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Title: Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 3
Author: Goethe, Johann Wolfgang von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 3" ***


globaltraveler5565@yahoo.com.



Wilhelm Meisters Wanderjahre--Buch 3
oder die Entsagenden



Drittes Buch



Erstes Kapitel

Nach allem diesem, und was daraus erfolgen mochte, war nun Wilhelms
erstes Anliegen, sich den Verbündeten wieder zu nähern und mit
irgendeiner Abteilung derselben irgendwo zusammenzutreffen.  Er zog
daher sein Täfelchen zu Rat und begab sich auf den Weg, der ihn vor
andern ans Ziel zu führen versprach.  Weil er aber, den günstigsten
Punkt zu erreichen, quer durchs Land gehen mußte, so sah er sich
genötigt, die Reise zu Fuße zu machen und das Gepäck hinter sich her
tragen zu lassen.  Für seinen Gang aber ward er auf jedem Schritte
reichlich belohnt, indem er unerwartet ganz allerliebste Gegenden
antraf; es waren solche, wie sie das letzte Gebirg gegen die Fläche
zu bildet, bebuschte Hügel, die sanften Abhänge haushälterisch
benutzt, alle Flächen grün, nirgends etwas Steiles, Unfruchtbares und
Ungepflügtes zu sehen.  Nun gelangte er zum Haupttale, worein die
Seitenwasser sich ergossen; auch dieses war sorgfältig bebaut, anmutig
übersehbar, schlanke Bäume bezeichneten die Krümmung des
durchziehenden Flusses und einströmender Bäche, und als er die Karte,
seinen Wegweiser, vornahm, sah er zu seiner Verwunderung, daß die
gezogene Linie dieses Tal gerade durchschnitt und er sich also vorerst
wenigstens auf rechtem Weg befinde.

Ein altes, wohlerhaltenes, zu verschiedenen Zeiten erneuertes Schloß
zeigte sich auf einem bebuschten Hügel; am Fuße desselben zog ein
heiterer Flecken sich hin mit vorstehendem, in die Augen fallendem
Wirtshaus; auf letzteres ging er zu und ward zwar freundlich von dem
Wirt empfangen, jedoch mit Entschuldigung, daß man ihn ohne Erlaubnis
einer Gesellschaft nicht aufnehmen könne, die den ganzen Gasthof auf
einige Zeit gemietet habe; deswegen er alle Gäste in die ältere,
weiter hinauf liegende Herberge verweisen müsse.  Nach einer kurzen
Unterredung schien der Mann sich zu bedenken und sagte: "Zwar findet
sich jetzt niemand im Hause, doch es ist eben Sonnabend, und der Vogt
kann nicht lange ausbleiben, der wöchentlich alle Rechnungen
berichtigt und seine Bestellungen für das Nächste macht.  Wahrlich, es
ist eine schickliche Ordnung unter diesen Männern und eine Lust, mit
ihnen zu verkehren, ob sie gleich genau sind, denn man hat zwar
keinen großen, aber einen sichern Gewinn."  Er hieß darauf den neuen
Gast in dem obern großen Vorsaal sich gedulden und, was ferner sich
ereignen möchte, abwarten.

Hier fand nun der Herantretende einen weiten, saubern Raum, außer
Bänken und Tischen völlig leer; desto mehr verwunderte er sich, eine
große Tafel über einer Tür angebracht zu sehen, worauf die Worte in
goldnen Buchstaben zu lesen waren: "Ubi homines sunt modi sunt";
welches wir deutsch erklären, daß da, wo Menschen in Gesellschaft
zusammentreten, sogleich die Art und Weise, wie sie zusammen sein und
bleiben mögen, sich ausbilde.  Dieser Spruch gab unserm Wanderer zu
denken, er nahm ihn als gute Vorbedeutung, indem er das hier
bekräftigt fand, was er mehrmals in seinem Leben als vernünftig und
fördersam erkannt hatte.  Es dauerte nicht lange, so erschien der Vogt,
welcher, von dem Wirte vorbereitet, nach einer kurzen Unterredung
und keinem sonderlichen Ausforschen ihn unter folgenden Bedingungen
aufnahm: drei Tage zu bleiben, an allem, was vorgehen möchte, ruhig
teilzunehmen und, es geschehe, was wolle, nicht nach der Ursache zu
fragen, so wenig als beim Abschied nach der Zeche.  Das alles mußte
der Reisende sich gefallen lassen, weil der Beauftragte in keinem
Punkte nachgeben konnte.

Eben wollte der Vogt sich entfernen, als ein Gesang die Treppe
herauf scholl; zwei hübsche junge Männer kamen singend heran, denen
jener durch ein einfaches Zeichen zu verstehen gab, der Gast sei
aufgenommen.  Ihren Gesang nicht unterbrechend, begrüßten sie ihn
freundlich, duettierten gar anmutig, und man konnte sehr leicht
bemerken, daß sie völlig eingeübt und ihrer Kunst Meister seien.  Als
Wilhelm die aufmerksamste Teilnahme bewies, schlossen sie und fragten:
ob ihm nicht auch manchmal ein Lied bei seinen Fußwanderungen
einfalle und das er so vor sich hin singe?  "Mir ist zwar von der
Natur", versetzte Wilhelm, "eine glückliche Stimme versagt, aber
innerlich scheint mir oft ein geheimer Genius etwas Rhythmisches
vorzuflüstern, so daß ich mich beim Wandern jedesmal im Takt bewege
und zugleich leise Töne zu vernehmen glaube, wodurch denn irgendein
Lied begleitet wird, das sich mir auf eine oder die andere Weise
gefällig vergegenwärtigt."

"Erinnert Ihr Euch eines solchen, so schreibt es uns auf", sagten
jene; "wir wollen sehen, ob wir Euren singenden Dämon zu begleiten
wissen."  Er nahm hierauf ein Blatt aus seiner Schreibtafel und
übergab ihnen folgendes:



"Von dem Berge zu den Hügeln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Flügeln,
Da bewegt sich's wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folget Freude, folget Rat;
Und dein Streben, sei's in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat."



Nach kurzem Bedenken ertönte sogleich ein freudiger, dem
Wanderschritt angemessener Zweigesang, der, bei Wiederholung und
Verschränkung immer fortschreitend, den Hörenden mit hinriß; er war
im Zweifel, ob dies seine eigne Melodie, sein früheres Thema, oder ob
sie jetzt erst so angepaßt sei, daß keine andere Bewegung denkbar wäre.
Die Sänger hatten sich eine Zeitlang auf diese Weise vergnüglich
ergangen, als zwei tüchtige Burschen herantreten, die man an ihren
Attributen sogleich für Maurer anerkannte, zwei aber, die ihnen
folgten, für Zimmerleute halten mußte.  Diese viere, ihr
Handwerkszeug sachte niederlegend, horchten dem Gesang und fielen gar
bald sicher und entschieden in denselben mit ein, so daß eine
vollständige Wandergesellschaft über Berg und Tal dem Gefühl
dahinzuschreiten schien und Wilhelm glaubte, nie etwas so Anmutiges,
Herz und Sinn Erhebendes vernommen zu haben.  Dieser Genuß jedoch
sollte noch erhöht und bis zum Letzten gesteigert werden, als eine
riesenhafte Figur, die Treppe heraufsteigend, einen starken, festen
Schritt mit dem besten Willen kaum zu mäßigen imstande war.  Ein
schwer bepacktes Reff setzte er sogleich in die Ecke, sich aber auf
eine Bank nieder, die zu krachen anfing, worüber die andern lachten,
ohne jedoch aus ihrem Gesang zu fallen.  Sehr überrascht aber fand
sich Wilhelm, als mit einer ungeheuren Baßstimme dieses Enakskind
gleichfalls einzufallen begann.  Der Saal schütterte, und bedeutend
war es, daß er den Refrain an seinem Teile sogleich verändert und
zwar dergestalt sang:



"Du im Leben nichts verschiebe;
Sei dein Leben Tat um Tat!"



Ferner konnte man denn auch gar bald bemerken, daß er das Tempo zu
einem langsameren Schritt herniederziehe und die übrigen nötige, sich
ihm zu fügen.  Als man zuletzt geschlossen und sich genugsam
befriedigt hatte, warfen ihm die andern vor, als wenn er getrachtet
habe, sie irrezumachen.  "Keineswegs", rief er aus, "ihr seid es, die
ihr mich irrezumachen gedenkt; aus meinem Schritt wollt ihr mich
bringen, der gemäßigt und sicher sein muß, wenn ich mit meiner Bürde
bergauf, bergab schreite und doch zuletzt zur bestimmten Stunde
eintreffen und euch befriedigen soll."

Einer nach dem andern ging nunmehr zu dem Vogt hinein, und Wilhelm
konnte wohl bemerken, daß es auf eine Abrechnung angesehen sei,
wornach er sich nun nicht weiter erkundigen durfte.  In der
Zwischenzeit kamen ein Paar muntere, schöne Knaben, eine Tafel in der
Geschwindigkeit zu bereiten, mäßig mit Speise und Wein zu besetzen,
worauf der heraustretende Vogt sie nunmehr alle sich mit ihm
niederzulassen einlud.  Die Knaben warteten auf, vergaßen sich aber
auch nicht und nahmen stehend ihren Anteil dahin.  Wilhelm erinnerte
sich ähnlicher Szenen, da er noch unter den Schauspielern hauste,
doch schien ihm die gegenwärtige Gesellschaft viel ernster, nicht zum
Scherz auf Schein, sondern auf bedeutende Lebenszwecke gerichtet.

Das Gespräch der Handwerker mit dem Vogt belehrte den Gast hierüber
aufs klarste.  Die vier tüchtigen jungen Leute waren in der Nähe
tätig, wo ein gewaltsamer Brand die anmutigste Landstadt in Asche
gelegt hatte; nicht weniger hörte man, daß der wackere Vogt mit
Anschaffung des Holzes und sonstiger Baumaterialien beschäftigt sei,
welches dem Gast um so rätselhafter vorkam, als sämtliche Männer hier
nicht wie Einheimische, sondern wie Vorüberwandernde sich in allem
übrigen ankündigten.  Zum Schlusse der Tafel holte St.  Christoph, so
nannten sie den Riesen, ein beseitigtes gutes Glas Wein zum
Schlaftrunk, und ein heiterer Gesang hielt noch einige Zeit die
Gesellschaft für das Ohr zusammen, die dem Blick bereits
auseinandergegangen war; worauf denn Wilhelm in ein Zimmer geführt
wurde von der anmutigsten Lage.  Der Vollmond, eine reiche Flur
beleuchtend, war schon herauf und weckte ähnliche und gleiche
Erinnerungen in dem Busen unseres Wanderers.  Die Geister aller lieben
Freunde zogen bei ihm vorüber, besonders aber war ihm Lenardos Bild
so lebendig, daß er ihn unmittelbar vor sich zu sehen glaubte.  Dies
alles gab ihm ein inniges Behagen zur nächtlichen Ruhe, als er durch
den wunderlichsten Laut beinahe erschreckt worden wäre.  Es klang aus
der Ferne her, und doch schien es im Hause selbst zu sein, denn das
Haus zitterte manchmal, und die Balken dröhnten, wenn der Ton zu
seiner größten Kraft stieg.  Wilhelm, der sonst ein zartes Ohr hatte,
alle Töne zu unterscheiden, konnte doch sich für nichts bestimmen; er
verglich es dem Schnarren einer großen Orgelpfeife, die vor lauter
Umfang keinen entschiedenen Ton von sich gibt.  Ob dieses
Nachtschrecken gegen Morgen nachließ, oder ob Wilhelm, nach und nach
daran gewöhnt, nicht mehr dafür empfindlich war, ist schwer
auszumitteln; genug, er schlief ein und ward von der aufgehenden Sonne
anmutig erweckt.

Kaum hatte ihm einer der dienenden Knaben das Frühstück gebracht,
als eine Figur hereintrat, die er am Abendtische bemerkt hatte, ohne
über deren Eigenschaften klar zu werden.  Es war ein wohlgebauter,
breitschultriger, auch behender Mann, der sich durch ausgekramtes
Gerät als Barbier ankündigte und sich bereitete, Wilhelmen diesen so
erwünschten Dienst zu leisten. übrigens schwieg er still, und das
Geschäft war mit sehr leichter Hand vollbracht, ohne daß er
irgendeinen Laut von sich gegeben hätte.  Wilhelm begann daher und
sprach: "Eure Kunst versteht Ihr meisterlich, und ich wüßte nicht, daß
ich ein zarteres Messer jemals an meinen Wangen gefühlt hätte,
zugleich scheint Ihr aber die Gesetze der Gesellschaft genau zu
beobachten."

Schalkhaft lächelnd, den Finger auf den Mund legend, schlich der
Schweigsame zur Türe hinaus.  "Wahrlich!" rief ihm Wilhelm nach: "Ihr
seid jener Rotmantel, wo nicht selbst, doch wenigstens gewiß ein
Abkömmling; es ist Euer Glück, daß Ihr den Gegendienst von mir nicht
verlangen wollt, Ihr würdet Euch dabei schlecht befunden haben."

Kaum hatte dieser wunderliche Mann sich entfernt, als der bekannte
Vogt hereintrat, zur Tafel für diesen Mittag eine Einladung
ausrichtend, welche gleichfalls ziemlich seltsam klang: das Band, so
sagte der Einladende ausdrücklich, heiße den Fremden willkommen,
berufe denselben zum Mittagsmahle und freue sich der Hoffnung, mit
ihm in ein näheres Verhältnis zu treten.  Man erkundigte sich ferner
nach dem Befinden des Gastes, und wie er mit der Bewirtung zufrieden
sei; der denn von allem, was ihm begegnet war, nur mit Lob sprechen
konnte.  Freilich hätte er sich gern bei diesem Manne, wie vorher bei
dem schweigsamen Barbier, nach dem entsetzlichen Ton erkundigt, der
ihn diese Nacht, wo nicht geängstigt, doch beunruhigt hatte; seines
Angelöbnisses jedoch eingedenk, enthielt er sich jeder Frage und
hoffte, ohne zudringlich zu sein, aus Neigung der Gesellschaft oder
zufällig nach seinen Wünschen belehrt zu werden.

Als der Freund sich allein befand, dachte er über die wunderliche
Person erst nach, die ihn hatte einladen lassen, und wußte nicht
recht, was er daraus machen sollte.  Einen oder mehrere Vorgesetzte
durch ein Neutrum anzukündigen, kam ihm allzu bedenklich vor. übrigens
war es so still um ihn her, daß er nie einen stilleren Sonntag erlebt
zu haben glaubte; er verließ das Haus, vernahm aber ein
Glockengeläute und ging nach dem Städtchen zu.  Die Messe war eben
geendigt, und unter den sich herausdrängenden Einwohnern und
Landleuten erblickte er drei Bekannte von gestern, einen
Zimmergesellen, einen Maurer und einen Knaben.  Später bemerkte er
unter den protestantischen Gottesverehrern gerade die drei andern.
Wie die übrigen ihrer Andacht pflegen mochten, ward nicht bekannt, so
viel aber getraute er sich zu schließen, daß in dieser Gesellschaft
eine entschiedene Religionsfreiheit obwalte.

Zu Mittag kam demselben am Schloßtore der Vogt entgegen, ihn durch
mancherlei Hallen in einen großen Vorsaal zu führen, wo er ihn
niedersetzen hieß.  Viele Personen gingen vorbei, in einen
anstoßenden Saalraum hinein.  Die schon bekannten waren darunter zu
sehen, selbst St.  Christoph schritt vorüber; alle grüßten den Vogt
und den Ankömmling.  Was dem Freund dabei am meisten auffiel, war,
daß er nur Handwerker zu sehen glaubte, alle nach gewohnter Weise,
aber höchst reinlich gekleidet; wenige, die er allenfalls für
Kanzleiverwandte gehalten hätte.

Als nun keine neuen Gäste weiter zudrangen, führte der Vogt unsern
Freund durch die stattliche Pforte in einen weitläufigen Saal; dort
war eine unübersehbare Tafel gedeckt, an deren unterem Ende er
vorbeigeführt wurde, nach oben zu, wo er drei Personen quer vorstehen
sah.  Aber von welchem Erstaunen ward er ergriffen, als er in die Nähe
trat und Lenardo, kaum noch erkannt, ihm um den Hals fiel.  Von
dieser überraschung hatte man sich noch nicht erholt, als ein Zweiter
Wilhelmen gleichfalls feurig und lebhaft umarmte und sich als den
wunderlichen Friedrich, Nataliens Bruder, zu erkennen gab.  Das
Entzücken der Freunde verbreitete sich über alle Gegenwärtigen; ein
Freud--und Segensruf erscholl die ganze Tafel her.  Auf einmal aber,
als man sich gesetzt, ward alles still und das Gastmahl mit einer
gewissen Feierlichkeit aufgetragen und eingenommen.

Gegen Ende der Tafel gab Lenardo ein Zeichen, zwei Sänger standen
auf, und Wilhelm verwunderte sich sehr, sein gestriges Lied
wiederholt zu hören, das wir, der nächsten Folge wegen, hier wieder
einzurücken für nötig finden.



"Von dem Berge zu den Hügeln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Flügeln,
Da bewegt sich's wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folget Freude, folget Rat;
Und dein Streben, sei's in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat."



Kaum hatte dieser Zwiegesang, von einem gefällig mäßigen Chor
begleitet, sich zum Ende geneigt, als gegenüber sich zwei andere
Sänger ungestüm erhuben, welche mit ernster Heftigkeit das Lied mehr
umkehrten als fortsetzten, zur Verwunderung des Ankömmlings aber sich
also vernehmen ließen:



"Denn die Bande sind zerrissen,
Das Vertrauen ist verletzt;
Kann ich sagen, kann ich wissen,
Welchem Zufall ausgesetzt
Ich nun scheiden, ich nun wandern,
Wie die Witwe trauervoll,
Statt dem einen mit dem andern
Fort und fort mich wenden soll!"



Der Chor, in diese Strophe einfallend, ward immer zahlreicher, immer
mächtiger, und doch konnte man die Stimme des heiligen Christoph, vom
untern Ende der Tafel her, gar bald unterscheiden.  Beinahe furchtbar
schwoll zuletzt die Trauer; ein unmutiger Mut brachte, bei
Gewandtheit der Sänger, etwas Fugenhaftes in das Ganze, daß es unserm
Freunde wie schauderhaft auffiel.  Wirklich schienen alle völlig
gleichen Sinnes zu sein und ihr eignes Schicksal eben kurz vor dem
Aufbruche zu betrauern.  Die wundersamsten Wiederholungen, das öftere
Wiederaufleben eines beinahe ermattenden Gesanges schien zuletzt dem
Bande selbst gefährlich; Lenardo stand auf, und alle setzten sich
sogleich nieder, den Hymnus unterbrechend.  Jener begann mit
freundlichen Worten: "Zwar kann ich euch nicht tadeln, daß ihr euch
das Schicksal, das uns allen bevorsteht, immer vergegenwärtigt, um zu
demselben jede Stunde bereit zu sein.  Haben doch lebensmüde, bejahrte
Männer den Ihrigen zugerufen: "Gedenke zu sterben!", so dürfen wir
lebenslustige jüngere wohl uns immerfort ermuntern und ermahnen mit
den heitern Worten: "Gedenke zu wandern!"; dabei ist aber wohlgetan,
mit Maß und Heiterkeit dessen zu erwähnen, was man entweder willig
unternimmt, oder wozu man sich genötigt glaubt.  Ihr wißt am besten,
was unter uns fest steht und was beweglich ist; gebt uns dies auch in
erfreulichen, aufmunternden Tönen zu genießen, worauf denn dieses
Abschiedsglas für diesmal gebracht sei!"  Er leerte sodann seinen
Becher und setzte sich nieder; die vier Sänger standen sogleich auf
und begannen in abgeleiteten, sich anschließenden Tönen:



"Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften,
überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los:
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß."



Bei dem wiederholenden Chorgesange stand Lenardo auf und mit ihm
alle; sein Wink setzte die ganze Tischgesellschaft in singende
Bewegung; die unteren zogen, St.  Christoph voran, paarweis zum Saale
hinaus, und der angestimmte Wandergesang ward immer heiterer und
freier; besonders aber nahm er sich sehr gut aus, als die
Gesellschaft, in den terrassierten Schloßgärten versammelt, von hier
aus das geräumige Tal übersah, in dessen Fülle und Anmut man sich
wohl gern verloren hätte.  Indessen die Menge sich nach Belieben
hier--und dorthin zerstreute, machte man Wilhelmen mit dem dritten
Vorsitzenden bekannt.  Es war der Amtmann, der das gräfliche,
zwischen mehreren Standesherrschaften liegende Schloß dieser
Gesellschaft, so lange sie hier zu verweilen für gut fände,
einzuräumen und ihr vielfache Vorteile zu verschaffen gewußt, dagegen
aber auch, als ein kluger Mann, die Anwesenheit so seltener Gäste zu
nutzen verstand.  Denn indem er für billige Preise seine Fruchtböden
auftat und, was sonst noch zu Nahrung und Notdurft erforderlich wäre,
zu verschaffen wußte, so wurden bei solcher Gelegenheit längst
vernachlässigte Dachreihen umgelegt, Dachstühle hergestellt, Mauern
unterfahren, Planken gerichtet und andere Mängel auf den Grad gehoben,
daß ein längst vernachlässigtes, in Verfall geratenes Besitztum
verblühender Familien den frohen Anblick einer lebendig benutzten
Wohnlichkeit gewährte und das Zeugnis gab: Leben schaffe Leben, und,
wer andern nützlich sei, auch sie ihm zu nutzen in die Notwendigkeit
versetze.



Zweites Kapitel


Hersilie an Wilhelm

Mein Zustand kommt mir vor wie ein Trauerspiel des Alfieri; da die
Vertrauten völlig ermangeln, so muß zuletzt alles in Monologen
verhandelt werden, und fürwahr, eine Korrespondenz mit Ihnen ist
einem Monolog vollkommen gleich; denn Ihre Antworten nehmen eigentlich
wie ein Echo unsre Silben nur oberflächlich auf, um sie verhallen zu
lassen.  Haben Sie auch nur ein einzigmal etwas erwidert, worauf man
wieder hätte erwidern können?  Parierend, ablehnend sind Ihre Briefe!
Indem ich aufstehe, Ihnen entgegenzutreten, so weisen Sie mich wieder
auf den Sessel zurück.



Vorstehendes war schon einige Tage geschrieben; nun findet sich ein
neuer Drang und Gelegenheit, Gegenwärtiges an Lenardo zu bringen;
dort findet Sie's, oder man weiß Sie zu finden.  Wo es Sie aber auch
antreffen mag, lautet meine Rede dahin, daß, wenn Sie, nach gelesenem
diesem Blatt, nicht gleich vom Sitze aufspringen und als frommer
Wanderer sich eilig bei mir einstellen, so erklär' ich Sie für den
männlichsten aller Männer, d. h dem die liebenswürdigste aller
Eigenschaften unsers Geschlechts völlig abgeht; ich verstehe darunter
die Neugierde, die mich eben in dem Augenblick auf das entschiedenste
quält.

Kurz und gut!  Zu Ihrem Prachtkästchen ist das Schlüsselchen
gefunden; das darf aber niemand wissen als ich und Sie.  Wie es in
meine Hände gekommen, vernehmen Sie nun.

Vor einigen Tagen empfängt unser Gerichtshalter eine Ausfertigung
von fremder Behörde, worin gefragt wird, ob nicht ein Knabe sich zu
der und der Zeit in der Nachbarschaft aufgehalten, allerlei Streiche
verübt und endlich bei einem verwegenen Unternehmen seine Jacke
eingebüßt habe.

Wie dieser Schelm nun bezeichnet war, blieb kein Zweifel übrig, es
sei jener Fitz, von dem Felix so viel zu erzählen wußte und den er
sich oft als Spielkameraden zurückwünschte.

Nun erbat sich jene Stelle die benannte Kleidung, wenn sie noch
vorhanden wäre, weil der in Untersuchung geratene Knabe sich darauf
berufe.  Von dieser Zumutung spricht nun unser Gerichtshalter
gelegentlich und zeigt das Kittelchen vor, eh' er es absendet.

Mich treibt ein guter oder böser Geist, in die Brusttasche zu
greifen; ein winzig kleines, stachlichtes Etwas kommt mir in die Hand;
ich, die ich sonst so apprehensiv, kitzlich und schreckhaft bin,
schließe die Hand, schließe sie, schweige, und das Kleid wird
fortgeschickt.  Sogleich ergreift mich von allen Empfindungen die
wunderlichste.  Beim ersten verstohlenen Blick seh' ich, errat' ich,
zu Ihrem Kästchen sei es der Schlüssel.  Nun gab es wunderliche
Gewissenszweifel, mancherlei Skrupel stiegen bei mir auf.  Den Fund zu
offenbaren, herzugeben, war mir unmöglich: was soll es jenen
Gerichten, da es dem Freunde so nützlich sein kann!  Dann wollte sich
mancherlei von Recht und Pflicht wieder auftun, welche mich aber nicht
überstimmen konnten.

Da sehen Sie nun, in was für einen Zustand mich die Freundschaft
versetzt; ein famoses Organ entwickelt sich plötzlich, Ihnen zuliebe;
welch ein wunderlich Ereignis!  Möchte das nicht mehr als
Freundschaft sein, was meinem Gewissen dergestalt die Waage hält!
Wundersam bin ich beunruhigt, zwischen Schuld und Neugier; ich mache
mir hundert Grillen und Märchen, was alles daraus erfolgen könnte:
mit Recht und Gericht ist nicht zu spaßen.  Hersilie, das unbefangene,
gelegentlich übermütige Wesen, in einen Kriminalprozeß verwickelt,
denn darauf geht's doch hinaus, und was bleibt mir da übrig, als an
den Freund zu denken, um dessentwillen ich das alles leide!  Ich habe
sonst auch an Sie gedacht, aber mit Pausen, jetzt aber unaufhörlich;
jetzt, wenn mir das Herz schlägt und ich ans siebente Gebot denke, so
muß ich mich an Sie wenden als den Heiligen, der das Verbrechen
veranlaßt und mich auch wohl wieder entbinden kann; und so wird
allein die Eröffnung des Kästchens mich beruhigen.  Die Neugierde
wird doppelt mächtig.  Kommen Sie eiligst und bringen das Kästchen
mit.  Für welchen Richterstuhl eigentlich das Geheimnis gehöre, das
wollen wir unter uns ausmachen; bis dahin bleibt es unter uns;
niemand wisse darum, es sei auch, wer es sei.



Hier aber, mein Freund, nun schließlich zu dieser Abbildung des
Rätsels was sagen Sie?  Erinnert es nicht an Pfeile mit Widerhaken?
Gott sei uns gnädig!  Aber das Kästchen muß zwischen mir und Ihnen
erst uneröffnet stehen und dann eröffnet das Weitere selbst befehlen.
Ich wollte, es fände sich gar nichts drinnen, und was ich sonst noch
wollte und was ich sonst noch alles erzählen könnte doch sei Ihnen
das vorenthalten, damit Sie desto eiliger sich auf den Weg machen.

Und nun mädchenhaft genug noch eine Nachschrift!  Was geht aber mich
und Sie eigentlich das Kästchen an?  Es gehört Felix, der hat's
entdeckt, hat sich's zugeeignet, den müssen wir herbeiholen, ohne
seine Gegenwart sollen wir's nicht öffnen.

Und was das wieder für Umstände sind! das schiebt sich und
verschiebt sich.

Was ziehen Sie so in der Welt herum?  Kommen Sie! bringen Sie den
holden Knaben mit, den ich auch einmal wieder sehen möchte.

Und nun geht's da wieder an, der Vater und der Sohn! tun Sie, was
Sie können, aber kommen Sie beide.



Drittes Kapitel

Vorstehender wunderliche Brief war freilich schon lange geschrieben
und hin und wider getragen worden, bis er endlich, der Aufschrift
gemäß, diesmal abgegeben werden konnte.  Wilhelm nahm sich vor, mit
dem ersten Boten, dessen Absendung bevorstand, freundlich, aber
ablehnend zu antworten.  Hersilie schien die Entfernung nicht zu
berechnen, und er war gegenwärtig zu ernstlich beschäftigt, als daß
ihn auch nur die mindeste Neugierde, was in jenem Kästchen befindlich
sein möchte, hätte reizen dürfen.

Auch gaben ihm einige Unfälle, die den derbsten Gliedern dieser
tüchtigen Gesellschaft begegneten, Gelegenheit, sich meisterhaft in
der von ihm ergriffenen Kunst zu beweisen.  Und wie ein Wort das
andere gibt, so folgt noch glücklicher eine Tat aus der andern, und
wenn dadurch zuletzt auch wieder Worte veranlaßt werden, so sind
diese um so fruchtbarer und geisterhebender.  Die Unterhaltungen
waren daher so belehrend als ergötzlich, denn die Freunde gaben sich
wechselseitig Rechenschaft vom Gange des bisherigen Lernens und Tuns,
woraus eine Bildung entstanden war, die sie wechselseitig erstaunen
machte, dergestalt, daß sie sich untereinander erst selbst wieder
mußten kennen lernen.

Eines Abends also fing Wilhelm seine Erzählung an: "Meine Studien
als Wundarzt suchte ich sogleich in einer großen Anstalt der größten
Stadt, wo sie nur allein möglich wird, zu fördern; zur Anatomie als
Grundstudium wendete ich mich sogleich mit Eifer.

Auf eine sonderbare Weise, welche niemand erraten würde, war ich
schon in Kenntnis der menschlichen Gestalt weit vorgeschritten, und
zwar während meiner theatralischen Laufbahn; alles genau besehen,
spielt denn doch der körperliche Mensch da die Hauptrolle, ein
schöner Mann, eine schöne Frau!  Ist der Direktor glücklich genug,
ihrer habhaft zu werden, so sind Komödien--und Tragödiendichter
geborgen.  Der losere Zustand, in dem eine solche Gesellschaft lebt,
macht ihre Genossen mehr mit der eigentlichen Schönheit der
unverhüllten Glieder bekannt als irgendein anderes Verhältnis; selbst
verschiedene Kostüms nötigen, zur Evidenz zu bringen, was sonst
herkömmlich verhüllt wird.  Hievon hätt' ich viel zu sagen, so auch
von körperlichen Mängeln, welche der kluge Schauspieler an sich und
andern kennen muß, um sie, wo nicht zu verbessern, wenigstens zu
verbergen, und auf diese Weise war ich vorbereitet genug, dem
anatomischen Vortrag, der die äußern Teile näher kennen lehrte, eine
folgerechte Aufmerksamkeit zu schenken; so wie mir denn auch die
innern Teile nicht fremd waren, indem ein gewisses Vorgefühl davon mir
immer gegenwärtig geblieben war.  Unangenehm hindernd war bei dem
Studium die immer wiederholte Klage vom Mangel der Gegenstände, über
die nicht hinreichende Anzahl der verbliebenen Körper, die man zu so
hohen Zwecken unter das Messer wünschte.  Solche, wo nicht
hinreichend, doch in möglichstes Zahl zu verschaffen, hatte man harte
Gesetze ergehen lassen, nicht allein Verbrecher, die ihr Individuum
in jedem Sinne verwirkt, sondern auch andere körperlich, geistig
verwahrloste Umgekommene wurden in Anspruch genommen.

Mit dem Bedürfnis wuchs die Strenge und mit dieser der Widerwille
des Volks, das in sittlicher und religioser Ansicht seine
Persönlichkeit und die Persönlichkeit geliebter Personen nicht
aufgeben kann.

Immer weiter aber stieg das übel, indem die verwirrende Sorge
hervortrat, daß man auch sogar für die friedlichen Gräber geliebter
Abgeschiedener zu fürchten habe.  Kein Alter, keine Würde, weder
Hohes noch Niedriges war in seiner Ruhestätte mehr sicher; der Hügel,
den man mit Blumen geschmückt, die Inschriften, mit denen man das
Andenken zu erhalten getrachtet, nichts konnte gegen die einträgliche
Raubsucht schützen; der schmerzlichste Abschied schien aufs
grausamste gestört, und indem man sich vom Grabe wegwendete, mußte
schon die Furcht empfunden werden, die geschmückten, beruhigten
Glieder geliebter Personen getrennt, verschleppt und entwürdigt zu
wissen.

Alles dieses kam wiederholt und immer durchgedroschener zur Sprache,
ohne daß irgend jemand an ein Hülfsmittel gedacht hätte oder daran
hätte denken können, und immer allgemeiner wurden die Beschwerden,
als junge Männer, die mit Aufmerksamkeit den Lehrvortrag gehört, sich
auch mit Hand und Auge von dem bisher Gesehenen und Vernommenen
überzeugen und sich die so notwendige Kenntnis immer tiefer und
lebendiger der Einbildungskraft überliefern wollten.

In solchen Augenblicken entsteht eine Art von unnatürlichem
wissenschaftlichem Hunger, welcher nach der widerwärtigsten
Befriedigung wie nach dem Anmutigsten und Notwendigsten zu begehren
aufregt.

Schon einige Zeit hatte ein solcher Aufschub und Aufenthalt die
Wissens--und Tatlustigen beschäftigt und unterhalten, als endlich ein
Fall, über den die Stadt in Bewegung geriet, eines Morgens das Für
und Wider für einige Stunden heftig hervorrief.  Ein sehr schönes
Mädchen, verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser
gesucht und gefunden; die Anatomie bemächtigte sich derselbigen;
vergebens war die Bemühung der Eltern, Verwandten, ja des Liebhabers
selbst, der nur durch falschen Argwohn verdächtig geworden.  Die
obern Behörden, die soeben das Gesetz geschärft hatten, durften keine
Ausnahme bewilligen; auch eilte man, so schnell als möglich die Beute
zu benutzen und zur Benutzung zu verteilen."

Wilhelm, der als nächster Aspirant gleichfalls berufen wurde, fand
vor dem Sitze, den man ihm anwies, auf einem saubern Breite, reinlich
zugedeckt, eine bedenkliche Aufgabe; denn als er die Hülle wegnahm,
lag der schönste weibliche Arm zu erblicken, der sich wohl jemals um
den Hals eines Jünglings geschlungen hatte.  Er hielt sein Besteck in
der Hand und getraute sich nicht, es zu eröffnen; er stand und
getraute nicht niederzusitzen.  Der Widerwille, dieses herrliche
Naturerzeugnis noch weiter zu entstellen, stritt mit der Anforderung,
welche der wissensbegierige Mann an sich zu machen hat und welcher
sämtliche Umhersitzende Genüge leisteten.

In diesen Augenblicken trat ein ansehnlicher Mann zu ihm, den er
zwar als einen seltenen, aber immer als einen sehr aufmerksamen
Zuhörer und Zuschauer bemerkt und demselben schon nachgefragt hatte;
niemand aber konnte nähere Auskunft geben; daß es ein Bildhauer sei,
darin war man einig; man hielt ihn aber auch für einen Goldmacher, der
in einem großen, alten Hause wohne, dessen erste Flur allein den
Besuchenden oder bei ihm Beschäftigten zugänglich, die übrigen
sämtlichen Räume jedoch verschlossen seien.  Dieser Mann hatte sich
Wilhelmen verschiedentlich genähert, war mit ihm aus der Stunde
gegangen, wobei er jedoch alle weitere Verbindung und Erklärung zu
vermeiden schien.

Diesmal jedoch sprach er mit einer gewissen Offenheit: "Ich sehe,
Sie zaudern, Sie staunen das schöne Gebild an, ohne es zerstören zu
können; setzen Sie sich über das Gildegefühl hinaus und folgen Sie
mir."  Hiermit deckte er den Arm wieder zu, gab dem Saaldiener einen
Wink, und beide verließen den Ort.  Schweigend gingen sie
nebeneinander her, als der Halbbekannte vor einem großen Tore
stillestand, dessen Pförtchen er aufschloß und unsern Freund
hineinnötigte, der sich sodann auf einer Tenne befand, groß, geräumig,
wie wir sie in alten Kaufhäusern sehen, wo die ankommenden Kisten
und Ballen sogleich untergefahren werden.  Hier standen Gipsabgüsse
von Statuen und Büsten, auch Bohlenverschläge gepackt und leer.  "Es
sieht hier kaufmännisch aus", sagte der Mann; "der von hier aus
mögliche Wassertransport ist für mich unschätzbar."  Dieses alles
paßte nun ganz gut zu dem Gewerb eines Bildhauers; ebenso konnte
Wilhelm nichts anders finden, als der freundliche Wirt ihn wenige
Stufen hinauf in ein geräumiges Zimmer führte, das ringsumher mit
Hoch--und Flachgebilden, mit größeren und kleineren Figuren, Büsten
und wohl auch einzelnen Gliedern der schönsten Gestalten geziert war.
Mit Vergnügen betrachtete unser Freund dies alles und horchte gern
den belehrenden Worten seines Wirtes, ob er gleich noch eine große
Kluft zwischen diesen künstlerischen Arbeiten und den
wissenschaftlichen Bestrebungen, von denen sie herkamen, gewahren
mußte.  Endlich sagte der Hausbesitzer mit einigem Ernst: "Warum ich
Sie hierher führe, werden Sie leicht einsehen; diese Türe", fuhr er
fort, indem er sich nach der Seite wandte, "liegt näher an der
Saaltüre, woher wir kommen, als Sie denken mögen."  Wilhelm trat
hinein und hatte freilich zu erstaunen, als er, statt wie in den
vorigen Nachbildung lebender Gestalten zu sehen, hier die Wände
durchaus mit anatomischen Zergliederungen ausgestattet fand; sie
mochten in Wachs oder sonstiger Masse verfertigt sein, genug, sie
hatten durchaus das frische, farbige Ansehen erst fertig gewordener
Präparate.  "Hier, mein Freund", sagte der Künstler, "hier sehen Sie
schätzenswerte Surrogate für jene Bemühungen, die wir, mit dem
Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und
großer Sorgfalt dem Verderben oder einem widerwärtigen Aufbewahren
vorbereiten.  Ich muß dieses Geschäft im tiefsten Geheimnis betreiben,
denn Sie haben gewiß oft schon Männer vom Fach mit Geringschätzung
davon reden hören.  Ich lasse mich nicht irremachen und bereite etwas
vor, welches in der Folge gewiß von großer Einwirkung sein wird.  Der
Chirurg besonders, wenn er sich zum plastischen Begriff erhebt, wird
der ewig fortbildenden Natur bei jeder Verletzung gewiß am besten zu
Hülfe kommen; den Arzt selbst würde ein solcher Begriff bei seinen
Funktionen erheben.  Doch lassen Sie uns nicht viel Worte machen!
Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als
Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das
Getötete noch weiter töten; kurz also, wollen Sie mein Schüler sein?"
Und auf Bejahung legte der Wissende dem Gaste das Knochenskelett
eines weiblichen Armes vor, in der Stellung, wie sie jenen vor kurzem
vor sich gesehen hatten.  "Ich habe", fuhr der Meister fort, "zu
bemerken gehabt, wie Sie der Bänderlehre durchaus Aufmerksamkeit
schenkten und mit Recht, denn mit ihnen beginnt sich für uns das tote
Knochengerassel erst wieder zu beleben; Hesekiel mußte sein
Gebeinfeld sich erst auf diese Weise wieder sammeln und fügen sehen,
ehe die Glieder sich regen, die Arme tasten und die Füße sich
aufrichten konnten.  Hier ist biegsam Masse, Stäbchen und was sonst
nötig sein möchte; nun versuchen Sie Ihr Glück."

Der neue Schüler nahm seine Gedanken zusammen, und als er die
Knochenteile näher zu betrachten anfing, sah er, daß diese künstlich
von Holz geschnitzt seien.  "Ich habe", versetzte der Lehrer, "einen
geschickten Mann, dessen Kunst nach Brote ging, indem die Heiligen
und Märtyrer, die er zu schnitzen gewohnt war, keinen Abgang mehr
fanden, ihn hab' ich darauf geleitet, sich der Skelettbildung zu
bemächtigen und solche im großen wie im kleinen naturgemäß zu
befördern."

Nun tat unser Freund sein Bestes und erwarb sich den Beifall des
Anleitenden.  Dabei war es ihm angenehm, sich zu erproben, wie stark
oder schwach die Erinnerung sei, und er fand zu vergnüglicher
überraschung, daß sie durch die Tat wieder hervorgerufen werde; er
gewann Leidenschaft für diese Arbeit und ersuchte den Meister, in
seine Wohnung aufgenommen zu werden.  Hier nun arbeitete er
unablässig; auch waren die Knochen und Knöchelchen des Armes in
kurzer Zeit gar schicklich verbunden.  Von hier aber sollten die
Sehnen und Muskeln ausgehen, und es schien eine völlige Unmöglichkeit,
den ganzen Körper auf diese Weise nach allen seinen Teilen
gleichmäßig herzustellen.  Hiebei tröstete ihn der Lehrer, indem er
die Vervielfältigung durch Abformung sehen ließ, da denn das
Nacharbeiten, das Reinbilden der Exemplare eben wieder neue
Anstrengung, neue Aufmerksamkeit verlangte.

Alles, worein der Mensch sich ernstlich einläßt, ist ein Unendliches;
nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen;
auch kam Wilhelm bald über den Zustand von Gefühl seines Unvermögens,
welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus und fand sich
behaglich bei der Arbeit.  "Es freut mich", sagte der Meister, "daß
Sie sich in diese Verfahrungsart zu schicken wissen und daß Sie mir
ein Zeugnis geben, wie fruchtbar eine solche Methode sei, wenn sie
auch von den Meistern des Fachs nicht anerkannt wird.  Es muß eine
Schule geben, und diese wird sich vorzüglich mit überlieferung
beschäftigen; was bisher geschehen ist, soll auch künftig geschehen,
das ist gut und mag und soll so sein.  Wo aber die Schule stockt, das
muß man bemerken und wissen; das Lebendige muß man ergreifen und üben,
aber im stillen, sonst wird man gehindert und hindert andere.  Sie
haben lebendig gefühlt und zeigen es durch Tat, Verbinden heißt mehr
als Trennen, Nachbilden mehr als Ansehen."

Wilhelm erfuhr nun, daß solche Modelle im stillen schon weit
verbreitet seien, aber zu größter Verwunderung vernahm er, daß das
Vorrätige eingepackt und über See gehen solle.  Dieser wackere
Künstler hatte sich schon mit Lothario und jenen Befreundeten in
Verhältnis gesetzt; man fand die Gründung einer solchen Schule in
jenen sich heranbildenden Provinzen ganz besonders am Platze, ja
höchst notwendig, besonders unter natürlich gesitteten, wohldenkenden
Menschen, für welche die wirkliche Zergliederung immer etwas
Kannibalisches hat.  "Geben Sie zu, daß der größte Teil von ärzten
und Wundärzten nur einen allgemeinen Eindruck des zergliederten
menschlichen Körpers in Gedanken behält und damit auszukommen glaubt,
so werden gewiß solche Modelle hinreichen, die in seinem Geiste nach
und nach erlöschenden Bilder wieder anzufrischen und ihm gerade das
Nötige lebendig zu erhalten.  Ja es kommt auf Neigung und Liebhaberei
an, so werden sich die zartesten Resultate der Zergliederungskunst
nachbilden lassen.  Leistet dies ja schon Zeichenfeder, Pinsel und
Grabstichel."

Hier öffnete er ein Seitenschränkchen und ließ die Gesichtsnerven
auf die wundersamste Weise nachgebildet erblicken.  "Dies ist leider",
sprach er, "das letzte Kunststück eines abgeschiedenen jungen
Gehülfen, der mir die beste Hoffnung gab, meine Gedanken
durchzuführen und meine Wünsche nützlich auszubreiten."

über die Einwirkung dieser Behandlungsweise nach manchen Seiten hin
wurde gar viel zwischen beiden gesprochen, auch war das Verhältnis
zur bildenden Kunst ein Gegenstand merkwürdiger Unterhaltung.  Ein
auffallendes, schönes Beispiel, wie auf diese Weise vorwärts und
rückwärts zu arbeiten sei, ergab sich aus diesen Mitteilungen.  Der
Meister hatte einen schönen Sturz eines antiken Jünglings in eine
bildsame Masse abgegossen und suchte nun mit Einsicht die ideelle
Gestalt von der Epiderm zu entblößen und das schöne Lebendige in ein
reales Muskelpräparat zu verwandeln.  "Auch hier finden sich Mittel
und Zweck so nahe beisammen, und ich will gern gestehen, daß ich über
den Mitteln den Zweck vernachlässigt habe, doch nicht ganz mit eigener
Schuld; der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der
Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den
unförmlichen, widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde
umzuschaffen wußten; solche göttliche Gedanken muß er hegen, dem
Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in
der Natur?  Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne
Feigenblätter und Tierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel
zu wenig.  Kaum hatte ich etwas gelernt, so verlangten sie von mir
würdige Männer in Schlafröcken und weiten ärmeln und zahllosen Falten;
da wendete ich mich rückwärts, und da ich das, was ich verstand,
nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich,
nützlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung.  Wird mein Wunsch
erfüllt, wird es als brauchbar anerkannt, daß, wie in so viel andern
Dingen, Nachbildung und das Nachgebildete der Einbildungskraft und
dem Gedächtnis zu Hülfe kommen, da, wo den Menschengeist eine gewisse
Frische verläßt, so wird gewiß mancher bildende Künstler sich, wie
ich es getan, herumwenden und lieber euch in die Hand arbeiten, als
daß er gegen überzeugung und Gefühl ein widerwärtiges Handwerk treibe."

Hieran schloß sich die Betrachtung, daß es eben schön sei zu
bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Waage halten
und so nah verwandt immer eine zu der andern sich hinneigt, so daß
die Kunst nicht sinken kann, ohne in löbliches Handwerk überzugehen,
das Handwerk sich nicht steigern, ohne kunstreich zu werden.

Beide Personen fügten und gewöhnten sich so vollkommen aneinander,
daß sie sich nur ungern trennten, als es nötig ward, um ihren
eigentlichen großen Zwecken entgegenzusehen.

"Damit man aber nicht glaube", sagte der Meister, "daß wir uns von
der Natur ausschließen und sie verleugnen wollen, so eröffnen wir
eine frische Aussicht.  Drüben über dem Meere, wo gewisse
menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern, muß man endlich
bei Abschaffung der Todesstrafe weitläufige Kastelle, ummauerte
Bezirke bauen, um den ruhigen Bürger gegen Verbrechen zu schützen und
das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen.  Dort,
mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem äskulap
eine Kapelle vorbehalten, dort, so abgesondert wie die Strafe selbst,
werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenständen erfrischt, deren
Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletze, bei deren
Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schönen, unschuldigen Arm
erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wißbegierde vor dem
Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht werde."

"Dieses", sagte Wilhelm, "waren unsre letzten Gespräche, ich sah die
wohlgepackten Kisten den Fluß hinabschwimmen, ihnen die glücklichste
Fahrt und uns eine gemeinsame frohe Gegenwart beim Auspacken
wünschend."

Unser Freund hatte diesen Vortrag mit Geist und Enthusiasmus wie
geführt so geendigt, besonders aber mit einer gewissen Lebhaftigkeit
der Stimme und Sprache, die man in der neuem Zeit nicht an ihm
gewohnt war.  Da er jedoch am Schluß seiner Rede zu bemerken glaubte,
daß Lenardo, wie zerstreut und abwesend, das Vorgetragene nicht zu
verfolgen schien, Friedrich hingegen gelächelt, einigemal beinahe den
Kopf geschüttelt habe, so fiel dem zart empfindenden Mienenkenner
eine so geringe Zustimmung bei der Sache, die ihm höchst wichtig
schien, dergestalt auf, daß er nicht unterlassen konnte, seine
Freunde deshalb zu berufen.

Friedrich erklärte sich hierüber ganz einfach und aufrichtig, er
könne das Vornehmen zwar löblich und gut, keineswegs aber für so
bedeutend, am wenigsten aber für ausführbar halten.  Diese Meinung
suchte er durch Gründe zu unterstützen, von der Art, wie sie
demjenigen, der für eine Sache eingenommen ist und sie durchzusetzen
gedenkt, mehr, als man sich vorstellen mag, beleidigend auffällt.
Deshalb denn auch unser plastischer Anatom, nachdem er einige Zeit
geduldig zuzuhören schien, lebhaft erwiderte:

"Du hast Vorzüge, mein guter Friedrich, die dir niemand leugnen wird,
ich am wenigsten, aber hier sprichst du wie gewöhnliche Menschen
gewöhnlich; am Neuen sehen sie nur das Seltsame, im Seltenen jedoch
alsobald das Bedeutende zu erblicken, dazu gehört schon mehr.  Für
euch muß erst alles in Tat übergehen, es muß geschehen, als möglich,
als wirklich vor Augen treten, und dann laßt ihr es auch gut sein wie
etwas anderes.  Was du vorbringst, hör' ich schon zum voraus von
Unterrichteten und Laien wiederholen; von jenen aus Vorurteil und
Bequemlichkeit, von diesen aus Gleichgültigkeit.  Ein Vorhaben wie das
ausgesprochene kann vielleicht nur in einer neuen Welt durchgeführt
werden, wo der Geist Mut fassen muß, zu einem unerläßlichen Bedürfnis
neue Mittel auszuforschen, weil es an den herkömmlichen durchaus
ermangelt.  Da regt sich die Erfindung, da gesellt sich die Kühnheit,
die Beharrlichkeit der Notwendigkeit hinzu.

Jeder Arzt, er mag mit Heilmitteln oder mit der Hand zu Werke gehen,
ist nichts ohne die genauste Kenntnis der äußern und innern Glieder
des Menschen, und es reicht keineswegs hin, auf Schulen flüchtige
Kenntnis hievon genommen, sich von Gestalt, Lage, Zusammenhang der
mannigfaltigsten Teile des unerforschlichen Organismus einen
oberflächlichen Begriff gemacht zu haben.  Täglich soll der Arzt, dem
es Ernst ist, in der Wiederholung dieses Wissens, dieses Anschauens
sich zu üben, sich den Zusammenhang dieses lebendigen Wunders immer
vor Geist und Auge zu erneuern alle Gelegenheit suchen.  Kennte er
seinen Vorteil, er würde, da ihm die Zeit zu solchen Arbeiten
ermangelt, einen Anatomen in Sold nehmen, der, nach seiner Anleitung,
für ihn im stillen beschäftigt, gleichsam in Gegenwart aller
Verwicklungen des verflochtensten Lebens, auf die schwierigsten
Fragen sogleich zu antworten verstände.

Je mehr man dies einsehen wird, je lebhafter, heftiger,
leidenschaftlicher wird das Studium der Zergliederung getrieben
werden.  Aber in eben dem Maße werden sich die Mittel vermindern; die
Gegenstände, die Körper, auf die solche Studien zu gründen sind, sie
werden fehlen, seltener, teurer werden, und ein wahrhafter Konflikt
zwischen Lebendigen und Toten wird entstehen.

