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Title: Viola Tricolor
Author: Storm, Theodor
Language: German
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This Etext is in German.


zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse


VIOLA TRICOLOR

von THEODOR STORM

Novelle (1873)



Es war sehr still in dem großen Hause; aber selbst auf dem Flur spürte man
den Duft von frischen Blumensträußen. Aus einer Flügeltür, der breiten,
in das Oberhaus hinaufführenden Treppe gegenüber, trat eine alte, sauber
gekleidete Dienerin. Mit einer feierlichen Selbstzufriedenheit drückte
sie hinter sich die Tür ins Schloß und ließ dann ihre grauen Augen an den
Wänden entlangstreifen, als wolle sie auch hier jedes Stäubchen noch einer
letzten Musterung unterziehen; aber sie nickte beifällig und warf dann
einen Blick auf die alte englische Hausuhr, deren Glockenspiel eben zum
zweitenmal seinen Satz abgespielt hatte.

"Schon halb!" murmelte die Alte, "und um acht, so schrieb der Herr
Professor, wollten die Herrschaften da sein!"

Hierauf griff sie in ihrer Tasche nach einem großen Schlüsselbund und
verschwand dann in den hinteren Räumen des Hauses.--Und wieder wurde es
still; nur der Perpendikelschlag der Uhr tönte durch den geräumigen Flur
und in das Treppenhaus hinauf; durch das Fenster über der Haustür fiel
noch ein Strahl der Abendsonne und blinkte auf den drei vergoldeten
Knöpfen, welche das Uhrgehäuse krönten.

Dann kamen von oben herab kleine leichte Schritte, und ein etwa
zehnjähriges Mädchen erschien auf dem Treppenabsatz. Auch sie war frisch
und festlich angetan; das rot und weiß gestreifte Kleid stand ihr gut zu
dem bräunlichen Gesichtchen und den glänzend schwarzen Haarflechten. Sie
legte den Arm auf das Geländer und das Köpfchen auf den Arm und ließ sich
so langsam hinabgleiten, während ihre dunkeln Augen träumerisch auf die
gegenüberliegende Zimmertür gerichtet waren.

Einen Augenblick stand sie horchend auf dem Flur; dann drückte sie leise
die Tür des Zimmers auf und schlüpfte durch die schweren Vorhänge hinein.
--Es war schon dämmerig hier, denn die beiden Fenster des tiefen Raumes
gingen auf eine von hohen Häusern eingeengte Straße; nur seitwärts über
dem Sofa leuchtete wie Silber ein venezianischer Spiegel auf der
dunkelgrünen Sammettapete. In dieser Einsamkeit schien er nur dazu
bestimmt, das Bild eines frischen Rosenstraußes zurückzugeben, der in
einer Marmorvase auf dem Sofatische stand. Bald aber erschien in seinem
Rahmen auch das dunkle Kinderköpfchen. Auf den Zehen war die Kleine über
den weichen Fußteppich herangeschlichen; und schon griffen die schlanken
Finger hastig zwischen die Stengel der Blumen, während ihre Augen nach der
Tür zurückflogen. Endlich war es ihr gelungen, eine halberschlossene
Moosrose aus dem Strauße zu lösen; aber sie hatte bei ihrer Arbeit der
Dornen nicht geachtet, und ein roter Blutstropfen rieselte über ihren Arm.
Rasch--denn er wäre fast in das Muster der kostbaren Tischdecke
gefallen--sog sie ihn mit ihren Lippen auf; dann, leise, wie sie gekommen,
die geraubte Rose in der Hand, schlüpfte sie wieder durch die Türvorhänge
auf den Flur hinaus. Nachdem sie auch hier noch einmal gehorcht hatte,
flog sie die Treppe wieder hinauf, die sie zuvor herabgekommen war, und
droben weiter einen Korridor entlang, bis an die letzte Tür desselben.
Einen Blick noch warf sie durch eines der Fenster, vor dem im Abendschein
die Schwalben kreuzten; dann drückte sie die Klinke auf.

Es war das Studierzimmer ihres Vaters, das sie sonst in seiner Abwesenheit
nicht zu betreten pflegte; nun war sie ganz allein zwischen den hohen
Repositorien, die mit ihren unzähligen Büchern so ehrfurchtgebietend
umherstanden. Als sie zögernd die Tür hinter sich zugedrückt hatte, wurde
unter einem zur Linken von derselben befindlichen Fenster der mächtige
Anschlag eines Hundes laut. Ein Lächeln flog über die ernsten Züge des
Kindes; sie ging rasch an das Fenster und blickte hinaus. Drunten
breitete sich der große Garten des Hauses in weiten Rasen- und
Gebüschpartien aus; aber ihr vierbeiniger Freund schien schon andere Wege
eingeschlagen zu haben; sosehr sie spähte, nichts war zu entdecken. Und
wie Schatten fiel es allmählich wieder über das Gesicht des Kindes; sie
war ja zu was anderem hergekommen; was ging sie jetzt der Nero an!

Nach Westen hinaus, der Tür, durch welche sie eingetreten, gegenüber,
hatte das Zimmer noch ein zweites Fenster. An der Wand daneben, so daß
das Licht dem daran Sitzenden zur Hand fiel, befand sich ein großer
Schreibtisch mit dem ganzen Apparat eines gelehrten Altertumsforschers;
Bronzen und Terrakotten aus Rom und Griechenland, kleine Modelle antiker
Tempel und Häuser und andere dem Schutt der Vergangenheit entstiegene
Dinge, füllten fast den ganzen Aufsatz desselben. Darüber aber, wie aus
blauen Frühlingslüften heraustretend, hing das lebensgroße Brustbild einer
jungen Frau; gleich einer Krone der Jugend lagen die goldblonden Flechten
über der klaren Stirn.--"Holdselig", dies veraltete Wort hatten ihre
Freunde für sie wieder hervorgesucht--einst, da sie noch an der Schwelle
dieses Hauses mit ihrem Lächeln die Eintretenden begrüßte.--Und so blickte
sie noch jetzt im Bilde mit ihren blauen Kinderaugen von der Wand herab;
nur um den Mund spielte ein leichter Zug von Wehmut, den man im Leben
nicht an ihr gesehen hatte. Der Maler war auch derzeit wohl darum
gescholten worden; später, da sie gestorben, schien es allen recht zu sein.

Das kleine schwarzhaarige Mädchen kam mit leisen Schritten näher; mit
leidenschaftlicher Innigkeit hingen ihre Augen an dem schönen Bildnis.

"Mutter, meine Mutter!" sprach sie flüsternd; doch so, als wolle mit den
Worten sie sich zu ihr drängen.

Das schöne Antlitz schaute, wie zuvor, leblos von der Wand herab; sie aber
kletterte, behend wie eine Katze, über den davor stehenden Sessel auf den
Schreibtisch und stand jetzt mit trotzig aufgeworfenen Lippen vor dem
Bilde, während ihre zitternden Hände die geraubte Rose hinter der unteren
Leiste des Goldrahmens zu befestigen suchten. Als ihr das gelungen war,
stieg sie rasch wieder zurück und wischte mit ihrem Schnupftuch sorgsam
die Spuren ihrer Füßchen von der Tischplatte.

Aber es war, als könne sie jetzt aus dem Zimmer, das sie zuvor so scheu
betreten hatte, nicht wieder fortfinden; nachdem sie schon einige Schritte
nach der Tür getan hatte, kehrte sie wieder um; das westliche Fenster
neben dem Schreibtische schien diese Anziehungskraft auf sie zu üben.

Auch hier lag unten ein Garten, oder richtiger: eine Gartenwildnis. Der
Raum war freilich klein; denn wo das wuchernde Gebüsch sie nicht verdeckte,
war von allen Seiten die hohe Umfassungsmauer sichtbar. An dieser, dem
Fenster gegenüber, befand sich, in augenscheinlichem Verfall, eine offene
Rohrhütte; davor, von dem grünen Gespinste einer Klematis fast bedeckt,
stand noch ein Gartenstuhl. Der Hütte gegenüber mußte einst eine Partie
von hochstämmigen Rosen gewesen sein; aber sie hingen jetzt wie verdorrte
Reiser an den entfärbten Blumenstöcken, während unter ihnen mit unzähligen
Rosen bedeckte Zentifolien ihre fallenden Blätter auf Gras und Kraut
umherstreuten.

Die Kleine hatte die Arme auf die Fensterbank und das Kinn in ihre beiden
Hände gestützt und schaute mit sehnsüchtigen Augen hinab.

Drüben in der Rohrhütte flogen zwei Schwalben aus und ein; sie mußten wohl
ihr Nest darin gebaut haben. Die andern Vögel waren schon zur Ruhe
gegangen; nur ein Rotbrüstchen sang dort noch herzhaft von dem höchsten
Zweige des abgeblühten Goldregens und sah das Kind mit seinen schwarzen
Augen an.--"Nesi, wo steckst du denn?" sagte sanft eine alte Stimme,
während eine Hand sich liebkosend auf das Haupt des Kindes legte. Die
alte Dienerin war unbemerkt hereingetreten. Das Kind wandte den Kopf und
sah sie mit einem müden Ausdruck an. "Anne", sagte es, "wenn ich nur
einmal wieder in Großmutters Garten dürfte!"

