat, zum Ausblühen. Wie fremdartig fromm sind
unserm Geschmack selbst diese letzten französischen Skeptiker noch,
sofern etwas keltisches Blut in ihrer Abkunft ist! Wie katholisch, wie
undeutsch riecht uns Auguste Comte's Sociologie mit ihrer römischen
Logik der Instinkte! Wie jesuitisch jener liebenswürdige und
kluge Cicerone von Port-Royal, Sainte-Beuve, trotz all seiner
Jesuiten-Feindschaft! Und gar Ernest Renan: wie unzugänglich klingt
uns Nordländern die Sprache solch eines Renan, in dem alle Augenblicke
irgend ein Nichts von religiöser Spannung seine in feinerem Sinne
wollüstige und bequem sich bettende Seele um ihr Gleichgewicht bringt!
Man spreche ihm einmal diese schönen Sätze nach, - und was für Bosheit
und Übermuth regt sich sofort in unserer wahrscheinlich weniger
schönen und härteren, nämlich deutscheren Seele als Antwort! -"disons
donc hardiment que la religion est un produit de l'homme normal, que
l'homme est le plus dans le vrai quand il est le plus religieux et le
plus assuré d'une destinée infinie.... C'est quand il est bon qu'il
veut que la vertu corresponde à un ordre éternel, c'est quand il
contemple les choses d'une manière désintéressée qu'il trouve la mort
révoltante et absurde. Comment ne pas supposer que c'est dans ces
moments-là, que l'homme voit le mieux?...." Diese Sätze sind meinen
Ohren und Gewohnheiten so sehr antipodisch, dass, als ich sie fand,
mein erster Ingrimm daneben schrieb "la niaiserie religieuse par
excellence!" - bis mein letzter Ingrimm sie gar noch lieb gewann,
diese Sätze mit ihrer auf den Kopf gestellten Wahrheit! Es ist so
artig, so auszeichnend, seine eignen Antipoden zu haben!


49.

Das, was an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die
unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt: - es ist eine
sehr vornehme Art Mensch, welche so vor der Natur und vor dem Leben
steht! - Später, als der Pöbel in Griechenland zum Übergewicht kommt,
überwuchert die Furcht auch in der Religion; und das Christenthum
bereitete sich vor.-


50.

Die Leidenschaft für Gott: es giebt bäurische, treuherzige und
zudringliche Arten, wie die Luther's, - der ganze Protestantismus
entbehrt der südlichen delicatezza. Es giebt ein orientalisches
Aussersichsein darin, wie bei einem unverdient begnadeten oder
erhobenen Sklaven, zum Beispiel bei Augustin, der auf eine
beleidigende Weise aller Vornehmheit der Gebärden und Begierden
ermangelt. Es giebt frauenhafte Zärtlichkeit und Begehrlichkeit darin,
welche schamhaft und unwissend nach einer unio mystica et physica
drängt: wie bei Madame de Guyon. In vielen Fällen erscheint sie
wunderlich genug als Verkleidung der Pubertät eines Mädchens oder
Jünglings; hier und da selbst als Hysterie einer alten Jungfer, auch
als deren letzter Ehrgeiz: - die Kirche hat das Weib schon mehrfach in
einem solchen Falle heilig gesprochen.


51.

Bisher haben sich die mächtigsten Menschen immer noch verehrend
vor dem Heiligen gebeugt, als dem Räthsel der Selbstbezwingung und
absichtlichen letzten Entbehrung: warum beugten sie sich? Sie ahnten
in ihm - und gleichsam hinter dem Fragezeichen seines gebrechlichen
und kläglichen Anscheins - die überlegene Kraft, welche sich an einer
solchen Bezwingung erproben wollte, die Stärke des Willens, in der
sie die eigne Stärke und herrschaftliche Lust wieder erkannten und zu
ehren wussten: sie ehrten Etwas an sich, wenn sie den Heiligen ehrten.
Es kam hinzu, dass der Anblick des Heiligen ihnen einen Argwohn
eingab: ein solches Ungeheures von Verneinung, von Wider-Natur wird
nicht umsonst begehrt worden sein, so sagten und fragten sie sich.
Es giebt vielleicht einen Grund dazu, eine ganz grosse Gefahr, über
welche der Asket, Dank seinen geheimen Zusprechern und Besuchern,
näher unterrichtet sein möchte? Genug, die Mächtigen der Welt lernten
vor ihm eine neue Furcht, sie ahnten eine neue Macht, einen fremden,
noch unbezwungenen Feind: - der "Wille zur Macht" war es, der sie
nöthigte, vor dem Heiligen stehen zu bleiben. Sie mussten ihn
fragen - -


52.

Im jüdischen "alten Testament", dem Buche von der göttlichen
Gerechtigkeit, giebt es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen
Stile, dass das griechische und indische Schriftenthum ihm nichts zur
Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesen
ungeheuren Überbleibseln dessen, was der Mensch einstmals war, und
wird dabei über das alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen
Europa, das durchaus gegen Asien den "Fortschritt des Menschen"
bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben. Freilich: wer selbst
nur ein dünnes zahmes Hausthier ist und nur Hausthier-Bedürfnisse
kennt (gleich unsren Gebildeten von heute, die Christen des
"gebildeten" Christenthums hinzugenommen -), der hat unter jenen
Ruinen weder sich zu verwundern, noch gar sich zu betrüben - der
Geschmack am alten Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf "Gross"
und "Klein" -: vielleicht, dass er das neue Testament, das Buch
von der Gnade, immer noch eher nach seinem Herzen findet (in
ihm ist viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüder- und
Kleinen-Seelen-Geruch). Dieses neue Testament, eine Art Rokoko des
Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem alten Testament zu Einem Buche
zusammengeleimt zu haben, als "Bibel", als "das Buch an sich": das
ist vielleicht die grösste Verwegenheit und "Sünde wider den Geist",
welche das litterarische Europa auf dem Gewissen hat.


53.

Warum heute Atheismus? - "Der Vater" in Gott ist gründlich widerlegt;
ebenso "der Richter", "der Belohner". Insgleichen sein "freier Wille":
er hört nicht, - und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu
helfen. Das Schlimmste ist: er scheint unfähig, sich deutlich
mitzutheilen: ist er unklar? - Dies ist es, was ich, als Ursachen für
den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen,
fragend, hinhorchend, ausfindig gemacht habe; es scheint mir, dass
zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, - dass er aber
gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt.


54.

Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? Seit Descartes
- und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs
- macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten
Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt-
und Prädikat-Begriffs - das heisst: ein Attentat auf die
Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie,
als eine erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen,
antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs
antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an "die Seele", wie man an
die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte: man sagte, "Ich"
ist Bedingung, "denke" ist Prädikat und bedingt - Denken ist eine
Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden muss. Nun
versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob
man nicht aus diesem Netze heraus könne, - ob nicht vielleicht das
Umgekehrte wahr sei: "denke" Bedingung, "Ich" bedingt; "Ich" also
erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant
wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht
bewiesen werden könne, - das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer
Scheinexistenz des Subjekts, also "der Seele", mag ihm nicht immer
fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie
schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist.


55.

Es giebt eine grosse Leiter der religiösen Grausamkeit, mit vielen
Sprossen; aber drei davon sind die wichtigsten. Einst opferte man
seinem Gotte Menschen, vielleicht gerade solche, welche man am besten
liebte, - dahin gehören die Erstlings-Opfer aller Vorzeit-Religionen,
dahin auch das Opfer des Kaisers Tiberius in der Mithrasgrotte der
Insel Capri, jener schauerlichste aller römischen Anachronismen. Dann,
in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man seinem Gotte
die stärksten Instinkte, die man besass, seine "Natur"; diese
Festfreude glänzt im grausamen Blicke des Asketen, des begeisterten
"Wider-Natürlichen". Endlich: was blieb noch übrig zu opfern? Musste
man nicht endlich einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle
Hoffnung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige
Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern? musste man nicht Gott selber
opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die Dummheit,
die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten? Für das Nichts Gott
opfern - dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem
Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart: wir Alle
kennen schon etwas davon. -


56.

Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange
darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der
halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der
er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt
der Schopenhauerischen Philosophie; wer wirklich einmal mit einem
asiatischen und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller
möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat - jenseits von
Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann
und Wahne der Moral -, der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es
eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht:
für das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten
Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und
vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wieder haben
will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur
zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur
zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies
Schauspiel nöthig hat - und nöthig macht: weil er immer wieder sich
nöthig hat - und nöthig macht - - Wie? Und dies wäre nicht - circulus
vitiosus deus?


57.

Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne
und gleichsam der Raum um den Menschen: seine Welt wird tiefer, immer
neue Sterne, immer neue Räthsel und Bilder kommen ihm in Sicht.
Vielleicht war Alles, woran das Auge des Geistes seinen Scharfsinn und
Tiefsinn geübt hat, eben nur ein Anlass zu seiner Übung, eine Sache
des Spiels, Etwas für Kinder und Kindsköpfe. Vielleicht erscheinen
uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und
gelitten worden ist, die Begriffe "Gott" und "Sünde", nicht wichtiger,
als dem alten Manne ein Kinder-Spielzeug und Kinder-Schmerz erscheint,
- und vielleicht hat dann "der alte Mensch" wieder ein andres
Spielzeug und einen andren Schmerz nöthig, - immer noch Kinds genug,
ein ewiges Kind!


58.

Hat man wohl beachtet, in wiefern zu einem eigentlich religiösen
Leben (und sowohl zu seiner mikroskopischen Lieblings-Arbeit der
Selbstprüfung, als zu jener zarten Gelassenheit, welche sich "Gebet"
nennt und eine beständige Bereitschaft für das "Kommen Gottes" ist)
der äussere Müssiggang oder Halb-Müssiggang noth thut, ich meine der
Müssiggang mit gutem Gewissen, von Alters her, von Geblüt, dem das
Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist, dass Arbeit schändet,
- nämlich Seele und Leib gemein macht? Und dass folglich die
moderne, lärmende, Zeit-auskaufende, auf sich stolze, dumm-stolze
Arbeitsamkeit, mehr als alles Übrige, gerade zum "Unglauben" erzieht
und vorbereitet? Unter Denen, welche zum Beispiel jetzt in Deutschland
abseits von der Religion leben, finde ich Menschen von vielerlei Art
und Abkunft der "Freidenkerei", vor Allem aber eine Mehrzahl solcher,
denen Arbeitsamkeit, von Geschlecht zu Geschlecht, die religiösen
Instinkte aufgelöst hat: so dass sie gar nicht mehr wissen, wozu
Religionen nütze sind, und nur mit einer Art stumpfen Erstaunens ihr
Vorhandensein in der Welt gleichsam registriren. Sie fühlen sich schon
reichlich in Anspruch genommen, diese braven Leute, sei es von ihren
Geschäften, sei es von ihren Vergnügungen, gar nicht zu reden vom
"Vaterlande" und den Zeitungen und den "Pflichten der Familie": es
scheint, dass sie gar keine Zeit für die Religion übrig haben, zumal
es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft oder
ein neues Vergnügen handelt, - denn unmöglich, sagen sie sich, geht
man in die Kirche, rein um sich die gute Laune zu verderben. Sie
sind keine Feinde der religiösen Gebräuche; verlangt man in gewissen
Fällen, etwa von Seiten des Staates, die Betheiligung an solchen
Gebräuchen, so thun sie, was man verlangt, wie man so Vieles thut -,
mit einem geduldigen und bescheidenen Ernste und ohne viel Neugierde
und Unbehagen: - sie leben eben zu sehr abseits und ausserhalb, um
selbst nur ein Für und Wider in solchen Dingen bei sich nöthig zu
finden. Zu diesen Gleichgültigen gehört heute die Überzahl der
deutschen Protestanten in den mittleren Ständen, sonderlich in den
arbeitsamen grossen Handels- und Verkehrscentren; ebenfalls die
Überzahl der arbeitsamen Gelehrten und der ganze Universitäts-Zubehör
(die Theologen ausgenommen, deren Dasein und Möglichkeit daselbst dem
Psychologen immer mehr und immer feinere Räthsel zu rathen giebt).
Man macht sich selten von Seiten frommer oder auch nur kirchlicher
Menschen eine Vorstellung davon, wieviel guter Wille, man könnte
sagen, willkürlicher Wille jetzt dazu gehört, dass ein deutscher
Gelehrter das Problem der Religion ernst nimmt; von seinem ganzen
Handwerk her (und, wie gesagt, von der handwerkerhaften Arbeitsamkeit
her, zu welcher ihn sein modernes Gewissen verpflichtet) neigt er zu
einer überlegenen, beinahe gütigen Heiterkeit gegen die Religion, zu
der sich bisweilen eine leichte Geringschätzung mischt, gerichtet
gegen die "Unsauberkeit" des Geistes, welche er überall dort
voraussetzt, wo man sich, noch zur Kirche bekennt. Es gelingt dem
Gelehrten erst mit Hülfe der Geschichte (also nicht von seiner
persönlichen Erfahrung aus), es gegenüber den Religionen zu einem
ehrfurchtsvollen Ernste und zu einer gewissen scheuen Rücksicht zu
bringen; aber wenn er sein Gefühl sogar bis zur Dankbarkeit gegen sie
gehoben hat, so ist er mit seiner Person auch noch keinen Schritt weit
dem, was noch als Kirche oder Frömmigkeit besteht, näher gekommen:
vielleicht umgekehrt. Die praktische Gleichgültigkeit gegen religiöse
Dinge, in welche hinein er geboren und erzogen ist, pflegt sich bei
ihm zur Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimiren, welche die
Berührung mit religiösen Menschen und Dingen scheut; und es kann
gerade die Tiefe seiner Toleranz und Menschlichkeit sein, die ihn vor
dem feinen Nothstande ausweichen heisst, welchen das Toleriren selbst
mit sich bringt. - Jede Zeit hat ihre eigene göttliche Art von
Naivetät, um deren Erfindung sie andre Zeitalter beneiden dürfen: -
und wie viel Naivetät, verehrungswürdige, kindliche und unbegrenzt
tölpelhafte Naivetät liegt in diesem Überlegenheits-Glauben des
Gelehrten, im guten Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen
schlichten Sicherheit, mit der sein Instinkt den religiösen Menschen
als einen minderwerthigen und niedrigeren Typus behandelt, über den
er selbst hinaus, hinweg, hinauf gewachsen ist, - er, der kleine
anmaassliche Zwerg und Pöbelmann, der fleissig-flinke Kopf- und
Handarbeiter der "Ideen", der "modernen Ideen"!


59.

Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin
liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender
Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein. Man
findet hier und da eine leidenschaftliche und übertreibende Anbetung
der "reinen Formen", bei Philosophen wie bei Künstlern: möge Niemand
zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der Oberfläche nöthig hat,
irgend wann einmal einen unglückseligen Griff unter sie gethan hat.
Vielleicht giebt es sogar hinsichtlich dieser verbrannten Kinder,
der geborenen Künstler, welche den Genuss des Lebens nur noch in der
Absicht finden, sein Bild zu fälschen (gleichsam in einer langwierigen
Rache am Leben -), auch noch eine Ordnung des Ranges: man könnte den
Grad, in dem ihnen das Leben verleidet ist, daraus abnehmen, bis wie
weit sie sein Bild verfälscht, verdünnt, verjenseitigt, vergöttlicht
zu sehn wünschen, - man könnte die homines religiosi mit unter
die Künstler rechnen, als ihren höchsten Rang. Es ist die tiefe
argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus, der ganze
Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen in eine religiöse
Interpretation des Daseins zu verbeissen: die Furcht jenes Instinktes,
welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu früh habhaft werden könnte, ehe
der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist....
Die Frömmigkeit, das "Leben in Gott", mit diesem Blicke betrachtet,
erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der Furcht
vor der Wahrheit, als Künstler-Anbetung und -Trunkenheit vor der
consequentesten aller Fälschungen, als der Wille zur Umkehrung der
Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis. Vielleicht, dass es bis jetzt
kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschönern, als
eben Frömmigkeit: durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, Oberfläche,
Farbenspiel, Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr
leidet. -


60.

Den Menschen zu lieben um Gottes Willen - das war bis jetzt das
vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht
worden ist. Dass die Liebe zum Menschen ohne irgendeine heiligende
Hinterabsicht eine Dummheit und Thierheit mehr ist, dass der Hang zu
dieser Menschenliebe erst von einem höheren Hange sein Maass, seine
Feinheit, sein Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat: -
welcher Mensch es auch war, der dies zuerst empfunden und "erlebt"
hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert haben mag, als sie
versuchte, solch eine Zartheit auszudrücken, er bleibe uns in alle
Zeiten heilig und verehrenswerth, als der Mensch, der am höchsten
bisher geflogen und am schönsten sich verirrt hat!


61.

Der Philosoph, wie wir ihn verstehen, wir freien Geister als der
Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die
Gesammt-Entwicklung des Menschen hat: dieser Philosoph wird sich der
Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie
er sich der jeweiligen politischen und wirthschaftlichen Zustände
bedienen wird. Der auslesende, züchtende, das heisst immer ebensowohl
der zerstörende als der schöpferische und gestaltende Einfluss,
welcher mit Hülfe der Religionen ausgeübt werden kann, ist je nach der
Art Menschen, die unter ihren Bann und Schutz gestellt werden, ein
vielfacher und verschiedener. Für die Starken, Unabhängigen, zum
Befehlen, Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft
und Kunst einer regierenden Rasse leibhaft wird, ist, Religion ein
Mittelmehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können:
als ein Band, das Herrscher und Unterthanen gemeinsam bindet und
die Gewissen der Letzteren, ihr Verborgenes und Innerlichstes, das
sich gerne dem Gehorsam entziehen möchte, den Ersteren verräth und
überantwortet; und falls einzelne Naturen einer solchen vornehmen
Herkunft, durch hohe Geistigkeit, einem abgezogeneren und
beschaulicheren Leben sich zuneigen und nur die feinste Artung
des Herrschens (über ausgesuchte Jünger oder Ordensbrüder) sich
vorbehalten, so kann Religion selbst als Mittel benutzt werden, sich
Ruhe vor dem Lärm und der Mühsal des gröberen Regierens und Reinheit
vor dem nothwendigen Schmutz alles Politik-Machens zu schaffen. So
verstanden es zum Beispiel die Brahmanen: mit Hülfe einer religiösen
Organisation gaben sie sich die Macht, dem Volke seine Könige zu
ernennen, während sie sich selber abseits und ausserhalb hielten
und fühlten, als die Menschen höherer und überköniglicher Aufgaben.
Inzwischen giebt die Religion auch einem Theile der Beherrschten
Anleitung und Gelegenheit, sich auf einstmaliges Herrschen und
Befehlen vorzubereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und
Ständen nämlich, in denen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und
Lust des Willens, der Wille zur Selbstbeherrschung, immer im Steigen
ist: - ihnen bietet die Religion Anstösse und Versuchungen genug,
die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehen, die Gefühle der grossen
Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erproben: -
Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und
Veredelungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel
Herr werden will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet.
Den gewöhnlichen Menschen endlich, den Allermeisten, welche zum Dienen
und zum allgemeinen Nutzen da sind und nur insofern dasein dürfen,
giebt die Religion eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und
Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams,
ein Glück und Leid mehr mit Ihres-Gleichen und Etwas von Verklärung
und Verschönerung, Etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der
ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele. Religion
und religiöse Bedeutsamkeit des Lebens legt Sonnenglanz auf solche
immer geplagte Menschen und macht ihnen selbst den eigenen Anblick
erträglich, sie wirkt, wie eine epikurische Philosophie auf Leidende
höheren Ranges zu wirken pflegt, erquickend, verfeinernd, das Leiden
gleichsam ausnützend, zuletzt gar heiligend und rechtfertigend.
Vielleicht ist am Christenthum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als
ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in
eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen
an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, - und
gerade diese Härte thut Noth! - bei sich festzuhalten.


62.

Zuletzt freilich, um solchen Religionen auch die schlimme
Gegenrechnung zu machen und ihre unheimliche Gefährlichkeit an's Licht
zu stellen: - es bezahlt sich immer theuer und fürchterlich, wenn
Religionen nicht als Züchtungs- und Erziehungsmittel in der Hand des
Philosophen, sondern von sich aus und souverän walten, wenn sie selber
letzte Zwecke und nicht Mittel neben anderen Mitteln sein wollen. Es
giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss
von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig
Leidenden; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die
Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das noch nicht
festgestellte Thier ist, die spärliche Ausnahme. Aber noch schlimmer:
je höher geartet der Typus eines Menschen ist, der durch ihn
dargestellt wird, um so mehr steigt noch die Unwahrscheinlichkeit,
dass er geräth: das Zufällige, das Gesetz des Unsinns im gesammten
Haushalte der Menschheit zeigt sich am erschrecklichsten in
seiner zerstörerischen Wirkung auf die höheren Menschen, deren
Lebensbedingungen fein, vielfach und schwer auszurechnen sind. Wie
verhalten sich nun die genannten beiden grössten Religionen zu diesem
Überschuss der misslungenen Fälle? Sie suchen zu erhalten, im Leben
festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen
grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für Leidende, sie geben
allen Denen Recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und
möchten es durchsetzen, dass jede andre Empfindung des Lebens als
falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und
erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen anderen auch dem
höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des Menschen gilt
und galt, noch so hoch anschlagen: in der Gesammt-Abrechnung gehören
die bisherigen, nämlich souveränen Religionen zu den Hauptursachen,
welche den Typus "Mensch" auf einer niedrigeren Stufe festhielten,
- sie erhielten zu viel von dem, was zu Grunde gehn sollte. Man hat
ihnen Unschätzbares zu danken; und wer ist reich genug an Dankbarkeit,
um nicht vor alle dem arm zu werden, was zum Beispiel die "geistlichen
Menschen" des Christenthums bisher für Europa gethan haben! Und doch,
wenn sie den Leidenden Trost, den Unterdrückten und Verzweifelnden
Muth, den Unselbständigen einen Stab und Halt gaben und die
Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg in
Klöster und seelische Zuchthäuser lockten: was mussten sie ausserdem
thun, um mit gutem Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung
alles Kranken und Leidenden, das heisst in That und Wahrheit an
der Verschlechterung der europäischen Rasse zu arbeiten? Alle
Werthschätzungen auf den Kopf stellen - das mussten sie! Und die
Starken zerbrechen, die grossen Hoffnungen ankränkeln, das Glück
in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche,
Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und
wohlgerathensten Typus "Mensch" zu eigen sind, in Unsicherheit,
Gewissens-Noth, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum
Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Hass gegen die Erde
und das Irdische verkehren - das stellte sich die Kirche zur
Aufgabe und musste es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich
"Entweltlichung", "Entsinnlichung" und "höherer Mensch" in Ein
Gefühl zusammenschmolzen. Gesetzt, dass man mit dem spöttischen
und unbetheiligten Auge eines epikurischen Gottes die wunderlich
schmerzliche und ebenso grobe wie feine Komödie des europäischen
Christenthums zu überschauen vermöchte, ich glaube, man fände kein
Ende mehr zu staunen und zu lachen: scheint es denn nicht, dass Ein
Wille über Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem
Menschen eine sublime Missgeburt zu machen? Wer aber mit umgekehrten
Bedürfnissen, nicht epikurisch mehr, sondern mit irgend einem
göttlichen Hammer in der Hand auf diese fast willkürliche Entartung
und Verkümmerung des Menschen zuträte, wie sie der christliche
Europäer ist (Pascal zum Beispiel), müsste er da nicht mit Grimm, mit
Mitleid, mit Entsetzen schreien: "Oh ihr Tölpel, ihr anmaassenden
mitleidigen Tölpel, was habt ihr da gemacht! War das eine Arbeit
für eure Hände! Wie habt ihr mir meinen schönsten Stein verhauen
und verhunzt! Was nahmt ihr euch heraus!" - Ich wollte sagen:
das Christenthum war bisher die verhängnissvollste Art von
Selbst-Überhebung. Menschen, nicht hoch und hart genug, um am
Menschen als Künstler gestalten zu dürfen; Menschen, nicht stark und
fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen Selbst-Bezwingung, das
Vordergrund-Gesetz des tausendfältigen Missrathens und Zugrundegehns
walten zu lassen; Menschen, nicht vornehm genug, um die abgründlich
verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu
sehen: - solche Menschen haben, mit ihrem "Gleich vor Gott", bisher
über dem Schicksale Europa's gewaltet, bis endlich eine verkleinerte,
fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches
und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer....



Viertes Hauptstück:

Sprüche und Zwischenspiele.

63.

Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine
Schüler ernst, - sogar sich selbst.


64.

"Die Erkenntniss um ihrer selbst willen" - das ist der letzte
Fallstrick, den die Moral legt: damit verwickelt man sich noch einmal
völlig in sie.


65.

Der Reiz der Erkenntniss wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr
so viel Scham zu überwinden wäre.


65 a.

Man ist am unehrlichsten gegen seinen Gott: er darf nicht sündigen!


66.

Die Neigung, sich herabzusetzen, sich bestehlen, belügen und ausbeuten
zu lassen, könnte die Scham eines Gottes unter Menschen sein.


67.

Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller
Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott.


68.

"Das habe ich gethan" sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan
haben - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das
Gedächtniss nach.


69.

Man hat schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man nicht auch die Hand
gesehn hat, die auf eine schonende Weise - tödtet.


70.

Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer
wiederkommt.


71.

Der Weise als Astronom. - So lange du noch die Sterne fühlst als ein
"Über-dir", fehlt dir noch der Blick des Erkennenden.


72.

Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfindung macht die
hohen Menschen.


73.

Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus.


73 a.

Mancher Pfau verdeckt vor Aller Augen seinen Pfauenschweif - und
heisst es seinen Stolz.


74.

Ein Mensch mit Genie ist unausstehlich, wenn er nicht mindestens noch
zweierlei dazu besitzt: Dankbarkeit und Reinlichkeit.


75.

Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den
letzten Gipfel seines Geistes hinauf.


76.

Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich
selber her.


77.

Mit seinen Grundsätzen will man seine Gewohnheiten tyrannisiren oder
rechtfertigen oder ehren oder beschimpfen oder verbergen: - zwei
Menschen mit gleichen Grundsätzen wollen damit wahrscheinlich noch
etwas Grund-Verschiedenes.


78.

Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als
Verächter.


79.

Eine Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth
ihren Bodensatz: - ihr Unterstes kommt herauf.


80.

Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. - Was
meinte jener Gott, welcher anrieth: "erkenne dich selbst"! Hiess es
vielleicht: "höre auf, dich etwas anzugehn! werde objektiv!" - Und
Sokrates? - Und der "wissenschaftliche Mensch"? -


81.

