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Title: Flametti: oder vom Dandysmus der Armen
Author: Ball, Hugo
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Flametti: oder vom Dandysmus der Armen" ***


globaltraveler5565@YAHOO.com.



Flametti
oder
Vom Dandysmus der Armen
Roman

Hugo Ball


Emmy Hennings zugeeignet



I



Flametti zog die Hosen an, spannte die Hosenträger und brachte durch
mehrfaches Wippen der Beine die etwas straff ansetzende Hosennaht in
die angängigste Lage.  Er zündete sich eine Zigarette an, stülpte die
Hemdärmel auf und trat aus dem Schlafgemach in das Gasfrühlicht
seiner geheizten Stube.

"Kaffee!" befahl er mit etwas verschlafener, rauh gepolsterter Stimme.

Er strich sich die haarigen Arme und gähnte.  Trat vor den
Spiegelschrank, zog sich den Scheitel.  Er bürstete Hosen und Stiefel
ab, setzte sich dann auf das weinrote Plüschsofa und öffnete zögernd
die Schieblade des vor dem Sofa stehenden Eßtisches.

Dort befanden sich seine Rechnungsbücher, seine verschiedenen Kassen,
Quittungshefte und die brandroten Briefkuverte, die die Anschrift
trugen "Flamettis Varieté-Ensemble".

Er stellte die Gagen zusammen--es war der fünfzehnte--und fand, daß
er zu zahlen habe:


dem Jodlerterzett (Vater, Mutter und Tochter), nach Abzug der à conti
                                                              Fr. 27.50

dem Kontorsionisten, nach Abzug der à conti                     "  2.27

dem Damenimitator (keine à conti)                               " 60.—

der Soubrette und dem Pianisten (zusammengenommen, sie lebten
zusammen), nach Abzug der à conti                               " 15.—


Zusammen                                                     Fr. 104.77



Dagegen befanden sich in der Kasse:

für das Terzett (hier war Genauigkeit geboten, die Leute waren
unruhig, aufsässig und Anarchisten)                           Fr. 27.50

für den Kontorsionisten (dem gab er die Gage unter der Hand)    "  —.—

für den Damenimitator (bei schlechtem Geschäftsgang hatte Flametti
für ihn nur jeweils die Hälfte der Gage allabends zurückgelegt) " 30.—

für das Pianisten-Soubrettenpaar (strebsame, ruhige Leute, die
Anspruch machten auf Solidität)                                 " 15.—

Flametti addierte                                             Fr. 72.50



Er zog die Summe von den Fr. 104.77 ab.  Blieben Fr. 32.27, die aus
der Haupt--und Betriebskasse noch nachzuzahlen waren.

Er öffnete auch diese Kasse und fand darin bar Fr. 41.81.

"Neun Franken vierundfünfzig Vermögen!"  Er schloß die verschiedenen
Kassen ab, schob die Schieblade zurück, schloß auch diese und steckte
die Schlüssel zu sich.

Seine linke Augenbraue flog hoch, für einen Moment.  Er tat einen
kräftigen Zug aus der Zigarette und blies den Rauch aus der Lunge.
"Lausige Zeiten!" brummte er.  "Aber wird sich schon geben.  Nur kalt
Blut!"

Ein kleiner Schalter öffnete sich, der das Wohnzimmer mit der Küche
verband, und ein übergroß langes, mürrisches Gesicht erschien in der
öffnung.  Eine große, magere Hand schob ein Tablett mit Kaffee, Milch
und Zucker durch die öffnung.  Dann ging auch die Türe und eine
hörbar schnaubende ältere Frau erschien, mißmutig, verdrießlich,
rußig, in schleppenden, grauen Pantoffeln, mit schmutzigem Rock von
undefinierbarer Farbe und mit aufgestecktem Haar, das wie das Nest
einer Rauchschwalbe aussah: Theres, die Wirtschafterin.

Sie schleppte sich zum Tisch, zog die Tischdecke weg und legte sie
knurrend zusammen.  Schlappte langsam und uninteressiert zum Schalter,
nahm das Tablett und stellte es auf den Tisch.

Ohne ein Wort gesprochen zu haben, brummte sie wieder hinaus, die Tür
lehnte sich hinter ihr an, und von draußen schloß sich der Schalter.

Flametti goß sich Kaffee ein.  Er nahm den Hut vom Haken, legte die
Joppe an, die über der Stuhllehne hing, holte aus einer Ecke sein
Angelgerät, aus dem Büfett einige Blechdosen von unterschiedlicher
Größe und war bereit.

Nein, die Ringe!  Er drehte die Ringe von den geschwollenen Fingern,
den Totenkopfring und den Ehering, legte sie in das Geheimfach im
Schrank, schloß den Schrank ab, steckte den Schlüssel zu sich und
ging.  Auf der Postuhr schlug es halb sechs.

Er hatte ein kleines Stück Fluß gepachtet, inmitten der Stadt, nahe
der Fleischerhalle.  Dahin begab er sich.

Eine kurz angebundene Melodie vor sich hinpfeifend, den Kopf
energisch gegen das Pflaster gesenkt, bog er aus der kleinen,
verräucherten Gasse.

Im Automatenrestaurant nebenan fegte, gähnte und scheuerte man.  Ein
Polizist auf der anderen Straßenseite, nahe beim übernächtig nach
Salmiak duftenden Urinoir, sah ziemlich gelangweilt, die Frühluft
schnuppernd, über das Kaigeländer ins Wasser.

"Salü!" grüßte Flametti, knapp und geschäftig an ihm vorüberstapfend,
mit dem guten Gewissen des Bürgers, der seinen Angelschein wohl in
der Tasche trägt und die Obrigkeit, ihre unteren Chargen insonders,
nicht zu umgehen braucht.  "Salü!" rief er und fuhr mit der Hand
gradaus vom Hutrand weg in die Luft.

Der Polizist brummte etwas zur Antwort, das etwa "Guten Morgen"
heißen sollte.  Der Gruß war aber nicht eben freundlich.  Auch nicht
unfreundlich.  Vielmehr: verschlafen beherrscht.  Man kann nicht
leugnen, daß sogar Sympathie darin lag, jedoch in wohldosierter
Mischung mit einer Art Mißtrauen, das auf der Hut ist.  Die Gasse,
aus der Flametti kam, stand nicht eben im besten ortspolizeilichen
Ruf.

Der Morgen indessen war viel zu verheißend, als daß Flametti sich
hätte die Laune verderben lassen.  An der Fleischerhalle vorbei, die
Kaitreppe hinunter, begab er sich, guter Beute gewiß, an den Steg.

Er prüfte die Angelschnur, machte den Köder zurecht, klappte den
Rockkragen hoch--es war frisch--und blies sich die Hände.

Gleich der erste Fang war ein riesiger Barsch.  Der Fisch flirrte und
glänzte, flutschte und klatschte.

Das Wetter war grau.  Blaugrauer Nebel blähte die Türme am Wasser,
die Schifflände mit ihren grünweiß gestrichenen, sechsstöckigen
Häusern, den rasch vorüberstrudelnden Fluß und die jenseits hoch über
die Häuser hängenden Stadtgartensträucher.

Flametti löste die Angel, ließ den Fisch in das Netz hineinschnellen,
brachte den Köder in Ordnung und warf die Angel zum zweitenmal aus.

Er sah sich um nach dem Polizisten.  Der war verschwunden.

"Überflüssiges Element!" brummte er, zupfte am Köder, um die
Aufmerksamkeit der Fische zu erregen, machte die rechte Hand frei und
schneuzte sich kräftig in ein derbes, rotbedrucktes Taschentuch.
"Geschmeiß!  Größere Faulenzer gibt es nicht!"

Auf der Straße ließ sich ein drohendes Brummen und Surren vernehmen,
das ratternd und knatternd näherkam: ein frühester Autowagen der
"Waschanstalt A.-G.".  Das Vehikel puffte, böllerte, walzte vorüber.
Der ganze Kai vibrierte.  Ein Ruck an der Angel: ein zweites Tier
hatte angebissen.  Diesmal ein Rotauge.

"Gut so", zwinkerte Flametti, "darf so weitergehen!"

Fabrikarbeiter kamen vorüber.  Sie markierten zur Bahn.

"Hoi", riefen sie hinunter, "gibt's aus?"

"Salü!" drehte sich Flametti um.  Sie gestikulierten in Eile vor sich
hin und verschwanden.

Das Wasser floß graugrün und undurchsichtig.  Die Möwen strichen sehr
niedrig und zischten über die Brücken hinweg. An der Häuserfront der
Schifflände öffnete sich ein Fenster, und eine junge Frau sah nach
dem Wetter.

"Salü!" rief Flametti hinüber.

Sie lachte und schloß das Fenster.

Ein Kind schrie, und eine Turmuhr schlug.  Die Glocken einer
katholischen Kirche läuteten.  Auch in der Fleischerhalle regte es
sich.  Auf der Gemüsebrücke fuhren die Händler Obst und Kartoffeln an.

Der dritte Fang war ein armslanger Aal.  An der Grundangel kam er
nach oben.  Schwarz wie der Schlamm und die Planken, aus denen er kam,
trug er deutliche Spuren von Rattenbiß.

Auf den Kaiquadern schlug ihn Flametti zu Schanden.

Schulkinder und ein von entmutigendem Beruf heimkehrendes Fräulein,
die sich oben am Geländer versammelt hatten, schrien laut auf vor
Entsetzen.  Das Fräulein lächelte.

"Servus, Margot!" rief Flametti hinauf aus der Kniebeuge, eifrigst
mit seinen Geräten beschäftigt.

Sie lachte und hielt die ringbesäte Hand in Verlegenheit vor ihre
schlechten Zähne.  Die Kinder sahen sie neugierig an und musterten
ihren bunten Aufputz.

übers Geländer gebeugt, ließ sie ihr Täschchen schaukeln, die Hand am
Munde, und rief, auf den heftig sich krümmenden Fisch hinzeigend:

"Noch so einen, für mich!"

"Was zahlst du?" wischte Flametti sich die Hände ab, um
weiterzufischen.

"Zahlen?" rief sie und schaute dabei unternehmend nach allen Seiten,
"erst heraus damit!"; was der Dienstmann im blauen Leinenkittel, der
sich inzwischen mit seinem Karren an der Ecke der Fleischerhalle
versammelt hatte, als den besten Witz des bisherigen Morgens
verständnisinnig zur Kenntnis nahm und lächelnd quittierte.

Flametti hatte Glück.  Als die Uhr acht schlug, nahm er seine Büchsen,
Angeln und Netze und begab sich nach Hause.

Auf zehn Kilo schätzte er, was er gefangen hatte.  Damit ließ sich
leben.

Er stellte das Angelgerät an seinen Platz zurück, ging in die Küche
und suchte der Wirtschafterin aus dem Netz die Rotaugen heraus für
den Mittagstisch.  Nahm dann mit einem kräftigen Ruck seine Last
wieder auf und stapfte davon.

Schnurstracks begab er sich ins Hotel Beau Rivage, wo er bekannt war,
verlangte den Küchenmeister zu sprechen und bot ihm die Fische an.

"Schau her", sagte er, "hast du so einen Aal gesehen?"

Er packte den schleimigen Aal, der sich zu unterst ins Netz
verkrochen hatte, und ließ das Tier, das sich heftig sträubte und
ringelte, durch die geschlossene Faust in das Netz zurückgleiten.

"Schau den Barsch!" sagte er und jonglierte den fettesten Barsch auf
der flachen Hand.  Dann wischte er sich mit dem Taschentuch seine
Finger ab.

Man wurde handelseinig.  Der Küchenmeister stellte einen Schein aus,
und Flametti nahm bei der Büfettdame dreißig Franken in Empfang.  Er
hatte das leere Netz zusammengerollt, dankte verbindlichst und machte
sich auf den Heimweg.

Das Wetter hatte sich aufgeklärt.  Die herbstgelben Bäume der
Seepromenade hoben sich scharf und klar gegen den hellblauen Himmel
ab.  Die Möwen strichen mit schwerem Flügelschlag langsam und mächtig
den Fluß entlang, ballten sich kreischend zu einem wirren Schwarm und
kreisten in schönem Bogen, eine leis auf die andre folgend, vor einem
Spaziergänger, der ihnen Brösel zuwarf.  Mit langen Schnäbeln
haschten sie geschickt im Flug.

Flametti war bester Laune.  Er schwenkte in eines der kleinen, am Kai
liegenden Zigarrengeschäfte und erstand sich eine frische Schachtel
"Philos grün".

Mit Gentlemanpose warf er ein Fünffrankenstück auf den Ladentisch.
Er schob das Wechselgeld in die Hosentasche, ohne viel nachzuzählen,
klimperte, fuhr mit der Hand an den Hut, sagte "Salü!" und
marschierte weiter.

"Salü, Fritz!" rief er, die Hand am Hut, einem Bekannten zu, der aus
einer kleinen Seitengasse bog.

"Was kosten die Kressen?" fragte er im Vorbeigehen einen
Gemüsehändler unter den Arkaden.

Und vor dem Fenster eines Bazars blieb er stehen, musterte mit
Kennerblick die ausgestellten orientalischen Waren, ging hinein und
erstand einen hellblauen Tschibuk mit Goldschnur, der ihm für seine
Ausstattungsnummer "Im Harem" fehlte zum Sultanskostüm.

Er war sehr zufrieden mit seinem Kauf, stapfte den Kai entlang und
begegnete Engel, dem Ausbrecherkönig, Engel, seiner Kreatur, die vor
kurzem noch Monteur gewesen, dann zum Varieté übergegangen war.

"Salü Max!" grüßte Engel familiär, doch in respektvoller Distanz.
"Auch schon munter?"

Max machte Halt, ein wenig degoutiert, seinen Lieblingsgruß aus
fremdem Mund zu vernehmen.  Ziemlich nachlässig und nebenhin sagte er
"Salü!", nahm die Zigarette aus dem Mund und kniff das rechte Auge zu.

"Das war ein Gaudi heut nacht!" legte Engel los, "hättest dabei sein
müssen!  Der Pips war mit und die Margot und die lange Mary und eine
ganze Gesellschaft aus Chaux-de-Fonds.  Unten bei Mutter Dudlinger.
Fünf Schampusflaschen haben wir die Hälse gebrochen.  Und ein Lärm!
Da war Pinke-Pinke!"

Mit sportsmännischer Nachlässigkeit hielt er den Arm lang
ausgestreckt und tippte die Zigarettenasche gegen die Gosse.

Max war sehr uninteressiert.  Die Abenteuer seines schmächtigen, für
Zusteckereien allzu empfänglichen Ausbrecherkönigs imponierten ihm
nicht.

"Komm mit!" sagte er unvermittelt und packte den Ausbrecherkönig beim
Arm, "trinken wir im "Ochsen" 'ne Halbe!"

Und sie schwenkten hinüber über die Gemüsebrücke zum "Roten Ochsen".

"Du, Max", meinte Engel und versuchte, mit dem mächtig
ausschreitenden Flametti gleichen Schritt zu halten, "sag' mal
aufrichtig: Hast du der Margot einen Aal versprochen?  Sie sagt's
nämlich."

Flametti blieb stehen.  "Jawohl, ich, einen Aal, der Margot!  Hab'
die Aale grad zum Verschenken!  So seh' ich aus!"

"Na, also!" beschwichtigte Engel.  "Weißt du, Margot ist man 'n
verrucktes Frauenzimmer.  Hab's ja gleich gesagt."

Der Ochsenwirt war nicht zu Hause.  Eigentlich war man hingegangen,
um ein Geschäft auszumachen.  Man nahm einige Glas Münchner,
standesgemäß, Flametti zahlte, Engel nahm die Hüte vom Haken.  Dann
ging man zum Essen.

Mutter Dudlinger, die Dame, bei der sich Herr Engel mit der
Gesellschaft aus Chaux-de-Fonds ein so lustiges und vornehmes
Rendez-vous gegeben hatte, Eigentümerin des Hauses, in dem auch
Flametti wohnte, lag ihrer Gewohnheit gemäß unterm Fenster, als die
beiden Männer in die kleine Gasse bogen.

Sie sonnte den Busen und lächelte ihnen mit einem wohlwollenden
Nicken des Kopfes Willkomm zu.

Dieser Busen!  Er nahm die ganze Breite des Fensters ein und drängte
dabei den wahrlich ungraziösen, fast könnte man sagen plumpen Körper
zurück, der auch seinerseits aus dem grauen, schmuggeligen Hause
heraus nach Licht und Sonne begehrte.

Diese Brüste!  Sie blähten sich auf, quollen über, und nur mit Mühe
hielt sie der speckige Rand der schwarzen, zusammengehaftelten
Kammgarnbluse zurück, sich über die Fensterbank auf das holprige
Pflaster zu stürzen.  Die Sonnenstrahlen vom Giebel des
Automatenrestaurants kamen der Bluse zu Hilfe.  Steil stellten sie
sich--es war Mittag--gegen besagte Fleischesfülle.

Mutter Dudlinger allein schien nichts zu bemerken vom Widerstreit
ihrer Massen im Kampf ums Licht.  Harmlos und freundlich lag ihre
Seele gewissermaßen zwischen Busen und Körper mitten inne und schaute,
umhegt von sanft hängendem Speck, aus listigen äuglein gutmütig
heraus.

Flametti grüßte hinauf, den Kopf stark in den Nacken gebeugt.  Die
Gasse war eng.  Und Herr Engel ebenfalls grüßte hinauf, rief wie
Flametti "Salü!" und griff an den Hut.

Mutter Dudlinger streckte den Kopf aus dem Fenster, schluckte den
Speiserest, der sich vom Mittagessen unversehens noch irgendwo
zwischen den Speicheldrüsen gefunden hatte, und verfolgte voll
Sympathie den Eintritt der stattlichen Männer in ihr gastfreies Haus.
Sie bemerkte dabei zu ihrer Verwunderung heute zum ersten Mal, daß
unter dem Fenstersims eine ganze Anzahl höchst niedlicher
Schmutzfähnchen flatterten, die sich aus langen, auf das Gesims
gefallenen Regentropfen gebildet hatten und über die Hausfront
hinunterwehten.

Die Männer stiegen indessen die steile Treppe hinauf, und Engel
befand sich, immer hinter Flametti stapfend, von Stufe zu Stufe mit
kindlicheren Gefühlen den rückwärtigen Massen seiner mütterlichen
Protektorin gegenüber, die mit gelüpftem Posterieur noch immer die
Regenfähnchen der Hausfront bestaunte.

Es war eminent!  Ein lächerlich kleiner Erker war der Unterbau dieser
ganzen bedenklichen Last, die man Mutter Dudlinger nannte.  Unterbau
einer Fülle, von der man sich von der Straße aus nicht einmal einen
Begriff machen konnte.

Ein Wunder, daß dieser Erker im nächsten Moment nicht krachend
zusammenbrach und samt der guten Mutter Dudlinger in eine mysteriöse
Tiefe hinunterstürzte.  Erstaunlich, wenn man's bei Tag besah, daß
man in diesem Erker sogar zu dreien sitzen konnte!  Und Engel hatte
mit Mutter Dudlinger und Mary zu dreien darin gesessen.  Man hatte
gesprochen vom Krieg, vom Konzert, von den schlechten Zeiten; im
Zimmer nebenan hatten die Sektpfropfen geknallt, und Mary hatte
gegähnt, weil ihr Kavalier aus Chaux-de-Fonds eine Anspielung machte
auf ihre Gesundheit.  Da hatte sie sich natürlich zurückgezogen und
spielte die Beleidigte.  Und Mutter Dudlinger hatte die Blätter der
künstlichen Rebe zurechtgebogen und eingesprochen auf Mary.  Aber es
half nichts.  Sie war beleidigt.

Als Flametti und Engel oben in die Stube traten, stand die Suppe
bereits auf dem Tisch.  Um den Tisch saßen: Herr und Frau Häsli nebst
Tochter, das Jodlerterzett; Herr Arista, der Damenimitator; Fräulein
Laura, die Soubrette, und Herr Meyer, der Pianist; Bobby, der
Schlangenmensch, und das Lehrmädchen Rosa.  Sämtlich mit Löffeln und
Schlucken beschäftigt.

Herr Häsli hatte die Serviette vorgebunden, damit er sein gutes Hemd
nicht beflecke.  Bobby schlarpste.  Jennymama, Flamettis Frau, saß
malerisch auf der Sofakante bei der Schlafzimmertür, rosig wie eine
Venus, im lachsfarbenen Schlafrock, den sie mit der rechten Hand
sorgsam über die Hüften geschlossen hielt.  Das offene Haar, mit
Wasserstoffsuperoxyd gebeizt, war flüchtig zurückgestrichen.  Die
Suppenschüssel dampfte.  Und der Pianist benutzte den günstigen
Augenblick, um sich zum dritten Mal Suppe zu schöpfen.

"Mahlzeit!" sagte Flametti breit.

"Mahlzeit!" erwiderten sämtliche Mitglieder des Ensembles.

Flametti hängte seinen Hut an die Tür und begab sich, um den Tisch
herum, an seinen frei gebliebenen Platz auf dem Sofa.

Fräulein Rosa stand sogleich auf und griff nach der Terrine, um Suppe
nachzufüllen.  Fräulein Theres, die Wirtschafterin, kam herein, um
nach den Bedürfnissen zu sehen.  Durch den offenstehenden
Bretterverschlag aus dem Nebenzimmer grüßte das Krukru der kichernden
Turteltauben, die Flametti für seine Zauberkunststücke pflegte.

"Setz dich, Engel!" rief Flametti gütig dem zögernden Ausbrecherkönig
zu, der nicht zum Ensemble gehörte, aber darin nach Bedarf gastierte
und für tausend wichtige Bühnenzwecke bestens verwendbar war.

"Merci, Max!  Laß nur!  Ich finde schon Platz!"  Er nahm den Stuhl,
den Rosa ihm aus dem Verschlag herbeiholte, und setzte sich zu dem
Schlangenmenschen.  Die beiden mußten sich so in das obere Tischende
teilen; aber sie kamen zurecht miteinander, sie waren ja Freunde.

Schwieriger gestaltete sich die Platzfrage an der Längsseite des
Tisches, wo der Damenimitator, das Jodlerterzett und die Soubrette
saßen.

Fräulein Laura und Herr Arista waren verträglich.  Sie fanden sich ab.
Ganz unverträglich aber und bissig, sowohl untereinander wie den
anderen gegenüber, waren die Jodler, die Mutter insonders.  Frau
Lotte Häsli spie Gift und Galle, wenn man nur an sie tippte.

Nun saßen die drei eng aneinandergedrückt.  Kaum konnten sie mit den
Gabeln auslangen, um einen Fisch zu spießen.  Kaum mit den Ellbogen
hervorkommen, um eine Platte zu greifen.

Frau Häsli auf dem Mittelplatz, zwischen Herrn Häsli und seiner
Tochter, warf wütende Blicke voller Verachtung und Hohn auf den
Gatten, der lammfromm dasaß und mit hochgezogenen Augenbrauen den
Mund vollstopfte, statt sich zu beschweren.  Sie fletschte die Zähne
und trat ihm wohl fünfmal hintereinander in einem bestimmten,
bösartigen Rhythmus auf den Fuß.

Die Tochter, herausgefordert durch solche forcierte Unverträglichkeit
der Mutter, puffte ihr mit dem linken Arm in die rechte Seite,
anscheinlich, um sie auf die Blamage aufmerksam zu machen, in
Wahrheit aber mit solch erbittertem Nachdruck, daß jeder Unbefangene
merken mußte, sie nütze nur die Gelegenheit aus, ihr eins zu
versetzen.

Der Pianist, dem Ausbrecherkönig gegenüber, schmunzelte in seinen
Teller hinein und erwiderte sehr belustigt die Zeichen des mit dem
Kopf andeutenden Schlangenmenschen, der seinerseits mit Messer und
Gabel den Fisch zerhackte, daß sich die Gräten bogen.

Frau Häsli wurde aufmerksam und war rot vor Wut.  Doch beherrschte
sie sich, drängte den ärger zurück und rief mit unglaublich gesüßter,
doch etwas gewaltsam flott gemachter Zutraulichkeit:

"Na, Herr Direktor, wie geht's, wie steht's?  Geld brauchen wir.
Können wir dann auch die Gage kriegen?"

Herr Häsli war konsterniert.  Eben wollte er eine neue Fracht Fisch
auf der Gabel zum Munde führen und hatte schon auf dem Messerrücken
den Kartoffelsalat bereit, um ihn zum selben Zweck auf die Gabel zu
wälzen.  Da mußte er dieses unglaublich taktlose Wort vernehmen,
jetzt bei Tisch, wo man aß, wo Flametti gerade gekommen war und kaum
saß.

Die schon erhobene Gabel senkte sich auf den Teller zurück.  Herrn
Häslis straffes Gesicht bekam Käsefarbe.  Die Augen, eben noch
versöhnlich und ungestört an der spitzen Nase vorbei auf das Messer
gerichtet, schnellten mit einem hörbaren Ruck nach rechts gegen die
biestige Ehehälfte, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er
aufgesprungen, ihr eine Watsche herunterzuhauen.

Aber dabei hätten Stühle umfallen müssen, weil man so eingekeilt saß.
Dabei wäre notwendig das Tischtuch heruntergezerrt worden.  Also
beherrschte er sich und blieb, zitternd vor Empörung, in drohendster
Pose erstarrt, still sitzen.

Das war doch die Höhe!  Herr Häsli kannte Flametti seit Jahren.
Wußte, daß er die Gagen nie schuldig blieb.  Wußte, daß die
Verlegenheit, in der sich Flametti befand, nur momentan war und
nichts besagte.  Wußte auch, daß die vielen Fischgerichte, die
Flametti da auftischen ließ, nur seinen guten Willen verrieten,
durchzuhalten um jeden Preis.  Da soll einem nun die Geduld nicht
reißen, wenn solch obstinates Weibsstück in ihrer spitzigen
Kribbeligkeit keine Raison annahm!  Man hat doch Erziehung!  Man ist
doch kein Schubiack!  Man hat doch, zum Teufel, die Welt gesehen!

Herr Häsli hatte indessen gut denken!  Er war ein Faulenzer, ein
Nichtstuer, er hatte sich immer nur den Magen gestopft und die Frau
schuften lassen.  Beim Norddeutschen Lloyd war er Steward gewesen.
In unterschiedliche Phonographen hatte er gejodelt zu Berlin und
Paris.  War auch mal II. Klasse gefahren, von Potsdam nach Wien,
eines Phonogramms wegen.  Aber was schon!  Das war vor Jahren, als er
die Stimme noch hatte.  Das war vorbei.  Jetzt hatte sie, Lotte Häsli,
ihn durchzuschleppen.  Wie ein Lastvieh kuranzte er sie.  Immer
singen und singen.  Bei zwanzig Grad Kälte in den eiskalten,
verschmierten, kleinen Hotels.  Tagaus, tagein.  In Bern: dreißig
Nummern an einem Sonntag, von nachmittags drei bis nachts elf.  Sie
hatte es durchgemacht.  Sie hatte genug.  Sie kannte die Herren
Direktoren.  Aus war's.  Sie wollte nichts mehr wissen davon.  Wenn
einer ihr nur in die Nähe kam--genügte schon, daß er ein Mannskerl
war--fuchtig wurde sie.  Die Hand weg!  Wenn man nicht einmal
ordentlich zu essen kriegen sollte bei solchem Betrieb, ja
geschuriegelt wurde--immer nur singen und singen und etwa noch
Schläge--lieber den Strick um den Hals!

Frau Häsli hatte zu essen nicht nachgelassen.  Mit Messer und Gabel
hantierte sie eifrig.  Zwei schwarze Löckchen fielen ihr zier und
adrett, schwarze Bockshörner, leicht in die Stirn.  Diese Stirn,
eigensinnig, gedrungen, von einer kurzen, nur schlecht verheilten
Narbe gezeichnet, war nicht eben häßlich.

"Mach' mal 'n bißchen Platz!" rief sie der Tochter zu, um deren Fuß
sich unter dem Tisch der Damenimitator lebhaft und dringend bewarb.

Frau Häsli gelang es, durch Aufwärtsschieben der Ellbogen ihrem
Brustkorb etwas mehr Luft zu verschaffen.

Toni, die Tochter aber, kam sich ganz persönlich verletzt und
gepiesackt vor.

Was konnte sie dafür, daß dieser verfettete Damenimitator so
aufdringlich war!  Sie hatte ihm ihren Fuß überlassen, weil sie sich
doch vergewissern mußte, ob er auch wirklich angelte.  In diesem
Moment war ihr das häßliche "Mach' mal 'n bißchen Platz!" ans Ohr
gedrungen.  Überhaupt: mit dem Damenimitator hatte sie nichts, wenn
er auch Lackschuhe trug und einen gebügelten, kaffeebraunen Anzug.
Wer weiß, ob er überhaupt bei einer Jungfrau schlafen konnte.  Es war
eine bekannte Sache, daß es Damenimitatoren an so manchem fehlte, was
eine Toni Häsli reizen konnte.

Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und sagte ziemlich
schnippisch: "Ich kann ja auch in der Küche essen, wenn hier zu wenig
Platz ist!"

Die Mutter hatte sich aber bereits zurechtgefunden, das Rotauge, auf
das sie es abgesehen hatte, aufgespießt und auf den Teller
herüberbefördert.  Mit einem hörbaren Plumps ließ sie sich auf den
Stuhl zurückfallen und sagte verwundert:

"Was willst du denn?  Was paßt dir denn nicht?  Kannst du dich nicht
ein bißchen schicken?  Wenn der Platz knapp ist?  Sei froh, daß du so
gutes Essen bekommst.  Schau mal diese Forelle an"--dabei zerrte sie
den Fisch mit der Gabel auf ihrem Teller hin und her--"so was Feines
verdienst du gar nicht!  Dankbar solltest du sein, daß man dich
durchschleppt."

Herr Häsli saß noch immer erstarrt in furchtbarer Pose, eine
knödelessende Schießbudenfigur.  Von der Mutter weg wandte er seine
Augen zur Tochter.  Ohne viel Erfolg.  Toni setzte sich zwar wieder
hin, konnte sich aber nicht verkneifen, die Mutter darauf aufmerksam
zu machen: "Es sind ja gar keine Forellen.  Es sind ja Rotaugen."

"Na", beschwichtigte Jenny, "sie ist ja noch jung.  Versöhnt euch!
Morgen gibt's Paprikabraten mit Spaghetti und Tomatensauce.  Kinder!
Ein feiner Fraß!"  Und sie hob den Zeigefinger hoch und ließ einige
fettgurgelnde, selige Laute hören.

Flametti hatte das Hemdbördchen geöffnet, um es bequemer zu haben.
Mit den Oberarmen den Tisch festhaltend, lag er vor seinem Teller,
den Kopf hart über dem Tellerrand, und schlarpste gierig die Suppe.

Das Plüschsofa hatte sich unter seinem Druck gesenkt mit einem
Knacken der Federn, das wie ein Magenknurren Flamettis fortdröhnte.
Als er nun die baumwollenen Hemdärmel aufkrempelte, konnte man so
recht sehen, was für ein Riese er war.

Die Muskeln der Oberarme stiegen in einer steilen Schwellung zum
Schulterblatt.  Teller, Arme und Kopf bildeten ein einziges,
muskulöses Dreieck.  Blutunterlaufen, vom Sitzen, schwollen seine
Augen.

Ganz allein hielt er das Sofa und von dort aus den Tisch in Schach.
Er sprach nicht viel.  Für die Worte der Häsli wegen der Gage hatte
er nur ein kurzes, brummiges "Ja, ja.  Sowie das Essen vorbei ist".
Was ihn ein wenig wurmte, war die Aufdringlichkeit dieser Person, die
immer etwas zu bestellen hatte, immer Stank mitbrachte.

Als Herr Häsli dann jene Schießbudenpose annahm, konnte Flametti
sogar ein heimliches Gaudium nicht verbergen.  Er senkte den Kopf
noch tiefer und blies die Backen auf, um nicht loszuprusten.

Ihm machte es einen Heidenspaß, wenn das Ehepaar sich "anblies".
Eine bösartige Rippe, diese Alte.  Der kleine Häsli ein Schlappier,
daß er sich das so gefallen ließ.  Aber ihr Gesang: alle Hochachtung!
Das mußte man ihnen lassen.  Was Exaktheit, Klangfarbe und Schulung
betraf: weit und breit keine Besseren.

Flametti war mit der Suppe fertig.  Ein einziger Fisch lag noch auf
der Platte, und Engel holte weit aus, um ihn an sich zu bringen.

Rosa beeilte sich, aufzufüllen.  Jenny, gesättigte nahm ihr offenes
Haar aus dem Nacken und flocht es zusammen.

"Na, kommt das Zeugs bald?" rief Flametti zum Schalter, legte mit
breiter Oberlippe den Eßlöffel trocken, drehte ihn um und leckte auch
die Kehrseite gründlich ab.

Bobby zerriß ein Stück Brot und stopfte es in den Mund.  Die Häslis
standen auf, sagten "Mahlzeit!", gingen aber noch nicht, denn es
sollte ja Gage geben.

Auch der Pianist und die Soubrette standen jetzt auf.  Der
Damenimitator, aus Höflichkeit, blieb noch sitzen.

"Mahlzeit!" rief Flametti.  Aber für ihn begann die Sache jetzt erst.
Und auch Herr Engel wurde loyal, faßte Mut, und sie stocherten um
die Wette nach den pauvren Fischleins.

Engeln drohte dabei die Hose zu rutschen.  Aber er hielt sie fest mit
der linken Hand und rief zu Flametti hinüber: "Max, weißt du noch:
"Bratwurstglöckli"?"

Dort muß vor Zeiten eine ungeheure Fresserei stattgefunden haben.
Denn die beiden lachten einander an, verständnisinnig, und
verdoppelten ihre Anstrengungen.

Flamettis Varieté-Ensemble hatte einen Ruf und war beliebt.
"Bestrenommiert" stand auf den Plakaten.  Und durch "bestes Renommé",
von dem nur die Neider behaupteten, es rühre von Flamettis Renommage
her, unterschied sich das Ensemble von der Konkurrenz.

Ferreros "Damen-Gesangs--und Possen-Ensemble" war "geschätzt",
"glänzendst", "weltbekannt".  Aber beliebt?  Nein.  Bestrenommiert?
Nein.  Es war "vornehmst", infolge der vereinten Eleganz und
Reserviertheit seiner Damen.

Auch Pfäffers "Spatzen" konnten da nicht mit.  Sie hatten weder jene
geheimnisvolle Anziehungskraft, die Flamettis Ensemble eigen war,
noch jene gewisse Eigenart und Popularität.

Pfäffers "Spatzen" waren, wenn man ihren Wert auf einen Nenner
bringen wollte, "altbewährt", "solid", "reichhaltig", "anerkannt".
Ihre Force: "dezentes Familienprogramm", mit ausgeschnittenen
Kleidern und Broschen, die, wie Flametti höhnte, am Bauchnabel saßen.

Nein!  Auch von ihnen ging jene Wirkung nicht aus, die Wärme und
Begeisterung verbreitete, Einladungen zu Bier, Wein und Sekt mit sich
brachte; Wagenpartien, Abenteuer und Schicksale im Gefolge hatte.

Worin lag die geheimnisvolle Anziehungskraft der Flamettis?

Darüber zerbrach sich mancher den Kopf.

Flametti zahlte weder die besten Gagen, hatte infolgedessen auch
nicht die ersten Kräfte, wie Ferrero.  Noch hatte er die besten
Schlager, wie ebenfalls Ferrero, der Jude war, raffiniert, geschickt,
tüchtig, und der infolge seiner "Vornehmheit" die besten Verbindungen
hatte.  Noch waren Flamettis Nummern mit soviel Fleiß, Sorgfalt und
Interesse herausgebracht wie etwa die Gesangs-Ensembles von Pfäffers
"Spatzen".  Auch deren farbenprächtige, teure Matrosen-,
Schornsteinfeger--und Mausfallenhändler-Kostüme hatte er nicht, die
Fabrikware waren und Gesprächsthema weit und breit.

Worin also bestand Flamettis Überlegenheit?

Er war ein Kerl sozusagen, ganz persönlich.  Artist von reinstem
Wasser.  Er hatte ein Auge, verstand, seine Leute sich auszusuchen.
Er war: eine Persönlichkeit gewissermaßen.  Kein Ferrero, der früher
mit Lumpen gehandelt hatte.  Kein Pfäffer, der seinen Weibern zurief:
"Kinder, macht's euch bequem!" und dann im Hemd mit ihnen den
"Kleinen Kohn" einstudierte.

Fleiß?  Verachtete er.  Der echte Artist schläft morgens bis gegen
elf.  Wenn man bis in die Nacht hinein gearbeitet hat, oft die
schwierigsten Nummern, kann man nicht in aller Herrgottsfrühe wieder
auf den Beinen sein.

Proben?  Jawohl!  Aber mit Maß und Ziel.  Es hat keinen Sinn, den
Leuten die Lust an der Arbeit zu nehmen, sie tot zu hetzen mit Proben.
Auf die Eingebung kommt es an.  Nicht auf den Drill.  Wer es nicht
in den Fingerspitzen hat, der wird es auch auf der zwanzigsten Probe
nicht haben.  Man ist doch nicht beim Kommiß!  Artisten sind keine
Studiermaschinen.  Und wenn schon Proben, dann nicht zuviel
Pünktlichkeit.  Pünktlichkeit soll der Teufel holen.  Es muß aus dem
Handgelenk kommen, spontan.

Flamettis Proben waren unberechenbar.  Wenn eine angesetzt war, fand
sie sicher nicht statt.  Wenn eine stattfand, war sie sicher nicht
angesetzt.  Das Ganze blieb mehr der Inspiration, dem persönlichen
Einfall und Zufall belassen.

Extempores?  Prachtvoll!  Er selbst war ein Extempore von Kopf bis zu
Fuß.  Vielseitig, unberechenbar, auch in seinem Repertoire.  Nur kein
festes Programm!  Nichts langweiliger als das.  Bei Ferrero hing das
Programm jeden Abend punkt acht beim Kapellmeister am Klavier.  Bei
Flametti gab's überhaupt keines.  Oft wußte er fünf Minuten vor
seinem Auftritt noch nicht, solle er den "Mann mit der
Riesenschnauze" bringen oder die "Feuernummer".  Sprudeln muß man:
das war sein oberster Grundsatz.

Auch bei Engagements: Flametti hatte das renommierteste Ensemble.
Und doch keineswegs die renommiertesten Kräfte.

Im Gegenteil: darin gerade bestand sein Genie, daß er verstand,
Kräfte zu entdecken, zu finden, ja aus dem Nichts zu stampfen.

Flamettis Personal war: interessant.  Er hatte eine Nase für
natürliche Begabung.  Auf Agenten, Kritiken und Renommage gab er
nichts.  Selber sehen!  Kerle brauchte er, Personnagen.  Talent kam
in zweiter Linie.  Mochte das Talent einen Knacks haben, die Stimme
einen Knacks, die Figur einen Knacks.  Wenn nur der Kerl, der
dahinterstand, etwas zu sagen hatte.

Flametti hatte einen Blick für die gebrochene Linie.  Einen Blick für
jenen Moment, in dem etwa eine Kabarettistin reif wurde fürs Varieté.
Da setzte er ein.  Da bemühte er sich.  Da lief er.

Und immer: das menschliche Interesse an seinem Mitglied stand im
Vordergrund.  Herr oder Dame: ihn interessierte zumeist, was sie
erlebt und gesehen hatten.  Gute Manieren.  Kein Engagement ohne
tagelange vorherige Beobachtung.  Schicksale muß jemand gehabt haben,
um interessant zu sein für Flamettis Ensemble.  Schicksal brachte
Vielseitigkeit mit sich, Überraschungen, Anlagen, Geist.  Seine
Mitglieder mußten sich bewegen können.  Welt mußten sie haben.
Versiert mußten sie sein.  Vornehmheit war nicht seine Sache.
Dahinter steckte nicht viel.  Deklassierte Menschen, gerempelte
Personnagen sind die gebornen Artisten.  Im Druck muß man gewesen
sein, um Artist zu werden.

Unter fünfzig Mädels, die auf der Straße das Täschchen schwenkten,
waren zwanzig Soubretten.  Es kam nur darauf an, sie davon zu
überzeugen.  Unter fünfzig Apachen, die keiner beachtete, zwanzig
Ausbrecherkönige, Zauberkünstler, Jongleure.  Es kam nur darauf an,
sie zu finden und durchzusetzen.  Und gerade darin bestand Flamettis
Genie, seine Popularität, seine Magie.

In seinem Ensemble wurden Sprachen gesprochen: englisch, französisch,
dänisch, sogar malayisch.  Man hatte die Welt gesehen.  Man hatte
sich redlich bemüht und kannte das Leben.

Gefängnis, Skandal, Freudenhaus, Fahnenflucht waren kein Einwand.
Artisten kommen aus einer anderen Welt.  Sind keine Bürger.  Aus
Unterdrückung werden Artisten.  Wo keine Defekte sind, sind keine
Menschen.  Buntheit, Zauber, Exotik: nur aus Verzweiflung.

Dementsprechend war auch Flamettis Verhältnis zu seinen Artisten.
Kameradschaft, nicht Abhängigkeit.  Freiheit, nicht Zwang.  Vertrauen,
keine Verträge.  Gage muß sein: sowieso.  Aber was nützte der beste
Vertrag, wenn der Direktor einmal nicht zahlen konnte?

Hier setzte Flamettis Verläßlichkeit ein.  Er war dann imstande, mit
Angeln sein ganzes Ensemble zu halten.  Ein anderer Direktor stellte
die Zahlungen ein.

Bei Flametti konnte man aus--und eingehen, auch wenn man nicht mehr
auf seinen Brettern stand.  Bei welch anderem Direktor noch?  Was
Flametti besaß, gehörte auch seinem Ensemble.  Es war nicht sein
Ehrgeiz, Geld zu machen, Bankkonto und dergleichen.  Sein Ehrgeiz war,
eine Truppe zu haben.

Kostüme?  Machte man selbst.  Nummern?  Erfand man sich.  Er selbst,
Flametti, hatte er nicht aus einer Robbe ein Seeweibchen gemacht, als
Not am Mann war?  Und aus Engel einen Ausbrecherkönig?  Demselben
Engel, der Speckschneider gewesen war bei der Handelsmarine?  Eine
Kiste hatte er ihm gebaut, woraus mittels einer im Innern
angebrachten Mechanik selbst bei vernageltstem Zustand leicht zu
entkommen war.  Handfesseln hatte er ihm gearbeitet mit einem
Raffinement, daß "Henry" mit einem Ruck seiner zarten Gelenke
innerhalb drei Minuten im Freien stand.

Freilich: Solche Gelenke aus gutem Hause gehörten dazu und ein wenig
Geschick.  Aber "Henry" schaffte es.  Kein Mensch hätte vorher daran
geglaubt.  Eine Berühmtheit war aus ihm geworden, über Nacht.

Welcher Direktor erlebte die Überraschung, daß seine Soubrette als
Gamsbua auftrat und Schnadahüpfl sang, nur aus Jokus?  Oder daß der
Pianist die Klampfn nahm und der Jodler das Piston?

Flametti legte auch keineswegs Wert darauf, jeden Abend zu spielen.
Besonders nicht in den kleinen Beiseln, wo man um sechs Uhr abends
schon auf dem Posten sein mußte, wo das Wasser von der Decke tropfte
und die Klaviere jämmerliche Drahtkommoden waren, unmöglich, Töne
darauf hervorzubringen.

Mochte Jenny recht haben: man solle auch die kleinen Geschäfte
annehmen; man müsse ja auch die Gagen zahlen.  Aber man war doch
nicht in der Tretmühle!  Man war doch nicht auf der Welt, um sich
abzustrapazieren!

Keine Überarbeitung: das war man seinem Ensemble schuldig.  Flametti
verlangte dafür nur seinerseits etwas Entgegenkommen: Anstand und
guten Willen.  Benehmen.  Oder er wurde "verruckt", was besagte:
schlug alles kurz und klein, rannte Köpfe an die Wand, ging mit dem
Messer los auf die Bande.

"So, Kinder", rief Flametti, wischte sich den Mund ab und legte die
Serviette hin, "jetzt kommt die Gage!"

Er nahm den Schlüssel aus der Hosentasche, schloß die Schieblade auf
und rief, auf das Eßgeschirr zeigend: "Weg mit dem Zeugs!"

Rosa beeilte sich, das Geschirr wegzutragen.  Das Ensemble spitzte
die Ohren.  Auch Engel hörte nun auf zu essen.  Und alle kamen näher.

"Monsieur Arista", begann Flametti, "sechzig Franken.  Stimmt's?
Quittieren Sie."

"Stimmt", sagte Arista, "danke schön."  Quittierte mit dem
Tintenstift, den Flametti ihm hinschob, und strich das Geld ein.

"Bobby--zwei Franken siebenundzwanzig--hier.  Stimmt's?  A conto
zweiten soundsoviel, à conto vierten soundsoviel, à conto fünften, à
conto achten."  Er zeigte auf die einzelnen auf der Quittung
verrechneten Posten.

"Stimmt, stimmt", sagte Bobby.  "Danke!"

"Hier--quittieren!"

Bobby quittierte.

"Herr Meyer--zehn Franken.  A conto vierten--fünf Franken.  A conto
achten--fünfzehn Franken.  A conto zwölften--fünf Franken.  Stimmt's?"

"Ja, stimmt.  Danke."

"Laura--fünf Franken.  A conto, à conto, à conto, à conto."  Flametti
zeigte wieder die einzelnen Posten auf der Quittung.

"Ja, stimmt schon", zögerte die Soubrette, ein wenig verwirrt und
enttäuscht.  Eigentlich hatte sie zehn Franken erwartet.  Sie konnte
sich aber auch irren.

"Immer dieselbe Sache", maßregelte Flametti.  Nie wußte sie, wieviel
sie zu bekommen habe, und immer handelte es sich um etliche fünf
Franken, die sie vergaß.  Aber die Sache klärte sich auf, und auch
diese Auszahlung ging glatt vonstatten.

"Quittieren Sie", sagte Flametti und schob dem
Pianisten-Soubrettenpaar die Formulare hin.

Herr Meyer wollte die fünfzehn Franken einstweilen zusammen an sich
nehmen.  Aber Laura war keineswegs einverstanden.

"Nein, das gibt es nicht!" erklärte sie ziemlich verliebt, "das ist
mein Geld!  Das habe ich verdient!" und suchte ihrem Freunde Meyer
den Fünfliver zu entreißen.  Und als ihr das nicht sofort glückte,
ein wenig ärgerlich: "Was fällt dir denn ein?  Wir haben doch keine
Gütergemeinschaft", was Herr Meyer spöttisch zugab.

"Wie sie sich haben!" flötete süß Frau Häsli.  "Wie sie sich necken!
Seht nur!"  Wo ein Krakeel in Aussicht stand, war sie stets voller
Freundschaft und Sympathie.

"Na so nimm schon deinen Fünfliver!" murrte der Pianist und schob
sehr unwirsch der Soubrette das Geldstück hin.

"Grüatzi!" sagte der Schlangenmensch, steckte sich eine Zigarette an
und verschwand.

"Addio", sagte Herr Arista, machte der Jodeltochter insgeheim ein
feuriges Zeichen und verschwand.

"Netter Mensch", bemerkte Frau Häsli zu seinem Abgang.  "So
bescheiden und lieb!"

"Mahlzeit!" sagte Herr Engel, der hier nichts zu erwarten hatte,
"komme später nochmal vorbei", und ging ebenfalls; was Fräulein Rosa
sehr komisch fand, denn sie bückte sich blitzschnell nach Nettchen,
dem Dackel, hob ihn hoch und drehte sich tanzend mit ihm auf dem
Absatz.

"Wer kommt jetzt?" fragte Flametti geschäftig, aber mit ein wenig
verringerter Sicherheit.  "Richtig: Häsli."  Und beeilte sich, die
Summe aufzuzählen.  "Siebenundzwanzig Franken fünfzig."

"Waaaas?" rief Frau Häsli, wie von der Tarantel gestochen.  Sie
beugte den Oberkörper weit in den Hüften vor und blieb wie erstarrt
so stehen.

"Siebenundzwanzig Franken fünfzig", wiederholte Flametti und setzte
den Tintenstift überrascht mit dem stumpfen Teil auf den Tisch.

"Siebenundzwanzig Franken fünfzig?  Häsli, komm!"  Sie packte den
Gatten am ärmel.  "Häsli, komm!  Das ist nichts für uns."

Häsli drehte sich auf dem Absatz und machte sich los.  Er war
unangenehm berührt.

"Marsch, marsch, fort, komm!" drängte die Jodlerin und packte ihn von
neuem heftig am ärmel.  Sie gab keinen Pardon.

