Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Der Tod des Cosimo
Author: Ernst, Paul
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Der Tod des Cosimo" ***


    Anmerkungen zur Transkription


    Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+.

    Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des
    Buches.



    Der
    Tod des
    ~COSIMO~

    von Paul Ernst

    [Illustration: 1913]

    Viertes bis sechstes Tausend

    Bei Meyer & Jessen / Berlin



Der Tod des Cosimo


Es war in den Tagen, da Cosimo de Medici starb, welcher der Vater des
Vaterlandes genannt wurde, daß die Bürger von Florenz blindlings dem
Willen Savonarolas gehorchten. Wie das alles so gekommen, war keinem
recht klar; Savonarola hatte schon lange von der Buße gepredigt und von
dem Tage des Gerichtes, und allmählich hatten ihm immer mehr Menschen
geglaubt, zuerst die Frauen und endlich auch die Männer. Nun zitterten
alle, wenn sie dachten, daß er predigen würde, und wiewohl sie eine
heftige Furcht vor seinen Worten hatten, gingen sie doch zu jeder neuen
Predigt, um jede neue Last aufzunehmen, die er ihnen aufladen wollte.

Auf der Piazza Signoria hatte er einen großen Scheiterhaufen errichtet,
zu dem brachte ein jeder, was ihm das Teuerste war, um es zu opfern.
Der Scheiterhaufen schwelte, und nur ab und zu kamen kleine Flammen
an ihm hochgezüngelt. Der Wind trieb den Rauch nach der Seite des
Arno zu. Auf der anderen Seite stand auf einem Stuhl, der ihm als
Rednertribüne gedient hatte, Savonarola. Er hatte die Arme vor dem Leib
gekreuzt, die Hände in den Ärmeln der weißen Kutte und sah mit seinen
scharfen Blicken über die Menschen, die sich lautlos drängten.

Auf der Spitze des Scheiterhaufens war ein großes Bild: eine Venus
von Botticelli, in breitem, geschnitztem Rahmen; aufrecht war es
und wurde zufällig in seiner Lage gehalten durch die regellos
übereinandergeworfenen Gegenstände: eingelegte Tischchen, gold- und
purpurgewebte Kleider, Fläschchen aus Kristall, Bilder, schönbemalte
Kästchen, welche Schmuck enthielten, eine große goldene Kette mit
prächtiger Schaumünze, Bücher und, als Gabe eines ganz Armen, ein
elendes Bett.

So still war die Menge, daß man das Knistern, Knacken und Fauchen des
Feuers hörte. Zuweilen teilte sie sich leise, und ein Mensch trat vor,
der etwas zu dem Haufen warf.

So trat ein vornehmes Weib vor, das in der Reife ihrer Schönheit stand
mit etwa fünfunddreißig Jahren, mit stolzem Nacken und festem Gang. Sie
löste sich eine Perlenkette vom Hals, küßte sie noch einmal und legte
sie zu den Opfergaben. Ein Jüngling wendete sein Gesicht ab und weinte,
der erste Flaum färbte ihm die Wangen dunkler. Eine spitze Flamme kam
plötzlich aus der Mitte des Scheiterhaufens weit heraus, einiges geriet
ins Gleiten, das Venusbild schwankte und schlug dann um, gerade auf die
Flamme. Ein Mann seufzte tief auf, es war Botticelli selbst.

Cosimos Sterbebett stand in dem großen Saal, dessen drei rundbogige
Fenster auf den Platz hinausgingen, denn er hatte Beklemmungen des
Herzens und mußte einen großen Raum um sich empfinden. Unheimlich drang
Unverständliches von unten zu ihm und machte ihn unruhig; denn er
hatte Savonarola geschont, um ihn gegen den Papst zu verwenden, aber
fürchtete immer, daß er einen Aufruhr entfachen werde.

So erhob er sich langsam vom Bett, ließ sich die Schuhe vom Diener
anziehen und schlich an das Fenster. Schon begannen ihm die Augen zu
versagen, und mehr der Verstand zeigte ihm, was unten geschah, als der
Blick. Das fiel ihm auf, und wie zahnlose alte Leute tun, murmelte er
etwas; es war darüber, daß das Innere länger lebte als das Äußere.

Der alte Diener mußte ihm um die Hüften greifen, und er selbst legte
seinen Arm über des Dieners Nacken. So schleppte er sich schlürfend
zu einem Schrank. Schwerfällig zog er ein Schlüsselbund aus der
Tasche und prüfte mit den Fingern, bis er den richtigen Schlüssel
gefunden hatte, dann ließ er sich vom Diener die Finger führen, bis
er das Schlüsselloch fand. Die Tür ging mit leisem Ächzen auf, und
Häufchen Holzmehl lagen inwendig, und ein dumpfer Modergeruch kam aus
dem Dunkeln. Dann suchte er mit den zitternden Fingern den zweiten
Schlüssel und ließ sich die Hand zu dem Schlüsselloch des Schubkastens
führen. Er zog ihn ganz heraus, dann tastete er im Auszug, suchte
die Feder, die Feder sprang, und ein geheimes Kästchen zeigte sich.
In dem lag ein kleiner Ring auf rotem Samt. Es war ein dünner
Goldreif, der einen blauen, goldgetupften Stein hielt; in dem war ein
Schmetterling eingeschnitten; es war ein antikes Stück aus den Zeiten
des römischen Heidentums. Schon war Cosimos Hand schweißbedeckt durch
die Anstrengung. Mit unsicherem Griff drückte er das Kästchen wieder
zurück, daß die Feder einschnappte, dann paßte der Diener das Schubfach
in den Auszug und schob es hinein. Cosimo drehte den Schlüssel um, der
Diener schlug die Tür des Schrankes zu und führte wieder die Hand mit
dem Schlüssel zum Schlüsselloch. Cosimo schloß, zog den Schlüssel ab
und ließ das Bund wieder in die Tasche gleiten. Den Ring hielt er fest
mit Daumen und Ringfinger der linken Hand.

Nun ging er aus dem Saal, geführt und getragen von dem Diener, und
stieg Stufe für Stufe die Treppe nieder, und ging über den Vorplatz,
und trat aus der Tür. Die Menge wich schweigend auseinander und machte
ihm einen Weg frei. Er schleppte sich zu dem Scheiterhaufen, erhob die
linke Hand zu halber Höhe, und warf, mit ungeschickter Bewegung durch
die Schwäche, den Ring zu dem Haufen. Dann wendete er sich und ging so
zurück, wie er gekommen war.

       *       *       *       *       *

Vor langen Jahren, als Cosimo noch ein unbärtiger Jüngling war, dessen
Hände noch nicht zitterten und dessen Augen scharf sahen, ging er einst
lustwandeln und disputieren mit Savonarola und einem anderen jungen
Mönch, einem Maler, der später der Fra Beato oder Angelico genannt
wurde. Die drei Freunde stiegen den Weg nach Fiesole in die Höhe
zwischen hohen Gartenmauern, über welche sich gelbe Rosen hängten. Wie
sie bei San Domenico angekommen waren, kam ihnen Lucrezia entgegen,
die junge und schöne Frau eines entfernten Vetters der Medici, zu der
Cosimo eine unerwiderte Liebe hegte. Sie trug mit zwei Fingern einen
hohen Lilienstengel, auf dem die Blüten standen. Sie ging mit raschem
Gang, daß ihr blaues Gewand hinter ihr in einem schönen Bogen schlug.
Wie sie vor den Dreien angekommen war, zeigte sie ihnen ihren Fund: in
der Erde hatte seit undenklichen Zeiten ein Ring gelegen; durch einen
Zufall war die Lilie durch ihn hindurchgewachsen und hatte ihn gehoben,
sodaß er nun in der Mitte des Stengels lag, auf einem der schmalen
Blätter. Der Ring umschloß einen dunkelblauen Stein mit Goldflimmern,
auf welchem ein Falter eingeschnitten war.

Savonarola sagte: »Der Schmetterling entsteht am Morgen aus der toten
Puppe, und einen Tag hat er zu flattern. Der Weg der Sonne ist für ihn
das Maß seines Lebens. Er denkt, daß für ihn die Blumen gewachsen sind
und der Berg sich hochzieht, und wenn er abends auf den kalten Erdboden
fällt, so ist die Welt tot. Und wenn wir Menschen auch achtzig Jahre
leben und denken, alles ist für uns da, und uns muß alles gehorchen,
so leben wir doch nicht länger wie der Schmetterling. Deshalb war
er unseren Vorfahren ein Sinnbild der Vergänglichkeit. Aber ruhiger
kann er leben wie wir, denn er weiß seine Stunde, denn die ist, wenn
die Sonne sinkt. Wir aber, wir leben, wie es geschrieben steht, und
+wissen+ die Stunde nicht.« Und er betonte das: wissen. »Deshalb ist
es ein Furchtbares um diesen geschnittenen Stein, der tausend Jahre in
der Erde geruht hat und nun aufersteht, wie der Schmetterling aus der
Hülse. So nimm ihn und vergrabe ihn wieder, damit er weiter ruht, mit
allem Andenken an seinen alten Herrn und an dich, die ihn nun von neuem
betrachtet hat.«

Fra Beato sagte: »Der Schmetterling wird geboren am Morgen und muß
sterben am Abend, ihm sind seine Stunden gezählt. Aber Menschen sah
ich sterben, die zwanzig Jahre gelebt hatten und in der Zeit ihren Weg
durcheilten, und Menschen, die achtzig Jahre brauchten, um an ihr Ziel
zu kommen. Deshalb müssen wir glücklicher sein wie der Schmetterling,
denn wir, wir wissen die +Stunde+ nicht«; und er betonte das: Stunde;
»denn es wäre ein Unrecht gegen unsern gütigen Gott, wenn wir uns nicht
jeder Blume gefreut hätten, weil wir etwa dachten: noch viele Jahre
haben wir vor uns, in denen wir sie umflattern können. Deshalb ist
der Schmetterling ein Sinnbild des Glückes, weil er unschuldig alles
Glück genießt. So ist es etwas Wundervolles um diesen Trost und die
Ermahnung, die nach tausend Jahren aus der toten Erde zu uns kommt. Gib
mir den Ring, Lucrezia. Ich will dich auf meinem Bilde darstellen als
den Engel der Verkündigung, der die Lilie in der Hand trägt; und unter
dem Bild in einem Kästchen will ich den Ring aufbewahren, der so schön
gesprochen hat: Freue dich.«

Cosimo sagte: »Die Raupe starb, und es ward die Puppe, und als
die Puppe starb, ward der Falter. Deshalb ist er ein Sinnbild der
Auferstehung. Und wir wissen nur nicht, was sein wird, wenn der Falter
stirbt. Aber alles das geschieht, weil es so geschehen muß, ohne unsern
Willen, ohne Verdienen, ohne Verschulden. Auch wir werden sterben,
und das ist alles ein ewiger Kreislauf, deshalb wollen wir gleichmütig
sein; denn wir, wir wissen die Stunde +nicht+.« Und er betonte das:
nicht. »Deshalb gib mir den Ring, Lucrezia.« Und er griff nach der
Lilie und nahm sie und wollte Lucrezia küssen; sie aber schrie auf, riß
sich los und eilte den Berg hinab.

       *       *       *       *       *

Savonarola und Fra Beato waren zu dem sterbenden Cosimo gerufen. Sie
standen vor seinem Bett.

Savonarola sprach: »Du hast in Gewalttätigkeit, Trug und Hinterlist
gelebt, denn du wolltest, dir soll alles gehorchen. Als du ein Jüngling
warst, da waren die Florentiner freie Bürger, du hast sie zu deinen
Sklaven gemacht. Viele Menschen hast du gemordet; aber schlimmer wie
die Morde war es, daß du Freie zu Sklaven gemacht hast, denn du hast
die Seelen erniedrigt. Laß von deinem Wahn der Herrschaft, gib dem
Volk die Freiheit wieder, denn noch kannst du es und kannst vieles
gut machen, denn noch bist du im Leben, und wir +wissen+ die Stunde
nicht.« Und wieder betonte er das: wissen.

Cosimo lag mit dem Gesicht zur Wand gekehrt; lange lag er so; dann
drehte er sich langsam herum und sah Savonarola in das furchtbare
Antlitz, und ein kluges Lächeln huschte über sein müdes Gesicht, und
er sprach: »Savonarola, auch du hast in Gewalttätigkeit gelebt, auch
du hast oft anders gesprochen, als du dachtest, denn du hattest immer
im Auge, was du dein Ziel nanntest: nämlich, daß dir alle gehorchen
sollen. Savonarola, Savonarola, du hast mehr Seelen erniedrigt wie ich,
denn ich machte die Menschen unfrei gegen ihren Willen, du aber hast
sie mit ihrem Willen zu deinen Sklaven gemacht. Aber ich will dich
nicht vermahnen, denn du warst notwendig, wie ich notwendig war, und
nur Gott weiß, weshalb wir so sein mußten, wir aber, wir wissen die
Stunde +nicht+.« Und wieder betonte er das: nicht.

Da sprach Fra Beato: »Mir hat Gott das höchste Glück verliehen, nämlich
die Freiheit, und nicht nur für mich gab er sie, sondern er gab mir
auch, daß ich alle Menschen frei machen kann, die zu mir kommen. Das
aber tat er, indem er mich zu einem Knecht der Schönheit machte. Wie
ein Schmetterling habe ich gelebt, und jeder Tag meines Lebens war
mir so lang wie ein ganzes Menschenleben, und alles Glück habe ich in
mir, denn Schönheit ist Glück. Mitleid habe ich stets für dich gehabt,
Cosimo; denn ein Herrscher muß einen andern Menschen aus sich bilden
neben sich selbst, der hält ihn in Gefängnis und Ketten. Und noch
größeres Mitleid hatte ich mit dir, Savonarola; denn Cosimos wahrer
Mensch lebte wenigstens noch, wenn auch in Banden, und er hatte die
Erinnerung an Jugend, Liebe und Sonne; aber du hast einen solchen
andern Menschen aus dir bilden müssen, der dich selbst, deinen wahren
Menschen, ermordete. Ich aber bin noch, der ich war, und ich freue
mich, daß ich der sein werde bis zu der Stunde, denn deshalb war ich
ja immer freudig, weil ich Gottes Willen mit mir erfüllen wollte, der
war: ich soll immer freudig sein, denn wir, wir wissen ja die +Stunde+
nicht.« Und wieder betonte er das: Stunde.

Savonarola stand stolz da, dann ging er aus der Tür, ohne Abschied;
Cosimo aber hielt seine Hände vor das Gesicht und weinte. Seine Hände
waren sehr fest gewesen.



Der Dichter und die Schauspielerin

Eine Novelle in Briefen


1

Mlle. Eugenie Chabert an Herrn de Voisenon.

            Paris, April 1750.

Lieber Freund: Darf ich Sie noch so anreden nach den harten Worten,
die wir gewechselt haben, ehe Sie von Paris abreisten; noch mehr: darf
ich die acht Tage gänzlich aus meinem Gedächtnis entfernen, in denen
unser Verhältnis plötzlich so ganz anders erschien; und wäre es Ihnen
möglich, auf den Vorschlag einzugehen: daß alles zwischen uns wieder so
sein soll, wie es in den Monaten vor jener stürmischen Woche war?

Ich verlange vielleicht viel. Aber Sie werden mir gewiß glauben, daß
die Erfüllung meines Wunsches mich ebensoviel Überwindung der Scham
kostet wie Sie -- vielleicht noch mehr, da ich Weib bin -- und daß ich
ihn nur ausspreche, weil ich denke: auch Ihnen wird seine Erfüllung
etwas sein. Wir sind ja beide einsam in der Welt: Sie auf Ihrem
stillen Stübchen und ich inmitten der vielen Menschen, welche mich
umdrängen. Sie haben sich wohl nie falsche Begriffe über das Leben
gemacht; mir wurde erst klar durch Sie, daß ich immer allein gewesen,
wie mir seit unserer Trennung klar wurde, welches Glück mir Ihre
Freundschaft bereitete. Es war ein merkwürdiges Glück, denn es entstand
nicht durch das, was Sie mir gaben, wiewohl das kostbar genug war,
sondern dadurch, daß ich selbst mich plötzlich reich fühlte, daß ich
geben konnte, und Dinge geben, von denen ich vorher nie gewußt hatte,
daß ich sie besaß.

Seit Sie mich verlassen haben, bin ich wieder arm geworden, so arm,
daß selbst die Erinnerung an meinen vorigen Reichtum mir unglaublich
wird, und daß ich mich oft frage: waren das Diamanten, was du damals
besaßest, waren es nicht dieselben armseligen Kirschsteine, die du nun
hast? Sie sagten mir in jener Zeit einmal, daß auch Sie neue Schätze
in sich entdeckten, und Sie glaubten in jenen Tagen, daß der Dichter
die Schauspielerin brauche wie die Schauspielerin den Dichter. Wir
sprachen von dem Ausdruck von Empfindungen durch die Haltung des
Nackens, und Sie erzählten mir, wie Ihnen lange gesuchte Worte gekommen
seien durch eine plötzliche Wendung des Kopfes, die ich bei einer
Ihrer Bemerkungen machte. Gewiß erinnern Sie sich noch. Sie erzählten
noch manches, was ich nicht verstand -- ich verstehe es auch jetzt
noch nicht -- aber es machte mir eine merkwürdige Freude: daß für
den Dichter das Leben eine schwere Last sei durch den Kampf zwischen
Schamlosigkeit und Stolz, und daß die Leichtigkeit meiner Füße Ihr
Leben leichter mache.

Sie sehen: wenn ich an diese Erinnerungen komme, so werde ich
geschwätzig. Aber ich darf in diesem Briefe einen solchen Ton nicht
anschlagen. Ich bitte Sie um eine Gunst: Sie sollen mein Vertrauter
sein, vielleicht mein Ratgeber -- ich habe ja niemanden in der Welt,
dem ich mich vertrauen kann, wie Sie, Sie, den ich so sehr gekränkt
habe. Aber Sie müssen mich anhören, denn erst durch Sie habe ich die
Notwendigkeit kennen gelernt, zu sprechen -- wissen Sie noch, was
wir »sprechen« nannten, damals! -- und klar zu werden durch einen
Wiederhall. Ein Wort von Ihnen läßt mich nicht mehr ruhen. Sie sagten:
»Künstler sein heißt Lügner sein -- Sie sind glücklich, daß Sie das
nicht begreifen.« Ich habe es begriffen, ganz ernst spreche ich, ich
habe es begriffen; vielleicht verstehe ich heute manches mehr von Ihrem
Betragen in der letzten Zeit, von meinem eigenen Betragen: weshalb
empfand ich plötzliche Leere? Aber was sind denn die andern Menschen,
wenn wir Lügner sind?

-- Ich hatte bis hierher geschrieben; aus einem Gefühl der Unruhe
las ich meine Sätze wieder durch, und ich finde, daß ich in einem
Hauptpunkte mich falsch ausgedrückt habe: nicht ich habe Sie, sondern
Sie haben mich gekränkt. Ich bot Ihnen ein Herz an -- was machten Sie
mit meinem Herzen? Aber ich will Ihnen keine Vorwürfe machen, darf
sie nicht machen; nur: schreiben Sie mir eine Zeile, daß ich Ihnen
meine Mitteilung machen darf, daß Sie mein Vertrauen ehren und in
Freundschaft aufnehmen wollen.


2

Herr de Voisenon an Mlle. Eugenie Chabert.

            Chateau Tournay, April 1750.

Ich habe lange darüber nachgedacht: insoweit man von Schuld sprechen
kann bei unserer Trennung, auf wessen Seite lag denn die Schuld? Aber
ich bin zu dem Ende gekommen, daß das eine unlösbare Frage ist. Als
wir zusammen waren, entstand ein Neues zwischen uns Beiden, das weder
Sie waren noch ich -- das auch nicht einmal Züge von uns Beiden hatte,
sondern es war ganz neu entstanden. Und wie das mit dem Glück war, so
war das nachher auch mit dem Streit und mit dem Auseinandergehen: es
war ein neues Wesen zwischen uns entstanden, das uns trennte.

Von Herzen danke ich Ihnen für Ihren Brief. Er beweist, was er zwar
mir nicht beweisen mußte, daß Sie groß denken: dafür danke ich Ihnen,
daß Sie das vermögen, wie ich Ihnen immer dankbar bin dafür, daß Sie
sind. Erzählen Sie mir, was Ihnen auf der Seele liegt; ich werde Ihre
Worte treu aufnehmen. Vielleicht gibt Ihnen das eine gewisse Beruhigung
in der Aufregung, in welcher Sie sich offenbar jetzt befinden, daß
Sie zu einem Mann sprechen können wie zu einem Fremden, der ein
Beichtvater ist: nicht wahr, Sie wissen, daß Sie nicht mehr von mir
erwarten dürfen, wie einen Fremden, einen sehr gütigen Fremden, der
ein Beichtvater ist? Als wir uns trennten, sagte ich Ihnen: »Ich werde
immer Güte fühlen gegen Sie«; auch das haben Sie gewiß nicht vergessen,
denn als ich es Ihnen sagte, wollte ich, daß Sie es in Ihrem Sinn
behalten sollten.

Ich schließe mit den Worten, mit denen Sie Ihren Brief beginnen: Liebe
Freundin.


3

Mlle. Eugenie Chabert an Herrn de Voisenon.

            Paris, April 1750.

Lieber Freund, hier ist meine Erzählung. Vor etwa vier Wochen erhielt
ich einen seltsamen Brief von einem mir unbekannten Vicomte de Palafoy.
Der Schreiber hatte mich am Abend in einer großen Rolle gesehen -- die
Sie gewiß ahnen, die mir sehr teuer ist Ihretwegen -- und hatte, nach
seiner Darstellung, einen sehr tiefen Eindruck gewonnen. Er erzählte,
daß er noch sehr jung sei und eben den Nachmittag erst in Paris
eingetroffen sei. Meine Darstellung der edlen und schönen Empfindungen,
welche die Heldin des Stückes habe (merkwürdig, daß der junge Mann
in seiner Begeisterung doch den Unterschied zwischen den Worten des
Dichters und der Darstellung machte, den die meisten unserer Verehrer
vergessen; ein Zeichen für seine Intelligenz) -- werde bestimmend für
sein ganzes Leben sein. Der weitere Inhalt des Briefes kann Sie nicht
interessieren.

Ich empfand den Wunsch, den Briefschreiber selbst kennen zu lernen. Es
stellte sich mir ein wirklich sehr junger Mann vor. Um die äußern Dinge
gleich mitzuteilen: er treibt hier wissenschaftliche Studien, ist sehr
reich und sehr vornehm und völlig sein eigener Herr, da beide Eltern
tot sind.

Lieber Freund, es soll zwischen uns die größte Offenheit herrschen,
nicht wahr? Sie wissen, welchen Teil in meiner Seele Sie einnehmen:
nie wird jemand Sie aus diesem Besitz verdrängen können. Aber dieser
achtzehnjährige Vicomte hat noch ein neues Land in mir entdeckt. Ich
glaube Ihr skeptisches Lächeln zu sehen, aber Sie haben unrecht: ich
habe die Schönheit der Tugend empfunden. Mein Ausdruck ist schlecht.
Er sagte einmal: er werde am nächsten Abend zu einer bestimmten Stunde
einen Stern ansehen, den er mir zeigte; ich solle zu derselben Zeit
meine Blicke fest auf den Stern heften und wir würden dann glücklich
sein, indem wir empfinden, daß unser gereinigtes Ich sich auf jenem
Stern treffe.

Während ich diese Zeilen schreibe, fühle ich selbst, wie lächerlich
ich mich Ihnen zeige. Könnte ich mich ausdrücken -- ach, gerade Ihnen
gegenüber kann ich mich nicht ausdrücken! Ihnen habe ich einmal
gesagt: Ehe ich Ihre Freundschaft hatte, habe ich mich selbst nicht
gekannt. Und ich habe dasselbe dem jungen Vicomte gesagt, ich habe es
ihm sagen müssen, indem ich dabei an Sie denken mußte; und wir saßen
dabei in demselben Zimmer, das Ihnen so gut bekannt ist, an demselben
Tischchen, und alles war dasselbe wie damals, nur auf Ihrem Stuhle saß
der Vicomte.

Ich muß mich fragen: Ist denn unser ganzes Leben nur ein Theaterspiel?
Spiele ich nur eine Rolle, heute in einem Stück, das der Vicomte
dichtet, wie gestern in einem, das Sie gedichtet hatten? Aber ich
schwöre es Ihnen: ich bin gegen Sie die alte, und der Vicomte hat Ihnen
nichts, nichts genommen: er hat sich eine neue Welt entdeckt und ein
herrenloses Land erobert.

Als ich meinen ersten Brief an Sie schrieb, ahnte ich, daß die
Begegnung weitere Folgen für mich haben werde, und ich fühlte mich
zu schwach, allein denen entgegenzutreten. Ich fühlte, daß ich Ihnen
und Ihren Gefühlen ein Unrecht antun werde durch meine Mitteilungen,
aber Sie sind ja der einzige Mensch, dem ich mich anvertrauen kann in
meiner Lage, und Sie sind großmütig, Sie wissen, weshalb wir Frauen oft
grausam sind -- schlecht sind. Ich bin schlecht gegen Sie, aber Sie
sind ein guter Mensch.

Gestern war der Vicomte bei mir und trug mir seine Hand an. Ich hatte
seine Worte erwartet, aber als er sprach, war ich so überrascht, daß
ich in Tränen ausbrach, aus dem Zimmer ging und mich einschloß. Er
verließ das Haus, ohne mich nochmals gesprochen zu haben.

Habe ich Ihnen einmal die Geschichte Emiliens und des Herrn de
Saint-Cyr erzählt? Hätte ich Emilie noch hier! Aber ich weiß nicht, in
welcher entlegenen Gegend Frankreichs sie sich verborgen halten mag.


4

Herr de Voisenon an Mlle. Eugenie Chabert.

            Chateau Tournay, April 1750.

Liebe Freundin, der Vicomte de Palafoy ist achtzehn Jahre alt, Sie
selbst zählen sechsundzwanzig. Sollte eine so kluge Frau, wie Sie
sind, die so viel gesehen hat, nicht wissen, welcher Art die Liebe
des jungen Mannes ist, welcher Art Ihre eigene Zuneigung sein kann?
Lassen Sie uns sprechen als die zwei Erfahrenen der Liebe, die wir
sind: der Jüngling ahnt in Ihnen das Weib, das ihn bilden kann, das
den doppelten Reiz von Geliebter und Mutter auf ihn ausübt. Er ist
gut, vornehm und unschuldig; er versteht den Zug der Natur nicht
zu deuten; das ist die Sache der Erfahrung, ist Ihre Sache, liebe
Freundin. Können Sie glauben, daß seine Beziehung zu Ihnen auch nur
wenige Wochen das Angesicht behalten kann, das sie jetzt hat, das
neue und ersehnte Angesicht, das sie in den ersten Tagen des Taumels
erfüllter Liebessehnsucht haben wird? Ist seine Natur vornehm und gut,
und ist seine jetzige Verfassung nicht durch bloße Zufälligkeiten eines
behüteten und zurückgezogenen Lebens in der Provinz verursacht, so
wird er durch Sie aus dem Jüngling ein Mann werden und muß dann seine
Neigung einem unberührten Mädchen zuwenden, das in ihm den Geliebten
und Vater sehen wird. Um Ihre neue Ausdrucksweise zu gebrauchen: so
tugendhaft wie seine jetzige Liebe zu Ihnen wird dann seine neue Liebe
sein, denn er folgt einem durch die Menschen veredelten Triebe der
Natur.

Möchten Sie wünschen, alsdann den heute noch Unerfahrenen durch ein
unlösliches Band an sich gekettet zu haben, seine Vorwürfe zu hören,
denn wenn er ein Mann wird, muß er die Ihnen machen; Ihre eigenen
Vorwürfe zu übertäuben; unglücklich zu machen und unglücklich zu sein?
Ich glaube, Sie sind zu klug, eine solche Tat zu begehen; und wenn Sie
vielleicht auch nicht Güte des Herzens haben, so haben Sie doch die
wertvollere Güte des Verstandes, die Ihnen eine solche Schlechtigkeit
verbieten wird.

Aber ich warne Sie auch vor anderem.

Frauen sind in der Liebe immer klüger wie wir Männer, so lange es sich
nur um Gefühl und Empfindung handelt; aber sie werden törichter wie der
törichtste Mann, sobald die bürgerliche Ordnung der Liebesbeziehungen
in Frage kommt. Sie haben alle recht in ihrer Klugheit: in ihrer
Torheit haben die Geringeren noch mehr recht, denn die ist ihnen eine
wichtige Waffe im Lebenskampf, der für die Kleinen ja nun einmal den
Lebensinhalt bildet. Wenn ich von unserer Beider Beziehung sprechen
darf: Sie begannen mich nicht mehr zu verstehen, als ich das von
Ihnen verlangte, was Sie nannten »Ein Opfer bringen«. Ich habe mich
beschieden, denn ich bin stolz und weiß, was meine Liebe wert ist,
daß sie wirklich auch das aufwiegt, was Sie Opfer nannten; denn wenn
ich liebe, so will und kann ich geben und brauche nicht zu nehmen; wo
die Hand nicht ausgestreckt ist zum Nehmen, wo sie geballt ist zur
Verteidigung, da ist freilich ein Geben nicht möglich.

Dieselbe Torheit, die sie mir zeigten, zeigen Sie nun auch dem Vicomte.
Liebste, Liebste, sind Sie denn so wenig, daß es erstrebenswert für Sie
ist, mehr zu sein? Sie wollen Vicomtesse werden, Schloßherrin, reich,
und den ganzen Traum einer kleinen Grisette zur Wirklichkeit machen. Es
ist also nichts, eine in ihrer Art einheitliche Persönlichkeit zu sein?
Der junge Mann stammt aus einer vornehmen Familie; er muß eine Frau
vornehmer Abstammung haben, die von seinen Standesgenossen anerkannt
wird, in ihre Lage hineingehört, ihm nachfolgeberechtigte Kinder
gibt und die nach den Anschauungen und Bedürfnissen ihres Standes
erzieht. Eine solche Frau wird auf Grund ihrer Eigenschaften und
ihrer gesellschaftlichen Stellung geachtet. Werden Sie nicht geachtet
auf Grund Ihrer Eigenschaften und Ihrer Stellung in der geistigen
Gesellschaft? Würden Sie es nicht töricht finden, wenn eine Dame aus
den vornehmen Kreisen, bloß, weil sie Ihre Stellung wünschenswerter
findet wie die, zu welcher Natur und Gesellschaft sie bestimmt, das
werden wollte, was Sie sind? Und Sie wollen werden, was jene ist? Jene
könnte nicht unglücklicher werden wie Sie. Oder meinen Sie, daß die
Schloßherrinnen glücklicher sind wie die Schauspielerinnen? Ich habe
das Glück als Regel nur gefunden bei den körperlich schwer arbeitenden
und sich den Tieren nähernden Menschen; als Ausnahme in den Kreisen,
welchen Sie angehören, wo man die Kunst versteht, sich vorzulügen, was
man will und für den Augenblick zu sein, wer man will; und nie fand ich
es in der höheren Gesellschaft. Haben Sie sich das nie klar gemacht:
Je höher einer steht, desto mehr sieht er, desto mehr muß er wünschen,
desto mehr bleibt ihm unerfüllt -- desto weniger bedeutet ihm eine
Erfüllung.

Wenn meine Worte Sie überzeugt haben sollten, so werden Sie vielleicht
auf einen neuen Weg für Ihre Wünsche kommen. Denn Sie lieben den
Vicomte. Wollen Sie ein freies Herzensbündnis mit ihm schließen und
wollen Sie ihm gewähren, was Sie mir versagten? Ich verstehe durchaus,
daß Ihre neue Neigung stärker sein muß, wie die Neigung, die Sie zu
mir haben konnten. Ich sprach zu Ihrem Verstand, zu Ihrer Phantasie,
mit mir lebten Sie in jenem Kreis, der bis zu einem gewissen Grade
-- nämlich soweit die schauspielerische Darstellung Kunst ist -- der
Kreis ist, in welchem sich Ihre höchsten Empfindungen bewegen. Aber
der Vicomte spricht zu ihrem Herzen, in seiner Gegenwart kann das
tiefste Menschliche in Ihnen warm überströmen, das in meiner Gegenwart
erstarren mußte. Er kann Ihnen Kind sein, ich war Ihnen immer Lehrer.

Sie wissen, daß mich selbst nie ein Leiden abhalten würde, wenn ich
meine Seele bereichern kann; und ich kann Ihnen nicht raten, was für
Ihr kleines Wohlbefinden gut ist; dazu schätze ich Sie zu sehr, halte
ich Sie zu sehr für meinesgleichen; ich kann Ihnen nur raten, was ich
selbst tun würde. Das ist: Geben Sie sich ihm hin, machen Sie ihn ganz
glücklich und suchen Sie jedes Glück, das Sie mit ihm haben können;
indem Sie wissen, daß er in kurzem Sie unglücklicher machen wird, als
jemals ein Mensch Sie gemacht hat; denn Sie können ihm mehr geben,
als Sie sonst jemandem geben konnten, und deshalb wird nachher seine
Undankbarkeit die größte sein, Ihre Leere die vollständigste.

Aber mußte ich Ihnen das alles sagen? Haben Sie das nicht alles vorher
gewußt, wollten Sie nicht nur, nach Frauenart, eine Bestätigung,
oder -- einen Vorwand zur Blindheit? Wird Ihnen diesen Vorwand nicht
mein Brief dennoch verschaffen, denn es ist doch der Brief eines
Verschmähten?