Die Alte antwortete nicht darauf; sie kniff nur die Lippen zusammen und
nickte ein paarmal wie zur Besinnung. "Komm, komm!" sagte sie dann. "Wie
siehst du aus! Gleich werden sie da sein, dein Vater und deine neue
Mutter!" Damit zog sie das Kind in ihre Arme und strich und zupfte ihr
Haar und Kleider zurecht.--"Nein, nein, Neschen! Du darfst nicht weinen;
es soll eine gute Dame sein, und schön, Nesi; du siehst ja gern die
schönen Leute!"

In diesem Augenblick tönte das Rasseln eines Wagens von der Straße herauf.
Das Kind zuckte zusammen; die Alte aber faßte es bei der Hand und zog es
rasch mit sich aus dem Zimmer. Sie kamen noch früh genug, um den Wagen
vorfahren zu sehen; die beiden Mägde hätten schon die Haustür
aufgeschlagen.--Das Wort der alten Dienerin schien sich zu bestätigen.
Von einem etwa vierzigjährigen Manne, in dessen ernsten Zügen man Nesis
Vater leicht erkannte, wurde eine junge schöne Frau aus dem Wagen gehoben.
Ihr Haar und ihre Augen waren fast so dunkel wie die des Kindes, dessen
Stiefmutter sie geworden war; ja man hätte sie, flüchtig angesehen, für
die rechte halten können, wäre sie dazu nicht zu jung gewesen. Sie grüßte
freundlich, während ihre Augen wie suchend umherblickten; aber ihr Mann
führte sie rasch ins Haus und in das untere Zimmer, wo sie von dem
frischen Rosenduft empfangen wurde.

"Hier werden wir zusammen leben", sagte er, indem er sie in einen weichen
Sessel niederdrückte, "verlaß dies Zimmer nicht, ohne hier die erste Ruhe
in deinem neuen Heim gefunden zu haben!"

Sie blickte innig zu ihm auf. "Aber du--willst du nicht bei mir bleiben?"

--"Ich hole dir das Beste von den Schätzen unseres Hauses."

"Ja, ja, Rudolf, deine Agnes! Wo war sie denn vorhin?"

Er hatte das Zimmer schon verlassen. Den Augen des Vaters war es nicht
entgangen, daß bei ihrer Ankunft Nesi sich hinter der alten Anne versteckt
gehalten hatte; nun, da er sie wie verloren draußen auf dem Hausflur
stehen fand, hob er sie auf beiden Armen in die Höhe und trug sie so in
das Zimmer.

--"Und hier hast du die Nesi!" sagte er und legte das Kind zu den Füßen
der schönen Stiefmutter auf den Teppich; dann, als habe er Weiteres zu
besorgen, ging er hinaus; er wollte die beiden allein sich finden lassen.

Nesi richtete sich langsam auf und stand nun schweigend vor der jungen
Frau; beide sahen sich unsicher und prüfend in die Augen. Letztere, die
wohl ein freundliches Entgegenkommen als selbstverständlich vorausgesetzt
haben mochte, faßte endlich die Hände des Mädchens und sagte ernst: "Du
weißt doch, daß ich jetzt deine Mutter bin, wollen wir uns nicht liebhaben,
Agnes?" Nesi blickte zur Seite.

"Ich darf aber doch Mama sagen?" fragte sie schüchtern.

--"Gewiß, Agnes; sag, was du willst, Mama oder Mutter, wie es dir gefällt!"

Das Kind sah verlegen zu ihr auf und erwiderte beklommen: "Mama könnte ich
gut sagen!"

Die junge Frau warf einen raschen Blick auf sie und heftete ihre dunkeln
Augen in die noch dunkleren des Kindes. "Mama; aber nicht Mutter?" fragte
sie.

"Meine Mutter ist ja tot", sagte Nesi leise.

In unwillkürlicher Bewegung stießen die Hände der jungen Frau das Kind
zurück; aber sie zog es gleich und heftig wieder an ihre Brust.

"Nesi", sagte sie, "Mutter und Mama ist ja dasselbe!"

Nesi aber erwiderte nichts; sie hatte die Verstorbene immer nur Mutter
genannt.

--Das Gespräch war zu Ende. Der Hausherr war wieder eingetreten, und da
er sein Töchterchen in den Armen seiner jungen Frau erblickte, lächelte er
zufrieden.

"Aber jetzt komm", sagte er heiter, indem er der letzteren seine Hand
entgegenstreckte, "und nimm als Herrin Besitz von allen Räumen dieses
Hauses!"

Und sie gingen miteinander fort; durch die Zimmer des unteren Hauses,
durch Küche und Keller, dann die breite Treppe hinauf in einen großen Saal
und in die kleineren Stuben und Kammern, die nach beiden Seiten der Treppe
auf den Korridor hinausgingen.

Der Abend dunkelte schon; die junge Frau hing immer schwerer an dem Arm
ihres Mannes, es war fast, als sei mit jeder Tür, die sich vor ihr
geöffnet, eine neue Last auf ihre Schultern gefallen; immer einsilbiger
wurden seine froh hervorströmenden Worte erwidert. Endlich, da sie vor
der Tür seines Arbeitszimmers standen, schwieg auch er und hob den schönen
Kopf zu sich empor, der stumm an seiner Schulter lehnte.

"Was ist dir, Ines?" sagte er, "du freust dich nicht!"

"O doch, ich freue mich!"

"So komm!"

Als er die Tür geöffnet hatte, schien ihnen ein mildes Licht entgegen.
Durch das westliche Fenster leuchtete der Schein des Abendgoldes, das
drüben jenseits der Büsche des kleinen Gartens stand.--In diesem Lichte
blickte das schöne Bild der Toten von der Wand herab; darunter auf dem
matten Gold des Rahmens lag wie glühend die frische rote Rose.

Die junge Frau griff unwillkürlich mit der Hand nach ihrem Herzen und
starrte sprachlos auf das süße lebensvolle Bild. Aber schon hatten die
Arme ihres Mannes sie fest umfangen.

"Sie war einst mein Glück", sagte er; "sei du es jetzt!"

Sie nickte, aber sie schwieg und rang nach Atem. Ach, diese Tote lebte
noch, und für sie beide war doch nicht Raum in einem Hause!

Wie zuvor, da Nesi hier gewesen, tönte jetzt wieder aus dem großen, zu
Norden belegenen Garten die mächtige Stimme eines Hundes.

Mit sanfter Hand wurde die junge Frau von ihrem Gatten an das dorthinaus
liegende Fenster geführt. "Sieh einmal hier hinab!" sagte er.

Drunten auf dem Steige, der um den großen Rasen führte, saß ein schwarzer
Neufundländer; vor ihm stand Nesi und beschrieb mit einer ihrer schwarzen
Flechten einen immer engeren Kreis um seine Nase. Dann warf der Hund den
Kopf zurück und bellte, und Nesi lachte und begann das Spiel von neuem.

Auch der Vater, der diesem kindischen Treiben zusah, mußte lächeln; aber
die junge Frau an seiner Seite lächelte nicht, und wie eine trübe Wolke
flog es über ihn hin. "Wenn es die Mutter wäre!" dachte er; laut aber
sagte er: "Das ist unser Nero, den mußt du auch noch kennenlernen, Ines;
der und Nesi sind gute Kameraden, sogar vor ihren Puppenwagen läßt sich
das Ungeheuer spannen."

Sie blickte zu ihm auf. "Hier ist so viel, Rudolf", sagte sie wie
zerstreut, "wenn ich nur durchfinde!"

--"Ines, du träumst! Wir und das Kind, der Hausstand ist ja so klein wie
möglich."

"Wie möglich?" wiederholte sie tonlos, und ihre Augen folgten dem Kinde,
das jetzt mit dem Hunde um den Rasen jagte; dann plötzlich, wie in Angst
zu ihrem Mann emporsehend, schlang sie die Arme um seinen Hals und bat:
"Halte mich fest, hilf mir! Mir ist so schwer."


--------------------------


Wochen, Monate waren vergangen.--Die Befürchtungen der jungen Frau schienen
sich nicht zu verwirklichen; wie von selber ging die Wirtschaft unter ihrer
Hand. Die Dienerschaft fügte sich gern ihrem zugleich freundlichen und
vornehmen Wesen, und auch wer von außen hinzutrat, fühlte, daß jetzt wieder
eine dem Hausherrn ebenbürtige Frau im Innern walte. Für die schärfer
blickenden Augen ihres Mannes freilich war es anders; er erkannte nur zu
sehr, daß sie mit den Dingen seines Hauses wie mit Fremden verkehre, woran
sie keinen Teil habe, das als gewissenhafte Stellvertreterin sie nur um
desto sorgsamer verwalten müsse. Es konnte den erfahrenen Mann nicht
beruhigen, wenn sie sich zuweilen mit heftiger Innigkeit in seine Arme
drängte, als müsse sie sich versichern, daß sie ihm, er ihr gehöre.