"Na, mal langsam!" brummte Flametti.  Und ihre Tochter zog eine
mißmutige Schnute und stampfte hörbar ungehalten "Mutter!"

Aber Frau Häsli ließ sich nicht beirren.  "Nein, das ist nichts für
uns!" tobte sie und schüttelte abweisend die erhobene Hand.  "Die
Häslis sind nicht diejenigen, die sich drücken lassen, ich kenne das
schon!  Ich weiß schon, worauf das hinausläuft.  Häsli, komm!"

"Na was ist denn?" interessierte sich Jenny, begütigend und
phlegmatisch.  Sie kam aus dem Schlafzimmer und steckte sich
friedlich das Haar auf.

"Himmelherrgottsakrament!" fluchte jetzt Flametti und schnellte vom
Sofa auf.  "Was gibt's denn?  Was paßt euch denn nicht?  Was wollt
ihr denn?  Macht doch den Schnabel auf, wenn euch etwas nicht paßt!"
Die Zornadern waren ihm angeschwollen.  Er sah aus wie ein tanzender
Fakir.

Häsli bekam's mit der Angst, schüttelte die Frau ab und meinte
kleinlaut: "Max, rechn' 's mal vor!"

"Da ist gar nichts vorzurechnen!" schnitt ihm die Alte das Wort ab.
"Gar nicht nötig.  Wenn ich hör: siebenundzwanzig Franken fünfzig,
dann hab' ich schon genug.  Dann braucht man mir gar nichts mehr
vorzurechnen!"  Und nestelte zitternd an ihrer Bluse.

"Was wollt ihr denn?" schrie Flametti noch lauter und tippte sich mit
dem Zeigefinger an die Stirn.  "Fünfzig Franken Vorschuß bei
Engagementsantritt--"

Beide nickten, Frau Häsli so hastig, als ob sie nicht abwarten könne,
weiter zu hören.

"Dreißig à conto an Häsli nach Bern--"

"So?  So?" unterbrach Frau Häsli.  "Dreißig à conto nach Bern für die
Lumpenmenscher, für die Reitschuldamen, für die Fetzen?"  Ihre Stimme
schnappte über.

"Dreißig à conto nach Bern", bestätigte Herr Häsli in aller Ruhe.

"Toni, komm!" rief Frau Häsli und packte die Tochter am Arm.  "Toni,
komm!  Spuck deinem Vater ins Gesicht!  Sieh ihn an, wie er dasteht!
Als wenn er nicht auf drei zählen könnte!  Dreißig à conto nach Bern!
Und wir hungern zuhaus!"

Jetzt wurde aber auch Herr Häsli fuchtig.  "Soll ich vielleicht von
der Luft leben?  Hab' ich dir nicht zehn Franken davon geschickt und
den Koffer ausgelöst?"

"Was für einen Koffer ausgelöst?  Die alte Scharteke!  Den Koffer hat
er ausgelöst!  Dreißig Franken braucht er dazu.  Wasserrutschbahn
fahren mit den Menschern!  Mit den Kellnerinnen scharwenzeln!  Herr
Häsli hinten, Herr Häsli vorne!  Schau mich nicht so an, Mensch!"
Mit ausgebreiteten Händen und vorgereckter Stirn stand sie da, im
Begriff, ihm an die Gurgel zu fahren.

"Mutter!" suchte die Tochter zu beschwichtigen.

"Dummes Weib!" brachte Herr Häsli mit aller Ruhe und Verachtung auf,
sah die Alte an, als zweifle er an ihrem Verstand, und sah wieder von
ihr weg.

"Na, was wollt ihr also?" schrie Flametti und wühlte krampfhaft und
hitzig in seinen Papieren, um die Belege zu finden.

"Weiter!" drängte die Alte, "nur weiter!"

"Zwanzig à conto an Toni am siebenten."

"Stimmt, stimmt!" drängte die Alte, "nur weiter!"  Die zwanzig
Franken waren für eine Seidenbluse der Mutter.

Jetzt war aber Herr Häsli seinerseits erstaunt.  "Zwanzig Franken?
Für was?" fragte er sprachlos.

"Kümmer' dich nicht!" rief Frau Häsli.  "Laß dir lieber vorrechnen,
was noch weiter kommt.  Damit du siehst, was für ein Peter du bist!"

"Ja, dann freilich!" verzichtete Herr Häsli.  "Da hat ja alles keinen
Zweck!  Da kann man ja schuften wie man will!  Wenn es hier nur so
zwanzigfrankenweise weggeht!  Fünf Tage ist man fort, und zu Haus
verbrauchen sie zwanzig Franken für Kino, Schokolade, für Putz und
Schnecken!"

"Kümmer' dich um dich!" schrie Frau Häsli.  Der Geifer stand ihr in
den Mundwinkeln.  "Auf den Hund möcht' er einen bringen, und einem
nicht einmal die paar Fetzen gönnen, die man auf dem Leibe hat!  Dich
kenn' ich, mein Lieber!  Ich weiß ganz genau, was du vorhast mit uns!"

Nun muß man wissen, daß mit Frau Häsli nicht zu spaßen war.  In
Antwerpen und St. Pauli hatte sie Matrosen bedient.  Ein Gummiknüttel
gehörte zu ihrer Ausrüstung, und die Kassiertasche war mit
Eisenketten am Lederriemen befestigt.  Kerle hatte sie
niedergeschlagen, baumslang, wenn es drauf ankam.  Der Varietéberuf
war ihr zu still.  Mit der ließ sich nicht spaßen.

Also gab auch Herr Häsli klein bei, und weiter ging's mit der
Abrechnung.

"Dann am zwölften zweiundzwanzig Franken fünfzig vorgestreckt für
Zimmer und Konsumation--" Die Häslis bewohnten zusammen ein Zimmer in
einem Gasthof, das sich die Damen selbst ausgesucht hatten, das aber
Flametti bezahlte, weil er Verbindungen hatte mit dem Wirt.

"Schon gut, schon gut", winkte Frau Häsli ab, "ich weiß schon genug.
Bleiben siebenundzwanzig Franken fünfzig.  Stimmt schon.  Ja, stimmt
schon.  Häsli, quittier!  Wir gehen."  Dabei schob sie die Tochter
mit beiden Händen wie aus einer Verbrecherkneipe vor sich zur Tür.
"Wir verzichten.  Kannst alles selber nehmen.  Ich für meinen Teil
will nichts davon haben.  Wir verdienen uns schon unser Brot."

Und Frau Häsli nebst Tochter waren verschwunden.

Nettchen bellte.  Jenny färbte sich rosenrot im Gesicht vor
verhaltenem ärger.  Herr Häsli quittierte, und Flametti schob ihm das
Geld hin.

"Mahlzeit, Max!" sagte Herr Häsli geknickt und bedauernd.  "Nichts
für ungut!" und reichte Flametti die Hand.

"Salü!" sagte Flametti offiziös und packte seine Sachen ein.

Auch Herr Meyer und Fräulein Laura gingen.  Eigentlich hatten sie um
Zulage bitten wollen.  Die Gelegenheit schien ihnen aber nicht
günstig.



II



"Siehst du die Anarchisten", sagte Jenny, als alle gegangen waren,
"siehst du sie jetzt?  Brauchst nur mal ein paar Tage kein Geschäft
zu haben--gleich werden sie üppig.  Nur in Verlegenheit braucht man
zu kommen--schon laufen sie fort.  Forellen müßt ich ihnen vorsetzen,
das Kilo für acht Franken.  Dann solltest du sehen!  Diese Häsli--ach
du mein Gottchen, wie sie hier ankam!  Aus Gnade und Barmherzigkeit
hat man sie aufgenommen.  Das ist der Dank.  Ausgehungert waren sie,
daß Gott erbarm.  Jetzt sind sie auf einmal vornehm.--Was machen wir
nur, Max?  Du wirst sehen, sie laufen uns fort!"

Aber Max hatte keine Lust zu Meditationen.  "Ah was!" sagte er
unwirsch und kramte verärgert in seiner Tischschublade.

Die Tür ging auf, und herein kam Fräulein Theres, lendenlahm und
verdrießlich.  Der Rheumatismus plagte sie heut ganz besonders.  In
der matt herunterhängenden Hand hielt sie einen angerauchten Stumpen
und blies mit spitzem Munde den Rauch von sich.  Unaufgefordert nahm
sie Platz, knetete schmerzhaft ihren Gichtschenkel und drehte sich
schnaufend auf dem Stuhl.

"Frau", sagte sie, "wird gebügelt?"

"Jawohl, Theres, mach' die Eisen heiß."

Und Theres erhob sich mühsam und troßte ab, um die Eisen heiß zu
machen.

Und Fräulein Rosa legte den Bügelteppich auf den Tisch und holte den
Wäschekorb aus dem Bretterverschlag, um die Wäsche einzuspritzen.

Flametti aber hatte beim Abschließen der Schieblade einen Schaden am
Schloß gefunden, zückte den Hausschlüssel und hämmerte damit am
Schlüsselloch.

Es klopfte.  Die Türe ging auf, und herein trat Fräulein Lena,
vormals Pianistin bei Flametti.

"Grüatzi!" sagte sie und schob sich in drei freundlichen Wellen
herein.

"Tag, Lena!" nickte Jenny, "komm nur herein!"

"Wenns erlaubt ist!" sagte Lena.

"Tag, Lena!" bekräftigte Flametti, ohne aufzusehen; so versunken war
er in seine Reparatur.

"Bügelt ihr?" fragte Lena.

"Ja, wir bügeln", wischte Jenny sich die Schweißhände an den Busen.

Theres brachte das Bügeleisen, und Lena nahm ihren Stuhl.

"Schöne Sachen hört man!" rückte sich Lena auf ihrem Stuhl zurecht.

"Um Gotteswillen, Lena, was gibt es denn?"

"Ja, ja", seufzte Lena.

"Was denn, Lena?  Sprich doch!"

Und zu Rosa: "Geh mal raus in die Küche!  Ich ruf' dich dann!"

Flametti hämmerte angelegentlich und beflissen am Schlüsselloch.

"Also hört zu", strich Lena ihren Rock zu den Füßen, "sie machen euch
aus, wo sie können.  Sie erzählen, daß es rutschab geht: ihr zahlt
keine Gagen mehr; es gibt nichts zu essen.  Ihr bekommt keine
Geschäfte mehr.  Grad hab' ich den Bollacker getroffen.  Mit dem
hat's doch die Häsli.  Von einem Türken haben sie erzählt und von
Opium.  Ich weiß ja nicht, was ihr da habt.  Aber sie sagten, es sei
ihnen zu brenzlich und sie sähen sich nach einem anderen Engagement
um."

"Was haben sie erzählt?" duckte sich Jenny.  "So eine Gemeinheit!  So
eine Niedertracht!  Hörst du, Max, was sie ausstreuen?  Wie sie sich
rächen?  Ihren Gadsch hat sie instruiert, daß er herumgeht und uns
das Geschäft verdirbt!  So eine Infamie!--Weißt du was, Max?  Die
wollen selbst anfangen.  Die laufen uns fort.--Wir, keine Geschäfte
mehr!  Lena, man läuft sich die Füße wund, daß wir spielen!  An der
Haustür fängt man uns ab!  Wir brauchten nur rübergehen zum
"Krokodil"!--Du kennst doch das "Krokodil"!  Eins A, dreihundert
Franken Draufgeld!  Aber wir wollen nicht, weil wir neu einstudieren.
Weißt du: der Braten war bißchen angebrannt.  Das hat diese Alte so
verbiestert, daß sie jetzt überall ausschreit, sie hätte zu hungern
bei uns.  Du kennst doch unsere Kost!  Warst drei Jahre bei uns.
Hast du dich je zu beklagen gehabt?  Ist dir je etwas abgegangen?"

Lena schüttelte den Kopf.  Nein, sie hatte sich nie zu beklagen
gehabt, noch war ihr je etwas abgegangen.

Max hämmerte gewaltsam mit seinem Hausschlüssel am Schiebladenschloß.

"Na, gut' Nacht!" rief Jenny, "ich sollte der Direktor sein!  Ich
würde sie anders zwiebeln!  Hier die Gage, soundsoviel Abzug und den
Schuh an den Hintern!  Treppe hinunter."

"Ja ja, ich hör' schon!" fuhr Flametti jetzt auf.  "Ich hör' schon.
Bin doch nicht schwerhörig!  Dummes Geschwätz!"

Jenny war überrascht.  Fräulein Lena ebenfalls.  Er hatte doch gar
nicht zugehört!  Er hatte doch an dem Schloß laboriert!

Flametti stand auf, sehr rasch, krempelte seine Hemdärmel herunter,
knöpfte das Halsbördchen zu und ging in die Küche, um sich die Hände
zu waschen.  Er kam zurück, nahm Joppe und Hut und ging.

"Da hast du es!" klagte Jenny, "da geht er.  Ach Lena, ich bin ganz
verzweifelt!  So macht er es immer.  Seit er die Geschichte hat mit
dem Türken, ist er wie verdreht.  Kaum den Löffel aus dem Mund--fort
ist er.  Alles mögliche hab' ich versucht.  Er hört mich nicht einmal
an.  Wir gehen zu Grund.  Ich seh's ja.  Was soll ich nur machen?"

"Tja", meinte Lena, "was ist da zu machen?"

Flametti war dieser "Summs" zuwider.

Gewiß, er liebte seine Frau.  Sie war ein wenig furchtsam von Gemüt
und leicht zu übertreibungen geneigt, wie alle furchtsamen und
aufgeregten Gemüter.  Aber sie meinte es gut, war keine böse Natur
und er hätte ihr gerne ein wenig Gehör schenken dürfen.  Doch er
schätzte es nicht, seine innersten Geschäfts--und Familiengeheimnisse
coram publico verhandelt zu sehen.

Gewiß, das Geschäft ging schlecht.  Schlechte Zeiten und keine
Schlager.

Gewiß, ein Ensemble von zehn lebendigen Menschen verlangt, sich
standesgemäß zu nähren, zu kleiden und zu Triumphen geführt zu werden.

Obendrein: eine Konkubinatsstrafe von hundertachtzig Franken war zu
zahlen--der Beamte der Kriminalabteilung hatte zweimal bereits die
Quittung präsentiert--und von der Fischerei konnte man das nicht
bestreiten.  Das wußte Flametti selbst.

Aber Schlager fallen nicht vom Himmel.  Er hatte schon seine Pläne.
Man brauchte ihn nicht zu hetzen und die halbe Nachbarschaft dabei
zuzuziehen.

Gar diese Lena: Ein schönes Stück Malheur!  Die mußte dann gerade
noch kommen!  Grausliches Weib!  Keine galante Erinnerung aus seiner
Direktorenzeit war Flametti unangenehmer als diese.  Ein Vampir.
Nicht von der Spur wich sie, wenn sie einmal Blut geleckt hatte.

Tüchtig war sie, als Pianistin.  Russisch sprach sie auch, von Lodz
her.  Aber ein Mundwerk hatte sie wie ein Schwert.  Eine böse Zunge.
Und das nun verstand Flametti nicht, wie Jenny sich mit ihr einlassen
konnte.

Man soll ihn in Ruhe lassen.  Er wird es schon machen.

Die Hände in beide Hosentaschen gesteckt, so daß der Rockschoß weit
hinten abstand, den breitkrämpigen Filzhut tief in die Stirne gerückt,
froh, seinem häuslichen Glück entronnen zu sein, schickte Flametti
sich an, einen Gang zu unternehmen durch sein Revier.

Dieses Revier nannte sich "Fuchsweide" und war der Konzert--und
Vergnügungsrayon aller lebenslustig-abseitigen Kreise der Stadt.
Treffpunkt der großen Welt, Schlupfwinkel einiger unsicherer Elemente,
zugegeben.  Aber alles in allem ein Monaco und Monte Carlo im
kleinen.

Flametti fühlte sich frei wie ein Fürst.  Aller Hader fiel von ihm ab.
Aller Kleinmut verließ ihn.  Hier kannte er jeden Weg, jeden Steg;
jede Kneipe, jede Latrine.  Hier war der Felsen, hier mußte
gesprungen werden.  Hier fielen die Würfel, hier war man zu Hause.

Vorbei am Alteisengeschäft des Herrn Ruppel und an der "Drachenburg";
vorbei an der Fischhandlung "Teut" mit ihren Riesenaquarien voll
stumpfsinniger Hechte und Karpfen, vorbei an "Hähnleins Kleiderbazar"
und "Lichtlis Frisiersalon"; vorbei am "Olivenbaum" und an der
"Tulpenblüte", schwenkte Flametti in die Hauptverkehrsader der
Fuchsweide, die bucklige Quellenstraße ein.

Er verlangsamte seine Schritte und klimperte, überlegend, mit dem
Geld in der Tasche.  Er schnupperte in der Luft, die nach Kaffee roch,
und zündete sich eine Zigarette an.

Hier war der Korso!  Hier war der Betrieb!  Es weitete sich seine
Brust und er atmete auf.  Kein Gesicht, das er nicht kannte.  Kein
Laden, mit dessen Inhaber er nicht schon Tausch und Geschäfte hatte.

Auf dem "Mönchsplatz" saßen die Katzen und putzten sich in der Sonne.
Es war eine Unmenge Katzen, graue, schwarze und rote.  Aber es war
Platz genug für sie da.  Nachts sangen sie hoch auf den Dächern.

Auf dem "Mönchsplatz" lärmten die Kinder.  Sie putzten einander die
Nasen, banden einander die Hosen zu, säuberten sich die Köpfe.  Aber
um jeden Kopf legte die Sonne eine kleine Gloriole.

über den "Mönchsplatz" sprang Fräulein Frieda, die Kellnerin, daß die
Röcke flogen.

"Servus Flametti!" rief sie.  Es war eine Lust zu leben.

Die Niedermeyers hatten Umzug heute.  Auf ein Rollwägelchen hatten
sie ihre Sachen gepackt; auch den Kanarienvogel.  Der Mann schob.
Die Frau half drücken.  Die Kinder halfen auch drücken und der kleine
Peter hob die Sachen auf, die vom Wagen herunterfielen.

"Wo wohnt ihr jetzt?" rief Flametti.

Und Herr Niedermeyer rief: "Kuttelgasse 33, V.!"

"Angenehmer Flohbiß!" rief Flametti zurück.  Er war ein großer Mann
und konnte sich's leisten.

Die Hände in den Hosentaschen, breitspurig und schwer, den Schritt
wuchtig aufs Pflaster gesetzt, ging er hinüber zur Postfiliale.

"Eine Fünferkarte!"

Der Beamte händigte ihm die Karte aus und Flametti schrieb an Herrn
Fritz Schnepfe, Varietélokal, Basel:

"Werter Freund!

Teile mir, bitte, umgehendst mit, ob du geneigt bist, Flamettis
Varietéensemble zu engagieren für die Zeit vom 1. bis 31. Dezember
laufenden Jahres, sowie die Bedingungen.  Wir haben lauter neue
Nummern, erstklassige Attraktionen, und es dürfte nur in deinem
Interesse sein, dir mein Ensemble für die allfällige Zeit zu sichern.

Hochachtungsvoll Dein Flametti."

Kehrte dann zurück in die Quellenstraße und lenkte, am Luftgäßlein
vorbei, vorbei an dem kleinen, aber seiner Weine wegen berühmten
Gasthaus zu den "Drei Sternen", vorbei am Mordloch mit den
Gastwirtschaften "Hopfenzwilling" und "Jerichobinde", vorbei an der
Stutenreite, in die Obere Träufe.

Es war ein Gang voller angestrengter Gedankenarbeit.  Im Gehen
pflegte Flametti zu denken.  Bei scheinbarem Schlendern fand er die
besten Entschlüsse.

Zwei Herren kamen die Straße herunter, geradenwegs auf ihn zu.
Verflucht nochmal!

Der eine elegant, schwarzer Schnurrbart aufgekräuselt, glattes,
feistes Gesicht und glänzende Drehaugen.  Der andere hager, fanatisch,
nervös: "Peter und Paul".  Ein Schäferhund, leichte Patten, tief
wehender Hängeschwanz, folgte ihnen wippend auf dem Fuß.

Flametti steckte die Hände noch tiefer in seine Taschen, festigte
seinen Gang um ein Erhebliches und grüßte forciert: "Salü!"

Die beiden nahmen ihn scharf aufs Korn, musterten unauffällig mit
einem kurzen Blick seinen Anzug und gingen vorüber.

Herr Abraham Cohn stand unter der Tür seines Magazins "Zum
Chnusperhüsli".  Er deutete mit dem Kopf nach den beiden sacht
gehenden Beamten.

Flametti benutzte die Gelegenheit, stehenzubleiben und meinte: "Die
Apostel gehen um!"

"Was wolln se?" meinte Herr Cohn, "mer muß se hamm.  Wär mer sonst
sicher?"

Flametti trat ein und kaufte eine Tüte Leckerli.

Er ging weiter und kehrte ein im Gasthaus "Zum Vogel Strauß" wo die
ausgestopfte Gebirgsgemse und der balzende Auerhahn standen, rechts
und links vom Entrée.

Der Auerhahn trug die Fischkarte mit beigedruckten Preisen um den
Hals gehängt.  Die Gebirgsgemse fletschte die Zähne, ganz
unnötigerweise, und sah todesmutig gen Himmel, ein Symbol ihrer
Heimat.  Auf dem Sockel aus Felsen und Moos lagen zerstreut die Haare,
die sie gelassen hatte im Kampf mit der Scheuerbürste des
Hausknechts.

Flametti trat ein und überflog mit einem Adlerblick die drei Gäste,
die hier versammelt waren.

Verflucht nochmal!  In der Ecke saß Kranemann!  Kranemann, das
Moskitogesicht; Kranemann, die geschniegelte Niedertracht und
Korrektheit; Kranemann, Flamettis erbittertster Feind.  Das war nicht
vorauszusehen.

Einen Moment überlegte Flametti.  Sollte er umkehren?  Soller tun,
als habe er sich im Lokal geirrt?  Sollte er an den Hut fassen und
grüßen: "Salü!  Komme später"?

Da stand aber Kranemann schon auf, kam auf ihn zu, wie von ungefähr,
und sagte: "Ah, Flametti!--was ist mit der Quittung?  Wann wird sie
eingelöst?  Höchster Termin!"

"Hoi, hoi, hoi!" bockte der und trat einen Schritt zurück.  "Nur
langsam!  Laß erst mal absitzen, damischer Kerl!"  Und beschloß jetzt
zu bleiben.

"Nix da!" rief Kranemann und faßte ihn leicht beim Kragen, "heut ist
der letzte Termin!  Zahlen!" und warf ein Zwanzig-Centimes-Stück auf
den Tisch.

Und wieder zu Flametti: "Den "damischen Kerl" werden wir uns merken.
Wir sprechen uns noch!"  Schob seine Röllchen zurück und verschwand.

"Was hat's denn?" fragte der Wirt neugierig, drückte den schwarzen
Kneifer fester auf die Nase und kam näher.  Auch die Gäste am
Kartentisch waren aufmerksam geworden.

"Na", sagte Flametti, "was hat's?  Du kennst doch das damische Luder!"

Der Wirt schien das "damische Luder" durchaus nicht zu kennen.

"Ne Halbe?" rief die Kellnerin.  Und Flametti nahm Platz.

"Du mußt nämlich wissen", vertraute er dem Wirt, "ich hab' doch die
Konkubinatsstrafe, weil wir nicht verheiratet waren.  Nun hab' ich
doch inzwischen geheiratet und prozessiert.  Und da haben sie
abgelehnt.  Nun macht's mit den Prozeßkosten zusammen seine
hundertachtzig Stein.  Und die wollen sie haben von mir.  Und dieser
Kerl war doch früher Latrinenbesitzer.  Dann ist er zur Polizei
übergegangen.  Das ist dieser Kranemann.  Und das dumme Luder meint
nun, er kann mich schikanieren.--Siehst du, er tut mir ja leid.  Aber
es ist doch zu fad: wo man hinspuckt, stolpern einem diese traurigen
Kreaturen über die Füsse!"

"Ah, so so so so!" verstand jetzt der Wirt, "das ist der Kranemann.
Ja, so zahl' doch die paar Stein!  Dann hast du doch Ruhe!  Man immer
berappen!"

"Siehst du", kippte Flametti sein Bier, "jetzt erst recht nicht!
Jetzt sollen sie sich mal die Beine in den Leib laufen!"

"Tja", meinte der Wirt bedenklich, "die verstehen keinen Spaß.  Da
ist's schon das Gescheitste, man gibt nach."  Er lächelte schablonig
und strich sich die Hände.

"Maidche, komm her!" rief Flametti der Kellnerin und zog die Tüte mit
den Leckerli aus der Rocktasche.  "Das ist für dich!"  Und Maidche
nahm beschämt die Leckerli in Empfang.

"Ein Don Juan, dieser Flametti!" versicherte der Wirt seinen
schmunzelnd weitertrumpfenden Gästen.

"War der Mechmed da?" fragte Flametti die Kellnerin.

"Nein, bis jetzt nicht."

Flametti sah nach der Uhr, geschäftsmäßig, ohne indessen verabredet
zu sein.  Nach der dritten Halben, als er eben gehen wollte, öffnete
sich die Tür und herein trat Mechmed.

Ali Mechmed Bei hieß der Türke.  Er wohnte im Parkhotel und kam aus
Aleppo.  Und darin hatte Jenny wohl recht, daß Flametti ein wenig
verdreht war im Kopf, seit er den Türken kannte.

Ali Mechmed Bei: schon der Name faszinierte Flametti.  Eunuchen,
Sklaven und Harem wirbelten vor seinen aufleuchtenden Augen, wenn er
in heimlichen Stunden den Namen vor sich hinsprach.

Ali Mechmed Bei: enorme Gelder mußte er haben.  Man wußte nicht recht,
was er eigentlich trieb.  Aber er kam häufig in den "Vogel Strauß",
und dort hatte Flametti seine Bekanntschaft gemacht.

Ein großes Tier mußte er sein unter seinesgleichen.  Denn er hatte
noble Allüren an sich.  Dämonisch zog er die dichten, weißen
Augenbrauen hoch, wenn man ihn ansprach, und pflegte mit den Fingern
zu trommeln auf der Tischdecke.  "Tja, mein lieber Freund!" sagte er
dann, nickte mit dem Kopfe in einer weltmännisch-gewitzigten Weise
und sah nach der Decke, wo er jede Fliege, jeden Schnörkel der
Tüncherarbeit eingehend verfolgte.

Tiefe kaffeebraune Tränensäcke hingen ihm unter den Augen, und diese
Augen selbst blickten in abgründiger Melancholie.

Horrende Trinkgelder gab er, besaß einen Geldbeutel aus Affenhaut und
roch, seiner orientalischen Herkunft gemäß, nach Zwiebel, Henna und
Kokosnuß.

Dieser Türke Mechmed trat jetzt ins Lokal, und Flametti verfolgte
jede seiner Bewegungen mit glühender, heißhungriger Sympathie.

Paletot und Regenschirm hing Herr Mechmed an den Kleiderhaken, und es
kann zugestanden werden, daß die kleine, untersetzte Gestalt, die
jetzt, zerfallen und morbid, aber freundlich lächelnd auf Flametti
zukam, den mysteriösen Gestus jener Leute hatte, die im Traum
wiederkehren.  Jener Leute, die sehr wohl die Macht besitzen, ein
Varietéunternehmen zugrunde zu richten, dessen Direktor nicht
Zurückhaltung zu wahren weiß.

Dieser Türke Mechmed nämlich, dessen Smoking ölig glänzte, dessen
äußeres fadenscheinig war, besaß ein Opiumlager, hier am Platz, auch
Kokain und Haschisch, im beiläufigen Werte von vierzigtausend Franken,
nur prima reine, unverfälschte Ware, erste Qualität, das er--je nun!
--geschmuggelt hatte, und das er--verstehen Sie!--ohne Profit, nur
weil es ihn behinderte, bereit war, bei konvenierender Gelegenheit
abzustoßen.

Und da Flametti sozusagen Fachmann war--er rauchte Opium in der
Zigarette, nahm es wohl auch im Bier--, den Rummel verstand, ein Kerl
war, so sollte er, bei Gelegenheit, mal sehen, was sich tun ließ.
Man hat Bekannte, einen Arzt, einen Advokaten, einen Geschäftsfreund.
Ist ja 'ne Bagatelle, vierzig Mille, liegt ja auf der Straße, ist ja
gefunden, ist ja ein Dusel.  So sollte er also mal sehen, ob man
nicht, unter der Hand, vielleicht einen Interessenten fände.

Und Flametti hatte sich auch umgesehen, seit acht Tagen--Geschäft ist
Geschäft!  Spitzbuben gibt es hier wie dort!--und einen Interessenten
gefunden.  Aber jetzt wollte er auch wissen, wofür.

"Siehst du, Mechmed", begann Flametti, als Mechmed Platz genommen,
die Nase geschneuzt und sich ein Helles hatte kommen lassen, das er
mit den Händen wärmte, "ist ja alles schön und gut.  Wir kennen uns
jetzt seit vierzehn Tagen.  Wir haben Brüderschaft getrunken.  Aber
wir müssen doch jetzt einmal weiterkommen.  Dein Paß ist
abgelaufen--wann?"

"Zweiundzwanzigsten."

"Zweiundzwanzigsten.  Bis dahin mußt du das Quantum los sein."

Mechmed nickte, allem Anschein nach ganz vertrottelt und schläfrig.

Flametti rückte seinen Stuhl näher ran und zündete sich eine neue
Zigarette an.

"Hör' mal zu: ich bin doch kein dummes Luder, versteht sich."

Mechmed nickte.

"Du brauchst also innerhalb vierzehn Tagen einen Käufer.--Zwanzig
Prozent!"

Mechmed nahm die Zigarette aus dem Mund, hielt sie zwischen
Zeige--und Mittelfinger weit von sich weg, blies langsam den Rauch
aus und überlegte einen Moment.

"Zwanzig Prozent Provision?" sagte er dann und wiegte den Kopf, "gut!
Abgemacht!  Was heißt?" und war sehr verwundert, wie man an seiner
Courtoisie zweifeln konnte.

"Langsam!" sagte Flametti.  "Ich hab' den Käufer.  Drei Tage
Bedenkzeit.  Vierzig Mille bar auf den Tisch des Hauses."

Mechmed wurde plötzlich sehr lebendig.  Mit einem Ruck fuhr er auf
seinem Stuhle herum.  Sein Ellbogen auf der Stuhllehne stach spitz
gegen die Kellnerin, die mit einem geschickten Seitwärtsschwenken der
Hüften den Tisch passierte.

"Aber", sagte Flametti und kreuzte die Arme vor sich auf dem Tisch,
"ich muß nochmal Proben haben und zwei Mille Vorschuß."  Wenn man
acht Mille Provision zu erwarten hatte, konnte man wohl zwei Mille
Vorschuß verlangen.

"Nix Proben!" lehnte Mechmed schwerfällig ab, die Hand am Ohr, um
besser folgen zu können.

Flametti lächelte.

"Sei mal vernünftig, Mechmed", begann er von vorne, "mein Geschäft
leidet.  Seit acht Tagen bin ich nun unterwegs, dir einen Käufer zu
suchen.  Rechne die Spesen!  Man trifft sich im Café, zahlt die Zeche
standesgemäß.  Verabredungen da und dort, hin und her.  Du weißt
selbst, wie das ist--"

"Wie heißt der Käufer?" fragte Mechmed, ohne den Kopf zu drehen.

Flametti wich aus.  "Wie heißt er?  Tut nichts zur Sache.  Prima
prima.  Kassa.  Zahnarzt."  Es handelte sich also um den Zahnarzt,
der Jennys Goldkronen geliefert hatte, einen Herrn von
unzweifelhafter Solvenz, gewiß, der aber bis dato weder von des Herrn
Mechmed Opiumlager, noch von Flamettis Hoffnung und Agentur die
leiseste Ahnung hatte.

"Tja, mein lieber Freund!" trommelte Mechmed auf der Tischkante und
sah zur Decke, "wird sich nicht machen lassen.  Sieh mal her!" und er
entnahm seinem Portefeuille einen ganzen Pack fremdartig kuvertierter
Briefe, mit denen er eine Hausse aller orientalischen Narkotika und
die gierige Nachfrage nach diesen Artikeln spielend belegte.

"Was heißt das?" stutzte Flametti, ein wenig rauh.

"Das heißt--:"--der Türke gähnte, schüttelte den Kopf und bestellte
einen Zwiebelsalat--"läßt sich nicht machen.  Unter fünfzig Mille
ausgeschlossen.  Offerten: Papierkörbe voll."  Und er zog die Briefe
aus den Kuverts.

Flametti sah den Türken in blaue Fernen entschwinden.  Perdu.  Futsch.
Aus.  Ihm schwindelte.  Aber er versuchte, der Situation gewachsen
zu sein.

"Mechmed", sagte er, räsonnabel genug, "du bist kein Filz und ich bin
kein Ganeff.  Ich weiß: es kommt dir nicht darauf an, wenn du siehst,
daß was läuft.  Gut: ich verzichte auf die Proben.  Macht fünfzig
Franken.  Weg damit!  Aber die zwei Mille Vorschuß--man muß sich
bewegen, auftreten können.  Nimm doch Vernunft an!  Das ist ja nicht
so!  Wir sind doch gut Freund!  Du verstehst schon!"

Mechmed verstand.  Er nickte.  Aber dann schüttelte er ablehnend den
Kopf--er schluckte dabei den Zwiebelsalat--: "Nicht zu machen.
Gefährliche Sache."  Und musterte jenen mit einem profunden Blick.
"Varieté", meinte er, "Weiber, Feuer, Indianer: ja.  Ja, ja.  Aber
Opium--."  Er schüttelte.

"Mein lieber Freund", sagte er väterlich, "schwierige Sache.
Diffizile Sache.  Nicht zu machen."  Und dabei verblieb er.  Den
Daumen hatte er in den Hosenbund eingehängt.  Den linken Arm ließ er
über die Stuhllehne herunterbaumeln.  Er schien darüber nachzudenken,
wen er zum Nachfolger ernennen könnte.

"So?" rief Flametti erbost, "das sagst du mir heut?  Nach acht Tagen?
Das hätt'st du mir wohl auch acht Tage früher sagen können."

"Nix Proben!" schüttelte Mechmed versunken den Kopf und suchte den
Zahnstocher in seiner Westentasche.

"Ah, ich pfeif' dir auf deine Proben!  Hier und hier und hier, wenn
du sie wieder haben willst."  Aus der inneren Rocktasche brachte
Flametti dreimal je eine kleine Papiertüte, Haschisch-, Opium--und
Kokainprobe zum Vorschein, die er heftig in einer Reihe nebeneinander
auf den Tisch schlug und dem Mechmed zuschob.

Aber Mechmed hatte die überlegene Geste des père noble.  "Merci, mon
cher ami, c'est pour bonhomie!" und schob Flametti, ohne einen Blick
darauf zu werfen, die Pulvertüten wieder zu.  "Zahlen!" rief er und
schlug den Geldbeutel aus Affenhaut, den er an einer Ecke gefaßt
hielt, grandenhaft auf den Tisch.

Flametti raffte die Proben zusammen, steckte sie ein und sprang auf.

"Wieso Merci?  Wieso Proben?  Weißt du, Mechmed, das ist--das ist--"
Seine Augen funkelten.  Er schien zu Tätlichkeiten geneigt.  "Also
weißt du--"

Aber Mechmed hatte sich, etwas schwach auf den Waden, schon zum
Kleiderhaken begeben, nahm Paletot, Hut und Regenschirm herunter;
sagte, mit einer einzigen, großen, zauberhaften Handbewegung über den
Tisch und Flametti wegsegnend zur Kellnerin: "Deux francs, l'addition.
Bonjour die Herrn!" und wandte sich wackelnd zum Ausgang.

Flametti stand gebannt und entwaffnet.  Und da er die Blicke der
Gäste auf sich gerichtet sah, ließ er seinen ärger in ein
entschuldigendes Lächeln übergehen, setzte sich wieder hin und drehte
an seinen Ringen.

Zu dumm, diese ganze Affäre!  Was würde Jenny dazu sagen?  Was war
nun das Resultat von vierzehn Tagen?  Drei Tüten Niespulver.

Er mußte lächeln, wenn er an den alten Knacker dachte, der es
verstanden hatte, ihn hinzuhalten.  Aber es war ein Lächeln, das
saurer wurde, je länger es währte.

Eigentlich hatte er gehofft, der Türke würde ihm aus der Klemme
helfen.  Und mehr:

Beim brasilianischen Konsulat hatte er vorgesprochen zwecks
Auskünften.  Auszuwandern gedachte er, wenn die acht Mille vom Türken
erst flüssig würden.

Sich in der Schweiz mit den Lölis placken?  Man ist doch kein Narr.
Die brasilianische Regierung stellt Land zur Verfügung, soviel man
haben will.  Baut einen Rancho.  Zwanzig Jahre Kredit.  Jenny wird
Kaffee pflanzen.  Max Sumpfhühner schießen.  Ein Pferd kostet dreißig
Franken.  Eine Kuh zwanzig.  Ein Kalb zehn.  Und man atmet in freier
Luft; Brust an Brust mit den Botokuden.

"Das machen Sie gut!" unterbrach sich Flametti mit einer Floskel aus
seinem Varietéjargon, "freie Luft!"

Ihm fiel die Konkubinatsstrafe ein.  Was wird nun damit geschehen?
Nachdem der Türke versagt hat?  Kranemann wird keinen Pardon mehr
geben.  In die Wohnung wird er kommen mit dem Arrestbefehl.  Mit dem
Loch wird er drohen.

Er, Kranemann, ihn, Flametti arretieren!  Flametti lachte.  Zur
Treppe wird er ihn spedieren, den Herrn Kranemann.  Vors Fenster wird
er ihn hängen, wie er die Möbel seiner ersten Frau, dieser Xanthippe,
vors Fenster gehängt hat: den Nachtstuhl, den Schrank, die Kommode,
alles hinaus vors Fenster, an langen Stricken.  Da hol' dir's!

Das war ein Auflauf auf der Straße.  Mit Fingern zeigten sie auf die
Hausfront.

Nun, man soll erst mal sehen, wenn die Detektivs draußen hängen!
Jeder am Rockkragen säuberlich zum Lüften aufgehängt.  Ist's ein
Wunder?  Geld hat man keins.  Fürs Loch hat man keine Zeit.  Und doch
wird man aufs Blut kuranzt...

Wenn man's bei Licht besieht: die sind doch die eigentlichen Apachen.
Mit diesem Beruf!  Warum betreiben sie ihn?  Aus Rechtlichkeit?
Ganz gewiß nicht.  Aus Ordnungsliebe?  Keine Spur.  Raufbrüder sind
es, verkappte.  Herausfordernde Protzen.  Leisetreter.  Drohnen der
Gesellschaft.

Auch diese Schäferhunde: das sind schon die rechten!  So ein Vieh,
ansehen muß man's: entartete Bestien.  Wirf ihnen einen Brocken hin:
sie schnuppern nicht einmal dran.  Hochverräter an ihrer ganzen Rasse.
Leisetreter wie ihre Herrn.

In seinem, Flamettis Fall: wowohl, er hatte in Konkubinat gelebt.
Die Scheidung von seiner ersten Frau war noch nicht durchgeführt.
Wer beklagte sich drüber?  Niemand.  Macht hundertfünfzig Franken
Buße.  Inklusive Prozeßkosten: hundertachtzig Franken.  Sah man von
diesem Geld je etwas wieder?  Wurde dafür die Fuchsweide verschönert?
Ein neuer Bahnhof gebaut?  Flametti reiste wenig.  Ihn interessierte
es nicht.  Aber die hundertachtzig Franken, die interessierten ihn.

"Zahlen!" rief er laut und patzig.

Als er auf die Straße trat, fielen ihm Jenny und das Geschäft wieder
ein.

Hinüber lenkte er zur Filiale des "Tagblatt" und gab eine Annonce auf:
"Lehrmädchen gesucht.  Kostenlose Aufnahme und Ausbildung.
Flamettis Varieté-Ensemble."

Kostete drei Franken achtzig.  Er nahm die Quittung und seinen
Ausweis in Empfang und kehrte um.  Seine Stimmung, so sehr er auch
grübelte, klärte sich auf.

Auf dem Brunnplatz hielt ein kleines Gerümpelauto.  Ein Mechaniker in
blauem Arbeitsanzug flickte am Reifen.  Eine Anzahl Kinder um ihn
herum.  Die Verwegensten drückten verstohlen auf die Gummiblase der
Hupe, was einige grunzende, mißfarbige Laute zur Folge hatte.

Flametti stoppte und sah sich den Karren an.

"Panne?" fragte er den Chauffeur.

"Panne", erwiderte dieser, eifrig beschäftigt.

Der Schaden war rasch repariert.  Die Kinder des Autobesitzers
stiegen auf.  Der Chauffeur ebenfalls.  Einige grunzende Laute der
Hupe und der Kraftwagen setzte sich unter dem lauten Johlen der
schmutzigen Kinderschar, die sich aus allen Löchern und Winkeln
eingefunden hatte, in Bewegung.  Die Kinder des Besitzers spuckten
dabei von ihrem Sitz aus in weitem Bogen und mit aller Anstrengung
auf die Proletarierkinder, die sich hinten angehängt hatten und mit
geknickten Beinen, trompetend, nachschleppen ließen.  Ein Auto in der
Fuchsweide, so früh am Abend, war ein Ereignis.

Die Quellenstraße wieder hinunter schritt Flametti, vorbei an Ismaëls
"Holländerstübli", vorbei an "Muselmanns Zigarettengeschäft", wo im
Schaufenster der Philipp saß, den roten Fes auf dem Kopf, Zigaretten
fabrizierend; vorbei am "Schlankeren Jacob" und an den
Geschäftslokalitäten der Heilsarmee, hinein ins "Krokodil".

"Salü!" grüßte er, setzte sich, kramte in seinen Taschen und brachte
zum Vorschein: ein altes Trambahnbillett und den in der Frühe
gekauften hellblauen Tschibuk.

"Ist der Beizer da?"  Beizer nannte man in der Fuchsweide den Wirt.

"Jawohl, kommt gleich!" sagte die Kellnerin.  Die hieß Anna.

"Gut!" sagte Flametti und nahm einen kräftigen Schluck aus der
frischen Halben.

Der delikatere Teil seiner Aufgabe stand ihm bevor.

So leicht, wie Jenny sich vorstellte, war es nicht, im "Krokodil"
engagiert zu werden.  Herr Schnabel, der Krokodilwirt, kannte die
Vorzüge seines Lokals zu gut, als daß er für jeden Schnorrer wäre zu
haben gewesen.  "Centrale Lage" stand auf den Empfehlungskarten
seines Hotels.  Und dem Krokodil, das über dem Eingang prangte, sagte
man nach, daß es vorzeiten wirklich am Nil sein Unwesen getrieben,
allwo es, etliche Heiden und Christen im Magen, dem Büchsenschuß
eines Verwandten des Herrn Schnabel erlegen war, um gegerbt und
entkröst als Emblem dem Ruf des Herrn Schnabel zu mehrerem Glanz zu
verhelfen.

Nein, es war gar nicht leicht, im "Krokodil" anzukommen.  Denn es war
eine Ehre.

Wer bei Herrn Schnabel spielte, war ein gemachter Mann.  Wen Herr
Schnabel auftreten ließ, war ein Ehrenmann.  Ein von Herrn Schnabel
vollzogener Kontrakt war ein Ausweis und Leumundszeugnis.  Herr
Schnabel, mit Annahme und Ablehnung, teilte Zensuren aus.

Aber Flametti würde es schaffen.  Er hatte sich's vorgenommen.  Und
hier ist es am Platz, zu sagen, daß Flametti keineswegs unvorbereitet
um eine Konferenz mit Herrn Schnabel nachsuchte.  Er hatte die
spielfreien Abende benützt: er hatte sich umgesehen.  Mit Jenny im
"Germania-Cabaret": Stanislaus Rotter, Schnelldichter und
Conférencier--man hatte ihn seine Schmonzes vortragen hören; seinen
redegewandten Improvisationen nicht ohne Gewinn gelauscht.  Er war es,
von dem Flametti das Heil erwartete.

Angenommen, der Rotter, alter Bekannter von Max, Stadtgröße, würde
sich, nur für ein einziges Mal, bestimmen lassen, Flametti ein
Ensemble zu schreiben, ein unerhörtes, ein buntes, nie dagewesenes
Gesangstableau: es würde die Kassen füllen, die Konkurrenz
totschlagen, und wäre ein voller Ersatz für den Türken.

Freilich: hingehen mußte man, zu ihm, in seine Wohnung; ihn bitten,
devotest, um soviel Güte.  Aber wer weiß: vielleicht würde er's tun.
Ein gutes Ensemble von ihm, exotisch, wild, mit der Streitaxt,
brutal--und alles wäre in Ordnung.  Herr Schnabel würde nicht Nein
sagen können: schon wegen der Konkurrenz.  Die Konkubinatsstrafe
könnte beglichen werden.  Die Schwierigkeit wäre behoben.

Flametti hatte, wie gesagt, den Tschibuk aus der Tasche genommen, und
was war natürlicher, als daß er dabei an Ersatz für den Türken dachte?

"Lauf, hol' mir ein Paket Goldshag!" sagte er zur Kellnerin, die
neugierig den Tschibuk bewunderte, und gab ihr Geld.  Steckte das
Rohr des Tschibuks in den Mund, blies hindurch, probierte den Zug und
besah die Arbeit.  Es war die erste stille Minute seit früh um halb
sechs.

"Ah, Flametti!" trat der Herr Wirt freundlich näher, "wie geht's, wie
steht's?  Pfeife rauchen?"

"Mein neuer Tschibuk", renommierte Flametti, "fürs "Harem"."

"Neue Ausstattung?" meinte Herr Schnabel.  Und mit Bezug auf den
Tschibuk: "Schönes Stück.--Echtes Stück?"

"Jawohl", bestätigte Flametti prompt und zuvorkommend.  "Tschibuk aus
Aleppo.  Echte Arbeit."

"Ah, von dem Mechmed", riet Herr Schnabel aufs Geratewohl.  Flamettis
Beziehungen zum Türken waren ihm nicht unbekannt.

"Nix Mechmed!" beeilte Flametti sich, mit gesundeter Selbstironie
hausbacken zurückzuweisen.  "Orientbazar.  Sieben Franken fünfzig."

"Ist auch besser so", meinte Herr Schnabel leichthin und nur halb bei
der Sache.  Er drehte die Hand in der Hosentasche, verfolgte mit
wachsamen Augen den Hausknecht, der zapfte; die Kellnerinnen, die
sich anschickten, den Saal fürs Konzert herzurichten, und entschwand
zum Büfett.  Er hatte offenbar viel zu tun.

Flametti war in Verlegenheit.  Was sollte er tun?

Die Kellnerin brachte den Goldshag und Flametti stopfte die Pfeife.
Ein glücklicher Umstand kam ihm zu statten: Frau Schnabel erschien im
Lokal, freundlich lächelnd nach allen Seiten, eine aufgehende Sonne.

"Sie, Herr Schnabel!" rief Flametti vertraulich, winkte mit dem Kopfe
und griff in die Brusttasche: "Was sagen Sie dazu?  Kennen Sie den?"
Und lächelte Madame Schnabel ein "Guten Abend" zu.

Herr Schnabel, abgelöst am Büfett, trat wieder näher.  Aus Flamettis
Hand, zeremoniös umschlossen, stieg eine Photographie in
Postkartenformat, darstellend einen Herrn in den mittleren Jahren,
mit englisch gestutztem Schnurrbart, Schillerkragen und
Künstlerkrawatte.

"Das ist doch der--Rotter?" riet der Wirt.  "Jerum, der Rotter!" rief
er erstaunt seiner Frau zu und beugte sich näher, um über Flamettis
Schulter hinweg die Photographie zu betrachten.  Auch Frau Schnabel
trat näher.

"Ja, der Rotter", bestätigte Flametti und stand auf, um die
Photographie auch Madame zugänglich zu machen.  "Wissen Sie, wo der
jetzt auftritt?"  Er war ein wenig verwirrt, eine Supplikantenrolle
zu spielen, wurde verlegen und lächelte.  "Als Schnelldichter im
Germania-Cabaret."

"So so!" meinte Frau Schnabel skeptisch und dünn, als habe sie den
Pips an der Zunge.  Sie neigte den Kopf zur Schulter, drehte die Hand
in der Schürzentasche und sah mit hochgezogenen Augenbrauen hinunter
auf ihren Spangenschuh.

"Conférencier und Improvisator-Berühmtheit!" versicherte Flametti.
"Fünfhundert Franken Gage.  Karrieremacher.  Feiner Kerl!"

