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Title: Kindheit - Autobiographische Novelle
Author: Tolstoy, Leo, graf
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Kindheit - Autobiographische Novelle" ***


    Anmerkungen zur Transkription


    Im Original in Antiqua gesetzter Text wird ~so dargestellt~.

    Im Original gesperrter Text wird +so dargestellt+.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.



    Kindheit

    Autobiographische Novelle

    von

    Leo N. Tolstoi

    Aus dem Russischen übertragen
    und eingeleitet von

    Adolf Heß


    Leipzig

    Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.



Einleitung.


Tolstois Gattin und Herausgeberin seiner Werke, die Gräfin S. A.
Tolstoi, schreibt in ihrem Vorwort zum ersten Bande der neuen Ausgabe
von Tolstois Werken, die nach seinem Tode erschienen ist: »Als ich die
neue Gesamtausgabe zum Druck vorbereitete, fand ich unter den auf die
»Kindheit« bezüglichen Manuskripten einen Brief Tolstois an seinen
Bruder Sergei, aus dem ich ein Bruchstück hier anführe: »... Du glaubst
nicht, wie unangenehm es für mich war, meine Novelle (»Kindheit«)
gedruckt zu lesen: so viel ist von der Zensur und Redaktion an ihr
gestrichen und geändert. Ich darf mit Fug und Recht behaupten, daß
alle Trivialitäten und alle Absurditäten, die Du sicher an der Arbeit
bemerkt hast, nicht von mir herrühren. Um Dir zu zeigen, welch'
niederträchtige Änderungen man vorgenommen hat und wie sie mich empört
haben, schicke ich Dir den Brief, den ich im ersten Augenblick an den
Redakteur schrieb, aber nicht abgesandt habe ... 5. Dezember 1852.«

Die Herausgeberin bemerkt dann, auf Grund dieses Briefes hätte sie
sämtliche die »Kindheit« betreffenden Manuskripte durchgesehen und
nach ihnen die Erzählung ohne jene »Trivialitäten und Absurditäten«
wiederhergestellt, von denen Tolstoi in seinem Briefe schreibt.

Nach dieser letzten russischen Fassung erscheint Tolstois Werk
»Kindheit« in Reclams Universal-Bibliothek zum erstenmal in
deutscher Sprache. Es ist bezeichnend für die Sorgfalt, mit der
Tolstois Schriften im In- wie Auslande, in Einzel- und sogenannten
Gesamtausgaben -- in Deutschland gibt es eine solche nicht -- bislang
veröffentlicht wurden, daß ein Werk wie die »Kindheit« fünfzig Jahre
lang ausschließlich in einer Fassung vorlag, die den Autor nach seinen
eigenen Worten empörte!

Tolstois »Kindheit« ist weder in bezug auf Umfang noch Inhalt mit
den biographischen Meisterwerken eines Goethe und Rousseau auf eine
Stufe zu stellen -- der Autor stand am Anfang der zwanziger Jahre,
als er sein Erstlingswerk veröffentlichte, das ihm Anwartschaft auf
den Namen eines berühmten Schriftstellers einbrachte. Der russische
Gutsbesitzerssohn, der sich noch wenig im Leben umgetan, wollte weder,
noch konnte er damals ein Stück weltumspannender Zeitgeschichte im
Rahmen eines ungewöhnlich reichen und fruchtbaren Einzelschicksals
geben, wie Goethe; noch hatte er gleich Rousseau Bekenntnisse
vorzutragen, die das Verkehrte und Schädliche ganzer Zeitströmungen
an einem lebendigen Beispiel schilderten und der Bildung zukünftiger
Generationen neue Wege wiesen. Der Russe lieferte ganz einfach ein
Stückchen Familiengeschichte, Kindheitserinnerungen eines Werdenden,
der für sich und andere festzuhalten sucht, was ihm damals das
Liebste und Wertvollste war: seine Jugendgedanken. Tolstoi wählte
die autobiographische Form, ging aber sehr frei mit den Personen und
Ereignissen um. So hat er zum Beispiel seine Mutter tatsächlich im
zartesten Kindesalter verloren und sie überhaupt nicht, und den Vater,
der ebenfalls früh starb, nur sehr wenig gekannt. Auch besaß Tolstois
Vater nicht die Eigenschaften des Vaters in der Erzählung »Kindheit«.
Das alles sind zum Teil bewußte poetische Erfindungen, freie
Phantasieschöpfungen oder Niederschläge aus den Erzählungen anderer,
zum Beispiel der Tante Jergolskaja, die Mutterstelle bei Tolstois
vertrat, und sonstiger Hausangehöriger. Wohl aber liegt den meisten
Ereignissen und Gestalten, sogar nebensächlichen, wie der des Bruders
Wolodja (Sergei), der Katjuscha (Maslowa in der »Auferstehung«), des
Foka (ebendaselbst) Tatsächliches zugrunde.

Die eigentliche Bedeutung von Tolstois autobiographischer Novelle
»Kindheit«, der das »Knabenalter« und die »Jugend« folgten, liegt
darin, daß in diesem Werk der ganze zukünftige Tolstoi mit seiner
unheimlichen Beobachtungsgabe und wunderbaren Darstellungskunst
bereits zu finden ist. Alle kleinen und großen Charakterzüge, die ihn
später auszeichneten: unbestechliche Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit,
Aufrichtigkeit gegen sich und andere, weichherzige Empfindsamkeit,
Neigung zur Frömmigkeit, Mystik und Askese, und unmittelbar daneben
überreife, reiche Sinnlichkeit, Vorliebe für körperliche Übungen,
für geistige und körperliche Sauberkeit -- alles das ist hier wie in
einem Embryo bereits enthalten. Daneben sind diese Aufzeichnungen
durch eine ans Wunderbare grenzende Psychologie und Selbstbeobachtung
ausgezeichnet. Wie Tolstoi das erste Erwachen der Sinnlichkeit eines
zehnjährigen Knaben und die Annäherung an die Gespielin im dunklen
Verschlage beschreibt; wie seine noch blind umhertappende Neigung und
Liebe sich auf den Kameraden Jotinjew wirft, den zu küssen er heftiges
Verlangen trägt: wie die Liebe zur blondlockigen Sonja ihn dann sehend
macht und er alsbald die ganze Süßigkeit der Untreue in der Liebe
auskostet -- das alles weicht etwas von dem ab, was man bislang als
Jugenderinnerungen Tolstois las. Dafür ist es so kindlich, groß und
frei, und durch und durch aufrichtig und wahr und dient vielleicht
dazu, die Schwärmergestalt und das Asketengerippe der letzten Zeit
nachträglich mit Fleisch und Blut zu umkleiden. In dieser Hinsicht ist
der Wert, zunächst der »Kindheit«, nicht hoch genug anzuschlagen.

Unserer Jugend, der modernen Jugend, kann das Buch (als
Aufklärungslektüre im besten Sinne) empfohlen werden: es verschweigt
nichts, schreckt vor nichts zurück, predigt nicht und führt doch
überall zu einer tiefernsten, sittlichen Auffassung der Dinge.

    +Charlottenburg+, 1912.

                ~Dr.~ Adolf Heß.



Kindheit.


1. Unser Lehrer Karl Iwanowitsch.

Am 12. August 1836, genau drei Tage nach meinem elften Geburtstag, an
dem ich mein zehntes Lebensjahr vollendet und so herrliche Geschenke
erhalten hatte, um sieben Uhr morgens, weckte mich Karl Iwanowitsch,
indem er mit einer Fliegenklappe aus Packpapier an einem Stock
nach einer Fliege schlug. Er tat dies so ungeschickt, daß er mein
Heiligenbild an der eichenen Bettlehne berührte und daß die tote Fliege
auf mein Kissen fiel. Ich schob den Kopf unter der Decke hervor, hielt
das schaukelnde Bild mit der Hand fest, warf mit Abscheu die tote
Fliege fort und blickte zwar mit verschlafenen aber bösen Augen Karl
Iwanowitsch an, der in seinem bunten, wattierten, durch einen hinten
angenähten Gürtel (aus demselben Stoff) zusammengehaltenen Schlafrock,
einer roten, gestrickten Zipfelmütze mit Troddel, in weichen
Saffianschuhen, die Fliegenklappe in der Hand, weiter die Wände entlang
schlich, zielte und schlug.

Wenn ich auch klein bin, dachte ich, welches Recht hat er aber, mich zu
stören, zu quälen und mit der Klappe nach dem Bild zu schlagen? Warum
klatscht er nicht die Fliegen bei Wolodjas Bett? Da sind so viele! O,
er hat Angst vor Wolodja, der könnte sich beklagen, weil er älter ist
als ich -- bald dreizehn Jahre. Ich bin der Allerjüngste, deswegen
quält er mich. Nur daran denkt er sein ganzes Leben lang, wie er mich
ärgern kann -- flüsterte ich, die Zähne zusammenpressend. Er sieht sehr
gut, daß er mich erschreckt hat, tut aber, als ob er nichts merkt,
der abscheuliche Mensch ... Sein Schlafrock, die Zipfelmütze und die
Troddel -- wie widerwärtig das alles ist.

Während ich so in Gedanken meinem Ärger über Karl Iwanowitsch, der mich
nicht ausschlafen ließ, Ausdruck verlieh, trat er zu seinem Bett, sah
nach der Uhr, die in einem mit Glasperlen gestickten Pantoffel hing,
hängte die Fliegenklappe an den Nagel und rief uns, augenscheinlich
in bester Stimmung, auf gut deutsch zu: »Auf, Kinder, auf; 's ist
Zeit! Die Mutter ist schon im Saal,« kam dann zu mir, setzte sich
zu meinen Füßen und holte seine Tabaksdose aus der Tasche. Ich tat,
als schliefe ich; steckte den Kopf unter die Decke. Karl Iwanowitsch
schnupfte, nahm sein gewürfeltes Taschentuch und schneuzte sich mit den
tabakbeschmutzten Fingern. Dann schob er die Hand unter meine Bettdecke
und kitzelte mich an den Fußsohlen. »Nun, nun, Faulenzer,« sagte er
dabei und lachte. So große Angst ich auch vor dem Kitzeln hatte, sprang
ich doch nicht aus dem Bett, antwortete ihm auch nicht, sondern steckte
nur den Kopf wieder unter die Decke, schlug mit den Füßen um mich,
kreischte und gab mir krampfhaft Mühe, das Lachen zu verbeißen.

Wie ist er gut und wie hat er uns lieb. Und ich konnte so schlecht von
ihm denken!

Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten, schob den Kopf unter dem
Kissen hervor und rief mit Tränen in den Augen: »Ach, lassen Sie, Karl
Iwanowitsch!«

Er ließ verwundert meine Fußsohlen los und fragte mich besorgt, was mit
mir wäre. Ob ich etwas Schlimmes geträumt hätte. Sein braves, deutsches
Gesicht, die Teilnahme, mit der er sich bemühte, den Grund meiner
Tränen zu erraten, verstärkten meine Rührung. Ich schämte mich; begriff
nicht, wie ich eine Minute vorher solch' unschöne Gedanken hatte hegen,
seinen Schlafrock, die Zipfelmütze und Troddel hatte widerwärtig finden
können. Jetzt erschien mir, im Gegenteil, alles sehr lieb, und sogar
die Troddel war mir ein klarer Beweis seiner Güte.

Ich sagte Karl Iwanowitsch, ich hätte geträumt, Mama stürbe. Und als
er mich freundlich zu trösten und zu beruhigen suchte, kam es mir vor,
als hätte ich wirklich diesen schrecklichen Traum gehabt, obgleich ich
entschieden nichts mehr wußte -- und meine Tränen flossen nun schon aus
einem anderen Grunde.

Karl Iwanowitsch ging ins Klassenzimmer; ich zog schluchzend meine
Strümpfe an und dachte über den schrecklichen, erfundenen Traum nach.

Jetzt trat unser Wärter Nikolas ins Zimmer, ein kleines, sauberes,
geschorenes Männchen, stets ernst, akkurat, respektvoll und ein
großer Freund von Karl Iwanowitsch. Er brachte unsere Kleider und das
Schuhzeug: Stiefel für Wolodja, mir einstweilen noch diese dummen
Schuhe mit Bändern. In seiner Gegenwart schämte ich mich zu weinen;
außerdem schien die Morgensonne lustig ins Fenster, und Wolodja machte
am Waschbecken nach, wie sich Marja Iwanowna (die Gouvernante unserer
Schwester) wusch und lachte dabei so lustig und laut, daß sogar der
ernste Nikolas mit dem Handtuch auf der Schulter, dem Wasserkrug in der
einen und der Seife in der anderen Hand losplatzte und dann sagte: »Nun
hören Sie auf, Wladimir Petrowitsch; bitte, waschen Sie sich.«

Ich war wieder ganz vergnügt.

Aus dem Klassenzimmer nebenan ertönte Karl Iwanowitschs Stimme, jetzt
schon ohne den Ausdruck von Güte, die mich zu Tränen rührte. Er rief
vielmehr streng: »Sind Sie bald fertig?«

Im Klassenzimmer war Karl Iwanowitsch ein ganz anderer Mensch:
Amtsperson, Erzieher. Ich zog mich schnell an, wusch mich und folgte
seinem Ruf, noch mit der Bürste in der Hand, das nasse Haar kämmend.

In demselben Aufzug, die Brille auf der Nase, über die hinweg er
Wolodja ansah, der etwas ausgefressen hatte und in der Ecke kniete,
saß auf seinem gewöhnlichen Platz, rechts zwischen Tür und Fenster
Karl Iwanowitsch. Links von der Tür hingen zwei Bücherborte: das eine
unseres, für Kinder; das andere seins, sein Eigentum! Auf unserem
befanden sich alle möglichen Bücher: Lehrbücher und andere, gebunden
und ungebunden; teils standen, teils lagen sie. Nur zwei große Bände
»~Histoire des voyages~« in rotem Einband standen stets akkurat am
Rande; dann kamen lange, dicke, kleine Bücher, Deckel ohne Bücher
und umgekehrt -- da wurde alles hingestopft und -geworfen, wenn er
vor der Erholungspause die »Bibliothek«, wie Karl Iwanowitsch das
Bücherbort nannte, in Ordnung bringen hieß. Die Büchersammlung auf
seinem eigenen Bort war nicht so groß wie unsere, dafür aber noch
mannigfaltiger. Ich erinnere mich an drei Bücher: eine deutsche
Broschüre über die Düngung in Kohlgärten -- ungebunden; ein Band der
Geschichte des Siebenjährigen Krieges, in Pergament, an einer Ecke
durchgebrannt; und ein vollständiges Lehrbuch der Hydrostatik. Während
seines ganzen fünfzehnjährigen Aufenthaltes in unserem Hause las Karl
Iwanowitsch nichts als diese Bücher und die Zeitschrift »Nordische
Biene«, verbrachte aber die größere Hälfte des Tages mit Lektüre, so
daß er sich die Augen verdarb. Außerdem las er noch die Bibel, aber
nur Sonntags. Unter den Gegenständen auf seinem Bücherbort ist mir
einer ganz besonders im Gedächtnis geblieben: das war eine Scheibe
aus Pappe mit hölzernem Gestell, an dem sich die Scheibe durch Stifte
hoch und niedrig stellen ließ. Auf die Scheibe war ein Bild geklebt,
die Karikatur einer Dame und eines Friseurs. Karl Iwanowitsch war sehr
geschickt im Kleben und hatte diese Scheibe eigenhändig zum Schutz
seiner schwachen Augen vor dem Licht verfertigt. Noch jetzt sehe ich
die lange Gestalt im wattierten Schlafrock und roter Zipfelmütze, unter
der spärliches, graues Haar hervorguckt. Er sitzt am Tisch mit der
Friseurpappscheibe; Schatten fällt auf sein Gesicht. In der einen Hand
hält er das Buch gegen das Licht, die andere ruht auf der Sessellehne.
Neben ihm liegt die Uhr mit einem Jäger auf dem Zifferblatt, sein
gewürfeltes Schnupftuch, die schwarze, runde Tabaksdose, ein grünes
Brillenfutteral, die Lichtschere auf dem Untersatz: alles liegt so
akkurat und symmetrisch auf seinem Platz, daß man schon daraus auf das
reine Gewissen und den Seelenfrieden dieses Mannes schließen kann.

Wenn ich unten im Saal genug herumgetollt hatte, schlich ich wohl auf
Zehenspitzen oben ins Klassenzimmer und sah, wie Karl Iwanowitsch
allein in seinem Lehnstuhl saß und mit dem gewöhnlichen wichtigen
Ausdruck las. Bisweilen traf ich ihn nicht lesend: die Brille auf die
große Adlernase heruntergerutscht, die blauen, halbgeschlossenen Augen
mit sonderbarem Ausdruck über das Buch hinwegblickend und die Lippen zu
einem traurigen Lächeln verzogen. Im Zimmer herrschte Stille; nur sein
gleichmäßiges Atmen war zu hören und das Ticken der Jägeruhr. Da wurde
einem traurig zumute.

Oft, wenn er mich nicht bemerkte, stand ich da und dachte: armer, armer
Karl Iwanowitsch. Wir unten spielen -- wir sind viele, sind vergnügt;
er aber ist unglücklich und ganz allein, und niemand hat ihn lieb.
Er sagt mit Recht, daß er verwaist ist. Wie schrecklich ist seine
Lebensgeschichte, die er Nikolas einmal erzählt hat ... Schrecklich
ist seine Lage! Er tut einem so leid, daß man bisweilen hingeht,
ihn bei der Hand faßt und sagt: »lieber Karl Iwanowitsch!« Er hatte
es gern, wenn man so zu ihm sprach, streichelte mich stets und war
augenscheinlich gerührt. Ich benutzte die Gelegenheit und bat ihn dann
schnell, mir ein Hasen- oder Nonnenschattenbild an der Wand zu zeigen
oder eine Maus aus dem Schnupftuch zu machen.

An der anderen Wand hingen Landkarten, fast sämtlich zerrissen, aber
von Karl Iwanowitsch kunstgerecht wieder zusammengeklebt. Trotzdem sah
Europa Gott weiß welchem Ungeheuer ähnlich.

An der dritten Wand, in deren Mitte die Tür nach unten führte, hingen
auf der einen Seite zwei Lineale: eins zerschnitten für unseren
Gebrauch, das andere, neue, sein Eigentum, wurde mehr zu unserer
Aufmunterung als zum Liniieren gebraucht. Auf der anderen Seite eine
schwarze Tafel, auf der mit Nullen unsere großen und mit Kreuzen die
kleinen Sünden vermerkt wurden. Links vor der Tafel beim Ofen war die
Ecke, in der wir niederknien mußten und in der gegenwärtig Wolodja
kniete.

Als ich eintrat, blickte er Karl Iwanowitsch an, der aber die Augen
nicht aufschlug. Da setzte Wolodja sich auf die Knie, schnitt mir
eine furchtbar komische Grimasse und hielt sich die Nase zu, um nicht
loszuplatzen. Aber das nützte nichts, er prustete dennoch, während Karl
Iwanowitsch ins Schlafzimmer ging, um sich anzukleiden.

Wie genau ich mich an diese Ecke erinnere! Ich weiß noch die
Ofenklappe, das Luftloch darin, das Sausen, wenn man die Klappe aufzog.
Bisweilen kniete und kniete ich da in der Ecke und dachte: Karl
Iwanowitsch hat dich vergessen; sah mich um, aber da saß er immer noch
in derselben Haltung, las seine Geschichte des Siebenjährigen Krieges
oder die Hydrostatik. Für ihn vielleicht ganz gemütlich; an mich aber
denkt er nicht! Da fängt man denn an, um sich bemerkbar zu machen,
leise die Ofenklappe zu öffnen und zu schließen, oder Kalk von der
Wand zu kratzen; wenn man aber schließlich ein zu großes Stück lockert
und dieses mit Gepolter auf den Boden fällt -- dann ist wahrhaftig die
Angst schlimmer als jede Strafe; man sieht sich um -- er sitzt immer
noch in derselben Haltung.

Die letzte Wand nahmen drei Fenster ein. Mitten im Zimmer stand ein
Tisch mit zerrissenem schwarzen Wachstuch, unter dem an vielen Stellen
die mit dem Federmesser zerschnittenen Tischecken hervorguckten.
Ringsum ungestrichene, vom langen Gebrauch aber glänzend blank
gewordene, harte Sitzböcke.

Als Karl Iwanowitsch hinausgegangen war, ging ich zu Wolodja und
fragte: »warum?«

»Ach, Dummheit,« meinte er nachlässig, »weil ich mich zum Fenster
hinausgelehnt habe, um Akim zu sehen (Akim war unser halbverrückter
Gärtner) und nicht bemerkt habe, daß er da seine dummen Schachteln zum
Trocknen aufgestellt hatte; da habe ich aus Versehen eine zerdrückt.«

»Welche denn?« fragte ich.

Er konnte mir nicht antworten, weil in diesem Augenblick Karl
Iwanowitsch, vollständig angekleidet, im blauen Rock und grauen Hosen
ins Zimmer trat. Wolodja deutete mit seinen dreisten, schwarzen Augen
nur auf die Ecke hinter dem Ofen, hob wieder die Schultern und wäre
beinahe losgeplatzt.

Ich sah hin; das beste Erzeugnis Karl Iwanowitschs -- ein Futteral mit
zwei Zwischenwänden, das nur noch trocknen und mit Einfassung beklebt
werden mußte, um am Namenstage einem Familienmitgliede als Präsent
dargebracht zu werden, ein Futteral, für welches Karl Iwanowitsch beim
Tischler Kondratius extra eine Form bestellt, an dem er mit besonderer
Sorgfalt und Liebe gearbeitet hatte -- dieses Futteral lag zerdrückt,
verbogen hinter dem Ofen zwischen Staub und neben der Dielenbürste
auf dem Fußboden -- wahrscheinlich hatte Karl Iwanowitsch es in einem
Augenblick des Ärgers selbst dorthin geworfen.

Es kam mir sonderbar vor, daß Wolodja darüber lachen konnte.

Karl Iwanowitsch blieb vor der Tür stehen und begann auf dem oberen
Balken mit Kreide Buchstaben und Ziffern zu malen. Er führte seinen
Kalender auf dieser Tür; da aber der ganze Monat nicht auf das obere
Gesims hinaufging, so wischte er an gewissen Tagen das Geschriebene aus
und schrieb neue Zeichen hin.

Während er damit beschäftigt war, trat ich zum letzten Fenster. Die
Aussicht von dort war folgende: gerade unter dem Fenster ein großer
Fliederbusch, hinter dem Busch eine geschorene Lindenallee, durch die
man die Wiese sah, mit der Tenne auf der einen Seite und dem Wald auf
der anderen und gegenüber. Im Walde sah man die Wärterhütte. Es läßt
sich nicht beschreiben, wie schön das alles war.

Aus dem Fenster rechts war ein Teil der Veranda sichtbar, auf welcher
meistens alles bis zum Mittagessen saß. Bisweilen, während Karl
Iwanowitsch das Diktat korrigierte, blickte ich nach jener Seite,
sah dann das schwarze Köpfchen der Mutter, einen Rücken und hörte
undeutliches Gespräch und Lachen. Ich war recht ärgerlich, daß ich
nicht dabei sein konnte! Ich dachte: wann werde ich groß sein, aufhören
zu lernen und immer bei denen sein, die ich liebhabe? Ärger überkam
mich, und Gott mag wissen, an was ich so sehr dachte, daß ich gar nicht
hörte, wie Karl Iwanowitsch über die Fehler böse war und schalt.

Wolodja durfte aufstehen und wir gingen hinunter, um die Mutter zu
begrüßen.


2. Mama.

Mama saß im Gastzimmer und goß Tee ein; mit einer Hand hielt sie die
Teekanne, mit der anderen den Samowarhahn, aus dem das Wasser über den
Rand der Teekanne auf das Teebrett floß. Obgleich sie unverwandt auf
diese Stelle blickte, bemerkte sie nichts, bemerkte nicht einmal, daß
wir eintraten.

Wenn man versucht, die Züge eines geliebten, längst verstorbenen Wesens
in Gedanken wachzurufen, tauchen so viele traurige Erinnerungen an die
Vergangenheit auf, daß man durch diese Erinnerungen wie durch Tränen
sieht. Das sind die Tränen der Erinnerung.

Wenn ich mich bemühe, mir meine Mutter so vorzustellen, wie sie damals
war, sehe ich nur ihre wunderbaren braunen, stets gleichmäßige Güte und
Liebe ausdrückenden Augen, das Muttermal am Halse, ein wenig unterhalb
der Stelle, wo sich die kleinen Härchen kräuseln, das gestickte weiße
Bäffchen und die magere, weiße, zarte Hand, die ich so oft küßte und
die mich so oft gestreichelt hat.

Links vom Sofa an der Wand stand ein alter englischer Flügel, an
dem mein schwarzbraunes Schwesterchen Ljubotschka saß und mit ihren
rosigen, soeben in kaltem Wasser gewaschenen Fingerchen mit deutlich
sichtbarer Anstrengung die Etüden von Clementi übte. Sie war elf
Jahre alt, trug ein kurzes Leinenkleid und weiße, spitzenbesetzte
Höschen. Die Oktaven konnte sie nur »Arpeggio« greifen. Neben ihr,
halb seitwärts, saß Maria Iwanowna in einer rosa bebänderten Haube,
blauen Jacke und mit rotem, bösem Gesicht, das einen noch böseren
Ausdruck annahm, wenn Karl Iwanowitsch das Zimmer betrat. Sie maß ihn
mit drohenden Blicken, grüßte nicht, sondern fuhr noch lauter und
gebieterischer als vorhin fort zu zählen; ~un~, ~deux~, ~trois~ ...
~un~, ~deux~, ~trois~ ...

Karl Iwanowitsch achtete nicht darauf, ging gewöhnlich mit seinem
deutschen Gruß direkt auf die Mutter zu, um ihr die Hand zu küssen.
Dann fuhr sie auf, schüttelte das Köpfchen, wie um die traurigen
Gedanken zu vertreiben, reichte Karl Iwanowitsch die Hand und küßte ihn
auf die runzelige Schläfe, während er ihre Hand mit den Lippen berührte.

»Ich danke Ihnen, lieber Karl Iwanowitsch,« sagte sie und fragte weiter
deutsch: »Haben die Kinder gut geschlafen?«

Karl Iwanowitsch war auf einem Ohr taub und konnte jetzt wegen des
Lärms am Flügel gar nichts hören. Er beugte sich, eine Hand auf den
Tisch gestützt und auf einem Bein stehend, näher zum Sofa, lüftete mit
einem Lächeln, das mir damals als Gipfelpunkt feiner Sitte erschien,
sein Käppchen und sagte: »Entschuldigen, was meinten Natalie Iwanowna?«

Karl Iwanowitsch nahm, um sich den kahlen Kopf nicht zu erkälten,
niemals das rote Käppchen ab, bat aber jedesmal, wenn er das Gastzimmer
betrat, deswegen um Entschuldigung.

»Bleiben Sie bedeckt, Karl Iwanowitsch. Ich frage, ob die Kinder gut
geschlafen haben?« sagte die Mutter, sich zu ihm beugend, ziemlich laut.

Aber er hatte wieder nichts gehört, bedeckte seine kahle Platte mit dem
Käppchen und lächelte nur.

»Hört einen Augenblick auf, Mimi,« sagte Mutter freundlich lächelnd zu
Maria Iwanowna: »man kann nichts verstehen.«

Mutter hatte ein Lächeln, durch das, so hübsch ihr Gesicht auch war,
es doch noch hübscher wurde und ringsum alles verklärte. Wenn ich in
schweren Augenblicken des Lebens auch nur flüchtig dieses Lächeln sehen
könnte, wüßte ich nicht, was Kummer ist. Mir scheint, daß im Lächeln
eigentlich die Schönheit des Gesichtes liegt; wenn das Lächeln dem
Gesicht mehr Reiz gibt, ist dieses schön; wenn es das Gesicht nicht
verändert: gewöhnlich; wenn es entstellt: häßlich.

Nachdem Mama Wolodja begrüßt, küßte sie nach althergebrachter
Gewohnheit in unserer Familie meine Hand; nahm dann meinen Kopf
zwischen beide Hände, beugte ihn zurück, sah mich unverwandt an und
fragte: »Du hast heute geweint?« Dann küßte sie mich auf die Augen und
fragte deutsch: »Worüber hast du geweint?«

Wenn sie freundschaftlich mit uns sprach oder scherzte, bediente sie
sich stets des Deutschen. Sie beherrschte diese Sprache vollkommen.

»Ich hab' im Traum geweint, Mama,« erwiderte ich, dachte dabei an
meinen erfundenen Traum mit allen Einzelheiten und zitterte in Gedanken
unwillkürlich. Karl Iwanowitsch bestätigte meine Worte, schwieg aber
von dem Traum.

Nachdem man noch vom Wetter gesprochen, an welcher Unterhaltung auch
Mimi sich beteiligte, legte Mama für einige bevorzugte Dienstboten
sechs Stücke Zucker auf das Teebrett, stand auf und ging zum
Stickrahmen am Fenster.

»Nun, Kinder, geht zum Vater und sagt ihm, daß er zu mir kommt, eh' er
zur Tenne geht. ~Vous pouvez reprendre votre leçon, chère Mimi.~«[1]

    [1] Sie können weiterspielen, liebe Mimi.

Wieder Musik, Zählen, drohende Blicke, und wir gingen zu Papa.

Wir gingen durch das Zimmer, das noch von Großvater her »Dienerzimmer«
hieß und traten in das Arbeitszimmer des Vaters.


3. Papa.

Er stand am Schreibtisch und war, auf verschiedene Papiere, Kuverts
und Geldpäckchen deutend, in lebhafter Unterhaltung mit dem Verwalter
Jakob Michailow begriffen, der mit auf dem Rücken verschränkten
Händen auf seinem gewöhnlichen Platz zwischen Tür und Barometer stand
und die Finger sehr schnell nach verschiedenen Richtungen drehte. Je
lebhafter Papa sprach, um so schneller bewegten sich die Finger; wenn
er verstummte, ruhten auch die Finger; wenn aber Jakob selbst das Wort
nahm, kamen auch die Finger wieder in starke Bewegung. Und aus ihren
Bewegungen konnte man die geheimsten Gedanken Jakobs erraten, während
sein Gesicht stets den Ausdruck von Würde und Unterwürfigkeit zeigte:
»Ich habe recht, aber natürlich ganz wie es Ew. Gnaden beliebt.«

Bei unserem und Karl Iwanowitschs Anblick sagte Papa nur: »Einen
Augenblick; sofort,« und deutete durch eine Kopfbewegung an, daß jemand
von uns die Tür schließen sollte.

»Ach, lieber Gott! Was hast du heute nur, Jakob?« fuhr er, seiner
Gewohnheit nach achselzuckend, zum Verwalter gewandt fort. -- »Dieses
Kuvert mit achthundert Rubeln ...«

Jakob nahm das Rechenbrett, schob achthundert beiseite und starrte, in
Erwartung des Weiteren, unbestimmt vor sich hin.

»... sind für Wirtschaftsausgaben in meiner Abwesenheit, verstanden?
Für die Mühle bekommst du ja wohl tausend? Ja, oder nein? Für
Hypotheken achttausend; für Heu, -- nach deiner Rechnung kann man
siebentausend Pud rechnen -- sagen wir fünfundvierzig Kopeken das Pud,
macht zirka dreitausend; also hast du zusammen wieviel? Zwölftausend.
Ja oder nein?«

»Jawohl,« sagte Jakob, aber aus den schnellen Fingerbewegungen bemerkte
ich, daß er etwas erwidern wollte. Papa schnitt ihm das Wort ab: »Also
von diesem Gelde schickst du zehntausend zum Amt in Petrowskoie.
Jetzt das Geld im Kontor,« fuhr Papa fort -- Jakob warf die früheren
zwölftausend zusammen und notierte einundzwanzigtausend -- »das bringst
du mir und trägst es unterm heutigen Datum als Ausgabe ein« -- Jakob
schob die Kugeln beiseite und kehrte das Rechenbrett um, dadurch
wahrscheinlich andeutend, daß nun auch diese einundzwanzigtausend
verloren wären. -- »Diesen Geldbrief übergibst du an seine Adresse.«

Ich stand dicht am Tisch und las die Adresse. Da stand: An Karl
Iwanowitsch Mauer. Papa bemerkte wohl, daß ich etwas las, was ich nicht
zu wissen brauchte. Er sprach weiter, legte aber seine Hand auf meine
Schulter und wies mich durch eine leichte Bewegung vom Tisch fort. Ich
verstand nicht, ob das eine Liebkosung oder ein Tadel sein sollte,
küßte aber für alle Fälle seine große, weiße, nervige Hand mit dem
Trauring auf dem Goldfinger.

»Zu Befehl,« sagte Jakob. »Was soll aber mit dem Gelde von Chabarowka
geschehen?«

Chabarowka war Mamas Gut.

»Das soll im Kontor bleiben und ohne meine Verfügung nicht angerührt
werden,« sagte Papa.

Jakob schwieg einen Augenblick, dann drehten sich plötzlich wieder
die Finger mit verstärkter Geschwindigkeit, er änderte den Ausdruck
unterwürfigen Stumpfsinns, mit dem er die Befehle des Herrn anzuhören
für nötig hielt, nahm den ihm eigenen Ausdruck spitzbübischer
Findigkeit und Schlauheit an, zog das Rechenbrett heran und begann:
»Gestatten Sie, zu bemerken, Peter Alexandrowitsch -- ganz wie Sie
wünschen, aber auf dem Amt werden wir das Geld kaum rechtzeitig
bezahlen. Sie beliebten zu sagen: das Geld müßte von der Mühle, für
Lombard und Heu einkommen ...« Er rechnete den Betrag aus und schob die
Kugeln auf der Rechenmaschine beiseite. »Ich fürchte aber, daß wir uns
in den Voranschlägen irren,« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, Papa
dabei tiefsinnig anstarrend.

»Warum?«

»Ja, sehen Sie, was die Mühle betrifft, so hat mich der Müller schon
zweimal aufgesucht und um Stundung gebeten, hat bei Gott und allen
Heiligen geschworen, daß er kein Geld hätte. Er ist auch jetzt wieder
da. Wollen Sie nicht selbst mit ihm sprechen?«

Papa machte mit dem Kopf ein Zeichen, daß er das nicht wünsche.

»Was sagt er denn?« fragte Papa.

»Das weiß man schon,« erwiderte Jakob. »Hätte nichts zu mahlen gehabt
und alles Geld in das Wehr gesteckt. Wenn wir ihm kündigen, Herr,
fragt sich noch, ob wir dabei profitieren. Was Sie über die Hypothek
zu bemerken beliebten -- so habe ich vielleicht schon ausgeführt, daß
unser Geld dort festliegt und wir es so leicht nicht wiederbekommen.
Ich habe eigens in der Angelegenheit eine Fuhre Mehl und ein Schreiben
an Iwan Afanasjewitsch in die Stadt geschickt; der antwortet, er wolle
sich gern Ihretwegen bemühen, die Sache hinge aber nicht von ihm ab
und allem Anschein nach würden wir kaum in einem Monat Ihre Quittung
bekommen. Bezüglich des Heus beliebten Sie zu bemerken -- selbst
angenommen wir verkaufen für dreitausend« -- er warf dreitausend auf
dem Rechenbrett zur Seite, schwieg einen Augenblick und blickte bald
auf das Rechenbrett, bald in Papas Augen, als wollte er sagen: Sie
sehen selbst, wie wenig das ist. »Und mit dem Heu fallen wir auch
wieder herein, wenn wir es jetzt verkaufen, das wissen der Herr selbst.«

Offenbar hatte er noch einen großen Vorrat von Argumenten; deswegen
unterbrach Papa ihn: »Es bleibt bei meinen Anordnungen. Sollte wirklich
im Eingang des Geldes eine Verzögerung eintreten, dann ist nichts zu
machen; dann nimmst du von Chabarowka Geld soviel wie nötig ist.«

»Zu Befehl.«

Jakob war Papas Leibeigener. Er war zunächst sein Wärter gewesen, dann
Kammerdiener und jetzt Verwalter. Er hatte alle Feldzüge mit Papa
mitgemacht, und dieser hatte ihn wegen seiner Anhänglichkeit, seines
Eifers und seiner Treue gern. Wie alle guten Verwalter war er im
Interesse seines Herrn äußerst knauserig und hatte von dessen Vorteil
die sonderbarsten Vorstellungen. Er war stets bemüht, das Eigentum
Papas auf Kosten Mamas zu vermehren und suchte zu beweisen, daß alle
Einkünfte von Mamas Gütern auf Petrowskoie (das Dorf, in dem wir
lebten) verwandt werden müßten. Gegenwärtig war ihm das gelungen, und
als er »zu Befehl« sagte, konnte man an seinem Gesicht erkennen, daß er
sehr mit sich zufrieden war, wie jemand, der seine liebste Tätigkeit
ausübt.

Nachdem Papa uns begrüßt hatte, sagte er, wir wären jetzt keine kleinen
Kinder mehr, es sei Zeit, daß wir ernstlich etwas lernten. Deswegen
führe er heute nacht nach Moskau zur Großmutter und nähme uns ganz
dahin mit. Er fügte noch hinzu, Mama bliebe mit den Mädchen hier, und
das eine würde sie trösten, die Überzeugung, daß wir gut lernen und daß
man mit uns zufrieden sein würde.

Obgleich wir an den Vorbereitungen seit einigen Tagen bemerkt hatten,
daß etwas Ungewöhnliches im Gange war, überraschte uns diese Neuigkeit
vollständig. Wolodja sagte, um seine Verwirrung zu verbergen: »Mama
läßt dir bestellen, du möchtest zu ihr kommen, Papa,« und ging zum
Fenster. Mir aber tat Mütterchen sehr, sehr leid, und gleichzeitig
freute mich der Gedanke, daß wir nun groß seien.

Wenn wir heute reisen, gibt es keine Schule mehr, das ist famos, dachte
ich. Aber der arme Karl Iwanowitsch tat mir leid; der wurde sicher
entlassen, weil man das Kuvert für ihn zurechtgemacht ... Dann schon
lieber immer lernen, nicht fortreisen, sich nicht von Mama trennen und
dem armen Karl Iwanowitsch nicht weh tun, der schon so sehr unglücklich
ist.

Diese Gedanken zogen mir durch den Sinn. Ich rührte mich nicht von der
Stelle und starrte unverwandt auf die schwarzen Schleifen an meinen
Schuhen.

Nachdem Papa mit Karl Iwanowitsch noch einige Worte über das Fallen
des Barometers gewechselt und Jakob befohlen hatte, die Hunde nicht
zu füttern, weil er zum Abschied nach Tisch die jungen Treibhunde
probieren wollte, schickte er uns wider Erwarten zum Unterricht.
Allerdings bekamen wir den Trost mit auf den Weg, daß wir nach Tisch
mit auf die Jagd genommen würden.

Traurig und zerstreut gingen wir nach oben zum Lernen in Begleitung
unseres noch mehr zerstreuten und traurigen Mentors Karl Iwanowitsch,
der seine Entlassung erwartete.

Unterwegs lief ich auf die Veranda. Dicht an der Tür lag mit
zugekniffenen Augen in der Sonne, wie ein Hase im Lager, Papas
Lieblingswindhund Milka.

»Milkachen,« sagte ich, den Hund streichelnd und auf die Schnauze
küssend, »wir reisen heute, leb wohl, wir sehen uns nie wieder.«

Wahrscheinlich gefiel der Hündin mein tränenfeuchtes Gesicht nicht,
oder sie war nicht bei Laune; jedenfalls brüllte sie mich an, stand
auf, ging beiseite und legte sich faul an einer anderen Stelle nieder.

»Was bin ich für ein unglücklicher Junge,« sagte ich und rannte Hals
über Kopf nach oben.


4. Was mein Vater für ein Mann war.

Er war groß und stattlich von Wuchs, machte auffallend kleine Schritte,
hatte die Gewohnheit mit der Achsel zu zucken, besaß kleine, stets
leuchtende Augen, eine große Adlernase, ungleichmäßige Lippen, die
er ungeschickt, aber zu einem angenehmen Ausdruck zusammenlegte.
Eine große, fast über den ganzen Kopf reichende Glatze, mangelhafte
Aussprache und Lispeln vervollständigten das Äußere meines Vaters,
seitdem ich ihn kenne, ein Äußeres, mit dem er aller Welt zu gefallen
und als ~homme à bonne fortune~ bekannt zu werden wußte. Daß er
dem weiblichen Geschlecht gefiel, verstehe ich, weil ich weiß, wie
unternehmend und sinnlich er veranlagt war; aber welches Zaubermittel
besaß er, um Leuten jeden Alters, Standes und Charakters, Greisen,
Jünglingen, Berühmten, Einfachen, Männern der Welt, Gelehrten und
besonders denen zu gefallen, auf die er es abgesehen hatte?

Er verstand im Verkehr mit jedermann die Oberhand zu gewinnen. Obgleich
er nie zu den höchsten Kreisen gehört hatte, verkehrte er stets mit
Angehörigen dieser Kreise und zwar so, daß man ihn achtete. Er kannte
das Maß von Selbstvertrauen und Stolz, das ihn in den Augen der Welt
erhöhte, ohne andere zu kränken. Bisweilen originell, verfiel er doch
nie ins Extrem, sondern benutzte die Originalität als Mittel, das ihm
bisweilen Stand und Reichtum ersetzte. Nichts in der Welt brachte ihn
zum Erstaunen, und so glänzend auch seine Lage sein mochte, es schien
stets, als sei er für sie geboren. Er wußte stets die Lichtseite seines
Lebens nach außen zu kehren und verstand die andere, kleinliche, mit
Ärger und Verdruß erfüllte, jedem Sterblichen beschiedene so gut zu
verbergen, daß man ihn unbedingt beneiden mußte. Er war Kenner in
allem, was Bequemlichkeit und Genuß verschafft und wußte sich dessen zu
bedienen.

