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Title: Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 1
Author: Goethe, Johann Wolfgang von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 1" ***


globaltraveler5565@yahoo.com.



Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 1
oder die Entsagenden



Erstes Buch



Erstes Kapitel



Die Flucht nach Ägypten

Im Schatten eines mächtigen Felsen saß Wilhelm an grauser,
bedeutender Stelle, wo sich der steile Gebirgsweg um eine Ecke herum
schnell nach der Tiefe wendete.  Die Sonne stand noch hoch und
erleuchtete die Gipfel der Fichten in den Felsengründen zu seinen
Füßen.  Er bemerkte eben etwas in seine Schreibtafel, als Felix, der
umhergeklettert war, mit einem Stein in der Hand zu ihm kam.  "Wie
nennt man diesen Stein, Vater?" sagte der Knabe.

"Ich weiß nicht", versetzte Wilhelm.

"Ist das wohl Gold, was darin so glänzt?" sagte jener.

"Es ist keins!" versetzte dieser, "und ich erinnere mich, daß es die
Leute Katzengold nennen."

"Katzengold!" sagte der Knabe lächelnd, "und warum?"

"Wahrscheinlich weil es falsch ist und man die Katzen auch für
falsch hält."

"Das will ich mir merken", sagte der Sohn und steckte den Stein in
die lederne Reisetasche, brachte jedoch sogleich etwas anderes hervor
und fragte: "Was ist das?" --"Eine Frucht", versetzte der Vater, "und
nach den Schuppen zu urteilen, sollte sie mit den Tannenzapfen
verwandt sein."--"Das sieht nicht aus wie ein Zapfen, es ist ja rund.
"--"Wir wollen den Jäger fragen; die kennen den ganzen Wald und alle
Früchte, wissen zu säen, zu pflanzen und zu warten, dann lassen sie
die Stämme wachsen und groß werden, wie sie können."--"Die Jäger
wissen alles; gestern zeigte mir der Bote, wie ein Hirsch über den Weg
gegangen sei, er rief mich zurück und ließ mich die Fährte bemerken,
wie er es nannte; ich war darüber weggesprungen, nun aber sah ich
deutlich ein paar Klauen eingedrückt; es mag ein großer Hirsch
gewesen sein."--"Ich hörte wohl, wie du den Boten ausfragtest."--"Der
wußte viel und ist doch kein Jäger.  Ich aber will ein Jäger werden.
Es ist gar zu schön, den ganzen Tag im Walde zu sein und die Vögel zu
hören, zu wissen, wie sie heißen, wo ihre Nester sind, wie man die
Eier aushebt oder die Jungen, wie man sie füttert und wenn man die
Alten fängt: das ist gar zu lustig."

Kaum war dieses gesprochen, so zeigte sich den schroffen Weg herab
eine sonderbare Erscheinung.  Zwei Knaben, schön wie der Tag, in
farbigen Jäckchen, die man eher für aufgebundene Hemdchen gehalten
hätte, sprangen einer nach dem andern herunter, und Wilhelm fand
Gelegenheit, sie näher zu betrachten, als sie vor ihm stutzten und
einen Augenblick stillhielten.  Um des ältesten Haupt bewegten sich
reiche blonde Locken, auf welche man zuerst blicken mußte, wenn man
ihn sah, und dann zogen seine klarblauen Augen den Blick an sich, der
sich mit Gefallen über seine schöne Gestalt verlor.  Der zweite, mehr
einen Freund als einen Bruder vorstellend, war mit braunen und
schlichten Haaren geziert, die ihm über die Schultern herabhingen und
wovon der Widerschein sich in seinen Augen zu spiegeln schien.

Wilhelm hatte nicht Zeit, diese beiden sonderbaren und in der
Wildnis ganz unerwarteten Wesen näher zu betrachten, indem er eine
männliche Stimme vernahm, welche um die Felsecke herum ernst, aber
freundlich herabrief.  "Warum steht ihr stille? versperrt uns den Weg
nicht!"

Wilhelm sah aufwärts, und hatten ihn die Kinder in Verwunderung
gesetzt, so erfüllte ihn das, was ihm jetzt zu Augen kam, mit
Erstaunen.  Ein derber, tüchtiger, nicht allzu großer junger Mann,
leicht geschürzt, von brauner Haut und schwarzen Haaren, trat kräftig
und sorgfältig den Felsweg herab, indem er hinter sich einen Esel
führte, der erst sein wohlgenährtes und wohlgeputztes Haupt zeigte,
dann aber die schöne Last, die er trug, sehen ließ.  Ein sanftes,
liebenswürdiges Weib saß auf einem großen, wohlbeschlagenen Sattel;
in einem blauen Mantel, der sie umgab, hielt sie ein Wochenkind, das
sie an ihre Brust drückte und mit unbeschreiblicher Lieblichkeit
betrachtete.  Dem Führer ging's wie den Kindern: er stutzte einen
Augenblick, als er Wilhelmen erblickte.  Das Tier verzögerte seinen
Schritt, aber der Abstieg war zu jäh, die Vorüberziehenden konnten
nicht anhalten, und Wilhelm sah sie mit Verwunderung hinter der
vorstehenden Felswand verschwinden.

Nichts war natürlicher, als daß ihn dieses seltsame Gesicht aus
seinen Betrachtungen riß.  Neugierig stand er auf und blickte von
seiner Stelle nach der Tiefe hin, ob er sie nicht irgend wieder
hervorkommen sähe.  Und eben war er im Begriff, hinabzusteigen und
diese sonderbaren Wandrer zu begrüßen, als Felix heraufkam und sagte:
"Vater, darf ich nicht mit diesen Kindern in ihr Haus?  Sie wollen
mich mitnehmen.  Du sollst auch mitgehen, hat der Mann zu mir gesagt.
Komm! dort unten halten sie."

"Ich will mit ihnen reden", versetzte Wilhelm.

Er fand sich auf einer Stelle, wo der Weg weniger abhängig war, und
verschlang mit den Augen die wunderlichen Bilder, die seine
Aufmerksamkeit so sehr an sich gezogen hatten.  Erst jetzt war es ihm
möglich, noch einen und den andern besondern Umstand zu bemerken.  Der
junge, rüstige Mann hatte wirklich eine Polieraxt auf der Schulter
und ein langes, schwankes eisernes Winkelmaß.  Die Kinder trugen
große Schilfbüschel, als wenn es Palmen wären; und wenn sie von
dieser Seite den Engeln glichen, so schleppten sie auch wieder kleine
Körbchen mit Eßwaren und glichen dadurch den täglichen Boten, wie sie
über das Gebirg hin und her zu gehen pflegen.  Auch hatte die Mutter,
als er sie näher betrachtete, unter dem blauen Mantel ein rötliches,
zart gefärbtes Unterkleid, so daß unser Freund die Flucht nach
Ägypten, die er so oft gemalt gesehen, mit Verwunderung hier vor
seinen Augen wirklich finden mußte.

Man begrüßte sich, und indem Wilhelm vor Erstaunen und
Aufmerksamkeit nicht zu Wort kommen konnte, sagte der junge Mann:
"Unsere Kinder haben in diesem Augenblicke schon Freundschaft gemacht.
Wollt Ihr mit uns, um zu sehen, ob auch zwischen den Erwachsenen ein
gutes Verhältnis entstehen könne?"

Wilhelm bedachte sich ein wenig und versetzte dann: "Der Anblick
eures kleinen Familienzuges erregt Vertrauen und Neigung und, daß
ich's nur gleich gestehe, ebensowohl Neugierde und ein lebhaftes
Verlangen, euch näher kennen zu lernen.  Denn im ersten Augenblicke
möchte man bei sich die Frage aufwerfen, ob ihr wirkliche Wanderer
oder ob ihr nur Geister seid, die sich ein Vergnügen daraus machen,
dieses unwirtbare Gebirg durch angenehme Erscheinungen zu beleben."

"So kommt mit in unsere Wohnung", sagte jener.  "Kommt mit!" riefen
die Kinder, indem sie den Felix schon mit sich fortzogen.  "Kommt mit!"
sagte die Frau, indem sie ihre liebenswürdige Freundlichkeit von
dem Säugling ab auf den Fremdling wendete.

Ohne sich zu bedenken, sagte Wilhelm: "Es tut mir leid, daß ich euch
nicht sogleich folgen kann.  Wenigstens diese Nacht noch muß ich oben
auf dem Grenzhause zubringen.  Mein Mantelsack, meine Papiere, alles
liegt noch oben, ungepackt und unbesorgt.  Damit ich aber Wunsch und
Willen beweise, eurer freundlichen Einladung genugzutun, so gebe ich
euch meinen Felix zum Pfande mit.  Morgen bin ich bei euch.  Wie weit
ist's hin?"

"Vor Sonnenuntergang erreichen wir noch unsere Wohnung", sagte der
Zimmermann, "und von dem Grenzhause habt Ihr nur noch anderthalb
Stunden.  Euer Knabe vermehrt unsern Haushalt für diese Nacht; morgen
erwarten wir Euch."

Der Mann und das Tier setzten sich in Bewegung.  Wilhelm sah seinen
Felix mit Behagen in so guter Gesellschaft, er konnte ihn mit den
lieben Engelein vergleichen, gegen die er kräftig abstach.  Für seine
Jahre war er nicht groß, aber stämmig, von breiter Brust und
kräftigen Schultern; in seiner Natur war ein eigenes Gemisch von
Herrschen und Dienen; er hatte schon einen Palmzweig und ein Körbchen
ergriffen, womit er beides auszusprechen schien.  Schon drohte der Zug
abermals um eine Felswand zu verschwinden, als sich Wilhelm
zusammennahm und nachrief: "Wie soll ich euch aber erfragen?"

"Fragt nur nach Sankt Joseph!" erscholl es aus der Tiefe, und die
ganze Erscheinung war hinter den blauen Schattenwänden verschwunden.
Ein frommer, mehrstimmiger Gesang tönte verhallend aus der Ferne, und
Wilhelm glaubte die Stimme seines Felix zu unterscheiden.

Er stieg aufwärts und verspätete sich dadurch den Sonnenuntergang.
Das himmlische Gestirn, das er mehr denn einmal verloren hatte,
erleuchtete ihn wieder, als er höher trat, und noch war es Tag, als
er an seiner Herberge anlangte.  Nochmals erfreute er sich der großen
Gebirgsansicht und zog sich sodann auf sein Zimmer zurück, wo er
sogleich die Feder ergriff und einen Teil der Nacht mit Schreiben
zubrachte.

Wilhelm an Natalien

Nun ist endlich die Höhe erreicht, die Höhe des Gebirgs, das eine
mächtigere Trennung zwischen uns setzen wird als der ganze Landraum
bisher.  Für mein Gefühl ist man noch immer in der Nähe seiner Lieben,
solange die Ströme von uns zu ihnen laufen.  Heute kann ich mir noch
einbilden, der Zweig, den ich in den Waldbach werfe, könnte füglich zu
ihr hinabschwimmen, könnte in wenigen Tagen vor ihrem Garten landen;
und so sendet unser Geist seine Bilder, das Herz seine Gefühle
bequemer abwärts.  Aber drüben, fürchte ich, stellt sich eine
Scheidewand der Einbildungskraft und der Empfindung entgegen.  Doch
ist das vielleicht nur eine voreilige Besorglichkeit: denn es wird
wohl auch drüben nicht anders sein als hier.  Was könnte mich von dir
scheiden! von dir, der ich auf ewig geeignet bin, wenngleich ein
wundersames Geschick mich von dir trennt und mir den Himmel, dem ich
so nahe stand, unerwartet zuschließt.  Ich hatte Zeit, mich zu fassen,
und doch hätte keine Zeit hingereicht, mir diese Fassung zu geben,
hätte ich sie nicht aus deinem Munde gewonnen, von deinen Lippen in
jenem entscheidenden Moment.  Wie hätte ich mich losreißen können,
wenn der dauerhafte Faden nicht gesponnen wäre, der uns für die Zeit
und für die Ewigkeit verbinden soll.  Doch ich darf ja von allem dem
nicht reden.  Deine zarten Gebote will ich nicht übertreten; auf
diesem Gipfel sei es das letztemal, daß ich das Wort Trennung vor dir
ausspreche.  Mein Leben soll eine Wanderschaft werden.  Sonderbare
Pflichten des Wanderers habe ich auszuüben und ganz eigene Prüfungen
zu bestehen.  Wie lächle ich manchmal, wenn ich die Bedingungen
durchlese, die mir der Verein, die ich mir selbst vorschrieb!  Manches
wird gehalten, manches übertreten; aber selbst bei der übertretung
dient mir dies Blatt, dieses Zeugnis von meiner letzten Beichte,
meiner letzten Absolution statt eines gebietenden Gewissens, und ich
lenke wieder ein.  Ich hüte mich, und meine Fehler stürzen sich nicht
mehr wie Gebirgswasser einer über den andern.

Doch will ich dir gern gestehen, daß ich oft diejenigen Lehrer und
Menschenführer bewundere, die ihren Schülern nur äußere, mechanische
Pflichten auflegen.  Sie machen sich's und der Welt leicht.  Denn
gerade diesen Teil meiner Verbindlichkeiten, der mir erst der
beschwerlichste, der wunderlichste schien, diesen beobachte ich am
bequemsten, am liebsten.

Nicht über drei Tage soll ich unter einem Dache bleiben.  Keine
Herberge soll ich verlassen, ohne daß ich mich wenigstens eine Meile
von ihr entferne.  Diese Gebote sind wahrhaft geeignet, meine Jahre
zu Wanderjahren zu machen und zu verhindern, daß auch nicht die
geringste Versuchung des Ansiedelns bei mir sich finde.  Dieser
Bedingung habe ich mich bisher genau unterworfen, ja mich der
gegebenen Erlaubnis nicht einmal bedient.  Hier ist eigentlich das
erstemal, daß ich stillhalte, das erstemal, daß ich die dritte Nacht
in demselben Bette schlafe.  Von hier sende ich dir manches bisher
Vernommene, Beobachtete, Gesparte, und dann geht es morgen früh auf
der andern Seite hinab, fürerst zu einer wunderbaren Familie, zu einer
heiligen Familie möchte ich wohl sagen, von der du in meinem
Tagebuche mehr finden wirst.  Jetzt lebe wohl und lege dieses Blatt
mit dem Gefühl aus der Hand, daß es nur eins zu sagen habe, nur eines
sagen und immer wiederholen möchte, aber es nicht sagen, nicht
wiederholen will, bis ich das Glück habe, wieder zu deinen Füßen zu
liegen und auf deinen Händen mich über alle das Entbehren auszuweinen.



Morgens.

Es ist eingepackt.  Der Bote schnürt den Mantelsack auf das Reff.
Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, die Nebel dampfen aus allen
Gründen; aber der obere Himmel ist heiter.  Wir steigen in die
düstere Tiefe hinab, die sich auch bald über unserm Haupte erhellen
wird.  Laß mich mein letztes Ach zu dir hinübersenden!  Laß meinen
letzten Blick zu dir sich noch mit einer unwillkürlichen Träne füllen!
Ich bin entschieden und entschlossen.  Du sollst keine Klagen mehr
von mir hören; du sollst nur hören, was dem Wanderer begegnet.  Und
doch kreuzen sich, indem ich schließen will, nochmals tausend
Gedanken, Wünsche, Hoffnungen und Vorsätze.  Glücklicherweise treibt
man mich hinweg.  Der Bote ruft, und der Wirt räumt schon wieder auf
in meiner Gegenwart, eben als wenn ich hinweg wäre, wie gefühllose,
unvorsichtige Erben vor dem Abscheidenden die Anstalten, sich in
Besitz zu setzen, nicht verbergen.



Zweites Kapitel



Sankt Joseph der Zweite

Schon hatte der Wanderer, seinem Boten auf dem Fuße folgend, steile
Felsen hinter und über sich gelassen, schon durchstrichen sie ein
sanfteres Mittelgebirg und eilten durch manchen wohlbestandnen Wald,
durch manchen freundlichen Wiesengrund immer vorwärts, bis sie sich
endlich an einem Abhange befanden und in ein sorgfältig bebautes, von
Hügeln rings umschlossenes Tal hinabschauten.  Ein großes, halb in
Trümmern liegendes, halb wohlerhaltenes Klostergebäude zog sogleich
die Aufmerksamkeit an sich.  "Dies ist Sankt Joseph", sagte der Bote;
"jammerschade für die schöne Kirche!  Seht nur, wie ihre Säulen und
Pfeiler durch Gebüsch und Bäume noch so wohlerhalten durchsehen, ob
sie gleich schon viele hundert Jahre im Schutt liegt."

"Die Klostergebäude hingegen", versetzte Wilhelm, "sehe ich, sind
noch wohl erhalten."--"Ja", sagte der andere, "es wohnt ein Schaffner
daselbst, der die Wirtschaft besorgt, die Zinsen und Zehnten einnimmt,
welche man weit und breit hierher zu zahlen hat."

Unter diesen Worten waren sie durch das offene Tor in den geräumigen
Hof gelangt, der, von ernsthaften, wohlerhaltenen Gebäuden umgeben,
sich als Aufenthalt einer ruhigen Sammlung ankündigte.  Seinen Felix
mit den Engeln von gestern sah er sogleich beschäftigt um einen
Tragkorb, den eine rüstige Frau vor sich gestellt hatte; sie waren im
Begriff, Kirschen zu handeln; eigentlich aber feilschte Felix, der
immer etwas Geld bei sich führte.  Nun machte er sogleich als Gast
den Wirt, spendete reichliche Früchte an seine Gespielen, selbst dem
Vater war die Erquickung angenehm, mitten in diesen unfruchtbaren
Mooswäldern, wo die farbigen, glänzenden Früchte noch einmal so schön
erschienen.  Sie trage solche weit herauf aus einem großen Garten,
bemerkte die Verkäuferin, um den Preis annehmlich zu machen, der den
Käufern etwas zu hoch geschienen hatte.  Der Vater werde bald
zurückkommen, sagten die Kinder, er solle nur einstweilen in den Saal
gehen und dort ausruhen.

Wie verwundert war jedoch Wilhelm, als die Kinder ihn zu dem Raume
führten, den sie den Saal nannten.  Gleich aus dem Hofe ging es zu
einer großen Tür hinein, und unser Wanderer fand sich in einer sehr
reinlichen, wohlerhaltenen Kapelle, die aber, wie er wohl sah, zum
häuslichen Gebrauch des täglichen Lebens eingerichtet war.  An der
einen Seite stand ein Tisch, ein Sessel, mehrere Stühle und Bänke, an
der andern Seite ein wohlgeschnitztes Gerüst mit bunter Töpferware,
Krügen und Gläsern.  Es fehlte nicht an einigen Truhen und Kisten und,
so ordentlich alles war, doch nicht an dem Einladenden des häuslichen,
täglichen Lebens.  Das Licht fiel von hohen Fenstern an der Seite
herein.  Was aber die Aufmerksamkeit des Wanderers am meisten erregte,
waren farbige, auf die Wand gemalte Bilder, die unter den Fenstern
in ziemlicher Höhe, wie Teppiche, um drei Teile der Kapelle
herumreichten und bis auf ein Getäfel herabgingen, das die übrige
Wand bis zur Erde bedeckte.  Die Gemälde stellten die Geschichte des
heiligen Joseph vor.  Hier sah man ihn mit einer Zimmerarbeit
beschäftigt; hier begegnete er Marien, und eine Lilie sproßte zwischen
beiden aus dem Boden, indem einige Engel sie lauschend umschwebten.
Hier wird er getraut; es folgt der englische Gruß.  Hier sitzt er
mißmutig zwischen angefangener Arbeit, läßt die Axt ruhen und sinnt
darauf, seine Gattin zu verlassen.  Zunächst erscheint ihm aber der
Engel im Traum, und seine Lage ändert sich.  Mit Andacht betrachtet er
das neugeborene Kind im Stalle zu Bethlehem und betet es an.  Bald
darauf folgt ein wundersam schönes Bild.  Man sieht mancherlei Holz
gezimmert; eben soll es zusammengesetzt werden, und zufälligerweise
bilden ein paar Stücke ein Kreuz.  Das Kind ist auf dem Kreuze
eingeschlafen, die Mutter sitzt daneben und betrachtet es mit inniger
Liebe, und der Pflegevater hält mit der Arbeit inne, um den Schlaf
nicht zu stören.  Gleich darauf folgt die Flucht nach Ägypten.  Sie
erregte bei dem beschauenden Wanderer ein Lächeln, indem er die
Wiederholung des gestrigen lebendigen Bildes hier an der Wand sah.

Nicht lange war er seinen Betrachtungen überlassen, so trat der Wirt
herein, den er sogleich als den Führer der heiligen Karawane
wiedererkannte.  Sie begrüßten sich aufs herzlichste, mancherlei
Gespräche folgten; doch Wilhelms Aufmerksamkeit blieb auf die Gemälde
gerichtet.  Der Wirt merkte das Interesse seines Gastes und fing
lächelnd an: "Gewiß, Ihr bewundert die übereinstimmung dieses
Gebäudes mit seinen Bewohnern, die Ihr gestern kennenlerntet.  Sie
ist aber vielleicht noch sonderbarer, als man vermuten sollte: das
Gebäude hat eigentlich die Bewohner gemacht.  Denn wenn das Leblose
lebendig ist, so kann es auch wohl Lebendiges hervorbringen."

"O ja!" versetzte Wilhelm.  "Es sollte mich wundern, wenn der Geist,
der vor Jahrhunderten in dieser Bergöde so gewaltig wirkte und einen
so mächtigen Körper von Gebäuden, Besitzungen und Rechten an sich zog
und dafür mannigfaltige Bildung in der Gegend verbreitete, es sollte
mich wundern, wenn er nicht auch aus diesen Trümmern noch seine
Lebenskraft auf ein lebendiges Wesen ausübte.  Laßt uns jedoch nicht
im Allgemeinen verharren, macht mich mit Eurer Geschichte bekannt,
damit ich erfahre, wie es möglich war, daß ohne Spielerei und
Anmaßung die Vergangenheit sich wieder in Euch darstellt und das, was
vorüberging, abermals herantritt."

Eben als Wilhelm belehrende Antwort von den Lippen seines Wirtes
erwartete, rief eine freundliche Stimme im Hofe den Namen Joseph.
Der Wirt hörte darauf und ging nach der Tür.

"Also heißt er auch Joseph!" sagte Wilhelm zu sich selbst.  "Das ist
doch sonderbar genug und doch eben nicht so sonderbar, als daß er
seinen Heiligen im Leben darstellt."  Er blickte zu gleicher Zeit
nach der Türe und sah die Mutter Gottes von gestern mit dem Manne
sprechen.  Sie trennten sich endlich: die Frau ging nach der
gegenüberstehenden Wohnung.  "Marie!" rief er ihr nach, "nur noch ein
Wort!"--"Also heißt sie auch Marie!" dachte Wilhelm; "es fehlt nicht
viel, so fühle ich mich achtzehnhundert Jahre zurückversetzt."  Er
dachte sich das ernsthaft eingeschlossene Tal, in dem er sich befand,
die Trümmer und die Stille, und eine wundersam altertümliche Stimmung
überfiel ihn.  Es war Zeit, daß der Wirt und die Kinder hereintraten.
Die letzteren forderten Wilhelm zu einem Spaziergange auf, indes der
Wirt noch einigen Geschäften vorstehen wollte.  Nun ging es durch die
Ruinen des säulenreichen Kirchengebäudes, dessen hohe Giebel und
Wände sich in Wind und Wetter zu befestigen schienen, indessen sich
starke Bäume von alters her auf den breiten Mauerrücken eingewurzelt
hatten und in Gesellschaft von mancherlei Gras, Blumen und Moos kühn
in der Luft hängende Gärten vorstellten.  Sanfte Wiesenpfade führten
einen lebhaften Bach hinan, und von einiger Höhe konnte der Wanderer
nun das Gebäude nebst seiner Lage mit so mehr Interesse überschauen,
als ihm dessen Bewohner immer merkwürdiger geworden und durch die
Harmonie mit ihrer Umgebung seine lebhafte Neugier erregt hatten.

Man kehrte zurück und fand in dem frommen Saal einen Tisch gedeckt.
Obenan stand ein Lehnsessel, in den sich die Hausfrau niederließ.
Neben sich hatte sie einen hohen Korb stehen, in welchem das kleine
Kind lag; den Vater sodann zur linken Hand und Wilhelm zur rechten.
Die drei Kinder besetzten den untern Raum des Tisches.  Eine alte Magd
brachte ein wohlzubereitetes Essen.  Speise--und Trinkgeschirr
deuteten gleichfalls auf vergangene Zeit.  Die Kinder gaben Anlaß zur
Unterhaltung, indessen Wilhelm die Gestalt und das Betragen seiner
heiligen Wirtin nicht genugsam beobachten konnte.

Nach Tische zerstreute sich die Gesellschaft; der Wirt führte seinen
Gast an eine schattige Stelle der Ruine, wo man von einem erhöhten
Platze die angenehme Aussicht das Tal hinab vollkommen vor sich hatte
und die Berghöhen des untern Landes mit ihren fruchtbaren Abhängen
und waldigen Rücken hintereinander hinausgeschoben sah.  "Es ist
billig", sagte der Wirt, "daß ich Ihre Neugierde befriedige, um so
mehr, als ich an Ihnen fühle, daß Sie imstande sind, auch das
Wunderliche ernsthaft zu nehmen, wenn es auf einem ernsten Grunde
beruht.  Diese geistliche Anstalt, von der Sie noch die Reste sehen,
war der heiligen Familie gewidmet und vor alters als Wallfahrt wegen
mancher Wunder berühmt.  Die Kirche war der Mutter und dem Sohne
geweiht.  Sie ist schon seit mehreren Jahrhunderten zerstört.  Die
Kapelle, dem heiligen Pflegevater gewidmet, hat sich erhalten, so auch
der brauchbare Teil der Klostergebäude.  Die Einkünfte bezieht schon
seit geraumen Jahren ein weltlicher Fürst, der seinen Schaffner hier
oben hält, und der bin ich, Sohn des vorigen Schaffners, der
gleichfalls seinem Vater in dieser Stelle nachfolgte.

Der heilige Joseph, obgleich jede kirchliche Verehrung hier oben
lange aufgehört hatte, war gegen unsere Familie so wohltätig gewesen,
daß man sich nicht verwundern darf, wenn man sich besonders gut gegen
ihn gesinnt fühlte; und daher kam es, daß man mich in der Taufe
Joseph nannte und dadurch gewissermaßen meine Lebensweise bestimmte.
Ich wuchs heran, und wenn ich mich zu meinem Vater gesellte, indem er
die Einnahmen besorgte, so schloß ich mich ebenso gern, ja noch
lieber an meine Mutter an, welche nach Vermögen gern ausspendete und
durch ihren guten Willen und durch ihre Wohltaten im ganzen Gebirge
bekannt und geliebt war.  Sie schickte mich bald da-, bald dorthin,
bald zu bringen, bald zu bestellen, bald zu besorgen, und ich fand
mich sehr leicht in diese Art von frommem Gewerbe.

überhaupt hat das Gebirgsleben etwas Menschlicheres als das Leben
auf dem flachen Lande.  Die Bewohner sind einander näher und, wenn
man will, auch ferner; die Bedürfnisse geringer, aber dringender.
Der Mensch ist mehr auf sich gestellt, seinen Händen, seinen Füßen
muß er vertrauen lernen.  Der Arbeiter, der Bote, der Lastträger, alle
vereinigen sich in einer Person; auch steht jeder dem andern näher,
begegnet ihm öfter und lebt mit ihm in einem gemeinsamen Treiben.

Da ich noch jung war und meine Schultern nicht viel zu schleppen
vermochten, fiel ich darauf, einen kleinen Esel mit Körben zu
versehen und vor mir her die steilen Fußpfade hinauf und hinab zu
treiben.  Der Esel ist im Gebirg kein so verächtlich Tier als im
flachen Lande, wo der Knecht, der mit Pferden pflügt, sich für besser
hält als den andern, der den Acker mit Ochsen umreißt.  Und ich ging
um so mehr ohne Bedenken hinter meinem Tiere her, als ich in der
Kapelle früh bemerkt hatte, daß es zur Ehre gelangt war, Gott und
seine Mutter zu tragen.  Doch war diese Kapelle damals nicht in dem
Zustande, in welchem sie sich gegenwärtig befindet.  Sie ward als ein
Schuppen, ja fast wie ein Stall behandelt.  Brennholz, Stangen,
Gerätschaften, Tonnen und Leitern, und was man nur wollte, war
übereinander geschoben.  Glücklicherweise, daß die Gemälde so hoch
stehen und die Täfelung etwas aushält.  Aber schon als Kind erfreute
ich mich besonders, über alles das Gehölz hin und her zu klettern und
die Bilder zu betrachten, die mir niemand recht auslegen konnte.
Genug, ich wußte, daß der Heilige, dessen Leben oben gezeichnet war,
mein Pate sei, und ich erfreute mich an ihm, als ob er mein Onkel
gewesen wäre.  Ich wuchs heran, und weil es eine besondere Bedingung
war, daß der, welcher an das einträgliche Schaffneramt Anspruch
machen wollte, ein Handwerk ausüben mußte, so sollte ich, dem Willen
meiner Eltern gemäß, welche wünschten, daß künftig diese gute Pfründe
auf mich erben möchte, ein Handwerk lernen, und zwar ein solches, das
zugleich hier oben in der Wirtschaft nützlich wäre.

Mein Vater war Bötticher und schaffte alles, was von dieser Arbeit
nötig war, selbst, woraus ihm und dem Ganzen großer Vorteil erwuchs.
Allein ich konnte mich nicht entschließen, ihm darin nachzufolgen.
Mein Verlangen zog mich unwiderstehlich nach dem Zimmerhandwerke,
wovon ich das Arbeitszeug so umständlich und genau, von Jugend auf,
neben meinem Heiligen gemalt gesehen.  Ich erklärte meinen Wunsch;
man war mir nicht entgegen, um so weniger, als bei so mancherlei
Baulichkeiten der Zimmermann oft von uns in Anspruch genommen ward,
ja bei einigem Geschick und Liebe zu feinerer Arbeit, besonders in
Waldgegenden, die Tischler--und sogar die Schnitzerkünste ganz nahe
liegen.  Und was mich noch mehr in meinen höheren Aussichten
bestärkte, war jenes Gemälde, das leider nunmehr fast ganz verloschen
ist.  Sobald Sie wissen, was es vorstellen soll, so werden Sie sich's
entziffern können, wenn ich Sie nachher davor führe.  Dem heiligen
Joseph war nichts Geringeres aufgetragen, als einen Thron für den
König Herodes zu machen.  Zwischen zwei gegebenen Säulen soll der
Prachtsitz aufgeführt werden.  Joseph nimmt sorgfältig das Maß von
Breite und Höhe und arbeitet einen köstlichen Königsthron.  Aber wie
erstaunt ist er, wie verlegen, als er den Prachtsessel herbeischafft:
er findet sich zu hoch und nicht breit genug.  Mit König Herodes war,
wie bekannt, nicht zu spaßen; der fromme Zimmermeister ist in der
größten Verlegenheit.  Das Christkind, gewohnt, ihn überallhin zu
begleiten, ihm in kindlich demütigem Spiel die Werkzeuge nachzutragen,
bemerkt seine Not und ist gleich mit Rat und Tat bei der Hand.  Das
Wunderkind verlangt vom Pflegevater, er solle den Thron an der einen
Seite fassen; es greift in die andere Seite des Schnitzwerks, und
beide fangen an zu ziehen.  Sehr leicht und bequem, als wär' er von
Leder, zieht sich der Thron in die Breite, verliert verhältnismäßig
an der Höhe und paßt ganz vortrefflich an Ort und Stelle, zum größten
Troste des beruhigten Meisters und zur vollkommenen Zufriedenheit des
Königs.

Jener Thron war in meiner Jugend noch recht gut zu sehen, und an den
Resten der einen Seite werden Sie bemerken können, daß am Schnitzwerk
nichts gespart war, das freilich dem Maler leichter fallen mußte, als
es dem Zimmermann gewesen wäre, wenn man es von ihm verlangt hätte.

Hieraus zog ich aber keine Bedenklichkeit, sondern ich erblickte das
Handwerk, dem ich mich gewidmet hatte, in einem so ehrenvollen Lichte,
daß ich nicht erwarten konnte, bis man mich in die Lehre tat;
welches um so leichter auszuführen war, als in der Nachbarschaft ein
Meister wohnte, der für die ganze Gegend arbeitete und mehrere
Gesellen und Lehrburschen beschäftigen konnte.  Ich blieb also in der
Nähe meiner Eltern und setzte gewissermaßen mein voriges Leben fort,
indem ich Feierstunden und Feiertage zu den wohltätigen Botschaften,
die mir meine Mutter aufzutragen fortfuhr, verwendete."



Die Heimsuchung

"So vergingen einige Jahre", fuhr der Erzähler fort.  "Ich begriff
die Vorteile des Handwerks sehr bald, und mein Körper, durch Arbeit
ausgebildet, war imstande, alles zu übernehmen, was dabei gefordert
wurde.  Nebenher versah ich meinen alten Dienst, den ich der guten
Mutter, oder vielmehr Kranken und Notdürftigen leistete.  Ich zog mit
meinem Tier durchs Gebirg, verteilte die Ladung pünktlich und nahm
von Krämern und Kaufleuten rückwärts mit, was uns hier oben fehlte.
Mein Meister war zufrieden mit mir und meine Eltern auch.  Schon
hatte ich das Vergnügen, auf meinen Wanderungen manches Haus zu sehen,
das ich mit aufgeführt, das ich verziert hatte.  Denn besonders
dieses letzte Einkerben der Balken, dieses Einschneiden von gewissen
einfachen Formen, dieses Einbrennen zierender Figuren, dieses
Rotmalen einiger Vertiefungen, wodurch ein hölzernes Berghaus den so
lustigen Anblick gewährt, solche Künste waren mir besonders
übertragen, weil ich mich am besten aus der Sache zog, der ich immer
den Thron Herodes' und seine Zieraten im Sinne hatte.

Unter den hilfsbedürftigen Personen, für die meine Mutter eine
vorzügliche Sorge trug, standen besonders junge Frauen obenan, die
sich guter Hoffnung befanden, wie ich nach und nach wohl bemerken
konnte, ob man schon in solchen Fällen die Botschaften gegen mich
geheimnisvoll zu behandeln pflegte.  Ich hatte dabei niemals einen
unmittelbaren Auftrag, sondern alles ging durch ein gutes Weib,
welche nicht fern das Tal hinab wohnte und Frau Elisabeth genannt
wurde.  Meine Mutter, selbst in der Kunst erfahren, die so manchen
gleich beim Eintritt in das Leben zum Leben rettet, stand mit Frau
Elisabeth in fortdauernd gutem Vernehmen, und ich mußte oft von allen
Seiten hören, daß mancher unserer rüstigen Bergbewohner diesen beiden
Frauen sein Dasein zu danken habe.  Das Geheimnis, womit mich
Elisabeth jederzeit empfing, die bündigen Antworten auf meine
rätselhaften Fragen, die ich selbst nicht verstand, erregten mir
sonderbare Ehrfurcht für sie, und ihr Haus, das höchst reinlich war,
schien mir eine Art von kleinem Heiligtume vorzustellen.

Indessen hatte ich durch meine Kenntnisse und Handwerkstätigkeit in
der Familie ziemlichen Einfluß gewonnen.  Wie mein Vater als
Bötticher für den Keller gesorgt hatte, so sorgte ich nun für Dach
und Fach und verbesserte manchen schadhaften Teil der alten Gebäude.
Besonders wußte ich einige verfallene Scheuern und Remisen für den
häuslichen Gebrauch wieder nutzbar zu machen; und kaum war dieses
geschehen, als ich meine geliebte Kapelle zu räumen und zu reinigen
anfing.  In wenigen Tagen war sie in Ordnung, fast wie Ihr sie sehet;
wobei ich mich bemühte, die fehlenden oder beschädigten Teile des
Täfelwerks dem Ganzen gleich wiederherzustellen.  Auch solltet Ihr
diese Flügeltüren des Eingangs wohl für alt genug halten; sie sind
aber von meiner Arbeit.  Ich habe mehrere Jahre zugebracht, sie in
ruhigen Stunden zu schnitzen, nachdem ich sie vorher aus starken
eichenen Bohlen im ganzen tüchtig zusammengefügt hatte.  Was bis zu
dieser Zeit von Gemälden nicht beschädigt oder verloschen war, hat
sich auch noch erhalten, und ich half dem Glasmeister bei einem neuen
Bau, mit der Bedingung, daß er bunte Fenster herstellte.

Hatten jene Bilder und die Gedanken an das Leben des Heiligen meine
Einbildungskraft beschäftigt, so drückte sich das alles nur viel
lebhafter bei mir ein, als ich den Raum wieder für ein Heiligtum
ansehen, darin, besonders zur Sommerszeit, verweilen und über das,
was ich sah oder vermutete, mit Muße nachdenken konnte.  Es lag eine
unwiderstehliche Neigung in mir, diesem Heiligen nachzufolgen; und da
sich ähnliche Begebenheiten nicht leicht herbeirufen ließen, so
wollte ich wenigstens von unten auf anfangen, ihm zu gleichen: wie ich
denn wirklich durch den Gebrauch des lastbaren Tiers schon lange
begonnen hatte.  Das kleine Geschöpf, dessen ich mich bisher bedient,
wollte mir nicht mehr genügen; ich suchte mir einen viel
stattlicheren Träger aus, sorgte für einen wohlgebauten Sattel, der
zum Reiten wie zum Packen gleich bequem war.  Ein paar neue Körbe
wurden angeschafft, und ein Netz von bunten Schnüren, Flocken und
Quasten, mit klingenden Metallstiften untermischt, zierte den Hals
des langohrigen Geschöpfs, das sich nun bald neben seinem Musterbilde
an der Wand zeigen durfte.  Niemanden fiel ein, über mich zu spotten,
wenn ich in diesem Aufzuge durchs Gebirge kam: denn man erlaubt ja
gern der Wohltätigkeit eine wunderliche Außenseite.

Indessen hatte sich der Krieg, oder vielmehr die Folge desselben,
unserer Gegend genähert, indem verschiedenemal gefährliche Rotten von
verlaufenem Gesindel sich versammelten und hie und da manche
Gewalttätigkeit, manchen Mutwillen ausübten.  Durch die gute Anstalt
der Landmiliz, durch Streifungen und augenblickliche Wachsamkeit
wurde dem übel zwar bald gesteuert; doch verfiel man zu geschwind
wieder in Sorglosigkeit, und ehe man sich's versah, brachen wieder
neue übeltaten hervor.

Lange war es in unserer Gegend still gewesen, und ich zog mit meinem
Saumrosse ruhig die gewohnten Pfade, bis ich eines Tages über die
frisch besäte Waldblöße kam und an dem Rande des Hegegrabens eine
weibliche Gestalt sitzend oder vielmehr liegend fand.  Sie schien zu
schlafen oder ohnmächtig zu sein.  Ich bemühte mich um sie, und als
sie ihre schönen Augen aufschlug und sich in die Höhe richtete, rief
sie mit Lebhaftigkeit aus: "Wo ist er? habt Ihr ihn gesehen?"  Ich
fragte: "Wen?"  Sie versetzte: "Meinen Mann!"  Bei ihrem höchst
jugendlichen Ansehen war mir diese Antwort unerwartet; doch fuhr ich
nur um desto lieber fort, ihr beizustehen und sie meiner Teilnahme zu
versichern.  Ich vernahm, daß die beiden Reisenden sich wegen der
beschwerlichen Fuhrwege von ihrem Wagen entfernt gehabt, um einen
nähern Fußweg einzuschlagen.  In der Nähe seien sie von Bewaffneten
überfallen worden, ihr Mann habe sich fechtend entfernt, sie habe ihm
nicht weit folgen können und sei an dieser Stelle liegengeblieben,
sie wisse nicht wie lange.  Sie bitte mich inständig, sie zu
verlassen und ihrem Manne nachzueilen.  Sie richtete sich auf ihre
Füße, und die schönste, liebenswürdigste Gestalt stand vor mir; doch
konnte ich leicht bemerken, daß sie sich in einem Zustande befinde,
in welchem sie die Beihülfe meiner Mutter und der Frau Elisabeth wohl
bald bedürfen möchte.  Wir stritten uns eine Weile: denn ich
verlangte, sie erst in Sicherheit zu bringen; sie verlangte zuerst
Nachricht von ihrem Manne.  Sie wollte sich von seiner Spur nicht
entfernen, und alle meine Vorstellungen hätten vielleicht nicht
gefruchtet, wenn nicht eben ein Kommando unserer Miliz, welche durch
die Nachricht von neuen übeltaten rege geworden war, sich durch den
Wald her bewegt hätte.  Diese wurden unterrichtet, mit ihnen das
Nötige verabredet, der Ort des Zusammentreffens bestimmt und so für
diesmal die Sache geschlichtet.  Geschwind versteckte ich meine Körbe
in eine benachbarte Höhle, die mir schon öfters zur Niederlage gedient
hatte, richtete meinen Sattel zum bequemen Sitz und hob, nicht ohne
eine sonderbare Empfindung, die schöne Last auf mein williges Tier,
das die gewohnten Pfade sogleich von selbst zu finden wußte und mir
Gelegenheit gab, nebenher zu gehen.

Ihr denkt, ohne daß ich es weitläufig beschreibe, wie wunderlich mir
zumute war.  Was ich so lange gesucht, hatte ich wirklich gefunden.
Es war mir, als wenn ich träumte, und dann gleich wieder, als ob ich
aus einem Traume erwachte.  Diese himmlische Gestalt, wie ich sie
gleichsam in der Luft schweben und vor den grünen Bäumen sich her
bewegen sah, kam mir jetzt wie ein Traum vor, der durch jene Bilder
in der Kapelle sich in meiner Seele erzeugte.  Bald schienen mir jene
Bilder nur Träume gewesen zu sein, die sich hier in eine schöne
Wirklichkeit auflösten.  Ich fragte sie manches, sie antwortete mir
sanft und gefällig, wie es einer anständig Betrübten ziemt.  Oft bat
sie mich, wenn wir auf eine entblößte Höhe kamen, stillezuhalten,
mich umzusehen, zu horchen.  Sie bat mich mit solcher Anmut, mit
einem solchen tief wünschenden Blick unter ihren langen schwarzen
Augenwimpern hervor, daß ich alles tun mußte, was nur möglich war; ja
ich erkletterte eine freistehende, hohe, astlose Fichte.  Nie war mir
dieses Kunststück meines Handwerks willkommener gewesen; nie hatte
ich mit mehr Zufriedenheit von ähnlichen Gipfeln, bei Festen und
Jahrmärkten, Bänder und seidene Tücher heruntergeholt.  Doch kam ich
diesesmal leider ohne Ausbeute; auch oben sah und hörte ich nichts.
Endlich rief sie selbst mir, herabzukommen, und winkte gar lebhaft
mit der Hand; ja, als ich endlich beim Herabgleiten mich in
ziemlicher Höhe losließ und heruntersprang, tat sie einen Schrei, und
eine süße Freundlichkeit verbreitete sich über ihr Gesicht, da sie
mich unbeschädigt vor sich sah.

Was soll ich Euch lange von den hundert Aufmerksamkeiten unterhalten,
womit ich ihr den ganzen Weg über angenehm zu werden, sie zu
zerstreuen suchte.  Und wie könnte ich es auch! denn das ist eben die
Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, daß sie im Augenblick das
Nichts zu Allem macht.  Für mein Gefühl waren die Blumen, die ich ihr
brach, die fernen Gegenden, die ich ihr zeigte, die Berge, die Wälder,
die ich ihr nannte, so viel kostbare Schätze, die ich ihr zuzueignen
dachte, um mich mit ihr in Verhältnis zu setzen, wie man es durch
Geschenke zu tun sucht.