"Waren ja Freunde, ich und der Rotter", wandte er sich an Madame.
"Je Gott!  Dort drüben"--er zeigte nach einer Nische--"nebeneinander
sind wir gesessen und haben Asti gezecht!"

Und wieder zu Herrn Schnabel: "Erinnern Sie sich?  Und im
"Bratwurstglöckli" z'Basel: Sie kennen doch den Rotter, was der für
'nen Appetit hat!--Als der Kaiser nach Bern kam: wer hat das
Begrüßungsgedicht verfaßt?  Erinnern Sie sich?"

Herr Schnabel hatte die Hand in Zangenform an die Stirne gelegt.
"Richtig!" fuhr er in großem Bogen von der Stirn weg in die Luft.

"Macht ja Karriere!" rühmte Flametti und schob klotzig den
Unterkiefer vor, um die brutal verdrängende Energie des Herrn Rotter
respektvoll zu charakterisieren.  "Verdient ja ein Heidengeld!
Stadtgespräch!"

"Na und jetzt?" interessierte sich Herr Schnabel.

"Unnahbar.  Nichts zu machen.  Keiner kommt an ihn ran.  Wie
abgeschnitten."

Und wieder mit unwiderstehlicher Großartigkeit zu Madame Schnabel:
"Ein Talent!  Der Kerl schüttelt die Verse nur so aus dem ärmel.
Stundenlang.  Phänomenal."

"So so!" lächelte Frau Schnabel wie oben, mit einem so liebenswürdig
knappen Mißtrauen, daß es Flametti die Glieder lähmte.

"Elegant!" schwang Herr Schnabel sich auf und versuchte, mit einem
ermunternden Blick auch seine zurückhaltende Ehehälfte zu gewinnen.

"Tipp topp!" überbot Flametti.  "Man muß ihn abends sehen, bei
Beleuchtung.  Im Frack.  "Elegant"!  Das ist das Wort zu viel!" und
etwas wie Ironie und leise Verachtung mischte sich in Flamettis
unendlich überlegenes Interesse.  Er war sich bewußt, seinen letzten
Trumpf auszuspielen.  Jetzt oder nie.

"Siehst du, Flametti", sagte Herr Schnabel unvermittelt und setzte
sich an den Tisch, "so etwas müßtest du engagieren!  Mich geht's ja
nichts an: aber laß doch den Kram mit dem Türken und such' dir 'nen
Schlager!"

Flametti klopfte gerade den Tschibuk aus.  Er bekam Oberwasser.  Das
alte, vertrauliche "Du" des Herrn Schnabel ehrte ihn.  Er steckte die
Photographie ein.  "Jawohl!  Und wieviel Draufgeld zahlst du mir?"

"Was Draufgeld!  Je nachdem!  Zweihundert Franken, dreihundert
Franken.  Haben schon vierhundert gezahlt im Monat."

""Je nachdem"!" lächelte Flametti gerissen und nahm sein Bierglas
zwischen die Hände.  "Ist ja Stuß.  Aber ich will dir was sagen: Was
zahlst du, wenn er mir ein Ensemble schreibt?"

"Was zahl' ich?" gigampfete Herr Schnabel.  "Kommt drauf an!"  Und er
stieg mit der Stimme.  Er stand auf, drehte sich auf dem Absatz und
strich sich den Schnauzbart.

Frau Schnabel kannte das Gehaben ihres Gatten.  Sie wußte: jetzt
kam's zum Geschäft.  Sie zeigte ein Lächeln, das schon im voraus ihre
Zustimmung zu allen etwaigen Maßnahmen des Gatten zum Ausdruck
brachte.  Ein Lächeln, das, drüber hinaus, Ermutigung zu bedeuten
schien für den glücklichen Kontrahenten, dem es gelungen war, das
Interesse ihres Gemahls, des Herrn Schnabel vom "Krokodil" zu erregen.

"Minimum!" rief Flametti, der nun einmal den Schnabel gefaßt hielt
und nicht gewillt war, ihn wieder loszulassen.

"Kommt darauf an, was ihr bringt!" schaukelte Herr Schnabel sich von
den Absätzen auf die Zehenspitzen und von den Zehenspitzen wieder auf
die Absätze.

Flametti zählte an den Fingern seine Mitglieder her: "Zehn Personen.
Drei Lehrmädel."

"Gut", sagte Schnabel, "wenn du was bringst von dem Rotter, und alles
anständig, dezent--: dreihundert Franken und am fünfzehnten könnt ihr
kommen."

"Abgemacht!" schwitzte Flametti und streckte Herrn Schnabel die Hand
zu über den Tisch.  "Anna, 'ne Halbe!"

Jenny lag schon zu Bett, als Flametti von diesem an Aufregungen
reichen Tage nach Hause kam.

"Na, Max, was ist?  Was hast du erreicht?"  Sie war sehr besorgt.

"Engagement im "Krokodil".  Fünfzehnten fangen wir an."

Jenny setzte sich im Bett auf und strich sich das Haar aus der Stirn.
"Aber was spielen wir denn?"

"Morgen geh' ich zum Rotter."



III



Seltsame Dinge begaben sich im Hause Flamettis.  Ein Brief kam an von
Mechmed.  Darin stand:

"Mein lieber Freund!

Ein schamloser Verdacht!  Ich sitze hier in den Händen der Polizei
und kann nicht heraus.  Mein ganzer Besitz, einige Kilo Haschisch,
konfisziert.  Was wollen sie von mir?  Ich habe keine Schuld an dem
Anlaß.  Hilf, Bruderherz!  Im Namen der Freundschaft.  Mechmed sitzt
in den Händen der Polizei.  Die Hände der Polizei geben schlechtes
Essen und kein Luft.  Und die Seele schreit mit dem Dichter:


Eilende Wolken, Segler der Lüfte, Wer mit euch wanderte, wer mit euch
schiffte!


Dein Freund Mechmed."

Und da der Brief keinen Stempel der Bezirksanwaltschaft trug, wußte
Flametti, daß Mechmed seinem Handwerk treu geblieben war, würgte ein
schadenfrohes Gelächter und beeilte sich, seine Probetüten zu Mutter
Dudlinger beiseite zu schaffen.

Und ein zweiter Brief kam an; für Frau Häsli; den sie vorlas mittags
bei Tisch.  Darin stand:

"Mein heißgeliebtes Herz!"

"Hört ihr?" rief sie, ""heißgeliebtes Herz" schreibt der Narr!"

"Mein heißgeliebtes Herz!

Sie haben mich genommen,..."

"Bein Militär", erklärte sie.

"... und es geht mir hier sehr gut.  Ich habe acht Tage Dienst zu
machen.  Dann werde ich beurlaubt.  Nichts ist's mit dem Jodeln.  Ich
blase die Trompete, trotz meiner Zahnlücke..."

"Er blost, er blost", schrie Frau Häsli und versuchte, den durch die
Zahnlücke blasenden Gatten mit schief gezogener Schnauze zu
vergegenwärtigen.

"Ich blase die Trompete und der Hauptmann ist sehr zufrieden mit mir.
Strenger Dienst, und ich denke Dein in Liebe.  Bleibt mir treu..."

"Toni, bleib' ihm treu!" schwadronierte die Alte.

"Bleibt mir treu und ehret mein Angedenken."

Frau Häsli machte eine verdutzte Pause.  ""Ehret mein Angedenken"?",
wiederholte sie befremdet.  Dann auf jedes seiner Worte deutend:

"Meine Blicke ruhen auf euch und verfolgen jeden euerer Schritte."

"Jawohl", bemerkte Frau Häsli, "da kannst du lange verfolgen, mein
Lieber!  Hähä!  Seine Blicke verfolgen uns!  Ja, übermorgen!  Blos du
die Trompet'!  Er blost die Trompet'!  Der Häsli blost und seine
Schritte verfolgen uns!"

"Süße, geliebte Lotte",

fuhr sie fort,

"Schick' mir ein Paar warme Unterhosen und schreibe mir ausführlich!
Ich sehne mich nach euch und zähle die Tage bis zu meiner Rückkehr."

"Gott sei Dank!" sagte Frau Häsli und schob den Brief in ihren
Brustlatz, "jetzt ham sie ihn.  Sollen ihn nur recht zwiebeln.  Ich
werd' dem Hauptmann schon schreiben, daß er ihn sobald nicht wieder
losläßt.  Wie gesund der ist, wenns ans Prügeln geht!  "Heißgeliebtes
Herz!"  Ja, Scheibenhonig!"

Und ein dritter Brief kam an, für Flametti, aus Basel.  Darin stand:

"Werter Freund und Kupferstecher!  Flametti!

Indem uns Deine Karte sehr gefreut hat, hätt'st auch einen Brief
schreiben können.  Damit man weiß, was ihr bringt en detail.  Ich bin
bereit, Dich zu akzeptieren für die fragliche Zeit und wenn ihr
gefällt, dann noch länger.  Die Alte kommt zu euch hinübergerutscht
für einen Tag, weil sie noch andere Affären hat, und dann könnt ihr
einig werden.  Die Alte läßt grüßen.  Grüß auch Jenny und bringt was
rechtes mit.

Sacré nom du dieu!

Dein Fritz Schnepfe und Frau, Varietélokal, Basel."

Und Flametti nahm den Ausbrecherkönig beiseite und sagte: "Komm' mit!"
Und sie gingen zum Einkauf und brachten zurück: Fünf Bettvorleger
aus getigertem Fell und eine Negerlanze von den Sunda-Inseln, die sie
erstanden hatten bei Herrn C. Tipfel, Antiquariat, wo Briefmarken,
Seesterne und Smaragdkristalle in schillernder Auswahl das
Schaufenster zierten.

Und überhaupt: eine gesteigerte Tätigkeit bemächtigte sich Flamettis.
Leben kam in die Bude.

Niemand außer Jenny und Engel wußte, was die fünf Bettvorleger
sollten.  Aber sie waren da und jedermann, der zum Ensemble gehörte,
mußte mit den Händen drübergestrichen und sie für gut befunden haben.

Sie blieben zunächst im Eßzimmer liegen.  Sechs Franken neunzig das
Stück.  Fünfunddreißig Franken die Partie.

Und Flametti richtete sein Schreibzeug her und nahm den Kapellmeister
beiseite und sagte: "Herr Meyer, morgen nachmittag fünf Uhr:
Soloprobe.  C-Dur."  Und machte mit zappelnden Wurstelfingern die
Bewegung heftigen Klavierspielens.

Und kaufte sich einen neuen Schlips, ein Franken fünfundsiebzig,
schwarz, beim "Globus".

Und der Herr Coiffeur Voegeli kam zu Besuch, eines Nachmittags, und
man servierte ihm im Schlafzimmer Wein, und Fräulein Rosa mußte ihn
unterhalten, weil Jennymama keine Zeit hatte, sondern roten Biber
einkaufen gehen mußte, um aus den Bettvorlegern durch Aufnähen der
Felle auf den roten Biber Kostüme zu fertigen von wilder, unerhörter
Farbenpracht.

Und Herr Voegeli revanchierte sich für den liebenswürdigen Empfang so
brillant, daß Jennymama in der Lage war, sich einen totschicken
Abendmantel zu kaufen, den sie zu tragen gedachte zur Premiere.

Und siehe da: zwei junge Damen kamen, aus Bern, zu Fuß, eine schöner
als die andre.  Das waren Fräulein Güssy und Fräulein Traute.

Fräulein Güssy lang, überlang, so was Langes haben Sie noch nicht
gesehen.  Vorne platt wie ein Nudelbrett.  Mit langen Zugstiefeln,
großen dunklen Kuhaugen und langen, wehenden Armen: zwanzig Jahre.
Fräulein Traute kräftig, rosenrot, Hakennase.  Stets kichernd und
schamrot über den eigenen Busen, der prall und anbötig vorn abstand,
und den sie stets eifrig bedacht war, mit beiden Händen über die
Hüften hinunterzuglätten: achtzehn Jahre.

Und Flametti sah sie an mit einem Auge voll Wohlgefallen beide.  Und
all dies Weiberfleisch wurde einquartiert zu Fräulein Rosa, hinter
den Bretterverschlag, zu den Turteltauben; wurde als Lehrkraft
dabehalten, und suchte sogleich mit Eifer sich nützlich zu zeigen.

Und Besuch kam nachmittags: Fräulein Raffaëla, Tänzerin, und Fräulein
Lydia, Tänzerin; beide vom Zirkus.  Mit ihrer gemeinschaftlichen
Mutter Donna Maria Josefa.

Donna Maria Josefa war eine sehr preziöse Dame.  Sie setzte beide
Hände trommelnd auf die Tischplatte und ließ ihre Augen schweifen,
ohne den Kopf zu bewegen.

Ihre Nase war etwas gerötet von Frost.  Ihr Gesicht beherrscht.  Ihre
schmalen, behaarten Lippen verbargen ein Gebiß, das mit wahren
Haifischzähnen besetzt war.

Man stellte vorsichtig Kaffee vor sie hin, und die beiden Töchter
setzten sich zu ihrer Seite, je rechts und je links, und sagten:

"Mama, ach Mama!  Mama, nimmst du Zucker?  Mama, nimmst du Milch?
Mama, nimmst du Zwieback?  Mama, nimmst du Honig oder Gelee?"

Und Flametti sagte: "Jaja, Frau Scheideisen!"  So hieß Donna Maria
Josefa mit ihrem Privatnamen.

Und Jenny schob ihr in einem fort Zwieback hin und sagte zu den
Töchtern:

"Greif' zu, Raffaëla!  Greif' zu, Lydia!" wie zu alten Bekannten.

Und Donna Maria Josefa trommelte mit den Fingern, als säße sie bei
einer Eröffnungs-Gala-Festvorstellung an der Kasse.  Und lächelte
gemessen, wenn man höflich war.

Das Ganze aber hatte Flametti, wahrlich nicht Übel, arrangiert und
eingefädelt, um die alte Häsli ein wenig in Schach zu halten, die
Üppiger wurde von Tag zu Tag.

Die saß jetzt auch am Kaffeetisch und platzte vor anerkennender
Bewunderung beim Anblick der Goldknöpfe von Donna Maria Josefas
Blusenbusen.

Es begab sich aber, daß auch zwei Detektivs erschienen, eines
Nachmittags--schon wieder, Kreuzdonnerkeil!--, an die Türe klopften,
ganz sachte, und Flametti zu sprechen wünschten, zwecks einer
Auskunft.

Und er ging hinaus vor die Tür, nahm die Detektivs in die Küche und
verhandelte mit ihnen.

Und eine innere Stimme sagte Flametti: Verdirb dir's nicht!  Häng'
sie nicht vors Fenster, sondern mach' Ihnen Vorschläge zur Güte!

Und das tat er auch.  Aber es nützte nicht viel.  Noch immer wegen
der Quittung.

Und er stieß die Tür auf und kam hereingestürzt in die Stube, schloß
seine Hauptkasse auf, stürzte den Inhalt auf den Eßtisch und schrie
sehr erregt zu den skeptisch nachfolgenden beiden Beamten:

"Was wollt ihr denn?  Seid doch vernünftig!  Kann ich denn zahlen?
Seht selbst!  Habt doch in Teufelsnamen ein wenig Geduld!  Da ist
mein Ensemble..."

"Jenny, Rosa, Güssy, Traute!" rief er, und die kamen von rechts und
links, im Unterrock, mit offenen Haaren, mit Lockenschere,
Schuhknöpfer und Seifenhänden...

"Da ist mein Ensemble", rief er, und zerrte die Damen mit langen
Armen zu sich heran, "man arbeitet doch!  Man rackert sich ab!  Man
studiert, simuliert!  Man zahlt seine Steuern, man tut sein
Möglichstes..."

Aber die Beamten blieben trotz allem skeptisch.  Und es ist nicht
einmal unwahrscheinlich, daß der Anblick so unterschiedlicher
Frauenspersonen, in Halbtoilette um einen einzigen Mann gruppiert,
ihr Mißtrauen noch bestärkte.

Sie notierten sich etwas und man begab sich zum zweitenmal in die
Küche.  Jetzt handelte sich's um den Mechmed.

"Haben Sie einen Türken gekannt: Ali Mechmed Bei?"

"Ja."

"Haben Sie mit ihm in Geschäftsverbindung gestanden?"

"Nein."

"War Ihnen bekannt, daß er mit Kokain, Opium und Haschisch handelte?"

"Ja."

"Nehmen Sie selbst Opium?"

"Nein."

"Haben Sie Kommissionsdienste für ihn übernommen?"

"Nein."

"War Ihnen bekannt oder mutmaßten Sie, daß seine Waren geschmuggelt
waren?"

"Nein."

"Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?" etc.

Flametti gab Antwort auf all' diese Fragen nach bestem Wissen und
Gewissen.  Denn er hatte nichts zu verbergen.  Aufgeplustert vor Wut
und verlegen wie ein Schuljunge.

Und sie nahmen ihn nicht in Haft.  Und wegen der Quittung würde er
eine Vorladung bekommen zwecks Auseinandersetzung seiner
Vermögenslage.

Flametti wurde furchtbar nervös im Lauf dieser Tage.  Offenbar: große
Dinge standen bevor.  Wichtige Dinge.  Geheimnis tut not, wo
Schicksale schweben.  Störung ist fernzuhalten.

Noch kannte Flametti von dem neuen Ensemble, das Herr Rotter ihm
zugesagt und bestimmtest versprochen hatte, nicht viel mehr, als daß
die Musik in C-Dur ging; daß es voraussichtlich "Die Delawaren" hieß,
und daß er selbst, Flametti, den Häuptling Feuerschein vorstellen
würde, mit Lanze, Pfeilen und Tomahawk.

Aber gerade die letztere Aussicht, die Rolle des Häuptlings
Feuerschein, die Flametti bevorstand in den Prachtworten, die Herr
Rotter sicherlich für ihn finden würde; im exotischen Aufputz voller
Glut, Farbenpracht und Majestät;--Adlerfedern über den Rücken
hinunter; Sandalen unten, Hakennase oben--veränderte gewissermaßen
Flamettis Gesichtskreis und seine Lebensnuance.

Jetzt erst verstand er, weshalb ihm zuletzt das ganze Ensemble,
Auftreten und Spielen verleidet gewesen; weshalb ihm all' seine
letzten Tableaus so seicht, geistlos und platt erschienen.  Schon
diese Titel: "Die Modeweiber", "Die Nixen", "Die Nachtfalter"!  Was
konnten sie einem geben?  Weiberzeug, süßlicher Schnack.  Kitsch,
Bruch.

Widerwillig hatte Flametti sie Abend für Abend im Repertoire geführt.
Löckchen, Gefältel, Plissées, Frou-Frou--: er konnte nicht mehr.  Er
empfand einen Brechreiz.

Und die Weiber waren dabei immer aufdringlicher geworden.  Was Wunder!
Sie standen im Mittelpunkt.

Dagegen: "Die Delawaren"!  Wie das klang!  Stierig, männlich, farusch,
imposant!  Das war eine Sache.  Das schuf Respekt.  Da ließ sich was
ahnen!

Flamettis Benehmen wurde, schon jetzt, simpler, beruhigter, breiter.
Seine Energie zäher, verbissen.  Sein Selbstgefühl mächtig.  Die
Löwenbrust wölbte sich.

Wenn er die Hand auf den Tisch legte, zitterte dieser.  Früher hatte
er nicht gezittert.  Wo Flametti hingriff, wuchs jetzt kein Gras mehr.
Wen Flametti ansah, zuckte zusammen, erbleichte.

Er ließ, im Geist, seine Freunde Revue passieren und beschloß, zu
lieben und hassen nur noch tödlich.  Früher hatte er mit sich reden
lassen.

Er beschloß, alle minderen Qualitäten aus seiner Gepflogenheit
auszumerzen.  Beschloß, seine Gastfreundschaft auszudehnen und
selbstverständlicher zu gestalten.  Beschloß, mehr zu sitzen, zu
liegen.  Weniger Aufregung, mehr Schwere und Weihe.

Seine Leidenschaft für Narkotika und für Alkohol solle befestigt
werden.  Opium: sehr gut.  Feuerfressen: sehr gut.  Das paßte.  Und
er beschloß, die Feuernummer von nun an wieder öfter und mit mehr
Finsternis in der Geste zum Vortrag zu bringen.

Nicht soviel Anpassung.  Mehr Würde.  Magie.  Nicht soviel Worte.
Mehr lautlose Tat.  Im ganzen: Vereinfachung.  Wucht.

Und eines Morgens, als Flametti, in Träume versunken, vor die Tür
seines Wigwams trat, im vollen Waffenschmuck, mit vergifteten Pfeilen;
den Rauch seiner Pfeife blasend nach den vier Windrichtungen: erhob
sich ein solches Gekreische, Gelächter und Girren im Lattenverschlag
bei den Tauben, daß Flametti beschloß, ein Exempel zu statuieren.

Heraus sprang Feuerschein aus dem Bett, im Hemd, mit Bravour, und
hinüber zum Lattenverschlag.

Das Weiberfleisch balgte sich in den Betten.

Drein fuhr Flametti mit derber Hand und lüpfte die Decke.


Es leuchtet der Mond in der Gondelnacht
Blank, blänker, am blänksten.


Und Flametti griff zu und es klatschte.

Und die Lange flüchtete aus dem Bett.  Und die Dralle mit dem
geschamigen Busen schrie.  Und die, die es traf, Rosa, die Sklavin,
rang die gefalteten Hände, und flehte und sträubte sich fruchtlos
gegen die sehnigen Häuptlingsarme.

Stolz kehrte Flametti zurück, die Brust geschwellt von männlichem
Furor, die Augen gerollt vor strahlender Lust, und sagte zu Jenny,
die neben ihm lag: "Die sollen mich kennenlernen!"

Neueinstudierungen wurden angeordnet unter Jennys Leitung, weil Max
anderweitig beschäftigt war.  Alte Kostüme wurden, unter Beteiligung
der Lehrkräfte, repariert und aufgebügelt.  Die neuen Kostüme
probiert.

Und auch die Damen Jenny und Laura bekamen jetzt Lanzen, aus
Besenstielen, rundum bemalt, gelb, grün und blau.  Oben eine Spitze
aus Goldblech.

Und damit auch das übrige Ensemble nicht müßig ging, hatten Engel und
Bobby Beleuchtungsproben mit bengalischem Rot, wozu sie die Pfanne
und Pulver besorgen mußten.

Herr Arista studierte ein neues Lied:


"Nur immer raus damit, nur immer raus damit!
Wozu haben wir's denn?  Na ja!",


was sich auf seinen Busen bezog.

Auch die Häslis hatten für neues Programm zu sorgen und studierten
mit dem Pianisten das interessante Terzett "Schackerl, Schackerl,
trau di net!", das Frau Häsli ausgesucht hatte, an dem sich aber nach
seiner Rückkehr vom Dienst auch Herr Häsli beteiligen sollte.

Es war offensichtlich Flamettis Ehrgeiz, aus der Premiere dieser
"Indianer" einen Festzug zu machen, ein Ruhm--und Gedenkblatt für
sich und das ganze Ensemble.

Wer weiß, was für Intentionen mehr er damit verband, was für
Erbauungen und Hintergedanken!  Soviel Sorgfalt wie auf dieses
Ensemble hatte er noch auf keines verwandt.  Soviel Aufwand und
Wichtigkeit waren kaum zu erklären.

Ein Plakat ließ Flametti entwerfen von einem ersten Maler der
Fuchsweide.  Darauf stand in Majuskeln: "Die Indianer."  Abgebildet
war Flametti als Häuptling Feuerschein in vollem Federnaufputz,
Rothaut über und über, mit Ohrringen, Funkelaugen und einer Kette aus
Bärenzähnen.

Darunter aber stand: "Alleiniges Aufführungsrecht: Flamettis
Varieté-Ensemble."

Hinging Max zu Herrn Fournier, dem Vorstand der Eisenbahner-Kapelle,
und fragte ihn, ob er bereit sei, mit fünfzig Mann Blasorchester zur
Stelle zu sein.  Und welche Konditionen.

Vorsprach Flametti beim Beizer und legte ihm den Gedanken nahe, um
Freinacht und Tanz einzugeben bei der Polizei, was Herr Schnabel zwar
überrascht, aber bereitwillig versprach.  Er hatte ja keine Ahnung.

Und zur festgesetzten Stunde traf Flametti Herrn Rotter im
Terrassencafé.

Der Rotter war elegant wie immer.  Er las gerade die "Daily Mail"--ob
er das konnte?  Ob das nicht Getue war?--, lud Flametti mit einer
raschen, geschickten Handbewegung ein, Platz zu nehmen, setzte den
Kneifer vor seine lidlosen, entzündeten Augen, rieb sich die Nase und
zückte das Manuskript aus der Mappe.

Flametti bestellte ein Pilsner, und dann befummelten sie die Affäre.

"Also sieh her, Flametti!" sagte Herr Rotter, "das ist der Dreck."
Dabei wog er das Manuskript auf der Hand.

Flametti beugte den Oberkörper herunter aufs Knie und rauchte Zigarre.

"Also es ist so: "Die Delawaren".  Du machst den Feuerschein.  Die
andern, die Weiber, fünf Stück, machen die Bande.  Ausstattung:
Fellkostüme, wie gesagt, Lanze, Tomahawk, Kopfaufputz.  Musik: C-Dur.
Beleuchtung: Rot.  Einstudieren mußt du's selbst.  Hier ist der Text."

Flametti bemerkte sofort, daß Herr Rotter Eile hatte, und beeilte
sich seinerseits, aus der Brusttasche einen Fünfzigfrankenschein in
Bewegung zu setzen, der als Honorar vereinbart und von Mutter
Dudlinger mit riskierender Teilnahme vorgestreckt worden war.

"Hier", sagte Flametti, indem er den Schein auseinanderfaltete,
"jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert."

"Ah was, Bagatelle!" sagte Herr Rotter und steckte den Schein
nachlässig in die Rocktasche.

Flametti hatte sofort das Gefühl: "der ist das Einheimsen gewohnt!"
und erinnerte sich jener erstaunlichen Fertigkeit, mit der Herr
Rotter im Germania-Cabaret die Pausen füllte durch Selbstverkauf
seiner "Gesammelten Werke".

Flametti nahm das Ensemble jetzt an sich mit beiden Händen und begann
zu lesen.

"Na, kannst es zuhaus in Ruhe studieren!" meinte Herr Rotter, "es
klappt.  Sei versichert!", und intonierte probeweise die erste
Strophe.

Flametti gingen die Augen über vor Bewunderung.


"Die letzten von dem Stamm der Delawaren,
Die Kriegerscharen
Der Delawaren--"


Ausschritten die Rhythmen in gravitätischer Folge.

Flametti fühlte, wie seine Nase schärfer wurde, energischer: eine
Adlernase.  Seine Augen kühner, verwegener, sprühend.  Er fühlte die
Lanze in seiner Faust.  Die Federbüschel liefen ihm kalt über den
Rücken hinunter.  Sein Unterkiefer schob sich vor in bestialischer
Vehemenz.

Der Ober, beladen mit einem Pack Zeitungen und einem Cafécrème,
schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und stieß an den Stuhl.
Flametti wäre ihm knapp an die Gurgel gefahren.  So schreckte es
ihn aus der Illusion.

"Klappt alles.  Unbesorgt!" versicherte Rotter.

"Hören Sie zu", sagte Flametti, "ich hab' ein Plakat machen lassen:
"Die Indianer".  Großartig, imposant.  Dreißig Franken.  Beim
Lemmerle.  Kennst ihn doch!"

"Schon gut!  Mach' was du willst mit dem Dreck!" sagte Herr Rotter
und drückte den Klemmer fest.  "Ist ja nicht mein Beruf.  Macht man
so nebenbei."

"Schau", meinte Flametti treuherzig und verlegen, "mich packt's.
Mußt nicht so sprechen.  Mir tut's weh.  Mich freut's halt.  Akkurat
weil du mir die "Indianer" gemacht hast.  Siehst du, ich hätte dir
auch einen Hunderter gegeben, wenn du's verlangt hätt'st."

Rotter kraulte sich mit dem Taschentuchzipfel im Nasenloch und sah
über den Kneifer weg Flametti an, als traue er seinen Ohren nicht.

"Wirst mal sehen", meinte der, "wenn die Beleuchtung dazu kommt,
Musik, Reklame, der ganze Klimbim!"  Und er versuchte, durch
gleichzeitige Anspannung aller Gesichtsmuskeln, Wackeln der Ohren,
vorgeschobenen Unterkiefer, Hochziehen der Brauen, einen Begriff zu
geben von der Schlagkraft der Dinge, die dann kommen würden.

"Apropos", behielt Rotter sich vor, "bei der Hauptprobe will ich
dabei sein.  Damit ich auch sehe, was ihr draus macht."

"Sowieso", beruhigte Flametti.  Und um zuverlässig zu beweisen, daß
das Ensemble in guten Händen sei: "Fünfzig Mann Blasorchester!"  Und
nahm einen tiefen Schluck Pilsner.

"Das ist alles nichts", meinte Rotter, "wenn ihr den Schick nicht
trefft.  Wenn das gewisse Etwas fehlt."

"Es kommt", versicherte Flametti, "da ist das Wort zuviel."

"Na, wollen mal sehen", schloß Rotter und griff nach der Daily Mail,.

Flametti fühlte sich unbehaglich.

"Zahlen!" rief er, "hab's pressant!" und der Kellner kam, und
Flametti reichte Herrn Rotter indianisch die Hand, sagte "Salü!" und
"Merci!" und ging.  Ein unerhört despektierliches Wort unterdrückte
er, als er das Lokal verließ.

Zu Hause aber warf er sich aufs Sofa und las.  Las mit immer wilderem
Entzücken, immer hellerer Begeisterung.  Las das Ensemble von A bis Z,
ertrank darin; ritt, galoppierte, rasselte, tobte; donnerte, blitzte
und fluchte; strahlte und weinte, lachte und staunte.

Setzte sich hin und schrieb mit kalligraphischen Lettern, Silbe klar
an Silbe reihend--er war ja der Sohn eines Lehrers--die Rollen heraus.

Sprechproben wurden angesetzt; Ensembleproben.  Die Rollen wurden
verteilt.  Persönlich probte Flametti vor dem Spiegel.

Probierte mit den Mädels, teilte Ohrfeigen aus, rannte Köpfe an die
Wand; schrie, brüllte und fluchte.

Konnte gar nicht Worte genug finden, sein Erstaunen über die
Borniertheit dieser Weiber, Jenny und die Soubrette mit
eingeschlossen, kundzugeben.

Es ging denn auch rapid vorwärts.  Nach drei Tagen saß schon der Text.
Nach weiteren drei Tagen saßen auch die Bewegungen, Auf--und Umzug
des Ensembles auf der Bühne.

Was hatten die armen Weiber alles für Vorstufen durchzumachen, bis
sie wirkliche, richtige, echte Indianer waren!  Kalb, Ochs, Esel,
säbelbeiniges Frauenzimmer, Schmerbauch, Mistvieh, Bauer!  Was alles
mußten sie anhören in hartem Ringen um die Kunst!

Und erst die Bewegungen!  Bis die saßen!  "Links!  Links!  Links
herum, Stoffel!!!"...  "Vor, die Lanzen!  Hoch den Tomahawk!  Runter
aufs Knie!"...  "Um mich herum!  Vor mich hin!  Ich beschütze euch!"..
.  "Apotheose!  Verklärung!  Verklärte Augen sollst du machen,
Mistvieh damisches!"

Und die Musik, bis die saß!  "Hörst du denn nicht??  Sperr' deine
Löffel auf!  Wozu hast du denn deine Windfänger!  Die Nasenlöcher
kannst du doch auch aufsperren!"...  "Den Allerwertesten werd' ich
dir treffen, wenn du nicht aufpassen willst.  Himmelherrgottsakrament,
sperr' deine Ohren auf!!!!"

Aber dann ging's auch wie am Schnürchen, nach sechs Tagen, und alle
waren des Lobes voll und bekamen allmählich Geschmack an der Sache
und machten die Bewegungen von selbst; auch bei Tisch, beim
Zubettgehen, beim Morgenkaffee; im Hemd und in Unterkleidern.  Sangen,
pfiffen und trällerten die Musik vor sich hin, die Herr Meyer
feinsinnig aufgefaßt hatte und kongenial wiedergab.

Und Flametti studierte solo mit Meyer ein: den Auftritt des
Häuptlings.

Unten in der Musik muß es donnern und blitzen: Brwrr, brwrrrr,
worgeln und tremolieren.  Dann muß die rechte Hand höherlaufen.
Feuerschein kommt von links, späht durch das Kulissenfenster der
Bauernstube, drohend, erschrecklich, in hohem, dämonischem
Federnschmuck, mit der Lanze.  Kommt dann heraus auf die Bühne,
vorsichtig, schleichend, verfolgt, den Kopf spähend vorgestreckt, die
Halsmuskeln gespannt, den Tomahawk mordbereit.  Verschwindet unter
Donner und Blitz der Musik in der Kulisse rechts.  Es beginnt das
eigentliche Ensemble.  C-Dur.  Andante.  Mächtig und breit: Auf dem
Kriegspfad:


"Die Letzten von dem Stamm der Delawaren,
Die Kriegerscharen
Der Delawaren..."


Dann haben zu singen die Weiber, mit vorstellender Handbewegung zu
Flametti gewandt:


"Der tapfre Häuptling Feuerschein..."


Und Flametti antwortet mit stolz erhobenem Haupt und gestrafften
Zügen:


"Mit seinen wilden Mägdelein..."


Dann tutti, zum Publikum gewandt mit dargebotener Rechten:


"Entbieten euch die Freundeshand Zum Gruß.  Schlagt ein!"


An den Türken dachte Flametti nicht mehr, seit er Indianer geworden
war.  Aus dem Opiumhandel war nichts geworden.  Desto besser.  "Wenn
nicht, dann nicht!" hieß es in einem Couplet der Soubrette.

Dafür hatte Flametti jetzt selbst einen Harem, und gewissenhaft war
er darauf bedacht, seiner Illusion Greifbarkeit zu verleihen.
Einteilte er seinen Wigwam in drei Gemächer.

In der Mitte die Stube wurde das Häuptlingszelt, wo man Beratung
pflog, Botschaften empfing, Mahlzeiten einnahm, Siesta hielt.  Das
Schlafzimmer rechts davon ward zum Gemach der obersten Lieblings--und
Hauptfrau.  Der Bretterverschlag links Kemenate der Favoritinnen und
Nebenfrauen.

Das ideal in der Mitte gelegene "Hauptgemach" erregte zwar den
heftigen und unverhohlenen Widerspruch der Lieblings--und Hauptfrau,
aber Flametti ließ sich nicht beirren, und bald hatte er es denn auch
dahin gebracht, den Begriff seiner männlichen Würde und überlegenheit
von den Kebsweibern akzeptiert zu sehen.  Und es war ein zwar
ungewöhnlicher, aber in seiner Totalität strammer Anblick für Mutter
Dudlinger, eines Tags den Häuptling in vollem Kriegsschmuck zu finden
beim Anprobieren der fertigen Fransenhosen, um ihn herum die
Haupt--und die Nebenfrauen, hockend mit Herstellung kleiner roter
Lämpchen beschäftigt, die dazu bestimmt waren, von den Delawaren auf
dem Kriegspfad an langen Schnüren als Beleuchtungskörper geschwungen
zu werden.  Herr Schnabel, der Wirt, hatte sich nämlich das
bengalische Pulver verbeten, des unbändigen Gestanks wegen, den die
beiden Feuerwerker schon auf der Probe damit hervorgebracht hatten.

Solcherlei Zurüstungen konnten der Konkurrenz nicht verborgen bleiben.

Der Neid war grenzenlos.  Die Versuche, Flametti das Wasser
abzugraben, gingen ins Lächerliche.

Pfäffer zeigte an:

"Die exzentrische Schwiegermutter oder eine Nacht am Orinoko.  Posse
in drei Akten!"

Einen absonderlichen alten Onkel mit Botanisierbüchse und rotem
Regenschirm sollte Fräulein Mary singen, eine zwar nicht mehr
jugendliche, aber sympathische Darstellerin, von der Jenny beruhigt
voraussah, daß sie mit ihren Beinen eines alten Kaleschengauls,
abgewetzt, knollig und dürr, notwendig müsse Fiasko machen.

Ein andrer Direktor begann ebenfalls "Indianer" einzustudieren, die
er "Komantschen" nannte.  So daß Flametti sich genötigt sah, unter
das Plakat des Herrn Lemmerle noch setzen zu lassen: "Jede Nachahmung
verboten!  Wer die Indianer nachmacht, wird gerichtlich verfolgt!"

Den Vogel aber schoß Ferrero ab.  Unter Zuhilfenahme maßloser Reklame
zeigte er an: "Lullu Cruck, König aller Bauchredner!  Man lacht,
lacht, lacht!"

"Krampf!" lachte Flametti, "Macht er ja selbst."

Flamettis Selbstgefühl erreichte den Gipfel.  Und als eines Tages die
Zusage des Herrn Fournier eintraf wegen der fünfzig Mann Blechmusik;
als Herr Schnabel die Erlaubnis vorzeigte für Freinacht und Tanz; als
endlich die Hauptprobe angesetzt werden konnte, da fand er sogar den
Mut, dem Rotter die Spitze zu bieten.  Und das war gut, denn um ein
Haar wäre durch Rotters provozierendes Benehmen noch auf der
Hauptprobe alles gescheitert.

Haltlos ironisch, wie es seiner Gemütsart entsprach, kam Herr Rotter
am Tage der Hauptprobe an in Lackstiefeletten und Streifenhosen, den
Koks keck auf den Kopfwirbel geschoben: Dandy, Genießer und Zyniker.

"Nu man los!" rief er, indem er sich vorn an die Bühne placierte,
Arme und Beine verschränkt, an den Wirtstisch gelehnt.

"Hoch mit die Röcke!" rief er dem vorhangbedienenden Engel zu.

"Wa?" schnodderte er die Kellnerin an, die ihn nach seinen Belieben
fragte.

Flametti verstand nicht, wie sich ein Mensch seinem eigenen
Geisterprodukt gegenüber so heillos frivol benehmen könne.  Ihn
schauderte.  Doch er versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen,
und schwieg.

Als aber der Auftritt kam:

"Die Letzten von dem Stamm der Delawaren"--die selbstverfaßte
Häuptlingsouvertüre unterdrückte Flametti in einer Anwandlung von
Unsicherheit--, als also der Auftritt kam und Herr Rotter in ein
prustendes Gelächter ausbrach, und als infolge der höchlichen Laune
des Herrn Autors auch die fellgegürteten Weiber auf der Bühne
anfingen, die Sache lustig zu finden, da riß Flametti die Geduld.

Auf den Hacken drehte er sich vor Wut wie ein kirrender Hahn.  Die
Lanze stieß er auf den Boden, daß das Bauernhaus rechts und die
Renaissancelandschaft im Hintergrund ins Wackeln gerieten.  Hochrot
wurde er im Gesicht wie ein Puter.  Und er schrie mit drosselnd
erhobenen Händen im Dialekt seiner Heimat über die Rampe hinunter:

"Wellet Se sich nit einen Augenblick auf Ihre vier Buchstaben setzen,
Herr Dichter?  Nur einen Augenblick, wenn es gefällig ist!  Sie seh'n
doch, daß hier gearbeitet wird."

Der Rotter war ganz überrascht.  Das war ja eine unglaubliche
Frechheit von diesem Flametti!  Was fiel dem eigentlich ein!  Das war
doch die Höhe!

Hoch hob er sein Stöckchen, fitzte es durch die Luft und rief auf die
Bühne hinauf:

"Sie, hören Sie mal: Hab' ich mit Ihnen vielleicht mal die Schweine
gehütet oder hab' ich Ihnen das Ensemble geschrieben?  Das
Frauenzimmer dort mit der Gurkennase ist doch unmöglich!"

Das Frauenzimmer mit der Gurkennase war Fräulein Rosa.  Und Flametti
sah hin und stand einen Moment lang betroffen.

"Ich hab' das Ensemble doch, Gott verdamm' mich, für Hakennasen und
nicht für Himmelfahrtsnasen gemacht!"

Er schlug mit dem Stöckchen C-Dur an und rief:

"Na, mal weiter!"

Aber Flametti war jetzt die Lust vergangen.

"Lassen Sie das Klavier in Ruh!" schrie er herunter und fuchtelte mit
der Lanze.  "Was fällt Ihnen eigentlich ein?  Sind Sie hier Direktor
oder ich?"

Herr Rotter jedoch wurde auffallend ruhig, nahm sachte sein Stöckchen
von den Tasten, rückte die Mütze zurecht und sagte:

"Hören Sie mal!  Wenn Sie glauben, Sie Botokude, mich für Ihre
fünfzig Franken hier anschreien zu können, dann sind Sie im Irrtum."

"Und Sie", rief Flametti, stellte die Lanze hin und sprang, in vollem
Häuptlingsschmuck, über die Bühne herunter, "machen Sie, daß Sie
rauskommen.  Raus!  Ich habe genug von Ihnen."

Und da Herr Rotter als Antwort hierfür nur ein spöttisches Grinsen
hatte, die Stirnhaut hochzog, die Ohren bewegte und den Blöden
spielte, packte Flametti den Patron am ärmel und spedierte ihn höchst
persönlich durch das Lokal zum Büfett, wo Herr Schnabel automatisch
und ohne zu fragen sich seiner annahm und ihn im Hinblick auf seine
moralische Zweideutigkeit vor die Türe setzte.

Nachdem der Dichter entfernt war, ging alles glatt.  Von vorne, von
vorne, und nochmal von vorne, bis daß es saß.



IV



Am siebzehnten fand die Premiere statt.  Schon am frühen Morgen
herrschte im Hause Flametti beträchtliche Aufregung.

Es war noch nicht sieben Uhr früh, als sich die Frauen aus dem
Favoritinnengemach schon stritten um das Vorrecht, für diesen
Ehrentag Flametti-Feuerscheins Stiefel putzen zu dürfen.

Fräulein Traute hatte sich im Lauf der letzten Tage das Reinigen der
Häuptlingsstiefel zu ihrer ganz besonderen Domäne gemacht.  Kaum
regte sich in der Frühe das erste Gurren und Flattern der
Turteltauben, so sprang sie schon aus dem Bett, hin zum Gemach der
Hauptfrau, vor dessen Türe die Knöpfelschuhe der Frau und die
Zugstiefel Flamettis in trunken übernächtiger Kameradschaft
beisammenstanden, nahm die Häuptlingsstiefel weg, ließ die
Hauptfraustiefel stehen und rannte in die Küche nach dem Putzzeug, um
den beiden anderen Favoritinnen zuvorzukommen.

Heute aber hatte sie sich verrechnet.  Denn während sie in fliegendem
Negligé zu der Schlafzimmertür rannte, rutschte auch Fräulein Rosa
über die Bettkante herunter und eilte hinaus in die Küche, um Bürste
und Putzzeug an sich zu nehmen.

Güssy aber, die im Nu, zurückbleibend, die Chancen des kommenden
Streits berechnet hatte, langte sich ihre Beinkleider und zog sich an,
fieberhaft.  Ihr Temperament war stiller, phlegmatischer, heiß.
Aber soviel wußte sie: Angekleidet würde sie bei einem Streit vor
ihren im Hemd stehenden Rivalinnen im Vorteil sein.

Der Streit ließ nicht auf sich warten.  Unter der Türe zwischen
Eßzimmer und Küche begegneten sich Traute und Rosa.  Die eine mit den
Stiefeln, die andere mit Bürste und Crème.  Güssy knöpfte sich gerade
die Spangenschuhe zu.

"Gib die Stiefel her!" rief Rosa, "sie gehen dich nichts an!  Ich bin
länger im Hause als ihr!"  Sie wollte sich gerade heute ein Vorrecht
nicht nehmen lassen, auf das sie früher gerne verzichtete.

Aber Traute dachte nicht dran, die Stiefel aus der Hand zu geben.

"Hast du sie gestern gewichst?  Hast du sie vorgestern gewichst?
Verstehst du überhaupt was davon?  Fütter' deine Tauben!"

Güssy lachte.  Aber Rosa hatte keine Lust zu weitschweifigen
Auseinandersetzungen.

"Gib sie her!" rief sie entrüstet und klopfte der Traute die
Wichsbürste auf die Nase.

Güssy kam näher aus dem Lattenverschlag, lachend.  Die Stiefel fielen
zu Boden.  Die Wichsbürste ebenfalls.  Die Crème rollte unter den
Schrank.  Traute und Rosa kriegten sich bei den Haaren.

In diesem Moment aber klopfte es und herein trat: Frau Schnepfe aus
Basel.  Sie war mit dem Frühzug herübergefahren, um ihre Visite zu
machen, ihre "Affären" zu erledigen und abends zur Premiere zu kommen.

"Guten Morgen!" sagte sie freundlich und stand unter der Türe.  "Bin
ich hier recht bei Flametti?"

"Ah, die Frau Schnepfe!" rief Rosa freundlich überrascht und ließ
ihre Partnerin los.  "Ja, ja, natürlich sind Sie hier recht!  Setzen
Sie sich, Frau Schnepfe!" und lachte sich tot.

Güssy nahm die Stiefel und das Putzzeug an sich.  Traute war in den
Verschlag geflüchtet.  Auch Rosa, kichernd hinter dem Spalt der
Lattentüre, beeilte sich, einen Rock anzuziehen.

Frau Schnepfe war etwas befremdet von solch halbnackter Tummelei der
Künstlerinnen.  Musternd sah sie sich im Eßzimmer um.  Hier also
wohnte Flametti!

"Er schläft noch", entschuldigte Rosa und kam, die Druckknöpfe
schließend, wieder zum Vorschein.  Dann vorstellend: "Das ist
Fräulein Güssy.  Das ist Fräulein Traute!"  Die rieb sich mit dem
Handtuchzipfel die Schuhcrème aus dem Gesicht.  "Noch ein bißchen
früh.  Er steht immer erst auf gegen elf.  Heute steht er wohl früher
auf, weil wir heut' abend die "Indianer" haben.  Aber ich darf ihn
nicht wecken."

"Gut, gut!" sagte Frau Schnepfe und stand auf, den Schirm in der Hand.
"Ich komme später vorbei.  Grüßen Sie ihn!  Die Frau Schnepfe war
da."

"Es ist recht", verbeugte sich Rosa graziös, ihres stellvertretenden
Amtes bewußt.  "Ich werd' es bestellen.  Adieu, Frau Schnepfe!"

"Adieu!" dehnte Frau Schnepfe und ging, nicht ohne im Vorbeigehen
einen Blick auch in die rußige Küche geworfen zu haben, wo inzwischen
Fräulein Theres hantierte, verdrießlich und Stumpen rauchend.

Dann kam Engel, um acht.

"Schläft er noch?"

"Ja, er schläft noch."

"Wo hast du das Plakat?"

"Hier", sagte Rosa und holte das schöne Plakat des Herrn Lemmerle aus
der Ecke beim Spiegelschrank, blieb bei Herrn Engel stehen und lachte
ihn an.

Auch die beiden andern kamen näher und lachten.

Engels milde Augen waren Wolfsaugen geworden.

"Das ist ein Plakat!  Was?" sah er sich nach den Weibern um, als
hätte er das Plakat selbst gemacht.

Rosa lachte.  Güssy kicherte verschämt.  Sie kannten doch Flametti!
Und wenn man das Bild ansah, wo er so feierlich aussah, als Indianer,
--wie sollte man da nicht lachen!

Aber Traute lachte nicht.  Sie fand es dumm, da zu lachen.  Was gab
es da zu lachen?  Gar nichts gab es zu lachen.

Sie ärgerte sich über diese Gänse.  Diese Rosa, die Trulle, was die
schon davon verstand!  Das ist doch nur für die Reklame!  Er hat ein
Geschäft, der Flametti.  Das ist das Indianerspielen.  Das macht ihm
Spaß.  Und wenn er ein Plakat machen läßt, ist's schade, daß es nur
ein Brustbild ist; daß nicht auch die Beine drauf sind mit den
Fransenhosen, und die Stiefel.  Und man muß froh sein, wenn man ihm
die Stiefel putzen darf, damit er sich freut.  Und wenn er manchmal
"verruckt" wird und toll zuschlägt, dann ist das auch nicht so
schlimm!  Weiber brauchen das, sonst werden sie frech.  Man sieht's
ja.  Und wenn er einen anfaßt, dann ist's, als ob einem Hören und
Sehen vergeht und man möchte am liebsten zurückschlagen, weil er sich
gar nicht geniert und sich nichts draus macht.  Das ist schon ein Aas,
dieser Flametti.

Und sie sagte es ganz laut, ein wenig schmollend und sehr verliebt:
"Das ist schon ein Aas, dieser Flametti!"

Rosa krähte vor Übermut und sah die unglücklich im Fensterwinkel
sitzende Traute förderlich an.  Die hatte es mächtig!