Obgleich er niemals etwas gegen die Religion sagte und äußerlich stets
fromm war, zweifle ich bis auf die Gegenwart, ob er überhaupt an etwas
glaubte. Seine Grundsätze und Lebensanschauungen waren so dehnbar, daß
diese Frage sehr schwer zu entscheiden ist. Mir scheint, daß er fromm
nur für andere war.

Moralische Überzeugungen, unabhängig von religiösen Geboten hatte er
schon gar nicht; sein Leben war so voll von allen möglichen Passionen,
daß er weder Zeit hatte, noch es überhaupt für nötig hielt, darüber
nachzudenken. In reiferem Alter aber bildete er sich feste Grundsätze
und Anschauungen nicht auf Grund moralischer oder religiöser, sondern
praktischer Überzeugung; das waren die Handlungsweise und diejenige
Lebensform, die ihm Glück oder Zufriedenheit verschafften, die er für
gut hielt und meinte, daß alle so handeln müßten. Er sprach hinreißend,
und diese Gabe begünstigte, glaube ich, die Dehnbarkeit seiner
Grundsätze; er war imstande, ein und denselben Vorfall als unschuldigen
Scherz und als erbärmliche Gemeinheit zu schildern, stets mit derselben
Überzeugung.

Als Vater war er gnädig, glänzte gern mit seinen Kindern und war
auch zärtlich, aber nur in Gegenwart anderer; nicht etwa, weil er
sich verstellte, sondern weil Zuschauer ihn anregten -- er brauchte
Publikum, um etwas Gutes zu tun.

Er besaß heftige Leidenschaften, namentlich für das Spiel und die
Frauen, hatte in seinem Leben etwa zwei Millionen gewonnen und alles
wieder verloren. Ob er häufig spielte oder nicht, ist mir unbekannt;
ich weiß nur, daß er wegen einer Spielaffäre verbannt wurde, dabei aber
den Ruf eines tüchtigen Spielers genoß und als Partner gesucht war. Wie
er es fertig brachte, die Leute bis zur letzten Kopeke auszuplündern
und dabei ihr Freund zu bleiben, ist mir ein Rätsel -- er tat den
Leuten, die er rupfte, damit gleichsam einen Gefallen.

Sein Steckenpferd waren glänzende Verbindungen, über die er wirklich
verfügte; teils verdankte er sie der Verwandtschaft meiner Mutter,
teils seinen Jugendkameraden, über die er sich im stillen ärgerte, weil
sie zu hohen Würden gelangt waren, während er stets Gardeleutnant a.
D. blieb. Aber diese Schwäche nahm niemand an ihm wahr, außer einem
Beobachter wie ich, der ständig bei ihm lebte und ihn zu ergründen
suchte.

Wie alle alten Militärs verstand er nicht, sich elegant zu kleiden;
im modernen Rock und Frack sah er etwas herausgeputzt aus; dafür
war seine Hauskleidung originell und hübsch. Übrigens stand ihm bei
seiner großen kräftigen Statur, dem kahlen Kopf und den selbstbewußten
Bewegungen fast alles. Zudem hatte er eine besondere Gabe und den
unbewußten Wunsch, stets und überall Eindruck zu machen. Er war sehr
empfindsam und sogar zu Tränen gerührt. Wenn er beim Vorlesen an eine
leidenschaftliche Wendung kam, begann seine Stimme oft zu zittern,
Tränen traten in seine Augen, und er ließ das Buch sinken. Selbst in
minderwertigen Theatern konnte er keine Rührszenen sehen, ohne zu
weinen. In solchen Fällen war er über sich selbst ärgerlich und suchte
seine Empfindsamkeit zu verbergen und zu unterdrücken.

Er liebte Musik und sang, sich selbst begleitend, nach dem Gehör
Romanzen seines Freundes A..., Zigeunerlieder und einige Opernmelodien.
Gelehrte Musik war ihm unsympathisch, und er sagte offen, ohne auf die
allgemeine Meinung Rücksicht zu nehmen, daß ihn Beethovensche Sonaten
langweilten und einschläferten und daß er nichts Schöneres kannte als
»Weck mich junges Mädchen nicht« wie die Semjonowa und »Nicht Eine«,
wie es die Zigeunerin Tanjuscha sang.

Er war ein Mann des vorigen Alexandrinischen Jahrhunderts und besaß
die undefinierbaren Eigenschaften, welche der Jugend jener Epoche
eigentümlich waren, nämlich: einnehmendes Wesen, Courmacherei,
Ritterlichkeit, Unternehmungsgeist, Selbstvertrauen und moralische
Verderbtheit. Auf die Menschen unseres Jahrhunderts blickte er
verächtlich herab. Vielleicht geschah das nicht aus Stolz, sondern aus
heimlichem Ärger darüber, daß er in unserer Zeit nicht mehr denselben
Einfluß ausüben und den Erfolg haben konnte, wie in der seinigen ...

Wer jemals auf dem Lande gelebt, wird wissen, wieviel
Unannehmlichkeiten durch ihre Ränke und Streitereien die Nachbarn,
durch Geschwätz die Gutsbesitzer desselben Kreises, und durch Händel
und Schikanen die Behörden bereiten, wie sie einen bis aufs Blut
peinigen und das ganze Leben verbittern können.

Um all diesen Nachstellungen zu entgehen, die unausbleiblich jeden
Gutsbesitzer überraschen, gibt es drei Methoden. Die erste Pflicht
besteht darin, in jeder Beziehung korrekt seine Pflichten als
Gutsbesitzer zu erfüllen und die Rechte eines solchen zu genießen.
Diese erste und einfachste, vernünftige Art besteht leider vorläufig
nur in der Theorie, weil man unmöglich mit Leuten gesetzmäßig
verfahren kann, die das Gesetz als Mittel benutzen, ungestraft
Gesetzwidrigkeiten begehen zu können. Die zweite Methode besteht
in der Bekanntschaft und Freundschaft nicht nur mit den Vertretern
der Bezirks- und Gouvernementsbehörden, sondern auch mit allen
Gutsbesitzern, mit denen uns das Schicksal in Berührung bringt, oder
die unsere Bekanntschaft wünschen, sowie in gütlicher Beilegung aller
entstehenden Streitigkeiten. Diese Art ist wenig zu empfehlen, weil
erstens ein freundschaftlicher Verkehr mit dem ganzen Bezirk an und
für sich schon eine Unannehmlichkeit bedeutet, nicht geringer als
die, die man vermeiden wollte, und zweitens, weil es für Ungeübte
schwer ist, unter Vermeidung aller üblen Nachrede und Bosheit inmitten
all der Feindseligkeiten, Ungesetzlichkeiten und Gemeinheiten des
Gouvernementslebens seinen Standpunkt zu bewahren, nichts zu vergessen,
niemanden zu ignorieren, so daß alle ohne Ausnahme mit uns zufrieden
sind. Wehe, wenn wir uns auch nur einen Feind erworben haben! Jeder
Schmutzfink, der heute noch demütig an unserer Schwelle steht, kann
uns morgen die größten Unannehmlichkeiten bereiten.

Die dritte Methode besteht darin, zu niemandem Beziehungen zu
unterhalten und dafür Tribut zu zahlen. Der wird in zwiefacher Form
entrichtet: als Ergebenheit und Leutseligkeit. Mit Ergebenheit zahlen
Leute, die die dritte Methode erwählt haben, aber nicht imstande
sind, der Willkür der Behörde zu begegnen. Mit Leutseligkeit zahlen
Leute, die Beziehungen zu den höchsten Gouvernementsbehörden haben,
aus Gründen der Sicherheit und Gewohnheit aber auf jene Steuer nicht
verzichten.

Es gibt noch eine Art, die sehr im Schwange ist, die ich aber wegen
ihrer Ungesetzmäßigkeit nur als Ausnahme erwähnen will. Sie besteht
darin, sich im Gouvernement oder Kreis den Ruf eines gefährlichen
Schikaneurs und Intriganten zu verschaffen.

Papa hielt es in bezug auf die Behörde und die Nachbarn mit der dritten
Art, das heißt er war mit niemandem näher bekannt und zahlte den Tribut
der Leutseligkeit. Obgleich er nicht häufig in die Gouvernementsstadt
fuhr, wußte er es so einzurichten, daß wenigstens einmal im Jahre alle
großen Tiere: der Gouverneur, der Adelsmarschall und der Staatsanwalt
nach Petrowskoie kamen.

Natürlich erzählte dann Jakob Michailow bei seinem nächsten
Aufenthalt in der Stadt dem Isprawnik und anderen umständlich, wie
Seine Exzellenz bei uns übernachtet, und diese und jene Bemerkung
fallen gelassen hätten, und die Folge war, daß weder Isprawnik noch
Stanowoi die Nase nach Petrowskoie hineinsteckten, sondern ruhig den
Leutseligkeitstribut abwarteten.

Wenn die Behörde in irgendeiner unbedingt notwendigen Angelegenheit
dennoch nach Petrowskoie kam, ließ Papa sie durch Jakob empfangen; und
wenn er wirklich selbst jemanden begrüßte, so geschah es so kalt, daß
Mama oft zu ihm sagte: »Genierst du dich nicht, ~mon cher~, die Leute
so zu behandeln?«

Darauf erwiderte Papa: »Du weißt nicht, Liebe, was das für Leute sind;
gib ihnen soviel --« dabei zeigte er den kleinen Finger -- »so nehmen
sie soviel,« dabei zeigte er den Arm bis zur Schulter.

Ebenso war der Verkehr mit den Nachbarn von der Höhe stolzer
Erhabenheit herab.

Man darf ihm wegen solchen Verhaltens keine Vorwürfe machen; zu seiner
Zeit, das heißt anderhalb Jahrzehnte zurück, war es das einzige Mittel,
um auf dem Lande Ruhe zu haben. Jetzt hat sich das alles geändert und
ist viel besser geworden. Ein Gutsbesitzer, den ich danach fragte,
antwortete mir: »Ach, lieber Freund, Sie kennen unsere jetzigen Kreis-
und Landrichter nicht. Diese Ordnung, Sauberkeit, Bescheidenheit,
Klugheit. Der unterste Schreiber hat seinen Frack. Kommt man zum
Isprawnik, so sieht man seine Frau in modernster Toilette; sie ist
eine höchst gebildete Dame, spricht Französisch, Italienisch, Spanisch
-- was Sie wollen. Die Töchter sind höchst musikalisch: Piano -- wird
zum Flügel, Fußboden -- Parkett. Oder, was noch besser, wir haben
in unserem Bezirk zwei Stanowois; der eine kommt von der Moskauer
Universität, der andere ist mit der Fürstin Schedrischpanskaja
verheiratet -- der reine Pariser! Sehen Sie, verehrter Herr, so sieht
jetzt unsere Semstwopolizei aus.«

»Wie ist's denn jetzt mit den Schmiergeldern und Schikanen?« fragte
ich. »Hat das aufgehört?«

Der Gutsbesitzer antwortete mir nicht direkt, sondern lobte weiter die
neue Ordnung der Dinge, die Klugheit und Bildung der Gutsbesitzer,
dabei bemerkend, daß mancher Stanowoi über tausend Rubel im Jahr
ausgäbe und mit seinen Pferden, seiner Tafel und Wohnung manchen
Gutsbesitzer in den Schatten stellte.


5. Das Klassenzimmer.

Als wir nach oben kamen, zog Karl Iwanowitsch seinen Schlafrock an,
band den Gürtel um und setzte sich sehr nachdenklich auf seinen Platz.
Wir gingen mit unserem Lesebuch zu ihm, er sah uns streng an und
strich mit seinem starken Fingernagel die Stelle an, bis zu welcher
wir auswendig lernen und ihm aufsagen sollten. Wolodja trieb nicht
wie gewöhnlich Possen, sondern lernte ordentlich; ich dagegen war so
zerstreut, daß ich entschieden nichts tun konnte. Ich starrte lange
gedankenlos in das Buch, konnte aber vor Tränen nicht lesen. Und als
ich Karl Iwanowitsch das Gelernte aufsagen sollte, konnte ich gerade
an der Stelle, wo einer sagt: »Wo kommen Sie her?« und der andere
antwortet: »Ich komme aus dem Kaffeehause« die Tränen nicht länger
zurückhalten und vor Schluchzen die Worte: »Haben Sie die Zeitung nicht
gelesen?« nicht herausbringen, obgleich ich die ganze Seite sehr gut
auswendig konnte. Als es ans Schönschreiben ging, machte ich infolge
der Tränen, die auf das Heft fielen, solche Kleckse, als hätte ich mit
Wasser auf Löschpapier geschrieben.

Karl Iwanowitsch wurde böse, ließ mich niederknien, sagte, das sei
Eigensinn, eine Puppenkomödie (sein Lieblingsausdruck), drohte mit dem
Lineal und verlangte, ich sollte um Verzeihung bitten, während ich vor
Tränen kein Wort herausbringen konnte. Endlich sah er sein Unrecht
wahrscheinlich ein, ging in Nikolas' Zimmer und schlug die Tür zu.

Als er fort war, setzte ich mich nieder und beruhigte mich etwas. Vom
Klassenzimmer aus konnte man die Unterhaltung im Wärterzimmer hören.

»Hast du gehört, Nikolas, daß die Kinder nach Moskau fahren?« fragte
Karl Iwanowitsch beim Eintritt ins Zimmer.

»Gewiß habe ich das gehört.«

Wahrscheinlich wollte Nikolas aufstehen, denn Karl Iwanowitsch sagte:
»Bleib sitzen, Nikolas,« und dann wurde die Tür geschlossen, und
man konnte nur noch hören, daß sie sprachen, ohne einzelne Worte zu
verstehen. Ich stand auf und lief hin, um zu horchen. Wolodja drohte
mir scherzend mit dem Finger.

Durch das Schlüsselloch sah ich Nikolas mit gesenktem Kopf am Fenster
Stiefel nähen, während Karl Iwanowitsch mit der Tabaksdose in der Hand
vor ihm stand und eifrig redete.

Er sprach Deutsch recht gut und einfach; im Russischen aber machte er
bei jedem Wort einige Fehler und bildete sich dabei, glaube ich, ein,
ein guter Redner zu sein. Er zog die Worte so auseinander und sprach
mit so kläglicher Betonung, daß seine Rede, so lächerlich das klingen
mag, für mich stets besonders rührend war. Er sprach wie ein Professor
vom Katheder, oder wie man gefühlvolle Verse deklamiert, in einer Art
traurigem einförmigen Singsang.

»Man mag den Leuten noch soviel Gutes tun und noch so anhänglich
sein -- auf Dankbarkeit darf man nicht rechnen, Nikolas. Ich lebe
zwölf Jahre in diesem Hause und kann vor Gott beteuern, Nikolas« --
fuhr Karl Iwanowitsch, die Augen und die Tabaksdose gegen die Decke
richtend, fort -- »daß ich die Jungens geliebt und mich mehr mit ihnen
beschäftigt habe, als wenn es meine eigenen Kinder wären. Weißt du
noch, Nikolas, als Wolodja Fieber hatte, wie ich da neun Tage lang,
ohne ein Auge zuzutun, an seinem Bette saß? Ja, damals war ich der
liebe, gute Karl Iwanowitsch; damals hatte man mich nötig, aber jetzt,«
fügte er ironisch lächelnd hinzu, »jetzt müssen sie etwas Ordentliches
lernen. Als ob sie hier nichts lernten ...«

»Gewiß doch, freilich lernen sie,« meinte Nikolas, den Pfriem hinlegend
und mit beiden Händen den Pechdraht ziehend.

»Ja, jetzt bin ich nicht mehr nötig; da jagt man mich wie einen Hund
vom Hofe! Wo bleibt da Dankbarkeit, wo alle Versprechungen, vornehme
Gesinnung? Natalie Nikolajewna habe ich stets geliebt und verehrt und
werde das auch in Zukunft tun, Nikolas. Aber was hat sie zu sagen? ...
Ihr Wille bedeutet in diesem Hause soviel wie das da!« dabei warf er
einen Lederschnitzel von der Fensterbank auf den Boden. »Ich weiß, wer
mir das alles eingefädelt hat und warum ich überflüssig geworden bin:
weil ich nicht zu allem ja sagen und schmeicheln kann, wie gewisse
Leute! Ich sage stets nur jedermann die Wahrheit. Gott mit ihnen!
Dadurch, daß ich nicht mehr da bin, werden sie nicht reicher, während
ich, so Gott will, schon noch mein Stück Brot finde, nicht wahr,
Nikolas?«

Nikolas hörte auf zu nähen und blickte ihn einen Moment voll Teilnahme
an, sagte aber nichts.

Lange und viel sprach Karl Iwanowitsch in dem Sinne: wo er früher
gelebt, wie man ihn dort besser gewürdigt (es tat mir weh, das zu
hören), sprach von Sachsen, von seinen Eltern, seinem Freunde namens
Schönheit usw.

Aus alledem begriff ich, daß er Maria Iwanowna haßte und sie für die
Urheberin all seines Unglücks hielt, daß er Papa nicht gern hatte, Mama
und uns aber sehr liebte und Nikolas überzeugen wollte (vielleicht auch
sich selbst), daß, wie schwer ihm auch die Trennung von uns würde, er
diesen Schicksalsschlag dennoch mit Ruhe und Würde zu tragen hoffe.

Ich fühlte ihm seinen Kummer nach, und es tat mir weh, daß zwei
Personen, die ich fast gleich liebhatte, Papa und Karl Iwanowitsch,
sich nicht verstanden. Ich kniete wieder in meiner Ecke nieder und
grübelte, wie man zwischen beiden eine Einigung herbeiführen könnte.

Karl Iwanowitsch kehrte bald ins Klassenzimmer zurück, ließ mich
aufstehen und das Diktatheft vornehmen. Als das geschehen war, ließ er
sich auf seinem Platz nieder und begann mit einer Stimme, die irgendwo
aus der Tiefe zu kommen schien, zu diktieren: »Von allen menschlichen
Leidenschaften ...« er wiederholte: »menschlichen Leidenschaften ...
ist die grausamste ... Haben Sie geschrieben ...?« Er machte eine Pause
und nahm langsam eine Prise, »ist die grausamste,« wiederholte er, »die
Undankbarkeit. Ein großes U.«

Nachdem ich das letzte Wort geschrieben, sah ich ihn in Erwartung des
weiteren an. Er aber sagte mit unbeschreiblicher Majestät »Punktum!«
und gab ein Zeichen, ihm die Hefte zu übergeben. Mehreremal las
er laut, mit verschiedener Betonung, augenscheinlich mit größter
Zufriedenheit diese Phrase, die seine innersten Gedanken ausdrückte,
gab uns dann ein Pensum aus der Geschichte und blieb selbst am Fenster
sitzen. Sein Gesicht war aber schon nicht mehr so verdrießlich wie
vorher; es drückte die Zufriedenheit eines Mannes aus, der sich für
eine ihm zugefügte Schmach würdig gerächt hat.

Ich lernte am offenen Fenster gerade über Papas Zimmer. Unten hörte man
Papas und Mamas Stimmen, aber Wolodja sagte Karl Iwanowitsch, der mit
geschlossenen Augen dasaß, so laut seine Lektion her, daß man nicht
hören konnte, was sie sprachen.

Warum ist Mama zu ihm gegangen, und nicht er zu ihr? dachte ich. Sie
hat ihn zu sich gerufen, was macht ihm das für Mühe; warum muß er sie
beunruhigen?

Papa und Mama lebten sehr gut miteinander. Niemals während ihrer Ehe
wurde von irgendeiner Seite gegen den anderen ein Vorwurf laut oder
bestand der geringste Verdacht der Untreue oder des Betruges. Mama war
ein so reines, liebendes und gläubiges Wesen, daß sie nichts argwöhnen,
geschweige selbst Argwohn einflößen konnte.

Oft, wenn ich an ihr Verhältnis dachte, wollte ich mir das Gefühl
vergegenwärtigen, das sie verband; aber entweder weil meine
Erinnerungen mich im Stich ließen oder weil ich Enttäuschung fürchtete,
brachte ich das nicht fertig. Bald war mir das Gefühl, das ich mir
ausmalte, in der Erinnerung nicht gegenwärtig, bald brachte ich es
nicht fertig, daran zu glauben. Fest überzeugt war ich, daß Papa seine
Wange hinhielt und Mama ihn küßte, das heißt, er übte stets und in
allen Dingen einen großen Einfluß auf sie aus.

Sie gehörte zu den weiblichen Wesen, deren Lebensaufgabe
Selbstaufopferung und das Glück anderer bilden. Deswegen war Papa,
obgleich er aufmerksam war und mit einer anderen Frau ein guter Mann
gewesen wäre, mit Mama grob. Das konnte man daran merken, daß er sich
bisweilen von ihr bedienen, sich ihre kleinen Vergnügen zum Opfer
bringen ließ, ihr bisweilen das Wort abschnitt. Ja selbst bei den
häuslichen Anordnungen war das zu sehen. Wer hatte im Hause die meisten
Fenster? Aus wessen Fenster hatte man die schönste Aussicht? Wessen
Dienerschaft war am besten untergebracht? Wer hatte den schönsten und
bequemsten Eingang? Wer den Ausgang in den Garten? Auf wessen Hälfte
war der Kamin? Wer empfing die gemeinsamen Gäste? Wem brachte der alte
Gärtner die Kaktus Grandiflora und erklärte mit ruhiger Wichtigkeit,
morgen stände sie in Blüte? Vor wessen Fenstern tanzten Bienen und
versammelten sich das Hofgesinde und Kinder? Alle diese Vorteile waren
auf Papas Seite.

Als Wolodja mit Aufsagen innehielt, drangen aus dem Arbeitszimmer
deutlich einige Sätze an mein Ohr. Aus diesen Bemerkungen verstand ich
den ganzen Inhalt der Unterhaltung. Papa sagte, die Einnahmen seien
dieses Jahr so klein und die Ausgaben so groß, daß man nicht daran
denken könnte, mit der ganzen Familie nach Moskau zu übersiedeln,
daß aber die Kinder, besonders Wolodja, der bald dreizehn Jahre alt
würde, endlich etwas anderes lernen müßten als Tiroler Lieder und Karl
Iwanowitschs Dialoge, daß er sie im Sommer aufs Land bringen und im
nächsten Winter, so Gott wolle, alle nach Moskau überführen würde.

»Ich weiß, Liebster, daß es zu ihrem Besten dient, es ist aber doch
recht traurig,« erwiderte Mama und trat vom Fenster fort.

Es war dreiviertel ein Uhr; einstweilen schien aber Karl Iwanowitsch
nicht die Absicht zu haben, den unerträglichen Unterricht zu schließen.
Ich sah das Hofmädchen vorübergehen, um die Teller zu waschen, hörte
wie im Eßzimmer am Büfett mit Geschirr geklappert, der Tisch ausgezogen
und mit Stühlen geschurrt wurde.

Wahrscheinlich werden wir bald zum Essen gerufen; nur eins kann es noch
verzögern -- ich hatte gesehen, daß Mama mit Mimi, Ljubotschka und
Katja (das war Mimis zwölfjährige Tochter) in den Garten gegangen, aber
nicht zurückgekehrt waren.

Da schien es, als wenn ihre Schirme auftauchten. Nein, es war Mimi mit
dem Mädchen ... Ach, und da war auch »sie«. Wie sie langsam ging und
wie traurig, das arme Mädchen! Warum fuhr sie nicht mit uns?

Ich wollte folgendes tun: Wenn »er« sagte, es sei Zeit zur Reise, würde
ich zu ihr gehen, sie umarmen und sagen: ich will lieber sterben, aber
ohne sie gehe ich nicht. Dann würde man mich sicher bei ihr lassen.
Dann würden Mama, ich, Ljubotschka, Katja und Karl Iwanowitsch alle
zusammen stets in Petrowskoie bleiben; ich würde zu Hause bei Karl
Iwanowitsch lernen und dann, wenn ich groß geworden wäre, ihm ein
kleines Haus schenken, da würde er immer wohnen; ich würde dann beim
Militär eintreten, wenn ich es bis zum General gebracht, jemanden
heiraten, vielleicht Katja, und Karl Iwanowitschs Verwandte aus Sachsen
kommen lassen, oder nein, ihm lieber Geld geben, um selbst nach Sachsen
zu fahren ...

Ich träumte noch manches von Sachsen, vom Generalsrang und von Mama,
die mich, weil ich General wäre und bei ihr bliebe, am meisten
liebhaben würde; aber all diese Träume sind schwer wiederzugeben, nicht
weil sie zu töricht, sondern weil sie zu schön waren.

Da lief schon der Haushofmeister Foka mit einer Serviette unterm Arm in
den Garten, um zu melden, daß angerichtet sei. Wie war er komisch in
seinem langen Rock und der weißen Weste, und wie glänzte seine kahle
Platte im Sonnenschein.

Gott sei Dank, da kam jemand, um auch uns zu rufen; man hörte Schritte
auf der Treppe. Ich kannte alle Hausbewohner am Gang und an dem Knarren
der Stiefel; aber die Schritte, die sich jetzt näherten, waren mir
unbekannt, weshalb ich neugierig auf die Tür blickte.

Die Tür öffnete sich und es erschien eine mir ganz fremde Gestalt.


6. Der Narr.

Ins Zimmer trat ein Mann, dem Äußeren nach etwa fünfzig Jahre alt,
mit blassem, länglichem, von Pockennarben durchfurchtem Gesicht, halb
grauem Haar und einem kleinen, dünnen Bärtchen. Er war so groß, daß
er nicht nur den Kopf, sondern den ganzen Oberkörper bücken mußte, um
die Tür zu passieren. Auf einem Auge blind, trug er halb bäurische,
halb priesterliche Kleidung und hielt in der Hand einen riesigen Stab,
mit dem er beim Eintritt ins Zimmer aus Leibeskräften auf den Fußboden
stieß.

»Ach Vögelchen, Vögelchen! Das Weibchen härmt sich und weint, das
liebe; aber die Jungen sind flügge, wollen aus dem Nest. Wird das
Weibchen seine Jungen nicht wiedersehen. O weh! O weh!« schluchzte er
und wischte sich richtige Tränen mit dem Rockärmel ab.

Seine Stimme klang rauh und heiser; die Bewegungen waren ungleichmäßig
und seltsam; seine Rede unzusammenhängend und sinnlos; der Tonfall aber
so rührend und das gelbe Gesicht so aufrichtig traurig, daß man sich
bei seinem Anblick und dem Anhören eines sonderbaren, aus Mitleid,
Furcht und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühls nicht erwehren konnte.
Er gebrauchte keine Fürwörter; dadurch bekamen seine einfachsten
Bemerkungen einen rätselhaften, geheimnisvollen Sinn.

Das war der Narr Grischa. Er kam zur Großmutter und hatte Mama schon
als kleines Kind bei ihr gesehen; er hatte sie sehr liebgewonnen und
kam nun, nachdem er sie hier entdeckt, um sich über ihre »Jungen« zu
freuen, so nannte er uns Kinder.

»Ah, ah!« schrie er plötzlich Karl Iwanowitsch an, der in diesem
Augenblick seine blauen, gestrickten Hosenträger anlegte, die ihm in
jungen Jahren eine Generalin verehrt hatte. »Du Narr, du Schaf ...
ziehst Hosenträger an, du Schaf!« Er riß den Mund weit auf und lachte
laut.

Karl Iwanowitsch war in einer peinlichen Lage. Er wollte den Verrückten
nicht anfahren; und doch war es ihm schmerzlich, in unserer Gegenwart
seine Autorität untergraben zu sehen.

»Das fehlte noch,« sagte er, »geht hinunter, für euch ist hier kein
Platz.«

Karl Iwanowitsch sagte das mit solchen Fehlern, und die ganze Szene
war so komisch, daß wir fast losgeplatzt wären. (Wenn ich seine Worte
anführe, verdrehe ich das Russische nicht, weil solche Verdrehungen
mich mehr an gewöhnliche Erzählungen erinnern, die ich nicht ausführen
kann, als an Karl Iwanowitsch.)

Endlich erschien der sehnlichst erwartete, pünktliche Foka, sagte:
»Das Essen ist fertig«, und wir gingen nach unten. Grischa folgte uns,
mit seinem Stock auf die Treppenstufen aufstoßend und allen möglichen
Unsinn schwatzend.

Als wir eintraten, waren schon alle im Gastzimmer versammelt. Papa
und Mama gingen Arm in Arm auf und ab und unterhielten sich leise
über etwas. Maria Iwanowna saß auf einem genau rechtwinklig zum Sofa
stehenden Sessel; neben ihr saß auf der einen Seite Ljubotschka,
die bei unserem Anblick sofort aufsprang und uns entgegenlief, auf
der anderen Katja, die gern dasselbe getan hätte, wenn es mit Mimis
Anstandsregeln vereinbar gewesen wäre. So aber mußten wir erst zu ihr
gehen und sagen »~Bon jour~, Mimi« und dann ... -- nein, ich weiß
wirklich nicht, ob ich Katja küßte oder nicht. Ich weiß nur, daß Mimi
mir bei allem hinderlich und im Wege war. In ihrer Gegenwart sprach ich
niemals herzlich mit der reizenden, blonden, sauberen Katja.

Ach, wie hat diese unerträgliche Mimi mein kindliches Leben vergällt!
Man brauchte nur etwas zu sagen, so begann sie auch schon mit ihrem
Korrigieren und sah bald Papa, bald Mama an, um zu zeigen, daß sie auf
dem Posten sei ...

»~Parlez donc français~«, wenn man ihr zum Tort gerade gern russisch
geplaudert hätte. Oder wenn einem bei Tisch etwas besonders schmeckte
und man nicht gestört sein wollte, hieß es sicherlich: »~Mangez donc
avec du pain~« oder »~comment est ce que vous tenez votre fourchette?~«
Ach, wie war sie unerträglich! Und was ging ich sie an! Mochte sie
doch ihre Mädchen unterrichten, wir hatten ja Karl Iwanowitsch dazu!
Bisweilen teilte ich durchaus seinen Haß gegen »gewisse« Leute.

Ins Eßzimmer gingen die Großen vorauf, wir Kinder hinterher, was uns
Gelegenheit bot, ein paar angenehme Worte zu wechseln -- angenehm nur,
weil man sie in Gegenwart der anderen nicht sagen konnte.

»Geht Papa auf die Jagd?«

»Ja.«

»Nimmt er euch mit?«

»Ja, zu Pferde. Und ihr?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Katja mit weinerlichem Gesicht.

»Das geht nicht ... Aber wollen sehen.«

Man setzte sich zu Tisch. Die Suppe wurde gebracht. Grischa deklamierte
von seinem Nebentisch aus, die Worte durch Schluchzen und jämmerliche
Grimassen unterbrechend: »Vögelchen, Vögelchen, auf dem Grabe steht ein
Stein; im Herzen ein Nagel; Taube flieg in den Himmel« usw.

Mama war seit heute morgen verstimmt. Grischas Gegenwart und
Bemerkungen verstärkten diesen Zustand; obgleich sie es nicht zugab,
waren Pilger und Narren ihre Schwäche. Im Grunde ihres Herzens
verehrte sie Grischa und glaubte wahrscheinlich an seine Fähigkeit,
die Zukunft vorauszusagen.

»Ach ja, ich habe vergessen, dich um etwas zu bitten,« sagte sie, dem
Vater einen Teller mit Suppe hinreichend.

»Was denn, mein Liebling?« fragte Papa lebhaft.

»Laß, bitte, deine schrecklichen Hunde einsperren. Sie hätten den armen
Grischa beinahe zerrissen, als er den Hof betrat. Ebensogut können sie
sich auf die Kinder stürzen.«

Als Grischa hörte, daß von ihm die Rede war, wandte er sich zu unserem
Tisch herum und zeigte kauend seine zerrissenen Rockschöße.

»Hat gehetzt ... Hunde gehetzt. Sünde, große Sünde. Schlag ihn nicht
Großer (so nannte er Papa). ... Weshalb schlagen? Gott vergibt. Zeit
ist nicht danach.«

Papa blickte ihn unverwandt und strenge an, wandte sich dann an Mama
und fragte: »Was spricht er? Übersetz es mir bitte, sonst verstehe ich
nichts. ~Vous seule avez le don de le comprendre.~«

»Ich verstehe ihn,« meinte Mama lächelnd, »er erzählt, ein Jäger hätte
absichtlich die Hunde auf ihn losgelassen; nun glaubt er, du würdest
den Jäger dafür bestrafen und bittet, ihm zu verzeihen.«

»Ach so!« meinte Papa. »Woher weiß er denn, daß ich den Jäger bestrafen
will? Vielleicht habe ich gar nicht die Absicht,« fuhr er französisch
fort. »Du weißt, ich bin überhaupt kein Freund solcher Leute, aber
dieser hier mißfällt mir besonders, muß ein abgefeimter Spitzbube
sein.«

»Ach, sag das nicht!« unterbrach ihn Mama fast erschrocken. »Wie kannst
du das wissen?«

»Nun, ich hatte, glaube ich, genügend Gelegenheit, diese Art Leute
kennen zu lernen. Es kommen ja genug zu dir, alle vom selben Schlage
und stets ein und dieselbe Geschichte: unbedingt vornehme Herkunft,
tragen irgendein Kreuz und Leiden, nach denen niemand sie fragt.
All diese Frömmelei und Scheinheiligkeit zielt nur darauf ab,
leichtgläubige und schwachnervige Damen zu finden, die ihnen die
dreckigen Hände küssen, sie für Propheten halten und ihnen Geld geben.
All diese unverstandenen Heiligen pilgern nicht aus Liebe zu Gott, wie
sie sagen, sondern aus Faulheit und gewohntem Müßiggang.«

Man sah, daß Mama in dieser Hinsicht ihre bestimmte Überzeugung hatte
und nicht streiten wollte, deshalb fragte sie, um das Gespräch auf ein
anderes Thema zu lenken, ob die Pasteten gut seien und bat, ihr eine zu
reichen.

Papa dagegen wollte streiten; er nahm eine Pastete, hielt sie so weit,
daß Mama sie nicht erreichen konnte, und fuhr erregt fort: »Nein, mich
ärgert --« dabei schlug er mit der Gabel auf den Tisch, »wenn ich sehe,
wie vernünftige und gebildete Leute ~donnent dans le panneau~ und an
sie glauben wie an Heilige.«

»Gib mir doch die Pastete,« sagte Mama, etwas ungeduldig die Hand
ausstreckend.

»Und man tut ganz recht,« Papa zog seine Hand noch weiter zurück,
»diese Gesellschaft einzusperren. Der einzige Nutzen, den sie bringen,
besteht darin, daß sie die ohnehin schwachen Nerven gewisser Personen
ruinieren,« fügte er lächelnd hinzu, da er bemerkte, daß dieses Thema
Mama mißfiel. Gleichzeitig reichte er ihr die Pastete.

»Ich will dir darauf nur eins erwidern,« sagte Mama. »Es fällt schwer
zu glauben, daß ein Mensch, der trotz seiner sechzig Jahre beständig,
Winter und Sommer, barfuß geht; der unter dem Anzug zwei Pud schwere
Ketten trägt, die er nie ablegt, und der mehr als einmal das Anerbieten
Mamas, bei ihr zu bleiben, abgelehnt hat (das weiß ich bestimmt) --
daß ein solcher Mensch das alles aus Faulheit tun sollte. Was die
Prophezeiungen anlangt,« fuhr sie nach kurzem Schweigen mit einem
Seufzer fort -- »~je suis payée pour y croire~: ich habe dir erzählt,
wie Kiriuscha meinem Vater Tag und Stunde seines Endes vorausgesagt
hat.«

»Ach, mein Gott, was richtest du da an!« sagte Papa, nach Mimis Seite
die Hand an den Mund legend. (Wenn er diese Bewegung machte, horchte
ich stets mit größter Aufmerksamkeit in Erwartung von etwas Komischem.)
»Warum hast du mich an seine Beine erinnert? Jetzt kann ich nicht
weiteressen.«

Das Mittagessen ging zu Ende. Ljubotschka und Katja zwinkerten mir
beständig, bald in Mamas bald in Mimis Richtung zu. Dieses Zeichen
bedeutete: jetzt ist Zeit zum Bitten; solch günstige Gelegenheit bietet
sich sobald nicht wieder; jetzt alle zusammen. Ich stieß Wolodja an,
und der faßte sich ein Herz; anfangs schüchtern, dann ziemlich bestimmt
und laut sagte er: »Da wir heute fahren sollen, möchten wir gern, daß
die Mädchen mit auf die Jagd kämen.« Mama sagte, sie führe selbst mit,
und zur allgemeinen Freude wurde es erlaubt.

Wie schrecklich war es manchmal, mit Bitten anzufangen! Dabei
schien gar nichts zu fürchten -- alle waren so gut! Hatte man aber
einmal angefangen, so wußte man nicht, woher auf einmal alle die
Dreistigkeit kam. Selbst wenn nicht erlaubt wurde, um was man bat,
stritt man bisweilen dagegen an und suchte zu beweisen, daß es eine
Ungerechtigkeit sei.

Diese Schwäche, das heißt, daß mir der erste Schritt so schwer wurde,
habe ich nicht nur in der Kindheit, sondern auch in reiferen Jahren an
mir bemerkt. Was sage ich: +diese+! Nein, alle Schwächen der Kindheit
sind dieselben geblieben. Der Unterschied ist nur der, daß sie andere
Formen angenommen haben.


7. Vorbereitungen zur Jagd.

Während des Nachtisches wurde Jakob gerufen und ihm wegen der Hunde,
des Jagdwagens und der Reitpferde Befehle erteilt, alles in größter
Ausführlichkeit unter Nennung jedes einzelnen Pferdes. Wolodjas Pferd
lahmte, deswegen ließ Papa ihm ein Jagdpferd satteln.

Dieses Wort »Jagdpferd« klang Mamas Ohren etwas befremdlich; sie
stellte sich darunter einen feurigen Renner vor, der sicher durchgehen
und Wolodja ums Leben bringen würde. Trotz Papas und Wolodjas
Versicherungen, der mit jugendlichem Eifer beteuerte, daß das nichts
zu bedeuten hätte und daß er es gern sähe, wenn das Pferd durchginge,
wiederholte die arme Mama immerfort, sie würde während der ganzen Jagd
keine Ruhe haben.

Das Essen war zu Ende; die Großen gingen ins Arbeitszimmer, um Kaffee
zu trinken, während wir in den Garten liefen und mit den Füßen auf den
mit gelben Blättern bedeckten Wegen schurrten. Diese Beschäftigung
machte mir damals großes Vergnügen.

Wir unterhielten uns darüber, daß Wolodja ein Jagdpferd reiten würde;
daß Ljubotschka sich schämen müsse, weil sie nicht so schnell laufen
könnte wie Katja, und wie interessant es sein müsse, Grischas Ketten zu
sehen und sein Beten zu hören; -- darüber, daß wir uns trennen mußten,
fiel kein Wort.

Wir sprachen lange über die verschiedensten Dinge; unsere Unterhaltung
wurde erst durch das Rollen des Jagdwagens unterbrochen, auf welchem
hinten an jeder Feder ein Bauernjunge hockte. Hinter dem Wagen ritten
die Jäger mit den Hunden, und dann folgte der Kutscher Parthenius auf
Wolodjas Pferd, das meinige am Zügel führend. Sofort stürzten wir
sämtlich zum Zaun, von wo aus all diese Dinge zu sehen waren.

Als der ganze Zug hinter der Hausecke verschwunden war, liefen wir
mit schrecklichem Gepolter und Geschrei nach oben, um uns anzuziehen,
und zwar möglichst »weidgerecht«. Das Wichtigste dabei war, die Hosen
in die Stiefel zu stecken. Unverzüglich ging es ans Werk, um schnell
fertig zu werden, auf die Treppe laufen, die Hunde sehen, Pferde
riechen und mit den Jägern plaudern zu können.

Der Geruchssinn muß sich mit den Jahren bei mir völlig geändert haben.
Wie wäre es sonst zu erklären, daß, soviel Pferde ich jetzt auch
rieche, dieser Geruch nicht im geringsten die Bedeutung und den Reiz
mehr für mich hat wie in der Kindheit.


8. Die Jagd.

Es war ein heißer Tag; weiße, wunderbar geformte Wölkchen zeigten sich
seit dem Morgen am Horizont; dann trieb ein leichter Wind sie näher
und näher, so daß sie bisweilen für kurze Zeit die Sonne bedeckten.
So zahlreich sie auch gegen Abend am Himmel entlang zogen, war es
ihnen doch nicht bestimmt, sich zum Gewitter zusammenzuziehen und zum
letztenmal unser Vergnügen zu stören. Sie begannen sich wieder zu
zerteilen; nur im Osten hing eine große graue Wolke; die anderen wurden
blasser, zogen sich in die Länge und eilten am Horizont hin; über dem
Kopf aber verwandelten sie sich in weiße durchsichtige Schäfchen. Regen
war nicht zu erwarten; selbst Karl Iwanowitsch, der stets wußte, wohin
jede Wolke zog, erklärte, das Wetter bliebe gut.