Es ist furchtbar, im Meere vor Durst zu sterben. Müsst ihr denn gleich
eure Wahrheit so salzen, dass sie nicht einmal mehr - den Durst
löscht?


82.

"Mitleiden mit Allen" - wäre Härte und Tyrannei mit dir, mein Herr
Nachbar! -


83.

Der Instinkt. - Wenn das Haus brennt, vergisst man sogar das
Mittagsessen. - Ja: aber man holt es auf der Asche nach.


84.

Das Weib lernt hassen, in dem Maasse, in dem es zu bezaubern -
verlernt.


85.

Die gleichen Affekte sind bei Mann und Weib doch im Tempo verschieden:
deshalb hören Mann und Weib nicht auf, sich misszuverstehn.


86.

Die Weiber selber haben im Hintergrunde aller persönlichen Eitelkeit
immer noch ihre unpersönliche Verachtung - für das "Weib".


87.

Gebunden Herz, freier Geist. - Wenn man sein Herz hart bindet und
gefangen legt, kann man seinem Geist viele Freiheiten geben: ich sagte
das schon Ein Mal. Aber man glaubt mir's nicht, gesetzt, dass man's
nicht schon weiss.....


88.

Sehr klugen Personen fängt man an zu misstrauen, wenn sie verlegen
werden.


89.

Fürchterliche Erlebnisse geben zu rathen, ob Der, welcher sie erlebt,
nicht etwas Fürchterliches ist.


90.

Schwere, Schwermüthige Menschen werden gerade durch das, was Andre
schwer macht, durch Hass und Liebe, leichter und kommen zeitweilig an
ihre Oberfläche.


91.

So kalt, so eisig, dass man sich an ihm die Finger verbrennt! Jede
Hand erschrickt, die ihn anfasst! - Und gerade darum halten Manche ihn
für glühend.


92.

Wer hat nicht für seinen guten Ruf schon einmal - sich selbst
geopfert? -


93.

In der Leutseligkeit ist Nichts von Menschenhass, aber eben darum
allzuviel von Menschenverachtung.


94.

Reife des Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man
als Kind hatte, beim Spiel.


95.

Sich seiner Unmoralität schämen: das ist eine Stufe auf der Treppe, an
deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt.


96.

Man soll vom Leben scheiden wie Odysseus von Nausikaa schied, - mehr
segnend als verliebt.


97.

Wie? Ein grosser Mann? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines
eignen Ideals.


98.

Wenn man sein Gewissen dressirt, so küsst es uns zugleich, indem es
beisst.


99.

Der Enttäuschte spricht. - "Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte
nur Lob -"


100.

Vor uns selbst stellen wir uns Alle einfältiger als wir sind: wir
ruhen uns so von unsern Mitmenschen aus.


101.
Heute möchte sich ein Erkennender leicht als Thierwerdung Gottes
fühlen.


102.

Gegenliebe entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das geliebte
Wesen ernüchtern. "Wie? es ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben?
Oder dumm genug? Oder - oder -"


103.

Die Gefahr im Glücke. - "Nun gereicht mir Alles zum Besten, nunmehr
liebe ich jedes Schicksal: - wer hat Lust, mein Schicksal zu sein?"


104.

Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe
hindert die Christen von heute, uns - zu verbrennen.


105.

Dem freien Geiste, dem "Frommen der Erkenntniss" - geht die pia fraus
noch mehr wider den Geschmack (wider seine "Frömmigkeit") als die
impia fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum
Typus "freier Geist" gehört, - als seine Unfreiheit.


106.

Vermöge der Musik geniessen sich die Leidenschaften selbst.


107.

Wenn der Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten
Gegengrund zu schliessen: Zeichen des starken Charakters. Also ein
gelegentlicher Wille zur Dummheit.


108.

Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische
Ausdeutung von Phänomenen.....


109.

Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen: er
verkleinert und verleumdet sie.


110.

Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das
schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden.


111.

Unsre Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben
unser Stolz verletzt wurde.


112.

Wer sich zum Schauen und nicht zum Glauben vorherbestimmt fühlt, dem
sind alle Gläubigen zu lärmend und zudringlich: er erwehrt sich ihrer.


113.

"Du willst ihn für dich einnehmen? So stelle dich vor ihm verlegen -"


114.

Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe, und die
Scham in dieser Erwartung, verdirbt den Frauen von vornherein alle
Perspektiven.


115.

Wo nicht Liebe oder Hass mitspielt, spielt das Weib mittelmässig.


116.

Die grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth
gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen.


117.

Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille
eines anderen oder mehrer anderer Affekte.


118.

Es giebt eine Unschuld der Bewunderung: Der hat sie, dem es noch nicht
in den Sinn gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden.


119.

Der Ekel vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns
zu reinigen, - uns zu "rechtfertigen".


120.

Die Sinnlichkeit übereilt oft das Wachsthum der Liebe, so dass die
Wurzel schwach bleibt und leicht auszureissen ist.


121.

Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er
Schriftsteller werden wollte - und dass er es nicht besser lernte.


122.

Sich über ein Lob freuen ist bei Manchem nur eine Höflichkeit des
Herzens - und gerade das Gegenstück einer Eitelkeit des Geistes.


123.

Auch das Concubinat ist corrumpirt worden: - durch die Ehe.


124.

Wer auf dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt nicht über
den Schmerz, sondern darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn
erwartete. Ein Gleichniss.


125.

Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die
Unbequemlichkeit hart an, die er uns damit macht.


126.

Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen
Männern zu kommen. - Ja: und um dann um sie herum zu kommen.


127.

Allen rechten Frauen geht Wissenschaft wider die Scham. Es ist ihnen
dabei zu Muthe, als ob man damit ihnen unter die Haut, - schlimmer
noch! unter Kleid und Putz gucken wolle.


128.

Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst
du noch die Sinne zu ihr verführen.


129.

Der Teufel hat die weitesten Perspektiven für Gott, deshalb hält er
sich von ihm so fern: - der Teufel nämlich als der älteste Freund der
Erkenntniss.


130.

Was jemand ist, fängt an, sich zu verrathen, wenn sein Talent
nachlässt, - wenn er aufhört, zu zeigen, was er kann. Das Talent ist
auch ein Putz; ein Putz ist auch ein Versteck.


131.

Die Geschlechter täuschen sich über einander: das macht, sie ehren
und lieben im Grunde nur sich selbst (oder ihr eigenes ideal, um es
gefälliger auszudrücken -). So will der Mann das Weib friedlich, -
aber gerade das Weib ist wesentlich unfriedlich, gleich der Katze, so
gut es sich auch auf den Anschein des Friedens eingeübt hat.


132.

Man wird am besten für seine Tugenden bestraft.


133.

Wer den Weg zu seinem Ideale nicht zu finden weiss, lebt
leichtsinniger und frecher, als der Mensch ohne Ideal.


134.

Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute
Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit.


135.

Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung am guten Menschen: ein gutes
Stück davon ist vielmehr die Bedingung von allem Gut-sein.


136.

Der Eine sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der Andre
Einen, dem er helfen kann: so entsteht ein gutes Gespräch.


137.

Im Verkehre mit Gelehrten und Künstlern verrechnet man sich leicht in
umgekehrter Richtung: man findet hinter einem merkwürdigen Gelehrten
nicht selten einen mittelmässigen Menschen, und hinter einem
mittelmässigen Künstler sogar oft - einen sehr merkwürdigen Menschen.


138.

Wir machen es auch im Wachen wie im Traume: wir erfinden und erdichten
erst den Menschen, mit dem wir verkehren - und vergessen es sofort.


139.

In der Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer, als der Mann.


140.

Rath als Räthsel. - "Soll das Band nicht reissen, - musst du erst
drauf beissen."


141.

Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so
leicht für einen Gott hält.


142.

Das züchtigste Wort, das ich gehört habe: "Dans le véritable amour
c'est l'âme, qui enveloppe le corps."


143.

Was wir am besten thun, von dem möchte unsre Eitelkeit, dass es grade
als Das gelte, was uns am schwersten werde. Zum Ursprung mancher
Moral.


144.

Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer
Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt
zu einer gewissen Männlichkeit des Geschmacks; der Mann ist nämlich,
mit Verlaub, "das unfruchtbare Thier".


145.

Mann und Weib im Ganzen verglichen, darf man sagen: das Weib hätte
nicht das Genie des Putzes, wenn es nicht den Instinkt der zweiten
Rolle hätte.


146.

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum
Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der
Abgrund auch in dich hinein.


147.

Aus alten florentinischen Novellen, überdies - aus dem Leben: buona
femmina e mala femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86.


148.

Den Nächsten zu einer guten Meinung verführen und hinterdrein an diese
Meinung des Nächsten gläubig glauben: wer thut es in diesem Kunststück
den Weibern gleich? -


149.

Was eine Zeit als böse empfindet, ist gewöhnlich ein unzeitgemässer
Nachschlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, - der
Atavismus eines älteren Ideals.


150.

Um den Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum
Alles zum Satyrspiel; und um Gott herum wird Alles - wie? vielleicht
zur "Welt"? -


151.

Ein Talent haben ist nicht genug: man muss auch eure Erlaubniss dazu
haben, - wie? meine Freunde?


152.

"Wo der Baum der Erkenntniss steht, ist immer das Paradies": so reden
die ältesten und die jüngsten Schlangen.


153.

Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse.


154.

Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Misstrauen, die Spottlust
sind Anzeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die
Pathologie.


155.

Der Sinn für das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu.


156.

Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, - aber bei Gruppen,
Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.


157.

Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm
kommt man gut über manche böse Nacht hinweg.


158.

Unserm stärksten Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht
nur unsre Vernunft, sondern auch unser Gewissen.


159.

Man muss vergelten, Gutes und Schlimmes: aber warum gerade an der
Person, die uns Gutes oder Schlimmes that?


160.

Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie
mittheilt.


161.

Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos: sie beuten sie aus.


162.

"Unser Nächster ist nicht unser Nachbar, sondern dessen Nachbar" - so
denkt jedes Volk.


163.

Die Liebe bringt die hohen und verborgenen Eigenschaften eines
Liebenden an's Licht, - sein Seltenes, Ausnahmsweises: insofern
täuscht sie leicht über Das, was Regel an ihm ist.


164.

Jesus sagte zu seinen Juden: "das Gesetz war für Knechte, - liebt
Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die
Moral an!" -


165.

Angesichts jeder Partei. - Ein Hirt hat immer auch noch einen
Leithammel nöthig, - oder er muss selbst gelegentlich Hammel sein.


166.

Man lügt wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule, das man dabei macht,
sagt man doch noch die Wahrheit.


167.

Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham - und etwas
Kostbares.


168.

Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken: - er starb zwar nicht
daran, aber entartete, zum Laster.


169.

Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen.


170.

Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit, als im Tadel.


171.

Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen,
wie zarte Hände an einem Cyklopen.


172.

Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man
nicht Alle umarmen kann): aber gerade Das darf man dem Beliebigen
nicht verrathen.....


173.

Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn
man gleich oder höher schätzt.


174.

Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein Fuhrwerk
eurer Neigungen, - auch ihr findet eigentlich den Lärm seiner Räder
unausstehlich?


175.

Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte.


176.

Die Eitelkeit Andrer geht uns nur dann wider den Geschmack, wenn sie
wider unsre Eitelkeit geht.


177.

Ober Das, was "Wahrhaftigkeit" ist, war vielleicht noch Niemand
wahrhaftig genug.


178.

Klugen Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht: welche Einbusse an
Menschenrechten!


179.

Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig
dagegen, dass wir uns inzwischen "gebessert" haben.


180.

Es giebt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten
Glaubens an eine Sache ist.


181.

Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird.


182.

Die Vertraulichkeit des überlegenen erbittert, weil sie nicht
zurückgegeben werden darf. -


183.

"Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube,
hat mich erschüttert." -


184.

Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt.


185.

"Er missfällt mir." - Warum? - "Ich bin ihm nicht gewachsen." - Hat je
ein Mensch so geantwortet?



Fünftes Hauptstück:

Zur Naturgeschichte der Moral.

186.

Die moralische Empfindung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät,
vielfach, reizbar, raffinirt, als die dazu gehörige "Wissenschaft
der Moral" noch jung, anfängerhaft, plump und grobfingrig ist: - ein
anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten
selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort "Wissenschaft der
Moral" ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel
zu hochmüthig und wider den guten Geschmack: welcher immer ein
Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte,
in aller Strenge, sich eingestehn, was hier auf lange hinaus noch noth
thut, was vorläufig allein Recht hat: nämlich Sammlung des Materials,
begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs
zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen,
zeugen und zu Grunde gehn, - und, vielleicht, Versuche, die
wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden
Krystallisation anschaulich zu machen, - als Vorbereitung zu einer
Typenlehre der Moral. Freilich: man war bisher nicht so bescheiden.
Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der
lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres,
Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft
befassten: sie wollten die Begründung der Moral, - und jeder Philosoph
hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben; die Moral selbst
aber galt als "gegeben". Wie ferne lag ihrem plumpen Stolze jene
unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer
Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein
genug sein könnten! Gerade dadurch, dass die Moral-Philosophen die
moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder
als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung,
ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima's und
Erdstriches, - gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker,
Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig
wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral
gar nicht zu Gesichte: - als welche alle erst bei einer Vergleichung
vieler Moralen auftauchen. In aller bisherigen "Wissenschaft der
Moral" fehlte, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der
Moral selbst: es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas
Problematisches gebe. Was die Philosophen "Begründung der Moral"
nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur
eine gelehrte Form des guten Glaubens an die herrschende Moral, ein
neues Mittel ihres Ausdrucks, also ein Thatbestand selbst innerhalb
einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art
Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden dürfe: - und
jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung,
Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit
welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine
eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die
Wissenschaftlichkeit einer "Wissenschaft", deren letzte Meister noch
wie die Kinder und die alten Weibchen reden: - "das Princip, sagt
er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), der Grundsatz, über dessen
Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind; neminem laede, immo
omnes, quantum potes, juva - das ist eigentlich der Satz, welchen zu
begründen alle Sittenlehrer sich abmühen.... das eigentliche Fundament
der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden
sucht." - Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag
freilich gross sein - bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit
nicht geglückt -; und wer einmal gründlich nachgefühlt hat, wie
abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt,
deren Essenz Wille zur Macht ist -, der mag sich daran erinnern
lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, eigentlich - die Flöte
blies.... Täglich, nach Tisch: man lese hierüber seinen Biographen.
Und beiläufig gefragt: ein Pessimist, ein Gott- und Welt-Verneiner,
der vor der Moral Haltmacht, - der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst,
zur laede-neminem-Moral: wie? ist das eigentlich - ein Pessimist?


187.

Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie "es giebt in uns
einen kategorischen Imperativ", kann man immer noch fragen: was sagt
eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus? Es giebt Moralen,
welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen; andre Moralen
sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen; mit anderen will
er sich selbst an's Kreuz schlagen und demüthigen; mit andern will
er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären
und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen; diese Moral dient ihrem
Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen
zu machen; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und
schöpferische Laune ausüben; manch Anderer, vielleicht gerade auch
Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn: "was an mir achtbar ist,
das ist, dass ich gehorchen kann, - und bei euch soll es nicht
anders stehn, als bei mir!" - kurz, die Moralen sind auch nur eine
Zeichensprache der Affekte.


188.

Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei
gegen die "Natur", auch gegen die "Vernunft": das ist aber noch kein
Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend
einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft
unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist,
dass sie ein langer Zwang ist: um den Stoicismus oder Port-Royal oder
das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern,
unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, -
des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel
Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! -
einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein
unerbittliches Gewissen wohnt - "um einer Thorheit willen", wie
utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, - "aus
Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze", wie die Anarchisten sagen,
die sich damit "frei", selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche
Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit,
Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder
gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren,
oder im Reden und überreden, in den Künsten ebenso wie in
den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der "Tyrannei solcher
Willkür-Gesetze" entwickelt hat; und allen Ernstes, die
Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies "Natur"
und "natürlich" sei - und nicht jenes laisser aller! jeder Künstler
weiss, wie fern vom Gefühl des Sichgehen-lassens sein "natürlichster"
Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den
Augenblicken der "Inspiration", - und wie streng und fein er gerade
da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch
Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch
der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes,
Vielfaches, Vieldeutiges -). Das Wesentliche, "im Himmel und auf
Erden", wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer
Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas
heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel
Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, - irgend etwas
Verklärendes, Raffinirtes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit
des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der
Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb
einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen
Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was
geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den
christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und
zu rechtfertigen, - all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte,
Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt,
durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine
rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde:
zugegeben, dass dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist
erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie
überall zeigt sich "die Natur", wie sie ist, in ihrer ganzen
verschwenderischen und gleichgültigen Grossartigkeit, welche empört,
aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur
dachten, um Etwas zu beweisen -heute ist uns umgekehrt jeder Denker
verdächtig, der "Etwas beweisen will" -, dass ihnen bereits immer
feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen
sollte, etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute
noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten
persönlichen Ereignisse "zu Ehren Gottes" und "zum Heil der Seele": -
diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit
hat den Geist erzogen; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen
und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen
Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn: die "Natur"
in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit
hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach
nächsten Aufgaben pflanzt, - welche die Verengerung der Perspektive,
und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und
Wachsthums-Bedingung lehrt. "Du sollst gehorchen, irgend wem, und auf
lange: sonst gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor
dir selbst" - dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu
sein, welcher freilich weder "kategorisch" ist, wie es der alte Kant
von ihm verlangte (daher das "sonst" -), noch an den Einzelnen sich
wendet (was liegt ihr am Einzelnen!), wohl aber an Völker, Rassen,
Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier "Mensch", an den
Menschen.


189.

Die arbeitsamen Rassen finden eine grosse Beschwerde darin, den
Müssiggang zu ertragen: es war ein Meisterstück des englischen
Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen,
dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen-
und Werktage lüstern wird: - als eine Art klug erfundenen, klug
eingeschalteten Fastens, wie dergleichen auch in der antiken Welt
reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen
Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit -). Es muss Fasten von
vielerlei Art geben; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten
herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage
einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und
wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn,
erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem
moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte
Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken
und niederwerfen, aber auch sich reinigen und schärfen lernt; auch
einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der
hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen
und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung. - Hiermit
ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade
in der christlichsten Periode Europa's und überhaupt erst unter dem
Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur
Liebe (amour-passion) sublimirt hat.


190.

Es giebt Etwas in der Moral Plato's, das nicht eigentlich zu Plato
gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfindet, man könnte
sagen, trotz Plato: nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu
vornehm war. "Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht
alles Schlechte unfreiwillig. Denn der Schlechte fügt sich selbst
Schaden zu: das würde er nicht thun, falls er wüsste, dass das
Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem
Irrthum schlecht; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn
notwendig - gut." - Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pöbel,
der am Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in's Auge fasst und
eigentlich urtheilt "es ist dumm, schlecht zu handeln"; während er
"gut" mit "nützlich und angenehm" ohne Weiteres als identisch nimmt.
Man darf bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen
gleichen Ursprung rathen und seiner Nase folgen: man wird selten irre
gehn. - Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den
Satz seines Lehrers hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst -,
er, der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur
wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse nahm, um es in's
Unendliche und Unmögliche zu variiren: nämlich in alle seine eignen
Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu
homerisch: was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht prósthe
Pláton opithén te Pláton mésse te Chímaira.


191.

Das alte theologische Problem von "Glauben" und "Wissen" - oder,
deutlicher, von Instinkt und Vernunft - also die Frage, ob in Hinsicht
auf Werthschätzung der Dinge der Instinkt mehr Autorität verdiene, als
die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem "Warum?", als nach
Zweckmässigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will,
- es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in
der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christenthum schon
die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem
Geschmack seines Talentes - dem eines überlegenen Dialektikers -
zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt; und in Wahrheit, was hat
er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner
vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren
gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe
ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im Stillen und
Geheimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor
seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit
und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den
Instinkten lösen! Man muss ihnen und auch der Vernunft zum Recht
verhelfen, - man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft
überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die
eigentliche Falschheit jenes grossen geheimnissreichen Ironikers; er
brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung
zufrieden zu geben: im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen
Urtheile durchschaut. - Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne
die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft -
der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! - sich
beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf Ein Ziel zugehen,
auf das Gute, auf "Gott"; und seit Plato sind alle Theologen und
Philosophen auf der gleichen Bahn, - das heisst, in Dingen der Moral
hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, "der
Glaube", oder wie ich es nenne, "die Heerde" gesiegt. Man müsse
denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich
Grossvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität
zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war
oberflächlich.


192.

Wer der Geschichte einer einzelnen Wissenschaft nachgegangen ist,
der findet in ihrer Entwicklung einen Leitfaden zum Verständniss der
ältesten und gemeinsten Vorgänge alles "Wissens und Erkennens": dort
wie hier sind die voreiligen Hypothesen, die Erdichtungen, der gute
dumme Wille zum "Glauben", der Mangel an Misstrauen und Geduld zuerst
entwickelt, - unsre Sinne lernen es spät, und lernen es nie ganz,
feine treue vorsichtige Organe der Erkenntniss zu sein. Unserm Auge
fällt es bequemer, auf einen gegebenen Anlass hin ein schon öfter
erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines
Eindrucks bei sich festzuhalten: letzteres braucht mehr Kraft, mehr
"Moralität". Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig;
fremde Musik hören wir schlecht. Unwillkürlich versuchen wir, beim
Hören einer andren Sprache, die gehörten Laute in Worte einzuformen,
welche uns vertrauter und heimischer klingen: so machte sich zum
Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten arcubalista das Wort
Armbrust zurecht. Das Neue findet auch unsre Sinne feindlich und
widerwillig; und überhaupt herrschen schon bei den "einfachsten"
Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht, Liebe, Hass,
eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit. - So wenig ein Leser
heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich
abliest - er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach
Zufall heraus und "erräth" den zu diesen fünf Worten muthmaasslich
zugehörigen Sinn -, eben so wenig sehen wir einen Baum genau und
vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt
uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phantasiren.
Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso:
wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind
kaum dazu zu zwingen, nicht als "Erfinder" irgend einem Vorgange
zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters
her - an's Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer,
kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man
weiss. - In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der
Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äussert, oder
den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt
vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die Kraft meines
Sehvermögens hinausgeht: - die Feinheit des Muskelspiels und des
Augen-Ausdrucks muss also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich
machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins.


193.

Quidquid luce fuit, tenebris agit: aber auch umgekehrt. Was wir im
Traume erleben, vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört
zuletzt so gut zum Gesammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas
"wirklich" Erlebtes: wir sind vermöge desselben reicher oder ärmer,
haben ein Bedürfniss mehr oder weniger und werden schliesslich am
hellen lichten Tage, und selbst in den heitersten Augenblicken unsres
wachen Geistes, ein Wenig von den Gewöhnungen unsrer Träume gegängelt.
Gesetzt, dass Einer in seinen Träumen oftmals geflogen ist und
endlich, sobald er träumt, sich einer Kraft und Kunst des Fliegens
wie seines Vorrechtes bewusst wird, auch wie seines eigensten
beneidenswerthen Glücks: ein Solcher, der jede Art von Bogen und
Winkeln mit dem leisesten Impulse verwirklichen zu können glaubt,
der das Gefühl einer gewissen göttlichen Leichtfertigkeit kennt,
ein "nach, Oben" ohne Spannung und Zwang, ein "nach Unten" ohne
Herablassung und Erniedrigung - ohne Schwere! - wie sollte der Mensch
solcher Traum-Erfahrungen und Traum-Gewohnheiten nicht endlich auch
für seinen wachen Tag das Wort "Glück" anders gefärbt und bestimmt
finden! wie sollte er nicht anders nach Glück - verlangen
"Aufschwung", so wie dies von Dichtern beschrieben wird, muss ihm,
gegen jenes "Fliegen" gehalten, schon zu erdenhaft, muskelhaft,
gewaltsam, schon zu "schwer" sein.


194.

Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der
Verschiedenheit ihrer Gütertafeln, also darin, dass sie verschiedene
Güter für erstrebenswerth halten und auch über das Mehr und Weniger
des Werthes, über die Rangordnung der gemeinsam anerkannten Güter mit
einander uneins sind: - sie zeigt sich noch mehr in dem, was ihnen
als wirkliches Haben und Besitzen eines Gutes gilt. In Betreff eines
Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon die Verfügung über
den Leib und der Geschlechtsgenuss als ausreichendes und genugthuendes
Anzeichen des Habens, des Besitzens; ein Anderer, mit seinem
argwöhnischeren und anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das
"Fragezeichen", das nur Scheinbare eines solchen Habens, und will
feinere Proben, vor Allem, um zu wissen, ob das Weib nicht nur ihm
sich giebt, sondern auch für ihn lässt, was sie hat oder gerne hätte
-: so erst gilt es ihm als "besessen". Ein Dritter aber ist auch hier
noch nicht am Ende seines Misstrauens und Habenwollens, er fragt sich,
ob das Weib, wenn es Alles für ihn lässt, dies nicht etwa für ein
Phantom von ihm thut: er will erst gründlich, ja abgründlich gut
gekannt sein, um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich
errathen zu lassen -. Erst dann fühlt er die Geliebte völlig in seinem
Besitze, wenn sie sich nicht mehr über ihn betrügt, wenn sie ihn um
seiner Teufelei und versteckten Unersättlichkeit willen eben so sehr
liebt, als um seiner Güte, Geduld und Geistigkeit willen. Jener möchte
ein Volk besitzen: und alle höheren Cagliostro- und Catilina-Künste
sind ihm zu diesem Zwecke recht. Ein Anderer, mit einem feineren
Besitzdurste, sagt sich "man darf nicht betrügen, wo man besitzen
will" -, er ist gereizt und ungeduldig bei der Vorstellung, dass eine
Maske von ihm über das Herz des Volks gebietet: "also muss ich mich
kennen lassen und, vorerst, mich selbst kennen!" Unter hülfreichen und
wohlthätigen Menschen findet man jene plumpe Arglist fast regelmässig
vor, welche sich Den, dem geholfen werden soll, erst zurecht macht:
als ob er zum Beispiel Hülfe "verdiene", gerade nach ihrer Hülfe
verlange, und für alle Hülfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich,
unterwürfig beweisen werde, - mit diesen Einbildungen verfügen sie
über den Bedürftigen wie über ein Eigenthum, wie sie aus einem
Verlangen nach Eigenthum überhaupt wohlthätige und hülfreiche Menschen
sind. Man findet sie eifersüchtig, wenn man sie beim Helfen kreuzt
oder ihnen zuvorkommt. Die Eltern machen unwillkürlich aus dem Kinde
etwas ihnen Ähnliches - sie nennen das "Erziehung" -, keine Mutter
zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigenthum
geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es seinen
Begriffen und Werthschätzungen unterwerfen zu dürfen. Ja, ehemals
schien es den Vätern billig, über Leben und Tod des Neugebornen (wie
unter den alten Deutschen) nach Gutdünken zu verfügen. Und wie der
Vater, so sehen auch jetzt noch der Lehrer, der Stand, der Priester,
der Fürst in jedem neuen Menschen eine unbedenkliche Gelegenheit zu
neuem Besitze. Woraus folgt.....