Güssy aber, still und heiß, hatte ein Geschäker mit dem Engel
angebahnt.  Sie hatten ihre Hände zum Tric-Trac ineinandergesteckt
und Güssy, lang wie sie war, versuchte, den schmächtigen
Ausbrecherkönig unterzukriegen.

Rosa hielt, versunken, das Plakat vor sich hin.

Und Traute kam näher und warf dem "tapfren Häuptling Feuerschein"
singend einen Handkuß zu, indem sie Theater machte aus ihrer
Verliebtheit.

Und Rosa fiel ihr um den Hals und tanzte mit ihr im Zimmer herum.

"Laß los, Güssy!" meinte Engel ernsthaft, "hab' keine Zeit.  Muß
weiter.  Das Plakat aushängen."

"Frau Schnepfe war da!" rief Rosa.

"Aus Basel?"

"Ja, aus Basel!"

"Fein wird's heut' abend: "Die Letzten von dem Stamm der Delawaren"",
sang Traute mit übertriebenen Gesten, die ihr im Ernstfall gewiß
nicht so leicht gefallen wären.

"Ja, Frau Schnepfe war da", quittierte Engel, "und das ist auch eine
Neuigkeit: daß die Häsli nicht singen wollen.  Herr Häsli will den
Schackerl nicht machen.  Weil's ihm nicht paßt."

"Ach, der!" maulte Rosa gegen Engel, "was der nicht alles weiß!"  Und
sie intonierte:


"Schackerl, Schackerl, trau di net!",


was sie auf der Probe gehört hatte, und kopierte dabei Frau Häslis
neckische Vortragsart.

Überhaupt: die Weiber waren außer Rand und Band, schon so früh am
Morgen, und Engel warnte:

"Wenn ihr mal nicht andre Augen macht, eh' es Abend wird!"

Und Engel schickte sich an, zu gehen, das Plakat unterm Arm nebst den
beiden Bildertafeln, die er sich selber langte und auf denen die
Mitglieder des Flametti-Ensembles in ihren entbötigsten Privat--und
Theaterposen photographisch zugegen waren.

"Engel!" rief Flametti, dessen nackter Kopf an der Schlafzimmertür
erschien, und die Mädels fuhren auseinander.

"Ja, Max?" drehte Engel, schon bei der Treppe, noch einmal um.

"Komm mal her!"

Rosa nahm Güssy die Stiefel ab und stellte sie schleunigst an die Tür.
Traute rief durch den Schalter: "Theres, den Kaffee!"

Güssy nahm schleunigst die Tischdecke weg und deckte den Kaffeetisch.
Engel folgte Flametti ins Allerheiligste.

"Was gibts?" fragte Flametti.

"Plakate holen", berichtete Engel.

"Sonst was?"  Flametti war wieder ins Bett gestiegen.

"Guten Morgen, Jenny!" machte Engel seine Reverenz.  "Nein, sonst
nichts.  Ja doch: Die Häsli machen solchene Zicken.  Er ist ganz
blutig gekratzt und er will nicht singen, sagt er."

Engel bibberte heftig, wie immer, wenn er solchene Hiobsposten zu
bringen hatte.

"Was will er?" setzte Flametti sich auf.

"Na, weißt du", begütigte Engel, "es paßt ihm nicht.  Er ist doch
gestern zurückgekommen vom Militär.  Und es paßt ihm nicht, daß die
Alte das Lied ausgesucht hat mit dem Schackerl."

"Was ist das?" setzte sich nun auch Jenny auf, indem sie das Hemd
über der schönen vollen Brust zusammenzog.

"Na, du weißt doch, Jenny", erklärte Engel, "Sie katzen sich doch
immer.  Und nun ist mir der Häsli schon früh um sieben, wie ich von
der Annie kam, auf der Straße begegnet, ganz zerkratzt um die
Schnörre herum, und hat mir gesagt, daß er nicht singen will wegen
dem "trau mi net".  Und er will nicht das Kalb machen."

"Gut!" sagte Flametti, "häng' die Plakate aus!  Er wird schon singen.
Ich werde schon sorgen dafür, daß er singt!"

Und Jenny rief: "Max, geh' rüber zu ihnen!  Setz' sie vor die Tür!
Hol' dir Ersatz!  Hab' ich dir's nicht gesagt, daß sie uns aufsitzen
lassen?  Hab' ich's nicht immer gesagt?  Da hast du's!  Aus der
Nachtruhe stören sie einen auf, die Anarchisten!"

Und Max sprang aus dem Bett, zog die Hosen an, schnackelte die
Hosennaht zurecht und trat ins Eßzimmer, unwirsch.  Der Kaffee stand
auf dem Tisch.  "Wer hat die Stiefel geputzt?" rief er.

"Ich!" riefen Traute, Rosa und Güssy zugleich.

"Gut!" sagte Flametti, zog die Stiefel an, setzte den Hut auf und
stapfte davon.

Er ging aber nicht zu den Häslis, sondern begab sich schnurstracks zu
Fräulein Mabel Magorah, der indischen Traumtänzerin, Rübengasse 16.IV,
die er als Ersatz benötigte.

Auch Jenny stand jetzt auf, gar nicht guter Laune, zog den blauen
Schlafrock über, der wie ein Bügelteppich aussah, band ihn über dem
Leib zusammen und kam zum Vorschein.

Das erste war, daß sie ihre ungeputzten Knöpfelschuhe bemerkte.  Sie
tat, als merke sie gar nichts, und fragte harmlos, indem sie sich zum
Kaffeetisch setzte:

"Wer hat meinem Mann die Stiefel geputzt?"

Schweigen.

"Na, werd' ich's erfahren, wer meinem Mann die Stiefel geputzt hat?"

Güssy frech und phlegmatisch:

"Ich.  Warum?"

"Weil du auch meine zu putzen hast, wenn sie dabeistehen."

Und Jenny nahm die Knöpfelschuhe und warf sie der Güssy vor die Füße.

"Na!" maulte Güssy, "ich bin doch keine Dienstmagd hier im Hause!
Soll doch die Rosa die Stiefel putzen!  Ich bin hier als Sängerin
engagiert!"

"Was bist du?" rief Jenny erbost, "Sängerin?  Was sagst du?
Einsperren werd' ich euch!  Nichts zu essen werd' ich euch geben!
Ich werd' euch Mores lehren!  Für die Kerls habt ihr Augen.  Für's
Arbeiten nicht!"

Traute stand irgendwo beim Fenster, abgewandt, und kicherte in sich
hinein.  Rosa war hinterrücks in die Küche verschwunden.

"Rosa!" rief Jenny hinaus, "hast du dein Kleid ausgebügelt?"

"Nein, noch nicht!" antwortete es von draußen.

"Du bügelst dann dein Kleid aus!  Theres soll die Eisen einlegen.
Und dann tragt ihr die Kostüme rüber in die Garderobe!"

Traute bekam einen Einfall.  Sie ging hinaus in die Küche und kam
zurück mit einer Teekanne.

"Na, was hast denn du da?" fragte Jenny.

"Teewasser!" sagte Traute.

"Teewasser?" fragte Jenny, "wozu Teewasser?"

"Ich will meine Locken wickeln."

Jenny schlug mit der Hand auf den Tisch und fuhr auf.  "Na, da hört
doch die Weltgeschichte auf!  Du bist wohl ganz und gar
übergeschnappt?  Locken jetzt um neun Uhr vormittags?  Und aus meiner
Teekanne?  Deine Dreckfinger willst du in meine Teekanne stecken, aus
der ich Tee trinke?"

Aber Traute fand das gar nicht absonderlich.  Weder daß sie sich
Locken wickeln wollte, noch daß sie Flamettis Teekanne dazu nahm.
Sie ging deshalb ruhig weiter mit der Teekanne, nach dem Verschlag,
um ihre Lockenwickler aus der Schieblade zu nehmen.

Jenny hatte sie aber auch schon eingeholt.

"Her mit der Kanne!" schrie sie, "raus damit in die Küche!"  Traute
hielt fest.

"Gibst du die Teekanne her, du Mensch?" schrie Jenny.

Sie zerrten sich hin und her, bis die Hand der kräftigeren Jenny mit
der Teekanne hoch in die Luft fuhr, daß das Wasser spritzte.

"Ich will dir Locken geben!  Du gehst mir nicht aus dem Haus heut,
und kommst mir mittags nicht an den Tisch."

"Pah!" rief Traute, "was ich mir draus mache!  Herr Flametti hat
drüber zu bestimmen.  Er wird mich schon rufen."

"Hier drinnen bleibst du!" schrie Jenny außer sich, versetzte ihr
einen Stoß, schlug die Türe zu und schloß ab.  "Theres!" rief sie zum
Schalter, "die bekommt heute nichts mehr zu essen!"

"Und wehe euch!" rief sie den beiden andern zu, "wenn ihr ihr was
zusteckt!  Ich will euch zeigen, wer hier Meister ist!"

Vom Verschlag her hörte man Traute trommeln und dazu singen:


"Der tapfre Häuptling Feuerschein
Mit seinen wilden Mägdelein...."


in einem eigensinnig verliebten Rhythmus.

"Ah, so!" sagte Jenny.  "Na, wart's nur ab!"

Güssy hatte mittlerweile das Handtuch aufgehoben, mit dem Traute sich
die Schuhcrème aus dem Gesicht gewischt hatte, und versuchte in einer
Anwandlung von Solidarität, es verschwinden zu lassen.

Aber Jenny bemerkte gerade, daß das Handtuch hinter die Gardine fiel,
und rief:

"Gib nur her, was du dort verschwinden lassen willst!  Was ist denn
das?"

Güssy zögerte.

"Her damit!" schrie Jenny und riß es ihr aus der Hand.  "Wo kommt
dieser Fleck her?"

"Theres!" jammerte sie, "diese Schlampen haben mir das ganze Handtuch
eingeschmiert!"

Jetzt kam auch Fräulein Theres herein.  "Mein Gott", verwunderte sie
sich, "was ist denn jetzt das?  Aber nein, das ist doch zuviel!" und
ihr Gesicht wurde lang wie ein Laib Brot.

"Theres, die bringen mich ganz herunter!  Die ärgern mir die
Schwindsucht an den Hals!"

"Rosa, jetzt sag mal du", wandte Jenny sich an die auf das
Jammergeschrei hin ebenfalls wieder hereingekommene Rosa.

"Ich kann nichts dafür!" versicherte die.  "Ich hab' der Traute die
Bürste auf die Nase geklopft und sie hat sich die Nase ins Handtuch
gewischt."

"So?  Und warum das?"

"Weil sie mich aufzieht.  Weil sie mich hänselt.  Sie sagt, ich hätte
was mit Ihrem Mann gehabt in der Garderobe.  Und das laß ich mir
nicht gefallen.  Ich hab' nie was mit Ihrem Mann gehabt.  Aber sie
hat sich knutschen lassen.  Hab' ich selbst gesehen.  Sie ist ja ganz
verschossen in ihn!  Und die Güssy hat's auch gesehen."

"Hast du das gesehen?"

"Ich habe nichts gesehen", meinte Güssy apathisch, "was geht es mich
an?"

"Jawohl hast du's gesehen!" fuhr Rosa sie an, "bist ja selbst
eifersüchtig auf ihn!  Bist du's vielleicht nicht?"

"Pah!" warf Güssy weit weg, "eifersüchtig!"

"Raus in die Küche!" schrie Jenny und packte eine nach der andern
beim ärmel, "ihr sollt mich kennenlernen!"

Da ging auch Fräulein Theres wieder hinaus, Stumpen rauchend, und
schloß die Türe hinter sich.

Und Schritte ließen sich vernehmen auf der Treppe und Raffaëla kam,
die Tänzerin, Tochter von Donna Maria Josefa, mit ihrem Kind, der
kleinen Lotte, die bamsig und fett an der Hand ihrer Mutter wackelte.

"Duden Morgen!" dehnte Raffaëla bamsig und fett im Ton ihres Kindes,
"sag' schön "Duden Morgen!", Lotte!"... "wir haben unsern Sirm
stehenlassen neulich, und wollen ihn wieder holen....."

"Dida holen", echote die kleine Lotte.

"Dieder holen", wiederholte Raffaëla phlegmatisch.

"Ach, Raffaëla!" klagte Jenny, "ich bin ganz unglücklich!  Gut, daß
du kommst.  Setz' dich, trink' 'ne Tasse Kaffee"!

"Tasse Taffee!" wiederholte Lotte.

"Denk' dir", fuhr Jenny fort, "diese Menscher!  Sie stellen mir das
ganze Haus auf den Kopf!  Heut' abend haben wir doch die "Indianer".
Und zu Haus geht alles drunter und drüber.  Locken brennen sie sich
am hellen Vormittag.  Der einen hab' ich Ohrfeigen gegeben.  Die
heult draußen.  Die andere hab' ich eingesperrt.  Hinter meinem Mann
sind sie her.  Seit diese "Indianer" ins Haus kamen, hab' ich keine
ruhige Minute mehr.  Er ist der Häuptling Feuerschein, verstehst du,
und sie sind seine "Mägdelein", sein Harem.  Er hat sie in der Kur,
alle drei, und sie trumpfen auf.  Sie lassen sich nichts mehr bieten
von mir.  Sie werden frech.  Was mach' ich nur?"

Raffaëla war sprachlos; fand aber soviel Besinnung, Lotte Kaffee
einzugießen und Brote zu streichen.

"Nein", tat sie verblüfft, "so was!  Geh', Jenny, 's ist nicht
möglich!"--"Seine Mägdelein!" krähte sie, "nein, so was!"  Sie schien
für Flamettis Romantik noch weniger Sinn zu haben als Jenny.

"Geh', lach' nicht!" sagte die.  "Er hat sie in der Kur.  Ich weiß es
ganz genau.  Und sie trumpfen auf.  "Das werden wir schon sehen",
sagte dieser Fetzen, die Traute.  Sie weiß, daß er ihr die Stange
hält.  Mit der Teekanne kommt sie an, gerade vorhin, und will sich
Locken wickeln.  Meine Handtücher schmieren sie mir ein.  Die Betten
zerschneiden sie mir.  Die Vorhänge reißen sie mir herunter!"

"Na, das ist doch die Höhe!" war Raffaëla paff vor Erstaunen, und
setzte die Geleeschnitte ab, die sie gerade in den geöffneten Mund
schieben wollte.  "Ja, läßt du dir das gefallen?"

"Was soll ich denn tun?  Er kommt mir ja nicht mehr nach Haus!  Er
läßt sich ja nicht mehr blicken!  Er verspielt ja das ganze Geld!
Sechshundert Franken hatten wir auf der Kasse.  Alles ist fort.  Auto
fährt er mit ihnen.  Ins Kino führt er sie.  Er ist der Häuptling
Feuerschein und sie sind seine Trullen.--Mit der Soubrette hat er
auch was.  Vor zwei Stunden ist er weggegangen.  Heut nachmittag
kommt er zurück.  Und hier geht alles drunter und drüber.  Der Engel
hat die Plakate noch nicht abgeholt und jetzt ist es zehn.  Die Häsli
wollen nicht singen heut abend und wir haben doch niemanden.  Kein
Geld läßt er mir für die Haushaltung und mutet den Leuten zu,
sechsmal Fisch zu essen in der Woche.  Natürlich laufen sie weg....."

Raffaëla schüttelte den Kopf ob solcher Unglaublichkeiten:

"Ja, Jenny, ist das denn möglich?"

"Ah, du hast 'ne Ahnung!" seufzte die, wirklich mitleiderregend, ganz
zersprengtes Gesicht, "ich weiß mir ja nicht mehr zu helfen!"

"Ja, Jenny!" rief Raffaëla, "ich bin ja starr!"

Und Jenny bemerkte wohl den Erfolg der Affäre und ihrer Person und
begann, sich selber zu trösten:

"Aber laß nur gut sein", sagte sie, "ich hab' ja auch meine Leute an
der Hand!  Ich hab' ja meinen Freund aus Baden!  Heut abend kommt er
in die Vorstellung.  Ich hab' ja Kavaliere.  Ich brauche ja nur ein
Wort zu sagen.  Brauche ja nur einen Wink zu geben...  Ich laß ihn
ins Irrenhaus stecken..."

"Jenny!"

Aber Jenny, unbeirrt: "Ich laß ihn ins Irrenhaus stecken, meiner Seel.
Ich schaffe mir Geld beiseite und geh' mit meinem Freund auf und
davon."

Das schien Raffaëla ein wenig zu abenteuerlich.  "Ach, Jenny!"
lächelte sie beschwichtigend, und patschte liebreich nach Jennys Hand.
"Lottely, schau, wie sie eifersüchtig ist!"  Und mästete sich
weiter.

"Eifersüchtig?" schepperte Jenny und zog den blauen Schlafrock mit
einem Rückfall in frühere chicke Allüren um den Leib, "nichts zu
machen!  Wir verkehren nicht miteinander.  Ich bin nicht eifersüchtig.
Ich hab' ihn genommen, weil er ein solcher Bauer war.  Weil er mir
meine Pakete trug."

"Raffaëla", sagte sie in plötzlichem Einfall, "du mußt mir helfen.
Wir stecken ihn ins Irrenhaus.  Dann machen wir zusammen ein Ensemble.
Ich hab' die Kostüme.  Du und Lydia, ihr tanzt.  Leporello (das war
Lydias Partner) wird Direktor."

"Je, Jenny!" meinte Raffaëla, "du phantasierst ja!  Beruhig' dich
doch!"  Und aß weiter, als müsse sie selbst sich beruhigen.

Schritte auf der Treppe ließen sich vernehmen.  Flametti kam zurück.

Er hing den Hut an den Nagel.  "So!" sagte er, "das ist erledigt.
Wenn die Häsli nicht singen wollen...." "dann tanzt die Mabel",
wollte er sagen.  Aber er bemerkte noch rechtzeitig Raffaëla und
sagte: "Dann hab' ich Ersatz.  Tag, Raffaëla!"

Es sei hier angefügt, daß Traute über das Mittagessen nicht
eingesperrt blieb.

"Dummes Zeug!" sagte Flametti, "das gibt es bei mir nicht.  Bei mir
wird niemand eingesperrt!"

Und Fräulein Traute wurde befreit aus dem Karzer und kam zum
Vorschein, den Kopf über und über voll Locken, die sie mit Hilfe von
Jennys Himbeersyrup, der im Taubenverschlag auf dem Schrank stand,
sehr kunstvoll ge--und entwickelt hatte.

Jenny war keine böse Frau von Natur.  Sie war edel, hilfreich und gut.
Sie schenkte den Armen und liebte ihre Feinde.  Aber sie wußte, was
sie sich schuldig war als Flamettis Weib.  Einem solchen Manne
entsprach eine solche Frau.

Wenn sie in engerem Kreise versicherte, diese Person, diese Traute,
sei nicht die erste, die sie ins Arbeitshaus bringe, so brauchte man
das nicht wörtlich zu nehmen.  Es war ein Symbol gewissermaßen für
ihre Anschauung, daß ein Mann von der Kühnheit Flamettis einer Frau
gewiß zu sein habe, die gefährlich, herzlos, zum Handeln bereit, auch
Kanaille sein könne, entschlossen, eiskalt und zu jedem Mittel bereit,
wenn es drauf ankam, sich Achtung und Furcht zu verschaffen.

Zu Mittag kamen auch Herr und Frau Häsli; beide ein wenig zerkratzt
und zerbeult, aber beide voll Liebe und Güte.  Und daran war nicht zu
denken, daß sie das "Schackerl" nicht singen wollten.  Im Gegenteil.



Und die Fuchsweide dämmerte.  Bucklig und winkelig sank sie mit ihrem
Halbhundert Gassen verschmutzt und im Rauch ihrer Herdfeuer grau in
den Abend.

Die Giebel zerschnitten sich hoch in der Luft.

Die Häuser barsten von Feuer und Licht.  Die Osram--und Tristankerzen,
die Glasglühlichter und Bogenlampen leuchteten auf.  Die Metzgereien
und Magazine und Handwerksstätten glühten wie Einkaufsbuden des
Teufels.

Man legte die Arbeitsschürzen jetzt ab in den Kellern.  Im Hinterhaus,
in den Stuben und Giebeln frisierte man sich und machte Toilette.

Los gingen die Grammophone, Orchestrione und das Elektroklavier.
Auftauchten verwegne Gestalten beiderlei Geschlechts vor beleuchteten
Spiegeln, unter dem Haustor und auf der Straße.

Auf ging der Mond, und in den Konzertlokalen tummelten freundliche
Sängerinnen und früheste Zauberkünstler bereits ihre Stimmen.

Schlächtergesellen führten den Wolfshund spazieren.  Soldaten riefen
sich zu.  Ausbündige Eleganz grüßte "Salü!"  Hoch aus dem fünften
Stockwerk, wie von der Sternwarte weg, probierte Herr Bonifaz
Käsbohrer in überschnappenden Tönen sein B-Klarinett, das er mit
Hilfe des "Tagblatts" nachmittags eingetauscht hatte gegen ein
abgenutztes Veloziped.

Dann aufdringlich und bunt: Die Rumänische Damenkapelle begab sich
zum "Blauen Himmel".  Ein Fräulein knüpfte Bekanntschaften an.
Tirolerjodler gingen mit grünen Hüten und Zitherkästen.  Ein Komiker
kam im Zylinderhut.  Drei schäbig gekleidete Herren mit Jockeymützen,
wollenen Schal um den Hals, gaben, beim Gehen leicht ihre Schultern
drehend, einer pompaduresk hoch aufgeprotzten Dame unerbetenes Geleit.

Und höllenhaft, magisch, radauend und zeternd: die Lichtreklame des
"Krokodil" entfaltete ihre chinesisch untereinander geordnete
Buchstabenreihe, die vom Dach bis zum Boden reichte.  Der ganze
"Mönchsplatz" war rot überstrahlt.  Die benachbarten Häuserfronten
schienen von rotem Licht halb aufgefressen.  Die Bummler, Passanten
und zeitungslesenden Gruppen der Arbeiter taumelten in einer Flut von
Licht.

Im Nebengebäude negerten los: die Pauke und das Tschinell.  Über der
Straße drüben rupften zwei rivalisierende Damen einander die Federn
aus.

"Ich nehme meinen Zauberstab zum zweitenmal in die Hand!" schrie es
aus der "Tulpenblüte".


"Hei, wie das prasselt und wie das herrlich zischt!
Das sieht nur einer, der in der Hölle ist!"


stampfte und klatschte es aus dem "Vaterland".  Dort schwangen
Ferreros "Lustige Teufel" die Zackenspieße.


"Welch wunderschöner Klang
Tönt durch die Straß' entlang!
Jetzt kommt auf Ehr
Das Militär
In Reih' und Glied daher!"



wetterte es, weniger diabolisch, dafür preußischer, aus der weiter
unten gelegenen "Wasserjungfer", wo auch Fräulein Kunigunde, die
Schlangendame, zugegen war.

Weiter oben aber, jenseits des Platzes, übertönte den Lärm die wie
eine Weckuhr losrasselnde französische Soubrette des "Café Neptun":


"Einrich, laß die Osen runter,
Tu mir den Gefallen!
Laß sie bitte gance erunter
Auf die Strümpfe fallen."



Unschlüssig schwankte das Publikum zwischen "Große Trommel",
"Infernalische Leidenschaft", "Kaiser Wilhelm" und "Pariser Eleganz".

Hier war was geboten!  Hier kam man auf seine Rechnung!  Und was ein
richtiger Dandy war, der von der Welt etwas verstand, entschloß sich
überhaupt nicht, hineinzugehen, sondern die Sache mehr platonisch zu
genießen, als Schauspiel gewissermaßen, von außen, als Zusammenklang,
mit der überlegenen Intelligenz dessen, den die Realität nur als
Widerspruch nicht mehr enttäuschen kann.

Noch aber hatte die Fuchsweide ihre letzte Verführung nicht
ausgespielt: die Echtheit inmitten einer Welt des Scheins; das Wunder
als Resultat unerhörter Perversitäten.  Von wem aber konnte man
solche Leistung erwarten?  Nur von Flametti.

Man staute sich vor den breiten Reklamefenstern des "Krokodilen".  Da
stand vor dem großen Aquarium voll blaugrauer Karpfen das Plakat der
"Indianer": Flametti als Häuptling Feuerschein.

So sah er aus!  So leibte und lebte er!  Das war die Synthese seiner
inneren Eigenschaften!

Wer hatte ihn nicht gesehen, mittags um zwölf, wenn man von der
Arbeit kam, vor der Haustüre, in Hemdärmeln, gutartig und freundlich?
Wer hatte ihn nicht gesehen früh morgens, wenn er mit Jenny vom
Markte kam und die Markttasche trug mit den Karotten?  Er war nicht
immer der Furchtbare, Blutige.  Zahm und umgänglich war er privatim,
ein friedlicher Bürger viel mehr als ein Menschenfresser.

Unter dem Plakat aber stand: "Alleiniges Aufführungsrecht: Flamettis
Varieté-Ensemble", ein Hieb für die Herren Direktoren.  Und der Satz:
"Wer die 'Indianer' nachmacht, wird gerichtlich verfolgt."

Das Publikum stieß sich und drängte sich; auch vor dem zweiten
Reklamefenster.  Dort standen die Bildertafeln und ein zweites Plakat:
"50 Mann Blasorchester!  Beginn: acht Uhr.  Großartiges,
allerneustes Programm!  Tanz!  Tanz!  Tanz!  Lauter Schlager!  Es
wird kassiert!"

Las es und strömte hinein ins "Krokodil".

Es kam, sah und strömte: Herr Friedrich Naumann, kurzweg der
"Krematoriumfritze" genannt, einer von Jennys scharfen Verehrern.

Es kamen, sahen und strömten: Fräulein Annie nebst Herrn Engel, welch
letzterer seinen schwarzen Gehrock angezogen hatte: "Annie!" sagte er,
"es wird großartig!  Verlaß dich drauf!"

Es kamen und strömten: Raffaëla und ihre Schwester Lydia, sowie deren
gemeinschaftliche Mutter Donna Maria Josefa, nebst einer ganzen
Anzahl männlicher Zirkusmitglieder, die alle nicht zahlten, weil sie
Artisten waren.

Es kam, sah und strömte: Frau Schnepfe, in Begleitung Flamettis und
der Hauptfrau im Abendmantel des Herrn Coiffeurs Voegeli.  Das
Publikum wich ehrerbietig zurück.

Es kamen, sahen und strömten: zwei israelitische Handlungskommis,
rote Nelken im Knopfloch; der obgenannte Coiffeur Herr Voegeli, der
seinen Regenschirm ausschüttelte; denn es regnete inzwischen.  Und
späterhin eine ganze Reihe Mannschaften des Fußballklubs "Hermes".

Drinnen aber herrschten Fieber und Spannung.  Der ganze Raum war
verwandelt in ein Gehänge blühender Rosenranken.  Künstliche Lauben
aus Birkenruten zogen sich an der Wand lang.  Festtagscharakter trug
das Lokal.

Die Tische waren sämtlich mit rotgewürfelten Decken belegt.  Saftige
Kuchen--und Tortenstücke strahlten auf blinkenden Nickeltellern.  Die
Plattmenagen mit öl, Pfeffer und Salz warfen gescheuert das
elektrische Licht unzähliger kleiner blutroter Birnen zurück.
Verschwunden war der getrocknete Rand am Senfnapf.  Und so man den
Löffel bewegte, der darin steckte: heut war er nicht angeklebt.  Es
ließ sich bewegen.

Versammelt waren bereits sämtliche Damen von Ruf.  Vorne am
Künstlertisch, wo sie heute nicht gerne gesehen war, saß Fräulein
Amalie in braunem Samtkostüm mit Bolerohut, schon seit halb acht.
Den Zwergpintscher hatte sie auf den hohen Busen gesetzt.  Das gab
ihr viel Air.  Ihre Beine, elastische Sägmehlbeine, baumelten unter
den Tisch, und sie spielte mit einer der Hängrosenranken.  Eine
Zigarette rauchte sie.  Ihr Verhältnis war Eisenbahner; heute hatte
er Nachtdienst.  Brillanten blitzten an ihren Fingern.  Die spitzigen
Halbschuhe aus feinstem Rindsleder reichten nicht ganz auf den Boden.
Auch schien das Strumpfband gerissen: die braunen Wollstrümpfe
knäulten sich unter den Waden.  Das Hündchen aber auf seiner
exponierten Stelle drehte den knappen Popo und konnte sich gar nicht
genugtun vor Freude, dabeizusein.

Weiter drüben, auf den besten Mittelplätzen, saßen der runzliche
"Totenkopf" und seine Schwester.  Der "Totenkopf" war die berufenste
Dame der Fuchsweide.  Allabendlich Gast des Flametti-Ensembles.  Weiß
geschminkt, die Augenhöhlen gerötet, saß ihr Gesicht auf dem
kropfigen Hals.  Unruhig schob sie das Hinterquartier auf dem Stuhl
hin und her, blickte sich um nach den eintretenden Gästen, band sich
das Strumpfband fester und schob währenddessen den sechsten Kuchen
zwischen das goldne Gebiß.  Sie konnte sich's leisten.  Die Schwester
des "Totenkopf" hatte das Ledertäschchen über die Stuhllehne gehängt,
tupfte die rote Nase ein wenig mit Puder und Taschentuch, und juckte
sich mit dem linken Fuß an der abgewetzten Innenseite des rechten
Knies.

An der Wand gegenüber, bescheiden in Rückendeckung, hatte sich
Fräulein Annie, die Freundin Engels, ein helles Bier bestellt, ihren
Fuchspelz loser gehängt; besah sich die Fingernägel, aus denen sie
mittels eines zerknickten Streichholzes die Erdkrumen zu verdrängen
suchte, und war sehr besorgt, mit der Manicure nicht fertig zu werden,
bevor sich ein Herr mit schottischem Schäferhund, der jetzt eintrat,
allenfalls zu ihr setzte, um ihr Gesellschaft zu leisten.

Sie lächelte kopfschüttelnd, als sei sie erstaunt, zu lächeln, konnte
jedoch ihren Hals nicht recht drehen, weil ein Furunkel dransaß.

Dieser Furunkel: ein Unglück!  Er wanderte über den ganzen Körper.
Bald da, bald dort tauchte er auf, gesellte sich andern Furunkeln zu
und konnte schon bald den Eindruck erwecken, als sei er ein ganz
besondrer Furunkel.  Annies fixe Idee war, er möchte von heute auf
morgen am Hals verschwinden und zwischen den Zähnen auftauchen.  Drum
zog sie die Oberlippe stets hoch und die Unterlippe hing ihr vom
Munde weg. Doch jener Furunkel tat das nicht.

Der Herr trat näher und sagte verbindlich:

"Wenn Sie gestatten, Fräulein!"

"Oh, bitte!" sagte Annie und nahm zugleich mit dem Stuhl ihre Röcke
zusammen, um Platz zu machen.  Und in ihr silbernes Etui greifend:

"Rauchen Sie eine Zigarette?"

"Sehr liebenswürdig!" sagte der fremde Herr und zog das
Zigarettenetui näher zu sich heran.

Herein trat Fräulein Frieda, der "Hinkepott", aufgetakelt in
Seidengrimmer, mit ausgeleierter Hüfte verschoben haxend.  Ihr folgte
Fräulein Dada in einem Schneiderkleid à la feldgraue Uniform, nach
neuestem Schick.  Der Unterkiefer hing ihr sehr lang, ein verfettetes
Dreieck.  Mit den Händen stützte sie sich, im Vorbeigehen, langsam
und sehr elegant auf die Tische.  Das feldgraue Schneiderkleid machte
Furore.  Aller Augen sahen nach ihr.  Auch diese beiden Damen begaben
sich möglichst nach vorne, um in der besten Gesellschaft zu sein und
ein wenig zu profitieren vom Rampenlicht.

Neben der Bühne aber versammelte sich das Orchester des Herrn
Fournier: fünfzig Mann mit Schlagzeug und Baßtrompeten.

Die Lehrmädel, Jenny und die Soubrette erschienen in tangofarbenen
Babyhängern, Schleifen im Haar, neigten die Köpfe, schwänzelten,
nickten den Gästen zu und gruppierten sich um den Künstlertisch.

Engel vom Vorhang aus machte verrenkt pathetische Zeichen zum Büfett
für die Beleuchtung.  Sein Gehrock flatterte.  Hinter der Bühne zog
es.  Herr Meyer entfaltete die Noten seiner Begleitmusik und
probierte, für alle Fälle, das Pedal.  Er war auf der ganzen Linie
für Pedalisierung.  Ein Leben ohne Pedal schien ihm scheußlich und
abgeschmackt.

Flametti, den Herrn Farolyi vom Zirkus Donna Maria Josefa mit
vorgestreckter Hand fachmännisch begrüßte, wischte sich mit dem
Sacktuch über die Stirn.  Jenny stellte die Kasse nebst Zubehör auf
den Künstlertisch.  Und Fräulein Traute, den Kopf wippend voll Locken,
setzte sich plumpsend daneben.

Herr Häsli hatte eben noch Zeit, seine Krawatte zurechtzuzupfen.
Frau Häsli, den Brustlatz ihrer Tochter zu arrangieren.  Dann
begann's.

"Mtata, mtata, umba, umba, umba, umba!", und Herr Fournier schlug mit
dem Taktstock, als wär's eine Peitsche.

Die Musik ging denn auch merklich vorwärts.  Nur der linke Trompeter,
der die Posaune bediente, kam nicht zurecht.  Doch das war jetzt
nicht mehr von Belang.  Los ging die Musik, daß die Schwarten
knackten.

"Ptuhh dada dada da, umba, umba!" blies die Baßtrompete in idealer
Konkurrenz mit Pauke und Schrummbaß.  Dieser Schrummbaß war die
Spezialität des Herrn Fournier.  Es war phänomenal.

Immer mehr Volks strömte hinzu.  Soldaten kamen, rote Gesichter,
silberne Epauletten, und saßen zu beiden Seiten eines mittleren
Längstisches wie Ruderer bei der Regatta.  Studenten warfen mit
Schokoladeplätzchen verstohlen nach der festlich grinsenden Rosa, die,
von Tisch zu Tisch Billette verkaufend, gar artig die Beine setzte.
Rechts von der Bühne, nahe beim Künstlertisch, steckte Fräulein Güssy
in Eile der Soubrette eine halb aufgeblühte Rose ins Haar.  Herr
Häsli suchte die Noten heraus.  An der Kasse, mit Frau Schnepfe, saß
Jenny, gravitätisch, bonzenhaft, ihrer Bedeutung vollkommen bewußt;
die Repräsentation verkörpernd.  Neben ihr Traute.

Auch Güssy und die Soubrette eilten jetzt mit Billetten ins Publikum.
Frau Häsli trat mit dem Fuß den Takt zur Musik.  Toni, die Tochter,
äugte nach Kavalieren.

"Dadadadada umba, umba, um!" machte die Musik.  Sie war angekommen am
Ziel.  Das Stück war zu Ende.

Langsamer Beifall erhob sich.  Flametti fuhr sich nervös durchs Haar.

Er schob sein Röllchen zurück, nahm einen Schluck Helles.  Dann trat
er vor und sprach:

"Meine Damen und Herrn!  Ich heiße Sie herzlich willkommen und danke
Ihnen für Ihren zahlreichen und glänzenden Besuch.  Ich gebe mir die
Ehre, Ihnen mitzuteilen"--lautlose Stille--, "daß es mir gelungen ist,
Ihnen heute abend ein ganz besonders interessantes Programm zu
bieten.  Herr Generalmusikdirektor Fournier mit seiner fünfzig Mann
starken Eisenbahnerkapelle hat Ihnen bereits eine Probe seiner
bewährten Kunst vorgelegt.  Er wird bei uns bleiben nicht nur bis elf,
wie es sonst üblich ist, sondern bis drei Uhr.  Denn: es wird
getanzt.

Sie sagen vielleicht: wie kann man hier tanzen, unter den
Heckenrosen?  Aber das ist gerade die Kunst.  Wir werden den Frühling
in Herbst verwandeln durch Aufgebot unserer dienstbaren Geister vom
"Krokodil" und Umgebung.  Durch eine geheimnisvolle Mechanik hat
unser Gastgeber, Herr Hotelier Schnabel, es möglich gemacht, im
Handumdrehen die hängenden Gärten der Semiramis in ein Palais
Mascotte, ein Moulin Rouge, in ein Tivoli zu verwandeln."

Flametti lächelte.  Der "Totenkopf" warf ihm mit offenem Mund
befremdete Blicke zu.

"Meine Damen und Herrn!" fuhr Flametti fort, "Das ist ja ein Schmus,
was ich Ihnen da sage.  Das merkt ja der Dümmste.  Das ist ja Stuß.
Aber Sie sehen heute zum erstenmal hier das berühmte Jodlerterzett
Häsli aus Bern, dessen Scherzos und herzerquickende
Jodlerlieder--"--Flametti sah sich nach Frau Häsli um--"Ihnen einen
Begriff geben werden, mit was für angenehmen, soliden und
renommierten Künstlern Sie es zu tun haben.  Ich führe Ihnen sodann
zum erstenmal hier im "Krokodil" unseren Herrn Damenimitator Arista
vor:


"Nur immer raus damit, nur immer raus damit!
Wozu haben wir's denn?  Na ja!""


Flametti kam in Stimmung.  Er zitierte und gab Probegesten....

"Ich führe Ihnen endlich hier zum erstenmal "Die Indianer" vor,
verfaßt von meinem Freunde St. Rotter, Conférencier und Improvisator
am Germania-Cabaret.

Meine Damen und Herrn!  Keine richtigen, echten, wirklichen Indianer.
Keine Sioux, Apachen, Komantschen.  Keiner wird mit die Ketten
rasseln wie auf dem Jahrmarkt, oder auf der Mess' z' Basel.  Sie
brauchen keine Angst zu haben.  Es schreckt nicht.  Es passiert Ihnen
nichts.  Sondern: Sie sehen die Wirklichkeit.  Das aussterbende Volk
der Indianer auf dem Kriegspfad.  Die Rache und die Verklärung.  Den
Häuptling mache ich selbst."

"Ich selbst", wiederholte Flametti, indem er in Selbstpersiflage
komisch an sich hinunterstrich.  "Die Musik macht Herr Meyer", und
stellte mit einer seitlichen Handbewegung den Pianisten vor.

"Sie werden dieses Ensemble sehen und ergriffen sein.  Sie werden uns
staunend Ihren Bekannten rekommandieren, wenn es Ihnen gefallen hat.

Sie können sich denken, daß solche Ausstattungspiècen bei den
heutigen Zeiten fast unerschwinglich sind.  Sie werden befürchten,
daß eine Extrakassierung stattfinden wird.  Nichts von alledem!  Wir
kassieren wie sonst.  Ohne Extraeerhebung.  Dafür hoffe ich aber, daß
auch Sie sich erkenntlich zeigen und ein wenig tiefer in den
Geldbeutel greifen.  Besonders die "Galerie".  Bei der Kassierung
bleibt die Toilette geschlossen.

Wir beginnen also jetzt mit dem Eröffnungslied.  Mister Bobby wird
Ihnen sodann seinen neu einstudierten Kautschuk--und Exzentrikakt
vorfuhren."

Er trat zurück.  Freundlicher Beifall erhob sich: man dankte fürs
Arrangement.

"Sehr hübsch", sagte Donna Maria Josefa überrascht zu Herrn Leporello,
demselben Herrn Leporello, den Jenny morgens im Gespräch mit
Raffaëla als Direktor bezeichnet hatte.

Mister Bobby, der Exzentrikmann, war inzwischen ebenfalls erschienen,
in schillerndem Eidechsenkostüm; einen hellbraunen, vom Regen
verwaschenen Sommerpaletot über den Schultern, Zigarette rauchend.

Man diskutierte die zart gesetzte Rede Flamettis und stimmte allseits
darin überein, daß Flametti in solchen sarkastisch-sachlichen Gängen
unübertroffen sei.

Der Ausfall gegen das Jodlerterzett, bei aller Anerkennung der
Häslischen Leistungen, bildete eine ganz besondere Sensation.
Solcherlei Ausfälle liebte Flametti.  Sie erweckten im Zuschauerkreis
ein Interesse, das über die rein artistische Leistung hinaus die
Person des Artisten auch von der menschlichen Seite ins Auge faßte.
Sie boten Flametti Gelegenheit, zu privaten und häuslichen Dingen
summarisch Stellung zu nehmen.  Der Vortrag vor öffentlichkeit und
Gesellschaft wurde in seinen Händen ein starkes Mittel, die Seinen an
exponierter Stelle im Zaume zu halten.

Frau Häsli war denn auch reichlich aufgebracht.

"Flametti!" stellte sie ihn zur Rede, "das war nicht nötig!  Das
haben wir nicht verdient um euch.  So eine Blamage!  Ich hab' nun
gesehen, wie man mit uns verfährt.  Ich habe nie nötig gehabt, im
Häuschen zu sitzen!",--das war eine Anspielung auf Jennys
Vergangenheit--, "na, gut, daß ich's weiß."

Hastig strich sie sich die Löckchen aus der Stirn.

"Jenny", rief sie, "das hätte ich nicht erwartet.  Pfui Teufel.  Da
sieht man's!"

Auch Häsli fand solche Manier despektierlich.  Er spuckte aus.  Sagte
aber nichts.  Rosa feixte.

Es war keine Zeit, sich aufzuhalten.

"Fort, Kinder!  Anfangen, anfangen!" drängte Flametti.  "Engel, den
Vorhang!  Fertig?  Herr Meyer!"

Die Mädel rannten hinter die Bühne.  Flametti stürzte sein Helles
hinunter.  Der Zwergpintscher auf Fräulein Amaliens Busen kläffte,
weil ihn Amalie kitzelte.  Die Rosenlauben schwankten.  Das Publikum
rückte gespannt auf den Stühlen.

Klingelzeichen.  Der Vorhang ging auf, und in einer Reihe standen:
Jenny, Rosa, die Soubrette, Fräulein Güssy und Fräulein Traute; alle
in Tangokostümen.  Rot, blau, grün, gelb, violett die Schleifen im
Haar.  Überflutet von Bühnenlicht.  Ein zärtlicher Anblick.

Die hochgeschminkten Gesichter strahlten.  Die fünf Paar Beine in
farbigen Seidenstrümpfen standen adrett geschlossen, Kadettenbeine.
Die duftigen Hänger in süßen Farben stützten kokett die baumelnden
Lockenköpfe.

Mehr oder weniger Busen sog sich voll Luft.  Herr Meyer schlug den
Akkord an.  Die ziegelrot übermalten Münder öffneten sich, und ein
Frühlings-Begrüßungsmarsch erfüllte die Bühne, das Publikum und die
Rosenlauben mit unternehmendem Marschrhythmus:


"Freunde, rasch voran, laßt die Becher kreisen!
Heiter immerdar Lieb' und Jugend preisen.
Freude nur allein kann das Leben schönen.
Schenket Kraft, spendet Mut, macht die Alten jung."


Der Beifall wurde lebhaft.  Das Orchester richtete seine Instrumente
und die Notenblätter her für die zweite Unternehmung.  Das Publikum
kam in Stimmung.

Gläser klapperten.  Stimmen schwirrten.  Satzfragmente zerknäulten
sich im Zigarettenhimmel.  Die Kellnerinnen riefen einander zu und
Herr Schnabel legte die Hand an die zurückfliehende Stirn wie ein
kleines Dach und übersah das Gewühl.  "Mehr Stühle!"  Man schleppte
noch Stühle herbei.

Die Kassierungen kamen herein: Glänzend!  Exzentrik-, Zauber-,
Gesangs--und Ensemblenummern lösten einander ab in wohlarrangierter
Steigerung.  Zwischenmusik: die Kapelle des Herrn Fournier.

An der Kasse aber saß einheimsend Jennymama, Silber--und Kleingeld
ordnend, Fünffrankenscheine wechselnd, die ankommenden Muschelschalen
ihrer kassierenden Damen so distinguiert in die Kasse kippend, als
fürchte sie, sich die Finger zu netzen.

Und als Fräulein Amalie mit dem Pintsch so nebenhin fragte: "Gutes
Geschäft?" erhielt sie die sehr reservierte Antwort: "O ja!"

Frau Schnepfe, obgleich es ihrem Geschäftsinteresse zuwiderlief,
konnte sich nicht versagen, anzuerkennen, wie hübsch der Saal
arrangiert, wie interessant das Programm und wie tüchtig Herr
Fournier sei.

Und Traute nahm die Gelegenheit wahr, sich ein wenig zu beschäftigen,
indem sie Frau Schnepfes Halsbördchen schloß, dessen mittlerer
Druckknopf entgegenkommenderweise verbogen war und allen Versuchen,
ihn mit der Nabe zu einem Ganzen zu vereinigen, beharrlichst
widerstand.

Was für einen langen Hals die Frau Schnepfe hatte!  Und wie sie nach
"Wurmsamen" roch!

Mittlerweile hatte nun Jennymama ein Portemonnaie da, nahm eine
Handvoll Silber, tat es hinein, stand auf, ging zu Herrn Meyer ans
Klavier und sagte:

"Lieber Herr Meyer", flüsternd, "ach, nehmen Sie doch mein
Portemonnaie zu sich bis nachher!  Es stört mich beim Umziehn.  Ich
habe keine Tasche im Kleid.  Gell ja?"  Und legte Herrn Meyer
vertraulich die Hand auf die Schulter.

Und Herr Meyer steckte das Portemonnaie zu sich, ohne viel Worte zu
machen, und wischte die schweißenden Tasten ab.

"Dank' Ihnen!" sagte Jennymama, "puh, welche Hitze!" und streckte
sich im Korsett, daß das Fischbein knackte, und setzte sich wieder
zur Kasse.

Und Traute stand auf, unauffällig, duckte sich, schlich zu Flametti
und raunte hastig mit fliegenden Augen an ihm empor:

"Man nimmt Geld aus der Kasse!"

"Wer?"

"Jenny!"

"Dann gib acht, wieviel sie nimmt!"

Und Traute fühlte: Triumph!, setzte sich harmlos wieder zur Kasse und
begann ein Verlegenheitsspiel mit Amaliens Seidenpintsch.

Jenny fiel auf, daß die nicht von der Stelle wich.

"Zieh' dich um!" rief sie, "die "Nixen" kommen!"

"Ist noch Zeit!" flegelte Traute sich hin, "erst kommt ja noch Engel!"

Kam auch.  Mit seiner Ausbrechernummer.

"Sie sehen hier eine Kiste...", rief Flametti auf der Bühne und
klopfte mit einem Hammer eine große quadratische Holzkiste ab.  "Aus
solidem Holz", und drehte die Kiste nach allen Seiten.  "Stand auf
dem Hofe der Firma Maulig & Kopp bis gestern.  Kein Schwindel!  Innen
fest, außen fest.  Keine Einlagebretter!  Keine Vexierwand.--Ich
werde Monsieur Henry (das war Engels Bühnenname) in diese Kiste legen.
..."  Engel war bereits gefesselt und in einen Sack eingenäht...
"Ich werde die Kiste verschließen!"... er legte den Deckel drauf...
"Sie selbst, meine Herren", zum Publikum gewandt, "werden die Kiste
vernageln."

Eine Bewegung ging vor sich im Publikum.  Mutter Dudlinger kam; spät,
doch sie kam; in Begleitung des ihr ergebenen Herrn Pips, der von
Beruf ein Student war.

Man mußte aufstehen, damit Mutter Dudlinger durchkonnte.  Man wurde
gestört, weil droben gerade der interessanteste Teil der Nummer
verhandelt wurde.  Man nahm ärgernis, machte Bemerkungen, ward
unwirsch.

"Setzen!" rief man von hinten.

"Ruhe!" rief man von vorne.

Mutter Dudlinger stand eingepfercht in der Mitte, gutmütig lächelnd,
Popoansätze am ganzen Körper, gestützt auf den Regenschirm.  Vom
Velvethut nickte die goldene Troddel.  Vom Antlitz tropfte die
Anstrengung.  Am Korsett stieg ihr der Rock hoch, weil sich der Leib
darunter, von rechts und links eingezwängt, nicht anders zu helfen
wußte.

Warum kam sie auch so spät?

Weil sie zu den Eingeweihten zählte.  Weil sie wußte, daß vor halb
zehn Uhr nichts von Belang gegeben wurde, was sie nicht kannte.

"Sie selbst, meine Herren", betonte Flametti mit ingrimmig rollenden
Augen und einem vielsagenden Blick auf den "Frauenverein", von dem
einmal wieder die Störung kam, "sie selbst, meine Herren, haben
Gelegenheit, die Kiste zu prüfen, den Deckel daraufzunageln."

Jenny winkte Mutter Dudlinger zu, unterdrückt, aber deutlich:

"Hierher, Mutter Dudlinger, hier gibt es noch Platz!" und deutete
dabei auf einen freigewordenen Stuhl in der ersten Laube, die an den
Künstlertisch grenzte.