Auch zu Nesi hatte ein näheres Verhältnis sich nicht gebildet. Eine
innere Stimme--der Liebe und der Klugheit--gebot der jungen Frau, mit dem
Kinde von seiner Mutter zu sprechen, an die es die Erinnerung so lebendig,
seit die Stiefmutter ins Haus getreten war, so hartnäckig bewahrte.
Aber--das war es ja! Das süße Bild, das droben in ihres Mannes Zimmer
hing--selbst ihre inneren Augen vermieden, es zu sehen. Wohl hatte sie
mehrmals schon den Mut gefaßt; sie hatte das Kind mit beiden Händen an
sich gezogen, dann aber war sie verstummt; ihre Lippen hatten ihr den
Dienst versagt, und Nesi, deren dunkle Augen bei solcher herzlichen
Bewegung freudig aufgeleuchtet, war traurig wieder fortgegangen. Denn
seltsam, sie sehnte sich nach der Liebe dieser schönen Frau; ja, wie
Kinder pflegen, sie betete sie im stillen an. Aber ihr fehlte die Anrede,
die der Schlüssel jedes herzlichen Gespräches ist; das eine--so war
ihr--durfte sie, das andere konnte sie nicht sagen.

Auch dieses letzte Hemmnis fühlte Ines, und da es das am leichtesten zu
beseitigende schien, so kehrten ihre Gedanken immer wieder auf diesen
Punkt zurück.

So saß sie eines Nachmittags neben ihrem Mann im Wohnzimmer und blickte in
den Dampf, der leise singend aus der Teemaschine aufstieg.

Rudolf, der eben seine Zeitung durchgelesen hatte, ergriff ihre Hand. "Du
bist so still, Ines; du hast mich heute nicht ein einzig Mal gestört!"

"Ich hätte wohl etwas zu sagen", erwiderte sie zögernd, indem sie ihre
Hand aus der seinen löste.

--"So sag es denn!"

Aber sie schwieg noch eine Weile.

--"Rudolf", sagte sie endlich, "laß dein Kind mich Mutter nennen!"

--"Und tut sie denn das nicht?"

Sie schüttelte den Kopf und erzählte ihm, was am Tage ihrer Ankunft
vorgefallen war.

Er hörte ihr ruhig zu. "Es ist ein Ausweg", sagte er dann, "den hier die
Kinderseele unbewußt gefunden hat. Wollen wir ihn nicht dankbar gelten
lassen?"

Die junge Frau antwortete nicht darauf, sie sagte nur: "So wird das Kind
mir niemals nahekommen."

Er wollte wieder ihre Hand fassen, aber sie entzog sie ihm.

"Ines", sagte er, "verlange nur nichts, was die Natur versagt; von Nesi
nicht, daß sie dein Kind, und nicht von dir, daß du ihre Mutter seist!"

Die Tränen brachen ihr aus den Augen. "Aber, ich soll doch ihre Mutter
sein", sagte sie fast heftig.

--"Ihre Mutter? Nein, Ines, das sollst du nicht."

"Was soll ich denn, Rudolf?"

--Hätte sie die naheliegende Antwort auf diese Frage jetzt verstehen
können, sie würde sie sich selbst gegeben haben. Er fühlte das und sah
ihr sinnend in die Augen, als müsse er dort die helfenden Worte finden.

"Bekenn es nur!" sagte sie, sein Schweigen mißverstehend, "darauf hast du
keine Antwort."

"O Ines!" rief er. "Wenn erst aus deinem eigenen Blut ein Kind auf deinem
Schoße liegt!"

Sie machte eine abwehrende Bewegung; er aber sagte: "Die Zeit wird kommen,
und du wirst fühlen, wie das Entzücken, das aus deinem Auge bricht, das
erste Lächeln deines Kindes weckt und wie es seine kleine Seele zu dir
zieht.--Auch über Nesi haben einst zwei selige Augen so geleuchtet; dann
schlang sie den kleinen Arm um einen Nacken, der sich zu ihr niederbeugte,
und sagte: "Mutter!"--Zürne nicht mit ihr, daß sie es zu keiner andern auf
der Welt mehr sagen kann!"

Ines hatte seine Worte kaum gehört; ihre Gedanken verfolgten nur den einen
Punkt. "Wenn du sagen kannst: Sie ist ja nicht dein Kind, warum sagst du
denn nicht auch: Du bist ja nicht mein Weib!"

Und dabei blieb es. Was gingen sie seine Gründe an!

Er zog sie an sich; er suchte sie zu beruhigen; sie küßte ihn und sah ihn
durch Tränen lächelnd an; aber geholfen war ihr damit nicht.-Als Rudolf
sie verlassen hatte, ging sie hinaus in den großen Garten. Bei ihrem
Eintritt sah sie Nesi mit einem Schulbuche in der Hand um den breiten
Rasen wandern, aber sie wich ihr aus und schlug einen Seitenweg ein, der
zwischen Gebüsch an der Gartenmauer entlangführte.

Dem Kinde war beim flüchtigen Aufblick der Ausdruck von Trauer in den
schönen Augen der Stiefmutter nicht entgangen, und wie magnetisch
nachgezogen, immer lernend und ihre Lektion vor sich her murmelnd, war
auch sie allmählich in jenen Steig geraten.

Ines stand eben vor einer in der hohen Mauer befindlichen Pforte, die von
einem Schlinggewächs mit lila Blüten fast verhangen war. Mit abwesenden
Blicken ruhten ihre Augen darauf, und sie wollte schon ihre stille
Wanderung wieder beginnen, als sie das Kind sich entgegenkommen sah.

Nun blieb sie stehen und fragte: "Was ist das für eine Pforte, Nesi?"

--"Zu Großmutters Garten!"

"Zu Großmutters Garten?--Deine Großeltern sind doch schon lange tot!"

"Ja, schon lange, lange."

"Und wem gehört denn jetzt der Garten?"

--"Uns!" sagte das Kind, als verstehe sich das von selbst.

Ines bog ihren schönen Kopf unter das Gesträuch und begann an der eisernen
Klinke der Tür zu rütteln; Nesi stand schweigend dabei, als wolle sie den
Erfolg dieser Bemühungen abwarten.

"Aber er ist ja verschlossen!" rief die junge Frau, indem sie abließ und
mit dem Schnupftuch den Rost von ihren Fingern wischte. "Ist es der wüste
Garten, den man aus Vaters Stubenfenster sieht?"

Das Kind nickte.

--"Horch nur, wie drüben die Vögel singen!"

Inzwischen war die alte Dienerin in den Garten getreten. Als sie die
Stimmen der beiden von der Mauer her vernahm, beeilte sie sich, in ihre
Nähe zu kommen. "Es ist Besuch drinnen", meldete sie.

Ines legte freundlich ihre Hand an Nesis Wange. "Vater ist ein schlechter
Gärtner", sagte sie im Fortgehen, "da müssen wir beide noch hinein und
Ordnung schaffen."

--Im Hause kam Rudolf ihr entgegen.

"Du weißt, das Müllersche Quartett spielt heute abend", sagte er, "die
Doktorsleute sind da und wollen uns vor Unterlassungssünden warnen."

Als sie zu den Gästen in die Stube getreten waren, entspann sich ein
langes, lebhaftes Gespräch über Musik; dann kamen häusliche Geschäfte,
die noch besorgt werden mußten. Der wüste Garten war für heut vergessen.


--------------------------


Am Abend war das Konzert.--Die großen Toten, Haydn und Mozart, waren an
den Hörern vorübergezogen, und eben verklang auch der letzte Akkord von
Beethovens c-Moll-Quartett, und statt der feierlichen Stille, in der
allein die Töne auf und nieder glänzten, rauschte jetzt das Geplauder
der fortdrängenden Zuhörer durch den weiten Raum.

Rudolf stand neben dem Stuhle seiner jungen Frau. "Es ist aus, Ines",
sagte er, sich zu ihr niederbeugend, "oder hörst du noch immer etwas?"

Sie saß noch wie horchend, ihre Augen nach dem Podium gerichtet, auf dem
nur noch die leeren Pulte standen. Jetzt reichte sie ihrem Manne die Hand.
"Laß uns heimgehen, Rudolf", sagte sie aufstehend.

An der Tür wurden sie von ihrem Hausarzte und dessen Frau aufgehalten, den
einzigen Menschen, mit denen Ines bis jetzt in einen näheren Verkehr
getreten war.

"Nun?" sagte der Doktor und nickte ihnen mit dem Ausdruck innerster
Befriedigung zu. "Aber kommen Sie mit uns, es ist ja auf dem Wege; nach
so etwas muß man noch ein Stündchen zusammensitzen."

Rudolf wollte schon mit heiterer Zustimmung antworten, als er sich leise
am Ärmel gezupft fühlte und die Augen seiner Frau mit dem Ausdrucke
dringenden Bittens auf sich gerichtet sah. Er verstand sie wohl. "Ich
verweise die Entscheidung an die höhere Instanz", sagte er scherzend.

Und Ines wußte unerbittlich den nicht so leicht zu besiegenden Doktor auf
einen andern Abend zu vertrösten.