Was ist das für eine Geschichte von Herrn de Saint-Cyr und Emilie? Es
lebt in meiner Nähe ein Ehepaar dieses Namens. Ich lernte den Herrn auf
der Jagd kennen, als ich auf der Pirsch durch Unkenntnis in sein Revier
geraten war. Die Beiden scheinen sehr liebenswürdig; nur ist die Frau
wohl etwas gedrückt, vielleicht, weil die Ehe kinderlos ist. Der Mann
gibt sich viele Mühe, sie zu erheitern. Sie haben ihr Gut vor etwa zwei
Jahren gekauft, und es kennt sie sonst niemand von dem umwohnenden Adel.


5

Mlle. Eugenie Chabert an Herrn de Voisenon.

            Paris, Mai 1750.

Lieber Freund, Sie haben mich freilich nicht geschont in Ihrem Brief,
und vielleicht haben Sie nicht bedacht, daß Sie ihn an eine Frau
schrieben. Gestehen Sie nur: wir Frauen mögen unsere große Torheit
haben; aber ist es wirklich klug, den Schleier, den die Natur selbst
uns treibt über manche Empfindungen zu decken, unbarmherzig zu
zerreißen? Wäre es nicht möglich, daß diese Empfindungen dadurch
etwas anderes würden als sie waren und in Wahrheit sein müssen? Sie
nennen den Schleier vielleicht Lüge: üben Sie darin nicht Rache an
der Liebe? Ich habe nicht gedacht, was Sie aussprechen; nachdem Sie
es ausgesprochen, muß ich es denken. Die Natur gibt selbst den Tieren
in der Zeit der Liebe irgend etwas, das nur ein schöner Schein ist,
und merkwürdig, es ist meistens das Männchen, dem sie diese Sorgfalt
zuwendet! Sollten nicht auch die Frauen deuten und überlegen, und wenn
ein Mann zum Dichter wird in der Zeit, da er um ein Weib wirbt, wie
das Männchen einer Vogelart neue und glänzende Federn erhält: könnte
da nicht dem Weib der Gedanke kommen: das ist nur ein bedeutungsloses
Prunken, ein Mittel, um dich für einen bestimmten Zweck gefügig zu
machen? Sollten wir Frauen alle so unwissend sein, daß wir diesen
Schönheiten die Bedeutung zuerteilten, welche sie beanspruchen: nämlich
dauernd zu sein und wesentliche Eigenschaften des liebenden Mannes? O,
viele von uns sind klug genug, um die Wahrheit zu wissen, welche sich
hinter dem Schleier verbirgt, aber nur eine ganz Verworfene wäre so
unedel, sie zu sagen. Ich will Ihnen keinen Vorwurf machen, denn ich
weiß, daß die Männer schamlos sind, daß sie das sein müssen; aber ich
dachte, daß auf den höchsten Stufen der Gesittung die Männer von uns
Eigenschaften annehmen, wie wir von ihnen; und ich habe mich gefragt --
achten Sie ernsthaft darauf, was ich mich gefragt habe: ob Sie an Mlle.
de Villars geschrieben hätten, wie Sie an mich schrieben. Ich bin nicht
eifersüchtig, und ich habe kein Recht, auf Sie eifersüchtig zu sein;
aber wenn Sie meinen Stand und meine Lage als nicht problematisch (wie
sie meines Erachtens sind), sondern als in ihrer Art gleich vollendet
und selbstgenügend hinstellen wie die einer Dame der Gesellschaft; so
muß ich auch verlangen, daß Sie in entsprechender Weise Rücksichten
nehmen, indem Sie das schonen, was Sie ja in Ihrem Innern meine
Lebenslüge nennen mögen. Noch einmal: Stellen Sie sich recht lebhaft
vor, wie Sie an Mlle. de Villars geschrieben haben würden, an das
junge Mädchen von achtzehn Jahren aus vornehmer Familie, das eben
aus dem Kloster gekommen ist, und das Sie zu Ihrer Gattin zu machen
beabsichtigen. Sie würden nicht gedacht haben: ich will ihr schreiben,
was ich selbst tun würde, nachdem ich ihr geschrieben, was ich selbst
denke, sondern ich will mir vorstellen, was sie empfinden muß, was ein
Mensch, der so empfindet, denken und tun muß; denn ein Mann muß Frauen
schonen.

Sie wollen Emiliens Geschichte wissen; ich will sie Ihnen erzählen;
vielleicht, daß Sie aus ihr lernen, was einen Dichter hätte die Natur
lehren sollen.

Sie wurde als ganz junges Mädchen von ihrer Mutter dem Leiter unserer
Truppe vorgestellt, und da sie eine vorzügliche Bühnenfigur besaß, nahm
man sie sogleich mit einem kleinen Gehalt an. In der Folge stellte es
sich heraus, daß sie keinerlei schauspielerische Begabung hatte; nicht,
daß es ihr an Phantasie, Temperament und Verstand gemangelt hätte;
aber sie war durch eine eigenartige Vornehmheit ihres Wesens gebunden
und konnte nicht aus sich herausgehen; Sie sagten einmal selbst: jede
Kunst steht in einem gewissen Gegensatz zur Vornehmheit; man konnte
sie höchstens zu Anmelderollen verwenden. Von ihrem Herkommen sprach
sie nie, es schien mir aber, daß sie von guter Familie sein müsse.
Ein geringer Rest von Vermögen, der wohl noch vorhanden war, wurde im
Laufe der Zeit ausgegeben, da sie mit ihrer Mutter von ihrem Verdienst
beim Theater nicht leben konnte, und es stellte sich die Notwendigkeit
heraus, daß sie den Bewerbungen eines reichen Verehrers nachgab. Über
diese Dinge sprach sie nie mit mir, trotzdem ich die einzige unter
uns war, zu der sie ein Zutrauen gefaßt hatte. Sie wissen, wie es am
Theater hergeht, und daß selbst ein Mädchen ohne besondere Reize,
wenn sie nur irgendwie mit der Bühne in Beziehung steht, auf das
lebhafteste von unseren vornehmen jungen Herren umworben wird. Emilie
scheint ihre Verehrer mehrfach gewechselt zu haben, aus welchen Gründen
ist mir unbekannt; jedenfalls wußten wir alle, daß sie in einigen
Jahren durch die Freigebigkeit der Herren und ihr einfaches Leben ein
beträchtliches Vermögen erworben hatte. Ihre Mutter starb in dieser
Zeit, und als ich sie bei dem Begräbnisse besuchte, sagte sie mir, daß
sie sich ein Landgut in einer entfernten Gegend kaufen wolle, wo sie
niemand kenne, um dort ihr Leben zu beschließen. Sie haben wohl nie
von ihr gehört durch Ihr einsames und zurückgezogenes Leben; bei jedem
andern Herrn Ihres Standes und Alters würde es mich wundern, daß Sie
Emilie nicht gekannt haben sollen. Herr de Saint-Cyr kam um diese Zeit
nach Paris. Durch einen Zufall nahm er seine Wohnung in dem Hause,
wo Emilie wohnte, nur durch den Korridor von ihren Zimmern getrennt.
Diese sah den vornehm aussehenden, aber sehr bescheiden gekleideten
jungen Herrn täglich an ihrem Fenster vorbeigehen, und sein höflicher
und achtungsvoller Gruß machte einen tiefen Eindruck auf das arme
Mädchen, das sehr unter ihrer Stellung litt. Sie bemerkte, daß der
Ausdruck seines Gesichtes täglich trauriger wurde. Da er sich um die
Zeit des Mittagessens immer auf seinem Zimmer aufhielt und sie ihn nie
mit irgend welchen Einkäufen zurückkehren sah, so wurde sie durch ihr
Mitgefühl getrieben, ihn durch das Schlüsselloch zu beobachten; sie
sah, daß er ein Stück Brot aus dem Schrank nahm, es sorgfältig abmaß,
ein Stück abschnitt, und dieses dann ohne weitere Beigabe verzehrte.

Für den nächsten Tag ließ sie ihre Köchin etwas reichlichere Einkäufe
machen und ein für mehrere Personen genügendes Essen vorbereiten; dann
erwartete sie ihn an ihrem geöffneten Fenster, indem sie sich an ihren
Blumenstöcken zu schaffen machte. Er wollte mit seinem gewöhnlichen
Gruß vorbeigehen, sie redete ihn aber an, indem sie ihm scherzend
vorwarf, er sei unhöflich, daß er noch nie zu ihr gesprochen habe; und
indem er erwiderte und sie antwortete, lud sie ihn am Ende zu ihrem
Essen ein und drängte ihn so, daß er kommen mußte.

Nach der Mahlzeit, als sie noch verschiedenes geredet hatten und
vertrauter geworden waren, sagte sie zu ihm: »Ich sehe, mein Herr,
daß Sie sehr unglücklich sind, und vermute wohl mit Recht, daß Sie
hier keinen Freund oder Bekannten haben, dem Sie Ihre Sorgen erzählen
können. Deshalb möchte ich mich Ihnen als Vertraute anbieten, ob ich
vielleicht Sie trösten oder Ihnen sonst irgendwie helfen kann. Und
damit Sie die Scham überwinden, welche ein Unglücklicher naturgemäß
hat, wenn er einem Fremden sein Herz öffnen soll, so will ich selbst
mit einem Geständnis beginnen, welches mir viel schwerer werden muß als
alles, was Sie mir gestehen können, denn mein Leiden ist schwerer, wie
es das Ihre sein kann: ich bin ein Mädchen, das seinen Unterhalt davon
hat, daß es seine Ehre preisgegeben hat.«

Herr de Saint-Cyr erzählte, daß er ohne Eltern sei und durch die
Nachlässigkeit seines Vormundes sein gesamtes Vermögen verloren habe.
Seine Verwandten, die denselben Namen trügen wie er, seien sehr
einflußreich am Hofe, und er sei nach Paris gekommen, um durch ihre
Verwendung eine bescheidene Stellung zu erhalten. Aber da es ihnen
offenbar peinlich sei, einen verarmten Vetter anzuerkennen, so sei
er bei allen entweder durch leere Versprechungen hingehalten oder mit
peinlichen Worten entlassen; und gerade heute habe er seinen letzten
Besuch gemacht, und es bleibe ihm keinerlei Aussicht oder Hoffnung mehr.

Emilie dachte eine Weile nach, dann erwiderte sie ihm: »Ein anderes
Betragen ist von Verwandten in solchen Fällen nicht zu erwarten, wenn
man nicht ein Mittel besitzt, um sie auch gegen ihren Willen zur Hilfe
zu zwingen.« Und als Herr de Saint-Cyr sie fragte, ob sie ein solches
Mittel wisse, fuhr sie fort, indem sie noch mehr errötete, wie bei
den Worten, durch welche sie ihm mitgeteilt hatte, wer sie war: »Sie
müssen Ihren Verwandten drohen, daß Sie sich werden durch die Not, um
Ihr Leben zu erhalten, zu einer ehrlosen Handlung treiben lassen; und
da diese, weil Sie den gleichen Namen haben wie Ihre Verwandten, auch
denen Unehre machen würde, so werden sie gewiß alsdann alles aufbieten,
um Ihr gerechtes Verlangen zu erfüllen. Als eine solche Handlung
schlage ich Ihnen folgendes vor. Ich habe mir ein Vermögen erworben,
welches für den standesmäßigen Unterhalt einer Familie genügen würde;
mein Name und meine Lebensweise sind in den Kreisen der vornehmen
jungen Leute bekannt genug; es genügt, wenn Sie erzählen, daß Sie mich
kennen gelernt haben und mich heiraten wollen, um nicht Hungers zu
sterben.«

Auf diese großmütige Rede Emiliens konnte de Saint-Cyr nicht mit Worten
erwidern. Er küßte ihre Hand, die sie ihm schnell entzog, und ging.
Gegen Abend kam er zurück und suchte Emilie in ihrem Zimmer auf. Mit
traurigem Gesicht erzählte er, als einzige Antwort habe er von seinen
Verwandten erhalten, daß man ihn alsdann als einen Betrüger, der sich
seinen vornehmen Namen fälschlich beigelegt habe, werde verhaften und
in die Bastille führen lassen. Dann fuhr er fort: »Ich habe meine
Eltern nicht mehr gekannt und war stets unter fremden Leuten. Sie sind
der erste Mensch gewesen, der mir eine Freundlichkeit erwiesen hat. Ich
biete Ihnen in Wirklichkeit meine Hand an und verspreche Ihnen, daß ich
Sie lieben und ehren werde, wie Sie es verdienen. Wir werden Paris
verlassen und an einem entfernten Ort leben; und mit einer Güte, welche
der gleich sein soll, die Sie mir erwiesen, will ich mich mühen, Sie
Ihre bisherigen Leiden vergessen zu machen.«

Emilie antwortete ihm, daß er ihr etwas Unmögliches vorschlage, denn
kein Mann könne vergessen, was sie bis jetzt gewesen sei; und wenn er
auch jetzt glaube, daß er mit ihr eine Ehe führen könne, wie sie sein
müsse, nämlich mit Achtung und Liebe für seine Gattin, so werde doch
eine Zeit kommen, wo er seinen Schritt bereuen müsse; sie aber würde es
nie ertragen können, sich als Ursache seiner Erniedrigung zu fühlen,
selbst wenn er ihr, wie sie glaube, nie ein Wort sagen würde.

Sie erzählte mir alles, was ich Ihnen schreibe, mit häufigen Tränen
noch an demselben Abend und sagte, daß sie am nächsten Tage an einen
Ort gehen werde, wo sie niemand finden könne. Am nächsten Tage kam
Herr de Saint-Cyr zu mir, die er als einzige Freundin Emiliens kannte,
berichtete mir ihr Verschwinden und teilte mir mit, daß er von einem
Notar die Nachricht bekommen habe, daß sie ein Landgut auf seinen Namen
habe überschreiben lassen; er war in höchster Erregung und sagte, er
werde nicht eher ruhen, als bis er sie wiedergetroffen habe.

Nun haben sich also die Beiden doch noch gefunden -- und sind glücklich.


6

Herr de Voisenon an Mlle. Eugenie Chabert.

            Chateau Tournay, Mai 1750.

Liebe Freundin, Ihre Erzählung finde ich erstaunlich. Gestatten Sie mir
jedenfalls eine kleine Zurechtsetzung: ich habe nicht geschrieben, daß
das Ehepaar glücklich ist.

Ich habe immer gefunden, daß Schauspieler behaupten, gute
Menschenkenner zu sein; und Menschenkenntnis nennt man wohl die
Begabung zum Mißtrauen. Ich selbst bin Dichter, und Dichter sind
gläubige Menschen -- für meine eigene Person mißtraue ich nicht, auch
Mlle. Eugenie Chabert gegenüber war ich ja stets gläubig, ungläubig
war ich immer nur gegen mich selbst. Aber wäre ich Schauspieler, so
würde ich sagen: vermutlich hat Mlle. Emilie Herrn de Saint-Cyr das
Suchen nicht allzu schwer gemacht. Ich habe selten einen so vornehm
empfindenden Mann getroffen, wie ihn: er kann unmöglich in irgend
einer Lage seines Lebens, auch wenn er sein Teuerstes suchte, eine
hervorragende Intelligenz entwickelt haben. Gewöhnlich verbindet
die gütige Natur -- auch das haben Sie ihr gewiß abgelauscht! --
Vornehmheit der Gesinnung mit einem Vermögen, das den Besitzer vor den
Folgen schützt; da Herr de Saint-Cyr einen begabten Vormund hatte, der
ihn seines natürlichen Schutzmittels beraubte, so war es wohl ganz
natürlich, daß schon sein erster Schritt ihn in eine unmögliche Lage
brachte. Aber man bewundere die nie versagende Weisheit der Natur:
sie pflanzte den Lebenskünstlerinnen ein, daß sie einem solchen Mann
rettungslos erliegen müssen; ich bin gewiß, daß Emilie ihren Mann liebt
mit einer Leidenschaft und Aufopferung, wie -- nun, das »wie« sage ich
Ihnen nicht, Sie wissen es nur zu gut, das zeigen Sie mir täglich.

Aber bin ich ein Schauspieler? Ich bin ein Dichter: was ich eben
sagte, war eine Verstandesplattheit. Nein, Emilie ist gegen ihren
Saint-Cyr wahr gewesen; haben denn nicht die Frauen die Begabung,
immer wahr zu sein? Alle ihre Lüge -- und sie lügen wohl immer -- ist
ja nur Oberfläche, ihre Tiefe ist wahr: auch Sie sind wahr, Liebste,
Allerliebste! -- Glauben Sie es auch? Ach, wir Dichter sind allzu
schamhaft!

Bekannte schreiben mir, Ihr junger Vicomte habe die Bekanntschaft von
Mlle. de Villars gemacht. Sollten Sie nichts davon gehört haben? Ich
finde eine allzu große Klugheit unanständig; wenn wir die Handlungen
und Beweggründe der andern Menschen zu gut erraten, so müssen wir
ihnen wohl sehr ähnlich sein und nahe stehen; ich für meine Person
wünsche nicht solche Ähnlichkeit und Nähe. Deshalb möchte ich Ihnen nur
schreiben, daß ich Mlle. de Villars sehr liebe -- wenn ich ein Ihnen
nicht unbekanntes Bild gebrauche: sie besitzt einen Teil meiner Seele,
der Ihnen unbekannt ist.

Wenn ich das Glück hätte, sie zu meiner Gattin zu machen, so würde
ich mit ihr in diesem alten ehrwürdigen Haus leben, das von tüchtigen
Vorfahren gebaut ist; wir würden Kinder haben, welche die Züge
meines Geschlechtes haben, und hoffentlich keine Erbschaft von ihrem
Vater, dem Dichter, überkommen, sondern Krieger werden und gar nicht
bedeutend, wie meine Vorfahren; ich würde täglich ihre Hand küssen,
sie würde zu Tisch in großer Toilette erscheinen, und wir würden jeder
unsere Mauer um uns ziehen; denn finden Sie nicht auch: man kann
sich nicht mehr achten, wenn man zu vertraut miteinander wird; und
seine Gattin muß man doch wohl achten? Ich fürchte, ich habe zu viel
verachtet in meinem Leben.

Ich glaube, besonders sind es die Menschen, die durch sich (ich sage
nicht: an sich) leiden, die sich mit andern vertraut machen. Gott schuf
vielleicht das Weib, daß sie zu dem Mann kommt und ihm sagt, was er
ist. Er schuf es demnach als Schauspielerin. Sie lacht und sagt zu
dem Mann: du bist ja nicht einsam, du hast ja mich. Aber verletzt es
nicht die Scham, wenn sie mit dem Mann mit leidet, mehr noch: nur in
ihrer Phantasie mit leidet? Denn ich glaube ihr ja nicht, daß sie mit
leidet. Sie hat da ein gewisses Land in ihrer Seele, daß sie in solchen
Fällen entdeckt. Für jede neue Rolle entdeckt sie ein solches Land. --
Nebenbei; es fällt mir ein: Haben Sie noch Ihre frühere Auffassung von
der Rolle in meinem Lustspiel, Sie wissen, das an jenem Abend gegeben
wurde, wo der Vicomte sie zum ersten Male sah? --

Sie sagen vielleicht wieder: ich bin herrschsüchtig? Ich werde Mlle.
de Villars nach meinem Willen formen, wenn ich sie heiraten sollte,
und ich werde auf ihre Persönlichkeit keine Rücksicht nehmen? Ja, ich
möchte, daß sie vornehm wird, daß sie das Leben in Heiterkeit erträgt,
daß ich sie immer achten kann; darum liebe ich dieses Kindchen: ich
weiß, daß sie eine Frau zu werden vermag, die ich immer achten kann.
Und ich sehne mich so danach, jemanden zu achten! Ich werde sie lieben
mit aller meiner Kraft.

Und liebe ich denn nicht Sie? Weshalb dürfen wir nicht ein Spiel aus
unserm Leben machen, dem wir in Heiterkeit zuschauen! Ich sagte Ihnen
einmal: ich möchte mein Gesicht in Ihrem Schoß bergen und weinen. Sie
haben mich nicht verstanden. Ich bat Sie einmal um etwas, das Sie mir
hätten geben müssen; und indem ich fühlte: ich dürfte nicht bitten, ich
müßte nehmen; und ich würde nehmen, wenn ich Sie nicht so unendlich
liebte, daß ich durch die Liebe schwach bin; -- indem ich das fühlte,
schmerzlich und nicht ingrimmig, sagte ich: Ich habe vor Ihnen keine
Scham. Auch das haben Sie nicht verstanden. Vielleicht verlangte ich
zu viel von Ihnen; Sie sollten gleichzeitig ein Stern sein, den ich
ersehne und eine Blume, die ich pflücke: unerreichbar und erreicht. Es
scheint, daß Dichter leicht närrisch werden, wenn sie lieben. Fräulein
de Villars liebt der Edelmann, Sie liebt der Dichter. Ich bin nicht
stolz auf die Tatsache, daß ich ein Dichter bin, Sie hätten Grund stolz
zu sein, daß ein Dichter Sie liebt.


7

Mlle. Eugenie Chabert an Herrn de Voisenon.

            Paris, Mai 1750.

Geehrter Herr, Ihr Brief ist mir nicht verständlich geworden; nur
weiß ich, daß er auf jeder Zeile eine Kränkung für mich enthält. Aber
ich verstehe jetzt besser Ihr Leben: Sie hatten recht, sich von den
Menschen abzuschließen; denn ein solcher selbstsüchtiger Hochmut muß
jeden zurückstoßen, der sich Ihnen in Güte nahen will. Hoffentlich
kennt Mlle. de Villars nicht Ihre Pläne; wenigstens wird sie vermutlich
den Gesprächen des Vicomte de Palafoy mehr Geschmack abgewinnen.

Über Emilie denken Sie vielleicht anders, wenn Sie den beigeschlossenen
Brief gelesen haben; ich bitte Sie, ihn mir zurückzusenden.


Frau de Saint-Cyr an Mlle. Eugenie Chabert.

            Chateau Anmey, Mai 1750.

Verehrtes Fräulein, Ihre häufig mir bewiesene Güte ermutigt mich, nach
langer Zeit mich Ihnen wieder zu nähern. Ich bin Emilie, das damals
so unglückliche Mädchen, dem vielleicht nur Ihre Freundlichkeit und
Großmut ein furchtbares Leben erträglich machte. Heute bin ich Gattin
des Mannes, von dem ich Ihnen erzählte, des edelsten und besten Mannes,
den ich je sah, dem ich vielleicht nur einen Fehler vorwerfen kann: daß
er sich keine würdigere Lebensgefährtin gewählt hat.

Sie haben meine Beichte entgegengenommen; Sie wissen, daß ich vor
meinem Glück fliehen wollte -- nur zu laut rief freilich mein Herz
nach diesem Glück; und in Stunden, wie diese ist, wo mein ganzes Leben
wieder vor mir steht und die schöne Gegenwart verdeckt, klage ich oft
meine Sehnsucht und Hoffnung an, die meinen Gatten zu mir riefen gegen
meinen Willen, die ihn zu seinem Schritt führten, den ich nie billigen
kann, auch wenn er mich namenlos glücklich machte. Seit zwei Jahren
sind wir vermählt; und meine ehrfürchtige Liebe ist nur größer geworden.

Aber nicht im Glück brauchen wir unsere Freunde, wir haben sie im
Unglück nötig; und ich ahne ein nahendes Unglück. Mein Gatte hat seit
einiger Zeit die Bekanntschaft eines Herrn de Voisenon gemacht, der in
der Nachbarschaft begütert ist. Er erwähnte einmal, daß er auch Sie
kennt; wissen Sie etwas von ihm? Ich fürchte von ihm, und diese Furcht
ist die Ursache meines Schreibens.

Er ist gewiß kein guter und einfacher Mann; nie sah ich eine so harte
Selbstsucht, eine so rücksichtslose Verachtung aller andern Menschen
und ihrer berechtigten Wünsche. Vielleicht ist er nicht eigentlich
schlecht, aber auch der schlechteste und gemeinste Mensch, den ich
bisher sah, schien mir nicht so unmenschlich wie er. Meinen Mann hat
er wie bezaubert, sodaß der nur noch mit seinen Augen sieht -- und was
sind das für Augen! Ich möchte sagen: er sucht überall sein Unglück,
und in seinem Gesicht steht geschrieben, daß er es überall gefunden
hat. Sicher hat er nie etwas geglaubt, nie einem Menschen vertraut,
nie einen Menschen geliebt; bis jetzt wußte ich nicht, daß es möglich
ist, der Liebe gänzlich unfähig zu sein. Aber ich weiß noch nicht
einmal, ob das alles richtig ist, was ich sage, denn er scheint nur
aus Widersprüchen zu bestehen. Er will Kriegsdienst nehmen, obgleich
er stark lahmt; nur das Kriegswesen scheint ihn zu interessieren,
und wiewohl bei seinem Körperfehler doch eine soldatische Laufbahn
ausgeschlossen sein müßte, wiewohl er schon an die Dreißig zu sein
scheint, erstrebt er sie doch mit aller Leidenschaft, die diesem
phlegmatischen Menschen möglich ist. Für alles Geistige hat er eine
tiefe Verachtung, und insbesondere die Dichtung scheint er geradezu zu
hassen, obschon er ein sehr lebhaftes Interesse für sie zu besitzen
scheint.

Ich habe keine Kinder und wünsche nicht, welche zu haben. Ich weiß
genau, daß mein Charakter unedler ist wie der meines Mannes, daß nur
in meinem Gefühl zu ihm das Gute, dessen ich fähig bin, zutage kommt,
vielleicht auch sogar erst gebildet wird; und ich würde unsagbar
betrübt sein, wenn unsere Kinder Eigenschaften von mir hätten, nicht
ganz Abbilder meines edlen Mannes wären. Durch einen unglücklichen
Zufall kam das Gespräch auf Kinder, und statt mich zu schonen,
statt auf eine Ablenkung einzugehen, die ich versuchte, stellte er
die unerhörtesten Behauptungen auf: nur als Mutter werde das Weib
liebenswert, nur gegen ihre Kinder zeige sie ihre Schönheit, und man
müsse ein Weib hassen, das keine Kinder gebären könne. Als ich weinend
aufstand und mein Mann einige verlegene Worte sprach, entschuldigte
er sich und sagte, er habe nur mit Worten gespielt, und seine eigene
Ansicht sei vielmehr: nur die kinderlose Frau könne die Freundin des
Mannes sein und ihn in seinem Wesen ergänzen, und erst durch eine
solche Beziehung entstehe ein vollkommener Mensch. Ich konnte mich
nicht halten und rief ihm zu: »Wer nicht an das Gute glaubt, der wird
es nie erleben.« Er verbeugte sich und sagte ironisch: »Sie haben
recht.«

Schreiben Sie mir, ich bitte Sie flehend: wer ist dieser Mensch, wie
kann ich mich vor ihm schützen? Er macht mich selbst unsicher. Ja,
ich wünschte, daß mein Gatte mich finden möge; ich betete zu Gott, daß
er seine Schritte zu mir führen möge; aber ich schwöre es Ihnen: ich
bin ihm nicht entgegengekommen. Seit dieser neuen Bekanntschaft muß
ich immer über mein Leben nachdenken, und überall finde ich Grund, mir
Vorwürfe zu machen. Ja bei seinem spöttischen Blick glaube ich nicht
mehr an das Gute in mir selbst; das einzige, was er mir nicht rauben
konnte, ist der Glaube an meinen Mann: aber ich fürchte, ihm wird er
alles nehmen.


8

Herr de Voisenon an Mlle. Eugenie Chabert.

            Chateau Tournay, Mai 1750.

Den Brief von Frau de Saint-Cyr sende ich Ihnen mit verbindlichstem
Dank zurück. Ich habe in demselben freilich keine Veranlassung
gefunden, meine Ansichten über die Dame zu ändern; indessen hat mir
aber mein Porträt, das er enthielt, große Freude gemacht. Man erfährt
doch zu selten, wie man eigentlich ist. Besonders interessierte mich
der Bericht meines indiskreten Gespräches über Kinder, das ich, wie Sie
sich wohl gedacht haben, aufbrachte, um zu erfahren, bei welchem Teil
der Ehegatten der Wunsch nach Kinderlosigkeit vorhanden ist.

Ihrem eigenen Brief habe ich natürlich nichts hinzuzufügen. Nur möchte
ich doch noch einmal von der Beziehung Ihres jungen Vicomte zu Mlle.
de Villars sprechen. Ich schreibe sehr ernst; hielten mich nicht zur
Zeit ganz dringende Geschäfte hier fest, so würde ich nach Paris
reisen: wenigstens diese Angelegenheit wird mir nicht zum Lustspiel in
meiner Empfindung (Sie wissen, ich habe eine unüberwindliche Neigung,
das Tragische komisch zu finden: möchten Sie nicht die Kolombine in
meinem nächsten Lustspiel spielen? Es heißt »Der verliebte Dichter«).
Also: Sie werden nicht verstehen, was ich schreibe, vielleicht werden
Sie es wenigstens fühlen: Ich hasse die Unvernunft, ich hasse die
Unsittlichkeit, und ich bin an beide gekettet durch meine dichterische
Begabung; ich hasse diese dichterische Begabung, denn sie macht
den Menschen zu ihrem Werkzeug, der sie besitzt, sie zwingt ihn zu
Dingen, die er nicht will und nicht darf; ich hasse eine unvernünftige
und unsittliche Leidenschaft, die dem Mann vorgaukelt, er werde ein
vollkommenes Wesen erst durch eine notwendige Ergänzung. Ich will
eine vernünftige und sittliche Leidenschaft, bei der ich frei bin,
unabhängig von einem andern Menschen, von einer Mauer umgeben. Ist mein
Wille weniger mein Selbst wie meine Begabung? Meine Begabung ist es
weniger, denn mein Selbst ist nicht unvernünftig und nicht unsittlich,
ist nicht unterjocht durch etwas Fremdes, sondern ist frei -- frei,
hören Sie, Eugenie?

Ich habe mich sehr töricht gegen Sie benommen -- Sie meinen, weil ich
töricht bin? Glauben Sie, ich weiß nicht, wie man ein Weib nimmt?
Glauben Sie, ich wußte nicht, wie ich Sie hätte nehmen können, daß Sie
willenlos mir gegenüber wurden? Aber ich streife da an Dinge, die in
Wahrheit verhüllt werden sollten; denn wer auch die beiden Menschen
sein mögen, es ist etwas Heiliges um den Augenblick, wo das Weib, das
so lange verweigert hatte, begehrt. Seien Sie nicht wieder klein,
werden Sie nicht gekränkt darüber, daß ich den Augenblick empfand,
ihn nicht benutzte, und Ihnen das jetzt sogar noch sage; es ging
Furchtbares vor in mir; ich liebte Sie zu sehr, und ich haßte meine
Leidenschaft; Sie hätten mich damals schonen müssen, schonen Sie mich
wenigstens jetzt.


9

Mlle. Eugenie Chabert an Herrn de Voisenon.

            Paris, Juni 1750.

Geehrter Herr, ich fand gestern bei mir Ihre Karte vor. Wenn Sie
wünschen, wegen der mir zugewiesenen Rolle in Ihrem neuen Lustspiel
mit mir Rücksprache zu nehmen, so erwarte ich die Ehre Ihres Besuches,
zu dessen Annahme mich mein Beruf verpflichtet, morgen zu der Ihnen
bekannten Stunde. Sollten Sie wegen der Verlobung von Mlle. de Villars
mit Herrn Vicomte de Palafoy Näheres von mir zu erfahren wünschen, so
muß ich Ihnen schon jetzt mitteilen, daß die Nachricht mir selbst eine
völlige Überraschung war.


10

Herr de Voisenon an Mlle. Eugenie Chabert.

            Paris, Juni 1750.

Liebe Freundin, ich liebe Sie mehr, wie ich Sie je geliebt, aber ich
sage Ihnen Lebewohl. Wenn ich nur an Sie denke, so fühle ich Glück,
aber ich muß mich von Ihnen trennen. Alles war ja Glück, was von Ihnen
kam, auch das, daß Sie ein Glück für mich zerstörten. In Ihnen habe ich
mich vergessen, und mein ganzes Leben habe ich mich danach gesehnt,
einmal, nur ein einziges Mal mich zu vergessen, mich, diesen grausamen
Tyrannen, der mich quält seit meiner frühesten Kindheit. Wissen Sie
noch, im Vorfrühling, im Anfang des März, als das verwesende Gras noch
auf dem Rain lag und noch keine jungen Spitzen waren, da sagte ich:
»Ich habe keine Scham vor Ihnen«; ich weiß nicht, ob ich es damals
nicht im Haß sagte, und sicher habe ich Sie später tief gehaßt darum,
daß ich das einmal sagte; aber gestern, als wir uns trennten, als ich
Ihre dunkle Treppe leise tastend hinabstieg, vorsichtig tastend Ihre
Haustür aufschloß, um den Pförtner nicht zu wecken: da erinnerte ich
mich plötzlich an diese Demütigung, diese tiefste Demütigung, die ich
je erlitt; und ich war Ihnen dankbar dafür und empfand Glück; denn ich
hatte mich verloren, selig verloren, wie eine Welle im wogenden Meer,
mein Ich war weit geworden.