Aber Mutter Dudlinger blieb stehen, lächelnd ob soviel Güte.  Mit dem
schwitzenden Zeigefinger lüpfte sie eingegergelt das samtene
Kropfband.  Mit dem Regenschirm gab sie Erklärung, sie wolle lieber
an Ort und Stelle warten, bis diese Nummer vorüber sei.

Herr Pips seinerseits versuchte mit plötzlichen, wohlorientierten und
freudige überraschung bekundenden Gesten Jennymama zu bedeuten, der
Herr Krematoriumfritze säße ja ganz in der Nähe, und ihm, dem Herrn
Pips, sei es unverständlich, wie Jennymama bei der langweiligen Kasse
sitzen könne, statt hier, hier, hier bei dem Krematoriumfritze.

Der Herr Krematoriumfritze aber verleugnete völlig jedes Interesse.
Breitknochigen Angesichts saß er finster vor seinem Veltliner,
Zigarre rauchend, und tat, als ob er die Jenny nicht sähe noch sehen
wolle, heimlich doch gar voll schnackelnder Gedanken.

Es ist so schwer, Gefühle bemerkbar zu machen.  Am besten, man tut,
als habe man keine, noch irgendwelche Absichten.  Möglich auch, daß
sein ingrimmiger Ernst von seinem Beruf herrührte.  Wenn man jahraus,
jahrein Leichen verbrennt, kann man nicht ohne weiteres und im
Handumdreh'n das Gehaben finden, das eine Primadonna bestrickt.
Deren in Fleischeslust bebende Schwanenbrust hatte er längst
bemerkt--so mal seitwärts--, und wieviele Fünfliver er in der Tasche
hatte, wußte er auch.

Und Herr Pips wieder seinerseits, der dies mißverstand, suchte Herrn
Naumann--Friedrich Naumann hieß der Herr Krematoriumfritze, genau wie
der deutsche Nationalökonom--diskret auf Jennymama hinzulenken,
ebenfalls mit Gesten.  Doch gelang es ihm nicht, ein gegenseitiges
Verständnis zu erzielen.

"Sie sehen", sagte Flametti und stürzte die Kiste, "die Kiste ist
völlig geschlossen."

"Wissen wir schon!" sagte Herr Pips halblaut und winkte ab mit der
flachen Hand.

Die Gäste seiner Umgebung wußten sofort: der gehört zur Familie.  Und
dem war auch so.  Herr Pips war der erklärte Freund der Artisten,
häufigster Gast Mutter Dudlingers und der Flamettis.  Er bezog einen
Monatswechsel von dreihundert Franken.

Es kam, wie es kommen mußte: auch diese Pièce war schließlich zu Ende.
Man machte Platz und Mutter Dudlinger und Herr Pips fanden
Unterkunft in der Rosenlaube, wo sich Herr Pips sofort unbehaglich
fühlte, weil er nicht nach Wunsch Fühlung nehmen konnte.

Das Orchester spielte den Hindenburgmarsch, breit, wuchtig und forsch,
wie es der Denkungsart dieses obersten Heerführers entspricht, als
eben mit ihrem Impresario Miß Ranovalla de Singapore eintrat, ein
siamesisches Gegenstück zu Mutter Dudlinger, schwarz von Gesicht, ein
zinnoberrotes Mäntelchen um die Schultern gehängt, aufgeputzt wie ein
Affe.

Und das Häsliterzett sang soeben das "Schackerl", als wie auf
Verabredung auch Herr Direktor Ferrero erschien, der heute abend
nicht spielte.

Einige Gäste, die zur Bahn mußten, standen auf.  So bekam er rasch
Platz, abseits vom Künstlertisch.

"Schackerl, Schackerl trau di net!" gingen Mutter und Tochter singend
mit neckischem Mienenspiel und erhobenem Zeigefinger auf den
unglücklich die Mitte behauptenden Häsli los.

"Trau mi net", erwiderte Herr Häsli ängstlich und sehr verschüchtert,
aber mit einem plötzlichen Aufschauen und Horchen, das unsagbar
drollig wirkte.

"Hoam zu deiner Alten", sangen Mutter und Tochter, indem sie ihn
ausspotteten.

"Dreahn ma lieber weiter no", sangen alle drei und faßten sich bei
den Händen.  Die Musik hielt drohend das "no" aus.

"Trink ma no an Kalten!" sank die Musik.

"An Kalten", wiederholte Herr Häsli mit aufleuchtendem Grinsen, und
persiflierte Bauerneleganz.

Die Liebenswürdigkeit seiner Damen war bezaubernd.  Sie waren so
recht in ihrem Element.  Und Herr Häsli machte also doch "das Kalb".

Die Musik aber--hier begleitete nicht Herr Meyer, sondern das
Orchester--feierte eine Orgie.

Hörner, Piston, Baßklarinett; Tuba, Trommel und Fagott schrieen,
zeterten, kreischten, gröhlten.  Die Schallöcher der Trompeten
stachen wie Sternwartenrohre nach allen Seiten gelb in die Luft; sie
spieen Musik.  Die Augen der Bläser verdrehten sich und drohten als
blanke Kugeln aus ihren Höhlen zu fallen.  Die Disharmonieen
zerfetzten einander.  Und Herr Fournier, der für das Ganze
verantwortlich war, gebärdete sich wie ein Wilder.

"Kriagst dei Murrer sowieso..."

"sowieso", nickte Herr Häsli vergelstert.  Das ganze Lokal brüllte
mit: "sowieso".  Die Damen kreischten auf, weil sie sich in einer
Eigentümlichkeit ihres Idioms erkannt sahen.

"Tu' jetzt drauf vergessen", lenkten Frau Häsli und ihre Tochter ein;
mit ihnen die Musik, die plötzlich zartest und pianissimo wurde.

"Laß dei Alte Alte sei!" johlte die Musik--Herr Häsli improvisierte
ein "Juhu!", das er mit einem Freudensprung begleitete, und schlug
sich auf sein nacktes Tirolerknie-"Die wird di net fressen."

"Net fressen", wiederholte Herr Häsli mit täppischer Sorglosigkeit,
begleitet von der magenerschütternd drohenden Baßtrompete, die wie
der "Murrer" der Alten klang, so daß Herr Häsli entsetzt und mit
offenem Mund nach Herrn Fournier stierte.

Der lächelte.  Das Publikum raste.  Die Rosenhecken wackelten.  Einem
Herrn fiel der Kneifer herunter.  Der "Totenkopf" streckte die Beine
weit von sich und hielt sich den Leib vor Lachen.  Annie bog sich vor
Lachen wiehernd auf die Seite zu ihrem Kavalier, daß sich die Köpfe
berührten.

"Hoh, hoh!" brüllte die "Galerie".

Flametti allein schmunzelte nur.

Und jetzt begann der Jodler:

"Hollo dero hi, hollo dero....", schnackelten, klatschten und
plattelten die drei auf der Bühne.  Es war überwältigend.  So ein
Erfolg war noch nicht.  Unerhört!  Festrausch verbreitete sich.  Das
war Stimmung!

"Jesses, Jenny!" rief Fräulein Amalie voller Entzücken und doch
kopfschüttelnd, "Trau mi net": wie er das singt!  Wie er das singt!"

"Kassieren!" rief Jenny.

Rosa, Güssy und die Soubrette rannten mit den Muscheln.

"Los, kassieren!" schrie Jenny auch Fräulein Traute zu, die noch
immer am Tische saß und nicht von der Kasse wich.

Fräulein Amalie nahm die Gelegenheit der Pause wahr, einmal
hinauszugehen.  Frau Schnepfe stand auf, um die Häslis und Flametti
zu beglückwünschen.

"Gehen Sie doch selbst kassieren!" antwortete Traute gereizt, aber
schlicht.

"Gehst du kassieren oder nicht?" drohte Jenny unterdrückt, um keinen
Skandal zu machen.

"Ich habe hier aufzupassen!" antwortete Traute.

"Was hast du hier?"

"Aufzupassen", sagte Traute.  "Sie nehmen Geld aus der Kasse."

"Was tu' ich, Lumpenmensch?" knirschte Jenny und packte Traute trotz
Publikum und Konzert über den Tisch beim Kragen.

"Lassen Sie mich los!" rief Traute.  "Ich habe den Auftrag,
aufzupassen.  Ich habe gesehen, wie Sie dem Pianisten Geld zusteckten.
Ich kann aber jetzt auch gehen, wenn Sie wollen.  Ich habe keine
Lust, mich von Ihnen mißhandeln zu lassen.  Sie werden das weitere
sehen.  Sie sind abgesetzt.  Sie machen für uns die Kassiererin
solange, bis wir uns eine andere nehmen."

"Max!" rief Jenny und fegte hinter die Bühne, "Max!" ganz hysterisch.
Das war ihr zuviel!

Man wurde aufmerksam, reckte die Hälse.  Traute zuckte die Achseln,
mitleidig, und schnickte mit dem Kopfe.

Da spürte Jenny eine Hand auf ihrer Schulter und drehte sich um.  Der
Freund aus Baden stand hinter ihr.

Auch er war gekommen, soeben, hatten den Steifen noch auf dem Kopf,
den Regenschirm hängend am Arm.  Schnurrbart kurz aufgekräuselt.
Paletot zugeknöpft, Teilhaber der Firma Seidel & Sohn, Wäsche engros.

"Na, was gibt es denn, Jenny?" fragte er ruhig, begütigend.

"Ah, guten Abend!" faßte sie sich, "nichts weiter."

"Setz' dich doch her!" sprach er ihr zu, hing Paletot, Hut und Schirm
an den Haken, und setzte sich, seinen Smoking glättend, zum
Künstlertisch.

"Nichts, nichts!" versicherte Jenny.

"Na, siehst du!" meinte Herr Seidel, stolz auf die Suggestion, die
auszuüben er sich befähigt fühlte.

Traute ging selbstgefällig in die Garderobe.  Sie hatte es ihr
gegeben, dieser Bordelldame.

Flametti kam und fragte ein wenig unsicher:

"Was gibt's?" und begrüßte Herrn Seidel.  Frau Häsli saß bei Direktor
Ferrero.

"Siehst du dort?" zeigte Jenny auf das verhandelnde Paar.

"Meinetwegen!" zuckte Flametti die Achseln.  "Wer kassiert?"

"Rosa, Güssy und die Soubrette."

"Wo ist die Traute?"

"In der Garderobe."

"Gut!" sagte Flametti, sehr in Gedanken, und setzte sich, aufgedunsen
und abgehetzt, an Donna Maria Josefas Tisch.

"Das ist ja fabelhaft!" glückwünschte Herr Farolyi, der Kunstreiter,
und schob Flametti einen Kognak hin.  "Na, ihr habt euch ordentlich
rausgemacht!"

"Jo!" meinte Flametti wegwerfend, stürzte den Kognak, stand auf und
begrüßte Miß Ranovalla.

Das Lokal war jetzt überfüllt.  Wenn das Orchester spielte, verstand
man sein eigenes Wort nicht mehr.

Herr Arista war ganz vergebens bemüht, sich Geltung zu verschaffen.

"Nur immer raus damit, nur immer raus damit!" sang er in hohem
Diskant.  Ein Schleppkleid trug er, reichlich mit Spitzen besetzt.
Seine Allüren waren von jener holzigen Grazie alttoskanischer
Edelfrauen.

Aber man hörte ihn nicht.  Vergebens kämpfte er gegen das laute
Interesse der animierten Habitués.  Man sah nur die Gesten, die zu
besagen schienen, daß er sich übergeben wolle.  Man fand es dégoutant.
So sehr Dandy war man schon, daß man die Aristokratie im großen und
ganzen gelten ließ.  Es bedurfte so peinlicher Hinweise auf deren
Materialismus nicht, um ihn abzulehnen.

Es war indessen ein Mißverständnis.  Die Gesten des Herrn Arista
bezogen sich auf seinen Busen, ganz und gar nur auf seinen Busen, von
dem das Couplet von A bis Z handelte.  Damen, Damen, Damen stellte er
dar.  Aber eben: man verstand ihn nicht.

Herr Pips gab die Anschauung von sich, ein Damenimitator überhaupt
sei ihm widerlich.  "Nicht Fisch, nicht Fleisch."

"Komm doch mit mir, mein Auto steht draußen!" arbeitete Herr Seidel
von der Firma Seidel & Sohn an Jenny, "mein Auto steht draußen.  Du
brauchst nur einzusteigen."

"Umziehen!  Indianer!" drängte Flametti vorn bei der Rampe.

"Jetzt kommt's!" sagte Engel zu Annie, einen Moment über ihren Tisch
gebeugt mit aufgestützten Händen und ohne Rücksicht auf den
zigarettenrauchenden Kavalier.  "Na, es ist ein Erfolg!"

"Sehen Sie die kleine Soubrette?" sagte Frau Schnepfe zu Mutter
Dudlinger, "wie die kassiert!  Die versteht's!  Das ist ein Geschäft!"

"Geschäft glänzend!" erwiderte Mutter Dudlinger, ganz verfettet, doch
freundlich sympathisierend.  Flametti war ja ihr vorzugsweise
begünstigter Protegé.

Der "Totenkopf" und seine Schwester aber standen auf mit zwei
Kavalieren, die etwas wüst aussahen, und verließen ostentativ das
Lokal.  Ostentativ bezüglich einiger ihrer Kolleginnen, die denn auch
nicht ermangelten, den Abgang spitz zu glossieren.

"Mba, mba, mba!" dröhnte die Musik.

Und Herr Direktor Farolyi vom Zirkus Donna Maria Josefa, ein
Pferdekenner wie kein zweiter, Flamettis erklärter Freund, kam aus
der Garderobe, steifte sich auf vor der Rampe, klopfte ans Glas und
sprach:

"Meine verehrten Herrschaften!  Sie erleben jetzt die Sensation
dieses Abends.  Unser Freund Flametti wird Ihnen jetzt seine von St.
Rotter bearbeiteten "Indianer" vorführen.  Gestatten Sie mir, mit
kurzen Worten meiner Freude über den wohlgelungenen Abend und meiner
Bewunderung für unsren verehrten Flametti Ausdruck zu verleihen.
"Die Indianer": welche Gefühle durchwandern unsere Brust beim Klang
dieses Wortes!  Welche Ahnungen entzücken das Herz!  Welche
Hoffnungen und Erinnerungen liegen darin begraben!  Der Rausch
unserer Kindheit, die Freude unserer Mannbarkeit!  Wer hoffte nicht
selbst, als Indianer die Gefilde unserer Heimat zu durchschweifen.
Wem zuckt die Hand nicht nach Feuerwasser, dem Bowiemesser, nach dem
Skalp unserer Feinde!..."

Die Damen lächelten hold.  Die Augen ihrer Freunde blitzten
verständnisinnig, verlegen.

"Wir alle kennen die Namen unserer Unterdrücker.  Ich brauche sie
nicht zu nennen...."

Herr Detektiv Steix, der auch von der Partie war, zog sein Notizbuch
heraus und notierte sich etwas.

"Wir alle lieben die Freiheit, die Pferde, den Wigwam, den Kriegspfad.

Das alles sehen Sie in den "Indianern", die unser verehrter Freund
Ihnen jetzt vorführen wird.  Sie sehen sogar noch mehr.  Rache und
Vergeltung im Jenseits.

Unterdrückt von der brutalen Gewalt der Eindringlinge müssen sich die
Indianer verstecken in Urwald und Sumpf, zwischen Nattern und
Schlangen.  Das sind wir, lieber Leser, das sind wir, teure Freundin.
Die Luft unseres stillen Quartiers wird mehr und mehr erfüllt von
den Klagen der Opfer, die sich die Polizei herausgreift.  Das Volk
der Indianer geht dem Verfall entgegen.


"Doch dort oben in dem ew'gen Jagdgebiet
Singt der Indianer Volk sein Siegeslied",


und so schließe auch ich mit dem Ausruf:


"Doch dort oben in dem ew'gen Jagdgebiet
Singt der Indianer Volk sein Siegeslied."


In diesem Sinne erhebe ich mein Glas und stoße an auf das Wohl und
Gedeihen, das Glück und Genie unseres einzigartigen Flametti.  Er
lebe hoch!"

Herr Farolyi, der Ungar, hatte sein Glas erhoben und leerte es in
einem Zug.

"Flametti, der Häuptling, hoch!  Flametti, Flametti!" tobte das
Publikum.  Man stampfte und johlte...

Der Vorhang hob sich.  Leer war die Bühne, und die "Indianer" fanden
statt.

Erst die Ouvertüre mit den worgelnden Donner--und Blitz-Akkorden.

Dann der Kriegspfad:


"Die Letzten von dem Stamm der Delawaren,
Die Kriegerscharen
Der Delawaren--"


Dann der zweite Vers:


"Wenn man das Letzte uns genommen,
Wenn unsre Besten umgekommen,
Ziehn Falkenaug' und Feuerschein
Zum großen Geist dort oben ein.
Dann heben sich die Roten Brüder
Zu neuem Reich und Glanze wieder,
Und es erreicht das Blaßgesicht
Für seinen Raub ein Strafgericht."


Dann der dritte Vers, den Herrn Farolyi als Ausklang zitiert hatte:


"Und dort oben in dem ew'gen Jagdgebiet
Singt der Indianer Volk sein Siegeslied.
Einmal wieder ziehn wir noch auf Kriegespfad,
Einmal noch, wenn der Tag der Rache naht."


Und die Lichter im Saal waren verdunkelt.  Und die Indianer, Flametti,
Jenny, die Soubrette, Fräulein Rosa, Fräulein Güssy und Fräulein
Traute schwenkten die roten Laternchen, in hohem Federschmuck, und
sangen so monoton-klagend, so herzergreifend-verschollen, daß
Fräulein Amalien und Mutter Dudlinger die Tränen in die Augen traten;
daß Herr Meyer plötzlich glaubte, er habe falsch gespielt, und
infolgedessen für einen Moment wirklich daneben griff; daß Engel beim
Vorhang seine Erregung nicht anders mehr bemeistern konnte, als indem
er zitternd eine Zigarette anzündete; und Herr Farolyi, der wieder
bei Donna Maria Josefa saß, ein über das andere Mal ausrief: "Macht
er wirklich hübsch, der Flametti!"

Gewiß hätte jetzt auch Herr Rotter seine Freude gehabt; denn die
Nasen, besonders die Flamettis, waren überraschend gut geklebt.  Und
für den dritten Vers hatte sich Max eine so prachtvolle Apotheose
ausgedacht,--er allein stand aufrecht.  Die Weiber knieten mit
gesenkten Köpfen und Lanzen um ihn herum.  Dann sprangen alle auf,
ganz vor an die Rampe in eine Reihe, und drohten mit geschwungenem
Tomahawk--, daß auch der stumpfeste Batzenbengel solcher Auffassung
Unübertrefflichkeit hätte zusprechen müssen.  Besonders die Damen
hielten sich über Erwarten gut.

Es war ein runder, glatter Erfolg.

"Flametti!  Flametti!  Feuerschein!" schrieen die , als
der Vorhang fiel und sich noch einmal hob.

Herr Farolyi in vehementem Enthusiasmus, ging klatschend bis vor die
Rampe.  Donna Maria Josefa winkte mit Flatterhand.  Mutter Dudlinger,
die so selbstlos den Fünfzigfrankenschein vorgestreckt hatte,
strahlte ein Strahlen, das über das ganze Lokal hinstrahlte.  Miß
Ranovalla de Singapore, speckiges Wunder, stand auf und ließ ihre
beschatteten Augen schweifen.  Sie empfand die Exotik dieser
"Indianer" als eine ihr ganz persönlich gewidmete Ovation.  Und
Flametti verbeugte sich bärig, lächelnd, mit leuchtenden Jungensaugen,
ob all dem Glück und Erfolg.

Die Musik intonierte, wie auf Verabredung, den Missouristep, von
Engel mit selbstgefertigtem Plakat zu Bewußtsein gebracht.  Bobby zog
seinen Sommerpaletot aus und parodierte in glitzernd zur Schau
gestelltem Eidechsenkostüm.

"Flametti!  Flametti!  Feuerschein raus!" tobte das Publikum immer
noch, und Flametti mußte allein erscheinen.  Kühn, leuchtend und groß
stand er inmitten der Bühne, Delaware von Kopf bis zu Fuß, Held
dieses Abends, Würdenträger und Häuptling seines Reviers.

Nach der Kassierung aber kamen die dienstbaren Geister vom "Krokodil"
und Umgebung und räumten mit Hilfe des Publikums die Rosenhecken weg,
soweit sie im Wege waren.  Ein anstoßender zweiter Saal wurde
geöffnet.  Eine Vermischung des Varieté-Ensembles mit dem Publikum
fand statt: es wurde getanzt.

"Nein, Jenny, was ihr für ein Glück habt!" rief Raffaëla, "ich muß
mich ein bißchen zu euch setzen!" und sah Jenny träumerisch in die
Augen.

"Fräulein Raffaëla", stellte Jenny vor, "Herr Seidel, mein Freund aus
Baden; Fräulein Amalie, Frau Schnepfe."

Und Raffaëla, da Jenny gerade damit beschäftigt war, die Kassierung
nachzuzählen: "Was für ein Glück!"

"Ach, Raffaëla", seufzte Jenny, "wenn du wüßtest!"

"Was macht er denn?" flüsterte Raffaëla.

Und Jenny, unendlich traurig, die Hand am Munde, dann abwinkend:

"Ach, ich will lieber schweigen!"

Herr Seidel aus Baden zwirbelte unternehmend, mit disziplinierter
Eleganz, seinen Schnurrbart.  Er stützte die Hand auf den Schenkel.
Der Ellbogen stand weit ab.

"Boston!" rief der Tanzordner und rutschte mit schleifenden Füßen
durch den gebohnerten Saal.

Frau Schnepfe schüttelte den Kopf ob solchen Tumults.

Fräulein Amalie, den Rücken an die Wand gelehnt, streichelte ihren
Zwergpintsch mit der gepflegten Haltung einer Dame, die in der
Hofloge sitzt.

Flametti, noch im Indianerkostüm, ging durch den Saal und quittierte,
mit seiner Stattlichkeit renommierend, die flüssig ihm dargebotenen
Glückwunschbeweise.  Man befühlte die Lanze, die Lederhosen, den
Halsschmuck.  Auch Herr C. Tipfel von den Sunda-Inseln war da.

"Du poussierst mit Flametti!" warf Bobby der treulosen Traute vor,
mit der er seit Wochen in zünftigem Briefwechsel stand.  Sie standen
beim Vorhang.  "Ich hab' es gesehen.  Er hat dich ans Bein gefaßt,
als du die Treppe hinaufgingst.  Ich hab' auch gesehen, wie ihr
getuschelt habt miteinander."

"Dummer Fatzke!" gab Traute zurück, "was bild'st du dir eigentlich
ein?  Bist ja zwei Köpfe kleiner als ich!  Willst du eine Frau
ernähren!"

"Na, schön!" sagte Bobby und musterte sie von oben bis unten.  "Pfui
Teufel!"  Er nahm seinen Regenschirm, zog den Paletot an, sagte
"Grüatzi!" und ging in den "Hopfenzwilling".

"Ach, Raffaëla!" sagte Jenny, "du glaubst es ja nicht!  Aber wart'
nur ab!  Ich werde mich revanchieren!"

Die Soubrette kam an den Tisch.

"Na, Fräulein", sagte Herr Seidel freundlich, "was trinken Sie?"

Die Soubrette zierte sich.

"Einen Eierkognak?"

"He, Fräulein!" hielt er die Kellnerin fest, "einen Eierkognak!"

Die Soubrette nahm Platz.  "Laura heiße ich."

"Fräulein Laura--hübscher Name!" sagte Herr Seidel und legte den Arm
um ihre Stuhllehne.

Jenny entging es nicht.  Sie hatte die Kasse gezählt und winkte
Flametti.  "Da nimm: Hundertneunzig Franken."

Flametti schob das Geld mit gekrampfter Hand in die Hosentasche und
fühlte sich verpflichtet, eine Weile stehen zu bleiben.

"Wo ist die Traute?" fragte Jenny.

"Was weiß ich, wo die Traute ist!" fuhr er auf, "sie wird tanzen."

Jawohl, Fräulein Traute tanzte.  In ausgelassenem Vorüberschieben
warf sie Flametti einen kokett-auffordernden Blick zu.  Hei, flog ihr
Kopf in den Nacken!

"Ja ja, die Jugend!" träumte Frau Schnepfe resigniert.

"Uff!" schnaubte Flametti, "das war eine Hetze!"  Jetzt lief es von
selbst.

Vorbei schob: Herr Scherrer, Handlungskommis aus Wien, mit Fräulein
Rosa.  Vorbei schob: Herr Glatt, turmhoher Stehkragen,
Handlungskommis aus der Mark Brandenburg, mit Fräulein Güssy.  Vorbei
schob: Herr Pips mit der hüftengewaltigen Lydia.  Vorbei schob: der
Herr Krematioriumfritze, mit der in Feldgrau.

"Das ist der andere!" flüsterte Jenny vertraulich Raffaëla zu.
"Schwer reich.  Der spendiert nachher Sekt.  Immer französischen Sekt.
Er tut jetzt so, als säh' er mich nicht."

"Stattlicher Mann!" gab Raffaëla sich Mühe.  Es schien ihr ein wenig
drauf anzukommen, Jenny die Ruhe zu nehmen.

Aus der Garderobe kam als der letzte Herr Meyer.  Er hatte die Noten
hinaufgetragen.  Unschlüssig blieb er stehen, Jennys gespicktes
Portemonnaie in der Tasche, das ihm bei jedem Schritt wie ein Klotz
an den Schenkel schlug.

"Ach, Herr Meyer", sagte Jenny und streckte sich über den Stuhl zu
ihm hin, "geben Sie her!  Es ist nicht mehr nötig!" und ließ das
Monstrum von Portemonnaie, das Meyer ihr gleichgültig gab, in den
Busen rutschen.

Und Herr Meyer trat zu Flametti, sah in das Gewühl und meinte: "Pfui
Teufel, ist das eine Hitze!"

Und den Walzer tanzte auch Mutter Dudlinger.  Sie hielt den Herrn
Pips fest um die Taille gefaßt und drehte sich auf den Zugstiefeln.
Herr Pips aber drehte sich wie ein Trabant um die Sonne.
Meistenteils war er verfinstert.

Und Engel machte auch Jennymama seine Aufwartung, animiert wie man's
werden kann, erhielt aber glatt einen Korb.  "Ach, der Engel!"
lächelte Jennymama.

Und noch um ein Uhr kam ein Rudel Studenten: holländische Forsteleven.
Die schoben und pfiffen und klatschten dazu.  Und hatten eine
eigene Laute dabei und stellten das ganze Lokal auf den Kopf.



Wer dem Indianerfeste nicht bis zum Ende beiwohnte, und wer Jenny
nicht kannte, erlebte am nächsten Tag überraschungen.

Flamettis Erfolg war unbestritten.  Und galt ihm allein, nur ihm.  Er
wurde gefeiert in allen Tönen.

Aber gerade das vertrug Jenny nicht.  Gerade das lehnte sie ab.  Sie
konnte in ihrer offenbaren Beschränktheit nicht einsehen, daß für
Flametti dieses Indianerspielen ein Bild, ein Symbol war, ja eine
Lebensfrage; begriff nicht, wie ein vernünftiger Mensch, ein Mann,
sich so kindisch benehmen konnte.  Sie hatte, kurzum, keinen Sinn für
die Illusion, verstand auch nicht, was der Farolyi gekauderwelscht
hatte.  Spielen, Wetten, Revolverschießen; Pariser Apachen,
Felsengebirge und Honolulu; ein Ritt durch die Wüste, Komantschen,
Bluthunde und Polizei: das alles waren ihr spanische Dörfer.

Weltfremd war Jenny und eitel dazu.  Sie konnte für möglich halten,
das ganze Fest sei nur für sie arrangiert gewesen; Flametti nur für
sie, für Jennymama, geboren, sei es, indem er den Diener machte, wenn
sie Karotten einkaufte; sei es, indem er Mannderl und Weiberl
schnitzte fürs Wetterhäuschen.

Und ganz besonders: für "Wigwams" hatte sie gar keinen Sinn.  Sie
hielt das für Humbug.  In kleinlicher Mißgunst klammerte sie sich an
äußerlichkeiten, warf ihm gewöhnliche Vielweiberei vor.  Als ob sich
ein Mann seiner Art von der Fertigkeit eines einzigen Weibes
gefesselt, entzückt und versorgt fühlen konnte.

Flametti versuchte umsonst, es ihr klar zu machen, morgens um zehn
Uhr, im Bett.  Sie verstand nicht.

"Also was heißt das?" setzte sie sich verbissen und leidenschaftlich
im Bett auf.

"Daß ich meine Ruhe haben will!" erklärte Flametti abschließend und
drehte sich nach der anderen Seite.

Aber damit gab Jenny sich nicht zufrieden.  So ließ sie sich nicht
abspeisen.  Klarheit wollte sie haben von wegen dieser Person, dieser
Traute, der Schlampen, die nicht einmal wußte, wozu die Klosettschnur
da war, und die es doch wagte, ihr dreist ins Gesicht zu sagen, man
habe sie "abgesetzt".

"Du, Max, ich will Antwort!" drohte sie, "wie ist das mit der Traute?
Mach' mich nicht wild!  Ich hab' euch wohl tuscheln sehen, gestern
im "Krokodil"!  Gut: es war Publikum da.  Aber heut will ich's wissen."

"Himmelherrgottsakrament, laß mir jetzt meine Ruhe!" setzte Flametti
sich ebenfalls auf.  "Was soll ich denn machen mit ihr?  Was willst
du denn?  Soll ich vielleicht den Heiligen spielen?  Darf ich nicht
meine Nachtruhe haben?  Plag' ich mich immer noch nicht genug?"  Eine
Prügelszene im Bett stand bevor.

"Gut!" sagte Jenny, "laß nur!"  Sie wußte Bescheid.  Heraus sprang
sie aus dem Bett, warf sich den Schlafrock über und war schon im
Lattenverschlag.

"Traute raus!" schrie sie und packte die schlafende Traute beim
Kragen.

"Pack' deine Sachen zusammen.  Vorwärts marsch, marsch!  Und heraus
aus der Wohnung!"

Traute fuhr auf.  Der Ton, der ihr ans Ohr drang, war zu energisch,
als daß es ein Weigern gab.  Schlaftrunken, eben noch mit dem Kommis
aus Brandenburg Twostep schiebend, glitt sie über die Bettkante
herunter.  Unterkleider und Schuhzeug griff sie, stürzte das
Tanzkleid über den Kopf und bemerkte erst jetzt, worum es sich
handelte.  "Raus, wohin?" fragte sie erstaunt.

"Raus aus der Wohnung!  Raus auf die Straße!  Ins Arbeitshaus, wenn
du Lust hast!  Nur raus, und zwar sofort, oder ich hole die Polizei!"

Große Augen machte Fräulein Traute.  Arbeitshaus?  Straße?  Polizei?
Was war denn passiert?  Was war denn geschehen?  Warum?  Wieso?  Was
hatte sie denn getan?

Sie bekam's mit der Angst.  Verstört und verdattert riß sie die Augen
auf.  Ihr Mund hing schief.  Zitternd und bebend beeilte sie sich,
ihr Kleid zu schließen.

"Was hab' ich denn getan?  Ich habe doch nichts getan!" stotterte sie.

"Du wirst schon wissen, was du getan hast!" schrie Jenny.  "Fort!
sag' ich dir!  Raus!  Nur raus!  Ich werde dir Beine machen!"; riß
Trautes Sachen vom Haken und warf sie ihr zu.  "Das andere kannst du
dir holen lassen.  Nur raus, auf der Stelle!"

"Sie haben mich hier nicht rauszuwerfen.  Flametti hat mich hier
rauszuwerfen!" versuchte Traute.

"Was hab' ich?" schrie Jenny, jetzt vollends rabiat, und keilte die
Künstlerin aus dem Verschlag.

Die hielt sich mit beiden Händen fest an der Tür.  Die Türe schlug zu.
Zwei Vasen mit Binsen und Klatschmohn fielen zerschellend hoch vom
Büfett.  Nettchen, der Dackel, schoß, ein fauchendes Krokodil mit
zwei Reihen Sägezähnen, hervor aus den Sofafransen.

Die Mädel kreischten.  Flametti, im Hemd, mit haarigen Beinen, drang
aus dem Hauptfrauzimmer.

"Was gibt's denn da?" riß er die Sklavin der Hauptfrau weg.

"Hier gibt's eine Kindsleiche, wenn sie nicht rauskommt."

"Hilfe!  Hilfe!" schrie Traute, als sei ihr der Hals bereits
abgeschnitten, und rannte zum Fenster.

"Bist du ruhig!" drohte Flametti mit aufgeblasenen Backen.  Schon war
die ganze Nachbarschaft an den Fenstern.  Eine Scheibe klirrte.

"Raus kommt sie!" arbeitete Jenny.

"Willst du ruhig sein!" schäumte Flametti, ergriff das Brotmesser,
das auf dem Tisch lag, und ging auf die Frau los.

"Hilfe!  Hilfe!"  Jenny stieß auf der Flucht mit dem Kopf an den
Spiegelschrank.  Nettchen, gurgelnd und seibernd, sprang hoch an
Flamettis Brust und verbiß sich im rot-weiß gestreifelten
Baumwollhemd.

Flametti kam zur Besinnung und ließ das erhobene Messer sinken.

"Machst du jetzt, daß du hinauskommst!" funkelte er Traute an und
bedeutete ihr mit dem Zeigefinger den Weg.

Und Traute, entsetzt, in die Enge getrieben, lief heulend über das
Plüschsofa, am Rocke den wütenden Hund nachschleifend, nahm einen
viertel Fußtritt Flamettis mit, schrie Zeter und Mordio, rannte die
Treppe hinunter zur Straße, und lief, was sie laufen konnte.

Die Mittagstafel war schlecht besucht.  Auch die Häslis fehlten.  Sie
hatten Kontrakt gemacht mit Ferrero, gestern noch spät in der Nacht,
nach dem "Schackerl", und fanden es nicht übertrieben, Flametti
Adieus zu ersparen.



V



Herr Meyer sah aus wie Friedrich Haase als Richard der Dritte.  Man
fuhr nach Basel.  Herr Meyer sah aus, als sei er, Herr Meyer,
verantwortlich für diese Partie.  Man fuhr zu Herrn Schnepfe nach
Basel, und dieser Herr Meyer sah aus, als sei's eine Fahrt nach dem
Feuerland.

"Sehen Sie mal, Herr Meyer", sagte Flametti, "ich kenne doch
Schnepfes Lokal.  Keine Sorge!  Wochentags leer.  Aber Sonntags
brillant.  Und jetzt zur Meßzeit, mit unseren Schlagern...!  Das
Wichtigste ist: man muß ihm den Schneid abkaufen, dem Schnepfe.  Von
vornherein.  Gar nicht aufkommen lassen.  So und so sieht es aus bei
uns.  Das und das brauchen wir.--Großes Lokal bei den Schnepfes.
Prachtvolle Zimmer.  Guter Kontrakt."

Aber Herr Meyer schien seine Bedenken zu haben.  Er hörte kaum zu.
Rauchte 'ne Zigarette und spuckte wegwerfend durchs Coupéfenster.

"Sehen Sie mal", sagte Flametti und tippte die Asche weltmännisch auf
die vorbeisausende Landschaft, "wir haben: die "Indianer", den
"Harem", den Friedhofsdieb", den "Mann mit der Riesenschnauze", die
"Nixen", die "Ausbrechernummer"...."  Er zählte das alles an den
Fingern her.

"Die "Indianer"?" warf Herr Meyer ein.

"Na ja, die "Indianer"."

"Wieso die "Indianer"?"

"Na: ich, meine Frau, die Soubrette und Rosa."

"Schöne "Indianer"!" meinte Herr Meyer.  Ihm konnt' es ja recht sein.

"Was wollen Sie?" meinte Flametti, "genügt das nicht?"  Er wurde
heftig.  "Jawohl!  Werde mir fünf Soubretten engagieren!  Zehn
Lehrmädel dazu!"

"Feine Stadt, Basel!" rief Jenny mit erhobenem Zeigefinger und
entnahm ihrer Handtasche zwei Schinkenbrote.  "Gelt, Max, auf die
Meß' gehen wir?  Und die Kavaliere bringen uns Leckerli?"

"In Basel gibt's doch die Leckerli", erklärte sie Fräulein Laura, die
ebenfalls skeptisch schien.  "Solchene Tüten bringen sie an!"  Sie
zeigte eine Tütengröße von reichlich einem halben Meter.  "Und einen
zoologischen Garten gibt es: Wildschweine, Strauße, Giraffen!  Feine
Stadt!"

Fräulein Laura schien ganz Ohr.  Nervös sah sie von Flametti zu Meyer,
von Meyer zu Jenny.

"Der Herr Meyer meint, das Repertoire reiche nicht aus", lächelte Max
zu Jenny.

"Nimm ein Schinkenbrot, Max!"

Herr Meyer spuckte wegwerfend und finster.  Und Jenny fühlte sich
verpflichtet, deutlichere Begriffe zu geben von dieser gesegneten
Stadt.

"Und der Rhein ist da", sagte sie kauend im hübsch ansitzenden
Reisekleid, "und die Polizei ist sehr streng.  Papiere und
Heimatschein, da darf nicht das Tüpfel fehlen.  Wenn dort eine auf
der Straße geht: zwei Tage.  Schon ist sie weg."

Stoßhaft belustigt spuckte Herr Meyer.  Doch seine Skepsis war
abgründig finster.  Jeder Versuch, ihn aufzuhellen, schien vergebens.
Und Fräulein Laura zuckte nervös mit den Augenlidern.  Sie schien
sich gar nicht zurechtzufinden.

Engel langte die Sachen herunter aus dem Gepäcknetz.  Bobby sah nach
der Uhr und griff die Plakate.  Rosa bemühte sich um den Käfig der
Turteltauben.

"Ist's schon so weit?" fragte Jenny erstaunt und steckte ihr
Schinkenbrot halb in den Mund, halb in die Reisetasche.

"Basel!" bestätigte Flametti.



"Ah, das ist recht!" rief Frau Schnepfe, als das Ensemble eintrat.
"Das ist recht!" und drehte an ihrem Ehering.  "Guten Tag!  Guten Tag!
Guten Tag!" und gab jedem einzelnen die Hand.

"Salü!" grüßte Flametti, "da sind wir!" und blieb mit Reisetasche und
Regenschirm ostentativ inmitten der Wirtsstube stehen, als wolle er
sagen: jetzt geht der Kontrakt an.  Jetzt habt ihr zu sorgen für uns.

Frau Schnepfe bekam einen gelinden Schreck.  Und die Soubrette, als
"Stimmungsmacherin" angezeigt, nahm sogleich einen Stuhl, ganz
erschöpft von Influenza, stützte den Kopf auf und begann
einzuschlafen.

"Wo ist der Beizer?" fragte Flametti forsch.

"Fritz!" rief Frau Schnepfe in irgendein Kellerloch, "da sind sie.
Komm einmal rauf, die Artisten sind da."  Und Engel und Bobby
stapelten das Gepäck auf, schleppten den großen Koffer herein.

Da kam auch Herr Schnepfe zum Vorschein, blinzelnd und etwas verrußt
von der Kellerarbeit.

"Salü Max!" grüßte er mit salopp geschwungener Schneidigkeit und
blödem Gesichtsausdruck.  Er trug eine Schnurrbartbinde, war klein
von Gestalt, und es fehlte der Kragenknopf.

"Salü Fritz!" grüßte Flametti souverän und stellte den Handkoffer ab.
Herr Schnepfe sah aus, als sei ihm nicht wißlich, um was es sich
handle.

"Das ist die Frau", stellte Flametti vor, "das ist die Soubrette, das
der Pianist, das die Rosa.  Das der Engel und das unser Herr Bobby."

"Früh auf den Beinen!" meinte Herr Schnepfe.

"Schweinskopf mit Senf", porträtierte Engel, indem er den Koffer zum
andern Gepäck hinschob.

"Alles parat?" fragte Flametti militärisch.

"Alles parat!" rapportierte Herr Schnepfe, die Hand an der Hosennaht.
Den Scheitel hatte er sich mit Wasser und mit Pomade
zurechtgeplätscht.  Doch sträubten sich seine Borsten.

"Wo sind denn die zwei andern Fräulein?" erkundigte sich Frau
Schnepfe freundlich und süß.

"Kommt Ersatz!" tröstete Flametti und hing nun auch seine Schirme auf.

"Na, dann zeig' mal die Zimmer!" gebot Herr Schnepfe und zog sich mit
einem kommißartigen Ruck die Kellerschürze über den Kopf.

"Wollt ihr nicht erst einen Kaffee trinken?"

Oh, das war eine freundliche Frau Schnepfe!  Oh, die war nett!

"Oh ja", nickte Jenny mit ihrem süßesten Lächeln und gab der Frau
Schnepfe das Reiseplaid.  Die gab's einer Kellnerin weiter.

Flametti nahm Rosa die Tauben ab, hing seinen Hut an den Haken und
nahm seine "Philos" heraus.

Die Kellnerin brachte Helles.  Herr Schnepfe hantierte am Bierhahn,
gab seine Befehle.  Jenny ging mit Frau Schnepfe die Wohnung besehen.
Und man war angekommen.

Nachmittags ging man zur Polizei, von wegen der Anmeldung.  Die Stadt
war grau.  Hohe Häuser, elektrische Straßenbahnen.  Regenwetter und
Nebel.

Das Polizeihaus war ein efeuumwachsener, burgähnlicher Bau.  Der Weg
hinauf führte vorbei am Gefängnis.  Ein Sträfling sah mit
verwildertem Kasperlgesicht durchs Eisengitter herab auf die Straße.
Schweigend ging man vorbei, gedrückt, wie Katholiken vorübergehen am
Kreuz.  Man nimmt seinen Hut ab.

Der Rückweg führte vorbei an der Messe.  Das elektrische Karussel war
in vollem Betrieb.  Eine blau gestrichne Karosse kam, zitternd und
rasselnd, in majestätischer Fahrt aus dem Tunnel.  An der Stirnseite
des Wagens prangte ein Seeweibchen, Bruststück.  Das schlug die
Tschinelle.  Rot waren die Backen, weiß ihre Brüste gelackt.  Stolz
flog sie dahin und zog einen ganzen Schwarm hochfarbig lackierter
Wagen aus dem Tunnel.  Die Dampfpfeife schrillte.

Herrn Schnepfes Varietélokal war unschwer zu finden.  Wenn man öfters
den Weg machte, fand man es spielend.  Bei einem großen Bankhaus
schwenkte man ab nach rechts, in die Vorstadt.  Vor dem Haus stand
ein Brunnen mit großem Bassin voll grasgrünen Wassers.  Darüber der
heilige Bartholomäus, aus Stein gehauen, mit segnenden Händen.  An
den Fenstern hingen Flamettis Plakate.  In der Straße, am Abend,
schaukelte blau eine Bogenlampe.

Die Zimmer waren ein wenig kalt und schreckend im ersten Moment.
Mattscheiben und die gekalkten Wände erinnerten barsch an
Krankenbaracken in einem Gefängnisbau.  Doch waren sie teilweise
hübsch mit öfen versehen und geräumig, ebenso wie das Konzertlokal.

Zwei ineinandergehende Kammern gleich überm Wirtslokal bekamen
Flametti und seine Frau, nebst Rosa.  Eine Kammer im dritten Stock
die Herren Engel und Bobby.  Ein Dienstmädchenzimmer im Seitenflügel
Herr Meyer und Fräulein Laura.

"Sagen Sie nur", meinte Frau Schnepfe zu Jenny, "warum haben Sie nur
die zwei netten Fräulein nicht mitgebracht?"

"Ach, Frau Schnepfe", winkte Jenny ab, "Sie haben ja keine Ahnung,
was in unsrem Beruf alles vorkommt: Die eine hab' ich entlassen
müssen--schlimme Geschichten!  Die andre hat man mir abgenommen."

"Abgenommen?"

"Ja, denken Sie sich: die Mutter kam mir ins Haus und sagte, sie
dulde nicht länger, daß ihre Tochter Artistin ist.  Wegen der Kerls."

"Was Sie nicht sagen!"



Die Vorstellungen waren nicht gut besucht.  Trotz pomphafter
Vorreklame.  Ein Dutzend Leute saßen wohl in den Ecken.  Aber sie
"jaßten" und ließen sich weiter nicht stören.  Keine Hand rührte sich,
wenn eine Nummer zu Ende war.  Keine Miene verzog sich.

"Man muß sich einleben", meinte Flametti.  "Es muß sich herumsprechen,
was wir zu bieten haben.  Nur keine Sorge!  Kommt schon."

Herr Meyer mußte sich jedenfalls bald überzeugen, daß die "Indianer"
auch ohne Güssy und Traute gingen.

"Sehen Sie", sagte Flametti, "Basel ist eine ernste Stadt.  Religiös.
Das vornehme Bürgertum klatscht nicht gern.  Lassen Sie uns etwas
Ernstes bringen, den "Friedhofsdieb", und wir haben ein volles Haus."

Also bekam Engel die Rolle der Zeugin Emilie Schmidt im
"Friedhofsdieb", was Frau Häsli früher zu spielen hatte, und lief
tagsüber unglücklich zwischen den Tischen und Stühlen umher und rang
mit dem Ausdruck.

Herr Meyer aber blieb skeptisch.  Auch die Wirtsleute gefielen ihm
nicht.

Ihm war nicht entgangen, daß Herr Schnepfe auf seinem Glasdach einen
Wurf junger Wolfshunde aufzog.  Die heulten dort nächtlich herum,
wenn die Ratten über das Dach wegstoben.

Eine innige Antipathie empfand Herr Meyer gegen Herrn Schnepfe.  Auch
diese Frau, Frau Schnepfe, gefiel ihm nicht.  Ihr gedrehtes Wesen
belästigte ihn.  Herr Meyer war ein Poet.  Wie sollte das Publikum
Zutrauen fassen, wenn die blutleckenden Wolfshundsbestien mit ihren
Hängeschwänzen das Haus durchstrichen und jedermann an den Waden
schnupperten; wenn die gedrehte Frau Schnepfe auf ihre gedrehte Art
"Guten Morgen!" sagte und einem die Hand gab, geziert-religiös, wie
Nonnen sich in der Kirche an Fingerspitzen das Weihwasser reichen!

Flametti aber versuchte es analytisch.

"Was ist Blödsinn?" philosophierte er in dem "Mann mit der
Riesenschnauze".  "Blödsinn ist: wenn das Kind keinen Kopf hat.
Blödsinn ist aller Jammer der Welt.  Blödsinn ist die Enttäuschung
der Seele, die Quintessenz der Melancholie.  Blödsinn ist überhaupt
ein Blödsinn."

Das war Herrn Meyer so recht aus der Seele gesprochen.  Das löste
seine Komplexe.  Doch auch Erkenntnis vermochte die Basler nicht
aufzuheitern.

Mit ringförmigen Fischaugen saßen sie da, tranken ihr Bier aus,
zahlten und gingen.  Die Soubrette hatte ein wenig Erfolg.  Das Ganze
schien hoffnungslos.

"Alles nichts", sagte Jenny, "wir müssen Artisten haben!"  Und eines
Tags bei Tisch verkündete sie dem erregten Ensemble: "Neue Artisten
kommen.  Vornehme Artisten.  Kinder, da müßt ihr euch fein benehmen!"

Zwei Tage später war's auch schon da.  Die Tür ging auf.  Ankamen die
neuen Artisten.  Herr Leporello und Lydia, Herr Leporello und Lotte,
Herr Leporello und Raffaëla, nebst vielem Gepäck, darunter auch
Eisenstangen.

Das war ein Getue!  Das war ein Geschmatze!  Das war die lauterste
Seligkeit!

Lottely hinten, Lottely vorne!  "Gut, daß ihr da seid!"--"Trinkst du
Helles, Lepo?"--"Wollt ihr einen Kaffee trinken?"--"Wie geht es der
Mutter?" und was dergleichen Begrüßungsformalitäten mehr sind.

Sogar Herr Meyer taute jetzt auf.  Leben und Lebensart kamen ins Haus.
Die Reserviertheit Schnepfes verfing nicht mehr.

Und diese Nummern!  Drahtseilakt und Czardas.  Spitzentanz,
Matschiche und Drehbarer Unterleib!  Ein wirklicher Zuwachs!
Akquisition!  Das ließ sich hören!

Auch die neuen Artisten wurden untergebracht: Zimmer Numero 6 und 7.
Engel und Bobby beschäftigten sich mit dem neuen Gepäck und den
Eisenstangen.  Herr Leporello gab Anweisungen.  Und man begab sich
zur Polizei.