Als sie am Hause ihrer Freunde sich von diesen verabschiedet hatten,
atmete sie auf wie befreit.

"Was hast du heute gegen unsere lieben Doktorsleute?" fragte Rudolf.
Sie drückte sich fest in den Arm ihres Mannes. "Nichts", sagte sie, "aber
es war so schön heute abend; ich muß nun ganz mit dir allein sein."

Sie schritten rascher ihrem Hause zu.

"Sieh nur", sagte er, "im Wohnzimmer unten ist schon Licht, unsere alte
Anne wird den Teetisch schon gerüstet haben. Du hattest recht, daheim ist
doch noch besser als bei andern."

Sie nickte nur und drückte ihm still die Hand.--Dann traten sie in ihr
Haus; lebhaft öffnete sie die Stubentür und schlug die Vorhänge zurück.

Auf dem Tische, wo einst die Vase von den Rosen gestanden hatte, brannte
jetzt eine große Bronzelampe und beleuchtete einen schwarzhaarigen
Kinderkopf, der schlafend auf die mageren Ärmchen hingesunken war; die
Ecken eines Bilderbuches ragten nur eben darunter hervor.

Die junge Frau blieb wie erstarrt in der Tür stehen; das Kind war ganz aus
ihrem Gedankenkreise verschwunden gewesen. Ein Zug herber Enttäuschung
flog um ihre schönen Lippen. "Du, Nesi!" stieß sie hervor, als ihr Mann
sie vollends in das Zimmer hineingeführt hatte. "Was machst du denn noch
hier?"

Nesi erwachte und sprang auf. "Ich wollte auf euch warten", sagte sie,
indem sie halb lächelnd mit der Hand über ihre blinzelnden Augen fuhr.

"Das ist unrecht von Anne; du hättest längst zu Bette sein sollen."

Ines wandte sich ab und trat an das Fenster; sie fühlte, wie ihr die
Tränen aus den Augen quollen. Ein unentwirrbares Gemisch von bitteren
Gefühlen wühlte in ihrer Brust; Heimweh, Mitleid mit sich selber, Reue
über ihre Lieblosigkeit gegen das Kind des geliebten Mannes; sie wußte
selber nicht, was alles jetzt sie überkam; aber--und mit der Wollust und
der Ungerechtigkeit des Schmerzes sprach sie es sich selber vor--das war
es: ihrer Ehe fehlte die Jugend, und sie selber war doch noch so jung!

Als sie sich umwandte, war das Zimmer leer.--Wo war die schöne Stunde, auf
die sie sich gefreut?--Sie dachte nicht daran, daß sie sie selbst
verscheucht hatte.--Das Kind, welches mit fast erschreckten Augen dem ihm
unverständlichen Vorgange zugesehen hatte, war von dem Vater still
hinausgeführt worden.

"Geduld!" sprach er zu sich selber, als er, den Arm um Nesi geschlungen,
mit ihr die Treppe hinaufstieg; und auch er, in einem andern Sinne, setzte
hinzu: "Sie ist ja noch so jung."

Eine Kette von Gedanken und Plänen tauchte in ihm auf; mechanisch öffnete
er das Zimmer, wo Nesi mit der alten Anne schlief und in dem sie von
dieser schon erwartet wurde. Er küßte sie und sprach: "Ich werde Mama von
dir gute Nacht sagen." Dann wollte er zu seiner Frau hinabgehen; aber er
kehrte wieder um und trat am Ende des Korridors in sein Studierzimmer.

Auf dem Aufsatze des Schreibtisches stand eine kleine Bronzelampe aus
Pompeji, die er kürzlich erst erworben und versucheshalber mit Öl gefüllt
hatte; er nahm sie herab, zündete sie an und stellte sie wieder an ihren
Ort unter das Bildnis der Verstorbenen; ein Glas mit Blumen, das auf der
Platte des Tisches gestanden, setzte er daneben. Er tat dies fast
gedankenlos; nur, als müsse er auch seinen Händen zu tun geben, während es
ihm in Kopf und Herzen arbeitete. Dann trat er dicht daneben an das
Fenster und öffnete beide Flügel desselben.

Der Himmel war voll Wolken; das Licht des Mondes konnte nicht
herabgelangen. Drunten in dem kleinen Garten lag das wuchernde Gesträuch
wie eine dunkle Masse; nur dort, wo zwischen schwarzen pyramidenförmigen
Koniferen der Steig zur Rohrhütte führte, schimmerte zwischen ihnen der
weiße Kies hindurch.

Und aus der Phantasie des Mannes, der in diese Einsamkeit hinabsah, trat
eine liebliche Gestalt, die nicht mehr den Lebenden angehörte; er sah sie
unten auf dem Steige wandeln, und ihm war, als gehe er an ihrer Seite.

"Laß dein Gedächtnis mich zur Liebe stärken", sprach er; aber die Tote
antwortete nicht; sie hielt den schönen, bleichen Kopf zur Erde geneigt;
er fühlte mit süßem Schauder ihre Nähe, aber Worte kamen nicht von ihr.

Da bedachte er sich, daß er hier oben ganz allein stehe. Er glaubte an
den vollen Ernst des Todes; die Zeit, wo sie gewesen, war vorüber.--Aber
unter ihm lag noch wie einst der Garten ihrer Eltern; von seinen Büchern
durch das Fenster sehend, hatte er dort zuerst das kaum fünfzehnjährige
Mädchen erblickt; und das Kind mit den blonden Flechten hatte dem ernsten
Manne die Gedanken fortgenommen, immer mehr, bis sie zuletzt als Frau die
Schwelle seines Hauses überschritten und ihm alles und noch mehr
zurückgebracht hatte.--Jahre des Glückes und freudigen Schaffens waren mit
ihr eingezogen; den kleinen Garten aber, als die Eltern früh verstorben
waren und das Haus verkauft wurde, hatten sie behalten und durch eine
Pforte in der Grenzmauer mit dem großen Garten ihres Hauses verbunden.
Fast verborgen war schon damals diese Pforte unter hängendem Gesträuch,
das sie ungehindert wachsen ließen; denn sie gingen durch dieselbe in den
fraulichsten Ort ihres Sommerlebens, in welchen selbst die Freunde des
Hauses nur selten hineingelassen wurden.--In der Rohrhütte, in welcher er
einst von seinem Fenster aus die jugendliche Geliebte über ihren
Schularbeiten belauscht hatte, saß jetzt zu den Füßen der blonden Mutter
ein Kind mit dunkeln, nachdenklichen Augen; und wenn er nun den Kopf von
seiner Arbeit wandte, so tat er einen Blick in das vollste Glück des
Menschenlebens.--Aber heimlich hatte der Tod sein Korn hineingeworfen. Es
war in den ersten Tagen eines Junimondes, da trug man das Bett der schwer
Erkrankten aus dem daranliegenden Schlafgemach in das Arbeitszimmer ihres
Mannes; sie wollte die Luft noch um sich haben, die aus dem Garten ihres
Glückes durch das offene Fenster wehte. Der große Schreibtisch war
beiseite gestellt; seine Gedanken waren nun alle nur bei ihr.--Draußen war
ein unvergleichlicher Frühling aufgegangen; ein Kirschbaum stand mit
Blüten überschneit. In unwillkürlichem Drange hob er die leichte Gestalt
aus den Kissen und trug sie an das Fenster. "Oh, sieh es noch einmal!
Wie schön ist doch die Welt!"

Aber sie wiegte leise ihren Kopf und sagte: "Ich sehe es nicht mehr."-Und
bald kam es, da wußte er das Flüstern, welches aus ihrem Munde brach,
nicht mehr zu deuten. Immer schwächer glimmte der Funken; nur ein
schmerzliches Zucken bewegte noch die Lippen, hart und stöhnend im Kampfe
um das Leben ging der Atem. Aber es wurde leiser, immer leiser, zuletzt
süß wie Bienengetön. Dann noch einmal war's, als wandle ein blauer
Lichtstrahl durch die offenen Augen; und dann war Frieden.

"Gute Nacht, Marie!"--Aber sie hörte es nicht mehr.--Noch ein Tag, und
die stille, edle Gestalt lag unten in dem großen, dämmerigen Gemach in
ihrem Sarge. Die Diener des Hauses traten leise auf; drinnen stand er
neben seinem Kinde, das die alte Anne an der Hand hielt.

"Nesi", sagte diese, "du fürchtest dich doch nicht?"

Und das Kind, von der Erhabenheit des Todes angeweht, antwortete: "Nein,
Anne, ich bete."

Dann kam der allerletzte Gang, welcher noch mit ihr zu gehen ihm vergönnt
war; nach ihrer beider Sinn ohne Priester und Glockenklang, aber in der
heiligen Morgenfrühe, die ersten Lerchen stiegen eben in die Luft.

