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Title: Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 8
Author: Goethe, Johann Wolfgang von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Wilhelm Meisters Lehrjahre — Band 8" ***


globaltraveler5565@yahoo.com.



Wilhelm Meisters Lehrjahre--Buch 8

Johann Wolfgang von Goethe



Achtes Buch

Erstes Kapitel

Felix war in den Garten gesprungen, Wilhelm folgte ihm mit Entzücken,
der schönste Morgen zeigte jeden Gegenstand mit neuen Reizen, und
Wilhelm genoß den heitersten Augenblick.  Felix war neu in der freien
und herrlichen Welt, und sein Vater nicht viel bekannter mit den
Gegenständen, nach denen der Kleine wiederholt und unermüdet fragte.
Sie gesellten sich endlich zum Gärtner, der die Namen und den Gebrauch
mancher Pflanzen hererzählen mußte; Wilhelm sah die Natur durch ein
neues Organ, und die Neugierde, die Wißbegierde des Kindes ließen ihn
erst fühlen, welch ein schwaches Interesse er an den Dingen außer sich
genommen hatte, wie wenig er kannte und wußte.  An diesem Tage, dem
vergnügtesten seines Lebens, schien auch seine eigne Bildung erst
anzufangen; er fühlte die Notwendigkeit, sich zu belehren, indem er zu
lehren aufgefordert ward.

Jarno und der Abbe hatten sich nicht wieder sehen lassen; abends kamen
sie und brachten einen Fremden mit.  Wilhelm ging ihm mit Erstaunen
entgegen, er traute seinen Augen nicht: es war Werner, der gleichfalls
einen Augenblick anstand, ihn anzuerkennen.  Beide umarmten sich aufs
zärtlichste, und beide konnten nicht verbergen, daß sie sich
wechselsweise verändert fanden.  Werner behauptete, sein Freund sei
größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter und in seinem
Betragen angenehmer geworden.  "Etwas von seiner alten Treuherzigkeit
vermiß ich", setzte er hinzu.  "Sie wird sich auch schon wieder zeigen,
wenn wir uns nur von der ersten Verwunderung erholt haben", sagte
Wilhelm.

Es fehlte viel, daß Werner einen gleich vorteilhaften Eindruck auf
Wilhelmen gemacht hätte.  Der gute Mann schien eher zurück- als
vorwärtsgegangen zu sein.  Er war viel magerer als ehemals, sein
spitzes Gesicht schien feiner, seine Nase länger zu sein, seine Stirn
und sein Scheitel waren von Haaren entblößt, seine Stimme hell, heftig
und schreiend, und seine eingedrückte Brust, seine verfallenden
Schultern, seine farblosen Wangen ließen keinen Zweifel übrig, daß ein
arbeitsamer Hypochondrist gegenwärtig sei.

Wilhelm war bescheiden genug, um sich über diese große Veränderung
sehr mäßig zu erklären, da der andere hingegen seiner
freundschaftlichen Freude völligen Lauf ließ.  "Wahrhaftig!" rief er
aus, "wenn du deine Zeit schlecht angewendet und, wie ich vermute,
nichts gewonnen hast, so bist du doch indessen ein Persönchen geworden,
das sein Glück machen kann und muß; verschlendere und verschleudere
nur auch das nicht wieder: du sollst mir mit dieser Figur eine reiche
und schöne Erbin erkaufen."--"Du wirst doch", versetzte Wilhelm
lächelnd, "deinen Charakter nicht verleugnen!  Kaum findest du nach
langer Zeit deinen Freund wieder, so siehst du ihn schon als eine Ware,
als einen Gegenstand deiner Spekulation an, mit dem sich etwas
gewinnen läßt."

Jarno und der Abbe schienen über diese Erkennung keinesweges
verwundert und ließen beide Freunde sich nach Belieben über das
Vergangene und Gegenwärtige ausbreiten.  Werner ging um seinen Freund
herum, drehte ihn hin und her, so daß er ihn fast verlegen machte.
"Nein! nein!" rief er aus, "so was ist mir noch nicht vorgekommen, und
doch weiß ich wohl, daß ich mich nicht betriege.  Deine Augen sind
tiefer, deine Stirn ist breiter, deine Nase feiner und dein Mund
liebreicher geworden.  Seht nur einmal, wie er steht! wie das alles
paßt und zusammenhängt!  Wie doch das Faulenzen gedeihet!  Ich armer
Teufel dagegen"--er besah sich im Spiegel--"wenn ich diese Zeit her
nicht recht viel Geld gewonnen hätte, so wäre doch auch gar nichts an
mir."

Werner hatte Wilhelms letzten Brief nicht empfangen; ihre Handlung war
das fremde Haus, mit welchem Lothario die Güter in Gemeinschaft zu
kaufen die Absicht hatte.  Dieses Geschäft führte Wernern hierher; er
hatte keine Gedanken, Wilhelmen auf seinem Wege zu finden.  Der
Gerichtshalter kam, die Papiere wurden vorgelegt, und Werner fand die
Vorschläge billig.  "Wenn Sie es mit diesem jungen Manne, wie es
scheint, gut meinen", sagte er, "so sorgen Sie selbst dafür, daß unser
Teil nicht verkürzt werde; es soll von meinem Freunde abhängen, ob er
das Gut annehmen und einen Teil seines Vermögens daran wenden will."
Jarno und der Abbe versicherten, daß es dieser Erinnerung nicht
bedürfe.  Man hatte die Sache kaum im allgemeinen verhandelt, als
Werner sich nach einer Partie L'hombre sehnte, wozu sich denn auch
gleich der Abbe und Jarno mit hinsetzten; er war es nun einmal so
gewohnt, er konnte des Abends ohne Spiel nicht leben.

Als die beiden Freunde nach Tische allein waren, befragten und
besprachen sie sich sehr lebhaft über alles, was sie sich mitzuteilen
wünschten.  Wilhelm rühmte seine Lage und das Glück seiner Aufnahme
unter so trefflichen Menschen.  Werner dagegen schüttelte den Kopf und
sagte: "Man sollte doch auch nichts glauben, als was man mit Augen
sieht!  Mehr als ein dienstfertiger Freund hat mir versichert, du
lebtest mit einem liederlichen jungen Edelmann, führtest ihm
Schauspielerinnen zu, hälfest ihm sein Geld durchbringen und seiest
schuld, daß er mit seinen sämtlichen Anverwandten gespannt sei."--"Es
würde mich um meinet- und um der guten Menschen willen verdrießen, daß
wir so verkannt werden", versetzte Wilhelm, "wenn mich nicht meine
theatralische Laufbahn mit jeder übeln Nachrede versöhnt hätte.  Wie
sollten die Menschen unsere Handlungen beurteilen, die ihnen nur
einzeln und abgerissen erscheinen, wovon sie das wenigste sehen, weil
Gutes und Böses im verborgenen geschieht und eine gleichgültige
Erscheinung meistens nur an den Tag kommt.  Bringt man ihnen doch
Schauspieler und Schauspielerinnen auf erhöhte Bretter, zündet von
allen Seiten Licht an, das ganze Werk ist in wenig Stunden
abgeschlossen, und doch weiß selten jemand eigentlich, was er daraus
machen soll."

Nun ging es an ein Fragen nach der Familie, nach den Jugendfreunden
und der Vaterstadt.  Werner erzählte mit großer Hast alles, was sich
verändert hatte und was noch bestand und geschah.  "Die Frauen im
Hause", sagte er, "Sind vergnügt und glücklich, es fehlt nie an Geld.
Die eine Hälfte der Zeit bringen sie zu, sich zu putzen, und die
andere Hälfte, sich geputzt sehen zu lassen.  Haushälterisch sind sie
soviel, als billig ist.  Meine Kinder lassen sich zu gescheiten Jungen
an.  Ich sehe sie im Geiste schon sitzen und schreiben und rechnen,
laufen, handeln und trödeln; einem jeden soll so bald als möglich ein
eignes Gewerbe eingerichtet werden, und was unser Vermögen betrifft,
daran sollst du deine Lust sehen.  Wenn wir mit den Gütern in Ordnung
sind, mußt du gleich mit nach Hause: denn es sieht doch aus, als wenn
du mit einiger Vernunft in die menschlichen Unternehmungen eingreifen
könntest.  Deine neuen Freunde sollen gepriesen sein, da sie dich auf
den rechten Weg gebracht haben.  Ich bin ein närrischer Teufel und
merke erst, wie lieb ich dich habe, da ich mich nicht satt an dir
sehen kann, daß du so wohl und so gut aussiehst.  Das ist doch noch
eine andere Gestalt als das Porträt, das du einmal an die Schwester
schicktest und worüber im Hause großer Streit war.  Mutter und Tochter
fanden den jungen Herrn allerliebst mit offnem Halse, halbfreier Brust,
großer Krause, herumhängendem Haar, rundem Hut, kurzem Westchen und
schlotternden langen Hosen, indessen ich behauptete, das Kostüm sei
nur noch zwei Finger breit vom Hanswurst.  Nun siehst du doch aus wie
ein Mensch, nur fehlt der Zopf, in den ich deine Haare einzubinden
bitte, sonst hält man dich denn doch einmal unterwegs als Juden an und
fordert Zoll und Geleite von dir."

Felix war indessen in die Stube gekommen und hatte sich, als man auf
ihn nicht achtete, aufs Kanapee gelegt und war eingeschlafen.  "Was
ist das für ein Wurm?" fragte Werner.  Wilhelm hatte in dem
Augenblicke den Mut nicht, die Wahrheit zu sagen, noch Lust, eine doch
immer zweideutige Geschichte einem Manne zu erzählen, der von Natur
nichts weniger als gläubig war.

Die ganze Gesellschaft begab sich nunmehr auf die Güter, um sie zu
besehen und den Handel abzuschließen.  Wilhelm ließ seinen Felix nicht
von der Seite und freute sich um des Knaben willen recht lebhaft des
Besitzes, dem man entgegensah.  Die Lüsternheit des Kindes nach den
Kirschen und Beeren, die bald reif werden sollten, erinnerte ihn an
die Zeit seiner Jugend und an die vielfache Pflicht des Vaters, den
Seinigen den Genuß vorzubereiten, zu verschaffen und zu erhalten.  Mit
welchem Interesse betrachtete er die Baumschulen und die Gebäude!  Wie
lebhaft sann er darauf, das Vernachlässigte wiederherzustellen und das
Verfallene zu erneuern!  Er sah die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel
an, ein Gebäude nicht mehr für eine geschwind zusammengestellte Laube,
die vertrocknet, ehe man sie verläßt.  Alles, was er anzulegen
gedachte, sollte dem Knaben entgegenwachsen, und alles, was er
herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben.  In
diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl des
Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben.  Er fühlte
es, und seiner Freude konnte nichts gleichen.  "O der unnötigen
Strenge der Moral!" rief er aus, "da die Natur uns auf ihre liebliche
Weise zu allem bildet, was wir sein sollen.  O der seltsamen
Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und
mißleitet und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert!  Wehe
jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung
zerstört und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege
selbst zu beglücken!"

So manches er auch in seinem Leben schon gesehen hatte, so schien ihm
doch die menschliche Natur erst durch die Beobachtung des Kindes
deutlich zu werden.  Das Theater war ihm, wie die Welt, nur als eine
Menge ausgeschütteter Würfel vorgekommen, deren jeder einzeln auf
seiner Oberfläche bald mehr, bald weniger bedeutet und die allenfalls
zusammengezählt eine Summe machen.  Hier im Kinde lag ihm, konnte man
sagen, ein einzelner Würfel vor, auf dessen vielfachen Seiten der Wert
und der Unwert der menschlichen Natur so deutlich eingegraben war.

Das Verlangen des Kindes nach Unterscheidung wuchs mit jedem Tage.  Da
es einmal erfahren hatte, daß die Dinge Namen haben, so wollte es auch
den Namen von allem hören; es glaubte nicht anders, sein Vater müsse
alles wissen, quälte ihn oft mit Fragen und gab ihm Anlaß, sich nach
Gegenständen zu erkundigen, denen er sonst wenig Aufmerksamkeit
gewidmet hatte.  Auch der eingeborne Trieb, die Herkunft und das Ende
der Dinge zu erfahren, zeigte sich frühe bei dem Knaben.  Wenn er
fragte, wo der Wind herkomme und wo die Flamme hinkomme, war dem Vater
seine eigene Beschränkung erst recht lebendig; er wünschte zu erfahren,
wie weit sich der Mensch mit seinen Gedanken wagen und wovon er
hoffen dürfe sich und andern jemals Rechenschaft zu geben.  Die
Heftigkeit des Kindes, wenn es irgendeinem lebendigen Wesen Unrecht
geschehen sah, erfreute den Vater höchlich als das Zeichen eines
trefflichen Gemüts.  Das Kind schlug heftig nach dem Küchenmädchen,
das einige Tauben abgeschnitten hatte.  Dieser schöne Begriff wurde
denn freilich bald wieder zerstört, als er den Knaben fand, der ohne
Barmherzigkeit Frösche totschlug und Schmetterlinge zerrupfte.  Es
erinnerte ihn dieser Zug an so viele Menschen, die höchst gerecht
erscheinen, wenn sie ohne Leidenschaft sind und die Handlungen anderer
beobachten.

Dieses angenehme Gefühl, daß der Knabe so einen schönen und wahren
Einfluß auf sein Dasein habe, ward einen Augenblick gestört, als
Wilhelm in kurzem bemerkte, daß wirklich der Knabe mehr ihn als er den
Knaben erziehe.  Er hatte an dem Kinde nichts auszusetzen, er war
nicht imstande, ihm eine Richtung zu geben, die es nicht selbst nahm,
und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte,
waren, so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre
alten Rechte getreten.  Noch machte das Kind die Türe niemals hinter
sich zu, noch wollte er seinen Teller nicht abessen, und sein Behagen
war niemals größer, als wenn man ihm nachsah, daß er den Bissen
unmittelbar aus der Schüssel nehmen, das volle Glas stehenlassen und
aus der Flasche trinken konnte.  So war er auch ganz allerliebst, wenn
er sich mit einem Buche in die Ecke setzte und sehr ernsthaft sagte:
"Ich muß das gelehrte Zeug studieren!", ob er gleich die Buchstaben
noch lange weder unterscheiden konnte noch wollte.

Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er bisher für das Kind getan hatte,
wie wenig er zu tun fähig sei, so entstand eine Unruhe in ihm, die
sein ganzes Glück aufzuwiegen imstande war.  "Sind wir Männer denn",
sagte er zu sich, "so selbstisch geboren, daß wir unmöglich für ein
Wesen außer uns Sorge tragen können?  Bin ich mit dem Knaben nicht
eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war?  Ich zog das liebe Kind
an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabei hab ich es aufs
grausamste vernachlässigt.  Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es
so sehr strebte?  Nichts!  Ich überließ es sich selbst und allen
Zufälligkeiten, denen es in einer ungebildeten Gesellschaft nur
ausgesetzt sein konnte; und dann für diesen Knaben, der dir so
merkwürdig war, ehe er dir so wert sein konnte, hat dich denn dein
Herz geheißen, auch nur jemals das geringste für ihn zu tun?  Es ist
nicht mehr Zeit, daß du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer
vergeudest; nimm dich zusammen, und denke, was du für dich und die
guten Geschöpfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich
knüpfte."

Eigentlich war dieses Selbstgespräch nur eine Einleitung, sich zu
bekennen, daß er schon gedacht, gesorgt, gesucht und gewählt hatte; er
konnte nicht länger zögern, sich es selbst zu gestehen.  Nach oft
vergebens wiederholtem Schmerz über den Verlust Marianens fühlte er
nur zu deutlich, daß er eine Mutter für den Knaben suchen müsse und
daß er sie nicht sichrer als in Theresen finden werde.  Er kannte
dieses vortreffliche Frauenzimmer ganz.  Eine solche Gattin und
Gehülfin schien die einzige zu sein, der man sich und die Seinen
anvertrauen könnte.  Ihre edle Neigung zu Lothario machte ihm keine
Bedenklichkeit.  Sie waren durch ein sonderbares Schicksal auf ewig
getrennt, Therese hielt sich für frei und hatte von einer Heirat zwar
mit Gleichgültigkeit, doch als von einer Sache gesprochen, die sich
von selbst versteht.

Nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen war, nahm er sich vor, ihr
von sich zu sagen, soviel er nur wußte.  Sie sollte ihn kennenlernen,
wie er sie kannte, und er fing nun an, seine eigene Geschichte
durchzudenken; sie schien ihm an Begebenheiten so leer und im ganzen
jedes Bekenntnis so wenig zu seinem Vorteil, daß er mehr als einmal
von dem Vorsatz abzustehn im Begriff war.  Endlich entschloß er sich,
die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Turme von Jarno zu verlangen;
dieser sagte: "Es ist eben zur rechten Zeit", und Wilhelm erhielt sie.

Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch mit
Bewußtsein auf dem Punkte steht, wo er über sich selbst aufgeklärt
werden soll.  Alle übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht
Krankheit?  Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel!
Die Besserung fühlt man, und man sieht nur die Wirkung des
vergangenen übels.  Wilhelm war indessen vorbereitet genug, die
Umstände hatten schon lebhaft zu ihm gesprochen, seine Freunde hatten
ihn eben nicht geschont, und wenn er gleich das Pergament mit einiger
Hast aufrollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las.  Er
fand die umständliche Geschichte seines Lebens in großen, scharfen
Zügen geschildert; weder einzelne Begebenheiten noch beschränkte
Empfindungen verwirrten seinen Blick, allgemeine liebevolle
Betrachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er sah
zum erstenmal sein Bild außer sich, zwar nicht wie im Spiegel ein
zweites Selbst, sondern wie im Porträt ein anderes Selbst: man bekennt
sich zwar nicht zu allen Zügen, aber man freut sich, daß ein denkender
Geist uns so hat fassen, ein großes Talent uns so hat darstellen
wollen, daß ein Bild von dem, was wir waren, noch besteht und daß es
länger als wir selbst dauern kann.

Wilhelm beschäftigte sich nunmehr, indem alle Umstände durch dies
Manuskript in sein Gedächtnis zurückkamen, die Geschichte seines
Lebens für Theresen aufzusetzen, und er schämte sich fast, daß er
gegen ihre großen Tugenden nichts aufzustellen hatte, was eine
zweckmäßige Tätigkeit beweisen konnte.  So umständlich er in dem
Aufsatze war, so kurz faßte er sich in dem Briefe, den er an sie
schrieb; er bat sie um ihre Freundschaft, um ihre Liebe, wenn's
möglich wäre; er bot ihr seine Hand an und bat sie um baldige
Entscheidung.

Nach einigem innerlichen Streit, ob er diese wichtige Sache noch erst
mit seinen Freunden, mit Jarno und dem Abbe, beraten solle, entschied
er sich zu schweigen.  Er war zu fest entschlossen, die Sache war für
ihn zu wichtig, als daß er sie noch hätte dem Urteil des
vernünftigsten und besten Mannes unterwerfen mögen; ja sogar brauchte
er die Vorsicht, seinen Brief auf der nächsten Post selbst zu
bestellen.  Vielleicht hatte ihm der Gedanke, daß er in so vielen
Umständen seines Lebens, in denen er frei und im verborgenen zu
handeln glaubte, beobachtet, ja sogar geleitet worden war, wie ihm aus
der geschriebenen Rolle nicht undeutlich erschien, eine Art von
unangenehmer Empfindung gegeben, und nun wollte er wenigstens zu
Theresens Herzen rein vom Herzen reden und ihrer Entschließung und
Entscheidung sein Schicksal schuldig sein, und so machte er sich kein
Gewissen, seine Wächter und Aufseher in diesem wichtigen Punkte
wenigstens zu umgehen.



VIII. Buch, 2. Kapitel--1



Zweites Kapitel

Kaum war der Brief abgesendet, als Lothario zurückkam.  Jedermann
freuete sich, die vorbereiteten wichtigen Geschäfte abgeschlossen und
bald geendigt zu sehen, und Wilhelm erwartete mit Verlangen, wie so
viele Fäden teils neu geknüpft, teils aufgelöst und nun sein eignes
Verhältnis auf die Zukunft bestimmt werden sollte.  Lothario begrüßte
sie alle aufs beste; er war völlig wiederhergestellt und heiter, er
hatte das Ansehen eines Mannes, der weiß, was er tun soll, und dem in
allem, was er tun will, nichts im Wege steht.

Wilhelm konnte ihm seinen herzlichen Gruß nicht zurückgeben.  "Dies
ist", mußte er zu sich selbst sagen, "der Freund, der Geliebte, der
Bräutigam Theresens, an dessen Statt du dich einzudrängen denkst.
Glaubst du denn jemals einen solchen Eindruck auszulöschen oder zu
verbannen?"  Wäre der Brief noch nicht fort gewesen, er hätte
vielleicht nicht gewagt, ihn abzusenden.  Glücklicherweise war der
Wurf schon getan, vielleicht war Therese schon entschieden, nur die
Entfernung deckte noch eine glückliche Vollendung mit ihrem Schleier.
Gewinn und Verlust mußten sich bald entscheiden.  Er suchte sich durch
alle diese Betrachtungen zu beruhigen, und doch waren die Bewegungen
seines Herzens beinahe fieberhaft.  Nur wenig Aufmerksamkeit konnte er
auf das wichtige Geschäft wenden, woran gewissermaßen das Schicksal
seines ganzen Vermögens hing.  Ach! wie unbedeutend erscheint dem
Menschen in leidenschaftlichen Augenblicken alles, was ihn umgibt,
alles, was ihm angehört!

Zu seinem Glücke behandelte Lothario die Sache groß, und Werner mit
Leichtigkeit.  Dieser hatte bei seiner heftigen Begierde zum Erwerb
eine lebhafte Freude über den schönen Besitz, der ihm oder vielmehr
seinem Freunde werden sollte.  Lothario von seiner Seite schien ganz
andere Betrachtungen zu machen.  "Ich kann mich nicht sowohl über
einen Besitz freuen", sagte er, "als über die Rechtmäßigkeit desselben."

"Nun, beim Himmel!" rief Werner, "wird denn dieser unser Besitz nicht
rechtmäßig genug?"

"Nicht ganz!" versetzte Lothario.

"Geben wir denn nicht unser bares Geld dafür?"

"Recht gut!" sagte Lothario, "auch werden Sie dasjenige, was ich zu
erinnern habe, vielleicht für einen leeren Skrupel halten.  Mir kommt
kein Besitz ganz rechtmäßig, ganz rein vor, als der dem Staate seinen
schuldigen Teil abträgt."

"Wie?" sagte Werner, "so wollten Sie also lieber, daß unsere frei
gekauften Güter steuerbar wären?"

"Ja", versetzte Lothario, "bis auf einen gewissen Grad: denn durch
diese Gleichheit mit allen übrigen Besitzungen entsteht ganz allein
die Sicherheit des Besitzes.  Was hat der Bauer in den neuern Zeiten,
wo so viele Begriffe schwankend werden, für einen Hauptanlaß, den
Besitz des Edelmanns für weniger gegründet anzusehen als den seinigen?
Nur den, daß jener nicht belastet ist und auf ihn lastet."

"Wie wird es aber mit den Zinsen unseres Kapitals aussehen?" versetzte
Werner.

"Um nichts schlimmer!" sagte Lothario, "wenn uns der Staat gegen eine
billige, regelmäßige Abgabe das Lehns-Hokuspokus erlassen und uns mit
unsern Gütern nach Belieben zu schalten erlauben wollte, daß wir sie
nicht in so großen Massen zusammenhalten müßten, daß wir sie unter
unsere Kinder gleicher verteilen könnten, um alle in eine lebhafte,
freie Tätigkeit zu versetzen, statt ihnen nur die beschränkten und
beschränkenden Vorrechte zu hinterlassen, welche zu genießen wir immer
die Geister unserer Vorfahren hervorrufen müssen.  Wieviel glücklicher
wären Männer und Frauen, wenn sie mit freien Augen umhergehen und bald
ein würdiges Mädchen, bald einen trefflichen Jüngling ohne andere
Rücksichten durch ihre Wahl erheben könnten.  Der Staat würde mehr,
vielleicht bessere Bürger haben und nicht so oft um Köpfe und Hände
verlegen sein."

"Ich kann Sie versichern", sagte Werner, "daß ich in meinem Leben nie
an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, Zölle und Geleite habe ich
nur so bezahlt, weil es einmal hergebracht ist."

"Nun", sagte Lothario, "ich hoffe Sie noch zum guten Patrioten zu
machen: denn wie der nur ein guter Vater ist, der bei Tische erst
seinen Kindern vorlegt, so ist der nur ein guter Bürger, der vor allen
andern Ausgaben das, was er dem Staate zu entrichten hat, zurücklegt."

Durch solche allgemeine Betrachtungen wurden ihre besondern Geschäfte
nicht aufgehalten, vielmehr beschleunigt.  Als sie ziemlich damit
zustande waren, sagte Lothario zu Wilhelmen: "Ich muß Sie nun an einen
Ort schicken, wo Sie nötiger sind als hier: meine Schwester läßt Sie
ersuchen, so bald als möglich zu ihr zu kommen; die arme Mignon
scheint sich zu verzehren, und man glaubt, Ihre Gegenwart könnte
vielleicht noch dem übel Einhalt tun.  Meine Schwester schickte mir
dieses Billett noch nach, woraus Sie sehen können, wieviel ihr daran
gelegen ist."  Lothario überreichte ihm ein Blättchen.  Wilhelm, der
schon in der größten Verlegenheit zugehört hatte, erkannte sogleich an
diesen flüchtigen Bleistiftzügen die Hand der Gräfin und wußte nicht,
was er antworten sollte.

"Nehmen Sie Felix mit", sagte Lothario, "damit die Kinder sich
untereinander aufheitern.  Sie müßten morgen früh beizeiten weg; der
Wagen meiner Schwester, in welchem meine Leute hergefahren sind, ist
noch hier, ich gebe Ihnen Pferde bis auf halben Weg, dann nehmen Sie
Post.  Leben Sie recht wohl und richten viele Grüße von mir aus.
Sagen Sie dabei meiner Schwester, ich werde sie bald wiedersehen, und
sie soll sich überhaupt auf einige Gäste vorbereiten.  Der Freund
unseres Großoheims, der Marchese Cipriani, ist auf dem Wege,
hierherzukommen; er hoffte, den alten Mann noch am Leben anzutreffen,
und sie wollten sich zusammen an der Erinnerung früherer Verhältnisse
ergötzen und sich ihrer gemeinsamen Kunstliebhaberei erfreuen.  Der
Marchese war viel jünger als mein Oheim und verdankte ihm den besten
Teil seiner Bildung; wir müssen alles aufbieten, um einigermaßen die
Lücke auszufüllen, die er finden wird, und das wird am besten durch
eine größere Gesellschaft geschehen."

Lothario ging darauf mit dem Abbe in sein Zimmer, Jarno war vorher
weggeritten; Wilhelm eilte auf seine Stube; er hatte niemand, dem er
sich vertrauen, niemand, durch den er einen Schritt, vor dem er sich
so sehr fürchtete, hätte abwenden können.  Der kleine Diener kam und
ersuchte ihn einzupacken, weil sie noch diese Nacht aufbinden wollten,
um mit Anbruch des Tages wegzufahren.  Wilhelm wußte nicht, was er tun
sollte; endlich rief er aus: "Du willst nur machen, daß du aus diesem
Hause kommst; unterweges überlegst du, was zu tun ist, und bleibst
allenfalls auf der Hälfte des Weges liegen, schickst einen Boten
zurück, schreibst, was du dir nicht zu sagen getraust, und dann mag
werden, was will."  Ungeachtet dieses Entschlusses brachte er eine
schlaflose Nacht zu; nur ein Blick auf den so schön ruhenden Felix gab
ihm einige Erquickung.  "Oh!" rief er aus, "wer weiß, was noch für
Prüfungen auf mich warten, wer weiß, wie sehr mich begangene Fehler
noch quälen, wie oft mir gute und vernünftige Plane für die Zukunft
mißlingen sollen; aber diesen Schatz, den ich einmal besitze, erhalte
mir, du erbittliches oder unerbittliches Schicksal!  Wäre es möglich,
daß dieser beste Teil von mir selbst vor mir zerstört, daß dieses Herz
von meinem Herzen gerissen werden könnte, so lebe wohl, Verstand und
Vernunft, lebe wohl, jede Sorgfalt und Vorsicht, verschwinde, du Trieb
zur Erhaltung!  Alles, was uns vom Tiere unterscheidet, verliere sich!
Und wenn es nicht erlaubt ist, seine traurigen Tage freiwillig zu
endigen, so hebe ein frühzeitiger Wahnsinn das Bewußtsein auf, ehe der
Tod, der es auf immer zerstört, die lange Nacht herbeiführt!"

Er faßte den Knaben in seine Arme, küßte ihn, drückte ihn an sich und
benetzte ihn mit reichlichen Tränen.  Das Kind wachte auf; sein helles
Auge, sein freundlicher Blick rührten den Vater aufs innigste.
"Welche Szene steht mir bevor", rief er aus, "wenn ich dich der
schönen, unglücklichen Gräfin vorstellen soll, wenn sie dich an ihren
Busen drückt, den dein Vater so tief verletzt hat!  Muß ich nicht
fürchten, sie stößt dich wieder von sich mit einem Schrei, sobald
deine Berührung ihren wahren oder eingebildeten Schmerz erneuert!"

Der Kutscher ließ ihm nicht Zeit, weiter zu denken oder zu wählen, er
nötigte ihn vor Tage in den Wagen; nun wickelte er seinen Felix wohl
ein, der Morgen war kalt, aber heiter, das Kind sah zum erstenmal in
seinem Leben die Sonne aufgehn.  Sein Erstaunen über den ersten
feurigen Blick, über die wachsende Gewalt des Lichts, seine Freude und
seine wunderlichen Bemerkungen erfreuten den Vater und ließen ihn
einen Blick in das Herz tun, vor welchem die Sonne wie über einem
reinen, stillen See emporsteigt und schwebt.

In einer kleinen Stadt spannte der Kutscher aus und ritt zurück.
Wilhelm nahm sogleich ein Zimmer in Besitz und fragte sich nun, ob er
bleiben oder vorwärts gehen solle.  In dieser Unentschlossenheit wagte
er das Blättchen wieder hervorzunehmen, das er bisher nochmals
anzusehen nicht getraut hatte; es enthielt folgende Worte: "Schicke
mir deinen jungen Freund ja bald; Mignon hat sich diese beiden letzten
Tage eher verschlimmert.  So traurig diese Gelegenheit ist, so soll
mich's doch freuen, ihn kennenzulernen."

Die letzten Worte hatte Wilhelm beim ersten Blick nicht bemerkt.  Er
erschrak darüber und war sogleich entschieden, daß er nicht gehen
wollte.  "Wie?" rief er aus, "Lothario, der das Verhältnis weiß, hat
ihr nicht eröffnet, wer ich bin?  Sie erwartet nicht mit gesetztem
Gemüt einen Bekannten, den sie lieber nicht wiedersähe, sie erwartet
einen Fremden, und ich trete hinein!  Ich sehe sie zurückschaudern,
ich sehe sie erröten!  Nein, es ist mir unmöglich, dieser Szene
entgegenzusehen."  Soeben wurden die Pferde herausgeführt und
eingespannt; Wilhelm war entschlossen, abzupacken und hierzubleiben.
Er war in der größten Bewegung.  Als er ein Mädchen zur Treppe
heraufkommen hörte, die ihm anzeigen wollte, daß alles fertig sei,
sann er geschwind auf eine Ursache, die ihn hierzubleiben nötigte, und
seine Augen ruhten ohne Aufmerksamkeit auf dem Billett, das er in der
Hand hielt.  "Um Gottes willen!" rief er aus, "was ist das?  Das ist
nicht die Hand der Gräfin, es ist die Hand der Amazone!"



VIII. Buch, 2. Kapitel--2



Das Mädchen trat herein, bat ihn herunterzukommen und führte Felix
mit sich fort.  "Ist es möglich?" rief er aus, "ist es wahr?  Was soll
ich tun?  Bleiben und abwarten und aufklären? oder eilen? eilen und
mich einer Entwicklung entgegenstürzen?  Du bist auf dem Wege zu ihr
und kannst zaudern?  Diesen Abend sollst du sie sehen und willst dich
freiwillig ins Gefängnis einsperren?  Es ist ihre Hand, ja sie ist's!
Diese Hand beruft dich, ihr Wagen ist angespannt, dich zu ihr zu
führen; nun löst sich das Rätsel: Lothario hat zwei Schwestern.  Er
weiß mein Verhältnis zu der einen; wieviel ich der andern schuldig bin,
ist ihm unbekannt.  Auch sie weiß nicht, daß der verwundete Vagabund,
der ihr, wo nicht sein Leben, doch seine Gesundheit verdankt, in dem
Hause ihres Bruders so unverdient gütig aufgenommen worden ist."

Felix, der sich unten im Wagen schaukelte, rief: "Vater, komm! o komm!
sieh die schönen Wolken, die schönen Farben!"--"Ja, ich komme", rief
Wilhelm, indem er die Treppe hinuntersprang, "und alle Erscheinungen
des Himmels, die du gutes Kind noch sehr bewunderst, sind nichts gegen
den Anblick, den ich erwarte."

Im Wagen sitzend, rief er nun alle Verhältnisse in sein Gedächtnis
zurück.  "So ist also auch diese Natalie die Freundin Theresens! welch
eine Entdeckung, welche Hoffnung und welche Aussichten!  Wie seltsam,
daß die Furcht, von der einen Schwester reden zu hören, mir das Dasein
der andern ganz und gar verbergen konnte!"  Mit welcher Freude sah er
seinen Felix an; er hoffte für den Knaben wie für sich die beste
Aufnahme.

Der Abend kam heran, die Sonne war untergegangen, der Weg nicht der
beste, der Postillon fuhr langsam, Felix war eingeschlafen, und neue
Sorgen und Zweifel stiegen in dem Busen unseres Freundes auf.  "Von
welchem Wahn, von welchen Einfällen wirst du beherrscht!" sagte er zu
sich selbst, "eine ungewisse ähnlichkeit der Handschrift macht dich
auf einmal sicher und gibt dir Gelegenheit, das wunderbarste Märchen
auszudenken."  Er nahm das Billett wieder vor, und bei dem abgehenden
Tageslicht glaubte er wieder die Handschrift der Gräfin zu erkennen;
seine Augen wollten im einzelnen nicht wiederfinden, was ihm sein Herz
im ganzen auf einmal gesagt hatte.  "So ziehen dich denn doch diese
Pferde zu einer schrecklichen Szene!  Wer weiß, ob sie dich nicht in
wenig Stunden schon wieder zurückführen werden?  Und wenn du sie nur
noch allein anträfest; aber vielleicht ist ihr Gemahl gegenwärtig,
vielleicht die Baronesse!  Wie verändert werde ich sie finden!  Werde
ich vor ihr auf den Füßen stehen können?"