Foka kam trotz seines vorgerückten Alters schnell und gewandt die
Treppe heruntergelaufen, schrie: »vorfahren!« und faßte mitten in
der Einfahrt, zwischen der Stelle, wo der Kutscher Iwan mit dem
Jagdwagen erscheinen sollte und der Schwelle Posto in der Haltung eines
Mannes, den man nicht an seine Pflicht zu erinnern braucht. Die Damen
erschienen, und nach einigen Erörterungen darüber, auf welcher Seite
jede sitzen und an wem sie sich festhalten sollte (obwohl das, meiner
Meinung nach, überhaupt nicht nötig war), stiegen sie auf, spannten
die Schirme auf und fuhren fort. Als der Jagdwagen sich in Bewegung
setzte, deutete Mama ängstlich auf das »Jagdpferd« und fragte Iwan mit
zitternder Stimme: »Ist das Wolodjas Pferd?«

Und als jener bejahend antwortete, machte sie nur noch eine
Handbewegung und wandte sich ab. (Der Wagen mußte einen Umweg machen
und fuhr deswegen vorauf.)

Sehr ungeduldig bestieg ich meinen Klepper und führte mit Hilfe der
Reitpeitsche verschiedene Evolutionen auf dem Hofe aus, sorgfältig den
umherliegenden Hunden ausweichend, um dem ewigen Vorwurf der Jäger zu
entgehen: »Herr, seien Sie so gut, überreiten Sie die Hunde nicht!«
Diese Bemerkung ärgerte mich sehr -- als ob ich das nicht wüßte!

Wolodja schwang sich, trotz seines festen Charakters nicht ohne leises
Zittern auf das Jagdpferd. Auf dem Tier aber machte er sich sehr gut,
wie ein Erwachsener. Besonders lagen seine Schenkel so gut auf dem
Sattel, daß ich ihn beneidete, weil ich, nach dem Schatten zu urteilen,
bei weitem keine so gute Figur abgab.

Jetzt ertönten Papas Schritte auf der Treppe. Der Hundewärter trieb die
Jagdhunde zurück, die sich losrissen; die Jäger riefen ihre Windhunde
und saßen auf. Der Reitknecht führte das Pferd an die Treppe; die Hunde
von Papas Meute, die bis dahin in malerischen Stellungen sein Pferd
umlagert und umstanden hatten, stürzten auf ihn zu. Er trat auf die
Treppe; hinter ihm kam lustig Milka mit dem Korallenhalsband voll
Eisenstacheln. Sie begrüßte stets die anderen Hunde; einige knurrten
sie an, mit anderen spielte sie, einigen wurden sogar die Flöhe
abgesucht!

Papa bestieg sein Pferd, und wir ritten los. Der Pikör mit Beinamen
»Türke« ritt vorauf, hinter ihm liefen in buntem Schwarm die
zusammengekoppelten Jagdhunde. Es war ein kläglicher Anblick, wenn
ein unglücklicher Hund sich einfallen ließ, stehenzubleiben, um
irgendeinen interessanten Gegenstand zu beschnüffeln. Zuerst mußte er
seine Gefährten zu sich herüberziehen, und dann ließ sich sicher einer
der Hundewärter die Gelegenheit nicht entgehen, mit der Hetzpeitsche
zuzuschlagen und zu schreien: »In die Koppel!«

Als wir auf das freie Feld kamen, verteilten sich die Jäger mit den
Windhunden auf beide Seiten. Hier und da sah man so eine aus Mensch und
Tieren bestehende Gruppe. Hübscher machten sich die Jäger zu Pferde,
hinter denen die Hunde liefen -- besonders wenn man ihnen Futter
hinwarf. Dabei das Stoppelfeld oder Waldesgrün an dem sonnigen Tage --
welch reizender Hintergrund für dieses Bild!

Die Ernte war in vollem Gange. Das unübersehbare glänzend gelbe Feld
wurde nur auf einer Seite von einem bläulich schimmernden Hochwald
begrenzt, der mir als die entfernteste geheimnisvollste Gegend vorkam,
hinter welcher entweder die Welt ein Ende hatte oder unbewohnte Länder
lagen. Das ganze Feld war mit Garben und Menschen bedeckt. In dem
hohen dichten Roggen sah man hier und da auf dem gemähten Streifen
den krummen Rücken einer Schnitterin; schwingende Ähren, wenn sie
dieselben herüberwarf; ein Weib, das sich im Schatten über eine
Wiege beugte, und zerstreute Garben auf dem mit Kornblumen besäten
Stoppelfeld. Auf der anderen Seite luden Männer, in Hemd und Hose auf
Wagen stehend, die Garben auf und wirbelten Staub über das trockene,
heiße Feld. Der Aufseher in hohen Stiefeln und übergehängtem Rock, den
Kerbstock in der Hand, hatte Papa schon von weitem bemerkt, nahm seinen
Filzhut ab, wischte seinen roten Kopf und Bart mit einem Tuch ab und
schrie die Weiber an. Der kleine Fuchs, den Papa ritt, ging spielend
leicht, bisweilen den Kopf gegen die Brust werfend und die Zügel
straff ziehend, oder mit dem dichten Schweif die Fliegen und Bremsen
verscheuchend, die sich gierig an ihm festsetzten. Zwei Windhunde
tänzelten mit sichelförmig nach oben gebogener Rute, die Beine hoch
aufhebend, graziös über die hohen Stoppeln, hinter dem Pferde. Milka
lief vorauf und erwartete mit erhobenem Kopf einen Leckerbissen. Die
Stimmen der Menschen, der Lärm der Pferde und Wagen, das lustige
Schlagen der Wachteln, das Gesumme der Insekten, die in unbeweglichen
Schwärmen die Luft erfüllten, der Geruch von Wermut, Stroh und
Pferdeschweiß, die tausend verschiedenen Farben und Schattierungen, die
die sengende Sonne über das hellgelbe Stoppelfeld, die blaue Waldferne
und die hellvioletten Wolken ergoß; die weißen Sommerfäden, die in der
Luft schwebten, oder sich auf die Stoppeln legten -- alles das sah,
hörte und fühlte ich.

Beim Kalinowoer Wald angelangt, fanden wir den Jagdwagen schon vor, und
wider Erwarten noch einen Einspänner, in dem der Küchenchef saß und
einen Gegenstand in einer Serviette zwischen den Beinen hielt; aus dem
Heu guckten ein Samowar und noch allerhand verlockende Dinge hervor.
Kein Zweifel: das gab einen Teeabend im Freien mit Gefrorenem und
Früchten. Bei diesem Anblick brachen wir in lauten Jubel aus, denn Tee
im Freien, an einer Stelle, wo noch niemand getrunken, hielten wir für
einen Hochgenuß.

Der Türke stieg vom Pferde und nahm Papas ausführliche Anordnungen
entgegen: wie man sich verteilen und wo man herauskommen sollte
(übrigens richtete er sich niemals nach diesen Befehlen, sondern
handelte nach seinem Gutdünken), koppelte die Hunde los, legte
gemächlich die Koppeln zusammen, bestieg sein Pferd und verschwand,
leise pfeifend, hinter den jungen Birken. Die befreiten Jagdhunde
bezeigten vor allen Dingen ihre Freude durch Schweifwedeln, schüttelten
sich und verrichteten an unbekannt aus welchem Grunde ausgewählten
Büschen das Werk und mehr als das, was Soldaten tun, wenn es heißt:
»Austreten!« Dann machten sie sich mit lustigem Schweifwedeln
schnüffelnd an die Arbeit.

»Hast du ein Taschentuch?« fragte Papa.

Ich zog es aus der Tasche und zeigte es ihm.

»Schön; bind den grauen Hund daran.«

»Giran?« fragte ich.

»Ja, und lauf den Weg entlang. Wenn du an die Lichtung kommst, bleib
stehen. Und sieh zu, daß du nicht ohne Hasen zurückkommst.«

Ich schlang das Tuch um Girans Hals und stürmte Hals über Kopf an die
bezeichnete Stelle. Papa lachte und rief mir nach: »Schnell schnell, du
kommst zu spät!«

Giran blieb fortwährend stehen, spitzte die Ohren und horchte. Da meine
Kräfte nicht reichten, ihn vorwärts zu ziehen, wählte ich eine List und
schrie: »Faß ihn, faß ihn!« Dann konnte ich ihn wieder kaum halten und
fiel mehrmals hin, bis ich meinen Platz erreichte.

Endlich ließ ich mich im Grase nieder, Giran neben mir, und wartete.

Meine Phantasie eilte der Wirklichkeit weit vorauf. Ich bildete mir
ein, schon zwei Hasen gehetzt zu haben und war jetzt mit einem Fuchs
beschäftigt -- da gab zuerst ein Jagdhund Laut. Bei diesem Geräusch
erstarrte ich auf der Stelle. Die Augen in die Weite gerichtet,
lächelte ich sinnlos. Mir war, als ob dieser Augenblick über mein
ganzes Leben entschiede. Der Schweiß floß in Strömen; die Tropfen
rannen das Kinn entlang und kitzelten -- ich wischte sie nicht ab.
Diese Spannung war so unnatürlich, daß sie nicht lange dauern konnte.
Die Hunde hetzten, kein Hase war zu sehen. Ich schaute nach rechts und
links.

Mit Giran war genau dasselbe der Fall. Anfangs wollte er sich losreißen
und winselte sogar; dann streckte er sich neben mir aus, legte die
Schnauze auf meine Knie und beruhigte sich.

Rechts neben mir war ein Ameisenhaufen; in seiner Nähe schleppte eine
Ameise einen riesigen Strohhalm, und obgleich dieser unaufhörlich an
den Unebenheiten des Weges hängenblieb, bewegte sie ihn doch, bald an
dieser, bald an jener Seite zerrend, zwar langsam aber beständig näher
an den Haufen heran. Ich legte den Kopf in die Hand und sah mit großer
Aufmerksamkeit zu.

Ein weißer Schmetterling mit gelben Flügelspitzen schwebte über einer
wilden Kleeblüte und ließ sich darauf nieder. Ich weiß nicht, ob er
den Saft aus der Blüte sog oder sich in der Sonne wärmte -- jedenfalls
mußte es ihm dort sehr gut gefallen. Er bewegte bisweilen die Flügel
und blieb dann unbeweglich sitzen.

Plötzlich heulte Giran auf und stürmte mit solcher Kraft vorwärts, daß
ich fast hingefallen wäre. Ich sah mich um und erblickte am Waldsaum
einen Hasen, der, den einen Löffel angedrückt und den anderen gespitzt,
leicht im hohen Grase dahinsprang. Im selben Moment vergaß ich alles,
sogar Papas Rat, an mich zu halten; ich ließ den Hund los und schrie
unnatürlich auf. Aber kaum war das geschehen, so überkam mich Reue: der
Hase duckte sich, machte einen Satz und ward nicht mehr gesehen.

Wie groß war aber meine Scham, als hinter den Jagdhunden, die laut
bellend am Waldrande hervorbrachen, der Türke erschien. Er sah sofort,
was ich angerichtet hatte und sagte nur: »Ach Herr!« Aber wie er das
sagte! Mir wäre leichter gewesen, wenn er mir wie einem Hasen die
Läufe abgeschnitten und mich an den Sattel gehängt hätte.

Lange stand ich verzweifelt auf demselben Fleck, rief nicht einmal die
Hunde, sondern schrie nur fortwährend mit ausdrucksvollen Gebärden:
»Mein Gott, was habe ich getan!«

Ich hörte, wie die Hunde weiterjagten, wie auf der anderen Seite der
Insel gehetzt wurde, wie man den Hasen zurückjagte und wie der Wärter
die Hunde abrief. Ich rührte mich nicht von der Stelle.


9. Spiele.

Die Jagd war zu Ende. Im Schatten war ein Teppich ausgebreitet, auf dem
die ganze Gesellschaft sich im Kreise lagerte. Der Küchenchef Gabriel
hockte vor einem Korbe nieder und nahm daraus Birnen und Pfirsiche,
die in Blätter eingewickelt waren. Um von diesen schönen Sachen etwas
abzubekommen, mußte man geduldig warten, bis Gabriel jedes Stück
ausgewickelt hatte, dann Teller holte, sie abwischte, alles darauf
legte, die Teller symmetrisch auf den Teppich setzte, jeden einzelnen
Teller noch einige Male zurechtrückte, als wenn das auf Wunsch und
Willen dieser schönen Sachen geschähe, die nicht in ganz gleichem
Abstand voneinander dalägen. Wenn ich diese Vorbereitungen sah, überkam
mich stets ein Gefühl der Unzufriedenheit. Ich war überzeugt, daß das
alles absichtlich und nur geschähe, um mich zu ärgern, besonders, weil
ich an den Korb herangelassen den ganzen Inhalt mitsamt den Blättern
verzehrt haben würde.

Als wir unsere Portion Gefrorenes und Früchte bekommen hatten, gab
es auf dem Teppich für uns nichts mehr zu tun. Trotz der schrägen,
sengenden Sonnenstrahlen standen wir auf, um zu spielen.

»Also was?« sagte Ljubotschka im Grase hüpfend und wegen der Sonne mit
den Augen blinzelnd. »Laßt uns ›Robinson‹ spielen.«

»Nein, das ist langweilig,« sagte Wolodja, der sich faul im Grase
wälzte und Blätter kaute. »Immer und ewig Robinson! Wenn ihr schon
spielen wollt, laßt uns eine Laube bauen.«

Wolodja wollte sich augenscheinlich wichtig machen. Wahrscheinlich war
er stolz auf sein Jagdpferd und stellte sich nun müde. Vielleicht besaß
er auch zu viel gesunde Vernunft und zu wenig Einbildungskraft, um an
dem Robinsonspiel Gefallen zu finden. Dieses bestand in der Darstellung
von Szenen aus dem Schweizer Robinson, den wir kurz zuvor gelesen
hatten.

»Nein bitte, warum willst du uns nicht den Gefallen tun!« drangen die
Mädchen in ihn. »Du bist Charles oder Ernest oder Vater -- was du
willst,« sagte Katja, die ihn am Ärmel vom Boden hochzuziehen suchte.

»Ich mag wirklich nicht; ist so langweilig!« erwiderte Wolodja, sich
dehnend, mit selbstgefälligem Lächeln.

»Dann kann man ja lieber zu Hause bleiben, wenn niemand spielen will,«
brachte Ljubotschka unter Tränen heraus. Sie war eine schreckliche
Heulliese.

»Also kommt; nur bitte, nicht weinen; das kann ich nicht ausstehen.«

Wolodjas gnädige Herablassung machte uns wenig Vergnügen. Sein faules
und langweiliges Benehmen nahm dem Spiel den Reiz. Als wir auf der
Erde saßen und auf den Fischfang fuhren, wobei wir aus Leibeskräften
ruderten, saß Wolodja mit gekreuzten Armen in einer Haltung da, die mit
der eines Fischers nicht die geringste Ähnlichkeit hat. Ich sagte ihm
das, aber er erwiderte, daß wir durch unser stärkeres oder schwächeres
Armschwenken nichts profitierten und nicht im geringsten vorwärts
kämen. Darin mußte ich ihm unwillkürlich recht geben. Als ich mit einem
Stock auf der Schulter dem Walde zuschritt und sagte, ich ginge jetzt
auf die Jagd, legte Wolodja sich auf den Rücken, schlang die Hände um
den Hinterkopf und sagte, er ginge jetzt auch auf die Jagd.

Dieses Benehmen und solche Worte kühlten unseren Spieleifer merklich
ab, besonders, da wir im Grunde unseres Herzens Wolodjas Worte für ganz
vernünftig erklären mußten.

Ich weiß selbst, daß man mit einem Stocke keinen Vogel töten und nicht
schießen kann. Es ist Spiel. Wenn man so denkt, kann man auch auf
Stühlen nicht fahren; ich denke aber, Wolodja weiß noch recht gut, wie
wir an langen Winterabenden einen Sessel mit Tüchern bedeckten und
einen Wagen daraus machten -- einer war Kutscher, der andere Lakai, die
Mädchen kamen in die Mitte; drei Stühle bildeten die Troika und dann
ging's los. Und was für mannigfache Zwischenfälle passierten auf dieser
Fahrt, und wie schnell und fröhlich vergingen die Winterabende! ...

Wenn man alles genau nimmt, gibt es gar kein Spiel. Wenn das aber
fehlt, was bleibt dann?!


10. Etwas wie eine erste Liebe.

Als Ljubotschka im Spiel von einem Baum amerikanische Früchte pflückte,
riß sie ein Blatt mit einer großen grünen Raupe ab. Erschreckt
schleuderte sie es auf den Boden und schnitt dabei eine komische
Grimasse; hob die Hände hoch und sprang beiseite, als fürchtete sie,
mit etwas bespritzt zu werden. Das Spiel hörte auf und wir bückten
uns alle und steckten die Köpfe zusammen, um dieses Wundertier zu
betrachten. Katja war so mutig, die Raupe aufzuheben, schob ihr einen
trockenen Grashalm in den Weg und machte, um das besser zu können, eine
Bewegung mit der Schulter, über die Mimi stets ärgerlich wurde und
sagte: »~C'est un mouvement de femme de chambre.~«

Das Kleid mit dem Halsausschnitt rutschte den Mädchen beim Bücken von
der Schulter. Sie brachten es dadurch wieder in die richtige Lage, daß
sie die Schulter senkten und schnell hoben. Über die Raupe gebeugt,
machte Katja eben diese Bewegung, als ich ihr über die Schulter
blickte. Der Wind hob das Busentuch von ihrem weißen Halse. Ich blickte
schon nicht mehr auf die Raupe, sondern auf die nur zwei Finger breit
von meinen Lippen entfernte nackte Schulter. Ich sah und sah, und
preßte dann meine Lippen so heftig darauf, daß Katja zurückwich, und
empfand dabei solchen Genuß, daß ich am liebsten nie aufgehört hätte.
Katja wandte sich nicht einmal um; aber ich bemerkte, daß nicht
nur die Stelle, die ich geküßt, sondern ihr ganzer Hals rot wurde.
Wolodja sagte verächtlich, ohne den Kopf zu heben: »Was sind das für
Zärtlichkeiten!« und beschäftigte sich weiter mit der Raupe. Mir aber
traten vor Lust und Scham Tränen in die Augen.

Dieses Lustgefühl war für mich ganz neu; nur einmal, als ich meinen
bloßen Arm betrachtete, hatte ich etwas Ähnliches empfunden.

Obgleich ich mich sehr schämte, verwandte ich von jetzt ab kein Auge
von Katja.

Während wir spielten, überredete Mama den Vater, die Trennung bis auf
morgen nach dem ersten Frühstück zu verschieben, und davon wurde uns
sofort Mitteilung gemacht.

Auf dem Heimweg ritten wir neben dem Jagdwagen. Wolodja und ich suchten
uns gegenseitig an Schneidigkeit und Reitkunst zu überbieten und
galoppierten um den Wagen herum. Mein Schatten war jetzt länger als
vorhin; daraus schloß ich, daß ich einen stattlichen Reiteranblick
böte. Das Gefühl der Zufriedenheit, das ich darüber empfand, wurde aber
bald durch folgenden Vorfall beeinträchtigt.

In dem Wunsche, alle Insassen des Wagens endgültig für mich
einzunehmen, besonders Katja, die zwar selten, aber doch nach mir
ausschaute, blieb ich etwas zurück, trieb dann mein Pferdchen mit Gerte
und Füßen vorwärts, nahm eine ungezwungen graziöse Haltung an und
wollte im Galopp auf der Seite, wo Katja saß, am Wagen vorübersprengen.
Ich war nur bezüglich eines Punktes unschlüssig, ob ich nämlich
schweigend oder mit Hurrageschrei vorübersprengen sollte.

Als der unausstehliche Gaul aber neben den Wagenpferden war, blieb er
trotz all meiner Bemühungen so unerwartet stehen, daß ich vom Sattel
auf den Hals flog und fast gefallen wäre. Krebsrot vor Scham suchte ich
wieder Haltung anzunehmen und ritt dann, ohne mich weiter umzusehen,
hinter den anderen her. Im Augenblick meines Mißgeschicks hatte ich
Geschrei, Kreischen und Gelächter aus dem Wagen gehört; und unter den
Lachenden war Katja. Deswegen war ich ihr schrecklich böse.

Zu Hause angelangt, ließ Mama Lichter bringen, nahm ein Notenheft und
setzte sich ans Klavier. Wolodja, Ljuboschka und Katja liefen in den
Saal, um zu spielen; ich kletterte mit den Füßen auf den Großvaterstuhl
im Gastzimmer und legte mich hin, um zuzuhören. Katja kam, um mich auch
in den Saal zu holen; aber ich war ihr böse und bat sie, mich in Ruhe
zu lassen.


11. Die Musik.

Mama spielte leicht und flüchtig mit beiden Händen eine Tonleiter,
rückte dann den Klavierbock näher und spielte das graziöse scherzhafte
zweite Konzert von Field -- ihrem Lehrer.

Sie spielte herrlich, hämmerte nicht auf den Tasten herum, wie die
Schüler und Schülerinnen der neuen Schule, trat nicht Pedal bei
Harmoniewechsel, griff nicht Arpeggio und verlangsamte nicht unnötig
das Tempo, um, wie viele tun, ihrem Spiel mehr Ausdruck zu geben;
fügte auch nicht eigene Modulationen hinzu.

Mir gegenüber führte die Tür ins Arbeitszimmer von Papa. Ich sah, wie
Jakob und einige bärtige Leute mit langen Röcken dort eintraten; hinter
ihnen wurde die Tür sofort wieder geschlossen.

Jetzt beginnt da die Arbeit -- dachte ich. Es kam mir vor, als wenn
es etwas Wichtigeres, als im Arbeitszimmer geschah, in der ganzen
Welt nicht geben könnte. Hierin bestärkte mich noch der Umstand, daß
alle Leute ins Arbeitszimmer stets auf den Zehenspitzen und flüsternd
eintraten, während von drinnen her laute Stimmen und Zigarrengeruch
kamen, welcher Duft mir stets, ich weiß nicht warum, Ehrfurcht
einflößte. Ich wollte bei den einfach herzlichen Klängen des Fieldschen
Konzerts gerade in süße Träumerei versinken, als ich im Dienerzimmer
plötzlich sehr bekanntes Stiefelknarren hörte und die Augen öffnete.
Karl Iwanowitsch schritt, zwar mit einer Miene, die Entschlossenheit
ausdrückte, aber ebenfalls auf Zehenspitzen, mit Papieren in der Hand
zur Tür und klopfte leise an. Er wurde eingelassen, dann schlug die Tür
wieder zu.

Wenn da nur nicht ein Unglück passiert, dachte ich. Karl Iwanowitsch
ist böse und in solchen Augenblicken zu allem fähig.

In diesem Augenblick spielte Mama das Konzert von Field zu Ende, erhob
sich von dem runden Klavierbock, nahm ein anderes Notenheft, stellte es
auf das Pult, schob die Lichter näher und setzte sich, nachdem sie ihr
Kleid geordnet, wieder an den Flügel. Die Aufmerksamkeit, mit der sie
das alles tat, und der nachdenklich strenge Gesichtsausdruck deuteten
an, daß sie ein sehr ernstes Stück spielen wollte. Was mochte das sein?
dachte ich, schloß wieder die Augen und lehnte den Kopf gegen die
Sesselecke. Der Geruch des Staubes, den ich beim Umdrehen aufwirbelte,
kitzelte mir die Nase; die längst bekannten Klänge des Stückes, das
Mama spielte, übten einen süßen und gleichzeitig beunruhigenden
Eindruck auf mich aus ... Sie spielte die Sonate ~pathétique~ von
Beethoven. Obgleich ich diese ganze Sonate so gut kannte, daß mir
nichts in ihr neu war, konnte ich vor Unruhe nicht einschlafen. Wenn
nun plötzlich nicht das käme, was ich erwartete? Das verhaltene,
majestätisch erhabene, aber unruhige Einleitungsmotiv, das gleichsam
Scheu trägt, sich zu äußern, ließ mich den Atem anhalten. Je schöner
und komplizierter die Phrasierung, um so stärker wurde das Angstgefühl,
es könnte etwas diese Schönheit stören, und um so stärker das Gefühl
der Freude, wenn die Phrase harmonisch endete.

Ich beruhigte mich erst, als das Einleitungsmotiv alles aussprach
und geräuschvoll in das Allegro überging. Der Anfang des Allegro
ist zu gewöhnlich; deswegen liebe ich es nicht. Man hat unterdessen
Gelegenheit, von den starken Empfindungen des ersten Teiles auszuruhen.
Was kann es aber Schöneres geben, als die Stelle, wo das Fragen und
Antworten beginnt! Zunächst ist die Unterhaltung leise und zärtlich;
dann spricht plötzlich jemand im Baß zwei so strenge, dabei von
Leidenschaft erfüllte Phrasen, auf die man, scheint's, nichts
antworten kann ... Doch nein -- es gibt eine Antwort, und noch eine
und wieder eine, immer schöner, immer stärker, bis endlich alles in
ein undeutliches Murren zusammenfließt. Diese Stelle hat mich stets
in Erstaunen versetzt, und das Erstaunen war stets so stark, als wenn
ich sie zum erstenmal hörte. Dann ertönt im Lärm des Allegro plötzlich
ein Nachklang des Einleitungsmotivs; dann nochmals das Zwiegespräch,
abermals der Widerhall, und plötzlich, im Moment, wo die Seele durch
diese unaufhörliche Unruhe so erregt ist, daß sie um Schonung bittet,
hört alles auf, unerwartet und schön ...

Während des Andante träumte ich; im Herzen war mir ruhig und freudig;
ich wollte lächeln und träumte etwas Leichtes, Vergangenes, Helles.
Aber das Rondo in D-Moll weckte mich auf. Wovon handelte es? Wohin
strebte, was wollte es? Man wünschte, daß alles schnell, schnell zu
Ende ging. Als das Weinen und Bitten aber aufhörte, hätte ich gar zu
gern den leidenschaftlichen Ausdruck des Wehs noch einmal gehört.

Die Musik wirkt weder auf den Verstand noch auf die Einbildungskraft.
Wenn ich Musik höre, denke ich an nichts und stelle mir nichts vor,
aber ein sonderbar wonniges Gefühl erfüllt in dem Maße meine Seele, daß
ich das Bewußtsein meiner Existenz verliere; und dieses Gefühl ist --
Erinnerung. Es scheint, als erinnert man sich an das, was nie da war.

Ist nicht die Grundlage des Gefühls, das jede Kunst in uns erweckt,
Erinnerung? Rührt nicht der Genuß, den Malerei und Skulptur
uns verschaffen, von der Erinnerung an bestimmte Gefühle und
Gefühlsübergänge her? Ist das Gefühl der Poesie nicht die Erinnerung an
Bilder, Gefühle und Gedanken?

Die Musik war schon bei den alten Griechen imitativ; Plato erklärte
in seiner »Republik« als unbedingte Voraussetzung der Musik, daß sie
edle Gefühle ausdrückte. Jede musikalische Phrase drückt ein Gefühl
aus: Stolz, Freude, Kummer, Verzweiflung usw. oder eine der unendlichen
Kombinationen dieser Gefühle. Musikwerke, die kein Gefühl ausdrücken,
sind in der Absicht komponiert, entweder etwas zur Schau zu stellen, zu
erklären, oder Geld zu verdienen -- mit einem Wort, in der Musik gibt
es, wie überall, Mißgeburten, nach denen man nicht urteilen kann. (Zu
diesen Mißgeburten gehören Versuche in der Musik, Bilder zum Ausdruck
zu bringen.) Gibt man zu, daß Musik die Erinnerung an Gefühle ist, so
wird verständlich, warum sie so verschieden auf die Menschen wirkt.
Je reiner und glücklicher die Vergangenheit eines Menschen war, um
so mehr liebt er seine Erinnerungen und um so stärker fühlt er die
Musik; umgekehrt, je schwerer die Erinnerungen für jemanden sind, um so
weniger Sympathie hat er für sie. Daher kommt es, daß einige Menschen
Musik nicht ertragen können. Es wird auch verständlich, warum das eine
Musikstück diesem, das andere jenem gefällt. Für den, der dasjenige
Gefühl erlebt hat, das die Musik ausdrückt, ist es eine Erinnerung, und
er findet Genuß darin; für einen anderen aber hat es keine Bedeutung.


12. Ljubotschka.

Mama hörte auf zu spielen. Ich erwachte, schob den Kopf hinter der
Sessellehne hervor und sah, daß Mama auf derselben Stelle saß, aber
nicht mehr spielte, sondern horchte. Aus dem Saal drang lautes Weinen.

»Ach Gott!« rief Mama, »sicher ist eins von den Kindern zu Schaden
gekommen!« Damit stand sie vom Klavierbock auf und lief fast in den
Saal.

Ljubotschka saß zwischen zwei Stühlen auf dem Fußboden; über ihr
Gesicht flossen Blut und Tränen. Wolodja und Katja standen mit
erschreckten Gesichtern neben ihr.

»Was ist? Wo tut es dir weh? Sag, was ist mit dir! Liebling,
Ljubotschka, Herzblatt, mein Engel!« rief Mama besorgt und selbst dicht
vor dem Weinen. Als sie die Hand fortnahm, mit der Ljubotschka ihre
Nase hielt, sah man, wie Mama sich freute, als sie wahrnahm, daß das
Blut aus der Nase kam und daß nichts Ernstliches passiert war. Sofort
änderte sich ihre Miene und sie fragte Wolodja strenge: »Wie ist das
gekommen?«

Wolodja erklärte, Ljubotschka hätte einen Hasen gemacht und sei schon
ganz weit fort gewesen, da wäre sie plötzlich gestolpert und mit der
Nase gegen einen Stuhl gefallen.

»So, so,« sagte Mama und hob Ljubotschka auf. »Das wird dir eine
Lehre sein, daß du nicht mehr so läufst wie eine Wahnsinnige. Geh ins
Gastzimmer, Liebling, hast genug getollt.«

Ljubotschka ging vorauf; hinter ihr Mama; dann folgten wir drei.

Ljubotschka schluchzte noch immer, und dieses Schluchzen glich sehr
einem Rülpsen. Aus den Augen flossen Tränen, aus der Nase Blut, aus
dem Munde Speichel; beim Abwischen mit dem Taschentuch schmierte sie
das alles über das ganze Gesicht. Die Füße setzte sie stets wie eine
Gans; jetzt war ihr breitbeiniger Gang noch komischer -- ich habe eine
so klägliche und gleichzeitig lächerliche Gestalt nie wieder gesehen.
Sogar Mama deutete beim Umblicken nach uns lächelnd auf Ljubotschka.

»Ihr könnt weiter spielen,« sagte sie zu uns.

Wolodja aber erwiderte, ohne Ljubotschka könnten wir unmöglich Hasen
spielen, und so gingen wir alle ins Gastzimmer.

»Setz dich und ruh dich aus,« sagte Mama zu Ljubotschka und wischte ihr
die Nase mit Essig und Wasser ab. »Weil du Dummheiten gemacht hast,
stehst du nicht eher wieder auf, bis du die Lektion kannst, die Mimi
dir aufgeben wird.«

Mimi gab der immer noch weinenden Ljubotschka eine Häkelnadel und eine
fünf Ellen lange Aufgabe.

Gewöhnlich, wenn jemand von uns etwas ausgefressen hatte, wurden wir
alle bestraft, indem man uns anempfahl, uns hinzusetzen und auszuruhen.
Heute dagegen erlaubte Mama uns zu spielen, woraus ich schloß, daß
heute der letzte Abend sei, wo wir zusammen wären, und Mama uns keinen
Kummer machen wollte -- als wenn sie uns Kummer machen könnte.

Jetzt kam Papa mit Karl Iwanowitsch aus dem Arbeitszimmer.

Karl Iwanowitsch ging nach oben, Papa aber kam mit heiterer Miene ins
Gastzimmer, ging auf Mama zu, legte ihr die Hand auf die Schulter und
sagte: »Weißt du, was ich soeben beschlossen habe?«

»Nun?«

»Ich behalte Karl Iwanowitsch bei den Kindern. Im Wagen ist noch Platz;
sie haben sich an ihn und er an sie gewöhnt; siebenhundert Rubel
jährlich spielen schließlich keine Rolle. ~Est puis, au fond, c'est un
bon diable~,« fügte er hinzu.

»Das freut mich sehr, der Kinder wie seinetwegen. Er ist ein prächtiger
Alter,« sagte Mama.

»Wenn du gesehen hättest, wie gerührt er war, als ich ihm sagte, er
möchte die fünfhundert Rubel als Geschenk betrachten. Das Komischste
ist aber die Rechnung, die er mir brachte; die mußt du sehen!« Damit
gab Papa ihr ein Schriftstück von Karl Iwanowitschs Hand. Reizend!

Dieses der Inhalt des Schriftstückes:

    Zwei Ampeln für die Kinder                   --.70 Rubel
    Buntes Papier, Goldrand, Kleister und
      die Holzform für die Schachtel              6.55   "
    Ein Buch und ein Flitzebogen als Geschenk
      für die Kinder                              8.16   "
    Leinkleid für Nikolas                         4.--   "
    Die vom gnädigen Herrn in Moskau 18
      versprochene goldene Uhr                  140.--   "
                                               -------------
    Also bleiben für Karl Mauer außer dem
      Gehalt                                Sa. 159.41 Rubel

Wer diese Rechnung liest, in der Karl Iwanowitsch alles für Geschenke
verausgabte Geld und sogar Zahlung für ein ihm versprochenes Geschenk
verlangt, wird sicher glauben, Karl Iwanowitsch sei ein gefühlloser
eingefleischter Egoist. Und doch würde man irren.

Als er mit dem Schriftstück in der Hand und der vorbereiteten Rede
im Kopf in das Arbeitszimmer trat, war seine Absicht, Papa in
schöngesetzten Worten alle Ungerechtigkeiten vorzuhalten, die er in
unserem Hause erlitten hatte. Als er dann aber mit der rührenden Stimme
und ausdrucksvollen Betonung, mit der er uns diktierte, zu sprechen
begann, wirkte seine Beredsamkeit am stärksten auf ihn selbst, und als
er an die Stelle kam, wo es hieß: »So schwer es mir auch wird, mich von
den Kindern zu trennen,« kam er ganz aus dem Text, seine Stimme schlug
über, und er mußte sein gewürfeltes Taschentuch herausnehmen.

»Ja, gnädiger Herr Peter Alexandrowitsch,« sagte er unter Tränen (diese
Stelle kam in der vorbereiteten Rede gar nicht vor), »ich habe mich so
an die Kinder gewöhnt, daß ich nicht weiß, was ich ohne sie anfangen
soll. Lieber werde ich ohne Gehalt bei ihnen bleiben,« schloß er, mit
der einen Hand die Tränen abtrocknend und mit der anderen die Rechnung
überreichend.

Daß Karl Iwanowitsch in diesem Augenblick aufrichtig sprach, kann ich
bestätigen, da ich sein gutes Herz kenne; wie aber die Rechnung zu
seinen Worten stimmte, bleibt für mich ein Rätsel.

»Wenn es Ihnen schwer wird, so wird mir die Trennung von Ihnen noch
schwerer,« sagte Papa, ihn auf die Schulter klopfend, »ich habe es mir
jetzt anders überlegt.«

»Was ist denn das?« meinte Papa, Ljubotschkas blaue Nase und verweinte
Augen bemerkend. »Wir haben wohl einen Streich begangen?«

Ljubotschka hatte sich schon fast ganz beruhigt; sobald sie aber
bemerkte, daß die allgemeine Aufmerksamkeit sich ihr zuwandte, brach
sie wieder in Tränen aus.

»Laß sie, Liebster,« sagte Mama, »sie muß ihre Arbeit fertigmachen.«

Papa nahm die Häkelnadel aus Ljubotschkas Händen und begann selbst zu
häkeln.

»Zu zweien werden wir eher fertig; noch besser: wir bitten um
Verzeihung,« er faßte sie an der Hand. »Komm!«

Ljubotschka hörte auf zu weinen, ging zu Mama und wiederholte die
Worte, die Papa ihr ins Ohr flüsterte.

»Heute ist der letzte Abend, Mama, daß wir ... ich und Papa ... will
... also ... verzeih ... uns ... sonst ... will er ... mich nicht mehr
... liebhaben ... wenn ich ... weine.«

»Verzeih uns,« sagte auch Papa und natürlich geschah das.

Kurz vor dem Abendessen kam Grischa ins Zimmer. Seitdem er unser Haus
betreten, hatte er unaufhörlich geseufzt und geweint, so daß nach
Ansicht derer, die an seine Prophetengabe glaubten, unserem Hause
sicher ein Unglück bevorstand.

Jetzt nahm er Abschied und sagte, er würde morgen früh weiterwandern.
Ich blinzelte Wolodja zu und ging zur Tür.

»Was denn?«

»Wenn ihr Grischas Ketten sehen wollt, so kommt schnell ins Leutezimmer
nach oben; Grischa schläft im zweiten Zimmer; wir können nebenan im
Verschlag sitzen, da sehen wir alles.«

»Famos! Wart hier, ich will die Mädchen rufen.«

Die Mädchen kamen herausgelaufen und wir begaben uns nach oben. Da
wurde zunächst gestritten, wer zuerst in das dunkle Loch gehen sollte;
dann setzten wir uns und warteten.


13. Grischa.

Wenn es auch niemand zugab, so gruselte uns allen doch in der
Dunkelheit, und wir rückten dicht nebeneinander. Nicht lange hatten
wir gewartet, da trat Grischa mit seinem Stab in der einen und einem
Talglicht im Messingleuchter in der anderen Hand leise ins Zimmer. Wir
wagten kaum zu atmen.

Unaufhörlich betete Grischa: »Erbarme dich unser, Herr Jesus Christ,
heil'ge Mutter Gottes« mit verschiedenen Betonungen und Abkürzungen,
wie sie nur diejenigen gebrauchen, die die Worte häufig aussprechen.
Unter Beten stellte er seinen Stab in die Ecke, besah das Bett und
begann sich auszukleiden. Zunächst wickelte er seinen alten schwarzen
Gürtel los und zog dann den zerrissenen langen Nangkingrock aus,
faltete ihn zusammen und legte ihn über die Stuhllehne -- alles das
geschah mit Sorgfalt, langsam. Sein Gesicht sah jetzt nicht wie
gewöhnlich zerfahren, unruhig und stumpfsinnig aus, sondern war im
Gegenteil ruhig, achtunggebietend und nachdenklich.

Nur noch mit dem Hemd bekleidet, ließ er sich langsam auf das Bett
nieder und zog, wie man sehen konnte, mit Anstrengung -- denn er verzog
das Gesicht dabei -- die Ketten unter dem Hemde hoch. Nachdem er einen
Augenblick gesessen hatte, stand er auf, hob unter Gebet das Licht
bis zur Höhe des Heiligenschreins, in dem ein paar Bilder standen,
bekreuzigte sich und kehrte das Licht mit der Flamme nach unten. Es
verlosch knisternd.

In die nach dem Walde zu gelegenen Fenster schien der Vollmond. Auf
der einen Seite sah man die vom Mondlicht beschienene Gestalt des
Pilgers, auf der anderen Seite einen langen Schatten, der mit dem des
Heiligenschreins auf den Fußboden und die Wand fiel und bis zur Decke
reichte. Draußen klopfte der Wächter gegen die Eisenplatte.

Grischa kreuzte die Arme über der Brust, senkte den Kopf und seufzte
unaufhörlich; endlich sank er mühsam auf die Knie und begann zu
beten; anfangs leise, nur einige Worte hervorhebend, dann mit stets
zunehmender Erregung. Er sprach keine bekannten Gebete mehr, -- die
hatte er bereits hergesagt -- sondern gebrauchte seine eigenen,
einfachen, kunstlosen Worte mit slawischen Endungen. Er betete für
sich, bat, Gott möge ihm verzeihen, betete für Mama, für uns und
schloß: »Gott, vergib meinen Feinden.« Dann erhob er sich ächzend,
wiederholte immer dieselben Worte, fiel auf den Fußboden nieder, schlug
mit der Stirn auf die Dielen und richtete sich mit den schweren
Ketten, die beim Berühren des Bodens laut klirrten, wieder auf.

Wolodja kniff mich ins Bein und zwar sehr heftig; ich sah mich aber
nicht um, sondern rieb mir mit der Hand das Bein und verfolgte mit
einem Gefühl kindlichen Erstaunens, Mitleids und frommer Rührung alles,
was da nebenan geschah.

Statt der lustigen Scherze und des Lachens, auf die ich in dem Versteck
gerechnet hatte, fühlte ich Zittern und Herzklopfen.

Lange, lange blieb Grischa in diesem Zustand religiöser Verzückung und
sprach seine selbsterfundenen Gebete. Die Worte waren einfach, aber
rührend. Bald wiederholte er mehrmals hintereinander: »Herr, erbarme
dich unser! Herr, erbarme dich unser!« aber jedesmal mit neuer Inbrunst
und anderem Ausdruck -- bald betete er: »Verzeih mir, Gott! Zeig mir,
was ich tun soll; zeig mir, was ich tun soll! mein Gott!« mit einem
Ausdruck, als wenn er mit jemandem spräche und sofort eine Antwort
erwartete. Dann wieder ertönte klägliches Schluchzen. Endlich erhob er
sich auf die Knie, kreuzte die Arme auf der Brust, richtete die Augen
gen Himmel und verstummte.

Ich schob langsam den Kopf durch die Tür und blickte mit verhaltenem
Atem auf Grischa. Er rührte sich nicht; aus seiner Brust drang schweres
Stöhnen; sein blindes Auge wurde vom Mond beschienen, der trübe,
weißfarbene Augapfel war feucht und an den Wimpern hing eine Träne.

»Dein Wille geschehe!« rief er plötzlich mit nicht wiederzugebendem
Ausdruck, fiel mit der Stirn auf den Boden und schluchzte wie ein Kind.

Viel Wasser ist seitdem zu Tal geflossen; viele Erinnerungen haben ihre
Bedeutung verloren und sind leere Träume geworden; sogar der Pilger
Grischa hat längst seine letzte Pilgerfahrt beendet -- der Eindruck
aber, den er auf mich machte, und das Gefühl, das er in mir hervorrief,
werden niemals aus meinem Gedächtnis schwinden.