Schon hatte sie mich für das ganze Leben gewonnen, als wir in dem
Orte vor der Türe jener guten Frau anlangten und ich schon eine
schmerzliche Trennung vor mir sah.  Nochmals durchlief ich ihre ganze
Gestalt, und als meine Augen an den Fuß herabkamen, bückte ich mich,
als wenn ich etwas am Gurte zu tun hätte, und küßte den niedlichsten
Schuh, den ich in meinem Leben gesehen hatte, doch ohne daß sie es
merkte.  Ich half ihr herunter, sprang die Stufen hinauf und rief in
die Haustüre: "Frau Elisabeth, Ihr werdet heimgesucht!"  Die Gute trat
hervor, und ich sah ihr über die Schultern zum Hause hinaus, wie das
schöne Wesen die Stufen heraufstieg, mit anmutiger Trauer und
innerlichem Selbstgefühl, dann meine würdige Alte freundlich umarmte
und sich von ihr in das bessere Zimmer leiten ließ.  Sie schlossen
sich ein, und ich stand bei meinem Esel vor der Tür, wie einer, der
kostbare Waren abgeladen hat und wieder ein ebenso armer Treiber ist
als vorher."  Der Lilienstengel

"Ich zauderte noch, mich zu entfernen, denn ich war unschlüssig, was
ich tun sollte, als Frau Elisabeth unter die Türe trat und mich
ersuchte, meine Mutter zu ihr zu berufen, alsdann umherzugehen und wo
möglich von dem Manne Nachricht zu geben.  "Marie läßt Euch gar sehr
darum ersuchen", sagte sie.  "Kann ich sie nicht noch einmal selbst
sprechen?" versetzte ich.--"Das geht nicht an", sagte Frau Elisabeth,
und wir trennten uns.  In kurzer Zeit erreichte ich unsere Wohnung;
meine Mutter war bereit, noch diesen Abend hinabzugehen und der
jungen Fremden hülfreich zu sein.  Ich eilte nach dem Lande hinunter
und hoffte, bei dem Amtmann die sichersten Nachrichten zu erhalten.
Allein er war noch selbst in Ungewißheit, und weil er mich kannte,
hieß er mich die Nacht bei ihm verweilen.  Sie ward mir unendlich
lang, und immer hatte ich die schöne Gestalt vor Augen, wie sie auf
dem Tiere schwankte und so schmerzhaft freundlich zu mir heruntersah.
Jeden Augenblick hofft' ich auf Nachricht.  Ich gönnte und wünschte
dem guten Ehemann das Leben, und doch mochte ich sie mir so gern als
Witwe denken.  Das streifende Kommando fand sich nach und nach
zusammen, und nach mancherlei abwechselnden Gerüchten zeigte sich
endlich die Gewißheit, daß der Wagen gerettet, der unglückliche Gatte
aber an seinen Wunden in dem benachbarten Dorfe gestorben sei.  Auch
vernahm ich, daß nach der früheren Abrede einige gegangen waren,
diese Trauerbotschaft der Frau Elisabeth zu verkündigen.  Also hatte
ich dort nichts mehr zu tun noch zu leisten, und doch trieb mich eine
unendliche Ungeduld, ein unermeßliches Verlangen durch Berg und Wald
wieder vor ihre Türe.  Es war Nacht, das Haus verschlossen, ich sah
Licht in den Zimmern, ich sah Schatten sich an den Vorhängen bewegen,
und so saß ich gegenüber auf einer Bank, immer im Begriff anzuklopfen
und immer von mancherlei Betrachtungen zurückgehalten.

Jedoch was erzähl' ich umständlich weiter, was eigentlich kein
Interesse hat.  Genug, auch am folgenden Morgen nahm man mich nicht
ins Haus auf.  Man wußte die traurige Nachricht, man bedurfte meiner
nicht mehr; man schickte mich zu meinem Vater, an meine Arbeit; man
antwortete nicht auf meine Fragen; man wollte mich los sein.

Acht Tage hatte man es so mit mir getrieben, als mich endlich Frau
Elisabeth hereinrief.  "Tretet sachte auf, mein Freund", sagte sie,
"aber kommt getrost näher!"  Sie führte mich in ein reinliches Zimmer,
wo ich in der Ecke durch halbgeöffnete Bettvorhänge meine Schöne
aufrecht sitzen sah.  Frau Elisabeth trat zu ihr, gleichsam um mich
zu melden, hub etwas vom Bette auf und brachte mir's entgegen: in das
weißeste Zeug gewickelt den schönsten Knaben.  Frau Elisabeth hielt
ihn gerade zwischen mich und die Mutter, und auf der Stelle fiel mir
der Lilienstengel ein, der sich auf dem Bilde zwischen Maria und
Joseph als Zeuge eines reinen Verhältnisses aus der Erde hebt.  Von
dem Augenblicke an war mir aller Druck vom Herzen genommen; ich war
meiner Sache, ich war meines Glücks gewiß.  Ich konnte mit Freiheit
zu ihr treten, mit ihr sprechen, ihr himmlisches Auge ertragen, den
Knaben auf den Arm nehmen und ihm einen herzlichen Kuß auf die Stirn
drücken.

"Wie danke ich Euch für Eure Neigung zu diesem verwaisten Kinde!"
sagte die Mutter. --Unbedachtsam und lebhaft rief ich aus: "Es ist
keine Waise mehr, wenn Ihr wollt!"

Frau Elisabeth, klüger als ich, nahm mir das Kind ab und wußte mich
zu entfernen.

Noch immer dient mir das Andenken jener Zeit zur glücklichsten
Unterhaltung, wenn ich unsere Berge und Täler zu durchwandern
genötigt bin.  Noch weiß ich mir den kleinsten Umstand zurückzurufen,
womit ich Euch jedoch, wie billig, verschone.  Wochen gingen vorüber;
Maria hatte sich erholt, ich konnte sie öfter sehen, mein Umgang mit
ihr war eine Folge von Diensten und Aufmerksamkeiten.  Ihre
Familienverhältnisse erlaubten ihr einen Wohnort nach Belieben.  Erst
verweilte sie bei Frau Elisabeth; dann besuchte sie uns, meiner Mutter
und mir für so vielen und freundlichen Beistand zu danken.  Sie
gefiel sich bei uns, und ich schmeichelte mir, es geschehe zum Teil
um meinetwillen.  Was ich jedoch so gern gesagt hätte und nicht zu
sagen wagte, kam auf eine sonderbare und liebliche Weise zur Sprache,
als ich sie in die Kapelle führte, die ich schon damals zu einem
wohnbaren Saal umgeschaffen hatte.  Ich zeigte und erklärte ihr die
Bilder, eins nach dem andern, und entwickelte dabei die Pflichten
eines Pflegevaters auf eine so lebendige und herzliche Weise, daß ihr
die Tränen in die Augen traten und ich mit meiner Bilderdeutung nicht
zu Ende kommen konnte.  Ich glaubte ihrer Neigung gewiß zu sein, ob
ich gleich nicht stolz genug war, das Andenken ihres Mannes so
schnell auslöschen zu wollen.  Das Gesetz verpflichtet die Witwen zu
einem Trauerjahre, und gewiß ist eine solche Epoche, die den Wechsel
aller irdischen Dinge in sich begreift, einem fühlenden Herzen nötig,
um die schmerzlichen Eindrücke eines großen Verlustes zu mildern.
Man sieht die Blumen welken und die Blätter fallen, aber man sieht
auch Früchte reifen und neue Knospen keimen.  Das Leben gehört den
Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefaßt sein.

Ich sprach nun mit meiner Mutter über die Angelegenheit, die mir so
sehr am Herzen lag.  Sie entdeckte mir darauf, wie schmerzlich Marien
der Tod ihres Mannes gewesen und wie sie sich ganz allein durch den
Gedanken, daß sie für das Kind leben müsse, wieder aufgerichtet habe.
Meine Neigung war den Frauen nicht unbekannt geblieben, und schon
hatte sich Marie an die Vorstellung gewöhnt, mit uns zu leben.  Sie
verweilte noch eine Zeitlang in der Nachbarschaft; dann zog sie zu
uns herauf, und wir lebten noch eine Weile in dem frömmsten und
glücklichsten Brautstande.  Endlich verbanden wir uns.  Jenes erste
Gefühl, das uns zusammengeführt hatte, verlor sich nicht.  Die
Pflichten und Freuden des Pflegevaters und Vaters vereinigten sich;
und so überschritt zwar unsere kleine Familie, indem sie sich
vermehrte, ihr Vorbild an Zahl der Personen, aber die Tugenden jenes
Musterbildes an Treue und Reinheit der Gesinnungen wurden von uns
heilig bewahrt und geübt.  Und so erhalten wir auch mit freundlicher
Gewohnheit den äußern Schein, zu dem wir zufällig gelangt und der so
gut zu unserm Innern paßt: denn ob wir gleich alle gute Fußgänger und
rüstige Träger sind, so bleibt das lastbare Tier doch immer in
unserer Gesellschaft, um eine oder die andere Bürde fortzubringen,
wenn uns ein Geschäft oder Besuch durch diese Berge und Täler nötigt.
Wie Ihr uns gestern angetroffen habt, so kennt uns die ganze Gegend,
und wir sind stolz darauf, daß unser Wandel von der Art ist, um jenen
heiligen Namen und Gestalten, zu deren Nachahmung wir uns bekennen,
keine Schande zu machen."



Drittes Kapitel



Wilhelm an Natalien

Soeben schließe ich eine angenehme, halb wunderbare Geschichte, die
ich für dich aus dem Munde eines gar wackern Mannes aufgeschrieben
habe.  Wenn es nicht ganz seine Worte sind, wenn ich hie und da meine
Gesinnungen bei Gelegenheit der seinigen ausgedrückt habe, so war es
bei der Verwandtschaft, die ich hier mit ihm fühlte, ganz natürlich.
Jene Verehrung seines Weibes, gleicht sie nicht derjenigen, die ich
für dich empfinde? und hat nicht selbst das Zusammentreffen dieser
beiden Liebenden etwas ähnliches mit dem unsrigen?  Daß er aber
glücklich genug ist, neben dem Tiere herzugehen, das die doppelt
schöne Bürde trägt, daß er mit seinem Familienzug abends in das alte
Klostertor eindringen kann, daß er unzertrennlich von seiner
Geliebten, von den Seinigen ist, darüber darf ich ihn wohl im stillen
beneiden.  Dagegen darf ich nicht einmal mein Schicksal beklagen, weil
ich dir zugesagt habe, zu schweigen und zu dulden, wie du es auch
übernommen hast.

Gar manchen schönen Zug des Zusammenseins dieser frommen und heitern
Menschen muß ich übergehen: denn wie ließe sich alles schreiben!
Einige Tage sind mir angenehm vergangen, aber der dritte mahnt mich
nun, auf meinen weitern Weg bedacht zu sein.

Mit Felix hatte ich heut einen kleinen Handel: denn er wollte fast
mich nötigen, einen meiner guten Vorsätze zu übertreten, die ich dir
angelobt habe.  Ein Fehler, ein Unglück, ein Schicksal ist mir's nun
einmal, daß sich, ehe ich mich's versehe, die Gesellschaft um mich
vermehrt, daß ich mir eine neue Bürde auflade, an der ich nachher zu
tragen und zu schleppen habe.  Nun soll auf meiner Wanderschaft kein
Dritter uns ein beständiger Geselle werden.  Wir wollen und sollen zu
zwei sein und bleiben, und eben schien sich ein neues, eben nicht
erfreuliches Verhältnis anknüpfen zu wollen.

Zu den Kindern des Hauses, mit denen Felix sich spielend diese Tage
her ergötzte, hatte sich ein kleiner, munterer, armer Junge gesellt,
der sich eben brauchen und mißbrauchen ließ, wie es gerade das Spiel
mit sich brachte, und sich sehr geschwind bei Felix in Gunst setzte.
Und ich merkte schon an allerlei Äußerungen, daß dieser sich einen
Gespielen für den nächsten Weg auserkoren hatte.  Der Knabe ist hier
in der Gegend bekannt, wird wegen seiner Munterkeit überall geduldet
und empfängt gelegentlich ein Almosen.  Mir aber gefiel er nicht, und
ich ersuchte den Hausherrn, ihn zu entfernen.  Das geschah auch, aber
Felix war unwillig darüber, und es gab eine kleine Szene.

Bei dieser Gelegenheit macht' ich eine Entdeckung, die mir angenehm
war.  In der Ecke der Kapelle oder des Saals stand ein Kasten mit
Steinen, welchen Felix, der seit unserer Wanderung durchs Gebirg eine
gewaltsame Neigung zum Gestein bekommen, eifrig hervorzog und
durchsuchte.  Es waren schöne, in die Augen fallende Dinge darunter.
Unser Wirt sagte, das Kind könne sich auslesen, was es wolle.  Es sei
dieses Gestein überblieben von einer großen Masse, die ein Fremder
vor kurzem von hier weggesendet.  Er nannte ihn Montan, und du kannst
denken, daß ich mich freute, diesen Namen zu hören, unter dem einer
von unsern besten Freunden reist, dem wir so manches schuldig sind.
Indem ich nach Zeit und Umständen fragte, kann ich hoffen, ihn auf
meiner Wanderung bald zu treffen.



Die Nachricht, daß Montan sich in der Nähe befinde, hatte Wilhelmen
nachdenklich gemacht.  Er überlegte, daß es nicht bloß dem Zufall zu
überlassen sei, ob er einen so werten Freund wiedersehen solle, und
erkundigte sich daher bei seinem Wirte, ob man nicht wisse, wohin
dieser Reisende seinen Weg gerichtet habe.  Niemand hatte davon nähere
Kenntnis, und schon war Wilhelm entschlossen, seine Wanderung nach
dem ersten Plane fortzusetzen, als Felix ausrief: "Wenn der Vater
nicht so eigen wäre, wir wollten Montan schon finden." --"Auf welche
Weise?" fragte Wilhelm.  Felix versetzte: "Der kleine Fitz sagte
gestern, er wolle den Herrn wohl aufspüren, der schöne Steine bei sich
habe und sich auch gut darauf verstünde."  Nach einigem Hin--und
Widerreden entschloß sich Wilhelm zuletzt, den Versuch zu machen und
dabei auf den verdächtigen Knaben desto mehr Acht zu geben.  Dieser
war bald gefunden und brachte, da er vernahm, worauf es abgesehen sei,
Schlegel und Eisen und einen tüchtigen Hammer nebst einem Säckchen
mit und lief in seiner bergmännischen Tracht munter vorauf.

Der Weg ging seitwärts abermals bergauf.  Die Kinder sprangen
miteinander von Fels zu Fels, über Stock und Stein, über Bach und
Quelle, und ohne einen Pfad vor sich zu haben, drang Fitz, bald
rechts bald links blickend, eilig hinauf.  Da Wilhelm und besonders
der bepackte Bote nicht so schnell folgten, so machten die Knaben den
Weg mehrmals vor--und rückwärts und sangen und pfiffen.  Die Gestalt
einiger fremden Bäume erregte die Aufmerksamkeit des Felix, der
nunmehr mit den Lärchen--und Zirbelbäumen zuerst Bekanntschaft machte
und von den wunderbaren Genzianen angezogen ward.  Und so fehlte es
der beschwerlichen Wanderung von einer Stelle zur andern nicht an
Unterhaltung.

Der kleine Fitz stand auf einmal still und horchte.  Er winkte die
andern herbei: "Hört ihr pochen?" sprach er.  "Es ist der Schall
eines Hammers, der den Fels trifft." --"Wir hören's", versetzten die
andern.--"Das ist Montan!" sagte er, "oder jemand, der uns von ihm
Nachricht geben kann."--Als sie dem Schalle nachgingen, der sich von
Zeit zu Zeit wiederholte, trafen sie auf eine Waldblöße und sahen
einen steilen, hohen, nackten Felsen über alles hervorragen, die hohen
Wälder selbst tief unter sich lassend.  Auf dem Gipfel erblickten sie
eine Person.  Sie stand zu entfernt, um erkannt zu werden.  Sogleich
machten sich die Kinder auf, die schroffen Pfade zu erklettern.
Wilhelm folgte mit einiger Beschwerlichkeit, ja Gefahr: denn wer
zuerst einen Felsen hinaufsteigt, geht immer sicherer, weil er sich
die Gelegenheit aussucht; einer, der nachfolgt, sieht nur, wohin
jener gelangt ist, aber nicht wie.  Die Knaben erreichten bald den
Gipfel, und Wilhelm vernahm ein lautes Freudengeschrei.  "Es ist
Jarno!" rief Felix seinem Vater entgegen, und Jarno trat sogleich an
eine schroffe Stelle, reichte seinem Freunde die Hand und zog ihn
aufwärts.  Sie umarmten und bewillkommten sich in der freien
Himmelsluft mit Entzücken.

Kaum aber hatten sie sich losgelassen, als Wilhelm ein Schwindel
überfiel, nicht sowohl um seinetwillen, als weil er die Kinder über
dem ungeheuren Abgrunde hängen sah.  Jarno bemerkte es und hieß alle
sogleich niedersetzen.  "Es ist nichts natürlicher", sagte er, "als
daß uns vor einem großen Anblick schwindelt, vor dem wir uns
unerwartet befinden, um zugleich unsere Kleinheit und unsere Größe zu
fühlen.  Aber es ist ja überhaupt kein echter Genuß als da, wo man
erst schwindeln muß."

"Sind denn das da unten die großen Berge, über die wir gestiegen
sind?" fragte Felix.  "Wie klein sehen sie aus!  Und hier", fuhr er
fort, indem er ein Stückchen Stein vom Gipfel loslöste, "ist ja schon
das Katzengold wieder; das ist ja wohl überall?"--"Es ist weit und
breit", versetzte Jarno; "und da du nach solchen Dingen fragst, so
merke dir, daß du gegenwärtig auf dem ältesten Gebirge, auf dem
frühesten Gestein dieser Welt sitzest."--"Ist denn die Welt nicht auf
einmal gemacht?" fragte Felix.--"Schwerlich", versetzte Montan; "gut
Ding will Weile haben."--"Da unten ist also wieder anderes Gestein",
sagte Felix, "und dort wieder anderes, und immer wieder anderes!"
indem er von den nächsten Bergen auf die entfernteren und so in die
Ebene hinab wies.

Es war ein sehr schöner Tag, und Jarno ließ sie die herrliche
Aussicht im einzelnen betrachten.  Noch standen hie und da mehrere
Gipfel, dem ähnlich, worauf sie sich befanden.  Ein mittleres Gebirg
schien heranzustreben, aber erreichte noch lange die Höhe nicht.
Weiter hin verflächte es sich immer mehr, doch zeigten sich wieder
seltsam vorspringende Gestalten.  Endlich wurden auch in der Ferne die
Seen, die Flüsse sichtbar, und eine fruchtreiche Gegend schien sich
wie ein Meer auszubreiten.  Zog sich der Blick wieder zurück, so drang
er in schauerliche Tiefen, von Wasserfällen durchrauscht,
labyrinthisch miteinander zusammenhängend.

Felix ward des Fragens nicht müde und Jarno gefällig genug, ihm jede
Frage zu beantworten; wobei jedoch Wilhelm zu bemerken glaubte, daß
der Lehrer nicht durchaus wahr und aufrichtig sei.  Daher, als die
unruhigen Knaben weiterkletterten, sagte Wilhelm zu seinem Freunde:
"Du hast mit dem Kinde über diese Sachen nicht gesprochen, wie du mit
dir selber darüber sprichst."--"Das ist auch eine starke Forderung",
versetzte Jarno.  "Spricht man ja mit sich selbst nicht immer, wie
man denkt, und es ist Pflicht, andern nur dasjenige zu sagen, was sie
aufnehmen können.  Der Mensch versteht nichts, als was ihm gemäß ist.
Die Kinder an der Gegenwart festzuhalten, ihnen eine Benennung, eine
Bezeichnung zu überliefern, ist das Beste, was man tun kann.  Sie
fragen ohnehin früh genug nach den Ursachen."

"Es ist ihnen nicht zu verdenken", versetzte Wilhelm.  "Die
Mannigfaltigkeit der Gegenstände verwirrt jeden, und es ist bequemer,
anstatt sie zu entwickeln, geschwind zu fragen: woher? und
wohin?"--"Und doch kann man", sagte Jarno, "da Kinder die Gegenstände
nur oberflächlich sehen, mit ihnen vom Werden und vom Zweck auch nur
oberflächlich reden."--"Die meisten Menschen", erwiderte Wilhelm,
"bleiben lebenslänglich in diesem Falle und erreichen nicht jene
herrliche Epoche, in der uns das Faßliche gemein und albern vorkommt.
"--"Man kann sie wohl herrlich nennen", versetzte Jarno, "denn es ist
ein Mittelzustand zwischen Verzweiflung und Vergötterung."--"Laß uns
bei dem Knaben verharren", sagte Wilhelm, "der mir nun vor allem
angelegen ist.  Er hat nun einmal Freude an dem Gestein gewonnen,
seitdem wir auf der Reise sind.  Kannst du mir nicht so viel mitteilen,
daß ich ihm, wenigstens auf eine Zeit, genugtue?"--"Das geht nicht
an", sagte Jarno.  "In einem jeden neuen Kreise muß man zuerst wieder
als Kind anfangen, leidenschaftliches Interesse auf die Sache werfen,
sich erst an der Schale freuen, bis man zu dem Kerne zu gelangen das
Glück hat."

"So sage mir denn", versetzte Wilhelm, "wie bist du zu diesen
Kenntnissen und Einsichten gelangt? denn es ist doch so lange noch
nicht her, daß wir auseinandergingen!"--"Mein Freund", versetzte
Jarno, "wir mußten uns resignieren, wo nicht für immer, doch für eine
gute Zeit.  Das erste, was einem tüchtigen Menschen unter solchen
Umständen einfällt, ist, ein neues Leben zu beginnen.  Neue
Gegenstände sind ihm nicht genug: diese taugen nur zur Zerstreuung; er
fordert ein neues Ganze und stellt sich gleich in dessen Mitte.
"--"Warum denn aber", fiel Wilhelm ihm ein, "gerade dieses
Allerseltsamste, diese einsamste aller Neigungen?"--"Eben deshalb",
rief Jarno, "weil sie einsiedlerisch ist.  Die Menschen wollt' ich
meiden.  Ihnen ist nicht zu helfen, und sie hindern uns, daß man sich
selbst hilft.  Sind sie glücklich, so soll man sie in ihren
Albernheiten gewähren lassen; sind sie unglücklich, so soll man sie
retten, ohne diese Albernheiten anzutasten; und niemand fragt jemals,
ob du glücklich oder unglücklich bist."--"Es steht noch nicht so ganz
schlimm mit ihnen", versetzte Wilhelm lächelnd.-- "Ich will dir dein
Glück nicht absprechen", sagte Jarno.  "Wandre nur hin, du zweiter
Diogenes!  Laß dein Lämpchen am hellen Tage nicht verlöschen!  Dort
hinabwärts liegt eine neue Welt vor dir; aber ich will wetten, es geht
darin zu wie in der alten hinter uns.  Wenn du nicht kuppeln und
Schulden bezahlen kannst, so bist du unter ihnen nichts nütze.
"--"Unterhaltender scheinen sie mir doch", versetzte Wilhelm, "als
deine starren Felsen."--"Keineswegs", versetzte Jarno, "denn diese
sind wenigstens nicht zu begreifen."--"Du suchst eine Ausrede",
versetzte Wilhelm, "denn es ist nicht in deiner Art, dich mit Dingen
abzugeben, die keine Hoffnung übriglassen, sie zu begreifen.  Sei
aufrichtig und sage mir, was du an diesen kalten und starren
Liebhabereien gefunden hast?"--"Das ist schwer von jeder Liebhaberei
zu sagen, besonders von dieser."  Dann besann er sich einen Augenblick
und sprach: "Buchstaben mögen eine schöne Sache sein, und doch sind
sie unzulänglich, die Töne auszudrücken; Töne können wir nicht
entbehren, und doch sind sie bei weitem nicht hinreichend, den
eigentlichen Sinn verlauten zu lassen; am Ende kleben wir am
Buchstaben und am Ton und sind nicht besser dran, als wenn wir sie
ganz entbehrten; was wir mitteilen, was uns überliefert wird, ist
immer nur das Gemeinste, der Mühe gar nicht wert."

"Du willst mir ausweichen", sagte der Freund; "denn was soll das zu
diesen Felsen und Zacken?"--"Wenn ich nun aber", versetzte jener,
"eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu
entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen
lernte, hättest du etwas dagegen?"--"Nein, aber es scheint mir ein
weitläufiges Alphabet."--"Enger, als du denkst; man muß es nur kennen
lernen wie ein anderes auch.  Die Natur hat nur eine Schrift, und ich
brauche mich nicht mit so vielen Kritzeleien herumzuschleppen.  Hier
darf ich nicht fürchten, wie wohl geschieht, wenn ich mich lange und
liebevoll mit einem Pergament abgegeben habe, daß ein scharfer
Kritikus kommt und mir versichert, das alles sei nur untergeschoben.
"-- Lächelnd versetzte der Freund: "Und doch wird man auch hier deine
Lesarten streitig machen."--"Eben deswegen", sagte jener, "red' ich
mit niemanden darüber und mag auch mit dir, eben weil ich dich liebe,
das schlechte Zeug von öden Worten nicht weiter wechseln und
betrieglich austauschen."



Viertes Kapitel

Beide Freunde waren, nicht ohne Sorgfalt und Mühe, herabgestiegen,
um die Kinder zu erreichen, die sich unten an einem schattigen Orte
gelagert hatten.  Fast eifriger als der Mundvorrat wurden die
gesammelten Steinmuster von Montan und Felix ausgepackt.  Der letztere
hatte viel zu fragen, der erstere viel zu benennen.  Felix freute
sich, daß jener die Namen von allen wisse, und behielt sie schnell im
Gedächtnis.  Endlich brachte er noch einen hervor und fragte: "Wie
heißt denn dieser?"  Montan betrachtete ihn mit Verwunderung und sagte:
"Wo habt ihr den her?"  Fitz antwortete schnell: "Ich habe ihn
gefunden, er ist aus diesem Lande."--"Er ist nicht aus dieser Gegend",
versetzte Montan.  Fitz freute sich, den überlegenen Mann in einigem
Zweifel zu sehen.--"Du sollst einen Dukaten haben", sagte Montan,
"wenn du mich an die Stelle bringst, wo er ansteht."-- "Der ist
leicht zu verdienen", versetzte Fitz, "aber nicht gleich."-- "So
bezeichne mir den Ort genau, daß ich ihn gewiß finden kann.  Das ist
aber unmöglich: denn es ist ein Kreuzstein, der von St.  Jakob in
Compostell kommt und den ein Fremder verloren hat, wenn du ihn nicht
gar entwendet hast, da er so wunderbar aussieht." --"Gebt Euren
Dukaten", sagte Fitz, "dem Reisegefährten in Verwahrung, und ich will
aufrichtig bekennen, wo ich den Stein her habe.  In der verfallenen
Kirche zu St.  Joseph befindet sich ein gleichfalls verfallener Altar.
Unter den auseinandergebrochenen obern Steinen desselben entdeckt'
ich eine Schicht von diesem Gestein, das jenen zur Grundlage diente,
und schlug davon so viel herunter, als ich habhaft werden konnte.
Wälzte man die obern Steine weg, so würde gewiß noch viel davon zu
finden sein."

"Nimm dein Goldstück", versetzte Montan, "du verdienst es für diese
Entdeckung.  Sie ist artig genug.  Man freut sich mit Recht, wenn die
leblose Natur ein Gleichnis dessen, was wir lieben und verehren,
hervorbringt.  Sie erscheint uns in Gestalt einer Sibylle, die ein
Zeugnis dessen, was von der Ewigkeit her beschlossen ist und erst in
der Zeit wirklich werden soll, zum voraus niederlegt.  Hierauf als
auf eine wundervolle, heilige Schicht hatten die Priester ihren Altar
gegründet."

Wilhelm, der eine Zeitlang zugehört und bemerkt hatte, daß manche
Benennung, manche Bezeichnung wiederkam, wiederholte seinen schon
früher geäußerten Wunsch, daß Montan ihm so viel mitteilen möge, als
er zum ersten Unterricht des Knaben nötig hätte.--"Gib das auf",
versetzte Montan.  "Es ist nichts schrecklicher als ein Lehrer, der
nicht mehr weiß, als die Schüler allenfalls wissen sollen.  Wer
andere lehren will, kann wohl oft das Beste verschweigen, was er weiß,
aber er darf nicht halbwissend sein."  "Wo sind denn aber so
vollkommene Lehrer zu finden?"-- "Die triffst du sehr leicht",
versetzte Montan.  "Wo denn?" sagte Wilhelm mit einigem Unglauben.
--"Da, wo die Sache zu Hause ist, die du lernen willst", versetzte
Montan.  "Den besten Unterricht zieht man aus vollständiger Umgebung.
Lernst du nicht fremde Sprachen in den Ländern am besten, wo sie zu
Hause sind? wo nur diese und keine andere weiter dein Ohr
berührt?"--"Und so wärst du", fragte Wilhelm, "zwischen den Gebirgen
zur Kenntnis der Gebirge gelangt?"  "Das versteht sich."--"Ohne mit
Menschen umzugehen?" fragte Wilhelm.-- "Wenigstens nur mit Menschen",
versetzte jener, "die bergartig waren.  Da, wo Pygmäen, angereizt
durch Metalladern, den Fels durchwühlen, das Innere der Erde
zugänglich machen und auf alle Weise die schwersten Aufgaben zu lösen
suchen, da ist der Ort, wo der wißbegierige Denkende seinen Platz
nehmen soll.  Er sieht handeln, tun, läßt geschehen und erfreut sich
des Geglückten und Mißglückten.  Was nützt, ist nur ein Teil des
Bedeutenden.  Um einen Gegenstand ganz zu besitzen, zu beherrschen,
muß man ihn um sein selbst willen studieren.  Indem ich aber vom
Höchsten und Letzten spreche, wozu man sich erst spät durch vieles
und reiches Gewahrwerden emporhebt, seh' ich die Knaben vor uns, bei
denen klingt es ganz anders.  Jede Art von Tätigkeit möchte das Kind
ergreifen, weil alles leicht aussieht, was vortrefflich ausgeübt wird.
Aller Anfang ist schwer!  Das mag in einem gewissen Sinne wahr sein;
allgemeiner aber kann man sagen: aller Anfang ist leicht, und die
letzten Stufen werden am schwersten und seltensten erstiegen."
Wilhelm, der indessen nachgedacht hatte, sagte zu Montan: "Solltest
du wirklich zu der überzeugung gegriffen haben, daß die sämtlichen
Tätigkeiten, wie in der Ausübung, so auch im Unterricht zu sondern
seien?"--"Ich weiß mir nichts anderes noch Besseres", erwiderte jener.
"Was der Mensch leisten soll, muß sich als ein zweites Selbst von
ihm ablösen, und wie könnte das möglich sein, wäre sein erstes Selbst
nicht ganz davon durchdrungen?"--"Man hat aber doch eine vielseitige
Bildung für vorteilhaft und notwendig gehalten."--"Sie kann es auch
sein zu ihrer Zeit", versetzte jener; "Vielseitigkeit bereitet
eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann, dem
eben jetzt genug Raum gegeben ist.  Ja, es ist jetzo die Zeit der
Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in
diesem Sinne wirkt.  Bei gewissen Dingen versteht sich's durchaus und
sogleich. übe dich zum tüchtigen Violinisten und sei versichert, der
Kapellmeister wird dir deinen Platz im Orchester mit Gunst anweisen.
Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die
Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde.  Laß uns
abbrechen!  Wer es nicht glauben will, der gehe seinen Weg, auch der
gelingt zuweilen; ich aber sage: von unten hinauf zu dienen, ist
überall nötig.  Sich auf ein Handwerk zu beschränken, ist das Beste.
Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren
eine Kunst, und der beste, wenn er eins tut, tut er alles, oder, um
weniger paradox zu sein, in dem einen, was er recht tut, sieht er das
Gleichnis von allem, was recht getan wird."

Dieses Gespräch, das wir nur skizzenhaft wiederliefern, verzog sich
bis gegen Sonnenuntergang, der, so herrlich er war, doch die
Gesellschaft nachdenken ließ, wo man die Nacht zubringen wollte:
"Unter Dach wüßte ich euch nicht zu führen", sagte Fitz; "wollt ihr
aber bei einem guten alten Köhler, an warmer Stätte die Nacht
versitzen oder verliegen, so seid ihr willkommen."  Und so folgten
sie ihm alle durch wundersame Pfade zum stillen Ort, wo sich ein
jeder bald einheimisch fühlen sollte.

In der Mitte eines beschränkten Waldraums lag dampfend und wärmend
der wohlgewölbte Kohlenmeiler, an der Seite die Hütte von
Tannenreisern, ein helles Feuerchen daneben.  Man setzte sich, man
richtete sich ein.  Die Kinder waren sogleich um die Köhlersfrau
geschäftig, welche, gastfreundlich bemüht, erhitzte Brotschnitten mit
Butter zu tränken und durchziehen zu lassen, köstlich fette Bissen
den hungrig Lüsternen bereitete.

Indes nun darauf die Knaben durch die kaum erhellten Fichtenstämme
Versteckens spielten, wie Wölfe heulten, wie Hunde bellten, so daß
auch wohl ein herzhafter Wanderer darüber hätte erschrecken mögen,
besprachen sich die Freunde vertraulich über ihre Zustände.  Nun aber
gehörte zu den sonderbaren Verpflichtungen der Entsagenden auch die:
daß sie, zusammentreffend, weder vom Vergangenen noch Künftigen
sprechen durften, nur das Gegenwärtige sollte sie beschäftigen.

Jarno, der von bergmännischen Unternehmungen und den dazu
erforderlichen Kenntnissen und Tatfähigkeiten den Sinn voll hatte,
trug Wilhelmen auf das genaueste und vollständigste mit Leidenschaft
vor, was er sich alles in beiden Weltteilen von solchen
Kunsteinsichten und Fertigkeiten verspreche; wovon sich jedoch der
Freund, der immer nur im menschlichen Herzen den wahren Schatz
gesucht, kaum einen Begriff machen konnte, vielmehr zuletzt lächelnd
erwiderte: "So stehst du ja mit dir selbst im Widerspruch, indem du
erst in deinen ältern Tagen dasjenige zu treiben anfängst, wozu man
von Jugend auf sollte eingeleitet sein."  "Keineswegs!" erwiderte
jener; "denn eben daß ich in meiner Kindheit bei einem liebenden
Oheim, einem hohen Bergbeamten, erzogen wurde, daß ich mit den
Pochjungen groß geworden bin, auf dem Berggraben mit ihnen kleine
Rindenschiffchen niederfahren ließ, das hat mich zurück in diesen
Kreis geführt, wo ich mich nun wieder behaglich und verjüngt fühle.
Schwerlich kann dieser Köhlerdampf dir zusagen wie mir, der ich ihn
von Kindheit auf als Weihrauch einzuschlürfen gewohnt bin.  Ich habe
viel in der Welt versucht und immer dasselbe gefunden: in der
Gewohnheit ruht das einzige Behagen des Menschen; selbst das
Unangenehme, woran wir uns gewöhnten, vermissen wir ungern.  Ich
quälte mich einmal gar lange mit einer Wunde, die nicht heilen wollte,
und als ich endlich genas, war es mir höchst unangenehm, als der
Chirurg ausblieb, sie nicht mehr verband und das Frühstück nicht mehr
mit mir einnahm."

"Ich möchte aber doch", versetzte Wilhelm, "meinem Sohn einen
freieren Blick über die Welt verschaffen, als ein beschränktes
Handwerk zu geben vermag.  Man umgrenze den Menschen, wie man wolle,
so schaut er doch zuletzt in seiner Zeit umher; und wie kann er die
begreifen, wenn er nicht einigermaßen weiß, was vorhergegangen ist.
Und müßte er nicht mit Erstaunen in jeden Gewürzladen eintreten, wenn
er keinen Begriff von den Ländern hätte, woher diese unentbehrlichen
Seltsamkeiten bis zu ihm gekommen sind?"

"Wozu die Umstände?" versetzte Jarno; "lese er die Zeitungen wie
jeder Philister und trinke Kaffee wie jede alte Frau.  Wenn du es
aber doch nicht lassen kannst und auf eine vollkommene Bildung so
versessen bist, so begreif' ich nicht, wie du so blind sein kannst,
wie du noch lange suchen magst, wie du nicht siehst, daß du dich ganz
in der Nähe einer vortrefflichen Erziehungsanstalt befindest."--"In
der Nähe?" sagte Wilhelm und schüttelte den Kopf.  "Freilich!"
versetzte jener; "was siehst du hier?"--"Wo denn?"--"Grad hier vor
der Nase."  Jarno streckte seinen Zeigefinger aus und deutete und
rief ungeduldig: "Was ist denn das?" --"Nun denn!" sagte Wilhelm,
"ein Kohlenmeiler; aber was soll das hierzu?"--"Gut! endlich! ein
Kohlenmeiler!  Wie verfährt man, um ihn anzurichten?"--"Man stellt
Scheite an--und übereinander."-- "Wenn das getan ist, was geschieht
ferner?"--"Wie mir scheint", sagte Wilhelm, "willst du auf
sokratische Weise mir die Ehre antun, mir begreiflich zu machen, mich
bekennen zu lassen, daß ich äußerst absurd und dickstirnig sei."

"Keineswegs!" versetzte Jarno; "fahre fort, mein Freund, pünktlich
zu antworten.  Also! was geschieht nun, wenn der regelmäßige Holzstoß
dicht und doch luftig geschichtet worden?"--"Nun, denn! man zündet
ihn an."-- "Und wenn er nun durchaus entzündet ist, wenn die Flamme
durch jede Ritze durchschlägt, wie beträgt man sich? läßt man's
fortbrennen?"-- "Keineswegs! man deckt eilig mit Rasen und Erde, mit
Kohlengestiebe und was man bei der Hand hat, die durch und durch
dringende Flamme zu."--"Um sie auszulöschen?" --"Keineswegs! um sie
zu dämpfen."--"Und also läßt man ihr so viel Luft als nötig, daß sich
alles mit Glut durchziehe, damit alles recht gar werde.  Alsdann
verschließt man jede Ritze, verhindert jeden Ausbruch, damit ja alles
nach und nach in sich selbst verlösche, verkohle, verkühle, zuletzt
auseinandergezogen als verkäufliche Ware an Schmied und Schlosser, an
Bäcker und Koch abgelassen und, wenn es zu Nutzen und Frommen der
lieben Christenheit genugsam gedient, als Asche von Wäscherinnen und
Seifensiedern verbraucht werde."

"Nun", versetzte Wilhelm lachend, "in Bezug auf dieses Gleichnis,
wie siehst du dich denn an?"--"Das ist nicht schwer zu sagen",
erwiderte Jarno, "ich halte mich für einen alten Kohlenkorb tüchtig
büchener Kohlen, dabei aber erlaub' ich mir die Eigenheit, mich nur
um mein selbst willen zu verbrennen, deswegen ich denn den Leuten gar
wunderlich vorkomme."--"Und mich?" sagte Wilhelm, "wie wirst du mich
behandeln?"--"Jetzt besonders", sagte Jarno, "seh' ich dich an wie
einen Wanderstab, der die wunderliche Eigenschaft hat, in jeder Ecke
zu grünen, wo man ihn hinstellt, nirgends aber Wurzel zu fassen.  Nun
male dir das Gleichnis weiter aus und lerne begreifen, wenn weder
Förster noch Gärtner, weder Köhler noch Tischer, noch irgendein
Handwerker aus dir etwas zu machen weiß."

Unter solchem Gespräch nun zog Wilhelm, ich weiß nicht zu welchem
Gebrauch, etwas aus dem Busen, das halb wie eine Brieftasche, halb
wie ein Besteck aussah und von Montan als ein Altbekanntes
angesprochen wurde.  Unser Freund leugnete nicht, daß er es als eine
Art von Fetisch bei sich trage, in dem Aberglauben, sein Schicksal
hange gewissermaßen von dessen Besitz ab.

Was es aber gewesen, dürfen wir an dieser Stelle dem Leser noch
nicht vertrauen, so viel aber müssen wir sagen, daß hieran sich ein
Gespräch anknüpfte, dessen Resultate sich endlich dahin ergaben, daß
Wilhelm bekannte: wie er schon längst geneigt sei, einem gewissen
besondern Geschäft, einer ganz eigentlich nützlichen Kunst sich zu
widmen, vorausgesetzt, Montan werde sich bei den Verbündeten dahin
verwenden, daß die lästigste aller Lebensbedingungen, nicht länger
als drei Tage an einem Orte zu verweilen, baldigst aufgehoben und ihm
vergönnt werde, sich zu Erreichung seines Zweckes da oder dort, wie
es ihm belieben möge, aufzuhalten.  Dies versprach Montan zu bewirken,
nachdem jener feierlich angelobt hatte, die vertraulich
ausgesprochene Absicht unablässig zu verfolgen und den einmal
gefaßten Vorsatz auf das treulichste festzuhalten.

Dieses alles ernstlich durchsprechend und einander unablässig
erwidernd, waren sie von ihrer Nachtstätte, wo sich eine wunderlich
verdächtige Gesellschaft nach und nach versammelt hatte, bei
Tagesanbruch aus dem Wald auf eine Blöße gekommen, an der sie einiges
Wild antrafen, das besonders dem fröhlich auffassenden Felix viel
Freude machte.  Man bereitete sich zum Scheiden, denn hier deuteten
die Pfade nach verschiedenen Himmelsgegenden.  Fitz ward nun über die
verschiedenen Richtungen befragt, der aber zerstreut schien und gegen
seine Gewohnheit verworrene Antworten gab.

"Du bist überhaupt ein Schelm", sagte Jarno; "diese Männer heute
nacht, die sich um uns herum setzten, kanntest du alle.  Es waren
Holzhauer und Bergleute, das mochte hingehen, aber die letzten halt'
ich für Schmuggler, für Wilddiebe, und der lange, ganz letzte, der
immer Zeichen in den Sand schrieb und den die andern mit einiger
Achtung behandelten, war gewiß ein Schatzgräber, mit dem du unter der
Decke spielst."

"Es sind alles gute Leute", ließ Fitz sich darauf vernehmen; "sie
nähren sich kümmerlich, und wenn sie manchmal etwas tun, was die
andern verbieten, so sind es arme Teufel, die sich selbst etwas
erlauben müssen, nur um zu leben."

Eigentlich aber war der kleine, schelmische Junge, da er
Vorbereitungen der Freunde, sich zu trennen, bemerkte, nachdenklich;
er überlegte sich etwas im stillen, denn er stand zweifelhaft,
welchem von beiden Teilen er folgen sollte.  Er berechnete seinen
Vorteil: Vater und Sohn gingen leichtsinnig mit dem Silber um, Jarno
aber gar mit dem Golde; diesen nicht loszulassen, hielt er fürs beste.
Daher ergriff er sogleich eine dargebotene Gelegenheit, und als im
Scheiden Jarno zu ihm sagte: "Nun, wenn ich nach St.  Joseph komme,
will ich sehen, ob du ehrlich bist, ich werde den Kreuzstein und den
verfallenen Altar suchen."--"Ihr werdet nichts finden", sagte Fitz,
"und ich werde doch ehrlich bleiben; der Stein ist dorther, aber ich
habe sämtliche Stücke weggeschafft und sie hier oben verwahrt.  Es ist
ein kostbares Gestein, ohne dasselbe läßt sich kein Schatz heben; man
bezahlt mir ein kleines Stück gar teuer.  Ihr hattet ganz recht,
daher kam meine Bekanntschaft mit dem hagern Manne."