Das war vorüber; aber er besaß sie noch in seinem Schmerze; wenn auch
ungesehen, sie lebte noch mit ihm. Doch unbemerkt entschwand auch dies;
er suchte sie oft mit Angst, aber immer seltener wußte er sie zu finden.
Nun erst schien ihm sein Haus unheimlich leer und öde; in den Winkeln saß
eine Dämmerung, die früher nicht dort gesessen hatte; es war so seltsam
anders um ihn her; und sie war nirgends.--Der Mond war aus dem
Wolkendunst hervorgetreten und beleuchtete hell die unten liegende
Gartenwildnis. Er stand noch immer an derselben Stelle, den Kopf gegen
das Fensterkreuz gelehnt; aber seine Augen sahen nicht mehr, was draußen
war.

Da öffnete sich hinter ihm die Tür, und eine Frau von dunkler Schönheit
trat herein.

Das leise Rauschen ihres Kleides hatte den Weg zu seinem Ohr gefunden; er
wandte den Kopf und sah sie forschend an.

"Ines!" rief er; er stieß das Wort hervor, aber er ging ihr nicht entgegen.

Sie war stehengeblieben. "Was ist dir, Rudolf? Erschrickst du vor mir?"

Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln. "Komm", sagte er, "laß
uns hinuntergehen."

Aber während er ihre Hand faßte, waren ihre Augen auf das von der Lampe
beleuchtete Bild und die daneben stehenden Blumen gefallen.--Wie ein
plötzliches Verständnis flog es durch ihre Züge.--"Es ist ja bei dir wie
in einer Kapelle", sagte sie, und ihre Worte klangen kalt, fast feindlich.

Er hatte alles begriffen. "Oh, Ines", rief er, "sind nicht auch dir die
Toten heilig!"

"Die Toten! Wem sollten die nicht heilig sein! Aber, Rudolf" und sie zog
ihn wieder an das Fenster; ihre Hände zitterten, und ihre schwarzen Augen
flimmerten vor Erregung--, "sag mir, die ich jetzt dein Weib bin, warum
hältst du diesen Garten verschlossen und lässest keines Menschen Fuß
hinein?"

Sie zeigte mit der Hand in die Tiefe; der weiße Kies zwischen den
schwarzen Pyramidensträuchern schimmerte gespenstisch; ein großer
Nachtschmetterling flog eben darüber hin.

Er hatte schweigend hinabgeblickt. "Das ist ein Grab, Ines", sagte er
jetzt, "oder, wenn du lieber willst, ein Garten der Vergangenheit."

Aber sie sah ihn heftig an. "Ich weiß das besser, Rudolf! Das ist der
Ort, wo du bei ihr bist; dort auf dem weißen Steige wandelt ihr zusammen;
denn sie ist nicht tot; noch eben, jetzt in dieser Stunde warst du bei ihr
und hast mich, dein Weib, bei ihr verklagt. Das ist Untreue, Rudolf, mit
einem Schatten brichst du mir die Ehe!"

Er legte schweigend den Arm um ihren Leib und führte sie, halb mit Gewalt,
vom Fenster fort. Dann nahm er die Lampe von dem Schreibtisch und hielt
sie hoch gegen das Bild empor. "Ines, wirf nur einen Blick auf sie!"

Und als die unschuldigen Augen der Toten auf sie herabblickten, brach sie
in einen Strom von Tränen aus. "Oh, Rudolf, ich fühle es, ich werde
schlecht!"

"Weine nicht so", sagte er. "Auch ich habe unrecht getan; aber habe auch
du Geduld mit mir!"--Er zog ein Schubfach seines Schreibtisches auf und
legte einen Schlüssel in ihre Hand. Öffne du den Garten wieder, Ines!
--Gewiß, es macht mich glücklich, wenn dein Fuß der erste ist, der wieder
ihn betritt. Vielleicht, daß im Geiste sie dir dort begegnet und mit
ihren milden Augen dich so lange ansieht, bis du schwesterlich den Arm um
ihren Nacken legst!"

Sie sah unbeweglich auf den Schlüssel, der noch immer in ihrer offenen
Hand lag.

"Nun, Ines, willst du nicht annehmen, was ich dir gegeben habe?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Noch nicht, Rudolf, ich kann noch nicht, später--später; dann wollen wir
zusammen hineingehen." Und indem ihre schönen dunkeln Augen bittend zu ihm
aufblickten, legte sie still den Schlüssel auf den Tisch.


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Ein Samenkorn war in den Boden gefallen, aber die Zeit des Keimens lag
noch fern.

Es war im November.--Ines konnte endlich nicht mehr daran zweifeln, daß
auch sie Mutter werden solle, Mutter eines eigenen Kindes. Aber zu dem
Entzücken, das sie bei dem Bewußtsein überkam, gesellte sich bald ein
anderes. Wie ein unheimliches Dunkel lag es auf ihr, aus dem allmählich
sich ein Gedanke gleich einer bösen Schlange emporwand. Sie suchte ihn zu
verscheuchen, sie flüchtete sich vor ihm zu allen guten Geistern ihres
Hauses, aber er verfolgte sie, er kam immer wieder und immer mächtiger.
War sie nicht nur von außen wie eine Fremde in dies Haus getreten, das
schon ohne sie ein fertiges Leben in sich schloß?--Und eine zweite
Ehe--gab es denn überhaupt eine solche? Mußte die erste, die einzige,
nicht bis zum Tode beider fortdauern?--Nicht nur bis zum Tode! Auch
weiter--weiter bis in alle Ewigkeit! Und wenn das?--Die heiße Glut schlug
ihr ins Gesicht; sich selbst zerfleischend, griff sie nach den härtesten
Worten.--Ihr Kind--ein Eindringling, ein Bastard würde es im eigenen
Vaterhause sein!

Wie vernichtet ging sie umher; ihr junges Glück und Leid trug sie allein;
und wenn der, welcher den nächsten Anspruch hatte, es mit ihr zu teilen,
sie besorgt und fragend anblickte, so schlossen sich ihre Lippen wie in
Todesangst.--In dem gemeinschaftlichen Schlafgemache waren die schweren
Fenstervorhänge heruntergelassen, nur durch eine schmale Lücke zwischen
denselben stahl sich ein Streifen Mondlicht herein. Unter quälenden
Gedanken war Ines eingeschlafen, nun kam der Traum; da wußte sie es: sie
konnte nicht bleiben, sie mußte fort aus diesem Hause, nur ein kleines
Bündelchen wollte sie mitnehmen, dann fort, weit weg--zu ihrer Mutter, auf
Nimmerwiederkehr! Aus dem Garten, hinter den Fichten, welche die Rückwand
desselben bildeten, führte ein Pförtchen in das Freie; den Schlüssel hatte
sie in ihrer Tasche, sie wollte fort--gleich.-Der Mond rückte weiter, von
der Bettstatt auf das Kissen, und jetzt lag ihr schönes Antlitz voll
beleuchtet in seinem blassen Schein.--Da richtete sie sich auf.
Geräuschlos entstieg sie dem Bett und trat mit nackten Füßen in ihre davor
stehenden Schuhe. Nun stand sie mitten im Zimmer in ihrem weißen
Schlafgewand; ihr dunkles Haar hing, wie sie es nachts zu ordnen pflegte,
in zwei langen Flechten über ihre Brust. Aber ihre sonst so elastische
Gestalt schien wie zusammengesunken; es war, als liege noch die Last des
Schlafes auf ihr. Tastend, mit vorgestreckten Händen, glitt sie durch das
Zimmer, aber sie nahm nichts mit, kein Bündelchen, keinen Schlüssel. Als
sie mit den Fingern über die auf einem Stuhl liegenden Kleider ihres
Mannes streifte, zögerte sie einen Augenblick, als gewinne eine andere
Vorstellung in ihr Raum; gleich darauf aber schritt sie leise und
feierlich zur Stubentür hinaus und weiter die Treppe hinab. Dann klang
unten im Flur das Schloß der Hoftür, kalte Luft blies sie an, der
Nachtwind hob die schweren Flechten auf ihrer Brust.--Wie sie durch den
finstern Wald gekommen, der hinter ihr lag, das wußte sie nicht; aber
jetzt hörte sie es überall aus dem Dickicht hervorbrechen; die Verfolger
waren hinter ihr. Vor ihr erhob sich ein großes Tor; mit aller Macht
ihrer kleinen Hände stieß sie den einen Flügel auf; eine öde, unabsehbare
Heide dehnte sich vor ihr aus, und plötzlich wimmelte es von großen
schwarzen Hunden, die in emsigem Laufe gegen sie daherrannten; sie sah die
roten Zungen aus ihren dampfenden Rachen hängen, sie hörte ihr Gebell
immer näher--tönender-Da öffneten sich ihre halbgeschlossenen Augen, und
allmählich begann sie es zu fassen. Sie erkannte, daß sie eben innerhalb
des großen Gartens stehe; ihre eine Hand hielt noch die Klinke der
eisernen Gittertür. Der Wind spielte mit ihrem leichten Nachtgewande; von
den Linden, welche zur Seite des Einganges standen, wirbelte ein Schauer
von gelben Blättern auf sie herab.--Doch--was war das?--Drüben aus den
Tannen, ganz wie sie es vorhin zu hören glaubte, erscholl auch jetzt das
Bellen eines Hundes, sie hörte deutlich etwas durch die dürren Zweige
brechen. Eine Todesangst überfiel sie.--Und wieder erscholl das Gebell.
"Nero", sagte sie; "es ist Nero."