195.

Die Juden - ein Volk "geboren zur Sklaverei", wie Tacitus und die
ganze antike Welt sagt, "das auserwählte Volk unter den Völkern", wie
sie selbst sagen und glauben - die Juden haben jenes Wunderstück von
Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf
der Erde für ein Paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen
Reiz erhalten hat: - ihre Propheten haben "reich" "gottlos" "böse"
"gewaltthätig" "sinnlich" in Eins geschmolzen und zum ersten Male das
Wort "Welt", zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe
(zu der es gehört, das Wort für "Arm" als synonym mit "Heilig" und
"Freund" zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks: mit ihm
beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral.


196.

Es giebt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu erschliessen,
- solche die wir nie sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein
Gleichniss; und ein Moral-Psycholog liest die gesammte Sternenschrift
nur als eine Gleichniss- und Zeichensprache, mit der sich Vieles
verschweigen lässt.


197.

Man missversteht das Raubthier und den Raubmenschen (zum Beispiele
Cesare Borgia) gründlich, man missversteht die "Natur", so lange man
noch nach einer "Krankhaftigkeit" im Grunde dieser gesündesten aller
tropischen Unthiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen
eingeborenen "Hölle" -: wie es bisher fast alle Moralisten gethan
haben. Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den
Urwald und gegen die Tropen giebt? Und dass der "tropische Mensch"
um jeden Preis diskreditirt werden muss, sei es als Krankheit und
Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung?
Warum doch? Zu Gunsten der "gemässigten Zonen"? Zu Gunsten der
gemässigten Menschen? Der "Moralischen"? Der Mittelmässigen? - Dies
zum Kapitel "Moral als Furchtsamkeit". -


198.

Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum
Zwecke ihres "Glückes", wie es heisst, - was sind sie Anderes, als
Verhaltungs-Vorschläge im Verhältniss zum Grade der Gefährlichkeit, in
welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt; Recepte gegen ihre
Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen
zur Macht haben und den Herrn spielen möchten; kleine und grosse
Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter
Hausmittel und Altweiber-Weisheit; allesammt in der Form barock und
unvernünftig - weil sie sich an "Alle" wenden, weil sie generalisiren,
wo nicht generalisirt werden darf -, allesammt unbedingt redend, sich
unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt,
vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn
sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor Allem "nach der
anderen Welt": Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und
noch lange nicht "Wissenschaft", geschweige denn "Weisheit", sondern,
nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit,
gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit, - sei es nun jene
Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der
Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten; oder auch jenes
Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv
befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion
derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches
Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der
Aristotelismus der Moral; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer
absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der
Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um
Gotteswillen - denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder
Bürgerrecht, vorausgesetzt dass; zuletzt selbst jene entgegenkommende
und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe
gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-
leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und
Trunkenbolde, bei denen es "wenig Gefahr mehr hat". Auch Dies zum
Kapitel "Moral als Furchtsamkeit".


199.

Insofern es zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, auch
Menschenheerden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden,
Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im
Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender, - in Anbetracht also,
dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt
und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass
durchschnittlich jetzt einem jeden das Bedürfniss darnach angeboren
ist, als eine Art formalen Gewissens, welches gebietet: "du sollst
irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen", kurz "du
sollst". Dies Bedürfniss sucht sich zu sättigen und seine Form mit
einem Inhalte zu füllen; es greift dabei, gemäss seiner Stärke,
Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein grober Appetit, zu
und nimmt an, was ihm nur von irgend welchen Befehlenden - Eltern,
Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen -
in's Ohr gerufen wird. Die seltsame Beschränktheit der menschlichen
Entwicklung, das Zögernde, Langwierige, oft Zurücklaufende und
Sich-Drehende derselben beruht darauf, dass der Heerden-Instinkt des
Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt
wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen letzten
Ausschweifungen schreitend, so fehlen endlich geradezu die
Befehlshaber und Unabhängigen; oder sie leiden innerlich am
schlechten Gewissen und haben nöthig, sich selbst erst eine Täuschung
vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich als ob auch sie nur
gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatsächlich in Europa: ich
nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich
nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch,
dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der
Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes)
oder selbst von der Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maximen borgen,
zum Beispiel als "erste Diener ihres Volks" oder als "Werkzeuge
des gemeinen Wohls". Auf der anderen Seite giebt sich heute der
Heerdenmensch in Europa das Ansehn, als sei er die einzig erlaubte
Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er
zahm, verträglich und der Heerde nützlich ist, als die eigentlich
menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiss,
Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber,
wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt,
macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger
Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind
zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohlthat,
welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz
Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese
Heerdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das
Erscheinen Napoleon's machte, das letzte grosse Zeugniss: - die
Geschichte der Wirkung Napoleon's ist beinahe die Geschichte des
höheren Glücks, zu dem es dieses ganze Jahrhundert in seinen
werthvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat.


200.

Der Mensch aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durch
einander wirft, der als Solcher die Erbschaft einer vielfältigen
Herkunft im Leibe hat, das heisst gegensätzliche und oft nicht einmal
nur gegensätzliche Triebe und Werthmaasse, welche mit einander kämpfen
und sich selten Ruhe geben, - ein solcher Mensch der späten Culturen
und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer
Mensch sein: sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der
Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe; das Glück erscheint ihm, in
Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder
christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als das Glück des
Ausruhens, der Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als
"Sabbat der Sabbate", um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden,
der selbst ein solcher Mensch war. - Wirkt aber der Gegensatz und
Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel mehr -,
und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben
auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit
sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt
und angezüchtet: so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und
Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten
Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alciblades und Caesar (-
denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem Geschmack, den
Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern
vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben
Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe,
in den Vordergrund tritt.- beide Typen gehören zu einander und
entspringen den gleichen Ursachen.


201.

So lange die Nützlichkeit, die in den moralischen Werthurtheilen
herrscht, allein die Heerden-Nützlichkeit ist, so lange der
Blick einzig der Erhaltung der Gemeinde zugewendet ist, und das
Unmoralische genau und ausschliesslich in dem gesucht wird, was dem
Gemeinde-Bestand gefährlich scheint: so lange kann es noch keine
"Moral der Nächstenliebe" geben. Gesetzt, es findet sich auch da
bereits eine beständige kleine Übung von Rücksicht, Mitleiden,
Billigkeit, Milde, Gegenseitigkeit der Hülfeleistung, gesetzt, es
sind auch auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe
thätig, welche später mit Ehrennamen, als "Tugenden" bezeichnet
werden und schliesslich fast mit dem Begriff "Moralität" in Eins
zusammenfallen: in jener Zeit gehören sie noch gar nicht in das Reich
der moralischen Werthschätzungen - sie sind noch aussermoralisch. Eine
mitleidige Handlung zum Beispiel heisst in der besten Römerzeit weder
gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch; und wird sie selbst
gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine
Art unwilliger Geringschätzung, sobald sie nämlich mit irgend einer
Handlung zusammengehalten wird, welche der Förderung des Ganzen, der
res publica, dient. Zuletzt ist die "Liebe zum Nächsten" immer etwas
Nebensächliches, zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares
im Verhältniss zur Furcht vor dem Nächsten. Nachdem das Gefüge der
Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen äussere Gefahren
gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche
wieder neue Perspektiven der moralischen Werthschätzung schafft.
Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust,
Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht, die
bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt unter anderen
Namen, wie billig, als den eben gewählten sondern gross-gezogen und
-gezüchtet werden mussten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen
gegen die Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr
in ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden - jetzt, wo die
Abzugskanäle für sie fehlen - und schrittweise, als unmoralisch,
gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben. Jetzt kommen die
gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren; der
Heerden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel
oder wie wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches in
einer Meinung, in einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer
Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive: die Furcht
ist auch hier wieder die Mutter der Moral. An den höchsten und
stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den
Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des
Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl
der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat gleichsam,
zerbricht: folglich wird man gerade diese Triebe am besten brandmarken
und verleumden. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum
Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden;
Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten
Furcht macht, heisst von nun an böse; die billige, bescheidene,
sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaass der
Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren. Endlich, unter sehr
friedfertigen Zuständen, fehlt die Gelegenheit und Nöthigung immer
mehr, sein Gefühl zur Strenge und Härte zu erziehn; und jetzt beginnt
jede Strenge, selbst in der Gerechtigkeit, die Gewissen zu stören;
eine hohe und harte Vornehmheit und Selbst-Verantwortlichkeit
beleidigt beinahe und erweckt Misstrauen, "das Lamm", noch mehr "das
Schlaf" gewinnt an Achtung. Es giebt einen Punkt von krankhafter
Vermürbung und Verzärtlichung in der Geschichte der Gesellschaft, wo
sie selbst für ihren Schädiger, den Verbrecher Partei nimmt, und zwar
ernsthaft und ehrlich. Strafen: das scheint ihr irgendworin unbillig,
- gewiss ist, dass die Vorstellung "Strafe" und "Strafen-Sollen"
ihr wehe thut, ihr Furcht macht. "Genügt es nicht, ihn ungefährlich
machen? Wozu noch strafen? Strafen selbst ist fürchterlich!" - mit
dieser Frage zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre
letzte Consequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund
zum Fürchten abschaffen, so hätte man diese Moral mit abgeschafft: sie
wäre nicht mehr nöthig, sie hielte sich selbst nicht mehr für nöthig!
- Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend
moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ
herauszuziehen haben, den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit: "wir
wollen, dass es irgendwann einmal Nichts mehr zu fürchten giebt!"
Irgendwann einmal - der Wille und Weg dorthin heisst heute in Europa
überall der "Fortschritt".


202.

Sagen wir es sofort noch einmal, was wir schon hundert Mal gesagt
haben: denn die Ohren sind für solche Wahrheiten - für unsere
Wahrheiten - heute nicht gutwillig. Wir wissen es schon genug, wie
beleidigend es klingt, wenn Einer überhaupt den Menschen ungeschminkt
und ohne Gleichniss zu den Thieren rechnet; aber es wird beinahe
als Schuld uns angerechnet werden, dass wir gerade in Bezug auf die
Menschen der "modernen Ideen" beständig die Ausdrücke "Heerde",
"Heerden-Instinkte" und dergleichen gebrauchen. Was hilft es! Wir
können nicht anders: denn gerade hier liegt unsre neue Einsicht. Wir
fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig
geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa's Einfluss
herrscht: man weiss ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu
wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren
verhiess, - man "weiss" heute, was Gut und Böse ist. Nun muss es hart
klingen und schlecht zu Ohren gehn, wenn wir immer von Neuem darauf
bestehn: was hier zu wissen glaubt, was hier mit seinem Loben und
Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut heisst, ist der
Instinkt des Heerdenthiers Mensch: als welcher zum Durchbruch, zum
Übergewicht, zur Vorherrschaft über andere Instinkte gekommen ist und
immer mehr kommt, gemäss der wachsenden physiologischen Annäherung
und Anähnlichung, deren Symptom er ist. Moral ist heute in Europa
Heerdenthier-Moral: - also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art
von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor
Allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche
"Möglichkeit", gegen ein solches "Sollte" wehrt sich aber diese Moral
mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich "ich bin die
Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral!" - ja mit Hülfe einer
Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen
war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, dass wir selbst in
den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer
sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokratische Bewegung
macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die
Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes
noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer
rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen
der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der
europäischen Cultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den
friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr
zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern,
welche sich Socialisten nennen und die "freie Gesellschaft" wollen, in
Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven
Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der
autonomen Heerde (bis hinaus zur Ablehnung selbst der Begriffe "Herr"
und "Knecht" - ni dieu ni maître heisst eine socialistische Formel
-); Eins im zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes
Sonder-Recht und Vorrecht (das heisst im letzten Grunde gegen jedes
Recht: denn dann, wenn Alle gleich sind, braucht Niemand mehr "Rechte"
-); Eins im Misstrauen gegen die strafende Gerechtigkeit (wie als
ob sie eine Vergewaltigung am Schwächeren, ein Unrecht an der
nothwendigen Folge aller früheren Gesellschaft wäre -); aber ebenso
Eins in der Religion des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt,
gelebt, gelitten wird (bis hinab zum Thier, bis hinauf zu "Gott":
- die Ausschweifung eines Mitleidens mit "Gott" gehört in ein
demokratisches Zeitalter -); Eins allesammt im Schrei und der Ungeduld
des Mitleidens, im Todhass gegen das Leiden überhaupt, in der fast
weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können, leiden
lassen zu können; Eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und
Verzärtlichung, unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus
bedroht scheint; Eins im Glauben an die Moral des gemeinsamen
Mitleidens, wie als ob sie die Moral an sich sei, als die Höhe, die
erreichte Höhe des Menschen, die alleinige Hoffnung der Zukunft, das
Trostmittel der Gegenwärtigen, die grosse Ablösung aller Schuld von
Ehedem: - Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die
Erlöserin, an die Heerde also, an sich......


203.

Wir, die wir eines andren Glaubens sind -, wir, denen die
demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form
der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich
Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung
und Werth-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen
greifen? - Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach
Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu
entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und "ewige Werthe"
umzuwerthen, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der
Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der
den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem Menschen
die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem
Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche
von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen
Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher "Geschichte" hiess, ein
Ende zu machen - der Unsinn der "grössten Zahl" ist nur seine letzte
Form -: dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und
Befehlshabern nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Erden
an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist,
blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es,
das vor unsern Augen schwebt: - darf ich es laut sagen, ihr freien
Geister? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung theils schaffen,
theils ausnützen müsste; die muthmaasslichen Wege und Proben, vermöge
deren eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den
Zwang zu diesen Aufgaben zu empfinden; eine Umwerthung der Werthe,
unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein
Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen
Verantwortlichkeit ertrüge; andererseits die Nothwendigkeit solcher
Führer, die erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben oder missrathen
und entarten könnten - das sind unsre eigentlichen Sorgen und
Verdüsterungen, ihr wisst es, ihr freien Geister? das sind die
schweren fernen Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel unseres
Lebens hingehn. Es giebt wenig so empfindliche Schmerzen, als einmal
gesehn, errathen, mitgefühlt zu haben, wie ein ausserordentlicher
Mensch aus seiner Bahn gerieth und entartete: wer aber das seltene
Auge für die Gesammt-Gefahr hat, dass "der Mensch" selbst entartet,
wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche
bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte -
ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein "Finger Gottes"
mitspielte! - wer das Verhängniss, erräth, das in der blödsinnigen
Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der "modernen Ideen", noch mehr
in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt: der
leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen
lässt, - er fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer
günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus
dem Menschen zu züchten wäre, er weiss es mit allem Wissen seines
Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten
Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an
geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat: -
er weiss es noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an
was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher
gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward. Die
Gesammt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den
socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr "Mensch der Zukunft"
erscheint, - als ihr Ideal! - diese Entartung und Verkleinerung des
Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere (oder, wie sie sagen, zum
Menschen der "freien Gesellschaft"), diese Verthierung des Menschen
zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist
kein Zweifel! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat,
kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen, - und vielleicht auch
eine neue Aufgabe!....



Sechstes Hauptstück:

Wir Gelehrten.

204.

Auf die Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das
herausstellt, was es immer war - nämlich als ein unverzagtes montrer
ses plaies, nach Balzac -, möchte ich wagen, einer ungebührlichen und
schädlichen Rangverschiebung entgegenzutreten, welche sich heute, ganz
unvermerkt und wie mit dem besten Gewissen, zwischen Wissenschaft
und Philosophie herzustellen droht. Ich meine, man muss von seiner
Erfahrung aus - Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme
Erfahrung? - ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs
mitzureden: um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen
und Künstler gegen die Wissenschaft zu reden ("ach, diese schlimme
Wissenschaft! seufzt deren Instinkt und Scham, sie kommt immer
dahinter!" -). Die Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen
Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, ist eine der
feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens: die
Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute
überall in voller Blüthe und in ihrem besten Frühlinge, - womit noch
nicht gesagt sein soll, dass in diesem Falle Eigenlob lieblich röche.
"Los von allen Herren!" - so will es auch hier der pöbelmännische
Instinkt; und nachdem sich die Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge
der Theologie erwehrt hat, deren "Magd" sie zu lange war, ist sie nun
in vollem Übermuthe und Unverstande darauf hin aus, der Philosophie
Gesetze zu machen und ihrerseits einmal den "Herrn" - was sage ich!
den Philosophen zu spielen. Mein Gedächtniss - das Gedächtniss eines
wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub! - strotzt von Naivetäten des
Hochmuths, die ich seitens junger Naturforscher und alter Ärzte über
Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden von den
gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und
Schulmännern, welche Beides von Berufs wegen sind -). Bald war es der
Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle
synthetischen Aufgaben und Fähigkeiten zur Wehre setzte; bald der
fleissige Arbeiter, der einen Geruch von otium und der vornehmen
Üppigkeit im Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und
sich dabei beeinträchtigt und verkleinert fühlte. Bald war es jene
Farben-Blindheit des Nützlichkeits-Menschen, der in der Philosophie
Nichts sieht, als eine Reihe widerlegter Systeme und einen
verschwenderischen Aufwand, der Niemandem "zu Gute kommt". Bald sprang
die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens
hervor; bald die Missachtung einzelner Philosophen, welche sich
unwillkürlich zur Missachtung der Philosophie verallgemeinert hatte.
Am häufigsten endlich fand ich bei jungen Gelehrten hinter der
hochmüthigen Geringschätzung der Philosophie die schlimme Nachwirkung
eines Philosophen selbst, dem man zwar im Ganzen den Gehorsam
gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner wegwerfenden
Werthschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein: - mit
dem Ergebniss einer Gesammt-Verstimmung gegen alle Philosophie.
(Dergestalt scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauer's
auf das neueste Deutschland zu sein: - er hat es mit seiner
unintelligenten Wuth auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte
Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur
herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe und
divinatorische Feinheit des historischen Sinns gewesen ist: aber
Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität
arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt in's Grosse gerechnet, mag
es vor Allem das Menschliche, Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit
der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der
Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen
Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis
zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite,
Plato's, Empedokles', und wie alle diese königlichen und prachtvollen
Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht; und mit wie gutem
Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank
der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind - in Deutschland zum
Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring
und der Amalgamist Eduard von Hartmann - ein braver Mensch der
Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen darf. Es ist
in Sonderheit der Anblick jener Mischmasch-Philosophen, die sich
"Wirklichkeits-Philosophen" oder "Positivisten" nennen, welcher
ein gefährliches Misstrauen in die Seele eines jungen, ehrgeizigen
Gelehrten zu werfen im Stande ist: das sind ja besten Falls selbst
Gelehrte und Spezialisten, man greift es mit Händen! - das sind ja
allesammt überwundene und unter die Botmässigkeit der Wissenschaft
Zurückgebrachte, welche irgendwann einmal mehr von sich gewollt haben,
ohne ein Recht zu diesem "mehr" und seiner Verantwortlichkeit zu haben
- und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig, den Unglauben an die
Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit Wort und
That repräsentiren. Zuletzt: wie könnte es auch anders sein! Die
Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im
Gesichte, während Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich
gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute, Misstrauen und
Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht.
Philosophie auf "Erkenntnisstheorie" reduzirt, thatsächlich nicht
mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre: eine
Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg kommt und sich
peinlich das Recht zum Eintritt verweigert - das ist Philosophie in
den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas das Mitleiden macht.
Wie könnte eine solche Philosophie - herrschen!


205.

Die Gefahren für die Entwicklung des Philosophen sind heute in
Wahrheit so vielfach, dass man zweifeln möchte, ob diese Frucht
überhaupt noch reif werden kann. Der Umfang und der Thurmbau der
Wissenschaften ist in's Ungeheure gewachsen, und damit auch die
Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Lernender müde wird
oder sich irgendwo festhalten und "spezialisiren" lässt: so dass
er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick,
Niederblick kommt. Oder er gelangt zu spät hinauf, dann, wenn seine
beste Zeit und Kraft schon vorüber ist; oder beschädigt, vergröbert,
entartet, so dass sein Blick, sein Gesammt-Werthurtheil wenig mehr
bedeutet. Gerade die Feinheit seines intellektuellen Gewissens lässt
ihn vielleicht unterwegs zögern und sich verzögern; er fürchtet die
Verführung zum Dilettanten, zum Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn,
er weiss es zu gut, dass Einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht
verloren hat, auch als Erkennender nicht mehr befiehlt, nicht mehr
führt: er müsste denn schon zum grossen Schauspieler werden wollen,
zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der Geister, kurz
zum Verführer. Dies ist zuletzt eine Frage des Geschmacks: wenn es
selbst nicht eine Frage des Gewissens wäre. Es kommt hinzu, um die
Schwierigkeit des Philosophen noch einmal zu verdoppeln, dass er von
sich ein Urtheil, ein ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften,
sondern über das Leben und den Werth des Lebens verlangt, - dass er
ungern daran glauben lernt, ein Recht oder gar eine Pflicht zu diesem
Urtheile zu haben, und sich nur aus den umfänglichsten - vielleicht
störendsten, zerstörendsten - Erlebnissen heraus und oft zögernd,
zweifelnd, verstummend seinen Weg zu jenem Rechte und jenem Glauben
suchen muss. In der That, die Menge hat den Philosophen lange
Zeit verwechselt und verkannt, sei es mit dem wissenschaftlichen
Menschen und idealen Gelehrten, sei es mit dem religiös-gehobenen
entsinnlichten "entweltlichten" Schwärmer und Trunkenbold Gottes; und
hört man gar heute jemanden loben, dafür, dass er "weise" lebe oder
"als ein Philosoph", so bedeutet es beinahe nicht mehr, als "klug und
abseits". Weisheit: das scheint dem Pöbel eine Art Flucht zu sein,
ein Mittel und Kunststück, sich gut aus einem schlimmen Spiele
herauszuziehn; aber der rechte Philosoph - so scheint es uns, meine
Freunde? - lebt "unphilosophisch" und "unweise", vor Allem unklug,
und fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und Versuchungen
des Lebens: - er risquirt sich beständig, er spielt das schlimme
Spiel.....


206.

Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches
entweder zeugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten
Umfange genommen -, hat der Gelehrte, der wissenschaftliche
Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer: denn er
versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei werthvollsten
Verrichtungen des Menschen. In der That, man gesteht ihnen Beiden,
den Gelehrten und den alten Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die
Achtbarkeit zu - man unterstreicht in diesen Fällen die Achtbarkeit -
und hat noch an dem Zwange dieses Zugeständnisses den gleichen Beisatz
von Verdruss. Sehen wir genauer zu: was ist der wissenschaftliche
Mensch? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer
unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen
und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch: er hat Arbeitsamkeit,
geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmässigkeit und Maass
im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für Seines gleichen und
für Das, was Seinesgleichen nöthig hat, zum Beispiel jenes Stück
Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine Ruhe der
Arbeit giebt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und
zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt -), jenen Sonnenschein
des guten Namens, jene beständige Besiegelung seines Werthes und
seiner Nützlichkeit, mit der das innerliche Misstrauen, der Grund
im Herzen aller abhängigen Menschen und Heerdenthiere, immer wieder
überwunden werden muss. Der Gelehrte hat, wie billig, auch die
Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art: er ist reich am kleinen
Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen, zu deren
Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie Einer,
der sich gehen, aber nicht strömen lässt; und gerade vor dem Menschen
des grossen Stroms steht er um so kälter und verschlossener da, -
sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich
kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und
Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom
Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art: von jenem Jesuitismus
der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen
Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen
oder - noch lieber! - abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit
Rücksicht, mit schonender Hand natürlich -, mit zutraulichem Mitleiden
abspannen: das ist die eigentliche Kunst des Jesuitismus, der es immer
verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzuführen. -


207.

Wie dankbar man auch immer dem objektiven Geiste entgegenkommen
mag - und wer wäre nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner
verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen! - zuletzt
muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht lernen und
der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und
Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung
und Verklärung neuerdings gefeiert wird: wie es namentlich innerhalb
der Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch gute Gründe hat,
dem "interesselosen Erkennen" ihrerseits die höchsten Ehren zu geben.
Der objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich
dem Pessimisten, der ideale Gelehrte, in dem der wissenschaftliche
Instinkt nach tausendfachem Ganz- und Halb-Missrathen einmal zum Auf-
und Ausblühen kommt, ist sicherlich eins der kostbarsten Werkzeuge,
die es giebt: aber er gehört in die Hand eines Mächtigeren. Er ist
nur ein Werkzeug, sagen wir: er ist ein Spiegel, - er ist kein
"Selbstzweck". Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel: vor
Allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine
andre Lust, als wie sie das Erkennen, das "Abspiegeln" giebt, - er
wartet, bis Etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, dass auch
leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht
auf seiner Fläche und Haut verloren gehen. Was von "Person" an ihm
noch übrig ist, dünkt ihm zufällig, oft willkürlich, noch öfter
störend: so sehr ist er sich selbst zum Durchgang und Wiederschein
fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er besinnt sich auf "Sich"
zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch; er verwechselt sich
leicht, er vergreift sich in Bezug auf die eignen Nothdürfte und ist
hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit
oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der
Mangel an Gesellen und Gesellschaft, - ja, er zwingt sich, über seine
Qual nachzudenken: umsonst! Schon schweift sein Gedanke weg, zum
allgemeineren Falle, und morgen weiss er so wenig als er es gestern
wusste, wie ihm zu helfen ist. Er hat den Ernst für sich verloren,
auch die Zeit: er ist heiter, nicht aus Mangel an Noth, sondern
aus Mangel an Fingern und Handhaben für seine Noth. Das gewohnte
Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, die sonnige und
unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn
stösst, seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher
Unbekümmertheit um Ja und Nein: ach, es giebt genug Fälle, wo er diese
seine Tugenden büssen muss! - und als Mensch überhaupt wird er gar zu
leicht das caput mortuum dieser Tugenden. Will man Liebe und Hass von
ihm, ich meine Liebe und Hass, wie Gott, Weib und Thier sie verstehn
-: er wird thun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll
sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist, - wenn er da gerade sich
unächt, zerbrechlich, fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist
gewollt, sein Hass künstlich und mehr un tour de force, eine kleine
Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur ächt, so weit er objektiv
sein darf: allein in seinem heitern Totalismus ist er noch "Natur"
und "natürlich". Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele weiss
nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen; er befiehlt nicht;
er zerstört auch nicht. "Je ne méprise presque rien" - sagt er mit
Leibnitz: man überhöre und unterschätze das presque nicht! Er ist auch
kein Mustermensch; er geht Niemandem voran, noch nach; er stellt sich
überhaupt zu ferne, als dass er Grund hätte, zwischen Gut und Böse
Partei zu ergreifen. Wenn man ihn so lange mit dem Philosophen
verwechselt hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen
der Cultur: so hat man ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das
Wesentlichste an ihm übersehen, - er ist ein Werkzeug, ein Stück
Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber
Nichts, - presque rien! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein
kostbares, leicht verletzliches und getrübtes Mess-Werkzeug und
Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll; aber er ist kein
Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das
übrige Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss - und noch weniger ein
Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges,
Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will: vielmehr nur ein zarter
ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf irgend einen
Inhalt und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm "zu gestalten",
- für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein "selbstloser"
Mensch. Folglich auch Nichts für Weiber, in parenthesi. -


208.