Nun gab es neue Verhandlungen, Fitz verpflichtete sich an Jarno,
gegen einen nochmaligen Dukaten, in mäßiger Entfernung ein tüchtiges
Stück dieses seltenen Minerals zu verschaffen, wogegen er den Gang
nach dem Riesenschloß abriet; weil aber dennoch Felix darauf bestand,
dem Boten einschärfte, die Reisenden nicht zu tief hineinzulassen,
denn niemand finde sich aus diesen Höhlen und Klüften jemals wieder
heraus.  Man schied, und Fitz versprach, zu guter Zeit in den Hallen
des Riesenschlosses wieder einzutreffen.

Der Bote schritt voran, die beiden folgten; jener war aber kaum den
Berg eine Strecke hinaufgestiegen, als Felix bemerkte, man gehe nicht
den Weg, auf welchen Fitz gedeutet habe.  Der Bote versetzte jedoch:
"Ich muß es besser wissen!  Denn erst in diesen Tagen hat ein
gewaltiger Sturm die nächste Waldstrecke niedergestürzt; die kreuzweis
übereinandergeworfenen Bäume versperren diesen Weg: folgt mir, ich
bring' euch an Ort und Stelle."  Felix verkürzte sich den
beschwerlichen Pfad durch lebhaften Schritt und Sprung von Fels zu
Fels und freute sich über sein erworbenes Wissen, daß er nun von
Granit zu Granit hüpfe.

Und so ging es aufwärts, bis er endlich auf zusammengestürzten
schwarzen Säulen stehenblieb und auf einmal das Riesenschloß vor
Augen sah.  Wände und Säulen ragten auf einem einsamen Gipfel hervor,
geschlossene Säulenwände bildeten Pforten an Pforten, Gänge nach
Gängen.  Ernstlich warnte der Bote, sich nicht hineinzuverlieren, und
an einem sonnigen, über weite Aussicht gebietenden Flecke, die
Aschenspur seiner Vorgänger bemerkend, war er geschäftig, ein
prasselndes Feuer zu unterhalten.  Indem er nun an solchen Stellen
eine frugale Kost zu bereiten schon gewohnt war und Wilhelm in der
himmelweiten Aussicht von der Gegend näher Erkundigung einzog, durch
die er zu wandern gedachte, war Felix verschwunden; er mußte sich in
die Höhle verloren haben, auf Rufen und Pfeifen antwortete er nicht
und kam nicht wieder zum Vorschein.

Wilhelm aber, der, wie es einem Pilger ziemt, auf manche Fälle
vorbereitet war, brachte aus seiner Jagdtasche einen Knaul Bindfaden
hervor, band ihn sorgfältig fest und vertraute sich dem leitenden
Zeichen, an dem er seinen Sohn hineinzuführen schon die Absicht gehabt
hatte.  So ging er vorwärts und ließ von Zeit zu Zeit sein Pfeifchen
erschallen, lange vergebens.  Endlich aber erklang aus der Tiefe ein
schneidender Pfiff, und bald darauf schaute Felix am Boden aus einer
Kluft des schwarzen Gesteines hervor.  "Bist du allein?" lispelte
bedenklich der Knabe.--"Ganz allein!" versetzte der Vater.--"Reiche
mir Scheite! reiche mir Knüttel!" sagte der Knabe, empfing sie und
verschwand, nachdem er ängstlich gerufen hatte: "Laß niemand in die
Höhle!"  Nach einiger Zeit aber tauchte er wieder auf, forderte noch
längeres und stärkeres Holz.  Der Vater harrte sehnlich auf die
Lösung dieses Rätsels.  Endlich erhub sich der Verwegene schnell aus
der Spalte und brachte ein Kästchen mit, nicht größer als ein kleiner
Oktavband, von prächtigem altem Ansehn, es schien von Gold zu sein,
mit Schmelz geziert.  "Stecke es zu dir, Vater, und laß es niemand
sehn!"  Er erzählte darauf mit Hast, wie er, aus innerem geheimem,
Antrieb, in jene Spalte gekrochen sei und unten einen dämmerhellen
Raum gefunden habe.  In demselben stand, wie er sagte, ein großer
eiserner Kasten, zwar nicht verschlossen, dessen Deckel jedoch nicht
zu erheben, kaum zu lüften war.  Um nun darüber Herr zu werden, habe
er die Knüttel verlangt, sie teils als Stützen unter den Deckel
gestellt, teils als Keile dazwischengeschoben, zuletzt habe er den
Kasten zwar leer, in einer Ecke desselben jedoch das Prachtbüchlein
gefunden.  Sie versprachen sich beiderseits deshalb ein tiefes
Geheimnis.

Mittag war vorüber, etwas hatte man genossen, Fitz war noch nicht,
wie er versprochen, gekommen; Felix aber, besonders unruhig, sehnte
sich von dem Orte weg, wo der Schatz irdischer oder unterirdischer
Wiederforderung ausgesetzt schien.  Die Säulen kamen ihm schwärzer,
die Höhlen tiefer vor.  Ein Geheimnis war ihm aufgeladen, ein Besitz,
rechtmäßig oder unrechtmäßig? sicher oder unsicher?  Die Ungeduld
trieb ihn von der Stelle, er glaubte die Sorge loszuwerden, wenn er
den Platz veränderte.

Sie schlugen den Weg ein nach jenen ausgedehnten Gütern des großen
Landbesitzers, von dessen Reichtum und Sonderbarkeiten man ihnen so
viel erzählt hatte.  Felix sprang nicht mehr wie am Morgen, und alle
drei gingen stundenlang vor sich hin.  Einigemal wollt' er das
Kästchen sehn, der Vater, auf den Boten hindeutend, wies ihn zur Ruhe.
Nun war er voll Verlangen, Fitz möge kommen.  Dann scheute er sich
wieder vor dem Schelmen; bald pfiff er, um ein Zeichen zu geben, dann
reute ihn schon, es getan zu haben, und so dauerte das Schwanken
immerfort, bis Fitz endlich sein Pfeifchen aus der Ferne hören ließ.
Er entschuldigte sein Außenbleiben vom Riesenschlosse, er habe sich
mit Jarno verspätet, der Windbruch habe ihn gehindert; dann forschte
er genau, wie es ihnen zwischen Säulen und Höhlen gegangen sei?  Wie
tief sie vorgedrungen?  Felix erzählte ihm ein Märchen über das andere,
halb übermütig, halb verlegen; er sah den Vater lächelnd an, zupfte
ihn verstohlen und tat alles mögliche, um an den Tag zu geben, daß er
heimlich besitze und daß er sich verstelle.

Sie waren endlich auf einen Fuhrweg gelangt, der sie bequem zu jenen
Besitztümern hinführen sollte; Fitz aber behauptete, einen näheren
und bessern Weg zu kennen; auf welchem der Bote sie nicht begleiten
wollte und den geraden, breiten, eingeschlagenen Weg vor sich hinging.
Die beiden Wanderer vertrauten dem losen Jungen und glaubten
wohlgetan zu haben, denn nun ging es steil den Berg hinab, durch
einen Wald der hoch--und schlankstämmigsten Lärchenbäume, der, immer
durchsichtiger werdend, ihnen zuletzt die schönste Besitzung, die man
sich nur denken kann, im klarsten Sonnenlichte sehen ließ.

Ein großer Garten, nur der Fruchtbarkeit, wie es schien, gewidmet,
lag, obgleich mit Obstbäumen reichlich ausgestattet, offen vor ihren
Augen, indem er regelmäßig, in mancherlei Abteilungen, einen zwar im
ganzen abhängigen, doch aber mannigfaltig bald erhöhten, bald
vertieften Boden bedeckte.  Mehrere Wohnhäuser lagen darin zerstreut,
so daß der Raum verschiedenen Besitzern anzugehören schien, der
jedoch, wie Fitz versicherte, von einem einzigen Herrn beherrscht und
benutzt ward. über den Garten hinaus erblickten sie eine unabsehbare
Landschaft, reichlich bebaut und bepflanzt.  Sie konnten Seen und
Flüsse deutlich unterscheiden.

Sie waren den Berg hinab immer näher gekommen und glaubten nun
sogleich im Garten zu sein, als Wilhelm stutzte und Fitz seine
Schadenfreude nicht verbarg: denn eine jähe Kluft am Fuße des Berges
tat sich vor ihnen auf und zeigte gegenüber eine bisher verborgene
hohe Mauer, schroff genug von außen, obgleich von innen durch das
Erdreich völlig ausgefüllt.  Ein tiefer Graben trennte sie also von
dem Garten, in den sie unmittelbar hineinsahen.  "Wir haben noch
hinüber einen ziemlichen Umweg zu machen", sagte Fitz, "wenn wir die
Straße, die hineinführt, erreichen wollen.  Doch weiß ich auch einen
Eingang von dieser Seite, wo wir um ein gutes näher gehen.  Die
Gewölbe, durch die das Bergwasser bei Regengüssen in den Garten
geregelt hineinstürzt, öffnen sich hier; sie sind hoch und breit
genug, daß man mit ziemlicher Bequemlichkeit hindurchkommen kann."
Als Felix von Gewölben hörte, konnte er vor Begierde sich nicht
lassen, diesen Eingang zu betreten.  Wilhelm folgte den Kindern, und
sie stiegen zusammen die ganz trocken liegenden hohen Stufen dieser
Zuleitungsgewölbe hinunter.  Sie befanden sich bald im Hellen, bald im
Dunkeln, je nachdem von Seitenöffnungen her das Licht hereinfiel oder
von Pfeilern und Wänden aufgehalten ward.  Endlich gelangten sie auf
einen ziemlich gleichen Fleck und schritten langsam vor, als auf
einmal in ihrer Nähe ein Schuß fiel, zu gleicher Zeit sich zwei
verborgene Eisengitter schlossen und sie von beiden Seiten
einsperrten.  Zwar nicht die ganze Gesellschaft: nur Wilhelm und
Felix waren gefangen.  Denn Fitz, als der Schuß fiel, sprang sogleich
rückwärts, und das zuschlagende Gitter faßte nur seinen weiten Ärmel;
er aber, sehr geschwind das Jäckchen abwerfend, war entflohen, ohne
sich einen Augenblick aufzuhalten.

Die beiden Eingekerkerten hatten kaum Zeit, sich von ihrem Erstaunen
zu erholen, als sie Menschenstimmen vernahmen, welche sich langsam zu
nähern schienen.  Bald darauf traten Bewaffnete mit Fackeln an die
Gitter und neugierigen Blicks, was sie für einen Fang möchten getan
haben.  Sie fragten zugleich, ob man sich gutwillig ergeben wolle.
"Hier kann von keinem Ergeben die Rede sein", versetzte Wilhelm; "wir
sind in eurer Gewalt.  Eher haben wir Ursache zu fragen, ob ihr uns
schonen wollt.  Die einzige Waffe, die wir bei uns haben, liefere ich
euch aus", und mit diesen Worten reichte er seinen Hirschfänger
durchs Gitter; dieses öffnete sich sogleich, und man führte ganz
gelassen die Ankömmlinge mit sich vorwärts, und als man sie einen
Wendelstieg hinaufgebracht hatte, befanden sie sich bald an einem
seltsamen Orte; es war ein geräumiges, reinliches Zimmer, durch
kleine, unter dem Gesimse hergehende Fenster erleuchtet, die
ungeachtet der starken Eisenstäbe Licht genug verbreiteten.  Für
Sitze, Schlafstellen, und was man allenfalls sonst in einer mäßigen
Herberge verlangen könnte, war gesorgt, und es schien dem, der sich
hier befand, nichts als die Freiheit zu fehlen.

Wilhelm hatte sich bei seinem Eintritt sogleich niedergesetzt und
überdachte den Zustand; Felix hingegen, nachdem er sich von dem
ersten Erstaunen erholt hatte, brach in eine unglaubliche Wut aus.
Diese steilen Wände, diese hohen Fenster, diese festen Türen, diese
Abgeschlossenheit, diese Einschränkung war ihm ganz neu.  Er sah sich
um, er rannte hin und her, stampfte mit den Füßen, weinte, rüttelte
an den Türen, schlug mit den Fäusten dagegen, ja er war im Begriff,
mit dem Schädel dawiderzurennen, hätte nicht Wilhelm ihn gefaßt und
mit Kraft festgehalten.

"Besieh dir das nur ganz gelassen, mein Sohn", fing der Vater an,
"denn Ungeduld und Gewalt helfen uns nicht aus dieser Lage.  Das
Geheimnis wird sich aufklären; aber ich müßte mich höchlich irren,
oder wir sind in keine schlechten Hände gefallen.  Betrachte diese
Inschriften: "Dem Unschuldigen Befreiung und Ersatz, dem Verführten
Mitleiden, dem Schuldigen ahndende Gerechtigkeit."  Alles dieses zeigt
uns an, daß diese Anstalten Werke der Notwendigkeit, nicht der
Grausamkeit sind.  Der Mensch hat nur allzusehr Ursache, sich vor dem
Menschen zu schützen.  Der Mißwollenden gibt es gar viele, der
Mißtätigen nicht wenige, und um zu leben, wie sich's gehört, ist nicht
genug, immer wohlzutun."

Felix hatte sich zusammengenommen, warf sich aber sogleich auf eine
der Lagerstätten, ohne weiteres äußern noch Erwidern.  Der Vater ließ
nicht ab und sprach ferner: "Laß dir diese Erfahrung, die du so früh
und unschuldig machst, ein lebhaftes Zeugnis bleiben, in welchem und
in was für einem vollkommenen Jahrhundert du geboren bist.  Welchen
Weg mußte nicht die Menschheit machen, bis sie dahin gelangte, auch
gegen Schuldige gelind, gegen Verbrecher schonend, gegen
Unmenschliche menschlich zu sein!  Gewiß waren es Männer göttlicher
Natur, die dies zuerst lehrten, die ihr Leben damit zubrachten, die
Ausübung möglich zu machen und zu beschleunigen.  Des Schönen sind die
Menschen selten fähig, öfter des Guten; und wie hoch müssen wir daher
diejenigen halten, die dieses mit großen Aufopferungen zu befördern
suchen."

Diese tröstlich belehrenden Worte, welche die Absicht der
einschließenden Umgebung völlig rein ausdrückten, hatte Felix nicht
vernommen; er lag im tiefsten Schlafe, schöner und frischer als je;
denn eine Leidenschaft, wie sie ihn sonst nicht leicht ergriff, hatte
sein ganzes Innerste auf die vollen Wangen hervorgetrieben.  Ihn mit
Gefälligkeit beschauend, stand der Vater, als ein wohlgebildeter
junger Mann hereintrat, der, nachdem er den Ankömmling einige Zeit
freundlich angesehen, anfing, ihn über die Umstände zu befragen, die
ihn auf den ungewöhnlichen Weg und in diese Falle geführt hätten.
Wilhelm erzählte die Begebenheit ganz schlicht, überreichte ihm einige
Papiere, die seine Person aufzuklären dienten, und berief sich auf
den Boten, der nun bald auf dem ordentlichen Wege von einer andern
Seite anlangen müsse.  Als dieses alles so weit im klaren war,
ersuchte der Beamte seinen Gast, ihm zu folgen.  Felix war nicht zu
erwecken, die Untergebenen trugen ihn daher auf der tüchtigen
Matratze, wie ehmals den unbewußten Ulyß, in die freie Luft.

Wilhelm folgte dem Beamten in ein schönes Gartenzimmer, wo
Erfrischungen aufgesetzt wurden, die er genießen sollte, indessen
jener ging, an höherer Stelle Bericht abzustatten.  Als Felix
erwachend ein gedecktes Tischchen, Obst, Wein, Zwieback und zugleich
die Heiterkeit der offenstehenden Türe bemerkte, ward es ihm ganz
wunderlich zumute.  Er läuft hinaus, er kehrt zurück, er glaubt
geträumt zu haben; und hatte bald bei so guter Kost und so angenehmer
Umgebung den vorhergegangenen Schrecken und alle Bedrängnis, wie einen
schweren Traum am hellen Morgen, vergessen.

Der Bote war angelangt, der Beamte kam mit ihm und einem andern,
ältlichen, noch freundlichern Manne zurück, und die Sache klärte sich
folgendergestalt auf.  Der Herr dieser Besitzung, im höhern Sinne
wohltätig, daß er alles um sich her zum Tun und Schaffen aufregte,
hatte aus seinen unendlichen Baumschulen, seit mehreren Jahren,
fleißigen und sorgfältigen Anbauern die jungen Stämme umsonst,
nachlässigen um einen gewissen Preis und denen, die damit handeln
wollten, gleichfalls, doch um einen billigen, überlassen.  Aber auch
diese beiden Klassen forderten umsonst, was die Würdigen umsonst
erhielten, und da man ihnen nicht nachgab, suchten sie die Stämme zu
entwenden.  Auf mancherlei Weise war es ihnen gelungen.  Dieses
verdroß den Besitzer um so mehr, da nicht allein die Baumschulen
geplündert, sondern auch durch übereilung verderbt worden waren.  Man
hatte Spur, daß sie durch die Wasserleitung hereingekommen, und
deshalb eine solche Gitterfalle mit einem Selbstschuß eingerichtet,
der aber nur als Zeichen gelten sollte.  Der kleine Knabe hatte sich
unter mancherlei Vorwänden mehrmals im Garten sehen lassen, und es war
nichts natürlicher, als daß er aus Kühnheit und Schelmerei die
Fremden einen Weg führen wollte, den er früher zu anderm Zwecke
ausgefunden.  Man hätte gewünscht, seiner habhaft zu werden; indessen
wurde sein Wämschen unter andern gerichtlichen Gegenständen
aufgehoben.



Fünftes Kapitel

Auf dem Wege nach dem Schlosse fand unser Freund zu seiner
Verwunderung nichts, was einem älteren Lustgarten oder einem modernen
Park ähnlich gewesen wäre; gradlinig gepflanzte Fruchtbäume,
Gemüsfelder, große Strecken mit Heilkräutern bestellt, und was nur
irgend brauchbar konnte geachtet werden, übersah er auf sanft
abhängiger Fläche mit einem Blicke.  Ein von hohen Linden
umschatteter Platz breitete sich würdig als Vorhalle des ansehnlichen
Gebäudes, eine lange, daranstoßende Allee, gleichen Wuchses und Würde,
gab zu jeder Stunde des Tags Gelegenheit, im Freien zu verkehren und
zu lustwandeln.  Eintretend in das Schloß, fand er die Wände der
Hausflur auf eigene Weise bekleidet; große, geographische Abbildungen
aller vier Weltteile fielen ihm in die Augen; stattliche Treppenwände
waren gleichfalls mit Abrissen einzelner Reiche geschmückt, und in
den Hauptsaal eingelassen, fand er sich umgeben von Prospekten der
merkwürdigsten Städte, oben und unten eingefaßt von landschaftlicher
Nachbildung der Gegenden, worin sie gelegen sind, alles kunstreich
dargestellt, so daß die Einzelnheiten deutlich in die Augen fielen
und zugleich ein ununterbrochener Bezug durchaus bemerkbar blieb.

Der Hausherr, ein kleiner, lebhafter Mann von Jahren, bewillkommte
den Gast und fragte, ohne weitere Einleitung, gegen die Wände deutend:
ob ihm vielleicht eine dieser Städte bekannt sei, und ob er daselbst
jemals sich aufgehalten?  Von manchem konnte nun der Freund
auslangende Rechenschaft geben und beweisen, daß er mehrere Orte
nicht allein gesehen, sondern auch ihre Zustände und Eigenheiten gar
wohl zu bemerken gewußt.

Der Hausherr klingelte und befahl, ein Zimmer den beiden
Ankömmlingen anzuweisen, auch sie später zum Abendessen zu führen;
dies geschah denn auch.  In einem großen Erdsaale entgegneten ihm
zwei Frauenzimmer, wovon die eine mit großer Heiterkeit zu ihm sprach:
"Sie finden hier kleine Gesellschaft, aber gute; ich, die jüngere
Nichte, heiße Hersilie, diese, meine ältere Schwester, nennt man
Juliette, die beiden Herren sind Vater und Sohn, Beamte, die Sie
kennen, Hausfreunde, die alles Vertrauen genießen, das sie verdienen.
Setzen wir uns!"  Die beiden Frauenzimmer nahmen Wilhelm in die Mitte,
die Beamten saßen an beiden Enden, Felix an der andern langen Seite,
wo er sich sogleich Hersilien gegenüber gerückt hatte und kein Auge
von ihr verwendete.

Nach vorläufigem allgemeinem Gespräch ergriff Hersilie Gelegenheit
zu sagen: "Damit der Fremde desto schneller mit uns vertraut und in
unsere Unterhaltung eingeweiht werde, muß ich bekennen, daß bei uns
viel gelesen wird und daß wir uns, aus Zufall, Neigung, auch wohl
Widerspruchsgeist, in die verschiedenen Literaturen geteilt haben.
Der Oheim ist fürs Italienische, die Dame hier nimmt es nicht übel,
wenn man sie für eine vollendete Engländerin hält, ich aber halte
mich an die Franzosen, sofern sie heiter und zierlich sind.  Hier,
Amtmann Papa erfreut sich des deutschen Altertums, und der Sohn mag
denn, wie billig, dem Neuern, Jüngern seinen Anteil zuwenden.
Hiernach werden Sie uns beurteilen, hiernach teilnehmen, einstimmen
oder streiten; in jedem Sinne werden Sie willkommen sein."  Und in
diesem Sinne belebte sich auch die Unterhaltung.

Indessen war die Richtung der feurigen Blicke des schönen Felix
Hersilien keineswegs entgangen, sie fühlte sich überrascht und
geschmeichelt und sendete ihm die vorzüglichsten Bissen, die er
freudig und dankbar empfing.  Nun aber, als er beim Nachtisch über
einen Teller Apfel zu ihr hinsah, glaubte sie, in den reizenden
Früchten ebenso viel Rivale zu erblicken.  Gedacht, getan, sie faßte
einen Apfel und reichte ihn dem heranwachsenden Abenteurer über den
Tisch hinüber; dieser, hastig zugreifend, fing sogleich zu schälen an;
unverwandt aber nach der reizenden Nachbarin hinblickend, schnitt er
sich tief in den Daumen.  Das Blut floß lebhaft; Hersilie sprang auf,
bemühte sich um ihn, und als sie das Blut gestillt, schloß sie die
Wunde mit englischem Pflaster aus ihrem Besteck.  Indessen hatte der
Knabe sie angefaßt und wollte sie nicht loslassen; die Störung ward
allgemein, die Tafel aufgehoben, und man bereitete sich zu scheiden.

"Sie lesen doch auch vor Schlafengehn?" fragte Hersilie zu Wilhelm;
"ich schicke Ihnen ein Manuskript, eine übersetzung aus dem
Französischen von meiner Hand, und Sie sollen sagen, ob Ihnen viel
Artigeres vorgekommen ist.  Ein verrücktes Mädchen tritt auf, das
möchte keine sonderliche Empfehlung sein, aber wenn ich jemals
närrisch werden möchte, wie mir manchmal die Lust ankommt, so wär' es
auf diese Weise."  Die pilgernde Törin

Herr von Revanne, ein reicher Privatmann, besitzt die schönsten
Ländereien seiner Provinz.  Nebst Sohn und Schwester bewohnt er ein
Schloß, das eines Fürsten würdig wäre; und in der Tat, wenn sein Park,
seine Wasser, seine Pachtungen, seine Manufakturen, sein Hauswesen
auf sechs Meilen umher die Hälfte der Einwohner ernähren, so ist er
durch sein Ansehn und durch das Gute, das er stiftet, wirklich ein
Fürst.

Vor einigen Jahren spazierte er an den Mauern seines Parks hin auf
der Heerstraße, und ihm gefiel, in einem Lustwäldchen auszuruhen, wo
der Reisende gern verweilt.  Hochstämmige Bäume ragen über junges,
dichtes Gebüsch; man ist vor Wind und Sonne geschützt; ein sauber
gefaßter Brunnen sendet sein Wasser über Wurzeln, Steine und Rasen.
Der Spazierende hatte wie gewöhnlich Buch und Flinte bei sich.  Nun
versuchte er zu lesen, öfters durch Gesang der Vögel, manchmal durch
Wanderschritte angenehm abgezogen und zerstreut.

Ein schöner Morgen war im Vorrücken, als jung und liebenswürdig ein
Frauenzimmer sich gegen ihn her bewegte.  Sie verließ die Straße,
indem sie sich Ruhe und Erquickung an dem frischen Orte zu
versprechen schien, wo er sich befand.  Sein Buch fiel ihm aus den
Händen, überrascht wie er war.  Die Pilgerin mit den schönsten Augen
von der Welt und einem Gesicht, durch Bewegung angenehm belebt,
zeichnete sich an Körperbau, Gang und Anstand dergestalt aus, daß er
unwillkürlich von seinem Platze aufstand und nach der Straße blickte,
um das Gefolge kommen zu sehen, das er hinter ihr vermutete.  Dann zog
die Gestalt abermals, indem sie sich edel gegen ihn verbeugte, seine
Aufmerksamkeit an sich, und ehrerbietig erwiderte er den Gruß.  Die
schöne Reisende setzte sich an den Rand des Quells, ohne ein Wort zu
sagen und mit einem Seufzer.

"Seltsame Wirkung der Sympathie!" rief Herr von Revanne, als er mir
die Begebenheit erzählte, "dieser Seufzer ward in der Stille von mir
erwidert.  Ich blieb stehen, ohne zu wissen, was ich sagen oder tun
sollte.  Meine Augen waren nicht hinreichend, diese Vollkommenheiten
zu fassen.  Ausgestreckt wie sie lag, auf einen Ellbogen gelehnt, es
war die schönste Frauengestalt, die man sich denken konnte!  Ihre
Schuhe gaben mir zu eigenen Betrachtungen Anlaß; ganz bestaubt,
deuteten sie auf einen langen zurückgelegten Weg, und doch waren ihre
seidenen Strümpfe so blank, als wären sie eben unter dem Glättstein
hervorgegangen.  Ihr aufgezogenes Kleid war nicht zerdrückt; ihre
Haare schienen diesen Morgen erst gelockt; feines Weißzeug, feine
Spitzen; sie war angezogen, als wenn sie zum Balle gehen sollte.  Auf
eine Landstreicherin deutete nichts an ihr, und doch war sie's; aber
eine beklagenswerte, eine verehrungswürdige.

Zuletzt benutzte ich einige Blicke, die sie auf mich warf, sie zu
fragen, ob sie allein reise.  "Ja, mein Herr", sagte sie, "ich bin
allein auf der Welt."--"Wie?  Madame, Sie sollten ohne Eltern, ohne
Bekannte sein?"--"Das wollte ich eben nicht sagen, mein Herr.  Eltern
hab' ich, und Bekannte genug; aber keine Freunde."-- "Daran", fuhr
ich fort, "können Sie wohl unmöglich schuld sein.  Sie haben eine
Gestalt und gewiß auch ein Herz, denen sich viel vergeben läßt."

Sie fühlte die Art von Vorwurf, den mein Kompliment verbarg, und ich
machte mir einen guten Begriff von ihrer Erziehung.  Sie öffnete
gegen mich zwei himmlische Augen vom vollkommensten, reinsten Blau,
durchsichtig und glänzend; hierauf sagte sie mit edlem Tone: sie könne
es einem Ehrenmanne, wie ich zu sein scheine, nicht verdenken, wenn
er ein junges Mädchen, das er allein auf der Landstraße treffe,
einigermaßen verdächtig halte: ihr sei das schon öfter entgegen
gewesen; aber ob sie gleich fremd sei, obgleich niemand das Recht habe,
sie auszuforschen, so bitte sie doch zu glauben, daß die Absicht
ihrer Reise mit der gewissenhaftesten Ehrbarkeit bestehen könne.
Ursachen, von denen sie niemand Rechenschaft schuldig sei, nötigten
sie, ihre Schmerzen in der Welt umherzuführen.  Sie habe gefunden,
daß die Gefahren, die man für ihr Geschlecht befürchte, nur
eingebildet seien und daß die Ehre eines Weibes, selbst unter
Straßenräubern, nur bei Schwäche des Herzens und der Grundsätze
Gefahr laufe.

übrigens gehe sie nur zu Stunden und auf Wegen, wo sie sich sicher
glaube, spreche nicht mit jedermann und verweile manchmal an
schicklichen Orten, wo sie ihren Unterhalt erwerben könne durch
Dienstleistung in der Art, wonach sie erzogen worden.  Hier sank ihre
Stimme, ihre Augenlider neigten sich, und ich sah einige Tränen ihre
Wangen herabfallen.

Ich versetzte darauf, daß ich keineswegs an ihrem guten Herkommen
zweifle, so wenig als an einem achtungswerten Betragen.  Ich bedaure
sie nur, daß irgendeine Notwendigkeit sie zu dienen zwinge, da sie so
wert scheine, Diener zu finden; und daß ich, ungeachtet einer
lebhaften Neugierde, nicht weiter in sie dringen wolle, vielmehr mich
durch ihre nähere Bekanntschaft zu überzeugen wünsche, daß sie
überall für ihren Ruf ebenso besorgt sei als für ihre Tugend.  Diese
Worte schienen sie abermals zu verletzen, denn sie antwortete: Namen
und Vaterland verberge sie, eben um des Rufs willen, der denn doch am
Ende meistenteils weniger Wirkliches als Mutmaßliches enthalte.
Biete sie ihre Dienste an, so weise sie Zeugnisse der letzten Häuser
vor, wo sie etwas geleistet habe, und verhehle nicht, daß sie über
Vaterland und Familie nicht befragt sein wolle.  Darauf bestimme man
sich und stelle dem Himmel oder ihrem Worte die Unschuld ihres ganzen
Lebens und ihre Redlichkeit anheim."

äußerungen dieser Art ließen keine Geistesverwirrung bei der schönen
Abenteurerin argwöhnen.  Herr von Revanne, der einen solchen
Entschluß, in die Welt zu laufen, nicht gut begreifen konnte,
vermutete nun, daß man sie vielleicht gegen ihre Neigung habe
verheiraten wollen.  Hernach fiel er darauf, ob es nicht etwa gar
Verzweiflung aus Liebe sei; und wunderlich genug, wie es aber mehr zu
gehen pflegt, indem er ihr Liebe für einen andern zutraute, verliebte
er sich selbst und fürchtete, sie möchte weiterreisen.  Er konnte
seine Augen nicht von dem schönen Gesicht wegwenden, das von einem
grünen Halblichte verschönert war.  Niemals zeigte, wenn es je
Nymphen gab, auf den Rasen sich eine schönere hingestreckt; und die
etwas romanhafte Art dieser Zusammenkunft verbreitete einen Reiz, dem
er nicht zu widerstehen vermochte.

Ohne daher die Sache viel näher zu betrachten, bewog Herr von
Revanne die schöne Unbekannte, sich nach dem Schlosse führen zu
lassen.  Sie macht keine Schwierigkeit, sie geht mit und zeigt sich
als eine Person, der die große Welt bekannt ist.  Man bringt
Erfrischungen, welche sie annimmt, ohne falsche Höflichkeit und mit
dem anmutigsten Dank.  In Erwartung des Mittagessens zeigt man ihr
das Haus.  Sie bemerkt nur, was Auszeichnung verdient, es sei an
Möbeln, Malereien, oder es betreffe die schickliche Einteilung der
Zimmer.  Sie findet eine Bibliothek, sie kennt die guten Bücher und
spricht darüber mit Geschmack und Bescheidenheit.  Kein Geschwätz,
keine Verlegenheit.  Bei Tafel ein ebenso edles und natürliches
Betragen und den liebenswürdigsten Ton der Unterhaltung.  So weit ist
alles verständig in ihrem Gespräch, und ihr Charakter scheint so
liebenswürdig wie ihre Person.

Nach der Tafel machte sie ein kleiner mutwilliger Zug noch schöner,
und indem sie sich an Fräulein Revanne mit einem Lächeln wendet, sagt
sie: es sei ihr Brauch, ihr Mittagsmahl durch eine Arbeit zu bezahlen
und, sooft es ihr an Geld fehle, Nähnadeln von den Wirtinnen zu
verlangen.  "Erlauben Sie", fügte sie hinzu, "daß ich eine Blume auf
einem Ihrer Stickrahmen lasse, damit Sie künftig bei deren Anblick der
armen Unbekannten sich erinnern mögen."  Fräulein von Revanne
versetzte darauf, daß es ihr sehr leid tue, keinen aufgezogenen Grund
zu haben, und deshalb das Vergnügen, ihre Geschicklichkeit zu
bewundern, entbehren müsse.  Alsbald wendete die Pilgerin ihren Blick
auf das Klavier.  "So will ich denn", sagte sie, "meine Schuld mit
Windmünze abtragen, wie es auch ja sonst schon die Art
umherstreifender Sänger war."  Sie versuchte das Instrument mit zwei
oder drei Vorspielen, die eine sehr geübte Hand ankündigten.  Man
zweifelte nicht mehr, daß sie ein Frauenzimmer von Stande sei,
ausgestattet mit allen liebenswürdigen Geschicklichkeiten.  Zuerst
war ihr Spiel aufgeweckt und glänzend; dann ging sie zu ernsten Tönen
über, zu Tönen einer tiefen Trauer, die man zugleich in ihren Augen
erblickte.  Sie netzten sich mit Tränen, ihr Gesicht verwandelte sich,
ihre Finger hielten an; aber auf einmal überraschte sie jedermann,
indem sie ein mutwilliges Lied, mit der schönsten Stimme von der Welt,
lustig und lächerlich vorbrachte.  Da man in der Folge Ursache hatte
zu glauben, daß diese burleske Romanze sie etwas näher angehe, so
verzeiht man mir wohl, wenn ich sie hier einschalte.



Woher im Mantel so geschwinde,
Da kaum der Tag in Osten graut?
Hat wohl der Freund beim scharfen Winde
Auf einer Wallfahrt sich erbaut?
Wer hat ihm seinen Hut genommen?
Mag er mit Willen barfuß gehn?
Wie ist er in den Wald gekommen
Auf den beschneiten, wilden Höhn?


Gar wunderlich von warmer Stätte,
Wo er sich bessern Spaß versprach,
Und wenn er nicht den Mantel hätte,
Wie gräßlich wäre seine Schmach!
So hat ihn jener Schalk betrogen
Und ihm das Bündel abgepackt:
Der arme Freund ist ausgezogen,
Beinah wie Adam bloß und nackt.


Warum auch ging er solche Wege
Nach jenem Apfel voll Gefahr,
Der freilich schön im Mühlgehege
Wie sonst im Paradiese war!
Er wird den Scherz nicht leicht erneuen;
Er drückte schnell sich aus dem Haus,
Und bricht auf einmal nun im Freien
In bittre, laute Klagen aus:


"Ich las in ihren Feuerblicken
Doch keine Silbe von Verrat!
Sie schien mit mir sich zu entzücken
Und sann auf solche schwarze Tat!
Konnt ich in ihren Armen träumen,
Wie meuchlerisch der Busen schlug?
Sie hieß den raschen Amor säumen,
Und günstig war er uns genug.


Sich meiner Liebe zu erfreuen,
Der Nacht, die nie ein Ende nahm,
Und erst die Mutter anzuschreien
Jetzt eben, als der Morgen kam!
Da drang ein Dutzend Anverwandten
Herein, ein wahrer Menschenstrom!
Da kamen Brüder, guckten Tanten,
Da stand ein Vetter und ein Ohm!


Das war ein Toben, war ein Wüten!
Ein jeder schien ein andres Tier.
Da forderten sie Kranz und Blüten
Mit gräßlichem Geschrei von mir.
"Was dringt ihr alle wie von Sinnen
Auf den unschuld'gen Jüngling ein!
Denn solche Schätze zu gewinnen,
Da muß man viel behender sein.


Weiß Amor seinem schönen Spiele
Doch immer zeitig nachzugehn:
Er läßt fürwahr nicht in der Mühle
Die Blumen sechzehn Jahre stehn."
Da raubten sie das Kleiderbündel
Und wollten auch den Mantel noch.
Wie nur so viel verflucht Gesindel
Im engen Hause sich verkroch!


Da sprang ich auf und tobt' und fluchte,
Gewiß, durch alle durchzugehn.
Ich sah noch einmal die Verruchte,
Und ach! sie war noch immer schön.
Sie alle wichen meinem Grimme,
Doch flog noch manches wilde Wort;
So macht' ich mich mit Donnerstimme
Noch endlich aus der Höhle fort.


Man soll euch Mädchen auf dem Lande
Wie Mädchen aus den Städten fliehn!
So lasset doch den Fraun von Stande
Die Lust, die Diener auszuziehn!
Doch seid ihr auch von den Geübten
Und kennt ihr keine zarte Pflicht,
So ändert immer die Geliebten,
Doch sie verraten müßt ihr nicht."


So singt er in der Winterstunde,
Wo nicht ein armes Hälmchen grünt.
Ich lache seiner tiefen Wunde,
Denn wirklich ist sie wohlverdient;
So geh' es jedem, der am Tage
Sein edles Liebchen frech belügt
Und nachts, mit allzu kühner Wage,
Zu Amors falscher Mühle kriecht.



Wohl war es bedenklich, daß sie sich auf eine solche Weise vergessen
konnte, und dieser Ausfall mochte für ein Anzeichen eines Kopfes
gelten, der sich nicht immer gleich war.  "Aber", sagte mir Herr von
Revanne, "auch wir vergaßen alle Betrachtungen, die wir hätten machen
können, ich weiß nicht, wie es zuging.  Uns mußte die
unaussprechliche Anmut, womit sie diese Possen vorbrachte, bestochen
haben.  Sie spielte neckisch, aber mit Einsicht.  Ihre Finger
gehorchten ihr vollkommen, und ihre Stimme war wirklich bezaubernd.
Da sie geendigt hatte, erschien sie so gesetzt wie vorher, und wir
glaubten, sie habe nur den Augenblick der Verdauung erheitern wollen.

Bald darauf bat sie um die Erlaubnis, ihren Weg wieder anzutreten;
aber auf meinen Wink sagte meine Schwester: wenn sie nicht zu eilen
hätte und die Bewirtung ihr nicht mißfiele, so würde es uns ein Fest
sein, sie mehrere Tage bei uns zu sehen.  Ich dachte ihr eine
Beschäftigung anzubieten, da sie sich's einmal gefallen ließ zu
bleiben.  Doch diesen ersten Tag und den folgenden führten wir sie
nur umher.  Sie verleugnete sich nicht einen Augenblick: sie war die
Vernunft, mit aller Anmut begabt.  Ihr Geist war fein und treffend,
ihr Gedächtnis so wohl ausgeziert und ihr Gemüt so schön, daß sie gar
oft unsere Bewunderung erregte und alle unsere Aufmerksamkeit
festhielt.  Dabei kannte sie die Gesetze eines guten Betragens und
übte sie gegen einen jeden von uns, nicht weniger gegen einige Freunde,
die uns besuchten, so vollkommen aus, daß wir nicht mehr wußten, wie
wir jene Sonderbarkeiten mit einer solchen Erziehung vereinigen
sollten.

Ich wagte wirklich nicht mehr, ihr Dienstvorschläge für mein Haus zu
tun.  Meine Schwester, der sie angenehm war, hielt es gleichfalls für
Pflicht, das Zartgefühl der Unbekannten zu schonen.  Zusammen
besorgten sie die häuslichen Dinge, und hier ließ sich das gute Kind
öfters bis zur Handarbeit herunter und wußte sich gleich darauf in
alles zu schicken, was höhere Anordnung und Berechnung erheischte.

In kurzer Zeit stellte sie eine Ordnung her, die wir bis jetzt im
Schlosse gar nicht vermißt hatten.  Sie war eine sehr verständige
Haushälterin; und da sie damit angefangen hatte, bei uns mit an Tafel
zu sitzen, so zog sie sich nunmehr nicht etwa aus falscher
Bescheidenheit zurück, sondern speiste mit uns ohne Bedenken fort;
aber sie rührte keine Karte, kein Instrument an, als bis sie die
übernommenen Geschäfte zu Ende gebracht hatte.

Nun muß ich freilich gestehen, daß mich das Schicksal dieses
Mädchens innigst zu rühren anfing.  Ich bedauerte die Eltern, die
wahrscheinlich eine solche Tochter sehr vermißten; ich seufzte, daß
so sanfte Tugenden, so viele Eigenschaften verlorengehen sollten.
Schon lebte sie mehrere Monate mit uns, und ich hoffte, das Vertrauen,
das wir ihr einzuflößen suchten, würde zuletzt das Geheimnis auf ihre
Lippen bringen.  War es ein Unglück, wir konnten helfen; war es ein
Fehler, so ließ sich hoffen, unsere Vermittelung, unser Zeugnis
würden ihr Vergebung eines vorübergehenden Irrtums verschaffen können;
aber alle unsere Freundschaftsversicherungen, unsre Bitten selbst
waren unwirksam.  Bemerkte sie die Absicht, einige Aufklärung von ihr
zu gewinnen, so versteckte sie sich hinter allgemeine Sittensprüche,
um sich zu rechtfertigen, ohne uns zu belehren.  Zum Beispiel, wenn
wir von ihrem Unglücke sprachen: "Das Unglück", sagte sie, "fällt
über Gute und Böse.  Es ist eine wirksame Arzenei, welche die guten
Säfte zugleich mit den üblen angreift."

Suchten wir die Ursache ihrer Flucht aus dem väterlichen Hause zu
entdecken: "Wenn das Reh flieht", sagte sie lächelnd, "so ist es
darum nicht schuldig."  Fragten wir, ob sie Verfolgungen erlitten:
"Das ist das Schicksal mancher Mädchen von guter Geburt, Verfolgungen
zu erfahren und auszuhalten.  Wer über eine Beleidigung weint, dem
werden mehrere begegnen."  Aber wie hatte sie sich entschließen
können, ihr Leben der Roheit der Menge auszusetzen, oder es
wenigstens manchmal ihrem Erbarmen zu verdanken?  Darüber lachte sie
wieder und sagte: "Dem Armen, der den Reichen bei Tafel begrüßt, fehlt
es nicht an Verstand."  Einmal, als die Unterhaltung sich zum Scherze
neigte, sprachen wir ihr von Liebhabern und fragten sie: ob sie den
frostigen Helden ihrer Romanze nicht kenne?  Ich weiß noch recht gut,
dieses Wort schien sie zu durchbohren.  Sie öffnete gegen mich ein
Paar Augen, so ernst und streng, daß die meinigen einen solchen Blick
nicht aushalten konnten; und sooft man auch nachher von Liebe sprach,
so konnte man erwarten, die Anmut ihres Wesens und die Lebhaftigkeit
ihres Geistes getrübt zu sehen.  Gleich fiel sie in ein Nachdenken,
das wir für Grübeln hielten und das doch wohl nur Schmerz war.  Doch
blieb sie im ganzen munter, nur ohne große Lebhaftigkeit, edel, ohne
sich ein Ansehn zu geben, gerade ohne Offenherzigkeit, zurückgezogen
ohne Ängstlichkeit, eher duldsam als sanftmütig, und mehr erkenntlich
als herzlich bei Liebkosungen und Höflichkeiten.  Gewiß war es ein
Frauenzimmer, gebildet, einem großen Hause vorzustehn; und doch schien
sie nicht älter als einundzwanzig Jahre.

So zeigte sich diese junge, unerklärliche Person, die mich ganz
eingenommen hatte, binnen zwei Jahren, die es ihr gefiel bei uns zu
verweilen, bis sie mit einer Torheit schloß, die viel seltsamer ist,
als ihre Eigenschaften ehrwürdig und glänzend waren.  Mein Sohn,
jünger als ich, wird sich trösten können; was mich betrifft, so
fürchte ich, schwach genug zu sein, sie immer zu vermissen."

Nun will ich die Torheit eines verständigen Frauenzimmers erzählen,
um zu zeigen, daß Torheit oft nichts weiter sei als Vernunft unter
einem andern äußern.  Es ist wahr, man wird einen seltsamen
Widerspruch finden zwischen dem edlen Charakter der Pilgerin und der
komischen List, deren sie sich bediente; aber man kennt ja schon zwei
ihrer Ungleichheiten, die Pilgerschaft selbst und das Lied.