Ich habe mein ganzes Leben dem Schicksal geflucht, das mich zum Dichter
machte, denn mir war die Kunst eine Qual, eine Krankheit, an der ich
litt, ein Alp, der mich bedrückte. Gestern empfand ich es, daß es ein
Glück sein kann, ein Dichter sein -- das Glück, das höchste Glück. Ich
wollte nicht mehr Welle sein, ich wollte das ganze Meer sein, alles
spiegeln: den blauen Himmel, den Mond, die Sterne, Ufer mit Bäumen
und den Zug der fliehenden Kraniche, alles spiegelnd in meiner Tiefe
bergen, eine Insel schaffen und die schmeichelnd umspülen. Meine Brust
hätte ich weit machen mögen, denn so viel Glück umschloß sie, daß sie
nun alle Leiden umschließen wollte; alles wollte ich fühlen, fühlend
alles genießen, die Leiden nicht weniger wie die Freuden.

War ich einmal hart gegen Sie, war ich grausam? Gegen mich war ich es,
und weil Sie schon in mir waren, war ich es gegen Sie. Habe ich gegen
Sie gekämpft? Gegen mich habe ich gekämpft, die junge Saat des Glückes
in mir ließ ich zertreten durch die rohen Hufe wilder Gedanken. Aber
heute fliegen meine Gedanken wie Tauben blitzend im Sonnenschein um
einen Kirchturm und ihre erstaunten Augen trinken die Weite, die sonnig
ist.

Wie ganz anders ist die Welt geworden! Ich wußte ja stets, daß sie ist,
was ich sehe; aber ich wußte es nur, ich glaubte es nicht. Ich war ja
steinern geworden; als Sie mir Emiliens Selbstmord erzählten, als Sie
mir aus ihrem Brief vorlasen, daß sie sich töte, weil sie fürchte, ihr
Mann könne beginnen, seine Liebe zu bereuen, da rief ich lachend:
»Ich glaube nur dem Menschen, ich zweifle an seinen Taten, mißtraue
seinen Worten, und traue nie seinen Empfindungen.« War das ich, der
das sagte? Habe ich Emiliens Schönheit nicht empfunden? Erst mußte ich
meinen Stolz vergessen, erst mich in meiner Liebe verlieren, erst mich
des Dichters freuen, bis mein Herz mitschlagen konnte bei Emiliens
Empfindungen.

Früher hätte ich gesagt: ein Dichter darf nicht vornehm sein, er muß
ein gemeiner Mensch sein; heute liebe ich den Buchenwald, in dem die
Zweige sich oben vereinen und eine weite Halle decken, die getragen
wird von befreundeten Stämmen; wie heiter ist diese leichte Halle,
wie glücklich geht das Reh -- und ich hasse den Fichtenwald und die
starren, himmelstrebenden Stämme; die jeder einzeln sein wollen und
sich wehren mit Nadeln; die zu einer Spitze aufragen.

Ja, ich weiß nun, was Glück ist, und ich bin zufrieden, daß ich es
einmal erfahren habe; es wäre doch merkwürdig: älter werden und
sterben, und wie ein Farbenblinder sterben kann ohne zu erfahren, daß
er nie die höchste Trunkenheit des Auges erfahren hat; zu sterben, ohne
wissen, was Glück ist.

Ich liebe Sie, denn Sie sind großmütig; glücklich bin ich, daß ich Sie
lieben darf. Wissen Sie noch, wie ich einmal weinen wollte in Ihrem
Schoß? Damals hatte ich Kampf. Heute möchte ich weinen vor Glück in
Ihrem Schoß; so glücklich bin ich, daß mir mein Herz weh tut -- eben
tat es weh, nun aber schwebe ich wie fliegend in der Luft, und die Erde
sinkt unter mir.

Aber ich muß Ihnen Lebewohl sagen, für immer Lebewohl. Fühlen Sie,
daß ich muß? Ach, Sie sind ein Weib und können es nicht fühlen: Sie
dürfen es nicht fühlen, denn sonst könnte ich Sie nicht lieben. Käme
ich nochmals zu Ihnen, öffnete Ihre Tür, Sie gingen mir entgegen mit
Freude auf Ihrem schönen Gesicht und mit ausgebreiteten Armen -- dann
müßte ich Sie hassen, denn ich würde mich als Unterjochter fühlen;
ich würde wieder den Gedanken in mir aufsteigen fühlen, Sie zu töten.
Spüren Sie, was ich meine? Ich kann mich nicht deutlicher ausdrücken;
aber Sie spüren ja, denn Sie haben ja mit mir gelitten, und daß Ihre
Seele wie eine gleichgestimmte Saite zart mitschwang bei meinen Tönen,
das war ja mein höchstes Glück. War es Demütigung gewesen? Jeden andern
Menschen müßte ich hassen, der mit mir litte, Sie liebe ich; aber ich
muß mich hüten, daß mein Gefühl nicht umschlägt, denn ich will diese
Liebe bewahren, und wenn ich einst weißhaarig bin und gebückt, dann
will ich sie noch empfinden, wie heute. Lassen Sie mich nicht auf den
Gedanken kommen, daß Sie, die ich empfinde, nur meine Empfindung sind;
daß in Wirklichkeit ein triumphierend lächelndes Weib eine sklavische
Huldigung annimmt; haben wir gegeneinander gekämpft, und bin ich
besiegt? Ich will solche Gedanken nicht haben, denn ich will Sie lieben
bis an das Ende meines Lebens. Es genügt ja für mich, daß ich einmal
geliebt habe, ich bin zufrieden, und wie ein Geizhals will ich täglich
meine Goldstücke zählen.

Leben Sie wohl -- nicht um meinetwillen allein, um Ihretwillen. Ich
will Sie behalten in meinem Geist, aber Sie sollen mich vergessen; Sie
sollen wieder glücklich sein, wieder vergessen und wieder glücklich
sein. Umarmen Sie einen neuen Vicomte de Palafoy; ich freue mich bei
dem Gedanken, daß Sie neues Glück genießen: Sie, die Wirklichkeit,
nicht meine Empfindung; denn Ihr wahres Ich ist gänzlich mein Werk; ich
habe es gedichtet und behalte es für mich allein; auch Sie selbst sehen
es nie mehr, Sie, die Wirklichkeit; in ewiger Jugend wird es bei mir
leben.


11

Herr de Saint-Cyr an Mlle. Eugenie Chabert.

            Chateau Anmey, September 1750.

Verehrtes Fräulein, ich bin glücklich, Ihnen endlich durch eine kleine
Gefälligkeit ein Zeichen meines dankbaren Sinnes geben zu können; meine
geliebte Gattin, der Sie in den schwersten Zeiten ihres Lebens mit
solcher Güte zur Seite standen, dachte täglich an Sie; und seit ihrem
frühzeitigen Tode durch jenen entsetzlichen Unfall hat sie mir ihre
Gesinnungen fast wie eine Erbschaft hinterlassen; denn in Wahrheit,
hätte ich nicht Ihre tröstenden Briefe empfangen, ich wüßte nicht,
wie ich die ersten Zeiten meines Schmerzes überstanden hätte, eines
Schmerzes, der nicht frei von Selbstvorwürfen war; denn ich hätte sie,
die sonst so sanft und gefügig war, vielleicht durch inständigeres
Bitten abgehalten, das unglückselige Pferd zu besteigen, dem ihre
Reitkunst nicht gewachsen war.

Heute hatte ich endlich eine Unterredung mit Herrn de Voisenon. Auf
Ihren Wunsch faßte ich Mut zu der indiskreten Frage, was ihn, den ich
sonst als spielenden Skeptiker kannte, als einen Philosophen, dessen
freundlicher Gleichmut durch nichts zu erschüttern war und den gewiß
nie ein Gefühl zu übermannen vermochte, dessen selbstlose Güte ihm
gewiß nie erlaubt hat, irgendeinem Menschen Böses zuzufügen, der nicht
einmal einem böswilligen Dienstboten ein hartes Wort sagen konnte
-- was ihn, wenn es weder Frömmigkeit, noch Weltüberdruß, noch Reue
war, denn veranlassen konnte, sich dergestalt von allen Menschen
zurückzuziehen und wie ein Asket zwischen Büchern und Papieren in
einem ärmlichen Stübchen zu leben. Er sah mich mit seinem gütigen und
liebenswürdigen Lächeln an und erwiderte: »Wenn die Kämpfe, die wir
gegen uns selbst führen, allzugefährlich werden, so ist es gut, unserer
Kriegslust ein neues Ziel zu setzen.« Mehr vermochte ich nicht von
ihm zu erfahren. Er schien an einem großen Werk zu arbeiten; ich sah
Zeichnungen von Kriegsmaschinen auf seinem Tisch; er vermied es aber,
von seiner Beschäftigung zu sprechen.

Eine Weile dachte ich, daß vielleicht sein körperlicher Fehler, der ihn
verhinderte, nach seinem Lieblingswunsch Soldat zu werden, die Ursache
seiner eigentümlichen Lebensweise sei. Aber ich gab diesen Gedanken
auf, als ich ihn sah, wie er mit einer sonderbaren Zärtlichkeit eine
späte Rose berührte, die er in einem Blumenscherben im Fenster stehen
hatte. Vielleicht war seine Seele zu weich geschaffen, und er hat
allzujugendlich, trotz seiner bereits männlichen Jahre, irgendeine
zufällige trübe Erfahrung mit Menschen verallgemeinert. Solche
Verallgemeinerungen sind gewiß ein Unrecht, das wir an der Menschheit
begehen, denn im Grunde sind doch alle Menschen gut, mögen sie auch oft
anders scheinen; aber wer könnte einer so zarten und feinen Empfindung
einen Vorwurf machen?

Daß Sie solches Interesse für den Freund von Emiliens Gatten nehmen,
ist mir ein neues Zeichen für die reine Güte Ihrer Seele; seien Sie
versichert, daß Ihnen mein Herz immer erkenntlich sein wird.



Aus den Aufzeichnungen des Musikers


Ich lebte in Berlin in der Philippstraße bei derselben Wirtin mit
einem etwa dreißigjährigen Arzt, der Assistent in einer der großen
Kliniken war. Man kann jahrelang Wand an Wand mit jemandem wohnen,
ohne ihn kennen zu lernen; unsere gemeinsame Wirtin, eine brave
Berlinerin aus dem bessern Mittelstande, hatte uns aber eines Morgens,
als sie uns beiden den Kaffee brachte, miteinander bekannt gemacht,
indem sie uns in ihre Stube rief, das sogenannte Berliner Zimmer
der Wohnung mit einem lederbezogenen Schlafsopha und einem bunten
Velourteppich, der jeden Abend getreu zusammengerollt wurde; und unter
dem merkwürdigen Lobe, daß sie so »anständige Herrn« noch nie gehabt
habe, uns gegenseitig vorstellte. Wir lebten beide allein, fast ohne
jeden Verkehr, wie das so in der Großstadt möglich ist, und wiewohl wir
uns kaum viel zu erzählen hatten, sprachen wir doch oft miteinander
bei gelegentlichem Begegnen auf der Treppe oder wenn einer den andern
abends um irgend ein gefälliges Aushelfen bat.

An einem Morgen teilte mir die Wirtin kopfschüttelnd mit, daß mein
Nachbar krank sei. Ihr merkwürdiger Gesichtsausdruck fiel mir wohl
auf, aber ich fragte nicht weiter; gegen Mittag klopfte ich bei ihm
an, um ihm einen kurzen Besuch zu machen und ihn zu fragen, ob ich ihm
vielleicht etwas besorgen dürfe.

Er lag mit großen fiebrigen Augen im Bett. Als ich ihm die Hand bot,
hielt er mich einen Augenblick lang fest; nur einen kurzen Augenblick
lang; aber ich spürte, daß dieser verschlossene und einsame Mensch das
Bedürfnis nach einem anderen Menschen hatte. So sagte ich ihm denn,
nachdem wir die gewöhnlichen Redensarten gewechselt hatten und die
bekannte Pause entstanden war, indem ich mich verabschiedete, ich werde
am Nachmittag wiederkommen. Er nickte, indem er mich eigentümlich mit
sehnsüchtigem Blick aus verzehrten Augen ansah, und hielt wieder meine
Hand sonderbar fest. Sein Kopf mit dem dünnen, hellblonden Haar,
blassen schmalen Lippen und spärlichem, blondem Schnurrbärtchen sah
sehr krank aus auf dem weißen Kissen. Als ich die ausgetretene und
schmutzige Treppe hinunterging, wurde mir klar: er wird sterben und
will mir etwas anvertrauen, da er sonst keinen Menschen kennt.

Wie ich ihm versprochen, ging ich am Nachmittag wieder zu ihm. Er
ergriff meine Hand und lenkte mich ohne weiteres auf den Stuhl, der
neben dem Bett stand; er zeigte mir ein Heft in blauem Umschlag, in
dem er mit Bleistift geschrieben hatte und sagte mir: »das ist mein
Krankheitsbericht, der ist sehr wichtig, denn ich mache ein Experiment
mit mir.« Er bat mich, für den Fall seines Todes das Heft einem
Gelehrten zu übergeben, den er mir nannte. Dann begann er unvermittelt
zu erzählen.

»Vor fünf Jahren hatte ich eine heftige Furcht vor der Einsamkeit.
Ich ging abends in eine Kneipe, zuweilen auch in ein Tanzlokal. Sie
können mir glauben, daß mir die Menschen dort zuwider waren, aber
ich war krank durch das Alleinsein und mußte Menschen sehen. In einem
Tanzlokal in Halensee lernte ich ein Mädchen kennen, eine Näherin in
einem Wäschegeschäft. Ich hatte mich durch Zufall an den Tisch gesetzt,
an dem sie saß; sie war allein gleich mir und machte den Eindruck,
daß sie sich das erstemal hier befand. Sie war siebzehnjährig und
trug ein verwachsenes schwarzes Kleid, das von der Beerdigung ihrer
Mutter stammte. Ihr Vater war schon sehr lange tot, und sie lebte
in Schlafstelle bei Leuten, vor denen sie Furcht hatte. Sie schien
überhaupt in beständiger Furcht zu leben, sie hatte ein sanftes und
schönes Gesicht und einen unentwickelten Körper. Hierher war sie
gekommen, wie sie sagte, um ihr Leben zu genießen, weil sie jung
sei, aber sie fürchtete sich vor den Männern und meinte, daß man sie
schlagen werde. Sie konnte nicht tanzen und wußte selbst nicht, was sie
eigentlich hier erwartet hatte, nur, daß sie unbestimmt hoffte, daß sie
die Bekanntschaft eines »gebildeten Herrn« wie sie sich ausdrückte,
machen könne.

Ich empfand Mitgefühl und Zuneigung. Sie sprach ein ganz reines
Deutsch, ohne den mir widerwärtigen Berliner Klang und Fall. Als wir
aufbrachen, nahm sie meinen Arm, wie wenn das selbstverständlich wäre.
Nachdem wir uns auf eine Verabredung am nächsten Tag noch einmal
getroffen hatten, wurde sie meine Geliebte. Sie war zärtlich, sanft und
gut. Einmal weinte sie und sagte: »Wenn du mich heiraten könntest, dann
wollte ich dir eine gute Frau sein, und du solltest es immer ordentlich
im Hause haben; aber das ist ja unmöglich, deshalb will ich ein paar
Monate lang glücklich sein.« Sie empfand, daß ihre zerstochenen Finger
mir mißfielen, deshalb entzog sie mir sie, soweit es nur möglich war,
mit merkwürdig zartfühlenden Ausreden.«

Hier schwieg mein Bekannter, und zwei runde volle Tränen rollten
langsam über sein verarbeitetes und krankes Gesicht. Er sagte: »Ich
schämte mich des Gefühls, das ich wegen der Finger hatte und wollte es
bezwingen; aber sie merkte es doch; und ich hätte es ihr nicht übel
nehmen können, wenn sie ungehalten gewesen wäre, denn sie gab mir
alles, +ich+ aber nahm nur; aber sie demütigte sich. Das ist so einer
von den Stacheln, die ich im Gewissen habe, den ich auch heute noch
nicht entfernen kann. Es ist etwas Furchtbares um die Liebe; wenn sie
uns nicht edler macht, so macht sie uns schlechter, auch gegen unsern
Willen; und in den meisten Fällen wird es bei einem Liebesverhältnis
so sein, daß der eine Teil besser wird und der andere schlechter; denn
dieses Gemeine ist im Menschen verborgen, daß er Güte mißbrauchen muß.«

Er wollte wohl Einzelheiten aus der Geschichte dieser Liebe erzählen,
aber nach verschiedenen Ansätzen verstummte er immer wieder und sagte:
»Ich muß mich schämen.« Nur eine Geschichte erzählte er: »Ich fuhr
mit ihr an einem Sonntag aus der Stadt heraus, wir gingen durch den
Wald und über eine Wiese. Vor einem Marienblümchen blieb sie stehen,
breitete die Arme aus gegen den Himmel und rief: Ich habe noch nie eine
Blume gesehen.«

»Nach einigen Monaten veränderte sie ihr Wesen in auffälliger Weise.
Ich verstand das nicht, wie denn Männer in solchen Fällen oft wenig
einsichtsvoll sind, dachte, daß sie meiner überdrüssig sei oder eine
andere Liebe im Sinne habe und sich von mir trennen wolle. Was wir in
einem solchen Fall empfinden, ist wohl eine gereizte Eitelkeit, der
wir irgend einen besseren Namen unterlegen; und Eitelkeit verführt
uns mehr wie andere Leidenschaften zu Roheit. So kam es, daß ich mich
oft häßlich gegen sie betragen habe. Was nun geschah, erfuhr ich erst
später.

Sie ging an einem Abend außerhalb der Stadt die Bahnlinie entlang,
weinend und mit einem halb gefaßten Entschluß. Da begegnete ihr ein
Streckenarbeiter, der nach Hause ging von seiner Arbeit. Er redete
sie an, daß der Weg verboten sei wegen der Gefahr. Sie wickelte sich
fester in ihr Kopftuch, weinte leise und ging weiter. Der Mann spürte,
welches ihre Absicht war, kehrte um, faßte ihre Hand und fragte mit
freundlicher Stimme, welchen Grund sie doch habe, daß sie sich töten
wolle. Sie antwortete, daß sie eine Liebe habe mit einem Herrn und ein
Kind erwarte und nicht wisse, was sie tun solle. Da ging er weiter mit
ihr zusammen, und sie erzählte ihm alles und sagte ihm auch, daß sie
mich lieb habe; aber sie habe ja von Anfang an gewußt, daß das alles
keinen Bestand haben könne. Und früher habe sie geglaubt, sie wolle
so lange glücklich sein, wie das Glück anhalte, und dann wolle sie so
weiter leben; und auch, daß sie ein Kind bekommen könne, habe ihr keine
weiteren Sorgen gemacht; denn das geschehe doch oft, daß ein Mädchen
ein Kind habe, und sie habe gedacht, daß sie es zu einer Frau geben
werde, und soviel verdiene sie schon, daß sie den Unterhalt bezahlen
könne. Aber nun verspüre sie eine Liebe zu ihrem künftigen Kinde, und
es tue ihr weh, daß das so schlecht aufwachsen solle. Deshalb wolle
sie jetzt mit ihm sterben, solange es noch kein Mensch sei; denn wenn
es erst geboren sei, dann würde sie nicht mehr die Kraft haben, sich
selber und das Kind zu töten.

Der Mann redete ihr aus gutem Herzen zu und brachte sie dahin, daß
sie ihren Vorsatz aufgab. So ging er mit ihr zurück, bis sie zu den
ersten Häusern der Stadt kamen, und dann in die Straßen. Und wie sie
nun angefangen hatte, ihm zu erzählen, was das Allergeheimste bei ihr
war, da hatte er das Gefühl, daß sie sich vor ihm schämen müsse, wenn
er nicht auch ihr vertraue, was ihn bedrückte. Da ergab es sich, daß
er ein einsamer und freudenloser Mann war, der die rohe Gesellschaft
mied und Bücher und Schriften für sich las. Im ganzen waren sie kaum
eine Stunde zusammen gewesen, aber sie waren so vertraut geworden,
als kennten sie sich schon lange. Deshalb drang er in sie, daß er am
nächsten Abend wieder mit ihr gehen konnte, und nicht eine Woche war
vergangen, da sagte er zu ihr, er habe sie lieb gewonnen, und wenn
sie möge, so wolle er sie heiraten, und ihr Kind wolle er auferziehen
wie sein eigenes. Sie weinte und sagte, das dürfe er nicht tun. Aber
er erwiderte, er brauche doch keinen Menschen zu fragen bei seinem
Handeln, und er gehe nur nach seinem Gewissen. Das aber rede ihm
zu, denn er spreche nicht zu ihr in Leichtsinn oder besinnungsloser
Leidenschaft; er sei ein Dreißigjähriger und habe es immer schwer
gehabt im Leben, da sei ein Mensch denn ernst und prüfe seine Absichten
und Pläne. Sie hinwiederum gestand ihm, daß sie mich noch lieb habe.
Aber er entgegnete, das wisse er wohl; aber sie wisse ja doch auch,
daß diese Liebe zu keinem Ziel führen könne, und sie werde allmählich
mich vergessen; aber sie müsse ihm versprechen, daß sie mir alles sagen
wolle und Abschied nehmen und mich nie wiedersehen.

Nun bat sie ihn, bei diesem Abschied solle er zugegen sein; und dann
kamen beide an einem Sonntagvormittag zu mir. Sie vermochte nicht zu
sprechen, sondern weinte beständig; aber der Mann nahm das Wort und
erzählte mir alles. Da zog auch mir ein furchtbares Weh ins Herz,
denn nun erst wurde mir klar, wie ich das liebe Kind geliebt hatte,
über alle Unterschiede von Stand, Bildung und äußern Manieren hinweg;
denn ich hatte bis dahin immer geglaubt, eine wahre, vollkommene
Liebe sei nur da möglich, wo nichts Störendes im Wesen der Geliebten
vorhanden ist. Da weinte auch ich, und der Mann zog sich anständig
und bescheiden zurück, nahm die Türklinke in die Hand und sagte, er
wolle auf die Straße gehen. Aber da kam es über mich, ich ergriff ihre
tränennasse Hand und fragte sie: Bist du zufrieden mit seinen Worten?
Sie nickte. Da trat ich ans Fenster, und wunderte mich, wie doch die
Leute seelenlos die Straße entlangeilen mögen.

Ich schrieb dem Mann, daß ich für das Kind sorgen wolle, wie ich könne,
und ich wolle ihm monatlich ein Kostgeld schicken. Aber er kam zu mir
und sprach, das wollte er nicht, denn er würde sich gedemütigt fühlen,
wenn er das annähme; aber für meinen guten Willen danke er mir.«

Mein Bekannter schwieg eine lange Zeit, indem er nachdenklich seine
schmale Hand betrachtete, die auf der Bettdecke lag. Dann fuhr er fort.
»Wir, die man so zu den höheren Ständen rechnet, und die doch von der
Gesellschaft nur eben so hin verbraucht werden wie die Menschen aus den
untern Klassen, wir führen doch ein furchtbares Leben. Wir haben nicht
die Unbefangenheit und den sorglosen Sinn, die Freiheit und Freude des
Volkes, und es fehlt uns eben so das sichere und versorgte Dasein der
wirklich höheren Klassen; und wenn man so mit seinem Herzen bei der
Arbeit ist wie wir, so müßte man doch nach außen versorgt sein; aber
wir vertrocknen durch unser Leben.

Ich stehe jetzt vor dem Angesicht des Todes, und es ist jämmerlich,
daran zu denken, daß ich nur einhundertundfünfzig Mark Gehalt den Monat
hatte und keine Hoffnung haben konnte, je viel mehr zu erwerben; denn
mir fehlt jenes Besondere, das den Arzt zu einem guten Verdiener machen
kann. Aber ich bin verkümmert und vertrocknet, ich wußte selbst nicht
wie, ich war ja kein Mensch mehr mit einem Herzen und mit Mut, ich war
nur noch eine Art Beamter, der seine Pflicht tat, wie die Uhr ihre
Pflicht tut. Ich war kein Mensch mehr. Ich habe ja nichts Schlechtes
getan, das ich bereuen mußte; nein, ich war ordentlich, häuslich, gut
angezogen und machte keine Schulden. Ach, ich habe nichts Gutes getan,
nein, nicht eine gute Tat; und schlimmer noch: ich habe auch nichts
Gutes empfunden. Ein Mörder ist vielleicht ein besserer Mensch wie ich,
denn er hat vielleicht einmal Reue empfunden; aber ich habe nichts
empfunden.«

Er schwieg eine Weile. Dann sah er mich mit einem Blick an, der mich
auf das tiefste erschütterte, und sprach: »Lassen Sie sich die Worte
eines Sterbenden zur Lehre dienen. Sie gehen denselben Weg wie ich.
Und wie ich als junger Mensch einmal dachte, ein Arzt müsse alle
Menschen lieben und allen helfen, und ein Mensch, dem man helfen könne,
der könne nicht schlecht oder gemein sein; so haben auch Sie einmal
gedacht, ein Künstler müsse die größte Güte haben und alle Menschen
glücklich machen; und nun denken Sie nur an Gegner, an Durchdringen, an
Geldverdienen. O, was hat Jesus gesagt von uns: Ihr seid das Salz der
Erde. Wenn nun das Salz dumm wird, womit soll man's salzen?« Er faßte
meine Hand. »Vergessen Sie alles Kleinliche und Gemeine, sonst können
Sie nicht leben, sonst müssen Sie sterben wie ich.«

Er fuhr fort.

»Man brachte in die Klinik einen Eisenbahnarbeiter, dem ein Wagen über
den Körper gefahren war. Ich kann die Verletzungen nicht beschreiben,
es quält mich zu sehr; jahrelang habe ich nie an den Leidenden gedacht,
immer nur an meine berufliche Pflicht. Jetzt kommt alles Leiden zurück
zu mir, das ich nicht mitgelitten habe.

Er war der Mann meiner früheren Geliebten. Ich sah, daß ihm unmöglich
zu helfen war; er blickte mir ins Gesicht und nickte, als er meinen
Ausdruck verstanden hatte. Er mußte unsagbare Schmerzen ausstehen.
Seine Stirn war in Falten gezogen, welche zitterten, sein Mund war
zusammengezogen und zitterte. Ich bereitete eine Morphiumspritze, um
ihm die Schmerzen zu ersparen, er sollte in der Betäubung verscheiden.
Er erfaßte meine Hand, winkte mit den Augen und sprach: »Ist es wahr,
daß es Mittel gibt, welche das Leben um einige Stunden verlängern?
Dieses ist es nicht!« Es war neun Uhr abends. Ich antwortete: »Eine
Kampfereinspritzung regt die Herztätigkeit wieder an.« Er sprach:
»Machen Sie, daß ich bis nach zwölf Uhr lebe.« Ich entleerte die
Morphiumspritze und reinigte sie, dann bereitete ich die Kampferlösung
vor.

Seine Frau kam, meine frühere Geliebte. Sie hatte ihr Kind an der Hand,
mein Kind. Still kniete sie an dem Bett nieder, der Knabe weinte still.
Der Mann sah die beiden an. Nur selten, wenn er den Schmerz nicht mehr
unterdrücken konnte, stöhnte er leise, dann ging ein Schütteln durch
den Körper der Frau. Ich saß in einer Ecke des Saales, ging zuweilen zu
dem Sterbenden und fühlte das Herz. Gegen halb elf machte ich ihm eine
Kampfereinspritzung. Er dankte mir mit den Augen, kein Wort hatte er
gesprochen, seit Frau und Kind bei ihm waren, das Sprechen war ihm zu
schmerzhaft. Die Uhr im Saal schlug elf. Ich empfand, wie der Leidende
die Schläge verfolgte, er ersehnte den Tod, mir war, als fühlte ich das
Ringen seines Willens gegen den Schmerz mit dem Herzen. Die Frau konnte
seine furchtbaren Verletzungen nicht sehen, nur sein Kopf war sichtbar
auf den weißen Kissen.

Gegen halb zwölf wurde der Herzschlag ganz matt, sein Blick verlor die
Kraft und den Ausdruck des Willens, er war im Begriff, in den Tod zu
gehen. Plötzlich schoß mir ein Strahl aus den eben umflorten Augen ins
Gesicht. Ich verstand, machte ihm eine neue Einspritzung. Seine Lippen
bewegten sich, aber sie formten keinen Laut.

Die Uhr schlug zwölf. Er zählte die Schläge, seine Augen waren wieder
voll Ausdruck, ich konnte seinen Gedanken wieder folgen. Dann sprach er
zu mir: »Sie können bezeugen, daß ich den ersten Oktober noch erlebt
habe; von heute an bin ich angestellter Weichenwärter, meine Frau
bekommt die Beamtenpension, das Kind kann erzogen werden.« Er sprach
mit großer Ruhe, manche Buchstaben konnte er nicht mehr bilden. Dann
seufzte er, seine Augen brachen.«

Mein Bekannter schwieg wieder eine lange Zeit. Dann fuhr er fort:

»Was ich nun tat, war vor dem Verstand gänzlich unsinnig.
Vernünftigerweise hätte ich nach meinen Kräften die Witwe und das Kind
unterstützen sollen. Aber vor dem toten Mann hatte ich ein so heftiges
Gefühl der Scham, daß ich einsah, ich könne nicht mehr leben. Nein, ich
konnte nicht mehr leben.

Ich bin ja kein schlechter Mensch. Ich habe ja nichts Schlechtes getan.
War es denn ein Unrecht, daß ich jenes Mädchen liebte? Wir waren beide
glücklich, einige Monate lang. Nie bin ich sonst glücklich gewesen,
auch sie wird nie sonst glücklich gewesen sein. Und was sollte ich denn
weiter tun? Auch jetzt noch könnte ich ja nicht anders handeln, wie
ich gehandelt habe; nur ein törichter Mensch hätte von mir verlangen
können, daß ich sie zu meiner Frau machte; wir hätten uns nur beide
gequält. War es denn ein Unrecht, daß ich sie liebte? Ich hätte
entsagen können; nun, ich wäre einige Jahre eher vertrocknet; auch sie
hätte entsagen können; kann man denn von Menschen, die so leben wie
wir, Entsagung verlangen? Entsagung müßte doch aus einem freudigen und
stolzen Herzen kommen, nicht aus einem dürftigen und bettlerhaften. Und
was denn wäre verhütet oder besser geworden? Ja wenn sie sich damals
selbst getötet hätte, ich könnte keine Gewissensbisse haben über mein
Handeln; denn wichtiger ist es, einmal im Leben ein Mensch sein und
dann sterben, wie lange leben als dürftiges, elendes Tier, das seine
Arbeit tut, um sich zu ernähren.

Und doch sah ich ein: ich kann nicht leben, und meine Schuld ist es,
daß ich nicht leben kann. Als der Arbeiter starb, da wußte ich es:
ich trage Schuld an mir, daß ich so dürftig und elend und gemein bin,
deshalb kann ich nicht leben.

Damit mein Tod denn doch irgend einen Zweck habe, nehme ich ein Gift,
dessen Wirkung erprobt werden sollte für einen wissenschaftlichen
Zweck -- dieser wissenschaftliche Zweck kam mir ja selber albern vor,
als ich nun so vor den Toren der Ewigkeit stand; aber die Albernheit
war noch das einzige, wozu ich nütze war. Ich habe genau Buch geführt
über die Fortschritte der Vergiftung und werde bis zuletzt alles genau
beschreiben. Sie kennen das Heft bereits.«

Er wendete sich zur Wand, und ich ging leise aus dem Sterbezimmer.



Das Gespenst


1

Im letzten Jahre des Siebenjährigen Krieges wurden größere preußische
Truppenmassen in der Umgebung von Breslau in Winterquartiere gelegt.
Ein junger Rittmeister, wir wollen ihn v. K. nennen, kam mit seiner
Schwadron auf das Rittergut O. Die Räumlichkeiten auf dem Gute waren
sehr beengt; die Herrschaft, eine freiherrliche Familie von O., wohnte
in einem uralten burgartigen Schloß, das noch mit einem tiefen Graben
umgeben war und in seinen dicken Mauern nur einen Saal, eine Unzahl
schmaler und hoher Gänge und wenige Zimmer barg, die alle, mit Ausnahme
eines einzigen, von der Familie täglich benutzt wurden. So konnte man
nur den Rittmeister selber im Schloß unterbringen; die drei jungen
Offiziere wurden bei dem Pfarrer einquartiert und die Unteroffiziere
und Mannschaften an die armseligen Büdner verteilt.

Am ersten Abend, als Herr v. K. mit dem gichtbrüchigen alten Freiherrn,
dessen Gemahlin und der einzigen Tochter das leidliche Abendessen
einnahm, entschuldigte sich die Frau vom Hause, daß sie dem fremden
Herrn das Spukzimmer habe anweisen müssen. Herr v. K., der ein starker
Freigeist war, erkundigte sich lachend danach, welche Bewandtnis es
mit dem Spukzimmer habe; der alte Freiherr und seine Gemahlin machten
ernste Gesichter; sie waren ehrliche und einfache Landedelleute vom
alten Schlage, die sich jeden Sonntag vormittags und nachmittags in
zwei altväterischen Sänften in ihren Prunkkleidern in die Kirche
tragen ließen und bei den Liedern der frommen Gemeinde der Tagelöhner
vorsangen. Das achtzehnjährige Töchterchen blickte mit unbeweglichem
Gesicht in den Schoß. Der alte Herr berichtete dann, daß jedem
Besucher, welcher die erste Nacht in dem fremden Zimmer schlafe, ein
Geist erscheine, welcher mit Ketten raßle, kläglich stöhne und zuweilen
von innen heraus durch höllisches Feuer leuchte. Herr v. K. lachte noch
mehr und behauptete, daß das Gespenst sich nicht an einen preußischen
Offizier wagen werde, und daß er schon unbesorgt schlafen wolle. Es
schien ihm, als ob in dem hübschen, kecken Gesicht des Fräuleins ein
leichtes Lächeln aufblitzen wollte, das sie unterdrückte; und indem
er sich den Unterschied zwischen den braven Leuten und dem zierlichen
Figürchen der Tochter, ihrem silberhellen Lachen, ihren leichten
Bewegungen und ihrer modischen Figur klar machte, kam ihm ein Verdacht,
daß das anmutige Persönchen irgendwie an den Spukerscheinungen
beteiligt sein könne.