In der alten Weit ist alles Schlendrian, wo man das Neue immer auf
die alte, das Wachsende nach starrer Weise behandeln will.  Dieser
Konflikt, den ich ankündige zwischen Toten und Lebendigen, er wird
auf Leben und Tod gehen, man wird erschrecken, man wird untersuchen,
Gesetze geben und nichts ausrichten.  Vorsicht und Verbot helfen in
solchen Fällen nichts; man muß von vorn anfangen.  Und das ist's, was
mein Meister und ich in den neuen Zuständen zu leisten hoffen, und
zwar nichts Neues, es ist schon da; aber das, was jetzo Kunst ist, muß
Handwerk werden, was im Besondern geschieht, muß im Allgemeinen
möglich werden, und nichts kann sich verbreiten, als was anerkannt
ist.  Unter Tun und Leisten muß anerkannt werden als das einzige
Mittel in einer entschiedenen Bedrängnis, welche besonders große
Städte bedroht.  Ich will die Worte meines Meisters anführen, aber
merkt auf!  Er sprach eines Tages im größten Vertrauen:

"Der Zeitungsleser findet Artikel interessant und lustig beinah,
wenn er von Auferstehungsmännern erzählen hört.  Erst stahlen sie die
Körper in tiefem Geheimnis; dagegen stellt man Wächter auf: sie
kommen mit gewaffneter Schar, um sich ihrer Beute gewaltsam zu
bemächtigen.  Und das Schlimmste zum Schlimmen wird sich ereignen, ich
darf es nicht laut sagen, denn ich würde, zwar nicht als
Mitschuldiger, aber doch als zufälliger Mitwisser, in die
gefährlichste Untersuchung verwickelt werden, wo man mich in jedem
Fall bestrafen müßte, weil ich die Untat, sobald ich sie entdeckt
hatte, den Gerichten nicht anzeigte.  Ihnen gesteh' ich's, mein
Freund, in dieser Stadt hat man gemordet, um den dringenden, gut
bezahlenden Anatomen einen Gegenstand zu verschaffen.  Der entseelte
Körper lag vor uns.  Ich darf die Szene nicht ausmalen.  Er entdeckte
die Untat, ich aber auch, wir sahen einander an und schwiegen beide;
wir sahen vor uns hin und schwiegen und gingen ans Geschäft. --Und
dies ist's, mein Freund, was mich zwischen Wachs und Gips gebannt hat;
dies ist's, was gewiß auch Sie bei der Kunst festhalten wird, welche
früher oder später vor allen übrigen wird gepriesen werden.""

Friedrich sprang auf, schlug in die Hände und wollte des Bravorufens
kein Ende machen, so daß Wilhelm zuletzt im Ernst böse wurde.  "Bravo!"
rief jener aus, "nun erkenne ich dich wieder!  Das erstemal seit
langer Zeit hast du wieder gesprochen wie einer, dem etwas wahrhaft
am Herzen liegt; zum erstenmal hat der Fluß der Rede dich wieder
fortgerissen, du hast dich als einen solchen erwiesen, der etwas zu
tun und es anzupreisen imstande ist."

Lenardo nahm hierauf das Wort und vermittelte diese kleine
Mißhelligkeit vollkommen.  "Ich schien abwesend", sprach er, "aber nur
deshalb, weil ich mehr als gegenwärtig war.  Ich erinnerte mich
nämlich des großen Kabinetts dieser Art, das ich auf meinen Reisen
gesehen und welches mich dergestalt interessierte, daß der Kustode,
der, um nach Gewohnheit fertig zu werden, die auswendig gelernte
Schnurre herzubeten anfing, gar bald, da er der Künstler selber war,
aus der Rolle fiel und sich als einen kenntnisreichen Demonstrator
bewies.

Der merkwürdige Gegensatz, im hohen Sommer in kühlen Zimmern, bei
schwüler Wärme draußen, diejenigen Gegenstände vor mir zu sehen,
denen man im strengsten Winter sich kaum zu nähern getraut.  Hier
diente bequem alles der Wißbegierde.  In größter Gelassenheit und
schönster Ordnung zeigte er mir die Wunder des menschlichen Baues und
freute sich, mich überzeugen zu können, daß zum ersten Anfang und zu
später Erinnerung eine solche Anstalt vollkommen hinreichend sei;
wobei denn einem jeden frei bleibe, in der mittlern Zeit sich an die
Natur zu wenden und bei schicklicher Gelegenheit sich um diesen oder
jenen besondern Teil zu erkundigen.  Er bat mich, ihn zu empfehlen.
Denn nur einem einzigen, großen, auswärtigen Museum habe er eine
solche Sammlung gearbeitet, die Universitäten aber widerständen
durchaus dem Unternehmen, weil die Meister der Kunst wohl Prosektoren,
aber keine Proplastiker zu bilden wüßten.

Hiernach hielt ich denn diesen geschickten Mann für den einzigen in
der Welt, und nun hören wir, daß ein anderer auf dieselbe Weise
bemüht ist; wer weiß, wo noch ein Dritter und Vierter an das
Tageslicht hervortritt.  Wir wollen von unsrer Seite dieser
Angelegenheit einen Anstoß geben.  Die Empfehlung muß von außen
herkommen, und in unsern neuen Verhältnissen soll das nützliche
Unternehmen gewiß gefördert werden."



Viertes Kapitel

Des andern Morgens beizeiten trat Friedrich mit einem Hefte in der
Hand in Wilhelms Zimmer, und ihm solches überreichend, sprach er:
"Gestern abend hatte ich vor allen Euren Tugenden, welche
herzuerzählen Ihr umständlich genug wart, nicht Raum, von mir und
meinen Vorzügen zu reden, deren ich mich wohl auch zu rühmen habe und
die mich zu einem würdigen Mitglied dieser großen Karawane stempeln.
Beschaut hier dieses Heft, und Ihr werdet ein Probestück anerkennen."

Wilhelm überlief die Blätter mit schnellen Blicken und sah,
leserlich angenehm, obschon flüchtig geschrieben, die gestrige
Relation seiner anatomischen Studien, fast Wort vor Wort, wie er sie
abgestattet hatte, weshalb er denn seine Verwunderung nicht bergen
konnte.

"Ihr wißt", erwiderte Friedrich, "das Grundgesetz unserer Verbindung;
in irgendeinem Fache muß einer vollkommen sein, wenn er Anspruch auf
Mitgenossenschaft machen will.  Nun zerbrach ich mir den Kopf, worin
mir's denn gelingen könnte, und wußte nichts aufzufinden, so nahe mir
es auch lag, daß mich niemand an Gedächtnis übertreffe, niemand an
einer schnellen, leichten, leserlichen Hand.  Dieser angenehmen
Eigenschaften erinnert Ihr Euch wohl von unsrer theatralischen
Laufbahn her, wo wir unser Pulver nach Sperlingen verschossen, ohne
daran zu denken, daß ein Schuß, vernünftiger angebracht, auch wohl
einen Hasen in die Küche schaffe.  Wie oft hab' ich nicht ohne Buch
souffliert, wie oft in wenigen Stunden die Rollen aus dem Gedächtnis
geschrieben!  Das war Euch damals recht, Ihr dachtet, es müßte so
sein; ich auch, und es wäre mir nicht eingefallen, wie sehr es mir
zustatten kommen könne.  Der Abbé machte zuerst die Entdeckung; er
fand, daß das Wasser auf seine Mühle sei, er versuchte, mich zu üben,
und mir gefiel, was mir so leicht ward und einen ernsten Mann
befriedigte.  Und nun bin ich, wo's not tut, gleich eine ganze
Kanzlei, außerdem führen wir noch so eine zweibeinige Rechenmaschine
bei uns, und kein Fürst mit noch so viel Beamten ist besser versehen
als unsre Vorgesetzten."

Heiteres Gespräch über dergleichen Tätigkeiten führte die Gedanken
auf andere Glieder der Gesellschaft.  "Solltet Ihr wohl denken",
sagte Friedrich, "daß das unnützeste Geschöpf von der Welt, wie es
schien, meine Philine, das nützlichste Glied der großen Kette werden
wird?  Legt ihr ein Stück Tuch hin, stellt Männer, stellt Frauen ihr
vors Gesicht: ohne Maß zu nehmen, schneidet sie aus dem Ganzen und
weiß dabei alle Flecken und Gehren dergestalt zu nutzen, daß großer
Vorteil daraus entsteht, und das alles ohne Papiermaß.  Ein
glücklicher geistiger Blick lehrt sie das alles, sie sieht den
Menschen an und schneidet, dann mag er hingehen, wohin er will, sie
schneidet fort und schafft ihm einen Rock auf den Leib wie angegossen.
Doch das wäre nicht möglich, hätte sie nicht auch eine Nähterin
herangezogen, Montans Lydie, die nun einmal still geworden ist und
still bleibt, aber auch reinlich näht wie keine, Stich für Stich wie
Perlen, wie gestickt.  Das ist nun, was aus den Menschen werden kann;
eigentlich hängt so viel Unnützes um uns herum, aus Gewohnheit,
Neigung, Zerstreuung und Willkür, ein Lumpenmantel zusammengespettelt.
Was die Natur mit uns gewollt, das Vorzüglichste, was sie in uns
gelegt, können wir deshalb weder auffinden noch ausüben."

Allgemeine Betrachtungen über die Vorteile der geselligen Verbindung,
die sich so glücklich zusammengefunden, eröffneten die schönsten
Aussichten.

Als nun Lenardo sich hierauf zu ihnen gesellte, ward er von
Wilhelmen ersucht, auch von sich zu sprechen, von dem Lebensgange,
den er bisher geführt, von der Art, wie er sich und andere gefördert,
freundliche Nachricht zu erteilen.

"Sie erinnern sich gar wohl, mein Bester", versetzte Lenardo, "in
welchem wundersamen, leidenschaftlichen Zustande Sie mich den ersten
Augenblick unserer neuen Bekanntschaft getroffen; ich war versunken,
verschlungen in das wunderlichste Verlangen, in eine unwiderstehliche
Begierde, es konnte damals nur von der nächsten Stunde die Rede sein,
vom schweren Leiden, das mir bereitet war, das mir selbst zu schärfen
ich mich so emsig erwies.  Ich konnte Sie nicht bekannt machen mit
meinen früheren Jugendzuständen, wie ich jetzt tun muß, um Sie auf
den Weg zu führen, der mich hierher gebracht hat.

Unter den frühsten meiner Fähigkeiten, die sich nach und nach durch
Umstände entwickelten, tat sich ein gewisser Trieb zum Technischen
hervor, welcher jeden Tag durch die Ungeduld genährt wurde, die man
auf dem Lande fühlt, wenn man bei größeren Bauten, besonders aber bei
kleinen Veränderungen, Anlagen und Grillen ein Handwerk ums andere
entbehren muß und lieber ungeschickt und pfuscherhaft eingreift, als
daß man sich meistermäßig verspäten ließe.  Zum Glück wanderte in
unserer Gegend ein Tausendkünstler auf und ab, der, weil er bei mir
seine Rechnung fand, mich lieber als irgendeinen Nachbar unterstützte;
er richtete mir eine Drechselbank ein, deren er sich bei jedem
Besuch mehr zu seinem Zwecke als zu meinem Unterricht zu bedienen
wußte.  So auch schaffte ich Tischlerwerkzeug an, und meine Neigung
zu dergleichen ward erhöht und belebt durch die damals laut
ausgesprochene überzeugung: es könne niemand sich ins Leben wagen,
als wenn er es im Notfall durch Handwerkstätigkeit zu fristen verstehe.
Mein Eifer ward von den Erziehern nach ihren eigenen Grundsätzen
gebilligt; ich erinnere mich kaum, daß ich je gespielt habe, denn
alle freien Stunden wurden verwendet, etwas zu wirken und zu schaffen.
Ja ich darf mich rühmen, schon als Knabe einen geschickten Schmied
durch meine Anforderungen zum Schlösser, Feilenhauer und Uhrmacher
gesteigert zu haben.

Das alles zu leisten mußten denn freilich auch erst die Werkzeuge
erschaffen werden, und wir litten nicht wenig an der Krankheit jener
Techniker, welche Mittel und Zweck verwechseln, lieber Zeit auf
Vorbereitungen und Anlagen verwenden, als daß sie sich recht ernstlich
an die Ausführung hielten.  Wo wird uns jedoch praktisch tätig
erweisen konnten, war bei Auszierung der Parkanlagen, deren kein
Gutsbesitzer mehr entbehren durfte; manche Moos--und Rindenhütte,
Knittelbrücken und Bänke zeugten von unserer Emsigkeit, womit wir eine
Urbaukunst in ihrer ganzen Roheit mitten in der gebildeten Welt
darzustellen eifrig bemüht gewesen.

Dieser Trieb führte mich bei zunehmenden Jahren auf ernstere
Teilnahme an allem, was der Welt so nütze und in ihrer gegenwärtigen
Lage so unentbehrlich ist, und gab meinen mehrjährigen Reisen ein
eigentlichstes Interesse.

Da jedoch der Mensch gewöhnlich auf dem Wege, der ihn herangebracht,
fortzuwandern pflegt, so war ich dem Maschinenwesen weniger günstig
als der unmittelbaren Handarbeit, wo wir Kraft und Gefühl in
Verbindung ausüben; deswegen ich mich auch besonders in solchen
abgeschlossenen Kreisen gern aufhielt, wo nach Umständen diese oder
jene Arbeit zu Hause war.  Dergleichen gibt jeder Vereinigung eine
besondere Eigentümlichkeit, jeder Familie, einer kleinen, aus mehreren
Familien bestehenden Völkerschaft den entschiedensten Charakter; man
lebt in dem reinsten Gefühl eines lebendigen Ganzen.

Dabei hatte ich mir angewöhnt, alles aufzuzeichnen, es mit Figuren
auszustatten und so, nicht ohne Aussicht auf künftige Anwendung,
meine Zeit löblich und erfreulich zuzubringen.

Diese Neigung, diese ausgebildete Gabe benutzt' ich nun aufs beste
bei dem wichtigen Auftrag, den mir die Gesellschaft gab, den Zustand
der Gebirgsbewohner zu untersuchen und die brauchbaren Wanderlustigen
mit in unsern Zug aufzunehmen.  Mögen Sie nun den schönen Abend, wo
mich mannigfaltige Geschäfte drängen, mit Durchlesung eines Teils
meines Tagebuchs zubringen?  Ich will nicht behaupten, daß es gerade
angenehm zu lesen sei; mir schien es immer unterhaltend und
gewissermaßen unterrichtend.  Doch wir bespiegeln ja uns immer selbst
in allem, was wir hervorbrachten."



Fünftes Kapitel



Lenardos Tagebuch

Montag, den 15.

Tief in der Nacht war ich nach mühsam erstiegener halber Gebirgshöhe
eingetroffen in einer leidlichen Herberge und ward schon vor
Tagesanbruch aus erquicklichem Schlaf durch ein andauerndes
Schellen--und Glockengeläute zu meinem großen Verdruß aufgeweckt.
Eine große Reihe Saumrosse zog vorbei, eh' ich mich hätte ankleiden
und ihnen zuvoreilen können.  Nun erfuhr ich auch, meinen Weg
antretend, gar bald, wie unangenehm und verdrießlich solche
Gesellschaft sei.  Das monotone Geläute betäubt die Ohren; das zu
beiden Seiten weit über die Tiere hinausreichende Gepäck (sie trugen
diesmal große Säcke Baumwolle) streift bald einerseits an die Felsen,
und wenn das Tier, um dieses zu vermeiden, sich gegen die andere
Seite zieht, so schwebt die Last über dem Abgrund, dem Zuschauer
Sorge und Schwindel erregend, und, was das Schlimmste ist, in beiden
Fällen bleibt man gehindert, an ihnen vorbeizuschleichen und den
Vortritt zu gewinnen.

Endlich gelangt' ich an der Seite auf einen freien Felsen, wo St.
Christoph, der mein Gepäck kräftig einhertrug, einen Mann begrüßte,
welcher stille dastehend den vorbeiziehenden Zug zu mustern schien.
Es war auch wirklich der Anführer; nicht nur gehörte ihm eine
beträchtliche Zahl der lasttragenden Tiere, andere hatte er nebst
ihren Treibern gemietet, sondern er war auch Eigentümer eines
geringern Teils der Ware; vornehmlich aber bestand sein Geschäft
darin, für größere Kaufleute den Transport der ihrigen treulich zu
besorgen.  Im Gespräch erfuhr ich von ihm, daß dieses Baumwolle sei,
welche aus Mazedonien und Cypern über Triest komme und vom Fuße des
Berges auf Maultieren und Saumrossen zu diesen Höhen und weiter bis
jenseits des Gebirgs gebracht werde, wo Spinner und Weber in Unzahl
durch Täler und Schluchten einen großen Vertrieb gesuchter Waren ins
Ausland vorbereiteten.  Die Ballen waren bequemeren Ladens wegen teils
anderthalb, teils drei Zentner schwer, welches letztere die volle
Last eines Saumtiers ausmacht.  Der Mann lobte die Qualität der auf
diesem Wege ankommenden Baumwolle, verglich sie mit der von Ost--und
Westindien, besonders mit der von Cayenne, als der bekanntesten; er
schien von seinem Geschäft sehr gut unterrichtet, und da es mir auch
nicht ganz unbekannt geblieben war, so gab es eine angenehme und
nützliche Unterhaltung.  Indessen war der ganze Zug vor uns vorüber,
und ich erblickte nur mit Widerwillen auf dem in die Höhe sich
schlängelnden Felsweg die unabsehliche Reihe dieser bepackten
Geschöpfe, hinter denen her man schleichen und in der herankommenden
Sonne zwischen Felsen braten sollte.  Indem ich mich nun gegen meinen
Boten darüber beschwerte, trat ein untersetzter, munterer Mann zu uns
heran, der auf einem ziemlich großen Reff eine verhältnismäßig
leichte Bürde zu tragen schien.  Man begrüßte sich, und es war gar
bald am derben Händeschütteln zu sehen, daß St.  Christoph und dieser
Ankömmling einander wohl bekannt seien; da erfuhr ich denn sogleich
über ihn folgendes.  Für die entfernteren Gegenden im Gebirge, woher
zu Markte zu gehen für jeden einzelnen Arbeiter zu weit wäre, gibt es
eine Art von untergeordnetem Handelsmann oder Sammler, welcher
Garnträger genannt wird.  Dieser steigt nämlich durch alle Täler und
Winkel, betritt Haus für Haus, bringt den Spinnern Baumwolle in
kleinen Partien, tauscht dagegen Garn ein oder kauft es, von welcher
Qualität es auch sein möge, und überläßt es dann wieder mit einigem
Profit im größern an die unterhalb ansässigen Fabrikanten.

Als nun die Unbequemlichkeit, hinter den Maultieren herzuschlendern,
abermals zur Sprache kam, lud mich der Mann sogleich ein, mit ihm ein
Seitental hinabzusteigen, das gerade hier von dem Haupttale sich
trennte, um die Wasser nach einer andern Himmelsgegend hinzuführen.
Der Entschluß war bald gefaßt, und nachdem wir mit einiger
Anstrengung einen etwas steilen Gebirgskamm überstiegen hatten, sahen
wir die jenseitigen Abhänge vor uns, zuerst höchst unerfreulich; das
Gestein hatte sich verändert und eine schiefrige Lage genommen; keine
Vegetation belebte Fels und Gerölle, und man sah sich von einem
schroffen Niederstieg bedroht.  Quellen rieselten von mehreren Seiten
zusammen; man kam sogar an einem mit schroffen Felsen umgebenen
kleinen See vorbei.  Endlich traten einzeln und dann mehr gesellig
Fichten, Lärchen und Birken hervor, dazwischen sodann zerstreute
ländliche Wohnungen, freilich von der kärglichsten Sorte, jede von
ihren Bewohnern selbst zusammengezimmert aus verschränkten Balken,
die großen, schwarzen Schindeln der Dächer mit Steinen beschwert,
damit sie der Wind nicht wegführe.  Unerachtet dieser äußern
traurigen Ansicht war der beschränkte innere Raum doch nicht
unangenehm; warm und trocken, auch reichlich gehalten, paßte er gar
gut zu dem frohen Aussehen der Bewohner, bei denen man sich alsobald
ländlich gesellig fühlte.

Der Bote schien erwartet, auch hatte man ihm aus dem kleinen
Schiebefenster entgegengesehen, denn er war gewohnt, wo möglich immer
an demselben Wochentage zu kommen; er handelte das Gespinst ein,
teilte frische Baumwolle aus; dann ging es rasch hinabwärts, wo
mehrere Häuser in geringer Entfernung nahe stehen.  Kaum erblickt man
uns, so laufen die Bewohner begrüßend zusammen, Kinder drängen sich
hinzu und werden mit einem Eierbrot, auch einer Semmel hoch erfreut.
Das Behagen war überall groß und vermehrt, als sich zeigte, daß St.
Christoph auch dergleichen aufgepackt und also gleichfalls die Freude
hatte, den kindlichsten Dank einzuernten; um so angenehmer für ihn,
als er sich, wie sein Geselle, mit dem kleinen Volke gar wohl zu
betun wußte.

Die Alten dagegen hielten gar mancherlei Fragen bereit; vom Krieg
wollte jedermann wissen, der glücklicherweise sehr entfernt geführt
wurde und auch näher solchen Gegenden kaum gefährlich gewesen wäre.
Sie freuten sich jedoch des Friedens, obgleich in Sorge wegen einer
andern drohenden Gefahr; denn es war nicht zu leugnen, das
Maschinenwesen vermehre sich immer im Lande und bedrohe die
arbeitsamen Hände nach und nach mit Untätigkeit.  Doch ließen sich
allerlei Trost--und Hoffnungsgründe beibringen.

Unser Mann wurde dazwischen wegen manches Lebensfalles um Rat
gefragt, ja sogar mußte er sich nicht allein als Hausfreund, sondern
auch als Hausarzt zeigen; Wundertropfen, Salze, Balsame führte er
jederzeit bei sich.

In die verschiedenen Häuser eintretend fand ich Gelegenheit, meiner
alten Liebhaberei nachzuhängen und mich von der Spinnertechnik zu
unterrichten.  Ich ward aufmerksam auf Kinder, welche sich sorgfältig
und emsig beschäftigten, die Flocken der Baumwolle
auseinanderzuzupfen und die Samenkörner, Splitter von den Schalen der
Nüsse nebst andern Unreinigkeiten wegzunehmen; sie nennen es erlesen.
Ich fragte, ob das nur das Geschäft der Kinder sei, erfuhr aber, daß
es in Winterabenden auch von Männern und Brüdern unternommen werde.

Rüstige Spinnerinnen zogen sodann, wie billig, meine Aufmerksamkeit
auf sich; die Vorbereitung geschieht folgendermaßen: Es wird die
erlesene oder gereinigte Baumwolle auf die Karden, welche in
Deutschland Krempel heißen, gleich ausgeteilt, gekardet, wodurch der
Staub davongeht und die Haare der Baumwolle einerlei Richtung
erhalten, dann abgenommen, zu Locken festgewickelt und so zum Spinnen
am Rad zubereitet.

Man zeigte mir dabei den Unterschied zwischen links und rechts
gedrehtem Garn; jenes ist gewöhnlich feiner und wird dadurch bewirkt,
daß man die Saite, welche die Spindel dreht, um den Wirtel
verschränkt, wie die Zeichnung nebenbei deutlich macht (die wir leider
wie die übrigen nicht mitgeben können).

Die Spinnende sitzt vor dem Rade, nicht zu hoch; mehrere hielten
dasselbe mit übereinandergelegten Füßen in festem Stande, andere nur
mit dem rechten Fuß, den linken zurücksetzend.  Mit der rechten Hand
dreht sie die Scheibe und langt aus, so weit und so hoch sie nur
reichen kann, wodurch schöne Bewegungen entstehen und eine schlanke
Gestalt sich durch zierliche Wendung des Körpers und runde Fülle der
Arme gar vorteilhaft auszeichnet; die Richtung besonders der letzten
Spinnweise gewährt einen sehr malerischen Kontrast, so daß unsere
schönsten Damen an wahrem Reiz und Anmut zu verlieren nicht fürchten
dürften, wenn sie einmal anstatt der Gitarre das Spinnrad handhaben
wollten.

In einer solchen Umgebung drängten sich neue, eigene Gefühle mir auf,
die schnurrenden Räder haben eine gewisse Beredsamkeit, die Mädchen
singen Psalmen, auch, obwohl seltener, andere Lieder.

Zeisige und Stieglitze, in Käfigen aufgehangen, zwitschern
dazwischen, und nicht leicht möchte ein Bild regeren Lebens gefunden
werden als in einer Stube, wo mehrere Spinnerinnen arbeiten.

Dem beschriebenen Rädligarn ist jedoch das Briefgarn vorzuziehen;
hiezu wird die beste Baumwolle genommen, welche längere Haare hat als
die andere.  Ist sie rein gelesen, so bringt man sie, anstatt zu
krempeln, auf Kämme, welche aus einfachen Reihen langer, stählerner
Nadeln bestehen, und kämmt sie; alsdann wird das längere und feinere
Teil derselben mit einem stumpfen Messer bänderweise (das Kunstwort
heißt ein Schnitz) abgenommen, zusammengewickelt und in eine
Papierdüte getan und diese nachher an der Kunkel befestigt.  Aus
einer solchen Düte nun wird mit der Spindel von der Hand gesponnen,
daher heißt es aus dem Brief spinnen und das gewonnene Garn Briefgarn.


Dieses Geschäft, welches nur von ruhigen, bedächtigen Personen
getrieben wird, gibt der Spinnerin ein sanfteres Ansehen als das am
Rade; kleidet dies letzte eine große, schlanke Figur zum besten, so
wird durch jenes eine ruhige, zarte Gestalt gar sehr begünstigt.
Dergleichen verschiedene Charaktere, verschiedenen Arbeiten zugetan,
erblickte ich mehrere in einer Stube und wußte zuletzt nicht recht,
ob ich meine Aufmerksamkeit der Arbeit oder den Arbeiterinnen zu
widmen hätte.

Leugnen aber dürft' ich nicht sodann, daß die Bergbewohnerinnen,
durch die seltenen Gäste aufgeregt, sich freundlich und gefällig
erwiesen.  Besonders freuten sie sich, daß ich mich nach allem so
genau erkundigte, was sie mir vorsprachen, bemerkte, ihre
Gerätschaften und einfaches Maschinenwerk zeichnete, ja selbst ihre
Arme, Hände und hübschen Glieder mit Zierlichkeit flüchtig
abschilderte, wie hier neben zu sehen sein sollte.  Auch ward, als
der Abend hereintrat, die vollbrachte Arbeit vorgewiesen, die vollen
Spindeln in dazu bestimmten Kästchen beiseitegelegt und das ganze
Tagewerk sorgfältig aufgehoben.  Nun war man schon bekannter geworden,
die Arbeit jedoch ging ihren Gang; nun beschäftigte man sich mit dem
Haspeln und zeigte schon viel freier teils die Maschine, teils die
Behandlung vor, und ich schrieb sorgfältig auf.

Der Haspel hat Rad und Zeiger, so daß sich bei jedesmaligem Umdrehen
eine Feder hebt, welche niederschlägt, sooft hundert Umgänge auf den
Haspel gekommen sind.  Man nennt nun die Zahl von tausend Umgängen
einen Schneller, nach deren Gewicht die verschiedene Feine des Garns
gerechnet wird.

Rechts gedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, links gedreht 60
bis 80, vielleicht auch 90.  Der Umgang des Haspels wird ungefähr
sieben Viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke,
fleißige Spinnerin behauptete, 4, auch 5 Schneller, das wären 5 000
Umgänge, also 8 bis 9000 Ellen Garn, täglich am Rad zu spinnen; sie
erbot sich zur Wette, wenn wir noch einen Tag bleiben wollten.

Darauf konnte denn doch die stille und bescheidene Briefspinnerin es
nicht ganz lassen und versicherte: daß sie aus dem Pfund 120
Schneller spinne in verhältnismäßiger Zeit.  (Briefgarnspinnen geht
nämlich langsamer als das Spinnen am Rade, wird auch besser bezahlt.
Vielleicht spinnt man am Rade wohl das Doppelte.) Sie hatte eben die
Zahl der Umgänge auf dem Haspel voll und zeigte mir, wie nun das Ende
des Fadens ein paarmal umgeschlagen und geknüpft werde; sie nahm den
Schneller ab, drehte ihn so, daß er in sich zusammenlief, zog das
eine Ende durch und konnte das Geschäft der geübten Spinnerin als
vollbracht mit unschuldiger Selbstgefälligkeit vorzeigen.

Da nun hier weiter nichts zu bemerken war, stand die Mutter auf und
sagte: da der junge Herr doch alles zu sehen wünsche, so wolle sie
ihm nun auch die Trockenweberei zeigen.  Sie erklärte mir mit
gleicher Gutmütigkeit, indem sie sich an den Webstuhl setzte, wie sie
nur diese Art handhabten, weil sie eigentlich allein für grobe
Kattune gelte, wo der Einschlag trocken eingetragen und nicht sehr
dicht geschlagen wird; sie zeigte mir denn auch solche trockene Ware;
diese ist immer glatt, ohne Streifen und Quadrate oder sonst irgendein
Abzeichen, und nur fünf bis fünfeinhalbes Viertel Elle breit.

Der Mond leuchtete hell vom Himmel, und unser Garnträger bestand auf
einer weitern Wallfahrt, weil er Tag und Stunde halten und überall
richtig eintreffen müsse; die Fußpfade seien gut und klar, besonders
bei solcher Nachtfackel.  Wir von unserer Seite erheiterten den
Abschied durch seidene Bänder und Halstücher, dergleichen Ware St.
Christoph ein ziemliches Paket mit sich trug; das Geschenk wurde der
Mutter gegeben, um es an die Ihrigen zu verteilen.



Dienstags, den 16.  Früh.

Die Wanderung durch eine herrliche klare Nacht war voll Anmut und
Erfreulichkeit; wir gelangten zu einer etwas größern
Hüttenversammlung, die man vielleicht hätte ein Dorf nennen dürfen;
in einiger Entfernung davon auf einem freien Hügel stand eine Kapelle,
und es fing schon an, wohnlicher und menschlicher auszusehen.  Wir
kamen an Umzäunungen vorbei, die zwar auf keine Gärten, aber doch auf
spärlichen, sorgfältig gehüteten Wieswachs hindeuteten.  Wir waren an
einen Ort gelangt, wo neben dem Spinnen das Weben ernstlicher
getrieben wird.

Unsere gestrige Tagereise, bis in die Nacht hinein verlängert, hatte
die rüstigen und jugendlichen Kräfte aufgezehrt; der Garnbote bestieg
den Heuboden, und ich war eben im Begriff, ihm zu folgen, als St.
Christoph mir sein Reff befahl und zur Türe hinausging.  Ich kannte
seine löbliche Absicht und ließ ihn gewähren.

Des andern Morgens jedoch war das erste, daß die Familie
zusammenlief und den Kindern streng verboten ward, nicht aus der Türe
zu gehen, indem ein greulicher Bär oder sonst ein Ungetüm in der Nähe
sich aufhalten müsse, denn es habe die Nacht über von der Kapelle her
dergestalt gestöhnt und gebrummt, daß Felsen und Häuser hier hüben
hätten erzittern mögen, und man riet, bei unserer heutigen längeren
Wanderung wohl auf der Hut zu sein.  Wir suchten die guten Leute
möglichst zu beruhigen, welches in dieser Einöde jedoch schwer
erschien.

Der Garnbote erklärte nunmehr, daß er eiligst sein Geschäft abtun
und alsdann kommen wolle, uns abzuholen, denn wir hätten heute einen
langen und beschwerlichen Weg vor uns, weil wir nicht mehr so im Tale
nur hinabschlendern, sondern einen vorgeschobenen Gebirgsriegel
mühsam überklettern würden.  Ich entschloß mich daher, die Zeit so gut
als möglich zu nutzen und mich von unsern guten Wirtsleuten in die
Vorhalle des Webens einführen zu lassen.

Beide waren ältliche Leute, in späteren Tagen noch mit zwei, drei
Kindern gesegnet; religiöse Gefühle und ahnungsvolle Vorstellungen
ward man an ihrer Umgebung, Tun und Reden gar bald gewahr.  Ich kam
gerade zum Anfang einer solchen Arbeit, dem übergang vom Spinnen zum
Weben, und da ich zu keiner weitern Zerstreuung Anlaß fand, so ließ
ich mir das Geschäft, wie es eben gerade im Gange war, in meine
Schreibtafel gleichsam diktieren.

Die erste Arbeit, das Garn zu leimen, war gestern verrichtet.  Man
siedet solches zu einem dünnen Leimwasser, welches aus Stärkemehl und
etwas Tischlerleim besteht, wodurch die Fäden mehr Halt bekommen.
Früh waren die Garnstränge schon trocken, und man bereitete sich zu
spulen, nämlich das Garn am Rade auf Rohrspulen zu winden.  Der alte
Großvater, am Ofen sitzend, verrichtete diese leichte Arbeit, ein
Enkel stand neben ihm und schien begierig, das Spulrad selbst zu
handhaben.  Indessen steckte der Vater die Spulen, um zu zetteln, auf
einen mit Querstäben abgeteilten Rahmen, so daß sie sich frei um
perpendikulär stehende starke Drähte bewegten und den Faden ablaufen
ließen.  Sie werden mit gröberm und feinerm Garn in der Ordnung
aufgesteckt, wie das Muster oder vielmehr die Striche im Gewebe es
erfordern.  Ein Instrument (das Brittli), ungefähr wie ein Sistrum
gestaltet, hat Löcher auf beiden Seiten, durch welche die Fäden
gezogen sind; dieses befindet sich in der Rechten des Zettlers, mit
der Linken faßt er die Fäden zusammen und legt sie, hin und wider
gehend, auf den Zettelrahmen.  Einmal von oben herunter und von unten
herauf heißt ein Gang, und nach Verhältnis der Dichtigkeit und Breite
des Gewebes macht man viele Gänge.  Die Länge beträgt entweder 64
oder nur 32 Ellen.  Beim Anfang eines jeden Ganges legt man mit den
Fingern der linken Hand immer einen oder zwei Fäden herauf und
ebensoviel herunter und nennt solches die Rispe; so werden die
verschränkten Fäden über die zwei oben an dem Zettelrahmen
angebrachten Nägel gelegt.  Dieses geschieht, damit der Weber die
Fäden in gehörig gleicher Ordnung erhalten kann.  Ist man mit dem
Zetteln fertig, so wird das Gerispe unterbunden und dabei ein jeder
Gang besonders abgeteilt, damit sich nichts verwirren kann; sodann
werden mit aufgelöstem Grünspan am letzten Gang Male gemacht, damit
der Weber das gehörige Maß wieder bringe; endlich wird abgenommen,
das Ganze in Gestalt eines großen Knäuels aufgewunden, welcher die
Werfte genannt wird.



Mittwoch, den 17.

Wir waren früh vor Tage aufgebrochen und genossen eines herrlichen
verspäteten Mondscheins.  Die hervorbrechende Helle, die aufgehende
Sonne ließ uns ein besser bewohntes und bebautes Land sehen.  Hatten
wir oben, um über Bäche zu kommen, Schrittsteine oder zuweilen einen
schmalen Steg, nur an der einen Seite mit Lehne versehen, angetroffen,
so waren hier schon steinerne Brücken über das immer breiter werdende
Wasser geschlagen; das Anmutige wollte sich nach und nach mit dem
Wilden gatten, und ein erfreulicher Eindruck ward von den sämtlichen
Wanderern empfunden.

über den Berg herüber, aus einer andern Flußregion, kam ein
schlanker, schwarzlockiger Mann hergeschritten und rief schon von
weitem, als einer, der gute Augen und eine tüchtige Stimme hat:
"Grüß' Euch Gott, Gevatter Garnträger!"  Dieser ließ ihn näher
herankommen, dann rief auch er mit Verwunderung: "Dank' Euch Gott,
Gevatter Geschirrfasser!  Woher des Landes? welche unerwartete
Begegnung!"  Jener antwortete herantretend: "Schon zwei Monate
schreit' ich im Gebirg herum, allen guten Leuten ihr Geschirr
zurechtzumachen und ihre Stühle so einzurichten, daß sie wieder eine
Zeitlang ungestört fortarbeiten können."  Hierauf sprach der Garnbote,
sich zu mir wendend: "Da Ihr, junger Herr, so viel Lust und Liebe zu
dem Geschäft beweist und Euch sorgfältig drum bekümmert, so kommt
dieser Mann gerade zur rechten Zeit, den ich Euch in diesen Tagen
schon still herbeigewünscht hatte, er würde Euch alles besser erklärt
haben als die Mädchen mit allem guten Willen; er ist Meister in seinem
Geschäft und versteht, was zur Spinnerei und dergleichen gehört,
vollkommen anzugeben, auszuführen, zu erhalten, wiederherzustellen,
wie es not tut und es jeder nur wünschen mag."

Ich besprach mich mit ihm und fand einen sehr verständigen, in
gewissem Sinne gebildeten, seiner Sache völlig gewachsenen Mann,
indem ich einiges, was ich dieser Tage gelernt hatte, mit ihm
wiederholte und einige Zweifel zu lösen bat; auch sagt' ich ihm, was
ich gestern schon von den Anfängen der Weberei gesehen.  Jener rief
dagegen freudig aus: "Das ist recht erwünscht, da komm' ich gerade
zur rechten Zeit, um einem so werten, lieben Herrn über die älteste
und herrlichste Kunst, die den Menschen eigentlich zuerst vom Tiere
unterscheidet, die nötige Auskunft zu geben.  Wir gelangen heute
gerade zu guten und geschickten Leuten, und ich will nicht
Geschirrfasser heißen, wenn Ihr nicht sogleich das Handwerk so gut
fassen sollt wie ich selbst."

Ihm wurde freundlicher Dank gezollt, das Gespräch mannigfaltig
fortgesetzt, und wir gelangten, nach einigem Rasten und Frühstück, zu
einer zwar auch unter--und übereinander, doch besser gebauten
Häusergruppe.  Er wies uns an das beste.  Der Garnbote ging mit mir
und St.  Christoph nach Abrede zuerst hinein, sodann aber, nach den
ersten Begrüßungen und einigen Scherzen, folgte der Schirrfasser, und
es war auffallend, daß sein Hereintreten eine freudige überraschung
in der Familie hervorbrachte.  Vater, Mutter, Töchter und Kinder
versammelten sich um ihn; einem am Weberstuhl sitzenden,
wohlgebildeten Mädchen stockte das Schiffchen in der Hand, das just
durch den Zettel durchfahren sollte, ebenso hielt sie auch den Tritt
an, stand auf und kam später, mit langsamer Verlegenheit ihm die Hand
zu reichen.  Beide, der Garnbote sowohl als der Schirrfasser, setzten
sich bald durch Scherz und Erzählung wieder in das alte Recht,
welches Hausfreunden gebührt, und nachdem man sich eine Zeitlang
gelabt, wendete sich der wackere Mann zu mir und sagte: "Sie, mein
guter Herr, dürfen wir über diese Freude des Wiedersehens nicht
hintansetzen: wir können noch tagelang miteinander schnacken; Sie
müssen morgen fort.  Lassen wir den Herrn in das Geheimnis unserer
Kunst sehen; Leimen und Zetteln kennt er, zeigen wir ihm das übrige
vor, die Jungfrauen da sind mir ja wohl behülflich.  Ich sehe, an
diesem Stuhl ist man beim Aufwinden."  Das Geschäft war der jüngeren,
zu der sie traten.  Die ältere setzte sich wieder an ihren Webstuhl
und verfolgte mit stiller, liebevoller Miene ihre lebhafte Arbeit.

Ich betrachtete nun sorgfältig das Aufwinden.  Zu diesem Zweck läßt
man die Gänge des Zettels nach der Ordnung durch einen großen Kamm
laufen, der eben die Breite des Weberbaums hat, auf welchen
aufgewunden werden soll; dieser ist mit einem Einschnitt versehen,
worin ein rundes Stäbchen liegt, welches durch das Ende des Zettels
durchgesteckt und in dem Einschnitt befestigt wird.  Ein kleiner
Junge oder Mädchen sitzt unter dem Weberstuhle und hält den Strang
des Zettels stark an, während die Weberin den Weberbaurn an einem
Hebel gewaltsam umdreht und zugleich achtgibt, daß alles in der
Ordnung zu liegen komme.  Wenn alles aufgewunden ist, so werden durch
die Rispe ein runder und zwei flache Stäbe, Schienen, gestoßen, damit
sie sich halte, und nun beginnt das Eindrehen.

Vom alten Gewebe ist noch etwa eine Viertelelle am zweiten Weberbaum
übriggeblieben, und von diesem laufen etwa drei Viertelellen lang die
Fäden durch das Blatt in der Lade sowohl als durch die Flügel des
Geschirrs.  An diese Fäden nun dreht die Weberin die Fäden des neuen
Zettels, einen um den andern, sorgfältig an, und wenn sie fertig ist,
wird alles Angedrehte auf einmal durchgezogen, so daß die neuen Fäden
bis an den noch leeren vordern Weberbaum reichen; die abgerissenen
Fäden werden angeknüpft, der Eintrag auf kleine Spulen gewunden, wie
sie ins Weberschiffchen passen, und die letzte Vorbereitung zum Weben
gemacht, nämlich geschlichtet.

So lang der Weberstuhl ist, wird der Zettel mit einem Leimwasser,
aus Handschuhleder bereitet, vermittelst eingetauchter Bürsten durch
und durch angefeuchtet, sodann werden die obengedachten Schienen, die
das Gerispe halten, zurückgezogen, alle Fäden aufs genaueste in
Ordnung gelegt und alles so lange mit einem an einen Stab gebundenen
Gänseflügel gefächelt, bis es trocken ist, und nun kann das Weben
begonnen und fortgesetzt werden, bis es wieder nötig wird zu
schlichten.

Das Schlichten und Fächeln ist gewöhnlich jungen Leuten überlassen,
welche zu dem Webergeschäft herangezogen werden, oder in der Muße der
Winterabende leistet ein Bruder oder ein Liebhaber der hübschen
Weberin diesen Dienst, oder diese machen wenigstens die kleinen
Spülchen mit dem Eintragsgarn.

Feine Musseline werden naß gewebt, nämlich der Strang des
Einschlagegarns wird in Leimwasser getaucht, noch naß auf die kleinen
Spulen gewunden und sogleich verarbeitet, wodurch sich das Gewebe
gleicher schlagen läßt und klarer erscheint.



Donnerstag, den 18.  September.

Ich fand überhaupt etwas Geschäftiges, unbeschreiblich Belebtes,
Häusliches, Friedliches in dem ganzen Zustand einer solchen
Weberstube; mehrere Stühle waren in Bewegung, da gingen noch
Spinn--und Spulräder, und am Ofen die Alten mit den besuchenden
Nachbarn oder Bekannten sitzend und trauliche Gespräche führend.
Zwischendurch ließ sich wohl auch Gesang hören, meistens Ambrosius
Lobwassers vierstimmige Psalmen, seltener weltliche Lieder; dann
bricht auch wohl ein fröhlich schallendes Gelächter der Mädchen aus,
wenn Vetter Jakob einen witzigen Einfall gesagt hat.

Eine recht flinke und zugleich fleißige Weberin kann, wenn sie Hülfe
hat, allenfalls in einer Woche ein Stück von 32 Ellen nicht gar zu
feine Musseline zustande bringen; es ist aber sehr selten, und bei
einigen Hausgeschäften ist solches gewöhnlich die Arbeit von vierzehn
Tagen.

Die Schönheit des Gewebes hängt vom gleichen Auftreten des
Webegeschirres ab, vom gleichen Schlag der Lade, wie auch davon, ob
der Eintrag naß oder trocken geschieht.  Völlig egale und zugleich
kräftige Anspannung trägt ebenfalls bei, zu welchem Ende die Weberin
feiner baumwollener Tücher einen schweren Stein an den Nagel des
vordern Weberbaums hängt.  Wenn während der Arbeit das Gewebe kräftig
angespannt wird (das Kunstwort heißt dämmen), so verlängert es sich
merklich, auf 32 Ellen 3/4 und auf 64 etwa 1 1/2 Elle; dieser
überschuß nun gehört der Weberin, wird ihr extra bezahlt, oder sie
hebt sich's zu Halstüchern, Schürzen usw. auf.



In der klarsten, sanftesten Mondnacht, wie sie nur in hohen
Gebirgszügen obwaltet, saß die Familie mit ihren Gästen vor der
Haustüre im lebhaftesten Gespräch, Lenardo in tiefen Gedanken.  Schon
unter allem dem Weben und Wirken und so manchen handwerklichen
Betrachtungen und Bemerkungen war ihm jener von Freund Wilhelm zu
seiner Beruhigung geschriebene Brief wieder ins Gedächtnis gekommen.
Die Worte, die er so oft gelesen, die Zeilen, die er mehrmals
angeschaut, stellten sich wieder seinem innern Sinne dar.  Und wie
eine Lieblingsmelodie, ehe wir uns versehen, auf einmal dem tiefsten
Gehör leise hervortritt, so wiederholte sich jene zarte Mitteilung in
der stillen, sich selbst angehörigen Seele.

"Häuslicher Zustand, auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und
Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im
glücklichsten Verhältnis der Pflichten zu den Fähigkeiten und Kräften.
Um sie her bewegt sich ein Kreislauf von Handarbeitenden im
reinsten, anfänglichsten Sinne; hier ist Beschränktheit und Wirkung in
die Ferne, Umsicht und Mäßigung, Unschuld und Tätigkeit."

Aber diesmal mehr aufregend als beschwichtigend war die Erinnerung.
"Paßt doch", sprach er zu sich selbst, "diese allgemein lakonische
Beschreibung ganz und gar auf den Zustand, der mich hier umgibt.  Ist
nicht auch hier Friede, Frömmigkeit, ununterbrochene Tätigkeit?  Nur
eine Wirkung in die Ferne will mir nicht gleichermaßen deutlich
scheinen.  Mag doch die Gute einen ähnlichen Kreis beleben, aber einen
weitern, einen bessern; sie mag sich behaglich wie diese hier,
vielleicht noch behaglicher, finden, mit mehr Heiterkeit und Freiheit
umherschauen."

Nun aber durch ein lebhaftes, sich steigerndes Gespräch der übrigen
aufgeregt, mehr Acht habend auf das, was verhandelt wurde, ward ihm
ein Gedanke, den er diese Stunden her gehegt, vollkommen lebendig.
Sollte nicht eben dieser Mann, dieser mit Werkzeug und Geschirr so
meisterhaft umgehende, für unsre Gesellschaft das nützlichste
Mitglied werden können?  Er überlegte das und alles, wie ihm die
Vorzüge dieses gewandten Arbeiters schon stark in die Augen
geleuchtet.  Er lenkte daher das Gespräch dahin und machte, zwar wie
im Scherze, aber desto unbewundender, jenem den Antrag, ob er sich
nicht mit einer bedeutenden Gesellschaft verbinden und den Versuch
machen wolle, übers Meer auszuwandern.

Jener entschuldigte sich, gleichfalls heiter beteuernd, daß es ihm
hier wohl gehe, daß er noch Besseres erwarte; in dieser Landesart sei
er geboren, darin gewöhnt, weit und breit bekannt und überall
vertraulich aufgenommen. überhaupt werde man in diesen Tälern keine
Neigung zur Auswanderung finden, keine Not ängstige sie und ein Gebirg
halte seine Leute fest.

"Deswegen wundert's mich", sagte der Garnbote, "daß es heißen will,
Frau Susanne werde den Faktor heiraten, ihr Besitztum verkaufen und
mit schönem Geld übers Meer ziehen."  Auf Befragen erfuhr unser
Freund, es sei eine junge Witwe, die in guten Umständen ein
reichliches Gewerbe mit den Erzeugnissen des Gebirges betreibe, wovon
sich der wandernd Reisende morgen gleich selbst überzeugen könne,
indem man auf dem eingeschlagenen Wege zeitig bei ihr eintreffen
werde.  "Ich habe sie schon verschiedentlich nennen hören", versetzte
Lenardo, "als belebend und wohltätig in diesem Tale, und versäumte,
nach ihr zu fragen."

"Gehen wir aber zur Ruh", sagte der Garnbote, "um den morgenden Tag,
der heiter zu werden verspricht, von früh auf zu nutzen."



Hier endigte das Manuskript, und als Wilhelm nach der Fortsetzung
verlangte, hatte er zu erfahren, daß sie gegenwärtig nicht in den
Händen der Freunde sei.  Sie ward, sagte man, an Makarien gesendet,
welche gewisse Verwicklungen, deren darin gedacht worden, durch Geist
und Liebe schlichten und bedenkliche Verknüpfungen auflösen solle.
--Der Freund mußte sich diese Unterbrechung gefallen lassen und sich
bereiten, an einem geselligen Abend, in heiterer Unterhaltung,
Vergnügen zu finden.



Sechstes Kapitel

Als der Abend herbeikam und die Freunde in einer weit
umherschauenden Laube saßen, trat eine ansehnliche Figur auf die
Schwelle, welche unser Freund sogleich für den Barbier von heute früh
erkannte.  Auf einen tiefen, stummen Bückling des Mannes erwiderte
Lenardo: "Ihr kommt, wie immer, sehr gelegen und werdet nicht säumen,
uns mit Eurem Talent zu erfreuen.  Ich kann Ihnen wohl", fuhr er zu
Wilhelmen gewendet fort, "einiges von der Gesellschaft erzählen,
deren Band zu sein ich mich rühmen darf.  Niemand tritt in unsern
Kreis, als wer gewisse Talente aufzuweisen hat, die zum Nutzen oder
Vergnügen einer jeden Gesellschaft dienen würden.  Dieser Mann ist
ein derber Wundarzt, der in bedenklichen Fällen, wo Entschluß und
körperliche Kraft gefordert wird, seinem Meister trefflich an der
Seite zu stehen bereit ist.  Was er als Bartkünstler leistet, davon
können Sie ihm selbst ein Zeugnis geben.  Hiedurch ist er uns ebenso
nötig als willkommen.  Da nun aber diese Beschäftigung gewöhnlich
eine große und oft lästige Geschwätzigkeit mit sich führt, so hat er
sich zu eigner Bildung eine Bedingung gefallen lassen; wie denn jeder,
der unter uns leben will, sich von einer gewissen Seite bedingen muß,
wenn ihm nach anderen Seiten hin die größere Freiheit gewährt ist.
Dieser also hat nun auf die Sprache Verzicht getan, insofern etwas
Gewöhnliches oder Zufälliges durch sie ausgedrückt wird; daraus aber
hat sich ihm ein anderes Redetalent entwickelt, welches absichtlich,
klug und erfreulich wirkt, die Gabe des Erzählens nämlich.

Sein Leben ist reich an wunderlichen Erfahrungen, die er sonst zu
ungelegener Zeit schwätzend zersplitterte, nun aber, durch Schweigen
genötigt, im stillen Sinne wiederholt und ordnet.  Hiermit verbindet
sich denn die Einbildungskraft und verleiht dem Geschehenen Leben und
Bewegung.  Mit besonderer Kunst und Geschicklichkeit weiß er wahrhafte
Märchen und märchenhafte Geschichten zu erzählen, wodurch er oft zur
schicklichen Stunde uns gar sehr ergötzt, wenn ihm die Zunge durch
mich gelöst wird; wie ich denn gegenwärtig tue und ihm zugleich das
Lob erteile, daß er sich in geraumer Zeit, seitdem ich ihn kenne, noch
niemals wiederholt hat.  Nun hoff' ich, daß er auch diesmal, unserm
teuren Gast zu Lieb' und Ehren, sich besonders hervortun werde."