O, du großer Christ Grischa! Wie stark war dein Glaube! Du wußtest, daß
Gott dich hört; deine Liebe war so groß, daß die Worte von selbst über
deine Lippen strömten -- du hast sie nicht mit dem Verstand abgewogen.
Und welch hohes Lob warst du für Seine Größe, als du ohne Wort dich in
Tränen auf den Boden warfst! ...


14. Im Verschlag.

Das Gefühl der Rührung, mit dem ich Grischa zuhörte, konnte nicht lange
anhalten, weil meine Neugierde befriedigt war, weil bei dem Sitzen auf
demselben Fleck meine Füße eingeschlafen waren und weil ich mich an dem
Flüstern und Stoßen der anderen im Verschlage beteiligen wollte.

Da faßte jemand meine Hand und flüsterte: »Wer ist das?«

Es war so dunkel in dem Verschlage, daß wir uns nicht sehen konnten; an
der Berührung und der Stimme dicht an meinem Ohr erkannte ich sofort
Katja.

In demselben Augenblick empfand ich ein süßes Zittern und dachte an
die Stelle unter dem Busentuch, die ich heute im Walde geküßt hatte.
Ich erwiderte nichts auf ihre Frage, sondern ergriff mit beiden Händen
ihren Arm, preßte ihn gegen meine Lippen und küßte ihn heftig. Aber
damit begnügte ich mich nicht; ohne ihren Arm loszulassen, knöpfte
ich vorsichtig den Ärmel auf und bedeckte den Arm von der Handwurzel
bis zum Ellbogen an der Stelle, an der zur Ader gelassen wird, mit
leidenschaftlichen Küssen. Als ich die Lippen in dieses Grübchen
schmiegte, empfand ich einen unbeschreiblichen Genuß und dachte nur an
eins -- nämlich mit den Lippen nicht zu viel Geräusch zu machen, um
mich nicht zu verraten.

Katja zog ihre Hände nicht zurück, sondern suchte mit der anderen
meinen Kopf, streichelte mein Gesicht und das Haar und suchte mich
fortzudrängen. Dann zog sie, als ob sie sich schämte, schnell ihren
Arm zurück und streifte den Ärmel herunter; ich packte ihn aber wieder
und preßte ihn noch stärker, bis mir Tränen aus den Augen rannen. Ich
tat ihr leid, sie beugte sich über mich und berührte mein Haar. Jetzt
war mir so angenehm wie nie im Leben; ich wünschte nur, dieser selige
Zustand möchte nie aufhören.

Wie soll ich den Genuß beschreiben, den ich empfand. Es kam hinzu, daß
die Haut auf dem Arm, den ich küßte, so zart und weich war, und der
Gedanke, daß dieser Arm Katja gehörte, die ich stets geliebt hatte, und
von der ich mich morgen, vielleicht auf immer, trennen sollte. Aber was
bedeutete dieses süße Weh, das ich empfand und das mir Tränen in die
Augen trieb?

       *       *       *       *       *

Beim Versuch, mich bequemer hinzusetzen, stieß ich unversehens mit
dem Fuß gegen einen zerbrochenen Stuhl im Verschlage. Ich weiß nicht,
warum das Wolodja sehr komisch vorkam; ich hörte voll Schreck, wie er
Ljubotschka etwas (wahrscheinlich sehr Komisches) zuflüsterte und wie
beide sich umsonst bemühten, das Lachen zurückzuhalten; dann brachten
bald der eine, bald die andere mit der Nase sonderbare, abgerissene
Töne hervor, ähnlich dem Wiehern eines Füllens. Die Töne wurden
häufiger und lauter. Grischa erhob den Kopf, sah sich um und schlug
betend das Kreuz nach allen Seiten. Das kam nun allen so komisch
vor, daß Ljubotschka und Wolodja plötzlich in schallendes Gelächter
ausbrachen, in das auch Katja einstimmte. Natürlich blieb ich nicht
zurück, und wir brachen lärmend und schreiend aus dem Versteck hervor.


15. Natalie Sawischna.

Mitte des vorigen Jahrhunderts lief im Dorfe Chabarowka in einem
dunklen Kleidchen vom Kaufmann Satrapesnikow ein barfüßiges, lustiges,
dickes, rotbäckiges Mädchen umher -- das war Natascha. Wegen der
Verdienste und auf Bitten ihres Vaters, des Klarinettenbläsers Sawwa,
nahm mein Großvater sie unter die weiblichen Dienstboten Großmamas
auf. Als Stubenmädchen zeichnete Natascha sich durch Bescheidenheit
und Pflichteifer aus. Als Mama geboren wurde und eine Wärterin nötig
war, fiel dieses Amt Natalie zu. Auch in dieser neuen Tätigkeit
erntete sie Lob und Belohnungen wegen ihrer Treue und Anhänglichkeit
an die junge Herrin. Aber die zärtlichen blauen Augen, der gepuderte
Kopf und die wohlgeformten Beine in Schnallenschuhen, im Verein mit
den Liebkosungen und heimlichen Anträgen des Dieners Foka raubten
dem jungen unerfahrenen Ding die Herzensruhe und veranlaßten sie zu
einem Schritt, der ihre Zukunft für immer verderben konnte: sie bat um
Erlaubnis, Foka heiraten zu dürfen. Großvater wurde zornig auf Natalie
und verbannte sie ins Dorf Beresowka auf den Viehhof. Nach dreijähriger
Verbannung wurde Natalie, da niemand sie bei der Mutter ersetzen
konnte, zurückgerufen. Mit schuldiger Miene erschien sie vor Großpapa,
erklärte, sie wüßte selbst nicht, wie sie zu einer solchen Dummheit
gekommen sei und bat um Verzeihung.

Von da ab wurde aus Natascha eine Natalie Sawischna, und außerdem
trug sie ein Häubchen. Fokas Blicke beunruhigten ihr Herz nicht mehr
-- den ganzen Vorrat von Liebe, den sie besaß, übertrug sie auf ihre
Herrschaft, besonders auf Mama.

Als Großmutter dann eine Gouvernante engagierte, erhielt sie die
Schlüssel zur Vorratskammer und ihr wurden die Wäsche und alle
Haushaltungsgegenstände anvertraut. Überall sah sie Verschwendung,
Verlust und Mißbrauch des Herrschaftsgutes und suchte mit allen Mitteln
dagegenzuwirken. Von dem früheren Verhältnis zu Foka war nicht mehr die
Rede; im Gegenteil, als Büfettier war er ihrem Zorn mehr als andere
ausgesetzt.

Als Mama heiratete, wollte sie Natalie Sawischna für ihre
zwanzigjährigen Dienste und ihre Anhänglichkeit danken, rief sie zu
sich, drückte ihr in schmeichelhaften Worten ihre Erkenntlichkeit und
Liebe aus und händigte ihr einen Stempelbogen ein, laut welchem Natalie
Sawischna die Freiheit erhielt. Gleichzeitig teilte sie ihr mit, sie
würde, einerlei ob sie in unserem Hause weiterdiente oder nicht, eine
jährliche Pension von dreihundert Rubeln erhalten.

Natalie Sawischna hörte alles schweigend mit an, dann nahm sie den
Freibrief, starrte ihn ärgerlich an, murmelte etwas vor sich hin und
lief, die Tür hinter sich zuschlagend, aus dem Zimmer. Da Mama den
Grund dieses Benehmens nicht begriff, ging sie etwas später in Natalies
Zimmer. Diese saß mit verweinten Augen auf ihrem Koffer, drehte das
Schnupftuch zwischen den Fingern und blickte unverwandt auf die Fetzen
des zerrissenen Freibriefes vor ihr auf dem Fußboden.

»Was ist mit dir, liebe Natalie?« fragte Mama fassungslos und ergriff
ihre Hand.

»Nichts, Mütterchen,« erwiderte sie, kaum die Tränen zurückhaltend,
»ich bin Ihnen wohl zuwider geworden, daß Sie mich aus dem Hause jagen.
Gut, ich gehe schon.«

Sie riß ihre Hand los und wollte das Zimmer verlassen. Aber Mama hielt
sie zurück, umarmte sie und beide brachen in Tränen aus.

Solange ich etwas von mir weiß, erinnere ich mich auch an Natalie
Sawischna und ihre Liebe und Zärtlichkeit; aber erst jetzt weiß ich
sie zu schätzen -- damals kam mir nie in den Sinn, welch seltenes,
wunderbares Geschöpf diese Alte war. Sie sprach nicht nur niemals von
sich, sondern dachte auch niemals an sich: ihr ganzes Leben war Liebe
und Aufopferung; deswegen legte ich mir auch niemals die Frage vor,
ob sie glücklich und zufrieden sei. Ich war an ihre uneigennützige,
zärtliche Liebe zu uns so gewöhnt, daß ich nie auf den Gedanken kam, es
könne anders sein und ihr innerlich nie dankte.

Bisweilen lief man unter dem Vorwande eines Bedürfnisses aus der
Schulstunde in ihr Zimmer, ließ sich da nieder und träumte und sprach
mit sich selbst, ohne sich durch ihre Anwesenheit geniert zu fühlen.
Stets war sie beschäftigt. Sie zählte Wäsche oder kramte in den Kisten
und Kasten, die ihr Zimmer füllten oder strickte Strümpfe und erwiderte
auf den Unsinn, den ich schwatzte: »Ja, mein Liebling, ja.« Gewöhnlich
wenn ich aufstand und fortgehen wollte, öffnete sie den blauen Kasten,
auf dessen Deckel innen, wie ich noch weiß, das bunte Bild eines
Husaren, ein Bogen mit Pomadenbüchsen und Wolodjas Bleistiftzeichnung
geklebt waren. Dann nahm sie eine Räucherkerze aus dem Kasten, zündete
sie an, schwenkte sie hin und her und sagte: »Das ist noch Räucherwerk
aus Otschakow, mein Liebling. Als dein verstorbener Großvater -- Gott
hab ihn selig -- gegen die Türken zog, brachte er das mit. Das ist
schon das letzte Stück,« schloß sie mit einem Seufzer.

In den Kisten in ihrem Zimmer war einfach alles. Wenn jemand irgend
etwas brauchte, hieß es gewöhnlich »frag Natalie«. Und wirklich, nach
kurzem Stöbern fand sie den gewünschten Gegenstand und sagte: »Da hab'
ich's gerade noch aufbewahrt.«

In diesen Kisten waren tausend Dinge, von denen niemand wußte als sie.

Nur ein einziges Mal war ich ihr böse. Das kam so. Als ich mir zum
Mittagessen Kwas einschänkte, warf ich die Karaffe um und begoß das
Tischtuch.

»Ruf mal Natalie Sawischna, damit sie sich über ihren Liebling freut,«
sagte Mama.

Sie kam, sah die Überschwemmung, die ich angerichtet hatte und
schüttelte den Kopf. Dann sagte Mama ihr etwas ins Ohr, und sie ging,
mir mit dem Finger drohend, hinaus. Als ich nach Tisch in den Saal
ging, sprang plötzlich Natalie Sawischna mit dem Tischtuch in der Hand
hinter der Tür hervor, packte mich und fuhr mit den Worten: »Mach das
Tischtuch nicht schmutzig, mach das Tischtuch nicht schmutzig!« über
mein Gesicht. Das brachte mich so in Wut, daß ich laut brüllte.

Wie! sagte ich mir unter Tränen, Natalie Sawischna, einfach Natascha,
unsere Leibeigene, sagt »du« zu mir und fährt mir mit dem nassen
Tischtuch ins Gesicht wie einem Hofjungen! Nein, das ist schrecklich!

Als Natalie Sawischna sah, daß ich Speichel ließ, lief sie fort. Ich
aber wanderte im Saal auf und ab und brütete, wie ich mich wegen dieser
Beleidigung an der frechen Natalie rächen könnte.

Nach einigen Minuten kehrte sie zurück, trat schüchtern an mich heran
und begann mich zu trösten.

»Nun hören Sie doch auf, Liebling, weinen Sie nicht mehr ... ist gut;
verzeihen Sie mir Närrin. Ich habe unrecht. Verzeihen Sie mir ... da
ist etwas.«

Sie wickelte aus ihrem Tuch eine Schachtel aus rotem Papier mit zwei
Brustbonbons und einer Weinbeere und reichte sie mir mit zitternder
Hand. Ich hatte nicht die Kraft, der braven Alten ins Gesicht zu sehen;
nahm abgewandt das Geschenk entgegen, und die Tränen flossen noch
reichlicher, aber nicht mehr aus Ärger, sondern aus Liebe und Scham.


16. Die Trennung.

Einen Tag nach den beschriebenen Ereignissen hielten um zwölf Uhr
mittags ein Reisewagen und ein offener Wagen vor der Anfahrt. Nikolas
war reisemäßig gekleidet, das heißt er hatte die Hosen in die Stiefel
gesteckt und seinen alten Rock mit einem Gürtel festgeschnürt. Er stand
in dem offenen Wagen und legte Mäntel und Kissen unter den Sitz; als
dieser ihm hoch genug schien, setzte er sich auf die Kissen und drückte
sie, auf und nieder springend, zusammen.

Mit den Worten: »Seien Sie so liebenswürdig, Nikolai Dmitritsch -- kann
man bei Ihnen nicht die Schatulle des gnädigen Herrn unterbringen?« kam
Papas Diener aus dem Reisewagen hervorgekrochen. »Sie ist nur klein.«

»Das hätten Sie auch früher sagen können, Michail Iwanitsch,« erwiderte
Nikolas hastig und schleuderte dabei ärgerlich ein Bündel auf den
Boden des Wagens. »Mir dreht sich, weiß Gott, schon alles im Kreise;«
er lüftete die Mütze und wischte sich dicke Schweißtropfen von der
verbrannten Stirn. »Jetzt machen Sie was Sie wollen -- ich kann Ihre
Schatullen nicht mehr unterbringen.«

Bauern in Röcken, Kaftanen, Hemden, ohne Mützen, Weiber in
Baumwollenkleidern und gestreiften Kopftüchern, sowie barfüßige Kinder
standen an der Treppe, starrten auf die Wagen und unterhielten sich.
Ein vom Alter gebeugter Fuhrmann in Wintermütze und langem dicken Rock
hielt die Wagendeichsel in der Hand, bewegte sie tiefsinnig hin und her
und achtete auf den Hauseingang; ein anderer junger stattlicher Bursche
in weißem Hemd mit roten Achselzwickeln und schwarzem kuchenförmigen
Filzhut, den er, sein Blondhaar krauend, von einem Ohr auf das andere
schob, legte seinen Rock auf den Bock, warf die Zügel hin, klatschte
dann mit der Peitsche ins Gras und schaute den Kutschern zu, die
den zweiten Wagen schmierten. Parthenius hielt den Hebebaum, Iwan
schmierte, über das Rad gebeugt, sorgfältig die Achse und Nabe, und
damit keine Schmiere verloren ging, schmierte er sie von unten her rund
um. Die zerzausten, abgetriebenen Postpferde am Gitter wedelten mit den
Schwänzen die Fliegen ab, scharrten mit den zottigen, warzenbedeckten
Beinen und zupften harte dunkelgrüne Farnkrautblätter ab, die an der
Treppe wuchsen. Einige Barsois (Windhunde) lagen schweratmend in der
Sonne, andere schlichen um die Wagen herum und leckten das von der
Achse triefende Fett auf. Keine Wolke stand am Himmel, dabei bog ein
starker Westwind die hohen Linden- und Birkenwipfel und trug fallende
gelbe Blätter weithin. Ich saß am Fenster, sah das alles mit an und
erwartete mit Ungeduld das Ende all der Vorbereitungen. Endlich war es
so weit; ich wurde ins Gastzimmer gerufen.

Als hier alle um den runden Tisch versammelt waren, um zum letztenmal
ein paar Minuten zusammen zu verbringen, kam mir nicht in den Sinn,
welch trauriger Moment uns bevorstand. Die müßigsten Gedanken zogen
mir durch den Kopf; ich fragte mich, welcher Kutscher den Reisewagen
und welcher die Kalesche führe. Wer neben Papa und wer neben Karl
Iwanowitsch säße, und warum man mich in einen Schal und langen
Schlafrock wickeln wollte. Ich war doch kein Weichling und würde schon
nicht erfrieren.

Wenn das alles nur bald ein Ende hätte, wenn man einsteigen und
losfahren könnte!

Das Fahren mit Postpferden war nämlich einer unserer stolzesten
sehnlichsten Wünsche, dessen Erfüllung mich fast davon überzeugte, daß
wir erwachsen wären.

»Wem soll ich das Verzeichnis der Kinderwäsche geben?« fragte Natalie
mit verweinten Augen, indem sie auf Mama zutrat.

»Geben Sie es Nikolas,« sagte Mama, »und kommen Sie nachher, um von den
Kindern Abschied zu nehmen.«

Die Alte wollte etwas erwidern, stockte aber plötzlich, bedeckte
das Gesicht mit dem Taschentuch und verließ mit einer abwehrenden
Handbewegung das Zimmer. In meinem Herzen rührte sich etwas, als ich
diese Bewegung sah, aber meine Ungeduld war stärker als dieses Gefühl
des Mitleids, und so hörte ich weiter gleichgültig die Unterhaltung
zwischen Papa und Mama an. Sie sprachen von Dingen, die offenbar beide
nicht besonders interessierten: was für den Haushalt einzukaufen wäre,
was man der Fürstin Sophie und Madame Julie sagen sollte und ob der Weg
gut wäre. Über die Trennung fiel kein Wort.

Foka erschien, blieb in der Tür stehen und sagte im selben Tonfall,
in dem er zu melden pflegte: »Das Essen ist angerichtet« -- »Die
Wagen sind vorgefahren.« Ich bemerkte, daß Mama bei dieser Meldung
zusammenfuhr als käme sie ihr unerwartet, und blaß wurde.

Jetzt mußte Foka alle ins Zimmer führen und dann die Türen schließen,
was mich sehr amüsierte und wunderte. Es war, als ob alle sich vor
jemandem versteckten.

Jetzt ließ Foka sich auf eine Stuhlecke fallen. Aber kaum war das
geschehen, da knarrte die Tür, alle setzten sich nun, und, mit dem
Schnupftuch in der Hand, trat Natalie Sawischna hastig ins Zimmer und
ließ sich auf demselben Stuhl mit Foka dicht an der Tür nieder. Noch
jetzt sehe ich den Glatzkopf und das unbewegliche Runzelgesicht Fokas
neben der gebeugten braven Alten im Häubchen, unter dem sich graues
Haar hervorstahl. Sie drückten sich auf demselben Stuhl herum, und es
war beiden ungemütlich.

Ich blieb nach wie vor unbekümmert und ungeduldig; die zehn Sekunden,
die wir bei geschlossenen Türen saßen, kamen mir wie eine Stunde vor.
Endlich erhob sich alles, bekreuzigte sich und fing an, Abschied zu
nehmen. Papa umarmte Mama und küßte sie mehrmals auf die Lippen. Das
wiederholten beide so oft, daß es mir komisch vorkam, und ich dachte,
wann das alles wohl ein Ende nehmen würde.

»Genug, mein Liebling,« sagte Papa, »wir trennen uns ja nicht auf
immer.«

»Es ist aber doch schwer,« erwiderte Mama, wobei ihre Stimme vor Tränen
zitterte.

Als ich diese Stimme hörte und Mamas Augen voll Tränen sah, vergaß ich
alles, und die liebe Mutter tat mir so leid, und die Trennung wurde
mir so schwer, daß ich bange den Augenblick erwartete, wo die Reihe
des Abschiednehmens an mich kommen würde. Ich fühlte und begriff in
dieser Minute, daß Mama, als sie Papa umarmte, sich schon von uns
verabschiedet hatte.

Dann küßte und segnete sie Wolodja so häufig, daß ich im Glauben, jetzt
ebenfalls an die Reihe zu kommen, mich schon mehrmals vordrängte. Aber
Mama segnete ihn immer wieder und drückte ihn ans Herz.

Endlich umarmte auch ich Mama, schmiegte mich fest an sie und weinte
helle Tränen, nur an meinen Kummer denkend.

Als wir zum Wagen gingen, drängte das lästige Gesinde zum
Abschiednehmen ins Zimmer. Ihr »Bitte das Händchen«, die schallenden
Küsse auf die Schulter und der Fettgeruch von den Köpfen ärgerten mich
fast bis zur Erbitterung, wie das bei sensitiven Naturen vorkommt.
Unter dem Einfluß dieses Gefühls küßte ich Natalie Sawischna, als sie
ganz in Tränen von mir Abschied nahm, sehr kühl auf die Haube.

Wunderbar, daß ich alle Gesichter des Gesindes noch jetzt so deutlich
vor mir sehe, daß ich sie mit den kleinsten Einzelheiten zeichnen
könnte; Mamas Gesicht und Stellung dagegen ist mir vollständig
entschwunden. Wahrscheinlich rührt das daher, daß ich mir während der
ganzen Zeit nicht einmal das Herz faßte, sie anzusehen. Mir schien,
daß, wenn ich das täte, ihr und mein Schmerz unerträglich werden würde.

Ich stürmte zuerst in den großen Wagen, um niemanden mehr zu sehen,
und setzte mich auf den Rücksitz. Obgleich ich wegen des Verdecks des
Wagens nichts sehen konnte, sagte mir mein Gefühl, daß Mama noch hier
sei.

Soll ich sie noch einmal küssen oder nicht? Na, zum letztenmal, sagte
ich zu mir selbst und beugte mich aus dem Wagen zur Treppe. Im selben
Augenblick trat Mama mit dem gleichen Gedanken an die andere Wagenseite
und rief mich beim Namen. Beim Hören ihrer Stimme wandte ich mich um,
aber so schnell, daß wir mit den Köpfen zusammenstießen; sie lächelte
schmerzlich und küßte mich fest, zum letztenmal.

Ich wagte sie erst anzusehen, als wir schon einige Schritte gefahren
waren. Der Wind lüftete ihr blaues Tuch, das sie beim Hinaustreten um
den Kopf geschlungen hatte. Jetzt senkte sie den Kopf, bedeckte das
Gesicht mit den Händen und ging langsam hinein. Foka stützte sie.

Papa saß neben mir, Wolodja -- gegenüber. In seinen Augen war keine
Spur einer Träne, aber er war blaß wie ein Taschentuch und schnitt
bisweilen mit dem Munde schreckliche Grimassen. Ich wimmerte und
schluchzte vor Tränen und dabei schnürte mir etwas die Kehle zusammen,
daß ich zu ersticken fürchtete.

Papa sagte kein Wort und sah uns bisweilen teilnahmsvoll an; diese
Teilnahme gefiel mir, und der Gedanke, daß meine Tränen Herz verrieten,
machte mir Vergnügen und tröstete mich.

Ich setzte mich bequemer hin und betrachtete aufmerksam die nächsten
Gegenstände vor meinen Augen -- das Hinterteil des Beipferdes auf
meiner Seite. Ich sah, wie es mit dem Schweif wedelte, wie ein Bein
das andere streifte, wie die Peitsche des Kutschers es berührte und
wie es aus dem Trab in Galopp verfiel; sah, wie der Längsriemen und an
diesem Längsriemen die Schnallen hin- und herrutschten -- sah so lange
hin, bis sich das Geschirr an einigen Stellen mit Schaum bedeckte.
Dann schaute ich in die Runde, auf die wogenden reifen Kornfelder, die
dunkle Brache, auf der am Horizont ein Bauer mit Pflug und ein Pferd
mit Füllen sichtbar wurden, und auf die Werstpfähle; blickte sogar auf
den Kutschbock, um zu sehen, welcher Kutscher uns führe, und die Tränen
in meinem Gesicht waren noch nicht getrocknet, als meine Gedanken schon
weit von der Mutter schweiften, von der ich mich vielleicht für immer
getrennt hatte.

Dennoch lenkte jede Erinnerung meine Gedanken zu ihr. Als wir zwanzig
Werst gefahren waren, fiel mir ein, daß ich vor zwei Tagen im Garten
einen kleinen Birkenpilz gefunden hatte. Ich hatte ihn nicht
abgebrochen, sondern mit trockenen Blättern bedeckt, da ich warten
wollte, bis er gewachsen wäre.

Jetzt fuhr ich fort und hatte ihn vergessen. Wer würde ihn pflücken?
Vielleicht zertrat ihn der Gärtner, vielleicht fanden ihn Ljubotschka
und Katja.

Dabei fiel mir ein, wie die beiden, besonders Ljubotschka, beim
Abschied von uns geweint hatten.

Sie taten mir leid, und Natalie Sawischna ebenfalls, und die
Birkenallee, und sogar die böse Mimi -- alle, alle! Und die arme Mama.
Tränen traten wieder in meine Augen, aber nicht für lange.


17. Die Kindheit.

Glückliche, selige, unwiederbringliche Tage der Kindheit! Wie soll man
die Erinnerung an euch nicht hegen und pflegen! Sie erhebt und erquickt
meine Seele und bildet für mich die Quelle der besten Genüsse.

Man hat sich müde gelaufen und sitzt matt auf seinem hohen Kinderstuhl
am Teetisch; es ist schon spät, die Tasse Milch mit Zucker ist längst
geleert, Schlaf fällt auf die Augen, aber man rührt sich nicht von der
Stelle -- sitzt da und hört und sieht.

Wie soll man nicht hören! Mama spricht mit jemandem, ihre Stimme klingt
so lieb, so unbeschreiblich freundlich. Der bloße Klang sagt meinem
Herzen so unendlich viel!

Mit schlafbeschwerten Augen blicke ich unverwandt in ihr Gesicht, und
plötzlich kommt es mir vor, als würde sie ganz, ganz klein, ihr Gesicht
nicht größer als ein Knopf, aber dabei sehe ich alles ganz deutlich,
wie sie mich ansieht und lächelt. Ich habe es gern, daß sie so klein
ist. Ich schließe die Augen noch mehr, und nun wird sie so klein,
wie Jungen im Augapfel; aber dann bewege ich mich und das Zauberbild
verschwindet. Ich mache die Augen kleiner, drehe mich hin und her,
bemühe mich, das Bild wieder hervorzuzaubern, aber es ist umsonst. Ich
stehe auf, schlage die Beine unter und lege mich bequem in den großen
Lehnstuhl.

»Du schläfst wieder ein, Nikolas; solltest nach oben gehen,« sagt Mama.

»Ich will nicht schlafen,« erwidere ich, und undeutliche aber süße
Träume erfüllen die Phantasie. Ein gesunder Kinderschlaf schließt die
Augen, und eine Minute später ist man bewußtlos und schläft, bis man
aufgeweckt wird.

Bisweilen fühlt man im Halbschlaf die Berührung einer zarten Hand; an
der Berührung schon erkennt man sie und ergreift sie noch im Schlaf
dicht vor dem Gesicht und preßt sie fest, fest gegen die Lippen.

Alle sind bereits fortgegangen; im Gastzimmer brennt nur noch ein
Licht. Mama hat gesagt, sie würde mich wecken. Dann kommt sie, setzt
sich auf den Lehnstuhl, auf dem ich schlafe, fährt mit ihrer wunderbar
zarten Hand über mein Haar und flüstert mit der lieben bekannten Stimme
dicht an meinem Ohr: »Steh auf, mein Liebling, es ist Zeit zu Bett zu
gehen.« Kein gleichgültiger Blick stört sie, ungescheut gießt sie all
ihre Zärtlichkeit und Liebe über mich aus.

Ich rühre mich nicht, presse aber ihre Hand noch stärker an meine
Lippen.

»Steh doch auf, mein Engel!«

Mit der anderen Hand umfaßt sie meinen Hals, und ihre kleinen Finger
bewegen sich und kitzeln mich.

Im Zimmer ist es still, halbdunkel; durch das Kitzeln und Erwachen
sind meine Nerven erregt; Mama sitzt dicht neben mir, berührt mich,
ich spüre ihren Duft und ihre Stimme. Das alles veranlaßt mich,
aufzuspringen, meine Arme um ihren Hals zu schlingen, den Kopf gegen
ihre Brust zu legen und atemlos zu rufen: »Ach liebe, liebe Mutter, wie
habe ich dich lieb!«

Sie lächelt auf ihre traurige bezaubernde Art, nimmt meinen Kopf, küßt
mich auf die Stirn, die Nase und die Augen und setzt mich auf ihren
Schoß.

»Also du hast mich sehr lieb?« Sie schweigt einen Augenblick und sagt
dann: »Hörst du, hab mich stets lieb und vergiß mich nicht. Wenn deine
Mutter nicht mehr da ist, mußt du sie nie vergessen! Hörst du: nie,
Nikolas.«

Und sie küßt mich noch zärtlicher.

»Hör auf, sag das nicht, liebste beste Mutter!« rufe ich, ihre Knie
küssend, und dabei stürzen Tränen aus meinen Augen, Tränen der Liebe
und des Entzückens.

Kommt man dann nach oben und steht in seinem wattierten Schlafrock vor
dem Heiligenbild, welch wunderbares Gefühl empfindet man dann bei den
Worten: »Lieber Gott, beschütze meine Eltern, Papa, Mama und Großmama,
den Lehrer Karl Iwanowitsch, meinen Bruder Wolodja und meine Schwester
Ljubotschka.«

Wenn ich diese Worte sprach, die meine Lippen zuerst der lieben Mutter
nachstammelten, floß die Liebe zu Gott und den Eltern sonderbar in ein
Gefühl zusammen. Ich wußte und fühlte, daß Gott groß, gerecht und gut
sei; ich war überzeugt, daß all meine Bitten erfüllt, alle Vergehen
bestraft würden, daß ich ihm für alles, alles dankbar sein müsse und
daß er mich nie verlassen würde.

Kein Zweifel störte damals meine Ruhe.

Nach dem Gebet wickelte ich mich, leicht und fröhlich ums Herz, in
meine Decke ein. Ein schöner Traum folgte dem anderen; aber was hatten
sie zum Gegenstande? Flüchtige Dinge, dabei war ich erfüllt von
Hoffnung auf helles Glück und reine Liebe. Dann fiel mir wohl Karl
Iwanowitsch mit seinem traurigen Schicksal ein, der einzige Mensch, den
ich für unglücklich hielt. Er tat mir so leid und ich empfand so viel
Liebe für ihn, daß mir Tränen in die Augen traten und ich wünschte,
Gott möge ihn glücklich machen und es mir ermöglichen, ihm meine Liebe
zu zeigen -- ich wollte gern alles für ihn opfern. Dann stopfte ich
mein liebstes Spielzeug, ein Häschen oder Hündchen aus Porzellan, in
eine Ecke des Federkissens und freute mich, wie gut, warm und behaglich
es dort liegen könne. Dann bat ich noch den lieben Gott, allen Glück
und Zufriedenheit zu geben und morgen zum Spazierengehen schönes
Wetter zu machen, legte mich auf die andere Seite, Gedanken und Träume
vermischten sich, und ich schlief leise und sanft mit tränenfeuchtem
Gesicht ein.

Werden sie je wiederkehren, die Frische, Sorglosigkeit und
Glaubensstärke, die ich unbewußt in der Kindheit besaß? Welch schönere
Zeit kann es geben, als die, in der die zwei höchsten Tugenden:
unschuldige Heiterkeit und ein unendliches Bedürfnis zu lieben,
die Haupttriebfedern im Leben waren. Wo sind die gläubigen Gebete
geblieben? wo die schönste Gabe: reine Tränen der Rührung? Kam ein
tröstender Engel geflogen, trocknete lächelnd diese Tränen und hauchte
der reinen Phantasie des Kindes süße Träume ein? Hat das Leben wirklich
so schwere Spuren in meinem Herzen hinterlassen, daß dieses Entzücken
und diese Tränen auf ewig verschwunden und nur Erinnerungen geblieben
sind?


18. Verse.

Am 8. September 1836, fast einen Monat nach unserer Ankunft in Moskau
war Großmutters Geburtstag. Um zehn Uhr morgens saß ich im Moskauer
Hause im Klassenzimmer an einem großen Tisch und schrieb; auf der
anderen Tischseite machte der Zeichenlehrer die letzten Verbesserungen
an einer Bleistiftzeichnung, die einen Türken im Turban darstellte.
Wolodja stand mit ausgerecktem Halse auf den Zehenspitzen hinter ihm
und blickte dem Lehrer über die Schulter. Dieser Kopf war Wolodjas
erste Zeichnung, die heute an Großmutters Geburtstag mit folgender
Inschrift auf dem Ärmel des Türken überreicht werden sollte: »Woldemar
Irtenef, 8. Sept. 1836, Moscou.«

»Wollen Sie hier nicht noch etwas mehr Schatten hinbringen?« fragte
Wolodja, auf den Hals des Türken deutend.

»Nein, das ist nicht nötig,« erwiderte der Zeichenlehrer, Bleistifte
und Reisfeder in die Schieblade legend, »jetzt ist es gut; rühren Sie
es nicht mehr an. Nun aber Sie, Nikolenka,« er erhob sich, den Türken
weiter von der Seite betrachtend -- »verraten Sie uns doch endlich Ihr
Geheimnis: was schenken Sie der Großmutter? Am besten wäre ebenfalls
ein Kopf. Adieu, meine Herren.« Er nahm seinen Hut und verließ das
Zimmer.

In diesem Augenblick war ich auch der Ansicht, daß ein Kopf besser
sei als die Arbeit, mit der ich mich quälte. An dem Abend, als man
uns mitteilte, wir sollten ein Geschenk zu Großmutters Geburtstag
vorbereiten, kam mir der Gedanke, ihr bei dieser Gelegenheit ein
Gedicht zu machen, und ich verfaßte sofort zwei gereimte Strophen in
der Hoffnung, die übrigen ebensoleicht hinzufügen zu können. Meinen
Plan vertraute ich niemandem an; alle Fragen beantwortete ich damit,
ich würde sicher ein Geschenk darbringen, aber niemandem sagen, worin
es bestände. Dann ging ich sogleich ans Werk.

Wider Erwarten stellte sich heraus, daß ich außer den beiden im
ersten Feuereifer ersonnenen Strophen, trotz aller Anstrengung nichts
Gescheites mehr zustande bringen konnte.

Um mir die Mühe zu erleichtern, nahm ich Zuflucht zu einer List. Ich
las alle Verse, die mir in die Hände fielen; da die Auswahl aber
nicht groß war und ich nirgends Glückwünsche fand, überzeugte mich
die Lektüre von Puschkin, Dershawin und anderen noch mehr von meiner
Ohnmacht und Talentlosigkeit. Dann kramte ich unter Karl Iwanowitschs
Papieren, der, wie ich wußte, oft Gedichte verfaßte. Unter seinen
Manuskripten fand ich ein Produkt, das wahrscheinlich seiner Feder
entstammte. Hier ist es:


          An Frl. L.

    Denke mein: nahe,
    Denke mein: fern,
    Denke mein: immerdar,
    Denke mein: gern.
    Denke mein bis an das Grab,
    Wie ich so treu geliebt dich hab!

    Petrowskoie, 12. Juni 1828.      Karl Mauer.

Dieses mit großen runden Buchstaben auf dünnes Briefpapier geschriebene
Gedicht gefiel mir wegen des rührenden Gefühls, von dem es durchdrungen
ist. Ich las es einigemal durch und lernte es auswendig. Vorher,
als ich mir die gedruckten Verse zum Muster genommen hatte, sah
ich deutlich, daß meinen eigenen etwas mangelte und geriet darüber
in Verzweiflung. Jetzt, mit dem Rückhalt dieser Verse, die ich
nachzumachen suchte, ging die Sache weit leichter. Am Geburtstage war
ein Glückwunsch aus zwölf Strophen fertig; am Tisch im Klassenzimmer
schrieb ich ihn auf Velinpapier ab.

Schon waren zwei Bogen verdorben ... nicht, weil ich etwas ändern
wollte -- die Verse schienen mir ausgezeichnet; aber von der dritten
Zeile an kletterten die Versenden immer höher und höher, so daß man
schon von weitem sah, wie schief das Gedicht war und daß es nichts
taugte.

Obgleich die dritte Abschrift ebenso schief war wie die übrigen,
beschloß ich, jetzt nichts mehr abzuschreiben. Dagegen machte mir ein
ganz anderer Umstand Schwierigkeiten. In meinem Gedicht gratulierte ich
zunächst der Großmutter zum Geburtstag, wünschte ihr viele, viele Jahre
Gesundheit, dankte ihr dann für ihre Liebe und schloß, meine Gefühle
beschreibend:

    »So will ich dich auch stets erfreun,
    Du sollst wie meine Mutter sein.«

Die Sache war nicht übel, aber der letzte Vers gefiel mir nicht, er
beleidigte direkt mein Ohr. »Wie meine Mutter« wiederholte ich für
mich, »Du sollst wie meine Mutter sein --« es ging; ich wollte es doch
aber lieber ändern. Wie einen anderen Schluß finden? Dein? Weih'n? Ich
will dir alle Kräfte weih'n. Ach was, sagte ich mir, es geht schon.
Immer noch besser als Karl Iwanowitschs Verse. So schrieb ich die
letzte Strophe hin. Dann ging ich ins Schlafzimmer und deklamierte
alles laut mit Gesten und sehr ausdrucksvoll.

Die ersten Strophen hatten gar kein Versmaß; aber dabei hielt ich mich
nicht lange auf. Die letzte Zeile dagegen berührte mich immer stärker
und unangenehmer. Ich setzte mich auf mein Bett und überlegte. Warum
hatte ich geschrieben: »wie meine Mutter.« Warum sie erwähnen? Sie
war doch nicht hier! Ich liebte und verehrte Großmutter, weil sie so
respektgebietend war; aber das war doch nicht das! Warum, warum hatte
ich die Worte geschrieben? Ich begriff es wohl undeutlich, fühlte aber
dabei, daß, der Großmutter sagen, sie solle wie meine Mutter sein --
erstens falsch und zweitens überflüssig sei. Wozu ihr das sagen? Nein,
es war nicht hübsch! Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich die letzte
Zeile ändern könnte; aber das ging nicht so einfach -- ich mußte dann
die letzten vier Zeilen des Gedichts, die alle den gleichen Reim
hatten, umdichten -- ein Drittel des ganzen Gedichtes. Vielleicht
hätte ich auch das noch fertiggebracht; aber jetzt hörte ich, wie der
Schneider mit meinem neuen Frack kam.

»Also mag es schon so bleiben,« sagte ich ärgerlich, schob die Verse
unter das Kissen und lief, um den Moskauer Anzug anzuprobieren.

Er erwies sich als vorzüglich. Der zimtbraune Frack mit blanken Knöpfen
lag prall am Körper an, nicht so auf Zuwachs berechnet, wie auf dem
Lande für uns gearbeitet wurde; die schwarze, ebenfalls enge Hose
umspannte wundervoll die Schenkel und fiel gefällig auf die Stiefel.

»Endlich richtige Hosen mit Strippen,« dachte ich, vor Freude außer mir
und besah von allen Seiten meine Beine. Obgleich mir der neue Anzug
eng und unbequem war, verheimlichte ich das vor allen und sagte im
Gegenteil, er säße sehr bequem, und wenn er einen Mangel hätte, wäre es
der, daß er etwas weit sei. Dann nahm ich eine Bürste und bearbeitete
eine ganze Stunde lang meinen stark pomadisierten Kopf vor dem Spiegel.
Aber wie sehr ich mich auch bemühte, die Borsten auf dem Scheitel glatt
zu legen -- sie gehorchten nicht; sobald ich mit bürsten aufhörte,
richteten sie sich auf, starrten nach allen Seiten und gaben meinem
Gesicht einen lächerlichen Ausdruck.

Karl Iwanowitsch kleidete sich im Nebenzimmer an. Durch das
Klassenzimmer wurde ihm ein blauer Frack und Wäsche gebracht. An
der nach unten führenden Tür hörte man die Stimme von Großmutters
Kleinmädchen; ich ging hinaus, um nachzusehen, was sie wünschte. Sie
hielt ein steifgestärktes Oberhemd in der Hand und sagte, das sei für
Karl Iwanowitsch; sie hätte die ganze Nacht nicht geschlafen, um es
rechtzeitig fertigzubringen. Ich nahm ihr das Hemd ab und fragte, ob
Großmutter schon aufgestanden sei.

»Gewiß doch! Hat schon längst Kaffee getrunken; der Protopop ist schon
da. Wie nett Sie heute aussehen!« schloß sie lächelnd. Diese Bemerkung
ging mir durch und durch und machte mich erröten; ich drehte mich
auf einem Fuß um, hüpfte und schnalzte mit den Fingern, um ihr zu
verstehen zu geben, daß sie noch gar nicht recht wisse, wie nett ich in
Wirklichkeit sei.

Als ich Karl Iwanowitsch das Oberhemd brachte, hatte er es bereits
nicht mehr nötig; er hatte ein anderes angezogen. Er stand gebückt
vor dem kleinen Spiegel auf dem Tisch, hielt mit beiden Händen seine
Halsbinde und probierte, ob sein rasiertes Kinn sich in der Binde hin
und her bewegen könne.

Nachdem Karl Iwanowitsch unseren Anzug überall zurechtgezogen und
Nikolas um den gleichen Dienst bei sich gebeten hatte, führte er uns
zur Großmutter. Ich muß noch jetzt lachen, wenn ich daran denke, wie
stark wir drei nach Pomade rochen, als wir die Treppe heruntergingen.

Karl Iwanowitsch trug eine selbstverfertigte Schachtel, Wolodja die
Zeichnung, ich das Gedicht, das ich vor unserem Aufbruch unter dem
Kissen hervorgeholt hatte. Jeder hatte den Spruch auf der Zunge, mit
dem er sein Geschenk überreichen wollte.