Es ist wohl deutlich, daß Herr von Revanne in die Unbekannte
verliebt war.  Nun mochte er sich freilich auf sein funfzigjähriges
Gesicht nicht verlassen, ob er so schon frisch und wacker aussah als
ein Dreißiger; vielleicht aber hoffte er, durch seine reine, kindliche
Gesundheit zu gefallen, durch die Güte, Heiterkeit, Sanftheit,
Großmut seine Charakters; vielleicht auch durch sein Vermögen, ob er
gleich zart genug gesinnt war, um zu fühlen, daß man das nicht
erkauft, was keinen Preis hat.

Aber der Sohn von der andern Seite, liebenswürdig, zärtlich, feurig,
ohne sich mehr als sein Vater zu bedenken, stürzte sich über Hals und
Kopf in das Abenteuer.  Erst suchte er vorsichtig die Unbekannte zu
gewinnen, die ihm durch seines Vaters und seiner Tante Lob und
Freundschaft erst recht wert geworden.  Er bemühte sich aufrichtig um
ein liebenswürdiges Weib, die seiner Leidenschaft weit über den
gegenwärtigen Zustand erhöht schien.  Ihre Strenge mehr als ihr
Verdienst und ihre Schönheit entflammte ihn; er wagte zu reden, zu
unternehmen, zu versprechen.

Der Vater, ohne es selbst zu wollen, gab seiner Bewerbung immer ein
etwas väterliches Ansehn, Er kannte sich, und als er seinen Rival
erkannt hatte, hoffte er nicht, über ihn zu siegen, wenn er nicht zu
Mitteln greifen wollte, die einem Manne von Grundsätzen nicht geziemen.
Dessenungeachtet verfolgte er seinen Weg, ob ihm gleich nicht
unbekannt war, daß Güte, ja Vermögen selbst, nur Reizungen sind,
denen sich ein Frauenzimmer mit Vorbedacht hingibt, die jedoch
unwirksam bleiben, sobald Liebe sich mit den Reizen und in Begleitung
der Jugend zeigt.  Auch machte Herr von Revanne noch andere Fehler,
die er später bereute.  Bei einer hochachtungsvollen Freundschaft
sprach er von einer dauerhaften, geheimen, gesetzmäßigen Verbindung.
Er beklagte sich auch wohl und sprach das Wort Undankbarkeit aus.
Gewiß kannte er die nicht, die er liebte, als er eines Tages zu ihr
sagte, daß viele Wohltäter übles für Gutes zurückerhielten.  Ihm
antwortete die Unbekannte mit Geradheit: "Viele Wohltäter möchten
ihren Begünstigten sämtliche Rechte gern abhandeln für eine Linse."

Die schöne Fremde, in die Bewerbung zweier Gegner verwickelt, durch
unbekannte Beweggründe geleitet, scheint keine andere Absicht gehabt
zu haben, als sich und andern alberne Streiche zu ersparen, indem sie
in diesen bedenklichen Umständen einen wunderlichen Ausweg ergriff.
Der Sohn drängte mit der Kühnheit seines Alters und drohte, wie
gebräuchlich, sein Leben der Unerbittlichen aufzuopfern.  Der Vater,
etwas weniger unvernünftig, war doch ebenso dringend; aufrichtig
beide.  Dieses liebenswürdige Wesen hätte sich hier wohl eines
verdienten Zustandes versichern können: denn beide Herren von Revanne
beteuren, ihre Absicht sei gewesen, sie zu heiraten.

Aber an dem Beispiele dieses Mädchens mögen die Frauen lernen, daß
ein redliches Gemüt, hätte sich auch der Geist durch Eitelkeit oder
wirklichen Wahnsinn verirrt, die Herzenswunden nicht unterhält, die
es nicht heilen will.  Die Pilgerin fühlte, daß sie auf einem
äußersten Punkte stehe, wo es ihr wohl nicht leicht sein würde, sich
lange zu verteidigen.  Sie war in der Gewalt zweier Liebenden, welche
jede Zudringlichkeit durch die Reinheit ihrer Absichten entschuldigen
konnten, indem sie im Sinne hatten, ihre Verwegenheit durch ein
feierliches Bündnis zu rechtfertigen.  So war es, und so begriff sie
es.

Sie konnte sich hinter Fräulein von Revanne verschanzen; sie
unterließ es, ohne Zweifel aus Schonung, aus Achtung für ihre
Wohltäter.  Sie kommt nicht aus der Fassung, sie erdenkt ein Mittel,
jedermann seine Tugend zu erhalten, indem sie die ihrige bezweifeln
läßt.  Sie ist wahnsinnig vor Treue, die ihr Liebhaber gewiß nicht
verdient, wenn er nicht alle die Aufopferungen fühlt, und sollten sie
ihm auch unbekannt bleiben.

Eines Tages, als Herr von Revanne die Freundschaft, die Dankbarkeit,
die sie ihm bezeigte, etwas zu lebhaft erwiderte, nahm sie auf einmal
ein naives Wesen an, das ihm auffiel.  "Ihre Güte, mein Herr", sagte
sie, "ängstigt mich; und lassen Sie mich aufrichtig entdecken, warum.
Ich fühle wohl, nur Ihnen bin ich meine ganze Dankbarkeit schuldig;
aber freilich--"--"Grausames Mädchen!" sagte Herr von Revanne, "ich
verstehe Sie.  Mein Sohn hat Ihr Herz gerührt."--"Ach! mein Herr,
dabei ist es nicht geblieben.  Ich kann nur durch meine Verwirrung
ausdrücken--"--"Wie?  Mademoiselle, Sie wären--"--"Ich denke wohl ja",
sagte sie, indem sie sich tief verneigte und eine Träne vorbrachte:
denn niemals fehlt es Frauen an einer Träne bei ihren Schalkheiten,
niemals an einer Entschuldigung ihres Unrechts.

So verliebt Herr von Revanne war, so mußte er doch diese neue Art
von unschuldiger Aufrichtigkeit unter dem Mutterhäubchen bewundern,
und er fand die Verneigung sehr am Platze. --"Aber, Mademoiselle, das
ist mir ganz unbegreiflich--"-- "Mir auch", sagte sie, und ihre
Tränen flossen reichlicher.  Sie flossen so lange, bis Herr von
Revanne, am Schluß eines sehr verdrießlichen Nachdenkens, mit ruhiger
Miene das Wort wieder aufnahm und sagte: "Dies klärt mich auf!  Ich
sehe, wie lächerlich meine Forderungen sind.  Ich mache Ihnen keine
Vorwürfe, und als einzige Strafe für den Schmerz, den Sie mir
verursachen, verspreche ich Ihnen von seinem Erbteile so viel, als
nötig ist, um zu erfahren, ob er Sie so sehr liebt als ich."--"Ach!
mein Herr, erbarmen Sie sich meiner Unschuld und sagen ihm nichts
davon."

Verschwiegenheit fordern ist nicht das Mittel, sie zu erlangen.
Nach diesen Schritten erwartete nun die unbekannte Schöne, ihren
Liebhaber voll Verdruß und höchst aufgebracht vor sich zu sehen.
Bald erschien er mit einem Blicke, der niederschmetternde Worte
verkündigte.  Doch er stockte und konnte nichts weiter hervorbringen
als: "Wie?  Mademoiselle, ist es möglich?"--"Nun was denn, mein
Herr?" sagte sie mit einem Lächeln, das bei einer solchen Gelegenheit
zum Verzweifeln bringen kann.--"Wie? was denn?  Gehen Sie,
Mademoiselle, Sie sind mir ein schönes Wesen!  Aber wenigstens sollte
man rechtmäßige Kinder nicht enterben; es ist schon genug, sie
anzuklagen.  Ja, Mademoiselle, ich durchdringe Ihr Komplott mit
meinem Vater.  Sie geben mir beide einen Sohn, und es ist mein Bruder,
das bin ich gewiß!"

Mit ebenderselben ruhigen und heitern Stirne antwortete ihm die
schöne Unkluge: "Von nichts sind Sie gewiß; es ist weder Ihr Sohn
noch Ihr Bruder.  Die Knaben sind bösartig; ich habe keinen gewollt;
es ist ein armes Mädchen, das ich weiterführen will, weiter, ganz
weit von den Menschen, den Bösen, den Toren und den Ungetreuen."

Darauf ihrem Herzen Luft machend: "Leben Sie wohl!" fuhr sie fort,
"leben Sie wohl, lieber Revanne!  Sie haben von Natur ein redliches
Herz; erhalten Sie die Grundsätze der Aufrichtigkeit.  Diese sind
nicht gefährlich bei einem gegründeten Reichtum.  Sein Sie gut gegen
Arme.  Wer die Bitte bekümmerter Unschuld verachtet, wird einst selbst
bitten und nicht erhört werden.  Wer sich kein Bedenken macht, das
Bedenken eines schutzlosen Mädchens zu verachten, wird das Opfer
werden von Frauen ohne Bedenken.  Wer nicht fühlt, was ein ehrbares
Mädchen empfinden muß, wenn man um sie wirbt, der verdient sie nicht
zu erhalten.  Wer gegen alle Vernunft, gegen die Absichten, gegen den
Plan seiner Familie, zugunsten seiner Leidenschaften Entwürfe
schmiedet, verdient die Früchte seiner Leidenschaft zu entbehren und
der Achtung seiner Familie zu ermangeln.  Ich glaube wohl, Sie haben
mich aufrichtig geliebt; aber, mein lieber Revanne, die Katze weiß
wohl, wem sie den Bart leckt; und werden Sie jemals der Geliebte
eines würdigen Weibes, so erinnern Sie sich der Mühle des Ungetreuen.
Lernen Sie an meinem Beispiel sich auf die Standhaftigkeit und
Verschwiegenheit Ihrer Geliebten verlassen.  Sie wissen, ob ich untreu
bin, Ihr Vater weiß es auch.  Ich gedachte durch die Welt zu rennen
und mich allen Gefahren auszusetzen.  Gewiß diejenigen sind die
größten, die mich in diesem Hause bedrohen.  Aber weil Sie jung sind,
sage ich es Ihnen allein und im Vertrauen: Männer und Frauen sind nur
mit Willen ungetreu; und das wollt' ich dem Freunde von der Mühle
beweisen, der mich vielleicht wieder sieht, wenn sein Herz rein genug
sein wird, zu vermissen, was er verloren hat."

Der junge Revanne hörte noch zu, da sie schon ausgesprochen hatte.
Er stand wie vom Blitz getroffen; Tränen öffneten zuletzt seine Augen,
und in dieser Rührung lief er zur Tante, zum Vater, ihnen zu sagen:
Mademoiselle gehe weg, Mademoiselle sei ein Engel, oder vielmehr ein
Dämon, herumirrend in der Welt, um alle Herzen zu peinigen.  Aber die
Pilgerin hatte so gut sich vorgesehen, daß man sie nicht wiederfand.
Und als Vater und Sohn sich erklärt hatten, zweifelte man nicht mehr
an ihrer Unschuld, ihren Talenten, ihrem Wahnsinn.  So viel Mühe sich
auch Herr von Revanne seit der Zeit gegeben, war es ihm doch nicht
gelungen, sich die mindeste Aufklärung über diese schöne Person zu
verschaffen, die so flüchtig wie die Engel und so liebenswürdig
erschienen war.



Sechstes Kapitel

Nach einer langen und gründlichen Ruhe, deren die Wanderer wohl
bedürfen mochten, sprang Felix lebhaft aus dem Bette und eilte, sich
anzuziehn; der Vater glaubte zu bemerken, mit mehr Sorgfalt als
bisher.  Nichts saß ihm knapp noch nett genug, auch hätte er alles
neuer und frischer gewünscht.  Er sprang nach dem Garten und haschte
unterwegs nur etwas von der Vorkost, die der Diener für die Gäste
brachte, weil erst nach einer Stunde die Frauenzimmer im Garten
erscheinen würden.

Der Diener war gewohnt, die Fremden zu unterhalten und manches im
Hause vorzuzeigen; so auch führte er unsern Freund in eine Galerie,
worin bloß Porträte aufgehangen und gestellt waren, alles Personen,
die im achtzehnten Jahrhundert gewirkt hatten, eine große und
herrliche Gesellschaft; Gemälde sowie Büsten, wo möglich, von
vortrefflichen Meistern.  "Sie finden", sagte der Kustode, "in dem
ganzen Schloß kein Bild, das, auch nur von ferne, auf Religion,
überlieferung, Mythologie, Legende oder Fabel hindeutete; unser Herr
will, daß die Einbildungskraft nur gefördert werde, um sich das Wahre
zu vergegenwärtigen.  "Wir fabeln so genug", pflegt er zu sagen, "als
daß wir diese gefährliche Eigenschaft unsers Geistes durch äußere
reizende Mittel noch steigern sollten.""

Die Frage Wilhelms: wann man ihm aufwarten könne? ward durch die
Nachricht beantwortet: der Herr sei, nach seiner Gewohnheit, ganz
früh weggeritten.  Er pflege zu sagen: "Aufmerksamkeit ist das Leben!
"--"Sie werden diesen und andere Sprüche, in denen er sich bespiegelt,
in den Feldern über den Türen eingeschrieben sehen, wie wir hier z.
B. gleich antreffen: "Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen.""

Die Frauenzimmer hatten schon unter den Linden das Frühstück
bereitet, Felix eulenspiegelte um sie her und trachtete, in allerlei
Torheiten und Verwegenheiten sich hervorzutun, die Aufmerksamkeit auf
sich zu leiten, eine Abmahnung, einen Verweis von Hersilien zu
erhaschen.  Nun suchten die Schwestern durch Aufrichtigkeit und
Mitteilung das Vertrauen des schweigsamen Gastes, der ihnen gefiel,
zu gewinnen; sie erzählten von einem werten Vetter, der, drei Jahre
abwesend, zunächst erwartet werde, von einer würdigen Tante, die,
unfern in ihrem Schlosse wohnend, als ein Schutzgeist der Familie zu
betrachten sei.  In krankem Verfall des Körpers, in blühender
Gesundheit des Geistes ward sie geschildert, als wenn die Stimme
einer unsichtbar gewordenen Ursibylle rein göttliche Worte über die
menschlichen Dinge ganz einfach ausspräche.

Der neue Gast lenkte nun Gespräch und Frage auf die Gegenwart.  Er
wünschte den edlen Oheim in rein entschiedener Tätigkeit gerne näher
zu kennen; er gedachte des angedeuteten Wegs vom Nützlichen durchs
Wahre zum Schönen und suchte die Worte auf seine Weise auszulegen,
das ihm denn ganz gut gelang und Juliettens Beifall zu erwerben das
Glück hatte.

Hersilie, die bisher lächelnd schweigsam geblieben, versetzte
dagegen: "Wir Frauen sind in einem besondern Zustande.  Die Maximen
der Männer hören wir immerfort wiederholen, ja wir müssen sie in
goldnen Buchstaben über unsern Häupten sehen, und doch wüßten wir
Mädchen im stillen das Umgekehrte zu sagen, das auch gölte, wie es
gerade hier der Fall ist.  Die Schöne findet Verehrer, auch Freier,
und endlich wohl gar einen Mann; dann gelangt sie zum Wahren, das
nicht immer höchst erfreulich sein mag, und wenn sie klug ist, widmet
sie sich dem Nützlichen, sorgt für Haus und Kinder und verharrt dabei.
So habe ich's wenigstens oft gefunden.  Wir Mädchen haben Zeit zu
beobachten, und da finden wir meist, was wir nicht suchten."

Ein Bote vom Oheim traf ein mit der Nachricht, daß sämtliche
Gesellschaft auf ein nahes Jagdhaus zu Tische geladen sei, man könne
hin reiten und fahren.  Hersilie erwählte zu reiten.  Felix bat
inständig, man möge ihm auch ein Pferd geben.  Man kam überein,
Juliette sollte mit Wilhelm fahren und Felix als Page seinen ersten
Ausritt der Dame seines jungen Herzens zu verdanken haben.

Indessen fuhr Juliette mit dem neuen Freunde durch eine Reihe von
Anlagen, welche sämtlich auf Nutzen und Genuß hindeuteten, ja die
unzähligen Fruchtbäume machten zweifelhaft, ob das Obst alles
verzehrt werden könne.

"Sie sind durch ein so wunderliches Vorzimmer in unsere Gesellschaft
geraten und fanden manches wirklich Seltsame und Sonderbare, so daß
ich vermuten darf, Sie wünschen einen Zusammenhang von allem diesem
zu wissen.  Alles beruht auf Geist und Sinn meines trefflichen Oheims.
Die kräftigen Mannsjahre dieses Edlen fielen in die Zeit der Beccaria
und Filangieri; die Maximen einer allgemeinen Menschlichkeit wirkten
damals nach allen Seiten.  Dies Allgemeine jedoch bildete sich der
strebende Geist, der strenge Charakter nach Gesinnungen aus, die sich
ganz aufs Praktische bezogen.  Er verhehlte uns nicht, wie er jenen
liberalen Wahlspruch: "Den Meisten das Beste!" nach seiner Art
verwandelt und "Vielen das Erwünschte" zugedacht.  Die Meisten lassen
sich nicht finden noch kennen, was das Beste sei, noch weniger
ausmitteln, Viele jedoch sind immer um uns her; was sie wünschen,
erfahren wir, was sie wünschen sollten, überlegen wir, und so läßt
sich denn immer Bedeutendes tun und schaffen.  In diesem Sinne", fuhr
sie fort, "ist alles, was Sie hier sehen, gepflanzt, gebaut,
eingerichtet, und zwar um eines ganz nahen, leicht faßlichen Zweckes
willen; alles dies geschah dem großen, nahen Gebirg zuliebe.  Der
treffliche Mann, Kraft und Vermögen zusammenhaltend, sagte zu sich
selbst: "Keinem Kinde da droben soll es an einer Kirsche, an einem
Apfel fehlen, wornach sie mit Recht so lüstern sind; der Hausfrau
soll es nicht an Kohl noch an Rüben oder sonst einem Gemüse im Topf
ermangeln, damit dem unseligen Kartoffelgenuß nur einigermaßen das
Gleichgewicht gehalten werde."  In diesem Sinne, auf diese Weise sucht
er zu leisten, wozu ihm sein Besitztum Gelegenheit gibt, und so haben
sich seit manchen Jahren Träger und Trägerinnen gebildet, welche das
Obst in die tiefsten Schluchten des Felsgebirges verkäuflich
hintragen."

"Ich habe selbst davon genossen wie ein Kind", versetzte Wilhelm;
"da, wo ich dergleichen nicht anzutreffen hoffte, zwischen Tannen und
Felsen, überraschte mich weniger ein reiner Frommsinn als ein
erquicklich frisches Obst.  Die Gaben des Geistes sind überall zu
Hause, die Geschenke der Natur über den Erdboden sparsam ausgeteilt."

"Ferner hat unser würdiger Landherr von entfernten Orten manches
Notwendige dem Gebirge näher gebracht; in diesen Gebäuden am Fuße hin
finden Sie Salz aufgespeichert und Gewürze vorrätig.  Für Tabak und
Branntwein läßt er andere sorgen; dies seien keine Bedürfnisse, sagt
er, sondern Gelüste, und da würden sich schon Unterhändler genug
finden."

Angelangt am bestimmten Orte, einem geräumigen Försterhause im Walde,
fand sich die Gesellschaft zusammen und bereits eine kleine Tafel
gedeckt.  "Setzen wir uns", sagte Hersilie; "hier steht zwar der
Stuhl des Oheims, aber gewiß wird er nicht kommen, wie gewöhnlich.
Es ist mir gewissermaßen lieb, daß unser neuer Gast, wie ich höre,
nicht lange bei uns verweilen wird: denn es müßte ihm verdrießlich
sein, unser Personal kennen zu lernen, es ist das ewig in Romanen und
Schauspielen wiederholte: ein wunderlicher Oheim, eine sanfte und
eine muntere Nichte, eine kluge Tante, Hausgenossen nach bekannter
Art; und käme nun gar der Vetter wieder, so lernte er einen
phantastischen Reisenden kennen, der vielleicht einen noch
sonderbarern Gesellen mitbrächte, und so wäre das leidige Stück
erfunden und in Wirklichkeit gesetzt."

"Die Eigenheiten des Oheims haben wir zu ehren", versetzte Juliette;
"sie sind niemanden zur Last, gereichen vielmehr jedermann zur
Bequemlichkeit.  Eine bestimmte Tafelstunde ist ihm nun einmal
verdrießlich, selten, daß er sie einhält, wie er denn versichert:
eine der schönsten Erfindungen neuerer Zeit sei das Speisen nach der
Karte."

Unter manchen andern Gesprächen kamen sie auf die Neigung des werten
Mannes, überall Inschriften zu belieben.  "Meine Schwester", sagte
Hersilie, "weiß sie sämtlich auszulegen, mit dem Kustode versteht
sie's um die Wette; ich aber finde, daß man sie alle umkehren kann
und daß sie alsdann ebenso wahr sind, und vielleicht noch mehr.
"--"Ich leugne nicht", versetzte Wilhelm, "es sind Sprüche darunter,
die sich in sich selbst zu vernichten scheinen; so sah ich z.  B. sehr
auffallend angeschrieben: "Besitz und Gemeingut"; heben sich diese
beiden Begriffe nicht auf?"

Hersilie fiel ein: "Dergleichen Inschriften, scheint es, hat der
Oheim von den Orientalen genommen, die an allen Wänden die Sprüche
des Korans mehr verehren als verstehen."  Juliette, ohne sich irren zu
lassen, erwiderte auf obige Frage: "Umschreiben Sie die wenigen Worte,
so wird der Sinn alsobald hervorleuchten."

Nach einigen Zwischenreden fuhr Juliette fort, weiter aufzuklären,
wie es gemeint sei: "Jeder suche den Besitz, der ihm von der Natur,
von dem Schicksal gegönnt ward, zu würdigen, zu erhalten, zu steigern,
er greife mit allen seinen Fertigkeiten so weit umher, als er zu
reichen fähig ist; immer aber denke er dabei, wie er andere daran will
teilnehmen lassen: denn nur insofern werden die Vermögenden geschätzt,
als andere durch sie genießen."

Indem man sich nun nach Beispielen umsah, fand sich der Freund erst
in seinem Fache; man wetteiferte, man überbot sich, um jene
lakonischen Worte recht wahr zu finden.  Warum, hieß es, verehrt man
den Fürsten, als weil er einen jeden in Tätigkeit setzen, fördern,
begünstigen und seiner absoluten Gewalt gleichsam teilhaft machen
kann?  Warum schaut alles nach dem Reichen, als weil er, der
Bedürftigste, überall Teilnehmer an seinem überflusse wünscht?  Warum
beneiden alle Menschen den Dichter? weil seine Natur die Mitteilung
nötig macht, ja die Mitteilung selbst ist.  Der Musiker ist
glücklicher als der Maler, er spendet willkommene Gaben aus,
persönlich unmittelbar, anstatt daß der letzte nur gibt, wenn die
Gabe sich von ihm absonderte.

Nun hieß es ferner im allgemeinen: Jede Art von Besitz soll der
Mensch festhalten, er soll sich zum Mittelpunkt machen, von dem das
Gemeingut ausgehen kann; er muß Egoist sein, um nicht Egoist zu
werden, zusammenhalten, damit er spenden könne.  Was soll es heißen,
Besitz und Gut an die Armen zu geben?  Löblicher ist, sich für sie als
Verwalter betragen.  Dies ist der Sinn der Worte "Besitz und
Gemeingut"; das Kapital soll niemand angreifen, die Interessen werden
ohnehin im Weltlaufe schon jedermann angehören.

Man hatte, wie sich im Gefolg des Gesprächs ergab, dem Oheim
vorgeworfen, daß ihm seine Güter nicht eintrugen, was sie sollten.
Er versetzte dagegen: "Das Mindere der Einnahme betracht' ich als
Ausgabe, die mir Vergnügen macht, indem ich andern dadurch das Leben
erleichtere; ich habe nicht einmal die Mühe, daß diese Spende durch
mich durchgeht, und so setzt sich alles wieder ins gleiche."

Dergestalt unterhielten sich die Frauenzimmer mit dem neuen Freunde
gar vielseitig, und bei immer wachsendem gegenseitigem Vertrauen
sprachen sie über den zunächst erwarteten Vetter.

"Wir halten sein wunderliches Betragen für abgeredet mit dem Oheim.
Er läßt seit einigen Jahre nichts von sich hören, sendet anmutige,
seinen Aufenthalt verblümt andeutende Geschenke, schreibt nun auf
einmal ganz aus der Nähe, will aber nicht eher zu uns kommen, bis wir
ihm von unsern Zuständen Nachricht geben.  Dies Betragen ist nicht
natürlich; was auch dahinterstecke, wir müssen es vor seiner Rückkehr
erfahren.  Heute abend geben wir Ihnen einen Heft Briefe, woraus das
Weitere zu ersehen ist."  Hersilie setzte hinzu: "Gestern machte ich
Sie mit einer törigen Landläuferin bekannt, heute sollen Sie von
einem verrückten Reisenden vernehmen."--"Gestehe es nur", fügte
Juliette hinzu, "diese Mitteilung ist nicht ohne Absicht."

Hersilie fragte soeben etwas ungeduldig, wo der Nachtisch bleibe,
als die Meldung geschah, der Oheim erwarte die Gesellschaft, mit ihm
die Nachkost in der großen Laube zu genießen.  Auf dem Hinwege
bemerkte man eine Feldküche, die sehr emsig ihre blank gereinigten
Kasserollen, Schüsseln und Teller klappernd einzupacken beschäftigt
war.  In einer geräumigen Laube fand man den alten Herrn an einem
runden, großen, frischgedeckten Tisch, auf welchem soeben die
schönsten Früchte, willkommenes Backwerk und die besten Süßigkeiten,
indem sich jene niedersetzten, reichlich aufgetragen wurden.  Auf die
Frage des Oheims, was bisher begegnet, womit man sich unterhalten,
fiel Hersilie vorschnell ein: "Unser guter Gast hätte wohl über ihre
lakonischen Inschriften verwirrt werden können, wäre ihm Juliette
nicht durch einen fortlaufenden Kommentar zu Hülfe gekommen."--"Du
hast es immer mit Julietten zu tun", versetzte der Oheim, "sie ist
ein wackres Mädchen, das noch etwas lernen und begreifen mag."-- "Ich
möchte vieles gern vergessen, was ich weiß, und was ich begriffen habe,
ist auch nicht viel wert", versetzte Hersilie in Heiterkeit.

Hierauf nahm Wilhelm das Wort und sagte bedächtig: "Kurzgefaßte
Sprüche jeder Art weiß ich zu ehren, besonders wenn sie mich anregen,
das Entgegengesetzte zu überschauen und in übereinstimmung zu bringen.
"--"Ganz richtig", erwiderte der Oheim, "hat doch der vernünftige
Mann in seinem ganzen Leben noch keine andere Beschäftigung gehabt."

Indessen besetzte sich die Tafelrunde nach und nach, so daß Spätere
kaum Platz fanden.  Die beiden Amtleute waren gekommen, Jäger,
Pferdebändiger, Gärtner, Förster und andere, denen man nicht gleich
ihren Beruf ansehen konnte.  Jeder hatte etwas von dem letzten
Augenblick zu erzählen und mitzuteilen, das sich der alte Herr
gefallen ließ, auch wohl durch teilnehmende Fragen hervorrief,
zuletzt aber aufstand und, die Gesellschaft, die sich nicht rühren
sollte, begrüßend, mit den beiden Amtleuten sich entfernte.  Das Obst
hatten sich alle, das Zuckerwerk die jungen Leute, wenn sie auch ein
wenig wild aussahen, gar wohl schmecken lassen.  Einer nach dem
andern stand auf, begrüßte die Bleibenden und ging davon.

Die Frauenzimmer, welche bemerkten, daß der Gast auf das, was
vorging, mit einiger Verwunderung achtgab, erklärten sich
folgendermaßen: "Sie sehen hier abermals die Wirkung der Eigenheiten
unsers trefflichen Oheims; er behauptet: keine Erfindung des
Jahrhunderts verdiene mehr Bewunderung, als daß man in Gasthäusern,
an besonderen kleinen Tischchen, nach der Karte speisen könne; sobald
er dies gewahr worden, habe er für sich und andere dies auch in
seiner Familie einzuführen gesucht.  Wenn er vom besten Humor ist, mag
er gern die Schrecknisse eines Familientisches lebhaft schildern, wo
jedes Glied mit fremden Gedanken beschäftigt sich niedersetzt, ungern
hört, in Zerstreuung spricht, muffig schweigt und, wenn gar das
Unglück kleine Kinder heranführt, mit augenblicklicher Pädagogik die
unzeitigste Mißstimmung hervorbringt.  "So manches übel", sagt er,
"muß man tragen, von diesem habe ich mich zu befreien gewußt."  Selten
erscheint er an unserm Tische und besetzt den Stuhl nur
augenblicklich, der für ihn leer steht.  Seine Feldküche führt er mit
sich umher, speist gewöhnlich allein, andere mögen für sich sorgen.
Wenn er aber einmal Frühstück, Nachtisch oder sonst Erfrischung
anbietet, dann versammeln sich alle zerstreuten Angehörigen, genießen
das Bescherte, wie Sie gesehen haben.  Das macht ihm Vergnügen; aber
niemand darf kommen, der nicht Appetit mitbringt, jeder muß aufstehen,
der sich gelabt hat, und nur so ist er gewiß, immer von Genießenden
umgeben zu sein.  "Will man die Menschen ergötzen", hörte ich ihn
sagen, "so muß man ihnen das zu verleihen suchen, was sie selten oder
nie zu erlangen im Falle sind.""

Auf dem Rückwege brachte ein unerwarteter Schlag die Gesellschaft in
einige Gemütsbewegung.  Hersilie sagte zu dem neben ihr reitenden
Felix: "Sieh dort, was mögen das für Blumen sein? sie decken die
ganze Sommerseite des Hügels, ich hab' sie noch nie gesehen."
Sogleich regte Felix sein Pferd an, sprengte auf die Stelle los und
war im Zurückkommen mit einem ganzen Büschel blühender Kronen, die er
von weitem schüttelte, als er auf einmal mit dem Pferde verschwand.
Er war in einen Graben gestürzt.  Sogleich lösten sich zwei Reiter von
der Gesellschaft, nach dem Punkte hinsprengend.

Wilhelm wollte aus dem Wagen, Juliette verbat es: "Hülfe ist schon
bei ihm, und unser Gesetz ist in solchen Fällen, daß nur der Helfende
sich von der Stelle regen darf; der Chirurg ist schon dorten."
Hersilie hielt ihr Pferd an: "Jawohl", sagte sie, "Leibärzte braucht
man nur selten, Wundärzte jeden Augenblick."  Schon sprengte Felix
mit verbundenem Kopfe wieder heran, die blühende Beute festhaltend und
hoch emporzeigend.  Mit Selbstgefälligkeit reichte er den Strauß
seiner Herrin zu, dagegen gab ihm Hersilie ein buntes, leichtes
Halstuch.  "Die weiße Binde kleidet dich nicht", sagte sie, "diese
wird schon lustiger aussehen."  Und so kamen sie zwar beruhigt, aber
teilnehmender gestimmt nach Hause.

Es war spät geworden, man trennte sich in freundlicher Hoffnung
morgenden Wiedersehens; der hier folgende Briefwechsel aber erhielt
unsern Freund noch einige Stunden nachdenklich und wach.



Lenardo an die Tante

Endlich erhalten Sie nach drei Jahren den ersten Brief von mir,
liebe Tante, unserer Abrede gemäß, die freilich wunderlich genug war.
Ich wollte die Welt sehen und mich ihr hingeben und wollte für diese
Zeit meine Heimat vergessen, von der ich kam, zu der ich wieder
zurückzukehren hoffte.  Den ganzen Eindruck wollte ich behalten, und
das einzelne sollte mich in die Ferne nicht irremachen.  Indessen
sind die nötigen Lebenszeichen von Zeit zu Zeit hin und her gegangen.
Ich habe Geld erhalten, und kleine Gaben für meine Nächsten sind
Ihnen indessen zur Austeilung überliefert worden.  An den
überschickten Waren konnten Sie sehen, wo und wie ich mich befand.
An den Weinen hat der Onkel meinen jedesmaligen Aufenthalt gewiß
herausgekostet; dann die Spitzen, die Quodlibets, die Stahlwaren haben
meinen Weg, durch Brabant über Paris nach London, für die
Frauenzimmer bezeichnet; und so werde ich auf Ihren Schreib-,
Näh--und Teetischen, an Ihren Negligés und Festkleidern gar manches
Merkzeichen finden, woran ich meine Reiseerzählung knüpfen kann.  Sie
haben mich begleitet, ohne von mir zu hören, und sind vielleicht
nicht einmal neugierig, etwas weiter zu erfahren.  Mir hingegen ist
höchst nötig, durch Ihre Güte zu vernehmen, wie es in dem Kreise
steht, in den ich wieder einzutreten im Begriff bin.  Ich möchte
wirklich aus der Fremde wie ein Fremder hineinkommen, der, um
angenehm zu sein, sich erst erkundigt, was man in dem Hause will und
mag, und sich nicht einbildet, daß man ihn wegen seiner schönen Augen
oder Haare gerade nach seiner eigenen Weise empfangen müsse.
Schreiben Sie mir daher vom guten Onkel, von den lieben Nichten, von
sich selbst, von unsern Verwandten, nähern und fernern, auch von
alten und neuen Bedienten.  Genug, lassen Sie Ihre geübte Feder, die
Sie für Ihren Neffen so lange nicht eingetaucht, auch einmal zu
seinen Gunsten auf dem Papiere hinwalten.  Ihr unterrichtendes
Schreiben soll zugleich mein Kreditiv sein, mit dem ich mich einstelle,
sobald ich es erhalten habe.  Es hängt also von Ihnen ab, mich in
Ihren Armen zu sehen.  Man verändert sich viel weniger, als man
glaubt, und die Zustände bleiben sich auch meistens sehr ähnlich.
Nicht was sich verändert hat, sondern was geblieben ist, was
allmählich zu--und abnahm, will ich auf einmal wieder erkennen und
mich selbst in einem bekannten Spiegel wieder erblicken.  Grüßen Sie
herzlich alle die Unsrigen und glauben Sie, daß in der wunderlichen
Art meines Außenbleibens und Zurückkommens so viel Wärme enthalten
sei als manchmal nicht in stetiger Teilnahme und lebhafter Mitteilung.
Tausend Grüße jedem und allen!  Nachschrift

Versäumen Sie nicht, beste Tante, mir auch von unsern
Geschäftsmännern ein Wort zu sagen, wie es mit unsern Gerichtshaltern
und Pachtern steht.  Was ist mit Valerinen geworden, der Tochter des
Pachters, den unser Onkel kurz vor meiner Abreise, zwar mit Recht,
aber doch, dünkt mich, mit ziemlicher Härte austrieb?  Sie sehen, ich
erinnere mich noch manches Umstandes; ich weiß wohl noch alles. über
das Vergangene sollen Sie mich examinieren, wenn Sie mir das
Gegenwärtige mitgeteilt haben.  Die Tante an Julietten

Endlich, liebe Kinder, ein Brief von dem dreijährigen Schweiger.
Was doch die wunderlichen Menschen wunderlich sind!  Er glaubt, seine
Waren und Zeichen seien so gut als ein einziges gutes Wort, das der
Freund dem Freunde sagen oder schreiben kann.  Er bildet sich wirklich
ein, im Vorschuß zu stehen, und will nun von unserer Seite das zuerst
geleistet haben, was er uns von der seinigen so hart und unfreundlich
versagte.  Was sollen wir tun?  Ich für meinen Teil würde gleich in
einem langen Brief seinen Wünschen entgegenkommen, wenn sich mein
Kopfweh nicht anmeldete, das mich gegenwärtiges Blatt kaum zu Ende
schreiben läßt.  Wir verlangen ihn alle zu sehen. übernehmt, meine
Lieben, doch das Geschäft.  Bin ich hergestellt, eh Ihr geendet habt,
so will ich das Meinige beitragen.  Wählt Euch die Personen und die
Verhältnisse, wie Ihr sie am liebsten beschreibt.  Teilt Euch darein.
Ihr werdet alles besser machen als ich selbst.  Der Bote bringt mir
doch von Euch ein Wort zurück?  Juliette an die Tante

Wir haben gleich gelesen, überlegt und sagen mit dem Boten unsere
Meinung, jede besonders, wenn wir erst zusammen versichert haben, daß
wir nicht so gutmütig sind wie unsere liebe Tante gegen den immer
verzogenen Neffen.  Nachdem er seine Karten drei Jahre vor uns
verborgen gehalten hat und noch verborgen hält, sollen wir die
unsrigen auflegen und ein offenes Spiel gegen ein verdecktes spielen.
Das ist keinesweges billig, und doch mag es hingehen; denn der
Feinste betriegt sich oft, gerade weil er zu viel sichert.  Nur über
die Art und Weise sind wir nicht einig, was und wie man's ihm senden
soll.  Zu schreiben, wie man über die Seinigen denkt, das ist für uns
wenigstens eine wunderliche Aufgabe.  Gewöhnlich denkt man über sie
nur in diesem und jenem Falle, wenn sie einem besonderes Vergnügen
oder Verdruß machen. übrigens läßt jeder den andern gewähren.  Sie
könnten es allein, liebe Tante; denn Sie haben die Einsicht und die
Billigkeit zugleich.  Hersilie, die, wie Sie wissen, leicht zu
entzünden ist, hat mir in der Geschwindigkeit die ganze Familie aus
dem Stegreif ins Lustige rezensiert; ich wollte, daß es auf dem
Papier stünde, um Ihnen selbst bei Ihren übeln ein Lächeln
abzugewinnen; aber nicht, daß man es ihm schickte.  Mein Vorschlag
ist jedoch, ihm unsere Korrespondenz dieser drei Jahre mitzuteilen; da
mag er sich durchlesen, wenn er Mut hat, oder mag kommen, um zu sehen,
was er nicht lesen mag.  Ihre Briefe an mich, liebe Tante, sind in
der besten Ordnung und stehen gleich zu Befehl.  Dieser Meinung tritt
Hersilie nicht bei; sie entschuldigt sich mit der Unordnung ihrer
Papiere u.s.w., wie sie Ihnen selbst sagen wird.  Hersilie an die
Tante

Ich will und muß sehr kurz sein, liebe Tante, denn der Bote zeigt
sich unartig ungeduldig.  Ich finde es eine übermäßige Gutmütigkeit
und gar nicht am Platz, Lenardon unsere Briefe mitzuteilen.  Was
braucht er zu wissen, was wir Gutes von ihm gesagt haben, was braucht
er zu wissen, was wir Böses von ihm sagten, um aus dem letzten noch
mehr als dem ersten herauszufinden, daß wir ihm gut sind!  Halten Sie
ihn kurz, ich bitte Sie.  Es ist so was Abgemessenes und Anmaßliches
in dieser Forderung, in diesem Betragen, wie es die Herren meistens
haben, wenn sie aus fremden Ländern kommen.  Sie halten die daheim
Gebliebenen immer nicht für voll.  Entschuldigen Sie sich mit Ihrem
Kopfweh.  Er wird schon kommen; und wenn er nicht käme, so warten wir
noch ein wenig.  Vielleicht fällt es ihm alsdann ein, auf eine
sonderbare, geheime Weise sich bei uns zu introduzieren, uns unerkannt
kennen zu lernen, und was nicht alles in den Plan eines so klugen
Mannes eingreifen könnte.  Das müßte doch hübsch und wunderbar sein!
das dürfte allerlei Verhältnisse hervorbringen, die bei einem so
diplomatischen Eintritt in seine Familie, wie er ihn jetzt vorhat,
sich unmöglich entwickeln können.

Der Bote! der Bote!  Ziehen Sie Ihre alten Leute besser, oder
schicken Sie junge.  Diesem ist weder mit Schmeichelei noch mit Wein
beizukommen.  Leben Sie tausendmal wohl!  Nachschrift um Nachschrift

Sagen Sie mir, was will der Vetter in seiner Nachschrift mit
Valerinen?  Diese Frage ist mir doppelt aufgefallen.  Es ist die
einzige Person, die er mit Namen nennt.  Wir andern sind ihm Nichten,
Tanten, Geschäftsträger; keine Personen, sondern Rubriken.  Valerine,
die Tochter unseres Gerichtshalters!  Freilich ein blondes, schönes
Kind, das dem Herrn Vetter vor seiner Abreise mag in die Augen
geleuchtet haben.  Sie ist verheiratet, gut und glücklich; das brauche
ich Ihnen nicht zu sagen.  Aber er weiß es so wenig, als er sonst
etwas von uns weiß.  Vergessen Sie ja nicht, ihm gleichfalls in einer
Nachschrift zu melden: Valerine sei täglich schöner geworden und habe
auch deshalb eine sehr gute Partie getan.  Sie sei die Frau eines
reichen Gutsbesitzers.  Verheiratet sei die schöne Blondine.  Machen
Sie es ihm recht deutlich.  Nun aber, liebe Tante, ist das noch nicht
alles.  Wie er sich der blonden Schönheit so genau erinnern und sie
mit der Tochter des liederlichen Pachters, einer wilden Hummel von
Brünette, verwechseln kann, die Nachodine hieß und die wer weiß wohin
geraten ist, das bleibt mir völlig unbegreiflich und intrigiert mich
ganz besonders.  Denn es scheint doch, der Herr Vetter, der sein
gutes Gedächtnis rühmt, verwechselt Namen und Personen auf eine
sonderbare Weise.  Vielleicht fühlt er diesen Mangel und will das
Erloschene durch Ihre Schilderung wieder auffrischen.  Halten Sie ihn
kurz, ich bitte Sie; aber suchen Sie zu erfahren, wie es mit den
Valerinen und Nachodinen steht und was für Inen, Trinen vielleicht
noch alle sich in seiner Einbildungskraft erhalten haben, indessen
die Etten und Ilien daraus verschwunden sind.  Der Bote! der
verwünschte Bote!  Die Tante den Nichten.  (Diktiert)

Was soll man sich viel verstellen gegen die, mit denen man sein
Leben zuzubringen hat!  Lenardo mit allen seinen Eigenheiten verdient
Zutrauen.  Ich schicke ihm Eure beiden Briefe; daraus lernt er Euch
kennen, und ich hoffe, wir andern werden unbewußt eine Gelegenheit
ergreifen, uns auch nächstens ebenso vor ihm darzustellen.  Leber
wohl! ich leide sehr.  Hersilie an die Tante

Was soll man sich viel verstellen gegen die, mit denen man sein
Leben zubringt!  Lenardo ist ein verzogener Neffe.  Es ist
abscheulich, daß Sie ihm unsere Briefe schicken.  Er wird uns daraus
nicht kennen lernen, und ich wünsche mir nur Gelegenheit, mich
nächstens von einer andern Seite darzustellen.  Sie machen andere
viel leiden, indem Sie leiden und blind lieben.  Baldige Besserung
Ihrer Leiden!  Ihrer Liebe ist nicht zu helfen.  Die Tante an
Hersilien

Dein letztes Zettelchen hätte ich auch mit an Lenardo eingepackt,
wenn ich überhaupt bei dem Vorsatz geblieben wäre, den mir meine
inkorrigible Neigung, mein Leiden und die Bequemlichkeit eingegeben
hatten.  Eure Briefe sind nicht fort.  Wilhelm an Natalien

Der Mensch ist ein geselliges, gesprächiges Wesen; seine Lust ist
groß, wenn er Fähigkeiten ausübt, die ihm gegeben sind, und wenn auch
weiter nichts dabei herauskäme.  Wie oft beklagt man sich in
Gesellschaft, daß einer den andern nicht zum Worte kommen läßt, und
ebenso kann man sagen, daß einer den andern nicht zum Schreiben
kommen ließe, wenn nicht das Schreiben gewöhnlich ein Geschäft wäre,
das man einsam und allein abtun muß.