Aber sie hatte sich mit dem schwarzen Hüter des Hauses nie befreundet, und
unwillkürlich lief ihr das wirkliche Tier mit den grimmigen Hunden des
Traumes in eins zusammen; und jetzt sah sie ihn von jenseits des Rasens in
großen Sprüngen auf sich zukommen. Doch er legte sich vor ihr nieder, und
jenes unverkennbare Winseln der Freude ausstoßend, leckte er ihre nackten
Füße. Zugleich kamen Schritte vom Hofe her, und einen Augenblick darauf
umfingen sie die Arme ihres Mannes; gesichert legte sie den Kopf an seine
Brust.

Vom Gebell des Hundes aufgewacht, hatte er mit jähem Schreck ihr Lager an
seiner Seite leer gesehen. Ein dunkles Wasser glitzerte plötzlich vor
seinem inneren Auge; es lag nur tausend Schritte hinter ihrem Garten an
einem Feldweg unter dichten Erlenbüschen. Wie vor einigen Tagen sah er
sich mit Ines an dem grünen Uferrande stehen; er sah sie bis in das Schilf
hinabgehen und einen Stein, den sie vorhin am Wege aufgesammelt, in die
Tiefe werfen. "Komm zurück, Ines!" hatte er gerufen, "es ist nicht sicher
dort." Aber sie war noch immer stehengeblieben, mit den schwermütigen
Augen in die Kreise starrend, welche langsam auf dem schwarzen
Wasserspiegel ausliefen. "Das ist wohl unergründlich?" hatte sie gefragt,
da er sie endlich in seinen Armen forgerissen.

Das alles war in wilder Flucht durch seinen Kopf gegangen, als er die
Treppe nach dem Hofe hinabgestürmt.--Auch damals waren sie durch den
Garten von ihrem Hause fortgegangen, und jetzt traf er sie hier, fast
unbekleidet, das schöne Haar vom Nachttau feucht, der noch immer von den
Bäumen tropfte.

Er hüllte sie in den Plaid, welchen er sich selbst vorm Hinuntergehen
übergeworfen hatte. "Ines", sagte er--das Herz schlug ihm so gewaltig,
daß er das Wort fast rauh hervorstieß--, "was ist das? Wie bist du hieher
gekommen?"

Sie schauerte in sich zusammen.

"Ich weiß nicht, Rudolf--ich wollte fort--mir träumte; oh Rudolf, es muß
etwas Furchtbares gewesen sein!"

"Dir träumte? Wirklich, dir träumte!" wiederholte er und atmete auf, wie
von einer schweren Last befreit.

Sie nickte nur und ließ sich wie ein Kind ins Haus und in das Schlafgemach
zurückführen.

Als er sie hier sanft aus seinen Armen ließ, sagte sie: "Du bist so stumm,
du zürnst gewiß?"

"Wie sollt ich zürnen, Ines! Ich hatte Angst um dich. Hast du schon
früher so geträumt?"

Sie schüttelte erst den Kopf, bald aber besann sie sich. "Doch--einmal;
nur war nichts Schreckliches dabei."

Er trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück, so daß das Mondlicht voll
ins Zimmer strömte.

"Ich muß dein Antlitz sehen", sagte er, indem er sie auf die Kante ihres
Bettes niederzog und sich dann selbst an ihre Seite setzte. "Willst du
mir nun erzählen, was dir damals Liebliches geträumt hat? Du brauchst
nicht laut zu sprechen; in diesem zarten Lichte trifft auch der leiseste
Ton das Ohr."

Sie hatte den Kopf an seine Brust gelegt und sah zu ihm empor.

"Wenn du es wissen willst", sagte sie nachsinnend. "Es war, glaub ich, an
meinem dreizehnten Geburtstag; ich hatte mich ganz in das Kind, in den
kleinen Christus, verliebt, ich mochte meine Puppen nicht mehr ansehen."

"In den kleinen Christus, Ines?"

"Ja, Rudolf", und sie legte sich wie zur Ruhe noch fester in seinen Arm;
"meine Mutter hatte mir ein Bild geschenkt, eine Madonna mit dem Kinde; es
hing hübsch eingerahmt über meinem Arbeitstischchen in der Wohnstube."

"Ich kenne es", sagte er, "es hängt ja noch dort; deine Mutter wollte es
behalten zur Erinnerung an die kleine Ines."-"O meine liebe Mutter!"

Er zog sie fester an sich; dann sagte er: "Darf ich weiter hören, Ines?"

--"Doch! Aber ich schäme mich, Rudolf." Und dann leise und zögernd
fortfahrend: "Ich hatte an jenem Tage nur Augen für das Christkind; auch
nachmittags, als meine Gespielinnen da waren; ich schlich mich heimlich
hin und küßte das Glas vor seinem kleinen Munde--es war mir ganz, als
wenn's lebendig wäre--hätte ich es nur auch wie die Mutter auf dem Bild in
meine Arme nehmen können!"--Sie schwieg; ihre Stimme war bei den letzten
Worten zu einem flüsternden Hauch herabgesunken.

"Und dann, Ines?" fragte er. "Aber du erzählst mir so beklommen!"

--"Nein, nein, Rudolf! Aber--in der Nacht, die darauf folgte, muß ich
auch im Traume aufgestanden sein; denn am andern Morgen fanden sie mich in
meinem Bette, das Bild in beiden Armen, mit meinem Kopf auf dem
zerdrückten Glase eingeschlafen."

Eine Weile war es totenstill im Zimmer.--"Und jetzt?" fragte er
ahnungsvoll und sah ihr tief und herzlich in die Augen. "Was hat dich
heute denn von meiner Seite in die Nacht hinausgetrieben?"

"Jetzt, Rudolf?"--Er fühlte, wie ein Zittern über alle ihre Glieder lief.
Plötzlich schlang sie die Arme um seinen Hals, und mit erstickter Stimme
flüsterte sie angstvolle und verworrene Worte, deren Sinn er nicht
verstehen konnte.

"Ines, Ines!" sagte er und nahm ihr schönes kummervolles Antlitz in seine
beiden Hände.

--"O Rudolf! Laß mich sterben; aber verstoße nicht unser Kind!"

Er war vor ihr aufs Knie gesunken und küßte ihr die Hände. Nur die
Botschaft hatte er gehört und nicht die dunkeln Worte, in denen sie ihm
verkündigt wurde; von seiner Seele flogen alle Schatten fort, und
hoffnungsreich zu ihr emporschauend, sprach er leise:

"Nun muß sich alles, alles wenden!"


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Die Zeit ging weiter, aber die dunkeln Gewalten waren noch nicht besiegt.
Nur mit Widerstreben fügte Ines die noch aus Nesis Wiegenzeit vorhandenen
Dinge der kleinen Ausrüstung ein, und manche Träne fiel in die kleinen
Mützen und Jäckchen, an welchen sie jetzt stumm und eifrig nähte.--Auch
Nesi war es nicht entgangen, daß etwas Ungewöhnliches sich vorbereite. Im
Oberhause, nach dem großen Garten hinaus, stand plötzlich eine Stube fest
verschlossen, in der sonst ihre Spielsachen aufbewahrt gewesen waren; sie
hatte durchs Schlüsselloch hineingeguckt; eine Dämmerung, eine feierliche
Stille schien darin zu walten. Und als sie ihre Puppenküche, die man auf
den Korridor hinausgesetzt hatte, mit Hülfe der alten Anne auf den Haus-
boden trug, suchte sie dort vergebens nach der Wiege mit dem grünen
Taffetschirme, welche, solange sie denken konnte, hier unter dem schrägen
Dachfenster gestanden hatte. Neugierig spähte sie in alle Winkel.

"Was gehst du herum wie ein Kontrolleur?" sagte die Alte.

--"Ja, Anne, wo ist aber meine Wiege geblieben?"

Die Alte blickte sie mit schlauem Lächeln an. "Was meinst", sagte sie,
"wenn dir der Storch noch so ein Brüderchen brächte?"

Nesi sah betroffen auf; aber sie fühlte sich durch diese Anrede in ihrer
elfjährigen Würde gekränkt. "Der Storch?" sagte sie verächtlich.

"Nun freilich, Nesi."

--"Du mußt nicht so was zu mir sprechen, Anne. Das glauben die kleinen
Kinder; aber ich weiß wohl, daß es dummes Zeug ist."

"So?--Wenn du es besser weißt, Mamsell Naseweis, woher kommen denn die
Kinderchen, wenn nicht der Storch sie bringt, der es doch schon die
Tausende von Jahren her besorgt hat?"

--"Sie kommen vom lieben Gott", sagte Nesi pathetisch. "Sie sind auf
einmal da."

"Bewahr uns in Gnaden!" rief die Alte. "Was doch die Guckindiewelte
heutzutage klug sind! Aber du hast recht, Nesi; wenn du's gewiß weißt,
daß der liebe Gott den Storch vom Amte gesetzt hat--ich glaub's selber, er
wird es schon allein besorgen können.--Nun aber--wenn's denn so auf einmal
da wär, das Brüderchen--oder wolltest du lieber ein Schwesterlein?--,
würd's dich freuen, Neschen?"