Wenn heute ein Philosoph zu verstehen giebt, er sei kein Skeptiker,
- ich hoffe, man hat Das aus der eben gegebenen Abschilderung des
objektiven Geistes herausgehört? - so hört alle Welt das ungern; man
sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte so Vieles fragen,
fragen... ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt in Menge
giebt, heisst er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie,
bei seiner Ablehnung der Skepsis, von Ferne her irgend ein böses
bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff
versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes
Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss
Nein sagt, Nein will, sondern - schrecklich zu denken! Nein thut.
Gegen diese Art von "gutem Willen" - einem Willen zur wirklichen
thätlichen Verneinung des Lebens - giebt es anerkanntermaassen heute
kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den sanften
holden einlullenden Mohn Skepsis; und Hamlet selbst wird heute von den
Ärzten der Zeit gegen den "Geist" und sein Rumoren unter dem Boden
verordnet. "Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen
Geräuschen? sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe
als eine Art von Sicherheits-Polizei: dies unterirdische Nein ist
fürchterlich! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe!" Der
Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht;
sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei
einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biss zu
spüren. Ja! und Nein! - das geht ihm wider die Moral; umgekehrt liebt
er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa
indem er mit Montaigne spricht: "was weiss ich?" Oder mit Sokrates:
"ich weiss, dass ich Nichts weiss". Oder: "hier traue ich mir nicht,
hier steht mir keine Thür offen." Oder: "gesetzt, sie stünde offen,
wozu gleich eintreten!" Oder: "wozu nützen alle vorschnellen
Hypothesen? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten
Geschmack gehören. Müsst ihr denn durchaus etwas Krummes gleich gerade
biegen? Durchaus jedes Loch mit irgend welchem Werge ausstopfen? Hat
das nicht Zeit? Hat die Zeit nicht Zeit? Oh ihr Teufelskerle, könnt
ihr denn gar nicht warten? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch
die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin." -
Also tröstet sich ein Skeptiker; und es ist wahr, dass er einigen
Trost nöthig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer
gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in
gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt; sie entsteht
jedes Mal, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang
von einander abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen
Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in's Blut
vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch; die
besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander
nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht,
Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen
Mischlingen am tiefsten krank wird und entartet, das ist der Wille:
sie kennen das Unabhängige im Entschlusse, das tapfere Lustgefühl im
Wollen gar nicht mehr, - sie zweifeln an der "Freiheit des Willens"
auch noch in ihren Träumen. Unser Europa von heute, der Schauplatz
eines unsinnig plötzlichen Versuchs von radikaler Stände- und folglich
Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald
mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von
einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen
überladene Wolke, - und seines Willens oft bis zum Sterben satt!
Willenslähmung: wo findet man nicht heute diesen Krüppel sitzen! Und
oft noch wie geputzt! Wie verführerisch herausgeputzt! Es giebt die
schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese Krankheit; und dass zum
Beispiel das Meiste von dem, was sich heute als "Objektivität",
"Wissenschaftlichkeit", "l'art pour l'art", "reines willensfreies
Erkennen" in die Schauläden stellt, nur aufgeputzte Skepsis und
Willenslähmung ist, - für diese Diagnose der europäischen Krankheit
will ich einstehn. - Die Krankheit des Willens ist ungleichmässig über
Europa verbreitet: sie zeigt sich dort am grössten und vielfältigsten,
wo die Cultur schon am längsten heimisch ist, sie verschwindet
im dem Maasse, als "der Barbar" noch - oder wieder - unter dem
schlotterichten Gewande von westländischer Bildung sein Recht geltend
macht. Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht
erschliessen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten
erkrankt; und Frankreich, welches immer eine meisterhafte
Geschicklichkeit gehabt hat, auch die verhängnisvollen Wendungen
seines Geistes in's Reizende und Verführerische umzukehren, zeigt
heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zauber der
Skepsis sein Cultur-Übergewicht über Europa. Die Kraft zu wollen,
und zwar einen Willen lang zu wollen, ist etwas stärker schon in
Deutschland, und im deutschen Norden wiederum stärker als in der
deutschen Mitte; erheblich stärker in England, Spanien und Corsika,
dort an das Phlegma, hier an harte Schädel gebunden, - um nicht von
Italien zu reden, welches zu jung ist, als dass es schon wüsste, was
es wollte, und das erst beweisen muss, ob es wollen kann -, aber am
allerstärksten und erstaunlichsten in jenem ungeheuren Zwischenreiche,
wo Europa gleichsam nach Asien zurückfliesst, in Russland. Da ist die
Kraft zu wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet
der Wille - ungewiss, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung -
in bedrohlicher Weise darauf, ausgelöst zu werden, um den Physikern
von heute ihr Leibwort abzuborgen. Es dürften nicht nur indische
Kriege und Verwicklungen in Asien dazu nöthig sein, damit Europa von
seiner grössten Gefahr entlastet werde, sondern innere Umstürze, die
Zersprengung des Reichs in kleine Körper und vor Allem die Einführung
des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpflichtung für
Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung zu lesen. Ich sage dies nicht
als Wünschender: mir würde das Entgegengesetzte eher nach dem Herzen
sein, - ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands,
dass Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu
werden, nämlich Einen Willen zu bekommen, durch das Mittel einer neuen
über Europa herrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenen
Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte: - damit
endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso
seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss
käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste
Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, - den Zwang zur
grossen Politik.


209.

Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer
ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer
anderen und stärkeren Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte
ich mich vorläufig nur durch ein Gleichniss ausdrücken, welches
die Freunde der deutschen Geschichte schon verstehen werden. Jener
unbedenkliche Enthusiast für schöne grossgewachsene Grenadiere,
welcher, als König von Preussen, einem militärischen und skeptischen
Genie - und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich
heraufgekommenen Typus des Deutschen - das Dasein gab, der fragwürdige
tolle Vater Friedrichs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den
Griff und die Glücks-Kralle des Genies: er wusste, woran es damals in
Deutschland fehlte, und welcher Mangel hundert Mal ängstlicher und
dringender war, als etwa der Mangel an Bildung und gesellschaftlicher
Form, - sein Widerwille gegen den jungen Friedrich kam aus der Angst
eines tiefen Instinktes. Männer fehlten; und er argwöhnte zu seinem
bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei.
Darin betrog er sich: aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht
betrogen? Er sah seinen Sohn dem Atheismus, dem esprit, der
genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen: - er
sah im Hintergrunde die grosse Blutaussaugerin, die Spinne Skepsis, er
argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen wie zum
Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht
mehr befiehlt, nicht mehr befehlen kann. Aber inzwischen wuchs in
seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor
- wer weiss, wie sehr gerade durch den Hass des Vaters und durch die
eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt? - die
Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und
zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen
Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis
verachtet und reisst trotzdem an sich; sie untergräbt und nimmt in
Besitz; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei; sie
giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng;
es ist die deutsche Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter
und in's Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine
gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines
kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem
unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der grossen deutschen
Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn,
allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung waren) stellte
sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie
ein neuer Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur
männlichen Skepsis entscheidend hervortrat: sei es zum Beispiel als
Unerschrockenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden
Hand, als zäher Wille zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu
vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen
Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und
oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste
bekreuzigen: cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt
ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie
auszeichnend diese Furcht vor dem "Mann" im deutschen Geiste ist,
durch den Europa aus seinem "dogmatischen Schlummer" geweckt wurde, so
möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden
werden musste, - und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein
vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die
Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische
Tölpel der Theilnahme Europa's zu empfehlen. Man verstehe doch endlich
das Erstaunen Napoleon's tief genug, als er Goethen zu sehen bekam: es
verräth, was man sich Jahrhunderte lang unter dem "deutschen Geiste"
gedacht hatte. "Voilà un homme!" - das wollte sagen: Das ist ja ein
Mann! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet! - -


210.

Gesetzt also, dass im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug
zu rathen giebt, ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten
Sinne, Skeptiker sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an
ihnen bezeichnet - und nicht sie selbst. Mit dem gleichen Rechte
dürften sie sich Kritiker nennen lassen; und sicherlich werden es
Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu
taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon
ausdrücklich unterstrichen: geschah dies deshalb, weil sie, als
Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments in einem neuen,
vielleicht weiteren, vielleicht gefährlicheren Sinne zu bedienen
lieben? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss, mit
verwegenen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der
weichmüthige und verzärtelte Geschmack eines demokratischen
Jahrhunderts gut heissen kann? - Es ist kein Zweifel: diese
Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen
Eigenschaften entrathen dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker
abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste
Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das
Alleinstehn und Sich-verantworten-können; ja, sie gestehen bei sich
eine Lust am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene
Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss,
auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden härter sein (und
vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen
mögen, sie werden sich nicht mit der "Wahrheit" einlassen, damit sie
ihnen "gefalle" oder sie "erhebe" und "begeistere": - ihr Glaube wird
vielmehr gering sein, dass gerade die Wahrheit solche Lustbarkeiten
für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln, diese strengen
Geister, wenn Einer vor ihnen sagte "jener Gedanke erhebt mich: wie
sollte er nicht wahr sein?" Oder: "jenes Werk entzückt mich: wie
sollte es nicht schön sein?" Oder: "jener Künstler vergrössert mich:
wie sollte er nicht gross sein?" - sie haben vielleicht nicht nur ein
Lächeln, sondern einen ächten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen,
Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer
ihnen bis in ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüsste, würde
schwerlich dort die Absicht vorfinden, "christliche Gefühle" mit
dem "antiken Geschmacke" und etwa gar noch mit dem "modernen
Parlamentarismus" zu versöhnen (wie dergleichen Versöhnlichkeit in
unserm sehr unsicheren, folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar
bei Philosophen vorkommen soll). Kritische Zucht und jede Gewöhnung,
welche zur Reinlichkeit und Strenge in Dingen des Geistes führt,
werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von sich verlangen: sie
dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen, - trotzdem
wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heissen. Es scheint ihnen keine
kleine Schmach, die der Philosophie angethan wird, wenn man dekretirt,
wie es heute so gern geschieht: "Philosophie selbst ist Kritik
und kritische Wissenschaft - und gar nichts ausserdem!" Mag diese
Werthschätzung der Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten
Frankreichs und Deutschlands erfreuen (- und es wäre möglich, dass
sie sogar dem Herzen und Geschmacke Kant's geschmeichelt hätte: man
erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke -): unsre neuen Philosophen
werden trotzdem sagen: Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und
eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen! Auch
der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker. -


211.

Ich bestehe darauf, dass man endlich aufhöre, die philosophischen
Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den
Philosophen zu verwechseln, - dass man gerade hier mit Strenge "Jedem
das Seine" und Jenen nicht zu Viel, Diesen nicht viel zu Wenig gebe.
Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosophen nöthig sein, dass er
selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen
seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen
bleiben, - stehen bleiben müssen; er muss selbst vielleicht Kritiker
und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter
und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher
und "freier Geist" und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis
menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei
Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne, von der Tiefe in
jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blicken zu können. Aber dies
Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe: diese Aufgabe selbst
will etwas Anderes, - sie verlangt, dass er Werthe schaffe. Jene
philosophischen Arbeiter nach dem edlen Muster Kant's und Hegel's
haben irgend einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen - das
heisst ehemaliger Werthsetzungen, Werthschöpfungen, welche herrschend
geworden sind und eine Zeit lang "Wahrheiten" genannt werden -
festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des
Logischen oder des Politischen (Moralischen) oder des Künstlerischen.
Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte
übersichtlich, überdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange,
ja "die Zeit" selbst, abzukürzen und die ganze Vergangenheit zu
überwältigen: eine ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst
sich sicherlich jeder feine Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann.
Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie
sagen "so soll es sein!", sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des
Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen
Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, - sie greifen mit
schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird
ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr "Erkennen" ist
Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit
ist - Wille zur Macht. - Giebt es heute solche Philosophen? Gab es
schon solche Philosophen? Muss es nicht solche Philosophen geben?....


212.

Es will mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein
nothwendiger Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit
seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein
Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese
ausserordentlichen Förderer des Menschen, welche man Philosophen
nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern
eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten -,
ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich
aber die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer
Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer
vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes
Geheimniss war: um eine neue Grösse des Menschen zu wissen, um einen
neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal deckten
sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und
Sich-fallen lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer
zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend überlebt sei;
jedes Mal sagten sie: "wir müssen dorthin, dorthinaus, wo ihr heute am
wenigsten zu Hause seid." Angesichts einer Welt der "modernen Ideen",
welche Jedermann in eine Ecke und "Spezialität" bannen möchte, würde
ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen
sein, die Grösse des Menschen, den Begriff "Grösse" gerade in seine
Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu
setzen: er würde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel
und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie weit Einer seine
Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt und verdünnt der
Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr
zeitgemäss als Willensschwäche: also muss, im Ideale des Philosophen,
gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen
Entschliessungen in den Begriff "Grösse" hineingehören; mit so gutem
Rechte als die umgekehrte Lehre und das Ideal einer blöden entsagenden
demüthigen selbstlosen Menschlichkeit einem umgekehrten Zeitalter
angemessen war, einem solchen, das gleich dem sechszehnten Jahrhundert
an seiner aufgestauten Energie des Willens und den wildesten Wässern
und Sturmfluthen der Selbstsucht litt. Zur Zeit des Sokrates, unter
lauter Menschen des ermüdeten Instinktes, unter conservativen
Altathenern, welche sich gehen liessen - "zum Glück", wie sie sagten,
zum Vergnügen, wie sie thaten - und die dabei immer noch die alten
prunkvollen Worte in den Mund nahmen, auf die ihnen ihr Leben längst
kein Recht mehr gab, war vielleicht Ironie zur Grösse der Seele
nöthig, jene sokratische boshafte Sicherheit des alten Arztes und
Pöbelmanns, welcher schonungslos in's eigne Fleisch schnitt, wie
in's Fleisch und Herz des "Vornehmen", mit einem Blick, welcher
verständlich genug sprach: "verstellt euch vor mir nicht! Hier - sind
wir gleich!" Heute umgekehrt, wo in Europa das Heerdenthier allein
zu Ehren kommt und Ehren vertheilt, wo die "Gleichheit der Rechte"
allzuleicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln könnte:
ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden,
Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren
Pflicht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle
und Herrschaftlichkeit - heute gehört das Vornehm-sein, das
Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und
auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff "Grösse"; und der Philosoph
wird Etwas von seinem eignen Ideal verrathen, wenn er aufstellt: "der
soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste,
der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, er Herr
seiner Tugenden, der überreiche des Willens; dies eben soll Grösse
heissen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können."
Und nochmals gefragt: ist heute - Grösse möglich?


213.

Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es
nicht zu lehren ist: man muss es "wissen", aus Erfahrung, - oder man
soll den Stolz haben, es nicht zu wissen. Dass aber heutzutage alle
Welt von Dingen redet, in Bezug auf welche sie keine Erfahrung
haben kann, gilt am meisten und schlimmsten vom Philosophen und den
philosophischen Zuständen: - die Wenigsten kennen sie, dürfen sie
kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist
zum Beispiel jenes ächt philosophische Beieinander einer kühnen
ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft, und einer
dialektischen Strenge und Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut,
den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt
und darum, falls jemand davon vor ihnen reden wollte, un glaubwürdig.
Sie stellen sich jede Nothwendigkeit als Noth, als peinliches
Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor; und das Denken selbst gilt
ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und
oft genug als "des Schweisses der Edlen werth" - aber ganz und gar
nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe,
Nächst-Verwandtes! "Denken" und eine Sache "ernst nehmen", "schwer
nehmen" - das gehört bei ihnen zu einander: so allein haben sie es
"erlebt" -. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung
haben.- sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts
mehr "willkürlich" und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von
Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen,
Gestalten auf seine Höhe kommt, - kurz, dass Nothwendigkeit und
"Freiheit des Willens" dann bei ihnen Eins sind. Es giebt zuletzt eine
Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme
gemäss ist; und die höchsten Probleme stossen ohne Gnade Jeden zurück,
der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit
zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es, wenn gelenkige
Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und Empiriker sich,
wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in
ihre Nähe und gleichsam an diesen "Hof der Höfe" drängen! Aber auf
solche Teppiche dürfen grobe Füsse nimmermehr treten: dafür ist
im Urgesetz der Dinge schon gesorgt; die Thüren bleiben diesen
Zudringlichen geschlossen, mögen sie sich auch die Köpfe daran stossen
und zerstossen! Für jede hohe Welt muss man geboren sein; deutlicher
gesagt, man muss für sie gezüchtet sein: ein Recht auf Philosophie -
das Wort im grossen Sinne genommen - hat man nur Dank seiner Abkunft,
die Vorfahren, das "Geblüt" entscheidet auch hier. Viele Geschlechter
müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben; jede seiner
Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt
worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf
seiner Gedanken, sondern vor Allem die Bereitwilligkeit zu grossen
Verantwortungen, die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das
Sich-Abgetrennt-Fühlen von der Menge und ihren Pflichten und Tugenden,
das leutselige Beschützen und Vertheidigen dessen, was missverstanden
und verleumdet wird, sei es Gott, sei es Teufel, die Lust und Übung
in der grossen Gerechtigkeit, die Kunst des Befehlens, die Weite des
Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf
blickt, selten liebt....



Siebentes Hauptstück:

Unsere Tugenden.

214.

Unsere Tugenden? - Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere
Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen
und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere
Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir
Europäer von übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts,
- mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit
und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten
Grausamkeit in Geist und Sinnen, - wir werden vermuthlich, wenn
wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren
heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsern heissesten
Bedürfnissen am besten vertragen lernten: wohlan, suchen wir einmal
nach ihnen in unsren Labyrinthen! - woselbst sich, wie man weiss, so
mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht. Und giebt es
etwas Schöneres, als nach seinen eigenen Tugenden suchen? Heisst dies
nicht beinahe schon: an seine eigne Tugend glauben? Dies aber "an
seine Tugend glauben" - ist dies nicht im Grunde dasselbe, was man
ehedem sein "gutes Gewissen" nannte, jener ehrwürdige langschwänzige
Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter hinter ihren Kopf, oft genug
auch hinter ihren Verstand hängten? Es scheint demnach, wie wenig wir
uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen,
in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir
letzten Europäer mit gutem Gewissen: auch wir noch tragen ihren
Zopf. - Ach! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon - anders
kommt!.....


215.

Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn
Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener
Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte,
bald mit grünen Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend
und bunt überfluthend: so sind wir modernen Menschen, Dank der
complicirten Mechanik unsres "Sternenhimmels" - durch verschiedene
Moralen bestimmt; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in
verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, - und es giebt genug
Fälle, wo wir bunte Handlungen thun.


216.

Seine Feinde lieben? Ich glaube, das ist gut gelernt worden: es
geschieht heute tausendfältig, im Kleinen und im Grossen; ja es
geschieht bisweilen schon das Höhere und Sublimere - wir lernen
verachten, wenn wir lieben, und gerade wenn wir am besten lieben: -
aber alles dies unbewusst, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener Scham und
Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche, Wort und die
Tugend-Formel verbietet. Moral als Attitüde - geht uns heute wider
den Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt: wie es der Fortschritt
unsrer Väter war, dass ihnen endlich Religion als Attitüde wider
den Geschmack gieng, eingerechnet die Feindschaft und Voltairische
Bitterkeit gegen die Religion (und was Alles ehemals zur
Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in unserm
Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem alle Puritaner-Litanei,
alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will.


217.

Sich vor Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen,
dass man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen
Unterscheidung zutraue! Sie vergeben es uns nie, wenn sie sich einmal
vor uns (oder gar an uns) vergriffen haben, - sie werden unvermeidlich
zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn
sie noch unsre "Freunde" bleiben. - Selig sind die Vergesslichen: denn
sie werden auch mit ihren Dummheiten "fertig".


218.

Die Psychologen Frankreichs - und wo giebt es heute sonst noch
Psychologen? - haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges
Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als
wenn genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der
brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts
Anderes mehr: es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer
Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung - denn es wird
langweilig -, ein anderes Ding zum Entzücken: das ist die unbewusste
Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des
Mittelmaasses zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene
feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausend Mal
feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in
seinen besten Augenblicken - sogar auch als der Verstand seiner
Opfer -: zum abermaligen Beweise dafür, dass der "Instinkt" unter
allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die
intelligenteste ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie
der "Regel" im Kampfe mit der "Ausnahme": da habt ihr ein Schauspiel,
gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit! Oder, noch
heutlicher: treibt Vivisektion am "guten Menschen", am "homo bonae
voluntatis" an euch!


219.

Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die Lieblings-Rache der
Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art
Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden,
endlich eine Gelegenheit, Geist zu bekommen und fein zu werden: -
Bosheit vergeistigt. Es thut ihnen im Grunde ihres Herzens wohl, dass
es einen Maassstab giebt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten
des Geistes überhäuften ihnen gleich stehn: - sie kämpfen für die
"Gleichheit Aller vor Gott" und brauchen beinahe dazu schon den
Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des
Atheismus. Wer ihnen sagte "eine hohe Geistigkeit ist ausser Vergleich
mit irgend welcher Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen
Menschen", würde sie rasend machen: - ich werde mich hüten, es zu
thun. Vielmehr möchte ich ihnen mit meinem Satze schmeicheln, dass
eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer
Qualitäten besteht; dass sie eine Synthesis aller jener Zustände ist,
welche den "nur moralischen" Menschen nachgesagt werden, nachdem sie,
einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten
von Geschlechtern erworben sind; dass die hohe Geistigkeit eben die
Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche
sich beauftragt weiss, die Ordnung des Ranges in der Welt aufrecht zu
erhalten, unter den Dingen selbst - und nicht nur unter Menschen.


220.

Bei dem jetzt so volksthümlichen Lobe des "Uninteressirten" muss man
sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen,
woran eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge
sind, um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert: die
Gebildeten eingerechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht Alles
trügt, beinahe auch die Philosophen. Die Thatsache kommt dabei heraus,
dass das Allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere Geschmäcker,
was jede höhere Natur interessirt und reizt, dem durchschnittlichen
Menschen gänzlich "uninteressant" scheint: - bemerkt er trotzdem eine
Hingebung daran, so nennt er sie "désintéressé" und wundert sich,
wie es möglich ist, "uninteressirt" zu handeln. Es hat Philosophen
gegeben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen
und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (- vielleicht
weil sie die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten?) - statt
die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, dass die
"uninteressirte" Handlung eine sehr interessante und interessirte
Handlung ist, vorausgesetzt..... "Und die Liebe?" - Wie! Sogar eine
Handlung aus Liebe soll "unegoistisch" sein? Aber ihr Tölpel -! "Und
das Lob des Aufopfernden?" - Aber wer wirklich Opfer gebracht hat,
weiss, dass er etwas dafür wollte und bekam, - vielleicht etwas von
sich für etwas von sich - dass er hier hingab, um dort mehr zu haben,
vielleicht um überhaupt mehr zu sein oder sich doch als "mehr" zu
fühlen. Aber dies ist ein Reich von Fragen und Antworten, in dem ein
verwöhnterer Geist sich ungern aufhält: so sehr hat hier bereits die
Wahrheit nöthig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn sie antworten muss.
Zuletzt ist sie ein Weib: man soll ihr nicht Gewalt anthun.


221.

Es kommt vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer,
dass ich einen uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne: nicht
aber, weil er uneigennützig ist, sondern weil er mir ein Recht darauf
zu haben scheint, einem anderen Menschen auf seine eignen Unkosten zu
nützen. Genug, es fragt sich immer, wer er ist und wer Jener ist. An
Einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und gemacht wäre, würde
Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht eine Tugend,
sondern die Vergeudung einer Tugend sein: so scheint es mir. Jede
unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann
wendet, sündigt nicht nur gegen den Geschmack: sie ist eine Aufreizung
zu Unterlassungs-Sünden, eine Verführung mehr unter der Maske der
Menschenfreundlichkeit - und gerade eine Verführung und Schädigung
der Höheren, Seltneren, Bevorrechteten. Man muss die Moralen zwingen,
sich zu allererst vor der Rangordnung zu beugen, man muss ihnen ihre
Anmaassung in's Gewissen schieben, - bis sie endlich mit einander
darüber in's Klare kommen, das es unmoralisch ist zu sagen: "was dem
Einen recht ist, ist dem Andern billig". - Also mein moralistischer
Pedant und bonhomme: verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als
er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte? Aber man soll nicht
zu viel Recht haben, wenn man die Lacher auf seiner Seite haben will;
ein Körnchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack.


222.

Wo heute Mitleiden gepredigt wird - und, recht gehört, wird jetzt
keine andre Religion mehr gepredigt - möge der Psycholog seine Ohren
aufmachen: durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen
Predigern (wie allen Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren,
stöhnenden, ächten Laut von Selbst-Verachtung hören. Sie gehört zu
jener Verdüsterung und Verhässlichung Europa's, welche jetzt ein
Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon in
einem nachdenklichen Briefe Galiani's an Madame d'Epinay urkundlich
verzeichnet sind): wenn sie nicht deren Ursache ist! Der Mensch der
"modernen Ideen", dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst
unzufrieden: dies steht fest. Er leidet: und seine Eitelkeit will,
dass er nur "mit leidet"......


223.

Der europäische Mischmensch - ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles
in Allem - braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie
nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei,
dass ihm keines recht auf den Leib passt, - er wechselt und wechselt.
Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben
und Wechsel der Stil-Maskeraden an; auch auf die Augenblicke der
Verzweiflung darüber, dass uns "nichts steht" -. Unnütz, sich
romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder
barokko oder "national" vorzuführen, in moribus et artibus: "es
kleidet nicht"! Aber der "Geist", insbesondere der "historische
Geist", ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil:
immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht,
umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studirt: - wir sind das
erste studirte Zeitalter in puncto der "Kostüme", ich meine der
Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet
wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum
geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen
Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung.
Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch
entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa
als Pazodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, - vielleicht
dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser
Lachen noch Zukunft hat!