Wie viel die Menschen schreiben, davon hat man gar keinen Begriff.
Von dem, was davon gedruckt wird, will ich gar nicht reden, ob es
gleich schon genug ist.  Was aber an Briefen und Nachrichten und
Geschichten, Anekdoten, Beschreibungen von gegenwärtigen Zuständen
einzelner Menschen in Briefen und größeren Aufsätzen in der Stille
zirkuliert, davon kann man sich nur eine Vorstellung machen, wenn man
in gebildeten Familien eine Zeitlang lebt, wie es mir jetzt geht.  In
der Sphäre, in der ich mich gegenwärtig befinde, bringt man beinahe so
viel Zeit zu, seinen Verwandten und Freunden dasjenige mitzuteilen,
womit man sich beschäftigt, als man Zeit sich zu beschäftigen selbst
hatte.  Diese Bemerkung, die sich mir seit einigen Tagen aufdringt,
mache ich um so lieber, als mir die Schreibseligkeit meiner neuen
Freunde Gelegenheit verschafft, ihre Verhältnisse geschwind und nach
allen Seiten hin kennen zu lernen.  Man vertraut mir, man gibt mir
einen Pack Briefe, ein paar Hefte Reisejournale, die Konfessionen
eines Gemüts, das noch nicht mit sich selbst einig ist, und so bin
ich in kurzem überall zu Hause.  Ich kenne die nächste Gesellschaft;
ich kenne die Personen, deren Bekanntschaft ich machen werde, und
weiß von ihnen beinahe mehr als sie selbst, weil sie denn doch in
ihren Zuständen befangen sind und ich an ihnen vorbeischwebe, immer
an deiner Hand, mich mit dir über alles besprechend.  Auch ist es
meine erste Bedingung, ehe ich ein Vertrauen annehme, daß ich dir
alles mitteilen dürfe.  Hier also einige Briefe, die dich in den Kreis
einführen werden, in dem ich mich gegenwärtig herumdrehe, ohne mein
Gelübde zu brechen oder zu umgehen.



Siebentes Kapitel

Am frühsten Morgen fand sich unser Freund allein in die Galerie und
ergötzte sich an so mancher bekannten Gestalt; über die Unbekannten
gab ihm ein vorgefundener Katalog den erwünschten Aufschluß.  Das
Porträt wie die Biographie haben ein ganz eigenes Interesse; der
bedeutende Mensch, den man sich ohne Umgebung nicht denken kann, tritt
einzeln abgesondert heraus und stellt sich vor uns wie vor einen
Spiegel; ihm sollen wir entschiedene Aufmerksamkeit zuwenden, wir
sollen uns ausschließlich mit ihm beschäftigen, wie er behaglich vor
dem Spiegelglas mit sich beschäftigst ist.  Ein Feldherr ist es, der
jetzt das ganze Heer repräsentiert, hinter den so Kaiser als Könige,
für die er kämpft, ins Trübe zurücktreten.  Der gewandte Hofmann
steht vor uns, eben als wenn er uns den Hof machte, wir denken nicht
an die große Welt, für die er sich eigentlich so anmutig ausgebildet
hat. überraschend war sodann unserm Beschauer die Ähnlichkeit mancher
längst vorübergegangenen mit lebendigen, ihm bekannten und leibhaftig
gesehenen Menschen, ja Ähnlichkeit mit ihm selbst!  Und warum sollten
sich nur Zwillingsmenächmen aus einer Mutter entwickeln?  Sollte die
große Mutter der Götter und Menschen nicht auch das gleiche Gebild
aus ihrem fruchtbaren Schoße gleichzeitig oder in Pausen
hervorbringen können?

Endlich durfte denn auch der gefühlvolle Beschauer sich nicht
leugnen, daß manches anziehende, manches Abneigung erweckende Bild
vor seinen Augen vorüberschwebe.

In solchem Betrachten überraschte ihn der Hausherr, mit dem er sich
über diese Gegenstände freimütig unterhielt und hiernach dessen Gunst
immer mehr zu gewinnen schien.  Denn er ward freundlich in die innern
Zimmer geführt, wo er köstliche Bilder bedeutender Männer des
sechzehnten Jahrhunderts sah, in vollständiger Gegenwart, wie sie für
sich leibten und lebten, ohne sich etwa im Spiegel oder im Zuschauer
zu beschauen, sich selbst gelassen und genügend, nur durch ihr Dasein
wirkend, nicht durch irgendein Wollen oder Vornehmen.

Der Hausherr, zufrieden, daß der Gast eine so reich herangebrachte
Vergangenheit vollkommen zu schätzen wußte, ließ ihn Handschriften
sehen von manchen Personen, über die sie vorher in der Galerie
gesprochen hatten; sogar zuletzt Reliquien, von denen man gewiß war,
daß der frühere Besitzer sich ihrer bedient, sie berührt hatte.

"Dies ist meine Art von Poesie", sagte der Hausherr lächelnd; "meine
Einbildungskraft muß sich an etwas festhalten; ich mag kaum glauben,
daß etwas gewesen sei, was nicht noch da ist. über solche Heiltümer
vergangener Zeit suche ich mir die strengsten Zeugnisse zu
verschaffen, sonst würden sie nicht aufgenommen.  Am schärfsten
werden schriftliche überlieferungen geprüft; denn ich glaube wohl, daß
der Mönch die Chronik geschrieben hat, wovon er aber zeugt, daran
glaube ich selten."  Zuletzt legte er Wilhelmen ein weißes Blatt vor
mit Ersuchen um einige Zeilen, doch ohne Unterschrift; worauf der
Gast durch eine Tapetentüre sich in den Saal entlassen und an der
Seite des Kustode fand.

"Es freut mich", sagte dieser, "daß Sie unserm Herrn wert sind;
schon daß Sie zu dieser Türe herauskommen, ist ein Beweis davon.
Wissen Sie aber, worfür er Sie hält?  Er glaubt einen praktischen
Pädagogen in Ihnen zu sehen, den Knaben vermutet er von vornehmem
Hause, Ihrer Führung anvertraut, um mit rechtem Sinn sogleich in die
Welt und ihre mannigfaltigen Zustände nach Grundsätzen frühzeitig
eingeweiht zu werden."--"Er tut mir zu viel Ehre an", sagte der
Freund, "doch will ich dies Wort nicht vergebens gehört haben."

Beim Frühstück, wo er seinen Felix schon um die Frauenzimmer
beschäftigt fand, eröffneten sie ihm den Wunsch: er möge, da er nun
einmal nicht zu halten sei, sich zu der edlen Tante Makarie begeben
und vielleicht von da zum Vetter, um das wunderliche Zaudern
aufzuklären.  Er werde dadurch sogleich zum Gliede ihrer Familie,
erzeige ihnen allen einen entschiedenen Dienst und trete mit Lenardo
ohne große Vorbereitung in ein zutrauliches Verhältnis.

Er jedoch versetzte dagegen: "Wohin Sie mich senden, begeb' ich mich
gern; ich ging aus, zu schauen und zu denken; bei Ihnen habe ich mehr
erfahren und gelernt, als ich hoffen durfte, und bin überzeugt, auf
dem nächsten eingeleiteten Wege werd' ich mehr, als ich erwarten kann,
gewahr werden und lernen."

"Und du artiger Taugenichts!  Was wirst denn du lernen?" fragte
Hersilie, worauf der Knabe sehr keck erwiderte: "Ich lerne schreiben,
damit ich dir einen Brief schicken kann, und reiten wie keiner, damit
ich immer gleich wieder bei dir bin."  Hierauf sagte Hersilie
bedenklich: "Mit meinen zeitbürtigen Verehrern hat es mir niemals
recht glücken wollen, es scheint, daß die folgende Generation mich
nächstens entschädigen will."



Nun aber empfinden wir mit unserm Freunde, wie schmerzlich die
Stunde des Abschieds herannaht, und mögen uns gern von den
Eigenheiten seines trefflichen Wirtes, von den Seltsamkeiten des
außerordentlichen Mannes einen deutlichen Begriff machen.  Um ihn aber
nicht falsch zu beurteilen, müssen wir auf das Herkommen, auf das
Herankommen dieser schon zu hohen Jahren gelangten würdigen Person
unsere Aufmerksamkeit richten.  Was wir ausfragen konnten, ist
folgendes:

Sein Großvater lebte als tätiges Glied einer Gesandtschaft in
England, gerade in den letzten Jahren des erhabenen William Penn.
Das hohe Wohlwollen, die reinen Absichten, die unverrückte Tätigkeit
eines so vorzüglichen Mannes, der Konflikt, in den er deshalb mit der
Welt geriet, die Gefahren und Bedrängnisse, unter denen der Edle zu
erliegen schien, erregten in dem empfänglichen Geiste des jungen
Mannes ein entschiedenes Interesse; er verbrüderte sich mit der
Angelegenheit und zog endlich selbst nach Amerika.  Der Vater unseres
Herrn ist in Philadelphia geboren, und beide rühmten sich, beigetragen
zu haben, daß eine allgemein freiere Religionsübung in den Kolonien
stattfand.

Hier entwickelte sich die Maxime, daß eine in sich abgeschlossene,
in Sitten und Religion herkömmlich übereinstimmende Nation vor aller
fremden Einwirkung, vor aller Neuerung sich wohl zu hüten habe; daß
aber da, wo man auf frischem Boden viele Glieder von allen Seiten her
zusammenberufen will, möglichst unbedingte Tätigkeit im Erwerb und
freier Spielraum der allgemein-sittlichen und religiösen
Vorstellungen zu vergönnen sei.

Der lebhafte Trieb nach Amerika im Anfange des achtzehnten
Jahrhunderts war groß, indem ein jeder, der sich diesseits
einigermaßen unbequem befand, sich drüben in Freiheit zu setzen
hoffte; dieser Trieb ward genährt durch wünschenswerte Besitzungen,
die man erlangen konnte, ehe sich noch die Bevölkerung weiter nach
Westen verbreitete.  Ganze sogenannte Grafschaften standen noch zu
Kauf an der Grenze des bewohnten Landes, auch der Vater unseres Herrn
hatte sich dort bedeutend angesiedelt.

Wie aber in den Söhnen sich oft ein Widerspruch hervortut gegen
väterliche Gesinnungen und Einrichtungen, so zeigte sich's auch hier.
Unser Hausherr, als Jüngling nach Europa gelangt, fand sich hier
ganz anders; diese unschätzbare Kultur, seit mehreren tausend Jahren
entsprungen, gewachsen, ausgebreitet, gedämpft, gedrückt, nie ganz
erdrückt, wieder aufatmend, sich neu belebend, und nach wie vor in
unendlichen Tätigkeiten hervortretend, gab ihm ganz andere Begriffe,
wohin die Menschheit gelangen kann.  Er zog vor, an den großen,
unübersehlichen Vorteilen sein Anteil hinzunehmen und lieber in der
großen, geregelt tätigen Masse mitwirkend sich zu verlieren, als
drüben über dem Meere um Jahrhunderte verspätet den Orpheus und
Lykurg zu spielen; er sagte: "überall bedarf der Mensch Geduld,
überall muß er Rücksicht nehmen, und ich will mich doch lieber mit
meinem Könige abfinden, daß er mir diese oder jene Gerechtsame
zugestehe, lieber mich mit meinen Nachbarn vergleichen, daß sie mir
gewisse Beschränkungen erlassen, wenn ich ihnen von einer andern
Seite nachgebe, als daß ich mich mit den Irokesen herumschlage, um
sie zu vertreiben, oder sie durch Kontrakte betriege, um sie zu
verdrängen aus ihren Sümpfen, wo man von Moskitos zu Tode gepeinigt
wird."

Er übernahm die Familiengüter, wußte sie freisinnig zu behandeln,
sie wirtschaftlich einzurichten, weite, unnütz scheinende
Nachbardistrikte klüglich anzuschließen und so sich innerhalb der
kultivierten Welt, die in einem gewissen Sinne auch gar oft eine
Wildnis genannt werden kann, ein mäßiges Gebiet zu erwerben und zu
bilden, das für die beschränkten Zustände immer noch utopisch genug
ist.

Religionsfreiheit ist daher in diesem Bezirk natürlich, der
öffentliche Kultus wird als ein freies Bekenntnis angesehen, daß man
in Leben und Tod zusammengehöre; hiernach aber wird sehr darauf
gesehen, daß niemand sich absondere.

Man wird in den einzelnen Ansiedelungen mäßig große Gebäude gewahr;
dies ist der Raum, den der Grundbesitzer jeder Gemeinde schuldig ist;
hier kommen die Ältesten zusammen, um sich zu beraten, hier
versammeln sich die Glieder, um Belehrung und fromme Ermunterung zu
vernehmen.  Aber auch zu heiterm Ergötzen ist dieser Raum bestimmt;
hier werden die hochzeitlichen Tänze aufgeführt und der Feiertag mit
Musik geschlossen.

Hierauf kann uns die Natur selbst führen.  Bei heiterer Witterung
sehen wir gewöhnlich unter derselben Linde die Ältesten im Rat, die
Gemeinde zur Erbauung und die Jugend im Tanze sich schwenkend.  Auf
ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schön, Ernst und
Heiligkeit mäßigen die Lust, und nur durch Mäßigung erhalten wir uns.

Ist die Gemeinde anderes Sinnes und wohlhabend genug, so steht es
ihr frei, verschiedene Baulichkeiten den verschiedenen Zwecken zu
widmen.

Wenn aber dies alles aufs öffentliche und gemeinsam Sittliche
berechnet ist, so bleibt die eigentliche Religion ein Inneres, ja
Individuelles, denn sie hat ganz allein mit dem Gewissen zu tun,
dieses soll erregt, soll beschwichtigt werden.  Erregt, wenn es stumpf,
untätig, unwirksam dahinbrütet, beschwichtigt, wenn es durch reuige
Unruhe das Leben zu verbittern droht.  Denn es ist ganz nah mit der
Sorge verwandt, die in den Kummer überzugehen droht, wenn wir uns oder
andern durch eigene Schuld ein übel zugezogen haben.

Da wir aber zu Betrachtungen, wie sie hier gefordert werden, nicht
immer aufgelegt sind, auch nicht immer aufgeregt sein mögen, so ist
hiezu der Sonntag bestimmt, wo alles, was den Menschen drückt, in
religiöser, sittlicher, geselliger, ökonomischer Beziehung, zur
Sprache kommen muß.



"Wenn Sie eine Zeitlang bei uns blieben", sagte Juliette, "so würde
auch unser Sonntag Ihnen nicht mißfallen. übermorgen früh würden Sie
eine große Stille bemerken; jeder bleibt einsam und widmet sich einer
vorgeschriebenen Betrachtung.  Der Mensch ist ein beschränktes Wesen;
unsere Beschränkung zu überdenken, ist der Sonntag gewidmet.  Sind es
körperliche Leiden, die wir im Lebenstaumel der Woche vielleicht
gering achteten, so müssen wir am Anfang der neuen alsobald den Arzt
aufsuchen; ist unsere Beschränkung ökonomisch und sonst bürgerlich, so
sind unsere Beamten verpflichtet, ihre Sitzungen zu halten; ist es
geistig, sittlich, was uns verdüstert, so haben wir uns an einen
Freund, an einen Wohldenkenden zu wenden, dessen Rat, dessen
Einwirkung zu erbitten: genug, es ist das Gesetz, daß niemand eine
Angelegenheit, die ihn beunruhigt oder quält, in die neue Woche
hinübernehmen dürfe.  Von drückenden Pflichten kann uns nur die
gewissenhafteste Ausübung befreien, und was gar nicht aufzulösen ist,
überlassen wir zuletzt Gott als dem allbedingenden und allbefreienden
Wesen.  Auch der Oheim selbst unterläßt nicht solche Prüfung, es sind
sogar Fälle, wo er mit uns vertraulich über eine Angelegenheit
gesprochen hat, die er im Augenblick nicht überwinden konnte; am
meisten aber bespricht er sich mit unserer edlen Tante, die er von
Zeit zu Zeit besuchend angeht.  Auch pflegt er Sonntag abends zu
fragen, ob alles rein gebeichtet und abgetan worden.  Sie sehen
hieraus, daß wir alle Sorgfalt anwenden, um nicht in Ihren Orden,
nicht in die Gemeinschaft der Entsagenden aufgenommen zu werden."

"Es ist ein sauberes Leben!" rief Hersilie; "wenn ich mich alle acht
Tage resigniere, so hab' ich es freilich bei
dreihundertundfünfundsechzigen zugute."

Vor dem Abschiede jedoch erhielt unser Freund von dem jüngern
Beamten ein Paket mit beiliegendem Schreiben, aus welchem wir
folgende Stelle ausheben:

"Mir will scheinen, daß bei jeder Nation ein anderer Sinn vorwalte,
dessen Befriedigung sie allein glücklich macht, und dies bemerkt man
ja schon an verschiedenen Menschen.  Der eine, der sein Ohr mit
vollen, anmutig geregelten Tönen gefüllt, Geist und Seele dadurch
angeregt wünscht, dankt er mir's, wenn ich ihm das trefflichste
Gemälde vor Augen stelle?  Ein Gemäldefreund will schauen, er wird
ablehnen, durch Gedicht oder Roman seine Einbildungskraft erregen zu
lassen.  Wer ist denn so begabt, daß er vielseitig genießen könne?

Sie aber, vorübergehender Freund, sind mir als ein solcher
erschienen, und wenn Sie die Nettigkeit einer vornehm reichen
französischen Verirrung zu schätzen wußten, so hoffe ich, Sie werden
die einfache, treue Rechtlichkeit deutscher Zustände nicht
verschmähen und mir verzeihen, wenn ich nach meiner Art und Denkweise,
nach Herankommen und Stellung kein anmutigeres Bild finde, als wie
sie uns der deutsche Mittelstand in seinen reinen Häuslichkeiten
sehen läßt.

Lassen Sie sich's gefallen und gedenken mein."



Achtes Kapitel Wer ist der Verräter?

"Nein! nein!" rief er aus, als er heftig und eilig ins angewiesene
Schlafzimmer trat und das Licht niedersetzte; "nein! es ist nicht
möglich!  Aber wohin soll ich mich wenden?  Das erstemal denk' ich
anders als er, das erstemal empfind' ich, will ich anders.-- O mein
Vater!  Könntest du unsichtbar gegenwärtig sein, mich durch und durch
schauen, du würdest dich überzeugen, daß ich noch derselbe bin, immer
der treue, gehorsame, liebevolle Sohn.--Nein zu sagen! des Vaters
liebstem, lange gehegtem Wunsch zu widerstreben! wie soll ich's
offenbaren? wie soll ich's ausdrücken?  Nein, ich kann Julien nicht
heiraten. --Indem ich's ausspreche, erschrecke ich.  Und wie soll ich
vor ihn treten, es ihm eröffnen, dem guten, lieben Vater?  Er blickt
mich staunend an und schweigt, er schüttelt den Kopf; der einsichtige,
kluge, gelehrte Mann weiß keine Worte zu finden.  Weh mir!-- O ich
wüßte wohl, wem ich diese Pein, diese Verlegenheit vertraute, wen ich
mir zum Fürsprecher ausgriffe!  Aus allen dich, Lucinde! und dir
möcht' ich zuerst sagen, wie ich dich liebe, wie ich mich dir hingebe,
und dich flehentlich bitten: "Vertritt mich, und kannst du mich
lieben, willst du mein sein, so vertritt uns beide!""

Dieses kurze, herzlich-leidenschaftliche Selbstgespräch aufzuklären,
wird es aber viele Worte kosten.

Professor N. zu N. hatte einen einzigen Knaben von wundersamer
Schönheit, den er bis in das achte Jahr der Vorsorge seiner Gattin,
der würdigsten Frau, überließ; diese leitete die Stunden und Tage des
Kindes zum Leben, Lernen und zu allem guten Betragen.  Sie starb, und
im Augenblicke fühlte der Vater, daß er diese Sorgfalt persönlich
nicht weiter fortsetzen könne.  Bisher war alles übereinkunft
zwischen den Eltern; sie arbeiteten auf einen Zweck, beschlossen
zusammen für die nächste Zeit, was zu tun sei, und die Mutter
verstand alles weislich auszuführen.  Doppelt und dreifach war nun die
Sorge des Witwers, welcher wohl wußte und täglich vor Augen sah, daß
für Söhne der Professoren auf Akademien selbst nur durch ein Wunder
eine glückliche Bildung zu hoffen sei.

In dieser Verlegenheit wendete er sich an seinen Freund, den
Oberamtmann zu R., mit dem er schon frühere Plane näherer
Familienverbindungen durchgesprochen hatte.  Dieser wußte zu raten
und zu helfen, daß der Sohn in eine der guten Lehranstalten
aufgenommen wurde, die in Deutschland blühten und worin für den
ganzen Menschen, für Leib, Seele und Geist, möglichst gesorgt ward.

Untergebracht war nun der Sohn, der Vater jedoch fand sich gar zu
allein: seiner Gattin beraubt, der lieblichen Gegenwart des Knaben
entfremdet, den er, ohne selbsteigenes Bemühen, so erwünscht
heraufgebildet gesehn.  Auch hier kam die Freundschaft des
Oberamtmanns zustatten; die Entfernung ihrer Wohnorte verschwand vor
der Neigung, der Lust, sich zu bewegen, sich zu zerstreuen.  Hier
fand nun der verwaiste Gelehrte in einem gleichfalls mutterlosen
Familienkreis zwei schöne, verschiedenartig liebenswürdige Töchter
heranwachsen; wo denn beide Väter sich immer mehr und mehr bestärkten
in dem Gedanken, in der Aussicht, ihre Häuser dereinst aufs
erfreulichste verbunden zu sehn.

Sie lebten in einem glücklichen Fürstenlande; der tüchtige Mann war
seiner Stelle lebenslänglich gewiß und ein gewünschter Nachfolger
wahrscheinlich.  Nun sollte, nach einem verständigen Familien--und
Ministerialplan, sich Lucidor zu dem wichtigen Posten des künftigen
Schwiegervaters bilden.  Dies gelang ihm auch von Stufe zu Stufe.  Man
versäumte nichts, ihm alle Kenntnisse zu überliefern, alle
Fähigkeiten an ihm zu entwickeln, deren der Staat jederzeit bedarf:
die Pflege des strengen gerichtlichen Rechts, des läßlichern, wo
Klugheit und Gewandtheit dem Ausübenden zur Hand geht; der Kalkül zum
Tagesgebrauch, die höheren übersichten nicht ausgeschlossen, aber
alles unmittelbar am Leben, wie es gewiß und unausbleiblich zu
gebrauchen wäre.

In diesem Sinne hatte Lucidor seine Schuljahre vollbracht und ward
nun durch Vater und Gönner zur Akademie vorbereitet.  Er zeigte das
schönste Talent zu allem und verdankte der Natur auch noch das
seltene Glück, aus Liebe zum Vater, aus Ehrfurcht für den Freund seine
Fähigkeiten gerade dahin lenken zu wollen, wohin man deutete, erst
aus Gehorsam, dann aus überzeugung.  Auf eine auswärtige Akademie
ward er gesendet und ging daselbst, sowohl nach eigener brieflicher
Rechenschaft als nach Zeugnis seiner Lehrer und Aufseher, den Gang,
der ihn zum Ziele führen sollte.  Nur konnte man nicht billigen, daß
er in einigen Fällen zu ungeduldig brav gewesen.  Der Vater
schüttelte hierüber den Kopf, der Oberamtmann nickte.  Wer hätte sich
nicht einen solchen Sohn gewünscht!

Indessen wuchsen die Töchter heran, Julie und Lucinde.  Jene, die
jüngere, neckisch, lieblich, unstät, höchst unterhaltend; die andere
zu bezeichnen schwer, weil sie in Geradheit und Reinheit dasjenige
darstellte, was wir an allen Frauen wünschenswert finden.  Man
besuchte sich wechselseitig, und im Hause des Professors fand Julie
die unerschöpflichste Unterhaltung.

Geographie, die er durch Topographie zu beleben wußte, gehörte zu
seinem Fach, und sobald Julie nur einen Band gewahr worden,
dergleichen aus der Homannischen Offizin eine ganze Reihe dastanden,
so wurden sämtliche Städte gemustert, beurteilt, vorgezogen oder
zurückgewiesen; alle Häfen besonders erlangten ihre Gunst; andere
Städte, welche nur einigermaßen ihren Beifall erhalten wollten,
mußten sich mit vielen Türmen, Kuppeln und Minaretten fleißig
hervorheben.

Der Vater ließ sie wochenlang bei dem geprüften Freunde; sie nahm
wirklich zu an Wissenschaft und Einsicht und kannte so ziemlich die
bewohnte Welt nach Hauptbezügen, Punkten und Orten.  Auch war sie auf
Trachten fremder Nationen sehr aufmerksam, und wenn ihr Pflegvater
manchmal scherzhaft fragte: ob ihr denn von den vielen jungen,
hübschen Leuten, die da vor dem Fenster hin und wider gingen, nicht
einer oder der andere wirklich gefalle? so sagte sie: "Ja freilich,
wenn er recht seltsam aussieht!"  Da nun unsere jungen Studierenden es
niemals daran fehlen lassen, so hatte sie oft Gelegenheit, an einem
oder dem andern teilzunehmen; sie erinnerte sich an ihm irgendeiner
fremden Nationaltracht, versicherte jedoch zuletzt, es müsse
wenigstens ein Grieche, völlig nationell ausstaffiert, herbeikommen,
wenn sie ihm vorzügliche Aufmerksamkeit widmen sollte; deswegen sie
sich auch auf die Leipziger Messe wünschte, wo dergleichen auf der
Straße zu sehen wären.

Nach seinen trocknen und manchmal verdrießlichen Arbeiten hatte nun
unser Lehrer keine glücklichern Augenblicke, als wenn er sie
scherzend unterrichtete und dabei heimlich triumphierte, sich eine so
liebenswürdige, immer unterhaltene, immer unterhaltende
Schwiegertochter zu erziehen.  Die beiden Väter waren übrigens
einverstanden, daß die Mädchen nichts von der Absicht vermuten
sollten, auch Lucidorn hielt man sie verborgen.

So waren Jahre vergangen, wie sie denn gar leicht vergehen: Lucidor
stellte sich dar, vollendet, alle Prüfungen bestehend, selbst zur
Freude der obern Vorgesetzten, die nichts mehr wünschten, als die
Hoffnung alter, würdiger, begünstigter, gunstwerter Diener mit gutem
Gewissen erfüllen zu können.

Und so war denn die Angelegenheit mit ordnungsgemäßem Schritt
endlich dahin gediehen, daß Lucidor, nachdem er sich in
untergeordneten Stellen musterhaft betragen, nunmehr einen gar
vorteilhaften Sitz nach Verdienst und Wunsch erlangen sollte, gerade
mittewegs zwischen der Akademie und dem Oberamtmann gelegen.

Der Vater sprach nunmehr mit dem Sohn von Julien, auf die er bisher
nur hingedeutet hatte, als von dessen Braut und Gattin, ohne weiteren
Zweifel und Bedingung, das Glück preisend, solch ein lebendiges
Kleinod sich angeeignet zu haben.  Er sah seine Schwiegertochter im
Geiste schon wieder von Zeit zu Zeit bei sich, mit Karten, Planen und
Städtebildern beschäftigt; der Sohn dagegen erinnerte sich des
allerliebsten, heitern Wesens, das ihn zu kindlicher Zeit durch
Neckerei wie durch Freundlichkeit immer ergötzt hatte.  Nun sollte
Lucidor zu dem Oberamtmann hinüberreiten, die herangewachsene Schöne
näher betrachten, sich einige Wochen, zu Gewohnheit und Bekanntschaft,
mit dem Gesamthause ergehen.  Würden die jungen Leute, wie zu hoffen,
bald einig, so sollte man's melden, der Vater würde sogleich
erscheinen, damit ein feierliches Verlöbnis das gehoffte Glück für
ewig sicherstelle.

Lucidor kommt an, er wird freundlichst empfangen, ein Zimmer ihm
angewiesen, er richtet sich ein und erscheint.  Da findet er denn,
außer den uns schon bekannten Familiengliedern, noch einen
halberwachsenen Sohn, verzogen, geradezu, aber gescheit und gutmütig,
so daß, wenn man ihn für den lustigen Rat nehmen wollte, er gar nicht
übel zum Ganzen paßte.  Dann gehörte zum Haus ein sehr alter, aber
gesunder, frohmütiger Mann, still, fein, klug, auslebend nun hie und
da auszuhelfen.  Gleich nach Lucidor kam noch ein Fremder hinzu, nicht
mehr jung, von bedeutendem Ansehn, würdig, lebensgewandt und durch
Kenntnis der weitesten Weltgegenden höchst unterhaltend.  Sie hießen
ihn Antoni.

Julie empfing ihren angekündigten Bräutigam schicklich, aber
zuvorkommend, Lucinde dagegen machte die Ehre des Hauses wie jene
ihrer Person.  So verging der Tag ausgezeichnet angenehm für alle,
nur für Lucidorn nicht; er, ohnehin schweigsam, mußte von Zeit zu Zeit,
um nicht gar zu verstummen, sich fragend verhalten; wobei denn
niemand zum Vorteil erscheint.

Zerstreut war er durchaus: denn er hatte vom ersten Augenblick an
nicht Abneigung noch Widerwillen, aber Entfremdung gegen Julien
gefühlt; Lucinde dagegen zog ihn an, daß er zitterte, wenn sie ihn
mit ihren vollen, reinen, ruhigen Augen ansah.

So bedrängt, erreichte er den ersten Abend sein Schlafzimmer und
ergoß sich in jenem Monolog, mit dem wir begonnen haben.  Um aber
auch diesen zu erklären, und wie die Heftigkeit einer solchen
Redefülle zu demjenigen paßt, was wir schon von ihm wissen, wird eine
kurze Mitteilung nötig.

Lucidor war von tiefem Gemüt und hatte meist etwas anders im Sinn,
als was die Gegenwart erheischte; deswegen Unterhaltung und Gespräch
ihm nie recht glücken wollte; er fühlte das und wurde schweigsam,
außer wenn von bestimmten Fächern die Rede war, die er durchstudiert
hatte, davon ihm jederzeit zu Diensten stand, was er bedurfte.  Dazu
kam, daß er, früher auf der Schule, später auf der Universität, sich
an Freunden betrogen und seinen Herzenserguß unglücklich vergeudet
hatte; jede Mitteilung war ihm daher bedenklich; Bedenken aber hebt
jede Mitteilung auf.  Zu seinem Vater war er nur gewohnt unisono zu
sprechen, und sein volles Herz ergoß sich daher in Monologen, sobald
er allein war.

Den andern Morgen hatte er sich zusammengenommen und wäre doch
beinahe außer Fassung gerückt, als ihm Julie noch freundlicher,
heiterer und freier entgegenkam.  Sie wußte viel zu fragen, nach
seinen Land--und Wasserfahrten, wie er, als Student, mit dem
Bündelchen auf'm Rücken die Schweiz durchstreift und durchstiegen, ja
über die Alpen gekommen.  Da wollte sie nun von der schönen Insel auf
dem großen südlichen See vieles wissen; rückwärts aber mußte der
Rhein, von seinem ersten Ursprung an, erst durch höchst unerfreuliche
Gegenden begleitet werden, und so hinabwärts durch manche
Abwechselung; wo es denn freilich zuletzt, zwischen Mainz und Koblenz,
noch der Mühe wert ist, den Fluß ehrenvoll aus seiner letzten
Beschränkung in die weite Welt, ins Meer zu entlassen.

Lucidor fühlte sich hiebei sehr erleichtert, erzählte gern und gut,
so daß Julie entzückt ausrief: so was müsse man selbander sehen.
Worüber denn Lucidor abermals erschrak, weil er darin eine Anspielung
auf ihr gemeinsames Wandern durchs Leben zu spüren glaubte.

Von seiner Erzählerpflicht jedoch wurde er bald abgelöst; denn der
Fremde, den sie Antoni hießen, verdunkelte gar geschwind alle
Bergquellen, Felsufer, eingezwängte, freigelassene Flüsse: nun hier
ging's unmittelbar nach Genua; Livorno lag nicht weit, das
Interessanteste im Lande nahm man auf den Raub so mit; Neapel mußte
man, ehe man stürbe, gesehen haben, dann aber blieb freilich
Konstantinopel noch übrig, das doch auch nicht zu versäumen sei.  Die
Beschreibung, die Antoni von der weiten Welt machte, riß die
Einbildungskraft aller mit sich fort, ob er gleich weniger Feuer
darein zu legen hatte.  Julie, ganz außer sich, war aber noch
keineswegs befriedigt, sie fühlte noch Lust nach Alexandrien, Kairo,
besonders aber zu den Pyramiden, von denen sie ziemlich auslangende
Kenntnisse durch ihres vermutlichen Schwiegervaters Unterricht
gewonnen hatte.

Lucidor, des nächsten Abends (er hatte kaum die Türe angezogen, das
Licht noch nicht niedergesetzt), rief aus: "Nun besinne dich denn! es
ist Ernst.  Du hast viel Ernstes gelernt und durchdacht; was soll
denn Rechtsgelehrsamkeit, wenn du jetzt nicht gleich als Rechtsmann
handelst?  Siehe dich als einen Bevollmächtigten an, vergiß dich
selbst und tue, was du für einen andern zu tun schuldig wärst.  Es
verschränkt sich aufs fürchterlichste!  Der Fremde ist offenbar um
Lucindes willen da, sie bezeigt ihm die schönsten, edelsten
gesellig-häuslichen Aufmerksamkeiten; die kleine Närrin möchte mit
jedem durch die Welt laufen, für nichts und wieder nichts. überdies
noch ist sie ein Schalk, ihr Anteil an Städten und Ländern ist eine
Posse, wodurch sie uns zum Schweigen bringt.  Warum aber seh' ich
diese Sache so verwirrt und verschränkt an?  Ist der Oberamtmann
nicht selbst der verständigste, der einsichtigste, liebevollste
Vermittler?  Du willst ihm sagen, wie du fühlst und denkst, und er
wird mitdenken, wenn auch nicht mitfühlen.  Er vermag alles über den
Vater.  Und ist nicht eine wie die andere seine Tochter?  Was will
denn der Anton Reiser mit Lucinden, die für das Haus geboren ist, um
glücklich zu sein und Glück zu schaffen? hefte sich doch das zapplige
Quecksilber an den ewigen Juden, das wird eine allerliebste Partie
werden."

Des Morgens ging Lucidor festen Entschlusses hinab, mit dem Vater zu
sprechen und ihn deshalb in bekannten freien Stunden unverzüglich
anzugehn.  Wie groß war sein Schmerz, seine Verlegenheit, als er
vernahm: der Oberamtmann, in Geschäften verreist, werde erst
übermorgen zurückerwartet.  Julie schien heute so recht ganz ihren
Reisetag zu haben, sie hielt sich an den Weltwanderer und überließ
mit einigen Scherzreden, die sich auf Häuslichkeit bezogen, Lucidor
an Lucinden.  Hatte der Freund vorher das edle Mädchen aus gewisser
Ferne gesehen, nach einem allgemeinen Eindruck, und sie sich schon
herzlichst angeeignet, so mußte er in der nächsten Nähe alles doppelt
und dreifach entdecken, was ihn erst im allgemeinen anzog.

Der gute alte Hausfreund, an der Stelle des abwesenden Vaters, tat
sich nun hervor; auch er hatte gelebt, geliebt und war, nach manchen
Quetschungen des Lebens, noch endlich an der Seite des Jugendfreundes
aufgefrischt und wohlbehalten.  Er belebte das Gespräch und
verbreitete sich besonders über Verirrungen in der Wahl eines Gatten,
erzählte merkwürdige Beispiele von zeitiger und verspäteter Erklärung.
Lucinde erschien in ihrem völligen Glanze, sie gestand, daß im
Leben das Zufällige jeder Art, und so auch in Verbindungen, das
Allerbeste bewirken könne; doch sei es schöner, herzerhebender, wenn
der Mensch sich sagen dürfte: er sei sein Glück sich selbst, der
stillen, ruhigen überzeugung seines Herzens, einem edlen Vorsatz und
raschen Entschlusse schuldig geworden.  Lucidorn standen die Tränen
in den Augen, als er Beifall gab, worauf die Frauenzimmer sich bald
entfernten.  Der alte Vorsitzende mochte sich in Wechselgeschichten
gern ergehen, und so verbreitete sich die Unterhaltung in heitere
Beispiele, die jedoch unsern Helden so nahe berührten, daß nur ein so
rein gebildeter Jüngling nicht herauszubrechen über sich gewinnen
konnte; das geschah aber, als er allein war.

"Ich habe mich gehalten!" rief er aus.  "Mit solcher Verwirrung will
ich meinen guten Vater nicht kränken; ich habe an mich gehalten: denn
ich sehe in diesem würdigen Hausfreunde den Stellvertretenden beider
Väter; zu ihm will ich reden, ihm alles entdecken, er wird's gewiß
vermitteln und hat beinahe schon ausgesprochen, was ich wünsche.
Sollte er im einzelnen Falle schelten, was er überhaupt billigt?
Morgen früh such' ich ihn auf, ich muß diesem Drange Luft machen."

Beim Frühstück fand sich der Greis nicht ein; er hatte, hieß es,
gestern abend zu viel gesprochen, zu lange gesessen und einige
Tropfen Wein über Gewohnheit getrunken.  Man erzählte viel zu seinem
Lobe, und zwar gerade solche Reden und Handlungen, die Lucidorn zur
Verzweiflung brachten, daß er sich nicht sogleich an ihn gewendet.
Dieses unangenehme Gefühl ward nur noch geschärft, als er vernahm:
bei solchen Anfällen lasse der gute Alte sich manchmal in acht Tagen
gar nicht sehen.

Ein ländlicher Aufenthalt hat für geselliges Zusammensein gar große
Vorteile, besonders wenn die Bewirtenden sich, als denkende, fühlende
Personen, mehrere Jahre veranlaßt gefunden, der natürlichen Anlage
ihrer Umgebung zu Hülfe zu kommen.  So war es hier geglückt.  Der
Oberamtmann, erst unverheiratet, dann in einer langen, glücklichen
Ehe, selbst vermögend, an einem einträglichen Posten, hatte nach
eignem Blick und Einsicht, nach Liebhaberei seiner Frau, ja zuletzt
nach Wünschen und Grillen seiner Kinder erst größere und kleinere
abgesonderte Anlagen besorgt und begünstigt, welche, mit Gefühl
allmählich durch Pflanzungen und Wege verbunden, eine allerliebste,
verschiedentlich abweichende, charakteristische Szenenfolge dem
Durchwandelnden darstellten.  Eine solche Wallfahrt ließen denn auch
unsere jungen Familienglieder ihren Gast antreten, wie man seine
Anlagen dem Fremden gerne vorzeigt, damit er das, was uns gewöhnlich
geworden, auffallend erblicke und den günstigen Eindruck davon für
immer behalte.

Die nächste so wie die fernere Gegend war zu bescheidenen Anlagen
und eigentlich ländlichen Einzelnheiten höchst geeignet.  Fruchtbare
Hügel wechselten mit wohlbewässerten Wiesengründen, so daß das Ganze
von Zeit zu Zeit zu sehen war, ohne flach zu sein; und wenn Grund und
Boden vorzüglich dem Nutzen gewidmet erschien, so war doch das
Anmutige, das Reizende nicht ausgeschlossen.

An die Haupt--und Wirtschaftsgebäude fügten sich Lust, Obst--und
Grasgärten, aus denen man sich unversehens in ein Hölzchen verlor,
das ein breiter, fahrbarer Weg auf und ab, hin und wider
durchschlängelte.  Hier in der Mitte war, auf der bedeutendsten Höhe,
ein Saal erbaut, mit anstoßenden Gemächern.  Wer zur Haupttüre
hereintrat, sah im großen Spiegel die günstigste Aussicht, welche die
Gegend nur gewähren mochte, und kehrte sich geschwind wieder um, an
der Wirklichkeit von dem unerwarteten Bilde Erholung zu nehmen: denn
das Herankommen war künstlich genug eingerichtet und alles klüglich
verdeckt, was überraschung bewirken sollte.  Niemand trat herein,
ohne daß er von dem Spiegel zur Natur und von der Natur zum Spiegel
sich nicht gern hin und wider gewendet hätte.

Am schönsten, heitersten, längsten Tage einmal auf dem Wege, hielt
man einen sinnigen Flurzug um und durch das Ganze.  Hier wurde das
Abendplätzchen der guten Mutter bezeichnet, wo eine herrliche Buche
rings umher sich freien Raum gehalten hatte.  Bald nachher wurde
Lucindens Morgenandacht von Julien halb neckisch angedeutet, in der
Nähe eines Wässerchens zwischen Pappeln und Erlen, an
hinabstreichenden Wiesen, hinaufziehenden Äckern.  Es war nicht zu
beschreiben, wie hübsch! schon überall glaubte man es gesehen zu haben,
aber nirgends in seiner Einfalt so bedeutend und so willkommen.
Dagegen zeigte der Junker, auch halb wider Willen Juliens, die
kleinlichen Lauben und kindischen Gärtchenanstalten, die, nächst einer
vertraulich gelegenen Mühle, kaum noch zu bemerken; sie schrieben
sich aus einer Zeit her, wo Julie, etwa in ihrem zehnten Jahre, sich
in den Kopf gesetzt hatte, Müllerin zu werden und, nach dem Abgang
der beiden alten Leute, selbst einzutreten und sich einen braven
Mühlknappen auszusuchen.

"Das war zu einer Zeit", rief Julie, "wo ich noch nichts von Städten
wußte, die an Flüssen liegen, oder gar am Meer, von Genua nichts u.s.
w.  Ihr guter Vater, Lucidor, hat mich bekehrt, seit der Zeit komm'
ich nicht leicht hierher."  Sie setzte sich neckisch auf ein Bänkchen,
das sie kaum noch trug, unter einen Holunderstrauch, der sich zu
tief gebeugt hatte.  "Pfui übers Hocken!" rief sie, sprang auf und
lief mit dem lustigen Bruder davon.

Das zurückgebliebene Paar unterhielt sich verständig, und in solchen
Fällen nähert sich der Verstand auch wohl dem Gefühl.  Abwechselnd
einfache, natürliche Gegenstände zu durchwandern, mit Ruhe zu
betrachten, wie der verständige, kluge Mensch ihnen etwas
abzugewinnen weiß, wie die Einsicht ins Vorhandene, zum Gefühl seiner
Bedürfnisse sich gesellend, Wunder tut, um die Welt erst bewohnbar zu
machen, dann zu bevölkern und endlich zu übervölkern, das alles
konnte hier im einzelnen zur Sprache kommen.  Lucinde gab von allem
Rechenschaft und konnte, so bescheiden sie war, nicht verbergen, daß
die bequemlich angenehmen Verbindungen entfernter Partien ihr Werk
seien, unter Angabe, Leitung oder Vergünstigung einer verehrten
Mutter.

Da sich aber denn doch der längste Tag endlich zum Abend bequemt, so
mußte man auf Rückkehr denken, und als man auf einen angenehmen Umweg
sann, verlangte der lustige Bruder: man solle den kürzern, obgleich
nicht erfreulichen, wohl gar beschwerlichen Weg einschlagen.  "Denn",
rief er aus, "ihr habt mit euren Anlagen und Anschlägen geprahlt, wie
ihr die Gegend für malerische Augen und für zärtliche Herzen
verschönert und verbessert; laßt mich aber auch zu Ehren kommen."

Nun mußte man über geackerte Stellen und holprichte Pfade, ja wohl
auch auf zufällig hingeworfenen Steinen über Moorflecke wandern und
sah, schon in einer gewissen Ferne, allerlei Maschinenwerk verworren
aufgetürmt.  Näher betrachtet, war ein großer Lust--und Spielplatz,
nicht ohne Verstand, mit einem gewissen Volkssinn eingerichtet.  Und
so standen hier, in gehörigen Entfernungen zusammengeordnet, das große
Schaukelrad, wo die Auf--und Absteigenden immer gleich horizontal
ruhig sitzenbleiben, andere Schaukeleien, Schwungseile, Lusthebel,
Kegel--und Zellenbahnen, und was nur alles erdacht werden kann, um auf
einem großen Triftraum eine Menge Menschen verschiedentlichst und
gleichmäßig zu beschäftigen und zu erlustigen.  "Dies", rief er aus,
"ist meine Erfindung, meine Anlage! und obgleich der Vater das Geld
und ein gescheiter Kerl den Kopf dazu hergab, so hätte doch ohne mich,
den ihr oft unvernünftig nennt, Verstand und Geld sich nicht
zusammengefunden."