Man ging in dem ordentlichen Hause schon um neun Uhr schlafen. Herr v.
K. leuchtete die Wände seines Zimmers ab und fand eine unscheinbare
Tapetentür, die von seinem Bett aus nicht zu sehen war. Er verschob
sein Bett, daß er sie sofort ins Auge fassen konnte, kleidete sich dann
mit großer Seelenruhe aus, löschte das Licht und legte sich zu einem
tiefen Schlaf, denn er hatte einen anstrengenden Ritt hinter sich.

Etwa um Mitternacht erwachte er durch ein mörderliches Gepolter,
Rasseln und Klirren. Er schlug Feuer, zündete sein Licht an,
bekleidete sich notdürftig, und sah auf die Tür. Diese öffnete sich;
ein gespenstisches Wesen von etwa sechs Fuß Länge, in ein weißes Tuch
gewickelt, mit einem ungeheuren Kopf, aus dessen Augen, Nase und Mund
Feuer strahlte, stutzte einen Augenblick, dann schritt es in das
Zimmer unter Dröhnen und Klirren. Herr v. K. sah, daß der Kopf ein
ausgehöhlter Kürbis war, in den ein Licht gestellt sein mochte; er ging
zu der offenen Tür, zog den außen steckenden Schlüssel ab, schloß sie
mit diesem zu, steckte den Schlüssel in die Tasche, und wendete sich
um nach dem Gespenst. Dieses war in die entfernteste Ecke entwichen.
Er ging hin, nahm den Kürbis mit leichter Mühe ab, stellte ihn auf
den Tisch, umarmte das Gespenst, wickelte den wirklichen Kopf aus dem
weißen Laken heraus und küßte das hübsche Fräulein tüchtig ab; denn es
war wirklich die Tochter seiner Wirtsleute.

Plötzlich erschrak er, denn große runde Tränen rollten ihr aus den
Augen; es war ihm merkwürdig rührend, daß die Tränen rund blieben und
sich nicht verteilten. Er sah sie bestürzt an; da lachte sie plötzlich
und rief: »Ach, Sie sehen so dumm aus.« Diese unerwartete Ansprache
machte ihn noch mehr verlegen; er ließ sie aus seinen Armen und fragte
sie, aus welchem Grunde sie diesen Gespensterspuk aufführe.

Sie wickelte sich gänzlich aus dem weißen Laken, warf es zu den Ketten,
die auf der Erde lagen, setzte sich, und erzählte folgende Geschichte:

Ihre Eltern lebten so gänzlich zurückgezogen von der Welt, daß sie
außer ihren allernächsten Verwandten nur noch die Einwohner des
Fleckens sah. Nun hatte der Pastor einen Sohn, der bereits Kandidat der
Theologie war; dieser hatte von der Universität die Bücher der neuen
Dichter mitgebracht, besonders die Schriften von Klopstock. Die hatten
sie zusammen gelesen, und indem sie unter der Lektüre eine vollkommene
Gleichheit ihrer Gedanken und Gefühle bemerkt hatten, wurden sie von
gegenseitiger Liebe entflammt trotz der Verschiedenheit ihres Standes.
Der Kandidat hatte dann sein theologisches Amtskleid angezogen und
war auf das Schloß gegangen, um dem alten Freiherrn mitzuteilen, daß
die Natur ihre beiden Herzen zusammengeführt habe, ihm die Nichtigkeit
der gesellschaftlichen Unterschiede sowohl philosophisch wie auf Grund
des Naturrechts nachzuweisen, und um ihre Hand anzuhalten. Der alte
Freiherr aber war sehr erstaunt über seine Rede gewesen und hatte ihm
nichts Bestimmtes geantwortet, sondern nur den Vater ihres Geliebten
rufen lassen und dem anbefohlen, seinen Sohn fortzuschicken; was der
alte Pastor auch getan hatte.

Nun hatte aber das junge Fräulein sich eine List ausgedacht, wie sie
ihre Eltern zwingen wolle, doch noch das Jawort zu ihrer Wahl zu
sprechen. Wenn nämlich ein Besuch auf das Schloß kam, so verkleidete
sie sich als Gespenst, machte sich, wenn sie konnte, einen hohlen
Kürbis zurecht, nahm eine alte Kuhkette und vollführte den oben
beschriebenen Lärm, und zeigte sich dann durch die Tapetentür dem
Besucher. Bis jetzt nun hatte jeder Angst vor der Erscheinung gehabt,
was ihr auch für ihren Zweck sehr lieb war; und so hatte sich denn bei
den Eltern durch die verschiedenartigen Erzählungen, durch Hinzudichten
und Übertreiben der Besuchten ein fester Glaube an ein umgehendes
Gespenst gebildet.

Nachdem sie nun glücklich in dem jungen Rittmeister einen beherzten
und klugen Mann gefunden hatte, bat sie inständig um eine zweckmäßige
Weiterführung ihrer List. Herr v. K. solle am andern Morgen den Eltern
sagen, auch ihm sei das Gespenst erschienen; auf Anreden habe es
erklärt, es sei der Ahnherr des Geschlechtes, und es werde nicht eher
zur Ruhe kommen, bis die Tochter den Sohn des Pastors geheiratet habe;
denn nur so könne ein Unrecht gesühnt werden, das er selber vor langen
Jahrhunderten begangen habe.

Der Rittmeister lachte über die lustige Zumutung und warf ein, daß
der Scherz doch auch übel auslaufen könne, und wenn ihre Verabredung
entdeckt werde, so könne er von seinem Vorgesetzten einen harten
Verweis bekommen. Da weinte das Fräulein, setzte sich auf seinen Schoß
und küßte ihn; und bei der dunkeln Nacht und dem unruhig flackernden
Öllicht wurde ihm ganz wunderlich zumute, sodaß er ihr gegen seine
erste Absicht zusagte. Wie sie seine Zusage hörte, sprang sie auf
und tanzte fröhlich im Zimmer herum, indem sie immer wiederholend
sein »Ja« unter Händeklatschen nach einer wunderlichen Melodie sang.
Diese Lustigkeit wirkte auch auf ihn zurück. Er nahm ein angekohltes
Stückchen Holz und malte an die Tür die rohen Umrisse einer Hand; dann
hielt er die Lampe so nahe an die Zeichnung, daß einige verkohlte
Stellen an der Tür entstanden, die man mit einiger Beihilfe wohl für
den Abdruck einer feurigen Hand mochte halten können. Als er mit seiner
Arbeit fertig war, sahen sich beide einen Augenblick an und lachten
dann zugleich los; er umarmte und küßte sie wieder, aber sie nahm ihm
geschickt den Schlüssel aus der Rocktasche, steckte ihn ins Schloß und
entwischte ihm lachend; nach einer Weile öffnete sie nochmals, steckte
den Kopf durch die Spalte und sagte, er küsse viel schöner wie ihr
Bräutigam, aber den habe sie dennoch viel lieber.

Der Rittmeister blieb mit dem Laken, der Kuhkette und dem Kürbis
zurück. Er legte die Gegenstände in einen Wandschrank, verschloß ihn
und ging dann vergnügt vor sich hin pfeifend wieder zu Bett.

Am andern Morgen bat er mit einem sehr ernsten Gesicht die alten
Herrschaften in sein Zimmer. Der Freiherr setzte sich verängstigt in
den großen Lehnstuhl, und seine Gemahlin begann sich gegen ihn und den
Rittmeister zu verteidigen, daß es wirklich ganz unmöglich gewesen
sei, ein anderes Zimmer so schnell bereit zu machen, aber schon diese
nächste Nacht werde sie ihn umquartieren. Der Rittmeister schnitt
höflich die Entschuldigungen ab, indem er beteuerte, daß ihm selber
durchaus nichts geschehen sei, wegen dessen seine Wirtsleute sich
Sorge zu machen brauchten, und daß sein Erlebnis vielmehr sie, seine
Wirtsleute, selber sehr nahe berühre. Er bedaure seine leichtfertigen
Reden von gestern abend hinsichtlich der Gespenstererscheinungen,
und sein Erlebnis werde ihm für die Vertiefung seiner Welt- und
Lebensauffassung förderlich sein. Hierzu nickte der alte Freiherr
beifällig. Der Rittmeister fuhr fort, indem er erzählte, daß das
Gespenst auf sein Befragen sich ihm als den Ahnherrn des Geschlechtes
zu erkennen gegeben habe. Derselbe sei in den Besitz der Güter durch
ein Verschulden gegenüber seinem jüngeren Bruder gekommen; nach seinem
Tode habe er dafür jahrhundertelang büßen müssen; als Zeichen für
den Brand, der ihn inwendig verzehre, habe er seine Hand auf die Tür
gedrückt. Mit schauderndem Gemüt erkannten die alten Herrschaften die
verkohlte Handspur, und die Freifrau bemerkte mit Überraschung eine
alte Familieneigentümlichkeit in einem etwas gekrümmten Goldfinger.
Das Gespenst habe weiter erzählt, daß der Pastor des Ortes der letzte
Nachkomme des jüngern Bruders sei, der damals einen bürgerlichen Namen
angenommen habe; und nun sehe er eine Möglichkeit, aus seiner Pein
erlöst zu werden durch eine leichte Rückerstattung der geraubten Güter,
wenn nämlich das Freifräulein mit dem einzigen Sohn dieses Pastors
verheiratet werde. So werde die jüngere Linie in ihren rechtmäßigen
Besitz gesetzt, und vielleicht werde er selbst, der Ahnherr, so von
seiner Qual befreit.

Hier schüttelte der alte Freiherr bedenklich den Kopf, da der
Rittmeister eine Pause machte. Er gab zu, daß der Pastorssohn von der
Schwertseite her wohl ebenbürtig sei; seine Mutter aber sei früher
Kammerjungfer bei seiner verstorbenen Mutter gewesen und wegen ihrer
langjährigen treuen Dienste habe seinerzeit sein Vater die Verleihung
der Pfarre an den Pastor an die Bedingung geknüpft, daß er sie heirate.
Und wenn man auch gegen die treue und brave Person durchaus nichts
einwenden könne, insofern vor Gott alle gleich sind, die einen rechten
Wandel führen, so könne doch sein Ahnherr nicht verlangen, daß ihr
Nachkomme sich mit einem im ehelichen Bett erzeugten Freifräulein von
zweiunddreißig untadeligen Ahnen verbinde. So schwer es ihm falle,
müsse er doch das Verlangen des Ahnherrn abweisen, als der Ritterehre
zuwiderlaufend. Im übrigen sei er gern bereit, dem jungen Mann jede
Förderung zuteil werden zu lassen, die er vor Gott und seinem adeligen
Gewissen verantworten könne.

Der Rittmeister nahm seine Erzählung wieder auf, indem er fortfuhr,
daß der Ahnherr diesen Einwurf wohl bedacht habe, deshalb habe er
hinzugefügt, wenn man seinem Wunsche nicht nachgebe, so werde er das
Schloß mit allen seinen Insassen durch eine Feuersbrunst vernichten
und die Felder im nächsten Frühjahr durch eine Überschwemmung gänzlich
zerstören. Dieses sei die Botschaft, die er zu überbringen habe. Mit
großer Höflichkeit setzte er noch hinzu, daß die Herrschaften natürlich
durchaus Herren ihres Willens seien, und daß er sich in die nur sie
angehenden Angelegenheiten nicht weiter mischen wolle, als er durch
die Mitteilung des Geistes verpflichtet sei; immerhin aber müsse er
um Entschuldigung bitten, wenn er sich heute noch ausquartiere; denn
wenn er auch als Soldat die Gefahren seines Berufes bestehen müsse
und sich ihnen nie entziehen werde, so sei er selber doch auch der
einzige Sohn seiner Eltern und wolle sich derentwegen nicht in eine
augenscheinliche Lebensgefahr gelegentlich der angedrohten Zerstörung
des Schlosses begeben; er werde jedoch in unmittelbarer Nähe des
Schlosses wohnen bleiben, um jedenfalls gleich mit seiner Hilfe zur
Hand zu sein.

Die alte Dame begann in ein lautes Wehklagen auszubrechen; der Freiherr
aber geriet in eine große Erregung und rief mit zorniger Stimme seine
Tochter; die kam schnell, da sie an der Tür gestanden hatte. Dann ging
er und kehrte mit einer großen Pergamenttafel zurück, auf welcher der
Stammbaum der Familie aufgezeichnet stand; den zeigte er der Tochter
und fragte sie, ob das möglich sei, hier den Namen einer früheren
Kammerjungfer zu verzeichnen. Die Tochter erwiderte schüchtern, man
könne vielleicht an der Stelle einen Tintenfleck machen, der den Namen
verdecke. Über diesen Vorschlag geriet der Freiherr in noch größeren
Ärger. Herr v. K. bat, sich entschuldigen zu dürfen, da er seinen
Auftrag ausgerichtet habe und bei den weiteren Verhandlungen nicht
stören möge, verließ das Zimmer und ging auf den Gutshof, wo er seine
versammelte Mannschaft zu inspizieren hatte.

Im Laufe des Nachmittags teilte der alte Herr dem Rittmeister mit, daß
er sich dazu entschlossen habe, dem Wunsch des Ahnherrn nachzugeben,
und daß der Kandidat schon in den nächsten Tagen eintreffen werde, da
man nunmehr die Heirat möglichst beschleunigen wolle.

Der Kandidat erschien als ein schüchterner und schmaler junger Mann,
mit einem würdigen schwarzen Rock bekleidet, der in einer größeren
Versammlung nichts sprach, aber wenn er mit einem Menschen allein war,
in ganz erstaunlicher Weise fortgesetzt reden konnte. Der Rittmeister
war bei der ersten Begegnung der Verlobten anwesend; es schien ihm, als
fliege ein leichter Schatten von Enttäuschung über das lustige Gesicht
des Fräuleins; mit einem flüchtigen Blick streifte sie den Rittmeister,
der ein Lächeln über die lange und linkische Gestalt des Kandidaten
verbiß, und ein plötzliches Rot färbte ihr Gesicht.

Es folgte nun eine eifrige Tätigkeit in Heraussuchen von
Leinwandballen, Zerschneiden und Säumen und sonstigem Nähen und
Schneidern. Der Kandidat machte regelmäßig jeden Tag von zwei bis vier
Uhr einen Besuch auf dem Schloß. In der ersten Zeit brachte er Bücher
mit, aber nachdem das Fräulein mehrmals erklärt hatte, die Bücher seien
langweilig, saß er mit zusammengeschlagenen Händen stumm in der großen
Stube, indem er mit den Bewegungen seiner runden Augen dem Fräulein
folgte.

Der Rittmeister wunderte sich, daß die Braut nach einiger Zeit
plötzlich gegen ihn verlegen zu werden schien und ihn zu meiden suchte.
An einem Abend sagte sie ihm, sie müsse ihn noch heute notwendig
sprechen, er möge sie in seinem Zimmer erwarten. Sie kam mit dem
Zeichen höchster Befangenheit und sagte ihm, daß sie ihm Vorwürfe
machen müsse, weil er sie erst zu einem Briefe an ihn veranlaßt habe
und den nun nicht beantworte. Gewiß habe er nur die Absicht gehabt,
sich mit ihrem Brief vor seinen Kameraden zu rühmen. Nach diesen Worten
begann sie heftig zu weinen und schluchzen.

Der Rittmeister war ganz verwundert, denn er wußte weder von einem
Briefe, den er erhalten, noch von einem, den er veranlaßt haben sollte;
dazu rührten ihn sehr die Tränen und rührenden Klagen des Mädchens.
Aber als er ihr nun zuerst sagte, daß er nichts verstehe, geriet sie
in noch größere Aufregung. Nur mit großer Mühe vermochte er sie zu
bewegen, ihm folgende Geschichte zu erzählen: Die Kammerjungfer sei
heimlich zu ihr gekommen und habe ihr einen Brief des Rittmeisters
gebracht; in diesem habe der Rittmeister ihr geschrieben, daß er sie
liebe, und wohl wisse, daß sie nicht ihn, sondern den Kandidaten liebe;
aber sie würde ihm eine Linderung verschaffen, wenn sie ihm eine Locke
ihres Haares schicke; diese wolle er dann immer bei sich tragen und
wolle sie häufig ansehen, wenn er allein sei, und wenn er einst sterbe,
so solle diese Locke mit ihm begraben werden. Dieser Brief habe sie
sehr gerührt, und besonders die Stelle, daß die Locke mit ihm begraben
werden solle. Deshalb habe sie sich eine Locke abgeschnitten und einen
Brief geschrieben, in welchem sie ihn getröstet habe und auf den
Himmel verwiesen, und dann habe sie die Locke beigelegt und den Brief
der Jungfer übergeben, damit sie ihn dem Rittmeister überbringe.

Der Rittmeister war über diese Erzählung noch mehr erstaunt wie vorher
und versicherte ihr treuherzig und der Wahrheit gemäß, er habe ihr
nie einen solchen Brief geschrieben. Da vergrub sie ihr Gesicht in
den Händen und sprach zu ihm, nun müsse sie sich erst recht vor ihm
schämen; denn er werde nun gewiß sich allerlei von ihr denken; und
sie könne sich gar nicht vorstellen, wie denn alles zusammenhänge.
Der Rittmeister forderte ihr den Brief ab, und sie brachte ein
zerknittertes Zettelchen zum Vorschein, auf welchem Spuren von Tränen
bemerkbar waren. Er hielt sie zuerst für Wasserflecken, aber sie sagte
ihm mit großer Verlegenheit, sie habe so sehr über seine Liebe und
über seinen schönen Brief weinen müssen. Dann sagte er, der Brief sei
ganz offenbar von einer Frau geschrieben und zeigte ihr seine eigene
Handschrift, die denn auch keinerlei Ähnlichkeit mit den Zügen des
Briefes aufwies. Hierüber erwies sie sich immer erstaunter. Er sagte
am Ende, die Erklärung der wunderlichen Geschichte werde bei der
Kammerjungfer zu suchen sein; diese habe wahrscheinlich den Brief und
die Locke von ihr haben wollen, um dann Erpressungsversuche bei ihr
zu machen, und ganz gewiß habe sie den ersten Brief, der von ihm sein
solle, selber geschrieben. Das Fräulein zeigte eine große Verwunderung
über die Schlechtigkeit und Schlauheit der Person. Der Rittmeister
fuhr fort, immerhin sei sehr merkwürdig, daß die Fälscherin nicht die
Entdeckung gefürchtet habe, da sie beide sich ja doch, wie sie wohl
wußte, jeden Tag sprechen konnten. Dem stimmte das Fräulein zu und
sagte, es sei doch gut, daß solche schlechte Pläne durch die eigene
Nachlässigkeit und Gedankenlosigkeit der Böswilligen immer wieder ans
Licht kämen. Aber wie nun am Ende der Rittmeister sagte, er wolle alles
dem Freiherrn mitteilen, damit der die Person gehörig strafe, da bat
sie ihn inständig, doch die Sache zu verschweigen; denn bestrafen könne
man die Jungfer doch nicht mehr, da sie seit heute früh heimlich aus
dem Dienst nach Breslau entwichen sei, wohin ein Liebhaber von ihr
verzogen sei; und wenn der alte Herr die Geschichte erfahre, so werde
er nur nutzlos aufgeregt und mache alsdann ihr die größten Vorwürfe
wegen ihrer Unvorsichtigkeit, daß sie den Brief beantwortet habe; und
sie sei ja auch wirklich sehr unvorsichtig gewesen, einen solchen
Brief zu schreiben, der nun in der Hand einer solchen Person sei; denn
wenn ein Fremder ihn lese und die Locke sehe, so werde ihr das sehr
peinlich sein; denn er, der Rittmeister, wisse ja gar nicht, was sie
in dem Brief geschrieben habe. Bei diesen letzten Worten sah sie den
Rittmeister mit einem solchen Blick an, daß dieser plötzlich verspürte,
das Fräulein liebe ihn; da nahm er sie in den Arm und wollte sie
küssen, sie aber erwehrte sich seiner mit sanften Bewegungen und sagte,
sie wolle am nächsten Abend wieder zu ihm kommen, wenn er es erlaube,
denn es sei ihr eine große Freude, mit ihm ungestört zu plaudern, da er
sich ihr doch als ein treuer Freund erwiesen habe. Mit diesen Worten
entschlüpfte sie ihm leicht und war aus dem Zimmer, ehe er es sich
versah.

Der Rittmeister dachte lange über das Abenteuer nach, und es kam
ihm der Gedanke, ob nicht das Fräulein, um sich ein Gewerbe bei
ihm zu machen, selbst den gefälschten Brief geschrieben habe, den
sie angeblich von der Jungfer empfangen. Schnell aber verwarf er
diesen Gedanken wieder als unwürdig und sagte sich, ein windiger und
geckenhafter Franzose möge wohl solche Vorstellungen von den Frauen
haben, aber ein Deutscher müsse anders denken.


2.

Am nächsten Abend kam das Fräulein wieder durch die bekannte Tür, aber
sie war in einer wunderlichen Verfassung, denn ihr Gesicht war von
Weinen ganz verstört, ihre Backen blaß, und die Augen geschwollen, und
rot umrandet. Sie sagte, sie wisse, daß sie sehr häßlich aussehe, aber
sie müsse trotzdem zu ihm kommen, weil sie ihm Wichtiges anzuvertrauen
habe und um seinen Rat bitten wolle. Sie könne den Kandidaten nicht
heiraten, denn es sei ihr klar geworden, daß ihre gemeinte Liebe zu
ihm nur eine Phantasie gewesen sei, die sie aus den Büchern geschöpft;
denn indem in diesen die Zeichen der Liebe ganz genau beschrieben
seien und sie einen übermäßigen Fürwitz gehabt habe, sei ihr in den
Sinn gekommen, ihre Gemütsstimmung mit der Stimmung der Personen zu
vergleichen, welche in den Büchern beschrieben waren; und zwar habe sie
zuerst keinerlei Ähnlichkeit bemerkt, nach einer Zeit aber sei es ihr
gewesen, als empfinde sie in einigen Stücken so, wie sie gelesen, und
da sie zuletzt einen englischen Roman gelesen habe, in welchem erzählt
wurde, wie ein vornehmes weißes Mädchen in den Kolonien sich in einen
edelgesinnten Neger verliebte, und der sich in sie, und wie die beiden
Liebenden sich immer treu geblieben seien, bis dem Neger aus Sehnsucht
das Herz brach und die weiße Dame aus Kummer darüber ins Kloster ging;
so sei es ihr vorgekommen, als sei sie ganz genau so wie jene Dame und
der Kandidat wie der Neger, und der Kandidat habe ihr gesagt, auch
ihm sei so. Nun aber sehe sie wohl ein, wo es in einigen Wochen zum
Ernst kommen solle und sie seine Frau werden müsse, daß sie lieber ins
Wasser gehen wolle, wie einen solchen Kandidaten heiraten. Und sie habe
das auch ihrem Bräutigam gesagt, und der sei nun ganz ratlos geworden,
daß die Stimme des Herzens in ihr schweige, und wisse nicht, was er
beginnen solle; und sie glaubte, daß auch er jetzt Angst bekommen habe,
wenn auch nicht so große wie sie.

Der Rittmeister lächelte sehr bei dieser Erzählung, und das Fräulein
erschien ihm recht kindisch. Aber wie sie so verschüchtert in der
Ecke des großen Lehnstuhls saß und sich mit den Handrücken die Augen
wischte, da überkam ihn plötzlich eine Zärtlichkeit wie zu einem
lieben, kleinen Vögelchen, und sein Herz rührte sich, daß sie ihm leid
tat. Indessen durchkreuzten sich in diesem Augenblick in ihm eine
Menge verschiedener anderer Gedanken, und er bedachte bei sich, daß er
dieses reizende und quecksilberige kleine Wesen auf den Arm nehmen
möchte und in sein Haus tragen, damit es als ein lustiger Kobold in dem
herumwirbele. Aber er sah auch zugleich ein, daß er eine ganz bestimmte
Art ihr gegenüber zeigen mußte, damit sie zugleich eine angemessene
Frau wurde und ihm mit Würde gehorsam blieb. Deshalb gab er nicht
seinem ersten Antrieb nach, sondern machte ein ernstes Gesicht und ging
scheinbar nachdenklich im Zimmer auf und ab, indessen die Kleine ihn
mit ängstlich gespanntem Gesichtsausdruck mit den Augen verfolgte.

Zuletzt erzählte er ihr mit kurzen Worten: Er habe sie nicht in Angst
versetzen wollen, deshalb habe er über einen Vorfall geschwiegen,
den er ihr nunmehr, da sie ihre Gesinnungen und Wünsche so gänzlich
geändert habe, doch mitteilen müsse. Er habe nämlich im Traum wirklich
eine Erscheinung des Ahnherrn gehabt; dieser sei sehr zornig über ihrer
beider Eulenspiegelei gewesen. Näheres könne er ihr nicht sagen. Das
Fräulein schien zuerst nur halb gläubig; als sie aber des Rittmeisters
ernstes Gesicht sah, wurde sie ganz bestürzt und ängstlich, und begann
von neuem zu weinen, denn es überkam sie nun auch eine Furcht vor dem
Gespenst, die sie vorher noch nie gehabt hatte. Der Rittmeister fuhr
fort, daß es auch sehr schwierig sein werde, die Verlobung bei ihren
Eltern rückgängig zu machen, denn es sei doch unmöglich, denen zu
gestehen, daß die Erscheinung nur von ihnen erlogen gewesen sei. Das
Fräulein antwortete schüchtern, sie habe sich gar nichts mehr überlegt,
sondern habe nur immer fest auf ihn und seine Hilfe gebaut. Er tröstete
sie, daß er einen Plan überlegen wolle. Dann ging sie in ihr Kämmerchen
zurück, er mußte sie aber begleiten, da sie sich fürchtete.

Am andern Tag bat der Rittmeister seinen General um einige Wochen
Urlaub, indem er ihm den Grund erzählte. Dann sorgte er für Wagen und
Pferde und beschaffte alles andre, das nötig war, um eine Entführung
ins Werk zu setzen; und wie nun der Vorabend des Hochzeitstages
gekommen war, verließ er gegen Mitternacht heimlich mit dem Fräulein
das Schloß, fuhr einige Meilen weit in ein kleines Städtchen, ließ
sich hier von einem Pfarrer seines Regimentes trauen und zog mit seiner
jungen Frau in eine vorbereitete Mietwohnung.

Die Eltern waren am andern Morgen früh aufgestanden, der alte
Freiherr mit ärgerlichem Schelten und seine Gemahlin mit frommer
Gottergebenheit. Der Bräutigam kam in einem neuen priesterlichen Kleide
aus feinem schwarzen Tuch, in einiger Unruhe und Sorge. Wie die Braut
immer nicht erscheinen wollte und auch auf Klopfen und Rufen nicht
antwortete, öffnete man ihr Zimmer mit einem Nachschlüssel; da zeigte
sich, daß das Bett unberührt war und ihre besten Kleider fehlten. Wie
dem Bräutigam klar wurde, daß die Braut entflohen war, kniete er mitten
im Zimmer hin, faltete die Hände und sendete ein Dankgebet zu Gott, daß
er die Hochzeit vereitelt; der alte Freiherr aber geriet in einen so
maßlosen Ärger auf den Kandidaten, daß er schrecklich fluchend seinen
Degen zog und auf den betenden Kandidaten loshumpelte. Dieser schrie
laut vor Schreck, sprang auf und verbarg sich hinter der Baronin, die
eben erst ihre Krinoline umgeworfen hatte, um den Sitz zu probieren,
und noch kein Kleid übergezogen hatte, sodaß man das geängstigte
Gesicht des knieenden und sich mit beiden Händen an der Krinoline
festhaltenden Theologen durch das stählerne Gitterwerk sehen konnte.
Der Baron humpelte in seiner blinden Wut mit dem Degen auch auf die
Krinoline los, um hindurchzuspießen; da erschrak auch die Baronin,
stieß durchdringende Schreie aus und lief davon, der Kandidat sich
immer festhaltend hinter ihr her. Dann zeigte sich, welchen Haß der
alte Freiherr immer auf den Kandidaten gehabt hatte; denn wie sich auch
das Entweichen des Rittmeisters herausstellte, sagte er ernsthaft: es
sei ihm lieber, seine Tochter als Geliebte eines braven Offiziers und
echten Edelmanns zu wissen, wie als Frau eines Pastors. Am Abend ließ
er ein Paket Lichter in das Fremdenzimmer bringen, lud selbst seine
Pistolen, nahm seinen Degen, und erwartete, in dem alten Lehnstuhl
sitzend, das Gespenst. Denn er wollte dem auseinandersetzen, daß er
für seine Person alles getan habe, was er konnte, um es zu befriedigen,
und wollte ihm auch erklären, daß es nicht kavaliermäßig handeln würde,
wenn es nun doch seine Drohung erfüllte. Aber da das Gespenst nicht
kam, so schlief er endlich auf seinem Stuhle ein, denn er hatte sich
auch einige Flaschen Rotwein mitgenommen.

Am andern Tage kam ein Brief des Rittmeisters an, in welchem die
vollzogene Eheschließung mitgeteilt war. Die junge Frau hatte noch
einen rührenden Nachsatz geschrieben, durch den sie um Verzeihung bat,
daß sie ihrer Liebe gefolgt sei; aber sie habe ihren Eltern nichts
sagen dürfen, damit die nichts wußten und dem Gespenst gegenüber
unschuldig waren. Der alte Freiherr antwortete, ihm sei die Ehe ganz
recht, insofern er nun von dem theologischen Schwiegersohn befreit
sei; und wenn auch der Rittmeister außer seinem Degen nichts habe, so
sei seine Tochter einzige Erbin und besitze genug, um eine Familie zu
unterhalten, besonders, wenn er sich der Wirtschaft annehmen wolle und
die Betrügereien der Leute abstellen, welches ihm wegen seiner Gicht
und sonstigen Gebrechlichkeit unmöglich sei.

Hierauf fuhr das junge Paar zu den Eltern zurück; der Freiherr und
seine Gemahlin erwarteten sie am Tore, umarmten und küßten sie, der
Rittmeister mußte gleich vom ersten Abend an die Wirtschaftsbücher
durcharbeiten, und es war alles gut.

Da nun in dieser Zeit die Friedensunterhandlungen begannen, so hielt es
der Rittmeister für erlaubt, um seinen Abschied einzukommen, der ihm
auch in Gnaden bewilligt wurde. Er wandte sich nunmehr ganz auf die
Bewirtschaftung des Gutes und lebte mit seinen braven Schwiegereltern
und seiner jungen Frau recht fröhlich und zufrieden, indem er wohl
wußte, daß er vor dem abenteuerlichen Sinn seiner Frau doch immer auf
der Hut sein müsse.

Nun kam noch mancherlei wechselnde Einquartierung und sonstiger Besuch,
infolge des Friedens, der Rückmärsche und Verabschiedungen. So erschien
eines Abends spät ein verabschiedeter preußischer Offizier und bat um
Obdach. Er war ein geborener Franzose, stellte sich als Marquis vor
und machte auf den Rittmeister einen sehr abenteuerlichen und stark
abgerissenen Eindruck. Durch seine Lustigkeit und gewandtes Benehmen
wußte er sich bei den alten Leuten und der jungen Frau so beliebt zu
machen, daß er sich gänzlich einnisten konnte und auch nach Wochen
nicht an eine Weiterreise dachte. Dem Rittmeister fiel wohl auf,
daß seine junge Frau ihm immer mit den Augen folgte und mit großem
Eifer seine Geschichten aufnahm, auch wenn sie offenkundige Lügen
und Aufschneidereien waren. So beschloß er, dem Unwesen ein Ende zu
machen, ehe es zu spät wurde. Er gab vor, daß er auf einen Tag nach
Breslau reiten wolle und verbarg sich heimlich im Hause. Wie es gegen
Mitternacht war, holte er die Kette und das Laken hervor, die seine
Frau damals in seinem Zimmer gelassen hatte, wie sie zum ersten Male
als Geist bei ihm war, kleidete sich an wie sie damals gekleidet war,
und ging kettenrasselnd durch den Gang zu ihrem Schlafzimmer, öffnete
es, trat vor ihr Bett, die sich grausend aufgerichtet hatte und ihn
mit großen Augen sprachlos vor Angst anstarrte, und drohte ihr stumm
mit dem Finger. Dann wandte er sich und verließ das Zimmer wieder,
indem er klirrend den Gang langsam zurückschlürfte.

Sobald er angeblich von der Reise zurückkam, zog ihn seine Frau zur
Seite und klagte ihm, daß der Fremde so sehr lange bei ihnen bleibe
und daß ihr seine Gegenwart wegen seines vielen Redens sehr unangenehm
sei. Er antwortete ihr, daß er das wohl gemerkt habe, wie lästig ihr
der Mensch werde; und da sie es wünsche, so wolle er ihm einen Wink
geben. So sprach er denn mit ihm, sagte ihm, daß er ihm die Sehnsucht
nach seinem Vaterlande wohl angemerkt habe, und wenn er sein Anerbieten
nicht unfreundlich auffassen wolle, so wolle er ihm als Freund und
alter Kriegskamerad, der wohl wisse, wie man in zeitweilige Not kommen
könne, das Geld leihen, das er zur Rückreise brauche. Damit drückte
er dem überraschten Franzosen ein Päckchen mit einigen Dukaten in die
Hand und ließ ihn; und der Franzose reiste denn auch wirklich sofort
ab, mit vielem Dank und Einladungen auf sein heimatliches Schloß in der
Gascogne.