Nur eine schwache Hoffnung, daß er seiner Amazone entgegengehe, konnte
manchmal durch die trüben Vorstellungen durchblicken.  Es war Nacht
geworden, der Wagen rasselte in einen Hof hinein und hielt still; ein
Bedienter mit einer Wachsfackel trat aus einem prächtigen Portal
hervor und kam die breiten Stufen hinunter bis an den Wagen.  "Sie
werden schon lange erwartet", sagte er, indem er das Leder aufschlug.
Wilhelm, nachdem er ausgestiegen war, nahm den schlafenden Felix auf
den Arm, und der erste Bediente rief zu einem zweiten, der mit einem
Lichte in der Türe stand: "Führe den Herrn gleich zur Baronesse."

Blitzschnell fuhr Wilhelmen durch die Seele: "Welch ein Glück!  Es sei
vorsätzlich oder zufällig, die Baronesse ist hier!  Ich soll sie
zuerst sehen!  Wahrscheinlich schläft die Gräfin schon!  Ihr guten
Geister, helft, daß der Augenblick der größten Verlegenheit leidlich
vorübergehe!"

Er trat in das Haus und fand sich an dem ernsthaftesten, seinem
Gefühle nach dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte.  Eine
herabhängende blendende Laterne erleuchtete eine breite, sanfte Treppe,
die ihm entgegenstand und sich oben beim Umwenden in zwei Teile
teilte.  Marmorne Statuen und Büsten standen auf Piedestalen und in
Nischen geordnet; einige schienen ihm bekannt.  Jugendeindrücke
verlöschen nicht, auch in ihren kleinsten Teilen.  Er erkannte eine
Muse, die seinem Großvater gehört hatte, zwar nicht an ihrer Gestalt
und an ihrem Wert, doch an einem restaurierten Arme und an den
neueingesetzten Stücken des Gewandes.  Es war, als wenn er ein Märchen
erlebte.  Das Kind ward ihm schwer; er zauderte auf den Stufen und
kniete nieder, als ob er es bequemer fassen wollte.  Eigentlich aber
bedurfte er einer augenblicklichen Erholung.  Er konnte kaum sich
wieder aufheben.  Der vorleuchtende Bediente wollte ihm das Kind
abnehmen, er konnte es nicht von sich lassen.  Darauf trat er in den
Vorsaal, und zu seinem noch größern Erstaunen erblickte er das
wohlbekannte Bild vom kranken Königssohn an der Wand.  Er hatte kaum
Zeit, einen Blick darauf zu werfen, der Bediente nötigte ihn durch ein
paar Zimmer in ein Kabinett.  Dort, hinter einem Lichtschirme, der sie
beschattete, saß ein Frauenzimmer und las.  "O daß sie es wäre!" sagte
er zu sich selbst in diesem entscheidenden Augenblick.  Er setzte das
Kind nieder, das aufzuwachen schien, und dachte sich der Dame zu
nähern, aber das Kind sank schlaftrunken zusammen, das Frauenzimmer
stand auf und kam ihm entgegen.  Die Amazone war's!  Er konnte sich
nicht halten, stürzte auf seine Knie und rief aus: "Sie ist's!"  Er
faßte ihre Hand und küßte sie mit unendlichem Entzücken.  Das Kind lag
zwischen ihnen beiden auf dem Teppich und schlief sanft.

Felix ward auf das Kanapee gebracht, Natalie setzte sich zu ihm, sie
hieß Wilhelmen auf den Sessel sitzen, der zunächst dabeistand.  Sie
bot ihm einige Erfrischungen an, die er ausschlug, indem er nur
beschäftigt war, sich zu versichern, daß sie es sei, und ihre durch
den Lichtschirm beschatteten Züge genau wiederzusehen und sicher
wiederzuerkennen.  Sie erzählte ihm von Mignons Krankheit im
allgemeinen, daß das Kind von wenigen tiefen Empfindungen nach und
nach aufgezehrt werde, daß es bei seiner großen Reizbarkeit, die es
verberge, von einem Krampf an seinem armen Herzen oft heftig und
gefährlich leide, daß dieses erste Organ des Lebens bei unvermuteten
Gemütsbewegungen manchmal plötzlich stillestehe und keine Spur der
heilsamen Lebensregung in dem Busen des guten Kindes gefühlt werden
könne.  Sei dieser ängstliche Krampf vorbei, so äußere sich die Kraft
der Natur wieder in gewaltsamen Pulsen und ängstige das Kind nunmehr
durch übermaß, wie es vorher durch Mangel gelitten habe.

Wilhelm erinnerte sich einer solchen krampfhaften Szene, und Natalie
bezog sich auf den Arzt, der weiter mit ihm über die Sache sprechen
und die Ursache, warum man den Freund und Wohltäter des Kindes
gegenwärtig herbeigerufen, umständlicher vorlegen würde.  "Eine
sonderbare Veränderung", fuhr Natalie fort, "werden Sie an ihr finden;
sie geht nunmehr in Frauenkleidern, vor denen sie sonst einen so
großen Abscheu zu haben schien."

"Wie haben Sie das erreicht?" fragte Wilhelm.

"Wenn es wünschenswert war, so sind wir es nur dem Zufall schuldig.
Hören Sie, wie es zugegangen ist.  Sie wissen vielleicht, daß ich
immer eine Anzahl junger Mädchen um mich habe, deren Gesinnungen ich,
indem sie neben mir aufwachsen, zum Guten und Rechten zu bilden
wünsche.  Aus meinem Munde hören sie nichts, als was ich selber für
wahr halte, doch kann ich und will ich nicht hindern, daß sie nicht
auch von andern manches vernehmen, was als Irrtum, als Vorurteil in
der Welt gäng und gäbe ist.  Fragen sie mich darüber, so suche ich,
soviel nur möglich ist, jene fremden, ungehörigen Begriffe irgendwo an
einen richtigen anzuknüpfen, um sie dadurch, wo nicht nützlich, doch
unschädlich zu machen.  Schon seit einiger Zeit hatten meine Mädchen
aus dem Munde der Bauerkinder gar manches von Engeln, vom Knechte
Ruprecht, vom Heiligen Christe vernommen, die zu gewissen Zeiten in
Person erscheinen, gute Kinder beschenken und unartige bestrafen
sollten.  Sie hatten eine Vermutung, daß es verkleidete Personen sein
müßten, worin ich sie denn auch bestärkte und, ohne mich viel auf
Deutungen einzulassen, mir vornahm, ihnen bei der ersten Gelegenheit
ein solches Schauspiel zu geben.  Es fand sich eben, daß der
Geburtstag von Zwillingsschwestern, die sich immer sehr gut betragen
hatten, nahe war; ich versprach, daß ihnen diesmal ein Engel die
kleinen Geschenke bringen sollte, die sie so wohl verdient hätten.
Sie waren äußerst gespannt auf diese Erscheinung.  Ich hatte mir
Mignon zu dieser Rolle ausgesucht, und sie ward an dem bestimmten Tage
in ein langes, leichtes, weißes Gewand anständig gekleidet.  Es fehlte
nicht an einem goldenen Gürtel um die Brust und an einem gleichen
Diadem in den Haaren.  Anfangs wollte ich die Flügel weglassen, doch
bestanden die Frauenzimmer, die sie anputzten, auf ein Paar großer
goldner Schwingen, an denen sie recht ihre Kunst zeigen wollten.  So
trat, mit einer Lilie in der einen Hand und mit einem Körbchen in der
andern, die wundersame Erscheinung in die Mitte der Mädchen und
überraschte mich selbst.  "Da kommt der Engel!" sagte ich.  Die Kinder
traten alle wie zurück; endlich riefen sie aus: "Es ist Mignon!" und
getrauten sich doch nicht, dem wundersamen Bilde näher zu treten.

"Hier sind eure Gaben", sagte sie und reichte das Körbchen hin.  Man
versammelte sich um sie, man betrachtete, man befühlte, man befragte
sie.

"Bist du ein Engel?" fragte das eine Kind.

"Ich wollte, ich wär es", versetzte Mignon.

"Warum trägst du eine Lilie?"

"So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wär ich glücklich."

"Wie ist's mit den Flügeln?  Laß sie sehen!"

"Sie stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind."

Und so antwortete sie bedeutend auf jede unschuldige, leichte Frage.
Als die Neugierde der kleinen Gesellschaft befriedigt war und der
Eindruck dieser Erscheinung stumpf zu werden anfing, wollte man sie
wieder auskleiden.  Sie verwehrte es, nahm ihre Zither, setzte sich
hier auf diesen hohen Schreibtisch hinauf und sang ein Lied mit
unglaublicher Anmut:


So laßt mich scheinen, bis ich werde;
Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
Ich eile von der schönen Erde
Hinab in jenes feste Haus.


Dort ruh ich eine kleine Stille,
Dann öffnet sich der frische Blick,
Ich lasse dann die reine Hülle,
Den Gürtel und den Kranz zurück.


Und jene himmlischen Gestalten,
Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklärten Leib.


Zwar lebt ich ohne Sorg und Mühe,
Doch fühlt ich tiefen Schmerz genung;
Vor Kummer altert ich zu frühe;
Macht mich auf ewig wieder jung!



Ich entschloß mich sogleich", fuhr Natalie fort, "ihr das Kleid zu
lassen und ihr noch einige der Art anzuschaffen, in denen sie nun auch
geht und in denen, wie es mir scheint, ihr Wesen einen ganz andern
Ausdruck hat."

Da es schon spät war, entließ Natalie den Ankömmling, der nicht ohne
einige Bangigkeit sich von ihr trennte.  "Ist sie verheiratet oder
nicht?" dachte er bei sich selbst.  Er hatte gefürchtet, sooft sich
etwas regte, eine Türe möchte sich auftun und der Gemahl hereintreten.
Der Bediente, der ihn in sein Zimmer einließ, entfernte sich
schneller, als er Mut gefaßt hatte, nach diesem Verhältnis zu fragen.
Die Unruhe hielt ihn noch eine Zeitlang wach, und er beschäftigte sich,
das Bild der Amazone mit dem Bilde seiner neuen, gegenwärtigen
Freundin zu vergleichen.  Sie wollten noch nicht miteinander
zusammenfließen; jenes hatte er sich gleichsam geschaffen, und dieses
schien fast ihn umschaffen zu wollen.



VIII. Buch, 3. Kapitel--1



Drittes Kapitel

Den andern Morgen, da noch alles still und ruhig war, ging er, sich im
Hause umzusehen.  Es war die reinste, schönste, würdigste Baukunst,
die er gesehen hatte.  "Ist doch wahre Kunst", rief er aus, "wie gute
Gesellschaft: sie nötigt uns auf die angenehmste Weise, das Maß zu
erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist."
Unglaublich angenehm war der Eindruck, den die Statuen und Büsten
seines Großvaters auf ihn machten.  Mit Verlangen eilte er dem Bilde
vom kranken Königssohn entgegen, und noch immer fand er es reizend und
rührend.  Der Bediente öffnete ihm verschiedene andere Zimmer; er fand
eine Bibliothek, eine Naturaliensammlung, ein physikalisches Kabinett.
Er fühlte sich so fremd vor allen diesen Gegenständen.  Felix war
indessen erwacht und ihm nachgesprungen; der Gedanke, wie und wann er
Theresens Brief erhalten werde, machte ihm Sorge; er fürchtete sich
vor dem Anblick Mignons, gewissermaßen vor dem Anblick Nataliens.  Wie
ungleich war sein gegenwärtiger Zustand mit jenen Augenblicken, als er
den Brief an Theresen gesiegelt hatte und mit frohem Mut sich ganz
einem so edlen Wesen hingab.

Natalie ließ ihn zum Frühstück einladen.  Er trat in ein Zimmer, in
welchem verschiedene reinlich gekleidete Mädchen, alle, wie es schien,
unter zehn Jahren, einen Tisch zurechtemachten, indem eine ältliche
Person verschiedene Arten von Getränken hereinbrachte.

Wilhelm beschaute ein Bild, das über dem Kanapee hing, mit
Aufmerksamkeit, er mußte es für das Bild Nataliens erkennen, sowenig
es ihm genugtun wollte.  Natalie trat herein, und die ähnlichkeit
schien ganz zu verschwinden.  Zu seinem Troste hatte es ein
Ordenskreuz an der Brust, und er sah ein gleiches an der Brust
Nataliens.

"Ich habe das Porträt hier angesehen", sagte er zu ihr, "und mich
verwundert, wie ein Maler zugleich so wahr und so falsch sein kann.
Das Bild gleicht Ihnen im allgemeinen recht sehr gut, und doch sind es
weder Ihre Züge noch Ihr Charakter."

"Es ist vielmehr zu verwundern", versetzte Natalie, "daß es so viel
ähnlichkeit hat; denn es ist gar mein Bild nicht; es ist das Bild
einer Tante, die mir noch in ihrem Alter glich, da ich erst ein Kind
war.  Es ist gemalt, als sie ungefähr meine Jahre hatte, und beim
ersten Anblick glaubt jedermann mich zu sehen.  Sie hätten diese
treffliche Person kennen sollen.  Ich bin ihr so viel schuldig.  Eine
sehr schwache Gesundheit, vielleicht zuviel Beschäftigung mit sich
selbst und dabei eine sittliche und religiöse ängstlichkeit ließen sie
das der Welt nicht sein, was sie unter andern Umständen hätte werden
können.  Sie war ein Licht, das nur wenigen Freunden und mir besonders
leuchtete."

"Wäre es möglich", versetzte Wilhelm, der sich einen Augenblick
besonnen hatte, indem nun auf einmal so vielerlei Umstände ihm
zusammentreffend erschienen, "wäre es möglich, daß jene schöne,
herrliche Seele, deren stille Bekenntnisse auch mir mitgeteilt worden
sind, Ihre Tante sei?"

"Sie haben das Heft gelesen?" fragte Natalie.

"Ja!" versetzte Wilhelm, "mit der größten Teilnahme und nicht ohne
Wirkung auf mein ganzes Leben.  Was mir am meisten aus dieser Schrift
entgegenleuchtete, war, ich möchte so sagen, die Reinlichkeit des
Daseins, nicht allein ihrer selbst, sondern auch alles dessen, was sie
umgab, diese Selbständigkeit ihrer Natur und die Unmöglichkeit, etwas
in sich aufzunehmen, was mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht
harmonisch war."

"So sind Sie", versetzte Natalie, "billiger, ja ich darf wohl sagen,
gerechter gegen diese schöne Natur als manche anderen, denen man auch
dieses Manuskript mitgeteilt hat.  Jeder gebildete Mensch weiß, wie
sehr er an sich und andern mit einer gewissen Roheit zu kämpfen hat,
wieviel ihn seine Bildung kostet und wie sehr er doch in gewissen
Fällen nur an sich selbst denkt und vergißt, was er andern schuldig
ist.  Wie oft macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß er nicht zart
genug gehandelt habe; und doch, wenn nun eine schöne Natur sich allzu
zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man will, sich
überbildet, für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der
Welt zu sein.  Dennoch sind die Menschen dieser Art außer uns, was die
Ideale im Innern sind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, sondern zum
Nachstreben.  Man lacht über die Reinlichkeit der Holländerinnen, aber
wäre Freundin Therese, was sie ist, wenn ihr nicht eine ähnliche Idee
in ihrem Hauswesen immer vorschwebte?"

"So finde ich also", rief Wilhelm aus, "in Theresens Freundin jene
Natalie vor mir, an welcher das Herz jener köstlichen Verwandten hing,
jene Natalie, die von Jugend an so teilnehmend, so liebevoll und
hilfreich war!  Nur aus einem solchen Geschlecht konnte eine solche
Natur entstehen!  Welch eine Aussicht eröffnet sich vor mir, da ich
auf einmal Ihre Voreltern und den ganzen Kreis, dem Sie angehören,
überschaue."

"Ja!" versetzte Natalie, "Sie könnten in einem gewissen Sinne nicht
besser von uns unterrichtet sein als durch den Aufsatz unserer Tante;
freilich hat ihre Neigung zu mir sie zuviel Gutes von dem Kinde sagen
lassen.  Wenn man von einem Kinde redet, spricht man niemals den
Gegenstand, immer nur seine Hoffnungen aus."

Wilhelm hatte indessen schnell überdacht, daß er nun auch von
Lotharios Herkunft und früher Jugend unterrichtet sei; die schöne
Gräfin erschien ihm als Kind mit den Perlen ihrer Tante um den Hals;
auch er war diesen Perlen so nahe gewesen, als ihre zarten,
liebevollen Lippen sich zu den seinigen herunterneigten; er suchte
diese schönen Erinnerungen durch andere Gedanken zu entfernen.  Er
lief die Bekanntschaften durch, die ihm jene Schrift verschafft hatte.
"So bin ich denn", rief er aus, "in dem Hause des würdigen Oheims!
Es ist kein Haus, es ist ein Tempel, und Sie sind die würdige
Priesterin, ja der Genius selbst; ich werde mich des Eindrucks von
gestern abend zeitlebens erinnern, als ich hereintrat und die alten
Kunstbilder der frühsten Jugend wieder vor mir standen.  Ich erinnerte
mich der mitleidigen Marmorbilder in Mignons Lied; aber diese Bilder
hatten über mich nicht zu trauern, sie sahen mich mit hohem Ernst an
und schlossen meine früheste Zeit unmittelbar an diesen Augenblick.
Diesen unsern alten Familienschatz, diese Lebensfreude meines
Großvaters finde ich hier zwischen so vielen andern würdigen
Kunstwerken aufgestellt, und mich, den die Natur zum Liebling dieses
guten alten Mannes gemacht hatte, mich Unwürdigen finde ich nun auch
hier, o Gott! in welchen Verbindungen, in welcher Gesellschaft!"

Die weibliche Jugend hatte nach und nach das Zimmer verlassen, um
ihren kleinen Beschäftigungen nachzugehn.  Wilhelm, der mit Natalien
allein geblieben war, mußte ihr seine letzten Worte deutlicher
erklären.  Die Entdeckung, daß ein schätzbarer Teil der aufgestellten
Kunstwerke seinem Großvater angehört hatte, gab eine sehr heitere,
gesellige Stimmung.  So wie er durch jenes Manuskript mit dem Hause
bekannt worden war, so fand er sich nun auch gleichsam in seinem
Erbteile wieder.  Nun wünschte er Mignon zu sehen; die Freundin bat
ihn, sich noch so lange zu gedulden, bis der Arzt, der in die
Nachbarschaft gerufen worden, wieder zurückkäme.  Man kann leicht
denken, daß es derselbe kleine, tätige Mann war, den wir schon kennen
und dessen auch die "Bekenntnisse einer schönen Seele" erwähnten.

"Da ich mich", fuhr Wilhelm fort, "mitten in jenem Familienkreis
befinde, so ist ja wohl der Abbe, dessen jene Schrift erwähnt, auch
der wunderbare, unerklärliche Mann, den ich in dem Hause Ihres Bruders
nach den seltsamsten Ereignissen wiedergefunden habe?  Vielleicht
geben Sie mir einige nähere Aufschlüsse über ihn?"

Natalie versetzte: "über ihn wäre vieles zu sagen; wovon ich am
genauesten unterrichtet bin, ist der Einfluß, den er auf unsere
Erziehung gehabt hat.  Er war, wenigstens eine Zeitlang, überzeugt,
daß die Erziehung sich nur an die Neigung anschließen müsse; wie er
jetzt denkt, kann ich nicht sagen.  Er behauptete: das Erste und
Letzte am Menschen sei Tätigkeit, und man könne nichts tun, ohne die
Anlage dazu zu haben, ohne den Instinkt, der uns dazu treibe.  "Man
gibt zu", pflegte er zu sagen, "daß Poeten geboren werden, man gibt es
bei allen Künsten zu, weil man muß und weil jene Wirkungen der
menschlichen Natur kaum scheinbar nachgeäfft werden können; aber wenn
man es genau betrachtet, so wird jede, auch nur die geringste
Fähigkeit uns angeboren, und es gibt keine unbestimmte Fähigkeit.  Nur
unsere zweideutige, zerstreute Erziehung macht die Menschen ungewiß;
sie erregt Wünsche, statt Triebe zu beleben, und anstatt den
wirklichen Anlagen aufzuhelfen, richtet sie das Streben nach
Gegenständen, die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen bemüht,
nicht übereinstimmen.  Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem
eigenen Wege irregehen, sind mir lieber als manche, die auf fremdem
Wege recht wandeln.  Finden jene, entweder durch sich selbst oder
durch Anleitung, den rechten Weg, das ist den, der ihrer Natur gemäß
ist, so werden sie ihn nie verlassen, anstatt daß diese jeden
Augenblick in Gefahr sind, ein fremdes Joch abzuschütteln und sich
einer unbedingten Freiheit zu übergeben.""

"Es ist sonderbar", sagte Wilhelm, "daß dieser merkwürdige Mann auch
an mir teilgenommen und mich, wie es scheint, nach seiner Weise, wo
nicht geleitet, doch wenigstens eine Zeitlang in meinen Irrtümern
gestärkt hat.  Wie er es künftig verantworten will, daß er in
Verbindung mit mehreren mich gleichsam zum besten hatte, muß ich wohl
mit Geduld erwarten."

"Ich habe mich nicht über diese Grille, wenn sie eine ist, zu
beklagen", sagte Natalie; "denn ich bin freilich unter meinen
Geschwistern am besten dabei gefahren.  Auch seh ich nicht, wie mein
Bruder Lothario hätte schöner ausgebildet werden können; nur hätte
vielleicht meine gute Schwester, die Gräfin, anders behandelt werden
sollen, vielleicht hätte man ihrer Natur etwas mehr Ernst und Stärke
einflößen können.  Was aus Bruder Friedrich werden soll, läßt sich gar
nicht denken; ich fürchte, er wird das Opfer dieser pädagogischen
Versuche werden."

"Sie haben noch einen Bruder?" rief Wilhelm.

"Ja!" versetzte Natalie, "und zwar eine sehr lustige, leichtfertige
Natur, und da man ihn nicht abgehalten hatte, in der Welt
herumzufahren, so weiß ich nicht, was aus diesem losen, lockern Wesen
werden soll.  Ich habe ihn seit langer Zeit nicht gesehen.  Das
einzige beruhigt mich, daß der Abbe und überhaupt die Gesellschaft
meines Bruders jederzeit unterrichtet sind, wo er sich aufhält und was
er treibt."

Wilhelm war eben im Begriff, Nataliens Gedanken sowohl über diese
Paradoxen zu erforschen als auch über die geheimnisvolle Gesellschaft
von ihr Aufschlüsse zu begehren, als der Medikus hereintrat und nach
dem ersten Willkommen sogleich von Mignons Zustande zu sprechen anfing.


Natalie, die darauf den Felix bei der Hand nahm, sagte, sie wolle ihn
zu Mignon führen und das Kind auf die Erscheinung seines Freundes
vorbereiten.

Der Arzt war nunmehr mit Wilhelm allein und fuhr fort: "Ich habe Ihnen
wunderbare Dinge zu erzählen, die Sie kaum vermuten.  Natalie läßt uns
Raum, damit wir freier von Dingen sprechen können, die, ob ich sie
gleich nur durch sie selbst erfahren konnte, doch in ihrer Gegenwart
so frei nicht abgehandelt werden dürften.  Die sonderbare Natur des
guten Kindes, von dem jetzt die Rede ist, besteht beinah nur aus einer
tiefen Sehnsucht; das Verlangen, ihr Vaterland wiederzusehen, und das
Verlangen nach Ihnen, mein Freund, ist, möchte ich fast sagen, das
einzige Irdische an ihr; beides greift nur in eine unendliche Ferne,
beide Gegenstände liegen unerreichbar vor diesem einzigen Gemüt.  Sie
mag in der Gegend von Mailand zu Hause sein und ist in sehr früher
Jugend durch eine Gesellschaft Seiltänzer ihren Eltern entführt worden.
Näheres kann man von ihr nicht erfahren, teils weil sie zu jung war,
um Ort und Namen genau angeben zu können, besonders aber weil sie
einen Schwur getan hat, keinem lebendigen Menschen ihre Wohnung und
Herkunft näher zu bezeichnen.  Denn eben jene Leute, die sie in der
Irre fanden und denen sie ihre Wohnung so genau beschrieb mit so
dringenden Bitten, sie nach Hause zu führen, nahmen sie nur desto
eiliger mit sich fort und scherzten nachts in der Herberge, da sie
glaubten, das Kind schlafe schon, über den guten Fang und beteuerten,
daß es den Weg zurück nicht wieder finden sollte.  Da überfiel das
arme Geschöpf eine gräßliche Verzweiflung, in der ihm zuletzt die
Mutter Gottes erschien und es versicherte, daß sie sich seiner
annehmen wolle.  Es schwur darauf bei sich selbst einen heiligen Eid,
daß sie künftig niemand mehr vertrauen, niemand ihre Geschichte
erzählen und in der Hoffnung einer unmittelbaren göttlichen Hülfe
leben und sterben wolle.  Selbst dieses, was ich Ihnen hier erzähle,
hat sie Natalien nicht ausdrücklich vertraut; unsere werte Freundin
hat es aus einzelnen äußerungen, aus Liedern und kindlichen
Unbesonnenheiten, die gerade das verraten, was sie verschweigen wollen,
zusammengereiht."

Wilhelm konnte sich nunmehr manches Lied, manches Wort dieses guten
Kindes erklären.  Er bat seinen Freund aufs dringendste, ihm ja nichts
vorzuenthalten, was ihm von den sonderbaren Gesängen und Bekenntnissen
des einzigen Wesens bekannt worden sei.

"Oh!" sagte der Arzt, "bereiten Sie sich auf ein sonderbares
Bekenntnis, auf eine Geschichte, an der Sie, ohne sich zu erinnern,
viel Anteil haben, die, wie ich fürchte, für Tod und Leben dieses
guten Geschöpfs entscheidend ist."

"Lassen Sie mich hören", versetzte Wilhelm, "ich bin äußerst
ungeduldig."



VIII. Buch, 3. Kapitel--2



"Erinnern Sie sich", sagte der Arzt, "eines geheimen, nächtlichen,
weiblichen Besuchs nach der Aufführung des "Hamlets"?"

"Ja, ich erinnere mich dessen wohl!" rief Wilhelm beschämt, "aber ich
glaubte nicht, in diesem Augenblick daran erinnert zu werden."

"Wissen Sie, wer es war?"

"Nein!  Sie erschrecken mich!  Um's Himmels willen doch nicht Mignon?
Wer war's?  Sagen Sie mir's!"

"Ich weiß es selbst nicht."

"Also nicht Mignon?"

"Nein, gewiß nicht! aber Mignon war im Begriff, sich zu Ihnen zu
schleichen, und mußte aus einem Winkel mit Entsetzen sehen, daß eine
Nebenbuhlerin ihr zuvorkam."

"Eine Nebenbuhlerin!" rief Wilhelm aus.  "Reden Sie weiter, Sie
verwirren mich ganz und gar."

"Sein Sie froh", sagte der Arzt, "daß Sie diese Resultate so schnell
von mir erfahren können.  Natalie und ich, die wir doch nur einen
entferntern Anteil nehmen, wir waren genug gequält, bis wir den
verworrenen Zustand dieses guten Wesens, dem wir zu helfen wünschten,
nur so deutlich einsehen konnten.  Durch leichtsinnige Reden Philinens
und der andern Mädchen, durch ein gewisses Liedchen aufmerksam gemacht,
war ihr der Gedanke so reizend geworden, eine Nacht bei dem Geliebten
zuzubringen, ohne daß sie dabei etwas weiter als eine vertrauliche,
glückliche Ruhe zu denken wußte.  Die Neigung für Sie, mein Freund,
war in dem guten Herzen schon lebhaft und gewaltsam, in Ihren Armen
hatte das gute Kind schon von manchem Schmerz ausgeruht, sie wünschte
sich nun dieses Glück in seiner ganzen Fülle.  Bald nahm sie sich vor,
Sie freundlich darum zu bitten, bald hielt sie ein heimlicher Schauder
wieder davon zurück.  Endlich gab ihr der lustige Abend und die
Stimmung des häufig genossenen Weins den Mut, das Wagestück zu
versuchen und sich jene Nacht bei Ihnen einzuschleichen.  Schon war
sie vorausgelaufen, um sich in der unverschlossenen Stube zu verbergen,
allein als sie eben die Treppe hinaufgekommen war, hörte sie ein
Geräusch; sie verbarg sich und sah ein weißes, weibliches Wesen in Ihr
Zimmer schleichen.  Sie kamen selbst bald darauf, und sie hörte den
großen Riegel zuschieben.

Mignon empfand unerhörte Qual, alle die heftigen Empfindungen einer
leidenschaftlichen Eifersucht mischten sich zu dem unbekannten
Verlangen einer dunkeln Begierde und griffen die halbentwickelte Natur
gewaltsam an.  Ihr Herz, das bisher vor Sehnsucht und Erwartung
lebhaft geschlagen hatte, fing auf einmal an zu stocken und drückte
wie eine bleierne Last ihren Busen, sie konnte nicht zu Atem kommen,
sie wußte sich nicht zu helfen, sie hörte die Harfe des Alten, eilte
zu ihm unter das Dach und brachte die Nacht zu seinen Füßen unter
entsetzlichen Zuckungen hin."

Der Arzt hielt einen Augenblick inne, und da Wilhelm stilleschwieg,
fuhr er fort: "Natalie hat mir versichert, es habe sie in ihrem Leben
nichts so erschreckt und angegriffen als der Zustand des Kindes bei
dieser Erzählung; ja unsere edle Freundin machte sich Vorwürfe, daß
sie durch ihre Fragen und Anleitungen diese Bekenntnisse hervorgelockt
und durch die Erinnerung die lebhaften Schmerzen des guten Mädchens so
grausam erneuert habe.

"Das gute Geschöpf", so erzählte mir Natalie, "war kaum auf diesem
Punkte seiner Erzählung oder vielmehr seiner Antworten auf meine
steigenden Fragen, als es auf einmal vor mir niederstürzte und, mit
der Hand am Busen, über den wiederkehrenden Schmerz jener
schrecklichen Nacht sich beklagte.  Es wand sich wie ein Wurm an der
Erde, und ich mußte alle meine Fassung zusammennehmen, um die Mittel,
die mir für Geist und Körper unter diesen Umständen bekannt waren, zu
denken und anzuwenden.""

"Sie setzen mich in eine bängliche Lage", rief Wilhelm, "indem Sie
mich eben im Augenblicke, da ich das liebe Geschöpf wiedersehen soll,
mein vielfaches Unrecht gegen dasselbe so lebhaft fühlen lassen.  Soll
ich sie sehen, warum nehmen Sie mir den Mut, ihr mit Freiheit
entgegenzutreten?  Und soll ich Ihnen gestehen: da ihr Gemüt so
gestimmt ist, so seh ich nicht ein, was meine Gegenwart helfen soll?
Sind Sie als Arzt überzeugt, daß jene doppelte Sehnsucht ihre Natur so
weit untergraben hat, daß sie sich vom Leben abzuscheiden droht, warum
soll ich durch meine Gegenwart ihre Schmerzen erneuern und vielleicht
ihr Ende beschleunigen?"

"Mein Freund!" versetzte der Arzt, "wo wir nicht helfen können, sind
wir doch schuldig zu lindern, und wie sehr die Gegenwart eines
geliebten Gegenstandes der Einbildungskraft ihre zerstörende Gewalt
nimmt und die Sehnsucht in ein ruhiges Schauen verwandelt, davon habe
ich die wichtigsten Beispiele.  Alles mit Maß und Ziel!  Denn ebenso
kann die Gegenwart eine verlöschende Leidenschaft wieder anfachen.
Sehen Sie das gute Kind, betragen Sie sich freundlich, und lassen Sie
uns abwarten, was daraus entsteht."

Natalie kam eben zurück und verlangte, daß Wilhelm ihr zu Mignon
folgen sollte.  "Sie scheint mit Felix ganz glücklich zu sein und wird
den Freund, hoffe ich, gut empfangen."  Wilhelm folgte nicht ohne
einiges Widerstreben; er war tief gerührt von dem, was er vernommen
hatte, und fürchtete eine leidenschaftliche Szene.  Als er hereintrat,
ergab sich gerade das Gegenteil.

Mignon im langen weißen Frauengewande, teils mit lockigen, teils
aufgebundenen reichen braunen Haaren, saß, hatte Felix auf dem Schoße
und drückte ihn an ihr Herz; sie sah völlig aus wie ein abgeschiedner
Geist, und der Knabe wie das Leben selbst; es schien, als wenn Himmel
und Erde sich umarmten.  Sie reichte Wilhelmen lächelnd die Hand und
sagte: "Ich danke dir, daß du mir das Kind wiederbringst; sie hatten
ihn, Gott weiß wie, entführt, und ich konnte nicht leben zeither.
Solange mein Herz auf der Erde noch etwas bedarf, soll dieser die
Lücke ausfüllen."

Die Ruhe, womit Mignon ihren Freund empfangen hatte, versetzte die
Gesellschaft in große Zufriedenheit.  Der Arzt verlangte, daß Wilhelm
sie öfters sehen und daß man sie sowohl körperlich als geistig im
Gleichgewicht erhalten sollte.  Er selbst entfernte sich und versprach,
in kurzer Zeit wiederzukommen.

Wilhelm konnte nun Natalien in ihrem Kreise beobachten: man hätte sich
nichts Besseres gewünscht, als neben ihr zu leben.  Ihre Gegenwart
hatte den reinsten Einfluß auf junge Mädchen und Frauenzimmer von
verschiedenem Alter, die teils in ihrem Hause wohnten, teils aus der
Nachbarschaft sie mehr oder weniger zu besuchen kamen.

"Der Gang Ihres Lebens", sagte Wilhelm einmal zu ihr, "ist wohl immer
sehr gleich gewesen?  Denn die Schilderung, die Ihre Tante von Ihnen
als Kind macht, scheint, wenn ich nicht irre, noch immer zu passen.
Sie haben sich, man fühlt es Ihnen wohl an, nie verwirrt.  Sie waren
nie genötigt, einen Schritt zurück zu tun."