224.

Der historische Sinn (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von
Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine
Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der "divinatorische Instinkt"
für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der
Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte): dieser
historische Sinn, auf welchen wir Europäer als auf unsre Besonderheit
Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen
Halbbarbarei gekommen, in welche Europa durch die demokratische
Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist, - erst das
neunzehnte Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn.
Die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die
früher hart neben einander, über einander lagen, strömt Dank jener
Mischung in uns "moderne Seelen" aus, unsre Instinkte laufen nunmehr
überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos -: schliesslich
ersieht sich "der Geist", wie gesagt, seinen Vortheil dabei. Durch
unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge
überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor
Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu
jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist; und
insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben
Halbbarbarei war, bedeutet "historischer Sinn" beinahe den Sinn und
Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles: womit er
sich sofort als ein unvornehmer Sinn ausweist. Wir geniessen zum
Beispiel Homer wieder: vielleicht ist es unser glücklichster
Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die
Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten
Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft,
selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen
wissen und wussten, - welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten.
Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter
Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige,
ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und
überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen
Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen,
eine Bewunderung des Fremden einzugestehen: alles dies stellt und
stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche
nicht ihr Eigenthum sind oder ihre Beute werden könnten, - und kein
Sinn ist solchen Menschen unverständlicher, als gerade der historische
Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde. Nicht anders steht es
mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen
Geschmacks-Synthesis, über welchen sich ein Altathener aus der
Freundschaft des Aeschylus halbtodt gelacht oder geärgert haben würde:
aber wir - nehmen gerade diese wilde Buntheit, dies Durcheinander
des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten, mit einer geheimen
Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir geniessen ihn als das gerade
uns aufgesparte Raffinement der Kunst und lassen uns dabei von den
widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher
Shakespeare's Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa
auf der Chiaja Neapels: wo wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert
und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr auch die Cloaken der
Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des "historischen
Sinns": wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu
bestreiten, - wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer,
voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr
geduldig, sehr entgegenkommend: - wir sind mit Alledem vielleicht
nicht sehr "geschmackvoll". Gestehen wir es uns schliesslich zu:
was uns Menschen des "historischen Sinns" am schwersten zu fassen,
zu fühlen, nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde
voreingenommen und fast feindlich findet, das ist gerade das
Vollkommene und Letzthin - Reife in jeder Cultur und Kunst, das
eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten
Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte,
welches alle Dinge zeigen, die sich vollendet haben. Vielleicht steht
unsre grosse Tugend des historischen Sinns in einem nothwendigen
Gegensatz zum guten Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke,
und wir vermögen gerade die kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle
und Verklärungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da
einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur mit Zwang in uns
nachzubilden: jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft
freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb -, wo
ein Überfluss von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung und
Versteinerung, im Feststehen und Sich-Fest-Stellen auf einem noch
zitternden Boden genossen wurde. Das Maass ist uns fremd, gestehen
wir es uns; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen,
Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen
wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir
Halbbarbaren - und sind erst dort in unsrer Seligkeit, wo wir auch am
meisten - in Gefahr sind.


225.

Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus:
alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heisst nach
Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind
Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich
gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht
ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit
euch! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist
nicht Mitleiden mit der socialen "Noth", mit der "Gesellschaft" und
ihren Kranken und Verunglückten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von
Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger
Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten,
welche nach Herrschaft - sie nennen's "Freiheit" - trachten. Unser
Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden: - wir sehen, wie
der Mensch sich verkleinert, wie ihr ihn verkleinert! - und es giebt
Augenblicke, wo wir gerade eurem Mitleiden mit einer unbeschreiblichen
Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren -, wo wir
euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit finden.
Ihr wollt womöglich - und es giebt kein tolleres "womöglich" - das
Leiden abschaffen; und wir? - es scheint gerade, wir wollen es lieber
noch höher und schlimmer haben, als je es war! Wohlbefinden, wie ihr
es versteht - das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende! Ein
Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich
macht, - der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens,
des grossen Leidens - wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle
Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele
im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick
des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im
Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur
je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden
ist: - ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen
Leidens geschenkt worden? Im Menschen ist Geschöpf und Schöpfer
vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm,
Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner,
Hammer-Härte, Zuschauer-Göttlichkeit und siebenter Tag: - versteht ihr
diesen Gegensatz? Und dass euer Mitleid dem "Geschöpf im Menschen"
gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt,
geglüht, geläutert werden muss, - dem, was nothwendig leiden muss
und leiden soll? Und unser Mitleid - begreift ihr's nicht, wem unser
umgekehrtes Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als
gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen? - Mitleid
also gegen Mitleid! - Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme
als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme; und jede Philosophie,
die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. -


226.

Wir Immoralisten! - Diese Welt, die uns angeht, in der wir zu fürchten
und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen
Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des "Beinahe" in jedem
Betrachte, häklich, verfänglich, spitzig, zärtlich: ja, sie ist gut
vertheidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde! Wir
sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und
können da nicht heraus -, darin eben sind wir "Menschen der Pflicht",
auch wir! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern "Ketten"
und zwischen unsern "Schwertern"; öfter, es ist nicht minder wahr,
knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die heimliche
Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen thun, was wir wollen: die
Tölpel und der Augenschein sagen gegen uns "das sind Menschen ohne
Pflicht" - wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns!


227.

Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht
loskönnen, wir freien Geister - nun, wir wollen mit aller Bosheit und
Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in unsrer Tugend, die
allein uns übrig blieb, zu "vervollkommnen": mag ihr Glanz einmal wie
ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden
Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben! Und wenn
dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die
Glieder streckt und uns zu hart findet und es besser, leichter,
zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster: bleiben wir
hart, wir letzten Stoiker! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur
an Teufelei in uns haben - unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren,
unser "nitimur in vetitum", unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte
und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten
Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche
der Zukunft schweift und schwärmt, - kommen wir unserm "Gotte" mit
allen unsern "Teufeln" zu Hülfe! Es ist wahrscheinlich, dass man uns
darob verkennt und verwechselt: was liegt daran! Man wird sagen: "ihre
"Redlichkeit" - das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr!" was liegt
daran! Und selbst wenn man Recht hätte! Waren nicht alle Götter bisher
dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel? Und was wissen wir
zuletzt von uns? Und wie der Geist heissen will, der uns führt? (es
ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen? Unsre
Redlichkeit, wir freien Geister, - sorgen wir dafür, dass sie nicht
unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit
werde! Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend; "dumm
bis zur Heiligkeit" sagt man in Russland, - sorgen wir dafür, dass
wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen
werden! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm - zu
langweilen? Man müsste schon an's ewige Leben glauben, um....


228.

Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moral-Philosophie bisher
langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte - und dass "die
Tugend" durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist,
als durch diese Langweiligkeit ihrer Fürsprecher; womit ich noch nicht
deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel
daran, dass so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken, - es
liegt folglich sehr viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages
interessant werde! Aber man sei unbesorgt! Es steht auch heute noch
so, wie es immer stand: ich sehe Niemanden in Europa, der einen
Begriff davon hätte (oder gäbe), dass das Nachdenken über Moral
gefährlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte, -
dass Verhängniss darin liegen könnte! Man sehe sich zum Beispiel die
unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump
und ehrenwerth in den Fusstapfen Bentham's, daher wandeln, dahin
wandeln (ein homerisches Gleichniss sagt es deutlicher), so wie er
selbst schon in den Fusstapfen des ehrenwerthen Helvétius wandelte
(nein, das war kein gefährlicher Mensch, dieser Helvétius!). Kein
neuer Gedanke, Nichts von feinerer Wendung und Faltung eines alten
Gedankens, nicht einmal eine wirkliche Historie des früher Gedachten:
eine unmögliche Litteratur im Ganzen, gesetzt, dass man sie nicht mit
einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch
in diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen
muss, falls man sie lesen muss-), jenes alte englische Laster
eingeschlichen, das cant heisst und moralische Tartüfferie ist,
dies Mal unter die neue Form der Wissenschaftlichkeit versteckt; es
fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von Gewissensbissen, an denen
billigerweise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei aller
wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist
nicht das Gegenstück eines Puritaners? Nämlich als ein Denker, der
die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt?
Sollte Moralisiren nicht - unmoralisch sein?) Zuletzt wollen sie Alle,
dass die englische Moralität Recht bekomme: insofern gerade damit
der Menschheit, oder dem "allgemeinen Nutzen" oder "dem Glück der
Meisten", nein! dem Glücke Englands am besten gedient wird; sie
möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das Streben nach
englischem Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster
Stelle, einem Sitz im Parlament) zugleich auch der rechte Pfad der
Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben
hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe. Keins von
allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Heerdenthieren
(die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu
führen unternehmen -) will etwas davon wissen und riechen, dass die
"allgemeine Wohlfahrt" kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer
Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, - dass, was dem Einen
billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein kann, dass die
Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren
Menschen ist, kurz, dass es eine Rangordnung zwischen Mensch und
Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist
eine bescheidene und gründlich mittelmässige Art Mensch, diese
utilitarischen Engländer, und, wie gesagt: insofern sie langweilig
sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität denken. Man sollte
sie noch ermuthigen: wie es, zum Theil, mit nachfolgenden Reimen
versucht worden ist.

    Heil euch, brave Karrenschieber,
    Stets "je länger, desto lieber",
    Steifer stets an Kopf und Knie,
    Unbegeistert, ungespässig,
    Unverwüstlich-mittelmässig,
    Sans genie et sans esprit!


229.

Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz
sein dürfen, so viel Furcht, so viel Aberglaube der Furcht vor dem
"wilden grausamen Thiere" zurück, über welches Herr geworden zu sein
eben den Stolz jener menschlicheren Zeitalter ausmacht, dass selbst
handgreifliche Wahrheiten wie auf Verabredung Jahrhunderte lang
unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein haben, jenem wilden,
endlich abgetödteten Thiere wieder zum Leben zu verhelfen. Ich wage
vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen
lasse: mögen Andre sie wieder einfangen und ihr so viel "Milch der
frommen Denkungsart" zu trinken geben, bis sie still und vergessen in
ihrer alten Ecke liegt. - Man soll über die Grausamkeit umlernen und
die Augen aufmachen; man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht
länger solche unbescheidne dicke Irrthümer tugendhaft und dreist
herumwandeln, wie sie zum Beispiel in Betreff der Tragödie von alten
und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast Alles, was wir
"höhere Cultur" nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung
der Grausamkeit - dies ist mein Satz; jenes "wilde Thier" ist gar
nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur -
vergöttlicht. Was die schmerzliche Wollust der Tragödie ausmacht, ist
Grausamkeit; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar
in allem Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern
der Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von
der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der
Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier
Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japanese von
heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter,
der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin,
welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich "ergehen
lässt", - was diese Alle geniessen und mit geheimnissvoller Brunst in
sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen
Circe "Grausamkeit". Dabei muss man freilich die tölpelhafte
Psychologie von Ehedem davon jagen, welche von der Grausamkeit nur
zu lehren wusste, dass sie beim Anblicke fremden Leides entstünde:
es giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen
Leiden, am eignen Sich-leiden-machen, - und wo nur der Mensch zur
Selbst-Verleugnung im religiösen Sinne oder zur Selbstverstümmelung,
wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung,
Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe, zur
Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifizio dell'intelletto
sich überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit
gelockt und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der
gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, dass
selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, wider den Hang
des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu
erkennen - nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten
möchte -, als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet; schon
jedes Tief- und Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein
Wehe-thun-wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig
zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, - schon in jedem
Erkennen-Wollen ist ein Tropfen Grausamkeit.


230.

Vielleicht versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von
einem "Grundwillen des Geistes" gesagt habe: man gestatte mir eine
Erläuterung. - Das befehlerische Etwas, das vom Volke "der Geist"
genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als
Herrn fühlen: es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit,
einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich
herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin
die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst
und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich
anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten
anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich
Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen: ebenso wie er
bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück "Aussenwelt"
willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht fälscht.
Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer "Erfahrungen" auf
Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, - auf Wachsthum also;
bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachsthums, auf das Gefühl
der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar
entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender
Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein
Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem
Dinge, ein Nicht-heran-kommen-lassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand
gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit
dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heissen der
Unwissenheit: wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner
aneignenden Kraft, seiner "Verdauungskraft", im Bilde geredet - und
wirklich gleicht "der Geist" am meisten noch einem Magen. Insgleichen
gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu
lassen, vielleicht mit einer muthwilligen Ahnung davon, dass es so
und so nicht steht, dass man es so und so eben nur gelten lässt, eine
Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender
Selbstgenuss an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels,
am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrösserten, Verkleinerten,
Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuss an der Willkürlichkeit
aller dieser Machtäusserungen. Endlich gehört hierher jene nicht
unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen
und sich vor ihnen zu verstellen, jener beständige Druck und Drang
einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft: der Geist geniesst
darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er geniesst
auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, - gerade durch seine
Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt! - Diesem
Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur
Oberfläche - denn jede Oberfläche ist ein Mantel - wirkt jener sublime
Hang des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich
nimmt und nehmen will: als eine Art Grausamkeit des intellektuellen
Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich
anerkennen wird, gesetzt dass er, wie sich gebührt, sein Auge für sich
selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat und an strenge Zucht,
auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird sagen "es ist etwas
Grausames im Hange meines Geistes": - mögen die Tugendhaften
und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen! In der That, es
klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine
"ausschweifende Redlichkeit" nachsagte, nachraunte, nachrühmte, - uns
freien, sehr freien Geistern: - und so klingt vielleicht wirklich
einmal unser - Nachruhm? Einstweilen - denn es hat Zeit bis dahin -
möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen
moralischen Wort-Flittern und -Franzen aufzuputzen: unsre ganze
bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine
muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche
Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit,
Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, - es ist
Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler
und Murmelthiere, wir haben uns längst in aller Heimlichkeit eines
Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdige Wort-Prunk
zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten
menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher
schmeichlerischen Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext
homo natura wieder heraus erkannt werden muss. Den Menschen
nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und
schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher
über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden;
machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute
schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen
Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten
Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer
Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: "du bist mehr!
du bist höher! du bist anderer Herkunft!" - das mag eine seltsame und
tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe - wer wollte das leugnen!
Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe? Oder anders gefragt:
"warum überhaupt Erkenntniss?" - Jedermann wird uns darnach fragen.
Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male
selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und finden keine bessere
Antwort....


231.

Das Lernen verwandelt uns, es thut Das, was alle Ernährung thut, die
auch nicht bloss "erhält" -: wie der Physiologe weiss. Aber im Grunde
von uns, ganz "da unten", giebt es freilich etwas Unbelehrbares, einen
Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und
Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen
Probleme redet ein unwandelbares "das bin ich"; über Mann und Weib zum
Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen, - nur
zu Ende entdecken, was darüber bei ihm "feststeht". Man findet bei
Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben
machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine "Überzeugungen".
Später - sieht man in ihnen nur Fusstapfen zur Selbsterkenntniss,
Wegweiser zum Probleme, das wir sind, - richtiger, zur grossen
Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren
ganz "da unten". - Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie
eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher
schon gestattet sein, über das "Weib an sich" einige Wahrheiten
herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiss, wie
sehr es eben nur - meine Wahrheiten sind. -


232.

Das Weib will selbständig werden: und dazu fängt es an, die Männer
über das "Weib an sich" aufzuklären - das gehört zu den schlimmsten
Fortschritten der allgemeinen Verhässlichung Europa's. Denn was
müssen diese plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit und
Selbst-Entblössung Alles an's Licht bringen! Das Weib hat so viel
Grund zur Scham; im Weibe ist so viel Pedantisches, Oberflächliches,
Schulmeisterliches, Kleinlich-Anmaassliches, Kleinlich-Zügelloses
und -Unbescheidenes versteckt - man studire nur seinen Verkehr mit
Kindern! -, das im Grunde bisher durch die Furcht vor dem Manne
am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn erst das
"Ewig-Langweilige am Weibe" - es ist reich daran! - sich hervorwagen
darf! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der Anmuth, des Spielens,
Sorgen-Wegscheuchens, Erleichterns und Leicht-Nehmens, wenn es
seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und
grundsätzlich zu verlernen beginnt! Es werden schon jetzt weibliche
Stimmen laut, welche, beim heiligen Aristophanes! Schrecken machen, es
wird mit medizinischer Deutlichkeit gedroht, was zuerst und zuletzt
das Weib vom Manne will. Ist es nicht vom schlechtesten Geschmacke,
wenn das Weib sich dergestalt anschickt, wissenschaftlich zu werden?
Bisher war glücklicher Weise das Aufklären Männer-Sache, Männer-Gabe
- man blieb damit "unter sich"; und man darf sich zuletzt, bei
Allem, was Weiber über "das Weib" schreiben, ein gutes Misstrauen
vorbehalten, ob das Weib über sich selbst eigentlich Aufklärung will
- und wollen kann Wenn ein Weib damit nicht einen neuen Putz für sich
sucht - ich denke doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen? -
nun, so will es vor sich Furcht erregen: - es will damit vielleicht
Herrschaft. Aber es will nicht Wahrheit: was liegt dem Weibe an
Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger,
feindlicher als Wahrheit, - seine grosse Kunst ist die Lüge, seine
höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir
es, wir Männer: wir ehren und lieben gerade diese Kunst und diesen
Instinkt am Weibe: wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu
unsrer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken
und zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe
wie eine Thorheit erscheint. Zuletzt stelle ich die Frage: hat jemals
ein Weib selber schon einem Weibskopfe Tiefe, einem Weibsherzen
Gerechtigkeit zugestanden? Und ist es nicht wahr, dass, im Grossen
gerechnet, "das Weib" bisher vom Weibe selbst am meisten missachtet
wurde - und ganz und gar nicht von uns? - Wir Männer wünschen, dass
das Weib nicht fortfahre, sich durch Aufklärung zu compromittiren:
wie es Manns-Fürsorge und Schonung des Weibes war, als die Kirche
dekretirte: mulier taceat in ecclesia! Es geschah zum Nutzen des
Weibes, als Napoleon der allzuberedten Madame de Staël zu verstehen
gab: mulier taceat in politicis! - und ich denke, dass es ein rechter
Weiberfreund ist, der den Frauen heute zuruft: mulier taceat de
muliere!


233.

Es verräth Corruption der Instinkte - noch abgesehn davon, dass es
schlechten Geschmack verräth -. wenn ein Weib sich gerade auf Madame
Roland oder Madame de Staël oder Monsieur George Sand beruft, wie als
ob damit etwas zu Gunsten des "Weibes an sich" bewiesen wäre. Unter
Männern sind die Genannten die drei komischen Weiber an sich - nichts
mehr! - und gerade die besten unfreiwilligen Gegen-Argumente gegen
Emancipation und weibliche Selbstherrlichkeit.


234.

Die Dummheit in der Küche; das Weib als Köchin; die schauerliche
Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn
besorgt wird! Das Weib versteht nicht, was die Speise bedeutet: und
will Köchin sein! Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte
es ja, als Köchin seit Jahrtausenden, die grössten physiologischen
Thatsachen finden, insgleichen die Heilkunst in seinen Besitz bringen
müssen! Durch schlechte Köchinnen - durch den vollkommenen Mangel an
Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten
aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden: es steht heute
selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter.


235.

Es giebt Wendungen und Würfe des Geistes, es giebt Sentenzen, eine
kleine Handvoll Worte, in denen eine ganze Cultur, eine ganze
Gesellschaft sich plötzlich krystallisirt. Dahin gehört jenes
gelegentliche Wort der Madame de Lambert an ihren Sohn: "mon ami, ne
vous permettez jamais que de folies, qui vous feront grand plaisir":
- beiläufig das mütterlichste und klügste Wort, das je an einen Sohn
gerichtet worden ist.


236.

Das, was Dante und Goethe vom Weibe geglaubt haben - jener, indem
er sang "ella guardava suso, ed io in lei", dieser, indem er es
übersetzte "das Ewig-Weibliche zieht uns hinan" -: ich zweifle nicht,
dass jedes edlere Weib sich gegen diesen Glauben wehren wird, denn es
glaubt eben das vom Ewig-Männlichen...


237.

Sieben Weibs-Sprüchlein.

    Wie die längste Weile fleucht,
    kommt ein Mann zu uns gekreucht!

    Alter, ach! und Wissenschaft
    giebt auch schwacher Tugend Kraft.

    Schwarz Gewand und Schweigsamkeit
    kleidet jeglich Weib - gescheidt.

    Wem im Glück ich dankbar bin?
    Gott! - und meiner Schneiderin.

    Jung: beblümtes Höhlenhaus.
    Alt: ein Drache fährt heraus.

    Edler Name, hübsches Bein,
    Mann dazu: oh wär' _er_ mein!

    Kurze Rede, langer Sinn
    - Glatteis für die Eselin!


237.

Die Frauen sind von den Männern bisher wie Vögel behandelt worden, die
von irgend welcher Höhe sich hinab zu ihnen verirrt haben: als etwas
Feineres, Verletzlicheres, Wilderes, Wunderlicheres, Süsseres,
Seelenvolleres, - aber als Etwas, das man einsperren muss, damit es
nicht davonfliegt.


238.

Sich im Grundprobleme "Mann und Weib" zu vergreifen, hier den
abgründlichsten Antagonismus und die Nothwendigkeit einer
ewig-feindseligen Spannung zu leugnen, hier vielleicht von gleichen
Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprüchen und Verpflichtungen
zu träumen: das ist ein typisches Zeichen von Flachköpfigkeit, und ein
Denker, der an dieser gefährlichen Stelle sich flach erwiesen hat -
flach im Instinkte! -, darf überhaupt als verdächtig, mehr noch, als
verrathen, als aufgedeckt gelten: wahrscheinlich wird er für alle
Grundfragen des Lebens, auch des zukünftigen Lebens, zu "kurz" sein
und in keine Tiefe hinunter können. Ein Mann hingegen, der Tiefe
hat, in seinem Geiste, wie in seinen Begierden, auch jene Tiefe des
Wohlwollens, welche der Strenge und Härte fähig ist, und leicht mit
ihnen verwechselt wird, kann über das Weib immer nur orientalisch
denken: er muss das Weib als Besitz, als verschliessbares Eigenthum,
als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes
fassen, - er muss sich hierin auf die ungeheure Vernunft Asiens, auf
Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen: wie dies ehemals die Griechen
gethan haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, welche, wie
bekannt, von Homer bis zu den Zeiten des Perikles, mit zunehmen - der
Cultur und Umfänglichkeit an Kraft, Schritt für Schritt auch strenger
gegen das Weib, kurz orientalischer geworden sind. Wie nothwendig, wie
logisch, wie selbst menschlich-wünschbar dies war: möge man darüber
bei sich nachdenken!


239.

Das schwache Geschlecht ist in keinem Zeitalter mit solcher Achtung
von Seiten der Männer behandelt worden als in unserm Zeitalter - das
gehört zum demokratischen Hang und Grundgeschmack, ebenso wie die
Unehrerbietigkeit vor dem Alter -: was Wunder, dass sofort wieder mit
dieser Achtung Missbrauch getrieben wird? Man will mehr, man lernt
fordern, man findet zuletzt jenen Achtungszoll beinahe schon kränkend,
man würde den Wettbewerb um Rechte, ja ganz eigentlich den Kampf
vorziehn: genug, das Weib verliert an Scham. Setzen wir sofort hinzu,
dass es auch an Geschmack verliert. Es verlernt den Mann zu fürchten:
aber das Weib, das "das Fürchten verlernt", giebt seine weiblichsten
Instinkte preis. Dass das Weib sich hervor wagt, wenn das
Furcht-Einflössende am Manne, sagen wir bestimmter, wenn der Mann im
Manne nicht mehr gewollt und grossgezüchtet wird, ist billig genug,
auch begreiflich genug; was sich schwerer begreift, ist, dass
ebendamit - das Weib entartet. Dies geschieht heute: täuschen wir uns
nicht darüber! Wo nur der industrielle Geist über den militärischen
und aristokratischen Geist gesiegt hat, strebt jetzt das Weib nach der
wirthschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit eines Commis: "das
Weib als Commis" steht an der Pforte der sich bildenden modernen
Gesellschaft. Indem es sich dergestalt neuer Rechte bemächtigt, "Herr"
zu werden trachtet und den "Fortschritt" des Weibes auf seine Fahnen
und Fähnchen schreibt, vollzieht sich mit schrecklicher Deutlichkeit
das Umgekehrte: das Weib geht zurück. Seit der französischen
Revolution ist in Europa der Einfluss des Weibes in dem Maasse
geringer geworden, als es an Rechten und Ansprüchen zugenommen hat;
und die "Emancipation des Weibes", insofern sie von den Frauen selbst
(und nicht nur von männlichen Flachköpfen) verlangt und gefördert
wird, ergiebt sich dergestalt als ein merkwürdiges Symptom von
der zunehmenden Schwächung und Abstumpfung der allerweiblichsten
Instinkte. Es ist Dummheit in dieser Bewegung, eine beinahe
maskulinische Dummheit, deren sich ein wohlgerathenes Weib - das immer
ein kluges Weib ist - von Grund aus zu schämen hätte. Die Witterung
dafür verlieren, auf welchem Boden man am sichersten zum Siege kommt;
die Übung in seiner eigentlichen Waffenkunst vernachlässigen; sich vor
dem Manne gehen lassen, vielleicht sogar "bis zum Buche", wo man sich
früher in Zucht und feine listige Demuth nahm; dem Glauben des Mannes
an ein im Weibe verhülltes grundverschiedenes Ideal, an irgend
ein Ewig- und Nothwendig-Weibliches mit tugendhafter Dreistigkeit
entgegenarbeiten; dem Manne es nachdrücklich und geschwätzig ausreden,
dass das Weib gleich einem zarteren, wunderlich wilden und oft
angenehmen Hausthiere erhalten, versorgt, geschützt, geschont
werden müsse; das täppische und entrüstete Zusammensuchen all des
Sklavenhaften und Leibeigenen, das die Stellung des Weibes in der
bisherigen Ordnung der Gesellschaft an sich gehabt hat und noch hat
(als ob Sklaverei ein Gegenargument und nicht vielmehr eine Bedingung
jeder höheren Cultur, jeder Erhöhung der Cultur sei): - was bedeutet
dies Alles, wenn nicht eine Anbröckelung der weiblichen Instinkte,
eine Entweiblichung? Freilich, es giebt genug blödsinnige
Frauen-Freunde und Weibs-Verderber unter den gelehrten Eseln
männlichen Geschlechts, die dem Weibe anrathen, sich dergestalt zu
entweiblichen und alle die Dummheiten nachzumachen, an denen der
"Mann" in Europa, die europäische "Mannhaftigkeit" krankt, - welche
das Weib bis zur "allgemeinen Bildung", wohl gar zum Zeitungslesen
und Politisiren herunterbringen möchten. Man will hier und da selbst
Freigeister und Litteraten aus den Frauen machen: als ob ein Weib ohne
Frömmigkeit für einen tiefen und gottlosen Mann nicht etwas vollkommen
Widriges oder Lächerliches wäre -; man verdirbt fast überall ihre
Nerven mit der krankhaftesten und gefährlichsten aller Arten Musik
(unsrer deutschen neuesten Musik) und macht sie täglich hysterischer
und zu ihrem ersten und letzten Berufe, kräftige Kinder zu gebären,
unbefähigter. Man will sie überhaupt noch mehr "cultiviren" und, wie
man sagt, das "schwache Geschlecht" durch Cultur stark machen: als
ob nicht die Geschichte so eindringlich wie möglich lehrte, dass
"Cultivirung" des Menschen und Schwächung - nämlich Schwächung,
Zersplitterung, Ankränkelung der Willenskraft, immer mit einander
Schritt gegangen sind, und dass die mächtigsten und einflussreichsten
Frauen der Welt (zuletzt noch die Mutter Napoleon's) gerade ihrer
Willenskraft - und nicht den Schulmeistern! - ihre Macht und ihr
Übergewicht über die Männer verdankten. Das, was am Weibe Respekt und
oft genug Furcht einflösst, ist seine Natur, die "natürlicher" ist als
die des Mannes, seine ächte raubthierhafte listige Geschmeidigkeit,
seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus,
seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite,
Schweifende seiner Begierden und Tugenden..... Was, bei aller Furcht,
für diese gefährliche und schöne Katze "Weib" Mitleiden macht, ist,
dass es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur Enttäuschung
verurtheilter erscheint als irgend ein Thier. Furcht und Mitleiden:
mit diesen Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe, immer mit
einem Fusse schon in der Tragödie, welche zerreisst, indem sie
entzückt -. Wie? Und damit soll es nun zu Ende sein? Und die
Entzauberung des Weibes ist im Werke? Die Verlangweiligung des Weibes
kommt langsam herauf? Oh Europa! Europa! Man kennt das Thier mit
Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem dir
immer wieder Gefahr droht! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur
"Geschichte" werden, - noch einmal- könnte eine ungeheure Dummheit
über dich Herr werden und dich davon tragen! Und unter ihr kein Gott
versteckt, nein! nur eine "Idee", eine "moderne Idee"!.....