So heiter gestimmt kamen alle vier mit Sonnenuntergang wieder nach
Hause.  Antoni fand sich ein; die Kleine jedoch, die an diesem
bewegten Tage noch nicht genug hatte, ließ einspannen und fuhr über
Land zu einer Freundin, in Verzweiflung, sie seit zwei Tagen nicht
gesehen zu haben.  Die vier Zurückgebliebenen fühlten sich verlegen,
ehe man sich's versah, und es ward sogar ausgesprochen, daß des
Vaters Ausbleiben die Angehörigen beunruhige.  Die Unterhaltung fing
an zu stocken, als auf einmal der lustige Junker aufsprang und gar
bald mit einem Buche zurückkam, sich zum Vorlesen erbietend.  Lucinde
enthielt sich nicht zu fragen, wie er auf den Einfall komme, den er
seit einem Jahre nicht gehabt; worauf er munter versetzte: "Mir fällt
alles zur rechten Zeit ein, dessen könnt ihr euch nicht rühmen."  Er
las eine Folge echter Märchen, die den Menschen aus sich selbst
hinausführen, seinen Wünschen schmeicheln und ihn jede Bedingung
vergessen machen, zwischen welche wir, selbst in den glücklichsten
Momenten, doch immer noch eingeklemmt sind.

"Was beginne ich nun!" rief Lucidor, als er sich endlich allein fand:
"die Stunde drängt; zu Antoni hab' ich kein Vertrauen, er ist
weltfremd, ich weiß nicht, wer er ist, wie er ins Haus kommt, noch
was er will; um Lucinden scheint er sich zu bemühen, und was könnte
ich daher von ihm hoffen?  Mir bleibt nichts übrig, als Lucinden
selbst anzugehn; sie muß es wissen, sie zuerst.  Dies war ja mein
erstes Gefühl; warum lassen wir uns auf Klugheitswege verleiten!  Das
Erste soll nun das Letzte sein, und ich hoffe, zum Ziel zu gelangen."

Sonnabend morgen ging Lucidor, zeitig angekleidet, in seinem Zimmer
auf und ab, was er Lucinden zu sagen hätte hin und her bedenkend, als
er eine Art von scherzhaftem Streit vor seiner Türe vernahm, die auch
alsobald aufging.  Da schob der lustige Junker einen Knaben vor sich
hin, mit Kaffee und Backwerk für den Gast; er selbst trug kalte Küche
und Wein.  "Du sollst vorangehen", rief der Junker, "denn der Gast
muß zuerst bedient werden, ich bin gewohnt, mich selbst zu bedienen.
Mein Freund! heute komme ich etwas früh und tumultuarisch; genießen
wir unser Frühstück in Ruhe, und dann wollen wir sehen, was wir
anfangen: denn von der Gesellschaft haben wir wenig zu hoffen.  Die
Kleine ist von ihrer Freundin noch nicht zurück; diese müssen
gegeneinander wenigstens alle vierzehn Tage ihr Herz ausschütten,
wenn es nicht springen soll.  Sonnabend ist Lucinde ganz unbrauchbar,
sie liefert dem Vater pünktlich ihre Haushaltsrechnung; da hab' ich
mich auch einmischen sollen, aber Gott bewahre mich!  Wenn ich weiß,
was eine Sache kostet, so schmeckt mir kein Bissen.  Gäste werden auf
morgen erwartet, der Alte hat sich noch nicht wieder ins Gleichgewicht
gestellt, Antoni ist auf die Jagd, wir wollen das gleiche tun."

Flinten, Taschen und Hunde waren bereit, als sie in den Hof kamen,
und nun ging es an den Feldern weg, wo denn doch allenfalls ein
junger Hase und ein armer, gleichgültiger Vogel geschossen wurde.
Indessen besprach man sich von häuslichen und gegenwärtig geselligen
Verhältnissen.  Antoni ward genannt, und Lucidor verfehlte nicht, sich
nach ihm näher zu erkundigen.  Der lustige Junker, mit einiger
Selbstgefälligkeit, versicherte: jenen wunderlichen Mann, so
geheimnisvoll er auch tue, habe er schon durch und durch geblickt.
"Er ist", fuhr er fort, "gewiß der Sohn aus einem reichen
Handelshause, das gerade in dem Augenblick fallierte, als er, in der
Fülle seiner Jugend, teil an großen Geschäften mit Kraft und
Munterkeit zu nehmen, daneben aber die sich reichlich darbietenden
Genüsse zu teilen gedachte.  Von der Höhe seiner Hoffnungen
heruntergestürzt, raffte er sich zusammen und leistete, andern
dienend, dasjenige, was er für sich und die Seinigen nicht mehr
bewirken konnte.  So durchreiste er die Welt, lernte sie und ihren
wechselseitigen Verkehr aufs genaueste kennen und vergaß dabei seines
Vorteils nicht.  Unermüdete Tätigkeit und erprobte Rechtlichkeit
brachten und erhielten ihm von vielen ein unbedingtes Vertrauen.  So
erwarb er sich allerorten Bekannte und Freunde, ja es läßt sich gar
wohl merken, daß sein Vermögen so weit in der Welt umher verteilt ist,
als seine Bekanntschaft reicht, weshalb denn auch seine Gegenwart in
allen vier Teilen der Welt von Zeit zu Zeit nötig ist."

Umständlicher und naiver hatte dies der lustige Junker erzählt und
so manche possenhafte Bemerkung eingeschlossen, eben als wenn er sein
Märchen recht weitläufig auszuspinnen gedächte.

"Wie lange steht er nicht schon mit meinem Vater in Verbindung!  Die
meinen, ich sehe nichts, weil ich mich um nichts bekümmere; aber eben
deswegen seh' ich's nur desto besser, weil mich's nichts angeht.
Vieles Geld hat er bei meinem Vater niedergelegt, der es wieder sicher
und vorteilhaft unterbrachte.  Erst gestern steckte er dem Alten ein
Juwelenkästchen zu; einfacher, schöner und kostbarer hab' ich nichts
gesehen, obgleich nur mit einem Blick, denn es wird verheimlicht.
Wahrscheinlich soll es der Braut zu Vergnügen, Lust und künftiger
Sicherheit verehrt werden.  Antoni hat sein Zutrauen auf Lucinden
gesetzt!  Wenn ich sie aber so zusammen sehe, kann ich sie nicht für
ein wohl assortiertes Paar halten.  Die Ruschliche wäre besser für
ihn, ich glaube auch, sie nimmt ihn lieber als die Älteste; sie
blickt auch wirklich manchmal nach dem alten Knasterbart so munter und
teilnehmend hinüber, als wenn sie sich mit ihm in den Wagen setzen
und auf und davon fliegen wolle."  Lucidor faßte sich zusammen; er
wußte nicht, was zu erwidern wäre, alles, was er vernahm, hatte
seinen innerlichen Beifall.  Der Junker fuhr fort: "überhaupt hat das
Mädchen eine verkehrte Neigung zu alten Leuten; ich glaube, sie hätte
ihren Vater so frisch weg geheiratet wie den Sohn."

Lucidor folgte seinem Gefährten, wo ihn dieser auch über Stock und
Stein hinführte; beide vergaßen die Jagd, die ohnehin nicht ergiebig
sein konnte.  Sie kehrten auf einem Pachthofe ein, wo, gut
aufgenommen, der eine Freund sich mit Essen, Trinken und Schwätzen
unterhielt, der andere aber in Gedanken und überlegungen sich
versenkte, wie er die gemachte Entdeckung für sich und seinen Vorteil
benutzen möchte.

Lucidor hatte nach allen diesen Erzählungen und Eröffnungen so viel
Vertrauen zu Antoni gewonnen, daß er gleich beim Eintritt in den Hof
nach ihm fragte und in den Garten eilte, wo er zu finden sein sollte.
Er durchstrich die sämtlichen Gänge des Parks bei heiterer
Abendsonne; umsonst!  Nirgends keine Seele war zu sehen; endlich trat
er in die Türe des großen Saals, und, wundersam genug, die
untergehende Sonne, aus dem Spiegel zurückscheinend, blendete ihn
dergestalt, daß er die beiden Personen, die auf dem Kanapee saßen,
nicht erkennen, wohl aber unterscheiden konnte, daß einem Frauenzimmer
von einer neben ihr sitzenden Mannsperson die Hand sehr feurig geküßt
wurde.  Wie groß war daher sein Entsetzen, als er bei hergestellter
Augenruhe Lucinden und Antoni vor sich sahe.  Er hätte versinken
mögen, stand aber wie angewurzelt, als ihn Lucinde freundlichst und
unbefangen willkommen hieß, zuruckte und ihn bat, zu ihrer rechten
Seite zu sitzen.  Unbewußt ließ er sich nieder, und wie sie ihn
anredete, nach dem heutigen Tage sich erkundigte, Vergebung bat
häuslicher Abhaltungen, da konnte er ihre Stimme kaum ertragen.
Antoni stand auf und empfahl sich Lucinden; als sie, sich gleichfalls
erhebend, den Zurückgebliebenen zum Spaziergang einlud.  Neben ihr
hergehend, war er schweigsam und verlegen; auch sie schien beunruhigt;
und wenn er nur einigermaßen bei sich gewesen wäre, so hätte ihm ein
tiefes Atemholen verraten müssen, daß sie herzliche Seufzer zu
verbergen habe.  Sie beurlaubte sich zuletzt, als sie sich dem Hause
näherten, er aber wandte sich, erst langsam, dann heftig, gegen das
Freie.  Der Park war ihm zu eng, er eilte durchs Feld, nur die Stimme
seines Herzens vernehmend, ohne Sinn für die Schönheiten des
vollkommensten Abends.  Als er sich allein sah und seine Gefühle sich
im beruhigenden Tränenerguß Luft machten, rief er aus:

"Schon einigemal im Leben, aber nie so grausam hab' ich den Schmerz
empfunden, der mich nun ganz elend macht: wenn das gewünschteste
Glück endlich Hand in Hand, Arm in Arm zu uns tritt und zugleich sein
Scheiden für ewig ankündet.  Ich saß bei ihr, ging neben ihr, das
bewegte Kleid berührte mich, und ich hatte sie schon verloren!  Zähle
dir das nicht vor, drösele dir's nicht auf, schweig und entschließe
dich!"

Er hatte sich selbst den Mund verboten, er schwieg und sann, durch
Felder, Wiesen und Busch, nicht immer auf den wegsamsten Pfaden
hinschreitend.  Nur als er spät in sein Zimmer trat, hielt er sich
nicht und rief: "Morgen früh bin ich fort, solch einen Tag will ich
nicht wieder erleben!"

Und so warf er sich angekleidet aufs Lager.--Glückliche, gesunde
Jugend!  Er schlief schon; die abmüdende Bewegung des Tages hatte ihm
die süße Nachtruhe verdient.  Aus tröstlichen Morgenträumen jedoch
weckte ihn die allerfrühste Sonne; es war eben der längste Tag, der
ihm überlang zu werden drohte.  Wenn er die Anmut des beruhigenden
Abendgestirns gar nicht empfunden, so fühlte er die aufregende
Schönheit des Morgens nur, um zu verzweifeln.  Er sah die Welt so
herrlich als je, seinen Augen war sie es noch; sein Inneres aber
widersprach: das gehörte ihm alles nicht mehr an, er hatte Lucinden
verloren.



Neuntes Kapitel

Der Mantelsack war schnell gepackt, den er wollte liegenlassen;
keinen Brief schrieb er dazu, nur mit wenig Worten sollte sein
Ausbleiben vom Tisch, vielleicht auch vom Abend, durch den Reitknecht
entschuldigt werden, den er ohnehin aufwecken mußte.  Diesen aber fand
er unten, schon vor dem Stalle, mit großen Schritten auf und ab
gehend.  "Sie wollen doch nicht reiten?" rief der sonst gutmütige
Mensch mit einigem Verdruß.  "Ihnen darf ich es wohl sagen, aber der
junge Herr wird alle Tage unerträglicher.  Hatte er sich doch gestern
in der Gegend herumgetrieben, daß man glauben sollte, er danke Gott,
einen Sonntagmorgen zu ruhen.  Kommt er nicht heute frühe vor Tag,
rumort im Stalle, und wie ich aufspringe, sattelt und zäumt er Ihr
Pferd, ist durch keine Vorstellung abzuhalten; er schwingt sich darauf
und ruft: "Bedenke nur das gute Werk, das ich tue!  Dies Geschöpf
geht immer nur gelassen einen juristischen Trab, ich will sehen, daß
ich ihn zu einem raschen Lebensgalopp anrege."  Er sagte ungefähr so
und verführte andere wunderliche Reden."

Lucidor war doppelt und dreifach betroffen, er liebte das Pferd, als
seinem eigenen Charakter, seiner Lebensweise zusagend; ihn verdroß,
das gute, verständige Geschöpf in den Händen eines Wildfangs zu
wissen.  Sein Plan war zerstört, seine Absicht, zu einem
Universitätsfreunde, mit dem er in froher, herzlicher Verbindung
gelebt, in dieser Krise zu flüchten.  Das alte Zutrauen war erwacht,
die dazwischenliegenden Meilen wurden nicht gerechnet, er glaubte
schon bei dem wohlwollenden, verständigen Freunde Rat und Linderung zu
finden.  Diese Aussicht war nun abgeschnitten; doch sie war's nicht,
wenn er es wagte, auf frischen Wanderfüßen, die ihm zu Gebote standen,
sein Ziel zu erreichen.

Vor allen Dingen suchte er nun aus dem Park ins freie Feld, auf den
Weg, der ihn zum Freunde führen sollte, zu gelangen.  Er war seiner
Richtung nicht ganz gewiß, als ihm, linker Hand, über dem Gebüsch
hervorragend, auf wunderlichem Zimmerwerk die Einsiedelei, aus der
man ihm früher ein Geheimnis gemacht hatte, in die Augen fiel und er,
jedoch zu seiner größten Verwunderung, auf der Galerie unter dem
chinesischen Dache den guten Alten, der einige Tage für krank
gehalten worden, munter um sich blickend erschaute.  Dem
freundlichsten Gruße, der dringenden Einladung heraufzukommen
widerstand Lucidor mit Ausflüchten und eiligen Gebärden.  Nur
Teilnahme für den guten Alten, der, die steile Treppe schwankenden
Tritts heruntereilend, herabzustürzen drohte, konnte ihn vermögen,
entgegenzusehen und sodann sich hinaufziehen zu lassen.  Mit
Verwunderung betrat er das anmutige Sälchen: es hatte nur drei
Fenster gegen das Land, eine allerliebste Aussicht; die übrigen Wände
waren verziert oder vielmehr verdeckt von hundert und aber hundert
Bildnissen, in Kupfer gestochen, allenfalls auch gezeichnet, auf die
Wand nebeneinander in gewisser Ordnung aufgeklebt, durch farbige
Säume und Zwischenräume gesondert.

"Ich begünstige Sie, mein Freund, wie nicht jeden; dies ist das
Heiligtum, in dem ich meine letzten Tage vergnüglich zubringe.  Hier
erhol' ich mich von allen Fehlern, die mich die Gesellschaft begehen
läßt, hier bring' ich meine Diätfehler wieder ins Gleichgewicht."

Lucidor besah sich das Ganze, und in der Geschichte wohl erfahren,
sah er alsbald klar, daß eine historische Neigung zugrunde liege.

"Hier oben in der Friese", sagte der Alte, "finden Sie die Namen
vortrefflicher Männer aus der Urzeit, dann aus der näheren auch nur
die Namen, denn wie sie ausgesehen, möchte schwerlich auszumitteln
sein.  Hier aber im Hauptfelde geht eigentlich mein Leben an, hier
sind die Männer, die ich noch nennen gehört als Knabe.  Denn etwa
funfzig Jahre bleibt der Name vorzüglicher Menschen in der Erinnerung
des Volks, weiterhin verschwindet er oder wird märchenhaft.--Obgleich
von deutschen Eltern, bin ich in Holland geboren, und für mich ist
Wilhelm von Oranien, als Statthalter und König von England, der
Urvater aller außerordentlichen Männer und Helden.

Nun sehen Sie aber Ludwig den Vierzehnten gleich neben ihm, als
welcher"--wie gern hätte Lucidor den guten Alten unterbrochen, wenn
es sich geschickt hätte, wie es sich uns, den Erzählenden, wohl
ziemen mag: denn ihn bedrohte die neue und neueste Geschichte, wie
sich an den Bildern Friedrichs des Großen und seiner Generale, nach
denen er hinschielte, gar wohl bemerken ließ.

Ehrte nun auch der gute Jüngling die lebendige Teilnahme des Alten
an seiner nächsten Vor--und Mitzeit, konnten ihm einzelne
individuelle Züge und Ansichten als interessant nicht entgehen, so
hatte er doch auf Akademien schon die neuere und neueste Geschichte
gehört, und was man einmal gehört hat, glaubt man für immer zu wissen.
Sein Sinn stand in die Ferne, er hörte nicht, er sah kaum und war
eben im Begriff, auf die ungeschickteste Weise zur Türe hinaus und
die lange, fatale Treppe hinunter zu poltern, als ein Händeklatschen
von unten heftig zu vernehmen war.

Indessen sich Lucidor zurückhielt, fuhr der Kopf des Alten zum
Fenster hinaus, und von unten ertönte eine wohlbekannte Stimme:
"Kommen Sie herunter, um 's Himmels willen, aus Ihrem historischen
Bildersaal, alter Herr!  Schließen Sie Ihre Fasten und helfen mir
unsern jungen Freund begütigen--wenn er's erfährt.  Lucidors Pferd
hab' ich etwas unvernünftig angegriffen, es hat ein Eisen verloren,
und ich mußte es stehen lassen.  Was wird er sagen?  Es ist doch gar
zu absurd, wenn man absurd ist."

"Kommen Sie herauf!" sagte der Alte und wendete sich herein zu
Lucidor: "Nun, was sagen Sie?"  Lucidor schwieg, und der wilde Junker
trat herein.  Das Hin--und Widerreden gab eine lange Szene; genug,
man beschloß, den Reitknecht sogleich hinzuschicken, um für das Pferd
Sorge zu tragen.

Den Greis zurücklassend, eilten beide jungen Leute nach dem Hause,
wohin sich Lucidor nicht ganz unwillig ziehen ließ; es mochte daraus
werden, was wollte, wenigstens war in diesen Mauern der einzige
Wunsch seines Herzens eingeschlossen.  In solchem verzweifelten Falle
vermissen wir ohnehin den Beistand unseres freien Willens und fühlen
uns erleichtert für einen Augenblick, wenn von irgendwoher Bestimmung
und Nötigung eingreift.  Jedoch fand er sich, da er sein Zimmer
betrat, in dem wunderlichsten Zustande, eben als wenn jemand in ein
Gasthofsgemach, das er soeben verließ, unerwünscht wieder einzukehren
genötigt ist, weil ihm eine Achse gebrochen.

Der lustige Junker machte sich nun über den Mantelsack, um alles
recht ordentlich auszupacken, vorzüglich legte er zusammen, was von
festlichen Kleidungsstücken, obgleich reisemäßig, vorhanden war; er
nötigte Lucidorn, Schuh und Strümpfe anzuziehen, richtete dessen
vollkrause, braune Locken zurecht und putzte ihn aufs beste heraus.
Sodann rief er hinwegtretend, unsern Freund und sein Machwerk vom
Kopf bis zum Fuße beschauend: "Nun seht Ihr doch, Freundchen, einem
Menschen gleich, der einigen Anspruch auf hübsche Kinder macht, und
ernsthaft genug dabei, um sich nach einer Braut umzusehn.  Nur einen
Augenblick! und Ihr sollt erfahren, wie ich mich hervorzutun weiß,
wenn die Stunde schlägt.  Das hab' ich Offizieren abgelernt, nach
denen die Mädchen immer schielen, und da hab' ich mich zu einer
gewissen Soldateska selbst enrolliert, und nun sehen sie mich auch an
und wieder an, weil keine weiß, was sie aus mir machen soll.  Da
entsteht nun aus dem Hin--und Hersehen, aus Verwunderung und
Aufmerksamkeit oft etwas gar Artiges, das, wär' es auch nicht
dauerhaft, doch wert ist, daß man ihm den Augenblick gönne.

Aber nun kommen Sie, Freund, und erweisen mir den gleichen Dienst!
Wenn Sie mich Stück für Stück in meine Hülle schlüpfen sehen, so
werden Sie Witz und Erfindungsgabe dem leichtfertigen Knaben nicht
absprechen."

Nun zog er den Freund mit sich fort, durch lange, weitläufige Gänge
des alten Schlosses.  "Ich habe mich", rief er aus, "ganz hinten
hingebettet.  Ohne mich verbergen zu wollen, bin ich gern allein:
denn man kann's den andern doch nicht recht machen."

Sie kamen an der Kanzlei vorbei, eben als ein Diener heraustrat und
ein Urvater-Schreibzeug, schwarz, groß und vollständig, heraustrug;
Papier war auch nicht vergessen.

"Ich weiß schon, was da wieder gekleckst werden soll", rief der
Junker; "geh hin und laß mir den Schlüssel.  Tun Sie einen Blick
hinein, Lucidor! es unterhält Sie wohl, bis ich angezogen bin.  Einem
Rechtsfreund ist ein solches Lokale nicht verhaßt wie einem
Stallverwandten"; und so schob er Lucidorn in den Gerichtssaal.

Der Jüngling fühlte sich sogleich in einem bekannten, ansprechenden
Elemente: die Erinnerung der Tage, wo er, aufs Geschäft erpicht, an
solchem Tische saß, hörend und schreibend sich übte.  Auch blieb ihm
nicht verborgen, daß hier eine alte, stattliche Hauskapelle zum
Dienste der Themis, bei veränderten Religionsbegriffen, verwandelt sei.
In den Reposituren fand er Rubriken und Akten, ihm früher bekannt;
er hatte selbst in diesen Angelegenheiten, von der Hauptstadt her,
gearbeitet.  Einen Faszikel aufschlagend, fiel ihm ein Reskript in
die Hände, das er selbst mundiert, ein anderes, wovon er der
Konzipient gewesen.  Handschrift und Papier, Kanzleisiegel und des
Vorsitzenden Unterschrift, alles rief ihm jene Zeit eines rechtlichen
Strebens jugendlicher Hoffnung hervor.  Und wenn er sich dann umsah
und den Sessel des Oberamtmanns erblickte, ihm zugedacht und bestimmt,
einen so schönen Platz, einen so würdigen Wirkungskreis, den er zu
verschmähen, zu entbehren Gefahr lief, das alles bedrängte ihn
doppelt und dreifach, indem die Gestalt Lucindens zu gleicher Zeit
sich von ihm zu entfernen schien.

Er wollte das Freie suchen, fand sich aber gefangen.  Der
wunderliche Freund hatte, leichtsinnig oder schalkhaft, die Türe
verschlossen hinter sich gelassen; doch blieb unser Freund nicht
lange in dieser peinlichsten Beklemmung, denn der andere kam wieder,
entschuldigte sich und erregte wirklich guten Humor durch seine
seltsame Gegenwart.  Eine gewisse Verwegenheit der Farben und des
Schnitts seiner Kleidung war durch natürlichen Geschmack gedämpft; wie
wir ja selbst tatouierten Indiern einen gewissen Beifall nicht
versagen.  "Heute", rief er aus, "soll uns die Langeweile vergangener
Tage vergütet werden; gute Freunde, muntere Freunde sind angekommen,
hübsche Mädchen, neckische, verliebte Wesen, und dann auch mein Vater,
und Wunder über Wunder!  Ihr Vater auch; das wird ein Fest werden,
alles ist im Saale schon versammelt beim Frühstück."

Lucidorn war's auf einmal zumute, als wenn er in tiefe Nebel
hineinsähe, alle die angemeldeten bekannten und unbekannten Gestalten
erschienen ihm gespenstig; doch sein Charakter in Begleitung eines
reinen Herzens hielt ihn aufrecht, in wenigen Sekunden fühlte er sich
schon allem gewachsen.  Nun folgte er dem eilenden Freunde mit
sicherem Tritt, fest entschlossen, abzuwarten, es geschehe, was da
wolle, sich zu erklären, es entstehe, was da wolle.

Und doch war er auf der Schwelle des Saals betroffen.  In einem
großen Halbkreis rings an den Fenstern umher entdeckte er sogleich
seinen Vater neben dem Oberamtmann, beide stattlich angezogen.  Die
Schwestern, Antoni und sonst noch Bekannte und Unbekannte übersah er
mit einem Blick, der ihm trübe werden wollte.  Schwankend näherte er
sich seinem Vater, der ihn höchst freundlich willkommen hieß, jedoch
mit einer gewissen Förmlichkeit, die ein vertrauendes Annähern kaum
begünstigte.  Vor so vielen Personen stehend suchte er sich für den
Augenblick einen schicklichen Platz; er hätte sich neben Lucinden
stellen können, aber Julie, dem gespannten Anstand zuwider, machte
eine Wendung, daß er zu ihr treten mußte; Antoni blieb neben Lucinden.


In diesem bedeutenden Momente fühlte sich Lucidor abermals als
Beauftragten, und gestählt von seiner ganzen Rechtswissenschaft, rief
er sich jene schöne Maxime zu seinen eignen Gunsten heran: "Wir
sollen anvertraute Geschäfte der Fremden wie unsere eigenen behandeln,
warum nicht die unsrigen in eben dem Sinne?"--In Geschäftsvorträgen
wohl geübt, durchlief er schnell, was er zu sagen habe.  Indessen
schien die Gesellschaft, in einen förmlichen Halbzirkel gebildet, ihn
zu überflügeln.  Den Inhalt seines Vortrags kannte er wohl, den
Anfang konnte er nicht finden.  Da bemerkte er, in einer Ecke
aufgetischt, das große Tintenfaß, Kanzleiverwandte dabei; der
Oberamtmann machte eine Bewegung, seine Rede vorzubereiten; Lucidor
wollte ihm zuvorkommen, und in demselben Augenblicke drückte Julie
ihm die Hand.  Dies brachte ihn aus aller Fassung, er überzeugte sich,
daß alles entschieden, alles für ihn verloren sei.

Nun war an gegenwärtigen sämtlichen Lebensverhältnissen, diesen
Familienverbindungen, Gesellschafts--und Anstandsbezügen nichts mehr
zu schonen; er sah vor sich hin, entzog seine Hand Julien und war so
schnell zur Türe hinaus, daß die Versammlung ihn unversehens vermißte
und er sich selbst draußen nicht wiederfinden konnte.

Scheu vor dem Tageslichte, das im höchsten Glanze über ihn
herabschien, die Blicke begegnender Menschen vermeidend, aufsuchende
fürchtend, schritt er vorwärts und gelangte zu dem großen Gartensaal.
Dort wollten ihm die Kniee versagen, er stürzte hinein und warf sich
trostlos auf den Sofa unter dem Spiegel: mitten in der
sittlich-bürgerlichen Gesellschaft in solcher Verworrenheit befangen,
die sich wogenhaft um ihn, in ihm hin und her schlug.  Sein
vergangenes Dasein kämpfte mit dem gegenwärtigen, es war ein
greulicher Augenblick.

Und so lag er eine Zeit, mit dem Gesichte in das Kissen versenkt,
auf welchem gestern Lucindens Arm geruht hatte.  Ganz in seinen
Schmerz versunken, fuhr er, sich berührt fühlend, schnell in die Höhe,
ohne die Annäherung irgendeiner Person gespürt zu haben: da erblickt'
er Lucinden, die ihm nahe stand,

Vermutend, man habe sie gesendet, ihn abzuholen, ihr aufgetragen,
ihn mit schicklichen, schwesterlichen Worten in die Gesellschaft,
seinem widerlichen Schicksal entgegen zu führen, rief er aus: "Sie
hätte man nicht senden müssen, Lucinde, denn Sie sind es, die mich
von dort vertrieb; ich kehre nicht zurück!  Geben Sie mir, wenn Sie
irgendeines Mitleids fähig sind, schaffen Sie mir Gelegenheit und
Mittel zur Flucht.  Denn, damit Sie von mir zeugen können, wie
unmöglich es sei, mich zurückzubringen, so nehmen Sie den Schlüssel
zu meinem Betragen, das Ihnen und allen wahnsinnig vorkommen muß.
Hören Sie den Schwur, den ich mir im Innern getan und den ich
unauflöslich laut wiederhole: Nur mit Ihnen wollt' ich leben, meine
Jugend nutzen, genießen, und so das Alter im treuen, redlichen Ablauf.
Dies aber sei so fest und sicher als irgend etwas, was vor dem Altar
je geschworen worden, was ich jetzt schwöre, indem ich Sie verlasse,
der bedauernswürdigste aller Menschen."

Er machte eine Bewegung zu entschlüpfen, ihr, die so gedrängt vor
ihm stand; aber sie faßte ihn sanft in ihren Arm.--"Was machen Sie!"
rief er aus.  "Lucidor!" rief sie, "nicht zu bedauern, wie Sie wohl
wähnen, Sie sind mein, ich die Ihre; ich halte Sie in meinen Armen,
zaudern Sie nicht, die Ihrigen um mich zu schlagen.  Ihr Vater ist
alles zufrieden; Antoni heiratet meine Schwester."  Erstaunt zog er
sich von ihr zurück.  "Das wäre wahr?"  Lucinde lächelte und nickte,
er entzog sich ihren Armen.  "Lassen Sie mich noch einmal in der
Ferne sehen, was so nah, so nächst mir angehören soll."  Er faßte
ihre Hände, Blick in Blick!  "Lucinde, sind Sie mein?"--Sie versetzte:
"Nun ja doch", die süßesten Tränen in dem treusten Auge; er
umschlang sie und warf sein Haupt hinter das ihre, hing wie am
Uferfelsen ein Schiffbrüchiger; der Boden bebte noch unter ihm.  Nun
aber sein entzückter Blick, sich wieder öffnend, fiel in den Spiegel.
Da sah er sie in seinen Armen, sich von den ihren umschlungen; er
blickte wieder und wieder hin.  Solche Gefühle begleiten den Menschen
durchs ganze Leben.  Zugleich sah er auch auf der Spiegelfläche die
Landschaft, die ihm gestern so greulich und ahnungsvoll erschienen
war, glänzender und herrlicher als je; und sich in solcher Stellung,
auf solchem Hintergrunde!  Genugsame Vergeltung aller Leiden.



"Wir sind nicht allein", sagte Lucinde, und kaum hatte er sich von
seinem Entzücken erholt, so erschienen geputzt und bekränzt Mädchen
und Knaben, Kränze tragend, den Ausgang versperrend.  "Das sollte
alles anders werden", rief Lucinde; "wie artig war es eingerichtet,
und nun geht's tumultuarisch durcheinander!"  Ein munterer Marsch
tönte von weitem, und man sah die Gesellschaft den breiten Weg her
feierlich heiter heranziehen.  Er zauderte entgegenzusehen und schien
seiner Schritte nur an ihrem Arm gewiß; sie blieb neben ihm, die
feierliche Szene des Wiedersehens, des Danks für eine schon
vollendete Vergebung von Augenblick zu Augenblick erwartend.

Anders war's jedoch von den launischen Göttern beschlossen; eines
Posthorns lustig schmetternder Ton, von der Gegenseite, schien den
ganzen Aufstand in Verwirrung zu setzen.  "Wer mag kommen?" rief
Lucinde.  Lucidorn schauderte vor einer fremden Gegenwart, und auch
der Wagen schien ganz fremd.  Eine zweisitzige, neue, ganz neuste
Reisechaise!  Sie fuhr an den Saal an.  Ein ausgezeichneter,
anständiger Knabe sprang hinten herunter, öffnete den Schlag, aber
niemand stieg heraus; die Chaise war leer, der Knabe stieg hinein, mit
einigen geschickten Handgriffen warf er die Spriegel zurück, und so
war in einem Nu das niedlichste Gebäude zur lustigsten Spazierfahrt
vor den Augen aller Anwesenden bereitet, die indessen herankamen.
Antoni, den übrigen voreilend, führte Julien zu dem Wagen.  "Versuchen
Sie", sprach er, "ob Ihnen dies Fuhrwerk gefallen kann, um darin mit
mir auf den besten Wegen durch die Welt zu rollen; ich werde Sie
keinen andern führen, und wo es irgend not tut, wollen wir uns zu
helfen wissen. über das Gebirg sollen uns Saumrosse tragen, und den
Wagen dazu."

"Sie sind allerliebst!" rief Julie.  Der Knabe trat heran und zeigte
mit Taschenspielergewandtheit alle Bequemlichkeiten, kleine Vorteile
und Behendigkeiten des ganzen leichten Baues.

"Auf der Erde weiß ich keinen Dank", rief Julie, "nur auf diesem
kleinen, beweglichen Himmel, aus dieser Wolke, in die Sie mich
erheben, will ich Ihnen herzlich danken."  Sie war schon
eingesprungen, ihm Blick und Kußhand freundlich zuwerfend.
"Gegenwärtig dürfen Sie noch nicht zu mir herein, da ist aber ein
anderer, den ich auf dieser Probefahrt mitzunehmen gedenke, er hat
auch noch eine Probe zu bestehen."  Sie rief nach Lucidor, der, eben
mit Vater und Schwiegervater in stummer Unterhaltung begriffen, sich
gern in das leichte Fuhrwerk nötigen ließ, da er ein unausweichlich
Bedürfnis fühlte, nur einen Augenblick auf irgendeine Weise sich zu
zerstreuen.  Er saß neben ihr, sie rief dem Postillon zu, wie er
fahren solle.  Flugs entfernten sie sich, in Staub gehüllt, aus den
Augen der verwundert Nachschauenden.

Julie setzte sich recht fest und bequem ins Eckchen.--

"Rücken Sie nun auch dorthin, Herr Schwager, daß wir uns recht
bequem in die Augen sehen."

Lucidor.  Sie empfinden meine Verwirrung, meine Verlegenheit; ich
bin noch immer wie im Traume, helfen Sie mir heraus.

Julie.  Sehen Sie die hübschen Bauersleute, wie sie freundlich
grüßen!  Bei Ihrem Hiersein sind Sie ja nicht ins obere Dorf gekommen.
Alles wohlhabende Leute, die mir alle gewogen sind.  Es ist niemand
zu reich, dem man nicht einmal wohlwollend einen bedeutenden Dienst
erweisen könne.  Diesen Weg, den wir so bequem fahren, hat mein Vater
angelegt und auch dieses Gute gestiftet.

Lucidor.  Ich glaub' es gern und geb' es zu; aber was sollen die
Äußerlichkeiten gegen die Verworrenheit meines Innern!

Julie.  Nur Geduld, ich will Ihnen die Reiche der Welt und ihre
Herrlichkeit zeigen.  Nun sind wir oben!  Wie klar das ebene Land
gegen das Gebirg hinliegt!  Alle diese Dörfer verdanken meinem Vater
gar viel, und Mutter und Töchtern wohl auch.  Die Flur jenes
Städtchens dort hinten macht erst die Grenze.

Lucidor.  Ich finde Sie in einer wunderlichen Stimmung; Sie scheinen
nicht recht zu sagen, was Sie sagen wollten.

Julie.  Nun sehen Sie hier links hinunter, wie schön sich das alles
entwickelt!  Die Kirche mit ihren hohen Linden, das Amthaus mit
seinen Pappeln hinter dem Dorfhügel her.  Auch die Gärten liegen vor
uns und der Park.

Der Postillon fuhr schärfer.

Julie.  Jenen Saal dort droben kennen Sie; er sieht sich von hier
aus ebenso gut an wie die Gegend von dort her.  Hier am Baume wird
gehalten; nun gerade hier spiegeln wir uns oben in der großen
Glasfläche, man sieht uns dort recht gut, wir aber können uns nicht
erkennen.--Fahre zu!  Dort haben sich vor kurzem wahrscheinlich ein
Paar Leute näher bespiegelt und, ich müßte mich sehr irren, mit
großer wechselseitiger Zufriedenheit.

Lucidor, verdrießlich, erwiderte nichts; sie fuhren eine Zeitlang
stillschweigend vor sich hin, es ging sehr schnell.  "Hier", sagte
Julie, "fängt der schlechte Weg an, um den mögen Sie sich einmal
verdient machen.  Eh es hinabgeht, schauen Sie noch hinüber, die
Buche meiner Mutter ragt mit ihrem herrlichen Gipfel über alles hervor.
Du fährst", fuhr sie zum Kutschenden fort, "den schlechten Weg hin,
wir nehmen den Fußpfad durchs Tal und sind eher drüben wie du."  Im
Aussteigen rief sie aus: "Das gestehen Sie doch, der ewige Jude, der
unruhige Anton Reiser, weiß noch seine Wallfahrten bequem genug
einzurichten, für sich und seine Genossen: es ist ein sehr schöner,
bequemer Wagen."

Und so war sie auch schon den Hügel drunten; Lucidor folgte sinnend
und fand sie auf einer wohlgelegenen Bank sitzend, es war Lucindens
Plätzchen.  Sie lud ihn zu sich.

Julie.  Nun sitzen wir hier und gehen einander nichts an, das hat
denn doch so sein sollen.  Das kleine Quecksilber wollte Ihnen gar
nicht anstehen.  Nicht lieben konnten Sie ein solches Wesen, verhaßt
war es Ihnen.

Lucidors Verwunderung nahm zu.

Julie.  Aber freilich Lucinde!  Sie ist der Inbegriff aller
Vollkommenheiten, und die niedliche Schwester war ein für allemal
ausgestochen.  Ich seh' es, auf Ihren Lippen schwebt die Frage, wer
uns so genau unterrichtet hat?

Lucidor.  Es steckt ein Verrat dahinter!--

Julie.  Jawohl! ein Verräter ist im Spiele.

Lucidor.  Nennen Sie ihn.

Julie.  Der ist bald entlarvt.  Sie selbst!--Sie haben die löbliche
oder unlöbliche Gewohnheit, mit sich selbst zu reden, und da will ich
denn in unser aller Namen bekennen, daß wir Sie wechselsweise
behorcht haben.

Lucidor (aufspringend).  Eine saubere Gastfreundschaft, auf diese
Weise den Fremden eine Falle zu stellen!

Julie.  Keineswegs; wir dachten nicht daran, Sie zu belauschen, so
wenig als irgendeinen andern.  Sie wissen, Ihr Bett steht in einem
Verschlag der Wand, von der Gegenseite geht ein anderer herein, der
gewöhnlich nur zu häuslicher Niederlage dient.  Da hatten wir einige
Tage vorher unsern Alten genötigt zu schlafen, weil wir für ihn in
seiner abgelegenen Einsiedelei viele Sorge trugen; nun fuhren Sie
gleich den ersten Abend mit einem solchen leidenschaftlichen Monolog
ins Zeug, dessen Inhalt er uns den andern Morgen angelegentlichst
entdeckte.

Lucidor hatte nicht Lust, sie zu unterbrechen.  Er entfernte sich.

Julie (aufgestanden ihm folgend).  Wie war uns mit dieser Erklärung
gedient!  Denn ich gestehe gern: wenn Sie mir auch nicht gerade
zuwider waren, so blieb doch der Zustand, der mich erwartete, mir
keineswegs wünschenswert.  Frau Oberamtmännin zu sein, welche
schreckliche Lage!  Einen tüchtigen, braven Mann zu haben, der den
Leuten Recht sprechen soll und vor lauter Recht nicht zur
Gerechtigkeit kommen kann! der es weder nach oben noch unten recht
macht und, was das Schlimmste ist, sich selbst nicht.  Ich weiß, was
meine Mutter ausgestanden hat von der Unbestechlichkeit,
Unerschütterlichkeit meines Vaters.  Endlich, leider nach ihrem Tod,
ging ihm eine gewisse Mildigkeit auf, er schien sich in die Welt zu
finden, an ihr sich auszugleichen, die er sich bisher vergeblich
bekämpft hatte.

Lucidor (höchst unzufrieden über den Vorfall, ärgerlich über die
leichtsinnige Behandlung, stand still).  Für den Scherz eines Abends
mochte das hingehen, aber eine solche beschämende Mystifikation Tage
und Nächte lang gegen einen unbefangenen Gast zu verüben, ist nicht
verzeihlich.

Julie.  Wir alle haben uns in die Schuld geteilt, wir haben Sie alle
behorcht; ich aber allein büße die Schuld des Horchens.

Lucidor.  Alle! desto unverzeihlicher!  Und wie konnten Sie mich den
Tag über ohne Beschämung ansehen, den Sie des Nachts
schmählich-unerlaubt überlisteten?  Doch ich sehe jetzt ganz deutlich
mit einem Blick, daß Ihre Tagesanstalten nur darauf berechnet waren,
mich zum besten zu haben.  Eine löbliche Familie! und wo bleibt die
Gerechtigkeitsliebe Ihres Vaters?--Und Lucinde!

Julie.  Und Lucinde!  Was war das für ein Ton!  Nicht wahr, Sie
wollten sagen: wie tief es Sie schmerzt, von Lucinden übel zu denken,
Lucinden mit uns allen in eine Klasse zu werfen?

Lucidor.  Lucinden begreif' ich nicht.

Julie.  Sie wollen sagen: diese reine, edle Seele, dieses ruhig
gefaßte Wesen, die Güte, das Wohlwollen selbst, diese Frau, wie sie
sein sollte, verbindet sich mit einer leichtsinnigen Gesellschaft,
mit einer überhinfahrenden Schwester, einem verzogenen Jungen und
gewissen geheimnisvollen Personen! das ist unbegreiflich.

Lucidor.  Jawohl ist das unbegreiflich.

Julie.  So begreifen Sie es denn!  Lucinden wie uns allen waren die
Hände gebunden.  Hätten Sie die Verlegenheit bemerken können, wie sie
sich kaum zurückhielt, Ihnen alles zu offenbaren, Sie würden sie
doppelt und dreifach lieben, wenn nicht jede wahre Liebe an und für
sich zehn--und hundertfach wäre; auch versichere ich Sie, uns allen
ist der Spaß am Ende zu lang geworden.

Lucidor.  Warum endigten Sie ihn nicht?

Julie.  Das ist nun auch aufzuklären.  Nachdem Ihr erster Monolog
dem Vater bekannt geworden und er gar bald bemerken konnte, daß alle
seine Kinder nichts gegen einen solchen Tausch einzuwenden hätten, so
entschloß er sich, alsobald zu Ihrem Vater zu reisen.  Die
Wichtigkeit des Geschäfts war ihm bedenklich.  Ein Vater allein fühlt
den Respekt, den man einem Vater schuldig ist.  "Er muß es zuerst
wissen", sagte der meine, "um nicht etwan hintendrein, wenn wir einig
sind, eine ärgerlich-erzwungene Zustimmung zu geben.  Ich kenne ihn
genau, ich weiß, wie er einen Gedanken, eine Neigung, einen Vorsatz
festhält, und es ist mir bange genug.  Er hat sich Julien, seine
Karten und Prospekte so zusammen gedacht, daß er sich schon vornahm,
das alles zuletzt hierher zu stiften, wenn der Tag käme, wo das junge
Paar sich hier niederließe und Ort und Stelle so leicht nicht
verändern könnte: da wollt' er alle Ferien uns zuwenden, und was er
für Liebes und Gutes im Sinne hatte.  Er muß zuerst erfahren, was die
Natur uns für einen Streich gespielt, da noch nichts eigentlich
erklärt, noch nichts entschieden ist."  Hierauf nahm er uns allen den
feierlichsten Handschlag ab, daß wie Sie beobachten und, es geschehe,
was da wolle, Sie hinhalten sollten.  Wie sich die Rückreise
verzögert, wie es Kunst, Mühe und Beharrlichkeit gekostet, Ihres
Vaters Einwilligung zu erlangen, das mögen Sie von ihm selbst hören.
Genug, die Sache ist abgetan, Lucinde ist Ihnen gegönnt.--

Und so waren beide, vom ersten Sitze lebhaft sich entfernend,
unterwegs anhaltend, immer fortsprechend und langsam weitergehend,
über die Wiesen hin auf die Erhöhung gekommen an einen andern
wohlgebahnten Kunstweg.  Der Wagen fuhr schnell heran; Augenblicks
machte sie ihren Nachbar aufmerksam auf ein seltsames Schauspiel.
Die ganze Maschinerie, worauf sich der Bruder so viel zugute tat, war
belebt und bewegt; schon führten die Räder eine Menschenzahl auf und
nieder, schon wogten die Schaukeln, Mastbäume wurden erklettert, und
was man nicht alles für kühnen Schwung und Sprung über den Häuptern
einer unzählbaren Menge gewagt sah!  Alles das hatte der Junker in
Bewegung gesetzt, damit nach Tafel die Gäste fröhlich unterhalten
würden.  "Du fährst noch durchs untere Dorf", rief Julie, "die Leute
wollen mir wohl, und sie sollen sehen, wie wohl es mir geht."