"Das bin ich meinem Oheim und dem Abbe schuldig", versetzte Natalie,
"die meine Eigenheiten so gut zu beurteilen wußten.  Ich erinnere mich
von Jugend an kaum eines lebhaftern Eindrucks, als daß ich überall die
Bedürfnisse der Menschen sah und ein unüberwindliches Verlangen
empfand, sie auszugleichen.  Das Kind, das noch nicht auf seinen Füßen
stehen konnte, der Alte, der sich nicht mehr auf den seinigen erhielt,
das Verlangen einer reichen Familie nach Kindern, die Unfähigkeit
einer armen, die ihrigen zu erhalten, jedes stille Verlangen nach
einem Gewerbe, den Trieb zu einem Talente, die Anlagen zu hundert
kleinen, notwendigen Fähigkeiten, diese überall zu entdecken, schien
mein Auge von der Natur bestimmt.  Ich sah, worauf mich niemand
aufmerksam gemacht hatte; ich schien aber auch nur geboren, um das zu
sehen.  Die Reize der leblosen Natur, für die so viele Menschen
äußerst empfänglich sind, hatten keine Wirkung auf mich, beinah noch
weniger die Reize der Kunst; meine angenehmste Empfindung war und ist
es noch, wenn sich mir ein Mangel, ein Bedürfnis in der Welt
darstellte, sogleich im Geiste einen Ersatz, ein Mittel, eine Hülfe
aufzufinden.

Sah ich einen Armen in Lumpen, so fielen mir die überflüssigen Kleider
ein, die ich in den Schränken der Meinigen hatte hängen sehen; sah ich
Kinder, die sich ohne Sorgfalt und ohne Pflege verzehrten, so
erinnerte ich mich dieser oder jener Frau, der ich, bei Reichtum und
Bequemlichkeit, Langeweile abgemerkt hatte; sah ich viele Menschen in
einem engen Raume eingesperrt, so dachte ich, sie müßten in die großen
Zimmer mancher Häuser und Paläste einquartiert werden.  Diese Art zu
sehen war bei mir ganz natürlich, ohne die mindeste Reflexion, so daß
ich darüber als Kind das wunderlichste Zeug von der Welt machte und
mehr als einmal durch die sonderbarsten Anträge die Menschen in
Verlegenheit setzte.  Noch eine Eigenheit war es, daß ich das Geld nur
mit Mühe und spät als ein Mittel, die Bedürfnisse zu befriedigen,
ansehen konnte; alle meine Wohltaten bestanden in Naturalien, und ich
weiß, daß oft genug über mich gelacht worden ist.  Nur der Abbe schien
mich zu verstehen, er kam mir überall entgegen, er machte mich mit mir
selbst, mit diesen Wünschen und Neigungen bekannt und lehrte mich sie
zweckmäßig befriedigen."

"Haben Sie denn", fragte Wilhelm, "bei der Erziehung Ihrer kleinen
weiblichen Welt auch die Grundsätze jener sonderbaren Männer
angenommen? lassen Sie denn auch jede Natur sich selbst ausbilden?
lassen Sie denn auch die Ihrigen suchen und irren, Mißgriffe tun, sich
glücklich am Ziele finden oder unglücklich in die Irre verlieren?"

"Nein!" sagte Natalie, "diese Art, mit Menschen zu handeln, würde ganz
gegen meine Gesinnungen sein.  Wer nicht im Augenblick hilft, scheint
mir nie zu helfen; wer nicht im Augenblicke Rat gibt, nie zu raten.
Ebenso nötig scheint es mir, gewisse Gesetze auszusprechen und den
Kindern einzuschärfen, die dem Leben einen gewissen Halt geben.  Ja,
ich möchte beinah behaupten: es sei besser, nach Regeln zu irren, als
zu irren, wenn uns die Willkür unserer Natur hin und her treibt; und
wie ich die Menschen sehe, scheint mir in ihrer Natur immer eine Lücke
zu bleiben, die nur durch ein entschieden ausgesprochenes Gesetz
ausgefüllt werden kann."

"So ist also Ihre Handlungsweise", sagte Wilhelm, "völlig von jener
verschieden, welche unsere Freunde beobachten?"

"Ja!" versetzte Natalie, "Sie können aber hieraus die unglaubliche
Toleranz jener Männer sehen, daß sie eben auch mich auf meinem Wege,
gerade deswegen, weil es mein Weg ist, keinesweges stören, sondern mir
in allem, was ich nur wünschen kann, entgegenkommen."

Einen umständlichern Bericht, wie Natalie mit ihren Kindern verfuhr,
versparen wir auf eine andere Gelegenheit.

Mignon verlangte oft, in der Gesellschaft zu sein, und man vergönnte
es ihr um so lieber, als sie sich nach und nach wieder an Wilhelmen zu
gewöhnen, ihr Herz gegen ihn aufzuschließen und überhaupt heiterer und
lebenslustiger zu werden schien.  Sie hing sich beim Spazierengehen,
da sie leicht müde ward, gern an seinen Arm.  "Nun", sagte sie,
"Mignon klettert und springt nicht mehr, und doch fühlt sie noch immer
die Begierde, über die Gipfel der Berge wegzuspazieren, von einem
Hause aufs andere, von einem Baume auf den andern zu schreiten.  Wie
beneidenswert sind die Vögel, besonders wenn sie so artig und
vertraulich ihre Nester bauen."

Es ward nun bald zur Gewohnheit, daß Mignon ihren Freund mehr als
einmal in den Garten lud.  War dieser beschäftigt oder nicht zu finden,
so mußte Felix die Stelle vertreten, und wenn das gute Mädchen in
manchen Augenblicken ganz von der Erde los schien, so hielt sie sich
in andern gleichsam wieder fest an Vater und Sohn und schien eine
Trennung von diesen mehr als alles zu fürchten.

Natalie schien nachdenklich.  "Wir haben gewünscht, durch Ihre
Gegenwart", sagte sie, "das arme gute Herz wieder aufzuschließen; ob
wir wohlgetan haben, weiß ich nicht."  Sie schwieg und schien zu
erwarten, daß Wilhelm etwas sagen sollte.  Auch fiel ihm ein, daß
durch seine Verbindung mit Theresen Mignon unter den gegenwärtigen
Umständen aufs äußerste gekränkt werden müsse, allein er getraute sich
in seiner Ungewißheit nichts von diesem Vorhaben zu sprechen, er
vermutete nicht, daß Natalie davon unterrichtet sei.

Ebensowenig konnte er mit Freiheit des Geistes die Unterredung
verfolgen, wenn seine edle Freundin von ihrer Schwester sprach, ihre
guten Eigenschaften rühmte und ihren Zustand bedauerte.  Er war nicht
wenig verlegen, als Natalie ihm ankündigte, daß er die Gräfin bald
hier sehen werde.  "Ihr Gemahl", sagte sie, "hat nun keinen andern
Sinn, als den abgeschiedenen Grafen in der Gemeinde zu ersetzen, durch
Einsicht und Tätigkeit diese große Anstalt zu unterstützen und weiter
aufzubauen.  Er kommt mit ihr zu uns, um eine Art von Abschied zu
nehmen; er wird nachher die verschiedenen Orte besuchen, wo die
Gemeinde sich niedergelassen hat; man scheint ihn nach seinen Wünschen
zu behandeln, und fast glaub ich, er wagt mit meiner armen Schwester
eine Reise nach Amerika, um ja seinem Vorgänger recht ähnlich zu
werden; und da er einmal schon beinah überzeugt ist, daß ihm nicht
viel fehle, ein Heiliger zu sein, so mag ihm der Wunsch manchmal vor
der Seele schweben, womöglich zuletzt auch noch als Märtyrer zu
glänzen."



VIII. Buch, 4. Kapitel



Viertes Kapitel

Oft genug hatte man bisher von Fräulein Therese gesprochen, oft genug
ihrer im Vorbeigehen erwähnt, und fast jedesmal war Wilhelm im Begriff,
seiner neuen Freundin zu bekennen, daß er jenem trefflichen
Frauenzimmer sein Herz und seine Hand angeboten habe.  Ein gewisses
Gefühl, das er sich nicht erklären konnte, hielt ihn zurück; er
zauderte so lange, bis endlich Natalie selbst mit dem himmlischen,
bescheidnen, heitern Lächeln, das man an ihr zu sehen gewohnt war, zu
ihm sagte: "So muß ich denn doch zuletzt das Stillschweigen brechen
und mich in Ihr Vertrauen gewaltsam eindrängen!  Warum machen Sie mir
ein Geheimnis, mein Freund, aus einer Angelegenheit, die Ihnen so
wichtig ist und die mich selbst so nahe angeht?  Sie haben meiner
Freundin Ihre Hand angeboten; ich mische mich nicht ohne Beruf in
diese Sache, hier ist meine Legitimation! hier ist der Brief, den sie
Ihnen schreibt, den sie durch mich Ihnen sendet."

"Einen Brief von Theresen!" rief er aus.

"Ja, mein Herr! und Ihr Schicksal ist entschieden, Sie sind glücklich.
Lassen Sie mich Ihnen und meiner Freundin Glück wünschen."

Wilhelm verstummte und sah vor sich hin.  Natalie sah ihn an; sie
bemerkte, daß er blaß ward.  "Ihre Freude ist stark", fuhr sie fort,
"sie nimmt die Gestalt des Schreckens an, sie raubt Ihnen die Sprache.
Mein Anteil ist darum nicht weniger herzlich, weil er mich noch zum
Worte kommen läßt.  Ich hoffe, Sie werden dankbar sein, denn ich darf
Ihnen sagen: mein Einfluß auf Theresens Entschließung war nicht gering;
sie fragte mich um Rat, und sonderbarerweise waren Sie eben hier, ich
konnte die wenigen Zweifel, die meine Freundin noch hegte, glücklich
besiegen, die Boten gingen lebhaft hin und wider; hier ist ihr
Entschluß! hier ist die Entwickelung!  Und nun sollen Sie alle ihre
Briefe lesen, Sie sollen in das schöne Herz Ihrer Braut einen freien,
reinen Blick tun."

Wilhelm entfaltete das Blatt, das sie ihm unversiegelt überreichte; es
enthielt die freundlichen Worte:

"Ich bin die Ihre, wie ich bin und wie Sie mich kennen.  Ich nenne Sie
den Meinen, wie Sie sind und wie ich Sie kenne.  Was an uns selbst,
was an unsern Verhältnissen der Ehestand verändert, werden wir durch
Vernunft, frohen Mut und guten Willen zu übertragen wissen.  Da uns
keine Leidenschaft, sondern Neigung und Zutrauen zusammenführt, so
wagen wir weniger als tausend andere.  Sie verzeihen mir gewiß, wenn
ich mich manchmal meines alten Freundes herzlich erinnere; dafür will
ich Ihren Sohn als Mutter an meinen Busen drücken.  Wollen Sie mein
kleines Haus sogleich mit mir teilen, so sind Sie Herr und Meister,
indessen wird der Gutskauf abgeschlossen.  Ich wünschte, daß dort
keine neue Einrichtung ohne mich gemacht würde, um sogleich zu zeigen,
daß ich das Zutrauen verdiene, das Sie mir schenken.  Leben Sie wohl,
lieber, lieber Freund! geliebter Bräutigam, verehrter Gatte!  Therese
drückt Sie an ihre Brust mit Hoffnung und Lebensfreude.  Meine
Freundin wird Ihnen mehr, wird Ihnen alles sagen."

Wilhelm, dem dieses Blatt seine Therese wieder völlig vergegenwärtigt
hatte, war auch wieder völlig zu sich selbst gekommen.  Unter dem
Lesen wechselten die schnellsten Gedanken in seiner Seele.  Mit
Entsetzen fand er lebhafte Spuren einer Neigung gegen Natalien in
seinem Herzen; er schalt sich, er erklärte jeden Gedanken der Art für
Unsinn, er stellte sich Theresen in ihrer ganzen Vollkommenheit vor,
er las den Brief wieder, er ward heiter, oder vielmehr er erholte sich
so weit, daß er heiter scheinen konnte.  Natalie legte ihm die
gewechselten Briefe vor, aus denen wir einige Stellen ausziehen wollen.


Nachdem Therese ihren Bräutigam nach ihrer Art geschildert hatte, fuhr
sie fort:

"So stelle ich mir den Mann vor, der mir jetzt seine Hand anbietet.
Wie er von sich selbst denkt, wirst du künftig aus den Papieren sehen,
in welchen er sich mir ganz offen beschreibt; ich bin überzeugt, daß
ich mit ihm glücklich sein werde."

"Was den Stand betrifft, so weißt du, wie ich von jeher drüber gedacht
habe.  Einige Menschen fühlen die Mißverhältnisse der äußern Zustände
fürchterlich und können sie nicht übertragen.  Ich will niemanden
überzeugen, so wie ich nach meiner überzeugung handeln will.  Ich
denke kein Beispiel zu geben, wie ich doch nicht ohne Beispiel handle.
Mich ängstigen nur die innern Mißverhältnisse, ein Gefäß, das sich zu
dem, was es enthalten soll, nicht schickt; viel Prunk und wenig Genuß,
Reichtum und Geiz, Adel und Roheit, Jugend und Pedanterei, Bedürfnis
und Zeremonien, diese Verhältnisse wären's, die mich vernichten
könnten, die Welt mag sie stempeln und schätzen, wie sie will."

"Wenn ich hoffe, daß wir zusammen passen werden, so gründe ich meinen
Ausspruch vorzüglich darauf, daß er dir, liebe Natalie, die ich so
unendlich schätze und verehre, daß er dir ähnlich ist.  Ja, er hat von
dir das edle Suchen und Streben nach dem Bessern, wodurch wir das Gute,
das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen.  Wie oft habe ich
dich nicht im stillen getadelt, daß du diesen oder jenen Menschen
anders behandeltest, daß du in diesem oder jenem Fall dich anders
betrugst, als ich würde getan haben, und doch zeigte der Ausgang meist,
daß du recht hattest.  "Wenn wir", sagtest du, "die Menschen nur
nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie
behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie
dahin, wohin sie zu bringen sind."  Ich kann weder so sehen noch
handeln, das weiß ich recht gut.  Einsicht, Ordnung, Zucht, Befehl,
das ist meine Sache.  Ich erinnere mich noch wohl, was Jarno sagte:
"Therese dressiert ihre Zöglinge, Natalie bildet sie."  Ja, er ging so
weit, daß er mir einst die drei schönen Eigenschaften: Glaube, Liebe
und Hoffnung völlig absprach.  "Statt des Glaubens", sagte er, "hat
sie die Einsicht, statt der Liebe die Beharrlichkeit und statt der
Hoffnung das Zutrauen."  Auch will ich dir gerne gestehen, eh ich dich
kannte, kannte ich nichts Höheres in der Welt als Klarheit und
Klugheit; nur deine Gegenwart hat mich überzeugt, belebt, überwunden,
und deiner schönen, hohen Seele tret ich gerne den Rang ab.  Auch
meinen Freund verehre ich in ebendemselben Sinn; seine
Lebensbeschreibung ist ein ewiges Suchen und Nichtfinden; aber nicht
das leere Suchen, sondern das wunderbare, gutmütige Suchen begabt ihn,
er wähnt, man könne ihm das geben, was nur von ihm kommen kann.  So,
meine Liebe, schadet mir auch diesmal meine Klarheit nichts; ich kenne
meinen Gatten besser, als er sich selbst kennt, und ich achte ihn nur
um desto mehr.  Ich sehe ihn, aber ich übersehe ihn nicht, und alle
meine Einsicht reicht nicht hin zu ahnen, was er wirken kann.  Wenn
ich an ihn denke, vermischt sich sein Bild immer mit dem deinigen, und
ich weiß nicht, wie ich es wert bin, zwei solchen Menschen anzugehören.
Aber ich will es wert sein dadurch, daß ich meine Pflicht tue,
dadurch, daß ich erfülle, was man von mir erwarten und hoffen kann."

"Ob ich Lotharios gedenke?  Lebhaft und täglich.  Ihn kann ich in der
Gesellschaft, die mich im Geiste umgibt, nicht einen Augenblick missen.
O wie bedaure ich den trefflichen Mann, der durch einen Jugendfehler
mit mir verwandt ist, daß die Natur ihn dir so nahe gewollt hat.
Wahrlich, ein Wesen wie du wäre seiner mehr wert als ich.  Dir könnt
ich, dir müßt ich ihn abtreten.  Laß uns ihm sein, was nur möglich ist,
bis er eine würdige Gattin findet, und auch dann laß uns zusammen
sein und zusammen bleiben."

"Was werden nun aber unsre Freunde sagen?" begann Natalie.--"Ihr
Bruder weiß nichts davon?"--"Nein! sowenig als die Ihrigen, die Sache
ist diesmal nur unter uns Weibern verhandelt worden.  Ich weiß nicht,
was Lydie Theresen für Grillen in den Kopf gesetzt hat; sie scheint
dem Abbe und Jarno zu mißtrauen.  Lydie hat ihr gegen gewisse geheime
Verbindungen und Plane, von denen ich wohl im allgemeinen weiß, in die
ich aber niemals einzudringen gedachte, wenigstens einigen Argwohn
eingeflößt, und bei diesem entscheidenden Schritt ihres Lebens wollte
sie niemand als mir einigen Einfluß verstatten.  Mit meinem Bruder war
sie schon früher übereingekommen, daß sie sich wechselsweise ihre
Heirat nur melden, sich darüber nicht zu Rate ziehen wollten."

Natalie schrieb nun einen Brief an ihren Bruder, sie lud Wilhelmen ein,
einige Worte dazuzusetzen, Therese hatte sie darum gebeten.  Man
wollte eben siegeln, als Jarno sich unvermutet anmelden ließ.  Aufs
freundlichste ward er empfangen, auch schien er sehr munter und
scherzhaft und konnte endlich nicht unterlassen, zu sagen: "Eigentlich
komme ich hieher, um Ihnen eine sehr wunderbare, doch angenehme
Nachricht zu bringen; sie betrifft unsere Therese.  Sie haben uns
manchmal getadelt, schöne Natalie, daß wir uns um so vieles bekümmern;
nun aber sehen Sie, wie gut es ist, überall seine Spione zu haben.
Raten Sie, und lassen Sie uns einmal Ihre Sagazität sehen!"

Die Selbstgefälligkeit, womit er diese Worte aussprach, die
schalkhafte Miene, womit er Wilhelmen und Natalien ansah, überzeugten
beide, daß ihr Geheimnis entdeckt sei.  Natalie antwortete lächelnd:
"Wir sind viel künstlicher, als Sie denken, wir haben die Auflösung
des Rätsels, noch ehe es uns aufgegeben wurde, schon zu Papiere
gebracht."

Sie überreichte ihm mit diesen Worten den Brief an Lothario und war
zufrieden, der kleinen überraschung und Beschämung, die man ihnen
zugedacht hatte, auf diese Weise zu begegnen.  Jarno nahm das Blatt
mit einiger Verwunderung, überlief es nur, staunte, ließ es aus der
Hand sinken und sah sie beide mit großen Augen, mit einem Ausdruck der
überraschung, ja des Entsetzens an, den man auf seinem Gesichte nicht
gewohnt war.  Er sagte kein Wort.

Wilhelm und Natalie waren nicht wenig betroffen, Jarno ging in der
Stube auf und ab.  "Was soll ich sagen?" rief er aus, "oder soll ich's
sagen?  Es kann kein Geheimnis bleiben, die Verwirrung ist nicht zu
vermeiden.  Also denn Geheimnis gegen Geheimnis! überraschung gegen
überraschung!  Therese ist nicht die Tochter ihrer Mutter!  Das
Hindernis ist gehoben: ich komme hierher, Sie zu bitten, das edle
Mädchen zu einer Verbindung mit Lothario vorzubereiten."

Jarno sah die Bestürzung der beiden Freunde, welche die Augen zur Erde
niederschlugen.  "Dieser Fall ist einer von denen", sagte er, "die
sich in Gesellschaft am schlechtesten ertragen lassen.  Was jedes
dabei zu denken hat, denkt es am besten in der Einsamkeit; ich
wenigstens erbitte mir auf eine Stunde Urlaub."  Er eilte in den
Garten, Wilhelm folgte ihm mechanisch, aber in der Ferne.

Nach Verlauf einer Stunde fanden sie sich wieder zusammen.  Wilhelm
nahm das Wort und sagte: "Sonst, da ich ohne Zweck und Plan leicht, ja
leichtfertig lebte, kamen mir Freundschaft, Liebe, Neigung, Zutrauen
mit offenen Armen entgegen, ja sie drängten sich zu mir; jetzt, da es
Ernst wird, scheint das Schicksal mit mir einen andern Weg zu nehmen.
Der Entschluß, Theresen meine Hand anzubieten, ist vielleicht der
erste, der ganz rein aus mir selbst kommt.  Mit überlegung machte ich
meinen Plan, meine Vernunft war völlig damit einig, und durch die
Zusage des trefflichen Mädchens wurden alle meine Hoffnungen erfüllt.
Nun drückt das sonderbarste Geschick meine ausgestreckte Hand nieder.
Therese reicht mir die ihrige von ferne, wie im Traume, ich kann sie
nicht fassen, und das schöne Bild verläßt mich auf ewig.  So lebe denn
wohl, du schönes Bild! und ihr Bilder der reichsten Glückseligkeit,
die ihr euch darum her versammelt!"

Er schwieg einen Augenblick still, sah vor sich hin, und Jarno wollte
reden.  "Lassen Sie mich noch etwas sagen", fiel Wilhelm ihm ein;
"denn um mein ganzes Geschick wird ja doch diesmal das Los geworfen.
In diesem Augenblick kommt mir der Eindruck zu Hülfe, den Lotharios
Gegenwart beim ersten Anblick mir einprägte und der mir beständig
geblieben ist.  Dieser Mann verdient jede Art von Neigung und
Freundschaft, und ohne Aufopferung läßt sich keine Freundschaft denken.
Um seinetwillen war es mir leicht, ein unglückliches Mädchen zu
betören, um seinetwillen soll mir möglich werden, der würdigsten Braut
zu entsagen.  Gehen Sie hin, erzählen Sie ihm die sonderbare
Geschichte, und sagen Sie ihm, wozu ich bereit bin."

Jarno versetzte hierauf: "In solchen Fällen, halte ich dafür ist schon
alles getan, wenn man sich nur nicht übereilt.  Lassen Sie uns keinen
Schritt ohne Lotharios Einwilligung tun!  Ich will zu ihm, erwarten
Sie meine Zurückkunft oder seine Briefe ruhig."

Er ritt weg und hinterließ die beiden Freunde in der größten Wehmut.
Sie hatten Zeit, sich diese Begebenheit auf mehr als eine Weise zu
wiederholen und ihre Bemerkungen darüber zu machen.  Nun fiel es ihnen
erst auf, daß sie diese wunderbare Erklärung so gerade von Jarno
angenommen und sich nicht um die nähern Umstände erkundigt hatten.  Ja
Wilhelm wollte sogar einigen Zweifel hegen; aber aufs höchste stieg
ihr Erstaunen, ja ihre Verwirrung, als den andern Tag ein Bote von
Theresen ankam, der folgenden sonderbaren Brief an Natalien mitbrachte:


"So seltsam es auch scheinen mag, so muß ich doch meinem vorigen
Briefe sogleich noch einen nachsenden und dich ersuchen, mir meinen
Bräutigam eilig zu schicken.  Er soll mein Gatte werden, was man auch
für Plane macht, mir ihn zu rauben.  Gib ihm inliegenden Brief!  Nur
vor keinem Zeugen, es mag gegenwärtig sein, wer will."

Der Brief an Wilhelmen enthielt folgendes: "Was werden Sie von Ihrer
Therese denken, wenn sie auf einmal leidenschaftlich auf eine
Verbindung dringt, die der ruhigste Verstand nur eingeleitet zu haben
schien?  Lassen Sie sich durch nichts abhalten, gleich nach dem
Empfang des Briefes abzureisen.  Kommen Sie, lieber, lieber Freund,
nun dreifach Geliebter, da man mir Ihren Besitz rauben oder wenigstens
erschweren will."

"Was ist zu tun?" rief Wilhelm aus, als er diesen Brief gelesen hatte.

"Noch in keinem Fall", versetzte Natalie nach einigem Nachdenken, "hat
mein Herz und mein Verstand so geschwiegen als in diesem; ich wüßte
nichts zu tun, so wie ich nichts zu raten weiß."

"Wäre es möglich?" rief Wilhelm mit Heftigkeit aus, "daß Lothario
selbst nichts davon wüßte, oder wenn er davon weiß, daß er mit uns das
Spiel versteckter Plane wäre?  Hat Jarno, indem er unsern Brief
gesehen, das Märchen aus dem Stegreife erfunden?  Würde er uns was
anders gesagt haben, wenn wir nicht zu voreilig gewesen wären?  Was
kann man wollen?  Was für Absichten kann man haben?  Was kann Therese
für einen Plan meinen?  Ja, es läßt sich nicht leugnen, Lothario ist
von geheimen Wirkungen und Verbindungen umgeben, ich habe selbst
erfahren, daß man tätig ist, daß man sich in einem gewissen Sinne um
die Handlungen, um die Schicksale mehrerer Menschen bekümmert und sie
zu leiten weiß.  Von den Endzwecken dieser Geheimnisse verstehe ich
nichts, aber diese neueste Absicht, mir Theresen zu entreißen, sehe
ich nur allzu deutlich.  Auf einer Seite malt man mir das mögliche
Glück Lotharios, vielleicht nur zum Scheine, vor; auf der andern sehe
ich meine Geliebte, meine verehrte Braut, die mich an ihr Herz ruft.
Was soll ich tun?  Was soll ich unterlassen?"

"Nur ein wenig Geduld!" sagte Natalie, "nur eine kurze Bedenkzeit!  In
dieser sonderbaren Verknüpfung weiß ich nur so viel, daß wir das, was
unwiederbringlich ist, nicht übereilen sollen.  Gegen ein Märchen,
gegen einen künstlichen Plan stehen Beharrlichkeit und Klugheit uns
bei; es muß sich bald aufklären, ob die Sache wahr oder ob sie
erfunden ist.  Hat mein Bruder wirklich Hoffnung, sich mit Theresen zu
verbinden, so wäre es grausam, ihm ein Glück auf ewig zu entreißen in
dem Augenblicke, da es ihm so freundlich erscheint.  Lassen Sie uns
nur abwarten, ob er etwas davon weiß, ob er selbst glaubt, ob er
selbst hofft."

Diesen Gründen ihres Rats kam glücklicherweise ein Brief von Lothario
zu Hülfe: "Ich schicke Jarno nicht wieder zurück", schrieb er; "von
meiner Hand eine Zeile ist dir mehr als die umständlichsten Worte
eines Boten.  Ich bin gewiß, daß Therese nicht die Tochter ihrer
Mutter ist, und ich kann die Hoffnung, sie zu besitzen, nicht aufgeben,
bis sie auch überzeugt ist und alsdann zwischen mir und dem Freunde
mit ruhiger überlegung entscheidet.  Laß ihn, ich bitte dich, nicht
von deiner Seite!  Das Glück, das Leben eines Bruders hängt davon ab.
Ich verspreche dir, diese Ungewißheit soll nicht lange dauern."

"Sie sehen, wie die Sache steht", sagte sie freundlich zu Wilhelmen;
"geben Sie mir Ihr Ehrenwort, nicht aus dem Hause zu gehen."

"Ich gebe es!" rief er aus, indem er ihr die Hand reichte, "ich will
dieses Haus wider Ihren Willen nicht verlassen.  Ich danke Gott und
meinem guten Geist, daß ich diesmal geleitet werde, und zwar von Ihnen."

Natalie schrieb Theresen den ganzen Verlauf und erklärte, daß sie
ihren Freund nicht von sich lassen werde; sie schickte zugleich
Lotharios Brief mit.

Therese antwortete: "Ich bin nicht wenig verwundert, daß Lothario
selbst überzeugt ist, denn gegen seine Schwester wird er sich nicht
auf diesen Grad verstellen.  Ich bin verdrießlich, sehr verdrießlich.
Es ist besser, ich sage nichts weiter.  Am besten ist's, ich komme zu
dir, wenn ich nur erst die arme Lydie untergebracht habe, mit der man
grausam umgeht.  Ich fürchte, wir sind alle betrogen und werden so
betrogen, um nie ins klare zu kommen.  Wenn der Freund meinen Sinn
hätte, so entschlüpfte er dir doch und würfe sich an das Herz seiner
Therese, die ihm dann niemand entreißen sollte; aber ich fürchte, ich
soll ihn verlieren und Lothario nicht wiedergewinnen.  Diesem entreißt
man Lydien, indem man ihm die Hoffnung, mich besitzen zu können, von
weitem zeigt.  Ich will nichts weiter sagen, die Verwirrung wird noch
größer werden.  Ob nicht indessen die schönsten Verhältnisse so
verschoben, so untergraben und so zerrüttet werden, daß auch dann,
wenn alles im klaren sein wird, doch nicht wieder zu helfen ist, mag
die Zeit lehren.  Reißt sich mein Freund nicht los, so komme ich in
wenigen Tagen, um ihn bei dir aufzusuchen und festzuhalten.  Du
wunderst dich, wie diese Leidenschaft sich deiner Therese bemächtiget
hat.  Es ist keine Leidenschaft, es ist überzeugung, daß, da Lothario
nicht mein werden konnte, dieser neue Freund das Glück meines Lebens
machen wird.  Sag ihm das im Namen des kleinen Knaben, der mit ihm
unter der Eiche saß und sich seiner Teilnahme freute!  Sag ihm das im
Namen Theresens, die seinem Antrage mit einer herzlichen Offenheit
entgegenkam!  Mein erster Traum, wie ich mit Lothario leben würde, ist
weit von meiner Seele weggerückt; der Traum, wie ich mit meinem neuen
Freund zu leben gedachte, steht noch ganz gegenwärtig vor mir.  Achtet
man mich so wenig, daß man glaubt, es sei so was Leichtes, diesen mit
jenem aus dem Stegreife wieder umzutauschen?"

"Ich verlasse mich auf Sie", sagte Natalie zu Wilhelmen, indem sie ihm
den Brief Theresens gab; "Sie entfliehen mir nicht.  Bedenken Sie, daß
Sie das Glück meines Lebens in Ihrer Hand haben!  Mein Dasein ist mit
dem Dasein meines Bruders so innig verbunden und verwurzelt, daß er
keine Schmerzen fühlen kann, die ich nicht empfinde, keine Freude, die
nicht auch mein Glück macht.  Ja ich kann wohl sagen, daß ich allein
durch ihn empfunden habe, daß das Herz gerührt und erhoben, daß auf
der Welt Freude, Liebe und ein Gefühl sein kann, das über alles
Bedürfnis hinaus befriedigt."

Sie hielt inne, Wilhelm nahm ihre Hand und rief: "O fahren Sie fort!
Es ist die rechte Zeit zu einem wahren, wechselseitigen Vertrauen; wir
haben nie nötiger gehabt, uns genauer zu kennen."

"Ja, mein Freund!" sagte sie lächelnd mit ihrer ruhigen, sanften,
unbeschreiblichen Hoheit, "es ist vielleicht nicht außer der Zeit,
wenn ich Ihnen sage, daß alles, was uns so manches Buch, was uns die
Welt als Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Märchen
erschienen sei."

"Sie haben nicht geliebt?" rief Wilhelm aus.

"Nie oder immer!" versetzte Natalie.



VIII. Buch, 5. Kapitel--1



Fünftes Kapitel

Sie waren unter diesem Gespräch im Garten auf und ab gegangen, Natalie
hatte verschiedene Blumen von seltsamer Gestalt gebrochen, die
Wilhelmen völlig unbekannt waren und nach deren Namen er fragte.

"Sie vermuten wohl nicht", sagte Natalie, "für wen ich diesen Strauß
pflücke?  Er ist für meinen Oheim bestimmt, dem wir einen Besuch
machen wollen.  Die Sonne scheint eben so lebhaft nach dem Saale der
Vergangenheit, ich muß Sie diesen Augenblick hineinführen, und ich
gehe niemals hin, ohne einige von den Blumen, die mein Oheim besonders
begünstigte, mitzubringen.  Er war ein sonderbarer Mann und der
eigensten Eindrücke fähig.  Für gewisse Pflanzen und Tiere, für
gewisse Menschen und Gegenden, ja sogar zu einigen Steinarten hatte er
eine entschiedene Neigung, die selten erklärlich war.  "Wenn ich
nicht", pflegte er oft zu sagen, "mir von Jugend auf so sehr
widerstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, meinen Verstand ins
Weite und Allgemeine auszubilden, so wäre ich der beschränkteste und
unerträglichste Mensch geworden: denn nichts ist unerträglicher als
abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine,
gehörige Tätigkeit fordern kann."  Und doch mußte er selbst gestehen,
daß ihm gleichsam Leben und Atem ausgehen würde, wenn er sich nicht
von Zeit zu Zeit nachsähe und sich erlaubte, das mit Leidenschaft zu
genießen, was er eben nicht immer loben und entschuldigen konnte.
"Meine Schuld ist es nicht", sagte er, "wenn ich meine Triebe und
meine Vernunft nicht völlig habe in Einstimmung bringen können."  Bei
solchen Gelegenheiten pflegte er meist über mich zu scherzen und zu
sagen: Natalien kann man bei Leibesleben seligpreisen, da ihre Natur
nichts fordert, als was die Welt wünscht und braucht.""

Unter diesen Worten waren sie wieder in das Hauptgebäude gelangt.  Sie
führte ihn durch einen geräumigen Gang auf eine Türe zu, vor der zwei
Sphinxe von Granit lagen.  Die Türe selbst war auf ägyptische Weise
oben ein wenig enger als unten, und ihre ehernen Flügel bereiteten zu
einem ernsthaften, ja zu einem schauerlichen Anblick vor.  Wie
angenehm ward man daher überrascht, als diese Erwartung sich in die
reinste Heiterkeit auflöste, indem man in einen Saal trat, in welchem
Kunst und Leben jede Erinnerung an Tod und Grab aufhoben.  In die
Wände waren verhältnismäßige Bogen vertieft, in denen größere
Sarkophagen standen; in den Pfeilern dazwischen sah man kleinere
öffnungen, mit Aschenkästchen und Gefäßen geschmückt; die übrigen
Flächen der Wände und des Gewölbes sah man regelmäßig abgeteilt und
zwischen heitern und mannigfaltigen Einfassungen, Kränzen und Zieraten
heitere und bedeutende Gestalten in Feldern von verschiedener Größe
gemalt.  Die architektonischen Glieder waren mit dem schönen gelben
Marmor, der ins Rötliche hinüberblickt, bekleidet, hellblaue Streifen
von einer glücklichen chemischen Komposition ahmten den Lasurstein
nach und gaben, indem sie gleichsam in einem Gegensatz das Auge
befriedigten, dem Ganzen Einheit und Verbindung.  Alle diese Pracht
und Zierde stellte sich in reinen architektonischen Verhältnissen dar,
und so schien jeder, der hineintrat, über sich selbst erhoben zu sein,
indem er durch die zusammentreffende Kunst erst erfuhr, was der Mensch
sei und was er sein könne.