Achtes Hauptstück:

Völker und Vaterländer.

240.

Ich hörte, wieder einmal zum ersten Male - Richard Wagner's Ouverture
zu den Meistersingern: das ist eine prachtvolle, überladene, schwere
und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständniss zwei
Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen: - es ehrt die
Deutschen, dass sich ein solcher Stolz nicht verrechnete! Was für
Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und Himmelsstriche sind hier
nicht gemischt! Das muthet uns bald alterthümlich, bald fremd, herb
und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich,
das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob, - das hat
Feuer und Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten,
welche zu spät reif werden. Das strömt breit und voll: und plötzlich
ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die
zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen
macht, beinahe ein Alpdruck -, aber schon breitet und weitet sich
wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem Behagen,
von altem und neuem Glück, sehr eingerechnet das Glück des Künstlers
an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes
glückliches Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten
Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu
verrathen scheint. Alles in Allem keine Schönheit, kein Süden, Nichts
von südlicher feiner Helligkeit des Himmels, Nichts von Grazie, kein
Tanz, kaum ein Wille zur Logik; eine gewisse Plumpheit sogar, die noch
unterstrichen wird, wie als ob der Künstler uns sagen wollte: "sie
gehört zu meiner Absicht"; eine schwerfällige Gewandung, etwas
Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein Geflirr von gelehrten
und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen; etwas Deutsches, im besten
und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches,
Unförmliches und Unausschöpfliches; eine gewisse deutsche Mächtigkeit
und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die
Raffinements des Verfalls zu verstecken, - die sich dort vielleicht
erst am wohlsten fühlt; ein rechtes ächtes Wahrzeichen der deutschen
Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch
an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den
Deutschen halte: sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, - sie
haben noch kein Heute.


241.

Wir "guten Europäer": auch wir haben Stunden, wo wir uns eine
herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und
Engen gestatten - ich gab eben eine Probe davon -, Stunden nationaler
Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer
alterthümlicher Gefühls-Überschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als
wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und
in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden,
in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen,
je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre
"Stoffe wechseln". Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken,
welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig
hätten, um solche atavistische Anfälle von Vaterländerei und
Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen
zum "guten Europäerthum" zurückzukehren. Und indem ich über diese
Möglichkeit ausschweife, begegnet mir's, dass ich Ohrenzeuge eines
Gesprächs von zwei alten "Patrioten" werde, - sie hörten beide
offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter. "Der hält und weiss
von Philosophie so viel als ein Bauer oder Corpsstudent - sagte der
Eine -: der ist noch unschuldig. Aber was liegt heute daran! Es ist
das Zeitalter der Massen: die liegen vor allem Massenhaften auf dem
Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen
neuen Thurm von Babel, irgend ein Ungeheuer von Reich und Macht
aufthürmt, heisst ihnen `gross`: - was liegt daran, dass wir
Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch nicht vom alten
Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That und
Sache Grösse giebt. Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die
Lage, fürderhin `grosse Politik` treiben zu müssen, für welche es von
Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist: so dass es nöthig hätte,
einer neuen zweifelhaften Mittelmässigkeit zu Liebe seine alten und
sicheren Tugenden zu opfern, - gesetzt, ein Staatsmann verurtheilte
sein Volk zum `Politisiren` überhaupt, während dasselbe bisher
Besseres zu thun und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen
vorsichtigen Ekel vor der Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei
der eigentlich politisirenden Völker nicht los wurde: - gesetzt, ein
solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen Leidenschaften und
Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen
Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner
Ausländerei und heimlichen Unendlichkeit eine Verschuldung, entwerthe
ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen
Geist eng, seinen Geschmack `national`, - wie! ein Staatsmann, der
dies Alles thäte, den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es
Zukunft hat, abbüssen müsste, ein solcher Staatsmann wäre gross?"
"Unzweifelhaft! antwortete ihm der andere alte Patriot heftig: sonst
hätte er es nicht gekonnt! Es war toll vielleicht, so etwas zu wollen?
Aber vielleicht war alles Grosse im Anfang nur toll!" - "Missbrauch
der Worte! schrie sein Unterredner dagegen: - stark! stark! stark
und toll! Nicht gross!" - Die alten Männer hatten sich ersichtlich
erhitzt, als sie sich dergestalt ihre "Wahrheiten" in's Gesicht
schrieen; ich aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald
über den Starken ein Stärkerer Herr werden wird; auch dass es für die
geistige Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung giebt, nämlich
durch die Vertiefung eines anderen. -


242.

Nenne man es nun "Civilisation" oder "Vermenschlichung" oder
"Fortschritt", worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht
wird; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer
politischen Formel die demokratische Bewegung Europa's: hinter
all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit
solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer
physiologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, - der Prozess
einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den
Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen
entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu,
das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib
einschreiben möchte, - also die langsame Heraufkunft einer wesentlich
übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch
geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische
Auszeichnung besitzt. Dieser Prozess des werdenden Europäers, welcher
durch grosse Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht
gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst - der jetzt
noch wüthende Sturm und Drang des "National-Gefühls" gehört hierher,
insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus -: dieser Prozess
läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven
Beförderer und Lobredner, die Apostel der "modernen Ideen", am
wenigsten rechnen möchten. Die selben neuen Bedingungen, unter denen
im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen
sich herausbilden wird - ein nützliches arbeitsames, vielfach
brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch -, sind im höchsten
Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und
anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene
Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und
mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine neue Arbeit
beginnt, die Mächtigkeit des Typus gar nicht möglich macht; während
der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der
von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren
Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden bedürfen wie des
täglichen Brodes; während also die Demokratisirung Europa's auf die
Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus
hinausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch
stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher
gerathen ist, - Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank
der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte
sagen: die Demokratisirung Europa's ist zugleich eine unfreiwillige
Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen,- das Wort in jedem Sinne
verstanden, auch im geistigsten.


243.

Ich höre mit Vergnügen, dass unsre Sonne in rascher Bewegung gegen
das Sternbild des Herkules hin begriffen ist: und ich hoffe, dass der
Mensch auf dieser Erde es darin der Sonne gleich thut. Und wir voran,
wir guten Europäer! -


244.

Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung
"tief" zu nennen: jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen
Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe
hat, vielleicht die "Schneidigkeit" vermisst, ist der Zweifel beinahe
zeitgemäss und patriotisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht
betrogen hat: genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas
Anderes und Schlimmeres ist - und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit
Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir also den Versuch, über
die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nöthig, als ein
wenig Vivisektion der deutschen Seele. - Die deutsche Seele ist
vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und
übereinandergesetzt, als wirklich gebaut: das liegt an ihrer Herkunft.
Ein Deutscher, der sich erdreisten wollte, zu behaupten "zwei
Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" würde sich an der Wahrheit
arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen
zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und
Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht
des vor-arischen Elementes, als "Volk der Mitte" in jedem Verstande,
sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller,
unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher,
als es andere Völker sich selber sind: - sie entschlüpfen der
Definition und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen.
Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage "was ist
deutsch?" niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss
gut genug: "Wir sind erkannt" jubelten sie ihm zu, - aber auch Sand
glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich
ergrimmt gegen Fichte's verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und
Übertreibungen erklärte, - aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe
anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in
Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen
gedacht hat? - Aber er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich
geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen: -
wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass es nicht
"die Freiheitskriege" waren, die ihn freudiger aufblicken liessen,
so wenig als die französische Revolution, - das Ereigniss, um
dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem "Mensch" umgedacht
hat, war das Erscheinen Napoleon's. Es giebt Worte Goethe's, in denen
er, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über Das
abspricht, was die Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen: das
berühmte deutsche Gemüth definirt er einmal als "Nachsicht mit fremden
und eignen Schwächen". Hat er damit Unrecht? - es kennzeichnet die
Deutschen, dass man über sie selten völlig Unrecht hat. Die deutsche
Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt in ihr Höhlen,
Verstecke, Burgverliesse; ihre Unordnung hat viel vom Reize des
Geheimnissvollen; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege
zum Chaos. Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der
Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht
und verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende,
Wachsende jeder Art fühlt er als "tief". Der Deutsche selbst ist
nicht, er wird, er "entwickelt sich". "Entwicklung" ist deshalb der
eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer
Formeln: - ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier
und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die
Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen
die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche
Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik
gesetzt hat). "Gutmüthig und tückisch" - ein solches Nebeneinander,
widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu
oft in Deutschland: man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben! Die
Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche
Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer
innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle
Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die "deutsche Seele" ad
oculos demonstrirt, so sehe man nur in den deutschen Geschmack, in
deutsche Künste und Sitten hinein: welche bäurische Gleichgültigkeit
gegen "Geschmack"! Wie steht da das Edelste und Gemeinste neben
einander! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt!
Der Deutsche schleppt an seiner Seele; er schleppt an Allem, was
er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit
"fertig"; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde
"Verdauung". Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den
Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die "Offenheit" und
"Biederkeit": wie bequem ist es, offen und bieder zu sein! - Es ist
heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf
die sich der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende,
die-Karten-Aufdeckende der deutschen Redlichkeit: sie ist seine
eigentliche Mephistopheles-Kunst, mit ihr kann er es "noch weit
bringen"! Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen
leeren deutschen Augen - und sofort verwechselt das Ausland ihn mit
seinem Schlafrocke! - Ich wollte sagen: mag die "deutsche Tiefe" sein,
was sie will, - ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu
lachen? - wir thun gut, ihren Anschein und guten Namen auch fürderhin
in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als Volk der Tiefe, nicht zu
billig gegen preussische "Schneidigkeit" und Berliner Witz und Sand zu
veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt,
für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu
lassen: es könnte sogar - tief sein! Zuletzt: man soll seinem Namen
Ehre machen, - man heisst nicht umsonst das "tiusche" Volk, das
Täusche-Volk...


245.

Die "gute alte" Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen:
- wie glücklich wir, dass zu uns sein Rokoko noch redet, dass seine
"gute Gesellschaft", sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am
Chinesischen und Geschnörkelten, seine Höflichkeit des Herzens, sein
Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein
Glaube an den Süden noch an irgend einen Rest in uns appelliren darf!
Ach, irgend wann wird es einmal damit vorbei sein! - aber wer darf
zweifeln, dass es noch früher mit dem Verstehen und Schmecken
Beethoven's vorbei sein wird! - der ja nur der Ausklang eines
Stil-Übergangs und Stil-Bruchs war und nicht, wie Mozart, der Ausklang
eines grossen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven
ist das Zwischen-Begebniss einer alten mürben Seele, die beständig
zerbricht, und einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig
kommt; auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und
ewigem ausschweifendem Hoffen, - das selbe Licht, in welchem Europa
gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum
der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet
hatte. Aber wie schnell verbleicht jetzt gerade dies Gefühl, wie
schwer ist heute schon das Wissen um dies Gefühl, - wie fremd klingt
die Sprache jener Rousseau, Schiller, Shelley, Byron an unser Ohr, in
denen zusammen das selbe Schicksal Europa's den Weg zum Wort gefunden
hat, das in Beethoven zu singen wusste! - Was von deutscher Musik
nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, das heisst in
eine, historisch gerechnet, noch kürzere, noch flüchtigere, noch
oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener
Übergang Europa's von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der
Demokratie war. Weber: aber was ist uns heute Freischütz und Oberon!
Oder Marschner's Hans Heiling und Vampyr! Oder selbst noch Wagner's
Tannhäuser! Das ist verklungene, wenn auch noch nicht vergessene
Musik. Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm
genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als
im Theater und vor der Menge; sie war von vornherein Musik zweiten
Ranges, die unter wirklichen Musikern wenig in Betracht kam. Anders
stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um
seiner leichteren reineren beglückteren Seele willen schnell verehrt
und ebenso schnell vergessen wurde: als der schöne Zwischenfall der
deutschen Musik. Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm
und von Anfang an auch schwer genommen worden ist - es ist der Letzte,
der eine Schule gegründet hat -: gilt es heute unter uns nicht als
ein Glück, als ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese
Schumann'sche Romantik überwunden ist? Schumann, in die "sächsische
Schweiz" seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch
geartet, gewiss nicht Beethovenisch! gewiss nicht Byronisch! - seine
Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständniss bis zum Unrechte
-, Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack
war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher
Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig
bei Seite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler
Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art
Mädchen und noli me tangere von Anbeginn: dieser Schumann war bereits
nur noch ein deutsches Ereigniss in der Musik, kein europäisches mehr,
wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es
gewesen ist, - mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr,
die Stimme für die Seele Europa's zu verlieren und zu einer blossen
Vaterländerei herabzusinken. -


246.

- Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das
dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden
Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei
Deutschen ein "Buch" genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher
liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er! Wie viele
Deutsche wissen es und fordern es von sich zu wissen, dass Kunst in
jedem guten Satze steckt, - Kunst, die errathen sein will, sofern der
Satz verstanden sein will! Ein Missverständniss über sein Tempo zum
Beispiel: und der Satz selbst ist missverstanden! Dass man über die
rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man
die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz
fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr
hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen
räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben
und umfärben können: wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig
genug, solchergestalt Pflichten und Forderungen anzuerkennen und auf
so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen? Man hat zuletzt
eben "das Ohr nicht dafür": und so werden die stärksten Gegensätze des
Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben
verschwendet. - Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man
plump und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa mit einander
verwechselte, Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie
von der Decke einer feuchten Höhle - er rechnet auf ihren dumpfen
Klang und Wiederklang - und einen Anderen, der seine Sprache wie
einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis zur Zehe hinab das
gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche
beissen, zischen, schneiden will. -


247.

Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun
hat, zeigt die Thatsache, dass gerade unsre guten Musiker schlecht
schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht für's Ohr, sondern
bloss mit den Augen: er hat seine Ohren dabei in's Schubfach gelegt.
Der antike Mensch las, wenn er las - es geschah selten genug - sich
selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man wunderte sich, wenn
jemand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter
Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen,
Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo's, an denen die antike
öffentliche Welt ihre Freude hatte. Damals waren die Gesetze des
Schrift-Stils die selben, wie die des Rede-Stils; und dessen Gesetze
hiengen zum Theil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffinirten
Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern Theil von der
Stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im Sinne
der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von
Einem Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden, wie sie bei
Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zwei Mal schwellend und zwei Mal
absinkend und Alles innerhalb Eines Athemzugs: das sind Genüsse für
antike Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige
im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu
schätzen wussten: - wir haben eigentlich kein Recht auf die grosse
Periode, wir Modernen, wir Kurzathmigen in jedem Sinne! Diese Alten
waren ja insgesammt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner,
folglich Kritiker, - damit trieben sie ihre Redner zum Äussersten;
in gleicher Weise, wie im vorigen Jahrhundert, als alle
Italiäner und Italiänerinnen zu singen verstanden, bei ihnen das
Gesangs-Virtuosenthum (und damit auch die Kunst der Melodik -) auf die
Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo
eine Art Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen
Schwingen regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und ungefähr
kunstmässiger Rede: das ist die von der Kanzel herab. Der Prediger
allein wusste in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt,
inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft, er
allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen:
denn es fehlt nicht an Gründen dafür, dass gerade von einem Deutschen
Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer zu spät erreicht wird.
Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das
Meisterstück ihres grössten Predigers: die Bibel war bisher das beste
deutsche Buch. Gegen Luther's Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur
"Litteratur" - ein Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und
darum auch nicht in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst: wie es
die Bibel gethan hat.


248.

Es giebt zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und
zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und
gebiert. Und ebenso giebt es unter den genialen Völkern solche, denen
das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des
Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist - die Griechen zum
Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen -;
und andre, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen
des Lebens werden, - gleich den Juden, den Römern und, in aller
Bescheidenheit gefragt, den Deutschen? - Völker gequält und entzückt
von unbekannten Fiebern und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt,
verliebt und lüstern nach fremden Rassen (nach solchen, welche sich
"befruchten lassen" -) und dabei herrschsüchtig wie Alles, was sich
voller Zeugekräfte und folglich "von Gottes Gnaden" weiss. Diese
zwei Arten des Genie's suchen sich, wie Mann und Weib; aber sie
missverstehen auch einander, - wie Mann und Weib.


249.

Jedes Volk hat seine eigne Tartüfferie, und heisst sie seine Tugenden.
- Das Beste, was man ist, kennt man nicht, - kann man nicht kennen.


250.

Was Europa den Juden verdankt? - Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und
vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist: den
grossen Stil in der Moral, die Furchtbarkeit und Majestät unendlicher
Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und
Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten - und folglich gerade
den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener
Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute
der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, -
vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen
sind dafür den Juden - dankbar.


251.

Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen
Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will -,
mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine
Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von Heute
bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald
die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die
Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe
sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre
dick verbundenen Köpfe an -), und wie sie Alle heissen mögen, diese
kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Möge man mir
verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr
inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und
mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng,
die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum
Beispiel über die Juden: man höre. - Ich bin noch keinem Deutschen
begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre; und so unbedingt
auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller
Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese
Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber,
sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit, insbesondere gegen
den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck dieses unmässigen Gefühls,
- darüber darf man sich nicht täuschen. Dass Deutschland reichlich
genug Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat
(und noch auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum
"Jude" fertig zu werden - so wie der Italiäner, der Franzose, der
Engländer fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung
-: das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen
Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss.
"Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten
(auch nach Östreich) zu die Thore zusperren!" also gebietet der
Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist,
so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse
ausgelöscht werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die
stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt; sie
verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich
durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend
welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte, -
Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den "modernen
Ideen" nicht zu schämen braucht; sie verändern sich, wenn sie sich
verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen
macht, - als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist -:
nämlich nach dem Grundsatze "so langsam als möglich!" Ein Denker,
der die Zukunft Europa's auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen
Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den
Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und
wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte.
Das, was heute in Europa "Nation" genannt wird und eigentlich mehr
eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum
Verwechseln ähnlich sieht -), ist in jedem Falle etwas Werdendes,
Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein
solches aere perennius, wie es die Juden-Art ist: diese "Nationen"
sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit
sorgfältig in Acht nehmen! Dass die Juden, wenn sie wollten - oder,
wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen
-, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über
Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hin arbeiten
und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie
vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa
ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo
fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem "ewigen
Juden" ein Ziel zu setzen -; und man sollte diesen Zug und Drang
(der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte
ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen: wozu es vielleicht
nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes
zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl; ungefähr
so wie der englische Adel es thut. Es liegt auf der Hand, dass am
unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten
Typen des neuen Deutschthums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel
der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse,
zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und
Gehorchens - in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch -
das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und
Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt -)
hinzuthun, hinzuzüchten liesse. Doch hier ziemt es sich, meine heitere
Deutschthümelei und Festrede abzubrechen: denn ich rühre bereits an
meinen Ernst, an das "europäische Problem", wie ich es verstehe, an
die Züchtung einer neuen über Europa, regierenden Kaste. -


252.

Das ist keine philosophische Rasse - diese Engländer: Bacon bedeutet
einen Angriff auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes,
Hume und Locke eine Erniedrigung und Werth-Minderung des Begriffs
"Philosoph" für mehr als ein Jahrhundert. Gegen Hume erhob und hob
sich Kant; Locke war es, von dem Schelling sagen durfte: "je méprise
Locke"; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung
waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmüthig, jene beiden
feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den
entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinander strebten und
sich dabei Unrecht thaten, wie sich eben nur Brüder Unrecht thun. -
Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener
Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf
Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen
suchte, was er von sich selbst wusste: nämlich woran es in Carlyle
fehlte - an eigentlicher Macht der Geistigkeit, an eigentlicher Tiefe
des geistigen Blicks, kurz, an Philosophie. - Es kennzeichnet eine
solche unphilosophische Rasse, dass sie streng zum Christenthume hält:
sie braucht seine Zucht zur "Moralisirung" und Veranmenschlichung.
Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als
der Deutsche - ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch
frömmer als der Deutsche: er hat das Christenthum eben noch nöthiger.
Für feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christenthum noch
einen ächt englischen Nebengeruch von Spleen und alkoholischer
Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen als Heilmittel
gebraucht wird, - das feinere Gift nämlich gegen das gröbere: eine
feinere Vergiftung ist in der That bei plumpen Völkern schon ein
Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit
und Bauern-Ernsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache
und durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten verkleidet,
richtiger: ausgelegt und umgedeutet; und für jenes Vieh von
Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter der Gewalt
des Methodismus und neuerdings wieder als "Heilsarmee" moralisch
grunzen lernt, mag wirklich ein Busskrampf die verhältnissmässig
höchste Leistung von "Humanität" sein, zu der es gesteigert werden
kann: so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am
humansten Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im
Gleichniss (und ohne Gleichniss -) zu reden: er hat in den Bewegungen
seiner Seele und seines Leibes keinen Takt und Tanz, ja noch nicht
einmal die Begierde nach Takt und Tanz, nach "Musik". Man höre ihn
sprechen; man sehe die schönsten Engländerinnen gehn - es giebt in
keinem Lande der Erde schönere Tauben und Schwäne, - endlich: man höre
sie singen! Aber ich verlange zu viel.....


253.

Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt
werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die
nur für mittelmässige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen
- - auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt
hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger
Engländer - ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer -
in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht
zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon
anzweifeln, dass zeitweilig solche Geister herrschen? Es wäre ein
Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fliegenden Geister
für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen
festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen: - sie sind
vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung
zu den "Regeln". Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen
- nämlich etwas Neues zu sein, etwas Neues zu bedeuten, neue Werthe
darzustellen! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht
grösser, auch unheimlicher als man denkt: der Könnende im grossen
Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen,
- während andererseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art
Darwin's eine gewisse Enge, Dürre und fleissige Sorglichkeit, kurz,
etwas Englisches nicht übel disponiren mag. - Vergesse man es zuletzt
den Engländern nicht, dass sie schon Ein Mal mit ihrer tiefen
Durchschnittlichkeit eine Gesammt-Depression des europäischen Geistes
verursacht haben: Das, was man "die modernen Ideen" oder "die Ideen
des achtzehnten Jahrhunderts" oder auch "die französischen Ideen"
nennt - Das also, wogegen sich der deutsche Geist mit tiefem Ekel
erhoben hat -, war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln.
Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen
gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten
und gründlichsten Opfer: denn an der verdammlichen Anglomanie der
"modernen Ideen" ist zuletzt die âme française so dünn geworden
und abgemagert, dass man sich ihres sechszehnten und siebzehnten
Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer
erfinderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man muss
aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und
gegen den Augenblick und Augenschein vertheidigen: die europäische
noblesse - des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz, das Wort in
jedem hohen Sinne genommen - ist Frankreich's Werk und Erfindung, die
europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen -Englands.-


254.

Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und
raffinirtesten Cultur Europa's und die hohe Schule des Geschmacks:
aber man muss dies "Frankreich des Geschmacks" zu finden wissen. Wer
zu ihm gehört, hält sich gut verborgen: - es mag eine kleine Zahl
sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche
nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Theil Fatalisten,
Verdüsterte, Kranke, zum Theil Verzärtelte und Verkünstelte, solche,
welche den Ehrgeiz haben, sich zu verbergen. Etwas ist Allen gemein:
sie halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem
lärmenden Maulwerk des demokratischen bourgeois. In der That wälzt
sich heut im Vordergrunde ein verdummtes und vergröbertes Frankreich,
- es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängniss Victor Hugo's, eine
wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der Selbstbewunderung
gefeiert. Auch etwas Anderes ist ihnen gemeinsam: ein guter Wille,
sich der geistigen Germanisirung zu erwehren - und ein noch besseres
Unvermögen dazu! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem
Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus
ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in
Deutschland war; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren
und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und
Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taine's
- das heisst des ersten lebenden Historikers - einen beinahe
tyrannischen Einfluss ausübt. Was aber Richard Wagner betrifft: je
mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der
âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie "wagnerisiren", das
darf man vorhersagen, - sie thut es jetzt schon genug! Es ist dennoch
dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und
Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit
über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen oder
unfreiwilligen Germanisirung und Verpöbelung des Geschmacks: einmal
die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die
"Form", für welche das Wort l'art pour l'art, neben tausend anderen,
erfunden ist: - dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten
nicht gefehlt und immer wieder, Dank der Ehrfurcht vor der "kleinen
Zahl", eine Art Kammermusik der Litteratur ermöglicht, welche im
übrigen Europa sich suchen lässt -. Das Zweite, worauf die Franzosen
eine Überlegenheit über Europa begründen können, ist ihre alte
vielfache moralistische Cultur, welche macht, dass man im Durchschnitt
selbst bei kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen
boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit und Neugierde
findet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff
(geschweige denn die Sache!) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar
Jahrhunderte moralistischer Art, welche, wie gesagt, Frankreich sich
nicht erspart hat; wer die Deutschen darum "naiv" nennt, macht ihnen
aus einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen
Unerfahrenheit und Unschuld in voluptate psychologica, die mit der
Langweiligkeit des deutschen Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist,
- und als gelungenster Ausdruck einer ächt französischen Neugierde
und Erfindungsgabe für dieses Reich zarter Schauder mag Henri Beyle
gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und vorauslaufende Mensch,
der mit einem Napoleonischen Tempo durch sein Europa, durch mehrere
Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und
Entdecker dieser Seele: - es hat zweier Geschlechter bedurft, um
ihn irgendwie einzuholen, um einige der Räthsel nachzurathen, die
ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epicureer und
Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter grosser Psycholog war
-). Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit: im Wesen
der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und
Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und andre Dinge
thun heisst, die ein Engländer nie begreifen wird; ihr dem Süden
periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu
Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie
vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau und der sonnenlosen
Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, - unsrer deutschen Krankheit des
Geschmacks, gegen deren Übermaass man sich augenblicklich mit grosser
Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die "grosse Politik"
verordnet hat (gemäss einer gefährlichen Heilkunst, welche mich warten
und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt -). Auch jetzt noch
giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für
jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich
sind, um in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu finden und im
Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen, - für die
geborenen Mittelländler, die "guten Europäer". - Für sie hat Bizet
Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und
Verführung gesehn, - der ein Stück Süden der Musik entdeckt hat.


255.

Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten.
Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine
grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine
unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein
selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet: nun, ein Solcher
wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil
sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit
mit zurück verdirbt. Ein solcher Südländer, nicht der Abkunft, sondern
dem Glauben nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt,
auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel
einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnissvolleren
Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor
dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen
Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle
deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den
braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht behält, deren Seele mit
der Palme verwandt ist und unter grossen schönen einsamen Raubthieren
heimisch zu sein und zu schweifen versteht..... Ich könnte mir eine
Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, dass sie von
Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass vielleicht irgend ein
Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche
Schwächen hier und da über sie hinwegliefen: eine Kunst, welche von
grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich
gewordenen moralischen Welt zu sich flüchten sähe, und die
gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge
wäre. -


256.

Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn
zwischen die Völker Europa's gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls
den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute
mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die
auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur
Zwischenakts-Politik sein kann, - Dank Alledem und manchem heute ganz
Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen übersehn
oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht,
dass Europa Eins werden will. Bei allen tieferen und umfänglicheren
Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung
in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen
Synthesis vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft
vorwegzunehmen: nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren
Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den "Vaterländern", - sie
ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie "Patrioten" wurden. Ich
denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich
Heine, Schopenhauer: man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard
Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht durch seine eignen
Missverständnisse verführen lassen darf, - Genies seiner Art haben
selten das Recht, sich selbst zu verstehen. Noch weniger freilich
durch den ungesitteten Lärm, mit dem man sich jetzt in Frankreich
gegen Richard Wagner sperrt und wehrt: - die Thatsache bleibt
nichtsdestoweniger bestehen, dass die französische Spät-Romantik der
Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu
einander, gehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer
Bedürfnisse verwandt, grundverwandt: Europa ist es, das Eine Europa,
dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus,
hinauf drängt und sehnt - wohin? in ein neues Licht? nach einer neuen
Sonne? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer
Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten? Gewiss ist, dass
der gleiche Sturm und Drang sie quälte, dass sie auf gleiche Weise
suchten, diese letzten grossen Suchenden! Allesammt beherrscht von
der Litteratur bis in ihre Augen und Ohren - die ersten Künstler
von weltlitterarischer Bildung - meistens sogar selber Schreibende,
Dichtende, Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner
gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker,
als Künstler überhaupt unter die Schauspieler); allesammt Fanatiker
des Ausdrucks "um jeden Preis" - ich hebe Delacroix hervor, den
Nächstverwandten Wagner's -, allesammt grosse Entdecker im Reiche
des Erhabenen, auch des Hässlichen und Grässlichen, noch grössere
Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der
Schauläden, allesammt Talente weit über ihr Genie hinaus -, Virtuosen
durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt,
lockt, zwingt, umwirft, geborene Feinde der Logik und der geraden
Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren,
dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden; als Menschen Tantalusse des
Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und Schaffen
eines vornehmen tempo, eines lento unfähig wussten, - man denke zum
Beispiel an Balzac - zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer
durch Arbeit; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und
Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuss; allesammt zuletzt an dem
christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend (und das mit Fug
und Recht: denn wer von ihnen wäre tief und ursprünglich genug
zu einer Philosophie des Antichrist gewesen? -) im Ganzen eine
verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch
emporreissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert - und es
ist das Jahrhundert der Menge! - den Begriff "höherer Mensch" erst zu
lehren hatte Mögen die deutschen Freunde Richard Wagner's darüber mit
sich zu Rathe gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin
Deutsches giebt, oder ob nicht gerade deren Auszeichnung ist,
aus überdeutschen Quellen und Antrieben zu kommen: wobei nicht
unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris
unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die
Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess, und wie die ganze Art seines
Auftretens, seines Selbst-Apostolats erst Angesichts des französischen
Socialisten-Vorbilds sich vollenden konnte. Vielleicht wird man, bei
einer feineren Vergleichung, zu Ehren der deutschen Natur Richard
Wagner's finden, dass er es in Allem stärker, verwegener, härter,
höher getrieben hat, als es ein Franzose des neunzehnten Jahrhunderts
treiben könnte, - Dank dem Umstande, dass wir Deutschen der Barbarei
noch näher stehen als die Franzosen -; vielleicht ist sogar das
Merkwürdigste, was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten
lateinischen Rasse für immer und nicht nur für heute unzugänglich,
unnachfühlbar, unnachahmbar: die Gestalt des Siegfried, jenes sehr
freien Menschen, der in der That bei weitem zu frei, zu hart, zu
wohlgemuth, zu gesund, zu antikatholisch für den Geschmack alter
und mürber Culturvölker sein mag. Er mag sogar eine Sünde wider die
Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried: nun, Wagner
hat diese Sünde reichlich quitt gemacht, in seinen alten trüben
Tagen, als er - einen Geschmack vorwegnehmend, der inzwischen Politik
geworden ist - mit der ihm eignen religiösen Vehemenz den Weg nach
Rom, wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen anfieng. - Damit man
mich, mit diesen letzten Worten, nicht missverstehe, will ich einige
kräftige Reime zu Hülfe nehmen, welche auch weniger feinen Ohren es
verrathen werden, was ich will, - was ich gegen den "letzten Wagner"
und seine Parsifal-Musik will.

- Ist das noch deutsch? -

    Aus deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen?
    Und deutschen Leibs ist dies Sich-selbst-Entfleischen?
    Deutsch ist dies Priester-Händespreitzen,
    Dies weihrauch-düftelnde Sinne-Reizen?
    Und deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln,
    Dies ungewisse Bimbambaumeln?
    Dies Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln,
    Dies ganze falsch verzückte Himmel-Überhimmeln?

- Ist Das noch deutsch? -

    Erwägt! Noch steht ihr an der Pforte: -
    Denn, was ihr hört, ist Rom, - Rom's Glaube ohne Worte!



Neuntes Hauptstück:

Was ist vornehm?

257.

Jede Erhöhung des Typus "Mensch" war bisher das Werk einer
aristokratischen Gesellschaft - und so wird es immer wieder sein: als
einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und
Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in
irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das Pathos der Distanz, wie es
aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen
Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und
Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und
Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre
geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach
immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die
Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer,
umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus "Mensch",
die fortgesetzte "Selbst-Überwindung des Menschen", um eine moralische
Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Freilich: man
darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen
Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus "Mensch"
-) keinen humanitären Täuschungen hingeben: die Wahrheit ist hart.
Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf
Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur,
Barbaren in jedem furcht baren Verstande des Wortes, Raubmenschen,
noch im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden,
warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht
handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe
Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden
Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste
war im Anfang immer die Barbaren-Kaste: ihr Übergewicht lag nicht
vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, - es waren
die ganzeren Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet
als "die ganzeren Bestien").


258.

Corruption, als der Ausdruck davon, dass innerhalb der Instinkte
Anarchie droht, und dass der Grundbau der Affekte, der "Leben" heisst,
erschüttert ist: Corruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem
sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes. Wenn zum Beispiel eine
Aristokratie, wie die Frankreichs am Anfange der Revolution, mit
einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich selbst einer
Ausschweifung ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so ist
dies Corruption: - es war eigentlich nur der Abschlussakt jener
Jahrhunderte dauernden Corruption, vermöge deren sie Schritt für
Schritt ihre herrschaftlichen Befugnisse abgegeben und sich zur
Funktion des Königthums (zuletzt gar zu dessen Putz und Prunkstück)
herabgesetzt hatte. Das Wesentliche an einer guten und gesunden
Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des
Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und
höchste Rechtfertigung fühlt, - dass sie deshalb mit gutem Gewissen
das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche um ihretwillen zu
unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und
vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die
Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern
nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu
ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben
vermag: vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen auf Java -
man nennt sie Sipo Matador -, welche mit ihren Armen einen Eichbaum
so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch über ihm, aber auf
ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur
Schau tragen können. -


259.

Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten,
seinen Willen dem des Andern gleich setzen: dies kann in einem
gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte
werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren
thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre
Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies
Princip weiter nehmen wollte und womöglich gar als Grundprincip
der Gesellschaft, so würde es sich sofort erweisen als Das, was
es ist: als Wille zur Verneinung des Lebens, als Auflösungs- und
Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und
sich aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren: Leben selbst ist
wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und
Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen,
Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, - aber wozu
sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von Alters
her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist? Auch jener Körper,
innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als
gleich behandeln - es geschieht in jeder gesunden Aristokratie -, muss
selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist,
alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm
gegen einander enthalten: er wird der leibhafte Wille zur Macht sein
müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht
gewinnen wollen, - nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität
heraus, sondern weil erlebt, und weil Leben eben Wille zur Macht
ist. In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer
widerwilliger gegen Belehrung, als hier; man schwärmt jetzt überall,
unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen
der Gesellschaft, denen "der ausbeuterische Charakter" abgehn soll:
- das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfinden
verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die
"Ausbeutung" gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und
primitiven Gesellschaft an: sie gehört in's Wesen des Lebendigen, als
organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens
zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. - Gesetzt, dies ist
als Theorie eine Neuerung, - als Realität ist es das Ur-Faktum aller
Geschichte: man sei doch so weit gegen sich ehrlich! -


260.

Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen,
welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich
gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander
geknüpft: bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und
ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt Herren-Moral und
Sklaven-Moral; - ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und
gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen
zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und
gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander
- sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. Die moralischen
Werthunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden Art
entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit
Wohlgefühl bewusst wurde, - oder unter den Beherrschten, den Sklaven
und Abhängigen jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es
sind, die den Begriff gut- bestimmen, sind es die erhobenen stolzen
Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung
Bestimmende empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von
sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände
zum Ausdruck kommt: er verachtet sie. Man bemerke sofort, dass in
dieser ersten Art Moral der Gegensatz "gut" und "schlecht" so viel
bedeutet wie "vornehm" und "verächtlich": - der Gegensatz "gut" und
"böse" ist anderer Herkunft. Verachtet wird der Feige, der Ängstliche,
der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende; ebenso der
Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die
Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde
Schmeichler, vor Allem der Lügner: - es ist ein Grundglaube aller
Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist. "Wir Wahrhaftigen"
- so nannten sich im alten Griechenland die Adeligen. Es liegt auf
der Hand, dass die moralischen Werthbezeichnungen überall zuerst auf
Menschen und erst abgeleitet und spät auf Handlungen gelegt worden
sind: weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn Moral-Historiker
von Fragen den Ausgang nehmen wie "warum ist die mitleidige
Handlung gelobt worden?" Die vornehme Art Mensch fühlt sich als
werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie
urtheilt "was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich", sie weiss
sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist
wertheschaffend. Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie: eine solche
Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der
Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung,
das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte: -
auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast
nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss
von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen,
auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu
schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und
Ehrerbietung vor allem Strengen und Härten hat. "Ein hartes Herz legte
Wotan mir in die Brust" heisst es in einer alten skandinavischen Saga:
so ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht
gedichtet. Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, nicht zum
Mitleiden gemacht zu sein: weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt
"wer jung schon kein hartes Herz hat, dem wird es niemals hart".
Vornehme und Tapfere, welche so denken, sind am entferntesten von
jener Moral, welche gerade im Mitleiden oder im Handeln für Andere
oder im désintéressement das Abzeichen des Moralischen sieht;
der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine
Grundfeindschaft und Ironie gegen "Selbstlosigkeit" gehört eben so
bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und
Vorsicht vor den Mitgefühlen und dem "warmen Herzen". - Die Mächtigen
sind es, welche zu ehren verstehen, es ist ihre Kunst, ihr Reich der
Erfindung. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen -
das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht -, der Glaube und
das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden
ist typisch in der Moral der Mächtigen; und wenn umgekehrt die
Menschen der "modernen Ideen" beinahe instinktiv an den "Fortschritt"
und die "Zukunft" glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr
ermangeln, so verräth sich damit genugsam schon die unvornehme
Herkunft dieser "Ideen". Am meisten ist aber eine Moral der
Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der
Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pflichten
habe; dass man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles
Fremde nach Gutdünken oder "wie es das Herz will" handeln dürfe und
jedenfalls "jenseits von Gut und Böse" -: hierhin mag Mitleiden und
dergleichen gehören. Die Fähigkeit und Pflicht zu langer Dankbarkeit
und langer Rache - beides nur innerhalb seines Gleichen -, die
Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffinement in der
Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam
als Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth, - im
Grunde, um gut freund sein zu können): Alles das sind typische
Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet, nicht die Moral
der "modernen Ideen" ist und deshalb heute schwer nachzufühlen,
auch schwer auszugraben und aufzudecken ist. - Es steht anders
mit dem zweiten Typus der Moral, der Sklaven-Moral. Gesetzt,
dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien,
Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisiren: was wird das
Gleichartige ihrer moralischen Werthschätzungen sein? Wahrscheinlich
wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum
Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt
seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden
des Mächtigen: er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Feinheit des
Misstrauens gegen alles "Gute", was dort geehrt wird -, er möchte sich
überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden
die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu
dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern: hier kommt das Mitleiden,
die gefällige hülfbereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der
Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren -, denn das sind hier
die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den
Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich
Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes
berühmten Gegensatzes "gut" und "böse": - in's Böse wird die Macht und
Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit
und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der
Sklaven-Moral erregt also der "Böse" Furcht; nach der Herren Moral ist
es gerade der "Gute", der Furcht erregt und erregen will, während der
"schlechte" Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz
kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz,
zuletzt nun auch an den "Guten" dieser Moral ein Hauch von
Geringschätzung hängt - sie mag leicht und wohlwollend sein -, weil
der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls der ungefährliche
Mensch sein muss: er ist gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen
dumm vielleicht, un bonhomme. überall, wo die Sklaven-Moral zum
Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte "gut"
und "dumm" einander anzunähern. - Ein letzter Grundunterschied: das
Verlangen nach Freiheit, der Instinkt für das Glück und die Feinheiten
des Freiheits-Gefühls gehört ebenso nothwendig zur Sklaven-Moral und
-Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht, in der
Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und
Werthungsweise ist. - Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn,
warum die Liebe als Passion - es ist unsre europäische Spezialität -
schlechterdings vornehmer Abkunft sein muss: bekanntlich gehört ihre
Erfindung den provençalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen
erfinderischen Menschen des "gai saber", denen Europa so Vieles und
beinahe sich selbst verdankt. -


261.

Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am
schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit: er wird versucht
sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit
beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen
vorzustellen, die eine gute Meinung über sich zu erwecken suchen,
welche sie selbst von sich nicht haben - und also auch nicht
"verdienen" -, und die doch hinterdrein an diese gute Meinung
selber glauben. Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos
und unehrerbietig vor sich selbst, zur andren Hälfte so
barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme
fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet,
anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen: "ich kann mich über meinen
Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade
so, wie ich ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde, - aber das
ist keine Eitelkeit (sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen,
Das, was `Demuth`, auch `Bescheidenheit` genannt wird)." Oder auch:
"ich kann mich aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer
freuen, vielleicht weil ich sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer
Freuden erfreue, vielleicht auch weil ihre gute Meinung den Glauben
an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt und kräftigt,
vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo ich
sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht, - aber das
ist Alles nicht Eitelkeit." Der vornehme Mensch muss es sich erst
mit Zwang, namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen,
dass, seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen
Volksschichten der gemeine Mensch nur Das war, was er galt: - gar
nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass er auch sich
keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das
eigentliche Herrenrecht, Werthe zu schaffen). Mag man es als die Folge
eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche Mensch auch
jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich wartet und sich dann
derselben instinktiv unterwirft: aber durchaus nicht bloss einer
"guten" Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man
denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und
Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern
ablernen, und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt).
Thatsächlich wird nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der
demokratischen Ordnung der Dinge (und seiner Ursache, der
Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich vornehme und
seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben und
von sich "gut zu denken", mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet
werden: aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren und
gründlicher einverleibten Hang gegen sich, - und im Phänomene der
"Eitelkeit" wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle
freut sich über jede gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits
von allen Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von
wahr und falsch), ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet:
denn er unterwirft sich beiden, er fühlt sich ihnen unterworfen, aus
jenem ältesten Instinkte der Unterwerfung, der an ihm ausbricht. - Es
ist "der Sklave" im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit
des Sklaven - und wie viel "Sklave" ist zum Beispiel jetzt noch im
Weibe rückständig! welcher zu guten Meinungen über sich zu verführen
sucht; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher
sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen
hätte. - Und nochmals gesagt: Eitelkeit ist ein Atavismus.


262.

Eine Art entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen
Kampfe mit wesentlich gleichen ungünstigen Bedingungen. Umgekehrt
weiss man aus den Erfahrungen der Züchter, dass Arten, denen eine
überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und
Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation
des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an
monströsen Lastern) sind. Nun sehe man einmal ein aristokratisches
Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine,
sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der
Züchtung an: es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen,
welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich
durchsetzen müssen oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen,
ausgerottet zu werden. Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener
Schutz, unter denen die Variation begünstigt ist; die Art hat sich
als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade vermöge seiner Härte,
Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durchsetzen und
dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn oder
mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten.
Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften
vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen
zum Trotz, noch da ist, dass sie noch immer obgesiegt hat: diese
Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet
sie gross. Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte; jede
aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in
der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse von
Alt und jung, in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden
in's Auge fassen): - sie rechnet die Unduldsamkeit selbst unter die
Tugenden, unter dem Namen "Gerechtigkeit". Ein Typus mit wenigen, aber
sehr starken Zügen, eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer,
geschlossener und verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten
Gefühle für die Zauber und nuances der Societät) wird auf diese Weise
über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt; der beständige
Kampf mit immer gleichen ungünstigen Bedingungen ist, wie gesagt,
die Ursache davon, dass ein Typus fest und hart wird. Endlich aber
entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach; es
giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel
zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit
Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht: sie fühlt
sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, - wollte sie
fortbestehn, so könnte sie es nur als eine Form des Luxus, als
archaisirender Geschmack. Die Variation, sei es als Abartung (in's
Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität,
ist plötzlich in der grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz,
der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen
Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben einander und oft
in einander verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches
urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art tropisches Tempo
im Wetteifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und
Sich-zu-Grunde-Richten, Dank den wild gegeneinander gewendeten,
gleichsam explodirenden Egoismen, welche "um Sonne und Licht" mit
einander ringen und keine Grenze, keine Zügelung, keine Schonung mehr
aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen. Diese Moral selbst war
es, welche die Kraft in's Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf
so bedrohliche Weise gespannt hat - - jetzt ist, jetzt wird sie
"überlebt". Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo
das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral
hinweg lebt; das "Individuum" steht da, genöthigt zu einer eigenen
Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung,
Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu's, lauter neue
Womit's, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und
Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die
höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse
aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein
verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize
und Schleier, die, der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten
Verderbniss zu eigen sind. Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der
Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in's Individuum verlegt, in den
Nächsten und Freund, auf die Gasse, in's eigne Kind, in's eigne Herz,
in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille: was werden
jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese
Zeit heraufkommen? Sie entdecken, diese scharfen Beobachter und
Eckensteher, dass es schnell zum Ende geht, dass Alles um sie verdirbt
und verderben macht, dass Nichts bis übermorgen steht, Eine Art Mensch
ausgenommen, die unheilbar Mittelmässigen. Die Mittelmässigen allein
haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen, - sie sind die
Menschen der Zukunft, die einzig überlebenden; "seid wie sie! werdet
mittelmässig!" heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat,
die noch Ohren findet. - Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral
der Mittelmässigkeit! - sie darf es ja niemals eingestehn, was sie
ist und was sie will! sie muss von Maass und Würde und Pflicht und
Nächstenliebe reden, - sie wird noth haben, die Ironie zu verbergen! -


263.

Es giebt einen Instinkt für den Rang, welcher, mehr als Alles, schon
das Anzeichen eines hohen Ranges ist; es giebt eine Lust an den
Nuancen der Ehrfurcht, die auf vornehme Abkunft und Gewohnheiten
rathen lässt. Die Feinheit, Güte und Höhe einer Seele wird gefährlich
auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber geht, das ersten
Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität vor
zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird: Etwas, das,
unabgezeichnet, unentdeckt, versuchend, vielleicht willkürlich
verhüllt und verkleidet, wie ein lebendiger Prüfstein seines Weges
geht. Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der
wird sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den
letzten Werth einer Seele, die unverrückbare eingeborne Rangordnung,
zu der sie gehört, festzustellen: er wird sie auf ihren Instinkt der
Ehrfurcht hin auf die Probe stellen. Différence engendre haine: die
Gemeinheit mancher Natur sprützt plötzlich wie schmutziges Wasser
hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus
verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen
Schicksals vorübergetragen wird; und andrerseits giebt es ein
unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stillewerden
aller Gebärden, woran sich ausspricht, dass eine Seele die Nähe des
Verehrungswürdigsten fühlt. Die Art, mit der im Ganzen bisher die
Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrecht erhalten wird, ist
vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das
Europa dem Christenthume verdankt: solche Bücher der Tiefe und der
letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von Aussen
kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von Dauer zu
gewinnen, welche nöthig sind, sie auszuschöpfen und auszurathen.
Es ist Viel erreicht, wenn der grossen Menge (den Flachen und
Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass
sie nicht an Alles rühren dürfe; dass es heilige Erlebnisse giebt, vor
denen sie die Schuhe auszuziehn und die unsaubere Hand fern zu halten
hat, - es ist beinahe ihre höchste Steigerung zur Menschlichkeit.
Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der
"modernen Ideen", vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel
an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von
ihnen an Alles gerührt, geleckt, getastet wird; und es ist möglich,
dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern,
immer noch mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und Takt der
Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes,
den Gebildeten.


264.

Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine
Vorfahren am liebsten und beständigsten gethan haben: ob sie etwa
emsige Sparer waren und Zubehör eines Schreibtisches und Geldkastens,
bescheiden und bürgerlich in ihren Begierden, bescheiden auch in ihren
Tugenden; oder ob sie an's Befehlen von früh bis spät gewöhnt lebten,
rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauheren
Pflichten und Verantwortungen; oder ob sie endlich alte Vorrechte der
Geburt und des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz
ihrem Glauben - ihrem "Gotte" - zu leben, als die Menschen eines
unerbittlichen und zarten Gewissens, welches vor jeder Vermittlung
erröthet. Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die
Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe
habe: was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem
der Rasse. Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein
Schluss auf das Kind erlaubt: irgend eine widrige Unenthaltsamkeit,
irgend ein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei - wie diese Drei
zusammen zu allen Zeiten den eigentlichen Pöbel-Typus ausgemacht haben
- dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes
Blut; und mit Hülfe der besten Erziehung und Bildung wird man eben
nur erreichen, über eine solche Vererbung zu täuschen. - Und was will
heute Erziehung und Bildung Anderes! In unsrem sehr volksthümlichen,
will sagen pöbelhaften Zeitalter muss "Erziehung" und "Bildung"
wesentlich die Kunst, zu täuschen, sein, - über die Herkunft, den
vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen. Ein Erzieher,
der heute vor Allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtlingen
beständig zuriefe "seid wahr! seid natürlich! gebt euch, wie ihr
seid!" - selbst ein solcher tugendhafter und treuherziger Esel würde
nach einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam
expellere: mit welchem Erfolge? "Pöbel" usque recurret. -


265.

Auf die Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle
ich hin: der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine
jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie "wir sind", andre
Wesen von Natur unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben.
Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes
Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte Zwang, Willkür darin,
vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag: -
suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen "es ist die
Gerechtigkeit selbst". Sie gesteht sich, unter Umständen, die sie
anfangs zögern lassen, zu, dass es mit ihr Gleichberechtigte giebt;
sobald sie über diese Frage des Rangs im Reinen ist, bewegt sie
sich unter diesen Gleichen und Gleichberechtigten mit der gleichen
Sicherheit in Scham und zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehre mit
sich selbst hat, - gemäss einer eingebornen himmlischen Mechanik, auf
welche sich alle Sterne verstehn. Es ist ein Stück ihres Egoismus
mehr, diese Feinheit und Selbstbeschränkung im Verkehre mit ihres
Gleichen - jeder Stern ist ein solcher Egoist -: sie ehrt sich in
ihnen und in den Rechten, welche sie an dieselben abgiebt, sie
zweifelt nicht, dass der Austausch von Ehren und Rechten als Wesen
alles Verkehrs ebenfalls zum naturgemässen Zustand der Dinge gehört.
Die vornehme Seele giebt, wie sie nimmt, aus dem leidenschaftlichen
und reizbaren Instinkte der Vergeltung heraus, welcher auf ihrem
Grunde liegt. Der Begriff "Gnade" hat inter pares keinen Sinn und
Wohlgeruch; es mag eine sublime Art geben, Geschenke von Oben her
gleichsam über sich ergehen zu lassen und wie Tropfen durstig
aufzutrinken: aber für diese Kunst und Gebärde hat die vornehme Seele
kein Geschick. Ihr Egoismus hindert sie hier: sie blickt ungern
überhaupt nach "Oben", - sondern entweder vor sich, horizontal und
langsam, oder hinab: - sie weiss sich in der Höhe.-


266.

"Wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst _sucht_". -
Goethe an Rath Schlosser.


267.

Es giebt ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon
ihre Kinder lehren: siao-sin "mache dein Herz klein!" Dies ist der
eigentliche Grundhang in späten Civilisationen: ich zweifle nicht,
dass ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die
Selbstverkleinerung herauserkennen würde, - damit allein schon giengen
wir ihm "wider den Geschmack". -


268.

Was ist zuletzt die Gemeinheit? - Worte sind Tonzeichen für Begriffe;
Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für
oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, für
Empfindungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu
verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man muss die selben
Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man
muss zuletzt seine Erfahrung mit einander gemein haben. Deshalb
verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser unter einander, als
Zugehörige verschiedener Völker, selbst wenn sie sich der gleichen
Sprache bedienen; oder vielmehr, wenn Menschen lange unter ähnlichen
Bedingungen (des Klima's, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse, der
Arbeit) zusammen gelebt haben, so entsteht daraus Etwas, das "sich
versteht", ein Volk. In allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft
wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand gewonnen über seltner
kommende: auf sie hin versteht man sich, schnell und immer
schneller - die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines
Abkürzungs-Prozesses -; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man
sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so
grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth
thut, übereinzukommen; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das
ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren
können. Noch bei jeder Freundschaft oder Liebschaft macht man diese
Probe: Nichts derart hat Dauer, sobald man dahinter kommt, dass
Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert,
wünscht, fürchtet, als der Andere. (Die Furcht vor dem "ewigen
Missverständniss": das ist jener wohlwollende Genius, der Personen
verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen
abhält, zu denen Sinne und Herz rathen - und nicht irgend ein
Schopenhauerischer "Genius der Gattung" -!) Welche Gruppen von
Empfindungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das
Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die gesammte
Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die
Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Aufbau seiner
Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth
sieht. Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen
einander angenähert hat, welche mit ähnlichen Zeichen ähnliche
Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich
im Ganzen, dass die leichte Mittheilbarkeit der Noth, dass heisst im
letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und gemeinen
Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über den Menschen bisher
verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren,
die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die
Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben
leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und
pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen,
um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile,
die Fortbildung des Menschen in's Ähnliche, Gewöhnliche,
Durchschnittliche, Heerdenhafte - in's Gemeine! - zu kreuzen.


269.

Je mehr ein Psycholog - ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog
und Seelen-Errather - sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen
zukehrt, um so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken:
er hat Härte und Heiterkeit nöthig, mehr als ein andrer Mensch. Die
Verderbniss, das Zugrundegehen der höheren Menschen, der fremder
gearteten Seelen ist nämlich die Regel: es ist schrecklich, eine
solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter des
Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesammte
innere "Heillosigkeit" des höheren Menschen, dieses ewige "Zu spät!"
in jedem Sinne, erst einmal und dann fast immer wieder entdeckt, durch
die ganze Geschichte hindurch, - kann vielleicht eines Tages zur
Ursache davon werden, dass er mit Erbitterung sich gegen sein eignes
Loos wendet und einen Versuch der Selbst-Zerstörung macht, - dass
er selbst "verdirbt". Man wird fast bei jedem Psychologen eine
verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit alltäglichen und
wohlgeordneten Menschen wahrnehmen: daran verräth sich, dass er immer
einer Heilung bedarf, dass er eine Art Flucht und Vergessen braucht,
weg von dem, was ihm seine Einblicke und Einschnitte, was ihm
sein "Handwerk" auf's Gewissen gelegt hat. Die Furcht vor seinem
Gedächtniss ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht
zum Verstummen: er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort
verehrt, bewundert, geliebt, verklärt wird, wo er gesehen hat,
- oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er irgend einer
Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt. Vielleicht geht die
Paradoxie seiner Lage so weit in's Schauerliche, dass die Menge, die
Gebildeten, die Schwärmer gerade dort, wo er das grosse Mitleiden
neben der grossen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse
Verehrung lernen, - die Verehrung für "grosse Männer" und
Wunderthiere, um derentwillen man das Vaterland, die Erde, die Würde
der Menschheit, sich selber segnet und in Ehren hält, auf welche man
die Jugend hinweist, hinerzieht.... Und wer weiss, ob sich nicht
bisher in allen grossen Fällen eben das Gleiche begab: dass die Menge
einen Gott anbetete, - und dass der "Gott" nur ein armes Opferthier
war! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, und das "Werk" selbst
ist ein Erfolg; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist
in seine Schöpfungen verkleidet, bis in's Unerkennbare; das "Werk",
das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es
geschaffen hat, geschaffen haben soll; die "grossen Männer", wie sie
verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein; in der
Welt der geschichtlichen Werthe herrscht die Falschmünzerei. Diese
grossen Dichter zum Beispiel, diese Byron, Musset, Poe, Leopardi,
Kleist, Gogol, - so wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen:
Menschen der Augenblicke, begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im
Misstrauen und Vertrauen leichtfertig und plötzlich; mit Seelen,
an denen gewöhnlich irgend ein Bruch verhehlt werden soll; oft mit
ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren
Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, oft
in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern
um die Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen verstellen -
das Volk nennt sie dann wohl Idealisten -, oft mit einem langen Ekel
kämpfend, mit einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt
macht und sie zwingt, nach gloria zu schmachten und den "Glauben an
sich" aus den Händen berauschter Schmeichler zu fressen: - welche
Marter sind diese grossen Künstler und überhaupt die höheren Menschen
für Den, der sie einmal errathen hat! Es ist so begreiflich, dass
sie gerade vom Weibe - welches hellseherisch ist in der Welt des
Leidens und leider auch weit über seine Kräfte hinaus hülf- und
rettungssüchtig - so leicht jene Ausbrüche unbegrenzten hingebendsten
Mitleids erfahren, welche die Menge, vor Allem die verehrende Menge,
nicht versteht und mit neugierigen und selbstgefälligen Deutungen
überhäuft. Dieses Mitleiden täuscht sich regelmässig über seine Kraft;
das Weib möchte glauben, dass Liebe Alles vermag, - es ist sein
eigentlicher Glaube. Ach, der Wissende des Herzens erräth, wie arm,
dumm, hülflos, anmaaslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als
rettend auch die beste tiefste Liebe ist! - Es ist möglich, dass
unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der
schmerzlichsten Fälle vom Martyrium des Wissens um die Liebe verborgen
liegt: das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das
an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebt-werden und
Nichts ausserdem verlangte, mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren
Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten; die Geschichte
eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die
Hölle erfinden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht
lieben wollten, - und der endlich, wissend geworden über menschliche
Liebe, einen Gott erfinden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben- können
ist, - der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig,
so unwissend ist! Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe weiss -,
sucht den Tod. - Aber warum solchen schmerzlichen Dingen nachhängen?
Gesetzt, dass man es nicht muss. -


270.

Der geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat -
es bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können
-, seine schaudernde Gewissheit, von der er ganz durchtränkt und
gefärbt ist, vermöge seines Leidens mehr zu wissen, als die Klügsten
und Weisesten wissen können, in vielen fernen entsetzlichen Welten
bekannt und einmal "zu Hause" gewesen zu sein, von denen "ihr nichts
wisst!"....... dieser geistige schweigende Hochmuth des Leidenden,
dieser Stolz des Auserwählten der Erkenntniss, des "Eingeweihten",
des beinahe Geopferten findet alle Formen von Verkleidung nöthig, um
sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und
überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im Schmerz ist, zu
schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt. Eine der feinsten
Verkleidungs-Formen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin
zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden
leichtfertig nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre
setzt. Es giebt "heitere Menschen", welche sich der Heiterkeit
bedienen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden: - sie wollen
missverstanden sein. Es giebt "wissenschaftliche Menschen", welche
sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein
giebt, und weil Wissenschaftlichkeit darauf schliessen lässt, dass
der Mensch oberflächlich ist: - sie wollen zu einem falschen Schlusse
verführen. Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und
verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen
sind; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein
unseliges allzugewisses Wissen. - Woraus sich ergiebt, dass es zur
feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht "vor der Maske" zu haben und
nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.


271.

Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn
und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige
Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille für einander: zuletzt bleibt
es dabei - sie "können sich nicht riechen!" Der höchste Instinkt der
Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und
gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen: denn eben das ist
Heiligkeit - die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes.
Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des
Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig
aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der "Trübsal", in's
Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt -: eben so sehr als ein solcher
Hang auszeichnet - es ist ein vornehmer Hang -, trennt er auch. -
Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem Schmutz des
Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es giebt Grade und Höhen, wo
das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt
wird.....


272.

Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre Pflichten zu
Pflichten für Jedermann herabzusetzen; die eigne Verantwortlichkeit
nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren
Ausübung unter seine Pflichten rechnen.


273.

Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf
seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und
Hemmniss - oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche
hochgeartete Güte gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf
seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewusstsein, bis
dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein - denn selbst der Krieg
ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck verbirgt -,
verdirbt ihm jeden Umgang: diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und
was sie vom Giftigsten an sich hat.


274.

Das Problem der Wartenden. - Es sind Glücksfälle dazu nöthig und
vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung
eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt - "zum
Ausbruch", wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich nicht,
und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen,
in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten.
Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die
"Erlaubniss" zum Handeln giebt, - dann, wenn bereits die beste Jugend
und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist; und wie
Mancher fand, eben als er "aufsprang", mit Schrecken seine Glieder
eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer! "Es ist zu spät" -
sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer
unnütz. - Sollte, im Reiche des Genie's, der "Raffael ohne Hände",
das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme,
sondern die Regel sein? - Das Genie ist vielleicht gar nicht so
selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den kairós,
"die rechte Zeit" - zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu
fassen!


275.

Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen will, blickt um so schärfer
nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist - und verräth sich
selbst damit.


276.

Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere
Seele besser daran, als die vornehmere: die Gefahren der letzteren
müssen grösser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt
und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer
Lebensbedingungen, ungeheuer. - Bei einer Eidechse wächst ein Finger
nach, der ihr verloren gieng: nicht so beim Menschen. -


277.

- Schlimm genug! Wieder die alte Geschichte! Wenn man sich sein Haus
fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu
haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu
bauen - anfieng. Das ewige leidige "Zu spät!" - Die Melancholie alles
Fertigen!.....


278.

- Wanderer, wer bist du? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn,
ohne Liebe, mit unerrathbaren Augen; feucht und traurig wie ein
Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an's Licht gekommen
- was suchte es da unten? -, mit einer Brust, die nicht seufzt, mit
einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch
langsam greift: wer bist du? was thatest du? Ruhe dich hier aus: diese
Stelle ist gastfreundlich für Jedermann, - erhole dich! Und wer du
auch sein magst: was gefällt dir jetzt? Was dient dir zur Erholung?
Nenne es nur: was ich habe, biete ich dir an! - "Zur Erholung? Zur
Erholung? Oh du Neugieriger, was sprichst du da! Aber gieb mir, ich
bitte - -" Was? Was? sprich es aus! - "Eine Maske mehr! Eine zweite
Maske!".....


279.

Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich
sind: sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es
erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht, - ach, sie wissen zu
gut, dass es ihnen davonläuft!


280.

"Schlimm! Schlimm! Wie? geht er nicht - zurück?" - Ja! Aber ihr
versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie
jeder, der einen grossen Sprung thun will. - -


281.

- "Wird man es mir glauben? aber ich verlange, dass man mir es glaubt:
ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz
seltnen Fällen, nur gezwungen, immer ohne Lust `zur Sache`, bereit,
von `Mir` abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebniss,
Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Möglichkeit der
Selbst-Erkenntniss, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff
`unmittelbare Erkenntniss`, welchen sich die Theoretiker erlauben,
eine contradictio in adjecto zu empfinden: - diese ganze Thatsache
ist beinahe das Sicherste, was ich über mich weiss. Es muss eine Art
Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu glauben.
- Steckt darin vielleicht ein Räthsel? Wahrscheinlich; aber
glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne. - Vielleicht verräth
es die species, zu der ich gehöre? - Aber nicht mir: wie es mir selbst
erwünscht genug ist."


282.

"Aber was ist dir begegnet?" - "Ich weiss es nicht, sagte er zögernd;
vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen." - Es kommt
heute bisweilen vor, dass ein milder mässiger zurückhaltender Mensch
plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft,
schreit, tobt, alle Welt beleidigt - und endlich bei Seite geht,
beschämt, wüthend über sich, - wohin? wozu? Um abseits zu verhungern?
Um an seiner Erinnerung zu ersticken? - Wer die Begierden einer hohen
wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine
Nahrung bereit findet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross sein:
heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes
Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen
mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich
dennoch "zugreift" - vor plötzlichem Ekel zu Grunde gehn. - Wir
haben wahrscheinlich Alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht
hingehörten; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten
zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus
einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und
Tischnachbarschaft entsteht, - den Nachtisch-Ekel.


283.

Es ist eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt,
dass man überhaupt loben will, immer nur da zu loben, wo man nicht
übereinstimmt: - im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was
wider den guten Geschmack geht - freilich eine Selbstbeherrschung, die
einen artigen Anlass und Anstoss bietet, um beständig missverstanden
zu werden. Man muss, um sich diesen wirklichen Luxus von Geschmack und
Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln des Geistes leben,
vielmehr unter Menschen, bei denen Missverständnisse und Fehlgriffe
noch durch ihre Feinheit belustigen, - oder man wird es theuer büssen
müssen! - "Er lobt mich: also giebt er mir Recht" - diese Eselei von
Schlussfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es
bringt die Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft.


284.

Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben; immer jenseits -.
Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben,
sich auf sie herablassen, für Stunden; sich auf sie setzen, wie auf
Pferde, oft wie auf Esel: - man muss nämlich ihre Dummheit so gut
wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich
bewahren; auch die schwarze Brille: denn es giebt Fälle, wo uns
Niemand in die Augen, noch weniger in unsre "Gründe" sehn darf. Und
jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen,
die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes,
der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist
bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit,
welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch -
"in Gesellschaft" - unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede
Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann - "gemein".


285.

Die grössten Ereignisse und Gedanken - aber die grössten Gedanken
sind die grössten Ereignisse - werden am spätesten begriffen: die
Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, erleben solche
Ereignisse nicht, - sie leben daran vorbei. Es geschieht da Etwas, wie
im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten
zu den Menschen; und bevor es nicht angekommen ist, leugnet der
Mensch, dass es dort - Sterne giebt. "Wie viel Jahrhunderte braucht
ein Geist, um begriffen zu werden?" - das ist auch ein Maassstab,
damit schafft man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth
thut: für Geist und Stern. -


286.

"Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben". - Es giebt aber eine
umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die
Aussicht frei hat - aber hinab blickt.


287.

- Was ist vornehm? Was bedeutet uns heute noch das Wort "vornehm"?
Woran verräth sich, woran erkennt man, unter diesem schweren
verhängten Himmel der beginnenden Pöbelherrschaft, durch den Alles
undurchsichtig und bleiern wird, den vornehmen Menschen? - Es sind
nicht die Handlungen, die ihn beweisen, - Handlungen sind immer
vieldeutig, immer unergründlich -; es sind auch die "Werke" nicht. Man
findet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von Solchen, welche
durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen
hin sie treibt: aber gerade dies Bedürfniss nach dem Vornehmen ist von
Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst,
und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es
sind nicht die Werke, es ist der Glaube, der hier entscheidet, der
hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in
einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen: irgend eine
Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat,
Etwas, das sich nicht suchen, nicht finden und vielleicht auch nicht
verlieren lässt.- Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich.-


288.

Es giebt Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben,
sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor
die verrätherischen Augen halten (- als ob die Hand kein Verräther
wäre! -): schliesslich kommt es immer heraus, dass sie Etwas haben,
das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der feinsten Mittel, um
wenigstens so lange als möglich zu täuschen und sich mit Erfolg dümmer
zu stellen als man ist - was im gemeinen Leben oft so wünschenswerth
ist wie ein Regenschirm -, heisst Begeisterung: hinzugerechnet, was
hinzu gehört, zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es
wissen musste -: vertu est enthousiasme.


289.

Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem
Wiederhall der Öde, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen
Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten Worten, aus
seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art
des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags
und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und
Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle - sie kann
ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein - zum Höhlenbär oder
Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde: dessen Begriffe
selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch
ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und
Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler
glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph - gesetzt, dass ein
Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war - seine eigentlichen und
letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht
gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? - ja er
wird zweifeln, ob ein Philosoph "letzte und eigentliche" Meinungen
überhaupt haben könne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine
tiefere Höhle liege, liegen müsse - eine umfänglichere fremdere
reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem
Grunde, unter jeder "Begründung". Jede Philosophie ist eine
Vordergrunds-Philosophie - das ist ein Einsiedler-Urtheil: "es ist
etwas Willkürliches daran, dass er hier stehen blieb, zurückblickte,
sich umblickte, dass er hier nicht mehr tiefer grub und den Spaten
weglegte, - es ist auch etwas Misstrauisches daran." Jede Philosophie
verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck,
jedes Wort auch eine Maske.


290.

Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das
Missverstanden-werden. Am Letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit;
am Ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht:
"ach, warum wollt ihres auch so schwer haben, wie ich?"


291.

Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und
undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft als
durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um
seine Seele einmal als einfach zu geniessen; und die ganze Moral ist
eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt ein Genuss im
Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört
vielleicht viel Mehr in den Begriff "Kunst" hinein, als man gemeinhin
glaubt.


292.

Ein Philosoph: das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche
Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen
eignen Gedanken wie von Aussen her, wie von Oben und Unten her, als
von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird; der
selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen
schwanger geht; ein verhängnissvoller Mensch, um den herum es immer
grollt und brummt und klafft und unheimlich zugeht. Ein Philosoph:
ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat,
- aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder zu sich zu kommen......


293.

Ein Mann, der sagt: "das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will
es schützen und gegen Jedermann vertheidigen"; ein Mann, der eine
Sache führen, einen Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue
wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen
kann; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die
Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern zufallen und
von Natur zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr ist, - wenn ein
solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Werth! Aber was
liegt am Mitleiden Derer, welche leiden! Oder Derer, welche gar
Mitleiden predigen! Es giebt heute fast überall in Europa eine
krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen
eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärtlichung,
welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas
Höherem aufputzen möchte, - es giebt einen förmlichen Cultus des
Leidens. Die Unmännlichkeit dessen, was in solchen Schwärmerkreisen
"Mitleid" getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die
Augen. - Man muss diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig
und gründlich in den Bann thun; und ich wünsche endlich, dass man
das gute Amulet "gai saber" sich dagegen um Herz und Hals lege, -
"fröhliche Wissenschaft", um es den Deutschen zu verdeutlichen.


294.

Das olympische Laster. - Jenem Philosophen zum Trotz, der als ächter
Engländer dem Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu
schaffen suchte - "das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen
Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird"
(Hobbes) -, würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen
erlauben, je nach dem Range ihres Lachens - bis hinauf zu denen, die
des goldnen Gelächters fähig sind. Und gesetzt, dass auch Götter
philosophiren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat -, so
zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und
neue Weise zu lachen wissen - und auf Unkosten aller ernsten Dinge!
Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen
Handlungen das Lachen nicht lassen.


295.

Das Genie des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der
Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme
bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss, welcher nicht
ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht
und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er
zu scheinen versteht - und nicht Das, was er ist, sondern was Denen,
die ihm folgen, ein Zwang mehr ist, um sich immer näher an ihn zu
drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen: - das
Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen
macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein
neues Verlangen zu kosten giebt, - still zu liegen wie ein Spiegel,
dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele -; das Genie des
Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher
greifen lehrt; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen
Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise erräth und eine
Wünschelruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker
vielen Schlamms und Sandes begraben lag; das Genie des Herzens,
von dessen Berührung jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und
überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern
reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem
Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher
zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen
Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und
Zurückströmens...... aber was thue ich, meine Freunde? Von wem rede
ich zu euch? Vergass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal
seinen Namen nannte? es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst
erriethet, wer dieser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher
Weise gelobt sein will. Wie es nämlich einem jeden ergeht, der von
Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so sind auch
mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg
gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben sprach, und dieser
immer wieder, kein Geringerer nämlich, als der Gott Dionysos, jener
grosse Zweideutige und Versucher Gott, dem ich einstmals, wie ihr
wisst, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht
habe - als der Letzte, wie mir scheint, der ihm ein Opfer dargebracht
hat: denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals
that. Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die Philosophie
dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund, - ich, der
letzte jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos: und ich dürfte wohl
endlich einmal damit anfangen, euch, meinen Freunden, ein Wenig, so
weit es mir erlaubt ist, von dieser Philosophie zu kosten zu geben?
Mit halber Stimme, wie billig: denn es handelt sich dabei um
mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches.
Schon dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter
philosophiren, scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich
ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen
möchte, - unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich,
es sei denn, dass sie zu spät und nicht zur rechten Stunde kommt:
denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verrathen hat, an Gott
und Götter. Vielleicht auch, dass ich in der Freimüthigkeit meiner
Erzählung weiter gehn muss, als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren
immer liebsam ist? Gewisslich gieng der genannte Gott bei dergleichen
Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter, und war immer um viele
Schritt mir voraus.... ja ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach
Menschenbrauch schöne feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen,
viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner
gewagten Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen
haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen Plunder und Prunk weiss ein
solcher Gott nichts anzufangen. "Behalte dies, würde er sagen, für
dich und deines Gleichen und wer sonst es nöthig hat! Ich - habe
keinen Grund, meine Blösse zu decken!" - Man erräth: es fehlt dieser
Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham? - So sagte er
einmal: "unter Umständen liebe ich den Menschen - und dabei spielte er
auf Ariadne an, die zugegen war -: der Mensch ist mir ein angenehmes
tapferes erfinderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen
hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm
gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und
ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist." - "Stärker, böser
und tiefer?" fragte ich erschreckt. "Ja, sagte er noch Ein Mal,
stärker, böser und tiefer; auch schöner" - und dazu lächelte der
Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie als ob er eben
eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich: es
fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham -; und es giebt überhaupt
gute Gründe dafür, zu muthmaassen, dass in einigen Stücken die Götter
insgesammt bei uns Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen
sind - menschlicher...


296.

Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken!
Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft,
voller Stacheln und geheimer Würzen, dass ihr mich niesen und lachen
machtet - und jetzt? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und
einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden:
so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen,
so langweilig! Und war es jemals anders? Welche Sachen schreiben
und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chnesischem Pinsel, wir
Verewiger der Dinge, welche sich schreiben lassen, was vermögen wir
denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk werden
will und anfängt, sich zu verriechen! Ach, immer nur abziehende und
erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle! Ach, immer nur Vögel,
die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen
lassen, - mit unserer Hand! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben
und fliegen kann, müde und mürbe Dinge allein! Und nur euer Nachmittag
ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein
ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und
fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths: - aber Niemand erräth
mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken
und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten - - schlimmen
Gedanken!



Aus hohen Bergen.

Nachgesang.

    Oh Lebens Mittag! Feierliche Zeit!
    Oh Sommergarten!
    Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten: -
    Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit,
    Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!

    War's nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau
    Heut schmückt mit Rosen?
    Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stossen
    Sich Wind und Wolke höher heut in's Blau,
    Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau.

    Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt -
    Wer wohnt den Sternen
    So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen?
    Mein Reich - welch Reich hat weiter sich gereckt?
    Und meinen Honig - wer hat ihn geschmeckt?....

    - Da _seid_ ihr, Freunde! - Weh, doch _ich_ bin's nicht,
    Zu dem ihr wolltet?
    Ihr zögert, staunt - ach, dass ihr lieber grolltet!
    Ich - bin's nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?
    Und was ich bin, euch Freunden - bin ich's nicht?

    Ein Andrer ward ich? Und mir selber fremd?
    Mir selbst entsprungen?
    Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen?
    Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,
    Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt?

    Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
    Ich lernte wohnen,
    Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
    Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?
    Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?

    - Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,
    Voll Lieb' und Grausen!
    Nein, geht! Zürnt nicht! Hier - könntet _ihr_ nicht hausen:
    Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich -
    Hier muss man Jäger sein und gemsengleich.

    Ein _schlimmer_ Jäger ward ich! - Seht, wie steil
    Gespannt mein Bogen!
    Der Stärkste war's, der solchen Zug gezogen--:
    Doch wehe nun! Gefährlich ist _der_ Pfeil,
    Wie _kein_ Pfeil, - fort von hier! Zu eurem Heil!.....

    Ihr wendet euch? - Oh Herz, du trugst genung,
    Stark blieb dein Hoffen:
    Halt _neuen_ Freunden deine Thüren offen!
    Die alten lass! Lass die Erinnerung!
    Warst einst du jung, jetzt - bist du besser jung!

    Was je uns knüpfte, Einer Hoffnung Band, -
    Wer liest die Zeichen,
    Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?
    Dem Pergament vergleich ich's, das die Hand
    zu fassen _scheut_, - ihm gleich verbräunt, verbrannt.

    Nicht Freunde mehr, das sind - wie nenn' ich's doch? -
    Nur Freunds-Gespenster!
    Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster,
    Das sieht mich an und spricht: "wir _waren's_ doch?"--
    Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch!

    Oh Jugend-Sehnen, das sich missverstand!
    Die _ich_ ersehnte,
    Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte,
    Dass _alt_ sie wurden, hat sie weggebannt:
    Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.

    Oh Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit!
    Oh Sommergarten!
    Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
    Der Freunde harr' ich, Tag und Nacht bereit,
    Der _neuen_ Freunde! Kommt! 's ist Zeit! 's ist Zeit!

    _Dies_ Lied ist aus, - der Sehnsucht süsser Schrei
    Erstarb im Munde:
    Ein Zaubrer that's, der Freund zur rechten Stunde,
    Der Mittags-Freund - nein! fragt nicht, wer es sei -
    Um Mittag war's, da wurde Eins zu Zwei...

    Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss,
    Das Fest der Feste:
    Freund _Zarathustra_ kam, der Gast der Gäste!
    Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss,
    Die Hochzeit kam für Licht und Finsterniss...





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Jenseits von Gut und Böse" ***

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