über das Gesicht des Rotmantels verbreitete sich eine geistreiche
Heiterkeit, und er fing ungesäumt folgendermaßen zu sprechen an.  Die
neue Melusine

Hochverehrte Herren!  Da mir bekannt ist, daß Sie vorläufige Reden
und Einleitungen nicht besonders lieben, so will ich ohne weiteres
versichern, daß ich diesmal vorzüglich gut zu bestehen hoffe.  Von
mir sind zwar schon gar manche wahrhafte Geschichten zu hoher und
allseitiger Zufriedenheit ausgegangen, heute aber darf ich sagen, daß
ich eine zu erzählen habe, welche die bisherigen weit übertrifft und
die, wiewohl sie mir schon vor einigen Jahren begegnet ist, mich noch
immer in der Erinnerung unruhig macht, ja sogar eine endliche
Entwicklung hoffen läßt.  Sie möchte schwerlich ihresgleichen finden.

Vorerst sei gestanden, daß ich meinen Lebenswandel nicht immer so
eingerichtet, um der nächsten Zeit, ja des nächsten Tages ganz sicher
zu sein.  Ich war in meiner Jugend kein guter Wirt und fand mich oft
in mancherlei Verlegenheit.  Einst nahm ich mir eine Reise vor, die
mir guten Gewinn verschaffen sollte; aber ich machte meinen Zuschnitt
ein wenig zu groß, und nachdem ich sie mit Extrapost angefangen und
sodann auf der ordinären eine Zeitlang fortgesetzt hatte, fand ich
mich zuletzt genötigt, dem Ende derselben zu Fuße entgegenzugehen.



Als ein lebhafter Bursche hatte ich von jeher die Gewohnheit, sobald
ich in ein Wirtshaus kam, mich nach der Wirtin oder auch nach der
Köchin umzusehen und mich schmeichlerisch gegen sie zu bezeigen,
wodurch denn meine Zeche meistens vermindert wurde.

Eines Abends, als ich in das Posthaus eines kleinen Städtchens trat
und eben nach meiner hergebrachten Weise verfahren wollte, rasselte
gleich hinter mir ein schöner zweisitziger Wagen, mit vier Pferden
bespannt, an der Türe vor.  Ich wendete mich um und sah ein
Frauenzimmer allein, ohne Kammerfrau, ohne Bedienten.  Ich eilte
sogleich, ihr den Schlag zu eröffnen und zu fragen, ob sie etwas zu
befehlen habe.  Beim Aussteigen zeigte sich eine schöne Gestalt, und
ihr liebenswürdiges Gesicht war, wenn man es näher betrachtete, mit
einem kleinen Zug von Traurigkeit geschmückt.  Ich fragte nochmals, ob
ich ihr in etwas dienen könne.--"O ja!" sagte sie, "wenn Sie mir mit
Sorgfalt das Kästchen, das auf dem Sitze steht, herausheben und
hinauftragen wollen; aber ich bitte gar sehr, es recht stät zu tragen
und im mindesten nicht zu bewegen oder zu rütteln."  Ich nahm das
Kästchen mit Sorgfalt, sie verschloß den Kutschenschlag, wir stiegen
zusammen die Treppe hinauf, und sie sagte dem Gesinde, daß sie diese
Nacht hier bleiben würde.

Nun waren wir allein in dem Zimmer, sie hieß mich das Kästchen auf
den Tisch setzen, der an der Wand stand, und als ich an einigen ihrer
Bewegungen merkte, daß sie allein zu sein wünschte, empfahl ich mich,
indem ich ihr ehrerbietig, aber feurig die Hand küßte.

"Bestellen Sie das Abendessen für uns beide", sagte sie darauf; und
es läßt sich denken, mit welchem Vergnügen ich diesen Auftrag
ausrichtete, wobei ich denn zugleich in meinem übermut Wirt, Wirtin
und Gesinde kaum über die Achsel ansah.  Mit Ungeduld erwartete ich
den Augenblick, der mich endlich wieder zu ihr führen sollte.  Es war
aufgetragen, wir setzten uns gegen einander über, ich labte mich zum
erstenmal seit geraumer Zeit an einem guten Essen und zugleich an
einem so erwünschten Anblick; ja mir kam es vor, als wenn sie mit
jeder Minute schöner würde.

Ihre Unterhaltung war angenehm, doch suchte sie alles abzulehnen,
was sich auf Neigung und Liebe bezog.  Es ward abgeräumt; ich
zauderte, ich suchte allerlei Kunstgriffe, mich ihr zu nähern, aber
vergebens: sie hielt mich durch eine gewisse Würde zurück, der ich
nicht widerstehen konnte, ja ich mußte wider meinen Willen zeitig
genug von ihr scheiden.

Nach einer meist durchwachten und unruhig durchträumten Nacht war
ich früh auf, erkundigte mich, ob sie Pferde bestellt habe; ich hörte
nein und ging in den Garten, sah sie angekleidet am Fenster stehen
und eilte zu ihr hinauf.  Als sie mir so schön und schöner als
gestern entgegenkam, regte sich auf einmal in mir Neigung, Schalkheit
und Verwegenheit; ich stürzte auf sie zu und faßte sie in meine Arme.
"Englisches, unwiderstehliches Wesen!" rief ich aus: "verzeih, aber
es ist unmöglich!"  Mit unglaublicher Gewandtheit entzog sie sich
meinen Armen, und ich hatte ihr nicht einmal einen Kuß auf die Wange
drücken können.  "Halten Sie solche Ausbrüche einer plötzlichen
leidenschaftlichen Neigung zurück, wenn Sie ein Glück nicht
verscherzen wollen, das Ihnen sehr nahe liegt, das aber erst nach
einigen Prüfungen ergriffen werden kann."

"Fordere, was du willst, englischer Geist!" rief ich aus, "aber
bringe mich nicht zur Verzweiflung."  Sie versetzte lächelnd: "Wollen
Sie sich meinem Dienste widmen, so hören Sie die Bedingungen!  Ich
komme hierher, eine Freundin zu besuchen, bei der ich einige Tage zu
verweilen gedenke; indessen wünsche ich, daß mein Wagen und dies
Kästchen weitergebracht werden.  Wollen Sie es übernehmen?  Sie haben
dabei nichts zu tun, als das Kästchen mit Behutsamkeit in und aus dem
Wagen zu heben; wenn es darin steht, sich daneben zu setzen und jede
Sorge dafür zu tragen.  Kommen Sie in ein Wirtshaus, so wird es auf
einen Tisch gestellt, in eine besondere Stube, in der Sie weder
wohnen noch schlafen dürfen.  Sie verschließen die Zimmer jedesmal
mit diesem Schlüssel, der alle Schlösser auf--und zuschließt und dem
Schlosse die besondere Eigenschaft gibt, daß es niemand in der
Zwischenzeit zu eröffnen imstande ist."

Ich sah sie an, mir ward sonderbar zumute; ich versprach, alles zu
tun, wenn ich hoffen könnte, sie bald wieder zu sehen, und wenn sie
mir diese Hoffnung mit einem Kuß besiegelte.  Sie tat es, und von dem
Augenblick an war ich ihr ganz leibeigen geworden.  Ich sollte nun
die Pferde bestellen, sagte sie.  Wir besprachen den Weg, den ich
nehmen, die Orte, wo ich mich aufhalten und sie erwarten sollte.  Sie
drückte mir zuletzt einen Beutel mit Gold in die Hand, und ich meine
Lippen auf ihre Hände.  Sie schien gerührt beim Abschied, und ich
wußte schon nicht mehr, was ich tat oder tun sollte.

Als ich von meiner Bestellung zurückkam, fand ich die Stubentür
verschlossen.  Ich versuchte gleich meinen Hauptschlüssel, und er
machte sein Probestück vollkommen.  Die Türe sprang auf, ich fand das
Zimmer leer, nur das Kästchen stand auf dem Tische, wo ich es
hingestellt hatte.

Der Wagen war vorgefahren, ich trug das Kästchen sorgfältig hinunter
und setzte es neben mich.  Die Wirtin fragte: "Wo ist denn die Dame?"
Ein Kind antwortete: "Sie ist in die Stadt gegangen."  Ich begrüßte
die Leute und fuhr wie im Triumph von hinnen, der ich gestern abend
mit bestaubten Gamaschen hier angekommen war.  Daß ich nun bei guter
Muße diese Geschichte hin und her überlegte, das Geld zählte,
mancherlei Entwürfe machte und immer gelegentlich nach dem Kästchen
schielte, können Sie leicht denken.  Ich fuhr nun stracks vor mich
hin, stieg mehrere Stationen nicht aus und rastete nicht, bis ich zu
einer ansehnlichen Stadt gelangt war, wohin sie mich beschieden hatte.
Ihre Befehle wurden sorgfältig beobachtet, das Kästchen in ein
besonderes Zimmer gestellt und ein paar Wachslichter daneben,
unangezündet, wie sie auch verordnet hatte.  Ich verschloß das Zimmer,
richtete mich in dem meinigen ein und tat mir etwas zugute.

Eine Weile konnte ich mich mit dem Andenken an sie beschäftigen,
aber gar bald wurde mir die Zeit lang.  Ich war nicht gewohnt, ohne
Gesellschaft zu leben; diese fand ich bald an Wirtstafeln und an
öffentlichen Orten nach meinem Sinne.  Mein Geld fing bei dieser
Gelegenheit an zu schmelzen und verlor sich eines Abends völlig aus
meinem Beutel, als ich mich unvorsichtig einem leidenschaftlichen
Spiel überlassen hatte.  Auf meinem Zimmer angekommen, war ich außer
mir.  Von Geld entblößt, mit dem Ansehen eines reichen Mannes eine
tüchtige Zeche erwartend, ungewiß, ob und wann meine Schöne sich
wieder zeigen würde, war ich in der größten Verlegenheit.  Doppelt
sehnte ich mich nach ihr und glaubte nun gar nicht mehr ohne sie und
ohne ihr Geld leben zu können.

Nach dem Abendessen, das mir gar nicht geschmeckt hatte, weil ich es
diesmal einsam zu genießen genötigt worden, ging ich in dem Zimmer
lebhaft auf und ab, sprach mit mir selbst, verwünschte mich, warf
mich auf den Boden, zerraufte mir die Haare und erzeigte mich ganz
ungebärdig.  Auf einmal höre ich in dem verschlossenen Zimmer nebenan
eine leise Bewegung und kurz nachher an der wohlverwahrten Türe
pochen.  Ich raffe mich zusammen, greife nach dem Hauptschlüssel,
aber die Flügeltüren springen von selbst auf, und im Schein jener
brennenden Wachslichter kommt mir meine Schöne entgegen.  Ich werfe
mich ihr zu Füßen, küsse ihr Kleid, ihre Hände, sie hebt mich auf,
ich wage nicht, sie zu umarmen, kaum sie anzusehen; doch gestehe ich
ihr aufrichtig und reuig meinen Fehler.  "Er ist zu verzeihen", sagte
sie, "nur verspätet Ihr leider Euer Glück und meines.  Ihr müßt nun
abermals eine Strecke in die Welt hineinfahren, ehe wir uns wieder
sehen.  Hier ist noch mehr Gold", sagte sie, "und hinreichend, wenn
Ihr einigermaßen haushalten wollt.  Hat Euch aber diesmal Wein und
Spiel in Verlegenheit gesetzt, so hütet Euch nun vor Wein und Weibern
und laßt mich auf ein fröhlicheres Wiedersehen hoffen."

Sie trat über die Schwelle zurück, die Flügel schlugen zusammen, ich
pochte, ich bat, aber nichts ließ sich weiter hören.  Als ich den
andern Morgen die Zeche verlangte, lächelte der Kellner und sagte:
"So wissen wir doch, warum Ihr Eure Türen auf eine so künstliche und
unbegreifliche Weise verschließt, daß kein Hauptschlüssel sie öffnen
kann.  Wir vermuteten bei Euch viel Geld und Kostbarkeiten; nun aber
haben wir den Schatz die Treppe hinuntergehen sehn, und auf alle
Weise schien er würdig, wohl verwahrt zu werden."

Ich erwiderte nichts dagegen, zahlte meine Rechnung und stieg mit
meinem Kästchen in den Wagen.  Ich fuhr nun wieder in die Welt hinein
mit dem festesten Vorsatz, auf die Warnung meiner geheimnisvollen
Freundin künftig zu achten.  Doch war ich kaum abermals in einer
großen Stadt angelangt, so ward ich bald mit liebenswürdigen
Frauenzimmern bekannt, von denen ich mich durchaus nicht losreißen
konnte.  Sie schienen mir ihre Gunst teuer anrechnen zu wollen; denn
indem sie mich immer in einiger Entfernung hielten, verleiteten sie
mich zu einer Ausgabe nach der andern, und da ich nur suchte, ihr
Vergnügen zu befördern, dachte ich abermals nicht an meinen Beutel,
sondern zahlte und spendete immerfort, so wie es eben vorkam.  Wie
groß war daher meine Verwunderung und mein Vergnügen, als ich nach
einigen Wochen bemerkte, daß die Fülle des Beutels noch nicht
abgenommen hatte, sondern daß er noch so rund und strotzend war wie
anfangs.  Ich wollte mich dieser schönen Eigenschaft näher versichern,
setzte mich hin zu zählen, merkte mir die Summe genau und fing nun an,
mit meiner Gesellschaft lustig zu leben wie vorher.  Da fehlte es
nicht an Land--und Wasserfahrten, an Tanz, Gesang und andern
Vergnügungen.  Nun bedurfte es aber keiner großen Aufmerksamkeit, um
gewahr zu werden, daß der Beutel wirklich abnahm, eben als wenn ich
ihm durch mein verwünschtes Zählen die Tugend, unzählbar zu sein,
entwendet hätte.  Indessen war das Freudenleben einmal im Gange, ich
konnte nicht zurück, und doch war ich mit meiner Barschaft bald am
Ende.  Ich verwünschte meine Lage, schalt auf meine Freundin, die mich
so in Versuchung geführt hatte, nahm es ihr übel auf, daß sie sich
nicht wieder sehen lassen, sagte mich im ärger von allen Pflichten
gegen sie los und nahm mir vor, das Kästchen zu öffnen, ob vielleicht
in demselben einige Hülfe zu finden sei.  Denn war es gleich nicht
schwer genug, um Geld zu enthalten, so konnten doch Juwelen darin
sein, und auch diese wären mir sehr willkommen gewesen.  Ich war im
Begriff, den Vorsatz auszuführen, doch verschob ich ihn auf die Nacht,
um die Operation recht ruhig vorzunehmen, und eilte zu einem Bankett,
das eben angesagt war.  Da ging es denn wieder hoch her, und wir waren
durch Wein und Trompetenschall mächtig aufgeregt, als mir der
unangenehme Streich passierte, daß beim Nachtische ein älterer Freund
meiner liebsten Schönheit, von Reisen kommend, unvermutet hereintrat,
sich zu ihr setzte und ohne große Umstände seine alten Rechte geltend
zu machen suchte.  Daraus entstand nun bald Unwille, Hader und Streit;
wir zogen vom Leder, und ich ward mit mehreren Wunden halbtot nach
Hause getragen.

Der Chirurgus hatte mich verbunden und verlassen, es war schon tief
in der Nacht, mein Wärter eingeschlafen; die Tür des Seitenzimmers
ging auf, meine geheimnisvolle Freundin trat herein und setzte sich
zu mir ans Bette.  Sie fragte nach meinem Befinden; ich antwortete
nicht, denn ich war matt und verdrießlich.  Sie fuhr fort, mit vielem
Anteil zu sprechen, rieb mir die Schläfe mit einem gewissen Balsam,
so daß ich mich geschwind und entschieden gestärkt fühlte, so
gestärkt, daß ich mich erzürnen und sie ausschelten konnte.  In einer
heftigen Rede warf ich alle Schuld meines Unglücks auf sie, auf die
Leidenschaft, die sie mir eingeflößt, auf ihr Erscheinen, ihr
Verschwinden, auf die Langeweile, auf die Sehnsucht, die ich
empfinden mußte.  Ich ward immer heftiger und heftiger, als wenn mich
ein Fieber anfiele, und ich schwur ihr zuletzt, daß, wenn sie nicht
die Meinige sein, mir diesmal nicht angehören und sich mit mir
verbinden wolle, so verlange ich nicht länger zu leben; worauf ich
entschiedene Antwort forderte.  Als sie zaudernd mit einer Erklärung
zurückhielt, geriet ich ganz außer mir, riß den doppelten und
dreifachen Verband von den Wunden, mit der entschiedenen Absicht, mich
zu verbluten.  Aber wie erstaunte ich, als ich meine Wunden alle
geheilt, meinen Körper schmuck und glänzend und sie in meinen Armen
fand.

Nun waren wir das glücklichste Paar von der Welt.  Wir baten
einander wechselseitig um Verzeihung und wußten selbst nicht recht
warum.  Sie versprach nun, mit mir weiterzureisen, und bald saßen wir
nebeneinander im Wagen, das Kästchen gegen uns über, am Platze der
dritten Person.  Ich hatte desselben niemals gegen sie erwähnt; auch
jetzt fiel mir's nicht ein, davon zu reden, ob es uns gleich vor den
Augen stand und wir durch eine stillschweigende übereinkunft beide
dafür sorgten, wie es etwa die Gelegenheit geben mochte; nur daß ich
es immer in und aus dem Wagen hob und mich wie vormals mit dem
Verschluß der Türen beschäftigte.

Solange noch etwas im Beutel war, hatte ich immer fortbezahlt; als
es mit meiner Barschaft zu Ende ging, ließ ich sie es merken.--"Dafür
ist leicht Rat geschafft", sagte sie und deutete auf ein Paar kleine
Taschen, oben an der Seite des Wagens angebracht, die ich früher wohl
bemerkt, aber nicht gebraucht hatte.  Sie griff in die eine und zog
einige Goldstücke heraus, sowie aus der andern einige Silbermünzen,
und zeigte mir dadurch die Möglichkeit, jeden Aufwand, wie es uns
beliebte, fortzusetzen.  So reisten wir von Stadt zu Stadt, von Land
zu Land, waren unter uns und mit andern froh, und ich dachte nicht
daran, daß sie mich wieder verlassen könnte, um so weniger, als sie
sich seit einiger Zeit entschieden guter Hoffnung befand, wodurch
unsere Heiterkeit und unsere Liebe nur noch vermehrt wurde.  Aber
eines Morgens fand ich sie leider nicht mehr, und weil mir der
Aufenthalt ohne sie verdrießlich war, machte ich mich mit meinem
Kästchen wieder auf den Weg, versuchte die Kraft der beiden Taschen
und fand sie noch immer bewährt.

Die Reise ging glücklich vonstatten, und wenn ich bisher über mein
Abenteuer weiter nicht nachdenken mögen, weil ich eine ganz
natürliche Entwicklung der wundersamen Begebenheiten erwartete, so
ereignete sich doch gegenwärtig etwas, wodurch ich in Erstaunen, in
Sorgen, ja in Furcht gesetzt wurde.  Weil ich, um von der Stelle zu
kommen, Tag und Nacht zu reisen gewohnt war, so geschah es, daß ich
oft im Finstern fuhr und es in meinem Wagen, wenn die Laternen
zufällig ausgingen, ganz dunkel war.  Einmal bei so finsterer Nacht
war ich eingeschlafen, und als ich erwachte, sah ich den Schein eines
Lichtes an der Decke meines Wagens.  Ich beobachtete denselben und
fand, daß er aus dem Kästchen hervorbrach, das einen Riß zu haben
schien, eben als wäre es durch die heiße und trockene Witterung der
eingetretenen Sommerzeit gesprungen.  Meine Gedanken an die Juwelen
wurden wieder rege, ich vermutete, daß ein Karfunkel im Kästchen
liege, und wünschte darüber Gewißheit zu haben.  Ich rückte mich, so
gut ich konnte, zurecht, so daß ich mit dem Auge unmittelbar den Riß
berührte.  Aber wie groß war mein Erstaunen, als ich in ein von
Lichtern wohl erhelltes, mit viel Geschmack, ja Kostbarkeit
möbliertes Zimmer hineinsah, gerade so als hätte ich durch die
öffnung eines Gewölbes in einen königlichen Saal hinabgesehn.  Zwar
konnte ich nur einen Teil des Raums beobachten, der mich auf das
übrige schließen ließ.  Ein Kaminfeuer schien zu brennen, neben
welchem ein Lehnsessel stand.  Ich hielt den Atem an mich und fuhr
fort zu beobachten.  Indem kam von der andern Seite des Saals ein
Frauenzimmer mit einem Buch in den Händen, die ich sogleich für meine
Frau erkannte, obschon ihr Bild nach dem allerkleinsten Maßstabe
zusammengezogen war.  Die Schöne setzte sich in den Sessel ans Kamin,
um zu lesen, legte die Brände mit der niedlichsten Feuerzange zurecht,
wobei ich deutlich bemerken konnte, das allerliebste kleine Wesen sei
ebenfalls guter Hoffnung.  Nun fand ich mich aber genötigt, meine
unbequeme Stellung einigermaßen zu verrücken, und bald darauf, als
ich wieder hineingehen und mich überzeugen wollte, daß es kein Traum
gewesen, war das Licht verschwunden, und ich blickte in eine leere
Finsternis.

Wie erstaunt, ja erschrocken ich war, läßt sich begreifen.  Ich
machte mir tausend Gedanken über diese Entdeckung und konnte doch
eigentlich nichts denken.  Darüber schlief ich ein, und als ich
erwachte, glaubte ich eben nur geträumt zu haben; doch fühlte ich
mich von meiner Schönen einigermaßen entfremdet, und indem ich das
Kästchen nur desto sorgfältiger trug, wußte ich nicht, ob ich ihre
Wiedererscheinung in völliger Menschengröße wünschen oder fürchten
sollte.

Nach einiger Zeit trat denn wirklich meine Schöne gegen Abend in
weißem Kleide herein, und da es eben im Zimmer dämmerte, so kam sie
mir länger vor, als ich sie sonst zu sehen gewohnt war, und ich
erinnerte mich, gehört zu haben, daß alle vom Geschlecht der Nixen
und Gnomen bei einbrechender Nacht an Länge gar merklich zunähmen.
Sie flog wie gewöhnlich in meine Arme, aber ich konnte sie nicht
recht frohmütig an meine beklemmte Brust drücken.

"Mein Liebster", sagte sie, "ich fühle nun wohl an deinem Empfang,
was ich leider schon weiß.  Du hast mich in der Zwischenzeit gesehn;
du bist von dem Zustand unterrichtet, in dem ich mich zu gewissen
Zeiten befinde; dein Glück und das meinige ist hiedurch unterbrochen,
ja es steht auf dem Punkte, ganz vernichtet zu werden.  Ich muß dich
verlassen und weiß nicht, ob ich dich jemals wiedersehen werde."  Ihre
Gegenwart, die Anmut, mit der sie sprach, entfernte sogleich fast
jede Erinnerung jenes Gesichtes, das mir schon bisher nur als ein
Traum vorgeschwebt hatte.  Ich umfing sie mit Lebhaftigkeit,
überzeugte sie von meiner Leidenschaft, versicherte ihr meine
Unschuld, erzählte ihr das Zufällige der Entdeckung, genug, ich tat
so viel, daß sie selbst beruhigt schien und mich zu beruhigen suchte.

"Prüfe dich genau", sagte sie, "ob diese Entdeckung deiner Liebe
nicht geschadet habe, ob du vergessen kannst, daß ich in zweierlei
Gestalten mich neben dir befinde, ob die Verringerung meines Wesens
nicht auch deine Neigung vermindern werde."

Ich sah sie an; schöner war sie als jemals, und ich dachte bei mir
selbst: "Ist es denn ein so großes Unglück, eine Frau zu besitzen,
die von Zeit zu Zeit eine Zwergin wird, so daß man sie im Kästchen
herumtragen kann?  Wäre es nicht viel schlimmer, wenn sie zur Riesin
würde und ihren Mann in den Kasten steckte?"  Meine Heiterkeit war
zurückgekehrt.  Ich hätte sie um alles in der Welt nicht fahren lassen.
-- "Bestes Herz", versetzte ich, "laß uns bleiben und sein, wie wir
gewesen sind.  Könnten wir's beide denn herrlicher finden!  Bediene
dich deiner Bequemlichkeit, und ich verspreche dir, das Kästchen nur
desto sorgfältiger zu tragen.  Wie sollte das Niedlichste, was ich in
meinem Leben gesehn, einen schlimmen Eindruck auf mich machen?  Wie
glücklich würden die Liebhaber sein, wenn sie solche Miniaturbilder
besitzen könnten!  Und am Ende war es auch nur ein solches Bild, eine
kleine Taschenspielerei.  Du prüfst und neckst mich; du sollst aber
sehen, wie ich mich halten werde."

"Die Sache ist ernsthafter, als du denkst", sagte die Schöne;
"indessen bin ich recht wohl zufrieden, daß du sie leicht nimmst:
denn für uns beide kann noch immer die heiterste Folge werden.  Ich
will dir vertrauen und von meiner Seite das Mögliche tun, nur
versprich mir, dieser Entdeckung niemals vorwurfsweise zu gedenken.
Dazu füg' ich noch eine Bitte recht inständig: nimm dich vor Wein und
Zorn mehr als jemals in acht."

Ich versprach, was sie begehrte, ich hätte zu und immer zu
versprochen; doch sie wendete selbst das Gespräch, und alles war im
vorigen Gleise.  Wir hatten nicht Ursache, den Ort unseres
Aufenthaltes zu verändern; die Stadt war groß, die Gesellschaft
vielfach, die Jahreszeit veranlaßte manches Land--und Gartenfest.

Bei allen solchen Freuden war meine Frau sehr gern gesehen, ja von
Männern und Frauen lebhaft verlangt.  Ein gutes, einschmeichelndes
Betragen, mit einer gewissen Hoheit verknüpft, machte sie jedermann
lieb und ehrenwert. überdies spielte sie herrlich die Laute und sang
dazu, und alle geselligen Nächte mußten durch ihr Talent gekrönt
werden.

Ich will nur gestehen, daß ich mir aus der Musik niemals viel habe
machen können, ja sie hatte vielmehr auf mich eine unangenehme
Wirkung.  Meine Schöne, die mir das bald abgemerkt hatte, suchte mich
daher niemals, wenn wir allein waren, auf diese Weise zu unterhalten;
dagegen schien sie sich in Gesellschaft zu entschädigen, wo sie denn
gewöhnlich eine Menge Bewunderer fand.

Und nun, warum sollte ich es leugnen, unsere letzte Unterredung,
ungeachtet meines besten Willens, war doch nicht vermögend gewesen,
die Sache ganz bei mir abzutun; vielmehr hatte sich meine
Empfindungsweise gar seltsam gestimmt, ohne daß ich es mir vollkommen
bewußt gewesen wäre.  Da brach eines Abends in großer Gesellschaft
der verhaltene Unmut los, und mir entsprang daraus der allergrößte
Nachteil.

Wenn ich es jetzt recht bedenke, so liebte ich nach jener
unglücklichen Entdeckung meine Schönheit viel weniger, und nun ward
ich eifersüchtig auf sie, was mir vorher gar nicht eingefallen war.
Abends bei Tafel, wo wir schräg gegen einander über in ziemlicher
Entfernung saßen, befand ich mich sehr wohl mit meinen beiden
Nachbarinnen, ein paar Frauenzimmern, die mir seit einiger Zeit
reizend geschienen hatten.  Unter Scherz--und Liebesreden sparte man
des Weines nicht, indessen von der andern Seite ein paar Musikfreunde
sich meiner Frau bemächtigt hatten und die Gesellschaft zu Gesängen,
einzelnen und chormäßigen, aufzumuntern und anzuführen wußten.
Darüber fiel ich in böse Laune; die beiden Kunstliebhaber schienen
zudringlich; der Gesang machte mich ärgerlich, und als man gar von mir
auch eine Solostrophe begehrte, so wurde ich wirklich aufgebracht,
leerte den Becher und setzte ihn sehr unsanft nieder.

Durch die Anmut meiner Nachbarinnen fühlte ich mich sogleich zwar
wieder gemildert, aber es ist eine böse Sache um den ärger, wenn er
einmal auf dem Wege ist.  Er kochte heimlich fort, obgleich alles
mich hätte sollen zur Freude, zur Nachgiebigkeit stimmen.  Im
Gegenteil wurde ich nur noch tückischer, als man eine Laute brachte
und meine Schöne ihren Gesang zur Bewunderung aller übrigen
begleitete.  Unglücklicherweise erbat man sich eine allgemeine Stille.
Also auch schwatzen sollte ich nicht mehr, und die Töne taten mir in
den Zähnen weh.  War es nun ein Wunder, daß endlich der kleinste
Funke die Mine zündete?

Eben hatte die Sängerin ein Lied unter dem größten Beifall geendigt,
als sie nach mir, und wahrlich recht liebevoll, herübersah.  Leider
drangen die Blicke nicht bei mir ein.  Sie bemerkte, daß ich einen
Becher Wein hinunterschlang und einen neu anfüllte.  Mit dem rechten
Zeigefinger winkte sie mir lieblich drohend.  "Bedenken Sie, daß es
Wein ist!" sagte sie, nicht lauter, als daß ich es hören konnte.
--"Wasser ist für die Nixen!" rief ich aus.--"Meine Damen", sagte sie
zu meinen Nachbarinnen, "kränzen Sie den Becher mit aller Anmut, daß
er nicht zu oft leer werde."--"Sie werden sich doch nicht meistern
lassen!" zischelte mir die eine ins Ohr.--"Was will der Zwerg?" rief
ich aus, mich heftiger gebärdend, wodurch ich den Becher umstieß.
"Hier ist viel verschüttet!" rief die Wunderschöne, tat einen Griff
in die Saiten, als wolle sie die Aufmerksamkeit der Gesellschaft aus
dieser Störung wieder auf sich heranziehen.  Es gelang ihr wirklich,
um so mehr, als sie aufstand, aber nur, als wenn sie sich das Spiel
bequemer machen wollte, und zu präludieren fortfuhr.

Als ich den roten Wein über das Tischtuch fließen sah, kam ich
wieder zu mir selbst.  Ich erkannte den großen Fehler, den ich
begangen hatte, und war recht innerlich zerknirscht.  Zum erstenmal
sprach die Musik mich an.  Die erste Strophe, die sie sang, war ein
freundlicher Abschied an die Gesellschaft, wie sie sich noch zusammen
fühlen konnte.  Bei der folgenden Strophe floß die Sozietät gleichsam
auseinander, jeder fühlte sich einzeln, abgesondert, niemand glaubte
sich mehr gegenwärtig.  Aber was soll ich denn von der letzten Strophe
sagen?  Sie war allein an mich gerichtet, die Stimme der gekränkten
Liebe, die von Unmut und übermut Abschied nimmt.

Stumm führte ich sie nach Hause und erwartete mir nichts Gutes.
Doch kaum waren wir in unserm Zimmer angelangt, als sie sich höchst
freundlich und anmutig, ja sogar schalkhaft erwies und mich zum
glücklichsten aller Menschen machte.

Des andern Morgens sagte ich ganz getrost und liebevoll: "Du hast so
manchmal, durch gute Gesellschaft aufgefordert, gesungen, so zum
Beispiel gestern abend das rührende Abschiedslied; singe nun auch
einmal mir zuliebe ein hübsches, fröhliches Willkommen in dieser
Morgenstunde, damit es uns werde, als wenn wir uns zum erstenmal
kennen lernten."

"Das vermag ich nicht, mein Freund", versetzte sie mit Ernst.  "Das
Lied von gestern abend bezog sich auf unsere Scheidung, die nun
sogleich vor sich gehen muß: denn ich kann dir nur sagen, die
Beleidigung gegen Versprechen und Schwur hat für uns beide die
schlimmsten Folgen; du verscherzest ein großes Glück, und auch ich muß
meinen liebsten Wünschen entsagen."

Als ich nun hierauf in sie drang und bat, sie möchte sich näher
erklären, versetzte sie: "Das kann ich leider wohl, denn es ist doch
um mein Belieben bei dir getan.  Vernimm also, was ich dir lieber bis
in die spätesten Zeiten verborgen hätte.  Die Gestalt, in der du mich
im Kästchen erblicktest, ist mir wirklich angeboren und natürlich;
denn ich bin aus dem Stamm des Königs Eckwald, des mächtigen Fürsten
der Zwerge, von dem die wahrhafte Geschichte so vieles meldet.  Unser
Volk ist noch immer wie vor alters tätig und geschäftig und auch
daher leicht zu regieren.  Du mußt dir aber nicht vorstellen, daß die
Zwerge in ihren Arbeiten zurückgeblieben sind.  Sonst waren Schwerter,
die den Feind verfolgten, wenn man sie ihm nachwarf, unsichtbar und
geheimnisvoll bindende Ketten, undurchdringliche Schilder und
dergleichen ihre berühmtesten Arbeiten.  Jetzt aber beschäftigen sie
sich hauptsächlich mit Sachen der Bequemlichkeit und des Putzes und
übertreffen darin alle andern Völker der Erde.  Du würdest erstaunen,
wenn du unsere Werkstätten und Warenlager hindurchgehen solltest.
Dies wäre nun alles gut, wenn nicht bei der ganzen Nation überhaupt,
vorzüglich aber bei der königlichen Familie, ein besonderer Umstand
einträte."

Da sie einen Augenblick innehielt, ersuchte ich sie um fernere
Eröffnung dieser wundersamen Geheimnisse, worin sie mir denn auch
sogleich willfahrte.

"Es ist bekannt", sagte sie, "daß Gott, sobald er die Welt
erschaffen hatte, so daß alles Erdreich trocken war und das Gebirg
mächtig und herrlich dastand, daß Gott, sage ich, sogleich vor allen
Dingen die Zwerglein erschuf, damit auch vernünftige Wesen wären,
welche seine Wunder im Innern der Erde auf Gängen und Klüften
anstaunen und verehren könnten.  Ferner ist bekannt, daß dieses kleine
Geschlecht sich nachmals erhoben und sich die Herrschaft der Erde
anzumaßen gedacht, weshalb denn Gott die Drachen erschaffen, um das
Gezwerge ins Gebirge zurückzudrängen.  Weil aber die Drachen sich in
den großen Höhlen und Spalten selbst einzunisten und dort zu wohnen
pflegten, auch viele derselben Feuer spieen und manch anderes Wüste
begingen, so wurde dadurch den Zwerglein gar große Not und Kummer
bereitet, dergestalt, daß sie nicht mehr wußten, wo aus noch ein, und
sich daher zu Gott dem Herrn gar demütiglich und flehentlich wendeten,
auch ihn im Gebet anriefen, er möchte doch dieses unsaubere
Drachenvolk wieder vertilgen.  Ob er nun aber gleich nach seiner
Weisheit sein Geschöpf zu zerstören nicht beschließen mochte, so ging
ihm doch der armen Zwerglein große Not dermaßen zu Herzen, daß er
alsobald die Riesen erschuf, welche die Drachen bekämpfen und, wo
nicht ausrotten, doch wenigstens vermindern sollten.

Als nun aber die Riesen so ziemlich mit den Drachen fertig geworden,
stieg ihnen gleichfalls der Mut und Dünkel, weswegen sie gar manches
Frevele, besonders auch gegen die guten Zwerglein, verübten, welche
denn abermals in ihrer Not sich zu dem Herrn wandten, der sodann aus
seiner Machtgewalt die Ritter schuf, welche die Riesen und Drachen
bekämpfen und mit den Zwerglein in guter Eintracht leben sollten.
Damit war denn das Schöpfungswerk von dieser Seite beschlossen, und
es findet sich, daß nachher Riesen und Drachen sowie die Ritter und
Zwerge immer zusammengehalten haben.  Daraus kannst du nun ersehen,
mein Freund, daß wir von dem ältesten Geschlecht der Welt sind,
welches uns zwar zu Ehren gereicht, doch aber auch großen Nachteil
mit sich führt.

Da nämlich auf der Welt nichts ewig bestehen kann, sondern alles,
was einmal groß gewesen, klein werden und abnehmen muß, so sind auch
wir in dem Falle, daß wir seit Erschaffung der Welt immer abnehmen
und kleiner werden, vor allen andern aber die königliche Familie,
welche wegen ihres reinen Blutes diesem Schicksal am ersten
unterworfen ist.  Deshalb haben unsere weisen Meister schon vor
vielen Jahren den Ausweg erdacht, daß von Zeit zu Zeit eine
Prinzessin aus dem königlichen Hause heraus ins Land gesendet werde,
um sich mit einem ehrsamen Ritter zu vermählen, damit das
Zwergengeschlecht wieder angefrischt und vom gänzlichen Verfall
gerettet sei."

Indessen meine Schöne diese Worte ganz treuherzig vorbrachte, sah
ich sie bedenklich an, weil es schien, als ob sie Lust habe, mir
etwas aufzubinden.  Was ihre niedliche Herkunft betraf, daran hatte
ich weiter keinen Zweifel; aber daß sie mich anstatt eines Ritters
ergriffen hatte, das machte mir einiges Mißtrauen, indem ich mich
denn doch zu wohl kannte, als daß ich hätte glauben sollen, meine
Vorfahren seien von Gott unmittelbar erschaffen worden.

Ich verbarg Verwunderung und Zweifel und fragte sie freundlich:
"Aber sage mir, mein liebes Kind, wie kommst du zu dieser großen und
ansehnlichen Gestalt? denn ich kenne wenig Frauen, die sich dir an
prächtiger Bildung vergleichen können."--"Das sollst du erfahren",
versetzte meine Schöne.  "Es ist von jeher im Rat der Zwergenkönige
hergebracht, daß man sich so lange als möglich vor jedem
außerordentlichen Schritt in acht nehme, welches ich denn auch ganz
natürlich und billig finde.  Man hätte vielleicht noch lange
gezaudert, eine Prinzessin wieder einmal in das Land zu senden, wenn
nicht mein nachgeborner Bruder so klein ausgefallen wäre, daß ihn die
Wärterinnen sogar aus den Windeln verloren haben und man nicht weiß,
wo er hingekommen ist.  Bei diesem in den Jahrbüchern des
Zwergenreichs ganz unerhörten Falle versammelte man die Weisen, und
kurz und gut, der Entschluß ward gefaßt, mich auf die Freite zu
schicken."

"Der Entschluß!" rief ich aus, "das ist wohl alles schön und gut.
Man kann sich entschließen, man kann etwas beschließen; aber einem
Zwerglein diese Göttergestalt zu geben, wie haben eure Weisen dies
zustande gebracht?"

"Es war auch schon", sagte sie, "von unsern Ahnherren vorgesehen.
In dem königlichen Schatze lag ein ungeheurer goldner Fingerring.
Ich spreche jetzt von ihm, wie er mir vorkam, da er mir, als einem
Kinde, ehemals an seinem Orte gezeigt wurde: denn es ist derselbe,
den ich hier am Finger habe; und nun ging man folgendergestalt zu
Werke.  Man unterrichtete mich von allem, was bevorstehe, und
belehrte mich, was ich zu tun und zu lassen habe.

Ein köstlicher Palast, nach dem Muster des liebsten
Sommeraufenthalts meiner Eltern, wurde verfertigt: ein Hauptgebäude,
Seitenflügel und was man nur wünschen kann.  Er stand am Eingang
einer großen Felskluft und verzierte sie aufs beste.  An dem
bestimmten Tage zog der Hof dorthin und meine Eltern mit mir.  Die
Armee paradierte, und vierundzwanzig Priester trugen auf einer
köstlichen Bahre, nicht ohne Beschwerlichkeit, den wundervollen Ring.
Er ward an die Schwelle des Gebäudes gelegt, gleich innerhalb, wo man
über sie hinübertritt.  Manche Zeremonien wurden begangen, und nach
einem herzlichen Abschiede schritt ich zum Werke.  Ich trat hinzu,
legte die Hand an den Ring und fing sogleich merklich zu wachsen an.
In wenig Augenblicken war ich zu meiner gegenwärtigen Größe angelangt,
worauf ich den Ring sogleich an den Finger steckte.  Nun im Nu
verschlossen sich Fenster, Türen und Tore, die Seitenflügel zogen
sich ins Hauptgebäude zurück, statt des Palastes stand ein Kästchen
neben mir, das ich sogleich aufhob und mit mir forttrug, nicht ohne
ein angenehmes Gefühl, so groß und so stark zu sein, zwar immer noch
ein Zwerg gegen Bäume und Berge, gegen Ströme wie gegen Landstrecken,
aber doch immer schon ein Riese gegen Gras und Kräuter, besonders aber
gegen die Ameisen, mit denen wir Zwerge nicht immer in gutem
Verhältnis stehen und deswegen oft gewaltig von ihnen geplagt werden.

Wie es mir auf meiner Wallfahrt erging, ehe ich dich fand, davon
hätte ich viel zu erzählen.  Genug, ich prüfte manchen, aber niemand
als du schien mir wert, den Stamm des herrlichen Eckwald zu erneuern
und zu verewigen."

Bei allen diesen Erzählungen wackelte mir mitunter der Kopf, ohne
daß ich ihn gerade geschüttelt hätte.  Ich tat verschiedene Fragen,
worauf ich aber keine sonderlichen Antworten erhielt, vielmehr zu
meiner größten Betrübnis erfuhr, daß sie nach dem, was begegnet,
notwendig zu ihren Eltern zurückkehren müsse.  Sie hoffe zwar, wieder
zu mir zu kommen, doch jetzt habe sie sich unvermeidlich zu stellen,
weil sonst für sie so wie für mich alles verloren wäre.  Die Beutel
würden bald aufhören zu zahlen, und was sonst noch alles daraus
entstehen könnte.

Da ich hörte, daß uns das Geld ausgehen dürfte, fragte ich nicht
weiter, was sonst noch geschehen möchte.  Ich zuckte die Achseln, ich
schwieg, und sie schien mich zu verstehen.

Wir packten zusammen und setzten uns in den Wagen, das Kästchen
gegen uns über, dem ich aber noch nichts von einem Palast ansehen
konnte.  So ging es mehrere Stationen fort.  Postgeld und Trinkgeld
wurden aus den Täschchen rechts und links bequem und reichlich bezahlt,
bis wir endlich in eine gebirgige Gegend gelangten und kaum
abgestiegen waren, als meine Schöne vorausging und ich auf ihr Geheiß
mit dem Kästchen folgte.  Sie führte mich auf ziemlich steilen Pfaden
zu einem engen Wiesengrund, durch welchen sich eine klare Quelle bald
stürzte, bald ruhig laufend schlängelte.  Da zeigte sie mir eine
erhöhte Fläche, hieß mich das Kästchen niedersetzen und sagte: "Lebe
wohl: du findest den Weg gar leicht zurück; gedenke mein, ich hoffe,
dich wiederzusehen."

In diesem Augenblick war mir's, als wenn ich sie nicht verlassen
könnte.  Sie hatte gerade wieder ihren schönen Tag oder, wenn ihr
wollt, ihre schöne Stunde.  Mit einem so lieblichen Wesen allein, auf
grüner Matte, zwischen Gras und Blumen, von Felsen beschränkt, von
Wasser umrauscht, welches Herz wäre da wohl fühllos geblieben!  Ich
wollte sie bei der Hand fassen, sie umarmen, aber sie stieß mich
zurück und bedrohte mich, obwohl noch immer liebreich genug, mit
großer Gefahr, wenn ich mich nicht sogleich entfernte.

"Ist denn gar keine Möglichkeit", rief ich aus, "daß ich bei dir
bleibe, daß du mich bei dir behalten könntest?"  Ich begleitete diese
Worte mit so jämmerlichen Gebärden und Tönen, daß sie gerührt schien
und nach einigem Bedenken mir gestand, eine Fortdauer unserer
Verbindung sei nicht ganz unmöglich.  Wer war glücklicher als ich!
Meine Zudringlichkeit, die immer lebhafter ward, nötigte sie endlich,
mit der Sprache herauszurücken und mir zu entdecken, daß, wenn ich
mich entschlösse, mit ihr so klein zu werden, als ich sie schon
gesehen, so könnte ich auch jetzt bei ihr bleiben, in ihre Wohnung,
in ihr Reich, zu ihrer Familie mit übertreten.  Dieser Vorschlag
gefiel mir nicht ganz, doch konnte ich mich einmal in diesem
Augenblick nicht von ihr losreißen, und ans Wunderbare seit geraumer
Zeit schon gewöhnt, zu raschen Entschlüssen aufgelegt, schlug ich ein
und sagte, sie möchte mit mir machen, was sie wolle.

Sogleich mußte ich den kleinen Finger meiner rechten Hand
ausstrecken, sie stützte den ihrigen dagegen, zog mit der linken Hand
den goldnen Ring ganz leise sich ab und ließ ihn herüber an meinen
Finger laufen.  Kaum war dies geschehen, so fühlte ich einen
gewaltigen Schmerz am Finger, der Ring zog sich zusammen und folterte
mich entsetzlich.  Ich tat einen gewaltigen Schrei und griff
unwillkürlich um mich her nach meiner Schönen, die aber verschwunden
war.  Wie mir indessen zumute gewesen, dafür wüßte ich keinen Ausdruck
zu finden, auch bleibt mir nichts übrig zu sagen, als daß ich mich
sehr bald in kleiner, niedriger Person neben meiner Schönen in einem
Walde von Grashalmen befand.  Die Freude des Wiedersehens nach einer
kurzen und doch so seltsamen Trennung, oder, wenn ihr wollt, einer
Wiedervereinigung ohne Trennung, übersteigt alle Begriffe.  Ich fiel
ihr um den Hals, sie erwiderte meine Liebkosungen, und das kleine
Paar fühlte sich so glücklich als das große.

Mit einiger Unbequemlichkeit stiegen wir nunmehr an einem Hügel
hinauf; denn die Matte war für uns beinah ein undurchdringlicher Wald
geworden.  Doch gelangten wir endlich auf eine Blöße, und wie
erstaunt war ich, dort eine große, geregelte Masse zu sehen, die ich
doch bald für das Kästchen, in dem Zustand, wie ich es hingesetzt
hatte, wieder erkennen mußte.

"Gehe hin, mein Freund, und klopfe mit dem Ringe nur an, du wirst
Wunder sehen", sagte meine Geliebte.  Ich trat hinzu und hatte kaum
angepocht, so erlebte ich wirklich das größte Wunder.  Zwei
Seitenflügel bewegten sich hervor, und zugleich fielen wie Schuppen
und Späne verschiedene Teile herunter, da mir denn Türen, Fenster,
Säulengänge und alles, was zu einem vollständigen Palaste gehört, auf
einmal zu Gesichte kamen.

Wer einen künstlichen Schreibtisch von Röntgen gesehen hat, wo mit
einem Zug viele Federn und Ressorts in Bewegung kommen, Pult und
Schreibzeug, Brief--und Geldfächer sich auf einmal oder kurz
nacheinander entwickeln, der wird sich eine Vorstellung machen können,
wie sich jener Palast entfaltete, in welchen mich meine süße
Begleiterin nunmehr hineinzog.  In dem Hauptsaal erkannte ich sogleich
das Kamin, das ich ehemals von oben gesehen, und den Sessel, worauf
sie gesessen.  Und als ich über mich blickte, glaubte ich wirklich
noch etwas von dem Sprunge in der Kuppel zu bemerken, durch den ich
hereingeschaut hatte.  Ich verschone euch mit Beschreibung des
übrigen; genug, alles war geräumig, köstlich und geschmackvoll.  Kaum
hatte ich mich von meiner Verwunderung erholt, als ich von fern eine
militärische Musik vernahm.  Meine schöne Hälfte sprang vor Freuden
auf und verkündigte mir mit Entzücken die Ankunft ihres Herrn Vaters.
Hier traten wir unter die Türe und schauten, wie aus einer
ansehnlichen Felskluft ein glänzender Zug sich bewegte.  Soldaten,
Bediente, Hausoffizianten und ein glänzender Hofstaat folgten
hintereinander.  Endlich erblickte man ein goldnes Gedränge und in
demselben den König selbst.  Als der ganze Zug vor dem Palast
aufgestellt war, trat der König mit seiner nächsten Umgebung heran.
Seine zärtliche Tochter eilte ihm entgegen, sie riß mich mit sich
fort, wir warfen uns ihm zu Füßen, er hob mich sehr gnädig auf, und
als ich vor ihn zu stehen kam, bemerkte ich erst, daß ich freilich in
dieser kleinen Welt die ansehnlichste Statur hatte.  Wir gingen
zusammen nach dem Palaste, da mich der König in Gegenwart seines
ganzen Hofes mit einer wohlstudierten Rede, worin er seine
überraschung, uns hier zu finden, ausdrückte, zu bewillkommnen
geruhte, mich als seinen Schwiegersohn erkannte und die
Trauungszeremonie auf morgen ansetzte.

Wie schrecklich ward mir auf einmal zumute, als ich von Heirat reden
hörte: denn ich fürchtete mich bisher davor fast mehr als vor der
Musik selbst, die mir doch sonst das Verhaßteste auf Erden schien.
Diejenigen, die Musik machen, pflegte ich zu sagen, stehen doch
wenigstens in der Einbildung, untereinander einig zu sein und in
übereinstimmung zu wirken: denn wenn sie lange genug gestimmt und uns
die Ohren mit allerlei Mißtönen zerrissen haben, so glauben sie steif
und fest, die Sache sei nunmehr aufs reine gebracht und ein Instrument
passe genau zum andern.  Der Kapellmeister selbst ist in diesem
glücklichen Wahn, und nun geht es freudig los, unterdes uns andern
immerfort die Ohren gellen.  Bei dem Ehestand hingegen ist dies nicht
einmal der Fall: denn ob er gleich nur ein Duett ist und man doch
denken sollte, zwei Stimmen, ja zwei Instrumente müßten einigermaßen
überein gestimmt werden können, so trifft es doch selten zu; denn
wenn der Mann einen Ton angibt, so nimmt ihn die Frau gleich höher
und der Mann wieder höher; da geht es denn aus dem Kammer--in den
Chorton und immer so weiter hinauf, daß zuletzt die blasenden
Instrumente selbst nicht folgen können.  Und also, da mir die
harmonische Musik zuwider bleibt, so ist mir noch weniger zu
verdenken, daß ich die disharmonische gar nicht leiden kann.

Von allen Festlichkeiten, worunter der Tag hinging, mag und kann ich
nicht erzählen: denn ich achtete gar wenig darauf.  Das kostbare
Essen, der köstliche Wein, nichts wollte mir schmecken.  Ich sann und
überlegte, was ich zu tun hätte.  Doch da war nicht viel auszusinnen.
Ich entschloß mich, als es Nacht wurde, kurz und gut, auf und davon
zu gehen und mich irgendwo zu verbergen.  Auch gelangte ich glücklich
zu einer Steinritze, in die ich mich hineinzwängte und so gut als
möglich verbarg.  Mein erstes Bemühen darauf war, den unglücklichen
Ring vom Finger zu schaffen, welches jedoch mir keineswegs gelingen
wollte, vielmehr mußte ich fühlen, daß er immer enger ward, sobald
ich ihn abzuziehen gedachte, worüber ich heftige Schmerzen litt, die
aber sogleich nachließen, sobald ich von meinem Vorhaben abstand.