Der Türe gegenüber sah man auf einem prächtigen Sarkophagen das
Marmorbild eines würdigen Mannes, an ein Polster gelehnt.  Er hielt
eine Rolle vor sich und schien mit stiller Aufmerksamkeit
daraufzublicken.  Sie war so gerichtet, daß man die Worte, die sie
enthielt, bequem lesen konnte.  Es stand darauf: "Gedenke zu leben!"

Natalie, indem sie einen verwelkten Strauß wegnahm, legte den frischen
vor das Bild des Oheims; denn er selbst war in der Figur vorgestellt,
und Wilhelm glaubte sich noch der Züge des alten Herrn zu erinnern,
den er damals im Walde gesehen hatte.  "Hier brachten wir manche
Stunde zu", sagte Natalie, "bis dieser Saal fertig war.  In seinen
letzten Jahren hatte er einige geschickte Künstler an sich gezogen,
und seine beste Unterhaltung war, die Zeichnungen und Kartone zu
diesen Gemälden aussinnen und bestimmen zu helfen."

Wilhelm konnte sich nicht genug der Gegenstände freuen, die ihn
umgaben.  "Welch ein Leben", rief er aus, "in diesem Saale der
Vergangenheit!  Man könnte ihn ebensogut den Saal der Gegenwart und
der Zukunft nennen.  So war alles, und so wird alles sein!  Nichts ist
vergänglich als der eine, der genießt und zuschaut.  Hier dieses Bild
der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen
glücklicher Mütter überleben.  Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut
sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und
sich mit seinem Sohne neckt.  So verschämt wird durch alle Zeiten die
Braut sitzen und bei ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie
tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der Bräutigam auf der
Schwelle horchen, ob er hereintreten darf."

Wilhelms Augen schweiften auf unzählige Bilder umher.  Vom ersten
frohen Triebe der Kindheit, jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und
zu üben, bis zum ruhigen, abgeschiedenen Ernste des Weisen konnte man
in schöner, lebendiger Folge sehen, wie der Mensch keine angeborne
Neigung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen.
Von dem ersten zarten Selbstgefühl, wenn das Mädchen verweilt, den
Krug aus dem klaren Wasser wieder heraufzuheben, und indessen ihr Bild
gefällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feierlichkeiten, wenn Könige
und Völker zu Zeugen ihrer Verbindungen die Götter am Altare anrufen,
zeigte sich alles bedeutend und kräftig.

Es war eine Welt, es war ein Himmel, der den Beschauenden an dieser
Stätte umgab, und außer den Gedanken, welche jene gebildeten Gestalten
erregten, außer den Empfindungen, welche sie einflößten, schien noch
etwas andres gegenwärtig zu sein, wovon der ganze Mensch sich
angegriffen fühlte.  Auch Wilhelm bemerkte es, ohne sich davon
Rechenschaft geben zu können.  "Was ist das", rief er aus, "das,
unabhängig von aller Bedeutung, frei von allem Mitgefühl, das uns
menschliche Begebenheiten und Schicksale einflößen, so stark und
zugleich so anmutig auf mich zu wirken vermag?  Es spricht aus dem
Ganzen, es spricht aus jedem Teile mich an, ohne daß ich jenes
begreifen, ohne daß ich diese mir besonders zueignen könnte!  Welchen
Zauber ahn ich in diesen Flächen, diesen Linien, diesen Höhen und
Breiten, diesen Massen und Farben!  Was ist es, das diese Figuren,
auch nur obenhin betrachtet, schon als Zierat so erfreulich macht?  Ja,
ich fühle, man könnte hier verweilen, ruhen, alles mit den Augen
fassen, sich glücklich finden und ganz etwas andres fühlen und denken
als das, was vor Augen steht."

Und gewiß, könnten wir beschreiben, wie glücklich alles eingeteilt war,
wie an Ort und Stelle durch Verbindung oder Gegensatz, durch
Einfärbigkeit oder Buntheit alles bestimmt, so und nicht anders
erschien, als es erscheinen sollte, und eine so vollkommene als
deutliche Wirkung hervorbrachte, so würden wir den Leser an einen Ort
versetzen, von dem er sich so bald nicht zu entfernen wünschte.

Vier große marmorne Kandelaber standen in den Ecken des Saals, vier
kleinere in der Mitte um einen sehr schön gearbeiteten Sarkophag, der
seiner Größe nach eine junge Person von mittlerer Gestalt konnte
enthalten haben.

Natalie blieb bei diesem Monumente stehen, und indem sie die Hand
darauflegte, sagte sie: "Mein guter Oheim hatte große Vorliebe zu
diesem Werke des Altertums.  Er sagte manchmal: "Nicht allein die
ersten Blüten fallen ab, die ihr da oben in jenen kleinen Räumen
verwahren könnt, sondern auch Früchte, die am Zweige hängend uns noch
lange die schönste Hoffnung geben, indes ein heimlicher Wurm ihre
frühere Reife und ihre Zerstörung vorbereitet."  Ich fürchte", fuhr
sie fort, "er hat auf das liebe Mädchen geweissagt, das sich unserer
Pflege nach und nach zu entziehen und zu dieser ruhigen Wohnung zu
neigen scheint."

Als sie im Begriff waren wegzugehn, sagte Natalie: "Ich muß Sie noch
auf etwas aufmerksam machen.  Bemerken Sie diese halbrunden öffnungen
in der Höhe auf beiden Seiten!  Hier können die Chöre der Sänger
verborgen stehen, und diese ehrnen Zieraten unter dem Gesimse dienen,
die Teppiche zu befestigen, die nach der Verordnung meines Oheims bei
jeder Bestattung aufgehängt werden sollen.  Er konnte nicht ohne Musik,
besonders nicht ohne Gesang leben und hatte dabei die Eigenheit, daß
er die Sänger nicht sehen wollte.  Er pflegte zu sagen: "Das Theater
verwöhnt uns gar zu sehr, die Musik dient dort nur gleichsam dem Auge,
sie begleitet die Bewegungen, nicht die Empfindungen.  Bei Oratorien
und Konzerten stört uns immer die Gestalt des Musikus; die wahre Musik
ist allein fürs Ohr; eine schöne Stimme ist das Allgemeinste, was sich
denken läßt, und indem das eingeschränkte Individuum, das sie
hervorbringt, sich vors Auge stellt, zerstört es den reinen Effekt
jener Allgemeinheit.  Ich will jeden sehen, mit dem ich reden soll,
denn es ist ein einzelner Mensch, dessen Gestalt und Charakter die
Rede wert oder unwert macht; hingegen wer mir singt, soll unsichtbar
sein; seine Gestalt soll mich nicht bestechen oder irremachen.  Hier
spricht nur ein Organ zum Organe, nicht der Geist zum Geiste, nicht
eine tausendfältige Welt zum Auge, nicht ein Himmel zum Menschen."
Ebenso wollte er auch bei Instrumentalmusiken die Orchester soviel als
möglich versteckt haben, weil man durch die mechanischen Bemühungen
und durch die notdürftigen, immer seltsamen Gebärden der
Instrumentenspieler so sehr zerstreut und verwirrt werde.  Er pflegte
daher eine Musik nicht anders als mit zugeschlossenen Augen anzuhören,
um sein ganzes Dasein auf den einzigen, reinen Genuß des Ohrs zu
konzentrieren."

Sie wollten eben den Saal verlassen, als sie die Kinder in dem Gange
heftig laufen und den Felix rufen hörten: "Nein ich! nein ich!"

Mignon warf sich zuerst zur geöffneten Türe herein; sie war außer Atem
und konnte kein Wort sagen; Felix, noch in einiger Entfernung, rief:
"Mutter Therese ist da!"  Die Kinder hatten, so schien es, die
Nachricht zu überbringen, einen Wettlauf angestellt.  Mignon lag in
Nataliens Armen, ihr Herz pochte gewaltsam.

"Böses Kind", sagte Natalie, "ist dir nicht alle heftige Bewegung
untersagt?  Sieh, wie dein Herz schlägt!"

"Laß es brechen!" sagte Mignon mit einem tiefen Seufzer, "es schlägt
schon zu lange."

Man hatte sich von dieser Verwirrung, von dieser Art von Bestürzung
kaum erholt, als Therese hereintrat.  Sie flog auf Natalien zu,
umarmte sie und das gute Kind.  Dann wendete sie sich zu Wilhelmen,
sah ihn mit ihren klaren Augen an und sagte: "Nun, mein Freund, wie
steht es, Sie haben sich doch nicht irremachen lassen?"  Er tat einen
Schritt gegen sie, sie sprang auf ihn zu und hing an seinem Halse.  "O
meine Therese!" rief er aus.

"Mein Freund! mein Geliebter! mein Gatte! ja, auf ewig die Deine!"
rief sie unter den lebhaftesten Küssen.

Felix zog sie am Rocke und rief: "Mutter Therese, ich bin auch da!"
Natalie stand und sah vor sich hin; Mignon fuhr auf einmal mit der
linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig
ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei zu Nataliens Füßen für tot
nieder.

Der Schrecken war groß: keine Bewegung des Herzens noch des Pulses war
zu spüren.  Wilhelm nahm sie auf seinen Arm und trug sie eilig hinauf,
der schlotternde Körper hing über seine Schultern.  Die Gegenwart des
Arztes gab wenig Trost; er und der junge Wundarzt, den wir schon
kennen, bemühten sich vergebens.  Das liebe Geschöpf war nicht ins
Leben zurückzurufen.

Natalie winkte Theresen.  Diese nahm ihren Freund bei der Hand und
führte ihn aus dem Zimmer.  Er war stumm und ohne Sprache und hatte
den Mut nicht, ihren Augen zu begegnen.  So saß er neben ihr auf dem
Kanapee, auf dem er Natalien zuerst angetroffen hatte.  Er dachte mit
großer Schnelle eine Reihe von Schicksalen durch, oder vielmehr er
dachte nicht, er ließ das auf seine Seele wirken, was er nicht
entfernen konnte.  Es gibt Augenblicke des Lebens, in welchen die
Begebenheiten gleich geflügelten Weberschiffchen vor uns sich hin und
wider bewegen und unaufhaltsam ein Gewebe vollenden, das wir mehr oder
weniger selbst gesponnen und angelegt haben.  "Mein Freund!" sagte
Therese; "mein Geliebter!" indem sie das Stillschweigen unterbrach und
ihn bei der Hand nahm, "laß uns diesen Augenblick fest zusammenhalten,
wie wir noch öfters, vielleicht in ähnlichen Fällen, werden zu tun
haben.  Dies sind die Ereignisse, welche zu ertragen man zu zweien in
der Welt sein muß.  Bedenke, mein Freund, fühle, daß du nicht allein
bist, zeige, daß du deine Therese liebst, zuerst dadurch, daß du deine
Schmerzen ihr mitteilst!"  Sie umarmte ihn und schloß ihn sanft an
ihren Busen; er faßte sie in seine Arme und drückte sie mit Heftigkeit
an sich.  "Das arme Kind", rief er aus, "suchte in traurigen
Augenblicken Schutz und Zuflucht an meinem unsichern Busen; laß die
Sicherheit des deinigen mir in dieser schrecklichen Stunde zugute
kommen."  Sie hielten sich fest umschlossen, er fühlte ihr Herz an
seinem Busen schlagen, aber in seinem Geiste war es öde und leer; nur
die Bilder Mignons und Nataliens schwebten wie Schatten vor seiner
Einbildungskraft.

Natalie trat herein.  "Gib uns deinen Segen!" rief Therese, "laß uns
in diesem traurigen Augenblicke von dir verbunden sein."  Wilhelm
hatte sein Gesicht an Theresens Halse verborgen; er war glücklich
genug, weinen zu können.  Er hörte Natalien nicht kommen, er sah sie
nicht, nur bei dem Klang ihrer Stimme verdoppelten sich seine Tränen.
"Was Gott zusammenfügt, will ich nicht scheiden", sagte Natalie
lächelnd, "aber verbinden kann ich euch nicht und kann nicht loben,
daß Schmerz und Neigung die Erinnerung an meinen Bruder völlig aus
euren Herzen zu verbannen scheint."  Wilhelm riß sich bei diesen
Worten aus den Armen Theresens.  "Wo wollen Sie hin?" riefen beide
Frauen.  "Lassen Sie mich das Kind sehen", rief er aus, "das ich
getötet habe!  Das Unglück, das wir mit Augen sehen, ist geringer, als
wenn unsere Einbildungskraft das übel gewaltsam in unser Gemüt
einsenkt; lassen Sie uns den abgeschiedenen Engel sehen!  Seine
heitere Miene wird uns sagen, daß ihm wohl ist!"  Da die Freundinnen
den bewegten Jüngling nicht abhalten konnten, folgten sie ihm; aber
der gute Arzt, der mit dem Chirurgus ihnen entgegenkam, hielt sie ab,
sich der Verblichenen zu nähern, und sagte: "Halten Sie sich von
diesem traurigen Gegenstande entfernt, und erlauben Sie mir, daß ich
den Resten dieses sonderbaren Wesens, soviel meine Kunst vermag,
einige Dauer gebe.  Ich will die schöne Kunst, einen Körper nicht
allein zu balsamieren, sondern ihm auch ein lebendiges Ansehn zu
erhalten, bei diesem geliebten Geschöpfe sogleich anwenden.  Da ich
ihren Tod voraussah, habe ich alle Anstalten gemacht, und mit diesem
Gehülfen hier soll mir's gelingen.  Erlauben Sie mir nur noch einige
Tage Zeit, und verlangen Sie das liebe Kind nicht wieder zu sehen, bis
wir es in den Saal der Vergangenheit gebracht haben."

Der junge Chirurgus hatte jene merkwürdige Instrumententasche wieder
in Händen.  "Von wem kann er sie wohl haben?" fragte Wilhelm den Arzt.
"Ich kenne sie sehr gut", versetzte Natalie, "er hat sie von seinem
Vater, der Sie damals im Walde verband."

"Oh, so habe ich mich nicht geirrt," rief Wilhelm, "ich erkannte das
Band sogleich!  Treten Sie mir es ab!  Es brachte mich zuerst wieder
auf die Spur von meiner Wohltäterin.  Wieviel Wohl und Wehe überdauert
nicht ein solches lebloses Wesen!  Bei wieviel Schmerzen war dies Band
nicht schon gegenwärtig, und seine Fäden halten noch immer!  Wie
vieler Menschen letzten Augenblick hat es schon begleitet, und seine
Farben sind noch nicht verblichen!  Es war gegenwärtig in einem der
schönsten Augenblicke meines Lebens, da ich verwundet auf der Erde lag
und Ihre hülfreiche Gestalt vor mir erschien, als das Kind mit
blutigen Haaren, mit der zärtlichsten Sorgfalt für mein Leben besorgt
war, dessen frühzeitigen Tod wir nun beweinen."

Die Freunde hatten nicht lange Zeit, sich über diese traurige
Begebenheit zu unterhalten und Fräulein Theresen über das Kind und
über die wahrscheinliche Ursache seines unerwarteten Todes aufzuklären;
denn es wurden Fremde gemeldet, die, als sie sich zeigten,
keinesweges fremd waren.  Lothario, Jarno, der Abbe traten herein.
Natalie ging ihrem Bruder entgegen; unter den übrigen entstand ein
augenblickliches Stillschweigen.  Therese sagte lächelnd zu Lothario:
"Sie glaubten wohl kaum, mich hier zu finden; wenigstens ist es eben
nicht rätlich, daß wir uns in diesem Augenblick aufsuchen; indessen
sein Sie mir nach einer so langen Abwesenheit herzlich gegrüßt."

Lothario reichte ihr die Hand und versetzte: "Wenn wir einmal leiden
und entbehren sollen, so mag es immerhin auch in der Gegenwart des
geliebten, wünschenswerten Gutes geschehen.  Ich verlange keinen
Einfluß auf Ihre Entschließung, und mein Vertrauen auf Ihr Herz, auf
Ihren Verstand und reinen Sinn ist noch immer so groß, daß ich Ihnen
mein Schicksal und das Schicksal meines Freundes gerne in die Hand
lege."

Das Gespräch wendete sich sogleich zu allgemeinen, ja man darf sagen,
zu unbedeutenden Gegenständen.  Die Gesellschaft trennte sich bald zum
Spazierengehen in einzelne Paare.  Natalie war mit Lothario, Therese
mit dem Abbe gegangen, und Wilhelm war mit Jarno auf dem Schlosse
geblieben.



VIII. Buch, 5. Kapitel--2



Die Erscheinung der drei Freunde in dem Augenblick, da Wilhelmen ein
schwerer Schmerz auf der Brust lag, hatte, statt ihn zu zerstreuen,
seine Laune gereizt und verschlimmert; er war verdrießlich und
argwöhnisch und konnte und wollte es nicht verhehlen, als Jarno ihn
über sein mürrisches Stillschweigen zur Rede setzte.  "Was braucht's
da weiter?" rief Wilhelm aus.  "Lothario kommt mit seinen Beiständen,
und es wäre wunderbar, wenn jene geheimnisvollen Mächte des Turms, die
immer so geschäftig sind, jetzt nicht auf uns wirken und ich weiß
nicht was für einen seltsamen Zweck mit und an uns ausführen sollten.
Soviel ich diese heiligen Männer kenne, scheint es jederzeit ihre
löbliche Absicht, das Verbundene zu trennen und das Getrennte zu
verbinden.  Was daraus für ein Gewebe entstehen kann, mag wohl unsern
unheiligen Augen ewig ein Rätsel bleiben."

"Sie sind verdrießlich und bitter", sagte Jarno, "das ist recht schön
und gut.  Wenn Sie nur erst einmal recht böse werden, wird es noch
besser sein."

"Dazu kann auch Rat werden", versetzte Wilhelm, "und ich fürchte sehr,
daß man Lust hat, meine angeborne und angebildete Geduld diesmal aufs
äußerste zu reizen."

"So möchte ich Ihnen denn doch", sagte Jarno, "indessen, bis wir sehen,
wo unsere Geschichten hinauswollen, etwas von dem Turme erzählen,
gegen den Sie ein so großes Mißtrauen zu hegen scheinen."

"Es steht bei Ihnen", versetzte Wilhelm, "wenn Sie es auf meine
Zerstreuung hin wagen wollen.  Mein Gemüt ist so vielfach beschäftigt,
daß ich nicht weiß, ob es an diesen würdigen Abenteuern den schuldigen
Teil nehmen kann."

"Ich lasse mich", sagte Jarno, "durch Ihre angenehme Stimmung nicht
abschrecken, Sie über diesen Punkt aufzuklären.  Sie halten mich für
einen gescheiten Kerl, und Sie sollen mich auch noch für einen
ehrlichen halten, und, was mehr ist, diesmal hab ich Auftrag."--"Ich
wünschte", versetzte Wilhelm, "Sie sprächen aus eigner Bewegung und
aus gutem Willen, mich aufzuklären; und da ich Sie nicht ohne
Mißtrauen hören kann, warum soll ich Sie anhören?"--"Wenn ich jetzt
nichts Besseres zu tun habe", sagte Jarno, "als Märchen zu erzählen,
so haben Sie ja auch wohl Zeit, ihnen einige Aufmerksamkeit zu widmen;
vielleicht sind Sie dazu geneigter, wenn ich Ihnen gleich anfangs sage:
alles, was Sie im Turme gesehen haben, sind eigentlich nur noch
Reliquien von einem jugendlichen Unternehmen, bei dem es anfangs den
meisten Eingeweihten großer Ernst war und über das nun alle
gelegentlich nur lächeln."

"Also mit diesen würdigen Zeichen und Worten spielt man nur!" rief
Wilhelm aus, "man führt uns mit Feierlichkeit an einen Ort, der uns
Ehrfurcht einflößt, man läßt uns die wunderlichsten Erscheinungen
sehen, man gibt uns Rollen voll herrlicher, geheimnisreicher Sprüche,
davon wir freilich das wenigste verstehn, man eröffnet uns, daß wir
bisher Lehrlinge waren, man spricht uns los, und wir sind so klug wie
vorher."--"Haben Sie das Pergament nicht bei der Hand?" fragte Jarno,
"es enthält viel Gutes: denn jene allgemeinen Sprüche sind nicht aus
der Luft gegriffen; freilich scheinen sie demjenigen leer und dunkel,
der sich keiner Erfahrung dabei erinnert.  Geben Sie mir den
sogenannten Lehrbrief doch, wenn er in der Nähe ist."--"Gewiß, ganz
nah", versetzte Wilhelm; "so ein Amulett sollte man immer auf der
Brust tragen."--"Nun", sagte Jarno lächelnd, "wer weiß, ob der Inhalt
nicht einmal in Ihrem Kopf und Herzen Platz findet."

Jarno blickte hinein und überlief die erste Hälfte mit den Augen.
"Diese", sagte er, "bezieht sich auf die Ausbildung des Kunstsinnes,
wovon andere sprechen mögen; die zweite handelt vom Leben, und da bin
ich besser zu Hause."

Er fing darauf an, Stellen zu lesen, sprach dazwischen und knüpfte
Anmerkungen und Erzählungen mit ein.  "Die Neigung der Jugend zum
Geheimnis, zu Zeremonien und großen Worten ist außerordentlich, und
oft ein Zeichen einer gewissen Tiefe des Charakters.  Man will in
diesen Jahren sein ganzes Wesen, wenn auch nur dunkel und unbestimmt,
ergriffen und berührt fühlen.  Der Jüngling, der vieles ahnet, glaubt
in einem Geheimnisse viel zu finden, in ein Geheimnis viel legen und
durch dasselbe wirken zu müssen.  In diesen Gesinnungen bestärkte der
Abbe eine junge Gesellschaft, teils nach seinen Grundsätzen, teils aus
Neigung und Gewohnheit, da er wohl ehemals mit einer Gesellschaft in
Verbindung stand, die selbst viel im verborgenen gewirkt haben mochte.
Ich konnte mich am wenigsten in dieses Wesen finden.  Ich war älter
als die andern, ich hatte von Jugend auf klar gesehen und wünschte in
allen Dingen nichts als Klarheit; ich hatte kein ander Interesse, als
die Welt zu kennen, wie sie war, und steckte mit dieser Liebhaberei
die übrigen besten Gefährten an, und fast hätte darüber unsere ganze
Bildung eine falsche Richtung genommen: denn wir fingen an, nur die
Fehler der andern und ihre Beschränkung zu sehen und uns selbst für
treffliche Wesen zu halten.  Der Abbe kam uns zu Hülfe und lehrte uns,
daß man die Menschen nicht beobachten müsse, ohne sich für ihre
Bildung zu interessieren, und daß man sich selbst eigentlich nur in
der Tätigkeit zu beobachten und zu erlauschen imstande sei.  Er riet
uns, jene ersten Formen der Gesellschaft beizubehalten; es blieb daher
etwas Gesetzliches in unsern Zusammenkünften, man sah wohl die ersten
mystischen Eindrücke auf die Einrichtung des Ganzen, nachher nahm es,
wie durch ein Gleichnis, die Gestalt eines Handwerks an, das sich bis
zur Kunst erhob.  Daher kamen die Benennungen von Lehrlingen, Gehülfen
und Meistern.  Wir wollten mit eigenen Augen sehen und uns ein eigenes
Archiv unserer Weltkenntnis bilden; daher entstanden die vielen
Konfessionen, die wir teils selbst schrieben, teils wozu wir andere
veranlaßten und aus denen nachher die "Lehrjahre" zusammengesetzt
wurden.  Nicht allen Menschen ist es eigentlich um ihre Bildung zu tun;
viele wünschen nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden, Rezepte zum
Reichtum und zu jeder Art von Glückseligkeit.  Alle diese, die nicht
auf ihre Füße gestellt sein wollten, wurden mit Mystifikationen und
anderm Hokuspokus teils aufgehalten, teils beiseite gebracht.  Wir
sprachen nach unserer Art nur diejenigen los, die lebhaft fühlten und
deutlich bekannten, wozu sie geboren seien, und die sich genug geübt
hatten, um mit einer gewissen Fröhlichkeit und Leichtigkeit ihren Weg
zu verfolgen."

"So haben Sie sich mit mir sehr übereilt", versetzte Wilhelm; "denn
was ich kann, will oder soll, weiß ich gerade seit jenem Augenblick am
allerwenigsten."--"Wir sind ohne Schuld in diese Verwirrung geraten,
das gute Glück mag uns wieder heraushelfen; indessen hören Sie nur:
"Derjenige, an dem viel zu entwickeln ist, wird später über sich und
die Welt aufgeklärt.  Es sind nur wenige, die den Sinn haben und
zugleich zur Tat fähig sind.  Der Sinn erweitert, aber lähmt; die Tat
belebt, aber beschränkt.""

"Ich bitte Sie", fiel Wilhelm ein, "lesen Sie mir von diesen
wunderlichen Worten nichts mehr!  Diese Phrasen haben mich schon
verwirrt genug gemacht."--"So will ich bei der Erzählung bleiben",
sagte Jarno, indem er die Rolle halb zuwickelte und nur manchmal einen
Blick hinein tat.  "Ich selbst habe der Gesellschaft und den Menschen
am wenigsten genutzt; ich bin ein sehr schlechter Lehrmeister, es ist
mir unerträglich zu sehen, wenn jemand ungeschickte Versuche macht,
einem Irrenden muß ich gleich zurufen, und wenn es ein Nachtwandler
wäre, den ich in Gefahr sähe, geradenweges den Hals zu brechen.
Darüber hatte ich nun immer meine Not mit dem Abbe, der behauptet, der
Irrtum könne nur durch das Irren geheilt werden.  Auch über Sie haben
wir uns oft gestritten; er hatte Sie besonders in Gunst genommen, und
es will schon etwas heißen, in dem hohen Grade seine Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen.  Sie müssen mir nachsagen, daß ich Ihnen, wo ich
Sie antraf, die reine Wahrheit sagte."--"Sie haben mich wenig
geschont", sagte Wilhelm, "und Sie scheinen Ihren Grundsätzen treu zu
bleiben."--"Was ist denn da zu schonen", versetzte Jarno, "wenn ein
junger Mensch von mancherlei guten Anlagen eine ganz falsche Richtung
nimmt?"--"Verzeihen Sie", sagte Wilhelm, "Sie haben mir streng genug
alle Fähigkeit zum Schauspieler abgesprochen; ich gestehe Ihnen, daß,
ob ich gleich dieser Kunst ganz entsagt habe, so kann ich mich doch
unmöglich bei mir selbst dazu für ganz unfähig erklären."--"Und bei
mir", sagte Jarno, "ist es doch so rein entschieden, daß, wer sich nur
selbst spielen kann, kein Schauspieler ist.  Wer sich nicht dem Sinn
und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient
nicht diesen Namen.  So haben Sie zum Beispiel den Hamlet und einige
andere Rollen recht gut gespielt, bei denen Ihr Charakter, Ihre
Gestalt und die Stimmung des Augenblicks Ihnen zugute kamen.  Das wäre
nun für ein Liebhabertheater und für einen jeden gut genug, der keinen
andern Weg vor sich sähe.  "Man soll sich"", fuhr Jarno fort, indem er
auf die Rolle sah, ""vor einem Talente hüten, das man in
Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat.  Man mag es darin so weit
bringen, als man will, so wird man doch immer zuletzt, wenn uns einmal
das Verdienst des Meisters klar wird, den Verlust von Zeit und Kräften,
die man auf eine solche Pfuscherei gewendet hat, schmerzlich bedauern.
""

"Lesen Sie nichts!" sagte Wilhelm, "ich bitte Sie inständig, sprechen
Sie fort, erzählen Sie mir, klären Sie mich auf!  Und so hat also der
Abbe mir zum Hamlet geholfen, indem er einen Geist
herbeischaffte?"--"Ja, denn er versicherte, daß es der einzige Weg sei,
Sie zu heilen, wenn Sie heilbar wären."--"Und darum ließ er mir den
Schleier zurück und hieß mich fliehen?"--"Ja, er hoffte sogar, mit der
Vorstellung des Hamlets sollte Ihre ganze Lust gebüßt sein.  Sie
würden nachher das Theater nicht wieder betreten, behauptete er; ich
glaubte das Gegenteil und behielt recht.  Wir stritten noch selbigen
Abend nach der Vorstellung darüber."--"Und Sie haben mich also spielen
sehen?"--"O gewiß!"--"Und wer stellte denn den Geist vor?"--"Das kann
ich selbst nicht sagen; entweder der Abbe oder sein Zwillingsbruder,
doch glaub ich, dieser, denn er ist um ein weniges größer."--"Sie
haben also auch Geheimnisse untereinander?"--"Freunde können und
müssen Geheimnisse voreinander haben; sie sind einander doch kein
Geheimnis."

"Es verwirrt mich schon das Andenken dieser Verworrenheit.  Klären Sie
mich über den Mann auf, dem ich so viel schuldig bin und dem ich so
viel Vorwürfe zu machen habe."

"Was ihn uns so schätzbar macht", versetzte Jarno, "was ihm
gewissermaßen die Herrschaft über uns alle erhält, ist der freie und
scharfe Blick, den ihm die Natur über alle Kräfte, die im Menschen nur
wohnen und wovon sich jede in ihrer Art ausbilden läßt, gegeben hat.
Die meisten Menschen, selbst die vorzüglichen, sind nur beschränkt;
jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich und andern; nur die
begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen.  Ganz
entgegengesetzt wirkt der Abbe, er hat Sinn für alles, Lust an allem,
es zu erkennen und zu befördern.  Da muß ich doch wieder in die Rolle
sehen!" fuhr Jarno fort.  ""Nur alle Menschen machen die Menschheit
aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt.  Diese sind unter sich
oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie
die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor.  Von dem geringsten
tierischen Handwerkstriebe bis zur höchsten Ausübung der geistigsten
Kunst, vom Lallen und Jauchzen des Kindes bis zur trefflichsten
äußerung des Redners und Sängers, vom ersten Balgen der Knaben bis zu
den ungeheuren Anstalten, wodurch Länder erhalten und erobert werden,
vom leichtesten Wohlwollen und der flüchtigsten Liebe bis zur
heftigsten Leidenschaft und zum ernstesten Bunde, von dem reinsten
Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten Ahnungen und
Hoffnungen der entferntesten geistigen Zukunft, alles das und weit
mehr liegt im Menschen und muß ausgebildet werden; aber nicht in einem,
sondern in vielen.  Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt
werden.  Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche
befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus.  Das
Nützliche befördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und
alle können's nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn
wenige stellen's dar, und viele bedürfen's.""

"Halten Sie inne!" rief Wilhelm, "ich habe das alles gelesen."--"Nur
noch einige Zeilen", versetzte Jarno; "hier find ich den Abbe ganz
wieder: "Eine Kraft beherrscht die andere, aber keine kann die andere
bilden; in jeder Anlage liegt auch allein die Kraft, sich zu vollenden;
das verstehen so wenig Menschen, die doch lehren und wirken wollen.
""--"Und ich verstehe es auch nicht", versetzte Wilhelm.--"Sie werden
über diesen Text den Abbe noch oft genug hören, und so lassen Sie uns
nur immer recht deutlich sehen und festhalten, was an uns ist, und was
wir an uns ausbilden können; lassen Sie uns gegen die andern gerecht
sein, denn wir sind nur insofern zu achten, als wir zu schätzen wissen.
"--"Um Gottes willen! keine Sentenzen weiter!  Ich fühle, sie sind ein
schlechtes Heilmittel für ein verwundetes Herz.  Sagen Sie mir lieber
mit Ihrer grausamen Bestimmtheit, was Sie von mir erwarten und wie und
auf welche Weise Sie mich aufopfern wollen."--"Jeden Verdacht, ich
versichere Sie, werden Sie uns künftig abbitten.  Es ist Ihre Sache,
zu prüfen und zu wählen, und die unsere, Ihnen beizustehn.  Der Mensch
ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst
seine Begrenzung bestimmt.  Nicht an mich halten Sie sich, sondern an
den Abbe; nicht an sich denken Sie, sondern an das, was Sie umgibt.
Lernen Sie zum Beispiel Lotharios Trefflichkeit einsehen, wie sein
überblick und seine Tätigkeit unzertrennlich miteinander verbunden
sind, wie er immer im Fortschreiten ist, wie er sich ausbreitet und
jeden mit fortreißt.  Er führt, wo er auch sei, eine Welt mit sich,
seine Gegenwart belebt und feuert an.  Sehen Sie unsern guten Medikus
dagegen!  Es scheint gerade die entgegengesetzte Natur zu sein.  Wenn
jener nur ins Ganze und auch in die Ferne wirkt, so richtet dieser
seinen hellen Blick nur auf die nächsten Dinge, er verschafft mehr die
Mittel zur Tätigkeit, als daß er die Tätigkeit hervorbrächte und
belebte; sein Handeln sieht einem guten Wirtschaften vollkommen
ähnlich, seine Wirksamkeit ist still, indem er einen jeden in seinem
Kreis befördert; sein Wissen ist ein beständiges Sammeln und
Ausspenden, ein Nehmen und Mitteilen im kleinen.  Vielleicht könnte
Lothario in einem Tage zerstören, woran dieser jahrelang gebaut hat;
aber vielleicht teilt auch Lothario in einem Augenblick andern die
Kraft mit, das Zerstörte hundertfältig wiederherzustellen."--"Es ist
ein trauriges Geschäft", sagte Wilhelm, "wenn man über die reinen
Vorzüge der andern in einem Augenblicke denken soll, da man mit sich
selbst uneins ist; solche Betrachtungen stehen dem ruhigen Manne wohl
an, nicht dem, der von Leidenschaft und Ungewißheit bewegt ist.
"--"Ruhig und vernünftig zu betrachten ist zu keiner Zeit schädlich,
und indem wir uns gewöhnen, über die Vorzüge anderer zu denken,
stellen sich die unsern unvermerkt selbst an ihren Platz, und jede
falsche Tätigkeit, wozu uns die Phantasie lockt, wird alsdann gern von
uns aufgegeben.  Befreien Sie wo möglich Ihren Geist von allem Argwohn
und aller ängstlichkeit!  Dort kommt der Abbe, sein Sie ja freundlich
gegen ihn, bis Sie noch mehr erfahren, wieviel Dank Sie ihm schuldig
sind.  Der Schalk! da geht er zwischen Natalien und Theresen; ich
wollte wetten, er denkt sich was aus.  So wie er überhaupt gern ein
wenig das Schicksal spielt, so läßt er auch nicht von der Liebhaberei,
manchmal eine Heirat zu stiften."