Nach diesem Erlebnis war es lange Zeit ruhig bei den beiden; und es
kamen Kinder, die Eltern starben, die Kinder wurden größer; und das
Leben floß unaufhaltsam hin.

Als der älteste Sohn zehn Jahre alt war, wurde ein fröhliches Fest
gefeiert, zu dem auch alle Gutsnachbarn eingeladen waren. Der Tag war
recht mühsam für die Mutter; aber sie fühlte sich glücklich und froh;
und als ein ganz alter Herr von den Gästen ihr sagte, sie gleiche jetzt
ganz ihrer seligen Mutter, als die noch jünger gewesen sei; und als sie
im Spiegel gesehen hatte, daß sie in Wahrheit nicht mehr so schlank
und biegsam war wie früher, sondern eine breite Taille hatte, da wurde
sie in glücklicher Weise nachdenklich. Am späten Abend fuhren alle
Gäste fort; die Kinder lagen längst in ihren Betten und schliefen; in
der Küche klapperten und schwatzten noch die Mägde. Da stand sie mit
ihrem Mann am Fenster und sah in die Mondnacht hinaus, und erzählte
ihm, wie einst ihre Liebe zu ihm einmal wankend geworden sei durch den
lustigen Franzosen, und wie sie damals eine Erscheinung des Ahnherrn
gehabt, sie wisse nicht, ob im Traum oder im Wachen; er habe aber genau
so ausgesehen, wie sie selbst vorher ihn gespielt hatte mit einem Mut,
den sie heute nicht verstehen könne; der habe sie gewarnt; da sei
ein Schrecken über sie gekommen und sie habe eingesehen, daß sie auf
unrechten Wegen gehe und habe ihn gleich den andern Tag gebeten, den
Franzosen zu entlassen. Da nickte ihr Mann und sagte, durch dieses
Geständnis sei sie ihm doppelt lieb geworden; und wir Menschen können
nicht alle Geheimnisse enträtseln und sollen uns in Ehrfurcht beugen
vor dem Unbegreiflichen.



Das hölzerne Becherlein


Von einem alten König in Asien wird erzählt, daß er ein sehr
barmherziger und mildtätiger Herr gewesen ist.

Die Geschichtsschreiber berichten, daß er einst auf der Jagd ein
unmündiges Kind weiblichen Geschlechtes fand. Dieses hatte gar schöne
Augen und war auch sonst so wohlgestalt, daß man es gewiß lieben mußte,
denn es lachte die Herren, welche es umstanden, auch recht freundlich
an; aber es trug die Merkzeichen einer bösen und ansteckenden
Krankheit, welche man die Miselsucht nannte, und deshalb mochte keiner
der Herren sich des Kindes erbarmen, denn ein jeder fürchtete sich,
daß er die schlimme Krankheit von dem Kind bekommen könne, wenn er es
berührte. Da sprach der König: »Das soll uns niemand nachsagen, daß wir
haben ein unmündiges Kind umsonst seine Ärmchen nach uns ausstrecken
lassen«, nahm es vor sich auf sein Pferd und ritt mit ihm heimwärts.
Und wie wir häufig sehen, daß einem Menschen, welcher Gutes tut mit
Tapferkeit und Freude, nichts Böses geschieht, so blieb er unversehrt
von der Ansteckung und schlechten Krankheit.

Indem er nun seine Guttat zu Ende bringen wollte, fragte er seine Ärzte
nach einem Mittel, um des Mägdleins Krankheit zu heilen. Da sagten
die, es müsse ein anderes Kind, welches gesund ist und gutgeartet,
ein Schüsselchen voll seines eigenen Blutes hergeben, damit man das
kranke wasche, und hiervon werden seine Geschwüre trocken und sein
Leib wird wieder so blank wie eine Silberstange. Wie das die vornehmen
Herren am Hofe hörten, hatten sie Angst, daß der König einen von ihnen
bitten möchte, er solle von seiner Kinder Blut hergeben, gingen zum
König und sprachen: »Was willst du, daß diesem armseligen Findling so
kostbares Opfer gebracht werde, denn vielleicht ist es von niedrigen
und üblen Eltern und hat schlechte Sitten, wenn es erwachsen ist,
unsere Kinder aber sind edler Abstammung und werden deshalb einst gut
und edel werden, und deshalb bringe sie nicht in eine Gefahr um so
geringen Nutzen.« Und die armen Leute im Lande, wie sie hörten, daß
die vornehmen Herren so geredet hatten für ihre Kinder, kamen auch zum
König, baten und sprachen: »Unsere Kinder sind uns ebenso lieb, wie den
vornehmen Herren ihre Söhnchen und Töchterchen, und manchem vielleicht
noch lieber, denn viele von uns haben keine andere Freude im Leben,
als daß sie sich an den roten Bäcklein ihrer Kleinen ergötzen und sich
Hoffnungen machen, daß sie in Zukunft brave und gute Menschen werden.
Deshalb bitten wir dich, du wollest dich auch unser erbarmen und sie
nicht in Gefahr versetzen um den schlechten Findling.«

Es hatte aber der König selber ein einziges Kind, einen gar schönen,
klugen und guten Knaben. Dieser sprach: »Vater, ich bitte dich, daß
du von mir das Blut nehmest, mit welchem das fremde Mädchen geheilt
werden soll. Denn da ich als dein Erbe und der spätere König dieses
Landes an solcher Stelle bin, daß alle mich betrachten und meine
Handlungen kennen, so sehe ich wohl, daß ich Schwereres tun muß wie
alle andern. Und vielleicht überstehe ich die Entziehung des Blutes;
wenn aber nicht, so will ich mich trösten, indem ich bedenke, daß doch
alle Menschen sterben müssen, und daß es keinen bessern Tod geben kann,
als einen solchen, für welchen ich von allen guten Leuten muß gelobt
werden.«

Als der König diese Worte gehört hatte, wurde er zwar traurig in seinem
Herzen, denn er fürchtete sehr für den Knaben; aber sagte ihm nichts,
sondern lobte ihn um seinen frohen Mut und befahl den Ärzten, daß sie
nach ihrer Kunst verfahren sollten, dem Knaben Blut nehmen und das
Mädchen damit heilen.

Die Meister der Arzneikunde taten nun nach ihrer Kunst, und des Königs
Kind lächelte unerschrocken, wie sie ihm eine Ader öffneten und sein
hellrotes Blut in eine Schale laufen ließen. Aber da sie ängstlich
waren, denn sie hatten nicht gedacht, daß ein so kostbares Wesen sich
ihnen darbieten werde, so wurden sie ungeschickt bei ihrer Hantierung
und verletzten das mutige Knäblein so, daß es sterben mußte. Dieses
fühlte wohl, wie sich ihm der Tod nahte, nahm noch einen herzlichen
Abschied von seinem Vater und verblich dann.

Der Vater jammerte über dem blassen Gesichtchen des toten Kindes, und
alle Herren und Damen am Hofe klagten, und auch alle armen Leute waren
traurig; und alle schämten sich, und war ihnen, als sei durch ihre
Schuld das hoffnungsreiche Kind getötet, und versprachen bei sich alle,
daß sie besser werden wollten von nun an und nicht mehr geizig sein mit
ihrem eigenen Glück, denn wie sie das lächelnde und friedvolle Antlitz
des Gestorbenen sahen, wurde ihnen klar, daß alles Glück beschlossen
ist in einem gütigen und edlen Herzen, aber nicht bestehen kann bei
Habsucht und Gier; und ist es nicht genug, nur gute Taten zu tun, denn
das können auch schlechte Menschen, und werden dadurch doch nicht
glücklich und froh, sondern es ist nötig, einen guten Sinn zu haben;
denn dann wachsen schöne Taten aus dem Herzen, wie Korn, Blumen und
obsttragende Bäume aus der lieben Erde in die helle Luft, in welcher
der Sonnenschein spielt.

Der Findling aber wurde gewaschen mit dem Blute des tapfern
Königskindes, und alsbald vertrockneten seine Geschwüre, und nach einer
Zeit fielen sie ab, und das Mädchen wurde gesund und wacker an seinem
ganzen Körper.

Weil der gute König aber keine weiteren Kinder hatte, auch keine mehr
erwarten konnte, denn er war schon hochbetagt, so wendete er seine
ganze Liebe auf dieses Mägdlein, als wäre es sein eigen Kind geworden.
Bestellte ihm daher gute Pfleger, Vormünder und Lehrer und ließ es
erziehen mit aller Sorgfalt und Treue. Und so wuchs der Findling heran
und kam zu seinen Jahren, als eine wunderschöne und kluge Jungfrau.
Oftmals weinte der König im stillen, wenn er ihr wunderliebliches
Gesicht ansah, denn er dachte an sein eigen Fleisch und Blut, daß
sein Söhnchen jetzt ein frischer und stolzer Jüngling wäre, wenn er
ihn nicht hingegeben hätte; aber dann hatte er seinen Trost, wenn er
bedachte, daß wir Menschen nicht wissen, wohin unsere Wege gehen, und
daß uns deshalb nichts bleibt, als das Rechte zu tun unbekümmert und in
Fröhlichkeit.

Durch solche Gedanken gewann er das gefundene Mädchen immer mehr lieb;
deshalb suchte er unter den vornehmsten Edelleuten seines Reiches den
schönsten und tapfersten und gab ihr den zum Mann; und wie sie ihre
Hochzeit feierte, welches mit großer Pracht und Herrlichkeit geschah,
sagte er ihr und ihrem Manne, wenn er einst sterbe, so wolle er ihnen
sein Reich verlassen als seinen Erben, denn er sehe sie an wie seine
leibliche Tochter.

Nun hatte aber die junge Frau ganz die Geschichte ihrer ersten Kindheit
vergessen und nicht anders gemeint zu allen Zeiten, als daß sie die
leibliche Tochter des alten Königs sei. Denn sie war noch zu klein
gewesen in der Zeit, wie sie gefunden wurde im Wald und nachher, wie
sie mit dem Blut des Königsknaben gewaschen wurde; und später hatte
ihr niemand etwas von diesen Geschichten gesagt, denn der König hatte
verboten, daß an seinem Hofe davon gesprochen wurde, aus großem Kummer
über seinen Sohn, denn er dachte, es lobte ihn vielleicht einmal einer
vor seinen Ohren, der den Knaben nicht wahrhaft lieb gehabt hätte.
Deshalb wurde die junge Frau erstaunt über die Rede des Königs und
fragte heimlich ihren Mann, was das bedeute, und der erzählte ihr
alles, nach der Reihe, und welche Guttaten ihr der König erwiesen, auch
wie er seinen einzigen Sohn für sie gegeben. Hierüber schwieg sie und
verriet nicht ihres Herzens Meinung.

Nun geschah es, daß zu ihrer Zeit die Frau eines schönen und gesunden
Knäbleins genas, über welches sich alles freute, besonders aber der
alte König; und wie das Kind aus den Windeln gewachsen war und laufen
konnte und etwas sprechen, war es immer viel bei dem Großvater. Da sah
es einmal einen schlechten, hölzernen Trinkbecher und begehrte ihn, wie
Kinder oft einen plötzlichen Wunsch haben; der alte König aber nahm den
Becher und verschloß ihn. Hierüber weinte der Knabe, lief zu seiner
Mutter und erzählte ihr die Geschichte. Die ging zum König und fragte
ihn, da erzählte der, daß dieses hölzerne Becherchen seines toten
Kindes Eigentum gewesen sei, aus dem es immer getrunken habe.

Die Frau erwiderte nichts, sondern schalt ihren Sohn; in ihrem Herzen
aber hatte sie einen Groll gegen den König. Deshalb begann sie ihren
Mann aufzureizen mit allerlei Reden, indem sie ihm vorhielt, daß der
alte Mann kindisch werde und ihr Erbteil schmälere, indem seine Diener
sich neue Rechte anmaßten, und die Feinde an den Grenzen des Landes
bereiteten einen Krieg vor, den er nicht mehr werde bestehen können;
und wie sie viele derartige Reden häufte, bewegte sie endlich ihren
Mann zu dem Glauben, es sei wahr, was sie ihm erzählte, und er müsse
sich nach Freunden umtun, ihm zu helfen, daß der alte König ermordet
werde, damit er und seine Frau früher die Herrschaft ergreifen könnten.
So tat er auch und stiftete eine große Verschwörung an; seine Sache kam
aber heraus, und er selbst nebst seiner Frau und seinen Freunden wurden
gefangen gesetzt.

Nun wurden die Verräter von den gewöhnlichen Gerichten zum Tode
verurteilt. Wie der König aber dachte, daß auch seine Pflegetochter
hingerichtet werden sollte, dachte er an alles, was er für sie getan,
und an das Blut seines Sohnes, und hatte ein großes Erbarmen. Deshalb
entzog er sie den ordentlichen Gerichten und rief die Weisesten seines
Landes zusammen, ihm zu raten, was er mit ihr beginnen sollte; denn
wenn es möglich wäre, dachte er, daß sie Reue empfinden sollte, dann
wollte er sie vom Tode erretten.

Die Weisen sahen wohl den Wunsch des Königs, und weil sie ihn liebten,
so wollten sie den gern erfüllen; aber sie fürchteten sich, daß sie ein
so großes Verbrechen und so unmenschlichen Undank sollten unbestraft
lassen. Da kamen sie nach langem Besinnen auf einen ganz neuen und nie
gehörten Beschluß. Sie trugen der Frau auf als Strafe für ihr Vergehen,
daß sie solle vor den König gebracht werden und dem in die Augen sehen;
und wenn sie ihm in die Augen gesehen hätte, so solle sie von aller
weiteren Strafe der Buße frei sein.

So wurde sie nun vor den König geführt, und stand vor ihm, und hatte
die Augen auf den Boden gerichtet. Der König aber saß auf seinem
Thron, tröstete und ermahnte sie. Er sagte, daß ihr Vergehen aus ihrem
Blut komme, denn sie sei niederer Abkunft und deshalb mißtrauisch,
und es sei ein großes Unglück, wenn jemand einen Sinn im Blut habe,
der nicht zu seinem Stande passe, wie ja auch umgekehrt ein Mensch
im niederen Stande leide, der ein hochherziges Gemüt hat. Aber uns
sei gegeben, solche Neigungen zu überwinden durch unsern Willen, und
deshalb müssen wir nur unser Vergehen einsehen und uns vornehmen, unser
Herz zu ändern. Und das werde sie gewißlich tun, denn er bitte sie
herzlich darum, weil er sie erkauft habe mit dem Blut seines geliebten
Kindes.

Als der König diese Rede beendet hatte, erhob die Frau ihr Haupt und
sah ihm in die Augen; und da schrie sie plötzlich laut auf, und dann
fiel sie zur Erde, denn eine heftige Scham hatte sie plötzlich getötet.



Die Venus


Zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten lebte in Paris ein junger Bildhauer
namens André, der von seinen Freunden wegen seiner Kunst wie um sein
fröhliches Wesen sehr geschätzt war. Dieser ging an einem Morgen in der
Frühe zu einer Arbeit, die ihm in einem vornehmen Hause aufgetragen
war, und indem er einen anderen Weg nahm wie den gewöhnlichen, sah
er in einer engen und armen Straße, etwa zwanzig Schritte vor sich,
ein junges Mädchen aus einem bescheidenen Hause treten, sich flüchtig
umblicken und dann mit schnellen und zierlichen Schritten vor ihm
hergehen. Zwar hatte er ihr Gesicht nur flüchtig bemerken können, aber
sie machte doch einen sehr tiefen Eindruck auf ihn, sodaß sein Herz
plötzlich schneller schlug, durch ihre gerade und schöne Haltung und
ihre ebenmäßige und schlanke Figur, und besonders durch die Art, wie
sie die Arme hielt. Wie er sich von seiner ersten Bestürzung erholt
hatte, beschloß er, alles zu versuchen, um ihre Bekanntschaft zu
machen; deshalb beschleunigte er seinen Gang und verringerte schnell
den Zwischenraum von ihm zu ihr; aber da die entlegene Straße in dieser
frühen Stunde noch menschenleer war, so hörte sie sein eiligeres Gehen,
wurde ängstlich und beschleunigte gleichfalls ihre Schritte. Als er das
sah, ging er in eine noch schärfere Gangart über, sie aber begann fast
zu laufen vor ihm her. So kamen sie aus der engen Straße und eilten
quer über das Seineufer zu der Brücke Heinrichs des Vierten; auf deren
Mitte holte der junge Mann das Mädchen ein. Er zog höflich seinen Hut,
indem er sich etwas zu ihr beugte; und sie blickte ihn erst mit einem
erschrockenen Lächeln an, indem sie die Hand auf ihr Herz legte, das
von dem raschen Gang pochte; da vergingen ihm aber plötzlich die Worte,
er wurde rot und stotterte, und sie lachte mit einem silberhellen
Lachen auf, als sie seine Verlegenheit verspürte. Er fragte, ob er sie
begleiten dürfe, und sie erwiderte, sie wolle es ihm gestatten, wenn er
sie nicht belästigen wolle.

So gingen denn die beiden mit nunmehr gemäßigten Schritten weiter. Das
Mädchen erzählte, daß sie Nicolette heiße und bei einem großen Kaufmann
die Geschäftsbücher führe. Sie bat ihn, daß er sie wegen des Geredes
der Leute an der letzten Straßenecke verlassen möge; er dürfte sie
indessen am Abend wieder erwarten, um sie heimwärts zu begleiten.

Am Abend aber versäumte André die bestimmte Zeit, da er sich zu sehr in
seine Arbeit vertieft hatte. Deshalb wartete er am andern Morgen auf
sie an der Brücke Heinrichs des Vierten. Sie sah ihn schon von weitem,
beachtete ihn aber nicht; als er grüßend zu ihr trat, erwiderte sie
seinen Gruß stumm, und während er sie wie den vorigen Tag begleitete
und zu ihr sprach, betrug sie sich zwar nicht ablehnend gegen ihn, aber
antwortete ihm auf keine Frage und sprach auch sonst nicht ein Wort,
bis sie an der bekannten Straßenecke ankamen; dort verabschiedete sie
sich von ihm mit einem stummen Gruß. An diesem zweiten Abend versäumte
André die Stunde nicht, sondern erwartete sie und gesellte sich
grüßend zu ihr; aber auch jetzt wieder blieb sie gänzlich stumm.

In dieser Weise begleitete André das schöne Mädchen jeden Morgen und
Abend die ganze Woche hindurch, bis zum Sonnabend. In der allerersten
Zeit hatte er ihr immer gleichgültige Dinge erzählt, wie man sie jedem
Menschen sagen kann; dann war auch er schweigsam geworden, und an einem
Abend hatten sie beide den Weg zurückgelegt, von Anfang bis zu Ende,
ohne ein einziges Wort zu sprechen. Wie aber durch das gemeinsame
Schweigen eine Vertraulichkeit und Sicherheit in sein Herz gezogen war,
erzählte er ihr von seinen Absichten und Plänen und beschrieb, was er
für Figuren zu arbeiten gedenke.

Am Samstag Abend nun brach sie plötzlich ihr Schweigen und sagte zu
ihm, wenn er möge, so solle er sie und ihre Eltern, bei denen sie
wohne, zum Mittagessen besuchen; und nach dem Essen solle er einen
Spaziergang mit ihr vor das Tor machen. Er dankte ihr vielmals und
versprach ihr, zu kommen, und kam auch zu der bestimmten Stunde mit
einem schönen Blumenstrauß zu der Tür, öffnete die, ging die Treppen
hinauf und klopfte am Eingang der Mansardenwohnung. Nicolette schloß
ihm auf, zog ihn in die Stube und stellte den Blumenstrauß in ein
Glas. Da traten ihre Eltern herein, ehrbare und freundliche alte
Leute, die ihn zutraulich begrüßten; sie sagten ihm, daß ihre Tochter
ihnen von seinem Begleiten erzählt habe. Nicolette band eine große
blaue Schürze mit Brustlatz vor ihr zierliches Kleid und ging mit der
Mutter in die Küche; und André setzte sich mit dem weißhaarigen alten
Mann in die Nische des Mansardenfensters, vor dem allerhand blühende
Blumen in Töpfen standen, sauber gehalten und an weißlackierten
Stäbchen aufgebunden. Der alte Mann plauderte von seiner Jugend, und
wie er Diener bei einem großen Herrn gewesen sei, viele Reisen mit dem
gemacht habe und nun in seinem Alter gern an diesem Fenster sitze und
dem Zug der Wolken zuschaue, die vielleicht aus den fernen Gegenden
hergeschwommen, die er ehedem bereist.

Nicolette richtete indessen hurtig den Tisch zu, indem sie ein
glänzendes Leinentuch aufdeckte mit scharfgebrochenen Falten, und
altererbte Teller aufstellte, die mit bunten Farben bemalt waren, und
Messer und Gabeln zur Seite legte, die geschnitzte Griffe aus Knochen
hatten und von dem Gebrauch durch Menschenalter dünn geworden waren. In
die Mitte stellte sie den Blumenstrauß. Dann trat die stattliche Mutter
herein und trug mit beiden Händen auf einer großen zinnernen Schüssel
einen wohlzubereiteten Schweinebraten, dessen zierlich eingekerbte
Kruste golden schimmerte. Der Vater erhob sich mit einem listigen
Gesicht und holte aus dem Winkel eine Flasche alten Wein, den er da
zurechtgestellt hatte, und wie er sie öffnen wollte, nahm André sie ihm
aus der Hand und zog sie auf. Dann setzten sich alle, und die Mutter
schnitt gleiche Stücke von dem Braten und legte jedem vor auf seinen
Teller, und sie nahmen Messer und Gabel, schnitten und aßen; der Vater
aber erzählte, daß er den Wein vor Jahren geschenkt erhalten habe von
seinem Herrn bei der Hochzeit der jüngsten Tochter, denn bei besondern
Gelegenheiten mußte er immer noch bei der Familie zur Hand sein.

Wie sie zu Ende gegessen hatten, erhoben sich alle, und Nicolette
räumte flink den Tisch ab. Die Eltern machten keine Anstalten für
einen Ausgang, und wie André fragte, ob sie nicht mit ihnen beiden
vor das Tor gehen wollten, da sagten sie, daß ihre Tochter lieber den
Nachmittag mit ihm allein verbringe, und daß sie keinerlei Besorgnis
hätten, sie mit ihm ohne eine Begleitung gehen zu lassen, denn sie sei
immer ein sehr besonnenes und gutes Kind gewesen, das ihnen stets nur
Freude gemacht habe. Bei diesen Worten weinte die Mutter. Nicolette
aber hatte in der Küche ihre Schürze abgelegt und sich eine gefällige
kleine Haube aufgesetzt und kam, um ihn zum Ausgang abzuholen. Sie
gaben den alten Leuten die Hand, und Nicolette nahm eine Blume aus
dem Strauß, um sie in ihr Haar zu stecken, und das tat sie mit einem
flinken Blick auf André und unter Erröten, und dann gingen sie.

Sie begegneten vielen geputzten Menschen, und André erklärte ihr, wie
die Gestalt des Menschen geschädigt wurde durch die Art der Kleidung,
wie unwahr Haltung, Gang und übrige Bewegungen der meisten sind, und
wie das Unwahre auch unschön werde; und dann erzählte er ihr, welchen
besonderen Eindruck ihre ganze Gestalt sofort auf ihn gemacht habe,
und wie er sich gleich ihren Körper in allen seinen Verhältnissen
ohne die Kleider vorgestellt. Sie errötete bei diesen Erzählungen und
wurde sehr verlegen, ohne daß er es verspürte; vielmehr fuhr er in
seiner Erzählung fort, daß er für seine Arbeit notwendig ein lebendes
Modell gebrauche und doch nie das finden könne, was ihm nötig sei, weil
besonders die Frauen ihren Körper verschnüren und verkrüppeln. So liege
ihm die Figur einer Venus im Sinn, und er habe sich in der Phantasie
das Bild auch ganz ausgedacht; aber unter den Mädchen, die Modell
stehen, finde er kein Vorbild; und auch sonst würde ihm die Arbeit
unmöglich sein, denn er wolle sie nicht nur in Ton machen, sondern in
Marmor; aber bei dem jetzt herrschenden Geschmack werde niemand, wenn
er die Tonfigur gesehen habe, das Werk in Marmor bei ihm bestellen; und
er sei zu arm, um für sich selbst einen Marmorblock zu kaufen.

Nach diesen Gesprächen sagte Nicolette zu ihm, daß sie fröhlich
sein müßten und alle schweren Gedanken vergessen, weil Sonntag sei,
wo man sich erhole von der wöchentlichen Arbeit. Und so gingen die
beiden zu einem Bauernhäuschen, dessen Bewohner an die Lustwandelnden
Milch ausschenkten, setzten sich unter die weitschattende Linde vor
dem Hause, unter der glattgehobelte Bänke und Tische in der Erde
eingeschlagen waren, und ein rotwangiges Mädchen brachte ihnen auf
einem weiß gescheuerten Holzbrett in sauberen Krügen kühle Milch.
Sie tranken, und er scherzte viel mit ihr, weil auf den feinen
und unsichtbaren Härchen ihrer Oberlippe zarte Perlen der Milch
zurückgeblieben waren und einen leichten Rand bildeten. Sie nahm ein
Tuch aus der Tasche und lachte leise in sich hinein.

Als die Schatten begannen länger zu werden, brachen sie auf, und
sie legte ihren Arm in seinen, als seien sie seit langem vertraut,
und gingen zurück, und vor ihrer Haustür nahm er Abschied mit einem
freundlichen Händedruck.

Nun erwartete er sie wieder täglich und begleitete sie, wenn sie
morgens zu ihrer Arbeitsstelle ging und abends nach Hause kehrte, und
sie sprachen miteinander wie zwei vertraute Menschen.

Da geschah es an einem Abend, daß sie ihn bat, sie noch eine Weile zu
führen, denn es war eine schöne und frische Luft, und sie sagte, daß
sie ihm etwas mitteilen wolle, aber sie wolle die Dunkelheit abwarten,
und wie die Dunkelheit kam, da sagte sie ihm, daß sie wohl gemerkt
habe, wie sehr ihm seine Arbeit an der Venus am Herzen liege, und sie
wisse jetzt auch, daß er sie an jenem ersten Abend nur seiner Arbeit
wegen versäumt habe; sie habe damals aber geglaubt, daß er irgend einer
leichten Liebschaft wegen nicht gekommen sei; deshalb habe sie damals
die ganze Woche hindurch nicht zu ihm gesprochen, um ihn auf die Probe
zu stellen, aber ehe sie aus dem Hause gegangen sei, habe sie immer im
stillen zu ihrer Heiligen gebetet, daß er sie erwarten möge, und wenn
er damals fortgeblieben wäre, so wäre sie sehr traurig gewesen. Wenn
einem jungen Mann aber seine Arbeit so am Herzen liege, das sei nicht
verwerflich, vielmehr müsse man es auf das höchste loben. Deshalb habe
sie sich auch seinen Plan mit der Venus sehr überlegt, und sie wolle
ihm sagen, daß sie von einem verstorbenen Oheim ein kleines Vermögen
geerbt habe und ihm gern das Geld geben wolle, um den Marmorblock zu
kaufen. Und sie wolle auch zu ihm kommen in seine Werkstätte und ihm
als Modell dienen, wenn er wenigstens ihren Vorschlag so auffassen
wolle, wie er gemeint sei. Aber wenn sie sich auch überwinden könne,
sich vor ihm nackt zu zeigen, so wolle sie doch nicht, daß irgend ein
anderer Mensch die Figur sehe, welche nach ihrem Körper gemacht sei,
denn dann müsse sie sich allzusehr schämen. Deshalb müsse er ihr fest
versprechen, daß kein Mensch je die Figur sehen dürfe. Sie schloß aber
ihre Rede, indem sie sagte, die Dunkelheit habe sie abgewartet, weil
sie ihm das alles nicht habe im Hellen sagen können, aus Scham.

Nun wurde André sehr froh, denn er wußte schon einen schönen
Marmorblock, der für sein Bildwerk paßte. Er machte eine gute Ordnung
in seiner Werkstätte, kehrte Staub und Schmutz fort, richtete einen
Vorhang ein, hinter dem sich Nicolette entkleiden sollte, und erwartete
mit Ungeduld die Stunde, wo er seine Arbeit beginnen konnte. Und wie
Nicolette kam, mit sehr großer Scham in ihrem Gesicht und in allen
ihren Bewegungen, da gab er ihr nur flüchtig die Hand, führte sie
gleich hinter den Vorhang, und indessen sie sich entkleidete, rückte
er nochmals an dem Fußgestell, das er für sie bereitet hatte und
versuchte die Feuchtigkeit des Tons und den Halt des Drahtgerüstes,
wie er aber eine Weile vergeblich gewartet hatte, daß Nicolette hinter
dem Vorhang hervorkommen sollte, hörte er ein leises Weinen; da ging
er hin, wo sie saß, und fand sie entkleidet, nahm sie bei der Hand,
denn er war ganz hingenommen von dem Gedanken an seine Arbeit, und
sie folgte ihm geduldig, wie er sie zog und an ihren Ort stellte und
ihr angab durch Worte, Bewegungen und Richten, wie sie stehen müsse.
Dann eilte er zu seinem Drahtgerüst und Ton und begann mit großem
Eifer zu arbeiten, indem er sie mit scharfen Augen anblickte und ihr
gelegentlich ein kurzes Wort zurief, wenn sie müde schien oder ratlos
aussah. Und dann lachte er mit einem kurzem Lachen und sagte sich
selbst, daß seine Arbeit gut werde, ging einige Schritte zurück, prüfte
Nicolette und die Figur mit andern Blicken, wie er sonst sie ansah, und
begann aus Freude an der Arbeit ein Lied zu singen, indem er Nicolette
ganz vergaß. Nachdem er aber stundenlang gearbeitet hatte, sagte
Nicolette mit leiser Stimme, daß sie ermüdet sei und nicht mehr ihre
Haltung beibehalten könne; da erwiderte er, daß er heute seine Arbeit
beschließen wolle; sie stieg herab und ging hinter den Vorhang, und er
arbeitete immer weiter an seinem Ton; und als er nach einer ganz langen
Zeit sich ihrer erinnerte, da hatte sie sich längst angezogen gehabt
und war leise fortgegangen.

So arbeitete er nun mit großem Fleiß an einem Tonmodell, dann machte
er die Übertragung auf den Marmor und begann an seinem Marmorblock zu
schlagen; und zuletzt wurde er fertig mit seiner Arbeit und freute sich
über sie; da war Nicolette das letztemal in seiner Werkstatt und freute
sich seiner Freude und bat ihn denn nochmals mit bekümmertem Herzen,
daß er die Figur niemandem zeigen wolle; das versprach er ihr und gab
ihr die Hand, sie aber nahm mit beiden Händen seinen Kopf, küßte ihn
auf die Lippen und entfloh mit schnellen Schritten aus der Werkstatt,
indessen er verwundert zurückblieb.

Nun war am Hofe des Königs ein vornehmer Herr, der viel Liebe zur
Kunst hatte und Bildhauer und Maler oft besuchte, ihre fertigen Werke
betrachtete und den König dann von dem Gelungenen erzählte, damit
er es für sich ankaufe. Dieser Herr kam auch zu André, und weil er
unerwartet kam und eintrat ohne anzuklopfen, so hatte André keine
Zeit gehabt, seine Venus zu verbergen, sondern das Werk stand gerade
in der Mitte seiner Arbeitsstube und zeigte sich dem Eintretenden
mit der allerbesten Verteilung von Licht und Schatten. Der geriet in
eine lebhafte Begeisterung über die Arbeit und trotz aller verlegenen
Ausreden Andrés versprach er, dem König einen Bericht zu geben; und
weil er in diesem Bericht sehr große Lobeserhebungen machte, so befahl
ihm der König, das Werk dem Bildhauer für eine große Summe abzukaufen
und es dann in einem seiner Gärten aufzustellen, damit sich viele an
ihm erfreuen könnten.

Gegen diesen Befehl des Königs konnte André sich nicht sträuben; er
mußte seine Venus abgeben, und aus großer Liebe zu ihr besorgte er
alles selbst bis zu der Aufstellung im Garten. Aber als das nun alles
beendet war, da geriet er in große Bedenken wegen seines Versprechens;
und er wußte sich keinen Ausweg aus Schüchternheit, sondern wartete,
bis Nicolette das Geschehene von selbst erfahren werde.

Das geschah aber auf eine sehr schlimme Art.