Nesi stand vor der Alten, die sich auf einen Reisekoffer niedergelassen
hatte; ein Lächeln verklärte ihr ernstes Gesichtchen, dann aber schien sie
nachzusinnen.

"Nun, Neschen", forschte wieder die Alte. "Würd's dich freuen, Neschen?"

"Ja, Anne", sagte sie endlich, "ich möchte wohl eine kleine Schwester
haben, und Vater würde sich gewiß auch freuen; aber--"

"Nun, Neschen, was hast du noch zu abern?"

"Aber", wiederholte Nesi und hielt dann wieder einen Augenblick wie
grübelnd inne,--"das Kind würde ja dann doch keine Mutter haben!"

"Was?" rief die Alte ganz erschrocken und strebte mühsam von ihrem Koffer
auf, "das Kind keine Mutter! Du bist mir zu gelehrt, Nesi; komm, laß uns
hinabgehen!--Hörst du? Da schlägt's zwei! Nun mach, daß du in die Schule
kommst!"

Schon brausten die ersten Frühlingsstürme um das Haus; die Stunde nahte.
--"Wenn ich's nicht überlebte", dachte Ines, "ob er auch meiner dann
gedenken würde?"

Mit scheuen Augen ging sie an der Tür des Zimmers vorüber, welches
schweigend sie und ihr künftiges Geschick erwartete; leise trat sie auf,
als sei darinnen etwas, was sie zu wecken fürchte.

Und endlich war dem Hause ein Kind, ein zweites Töchterchen, geboren. Von
außen pochten die lichtgrünen Zweige an die Fenster; aber drinnen in dem
Zimmer lag die junge Mutter bleich und entstellt; das warme Sonnenbraun
der Wangen war verschwunden; aber in ihren Augen brannte ein Feuer, das
den Leib verzehrte. Rudolf saß an dem Bett und hielt ihre schmale Hand in
der seinen.

Jetzt wandte sie mühsam den Kopf nach der Wiege, die unter der Hut der
alten Anne an der andern Seite des Zimmers stand. "Rudolf", sagte sie
matt, "ich habe noch eine Bitte!"

--"Noch eine, Ines? Ich werde noch viel von dir zu bitten haben."

Sie sah ihn traurig an; nur eine Sekunde lang; dann flog ihr Auge hastig
wieder nach der Wiege. "Du weißt", sagte sie, immer schwerer atmend, "es
gibt kein Bild von mir! Du wolltest immer, es solle nur von einem guten
Meister gemalt werden--wir können nicht mehr warten auf die Meisterhand.
--Du könntest einen Photographen kommen lassen, Rudolf; es ist ein wenig
umständlich; aber--mein Kind, es wird mich nicht mehr kennenlernen; es muß
doch wissen, wie die Mutter ausgesehen."

"Warte noch ein wenig!" sagte er und suchte einen mutigen Ton in seine
Stimme zu legen. "Es würde dich jetzt zu sehr erregen; warte, bis deine
Wangen wieder voller werden!"

Sie strich mit beiden Händen über ihr schwarzes Haar, das lang und
glänzend auf dem Deckbette lag, indem sie einen fast wilden Blick im
Zimmer umherwarf.

"Einen Spiegel!" sagte sie, indem sie sich völlig in den Kissen
aufrichtete. "Bringt mir einen Spiegel!"

Er wollte wehren; aber schon hatte die Alte einen Handspiegel herbeigeholt
und auf das Bett gelegt. Die Kranke ergriff ihn hastig; aber als sie
hineinblickte, malte sich ein heftiges Erschrecken in ihren Zügen; sie
nahm ein Tuch und wischte an dem Glase; doch es wurde nicht anders; nur
immer fremder starrte das kranke Leidensantlitz ihr entgegen.

"Wer ist das?" schrie sie plötzlich. "Das bin ich nicht!--Oh, mein Gott!
Kein Bild, kein Schatten für mein Kind!"

Sie ließ den Spiegel fallen und schlug die mageren Hände vors Gesicht.

Da drang ein Weinen an ihr Ohr. Es war nicht ihr Kind, das ahnungslos in
seiner Wiege lag und schlief; Nesi hatte sich unbemerkt hereingeschlichen;
sie stand mitten im Zimmer und sah mit düsteren Augen auf die Stiefmutter,
während sie schluchzend in ihre Lippe biß.

Ines hatte sie bemerkt. "Du weinst, Nesi?" fragte sie.

Aber das Kind antwortete nicht.

"Warum weinst du, Nesi?" wiederholte sie heftig.

Die Züge des Kindes wurden noch finsterer. "Um meine Mutter!" brach es
fast trotzig aus dem kleinen Munde.

Die Kranke stutzte einen Augenblick; dann aber streckte sie die Arme aus
dem Bett, und als das Kind, wie unwillkürlich, sich genähert hatte, riß
sie es heftig an ihre Brust. "O Nesi, vergiß deine Mutter nicht!"

Da schlangen zwei kleine Arme sich um ihren Hals, und nur ihr verständlich,
hauchte es: "Meine liebe, süße Mama!"

--"Bin ich deine liebe Mama, Nesi?"

Nesi antwortete nicht; sie nickte nur heftig in die Kissen.

"Dann, Nesi", und in traulich seligem Flüstern sprach es die Kranke,
"vergiß auch mich nicht! Oh, ich will nicht gern vergessen werden!"
--Rudolf hatte regungslos diesen Vorgängen zugesehen, die er nicht zu
stören wagte; halb in tödlicher Angst, halb in stillem Jubel; aber die
Angst behielt die Oberhand. Ines war in ihre Kissen zurückgesunken; sie
sprach nicht mehr; sie schlief--plötzlich.

Nesi, die sich leise von dem Bett entfernt hatte, kniete vor der Wiege
ihres Schwesterchens; voll Bewunderung betrachtete sie das winzige
Händchen, das sich aus den Kissen aufreckte, und wenn das rote Gesichtlein
sich verzog und der kleine unbeholfene Menschenlaut hervorbrach, dann
leuchteten ihre Augen vor Entzücken. Rudolf, der still herangetreten war,
legte liebkosend die Hand auf ihren Kopf; sie wandte sich um und küßte die
andere Hand des Vaters; dann schaute sie wieder auf ihr Schwesterchen.-Die
Stunden rückten weiter. Draußen leuchtete der Mittagsschein, und die
Vorhänge an den Fenstern wurden fester zugezogen. Längst schon saß er
wieder an dem Bette der geliebten Frau, in dumpfer Erwartung; Gedanken und
Bilder kamen und gingen; er schaute sie nicht an, er ließ sie kommen und
gehen. Schon einmal früher war es so wie jetzt gewesen; ein unheimliches
Gefühl befiel ihn; ihm war, als lebe er zum zweiten Mal. Er sah wieder
den schwarzen Totenbaum aufsteigen und mit den düsteren Zweigen sein
ganzes Haus bedecken. Angstvoll sah er nach der Kranken; aber sie
schlummerte sanft; in ruhigen Atemzügen hob sich ihre Brust. Unter dem
Fenster, in den blühenden Syringen sang ein kleiner Vogel immerzu; er
hörte ihn nicht; er war bemüht, die trügerischen Hoffnungen
fortzuscheuchen, die ihn jetzt umspannen wollten.

Am Nachmittage kam der Arzt; er neigte sich über die Schlafende und nahm
ihre Hand, die ein warmer feuchter Hauch bedeckte. Rudolf blickte
gespannt in das Antlitz seines Freundes, dessen Züge den Ausdruck der
Überraschung annahmen.

"Schone mich nicht!" sagte er. "Laß mich alles wissen!"

Aber der Doktor drückte ihm die Hand.

--"Gerettet!"--Das einzige Wort hatte er behalten. Er hörte auf einmal
den Gesang des Vogels; das ganze Leben kam zurückgeflutet. "Gerettet!
"--Und er hatte auch sie schon verloren gegeben in die große Nacht; er
hatte geglaubt, die heftige Erschütterung des Morgens müsse sie verderben;
doch:

Es ward ihr zum Heil,
Es riß sie nach oben!

In diese Worte des Dichters faßte er all sein Glück zusammen; wie Musik
klangen sie fort und fort in seinen Ohren.--Immer noch schlief die Kranke;
immer noch saß er wartend an ihrem Bette. Nur die Nachtlampe dämmerte
jetzt in dem stillen Zimmer; draußen aus dem Garten kam statt des
Vogelsangs nun das Rauschen des Nachtwindes; manchmal wie Harfenton wehte
es auf und zog vorüber; die jungen Zweige pochten leise an die Fenster.

"Ines!" flüsterte er, "Ines!" Er konnte es nicht lassen, ihren Namen
auszusprechen.

Da schlug sie die Augen auf und ließ sie fest und lange auf ihm ruhen, als
müsse aus der Tiefe des Schlafes ihre Seele erst zu ihm hinauf gelangen.

"Du, Rudolf?" sagte sie endlich. "Und ich bin noch einmal wieder
aufgewacht!"