Wilhelm, dessen leidenschaftliche und verdrießliche Stimmung durch
alle die klugen und guten Worte Jarnos nicht verbessert worden war,
fand höchst undelikat, daß sein Freund gerade in diesem Augenblick
eines solchen Verhältnisses erwähnte, und sagte, zwar lächelnd, doch
nicht ohne Bitterkeit: "Ich dächte, man überließe die Liebhaberei,
Heiraten zu stiften, Personen, die sich liebhaben."



VIII. Buch, 6. Kapitel



Sechstes Kapitel

Die Gesellschaft hatte sich eben wieder begegnet, und unsere Freunde
sahen sich genötigt, das Gespräch abzubrechen.  Nicht lange, so ward
ein Kurier gemeldet, der einen Brief in Lotharios eigene Hände
übergeben wollte; der Mann ward vorgeführt, er sah rüstig und tüchtig
aus, seine Livree war sehr reich und geschmackvoll.  Wilhelm glaubte
ihn zu kennen, und er irrte sich nicht, es war derselbe Mann, den er
damals Philinen und der vermeinten Mariane nachgeschickt hatte und der
nicht wieder zurückgekommen war.  Eben wollte er ihn anreden, als
Lothario, der den Brief gelesen hatte, ernsthaft und fast verdrießlich
fragte: "Wie heißt Sein Herr?"

"Das ist unter allen Fragen", versetzte der Kurier mit Bescheidenheit,
"auf die ich am wenigsten zu antworten weiß; ich hoffe, der Brief wird
das Nötige vermelden; mündlich ist mir nichts aufgetragen."

"Es sei, wie ihm sei", versetzte Lothario mit Lächeln, "da Sein Herr
das Zutrauen zu mir hat, mir so hasenfüßig zu schreiben, so soll er
uns willkommen sein."--"Er wird nicht lange auf sich warten lassen",
versetzte der Kurier mit einer Verbeugung und entfernte sich.

"Vernehmet nur", sagte Lothario",die tolle, abgeschmackte Botschaft.
"Da unter allen Gästen", so schreibt der Unbekannte, "ein guter Humor
der angenehmste Gast sein soll, wenn er sich einstellt, und ich
denselben als Reisegefährten beständig mit mir herumführe, so bin ich
überzeugt, der Besuch, den ich Euer Gnaden und Liebden zugedacht habe,
wird nicht übel vermerkt werden, vielmehr hoffe ich mit der sämtlichen
hohen Familie vollkommener Zufriedenheit anzulangen und gelegentlich
mich wieder zu entfernen, der ich mich, und so weiter, Graf von
Schneckenfuß.""

"Das ist eine neue Familie", sagte der Abbe.

"Es mag ein Vikariatsgraf sein", versetzte Jarno.

"Das Geheimnis ist leicht zu erraten", sagte Natalie; "ich wette, es
ist Bruder Friedrich, der uns schon seit dem Tode des Oheims mit einem
Besuche droht."

"Getroffen, schöne und weise Schwester!" rief jemand aus einem nahen
Busche, und zugleich trat ein angenehmer, heiterer junger Mann hervor;
Wilhelm konnte sich kaum eines Schreies enthalten.  "Wie?" rief er,
"unser blonder Schelm, der soll mir auch hier noch erscheinen?"
Friedrich ward aufmerksam, sah Wilhelmen an und rief: "Wahrlich,
weniger erstaunt wär ich gewesen, die berühmten Pyramiden, die doch in
ägypten so fest stehen, oder das Grab des Königs Mausolus, das, wie
man mir versichert hat, gar nicht mehr existiert, hier in dem Garten
meines Oheims zu finden als Euch, meinen alten Freund und vielfachen
Wohltäter.  Seid mir besonders und schönstens gegrüßt!"

Nachdem er ringsherum alles bewillkommt und geküßt hatte, sprang er
wieder auf Wilhelmen los und rief: "Haltet mir ihn ja warm, diesen
Helden, Heerführer und dramatischen Philosophen!  Ich habe ihn bei
unserer ersten Bekanntschaft schlecht, ja ich darf wohl sagen, mit der
Hechel frisiert, und er hat mir doch nachher eine tüchtige Tracht
Schläge erspart.  Er ist großmütig wie Scipio, freigebig wie Alexander,
gelegentlich auch verliebt, doch ohne seine Nebenbuhler zu hassen.
Nicht etwa, daß er seinen Feinden Kohlen aufs Haupt sammelte, welches,
wie man sagt, ein schlechter Dienst sein soll, den man jemanden
erzeigen kann, nein, er schickt vielmehr den Freunden, die ihm sein
Mädchen entführen, gute und treue Diener nach, damit ihr Fuß an keinen
Stein stoße."

In diesem Geschmack fuhr er unaufhaltsam fort, ohne daß jemand ihm
Einhalt zu tun imstande gewesen wäre, und da niemand in dieser Art ihm
erwidern konnte, so behielt er das Wort ziemlich allein.  "Verwundert
euch nicht", rief er aus, "über meine große Belesenheit in heiligen
und Profan-Skribenten; ihr sollt erfahren, wie ich zu diesen
Kenntnissen gelangt bin."  Man wollte von ihm wissen, wie es ihm gehe,
wo er herkomme; allein er konnte vor lauter Sittensprüchen und alten
Geschichten nicht zur deutlichen Erklärung gelangen.

Natalie sagte leise zu Theresen: "Seine Art von Lustigkeit tut mir
wehe; ich wollte wetten, daß ihm dabei nicht wohl ist."

Da Friedrich außer einigen Späßen, die ihm Jarno erwiderte, keinen
Anklang für seine Possen in der Gesellschaft fand, sagte er: "Es
bleibt mir nichts übrig, als mit der ernsthaften Familie auch
ernsthaft zu werden, und weil mir unter solchen bedenklichen Umständen
sogleich meine sämtliche Sündenlast schwer auf die Seele fällt, so
will ich mich kurz und gut zu einer Generalbeichte entschließen, wovon
ihr aber, meine werten Herrn und Damen, nichts vernehmen sollt.
Dieser edle Freund hier, dem schon einiges von meinem Leben und Tun
bekannt ist, soll es allein erfahren, um so mehr, als er allein
darnach zu fragen einige Ursache hat.  Wäret Ihr nicht neugierig zu
wissen", fuhr er gegen Wilhelmen fort, "wie und wo? wer? wann und
warum? wie sieht's mit der Konjugation des griechischen Verbi Phileo,
Philoh und mit den Derivativis dieses allerliebsten Zeitwortes aus?"

Somit nahm er Wilhelmen beim Arme, führte ihn fort, indem er ihn auf
alle Weise drückte und küßte.

Kaum war Friedrich auf Wilhelms Zimmer gekommen, als er im Fenster ein
Pudermesser liegen fand mit der Inschrift: "Gedenke mein".  "Ihr hebt
Eure werten Sachen gut auf!" sagte er, "wahrlich, das ist Philinens
Pudermesser, das sie Euch jenen Tag schenkte, als ich Euch so gerauft
hatte.  Ich hoffe, Ihr habt des schönen Mädchens fleißig dabei gedacht,
und versichere Euch, sie hat Euch auch nicht vergessen, und wenn ich
nicht jede Spur von Eifersucht schon lange aus meinem Herzen verbannt
hätte, so würde ich Euch nicht ohne Neid ansehen."

"Reden Sie nichts mehr von diesem Geschöpfe", versetzte Wilhelm.  "Ich
leugne nicht, daß ich den Eindruck ihrer angenehmen Gegenwart lange
nicht loswerden konnte, aber das war auch alles."

"Pfui! schämt Euch", rief Friedrich, "wer wird eine Geliebte
verleugnen?  Und Ihr habt sie so komplett geliebt, als man es nur
wünschen konnte.  Es verging kein Tag, daß Ihr dem Mädchen nicht etwas
schenktet, und wenn der Deutsche schenkt, liebt er gewiß.  Es blieb
mir nichts übrig, als sie Euch zuletzt wegzuputzen, und dem roten
Offizierchen ist es denn auch endlich geglückt."

"Wie?  Sie waren der Offizier, den wir bei Philinen antrafen und mit
dem sie wegreiste?"

"Ja", versetzte Friedrich, "den Sie für Marianen hielten.  Wir haben
genug über den Irrtum gelacht."

"Welche Grausamkeit!" rief Wilhelm, "mich in einer solchen Ungewißheit
zu lassen."

"Und noch dazu den Kurier, den Sie uns nachschickten, gleich in
Dienste zu nehmen!" versetzte Friedrich.  "Es ist ein tüchtiger Kerl
und ist diese Zeit nicht von unserer Seite gekommen.  Und das Mädchen
lieb ich noch immer so rasend wie jemals.  Mir hat sie's ganz eigens
angetan, daß ich mich ganz nahezu in einem mythologischen Falle
befinde und alle Tage befürchte, verwandelt zu werden."

"Sagen Sie mir nur", fragte Wilhelm, "wo haben Sie Ihre ausgebreitete
Gelehrsamkeit her?  Ich höre mit Verwunderung der seltsamen Manier zu,
die Sie angenommen haben, immer mit Beziehung auf alte Geschichten und
Fabeln zu sprechen."

"Auf die lustigste Weise", sagte Friedrich, "bin ich gelehrt, und zwar
sehr gelehrt worden.  Philine ist nun bei mir, wir haben einem Pachter
das alte Schloß eines Rittergutes abgemietet, worin wir wie die
Kobolde aufs lustigste leben.  Dort haben wir eine zwar kompendiöse,
aber doch ausgesuchte Bibliothek gefunden, enthaltend eine Bibel in
Folio, "Gottfrieds Chronik", zwei Bände "Theatrum Europaeum", die
"Acerra Philologica", Gryphii Schriften und noch einige minder
wichtige Bücher.  Nun hatten wir denn doch, wenn wir ausgetobt hatten,
manchmal Langeweile, wir wollten lesen, und ehe wir's uns versahen,
ward unsere Weile noch länger.  Endlich hatte Philine den herrlichen
Einfall, die sämtlichen Bücher auf einem großen Tisch aufzuschlagen,
wir setzten uns gegeneinander und lasen gegeneinander, und immer nur
stellenweise, aus einem Buch wie aus dem andern.  Das war nun eine
rechte Lust!  Wir glaubten wirklich in guter Gesellschaft zu sein, wo
man für unschicklich hält, irgendeine Materie zu lange fortsetzen oder
wohl gar gründlich erörtern zu wollen; wir glaubten in lebhafter
Gesellschaft zu sein, wo keins das andere zum Wort kommen läßt.  Diese
Unterhaltung geben wir uns regelmäßig alle Tage und werden dadurch
nach und nach so gelehrt, daß wir uns selbst darüber verwundern.
Schon finden wir nichts Neues mehr unter der Sonne, zu allem bietet
uns unsere Wissenschaft einen Beleg an.  Wir variieren diese Art, uns
zu unterrichten, auf gar vielerlei Weise.  Manchmal lesen wir nach
einer alten, verdorbenen Sanduhr, die in einigen Minuten ausgelaufen
ist.  Schnell dreht sie das andere herum und fängt aus einem Buche zu
lesen an, und kaum ist wieder der Sand im untern Glase, so beginnt das
andere schon wieder seinen Spruch, und so studieren wir wirklich auf
wahrhaft akademische Weise, nur daß wir kürzere Stunden haben und
unsere Studien äußerst mannigfaltig sind."

"Diese Tollheit begreife ich wohl", sagte Wilhelm, "wenn einmal so ein
lustiges Paar beisammen ist; wie aber das lockere Paar so lange
beisammen bleiben kann, das ist mir nicht so bald begreiflich."

"Das ist", rief Friedrich, "eben das Glück und das Unglück: Philine
darf sich nicht sehen lassen, sie mag sich selbst nicht sehen, sie ist
guter Hoffnung.  Unförmlicher und lächerlicher ist nichts in der Welt
als sie.  Noch kurz, ehe ich wegging, kam sie zufälligerweise vor den
Spiegel.  "Pfui Teufel!" sagte sie und wendete das Gesicht ab, "die
leibhaftige Frau Melina!  Das garstige Bild!  Man sieht doch ganz
niederträchtig aus!""

"Ich muß gestehen", versetzte Wilhelm lächelnd, "daß es ziemlich
komisch sein mag, euch als Vater und Mutter beisammen zu sehen."

"Es ist ein recht närrischer Streich", sagte Friedrich, "daß ich noch
zuletzt als Vater gelten soll.  Sie behauptet's, und die Zeit trifft
auch.  Anfangs machte mich der verwünschte Besuch, den sie Euch nach
dem "Hamlet" abgestattet hatte, ein wenig irre."

"Was für ein Besuch?"

"Ihr werdet das Andenken daran doch nicht ganz und gar verschlafen
haben?  Das allerliebste, fühlbare Gespenst jener Nacht, wenn Ihr's
noch nicht wißt, war Philine.  Die Geschichte war mir freilich eine
harte Mitgift, doch wenn man sich so etwas nicht mag gefallen lassen,
so muß man gar nicht lieben.  Die Vaterschaft beruht überhaupt nur auf
der überzeugung; ich bin überzeugt, und also bin ich Vater.  Da seht
Ihr, daß ich die Logik auch am rechten Orte zu brauchen weiß.  Und
wenn das Kind sich nicht gleich nach der Geburt auf der Stelle zu Tode
lacht, so kann es, wo nicht ein nützlicher, doch angenehmer Weltbürger
werden."

Indessen die Freunde sich auf diese lustige Weise von leichtfertigen
Gegenständen unterhielten, hatte die übrige Gesellschaft ein
ernsthaftes Gespräch angefangen.  Kaum hatten Friedrich und Wilhelm
sich entfernt, als der Abbe die Freunde unvermerkt in einen Gartensaal
führte und, als sie Platz genommen hatten, seinen Vortrag begann.

"Wir haben", sagte er, "im allgemeinen behauptet, daß Fräulein Therese
nicht die Tochter ihrer Mutter sei; es ist nötig, daß wir uns hierüber
auch nun im einzelnen erklären.  Hier ist die Geschichte, die ich
sodann auf alle Weise zu belegen und zu beweisen mich erbiete.

Frau von *** lebte die ersten Jahre ihres Ehestandes mit ihrem Gemahl
in dem besten Vernehmen, nur hatten sie das Unglück, daß die Kinder,
zu denen einigemal Hoffnung war, tot zur Welt kamen und bei dem
dritten die ärzte der Mutter beinahe den Tod verkündigten und ihn bei
einem folgenden als ganz unvermeidlich weissagten.  Man war genötigt,
sich zu entschließen, man wollte das Eheband nicht aufheben, man
befand sich, bürgerlich genommen, zu wohl.  Frau von *** suchte in der
Ausbildung ihres Geistes, in einer gewissen Repräsentation, in den
Freuden der Eitelkeit eine Art von Entschädigung für das Mutterglück,
das ihr versagt war.  Sie sah ihrem Gemahl mit sehr viel Heiterkeit
nach, als er Neigung zu einem Frauenzimmer faßte, welche die ganze
Haushaltung versah, eine schöne Gestalt und einen sehr soliden
Charakter hatte.  Frau von *** bot nach kurzer Zeit einer Einrichtung
selbst die Hände, nach welcher das gute Mädchen sich Theresens Vater
überließ, in der Besorgung des Hauswesens fortfuhr und gegen die Frau
vom Hause fast noch mehr Dienstfertigkeit und Ergebung als vorher
bezeigte.

Nach einiger Zeit erklärte sie sich guter Hoffnung, und die beiden
Eheleute kamen bei dieser Gelegenheit, obwohl aus ganz verschiedenen
Anlässen, auf einerlei Gedanken.  Herr von *** wünschte das Kind
seiner Geliebten als sein rechtmäßiges im Hause einzuführen, und Frau
von ***, verdrießlich, daß durch die Indiskretion ihres Arztes ihr
Zustand in der Nachbarschaft hatte verlauten wollen, dachte durch ein
untergeschobenes Kind sich wieder in Ansehn zu setzen und durch eine
solche Nachgiebigkeit ein übergewicht im Hause zu erhalten, das sie
unter den übrigen Umständen zu verlieren fürchtete.  Sie war
zurückhaltender als ihr Gemahl, sie merkte ihm seinen Wunsch ab und
wußte, ohne ihm entgegenzugehn, eine Erklärung zu erleichtern.  Sie
machte ihre Bedingungen und erhielt fast alles, was sie verlangte, und
so entstand das Testament, worin so wenig für das Kind gesorgt zu sein
schien.  Der alte Arzt war gestorben, man wendete sich an einen jungen,
tätigen, gescheiten Mann, er ward gut belohnt, und er konnte selbst
eine Ehre darin suchen, die Unschicklichkeit und übereilung seines
abgeschiedenen Kollegen ins Licht zu setzen und zu verbessern.  Die
wahre Mutter willigte nicht ungern ein, man spielte die Verstellung
sehr gut, Therese kam zur Welt und wurde einer Stiefmutter zugeeignet,
indes ihre wahre Mutter ein Opfer dieser Verstellung ward, indem sie
sich zu früh wieder herauswagte, starb und den guten Mann trostlos
hinterließ.

Frau von *** hatte indessen ganz ihre Absicht erreicht, sie hatte vor
den Augen der Welt ein liebenswürdiges Kind, mit dem sie übertrieben
parodierte, sie war zugleich eine Nebenbuhlerin losgeworden, deren
Verhältnis sie denn doch mit neidischen Augen ansah und deren Einfluß
sie, für die Zukunft wenigstens, heimlich fürchtete; sie überhäufte
das Kind mit Zärtlichkeit und wußte ihren Gemahl in vertraulichen
Stunden durch eine so lebhafte Teilnahme an seinem Verlust dergestalt
an sich zu ziehen, daß er sich ihr, man kann wohl sagen, ganz ergab,
sein Glück und das Glück seines Kindes in ihre Hände legte und kaum
kurze Zeit vor seinem Tode, und noch gewissermaßen nur durch seine
erwachsene Tochter, wieder Herr im Hause ward.  Das war, schöne
Therese, das Geheimnis, das Ihnen Ihr kranker Vater wahrscheinlich so
gern entdeckt hätte, das ist's, was ich Ihnen jetzt, eben da der junge
Freund, der durch die sonderbarste Verknüpfung von der Welt Ihr
Bräutigam geworden ist, in der Gesellschaft fehlt, umständlich
vorlegen wollte.  Hier sind die Papiere, die aufs strengste beweisen,
was ich behauptet habe.  Sie werden daraus zugleich erfahren, wie
lange ich schon dieser Entdeckung auf der Spur war und wie ich doch
erst jetzt zur Gewißheit kommen konnte; wie ich nicht wagte, meinem
Freund etwas von der Möglichkeit des Glücks zu sagen, da es ihn zu
tief gekränkt haben würde, wenn diese Hoffnung zum zweiten Male
verschwunden wäre.  Sie werden Lydiens Argwohn begreifen: denn ich
gestehe gern, daß ich die Neigung unseres Freundes zu diesem guten
Mädchen keineswegs begünstigte, seitdem ich seiner Verbindung mit
Theresen wieder entgegensah."

Niemand erwiderte etwas auf diese Geschichte.  Die Frauenzimmer gaben
die Papiere nach einigen Tagen zurück, ohne derselben weiter zu
erwähnen.

Man hatte Mittel genug in der Nähe, die Gesellschaft, wenn sie
beisammen war, zu beschäftigen, auch bot die Gegend so manche Reize
dar, daß man sich gern darin teils einzeln, teils zusammen, zu Pferde,
zu Wagen oder zu Fuße umsah.  Jarno richtete bei einer solchen
Gelegenheit seinen Auftrag an Wilhelmen aus, legte ihm die Papiere vor,
schien aber weiter keine Entschließung von ihm zu verlangen.

"In diesem höchst sonderbaren Zustand, in dem ich mich befinde", sagte
Wilhelm darauf, "brauche ich Ihnen nur das zu wiederholen, was ich
sogleich anfangs in Gegenwart Nataliens und gewiß mit einem reinen
Herzen gesagt habe: Lothario und seine Freunde können jede Art von
Entsagung von mir fordern, ich lege Ihnen hiermit alle meine Ansprüche
an Theresen in die Hand, verschaffen Sie mir dagegen meine förmliche
Entlassung.  Oh! es bedarf, mein Freund, keines großen Bedenkens, mich
zu entschließen.  Schon diese Tage hab ich gefühlt, daß Therese Mühe
hat, nur einen Schein der Lebhaftigkeit, mit der sie mich zuerst hier
begrüßte, zu erhalten.  Ihre Neigung ist mir entwendet, oder vielmehr
ich habe sie nie besessen."

"Solche Fälle möchten sich wohl besser nach und nach unter Schweigen
und Erwarten aufklären", versetzte Jarno, "als durch vieles Reden,
wodurch immer eine Art von Verlegenheit und Gärung entsteht."

"Ich dächte vielmehr", sagte Wilhelm, "daß gerade dieser Fall der
ruhigsten und der reinsten Entscheidung fähig sei.  Man hat mir so oft
den Vorwurf des Zauderns und der Ungewißheit gemacht; warum will man
jetzt, da ich entschlossen bin, geradezu einen Fehler, den man an mir
tadelte, gegen mich selbst begehn?  Gibt sich die Welt nur darum
soviel Mühe, uns zu bilden, um uns fühlen zu lassen, daß sie sich
nicht bilden mag?  Ja, gönnen Sie mir recht bald das heitere Gefühl,
ein Mißverhältnis loszuwerden, in das ich mit den reinsten Gesinnungen
von der Welt geraten bin."

Ungeachtet dieser Bitte vergingen einige Tage, in denen er nichts von
dieser Sache hörte, noch auch eine weitere Veränderung an seinen
Freunden bemerkte; die Unterhaltung war vielmehr bloß allgemein und
gleichgültig.



VIII. Buch, 7. Kapitel



Siebentes Kapitel

Einst saßen Natalie, Jarno und Wilhelm zusammen, und Natalie begann:
"Sie sind nachdenklich, Jarno, ich kann es Ihnen schon einige Zeit
abmerken."

"Ich bin es", versetzte der Freund, "und ich sehe ein wichtiges
Geschäft vor mir, das bei uns schon lange vorbereitet ist und jetzt
notwendig angegriffen werden muß.  Sie wissen schon etwas im
allgemeinen davon, und ich darf wohl vor unserm jungen Freunde davon
reden, weil es auf ihn ankommen soll, ob er teil daran zu nehmen Lust
hat.  Sie werden mich nicht lange mehr sehen, denn ich bin im Begriff,
nach Amerika überzuschiffen."

"Nach Amerika?" versetzte Wilhelm lächelnd; "ein solches Abenteuer
hätte ich nicht von Ihnen erwartet, noch weniger, daß Sie mich zum
Gefährten ausersehen würden."

"Wenn Sie unsern Plan ganz kennen", versetzte Jarno, "so werden Sie
ihm einen bessern Namen geben und vielleicht für ihn eingenommen
werden, Hören Sie mich an!  Man darf nur ein wenig mit den Welthändeln
bekannt sein, um zu bemerken, daß uns große Veränderungen bevorstehn
und daß die Besitztümer beinahe nirgends mehr recht sicher sind."

"Ich habe keinen deutlichen Begriff von den Welthändeln", fiel Wilhelm
ein, "und habe mich erst vor kurzem um meine Besitztümer bekümmert.
Vielleicht hätte ich wohlgetan, sie mir noch länger aus dem Sinne zu
schlagen, da ich bemerken muß, daß die Sorge für ihre Erhaltung so
hypochondrisch macht."

"Hören Sie mich aus", sagte Jarno; "die Sorge geziemt dem Alter, damit
die Jugend eine Zeitlang sorglos sein könne.  Das Gleichgewicht in den
menschlichen Handlungen kann leider nur durch Gegensätze hergestellt
werden.  Es ist gegenwärtig nichts weniger als rätlich, nur an einem
Ort zu besitzen, nur einem Platze sein Geld anzuvertrauen, und es ist
wieder schwer, an vielen Orten Aufsicht darüber zu führen; wir haben
uns deswegen etwas anders ausgedacht: aus unserm alten Turm soll eine
Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die
man aus jedem Teile der Welt eintreten kann.  Wir assekurieren uns
untereinander unsere Existenz auf den einzigen Fall, daß eine
Staatsrevolution den einen oder den andern von seinen Besitztümern
völlig vertriebe.  Ich gehe nun hinüber nach Amerika, um die guten
Verhältnisse zu benutzen, die sich unser Freund bei seinem dortigen
Aufenthalt gemacht hat.  Der Abbe will nach Rußland gehn, und Sie
sollen die Wahl haben, wenn Sie sich an uns anschließen wollen, ob Sie
Lothario in Deutschland beistehn oder mit mir gehen wollen.  Ich
dächte, Sie wählten das letzte: denn eine große Reise zu tun ist für
einen jungen Mann äußerst nützlich."

Wilhelm nahm sich zusammen und antwortete: "Der Antrag ist aller
überlegung wert, denn mein Wahlspruch wird doch nächstens sein: "Je
weiter weg, je besser."  Sie werden mich, hoffe ich, mit Ihrem Plane
näher bekannt machen.  Es kann von meiner Unbekanntschaft mit der Welt
herrühren, mir scheinen aber einer solchen Verbindung sich
unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenzusetzen."

"Davon sich die meisten nur dadurch heben werden", versetzte Jarno,
"daß unser bis jetzt nur wenig sind, redliche, gescheite und
entschlossene Leute, die einen gewissen allgemeinen Sinn haben, aus
dem allein der gesellige Sinn entstehen kann."

Friedrich, der bisher nur zugehört hatte, versetzte darauf: "Und wenn
ihr mir ein gutes Wort gebt, gehe ich auch mit."

Jarno schüttelte den Kopf.

"Nun, was habt ihr an mir auszusetzen?" fuhr Friedrich fort.  "Bei
einer neuen Kolonie werden auch junge Kolonisten erfordert, und die
bring ich gleich mit; auch lustige Kolonisten, das versichre ich euch.
Und dann wüßte ich noch ein gutes junges Mädchen, das hierhüben nicht
mehr am Platz ist, die süße, reizende Lydie.  Wo soll das arme Kind
mit seinem Schmerz und Jammer hin, wenn sie ihn nicht gelegentlich in
die Tiefe des Meeres werfen kann und wenn sich nicht ein braver Mann
ihrer annimmt?  Ich dächte, mein Jugendfreund, da Ihr doch im Gange
seid, Verlassene zu trösten, Ihr entschlößt Euch, jeder nähme sein
Mädchen unter den Arm, und wir folgten dem alten Herrn."

Dieser Antrag verdroß Wilhelmen.  Er antwortete mit verstellter Ruhe:
"Weiß ich doch nicht einmal, ob sie frei ist, und da ich überhaupt im
Werben nicht glücklich zu sein scheine, so möchte ich einen solchen
Versuch nicht machen."

Natalie sagte darauf: "Bruder Friedrich, du glaubst, weil du für dich
so leichtsinnig handelst, auch für andere gelte deine Gesinnung.
Unser Freund verdient ein weibliches Herz, das ihm ganz angehöre, das
nicht an seiner Seite von fremden Erinnerungen bewegt werde; nur mit
einem höchst vernünftigen und reinen Charakter wie Theresens war ein
Wagestück dieser Art zu raten."

"Was Wagestück!" rief Friedrich, "in der Liebe ist alles Wagestück.
Unter der Laube oder vor dem Altar, mit Umarmungen oder goldenen
Ringen, beim Gesange der Heimchen oder bei Trompeten und Pauken, es
ist alles nur ein Wagestück, und der Zufall tut alles."

"Ich habe immer gesehen", versetzte Natalie, "daß unsere Grundsätze
nur ein Supplement zu unsern Existenzen sind.  Wir hängen unsern
Fehlern gar zu gern das Gewand eines gültigen Gesetzes um.  Gib nur
acht, welchen Weg dich die Schöne noch führen wird, die dich auf eine
so gewaltsame Weise angezogen hat und festhält."

"Sie ist selbst auf einem sehr guten Wege", versetzte Friedrich, "auf
dem Wege zur Heiligkeit.  Es ist freilich ein Umweg, aber desto
lustiger und sichrer; Maria von Magdala ist ihn auch gegangen, und wer
weiß, wieviel andere. überhaupt, Schwester, wenn von Liebe die Rede
ist, solltest du dich gar nicht dreinmischen.  Ich glaube, du
heiratest nicht eher, als bis irgendwo eine Braut fehlt, und du gibst
dich alsdann nach deiner gewohnten Gutherzigkeit auch als Supplement
irgendeiner Existenz hin.  Also laß uns nur jetzt mit diesem
Seelenverkäufer da unsern Handel schließen und über unsere
Reisegesellschaft einig werden."

"Sie kommen mit Ihren Vorschlägen zu spät", sagte Jarno, "für Lydien
ist gesorgt."

"Und wie?" fragte Friedrich.

"Ich habe ihr selbst meine Hand angeboten", versetzte Jarno.

"Alter Herr", sagte Friedrich, "da macht Ihr einen Streich, zu dem man,
wenn man ihn als ein Substantivum betrachtet, verschiedene Adjektiva,
und folglich, wenn man ihn als Subjekt betrachtet, verschiedene
Prädikate finden könnte."

"Ich muß aufrichtig gestehen", versetzte Natalie, "es ist ein
gefährlicher Versuch, sich ein Mädchen zuzueignen in dem Augenblicke,
da sie aus Liebe zu einem andern verzweifelt."

"Ich habe es gewagt", versetzte Jarno, "sie wird unter einer gewissen
Bedingung mein.  Und glauben Sie mir, es ist in der Welt nichts
schätzbarer als ein Herz, das der Liebe und der Leidenschaft fähig ist.
Ob es geliebt habe, ob es noch liebe, darauf kommt es nicht an.  Die
Liebe, mit der ein anderer geliebt wird, ist mir beinahe reizender als
die, mit der ich geliebt werden könnte; ich sehe die Kraft, die Gewalt
eines schönen Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den reinen Anblick
trübt."

"Haben Sie Lydien in diesen Tagen schon gesprochen?" versetzte Natalie.


Jarno nickte lächelnd; Natalie schüttelte den Kopf und sagte, indem
sie aufstand: "Ich weiß bald nicht mehr, was ich aus euch machen soll,
aber mich sollt ihr gewiß nicht irremachen."

Sie wollte sich eben entfernen, als der Abbe mit einem Brief in der
Hand hereintrat und zu ihr sagte: "Bleiben Sie!  Ich habe hier einen
Vorschlag, bei dem Ihr Rat willkommen sein wird.  Der Marchese, der
Freund Ihres verstorbenen Oheims, den wir seit einiger Zeit erwarten,
muß in diesen Tagen hier sein.  Er schreibt mir, daß ihm doch die
deutsche Sprache nicht so geläufig sei, als er geglaubt, daß er eines
Gesellschafters bedürfe, der sie vollkommen nebst einigem andern
besitze; da er mehr wünsche, in wissenschaftliche als politische
Verbindungen zu treten, so sei ihm ein solcher Dolmetscher
unentbehrlich.  Ich wüßte niemand geschickter dazu als unsern jungen
Freund.  Er kennt die Sprache, ist sonst in vielem unterrichtet, und
es wird für ihn selbst ein großer Vorteil sein, in so guter
Gesellschaft und unter so vorteilhaften Umständen Deutschland zu sehen.
Wer sein Vaterland nicht kennt, hat keinen Maßstab für fremde Länder.
Was sagen Sie, meine Freunde?  Was sagen Sie, Natalie?"

Niemand wußte gegen den Antrag etwas einzuwenden; Jarno schien seinen
Vorschlag, nach Amerika zu reisen, selbst als kein Hindernis anzusehn,
indem er ohnehin nicht sogleich aufbrechen würde; Natalie schwieg, und
Friedrich führte verschiedene Sprüchwörter über den Nutzen des Reisens
an.

Wilhelm war über diesen neuen Vorschlag im Herzen so entrüstet, daß er
es kaum verbergen konnte.  Er sah eine Verabredung, ihn baldmöglichst
loszuwerden, nur gar zu deutlich, und was das Schlimmste war, man ließ
sie so offenbar, so ganz ohne Schonung sehen.  Auch der Verdacht, den
Lydie bei ihm erregt, alles, was er selbst erfahren hatte, wurde
wieder aufs neue vor seiner Seele lebendig, und die natürliche Art,
wie Jarno ihm alles ausgelegt hatte, schien ihm auch nur eine
künstliche Darstellung zu sein.

Er nahm sich zusammen und antwortete: "Dieser Antrag verdient
allerdings eine reifliche überlegung."

"Eine geschwinde Entschließung möchte nötig sein", versetzte der Abbe.

"Dazu bin ich jetzt nicht gefaßt", antwortete Wilhelm.  "Wir können
die Ankunft des Mannes abwarten und dann sehen, ob wir zusammen passen.
Eine Hauptbedingung aber muß man zum voraus eingehen: daß ich meinen
Felix mitnehmen und ihn überall mit hinführen darf."

"Diese Bedingung wird schwerlich zugestanden werden", versetzte der
Abbe.

"Und ich sehe nicht", rief Wilhelm aus, "warum ich mir von irgendeinem
Menschen sollte Bedingungen vorschreiben lassen und warum ich, wenn
ich einmal mein Vaterland sehen will, einen Italiener zur Gesellschaft
brauche."

"Weil ein junger Mensch", versetzte der Abbe mit einem gewissen
imponierenden Ernste, "immer Ursache hat, sich anzuschließen."

Wilhelm, der wohl merkte, daß er länger an sich zu halten nicht
imstande sei, da sein Zustand nur durch die Gegenwart Nataliens noch
einigermaßen gelindert ward, ließ sich hierauf mit einiger Hast
vernehmen: "Man vergönne mir nur noch kurze Bedenkzeit, und ich
vermute, es wird sich geschwind entscheiden, ob ich Ursache habe, mich
weiter anzuschließen, oder ob nicht vielmehr Herz und Klugheit mir
unwiderstehlich gebieten, mich von so mancherlei Banden loszureißen,
die mir eine ewige, elende Gefangenschaft drohen."

So sprach er mit einem lebhaft bewegten Gemüt.  Ein Blick auf Natalien
beruhigte ihn einigermaßen, indem sich in diesem leidenschaftlichen
Augenblick ihre Gestalt und ihr Wert nur desto tiefer bei ihm
eindrückten.