Das Dorf war öde, die Jüngern sämtlich hatten schon den Lustplatz
ereilt, alte Männer und Frauen zeigten sich, durch das Posthorn
erregt, an Tür und Fenstern, alles grüßte, segnete, rief: "O das
schöne Paar!"

Julie.  Nun, da haben Sie's!  Wir hätten am Ende doch wohl
zusammengepaßt; es kann Sie noch reuen.

Lucidor.  Jetzt aber, liebe Schwägerin!--

Julie.  Nicht wahr, jetzt "lieb", da Sie mich los sind.

Lucidor.  Nur ein Wort!  Auf Ihnen lastet eine schwere
Verantwortlichkeit; was sollte der Händedruck, da Sie meine
überschreckliche Stellung kannten und fühlen mußten?  So gründlich
Boshaftes ist mir in der Welt noch nichts vorgekommen.

Julie.  Danken Sie Gott, nun wär's abgebüßt, alles ist verziehen.
Ich wollte Sie nicht, das ist wahr, aber daß Sie mich ganz und gar
nicht wollten, das verzeiht kein Mädchen, und dieser Händedruck war,
merken Sie sich's! für den Schalk.  Ich gestehe, es war schalkischer
als billig, und ich verzeihe mir nur, indem ich Ihnen vergebe, und so
sei denn alles vergeben und vergessen!  Hier meine Hand.

Er schlug ein, sie rief: "Da sind wir schon wieder! in unserm Park
schon wieder, und so geht's bald um die weite Welt und auch wohl
zurück; wir treffen uns wieder."

Sie waren vor dem Gartensaal schon angelangt, er schien leer; die
Gesellschaft hatte sich, im Unbehagen, die Tafelzeit überlang
verschoben zu sehen, zum Spazieren bewegt.  Antoni aber und Lucinde
traten hervor.  Julie warf sich aus dem Wagen ihrem Freund entgegen,
sie dankte in einer herzlichen Umarmung und enthielt sich nicht der
freudigsten Tränen.  Des edlen Mannes Wange rötete sich, seine Züge
traten entfaltet hervor, sein Auge blickte feucht, und ein schöner,
bedeutender Jüngling erschien aus der Hülle.

Und so zogen beide Paare zur Gesellschaft, mit Gefühlen, die der
schönste Traum nicht zu geben vermochte.



Zehntes Kapitel

Vater und Sohn waren, von einem Reitknecht begleitet, durch eine
angenehme Gegend gekommen, als dieser, im Angesicht einer hohen Mauer,
die einen weiten Bezirk zu umschließen schien, stillehaltend,
bedeutete, sie möchten nun zu Fuße sich dem großen Tore nähern, weil
kein Pferd in diesen Kreis eingelassen würde.  Sie zogen die Glocke,
das Tor eröffnete sich, ohne daß eine Menschengestalt sichtbar
geworden wäre, und sie gingen auf ein altes Gebäude los, das zwischen
uralten Stämmen von Buchen und Eichen ihnen entgegenschimmerte.
Wunderbar war es anzusehen, denn so alt es der Form nach schien, so
war es doch, als wenn Maurer und Steinmetzen soeben erst abgegangen
wären, dergestalt neu, vollständig und nett erschienen die Fugen wie
die ausgearbeiteten Verzierungen.

Der metallne, schwere Ring an einer wohlgeschnitzten Pforte lud sie
ein zu klopfen, welches Felix mutwillig etwas unsanft verrichtete;
auch diese Tür sprang auf, und sie fanden zunächst auf der Hausflur
ein Frauenzimmer sitzen von mittlerem Alter, am Stickrahmen mit einer
wohlgezeichneten Arbeit beschäftigt.  Diese begrüßte sogleich die
Ankommenden als schon gemeldet und begann ein heiteres Lied zu singen,
worauf sogleich aus einer benachbarten Türe ein Frauenzimmer
heraustrat, das man für die Beschließerin und tätige Haushälterin,
nach den Anhängseln ihres Gürtels, ohne weiteres zu erkennen hatte.
Auch diese freundlich grüßend führte die Fremden eine Treppe hinauf
und eröffnete ihnen einen Saal, der sie ernsthaft ansprach, weit,
hoch, ringsum getäfelt, oben drüber eine Reihenfolge historischer
Schilderungen.  Zwei Personen traten ihnen entgegen, ein jüngeres
Frauenzimmer und ein ältlicher Mann.

Jene hieß den Gast sogleich freimütig willkommen.  "Sie sind", sagte
sie, "als einer der Unsern angemeldet.  Wie soll ich Ihnen aber kurz
und gut den Gegenwärtigen vorstellen?  Er ist unser Hausfreund im
schönsten und weitesten Sinne, bei Tage der belehrende Gesellschafter,
bei Nacht Astronom, und Arzt zu jeder Stunde."

"Und ich", versetzte dieser freundlich, "empfehle Ihnen dieses
Frauenzimmer als die bei Tage unermüdete Geschäftige, bei Nacht,
wenn's not tut, gleich bei der Hand, und immerfort die heiterste
Lebensbegleiterin."

Angela, so nannte man die durch Gestalt und Betragen einnehmende
Schöne, verkündigte sodann die Ankunft Makariens; ein grüner Vorhang
zog sich auf, und eine Ältliche, wunderwürdige Dame ward auf einem
Lehnsessel von zwei jungen, hübschen Mädchen hereingeschoben, wie von
zwei andern ein runder Tisch mit erwünschtem Frühstück.  In einem
Winkel der ringsumher gehenden massiven eichenen Bänke waren Kissen
gelegt, darauf setzten sich die obigen dreie, Makarie in ihrem Sessel
gegen ihnen über.  Felix verzehrte sein Frühstück stehend, im Saal
umherwandelnd und die ritterlichen Bilder über dem Getäfel neugierig
betrachtend.

Makarie sprach zu Wilhelm als einem Vertrauten, sie schien sich in
geistreicher Schilderung ihrer Verwandten zu erfreuen; es war, als
wenn sie die innere Natur eines jeden durch die ihn umgebende
individuelle Maske durchschaute.  Die Personen, welche Wilhelm kannte,
standen wie verklärt vor seiner Seele, das einsichtige Wohlwollen der
unschätzbaren Frau hatte die Schale losgelöst und den gesunden Kern
veredelt und belebt.

Nachdem nun diese angenehmen Gegenstände durch die freundlichste
Behandlung erschöpft waren, sprach sie zu dem würdigen Gesellschafter:
"Sie werden von der Gegenwart dieses neuen Freundes nicht wiederum
Anlaß zu einer Entschuldigung finden und die versprochene
Unterhaltung abermals verspäten; er scheint von der Art, wohl auch
daran teilzunehmen."

Jener aber versetzte darauf: "Sie wissen, welche Schwierigkeit es
ist, sich über diese Gegenstände zu erklären, denn es ist von nichts
wenigerem als von dem Mißbrauch fürtrefflicher und weit auslangender
Mittel die Rede."

"Ich geb' es zu", versetzte Makarie, "denn man kommt in doppelte
Verlegenheit.  Spricht man von Mißbrauch, so scheint man die Würde des
Mittels selbst anzutasten, denn es liegt ja immer noch in dem
Mißbrauch verborgen; spricht man von Mittel, so kann man kaum zugeben,
daß seine Gründlichkeit und Würde irgendeinen Mißbrauch zulasse.
Indessen, da wir unter uns sind, nichts festsetzen, nichts nach außen
wirken, sondern nur uns aufklären wollen, so kann das Gespräch immer
vorwärtsgehen."

"Doch müßten wir", versetzte der bedächtige Mann, "vorher anfragen,
ob unser neuer Freund auch Lust habe, an einer gewissermaßen abstrusen
Materie teilzunehmen, und ob er nicht vorzöge, in seinem Zimmer einer
nötigen Ruhe zu pflegen.  Sollte wohl unsere Angelegenheit, außer dem
Zusammenhange, ohne Kenntnis, wie wir darauf gelangt, von ihm gern
und günstig aufgenommen werden?"

"Wenn ich das, was Sie gesagt haben, mir durch etwas Analoges
erklären möchte, so scheint es ungefähr der Fall zu sein, wenn man
die Heuchelei angreift und eines Angriffs auf die Religion
beschuldigt werden kann."

"Wir können die Analogie gelten lassen", versetzte der Hausfreund,
"denn es ist auch hier von einem Komplex mehrerer bedeutender
Menschen, von einer hohen Wissenschaft, von einer wichtigen Kunst und,
daß ich kurz sei, von der Mathematik die Rede."

"Ich habe", versetzte Wilhelm, "wenn ich auch über die fremdesten
Gegenstände sprechen hörte, mir immer etwas daraus nehmen können: denn
alles, was den einen Menschen interessiert, wird auch in dem andern
einen Anklang finden."

"Vorausgesetzt", sagte jener, "daß er sich eine gewisse Freiheit des
Geistes erworben habe; und da wir Ihnen dies zutrauen, so will ich
von meiner Seite wenigstens Ihrem Verharren nichts entgegenstellen."

"Was aber fangen wir mit Felix an?" fragte Makarie, "welcher, wie
ich sehe, mit der Betrachtung jener Bilder schon fertig ist und
einige Ungeduld merken läßt."

"Vergönnt mir, diesem Frauenzimmer etwas ins Ohr zu sagen",
versetzte Felix, raunte Angela etwas stille zu, die sich mit ihm
entfernte, bald aber lächelnd zurückkam, da denn der Hausfreund
folgendermaßen zu reden anfing.

"In solchen Fällen, wo man irgend eine Mißbilligung, einen Tadel,
auch nur ein Bedenken aussprechen soll, nehme ich nicht gern die
Initiative; ich suche mir eine Autorität, bei welcher ich mich
beruhigen kann, indem ich finde, daß mir ein anderer zur Seite steht.
Loben tu' ich ohne Bedenken, denn warum soll ich verschweigen, wenn
mir etwas zusagt? sollte es auch meine Beschränktheit ausdrücken, so
hab' ich mich deren nicht zu schämen; tadle ich aber, so kann mir
begegnen, daß ich etwas Fürtreffliches abweise, und dadurch zieh' ich
mir die Mißbilligung anderer zu, die es besser verstehen; ich muß mich
zurücknehmen, wenn ich aufgeklärt werde.  Deswegen bring' ich hier
einiges Geschriebene, sogar übersetzungen mit: denn ich traue in
solchen Dingen meiner Nation so wenig als mir selbst; eine Zustimmung
aus der Ferne und Fremde scheint mir mehr Sicherheit zu geben."  Er
fing nunmehr nach erhaltener Erlaubnis folgendermaßen zu lesen an.--

Wenn wir aber uns bewogen finden, diesen werten Mann nicht lesen zu
lassen, so werden es unsere Gönner wahrscheinlich geneigt aufnehmen,
denn was oben gegen das Verweilen Wilhelms bei dieser Unterhaltung
gesagt worden, gilt noch mehr in dem Falle, in welchem wir uns
befinden.  Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und
wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so
finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch
weiter auf die Probe zu stellen.  Die Papiere, die uns vorliegen,
gedenken wir an einem andern Orte abdrucken zu lassen und fahren
diesmal im Geschichtlichen ohne weiteres fort, da wir selbst
ungeduldig sind, als obwaltende Rätsel endlich aufgeklärt zu sehen.

Enthalten können wir uns aber doch nicht, ferner einiges zu erwähnen,
was noch vor dem abendlichen Scheiden dieser edlen Gesellschaft zur
Sprache kam.  Wilhelm, nachdem er jener Vorlesung aufmerksam zugehört,
äußerte ganz unbewunden: "Hier vernehme ich von großen Naturgaben,
Fähigkeiten und Fertigkeiten, und doch zuletzt, bei ihrer Anwendung,
manches Bedenken.  Sollte ich mich darüber ins Kurze fassen, so würde
ich ausrufen: "Große Gedanken und ein reines Herz, das ist's, was wir
uns von Gott erbitten sollten!""

Diesen verständigen Worten Beifall gebend, löste die Versammlung
sich auf, der Astronom aber versprach, Wilhelm in dieser herrlichen,
klaren Nacht an den Wundern des gestirnten Himmels vollkommen
teilnehmen zu lassen.

Nach einigen Stunden ließ der Astronom seinen Gast die Treppen zur
Sternwarte sich hinaufwinden und zuletzt allein auf die völlig freie
Fläche eines runden, hohen Turmes heraustreten.  Die heiterste Nacht,
von allen Sternen leuchtend und funkelnd, umgab den Schauenden,
welcher zum erstenmale das hohe Himmelsgewölbe in seiner ganzen
Herrlichkeit zu erblicken glaubte.  Denn im gemeinen Leben,
abgerechnet die ungünstige Witterung, die uns so oft den Glanzraum
des Äthers verbirgt, hindern uns zu Hause bald Dächer und Giebel,
auswärts bald Wälder und Felsen, am meisten aber überall die inneren
Beunruhigungen des Gemüts, die, uns alle Umwelt mehr als Nebel und
Mißwetter zu verdüstern, sich hin und her bewegen.

Ergriffen und erstaunt hielt er sich beide Augen zu.  Das Ungeheure
hört auf, erhaben zu sein, es überreicht unsre Fassungskraft, es
droht, uns zu vernichten.  "Was bin ich denn gegen das All?" sprach
er zu seinem Geiste; "wie kann ich ihm gegenüber, wie kann ich in
seiner Mitte stehen?"  Nach einem kurzen überdenken jedoch fuhr er
fort: "Das Resultat unsres heutigen Abends löst ja auch das Rätsel
des gegenwärtigen Augenblicks.  Wie kann sich der Mensch gegen das
Unendliche stellen, als wenn er alle geistigen Kräfte, die nach
vielen Seiten hingezogen werden, in seinem Innersten, Tiefsten
versammelt, wenn er sich fragt: "Darfst du dich in der Mitte dieser
ewig lebendigen Ordnung auch nur denken, sobald sich nicht
gleichfalls in dir ein beharrlich Bewegtes, um einen reinen
Mittelpunkt kreisend, hervortut?  Und selbst wenn es dir schwer würde,
diesen Mittelpunkt in deinem Busen aufzufinden, so würdest du ihn
daran erkennen, daß eine wohlwollende, wohltätige Wirkung von ihm
ausgeht und von ihm Zeugnis gibt."

Wer soll, wer kann aber auf sein vergangenes Leben zurückblicken,
ohne gewissermaßen irre zu werden, da er meistens finden wird, daß
sein Wollen richtig, sein Tun falsch, sein Begehren tadelhaft und
sein Erlangen dennoch erwünscht gewesen?

Wie oft hast du diese Gestirne leuchten gesehen, und haben sie dich
nicht jederzeit anders gefunden? sie aber sind immer dieselbigen und
sagen immer dasselbige: "Wir bezeichnen", wiederholten sie, "durch
unsern gesetzmäßigen Gang Tag und Stunde; frage dich auch, wie
verhältst du dich zu Tag und Stunde?"--Und so kann ich denn diesmal
antworten: "Des gegenwärtigen Verhältnisses hab' ich mich nicht zu
schämen, meine Absicht ist, einen edlen Familienkreis in allen seinen
Gliedern erwünscht verbunden herzustellen; der Weg ist bezeichnet.
Ich soll erforschen, was edle Seelen auseinanderhält, soll Hindernisse
wegräumen, von welcher Art sie auch seien."  Dies darfst du vor
diesen himmlischen Heerscharen bekennen; achteten sie deiner, sie
würden zwar über deine Beschränktheit lächeln, aber sie ehrten gewiß
deinen Vorsatz und begünstigten dessen Erfüllung."

Bei diesen Worten oder Gedanken wendete er sich, umherzusehen, da
fiel ihm Jupiter in die Augen, das Glücksgestirn, so herrlich
leuchtend als je; er nahm das Omen als günstig auf und verharrte
freudig in diesem Anschauen eine Zeitlang.

Hierauf sogleich berief ihn der Astronom herabzukommen und ließ ihn
eben dieses Gestirn durch ein vollkommenes Fernrohr in bedeutender
Größe, begleitet von seinen Monden, als ein himmlisches Wunder
anschauen.

Als unser Freund lange darin versunken geblieben, wendete er sich um
und sprach zu dem Sternfreunde: "Ich weiß nicht, ob ich ihnen danken
soll, daß Sie mir dieses Gestirn so über alles Maß näher gerückt.
Als ich es vorhin sah, stand es im Verhältnis zu dem übrigen
Unzähligen des Himmels und zu mir selbst; jetzt aber tritt es in
meiner Einbildungskraft unverhältnismäßig hervor, und ich weiß nicht,
ob ich die übrigen Scharen gleicherweise heranzuführen wünschen sollte.
Sie werden mich einengen, mich beängstigen."

So erging sich unser Freund nach seiner Gewohnheit weiter, und es
kam bei dieser Gelegenheit manches Unerwartete zur Sprache.  Auf
einiges Erwidern des Kunstverständigen versetzte Wilhelm: "Ich
begreife recht gut, daß es euch Himmelskundigen die größte Freude
gewähren muß, das ungeheure Weltall nach und nach so heranzuziehen,
wie ich hier den Planeten sah und sehe.  Aber erlauben Sie mir, es
auszusprechen: ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt
gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hülfe kommen,
keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben.  Wer durch
Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer
Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer
Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur
vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von
außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen.  Sooft ich
durch eine Brille sehe, bin ich ein anderer Mensch und gefalle mir
selbst nicht; ich sehe mehr, als ich sehen sollte, die schärfer
gesehene Welt harmoniert nicht mit meinem Innern, und ich lege die
Gläser geschwind wieder weg, wenn meine Neugierde, wie dieses oder
jenes in der Ferne beschaffen sein möchte, befriedigt ist."

Auf einige scherzhafte Bemerkungen des Astronomen fuhr Wilhelm fort:
"Wir werden diese Gläser so wenig als irgendein Maschinenwesen aus
der Welt bannen, aber dem Sittenbeobachter ist es wichtig, zu
erforschen und zu wissen, woher sich manches in die Menschheit
eingeschlichen hat, worüber man sich beklagt.  So bin ich z.  B.
überzeugt, daß die Gewohnheit, Annäherungsbrillen zu tragen, an dem
Dünkel unserer jungen Leute hauptsächlich schuld hat."

Unter diesen Gesprächen war die Nacht weit vorgerückt, worauf der im
Wachen bewährte Mann seinem jungen Freunde den Vorschlag tat, sich
auf dem Feldbette niederzulegen und einige Zeit zu schlafen, um
alsdann mit frischerem Blick die dem Aufgang der Sonne voreilende
Venus, welche eben heute in ihrem vollendeten Glanze zu erscheinen
verspräche, zu schauen und zu begrüßen.

Wilhelm, der sich bis auf den Augenblick recht straff und munter
erhalten hatte, fühlte auf diese Anmutung des wohlwollenden,
vorsorglichen Mannes sich wirklich erschöpft, er legte sich nieder
und war augenblicklich in den tiefsten Schlaf gesunken.

Geweckt von dem Sternkundigen sprang Wilhelm auf und eilte zum
Fenster: dort staunte, starrte er einen Augenblick, dann rief er
enthusiastisch: "Welche Herrlichkeit! welch ein Wunder!"  Andere Worte
des Entzückens folgten, aber ihm blieb der Anblick immer ein Wunder,
ein großes Wunder.

"Daß Ihnen dieses liebenswürdige Gestirn, das heute in Fülle und
Herrlichkeit wie selten erscheint, überraschend entgegentreten würde,
konnt' ich voraussehen, aber das darf ich wohl aussprechen, ohne kalt
gescholten zu werden: kein Wunder seh' ich, durchaus kein Wunder!"

"Wie könnten Sie auch?" versetzte Wilhelm, "da ich es mitbringe, da
ich es in mir trage, da ich nicht weiß, wie mir geschieht.  Lassen
Sie mich noch immer stumm und staunend hinblicken, sodann vernehmen
Sie!"  Nach einer Pause fuhr er fort: "Ich lag sanft, aber tief
eingeschlafen, da fand ich mich in den gestrigen Saal versetzt, aber
allein.  Der grüne Vorhang ging auf, Makariens Sessel bewegte sich
hervor, von selbst wie ein belebtes Wesen; er glänzte golden, ihre
Kleider schienen priesterlich, ihr Anblick leuchtete sanft; ich war
im Begriff, mich niederzuwerfen.  Wolken entwickelten sich um ihre
Füße, steigend hoben sie flügelartig die heilige Gestalt empor, an
der Stelle ihres herrlichen Angesichtes sah ich zuletzt, zwischen
sich teilendem Gewölk, einen Stern blinken, der immer aufwärts
getragen wurde und durch das eröffnete Deckengewölbe sich mit dem
ganzen Sternhimmel vereinigte, der sich immer zu verbreiten und alles
zu umschließen schien.  In dem Augenblick wecken Sie mich auf,
schlaftrunken taumle ich nach dem Fenster, den Stern noch lebhaft in
meinem Auge, und wie ich nun hinblicke der Morgenstern, von gleicher
Schönheit, obschon vielleicht nicht von gleicher strahlender
Herrlichkeit, wirklich vor mir!  Dieser wirkliche, da droben
schwebende Stern setzte sich an die Stelle des geträumten, er zehrt
auf, was an dem erscheinenden Herrliches war, aber ich schaue doch
fort und fort, und Sie schauen ja mit mir, was eigentlich vor meinen
Augen zugleich mit dem Nebel des Schlafes hätte verschwinden sollen."

Der Astronom rief aus: "Wunder, ja Wunder!  Sie wissen selbst nicht,
welche wundersame Rede Sie führten.  Möge uns nur dies nicht auf den
Abschied der Herrlichen hindeuten, welcher früher oder später eine
solche Apotheose beschieden ist."

Den andern Morgen eilte Wilhelm, um seinen Felix aufzusuchen, der
sich früh ganz in der Stille weggeschlichen hatte, nach dem Garten,
den er zu seiner Verwunderung durch eine Anzahl Mädchen bearbeitet
sah; alle, wo nicht schön, doch keine häßlich, keine, die das
zwanzigste Jahr erreicht zu haben schien.  Sie waren verschiedentlich
gekleidet, als verschiedenen Ortschaften angehörig, tätig, heiter
grüßend und fortarbeitend.

Ihm begegnete Angela, welche die Arbeit anzuordnen und zu beurteilen
auf und ab ging; ihr ließ der Gast seine Verwunderung über eine so
hübsche, lebenstätige Kolonie vermerken.  "Diese", versetzte sie,
"stirbt nicht aus, ändert sich, aber bleibt immer dieselbe.  Denn mit
dem zwanzigsten Jahr treten diese, so wie die sämtlichen
Bewohnerinnen unserer Stiftung, ins tätige Leben, meistens in den
Ehestand.  Alle jungen Männer der Nachbarschaft, die sich eine
wackere Gattin wünschen, sind aufmerksam auf dasjenige, was sich bei
uns entwickelt.  Auch sind unsre Zöglinge hier nicht etwan eingesperrt,
sie haben sich schon auf manchem Jahrmarkte umgesehen, sind gesehen
worden, gewünscht und verlobt; und so warten denn mehrere Familien
schon aufmerksam, wenn bei uns wieder Platz wird, um die Ihrigen
einzuführen."  Nachdem diese Angelegenheit besprochen war, konnte der
Gast seiner neuen Freundin den Wunsch nicht bergen, das gestern abend
Vorgelesene nochmals durchzusehen.  "Den Hauptsinn der Unterhaltung
habe ich gefaßt", sagte er; "nun möcht' ich aber auch das einzelne,
wovon die Rede war, näher kennen lernen."

"Diesen Wunsch", versetzte jene, "zu befriedigen, finde ich mich
glücklicherweise sogleich in dem Falle; das Verhältnis, das Ihnen so
schnell zu unserm Innersten gegeben ward, berechtigt mich, Ihnen zu
sagen, daß jene Papiere schon in meinen Händen und von mir nebst
andern Blättern sorgfältig aufgehoben werden.  Meine Herrin", fuhr
sie fort, "ist von der Wichtigkeit des augenblicklichen Gesprächs
höchlich überzeugt; dabei gehe vorüber, sagt sie, was kein Buch
enthält, und doch wieder das Beste, was Bücher jemals enthalten haben.
Deshalb machte sie mir's zur Pflicht, einzelne gute Gedanken
aufzubewahren, die aus einem geistreichen Gespräch, wie Samenkörner
aus einer vielästigen Pflanze, hervorspringen.  "Ist man treu", sagt
sie, "das Gegenwärtige festzuhalten, so wird man erst Freude an der
überlieferung haben, indem wir den besten Gedanken schon
ausgesprochen, das liebenswürdigste Gefühl schon ausgedrückt finden.
Hiedurch kommen wir zum Anschauen jener übereinstimmung, wozu der
Mensch berufen ist, wozu er sich oft wider seinen Willen finden muß,
da er sich gar zu gern einbildet, die Welt fange mit ihm von vorne an.
""

Angela fuhr fort, dem Gaste weiter zu vertrauen, daß dadurch ein
bedeutendes Archiv entstanden sei, woraus sie in schlaflosen Nächten
manchmal ein Blatt Makarien vorlese; bei welcher Gelegenheit denn
wieder auf eine merkwürdige Weise tausend Einzelnheiten
hervorspringen, eben als wenn eine Masse Quecksilber fällt und sich
nach allen Seiten hin in die vielfachsten unzähligen Kügelchen
zerteilt.

Auf seine Frage, inwiefern dieses Archiv als Geheimnis bewahrt werde,
eröffnete sie: daß allerdings nur die nächste Umgebung davon
Kenntnis habe, doch wolle sie es wohl verantworten und ihm, da er
Lust bezeige, sogleich einige Hefte vorlegen.

Unter diesem Gartengespräche waren sie gegen das Schloß gelangt, und
in die Zimmer eines Seitengebäudes eintretend, sagte sie lächelnd:
"Ich habe bei dieser Gelegenheit Ihnen noch ein Geheimnis zu
vertrauen, worauf Sie am wenigsten vorbereitet sind."  Sie ließ ihn
darauf durch einen Vorhang in ein Kabinett hineinblicken, wo er,
freilich zu großer Verwunderung, seinen Felix schreibend an einem
Tische sitzen sah und sich nicht gleich diesen unerwarteten Fleiß
enträtseln konnte.  Bald aber ward er belehrt, als Angela ihm
entdeckte, daß der Knabe jenen Augenblick seines Verschwindens hiezu
angewendet und erklärt, Schreiben und Reiten sei das einzige, wozu er
Lust habe.

Unser Freund ward sodann in ein Zimmer geführt, wo er in Schränken
ringsum viele wohlgeordnete Papiere zu sehen hatte.  Rubriken mancher
Art deuteten auf den verschiedensten Inhalt, Einsicht und Ordnung
leuchtete hervor.  Als nun Wilhelm solche Vorzüge pries, eignete das
Verdienst derselben Angela dem Hausfreunde zu; die Anlage nicht allein,
sondern auch in schwierigen Fällen die Einschaltung wisse er mit
eigener übersicht bestimmt zu leiten.  Darauf suchte sie die gestern
vorgelesenen Manuskripte vor und vergönnte dem Begierigen, sich
derselben sowie alles übrigen zu bedienen und nicht nur Einsicht
davon, sondern auch Abschrift zu nehmen.

Hier nun mußte der Freund bescheiden zu Werke gehen, denn es fand
sich nur allzuviel Anziehendes und Wünschenswertes; besonders achtete
er die Hefte kurzer, kaum zusammenhängender Sätze höchst
schätzenswert.  Resultate waren es, die, wenn wir nicht ihre
Veranlassung wissen, als paradox erscheinen, uns aber nötigen,
vermittelst eines umgekehrten Findens und Erfindens rückwärtszugehen
und uns die Filiation solcher Gedanken von weit her, von unten herauf
wo möglich zu vergegenwärtigen.

Auch dergleichen dürfen wir aus oben angeführten Ursachen keinen
Platz einräumen.  Jedoch werden wir die erste sich darbietende
Gelegenheit nicht versäumen und am schicklichen Orte auch das hier
Gewonnene mit Auswahl darzubringen wissen.



Am dritten Tage morgens begab sich unser Freund zu Angela, und nicht
ohne einige Verlegenheit stand er vor ihr.  "Heute soll ich scheiden",
sprach er, "und von der trefflichen Frau, bei der ich gestern den
ganzen Tag leider nicht vorgelassen worden, meine letzten Aufträge
erhalten.  Hier nun liegt mir etwas auf dem Herzen, auf dem ganzen
innern Sinn, worüber ich aufgeklärt zu sein wünschte.  Wenn es
möglich ist, so gönnen Sie mir diese Wohltat."

"Ich glaube Sie zu verstehen", sagte die Angenehme, "doch sprechen
Sie weiter."--"Ein wunderbarer Traum", fuhr er fort, "einige Worte
des ernsten Himmelskundigen, ein abgesondertes, verschlossenes Fach
in den zugänglichen Schränken, mit der Inschrift: "Makariens
Eigenheiten", diese Veranlassungen gesellen sich zu einer innern
Stimme, die mir zuruft, die Bemühung um jene Himmelslichter sei nicht
etwa nur eine wissenschaftliche Liebhaberei, ein Bestreben nach
Kenntnis des Sternenalls, vielmehr sei zu vermuten: es liege hier ein
ganz eigenes Verhältnis Makariens zu den Gestirnen verborgen, das zu
erkennen mir höchst wichtig sein müßte.  Ich bin weder neugierig noch
zudringlich, aber dies ist ein so wissenswerter Fall für den
Geist--und Sinnforscher, daß ich mich nicht enthalten kann anzufragen:
ob man zu so vielem Vertrauen nicht auch noch dieses übermaß zu
vergönnen belieben möchte?"--"Dieses zu gewähren, bin ich berechtigt",
versetzte die Gefällige.  "Ihr merkwürdiger Traum ist zwar Makarien
ein Geheimnis geblieben, aber ich habe mit dem Hausfreund Ihr
sonderbares geistiges Eingreifen, Ihr unvermutetes Erfassen der
tiefsten Geheimnisse betrachtet und überlegt, und wir dürfen uns
ermutigen, Sie weiterzuführen.  Lassen Sie mich nun zuvörderst
gleichnisweise reden!  Bei schwer begreiflichen Dingen tut man wohl,
sich auf diese Weise zu helfen.

Wie man von dem Dichter sagt, die Elemente der sichtlichen Welt
seien in seiner Natur innerlichst verborgen und hätten sich nur aus
ihm nach und nach zu entwickeln, daß ihm nichts in der Welt zum
Anschauen komme, was er nicht vorher in der Ahnung gelebt: ebenso sind,
wie es scheinen will, Makarien die Verhältnisse unsres Sonnensystems
von Anfang an, erst ruhend, sodann sich nach und nach entwickelnd,
fernerhin sich immer deutlicher belebend, gründlich eingeboren.  Erst
litt sie an diesen Erscheinungen, dann vergnügte sie sich daran, und
mit den Jahren wuchs das Entzücken.  Nicht eher jedoch kam sie
hierüber zur Einheit und Beruhigung, als bis sie den Beistand, den
Freund gewonnen hatte, dessen Verdienst Sie auch schon genugsam kennen
lernten.

Als Mathematiker und Philosoph ungläubig von Anfang, war er lange
zweifelhaft, ob diese Anschauung nicht etwa angelernt sei; denn
Makarie mußte gestehen, frühzeitig Unterricht in der Astronomie
genossen und sich leidenschaftlich damit beschäftigt zu haben.
Daneben berichtete sie aber auch: wie sie viele Jahre ihres Lebens
die innern Erscheinungen mit dem äußern Gewahrwerden zusammengehalten
und verglichen, aber niemals hierin eine übereinstimmung finden
können.

Der Wissende ließ sich hierauf dasjenige, was sie schaute, welches
ihr nur von Zeit zu Zeit ganz deutlich war, auf das genaueste
vortragen, stellte Berechnungen an und folgerte daraus, daß sie nicht
sowohl das ganze Sonnensystem in sich trage, sondern daß sie sich
vielmehr geistig als ein integrierender Teil darin bewege.  Er verfuhr
nach dieser Voraussetzung, und seine Calculs wurden auf eine
unglaubliche Weise durch ihre Aussagen bestätigt.

So viel nur darf ich Ihnen diesmal vertrauen, und auch dieses
eröffne ich nur mit der dringenden Bitte, gegen niemanden hievon
irgendein Wort zu erwähnen.  Denn sollte nicht jeder Verständige und
Vernünftige, bei dem reinsten Wohlwollen, dergleichen äußerungen für
Phantasien, für übelverstandene Erinnerungen eines früher
eingelernten Wissens halten und erklären?  Die Familie selbst weiß
nichts Näheres hievon, diese geheimen Anschauungen, die entzückenden
Gesichte sind es, die bei den Ihrigen als Krankheit gelten, wodurch
sie augenblicklich gehindert sei, an der Welt und ihren Interessen
teilzunehmen.  Dies, mein Freund, verwahren Sie im stillen und lassen
sich auch gegen Lenardo nichts merken."

Gegen Abend ward unser Wanderer Makarien nochmals vorgestellt; gar
manches anmutig Belehrende kam zur Sprache, davon wir nachstehendes
auswählen.

"Von Natur besitzen wir keinen Fehler, der nicht zur Tugend, keine
Tugend, die nicht zum Fehler werden könnte.  Diese letzten sind
gerade die bedenklichsten.  Zu dieser Betrachtung hat mir vorzüglich
der wunderbare Neffe Anlaß gegeben, der junge Mann, von dem Sie in der
Familie manches Seltsame gehört haben und den ich, wie die Meinigen
sagen, mehr als billig, schonend und liebend behandle.

Von Jugend auf entwickelte sich in ihm eine gewisse muntere,
technische Fertigkeit, der er sich ganz hingab und darin glücklich zu
mancher Kenntnis und Meisterschaft fortschritt.  Späterhin war alles,
was er von Reisen nach Hause schickte, immer das Künstlichste,
Klügste, Feinste, Zarteste von Handarbeit, auf das Land hindeutend, wo
er sich eben befand und welches wir erraten sollten.  Hieraus möchte
man schließen, daß er ein trockner, unteilnehmender, in
äußerlichkeiten befangener Mensch sei und bleibe; auch war er im
Gespräch zum Eingreifen an allgemeinen, sittlichen Betrachtungen nicht
aufgelegt, aber er besaß im stillen und geheimen einen wunderbar
feinen praktischen Takt des Guten und Bösen, des Löblichen und
Unlöblichen, daß ich ihn weder gegen Ältere noch jüngere, weder gegen
Obere noch Untere jemals habe fehlen sehen.  Aber diese angeborne
Gewissenhaftigkeit, ungeregelt wie sie war, bildete sich im einzelnen
zu grillenhafter Schwäche; er mochte sogar sich Pflichten erfinden,
da wo sie nicht gefordert wurden, und sich ganz ohne Not irgendeinmal
als Schuldner bekennen.

Nach seinem ganzen Reiseverfahren, besonders aber nach den
Vorbereitungen zu seiner Wiederkunft, glaube ich, daß er wähnt,
früher ein weibliches Wesen unseres Kreises verletzt zu haben, deren
Schicksal ihn jetzt beunruhigt, wovon er sich befreit und erlöst
fühlen würde, sobald er vernehmen könnte, daß es ihr wohl gehe, und
das Weitere wird Angela mit Ihnen besprechen.  Nehmen Sie
gegenwärtigen Brief und bereiten unsrer Familie ein glückliches
Zusammenfinden.  Aufrichtig gestanden: ich wünschte, ihn auf dieser
Erde nochmals zu sehen und im Abscheiden ihn herzlich zu segnen."



Eilftes Kapitel



Das nußbraune Mädchen

Nachdem Wilhelm seinen Auftrag umständlich und genau ausgerichtet,
versetzte Lenardo mit einem Lächeln: "So sehr ich Ihnen verbunden bin
für das, was ich durch Sie erfahre, so muß ich doch noch eine Frage
hinzufügen.  Hat Ihnen die Tante nicht am Schluß noch anempfohlen,
mir eine unbedeutend scheinende Sache zu berichten?"  Der andere
besann sich einen Augenblick.  "Ja", sagte er darauf, "ich entsinne
mich.  Sie erwähnte eines Frauenzimmers, das sie Valerine nannte.
Von dieser sollte ich Ihnen sagen, daß sie glücklich verheiratet sei
und sich in einem wünschenswerten Zustande befinde."

"Sie wälzen mir einen Stein vom Herzen", versetzte Lenardo.  "Ich
gehe nun gern nach Hause zurück, weil ich nicht fürchten muß, daß die
Erinnerung an dieses Mädchen mir an Ort und Stelle zum Vorwurf
gereiche."

"Es ziemt sich nicht für mich zu fragen, welch Verhältnis Sie zu ihr
gehabt", sagte Wilhelm; "genug, Sie können ruhig sein, wenn Sie auf
irgendeine Weise an dem Schicksal des Mädchens teilnehmen."

"Es ist das wunderlichste Verhältnis von der Welt", sagte Lenardo;
"keinesweges ein Liebesverhältnis, wie man sich's denken könnte.  Ich
darf Ihnen wohl vertrauen und erzählen, was eigentlich keine
Geschichte ist.  Was müssen Sie aber denken, wenn ich Ihnen sage, daß
mein zauderndes Zurückreisen, daß die Furcht, in unsere Wohnung
zurückzukehren, daß diese seltsamen Anstalten und Fragen, wie es bei
uns aussehe, eigentlich nur zur Absicht haben, nebenher zu erfahren,
wie es mit diesem Kinde stehe.

Denn glauben Sie", fuhr er fort, "ich weiß übrigens sehr gut, daß
man Menschen, die man kennt, auf geraume Zeit verlassen kann, ohne
sie verändert wiederzufinden, und so denke ich auch bei den Meinigen
bald wieder völlig zu Hause zu sein.  Um dies einzige Wesen war es
mir zu tun, dessen Zustand sich verändern mußte und sich, Dank sei es
dem Himmel, ins Bessere verändert hat."

"Sie machen mich neugierig", sagte Wilhelm.  "Sie lassen mich etwas
ganz Besonderes erwarten."

"Ich halte es wenigstens dafür", versetzte Lenardo und fing seine
Erzählung folgendermaßen an.

"Die herkömmliche Kreisfahrt durch das gesittete Europa in meinen
Jünglingsjahren zu bestehen, war ein fester Vorsatz, den ich von
Jugend auf hegte, dessen Ausführung sich aber von Zeit zu Zeit, wie
es zu gehen pflegt, verzögerte.  Das Nächste zog mich an, hielt mich
fest, und das Entfernte verlor immer mehr seinen Reiz, je mehr ich
davon las oder erzählen hörte.  Doch endlich, angetrieben durch
meinen Oheim, angelockt durch Freunde, die sich vor mir in die Welt
hinausbegeben hatten, ward der Entschluß gefaßt, und zwar geschwinder,
ehe wir es uns alle versahen.

Mein Oheim, der eigentlich das Beste dazu tun mußte, um die Reise
möglich zu machen, hatte sogleich kein anderes Augenmerk.  Sie kennen
ihn und seine Eigenheit, wie er immer nur auf eines losgeht und das
erst zustande bringt, und inzwischen alles andere ruhen und schweigen
muß; wodurch er denn freilich vieles geleistet hat, was über die
Kräfte eines Particuliers zu gehen scheint.  Diese Reise kam ihm
einigermaßen unerwartet; doch wußte er sich sogleich zu fassen.
Einige Bauten, die er unternommen, ja sogar angefangen hatte, wurden
eingestellt, und weil er sein Erspartes niemals angreifen will, so sah
er sich als ein kluger Finanzmann nach andern Mitteln um.  Das
Nächste war, ausstehende Schulden, besonders Pachtreste,
einzukassieren; denn auch dieses gehörte mit zu seiner Art und Weise,
daß er gegen Schuldner nachsichtig war, solange er bis auf einen
gewissen Grad selbst nichts bedurfte.  Sein Geschäftsmann erhielt die
Liste; diesem war die Ausführung überlassen.  Vom einzelnen erfuhren
wir nichts; nur hörte ich im Vorbeigehen, daß der Pachter eines
unserer Güter, mit dem der Oheim lange Geduld gehabt hatte, endlich
wirklich ausgetrieben, seine Kaution zu kärglichem Ersatz des
Ausfalls innebehalten und das Gut anderweit verpachtet werden sollte.
Es war dieser Mann von Art der "Stillen im Lande", aber nicht, wie
seinesgleichen, dabei klug und tätig; wegen seiner Frömmigkeit und
Güte zwar geliebt, doch wegen seiner Schwäche als Haushalter
gescholten.  Nach seiner Frauen Tode war eine Tochter, die man nur
das nußbraune Mädchen nannte, ob sie schon rüstig und entschlossen zu
werden versprach, doch viel zu jung, um entschieden einzugreifen;
genug, es ging mit dem Mann rückwärts, ohne daß die Nachsicht des
Onkels sein Schicksal hätte aufhalten können.

Ich hatte meine Reise im Sinn, und die Mittel dazu mußt' ich
billigen.  Alles war bereit, das Packen und Loslösen ging an, die
Augenblicke drängten sich.  Eines Abends durchstrich ich noch einmal
den Park, um Abschied von den bekannten Bäumen und Sträuchen zu nehmen,
als mir auf einmal Valerine in den Weg trat: denn so hieß das
Mädchen; das andere war nur ein Scherzname, durch ihre bräunliche
Gesichtsfarbe veranlaßt.  Sie trat mit in den Weg."

Lenardo hielt einen Augenblick nachdenkend inne.  "Wie ist mir
denn?" sagte er; "hieß sie auch Valerine?  Ja doch", fuhr er fort;
"doch war der Scherzname gewöhnlicher.  Genug, das braune Mädchen
trat mir in den Weg und bat mich dringend, für ihren Vater, für sie
ein gutes Wort bei meinem Oheim einzulegen.  Da ich wußte, wie die
Sache stand, und ich wohl sah, daß es schwer, ja unmöglich sein würde,
in diesem Augenblick etwas für sie zu tun, so sagte ich's ihr
aufrichtig und setzte die eigne Schuld ihres Vaters in ein
ungünstiges Licht.