In dem Augenblick, als Karl Iwanowitsch die Tür öffnete, legte der
Priester sein Gewand an und das Gebet begann.

Großmutter war schon im Saal; auf eine Stuhllehne gestützt stand sie an
der Wand und betete inbrünstig. Neben ihr stand Papa. Er wandte sich
nach uns um und lächelte, als wir schnell unsere Geschenke auf dem
Rücken versteckten und dicht an der Tür stehenblieben, um nicht bemerkt
zu werden.

Die ganze Überraschung, auf die wir gerechnet hatten, war dahin.

Als nach Schluß des Gebets das Kreuz geküßt wurde, war ich
unentschlossen, ob ich sogleich das Gedicht überreichen und Großmutter
gratulieren sollte oder nachher. Das sofortige Überreichen war mir sehr
unangenehm, weil ich bei der Vorbereitung auf diesen Augenblick nicht
daran gedacht hatte, daß der Vorgang sich vor einem Publikum abspielen
würde, das jetzt aus Papa und dem Protopopen bestand. Namentlich vor
Papas Spott hatte ich Angst. Ich hielt mein Gedicht auf dem Rücken und
stand so unbeschreiblich schüchtern und verlegen da.

Karl Iwanowitsch beglückwünschte Großmutter in den gewähltesten
Ausdrücken, nahm die Schachtel aus der linken Hand in die rechte,
händigte sie ihr ein und trat ein paar Schritte zurück, um Wolodja
Platz zu machen. Großmutter schien von der Schachtel mit Goldrand
entzückt und gab mit verbindlichem Lächeln ihrem Dank Ausdruck.
Man merkte aber, daß sie die Schachtel nirgend hinzustellen wußte
und wahrscheinlich aus diesem Grunde Papa bat, einmal zu sehen, wie
erstaunlich kunstfertig sie gearbeitet sei.

Nachdem Papa seine Neugierde befriedigt hatte, übergab er die Schachtel
dem Geistlichen, dem das Ding anscheinend sehr gefiel. Er wiegte den
Kopf hin und her und blickte neugierig bald auf die Schachtel, bald auf
den Meister, der solch schönen Gegenstand fertiggebracht hatte.

Wolodja überreichte seinen Türken mit dem Signum und erntete von allen
Seiten das höchste Lob.

Jetzt war die Reihe an mir; mit einem Lächeln, das besagte: »Nun, mein
Junge, jetzt kommst du,« wandte sich Großmutter an mich.

Wer jemals Schüchternheit empfunden hat, weiß, daß dieses Gefühl mit
der Zeit zunimmt, während die Entschlossenheit umgekehrt nachläßt. Das
heißt: Je länger die Schüchternheit dauert, um so unbezwinglicher wird
sie und um so weniger Entschlossenheit bleibt übrig.

Die letzte Spur von Entschlossenheit verließ mich, als Karl Iwanowitsch
und Wolodja ihre Gaben darbrachten; und jetzt, als ich fühlte, daß ich
unbedingt hervortreten müsse, erreichte sie den Höhepunkt. Ich fühlte,
wie mir das Blut vom Herzen unaufhaltsam zu Kopf schoß, wie mein
Gesicht die Farbe wechselte und wie dicke Schweißtropfen auf Stirn und
Nase traten. Die Ohren brannten, im ganzen Körper fühlte ich Zittern
und kalten Schweiß; ich trat von einem Fuß auf den anderen, knüllte die
verhängnisvolle Papierrolle in der schweißigen Hand zusammen und rührte
mich nicht vom Fleck.

»Nun, Herr Poet, deklamieren Sie uns Ihre Verse vor,« sagte plötzlich
Papa, der, ich weiß nicht wie, hinter mein Geheimnis gekommen war.

Da war nichts zu machen; mit zitternder Hand überreichte ich Großmutter
das zerknüllte Papier, anstatt aber dabei meinen Glückwunsch zu sagen,
stammelte ich unzusammenhängende Worte. Obgleich damit die Hauptsache
getan war, konnte ich den Gedanken nicht fassen, daß sogleich in aller
Gegenwart die Worte »wie meine Mutter« gelesen und meine Gemeinheit
aller Welt offenbar würde.

Wie soll ich meine Qualen schildern, als Großmutter laut mein Gedicht
vorzulesen begann, als sie es nicht entziffern konnte, in der Mitte
steckenblieb und mit einem Lächeln, das mir spöttisch vorkam, Papa
ansah, als sie die Worte nicht so betonte wie ich wollte, und
schließlich, wegen ihrer schwachen Augen, Papa das Schriftstück gab
und ihn bat, es ihr von Anfang an vorzulesen. Mir war, als täte sie
das deswegen, weil sie keine Lust hatte, solch schlechte, schief
geschriebene Verse zu lesen, die zeigten, wie schnell ich meine Matter
vergessen hatte. Ich erwartete, daß man mir meine Verse um die Ohren
schlagen und sagen würde »Nichtsnutziger Bengel, vergiß deine Mutter
nicht, da hast du was!« Aber nichts dergleichen geschah; im Gegenteil,
als alles vorgelesen war, sagte Großmutter: »~Charmant! merci, mon
cher Nicolas!~« und küßte mich auf die Stirn.

Schachtel, Zeichnung und Gedicht wurden auf einen kleinen Tisch neben
Großmutters Stuhl gelegt, neben die beiden Batisttücher und die
Tabatiere mit Mamas Bild, von dem Großmutter sich niemals trennte.

»Die Fürstin Barbara Iljinitschna Kornakowa!« meldete einer der
riesigen Diener, die hinten auf Großmutters Wagen fuhren.

Großmutter betrachtete nachdenklich das Bild auf der Schildpatdose und
gab keine Antwort. Sie dachte in diesem Augenblick sicherlich an Mama,
ihre Lieblingstochter und überlegte: Warum ist sie heute nicht bei mir?
Was mag sie treiben?

»Wünschen Durchlaucht zu empfangen?« sagte der Diener.

»Bitte.«


19. Die Fürstin Kornakowa.

»Ich lasse bitten,« sagte Großmutter, sich tiefer in den Sessel setzend.

Karl Iwanowitsch stand auf, strich mit der Hand seine Frackschöße glatt
-- beim Hinsetzen und Aufstehen vergaß er das nie -- machte einen
Kratzfuß und trat zu Großmutters Sessel.

»Sie erlauben mir, hochverehrte Frau Gräfin,« begann er, wie
gewöhnlich, gedehnt und mit kläglicher Betonung, »den heutigen Tag bei
meinem alten Freunde Schönheit zu verbringen, dessen Gattin, Madame
Schönheit, Geburtstag feiert.«

Großmutter gab sofort ihre Einwilligung, bemerkte aber dabei, sie hätte
ihn an ihrem eigenen Geburtstag lieber bei sich gesehn; indessen hätten
die alten Freunde vor den neuen gerechterweise den Vorzug.

»Sie können gehen,« sagte Papa ziemlich kurz zu Karl Iwanowitsch, als
dieser mit verlegenem Lächeln vor ihn hintrat. Und als er fort war,
meinte Papa zu Großmutter: »Ich fürchte, er geht hier zugrunde.«

»Wieso?« fragte Großmutter, die eintretende Fürstin nicht bemerkend.

Zu meinem größten Kummer konnte Papa nicht mehr erläutern, wie Karl
Iwanowitsch zugrunde gehen würde.

Die Fürstin war eine etwa fünfundvierzigjährige, kleine, schwächliche,
hagere, gallige Dame mit trübgrauen, unangenehmen Augen, deren Ausdruck
durchaus zu dem unnatürlich sanft lächelnden Mündchen paßte. Unter
dem schwarzen Samthut mit Straußenfedern blickte hellrötliches Haar
hervor. Brauen und Wimpern erschienen bei der ungesunden Gesichtsfarbe
noch rötlicher. Trotzdem hatte ihr Auftreten infolge der ungezwungenen
Bewegungen der winzigen Hände und der Hagerkeit in allen Zügen etwas
Vornehmes und Energisches.

Die Fürstin sprach sehr viel; sie gehörte zu der Gattung von Leuten,
die so reden, als wenn man ihnen widerspräche, obgleich niemand ein
Wort äußert; bald erhöhte sie die Stimme, bald ließ sie sie sinken,
begann plötzlich mit neuer Lebhaftigkeit zu sprechen und betrachtete
dabei die Anwesenden, die an der Unterhaltung nicht teilnahmen, als
suchte sie in diesen Blick neue Argumente zu legen.

Trotzdem die Fürstin Großmamas Hand küßte und sie unaufhörlich »~ma
bonne tante~« nannte, bemerkte ich, daß Großmutter unzufrieden mit
ihr war; als die Fürstin erzählte, weshalb Fürst Michael unmöglich
zum Gratulieren hätte kommen können, obgleich er es sehr gern getan
hätte, schob Großmutter eigentümlich die Augenbrauen zusammen,
antwortete russisch auf die französische Rede der Fürstin und sagte
ihre Worte ganz besonders in die Länge ziehend: »Ich bin Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit sehr verbunden, meine Liebe; und daß Fürst Michael nicht
gekommen ist -- was soll man darüber reden! Ich weiß, daß er stets mit
Arbeit überhäuft ist, und was für ein Vergnügen wäre es für ihn, bei
einer alten Frau herumzusitzen.«

Und ohne der Fürstin Zeit zur Erwiderung zu lassen, fuhr sie fort: »Wie
geht es Ihren Kinderchen, meine Liebe?«

»Gott sei Dank wachsen sie, lernen, machen dumme Streiche, ~ma tante~;
besonders der Älteste, Etienne, wird ein solcher Bengel, daß mit ihm
nicht mehr auszukommen ist. Dafür ist er ein kluger Bursche: ~un garçon
qui promet~. Können Sie sich vorstellen, ~mon cousin~,« wandte sie sich
direkt an Papa, weil Großmutter sich wahrscheinlich für die Kinder der
Fürstin nicht im mindesten interessierte und mit ihren eigenen Enkeln
glänzen wollte, jetzt langsam meine Verse aus der Schachtel nahm und
das Blatt sorgfältig umblätterte. »Können Sie sich vorstellen, ~mon
cousin~, was er neulich gemacht hat?« damit beugte sich die Fürstin
zu Papa und erzählte ihm fast flüsternd etwas sehr lebhaft. Als die
Erzählung beendet war, die ich nicht verstand, meinte sie, Papa direkt
ins Gesicht blickend: »Ist das ein Junge, nicht wahr? Obgleich er
einfach Prügel verdiente, ist der Einfall doch so klug und komisch, daß
ich ihn nur ausgescholten habe, ~mon cousin~.«

Dann richtete die Fürstin den Blick auf Großmutter und fuhr fort, stumm
zu lächeln.

»Schlagen Sie denn Ihre Kinder?« fragte Großmutter, immer noch mit
meinem Gedicht in der Hand.

»Ach, ~ma bonne tante~,« erwiderte die Fürstin mit einem Blick auf
Papa, »ich weiß nicht, wie Sie über diesen Gegenstand denken, aber
erlauben Sie mir, hierin eigener Meinung zu sein. Wieviel habe ich
nicht über Erziehung nachgedacht, gelesen, mir bei anderen Rat geholt
-- schließlich hat die Erfahrung mich doch dahin gebracht, daß, um
etwas aus den Kindern zu machen, Furcht notwendig ist. Habe ich nicht
recht, ~mon cousin~?« wandte sie sich wieder an Papa. »Was aber, ~je
vous demande un peu~, fürchten Kinder mehr als die Rute?«

Dabei blickte sie streng und fragend auf uns, und ich muß gestehen, mir
wurde in diesem Augenblick recht ungemütlich.

»Was Sie auch sagen, ein Junge bis zum zwölften und selbst bis zum
vierzehnten Jahr ist immer noch Kind. Anders mit den Mädchen.«

Welches Glück, daß ich nicht ihr Sohn bin, dachte ich.

»Das ist ja sehr schön, meine Liebe,« sagte Großmutter, meine Verse
zusammenfaltend und wieder in die Schachtel legend, als hielte sie nach
diesem die Fürstin nicht mehr für würdig, mein Erzeugnis zu hören.
»Das ist alles sehr schön, aber sagen Sie mir bitte, wie Sie dann
noch feines Empfinden von Ihren Kindern verlangen können und welcher
Unterschied dann noch zwischen den Ihrigen und Bauerkindern besteht.«

Und, ihr Argument für unwiderleglich haltend, fügte Großmutter hinzu:
»Übrigens kann hierüber jeder seine eigene Meinung haben.«

Die Fürstin lächelte gnädigst, um auszudrücken, daß sie diese
sonderbaren Vorurteile bei einer Person, die viele so hochschätzten,
nicht weiter übelnähme.

»Ach ja, machen Sie mich doch mit Ihren jungen Leuten bekannt, ~mon
cousin~,« sagte sie mit einem Blick auf uns, freundlich lächelnd.

Wir standen auf, sahen die Fürstin gerade an und wußten nicht, was wir
tun mußten, um zu zeigen, daß unsere Bekanntschaft geschlossen sei.

»Küßt der Fürstin die Hand,« sagte Großmutter.

»Habt eure alte Tante lieb,« sagte die Fürstin, Wolodja auf das Haar
küssend. »Ich bin zwar keine nahe Verwandte, aber ich denke, es geht
hier nach den freundschaftlichen Beziehungen und nicht nach dem
Verwandtschaftsgrade,« wandte sie sich besonders an Großmama, die
aber noch immer unzufrieden war und erwiderte: »Ach, meine Liebe, wer
rechnet denn in unserer Zeit noch solche Verwandtschaft!«

»Das ist mein junger Weltmann,« deutete Papa auf Wolodja, »und dieser
ein Philosoph, ein gelehrter Herr,« fügte er hinzu, während ich mir
beim Küssen der kleinen dunklen Hand der Fürstin mit wunderbarer
Deutlichkeit eine Rute in der Hand, und unter der Rute auf einer Bank
den kleinen Etienne mit lautem Wehgeschrei: »Au, au, au! ich will's
gewiß nicht wieder tun!« samt allem Zubehör vorstellte.

»Außerdem Poet; ~je vous prie de croire~,« fügte Papa hinzu.

»Welcher?« fragte die Fürstin, mich bei der Hand fassend.

»Dieser Struwwelpeter da,« sagte Papa mit vergnügtem Lächeln.

Brauche ich dem Leser, der sich meines neuen Moskauer Anzuges erinnert,
zu sagen, wie diese Bemerkung mich kränkte?

Als ich bei dem Spiegel vorbeikam, hatte ich hineingeblickt. Mein
Gesicht war rot wie Siegellack; auf der Nase, die noch breiter war als
gewöhnlich, und auf der breiten Stirn standen dicke Schweißtropfen; der
weiße Kragen lag schief auf dem zimtbraunen Frack; das pomadisierte
Haar starrte nach oben; die grauen Augen blickten trübe drein; jeder
mußte bemerken, daß ich mich bemühte, nachdenklich auszusehen, in
Wirklichkeit aber ein häßlicher, zerstreuter Junge war.

Obgleich ich die sonderbarsten Vorstellungen von Schönheit hatte --
sogar Karl Iwanowitsch mit seiner riesigen Nase hielt ich für den
schönsten Mann der Welt -- wußte ich sehr gut, daß ich häßlich sei,
und darin irrte ich mich nicht.

Ich weiß noch sehr gut, wie man, als ich erst sechs Jahre alt war,
beim Mittagessen über mein Äußeres sprach und wie Mama sich bemühte,
in meinem Gesicht etwas Hübsches zu entdecken; sie meinte, ich hätte
kluge Augen, ein angenehmes Lächeln usw., und wie sie schließlich den
Einwendungen Papas und dem Augenschein nachgebend, eingestand, daß ich
häßlich sei; wie sie nachher, als ich ihr gesegnete Mahlzeit wünschte,
meine Wange streichelte und sagte: »Das mußt du dir merken, Nikolenka,
daß dich wegen deines Gesichtes niemand lieben wird; deshalb mußt du
dich bemühen, ein kluger und guter Junge zu werden.«

Dieses Vorfalls erinnere ich mich sehr gut, und die Worte gaben mir
nicht nur die Überzeugung, daß ich niemals hübsch werden würde, sondern
sie hatten auch Einfluß auf meine Richtung. Es kam vor, daß mich
Verzweiflung ergriff; ich bildete mir ein, für einen Menschen mit so
breiter Nase, so dicken Lippen und kleinen Augen gäbe es kein Glück auf
Erden; ich betete zu Gott, ein Wunder zu tun und mich in einen hübschen
Jungen zu verwandeln; -- alles was ich besaß und jemals besitzen würde,
hätte ich für ein hübsches Gesicht hingegeben.


20. Fürst Iwan Iwanowitsch.

Als die Fürstin die Verse angehört und den Verfasser mit Lob
überschüttet hatte, wurde Großmutter weicher, sprach Französisch mit
ihr, sagte nicht mehr »Sie, meine Liebe« und bat sie, ihre Kinder
zu schicken. Die Fürstin sagte zu und fuhr dann nach kurzem weiteren
Verweilen fort.

An diesem Tage kamen so viele Gratulanten, daß der Hof den ganzen
Vormittag nicht leer von Wagen wurde.

»~Bon jour, ma chère cousine~,« sagte einer der Gäste beim Eintritt ins
Zimmer, Großmutter die Hand küssend.

Es war ein großer siebzigjähriger Herr in Uniform mit großen Epaulettes
und einem weißen Orden auf der Brust. Sein Gesichtsausdruck war ruhig,
offen. Die Ungezwungenheit und Schlichtheit seines Benehmens fielen mir
auf.

Trotzdem auf dem Scheitel nur ein Halbkreis grauer Haare
stehengeblieben war, und man an der Vertiefung der vom Schnurrbart
nicht bedeckten Oberlippe deutlich das Fehlen der Zähne bemerkte, war
sein Gesicht noch von bemerkenswerter Schönheit. Er war direkt auf
Großmutter zugegangen, und obgleich ein großer Teil der Anwesenden bei
seinem Erscheinen aufstand, begrüßte er die Gesellschaft erst, nachdem
er Großmutter seinen Glückwunsch dargebracht hatte.

Fürst Iwan Iwanowitsch hatte dank seinem vornehmen Charakter, seiner
ruhigen Tapferkeit, vorzüglicher Protektion und hervorragendem Glück
schon in jungen Jahren eine jener glänzenden militärischen Karrieren
gemacht, wie sie Ende vorigen Jahrhunderts möglich waren. Er blieb im
Dienst und sein Ehrgeiz wurde sehr bald in einer Weise befriedigt,
daß ihm in dieser Beziehung nichts zu wünschen übrigblieb. Seit
der frühesten Jugend war sein Benehmen derart, als bereite er sich
vor, eine glänzende Stellung in der Welt einzunehmen, die ihm
später zuteil wurde. Aus diesem Grunde änderte er, obgleich auch in
seinem glänzenden, tätigen, nützlichen und etwas prunkenden Leben
Enttäuschungen, wie bei allen, nicht ausgeblieben waren, seinen
Charakter und seine Denkart nie und erwarb sich infolgedessen die
allgemeine Achtung nicht so sehr auf Grund seiner glänzenden Position,
als seiner Konsequenz in allen Lebenslagen. Er war geistig durchaus
nicht hervorragend, dank seiner Stellung aber, die ihm erlaubte, auf
alle Widerwärtigkeiten des Lebens ruhig und sogar ein wenig verächtlich
herabzusehen, war sein Gedankenkreis ein ziemlich weiter.

Da ihn alle suchten und umschmeichelten, er aber nicht immer alle
Wünsche der anderen erfüllen konnte, war er trotz seines guten Herzens
etwas kalt und spöttisch im Verkehr. Diese Kälte wurde aber durch die
Leutseligkeit und ruhige Höflichkeit eines den allerhöchsten Kreisen
angehörigen Mannes gemildert. Seine Bildung und Belesenheit ließen
manches zu wünschen übrig; was man aber wissen mußte, hatte er stets
bereit und verstand darüber hübsch und fesselnd zu reden.

Seine Unterhaltung war einfach; und diese Einfachheit verdeckte
gleichzeitig seine Unkenntnis gewisser Dinge und stellte sein
angenehmes Wesen und seine Toleranz in helles Licht. Ich glaube nicht,
daß er den Lärm der großen Welt liebte, er war aber daran gewöhnt, und
deswegen machte es nichts aus, ob er im Auslande oder in Moskau lebte
-- er besuchte überall Bälle, wo er sich mit erlesenen Partnern an den
Kartentisch setzte, und hatte seine bestimmten Empfangstage. Seine
Autorität in gesellschaftlicher Beziehung war derart, daß, wenn er
jemanden nicht empfing, das als ein Ereignis galt. Junge, hübsche Damen
küßte er einfach auf Stirn und Wangen. Junge Leute, die er gern hatte,
wurden von ihm geduzt, und mancher sehnte sich nach dieser Auszeichnung.

Großmutter war eine von den Personen, die er als ebenbürtig ansah und
vor der er den gönnerhaften Ton unterließ, der ihm selbst schwer wurde.
Solche Leute waren nur noch wenige am Leben, deswegen, und ferner,
weil beide schon von kleinauf befreundet waren, schätzte er seine
Beziehungen zu ihr und bewies ihr bei jeder Gelegenheit seine Liebe und
Verehrung.

Ich konnte mich an dem Fürsten nicht satt sehen. Die Verehrung, die
alle ihm bezeigten, die großen Epaulettes, die besondere Freude, die
Großmutter bei seinem Anblick verriet, sowie der Umstand, daß er allein
ungeniert mit ihr verkehrte und sie »~ma cousine~« nannte, flößten
mir gleichen, ja vielleicht noch größeren Respekt vor ihm als vor
Großmutter ein. Als man ihm mein Gedicht zeigte, rief er mich heran und
sagte: »Wer kann's wissen, vielleicht wird das ein zweiter Dershawin,«
und zwickte mich dabei so heftig in die Wange, daß ich nur deswegen
nicht aufschrie, weil mir einfiel, daß es ja eine Liebkosung sein
sollte.

Papa und Wolodja gingen hinaus; im Gastzimmer blieben nur der Fürst
und Großmutter. Ich verstand den Sinn ihrer Unterhaltung nicht, weil
fortwährend unbekannte Worte und Namen gebraucht wurden; trotzdem
gefiel mir ihr Gespräch sehr; ich fand es schön, wie sich gehörte und
hatte am Zuhören besonderes Vergnügen, weil Großmutter sich unterdessen
gleichsam verjüngte; sie sprach viel, erzählte, lachte.

»Warum ist die liebe Natalie Nikolajewna nicht gekommen?« fragte Fürst
Iwan Iwanowitsch plötzlich nach minutenlangem Schweigen.

»Ach, ~mon cher~,« Großmutter dämpfte ihre Stimme und legte die Hand
auf seinen Uniformärmel, »ich will Ihnen sagen, was mich quält. Sie
schreibt mir, ihr Gatte hätte ihr geraten zu kommen, es seien aber
dieses Jahr fast gar keine Einkünfte zu verzeichnen, deswegen hätte
sie von selbst verzichtet. Dann schreibt sie: ›Außerdem habe ich
dieses Jahr keine Veranlassung, mit dem ganzen Hause nach Moskau
überzusiedeln, ~chère maman~. Ljubotschka ist noch zu klein, und
hinsichtlich der Knaben, die bei Dir wohnen, bin ich ruhiger als wenn
sie hier wären.‹ Das ist ja alles recht schön,« fuhr Großmutter in
einem Ton fort, der deutlich bewies, daß sie es gar nicht schön fand,
»die Knaben hätten längst hierher gemußt, um etwas zu lernen und sich
an die Welt zu gewöhnen -- denn welche Erziehung konnten sie auf dem
Lande genießen? Der älteste ist schon dreizehn, der andere zwölf. Haben
Sie schon bemerkt, ~mon cousin~,« meinte Großmutter achselzuckend, als
ob sie sich über etwas wunderte, »sie sind ganz verwildert, verstehen
nicht einmal, nett ins Zimmer zu treten.«

»Ich begreife nicht, ~ma cousine~,« erwiderte Fürst Iwan Iwanowitsch,
»warum da fortwährend über schlechte Erträge und zerrüttete
Vermögensverhältnisse geklagt wird. Er besitzt doch ein schönes
Vermögen, und ihre Besitzung Chabarowka kenne ich wie mein Eigentum.
Ein prächtiges Gut, das vorzügliche Einkünfte abwerfen muß.«

»Ich will Ihnen, mein wahrer Freund, sagen,« unterbrach Großmutter den
Fürsten, »es kommt mir vor, als wenn das alles nur Ausreden sind, damit
›er‹ allein hier bleiben und ungeniert in seine Klubs fahren und Gott
weiß was anstellen kann, ohne daß die Ärmste etwas ahnt. Sie wissen,
was für ein Engel an Güte sie ist -- glaubt alles, was er ihr sagt.
Er versichert, die Kinder müßten nach Moskau und sie müsse auf dem
Lande bleiben -- und sie glaubt es. Wenn er ihr vorreden würde, die
Kinder müßten Prügel haben, wie die der Fürstin Barbara Iljinitschna,
würde sie wahrscheinlich auch das glauben,« meinte Großmutter, sich
verächtlich auf ihrem Sessel umdrehend. »Ja, mein Freund,« fuhr
Großmutter nach kurzem Schweigen fort, indem sie eins der beiden
Batisttücher in die Hand nahm, um eine Träne abzuwischen, »ich denke
oft, daß er sie weder zu schätzen weiß noch versteht, und trotz all
ihrer Güte und Liebe zu ihm und dem Bemühen, ihren Kummer zu verbergen,
weiß ich sehr gut, daß sie mit ihm nicht glücklich sein kann, und
denken Sie an mein Wort, wenn er ...« -- Großmutter bedeckte ihr
Gesicht mit dem Taschentuch.

»~O, ma bonne amie~,« rief der Fürst vorwurfsvoll, »ich sehe, Sie sind
noch immer nicht vernünftiger geworden. Erblicken überall Gespenster
und grämen sich darüber. Können Sie sich denn gar nicht bezwingen! Ich
kenne ihn schon lange und weiß, daß er ein lieber, guter, aufmerksamer
Gatte ist; besonders ein Edelmensch. ~Un parfait honnête homme~,«
setzte Fürst Iwan Iwanowitsch zur Bestätigung seiner Gedanken hinzu.

Ich fürchtete, man könnte bemerken, daß ich gehört, was ich nicht zu
wissen brauchte, und ging auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Ich will nicht sagen, daß ich nicht verstand, wer der »er« war, dem
Großmutter Vorwürfe machte und den der Fürst rechtfertigte. Worin aber
die Schuld einer Person bestehen sollte, die, nach meiner Auffassung,
niemals verurteilt werden konnte, das vermochte ich mir nicht zu
erklären. Ich zweifelte sogar daran, ob ich diese Worte wirklich
gehört und ob sie sich wirklich auf Papa bezögen. Beim Nachdenken
hierüber tauchten in meinem Kopf so viel Vermutungen, Erinnerungen
und Phantasien auf, daß ich durchaus keine Ordnung in meine Gedanken
bringen konnte und wie stets in solchen Fällen, mich mit ganz anderen
Dingen beschäftigte.

Das eine, was aus diesem Wirrwarr hervorging, war ein undeutliches
Gefühl, das ich trotz aller Schrecken, die es mir einflößte, nicht
loswerden konnte. Das war das Gefühl, mein Vater sei imstande,
Schlechtes zu tun.


21. Iwins.

»Wolodja, Wolodja! Iwins, Iwins!« rief ich. Vom gegenüberliegenden
Trottoir kamen, wie ich durchs Fenster sah, drei Knaben in blauen
Pekeschen mit Biberkragen hinter einem jungen hübschen Erzieher auf
unser Haus zu.

Bald nach unserer Ankunft in Moskau waren wir auf einem Spaziergange
mit Papa diesen Iwins begegnet, die durch den Fürsten Iwan Iwanowitsch
entfernt mit uns verwandt waren. Papa hatte uns bekannt gemacht.

Der zweite Iwin, Serjoscha, machte sofort starken Eindruck auf mich.
Seine ungewöhnliche Schönheit überraschte und fesselte mich. Ich fühlte
eine unbezwingliche Neigung zu ihm, vielleicht, weil sein Gesicht
einen kühnen, etwas spöttischen Ausdruck zeigte; vielleicht, weil ich,
mein Äußeres verachtend, an anderen den Vorzug der Schönheit übermäßig
schätzte; vielleicht -- was ein sicheres Zeichen wahrer Liebe -- weil
ich mir einbildete, er müsse sehr stolz sein und würde mich niemals
lieben. So fürchtete ich ihn ebenso, wie ich ihn liebte. Es kam mir
vor, daß zwischen ihm und mir nicht nur keine wechselseitigen Gefühle,
sondern überhaupt nichts Gemeinsames, kein Vergleich bestehen könne; so
hoch war meine Meinung von ihm.

Ihn sehen war für mich schon genügend, um glücklich zu sein, und eine
Zeitlang waren all meine Seelenkräfte darauf gerichtet. Wenn ich sein
hübsches Gesicht drei oder vier Tage nicht gesehen hatte, härmte ich
mich und wurde bis zu Tränen traurig. All meine Träume betrafen ihn.
Wenn ich schlafen ging, hatte ich den Wunsch, von ihm zu träumen;
wenn ich die Augen schloß, sah ich ihn vor mir und liebkoste dieses
Phantasiegebilde mit höchstem Genuß. Niemandem machte ich von diesem
Gefühl Mitteilung, und das vermehrte seine Bedeutung und Stärke.

Als Serjoscha zum erstenmal mit mir sprach, war ich über dieses
unerwartete Glück so betroffen, daß ich abwechselnd erblaßte und
errötete, nicht sprechen konnte und, um meine Verlegenheit vor ihm zu
verbergen, widernatürlich laut umherzutollen begann.

Vielleicht, weil meine unverwandten Blicke ihn langweilten oder
verletzten, oder einfach, weil er keine Neigung zu mir fühlte, spielte
und sprach er ersichtlich lieber mit Wolodja als mit mir. Trotzdem war
ich zufrieden, wünschte nichts, forderte nichts von ihm und war bereit,
ihm alles zu opfern.

Ein trauriger Gedanke, daß dieses schöne, reine Gefühl unbegrenzter
Liebe und Ergebenheit unerwidert zugrunde ging. Ich hätte ihm gern
alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte; eine sehr begründete Furcht
aber, dieses Gefühl verspottet zu sehen, hielt mich davon ab. Ich
suchte ihm in allem zu gleichen, seinen Charakter nachzuahmen, ganz
gleichgültig zu erscheinen und mich ihm unterzuordnen. Er fühlte seine
Macht über mich und übte sie unbewußt, aber tyrannisch bei unseren
kindlichen Beziehungen aus.

Serjoscha war ein brauner, krausköpfiger, munterer Knabe mit
dunkelblauen lebhaften Augen, etwas aufgeworfenem Näschen und sehr
roten vollen Lippen, zwischen denen zuweilen die obere Zahnreihe etwas
stark hervortrat. Er lächelte niemals, sondern brach entweder in sein
lautes, hellklingendes, anziehendes Lachen aus, oder behielt seinen
gewöhnlichen, ruhigernsten Ausdruck. Er hatte eine üble Angewohnheit:
wenn er nachdenklich war, richtete er die Augen starr auf einen Punkt
und blinzelte unaufhörlich, mit der Nase und den Augenbrauen zuckend.
Alle fanden diese Angewohnheit sehr entstellend; mir aber schien sie
so unaussprechlich lieb, daß ich unwillkürlich das gleiche tat; einige
Tage nach unserer Bekanntschaft fragte Großmutter mich, ob mir die
Augen weh täten, da ich mit ihnen klapperte wie eine Eule.

Wie mag es kommen, daß ich als Kind gern groß sein wollte und
als Großer oft einem Kinde zu gleichen wünschte? Eine sonderbare
Erscheinung, die ich nicht nur an mir und nicht nur bei diesen Wünschen
beobachtet habe. Unerklärlich, aber trotzdem existierend, sehr zum
Schaden des Menschengeschlechts. Wie oft hat dieser Wunsch, nicht mehr
»klein« zu sein, bei meinem Verhältnis zu Serjoscha das überströmende
Gefühl zurückgedämmt, Zärtlichkeit unterdrückt und auf diese Weise
Heuchelei großgezogen. Ich wagte nicht nur nicht, ihn zu küssen (wonach
ich heftiges Verlangen trug), ihn bei der Hand zu fassen, ihm zu sagen,
wie ich mich freute, ihn zu sehen, sondern wagte ihn nicht einmal
anders als Sergei und niemals Serjoscha zu nennen. Das war bei uns so
hergebracht.

Jeder Ausdruck eines Gefühls bedeutete Kinderei und bewies, daß
derjenige, der sich ihn erlaubte, noch ein Knabe war. Wir hatten
die bitteren Erfahrungen noch nicht durchgemacht, die Erwachsene zur
Vorsicht und Kälte in ihren Beziehungen veranlassen; wir beraubten uns
des reinen Genusses feuriger Kinderliebe nur infolge des sonderbaren
Wunsches, Große nachzuahmen.

Schon im Dienerzimmer traf ich Iwins, begrüßte sie und rannte
spornstreichs, kaum meine Freude verbergend, zu Großmutter, um ihr
mitzuteilen, daß Iwins ihr gratulieren wollten, als ob diese Nachricht
sie vollends beglücken müsse. Dann folgte ich Serjoscha, ohne ein
Auge von ihm abzuwenden, ins Gastzimmer und beobachtete jede seiner
Bewegungen, als er Großmutter gratulierte.

Als Großmutter ihm sagte, er sei gewachsen und er darüber errötete,
-- errötete ich noch mehr; als sie dem jungen Erzieher sagte: »Heute
dürfen die Kinder zur Feier meines Geburtstages lauter dumme Streiche
machen,« lachte er und ich ebenfalls.

Der hübsche Erzieher, Herr Forst, ging mit uns in den Garten, setzte
sich auf die grüne Bank, legte ein Bein über das andere, stellte den
Spazierstock mit Bronzeknopf dazwischen und zündete sich eine Zigarre
an.

Herr Forst war ein Deutscher, aber ganz anderen Schlages als Karl
Iwanowitsch. Erstens sprach er gut Russisch, und mit schlechter
deutscher Aussprache aber ziemlich richtig Französisch und stand im
Ruf eines sehr gelehrten Herrn; zweitens war er hübsch gewachsen,
trug einen blonden Schnurrbart, elegante Kleidung, eine große
Rubinbusennadel und hellblaues Beinkleid mit Strippen. Überhaupt war
er der sehr seltene und komische Typ eines jungen deutschen Elegants
in Rußland. Man konnte merken, daß er in Gegenwart weiblicher Personen
stets sehr viel Wert auf die Wirkung legte, die er auf sie ausübte;
als anziehendstes Mittel in dieser Hinsicht erschienen ihm seine Waden
und Schenkel, die er bei jeder Gelegenheit in Aktion setzte und an die
sichtbarste Stelle brachte.

Sobald wir im Garten angelangt waren, begann das Rennen, Toben,
Geschrei, die verschiedenen Spiele, die kaum erdacht sofort wieder
verworfen wurden; es war herrlich. Ich war durch das Spiel und das
beständige verliebte Beobachten Serjoschas so in Anspruch genommen, daß
ich mich der Einzelheiten dieser Stunden nicht mehr genau erinnere.
Ich weiß nur noch, daß Serjoscha einmal stolperte und in vollem Lauf
mit dem Knie so heftig gegen einen Baum schlug, daß ich glaubte, das
ganze Knie würde zerschmettert. Obgleich ich Gendarm und er Räuber war,
konnte ich mich nicht halten, hinzulaufen und ihn zu fragen, ob er sich
weh getan hätte. Er war darüber schrecklich wütend, ballte die Fäuste,
stampfte mit dem Fuß auf und schrie mich mit einer Stimme, aus der man
die schrecklichen Schmerzen deutlich heraushören konnte, an: »Was soll
denn das? Jetzt spiele ich aber ganz sicher nicht mehr mit! Weshalb
fängst du mich nicht, fängst mich nicht!« wiederholte er noch einmal,
nach Wolodja und dem älteren Iwin schielend, die auf dem Weg hin und
her hüpften und Reisende vorstellten. Dann kreischte er plötzlich auf
und stürmte lachend hin, um sie zu fangen. Ich kann nicht sagen, wie
dieser Heldenmut mich anzog; trotz der schrecklichen Schmerzen verzog
Serjoscha keine Miene und vergaß keinen Augenblick das Spiel.

Vor dem Essen gesellte sich im Garten noch der kleine Grap zu uns.

Das war der Sohn eines armen Ausländers, der früher bei Großvater
gelebt hatte und ihm für irgend etwas Dank schuldig war. Der kleine
Grap war dreizehn Jahre alt, groß, mager, blaß, mit einem Vogelgesicht
und sehr ärmlich gekleidet, dafür aber so stark pomadisiert, daß wir
versicherten, an heißen Tagen schmölze die Pomade auf seinem Kopf
und liefe die Jacke hinunter. Er trug ein dunkelgrünes Jackett mit
einem riesigen Umlegekragen, der an ein Bettlaken erinnerte. Schwarze
Höschen, aus denen er längst herausgewachsen war, bedeckten seine
ungeputzten rauhen Stiefelschäfte und umspannten die dünnen Beinchen.

Der kleine Grap war ein dienstfertiger, stiller, guter Junge, mit dem
man nur Mitleid haben konnte. Damals erschien er mir aber lächerlich,
dumm und verachtungswürdig. Ich war fest überzeugt, daß nichts dabei
sei, den armen Grap auszulachen, anzuspucken und sogar zu verprügeln;
dazu war er ja geboren, um als Zielscheibe für unsere Frechheiten zu
dienen. Nie kam mir in den Sinn, ihn zu bedauern.

Beim Mittagessen passierte nichts Besonderes, nur teilte Großmutter uns
mit, daß abends viel Besuch kommen würde -- Damen, Musik, mit einem
Worte: ein Ball.

Nach dem Essen war bis zur Ankunft der Gäste noch viel Zeit übrig,
die wir möglichst gut auszunützen suchten: wir gingen nach oben und
überboten uns gegenseitig in Kraft- und gymnastischen Übungen. Der
kleine Grap schaute unseren Vorführungen mit blödem Lächeln zu, und
als wir ihn aufforderten, doch auch etwas zu zeigen, lehnte er mit den
Worten ab, er hätte keine Kräfte. Serjoscha zog die Jacke aus; sein
Gesicht und die Augen glühten vor Erregung; er lachte ununterbrochen,
ersann stets neue Scherze und war so lieb, daß man ihm unmöglich
widerstehen konnte, vielmehr all seinen Streichen nachgeben mußte.
Jetzt überlegte er einen Augenblick, blinzelte mit den Augen, schnalzte
dann mit den Fingern und lief zum Bücherbord.

»Halt, meine Herrschaften, jetzt weiß ich was;« er nahm die beiden
Lexika von Tatischtschew vom Bord und legte sie mitten ins Zimmer.

»Also, Leute,« er krempte seine Hemdärmel auf und maß uns alle mit
einem kühnen Blick, »wer kann hierauf kopfstehen?« Und dabei führte
er das Kunststück so schnell und geschickt aus, daß alle ihm Beifall
zollten.

»Also, wer macht das?« fuhr er fort und wandte sich plötzlich an
Grap. »Sie, Sascha?« meinte er ironisch und blinzelte uns dabei zu.
»Wirklich, es ist gar nicht schwer, versuchen Sie nur.«

Grap weigerte sich schüchtern und wurde rot, als er die allgemeine
Aufmerksamkeit auf sich gerichtet sah.

»Nein, wirklich, warum will er gar nichts zeigen? Dieses Mädchen! Er
muß unbedingt kopfstehen, unbedingt!«

Wir waren Feuer und Flamme für Serjoschas Einfall, traten auf den
kleinen Grap zu, der sichtlich erschrak und blaß wurde und schrien: »Er
muß auf den Kopf, auf den Kopf!« Dabei packten wir ihn an den Armen und
zogen ihn zu den Wörterbüchern.

»Laßt mich, ich will selbst! Ihr zerreißt mir die Jacke!« schrie das
unglückliche Opfer. Aber dieses Geschrei begeisterte uns nur noch mehr;
wir vergingen vor Lachen; die graue Jacke krachte in allen Nähten.
Wolodja und der ältere Iwin faßten ihn am Kopf und stellten diesen
auf die Lexika. Sobald sie sagten: »los!« packten ich und Serjoscha
den armen Jungen an den dünnen Beinen, mit denen er unbarmherzig
strampelte, schoben die Hosen bis an die Knie in die Höhe und streckten
die Beine mit lautem Gelächter aufwärts; der jüngere Iwin hielt den
ganzen Rumpf im Gleichgewicht.

Dann, nach diesem lauten Gelächter verstummten wir plötzlich alle,
und es wurde so still im Zimmer, daß man nur den schweren Atem des
unglücklichen Grap hörte. Mir wurde recht unbehaglich zumute und ich
wußte nicht recht, ob das alles wirklich komisch und lustig sei.

Serjoscha beugte sich über die Lexika und fragte in spöttischem Ton:
»Das magst du wohl, mein Junge, was?«

»Weshalb quält ihr mich, was habe ich euch getan?« schrie Sascha
plötzlich und schluchzte laut. Im selben Augenblick schlug er aus und
traf mit dem Hacken Serjoschas Auge.

»Ach, dummer Heulfritze!« rief Serjoscha, die Zähne zusammenbeißend,
bedeckte das Auge mit der Hand und stieß mit dem Fuß ein Wörterbuch
unter Graps Kopf fort.

»Ihr seid gemeine Tyrannen!« brachte Grap schluchzend heraus und stieß
mit dem Kopf auf den Fußboden.