"Ja", sagte er zu sich selbst, indem er sich allein fand, "gestehe dir
nur, du liebst sie, und du fühlst wieder, was es heiße, wenn der
Mensch mit allen Kräften lieben kann.  So liebte ich Marianen und ward
so schrecklich an ihr irre; ich liebte Philinen und mußte sie
verachten.  Aurelien achtete ich und konnte sie nicht lieben; ich
verehrte Theresen, und die väterliche Liebe nahm die Gestalt einer
Neigung zu ihr an; und jetzt, da in deinem Herzen alle Empfindungen
zusammentreffen, die den Menschen glücklich machen sollten, jetzt bist
du genötigt zu fliehen!  Ach! warum muß sich zu diesen Empfindungen,
zu diesen Erkenntnissen das unüberwindliche Verlangen des Besitzes
gesellen? und warum richten ohne Besitz eben diese Empfindungen, diese
überzeugungen jede andere Art von Glückseligkeit völlig zugrunde?
Werde ich künftig der Sonne und der Welt, der Gesellschaft oder
irgendeines Glücksgutes genießen? wirst du nicht immer zu dir sagen:
"Natalie ist nicht da!", und doch wird leider Natalie dir immer
gegenwärtig sein.  Schließest du die Augen, so wird sie sich dir
darstellen; öffnest du sie, so wird sie vor allen Gegenständen
hinschweben wie die Erscheinung, die ein blendendes Bild im Auge
zurückläßt.  War nicht schon früher die schnell vorübergegangene
Gestalt der Amazone deiner Einbildungskraft immer gegenwärtig?  Und du
hattest sie nur gesehen, du kanntest sie nicht.  Nun, da du sie kennst,
da du ihr so nahe warst, da sie so vielen Anteil an dir gezeigt hat,
nun sind ihre Eigenschaften so tief in dein Gemüt geprägt als ihr Bild
jemals in deine Sinne. ängstlich ist es, immer zu suchen, aber viel
ängstlicher, gefunden zu haben und verlassen zu müssen.  Wornach soll
ich in der Welt nun weiter fragen? wornach soll ich mich weiter
umsehen?  Welche Gegend, welche Stadt verwahrt einen Schatz, der
diesem gleich ist?  Und ich soll reisen, um nur immer das Geringere zu
finden?  Ist denn das Leben bloß, wie eine Rennbahn, wo man sogleich
schnell wieder umkehren muß, wenn man das äußerste Ende erreicht hat?
Und steht das Gute, das Vortreffliche nur wie ein festes, unverrücktes
Ziel da, von dem man sich ebenso schnell mit raschen Pferden wieder
entfernen muß, als man es erreicht zu haben glaubt? anstatt daß jeder
andere, der nach irdischen Waren strebt, sie in den verschiedenen
Himmelsgegenden oder wohl gar auf der Messe und dem Jahrmarkt
anschaffen kann."

"Komm, lieber Knabe!" rief er seinem Sohn entgegen, der eben
dahergesprungen kam, "sei und bleibe du mir alles!  Du warst mir zum
Ersatz deiner geliebten Mutter gegeben, du solltest mir die zweite
Mutter ersetzen, die ich dir bestimmt hatte, und nun hast du noch die
größere Lücke auszufüllen.  Beschäftige mein Herz, beschäftige meinen
Geist mit deiner Schönheit, deiner Liebenswürdigkeit, deiner
Wißbegierde und deinen Fähigkeiten!"

Der Knabe war mit einem neuen Spielwerke beschäftigt, der Vater suchte
es ihm besser, ordentlicher, zweckmäßiger einzurichten; aber in dem
Augenblicke verlor auch das Kind die Lust daran.  "Du bist ein wahrer
Mensch!" rief Wilhelm aus, "komm, mein Sohn! komm, mein Bruder, laß
uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir können!"

Sein Entschluß, sich zu entfernen, das Kind mit sich zu nehmen und
sich an den Gegenständen der Welt zu zerstreuen, war nun sein fester
Vorsatz.  Er schrieb an Wernern, ersuchte ihn um Geld und Kreditbriefe
und schickte Friedrichs Kurier mit dem geschärften Auftrage weg, bald
wiederzukommen.  Sosehr er gegen die übrigen Freunde auch verstimmt
war, so rein blieb sein Verhältnis zu Natalien.  Er vertraute ihr
seine Absicht; auch sie nahm für bekannt an, daß er gehen könne und
müsse, und wenn ihn auch gleich diese scheinbare Gleichgültigkeit an
ihr schmerzte, so beruhigte ihn doch ihre gute Art und ihre Gegenwart
vollkommen.  Sie riet ihm, verschiedene Städte zu besuchen, um dort
einige ihrer Freunde und Freundinnen kennenzulernen.  Der Kurier kam
zurück, brachte, was Wilhelm verlangt hatte, obgleich Werner mit
diesem neuen Ausflug nicht zufrieden zu sein schien.  "Meine Hoffnung,
daß du vernünftig werden würdest", schrieb dieser, "ist nun wieder
eine gute Weile hinausgeschoben.  Wo schweift ihr nun alle zusammen
herum? und wo bleibt denn das Frauenzimmer, zu dessen wirtschaftlichem
Beistande du mir Hoffnung machtest?  Auch die übrigen Freunde sind
nicht gegenwärtig; dem Gerichtshalter und mir ist das ganze Geschäft
aufgewälzt.  Ein Glück, daß er eben ein so guter Rechtsmann ist, als
ich ein Finanzmann bin, und daß wir beide etwas zu schleppen gewohnt
sind.  Lebe wohl!  Deine Ausschweifungen sollen dir verziehen sein, da
doch ohne sie unser Verhältnis in dieser Gegend nicht hätte so gut
werden können."

Was das äußere betraf, hätte er nun immer abreisen können, allein sein
Gemüt war noch durch zwei Hindernisse gebunden.  Man wollte ihm ein
für allemal Mignons Körper nicht zeigen als bei den Exequien, welche
der Abbe zu halten gedachte, zu welcher Feierlichkeit noch nicht alles
bereit war.  Auch war der Arzt durch einen sonderbaren Brief des
Landgeistlichen abgerufen worden.  Es betraf den Harfenspieler, von
dessen Schicksalen Wilhelm näher unterrichtet sein wollte.

In diesem Zustande fand er weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe der Seele
oder des Körpers.  Wenn alles schlief, ging er in dem Hause hin und
her.  Die Gegenwart der alten, bekannten Kunstwerke zog ihn an und
stieß ihn ab.  Er konnte nichts, was ihn umgab, weder ergreifen noch
lassen, alles erinnerte ihn an alles, er übersah den ganzen Ring
seines Lebens, nur lag er leider zerbrochen vor ihm und schien sich
auf ewig nicht schließen zu wollen.  Diese Kunstwerke, die sein Vater
verkauft hatte, schienen ihm ein Symbol, daß auch er von einem ruhigen
und gründlichen Besitz des Wünschenswerten in der Welt teils
ausgeschlossen, teils desselben durch eigne oder fremde Schuld beraubt
werden sollte.  Er verlor sich so weit in diesen sonderbaren und
traurigen Betrachtungen, daß er sich selbst manchmal wie ein Geist
vorkam und, selbst wenn er die Dinge außer sich befühlte und betastete,
sich kaum des Zweifels erwehren konnte, ob er denn auch wirklich lebe
und da sei.

Nur der lebhafte Schmerz, der ihn manchmal ergriff, daß er alles das
Gefundene und Wiedergefundene so freventlich und doch so notwendig
verlassen müsse, nur seine Tränen gaben ihm das Gefühl seines Daseins
wieder.  Vergebens rief er sich den glücklichen Zustand, in dem er
sich doch eigentlich befand, vors Gedächtnis.  "So ist denn alles
nichts", rief er aus, "wenn das eine fehlt, das dem Menschen alles
übrige wert ist!"

Der Abbe verkündigte der Gesellschaft die Ankunft des Marchese.  "Sie
sind zwar, wie es scheint", sagte er zu Wilhelmen, "mit Ihrem Knaben
allein abzureisen entschlossen; lernen Sie jedoch wenigstens diesen
Mann kennen, der Ihnen, wo Sie ihn auch unterwegs antreffen, auf alle
Fälle nützlich sein kann."  Der Marchese erschien; es war ein Mann
noch nicht hoch in Jahren, eine von den wohlgestalteten, gefälligen
lombardischen Figuren.  Er hatte als Jüngling mit dem Oheim der schon
um vieles älter war, bei der Armee, dann in Geschäften Bekanntschaft
gemacht; sie hatten nachher einen großen Teil von Italien zusammen
durchreist, und die Kunstwerke, die der Marchese hier wiederfand,
waren zum großen Teil in seiner Gegenwart und unter manchen
glücklichen Umständen, deren er sich noch wohl erinnerte, gekauft und
angeschafft worden.

Der Italiener hat überhaupt ein tieferes Gefühl für die hohe Würde der
Kunst als andere Nationen; jeder, der nur irgend etwas treibt, will
Künstler, Meister und Professor heißen und bekennt wenigstens durch
diese Titelsucht, daß es nicht genug sei, nur etwas durch
überlieferung zu erhaschen oder durch übung irgendeine Gewandtheit zu
erlangen; er gesteht, daß jeder vielmehr über das, was er tut, auch
fähig sein solle zu denken, Grundsätze aufzustellen und die Ursachen,
warum dieses oder jenes zu tun sei, sich selbst und andern deutlich zu
machen.

Der Fremde ward gerührt, so schöne Besitztümer ohne den Besitzer
wiederzufinden, und erfreut, den Geist seines Freundes aus den
vortrefflichen Hinterlassenen sprechen zu hören.  Sie gingen die
verschiedenen Werke durch und fanden eine große Behaglichkeit, sich
einander verständlich machen zu können.  Der Marchese und der Abbe
führten das Wort; Natalie, die sich wieder in die Gegenwart ihres
Oheims versetzt fühlte, wußte sich sehr gut in ihre Meinungen und
Gesinnungen zu finden; Wilhelm mußte sich's in theatralische
Terminologie übersetzen, wenn er etwas davon verstehen wollte.  Man
hatte Not, Friedrichs Scherze in Schranken zu halten.  Jarno war
selten zugegen.

Bei der Betrachtung, daß vortreffliche Kunstwerke in der neuern Zeit
so selten seien, sagte der Marchese: "Es läßt sich nicht leicht denken
und übersehen, was die Umstände für den Künstler tun müssen, und dann
sind bei dem größten Genie, bei dem entschiedensten Talente noch immer
die Forderungen unendlich, die er an sich selbst zu machen hat,
unsäglich der Fleiß, der zu seiner Ausbildung nötig ist.  Wenn nun die
Umstände wenig für ihn tun, wenn er bemerkt, daß die Welt sehr leicht
zu befriedigen ist und selbst nur einen leichten, gefälligen,
behaglichen Schein begehrt, so wäre es zu verwundern, wenn nicht
Bequemlichkeit und Eigenliebe ihn bei dem Mittelmäßigen festhielten;
es wäre seltsam, wenn er nicht lieber für Modewaren Geld und Lob
eintauschen als den rechten Weg wählen sollte, der ihn mehr oder
weniger zu einem kümmerlichen Märtyrertum führt.  Deswegen bieten die
Künstler unserer Zeit nur immer an, um niemals zu geben.  Sie wollen
immer reizen, um niemals zu befriedigen; alles ist nur angedeutet, und
man findet nirgends Grund noch Ausführung.  Man darf aber auch nur
eine Zeitlang ruhig in einer Galerie verweilen und beobachten, nach
welchen Kunstwerken sich die Menge zieht, welche gepriesen und welche
vernachlässigt werden, so hat man wenig Lust an der Gegenwart und für
die Zukunft wenig Hoffnung."

"Ja", versetzte der Abbe, "und so bilden sich Liebhaber und Künstler
wechselsweise; der Liebhaber sucht nur einen allgemeinen, unbestimmten
Genuß; das Kunstwerk soll ihm ungefähr wie ein Naturwerk behagen, und
die Menschen glauben, die Organe, ein Kunstwerk zu genießen, bildeten
sich ebenso von selbst aus wie die Zunge und der Gaum, man urteile
über ein Kunstwerk wie über eine Speise.  Sie begreifen nicht, was für
einer andern Kultur es bedarf, um sich zum wahren Kunstgenusse zu
erheben.  Das Schwerste finde ich die Art von Absonderung, die der
Mensch in sich selbst bewirken muß, wenn er sich überhaupt bilden will;
deswegen finden wir so viel einseitige Kulturen, wovon doch jede sich
anmaßt, über das Ganze abzusprechen."

"Was Sie da sagen, ist mir nicht ganz deutlich", sagte Jarno, der eben
hinzutrat.

"Auch ist es schwer", versetzte der Abbe, "sich in der Kürze bestimmt
hierüber zu erklären.  Ich sage nur soviel: sobald der Mensch an
mannigfaltige Tätigkeit oder mannigfaltigen Genuß Anspruch macht, so
muß er auch fähig sein, mannigfaltige Organe an sich gleichsam
unabhängig voneinander auszubilden.  Wer alles und jedes in seiner
ganzen Menschheit tun oder genießen will, wer alles außer sich zu
einer solchen Art von Genuß verknüpfen will, der wird seine Zeit nur
mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen.  Wie schwer ist es,
was so natürlich scheint, eine gute Statue, ein treffliches Gemälde an
und für sich zu beschauen, den Gesang um des Gesangs willen zu
vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler zu bewundern, sich eines
Gebäudes um seiner eigenen Harmonie und seiner Dauer willen zu
erfreuen.  Nun sieht man aber meist die Menschen entschiedene Werke
der Kunst geradezu behandeln, als wenn es ein weicher Ton wäre.  Nach
ihren Neigungen, Meinungen und Grillen soll sich der gebildete Marmor
sogleich wieder ummodeln, das festgemauerte Gebäude sich ausdehnen
oder zusammenziehen, ein Gemälde soll lehren, ein Schauspiel bessern,
und alles soll alles werden.  Eigentlich aber, weil die meisten
Menschen selbst formlos sind, weil sie sich und ihrem Wesen selbst
keine Gestalt geben können, so arbeiten sie, den Gegenständen ihre
Gestalt zu nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu
sie auch gehören.  Alles reduzieren sie zuletzt auf den sogenannten
Effekt, alles ist relativ, und so wird auch alles relativ, außer dem
Unsinn und der Abgeschmacktheit, die denn auch ganz absolut regiert."

"Ich verstehe Sie", versetzte Jarno, "oder vielmehr ich sehe wohl ein,
wie das, was Sie sagen, mit den Grundsätzen zusammenhängt, an denen
Sie so festhalten; ich kann es aber mit den armen Teufeln von Menschen
unmöglich so genau nehmen.  Ich kenne freilich ihrer genug, die sich
bei den größten Werken der Kunst und der Natur sogleich ihres
armseligsten Bedürfnisses erinnern, ihr Gewissen und ihre Moral mit in
die Oper nehmen, ihre Liebe und Haß vor einem Säulengange nicht
ablegen und das Beste und Größte, was ihnen von außen gebracht werden
kann, in ihrer Vorstellungsart erst möglichst verkleinern müssen, um
es mit ihrem kümmerlichen Wesen nur einigermaßen verbinden zu können."



VIII. Buch, 8. Kapitel



Achtes Kapitel

Am Abend lud der Abbe zu den Exequien Mignons ein.  Die Gesellschaft
begab sich in den Saal der Vergangenheit und fand denselben auf das
sonderbarste erhellt und ausgeschmückt.  Mit himmelblauen Teppichen
waren die Wände fast von oben bis unten bekleidet, so daß nur Sockel
und Fries hervorschienen.  Auf den vier Kandelabern in den Ecken
brannten große Wachsfackeln, und so nach Verhältnis auf den vier
kleinern, die den mittlern Sarkophag umgaben.  Neben diesem standen
vier Knaben, himmelblau mit Silber gekleidet, und schienen einer Figur,
die auf dem Sarkophag ruhte, mit breiten Fächern von Straußenfedern
Luft zuzuwehn.  Die Gesellschaft setzte sich, und zwei unsichtbare
Chöre fingen mit holdem Gesang an zu fragen: "Wen bringt ihr uns zur
stillen Gesellschaft?"  Die vier Kinder antworteten mit lieblicher
Stimme.  "Einen müden Gespielen bringen wir euch; laßt ihn unter euch
ruhen, bis das Jauchzen himmlischer Geschwister ihn dereinst wieder
aufweckt."

Chor

Erstling der Jugend in unserm Kreise, sei willkommen! mit Trauer
willkommen!  Dir folge kein Knabe, kein Mädchen nach!  Nur das Alter
nahe sich willig und gelassen der stillen Halle, und in ernster
Gesellschaft ruhe das liebe, liebe Kind!

Knaben

Ach! wie ungern brachten wir ihn her!  Ach! und er soll hier bleiben!
Laßt uns auch bleiben, laßt uns weinen, weinen an seinem Sarge!

Chor

Seht die mächtigen Flügel doch an! seht das leichte, reine Gewand! wie
blinkt die goldene Binde vom Haupt! seht die schöne, die würdige Ruh!

Knaben

Ach! die Flügel heben sie nicht; im leichten Spiele flattert das
Gewand nicht mehr; als wir mit Rosen kränzten ihr Haupt, blickte sie
hold und freundlich nach uns.

Chor

Schaut mit den Augen des Geistes hinan!  In euch lebe die bildende
Kraft, die das Schönste, das Höchste hinauf, über die Sterne das Leben
trägt!

Knaben

Aber ach! wir vermissen sie hier, in den Gärten wandelt sie nicht,
sammelt der Wiese Blumen nicht mehr.  Laßt uns weinen, wir lassen sie
hier! laßt uns weinen und bei ihr bleiben!

Chor

Kinder! kehret ins Leben zurück!  Eure Tränen trockne die frische Luft,
die um das schlängelnde Wasser spielt.  Entflieht der Nacht!  Tag und
Lust und Dauer ist das Los der Lebendigen.

Knaben

Auf, wir kehren ins Leben zurück.  Gebe der Tag uns Arbeit und Lust,
bis der Abend uns Ruhe bringt und der nächtliche Schlaf uns erquickt.

Chor

Kinder! eilet ins Leben hinan!  In der Schönheit reinem Gewande
begegn' euch die Liebe mit himmlischem Blick und dem Kranz der
Unsterblichkeit!



Die Knaben waren schon fern, der Abbe stand von seinem Sessel auf und
trat hinter den Sarg.  "Es ist die Verordnung", sagte er, "des Mannes,
der diese stille Wohnung bereitet hat, daß jeder neue Ankömmling mit
Feierlichkeit empfangen werden soll.  Nach ihm, dem Erbauer dieses
Hauses, dem Errichter dieser Stätte, haben wir zuerst einen jungen
Fremdling hierhergebracht, und so faßt schon dieser kleine Raum zwei
ganz verschiedene Opfer der strengen, willkürlichen und unerbittlichen
Todesgöttin.  Nach bestimmten Gesetzen treten wir ins Leben ein, die
Tage sind gezählt, die uns zum Anblicke des Lichts reif machen, aber
für die Lebensdauer ist kein Gesetz.  Der schwächste Lebensfaden zieht
sich in unerwartete Länge, und den stärksten zerschneidet gewaltsam
die Schere einer Parze, die sich in Widersprüchen zu gefallen scheint.
Von dem Kinde, das wir hier bestatten, wissen wir wenig zu sagen.
Noch ist uns unbekannt, woher es kam; seine Eltern kennen wir nicht,
und die Zahl seiner Lebensjahre vermuten wir nur.  Sein tiefes,
verschlossenes Herz ließ uns seine innersten Angelegenheiten kaum
erraten; nichts war deutlich an ihm, nichts offenbar als die Liebe zu
dem Manne, der es aus den Händen eines Barbaren rettete.  Diese
zärtliche Neigung, diese lebhafte Dankbarkeit schien die Flamme zu
sein, die das öl ihres Lebens aufzehrte; die Geschicklichkeit des
Arztes konnte das schöne Leben nicht erhalten, die sorgfältigste
Freundschaft vermochte nicht, es zu fristen.  Aber wenn die Kunst den
scheidenden Geist nicht zu fesseln vermochte, so hat sie alle ihre
Mittel angewandt, den Körper zu erhalten und ihn der Vergänglichkeit
zu entziehen.  Eine balsamische Masse ist durch alle Adern gedrungen
und färbt nun an der Stelle des Bluts die so früh verbliebenen Wangen.
Treten Sie näher, meine Freunde, und sehen Sie das Wunder der Kunst
und Sorgfalt!"

Er hub den Schleier auf, und das Kind lag in seinen Engelkleidern wie
schlafend in der angenehmsten Stellung.  Alle traten herbei und
bewunderten diesen Schein des Lebens.  Nur Wilhelm blieb in seinem
Sessel sitzen, er konnte sich nicht fassen; was er empfand, durfte er
nicht denken, und jeder Gedanke schien seine Empfindung zerstören zu
wollen.

Die Rede war um des Marchese willen französisch gesprochen worden.
Dieser trat mit den andern herbei und betrachtete die Gestalt mit
Aufmerksamkeit.  Der Abbe fuhr fort: "Mit einem heiligen Vertrauen war
auch dieses gute, gegen die Menschen so verschlossene Herz beständig
zu seinem Gott gewendet.  Die Demut, ja eine Neigung, sich äußerlich
zu erniedrigen, schien ihm angeboren.  Mit Eifer hing es an der
katholischen Religion, in der es geboren und erzogen war.  Oft äußerte
sie den stillen Wunsch, auf geweihtem Boden zu ruhen, und wir haben,
nach den Gebräuchen der Kirche, dieses marmorne Behältnis und die
wenige Erde geweihet, die in ihrem Kopfkissen verborgen ist.  Mit
welcher Inbrunst küßte sie in ihren letzten Augenblicken das Bild des
Gekreuzigten, das auf ihren zarten Armen mit vielen hundert Punkten
sehr zierlich abgebildet steht!"  Er streifte zugleich, indem er das
sagte, ihren rechten Arm auf, und ein Kruzifix, von verschiedenen
Buchstaben und Zeichen begleitet, sah man blaulich auf der weißen Haut.


Der Marchese betrachtete diese neue Erscheinung ganz in der Nähe.  "O
Gott!" rief er aus, indem er sich aufrichtete und seine Hände gen
Himmel hob, "armes Kind!  Unglückliche Nichte!  Finde ich dich hier
wieder!  Welche schmerzliche Freude, dich, auf die wir schon lange
Verzicht getan hatten, diesen guten, lieben Körper, den wir lange im
See einen Raub der Fische glaubten, hier wiederzufinden, zwar tot,
aber erhalten!  Ich wohne deiner Bestattung bei, die so herrlich durch
ihr äußeres und noch herrlicher durch die guten Menschen wird, die
dich zu deiner Ruhestätte begleiten.  Und wenn ich werde reden können",
sagte er mit gebrochner Stimme, "werde ich ihnen danken."

Die Tränen verhinderten ihn, etwas weiter hervorzubringen.  Durch den
Druck einer Feder versenkte der Abbe den Körper in die Tiefe des
Marmors.  Vier Jünglinge, bekleidet wie jene Knaben, traten hinter den
Teppichen hervor, hoben den schweren, schön verzierten Deckel auf den
Sarg und fingen zugleich ihren Gesang an.

Die Jünglinge

Wohl verwahrt ist nun der Schatz, das schöne Gebild der Vergangenheit!
hier im Marmor ruht es unverzehrt; auch in euren Herzen lebt es, wirkt
es fort.  Schreitet, schreitet ins Leben zurück!  Nehmet den heiligen
Ernst mit hinaus, denn der Ernst, der heilige, macht allein das Leben
zur Ewigkeit.



Das unsichtbare Chor fiel in die letzten Worte mit ein, aber niemand
von der Gesellschaft vernahm die stärkenden Worte, jedes war zu sehr
mit den wunderbaren Entdeckungen und seinen eignen Empfindungen
beschäftigt.  Der Abbe und Natalie führten den Marchese, Wilhelmen
Therese und Lothario hinaus, und erst als der Gesang ihnen völlig
verhallte, fielen die Schmerzen, die Betrachtungen, die Gedanken, die
Neugierde sie mit aller Gewalt wieder an, und sehnlich wünschten sie
sich in jenes Element wieder zurück.



VIII. Buch, 9. Kapitel--1



Neuntes Kapitel

Der Marchese vermied, von der Sache zu reden, hatte aber heimliche und
lange Gespräche mit dem Abbe.  Er erbat sich, wenn die Gesellschaft
beisammen war, öfters Musik; man sorgte gern dafür, weil jedermann
zufrieden war, des Gesprächs überhoben zu sein.  So lebte man einige
Zeit fort, als man bemerkte, daß er Anstalt zur Abreise mache.  Eines
Tages sagte er zu Wilhelmen: "Ich verlange nicht, die Reste des guten
Kindes zu beunruhigen; es bleibe an dem Orte zurück, wo es geliebt und
gelitten hat, aber seine Freunde müssen mir versprechen, mich in
seinem Vaterlande, an dem Platze zu besuchen, wo das arme Geschöpf
geboren und erzogen wurde; sie müssen die Säulen und Statuen sehen,
von denen ihm noch eine dunkle Idee übriggeblieben ist.

Ich will Sie in die Buchten führen, wo sie so gern die Steinchen
zusammenlas.  Sie werden sich, lieber junger Mann, der Dankbarkeit
einer Familie nicht entziehen, die Ihnen so viel schuldig ist.  Morgen
reise ich weg. Ich habe dem Abbe die ganze Geschichte vertraut, er
wird sie Ihnen wiedererzählen; er konnte mir verzeihen, wenn mein
Schmerz mich unterbrach, und er wird als ein Dritter die Begebenheiten
mit mehr Zusammenhang vortragen.  Wollen Sie mir noch, wie der Abbe
vorschlug, auf meiner Reise durch Deutschland folgen, so sind Sie
willkommen.  Lassen Sie Ihren Knaben nicht zurück; bei jeder kleinen
Unbequemlichkeit, die er uns macht, wollen wir uns Ihrer Vorsorge für
meine arme Nichte wieder erinnern."

Noch selbigen Abend ward man durch die Ankunft der Gräfin überrascht.
Wilhelm bebte an allen Gliedern, als sie hereintrat, und sie, obgleich
vorbereitet, hielt sich an ihrer Schwester, die ihr bald einen Stuhl
reichte.  Wie sonderbar einfach war ihr Anzug und wie verändert ihre
Gestalt!  Wilhelm durfte kaum auf sie hinblicken; sie begrüßte ihn mit
Freundlichkeit, und einige allgemeine Worte konnten ihre Gesinnung und
Empfindungen nicht verbergen.  Der Marchese war beizeiten zu Bette
gegangen, und die Gesellschaft hatte noch keine Lust, sich zu trennen;
der Abbe brachte ein Manuskript hervor.  "Ich habe", sagte er,
"sogleich die sonderbare Geschichte, wie sie mir anvertraut wurde, zu
Papiere gebracht.  Wo man am wenigsten Tinte und Feder sparen soll,
das ist beim Aufzeichnen einzelner Umstände merkwürdiger Begebenheiten."
Man unterrichtete die Gräfin, wovon die Rede sei, und der Abbe las:

"Meinen Vater", sagte der Marchese, "muß ich, soviel Welt ich auch
gesehen habe, immer für einen der wunderbarsten Menschen halten.  Sein
Charakter war edel und gerade, seine Ideen weit und man darf sagen
groß; er war streng gegen sich selbst; in allen seinen Planen fand man
eine unbestechliche Folge, an allen seinen Handlungen eine
ununterbrochene Schrittmäßigkeit.  So gut sich daher von einer Seite
mit ihm umgehen und ein Geschäft verhandeln ließ, sowenig konnte er um
ebendieser Eigenschaften willen sich in die Welt finden, da er vom
Staate, von seinen Nachbaren, von Kindern und Gesinde die Beobachtung
aller der Gesetze forderte, die er sich selbst auferlegt hatte.  Seine
mäßigsten Forderungen wurden übertrieben durch seine Strenge, und er
konnte nie zum Genuß gelangen, weil nichts auf die Weise entstand, wie
er sich's gedacht hatte.  Ich habe ihn in dem Augenblicke, da er einen
Palast bauete, einen Garten anlegte, ein großes neues Gut in der
schönsten Lage erwarb, innerlich mit dem ernstesten Ingrimm überzeugt
gesehen, das Schicksal habe ihn verdammt, enthaltsam zu sein und zu
dulden.  In seinem äußerlichen beobachtete er die größte Würde; wenn
er scherzte, zeigte er nur die überlegenheit seines Verstandes; es war
ihm unerträglich, getadelt zu werden, und ich habe ihn nur einmal in
meinem Leben ganz außer aller Fassung gesehen, da er hörte, daß man
von einer seiner Anstalten wie von etwas Lächerlichem sprach.  In
ebendiesem Geiste hatte er über seine Kinder und sein Vermögen
disponiert.  Mein ältester Bruder ward als ein Mann erzogen, der
künftig große Güter zu hoffen hatte; ich sollte den geistlichen Stand
ergreifen und der jüngste Soldat werden.  Ich war lebhaft, feurig,
tätig, schnell, zu allen körperlichen übungen geschickt.  Der Jüngste
schien zu einer Art von schwärmerischer Ruhe geneigter, den
Wissenschaften, der Musik und der Dichtkunst ergeben.  Nur nach dem
härtsten Kampf, nach der völligsten überzeugung der Unmöglichkeit gab
der Vater, wiewohl mit Widerwillen, nach, daß wir unsern Beruf
umtauschen dürften, und ob er gleich jeden von uns beiden zufrieden
sah, so konnte er sich doch nicht drein finden und versicherte, daß
nichts Gutes daraus entstehen werde.  Je älter er ward, desto
abgeschnittener fühlte er sich von aller Gesellschaft.  Er lebte
zuletzt fast ganz allein.  Nur ein alter Freund, der unter den
Deutschen gedient, im Feldzuge seine Frau verloren und eine Tochter
mitgebracht hatte, die ungefähr zehn Jahre alt war, blieb sein
einziger Umgang.  Dieser kaufte sich ein artiges Gut in der
Nachbarschaft, sah meinen Vater zu bestimmten Tagen und Stunden der
Woche, in denen er auch manchmal seine Tochter mitbrachte.  Er
widersprach meinem Vater niemals, der sich zuletzt völlig an ihn
gewöhnte und ihn als den einzigen erträglichen Gesellschafter duldete,
Nach dem Tode unseres Vaters merkten wir wohl, daß dieser Mann von
unserm Alten trefflich ausgestattet worden war und seine Zeit nicht
umsonst zugebracht hatte; er erweiterte seine Güter, seine Tochter
konnte eine schöne Mitgift erwarten.  Das Mädchen wuchs heran und war
von sonderbarer Schönheit; mein älterer Bruder scherzte oft mit mir,
daß ich mich um sie bewerben sollte.

Indessen hatte Bruder Augustin im Kloster seine Jahre in dem
sonderbarsten Zustande zugebracht; er überließ sich ganz dem Genuß
einer heiligen Schwärmerei, jenen halb geistigen, halb physischen
Empfindungen, die, wie sie ihn eine Zeitlang in den dritten Himmel
erhuben, bald darauf in einen Abgrund von Ohnmacht und leeres Elend
versinken ließen.  Bei meines Vaters Lebzeiten war an keine
Veränderung zu denken, und was hätte man wünschen oder vorschlagen
sollen?  Nach dem Tode unsers Vaters besuchte er uns fleißig; sein
Zustand, der uns im Anfang jammerte, ward nach und nach um vieles
erträglicher, denn die Vernunft hatte gesiegt.  Allein je sichrer sie
ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf dem reinen Wege der Natur
versprach, desto lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn von
seinen Gelübden befreien sollten; er gab zu verstehen, daß seine
Absicht auf Sperata, unsere Nachbarin, gerichtet sei.

Mein älterer Bruder hatte zuviel durch die Hätte unseres Vaters
gelitten, als daß er ungerührt bei dem Zustande des jüngsten hätte
bleiben können.  Wir sprachen mit dem Beichtvater unserer Familie,
einem alten, würdigen Manne, entdeckten ihm die doppelte Absicht
unseres Bruders und baten ihn, die Sache einzuleiten und zu befördern.
Wider seine Gewohnheit zögerte er, und als endlich unser Bruder in
uns drang und wir die Angelegenheit dem Geistlichen lebhafter
empfahlen, mußte er sich entschließen, uns die sonderbare Geschichte
zu entdecken.

Sperata war unsre Schwester, und zwar sowohl von Vater als Mutter;
Neigung und Sinnlichkeit hatten den Mann in späteren Jahren nochmals
überwältigt, in welchen das Recht der Ehegatten schon verloschen zu
sein scheint; über einen ähnlichen Fall hatte man sich kurz vorher in
der Gegend lustig gemacht, und mein Vater, um sich nicht gleichfalls
dem Lächerlichen auszusetzen, beschloß, diese späte, gesetzmäßige
Frucht der Liebe mit ebender Sorgfalt zu verheimlichen, als man sonst
die frühern zufälligen Früchte der Neigung zu verbergen pflegt.
Unsere Mutter kam heimlich nieder, das Kind wurde aufs Land gebracht,
und der alte Hausfreund, der nebst dem Beichtvater allein um das
Geheimnis wußte, ließ sich leicht bereden, sie für seine Tochter
auszugeben.  Der Beichtvater hatte sich nur ausbedungen, im äußersten
Fall das Geheimnis entdecken zu dürfen.  Der Vater war gestorben, das
zarte Mädchen lebte unter der Aufsicht einer alten Frau; wir wußten,
daß Gesang und Musik unsern Bruder schon bei ihr eingeführt hatten,
und da er uns wiederholt aufforderte, seine alten Bande zu trennen, um
das neue zu knüpfen, so war es nötig, ihn so bald als möglich von der
Gefahr zu unterrichten, in der er schwebte.