Frühmorgens wach' ich auf--denn meine kleine Person hatte sehr gut
geschlafen--und wollte mich eben weiter umsehen, als es über mir wie
zu regnen anfing.  Es fiel nämlich durch Gras, Blätter und Blumen wie
Sand und Grus in Menge herunter; allein wie entsetzte ich mich, als
alles um mich her lebendig ward und ein unendliches Ameisenheer über
mich niederstürzte.  Kaum wurden sie mich gewahr, als sie mich von
allen Seiten angriffen und, ob ich mich gleich wacker und mutig genug
verteidigte, doch zuletzt auf solche Weise zudeckten, kneipten und
peinigten, daß ich froh war, als ich mir zurufen hörte, ich solle mich
ergeben.  Ich ergab mich wirklich und gleich, worauf denn eine Ameise
von ansehnlicher Statur sich mit Höflichkeit, ja mit Ehrfurcht
näherte und sich sogar meiner Gunst empfahl.  Ich vernahm, daß die
Ameisen Alliierte meines Schwiegervaters geworden und daß er sie im
gegenwärtigen Fall aufgerufen und verpflichtet, mich herbeizuschaffen.
Nun war ich Kleiner in den Händen von noch Kleinern.  Ich sah der
Trauung entgegen und mußte noch Gott danken, wenn mein Schwiegervater
nicht zürnte, wenn meine Schöne nicht verdrießlich geworden.

Laßt mich nun von allen Zeremonien schweigen; genug, wir waren
verheiratet.  So lustig und munter es jedoch bei uns herging, so
fanden sich dessenungeachtet einsame Stunden, in denen man zum
Nachdenken verleitet wird, und mir begegnete, was mir noch niemals
begegnet war; was aber und wie, das sollt ihr vernehmen.

Alles um mich her war meiner gegenwärtigen Gestalt und meinen
Bedürfnissen völlig gemäß, die Flaschen und Becher, einem kleinen
Trinker wohl proportioniert, ja, wenn man will, verhältnismäßig
besseres Maß als bei uns.  Meinem kleinen Gaumen schmeckten die
zarten Bissen vortrefflich, ein Kuß von dem Mündchen meiner Gattin war
gar zu reizend, und ich leugne nicht, die Neuheit machte mir alle
diese Verhältnisse höchst angenehm.  Dabei hatte ich jedoch leider
meinen vorigen Zustand nicht vergessen.  Ich empfand in mir einen
Maßstab voriger Größe, welches mich unruhig und unglücklich machte.
Nun begriff ich zum erstenmal, was die Philosophen unter ihren Idealen
verstehen möchten, wodurch die Menschen so gequält sein sollen.  Ich
hatte ein Ideal von mir selbst und erschien mir manchmal im Traum wie
ein Riese.  Genug, die Frau, der Ring, die Zwergenfigur, so viele
andere Bande machten mich ganz und gar unglücklich, daß ich auf meine
Befreiung im Ernst zu denken begann.

Weil ich überzeugt war, daß der ganze Zauber in dem Ring verborgen
liege, so beschloß ich, ihn abzuteilen.  Ich entwendete deshalb dem
Hofjuwelier einige Feilen.  Glücklicherweise war ich links, und ich
hatte in meinem Leben niemals etwas rechts gemacht.  Ich hielt mich
tapfer an die Arbeit; sie war nicht gering: denn das goldne Reifchen,
so dünn es aussah, war in dem Verhältnis dichter geworden, als es
sich aus seiner ersten Größe zusammengezogen hatte.  Alle freien
Stunden wendete ich unbeobachtet an dieses Geschäft und war klug
genug, als das Metall bald durchgefeilt war, vor die Tür zu treten.
Das war mir geraten: denn auf einmal sprang der goldne Reif mit Gewalt
vom Finger, und meine Figur schoß mit solcher Heftigkeit in die Höhe,
daß ich wirklich an den Himmel zu stoßen glaubte und auf alle Fälle
die Kuppel unseres Sommerpalastes durchgestoßen, ja das ganze
Sommergebäude durch meine frische Unbehülflichkeit zerstört haben
würde.

Da stand ich nun wieder, freilich um so vieles größer, allein, wie
mir vorkam, auch um vieles dümmer und unbehülflicher.  Und als ich
mich aus meiner Betäubung erholt, sah ich die Schatulle neben mir
stehen, die ich ziemlich schwer fand, als ich sie aufhob und den
Fußpfad hinunter nach der Station trug, wo ich denn gleich einspannen
und fortfahren ließ.  Unterwegs machte ich sogleich den Versuch, mit
den Täschchen an beiden Seiten.  An der Stelle des Geldes, welches
ausgegangen schien, fand ich ein Schlüsselchen; es gehörte zur
Schatulle, in welcher ich einen ziemlichen Ersatz fand.  Solange das
vorhielt, bediente ich mich des Wagens; nachher wurde dieser verkauft,
um mich auf dem Postwagen fortzubringen.  Die Schatulle schlug ich
zuletzt los, weil ich immer dachte, sie sollte sich noch einmal füllen,
und so kam ich denn endlich, obgleich durch einen ziemlichen Umweg,
wieder an den Herd zur Köchin, wo ihr mich zuerst habt kennen lernen.



Siebentes Kapitel


Hersilie an Wilhelm

Bekanntschaften, wenn sie sich auch gleichgültig ankündigen, haben
oft die wichtigsten Folgen, und nun gar die Ihrige, die gleich von
Anfang nicht gleichgültig war.  Der wunderliche Schlüssel kam in
meine Hände als ein seltsames Pfand; nun besitze ich das Kästchen
auch.  Schlüssel und Kästchen, was sagen Sie dazu?  Was soll man dazu
sagen?  Hören Sie, wie's zuging:

Ein junger, feiner Mann läßt sich bei meinem Oheim melden und
erzählt, daß der kuriose Antiquitätenkrämer, der mit Ihnen lange in
Verbindung gestanden, vor kurzem gestorben sei und ihm die ganze
merkwürdige Verlassenschaft übertragen, zugleich aber zur Pflicht
gemacht habe, alles fremde Eigentum, was eigentlich nur deponiert sei,
unverzüglich zurückzugeben.  Eignes Gut beunruhige niemanden, denn
man habe den Verlust allein zu ertragen; fremdes Gut jedoch zu
bewahren, habe er sich nur in besondern Fällen erlaubt, ihm wolle er
diese Last nicht aufbürden, ja er verbiete ihm, in väterlicher Liebe
und Autorität, sich damit zu befassen.  Und hiermit zog er das
Kästchen hervor, das, wenn ich es schon aus der Beschreibung kannte,
mir doch ganz vorzüglich in die Augen fiel.

Der Oheim, nachdem er es von allen Seiten besehen, gab es zurück und
sagte: Auch er habe es sich zur Pflicht gemacht, in gleichem Sinne zu
handeln und sich mit keiner Antiquität, sie sei auch noch so schön
und wunderbar, zu belasten, wenn er nicht wisse, wem sie früher
angehört und was für eine historische Merkwürdigkeit damit zu
verknüpfen sei.  Nun zeige dieses Kästchen weder Buchstaben noch
Ziffer, weder Jahreszahl noch sonst eine Andeutung, woraus man den
frühern Besitzer oder Künstler erraten könne, es sei ihm also völlig
unnütz und ohne Interesse.

Der junge Mann stand in großer Verlegenheit und fragte nach einigem
Besinnen, ob er nicht erlauben wolle, solches bei seinen Gerichten
niederzulegen?  Der Oheim lächelte, wandte sich zu mir und sprach:
"Das wär' ein hübsches Geschäft für dich, Hersilie; du hast ja auch
allerlei Schmuck und zierliche Kostbarkeiten, leg' es dazu; denn ich
wollte wetten, der Freund, der dir nicht gleichgültig blieb, kommt
gelegentlich wieder und holt es ab."

Das muß ich nun so hinschreiben, wenn ich treu erzählen will, und
sodann muß ich bekennen, ich sah das Kästchen mit neidischen Augen an,
und eine gewisse Habsucht bemächtigte sich meiner.  Mir widerte, das
herrliche, dem holden Felix vom Schicksal zugedachte Schatzkästlein
in dem alt-eisernen, verrosteten Depositenkasten der Gerichtsstube zu
wissen.  Wünschelrutenartig zog sich die Hand darnach, mein bißchen
Vernunft hielt sie zurück; ich hatte ja den Schlüssel, das durfte ich
nicht entdecken; und sollte ich mir die Qual antun, das Schloß
uneröffnet zu lassen, oder mich der unbefugten Kühnheit hingeben, es
aufzuschließen?  Allein ich weiß nicht, war es Wunsch oder Ahnung, ich
stellte mir vor, Sie kämen, kämen bald, wären schon da, wenn ich auf
mein Zimmer träte; genug, es war mir so wunderlich, so seltsam, so
konfus, wie es mir immer geht, wenn ich aus meiner gleichmütigen
Heiterkeit herausgenötigt werde.  Ich sage nichts weiter, beschreibe
nicht, entschuldige nicht; genug, hier liegt das Kästchen vor mir in
meiner Schatulle, der Schlüssel daneben, und wenn Sie eine Art von
Herz und Gemüt haben, so denken Sie, wie mir zumute ist, wie viele
Leidenschaften sich in mir herumkämpfen, wie ich Sie herwünsche, auch
wohl Felix dazu, daß es ein Ende werde, wenigstens daß eine Deutung
vorgehe, was damit gemeint sei, mit diesem wunderbaren Finden,
Wiederfinden, Trennen und Vereinigen; und sollte ich auch nicht aus
aller Verlegenheit gerettet werden, so wünsche ich wenigstens
sehnlichste daß diese sich aufkläre, sich endige, wenn mir auch, wie
ich fürchte, etwas Schlimmeres begegnen sollte.



Achtes Kapitel

Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen, finden wir
einen Schwank, den wir ohne weitere Vorbereitung hier einschalten,
weil unsre Angelegenheiten immer ernsthafter werden und wir für
dergleichen Unregelmäßigkeiten fernerhin keine Stelle finden möchten.

Im ganzen möchte diese Erzählung dem Leser nicht unangenehm sein,
wie sie St.  Christoph am heitern Abend einem Kreise versammelter
lustiger Gesellen vortrug.  Die gefährliche Wette

Es ist bekannt, daß die Menschen, sobald es ihnen einigermaßen wohl
und nach ihrem Sinne geht, alsobald nicht wissen, was sie vor übermut
anfangen sollen; und so hatten denn auch mutwillige Studenten die
Gewohnheit, während der Ferien scharenweis das Land zu durchziehen
und nach ihrer Art Suiten zu reißen, welche freilich nicht immer die
besten Folgen hatten.  Sie waren gar verschiedener Art, wie sie das
Burschenleben zusammenführt und bindet.  Ungleich von Geburt und
Wohlhabenheit, Geist und Bildung, aber alle gesellig in einem heitern
Sinne miteinander sich fortbewegend und treibend.  Mich aber wählten
sie oft zum Gesellen: denn wenn ich schwerere Lasten trug als einer
von ihnen, so mußten sie mir denn auch den Ehrentitel eines großen
Suitiers erteilen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil ich seltener,
aber desto kräftiger meine Possen trieb, wovon denn folgendes ein
Zeugnis geben mag.

Wir hatten auf unseren Wanderungen ein angenehmes Bergdorf erreicht,
das bei einer abgeschiedenen Lage den Vorteil einer Poststation und
in großer Einsamkeit ein paar hübsche Mädchen zu Bewohnerinnen hatte.
Man wollte ausruhen, die Zeit verschleudern, verliebeln, eine Weile
wohlfeiler leben und deshalb desto mehr Geld vergeuden.

Es war gerade nach Tisch, als einige sich im erhöhten, andere im
erniedrigten Zustand befanden.  Die einen lagen und schliefen ihren
Rausch aus; die andern hätten ihn gern auf irgendeine mutwillige
Weise ausgelassen.  Wir hatten ein paar große Zimmer im Seitenflügel
nach dem Hof zu.  Eine schöne Equipage, die mit vier Pferden
hereinrasselte, zog uns an die Fenster.  Die Bedienten sprangen vom
Bock und halfen einem Herrn von stattlichem, vornehmem Ansehen heraus,
der ungeachtet seiner Jahre noch rüstig genug auftrat.  Seine große,
wohlgebildete Nase fiel mir zuerst ins Gesicht, und ich weiß nicht,
was für ein böser Geist mich anhauchte, so daß ich in einem
Augenblick den tollsten Plan erfand und ihn, ohne weiter zu denken,
sogleich auszuführen begann.

"Was dünkt euch von diesem Herrn?" fragte ich die Gesellschaft.--"Er
sieht aus", versetzte der eine, "als ob er nicht mit sich spaßen
lasse." --"Ja, ja", sagte der andre, "er hat ganz das Ansehen so
eines vornehmen Rührmichnichtan."--"Und dessenungeachtet", erwiderte
ich ganz getrost, "was wettet ihr, ich will ihn bei der Nase zupfen,
ohne daß mir deshalb etwas übles widerfahre; ja ich will mir sogar
dadurch einen gnädigen Herrn an ihm verdienen."

"Wenn du es leistest", sagte Raufbold, "so zahlt dir jeder einen
Louisdor." --"Kassieren Sie das Geld für mich ein", rief ich aus;
"auf Sie verlasse ich mich."--"Ich möchte lieber einem Löwen ein Haar
von der Schnauze raufen", sagte der Kleine.--"Ich habe keine Zeit zu
verlieren", versetzte ich und sprang die Treppe hinunter.

Bei dem ersten Anblick des Fremden hatte ich bemerkt, daß er einen
sehr starken Bart hatte, und vermutete, daß keiner von seinen Leuten
rasieren könne.  Nun begegnete ich dem Kellner und fragte: "Hat der
Fremde nicht nach einem Barbier gefragt?"-- "Freilich!" versetzte der
Kellner, "und es ist eine rechte Not.  Der Kammerdiener des Herrn ist
schon zwei Tage zurückgeblieben.  Der Herr will seinen Bart absolut
los sein, und unser einziger Barbier, wer weiß, wo er in die
Nachbarschaft hingegangen."

"So meldet mich an", versetzte ich; "führt mich als Bartscherer bei
dem Herrn nur ein, und Ihr werdet Ehre mit mir einlegen."  Ich nahm
das Rasierzeug, das ich im Hause fand, und folgte dem Kellner.

Der alte Herr empfing mich mit großer Gravität, besah mich von oben
bis unten, als ob er meine Geschicklichkeit aus mir
herausphysiognomieren wollte.  "Versteht Er Sein Handwerk?" sagte er
zu mir.

"Ich suche meinesgleichen", versetzte ich, "ohne mich zu rühmen."
Auch war ich meiner Sache gewiß: denn ich hatte früh die edle Kunst
getrieben und war besonders deswegen berühmt, weil ich mit der linken
Hand rasierte.

Das Zimmer, in welchem der Herr seine Toilette machte, ging nach dem
Hof und war gerade so gelegen, daß unsere Freunde füglich hereinsehen
konnten, besonders wenn die Fenster offen waren.  An gehöriger
Vorrichtung fehlte nichts mehr.  Der Patron hatte sich gesetzt und das
Tuch vorgenommen.  Ich trat ganz bescheidentlich vor ihn hin und
sagte: "Exzellenz! mir ist bei Ausübung meiner Kunst das Besondere
vorgekommen, daß ich die gemeinen Leute besser und zu mehrerer
Zufriedenheit rasiert habe als die Vornehmen.  Darüber habe ich denn
lange nachgedacht und die Ursache bald da, bald dort gesucht, endlich
aber gefunden, daß ich meine Sache in freier Luft viel besser mache
als in verschlossenen Zimmern.  Wollten Ew.  Exzellenz deshalb
erlauben, daß ich die Fenster aufmache, so würden Sie den Effekt zu
eigener Zufriedenheit gar bald empfinden."  Er gab es zu, ich öffnete
das Fenster, gab meinen Freunden einen Wink und fing an, den starken
Bart mit großer Anmut einzuseifen.  Ebenso behend und leicht strich
ich das Stoppelfeld vom Boden weg, wobei ich nicht versäumte, als es
an die Oberlippe kam, meinen Gönner bei der Nase zu fassen und sie
merklich herüber und hinüber zu biegen, wobei ich mich so zu stellen
wußte, daß die Wettenden zu ihrem größten Vergnügen erkennen und
bekennen mußten, ihre Seite habe verloren.

Sehr stattlich bewegte sich der alte Herr gegen den Spiegel: man sah,
daß er sich mit einiger Gefälligkeit betrachtete, und wirklich, es
war ein sehr schöner Mann.  Dann wendete er sich zu mir mit einem
feurigen, schwarzen, aber freundlichen Blick und sagte: "Er verdient,
mein Freund, vor vielen seinesgleichen gelobt zu werden, denn ich
bemerke an Ihm weit weniger Unarten als an andern.  So fährt Er nicht
zwei-, dreimal über dieselbige Stelle, sondern es ist mit einem
Strich getan; auch streicht Er nicht, wie mehrere tun, sein
Schermesser in der flachen Hand ab und führt den Unrat nicht der
Person über die Nase.  Besonders aber ist Seine Geschicklichkeit der
linken Hand zu bewundern.  Hier ist etwas für Seine Mühe", fuhr er
fort, indem er mir einen Gulden reichte.  "Nur eines merk' Er sich:
daß man Leute von Stande nicht bei der Nase faßt.  Wird Er diese
bäurische Sitte künftig vermeiden, so kann Er wohl noch in der Welt
sein Glück machen."

Ich verneigte mich tief, versprach alles mögliche, bat ihn, bei
allenfallsiger Rückkehr mich wieder zu beehren, und eilte, was ich
konnte, zu unseren jungen Gesellen, die mir zuletzt ziemlich Angst
gemacht hatten.  Denn sie verführten ein solches Gelächter und ein
solches Geschrei, sprangen wie toll in der Stube herum, klatschten
und riefen, weckten die Schlafenden und erzählten die Begebenheit
immer mit neuem Lachen und Toben, daß ich selbst, als ich ins Zimmer
trat, die Fenster vor allen Dingen zumachte und sie um Gottes willen
bat, ruhig zu sein, endlich aber mitlachen mußte über das Aussehen
einer närrischen Handlung, die ich mit so vielem Ernste durchgeführt
hatte.

Als nach einiger Zeit sich die tobenden Wellen des Lachens
einigermaßen gelegt hatten, hielt ich mich für glücklich; die
Goldstücke hatte ich in der Tasche und den wohlverdienten Gulden dazu,
und ich hielt mich für ganz wohl ausgestattet, welches mir um so
erwünschter war, als die Gesellschaft beschlossen hatte, des andern
Tages auseinanderzugehen.  Aber uns war nicht bestimmt, mit Zucht und
Ordnung zu scheiden.  Die Geschichte war zu reizend, als daß man sie
hätte bei sich behalten können, so sehr ich auch gebeten und
beschworen hatte, nur bis zur Abreise des alten Herrn reinen Mund zu
halten.  Einer bei uns, der Fahrige genannt, hatte ein
Liebesverständnis mit der Tochter des Hauses.  Sie kamen zusammen, und
Gott weiß, ob er sie nicht besser zu unterhalten wußte, genug, er
erzählt ihr den Spaß, und so wollten sie sich nun zusammen totlachen.
Dabei blieb es nicht, sondern das Mädchen brachte die Märe lachend
weiter, und so mochte sie endlich noch kurz vor Schlafengehen an den
alten Herrn gelangen.

Wir saßen ruhiger als sonst: denn es war den Tag über genug getobt
worden, als auf einmal der kleine Kellner, der uns sehr zugetan war,
hereinsprang und rief: "Rettet euch, man wird euch totschlagen!"  Wir
fuhren auf und wollten mehr wissen; er aber war schon zur Türe wieder
hinaus.  Ich sprang auf und schob den Nachtriegel vor; schon aber
hörten wir an der Türe pochen und schlagen, ja wir glaubten zu hören,
daß sie durch eine Axt gespalten werde.  Maschinenmäßig zogen wir uns
ins zweite Zimmer zurück, alle waren verstummt: "Wir sind verraten",
rief ich aus, "der Teufel hat uns bei der Nase!"

Raufbold griff nach seinem Degen, ich zeigte hier abermals meine
Riesenkraft und schob ohne Beihülfe eine schwere Kommode vor die Türe,
die glücklicherweise hereinwärts ging.  Doch hörten wir schon das
Gepolter im Vorzimmer und die heftigsten Schläge an unsere Türe.

Raufbold schien entschieden, sich zu verteidigen, wiederholt aber
rief ich ihm und den übrigen zu: "Rettet euch! hier sind Schläge zu
fürchten nicht allein, aber Beschimpfung, das Schlimmere für den
Edelgebornen."  Das Mädchen stürzte herein, dieselbe, die uns
verraten hatte, nun verzweifelnd, ihren Liebhaber in Todesgefahr zu
wissen.  "Fort, fort!" rief sie und faßte ihn an; "fort, fort! ich
bring' euch über Böden, Scheunen und Gänge.  Kommt alle, der letzte
zieht die Leiter nach."

Alles stürzte nun zur Hintertüre hinaus; ich hob noch einen Koffer
auf die Kiste, um die schon hereinbrechenden Füllungen der belagerten
Türe zurückzuschieben und festzuhalten.  Aber meine Beharrlichkeit,
mein Trutz wollte mir verderblich werden.

Als ich den übrigen nachzueilen rannte, fand ich die Leiter schon
aufgezogen und sah alle Hoffnung, mich zu retten, gänzlich versperrt.
Da steh' ich nun, ich, der eigentliche Verbrecher, der ich mit
heiler Haut, mit ganzen Knochen zu entrinnen schon aufgab.  Und wer
weiß--doch laßt mich immer dort in Gedanken stehen, da ich jetzt hier
gegenwärtig euch das Märchen vorerzählen kann.  Nur vernehmt noch, daß
diese verwegene Suite sich in schlechte Folgen verlor.

Der alte Herr, tief gekränkt von Verhöhnung ohne Rache, zog sich's
zu Gemüte, und man behauptet, dieses Ereignis habe seinen Tod zur
Folge gehabt, wo nicht unmittelbar, doch mitwirkend.  Sein Sohn, den
Tätern auf die Spur zu gelangen trachtend, erfuhr unglücklicherweise
die Teilnahme Raufbolds, und erst nach Jahren hierüber ganz klar,
forderte er diesen heraus, und eine Wunde, ihn, den schönen Mann,
entstellend, ward ärgerlich für das ganze Leben.  Auch seinem Gegner
verdarb dieser Handel einige schöne Jahre, durch zufällig sich
anschließende Ereignisse.

Da nun jede Fabel eigentlich etwas lehren soll, so ist euch allen,
wohin die gegenwärtige gemeint sei, wohl überklar und deutlich.



Neuntes Kapitel

Der höchst bedeutende Tag war angebrochen, heute sollten die ersten
Schritte zur allgemeinen Fortwanderung eingeleitet werden, heut
sollte sich's entscheiden, wer denn wirklich in die Welt hinaus gehen,
oder wer lieber diesseits, auf dem zusammenhängenden Boden der alten
Erde, verweilen und sein Glück versuchen wolle.

Ein munteres Lied erscholl in allen Straßen des heitern Fleckens;
Massen taten sich zusammen, die einzelnen Glieder eines jeden
Handwerks schlossen sich aneinander an, und so zogen sie, unter
einstimmigem Gesang, nach einer durch das Los entschiedenen Ordnung in
den Saal.

Die Vorgesetzten, wie wir Lenardo, Friedrichen und den Amtmann
bezeichnen wollen, waren eben im Begriff, ihnen zu folgen und den
gebührenden Platz einzunehmen, als ein Mann von einnehmendem Wesen zu
ihnen trat und sich die Erlaubnis ausbat, an der Versammlung
teilnehmen zu können.  Ihm wäre nichts abzuschlagen gewesen, so
gesittet, zuvorkommend und freundlich war sein Betragen, wodurch eine
imposante Gestalt, welche sowohl nach der Armee als dem Hofe und dem
geselligen Leben hindeutete, sich höchst anmutig erwies.  Er trat mit
den übrigen hinein, man überließ ihm einen Ehrenplatz; alle hatten
sich gesetzt, Lenardo blieb stehen und fing folgendermaßen zu reden
an:

"Betrachten wir, meine Freunde, des festen Landes bewohnteste
Provinzen und Reiche, so finden wir überall, wo sich nutzbarer Boden
hervortut, denselben bebaut, bepflanzt, geregelt, verschönt und in
gleichem Verhältnis gewünscht, in Besitz genommen, befestigt und
verteidigt.  Da überzeugen wir uns denn von dem hohen Wert des
Grundbesitzes und sind genötigt, ihn als das Erste, das Beste
anzusehen, was dem Menschen werden könne.  Finden wir nun, bei
näherer Ansicht, Eltern--und Kinderliebe, innige Verbindung der
Flur--und Stadtgenossen, somit auch das allgemeine patriotische
Gefühl unmittelbar auf den Boden gegründet, dann erscheint uns jenes
Ergreifen und Behaupten des Raums, im großen und kleinen, immer
bedeutender und ehrwürdiger.  Ja, so hat es die Natur gewollt!  Ein
Mensch, auf der Scholle geboren, wird ihr durch Gewohnheit angehörig,
beide verwachsen miteinander, und sogleich knüpfen sich die schönsten
Bande.  Wer möchte denn wohl die Grundfeste alles Daseins widerwärtig
berühren, Wert und Würde so schöner, einziger Himmelsgabe verkennen?

Und doch darf man sagen: Wenn das, was der Mensch besitzt, von
großem Wert ist, so muß man demjenigen, was er tut und leistet, noch
einen größern zuschreiben.  Wir mögen daher bei völligem überschauen
den Grundbesitz als einen kleineren Teil der uns verliehenen Güter
betrachten.  Die meisten und höchsten derselben bestehen aber
eigentlich im Beweglichen und in demjenigen, was durchs bewegte Leben
gewonnen wird.

Hiernach uns umzusehen, werden wir Jüngeren besonders genötigt; denn
hätten wir auch die Lust, zu bleiben und zu verharren, von unsern
Vätern geerbt, so finden wir uns doch tausendfältig aufgefordert, die
Augen vor weiterer Aus--und Umsicht keineswegs zu verschließen.
Eilen wir deshalb schnell ans Meeresufer und überzeugen uns mit einem
Blick, welch unermeßliche Räume der Tätigkeit offenstehen, und
bekennen wir schon bei dem bloßen Gedanken uns ganz anders aufgeregt.

Doch in solche grenzenlose Weiten wollen wir uns nicht verlieren,
sondern unsere Aufmerksamkeit dem zusammenhängenden, weiten, breiten
Boden so mancher Länder und Reiche zuwenden.  Dort sehen wir große
Strecken des Landes von Nomaden durchzogen, deren Städte beweglich,
deren lebendignährender Herdenbesitz überall hinzuleiten ist.  Wir
sehen sie inmitten der Wüste, auf großen grünen Weideplätzen, wie in
erwünschten Häfen vor Anker liegen.  Solche Bewegung, solches Wandern
wird ihnen zur Gewohnheit, zum Bedürfnis; endlich betrachten sie die
Oberfläche der Welt, als wäre sie nicht durch Berge gedämmt, nicht
von Flüssen durchzogen.  Haben wir doch den Nordosten gesehen sich
gegen Südwesten bewegen, ein Volk das andere vor sich hertreiben,
Herrschaft und Grundbesitz durchaus verändert.

Von übervölkerten Gegenden her wird sich ebendasselbe in dem großen
Weltlauf noch mehrmals ereignen.  Was wir von Fremden zu erwarten
haben, wäre schwer zu sagen; wundersam aber ist es, daß durch eigene
übervölkerung wir uns einander innerlich drängen und, ohne erst
abzuwarten, daß wir vertrieben werden, uns selbst vertreiben, das
Urteil der Verbannung gegen einander selbst aussprechend.

Hier ist nun Zeit und Ort, ohne Verdruß und Mißmut in unserm Busen
einer gewissen Beweglichkeit Raum zu geben, die ungeduldige Lust
nicht zu unterdrücken, die uns antreibt, Platz und Ort zu verändern.
Doch was wir auch sinnen und vorhaben, geschehe nicht aus
Leidenschaft, noch aus irgendeiner andern Nötigung, sondern aus einer
dem besten Rat entsprechenden überzeugung.

Man hat gesagt und wiederholt: "Wo mir's wohl geht, ist mein
Vaterland!"; doch wäre dieser tröstliche Spruch noch besser
ausgedrückt, wenn es hieße: "Wo ich nütze, ist mein Vaterland!"  Zu
Hause kann einer unnütz sein, ohne daß es eben sogleich bemerkt wird;
außen in der Welt ist der Unnütze gar bald offenbar.  Wenn ich nun
sage: "Trachte jeder, überall sich und andern zu nutzen!", so ist dies
nicht etwa Lehre noch Rat, sondern der Ausspruch des Lebens selbst.

Nun beschaue man den Erdball und lasse das Meer vorerst unbeachtet,
man lasse sich von dem Schiffsgewimmel nicht mit fortreißen und hefte
den Blick auf das feste Land und staune, wie es mit einem sich
wimmelnd durchkreuzenden Ameisengeschlecht übergossen ist.  Hiezu hat
Gott der Herr selbst Anlaß gegeben, indem er, den babylonischen
Turmbau verhindernd, das Menschengeschlecht in alle Welt zerstreute.
Lasset uns ihn darum preisen, denn dieser Segen ist auf alle
Geschlechter übergegangen.

Bemerket nun mit Heiterkeit, wie sich alle Jugend sogleich in
Bewegung setzt.  Da ihr der Unterricht weder im Hause noch an der
Türe geboten wird, eilt sie alsobald nach Ländern und Städten, wohin
sie der Ruf des Wissens und der Weisheit verlockt; nach empfangener
schneller, mäßiger Bildung fühlt sie sich sogleich getrieben, weiter
in der Welt umherzuschauen, ob sie da oder dort irgendeine nutzbare
Erfahrung, zu ihren Zwecken behülflich, auffinden und erhaschen könne.
Mögen sie denn ihr Glück versuchen! wir aber gedenken sogleich
vollendeter, ausgezeichneter Männer, jener edlen Naturforscher, die
jeder Beschwerlichkeit, jeder Gefahr wissentlich entgegengehen, um der
Welt die Welt zu eröffnen und durch das Unwegsamste hindurch Pfad und
Bahn zu bereiten.

Sehet aber auch auf glatten Heerstraßen Staub auf Staub in langen
Wolkenzügen emporgeregt, die Spur bezeichnend bequemer, überpackter
Wägen, worin Vornehme, Reiche und so manche andere dahinrollen, deren
verschiedene Denkweise und Absicht Yorik uns gar zierlich
auseinandersetzt.

Möge nun aber der wackere Handwerker ihnen zu Fuße getrost
nachschauen, dem das Vaterland zur Pflicht machte, fremde
Geschicklichkeit sich anzueignen und nicht eher, als bis ihm dies
gelungen, an den väterlichen Herd zurückzukehren.  Häufiger aber
begegnen wir auf unsern Wegen Marktenden und Handelnden; ein kleiner
Krämer sogar darf nicht versäumen, von Zeit zu Zeit seine Bude zu
verlassen, Messen und Märkte zu besuchen, um sich dem Großhändler zu
nähern und seinen kleinen Vorteil am Beispiel, an der Teilnahme des
Grenzenlosen zu steigern.  Aber noch unruhiger durchkreuzt sich
einzeln, zu Pferde, auf allen Haupt--und Nebenstraßen die Menge derer,
die auf unsern Beutel auch gegen unser Wollen Anspruch zu machen
beflissen sind.  Muster aller Art und Preisverzeichnisse verfolgen uns
in Stadt--und Landhäusern, und wohin wir uns auch flüchten mögen,
geschäftig überraschen sie uns, Gelegenheit bietend, welche selbst
aufzusuchen niemand in den Sinn gekommen wäre.  Was soll ich aber nun
von dem Volke sagen, das den Segen des ewigen Wanderns vor allen
andern sich zueignet und durch seine bewegliche Tätigkeit die Ruhenden
zu überlisten und die Mitwandernden zu überschreiten versteht?  Wir
dürfen weder Gutes noch Böses von ihnen sprechen; nichts Gutes, weil
sich unser Bund vor ihnen hütet, nichts Böses, weil der Wanderer
jeden Begegnenden freundlich zu behandeln, wechselseitigen Vorteils
eingedenk, verpflichtet ist.

Nun aber vor allen Dingen haben wir der sämtlichen Künstler mit
Teilnahme zu gedenken, denn sie sind auch durchaus in die
Weltbewegung mit verflochten.  Wandert nicht der Maler mit Staffelei
und Palette von Gesicht zu Gesicht? und werden seine Kunstgenossen
nicht bald da-, bald dorthin berufen, weil überall zu bauen und zu
bilden ist?  Lebhafter jedoch schreitet der Musiker daher, denn er
ist es eigentlich, der für ein neues Ohr neue überraschung, für einen
frischen Sinn frisches Erstaunen bereitet.  Die Schauspieler sodann,
wenn sie gleich Thespis' Wagen verschmähen, ziehen doch noch immer in
kleineren Chören umher, und ihre bewegliche Welt ist an jeder Stelle
behend genug auferbaut.  Ebenso verändern sie einzeln, sogar ernste,
vorteilhafte Verbindungen aufgebend, gern den Ort mit dem Orte, wozu
ein gesteigertes Talent mit zugleich gesteigertem Bedürfnis Anlaß und
Vorwand gibt.  Hierzu bereiten sie sich gewöhnlich dadurch vor, daß
sie kein bedeutendes Brettergerüst des Vaterlandes unbestiegen lassen.


Hiernach werden wir sogleich gemahnt, auf den Lehrstand zu sehen;
diesen findet ihr gleichfalls in fortdauernder Bewegung, ein Katheder
um das andere wird betreten und verlassen, um den Samen eiliger
Bildung ja nach allen Seiten hin reichlich auszuspenden.  Emsiger aber
und weiter ausgreifend sind jene frommen Seelen, die, das Heil den
Völkern zu bringen, sich durch alle Weltteile zerstreuen.  Dagegen
pilgern andere, sich das Heil abzuholen; sie ziehen zu ganzen Scharen
nach geweihter, wundertätiger Stelle, dort zu suchen und zu empfangen,
was ihrem Innern zu Hause nicht verliehen ward.

Wenn uns nun diese sämtlich nicht in Verwunderung setzen, weil ihr
Tun und Lassen ohne Wandern meist nicht denkbar wäre, so sollten wir
diejenigen, die ihren Fleiß dem Boden widmen, doch wenigstens an
denselben gefesselt halten.  Keineswegs!  Auch ohne Besitz läßt sich
Benutzung denken, und wir sehen den eifrigen Landwirt eine Flur
verlassen, die ihm als Zeitpächter Vorteil und Freude mehrere Jahre
gewährt hat; ungeduldig forscht er nach gleichen oder größeren
Vorteilen, es sei nah oder fern.  Ja sogar der Eigentümer verläßt
seinen erst gerodeten Neubruch, sobald er ihn durch Kultur einem
weniger gewandten Besitzer erst angenehm gemacht hat; aufs neue
dringt er in die Wüste, macht sich abermals in Wäldern Platz, zur
Belohnung jenes ersten Bemühens einen doppelt und dreifach größern
Raum, auf dem er vielleicht auch nicht zu beharren gedenkt.

Lassen wir ihn dort mit Bären und anderm Getier sich herumschlagen
und kehren in die gebildete Welt zurück, wo wir es auch keineswegs
beruhigter antreffen.  Irgendein großes, geregeltes Reich beschaue
man, wo der Fähigste sich als den Beweglichsten denken muß; nach dem
Winke des Fürsten, nach Anordnung des Staatsrats wird der Brauchbare
von einem Ort zum andern versetzt.  Auch ihm gilt unser Zuruf.
"Suchet überall zu nützen, überall seid ihr zu Hause."  Sehen wir
aber bedeutende Staatsmänner, obwohl ungern, ihren hohen Posten
verlassen, so haben wir Ursache, sie zu bedauern, da wir sie weder als
Auswanderer noch als Wanderer anerkennen dürfen; nicht als
Auswanderer, weil sie einen wünschenswerten Zustand entbehren, ohne
daß irgendeine Aussicht auf bessere Zustände sich auch nur scheinbar
eröffnete; nicht als Wanderer, weil ihnen anderer Orten auf
irgendeine Weise nützlich zu sein selten vergönnt ist.

Zu einem eigenen Wanderleben jedoch ist der Soldat berufen; selbst
im Frieden wird ihm bald dieser, bald jener Posten angewiesen; fürs
Vaterland nah oder fern zu streiten, muß er sich immer beweglich
erhalten; und nicht nur fürs unmittelbare Heil, sondern auch nach dem
Sinne der Völker und Herrscher wendet er seinen Schritt allen
Weltteilen zu, und nur wenigen ist es vergönnt, sich hie oder da
anzusiedeln.  Wie nun bei dem Soldaten die Tapferkeit als erste
Eigenschaft obenan steht, so wird sie doch stets mit der Treue
verbunden gedacht, deshalb wir denn gewisse wegen ihrer
Zuverlässigkeit gerühmte Völker, aus der Heimat gerufen, weltlichen
und geistlichen Regenten als Leibwache dienen sehen.

Noch eine sehr bewegliche, dem Staat unentbehrliche Klasse erblicken
wir in jenen Geschäftsmännern, welche, von Hof zu Hofe gesandt,
Fürsten und Minister umlagern und die ganze bewohnte Welt mit
unsichtbaren Fäden überkreuzen.  Auch deren ist keiner an Ort und
Stelle auch nur einen Augenblick sicher; im Frieden sendet man die
tüchtigsten von einer Weltgegend zur andern; im Kriege, dem siegenden
Heere nachziehend, dem flüchtigen die Wege bahnend, sind sie immer
eingerichtet, einen Ort um den andern zu verlassen, deshalb sie auch
jederzeit einen großen Vorrat von Abschiedskarten mit sich führen.

Haben wir uns nun bisher auf jedem Schritt zu ehren gewußt, indem
wir die vorzüglichste Masse tätiger Menschen als unsere Gesellen und
Schicksalsgenossen angesprochen, so stehet euch, teure Freunde, zum
Abschluß noch die höchste Gunst bevor, indem ihr euch mit Kaisern,
Königen und Fürsten verbrüdert findet.  Denken wir zuerst segnend
jenes edlen kaiserlichen Wanderers Hadrian, welcher zu Fuß, an der
Spitze seines Heers, den bewohnten, ihm unterworfenen Erdkreis
durchschnitt und ihn so erst vollkommen in Besitz nahm.  Denken wir
mit Schaudern der Eroberer, jener gewaffneten Wanderer, gegen die kein
Widerstreit helfen, Mauer und Bollwerk harmlose Völker nicht schirmen
konnte; begleiten wir endlich mit redlichem Bedauern jene
unglücklichen vertriebenen Fürsten, die, von dem Gipfel der Höhe
herabsteigend, nicht einmal in die bescheidene Gilde tätiger Wanderer
aufgenommen werden könnten.

Da wir uns nun alles dieses einander vergegenwärtigt und aufgeklärt,
so wird kein beschränkter Trübsinn, keine leidenschaftliche
Dunkelheit über uns walten.  Die Zeit ist vorüber, wo man
abenteuerlich in die weite Welt rannte; durch die Bemühungen
wissenschaftlicher, weislich beschreibender, künstlerisch
nachbildender Weltumreiser sind wir überall bekannt genug, daß wir
ungefähr wissen, was zu erwarten sei.

Doch kann zu einer vollkommenen Klarheit der einzelne nicht gelangen.
Unsere Gesellschaft aber ist darauf gegründet, daß jeder in seinem
Maße, nach seinen Zwecken aufgeklärt werde.  Hat irgendeiner ein Land
im Sinne, wohin er seine Wünsche richtet, so suchen wir ihm das
einzelne deutlich zu machen, was im ganzen seiner Einbildungskraft
vorschwebte; uns wechselseitig einen überblick der bewohnten und
bewohnbaren Welt zu geben, ist die angenehmste, höchst belohnende
Unterhaltung.

In solchem Sinne nun dürfen wir uns in einem Weltbunde begriffen
ansehen.  Einfach-groß ist der Gedanke, leicht die Ausführung durch
Verstand und Kraft.  Einheit ist allmächtig, deshalb keine Spaltung,
kein Widerstreit unter uns.  Insofern wir Grundsätze haben, sind sie
uns allen gemein.  Der Mensch, so sagen wir, lerne sich ohne dauernden
äußeren Bezug zu denken, er suche das Folgerechte nicht an den
Umständen, sondern in sich selbst, dort wird er's finden, mit Liebe
hegen und pflegen.  Er wird sich ausbilden und einrichten, daß er
überall zu Hause sei.  Wer sich dem Notwendigsten widmet, geht überall
am sichersten zum Ziel; andere hingegen, das Höhere, Zartere suchend,
haben schon in der Wahl des Weges vorsichtiger zu sein.  Doch was der
Mensch auch ergreife und handhabe, der einzelne ist sich nicht
hinreichend, Gesellschaft bleibt eines wackern Mannes höchstes
Bedürfnis.  Alle brauchbaren Menschen sollen in Bezug untereinander
stehen, wie sich der Bauherr nach dem Architekten und dieser nach
Maurer und Zimmermann umsieht.

Und so ist denn allen bekannt, wie und auf welche Weise unser Bund
geschlossen und gegründet sei; niemand sehen wir unter uns, der nicht
zweckmäßig seine Tätigkeit jeden Augenblick üben könnte, der nicht
versichert wäre, daß er überall, wohin Zufall, Neigung, ja
Leidenschaft ihn führen könnte, sich immer wohl empfohlen,
aufgenommen und gefördert, ja von Unglücksfällen möglichst
wiederhergestellt finden werde.

Zwei Pflichten sodann haben wir aufs strengste übernommen: jeden
Gottesdienst in Ehren zu halten, denn sie sind alle mehr oder weniger
im Credo verfaßt; ferner alle Regierungsformen gleichfalls gelten zu
lassen und, da sie sämtlich eine zweckmäßige Tätigkeit fordern und
befördern, innerhalb einer jeden uns, auf wie lange es auch sei, nach
ihrem Willen und Wunsch zu bemühen.  Schließlich halten wir's für
Pflicht, die Sittlichkeit ohne Pedanterei und Strenge zu üben und zu
fördern, wie es die Ehrfurcht vor uns selbst verlangt, welche aus den
drei Ehrfurchten entsprießt, zu denen wir uns sämtlich bekennen, auch
alle in diese höhere, allgemeine Weisheit, einige sogar von Jugend auf,
eingeweiht zu sein das Glück und die Freude haben.  Dieses alles
haben wir in der feierlichen Trennungsstunde nochmals bedenken,
erklären, vernehmen und anerkennen, auch mit einem traulichen
Lebewohl besiegeln wollen.



Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften,
überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los.
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß."



Zehntes Kapitel

Unter dem Schlußgesange richtete sich ein großer Teil der Anwesenden
rasch empor und zog paarweise geordnet mit weit umherklingendem
Schalle den Saal hinaus.  Lenardo, sich niedersetzend, fragte den
Gast: ob er sein Anliegen hier öffentlich vorzutragen gedenke oder
eine besondere Sitzung verlange?  Der Fremde stand auf, begrüßte die
Gesellschaft und begann folgende Rede:

"Hier ist es, gerade in solcher Versammlung, wo ich mich vorerst
ohne weiteres zu erklären wünsche.  Diese hier in Ruhe verbliebenen,
dem Anblick nach sämtlich wackern Männer geben schon durch ein
solches Verharren deutlich Wunsch und Absicht zu erkennen, dem
vaterländischen Grund und Boden auch fernerhin angehören zu wollen.
Sie sind mir alle freundlich gegrüßt, denn ich darf erklären: daß ich
ihnen sämtlich, wie sie sich hier ankündigen, ein hinreichendes
Tagewerk auf mehrere Jahre anzubieten im Fall bin.  Ich wünsche jedoch,
aber erst nach kurzer Frist, eine nochmalige Zusammenkunft, weil es
nötig ist, vor allen Dingen den würdigen Vorstehern, welche bisher
diese wackern Leute zusammenhielten, meine Angelegenheit vertraulich
zu offenbaren und sie von der Zuverlässigkeit meiner Sendung zu
überzeugen.  Sodann aber will es sich ziemen, mich mit den
Verharrenden im einzelnen zu besprechen, damit ich erfahre, mit
welchen Leistungen sie mein stattliches Anerbieten zu erwidern
gedenken."

Hierauf begehrte Lenardo einige Frist, die nötigsten Geschäfte des
Augenblicks zu besorgen, und nachdem diese bestimmt war, richtete
sich die Masse der übriggebliebenen anständig in die Höhe,
gleichfalls paarweise unter einem mäßig geselligen Gesang aus dem
Saale sich entfernend.

Odoard entdeckte sodann den zurückbleibenden beiden Führern seine
Absichten und Vorsätze und zeigte sodann seine Berechtigung hiezu.
Nun konnte er aber mit so vorzüglichen Menschen in fernerer
Unterhaltung von dem Geschäft nicht Rechenschaft geben, ohne des
menschlichen Grundes zu gedenken, worauf das Ganze eigentlich beruhe.
Wechselseitige Erklärungen und Bekenntnisse tiefer
Herzensangelegenheiten entfalteten sich hieraus bei fortgesetztem
Gespräch.  Bis tief in die Nacht blieb man zusammen und verwickelte
sich immer unentwirrbarer in die Labyrinthe menschlicher Gesinnungen
und Schicksale.  Hier nun fand sich Odoard bewogen, nach und nach von
den Angelegenheiten seines Geistes und Herzens fragmentarische
Rechenschaft zu geben, deshalb denn auch von diesem Gespräch uns
freilich nur unvollständige und unbefriedigende Kenntnis zugekommen.
Doch sollen wir auch hier Friedrichs glücklichem Talent des
Auffassens und Festhaltens die Vergegenwärtigung interessanter Szenen
verdanken, sowie einige Aufklärung über den Lebensgang eines
vorzüglichen Mannes, der uns zu interessieren anfängt, wenn es auch
nur Andeutungen wären desjenigen, was in der Folge vielleicht
ausführlicher und im Zusammenhange mitzuteilen ist.  Nicht zu weit

Es schlug zehn in der Nacht, und so war denn zur verabredeten Stunde
alles bereit: im bekränzten Sälchen zu vieren eine geräumige, artige
Tafel gedeckt, mit feinem Nachtisch und Zuckerzierlichkeiten zwischen
blinkenden Leuchtern und Blumen bestellt.  Wie freuten sich die
Kinder auf diese Nachkost, denn sie sollten mit zu Tische sitzen;
indessen schlichen sie umher, geputzt und maskiert, und weil Kinder
nicht zu entstellen sind, erschienen sie als die niedlichsten
Zwillingsgenien.  Der Vater berief sie zu sich, und sie sagten das
Festgespräch, zu ihrer Mutter Geburtstag gedichtet, bei weniger
Nachhülfe gar schicklich her.

Die Zeit verstrich, von Viertel--zu Viertelstunde enthielt die gute
Alte sich nicht, des Freundes Ungeduld zu vermehren.  Mehrere Lampen,
sagte sie, seien auf der Treppe dem Erlöschen ganz nahe, ausgesuchte
Lieblingsspeisen der Gefeierten könnten übergar werden, so sei es zu
befürchten.  Die Kinder aus Langerweile fingen erst unartig an, und
aus Ungeduld wurden sie unerträglich.  Der Vater nahm sich zusammen,
und doch wollte die ungewohnte Gelassenheit ihm nicht zu Gebote
stehen; er horchte sehnsüchtig auf die Wagen, einige rasselten
unaufgehalten vorbei, ein gewisses ärgernis wollte sich regen.  Zum
Zeitvertreib forderte er noch eine Repetition von den Kindern; diese,
im überdruß unachtsam, zerstreut und ungeschickt, sprachen falsch,
keine Gebärde war mehr richtig, sie übertrieben wie Schauspieler, die
nichts empfinden.  Die Pein des guten Mannes wuchs mit jedem Momente,
halb eilf Uhr war vorüber; das Weitere zu schildern, überlassen wir
ihm selbst.

"Die Glocke schlug eilfe, meine Ungeduld war bis zur Verzweiflung
gesteigert, ich hoffte nicht mehr, ich fürchtete.  Nun war mir bange,
sie möchte hereintreten, mit ihrer gewöhnlichen leichten Anmut sich
flüchtig entschuldigen, versichern, daß sie sehr müde sei, und sich
betragen, als würfe sie mir vor, ich beschränke ihre Freuden.  In mir
kehrte sich alles um und um, und gar vieles, was ich Jahre her
geduldet, lastete wiederkehrend auf meinem Geiste.  Ich fing an, sie
zu hassen, ich wußte kein Betragen zu denken, wie ich sie empfangen
sollte.  Die guten Kinder, wie Engelchen herausgeputzt, schliefen
ruhig auf dem Sofa.  Unter meinen Füßen brannte der Boden, ich begriff,
ich verstand mich nicht, und mir blieb nichts übrig als zu fliehen,
bis nur die nächsten Augenblicke überstanden wären.  Ich eilte,
leicht und festlich angezogen wie ich war, nach der Haustüre.  Ich
weiß nicht, was ich der guten Alten für einen Vorwand hinstotterte,
sie drang mir einen überrock zu, und ich fand mich auf der Straße in
einem Zustande, den ich seit langen Jahren nicht empfunden hatte.
Gleich dem jüngsten leidenschaftlichen Menschen, der nicht wo ein
noch aus weiß, rannt' ich die Gassen hin und wider.  Ich hätte das
freie Feld gewonnen, aber ein kalter, feuchter Wind blies streng und
widerwärtig genug, um meinen Verdruß zu begrenzen."

Wir haben, wie an dieser Stelle auffallend zu bemerken ist, die
Rechte des epischen Dichters uns anmaßend, einen geneigten Leser nur
allzu schnell in die Mitte leidenschaftlicher Darstellung gerissen.
Wir sehen einen bedeutenden Mann in häuslicher Verwirrung, ohne von
ihm etwas weiter erfahren zu haben; deshalb wir denn für den
Augenblick, um nur einigermaßen den Zustand aufzuklären, uns zu der
guten Alten gesellen, horchend, was sie allenfalls vor sich hin,
bewegt und verlegen, leise murmeln oder laut ausrufen möchte.

"Ich hab' es längst gedacht, ich habe es vorausgesagt, ich habe die
gnädige Frau nicht geschont, sie öfter gewarnt, aber es ist stärker
wie sie.  Wenn der Herr sich des Tags auf der Kanzlei, in der Stadt,
auf dem Lande in Geschäften abmüdet, so findet er abends ein leeres
Haus, oder Gesellschaft, die ihm nicht zusagt.  Sie kann es nicht
lassen.  Wenn sie nicht immer Menschen, Männer um sich sieht, wenn
sie nicht hin und wider fährt, sich an und aus--und umziehen kann,
ist es, als wenn ihr der Atem ausginge.  Heute an ihrem Geburtstag
fährt sie früh aufs Land.  Gut! wir machen indes hier alles zurecht;
sie verspricht heilig, um neun Uhr zu Hause zu sein; wir sind bereit.
Der Herr überhört die Kinder ein auswendig gelerntes artiges Gedicht,
sie sind herausgeputzt; Lampen und Lichter, Gesottenes und
Gebratenes, an gar nichts fehlt es, aber sie kommt nicht.  Der Herr
hat viel Gewalt über sich, er verbirgt seine Ungeduld, sie bricht aus.
Er entfernt sich aus dem Hause so spät.  Warum, ist offenbar; aber
wohin?  Ich habe ihr oft mit Nebenbuhlerinnen gedroht, ehrlich und
redlich.  Bisher hab' ich am Herrn nichts bemerkt; eine Schöne paßt
ihm längst auf, bemüht sich um ihn.  Wer weiß, wie er bisher gekämpft
hat.  Nun bricht's los, diesmal treibt ihn die Verzweiflung, seinen
guten Willen nicht besser anerkannt zu sehen, bei Nacht aus dem Hause,
da geb' ich alles verloren.  Ich sagt' es ihr mehr als einmal, sie
solle es nicht zu weit treiben."