Eine Stunde später schon waren für Raffaëlas Drahtseilakt im Parkett
quer vor der Bühne die Stützen befestigt, die Zeitungsannonce war
aufgegeben, und der Erfolg war freundlichst gebeten, sich einzufinden.

Kam auch.  Gleich der erste Abend gab einen hohen Begriff von den
Fähigkeiten der neuen Artisten.  Die Kostüme waren zwar etwas
zerknittert.  Sie hatten zu lange im Korb gelegen, und von Frau
Schnepfe war kein Bügeleisen zu erhalten.  Auch mißglückte Herrn
Leporellos "Drehbarer Unterleib", weil Lepo zu Mittag infolge der
langen Bahnfahrt zuviel gegessen hatte.

Aber Raffaëlas "Matschiche auf dem hohen Seil" mit japanischem Schirm
und im Himbeertrikot--Teufel, hatte das Frauenzimmer Schenkel!
--ermunterte selbst die griesgrämigen Basler.  Und als Fräulein Lydia
Czardas tanzte--verflucht noch einmal!  Sie schlug auf das Tamburin
und ging mit pferdhaftem Posterieur stampfend und tänzelnd gegen die
grätschende Schwester los--, da gab es auch bei den Baslern keine
Bedenken mehr: laut und vernehmlich klatschten sie.

Am nächsten Abend gab es schon Ehrengäste: Herr Bums-die-Lerche, der
Komikerkönig, und Fräulein Nandl, das Wunder der Tätowierung, welch
letztere im Haus des Herrn Schnepfe auch wohnte, der guten Adresse
wegen.

In den nächsten Tagen brachte Raffaëla als Neuheit ihren
"Spitzentanz"--immer auf den Fußspitzen, nach der Melodie:


"Frühling ist's, die Blumen blühen wieder,
Süß berauschend duftet jetzt der Flieder",


immer auf den Fußspitzen; die Pointen markiert durch ein
Hochschnellen des Körpers, die Arme mit grazienhaft hinauf--und
hinuntergebogenen Handflächen ausgebreitet; immer so:


"Alle Vögel jauchzen, jubeln, si-hi-ngen,
Die Natur scheint neu sich zu verjü-hi-ngen."


Und Herr Leporello, wenn er eklatante Beweise seiner trommlerischen
Begabung bei der Begleitmusik abgelegt hatte, produzierte sein
"Teufelskabinett", bei dem er unter Zischen und Pfeifen auf einer
Sirene, mit zusammengelegten Gliedern durch einen Schornstein aus
Pappkarton, den Lydia festhielt, borstig herniederfuhr.

Wenn aber Herr Leporello Sonntags seinen komischen Teufelsakt
brachte--er erschien dann als eine infernalische Klatschbase im
Korsett, einen Kamm in der Perücke, das Hemd hing ihm hinten heraus
und der Rock aus Sackleinwand, mit roten Litzen benäht, war ihm zu
kurz--, dann spielte sich in seinen Mienen eine so diabolische
Einfältigkeit ab, daß der Kontrast zwischen seinen gespreizten
Zirkusposen und dem dargestellten Objekt die Zuschauer zu hellem
Grinsen entflammte.

Was Wunder, wenn das Geschäft sich hob?  Wenn die Zirkusleute mehr
und mehr in den Vordergrund traten, auch bei der Direktion?

Ein Feldwebel von der St. Gotthard-Festung kam als Konzertbesucher.
Er hatte Urlaub.  Die Frau war gestorben.  Was der Mann alles
spendierte!  Sogar Leckerli brachte er mit, die ersten, die man bei
Schnepfes zu sehen bekam.

Auch zum Zoologischen Garten ging man jetzt und zur Messe.  Und zwar
teilte sich hier das Ensemble.  Die Zirkusleute gingen mit Jenny zum
"Zoo".  Die andern mit Flametti zur "Meß".

Der Basler Zoologische Garten scheint nicht so Üppig bestückt zu sein
wie Hagenbecks Tierpark zu Hamburg.  Auch nicht so künstlerisch
interessant arrangiert wie etwa die kunstgewerbliche Menagerie zu
München.  Wenigstens wußte der zoologisch interessierte Teil der
Vergnügungspartie nur Unbedeutendes zu berichten.

Jenny war aufgefallen, daß die Strauße im Basler Zoo "echte
Straußfedern" trugen.  Lydia klagte, die Papageien hätten erbärmlich
geschrien.  Die Ohren gellten ihr jetzt noch davon.  Man solle den
Viechern die Hälse abschneiden, statt ihnen die Bälge mit Brot
vollzustopfen.  Nur Raffaëla schien einen stärkeren Eindruck gerettet
zu haben.

"Kinder, der Elefant!" schlug sie die Hände zusammen und konnte sich
gar nicht genugtun, "so etwas Schamloses gibt es nicht mehr!"

Giraffen hatten sie nicht gesehen.  Auch keine Wildschweine.  Einige
Affen.  Doch das war alles.

Die Messe war interessanter.  Wer mit Flametti ging, fand keine
Enttäuschung.

Erst im Panoptikum: "Der Feuerkessel von Tahure": da platzten die
Bomben!  Da staunte das Volk!  Da streckten die toten Poilus die
Beine zum Himmel, wie niedergeknallt auf der Hasenjagd!

Dann auf der Rutschbahn: zwei Karossen hintereinander: in der ersten
Flametti und Fräulein Laura.  In der zweiten Herr Engel und Meyer.
Wie flog man dahin!  Wie flog man daher!  Dann beim "Jägersalon":
"Schießen Sie mal, junger Herr!"  Und Herr Engel schoß, auf den
Trommler.  Und traf ihn; mitten in die Visage.  Der rasselte los.
Aber unentgeltlich.  Man war ja Artist.  Es war eine Freude, zu leben!

Mittlerweile war es nun Winter geworden, ganz unvermerkt, über Nacht,
und man war gezwungen, sich enger zusammenzuschließen.  Da gab es
lange Gesichter.

"Jenny, wir haben ja gar keinen Ofen!" reklamierten Lydia und
Raffaëla zugleich.

"Ist doch nicht kalt!" tröstete Jenny, "je, seid ihr verfroren!"
Aber es waren fünf Grad unter Null.

"Eene klappernde Kälte!" meinte Herr Leporello in komischem Baß, mit
hervortretenden Augen, und stellte sich vor den Ofen im Wirtslokal.

"Sie, Leporello!  In Mesopotamien Krieg!" verkündete Bobby, der
eifrig die Zeitung studierte.

"Ha ick ja immer jesagt: in Mesopotamien fangen se ooch noch an!"

"Jenny", rief Raffaëla ins Wirtslokal, schnatternd vor Kälte und tief
beleidigt, "das geht so nicht!  Ich muß einen Ofen haben!  Wo soll
ich denn hin mit dem Kind?"

"Ich kann mir den Ofen doch nicht aus der Haut schneiden!" meinte
Jenny im blauen Schlafrock, am Ofen.  "Hier ist es doch warm!  Bleibt
doch hier unten im Wirtslokal!"

Das tat man denn auch.  Raffaëla, Lydia, Lotte und Lepo blieben im
Wirtslokal.  Lepo las seine Kriegsberichte, von morgens bis abends.
Lotte machte die Hosen naß.  Lydia und Raffaëla schleppten einher in
den Schlafröcken und beschimpften einander.

Abends aber, während der Vorstellung, saßen die fünf Damen aufgeputzt
um Herrn Schnepfes Dauerbrandofen wie Papageien auf einem Eisenring
um den Dompteur.

"Kinder, nein, ist das eine Kälte!" zitterte Lydia mit erfrorener
Nase und zog ein Gesicht, als sei sie hereingefallen und komme erst
jetzt allmählich dahinter.

Und zu der Soubrette: "Ihr habt es gut.  Ihr habt einen Ofen!"

Und alle bebten und preßten die Schenkel zusammen.

"Menschenskind!" tanzte Engel näher heran und rieb sich verbindlich
die Hände, "ist doch keene Kälte: fünf Grad!  Hättest vergangenen
Winter dabei sein sollen!" und hob sich fast in die Luft, so betrieb
er mit beiden Armen gymnastische Packung.  "Hauptsache ist: man
kriegt was Warmes in Magen!"

Nun, daran fehlte es nicht.  Herr Schnepfe ließ sich nicht lumpen.

Der Kaffee zum Frühstück ließ zwar manches zu wünschen übrig.  Die
Blechkanne, in der er serviert wurde, mochte innen ein wenig
verrostet sein.  Die Damen erbrachen sich, wenn sie getrunken hatten.
Das konnte jedoch, wie Herr Schnepfe auf Reklamation hin bemerkte,
auch andere Ursachen haben.

Das Mittagessen war einfach tipp topp.  "Sauerkraut, Würstel und
Pellkartoffel".--"Gulasch, Bohnen und Rösti".--"Hackfleisch, Erbsen
und Rettichsalat".  Jennymama kochte besser; gewiß.  Aber man war nun
einmal in der Fremde.  Da war es, wie die Verhältnisse lagen, das
beste, den Magen zu heizen.

"Iß!" sagte Laura zu Meyer, "wer weiß, wann man wieder was kriegt!"

Eine kleine Rivalität brach aus zwischen den Zirkusartisten und dem
übrigen Teil des Ensembles, dem "Bruch", wie die Zirkusleute alle
Kollegen nannten, die nicht von Kindesbeinen auf beim Metier waren.

Die Zirkusleute pochten auf ihre Familie, Herkunft, Tradition.  Sie
waren exklusiv und sahen den "Bruch" verächtlich an.  Herr Leporello
etwa den kleinen Bobby.  Beide waren sie Kontorsionisten.  Bobby
arbeitete rückwärts, war also Schlangenmensch.  Herr Leporello
arbeitete vorwärts, war also Froschmensch.  Herr Leporello hatte die
komplizierteren Balancen, den drehbareren Unterleib.  Bobby hatte den
besseren Handstand, das biegsamere Rückgrat.

Aber Herr Leporello ästimierte ihn nicht.  Herr Leporello war
ausschließlich Artist.  Bobby ging im Nebenberuf zeitweilig "auf
Heizerfahrt".

Oder Miß Raffaëla den Engel.  Sie verlangte von ihm, daß er Einkäufe
für sie besorge.  Sie glaubte, der Bühnenmeister sei hier auch
Stiefelputzer.  Aber Engel lehnte es ab, "Kommissionen" zu machen.

"Hab' keine Zeit!  Hab' zu studieren!  Bin selber Artist!"  Und
Flametti bestätigte das, indem er "Monteur" auf Engels Papier
durchstrich und "Artist" drüberschrieb.

Zwei Parteien bildeten sich.  Die Partei der Zirkusartisten mit Jenny.
Die "Bruch"--und Apachenpartei mit Flametti.

Flametti waren die Zirkusdamen zuwider.  Sie hänselten ihn.  Er fand
sie verdorben, aufdringlich, utriert.  Sein Herz war bei der andern
Partei, den Gestrandeten, den Gelegenheitskönnern, den Kindern Gottes.
Auch Meyer und Fräulein Laura waren nur herverschlagen ins Varieté.
Und doch--alle Hochachtung!

äußerlich aber tat sich die Rivalität in folgendem kund: Die
Zirkusleute brachten das Geld.  Die Bruchleute hatten--den Ofen.

Die Zirkusleute lagen den ganzen Tag in Flamettis geheizter Stube
herum oder im Wirtslokal, wo das Glasdach tropfte, die Ratten liefen,
die Windeln rochen.  Sie schürten und hetzten.  Sie glaubten, wider
Verdienst schlecht weggekommen zu sein.

Die Bruchleute schlossen sich täglich enger zusammen im Zimmer des
Pianisten, wo zwar die ungefegte Brikettasche Mumien aus ihnen machte,
wo aber der Ofen glühte.  Fräulein Laura wusch der Männer
gemeinsamen Kragen, Bobbys Eidechsenkostüm hing glitzernd über der
Wäscheleine.  Man saß auf Herrn Meyers entgleistem Rohrplattenkoffer
und sang Schnadahüpfl zur Laute.  Man richtete Engel ein Bett her am
Ofen, damit er geborgen war, wenn die Malaria ihn überfiel.

Und Engel erzählte mit traurig schluckender Stimme von Gudrun, der
Baronesse, die ihn geliebt, als er noch Forsteleve in Deutschland war,
beim Grafen von Reiffenstein.

Das Exil dieser Tage erhielt eine Abwechslung dadurch, daß es
plötzlich noch kälter wurde.

Es war jetzt so kalt, daß es wirklich nicht anging, länger zu singen:


"Die Luft ist lau, die Täler prangen lenzesgrün",


wie es in jenem Begrüßungsmarsch hieß, den man im "Krokodil" vor
Rosenlauben gesungen.

Die Damen rieben sich auf der Bühne ganz unverhohlen die Hände vor
Frost.  Und wenn der Marsch auch ein heißblütiges Tempo hatte: die
Worte konnten jetzt nicht mehr an gegen den Rauhreif der Wirklichkeit.

Die Varietébesucher: Totengräber, Kirchendiener, Leichenbitter und
Mädchenjäger saßen mit Zapfenschnurrbärten, wenn sie zufällig in die
Peripherie des Saales gerieten, in die Nähe eines der großen Fenster.

Auch der Spitzentanz Raffaëlas verfing nicht mehr.  Vergebens suchte
sie mittels Duftigkeit, Sinnenrausch und Beschwingtheit der Schritte
die Illusion eines Maientags aufrechtzuhalten.  Ihr Odem wehte wie
Höhenrausch.  Ihre Nase karfunkelte.

Man stellte wohl in die Damengarderobe einen Petroleumofen.  Aber das
war wie ein Zündholz im Eisschrank.

Es ging nun auch nicht mehr an, daß der Vetter Flamettis, Herr
Graumann, länger mit einem Pappkarton die Gebirgsbewohner der Schweiz
photographierte.

So traf dieser Herr, Herr Graumann, Vetter Flamettis, eines Tags bei
Herrn Schnepfe ein, just in dem Augenblick, als die Generalprobe zum
"Friedhofsdieb" stattfand.

Sehr erstaunt war Herr Graumann, seinen Vetter Flametti in einem
langen, schwarzen Talar zu erblicken, als Richter vor einem Stoß
Aktenmappen.  Eine kleine, zierliche Knabengestalt, dem Richterstuhl
gegenüber, schien prozessiert zu werden.

Es handelte sich um einen Friedhof und einen Topf, der gestohlen war;
Blumentopf.

Auf der Mitte der Bühne stand eine vornehme Dame, wohl eine Baronin,
mit Blicken, die halb auf den Richter, halb auf den Knaben gerichtet
waren.  Neben ihr krausköpfig ein schmä

Wenn aber Herr Leporello Sonntags seinen komischen Teufelsakt
brachte--er erschien dann als eine infernalische Klatschbase im
Korsett, einen Kamm in der Perücke, das Hemd hing ihm hinten heraus
und der Rock aus Sackleinwand, mit roten Litzen benäht, war ihm zu
kurz--, dann spielte sich in seinen Mienen eine so diabolische
Einfältigkeit ab, daß der Kontrast zwischen seinen gespreizten
Zirkusposen und dem dargestellten Objekt die Zuschauer zu hellem
Grinsen entflammte.

Was Wunder, wenn das Geschäft sich hob?  Wenn die Zirkusleute mehr
und mehr in den Vordergrund traten, auch bei der Direktion?

Ein Feldwebel von der St. Gotthard-Festung kam als Konzertbesucher.
Er hatte Urlaub.  Die Frau war gestorben.  Was der Mann alles
spendierte!  Sogar Leckerli brachte er mit, die ersten, die man bei
Schnepfes zu sehen bekam.

Auch zum Zoologischen Garten ging man jetzt und zur Messe.  Und zwar
teilte sich hier das Ensemble.  Die Zirkusleute gingen mit Jenny zum
"Zoo".  Die andern mit Flametti zur "Meß".

Der Basler Zoologische Garten scheint nicht so Üppig bestückt zu sein
wie Hagenbecks Tierpark zu Hamburg.  Auch nicht so künstlerisch
interessant arrangiert wie etwa die kunstgewerbliche Menagerie zu
München.  Wenigstens wußte der zoologisch interessierte Teil der
Vergnügungspartie nur Unbedeutendes zu berichten.

Jenny war aufgefallen, daß die Strauße im Basler Zoo "echte
Straußfedern" trugen.  Lydia klagte, die Papageien hätten erbärmlich
geschrien.  Die Ohren gellten ihr jetzt noch davon.  Man solle den
Viechern die Hälse abschneiden, statt ihnen die Bälge mit Brot
vollzustopfen.  Nur Raffaëla schien einen stärkeren Eindruck gerettet
zu haben.

"Kinder, der Elefant!" schlug sie die Hände zusammen und konnte sich
gar nicht genugtun, "so etwas Schamloses gibt es nicht mehr!"

Giraffen hatten sie nicht gesehen.  Auch keine Wildschweine.  Einige
Affen.  Doch das war alles.

Die Messe war interessanter.  Wer mit Flametti ging, fand keine
Enttäuschung.

Erst im Panoptikum: "Der Feuerkessel von Tahure": da platzten die
Bomben!  Da staunte das Volk!  Da streckten die toten Poilus die
Beine zum Himmel, wie niedergeknallt auf der Hasenjagd!

Dann auf der Rutschbahn: zwei Karossen hintereinander: in der ersten
Flametti und Fräulein Laura.  In der zweiten Herr Engel und Meyer.
Wie flog man dahin!  Wie flog man daher!  Dann beim "Jägersalon":
"Schießen Sie mal, junger Herr!"  Und Herr Engel schoß, auf den
Trommler.  Und traf ihn; mitten in die Visage.  Der rasselte los.
Aber unentgeltlich.  Man war ja Artist.  Es war eine Freude, zu leben!

Mittlerweile war es nun Winter geworden, ganz unvermerkt, über Nacht,
und man war gezwungen, sich enger zusammenzuschließen.  Da gab es
lange Gesichter.

"Jenny, wir haben ja gar keinen Ofen!" reklamierten Lydia und
Raffaëla zugleich.

"Ist doch nicht kalt!" tröstete Jenny, "je, seid ihr verfroren!"
Aber es waren fünf Grad unter Null.

"Eene klappernde Kälte!" meinte Herr Leporello in komischem Baß, mit
hervortretenden Augen, und stellte sich vor den Ofen im Wirtslokal.

"Sie, Leporello!  In Mesopotamien Krieg!" verkündete Bobby, der
eifrig die Zeitung studierte.

"Ha ick ja immer jesagt: in Mesopotamien fangen se ooch noch an!"

"Jenny", rief Raffaëla ins Wirtslokal, schnatternd vor Kälte und tief
beleidigt, "das geht so nicht!  Ich muß einen Ofen haben!  Wo soll
ich denn hin mit dem Kind?"

"Ich kann mir den Ofen doch nicht aus der Haut schneiden!" meinte
Jenny im blauen Schlafrock, am Ofen.  "Hier ist es doch warm!  Bleibt
doch hier unten im Wirtslokal!"

Das tat man denn auch.  Raffaëla, Lydia, Lotte und Lepo blieben im
Wirtslokal.  Lepo las seine Kriegsberichte, von morgens bis abends.
Lotte machte die Hosen naß.  Lydia und Raffaëla schleppten einher in
den Schlafröcken und beschimpften einander.

Abends aber, während der Vorstellung, saßen die fünf Damen aufgeputzt
um Herrn Schnepfes Dauerbrandofen wie Papageien auf einem Eisenring
um den Dompteur.

"Kinder, nein, ist das eine Kälte!" zitterte Lydia mit erfrorener
Nase und zog ein Gesicht, als sei sie hereingefallen und komme erst
jetzt allmählich dahinter.

Und zu der Soubrette: "Ihr habt es gut.  Ihr habt einen Ofen!"

Und alle bebten und preßten die Schenkel zusammen.

"Menschenskind!" tanzte Engel näher heran und rieb sich verbindlich
die Hände, "ist doch keene Kälte: fünf Grad!  Hättest vergangenen
Winter dabei sein sollen!" und hob sich fast in die Luft, so betrieb
er mit beiden Armen gymnastische Packung.  "Hauptsache ist: man
kriegt was Warmes in Magen!"

Nun, daran fehlte es nicht.  Herr Schnepfe ließ sich nicht lumpen.

Der Kaffee zum Frühstück ließ zwar manches zu wünschen übrig.  Die
Blechkanne, in der er serviert wurde, mochte innen ein wenig
verrostet sein.  Die Damen erbrachen sich, wenn sie getrunken hatten.
Das konnte jedoch, wie Herr Schnepfe auf Reklamation hin bemerkte,
auch andere Ursachen haben.

Das Mittagessen war einfach tipp topp.  "Sauerkraut, Würstel und
Pellkartoffel".--"Gulasch, Bohnen und Rösti".--"Hackfleisch, Erbsen
und Rettichsalat".  Jennymama kochte besser; gewiß.  Aber man war nun
einmal in der Fremde.  Da war es, wie die Verhältnisse lagen, das
beste, den Magen zu heizen.

"Iß!" sagte Laura zu Meyer, "wer weiß, wann man wieder was kriegt!"

Eine kleine Rivalität brach aus zwischen den Zirkusartisten und dem
übrigen Teil des Ensembles, dem "Bruch", wie die Zirkusleute alle
Kollegen nannten, die nicht von Kindesbeinen auf beim Metier waren.

Die Zirkusleute pochten auf ihre Familie, Herkunft, Tradition.  Sie
waren exklusiv und sahen den "Bruch" verächtlich an.  Herr Leporello
etwa den kleinen Bobby.  Beide waren sie Kontorsionisten.  Bobby
arbeitete rückwärts, war also Schlangenmensch.  Herr Leporello
arbeitete vorwärts, war also Froschmensch.  Herr Leporello hatte die
komplizierteren Balancen, den drehbareren Unterleib.  Bobby hatte den
besseren Handstand, das biegsamere Rückgrat.

Aber Herr Leporello ästimierte ihn nicht.  Herr Leporello war
ausschließlich Artist.  Bobby ging im Nebenberuf zeitweilig "auf
Heizerfahrt".

Oder Miß Raffaëla den Engel.  Sie verlangte von ihm, daß er Einkäufe
für sie besorge.  Sie glaubte, der Bühnenmeister sei hier auch
Stiefelputzer.  Aber Engel lehnte es ab, "Kommissionen" zu machen.

"Hab' keine Zeit!  Hab' zu studieren!  Bin selber Artist!"  Und
Flametti bestätigte das, indem er "Monteur" auf Engels Papier
durchstrich und "Artist" drüberschrieb.

Zwei Parteien bildeten sich.  Die Partei der Zirkusartisten mit Jenny.
Die "Bruch"--und Apachenpartei mit Flametti.

Flametti waren die Zirkusdamen zuwider.  Sie hänselten ihn.  Er fand
sie verdorben, aufdringlich, utriert.  Sein Herz war bei der andern
Partei, den Gestrandeten, den Gelegenheitskönnern, den Kindern Gottes.
Auch Meyer und Fräulein Laura waren nur herverschlagen ins Varieté.
Und doch--alle Hochachtung!

äußerlich aber tat sich die Rivalität in folgendem kund: Die
Zirkusleute brachten das Geld.  Die Bruchleute hatten--den Ofen.

Die Zirkusleute lagen den ganzen Tag in Flamettis geheizter Stube
herum oder im Wirtslokal, wo das Glasdach tropfte, die Ratten liefen,
die Windeln rochen.  Sie schürten und hetzten.  Sie glaubten, wider
Verdienst schlecht weggekommen zu sein.

Die Bruchleute schlossen sich täglich enger zusammen im Zimmer des
Pianisten, wo zwar die ungefegte Brikettasche Mumien aus ihnen machte,
wo aber der Ofen glühte.  Fräulein Laura wusch der Männer
gemeinsamen Kragen, Bobbys Eidechsenkostüm hing glitzernd über der
Wäscheleine.  Man saß auf Herrn Meyers entgleistem Rohrplattenkoffer
und sang Schnadahüpfl zur Laute.  Man richtete Engel ein Bett her am
Ofen, damit er geborgen war, wenn die Malaria ihn überfiel.

Und Engel erzählte mit traurig schluckender Stimme von Gudrun, der
Baronesse, die ihn geliebt, als er noch Forsteleve in Deutschland war,
beim Grafen von Reiffenstein.

Das Exil dieser Tage erhielt eine Abwechslung dadurch, daß es
plötzlich noch kälter wurde.

Es war jetzt so kalt, daß es wirklich nicht anging, länger zu singen:


"Die Luft ist lau, die Täler prangen lenzesgrün",


wie es in jenem Begrüßungsmarsch hieß, den man im "Krokodil" vor
Rosenlauben gesungen.

Die Damen rieben sich auf der Bühne ganz unverhohlen die Hände vor
Frost.  Und wenn der Marsch auch ein heißblütiges Tempo hatte: die
Worte konnten jetzt nicht mehr an gegen den Rauhreif der Wirklichkeit.

Die Varietébesucher: Totengräber, Kirchendiener, Leichenbitter und
Mädchenjäger saßen mit Zapfenschnurrbärten, wenn sie zufällig in die
Peripherie des Saales gerieten, in die Nähe eines der großen Fenster.

Auch der Spitzentanz Raffaëlas verfing nicht mehr.  Vergebens suchte
sie mittels Duftigkeit, Sinnenrausch und Beschwingtheit der Schritte
die Illusion eines Maientags aufrechtzuhalten.  Ihr Odem wehte wie
Höhenrausch.  Ihre Nase karfunkelte.

Man stellte wohl in die Damengarderobe einen Petroleumofen.  Aber das
war wie ein Zündholz im Eisschrank.

Es ging nun auch nicht mehr an, daß der Vetter Flamettis, Herr
Graumann, länger mit einem Pappkarton die Gebirgsbewohner der Schweiz
photographierte.

So traf dieser Herr, Herr Graumann, Vetter Flamettis, eines Tags bei
Herrn Schnepfe ein, just in dem Augenblick, als die Generalprobe zum
"Friedhofsdieb" stattfand.

Sehr erstaunt war Herr Graumann, seinen Vetter Flametti in einem
langen, schwarzen Talar zu erblicken, als Richter vor einem Stoß
Aktenmappen.  Eine kleine, zierliche Knabengestalt, dem Richterstuhl
gegenüber, schien prozessiert zu werden.

Es handelte sich um einen Friedhof und einen Topf, der gestohlen war;
Blumentopf.

Auf der Mitte der Bühne stand eine vornehme Dame, wohl eine Baronin,
mit Blicken, die halb auf den Richter, halb auf den Knaben gerichtet
waren.  Neben ihr krausköpfig ein schmächtiger Herr, der als Zeuge
Emil Schmidt figurierte und offenbar seine Rolle noch nicht
vollkommen beherrschte; er stammelte, stotterte, war in der größten
Verlegenheit.

Herr Graumann trat näher, ein wenig verschüchtert von solch
künstlicher Atmosphäre, und legte die Hand vor die Augen, die Szene
prüfend auf ihren photographischen Gehalt.

"Von vorn!" schrie Flametti.  Und es wiederholte sich der Auftritt,
Zeuge Emil Schmidt,--Friedhofsdieb.

Und jener krausköpfige Herr kam mit dem Knaben durch die Kulisse
herein, zitternd und bebend, so daß man ihn selbst für den
Delinquenten hielt.  Er legte mit irren Augen die Hand auf die
Schulter des Knaben und sprach:


"Man immer ruhig, mein liebes Kind!
Die Wahrheit darf immer man sagen.
Dann kann man die Strafe, wie sie auch sei,
Mit leichterem Herzen ertragen.
Sprich frisch von der Leber weg....."


Engel hustete heftig.  Das war nicht verwunderlich, denn hinter der
Bühne zog es abscheulich.

Flametti aber war wie ein Stier vor dem roten Tuch, diesem Husten
gegenüber.

"Laß das Husten sein!" schrie er und rüttelte seinen Amtstisch, "oder
ich werf' dir die Glocke vor den Kopf!"

Eine Glocke gab es auch auf dem Amtstisch, konstatierte Herr Graumann.

Und Engel hustete kurz noch zu Ende, räusperte sich und fuhr fort:


"Sprich frisch von der Leber weg
Und was zur Tat dich getrieben.
Ein Richter ist streng nach Gebühr, wenn es muß..."


"Hundsfott!" schrie Flametti, "ist das ein Vers?"

"Ein Richter ist streng, wenn sich's gebührt", berichtigte Engel,
zitternd vor Ergriffenheit,


"Doch weiß er auch Nachsicht zu üben."


"Gut!" sagte Flametti, "weiter!"  Und er selbst wandte sich an den
Knaben:


"Tritt näher, mein Sohn, und habe nicht Scheu
Vor schreckender Tracht und Gebahren!
Und so du begangen hast, was es auch sei,
Hier kannst du es offenbaren.
Tritt näher und sprich!  Vielleicht daß alsdann
Ein mildernder Umstand dir etwas Luft schaffen kann."


Und Flametti begleitete seinen letzten Satz mit einer erleichternden
Bewegung beider Hände, von der Magengegend aufsteigend gegen den
Brustkorb.

Herr Graumann fand diese Gerichtssitzung ein wenig romantisch, wenn
auch nicht fremd.  Hörbar lächelte er.

"Wer ist da im Publikum?" brüllte Flametti, die Hand vor den Augen,
und ärgerlich über die neue Störung.

"Hallo Flametti!" rief Herr Graumann hinauf.

Und Flametti: "Ja, Menschenskind, wo kommst denn du her?"  Die Glocke
stellte er hin und sprang, im Richtertalar, herunter über die Rampe.

"Direkt vom Tessin!"

Da war die Probe vertagt.  Die Probe war aus.  Und Engel atmete auf.

Herr Graumann blieb, als Flamettis Gast, drei Tage, zur großen Freude
des ganzen Ensembles, das er photographierte in allen möglichen und
unmöglichen Posen; immer mit dem Pappkarton, den er mit schwarzem
Tuch überzogen hatte, und mit dem er furchtbar penibel war.  Die
Bilder versprach er später zu schicken.

Herr Graumann war ein Original.  Ein wenig glich er dem Wurzelsepp
aus der bayrischen Bauernkomödie.  Die ganze Schweiz bereiste er als
Photograph.  Mit dem Pappkarton.  In die entlegensten Dörfer kam er.
Und immer zu Fuß.  Auch aus dem Tessin war er zu Fuß gekommen.  Wind,
Wetter, Eis und Schnee vermochten ihm wenig anzuhaben.  Es war sein
Beruf, zu wandern.  Die Geschäfte brachten es mit sich.

Was wußte Herr Graumann für treffliche Schnurren zu erzählen!  Manch
ernsthaftes Abenteuer und Rencontre mit der Polizei.  Unter
Plattenreißern war er der yokerste.

"Herr Graumann!" rief Raffaëla taktlos, "Wie riechen Sie schön nach
den Kräutern!" und schöpfte mit der Hand von Herrn Graumanns Luft.
"Ist wohl Farnkraut?"

Und Lydia: "Sagen Sie, Graumann, tragen die Wanzen auch Fahnenstangen,
wenn sie Versammlung haben?"

Und Fred: "Sie, Graumann, wie macht man das: "Graumannol"?"

Denn Herr Graumann hatte in knappen Zeiten ein Mittel erfunden gegen
Insektenstich.

"Man nehme", sprach er, "Urin und Brombeersäure, füge dazu ein
Fünftel Salzwasser, das durch die Kiemen von Klippfisch ging.
Schüttle das Ganze."

Reißend waren sie abgegangen, die dreißig Flaschen von je einem
halben Liter à zwei Franken fünfzig, die er an einem sonnigen Mittag
in Mußestunden verfertigt hatte am Ufer des Lago Maggiore, und die
den Vergleich aushielten mit jedem Salmiakpräparat.

Herr Graumann nahm eine Prise, reichlich mit Glas untermischt, damit
es die Schleimhäute redlich beize, und Raffaëla und Lydia drangen ihn,
sie zu photographieren zusammen mit Lottely.

Das war nun nicht leicht, weil Lotte sich fürchtete vor dem
zerfederten Eulengesicht des Herrn Graumann.  Aber es ging.  Ein
halbes Dutzend Visit.  Ein halbes Dutzend Kabinett.

Und Herr Graumann griff nach Stativ und Kasten und sagte:

"Bitte, den Kopf etwas schief!  Bitte die Hand etwas höher!  Bitte
etwas freundlicher, sonst kann ich's nicht machen."

Und schrieb die Bestellung in sein Notizbuch und nahm eine lächerlich
kleine Anzahlung.  Dann mußte er weiter.

"Kinder!" rief Raffaëla, "das wird ein Vergnügen!  Der Mama schicke
ich eins!  Eins meinem Männe ins Feld!  Eins dem Farolyi!"

Doch als Herr Graumann gegangen war, kehrte die alte Langeweile
wieder.

Herr Engel, um eine Diversion zu haben, feierte den Namenstag seiner
Tante, indem er in fremden Lokalen für eigene Rechnung ausbrach und
sich entfesselte.  Herr Schnepfe unterhielt sich mit seiner Frau über
Tunis, allwo Frau Schnepfe Köchin gewesen war.

Schnepfe konnte das gar nicht für wahr annehmen.  Hotelköchinnen in
Tunis?  Nach seiner, Herrn Schnepfes unmaßgeblicher Ansicht, waren
Hotels nicht angebracht in einer Himmelsregion, wo haarige Bestien
meckernd über die Wüste strichen; wo Totengerippe und Schädel die
Wege markierten.  Frauenzimmer hatten dort nichts zu suchen.

Und da man allgemach nicht mehr ausgehen konnte--die Kälte riß einem
die Ohren vom Kopfe--, so suchte sich jeder zuhaus nach Neigung und
Temperament die Zeit zu vertreiben.

Bobby unternahm umfassende Korrespondenzen zwecks Wiederherstellung
vernachlässigter finanzieller Beziehungen.  Seine Mußestunden widmete
er der Pflege der kleinen Lotte, schneuzte sie, tränkte sie, legte
sie trocken.

Engel gab Herrn Meyer sachdienliche Ticks für ein Apachenstück, das
Meyer zu Ehren Flamettis entwarf, und versenkte sich in das Studium
medizinischer Schriften aus des Herrn Meyer Handbibliothek.  Auch
schrieb er die Sätze druckfertig ab, die sich aus dieses Meyer
strotzender Feder wölbten.

Jenny und Rosa, ein Stockwerk tiefer, schneiderten orangefarbene
Matrosenkostüme für ein neues Ensemble, die "Commis voyageusen".

Herr Leporello, Parterre, hatte vertrackte politische Disputationen
mit einem vierzigjährigen zelotischen Schriftsetzer, der
selbstverfaßte revolutionäre Verse voller ästhetischen Klangs jeden
Nachmittag, eh' er zur Arbeit ging, eine Viertelstunde lang,
zielbewußt rezitierte.

Weniger friedlich beschäftigten sich die Damen Raffaëla und Lydia.

Solange noch Aussicht war auf Einladungen und Unterhaltung, auf
Kavaliere und Konditorei, ging es an.  Solange waren sie guter Laune
und Üppig.

Da ihnen Haushalt und Belletristik nicht lagen, gaben sie selbdritt
der kleinen Lotte französischen Unterricht.

"Lottely, sag': "Bon jour!" kreischte Raffaëla.

"Lottely, sag' "Rabenmutter"!" ärgerte sich Lydia und gab Raffaëla
einen Stoß.

"Lottely, sag' "Voulez-vous coucher avec moi?"!" stichelte Raffaëla
und schoß den Vogel ab.

"Gib das Kind her!  Halt' doch deinen Mund!", entrüstete sich Lydia.
"Ich würde mich schämen!  Was die dem Kind beibringt, diesem
unschuldigen Seelchen!  Gib das Kind her, du Fetzen!"

Und sie zerrten das schreiende Lottely hin und her, daß Lottely
selbst nicht mehr wußte, wer da die Mutter war.

Am Abend indes bei der Vorstellung waren Mutter und Tante längst
wieder versöhnt.

übermütig und ausgelassen stocherten sie, wenn Bobby seinen Bogen
schlug, mit den Angelruten der "Nixen" durch die Kulissenwand nach
Bobbys Bäuchlein und knäbischer Druse.

In der Garderobe kneipten sie mit den Lockenscheren die sanftmütige
Rosa, daß diese, halb ausgezogen und mit beiden Händen den wertvollen
Busen schützend, laut kreischend, bis auf die Bühne rannte.

Als aber die Kavaliere ausblieben und sich auch sonst nichts regte,
wandte sich auch bei ihnen das Temperament mehr nach innen.

Das bißchen Vorstellung, die paar Tänze, der Schnack, das alles
resorbierte sie nicht.  Der Zirkus beschäftigt mehr, fordert mehr
Kraftaufwand, bietet indes auch mehr Sensation und Belustigung.

Sie vermißten die nötige Reibung, den Zug, den Elan.  Die
Verpflanzung bekam ihnen nicht.  Die Stille reizte sie auf.

Als man am Mittagstisch saß, kamen zwei Briefe an: einer für Lydia,
einer für Raffaëla.

"Ein Brief von meiner Mama!" rief Lydia, riß das halbe Tischtuch mit,
als sie aufsprang, und las gierig, mit langem Gesicht.

"Ein Brief von meinem geliebten Männe!" schrie Raffaëla und tanzte,
den Brief in der Luft mit Küssen bedeckend, auf den Filzpantoffeln.

Leporello, neugierig, brachte seinen Kaumechanismus ins Stocken.

"Was schreibt se denn?" fragte er und schnitt auf dem Holztisch sein
Brot.

"Ach, unsre liebe Mama!  Das ist eine gute Mutter!", schmachtete
Lydia.  "Meine lieben Kinder!  Seid ja recht artig und zankt euch
nicht!"..."

"Ach, mach' nicht so'n Getöse!" rief Raffaëla.  "Du mit deinem
Geschmachte!  Als wenn es nur deine Mutter wäre!  Meine Mutter ist's
ebensogut!"

"An mich ist der Brief adressiert!"

"Weil du beständig den Hader bringst!"

"Ich?" kreischte Lydia, durchschaut.  "Unverschämte Person!"

Und schon lagen sie sich in den Haaren.

Die Briefe von Mutter und Gatte vermischten sich unter dem Tisch.
Lottely, die soeben noch munter mit ihrem Zinnlöffel den Tisch
bearbeitet hatte, ließ ab von dieser Beschäftigung und suchte mit
einem resolut angesetzten, heulenden "Bäh!" die Aufmerksamkeit ihrer
Mutter von der sympathischen Lydia abzulenken.

Flametti schimpfte und Lepo zog unter dem Tisch sein Sprungbein an,
um einzugreifen, falls der Streit peinlichere Dimensionen annehmen
sollte.

Jenny allein beschwichtigte:

"Kinder, na setzt euch!  Das Fleisch wird ja kalt!"

Es wurde schlimmer von Tag zu Tag.  Die wahre, die Zirkusnatur kam
zum Vorschein.

Welch ein Schreck für das ganze Ensemble und auch für Herrn Schnepfe,
als eines Tags in der Vorstellung die Eisenstütze des Drahtseils, die
am Parkett des Herrn Schnepfe festgeschraubt war, ganz unvermittelt
herausbrach, samt einem halben Quadratmeter Parkett!

Raffaëla tanzte gerade den Matchiche.  In fliederfarbenem
Satinröckchen, den einen Fuß vorschiebend über den "Telegraphendraht",
wie Flametti zu sagen pflegte, den andern Fuß nach rückwärts hoch in
die Luft geschlagen, den Japanschirm in gezierter Hand, hielt sie
bedacht die Balance, so heftig schaukelnd und mit dem Japanschirm
schlagend, daß die Petroleumhängelampen des Herrn Schnepfe in
blutiger Majestät sich verfinsterten.

Schon hatte sie die Mitte des Seils erreicht: da krachte der Boden.
Der Eisenträger neigte sich und das ganze Spektakel, Raffaëla im
Fliederkostüm, der Japanschirm, das vorgeschobene Bein und das
hochgeschlagene Bein, fielen auf dem geknickten Telegraphendraht
ineinander.

"Ach Gott, meine Schwester!" schrie Lydia, als stürzte ein Neubau
zusammen, "helft ihr doch!  Zieht sie doch heraus!  Ach, ihr lieben
Leute, helft ihr doch!"

Es war jedoch nicht viel passiert.  Das Seil war nur ein Meter
achtzig hoch gespannt.  Raffaëla lag wohl am Boden, der Schirm
daneben.  Aber sie schien sich nur auszuruhen.  Abgestürzt war sie
aus luftiger Höhe und dem Publikum bot sich Gelegenheit, ihre
Schenkel zu besehen, wie man eine Schwalbe besieht, die sich an
schwindelnder Kirchturmspitze den Kopf einstieß und nun plötzlich,
den Blicken der Gaffer preisgegeben, ganz nahe am Boden liegt.

Aus dem Schreck kam man nicht mehr heraus.  Immer fiel seit diesem
Begebnis Raffaëla irgendwo herunter.

Von der Bühne fiel sie herunter und hätte sich fast das Bein
gebrochen.

Von der Treppe fiel sie herunter; polternd kam sie angerutscht.  Und
man mußte den Arzt holen.

Vom Draht, der jetzt der Länge nach durch das Lokal gespannt war,
fiel sie ein zweites Mal herunter, mitten auf einen mit Gästen
besetzten Tisch, wo sie, zwischen Biergläsern, verdutzt und verschämt
einen Augenblick lächelnd stehen blieb, eine bierschaumgeborene Venus.

Bösartig aber gebärdete sich Lydia.

Sie schimpfte aufs Essen, auf ihr kaltes Zimmer, auf die Männer, die
samt und sonders Sklavenhalter und Ausbeuter, Tagediebe und
Unterdrücker seien, die kein Geld herausrückten.

Sie lieh Jennys Petroleumofen aus und gab ihn, ausgebrannt, ruiniert
und durchlöchert zurück.

Hin war der Respekt vor Flametti und seinen "Indianern".

Wenn sie Flametti sorgfältig sich schminken sah in der Garderobe,
schminkte sie selbst sich in niedriger Farcerie ostentativ einen
Körperteil, von dessen Ausbeutung für Theaterzwecke selbst die Wilden
der Südsee sich nichts hätten träumen lassen.

"Wart' nur!  Ich werd' es der Mama schon schreiben!" rief Raffaëla
verletzt und entrüstet.

Aber dann brach die empfindsam Lydia in heftige Tränen aus:

"Nicht einmal Spaß darf man machen!  Was hat man denn noch vom Leben?
Aufhängen möchte man sich!"

Und als eines Tages sich Leporello die Freiheit nahm, mit Flametti
zusammen einen Rennstall zu besichtigen, brach zwischen Lydia und
Lepo ein solch abgründiger Haß aus, daß sich Herr Schnepfe genötigt
sah, noch spät in der Nacht mit seinem prämierten Wolfshunde
einzuschreiten.

"Judenverkäufer!  Bandit!  Unterdrücker!  Schmierfink!" schrie Lydia,
von Raffaëla gezaust und von Lepo zerdroschen, daß es weithin den
Gang und das Haus durchgellte.

Sogar Jenny, die sich in Wahrheit aufopfernd benahm--sie lieh ihren
Protegés das halbe Boudoir aus, Brennschere, Seife, Nachttopf,
Benzin--, wurde in Mitleidenschaft gezogen.

"Du, Jenny", sondierte Raffaëla, als sie an Jennys Namenstag
traulichen Streuselkuchen zum Kaffee bekam, "Wie ist das denn mit der
Traute geworden?  Schreibt er ihr noch?  Der schreibt ihr doch sicher
noch!  Meinst du nicht auch?"

"Nein, nein", meinte Jenny bedeutungsvoll, "der schreibt ihr nicht
mehr.  Dem ist die Lust vergangen.  Das hat sich ausgeschrieben."

Und einige Tage später: "Du, Jenny, der hat was mit der Soubrette.
Der Lepo auch.  Gib mal acht, wenn sie singt!  Ist dir denn das noch
nicht aufgefallen?"

"Geh'", sagte Jenny, "du träumst!"  Aber sie nahm sich vor, auf der
Hut zu sein.

Und Raffaëla in ihrer Strohwitwenschaft, leistete sich's, mit
Flametti anzubändeln.

Sie hielt ihn nach alledem, was Jenny ihr anvertraut hatte, für einen
Naivling.

Schon duzten sie sich, trotz Flamettis erklärter Antipathie, als
eines Tags Jenny dahinterkam in der Garderobe.

"Was ist denn nun das?" schrie sie, hochrot und abgetrieben von
dieser ewigen Hetzjagd hinter dem Gatten her, "mit einer
verheirateten Frau fängst du auch noch an?  Hast du noch nicht genug
mit dem einen Prozeß?  Willst du uns ganz ruinieren?"

"Und du, Raffaëla, schämst du dich nicht?"

"Prozeß?  Prozeß?" staunten Lydia und die Soubrette zugleich.

Herr Meyer aber verfinsterte sich noch tiefer.

Während Herr Engel, sein Sekretär, Fortschritte machte in der
druckfertigen Abschrift des langsam anschwellenden Apachenstücks,
gönnte Herr Meyer seiner Inspiration nicht Ruhe noch Rast.

Tag und Nacht saß Herr Meyer, durchstreichend, was er geschrieben,
neu ordnend, was sich nicht fügen wollte.  Ja, es konnte passieren,
daß die Inspiration ihn in Momenten heimsuchte, die in der rastlosen
Hingabe an Fräulein Laura gipfelten; daß es ihn aus dem Schlaf
auftrieb inmitten der Nacht.  Dann schnellte er aus dem Bett mit
gesträubten Haaren, und nicht ließ er locker, bis daß der Gedanke
gefesselt war.

"Laura", sagte Flametti, als eines Tags Herr Meyer wieder mit völlig
gelähmten Augenlidern bei Tisch erschien, "sagen sie doch dem Meyer,
er soll sich nicht gar so quälen mit seinem Ensemble.  Wissen Sie:
"Die Apachen"--offen gestanden--gefällt mir nicht recht.  Verstehen
Sie wohl: gefällt mir schon.  Aber es ist zu direkt.  Das Publikum
stößt sich dran.  Man muß Rücksicht nehmen.  Außerdem wird es
nächstens bei uns entscheidende Veränderungen geben."

Fräulein Laura machte große Augen.

Sie hatte mit Engel bereits den "Apachentanz" einstudiert, der
zwischen Messergefunkel und einem entrissenen Portemonnaie viel rüde
Körpergymnastik und mancherlei Aneinanderpressen der Hüftbecken mit
sich brachte.

"Veränderungen?"

"Ja, Veränderungen.  Im Vertrauen gesagt: Mit den Zirkusleuten--das
geht so nicht mehr.  Leporello--allen Respekt.  Aber die
Weiber--unmöglich.  Meine Frau hat sie engagiert.  Wir brauchten
Ersatz für die Häslis.  Gut.  Aber jetzt ist es so weit, daß sie
selbst schon verrückt wird."

Und als Fräulein Laura erschrocken und sehr besorgt nach Worten
suchte:

"Der ganze Kram ist mir über.  Es gibt keine Achtung mehr, keinen
Respekt in der Welt.  Keine...."

"Grandezza", wollte er sagen.  Er suchte das Wort, fand es nicht und
ersetzte es durch eine Geste.

"Nur Gemeinheit.  Auch meine Frau: sie meint es ja gut.  Aber vom
Höheren versteht sie halt nichts.  Die Weiber haben das an sich: sie
sind gemein.  Niederträchtig alle.  Das ist es.  Sie sind aus Prinzip
gegen das... das..."

Wieder blieb ihm das Wort aus.

"Sie sind aus Prinzip dagegen.  Leer sind sie und dumm wie der Teufel.
Alles ziehen sie in den Dreck.--Sie hat mir den Zirkus ins Haus
gebracht.  Wer weiß, warum.  Vielleicht nur, weil sie's allein nicht
schaffen konnte.  Man kommt auf den Hund."

Laura versuchte zu lächeln.

"Ach was!  Depressionen!" rief sie und schwenkte den Lockenkopf.
"Geht vorüber.  Sowie der Besuch sich hebt.  Sowie der Erfolg
einsetzt.  Müssen es denn gerade die "Indianer" sein?  Es gibt doch
andere Nummern!"

Aber Flametti schüttelte den Kopf.

"Unverstand von der Jenny.  Ah, diese ganze schäbige Wirklichkeit!
--Schad', daß der Türke hoch ging.  Es war eine Beruhigung, so einen
Mann in der Welt zu wissen; solch eine Quantität von Opium, Kokain
und Haschisch."

Laura lächelte, gütig, bewundernd.

"Eine Freundin von mir, Russin, hat Kokain.  Ich werde ihr schreiben..
."

Und eine zarte Sympathie entstand zwischen beiden, Anlaß zu manchem
Vertrauen.