Sobald wir merkten, daß nichts Lächerliches mehr dabei war, ließen wir
ihn gleichzeitig los. Er schlug lang auf den Boden, die dünnen Beine
klapperten wie Stelzen, er griff nach dem Hals, der beim Fall verrenkt
war, stöhnte und weinte und rührte sich nicht.

Diese weinende lächerliche Gestalt mit bloßen Beinen und schmutzigen
Stiefelschäften machte uns betroffen; wir schwiegen plötzlich und
lächelten gezwungen.

»Altes Weib, Schwachmops!« Serjoscha trat an ihn heran, »versteht nicht
einmal Spaß! ... Na, nu steh auf,« er berührte ihn mit dem Fuß.

»Ich sage dir, du bist ein frecher, ganz gemeiner Bengel!« preßte Grap
wütend durch die Zähne und wandte sich ab.

»Was denn?! Erst schlägt er einen mit dem Hacken ins Auge und dann
schimpft er noch!« schrie Serjoscha, nach einem Wörterbuch greifend.
»Da hast du eins! und noch eins!« Er schlug den armen Jungen aus
Leibeskräften mit dem Buch auf den Kopf. Grap dachte nicht daran, sich
zu verteidigen, weil er wußte, daß niemand für ihn eintreten würde.
»Mag sich zum Teufel scheren, wenn er keinen Scherz versteht; kommt
nach unten, Leute,« meinte Serjoscha mit unnatürlichem Lächeln.

Trotz des bedeutenden Einflusses, den Serjoscha auf mich ausübte,
konnte ich beim Anblick des armen Jungen, der auf der Erde lag und,
das Gesicht im Wörterbuch, dermaßen weinte, daß es aussah, als würde
er an den Krämpfen sterben, die seinen Körper durchzuckten -- konnte
ich nicht anders, als Serjoscha vorwurfsvoll sagen: »Warum hast du das
getan?«

»Das ist aber wirklich nett; kaum rührt man ihn an, so brüllt er schon
los. Hab ich vielleicht geweint, als ich mir heute das Knie zerschlagen
habe?!«

Das ist richtig, dachte ich. Wozu ihn bedauern! Alter Waschlappen!
Serjoscha dagegen, das ist ein Junge! -- Und ich dachte nicht mehr an
den armen Grap.

Ich wußte nicht, daß der Ärmste sicherlich nicht so sehr wegen der
körperlichen Schmerzen als wegen der Kränkung, bei dem schrecklichen
Gedanken geweint hatte, daß fünf Knaben, die ihm vielleicht gefielen,
ihn ohne jeden Grund haßten und verprügelten. Damals verstand ich die
ganze Grausamkeit und Unmenschlichkeit unseres Benehmens nicht; jetzt
verstehe ich sie wohl, kann sie mir aber nicht erklären.

Ich glaube, Serjoscha war infolge eines falschen Ehrbegriffes so
grausam, indem er seine Tapferkeit zeigen wollte; ich dagegen, weil es
über meine Kräfte ging, ihm nicht alles nachzumachen. Der Hauptgrund
war aber wohl folgender: Eine Eigentümlichkeit des Kindercharakters
besteht darin, alle Begriffe zu verallgemeinern, sie auf eine
gemeinsame Grundlage zurückzuführen. Dieses Bestreben rührt von der
mangelhaften Entwicklung der geistigen Fähigkeiten her.

Ein Kind kann sich nicht vorstellen, daß etwas einerseits gut und
anderseits schlecht sein kann. Die Eigenschaft eines Gegenstandes, die
ihm zuerst auffällt, hält das Kind für das Wesen des Ganzen. Im Verkehr
mit Menschen bildet sich ein Kind sein Urteil nach dem ersten äußeren
Eindruck. Übt ein Gesicht auf das Kind einen lächerlichen Eindruck
aus, so denkt es nicht an die guten Eigenschaften, die neben dieser
lächerlichen Seite vorhanden sein können -- es hat sich bereits einen
ungünstigen Begriff von den Gesamteigenschaften gebildet.

Dasselbe war mit mir in bezug auf den armen Grap der Fall. War er so
lächerlich, so war er sicher ein schlechter Junge; war er aber ein
schlechter Junge, so lohnte es sich nicht, darüber nachzudenken, ob er
sich wohl fühlte oder nicht; folglich konnte man mit ihm machen was man
wollte.

Wenn diese Reflexion mich auch nicht rechtfertigt, so mag sie doch als
Beweis dafür dienen, daß ich meine Handlungsweise bereue und sie jetzt
gern rechtfertigen möchte.


22. Die Gäste kommen.

Iwins fuhren nach Hause, um sich umzukleiden; um acht Uhr wollten sie
wiederkommen.

In allen Zimmern eilten Leute mit weißen Halsbinden geschäftig und
besorgt hin und her. Besonders lebhaft ging es im Eßzimmer zu, wo das
Silberzeug und Kristall nach langer Verborgenheit ans Licht geholt und
geputzt wurde. Im Saal roch es stark nach Terpentin; Filat stand mit
umgebundener Schürze da, stieg, nachdem er ein Handtuch untergelegt,
auf einen Stuhl, zündete die Lampen an, schraubte die Dochte hinauf und
hinunter und setzte Lampenschirme verschiedener Form auf. Die große
Stehlampe, der Dreifuß, die Wandlampen, die seit unvordenklichen Zeiten
nicht mit frischen Spermazetlichten versehen waren -- alle wurden, wie
im Saal, so in beiden Gastzimmern angezündet.

Die Wände, Decke, Parkett, Fries, Bilder im Gastzimmer waren von hellem
Licht überflutet und hatten ein ungewöhnliches Aussehen -- so erschien
mir denn alles neu. Sogar der Großvaterstuhl, die Batisttücher,
Schachteln und Großmutter selbst, die verdrießlich war, weil das ganze
Haus nach Terpentin roch -- sahen festtäglich aus.

Die Flurtür öffnete sich, es strömte kalt herein, dann kamen Leute in
grauen Mänteln und mit sonderbaren Gegenständen unter dem Arm. Sie
traten hinter den in einer Saalecke aufgestellten Wandschirm; von dort
her ertönte Räuspern, Spuken; Schlösser knackten; kurze Baßstimmen:
»Bitte Licht,« »Wessen Stimme ist das?« »Kolophonium,« »Gott bewahre!«
Hierauf einige Pizzikato-Töne auf der Geige und endlich die ganzen
schrecklichen Disharmonien eines stimmenden Orchesters: Quinten auf den
Saiteninstrumenten, dumme Läufe und Triller auf Flöten, Waldhörnern usw.

Dieses Orchester war eine Überraschung des Fürsten Iwan Iwanowitsch.

Sobald ich einen Wagen rollen hörte, trat ich ans Fenster, legte
die Hände gegen die Schläfen und Scheiben und suchte zu erkennen,
ob die Leute zu uns zum Ball kämen. Aus der Dunkelheit, die alles
vor dem Fenster einhüllte, erschien gegenüber allmählich ein längst
bekannter Laden mit Laterne; schräg links ein weißes Haus mit zwei
unten beleuchteten Fenstern und mitten auf der Straße eine Chaise mit
zwei Insassen oder eine leere Equipage, die im Schritt heimkehrte.
Aber jetzt kam bei uns ein Wagen vorgefahren, dem ich in der festen
Überzeugung, es seien Iwins, die früher zu kommen versprochen hatten,
entgegenlief.

Statt Iwins erschienen hinter der Bedientenhand, die den Wagen
öffnete, zwei Personen weiblichen Geschlechts: eine große in blauem
Mantel mit Zobelkragen, die andere -- klein, vollständig in ein langes
schwarzes Tuch gewickelt, aus dem nur die kleinen Füße in Pelzstiefeln
hervorguckten. Ohne meine Anwesenheit im Flur im geringsten zu beachten
-- obgleich ich es für nötig gehalten hatte, ihnen eine Verbeugung
zu machen -- trat die Kleine zur Größeren und blieb schweigend vor
ihr stehen. Diese wickelte das große Tuch los, das den ganzen Kopf
der Kleinen verhüllte, knöpfte ihren Mantel auf, und als der Diener
diese Sachen in Verwahrung genommen und ihr die Pelzstiefel ausgezogen
hatte, kam aus der Verhüllung ein wunderhübsches zwölfjähriges Mädchen
in kurzem ausgeschnittenen Tüllkleide, in weißen Höschen und winzigen
schwarzen Schuhen zum Vorschein. Den weißen Hals umschloß ein
schwarzes Samtband; ihr ganzes Köpfchen war mit dunkelblonden Locken
bedeckt, die vorn so gut zu dem hübschen Gesicht und hinten zu den
nackten Schultern paßten, daß ich niemandem, selbst Karl Iwanowitsch
nicht geglaubt hätte, diese Locken seien dadurch entstanden, daß
man sie seit heute morgen mit Stückchen der »Moskauer Nachrichten«
umwickelt und nachher mit einem heißen Eisen gebrannt hatte. Es sah
vielmehr aus, als wäre sie mit diesem Lockenkopf geboren.

Ihre Augen waren sehr groß und vorstehend, zur Hälfte von den
langbewimperten Lidern bedeckt. Diese Augen hatten einen ernsten, etwas
traurigen Ausdruck. Die Lippen dagegen waren frisch, und ihre Form
entsprach durchaus dem Ausdruck des Mundes.

Überhaupt war dieses Mädchen ein Wesen, von dem man kein Lächeln
erwartet und dessen Lächeln infolgedessen um so bezaubernder wirkt.

Während die große Person, Madame Walachin, ihr im Wagen etwas kraus
gewordenes Kleid zurechtstrich und die Kleine, ihre Tochter Sonja, sich
mit augenscheinlichem Vergnügen im Spiegel betrachtete, schlüpfte ich,
jetzt mit dem Wunsch, unbemerkt zu bleiben, in die Saaltür und ging
drinnen nachdenklich auf und ab, als wüßte ich gar nicht, daß Gäste
gekommen wären. Als die beiden den Saal halb durchschritten hatten,
machte ich einen eleganten Kratzfuß und erklärte, Großmutter sei im
Gastzimmer. Frau Walachin, die mir besonders wegen ihrer Ähnlichkeit
mit der Tochter sehr gefiel, nickte mir gnädigst zu.

Großmutter empfing die beiden sehr liebenswürdig; besonders schien sie
sich über Sonjas Anblick zu freuen, die sie dicht zu sich heranrief.
Sie strich ihr eine Locke zurecht und meinte, ihr Gesicht aufmerksam
betrachtend: »~Quelle charmante enfant!~«

Sonja lächelte errötend und tat so lieb, daß ich ebenfalls vor
Vergnügen und Verlegenheit errötete.

»Hoffentlich gefällt es dir bei mir, mein Kind,« sagte Großmutter und
faßte sie unters Kinn. »Tanz und amüsiere dich, so gut du kannst. Da
sind schon zwei Kavaliere,« wandte Großmutter sich an Frau Walachin und
berührte mich mit der Hand. Diese Annäherung war mir sehr angenehm und
ließ mich noch mehr erröten. Im Gefühl, daß meine Verlegenheit noch
zunehmen könnte, und da ich auch das Rollen einer Equipage hörte, hielt
ich es für angebracht, mich zu entfernen.

Im Flur traf ich die Fürstin Korpakow nebst Sohn und einer unendlichen
Anzahl Töchter, einer geradezu unwahrscheinlichen, wenn man bedenkt,
daß alle aus einem Schoß und einer Equipage gekommen waren. Alle
Töchter glichen der Fürstin und waren häßlich; deswegen fesselte keine
meine Aufmerksamkeit; ich bemerkte nur, daß alle blasse Gesichter und
rötliches Haar hatten und beim Ablegen der Mäntel, Boas und Mützen
durcheinander rannten, mit ihren dünnen Stimmen plapperten und lachten
-- wahrscheinlich darüber, daß sie so viele waren.

Etienne war ein dreizehnjähriger, großer, fleischiger, schwitzender
Knabe mit bereits »wissendem« Gesichtsausdruck, eingefallenen,
blauumränderten Augen und riesigen Füßen und Händen; er war plump,
seine Stimme wechselte, er schien aber sehr zufrieden mit sich und
war genau so wie ein Junge, der mit Ruten gezüchtigt wird, meiner
Auffassung nach sein kann. Die bläulichen Schatten unter den Augen
schrieb ich infolge meiner Unerfahrenheit keinem anderen Grunde zu.

Wir standen uns ziemlich lange gegenüber und musterten uns aufmerksam,
ohne ein Wort zu sprechen. Die vorübergehende Fürstin befreite uns
aus dieser greulichen Lage, indem sie mich gleichzeitig all ihren
Kindern vorstellte. Wir drückten uns die Hand, bewegten uns noch näher
aneinander heran und wollten uns scheint's küssen; aber nach einem
nochmaligen Betrachten überlegten wir es uns anders.

Als die Kleider sämtlicher Schwestern vorübergerauscht waren, begann
ich, um etwas zu sagen: »Es war wohl etwas eng im Wagen?«

»Weiß nicht,« erwiderte Etienne. »Ich setze mich niemals in den Wagen.
Da drinnen wird mir übel und schlecht; deswegen zwingt Mama mich nicht.
Wenn wir abends ausfahren, sitze ich stets auf dem Bock. Da kann man
alles sehen, und Philipp gibt mir bisweilen die Zügel, und die Peitsche
nehme ich mir -- fein!« schloß er.

»Durchlaucht,« ein Diener trat in den Flur, »Philipp läßt fragen, wo
die Peitsche wäre?«

»Wieso? Ich habe sie ihm doch gegeben!«

»Philipp sagt: nein.«

»Dann habe ich sie an die Laterne gehängt.«

»Philipp behauptet, sie wäre auch da nicht; sagen Sie schon lieber, daß
Sie sie verloren haben,« der Diener wurde lebhafter, »nun kann Philipp
mit seinem Gelde für Ihren Mutwillen aufkommen.«

Der Diener, dem Anschein nach ein rechtschaffener Mann, wenn auch mit
einem Mopsgesicht, las offenbar seinem jungen Herrn nicht zum erstenmal
den Text; dieser war gerade jetzt, bei unserer ersten Bekanntschaft,
sehr erregt und schien die Sache nicht auf sich beruhen lassen zu
wollen. Aus Zartgefühl ging ich, die Verlegenheit des jungen Fürsten
bemerkend, beiseite, tat, als besähe ich das Schloß an der Tür und ließ
die beiden sich aussprechen. Anders handelten die anwesenden Diener;
sie rückten mit großem Vergnügen näher und blickten zustimmend auf den
Diener, spöttisch auf den jungen Fürsten.

»Nun -- dann habe ich sie verloren!« sagte Etienne, weiteren
Auseinandersetzungen aus dem Wege gehend in scharfem, weinerlichem Ton.
»Werd' ihm schon bezahlen, was die Peitsche kostet. Lächerlich!« Er kam
auf mich zu und zog mich ins Gastzimmer.

»Nein, erlauben Sie, Herr, womit wollen Sie denn bezahlen? Ich weiß,
wie Sie das machen. Maria Wassiljewna bezahlen Sie schon seit acht
Monaten zwanzig Kopeken; mir schulden Sie auch schon seit einem Jahr
zwei Rubel fünfundzwanzig Kopeken; Petruschka ...«

»Willst du schweigen, frecher Kerl!« schrie der junge Herr, bleich vor
Wut, »ich werde bestimmt alles melden.«

»Bestimmt alles melden!« wiederholte der Diener zum allgemeinen Gaudium
spöttisch in grobem Baß. »Das ist nicht hübsch, Durchlaucht!« schloß
er besonders eindrucksvoll und ging mit den Mänteln zur Garderobe.

»Das war recht,« sagte jemand von den Zuhörern, während wir, durch
Schweigen unserer Verachtung Ausdruck gebend, uns zu Großmutter begaben.

Diese hatte eine besondere Gabe, durch Anwendung des »Du« und »Sie«
in bestimmten Fällen und mit besonderer Betonung den Leuten ihre
Meinung direkt ins Gesicht zu sagen. Weil sie diese Fürwörter gerade
entgegengesetzt zu der allgemeinen Gewohnheit gebrauchte, bekamen sie
in ihrem Munde eine ganz besondere Bedeutung. Ich bin überzeugt, daß
sie sich Etienne beim ersten Anblick unter der Rute und mit allen
unanständigen Einzelheiten vorstellte; sie empfing ihn sehr kalt und
nannte ihn mit solchem Ausdruck der Verachtung und des Abscheus »Sie«,
daß ich an seiner Stelle ganz fassungslos geworden wäre. Etienne war
augenscheinlich von anderem Kaliber. Er beachtete weder die Art des
Empfanges, noch Großmutters Person, sondern verbeugte sich vor der
ganzen Gesellschaft nicht gerade geschickt, aber sehr ungezwungen, ging
sogar zu Sonja und forderte sie zur Quadrille auf.

Sonja fesselte meine ganze Aufmerksamkeit. Ich hatte bemerkt, daß,
wenn Wolodja, Etienne und ich uns im Saal am Fenster unterhielten, von
wo aus wir Sonja sehen und sie mich sehen und hören konnte -- ich mit
besonderem Vergnügen sprach; und wenn ich eine nach meiner Auffassung
verständige oder komische Bemerkung tat, brachte ich sie lauter heraus
und blickte dabei nach der Tür des Gastzimmers. Als wir aber vom
Fenster fortgingen und an eine Stelle kamen, wo man uns vom Gastzimmer
weder sehen noch hören konnte, schwieg ich und fand kein Vergnügen mehr
an der Unterhaltung.

Gastzimmer und Saal füllten sich allmählich mit Gästen; unter ihnen
waren, wie stets bei Kindergesellschaften, ein paar große Kinder, die
diese Gelegenheit, sich zu amüsieren und zu tanzen, nicht vorübergehen
lassen wollten, wenn auch nur, um -- anderen ein Vergnügen zu bereiten.

Als Iwins kamen, empfand ich statt der gewöhnlichen Freude bei
Serjoschas Anblick eine Art Ärger, daß er Sonja sah und sich ihr zeigte.


23. Vor der Mazurka.

Als Iwins aus dem Gastzimmer zurückkamen, wo Serjoscha trotz seines
angenehmen Äußeren den allgemeinen Tribut der Verlegenheit entrichtet
hatte, faßte ich ihn am Ellbogen und forderte ihn auf, zum Tanz nach
oben zu kommen.

»Los, los!« rief Etienne plump zutraulich, Serjoscha am Arm ziehend.
»Hat euer Deutscher eine Pfeife?«

Obgleich mir die Gesellschaft des jungen Fürsten und sein freier Umgang
mit Serjoscha durchaus nicht angenehm war, mißfiel mir noch mehr
Serjoschas Anwesenheit im Gastzimmer.

»~Où allez vous, Mr. Serge; ne voyez vous pas, qu'on va danser?~« Herr
Forst hielt uns auf. »Haben Sie Ihre Handschuhe?« fügte er hinzu.

»Gewiß; man muß Handschuhe anziehen,« Serjoscha holte ein paar neue
Glacés hervor.

Und wir haben keine, dachte ich. Was soll man machen. Geschwind
lief ich nach oben. Aber obgleich sämtliche Kommodenschiebladen
durchgestöbert wurden, fand ich nur unsere grauen Winterhandschuhe,
und einen einzelnen Glacé, der mir einmal viel zu weit war und dem
obendrein der Mittelfinger fehlte -- wahrscheinlich hatte Karl
Iwanowitsch ihn vor langer Zeit einmal für einen kranken Finger
abgeschnitten. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte, zog den Rest
des Handschuhs an, steckte den Mittelfinger durch das Loch und stand,
den Finger auf und nieder bewegend und einen Tintenfleck aufmerksam
betrachtend, sehr nachdenklich da.

Wenn jetzt Natalie Sawischna hier gewesen wäre, die hätte schon
Handschuhe gefunden! Nach unten gehen konnte ich in diesem Aufzuge
nicht, denn wenn man fragte, warum ich nicht tanzte -- was sollte ich
erwidern? Hier bleiben konnte ich auch nicht, weil man mich finden
würde. Also was tun? -- Ich rang verzweifelt die Hände. Ich war einfach
verloren; schrecklich! -- sagte ich, stellte das Stearinlicht auf die
offene Kommodenschieblade, senkte den Kopf auf die Brust und machte ein
finsteres Gesicht.

Plötzlich ertönte unten Musik. Ich sprang unwillkürlich auf, rannte
durch alle Zimmer und suchte Handschuhe: in Heften, unterm Globus,
zwischen Stiefeln -- da aber keine da waren, blieb all mein Suchen
umsonst.

Mit den Worten: »Was machst du denn hier?« kam Wolodja hereingelaufen,
»engagiere schnell eine Dame; es geht gleich los.«

»Wolodja,« ich zeigte ihm meine vier Finger in dem Glacé und sagte mit
einer fast verzweifelten Stimme, »Wolodja, du hast auch nicht daran
gedacht, daß wir ...«

»Was denn?« fragte er ungeduldig.

»Wie können wir so! ...« erwiderte ich fast unter Tränen und hielt ihm
meine Hand vors Gesicht.

»Ach Handschuhe,« meinte er ganz gleichgültig. »Nein, das geht nicht
... wir müssen Großmutter fragen; was die sagen wird.«

Damit lief er nach unten. Seine Worte verscheuchten den düsteren
Schatten, der auf dem Ereignis lag; ich begab mich schnell zu
Großmutter.

Vorsichtig an ihren Sessel herantretend und ihre Mantille leicht
berührend, fragte ich im Flüsterton: »Großmutter! Was sollen wir
machen? Wir haben keine Handschuhe.«

»Was willst du, Kind?«

»Wir haben keine Handschuhe,« wiederholte ich, die andere Hand auf die
Sessellehne legend. Ich wollte nur von Großmutter gehört werden.

»Was ist denn das?« sie ergriff meine rechte Hand, an der noch immer
der schmutzige Handschuh mit abgeschnittenem Finger saß. »~Voyez ma
chère~,« wandte sie sich an Frau Walachin und zog mich trotz meines
Widerstrebens an einen sichtbaren Platz. »~Voyez comme ce jeune homme
c'est fait élégant pour danser avec votre fille.~«

Großmutter hielt mich fest an der Hand und sah sich ernst aber fragend
nach den Anwesenden um, bis die Neugierde aller befriedigt war und das
Gelächter allgemein wurde.

Die Freude Sonjas, die über meine komische Figur mit den vier Fingern
im schmutzigen Handschuh dermaßen lachte, daß ihr Tränen in die Augen
traten und die Locken entzückend um ihr gerötetes Gesicht tanzten,
steckte mich an: ich lachte jetzt am allerlautesten.

Sehr traurig wäre ich gewesen, wenn Serjoscha mich gesehen hätte, als
ich, dunkelrot vor Scham, umsonst versuchte, meine Hand loszureißen;
vor Sonja dagegen schämte ich mich nicht. Ich fühlte, daß ihr Lachen
zu laut und ungezwungen war, um spöttisch zu sein. Im Gegenteil,
dadurch, daß wir zusammen lachten und uns ansahen, wurden wir schneller
miteinander bekannt; ich fühlte mich bald so sicher, daß ich sofort um
eine Quadrille bat.

Die Episode mit dem Handschuh, die schlecht enden konnte, brachte
mir den Nutzen, daß sie mir in einem Kreise, der mir stets am
schrecklichsten war, -- unter Gästen -- Sicherheit gab; ich fühlte
jetzt nicht die geringste Befangenheit mehr.

Das Leiden, das aus Verlegenheit entspringt, rührt daher, daß wir nicht
wissen, welchen Eindruck wir auf andere machen. Sobald wir hierüber
Gewißheit haben, hört das Leiden -- mag der Eindruck sein wie er will
-- auf.

Wie lieb war Sonja Walachin, als sie mir gegenüber mit dem plumpen
Etienne die ~Quadrille à la cour~ tanzte! Wie reizend, als ob wir uns
schon eine Ewigkeit kennen würden, reichte sie mir bei der ~Chaine~
lächelnd die Hand. Wie niedlich im Takt hüpften die blonden Locken
auf ihrem Kopf und wie zierlich führte sie das »~Jeté assemblé~« mit
ihren kleinen Füßchen in den bebänderten Chevreauschuhen aus -- alles
nach den Klängen des »Donauweibchens«, die ich bis jetzt nicht ohne
süßes Herzbeben hören kann. Obgleich sie dem jungen Fürsten, der sie
in eine Unterhaltung zu ziehen suchte, ebenso lieb zulächelte, war
ich doch glücklich. Bei der fünften Figur, als meine Dame vor mir auf
die andere Seite tanzte und ich, die Takte zählend, mich auf das Solo
vorbereitete, legte Sonja ernsthaft die Lippen zusammen und sah zur
Seite, als hätte sie Mitleid mit mir und fürchtete, ich könnte konfus
werden. Aber diese Sorge war umsonst; ich führte kühn das ~chassé en
avant~, ~en arrière~ und ~croissé~ aus, und als ich an ihr vorbeikam,
zeigte ich ihr den Handschuh mit vier Fingern. Wie lieb lachte sie da,
und wie lustig und naiv hüpften die Füßchen in den Chevreauschuhen auf
dem Parkett. Als wir uns bei dem ~grand rond~ alle an der Hand faßten
und einen Kreis bildeten, rieb sie sich, ohne meine Hand loszulassen,
ihr Näschen am Handschuh.

Alles das steht mir noch heute vor Augen. Dann kam die zweite Quadrille
mit Sonja.

Die Musik, das helle Licht, die Diener in weißen Krawatten, der
besondere Ballgeruch -- alles das bewirkte, daß ich, neben Sonja auf
meinem Stuhl mich niederlassend, anstatt einfach zu sprechen, um jeden
Preis mit meinem Französisch glänzen wollte und schreckliche Dummheiten
sagte.

»~Vous êtes une habitante de Moscou?~« fragte ich nach kurzem
Schweigen. Als sie bejahte, fuhr ich ebenso fort: »~Et vous êtes native
de quel gouvernement?~« dabei besonders auf die Wirkung des Wortes
»~native~« rechnend. Als sie mich dann fragte, ob ich früher schon in
Moskau gewesen sei, erwiderte ich, eine malerische Pose auf meinem
Stuhl einnehmend: »~Et moi, je n'ai jamais frequenté la capitale~,« mit
dem Bestreben, sie durch das Wort »~frequenter~« endgültig von meinen
vorzüglichen Kenntnissen des Französischen zu überzeugen.

Indessen fühlte ich mich, so glänzend meine Unterhaltung auch war,
doch nicht imstande, sie mit derselben Verve fortzusetzen; wenn nicht
bald an uns die Reihe zum Tanzen kam, oder sie mir aus der schwierigen
Situation hinaushalf, war ich genötigt, die ganze Zeit zu schweigen.
In Erwartung ihrer Unterstützung und neugierig, welchen Eindruck mein
Französisch auf sie machte, blickte ich ihr unruhig ins Gesicht.

»Wo haben Sie den komischen Handschuh her?« fragte sie mich plötzlich.
Diese Frage verschaffte mir große Erleichterung und Vergnügen. Ich
erklärte ihr, der Handschuh gehörte Karl Iwanowitsch, und verbreitete
mich etwas über seine Person, wie komisch er wäre und wie er einmal mit
seiner grünen Pekesche vom Pferd in eine Pfütze gefallen sei.

In der Unterhaltung über Karl Iwanowitsch, das Land, Pilze und das
Pferd verging unmerklich die Quadrille. Alles sehr schön, aber warum
hatte ich mich ironisch über Karl Iwanowitsch geäußert? Fürchtete ich
wirklich, die gute Meinung, die Sonja von mir hatte, zu verlieren, wenn
ich ihn mit der Liebe und Verehrung schilderte, die ich bisweilen für
ihn hegte?

Bei der Beendigung der Quadrille sagte Sonja mit solch liebem und
freundlichem Ausdruck »~Merci~« zu mir, als wenn sie mir wirklich für
etwas zu danken hätte; ich war einfach hingerissen und erkannte mich
selbst nicht wieder, so kühn, selbstbewußt, ja frech trat ich auf.

Keck schlenderte ich durch alle Räume, ohne auf etwas zu achten; bog
nicht einmal aus, sondern rannte sehr unhöflich mit den Leuten, die mir
begegneten, zusammen. Es gibt nichts, was mich jetzt aus der Fassung
bringen kann, dachte ich. Ich bin zu allem bereit.

Serjoscha bat mich, sein ~vis-à-vis~ zu sein.

»Gut,« sagte ich, »hab' zwar noch keine Dame, werde aber schon eine
finden.«

Den Saal mit einem kühnen Blick musternd, bemerkte ich, daß fast
alle Damen engagiert waren; nur an der Tür stand ein großes hübsches
Mädchen, auf das jetzt ein schlanker junger Mann zuschritt; offenbar
in der Absicht, sie zu engagieren. Er war von ihr nur noch drei
Schritt entfernt, ich dagegen am anderen Saalende. Im Nu durchflog
ich, auf dem Parkett dahingleitend, den ganzen Raum, machte eine
Verbeugung und bat sie mit fester Stimme um den Tanz. Das große Mädchen
lächelte gönnerhaft, reichte mir den Arm, und der junge Mann hatte das
Nachsehen. Ich fühlte so viel Kraftbewußtsein, daß ich meinen Sieg
gar nicht bemerkte. Erst später erfuhr ich, der junge Mann hätte
gefragt, wer denn der Struwwelpeter wäre, der ihm zwischen den Beinen
herumgesprungen sei und so frech die Dame weggeschnappt hätte.


24. Die Mazurka.

Die Musik begann; Großmutter kam aus dem Gastzimmer; man rollte ihren
weichen Sessel herein und sie setzte sich in die Saalecke zu einem
alten, ordengeschmückten Herrn, der soeben vom Kartentisch aufgestanden
war, und zu einer Dame. Da ich zur Mazurka keine Tänzerin hatte,
stellte ich mich hinter die hohe Stuhllehne, lauschte der Unterhaltung
und beobachtete die Tanzenden.

Der junge Mann, dem ich die Dame weggeschnappt, tanzte im ersten Paar.
Er sprang, seine Dame an der Hand haltend, vom Stuhl auf, anstatt aber
den »~pas de Basque~« zu machen, wie Mimi uns gelehrt, lief er einfach
vorwärts, blieb in der Ecke stehen, stampfte mit den Hacken auf,
spreizte die Beine, machte kehrt und lief hüpfend weiter.

Was macht der nur, dachte ich, das ist doch gar nicht so, wie Mimi es
uns gezeigt hat; sie behauptet, die Mazurka würde schwebend auf den
Fußspitzen mit kreisförmiger Beinbewegung getanzt -- nun ist es ganz
anders. Da sind Iwin und Wolodja ebenfalls. Wenn er sich nur nicht
blamiert, der Ärmste! Nein, wirklich gar nicht übel; er tanzt auch so.
Großartig!

Die Mazurka ging zu Ende; einige ältere Herren und Damen
verabschiedeten sich von Großmutter und fuhren fort. Diener trugen,
den Tanzenden vorsichtig ausweichend, Geschirr in die Hinterzimmer.
Großmutter war ersichtlich müde und sprach sehr gedehnt, gleichsam
unlustig. Die Musikanten spielten zum dreißigstenmal träge dasselbe
Motiv. In diesem Augenblick kam das große Mädchen, mit dem ich getanzt
hatte, in Begleitung einer der zahllosen kleinen Fürstinnen und Sonjas
auf mich zu; wohl um Großmutter zu gefallen, lächelte sie ihr zu und
richtete folgende zartsinnige Frage an mich: »Rose oder Hortensie?«

»Ah, du bist hier, Freundchen!« wandte Großmutter sich zu mir um, »geh
nur, geh.«

Nicht ohne Zittern und Zagen sagte ich: »Hortensie« und war noch nicht
zur Besinnung gekommen, als schon eine kleine Hand im weißen Handschuh
in der meinigen lag und Sonja fröhlich lächelnd auf ihren kleinen
Zehenspitzen vorwärts tanzte ohne zu ahnen, daß ich mit meinen Füßen
nichts anzufangen wußte.

Obgleich ich mir klar darüber war, daß das ~pas de Basque~ jetzt
unangebracht, ungehörig sei und vielleicht unangenehme Folgen für
mich haben könnte, wirkten die bekannten Mazurkaklänge auf mein Ohr,
teilten sich den Nerven mit, die ihrerseits die Bewegung auf die Beine
übertrugen, so daß diese letzteren unwillkürlich und zum Erstaunen
aller Zuschauer die verhängnisvollen, gleitenden, kreisförmigen ~pas~
auf den Zehenspitzen beschrieben, die Mimi mir wahrscheinlich zum
Schabernack beigebracht hatte.

Solange wir geradeaus tanzten, ging die Sache noch; als wir aber an
die Biegung kamen, bemerkte ich, daß ich, beim Beibehalten des ~pas de
Basque~, sicher vorwärts tanzen würde. Um das zu vermeiden, blieb ich
stehen und wollte dieselben Beinbewegungen auf dem Fleck machen, die
der junge Mann im ersten Paar und andere so hübsch ausführten.

In dem Augenblick, als ich die Beine spreizte und schon springen
wollte, blickte Sonja, die schnell um mich herumlief, ernsthaft und
neugierig auf meine Beine. Vielleicht wäre mein Sprung noch halbwegs
gelungen, wenn Sonja nicht so genau zugesehen hätte. Sobald ich das
aber bemerkte, verlor ich vollständig die Fassung, und statt des kühnen
~pas~, den ich beabsichtigt, wurde ich so verlegen, daß ich ohne jeden
Takt, höchst komisch, und ganz unbeschreiblich auf der Stelle hüpfte.
Dann blieb ich vollends stehen und sah mich um. Alle starrten mich an;
einige neugierig, andere mitleidig, noch andere spöttisch. Großmutter
blickte kaltblütig drein. Wolodja zwinkerte und machte mir Zeichen;
Papa wurde rot, stand auf, trat zu mir und nahm mich bei der Hand.

»~Il ne fallait pas danser, si vous ne savez pas!~« raunte er mir
ärgerlich ins Ohr, nahm Sonjas Arm und tanzte unter lautem Beifall der
Zuschauer die Tour mit ihr nach alter Manier zu Ende.

Ich hatte nicht einmal den Mut, an meinen Platz zurückzukehren,
verschwand im nächsten Zimmer und wälzte mich in stummer Verzweiflung
auf einem Sofa. Dieser Übergang vom glücklichen zuversichtlichen
Gemütszustand zum drückenden Bewußtsein des tiefen Falles war
schrecklich. Wäre in diesem Augenblick die Möglichkeit gewesen und die
Versuchung an mich herangetreten, mir das Leben zu nehmen, -- ich war
so unglücklich, daß ich keine Minute gezögert hätte. Das schlimmste
war, daß Sonja mich so fragend und neugierig-mitleidig angesehen hatte.
Herrgott, wofür strafst du mich so hart, dachte ich. Jetzt ist alles
verloren; alle verachten mich und werden mich stets verachten; mir sind
alle Wege versperrt, zum Glück, zur Heiterkeit, Freundschaft, Liebe,
Auszeichnung. Alles ist hin. Niemand liebt mich. Gut, jetzt will ich
auch niemanden mehr lieben, alle haben sich über mein Unglück gefreut,
jetzt will ich mich auch freuen, wenn ihnen etwas passiert!

Warum ist Papa rot geworden und hat mich an der Hand gefaßt? Warum hat
Wolodja mir Zeichen gemacht, die alle sehen und die mir nicht mehr
helfen konnten? Hätte er das nicht getan, würde niemand etwas bemerkt
haben. Er hat es absichtlich getan, um mich zu blamieren; niemand,
niemand hat mich hier lieb. Mama wäre sicherlich meinetwegen nicht
errötet! ...

Und meine Phantasie folgte diesem Bilde weit, weit in die Ferne;
ich dachte an Mama, an die Wiese vor dem Hause, die hohen Linden im
Garten, den reinen Teich, über dem Schwalben hin und her schossen;
an duftende Heudiemen, den blauen Himmel, an dem durchsichtige weiße
Wolken standen; an einen stillen heiteren Abend, und viele andere,
ruhigfreudige Erinnerungen hielten Einzug in mein aufgeregtes Gemüt.


25. Nach der Mazurka.

Die Mazurka war zu Ende. Wolodja, Iwins und der junge Fürst kamen
in das Zimmer, in dem ich auf dem Sofa lag und riefen mich, als
wenn nichts passiert wäre, nach oben; ich sollte meine Kräfte mit
Etienne messen, der sehr prahlte und sagte, er würfe uns alle mit
einem Finger um. Hätte jemand sich auch nur die leiseste Anspielung
auf mein Mißgeschick erlaubt, so wäre ich rasend geworden und hätte
ihnen Unannehmlichkeiten gesagt; da das aber nicht geschah, willigte
ich ein, mit nach oben zu kommen, besonders da ich mich in Kraft- und
Geschicklichkeitsübungen stets ausgezeichnet habe. Dieser Kampf, das
Rennen, Toben und Geschrei zerstreute mich und ließ mich mein Unglück
fast vergessen; nur bisweilen kam mir die Erinnerung; dann preßte
ich die Zähne zusammen und schrie leicht auf, wie meistens bei sehr
unangenehmer Erinnerung. Als wir zum Abendessen gerufen wurden, hatte
ich meine misanthropischen Pläne schon vergessen und lief mit dem
angenehmen Gefühl der Selbstzufriedenheit, die der Erfolg gebiert, nach
unten. Mein Erfolg, ich darf sagen: mein Triumph, bestand darin, daß
ich zweimal hintereinander den jungen Fürsten geworfen hatte, einmal
derart, daß auf seiner Stirn eine sehr große und sehr lächerliche Beule
zum Vorschein kam.

Beim Abendessen, als der Diener jedem von uns aus einer umwickelten
Flasche Champagner eingoß, standen wir alle auf und gingen noch einmal
zu Großmutter zum Gratulieren. Kaum war das geschehen, so ertönten aus
dem Saal die Klänge des Großvatertanzes und überall wurden geräuschvoll
die Stühle zurückgeschoben. Ich glaube, ich hätte es niemals riskiert,
Sonja wieder aufzufordern, wenn nicht in dem Augenblick, als ich
zögerte, Sonjas Mutter vorübergekommen wäre und zu uns beiden gesagt
hätte: »Was steht ihr denn da; kommt doch.«

Sonja reichte mir den Arm, und wir liefen aus dem Saal.

Der Ringkampf, das Glas Champagner, die Nähe und Heiterkeit Sonjas
ließen mich die unglückliche Mazurka ganz vergessen; ich fühlte nicht
die geringste Verlegenheit mehr, war ausgelassen bis zur Tollheit.

Mit den Beinen machte ich die komischsten Dinge; ich ahmte die Gangart
eines Pferdes nach, lief in kurzem Trab, hob stolz die Beine, blieb
dann auf einer Stelle stehen und trampelte mit den Füßen wie ein
Hammel, der über einen Hund böse ist. Dabei lachte ich aus vollem
Herzen, ohne mich um den Eindruck zu kümmern, den meine ~pas~ auf
die Zuschauer machten. Sonja lachte ebenfalls unaufhörlich; lachte,
als wir uns Arm in Arm im Kreise drehten; kicherte, als ein Herr
mit Schnurrbart und goldenem Ring am Daumen langsam die Beine
hebend über ein Schnupftuch stieg, mit einem Ausdruck, als ob ihm
das sehr schwer würde, und schüttelte sich vor Lachen, als ich, um
meine Geschicklichkeit zu zeigen, fast bis zur Decke sprang. Dieses
reizende helle Lachen, bei dem ihr Händchen wie ein Vöglein in meiner
Hand zitterte, sowie der schnelle Übergang von der Verzweigung zur
Heiterkeit machten mich ganz glücklich.

Als wir durch Großmutters Zimmer kamen, besah ich mich unwillkürlich
in dem großen Trumeau in der Ecke. Mein Gesicht war schweißgebadet,
das Haar zerzaust, die Borsten sträubten sich mehr als je -- trotzdem
befriedigte mich der Gesamteindruck; die grauen, noch kleineren
Augen als sonst glänzten derart, und der ganze Gesichtsausdruck war
so lustig, unbekümmert und gut, gesund und frisch, daß ich mich
noch niemals in so vorteilhaftem Licht gesehen hatte. Das rührte
wahrscheinlich daher, daß ich mich beim Schauen in den Spiegel
gewöhnlich bemühte, einen nachdenklichen und deswegen unnatürlichen
dummen Ausdruck anzunehmen. Wäre ich nur immer so wie jetzt! dachte
ich, dann könnte ich noch gefallen.

Als ich dann aber wieder auf das schöne Gesichtchen meiner Dame
blickte, fand ich dort außer der Fröhlichkeit, Gesundheit und
Sorglosigkeit, die mir in meinem Gesicht gefielen, so viel vornehme,
zarte Schönheit, daß ich mich über mich selbst ärgerte; ich sah ein,
wie dumm es war zu hoffen, die Aufmerksamkeit eines so herrlichen
Geschöpfes jemals auf mich zu lenken.

Ich konnte nicht auf Erwiderung meiner Gefühle rechnen und wünschte
sie gar nicht; meine Seele strömte auch so von Glück über. Für all
meine unendliche Liebe, die vor keinem Opfer zurückschreckte, wünschte,
forderte ich nichts: mir war auch so gut. Ich fühlte nur, wie mir das
Blut zum Herzen strömte; daß dieses schlug wie eine Taube, daß ich
etwas Sonderbares, Unverständliches wollte -- wahrscheinlich weinen.