Suchen wir den Freund nun wieder auf und hören ihn selber.  "In dem
angesehensten Gasthofe sah ich unten Licht, klopfte am Fenster und
fragte den herausschauenden Kellner mit bekannter Stimme: ob nicht
Fremde angekommen oder angemeldet seien?  Schon hatte er das Tor
geöffnet, verneinte beides und bat mich hereinzutreten.  Ich fand es
meiner Lage gemäß, das Märchen fortzusetzen, ersuchte ihn um ein
Zimmer, das er mir gleich im zweiten Stock einräumte; der erste
sollte, wie er meinte, für die erwarteten Fremden bleiben.  Er eilte,
einiges zu veranstalten, ich ließ es geschehen und verbürgte mich für
die Zeche.  So weit war's vorüber; ich aber fiel wieder in meine
Schmerzen zurück, vergegenwärtigte mir alles und jedes, erhöhte und
milderte, schalt mich und suchte mich zu fassen, zu besänftigen:
ließe sich doch morgen früh alles wieder einleiten; ich dachte mir
schon den Tag abermals im gewohnten Gange; dann aber kämpfte sich
aufs neue der Verdruß unbändig hervor: ich hatte nie geglaubt, daß ich
so unglücklich sein könne."

An dem edlen Manne, den wir hier so unerwartet über einen gering
scheinenden Vorfall in leidenschaftlicher Bewegung sehen, haben
unsere Leser gewiß schon in dem Grade teilgenommen, daß sie nähere
Nachricht von seinen Verhältnissen zu erfahren wünschen.  Wir
benutzen die Pause, die hier in das nächtliche Abenteuer eintritt,
indem er stumm und heftig in dem Zimmer auf und ab zu gehen fortfährt.


Wir lernen Odoard als den Sprößling eines alten Hauses kennen, auf
welchen durch eine Folge von Generationen die edelsten Vorzüge
vererbt worden.  In der Militärschule gebildet, ward ihm ein
gewandter Anstand zu eigen, der, mit den löblichsten Fähigkeiten des
Geistes verbunden, seinem Betragen eine ganz besondere Anmut verlieh.
Ein kurzer Hofdienst lehrte ihn die äußern Verhältnisse hoher
Persönlichkeiten gar wohl einsehen, und als er nun hierauf, durch
früh erworbene Gunst einer gesandtschaftlichen Sendung angeschlossen,
die Welt zu sehen und fremde Höfe zu kennen Gelegenheit hatte, so tat
sich die Klarheit seiner Auffassung und glückliches Gedächtnis des
Vorgegangenen bis aufs genaueste, besonders aber ein guter Wille in
Unternehmungen aller Art aufs baldigste hervor.  Die Leichtigkeit des
Ausdrucks in manchen Sprachen, bei einer freien und nicht
aufdringlichen Persönlichkeit, führten ihn von einer Stufe zur andern;
er hatte Glück bei allen diplomatischen Sendungen, weil er das
Wohlwollen der Menschen gewann und sich dadurch in den Vorteil setzte,
Mißhelligkeiten zu schlichten, besonders auch die beiderseitigen
Interessen bei gerechter Erwägung vorliegender Gründe zu befriedigen
wußte.

Einen so vorzüglichen Mann sich anzueignen, war der erste Minister
bedacht; er verheiratete ihm seine Tochter, ein Frauenzimmer von der
heitersten Schönheit und gewandt in allen höheren geselligen Tugenden.
Allein wie dem Laufe aller menschlichen Glückseligkeit sich je
einmal ein Damm entgegenstellt, der ihn irgendwo zurückdrängt, so war
es auch hier der Fall.  An dem fürstlichen Hofe wurde Prinzessin
Sophronie als Mündel erzogen, sie, der letzte Zweig ihres Astes,
deren Vermögen und Anforderungen, wenn auch Land und Leute an den
Oheim zurückfielen, noch immer bedeutend genug blieben, weshalb man
sie denn, um weitläufige Erörterungen zu vermeiden, an den Erbprinzen,
der freilich viel jünger war, zu verheiraten wünschte.

Odoard kam in Verdacht einer Neigung zu ihr, man fand, er habe sie
in einem Gedichte unter dem Namen Aurora allzu leidenschaftlich
gefeiert; hiezu gesellte sich eine Unvorsichtigkeit von ihrer Seite,
indem sie mit eigner Charakterstärke gewissen Neckereien ihrer
Gespielinnen trotzig entgegnete: sie müßte keine Augen haben, wenn
sie für solche Vorzüge blind sein sollte.

Durch seine Heirat wurde nun wohl ein solcher Verdacht beschwichtigt,
aber durch heimliche Gegner dennoch im stillen fortgenährt und
gelegentlich wieder aufgeregt.

Die Staats--und Erbschaftsverhältnisse, ob man sie gleich so wenig
als möglich zu berühren suchte, kamen doch manchmal zur Sprache.  Der
Fürst nicht sowohl als kluge Räte hielten es durchaus für nützlich,
die Angelegenheit fernerhin ruhen zu lassen, während die stillen
Anhänger der Prinzessin sie abgetan und dadurch die edle Dame in
größerer Freiheit zu sehen wünschten, besonders da der benachbarte
alte König, Sophronien verwandt und günstig, noch am Leben sei und
sich zu väterlicher Einwirkung gelegentlich bereit erwiesen habe.

Odoard kam in Verdacht, bei einer bloß zeremoniellen Sendung dorthin
das Geschäft, das man verspäten wollte, wieder in Anregung gebracht
zu haben.  Die Widersacher bedienten sich dieses Vorfalls, und der
Schwiegervater, den er von seiner Unschuld überzeugt hatte, mußte
seinen ganzen Einfluß anwenden, um ihm eine Art von Statthalterschaft
in einer entfernten Provinz zu erwirken.  Er fand sich glücklich
daselbst, alle seine Kräfte konnte er in Tätigkeit setzen, es war
Notwendiges, Nützliches, Gutes, Schönes, Großes zu tun, er konnte
Dauerndes leisten, ohne sich aufzuopfern, anstatt daß man in jenen
Verhältnissen, gegen seine überzeugung sich mit Vorübergehendem
beschäftigend, gelegentlich selbst zugrunde geht.

Nicht so empfand es seine Gattin, welche nur in größern Zirkeln ihre
Existenz fand und ihm nur später notgedrungen folgte.  Er betrug sich
so schonend als möglich gegen sie und begünstigte alle Surrogate
ihrer bisherigen Glückseligkeit, des Sommers Landpartien in der
Nachbarschaft, im Winter ein Liebhabertheater, Bälle und was sie sonst
einzuleiten beliebte.  Ja er duldete einen Hausfreund, einen Fremden,
der sich seit einiger Zeit eingeführt hatte, ob er ihm gleich
keineswegs gefiel, da er ihm durchaus, bei seinem klaren Blick auf
Menschen, eine gewisse Falschheit anzusehen glaubte.

Von allem diesem, was wir aussprechen, mag in dem gegenwärtigen
bedenklichen Augenblick einiges dunkel und trübe, ein anderes klar
und deutlich ihm vor der Seele vorübergegangen sein.  Genug, wenn wir
nach dieser vertraulichen Eröffnung, zu der Friedrichs gutes
Gedächtnis den Stoff mitgeteilt, uns abermals zu ihm wenden, so finden
wir ihn wieder in dem Zimmer heftig auf und ab gehend, durch Gebärden
und manche Ausrufungen einen innern Kampf offenbarend.

"In solchen Gedanken war ich heftig im Zimmer auf und ab gegangen,
der Kellner hatte mir eine Tasse Bouillon gebracht, deren ich sehr
bedurfte; denn über die sorgfältigsten Anstalten dem Fest zuliebe
hatte ich nichts zu mir genommen, und ein köstlich Abendessen stand
unberührt zu Hause.  In dem Augenblick hörten wir ein Posthorn sehr
angenehm die Straße herauf.  "Der kommt aus dem Gebirge", sagte der
Kellner.  Wir fuhren ans Fenster und sahen beim Schein zweier
helleuchtenden Wagenlaternen vierspännig, wohlbepackt vorfahren einen
Herrschaftswagen.  Die Bedienten sprangen vom Bocke: "Da sind sie!"
rief der Kellner und eilte nach der Türe.  Ich hielt ihn fest, ihm
einzuschärfen, er solle ja nichts sagen, daß ich da sei, nicht
verraten, daß etwas bestellt worden; er versprach's und sprang davon.

Indessen hatte ich versäumt zu beobachten, wer ausgestiegen sei, und
eine neue Ungeduld bemächtigte sich meiner; mir schien, der Kellner
säume allzu lange, mir Nachricht zu geben.  Endlich vernahm ich von
ihm, die Gäste seien Frauenzimmer, eine ältliche Dame von würdigem
Ansehen, eine mittlere von unglaublicher Anmut, ein Kammermädchen, wie
man sie nur wünschen möchte.  "Sie fing an", sagte er, "mit Befehlen,
fuhr fort mit Schmeicheln und fiel, als ich ihr schöntat, in ein
heiter schnippisches Wesen, das ihr wohl das natürlichste sein mochte.
""

"Gar schnell bemerkte ich", fahrt er fort, "die allgemeine
Verwunderung, mich so alert und das Haus zu ihrem Empfang so bereit
zu finden, die Zimmer erleuchtet, die Kamine brennend; sie machten
sich's bequem, im Saale fanden sie ein kaltes Abendessen; ich bot
Bouillon an, die ihnen willkommen schien."

Nun saßen die Damen bei Tische, die ältere speiste kaum, die schöne
Liebliche gar nicht; das Kammermädchen, das sie Lucie nannten, ließ
sich's wohl schmecken und erhob dabei die Vorzüge des Gasthofes,
erfreute sich der hellen Kerzen, des feinen Tafelzeugs, des
Porzellans und aller Gerätschaften.  Am lodernden Kamin hatte sie sich
früher ausgewärmt und fragte nun den wieder eintretenden Kellner, ob
man hier denn immer so bereit sei, zu jeder Stunde des Tags und der
Nacht unvermutet ankommende Gäste zu bewirten?  Dem jungen, gewandten
Burschen ging es in diesem Falle wie Kindern, die wohl das Geheimnis
verschweigen, aber, daß etwas Geheimes ihnen vertraut sei, nicht
verbergen können.  Erst antwortete er zweideutig, annähernd sodann,
und zuletzt, durch die Lebhaftigkeit der Zofe, durch Hin--und
Widerreden in die Enge getrieben, gestand er: es sei ein Bedienter, es
sei ein Herr gekommen, sei fortgegangen, wiedergekommen, zuletzt aber
entfuhr es ihm, der Herr sei wirklich oben und gehe beunruhigt auf
und ab.  Die junge Dame sprang auf, die andern folgten; es sollte ein
alter Herr sein, meinten sie hastig; der Kellner versicherte dagegen,
er sei jung.  Nun zweifelten sie wieder, er beteuerte die Wahrheit
seiner Aussage.  Die Verwirrung, die Unruhe vermehrte sich.  Es müsse
der Oheim sein, versicherte die Schöne; es sei nicht in seiner Art,
erwiderte die ältere.  Niemand als er habe wissen können, daß sie in
dieser Stunde hier eintreffen würden, versetzte jene beharrlich.  Der
Kellner aber beteuerte fort und fort, es sei ein junger, ansehnlicher,
kräftiger Mann.  Lucie schwur dagegen auf den Oheim: dem Schalk, dem
Kellner, sei nicht zu trauen, er widerspreche sich schon eine halbe
Stunde.

Nach allem diesem mußte der Kellner hinauf, dringend zu bitten, der
Herr möge doch ja eilig herunterkommen, dabei auch zu drohen, die
Damen würden heraufsteigen und selbst danken.  "Es ist ein Wirrwarr
ohne Grenzen", fuhr der Kellner fort; "ich begreife nicht, warum Sie
zaudern, sich sehen zu lassen; man hält Sie für einen alten Oheim, den
man wieder zu umarmen leidenschaftlich verlangt.  Gehen Sie hinunter,
ich bitte.  Sind denn das nicht die Personen, die Sie erwarteten?
Verschmähen Sie ein allerliebstes Abenteuer nicht mutwillig;
sehens--und hörenswert ist die junge Schöne, es sind die anständigsten
Personen.  Eilen Sie hinunter, sonst rücken sie Ihnen wahrlich auf die
Stube."

Leidenschaft erzeugt Leidenschaft.  Bewegt, wie er war, sehnte er
sich nach etwas anderem, Fremdem.  Er stieg hinab, in Hoffnung, sich
mit den Ankömmlingen in heiterem Gespräch zu erklären, aufzuklären,
fremde Zustände zu gewahren, sich zu zerstreuen, und doch war es ihm,
als ging' er einem bekannten ahnungsvollen Zustand entgegen.  Nun
stand er vor der Türe; die Damen, die des Oheims Tritte zu hören
glaubten, eilten ihm entgegen, er trat ein.  Welch ein
Zusammentreffen!  Welch ein Anblick!  Die sehr Schöne tat einen Schrei
und warf sich der ältern um den Hals, der Freund erkannte sie beide,
er schrak zurück, dann drängt' es ihn vorwärts, er lag zu ihren Füßen
und berührte ihre Hand, die er sogleich wieder losließ, mit dem
bescheidensten Kuß.  Die Silben "Au-ro-ra!" erstarben auf seinen
Lippen.

Wenden wir unsern Blick nunmehr nach dem Hause unsres Freundes, so
finden wir daselbst ganz eigne Zustände.  Die gute Alte wußte nicht,
was sie tun oder lassen sollte; sie unterhielt die Lampen des
Vorhauses und der Treppe; das Essen hatte sie vom Feuer gehoben,
einiges war unwiederbringlich verdorben.  Die Kammerjungfer war bei
den schlafenden Kindern geblieben und hatte die vielen Kerzen der
Zimmer gehütet, so ruhig und geduldig als jene verdrießlich hin und
her fahrend.

Endlich rollte der Wagen vor, die Dame stieg aus und vernahm, ihr
Gemahl sei vor einigen Stunden abgerufen worden.  Die Treppe
hinaufsteigend, schien sie von der festlichen Erleuchtung keine
Kenntnis zu nehmen.  Nun erfuhr die Alte von dem Bedienten, ein
Unglück sei unterwegs begegnet, der Wagen in einen Graben geworfen
worden, und was alles nachher sich ereignet.

Die Dame trat ins Zimmer: "Was ist das für eine Maskerade?" sagte
sie, auf die Kinder deutend.  "Es hätte Ihnen viel Vergnügen gemacht",
versetzte die Jungfer, "wären Sie einige Stunden früher angekommen."
Die Kinder, aus dem Schlafe gerüttelt, sprangen auf und begannen,
als sie die Mutter vor sich sahen, ihren eingelernten Spruch.  Von
beiden Seiten verlegen, ging es eine Weile, dann, ohne Aufmunterung
und Nachhülfe, kam es zum Stocken, endlich brach es völlig ab, und
die guten Kleinen wurden mit einigen Liebkosungen zu Bette geschickt.
Die Dame sah sich allein, warf sich auf den Sofa und brach in bittre
Tränen aus.

Doch es wird nun ebenfalls notwendig, von der Dame selbst und von
dem, wie es scheint. übel abgelaufenen ländlichen Feste nähere
Nachricht zu geben.  Albertine war eine von den Frauenzimmern, denen
man unter vier Augen nichts zu sagen hätte, die man aber sehr gern in
großer Gesellschaft sieht.  Dort erscheinen sie als wahre Zierden des
Ganzen und als Reizmittel in jedem Augenblick einer Stockung.  Ihre
Anmut ist von der Art, daß sie, um sich zu äußern, sich bequem
darzutun, einen gewissen Raum braucht, ihre Wirkungen verlangen ein
größeres Publikum, sie bedürfen eines Elements, das sie trägt, das sie
nötigt, anmutig zu sein; gegen den einzelnen wissen sie sich kaum zu
betragen.

Auch hatte der Hausfreund bloß dadurch ihre Gunst und erhielt sich
darin, weil er Bewegung auf Bewegung einzuleiten und immerfort, wenn
auch keinen großen, doch einen heitern Kreis im Treiben zu erhalten
wußte.  Bei Rollenausteilungen wählte er sich die zärtlichen Väter
und wußte durch ein anständiges, altkluges Benehmen über die jüngeren
ersten, zweiten und dritten Liebhaber sich ein übergewicht zu
verschaffen.

Florine, Besitzerin eines bedeutenden Rittergutes in der Nähe,
winters in der Stadt wohnend, verpflichtet gegen Odoard, dessen
staatswirtliche Einrichtung zufälliger-, aber glücklicherweise ihrem
Landsitz höchlich zugute kam und den Ertrag desselben in der Folge
bedeutend zu vermehren die Aussicht gab, bezog sommers ihr Landgut und
machte es zum Schauplatze vielfacher anständiger Vergnügungen.
Geburtstage besonders wurden niemals verabsäumt und mannigfaltige
Feste veranstaltet.

Florine war ein munteres, neckisches Wesen, wie es schien, nirgends
anhänglich, auch keine Anhänglichkeit fordernd noch verlangend.
Leidenschaftliche Tänzerin, schätzte sie die Männer nur, insofern sie
sich gut im Takte bewegten; ewig rege Gesellschafterin, hielt sie
denjenigen unerträglich, der auch nur einen Augenblick vor sich hinsah
und nachzudenken schien; übrigens als heitere Liebhaberin, wie sie in
jedem Stück, jeder Oper nötig sind, sich gar anmutig darstellend,
weshalb denn zwischen ihr und Albertinen, welche die Anständigen
spielte, sich nie ein Rangstreit hervortat.

Den eintretenden Geburtstag in guter Gesellschaft zu feiern, war aus
der Stadt und aus dem Lande umher die beste Gesellschaft eingeladen.
Einen Tanz, schon nach dem Frühstück begonnen, setzte man nach Tafel
fort; die Bewegung zog sich in die Länge, man fuhr zu spät ab, und
von der Nacht auf schlimmem Wege, doppelt schlimm, weil er eben
gebessert wurde, ehe man's dachte, schon überrascht, versah's der
Kutscher und warf in einen Graben.  Unsere Schöne mit Florinen und
dem Hausfreunde fühlten sich in schlimmer Verwickelung; der letzte
wußte sich schnell herauszuwinden, dann, über den Wagen sich biegend,
rief er: "Florine, wo bist du?"  Albertine glaubte zu träumen; er
faßte hinein und zog Florinen, die oben lag, ohnmächtig hervor,
bemühte sich um sie und trug sie endlich auf kräftigem Arm den
wiedergefundenen Weg hin.  Albertine stak noch im Wagen, Kutscher und
Bedienter halfen ihr heraus, und gestützt auf den letzten suchte sie
weiterzukommen.  Der Weg war schlimm, für Tanzschuhe nicht günstig;
obgleich von dem Burschen unterstützt, strauchelte sie jeden
Augenblick.  Aber im Innern sah es noch wilder, noch wüster aus.  Wie
ihr geschah, wußte sie nicht, begriff sie nicht.

Allein als sie ins Wirtshaus trat, in der kleinen Stube Florinen auf
dem Bette, die Wirtin und Lelio um sie beschäftigt sah, ward sie
ihres Unglücks gewiß.  Ein geheimes Verhältnis zwischen dem untreuen
Freund und der verräterischen Freundin offenbarte sich blitzschnell
auf einmal, sie mußte sehen, wie diese, die Augen aufschlagend, sich
dem Freund um den Hals warf, mit der Wonne einer neu
wiederauflebenden zärtlichsten Aneignung, wie die schwarzen Augen
wieder glänzten, eine frische Röte die bläßlichen Wangen auf einmal
wieder zierend färbte; wirklich sah sie verjüngt, reizend, allerliebst
aus.

Albertine stand vor sich hinschauend, einzeln, kaum bemerkt; jene
erholten sich, nahmen sich zusammen, der Schade war geschehen, man
war denn doch genötigt, sich wieder in den Wagen zu setzen, und in
der Hölle selbst könnten widerwärtig Gesinnte, Verratene mit
Verrätern so eng nicht zusammengepackt sein.



Eilftes Kapitel

Lenardo sowohl als Odoard waren einige Tage sehr lebhaft beschäftigt,
jener, die Abreisenden mit allem Nötigen zu versehen, dieser, sich
mit den Bleibenden bekannt zu machen, ihre Fähigkeiten zu beurteilen,
um sie von seinen Zwecken hinreichend zu unterrichten.  Indessen
blieb Friedrichen und unserm Freunde Raum und Ruhe zu stiller
Unterhaltung.  Wilhelm ließ sich den Plan im allgemeinen vorzeichnen,
und da man mit Landschaft und Gegend genugsam vertraut geworden, auch
die Hoffnung besprochen war, in einem ausgedehnten Gebiete schnell
eine große Anzahl Bewohner entwickelt zu sehen, so wendete sich das
Gespräch, wie natürlich, zuletzt auf das, was Menschen eigentlich
zusammenhält: auf Religion und Sitte.  Hierüber konnte denn der
heitere Friedrich hinreichende Auskunft geben, und wir würden wohl
Dank verdienen, wenn wir das Gespräch in seinem Laufe mitteilen
könnten, das durch Frag' und Antwort, durch Einwendung und
Berichtigung sich gar löblich durchschlang und in mannigfaltigem
Schwanken zu dem eigentlichen Zweck gefällig hinbewegte.  Indessen
dürfen wir uns so lange nicht aufhalten und geben lieber gleich die
Resultate, als daß wir uns verpflichteten, sie erst nach und nach in
dem Geiste unsrer Leser hervortreten zu lassen.  Folgendes ergab sich
als die Quintessenz dessen, was verhandelt wurde:

Daß der Mensch ins Unvermeidliche sich füge, darauf dringen alle
Religionen, jede sucht auf ihre Weise mit dieser Aufgabe fertig zu
werden.

Die christliche hilft durch Glaube, Liebe, Hoffnung gar anmutig nach;
daraus entsteht denn die Geduld, ein süßes Gefühl, welch eine
schätzbare Gabe das Dasein bleibe, auch wenn ihm, anstatt des
gewünschten Genusses, das widerwärtigste Leiden aufgebürdet wird.  An
dieser Religion halten wir fest, aber auf eine eigne Weise; wir
unterrichten unsre Kinder von Jugend auf von den großen Vorteilen,
die sie uns gebracht hat; dagegen von ihrem Ursprung, von ihrem
Verlauf geben wir zuletzt Kenntnis.  Alsdann wird uns der Urheber erst
lieb und wert, und alle Nachricht, die sich auf ihn bezieht, wird
heilig.  In diesem Sinne, den man vielleicht pedantisch nennen mag,
aber doch als folgerecht anerkennen muß, dulden wir keinen Juden
unter uns; denn wie sollten wir ihm den Anteil an der höchsten Kultur
vergönnen, deren Ursprung und Herkommen er verleugnet?

Hievon ist unsre Sittenlehre ganz abgesondert, sie ist rein tätig
und wird in den wenigen Geboten begriffen: Mäßigung im Willkürlichen,
Emsigkeit im Notwendigen.  Nun mag ein jeder diese lakonischen Worte
nach seiner Art im Lebensgange benutzen, und er hat einen ergiebigen
Text zu grenzenloser Ausführung.



Der größte Respekt wird allen eingeprägt für die Zeit, als für die
höchste Gabe Gottes und der Natur und die aufmerksamste Begleiterin
des Daseins.  Die Uhren sind bei uns vervielfältigt und deuten
sämtlich mit Zeiger und Schlag die Viertelstunden an, und um solche
Zeichen möglichst zu vervielfältigen, geben die in unserm Lande
errichteten Telegraphen, wenn sie sonst nicht beschäftigt sind, den
Lauf der Stunden bei Tag und bei Nacht an, und zwar durch eine sehr
geistreiche Vorrichtung.

Unsre Sittenlehre, die also ganz praktisch ist, dringt nun
hauptsächlich auf Besonnenheit, und diese wird durch Einteilung der
Zeit, durch Aufmerksamkeit auf jede Stunde höchlichst gefördert.
Etwas muß getan sein in jedem Moment, und wie wollt' es geschehen,
achtete man nicht auf das Werk wie auf die Stunde?

In Betracht, daß wir erst anfangen, legen wir großes Gewicht auf die
Familienkreise.  Den Hausvätern und Hausmüttern denken wir große
Verpflichtungen zuzuteilen; die Erziehung wird bei uns um so leichter,
als jeder für sich selbst, Knecht und Magd, Diener und Dienerin,
stehen muß.

Gewisse Dinge freilich müssen nach einer gewissen gleichförmigen
Einheit gebildet werden: Lesen, Schreiben, Rechnen mit Leichtigkeit
der Masse zu überliefern, übernimmt der Abbé; seine Methode erinnert
an den wechselsweisen Unterricht, doch ist sie geistreicher;
eigentlich aber kommt alles darauf an, zu gleicher Zeit Lehrer und
Schüler zu bilden.

Aber noch eines wechselseitigen Unterrichts will ich erwähnen: der
übung, anzugreifen und sich zu verteidigen.  Hier ist Lothario in
seinem Felde; seine Manöver haben etwas ähnliches von unsern
Feldjägern; doch kann er nicht anders als original sein.

Hiebei bemerke ich, daß wir im bürgerlichen Leben keine Glocken, im
soldatischen keine Trommeln haben; dort wie hier ist Menschenstimme,
verbunden mit Blasinstrumenten, hinreichend.  Das alles ist schon
dagewesen und ist noch da; die schickliche Anwendung desselben aber
ist dem Geist überlassen, der es auch allenfalls wohl erfunden hätte.

Das größte Bedürfnis eines Staats ist das einer mutigen Obrigkeit,
und daran soll es dem unsrigen nicht fehlen; wir alle sind ungeduldig,
das Geschäft anzutreten, munter und überzeugt, daß man einfach
anfangen müsse.  So denken wir nicht an Justiz, aber wohl an Polizei.
Ihr Grundsatz wird kräftig ausgesprochen; niemand soll dem andern
unbequem sein; wer sich unbequem erweist, wird beseitigt, bis er
begreift, wie man sich anstellt, um geduldet zu werden.  Ist etwas
Lebloses, Unvernünftiges in dem Falle, so wird dies gleichmäßig
beiseitegebracht.

In jedem Bezirk sind drei Polizeidirektoren, die alle acht Stunden
wechseln, schichtweise, wie im Bergwerk, das auch nicht stillstehen
darf, und einer unsrer Männer wird bei Nachtzeit vorzüglich bei der
Hand sein.

Sie haben das Recht, zu ermahnen, zu tadeln, zu schelten und zu
beseitigen; finden sie es nötig, so rufen sie mehr oder weniger
Geschworne zusammen.  Sind die Stimmen gleich, so entscheidet der
Vorsitzende nicht, sondern es wird das Los gezogen, weil man überzeugt
ist, daß bei gegeneinander stehenden Meinungen es immer gleichgültig
ist, welche befolgt wird.

Wegen der Majorität haben wir ganz eigne Gedanken; wir lassen sie
freilich gelten im notwendigen Weltlauf, im höhern Sinne haben wir
aber nicht viel Zutrauen auf sie.  Doch darüber darf ich mich nicht
weiter auslassen.

Fragt man nach der höhern Obrigkeit, die alles lenkt, so findet man
sie niemals an einem Orte; sie zieht beständig umher, um Gleichheit
in den Hauptsachen zu erhalten und in läßlichen Dingen einem jeden
seinen Willen zu gestatten.  Ist dies doch schon einmal im Lauf der
Geschichte dagewesen: die deutschen Kaiser zogen umher, und diese
Einrichtung ist dem Sinne freier Staaten am allergemäßesten.  Wir
fürchten uns vor einer Hauptstadt, ob wir schon den Punkt in unsern
Besitzungen sehen, wo sich die größte Anzahl von Menschen
zusammenhalten wird.  Dies aber verheimlichen wir, dies mag nach und
nach und wird noch früh genug entstehen.

Dieses sind im allgemeinsten die Punkte, über die man meistens einig
ist, doch werden sie beim Zusammentreten von mehrern oder auch
wenigern Gliedern immer wieder aufs neue durchgesprochen.  Die
Hauptsache wird aber sein, wenn wir uns an Ort und Stelle befinden.
Den neuen Zustand, der aber dauern soll, spricht eigentlich das
Gesetz aus.  Unsre Strafen sind gelind; Ermahnung darf sich jeder
erlauben, der ein gewisses Alter hinter sich hat; mißbilligen und
schelten nur der anerkannte älteste; bestrafen nur eine
zusammenberufene Zahl.

Man bemerkt, daß strenge Gesetze sich sehr bald abstumpfen und nach
und nach loser werden, weil die Natur immer ihre Rechte behauptet.
Wir haben läßliche Gesetze, um nach und nach strenger werden zu
können; unsre Strafen bestehen vorerst in Absonderung von der
bürgerlichen Gesellschaft, gelinder, entschiedener, kürzer und länger
nach Befund.  Wächst nach und nach der Besitz der Staatsbürger, so
zwackt man ihnen auch davon ab, weniger oder mehr, wie sie verdienen,
daß man ihnen von dieser Seite wehe tue.

Allen Gliedern des Bandes ist davon Kenntnis gegeben, und bei
angestelltem Examen hat sich gefunden, daß jeder von den Hauptpunkten
auf sich selbst die schicklichste Anwendung macht.  Die Hauptsache
bleibt nur immer, daß wir die Vorteile der Kultur mit hinübernehmen
und die Nachteile zurücklassen.  Branntweinschenken und
Lesebibliotheken werden bei uns nicht geduldet; wie wir uns aber
gegen Flaschen und Bücher verhalten, will ich lieber nicht eröffnen:
dergleichen Dinge wollen getan sein, wenn man sie beurteilen soll.

Und in eben diesem Sinne hält der Sammler und Ordner dieser Papiere
mit andern Anordnungen zurück, welche unter der Gesellschaft selbst
noch als Probleme zirkulieren und welche zu versuchen man vielleicht
an Ort und Stelle nicht rätlich findet; um desto weniger Beifall
dürfte man sich versprechen, wenn man derselben hier umständlich
erwähnen wollte.



Zwölftes Kapitel

Die zu Odoardos Vortrag angesetzte Frist war gekommen, welcher,
nachdem alles versammelt und beruhigt war, folgendermaßen zu reden
begann: "Das bedeutende Werk, an welchem teilzunehmen ich diese Masse
wackerer Männer einzuladen habe, ist Ihnen nicht ganz unbekannt, denn
ich habe ja schon im allgemeinen mit Ihnen davon gesprochen.  Aus
meinen Eröffnungen geht hervor, daß in der alten Welt so gut wie in
der neuen Räume sind, welche einen bessern Anbau bedürfen, als ihnen
bisher zuteil ward.  Dort hat die Natur große, weite Strecken
ausgebreitet, wo sie unberührt und eingewildert liegt, daß man sich
kaum getraut, auf sie loszugehen und ihr einen Kampf anzubieten.  Und
doch ist es leicht für den Entschlossenen, ihr nach und nach die
Wüsteneien abzugewinnen und sich eines teilweisen Besitzes zu
versichern.  In der alten Welt ist es das Umgekehrte.  Hier ist
überall ein teilweiser Besitz schon ergriffen, mehr oder weniger
durch undenkliche Zeit das Recht dazu geheiligt; und wenn dort das
Grenzenlose als unüberwindliches Hindernis erscheint, so setzt hier
das Einfachbegrenzte beinahe noch schwerer zu überwindende
Hindernisse entgegen.  Die Natur ist durch Emsigkeit, der Mensch
durch Gewalt oder überredung zu nötigen.

Wird der einzelne Besitz von der ganzen Gesellschaft für heilig
geachtet, so ist er es dem Besitzer noch mehr.  Gewohnheit,
jugendliche Eindrücke, Achtung für Vorfahren, Abneigung gegen den
Nachbar und hunderterlei Dinge sind es, die den Besitzer starr und
gegen jede Veränderung widerwillig machen.  Je älter dergleichen
Zustände sind, je verflochtener, je geteilter, desto schwieriger wird
es, das Allgemeine durchzuführen, das, indem es dem Einzelnen etwas
nähme, dem Ganzen und durch Rück--und Mitwirkung auch jenem wieder
unerwartet zugute käme.

Schon mehrere Jahre steh' ich im Namen meines Fürsten einer Provinz
vor, die, von seinen Staaten getrennt, lange nicht so, wie es möglich
wäre, benutzt wird.  Eben diese Abgeschlossenheit oder
Eingeschlossenheit, wenn man will, hindert, daß bisher keine Anstalt
sich treffen ließ, die den Bewohnern Gelegenheit gegeben hätte, das,
was sie vermögen, nach außen zu verbreiten, und von außen zu
empfangen, was sie bedürfen.

Mit unumschränkter Vollmacht gebot ich in diesem Lande.  Manches
Gute war zu tun, aber doch immer nur ein beschränktes; dem Bessern
waren überall Riegel vorgeschoben, und das Wünschenswerteste schien
in einer andern Welt zu liegen.

Ich hatte keine andere Verpflichtung, als gut hauszuhalten.  Was ist
leichter als das!  Ebenso leicht ist es, Mißbräuche zu beseitigen,
menschlicher Fähigkeiten sich zu bedienen, den Bestrebsamen
nachzuhelfen.  Dies alles ließ sich mit Verstand und Gewalt recht
bequem leisten, dies alles tat sich gewissermaßen von selbst.  Aber
wohin besonders meine Aufmerksamkeit, meine Sorge sich richtete, dies
waren die Nachbarn, die nicht mit gleichen Gesinnungen, am wenigsten
mit gleicher überzeugung ihre Landesteile regierten und regieren
ließen.

Beinahe hätte ich mich resigniert und mich innerhalb meiner Lage am
besten gehalten und das Herkömmliche, so gut als es sich tun ließ,
benutzt, aber ich bemerkte auf einmal, das Jahrhundert komme mir zu
Hülfe.  Jüngere Beamte wurden in der Nachbarschaft angestellt, sie
hegten gleiche Gesinnungen, aber freilich nur im allgemeinen
wohlwollend, und pflichteten nach und nach meinen Planen zu
allseitiger Verbindung um so eher bei, als mich das Los traf, die
größeren Aufopferungen zuzugestehen, ohne daß gerade jemand merkte,
auch der größere Vorteil neige sich auf meine Seite.

So sind nun unser drei über ansehnliche Landesstrecken zu gebieten
befugt, unsre Fürsten und Minister sind von der Redlichkeit und
Nützlichkeit unsrer Vorschläge überzeugt; denn es gehört freilich
mehr dazu, seinen Vorteil im Großen als im Kleinen zu übersehen.
Hier zeigt uns immer die Notwendigkeit, was wir zu tun und zu lassen
haben, und da ist denn schon genug, wenn wir diesen Maßstab ans
Gegenwärtige legen; dort aber sollen wir eine Zukunft erschaffen, und
wenn auch ein durchdringender Geist den Plan dazu fände, wie kann er
hoffen, andere darin einstimmen zu sehen?

Noch würde dies dem einzelnen nicht gelingen; die Zeit, welche die
Geister frei macht, öffnet zugleich ihren Blick ins Weitere, und im
Weiteren läßt sich das Größere leicht erkennen, und eins der
stärksten Hindernisse menschlicher Handlungen wird leichter zu
entfernen.  Dieses besteht nämlich darin, daß die Menschen wohl über
die Zwecke einig werden, viel seltener aber über die Mittel, dahin zu
gelangen.  Denn das wahre Große hebt uns über uns selbst hinaus und
leuchtet uns vor wie ein Stern; die Wahl der Mittel aber ruft uns in
uns selbst zurück, und da wird der einzelne gerade, wie er war, und
fühlt sich ebenso isoliert, als hätt' er vorher nicht ins Ganze
gestimmt.

Hier also haben wir zu wiederholen: Das Jahrhundert muß uns zu Hülfe
kommen, die Zeit an die Stelle der Vernunft treten und in einem
erweiterten Herzen der höhere Vorteil den niedern verdrängen.

Hiermit sei es genug, und wär' es zu viel für den Augenblick, in der
Folge werd' ich einen jeden Teilnehmer daran erinnern.  Genaue
Vermessungen sind geschehen, die Straßen bezeichnet, die Punkte
bestimmt, wo man die Gasthöfe und in der Folge vielleicht die Dörfer
heranrückt.  Zu aller Art von Baulichkeiten ist Gelegenheit, ja
Notwendigkeit vorhanden.  Treffliche Baumeister und Techniker
bereiten alles vor; Risse und Anschläge sind gefertigt; die Absicht
ist, größere und kleinere Akkorde abzuschließen und so mit genauer
Kontrolle die bereitliegenden Geldsummen, zur Verwunderung des
Mutterlandes, zu verwenden: da wir denn der schönsten Hoffnung leben,
es werde sich eine vereinte Tätigkeit nach allen Seiten von nun an
entwickeln.

Worauf ich nun aber die sämtlichen Teilnehmer aufmerksam zu machen
habe, weil es vielleicht auf ihre Entschließung Einfluß haben könnte,
ist die Einrichtung, die Gestalt, in welche wir alle Mitwirkenden
vereinigen und ihnen eine würdige Stellung unter sich und gegen die
übrige bürgerliche Welt zu schaffen gedenken.

Sobald wir jenen bezeichneten Boden betreten, werden die Handwerke
sogleich für Künste erklärt und durch die Bezeichnung "strenge
Künste" von den "freien" entschieden getrennt und abgesondert.
Diesmal kann hier nur von solchen Beschäftigungen die Rede sein,
welche den Aufbau sich zur Angelegenheit machen; die sämtlichen hier
anwesenden Männer, jung und alt, bekennen sich zu dieser Klasse.

Zählen wir sie her in der Folge, wie sie den Bau in die Höhe richten
und nach und nach zur Wohnbarkeit befördern.

Die Steinmetzen nenn' ich voraus, welche den Grund--und Eckstein
vollkommen bearbeiten, den sie mit Beihülfe der Maurer am rechten Ort
in der genauesten Bezeichnung niedersenken.  Die Maurer folgen
hierauf, die auf den streng untersuchten Grund das Gegenwärtige und
Zukünftige wohl befestigen.  Früher oder später bringt der Zimmermann
seine vorbereiteten Kontignationen herbei, und so steigt nach und
nach das Beabsichtigte in die Höhe.  Den Dachdecker rufen wir eiligst
herbei; im Innern bedürfen wir des Tischers, Glasers, Schlossers, und
wenn ich den Tüncher zuletzt nenne, so geschieht es, weil er mit
seiner Arbeit zur verschiedensten Zeit eintreten kann, um zuletzt dem
Ganzen in--und auswendig einen gefälligen Schein zu geben.  Mancher
Hülfsarbeiten gedenk' ich nicht, nur die Hauptsache verfolgend.

Die Stufen von Lehrling, Gesell und Meister müssen aufs strengste
beobachtet werden; auch können in diesen viele Abstufungen gelten,
aber Prüfungen können nicht sorgfältig genug sein.  Wer herantritt,
weiß, daß er sich einer strengen Kunst ergibt, und er darf keine
läßlichen Forderungen von ihr erwarten; ein einziges Glied, das in
einer großen Kette bricht, vernichtet das Ganze.  Bei großen
Unternehmungen wie bei großen Gefahren muß der Leichtsinn verbannt
sein.

Gerade hier muß die strenge Kunst der freien zum Muster dienen und
sie zu beschämen trachten.  Sehen wir die sogenannten freien Künste
an, die doch eigentlich in einem höhern Sinne zu nehmen und zu nennen
sind, so findet man, daß es ganz gleichgültig ist, ob sie gut oder
schlecht betrieben werden.  Die schlechteste Statue steht auf ihren
Füßen wie die beste, eine gemalte Figur schreitet mit verzeichneten
Füßen gar munter vorwärts, ihre mißgestalteten Arme greifen gar
kräftig zu, die Figuren stehen nicht auf dem richtigen Plan, und der
Boden fällt deswegen nicht zusammen.  Bei der Musik ist es noch
auffallender; die gellende Fiedel einer Dorfschenke erregt die wackern
Glieder aufs kräftigste, und wir haben die unschicklichsten
Kirchenmusiken gehört, bei denen der Gläubige sich erbaute.  Wollt
ihr nun gar auch die Poesie zu den freien Künsten rechnen, so werdet
ihr freilich sehen, daß diese kaum weiß, wo sie eine Grenze finden
soll.  Und doch hat jede Kunst ihre innern Gesetze, deren
Nichtbeobachtung aber der Menschheit keinen Schaden bringt; dagegen
die strengen Künste dürfen sich nichts erlauben.  Den freien Künstler
darf man loben, man kann an seinen Vorzügen Gefallen finden,
wenngleich seine Arbeit bei näherer Untersuchung nicht Stich hält.

Betrachten wir aber die beiden, sowohl die freien als strengen
Künste, in ihren vollkommensten Zuständen, so hat sich diese vor
Pedanterei und Bocksbeutelei, jene vor Gedankenlosigkeit und
Pfuscherei zu hüten.  Wer sie zu leiten hat, wird hierauf aufmerksam
machen, Mißbräuche und Mängel werden dadurch verhütet werden.

Ich wiederhole mich nicht, denn unser ganzes Leben wird eine
Wiederholung des Gesagten sein; ich bemerke nur noch folgendes: Wer
sich einer strengen Kunst ergibt, muß sich ihr fürs Leben widmen.
Bisher nannte man sie Handwerk, ganz angemessen und richtig; die
Bekenner sollten mit der Hand wirken, und die Hand, soll sie das, so
muß ein eigenes Leben sie beseelen, sie muß eine Natur für sich sein,
ihre eignen Gedanken, ihren eignen Willen haben, und das kann sie
nicht auf vielerlei Weise."

Nachdem der Redende mit noch einigen hinzugefügten guten Worten
geschlossen hatte, richteten die sämtlichen Anwesenden sich auf, und
die Gewerke, anstatt abzuziehen, bildeten einen regelmäßigen Kreis
vor der Tafel der anerkannten Oberen.  Odoard reichte den sämtlichen
ein gedrucktes Blatt umher, wovon sie, nach einer bekannten Melodie,
mäßig munter ein zutrauliches Lied sangen:


"Bleiben, Gehen, Gehen, Bleiben
Sei fortan dem Tücht'gen gleich.
Wo wir Nützliches betreiben,
Ist der werteste Bereich.
Dir zu folgen, wird ein Leichtes,
Wer gehorchet, der erreicht es,
Zeig' ein festes Vaterland.
Heil dem Führer!  Heil dem Band!


Du verteilest Kraft und Bürde
Und erwägst es ganz genau,
Gibst dem Alten Ruh' und Würde,
Jünglingen Geschäft und Frau.
Wechselseitiges Vertrauen
Wird ein reinlich Häuschen bauen,
Schließen Hof und Gartenzaun,
Auch der Nachbarschaft vertraun.


Wo an wohlgebahnten Straßen
Man in neuer Schenke weilt,
Wo dem Fremdling reicher Maßen
Ackerfeld ist zugeteilt,
Siedeln wir uns an mit andern.
Eilet, eilet, einzuwandern
In das feste Vaterland.
Heil dir Führer!  Heil dir Band!"



Dreizehntes Kapitel

Eine vollkommene Stille schloß sich an diese lebhafte Bewegung der
vergangenen Tage.  Die drei Freunde blieben allein gegen einander
über stehen, und es ward gar bald merkbar, daß zwei von ihnen,
Lenardo und Friedrich, von einer sonderbaren Unruhe bewegt wurden; sie
verbargen nicht, daß sie beide ungeduldig seien, für ihren Teil in
der Abreise von diesem Ort sich gehindert zu sehen.  Sie erwarteten
einen Boten, hieß es, und es kam indessen nichts Vernünftiges, nichts
Entscheidendes zur Sprache.

Endlich kommt der Bote, ein bedeutendes Paket überbringend, worüber
sich Friedrich sogleich herwirft, um es zu eröffnen.  Lenardo hält
ihn ab und spricht: "Laß es unberührt, leg' es vor uns nieder auf den
Tisch; wir wollen es ansehen, denken und vermuten, was es enthalten
möge.  Denn unser Schicksal ist seiner Bestimmung näher, und wenn wir
nicht selbst Herren darüber sind, wenn es von dem Verstande, von den
Empfindungen anderer abhängt, ein Ja oder Nein, ein So oder So zu
erwarten ist, dann ziemt es, ruhig zu stehen, sich zu fassen, sich zu
fragen, ob man es erdulden würde als wenn es ein sogenanntes
Gottesurteil wäre, wo uns auferlegt ist, die Vernunft gefangenzunehmen."

"Du bist nicht so gefaßt, als du scheinen willst", versetzte
Friedrich, "bleibe deswegen allein mit deinen Geheimnissen und
schalte darüber nach Belieben, mich berühren sie auf alle Fälle nicht;
aber laß mich indes diesem alten, geprüften Freunde den Inhalt
offenbaren und die zweifelhaften Zustände vorlegen, die wir ihm schon
so lange verheimlicht haben."  Mit diesen Worten riß er unsern Freund
mit sich weg, und schon unterwegs rief er aus: "Sie ist gefunden,
längst gefunden! und es ist nur die Frage, wie es mit ihr werden soll."

"Das wußt' ich schon", sagte Wilhelm, "denn Freunde offenbaren
einander gerade das am deutlichsten, was sie einander verschweigen;
die letzte Stelle des Tagebuchs, wo sich Lenardo gerade mitten im
Gebirg des Briefes erinnert, den ich ihm schrieb, rief mir in der
Einbildungskraft im ganzen Umgange des Geistes und Gefühls jenes gute
Wesen hervor; ich sah ihn schon mit dem nächsten Morgen sich ihr
nähern, sie anerkennen und was daraus mochte gefolgt sein.  Da will
ich denn aber aufrichtig gestehen, daß nicht Neugierde, sondern ein
redlicher Anteil, den ich ihr gewidmet habe, mich über euer Schweigen
und Zurückhalten beunruhigte."

"Und in diesem Sinne", rief Friedrich, "bist du gerade bei diesem
angekommenen Paket hauptsächlich mit interessiert; der Verfolg des
Tagebuchs war an Makarien gesandt, und man wollte dir durch Erzählung
das ernst-anmutige Ereignis nicht verkümmern.  Nun sollst du's auch
gleich haben; Lenardo hat gewiß indessen ausgepackt, und das braucht
er nicht zu seiner Aufklärung."

Friedrich sprang hiermit nach alter Art hinweg, sprang wieder herbei
und brachte das versprochene Heft.  "Nun muß ich aber auch erfahren",
rief er, "was aus uns werden wird."  Hiemit war er wieder entsprungen,
und Wilhelm las: Lenardos Tagebuch Fortsetzung

Freitag, den 19ten.

Da man heute nicht säumen durfte, um zeitig zu Frau Susanne zu
gelangen, so frühstückte man eilig mit der ganzen Familie, dankte mit
versteckten Glückwünschen und hinterließ dem Geschirrfasser, welcher
zurückblieb, die den Jungfrauen zugedachten Geschenke, etwas
reichlicher und bräutlicher als die vorgestrigen, sie ihm heimlich
zuschiebend, worüber der gute Mann sich sehr erfreut zeigte.

Diesmal war der Weg frühe zurückgelegt; nach einigen Stunden
erblickten wir in einem ruhigen, nicht allzu weiten, flachen Tale,
dessen eine, felsige Seite von Wellen des klarsten Sees leicht
bespült sich widerspiegelte, wohl und anständig gebaute Häuser, um
welche ein besserer, sorgfältig gepflegter Boden, bei sonniger Lage,
einiges Gartenwesen begünstigte.  In das Haupthaus durch den
Garnboten eingeführt und Frau Susannen vorgestellt, fühlte ich etwas
ganz Eigenes, als sie uns freundlich ansprach und versicherte: es sei
ihr sehr angenehm, daß wir Freitags kämen, als dem ruhigsten Tage der
Woche, da Donnerstags abends die gefertigte Ware zum See und in die
Stadt geführt werde.  Dem einfallenden Garnboten, welcher sagte: "Die
bringt wohl Daniel jederzeit hinunter!", versetzte sie: "Gewiß, er
versieht das Geschäft so löblich und treu, als wenn es sein eigenes
wäre."--"Ist doch auch der Unterschied nicht groß", versetzte jener;
übernahm einige Aufträge von der freundlichen Wirtin und eilte, seine
Geschäfte in den Seitentälern zu vollbringen, versprach in einigen
Tagen wiederzukommen und mich abzuholen.

Mir war indessen ganz wunderlich zumute; mich hatte gleich beim
Eintritt eine Ahnung befallen, daß es die Ersehnte sei; beim längeren
Hinblick war sie es wieder nicht, konnte es nicht sein, und doch beim
Wegblicken, oder wenn sie sich umkehrte, war sie es wieder; eben wie
im Traum Erinnerung und Phantasie ihr Wesen gegeneinander treiben.

Einige Spinnerinnen, die mit ihrer Wochenarbeit gezögert hatten,
brachten sie nach; die Herrin, mit freundlichster Ermahnung zum
Fleiße, marktete mit ihnen, überließ aber, um sich mit dem Gast zu
unterhalten, das Geschäft an zwei Mädchen, welche sie Gretchen und
Lieschen nannte und welche ich um desto aufmerksamer betrachtete, als
ich ausforschen wollte, wie sie mit der Schilderung des
Geschirrfassers allenfalls zusammenträfen.  Diese beiden Figuren
machten mich ganz irre und zerstörten alle ähnlichkeit zwischen der
Gesuchten und der Hausfrau.

Aber ich beobachtete diese nur desto genauer, und sie schien mir
allerdings das würdigste, liebenswürdigste Wesen von allen, die ich
auf meiner Gebirgsreise erblickte.  Schon war ich von dem Gewerbe
unterrichtet genug, um mit ihr über das Geschäft, welches sie gut
verstand, mit Kenntnis sprechen zu können; meine einsichtige
Teilnahme erfreute sie sehr, und als ich fragte: woher sie ihre
Baumwolle beziehe, deren großen Transport übers Gebirg ich vor
einigen Tagen gesehen, so erwiderte sie, daß eben dieser Transport ihr
einen ansehnlichen Vorrat mitgebracht.  Die Lage ihres Wohnorts sei
auch deshalb so glücklich, weil die nach dem See hinunterführende
Hauptstraße etwa nur eine Viertelstunde ihres Tals hinabwärts
vorbeigehe, wo sie denn entweder in Person oder durch einen Faktor die
ihr von Triest bestimmten und adressierten Ballen in Empfang nehme,
wie denn das vorgestern auch geschehen.