Denn es hatte sich das Gerücht verbreitet von der schönen Figur, die
im Garten des Königs aufgestellt war, und da der Garten des Sonntags
allen Einwohnern von Paris geöffnet wurde, so versammelte sich am
ersten Sonntag eine sehr große Menschenmenge vor der Venus. Unter
dieser befand sich auch Nicolette, denn durch ihre Freundschaft für
André hatte sie Liebe zur Bildhauerkunst gefaßt, und indem sie nicht
wußte, daß das neue Werk Andrés sei, war sie mit andern hingegangen, es
anzusehen. Wie sie es erblickte, stieß sie einen lauten Schrei aus und
fiel ohnmächtig hin, und ihre Freundinnen dachten, daß ihr durch die
Menge der Menschen übel geworden sei und brachten sie nach Hause. Hier
aber weinte sie und erwies sich als ganz untröstlich. Wie sie allein
war, schrieb sie einen Brief an André, durch welchen sie ihm anbefahl,
daß er sie besuchen solle; und indem André sich wohl dachte, welches
der Grund ihres Briefes war, beschloß er, sich unbefangen zu stellen,
nahm das viele Geld, das er vom König bekommen hatte und ging zu ihr,
in der Meinung, daß er ihr sagen wolle, da ihr der Marmor gehöre und
der Körper der Figur, so solle sie ganz ihr Eigentum sein, und deshalb
bringe er ihr alles Geld, das er bekommen habe, weil es ja ihr gehöre.
Sie aber ließ ihn gar nicht seine ausgedachte Rede vorbringen, sondern
redete sogleich zu ihm, daß er sein Versprechen nicht gehalten habe,
und daß sie sich sehr schäme; und noch mehr: er habe nicht gespürt,
weshalb sie sich ihm als Modell gegeben, nämlich weil sie ihn über alle
Maßen geliebt; und wohl habe sie während der Arbeit gesehen, daß er
von ihren Gefühlen nichts wisse, aber sie habe sich gedacht, daß die
Mädchen wohl zärtlicher sind wie die Männer; und wenn sie auch eine
Weile eine Eifersucht gehabt habe auf die Figur, so habe sie sich doch
nachher bezwungen und sie sogar geliebt, weil sie gemeint, er liebe
sie. Nun sie aber gesehen, daß er das Werk fortgegeben und es sogar
habe in der Öffentlichkeit ausstellen lassen, sodaß jeder es mit den
Augen haben könne, da sei ihr klar geworden, daß er im Innern seiner
Seele ein gemeiner und schamloser Mensch sei, wenngleich er äußerlich
sogar schüchtern erscheine. Nun sei ihr jedoch das Leben in der Welt
überhaupt eine Last geworden, denn alle Menschen seien anders, wie sie
früher gemeint habe, und deshalb wolle sie in ein Kloster gehen, und
heute sage sie ihm das letzte Lebewohl.

André ging mit bestürztem Gemüt von ihr fort und erwog alle ihre
Worte wochenlang; und durch dieses Denken und Überlegen kam eine
immer größere Liebe zu Nicolette in sein Herz, daß er vor übergroßer
Sehnsucht schwachen Herzens wurde, träumte und nachsann mit Kummer.
Der König schickte zu ihm, sprach freundlich mit ihm und gab ihm eine
schöne Stellung, sodaß er keinerlei Sorgen mehr hatte um sein Auskommen
und hätte arbeiten können, wie er wollte; aber er saß nur traurig in
seiner Werkstatt, und es war ihm, als seien alle Pläne und Gedanken
davon geflogen in die Luft.

So fand ihn nach Monaten jener vornehme Herr, der die Figur als Erster
gesehen hatte, wie er gleichgültig vor einem Werk saß, das er früher
gemacht hatte und mit Anstrengung und Willen etwas verändern wollte. Er
sah ihm ins Gesicht und sprach zu ihm, er habe gewiß eine Liebe, die
nicht erwidert werde; aber er müsse nicht verzagen, denn wenn jemand
ernstlich liebe, so erwecke er auch bei dem andern eine Zuneigung, wenn
dessen Herz nicht etwa vorher vergeben sei, nur müsse er heiter sein
und suchen, daß er glücklich aussehe. Über diese Worte weinte André
plötzlich, sodaß der Herr in Verlegenheit fortging.

In der Nacht aber nahm André einen Becher, aus dem Nicolette einmal
getrunken hatte, als sie noch bei ihm war, mischte ein Gift und tötete
sich selbst.



Ein Eid


In den letzten Zeiten des Merowingerstaates in Frankreich lebte ein
Graf Austregisil. Er hatte zwei Söhne, Landegisil und Fortunatus, mit
denen er allein in seinem alten Hause wohnte. Seine Gattin war schon
seit Jahren gestorben. Er selbst war ursprünglich gemeiner Soldat in
der Leibwache des Königs gewesen und hatte sich durch Tüchtigkeit und
Schmeichelei seine hohe Stellung errungen. Jetzt war er ein kräftiger
Mann in der Mitte der Vierziger mit einer blutroten Narbe von einem
Axthieb über die Stirn und mit schwarzem, dichtem und kurzgeschorenem
Haupthaar und Bart. Der älteste Sohn, welcher seine Stelle erben
sollte, wenn er dem König gefiel, schien sein verjüngtes Ebenbild;
der jüngere, den er hatte zum Priester weihen lassen, war ein blasser
Mensch mit unheimlichen, verzehrten Augen.

Ein reicher Grundherr in der Nachbarschaft starb und ließ eine einzige
Tochter zurück namens Pelagia. Der Vorsteher von Austregisils
Schreibern brachte eine Klage ein, er habe vor Jahren dem Herrn seine
Güter für eine bestimmte Summe abgekauft, mit der Bedingung, daß er
erst nach seinem Tode den Besitz antreten solle. Der Rechtsfreund
Pelagias erklärte das Dokument für gefälscht; Austregisil legte dem
Schreiber auf, er solle in der Kapelle des Grafenhauses auf die Gebeine
des heiligen Remigius schwören, daß seine Behauptung wahr sei; der
Schreiber leistete den Schwur und trat den Besitz an; nach einigen
Monaten verkaufte er die Güter an Austregisil.

Fortunatus ging im Frühjahr auf das Land, trat in ein Bauernhaus und
fand Pelagia, welche bei dem Bauern wohnte, wie sie kostbare Borten
webte; der Bauer sagte, daß er die Borten in der Stadt teuer verkaufe,
und daß er an Pelagia verdiene. Fortunatus fragte sie nach ihrem Namen;
sie antwortete: »Ich bin Pelagia, die Herrin dieses Gebietes, welches
dein Vater gestohlen hat.« Er sprach: »Du mußt nach deinem Stande
leben, ziehe in das Haus meines Vaters.« Sie antwortete ihm nicht. Er
erzählte alles seinem Vater, und der zwang sie, zu ihm zu ziehen; er
gab ihr ein eigenes Zimmer in seinem Haus und eine Magd zur Bedienung.

In einer Nacht pochte er an ihrer Tür. Sie fragte: »Wer ist draußen?«
Er sprach: »Ich bin Austregisil, öffne mir.« Sie rief um Hilfe,
er versuchte die Tür aus den Haspen zu heben. Auf das Rufen kam
Landegisil, sein ältester Sohn; er sprach zu ihm: »Ich habe noch nicht
gewagt, ein Wort mit ihr zu sprechen; du bist ein alter Mann; du
darfst sie nicht zu meiner Mutter machen, sie soll mein Weib werden.«
Austregisil lachte. »Heiraten will ich die Bettlerin nicht, mein Gut
soll zusammenbleiben bei einem Erben.« Landegisil zog sein Schwert und
schlug ihn über den Kopf, dann erschrak er, warf das Schwert fort,
verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte, indem er rief: »Du
bist mein Vater.« Austregisil wischte sich das Blut aus dem Gesicht,
damit es ihm nicht in die Augen lief und ging. Pelagia öffnete die Tür
eine kleine Spalte, hing die Kette ein und flüsterte: »Hast du ihn
erschlagen?« Er antwortete: »Nein, Gott und die Heiligen haben mich vor
dem Vatermord behütet, er trägt einen starken Blechstreifen in seiner
Mütze eingenäht.« Sie sprach: »Ich will beten, daß ihr euch gegenseitig
mordet, ihr Räuber.« Er antwortete: »Ich bin kein Räuber.« Dann ging er
fort.

Fortunatus saß in der Kapelle auf den Stufen des Altars vor dem
silbernen Sarkophag des heiligen Remigius. Er dachte: »Gott hat mich
geführt; denn wenn ich mein Leben bedenke, so finde ich, daß alles
notwendig war für mich, auch das, was mir als Zufall erschien damals,
als es mir geschah. Wenig Freude habe ich gehabt in meinem Leben, aber
ich durfte auch keine Freude haben, sonst wäre ich nicht der geworden,
der ich bin. Aber nun, wohin gehe ich nun weiter? Ich weiß es nicht,
aber Gott weiß es. Alles ist nötig für mich gewesen bis nun, so wird
alles weitere auch nötig sein; und wenn ich das nicht jetzt mache, so
werde ich es später machen, wenn alles andere geschehen ist und ich
an meinem Ende bin. Aber vielleicht ist dieser ganze Gedanke falsch?
Ich erscheine mir selbst heute notwendig, so, wie ich bin; deshalb muß
mir auch alles notwendig scheinen, was mir geschehen ist, und was ich
getan habe, denn durch das alles bin ich ja, was ich jetzt bin. Hätte
ich nun anderes getan, und wäre mir anderes geschehen, so wäre ich
heute der Mensch, der diesen anderen Geschehnissen entspräche, und also
ein anderer; dann würde ich, der andere, mir jetzt ebenso notwendig
vorkommen, und mein bisheriges Leben, das anders war, als ebenso von
Gott geleitet.«

Dann dachte er: »Vielleicht bin ich der andere?« Und er fürchtete sich.

Pelagia wurde in ihrer Kammer ermordet gefunden. Sie lag mit dem süßen
Gesicht auf dem Boden, erschlagen mit dem Schüreisen des Kamins.

Der König in seinen langen Haaren, die von dem goldenen Reif
zurückgehalten wurden, fuhr durch das Land, in seinem Wagen, gezogen
von weißen Stieren, und überall strömten die Menschen ihm zu, damit
sein Blick auf sie falle. Er saß in dem Saal im Hause des Grafen
Austregisil, um selbst den Mörder zu erforschen. In einem Halbkreis,
niedriger wie er, saßen die Vornehmen seines Palastes und die Großen
der Grafschaft. Der König sprach: »Wer etwas zu sagen weiß über den
Mord, der stehe auf und spreche«.

Da erhob sich Landegisil und sprach: »Kein anderer kann die Tat
vollbracht haben wie mein Vater, denn es hatte zu Pelagia niemand
Zugang wie wir; und ich weiß, daß er sie mit unzüchtigen Anträgen
verfolgte. Ich klage ihn des Mordes an und will mit meinem Schwert
gegen ihn eintreten für meine Klage.«

Austregisil erhob sich, und wie er dem Sohn gegenüberstand, fiel allen
die wunderbare Ähnlichkeit der beiden auf, und einige flüsterten: »Er
ist sein Vater.« Austregisil schwieg eine Weile, dann fragte er seinen
zweiten Sohn Fortunatus, der in seinem Priestergewand dasaß, gesenkten
Hauptes und die Hände in den weiten Ärmeln. Er fragte ihn: »Wenn dein
Bruder stirbt, willst du dann die Kirche lassen, wieder in die Welt
gehen, mein Gut und Amt erben, ein Weib nehmen und Kinder zeugen?«

Fortunatus schüttelte das Haupt und sprach mit leiser Stimme: »Ich will
Priester bleiben und ein frommes Leben führen, gleich dem heiligen
Remigius, dessen Sarg ich bewache. Er war der Sohn eines Grafen wie
ich, wurde Priester und ist nun ein Heiliger; und auf seine Gebeine
legen wir die Hand, wenn wir schwören, und er hat solche Macht, daß er
den tötet, der falsch schwört über seinen Gebeinen.«

Austregisil sprach: »So willst du auch als Priester kein Weib nehmen,
damit ich Enkel sehe aus meinem Blut, welche erben, was ich mir
erworben?«

Fortunatus schüttelte wieder den Kopf.

Da sprach Austregisil: »Ich werde mir neue Söhne erzeugen. Ich bin
unschuldig an dem Mord; aber aus demselben Grunde wie mein Sohn
Landegisil mich, klage ich ihn an; denn außer mir und meinen beiden
Söhnen hatte niemand Zutritt zu Pelagia; und ich weiß, daß mein Sohn
eine Neigung zu ihr hatte. Und ich will meine Anschuldigung beweisen im
Schwertkampf gegen diesen, der aus meinen Lenden entstammt.«

Der Älteste der Beisitzer erhob sich und sprach: »Es ist nicht erhört
bis heute, daß Vater und Sohn einander mit dem scharfen Schwert
gegenüber gestanden haben. Und wenn das geschähe, so habe ich Furcht,
daß Gott eine Strafe auf unsere Völker sendet, so groß wäre das
Verbrechen. Deshalb ist mein Rat, lieber bleibe der Mörder unbekannt
und die Tat ungesühnt, als daß ein so schändlicher Kampf von dem König
angeordnet werde.« Die anderen Männer murmelten beistimmend.

Es hatte sich ein schweres Gewitter am Himmel zusammengezogen, ein
Frühlingsgewitter. Während der König ruhig überlegend verharrte und
eine große Stille im Saal war, kam plötzlich ein heftiger Donnerschlag
zugleich mit einem leuchtenden Blitz; die an der Wand aufgehängten
Waffen klirrten. Erschrocken sprangen die Beisitzer auf, denn sie
dachten, der Blitz habe im Raum eingeschlagen, dann flehten sie den
König an, der Meinung des Alten beizustimmen.

Der König sprach: »Der Blitz darf mich nicht erschrecken, und es wäre
ebensolche Sünde, den Mord ungesühnt zu lassen, als wenn Vater und
Sohn sich mit tödlichen Waffen schlügen. Aber ich habe einen andern
Weg gefunden, die Wahrheit zu treffen. Dieser Priester sagte, daß die
Reliquien eines Heiligen hier im Hause sind. Vater und Sohn sollen auf
diese Reliquien schwören, daß sie unschuldig sind an dem vergossenen
Blut. Ist der Heilige so mächtig wie der Priester sagte, so wird er
denjenigen von den beiden bestrafen, welcher der Meineidige, Mörder und
falsche Ankläger seines nächsten Verwandten ist.«

Der König erhob sich langsam und schritt zur Kapelle. Die andern
folgten.

Der Vater gürtete sein langes Schwert ab, legte es zur Seite und
stieg die Stufen des Altars empor. Auf dem Deckel des Sarges war in
dem blanken Metall eingeritzt und mit Niello ausgelegt die Figur des
Heiligen, ruhend, mit geschlossenen Augen, die Hände über die Brust
gelegt. Der Graf erhob die Schwurfinger der linken Hand, legte die
rechte Hand auf das Haupt des Heiligen und sprach mit lauter und fester
Stimme die Worte des Schwurs nach, welche ihm Fortunatus, am Fußende
des Sarges stehend, vorsagte. Alle schwiegen, als er geendet; und in
der tiefen Stille ging er mit schweren Schritten die Stufen wieder
herab.

Nun machte sich Landegisil bereit, und in die Stille kam von außen ein
leises Rollen des Donners, als ziehe das Gewitter ab. Die Stimme des
Fortunatus war noch leiser wie vorhin, Landegisil sprach ruhig und
laut nach. Als er die Worte fast beendet hatte, erfüllte plötzlich das
Licht eines Blitzes die Kapelle, daß alle die Augen schließen mußten,
und unmittelbar folgte ein entsetzlicher Donnerschlag. Als die Männer
wieder aufblickten, stand nur noch Landegisil aufrecht, die Hand auf
dem Haupt des Heiligen; Fortunatus lag tot am Fußende des Sarges.



Der Tod des Dichters


Fünf Frank habe ich. Schnaps ist Unsinn. Burgunder will ich trinken,
guten alten Chablis, in einer verschimmelten Flasche, die in einem
Körbchen auf den Tisch gestellt wird. Hier liegen ja auf allen Tischen
Servietten. Vier Frank fünfzig, fünfzig Trinkgeld, das reicht gerade.
Was? Das ist ein feines Restaurant? Man will mir nichts geben? Herr
Kellner, ich bin ein Dichter, eine Berühmtheit. Das ist lächerlich, zu
sagen Herr Kellner, man sagt nur Kellner; aber ich kann nicht anders,
es ist gegen die Menschenwürde. Was? Hier verkehren nur feine Leute?
Vorige Woche war ich fünfzig Jahre alt, da haben die Zeitungen Artikel
über mich gebracht, nur die besseren natürlich; die Artikelschreiber
gehen in Zylinder und Handschuhen, die dürfen hier wohl sitzen, aber
ich nicht? Sie haben geschrieben, daß es eine Schande ist, wie man mich
verkommen läßt, noch nicht einmal die erste Auflage ist verkauft von
meinem Buch; aber Fagerolles, ja Fagerolles hat ein eigenes Auto. Ich
nenne ihn Fagerolles, Herr Kellner. --

Ach, ich gehe schon. Sie sind ja nicht bösartig, Herr Kellner, Sie
dürfen bloß nicht.

Es ist kalt auf der Straße, aber wenn man fünf Frank hat in der
Tasche, das wärmt einen. Soll ich essen? Ich habe wohl die ganzen drei
Tage nichts gegessen, wo ich an dem Buch übersetzte. Unrecht ist es
eigentlich doch, man verkauft seine Seele an den Schweinehund, und
er gibt einem nur fünf Frank, fünf Frank für drei Tage Arbeit, meine
Herren. Soll ich essen? Ich habe keinen Hunger. Wie ich damals mein
Buch schrieb, ach, das war schön, das war der Höhepunkt. Da wohnte ich
bei Fagerolles, er hatte mir eine schöne Dachkammer abgetreten, da war
ich den ganzen Tag allein, nur am Abend, da mußte ich unten essen, und
dann las ich vor. Seine Frau weinte vor Neid, er lief auf und ab im
Zimmer, auf den Teppichen hörte man den Tritt nicht; ich aber lachte
heimlich und dachte: Ihr seid ja reich, aber auf mich werden einmal
die Menschen hören, die jungen Menschen, die noch nichts wissen, die
lesen mein Buch, und da erfahren sie die Schönheit. --

Ach, die Schönheit, ich muß weinen, denn ich denke an den Waldrand
und den Kuckucksruf, Vorfrühling auf brauner Wiese, Rieseln des
Quellwassers, und dieser Vogelruf -- wie hieß nur der Vogel? Ich
vergesse jetzt so viel. Vielleicht dieser große schwarze Vogel mit
gelben Füßen. Da brennt eine rote Laterne, man wird so naß im Regen
draußen, ich will hineingehen, aber Burgunder will ich, wie ich
ihn damals zuerst bei Fagerolles getrunken habe. Ei, du Gauner, du
Fagerolles, du hast mich untergekriegt. Jetzt sagen die Leute auch
noch, du hast ein gutes Herz. So ein Halunke! Mich friert so, es ist
auch nichts, wenn einem das Wasser durch die zerrissenen Sohlen an
die Füße kommt. Die Füße sind empfindlich. Auch sollte man doch mehr
essen. Die Miete kann man ja schuldig bleiben, aber das Essen ist
doch eine Hauptsache. Aber heute Abend will ich Burgunder trinken,
in einer verschimmelten Flasche, in einem Körbchen. Und wie sie es
dem Fagerolles gegeben haben, die Artikelschreiber! Ja, das ist wahr;
ohne mich, was wäre er? Ein Kuhfladen. Eigentlich ist er doch mein
Bourgeois. Und wie gesund er ist, wie fleischig und rot! Ich habe ihn
gestern gesehen, oder war es vorgestern? Er hat mich gut verdaut, es
ist ihm angeschlagen. Bekomme es ihm weiter! Böse will ich ihm nicht
sein. Nur, er hätte sich doch können einmal anpumpen lassen, einmal
wenigstens, es brauchte ja gar nicht so viel zu sein, fünfzig Frank
vielleicht. Ob ich ihm noch einmal schreibe? Wenn ich fünfzig Frank
hätte, dann fütterte ich mich erst wieder einmal ordentlich auf, dann
wäre auch ein anständiger Anzug nötig und ordentliche Stiefel, feste
Stiefel, Stiefel, die nicht zerrissen sind, dann müßte ich eine Bude
haben mit einem Ofen. Ein Ofen ist unbedingt nötig. Es ist ja alles
fertig, ich brauche es bloß niederzuschreiben, aber sorglos muß man
sein; wenn ich fünfzig Frank hätte, so ginge es. Was die sich von der
Cäsur denken! Die Cäsur, da steckt die Seele des Verses. Das habe
ich früher nicht so gewußt, da war es mehr Instinkt. Ach, Fagerolles,
wenn das deine Verse wären, die ich morgen schreibe! Und jetzt wird
ja auch besser bezahlt. Wir sind ja durchgedrungen, Fagerolles
verdient ja Hunderttausende. Hunderttausende, das ist viel. Aber er
braucht auch viel: Auto, Dienstmädchen, Kutscher, zwei Hunde, auch
Steuern. Aber tausend Frank Honorar bekomme ich doch gewiß, vielleicht
tausendundfünfzig, wenn der Verleger anständig ist. Tausendundfünfzig.
Wieviel ist das doch? Man müßte auch Kontrakte machen, daß es einem
nicht wieder in alle Sprachen übersetzt wird, und man kriegt keinen
Heller dafür. Damit müßte man doch auch viel verdienen. Woher verdient
denn Fagerolles so viel?

Wie wunderschön ist die Welt, wie bin ich glücklich. Das ist eine
schmutzige Kneipendiele, Zigarrenstummel liegen da, da sind nasse
Flecke von der Feuchtigkeit, welche die Männer von außen hereingebracht
haben, sie haben auch gespuckt. Die Bretter, aus denen diese Diele
gemacht ist, sind einmal im Wald gewachsen und waren Bäume, welche im
Winde leise schwankten, und Sand ist gestreut, der ist tief aus der
Erde geholt hier unter uns, denn dieses alles war einst Meer, und der
Wind wehte über die leichten Wellen hin, und Möven flogen, mit der
Spitze des einen Flügels in die Wellen tauchend. Wie schön ist die
Weite des Meeres, die grenzenlose, ich möchte meine Arme ausbreiten und
tief atmen.

Nun sind es dreißig Jahre her, da war ich ein Jüngling, und da war die
erste Liebe. Wie wunderbar das ist, daß einen ein Mensch lieben kann!
Sie sind wie die Kinder, die Mädchen, aber sie denken doch nachher
auch daran, daß ein Mann genug verdienen muß, denn da muß Miete sein
und Wirtschaftsgeld und Wäsche und allerlei. Es wäre unrecht von mir,
wenn ich ihr böse wäre, daß sie einen Mann geheiratet hat, der eine
Anstellung hatte; und jetzt ist das auch so lange her, vielleicht ist
sie schon tot; ja, ich glaube, man hat mir einmal eine Todesanzeige
geschickt, aber ich konnte nicht zum Begräbnis gehen, denn ich hatte
keinen guten Anzug, und gerade diese kleinen Beamten halten am meisten
auf solche Äußerlichkeiten.

Und dann war da Apfelblüte, die habe ich wahrscheinlich viel mehr
geliebt, denn da war ich älter und klüger. Fagerolles machte mir
Vorwürfe, er sagte: Sie ist eine Dirne, was sollen meine bürgerlichen
Bekannten sagen, wenn sie mich mit euch beiden sehen? Ich sagte ihm:
Ja, sie ist eine Dirne, aber es ist so wunderbar, daß sie mich liebt!
Ihr Vater war Tischler, da hat sie sich als Kind Hobelspäne vor die
Schläfen gehängt wie Locken, damals kannte ich sie schon, denn ich
wohnte bei ihren Eltern, und nannte sie Apfelblüte, so ein Gesicht
hatte sie. Sie sang viel, wenn es heute wäre, so wären es meine
Gedichte, die sie sänge, denn ich bin ja heute durchgedrungen, und
vielleicht hätte sie dann etwas von der Schönheit verspürt. Sie lief
ihren Eltern fort mit einem Liebhaber; und wie der sie nicht mehr
wollte, da hatte sie Angst und kam zuerst zu mir, daß ich mit ihren
Eltern sprechen sollte. Da sagte ich ihr: »Weshalb hast du das getan?«
Sie antwortete: »Ich bin jung. Aber du warst es, der mich hätte nehmen
sollen, ich habe dich geliebt, aber du hast es nicht gemerkt.« Ich
sprach: »Wie hätte ich das tun können, ich bin arm, und ich hätte dich
nur zur Dirne gemacht.« Da weinte sie und sprach: »Ich bin zur Dirne
bestimmt, nun hat mich ein anderer dazu gemacht, den ich nicht lieb
hatte, und auf den ich nicht stolz sein konnte, wenn ich mit ihm auf
der Straße ging, trotzdem er feiner gekleidet war wie du.« Ich nahm sie
auf den Schoß, küßte sie und sprach: »Nun wollen wir das vergessen.«
Sie lachte. Ach, wie süß war ihr Lachen! Ja, auch damals war ich
sehr glücklich, und am glücklichsten, wenn ich meine Gedichte an sie
schrieb. Sie war gut und rein, und so heiter, alle Arbeiten machte sie
singend, und selbst ihr Vater konnte sie nicht schlagen.

Ja, der Wein macht uns frei, mir ist wie dem Vogel in der Luft. Wir
sind schwermütig, wenn wir nicht trinken, und Schwermut ist etwas
Gemeines.

Er trat auf die Straße, in den Pfützen spiegelte sich das
Laternenlicht. Er lachte und sang leise vor sich hin, ein Liebeslied,
das er damals gedichtet hatte. Ein Freund hatte die Musik dazu
geschrieben, der war nun schon lange tot, er war irrsinnig geworden,
weil er sich überarbeitet hatte. Denn er konnte nur des Nachts
arbeiten, weil er den Tag über Klavierstunden geben mußte, an
Bäckerstöchter für fünfzig Centimes die Stunde. Aber heute, ja, da war
er auch durchgedrungen. Sie hatten ihm sogar schon ein Denkmal gesetzt.

Da begegnete ihm die, welche früher Apfelblüte gewesen war. Ihr Gesicht
war verbunden, sie humpelte an einem Stock, in durchnäßten Filzschuhen,
und ihre Lumpen hingen schlaff an ihr nieder. Er rief sie an. Sie
sprach: »Schämst du dich denn nicht, daß du mich kennst?« Und dann
rollten ihr Tränen aus den entzündeten Augen über den Verband ihres
Gesichtes. Er antwortete: »Ich bin ja auch älter geworden, ganz kahl
ist mein Schädel, alle Haare sind mir ausgegangen.« Er lehnte sich
an eine Hauswand. Sie streckte die Hand aus und sprach: »Du könntest
mir ein paar Sous geben, damit ich nicht im Freien schlafen muß.«
Er antwortete: »Ich schlechter Mensch habe alles vertrunken, aber du
kommst auf mein Zimmer, nur habe ich keinen Ofen.« Sie schüttelte den
Kopf »das ist eine häßliche Krankheit, die ich habe, du kannst mich
nicht mitnehmen.« »Du warst gut«, sprach er, »und hast allen Menschen
nur Freude machen wollen, weshalb sind die Menschen so schlecht gegen
dich gewesen? Aber sie wissen ja nicht, was sie tun, sonst wären sie
anders.« Dann faßte er sie unter den Arm, und er sagte: »Ich habe
einen Stoß alte Zeitungen und etwas schmutzige Wäsche, daraus machen
wir noch ein Lager.« Sie weinte und sprach: »Seitdem ich von dir ging,
vor zwanzig Jahren, hat nie wieder ein Mensch ein gutes Wort zu mir
gesprochen. Aber ich ging nur fort, weil ich damals so jung war und
gern tanzte.« Langsam gingen sie, denn sie hatten beide wenig Kräfte.

Wie sie auf seinem Zimmer waren, setzte er sich und sprach: »Mir ist
so sonderbar, ich habe den guten Wein zu schnell getrunken.« Sie
dachte, er sei betrunken, und holte das Nachtgeschirr; es hatte keinen
Henkel. Aber ihm war der Kopf auf die Brust gefallen, und die Zunge war
zwischen die Zähne geklemmt. Da fühlte sie, daß er tot war, drückte ihm
die Augen zu und legte ihn auf die Stubendiele, denn sie konnte ihn
nicht in das Bett heben.

Wie das nun am andern Tag in den Zeitungen stand, daß der große Dichter
gestorben war, und wie groß sein Elend gewesen war, da kam der, den er
Fagerolles nannte, ging in seinem feinen Pelz die schmutzige Treppe
hinauf und fand die Prostituierte mit dem verbundenen Gesicht neben
dem toten Dichter kauern. Er bezahlte Leute, die für das Begräbnis
sorgten, und er folgte seiner Leiche zusammen mit der Prostituierten.
Ihr Verband hatte sich verschoben durch das Weinen und Tränentrocknen,
man sah, daß die Krankheit ihr die Nase fortgefressen hatte. Er war ein
sehr berühmter Dichter, sah gesund und reich aus.

Wie der berühmte Dichter am andern Tage in den Zeitungen die Artikel
las, da las er auch, daß seine Werke nur von zeitlicher Dauer seien,
aber das Buch des Toten werde ewig dauern. Da geriet er in Angst, daß
die Menschen das schrieben, denn er dachte, daß er sehr viele Schulden
hatte bei seinem kostspieligen Hausstand, und daß schon begannen die
Einnahmen sich zu vermindern. Seine Frau kam zu ihm und zeigte ihm ein
neues Kleid, und seine beiden in Reichtum erzogenen Kinder kamen; sie
sahen vornehm und unschuldig aus; und er dachte, wie das sein werde,
wenn man ihm seinen ganzen Hausrat verkaufte und er in einer armen
Dachstube leben müßte mit der Frau und den Kindern, wie der Tote gelebt
hatte, und er ängstigte sich vor seiner Lüge.



Manto und Sextilius


Zu der Zeit, als das Christentum die Herrschaft über die anderen
Religionen erlangt hatte, waren in Alexandria häufige und schwere
Unruhen; denn das untere Volk, nämlich die Arbeiter, die Armen und
die Sklaven hingen der christlichen Lehre an, die Vornehmen aber und
Reichen glaubten noch an die alten Götter, erwiesen ihnen Verehrung
und beschäftigten sich mit der Philosophie. Und indem das Volk auch
Neid und Haß zeigte gegen die anderen, wegen ihres Reichtums und ihrer
Bildung, und zugleich stolz war auf seine bessere Religion, beruhigte
es sich wohl die meiste Zeit, weil es ein Reich hoffte, welches nahe
bevorstand, in welchem es selber alles Glück und Wohlleben haben würde,
denn alsdann, dachten sie, trägt das Korn tausendfältig ohne Mühe
des Landmanns, und der Weinstock bringt Trauben, so schwer, daß zwei
Menschen sie tragen müssen, und eine Olive hat so viel Öl, wie eine
ganze Familie braucht zu ihrer Mahlzeit, die Stadt ist aus Edelsteinen
gebaut, und ihre Tore sind von lauterem Golde; die Reichen aber und
Gebildeten werden dann in den tiefsten Abgrund geworfen zu dem alten
Drachen, da ist Heulen und Zähneklappen, weil sie bis nun ein großes
Wohlleben gehabt haben. Jedoch nur die meiste Zeit beruhigten sich
durch solche Hoffnungen die armen und einfältigen Leute, und wenn große
Krankheiten kamen und Teuerungen, welche denn damals häufig waren, so
wurden sie ungeduldig, meinten, der große Umschwung stehe schon bevor,
und zogen mit vielem Lärmen durch die Stadt, erbrachen die Häuser der
Reichen, raubten und plünderten, zerrissen Schuldbriefe, und wenn sie
einen vornehmen Reichen antrafen, so ermordeten sie ihn auch. Das taten
sie aber in eigener Weise; denn da geschrieben steht: des Herrn Wort
wird die Ungläubigen töten, so nahmen sie ihre heiligen Bücher, welche
eben des Herren Wort enthielten, die waren in großen Büchsen aus Erz
aufbewahrt, und mit denen schlugen sie auf die Reichen ein, welche sie
fanden, Männer, Frauen und Kinder, bis die tot waren; die Leichname
schleppten sie dann durch die Straßen und sangen fromme Lieder, und es
wurde auch erzählt, daß sie einige von den Leichen gegessen haben, denn
es steht geschrieben: des Herren Zorn wird sie fressen. Als Anführer
hatten sie bei solchem Treiben Mönche, welche nackt gingen oder sich in
große Decken hüllten und aus der Wüste kamen, wo sie sonst lebten und
viele Erscheinungen hatten von Geistern, Engeln und Teufeln.

Damals lebte eine vornehme Jungfrau in ihrem großen und vornehmen Hause
allein mit einigen Dienerinnen. Ihr Name war Manto, und sie war eine
Griechin aus einem uralten und stolzen Geschlechte in Elis, welches
seine Vorfahren noch in der heroischen Zeit hatte. Schon seit mehreren
Geschlechtern aber war die Familie nach Alexandria übergesiedelt und
war auch hier immer vornehm, stolz und reich gewesen. Wie denn nun
damals in rätselhafter Weise oft viele Menschen starben, als sei eine
Krankheit gekommen, welche nur eine bestimmte Klasse, Stand, Schicht
oder Familie befiel, daß viele an Brunnenvergiftungen durch die
Christen, viele an heimliche Tücken der Verwandten der Erbschaften
wegen dachten, und noch andere an Geheimbünde wollüstiger und frommer
Art, so überfielen auch plötzliche und verschiedene Krankheiten die
Familie der Manto, daß ihr alle Anverwandten in wenigen Tagen starben
und sie allein zurückblieb in dem hallenden Palast.

Nun hatte sie sich schon als Kind an der Kunde des Himmels und der
Sterne erfreut, denn ihr Vater war ein stiller und schweigsamer
Mann gewesen, welcher seine Nächte auf dem hohen Turm seines Hauses
verbrachte mit Betrachtung der Sternbilder an dem blauen und klaren
Himmel, und mit vielen Berechnungen und Voraussagen. Diese Freude
hatte sie beibehalten; und wie sie nun ohne Eltern, Geschwister und
selbst Vormund war, denn in jenen unruhigen Zeiten wurde von den
Behörden wenig auf die Schicksale der Bürger geachtet, dachte sie nur
noch daran, des Abends auf dem viereckigen, quadergemauerten Turm zu
sitzen, der hoch über das flache Dach des Hauses in die dunkelblaue
Nacht hinausstand, und durch allerlei Rohre die glitzernden Sterne
zu betrachten, Beobachtetes aufzuschreiben und älterer Sternkundigen
Niederschriften nachzulesen.