Eines Tags aber sah man Flametti ganz besonders niedergeschlagen.

Eine Vorladung war gekommen, vom Bezirksanwalt.  "Mißbrauch und
Mißhandlung von Dienstpersonal, Verführung Minderjähriger".  Traute
und Güssy hatten Anzeige erstattet.

"Was hast du gesagt?" bestürmte Jenny den Gatten, als er vom
Untersuchungsrichter zurückkam.

"Was hab' ich gesagt?" brummte Flametti, "das kannst du dir denken.
Es kommt zum Prozeß."



VI



Herr Leporello hieß mit Vornamen Emil.

Er war schlank, lang, geschmeidig.  Zwei mächtige Eckzähne, blitzende
Augen, ein heiserer Baß geben einen Begriff seiner Persönlichkeit.
Besonderes Merkmal: steifer, schleifender Gang der Zirkusleute, die
sich bei einer verwegenen Pièce einen Bruch geholt haben.  Auch seine
Weste war eine Weste, wie man sie nur beim Zirkus trägt: goldfarbig,
Tapetenmuster mit allerhand Schnörkeln und Tressen.

Dieser Leporello Emil, Artist, geboren 17. März 1883, bekam seine
Kriegsbeorderung just an dem Tage, da seine Tante Geburtstag hatte.

"Emil!" wehklagte Lydia, "ach, Emil!  Die Beorderung!"

Ihr Schmerz kannte keine Grenzen.  Und obzwar dieser Schmerz
keineswegs affektiert war, stand er doch in einem so auffallenden
Gegensatz zu Lydias früherem Benehmen, ihrem Haß, ihrer Verachtung,
wovon man in Basel gelegentlich der nächtlichen Szene mit Herrn
Schnepfes prämiertem Wolfshund ein Beispiel gesehen hat, daß es Lydia
selbst zu Bewußtsein kam.

"Ach, ich weiß gar nicht", seufzte sie und die Hände fielen ihr in
den Schoß, "ich möchte gar nichts mehr hören und sehen, seit ich weiß,
daß mein Emil in den Krieg muß.  Ach Emil, wie wird das enden!"

Aber Emil war guten Mutes.

"Ho ho!" lachte er gedrückt, ohne die Eckzähne zu zeigen, "laß man
jehen!  Ick bin froh drum.  Det Vaterland ruft.  Da jibts keene
Zicken."

Und dann nahm er sein Handköfferchen eines Tags und hatte den Paletot
an und den Regenschirm in der Hand und verabschiedete sich.

Lydias Augen hingen an ihm wie leere Sonnenblumen im Herbst, auf die
es geregnet hat.

"Ach, ihr lieben Leute!  Mein guter, lieber Emil! jetzt geht er dahin
und wer weiß, ob er wiederkommt."

Und sie streckte sich auf den Zehenspitzen, umarmte und küßte ihn,
und stellte immer wieder ihr eigenes Handtäschchen dabei auf den
Boden; denn sie begleitete ihn bis zur Grenze.

Aber Emil war guten Mutes und sagte:

"Herrjott nochmal!  Man meent ja, es jeht in die Ewigkeit!"

Er hoffte, draußen schon Kameraden zu finden.  Es gab dort gewiß
lustige Brüder genug.  Tarock spielen würde man sicher auch dort.
Als Froschmensch wird es ihm leichter fallen, sich in der
Kriegsgymnastik zurechtzufinden.  Und es gab Bilder in den
"Illustrierten", aus denen hervorging, daß auch da draußen nicht
immer nur die Granaten platzten.

Und so reiste er ab.

Man spielte jetzt wieder im "Krokodil".  Basel war doch nicht das
Richtige.  Man war zur Fuchsweide zurückgekehrt.  Warum auch nicht?
Die Polizeibuße war bezahlt.  In der Fuchsweide war man zu Hause.
Und wo man zu Hause ist, da soll man sich nähren.

Freilich hatte sich hier in der Zwischenzeit vieles geändert.  Es war
nicht die alte Fuchsweide mehr.  Ein neues Polizeiregiment war
aufgekommen.  Ein andrer Inspektor.  Es wehte ein schärferer Wind.

Die Annehmlichkeiten des "Krokodilen" waren die alten.  Das Klavier
vorzüglich.  Die Heizung brillant.  Biermarken im überfluß.

Aber die Polizei hatte heftige Lücken gerissen ins Publikum.  Hin war
der mondäne Glanz.  Hin war die Freude.  Verschwunden die Habitués.
Verschwunden der "Totenkopf" und seine Schwester.  Verschwunden
Fräulein Amalie.  Verschwunden Herr Pips.  Verschwunden der Herr
Krematoriumfritze, der all sein Geld verjuckt und mit der Dame in
Feldgrau ein von der Polizei nicht gern gesehenes Verhältnis auf
Gegenseitigkeit unterhalten hatte.

Dagegen gab es nun in der Fuchsweide ein "Organ": "Die Zündschnur.
Organ gegen die Übergriffe der Polizei und des Kapitalismus",
redigiert von Herrn Dr. Asfalg, einem ehemaligen Freund und
Studiengenossen des derzeitigen Polizeihauptmanns.

Herr Dr. Asfalg, ein Schwärmer und Utopist, ließ sich die Interessen
der Fuchsweidenbewohner sehr angelegen sein.

Als der neue Polizeihauptmann, Herr Adalbert Schumm, eines Tages
höchst persönlich im "Krokodil" erschien, um nach dem Rechten zu
sehen, kam es zu ganz privaten Auseinandersetzungen und Ohrfeigen
zwischen ihm und seinem ehemaligen Keilfuchs, und die Szene endete so,
daß Herr Polizeihauptmann Schumm, der incognito da war, den
Schauplatz mit Schimpf und Schande verlassen mußte, weil ihn anders
das schwere Geschütz des Dr. Asfalg, eine Gruppe Schlachthausgehilfen,
in Grund und Boden geschlagen hätte.

Und wenn auch Herr Dr. Asfalg den Kampf in der Folge mehr ins ideelle
Gebiet hinüberspielte, so waren doch solche erregte Läufte den Musen
nicht günstig.

Herr Polizeihauptmann Schumm dekretierte:

"In allen Konzert--und Vergnügungslokalen der Fuchsweide untersage
ich hiermit ab 1. Dezember die Schaustellung wilder Tiere,
dressierter Löwen, Bären, Affen; Bärenringkampf, singende Schakale,
sogenannte Meerweibchen etc. Dergleichen untersage ich die Verwendung
von Schlagzeug, große Trommel, Pauke, Tschinelle, Schrummbaß bis auf
weiteres.  Wer diesem Verbot zuwiderhandelt, wird mit Polizeibuße
bestraft bis zu dreihundert Franken."

Und Herr Dr. Asfalg erwiderte in der "Zündschnur":

"Wir kennen die wilden Tiere, Tiger, Füchse und Affen der Polizei.
Es bedarf keiner Hinweise.  Wir werden uns bemühen, sie um die Ecke
zu bringen.

Wir kennen auch den Schrummbaß der Polizei.  Es ist ein Instrument,
das rasselt, wenn man es auf den Boden stößt.  Wir werden dahin
wirken, daß auch dies Instrument verschwindet.

Wir stellen uns auf den Boden der nacktesten Wirklichkeit.  Wir
werden in Unterhosen die Nationalhymne singen.  Wir werden in
Schnurrbartbinden unsre Ensembles aufführen, statt uns Masken zu
schminken.  Wir werden uns Bäuche stopfen und Scheitel ziehen wie sie
Herr Adalbert Schumm zur Schau trägt, und werden auf diese Weise
hottentottischer wirken als, nach dem Urteil der Polizei, alle wilden
Tiere und Pauken zusammengenommen."  ("Zündschnur", Nummer 3, vom 18.
Dezember).

Und ein andermal, (Nummer 4, Seite 3): "Man lasse dem Volk seine
harmlosen Freuden.  Wie sagt doch der Dichter: "Freude, schöner
Götterfunke, Tochter aus Elysium!""

"Jene aber, Verräter an der Notdurft der Menschheit gehen darauf aus,
dem Leben seinen holden Schimmer, seinen Flaum zu nehmen. gez.  Dr. A."

Und als eine neue Razzia stattfand, konnte man in der "Zündschnur",
Nummer 6, Jahrgang I, die Sätze lesen:

"Freunde!  Mitbürger!  Genossen!

Hört!  Euer Bestes, euer Gemüt ist verdächtig.  Vor Gericht ist alles
Gemüt verdächtig.  Gemüt kennzeichnet unseren Henkern Menschen, die
auf suspekten Wegen gelitten haben und zermürbt sind.  Gemüt ist für
sie Opposition und Verschwörung.  Gemüt ist das Merkmal von Menschen,
die renitent sind, waren oder sein werden.  Gemüt ist Eigendünkel und
eine Gefahr für sie.  Leute von Gemüt gehören in Untersuchungshaft.
Man recherchiert mit Recht und Erfolg nach kriminellen Akten von
ihnen.  Legt euer Gemüt ab!"

Bei solchen Ergüssen war es erklärlich, daß das Geschäft litt, daß
sich die Habitués verflogen.

Gerade der letztere Artikel wurde deshalb von direktorialer Seite
sehr angefeindet.  Sein ironischer Ton war leicht mißzuverstehen.

"Legt euer Gemüt ab!", das konnte auch heißen: Meidet die
Vorstellungen!  Gebt keine Gelegenheit, euch zu fassen!

Das mußte dem Publikum Angst einjagen, es abhalten, zu kommen.

Der Dr. Asfalg in seinem Fanatismus ging entschieden zu weit, begann
der Sache zu schaden.  Und erreichen, der Polizei gegenüber, konnte
er doch nichts.  Sie hatte die Macht.  Sie hatte vom Staat die
Befugnis, zu "säubern".  Und wenn man Sauberkeit, Ordnung und
Rechtlichkeit anerkannte, dann mußte man auch die Polizei anerkennen.

Nur den vereinten rhetorischen Anstrengungen der Direktionen gelang
es, den Besuch ein wenig zu heben.

Neben herausgebügelten Bauernweibern, die in der Stadt ihre Einkäufe
besorgten, saß ein französischer Invalide, dem beim Aufstehen die
Krücken fielen.  Neben dem Seifensieder, den die Reklameaufsätze der
"Zündschnur" angelockt hatten, saß eine brotlose Köchin, voller
Entschluß, unsittlich zu werden und sich im Varieté den
entscheidenden Stoß zu holen.

Dabei reklamierte Herr Schnepfe von Basel aus zwei turmhohe
Rechnungen über gehabte Extraschnitzel, Hähnchen, Schnecken der Damen
Raffaëla und Lydia, die unter Nichtbegleichung der Zeche Knall und
Fall abgereist waren.

Man trat im "Krokodil" jetzt auf in Jennys neuen Orangekostümen.

Es war eine Sensation.

Jenny in diesem Matrosenkostüm sah aus wie Suppenkaspar auf Reisen.
Rosas gemäßigte Hammelbeine daneben standen mit durchgedrückten Waden
wie gedrechselt aus einem Stück, ohne Gelenke und Knöchel.  Die
Spatzenbeine der Soubrette gaben der Linie der drei Chanteusen einen
wenigstens in der Perspektive harmonischen Abschluß.

Interessanter wurde das Bild, wenn die drei Damen sich dann vom
Profil her boten.

Mit einem gerissenen Haken schwenkte Herr Meyer auf dem Klavier:


"Da geh'n die Mädchen hin,
Da sitzt der Jüngling drin,
Da ist's, wohin sich alles zieht."


Das rechte Bein der Damen hob sich dreifach.  Die hinterste Hosennaht
der Matrosenkostüme, prall ausgefüllt mit Unterwäsche, schwankte,
zuckte, zackte.

Losmarchierten die drei, mit zum Publikum geneigten Köpfen und
gewinnender Eleganz.

Aber es war kein Erfolg.  Und das hatte weniger ästhetische als
moralische Gründe.

Es gelang den Damen Raffaëla und Lydia nach Leporellos Einberufung
nicht länger, ihre Renommee aufrechtzuerhalten.  Die Hochachtung
schwand.  Der Respekt der Apachenpartei erfuhr eine Ernüchterung.
Man kam dahinter, daß die Vornehmheit der Zirkusartisten nur Getue
gewesen war.

Es stellten sich allerhand ehrenrührige Fakta heraus.  In früheren
Zirkusengangements sollen sie schürzenvoll das Kleingeld
weggeschleppt haben.  Noch jetzt fand man unten am See, wo die
Zirkusse standen, bei eifrigem Suchen und zufälligen Gängen
Kupfer--und Silbermünzen, die beim Wegschleppen der Gelder zu Boden
gefallen waren.

Es stellte sich auch heraus, daß Lydia und Raffaëla keineswegs
Artisten von Kindesbeinen auf waren, Artisten, die gewissermaßen
schon an der Mutterbrust in Spagat ausbrachen.  Im Gegenteil: Frau
Scheideisen war Hebamme gewesen, eh' sie zum Zirkus ging und sich
Donna Maria Josefa nannte.

Raffaëla und Lydia legten auch keineswegs Wert darauf, mühevoll
Renommee und Distanz zu wahren.

Raffaëla hatte die Hände voll Arbeit mit ihrem Kinde.  Lydia ging auf
in der Sehnsucht nach dem entschwundenen Gatten.

"Ach, mein Emil! ach, mein Emil!" jammerte sie und die Tränen standen
ihr in den Augen.

Die Sehnsucht verstörte ihr kleines Gehirn.  Die Augen flossen ihr
aus.

"Ach, Emil! ach, Emil! wer hätte das denken können!"

Hinauf lief sie in ihr Zimmer und schleppte die Photographieständer
herunter, während der Vorstellung, um sie den Gästen zu zeigen.

"So hat er ausgesehen.  Das ist er.  Ach, mein guter Emil!  Sie haben
ihn sicher schon totgeschossen!"

Und wenn sie dann die Photographien ansah--da stand Emil Leporello,
freundlich lächelnd mit Augen eines Dompteurs, den Arm in die Seite
gestützt, die Beine übereinander geschlagen--und sich
vergegenwärtigte, wie er zerhackt und gevierteilt auf einer Rasenbank
in Sibirien den Raben zum Fraß überlassen dalag und nach ihr rief:
"Lydia, hierher, zu mir!" dann brach ihr das Herz.  Herunter hing ihr
der Unterkiefer, herunter hingen ihr die Augenlider, die Arme.  Ein
kleiner Tropfen bildete sich an der spitzen Nase.  Ausbrach sie in
lautes Heulen und war untröstlich.

Umsonst versicherte man ihr, er sei gewiß noch in der Kaserne, und
wer weiß, ob er jemals, wenn er doch nur seine Eckzähne habe und
nicht gut beißen könne, hinauskomme in den Schützengraben.

Kein vernünftiges Wort verfing.  Kein Scherzwort genügte ihr.  Sie
hatte genug von der Welt.  Dem Hauptmann wollte sie schreiben,
hinreisen zu ihm, sich niederwerfen vor ihm, sich ihm anbieten zu
jeder Schmach, wenn er ihr nur ihren Emil wiedergebe.  Eine
Deklassierung der Zirkusartisten fand statt, eine Nivellierung
innerhalb des Ensembles.

Ja die Apachenpartei, die unter empfindsamen Regungen weniger litt,
gewann langsam wieder die Oberhand.

Monsieur Henry, der Ausbrecherkönig, beherrschte jetzt völlig die
Rolle der Zeugin Emilie Schmidt.  Und Herr Piener, der
Schlangenmensch, unter dem überragenden Druck der Begabung Leporellos
nicht länger leidend, arbeitete sich unter täglichen Trainagen und
Fräulein Lauras geneigter Assistenz langsam wieder in den Vordergrund.

Einen wirklichen Knacks aber erlitt die moralische Situation des
Ensembles, als man dahinterkam, Flametti habe einen Prozeß, und als
man erfuhr, um was für einen Prozeß es sich handelte.

"Kinder!" rief Raffaëla, und ein Licht ging ihr auf, "habt ihr gehört,
was der Alte für einen Prozeß hat?  Verführung Minderjähriger, das
Schwein.  Soll man das glauben?  Schabernackelt hat er mit der Güssy
und mit der Traute!"

Sie setzte sich--es war im Zimmer des Pianisten und der
Soubrette--und ließ die Hand auf die Tischkante fallen.

"Das ist nichts Neues", meinte Bobby, der für Laura Zigaretten
besorgt hatte und den fadenscheinigen Wollschal, der ihm von der
Schulter gerutscht war, über die Schulter zurückwarf.  "Schon in Bern
hat er mit denen was gehabt, bevor sie noch zu uns kamen."

"Ja, Kinder, das ist ja die Höhe!" rief Raffaëla in ihrer
emphatischen Weise.  "Die stecken ihn ja ins Zuchthaus!  Was machen
wir nur?"

"O jeh!" winkte die Soubrette ab und verkniff zynisch das linke Auge.
Sie wußte noch ganz andere Dinge.  Aber sie wollte nicht reden.

Auch Lydia kam jetzt ins Zimmer.

"Hm, so was!" sagte sie und nickte sorgenschwer.  "Das ist doch ein
Skandal!  Der alte Esel!"

Man wohnte jetzt im "Krokodil".  Lydia, Raffaëla und Lottely, der
Pianist und die Soubrette hatten je ein Zimmer im kleinen Hotel.  Zu
den Mahlzeiten ging man hinüber in Flamettis Wohnung.

Herr Meyer kam zurück von der Bibliothek.  Er arbeitete noch immer an
seinem Apachenstück.

"Vor allem eins", sagte er.  "Ruhig Blut.  Ich habe das lange kommen
sehen.  Schon in Basel.  Es ist mir nichts Neues.  Im schlimmsten
Fall machen wir selbst ein Ensemble.  Wir sind eins, zwei, drei, vier,
fünf, sechs Leute, die alle etwas können.  Engel macht seine
Ausbrechernummer.  Bobby macht den Schlangenmenschen.  Sie beide
tanzen.  Ich spiele Klavier.  Es müßte doch mit dem Teufel zugehen,
wenn wir keinen Erfolg hätten.  Außerdem habe ich ein Apachenstück
geschrieben, glänzend.  Das führen wir auf.  Aber: Diskretion!"

Damit waren alle einverstanden.  Leise sprach man, denn die Wände im
"Krokodil" waren dünn wie Papier.  Lattenverschläge waren die Zimmer,
mit Tapeten bezogen.  Meterlange Risse klafften hinter den Betten.
Und wenn ein Bekannter Flamettis, etwa der Hausknecht, zufällig
horchte, war man verkauft und verraten.

Nur Engel hatte Bedenken.  Ihm war die Karriere verleidet.

"Nein, nein", sagte er traurig und am Ende mit seiner Kraft, "ich
hab's satt.  Ich mache nicht mehr mit.  Mich müßt ihr streichen."

Und sei es nun, daß er an Flametti nicht zum Verräter werden wollte,
oder die Luft zu brenzlich fand, oder noch litt unter den Nachwehen
der Proben zum "Friedhofsdieb": er lehnte ab, gab es auf,
"verzichtete auf seine Mitwirkung".

Meyer war überrascht.

"Das ist unmöglich, Engel!  Das tun Sie uns nicht an.  Das geht nicht."

Aber Engel zuckte die Achseln:

"Ich hab' ja ein wenig Geld auf der Kasse.  Ich brauche nur zu
schreiben und fünfhundert Franken sind da.  Ich kann mich beteiligen.
Aber nein, nein.  Ich hab' keine Lust mehr.  Ich nehme eine
Vertretung an.  Ich habe Beziehungen."

Und er zog eine Geschäftskarte aus der Tasche.  Darauf stand:
"Original--Ideal--Perplexund Simplex-Mühlen Schrot--und Mahlmühlen
für Zerkleinerungen jeder Art Plupper & Co.  Vertretung."

Und spuckte aus, die Zunge über den Zähnen, und ging mit vermiestem,
völlig desillusioniertem Gesichtsausdruck, die Beine schlenkernd,
durchs Zimmer.

"Da ist nichts zu machen", bedauerte Meyer.

Er legte Engel die Hand auf die Schulter, sah ihm tief in die Augen
und sagte:

"Na schön, Engel, dann nicht.  Aber bleiben Sie uns gut Freund."

"So weit es an mir liegt", versicherte der und reichte dem Meyer
zitternd vor Ergriffenheit die Hand, "ein Mann, ein Wort."

Flamettis Prozeß war binnen kurzem stadtbekannt.  Und wie es zu gehen
pflegt, wenn eine solche Sache publik wird: man zog sich zurück von
ihm, nahm Partei gegen ihn, fand ihn übertrieben naiv und reichlich
ungeschickt.  Man verurteilte ihn.

Im "Intelligenzblatt" erschien ein Brandartikel, "Moderne
Sklavenhalterei", worin Punkt für Punkt Flamettis unhaltbare
Geschäfts--und Familienpraxis ans Licht gezerrt wurde.

"Ein Direktor, der zugestandenermaßen nichts von Gesang versteht",
hieß es in jenem Artikel, dessen Verfasser keinen Anspruch erhob, als
Autor genannt zu werden, "ein Direktor, der zugegebenermaßen nicht
das leiseste Tonunterscheidungsvermögen besitzt, hält sich eine
Anzahl Gesangselèven, denen er seine sauberen Künste beibringt;
Gesangselèven, die er zugleich als Dienstboten benutzt; die er zwingt,
ihm zu Willen zu sein, und denen er doch als Entgelt nur schlechte
Behandlung verabfolgt.

"Ein Morast sittlicher Verkommenheit enthüllt sich, wenn man die
Schlupfwinkel dieser modernen Sklavenhalterei, diese Brutstätten des
Elends aufsucht.  In Kellern und Hinterhäusern hausen die Kondottieri
der Lasterquartiere und Dirnenviertel.  Ein Absteigequartier dient
als Schauplatz wilder Gelage, als Treff--und Versammlungspunkt, wo
man die Beute verspielt.  Mädchenhändler und Bauernfänger, Roués der
hintersten Sorte geben sich hier ein Stelldichein.  Und der Direktor
preist seine Ware an.  Wahrlich, es ist an der Zeit, daß die Polizei
einschreitet und diese Schlupfwinkel säubert."

So stand es geschrieben und wenn auch Flamettis Name nicht genannt
war, so wußte doch jeder, daß der Artikel auf ihn ging.

Beim großen Artistenfest in der "Weißen Kuh" reichte man sich den
Artikel von Hand zu Hand, ein klebriges Heiligtum, mit
verständnissinnigem Lächeln und unterdrücktem Gezwinker.

Da war besonders Herr Köppke, Baritonsolo und Offiziersdarsteller bei
Ferrero, der laut Partei nahm für die beiden Mädel und die Moralität.

"Schweinerei von dem Menschen", erklärte Herr Köppke mit der Resonanz
eines Gemeindesängers, "Blamage für unseren ganzen Stand.  Die
Konzession werd' ich ihm entziehen lassen.  Seinen Ausschluß aus dem
Klub werde ich beantragen.  Das geht doch zu weit!"

Herr Köppke war Schriftführer der Artistenloge "Edelstein", deren
Logenbruder auch Flametti war.

"Haben Sie schon gelesen?" sagte Herr Köppke und steckte Meyer das
"Intelligenzblatt" zu.  "Lesen Sie mal!"

Und Herr Meyer las, und Herr Köppke begab sich unauffällig an seinen
Platz zurück.

Eine Schlägerei fand statt zwischen Flametti und Herrn Köppke in der
"Rabenschmiede", einige Tage später, daß zwei Tische und drei Stühle
in Trümmer gingen, sowie zwei präparierte Hasenköpfe mit Glasaugen,
die der Beizer der "Rabenschmiede" aus seinem Privatbesitz zur
Ausschmückung des Lokals herangezogen hatte.

Das Renommee Flamettis ging flöten.  Langsam, aber sicher.

Noch hatte er viele Freunde, und seine treueste Helferin war Mutter
Dudlinger, die ihm, stets lächelnd, im Hintergrund heimlich die
Stange hielt.

Noch hatte Flametti das Kapital hinter sich.

Noch konnte er auftrumpfen, sich sehen lassen, wenn das Geschäft auch
täglich schlechter ging.

Als aber in der Silvesternacht die Polizei vier Mann hoch in Mutter
Dudlingers Wohnung eindrang, wobei Herr Engel in knapper Not durch
das Lokusfenster über die Dächer entkam, da schloß Mutter Dudlinger
die offene Hand und versagte.

Lydia und Raffaëla rebellierten jetzt ganz offen.

Geschäft und Auftreten wurden ihnen täglich mehr Nebensache.  In der
Garderobe saßen sie herum, wenn das Klingelzeichen längst gegeben war.
Sie beeilten sich gar nicht sonderlich, sich zu schminken, noch
legten sie Wert darauf, pünktlich zur Vorstellung zu erscheinen.
Herr Meyer war gezwungen, von Tag zu Tag längere Zwischenstücke zu
spielen.  Andere Nummern mußten eingeschoben werden, weil Raffaëla
mit ihrer Frisur nicht fertig war für den Drahtseilakt, weil Lydia
zum Cakeswalk erschien ohne das Zierstöckchen und ohne Knöpfe am
Anzug, die ihr die Schwester in der Garderobe mutwillig abgetrennt
hatte.

Sie aasten ganz offensichtlich, Flametti zum Trotz.  Sie tanzten ihm
auf der Nase.

Wenn Flametti mit einem Donnerwetter dreinfuhr und sich beklagte,
nahmen sie wohl die Kassiermuschel und gingen sammeln.  Doch sie
vergaßen dann ganze Reihen zu kassieren, tauschten Späße mit den
Gästen und schienen auf alles andere eher bedacht als auf gute
Kassierung.

Sie hatten Interesse nur noch für die Mahlzeiten, die Flametti ihnen
zu bieten hatte.

Pünktlich um zehn Uhr früh erschienen sie zum Kaffee.  Flametti und
Jenny schliefen dann noch.

Sie drangen in die Küche, schoben die blöde Rosa beiseite und
durchstöberten Kisten und Kasten nach Honig, Gelee und Butter.  Was
ihnen bei solcher Razzia in die Hände fiel, aßen sie auf.

Die kleine Lottely hatten sie mitgebracht.  Die stopften sie voll
Brot, Kaffee und Gelee, daß der Mund des Kindes aussah wie ein
Kleistertopf.

Pünktlich um zwölf Uhr stellten sie sich zum Mittagbrot ein; rasch,
unverschämt und gefräßig.

Besonders Lydia übertraf alle Begriffe von Gier.  Kaum erschien die
Platte mit Fleisch oder Gemüse, so hatte sie schon die Gabel oder den
Löffel zur Hand, und wer sich nicht seinerseits sehr beeilte, ging
leer aus.

Sie aßen systematisch, überzeugt, mit Absicht.  Sie aßen, als gelte
es Vorrat zu essen ohne Rücksicht auf diesen geschwollnen Patron, der
ihnen durch seinen ganzen Prozeß, durch sein ganzes schuldbewußtes
Benehmen die Überzeugung eingab, es komme nun nicht mehr drauf an,
Rücksicht walten zu lassen.

Während des Mittagessens aber machte Lottely einen Finger gegen
Flametti und drohte klug: "Du, du!" schlug mit dem Suppenlöffel auf
den Tisch, daß die Körner der Reissuppe spritzten; schnellte sich in
unbewachten Momenten mit beiden schmutzigen Schuhchen auf dem
gebürsteten Plüschsofa, hopsend und krähend; warf die große steinerne
Vase mit dem imprägnierten Binsenstrauß um, hinter der Tür; heulte
und quäkte.

Mutter und Tante aßen ruhig weiter, in wetteiferndem Tempo,
unbekümmert, sachlich, eilig, wie Harpyen, deren Geschäft es ist,
möglichst viel Fraß zu schlucken und zu verdauen.

Flametti versuchte die Lücken in seinem Ensemble auszufüllen und eine
Geigerin kam ins Haus, eines Tags, um Probe zu spielen.

Leider: sie war nicht geschaffen fürs rauhe Leben.  Von einer
gottergebenen Friedlichkeit war sie und Naivität.  Hatte bis dato ihr
Brot verdient durch Aufspielen von Kinderstücken in den Kneipen und
Spelunken der Fuchsweide.

Erst war sie mit dem Zitherkasten gegangen, allabendlich.  Dann hatte
sie das Violinspielen gelernt.

Bleichsüchtig und hager, von einer rührenden Gottseligkeit war sie.
Sie säen nicht, sie ernten nicht, und doch ernähret sie der Herr.

Manch einer hatte sie mitgenommen aus Mitleid und ihr ein warmes
Nachtlager gegeben, wenn sie noch spät nach der Polizeistunde auf der
Straße irrte.

Engbrüstig und schmal war sie von Gestalt, ein Lehrerinnentyp.

Einen Kneifer trug sie und strich mit dem Fiedelbogen so ausdruckslos
freundlich und doch akkurat und energisch ihr Instrument, daß man ihr
wirklich nicht böse sein konnte.

"Soll ich mal was spielen?" fragte sie harmlos.

"Ja, fiedel mal los!" sagte Raffaëla.

Aber die Geigen-Marie genierte sich.

"Draußen in der Küche", sagte sie forsch.

Und sie ging hinaus in die Küche, öffnete den Schalter, damit man
auch drinnen etwas hören könne, und dann spielte sie los.  "Stille
Nacht, heilige Nacht", oder "Behüt' dich Gott, es wär' so schön
gewesen", oder "Die Rasenbank am Elterngrab".

Kam dann wieder herein und lächelte jeden einzeln der Reihe nach an,
als wolle sie fragen:

"Na, wie war's?  Schön, nicht wahr?"

Aber Lydia meinte:

"Komm' mal her!  Was hast du denn da für ein Fähnchen?" und zog ihr
ein kleines Metallfähnchen aus dem Brustlatz.

Lydia war neugierig wie ein Tier; beschnupperte sie, federte sie ab.

Den Brustlatz knöpften sie ihr auf.  Ihre Strumpfbänder sahen sie
nach, den Stoff ihrer blauen Glockenhosen rieben sie zwischen den
Fingern.

"Ja", meinte Raffaëla bedenklich, "wenn du zu uns ins Ensemble willst,
da mußt du vor allem gerade Beine haben und einen schönen Körper.
Zeig' mal her!"

Und die Geigerin, immer freundlich lächelnd, ein Sonntagskind, zog
sich aus und zeigte ihre Beine.

Raffaëla krähte vor Vergnügen.

"Ja, das ist ganz gut", sagte sie, "bißchen mager, aber es geht schon.
Kannst du auch tanzen?"

Nein, tanzen konnte sie nicht.

"Mußt du noch lernen.  Eine Tänzerin brauchen wir.  Fiedeln kannst du
nebenbei."

Marie war argwöhnisch geworden.

"Ihr macht Spaß mit mir!" sagte sie ein wenig rauh und erkältet.

"Nein, nein", versicherte Raffaëla, "das ist bei uns anders als bei
der Heilsarmee.  Bei uns gibt es Kavaliere, Lebewelt.  Da muß man
herzeigen, was man zu bieten hat."

Flametti fühlte sehr wohl, daß die Frivolität dieser Szene nur gegen
ihn gerichtet war; daß man sich lustig machte.

Auf dem Sofa saß er, dunkel vor Wut und Scham, und biß sich die
Lippen.

"Zieh' dich an!" sagte er zu der Geigerin.  "Du spielst sehr gut.
Mancher wär froh, wenn er so spielen könnte.  Kannst heut' abend in
die Vorstellung kommen und dir mal ansehen, was wir machen.  Wenn du
Lust hast, kannst du den Herrn Meyer begleiten zum Klavier."

"Das ist wohl zu schwer", meinte Marie.

"Ja, dann ist nichts zu machen", bedauerte Flametti, "dann kann ich
nicht helfen."

"Tut nichts", lächelte die Geigerin, "dann geh' ich wieder in die
Wirtschaften und spiel' auf."

Und sie packte sorgfältig ihre Geige ein.

Einige Tage später, als Flametti die Gagen auszahlen wollte,
entdeckte er zu seinem Schreck, daß Quittungen über à conti, die er
an Raffaëla, Lydia und Bobby ausgezahlt zu haben genau sich erinnerte,
aus seinem Quittungsblock verschwunden waren.

Herausgerissen waren drei Formulare mit einer Dreistigkeit und Gewalt,
daß an der Perforiernaht die Fetzen noch hingen.

"Das ist doch die Höhe!" rief Jenny, ganz in Raffaëlas Weise, "das
ist doch die Höhe!  Max, du zahlst ihnen nichts aus, bis sie die
Quittungen wieder beigeschafft haben.  Du zeigst sie an.  Das ist
Einbruch.  Sie haben die Tischschublade aufgebrochen.  Sie wollen den
Verdacht auf den kleinen Bobby lenken.  Sie haben einen Dietrich
gehabt.  Das sind Verbrecher.  Das läßt du dir nicht bieten!"

Aber Flametti lächelte, bitter und verlegen: "Wer kann's ihnen
beweisen?  Die Quittungen sind fort.  Ein Eßtisch ist kein
Kassenschrank.  Vielleicht hatte ich nicht abgeschlossen.  Vielleicht
hab' ich selbst die Blätter in der Aufregung herausgerissen.  Laß nur!
Die paar Franken tun's auch nicht!"

Und er zahlte die vollen Beträge aus.

Am Abend aber, in der Garderobe, als er sich Maske schminkte und mit
der Soubrette allein war, drängte es ihn doch, sich auszusprechen.

"Wissen Sie, Laura, es liegt mir ja nichts an den paar Franken.  Aber
das hätte ich doch nicht geglaubt von den Weibern."

Fräulein Laura saß vor dem langen Schminktisch, auf dem die
Schminkschatullen der Damen standen und tupfte sich mit der
Puderquaste die Nase.

Flametti, stehend, Laura den Rücken zugekehrt, zog sich, ein wenig
unbeholfen, Indianerfalten zwischen Nasenflügel und Oberlippe.

Von unten hörte man Herrn Meyer das Zwischenstück, den Missouri-Step,
spielen.

Flametti kam auf seinen Prozeß zu sprechen.

"Wissen Sie", meinte er seitwärts durch die gelüpfte Oberlippe, "das
ist ja ganz anders, als die alle glauben.  Das weiß ja meine Alte
selbst nicht."

Fräulein Laura malte sich mit dem Augenstift japanische Monde.

"Mit der Traute, das stimmt.  Aber mit der Güssy--schon in Bern--das
war ein Gewaltsakt.  Wenn man dahinterkommt, geht's mir nicht gut."

Für einen Moment verstummte unten im Saal Herrn Meyers Missouri-Step.

Laura sprang auf und horchte über das Treppengeländer hinunter.

"Haben noch Zeit!" meinte Flametti.

Und Herr Meyer legte auch sofort mit der Wiederholung los.  Fräulein
Laura eilte zurück zur Schminkschatulle.

Flametti warf seinen Häuptlingsrock über den Kopf.

"Jenny versucht ja alles.  Sie schafft Geld und sie hat sich ihre
Aussage so zurechtgelegt, das man den beiden nicht glauben wird...
Wenn der Schwindel glückt....!"

Er selbst schien nur halb dran zu glauben.  Trotzdem konnte er sich
nicht verkneifen, ein wenig zu renommieren.  Im Indianerkostüm ging's
wohl nicht anders.

"Man kennt mich zu gut!  Weiß, daß ich ein Gewaltsmensch bin; wen man
vor sich hat, und daß es nicht so glatt abgeht, wenn man mir an den
Kragen will!"

Er stellte sich, in Unterhosen, den Speer zurecht.

"Achtzehn war ich alt,--in Bern, mit ein paar Kollegen--, einen
ganzen Schlag haben wir in die Aare geschaufelt bei Nachtzeit, das
Fundament weggegraben.  Die ganze Bescherung mitsamt den Weibern fiel
in die Aare...."

Er sah sich vorsichtig um, ob es auch keinen Zeugen gäbe, und lachte
belustigt.

"Das war ein Gezeter!  Das hätten Sie hören sollen!"

Schlüpfte in die Fransenhosen und schlenkerte das Bein.

Die Soubrette wandte aufhorchend den Kopf.  Als die Erzählung aber
nicht weiter ging, komplizenhaft und verkniffen:

"Diese Mädel, natürlich!  Unschuldig sind die auch nicht!"

"Ob die unschuldig sind!" blies Flametti durch die Nüstern und langte
sich den Kitt für die Nase.  "Ich soll die Weiber nicht kennen!  Mir
muß man's sagen!"

"Na also!" meinte die Soubrette und beeilte sich, fertig zu werden.
"Wenn sich ein Mann in den besten Jahren ein Mädel greift..."

Und ordnete ihre Turnüre.

Drunten im Lokal wiederholte Herr Meyer zum zweiten Male den
Mittelsatz des Missouri-Step.

Flametti setzte den Kopfputz auf, strich sich mit beiden Händen über
den Perückenansatz.

"Das ist es ja nicht!" zwinkerte er, "sie hat geschrien.  Sie hat
sich gewehrt.  Und gerade das hat mich gereizt, verstehen Sie?"

Er drückte sich den Indianerkitt auf die Nasenkante.

Die Soubrette verstand.  Und nickte bedenklich.

"Haben Sie einen Anwalt?"

"Selbstverständlich!" lächelte Flametti in aller Seelenruhe aus der
Kniebeuge; er mußte sich bücken, um in den Spiegel sehen zu können.

"Na also!" griff die Soubrette rasch noch einmal zum Spiegel, "was
kann da geschehen?"

Von unten ertönte das Klingelzeichen.

Die "Indianer" zogen nicht mehr.  Das Publikum war wie verändert.
Was ihm früher als ein Exzess von Libertinage erschienen war, hielt
es jetzt für Zynismus.

Wie doch?  Dieser Flametti, der allen Grund hatte, sich zu ducken,
der solche Sachen auf dem Kerbholz hatte, setzte sich über die
einfachsten Anstandsregeln hinweg?  Spielte die "Indianer" und machte
sich lustig?  Was für eine sittliche Verrohung in dem Menschen!  Was
für eine unerhörte Mißachtung der Rücksichten auf die Gesellschaft!
Soviel Taktgefühl mußte man haben, einzusehen, daß die Aufführung
dieser "Indianer" unter sotanen Umständen kompromittabel war für die
ganze moralische Tradition der Fuchsweide!  Nein, nein, das ist
Freibeuterei, das ist Lästerung.  So sind wir nicht.  Da tun wir
nicht mit.  Man verschone uns!

Flametti fühlte wohl, daß man sich zurückzog von ihm, daß er umsonst
sein Talent ausspielte.  Es verfing nicht mehr.  Die russischen
Freunde Fräulein Lauras waren die einzigen Gäste, die noch immer
klatschten, wenn er mit Augen, blutunterlaufen vor ästhetischer
Anstrengung, auf der Bühne lächelnd seine Feuer--und Fakirnummer
absolvierte; die ihn einluden, Platz zu nehmen, wenn die Nummer
vorbei war und er, an ihrem Tisch stehend, mit souverän-salopper
Indifferenz von seinem speckigen Gehrockkragen die verirrten Spritzer
des Petroleums wischte, das er in langen, brausenden Flammen, einem
Höllenfürsten vergleichbar, ausgespuckt hatte.

Seine Feuernummer liebte Flametti abgöttisch.  Ein Pyromane und
Sadist war er von Natur.  Und wenn er, ein wenig angetrunken, oder
berauscht von Opium, darauf verzichtete, das Petroleum, das ihm vom
Mund tropfte, abzuwischen, dann schimmerten seine wulstigen Lippen in
jenem bläulichen Fäulnisschein, der gemischt mit Trauer und
Melancholie, jenen Sendboten der Hölle eignet, die in Wahrheit
Zeloten des Edelsinns und Verdammte der himmlischen Bourgeoisie sind.

Der Polizeihauptmann Schumm schickte seine Kommissare immer häufiger
um Auskünfte, Recherchen und Feststellungen.

Flametti, an unbehelligte Freiheit gewöhnt, riß die Geduld.

Er empfand die Besuche als Verletzungen seines Hausrechts, Eingriffe
in seine Familienehre.  Das Mißtrauen der Polizei kränkte ihn.

"Sie kujonieren mich!  Sie kuranzen mich!" schrie er im Jähzorn.
"Ich schlag sie tot, diese Hunde!  Das ist mir zu viel!"

Und er beschloß, ihnen aufzulauern, im Hausflur, und den ersten
besten, der seine Schwelle übertreten würde, zu erschlagen.

Mit einem kopfgroßen Pflasterstein bewaffnete sich Flametti, um dem
ersten besten, der sich blicken ließe, den Schädel zu zertrümmern.

Und als man ihm sagte: "Flametti, die Polizei kommt!" eilte er in die
Küche, trotz Jennys Geschrei, packte den Stein und lief die Treppe
hinunter.

Jenny stand oben am Treppengeländer, entsetzt, einer Ohnmacht nahe,
und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu.  Mutter Dudlinger
schnaubte und bebte.

Aber es war nur ein Gast Mutter Dudlingers, den Flametti, am Kragen
gepackt, in den Hausflur schleppte.  Ein Mißverständnis, ein Irrtum.
Die Verwechslung klärte sich auf.

Mutter Dudlinger stand lächelnd, mit brennender Kerze.  Jenny atmete
auf: "Ach, Max, hast du mir einen Schreck eingejagt!"

Mutter Dudlinger spendierte zwei Flaschen Asti und man saß oben in
Flamettis Stube, zu vieren, und feierte Bruderschaft.

Ein alter, eidgenössischer Burschenschaftler war jener Gast,
gemütlich, breit, keine Spur von Spitzel oder Detektiv; das Gegenteil
davon: ein weinseliger Zecher mit Riesenbizeps und Goliathstirn.

Auf streifte er seinen Hemdärmel, ballte die Faust, eine Seele von
Mensch, und ließ den Muskel schwellen.

Flametti tat das gleiche.  So saß man sich gegenüber auf dem Kanapee
und sah sich voll trunkener Sympathie tief in die Augen.

Anstieß jener, daß der Wein überschwappte und rief mit völkischer
Urwüchsigkeit:

"Prosit Flametti!"

Mutter Dudlinger aber, die ihn liebte in ihrer Seele, setzte sich auf
seinen Schoß, brünstigen Gemütes, und umhalste ihn.  Und ihr Speck
hing über seine breiten Schenkel in vollen Schwaden.


"Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang,
Der bleibt ein Tropf sein Leben lang."


Jenny war keineswegs gewillt, die Dinge gehen zu lassen, wie sie
gingen.

Sie beschloß, strengere Saiten aufzuziehen dem Ensemble gegenüber und
auch zu Hause; Contenance zu bewahren.  Ihre Maßnahmen richteten sich
zunächst gegen Fräulein Theres.

Fräulein Theres mit ihren gichtbrüchigen Händen und erfrorenen Füßen
litt unter der Kälte furchtbar.

Schon als die Herrschaft in Basel war, saß Fräulein Theres in stillen
Stunden weinend in der leeren Wohnung, für deren Heizung man ihr kein
Geld schickte, und gedachte trauernd der Maienzeiten, da sie mit
Löckchen und Stöckelschuhen noch ging auf der Neuhauserstraße zu
München und selig verliebte Blicke den jungen Herren zuwarf.

Vierzig Jahre waren seither mit grauen Schleppen ins Land gegangen.
Fräulein Theresens Gesicht war lang geworden, ihre Nase spitz, ihre
Augen grell.  Die Jahre, die so himmelblau und sommerlich begonnen,
hatten sich verschwärzt.

Ein verschwärztes Mädchen, saß Fräulein Theres in der verlassenen
Stube, wenn ihre Herrschaft zum Konzert gegangen war.

Eine Halbe Bier stand vor ihr auf dem Tisch und Fräulein Theres
rauchte Stumpen, den Arm auf den Tisch gestützt, die müden Glieder
nur mit Seufzen hebend, wenn das Gas heruntergebrannt war und man ein
neues Zwanzigcentimes-Stück in den Automaten werfen mußte.

Alle vierzig grauen Schleppen der vergangenen vierzig grauen Jahre
schleppte Fräulein Theres mit in ihren Röcken.  Und jetzt gönnte man
ihr sogar das Bier nicht mehr und die Stumpen.

Eine Erbitterung überkam Fräulein Theres und sie beschloß, selbst
wenn sie täglich "geschumpfen" würde, ihren Gliedern eine strengere
Leistung nicht mehr zuzumuten.

Was konnte geschehen?  Mochte man sie wegschicken!  Irgendeine
Lebensfreude muß der Mensch haben.  Die Zigaretten ihrer Jugend hatte
sie sich abgewöhnt.  Auf die Stumpen ihres Alters würde sie nicht
verzichten.  Nie und nimmer.  Zuletzt blieb immer noch eine
Freistelle im Spital oder in einem Siechenheim.  Sie verdiente das.
Sie hatte sich redlich geschunden.

Und wenn Jenny ihr dann vorhielt:

"Theres, wir müssen früher aufstehen!  Theres, ich kann keine
Bierschulden mehr für Sie zahlen!" dann gab Fräulein Theres
gleichgültig brummend und grob zur Antwort:

"Ja, dann müssen wir Kohlen haben, damit ich einheizen kann!  Ja,
dann kann ich's nicht mehr schaffen, ich bin krank!" und die roten
Tränen rannen ihr über das alte, lange Gesicht.

"Max", sagte Jenny, "das geht so nicht mehr.  Die Haushaltung
verschlampt mir."



Der Prozeß war Jennys geringste Sorge.  Das würde sich schon
arrangieren lassen.  Sie war der begründeten Meinung, daß in der
Fuchsweide viel ärgere Sünder ungeschoren ihr Wesen trieben.

"Mach' dir keine Sorge!" sagte sie zu Max, "der Ferrero hat ganz
andere Sachen hinter sich.  Und der Pfäffer--was der für eine
Wirtschaft hatte!  Ich weiß doch!  Ich war doch Soubrette bei ihm!
Die reine Haremsagentur nach Konstantinopel.  Das sind ja
Falschspieler alle durch die Bank!  Seine Lehrmädels müssen mit den
Metzgerburschen anbändeln, damit er das Fleisch gratis hat.  Das sag'
ich dir: wenn wir reinfallen: die ganze Fuchsweide lasse ich
hochgehen!"

Behaupten mußte man sich, Respekt und Vertrauen einflößen.  Zu Hause
und im Ensemble.  Dann würde man vor Gericht schon sehen!

Und Jenny legte sich einen Bluff zurecht, der zunächst das Vertrauen
der Zirkusartisten wieder gewinnen sollte, und der auch seine Wirkung
nicht verfehlte.

"Kinder!" verkündigte sie eines Tags in der Garderobe, "nächstens
gibt's eine Gans!  Mein Alter spendiert eine Gans!"

Das wirkte wie eine Brandbombe.

"Eine Gans?" fuhren Lydia und Raffaëla zugleich auf ihren Stühlen
herum, als hätten sie nicht recht gehört.

"Ja, eine Gans!" versetzte Jenny mit Zier und äußerster Delikatesse,
"eine Gans!" und sie unterstrich den in Aussicht stehenden Braten,
indem sie mit beiden emporgehobenen Händen durch Zusammenründen von
Daumen und Zeigefinger Engelsflügel in der Luft bildete.  "Piekfeine
Sache!  Oh, das Gänsefett!  Das Kastanienfüllsel!  Oh, die knusprigen
Schlegel, und die Brust und die Gänseleberpastete!"

Jenny wußte die Vorzüge der vorläufig noch in ihrem Heimatsort
weidenden Gans so jesuitisch ins Licht zu setzen, daß Lydia, die
gerade die tränenbenetzte Photographie ihres Emil am rechten Schenkel
der übereinander geschlagenen Beine abgewischt hatte, den Arm sinken
ließ und träumerisch verzückt an Jennys Augen hing.

"Nein, Jenny, sag' wirklich, gibt's eine Gans?"

"Werdet schon sehen!" tat Jenny geheimnisvoll.

Da konnte man denn so recht sehen, wie solche Bravourstücke einer
auf's Ganze gerichteten Erfindungsgabe niemals ihre gute Wirkung
verfehlen.

Gebändigt waren Lydia und Raffaëla mit einem Schlage.  Um den Finger
konnte man sie wickeln.  Pünktlich wurden sie wie Normaluhren.  Zahm
wie Tauben.

Ja, der Ruf von Flamettis Solvenz verbreitete sich im Handumdrehn.

"Wie sind Sie eigentlich zufrieden mit Ihrem Engagement?"

"Oh, danke, sehr gut!  Verpflegung vorzüglich.  Alle drei Tage
Geflügel.  Das Geschäft geht famos.  Heute ausnahmsweise schlechtes
Haus.  Aber sonst: glänzend!"

So und ähnlich sprach man im "Krokodil" und in der Umgebung des
Künstlertischs.