Als wir auf dem Korridor am dunklen Verschlage unter der Treppe
vorbeikamen, dachte ich: was wäre das für ein Glück, wenn man ein
ganzes Jahrhundert lang mit ihr in diesem dunklen Verschlage leben
könnte, so daß niemand etwas davon wüßte. Aber das ist nicht möglich,
also hat es auch keinen Zweck, daran zu denken; sie geht gleich, und
Gott weiß, wann wir uns wiedersehen ... vielleicht nie ...

Wir waren das letzte Paar; ich ging langsam und beschloß, ihr alles zu
sagen, was ich empfand. Aber was? Und wie?

»Nicht wahr, heute war es nett?« begann ich mit leiser, zitternder
Stimme und beschleunigte den Schritt, voll Schreck nicht so sehr über
das, was ich gesagt hatte, als über das, was ich sagen wollte.

»Ja, sehr,« antwortete sie, mir das Köpfchen mit so gutem offenen
Ausdruck zuwendend, daß meine Furcht verschwand.

»Besonders nach dem Abendessen; wenn Sie aber wüßten, wie leid es mir
tut -- (›weh‹ wollte ich sagen, wagte es aber nicht), daß Sie gehen und
wir uns nicht wiedersehen.«

»Warum nicht?« meinte sie, angelegentlich ihre Schuhspitzen betrachtend
und mit einem Finger über den durchbrochenen Wandschirm fahrend, an dem
wir vorüberkamen.

»Jeden Dienstag und Freitag um zwei Uhr fahre ich mit Mama auf dem
Twerskoi Boulevard spazieren. Gehen Sie denn nicht aus?«

»Ich werde sicher um Erlaubnis bitten, und wenn man mich nicht läßt,
laufe ich ohne Mütze fort. Den Weg weiß ich.«

Sonja lachte.

»Wissen Sie was?« sagte sie plötzlich, mit dem Fuß einen kleinen Apfel
aus dem Wege schleudernd, »ich sage zu einigen Jungen, die zu uns
kommen: ›du‹; wollen wir uns auch duzen? Willst du?« fügte sie hinzu
und sah mir, das Köpfchen schüttelnd, gerade in die Augen.

In diesem Augenblick traten wir in den Saal, und es begann der zweite,
lebhafte Teil des Großvatertanzes.

»Kom ... men Sie,« sagte ich, als die Musik und der Lärm meine Stimme
übertönten.

»Komm, und nicht: kommen Sie,« verbesserte sie mich lächelnd.

Das »ie«, das sie möglichst derb auszusprechen suchte, erschien mir als
der harmonischste Ton, den die menschliche Stimme hervorbringen kann.
Ich war hingerissen.

Der »Großvater« war zu Ende; ich hatte nicht einen Satz mit »du«
zustande gebracht, obgleich ich mir unaufhörlich den Kopf zerbrach und
Wendungen ausgrübelte, in denen das Fürwort mehrmals vorkam. Es fehlte
mir an Mut. »Willst du? Komm!« klang es in meinen Ohren und rief einen
rauschähnlichen Zustand bei mir hervor: ich sah nichts als Sonja. Ich
beobachtete, wie Frau Walachin sie musterte, ob sie vom Tanzen nicht
zu sehr erhitzt sei und fahren könnte; wie sie sich kätzchengleich an
ihre Mutter schmiegte; sah, wie ihre Locken zusammengenommen und hinter
die Ohren gelegt wurden, so daß ein Teil der Stirn und die Schläfe frei
wurde, die ich noch nicht gesehen hatte. Diese neuen Stellen schienen
mir noch schöner als die bereits bekannten. Ich weiß noch, wie sie in
ein großes wollenes Tuch so dicht eingewickelt wurde, daß, wenn sie
nicht mit ihren Rosenfingern ein kleines Loch für den Mund freigemacht
hätte, sie sicher erstickt wäre. Obgleich man hinter dem Tuch nur die
Augen und die Nasenspitze sah, waren diese so lieb, daß ich mich von
dem Anblick nicht trennen konnte. Als sie hinter ihrer Mutter die
Treppe hinunterstieg, wandte sie sich schnell noch einmal um, nickte
mit dem Kopf und dann sah ich sie nicht mehr.

Wolodja, Iwins, der junge Fürst, ich, wir alle waren in Sonja verliebt,
standen auf der Treppe und warfen ihr Blicke nach. Wem sie eigentlich
besonders zunickte, weiß ich nicht; damals war ich aber fest überzeugt,
daß ich es sei.

Beim Abschied von Iwins sprach ich sehr frei, ungezwungen und sogar
etwas kalt mit Serjoscha und drückte ihm die Hand.

Diese Veränderung in meinem Benehmen überraschte ihn wahrscheinlich
unangenehm, denn er sah mich fragend und nicht gerade freundlich an.
Wenn er begriff, daß sein Einfluß auf mich mit dem heutigen Abend sein
Ende erreicht hatte, tat ihm das sicher leid, obgleich er sich bemühte,
ganz gleichgültig zu erscheinen.

Zum erstenmal im Leben war ich treulos in der Liebe, und zum
erstenmal empfand ich die Süßigkeit dieses Gefühls. Es war mir eine
wahre Herzensstärkung, das überlebte Gefühl der Ergebenheit gegen
ein frisches Liebesempfinden voll Heimlichkeit und Ungewißheit
einzutauschen. Außerdem bedeutet mit einer Liebe aufhören und eine neue
beginnen, doppelt lieben.

Als ich in den Saal zurückkehrte, sah ich niemanden; ich blickte alle
Gäste an und suchte Sonja, obgleich ich wußte, daß sie fort sei, und
ich sie unmöglich wiedersehen könnte.


26. Im Bett.

Karl Iwanowitsch war noch nicht da; wir legten uns schlafen.

Wie hatte ich, trotz seiner Gleichgültigkeit, Serjoscha Iwin so
sehr lieben können? überlegte ich. Nein, er hatte meine Liebe nie
verstanden, war sie nicht wert und wußte sie nicht zu schätzen. Sonja
dagegen? Wie war die reizend! »Willst du; du mußt anfangen.« Ich sprang
auf allen vieren hoch, stellte mir ihr reizendes Gesicht vor, bedeckte
den Kopf mit der Bettdecke, stopfte sie auf allen Seiten zu, und als
nirgends eine Öffnung mehr war, legte ich mich wieder hin und versank,
im angenehmen Gefühl der Wärme, in süße Träume und Erinnerungen.
Den Blick auf das Futter der Steppdecke gerichtet, sah ich Sonja so
deutlich vor mir, wie eine Stunde vorher; ich sprach in Gedanken mit
ihr, und diese Unterhaltung, die gar keinen Sinn hatte, verschaffte mir
unbeschreiblichen Genuß, weil das: »du, dir, mit dir, dein« fortwährend
darin vorkamen.

Diese Träume waren so klar und angenehm, daß ich vor süßer Erregung
nicht einschlafen konnte; ich wollte jemandem mein Glück mitteilen.
»Lieb--ling!« sagte ich fast laut, mich schnell auf die andere Seite
drehend.

»Wolodja, schläfst du?«

»Nein,« erwiderte dieser schläfrig. »Was ist?«

»Ich bin verliebt, Wolodja, total verliebt in Sonja Walachin.«

»Na u--und?« meinte er gedehnt.

»Ach, Wolodja, du kannst dir nicht vorstellen wie mir ist; eben lag ich
unter der Decke, und da hab ich sie so deutlich, so klar gesehen und
mit ihr gesprochen -- einfach erstaunlich. Willst du glauben, so sehr
ich mich schäme, aber ich möchte, Gott weiß warum, schrecklich gern
weinen.«

Wolodja bewegte sich.

»Ich möchte nur eins,« fuhr ich fort, »nämlich: sie immer sehen ...
weiter nichts. Bist du auch verliebt? Sag doch die Wahrheit, Wolodja.«

Sonderbar. Ich wünschte, daß alle in Sonja verliebt wären und alle es
erzählten.

»Was geht dich das an,« meinte Wolodja, sich mit dem Gesicht zu mir
wendend, »kann schon sein.«

»Du willst gar nicht schlafen, hast nur so getan!« rief ich
triumphierend. An seinen Augen sah ich, daß er nicht an Schlaf dachte
und schlug die Bettdecke zurück. »Laß uns von ihr plaudern. Nicht wahr,
sie ist so reizend ... so reizend, daß, wenn sie zu mir sagt: ›Nikolas,
spring aus dem Fenster, oder stürz dich ins Feuer, ich möchte es‹ --
weiß Gott,« sagte ich, mich zur Beteurung meiner Worte bekreuzend,
»ich täte es sofort. Ach, dieser Liebling! Ei--jai--jai, wie reizend!«
schloß ich, sie mir deutlich vorstellend, und warf mich, um das Bild
so recht zu genießen, mit einem Ruck herum in die Kissen. »Ich möchte
schrecklich gern weinen, Wolodja.«

»Du Schafskopf,« sagte er lächelnd und meinte dann nach kurzem
Schweigen: »ich bin ganz anders wie du; ich denke, wenn ich könnte,
möchte ich erst neben ihr sitzen ...«

»Aha! Also du bist auch verliebt,« unterbrach ich ihn.

»Dann,« fuhr Wolodja lächelnd fort und machte dabei so verschmitzte
Augen (wie Papa, wenn er mit Damen sprach), »dann möchte ich sie an der
Hand fassen, dann ihre Fingerchen, Äuglein, das Näschen, die Lippen,
Füßchen, alles möchte ich küssen ... möchte sie auffressen!« schloß er,
mit den Füßen ausschlagend und mit den Zähnen knirschend.

»Dummheit! Gemeinheit!« schrie ich ärgerlich und wandte mich ab.

»Du verstehst nichts,« sagte Wolodja verächtlich.

»Nein, ich verstehe schon, aber du hast keine Ahnung und redest
Dummheiten,« erwiderte ich unter Tränen.

»Ist doch gar kein Grund zum Weinen! Bist ein richtiges Weib!«


27. Ein Brief.

Am 16. April, fast sechs Monate nach dem soeben beschriebenen Tage, kam
der Vater während des Unterrichts zu uns nach oben und teilte uns mit,
daß wir heute nacht mit ihm aufs Land, nach Hause fahren sollten. Mir
wurde bei dieser Nachricht beklommen ums Herz; meine Gedanken wandten
sich sofort der Mutter zu. Der Grund dieser unerwarteten Abreise war
folgender Brief:

            Petrowskoie, 12. April.

»Soeben, erst um zehn Uhr abends, erhielt ich Deinen lieben Brief
vom 2. April, und meiner alten Gewohnheit gemäß beantworte ich ihn
sogleich. Fedor hatte ihn gestern aus der Stadt mitgebracht, da es aber
schon spät war, übergab er ihn Mimi erst heute morgen. Die behielt ihn
unter dem Vorwande, ich sei nicht wohl, den ganzen Tag. Allerdings
hatte ich heute etwas Fieber und, um Dir die Wahrheit zu sagen, bin ich
schon drei Tage nicht wohl und bettlägerig.

Erschrick bitte nicht, Liebling; ich fühle mich ziemlich gut, und wenn
Iwan Wassilitsch erlaubt, gedenke ich morgen aufzustehen.

Freitag voriger Woche fuhr ich mit den Kindern spazieren; wo der
Weg auf die Chaussee mündet, bei der kleinen Brücke, die mir stets
Schrecken einflößt, blieben die Pferde im Schmutz stecken. Es war gutes
Wetter und ich gedachte, während man den Wagen herausgezogen hätte,
bis zur Chaussee zu Fuß zu gehen. Bei der Kapelle fühlte ich mich
sehr müde und setzte mich hin, um etwas auszuruhen; da es aber fast
eine halbe Stunde dauerte bis Leute kamen, die den Wagen herausziehen
konnten, wurde mir kalt, namentlich an den Füßen, weil meine Stiefel
dünne Sohlen hatten und durchnäßt waren. Nach dem Mittagessen stellte
sich Schüttelfrost und Hitze ein; ich ging, aber, wie gewohnt, meiner
Beschäftigung nach und spielte nach dem Tee mit Ljubotschka vierhändig.
(Du wirst sie nicht wiedererkennen, solche Fortschritte hat sie
gemacht.) Denke Dir mein Erstaunen, als ich bemerkte, daß ich nicht
Takt halten konnte. Ein paarmal fing ich an zu zählen, aber es drehte
sich alles in meinem Kopf, und ich hatte sonderbares Ohrensausen. Ich
zählte: eins, zwei, drei, dann plötzlich acht, fünfzehn -- ich fühlte,
daß ich verkehrt zählte und konnte es doch nicht besser machen. Endlich
kam Mimi mir zu Hilfe und brachte mich fast mit Gewalt zu Bett. Das
ist, Liebling, mein ausführlicher Bericht, wie ich krank geworden, und
daß ich selbst an allem schuld bin.

Den nächsten Tag hatte ich ziemlich starkes Fieber, und unser guter
alter Iwan Wassilitsch kam, der bis jetzt bei mir weilt und mich bald
zu entlassen verspricht. Ein prächtiger Alter, dieser Iwan Wassilitsch.
Als ich Fieber hatte und phantasierte, hat er die ganze Nacht, ohne ein
Auge zu schließen, an meinem Bett gesessen; jetzt, wo er weiß, daß ich
schreibe, sitzt er mit den Mädchen im Diwanzimmer, und ich kann vom
Schlafzimmer aus hören, wie er ihnen deutsche Märchen erzählt und sie
vor Lachen vergehen wollen.

~La belle Flamande~, wie Du sie immer nennst, ist schon vierzehn Tage
bei mir, da ihre Mutter irgendwo zum Besuch ist. Sie zeigt mir durch
ihre Fürsorge aufrichtige Anhänglichkeit und vertraut mir all ihre
Herzensgeheimnisse an. Bei ihrem hübschen Gesicht, ihrem guten Herzen
und ihrer Jugend könnte ein in jeder Beziehung reizendes Mädchen aus
ihr werden, wenn sie in gute Hände käme; in der Gesellschaft aber,
in der sie lebt, geht sie, nach ihren Erzählungen zu urteilen, ganz
zugrunde. Mir kam der Gedanke, wenn ich nicht soviel eigene Kinder
hätte, täte ich ein gutes Werk, sie zu mir zu nehmen.

Ljubotschka wollte dir selbst schreiben, hat aber schon den dritten
Bogen zerrissen und sagt: ›ich weiß, wie gern Papa spottet; wenn ich
einen Fehler mache, zeigt er ihn allen.‹ Katja ist immer noch lieb,
Mimi gut und langweilig.

Jetzt von etwas Ernstem. Du schreibst mir, Deine Geschäfte gingen in
diesem Winter nicht gut; Du wärest genötigt, von dem Chabarower Geld
zu nehmen. Es kommt mir sonderbar vor, daß Du dazu meine Zustimmung
erbittest; was mir gehört, gehört doch auch Dir!

Du bist so gut, lieber Freund, daß Du aus Furcht, mich zu betrüben, die
wirkliche Lage Deiner Geschäfte verheimlichst; ich errate aber, daß Du
sicher sehr viel verloren hast und bin, das schwöre ich Dir, darüber
nicht bekümmert. Wenn sich also die Sache noch gutmachen läßt, denke
nicht weiter daran und quäle Dich nicht unnütz. Ich bin es gewohnt, für
die Kinder nicht auf Dein Einkommen zu rechnen, ja, entschuldige, nicht
einmal auf Dein Vermögen. Dein Gewinn freut mich ebensowenig, wie mich
Dein Verlust betrübt; mich bekümmert nur Dein unseliger Hang zum Spiel,
der mir einen Teil Deiner Anhänglichkeit raubt und mich nötigt, Dir so
bittere Wahrheiten zu sagen wie jetzt. Gott weiß, wie weh mir das tut!
Ich bitte ihn unaufhörlich um das eine, daß er uns behüte ... nicht
vor Armut (was ist Armut?), sondern vor dem schrecklichen Zustande,
wo die Interessen der Kinder, die ich vertreten muß, mit den unsrigen
kollidieren. Bis jetzt hat der Herr mein Gebet erhört -- Du hast den
Schritt nicht getan, nach welchem wir entweder das Vermögen opfern
müssen, das schon nicht mehr uns, sondern unseren Kindern gehört,
oder ... es ist schrecklich, daran zu denken, aber dieses schreckliche
Unglück bedroht uns stets. Ein schweres Kreuz, das Gott der Herr uns
beiden auferlegt hat.

Du schreibst mir noch von den Kindern und kommst auf unseren alten
Streit zurück; Du bittest mich, darein zu willigen, daß wir sie einer
staatlichen Erziehungsanstalt übergeben. Du kennst meine Abneigung
gegen eine öffentliche Erziehung; glaub mir, daß ist keine Kaprice,
sondern meine Überzeugung, daß diese Erziehung schädlich und für junge
Leute gefährlich ist. Ich bestreite nicht all die Vorteile, die für
die Beamtenlaufbahn durch Verbindungen und Konnexionen entspringen;
bestreite auch nicht, daß nur Kinder sogenannter besserer Familien
diese Schule besuchen und daß man zu Hause den Kindern nicht solche
Lehrer geben kann wie sie dort haben. Du wirst mir aber darin recht
geben, daß es außer der Beamtenlaufbahn, Konnexionen und glänzenden
Kenntnissen noch gute Grundsätze und feines, zartes Empfinden gibt,
auf die man am meisten zu achten hat. Ich weiß, daß in den staatlichen
Lehranstalten wohl auf die Sittlichkeit geachtet wird, aber es scheint
mir unmöglich, auf alle Kinder gleichmäßig zu wirken; man muß die
Richtung, die Neigungen, die vorangegangene Erziehung jedes Kindes
kennen, um ihm gute Gefühle einzuflößen, damit es an das Gute glaubt
und es liebt. Wie ist das bei gemeinsamer Erziehung möglich? Bei einem
Kinde wirkt die Rute, beim anderen Zureden und Ermahnungen. Nur Mutter
oder Vater, die schon deswegen, weil sie an den Kindern ihre eigenen
Neigungen wahrnehmen und sie daher von kleinauf mit den Augen der Liebe
beobachten, können ein Kind soweit begreifen, wie für die Erziehung
nötig ist. Allen die gleichen moralischen Grundgedanken beibringen ist
dasselbe, wie Ananas, Levkojen, Gurken und Jasmin in denselben Topf
pflanzen. Wie gut man die Gewächse auch pflegt -- die Hälfte oder die
Mehrzahl geht sicher ein. Deswegen lachen die Kinder in öffentlichen
Lehranstalten über alle Verhaltungsmaßregeln.

Da ein großer Teil der Kinder in staatlichen Erziehungsanstalten keine
Sympathie für die trockenen Tugendregeln, die ihnen beigebracht werden,
hat und haben kann, lachen sie innerlich und untereinander darüber und
meiden das Schlechte nur aus Furcht vor Strafe. Glaub mir aber, ein
Kind wird niemals über die Ermahnungen des Vaters lachen, oder über die
Tränen der Mutter, die es betrübt hat. Gewohnt mit seinen Mitschülern
über alles Gute und Edle zu spotten, vergißt es bald die feinen
Gefühle, die ihm zu Hause beigebracht sind. Empfindsamkeit, die beste
Fähigkeit der Seele, nämlich die, zu lieben und zu weinen, weicht dem
Geist, der unter den Kameraden herrscht und der Forschheit. Religiöses
Gefühl, Liebe zu Verwandten, Eltern, Mitleid mit dem Kummer und den
Leiden anderer -- all die besten Regungen, von denen ein unverdorbenes,
kindliches Gemüt so voll ist und ohne die es kein wahres Glück gibt,
erregen nur Spott und Verachtung. Dann aber, wenn kein einziges edles,
zartes Gefühl, kein einziger fester, moralischer Grundbegriff mehr
übriggeblieben ist, fühlt der Knabe das Verlangen, sich hinreißen zu
lassen, und nun erscheint das Laster in tausend verschiedenen Formen.
Er trachtet nach dem äußersten -- in Tugend oder Laster: das hängt von
der Richtung ab, die die Umgebung ihm zeigt -- nichts hemmt ihn, und
er begeht so schreckliche, schmutzige Handlungen, daß er entweder, um
sein Gefühl und die Stimme des Gewissens zu betäuben, sich dem Laster
ganz in die Arme wirft, oder, wenn er noch die Kraft besitzt, am Rande
des Verderbens haltzumachen und die Gewissensbisse zu ertragen, hat
er für immer genug zu tun, um wenigstens etwas von seiner Reinheit,
Unschuld und Seelenruhe, die fast dahin sind, zu retten. Gewiß, es
gibt Leute, die diesem Unglück aus dem Wege zu gehen wissen; es gibt
auch solche, die sich schließlich mit ihren Erinnerungen abfinden und
sie gnädigst wie Kinderstreiche betrachten, die keine Bedeutung haben.
Ich möchte aber für meine Kinder das bessere Teil, möchte, daß sie ins
Leben treten, ohne schlechtes Beispiel kennen gelernt zu haben, mit
entwickeltem Verstand, festen, von kleinauf eingeflößten moralischen
Grundsätzen, einem gestärkten Willen und besonders im Zustande der
seelischen Reinheit und Unschuld, durch die sie jetzt so lieb und
glücklich sind.

Ich weiß nicht, lieber Freund, ob Du mit mir übereinstimmst oder nicht;
jedenfalls bitte ich, flehe ich Dich bei meiner Liebe zu Dir an, wenn
Du mich ganz glücklich sehen willst, gib mir das Versprechen, weder bei
meinen Lebzeiten, noch nach meinem Tode, wenn es Gott gefällt uns zu
trennen, unsere Kinder in einer Lehranstalt unterzubringen.

Du schreibst mir, Du müßtest notwendig in Geschäften bald nach
Petersburg reisen; Gott mit Dir, mein Freund; fahr hin und kehr
recht bald zurück. Wir alle grämen uns, wenn Du nicht da bist! Der
Frühling ist herrlich; wir haben die Balkontür schon vor vier Tagen
geöffnet; der Weg zum Gewächshaus war ganz trocken, und die Pfirsiche
standen in voller Blüte; nur hier und da noch Spuren von Schnee; die
Schwalben sind da, und heute hat Ljubotschka mir vom Spaziergang die
ersten Frühlingsblumen mitgebracht. Der Doktor sagt, in drei Tagen
wäre ich ganz gesund und könnte die frische Luft atmen und mich in
der Aprilsonne wärmen. Leb wohl, lieber Freund, beunruhige Dich bitte
nicht, weder über meine Krankheit, noch über Deine Verluste, sondern
bring Deine Angelegenheiten schnell zu Ende und komm mit den Kindern
den ganzen Sommer zu uns. Ich mache herrliche Pläne, wie wir ihn
verbringen wollen; zu ihrer Verwirklichung fehlst nur Du noch.«

Der folgende Teil des Briefes war mit ungleichmäßiger, enger Schrift,
französisch auf einem anderen Stück Papier geschrieben. Ich übersetze
ihn Wort für Wort:

»Glaub nicht, was ich Dir über meine Krankheit geschrieben habe;
niemand ahnt, wie ernst sie ist; nur ich weiß, daß ich nicht mehr vom
Bett aufstehen werde. Komm sofort, verlier keine Minute und bring die
Kinder mit. Vielleicht kann ich Dich noch einmal umarmen und sie
segnen; das ist mein letzter Wunsch. Ich weiß, welch schrecklicher
Schlag diese Nachricht für Dich ist; aber früher oder später, von mir
oder anderen würde er Dir doch zugefügt. Laß uns versuchen, dieses
Unglück mit Festigkeit und Ergebung in den Willen Gottes zu ertragen.
Hoffen wir auf seine Barmherzigkeit.

Glaub nicht, was ich Dir hier schreibe, seien Fieberphantasien einer
Kranken; im Gegenteil: meine Gedanken sind in diesem Augenblick
außerordentlich klar und ich bin ganz ruhig. Gib Dich nicht der
Hoffnung hin, ich hätte mich geirrt, es seien trügerische unklare
Vorgefühle einer ängstlichen Seele. Nein, ich fühle, ich weiß -- weiß
es deshalb, weil es Gott gefallen hat, mir alles zu offenbaren -- daß
ich nicht mehr lange zu leben habe.

Ob meine Liebe zu Dir und den Kindern mit dem Tode endet? Das sind
Zweifel, die mich stets gequält haben; jetzt aber weiß ich bestimmt,
daß das unmöglich ist. Ich fühle in diesem Augenblick meine Liebe zu
Euch zu deutlich, um glauben zu können, daß das Gefühl, ohne das ich
meine Existenz nicht begreife, jemals aufhören könnte. Meine Seele kann
ohne die Liebe zu Euch nicht existieren; ich weiß aber, daß sie schon
deswegen ewig bestehen wird, weil solch ein Gefühl wie meine Liebe
nicht entstehen könnte, wenn sie jemals aufhören müßte. Jetzt bin ich
fest überzeugt, daß, wenn ich nicht mehr bei Euch bin, meine Liebe doch
niemals aufhört und Euch nicht verläßt. Dieser Gedanke ist so tröstlich
für mein Herz, daß ich ruhig und ohne Furcht das Nahen des Todes
erwarte. Ich bin ruhig; Gott weiß, daß ich den Tod stets als Übergang
zu einem besseren Leben betrachtet habe; aber warum drohen Tränen mich
zu ersticken? Warum werden die Kinder der geliebten Mutter beraubt?
Warum wird Dir ein so schrecklicher, unerwarteter Schlag versetzt?
Warum muß ich sterben, obgleich die Liebe mein Leben so unendlich
glücklich gemacht hat? Warum? ... Sein heiliger Wille geschehe!

Ich kann vor Tränen nicht weiterschreiben. Vielleicht sehe ich Dich
nicht mehr; also danke ich Dir, mein teurer Freund, für alles Glück,
daß Du mir in diesem Leben gegeben hast; ich werde dort Gott bitten,
daß Er Dich belohnt. Leb wohl, lieber Freund, denk daran, daß, obgleich
ich nicht mehr bin, meine Liebe zu Dir Dich nie und nirgends verläßt.

Leb wohl, Wolodja; leb wohl, mein Engel; leb wohl mein Benjamin,
Nikolas! Werden die Kinder mich wirklich je vergessen?!« --

In diesem Brief lag ein gewandter und gefühlvoller Brief Mimis
folgenden Inhalts:

»~Les tristes sentiments dont elle vous parle ne sont que trop appuyés
par les paroles du docteur. Hier dans la nuit elle a demandé qu'on
envoie tout de suite cette lettre à la poste. Croyant que dans ce
moment elle était en délire, j'ai attendu jusqu'à ce matin et j'ai osé
la décacheter. A peine l'avais-je expédiée que Natalja Nikolajewna me
demanda ce que j'avais fait de la lettre, et m'ordonna de la brûler, si
elle n'était pas partie. Elle ne cesse d'en parier, même en délire et
prétend que cette lettre doit vous tuer.~

~Ne mettez donc pas de retard à votre voyage, si vous voulez voir cet
ange, avant qu'il vous quitte.~

~Excusez ce griffonage, je n'ai pas dormi trois nuits. Vous savez si je
l'aime!~«[2]

    [2] »Die schlimmen Vorgefühle, von denen sie Ihnen schreibt,
    werden nur zu sehr durch die Worte des Arztes bestätigt. Gestern
    nacht verlangte sie, dieser Brief sollte sofort zur Post geschickt
    werden. Im Glauben, sie spräche im Fieber, wartete ich bis heute
    morgen und nahm mir die Freiheit, den Brief zu öffnen. Kaum hatte
    ich ihn abgesandt, da fragte mich die gnädige Frau, was ich mit dem
    Brief angefangen, und befahl mir, ihn zu verbrennen, falls er nicht
    abgegangen sei. Sie spricht unaufhörlich von dem Brief, sogar im
    Fieber, und behauptet, er müsse Sie töten.

    Schieben Sie Ihre Reise nicht auf, wenn Sie diesen Engel noch
    einmal sehen wollen, bevor er Sie verläßt.

    Entschuldigen Sie diese Schmiererei -- ich habe drei Nächte nicht
    geschlafen. Sie wissen, wie lieb ich Sie habe!«

Natalie Sawischna, die vom 11. April die ganze Nacht in Mamas
Schlafzimmer verbracht hatte, erzählte mir, Mama hätte nach Beendigung
des ersten Teiles den Brief neben sich auf den Nachttisch gelegt und
sei eingeschlafen. »Ich selbst,« sagte Natalie Sawischna, »nickte im
Lehnstuhl ein, und der Strickstrumpf fiel mir aus der Hand. Da höre
ich im Schlaf -- es war so um ein Uhr -- daß sie mit jemandem spricht.
Ich öffne die Augen und sehe, daß mein Täubchen im Bett sitzt, hat die
Hände gefaltet und Tränen fließen in Strömen aus ihren Augen. ›Also ist
alles zu Ende,‹ sagt sie und bedeckt ihr Gesicht mit den Händen.

Ich sprang auf und fragte: ›Was ist Ihnen?‹

›Ach, Natalie Sawischna, wenn Sie wüßten, wen ich soeben gesehen habe!‹

Soviel ich auch fragte, sie sagte mir nichts weiter, befahl nur, den
Tisch heranzurücken, schrieb noch etwas, hieß mich den Brief in ihrer
Gegenwart siegeln und sofort befördern. Danach wurde es schlimmer und
schlimmer.«


28. Was uns auf dem Lande erwartete.

Am 15. April stiegen wir an der Treppe von Petrowskoie aus der
Reisekutsche.

Bei der Abfahrt aus Moskau war Papa sehr nachdenklich, und als Wolodja
ihn fragte, ob Mama vielleicht krank sei, blickte er ihn traurig an und
nickte mit dem Kopf. Unterwegs beruhigte sich Papa merklich; als wir
uns aber dem Hause näherten, wurde sein Gesicht immer trauriger, und
beim Aussteigen, als er den keuchend herumlaufenden Foka fragte: »Wo
ist meine Frau?« war seine Stimme unsicher, und in seinen Augen standen
Tränen. Der gute alte Foka schlug, nach einem verstohlenen Blick auf
uns, die Augen nieder, öffnete die Flurtür, wandte sich ab und sagte:

»Schon sechs Tage hat die gnädige Frau das Schlafzimmer nicht
verlassen.«

Milka, die, wie ich später erfuhr, seit dem Tage, an welchem Mama
erkrankte, unaufhörlich heulte, stürzte Papa freudig entgegen, sprang
an ihm in die Höhe, winselte, leckte ihm die Hände; aber er stieß sie
fort und ging ins Gastzimmer; von dort ins Diwanzimmer, dessen Tür
direkt ins Schlafzimmer führte. Je näher er diesem Zimmer kam, desto
deutlicher war seine Unruhe an der ganzen Körperhaltung zu erkennen.
Beim Eintritt ins Diwanzimmer ging er auf den Zehenspitzen, wagte kaum
zu atmen und bekreuzigte sich, bevor er den Griff der geschlossenen Tür
anzurühren wagte. Im selben Augenblick kam aus dem Korridor verweint
und unfrisiert Mimi gelaufen.

»Ach, Peter Alexandrowitsch!« flüsterte sie mit dem Ausdruck echter
Verzweiflung, und fügte dann, bemerkend, daß Papa die Türklinke
niederdrückte, kaum hörbar hinzu: »hier geht es nicht -- durchs
Kinderzimmer ist der Eingang.«

O, wie schwer wirkte das alles auf meine kindliche Phantasie, die
bereits von schrecklichen Vorahnungen erfüllt war.

Wir gingen ins Mädchenzimmer. Auf dem Korridor begegnete uns der
verrückte Akim, der uns stets durch seine Grimassen amüsiert hatte;
aber in diesem Augenblick schien er mir durchaus nicht lächerlich, ja
sein geistlos-gleichgültiges Gesicht berührte mich direkt schmerzlich.
Die beiden Mädchen im Mädchenzimmer saßen bei einer Arbeit; sie erhoben
sich bei unserem Anblick mit so gezwungen-traurigem Ausdruck, daß ich
mich über ihre Verstellung schrecklich ärgerte. Nachdem wir noch Mimis
Zimmer passiert hatten, öffnete Papa die Tür zum Schlafzimmer, und wir
traten ein.

Die beiden Fenster rechts von der Tür waren mit Holzschalen besetzt und
mit Tüchern verhängt. An einem Fenster saß Natalie Sawischna mit der
Brille auf der Nase, strickend. Sie küßte uns nicht wie gewöhnlich,
sondern stand nur auf und sah uns durch die Brille an, wobei ihr die
hellen Tränen aus den Augen flossen. Es gefiel mir gar nicht, daß alle
bei unserem Anblick weinten, während sie vordem ganz ruhig gewesen
waren.

Links von der Tür stand ein Wandschirm, dahinter das Bett, der
Nachttisch, ein Schränkchen mit Arzeneien und ein großer Sessel, auf
welchem der Doktor schlummerte. Neben dem Bett stand ein junges,
blondes, auffallend schönes Mädchen in weißem Morgenrock, die Ärmel
ein wenig aufgestreift, und legte Mama, die ich in diesem Augenblick
nicht sah, Eis auf den Kopf. Das war »~la belle Flamande~«, von der
Mama geschrieben hatte, und die später im Leben unserer Familie eine
so wichtige Rolle spielte. Sobald sie uns sah, nahm sie eine Hand von
Mamas Kopf und zog die Falten ihres Morgenrockes auf der Brust zurecht;
dann flüsterte sie traurig, fast unmerklich lächelnd: »Sie schläft
jetzt.«

Ich war in diesem Augenblick tief betrübt, bemerkte aber unwillkürlich
alle Einzelheiten; ich sah das an Papas Adresse gerichtete
verführerische Lächeln des Mädchens und den flüchtigen Blick, den Papa
dicht vor dem Bett auf ihre schönen, halb entblößten Arme warf.

Im Zimmer war es heiß, fast dunkel, und es roch gleichzeitig nach
Pfefferminz, Eau de Cologne, Kamillen und Hoffmannstropfen. Dieser
Geruch wirkte so auf mich, daß meine Phantasie, wenn ich ihn auch
nicht mehr spüre, sondern nur daran denke, mich unverzüglich in
dieses dunkle, schwüle Zimmer versetzt und mir die geringfügigsten
Einzelheiten dieser schrecklichen Minute in die Erinnerung zurückruft.

Mamas Augen waren offen, aber sie sah nichts. Nie werde ich diesen
schrecklichen Blick vergessen. Er drückte entsetzliche Leiden aus. Man
brachte uns fort.

Als ich später Natalie Sawischna nach Mamas letzten Augenblicken
fragte, erzählte sie mir: »Nachdem man euch weggebracht hatte, wälzte
sie sich noch lange hin und her, als wenn sie gerade hier an dieser
Stelle etwas drückte; dann sank ihr Kopf auf das Kissen, und sie
schlief so sanft und ruhig ein, wie ein himmlischer Engel.

Nur einen Augenblick bin ich hinausgegangen, um zu sehen, warum das
Getränk nicht kommt -- da hat sie, als ich zurückkomme, schon alles
auf dem Bett durcheinander geworfen und winkt den Papa zu sich heran;
der beugt sich über sie, sie hatte aber offenbar nicht mehr die Kraft
zu sagen, was sie wollte; sie öffnet nur die Lippen und beginnt wieder
zu stöhnen: ›Ach Gott, mein Gott! Die Kinder! Die Kinder!‹ Ich wollte
nach euch laufen, aber Iwan Wassilitsch hielt mich zurück und sagte, es
beunruhige sie nur noch mehr; lieber nicht. Dann hob sie nur noch die
Hand und ließ sie sinken; was sie damit sagen wollte, weiß Gott allein.
Ich denke mir, daß sie euch dadurch abwesend segnete, da Gott ihr nicht
beschieden hatte, vor ihrem Ende die Kinder noch einmal zu sehen.

Dann erhob sie sich, mein Täubchen, machte so mit der Hand und sprach
mit einer Stimme, daß ich nicht mehr daran denken kann, plötzlich:
›Mutter Gottes, verlaß sie nicht! ...‹

Dann trat ihr das Weh ans Herz -- man sah den Augen an, daß die Ärmste
sich schrecklich quälte; sie fiel auf die Kissen, biß in das Bettuch
und ihre Tränen flossen ununterbrochen.«

»Und dann?« fragte ich.

Natalie Sawischna konnte nicht weiter sprechen; sie wandte sich ab und
weinte bitterlich.

Mama starb unter schrecklichen Qualen.

Warum litt sie? Warum ...


29. Trauer.

Am nächsten Tage, spät abends, wollte ich sie noch einmal sehen. Das
unwillkürliche Angstgefühl überwindend, öffnete ich leise die Tür und
trat auf Zehenspitzen in den Saal.

Mitten im Zimmer stand der Sarg auf einem Tisch; ringsum
heruntergebrannte Lichter in hohen silbernen Leuchtern; in einer
entfernten Ecke saß der Küster und las halb im Schlaf mit leiser,
gleichmäßiger Stimme den Psalter.

Ich blieb an der Tür stehen und schaute hin; aber meine Augen waren so
verweint und meine Nerven so zerrüttet, daß ich nichts unterscheiden
konnte. Licht, Brokat, Samt, die hohen Leuchter, das spitzenbesetzte
rosa Kissen, das Stirnband, die Haube mit Bändern und noch etwas
Durchsichtiges, Wachsfarbenes -- alles floß ineinander. Ich stieg auf
einen Stuhl, um ihr Gesicht zu sehen; aber an der Stelle, wo es sein
mußte, war wieder das blaßgelbliche, durchsichtige Etwas. Ich konnte
nicht glauben, daß das ihr Gesicht sei; ich blickte unverwandt hin
und unterschied allmählich die bekannten, lieben Züge. Als ich mich
überzeugte, daß sie es war, fuhr ich vor Schreck zusammen. Warum waren
die geschlossenen Augen so eingefallen? Woher diese schreckliche Blässe
und der schwärzliche Fleck unter der durchsichtigen Haut auf einer
Wange? Warum war der ganze Gesichtsausdruck so streng und kalt? warum
die Lippen so blaß und ihre Linie so schön, majestätisch, überirdisch
ruhig, daß mich kalter Schreck bei ihrem Anblick überlief?

Ich schaute hin und fühlte, daß eine rätselhafte, unbezwingliche
Macht meine Blicke an dieses schöne, leblose Antlitz fesselte. Ich
wandte kein Auge von ihr, und meine Phantasie malte mir Bilder voll
Leben und Glück. Ich vergaß, daß der Leichnam, der vor mir lag und
den ich stumpfsinnig wie irgendeinen Gegenstand anstarrte, der nichts
mit meinen Erinnerungen zu tun hatte, -- sie war. Ich stellte mir
die Mutter bald in diesem, bald in jenem Zustande vor -- lebend,
heiter, lächelnd; dann überraschte mich plötzlich ein Zug in dem
blassen Gesicht, auf welches meine Blicke gerichtet waren -- mir
fiel die schreckliche Wirklichkeit ein, ich zuckte zusammen, wandte
aber die Augen nicht ab. Und wieder traten Träume an Stelle der
Wirklichkeit, und das Bewußtsein der Wirklichkeit zerstörte die Träume.
Endlich war die Phantasie ermüdet; sie betrog mich nicht mehr; das
Wirklichkeitsbewußtsein verschwand ebenfalls; ich war nicht mehr bei
mir selbst.

Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand dauerte, weiß nicht, worin er
bestand; ich weiß nur, daß ich eine Zeitlang das Bewußtsein meiner
Existenz verlor und einen unerklärlich hohen und zugleich traurigen
Genuß empfand.

Vielleicht blickte ihre reine Seele auf dem Fluge zur besseren Welt mit
Kummer auf diese hernieder, in der sie uns zurückließ; sie sah meinen
Schmerz, empfand Erbarmen mit ihm und ließ sich auf den allmächtigen
Schwingen der Liebe mit himmlischem Lächeln des Mitleids auf die Erde
nieder, um mich zu trösten und zu segnen.

Die Tür knarrte; ein Küster trat ein, um den anderen abzulösen. Dieses
Geräusch ernüchterte mich, und der erste Gedanke, der mir kam, war,
daß der Küster, da ich nicht weinte und in einer Stellung, die nichts
Rührendes an sich hatte, auf einen Stuhl gestiegen war, mich für einen
gefühllosen Jungen halten müsse, der aus Mutwillen oder Neugierde
hinaufgeklettert war. Infolgedessen bekreuzigte ich mich, verneigte
mich zur Erde und begann aus Gewohnheit zu weinen.

Wenn ich jetzt an meine Eindrücke denke, finde ich, daß nur diese
Minute des Selbstvergessens wirkliche Trauer war. Vor und nach dem
Begräbnis hörte ich nicht auf zu weinen und traurig zu sein; aber
ich schäme mich, an diese Traurigkeit zu denken, weil stets ein
eigennütziges Gefühl dabei war; bald der Wunsch zu zeigen, daß ich
trauriger sei als alle anderen, bald die Sorge um die Wirkung, die ich
auf andere ausübte; dann zwecklose Neugierde, die mich veranlaßte,
Betrachtungen über die Stiefel des Küsters, Mimis Haube und die
Gesichter der Anwesenden anzustellen. Ich verachtete mich, weil ich
nicht ausschließlich das eine Gefühl der Trauer empfand und suchte alle
anderen Gefühle zu verbergen; deswegen war meine Trauer unaufrichtig
und unnatürlich. Außerdem empfand ich eine Art Genuß im Bewußtsein
meines Unglücks, suchte dieses Bewußtsein in mir wachzurufen, und
dieses egoistische Gefühl erstickte am meisten dasjenige wahrer Trauer.

Nachdem ich diese Nacht, wie stets nach starkem Kummer, fest und ruhig
geschlafen, wachte ich mit getrockneten Tränen und beruhigten Nerven
auf. Um zehn Uhr wurden wir zur Totenmesse vor der Beerdigung geholt.
Das Zimmer war voll von Hofgesinde und Bauern, die unter Tränen von
ihrer Herrin Abschied nehmen wollten. Ich ärgerte mich über ihre Tränen
und traurigen Gesichter, ärgerte mich beim Gedanken, daß mein Weh
geradeso ausgedrückt wurde.