Bei diesem Forschen gewann sie einen Freund, welcher jung war wie sie,
und ein Gelehrter der Sternkunde, von jüdischer Abstammung, mit dem
Namen Sextilius; denn er gehörte einem Judengeschlechte an, welches
sich den Dingen anpaßte und nicht streng festhielt an allem, was es
einst in Palästina geglaubt hatte, weil es wohlhabend war und gebildet.
Mit diesem Freund verbrachte sie manche Nacht unter dem klaren Himmel
bei dem blassen Sternlicht auf dem flachen Dache des alten Turmes; und
auch Sextilius war der letzte und einzige seines Geschlechtes, denn
seine gesamte Familie war umgekommen bei einem Aufstand des Pöbels
gegen die Juden, wo viele vornehme Judenfamilien gänzlich ausgerottet
waren.

Nun geschah es an einem Abend, als die beiden in ihrer gewohnten Weise
zusammen waren, daß sie ein ungewohntes Lärmen hörten in den Straßen.
Es kam nämlich für gewöhnlich nur ein dumpfes und gleichmäßiges
Dröhnen an ihr Ohr, welches herrührte von der Vermischung vieler
verschiedenartiger Geräusche, die ihr Besonderes unter einander zu
verlieren schienen, wie auch der Blick über die Stadt selbst ganz
gleichmäßig schien durch die vielen Lichter, obschon doch die Straßen
ganz verschieden waren und die Häuser. Es entstand aber das neue Lärmen
durch die gleichmäßigen Fußtritte vieler, und durch einen allgemeinen
Gesang, der einen wilden und wüsten Takt hatte, und dazwischen war das
allgemeine Dröhnen der Stadt doch noch vernehmbar.

Wie sie sich noch verwunderten, kam eine Sklavin in Eile die Enge
des Turmes heraufgestiegen und erzählte, daß die Christen in große
Unruhe geraten seien und sich zusammengerottet hätten, weil sie
glaubten, daß Zauberkünste angewendet würden, um die alten Heidengötter
zurückzurufen, welche durch die Heiligen und Märtyrer verbannt waren;
denn es strömte da eine Quelle, welche früher der jungfräulichen
Artemis geweiht war, wo Leute geheilt wurden von allerlei Gebrechen,
indem sie badeten und tranken, nun aber war Artemis vertrieben, und
an ihrer Stelle herrschte hier eine christliche Heilige, welche mehr
Wunder tat wie die Göttin. Und an eben dem Tage waren zwei arme Männer,
welche lahm waren, in das Wasser gestiegen, hatten sich bekreuzt und
die Heilige angefleht: da war ein böser Geist gekommen, der hatte sie
erwürgt, daß man sie tot herauszog aus dem Wasser; und nun meinten
die Christen, das sei Artemis gewesen, welche durch Zauberkünste der
Heiden zurückgerufen sei und die Heilige vertrieben habe. Deshalb
zogen sie durch die Straßen und wollten sich an den Heiden rächen, und
vornehmlich an solchen wie Manto, welche ihnen verdächtig schienen
wegen ihrer Wissenschaft.

Da sagte Manto, daß es zu dem Turme nur einen Eintritt gebe, nämlich
durch eine eiserne Tür, welche vom ersten Stockwerk des Hauses in den
Turm führte; und wenn die Christen wirklich ihr Haus angreifen würden,
und würden eindringen, so wollten sie die Tür verschließen und Feuer
in das Haus legen, daß das verbrennen müßte, der Turm aber unversehrt
bliebe, denn alsdann werde der Pöbel keinen Zugang zu ihnen gewinnen,
welche auf dem Turme blieben, und später müßten sie dann durch die
Behörde gerettet werden. Sextilius wurde sehr traurig über diese Rede,
denn er dachte an die vielen Kostbarkeiten, Bücher und Bilder, welche
in dem großen und schönen Hause aufbewahrt waren. Aber indem erblickte
Manto auch schon von oben die ersten der wütenden Schar, welche in die
Straße liefen mit geschwungenen Fackeln und brüllend, und ihr Name
wurde gerufen unter heftigen Verwünschungen. Da raffte sie ihr weites
Gewand zusammen, schlüpfte durch die schmale Falltür die enge und
gewundene Treppe hinunter und lief in das Haus, da brannten in leeren
Zimmern Lichter, die riß sie herab und warf sie zwischen kostbare
Decken und Teppiche, und in einem kleinen und dunkeln Zimmer traf sie
eine ganz junge Sklavin, die verschüchtert in einem Winkel hockte, die
trieb sie heraus; und wie schon die Schläge und Stöße der wüsten Menge
gegen das eisenbeschlagene Tor hallten, warf sie noch Kleidungsstücke
über die Geländer der großen Treppe in den Hausflur und warf eine
Fackel hinterher, dann eilte sie zurück zu der eisernen Tür des Turmes,
zog die nach sich und verschloß und verriegelte sie.

So kam sie atemlos nach oben, fand da Sextilius und die Sklavin, welche
schweigend saßen. Und wie sie sich in ihrem weißen Gewand über die
Brüstung des Turmes beugte, um nach unten zu sehen, wo die Menge an dem
starkbohligen Haustor arbeitete, ward sie gesehen von unten, und Johlen
und Pfeifen drang nach oben, heftige Verwünschungen und verächtliche
Namen auf die alten Götter. Aber indem sprang aus einem Fenster spitz
die erste Flamme, wie ein Pfeil vom Bogen, und die Menge ward plötzlich
still; dann folgte wirbelnder Rauch, und ein Sturmwind kam plötzlich;
da johlte die Menge lauter und heulte vor Wut, und die Stöße und
Schläge gegen das Haustor wurden heftiger, bis am Ende ein Krachen und
Splittern gehört ward; aber wie der eine Flügel sich nach innen neigte,
sprang auch aus dem Tor die spitzige Flamme und flog dem Vordersten ins
Gesicht, daß der Pöbel heulend auseinanderstob; unterdessen klirrten
noch andere Fenster, und die Flammen leckten hoch an dem schweren
Gemäuer.

Der Rauch zog wirbelnd in die Höhe und flog über den Turm hin; da
legten sich die drei, welche oben standen, auf den Boden des Turmes
hinter die Brüstung, denn sie fürchteten, daß sie ersticken möchten,
und der Wind trieb den Rauch fort über ihnen, so daß sie nun atmen
konnten. Und im Liegen sprach Sextilius und klagte über die Schätze,
welche verbrannten; denn in dem Hause stand goldenes und silbernes
Gerät, kunstvoll gearbeitet von berühmten Handwerkern der alten Zeit,
das schmolz nun zu schlackigen Klumpen; und kostbare Gewebe waren da
mit allerhand künstlichen Figuren, wie sie in früheren Zeiten von den
Frauen in Alexandria gewebt wurden, und seltene Bücher standen in
Rollen, viele Werke der Gelehrten und Dichter, welche in Alexandria
ein friedliches Leben geführt hatten, und auch die Werke der alten
Dichter des heimatlichen Griechenlands. Dann hingen an den Wänden
Bilder, welche Götter und Göttinnen darstellten, und die Geschichte
der alten Helden und merkwürdige und schöne Landschaften. Aber das
Kostbarste war ein uraltes Holzbildnis der Aphrodite, welches in einem
kleinen und dunklen Heiligtume des Hauses aufgestellt war. Das hatten
die Vorfahren der Familie mit aus ihrer griechischen Heimat gebracht,
wo es einen eigenen Tempel gehabt hatte und verehrt wurde, und es
stammte noch aus der Zeit, da die Götterbilder mit geschlossenen Füßen
gestaltet wurden und mit Armen, welche eng am Körper anlagen. Von
allen diesen Schätzen und Heiligtümern sprach Sextilius, denn auch die
Dichtwerke waren Heiligtümer und die schönen Bilder, weil sie Erhabenes
darstellten, das die Menschenseele in die Höhe reißt. Nun verschwelte
und verkohlte das alles, oder brannte auch mit lichter Flamme; und es
war nicht anders, als sei da nur schlechtes Brennholz und alte Lumpen.

Die alte Sklavin lag dem Sextilius gerade gegenüber, und in ihren Augen
erglänzte merkwürdig das Weiße, indem die Pupille sich fast ganz in
die Höhe geschoben hatte. Da stand sie plötzlich auf und trat auf die
Brüstung, so daß die Schwaden des Rauches sie umzogen; ihr graues Haar
war hinten in ein ärmliches und dünnes Zöpfchen geflochten, das stand
wunderlich von ihrem Kopfe ab. Zuerst heulte sie in einem hellen und
durchdringenden Ton, indem sie mit den Händen um sich schlug, und dann
fing sie in abgebrochenen Worten an zu schreien und rief, daß eine
Feuersbrunst das Herrlichste ist, und des Menschen Herz jauchzt vor
Lust und Schmerz und voller Wohligkeit gegen die Flamme, und alles jagt
in den rauchumzogenen Himmel, denn es gibt nur einen Gott, der macht,
daß unsere Eingeweide sich umwenden; und wir suchen den Schmerz und die
Schande, denn auch seine Heiligen jauchzten im Kot der Gefängnisse und
indem Eiter und Blut von ihren gepeitschten Rücken rann, darum ist es
süß, wenn wir unrecht leiden.

Solche und ähnliche Worte schrie sie mit brüllender Stimme, dann
sprang sie wieder herunter von der Brüstung, riß die Falltür auf,
welche zu der schmalen und gewundenen Turmtreppe führte. Eine grausige
Glut spie die schmale Treppe aus, sie aber eilte hinab, der eisernen
Tür zu, welche den Turm mit dem Hause verband; Manto und Sextilius
liefen ihr nach, aber die Sklavin glitt aus und ward wie eine Kugel
und kollerte die steilen Stufen hinunter, die rund um die Spindel der
Treppe liefen; ihr Kopf schlug dumpf auf den Steinen auf, aber sie
schrie in einem fort ihre Worte, die sie vorher geschrieen hatte;
da war am Ende die eiserne Tür, die war rotglühend geworden von dem
Brande, gegen die rollte sie; da geschah ein Zischen und Fauchen und
ein ganz lauter Schrei, und Brandgeruch drang nach oben, denn Manto
und Sextilius hatten nicht weit folgen können wegen der Hitze; und wie
ein paar gellende Schreie gewesen waren, ward alles still, nur ein
ganz scheußlicher, stinkender Schwaden kam herauf. Da kletterten die
beiden entsetzt zurück und schlossen wieder die Falltür und legten sich
wieder dicht an die schützende Brüstung; aber es war nun sehr heiß oben
geworden, und der Rauch beizend und scharf, und senkte sich nieder,
und viele Asche senkte sich auch nieder und bedeckte hoch die Fläche
des Turmes oben und die Brüstung, und quälte die beiden sehr. Und auch
einen heftigen Durst bekamen sie, daß sie fast ihre Lage nicht mehr
aushalten konnten.

       *       *       *       *       *

Manto dachte daran, daß das alte Schnitzbild der Aphrodite verbrannt
war, und dachte an die alte Sage in ihrer Familie, welche sich an das
Schnitzbildnis knüpfte.

Vor Urzeiten, als die Heroen noch lebten, noch vor dem trojanischen
Kriege, waren zwei Schwestern, die lebten in einem Hause, das lag an
dem Wege nach Elis. Diese gerieten untereinander in Streit, welche
von ihnen die Schönere wäre, und nachdem sie alle ihre Gliedmaßen
einzeln und auch ihre ganzen Personen insgesamt miteinander verglichen
hatten, konnten sie doch zu keinem Ende kommen. Da beschlossen sie, ein
Urteil Fremder anzurufen, gingen aus dem Hause und setzten sich an der
Landstraße auf einen Stein. Wie sie eine Weile gewartet hatten, kam ein
Wanderer, ein junger und schöner Mann, dem trugen sie ihren Streit vor
und sagten ihm, er solle entscheiden, und so legten sie ihre Gewänder
ab und traten nackt vor ihn, damit er urteile. Er prüfte sie, und ihm
schien die Ältere schöner zu sein; das sagte er auch; und weil sie aber
so sehr schön war, und er hatte alle ihre Glieder gesehen, so faßte
er eine große Liebe zu ihr, fragte sie, ob sie ihn zu ihrem Ehegatten
wolle, und wie sie ihm erwiderte, ja, nahm er sie und ging mit ihr, die
Vermählung zu vollziehen.

Die Jüngere wurde sehr traurig und blieb zurück, zog ihr Gewand wieder
an, setzte sich auf den Stein und weinte sehr vor Kummer. Da kam ein
zweiter Wanderer des Weges, der war ein jüngerer Bruder des vorigen.
Wie der die weinende Jungfrau sah, hatte er Mitleiden und fragte
sie, weshalb sie so traurig sei. Sie erwiderte ihm, indem sie alles
erzählte und auch sagte, daß der andere ihrer Schwester Schönheit
vorgezogen habe. Da sagte der Wanderer, daß es in diesen Dingen kein
sicheres Urteil gibt, und daß die einen so urteilen über die Schönheit
und die anderen so, und vielleicht, wenn er an Stelle des älteren
Bruders hätte entscheiden sollen, so hätte er die Jüngere vorgezogen.
Da trocknete die Jungfrau ihre Tränen und sagte, wenn das so sei, so
wolle sie sich auch vor ihm entkleiden, und er solle ein Urteil fällen,
ob es wohl möglich sei, daß ihre Schwester schöner sein könne. Damit
war er auch einverstanden, und sie entkleidete sich. Aber wie er sie
nun so gesehen hatte, da sagte er, sie habe recht gehabt in ihrem
Urteil, und er wenigstens könne sich nicht denken, daß eine Jungfrau
schöner sein könne wie sie. Deshalb habe er eine plötzliche und starke
Zuneigung zu ihr gefaßt und frage sie, ob sie nicht seine Ehefrau
werden wolle. Da sagte sie ja, und nun gingen auch diese beiden gleich
nach Hause und vollzogen ihre Vermählung.

Nun lebten die beiden Schwestern mit den beiden Brüdern zusammen und
waren sehr froh und zufrieden, hatten ihre Kinder und wurden sehr
alt, und keinerlei Unglück traf sie. Da sagten sie, daß Aphrodite
ihres Glückes Ursache gewesen sei, welche ihnen den Streit um ihre
Schönheit aufgeregt und ihnen dann auch aufgegeben hatte, daß sie an
die Landstraße gehen sollten, wo sie ihre Männer getroffen hatten. Und
weil sie sich nun für solches Glück der Urheberin dankbar erweisen
wollten, so bauten sie der Aphrodite einen kleinen Tempel, und durch
einen geschickten Arbeiter ließen sie das Standbild machen und beteten
an, dankend und preisend. Solche Verehrung wurde dann auf die Kinder
vererbt und auf die Kindeskinder, und indem die Familie viele hundert
Jahre blühte, wurde das Standbild immer in der alten Weise verehrt
durch die jungen Mädchen des Geschlechtes, welche vor ihm die Hände
aufhoben und Blumen brachten. Am Ende zogen dann die letzten der
Nachkommen von Elis fort und gingen nach Ägypten, da nahmen sie das
alte Heiligtum mit, aus Frömmigkeit und in dankbarer Gesinnung, denn
Aphrodite war der Familie immer günstig gewesen.

An dieses alte Märchen dachte Manto und dachte, daß nun das alte
Götterbild verbrannt war; und sie wunderte sich, daß man in der Urzeit
sich nicht seines Körpers geschämt hatte, sondern man war seiner froh
gewesen, heute aber hatte man Schamgefühl auch in bezug auf die Seele.

Ganz schwarz und schmutzig waren die Gesichter und Hände der beiden
geworden, welche oben auf dem Turm lagen, und ihre Kleidung war mit
lauter Flugasche bedeckt; es durstete sie sehr, und sie fühlten sich
sehr unglücklich und krank und dachten, daß sie sterben müßten; und so
schwach und elend waren sie, daß der Tod ihnen gar nicht abscheulich
und schreckenerregend schien, sondern als etwas ganz Leichtes.

Sextilius dachte an eine Begegnung, die er vor wenigen Tagen gehabt.
Seine Vorfahren, die strenge Juden gewesen, hatten einen Fluch auf die
Unkeuschheit gelegt, und vornehmlich auf die, welche mit heidnischen
Dirnen verübt wurde. Nun hing er zwar nicht mehr an dem strengen
Glauben seiner Väter, aber doch lebte noch in ihm jenes Gebot. So
geschah es ihm, daß er vor den Toren der Stadt lustwandeln ging und kam
in eine Gegend, wo viele Gärten sind und kleine Häuser, welche sich
die Reichen gebaut haben zu ihrem Vergnügen, an den Sommerabenden da
die Frische und Kühle zu genießen. Diese Gärten waren so geordnet, daß
Straßen zwischen ihnen liefen und Nebenstraßen, wie in einer Stadt; und
wie in einer Stadt war da auch eine entlegene Gegend, wo die Dirnen
wohnten. Dahin geriet er durch einen Zufall. Da war ein ganz kleines
Häuschen, das war weinüberrankt, und gelbe Trauben leuchteten aus dem
Laube, und Rosen blühten vor dem Eingang; die Tür war geöffnet und wies
in ein dämmerndes grünes Dunkel, und in der Tür stand eine Dirne, ein
ganz junges Mädchen, die hatte die leichte und durchsichtige Tracht
des Landes, durch welche man jedes Glied sehen konnte, und mit einem
heitern und unbekümmerten Lächeln winkte sie Sextilius zu, er solle
kommen; ihre Zähne blitzten in dem sonnenbraunen und frischen Gesicht:
ein Weintrieb war vor ihrem duftigen und weißen Kleid, mit den schönen
Blättern und der fein geschwungenen Ranke. Ihm pochte das Herz vor
Freude und Sehnsucht, aber etwas anderes machte, daß er sich abwendete
mit einer verächtlichen Gebärde; da sah er, wie über das helle und
offene Gesicht des Mädchens eine Enttäuschung flog.

       *       *       *       *       *

Schmutzig und ganz erbarmungswürdig sahen die beiden aus, wie sie auf
dem Turm lagen, ihre Augen waren gerötet. Sie mochten schon lange
nichts mehr zu einander sprechen, denn der Gaumen war ihnen ganz
ausgedörrt. Sie meinten, daß sie sterben müßten in der Hitze und
durch den Rauch, und schon erwog Sextilius, ob es nicht ein besseres
Ende sei, sich von dem Turme auf das Pflaster herabzustürzen. Noch
lärmte und schrie der Pöbel unten, aber ein großer Teil des Volkes war
abgezogen, um an einem anderen Orte zu rauben und zu töten. Da wendete
sich plötzlich der Wind und machte den Turm von dem Rauch frei, und
auch die Hitze schien minder arg zu sein. Bald darauf stürzte das
Dach des Hauses nach innen, und obgleich eine kurze Weile dann eine
hohe Flamme in die Höhe schlug, schien doch der Brand abzunehmen,
als würde er durch die schweren und großen Dachsteine erstickt. Die
beiden erhoben sich und traten an die Brüstung, um mehr von dem
kühleren Windhauch zu genießen. Da johlte die Menge von unten und rief
Schimpfworte nach oben, und rief, Manto habe einen Liebhaber bei sich.
Wie sich die beiden aber anblickten, da erschraken sie, so entstellt
sahen sie aus.

Manto sprach: »Ich bin allein auf der Welt, denn alle meine Verwandten
sind gestorben, und meine ganze Familie ist ausgestorben, und ich
glaube auch, daß mein Volk tot ist, dem ich angehöre; denn diese da,
welche heulen, sind anders wie ich und sind mir ganz gleichgültig. Nun
will ich in die Gegend dieser Stadt ziehen, wo die Dirnen wohnen, und
will mich preisgeben jedem, der mich kaufen will.«

Sextilius sprach: »Ich will in die Wüste gehen, wo die Einsiedler
und Heiligen der Christen wohnen. Sie fasten und kasteien sich, und
die Teufel kommen in allerlei Gestalt, um sie zu verlocken, sie aber
sind standhaft. Deshalb will ich ein Christ werden und leben als ein
Heiliger und Einsiedler.«

Manto sprach: »Wenn ich an uns denke wie an fremde Menschen, so meine
ich, daß wir uns lieb haben könnten, heiraten und Kinder haben, und in
Ehre und Freude leben, denn wir könnten ja auch in einer andern Gegend
leben wie in Alexandria. Sehr wunderbar ist es, daß das nicht geschehen
kann, und ich weiß dessen keinen verständigen Grund. Aber es kann nicht
geschehen, sondern ich werde in die Dirnenvorstadt gehen und du in die
Wüste.«



Die beiden Maler


Zu der Zeit, als das Mittelalter sich zu Ende neigte und neues Wollen
in allen Künsten und Wissenschaften aufkam, lebte in einer nördlichen
Stadt ein ganz alter Maler, welcher bei seinen Leuten als der
kunstfertigste Maler galt. Er hatte nicht Weib und Kind und führte ein
recht einsames Leben, indem er nur immer fleißig war, sich in seiner
Kunst weiterzubilden und vollkommener zu werden; und wiewohl er zu
jener Zeit, von welcher wir sprechen wollen, schon das neunzigste Jahr
erreicht hatte, schienen seine neuen Bildnisse auch in Wahrheit immer
schöner und lebendiger geworden zu sein wie seine früheren; so sagte
er auch von sich: »Bis zu meinem fünfundachtzigsten Jahre bin ich nur
ein Lehrjunge gewesen und gut genug, die Farben zu reiben, nun bin ich
ein Geselle worden, aber so mir Gott das Leben gönnt, so werde ich mit
hundertundzehn Jahren ein Meister sein.« Und solchen Glaubens fröhlich
lebte er seine Tage dahin im Winter und Sommer.

Nun geschah es, daß ein reicher Kaufmann, welcher viele Reisen machte,
auch einmal eine Reise machte zu den großen Handelsstädten, die im
Westen liegen, wo stolzes Tuch gewebt wird und schöne Leinwand. Der sah
dort Bilder eines neuen Meisters, die ihm gar wohl gefielen, und besser
wie die Bilder des alten Mannes, den sie daheim hatten; und indem
diesem Meister viele Schüler zugeströmt waren, welche alle von ihm
seine vollkommenere Art gelernt hatten, so kaufte er von einem solchen
Schüler ein schönes Bildnis unserer Frauen um ein nicht allzu teures
Geld, denn die Bilder des Meisters selber wurden allzu hoch gehalten im
Preise, also, daß er nicht darankommen konnte. Solches Bild bewahrte er
sorgfältig auf, nahm es mit nach seiner Stadt und schenkte es in die
Kirche seines Viertels als einen besonderen Schmuck an der Wand des
Chores.

Wie der alte Meister das neue Bild gesehen hatte, kam über ihn ein
tiefes Stillschweigen, und wiewohl die meisten Leute sagten, deren
Art es ja immer ist, daß sie das Einheimische loben, aus Stolz, daß
es geringer sei wie die Bilder, welche er selber gemalt hatte, so
erwiderte er doch, daß sie das nicht verständen, und sei dieses Bild
das herrlichste, welches er je gesehen; er glaube auch nicht, daß er
je solche Kunst und Geschicklichkeit erreichen könne, ein dergestaltes
Werk zu schaffen.

Darauf ging er zu wichtigen Ratspersonen, stellte denen vor, wie
bedeutsam es für eine Stadt sei, wenn berühmte Künstler in ihr leben,
denn die ziehen viel Geld von außen herein, und sprach dann, daß er
selber seines Lebens zur Genüge habe und nicht auf den Erwerb mehr
angewiesen sei, und sollte der Rat den jungen Maler herziehen, welcher
die Tafel gemalt habe, durch einen Auftrag eines großen Bildes mit
vielen Figuren, das eigentlich er selbst, der Alte, hatte malen sollen.

Die Ratspersonen wunderten sich wohl, daß der alte Mann gar keinen Neid
gegen den Fremden aufwies, aber sie dachten, daß er doch wohl sein
Handwerk aufgeben wolle seines hohen Alters wegen, und schien ihnen
auch gut, was er gesagt, daß sie den jungen sollten herziehen. Also
schrieben sie Briefe und schickten die fort, und es wollte auch das
Glück, daß der Junge ja sagte, sich auf die Reise machte und angezogen
kam.

Der Alte hatte eine große Begier, ihn zu sehen, und wie denn von einem
Bauern durch Zufall erzählt wurde, daß er einige Meilen vor der Stadt
in einem Wirtshause dem Manne begegnet sei, der da gesessen habe und
habe getrunken und viel Rühmens gehabt von seiner Kunst, da zog er
sein gutes Kleid aus feinem Tuch an und seinen Pelzmantel, setzte sich
auf ein Pferd, dem Fremden entgegenzureiten. Wie er ihn noch in der
Wirtschaft antraf, wunderte er sich zwar sehr, daß der Mann gar nicht
erschien nach ehrbarer Bürger Art, sondern hatte einen langen Raufdegen
an der Seite und als Gewand trug er einen lumpichten Koller wie ein
gartender Lanzknecht.

So setzte er sich nun neben den Jungen mit einer zierlichen Anrede,
welche der auch mit großer Höflichkeit und Geschwinde der Zunge
erwiderte, erzählte von dem Bilde, wie er großen Gefallen an dem
gefunden, und er sei selber auch Maler und habe viele Tafeln vollendet
in seinem Leben. Der Fremde erwies sich als ein Mann von frohem Mute,
der gern lachte, Späße erzählte und allerlei Scherz trieb mit den
kichernden Mägden. Solches Wesen hatte der alte Meister bis dahin
nicht gekannt; aber er dachte, daß die heutige Jugend wohl in allen
Dingen fröhlicher ist wie die frühere. Während dem Reden und Spaßen zog
dann der Junge ein Büchlein aus der Tasche und zeichnete mit flinken
Strichen des Silberstifts die fliegenden Röcke einer Dirne, welche am
Fenster vorbeijachterte zum Ziehbrunnen mit zwei Eimern in den Händen;
hier erstaunte der Alte wieder über die Lebendigkeit und natürliche
Schönheit der Zeichnung, freute sich des jungen Gesellen und ward gegen
aller Erwarten mit einem Male selber ganz lustig, daß er Wein bestellte
und eifrig mit dem andern becherte.

Nun zeigte es sich, daß der Beiden Art zu arbeiten ganz verschieden
war, denn der Alte setzte sich in die Einsamkeit, brütete über seiner
Aufgabe und brachte es dahin, daß ihm endlich ein herrliches Bild vor
der Seele stand, durch seinen Willen, welchen er auf seine Absicht
gerichtet; das mühte er sich dann auf dem Holz festzuhalten durch
fleißige und sorgfältige Arbeit. Der Junge aber lebte in der Welt,
freute sich mit den Menschen, und die Frauen hatten ihn lieb, trotzdem
er ein frecher Geselle war; da zeichnete er in sein Buch dann viel,
das er sah, mit wenigen Strichen, und dachte: Dieses brauche ich für
dieses Bild, und das für jenes, und auch was ich von solchen schnellen
Zeichnungen nicht brauche, das gefällt mir doch, und macht mir solches
Zeichnen Freude, wie einem jungen Mädchen das Tanzen. Hatte er dann
aber einen Auftrag für ein großes Bild, so suchte er zuerst immer
in seiner Erinnerung, wo er Menschen gesehen, die wohl so aussehen
mochten, wie die Leute, welche auf seinem Bilde abgemalt sein sollten,
Männer und Frauen, und dann ging er hin zu denen, bat freundlich, und
sie gewährten es ihm meistens, daß sie sich vor ihm in der Stellung
halten sollten, welche der Mensch auf dem Bild haben mußte, und danach
malte er dann treu seine Figur, und aus vielen solchen Figuren setzte
er sein Bild zusammen.

An solche Möglichkeit des Arbeitens hatte der Alte noch nicht gedacht,
und wie er erst eine Weile des Jungen Art beobachtet hatte, da sah
er sehr wohl, daß die Jungfrauen, die er selbst malte, Arme hatten,
die eng an die Seite gedrückt waren und das Jesuskindlein hielten mit
steifer Haltung und ohne Lieblichkeit, und so war auch alles andere.
Aber wie er das eingesehen hatte, da ward ihm, als sei er mit einem
Male wieder ein ganz Junger geworden und fange in allem von vorn
an, und fühlte eine Hoffnung und Zuversicht, daß er lachend zu dem
andern sagte, nun werde er ihn noch übertreffen. Der aber, als ein
fröhlicher und leichter Mann sonder Harm und Groll lachte desgleichen
und antwortete, wenn er das vermöchte in seinem Hochalter, so wolle
er ihn für den tüchtigsten Maler halten, den es je gegeben, bei den
alten heidnischen Völkern wie bei den neueren. Und so wurden sie beide
fröhlich, und ließ der Alte Wein holen, wie er denn nun gewohnt war,
seit er des Jungen Gesellschaft hatte, und saßen lange zusammen in
Kunstgesprächen.

Nun geschah es, daß der junge Maler eine leichtsinnige Dirne annahm,
welche hübsch gewachsen war von Körper und auch ein anmutiges Gesicht
hatte; die gebrauchte er für seine Kunst, indem er sie in allen
Stellungen, welche ihm nötig schienen, zeichnete und malte, und in viel
verschiedenen Gewändern, wie auch ohne alle Kleider und gänzlich nackt.
Dieses Mädchen blieb eines Abends noch in der Werkstatt, als der alte
Mann zum Besuch kam, und wie nachher gesprochen und getrunken ward, da
ergriff sie eine Laute, welche des Jungen war, und sang ein lustiges
Lied, das damals von Allen gesungen wurde, und so wurden sie alle drei
recht fröhlich, und der Alte betrachtete mit scharfen Augen alle ihre
Bewegungen und prägte sie seinem Gedächtnis ein, am Ende aber ergriff
er einen Stift und zeichnete auf den Tisch die merkwürdige und schnelle
Wendung ihrer Füße, wie sie in kurzen Kleidern in der Werkstatt hin und
herging, denn sie machte die Wirtin. Da sagte er zu dem andern: »Heute
habe ich meinen Bart im Spiegel betrachtet, der war zwanzig Jahre lang
schneeweiß, und nun finde ich ganz schwarze Haare in ihm; so will auch
mein Körper sich verjüngen, wie sich mein Geist schon verjüngt hat.«

Diese Freude wurde aber durch einen wunderlichen Zufall gestört. Denn
wie das Mädchen wiederum ein Lied sang zur Laute, da ward der Alte
plötzlich ganz still und sah das Mädchen mit großen Augen an, die waren
so dunkel geworden, daß sie sich fürchtete, zu ihrem Herrn trat und mit
Singen aufhörte. Da schlug der alte Mann mit der Faust auf den Tisch
und wollte aufstehen; aber er fiel zurück, legte sein Haupt in seine
Hände und fing heftig an zu weinen.

Der Junge, in Gutmütigkeit, vermeinte ihn zu trösten; und weil
er dachte, daß des Alten Kummer auf irgend welche Weise mit der
Frauensperson zusammenhänge, sagte er ihm, ein Weib sei nur ein Ding
wie ein Hund oder Pferd, aber nicht unseresgleichen; erzählte dann
auch, er werde jetzt ein groß Geld kriegen für sein Bild, dann wollten
sie zwei ein lustig Leben führen und alles vertun. Aber solche Reden
halfen nichts, und am Ende gab sich der Alte von selbst, setzte sich
aufrecht in seinen Stuhl, schickte die Dirne aus der Werkstatt, welche
denn gar gern ging, denn vor dem Alten fürchtete sie sich und des
Jungen Rede hatte sie verdrossen, und begann so zu reden:

»Lieber, wenn ich mein Gemüt nicht bezwingen könnte, so möchte ich dich
jetzt bitterlich hassen. Denn das Lied, welches die Dirne eben sang,
das habe ich selber gemacht vor vielen Jahren, denn ich war damals ein
Jüngling von zwanzig, und heute bin ich ein Neunziger. Das war für
eine Jungfrau, die heiratete mein Freund, und seitdem ist sie selbst
alt geworden und ist gestorben, und ihre Kinder sind alt geworden und
sind gestorben, und ihre Enkelin ist nun schon ein altes Weib, so lange
ist das nun her; aber gegen meinen Freund zog ich damals mein Messer
und verwundete ihn hart, nachher bereute ich, tat Buße und habe ihn
gepflegt in seiner Krankheit, damals war es, daß ich zuerst lenkte alle
meine Inbrunst auf meine inwendigen Bilder und begann zu malen in der
Weise, welche du kennst, und wurde ein froher Mann, auch ohne Weib und
Kind; denn es sind ja Weib und Kind auch ein Hindernis.«

Darauf schwieg er eine Weile. Dann fuhr er fort: »Nun scheint mir aber
jetzt, daß ich verblendet gewesen bin, wie ich deine Bilder gesehen
habe, denn deine ganze Art und Kunst ist törlicher und leichter Art
und kann nicht bestehen vor einem ernsten Gemüt.« Der andere vermeinte
ihn immer noch zu beruhigen, er aber nahm seine Mütze und ging aus dem
Hause ohne Gruß und Abschied; und wie er in seiner eigenen Werkstätte
angekommen war, steckte er einen Kienspan an und beleuchtete alle seine
Bilder, welche er neulich gemacht, seufzte tief, nahm jedes von seinem
Ort und zerspellte es mit einer Axt in der Küche auf dem Fleischklotz,
da seine Haushälterin das Fleisch wiegte, denn er hatte keine Zähne
mehr und konnte nichts Hartes genießen.