Sie ließ nun den neuen Freund in einen großen, lüftigen Keller
hineingehen, wo der Vorrat aufgehoben wird, damit die Baumwolle nicht
zu sehr austrockne, am Gewicht verliere und weniger geschmeidig werde.
Dann fand ich auch, was ich schon im einzelnen kannte, meistenteils
hier versammelt; sie deutete nach und nach auf dies und jenes, und
ich nahm verständigen Anteil.  Indessen wurde sie stiller, aus ihren
Fragen konnt' ich erraten, sie vermute, daß ich vom Handwerk sei.
Denn sie sagte, da die Baumwolle soeben angekommen, so erwarte sie nun
bald einen Kommis oder Teilnehmer der Triester Handlung, der nach
einer bescheidenen Ansicht ihres Zustandes die schuldige Geldpost
abholen werde; diese liege bereit für einen jeden, welcher sich
legitimieren könne.

Einigermaßen verlegen suchte ich auszuweichen und blickte ihr nach,
als sie eben einiges anzuordnen durchs Zimmer ging; sie erschien mir
wie Penelope unter den Mägden.

Sie kehrt zurück, und mich dünkt, es sei was Eigenes in ihr
vorgegangen.  "Sie sind denn nicht vom Kaufmannsstande?" sagte sie,
"ich weiß nicht, woher mir das Vertrauen kommt und wie ich mich
unterfangen mag, das Ihrige zu verlangen; erdringen will ich's nicht,
aber gönnen Sie mir's, wie es Ihnen ums Herz ist."  Dabei sah mich ein
fremdes Gesicht mit so ganz bekannten erkennenden Augen an, daß ich
mich ganz durchdrungen fühlte und mich kaum zu fassen wußte.  Meine
Kniee, mein Verstand wollten mir versagen, als man sie
glücklicherweise sehr eilig abrief.  Ich konnte mich erholen, meinen
Vorsatz stärken, so lang als möglich an mich zu halten; denn es
schwebte mir vor, als wenn abermals ein unseliges Verhältnis mich
bedrohe.

Gretchen, ein gesetztes, freundliches Kind, führte mich ab, mir die
künstlichen Gewebe vorzuzeigen; sie tat es verständig und ruhig, ich
schrieb, um ihr Aufmerksamkeit zu beweisen, was sie mir vorsagte, in
meine Schreibtafel, wo es noch steht zum Zeugnis eines bloß
mechanischen Verfahrens, denn ich hatte ganz anderes im Sinne; es
lautet folgendermaßen:

"Der Eintrag von getretener sowohl als gezogener Weberei geschieht,
je nachdem das Muster es erfordert, mit weißem, lose gedrehtem
sogenannten Muggengarn, mitunter auch mit türkischrot gefärbten,
desgleichen mit blauen Garnen, welche ebenfalls zu Streifen und
Blumen verbraucht werden.

Beim Scheren ist das Gewebe auf Walzen gewunden, die einen
tischförmigen Rahmen bilden, um welchen her mehrere arbeitende
Personen sitzen."

Lieschen, die unter den Scherenden gesessen, steht auf, gesellt sich
zu uns, ist geschäftig, dreinzureden, und zwar auf eine Weise, um
jene durch Widerspruch nur irrezumachen; und als ich Gretchen
dessenungeachtet mehr Aufmerksamkeit bewies, so fuhr Lieschen umher,
um etwas zu holen, zu bringen, und streifte dabei, ohne durch die
Enge des Raums genötigt zu sein, mit ihrem zarten Ellebogen zweimal
merklich bedeutend an meinem Arm hin, welches mir nicht sonderlich
gefallen wollte.

Die Gute-Schöne (sie verdient überhaupt, besonders aber alsdann so
zu heißen, wenn man sie mit den übrigen vergleicht) holte mich in den
Garten ab, wo wir der Abendsonne genießen sollten, eh' sie sich
hinter das hohe Gebirg versteckte.  Ein Lächeln schwebte um ihre
Lippen, wie es wohl erscheint, wenn man etwas Erfreuliches zu sagen
zaudert; auch mir war es in dieser Verlegenheit gar lieblich zumute.
Wir gingen nebeneinander her, ich getraute mir nicht, ihr die Hand zu
reichen, so gern ich's getan hätte; wir schienen uns beide vor Worten
und Zeichen zu fürchten, wodurch der glückliche Fund nur allzubald ins
Gemeine offenbar werden könnte.  Sie zeigte mir einige Blumentöpfe,
worin ich aufgekeimte Baumwollenstauden erkannte.--"So nähren und
pflegen wir die für unser Geschäfte unnützen, ja widerwärtigen
Samenkörner, die mit der Baumwolle einen so weiten Weg zu uns machen.
Es geschieht aus Dankbarkeit, und es ist ein eigen Vergnügen,
dasjenige lebendig zu sehen, dessen abgestorbene Reste unser Dasein
beleben.  Sie sehen hier den Anfang, die Mitte ist Ihnen bekannt, und
heute abend, wenn's Glück gut ist, einen erfreulichen Abschluß.

Wir als Fabrikanten selbst oder ein Faktor bringen unsre die Woche
über eingegangene Ware Donnerstag abends in das Marktschiff und
langen so, in Gesellschaft von andern, die gleiches Geschäft treiben,
mit dem frühesten Morgen am Freitag in der Stadt an.  Hier trägt nun
ein jeder seine Ware zu den Kaufleuten, die im großen handeln, und
sucht sie so gut als möglich abzusetzen, nimmt auch wohl den Bedarf
von roher Baumwolle allenfalls an Zahlungs Statt.

Aber nicht allein den Bedarf an rohen Stoffen für die Fabrikation
nebst dem baren Verdienst holen die Marktleute in der Stadt, sondern
sie versehen sich auch daselbst mit allerlei andern Dingen zum
Bedürfnis und Vergnügen.  Wo einer aus der Familie in die Stadt zu
Markte gefahren, da sind Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, ja
sogar oft Angst und Furcht rege.  Es entsteht Sturm und Gewitter, und
man ist besorgt, das Schiff nehme Schaden!  Die Gewinnsüchtigen
harren und möchten erfahren, wie der Verkauf der Waren ausgefallen,
und berechnen schon im voraus die Summe des reinen Erwerbs; die
Neugierigen warten auf die Neuigkeiten aus der Stadt, die
Putzliebenden auf die Kleidungsstücke oder Modesachen, die der
Reisende etwa mitzubringen Auftrag hatte; die Leckern endlich und
besonders die Kinder auf die Eßwaren, und wenn es auch nur Semmeln
wären.

Die Abfahrt aus der Stadt verzieht sich gewöhnlich bis gegen Abend,
dann belebt sich der See allmählich und die Schiffe gleiten segelnd,
oder durch die Kraft der Ruder getrieben, über seine Fläche hin;
jedes bemüht sich, dem andern vorzukommen; und die, denen es gelingt,
verhöhnen wohl scherzend die, welche zurückzubleiben sich genötigt
sehen.

Es ist ein erfreuliches, schönes Schauspiel um die Fahrt auf dem See,
wenn der Spiegel desselben mit den anliegenden Gebirgen vom Abendrot
erleuchtet sich warm und allmählich tiefer und tiefer schattiert, die
Sterne sichtbar werden, die Abendbetglocken sich hören lassen, in den
Dörfern am Ufer sich Lichter entzünden, im Wasser widerscheinend, dann
der Mond aufgeht und seinen Schimmer über die kaum bewegte Fläche
streut.  Das reiche Gelände flieht vorüber, Dorf um Dorf, Gehöft um
Gehöft bleiben zurück, endlich in die Nähe der Heimat gekommen, wird
in ein Horn gestoßen, und sogleich sieht man im Berg hier und dort
Lichter erscheinen, die sich nach dem Ufer herab bewegen, ein jedes
Haus, das einen Angehörigen im Schiffe hat, sendet jemanden, um das
Gepäck tragen zu helfen.

Wir liegen höher hinauf, aber jedes von uns hat oft genug diese
Fahrt mitbestanden, und was das Geschäft betrifft, so sind wir alle
von gleichem Interesse."

Ich hatte ihr mit Verwunderung zugehört, wie gut und schön sie das
alles sprach, und konnte mich der offenen Bemerkung nicht enthalten:
wie sie in dieser rauhen Gegend, bei einem so mechanischen Geschäft,
zu solcher Bildung habe gelangen können?  Sie versetzte, mit einem
allerliebsten, beinahe schalkhaften Lächeln vor sich hingehend: "Ich
bin in einer schönern und freundlichem Gegend geboren, wo vorzügliche
Menschen herrschen und hausen, und ob ich gleich als Kind mich wild
und unbändig erwies, so war doch der Einfluß geistreicher Besitzer
auf ihre Umgebung unverkennbar.  Die größte Wirkung jedoch auf ein
junges Wesen tat eine fromme Erziehung, die ein gewisses Gefühl des
Rechtlichen und Schicklichen, als von Allgegenwart göttlicher Liebe
getragen, in mir entwickelte.  Wir wanderten aus", fuhr sie fort--das
feine Lächeln verließ ihren Mund, eine unterdrückte Träne füllte das
Auge--, "wir wanderten weit, weit, von einer Gegend zur andern, durch
fromme Fingerzeige und Empfehlungen geleitet; endlich gelangten wir
hierher, in diese höchst tätige Gegend; das Haus, worin Sie mich
finden, war von gleichgesinnten Menschen bewohnt, man nahm uns
treulich auf, mein Vater sprach dieselbe Sprache, in demselben Sinn,
wir schienen bald zur Familie zu gehören.

In allen Haus--und Handwerksgeschäften griff ich tüchtig ein, und
alles, über welches Sie mich nun gebieten sehen, habe ich stufenweise
gelernt, geübt und vollbracht.  Der Sohn des Hauses, wenig Jahre
älter als ich, wohlgebaut und schön von Antlitz, gewann mich lieb und
machte mich zu seiner Vertrauten.  Er war von tüchtiger und zugleich
feiner Natur; die Frömmigkeit, wie sie im Hause geübt wurde, fand bei
ihm keinen Eingang, sie genügte ihm nicht, er las heimlich Bücher,
die er sich in der Stadt zu verschaffen wußte, von der Art, die dem
Geist eine allgemeinere, freiere Richtung geben, und da er bei mir
gleichen Trieb, gleiches Naturell vermerkte, so war er bemüht, nach
und nach mir dasjenige mitzuteilen, was ihn so innig beschäftigte.
Endlich, da ich in alles einging, hielt er nicht länger zurück, mir
sein ganzes Geheimnis zu eröffnen, und wir waren wirklich ein ganz
wunderliches Paar, welches auf einsamen Spaziergängen sich nur von
solchen Grundsätzen unterhielt, welche den Menschen selbstständig
machen, und dessen wahrhaftes Neigungsverhältnis nur darin zu
bestehen schien, einander wechselseitig in solchen Gesinnungen zu
bestärken, wodurch die Menschen sonst voneinander völlig entfernt
werden."

Ob ich gleich sie nicht scharf ansah, sondern nur von Zeit zu Zeit
wie zufällig aufblickte, bemerkt' ich doch mit Verwunderung und
Anteil, daß ihre Gesichtszüge durchaus den Sinn ihrer Worte zugleich
ausdrückten.  Nach einem augenblicklichen Stillschweigen erheiterte
sich ihr Gesicht: "Ich muß", sagte sie, "auf Ihre Hauptfrage ein
Bekenntnis tun, damit Sie meine Wohlredenheit, die manchmal nicht
ganz natürlich scheinen möchte, sich besser erklären können.

Leider mußten wir beide uns vor den übrigen verstellen, und ob wir
gleich uns sehr hüteten, nicht zu lügen und im groben Sinn falsch zu
sein, so waren wir es doch im zartern, indem wir den vielbesuchten
Brüder--und Schwesterversammlungen nicht beizuwohnen nirgends
Entschuldigung finden konnten.  Weil wir aber dabei gar manches gegen
unsere überzeugung hören mußten, so ließ er mich sehr bald begreifen
und einsehen, daß nicht alles vom freien Herzen gehe, sondern daß
viel Wortkram, Bilder, Gleichnisse, herkömmliche Redensarten und
wiederholt anklingende Zeilen sich immerfort wie um eine gemeinsame
Achse herumdrehten.  Ich merkte nun besser auf und machte mir die
Sprache so zu eigen, daß ich allenfalls eine Rede so gut als
irgendein Vorsteher hätte halten wollen.  Erst ergötzte der Gute sich
daran, endlich beim überdruß ward er ungeduldig, daß ich, ihn zu
beschwichtigen, den entgegengesetzten Weg einschlug, ihm nur desto
aufmerksamer zuhörte, ihm seinen herzlich treuen Vortrag wohl acht
Tage später wenigstens mit annähernder Freiheit und nicht ganz
unähnlichem geistigem Wesen zu wiederholen wußte.

So wuchs unser Verhältnis zum innigsten Bande, und eine Leidenschaft
zu irgendeinem Wahren, Guten sowie zu möglicher Ausübung desselben
war eigentlich, was uns vereinigte.

Indem ich nun bedenke, was Sie veranlaßt haben mag, zu einer solchen
Erzählung mich zu bewegen, so war es meine lebhafte Beschreibung vom
glücklich vollbrachten Markttage.  Verwundern Sie sich darüber nicht;
denn gerade war es eine frohe, herzliche Betrachtung holder und
erhabener Naturszenen, was mich und meinen Bräutigam in ruhigen und
geschäftlosen Stunden am schönsten unterhielt.  Treffliche
vaterländische Dichter hatten das Gefühl in uns erregt und genährt,
Hallers "Alpen", Geßners "Idyllen", Kleists "Frühling" wurden oft von
uns wiederholt, und wir betrachteten die uns umgebende herrliche Welt
bald von ihrer anmutigen, bald von ihrer erhabenen Seite

Noch gern erinnere ich mich, wie wir beide, scharf--und weitsichtig,
uns um die Wette und oft hastig auf die bedeutenden Erscheinungen der
Erde und des Himmels aufmerksam zu machen suchten, einander
vorzueilen und zu überbieten trachteten.  Dies war die schönste
Erholung, nicht nur vom täglichen Geschäft, sondern auch von jenen
ernsten Gesprächen, die uns oft nur zu tief in unser eigenes Innere
versenkten und uns dort zu beunruhigen drohten.

In diesen Tagen kehrte ein Reisender bei uns ein, wahrscheinlich
unter geborgtem Namen; wir dringen nicht weiter in ihn, da er
sogleich durch sein Wesen uns Vertrauen einflößt, da er sich im
ganzen höchst sittlich benimmt, sowie anständig aufmerksam in unsern
Versammlungen.  Von meinem Freund in den Gebirgen umhergeführt, zeigt
er sich ernst, einsichtig und kenntnisreich.  Auch ich geselle mich
zu ihren sittlichen Unterhaltungen, wo alles nach und nach zur
Sprache kommt, was einem innern Menschen bedeutend werden kann; da
bemerkt er denn gar bald in unserer Denkweise in Absicht auf die
göttlichen Dinge etwas Schwankendes.  Die religiösen Ausdrücke waren
uns trivial geworden, der Kern, den sie enthalten sollten, war uns
entfallen.  Da ließ er uns die Gefahr unsres Zustandes bemerken, wie
bedenklich die Entfernung vom überlieferten sein müsse, an welches
von Jugend auf sich so viel angeschlossen; sie sei höchst gefährlich
bei der Unvollständigkeit besonders des eignen Innern.  Freilich eine
täglich und stündlich durchgeführte Frömmigkeit werde zuletzt nur
Zeitvertreib und wirke wie eine Art von Polizei auf den äußeren
Anstand, aber nicht mehr auf den tiefen Sinn; das einzige Mittel
dagegen sei, aus eigener Brust sittlich gleich geltende, gleich
wirksame, gleich beruhigende Gesinnungen hervorzurufen.

Die Eltern hatten unsre Verbindung stillschweigend vorausgesetzt,
und ich weiß nicht, wie es geschah, die Gegenwart des neuen Freundes
beschleunigte die Verlobung, es schien sein Wunsch, diese Bestätigung
unsres Glücks in dem stillen Kreise zu feiern, da er denn auch mit
anhören mußte, wie der Vorsteher die Gelegenheit ergriff, uns an den
Bischof von Laodicea und an die große Gefahr der Lauheit, die man uns
wollte angemerkt haben, zu erinnern.  Wir besprachen noch einigemal
diese Gegenstände, und er ließ uns ein hierauf bezügliches Blatt
zurück, welches ich oft in der Folge wieder anzusehen Ursache fand.

Er schied nunmehr, und es war, als wenn mit ihm alle guten Geister
gewichen wären.  Die Bemerkung ist nicht neu, wie die Erscheinung
eines vorzüglichen Menschen in irgendeinem Zirkel Epoche macht und
bei seinem Scheiden eine Lücke sich zeigt, in die sich öfters ein
zufälliges Unheil hineindrängt.  Und nun lassen Sie mich einen
Schleier über das Nächstfolgende werfen; durch einen Zufall ward
meines Verlobten kostbares Leben, seine herrliche Gestalt plötzlich
zerstört; er wendete standhaft seine letzten Stunden dazu an, sich
mit mir Trostlosen verbunden zu sehen und mir die Rechte an seinem
Erbteil zu sichern.  Was aber diesen Fall den Eltern um so
schmerzlicher machte, war, daß sie kurz vorher eine Tochter verloren
hatten und sich nun, im eigentlichen Sinne, verwaist sahen, worüber
ihr zartes Gemüt dergestalt angegriffen wurde, daß sie ihr Leben
nicht lange fristeten.  Sie gingen den lieben Ihrigen bald nach, und
mich ereilte noch ein anderes Unheil, daß mein Vater, vom Schlag
gerührt, zwar noch sinnliche Kenntnis von der Welt, aber weder
geistige noch körperliche Tätigkeit gegen dieselbe behalten hat.  Und
so bedurfte ich denn freilich in der größten Not und Absonderung
jener Selbstständigkeit, in der ich mich, glückliche Verbindung und
frohes Mitleben hoffend, frühzeitig geübt und noch vor kurzem durch
die rein belebenden Worte des geheimnisvollen Durchreisenden recht
eigentlich gestärkt hatte.

Doch darf ich nicht undankbar sein, da mir in diesem Zustand noch
ein tüchtiger Gehülfe geblieben ist, der als Faktor alles das besorgt,
was in solchen Geschäften als Pflicht männlicher Tätigkeit erscheint.
Kommt er heut abend aus der Stadt zurück und Sie haben ihn kennen
gelernt, so erfahren Sie mein wunderbares Verhältnis zu ihm."

Ich hatte manches dazwischengesprochen und durch beifälligen,
vertraulichen Anteil ihr Herz immer mehr aufzuschließen und ihre Rede
im Fluß zu erhalten getrachtet.  Ich vermied nicht, dasjenige ganz
nahe zu berühren, was noch nicht völlig ausgesprochen war; auch sie
rückte immer näher zu, und wir waren so weit, daß bei der geringsten
Veranlassung das offenbare Geheimnis ins Wort getreten wäre.

Sie stand auf und sagte: "Lassen Sie uns zum Vater gehen!"  Sie
eilte voraus, und ich folgte ihr langsam; ich schüttelte den Kopf
über die wundersame Lage, in der ich mich befand.  Sie ließ mich in
eine hintere, sehr reinliche Stube treten, wo der gute Alte
unbeweglich im Sessel saß.  Er hatte sich wenig verändert.  Ich ging
auf ihn zu, er sah mich erst starr, dann mit lebhafteren Augen an;
seine Züge erheiterten sich, er versuchte, die Lippen zu bewegen, und
als ich die Hand hinreichte, seine ruhende zu fassen, ergriff er die
meine von selbst, drückte sie und sprang auf, die Arme gegen mich
ausstreckend.  "O Gott!" rief er, "der Junker Lenardo! er ist's, er
ist es selbst!"  Ich konnte mich nicht enthalten, ihn an mein Herz zu
schließen; er sank in den Stuhl zurück, die Tochter eilte hinzu, ihm
beizustehen; auch sie rief: "Er ist's!  Sie sind es, Lenardo!"

Die jüngere Nichte war herbeigekommen, sie führten den Vater, der
auf einmal wieder gehen konnte, der Kammer zu, und gegen mich
gewendet, sprach er ganz deutlich: "Wie glücklich, glücklich! bald
sehen wir uns wieder!"

Ich stand, vor mich hinschauend und denkend, Mariechen kam zurück
und reichte mir ein Blatt, mit dem Vermelden, es sei dasselbige,
wovon gesprochen.  Ich erkannte sogleich Wilhelms Handschrift, so wie
vorhin seine Person aus der Beschreibung mir entgegengetreten war;
mancherlei fremde Gesichter schwärmten um mich her, es war eine
eigene Bewegung im Vorhause.  Und dann ist es ein widerwärtiges
Gefühl, aus dem Enthusiasmus einer reinen Wiedererkennung, aus der
überzeugung dankbaren Erinnerns, der Anerkennung einer wunderbaren
Lebensfolge und was alles Warmes und Schönes dabei in uns entwickelt
werden mag, auf einmal zu der schroffen Wirklichkeit einer
zerstreuten Alltäglichkeit zurückgeführt zu werden.

Diesmal war der Freitagabend überhaupt nicht so heiter und lustig,
wie er sonst wohl sein mochte; der Faktor war nicht mit dem
Marktschiff aus der Stadt zurückgekehrt, er meldete nur in einem
Briefe, daß ihn Geschäfte erst morgen oder übermorgen zurückgehen
ließen; er werde mit anderer Gelegenheit kommen, auch alles Bestellte
und Versprochene mitbringen.  Die Nachbarn, welche, jung und alt, in
Erwartung wie gewöhnlich zusammengekommen waren, machten
verdrießliche Gesichter, Lieschen besonders, die ihm entgegengegangen
war, schien sehr übler Laune.

Ich hatte mich in mein Zimmer geflüchtet, das Blatt in der Hand
haltend, ohne hineinzugehen, denn es hatte mir schon heimlichen
Verdruß gemacht, aus jener Erzählung zu vernehmen, daß Wilhelm die
Verbindung beschleunigt habe.  "Alle Freunde sind so, alle sind
Diplomaten; statt unser Vertrauen redlich zu erwidern, folgen sie
ihren Ansichten, durchkreuzen unsre Wünsche und mißleiten unser
Schicksal!"  So rief ich aus, doch kam ich bald von meiner
Ungerechtigkeit zurück, gab dem Freunde recht, besonders die jetzige
Stellung bedenkend, und enthielt mich nicht weiter, das folgende zu
lesen.



"Jeder Mensch findet sich von den frühsten Momenten seines Lebens an,
erst unbewußt, dann halb, endlich ganz bewußt, immerfort bedingt,
begrenzt in seiner Stellung; weil aber niemand Zweck und Ziel seines
Daseins kennt, vielmehr das Geheimnis desselben von höchster Hand
verborgen wird, so tastet er nur, greift zu, läßt fahren, steht
stille, bewegt sich, zaudert und übereilt sich, und auf wie mancherlei
Weise denn alle Irrtümer entstehen, die uns verwirren."



"Sogar der Besonnenste ist im täglichen Weltleben genötigt, klug für
den Augenblick zu sein, und gelangt deswegen im allgemeinen zu keiner
Klarheit.  Selten weiß er sicher, wohin er sich in der Folge zu
wenden und was er eigentlich zu tun und zu lassen habe."



"Glücklicherweise sind alle diese und noch hundert andere wundersame
Fragen durch euren unaufhaltsam tätigen Lebensgang beantwortet.
Fahrt fort in unmittelbarer Beachtung der Pflicht des Tages und prüft
dabei die Reinheit eures Herzens und die Sicherheit eures Geistes.
Wenn ihr sodann in freier Stunde aufatmet und euch zu erheben Raum
findet, so gewinnt ihr auch gewiß eine richtige Stellung gegen das
Erhabene, dem wir uns auf jede Weise verehrend hinzugeben, jedes
Ereignis mit Ehrfurcht zu betrachten und eine höhere Leitung darin zu
erkennen haben."



Sonnabend, den 20.

Vertieft in Gedanken, auf deren wunderlichen Irrgängen mich eine
fühlende Seele teilnehmend gern begleiten wird, war ich mit
Tagesanbruch am See und auf und ab spaziert; die Hausfrau--ich fühlte
mich sehr zufrieden, sie nicht als Witwe denken zu dürfen --zeigte
sich erwünscht erst am Fenster, dann an der Türe; sie erzählte mir:
der Vater habe gut geschlafen, sei heiter aufgewacht und habe mit
deutlichen Worten eröffnet, daß er im Bette bleiben, mich heute nicht,
morgen aber erst nach dem Gottesdienste zu sehen wünsche, wo er sich
gewiß recht gestärkt fühlen werde.  Sie sagte mir darauf, daß sie
mich heute viel werde allein lassen; es sei für sie ein sehr
beschäftigter Tag, kam herunter und gab mir Rechenschaft davon.

Ich hörte ihr zu, nur um sie zu hören, dabei überzeugt' ich mich,
daß sie von der Sache durchdrungen, davon als einer herkömmlichen
Pflicht angezogen und mit Willen beschäftigt schien.  Sie fuhr fort:
"Es ist gewöhnlich und eingerichtet, daß das Gewebe gegen das Ende
der Woche fertig sei und am Sonnabendnachmittag zu dem Verlagsherrn
getragen werde, der solches durchsieht, mißt und wägt, um zu
erforschen, ob die Arbeit ordentlich und fehlerfrei, auch ob ihm an
Gewicht und Maß das Gehörige eingeliefert worden, und, wenn alles
richtig befunden ist, sodann den verabredeten Weberlohn zahlt.
Seinerseits ist nun er bemüht, das gewebte Stück von allen etwa
anhängenden Fäden und Knoten zu reinigen, solches aufs zierlichste zu
legen, die schönste, fehlerfreiste Seite oben vors Auge zu bringen
und so die Ware höchst annehmlich zu machen."

Indessen kamen aus dem Gebirg viele Weberinnen, ihre Ware ins Haus
tragend, worunter ich auch die erblickte, welche unsern
Geschirrfasser beschäftigte.  Sie dankte mir gar lieblich für das
zurückgelassene Geschenk und erzählte mit Anmut: der Herr
Geschirrfasser sei bei ihnen, arbeite heute an ihrem leerstehenden
Weberstuhl und habe ihr beim Abschied versichert: was er an ihm tue,
solle Frau Susanne gleich der Arbeit ansehen.  Darauf ging sie, wie
die übrigen, ins Haus, und ich konnte mich nicht enthalten, die liebe
Wirtin zu fragen: "Um 's Himmels willen! wie kommen Sie zu dem
wunderlichen Namen?"--"Es ist", versetzte sie, "der dritte, den man
mir aufbürdet; ich ließ es gerne zu, weil meine Schwiegereltern es
wünschten, denn es war der Name ihrer verstorbenen Tochter, an deren
Stelle sie mich eintreten ließen, und der Name bleibt doch immer der
schönste, lebendigste Stellvertreter der Person."  Darauf versetzte
ich: "Ein vierter ist schon gefunden, ich würde Sie Gute-Schöne
nennen, insofern es von mir abhinge."  Sie machte eine gar lieblich
demütige Verbeugung und wußte ihr Entzücken über die Genesung des
Vaters mit der Freude, mich wiederzusehen, so zu verbinden und zu
steigern, daß ich in meinem Leben nichts Schmeichelhafteres und
Erfreulicheres glaubte gehört und gefühlt zu haben.


Die Schöne-Gute, doppelt und dreifach ins Haus zurückgerufen,
übergab mich einem verständigen, unterrichteten Manne, der mir die
Merkwürdigkeiten des Gebirgs zeigen sollte.  Wir gingen zusammen, bei
schönstem Wetter, durch reich abwechselnde Gegenden.  Aber man
überzeugt sich wohl, daß weder Fels noch Wald, noch Wassersturz, noch
weniger Mühlen und Schmiedewerkstatt, sogar künstlich genug in Holz
arbeitende Familien mir irgendeine Aufmerksamkeit abgewinnen konnten.
Indessen war der Wandergang für den ganzen Tag angelegt, der Bote
trug ein feines Frühstück im Ränzel, zu Mittag fanden wir ein gutes
Essen im Zechenhause eines Bergwerks, wo niemand recht aus mir klug
werden konnte, indem tüchtigen Menschen nichts leidiger vorkommt als
ein leeres, Teilnahme heuchelndes Unteilnehmen.

Am wenigsten aber begriff mich der Bote, an welchen eigentlich der
Garnträger mich gewiesen hatte, mit großem Lob meiner schönen
technischen Kenntnisse und des besonderen Interesses an solchen
Dingen.  Auch von meinem vielen Aufschreiben und Bemerken hatte jener
gute Mann erzählt, worauf sich denn der Berggenoß gleichfalls
eingerichtet hatte.  Lange wartete mein Begleiter, daß ich meine
Schreibtafel hervorholen sollte, nach welcher er denn auch endlich,
einigermaßen ungeduldig, fragte.



Sonntag, den 21.

Mittag kam beinahe herbei, eh' ich die Freundin wieder ansichtig
werden konnte.  Der Hausgottesdienst, bei dem sie mich nicht
gegenwärtig wünschte, war indessen gehalten; der Vater hatte
demselben beigewohnt und, die erbaulichsten Worte deutlich und
vernehmlich sprechend, alle Anwesenden und sie selbst bis zu den
herzlichsten Tränen gerührt.  "Es waren", sagte sie, "bekannte
Sprüche, Reime, Ausdrücke und Wendungen, die ich hundertmal gehört
und als an hohlen Klängen mich geärgert hatte; diesmal flossen sie
aber so herzlich zusammengeschmolzen, ruhig glühend, von Schlacken
rein, wie wir das erweichte Metall in der Rinne hinfließen sehen.  Es
war mir angst und bange, er möchte sich in diesen Ergießungen
aufzehren, jedoch ließ er sich ganz munter zu Bette führen; er wollte,
sagte er, sich sammeln und den Gast, sobald er Kraft genug fühle, zu
sich rufen lassen."

Nach Tische ward unser Gespräch lebhafter und vertraulicher, aber
ebendeshalb konnte ich mehr empfinden und bemerken, daß sie etwas
zurückhielt, daß sie mit beunruhigenden Gedanken kämpfte, wie es ihr
auch nicht ganz gelang, ihr Gesicht zu erheitern.  Nachdem ich hin
und her versucht, sie zur Sprache zu bringen, so gestand ich
aufrichtig, daß ich ihr eine gewisse Schwermut, einen Ausdruck von
Sorge anzusehen glaubte, seien es häusliche oder Handelsbedrängnisse,
sie solle sich mir eröffnen; ich wäre reich genug, eine alte Schuld
ihr auf jede Weise abzutragen.

Sie verneinte lächelnd, daß dies der Fall sei.  "Ich habe", fuhr sie
fort, "wie Sie zuerst hereintreten, einen von denen Herren zu sehen
geglaubt, die mir in Triest Kredit machen, und war mit mir selbst
wohl zufrieden, als ich mein Geld vorrätig wußte, man mochte die
ganze Summe oder einen Teil verlangen.  Was mich aber drückt, ist doch
eine Handelssorge, leider nicht für den Augenblick, nein! für alle
Zukunft.  Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich,
es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat
seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.  Schon mein
Gatte war von diesem traurigen Gefühl durchdrungen.  Man denkt daran,
man spricht davon, und weder Denken noch Reden kann Hülfe bringen.
Und wer möchte sich solche Schrecknisse gern vergegenwärtigen!
Denken Sie, daß viele Täler sich durchs Gebirg schlingen, wie das,
wodurch Sie herabkamen; noch schwebt Ihnen das hübsche, frohe Leben
vor, das Sie diese Tage her dort gesehen, wovon Ihnen die geputzte
Menge allseits andringend gestern das erfreulichste Zeugnis gab;
denken Sie, wie das nach und nach zusammensinken, absterben, die öde,
durch Jahrhunderte belebt und bevölkert, wieder in ihre uralte
Einsamkeit zurückfallen werde.

Hier bleibt nur ein doppelter Weg, einer so traurig wie der andere:
entweder selbst das Neue zu ergreifen und das Verderben zu
beschleunigen, oder aufzubrechen, die Besten und Würdigsten mit sich
fort zu ziehen und ein günstigeres Schicksal jenseits der Meere zu
suchen.  Eins wie das andere hat sein Bedenken, aber wer hilft uns
die Gründe abwägen, die uns bestimmen sollen?  Ich weiß recht gut,
daß man in der Nähe mit dem Gedanken umgeht, selbst Maschinen zu
errichten und die Nahrung der Menge an sich zu reißen.  Ich kann
niemanden verdenken, daß er sich für seinen eigenen Nächsten hält;
aber ich käme mir verächtlich vor, sollt' ich diese guten Menschen
plündern und sie zuletzt arm und hülflos wandern sehen; und wandern
müssen sie früh oder spat.  Sie ahnen, sie wissen, sie sagen es, und
niemand entschließt sich zu irgendeinem heilsamen Schritte.  Und doch,
woher soll der Entschluß kommen? wird er nicht jedermann ebensosehr
erschwert als mir?

Mein Bräutigam war mit mir entschlossen zum Auswandern; er besprach
sich oft über Mittel und Wege, sich hier loszuwinden.  Er sah sich
nach den Besseren um, die man um sich versammeln, mit denen man
gemeine Sache machen, die man an sich heranziehen, mit sich fortziehen
könnte; wir sehnten uns, mit vielleicht allzu jugendlicher Hoffnung,
in solche Gegenden, wo dasjenige für Pflicht und Recht gelten könnte,
was hier ein Verbrechen wäre.  Nun bin ich im entgegengesetzten Falle:
der redliche Gehülfe, der mir nach meines Gatten Tode geblieben,
trefflich in jedem Sinne, mir freundschaftlich liebevoll anhänglich,
er ist ganz der entgegengesetzten Meinung.

Ich muß Ihnen von ihm sprechen, eh' Sie ihn gesehen haben; lieber
hätt' ich es nachher getan, weil die persönliche Gegenwart gar
manches Rätsel aufschließt.  Ungefähr von gleichem Alter wie mein
Gatte, schloß er sich als kleiner, armer Knabe an den wohlhabenden,
wohlwollenden Gespielen, an die Familie, an das Haus, an das Gewerbe;
sie wuchsen zusammen heran und hielten zusammen, und doch waren es
zwei ganz verschiedene Naturen; der eine frei gesinnt und mitteilend,
der andere in früherer Jugend gedrückt, verschlossen, den geringsten
ergriffenen Besitz festhaltend, zwar frommer Gesinnung, aber mehr an
sich als an andere denkend.

Ich weiß recht gut, daß er von den ersten Zeiten her ein Auge auf
mich richtete, er durfte es wohl, denn ich war ärmer als er; doch
hielt er sich zurück, sobald er die Neigung des Freundes zu mir
bemerkte.  Durch anhaltenden Fleiß, Tätigkeit und Treue machte er
sich bald zum Mitgenossen des Gewerbes.  Mein Gatte hatte heimlich den
Gedanken, bei unserer Auswanderung diesen hier einzusetzen und ihm
das Zurückgelassene anzuvertrauen.  Bald nach dem Tode des
Trefflichen näherte er sich mir, und vor einiger Zeit verhielt er
nicht, daß er sich um meine Hand bewerbe.  Nun tritt aber der doppelt
wunderliche Umstand ein, daß er sich von jeher gegen das Auswandern
erklärte und dagegen eifrig betreibt, wir sollen auch Maschinen
anlegen.  Seine Gründe freilich sind dringend, denn in unsern Gebirgen
hauset ein Mann, der, wenn er, unsere einfacheren Werkzeuge
vernachlässigend, zusammengesetztere sich erbauen wollte, uns
zugrunde richten könnte.  Dieser in seinem Fache sehr geschickte
Mann--wir nennen ihn den Geschirrfasser--ist einer wohlhabenden
Familie in der Nachbarschaft anhänglich, und man darf wohl glauben,
daß er im Sinne hat, von jenen steigenden Erfindungen für sich und
seine Begünstigten nützlichen Gebrauch zu machen.  Gegen die Gründe
meines Gehülfen ist nichts einzuwenden, denn schon ist gewissermaßen
zu viel Zeit versäumt, und gewinnen jene den Vorrang, so müssen wir,
und zwar mit Unstatten, doch das gleiche tun.  Dieses ist, was mich
ängstigt und quält, das ist's, was Sie mir, teuerster Mann, als einen
Schutzengel erscheinen läßt."

Ich hatte wenig Tröstliches hierauf zu erwidern, ich mußte den Fall
so verwickelt finden, daß ich mir Bedenkzeit ausbat.  Sie aber fuhr
fort: "Ich habe noch manches zu eröffnen, damit meine Lage Ihnen noch
mehr wundersam erscheine.  Der junge Mann, dem ich persönlich nicht
abgeneigt bin, der mir aber keineswegs meinen Gatten ersetzen noch
meine eigentliche Neigung erwerben würde"--sie seufzte, indem sie
dies sprach--, "wird seit einiger Zeit entschieden dringender, seine
Vorträge sind so liebevoll als verständig.  Die Notwendigkeit, meine
Hand ihm zu reichen, die Unklugheit, an eine Auswanderung zu denken
und darüber das einzige wahre Mittel der Selbsterhaltung zu versäumen,
sind nicht zu widerlegen, und es scheint ihm mein Widerstreben, meine
Grille des Auswanderns so wenig mit meinem übrigen haushältischen
Sinn übereinzustimmen, daß ich bei einem letzten, etwas heftigen
Gespräch die Vermutung bemerken konnte, meine Neigung müsse wo anders
gefesselt sein."  Sie brachte das letzte nur mit einigem Stocken
hervor und blickte vor sich nieder.

Was mir bei diesen Worten durch die Seele fuhr, denke jeder, und
doch, bei blitzschnell nachfahrender überlegung, mußt' ich fühlen,
daß jedes Wort die Verwirrung nur vermehren würde.  Doch ward ich
zugleich, so vor ihr stehend, mir deutlich bewußt, daß ich sie im
höchsten Grade liebgewonnen habe und nun alles, was in mir von
vernünftiger, verständiger Kraft übrig war, aufzuwenden hatte, um ihr
nicht sogleich meine Hand anzubieten.  Mag sie doch, dachte ich,
alles hinter sich lassen, wenn sie mir folgt!  Doch die Leiden
vergangener Jahre hielten mich zurück.  Sollst du eine neue falsche
Hoffnung hegen, um lebenslänglich daran zu büßen?

Wir hatten beide eine Zeitlang geschwiegen, als Lieschen, die ich
nicht hatte herankommen sehen, überraschend vor uns trat und die
Erlaubnis verlangte, auf dem nächsten Hammerwerke diesen Abend
zuzubringen.  Ohne Bedenken ward es gewährt.  Ich hatte mich indessen
zusammengenommen und fing an, im allgemeinen zu erzählen: wie ich auf
meinen Reisen das alles längst herankommen gesehen, wie Trieb und
Notwendigkeit des Auswanderns jeden Tag sich vermehre; doch bleibe
ein solches Abenteuer immer das Gefährlichste.  Unvorbereitetes
Wegeilen bringe unglückliche Wiederkehr; kein anderes Unternehmen
bedürfe so viel Vorsicht und Leitung als ein solches.  Diese
Betrachtung war ihr nicht fremd, sie hatte viel über alle
Verhältnisse gedacht, aber zuletzt sprach sie mit einem tiefen Seufzer:
"Ich habe diese Tage Ihres Hierseins immer gehofft, durch
vertrauliche Erzählung Trost zu gewinnen, aber ich fühle mich übler
gestellt als vorher, ich fühle recht tief, wie unglücklich ich bin."
Sie hob den Blick nach mir, aber die aus den schönen, guten Augen
ausquellenden Tränen zu verbergen, wendete sie sich um und entfernte
sich einige Schritte.

Ich will mich nicht entschuldigen, aber der Wunsch, diese herrliche
Seele, wo nicht zu trösten, doch zu zerstreuen, gab mir den Gedanken
ein, ihr von der wundersamen Vereinigung mehrerer Wandernden und
Scheidenden zu sprechen, in die ich schon seit einiger Zeit getreten
war.  Unversehens hatte ich schon so weit mich herausgelassen, daß ich
kaum hätte zurückhalten können, als ich gewahrte, wie unvorsichtig
mein Vertrauen gewesen sein mochte.  Sie beruhigte sich, staunte,
erheiterte, entfaltete ihr ganzes Wesen und fragte mit solcher
Neigung und Klugheit, daß ich ihr nicht mehr ausweichen, daß ich ihr
alles bekennen mußte.

Gretchen trat vor uns und sagte: wir möchten zum Vater kommen!  Das
Mädchen schien sehr nachdenklich und verdrießlich.  Zur Weggehenden
sagte die Schöne-Gute: "Lieschen hat Urlaub für heut abend, besorge
du die Geschäfte."--"Ihr hättet ihn nicht geben sollen", versetzte
Gretchen, "sie stiftet nichts Gutes; Ihr seht dem Schalk mehr nach,
als billig, vertraut ihr mehr, als recht ist.  Eben jetzt erfahr' ich,
sie hat ihm gestern einen Brief geschrieben; Euer Gespräch hat sie
behorcht, jetzt geht sie ihm entgegen."

Ein Kind, das indessen beim Vater geblieben war, bat mich, zu eilen,
der gute Mann sei unruhig.  Wir traten hinein; heiter, ja verklärt
saß er aufrecht im Bette.  "Kinder", sagte er, "ich habe diese
Stunden im anhaltenden Gebet vollbracht, keiner von allen Dank--und
Lobgesängen Davids ist von mir unberührt geblieben, und ich füge hinzu,
aus eignem Sinne mit gestärktem Glauben: Warum hofft der Mensch nur
in die Nähe? da muß er handeln und sich helfen, in die Ferne soll er
hoffen und Gott vertrauen."  Er faßte Lenardos Hand und so die Hand
der Tochter, und beide ineinander legend sprach er: "Das soll kein
irdisches, es soll ein himmlisches Band sein; wie Bruder und Schwester
liebt, vertraut, nützt und helft einander, so uneigennützig und rein,
wie euch Gott helfe."  Als er dies gesagt, sank er zurück mit
himmlischem Lächeln und war heimgegangen.  Die Tochter stürzte vor
dem Bett nieder, Lenardo neben sie, ihre Wangen berührten sich, ihre
Tränen vereinigten sich auf seiner Hand.

Der Gehülfe rennt in diesem Augenblick herein, erstarrt über der
Szene.  Mit wildem Blick, die schwarzen Locken schüttelnd, ruft der
wohlgestaltete Jüngling: "Er ist tot; in dem Augenblick, da ich seine
wiederhergestellte Sprache dringend anrufen wollte, mein Schicksal,
das Schicksal seiner Tochter zu entscheiden, des Wesens, das ich
nächst Gott am meisten liebe, dem ich ein gesundes Herz wünschte, ein
Herz, das den Wert meiner Neigung fühlen könnte.  Für mich ist sie
verloren, sie kniet neben einem andern!  Hat er euch eingesegnet?
gesteht's nur!"

Das herrliche Wesen war indessen aufgestanden, Lenardo hatte sich
erhoben und erholt; sie sprach: "Ich erkenn' Euch nicht mehr, den
sanften, frommen, auf einmal so verwilderten Mann; wißt Ihr doch, wie
ich Euch danke, wie ich von Euch denke."

"Von Danken und Denken ist hier die Rede nicht", versetzte jener
gefaßt, "hier handelt sich's vom Glück oder Unglück meines Lebens.
Dieser fremde Mann macht mich besorgt; wie ich ihn ansehe, getrau'
ich mich nicht, ihn aufzuwiegen; frühere Rechte zu verdrängen,
frühere Verbindungen zu lösen vermag ich nicht."

"Sobald du wieder in dich selbst zurücktreten kannst", sagte die
Gute, schöner als je, "wenn mit dir zu sprechen ist wie sonst und
immer, so will ich dir sagen, dir beteuern bei den irdischen Resten
meines verklärten Vaters, daß ich zu diesem Herrn und Freunde kein
ander Verständnis habe, als das du kennen, billigen und teilen kannst
und dessen du dich erfreuen mußt."

Lenardo schauderte bis tief ins Innerste, alle drei standen still,
stumm und nachdenkend eine Weile; der Jüngling nahm zuerst das Wort
und sagte: "Der Augenblick ist von zu großer Bedeutung, als daß er
nicht entscheidend sein sollte.  Es ist nicht aus dem Stegreif, was
ich spreche, ich habe Zeit gehabt zu denken, also vernehmt: Die
Ursache, deine Hand mir zu verweigern, war meine Weigerung, dir zu
folgen, wenn du aus Not oder Grille wandern würdest.  Hier also
erklär' ich feierlich vor diesem gültigen Zeugen, daß ich deinem
Auswandern kein Hindernis in den Weg legen, vielmehr es befördern und
dir überallhin folgen will.  Gegen diese mir nicht abgenötigte,
sondern nur durch die seltsamsten Umstände beschleunigte Erklärung
verlang' ich aber im Augenblick deine Hand."  Er reichte sie hin,
stand fest und sicher da, die beiden andern wichen überrascht,
unwillkürlich zurück.

"Es ist ausgesprochen", sagte der Jüngling, ruhig mit einer gewissen
frommen Hoheit: "das sollte geschehen, es ist zu unser aller Bestem,
Gott hat es gewollt; aber damit du nicht denkst, es sei übereilung
und Grille, so wisse nur, ich hatte dir zulieb auf Berg und Felsen
Verzicht getan und eben jetzt in der Stadt alles eingeleitet, um nach
deinem Willen zu leben.  Nun aber geh' ich allein, du wirst mir die
Mittel dazu nicht versagen, du behältst noch immer genug übrig, um es
hier zu verlieren, wie du fürchtest und wie du recht hast zu fürchten.
Denn ich habe mich endlich auch überzeugt: der künstliche,
werktätige Schelm hat sich ins obere Tal gewendet, dort legt er
Maschinen an, du wirst ihn alle Nahrung an sich ziehen sehen,
vielleicht rufst du, und nur allzubald, einen treuen Freund zurück,
den du vertreibst."

Peinlicher haben nicht leicht drei Menschen sich gegenübergestanden,
alle zusammen in Furcht, sich einander zu verlieren, und im
Augenblick nicht wissend, wie sie sich wechselseitig erhalten sollten.


Leidenschaftlich entschlossen stürzte der Jüngling zur Türe hinaus.
Auf ihres Vaters erkältete Brust hatte die Schöne-Gute ihre Hand
gelegt: "In die Nähe soll man nicht hoffen", rief sie aus, "aber in
die Ferne, das war sein letzter Segen.  Vertrauen wir Gott, jeder
sich selbst und dem andern, so wird sich's wohl fügen."



Vierzehntes Kapitel

Unser Freund las mit großem Anteil das Vorgelegte, mußte aber
zugleich gestehen, er habe schon beim Schluß des vorigen Heftes
geahnet, ja vermutet, das gute Wesen sei entdeckt worden.  Die
Beschreibung der schroffen Gebirgsgegend habe ihn zuerst in jene
Zustände versetzt, besonders aber sei er durch die Ahnung Lenardos in
jener Mondennacht, so auch durch die Wiederholung der Worte seines
Briefes auf die Spur geleitet worden.  Friedrich, dem er das alles
umständlich vortrug, ließ sich es auch ganz wohl gefallen.

Hier aber wird die Pflicht des Mitteilens, Darstellens, Ausführens
und Zusammenziehens immer schwieriger.  Wer fühlt nicht, daß wir uns
diesmal dem Ende nähern, wo die Furcht, in Umständlichkeiten zu
verweilen, mit dem Wunsche, nichts völlig unerörtert zu lassen, uns
in Zwiespalt versetzt.  Durch die eben angekommene Depesche wurden wir
zwar von manchem unterrichtet, die Briefe jedoch und die vielfachen
Beilagen enthielten verschiedene Dinge, gerade nicht von allgemeinem
Interesse.  Wir sind also gesonnen, dasjenige, was wir damals gewußt
und erfahren, ferner auch das, was später zu unserer Kenntnis kam,
zusammenzufassen und in diesem Sinne das übernommene ernste Geschäft
eines treuen Referenten getrost abzuschließen.

Vor allen Dingen haben wir daher zu berichten, daß Lothario mit
Theresen, seiner Gemahlin, und Natalien, die ihren Bruder nicht von
sich lassen wollte, in Begleitung des Abbés schon wirklich zur See
gegangen sind.  Unter günstigen Vorbedeutungen reisten sie ab, und
hoffentlich bläht ein fördernder Wind ihre Segel.  Die einzige
unangenehme Empfindung, eine wahre sittliche Trauer, nehmen sie mit:
daß sie Makarien vorher nicht ihren Besuch abstatten konnten.  Der
Umweg war zu groß, das Unternehmen zu bedeutend; schon warf man sich
einige Zögerung vor und mußte selbst eine heilige Pflicht der
Notwendigkeit aufopfern.

Wir aber, von unserer erzählenden und darstellenden Seite, sollten
diese teuren Personen, die uns früher so viele Neigungen abgewonnen,
nicht in so weite Entfernung ziehen lassen, ohne von ihrem bisherigen
Vornehmen und Tun nähere Nachricht erteilt zu haben, besonders da wir
so lange nichts Ausführliches von ihnen vernommen.  Gleichwohl
unterlassen wir dieses, weil ihr bisheriges Geschäft sich nur
vorbereitend auf das große Unternehmen bezog, auf welches wir sie
lossteuern sehen.  Wir leben jedoch in der Hoffnung, sie dereinst in
voller geregelter Tätigkeit, den wahren Wert ihrer verschiedenen
Charaktere offenbarend, vergnüglich wiederzufinden.

Juliette, die Sinnige-Gute, deren wir uns wohl noch erinnern, hatte
geheiratet, einen Mann nach dem Herzen des Oheims, durchaus in seinem
Sinne mit--und fortwirkend.  Juliette war in der letzten Zeit viel um
die Tante, wo manche derjenigen zusammentrafen, auf die sie
wohltätigen Einfluß gehabt; nicht nur solche, die dem festen Lande
gewidmet bleiben, auch solche, die über See zu gehen gedenken.
Lenardo hingegen hatte schon früher mit Friedrichen Abschied genommen;
die Mitteilung durch Boten war unter diesen desto lebhafter.

Vermißte man also in dem Verzeichnisse der Gäste jene edlen
Obengenannten, so waren doch manche bedeutende, uns schon näher
bekannte Personen darauf zu finden.  Hilarie kam mit ihrem Gatten,
der nun als Hauptmann und entschieden reicher Gutsbesitzer auftrat.
Sie in ihrer großen Anmut und Liebenswürdigkeit gewann sich hier wie
überall gar gern Verzeihung einer allzu großen Leichtigkeit, von
Interesse zu Interesse übergehend zu wechseln, deren wir sie im Lauf
der Erzählung schuldig gefunden.  Besonders die Männer rechneten es
ihr nicht hoch an.  Einen dergleichen Fehler, wenn es einer ist,
finden sie nicht anstößig, weil ein jeder wünschen und hoffen mag,
auch an die Reihe zu kommen.