Ja, Donna Maria Josefa, alias Frau Scheideisen, und Herr Farolyi
erfuhren von der Gans.

"Na, steht's doch nicht schlecht mit dem armen Flametti!" meinte Herr
Farolyi, "wenn er sich noch Geflügel leisten kann.  Kinder, der hat
gewiß Geld auf der Kasse.  War ja ein Bombengeschäft damals, die
"Indianer"!"

Und eines Tags kam sie denn auch wirklich, die Gans; aus Rapperswyl.
Weiß, ohne Kopf, Klauen und Federn, lag sie auf einer Schüssel.

"Sehen Sie mal, Laura: schöne Gans, was?--Aber die kriegen nichts
davon", deutete Jenny gegen die Treppe, über die Lydia und Raffaëla
kommen mußten.  "Die sollen sich mal trompieren!"

Und die schöne Gans, die fette Gans, die Riesengans wurde gebraten
und lag nun hübsch gebräunt und knusperig, förmlich zerblätternd vor
Knusprigkeit, auf derselben Schüssel, verschlossen im Büfett.

"Laura", sagte Jenny abermals, "glauben Sie, die kriegen was davon?"
Und zeigte wiederum zur Treppe.  "Nicht das Schwarze unterm Nagel!
Geben Sie acht, was die für Gesichter machen werden!  Das wird ein
Fez!  Jawohl: Gans!  Husten werd' ich ihnen was!"

Als aber Raffaëla und Lydia kamen, öffnete Jenny das Büfett wie man
das Triptychon eines Altars öffnet.

"Seht her", sagte sie, "die herrliche Gans!"  Und sie nahm die
Schüssel aus dem Schrank und hob sie hoch, wie Salome die Schüssel
mit dem Haupt des Jochanaan hochhob, und Raffaëla schrie auf:

"Aehhh, die Gans!"

Fanatisiert und rabiat warf sie die beiden Arme hoch, auf die
Schüssel zustürzend und sie umtanzend.

Lydia aber überkam es wie Verklärung.  In den nächsten besten Stuhl
sank sie.

"Die schöne Gans!" hauchte sie, ganz versunken und verträumt, mit
gefalteten Händen und gottergebenen Augen.

"Wann wird sie gegessen?"  Und ihr Unterkiefer bebberte gierig und
erregt, wie einer Katze das Maul zittert, wenn sie den Kanarienvogel
sieht.

Jenny weidete sich an der Qual der Opfer.

Mit der einen freien Hand hielt sie sich Raffaëla vom Leib, die alle
Anstalten machte, in den Besitz der Gans zukommen.

"Wann wird sie gegessen?  Wann wird sie verzehrt?  Wann wird sie
verspeist?" rief nun auch Raffaëla.

Lydia saß noch immer mit funkelnd hingegebenen Augen.

Und Jenny, amüsiert, grausam, pervers:

"Vielleicht morgen.  Vielleicht übermorgen.  Vielleicht schon heute
nacht.  Je nachdem!"

"Wieso heute nacht?" dehnte Raffaëla betroffen.

"Nun", sagte Jenny, ganz grande dame, "vielleicht kommen ein paar
Freunde von mir und meinem Mann, und wir feiern einen kleinen
Abschied."

"Aehhh!" rief Raffaëla, "wir kommen auch!  Wir kommen auch!"

Aber Lydia war schon wieder sentimental geworden.  Emils gedachte sie
beim Anblick der Gans, dieses Wahrzeichens von Kultur und Wohlstand,
dieses Inbegriffs aller heimischen Geborgenheit und ehelichen Einfalt.
Ihres fernen Emils gedachte sie und glücklicherer, vergangener
Zeiten.  Salzige Tränen rannen ihr über die schlaff geweinten Wangen..
.

Gelang es Jenny auf diese Weise, den am Verfall sich mästenden
Zynismus der beiden Scheideisen zu knebeln, so sah sie doch ein, daß
damit nur die Hälfte der Arbeit geleistet war.

Gefährlicher drohten die stilleren Elemente des Ensembles: Herr Meyer,
dieser Idealist, dem es nicht paßte, daß Flamettis Flagge auf
Halbmast wehte; der sich ganz persönlich betroffen fühlte von
Flamettis Fehltritt und seinem Verzicht auf ein erstklassiges Renomee.

Fräulein Laura, die gewiß an dem Meyer schürte, weil es sie jückte,
selbst die Direktorin zu spielen, an der Kasse zu sitzen und das Geld
einzuheimsen, statt mit der Kassiermuschel durch das Lokal zu tippeln.

Jenny entging nicht die heimliche Verschwörung, die man im
"Krokodilen" geschmiedet hatte.

Freilich mußte der Meyer sich einbilden, er könne so gut wie Flametti
ein Varieté aufmachen.  Was war leichter als das?

Freilich glaubte diese Laura, sie kenne den verstohlensten
Geschäftskniff, weil es ihr gelungen war, Jenny den Seidel & Sohn
auszuspannen.

Aber sie sollten sich verrechnet haben.

"Bis hierher und nicht weiter", sagte sich Jenny.  "Wenn sie weggehen,
sind wir pleite."

Max, dieser gutmütige Taps, merkte ja nichts!  Wenn sie, Jenny, nur
ein Wort gegen diesen Meyer sagte, fuhr er sie an wie ein böses Tier.
Auf den Meyer ließ er nichts kommen.

Sorgfältig ging Jenny zu Werk.

Zunächst kaufte, sie sich den Engel.

Nachdem sie ihm verschiedentlich Zigaretten und Biermarken zugesteckt
hatte, fragte sie ihn eines Abends geradezu:

"Du, Engel, sag' mal, was ist das eigentlich mit dem Ensemble, das
der Meyer vorhat?  Brauchst dich nicht zu genieren.  Kannst es frei
heraussagen."

Engel wurde sehr verlegen.

"Was weiß ich von einem Ensemble!" stotterte er.  "Da weiß ich nichts
von."  Und harmlos: "Das Apachenstück haben wir zusammen geschrieben,
Herr Meyer und ich..."

"Mach' mir nichts vor!" unterbrach Jenny ihn streng.  "Das haben wir
nicht verdient um dich, daß du uns jetzt so kommst.  Du wirst dich
wohl erinnern, was du uns alles verdankst.  Immer ist man dagewesen
für dich.  Nichts hat man auf dich kommen lassen.  Du wirst dich wohl
erinnern, wie du zu uns kamst, abgerissen und ausgehungert.  Du wirst
wohl wissen, daß Max dich in der Hand hat.  Brauchst bloß an die
Annie zu denken.  Na, davon spricht man nicht."

Engel wurde noch verlegener.  Die Szene war peinlich.  Er rückte den
Stuhl hin und her, den er oben an der Lehne gefaßt hielt, ließ ihn
tanzen auf dem einen Hinterbein.

"Jenny", sagte er mit dem ratlosen Achselzucken eines gealterten
Barons, den die leidenschaftlichen Regungen einer früheren Geliebten
bis in die Retirade seines Landschlößchens verfolgen, "Jenny, ich
kann nicht...., ich weiß nicht..... ich hab' dir nichts zu sagen....
ich weiß nicht, was ich dir sagen soll...."  Doch sich erinnernd: "Ja,
gewiß: es war wohl die Rede davon..."

Er räusperte sich.  "Ja, ganz richtig!  Aber du weißt doch Bescheid!
Du kennst doch den Meyer!  Bißchen litti titti!"

Als aber Jenny kurz abschnitt: "Na, schon gut!  Laß nur!", da nahm er
das für ein Zeichen ihrer gekränkten Mädchenwürde, und bemühte sich,
zart abzuschließen:

"Mir könnt' es ja gleich sein!  Was hab' ich davon?  Ich hab' ja
abgedankt!  Mir ist alles gleich!"

"Gut, gut!" sagte Jenny, "streng' dich nicht an!  Ich weiß schon
Bescheid!"



"Lena", sagte Jenny zu der früheren Pianistin, als die einmal wieder
zu Besuch kam, "du kommst gerade recht.  Jeden Moment kann die
Soubrette kommen.  Die wollen doch weg von uns.  Der Meyer will eine
eigene Truppe machen.  Du sollst mal sehen, wie ich die ins Gebet
nehme!"

"Wollte dir nur sagen", dienerte Lena, "daß ich die zwei
Unterschriften mitgebracht habe.  Schon besorgt.  Hier ist die eine,
von meinem Mann; hier die andere, von dem Leinvogel."

Sie entfaltete zwei Papiere, breitete sie auf den Tisch, plättete sie
mit der Hand, und sah Jenny aus fallsüchtigen Fanatikeraugen
abwartend an.

"Laß mal sehen!" sagte Jenny.  Sie las.  "Gut, gut.  Hast du gut
gemacht.  Sollst du nicht umsonst getan haben.  Komm', trink 'ne
Tasse Kaffee!"  Und sie goß Kaffee ein.

Es klopfte.  Herein trat die Soubrette.

"Tag, Laura!" sagte Jenny.

"Tag, Fräulein!" sagte Lena versteckt.

Laura trug eine schwarze Bolerojacke aus Samt, Geschenk ihrer
russischen Freundin, und eine grüne Strickmütze, von der ihr
kurzgeschnittenes, struppiges Blondhaar vorteilhaft abstach.

Sie wollte Einkäufe machen, Meyer treffen, und für Jenny
verschiedenes mitbesorgen.

Die beiden Weiber musterten sie nicht ohne Schadenfreude und Neid.

"Setzen Sie sich, Laura!  Trinken Sie doch 'ne Tasse Kaffee mit!"

Fräulein Laura wurde ein wenig ängstlich.

"Eigentlich habe ich Eile", meinte sie.

"Na, setzen Sie sich nur!" sprach Jenny ihr zu, "behalten Sie Ihr
Jackett nur an!"

Fräulein Laura setzte sich und Jenny beeilte sich einzugießen.

"Wir sprachen gerade von unsrem Prozeß", begann Jenny.  Sie wußte,
daß es zunächst darauf ankam, der Soubrette das Heikle der Situation
Flamettis auszureden.

"Ja, wir haben gerade vom Prozeß gesprochen.  Jetzt ist es aus mit
der Güssy, aus mit der Traute.  Jetzt können sie einpacken, die
beiden.  Sehen sie her: da haben Sie's schwarz auf weiß!"  Und sie
zeigte Fräulein Laura die beiden Papiere, die Lena mitgebracht hatte.

Lena lächelte.

Die Soubrette nahm einen Schluck Kaffee, schob ihre Mütze ein wenig
zurück und las.

Aber dann lächelte auch sie, nicht unhöflich, nur etwas ironisch und
gab die Papiere zurück.

"Glauben Sie, daß das etwas nützen wird?" fragte sie maliziös.  Die
Wahrheit der hier verbrieften Aussagen ging ihr nicht ohne weiteres
ein.  Auch schien sie Zweifel zu leiden am notariellen Kredit der
unterschriebnen Persönlichkeiten.  Lenas Gemahl war eben aus dem
Gefängnis entlassen, wo er für einen Wellblechdiebstahl zwei Monate
Aufenthalt hatte.  Der andere Herr, Herr Leinvogel war Laura nicht
bekannt, aber eben deshalb wohl eine noch zweifelhaftere Notabilität.

Die beiden Herren versicherten an Eidesstatt, die Liebe der beiden
Lehrmädchen Güssy und Traute zu der und der Zeit zu mehreren Malen
besessen und käuflich erworben zu haben.

Jenny riß der Soubrette die beiden Papiere aus der Hand, faltete sie
zusammen und lächelte:

"Ob das wirken wird!  Ob das nützt!  Da hat man's ja schwarz auf weiß,
was das für Dämchen waren!  Und außerdem: fechte ich ihre
Glaubwürdigkeit an."

Der Soubrette gab's einen Ruck.  Doch sie besann sich und parierte
mit einem mitleidigen Achselzucken.

Lena war sichtlich überrascht.

"Was heißt anfechten?" nahm die Soubrette jetzt offen die Partei
ihrer Kolleginnen.

"So?" schrie Jenny, aufgebracht durch die offensichtliche Renitenz.
"Ich habe die Beweise!"

Und mit ausgestrecktem Arm in eine vage Richtung zeigend: "Die eine
hat einen Meineid geleistet.  Kann ich beweisen.  In meiner eigenen
Stube.  Die andre hat eine ganze Wachtstube von Schutzleuten, denen
sie Rippchen brachte--damals war sie noch Kellnerin--ins Krankenhaus
gebracht und drei Jahre Arbeitshaus dafür abgesessen...!"

Und da sie merkte, das seien unwahrscheinliche Dinge, so fügte sie
bei: "Von Rechts wegen hätte sie gar nicht auftreten dürfen.  Aber
was tut man nicht!"

Sie machte eine Pause, um Luft zu schnappen und die Wirkung
abzuwarten.

Lena lächelte, ein Lachen, das etwa besagte: Siehst du wohl!  Nimm
dich in acht!

"Die sollen mir nur kommen!" fuhr Jenny gefährlich fort, "die sollen
was erleben!  Die haben's nötig, zur Polizei zu laufen!  Von wegen
Unbescholtenheit!  Von wegen Mißhandlung!"

Sie war wütend.  All ihr Bemühen, alle ihre plausiblen Gründe
verfingen nicht.  Ein neuer Beweis, daß Komplotte geschmiedet waren.
Der Soubrette schien es durchaus gleichgültig, ob Flametti seinen
Prozeß verlor oder gewann.  Ja, sie schien bei Jennys heftigen
Argumenten nur noch entschiedener abzurücken.  Unerhört!

Und als Fräulein Laura jetzt mit einem energischen Ruck ihren Kaffee
austrank und sich zu gehen anschickte, da fühlte Jenny nicht nur, daß
der Anschlag mißglückt war, sondern daß jetzt alles auf dem Spiele
stand.

Sie hatte dieser Person in fünf Minuten das ganze System ihrer
Verteidigung aufgedeckt.  Da es ihr nicht gelungen war, sie zu
gewinnen, so konnte die Sache gefährlich werden.  Der stärkste Trumpf
mußte heran.  Nichts durfte unversucht bleiben, die neue Truppe zu
verhindern.  Der offne Verrat an Flametti mußte die letzten Freunde
noch gegen ihn bringen, alle Außenstehenden überzeugen.  Das war
gleichbedeutend mit dem Ruin.

"Wissen Sie, Laura", begann Jenny von neuem, "--bleiben Sie doch noch
'nen Moment!--wissen Sie: schließlich ist's ja egal, ob wir den
Prozeß gewinnen oder verlieren.  Da bleiben noch allerhand
Möglichkeiten.  Wir brauchten uns nur zum Beispiel Pässe zu
verschaffen nach Deutschland und die "Indianer" für großes Varieté zu
bearbeiten.  Es ist ja borniert von uns, hier zu sitzen mit einem
solchen Schlager!  Deutschland wär' wie geschaffen dafür!  Säcke voll
Geld könnten wir machen.  Aber das will mein Mann nicht.  Im
schlimmsten Fall und wenn alle Stricke reißen, wird er ein paar Tage
eingesperrt.  Aber dann sollen Sie mich mal kennen lernen!"  Und sie
tippte so erregt mit dem Zeigefinger auf den Tisch, daß die Tassen
wackelten.  "Dann sollen Sie mal sehen, wer ich bin!"

Laura stand unwillkürlich auf und zog sich, vor ihrem Stuhle stehend,
ein wenig zurück gegen den Spiegelschrank.

"Soll das eine Drohung sein?" fragte sie nervös, und ihre
unterstrichenen Wimpern flogen.

"Sie brauchen gar nicht so vornehm zu tun!" rief Jenny, mit einer
Handbewegung, die die Zweideutigkeit der Soubrette sehr unzweideutig
beschrieb.  "Ich weiß Bescheid.  Ich verstehe, was man mir gackst.
Bin nicht auf den Kopf gefallen.  Eine warme Tasse Kaffee im Leib: da
gacksen sie alle!  Von wegen Spionage: Sie werden sich wohl erinnern,
wie Sie hier ankamen mit diesem Meyer!  Daß Sie dabei nicht ganz
sauber waren, haben Sie selbst gesagt.  Man renommiert nicht mit
solchen Dingen.  Da wird schon was Wahres hinter gewesen sein.  Und
von wegen Sage-femme laufen!  Man kennt das!  Das läßt sich
konstatieren!..."

"Unverschämtheit!" schrie die Soubrette.  "Das ist eine maßlose
Dreistigkeit!  Was unterstehen Sie sich!"

Sie stand jetzt knapp vor dem Spiegelschrank, der ihre Erscheinung in
merkwürdiger Weise verdoppelte.  Ihr blondes Haar zischte.  Ihr
schmaler Körper krümmte sich vor Ekel und Abscheu.

"Ah, Sie haben's gar nicht nötig, sich aufzuregen!  Man weiß Bescheid
über Sie.  Auch über Ihren Meyer!  Lassen Sie nur gut sein!"

"Geh', Jenny, reg' dich doch nicht auf!" beruhigte Lena, "wir haben
sie ja in der Hand!  Wir wissen ja Bescheid!"

"Was wollen Sie von mir?  Was können Sie mir nachsagen?" schluckte
die Soubrette.

"Nun, Ihr Herr Meyer--erinnern Sie sich mal!--wo haben Sie denn
gewohnt, bevor Sie zu Flametti kamen?"

Laura erinnerte sich wohl.  Sie wurde merklich blaß und zitterte.

"Was geht Sie das an!" rief sie und fuhr sich mit der Hand an den
Kopf.

"Oh, nichts!  Mich geht das nichts an.  Aber die Polizei vielleicht.
Sie werden nicht vergessen haben, womit Sie damals Ihr Brot
verdienten und was Ihr Herr Meyer dabei für eine Rolle spielte."

"Ich reiße Ihnen die Haare aus, Sie Miststück!" schrie die Soubrette,
packte jene Lena am Kragen und zerrte sie hin und her.

Jenny löste die beiden Damen.

"Na", sagte sie abschließend, "Sie wissen Bescheid.  Sie können sich
ja nun überlegen, was Ihnen lieber ist.  Wir zwingen Sie nicht.  Es
steht ganz bei Ihnen...  Sie brauchen mir auch keine Kommissionen zu
besorgen.  Danke schön!  Tun Sie nur, was Sie nicht lassen können!"

"Gehen Sie nur zur Druckerei", assistierte Lena, "lassen Sie Ihre
Plakate drucken!  Wir wissen schon, daß sie Plakate bestellt haben.
Man hat nicht umsonst seine Freunde!"

"Plakate bestellt?" fragte Jenny, die davon nicht einmal wußte.  "So
so!  Na, das muß ich doch Max erzählen!"

"Adieu!" rief Laura, "ich habe nichts mehr zu sagen" Und damit schlug
sie die Türe zu.

"Alles nichts!" sagte Herr Meyer, als Laura ihn traf im "Lohengrin",
"wir müssen heraus aus dem Pfuhl.  Kann alles nichts helfen.  Wir
haben sie ja in der Hand!  Sie hat sich ja selbst verraten!  Du
brauchst dich nicht aufzuregen.  Was kann sie wissen von uns?"

Und sie begaben sich selbander zur Druckerei, um nach dem Preis
beschlossener Plakate zu fragen.

An der Ecke aber, beim Rudolf Mosse-Haus, kamen ihnen entgegen Güssy
und Traute, sehr frisch, sehr wirsch und vertraut, mit roten Backen,
in roten und braunen Strickjacketts.

"Ah, Laura!  Ah, der Herr Meyer!" riefen sie schon von weitem, "wie
geht's?  Wie steht's?  Könnt ihr uns nicht brauchen?  Wir haben
gehört, ihr macht eine Truppe!"

"Wo denkt ihr hin, eine Truppe!" warf Laura weit weg.

"Keine Spur!" bekräftigte Meyer.

"Fesch seht ihr aus!  Geht euch gut, was?"

"Oh", meinte Traute quick und bezüglich, "uns geht es gut", und sie
strich sich in der gewohnten Weise den Busen herunter, "wir finden
schon, was wir brauchen."

"Na, das ist recht!" meinte Herr Meyer praktisch.  Und Fräulein Güssy
versuchte, mit schweren Augen sich in ihn versenkend, seine Hand zu
erreichen.

"Na, und was macht der Prozeß?"

"Oh", schnalzte Traute, "er wird schon sehen, Flametti, was er
angestellt hat!  Er wird's schon erfahren!  Und sie auch, diese
Verbrechergustel!  Denen wird man das Handwerk legen!"

Mehr schien sie für jetzt nicht sagen zu wollen, denn sie schwenkte
sogleich über:

"Was macht denn der Bobby?  Netter Kerl war er doch!  Wie er sich
ärgerte, daß ich's mit dem Flametti hatte!  Immer wollte er Geld von
mir haben.  Und ich hatte doch selbst keins!"

"Oh, er hat sich getröstet!" meinte Laura.  "Fünf andre seitdem!"

Herr Meyer wurde unruhig.

"Na, Adieu!" sagte Laura, "wir haben's eilig!"

"Adieu, adieu!" riefen die Mädels frisch.

Man hatte sich schon ein wenig entfernt von einander, aber die Hand
Fräulein Güssys ruhte noch immer in der des Herrn Meyer.  Ihr langer
Arm glich einer Rosengirlande, die sich am Kleid verhakt, wenn man
vorübergeht.

Als Flametti diesen Abend zur Vorstellung kam, pfifferte er viel vor
sich hin, wie es seine Gewohnheit war, wenn ihn Unangenehmes heftig
beschäftigte.

Er zerbrach Zündhölzchen zwischen den Fingern, untersuchte die
Leuchter am Klavier, untersuchte die Vorhangschnur, kratzte mit der
Stiefelspitze an Papierschnitzeln, die auf dem Boden lagen, und ging
auf und ab.

"Na, Herr Meyer, warum so ein finstres Gesicht?" meinte er
unvermittelt zum Pianisten.

Der saß, die Beine übereinandergeschlagen, auf dem wackligen
Klavierstuhl, blätterte in den Noten und nahm eine Zigarette, die
Flametti leger spendierte.

"Ah, nichts!" versuchte Meyer zu lächeln, "kalt ist's!" und rieb sich
die Hände.

Es war viertel nach acht.  Langsam kamen die Gäste.

"Anfangen!  Die Leute kommen!  Vorspiel!"

Flametti machte Betrieb.

Und Herr Meyer begann "Mysterious Rag", indem er mit krampfhaft
erhobenen Adlerfängen, die Füße in die Pedale gestemmt, auf die
Klaviatur loshackte.

An diesem Abend aber sagte Flametti in der Garderobe:

"Hören Sie mal, Laura, wie ist das eigentlich mit dem Ensemble, das
Meyer plant?  Man sagt mir da alles mögliche.  Sie hätten sogar schon
Plakate in Druck gegeben.  Und Meyer hat mir bis jetzt noch kein Wort
gesagt, daß ihr wegwollt.  Ich habe bis jetzt keine Kündigung."

Laura wurde verlegen.  Flamettis Ton klang befremdet, aber nicht
bitter.

"Ist er vielleicht nicht zufrieden mit seiner Gage?  Steht ihr was
aus?  Seht ihr denn nicht, daß es unmöglich ist, mehr Gage zu zahlen?
Sie sehen doch selbst am besten, wie das Geschäft geht.  Ihr könnt's
euch doch an den Fingern abzählen, was übrig bleibt!  Zehn Leute
ernähren--glauben Sie nicht, daß das einfach ist!  Ich kann euch ja
eine Kleinigkeit zulegen, ab fünfzehnten.  Aber mehr kann ich nicht
tun.  Wenn Meyer will--ich mach' ihn zum Regisseur.  Ich habe jetzt
meinen Prozeß.  Meyer ist tüchtig, Meyer ist still, Meyer ist
anständig.  Man hat Respekt vor ihm.  Er kann mich vertreten.
Vertrauensstellung.  Vielleicht vergrößern wir, wenn erst der Prozeß
vorbei ist, und teilen die Truppe.  Er kann die eine Hälfte leiten,
ich nehme die andre.  Aber man muß sich doch aussprechen!  Ich kann's
ihm doch nicht am Gesicht ablesen!  Tut doch den Mund auf, wenn ihr
was zu sagen habt!"

Die Soubrette schwieg.

"Jenny hat mir erzählt.  Sie wissen ja, ich liebe meine Frau.  Sie
übertreibt manchmal; das dürfen Sie nicht tragisch nehmen!  Ich weiß
ja nicht, was sie gesagt hat.  Aber Herrgott!  Wir sind doch alle
Menschen!  Man spricht sich aus.  Man sagt sich auch einmal was ins
Gesicht.  Aber man rührt sich doch!"

"Nein, wissen Sie", tischte Laura jetzt auf, "das war ein bißchen
zuviel, heute nachmittag!  Das kann ich mir denn doch nicht sagen
lassen.  Es ist ja lächerlich: sie tut ja, als hätte sie uns auf der
Straße aufgelesen!  Das geht zuweit.  Das war eine Drohung.  So kann
sie mich nicht behandeln.  Sie ist Ihre Frau--gut!  Aber ich kann
mich nicht ins Verhör nehmen lassen.  Sie können sich nicht beklagen,
daß ich meine Pflicht nicht getan habe, immer..."

"Und Sie nicht, daß ich Ihnen nicht immer pünktlich die Gage zahlte;
daß ich nichts auf euch kommen ließ!..."

"Gewiß!" sagte Laura, "aber sie darf uns nicht mit Apachen
verwechseln.  Das sind wir nicht.  Spionin soll ich sein... und...
und... von der Straße sprach sie... und... und Sage-femme und das ist
mir zuviel!  Das tu' ich nicht!  Das kann sie dieser Lena sagen!"

"Na, Sie haben doch selbst erzählt, daß Sie Nacktphotographien von
sich verkauft haben!  Daß Sie sich haben photographieren lassen!"
nahm Flametti abweisend, aber nicht unberührt, die Partei seiner Frau.

"Wen geht es was an?" zuckte die Soubrette und schluchzte.  "Wer hat
mir was dreinzureden?  Wenn ich mich ausbiete auf der Straße, wenn
ich jede Nacht in einem andern Hotel schlafe--wen geht es was an?
Kümm're ich mich um andre?  Mische ich mich in die Angelegenheiten
der andern?  Laufe ich zur Polizei, wenn man mir was anvertraut?  Mir
hat Ihre Frau das Zehnfache anvertraut!  Was hat sie mir alles
vertraut!  Wollte ich's wissen?  Hab' ich Gebrauch davon gemacht?"

"Na, das tun Sie ja auch wohl nicht!" begütigte Flametti und
streichelte ihr Haar.  "So weit kommt's ja wohl nicht!  Eine Hand
wäscht die andere.  Ich hoffe ja, daß wir uns verstehen.  Wir werden
ja keinen Gebrauch davon machen.  Und ich werde auch mit Jenny
sprechen.  Ist ja alles dummes Zeug!  Ihr habt eine Zukunft bei uns.
Sagen Sie das dem Meyer!  Aber ich hasse dieses Hintenherum.  Das ist
Weibermanier.  Ziehen Sie sich jetzt an und gehen Sie runter!  Ich
weiß schon, von wem all diese Dinge kommen.  Ich werde dafür sorgen,
daß das ein Ende hat."

Und Laura wischte sich die Tränen und stieg, Rinnen im Schminkgesicht,
die Hühnertreppe hinunter ins Lokal.

Am Klavier saß Meyer.  Er hatte soeben sein Zwischenstück beendet und
machte ein Gesicht wie der Teufel bei Regenwetter.

"Was hast du mit Flametti gehabt?" fuhr er die Braut an, "wie siehst
du aus?  Ihr wart allein in der Garderobe!  Was habt ihr gehabt?"

"Nichts!  Laß mich!"

Raffaëla und Lydia warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu.

Bobby meinte ungerührt: "Ach, Laura, das muß man sich nicht so zu
Herzen nehmen!"  Zu gerne hätte er gewußt, worum es sich handelte.

An der Kasse saß Jenny, kalt und unnahbar, grande dame vom Scheitel
bis zur Sohle.

Und Engel bediente ergebenst die Vorhangschnur....



"Kinder!" sagte Raffaëla nach der Vorstellung, "die Nacht, diese
Nacht!"

Sie meinte die Nacht, in der die Gans verzehrt wurde.

"Das war ja toll!  Das sind ja Falschspieler der schlimmsten Sorte!
Vier Kerls waren da.  Und Flametti war angetrunken.  Sein ganzes Geld
hat er verspielt!  Und dann ging er auf seine Frau los: "Du hast mich
verraten!  Du bist schuld an allem!  Du hast mir das eingebrockt!
Jetzt holst du mir noch deine Liebhaber ins Haus und lockst mir das
letzte Geld aus der Tasche!"....  Das war ja nicht mehr schön!  Die
Gans hatte Flametti gar nicht bezahlt!  Die Kerls hatten sie bezahlt!
Wie die gegessen haben, davon macht ihr euch keinen Begriff!  Das
ganze Geld haben sie ihm abgenommen, und dann brachten sie ihn ins
Bett.  Getobt hat er!  Und gingen zu der Dudlinger hinunter, Jenny
und die vier Brüder!  Das ganze Haus stand auf dem Kopf!"

"Ja, wart ihr denn auch dabei?" fragte die Soubrette.

Lydia winkte ab.  "Natürlich!  Wir waren doch eingeladen!  Aber für
so was, nein, nein, dafür sind wir nicht zu haben!  Wir gingen
natürlich, als es mal drei Uhr war."

"Ja, woher wißt ihr denn...?"

"Aehh, diese Unschuld!" krähte Raffaëla, "so was sieht man doch!  Man
hat doch Augen im Kopf!"

"Ah, so!" entschuldigte sich die Soubrette...

Der nächste Tag brachte jene Depression der Gefühle, die auf große
Aufregungen zu folgen pflegt, aber auch jenen Niederschlag in Taten,
der fruchtlose Debatten klärt.

Raffaëla und Lydia wurden, ohne viel Federlesens, ausgezahlt und
entlassen.

Herrn Meyer und Fräulein Laura wurden neue Verträge unterbreitet, zu
deren Akzeptierung und Ratifizierung Herr Meyer sich eine Bedenkzeit
von drei Tagen erbat.

Die Gründe für die Entlassung der beiden Scheideisen lagen auf der
Hand.  Ihnen schob Flametti die Verhetzung des ganzen Ensembles zu.
Von ihnen wollte Flametti nicht länger sich nasführen lassen.

Nachmittags aber, als man gerade beim Kaffeetisch saß, klopfte es an
der Türe, behutsam und diskret.

Ein Detektiv stand draußen, wieder einmal.  Alle schracken zusammen.

Flametti beeilte sich, den Herrn zu empfangen.

"Fräulein Laura", kam er geschäftig zurück, "für Sie!"

"Für mich?" fuhr Laura zusammen.

"Ja, für Sie!"

Auch Meyer wurde unruhig, bemühte sich aber, Haltung zu bewahren.

Laura ging hinaus und mit dem Herrn in die Küche, die nun einmal
bestimmt schien, als Konferenzzimmer Tradition zu bekommen.

"Welcher ist es denn?" fragte Jenny.

"Der Puma", sagte Flametti, ging auf den Zehenspitzen und biß sich
die Lippen.

"Ach, der ist nett!" meinte Jenny konziliant.  "Da ist es nichts
Schlimmes."

Alle, auch Fräulein Theres, die mißmutig den Gasherd abgestellt hatte,
horchten bedrückt und gespannt.

Aus der Küche vernahm man das stöbernde Murmeln eines Verhörs.

"Pst!" machte Jenny und winkte nach rückwärts, "ich kann ja nichts
hören!"

Sie stand am geschlossenen Schalter und versuchte, wenigstens ein
paar Worte aufzuschnappen.

"Rezepte... selbst geschrieben...  Basel...  Narkotika..."

Man vernahm von draußen ein Räuspern.  Mit einem kurzen Schritt trat
Jenny vom Schalter weg.

Jemand polterte die Treppe hinunter.

Die Soubrette kam zurück, seltsam verdonnert und zerfedert, mit
Gedanken und Blicken noch halb bei dem unten aus der Haustür
tretenden Beamten.

"Ja, ja", meinte Flametti.

"Was war denn?" interessierte sich Jenny.

"Nichts, nichts!" wehrte Laura ab.

Jenny fühlte sich verpflichtet, einige Ansichten über die Polizei im
allgemeinen und die Detektivs im besonderen von sich zu geben.

"Hm, diese Kerls!" meinte sie, "nirgends ist man sicher vor ihnen!
Max, sag', die müssen doch aus den hintersten Familien stammen!"

Ein wenig Sympathie und Besorgnis klang durch.

Max glaubte: Verachtung.

"Was willst du!" zuckte er die Achseln, "Beruf!  Der eine verdient's
mit Alteisen, der andre mit Varieté, der dritte mit dem Wolfshund."

"Hm!" gab Jenny in backfischhafter Anwandlung zu bedenken, "immer so
mit dem Wolfshund gehen!"

Flametti hielt's für ein Gruseln.

"Was denkst du!" zeigte er sein überlegenstes Indianerlächeln, "erst
die amerikanischen Detektivs!  Die amerikanischen Handfesseln,
Schlagringe und Gummiknüppel!" und sah sich, Sympathie heischend,
nach dem geschulten Herrn Meyer um.

Herr Meyer aber saß da mit der verdrießlichsten Miene der Welt, die
Augenlider krampfhaft hochgezogen, fadiert, gelangweilt, bar
jeglicher Lust zu Disputationen.



Die Ereignisse folgten sich rasch, und von seiten der
Hauptbeteiligten ohne nennenswerten Widerstand.

Flamettis Prozeß war jetzt auf den dreizehnten angesetzt.

Man spielte in den kleinen und kleinsten Kneipen.  Das Ensemble hatte
nach dem Austritt der Damen Scheideisen eine Ergänzung erfahren.  Man
richtete sich ein.

Die Soubrette trat zehnmal auf am Abend: fünf Soli, vier Ensembles,
einmal als Rezitatorin.  Sie sprach dann den "Leutnant aus Zinn" und
die "Fremdenlegionäre".

Engel hatte sich durch freiwilligen Eintritt ins Krankenhaus einen
glücklichen übergang zu den "Original--Ideal--Perplex--und
Simplex-Mühlen" gesichert.

Bobby laborierte an einer Entzündung und die Bögen und Handstände
fielen ihm schwer.  Aber er schaffte es.

Herr Meyer seinerseits saß pünktlich um sechs allabends am Piano, um
das wie Pleureusen die Tropfen von der Decke fielen.  Die Portiere am
Eingang--Türen gab es nicht--klatschte vereist an die Beine etwelcher
zirkussüchtiger Gäste.  Die Kalkwände der Garderoben blätterten ab.
"Frühling ist's, die Blumen blühen wieder"--selige Erinnerung.

Flametti und Jenny allein bewahrten Humor.

Zum Zeichen ihres absoluten unwandelbaren Einvernehmens sangen sie
zusammen die "Meistersinger von Berlin", ein revueartiges Duett, das
unter ihrer scharf pointierten Interpretation sich als anmutigstes
Duell, voller mondäner Anspielungen auf den laufenden Prozeß,
präsentierte.

Der Detektiv von neulich wiederholte Besuch und Nachfrage.  Und
Fräulein Theres war ein zweites Mal gezwungen, den Gasherd abzudrehen
und den Schauplatz ihrer klausurhaft verteidigten kulinarischen
Manipulationen für ein Viertelstündchen zu verlassen.

Flametti wälzte im rastlosen Gehirn finanzielle Transaktionen.

Eine zweistündige Unterredung hatte er mit Madame Dudlinger,
fruchtlosen Resultates.  Eine dreistündige Unterredung mit Direktor
Farolyi, dem Ungar, voller Elogen, Respekt und Meriten, aber ohne den
rechten klingenden Ausgang.  Die Säulen des Hauses Flametti wackelten.

Aufgestört, eine Wanderschwalbe, trat Fräulein Theres vor die
Herrschaft, um ihre Kündigung vorzubringen.

"Frau", sagte sie sittig, "am fünfzehnten ist meine Zeit aus", und
kraulte sich mit der Haarnadel in der zerknäulten Frisur.

"Geh', Theres, was machen Sie da für Sachen?" suchte Jenny das
Verhängnis aufzuhalten.

Aber Theres machte ein Gesicht, so diffizil und spitz, wie ein
Moskito, dem ein Ausräucherungsdampf in die empfindliche Nase fuhr.

Nein, nein, sie hatte genug.  Wenn man nicht einmal in der Küche
seine Ruhe haben sollte--Verhörzimmer auf ihre alten Tage, Detektiv
am Herd, am Spülstein, im Kohlenkasten...

"Nein nein, Frau", sagte sie, gröber als sie es meinte und mit einer
Art schluchzendem Humor, "ich will nicht auf meine alten Tage den
Remis noch kriegen!  Am fünfzehnten geh' ich."

Umsonst versuchte Jenny, ihr den närrischen Einfall auszureden.
Umsonst Flametti, ihr eine wärmere Küche, Stumpen auf der Stelle, und
eine Flasche Bier vor die Phantasie zu rücken.  Nichts mehr verfing.
Theres blieb bei der Kündigung.  Sie hatte ihre eigene moralische
Ansicht von den bei Flametti eingerissenen Zuständen.

Gewiß, sie nahm die geschaßten Lehrmädel nicht in Schutz.  Aber so
behandelt man trotzdem nicht sein Dienstpersonal.  Nein, nein!
Fräulein Theres fühlte eine tiefe Solidarität.  Nein, nein, so was
rächt sich.  Da machte sie nicht mit.  Das konnte sie nicht gutheißen.

Und weiter: gewiß, der Herr war im Unrecht.  So beleidigt man nicht
eine Frau, die auf's Sach sieht und jede Nacht pflichtgetreu neben
ihm lag; die sich hübsch machte für ihn und hinter den schlampeten
Weibern herwar mit Ordnung und Zucht.

Aber die Frau: so behandelt man auch nicht einen Mann, der mal einen
Fehltritt beging.  Man läßt nicht gleich vier Kerle zu sich kommen,
setzt ihnen Gänsebrust vor und läßt seinem eigenen Gatten das Geld
abnehmen.

Nein, nein, da tat Theres nicht mehr mit.  Das war nichts für ihre
alten Tage.  Mochte man lachen über sie, mochte man sie für
altmodisch halten.  Sie tat nicht mehr mit, verstand diese neue Welt
nicht mehr, gab sich auch keine Mühe mehr, sie zu verstehen.  Sie
legte den Schürhaken hin und ging.

Jetzt faßte auch Herr Meyer seinen Entschluß, rücksichtslos und
farusch.  Den Einflüsterungen der Geschwister Scheideisen, dem
Zureden Bobbys, den Vorstellungen der Braut widerstand er nicht
länger.

Zwei Tage Bedenkzeit waren bereits verstrichen.  Der Zeitpunkt war da.
Jetzt mußte gehandelt werden.

Die Moralität obsiegte.  Hundert Plakate kosteten achtzehn Franken.
Das war zu erschwingen.  In drei Tagen konnten sie fertig sein.  Man
war gefaßt auf alles.

"Raffaëla-Ensemble, sollte die Gründung heißen nach dem Namen der
hervorragendsten Kraft.  Raffaëla hatte Bekannte in Arbon am Bodensee.
Dort würde mag debütieren, auswärts sich die ersten Meriten holen.
Noch mußte gesprochen werden mit Flametti.

Und Herr Meyer überwand ruckhaft die ihm angebotene Scheu und sagte
beim Abendessen:

"Sie, Herr Direktor, ich habe zu reden mit Ihnen."

"Gehen wir rüber ins Café Lohengrin!"

"Gut!"

Und sie gingen ins Café Lohengrin und Flametti bestellte zwei helle
Bier und Herrn Meyer klopfte das Herz.

"Also schießen Sie los!" sagte Flametti.  Und Herr Meyer holte weit
aus.

Mit den Zuständen vor Kriegsausbruch begann er, gab einen Inbegriff
seiner Familie, kam dann auf seine Geburt zu sprechen, berührte kurz
seine Konfirmation und das Knabenalter, schwenkte dann über zur
Gymnasiastenzeit, immer das Typische unterstreichend.

Flametti sah ängstlich auf seine Uhr.  Sieben Minuten vor acht.  Um
acht Uhr begann die Vorstellung.

"Kurz und gut?" fragte er und sah Meyer gespannt ins Gesicht.

"Wir wollen weg, wollen uns selbständig machen."

"Also doch!" meinte Flametti, ein wenig betroffen.

"Ja", sagte Meyer.  "Ein gutes Einvernehmen besteht ja doch nicht
mehr. ihre Frau hat das zerstört.  Laura hat die Affäre mit den
Rezepten.  Wir brauchen ein Attest für sie.  Das kostet Geld.  Ich
brauche eine neue Hose, ein Paar neue Stiefel.  Das Leben stellt
Ansprüche.  Kurzum: es geht nicht mehr."

"Tun Sie, was Sie nicht lassen können", sagte Flametti.  "Sie
müssen's am besten wissen.  Ich will Ihrem Glück nicht im Wege stehen.
Wenn Sie glauben..."

"Ich glaube!" sagte Meyer.

"Na, gehen wir zur Vorstellung!"

Und Flametti zahlte, auch für den neuen Herrn Direktor, der zu
schüchtern war, "Lina", "Frieda", oder "Kathrein" zu rufen.

Und Flametti sah, was da kommen würde, lächelte ironisch, und man
ging.

Jenny hätten Sie sehen sollen an diesem Abend!  Glacéhandschuhe zog
sie, gewissermaßen, über die Zunge.  So spitzig und kalt, so unnahbar
verächtlich wußte sie sich zu benehmen, daß Meyer kaum wagte, sie
anzusehen.

"Geh', Max, laß doch das Gesindel!" sagte sie mehr als halblaut, als
Herr Meyer in den Indianern danebengriff, und Flametti auf der Bühne
einen cholerischen Anfall bekam vor Indignation.

"Laß sie doch gehen!  Sie haben's ja nicht mehr nötig!"

Und als die Soubrette mit doppeltem Eifer nach der Kassiermuschel
griff, um sich ins Publikum zu stürzen:

"Nein, lassen Sie nur!  Ist nicht nötig.  Rosa besorgt's schon."

Und auch Rosa hob ihre Nase von Stunde an höher und Bobby überkam ein
solcher ärger darob, daß er sie am liebsten geohrfeigt hätte.

Der Zustand wurde unerträglich.  Und es war deshalb eine Erlösung für
beide Teile, als Fräulein Laura an einem der nächsten Abende
gelegentlich der "Commis voyageusen" auf dem kleinen viereckigen
Podium der "Drachenburg" ausglitt und mit dem Steißbein so
unglücklich auf eine Stuhlkante aufstieß, daß man sie, stöhnend und
ächzend, in die Garderobe und von dort mit einer heftigen Prellung
nach Hause bringen mußte.

Eine alte Sympathie regte sich in Flametti und er war wirklich
besorgt.

"Ach, Max", hetzte Jenny, "gib's doch auf!  Sie simuliert ja nur!
Merkst du denn nichts?"

Jetzt war Laura entschlossen, keinen Schritt mehr in die Vorstellung
zu gehen.  Kontrakt hin, Kontrakt her!

Und Herr Meyer sagte:

"Die sollen uns kennen lernen!"

Und Bobby sagte:

"Geht's besser Laura?" und stand sehr besorgt am Bett.

Und Lydia und Raffaëla sagten:

"Den Doktor muß er bezahlen!  Macht ihn doch schadensersatzpflichtig!
Er muß euch Schmerzensgeld zahlen!  So eine Gemeinheit!"

Und Lauras russische Freundin kam und sagte:

"Auf mich können Sie zählen.  Ich bin immer da für Sie."

Und Herr Meyer effektuierte mit Bobby zusammen mittels Kleister und
Schnur die Bilderreklame für Arbon.

So war denn Flamettis Schicksal besiegelt.

Zwar sprang für Meyer in liebenswürdiger Weise Fräulein Lena als
Pianistin ein.  Und Fräulein Rosa rückte an Lauras Stelle.  Und Lena
meinte:

"Ich hab's euch ja gleich gesagt: sie führen etwas im Schilde!"

Aber das half nichts.  Das Geschäft wurde noch schlechter.  Die
Beiseln, in denen man auftrat, noch kleiner, ja nuttig.

Flametti verhehlte es nicht, daß er blank, aller Hilfsmittel bar, in
den Prozeß eintrat.

In erregten Ergüssen versuchte er brieflich dem Anwalt in Bern
Standpunkt und Situation eindringlich zu erläutern.

Aber das Aktenmaterial wurde dadurch nur immer größer, das Plädoyer
immer schwieriger.

Und als Flametti die Geduld riß und er ganz offen auf einer Postkarte
vermerkte, der Herr Anwalt wolle ihn offenbar nicht verstehen, der
Fall sei doch sonnenklar, da schrieb dieser chargé zurück, er bedaure
unendlich, mitteilen zu müssen, daß ohne einen weiteren Vorschuß von
hundert Franken die Sache zu einem guten Ende kaum werde geführt
werden können.

Herr Farolyi gab den Rat, die Verteidigung doch selbst zu führen und
auf den Advokaten überhaupt zu verzichten.  Und auch Fräulein Lena
erbot sich, für die sittliche Minderwertigkeit der Klägerinnen eine
eidesstattliche Versicherung zu riskieren.

Aber Jenny wurde doch immer nervöser.

"Was machst du nun, Max?" fragte sie ernstlich besorgt, als Max von
Farolyi zurückkam.

"Was mach' ich?  Verteidige mich selbst."

Und er nahm Feder und Papier zur Hand und begann die
Verteidigungsschrift aufzusetzen.

Die Feder spritzte und die Worte sträubten sich.  Aber es ging.

"An den Herrn Präsidenten des Kantonalen Obergerichts, Bern".

Da stand es.  Das war die Instanz.  Und Jenny bekam einen Schreck,
als sie's so stehen sah.

Aber Flametti ließ sich nicht stören.  Mit einer schier
unpersönlichen Korrektheit entledigte er sich der schwierigen Arbeit.

Er brauchte sich nur in die disziplinarische Verfassung von damals zu
versetzen, da er auf dem Kasernhof zum erstenmal den Befehl eines
Vorgesetzten entgegennahm, und die Stilnuance war gefunden.

"Fertig, aus!" rief er, als er nach zweistündiger Arbeit
unterschrieben und abgelöscht hatte.  Er überlas das Ganze noch
einmal von Datum bis Schlußpunkt und er war sehr zufrieden damit.

"So", zog er findig die Stirn in Falten, "drehen wir die Geschichte
mal um!  Da schaut die Sache erheblich anders aus!"

Und er verlas es auch Jennymama.  Die war baß erstaunet.

"Ja, meinst du denn, Max, sie lassen es gelten?"

"Frage!"

Er spuckte, steckte die Hände in beide Hosentaschen und nahm einen
kleinen Abstand von seinem Elaborat.

"Hättest deutlicher sagen müssen, was das für zwei waren!" drängelte
Jenny.

Max zündete großspurig eine Zigarre an.

"Was?  Ist das nicht deutlich genug: "Marktware der Wollust", "der
Perversion gefrönt", "schon in den Kinderschuhen verdorben"?  Ich bin
der Verführte, verstehst du?  Angeboten haben sie sich.  Gezwungen
haben sie mich, direkt belästigt!"

Jenny war ganz verstört.

"Wenn es nur durchgeht, Max!"

"Frage!"



Sonntag, den zwölften, spielte man in der "Jerichobinde" zum
letztenmal die "Indianer": Flametti, Jenny und Rosa.


"Und dort oben in dem ew'gen Jagdgebiet,
Singt der Indianer Volk sein Siegeslied.
Einmal wieder zieh'n wir noch auf Siegespfad,
Einmal noch, wenn der Tag der Rache naht."


Dann fuhr Flametti nach Bern.

Mit dem Nachtzug.

Jenny und Rosa begleiteten ihn zur Bahn.  Rosa trug das Handtäschchen.

"Viel Glück, Max, und schreib' gleich, wie's ausging, damit man es
weiß!"

"Wenn ich nicht schreibe, weißt du Bescheid!"

"Ach, Maxel, wie wird es dir gehen?"

"Wird schon alles gut gehen!" beruhigte er, und der Zug setzte sich
in Bewegung....

Er schrieb nicht, wie es gegangen war.

Ein, zwei, drei Tage vergingen.  Da las Jenny es in der Zeitung, in
einem Café.

Sie trug ihre beste Toilette.  Sie ließ sich ihren Schmerz nicht
merken.

Gute Freunde lud sie zu sich ein, und so, in engstem Kreise, seufzend
aufs Kanapee hingeschmiegt, suchte sie Trost und Vergessen.

Und nur den vereinten Bemühungen ihrer Freunde gelang es, ihr etwas
Luft zu schaffen.

Herr Meyer aber ging pleite.



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