Er blickte sie an und konnte sich nicht ersättigen an ihrem Anblick.
"Ines", sagte er--fast demütig klang seine Stimme--, "ich sitze hier, und
stundenlang schon trage ich das Glück wie eine schwere Last auf meinem
Haupte; hilf es mir tragen, Ines!"

"Rudolf--!" Sie hatte sich mit einer kräftigen Bewegung aufgerichtet.

--"Du wirst leben, Ines!"

"Wer hat das gesagt?"

--"Dein Arzt, mein Freund; ich weiß, er hat sich nicht getäuscht."

"Leben! O mein Gott! Leben!--Für mein Kind, für dich!"--Es war, als käme
ihr plötzlich eine Erinnerung; sie schlang die Hände um den Hals ihres
Mannes und drückte sein Ohr an ihren Mund. "Und für deine--für euere,
unsre Nesi!" flüsterte sie. Dann ließ sie seinen Nacken los, und seine
beiden Hände ergreifend, sprach sie zu ihm sanft und liebevoll. "Mir ist
so leicht!" sagte sie. "Ich weiß gar nicht mehr, warum alles sonst so
schwer gewesen ist!" Und ihm zunickend: "Du sollst nur sehen, Rudolf; nun
kommt die gute Zeit! Aber--" und sie hob den Kopf und brachte ihre Augen
ganz dicht an die seinen--"ich muß teilhaben an deiner Vergangenheit, dein
ganzes Glück mußt du mir erzählen! Und, Rudolf, ihr süßes Bild soll in
dem Zimmer hängen, das uns gemeinschaftlich gehört; sie muß dabeisein,
wenn du mir erzählst!"

Er sah sie an wie ein Seliger.

"Ja, Ines; sie soll dabeisein!"

"Und Nesi! Ich erzähl ihr wieder von ihrer Mutter, was ich von dir gehört
habe;--was für ihr Alter paßt, Rudolf, nur das--"

Er konnte nur stumm noch nicken.

"Wo ist Nesi?" fragte sie dann, "ich will ihr noch einen Gutenachtkuß
geben!"

"Sie schläft, Ines", sagte er und strich sanft mit der Hand über ihre
Stirn. "Es ist ja Mitternacht!"

"Mitternacht! So mußt auch du nun schlafen! Ich aber--lache mich nicht
aus, Rudolf--, mich hungert; ich muß essen! Und dann, nachher, die Wiege
vor mein Bett; ganz nahe, Rudolf! Dann schlaf auch ich wieder; ich fühl's;
gewiß, du kannst ganz ruhig fortgehen."

Er blieb noch.

"Ich muß erst eine Freude haben!" sagte er.

"Eine Freude?"

"Ja, Ines, eine ganz neue; ich will dich essen sehen!"

--"O du!"

--Und als ihm auch das geworden, trug er mit der Wärterin die Wiege vor
das Bett.

"Und nun gute Nacht! Mir ist, als sollte ich noch einmal in unseren
Hochzeitstag hineinschlafen."

Sie aber wies glücklich lächelnd auf ihr Kind.

--Und bald war alles still. Aber nicht der schwarze Totenbaum streckte
seine Zweige über das Dach des Hauses; aus fernen goldnen Ährenfeldern
nickte sanft der rote Mohn des Schlummers. Noch eine reiche Ernte stand
bevor.


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Und es war wieder Rosenzeit.--Auf dem breiten Steige des großen Gartens
hielt ein lustiges Gefährt. Nero war augenscheinlich avanciert; denn
nicht vor einem Puppen-, sondern vor einem wirklichen Kinderwagen stand
er angeschirrt und hielt geduldig still, als Nesi an seinem mächtigen
Kopfe jetzt die letzte Schnalle zuzog. Die alte Anne beugte sich zu dem
Schirm des Wägelchens und zupfte an den Kissen, in denen das noch namen-
lose Töchterchen des Hauses mit großen offenen Augen lag; aber schon rief
Nesi: "Hü, hott, alter Nero!", und in würdevollem Schritt setzte die
kleine Karawane sich zu ihrer täglichen Spazierfahrt in Bewegung.

Rudolf und mit ihm Ines, die schöner als je an seinem Arme hing, hatten
lächelnd zugeschaut; nun gingen sie ihren eigenen Weg; seitwärts schlugen
sie sich durch die Büsche entlang der Gartenmauer, und bald standen sie
vor der noch immer verschlossenen Pforte. Das Gesträuch hing nicht wie
sonst herab; ein Gestelle war untergebaut, so daß man wie durch einen
schattigen Laubengang hinangelangte. Einen Augenblick horchten sie auf
den vielstimmigen Gesang der Vögel, die drüben in der noch ungestörten
Einsamkeit ihr Wesen trieben. Dann aber, von Ines' kleinen kräftigen
Händen bezwungen, drehte sich der Schlüssel, und kreischend sprang der
Riegel zurück. Drinnen hörten sie die Vögel aufrauschen, und dann war
alles still. Um eine Handbreit stand die Pforte offen; aber sie war an
der Binnenseite von blühendem Geranke überstrickt; Ines wandte alle ihre
Kräfte auf, es knisterte und knickte auch dahinter; aber die Pforte blieb
gefangen.

"Du mußt!" sagte sie endlich, indem sie lächelnd und erschöpft zu ihrem
Mann emporblickte.

Die Männerhand erzwang den vollen Eingang; dann legte Rudolf das
zerrissene Gesträuch sorgsam nach beiden Seiten zurück.

Vor ihnen schimmerte jetzt in hellem Sonnenlicht der Kiesweg; aber leise,
als sei es noch in jener Mondnacht, gingen sie zwischen den tiefgrünen
Koniferen auf ihm hin, vorbei an den Zentifolien, die mit Hunderten von
Rosen aus dem wuchernden Kraut hervorleuchteten, und am Ende des Steiges
unter das verfallene Rohrdach, vor welchem jetzt die Klematis den ganzen
Gartenstuhl besponnen hatte. Drinnen hatte, wie im vorigen Sommer, die
Schwalbe ihr Nest gebaut; furchtlos flog sie über ihnen aus und ein.

Was sie zusammen sprachen?--Auch für Ines war jetzt heiliger Boden hier.
--Mitunter schwiegen sie und hörten nur auf das Summen der Insekten, die
draußen in den Düften spielten. Vor Jahren hatte Rudolf es schon ebenso
gehört; immer war es so gewesen. Die Menschen starben; ob denn diese
kleinen Musikanten ewig waren?

"Rudolf, ich habe etwas entdeckt!" begann jetzt Ines wieder. "Nimm einmal
den ersten Buchstaben meines Namens und setz ihn an das Ende! Wie heißt
er dann?"

"Nesi!" sagte er lächelnd. "Das trifft sich wunderbar."

"Siehst du!" fuhr sie fort, "so hat die Nesi eigentlich meinen Namen.
Ist's nicht billig, daß nun mein Kind den Namen ihrer Mutter
erhält?--Marie!--Es klingt so gut und mild; du weißt, es ist nicht
einerlei, mit welchem Namen die Kinder sich gerufen hören!"

Er schwieg einen Augenblick.

"Laß uns mit diesen Dingen nicht spielen!" sagte er dann und sah ihr innig
in die Augen. "Nein, Ines; auch mit dem Antlitz meines lieben kleinen
Kindes soll mir ihr Bild nicht übermalt werden. Nicht Marie, auch nicht
Ines--wie es deine Mutter wünschte--darf das Kind mir heißen! Auch Ines
ist für mich nur einmal und niemals wieder auf der Welt."--Und nach einer
Weile fügte er hinzu: "Wirst du nun sagen, daß du einen eigensinnigen Mann
hast?"

"Nein, Rudolf; nur, daß du Nesis rechter Vater bist!"

"Und du, Ines?"

"Hab nur Geduld;--ich werde schon dein rechtes Weib! Aber--"

"Ist doch noch ein Aber da?"

"Kein böses, Rudolf!--Aber--wenn einst die Zeit dahin ist--denn einmal
kommt ja doch das Ende--wenn wir alle dort sind, woran du keinen Glauben
hast, aber vielleicht doch eine Hoffnung--, wohin sie uns vorangegangen
ist, dann"--und sie hob sich zu ihm empor und schlang beide Hände um
seinen Nacken--"Schüttle mich nicht ab, Rudolf! Versuch es nicht; ich
lasse doch nicht von dir!"

Er schloß sie fest in seine Arme und sagte: "Laß uns das Nächste tun; das
ist das Beste, was ein Mensch sich selbst und andern lehren kann."

"Und da wäre?" fragte sie.

"Leben, Ines; so schön und lange, wie wir es vermögen!"

Da hörten sie Kinderstimmen von der Pforte her; kleine, zum Herzen
dringende Laute, die noch keine Worte waren, und ein helles "Hü!" und
"Hott!" von Nesis kräftiger Stimme. Und unter dem Vorspann des getreuen
Nero, behütet von der alten Dienerin, hielt die fröhliche Zukunft des
Hauses ihren Einzug in den Garten der Vergangenheit.



Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Viola Tricolor, von Theodor Storm.





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