Er sah uns mit wilden, verachtenden Blicken an.  "Spart eure
unwahrscheinlichen Märchen", rief er aus, "für Kinder und
leichtgläubige Toren; mir werdet ihr Speraten nicht vom Herzen reißen,
sie ist mein.  Verleugnet sogleich euer schreckliches Gespenst, das
mich nur vergebens ängstigen würde.  Sperata ist nicht meine Schwester,
sie ist mein Weib!"  Er beschrieb uns mit Entzücken, wie ihn das
himmlische Mädchen aus dem Zustande der unnatürlichen Absonderung von
den Menschen in das wahre Leben geführt, wie beide Gemüter gleich
beiden Kehlen zusammenstimmten und wie er alle seine Leiden und
Verirrungen segnete, weil sie ihn von allen Frauen bis dahin entfernt
gehalten und weil er nun ganz und gar sich dem liebenswürdigsten
Mädchen ergeben könne.  Wir entsetzten uns über die Entdeckung, uns
jammerte sein Zustand, wir wußten uns nicht zu helfen, er versicherte
uns mit Heftigkeit, daß Sperata ein Kind von ihm im Busen trage.
Unser Beichtvater tat alles, was ihm seine Pflicht eingab, aber
dadurch ward das übel nur schlimmer.  Die Verhältnisse der Natur und
der Religion, der sittlichen Rechte und der bürgerlichen Gesetze
wurden von meinem Bruder aufs heftigste durchgefochten.  Nichts schien
ihm heilig als das Verhältnis zu Sperata, nichts schien ihm würdig als
der Name Vater und Gattin.  "Diese allein", rief er aus, "sind der
Natur gemäß, alles andere sind Grillen und Meinungen.  Gab es nicht
edle Völker, die eine Heirat mit der Schwester billigten?  Nennt eure
Götter nicht", rief er aus, "ihr braucht die Namen nie, als wenn ihr
uns betören, uns von dem Wege der Natur abführen und die edelsten
Triebe durch schändlichen Zwang zu Verbrechen entstellen wollt.  Zur
größten Verwirrung des Geistes, zum schändlichsten Mißbrauche des
Körpers nötigt ihr die Schlachtopfer, die ihr lebendig begrabt.

Ich darf reden, denn ich habe gelitten wie keiner, von der höchsten,
süßesten Fülle der Schwärmerei bis zu den fürchterlichen Wüsten der
Ohnmacht, der Leerheit, der Vernichtung und Verzweiflung, von den
höchsten Ahnungen überirdischer Wesen bis zu dem völligsten Unglauben,
dem Unglauben an mir selbst.  Allen diesen entsetzlichen Bodensatz des
am Rande schmeichelnden Kelchs habe ich ausgetrunken, und mein ganzes
Wesen war bis in sein Innerstes vergiftet.  Nun, da mich die gütige
Natur durch ihre größten Gaben, durch die Liebe wieder geheilt hat, da
ich an dem Busen eines himmlischen Mädchens wieder fühle, daß ich bin,
daß sie ist, daß wir eins sind, daß aus dieser lebendigen Verbindung
ein Drittes entstehen und uns entgegenlächeln soll, nun eröffnet ihr
die Flammen eurer Höllen, eurer Fegefeuer, die nur eine kranke
Einbildungskraft versengen können, und stellt sie dem lebhaften,
wahren, unzerstörlichen Genuß der reinen Liebe entgegen!  Begegnet uns
unter jenen Zypressen, die ihre ernsthaften Gipfel gen Himmel wenden,
besucht uns an jenen Spalieren, wo die Zitronen und Pomeranzen neben
uns blühn, wo die zierliche Myrte uns ihre zarten Blumen darreicht,
und dann wagt es, uns mit euren trüben, grauen, von Menschen
gesponnenen Netzen zu ängstigen!"

So bestand er lange Zeit auf einem hartnäckigen Unglauben unserer
Erzählung, und zuletzt, da wir ihm die Wahrheit derselben beteuerten,
da sie ihm der Beichtvater selbst versicherte, ließ er sich doch
dadurch nicht irremachen, vielmehr rief er aus: "Fragt nicht den
Widerhall eurer Kreuzgänge, nicht euer vermodertes Pergament, nicht
eure verschränkten Grillen und Verordnungen; fragt die Natur und euer
Herz, sie wird euch lehren, vor was ihr zu schaudern habt, sie wird
euch mit dem strengsten Finger zeigen, worüber sie ewig und
unwiderruflich ihren Fluch ausspricht.  Seht die Lilien an: entspringt
nicht Gatte und Gattin auf einem Stengel?  Verbindet beide nicht die
Blume, die beide gebar, und ist die Lilie nicht das Bild der Unschuld
und ihre geschwisterliche Vereinigung nicht fruchtbar?  Wenn die Natur
verabscheut, so spricht sie es laut aus; das Geschöpf, das nicht sein
soll, kann nicht werden; das Geschöpf, das falsch lebt, wird früh
zerstört.  Unfruchtbarkeit, kümmerliches Dasein, frühzeitiges
Zerfallen, das sind ihre Flüche, die Kennzeichen ihrer Strenge.  Nur
durch unmittelbare Folgen straft sie.  Da seht um euch her, und was
verboten, was verflucht ist, wird euch in die Augen fallen.  In der
Stille des Klosters und im Geräusche der Welt sind tausend Handlungen
geheiligt und geehrt, auf denen ihr Fluch ruht.  Auf bequemen
Müßiggang so gut als überstrengte Arbeit, auf Willkür und überfluß wie
auf Not und Mangel sieht sie mit traurigen Augen nieder, zur Mäßigkeit
ruft sie, wahr sind alle ihre Verhältnisse und ruhig alle ihre
Wirkungen.  Wer gelitten hat wie ich, hat das Recht, frei zu sein.
Sperata ist mein; nur der Tod soll mir sie nehmen.  Wie ich sie
behalten kann? wie ich glücklich werden kann? das ist eure Sorge!
Jetzt gleich geh ich zu ihr, um mich nicht wieder von ihr zu trennen."

Er wollte nach dem Schiffe, um zu ihr überzusetzen; wir hielten ihn ab
und baten ihn, daß er keinen Schritt tun möchte, der die
schrecklichsten Folgen haben könnte.  Er solle überlegen, daß er nicht
in der freien Welt seiner Gedanken und Vorstellungen, sondern in einer
Verfassung lebe, deren Gesetze und Verhältnisse die Unbezwinglichkeit
eines Naturgesetzes angenommen haben.  Wir mußten dem Beichtvater
versprechen, daß wir den Bruder nicht aus den Augen, noch weniger aus
dem Schlosse lassen wollten; darauf ging er weg und versprach, in
einigen Tagen wiederzukommen.  Was wir vorausgesehen hatten, traf ein;
der Verstand hatte unsern Bruder stark gemacht, aber sein Herz war
weich; die frühern Eindrücke der Religion wurden lebhaft, und die
entsetzlichsten Zweifel bemächtigten sich seiner.  Er brachte zwei
fürchterliche Tage und Nächte zu; der Beichtvater kam ihm wieder zu
Hülfe, umsonst!  Der ungebundene, freie Verstand sprach ihn los; sein
Gefühl, seine Religion, alle gewohnten Begriffe erklärten ihn für
einen Verbrecher.

Eines Morgens fanden wir sein Zimmer leer, ein Blatt lag auf dem
Tische, worin er uns erklärte, daß er, da wir ihn mit Gewalt
gefangenhielten, berechtigt sei, seine Freiheit zu suchen, er
entfliehe, er gehe zu Sperata, er hoffe, mit ihr zu entkommen, er sei
auf alles gefaßt, wenn man sie trennen wolle.

Wir erschraken nicht wenig, allein der Beichtvater bat uns, ruhig zu
sein.  Unser armer Bruder war nahe genug beobachtet worden; die
Schiffer, anstatt ihn überzusetzen, führten ihn in sein Kloster.
Ermüdet von einem vierzigstündigen Wachen, schlief er ein, sobald ihn
der Kahn im Mondenscheine schaukelte, und erwachte nicht früher, als
bis er sich in den Händen seiner geistlichen Brüder sah; er erholte
sich nicht eher, als bis er die Klosterpforte hinter sich zuschlagen
hörte.

Schmerzlich gerührt von dem Schicksal unseres Bruders, machten wir
unserm Beichtvater die lebhaftesten Vorwürfe; allein dieser ehrwürdige
Mann wußte uns bald mit den Gründen des Wundarztes zu überreden, daß
unser Mitleid für den armen Kranken tödlich sei.  Er handle nicht aus
eignet Willkür, sondern auf Befehl des Bischofs und des hohen Rates.
Die Absicht war: alles öffentliche ärgernis zu vermeiden und den
traurigen Fall mit dem Schleier einer geheimen Kirchenzucht zu
verdecken.  Sperata sollte geschont werden, sie sollte nicht erfahren,
daß ihr Geliebter zugleich ihr Bruder sei.  Sie ward einem Geistlichen
anempfohlen, dem sie vorher schon ihren Zustand vertraut hatte.  Man
wußte ihre Schwangerschaft und Niederkunft zu verbergen.  Sie war als
Mutter in dem kleinen Geschöpfe ganz glücklich.  So wie die meisten
unserer Mädchen konnte sie weder schreiben noch Geschriebenes lesen;
sie gab daher dem Pater Aufträge, was er ihrem Geliebten sagen sollte.
Dieser glaubte den frommen Betrug einer säugenden Mutter schuldig zu
sein, er brachte ihr Nachrichten von unserm Bruder, den er niemals sah,
ermahnte sie in seinem Namen zur Ruhe, bat sie, für sich und das Kind
zu sorgen und wegen der Zukunft Gott zu vertrauen.



VIII. Buch, 9. Kapitel--2



Sperata war von Natur zur Religiosität geneigt.  Ihr Zustand, ihre
Einsamkeit vermehrten diesen Zug, der Geistliche unterhielt ihn, um
sie nach und nach auf eine ewige Trennung vorzubereiten.  Kaum war das
Kind entwöhnt, kaum glaubte er ihren Körper stark genug, die
ängstlichsten Seelenleiden zu ertragen, so fing er an, das Vergehen
ihr mit schrecklichen Farben vorzumalen, das Vergehen, sich einem
Geistlichen ergeben zu haben, das er als eine Art von Sünde gegen die
Natur, als einen Inzest behandelte.  Denn er hatte den sonderbaren
Gedanken, ihre Reue jener Reue gleichzumachen, die sie empfunden haben
würde, wenn sie das wahre Verhältnis ihres Fehltritts erfahren hätte.
Er brachte dadurch so viel Jammer und Kummer in ihr Gemüt, er erhöhte
die Idee der Kirche und ihres Oberhauptes so sehr vor ihr, er zeigte
ihr die schrecklichen Folgen für das Heil aller Seelen, wenn man in
solchen Fällen nachgeben und die Straffälligen durch eine rechtmäßige
Verbindung noch gar belohnen wolle; er zeigte ihr, wie heilsam es sei,
einen solchen Fehler in der Zeit abzubüßen und dafür dereinst die
Krone der Herrlichkeit zu erwerben, daß sie endlich wie eine arme
Sünderin ihren Nacken dem Beil willig darreichte und inständig bat,
daß man sie auf ewig von unserm Bruder entfernen möchte.  Als man so
viel von ihr erlangt hatte, ließ man ihr, doch unter einer gewissen
Aufsicht, die Freiheit, bald in ihrer Wohnung, bald in dem Kloster zu
sein, je nachdem sie es für gut hielte.

Ihr Kind wuchs heran und zeigte bald eine sonderbare Natur.  Es konnte
sehr früh laufen und sich mit aller Geschicklichkeit bewegen, es sang
bald sehr artig und lernte die Zither gleichsam von sich selbst.  Nur
mit Worten konnte es sich nicht ausdrücken, und es schien das
Hindernis mehr in seiner Denkungsart als in den Sprachwerkzeugen zu
liegen.  Die arme Mutter fühlte indessen ein trauriges Verhältnis zu
dem Kinde; die Behandlung des Geistlichen hatte ihre Vorstellungsart
so verwirrt, daß sie, ohne wahnsinnig zu sein, sich in den seltsamsten
Zuständen befand.  Ihr Vergehen schien ihr immer schrecklicher und
straffälliger zu werden; das oft wiederholte Gleichnis des Geistlichen
vom Inzest hatte sich so tief bei ihr eingeprägt, daß sie einen
solchen Abscheu empfand, als wenn ihr das Verhältnis selbst bekannt
gewesen wäre.  Der Beichtvater dünkte sich nicht wenig über das
Kunststück, wodurch er das Herz eines unglücklichen Geschöpfes zerriß.
Jämmerlich war es anzusehen, wie die Mutterliebe, die über das Dasein
des Kindes sich so herzlich zu erfreuen geneigt war, mit dem
schrecklichen Gedanken stritt, daß dieses Kind nicht dasein sollte.
Bald stritten diese beiden Gefühle zusammen, bald war der Abscheu über
die Liebe gewaltig.

Man hatte das Kind schon lange von ihr weggenommen und zu guten Leuten
unten am See gegeben, und in der mehrern Freiheit, die es hatte,
zeigte sich bald seine besondre Lust zum Klettern.  Die höchsten
Gipfel zu ersteigen, auf den Rändern der Schiffe wegzulaufen und den
Seiltänzern, die sich manchmal in dem Orte sehen ließen, die
wunderlichsten Kunststücke nachzumachen war ein natürlicher Trieb.

Um das alles leichter zu üben, liebte sie, mit den Knaben die Kleider
zu wechseln, und ob es gleich von ihren Pflegeltern höchst unanständig
und unzulässig gehalten wurde, so ließen wir ihr doch soviel als
möglich nachsehen.  Ihre wunderlichen Wege und Sprünge führten sie
manchmal weit, sie verirrte sich, sie blieb aus und kam immer wieder.
Meistenteils, wenn sie zurückkehrte, setzte sie sich unter die Säulen
des Portals vor einem Landhause in der Nachbarschaft; man suchte sie
nicht mehr, man erwartete sie.  Dort schien sie auf den Stufen
auszuruhen, dann lief sie in den großen Saal, besah die Statuen, und
wenn man sie nicht besonders aufhielt, eilte sie nach Hause.

Zuletzt ward denn doch unser Hoffen getäuscht und unsere Nachsicht
bestraft.  Das Kind blieb aus, man fand seinen Hut auf dem Wasser
schwimmen, nicht weit von dem Orte, wo ein Gießbach sich in den See
stürzt.  Man vermutete, daß es bei seinem Klettern zwischen den Felsen
verunglückt sei; bei allem Nachforschen konnte man den Körper nicht
finden.

Durch das unvorsichtige Geschwätz ihrer Gesellschafterinnen erfuhr
Sperata bald den Tod ihres Kindes; sie schien ruhig und heiter und gab
nicht undeutlich zu verstehen, sie freue sich, daß Gott das arme
Geschöpf zu sich genommen und so bewahrt habe, ein größeres Unglück zu
erdulden oder zu stiften.

Bei dieser Gelegenheit kamen alle Märchen zur Sprache, die man von
unsern Wassern zu erzählen pflegt.  Es hieß: der See müsse alle Jahre
ein unschuldiges Kind haben; er leide keinen toten Körper und werfe
ihn früh oder spät ans Ufer, ja sogar das letzte Knöchelchen, wenn es
zu Grunde gesunken sei, müsse wieder heraus.  Man erzählte die
Geschichte einer untröstlichen Mutter, deren Kind im See ertrunken sei
und die Gott und seine Heiligen angerufen habe, ihr nur wenigstens die
Gebeine zum Begräbnis zu gönnen; der nächste Sturm habe den Schädel,
der folgende den Rumpf ans Ufer gebracht, und nachdem alles beisammen
gewesen, habe sie sämtliche Gebeine in einem Tuch zur Kirche getragen,
aber, o Wunder! als sie in den Tempel getreten, sei das Paket immer
schwerer geworden, und endlich, als sie es auf die Stufen des Altars
gelegt, habe das Kind zu schreien angefangen und sich zu jedermanns
Erstaunen aus dem Tuche losgemacht; nur ein Knöchelchen des kleinen
Fingers an der rechten Hand habe gefehlt, welches denn die Mutter
nachher noch sorgfältig aufgesucht und gefunden, das denn auch noch
zum Gedächtnis unter andern Reliquien in der Kirche aufgehoben werde.

Auf die arme Mutter machten diese Geschichten großen Eindruck; ihre
Einbildungskraft fühlte einen neuen Schwung und begünstigte die
Empfindung ihres Herzens.  Sie nahm an, daß das Kind nunmehr für sich
und seine Eltern abgebüßt habe, daß Fluch und Strafe, die bisher auf
ihnen geruht, nunmehr gänzlich gehoben sei; daß es nur darauf ankomme,
die Gebeine des Kindes wiederzufinden, um sie nach Rom zu bringen, so
würde das Kind auf den Stufen des großen Altars der Peterskirche
wieder, mit seiner schönen, frischen Haut umgeben, vor dem Volke
dastehn.  Es werde mit seinen eignen Augen wieder Vater und Mutter
schauen, und der Papst, von der Einstimmung Gottes und seiner Heiligen
überzeugt, werde unter dem lauten Zuruf des Volks den Eltern die Sünde
vergeben, sie lossprechen und sie verbinden.

Nun waren ihre Augen und ihre Sorgfalt immer nach dem See und dem Ufer
gerichtet.  Wenn nachts im Mondglanz sich die Wellen umschlugen,
glaubte sie, jeder blinkende Saum treibe ihr Kind hervor; es mußte zum
Scheine jemand hinablaufen, um es am Ufer aufzufangen.

So war sie auch des Tages unermüdet an den Stellen, wo das kiesige
Ufer flach in die See ging; sie sammelte in ein Körbchen alle Knochen,
die sie fand.  Niemand durfte ihr sagen, daß es Tierknochen seien; die
großen begrub sie, die kleinen hub sie auf.  In dieser Beschäftigung
lebte sie unablässig fort.  Der Geistliche, der durch die unerläßliche
Ausübung seiner Pflicht ihren Zustand verursacht hatte, nahm sich auch
ihrer nun aus allen Kräften an.  Durch seinen Einfluß ward sie in der
Gegend für eine Entzückte, nicht für eine Verrückte gehalten; man
stand mit gefalteten Händen, wenn sie vorbeiging, und die Kinder
küßten ihr die Hand.

Ihrer alten Freundin und Begleiterin war von dem Beichtvater die
Schuld, die sie bei der unglücklichen Verbindung beider Personen
gehabt haben mochte, nur unter der Bedingung erlassen, daß sie
unablässig treu ihr ganzes künftiges Leben die Unglückliche begleiten
solle, und sie hat mit einer bewundernswürdigen Geduld und
Gewissenhaftigkeit ihre Pflichten bis zuletzt ausgeübt.

Wir hatten unterdessen unsern Bruder nicht aus den Augen verloren;
weder die ärzte noch die Geistlichkeit seines Klosters wollten uns
erlauben, vor ihm zu erscheinen; allein um uns zu überzeugen, daß es
ihm nach seiner Art wohl gehe, konnten wir ihn, sooft wir wollten, in
dem Garten, in den Kreuzgängen, ja durch ein Fenster an der Decke
seines Zimmers belauschen.

Nach vielen schrecklichen und sonderbaren Epochen, die ich übergehe,
war er in einen seltsamen Zustand der Ruhe des Geistes und der Unruhe
des Körpers geraten.  Er saß fast niemals, als wenn er seine Harfe
nahm und darauf spielte, da er sie denn meistens mit Gesang begleitete.
übrigens war er immer in Bewegung und in allem äußerst lenksam und
folgsam, denn alle seine Leidenschaften schienen sich in der einzigen
Furcht des Todes aufgelöst zu haben.  Man konnte ihn zu allem in der
Welt bewegen, wenn man ihm mit einer gefährlichen Krankheit oder mit
dem Tode drohte.

Außer dieser Sonderbarkeit, daß er unermüdet im Kloster hin und her
ging und nicht undeutlich zu verstehen gab, daß es noch besser sein
würde, über Berg und Täler so zu wandeln, sprach er auch von einer
Erscheinung, die ihn gewöhnlich ängstigte.  Er behauptete nämlich, daß
bei seinem Erwachen zu jeder Stunde der Nacht ein schöner Knabe unten
an seinem Bette stehe und ihm mit einem blanken Messer drohe.  Man
versetzte ihn in ein anderes Zimmer, allein er behauptete, auch da und
zuletzt sogar an andern Stellen des Klosters stehe der Knabe im
Hinterhalt.  Sein Auf- und Abwandeln ward unruhiger, ja man erinnerte
sich nachher, daß er in der Zeit öfter als sonst an dem Fenster
gestanden und über den See hinübergesehen habe.

Unsere arme Schwester indessen schien von dem einzigen Gedanken, von
der beschränkten Beschäftigung nach und nach aufgerieben zu werden,
und unser Arzt schlug vor, man sollte ihr nach und nach unter ihre
übrigen Gebeine die Knochen eines Kinderskeletts mischen, um dadurch
ihre Hoffnung zu vermehren.  Der Versuch war zweifelhaft, doch schien
wenigstens so viel dabei gewonnen, daß man sie, wenn alle Teile
beisammen wären, von dem ewigen Suchen abbringen und ihr zu einer
Reise nach Rom Hoffnung machen könnte.

Es geschah, und ihre Begleiterin vertauschte unmerklich die ihr
anvertrauten kleinen Reste mit den gefundenen, und eine unglaubliche
Wonne verbreitete sich über die arme Kranke, als die Teile sich nach
und nach zusammenfanden und man diejenigen bezeichnen konnte, die noch
fehlten.  Sie hatte mit großer Sorgfalt jeden Teil, wo er hingehörte,
mit Fäden und Bändern befestigt; sie hatte, wie man die Körper der
Heiligen zu ehren pflegt, mit Seide und Stickerei die Zwischenräume
ausgefüllt.

So hatte man die Glieder zusammenkommen lassen, es fehlten nur wenige
der äußeren Enden.  Eines Morgens, als sie noch schlief und der
Medikus gekommen war, nach ihrem Befinden zu fragen, nahm die Alte die
verehrten Reste aus dem Kästchen weg, das in der Schlafkammer stand,
um dem Arzte zu zeigen, wie sich die gute Kranke beschäftige.  Kurz
darauf hörte man sie aus dem Bette springen, sie hob das Tuch auf und
fand das Kästchen leer.  Sie warf sich auf ihre Knie; man kam und
hörte ihr freudiges, inbrünstiges Gebet.  "Ja! es ist wahr!" rief sie
aus, "es war kein Traum, es ist wirklich!  Freuet euch, meine Freunde,
mit mir!  Ich habe das gute, schöne Geschöpf wieder lebendig gesehen.
Es stand auf und warf den Schleier von sich, sein Glanz erleuchtete
das Zimmer, seine Schönheit war verklärt, es konnte den Boden nicht
betreten, ob es gleich wollte.  Leicht ward es emporgehoben und konnte
mir nicht einmal seine Hand reichen.  Da rief es mich zu sich und
zeigte mir den Weg, den ich gehen soll.  Ich werde ihm folgen, und
bald folgen, ich fühl es, und es wird mir so leicht ums Herz.  Mein
Kummer ist verschwunden, und schon das Anschauen meines
Wiederauferstandenen hat mir einen Vorschmack der himmlischen Freude
gegeben."

Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüt mit den heitersten Aussichten
beschäftigt, auf keinen irdischen Gegenstand richtete sie ihre
Aufmerksamkeit mehr, sie genoß nur wenige Speisen, und ihr Geist
machte sich nach und nach von den Banden des Körpers los.  Auch fand
man sie zuletzt unvermutet erblaßt und ohne Empfindung, sie öffnete
die Augen nicht wieder, sie war, was wir tot nennen.

Der Ruf ihrer Vision hatte sich bald unter das Volk verbreitet, und
das ehrwürdige Ansehn, das sie in ihrem Leben genoß, verwandelte sich
nach ihrem Tode schnell in den Gedanken, daß man sie sogleich für
selig, ja für heilig halten müsse.

Als man sie zu Grabe bestatten wollte, drängten sich viele Menschen
mit unglaublicher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte
wenigstens ihr Kleid berühren.  In dieser leidenschaftlichen Erhöhung
fühlten verschiedene Kranke die übel nicht, von denen sie sonst
gequält wurden, sie hielten sich für geheilt, sie bekannten's, sie
priesen Gott und seine neue Heilige.  Die Geistlichkeit war genötigt,
den Körper in eine Kapelle zu stellen, das Volk verlangte Gelegenheit,
seine Andacht zu verrichten, der Zudrang war unglaublich; die
Bergbewohner, die ohnedies zu lebhaften religiösen Gefühlen gestimmt
sind, drangen aus ihren Tälern herbei; die Andacht, die Wunder, die
Anbetung vermehrten sich mit jedem Tage.  Die bischöflichen
Verordnungen, die einen solchen neuen Dienst einschränken und nach und
nach niederschlagen sollten, konnten nicht zur Ausführung gebracht
werden; bei jedem Widerstand war das Volk heftig und gegen jeden
Ungläubigen bereit, in Tätlichkeiten auszubrechen.  "Wandelte nicht
auch", riefen sie, "der heilige Borromäus unter unsern Vorfahren?
Erlebte seine Mutter nicht die Wonne seiner Seligsprechung?  Hat man
nicht durch jenes große Bildnis auf dem Felsen bei Arona uns seine
geistige Größe sinnlich vergegenwärtigen wollen?  Leben die Seinigen
nicht noch unter uns?  Und hat Gott nicht zugesagt, unter einem
gläubigen Volke seine Wunder stets zu erneuern?"

Als der Körper nach einigen Tagen keine Zeichen der Fäulnis von sich
gab und eher weißer und gleichsam durchsichtig ward, erhöhte sich das
Zutrauen der Menschen immer mehr, und es zeigten sich unter der Menge
verschiedene Kuren, die der aufmerksame Beobachter selbst nicht
erklären und auch nicht geradezu als Betrug ansprechen konnte.  Die
ganze Gegend war in Bewegung, und wer nicht selbst kam, hörte
wenigstens eine Zeitlang von nichts anderem reden.

Das Kloster, worin mein Bruder sich befand, erscholl so gut als die
übrige Gegend von diesen Wundern, und man nahm sich um so weniger in
acht, in seiner Gegenwart davon zu sprechen, als er sonst auf nichts
aufzumerken pflegte und sein Verhältnis niemanden bekannt war.
Diesmal schien er aber mit großer Genauigkeit gehört zu haben; er
führte seine Flucht mit solcher Schlauheit aus, daß niemals jemand hat
begreifen können, wie er aus dem Kloster herausgekommen sei.  Man
erfuhr nachher, daß er sich mit einer Anzahl Wallfahrer übersetzen
lassen und daß er die Schiffer, die weiter nichts Verkehrtes an ihm
wahrnahmen, nur um die größte Sorgfalt gebeten, daß das Schiff nicht
umschlagen möchte.  Tief in der Nacht kam er in jene Kapelle, wo seine
unglückliche Geliebte von ihrem Leiden ausruhte; nur wenig Andächtige
knieten in den Winkeln, ihre alte Freundin saß zu ihren Häupten, er
trat hinzu und grüßte sie und fragte, wie sich ihre Gebieterin befände.
"Ihr seht es", versetzte diese nicht ohne Verlegenheit.  Er blickte
den Leichnam nur von der Seite an.  Nach einigem Zaudern nahm er ihre
Hand.  Erschreckt von der Kälte, ließ er sie sogleich wieder fahren,
er sah sich unruhig um und sagte zu der Alten: "Ich kann jetzt nicht
bei ihr bleiben, ich habe noch einen sehr weiten Weg zu machen, ich
will aber zur rechten Zeit schon wieder dasein; sag ihr das, wenn sie
aufwacht."

So ging er hinweg, wir wurden nur spät von diesem Vorgange
benachrichtigt, man forschte nach, wo er hingekommen sei, aber
vergebens!  Wie er sich durch Berge und Täler durchgearbeitet haben
mag, ist unbegreiflich.  Endlich nach langer Zeit fanden wir in
Graubünden eine Spur von ihm wieder, allein zu spät, und sie verlor
sich bald.  Wir vermuteten, daß er nach Deutschland sei, allein der
Krieg hatte solche schwache Fußtapfen gänzlich verwischt."



VIII. Buch, 10. Kapitel--1



Zehntes Kapitel

Der Abbe hörte zu lesen auf, und niemand hatte ohne Tränen zugehört.
Die Gräfin brachte ihr Tuch nicht von den Augen; zuletzt stand sie auf
und verließ mit Natalien das Zimmer.  Die übrigen schwiegen, und der
Abbe sprach: "Es entsteht nun die Frage, ob man den guten Marchese
soll abreisen lassen, ohne ihm unser Geheimnis zu entdecken.  Denn wer
zweifelt wohl einen Augenblick daran, daß Augustin und unser
Harfenspieler eine Person sei?  Es ist zu überlegen, was wir tun,
sowohl um des unglücklichen Mannes als der Familie willen.  Mein Rat
wäre, nichts zu übereilen, abzuwarten, was uns der Arzt, den wir eben
von dort zurückerwarten, für Nachrichten bringt."

Jedermann war derselben Meinung, und der Abbe fuhr fort: "Eine andere
Frage, die vielleicht schneller abzutun ist, entsteht zu gleicher Zeit.
Der Marchese ist unglaublich gerührt über die Gastfreundschaft, die
seine arme Nichte bei uns, besonders bei unserm jungen Freunde,
gefunden hat.  Ich habe ihm die ganze Geschichte umständlich, ja
wiederholt erzählen müssen, und er zeigte seine lebhafteste
Dankbarkeit.  "Der junge Mann", sagte er, "hat ausgeschlagen, mit mir
zu reisen, ehe er das Verhältnis kannte, das unter uns besteht.  Ich
bin ihm nun kein Fremder mehr, von dessen Art zu sein und von dessen
Laune er etwa nicht gewiß wäre; ich bin sein Verbundener, wenn Sie
wollen sein Verwandter, und da sein Knabe, den er nicht zurücklassen
wollte, erst das Hindernis war, das ihn abhielt, sich zu mir zu
gesellen, so lassen Sie jetzt dieses Kind zum schönern Bande werden,
das uns nur desto fester aneinanderknüpft. über die Verbindlichkeit,
die ich nun schon habe, sei er mir noch auf der Reise nützlich, er
kehre mit mir zurück, mein älterer Bruder wird ihn mit Freuden
empfangen, er verschmähe die Erbschaft seines Pflegekindes nicht: denn
nach einer geheimen Abrede unseres Vaters mit seinem Freunde ist das
Vermögen, das er seiner Tochter zugewendet hatte, wieder an uns
zurückgefallen, und wir wollen dem Wohltäter unserer Nichte gewiß das
nicht vorenthalten, was er verdient hat.""

Therese nahm Wilhelmen bei der Hand und sagte: "Wir erleben abermals
hier so einen schönen Fall, daß uneigennütziges Wohltun die höchsten
und schönsten Zinsen bringt.  Folgen Sie diesem sonderbaren Ruf, und
indem Sie sich um den Marchese doppelt verdient machen, eilen Sie
einem schönen Land entgegen, das Ihre Einbildungskraft und Ihr Herz
mehr als einmal an sich gezogen hat."

"Ich überlasse mich ganz meinen Freunden und ihrer Führung", sagte
Wilhelm; "es ist vergebens, in dieser Welt nach eigenem Willen zu
streben.  Was ich festzuhalten wünschte, muß ich fahrenlassen, und
eine unverdiente Wohltat drängt sich mir auf."

Mit einem Druck auf Theresens Hand machte Wilhelm die seinige los.
"Ich überlasse Ihnen ganz", sagte er zu dem Abbe, "was Sie über mich
beschließen; wenn ich meinen Felix nicht von mir zu lassen brauche, so
bin ich zufrieden, überall hinzugehn und alles, was man für recht hält,
zu unternehmen."

Auf diese Erklärung entwarf der Abbe sogleich seinen Plan: man solle,
sagte er, den Marchese abreisen lassen; Wilhelm solle die Nachricht
des Arztes abwarten, und alsdann, wenn man überlegt habe, was zu tun
sei, könne Wilhelm mit Felix nachreisen.  So bedeutete er auch den
Marchese unter einem Vorwand, daß die Einrichtungen des jungen
Freundes zur Reise ihn nicht abhalten müßten, die Merkwürdigkeiten der
Stadt indessen zu besehn.  Der Marchese ging ab, nicht ohne
wiederholte lebhafte Versicherung seiner Dankbarkeit, wovon die
Geschenke, die er zurückließ und die aus Juwelen, geschnittenen
Steinen und gestickten Stoffen bestanden, einen genugsamen Beweis
gaben.

Wilhelm war nun auch völlig reisefertig, und man war um so mehr
verlegen, daß keine Nachrichten von dem Arzt kommen wollten; man
befürchtete, dem armen Harfenspieler möchte ein Unglück begegnet sein,
zu ebender Zeit, als man hoffen konnte, ihn durchaus in einen bessern
Zustand zu versetzen.  Man schickte den Kurier fort, der kaum
weggeritten war, als am Abend der Arzt mit einem Fremden hereintrat,
dessen Gestalt und Wesen bedeutend, ernsthaft und auffallend war und
den niemand kannte.  Beide Ankömmlinge schwiegen eine Zeitlang still;
endlich ging der Fremde auf Wilhelmen zu, reichte ihm die Hand und
sagte: "Kennen Sie Ihren alten Freund nicht mehr?"  Es war die Stimme
des Harfenspielers, aber von seiner Gestalt schien keine Spur
übriggeblieben zu sein.  Er war in der gewöhnlichen Tracht eines
Reisenden, reinlich und anständig gekleidet, sein Bart war
verschwunden, seinen Locken sah man einige Kunst an, und was ihn
eigentlich ganz unkenntlich machte, war, daß an seinem bedeutenden
Gesichte die Züge des Alters nicht mehr erschienen.  Wilhelm umarmte
ihn mit der lebhaftesten Freude; er ward den andern vorgestellt und
betrug sich sehr vernünftig und wußte nicht, wie bekannt er der
Gesellschaft noch vor kurzem geworden war.  "Sie werden Geduld mit
einem Menschen haben", fuhr er mit großer Gelassenheit fort, "der, so
erwachsen er auch aussieht, nach einem langen Leiden erst wie ein
unerfahrnes Kind in die Welt tritt.  Diesem wackren Mann bin ich
schuldig, daß ich wieder in einer menschlichen Gesellschaft erscheinen
kann."

Man hieß ihn willkommen, und der Arzt veranlaßte sogleich einen
Spaziergang, um das Gespräch abzubrechen und ins Gleichgültige zu
lenken.