Flavio, ihr Gemahl, rüstig, munter und liebenswürdig genug, schien
vollkommen ihre Neigung zu fesseln; sie mochte sich das Vergangene
selbst verziehen haben; auch fand Makarie keinen Anlaß, dessen zu
erwähnen.  Er, der immer leidenschaftliche Dichter, bat sich aus, beim
Abschiede ein Gedicht vorlesen zu dürfen, welches er zu Ehren ihrer
und ihrer Umgebung in den wenigen Tagen seines Hierseins verfaßte.
Man sah ihn oft im Freien auf und ab gehen, nach einigem Stillstand
mit bewegter Gebärde wieder vorwärts schreitend in die Schreibtafel
schreiben, sinnen und wieder schreiben.  Nun aber schien er es für
vollendet zu halten, als er durch Angela jenen Wunsch zu erkennen gab.


Die gute Dame, obgleich ungern, verstand sich hiezu, und es ließ
sich allenfalls anhören, ob man gleich dadurch weiter nichts erfuhr,
als was man schon wußte, nichts fühlte, als was man schon gefühlt
hatte.  Indessen war denn doch der Vortrag leicht und gefällig,
Wendung und Reim mitunter neu, wenn man es auch hätte im ganzen etwas
kürzer wünschen mögen.  Zuletzt übergab er dasselbe, auf gerändertes
Papier sehr schön geschrieben, und man schied mit vollkommener
wechselseitiger Zufriedenheit.

Dieses Paar war von einer bedeutenden, wohlgenutzten Reise nach dem
Süden zurückgekommen, um den Vater, den Major, von Hause abzulösen,
der mit jener Unwiderstehlichen, die nun seine Gemahlin geworden,
auch etwas von der paradiesischen Luft zu einiger Erquickung einatmen
wollte.

Diese beiden kamen denn auch, im Wechsel, und so wie überall hatte
bei Makarien die Merkwürdige auch vorzügliche Gunst, welche sich
besonders darin erwies, daß die Dame in den innern Zimmern und allein
empfangen wurde, welche Geneigtheit auch nachher dem Major zuteil
ward.  Dieser empfahl sich darauf sogleich als gebildeter Militär,
guter Haus--und Landwirt, Literaturfreund, sogar als Lehrdichter
beifallswürdig und fand bei dem Astronomen und sonstigen Hausgenossen
guten Eingang.

Auch von unserm alten Herrn, dem würdigen Oheim, ward er besonders
ausgezeichnet, welcher, in mäßiger Ferne wohnend, diesmal mehr, als
er sonst pflegte, obgleich nur für Stunden, herüberkam, aber keine
Nacht, auch bei angebotener größten Bequemlichkeit, zu bleiben
bewogen werden konnte.

Bei solchen kurzen Zusammenkünften war seine Gegenwart jedoch höchst
erfreulich, weil er sodann, als Welt--und Hofmann, nachgiebig und
vermittelnd auftreten wollte; wobei denn sogar ein Zug von
aristokratischer Pedanterie nicht unangenehm empfunden wurde. überdem
ging diesmal sein Behagen von Grund aus, er war glücklich, wie wir
uns alle fühlen, wenn wir mit verständig-vernünftigen Leuten
Wichtiges zu verhandeln haben.  Das umfassende Geschäft war völlig im
Gange, es bewegte sich stetig nach gepflogener Verabredung.

Hievon nur die Hauptmomente.  Er ist drüben über dem Meere, von
seinen Vorfahren her, Eigentümer.  Was das heißen wolle, möge der
Kenner dortiger Angelegenheiten, da es uns hier zu weit führen müßte,
seinen Freunden näher erklären.  Diese wichtigen Besitzungen waren
bisher verpachtet und trugen, bei mancherlei Unannehmlichkeiten, wenig
ein.  Die Gesellschaft, die wir genugsam kennen, ist nun berechtigt,
dort Besitz zu nehmen, mitten in der vollkommensten bürgerlichen
Einrichtung, von da sie als einflußreiches Staatsglied ihren Vorteil
ersehen und sich in die noch unangebaute Wüste fern verbreiten kann.
Hier nun will sich Friedrich mit Lenardo besonders hervortun, um zu
zeigen, wie man eigentlich von vorn beginnen und einen Naturweg
einschlagen könne.

Kaum hatten sich die Genannten von ihrem Aufenthalte höchst
zufrieden entfernt, so waren dagegen Gäste ganz anderer Art
angemeldet und doch auch willkommen.  Wir erwarteten wohl kaum,
Philinen und Lydien an so heiliger Stätte auftreten zu sehen, und doch
kamen sie an.  Der zunächst in den Gebirgen noch immer weilende
Montan sollte sie hier abholen und auf dem nächsten Wege zur See
bringen.  Beide wurden von Haushälterinnen, Schaffnerinnen, sonst
angestellten und mitwohnenden Frauen sehr gut aufgenommen: Philine
brachte ein paar allerliebste Kinder mit und zeichnete sich, bei
einer einfachen, sehr reizenden Kleidung, aus durch das Sonderbare,
daß sie von blumig gesticktem Gürtel herab an langer silberner Kette
eine mäßig große englische Schere trug, mit der sie manchmal,
gleichsam als wollte sie ihrem Gespräch einigen Nachdruck geben, in
die Luft schnitt und schnappte und durch einen solchen Akt die
sämtlichen Anwesenden erheiterte; worauf denn bald die Frage folgte:
ob es denn in einer so großen Familie nichts zuzuschneiden gebe? und
da fand sich denn, daß, erwünscht für eine solche Tätigkeit, ein paar
Bräute sollten ausgestattet werden.  Sie sieht hierauf die
Landestracht an, läßt die Mädchen vor sich auf und ab gehen und
schneidet immer zu, wobei sie aber, mit Geist und Geschmack verfahrend,
ohne dem Charakter einer solchen Tracht etwas zu benehmen, das
eigentlich stockende Barbarische derselben mit einer Anmut zu
vermitteln weiß, so gelind, daß die Bekleideten sich und andern
besser gefallen und die Bangigkeit überwinden, man möge von dem
Herkömmlichen doch abgewichen sein.

Hier kam nun Lydie, die mit gleicher Fertigkeit, Zierlichkeit und
Schnelle zu nähen verstand, vollkommen zu Hülfe, und man durfte
hoffen, mit dem übrigen weiblichen Beistand die Bräute schneller, als
man gedacht hatte, herausgeputzt zu sehen.  Dabei durften sich diese
Mädchen nicht lange entfernen, Philine beschäftigte sich mit ihnen bis
aufs kleinste und behandelte sie wie Puppen oder Theaterstatisten.
Gehäufte Bänder und sonstiger in der Nachbarschaft üblicher
Festschmuck wurde schicklich verteilt, und so erreichte man zuletzt,
daß diese tüchtigen Körper und hübschen Figuren, sonst durch
barbarische Pedanterei zugedeckt, nunmehr zu einiger Evidenz
gelangten, wobei alle Derbheit doch immer zu einiger Anmut
herausgestutzt erschien.

Allzu tätige Personen werden aber doch in einem gleichmäßig
geregelten Zustande lästig.  Philine war mit ihrer gefräßigen Schere
in die Zimmer geraten, wo die Vorräte zu Kleidern für die große
Familie, in Stoffen aller Art, zur Hand lagen.  Da fand sie nun in
der Aussicht, das alles zu zerschneiden, die größte Glückseligkeit;
man mußte sie wirklich daraus entfernen und die Türen fest
verschließen, denn sie kannte weder Maß noch Ziel.  Angela wollte
wirklich deshalb nicht als Braut behandelt sein, weil sie sich vor
einer solchen Zuschneiderin fürchtete; überhaupt ließ sich das
Verhältnis zwischen beiden keineswegs glücklich einleiten.  Doch
hievon kann erst später die Rede sein.

Montan, länger als man gedacht hatte, zauderte zu kommen, und
Philine drang darauf, Makarien vorgestellt zu werden.  Es geschah,
weil man sie alsdann um desto eher loszuwerden hoffte, und es war
merkwürdig genug, die beiden Sünderinnen zu den Füßen der Heiligen zu
sehen.  Zu beiden Seiten lagen sie ihr an den Knieen, Philine zwischen
ihren zwei Kindern, die sie lebhaft anmutig niederdrückte; mit
gewohnter Heiterkeit sprach sie: "Ich liebe meinen Mann, meine Kinder,
beschäftige mich gern für sie, auch für andere, das übrige verzeihst
du!"  Makarie begrüßte sie segnend, sie entfernte sich mit
anständiger Beugung.

Lydie lag von der linken Seite her der Heiligen mit dem Gesicht auf
dem Schoße, weinte bitterlich und konnte kein Wort sprechen; Makarie,
ihre Tränen auffassend, klopfte ihr auf die Schulter als
beschwichtigend, dann küßte sie ihr Haupt zwischen den gescheitelten
Haaren, wie es vor ihr lag, brünstig und wiederholt in frommer Absicht.


Lydie richtete sich auf, erst auf ihre Kniee, dann auf die Füße, und
schaute zu ihrer Wohltäterin mit reiner Heiterkeit.  "Wie geschieht
mir!" sagte sie, "wie ist mir!  Der schwere, lästige Druck, der mir,
wo nicht alle Besinnung, doch alles überlegen raubte, er ist auf
einmal von meinem Haupte weggehoben, ich kann nun frei in die Höhe
sehen, meine Gedanken in die Höhe richten, und", setzte sie nach
tiefem Atemholen hinzu, "ich glaube, mein Herz will nach."

In diesem Augenblick eröffnete sich die Türe, und Montan trat herein,
wie öfters der allzu lang Erwartete plötzlich und unverhofft
erscheint.  Lydie schritt munter auf ihn zu, umarmte ihn freudig, und
indem sie ihn vor Makarien führte, rief sie aus: "Er soll erfahren,
was er dieser Göttlichen schuldig ist, und sich mit mir dankend
niederwerfen."

Montan, betroffen und, gegen seine Gewohnheit, gewissermaßen
verlegen, sagte mit edler Verbeugung gegen die würdige Dame: "Es
scheint sehr viel zu sein, denn ich werde dich ihr schuldig.  Es ist
das erstemal, daß du mir offen und liebevoll entgegenkommst, das
erstemal, daß du mich ans Herz drückst, ob ich es gleich längst
verdiente."

Hier nun müssen wir vertraulich eröffnen, daß Montan Lydien von
ihrer frühen Jugend an geliebt, daß der einnehmendere Lothario sie
ihm entführt, er aber ihr und dem Freunde treu geblieben und sie sich
endlich, vielleicht zu nicht geringer Verwunderung unserer früheren
Leser, als Gattin zugeeignet habe.

Diese drei zusammen, welche sich in der europäischen Gesellschaft
doch nicht ganz behaglich fühlen mochten, mäßigten kaum den Ausdruck
ihrer Freude, wenn von den dort erwarteten Zuständen die Rede war.
Die Schere Philinens zuckte schon: denn man gedachte sich das Monopol
vorzubehalten, diese neuen Kolonien mit Kleidungsstücken zu versorgen.
Philine beschrieb den großen Tuch--und Leinwandvorrat sehr artig und
schnitt in die Luft, die Ernte für Sichel und Sense, wie sie sagte,
schon vor sich sehend.

Lydie dagegen, erst durch jene glücklichen Segnungen zu
teilnehmender Liebe wieder auferwacht, sah im Geiste schon ihre
Schülerinnen sich ins Hundertfache vermehren und ein ganzes Volk von
Hausfrauen zu Genauigkeit und Zierlichkeit eingeleitet und aufgeregt.
Auch der ernste Montan hat die dortige Bergfülle an Blei, Kupfer,
Eisen und Steinkohlen dergestalt vor Augen, daß er alle sein Wissen
und Können manchmal nur für ängstlich tastendes Versuchen erklären
möchte, um erst dort in eine reiche, belohnende Ernte mutig
einzugreifen.

Daß Montan sich mit unserm Astronomen bald verstehen würde, war
vorauszusehen.  Die Gespräche, die sie in Gegenwart Makariens führten,
waren höchst anziehend; wir finden aber nur weniges davon
niedergeschrieben, indem Angela seit einiger Zeit beim Zuhören minder
aufmerksam und beim Aufzeichnen nachlässiger geworden war.  Auch
mochte ihr manches zu allgemein und für ein Frauenzimmer nicht
faßlich genug vorkommen.  Wir schalten daher nur einige der in jene
Tage gehörigen äußerungen hier vorübergehend ein, die nicht einmal
von ihrer Hand geschrieben uns zugekommen sind.

Bei dem Studieren der Wissenschaften, besonders derer, welche die
Natur behandeln, ist die Untersuchung so nötig als schwer: ob das,
was uns von alters her überliefert und von unsern Vorfahren für
gültig geachtet worden, auch wirklich gegründet und zuverlässig sei,
in dem Grade, daß man darauf fernerhin sicher fortbauen möge? oder ob
ein herkömmliches Bekenntnis nur stationär geworden und deshalb mehr
einen Stillstand als einen Fortschritt veranlasse?  Ein Kennzeichen
fördert diese Untersuchung, wenn nämlich das Angenommene lebendig und
in das tätige Bestreben einwirkend und fördernd gewesen und geblieben.


Im Gegensatze steht die Prüfung des Neuen, wo man zu fragen hat: ob
das Angenommene wirklicher Gewinn oder nur modische übereinstimmung
sei? denn eine Meinung, von energischen Männern ausgehend, verbreitet
sich kontagios über die Menge, und dann heißt sie herrschend --eine
Anmaßung, die für den treuen Forscher gar keinen Sinn ausspricht.
Staat und Kirche mögen allenfalls Ursache finden, sich für herrschend
zu erklären: denn die haben es mit der widerspenstigen Masse zu tun,
und wenn nur Ordnung gehalten wird, so ist es ganz einerlei, durch
welche Mittel; aber in den Wissenschaften ist die absoluteste Freiheit
nötig: denn da wirkt man nicht für heut und morgen, sondern für eine
undenklich vorschreitende Zeitenreihe.

Gewinnt aber auch in der Wissenschaft das Falsche die Oberhand, so
wird doch immer eine Minorität für das Wahre übrigbleiben, und wenn
sie sich in einen einzigen Geist zurückzöge, so hätte das nichts zu
sagen.  Er wird im stillen, im verborgenen fortwaltend wirken, und
eine Zeit wird kommen, wo man nach ihm und seinen überzeugungen fragt,
oder wo diese sich, bei verbreitetem allgemeinem Licht, auch wieder
hervorwagen dürfen.

Was jedoch weniger allgemein, obgleich unbegreiflich und
wunderseltsam, zur Sprache kam, war die gelegentliche Eröffnung
Montans, daß ihm bei seinen gebirgischen und bergmännischen
Untersuchungen eine Person zur Seite gehe, welche ganz wundersame
Eigenschaften und einen ganz eigenen Bezug auf alles habe, was man
Gestein, Mineral, ja sogar was man überhaupt Element nennen könne.
Sie fühle nicht bloß eine gewisse Einwirkung der unterirdisch
fließenden Wasser, metallischer Lager und Gänge, sowie der Steinkohlen
und was dergleichen in Massen beisammen sein möchte, sondern, was
wunderbarer sei, sie befinde sich anders und wieder anders, sobald
sie nur den Boden wechsele.  Die verschiedenen Gebirgsarten übten auf
sie einen besondern Einfluß, worüber er sich mit ihr, seitdem er eine
zwar wunderliche, aber doch auslangende Sprache einzuleiten gewußt,
recht gut verständigen und sie im einzelnen prüfen könne, da sie denn
auf eine merkwürdige Weise die Probe bestehe, indem sie sowohl
chemische als physische Elemente durchs Gefühl gar wohl zu
unterscheiden wisse, ja sogar schon durch den Anblick das Schwerere
von dem Leichtern unterscheide.  Diese Person, über deren Geschlecht
er sich nicht näher erklären wollte, habe er mit den abreisenden
Freunden vorausgeschickt und hoffe zu seinen Zwecken in den
ununtersuchten Gegenden sehr viel von ihr.

Dieses Vertrauen Montans eröffnete das strenge Herz des Astronomen,
welcher sodann mit Makariens Vergünstigung auch ihm das Verhältnis
derselben zum Weltsystem offenbarte.  Durch nachherige Mitteilungen
des Astronomen sind wir in dem Fall, wo nicht Genugsames, doch das
Hauptsächliche ihrer Unterhaltung über so wichtige Punkte mitzuteilen.

Bewundern wir indessen die ähnlichkeit der hier eintretenden Fälle
bei der größten Verschiedenheit.  Der eine Freund, um nicht ein Timon
zu werden, hatte sich in die tiefsten Klüfte der Erde versenkt, und
auch dort ward er gewahr, daß in der Menschennatur etwas Analoges zum
Starrsten und Rohsten vorhanden sei; dem andern gab von der
Gegenseite der Geist Makariens ein Beispiel, daß, wie dort das
Verbleiben, hier das Entfernen wohlbegabten Naturen eigen sei, daß
man weder nötig habe, bis zum Mittelpunkt der Erde zu dringen, noch
sich über die Grenzen unsres Sonnensystems hinaus zu entfernen,
sondern schon genüglich beschäftigt und vorzüglich auf Tat aufmerksam
gemacht und zu ihr berufen werde.  An und in dem Boden findet man für
die höchsten irdischen Bedürfnisse das Material, eine Welt des
Stoffes, den höchsten Fähigkeiten des Menschen zur Bearbeitung
übergeben; aber auf jenem geistigen Wege werden immer Teilnahme, Liebe,
geregelte freie Wirksamkeit gefunden.  Diese beiden Welten
gegeneinander zu bewegen, ihre beiderseitigen Eigenschaften in der
vorübergehenden Lebenserscheinung zu manifestieren, das ist die
höchste Gestalt, wozu sich der Mensch auszubilden hat.

Hierauf schlossen beide Freunde einen Bund und nahmen sich vor, ihre
Erfahrungen allenfalls auch nicht zu verheimlichen, weil derjenige,
der sie als einem Roman wohl ziemende Märchen belächeln könnte, sie
doch immer als ein Gleichnis des Wünschenswertesten betrachten dürfte.


Der Abschied Montans und seiner Frauenzimmer folgte bald hierauf,
und wenn man ihn mit Lydien wohl noch gern gehalten hätte, so war
doch die allzu unruhige Philine mehreren an Ruhe und Sitte gewohnten
Frauenzimmern, besonders aber der edlen Angela beschwerlich, wozu sich
noch besondere Umstände hinzufügten, welche die Unbehaglichkeit
vermehrten.

Schon oben hatten wir zu bemerken, daß Angela nicht wie sonst die
Pflicht des Aufmerkens und Aufzeichnens erfüllte, sondern anderwärts
beschäftigt schien.  Um diese Anomalie an einer der Ordnung
dergestalt ergebenen und in den reinsten Kreisen sich bewegenden
Person zu erklären, sind wir genötigt, einen neuen Mitspieler in
dieses vielumfassende Drama noch zuletzt einzufahren.

Unser alter, geprüfter Handelsfreund Werner mußte sich bei
zunehmenden, ja gleichsam ins Unendliche sich vermehrenden Geschäften
nach frischen Gehülfen umsehen, welche er nicht ohne vorläufige
besondere Prüfung näher an sich anschloß.  Einen solchen sendet er
nun an Makarien, um wegen Auszahlung der bedeutenden Summen zu
unterhandeln, welche diese Dame aus ihrem großen Vermögen dem neuen
Unternehmen, besonders in Rücksicht auf Lenardo, ihren Liebling,
zuzuwenden beschloß und erklärte.  Gedachter junger Mann, nunmehr
Werners Gehülfe und Geselle, ein frischer, natürlicher Jüngling und
eine Wundererscheinung, empfiehlt sich durch ein eignes Talent, durch
eine grenzenlose Fertigkeit im Kopfrechnen, wie überall, so besonders
bei den Unternehmern, wie sie jetzt zusammenwirken, da sie sich
durchaus mit Zahlen im mannigfaltigsten Sinne einer
Gesellschaftsrechnung beschäftigen und ausgleichen müssen.  Sogar in
der täglichen Sozietät, wo beim Hin--und Widerreden über weltliche
Dinge von Zahlen, Summen und Ausgleichungen die Rede ist, muß ein
solcher höchst willkommen mit einwirken. überdem spielte er den Flügel
höchst anmutig, wo ihm der Kalkül und ein liebenswürdiges Naturell
verbunden und vereint äußerst wünschenswert zu Hülfe kommt.  Die Töne
fließen ihm leicht und harmonisch zusammen, manchmal aber deutet er
an, daß er auch wohl in tiefem Regionen zu Hause wäre, und so wird er
höchst anziehend, wenn er gleich wenig Worte macht und kaum irgend
etwas Gefühltes aus seinen Gesprächen durchblickt.  Auf alle Fälle
ist er jünger als seine Jahre, man möchte beinahe etwas Kindliches an
ihm finden.  Wie es übrigens auch mit ihm sei, er hat Angelas Gunst
gewonnen, sie die seinige, zu Makariens größter Zufriedenheit: denn
sie hatte längst gewünscht, das edle Mädchen verheiratet zu sehen.

Diese jedoch, immer bedenkend und fühlend, wie schwer ihre Stelle zu
besetzen sein werde, hatte wohl schon irgendein liebevolles
Anerbieten abgelehnt, vielleicht sogar einer stillen Neigung Gewalt
angetan; seitdem aber eine Nachfolgerin denkbar, ja gewissermaßen
schon bestimmt worden, scheint sie, von einem wohlgefälligen Eindruck
überrascht, ihm bis zur Leidenschaft nachgegeben zu haben.

Wir aber kommen nunmehr in den Fall, das Wichtigste zu eröffnen,
indem ja alles, worüber seit so mancher Zeit die Rede gewesen, sich
nach und nach gebildet, aufgelöst und wieder gestaltet hatte.

Entschieden ist also auch nunmehr, daß die Schöne-Gute, sonst das
nußbraune Mädchen genannt, sich Makarien zur Seite füge.  Der im
allgemeinen vorgelegte, auch von Lenardo schon gebilligte Plan ist
seiner Ausführung ganz nah; alle Teilnehmenden sind einig; die
Schöne-Gute übergibt dem Gehülfen ihr ganzes Besitztum.  Er heiratet
die zweite Tochter jener arbeitsamen Familie und wird Schwager des
Schirrfassers.  Hiedurch wird die vollkommene Einrichtung einer neuen
Fabrikation durch Lokal und Zusammenwirkung möglich, und die Bewohner
des arbeitslustigen Tales werden auf eine andere, lebhaftere Weise
beschäftigt.

Dadurch wird die Liebenswürdige frei, sie tritt bei Makarien an die
Stelle von Angela, welche mit jenem jungen Manne schon verlobt ist.
Hiemit wäre alles für den Augenblick berichtet; was nicht entschieden
werden kann, bleibt im Schweben.

Nun aber verlangt die Schöne-Gute, daß Wilhelm sie abhole; gewisse
Umstände sind noch zu berichtigen, und sie legt bloß einen großen
Wert darauf, daß er das, was er doch eigentlich angefangen, auch
vollende.  Er entdeckte sie zuerst, und ein wundersam Geschick trieb
Lenardo auf seine Spur; und nun soll er, so wünscht sie, ihr den
Abschied von dort erleichtern und so die Freude, die Beruhigung
empfinden, einen Teil der verschränkten Schicksalsfäden selbst wieder
aufgefaßt und angeknüpft zu haben.

Nun aber müssen wir, um das Geistliche, das Gemütliche zu einer Art
von Vollständigkeit zu bringen, auch ein Geheimeres offenbaren, und
zwar folgendes: Lenardo hatte über eine nähere Verbindung mit der
Schönen-Guten niemals das mindeste geäußert; im Laufe der
Unterhandlungen aber, bei dem vielen Hin--und Widersenden war denn
doch auf eine zarte Weise an ihr geforscht worden, wie sie dies
Verhältnis ansehe und was sie, wenn es zur Sprache käme, allenfalls
zu tun geneigt wäre.  Aus ihrem Erwidern konnte man sich so viel
zusammensetzen: sie fühle sich nicht wert, einer solchen Neigung wie
der ihres edlen Freundes durch Hingebung ihres geteilten Selbst zu
antworten.  Ein Wohlwollen der Art verdiene die ganze Seele, das
ganze Vermögen eines weiblichen Wesens; dies aber könne sie nicht
anbieten.  Das Andenken ihres Bräutigams, ihres Gatten und der
wechselseitigen Einigung beider sei noch so lebhaft in ihr, nehme
noch ihr ganzes Wesen dergestalt völlig ein, daß für Liebe und
Leidenschaft kein Raum gedenkbar, auch ihr nur das reinste Wohlwollen
und in diesem Falle die vollkommenste Dankbarkeit übrig bleibe.  Man
beruhigte sich hiebei, und da Lenardo die Angelegenheit nicht berührt
hatte, war es auch nicht nötig, hierüber Auskunft und Antwort zu
geben.

Einige allgemeine Betrachtungen werden hoffentlich hier am rechten
Orte stehen.  Das Verhältnis sämtlicher vorübergehenden Personen zu
Makarien war vertraulich und ehrfurchtsvoll, alle fühlten die
Gegenwart eines höheren Wesens, und doch blieb in solcher Gegenwart
einem jeden die Freiheit, ganz in seiner eigenen Natur zu erscheinen.
Jeder zeigt sich, wie er ist, mehr als je vor Eltern und Freunden,
mit einer gewissen Zuversicht, denn er war gelockt und veranlaßt, nur
das Gute, das Beste, was an ihm war, an den Tag zu geben, daher beinah
eine allgemeine Zufriedenheit entstand.

Verschweigen aber können wir nicht, daß durch diese gewissermaßen
zerstreuenden Zustände Makarie mit der Lage Lenardos beschäftigt
blieb; sie äußerte sich auch darüber gegen ihre Nächsten, gegen
Angela und den Astronomen.  Lenardos Inneres glaubten sie deutlich
vor sich zu sehen, er ist für den Augenblick beruhigt, der Gegenstand
seiner Sorge wird höchst glücklich gesichert; Makarie hatte für die
Zukunft auf jeden Fall gesorgt.  Nun hatte er das große Geschäft
mutig anzutreten und zu beginnen, das übrige dem Folgegang und
Schicksal zu überlassen.  Dabei konnte man vermuten, daß er in jenen
Unternehmungen hauptsächlich gestärkt sei durch den Gedanken, sie
dereinst, wenn er Fuß gefaßt, hinüber zu berufen, wo nicht gar selbst
abzuholen.

Allgemeiner Bemerkungen konnte man hiebei sich nicht enthalten.  Man
beachtete näher den seltenen Fall, der sich hier hervortat:
Leidenschaft aus Gewissen.  Man gedachte zugleich anderer Beispiele
einer wundersamen Umbildung einmal gefaßter Eindrücke, der
geheimnisvollen Entwickelung angeborner Neigung und Sehnsucht.  Man
bedauerte, daß in solchen Fällen wenig zu raten sei, würde es aber
höchst rätlich finden, sich möglichst klar zu halten und diesem oder
jenem Hang nicht unbedingt nachzugeben.

Zu diesem Punkte aber gelangt, können wir der Versuchung nicht
widerstehen, ein Blatt aus unsern Archiven mitzuteilen, welches
Makarien betrifft und die besondere Eigenschaft, die ihrem Geiste
erteilt ward.  Leider ist dieser Aufsatz erst lange Zeit, nachdem der
Inhalt mitgeteilt worden, aus dem Gedächtnis geschrieben und nicht,
wie es in einem so merkwürdigen Fall wünschenswert wäre, für ganz
authentisch anzusehen.  Dem sei aber, wie ihm wolle, so wird hier
schon so viel mitgeteilt, um Nachdenken zu erregen und Aufmerksamkeit
zu empfehlen, ob nicht irgendwo schon etwas ähnliches oder sich
Annäherndes bemerkt und verzeichnet worden.



Fünfzehntes Kapitel

Makarie befindet sich zu unserm Sonnensystem in einem Verhältnis,
welches man auszusprechen kaum wagen darf.  Im Geiste, der Seele, der
Einbildungskraft hegt sie, schaut sie es nicht nur, sondern sie macht
gleichsam einen Teil desselben; sie sieht sich in jenen himmlischen
Kreisen mit fortgezogen, aber auf eine ganz eigene Art; sie wandelt
seit ihrer Kindheit um die Sonne, und zwar, wie nun entdeckt ist, in
einer Spirale, sich immer mehr vom Mittelpunkt entfernend und nach den
äußeren Regionen hinkreisend.

Wenn man annehmen darf, daß die Wesen, insofern sie körperlich sind,
nach dem Zentrum, insofern sie geistig sind, nach der Peripherie
streben, so gehört unsere Freundin zu den geistigsten; sie scheint
nur geboren, um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nächsten
und fernsten Räume des Daseins zu durchdringen.  Diese Eigenschaft, so
herrlich sie ist, ward ihr doch seit den frühsten Jahren als eine
schwere Aufgabe verliehen.  Sie erinnert sich von klein auf ihr
inneres Selbst als von leuchtendem Wesen durchdrungen, von einem Licht
erhellt, welchem sogar das hellste Sonnenlicht nichts anhaben konnte.
Oft sah sie zwei Sonnen, eine innere nämlich und eine außen am
Himmel, zwei Monde, wovon der äußere in seiner Größe bei allen Phasen
sich gleich blieb, der innere sich immer mehr und mehr verminderte.

Diese Gabe zog ihren Anteil ab von gewöhnlichen Dingen, aber ihre
trefflichen Eltern wendeten alles auf ihre Bildung; alle Fähigkeiten
wurden an ihr lebendig, alle Tätigkeiten wirksam, dergestalt daß sie
allen äußeren Verhältnissen zu genügen wußte und, indem ihr Herz, ihr
Geist ganz von überirdischen Gesichten erfüllt war, doch ihr Tun und
Handeln immerfort dem edelsten Sittlichen gemäß blieb.  Wie sie
heranwuchs, überall hilfreich, unaufhaltsam in großen und kleinen
Diensten, wandelte sie wie ein Engel Gottes auf Erden, indem ihr
geistiges Ganze sich zwar um die Weltsonne, aber nach dem
überweltlichen in stetig zunehmenden Kreisen bewegte.

Die überfülle dieses Zustandes ward einigermaßen dadurch gemildert,
daß es auch in ihr zu tagen und zu nachten schien, da sie denn, bei
gedämpftem innerem Licht, äußere Pflichten auf das treuste zu
erfüllen strebte, bei frisch aufleuchtendem Innerem sich der
seligsten Ruhe hingab.  Ja sie will bemerkt haben, daß eine Art von
Wolken sie von Zeit zu Zeit umschwebten und ihr den Anblick der
himmlischen Genossen auf eine Zeitlang umdämmerten, eine Epoche, die
sie stets zu Wohl und Freude ihrer Umgebungen zu benutzen wußte.

Solange sie die Anschauungen geheimhielt, gehörte viel dazu, sie zu
ertragen; was sie davon offenbarte, wurde nicht anerkannt oder
mißdeutet, sie ließ es daher in ihrem langen Leben nach außen als
Krankheit gelten, und so spricht man in der Familie noch immer davon;
zuletzt aber hat ihr das gute Glück den Mann zugeführt, den ihr bei
uns seht, als Arzt, Mathematiker und Astronom gleich schätzbar,
durchaus ein edler Mensch, der sich jedoch erst eigentlich aus
Neugierde zu ihr heranfand.  Als sie aber Vertrauen gegen ihn gewann,
ihm nach und nach ihre Zustände beschrieben, das Gegenwärtige ans
Vergangene angeschlossen und in die Ereignisse einen Zusammenhang
gebracht hatte, ward er so von der Erscheinung eingenommen, daß er
sich nicht mehr von ihr trennen konnte, sondern Tag für Tag stets
tiefer in das Geheimnis einzudringen trachtete.

Im Anfange, wie er nicht undeutlich zu verstehen gab, hielt er es
für Täuschung; denn sie leugnete nicht, daß von der ersten Jugend an
sie sich um die Stern--und Himmelskunde fleißig bekümmert habe, daß
sie darin wohl unterrichtet worden und keine Gelegenheit versäumt,
sich durch Maschinen und Bücher den Weltbau immer mehr zu
versinnlichen.  Deshalb er sich denn nicht ausreden ließ, es sei
angelernt.  Die Wirkung einer in hohem Grad geregelten
Einbildungskraft, der Einfluß des Gedächtnisses sei zu vermuten, eine
Mitwirkung der Urteilskraft, besonders aber eines versteckten Kalküls.

Er ist ein Mathematiker und also hartnäckig, ein heller Geist und
also ungläubig; er wehrte sich lange, bemerkte jedoch, was sie angab,
genau, suchte der Folge verschiedener Jahre beizukommen, wunderte
sich besonders über die neusten, mit dem gegenseitigem Stande der
Himmelslichter übereintreffenden Angaben und rief endlich aus: "Nun
warum sollte Gott und die Natur nicht auch eine lebendige
Armillarsphäre, ein geistiges Räderwerk erschaffen und einrichten,
daß es, wie ja die Uhren uns täglich und stündlich leisten, dem Gang
der Gestirne von selbst auf eigne Weise zu folgen imstande wäre?"

Hier aber wagten wir nicht, weiter zu gehen; denn das Unglaubliche
verliert seinen Wert, wenn man es näher im einzelnen beschauen will.
Doch sagen wir so viel: Dasjenige, was zur Grundlage der
anzustellenden Berechnungen diente, war folgendes: Ihr, der Seherin,
erschien unsere Sonne in der Vision um vieles kleiner, als sie solche
bei Tage erblickte, auch gab eine ungewöhnliche Stellung dieses
höheren Himmelslichtes im Tierkreise Anlaß zu Folgerungen.

Dagegen entstanden Zweifel und Irrungen, weil die Schauende ein und
das andere Gestirn andeutete als gleichfalls in dem Zodiak
erscheinend, von dem man aber am Himmel nichts gewahr werden konnte.
Es mochten die damals noch unentdeckten kleinen Planeten sein.  Denn
aus andern Angaben ließ sich schließen, daß sie, längst über die Bahn
des Mars hinaus, der Bahn des Jupiter sich nähere.  Offenbar hatte
sie eine Zeitlang diesen Planeten, es wäre schwer zu sagen in welcher
Entfernung, mit Staunen in seiner ungeheuren Herrlichkeit betrachtet
und das Spiel seiner Monde um ihn her geschaut; hernach aber ihn auf
die wunderseltsamste Weise als abnehmenden Mond gesehen, und zwar
umgewendet, wie uns der wachsende Mond erscheint.  Daraus wurde
geschlossen, daß sie ihn von der Seite sehe und wirklich im Begriff
sei, über dessen Bahn hinauszuschreiten und in dem unendlichen Raum
dem Saturn entgegenzustreben.  Dorthin folgt ihr keine
Einbildungskraft, aber wir hoffen, daß eine solche Entelechie sich
nicht ganz aus unserm Sonnensystem entfernen, sondern, wenn sie an
die Grenze desselben gelangt ist, sich wieder zurücksehnen werde, um
zugunsten unsrer Urenkel in das irdische Leben und Wohltun wieder
einzuwirken.

Indem wir nun diese ätherische Dichtung, Verzeihung hoffend, hiemit
beschließen, wenden wir uns wieder zu jenem terrestrischen Märchen,
wovon wir oben eine vorübergehende Andeutung gegeben.

Montan hatte mit dem größten Anschein von Ehrlichkeit angegeben:
jene wunderbare Person, welche mit ihren Gefühlen den Unterschied der
irdischen Stoffe so wohl zu bezeichnen wisse, sei schon mit den
ersten Wanderern in die weite Ferne gezogen, welches jedoch dem
aufmerksamen Menschenkenner durchaus hätte sollen unwahrscheinlich
dünken.  Denn wie wollte Montan und seinesgleichen eine so bereite
Wünschelrute von der Seite gelassen haben?  Auch ward kurz nach
seiner Abreise durch Hin--und Widerreden und sonderbare Erzählungen
der unteren Hausbedienten hierüber ein Verdacht allmählich rege.
Philine nämlich und Lydie hatten eine Dritte mitgebracht, unter dem
Vorwand, es sei eine Dienerin, wozu sie sich aber gar nicht zu
schicken schien; wie sie denn auch beim An--und Auskleiden der
Herrinnen niemals gefordert wurde.  Ihre einfache Tracht kleidete den
derben, wohlgebauten Körper gar schicklich, deutete aber, so wie die
ganze Person, auf etwas Ländliches.  Ihr Betragen, ohne roh zu sein,
zeigte keine gesellige Bildung, wovon die Kammermädchen immer die
Karikatur darzustellen pflegen.  Auch fand sie gar bald unter der
Dienerschaft ihren Platz; sie gesellte sich zu den Garten--und
Feldgenossen, ergriff den Spaten und arbeitete für zwei bis drei.
Nahm sie den Rechen, so flog er auf das geschickteste über das
aufgewühlte Erdreich, und die weiteste Fläche glich einem
wohlgeebneten Beete. übrigens hielt sie sich still und gewann gar bald
die allgemeine Gunst.  Sie erzählten sich von ihr: man habe sie oft
das Werkzeug niederlegen und querfeldein über Stock und Steine
springen sehen, auf eine versteckte Quelle zu, wo sie ihren Durst
gelöscht.  Diesen Gebrauch habe sie täglich wiederholt, indem sie von
irgendeinem Punkte aus, wo sie gestanden, immer ein oder das andere
rein ausfließende Wasser zu finden gewußt, wenn sie dessen bedurfte.

Und so war denn doch für Montans Angeben ein Zeugnis zurückgeblieben,
der wahrscheinlich, um lästige Versuche und unzulängliches Probieren
zu vermeiden, die Gegenwart einer so merkwürdigen Person vor seinen
edlen Wirten, welche sonst wohl ein solches Zutrauen verdient hätten,
zu verheimlichen beschloß.  Wir aber wollten, was uns bekannt geworden,
auch unvollständig wie es vorliegt, mitgeteilt haben, um forschende
Männer auf ähnliche Fälle, die sich vielleicht öfter, als man glaubt,
durch irgendeine Andeutung hervortun, freundlich aufmerksam zu machen.



Sechzehntes Kapitel

Der Amtmann jenes Schlosses, das wir noch vor kurzem durch unsere
Wanderer belebt gesehen, von Natur tätig und gewandt, den Vorteil
seiner Herrschaft und seinen eignen immer vor Augen habend, saß
nunmehr vergnügt, Rechnungen und Berichte auszufertigen, wodurch er
die seinem Bezirk während der Anwesenheit jener Gäste zugegangenen
großen Vorteile mit einiger Selbstgefälligkeit vorzutragen und
auseinanderzusetzen sich bemühte.  Allein dieses war nach seiner
eigenen überzeugung nur das Geringste; er hatte bemerkt, was für
große Wirkungen von tätigen, geschickten, freisinnigen und kühnen
Menschen ausgehen.  Die einen hatten Abschied genommen, über das Meer
zu setzen, die andern, um auf dem festen Lande ihr Unterkommen zu
finden; nun ward er noch ein drittes heimliches Verhältnis gewahr,
wovon er alsobald Nutzen zu ziehen den Entschluß faßte.

Beim Abschied zeigte sich, was man hätte voraussagen und wissen
können, daß von den jungen, rüstigen Männern sich gar mancher mit den
hübschen Kindern des Dorfs und der Gegend mehr oder weniger
befreundet hatte.  Nur einige bewiesen Mut genug, als Odoardo mit den
Seinigen abging, sich als entschieden Bleibende zu erklären; von
Lenardos Auswanderern war keiner geblieben, aber von diesen letztem
beteuerten verschiedene, in kurzer Zeit zurückkehren und sich
ansiedeln zu wollen, wenn man ihnen einigermaßen ein hinreichendes
Auskommen und Sicherheit für die Zukunft gewähren könne.

Der Amtmann, welcher die sämtliche Persönlichkeit und die häuslichen
Umstände seiner ihm untergebenen kleinen Völkerschaft ganz genau
kannte, lachte heimlich als ein wahrer Egoist über das Ereignis, daß
man so große Anstalten und Aufwand mache, um über dem Meer und im
Mittellande sich frei und tätig zu erweisen, und doch dabei ihm, der
auf seiner Hufe ganz ruhig gesessen, gerade die größten Vorteile zu
Haus und Hof bringe und ihm Gelegenheit gebe, einige der
Vorzüglichsten zurückzuhalten und bei sich zu versammeln.  Seine
Gedanken, ausgeweitet durch die Gegenwart, fanden nichts natürlicher,
als daß Liberalität, wohl angewendet, gar löbliche, nützliche Folgen
habe.  Er faßte sogleich den Entschluß, in seinem kleinen Bezirk
etwas ähnliches zu unternehmen.  Glücklicherweise waren wohlhabende
Einwohner diesmal gleichsam genötigt, ihre Töchter den allzu frühen
Gatten gesetzmäßig zu überlassen.  Der Amtmann machte ihnen einen
solchen bürgerlichen Unfall als ein Glück begreiflich, und da es
wirklich ein Glück war, daß gerade die in diesem Sinne brauchbarsten
Handwerker das Los getroffen hatte, so hielt es nicht schwer, die
Einleitung zu einer Möbelfabrik zu machen, die ohne weitläufigen Raum
und ohne große Umstände nur Geschicklichkeit und hinreichendes
Material verlangt.  Das letzte versprach der Amtmann; Frauen, Raum und
Verlag gaben die Bewohner, und Geschicklichkeit brachten die
Einwandernden mit.

Das alles hatte der gewandte Geschäftsmann schon im stillen, bei
Anwesenheit und im Tumult der Menge, gar wohl überdacht und konnte
daher, sobald es um ihn ruhig ward, gleich zum Werke schreiten.

Ruhe, aber freilich eine Art Totenruhe, war nach Verlauf dieser Flut
über die Straßen des Orts, über den Hof des Schlosses gekommen, als
unsern rechnenden und berechnenden Geschäftsmann ein
hereinsprengender Reiter aufrief und aus seiner ruhigen Fassung
brachte.  Des Pferdes Huf klappte freilich nicht, es war nicht
beschlagen, aber der Reiter, der von der Decke herabsprang--er ritt
ohne Sattel und Steigbügel, auch bändigte er das Pferd nur durch eine
Trense--, er rief laut und ungeduldig nach den Bewohnern, nach den
Gästen und war leidenschaftlich verwundert, alles so still und tot zu
finden.

Der Amtsdiener wußte nicht, was er aus dem Ankömmling machen sollte;
auf einen entstandenen Wortwechsel kam der Amtmann selbst hervor und
wußte auch weiter nichts zu sagen, als daß alles weggezogen sei.
"Wohin?" war die rasche Frage des jungen, lebendigen Ankömmlings.
--Mit Gelassenheit bezeichnete der Amtmann den Weg Lenardos und
Odoards, auch eines dritten problematischen Mannes, den sie teils
Wilhelm, teils Meister genannt hätten.  Dieser habe sich auf dem
einige Meilen entfernten Flusse eingeschifft, er fahre hinab, erst
seinen Sohn zu besuchen und alsdann ein wichtiges Geschäft weiter zu
verfolgen.

Schon hatte der Jüngling sich wieder aufs Pferd geschwungen und
Kenntnis genommen von dem nächsten Wege zum Flusse hin, als er schon
wieder zum Tor hinausstürzte und so eilig davonflog, daß dem Amtmann,
der oben aus seinen Fenstern nachschaute, kaum ein verfliegender
Staub anzudeuten schien, daß der verwirrte Reiter den rechten Weg
genommen habe.

Nur eben war der letzte Staub in der Ferne verflogen, und unser
Amtmann wollte sich wieder zu seinem Geschäft niedersetzen, als zum
oberen Schloßtor ein Fußbote hereingesprungen kam und ebenfalls nach
der Gesellschaft fragte, der noch etwas Nachträgliches zu überbringen
er eilig abgesendet worden.  Er hatte für sie ein größeres Paket,
daneben aber auch einen einzelnen Brief, adressiert an Wilhelm genannt
Meister, der dem überbringer von einem jungen Frauenzimmer besonders
auf die Seele gebunden und dessen baldige Bestellung eifrigst
eingeschärft worden war.  Leider konnte auch diesem kein anderer
Bescheid werden, als daß er das Nest leer finde und daher seinen Weg
eiligst fortsetzen müsse, wo er sie entweder sämtlich anzutreffen
oder eine weitere Anweisung zu finden hoffen dürfte.

Den Brief aber selbst, den wir unter den vielen uns anvertrauten
Papieren gleichfalls vorgefunden, dürfen wir, als höchst bedeutend,
nicht zurückhalten.  Er war von Hersilien, einem so wunderbaren als
liebenswürdigen Frauenzimmer, welches in unsern Mitteilungen nur
selten erscheint, aber bei jedesmaligem Auftreten gewiß jeden
Geistreichen, Feinfühlenden unwiderstehlich angezogen hat.  Auch ist
das Schicksal, das sie betrifft, wohl das sonderbarste, das einem
zarten Gemüte widerfahren kann.



Siebzehntes Kapitel


Hersilie an Wilhelm

Ich saß denkend und wüßte nicht zu sagen, was ich dachte.  Ein
denkendes Nichtdenken wandelt mich aber manchmal an, es ist eine Art
von empfundener Gleichgültigkeit.  Ein Pferd sprengt in den Hof und
weckt mich aus meiner Ruhe, die Türe springt auf, und Felix tritt
herein im jugendlichsten Glanze wie ein kleiner Abgott.  Er eilt auf
mich zu, will mich umarmen, ich weise ihn zurück; er scheint
gleichgültig, bleibt in einiger Entfernung, und in ungetrübter
Heiterkeit preist er mir das Pferd an, das ihn hergetragen, erzählt
von seinen übungen, von seinen Freuden umständlich und vertraulich.
Die Erinnerung an ältere Geschichten bringt uns auf das
Prachtkästchen, er weiß, daß ich's habe, und verlangt es zu sehen;
ich gebe nach, es war unmöglich zu versagen.  Er betrachtet's,
erzählt umständlich, wie er es entdeckt, ich verwirre mich und verrate,
daß ich den Schlüssel besitze.  Nun steigt seine Neugier aufs
höchste, auch den will er sehen, nur von ferne.  Dringender und
liebenswürdiger bitten konnte man niemand sehen; er bittet wie betend,
knieet und bittet mit so feurigen, holden Augen, mit so süßen,
schmeichelnden Worten, und so war ich wieder verführt.  Ich zeigte
das Wundergeheimnis von weitem, aber schnell faßte er meine Hand und
entriß ihn und sprang mutwillig zur Seite um einen Tisch herum.

"Ich habe nichts vom Kästchen noch vom Schlüssel!" rief er aus;
"dein Herz wünscht' ich zu öffnen, daß es sich mir auftäte, mir
entgegenkäme, mich an sich drückte, mir vergönnte, es an meine Brust
zu drücken."  Er war unendlich schön und liebenswürdig, und wie ich
auf ihn zugehen wollte, schob er das Kästchen auf dem Tisch immer vor
sich hin; schon stak der Schlüssel drinnen; er drohte umzudrehen und
drehte wirklich.  Das Schlüsselchen war abgebrochen, die äußere
Hälfte fiel auf den Tisch.

Ich war verwirrter, als man sein kann und sein sollte.  Er benützt
meine Unaufmerksamkeit, läßt das Kästchen stehen, fährt auf mich los
und faßt mich in die Arme.  Ich rang vergebens, seine Augen näherten
sich den meinigen, und es ist was Schönes, sein eigenes Bild im
liebenden Auge zu erblicken.  Ich sah's zum erstenmal, als er seinen
Mund lebhaft auf den meinigen drückte.  Ich will's nur gestehen, ich
gab ihm seine Küsse zurück, es ist doch sehr schön, einen Glücklichen
zu machen.  Ich riß mich los, die Kluft, die uns trennt, erschien mir
nur zu deutlich; statt mich zu fassen, überschritt ich das Maß, ich
stieß ihn zürnend weg, meine Verwirrung gab mir Mut und Verstand; ich
bedrohte, ich schalt ihn, befahl ihm, nie wieder vor mir zu erscheinen;
er glaubte meinem wahrhaften Ausdruck.  "Gut!" sagte er, "so reit'
ich in die Welt, bis ich umkomme."  Er warf sich auf sein Pferd und
sprengte weg.  Noch halb träumend will ich das Kästchen verwahren, die
Hälfte des Schlüssels lag abgebrochen, ich befand mich in doppelter
und dreifacher Verlegenheit.  O Männer, o Menschen!  Werdet ihr denn
niemals die Vernunft fortpflanzen? war es nicht an dem Vater genug,
der so viel Unheil anrichtete, bedurft' es noch des Sohns, um uns
unauflöslich zu verwirren?



Diese Bekenntnisse lagen eine Zeitlang bei mir, nun tritt ein
sonderbarer Umstand ein, den ich melden muß, der obiges aufklärt und
verdüstert.

Ein alter, dem Oheim sehr werter Goldschmied und Juwelenhändler
trifft ein, zeigt seltsame antiquarische Schätze vor; ich werde
veranlaßt, das Kästchen zu bringen, er betrachtet den abgebrochenen
Schlüssel und zeigt, was man bisher übersehen hatte, daß der Bruch
nicht rauh, sondern glatt sei.  Durch Berührung fassen die beiden
Enden einander an, er zieht den Schlüssel ergänzt heraus, sie sind
magnetisch verbunden, halten einander fest, aber schließen nur dem
Eingeweihten.  Der Mann tritt in einige Entfernung, das Kästchen
springt auf, das er gleich wieder zudrückt: an solche Geheimnisse sei
nicht gut rühren, meinte er.



Meinen unerklärlichen Zustand vergegenwärtigen Sie sich, Gott sei
Dank, gewiß nicht; denn wie wollte man außerhalb der Verwirrung die
Verwirrung erkennen.  Das bedeutende Kästchen steht vor mir, den
Schlüssel, der nicht schließt, hab' ich in der Hand, jenes wollt' ich
gern uneröffnet lassen, wenn dieser mir nur die nächste Zukunft
aufschlösse.

Um mich bekümmern Sie sich eine Weile ja nicht, aber was ich
inständig bitte, flehe, dringend empfehle: forschen Sie nach Felix;
ich habe vergebens umhergesandt, um die Spuren seines Weges
aufzufinden.  Ich weiß nicht, ob ich den Tag segnen oder fürchten soll,
der uns wieder zusammenführt.



Endlich, endlich! verlangt der Bote seine Abfertigung; man hat ihn
lange genug hier aufgehalten, er soll die Wanderer mit wichtigen
Depeschen ereilen.  In dieser Gesellschaft wird er Sie ja auch wohl
finden, oder man wird ihn zurecht weisen.  Ich unterdes werde nicht
beruhigt sein.



Achtzehntes Kapitel

Nun gleitete der Kahn, beschienen von heißer Mittagssonne, den Fluß
hinab, gelinde Lüfte kühlten den erwärmten äther, sanfte Ufer zu
beiden Seiten gewährten einen zwar einfachen, doch behäglichen
Anblick.  Das Kornfeld näherte sich dem Strome, und ein guter Boden
trat so nah heran, daß ein rauschendes Wasser, auf irgendeine Stelle
sich hinwerfend, das lockere Erdreich gewaltig angegriffen,
fortgerissen und steile Abhänge von bedeutender Höhe sich gebildet
hatten.