Während der Messe weinte ich, wie es sich gehört, bekreuzigte und
verneigte mich bis zur Erde; ich betete aber nicht und war im Herzen
ziemlich gleichgültig. Es verdroß mich, daß der neue Frack, den man
mir angezogen hatte, unter der Achsel kniff; ich achtete darauf, beim
Knien die Hose nicht zu beschmutzen und beobachtete insgeheim alle
Anwesenden. Papa stand am Kopfende des Sarges; er war blaß wie ein
Leinentuch und hielt nur mit merklicher Anstrengung die Tränen zurück.
Seine hohe Gestalt im schwarzen Frack, sein blasses, ausdrucksvolles
Gesicht und seine stets sicheren und ausdrucksvollen Bewegungen, wenn
er sich bekreuzigte, verbeugte, mit der Hand den Boden berührte, ein
Licht aus der Hand des Küsters entgegennahm oder an den Sarg trat
-- waren sehr effektvoll; aber ich weiß nicht wie es kam, mir gefiel
gerade das nicht, daß er in diesem Augenblick so schön und erhaben
sein konnte. Mimi stand gegen die Wand gelehnt und schien sich kaum
auf den Beinen zu halten; ihr Kleid war zerknüllt und voller Daunen,
die Haube auf die Seite gerutscht, die Augen rot und geschwollen, der
Kopf wackelte; sie schluchzte fortwährend herzzerreißend und bedeckte
ihr Gesicht häufig mit Schnupftuch und Händen. Mir kam es vor, als wenn
sie das tat, um ihr Gesicht vor den Zuschauern zu verbergen und einen
Augenblick von dem verstellten Schluchzen auszuruhen. Ich erinnerte
mich, daß sie tags zuvor Papa gesagt hatte, Mamas Tod sei für sie ein
so schwerer Schlag, daß sie ihn wahrscheinlich nicht ertragen würde;
er hätte ihr alles geraubt; der Engel (so nannte sie Mama) hätte sie
vor dem Tode nicht vergessen und den Wunsch geäußert, ihre und Katjas
Zukunft für immer zu sichern. Sie vergoß bittere Tränen bei dieser
Erzählung, und vielleicht war ihr Kummer aufrichtig; aber er war nicht
rein und selbstlos.

Ljubotschka im schwarzen Kleid mit Trauerbesatz senkte ihr verweintes
Köpfchen und blickte bisweilen auf den Sarg; dabei drückte ihr Gesicht
kindliche Furcht aus. Katja stand neben ihrer Mutter und war trotz des
verzogenen Gesichtes rosig wie immer.

Wolodja war bei seiner offenen Natur auch in der Trauer aufrichtig;
bald stand er nachdenklich, regungslos auf einen Gegenstand starrend;
dann wieder verzog sich plötzlich sein Mund, und er bekreuzigte und
verneigte sich schnell. Alle Fremden, die bei der Beerdigung zugegen
waren, kamen mir unerträglich häßlich vor. Die Trostworte, die sie Papa
sagten, -- ihr würde dort besser sein, sie wäre nicht für diese Welt
bestimmt -- erregten eine Art Wut in mir. Welches Recht hatten sie, von
ihr zu sprechen und zu jammern? Einige nannten uns Waisen. Als ob man
ohne sie nicht wüßte, daß Kinder, die keine Mutter haben, so benannt
werden. Es machte ihnen wahrscheinlich Vergnügen, uns zuerst so zu
nennen, wie man es eilig hat, ein Mädchen nach der Hochzeit mit »Frau«
anzureden.

In einer entfernten Saalecke, fast hinter der offenen Büfettür, lag ein
gebücktes, altes Weib auf den Knien. Mit gefalteten Händen, die Augen
gen Himmel gerichtet, betete sie ohne Tränen. Ihre Seele strebte zu
Gott; sie bat ihn, sie mit der zu vereinigen, die sie am meisten auf
der Welt geliebt hatte und hoffte bestimmt, daß das bald der Fall sein
würde.

Die hat sie wahrhaft geliebt, dachte ich und schämte mich.

Die Totenmesse war zu Ende; das Gesicht der Verstorbenen wurde
enthüllt, und alle Anwesenden, mit Ausnahme von uns, traten
nacheinander an den Sarg, um ihn zu küssen.

Als eine der letzten trat eine Bäuerin mit einem hübschen fünfjährigen
Mädchen auf dem Arm heran, das sie, Gott weiß warum, mitgebracht hatte.
In diesem Augenblick ließ ich unversehens mein feuchtes Taschentuch
fallen und wollte es aufheben. Kaum hatte ich mich gebückt, da drang
ein sonderbarer, durchdringender Schrei an mein Ohr, ein Schrei, der
solch fürchterliches Entsetzen ausdrückte, daß, wenn ich hundert Jahre
alt würde, ich ihn nie vergäße, und wenn ich daran denke, mir stets
kalte Schauer durch den Körper rinnen. Ich richtete mich auf -- auf
einem Schemel neben dem Sarg stand jene Bäuerin und konnte das kleine
Mädchen kaum auf den Armen halten; mit den Händen abwehrend und das
schreckensstarre Gesichtchen zurückgeworfen, hatte die Kleine ihre
Augen auf das Antlitz der Toten gerichtet und schrie mit entsetzlicher,
unnatürlicher Stimme. Da stieß ich einen wahrscheinlich noch
schrecklicheren Schrei aus und lief aus dem Zimmer.

Erst in diesem Augenblick begriff ich, woher der beklemmend starke
Geruch kam, der mit Weihrauchduft vermischt, das Zimmer erfüllte. Der
Gedanke, daß das vor einigen Tagen noch so schöne, zarte, von mir über
alles in der Welt geliebte Gesicht Abscheu und Schrecken einflößen
konnte, hatte mir zum erstenmal eine bittere Wahrheit enthüllt und
meine Seele mit Verzweiflung erfüllt.


30. Weitere, die letzten traurigen Erinnerungen.

Mama war nicht mehr; unser Leben aber ging ganz den alten Gang. Wir
gingen zu Bett und standen auf um dieselbe Zeit und in denselben
Zimmern; Morgentee, Abendtee, Mittagessen, Abendessen -- alles zur
gewohnten Zeit; Tische und Stühle standen auf demselben Fleck, nichts
im Hause, nichts an unserer Lebensweise hatte sich geändert; nur sie
war nicht mehr.

Mir schien aber, nach einem solchen Unglück müßte alles neue Form
annehmen; unsere gewöhnliche Lebenseinteilung kam mir wie eine
Beleidigung ihres Andenkens vor und erinnerte zu sehr an ihr Fehlen.
Jetzt liebe ich diese traurigen Erinnerungen; damals fürchtete ich sie
und suchte sie fernzuhalten.

Am Tage vor der Beerdigung wollte ich nach dem Mittagessen schlafen und
ging in Natalie Sawischnas Zimmer; dort wollte ich auf ihrem Bett, auf
dem weichen Daunenkissen unter der warmen Steppdecke ruhen. Als ich
eintrat, lag sie selbst auf dem Bett und schlief. Beim Geräusch meiner
Schritte erhob sie sich, warf die Wolldecke, mit der der Kopf zum
Schutz vor den Fliegen bedeckt war, zurück und setzte sich, die Haube
zurechtrückend und die Augen reibend, auf den Bettrand.

Da ich schon früher ziemlich häufig nach dem Essen in ihr Zimmer
gekommen war, um zu schlafen, erriet sie meine Absicht und sagte, sich
vom Bettrand erhebend: »Sie wollten sicher etwas ruhen, Liebling. Legen
Sie sich nur hin.«

»Was fällt Ihnen ein, Natalie,« sagte ich und faßte sie an der Hand,
»ich denke nicht daran ... bin nur so gekommen; Sie sind selbst müde,
legen Sie sich lieber hin.«

»Nein, Freundchen, ich habe schon ausgeschlafen,« sagte sie -- dabei
wußte ich, daß sie drei Tage und Nächte nicht geschlafen hatte. »Mir
ist auch jetzt nicht nach Schlafen zumute,« schloß sie mit einem tiefen
Seufzer.

Ich hatte den Wunsch, mit Natalie Sawischna über unser Unglück zu
sprechen; ich kannte ihre aufrichtige Liebe; deswegen war das Weinen
mit ihr für mich ein Trost.

»Natalie Sawischna,« sagte ich nach kurzem Schweigen und setzte mich
auf das Bett, »hatten Sie das erwartet?«

Die Alte sah mich verständnislos und neugierig an; wahrscheinlich
begriff sie nicht, weshalb ich sie danach fragte.

»Wer hätte das erwartet,« wiederholte ich.

»Ach, mein Kind,« sagte sie mit einem Blick zärtlichsten Mitgefühls,
»nicht erwartet -- ich kann auch jetzt noch nicht daran denken. Was
mich alte Frau betrifft, wäre es längst an der Zeit, die müden Knochen
zur Ruhe zu bringen, denn was habe ich nicht schon erlebt! Den alten
Herrn, Ihren Großvater, Gott hab ihn selig, den Fürsten Nikolai
Michailowitsch, zwei Brüder, meine Schwester Anuschka -- alle habe ich
begraben, und alle waren jünger als ich, mein Freund. Jetzt aber muß
ich, offenbar meiner Sünden wegen, auch noch sie überleben! Es war Sein
heiliger Wille! Er hat sie zu sich genommen, weil sie würdig war und
weil Er auch im Jenseits Gute braucht.«

Dieser einfache Gedanke tröstete mich; ich rückte näher an Natalie
Sawischna heran. Sie faltete die Hände auf der Brust und blickte
aufwärts; ihre eingefallenen feuchten Augen drückten tiefe, aber ruhige
Trauer aus. Ihre feste Hoffnung war, Gott würde sie nicht allzulange
von der trennen, auf die sie so viele Jahre die ganze Kraft ihrer Liebe
verwandt hatte.

»Ja, mein Liebling, es ist wohl schon lange her, daß ich sie gewiegt,
in Windeln gewickelt habe und daß sie mich ›Nascha‹ nannte. Wie oft
kam sie zu mir gelaufen, schlang ihre Arme um mich und plapperte unter
Küssen: ›Mein Naschachen, meine Süße, was bist du für eine Pute!‹ Ich
machte bisweilen Scherz und sagte: ›Nicht wahr, Liebling; du liebst
mich gar nicht; werde nur erst groß, dann heiratest du und vergißt
deine Nascha.‹ Dann dachte sie wohl nach: ›Nein,‹ meinte sie, ›ich will
lieber nicht heiraten, wenn ich Nascha nicht mitnehmen kann; Nascha
werde ich nie verlassen.‹ Nun hat sie es dennoch getan und hat nicht
auf mich gewartet. Und wie hat sie mich geliebt, die Verstorbene! Wen
hat sie überhaupt nicht geliebt? Ja, Liebling, Ihre Mutter dürfen Sie
nicht vergessen; sie war kein Mensch, sondern ein Engel vom Himmel.
Wenn ihre Seele im Himmelreich angekommen sein wird, wird sie euch auch
dort lieben und sich über euch freuen.«

»Warum sagen Sie: wenn sie angekommen sein wird, Natalie Sawischna? Ich
denke, sie ist jetzt schon da.«

»Nein, Liebling,« meinte Natalie, die Stimme dämpfend und rückte mir
auf dem Bette näher, »jetzt ist ihre Seele hier,« dabei deutete sie auf
die Zimmerdecke. Sie sprach fast im Flüsterton mit solcher Überzeugung,
daß ich unwillkürlich den Blick aufwärts richtete, den Fries ansah und
etwas suchte. »Sehen Sie, mein Liebling, das will ich Ihnen sagen,«
fuhr die Alte fort, »zwei Wochen nach dem Tode bleibt die Seele in
ihrem Hause und fliegt hier überall herum; nur sieht man sie nicht;
nach vierzehn Tagen hat sie die erste Prüfung zu bestehen, dann die
zweite, die dritte und so geht es vierzig Tage. Wenn sie alle bestanden
hat, erst dann läßt sie sich im Himmelreich nieder.«

Sie sagte das alles so einfach und zuverlässig, als wenn sie die
gewöhnlichsten Dinge erzählte, die sie selbst gesehen und die niemand
auch nur im geringsten bezweifeln könnte. Ich hörte ihr mit stockendem
Atem zu, und obgleich ich nicht recht verstand was sie sagte, glaubte
ich ihr vollkommen.

»Ja, mein Kind, jetzt ist sie hier, sieht auf uns und hört vielleicht,
was wir reden,« schloß Natalie Sawischna, senkte den Kopf und schwieg.
Sie mußte weinen; um die Tränen abzutrocknen, stand sie auf, sah
mir gerade ins Gesicht und sagte mit einer Stimme, die vor Erregung
zitterte: »Um wieviele Stufen hat Gott mich hierdurch sich näher
gebracht. Was bleibt mir jetzt noch übrig? Für wen soll ich leben? Wen
soll ich lieben?«

»Lieben Sie uns denn gar nicht?« rief ich vorwurfsvoll und enthielt
mich kaum der Tränen.

»Gott weiß, wie ich euch liebe, mein Täubchen; aber so wie sie kann und
werde ich niemanden mehr lieben.«

Sie konnte nicht weitersprechen, wandte sich ab und brach in lautes
Schluchzen aus.

Ich dachte nicht mehr an Schlaf; wir saßen uns schweigend gegenüber und
weinten beide.

Foka trat ins Zimmer; da er unseren Zustand bemerkte und wahrscheinlich
nicht stören wollte, blieb er schweigend mit schüchternen Blicken in
der Tür stehen.

»Was willst du, Foka?« fragte Natalie Sawischna, die Tränen trocknend.

»Anderthalb Pfund Rosinen, vier Pfund Zucker und drei Pfund Reis zum
Leichenschmaus.«

»Sofort, sofort, Freund,« sagte Natalie Sawischna, nahm schnell eine
Prise und trippelte zum Vorratskasten. Die letzten Spuren des durch
unsere Unterhaltung hervorgerufenen Kummers verschwanden, als sie ihre
Tätigkeit begann, die ihr wichtig erschien.

»Wozu vier Pfund?« fragte sie brummig, den Zucker hervorholend und auf
der Schnellwage abwiegend, »dreieinhalb Pfund sind genug,« dabei nahm
sie ein paar kleine Gewichtstücke fort.

»Was soll denn das heißen; gestern erst hab' ich acht Pfund Reis
ausgegeben, und nun wird schon wieder welcher verlangt. Mach, was du
willst, Foka Demidytsch, aber Reis gebe ich nicht. Wanka freut sich
wohl, daß im Hause alles drunter und drüber geht und denkt, man merkt
es nicht. Nein, mit dem Herrschaftsgut wird nicht geschleudert. Ist das
wohl erhört: acht Pfund Reis.«

»Was soll ich machen? Er sagt, alles sei draufgegangen.«

»Na, dann nimm! Er soll daran ersticken!«

Mich überraschte damals dieser plötzliche Übergang von der Rührung
in der Unterhaltung mit mir zur Brummigkeit und kleinlichen
Berechnung. Bei späterem Nachdenken verstand ich, daß Natalie trotz
der seelischen Erregung noch genug Geistesgegenwart besaß, um ihre
Arbeit zu verrichten, zu der die Macht der Gewohnheit sie hinzog. Der
Kummer wirkte so stark auf sie, daß sie es nicht für nötig hielt zu
verbergen, daß sie es vermöchte, sich auch noch mit anderen Dingen zu
beschäftigen; sie hätte wahrscheinlich gar nicht verstanden, wie man so
etwas denken könne.

Eitelkeit ist das mit aufrichtiger Trauer am wenigsten zu vereinigende
Gefühl; dabei ist diese Eigenschaft der menschlichen Natur so tief
eingeimpft, daß selbst die stärkste Trauer sie kaum unterdrücken kann.
Eitelkeit in der Trauer äußert sich in dem Wunsch, entweder sehr
betrübt, oder unglücklich, oder besonders fest zu erscheinen; und
dieses niedrige Verlangen, das wir nicht eingestehen, das uns aber
fast nie, selbst beim heftigsten Schmerz nicht verläßt, nimmt unserem
Kummer jede Kraft, Würde und Aufrichtigkeit. Natalie Sawischna war
von dem Unglück so tief betroffen, daß in ihrem Innern kein Wunsch
übriggeblieben war und daß sie nur aus Gewohnheit weiterlebte.

Nachdem sie Foka die verlangten Dinge ausgeliefert und an den Kuchen
erinnert hatte, der für die Popen gebacken werden müsse, entließ sie
ihn, nahm ihren Strumpf vor und setzte sich wieder neben mich.

Die Unterhaltung betraf wieder denselben Gegenstand; wir weinten
abermals und trockneten unsere Tränen.

Die Gespräche mit Natalie Sawischna wiederholten sich jeden Tag; ihr
stilles Weinen und die ruhigen frommen Reden verschafften mir Trost und
Erleichterung.

Aber bald wurden wir getrennt; drei Tage nach dem Begräbnis siedelten
wir mit dem ganzen Hause nach Moskau über, und es war mir nicht
bestimmt, Natalie je wiederzusehen.

Großmutter erfuhr die Schreckenskunde erst bei unserer Ankunft. Ihr
Schmerz war außerordentlich. Wir wurden nicht zu ihr gelassen, da
sie eine ganze Woche lang ohne Bewußtsein lag. Die Ärzte waren um ihr
Leben besorgt, weil sie nicht nur keine Arzenei nahm, sondern mit
niemandem sprach, nicht schlief und nichts genoß. Bisweilen saß sie
in ihrem Zimmer allein auf ihrem Sessel, begann plötzlich zu lachen,
dann ohne Tränen zu schluchzen, bekam Krämpfe und schrie unnatürlich
laut unsinnige oder schreckliche Worte. Es war der erste starke Kummer,
der sie traf, und dieser äußerte sich in Wut und Haß gegen Gott und
Menschen. Sie mußte jemanden haben, dem sie ihr Unglück zum Vorwurf
machte, und nun sprach sie entsetzliche Worte, fluchte Gott, ballte die
Fäuste, drohte jemandem heftig, sprang von ihrem Sessel auf, ging mit
großen schnellen Schritten durchs Zimmer und fiel dann ohnmächtig zu
Boden.

Einmal betrat ich ihr Zimmer. Sie saß wie gewöhnlich auf ihrem Sessel
und war anscheinend ruhig; aber ihr Blick machte mich stutzig. Die
Augen waren weit offen, der Ausdruck aber unbestimmt und stumpf; sie
sah mich gerade an, erkannte mich aber offenbar nicht. Ihre Lippen
begannen langsam zu lächeln, und sie sprach mit rührender, zarter
Stimme: »Komm her, mein Liebling, komm mein Engel ...«

Ich glaubte, sie spräche zu mir und trat näher; aber sie sah mich nicht
an.

»Ach, wenn du wüßtest, mein Herz, wie ich mich gequält habe und wie ich
mich freue, daß du gekommen bist ...« Da wurde mir klar, daß sie sich
einbildete, Mama zu sehen, und ich blieb stehen.

»Dabei hat man mir gesagt, du wärest nicht mehr,« fuhr sie
stirnrunzelnd fort. »Dieser Unsinn! Wie kannst du vor mir sterben!« Sie
lachte schrecklich, hysterisch.

Nur Menschen, die starker Liebe fähig sind, können schweres Leid
durchmachen; dieses Liebesbedürfnis aber bildet bei ihnen ein
Gegengewicht für Kummer und lindert ihre Schmerzen.

Daher kommt es, daß die moralische Natur des Menschen noch
lebenskräftiger ist als die physische, und daß Kummer niemals tötet.

Nach einer Woche war Großmutter imstande zu weinen, und ihr wurde
besser. Ihr erster Gedanke, als sie zu sich kam, waren wir; ihre Liebe
zu uns nahm noch zu. Wir wichen nicht von ihrem Sessel; sie weinte
still vor sich hin, sprach von Mama und streichelte uns zärtlich.

Niemandem, der Großmutters Kummer sah, konnte der Gedanke kommen, daß
sie ihn übertrieb. Der Ausdruck dieses Kummers war stark und rührend.
Trotzdem, ich weiß nicht wie es kam, fühlte ich mich mehr zu Natalie
Sawischna hingezogen, und ich bin bis jetzt überzeugt, daß niemand Mama
so rein und aufrichtig geliebt und beweint hat, wie dieses einfache,
hingebende Wesen.

Mit Mamas Tode endete für mich die glückliche Zeit der Kindheit,
und es begann eine neue Epoche -- die des Knabenalters. Da aber die
Erinnerungen an Natalie Sawischna, die ich nicht wieder sah, die aber
einen so starken und wohltätigen Einfluß auf meine Richtung und mein
Empfinden ausübte, der ersten Epoche angehören, will ich noch einige
Worte über Natalie und ihren Tod sagen.

Nach unserer Abreise litt sie, wie mir später Leute erzählten, die auf
dem Lande blieben, sehr unter der Untätigkeit. Obgleich alle Kisten und
Kasten unter ihrer Obhut standen, und sie unablässig darin kramte, sie
umpackte, wog, verteilte, fehlten ihr doch der Lärm und das Getriebe
des von der Herrschaft bewohnten Landhauses, an welche sie von kleinauf
gewöhnt war. Der Kummer, die veränderte Lebensweise und das Fehlen
der Sorgen entwickelten bei ihr bald eine Alterskrankheit, zu der sie
neigte. Gerade ein Jahr nach Mutters Tode bekam sie die Wassersucht und
legte sich ins Bett.

Ich glaube, das einsame Leben in dem großen, öden Hause von
Petrowskoie, ohne Verwandte und Freunde, wurde Natalie Sawischna
schwer. Und noch schwerer der Tod. Alle Hausangehörigen liebten und
verehrten Natalie, aber sie unterhielt mit niemandem Freundschaft und
war stolz darauf. Sie war der Meinung, daß bei ihrer Stellung als
Wirtschafterin, die das Vertrauen ihrer Herrschaft genoß und so viele
Kasten mit jeglichem Gut unter sich hatte, Freundschaft mit irgend
jemandem zu Parteilichkeit und strafbarer Nachlässigkeit führen müsse;
deswegen, oder vielleicht, weil sie mit der anderen Dienerschaft nichts
gemein hatte, hielt sie sich von allen fern und sagte, es gäbe für sie
weder Vettern noch Basen im Hause, und beim Gut der Herrschaft sähe sie
niemandem durch die Finger.

In heißem Gebet Gott ihre Gefühle anvertrauend, suchte und fand sie
Trost; bisweilen aber, in Augenblicken der Schwäche, der wir alle
unterliegen und in denen der beste Trost für Menschen Tränen und die
Teilnahme eines lebenden Wesens sind, -- nahm sie ihren Mops ins
Bett, der ihr die Hände leckte und seine klugen, gelben Augen auf sie
richtete. Mit dem sprach sie, weinte leise und streichelte ihn. Wenn
der Hund jämmerlich zu heulen begann, suchte sie ihn zu beruhigen und
sagte: »Hör schon auf; ich weiß auch ohne dich, daß ich bald sterbe.«

Einen Monat vor ihrem Tode holte sie aus ihrem Kasten weißen Kattun,
weißen Tüll und rosa Band hervor, nähte sich mit Hilfe ihres Mädchens
ein weißes Gewand und eine Haube und traf bis auf die kleinsten
Einzelheiten alle Anordnungen für ihr Begräbnis. Ferner ordnete sie
die Kisten der Herrschaft und übergab den Inhalt mit peinlicher
Gewissenhaftigkeit nach einem Verzeichnis der Frau des Hausverwalters.
Dann holte sie zwei seidene Kleider, einen uralten Schal, den
Großmutter ihr einst geschenkt, und Großvaters goldgestickte, ihr
ebenfalls vermachte Uniform hervor. Dank ihrer Sorgsamkeit waren
Stickerei und Tressen an der Uniform noch ganz wie neu und das Tuch
nicht von Motten berührt.

Vor ihrem Ende äußerte sie den Wunsch, das eine Kleid, das rosa,
sollte Wolodja zu einem Schlafrock oder Halbrock haben; das andere,
gewürfelte, ich zum selben Zweck, und den Schal -- Ljubotschka. Die
Uniform setzte sie dem von uns aus, der zuerst Offizier wurde. Alle
übrige Habe und das Geld, mit Ausnahme von vierzig Rubeln, die sie
zum Begräbnis und Messelesen bestimmte, sollte ihr Bruder bekommen.
Dieser schon längst freigelassene Bruder wohnte in einem entfernten
Gouvernement und führte ein sehr liederliches Leben. Deswegen hatte sie
bei Lebzeiten keinerlei Verkehr mit ihm. Als er kam, um die Erbschaft
in Empfang zu nehmen und es sich herausstellte, daß das ganze Vermögen
der Verstorbenen in fünfundzwanzig Papierrubeln bestand, wollte er das
nicht glauben und sagte, es sei unmöglich, daß eine Frau, die sechzig
Jahre in einem vornehmen Hause gelebt, alles unter Händen gehabt, stets
geknausert und jeden Lappen benutzt hätte, nichts hinterlassen haben
sollte. Es war aber wirklich so.

Natalie Sawischna war zwei Monate krank gewesen und hatte ihre Leiden
mit wahrhaft christlicher Geduld ertragen; sie murrte nicht, jammerte
nicht, sondern rief nur, ihrer Gewohnheit nach, unaufhörlich Gott an.
Eine Stunde vor ihrem Tode beichtete sie mit stiller Freude und bekam
das Abendmahl und die heilige Ölung.

Alle Hausbewohner bat sie um Vergebung für Kränkungen, die sie ihnen
zugefügt haben könnte, und ersuchte ihren Beichtvater, uns allen zu
übermitteln, daß sie nicht wüßte, wie sie uns für alle Liebe danken
sollte und daß sie uns um Verzeihung bäte, wenn sie in ihrer Dummheit
jemandem Kummer bereitet hätte. »Eine Diebin bin ich nie gewesen,
und ich darf wohl sagen, daß ich keinen Heller vom Herrschaftsgut
veruntreut habe.« Das war die einzige Eigenschaft, die sie an sich
schätzte.

Nachdem sie das selbstbereitete Gewand angelegt und die Haube
aufgesetzt hatte, sprach sie, auf das Kissen gestützt, bis zum Tode
unaufhörlich mit dem Geistlichen; ihr fiel ein, daß sie den Armen
nichts hinterlassen hätte; sie holte zehn Rubel hervor und bat, sie im
Kirchspiel zu verteilen. Dann bekreuzigte sie sich, legte sich hin und
hauchte, den Namen Gottes auf den Lippen, ihren letzten Seufzer aus.

Sie schied ohne Bedauern aus dem Leben und hatte keine Furcht vor dem
Tode, sondern nahm ihn als eine Wohltat hin. Wie oft wird das gesagt
und wie selten geschieht es in Wirklichkeit! Natalie Sawischna konnte
den Tod nicht fürchten, weil sie in unerschütterlichem Glauben starb
und die Gebote des Evangeliums erfüllt hatte. Ihr ganzes Leben, seit
sie das egoistische Gefühl gegen Foka (es war ihre Liebe) unterdrückt
hatte, bestand aus reiner, uneigennütziger Hingabe und Aufopferung.
Wenn auch ihr Glaube erhabener, ihr Leben höheren Zielen hätte
zugewandt sein können -- ist diese reine Seele deswegen etwa weniger
der Liebe und Bewunderung wert?

Sie hat das beste und höchste Werk in diesem Leben vollbracht, sie
ist ohne Bedauern und ohne Furcht gestorben. Was gehen uns ihre
Gewohnheiten und ihre Glaubensrichtung an? Genug, daß sie gut starb.

Großer Gott! Schick mir ebensolchen Aberglauben, solche Sorgen um
Kleinigkeiten, solche Irrungen und ebensolchen Tod!

Auf ihren Wunsch wurde sie unweit der Kapelle bei Mamas Grab beerdigt.
Der von Brennesseln und Kletten überwucherte Hügel, unter dem sie
liegt, ist von einem schwarzen, durch Regen grau gewordenen Holzgitter
eingefaßt; ich vergesse niemals von der Kapelle zu diesem Gitter zu
gehen und dort mein Gebet zu verrichten. Bisweilen tauchen in meiner
Seele plötzlich traurige Erinnerungen an Natalie auf; mir kommt der
Gedanke, daß ich in diesem Leben nie wieder solch zarte, liebende Seele
treffen werde, und obgleich die Vorübergehenden mich erstaunt ansehen,
bleibe ich schweigend vor dem schwarzen Gitter stehen, und bittere
Tränen fließen aus meinen Augen.


Beilage I.

Zu Kapitel 8: »Die Jagd«.

Was ist an der Jagd mit Hunden schön.

Warum wird die Jagd mit Hunden, dieses unschuldige,
gesundheitfördernde, schöne, anziehende Vergnügen von den meisten
Stadt- und Landbewohnern so verachtet? »Mit Hunden jagen« sagen die
Städter; »Hasen hetzen« die Landbewohner. Was ist Schlimmes dabei? Wem
bringt es Schaden? Da wird gesagt: man ruiniert sich, man richtet sich
zugrunde! -- Es kommt dem Gutsbesitzer weit billiger, sich das ganze
Jahr eine ordentliche Jagd zu halten, als zwei Herbstmonate in der
Residenz, in einer Gouvernements- oder Bezirksstadt zuzubringen. Er
würde diese zwei Monate aus Langerweile sicher dort zubringen, weil er
während dieser Zeit auf dem Lande nichts zu tun hat. Zugrunde richten
sich nur diejenigen, die wie wahnsinnig darauflosgaloppieren; und das
tun wieder nur Leute, die keine Jäger sind.

Ferner heißt es: »Was ist denn für ein Vergnügen an der Hetzjagd?«
Darauf erwidere ich: Im Jahre 18.., am 8. November, am Tage des
heiligen Michael um acht Uhr morgens fuhr Fräulein ..., ein Mädchen
in vorgerücktem Alter und von respektgebietendem Äußern in einem
verdeckten Schlitten aus dem Dorf ihres Bruders, des Herrn ... Sie
wäre schon tags vorher gefahren, aber es war Tauwetter und starker
Schneefall eingetreten, der erst eine Stunde vor Sonnenaufgang
nachließ. Die Prophezeiungen der Jäger für den Michaeltag erwiesen sich
richtig; es war ein ausgezeichneter Spürschnee. Herr ... war Jäger.
Der Reitknecht brachte ihm sein Pferd, bestieg selbst das seine, pfiff
den Barsois (russische Windhunde), die sich im Neuschnee wälzten und
herumspielten, und ritt hinter dem Schlitten ins Freie. Er hatte noch
keine zwanzig Faden zurückgelegt, als er rechts vom Wege eine Hasenspur
erblickte, die in dem lockern Schnee so deutlich abgedrückt war, daß
man jede Zehe erkennen konnte. Die Spur führte zur Tenne. Herr ...
verfolgte sie. Jetzt verdoppelte sie sich ... Plötzlich ein »Haken«,
wieder eine doppelte Spur, noch ein Haken, und dann lief alles so
durcheinander, daß Herr ... sich schweigend nach seinem Reitknecht
umsah; beide waren ratlos. Der Reitknecht blickte eine Minute zur
Seite, pfiff leise und deutete mit der Hetzpeitsche auf einen kleinen
Punkt im Schnee; da war eine Sprungspur, alle vier Pfoten zusammen,
dann wieder ein Sprung, die Pfoten schon weiter auseinander, und dann
verlief die Spur gerade weiter. Nochmals eine Verdoppelung -- da sprang
plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, ein Waldhase mit silbergrauem
Rücken auf. Die Hunde hinterher; er rannte auf den Weg und schoß
direkt auf den Schlitten zu, der in kurzem Trabe vorauffuhr. Fräulein
... hörte, daß hinten gehetzt wurde, ließ anhalten und stieg aus dem
Schlitten, um die Jagd besser beobachten zu können. Als sie auf den Weg
trat, war der Hase nicht mehr als zwanzig Schritte von ihr entfernt.
Da sie sah, daß das Tier so in der Nähe war und direkt auf sie zulief,
kreischte Fräulein ... laut auf und setzte sich, alle Anstandsregeln
vergessend, mit ausgebreitetem Überwurf wie eine Gluckhenne mitten
auf den Weg. Wahrscheinlich wollte sie den unerfahrenen Hasen mit
ihrem Überwurf zudecken, wenn er an sie herankäme. Leider gelang diese
List nicht; denn als das Tier die Dame in der sonderbaren Stellung
erblickte, ahnte es wahrscheinlich ihre hinterlistigen Gedanken und
entsprang, die Ohren zusammenlegend, mit einem Satz den Hunden und
stürmte ins freie Feld. Fräulein ..., die plötzlich all ihre Pläne
zerstört sah, kreischte durchdringend: »Ai, ai, haltet ihn, haltet
ihn!« nahm ihren Überwurf zusammen und rannte hinterher. Neben dem Wege
waren aber Schneewehen, außerdem war der Überwurf aus Fuchsfell schwer,
und die weißen Filzstiefel rutschten fortwährend von den Füßen. Sie
konnte nicht weiterlaufen, bekam solches Asthma und wurde so erschöpft,
daß sie in den Schnee fiel und nur noch sagen konnte: »Was wollt
ihr, Leute? Ich freue mich ja so, kann aber nicht mehr.« Sie wurde
aufgehoben und in den Schlitten gesetzt; sie konnte vor Müdigkeit kein
Wort herausbringen, lächelte aber.

In unserer Gouvernementsstadt wohnte ein Kaufmann Podjemschikow; er
stand mit dem Vater in Geschäftsverbindung; dieser hatte ihn wegen
seiner Redlichkeit und Akkuratesse sehr gern; die Jagd dagegen liebte
P. nicht, sondern äußerte sich über Jäger stets verächtlich.

Einmal überredete ihn der Vater, mit auf die Jagd zu reiten. Er zog
seinen langschößigen Kaftan an, bestieg sein Jagdpferd, und die ganze
Gesellschaft machte sich auf den Weg. Die Jagd war zunächst kläglich,
und das verächtliche Lächeln wich nicht von seinem Gesicht. Endlich
kam unmittelbar neben ihm ein weißer Hase auf. Ich folgte ihm während
der Hatz, um zu sehen, welchen Eindruck das auf ihn machte. Er
galoppierte wie verrückt und stieß bisweilen durchdringendes Geschrei
aus; als aber die Hunde den Hasen eingekreist und, wie die Jäger sich
ausdrücken, gestellt hatten, kannte sein Entzücken keine Grenzen mehr;
er galoppierte immer weiter, stürmte aufs freie Feld und erstickte fast
vor Lachen.

Die Hetzjagd war ausgesucht herrlich. Der von allen Seiten eingekreiste
Hase machte einen Salto mortale, und ein Hund packte ihn in der Luft.

Trotzdem man dem Herrn von allen Seiten zuschrie: »Reiten Sie die Hunde
nicht nieder!« galoppierte er gerade an die Stelle, wo der Hase gepackt
war; nicht imstande, sich vor Lachen im Sattel zu halten, fiel er vom
Pferde mitten zwischen die Hunde und fuhr, auf der Erde liegend, mit
seinem unnatürlichen, aber schon klanglosen Lachen fort. Man hatte
Mühe, ihn zu beruhigen. Worüber er eigentlich lachte, ist unbekannt.


Beilage II.

Fortsetzung des Kapitels 26: »Im Bett.«

In diesem Augenblick ertönte auf der Treppe starkes Poltern -- als
wenn etwa fünf Leute in schweren Stiefeln einen leblosen, schweren
Gegenstand nach oben trugen; gleichzeitig hörte man Worte, Töne,
die an Karl Iwanowitschs Stimme erinnerten, doch waren diese bald
unnatürlich-lauten und durchdringenden, bald schwächer und undeutlich
werdenden Töne im höchsten Grade sonderbar.

Als der Lärm näher kam, konnte man deutlich die ehrerbietige Stimme
Nikolas vernehmen, der sagte: »Erlauben Sie, Karl Iwanowitsch, ich will
nur die Galoschen ausziehen. Sawelij, hilf doch!« rief dieselbe Stimme
geschwinder. Dann plumpste etwas Schweres auf den Boden und eine Minute
lang war alles still.

»Ach, Bruder, wohin bist du geraten?« sagte Nikolas dann vorwurfsvoll.
»Also jetzt: angefaßt, hoch!«

Dann erkannte ich deutlich die Stimme Karl Iwanowitschs, obgleich er
wie mit einem Mund voll Grütze sprach. Er sagte: »Wo bin ich, ah?«

»Gut, sehr gut! Danke Ihnen, Nikolas ...«

»Was soll das! Ihr schlagt mich tot. Ihr Schufte!« heulte er plötzlich.
Entsetzt starrten Wolodja und ich uns an und wagten nicht, uns zu
rühren.

Die Schritte kamen merklich näher und an seinem leichten Knarren hätte
man Karl Iwanowitsch schon erkannt; das Getrampel aber, das diese
Schritte hervorriefen, glich eher dem Gestampf von Pferdehufen als
Menschengang.

»Habe ich Sie beleidigt, Nikolas?« sagte Karl Iwanowitsch. »Verzeihen
Sie mir, geben Sie mir einen Kuß, Nikolas.«

Wahrscheinlich umarmte Karl Iwanowitsch hierbei Nikolas, denn man
hörte ein Geräusch und Nikolas rief halb erstickt: »Erlauben Sie, aber
erlauben Sie doch!«

»Gib mir ein Licht, Nikolas; ich wei--eiß, ich kenne meine Pflicht; war
meinen Freund besuchen -- Madame Schönheit hatte Geburtstag. Was ist
denn? Ich weiß, daß ich betrunken bin, aber ich kenne meine Pflicht:
muß nach den Kindern sehen; gib mir doch ein Licht.«

»Da ist eins.«

Ein paar Sekunden nach diesem Gespräch trat Karl Iwanowitsch mit
brennendem Talglicht, das er nicht am Leuchter, sondern in der Mitte
hielt, mit gerunzelten, unaufhörlich zuckenden Brauen und feuchtem,
verzerrten Munde, schwankend mit ungleichen Schritten in die Tür.

Wo waren der stets in Karl Iwanowitschs Gesicht zu lesende Ausdruck
erhaben-ruhiger Wichtigkeit und das Bewußtsein der eigenen Würde
geblieben? Die Halsbinde, in die sich morgens so akkurat sein rasiertes
Kinn geschmiegt, war vollständig umgedreht (die Schnalle saß vorn);
die weiße Weste, das Vorhemd, das Großmutters Mädchen soviel Mühe
verursacht, und die weiße Hose waren mit irgendeiner Flüssigkeit
begossen; der blaue Frack mit Puffen auf der Schulter hatte weniger als
die anderen Kleidungsstücke gelitten, sah aber ebenfalls unordentlich
und nachlässig aus. Das graue Haar bedeckte nicht, wie gewöhnlich, die
kahle Platte, sondern fiel in langen Strähnen auf den Frackkragen.
Karl Iwanowitsch war um einen ganzen Zoll kleiner geworden und sah
schrecklich mager aus. Man sah, daß er alle Kraft zusammennahm, um
das Gesicht ruhig zu halten und gerade zu gehen, trotzdem zuckten die
Brauen ununterbrochen, die Backen wurden aufgeblasen und eingezogen und
die störrischen Beine strebten stets in verkehrter Richtung. Nikolas
ging neben ihm und hielt für alle Fälle eine Hand auf seinem Rücken,
die andere -- am Licht.

Als Karl Iwanowitsch zwischen unsere Betten trat und mit drohenden
Blicken stehenblieb, taten wir beide, als ob wir schliefen. Als er
sich hiervon überzeugt hatte, stemmte er beide Hände, auch die mit dem
Licht, gegen die Wand und ließ den Kopf hängen.

Der Talg floß die Wand entlang, das Licht erlosch, der glimmende Docht
blieb in seiner Hand und verbrannte sie wahrscheinlich sehr stark; er
aber betrachtete sie mit trüben Blicken höchst kaltblütig, und als das
Licht ganz erloschen war, wandte er seine Aufmerksamkeit ausschließlich
auf mich und lächelte still vor sich hin. »Liebe Kinder,« begann er mit
gütigem Lächeln und herzlichem Ausdruck. In diesem Augenblick hörte
ich erschreckt in seinem Innern ein sonderbares Geräusch; Nikolas
und Sawelij faßten ihn unter den Armen und führten ihn schnell ins
Nebenzimmer.

Nun ist Karl Iwanowitsch ganz verkommen, dachte ich.


            +Ende+.

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    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend
    korrigiert.

    Korrekturen (das korrigierte Wort ist in {} eingeschlossen):

    S. 32 Petroskoie → Petrowskoie
      die Nase nach {Petrowskoie} hineinsteckten

    S. 32: weist → weißt
      Du {weißt} nicht, Liebe, was das für Leute sind

    S. 32: Gutssitzer → Gutsbesitzer
       Ein {Gutsbesitzer}, den ich danach fragte,

    S. 43 korrigieren → Korrigieren
      so begann sie auch schon mit ihrem {Korrigieren}

    S. 87: bei → beim
      und rief mich {beim} Namen

    S. 97: und und → und
      starrten nach allen Seiten {und} gaben meinem Gesicht

    S. 103: Iwanowisch → Iwanowitsch
      sagte Papa ziemlich kurz zu Karl {Iwanowitsch}

    S. 133: Gastimmer → Gastzimmer
      Serjoschas Anwesenheit im {Gastzimmer}

    S. 170: knien → Knien
      beim {Knien} die Hose nicht zu beschmutzen





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