Als man allein war, gab der Arzt folgende Erklärung: "Die Genesung
dieses Mannes ist uns durch den sonderbarsten Zufall geglückt.  Wir
hatten ihn lange nach unserer überzeugung moralisch und physisch
behandelt, es ging auch bis auf einen gewissen Grad ganz gut, allein
die Todesfurcht war noch immer groß bei ihm, und seinen Bart und sein
langes Kleid wollte er uns nicht aufopfern; übrigens nahm er mehr teil
an den weltlichen Dingen, und seine Gesänge schienen wie seine
Vorstellungsart wieder dem Leben sich zu nähern.  Sie wissen, welch
ein sonderbarer Brief des Geistlichen mich von hier abrief.  Ich kam,
ich fand unsern Mann ganz verändert, er hatte freiwillig seinen Bart
hergegeben, er hatte erlaubt, seine Locken in eine hergebrachte Form
zuzuschneiden, er verlangte gewöhnliche Kleider und schien auf einmal
ein anderer Mensch geworden zu sein.  Wir waren neugierig, die Ursache
dieser Verwandlung zu ergründen, und wagten doch nicht, uns mit ihm
selbst darüber einzulassen; endlich entdeckten wir zufällig die
sonderbare Bewandtnis.  Ein Glas flüssiges Opium fehlte in der
Hausapotheke des Geistlichen, man hielt für nötig, die strengste
Untersuchung anzustellen, jedermann suchte sich des Verdachtes zu
erwehren, es gab unter den Hausgenossen heftige Szenen.  Endlich trat
dieser Mann auf und gestand, daß er es besitze; man fragte ihn, ob er
davon genommen habe.  Er sagte nein, fuhr aber fort: "Ich danke diesem
Besitz die Wiederkehr meiner Vernunft.  Es hängt von euch ab, mir
dieses Fläschchen zu nehmen, und ihr werdet mich ohne Hoffnung in
meinen alten Zustand wieder zurückfallen sehen.  Das Gefühl, daß es
wünschenswert sei, die Leiden dieser Erde durch den Tod geendigt zu
sehen, brachte mich zuerst auf den Weg der Genesung; bald darauf
entstand der Gedanke, sie durch einen freiwilligen Tod zu endigen, und
ich nahm in dieser Absicht das Glas hinweg; die Möglichkeit, sogleich
die großen Schmerzen auf ewig aufzuheben, gab mir Kraft, die Schmerzen
zu ertragen, und so habe ich, seitdem ich den Talisman besitze, mich
durch die Nähe des Todes wieder in das Leben zurückgedrängt.  Sorgt
nicht", sagte er, "daß ich Gebrauch davon mache, sondern entschließt
euch, als Kenner des menschlichen Herzens, mich, indem ihr mir die
Unabhängigkeit vom Leben zugesteht, erst vom Leben recht abhängig zu
machen."  Nach reiflicher überlegung drangen wir nicht weiter in ihn,
und er führt nun in einem festen, geschliffnen Glasfläschchen dieses
Gift als das sonderbarste Gegengift bei sich."

Man unterrichtete den Arzt von allem, was indessen entdeckt worden war,
und man beschloß, gegen Augustin das tiefste Stillschweigen zu
beobachten.  Der Abbe nahm sich vor, ihn nicht von seiner Seite zu
lassen und ihn auf dem guten Wege, den er betreten hatte, fortzufahren.


Indessen sollte Wilhelm die Reise durch Deutschland mit dem Marchese
vollenden.  Schien es möglich, Augustinen eine Neigung zu seinem
Vaterlande wieder einzuflößen, so wollte man seinen Verwandten den
Zustand entdecken, und Wilhelm sollte ihn den Seinigen wieder zuführen.


Dieser hatte nun alle Anstalten zu seiner Reise gemacht, und wenn es
im Anfang wunderbar schien, daß Augustin sich freute, als er vernahm,
wie sein alter Freund und Wohltäter sich sogleich wieder entfernen
sollte, so entdeckte doch der Abbe bald den Grund dieser seltsamen
Gemütsbewegung.  Augustin konnte seine alte Furcht, die er vor Felix
hatte, nicht überwinden und wünschte den Knaben je eher je lieber
entfernt zu sehen.

Nun waren nach und nach so viele Menschen angekommen, daß man sie im
Schloß und in den Seitengebäuden kaum alle unterbringen konnte, um so
mehr, als man nicht gleich anfangs auf den Empfang so vieler Gäste die
Einrichtung gemacht hatte.  Man frühstückte, man speiste zusammen und
hätte sich gern beredet, man lebe in einer vergnüglichen
übereinstimmung, wenn schon in der Stille die Gemüter sich
gewissermaßen auseinandersehnten.  Therese war manchmal mit Lothario,
noch öfter allein ausgeritten, sie hatte in der Nachbarschaft schon
alle Landwirte und Landwirtinnen kennenlernen; es war ihr
Haushaltungsprinzip, und sie mochte nicht unrecht haben, daß man mit
Nachbarn und Nachbarinnen im besten Vernehmen und immer in einem
ewigen Gefälligkeitswechsel stehen müsse.  Von einer Verbindung
zwischen ihr und Lothario schien gar die Rede nicht zu sein, die
beiden Schwestern hatten sich viel zu sagen, der Abbe schien den
Umgang des Harfenspielers zu suchen, Jarno hatte mit dem Arzt öftere
Konferenzen, Friedrich hielt sich an Wilhelmen, und Felix war überall,
wo es ihm gut ging.  So vereinigten sich auch meistenteils die Paare
auf dem Spaziergang, indem die Gesellschaft sich trennte, und wenn sie
zusammen sein mußten, so nahm man geschwind seine Zuflucht zur Musik,
um alle zu verbinden, indem man jeden sich selbst wiedergab.

Unversehens vermehrte der Graf die Gesellschaft, seine Gemahlin
abzuholen und, wie es schien, einen feierlichen Abschied von seinen
weltlichen Verwandten zu nehmen.  Jarno eilte ihm bis an den Wagen
entgegen, und als der Ankommende fragte, was er für Gesellschaft finde,
so sagte jener in einem Anfall von toller Laune, die ihn immer
ergriff, sobald er den Grafen gewahr ward: "Sie finden den ganzen Adel
der Welt beisammen, Marchesen, Marquis, Mylords und Baronen, es hat
nur noch an einem Grafen gefehlt."  So ging man die Treppe hinauf, und
Wilhelm war die erste Person, die ihm im Vorsaal entgegenkam.  "Mylord!"
sagte der Graf zu ihm auf Französisch, nachdem er ihn einen
Augenblick betrachtet hatte, "ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft
unvermutet zu erneuern; denn ich müßte mich sehr irren, wenn ich Sie
nicht im Gefolge des Prinzen sollte in meinem Schlosse gesehen haben.
"--"Ich hatte das Glück, Euer Exzellenz damals aufzuwarten", versetzte
Wilhelm, "nur erzeigen Sie mir zuviel Ehre, wenn Sie mich für einen
Engländer, und zwar vom ersten Range halten; ich bin ein Deutscher,
und"--"zwar ein sehr braver junger Mann", fiel Jarno sogleich ein.
Der Graf sah Wilhelmen lächelnd an und wollte eben etwas erwidern, als
die übrige Gesellschaft herbeikam und ihn aufs freundlichste begrüßte.
Man entschuldigte sich, daß man ihm nicht sogleich ein anständiges
Zimmer anweisen könne, und versprach, den nötigen Raum ungesäumt zu
verschaffen.

"Ei ei!" sagte er lächelnd, "ich sehe wohl, daß man dem Zufalle
überlassen hat, den Furierzettel zu machen; mit Vorsicht und
Einrichtung, wie viel ist da nicht möglich!  Jetzt bitte ich euch,
rührt mir keinen Pantoffel vom Platze, denn sonst, seh ich wohl, gibt
es eine große Unordnung.  Jedermann wird unbequem wohnen, und das soll
niemand um meinetwillen womöglich auch nur eine Stunde.  Sie waren
Zeuge", sagte er zu Jarno, "und auch Sie, Mister", indem er sich zu
Wilhelmen wandte, "wie viele Menschen ich damals auf meinem Schlosse
bequem untergebracht habe.  Man gebe mir die Liste der Personen und
Bedienten, man zeige mir an, wie jedermann gegenwärtig einquartiert
ist, ich will einen Dislokationsplan machen, daß mit der wenigsten
Bemühung jedermann eine geräumige Wohnung finde und daß noch Platz für
einen Gast bleiben soll, der sich zufälligerweise bei uns einstellen
könnte."

Jarno machte sogleich den Adjutanten des Grafen, verschaffte ihm alle
nötigen Notizen und hatte nach seiner Art den größten Spaß, wenn er
den alten Herrn mitunter irremachen konnte.  Dieser gewann aber bald
einen großen Triumph.  Die Einrichtung war fertig, er ließ in seiner
Gegenwart die Namen über alle Türen schreiben, und man konnte nicht
leugnen, daß mit wenig Umständen und Veränderungen der Zweck völlig
erreicht war.  Auch hatte es Jarno unter anderm so geleitet, daß die
Personen, die in dem gegenwärtigen Augenblick ein Interesse aneinander
nahmen, zusammen wohnten.

Nachdem alles eingerichtet war, sagte der Graf zu Jarno: "Helfen Sie
mir auf die Spur wegen des jungen Mannes, den Sie da Meister nennen
und der ein Deutscher sein soll."  Jarno schwieg still, denn er wußte
recht gut, daß der Graf einer von denen Leuten war, die, wenn sie
fragen, eigentlich belehren wollen; auch fuhr dieser, ohne Antwort
abzuwarten, in seiner Rede fort: "Sie hatten mir ihn damals
vorgestellt und im Namen des Prinzen bestens empfohlen.  Wenn seine
Mutter auch eine Deutsche war, so hafte ich dafür, daß sein Vater ein
Engländer ist, und zwar von Stande; wer wollte das englische Blut
alles berechnen, das seit dreißig Jahren in deutschen Adern
herumfließt!  Ich will weiter nicht darauf dringen, ihr habt immer
solche Familiengeheimnisse; doch mir wird man in solchen Fällen nichts
aufbinden."  Darauf erzählte er noch verschiedenes, was damals mit
Wilhelmen auf seinem Schloß vorgegangen sein sollte, wozu Jarno
gleichfalls schwieg, obgleich der Graf ganz irrig war und Wilhelmen
mit einem jungen Engländer in des Prinzen Gefolge mehr als einmal
verwechselte.  Der gute Herr hatte in frühern Zeiten ein
vortreffliches Gedächtnis gehabt und war noch immer stolz darauf, sich
der geringsten Umstände seiner Jugend erinnern zu können; nun
bestimmte er aber mit ebender Gewißheit wunderbare Kombinationen und
Fabeln als wahr, die ihm bei zunehmender Schwäche seines Gedächtnisses
seine Einbildungskraft einmal vorgespiegelt hatte. übrigens war er
sehr mild und gefällig geworden, und seine Gegenwart wirkte recht
günstig auf die Gesellschaft.  Er verlangte, daß man etwas Nützliches
zusammen lesen sollte, ja sogar gab er manchmal kleine Spiele an, die
er, wo nicht mitspielte, doch mit großer Sorgfalt dirigierte, und da
man sich über seine Herablassung verwundene, sagte er: es sei die
Pflicht eines jeden, der sich in Hauptsachen von der Welt entferne,
daß er in gleichgültigen Dingen sich ihr desto mehr gleichstelle.

Wilhelm hatte unter diesen Spielen mehr als einen bänglichen und
verdrießlichen Augenblick; der leichtsinnige Friedrich ergriff manche
Gelegenheit, um auf eine Neigung Wilhelms gegen Natalien zu deuten.
Wie konnte er darauf fallen? wodurch war er dazu berechtigt?  Und
mußte nicht die Gesellschaft glauben, daß, weil beide viel miteinander
umgingen, Wilhelm ihm eine so unvorsichtige und unglückliche Konfidenz
gemacht habe?

Eines Tages waren sie bei einem solchen Scherze heiterer als
gewöhnlich, als Augustin auf einmal zur Türe, die er aufriß, mit
gräßlicher Gebärde hereinstürzte; sein Angesicht war blaß, sein Auge
wild, er schien reden zu wollen, die Sprache versagte ihm.  Die
Gesellschaft entsetzte sich, Lothario und Jarno, die eine Rückkehr des
Wahnsinns vermuteten, sprangen auf ihn los und hielten ihn fest.
Stotternd und dumpf, dann heftig und gewaltsam sprach und rief er:
"Nicht mich haltet, eilt! helft! rettet das Kind!  Felix ist vergiftet!"

Sie ließen ihn los, er eilte zur Türe hinaus, und voll Entsetzen
drängte sich die Gesellschaft ihm nach.  Man rief nach dem Arzte,
Augustin richtete seine Schritte nach dem Zimmer des Abbes, man fand
das Kind, das erschrocken und verlegen schien, als man ihm schon von
weitem zurief: "was hast du angefangen?"

"Lieber Vater!" rief Felix, "ich habe nicht aus der Flasche, ich habe
aus dem Glase getrunken, ich war so durstig."

Augustin schlug die Hände zusammen, rief: "Er ist verloren!", drängte
sich durch die Umstehenden und eilte davon.

Sie fanden ein Glas Mandelmilch auf dem Tische stehen und eine
Karaffine darneben, die über die Hälfte leer war; der Arzt kam, er
erfuhr, was man wußte, und sah mit Entsetzen das wohlbekannte
Fläschchen, worin sich das flüssige Opium befunden hatte, leer auf dem
Tische liegen; er ließ Essig herbeischaffen und rief alle Mittel
seiner Kunst zu Hülfe.

Natalie ließ den Knaben in ein Zimmer bringen, sie bemühte sich
ängstlich um ihn.  Der Abbe war fortgerannt, Augustinen aufzusuchen
und einige Aufklärungen von ihm zu erdringen.  Ebenso hatte sich der
unglückliche Vater vergebens bemüht und fand, als er zurückkam, auf
allen Gesichtern Bangigkeit und Sorge.  Der Arzt hatte indessen die
Mandelmilch im Glase untersucht, es entdeckte sich die stärkste
Beimischung von Opium; das Kind lag auf dem Ruhebette und schien sehr
krank, es bat den Vater, daß man ihm nur nichts mehr einschütten, daß
man es nur nicht mehr quälen möchte.  Lothar hatte seine Leute
ausgeschickt und war selbst weggeritten, um der Flucht Augustins auf
die Spur zu kommen.  Natalie saß bei dem Kinde, es flüchtete auf ihren
Schoß und bat sie flehentlich um Schutz, flehentlich um ein Stückchen
Zucker, der Essig sei gar zu sauer!  Der Arzt gab es zu; man müsse das
Kind, das in der entsetzlichsten Bewegung war, einen Augenblick ruhen
lassen, sagte er; es sei alles Rätliche geschehen, er wolle das
mögliche tun.  Der Graf trat mit einigem Unwillen, wie es schien,
herbei, er sah ernst, ja feierlich aus, legte die Hände auf das Kind,
blickte gen Himmel und blieb einige Augenblicke in dieser Stellung.
Wilhelm, der trostlos in einem Sessel lag, sprang auf, warf einen
Blick voll Verzweiflung auf Natalien und ging zur Türe hinaus.

Kurz darauf verließ auch der Graf das Zimmer.



VIII. Buch, 10. Kapitel--2



"Ich begreife nicht", sagte der Arzt nach einiger Pause, "daß sich
auch nicht die geringste Spur eines gefährlichen Zustandes am Kinde
zeigt.  Auch nur mit einem Schluck muß es eine ungeheure Dosis Opium
zu sich genommen haben, und nun finde ich an seinem Pulse keine
weitere Bewegung, als die ich meinen Mitteln und der Furcht
zuschreiben kann, in die wir das Kind versetzt haben."

Bald darauf trat Jarno mit der Nachricht herein, daß man Augustin auf
dem Oberboden in seinem Blute gefunden habe, ein Schermesser habe
neben ihm gelegen, wahrscheinlich habe er sich die Kehle abgeschnitten.
Der Arzt eilte fort und begegnete den Leuten, welche den Körper die
Treppe herunterbrachten.  Er ward auf ein Bett gelegt und genau
untersucht; der Schnitt war in die Luftröhre gegangen, auf einen
starken Blutverlust war eine Ohnmacht gefolgt, doch ließ sich bald
bemerken, daß noch Leben, daß noch Hoffnung übrig sei.  Der Arzt
brachte den Körper in die rechte Lage, fügte die getrennten Teile
zusammen und legte den Verband auf.  Die Nacht ging allen schlaflos
und sorgenvoll vorüber.  Das Kind wollte sich nicht von Natalien
trennen lassen.  Wilhelm saß vor ihr auf einem Schemel; er hatte die
Füße des Knaben auf seinem Schoße, Kopf und Brust lagen auf dem
ihrigen, so teilten sie die angenehme Last und die schmerzlichen
Sorgen und verharrten, bis der Tag anbrach, in der unbequemen und
traurigen Lage; Natalie hatte Wilhelmen ihre Hand gegeben, sie
sprachen kein Wort, sahen auf das Kind und sahen einander an.
Lothario und Jarno saßen am andern Ende des Zimmers und führten ein
sehr bedeutendes Gespräch, das wir gern, wenn uns die Begebenheiten
nicht zu sehr drängten, unsern Lesern hier mitteilen würden.  Der
Knabe schlief sanft, erwachte am frühen Morgen ganz heiter, sprang auf
und verlangte ein Butterbrot.

Sobald Augustin sich einigermaßen erholt hatte, suchte man einige
Aufklärung von ihm zu erhalten.  Man erfuhr nicht ohne Mühe und nur
nach und nach: daß, als er bei der unglücklichen Dislokation des
Grafen in ein Zimmer mit dem Abbe versetzt worden, er das Manuskript
und darin seine Geschichte gefunden habe; sein Entsetzen sei
ohnegleichen gewesen, und er habe sich nun überzeugt, daß er nicht
länger leben dürfe; sogleich habe er seine gewöhnliche Zuflucht zum
Opium genommen, habe es in ein Glas Mandelmilch geschüttet und habe
doch, als er es an den Mund gesetzt, geschaudert; darauf habe er es
stehenlassen, um nochmals durch den Garten zu laufen und die Welt zu
sehen; bei seiner Zurückkunft habe er das Kind gefunden, eben
beschäftigt, das Glas, woraus es getrunken, wieder vollzugießen.

Man bat den Unglücklichen, ruhig zu sein; er faßte Wilhelmen
krampfhaft bei der Hand.  "Ach!" sagte er, "warum habe ich dich nicht
längst verlassen, ich wußte wohl, daß ich den Knaben töten würde und
er mich."--"Der Knabe lebt!" sagte Wilhelm.  Der Arzt, der aufmerksam
zugehört hatte, fragte Augustinen, ob alles Getränke vergiftet gewesen.
"Nein!" versetzte er, "nur das Glas."--"So hat durch den
glücklichsten Zufall", rief der Arzt, "das Kind aus der Flasche
getrunken!  Ein guter Genius hat seine Hand geführt, daß es nicht nach
dem Tode griff, der so nahe zubereitet stand!"--"Nein! nein!" rief
Wilhelm mit einem Schrei, indem er die Hände vor die Augen hielt, "wie
fürchterlich ist diese Aussage!  Ausdrücklich sagte das Kind, daß es
nicht aus der Flasche, sondern aus dem Glase getrunken habe.  Seine
Gesundheit ist nur ein Schein, es wird uns unter den Händen wegsterben."
Er eilte fort, der Arzt ging hinunter und fragte, indem er das Kind
liebkoste: "Nicht wahr, Felix, du hast aus der Flasche getrunken und
nicht aus dem Glase?"  Das Kind fing an zu weinen.  Der Arzt erzählte
Natalien im stillen, wie sich die Sache verhalte; auch sie bemühte
sich vergebens, die Wahrheit von dem Kinde zu erfahren; es weinte nur
heftiger und so lange, bis es einschlief.

Wilhelm wachte bei ihm, die Nacht verging ruhig.  Den andern Morgen
fand man Augustinen tot in seinem Bette; er hatte die Aufmerksamkeit
seiner Wärter durch eine scheinbare Ruhe betrogen, den Verband still
aufgelöst und sich verblutet.  Natalie ging mit dem Kinde spazieren,
es war munter wie in seinen glücklichsten Tagen.  "Du bist doch gut",
sagte Felix zu ihr, "du zankst nicht, du schlägst mich nicht, ich will
dir's nur sagen, ich habe aus der Flasche getrunken!  Mutter Aurelie
schlug mich immer auf die Finger, wenn ich nach der Karaffine griff;
der Vater sah so bös aus, ich dachte, er würde mich schlagen."

Mit beflügelten Schritten eilte Natalie zu dem Schlosse; Wilhelm kam
ihr, noch voller Sorgen, entgegen.  "Glücklicher Vater!" rief sie laut,
indem sie das Kind aufhob und es ihm in die Arme warf, "da hast du
deinen Sohn!  Er hat aus der Flasche getrunken, seine Unart hat ihn
gerettet."

Man erzählte den glücklichen Ausgang dem Grafen, der aber nur mit
lächelnder, stiller, bescheidner Gewißheit zuhörte, mit der man den
Irrtum guter Menschen ertragen mag.  Jarno, aufmerksam auf alles,
konnte diesmal eine solche hohe Selbstgenügsamkeit nicht erklären, bis
er endlich nach manchen Umschweifen erfuhr: der Graf sei überzeugt,
das Kind habe wirklich Gift genommen, er habe es aber durch sein Gebet
und durch das Auflegen seiner Hände wunderbar am Leben erhalten.  Nun
beschloß er auch sogleich wegzugehn; gepackt war bei ihm alles wie
gewöhnlich in einem Augenblicke, und beim Abschiede faßte die schöne
Gräfin Wilhelms Hand, ehe sie noch die Hand der Schwester losließ,
drückte alle vier Hände zusammen, kehrte sich schnell um und stieg in
den Wagen.

Soviel schreckliche und wunderbare Begebenheiten, die sich eine über
die andere drängten, zu einer ungewohnten Lebensart nötigten und alles
in Unordnung und Verwirrung setzten, hatten eine Art von fieberhafter
Schwingung in das Haus gebracht.  Die Stunden des Schlafens und
Wachens, des Essens, Trinkens und geselligen Zusammenseins waren
verrückt und umgekehrt.  Außer Theresen war niemand in seinem Gleise
geblieben; die Männer suchten durch geistige Getränke ihre gute Laune
wiederherzustellen, und indem sie sich eine künstliche Stimmung gaben,
entfernten sie die natürliche, die allein uns wahre Heiterkeit und
Tätigkeit gewährt.

Wilhelm war durch die heftigsten Leidenschaften bewegt und zerrüttet,
die unvermuteten und schreckhaften Anfälle hatten sein Innerstes ganz
aus aller Fassung gebracht, einer Leidenschaft zu widerstehn, die sich
des Herzens so gewaltsam bemächtigt hatte.  Felix war ihm
wiedergegeben, und doch schien ihm alles zu fehlen; die Briefe von
Wernern mit den Anweisungen waren da, ihm mangelte nichts zu seiner
Reise als der Mut, sich zu entfernen.  Alles drängte ihn zu dieser
Reise.  Er konnte vermuten, daß Lothario und Therese nur auf seine
Entfernung warteten, um sich trauen zu lassen.  Jarno war wider seine
Gewohnheit still, und man hätte beinahe sagen können, er habe etwas
von seiner gewöhnlichen Heiterkeit verloren.  Glücklicherweise half
der Arzt unserm Freunde einigermaßen aus der Verlegenheit, indem er
ihn für krank erklärte und ihm Arznei gab.

Die Gesellschaft kam immer abends zusammen, und Friedrich, der
ausgelassene Mensch, der gewöhnlich mehr Wein als billig trank,
bemächtigte sich des Gesprächs und brachte nach seiner Art mit hundert
Zitaten und eulenspiegelhaften Anspielungen die Gesellschaft zum
Lachen und setzte sie auch nicht selten in Verlegenheit, indem er laut
zu denken sich erlaubte.

An die Krankheit seines Freundes schien er gar nicht zu glauben.
Einst, als sie alle beisammen waren, rief er aus: "Wie nennt Ihr das
übel, Doktor, das unsern Freund angefallen hat?  Paßt hier keiner von
den dreitausend Namen, mit denen Ihr Eure Unwissenheit ausputzt?  An
ähnlichen Beispielen wenigstens hat es nicht gefehlt.  Es kommt", fuhr
er mit einem emphatischen Tone fort, "ein solcher Kasus in der
ägyptischen oder babylonischen Geschichte vor."

Die Gesellschaft sah einander an und lächelte.

"Wie hieß der König?" rief er aus und hielt einen Augenblick inne.
"Wenn ihr mir nicht einhelfen wollt", fuhr er fort, "so werde ich mir
selbst zu helfen wissen."  Er riß die Türflügel auf und wies nach dem
großen Bilde im Vorsaal.  "Wie heißt der Ziegenbart mit der Krone dort,
der sich am Fuße des Bettes um seinen kranken Sohn abhärmt?  Wie
heißt die Schöne, die hereintritt und in ihren sittsamen Schelmenaugen
Gift und Gegengift zugleich führt?  Wie heißt der Pfuscher von Arzt,
dem erst in diesem Augenblicke ein Licht aufgeht, der das erste Mal in
seinem Leben Gelegenheit findet, ein vernünftiges Rezept zu verordnen,
eine Arznei zu reichen, die aus dem Grunde kuriert und die ebenso
wohlschmeckend als heilsam ist?"

In diesem Tone fuhr er fort zu schwadronieren.  Die Gesellschaft nahm
sich so gut als möglich zusammen und verbarg ihre Verlegenheit hinter
einem gezwungenen Lächeln.  Eine leichte Röte überzog Nataliens Wangen
und verriet die Bewegungen ihres Herzens.  Glücklicherweise ging sie
mit Jarno auf und nieder; als sie an die Türe kam, schritt sie mit
einer klugen Bewegung hinaus, einigemal in dem Vorsaale hin und wider
und ging sodann auf ihr Zimmer.

Die Gesellschaft war still.  Friedrich fing an zu tanzen und zu singen:



Oh, ihr werdet Wunder sehn!
Was geschehn ist, ist geschehn,
Was gesagt ist, ist gesagt.
Eh es tagt,
Sollt ihr Wunder sehn.



Therese war Natalien nachgegangen, Friedrich zog den Arzt vor das
große Gemälde, hielt eine lächerliche Lobrede auf die Medizin und
schlich davon.

Lothario hatte bisher in einer Fenstervertiefung gestanden und sah,
ohne sich zu rühren, in den Garten hinunter.  Wilhelm war in der
schrecklichsten Lage.  Selbst da er sich nun mit seinem Freunde allein
sah, blieb er eine Zeitlang still; er überlief mit flüchtigem Blick
seine Geschichte und sah zuletzt mit Schaudern auf seinen
gegenwärtigen Zustand; endlich sprang er auf und rief: "Bin ich schuld
an dem, was vorgeht, an dem, was mir und Ihnen begegnet, so strafen
Sie mich!  Zu meinen übrigen Leiden entziehen Sie mir Ihre
Freundschaft, und lassen Sie mich ohne Trost in die weite Welt
hinausgehen, in der ich mich lange hätte verlieren sollen.  Sehen Sie
aber in mir das Opfer einer grausamen, zufälligen Verwicklung, aus der
ich mich herauszuwinden unfähig war, so geben Sie mir die Versicherung
Ihrer Liebe, Ihrer Freundschaft auf eine Reise mit, die ich nicht
länger verschieben darf.  Es wird eine Zeit kommen, wo ich Ihnen werde
sagen können, was diese Tage in mir vorgegangen ist.  Vielleicht leide
ich eben jetzt diese Strafe, weil ich mich Ihnen nicht früh genug
entdeckte, weil ich gezaudert habe, mich Ihnen ganz zu zeigen, wie ich
bin; Sie hätten mir beigestanden, Sie hätten mir zur rechten Zeit
losgeholfen.  Aber- und abermal gehen mir die Augen über mich selbst
auf, immer zu spät und immer umsonst.  Wie sehr verdiente ich die
Strafrede Jarnos!  Wie glaubte ich sie gefaßt zu haben, wie hoffte ich
sie zu nutzen, ein neues Leben zu gewinnen!  Konnte ich's?  Sollte
ich's?  Vergebens klagen wir Menschen uns selbst, vergebens das
Schicksal an!  Wir sind elend und zum Elend bestimmt, und ist es nicht
völlig einerlei, ob eigene Schuld, höherer Einfluß oder Zufall, Tugend
oder Laster, Weisheit oder Wahnsinn uns ins Verderben stürzen?  Leben
Sie wohl!  Ich werde keinen Augenblick länger in dem Hause verweilen,
in welchem ich das Gastrecht wider meinen Willen so schrecklich
verletzt habe.  Die Indiskretion Ihres Bruders ist unverzeihlich, sie
treibt mein Unglück auf den höchsten Grad, sie macht mich verzweifeln."

"Und wenn nun", versetzte Lothario, indem er ihn bei der Hand nahm,
"Ihre Verbindung mit meiner Schwester die geheime Bedingung wäre,
unter welcher sich Therese entschlossen hat, mir ihre Hand zu geben?
Eine solche Entschädigung hat Ihnen das edle Mädchen zugedacht; sie
schwur, daß dieses doppelte Paar an einem Tage zum Altare gehen sollte.
"Sein Verstand hat mich gewählt", sagte sie, "sein Herz fordert
Natalien, und mein Verstand wird seinem Herzen zu Hülfe kommen."  Wir
wurden einig, Natalien und Sie zu beobachten; wir machten den Abbe zu
unserm Vertrauten, dem wir versprechen mußten, keinen Schritt zu
dieser Verbindung zu tun, sondern alles seinen Gang gehen zu lassen.
Wir haben es getan.  Die Natur hat gewirkt, und der tolle Bruder hat
nur die reife Frucht abgeschüttelt.  Lassen Sie uns, da wir einmal so
wunderbar zusammenkommen, nicht ein gemeines Leben führen; lassen Sie
uns zusammen auf eine würdige Weise tätig sein!  Unglaublich ist es,
was ein gebildeter Mensch für sich und andere tun kann, wenn er, ohne
herrschen zu wollen, das Gemüt hat, Vormund von vielen zu sein, sie
leitet, dasjenige zur rechten Zeit zu tun, was sie doch alle gerne tun
möchten, und sie zu ihren Zwecken führt, die sie meist recht gut im
Auge haben und nur die Wege dazu verfehlen.  Lassen Sie uns hierauf
einen Bund schließen; es ist keine Schwärmerei, es ist eine Idee, die
recht gut ausführbar ist und die öfters, nur nicht immer mit klarem
Bewußtsein, von guten Menschen ausgeführt wird.  Meine Schwester
Natalie ist hiervon ein lebhaftes Beispiel.  Unerreichbar wird immer
die Handlungsweise bleiben, welche die Natur dieser schönen Seele
vorgeschrieben hat.  Ja sie verdient diesen Ehrennamen vor vielen
andern, mehr, wenn ich sagen darf, als unsre edle Tante selbst, die zu
der Zeit, als unser guter Arzt jenes Manuskript so rubrizierte, die
schönste Natur war, die wir in unserm Kreise kannten.  Indes hat
Natalie sich entwickelt, und die Menschheit freut sich einer solchen
Erscheinung."

Er wollte weiterreden, aber Friedrich sprang mit großem Geschrei
herein.  "Welch einen Kranz verdien ich?" rief er aus, "und wie werdet
ihr mich belohnen?  Myrten, Lorbeer, Efeu, Eichenlaub, das frischeste,
das ihr finden könnt, windet zusammen; so viel Verdienste habt ihr in
mir zu krönen.  Natalie ist dein!  Ich bin der Zauberer, der diesen
Schatz gehoben hat."

"Er schwärmt", sagte Wilhelm, "und ich gehe."

"Hast du Auftrag?" sagte der Baron, indem er Wilhelmen festhielt.

"Aus eigner Macht und Gewalt", versetzte Friedrich, "auch von Gottes
Gnaden, wenn ihr wollt; so war ich Freiersmann, so bin ich jetzt
Gesandter, ich habe an der Türe gehorcht, sie hat sich ganz dem Abbe
entdeckt."

"Unverschämter!" sagte Lothario, "wer heißt dich horchen!"

"Wer heißt sie sich einschließen!" versetzte Friedrich, "ich hörte
alles ganz genau, Natalie war sehr bewegt.  In der Nacht, da das Kind
so krank schien und halb auf ihrem Schoße ruhte, als du trostlos vor
ihr saßest und die geliebte Bürde mit ihr teiltest, tat sie das
Gelübde, wenn das Kind stürbe, dir ihre Liebe zu bekennen und dir
selbst die Hand anzubieten; jetzt, da das Kind lebt, warum soll sie
ihre Gesinnung verändern?  Was man einmal so verspricht, hält man
unter jeder Bedingung.  Nun wird der Pfaffe kommen und wunder denken,
was er für Neuigkeiten bringt."

Der Abbe trat ins Zimmer.  "Wir wissen alles!" rief Friedrich ihm
entgegen, "macht es kurz, denn Ihr kommt bloß um der Formalität willen;
zu weiter nichts werden die Herren verlangt."

"Er hat gehorcht", sagte der Baron.  "Wie ungezogene" rief der Abbe.

"Nun geschwind", versetzte Friedrich, "wie sieht's mit den Zeremonien
aus?  Die lassen sich an den Fingern herzählen; Ihr müßt reisen, die
Einladung des Marchese kommt Euch herrlich zustatten.  Seid Ihr nur
einmal über die Alpen, so findet sich zu Hause alles; die Menschen
wissen's Euch Dank, wenn Ihr etwas Wunderliches unternehmt, Ihr
verschafft ihnen eine Unterhaltung, die sie nicht zu bezahlen brauchen.
Es ist eben, als wenn Ihr eine Freiredoute gäbt; es können alle
Stände daran teilnehmen."

"Ihr habt Euch freilich mit solchen Volksfesten schon sehr ums
Publikum verdient gemacht", versetzte der Abbe, "und ich komme, so
scheint es, heute nicht mehr zum Wort."

"Ist nicht alles, wie ich's sage", versetzte Friedrich, "so belehrt
uns eines Bessern.  Kommt herüber, kommt herüber! wir müssen sie sehen
und uns freuen."

Lothario umarmte seinen Freund und führte ihn zu der Schwester; sie
kam mit Theresen ihm entgegen, alles schwieg.

"Nicht gezaudert!" rief Friedrich.  "In zwei Tagen könnt ihr
reisefertig sein.  Wie meint Ihr, Freund", fuhr er fort, indem er sich
zu Wilhelmen wendete, "als wir Bekanntschaft machten, als ich Euch den
schönen Strauß abforderte, wer konnte denken, daß Ihr jemals eine
solche Blume aus meiner Hand empfangen würdet?"

"Erinnern Sie mich nicht in diesem Augenblicke des höchsten Glücks an
jene Zeiten!"

"Deren Ihr Euch nicht schämen sollet, sowenig man sich seiner Abkunft
zu schämen hat.  Die Zeiten waren gut, und ich muß lachen, wenn ich
dich ansehe: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis', der ausging,
seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand."

"Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht", versetzte Wilhelm, "aber
ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene und
das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte."



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von Johann Wolfgang von Goethe.



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