Ganz oben auf dem schroffen Rande einer solchen Steile, wo sonst der
Leinpfad mochte hergegangen sein, sah der Freund einen jungen Mann
herantraben, gut gebaut, von kräftiger Gestalt.  Kaum aber wollte man
ihn schärfer ins Auge fassen, als der dort überhangende Rasen
losbricht und jener Unglückliche jählings, Pferd über, Mann unter,
ins Wasser stürzt.  Hier war nicht Zeit zu denken, wie und warum, die
Schiffer fuhren pfeilschnell dem Strudel zu und hatten im Augenblick
die schöne Beute gefaßt.  Entseelt scheinend lag der holde Jüngling
im Schiffe, und nach kurzer überlegung fuhren die gewandten Männer
einem Kiesweidicht zu, das sich mitten im Fluß gebildet hatte.
Landen, den Körper ans Ufer heben, ausziehen und abtrocknen war eins.
Noch aber kein Zeichen des Lebens zu bemerken, die holde Blume
hingesenkt in ihren Armen!

Wilhelm griff sogleich nach der Lanzette, die Ader des Arms zu
öffnen; das Blut sprang reichlich hervor, und mit der schlängelnd
anspielenden Welle vermischt, folgte es gekreiseltem Strome nach.
Das Leben kehrte wieder; kaum hatte der liebevolle Wundarzt nur Zeit,
die Binde zu befestigen, als der Jüngling sich schon mutvoll auf
seine Füße stellte, Wilhelmen scharf ansah und rief: "Wenn ich leben
soll, so sei es mit dir!"  Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden
und erkannten Rettet um den Hals und weinte bitterlich.  So standen
sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder, die sich auf dem
Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen.

Man bat ihn, sich zu beruhigen.  Die wackern Männer hatten schon ein
bequemes Lager, halb sonnig, halb schattig, unter leichten Büschen
und Zweigen bereitet; hier lag er nun auf den väterlichen Mantel
hingestreckt, der holdeste Jüngling; braune Locken, schnell
getrocknet, rollten sich schon wieder auf, er lächelte beruhigt und
schlief ein.  Mit Gefallen sah unser Freund auf ihn herab, indem er
ihn zudeckte.--"Wirst du doch immer aufs neue hervorgebracht,
herrlich Ebenbild Gottes!" rief er aus, "und wirst sogleich wieder
beschädigt, verletzt von innen oder von außen."--Der Mantel fiel über
ihn her, eine gemäßigte Sonnenglut durchwärmte die Glieder sanft und
innigst, seine Wangen röteten sich gesund, er schien schon völlig
wiederhergestellt.

Die tätigen Männer, einer guten geglückten Handlung und des zu
erwartenden reichlichen Lohns zum voraus sich erfreuend, hatten auf
dem heißen Kies die Kleider des Jünglings schon so gut als getrocknet,
um ihn beim Erwachen sogleich wieder in den gesellig anständigsten
Zustand zu versetzen.



Aus Makariens Archiv

Die Geheimnisse der Lebenspfade darf und kann man nicht offenbaren;
es gibt Steine des Anstoßes, über die ein jeder Wanderer stolpern muß.
Der Poet aber deutet auf die Stelle hin.



Es wäre nicht der Mühe wert, siebzig Jahre alt zu werden, wenn alle
Weisheit der Welt Torheit wäre vor Gott.



Das Wahre ist gottähnlich; es erscheint nicht unmittelbar, wir
müssen es aus seinen Manifestationen erraten.



Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln
und nähert sich dem Meister.



Aber die Menschen vermögen nicht leicht aus dem Bekannten das
Unbekannte zu entwickeln; denn sie wissen nicht, daß ihr Verstand
ebensolche Künste wie die Natur treibt.



Denn die Götter lehren uns ihr eigenstes Werk nachahmen; doch wissen
wir nur, was wir tun, erkennen aber nicht, was wir nachahmen.



Alles ist gleich, alles ungleich, alles nützlich und schädlich,
sprechend und stumm, vernünftig und unvernünftig.  Und was man von
einzelnen Dingen bekennt, widerspricht sich öfters.



Denn das Gesetz haben die Menschen sich selbst auferlegt, ohne zu
wissen, über was sie Gesetze gaben; aber die Natur haben alle Götter
geordnet.



Was nun die Menschen gesetzt haben, das will nicht passen, es mag
recht oder unrecht sein; was aber die Götter setzen, das ist immer am
Platz, recht oder unrecht.



Ich aber will zeigen, daß die bekannten Künste der Menschen
natürlichen Begebenheiten gleich sind, die offenbar oder geheim
vorgehen.



Von der Art ist die Weissagekunst.  Sie erkennet aus dem Offenbaren
das Verborgene, aus dem Gegenwärtigen das Zukünftige, aus dem Toten
das Lebendige, und den Sinn des Sinnlosen.



So erkennt der Unterrichtete immer recht die Natur des Menschen; und
der Ununterrichtete sieht sie bald so, bald so an, und jeder ahmt sie
nach seiner Weise nach.



Wenn ein Mann mit einem Weibe zusammentrifft und ein Knabe entsteht,
so wird aus etwas Bekanntem ein Unbekanntes.  Dagegen wenn der dunkle
Geist des Knaben die deutlichen Dinge in sich aufnimmt, so wird er
zum Mann und lernt aus dem Gegenwärtigen das Zukünftige erkennen.



Das Unsterbliche ist nicht dem sterblichen Lebenden zu vergleichen,
und doch ist auch das bloß Lebende verständig.  So weiß der Magen
recht gut, wenn er hungert und durstet.



So verhält sich die Wahrsagekunst zur menschlichen Natur.  Und beide
sind dem Einsichtsvollen immer recht; dem Beschränkten aber
erscheinen sie bald so, bald so.



In der Schmiede erweicht man das Eisen, indem man das Feuer anbläst
und dem Stabe seine überflüssige Nahrung nimmt; ist er aber rein
geworden, dann schlägt man ihn und zwingt ihn, und durch die Nahrung
eines fremden Wassers wird er wieder stark.  Das widerfährt auch dem
Menschen von seinem Lehrer.



Da wir überzeugt sind, daß derjenige, der die intellektuelle Weit
beschaut und des wahrhaften Intellekts Schönheit gewahr wird, auch
wohl ihren Vater, der über allen Sinn erhaben ist, bemerken könne, so
versuchen wir denn nach Kräften einzusehen und für uns selbst
auszudrücken--insofern sich dergleichen deutlich machen läßt--, auf
welche Weise wir die Schönheit des Geistes und der Welt anzuschauen
vermögen.



Nehmet an daher: zwei steinerne Massen seien nebeneinandergestellt,
deren eine roh und ohne künstliche Bearbeitung geblieben, die andere
aber durch die Kunst zur Statue, einer menschlichen oder göttlichen,
ausgebildet worden.  Wäre es eine göttliche, so möchte sie eine
Grazie oder Muse vorstellen, wäre es eine menschliche, so dürfte es
nicht ein besonderer Mensch sein, vielmehr irgendeiner, den die Kunst
aus allem Schönen versammelte.



Euch wird aber der Stein, der durch die Kunst zur schönen Gestalt
gebracht worden, alsobald schön erscheinen; doch nicht weil er Stein
ist, denn sonst würde die andere Masse gleichfalls für schön gelten,
sondern daher, daß er eine Gestalt hat, welche die Kunst ihm erteilte.



Die Materie aber hatte eine solche Gestalt nicht, sondern diese war
in dem Ersinnenden früher, als sie zum Stein gelangte.  Sie war
jedoch in dem Künstler nicht weil er Augen und Hände hatte, sondern
weil er mit der Kunst begabt war.



Also war in der Kunst noch eine weit größere Schönheit; denn nicht
die Gestalt, die in der Kunst ruhet, gelangt in den Stein, sondern
dorten bleibt sie und es gehet indessen eine andere, geringere hervor,
die nicht rein in sich selbst verharret, noch auch wie sie der
Künstler wünschte, sondern insofern der Stoff der Kunst gehorchte.



Wenn aber die Kunst dasjenige, was sie ist und besitzt, auch
hervorbringt und das Schöne nach der Vernunft hervorbringt, nach
welcher sie immer handelt, so ist sie fürwahr diejenige, die mehr und
wahrer eine größere und trefflichere Schönheit der Kunst besitzt,
vollkommener als alles, was nach außen hervortritt.



Denn indem die Form, in die Materie hervorschreitend, schon
ausgedehnt wird, so wird sie schwächer als jene, welche in Einem
verharret.  Denn was in sich eine Entfernung erduldet, tritt von sich
selbst weg: Stärke von Stärke, Wärme von Wärme, Kraft von Kraft; so
auch Schönheit von Schönheit.  Daher muß das Wirkende trefflicher sein
als das Gewirkte.  Denn nicht die Unmusik macht den Musiker, sondern
die Musik, und die übersinnliche Musik bringt die Musik in sinnlichem
Ton hervor.



Wollte aber jemand die Künste verachten, weil sie der Natur
nachahmen, so läßt sich darauf antworten, daß die Naturen auch
manches andere nachahmen; daß ferner die Künste nicht das geradezu
nachahmen, was man mit Augen siehet, sondern auf jenes Vernünftige
zurückgehen, aus welchem die Natur bestehet und wornach sie handelt.



Ferner bringen auch die Künste vieles aus sich selbst hervor und
fügen anderseits manches hinzu, was der Vollkommenheit abgehet, indem
sie die Schönheit in sich selbst haben.  So konnte Phidias den Gott
bilden, ob er gleich nichts sinnlich Erblickliches nachahmte, sondern
sich einen solchen in den Sinn faßte, wie Zeus selbst erscheinen
würde, wenn er unsern Augen begegnen möchte.



Man kann den Idealisten alter und neuer Zeit nicht verargen, wenn
sie so lebhaft auf Beherzigung des einen dringen, woher alles
entspringt und worauf alles wieder zurückzuführen wäre.  Denn
freilich ist das belebende und ordnende Prinzip in der Erscheinung
dergestalt bedrängt, daß es sich kaum zu retten weiß.  Allein wir
verkürzen uns an der andern Seite wieder, wenn wir das Formende und
die höhere Form selbst in eine vor unserm äußern und innern Sinn
verschwindende Einheit zurückdrängen.



Wir Menschen sind auf Ausdehnung und Bewegung angewiesen; diese
beiden allgemeinen Formen sind es, in welchen sich alle übrigen
Formen, besonders die sinnlichen, offenbaren.  Eine geistige Form
wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der Erscheinung hervortritt,
vorausgesetzt daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre
Fortpflanzung sei.  Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende,
ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte
vortrefflicher sein kann als das Zeugende.



Dieses weiter auszuführen und vollkommen anschaulich, ja, was mehr
ist, durchaus praktisch zu machen, würde von wichtigem Belang sein.
Eine umständliche folgerechte Ausführung aber möchte den Hörern
übergroße Aufmerksamkeit zumuten.



Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe.



Die neueste Philosophie unserer westlichen Nachbarn gibt ein Zeugnis,
daß der Mensch, er gebärde sich, wie er wolle, und so auch ganze
Nationen immer wieder zum Angebornen zurückkehren.  Und wie wollte
das anders sein, da ja dieses seine Natur und Lebensweise bestimmt.



Die Franzosen haben dem Materialismus entsagt und den Uranfängen
etwas mehr Geist und Leben zuerkannt; sie haben sich vom Sensualismus
losgemacht und den Tiefen der menschlichen Natur eine Entwickelung
aus sich selbst eingestanden, sie lassen in ihr eine produktive Kraft
gelten und suchen nicht alle Kunst aus Nachahmung eines
gewahrgewordenen äußern zu erklären.  In solchen Richtungen mögen sie
beharren.



Eine eklektische Philosophie kann es nicht geben, wohl aber
eklektische Philosophen.



Ein Eklektiker aber ist ein jeder, der aus dem, was ihn umgibt, aus
dem, was sich um ihn ereignet, sich dasjenige aneignet, was seiner
Natur gemäß ist; und in diesem Sinne gilt alles, was Bildung und
Fortschreitung heißt, theoretisch oder praktisch genommen.



Zwei eklektische Philosophen könnten demnach die größten Widersacher
werden, wenn sie, antagonistisch geboren, jeder von seiner Seite sich
aus allen überlieferten Philosophien dasjenige aneignete, was ihm
gemäß wäre.  Sehe man doch nur um sich her, so wird man immer finden,
daß jeder Mensch auf diese Weise verfährt und deshalb nicht begreift,
warum er andere nicht zu seiner Meinung bekehren kann.



Sogar ist es selten, daß jemand im höchsten Alter sich selbst
historisch wird und daß ihm die Mitlebenden historisch werden, so daß
er mit niemanden mehr kontrovertieren mag noch kann.



Besieht man es genauer, so findet sich, daß dem Geschichtschreiber
selbst die Geschichte nicht leicht historisch wird: denn der
jedesmalige Schreiber schreibt immer nur so, als wenn er damals
selbst dabei gewesen wäre; nicht aber was vormals und damals bewegte.
Der Chronikenschreiber selbst deutet nur mehr oder weniger auf die
Beschränktheit, auf die Eigenheiten seiner Stadt, seines Klosters wie
seines Zeitalters.



Verschiedene Sprüche der Alten, die man sich öfters zu wiederholen
pflegt, hatten eine ganz andere Bedeutung, als man ihnen in späteren
Zeiten geben möchte.



Das Wort: es solle kein mit der Geometrie Unbekannter, der Geometrie
Fremder in die Schule des Philosophen treten, heißt nicht etwa, man
solle ein Mathematiker sein, um ein Weltweiser zu werden.



Geometrie ist hier in ihren ersten Elementen gedacht, wie sie uns im
Euklid vorliegt und wie wir sie einen jeden Anfänger beginnen lassen.
Alsdann aber ist sie die vollkommenste Vorbereitung, ja Einleitung
in die Philosophie.



Wenn der Knabe zu begreifen anfängt, daß einem sichtbaren Punkte ein
unsichtbarer vorhergehen müsse, daß der nächste Weg zwischen zwei
Punkten schon als Linie gedacht werde, ehe sie mit dem Bleistift aufs
Papier gezogen wird, so fühlt er einen gewissen Stolz, ein Behagen.
Und nicht mit Unrecht; denn ihm ist die Quelle alles Denkens
aufgeschlossen, Idee und Verwirklichtes, potentia et actu, ist ihm
klar geworden; der Philosoph entdeckt ihm nichts Neues, dem Geometer
war von seiner Seite der Grund alles Denkens aufgegangen.



Nehmen wir sodann das bedeutende Wort vor: Erkenne dich selbst, so
müssen wir es nicht im aszetischen Sinne auslegen.  Es ist keineswegs
die Heautognosie unserer modernen Hypochondristen, Humoristen und
Heautontimorumenen damit gemeint; sondern es heißt ganz einfach: Gib
einigermaßen acht auf dich selbst, nimm Notiz von dir selbst, damit du
gewahr werdest, wie du zu deinesgleichen und der Welt zu stehen
kommst.  Hiezu bedarf es keiner psychologischen Quälereien; jeder
tüchtige Mensch weiß und erfährt, was es heißen soll; es ist ein
guter Rat, der einem jeden praktisch zum größten Vorteil gedeiht.



Man denke sich das Große der Alten, vorzüglich der sokratischen
Schule, daß sie Quelle und Richtschnur alles Lebens und Tuns vor
Augen stellt, nicht zu leerer Spekulation, sondern zu Leben und Tat
auffordert.



Wenn nun unser Schulunterricht immer auf das Altertum hinweist, das
Studium der griechischen und lateinischen Sprache fördert, so können
wir uns Glück wünschen, daß diese zu einer höheren Kultur so nötigen
Studien niemals rückgängig werden.



Wenn wir uns dem Altertum gegenüberstellen und es ernstlich in der
Absicht anschauen, uns daran zu bilden, so gewinnen wir die
Empfindung, als ob wir erst eigentlich zu Menschen würden.



Der Schulmann, indem er Lateinisch zu schreiben und zu sprechen
versucht, kommt sich höher und vornehmer vor, als er sich in seinem
Alltagsleben dünken darf.



Der für dichterische und bildnerische Schöpfungen empfängliche Geist
fühlt sich dem Altertum gegenüber in den anmutigst-ideellen
Naturzustand versetzt; und noch auf den heutigen Tag haben die
homerischen Gesänge die Kraft, uns wenigstens für Augenblicke von der
furchtbaren Last zu befreien, welche die überlieferung von mehrern
tausend Jahren auf uns gewälzt hat.



Wie Sokrates den sittlichen Menschen zu sich berief, damit dieser
ganz einfach einigermaßen über sich selbst aufgeklärt würde, so
traten Plato und Aristoteles gleichfalls als befugte Individuen vor
die Natur; der eine mit Geist und Gemüt, sich ihr anzueignen, der
andere mit Forscherblick und Methode, sie für sich zu gewinnen.  Und
so ist denn auch jede Annäherung, die sich uns im ganzen und
einzelnen an diese dreie möglich macht, das Ereignis, was wir am
freudigsten empfinden und was unsere Bildung zu befördern sich
jederzeit kräftig erweist.



Um sich aus der grenzenlosen Vielfachheit, Zerstückelung und
Verwickelung der modernen Naturlehre wieder ins Einfache zu retten,
muß man sich immer die Frage vorlegen: Wie würde sich Plato gegen die
Natur, wie sie uns jetzt in ihrer größeren Mannigfaltigkeit, bei
aller gründlichen Einheit, erscheinen mag, benommen haben?



Denn wir glauben überzeugt zu sein, daß wir auf demselben Wege bis
zu den letzten Verzweigungen der Erkenntnis organisch gelangen und
von diesem Grund aus die Gipfel eines jeden Wissens uns nach und nach
aufbauen und befestigen können.  Wie uns hiebei die Tätigkeit des
Zeitalters fördert und hindert, ist freilich eine Untersuchung, die
wir jeden Tag anstellen müssen, wenn wir nicht das Nützliche abweisen
und das Schädliche aufnehmen wollen.



Man rühmt das achtzehnte Jahrhundert, daß es sich hauptsächlich mit
Analyse abgegeben; dem neunzehnten bleibt nun die Aufgabe: die
falschen obwaltenden Synthesen zu entdecken und deren Inhalt aufs
neue zu analysieren.



Es gibt nur zwei wahre Religionen, die eine, die das Heilige, das in
und um uns wohnt, ganz formlos, die andere, die es in der schönsten
Form anerkennt und anbetet.  Alles, was dazwischen liegt, ist
Götzendienst.



Es ist nicht zu leugnen, daß der Geist sich durch die Reformation zu
befreien suchte; die Aufklärung über griechisches und römisches
Altertum brachte den Wunsch, die Sehnsucht nach einem freieren,
anständigeren und geschmackvolleren Leben hervor.



Sie wurde aber nicht wenig dadurch begünstigt, daß das Herz in einen
gewissen einfachen Naturstand zurückzukehren und die Einbildungskraft
sich zu konzentrieren trachtete.



Aus dem Himmel wurden auf einmal alle Heiligen vertrieben und von
einer göttlichen Mutter mit einem zarten Kinde Sinne, Gedanken, Gemüt
auf den Erwachsenen, sittlich Wirkenden, ungerecht Leidenden
gerichtet, welcher später als Halbgott verklärt, als wirklicher Gott
anerkannt und verehrt wurde.



Er stand vor einem Hintergrunde, wo der Schöpfer das Weltall
ausgebreitet hatte; von ihm ging eine geistige Wirkung aus, seine
Leiden eignete man sich als Beispiel zu, und seine Verklärung war das
Pfand für eine ewige Dauer.



So wie der Weihrauch einer Kohle Leben erfrischst, so erfrischst das
Gebet die Hoffnungen des Herzens.



Ich bin überzeugt, daß die Bibel immer schöner wird, je mehr man sie
versteht, d. h. je mehr man einsieht und anschaut, daß jedes Wort,
das wir allgemein auffassen und im besondern auf uns anwenden, nach
gewissen Umständen, nach Zeit--und Ortsverhältnissen einen eigenen,
besondern, unmittelbar individuellen Bezug gehabt hat.



Genau besehen haben wir uns noch alle Tage zu reformieren und gegen
andere zu protestieren, wenn auch nicht in religiösem Sinne.



Wir haben das unabweichliche, täglich zu erneuernde, grundernstliche
Bestreben: das Wort mit dem Empfundenen, Geschauten, Gedachten,
Erfahrenen, Imaginierten, Vernünftigen möglichst unmittelbar
zusammentreffend zu erfassen.



Jeder prüfe sich, und er wird finden, daß dies viel schwerer sei,
als man denken möchte; denn leider sind dem Menschen die Worte
gewöhnlich Surrogate; er denkt und weiß es meistenteils besser, als
er sich ausspricht.



Verharren wir aber in dem Bestreben: das Falsche, Ungehörige,
Unzulängliche, was sich in uns und andern entwickeln oder
einschleichen könnte, durch Klarheit und Redlichkeit auf das
möglichste zu beseitigen.



Mit den Jahren steigern sich die Prüfungen.



Wo ich aufhören muß, sittlich zu sein, habe ich keine Gewalt mehr.



Zensur und Preßfreiheit werden immerfort miteinander kämpfen.
Zensur fordert und übt der Mächtige, Preßfreiheit verlangt der
Mindere.  Jener will weder in seinen Planen noch seiner Tätigkeit
durch vorlautes widersprechendes Wesen gehindert, sondern gehorcht
sein; jene wollten ihre Gründe aussprechen, den Ungehorsam zu
legitimieren.  Dieses wird man überall geltend finden.



Doch muß man auch hier bemerken, daß der Schwächere der leidende
Teil, gleichfalls auf seine Weise die Preßfreiheit zu unterdrücken
sucht, und zwar in dem Falle, wenn er konspiriert und nicht verraten
sein will.



Man wird nie betrogen, man betriegt sich selbst.



Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das, wie Kindheit sich zu
Kind verhält, so das Verhältnis Volkheit zum Volke ausdrückt.  Der
Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind.  Der Gesetzgeber und
Regent die Volkheit, nicht das Volk.  Jene spricht immer dasselbe aus,
ist vernünftig, beständig, rein und wahr.  Dieses weiß niemals für
lauter Wollen, was es will.  Und in diesem Sinne soll und kann das
Gesetz der allgemein ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein
Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige
vernimmt und den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern
befriedigt.



Welches Recht wir zum Regiment haben, darnach fragen wir nicht--wir
regieren.  Ob das Volk ein Recht habe, uns abzusetzen, darum
bekümmern wir uns nicht--wir hüten uns nur, daß es nicht in
Versuchung komme, es zu tun.



Wenn man den Tod abschaffen könnte, dagegen hätten wir nichts; die
Todesstrafen abzuschaffen, wird schwerhalten.  Geschieht es, so rufen
wir sie gelegentlich wieder zurück.



Wenn sich die Sozietät des Rechtes begibt, die Todesstrafe zu
verfügen, so tritt die Selbsthülfe unmittelbar wieder hervor, die
Blutrache klopft an die Türe.



Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht.  Junge und Weiber
wollen die Ausnahme, Alte die Regel.



Der Verständige regiert nicht, aber der Verstand; nicht der
Vernünftige, sondern die Vernunft.



Wen jemand lobt, dem stellt er sich gleich.



Es ist nicht genug, zu wissen, man muß auch anwenden; es ist nicht
genug, zu wollen, man muß auch tun.



Es gibt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft.
Beide gehören, wie alles hohe Gute, der ganzen Welt an und können
nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden, in
steter Rücksicht auf das, was uns vom Vergangenen übrig und bekannt
ist, gefördert werden.



Wissenschaften entfernen sich im ganzen immer vom Leben und kehren
nur durch einen Umweg wieder dahin zurück.



Denn sie sind eigentlich Kompendien des Lebens; sie bringen die
äußern und innern Erfahrungen ins allgemeine, in einen Zusammenhang.



Das Interesse an ihnen wird im Grunde nur in einer besondern Welt,
in der wissenschaftlichen, erregt, denn daß man auch die übrige Welt
dazu beruft und ihr davon Notiz gibt, wie es in der neuern Zeit
geschieht, ist ein Mißbrauch und bringt mehr Schaden als Nutzen.



Nur durch eine erhöhte Praxis sollten die Wissenschaften auf die
äußere Welt wirken: denn eigentlich sind sie alle esoterisch und
können nur durch Verbessern irgendeines Tuns exoterisch werden.  Alle
übrige Teilnahme führt zu nichts.



Die Wissenschaften, auch in ihrem innern Kreise betrachtet, werden
mit augenblicklichem, jedesmaligem Interesse behandelt.  Ein starker
Anstoß, besonders von etwas Neuem und Unerhörtem oder wenigstens
mächtig Gefördertem, erregt eine allgemeine Teilnahme, die jahrelang
dauern kann und die besonders in den letzten Zeiten sehr fruchtbar
geworden ist.



Ein bedeutendes Faktum, ein geniales Apercu beschäftigt eine sehr
große Anzahl Menschen, erst nur um es zu kennen, dann um es zu
erkennen, dann es zu bearbeiten und weiterzuführen.



Die Menge fragt bei einer jeden neuen bedeutenden Erscheinung, was
sie nutze, und sie hat nicht unrecht; denn sie kann bloß durch den
Nutzen den Wert einer Sache gewahr werden.



Die wahren Weisen fragen, wie sich die Sache verhalte in sich selbst
und zu andern Dingen, unbekümmert um den Nutzen, d. h. um die
Anwendung auf das Bekannte und zum Leben Notwendige, welche ganz
andere Geister, scharfsinnige, lebenslustige, technisch geübte und
gewandte, schon finden werden.



Die Afterweisen suchen von jeder neuen Entdeckung nur so geschwind
als möglich für sich einigen Vorteil zu ziehen, indem sie einen
eitlen Ruhm, bald in Fortpflanzung, bald in Vermehrung, bald in
Verbesserung, geschwinder Besitznahme, vielleicht gar durch
Präokkupation, zu erwerben suchen und durch solche Unreifheiten die
wahre Wissenschaft unsicher machen und verwirren, ja ihre schönste
Folge, die praktische Blüte derselben, offenbar verkümmern.



Das schädlichste Vorurteil ist, daß irgendeine Art Naturuntersuchung
mit dem Bann belegt werden könne.



Jeder Forscher muß sich durchaus ansehen als einer, der zu einer
Jury berufen ist.  Er hat nur darauf zu achten, inwiefern der Vortrag
vollständig sei und durch klare Belege auseinandergesetzt.  Er faßt
hiernach seine überzeugung zusammen und gibt seine Stimme, es sei nun,
daß seine Meinung mit der des Referenten übereintreffe oder nicht.



Dabei bleibt er ebenso beruhigt, wenn ihm die Majorität beistimmt,
als wenn er sich in der Minorität befindet; denn er hat das Seinige
getan, er hat seine überzeugung ausgesprochen, er ist nicht Herr über
die Geister noch über die Gemüter.



In der wissenschaftlichen Welt haben aber diese Gesinnungen niemals
gelten wollen; durchaus ist es auf Herrschen und Beherrschen
angesehen; und weil sehr wenige Menschen eigentlich selbstständig
sind, so zieht die Menge den Einzelnen nach sich.



Die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften, der Religion,
alles zeigt, daß die Meinungen massenweis sich verbreiten, immer aber
diejenige den Vorrang gewinnt, welche faßlicher, d. h. dem
menschlichen Geiste in seinem gemeinen Zustande gemäß und bequem ist.
Ja derjenige, der sich in höherem Sinne ausgebildet, kann immer
voraussetzen, daß er die Majorität gegen sich habe.



Wäre die Natur in ihren leblosen Anfängen nicht so gründlich
stereometrisch, wie wollte sie zuletzt zum unberechenbaren und
unermeßlichen Leben gelangen?



Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne
bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es
geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß
man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß
in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja,
was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.



Ebenso ist es mit dem Berechnen.--Es ist vieles wahr, was sich nicht
berechnen läßt, sowie sehr vieles, was sich nicht bis zum
entschiedenen Experiment bringen läßt.



Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst
Undarstellbare in ihm darstellt.  Was ist denn eine Saite und alle
mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers?  Ja man
kann sagen: was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst
gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß,
um sie sich einigermaßen assimilieren zu können.



Es ist von einem Experiment zu viel gefordert, wenn es alles leisten
soll.  Konnte man doch die Elektrizität erst nur durch Reiben
darstellen, deren höchste Erscheinung jetzt durch bloße Berührung
hervorgebracht wird.



Wie man der französischen Sprache niemals den Vorzug streitig machen
wird, als ausgebildete Hof--und Weltsprache sich immer mehr aus--und
fortbildend zu wirken, so wird es niemand einfallen, das Verdienst
der Mathematiker gering zu schätzen, welches sie, in ihrer Sprache,
die wichtigsten Angelegenheiten verhandelnd, sich um die Welt
erwerben, indem sie alles, was der Zahl und dem Maß im höchsten Sinne
unterworfen ist, zu regeln, zu bestimmen und zu entscheiden wissen.



Jeder Denkende, der seinen Kalender ansieht, nach seiner Uhr blickt,
wird sich erinnern, wem er diese Wohltaten schuldig ist.  Wenn man
sie aber auch auf ehrfurchtsvolle Weise in Zeit und Raum gewähren
läßt, so werden sie erkennen, daß wir etwas gewahr werden, was weit
darüber hinausgeht, welches allen angehört und ohne welches sie selbst
weder tun noch wirken könnten: Idee und Liebe.



Wer weiß etwas von Elektrizität, sagte ein heiterer Naturforscher,
als wenn er im Finstern eine Katze streichelt oder Blitz und Donner
neben ihm niederleuchten und rasseln?  Wie viel und wie wenig weiß er
alsdann davon?



Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten
Wünschelrute bedienen; wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem
verborgen.



In den großen leeren Weltraum zwischen Mars und Jupiter legte er
auch einen heitern Einfall.  Als Kant sorgfältig bewiesen hatte, daß
die beiden genannten Planeten alles aufgezehrt und sich zugeeignet
hätten, was nur in diesen Räumen zu finden gewesen von Materie, sagte
jener scherzhaft, nach seiner Art: Warum sollte es nicht auch
unsichtbare Welten geben?  Und hat er nicht vollkommen wahr
gesprochen?  Sind die neu entdeckten Planeten nicht der ganzen Welt
unsichtbar, außer den wenigen Astronomen, denen wir auf Wort und
Rechnung glauben müssen?



Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum.



Die Menschen sind durch die unendlichen Bedingungen des Erscheinens
dergestalt obruiert, daß sie das Eine Urbedingende nicht gewahren
können.



"Wenn Reisende ein sehr großes Ergetzen auf ihren Bergklettereien
empfinden, so ist für mich etwas Barbarisches, ja Gottloses in dieser
Leidenschaft; Berge geben uns wohl den Begriff von Naturgewalt, nicht
aber von Wohltätigkeit der Vorsehung.  Zu welchem Gebrauch sind sie
wohl dem Menschen?  Unternimmt er, dort zu wohnen, so wird im Winter
eine Schneelawine, im Sommer ein Bergrutsch sein Haus begraben oder
fortschieben; seine Herden schwemmt der Gießbach weg, seine
Kornscheuern die Windstürme.  Macht er sich auf den Weg, so ist jeder
Aufstieg die Qual des Sisyphus, jeder Niederstieg der Sturz Vulkans;
sein Pfad ist täglich von Steinen verschüttet, der Gießbach unwegsam
für Schiffahrt; finden auch seine Zwergherden notdürftige Nahrung
oder sammelt er sie ihnen kärglich, entweder die Elemente entreißen
sie ihm oder wilde Bestien.  Er führt ein einsam kümmerlich
Pflanzenleben, wie das Moos auf einem Grabstein, ohne Bequemlichkeit
und ohne Gesellschaft.  Und diese Zickzackkämme, diese widerwärtigen
Felsenwände, diese ungestalteten Granitpyramiden, welche die
schönsten Weltbreiten mit den Schrecknissen des Nordpols bedecken, wie
sollte sich ein wohlwollender Mann daran gefallen und ein
Menschenfreund sie preisen!"



Auf diese heitere Paradoxie eines würdigen Mannes wäre zu sagen, daß,
wenn es Gott und der Natur gefallen hätte, den Urgebirgsknoten von
Nubien durchaus nach Westen bis an das große Meer zu entwickeln und
fortzusetzen, ferner die Gebirgsreihe einigemal von Norden nach Süden
zu durchschneiden, sodann Täler entstanden sein würden, worin gar
mancher Urvater Abraham ein Kanaan, mancher Albert Julius eine
Felsenburg würde gefunden haben, wo denn seine Nachkommen leicht mit
den Sternen rivalisierend sich hätten vermehren können.



Steine sind stumme Lehrer, sie machen den Beobachter stumm, und das
Beste, was man von ihnen lernt, ist, nicht mitzuteilen.



Was ich recht weiß, weiß ich nur mir selbst; ein ausgesprochenes
Wort fördert selten, es erregt meistens Widerspruch, Stocken und
Stillstehen.



Die Kristallographie als Wissenschaft betrachtet gibt zu ganz
eigenen Ansichten Anlaß.  Sie ist nicht produktiv, sie ist nur sie
selbst und hat keine Folgen, besonders nunmehr, da man so manche
isomorphische Körper angetroffen hat, die sich ihrem Gehalte nach ganz
verschieden erweisen.  Da sie eigentlich nirgends anwendbar ist, so
hat sie sich in dem hohen Grade in sich selbst ausgebildet.  Sie gibt
dem Geist eine gewisse beschränkte Befriedigung und ist in ihren
Einzelheiten so mannigfaltig, daß man sie unerschöpflich nennen kann,
deswegen sie auch vorzügliche Menschen so entschieden und lange an
sich festhält.



Etwas Mönchisch-Hagestolzenartiges hat die Kristallographie und ist
daher sich selbst genug.  Von praktischer Lebenseinwirkung ist sie
nicht; denn die köstlichsten Erzeugnisse ihres Gebiets, die
kristallinischen Edelsteine, müssen erst zugeschliffen werden, ehe wir
unsere Frauen damit schmücken können.



Ganz das Entgegengesetzte ist von der Chemie zu sagen, welche von
der ausgebreitetsten Anwendung und von dem grenzenlosesten Einfluß
aufs Leben sich erweist.



Der Begriff vom Entstehen ist uns ganz und gar versagt; daher wir,
wenn wir etwas werden sehen, denken, daß es schon dagewesen sei.
Deshalb das System der Einschachtelung kommt uns begreiflich vor.



Wie manches Bedeutende sieht man aus Teilen zusammensetzen; man
betrachte die Werke der Baukunst, man sieht manches sich regel--und
unregelmäßig anhäufen; daher ist uns der atomistische Begriff nah und
bequem zur Hand, deshalb wir uns nicht scheuen, ihn auch in
organischen Fällen anzuwenden.



Wer den Unterschied des Phantastischen und Ideellen, des
Gesetzlichen und Hypothetischen nicht zu fassen weiß, der ist als
Naturforscher in einer üblen Lage.



Es gibt Hypothesen, wo Verstand und Einbildungskraft sich an die
Stelle der Idee setzen.



Man tut nicht wohl, sich allzulange im Abstrakten aufzuhalten.  Das
Esoterische schadet nur, indem es exoterisch zu werden trachtet.
Leben wird am besten durchs Lebendige belehrt.



Für die vorzüglichste Frau wird diejenige gehalten, welche ihren
Kindern den Vater, wenn er abgeht, zu ersetzen imstande wäre.



Der unschätzbare Vorteil, welchen die Ausländer gewinnen, indem sie
unsere Literatur erst jetzt gründlich studieren, ist der, daß sie
über die Entwickelungskrankheiten, durch die wir nun schon beinahe
während dem Laufe des Jahrhunderts durchgehen mußten, auf einmal
weggehoben werden und, wenn das Glück gut ist, ganz eigentlich daran
sich auf das wünschenswerteste ausbilden.



Wo die Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts zerstörend sind, ist
Wieland neckend.



Das poetische Talent ist dem Bauer so gut gegeben wie dem Ritter, es
kommt nur darauf an, daß jeder seinen Zustand ergreife und ihn nach
Würden behandle.



"Was sind Tragödien anders als versifizierte Passionen solcher Leute,
die sich aus den äußern Dingen ich weiß nicht was machen."



Das Wort Schule, wie man es in der Geschichte der bildenden Kunst
nimmt, wo man von einer florentinischen, römischen und venezianischen
Schule spricht, wird sich künftighin nicht mehr auf das deutsche
Theater anwenden lassen.  Es ist ein Ausdruck, dessen man sich vor
dreißig, vierzig Jahren vielleicht noch bedienen konnte, wo unter
beschränkteren Umständen sich eine natur--und kunstgemäße Ausbildung
noch denken ließ; denn genau gesehen gilt auch in der bildenden Kunst
das Wort Schule nur von den Anfängen; denn sobald sie treffliche
Männer hervorgebracht hat, wirkt sie alsobald in die Weite.  Florenz
beweist seinen Einfluß über Frankreich und Spanien; Niederländer und
Deutsche lernen von den Italienern und erwerben sich mehr Freiheit in
Geist und Sinn, anstatt daß die Südländer von ihnen eine glücklichere
Technik und die genaueste Ausführung von Norden her gewinnen.



Das deutsche Theater befindet sich in der Schlußepoche, wo eine
allgemeine Bildung dergestalt verbreitet ist, daß sie keinem
einzelnen Orte mehr angehören, von keinem besondern Punkte mehr
ausgehen kann.



Der Grund aller theatralischen Kunst, wie einer jeder andern, ist
das Wahre, das Naturgemäße.  Je bedeutender dieses ist, auf je
höherem Punkte Dichter und Schauspieler es zu fassen verstehen, eines
desto höhern Ranges wird sich die Bühne zu rühmen haben.  Hiebei
gereicht es Deutschland zu einem großen Gewinn, daß der Vortrag
trefflicher Dichtung allgemeiner geworden ist und auch außerhalb des
Theaters sich verbreitet hat.



Auf der Rezitation ruht alle Deklamation und Mimik.  Da nun beim
Vorlesen jene ganz allein zu beachten und zu üben ist, so bleibt
offenbar, daß Vorlesungen die Schule des Wahren und Natürlichen
bleiben müssen, wenn Männer, die ein solches Geschäft übernehmen, von
dem Wert, von der Würde ihres Berufs durchdrungen sind.



Shakespeare und Calderon haben solchen Vorlesungen einen glänzenden
Eingang gewährt; jedoch bedenke man immer dabei, ob nicht hier gerade
das imposante Fremde, das bis zum Unwahren gesteigerte Talent der
deutschen Ausbildung schädlich werden müsse!



Eigentümlichkeit des Ausdruckes ist Anfang und Ende aller Kunst.
Nun hat aber eine jede Nation eine von dem allgemeinen Eigentümlichen
der Menschheit abweichende besondere Eigenheit, die uns zwar
anfänglich widerstreben mag, aber zuletzt, wenn wir's uns gefallen
ließen, wenn wir uns derselben hingäben, unsere eigene
charakteristische Natur zu überwältigen und zu erdrücken vermochte.



Wieviel Falsches Shakespeare und besonders Calderon über uns
gebracht, wie diese zwei großen Lichter des poetischen Himmels für
uns zu Irrlichtern geworden, mögen die Literatoren der Folgezeit
historisch bemerken.



Eine völlige Gleichstellung mit dem spanischen Theater kann ich
nirgends billigen.  Der herrliche Calderon hat so viel
Konventionelles, daß einem redlichen Beobachter schwer wird, das
große Talent des Dichters durch die Theateretikette durchzuerkennen.
Und bringt man so etwas irgendeinem Publikum, so setzt man bei
demselben immer guten Willen voraus, daß es geneigt sei, auch das
Weltfremde zuzugeben, sich an ausländischem Sinn, Ton und Rhythmus zu
ergetzen und aus dem, was ihm eigentlich gemäß ist, eine Zeitlang
herauszugeben.



Yorik-Sterne war der schönste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn
liest, fühlt sich sogleich frei und schön; sein Humor ist
unnachahmlich, und nicht jeder Humor befreit die Seele.



"Mäßigkeit und klarer Himmel sind Apollo und die Musen."



Das Gesicht ist der edelste Sinn, die andern vier belehren uns nur
durch die Organe des Takts, wir hören, wir fühlen, riechen und
betasten alles durch Berührung; das Gesicht aber steht unendlich
höher, verfeint sich über die Materie und nähert sich den Fähigkeiten
des Geistes.



Setzten wir uns an die Stelle anderer Personen, so würden Eifersucht
und Haß wegfallen, die wir so oft gegen sie empfinden; und setzten
wir andere an unsere Stelle, so würde Stolz und Einbildung gar sehr
abnehmen.



Nachdenken und Handeln verglich einer mit Rahel und Lea; die eine
war anmutiger, die andere fruchtbarer.



Nichts im Leben außer Gesundheit und Tugend ist schätzenswerter als
Kenntnis und Wissen; auch ist nichts so leicht zu erreichen und so
wohlfeil zu erhandeln; die ganze Arbeit ist Ruhigsein und die Ausgabe
Zeit, die wir nicht retten, ohne sie auszugeben.



Könnte man Zeit wie bares Geld beiseitelegen, ohne sie zu benutzen,
so wäre dies eine Art von Entschuldigung für den Müßiggang der halben
Welt; aber keine völlige, denn es wäre ein Haushalt, wo man von dem
Hauptstamm lebte, ohne sich um die Interessen zu bemühen.



Neuere Poeten tun viel Wasser in die Tinte.



Unter mancherlei wunderlichen Albernheiten der Schule kommt mir
keine so vollkommen lächerlich vor als der Streit über die Echtheit
alter Schriften, alter Werke.  Ist es denn der Autor oder die Schrift,
die wir bewundern oder tadeln? es ist immer nur der Autor, den wir
vor uns haben; was kümmern uns die Namen, wenn wir ein Geisteswerk
auslegen?



Wer will behaupten, daß wir Virgil oder Homer vor uns haben, indem
wir die Worte lesen, die ihm zugeschrieben werden?  Aber die
Schreiber haben wir vor uns, und was haben wir weiter nötig?  Und ich
denke fürwahr, die Gelehrten, die in dieser unwesentlichen Sache so
genau zu Werke gehen, scheinen mir nicht weiser als ein sehr schönes
Frauenzimmer, das mich einmal mit möglichst süßem Lächeln befragte:
wer denn der Autor von Shakespeares Schauspielen gewesen sei?



Es ist besser, das geringste Ding von der Welt zu tun, als eine
halbe Stunde für gering halten.



Mut und Bescheidenheit sind die unzweideutigsten Tugenden; denn sie
sind von der Art, daß Heuchelei sie nicht nachahmen kann; auch haben
sie die Eigenschaft gemein, sich beide durch dieselbe Farbe
auszudrücken.



Unter allem Diebsgesindel sind die Narren die Schlimmsten: sie
rauben euch beides, Zeit und Stimmung.



Uns selbst zu achten, leitet unsre Sittlichkeit; andere zu schätzen,
regiert unser Betragen.



Kunst und Wissenschaft sind Worte, die man so oft braucht und deren
genauer Unterschied selten verstanden wird; man gebraucht oft eins
für das andere.



Auch gefallen mir die Definitionen nicht, die man davon gibt.
Verglichen fand ich irgendwo Wissenschaft mit Witz, Kunst mit Humor.
Hierin find' ich mehr Einbildungskraft als Philosophie: es gibt uns
wohl einen Begriff von dem Unterschied beider, aber keinen von dem
Eigentümlichen einer jeden.



Ich denke, Wissenschaft könnte man die Kenntnis des Allgemeinen
nennen, das abgezogene Wissen; Kunst dagegen wäre Wissenschaft zur
Tat verwendet; Wissenschaft wäre Vernunft, und Kunst ihr Mechanismus,
deshalb man sie auch praktische Wissenschaft nennen könnte.  Und so
wäre denn endlich Wissenschaft das Theorem, Kunst das Problem.



Vielleicht wird man mir einwenden: Man hält die Poesie für Kunst,
und doch ist sie nicht mechanisch; aber ich leugne, daß sie eine
Kunst sei; auch ist sie keine Wissenschaft.  Künste und Wissenschaften
erreicht man durch Denken, Poesie nicht, denn diese ist Eingebung;
sie war in der Seele empfangen, als sie sich zuerst regte.  Man sollte
sie weder Kunst noch Wissenschaft nennen, sondern Genius.



Auch jetzt im Augenblick sollte jeder Gebildete Sternes Werke wieder
zur Hand nehmen, damit auch das neunzehnte Jahrhundert erführe, was
wir ihm schuldig sind, und einsähe, was wir ihm schuldig werden
können.



In dem Erfolg der Literaturen wird das frühere Wirksame verdunkelt
und das daraus entsprungene Gewirkte nimmt überhand, deswegen man
wohltut, von Zeit zu Zeit wieder zurückzublicken.  Was an uns Original
ist, wird am besten erhalten und belobt, wenn wir unsre Altvordern
nicht aus den Augen verlieren.



Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort
die Basis der höhern Bildung bleiben.



Chinesische, indische, ägyptische Altertümer sind immer nur
Kuriositäten; es ist sehr wohlgetan, sich und die Welt damit bekannt
zu machen; zu sittlicher und ästhetischer Bildung aber werden sie uns
wenig fruchten.



Der Deutsche läuft keine größere Gefahr, als sich mit und an seinen
Nachbarn zu steigern; es ist vielleicht keine Nation geeigneter, sich
aus sich selbst zu entwickeln, deswegen es ihr zum größten Vorteil
gereichte, daß die Außenwelt von ihr so spät Notiz nahm.



Sehen wir unsre Literatur über ein halbes Jahrhundert zurück, so
finden wir, daß nichts um der Fremden willen geschehen ist.



Daß Friedrich der Große aber gar nichts von ihnen wissen wollte, das
verdroß die Deutschen doch, und sie taten das möglichste, als Etwas
vor ihm zu erscheinen.



Jetzt, da sich eine Weltliteratur einleitet, hat, genau besehen, der
Deutsche am meisten zu verlieren; er wird wohl tun, dieser Warnung
nachzudenken.



Auch einsichtige Menschen bemerken nicht, daß sie dasjenige erklären
wollen, was Grunderfahrungen sind, bei denen man sich beruhigen müßte.



Doch mag dies auch vorteilhaft sein, sonst unterließe man das
Forschen allzu früh.



Wer sich von nun an nicht auf eine Kunst oder Handwerk legt, der
wird übel dran sein.  Das Wissen fördert nicht mehr bei dem schnellen
Umtriebe der Welt; bis man von allem Notiz genommen hat, verliert man
sich selbst.



Eine allgemeine Ausbildung dringt uns jetzt die Welt ohnehin auf;
wir brauchen uns deshalb darum nicht weiter zu bemühen, das Besondere
müssen wir uns zueignen.



Die größten Schwierigkeiten liegen da, wo wir sie nicht suchen.



Lorenz Sterne war geboren 1713, starb 1768.  Um ihn zu begreifen,
darf man die sittliche und kirchliche Bildung seiner Zeit nicht
unbeachtet lassen; dabei hat man wohl zu bedenken, daß er
Lebensgenosse Warburtons gewesen.



Eine freie Seele wie die seine kommt in Gefahr, frech zu werden,
wenn nicht ein edles Wohlwollen das sittliche Gleichgewicht herstellt.



Bei leichter Berührbarkeit entwickelte sich alles von innen bei ihm
heraus; durch beständigen Konflikt unterschied er das Wahre vom
Falschen, hielt am ersten fest und verhielt sich gegen das andere
rücksichtslos.



Er fühlte einen entschiedenen Haß gegen Ernst, weil er didaktisch
und dogmatisch ist und gar leicht pedantisch wird, wogegen er den
entschiedensten Abscheu hegte.  Daher seine Abneigung gegen
Terminologie.



Bei den vielfachsten Studien und Lektüre entdeckte er überall das
Unzulängliche und Lächerliche.



Shandeism nennt er die Unmöglichkeit über einen ernsten Gegenstand
zwei Minuten zu denken.



Dieser schnelle Wechsel von Ernst und Scherz, von Anteil und
Gleichgültigkeit, von Leid und Freude soll in dem irländischen
Charakter liegen.



Sagazität und Penetration sind bei ihm grenzenlos.



Seine Heiterkeit, Genügsamkeit, Duldsamkeit auf der Reise, wo diese
Eigenschaften am meisten geprüft werden, finden nicht leicht
ihresgleichen.



So sehr uns der Anblick einer freien Seele dieser Art ergetzt,
ebensosehr werden wir gerade in diesem Fall erinnert, daß wir von
allem dem, wenigstens von dem meisten, was uns entzückt, nichts in
uns aufnehmen dürfen.



Das Element der Lüsternheit, in dem er sich so zierlich und sinnig
benimmt, würde vielen andern zum Verderben gereichen.



Das Verhältnis zu seiner Frau wie zur Welt ist betrachtenswert.
"Ich habe mein Elend nicht wie ein weiser Mann benutzt", sagt er
irgendwo.



Er scherzt gar anmutig über die Widersprüche, die seinen Zustand
zweideutig machen.



"Ich kann das Predigen nicht vertragen, ich glaube, ich habe in
meiner Jugend mich daran übergessen."



Er ist in nichts ein Muster und in allem ein Andeuter und Erwecker.



"Unser Anteil an öffentlichen Angelegenheiten ist meist nur
Philisterei."



"Nichts ist höher zu schätzen als der Wert des Tages."



"Pereant, qui, ante nos, nostra dixerunt!"  So wunderlich könnte nur
derjenige sprechen, der sich einbildete, ein Autochthon zu sein.  Wer
sich's zur Ehre hält, von vernünftigen Vorfahren abzustammen, wird
ihnen doch wenigstens ebensoviel Menschensinn zugestehn als sich
selbst.



Die originalsten Autoren der neusten Zeit sind es nicht deswegen,
weil sie etwas Neues hervorbringen, sondern allein weil sie fähig
sind, dergleichen Dinge zu sagen, als wenn sie vorher niemals wären
gesagt gewesen.



Daher ist das schönste Zeichen der Originalität, wenn man einen
empfangenen Gedanken dergestalt fruchtbar zu entwickeln weiß, daß
niemand leicht, wie viel in ihm verborgen liege, gefunden hätte.



Viele Gedanken heben sich erst aus der allgemeinen Kultur hervor wie
die Blüten aus den grünen Zweigen.  Zur Rosenzeit sieht man Rosen
überall blühen.



Eigentlich kommt alles auf die Gesinnungen an; wo diese sind, treten
auch die Gedanken hervor, und nachdem sie sind, sind auch die
Gedanken.



"Nichts wird leicht ganz unparteiisch wieder dargestellt.  Man
könnte sagen: hievon mache der Spiegel eine Ausnahme, und doch sehen
wir unser Angesicht niemals ganz richtig darin; ja der Spiegel kehrt
unsre Gestalt um und macht unsre linke Hand zur rechten.  Dies mag ein
Bild sein für alle Betrachtungen über uns selbst."



Im Frühling und Herbst denkt man nicht leicht ans Kaminfeuer, und
doch geschieht es, daß, wenn wir zufällig an einem vorbeigehen, wir
das Gefühl, das es mitteilt, so angenehm finden, daß wir ihm wohl
nachhängen mögen.  Dies möchte mit jeder Versuchung analog sein.



"Sei nicht ungeduldig, wenn man deine Argumente nicht gelten läßt."



Wer lange in bedeutenden Verhältnissen lebt, dem begegnet freilich
nicht alles, was dem Menschen begegnen kann; aber doch das Analoge
und vielleicht einiges, was ohne Beispiel war.



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von Johann Wolfgang von Goethe



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