Nach diesem hielt er sich Wochen zu Hause und zu seiner Arbeit, ohne
sich um seinen Gesellen zu kümmern, machte dem auch nicht auf, wie
er ihn besuchen wollte, sondern entsendete ihn mit harten Worten,
welche endlich sich auch der in sein harmloses Gemüt nahm und ihn nun
desgleichen mied.

Es vermochte aber der Alte in diesen Wochen nichts zustande zu bringen,
sondern saß nur immer und strengte sich an mit Mischen der Farbe,
Zurichten der Tafeln und anderm handwerksmäßigen Tun. Hierüber faßte
er einen Gram, der fraß ihm am Herzen, daß er krank wurde und im Bett
liegen mußte.

Nun hatte er wohl eine sehr starke Natur, aber das hohe Alter zwang ihn
doch, also, daß er arg von Kräften kam; und am Ende genas er zwar und
stand auf von seinem Bett, aber da war er gar klapperig und schwach
geworden, mochte nicht viel mehr gehen, geschweige daß er hätte ein
Pferd besteigen können, sondern saß gern und viel in der Sonne und
wärmte sich.

Weil er in dieser Verfassung nun wieder freundlicher schien und milder
denn früher, lachte auch wohl einmal mit Kindern, die da auf der Straße
spielten, so dachte sein Beichtiger, daß er ihn wollte wieder versöhnen
mit dem jungen Maler, damit er nicht dereinst in einer Feindschaft mit
einem Menschen abfahren müsse. So ging er zu ihm und sprach mit ihm,
der seufzte und klagte, daß er nichts mehr arbeiten könne, aber auf des
Pfaffen Vorhalten gab er zu, daß er an seines Lebens Grenze angelangt
sei und müsse Gott nur danken für die Gnade eines solchen langen Lebens
voller Kunst und Kraft. Durch diese Gespräche ward er erweichet, daß er
am Ende beistimmte und sprach, er wolle sich versöhnen, und wolle auch
mit dem Jungen zusammen das Abendmahl nehmen auf die neue Freundschaft.

So ward nun alles abgemacht, und trafen sich die Beiden an der
Kirchentür, und nahm der Alte mit einem freundlichen Lächeln die
schwarze Mütze von seinem weißen Haar, drückte dem Jungen die Hand und
sprach mit Herzlichkeit zu ihm, daß der in ganz besondere Fröhlichkeit
kam und ihm die Hand küßte, welche zitterte; denn er hatte vor dem
alten Mann eine sonderliche Hochachtung.

Nun gingen sie zusammen durch die Tür; da faßte der Riemen, daran der
Alte sein Messer am Gurt hängen hatte, in das Schloßblech, sodaß der
schwache Mann ins Wanken geriet; der Junge griff ihn schnell unterm
Arm und stützte ihn, und so schritten sie vorwärts in der Kirche
miteinander, wie der Urahn mit seinem Enkel, so sehr schienen sie
zusammengehörig. Darauf stellten sie sich zusammen hin, recht in die
Mitte der Kirche, vor den Altar, daran der Priester zelebrierte.

Aber auf dem Altar stand ein Bild des Alten, das er gemalt hatte vor
nunmehr wohl fünfzig Jahren, das stellte den Schmerzensmann vor; wie
er das wieder ansah, und er hatte genug Zeit zu solchem Ansehen,
da zog wieder alles in sein Herz, das er einst gefühlt hatte, und
das Herz hob sich ihm. Da zog er sein Messer aus der Scheide, mit
Ungeschicklichkeit, und ehe sich einer solches versah, stieß er zu und
traf den Jungen gerade an einer sichern Stelle, daß er umfiel ohne
einen Laut, und so wenig Aufsehen hatte diese Schnelligkeit und Ruhe
gemacht, daß der Priester noch fortfuhr im Amt, wie schon das Blut aus
dem Toten sich auf den Fliesen verbreitete.



Die Liebe des Flibustierführers


Im Jahre Siebzehnhundert war an einem nebeligen und kalten Herbstabend
in London in der niedrigen holzgetäfelten guten Stube des alten
Wirtshauses zum Anker eine kleine Gesellschaft von Kapitänen und
Reedern versammelt. Die Männer tranken einen schweren Südwein aus
großen Gläsern, priemten und spuckten. Das Gespräch war nach manchen
verschiedenartigen Erzählungen auf das damals in diesen Kreisen
unerschöpfliche Thema der Flibustier gekommen, die im Golf von Mexiko
die merkwürdigsten Taten gegen die Spanier vollführt hatten. Einer
der älteren Kapitäne hatte in seinen jungen Jahren noch unter Monbars
gedient. Er hatte erzählt, wie Monbars in einem kleinen offenen
Ruderboot mit zwölf Mann sich an eine spanische Fregatte gehakt, an
Bord geklettert war, und mit seinen Leuten sich durch die spanischen
Soldaten mit dem Säbel durchgeschlagen, von vorn bis hinten und dann
wieder zurück, und wie er immer ausrief, während die Spanier vor ihm
fielen: »Und das muß ich tun, der ein so weiches Herz hat.« »Wie die
Hammel vor dem Hund drängten sie sich«, erzählte er.

Ein alter weißhaariger Reeder mit ausrasiertem Kinne sagte mit
gespielter Gleichgültigkeit: »Ich habe gestern mit Morgan zusammen auf
einer Bank gesessen und habe ihm Schwamm für seine Pfeife gegeben!«
Die Männer lachten. Er wiederholte unerschüttert »ich habe ihm Schwamm
gegeben.« Dann erzählte er.

»Wie ein alter Affe sah er aus, dem man die Haut im Gesicht abgezogen
hat und schwarze Pflaster auf die Augen geklebt.« Einige behaupteten,
daß man als letztes von ihm gehört habe, vor langen Jahren, wie er nach
England hatte zurückfahren wollen, daß die Matrosen ihn erkannt hatten,
unter denen alte Flibustier waren und nachts in seine Kajütte gekommen
waren; ob die Geschichte gelogen war, wußte man nicht; aber er sollte
auf der Tonne gesessen haben mit den Edelsteinen und dem Gold, das er
den Flibustiern nach der Einnahme von Panama gestohlen hatte, und um
ihn standen sechs Tonnen mit Pulver, und in die eine klopfte er seine
brennende Pfeife aus. Der alte Kasten war in die Luft geflogen, und
so hatte wohl keiner Zeit gehabt, einem die Geschichte zu erzählen.
Aber die Seeleute denken, ein starker Glaube gehört zu ihrem Geschäft.
»Der Bart wird ihm wohl damals versengt sein«, meinte der alte Reeder.
»Man konnte seine zweiunddreißig Zähne hübsch zählen, sie waren alle
da, und weiß wie Elfenbein, und von der Nase waren ihm nur die Löcher
geblieben, durch die konnte man ihm in den Rachen hineinsehen.« Ein
junger Kerl meinte lachend, es gebe wohl so eine Art Liebe, die einen
so zurichten könne. Der alte Flibustier sah ihn strafend an und
sagte: »Wenn wir so etwas hatten, dann fraßen wir vier Wochen lang
Schildkrötenfleisch, dann waren wir wieder wie eine Stange Silber.«

Der Reeder fuhr fort: »Er hatte einen schmutzigen alten Juden als
Führer, der trug keine Hosen unter dem Kaftan, die haarigen Beine
staken ihm unten heraus. Aber er sorgte für ihn, wie die Amme für
das Kind: Hier ist ein Steinchen, da ist ein Klötzchen, da kommt eine
Herrschaft.« Die andern lachten.

Im Hause des Reeders wohnte im Oberstock eine alte spanische
Amerikanerin, aus Panama, die etwas wirr war im Kopf. Sie war gelb wie
eine Zitrone und hatte einen Schnurrbart wie ein Ungar, aber zwei Augen
rollten ihr im Gesicht wie zwei glühende Kohlen, und eine Stimme hatte
sie wie eine Geige, wenn sie sang. Und sie sang sehr viel, daß man sich
wundern mußte, wie sie das aushielt. Es wollte kein Dienstmädchen bei
ihr bleiben, weil sie ihnen immer Stecknadeln in den Arm steckte, wenn
sie ihre spanischen Worte nicht verstanden. Die kam zufällig an der
Bank vorbei. Sie sang ein Liebeslied:

    ~Por un soto verde y ambroso
    Se salió Amor paseando,
    De los amentes quejoso,
    Porque su fuego amoroso
    Trataban los mas burlando.~

Der Blinde sprang auf und zitterte, die holländische Tonpfeife fiel
aus seinen nackten Zähnen und zerbrach auf der Erde, und er sang den
zweiten Vers krächzend und heulend, weil ihm die Nase und Lippen
fehlten:

    ~Y como yo pude verle
    En parte do no me via,
    Determiné responderle
    A las quejas que traia,
    Solo por entretenerle.~

Die wahnsinnige Alte sah ihn an, dann hielt sie den Fächer vor das
Gesicht und warf ihm über den Fächer hin kichernd einen schmachtenden
Blick zu. Dann nahm sie ihr Mädchen am Arm und zog sie eilig fort, sah
sich noch einmal lachend um und sang:

    ~Y una respuesta buscando,
    Que á la de Eco pareciese,
    A lo que iba preguntando
    Le respondí, procurando
    Que esto solo de mí oyese:
                      Yo soy ese.~

Der Reeder fuhr fort, daß er dem Juden zwei Schilling gegeben habe,
damit er ihm alles erzählte. Dieses ist nun die Erzählung des Juden.

Ich bin in Czenstochau geboren und lebte bis zu meinem fünfzehnten
Jahre bei meinem Vater, der einen großen Handel mit Lumpen und altem
Eisen hatte. Damals hörte ich zum ersten Male über die Flibustier von
einem deutschen Handwerksburschen, der bei uns auf dem Boden nächtigte,
und es fiel mir gleich in den Sinn, daß sich mit denen ein Geschäft
machen ließ. Denn auf ihren Raubzügen nehmen sie außer dem baren Geld
nur Ware mit, die leicht zu versilbern ist, namentlich Edelsteine und
Schmuck, und wenn sie von einer Fahrt zurückkommen, so ruhen sie nicht
eher, bis sie alles verpraßt haben. Deshalb machte ich mich an einige
hübsche Mädchen und versprach ihnen reiche Männer, wenn wir drüben
wären, zog mit denen nach Amsterdam, unter großen Geldkosten, nahm
in Amsterdam noch eine Anzahl Fässer mit feinen Likören und schweren
Weinen mit und begab mich auf ein Schiff, das auf Kuba heimlich
Kakao holen wollte. Meine Frauenzimmer machten auf dem Schiff einen
greulichen Spektakel, wie sie merkten, worauf es abgesehen war, aber
der Kapitän war ein anständiger Mann und stand auf meiner Seite, denn
so einhundert Gulden hatte mich jedes Mädchen schon gekostet. Er sagte
mir freilich gleich voraus, daß ich bei den Flibustiern mit der Ware
nichts verdienen würde. Wie wir auf der Höhe der Schildkröteninsel
waren, traf uns ein Flibustierboot. Der Kapitän zog die spanische
Flagge nieder, unter der wir bis dahin in diesen Gewässern gesegelt
waren und hißte die holländische, die Flibustier kamen aber doch an
Bord. Sie hatten nichts an, wie Hose, Hemd und Hut und kletterten wie
die Eichhörnchen an den glatten Planken hoch. Sie hatten ungeheuer
große Büchsflinten in der Hand, und wie sie oben waren, nahm jeder
gleich einen Mann aufs Korn. Wie sie sahen, daß wir wirklich Holländer
waren, beruhigten sie sich. Mich warfen sie gleich in ihr Boot, wie
ich gesagt hatte, daß ich zu ihnen wollte, ich dachte, ich hätte alle
Rippen gebrochen. Dann warfen sie meine Fässer hinterher und brachten
auch die drei Mädchen mit. Es schien, daß die drei stärksten sie sich
genommen hatten, mich fragten sie gar nicht. Die drei stellten sich vor
sie hin mit ihren Flinten und sagten: »Was ihr vorher getan habt, das
geht uns nichts an, wenn jetzt etwas passiert, dann haben wir unsere
Büchse. Nun seid ihr unsere Frauen und müßt unsere Hemden waschen.«
Dann wurde fortgerudert und ich mußte mitrudern, und wie ich ohnmächtig
wurde, da band einer seinen Gürtelriemen ab und schlug mich, daß mir
das Blut den Rücken herunterlief. Da bin ich nicht wieder ohnmächtig
geworden, aber ich habe mir beinahe die Zunge durchgebissen. Ich sagte
ihnen, sie sollten mir wenigstens etwas für die Jungfernschaft der drei
Mädchen geben, aber sie lachten und sagten, aus der Jungfernschaft
machten sie sich nichts. Sie setzten uns auf der Schildkröteninsel ab,
ich ging zu dem Gouverneur Seiner Majestät des Königs von England,
er erlaubte mir meinen Handel. Ich bekam meistens Goldstaub, den ich
in einer Schweinsblase hielt. Man konnte alles offen liegen lassen,
es wurde nichts gestohlen. Es waren wenig Flibustier da, denn Morgan
machte gerade seinen berühmten Zug, von dem ich nun erzählen will.
Wie die Nachricht kam, daß er Karthagena geplündert hatte, wurden
alle wütend, die auf der Schildkröteninsel waren, denn da hatte es
große Beute gegeben, sie schoben ihre Boote in die See und wollten
zu ihm rudern, denn es wurde auch schon von Panama gesprochen. Mir
redeten sie zu, ich sollte auch mitkommen, und da war etwas zu holen,
und damals war ich so mutig geworden, daß ich mir aus dem Leben gar
nichts mehr machte, denn ich dachte: einmal muß ich doch sterben. Zwei
in unserem Boot mußten immer schöpfen, denn das Wasser floß immer
oben hinein, weil die Wogen hoch gingen, aber die Flibustier ruderten
in ihrer Wut immerzu. Wir brauchten fünf Tage bis zu dem Fort San
Lorenzo an der Mündung des Chagro, das Morgan erobert hatte. Zu der
Zeit aßen wir nur Zwiebäcke, die vom Wasser aufgeweicht waren, denn
es war nichts trocken zu halten im Boot, und ich hatte zwei Fässer
guten Branntwein mit, dadurch kamen die Flibustier sehr in Schulden bei
mir, denn sie mußten alle zusammen bürgen, damit ich keinen Schaden
hatte an den Toten. Wie wir kamen, hielt Morgan gerade Musterung; er
nahm dreizehnhundert Mann mit nach Panama; wie wir in unsere Boote
stiegen, brachten wir ein Hoch auf den König von England aus und auf
Morgan, aber bei Morgan schrien sie lauter. Wir mußten den Chagro
aufwärts rudern, aber wir hatten so wenig Platz in den Fregatten, daß
wir uns nicht einmal setzen konnten. Da wurden wir sehr müde. So kamen
wir am ersten Tag bis Rio de los Braços, da wollten wir uns etwas
zu essen holen, denn wir hatten nichts mitnehmen können. Aber die
Spanier, die da wohnen, hatten alles Korn abgeschnitten und das Vieh
fortgetrieben, und die Häuser waren ganz leer. Wir schliefen wenigstens
in den Häusern auf dem Fußboden, aber zu essen gab es gar nichts,
so stopfte sich jeder eine Pfeife Tabak. Ich hatte noch ein Fäßchen
Branntwein, das verkaufte ich, das Gläschen für eine Unze Gold, auf
Kredit; da wurde ich ein reicher Mann, denn die Flibustier bezahlten
immer ehrlich, nur meine Mädchen hatten sie mir ohne Geld abgenommen,
denn sie sagten: man darf mit rotem und schwarzem Menschenfleisch
handeln, denn das ist von Gott dazu geschaffen, daß wir es brauchen,
aber mit weißem Menschenfleisch zu handeln ist Sünde. Am zweiten Tage
ließen wir unsere Fregatten liegen, denn der Fluß war nicht mehr tief
genug und war auch ganz versperrt von Baumstämmen. Ein Teil der Leute
mußte dableiben, damit uns die Spanier nicht hinter unserem Rücken die
Schiffe wegnahmen. Wir wollten zu Fuß weiter, aber der Morast war so
tief, daß viele nicht wieder heraus konnten und erstickten. Deshalb
setzten wir uns in kleine Kähne. Aber weil wir zu wenig Kähne hatten,
so fuhr ein Teil von uns immer flußaufwärts, dann stiegen wir an einer
festen Stelle aus und warteten, und die Kähne fuhren zurück und holten
andere. Da sah mich Morgan das erstemal und sagte den Flibustiern,
sie sollten mich in den Fluß werfen, weil ich nichts nütze wäre. Aber
die Flibustier antworteten ihm, daß sie mir schuldig wären, deshalb
dürften sie das nicht. Den zweiten Tag mußten wir im Freien schlafen.
Den dritten Tag ging es genau so wie den zweiten. Da schimpften die
Flibustier, daß sie noch keinen Spanier gesehen hatten, denn sie waren
ganz schwach vor Hunger und dachten, daß die Feinde etwas zu essen bei
sich hätten; sie aßen aber Laub und Gras, und darunter war manches
Ungesunde. Auch war es schlecht, daß wir im Freien schlafen mußten,
denn die Nächte waren so kalt, daß es am Morgen reifte, und wir hatten
nur Hose und Hemd an und weiter nichts. Am vierten Tag wurde es besser,
da konnte man am Fluß entlang marschieren, weil wir höher kamen, und
da ruderte die eine Hälfte in den Kähnen und die andere marschierte.
Und zwei Flintenschüsse vor uns gingen immer zwanzig oder dreißig Mann
mit dem Führer und waren ganz leise, denn wir hofften, daß die Spanier
uns einen Hinterhalt gelegt hätten und hofften, sie zu überraschen,
daß sie nicht vor uns flohen, denn wir dachten, daß sie etwas zu
essen bei sich hätten. Am Mittag trafen unsere Leute auch auf einen
Hinterhalt, da freuten wir uns, und jeder schüttete frisches Pulver auf
die Pfanne, und dann schrien wir laut und stürzten auf die Verschanzung
los, und ich war auch dabei, denn ich fürchtete mich nicht, ich
hatte aber keine Flinte; aber da fielen wir beinahe um vor Schreck,
denn sie hatten immer solche Angst vor den Flibustiern, daß ihrer
zehn vor einem fortliefen. Und sie hatten alles Essen mitgenommen,
nur leere Tornister lagen noch da. Da freuten wir uns zuletzt doch,
schnitten das Leder ab und nahmen es mit. Und am Nachmittag hatten
wir noch einmal eine vergebliche Freude, denn wir fanden wieder eine
leere Verschanzung, aber die Spanier hatten wieder ihre Tornister
zurückgelassen. Da hatten wir am Abend wenigstens etwas zu essen, denn
wir schnitten das Leder in kleine Stücke, weichten sie in Wasser auf,
schabten die Haare ab, klopften sie zwischen zwei Steinen und rösteten
sie dann. Am fünften Tag hatten wir ein großes Glück, da war wieder
eine Verschanzung, aber die Spanier hatten zwei Säcke Mehl vergraben,
ehe sie flohen, die fanden wir und schleppten sie vor Morgan, und der
verteilte sie an die, welche das Leder nicht vertragen konnten, da
habe ich auch wohl ein viertel Pfund Mehl erwischt. Am sechsten Tage
mußten wir uns oft ausruhen, denn wir waren sehr schwach, weil wir zu
wenig gegessen hatten, da fanden wir aber eine Scheune, die war voll
Mais, der noch im Kolben war, da stopfte sich jeder sein Hemd über dem
Gürtel voll, daß er aussah wie eine Rübe mit zwei Wurzeln, und dann
aßen wir den rohen Mais im Marschieren, denn wir dachten, wenn wir
uns mit Kochen aufhielten, so würden wir immer schwächer und könnten
nachher nicht mehr unseren Mann stehen, wenn es ans Arbeiten ging,
denn schon beim Schießen ist es ja schlimm, wenn der Arm nicht ganz
fest ist. Jetzt konnten auch die Kähne nicht mehr weiter, da mußten
wir alle gehen. Am siebenten Tag morgens schoß jeder seine Büchse
ab, putzte sie ordentlich und lud sie neu, aber wir kamen erst nach
Cruz; da waren die Leute auch geflohen und hatten alles angesteckt; es
brannte noch, wie wir kamen, und die Flibustier lachten und glaubten,
sie könnten ihr Fleisch bei dem Feuer braten, aber es waren nur noch
ein paar Hunde und Katzen da, die aßen wir. Am achten Tag hielt Morgan
morgens Musterung, da waren wir noch elfhundert Mann, und nun wurde
es gefährlich, denn von Cruz bis Panama, jenseits der Wasserscheide,
ist der Weg so eng, daß oft nur zwei Mann nebeneinander gehen können.
Wie wir in dem Engpaß waren, kamen plötzlich viele Pfeile von oben,
und etwa zehn Mann wurden getroffen, aber man sah oben nur Sträucher
und Bäume. Da schossen wir aufs Geratewohl nach der Richtung, und
schossen zwei von den Indianern herunter, die andern flohen, und wir
zogen weiter. Vor dieser Stelle hatten wir Furcht gehabt, denn wenn
die Spanier nicht solche Angst hätten, so hätten hundert Mann uns hier
alle zusammenschießen können. Aber nun wurde es sehr schlimm, denn es
kam ein kalter Regen, und wir waren fast ganz nackt, weil die Dornen
uns alles zerrissen hatten, und des Nachts deckten wir uns mit Gras und
Laub zu, wenn das auch naß war, daß wir die Wärme im Körper behielten.
Hier war es aber, wo mich Morgan zuerst in seine Macht bekam. Denn es
war ihm ein Pfeil durch den Fuß gegangen, wir waren doch alle barfuß,
und unten war die Spitze abgebrochen, und wie er ihn herausziehen
wollte, da brach auch das obere Ende ab. Da mußte ich mich auf allen
vieren niederknien, und er setzte mir den Fuß auf den Rücken, steckte
einen Ladestock in die Wunde und schlug mit einem Stein darauf, daß
das Stück von dem Pfeil, das in der Wunde steckte, herauskam. Dann
wickelte er erst saubere Blätter um den Fuß und zerriß sein Hemd und
verband ihn damit, und weil er nicht gehen durfte wegen der Entzündung,
so hüpfte er auf einem Bein und stützte sich auf mich, das war sehr
anstrengend für mich. Am neunten Tag schossen wir wieder die Büchsen
ab und luden neu, wegen der Nässe, dann kamen wir in die Ebene. Da
sahen wir Vieh und einige Spanier zu Pferde. Die Männer flohen, und
wir machten uns an die Rinder, zogen sie ab und zerschnitten sie;
aber Feuer durften wir nicht anzünden, denn einer war auf einen Baum
gestiegen und hatte die Türme von Panama gesehen. Da schrien wir alle
vor Freude, und die Spanier waren ausgerückt und schrien auch, und
wir aßen unser Fleisch roh. Da wurden wir satt, und obwohl es noch
zwei Stunden vor Sonnenuntergang war, so legten wir uns doch hin und
schliefen, denn wir wollten frisch sein für den Kampf. Und die Spanier
hatten die ganze Nacht durch Wachtfeuer. Am andern Morgen führte uns
Morgan einen versteckten Weg; wir beide gingen immer voran, er war
auf mich gestützt und hüpfte, und wir kamen auf einen Hügel und sahen
unten die Spanier. Die schickten zuerst zweitausend wütende Stiere
gegen uns und dann ihre Reiterei, und Morgan, der seinen Ort ausgesucht
hatte, schickte ihnen nur zweihundert Flibustier entgegen. Die Stiere
und Reiter gerieten in einen Sumpf, das hatte Morgan gewollt, und die
Flibustier schossen, und jeder traf immer seinen Mann; da waren in
einer halben Stunde nur noch etwa fünfzig Reiter übrig, die flohen;
und gegen die Stiere liefen einige Mann, die ihre Lumpen in der Luft
schwenkten und schrien, und so wendeten sie die Stiere zur Seite, daß
sie immer weiter fortstürzten und zuletzt nicht mehr von ihren Leuten
eingeholt werden konnten. Wie die Fußsoldaten das sahen, schossen sie
ihre Gewehre in die Luft und liefen fort, und die Flibustier liefen
hinter ihnen her und schossen viele tot, namentlich zielten sie auf die
Mönche, die bei den Soldaten waren; Gefangene aber machten sie nicht,
denn das hatte Morgan verboten, sondern wenn einer sich ergeben wollte,
so wurde ihm der Hals abgeschnitten, um Pulver zu sparen. Die Spanier
waren im ganzen dreitausend Mann stark gewesen, und wir hatten nur zwei
Tote und zwei Verwundete, die Spanier aber ließen sechshundert Mann
auf der Strecke. Das ist schwer zu glauben, aber die Flibustier hatten
die Meinung, daß ihnen alles glückte, wenn sie Morgan anführte. Morgan
aber spuckte seinen Priem aus und steckte seine Pfeife an, denn damals
rauchte er nur, wenn Gefahr war, und das Priemen war er gewohnt von der
Zeit her, wo er noch Matrose gewesen war. Jetzt raucht er, weil ihm
das Pulver die Backen fortgerissen hat, aber er kann nicht ordentlich
ziehen, deshalb ist die Pfeife immer kalt, aber er merkt es nicht. Er
sagte, jetzt müßten wir gleich auf die Stadt losgehen, ehe sich die
Feinde wieder sammelten; und auf allen Hauptstraßen hatten die Spanier
Barrikaden von Mehlsäcken gemacht und hatten Kanonen dahinter, aber
wir gingen durch eine Nebenstraße in die Stadt und fanden alles leer,
bis wir auf den Marktplatz kamen, da standen Kanonen, und eine wurde
losgeschossen und tötete fünfundzwanzig Mann; die andern aber wurden
nicht mehr abgeschossen, denn wir schnitten der Bedienung gleich die
Kehlen durch. Nun hatte Panama siebentausend Häuser und allein acht
Klöster, und alles Gold und Silber aus Peru wurde nach Panama gebracht,
ehe es nach Spanien ging, dazu waren allein zweitausend Maultiere
da. Deshalb war die Stadt sehr reich, aber die Spanier hatten alle
ihre Schätze in den Kellern und sonstwo vergraben. Deshalb war es die
Hauptsache, daß wir die Spanier fingen. Zuerst streckten wir sie auf
Heuwagen, wir banden sie mit den Füßen an der Schere fest, wickelten
ihnen das Heuseil um die Handknöchel und zogen sie von hinten mit der
Winde lang. Aber dabei starben viele, ehe sie gesagt hatten, wo sie
ihre Schätze hatten, weil wir zu hastig waren, deshalb erfand Morgan,
daß wir sie schnürten und mit den Füßen über Feuer legten, da gestanden
sie, und wenn welche starben, so starben sie nachher, und das war
uns ganz recht, denn wir konnten so viele überflüssige Esser nicht
gebrauchen.

Und damals geschah die Geschichte mit der Spanierin, die wir unvermutet
wiedergetroffen haben. Sie war damals vierzehn Jahre alt und das
schönste Mädchen, das ich gesehen habe, und ich verstehe mich darauf,
denn mir sind nachher noch viele Mädchen durch die Hände gegangen,
denn ich habe Morgan mit meiner Arbeit ernährt, wie er blind war.
Sie war in einem versteckten Landhaus gefangen, das über zwei Stunden
von Panama entfernt war, wo ihre Eltern sie sicher geglaubt hatten.
Wie Morgan sie sah, ließ er sie gleich losbinden und gab ihr drei
Negerweiber zur Bedienung und wies ihr ein schönes Haus an, dann
mußte ich ihm das Haar schneiden und ihn rasieren, und er zog eine
goldgestickte Uniform an und Stiefel. Sie lachte immer und sagte, ihre
Leute erzählten immer, die Flibustier seien Teufel und keine Menschen,
aber wir wären doch sehr gutmütig und ließen jedem seinen Willen,
und wären eben solche Menschen wie die Spanier. Damals sang sie auch
oft zur Gitarre das Lied, das sie hier sang, und Morgan saß stumm zu
ihren Füßen und hörte zu, denn er scheute sich zu sprechen, weil seine
Stimme durch das viele Trinken und Schreien und die vielen Erkältungen
sehr häßlich war, denn auch sonst war er für ein Mädchen nicht schön,
weil er kurz und breit war und lange Arme mit breiten Händen hatte
und kurze Beine, und die Uniform paßte ihm gar nicht. Die Flibustier
schimpften untereinander über ihn, daß er sie aus Verliebtheit in
Panama zurückhalte, bis ihnen die Spanier auf den Hals kämen, aber es
wagte ihm keiner etwas zu sagen. Morgan ließ ihr durch eine Negerin
sagen, daß er sie heiraten wollte und mit ihr nach England gehen und
vornehm leben, denn Morgan war ein Schlauer, der sein Geld vergrub. Wie
er kam, sagte sie ihm, er sei ein Hund und solle nicht zu ihr kommen.
Da schickte er die Negerweiber fort und war allein mit ihr und wollte
sie küssen, sie aber zog einen Dolch und stach ihn, und wußte Bescheid
und stach von unten nach oben, sodaß sie ihn beinahe getötet hätte. Da
ging er fort, ließ an ihre Eltern schreiben und ließ sie auslösen für
dreißigtausend Piaster. Und seit der Zeit hatte er keine Freude mehr am
Flibustierleben. Denn dann machte er den Betrug und betrog uns alle,
denn er sagte, es solle jeder seine Beute auf einen Haufen bringen, und
er wolle abschätzen und teilen, und da behielt er heimlich das meiste.
Viele sagten untereinander, sie wollten ihn totschlagen, aber ihm
ins Gesicht machte keiner Vorwürfe; ich selber habe damals ganz gut
verdient, denn es waren mir wohl hundert schuldig, die bezahlten und
ich bekam fast alles, was auf ihr Teil gefallen war.«

Wie der Reeder seinen Bericht geendet hatte, schwiegen die andern eine
Weile. Dann sprachen einige ihren Zweifel aus, ob der Jude nicht für
seine zwei Schillinge gelogen habe, denn viele behaupten auch, daß
Morgan gehängt sei, wie er nach England kam. Zuletzt aber meinten sie
alle, daß die Erzählung jedenfalls außerordentlich sei, was den Marsch
von San Lorenzo nach Panama betreffe, auch wenn sie gelogen sei, und
daß der Reeder zwei Schillinge ganz gut für sie habe bezahlen können.



Inhalt


    Der Tod des Cosimo                       1

    Der Dichter und die Schauspielerin      14

    Aus den Aufzeichnungen des Musikers     66

    Das Gespenst                            84

    Das hölzerne Becherlein                116

    Die Venus                              127

    Ein Eid                                146

    Der Tod des Dichters                   156

    Manto und Sextilius                    168

    Die beiden Maler                       190

    Die Liebe des Flibustierführers        204



Die Schriften von Paul Ernst sind jetzt sämtlich in dem Verlage von
Meyer & Jessen in Berlin und Wien vereinigt worden. Da von einigen
der Bücher nur noch sehr geringe Vorräte vorhanden sind, so seien
Interessenten gebeten, bald zu bestellen. Ausführliche Verzeichnisse
verlange man kostenfrei.

            Es sind erschienen:


Theoretisches:

    Der Weg zur Form. Abhandlungen zur Technik des Dramas und der
        Novelle.

    Ein Credo.


Dramatisches:

    Demetrios. Tragödie in fünf Akten.

    Eine Nacht in Florenz. Lustspiel in vier Aufzügen.

    Ritter Lanval. Lustspiel in drei Aufzügen.

    Canossa. Trauerspiel in fünf Aufzügen.

    Über alle Narrheit Liebe. Lustspiel in drei Aufzügen.

    Brunhild. Trauerspiel in drei Aufzügen.

    Ninon de Lenclos. Trauerspiel in drei Aufzügen.

    Der Hulla. Lustspiel in vier Aufzügen.

    Das Gold. Tragödie in vier Aufzügen.

    Der heilige Crispin. Lustspiel in fünf Aufzügen.


Erzählendes:

    Sechs Geschichten.

    Die Prinzessin des Ostens und andere Novellen.

    Der schmale Weg zum Glück. Roman.

    Die selige Insel. Roman.

    Der Tod des Cosimo und andere Novellen.

    Hochzeit. Ein neues Novellenbuch.


Es sind noch Exemplare der älteren Schriften vorhanden:

    Wenn die Blätter fallen. -- Der Tod. Zwei Trauerspiele.

    Lumpenbagasch. -- Im ~Chambre Séparée~. Zwei Schauspiele.

    Polymeter.



    Gedruckt bei Emil Herrmann senior in Leipzig
    Titel und Einband zeichnete Lucian Bernhard



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend
    korrigiert.

    Korrekturen (das korrigierte Wort ist in {} eingeschlossen):

    S. 16: gegekränkt → gekränkt
      den ich so sehr {gekränkt} habe

    S. 100: Ahnlichkeit → Ähnlichkeit
      keinerlei {Ähnlichkeit} mit den Zügen des Briefes aufwies

    S. 116: Armchen → Ärmchen
      seine {Ärmchen} nach uns ausstrecken lassen

    S. 119: Arzten → Ärzten
      befahl den {Ärzten}, daß sie nach ihrer Kunst

    S. 151: Ahnlichkeit → Ähnlichkeit
      die wunderbare {Ähnlichkeit} der beiden

    S. 151: Armeln → Ärmeln
      die Hände in den weiten {Ärmeln}





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Der Tod des Cosimo" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home