Sie antwortete mir darauf mit so viel Klarheit und zugleich mit so
viel kindlicher Schonung und Liebe, daß sie mich ganz für sich
einnahm und daß ich, wäre es meine eigene Kasse gewesen, sie sogleich
durch Gewährung ihrer Bitte glücklich gemacht hätte.  Nun waren es
aber die Einkünfte meines Oheims; es waren seine Anstalten, seine
Befehle; bei seiner Denkweise, bei dem, was bisher schon geschehen,
war nichts zu hoffen.  Von jeher hielt ich ein Versprechen hochheilig.
Wer etwas von mir verlangte, setzte mich in Verlegenheit.  Ich hatte
mir es so angewöhnt abzuschlagen, daß ich sogar das nicht versprach,
was ich zu halten gedachte.  Diese Gewohnheit kam mir auch diesmal
zustatten.  Ihre Gründe ruhten auf Individualität und Neigung, die
meinigen auf Pflicht und Verstand, und ich leugne nicht, daß sie mir
am Ende selbst zu hart vorkamen.  Wir hatten schon einigemal dasselbe
wiederholt, ohne einander zu überzeugen, als die Not sie beredter
machte, ein unvermeidlicher Untergang, den sie vor sich sah, ihr
Tränen aus den Augen preßte.  Ihr gefaßtes Wesen verließ sie nicht
ganz; aber sie sprach lebhaft, mit Bewegung, und indem ich immer noch
Kälte und Gelassenheit heuchelte, kehrte sich ihr ganzes Gemüt nach
außen.  Ich wünschte die Szene zu endigen; aber auf einmal lag sie zu
meinen Füßen, hatte meine Hand gefaßt, geküßt, und sah so gut, so
liebenswürdig flehend zu mir herauf, daß ich mir in dem Augenblick
meiner selbst nicht bewußt war.  Schnell sagte ich, indem ich sie
aufhob: "Ich will das Mögliche tun, beruhige dich, mein Kind!" und so
wandte ich mich nach einem Seitenwege.  "Tun Sie das Unmögliche!"
rief sie mir nach.-- Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte, aber
ich sagte: "Ich will", und stockte.  "Tun Sie's!" rief sie auf einmal,
mit einem Ausdruck von himmlischer Hoffnung.  Ich grüßte sie und
eilte fort.

Den Oheim wollte ich nicht zuerst angehen, denn ich kannte ihn nur
zu gut, daß man ihn an das Einzelne nicht erinnern durfte, wenn er
sich das Ganze vorgesetzt hatte.  Ich suchte den Geschäftsträger; er
war weggeritten; Gäste kamen den Abend, Freunde, die Abschied nehmen
wollten.  Man spielte, man speiste bis tief in die Nacht.  Sie blieben
den andern Tag, und die Zerstreuung vermischte jenes Bild der
dringend Bittenden.  Der Geschäftsträger kam zurück, er war
geschäftiger und überdrängter als nie.  Jedermann fragte nach ihm.
Er hatte nicht Zeit, mich zu hören: doch machte ich einen Versuch, ihn
festzuhalten; allein kaum hatte ich jenen frommen Pachter genannt, so
wies er mich mit Lebhaftigkeit zurück: "Sagen Sie dem Onkel um Gottes
willen davon nichts, wenn Sie zuletzt nicht noch Verdruß haben wollen.
"--Der Tag meiner Abreise war festgesetzt; ich hatte Briefe zu
schreiben, Gäste zu empfangen, Besuche in der Nachbarschaft abzulegen.
Meine Leute waren zu meiner bisherigen Bedienung hinreichend,
keineswegs aber gewandt, das Geschäft der Abreise zu erleichtern.
Alles lag auf mir; und doch, als mir der Geschäftsmann zuletzt in der
Nacht eine Stunde gab, um unsere Geldangelegenheiten zu ordnen, wagte
ich nochmals, für Valerinens Vater zu bitten.

"Lieber Baron", sagte der bewegliche Mann, "wie kann Ihnen nur so
etwas einfallen?  Ich habe heute ohnehin mit Ihrem Oheim einen
schweren Stand gehabt; denn was Sie nötig haben, um sich hier
loszumachen, beläuft sich weit höher, als wir glaubten.  Dies ist zwar
ganz natürlich, aber doch beschwerlich.  Besonders hat der alte Herr
keine Freude, wenn die Sache abgetan scheint und noch manches
hintennachhinkt; das ist nun aber oft so, und wir andern müssen es
ausbaden. über die Strenge, womit die ausstehenden Schulden
eingetrieben werden sollen, hat er sich selbst ein Gesetz gemacht; er
ist darüber mit sich einig, und man möchte ihn wohl schwer zur
Nachgiebigkeit bewegen.  Tun Sie es nicht, ich bitte Sie! es ist ganz
vergebens."

Ich ließ mich mit meinem Gesuch zurückschrecken, jedoch nicht ganz.
Ich drang in ihn, da doch die Ausführung von ihm abhänge, gelind und
billig zu verfahren.  Er versprach alles, nach Art solcher Personen,
um für den Augenblick in Ruhe zu kommen.  Er ward mich los; der Drang,
die Zerstreuung wuchs! ich saß im Wagen und kehrte jedem Anteil, den
ich zu Hause haben konnte, den Rücken.

Ein lebhafter Eindruck ist wie eine andere Wunde; man fühlt sie
nicht, indem man sie empfängt.  Erst später fängt sie an zu schmerzen
und zu eitern.  Mir ging es so mit jener Begebenheit im Garten.
Sooft ich einsam, sooft ich unbeschäftigt war, trat mir jenes Bild
des flehenden Mädchens, mit der ganzen Umgebung, mit jedem Baum und
Strauch, dem Platz, wo sie knieete, dem Weg, den ich einschlug, mich
von ihr zu entfernen, das Ganze zusammen wie ein frisches Bild vor
die Seele.  Es war ein unauslöschlicher Eindruck, der wohl von andern
Bildern und Teilnahmen beschattet, verdeckt, aber niemals vertilgt
werden konnte.  Immer erneut trat er in jeder stillen Stunde hervor,
und je länger es währte, desto schmerzlicher fühlte ich die Schuld,
die ich gegen meine Grundsätze, meine Gewohnheit auf mich geladen
hatte, obgleich nicht ausdrücklich, nur stotternd, zum erstenmal in
solchem Falle verlegen.

Ich verfehlte nicht, in den ersten Briefen unsern Geschäftsmann zu
fragen, wie die Sache gegangen.  Er antwortete dilatorisch.  Dann
setzte er aus, diesen Punkt zu erwidern; dann waren seine Worte
zweideutig, zuletzt schwieg er ganz.  Die Entfernung wuchs, mehr
Gegenstände traten zwischen mich und meine Heimat; ich ward zu
manchen Beobachtungen, mancher Teilnahme aufgefordert; das Bild
verschwand, das Mädchen fast bis auf den Namen.  Seltener trat ihr
Andenken hervor, und meine Grille, mich nicht durch Briefe, nur durch
Zeichen mit den Meinigen zu unterhalten, trug viel dazu bei, meinen
frühern Zustand mit allen seinen Bedingungen beinahe verschwinden zu
machen.  Nur jetzt, da ich mich dem Hause nähere, da ich meiner
Familie, was sie bisher entbehrt, mit Zinsen zu erstatten gedenke,
jetzt überfällt mich diese wunderliche Reue --ich muß sie selbst
wunderlich nennen--wieder mit aller Gewalt.  Die Gestalt des Mädchens
frischt sich auf mit den Gestalten der Meinigen, und ich fürchte
nichts mehr, als zu vernehmen, sie sei in dem Unglück, in das ich sie
gestoßen, zugrunde gegangen; denn mir schien mein Unterlassen ein
Handeln zu ihrem Verderben, eine Förderung ihres traurigen Schicksals.
Schon tausendmal habe ich mir gesagt, daß dieses Gefühl im Grunde
nur eine Schwachheit sei, daß ich früh zu jenem Gesetz, nie zu
versprechen, nur aus Furcht der Reue, nicht aus einer edlern
Empfindung getrieben worden.  Und nun scheint sich eben die Reue, die
ich geflohen, an mir zu rächen, indem sie diesen Fall statt tausend
ergreift, um mich zu peinigen.  Dabei ist das Bild, die Vorstellung,
die mich quält, so angenehm, so liebenswürdig, daß ich gern dabei
verweile.  Und denke ich daran, so scheint der Kuß, den sie auf meine
Hand gedrückt, mich noch zu brennen."

Lenardo schwieg, und Wilhelm versetzte schnell und fröhlich: "So
hätte ich Ihnen denn keinen größern Dienst erzeigen können als durch
den Nachsatz meines Vortrags, wie manchmal in einem Postskript das
Interessanteste des Briefes enthalten sein kann.  Zwar weiß ich nur
wenig von Valerinen: denn ich erfuhr von ihr nur im Vorbeigehen; aber
gewiß ist sie die Gattin eines wohlhabenden Gutsbesitzers und lebt
vergnügt, wie mir die Tante noch beim Abschied versicherte."

"Schön", sagte Lenardo: "nun hält mich nichts ab.  Sie haben mich
absolviert, und wir wollen sogleich zu den Meinigen, die mich ohnehin
länger, als billig ist, erwarten."  Wilhelm erwiderte darauf.
"Leider kann ich Sie nicht begleiten: denn eine sonderbare
Verpflichtung liegt mir ob, nirgends länger als drei Tage zu verweilen
und die Orte, die ich verlasse, in einem Jahr nicht wieder zu
betreten.  Verzeihen Sie, wenn ich den Grund dieser Sonderbarkeit
nicht aussprechen darf."

"Es tut mir sehr leid", sagte Lenardo, "daß wir Sie so bald
verlieren, daß ich nicht auch etwas für Sie mitwirken kann.  Doch da
Sie einmal auf dem Wege sind, mir wohlzutun, so können Sie mich sehr
glücklich machen, wenn Sie Valerinen besuchten, sich von ihrem
Zustand genau unterrichteten und mir alsdann schriftlich oder
mündlich-- der dritte Ort einer Zusammenkunft wird sich schon
finden--zu meiner Beruhigung ausführliche Nachricht erteilten."

Dieser Vorschlag wurde weiter besprochen; Valerinens Aufenthalt
hatte man Wilhelmen genannt.  Er übernahm es, sie zu besuchen; ein
dritter Ort wurde festgesetzt, wohin der Baron kommen und auch den
Felix mitbringen sollte, der indessen bei den Frauenzimmern
zurückgeblieben war.

Lenardo und Wilhelm hatten ihren Weg, nebeneinander reitend, auf
angenehmen Wiesen unter mancherlei Gesprächen eine Zeitlang
fortgesetzt, als sie sich nunmehr der Fahrstraße näherten und den
Wagen des Barons einholten, der, von seinem Herrn begleitet, die
Heimat wiederfinden sollte.  Hier wollten die Freunde sich trennen,
und Wilhelm nahm mit wenigen, freundlichen Worten Abschied und
versprach dem Baron nochmals baldige Nachricht von Valerinen.

"Wenn ich bedenke", versetzte Lenardo, "daß es nur ein kleiner Umweg
wäre, wenn ich Sie begleitete, warum sollte ich Valerinen nicht
selbst aufsuchen? warum nicht selbst von ihrem glücklichen Zustande
mich überzeugen?  Sie waren so freundlich, sich zum Boten anzubieten;
warum wollten Sie nicht mein Begleiter sein?  Denn einen Begleiter muß
ich haben, einen sittlichen Beistand, wie man sich rechtliche
Beistände nimmt, wenn man dem Gerichtshandel nicht ganz gewachsen zu
sein glaubt."

Die Einreden Wilhelms, daß man zu Hause den so lange Abwesenden
erwarte, daß es einen sonderbaren Eindruck machen möchte, wenn der
Wagen allein käme, und was dergleichen mehr war, vermochten nichts
über Lenardo, und Wilhelm mußte sich zuletzt entschließen, den
Begleiter abzugeben, wobei ihm wegen der zu fürchtenden Folgen nicht
wohl zumute war.

Die Bedienten wurden daher unterrichtet, was sie bei der Ankunft
sagen sollten, und die Freunde schlugen nunmehr den Weg ein, der zu
Valerinens Wohnort führte.  Die Gegend schien reich und fruchtbar und
der wahre Sitz des Landbaues.  So war denn auch in dem Bezirk, welcher
Valerinens Gatten gehörte, der Boden durchaus gut und mit Sorgfalt
bestellt.  Wilhelm hatte Zeit, die Landschaft genau zu betrachten,
indem Lenardo schweigend neben ihm ritt.  Endlich fing dieser an:
"Ein anderer an meiner Stelle würde sich vielleicht Valerinen
unerkannt zu nähern suchen; denn es ist immer ein peinliches Gefühl,
vor die Augen derjenigen zu treten, die man verletzt hat; aber ich
will das lieber übernehmen und den Vorwurf ertragen, den ich von ihren
ersten Blicken befürchte, als daß ich mich durch Vermummung und
Unwahrheit davor sicherstelle.  Unwahrheit kann uns ebensosehr in
Verlegenheit setzen als Wahrheit; und wenn wir abwägen, wie oft uns
diese oder jene nutzt, so möchte es doch immer der Mühe wert sein,
sich ein für allemal dem Wahren zu ergeben.  Lassen Sie uns also
getrost vorwärtsgehen; ich will mich nennen und Sie als meinen Freund
und Gefährten einführen."

Nun waren sie an den Gutshof gekommen und stiegen in dem Bezirk
desselben ab.  Ein ansehnlicher Mann, einfach gekleidet, den sie für
einen Pachter halten konnten, trat ihnen entgegen und kündigte sich
als Herrn des Hauses an.  Lenardo nannte sich, und der Besitzer schien
höchst erfreut, ihn zu sehen und kennen zu lernen.  "Was wird meine
Frau sagen", rief er aus, "wenn sie den Neffen ihres Wohltäters
wiedersieht!  Nicht genug kann sie erwähnen und erzählen, was sie und
ihr Vater Ihrem Oheim schuldig ist."

Welche sonderbare Betrachtungen kreuzten sich schnell in Lenardos
Geist.  "Versteckt dieser Mann, der so redlich aussieht, seine
Bitterkeit hinter ein freundlich Gesicht und glatte Worte?  Ist er
imstande, seinen Vorwürfen eine so gefällige Außenseite zu geben?
Denn hat mein Oheim nicht diese Familie unglücklich gemacht? und kann
es ihm unbekannt geblieben sein?  Oder", so dachte er sich's mit
schneller Hoffnung, "ist die Sache nicht so übel geworden, als du
denkst? denn eine ganz bestimmte Nachricht hast du ja doch niemals
gehabt."  Solche Vermutungen wechselten hin und her, indem der
Hausherr anspannen ließ, um seine Gattin holen zu lassen, die in der
Nachbarschaft einen Besuch machte.

"Wenn ich Sie indessen, bis meine Frau kommt, auf meine Weise
unterhalten und zugleich meine Geschäfte fortsetzen darf, so machen
Sie einige Schritte mit mir aufs Feld und sehen sich um, wie ich
meine Wirtschaft betreibe: denn gewiß ist Ihnen, als einem großen
Gutsbesitzer, nichts angelegener als die edle Wissenschaft, die edle
Kunst des Feldbaues."  Lenardo widersprach nicht; Wilhelm
unterrichtete sich gern; und der Landmann hatte seinen Grund und Boden,
den er unumschränkt besaß und beherrschte, vollkommen gut inne; was
er vornahm, war der Absicht gemäß; was er säete und pflanzte,
durchaus am rechten Ort; er wußte die Behandlung und die Ursachen
derselben so deutlich anzugeben, daß es ein jeder begriff und für
möglich gehalten hätte, dasselbe zu tun und zu leisten: ein Wahn, in
den man leicht verfällt, wenn man einem Meister zusieht, dem alles
bequem von der Hand geht.

Die Fremden erzeugten sich sehr zufrieden und konnten nichts als Lob
und Billigung erteilen.  Er nahm es dankbar und freundlich auf, fügte
jedoch hinzu: "Nun muß ich Ihnen aber auch meine schwache Seite
zeigen, die freilich an jedem zu bemerken ist, der sich einem
Gegenstand ausschließlich ergibt."  Er führte sie auf seinen Hof,
zeigte ihnen seine Werkzeuge, den Vorrat derselben sowie den Vorrat
von allem erdenklichen Geräte und dessen Zubehör.  "Man tadelte mich
oft", sagte er dabei, "daß ich hierin zu weit gehe; allein ich kann
mich deshalb nicht schelten.  Glücklich ist der, dem sein Geschäft
auch zur Puppe wird, der mit demselbigen zuletzt noch spielt und sich
an dem ergötzt, was ihm sein Zustand zur Pflicht macht."

Die beiden Freunde ließen es an Fragen und Erkundigungen nicht
fehlen.  Besonders erfreute sich Wilhelm an den allgemeinen
Bemerkungen, zu denen dieser Mann aufgelegt schien, und verfehlte
nicht, sie zu erwidern; indessen Lenardo, mehr in sich gekehrt, an dem
Glück Valerinens, das er in diesem Zustande für gewiß hielt, stillen
Teil nahm, obgleich mit einem leisen Gefühl von Unbehagen, von dem er
sich keine Rechenschaft zu geben wußte.

Man war schon ins Haus zurückgekehrt, als der Wagen der Besitzerin
vorfuhr.  Man eilte ihr entgegen; aber wie erstaunte, wie erschrak
Lenardo, als er sie aussteigen sah.  Sie war es nicht, es war das
nußbraune Mädchen nicht, vielmehr gerade das Gegenteil; zwar auch eine
schöne, schlanke Gestalt, aber blond, mit allen Vorteilen, die
Blondinen eigen sind.

Diese Schönheit, diese Anmut erschreckte Lenardon.  Seine Augen
hatten das braune Mädchen gesucht; nun leuchtete ihm ein ganz anderes
entgegen.  Auch dieser Züge erinnerte er sich; ihre Anrede, ihr
Betragen versetzten ihn bald aus jeder Ungewißheit: es war die Tochter
des Gerichtshalters, der bei dem Oheim in großem Ansehen stand,
deshalb denn auch dieser bei der Ausstattung sehr viel getan und dem
neuen Paare behülflich gewesen.  Dies alles und mehr noch wurde von
der jungen Frau zum Antrittsgruße fröhlich erzählt, mit einer Freude,
wie sie die überraschung eines Wiedersehens ungezwungen äußern läßt.
Ob man sich wiedererkenne, wurde gefragt; die Veränderungen der
Gestalt wurden beredet, welche merklich genug bei Personen dieses
Alters gefunden werden.  Valerine war immer angenehm, dann aber
höchst liebenswürdig, wenn Fröhlichkeit sie aus dem gewöhnlichen
gleichgültigen Zustande herausriß.  Die Gesellschaft ward gesprächig
und die Unterhaltung so lebhaft, daß Lenardo sich fassen und seine
Bestürzung verbergen konnte.  Wilhelm, dem der Freund geschwind genug
von diesem seltsamen Ereignis einen Wink gegeben hatte, tat sein
mögliches, um diesem beizustehen; und Valerinens kleine Eitelkeit, daß
der Baron, noch ehe er die Seinigen gesehen, sich ihrer erinnert, bei
ihr eingekehrt sei, ließ sie auch nicht den mindesten Verdacht
schöpfen, daß hier eine andere Absicht oder ein Mißgriff obwalte.

Man blieb bis tief in die Nacht beisammen, obgleich beide Freunde
nach einem vertraulichen Gespräch sich sehnten, das denn auch
sogleich begann, als sie sich in dem Gastzimmer allein sahen.

"Ich soll, so scheint es", sagte Lenardo, "meine Qual nicht
loswerden.  Eine unglückliche Verwechslung des Namens, merke ich,
verdoppelt sie.  Diese blonde Schönheit habe ich oft mit jener
Braunen, die man keine Schönheit nennen durfte, spielen sehen; ja ich
trieb mich selbst mit ihnen, obgleich so vieles älter, in den Feldern
und Gärten herum.  Beide machten nicht den geringsten Eindruck auf
mich; ich habe nur den Namen der einen behalten und ihn der andern
beigelegt.  Nun finde ich die, die mich nichts angeht, nach ihrer
Weise über die Maßen glücklich, indessen die andere, wer weiß wohin,
in die Welt geworfen ist."

Den folgenden Morgen waren die Freunde beinahe früher auf als die
tätigen Landleute.  Das Vergnügen, ihre Gäste zu sehen, hatte
Valerinen gleichfalls zeitig geweckt.  Sie ahnete nicht, mit welchen
Gesinnungen sie zum Frühstück kamen.  Wilhelm, der wohl einsah, daß
ohne Nachricht von dem nußbraunen Mädchen Lenardo sich in der
peinlichsten Lage befinde, brachte das Gespräch auf frühere Zeiten,
auf Gespielen, aufs Lokal, das er selbst kannte, auf andere
Erinnerungen, so daß Valerine zuletzt ganz natürlich darauf kam, des
nußbraunen Mädchens zu erwähnen und ihren Namen auszusprechen.

Kaum hatte Lenardo den Namen Nachodine gehört, so entsann er sich
dessen vollkommen; aber auch mit dem Namen kehrte das Bild jener
Bittenden zurück, mit einer solchen Gewalt, daß ihm das Weitere ganz
unerträglich fiel, als Valerine mit warmem Anteil die Auspfändung des
frommen Pachters, seine Resignation und seinen Auszug erzählte, und
wie er sich auf seine Tochter gelehnt, die ein kleines Bündel
getragen.  Lenardo glaubte zu versinken.  Unglücklicher--und
glücklicherweise erging sich Valerine in einer gewissen
Umständlichkeit, die Lenardon das Herz zerrreißend, ihm dennoch
möglich machte, mit Beihülfe seines Gefährten, einige Fassung zu
zeigen.

Man schied unter vollen, aufrichtigen Bitten des Ehepaars um baldige
Wiederkunft und einer halben, geheuchelten Zusage beider Gäste.  Und
wie dem Menschen, der sich selbst was Gutes gönnt, alles zum Glück
schlägt, so legte Valerine zuletzt das Schweigen Lenardos, seine
sichtbare Zerstreuung beim Abschied, sein hastiges Wegeilen zu ihrem
Vorteil aus und konnte sich, obgleich treue und liebevolle Gattin
eines wackern Landmanns, doch nicht enthalten, an einer
wiederaufwachenden oder neuentstehenden Neigung, wie sie sich's
auslegte, ihres ehemaligen Gutsherrn einiges Behagen zu finden.

Nach diesem sonderbaren Ereignis sagte Lenardo: "Daß wir, bei so
schönen Hoffnungen, ganz nahe vor dem Hafen scheitern, darüber kann
ich mich nur einigermaßen trösten, mich nur für den Augenblick
beruhigen und den Meinen entgegengehen, wenn ich betrachte, daß der
Himmel Sie mir zugeführt hat, Sie, dem es bei seiner eigentümlichen
Sendung gleichgültig ist, wohin und wozu er seinen Weg richtet.
Nehmen Sie es über sich, Nachodinen aufzusuchen und mir Nachricht von
ihr zu geben.  Ist sie glücklich, so bin ich zufrieden; ist sie
unglücklich, so helfen Sie ihr auf meine Kosten.  Handeln Sie ohne
Rücksichten, sparen, schonen Sie nichts."

"Nach welcher Weltgegend aber", sagte Wilhelm lächelnd, "hab' ich
denn meine Schritte zu richten?  Wenn Sie keine Ahnung haben, wie
soll ich damit begabt sein?"

"Hören Sie!" antwortete Lenardo.  "In voriger Nacht, wo Sie mich als
einen Verzweifelten rastlos auf und ab gehen sahen, wo ich
leidenschaftlich in Kopf und Herzen alles durcheinanderwarf, da kam
ein alter Freund mir vor den Geist, ein würdiger Mann, der, ohne mich
eben zu hofmeistern, auf meine Jugend großen Einfluß gehabt hat.  Gern
hätt' ich mir ihn, wenigstens teilweise, als Reisegefährten erbeten,
wenn er nicht wundersam durch die schönsten Kunst--und altertümlichen
Seltenheiten an seine Wohnung geknüpft wäre, die er nur auf
Augenblicke verläßt.  Dieser, weiß ich, genießt einer ausgebreiteten
Bekanntschaft mit allem, was in dieser Welt durch irgendeinen edlen
Faden verbunden ist; zu ihm eilen Sie, ihm erzählen Sie, wie ich es
vorgetragen, und es steht zu hoffen, daß ihm sein zartes Gefühl
irgend einen Ort, eine Gegend andeuten werde, wo sie zu finden sein
möchte.  In meiner Bedrängnis fiel es mir ein, daß der Vater des
Kindes sich zu den Frommen zählte, und ich ward im Augenblick fromm
genug, mich an die moralische Weltordnung zu wenden und zu bitten:
sie möge sich hier zu meinen Gunsten einmal wunderbar gnädig
offenbaren."

"Noch eine Schwierigkeit", versetzte Wilhelm, "bleibt jedoch zu
lösen: wo soll ich mit meinem Felix hin? denn auf so ganz ungewissen
Wegen möcht' ich ihn nicht mit mir führen und ihn doch auch nicht
gerne von mir lassen; denn mich dünkt, der Sohn entwickele sich
nirgends besser als in Gegenwart des Vaters."

"Keineswegs!" erwiderte Lenardo, "dies ist ein holder väterlicher
Irrtum: der Vater behält immer eine Art von despotischem Verhältnis
zu seinem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen
Fehlern er sich freut; deswegen die Alten schon zu sagen pflegten:
"Der Helden Söhne werden Taugenichtse", und ich habe mich weit genug
in der Welt umgesehen, um hierüber ins klare zu kommen.
Glücklicherweise wird unser alter Freund, an den ich Ihnen sogleich
ein eiliges Schreiben verfasse, auch hierüber die beste Auskunft
geben.  Als ich ihn vor Jahren das letztemal sah, erzählte er mir gar
manches von einer pädagogischen Verbindung, die ich nur für eine Art
von Utopien halten konnte; es schien mir, als sei, unter dem Bilde
der Wirklichkeit, eine Reihe von Ideen, Gedanken, Vorschlägen und
Vorsätzen gemeint, die freilich zusammenhingen, aber in dem
gewöhnlichen Laufe der Dinge wohl schwerlich zusammentreffen möchten.
Weil ich ihn aber kenne, weil er gern durch Bilder das Mögliche und
Unmögliche verwirklichen mag, so ließ ich es gut sein, und nun kommt
es uns zugute; er weiß gewiß Ihnen Ort und Umstände zu bezeichnen,
wie Sie Ihren Knaben getrost vertrauen und von einer weisen Leitung
das Beste hoffen können."

Im Dahinreiten sich auf diese Weise unterhaltend, erblickten sie
eine edle Villa, die Gebäude im ernst-freundlichen Geschmack, freien
Vorraum und in weiter, würdiger Umgebung wohlbestandene Bäume; Türen
und Schaltern aber durchaus verschlossen, alles einsam, doch
wohlerhalten anzusehen.  Von einem ältlichen Manne, der sich am
Eingang zu beschäftigen schien, erfuhren sie, dies sei das Erbteil
eines jungen Mannes, dem es von seinem in hohem Alter erst kurz
verstorbenen Vater soeben hinterlassen worden.

Auf weiteres Befragen wurden sie belehrt: dem Erben sei hier leider
alles zu fertig, er habe hier nichts mehr zu tun und das Vorhandene
zu genießen sei gerade nicht seine Sache; deswegen er sich denn ein
Lokal näher am Gebirge ausgesucht, wo er für sich und seine Gesellen
Mooshütten baue und eine Art von jägerischer Einsiedelei anlegen wolle.
Was den Berichtenden selbst betraf, vernahmen sie, er sei der
mitgeerbte Kastellan, sorge aufs genaueste für Erhaltung und
Reinlichkeit, damit irgendein Enkel, in die Neigung und Besitzung des
Großvaters eingreifend, alles finde, wie dieser es verlassen hat.

Nachdem sie ihren Weg einige Zeit stillschweigend fortgesetzt,
begann Lenardo mit der Betrachtung, daß es die Eigenheit des Menschen
sei, von vorn anfangen zu wollen; worauf der Freund erwiderte, dies
lasse sich wohl erklären und entschuldigen, weil doch, genau genommen,
jeder wirklich von vorn anfängt.  "Sind doch", rief er aus, "keinem
die Leiden erlassen, von denen seine Vorfahren gepeinigt wurden; kann
man ihm verdenken, daß er von ihren Freuden nichts missen will?"

Lenardo versetzte hierauf: "Sie ermutigen mich zu gestehen, daß ich
eigentlich auf nichts gerne wirken mag als auf das, was ich selbst
geschaffen habe.  Niemals mocht' ich einen Diener, den ich nicht vom
Knaben heraufgebildet, kein Pferd, das ich nicht selbst zugeritten.
In Gefolg dieser Sinnesart will ich denn auch gern bekennen, daß ich
unwiderstehlich nach uranfänglichen Zuständen hingezogen werde, daß
meine Reisen durch alle hochgebildeten Länder und Völker diese
Gefühle nicht abstumpfen können, daß meine Einbildungskraft sich über
dem Meer ein Behagen sucht und daß ein bisher vernachlässigter
Familienbesitz in jenen frischen Gegenden mich hoffen läßt, ein im
stillen gefaßter, meinen Wünschen gemäß nach und nach heranreifender
Plan werde sich endlich ausführen lassen."

"Dagegen wüßt' ich nichts einzuwenden", versetzte Wilhelm, "ein
solcher Gedanke, ins Neue und Unbestimmte gewendet, hat etwas Eigenes,
Großes.  Nur bitt' ich zu bedenken, daß ein solches Unternehmen nur
einer Gesamtheit glücken kann.  Sie gehen hinüber und finden dort
schon Familienbesitzungen, wie ich weiß; die Meinigen hegen gleiche
Plane und haben sich dort schon angesiedelt; vereinigen Sie sich mit
diesen umsichtigen, klugen und kräftigen Menschen, für beide Teile
muß sich dadurch das Geschäft erleichtern und erweitern."

Unter solchen Gesprächen waren die Freunde an den Ort gelangt, wo
sie nunmehr scheiden sollten.  Beide setzten sich nieder, zu
schreiben; Lenardo empfahl seinen Freund dem oberwähnten sonderbaren
Mann, Wilhelm trug den Zustand seines neuen Lebensgenossen den
Verbündeten vor, woraus, wie natürlich, ein Empfehlungsschreiben
entstand; worin er zum Schluß auch seine mit Jarno besprochene
Angelegenheit empfahl und die Gründe nochmals auseinandersetzte,
warum er von der unbequemen Bedingung, die ihn zum ewigen Juden
stempelte, baldmöglichst befreit zu sein wünsche.

Beim Auswechseln dieser Briefe jedoch konnte sich Wilhelm nicht
erwehren, seinem Freund nochmals gewisse Bedenklichkeiten ans Herz zu
legen.

"Ich halte es", sprach er, "in meiner Lage für den
wünschenswertesten Auftrag, Sie, edler Mann, von einer Gemütsunruhe
zu befreien und zugleich ein menschliches Geschöpf aus dem Elende zu
retten, wenn es sich darin befinden sollte.  Ein solches Ziel kann
man als einen Stern ansehen, nach dem man schifft, wenn man auch nicht
weiß, was man unterwegs antreffen, unterwegs begegnen werde.  Doch
darf ich mir dabei die Gefahr nicht leugnen, in der Sie auf jeden
Fall noch immer schweben.  Wären Sie nicht ein Mann, der durchaus sein
Wort zu geben ablehnt, ich würde von Ihnen das Versprechen verlangen,
dieses weibliche Wesen, das Ihnen so teuer zu stehen kommt, nicht
wiederzusehen, sich zu begnügen, wenn ich Ihnen melde, daß es ihr
wohlgeht; es sei nun, daß ich sie wirklich glücklich finde oder ihr
Glück zu befördern imstande bin.  Da ich Sie aber zu einem Versprechen
weder vermögen kann noch will, so beschwöre ich Sie bei allem, was
Ihnen wert und heilig ist, sich und den Ihrigen und mir, dem
neuerworbenen Freund, zuliebe, keine Annäherung, es sei unter welchem
Vorwand es wolle, zu jener Vermißten sich zu erlauben; von mir nicht
zu verlangen, daß ich den Ort und die Stelle, wo ich sie finde, die
Gegend, wo ich sie lasse, näher bezeichne oder gar ausspreche: Sie
glauben meinem Wort, daß es ihr wohl geht und sind losgesprochen und
beruhigt."

Lenardo lächelte und versetzte: "Leisten Sie mir diesen Dienst, und
ich werde dankbar sein.  Was Sie tun wollen und können, sei Ihnen
anheimgegeben, und mich überlassen Sie der Zeit, dem Verstande und wo
möglich der Vernunft."

"Verzeihen Sie", versetzte Wilhelm; "wer jedoch weiß, unter welchen
seltsamen Formen die Neigung sich bei uns einschleicht, dem muß es
bange werden, wenn er voraussieht, ein Freund könne dasjenige
wünschen, was ihm in seinen Zuständen, seinen Verhältnissen notwendig
Unglück und Verwirrung bringen müßte."

"Ich hoffe", sagte Lenardo, "wenn ich das Mädchen glücklich weiß,
bin ich sie los."

Die Freunde schieden, jeder nach seiner Seite.



Zwölftes Kapitel

Auf einem kurzen und angenehmen Wege war Wilhelm nach der Stadt
gekommen, wohin sein Brief lautete.  Er fand sie heiter und wohlgebaut;
allein ihr neues Ansehn zeigte nur allzudeutlich, daß sie kurz
vorher durch den Brand müsse gelitten haben.  Die Adresse seines
Briefes führte ihn zu dem letzten, kleinen, verschonten Teil, an ein
Haus von alter, ernster Bauart, doch wohlerhalten und reinlichen
Ansehns.  Trübe Fensterscheiben, wundersam gefügt, deuteten auf
erfreuliche Farbenpracht von innen.  Und so entsprach denn auch
wirklich das Innere dem Äußern.  In saubern Räumen zeigten sich
überall Gerätschaften, die schon einigen Generationen mochten gedient
haben, untermischt mit wenigem Neuen.  Der Hausherr empfing ihn
freundlich in einem gleich ausgestatteten Zimmer.  Diese Uhren hatten
schon mancher Geburts--und Sterbestunde geschlagen, und was
umherstand, erinnerte, daß Vergangenheit auch in die Gegenwart
übergehen könne.

Der Ankommende gab seinen Brief ab, den der Empfänger aber, ohne ihn
zu eröffnen, beiseitelegte und in einem heitern Gespräche seinen Gast
unmittelbar kennen zu lernen suchte.  Sie wurden bald vertraut, und
als Wilhelm, gegen sonstige Gewohnheit, seine Blicke betrachtend im
Zimmer umherschweifen ließ, sagte der gute Alte: "Meine Umgebung
erregt Ihre Aufmerksamkeit.  Sie sehen hier, wie lange etwas dauern
kann, und man muß doch auch dergleichen sehen, zum Gegengewicht
dessen, was in der Welt so schnell wechselt und sich verändert.
Dieser Teekessel diente schon meinen Eltern und war ein Zeuge unserer
abendlichen Familienversammlungen, dieser kupferne Kaminschirm
schützt mich noch immer vor dem Feuer, das diese alte, mächtige Zange
anschürt; und so geht es durch alles durch.  Anteil und Tätigkeit
konnt' ich daher auf gar viele andere Gegenstände wenden, weil ich
mich mit der Veränderung dieser äußern Bedürfnisse, die so vieler
Menschen Zeit und Kräfte wegnimmt, nicht weiter beschäftigte.  Eine
liebevolle Aufmerksamkeit auf das, was der Mensch besitzt, macht ihn
reich, indem er sich einen Schatz der Erinnerung an gleichgültigen
Dingen dadurch anhäuft.  Ich habe einen jungen Mann gekannt, der eine
Stecknadel dem geliebten Mädchen, Abschied nehmend, entwendete, den
Busenstreif täglich damit zusteckte und diesen gehegten und
gepflegten Schatz von einer großen, mehrjährigen Fahrt wieder
zurückbrachte.  Uns andern kleinen Menschen ist dies wohl als eine
Tugend anzurechnen."

"Mancher bringt wohl auch", versetzte Wilhelm, "von einer so weiten,
großen Reise einen Stachel im Herzen mit zurück, den er vielleicht
lieber los wäre."  Der Alte schien von Lenardos Zustande nichts zu
wissen, ob er gleich den Brief inzwischen erbrochen und gelesen hatte,
denn er ging zu den vorigen Betrachtungen wieder zurück.  "Die
Beharrlichkeit auf dem Besitz", fuhr er fort, "gibt uns in manchen
Fällen die größte Energie.  Diesem Eigensinn bin ich die Rettung
meines Hauses schuldig.  Als die Stadt brannte, wollte man auch bei
mir flüchten und retten.  Ich verbot's, befahl, Fenster und Türen zu
schließen, und wandte mich mit mehreren Nachbarn gegen die Flamme.
Unserer Anstrengung gelang es, diesen Zipfel der Stadt
aufrechtzuerhalten.  Den andern Morgen stand alles noch bei mir, wie
Sie es sehen und wie es beinahe seit hundert Jahren gestanden hat."--
"Mit allem dem", sagte Wilhelm, "werden Sie mir gestehen, daß der
Mensch der Veränderung nicht widersteht, welche die Zeit hervorbringt.
"-- "Freilich", sagte der Alte, "aber doch der am längsten sich
erhält, hat auch etwas geleistet.

Ja sogar über unser Dasein hinaus sind wir fähig, zu erhalten und zu
sichern; wir überliefern Kenntnisse, wir übertragen Gesinnungen so
gut als Besitz, und da mir es nun vorzüglich um den letzten zu tun
ist, so hab' ich deshalb seit langer Zeit wunderliche Vorsicht
gebraucht, auf ganz eigene Vorkehrungen gesonnen; nur spät aber ist
mir's gelungen, meinen Wunsch erfüllt zu sehen.

Gewöhnlich zerstreut der Sohn, was der Vater gesammelt hat, sammelt
etwas anders, oder auf andere Weise.  Kann man jedoch den Enkel, die
neue Generation abwarten, so kommen dieselben Neigungen, dieselben
Ansichten wieder zum Vorschein.  Und so hab' ich denn endlich, durch
Sorgfalt unserer pädagogischen Freunde, einen tüchtigen jungen Mann
erworben, welcher womöglich noch mehr auf hergebrachten Besitz hält
als ich selbst und eine heftige Neigung zu wunderlichen Dingen
empfindet.  Mein Zutrauen hat er entschieden durch die gewaltsamen
Anstrengungen erworben, womit ihm das Feuer von unserer Wohnung
abzuwehren gelang; doppelt und dreifach hat er den Schatz verdient,
dessen Besitz ich ihm zu überlassen gedenke; ja er ist ihm schon
übergeben, und seit der Zeit mehrt sich unser Vorrat auf eine
wundersame Weise.

Nicht alles jedoch, was Sie hier sehen, ist unser.  Vielmehr, wie
Sie sonst bei Pfandinhabern manches fremde Juwel erblicken, so kann
ich Ihnen bei uns Kostbarkeiten bezeichnen, die man, unter den
verschiedensten Umständen, besserer Aufbewahrung halber hier
niedergestellt."  Wilhelm gedachte des herrlichen Kästchens, das er
ohnehin nicht gern auf der Reise mit sich herumführen wollte, und
enthielt sich nicht, es dem Freunde zu zeigen.  Der Alte betrachtete
es mit Aufmerksamkeit, gab die Zeit an, wann es verfertigt sein
könnte, und wies etwas ähnliches vor.  Wilhelm brachte zur Sprache:
ob man es wohl eröffnen sollte?  Der Alte war nicht der Meinung.
"Ich glaube zwar, daß man es ohne sonderliche Beschädigung tun könne",
sagte er; "allein da Sie es durch einen so wunderbaren Zufall
erhalten haben, so sollten Sie daran Ihr Glück prüfen.  Denn wenn Sie
glücklich geboren sind und wenn dieses Kästchen etwas bedeutet, so
muß sich gelegentlich der Schlüssel dazu finden, und gerade da, wo
Sie ihn am wenigsten erwarten."--"Es gibt wohl solche Fälle",
versetzte Wilhelm.  "Ich habe selbst einige erlebt", erwiderte der
Alte. "und hier sehen Sie den merkwürdigsten vor sich.  Von diesem
elfenbeinernen Kruzifix besaß ich seit dreißig Jahren den Körper mit
Haupt und Füßen aus einem Stücke, der Gegenstand sowohl als die
herrlichste Kunst ward sorgfältig in dem kostbarsten Lädchen
aufbewahrt; vor ungefähr zehn Jahren erhielt ich das dazugehörige
Kreuz mit der Inschrift, und ich ließ mich verführen, durch den
geschicktesten Bildschnitzer unserer Zeit die Arme ansetzen zu lassen;
aber wie weit war der Gute hinter seinem Vorgänger zurückgeblieben;
doch es mochte stehen, mehr zu erbaulichen Betrachtungen als zu
Bewunderung des Kunstfleißes.

Nun denken Sie mein Ergötzen!  Vor kurzem erhalt' ich die ersten,
echten Arme, wie Sie solche zur lieblichsten Harmonie hier angefügt
sehen, und ich, entzückt über ein so glückliches Zusammentreffen,
enthalte mich nicht, die Schicksale der christlichen Religion hieran
zu erkennen, die, oft genug zergliedert und zerstreut, sich doch
endlich immer wieder am Kreuze zusammenfinden muß."

Wilhelm bewunderte das Bild und die seltsame Fügung.  "Ich werde
Ihrem Rat folgen", setzte er hinzu; "bleibe das Kästchen verschlossen,
bis der Schlüssel sich findet, und wenn es bis ans Ende meines
Lebens liegen sollte."--"Wer lange lebt", sagte der Alte, "sieht
manches versammelt und manches auseinanderfallen."

Der junge Besitzgenosse trat soeben herein, und Wilhelm erklärte
seinen Vorsatz, das Kästchen ihrem Gewahrsam zu übergeben.  Nun ward
ein großes Buch herbeigeschafft, das anvertraute Gut eingeschrieben;
mit manchen beobachteten Zeremonien und Bedingungen ein Empfangschein
ausgestellt, der zwar auf jeden Vorzeigenden lautete, aber nur auf ein
mit dem Empfänger verabredetes Zeichen honoriert werden sollte.

Als dieses alles vollbracht war, überlegte man den Inhalt des
Briefes, zuerst sich über das Unterkommen des guten Felix beratend,
wobei der alte Freund sich ohne weiteres zu einigen Maximen bekannte,
welche der Erziehung zum Grunde liegen sollten.

"Allem Leben, allem Tun, aller Kunst muß das Handwerk vorausgehen,
welches nur in der Beschränkung erworben wird.  Eines recht wissen
und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen.  Da,
wo ich Sie hinweise, hat man alle Tätigkeiten gesondert; geprüft
werden die Zöglinge auf jedem Schritt; dabei erkennt man, wo seine
Natur eigentlich hinstrebt, ob er sich gleich mit zerstreuten
Wünschen bald da-, bald dorthin wendet.  Weise Männer lassen den
Knaben unter der Hand dasjenige finden, was ihm gemäß ist, sie
verkürzen die Umwege, durch welche der Mensch von seiner Bestimmung,
nur allzu gefällig, abirren mag.

Sodann", fuhr er fort, "darf ich hoffen, aus jenem herrlich
gegründeten Mittelpunkt wird man Sie auf den Weg leiten, wo jenes
gute Mädchen zu finden ist, das einen so sonderbaren Eindruck auf
Ihren Freund machte, der den Wert eines unschuldigen, unglücklichen
Geschöpfes durch sittliches Gefühl und Betrachtung so hoch erhöht hat,
daß er dessen Dasein zum Zweck und Ziel seines Lebens zu machen
genötigt war.  Ich hoffe, Sie werden ihn beruhigen können; denn die
Vorsehung hat tausend Mittel, die Gefallenen zu erheben und die
Niedergebeugten aufzurichten.  Manchmal sieht unser Schicksal aus wie
ein Fruchtbaum im Winter.  Wer sollte bei dem traurigen Ansehn
desselben wohl denken, daß diese starren Äste, diese zackigen Zweige
im nächsten Frühjahr wieder grünen, blühen, sodann Früchte tragen
könnten; doch wir hoffen's, wir wissen's."

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von Johann Wolfgang von Goethe



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