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Title: Unterm Rad
Author: Hesse, Hermann
Language: German
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                         Fischers Bibliothek
                       zeitgenössischer Romane



                              Unterm Rad


                              Roman von
                            Hermann Hesse

                      S. Fischer, Verlag, Berlin

     Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.



                            Erstes Kapitel


Herr Joseph Giebenrath, Zwischenhändler und Agent, zeichnete sich durch
keinerlei Vorzüge oder Eigenheiten vor seinen Mitbürgern aus. Er besaß
gleich ihnen eine breite, gesunde Figur, eine leidliche kommerzielle
Begabung, verbunden mit einer aufrichtigen, herzlichen Verehrung des
Geldes, ferner ein kleines Wohnhaus mit Gärtchen, ein Familiengrab auf
dem Friedhof, eine etwas aufgeklärte und fadenscheinig gewordene
Kirchlichkeit, angemessenen Respekt vor Gott und der Obrigkeit und
blinde Unterwürfigkeit gegen die ehernen Gebote der bürgerlichen
Wohlanständigkeit. Er trank manchen Schoppen, war aber niemals
betrunken. Er unternahm nebenher manche nicht einwandfreie Geschäfte,
aber er führte sie nie über die Grenzen des formell Erlaubten hinaus. Er
schimpfte ärmere Leute Hungerleider, reichere Leute Protzen. Er war
Mitglied des Bürgervereins und beteiligte sich jeden Freitag am
Kegelschieben im »Adler«, ferner an jedem Backtag sowie an den Voressen
und Metzelsuppen. Er rauchte zur Arbeit billige Zigarren, nach Tisch und
Sonntags eine feinere Sorte.

Sein inneres Leben war das des Philisters. Was er etwa an Gemüt besaß,
war längst staubig geworden und bestand aus wenig mehr als einem
traditionellen, barschen Familiensinn, einem Stolz auf seinen eigenen
Sohn und einer gelegentlichen Schenklaune gegen Arme. Seine geistigen
Fähigkeiten gingen nicht über eine angeborene, streng abgegrenzte
Schlauheit und Rechenkunst hinaus. Seine Lektüre beschränkte sich auf
die Zeitung, und um seinen Bedarf an Kunstgenüssen zu decken, war die
jährliche Liebhaberaufführung des Bürgervereins und zwischenhinein der
Besuch eines Zirkus hinreichend.

Er hätte mit jedem beliebigen Nachbarn Namen und Wohnung vertauschen
können, ohne daß irgend etwas anders geworden wäre. Auch das Tiefste
seiner Seele, das schlummerlose Mißtrauen gegen jede überlegene Kraft
und Persönlichkeit und die instinktive, aus Neid erwachsene
Feindseligkeit gegen alles Unalltägliche, Freiere, Feinere, Geistige
teilte er mit sämtlichen übrigen Hausvätern der Stadt.

Genug von ihm. Nur ein tiefer Ironiker wäre der Darstellung dieses
flachen Lebens und seiner unbewußten Tragik gewachsen. Aber dieser Mann
hatte einen einzigen Knaben, und von dem ist zu reden.

Hans Giebenrath war ohne Zweifel ein begabtes Kind; es genügte, ihn
anzusehen, wie fein und abgesondert er zwischen den andern herumlief.
Das kleine Schwarzwaldnest zeitigte sonst keine solchen Figuren, es war
von dort nie ein Mensch ausgegangen, der einen Blick und eine Wirkung
über das Engste hinaus gehabt hätte. Gott weiß, wo der Knabe die
ernsthaften Augen und die gescheite Stirn und das Feine im Gang her
hatte. Vielleicht von der Mutter? Sie war seit Jahren tot und man hatte
zu ihren Lebzeiten nichts Auffallendes an ihr bemerkt, als daß sie ewig
kränklich und bekümmert gewesen war. Der Vater kam nicht in Betracht.
Also war wirklich einmal der geheimnisvolle Funke von oben in das alte
Nest gesprungen, das in seinen acht bis neun Jahrhunderten so viele
tüchtige Bürger, aber noch nie ein Talent oder Genie hervorgebracht
hatte.

Ein feiner und modern geschulter Beobachter hätte, sich an die
schwächliche Mutter und an das stattliche Alter der Familie erinnernd,
von Hypertrophie der Intelligenz als Symptom einer einsetzenden
Degeneration sprechen können. Aber die Stadt war so glücklich, keine
Leute von dieser Sorte zu beherbergen, und nur die Jüngeren und
Schlaueren unter den Beamten und Schulmeistern hatten von der Existenz
des »modernen Menschen« durch Zeitschriftenartikel eine unsichere Kunde.
Man konnte dort noch leben und gebildet sein, ohne die Reden
Zarathustras zu kennen; die Ehen waren solid und oft glücklich und das
ganze Leben hatte einen unheilbar altmodischen Habitus. Die
warmgesessenen, wohlhabenden Bürger, von denen in den letzten zwanzig
Jahren manche aus Handwerkern zu Fabrikanten geworden waren, nahmen zwar
vor den Beamten die Hüte ab und suchten ihren Umgang, unter sich nannten
sie sie aber Hungerleider und Schreibersknechte. Seltsamerweise kannten
sie trotzdem keinen höheren Ehrgeiz als den, ihre Söhne womöglich
studieren und Beamte werden zu lassen. Leider blieb dies so gut wie
immer ein schöner, unerfüllter Traum, denn der Nachwuchs kam zumeist
schon durch die Lateinschule nur mit großem Ächzen und wiederholtem
Sitzenbleiben hindurch.

Über Hans Giebenraths Begabung gab es keinen Zweifel. Die Lehrer, der
Rektor, die Nachbarn, der Stadtpfarrer, die Mitschüler und jedermann gab
zu, der Bub sei ein feiner Kopf und überhaupt etwas Besonderes. Damit
war seine Zukunft bestimmt und festgelegt. Denn in schwäbischen Landen
gibt es für begabte Knaben, ihre Eltern müßten denn reich sein, nur
einen einzigen schmalen Pfad: durchs Landexamen ins Seminar, von da ins
Tübinger Stift und von dort entweder auf die Kanzel oder aufs Katheder.
Jahr für Jahr betreten drei bis vier Dutzend Landessöhne diesen stillen,
sicheren Weg, magere, überarbeitete Neukonfirmierte, durchlaufen auf
Staatskosten die verschiedenen Gebiete des humanistischen Wissens und
treten acht oder neun Jahre später den zweiten, meist längeren Teil
ihres Lebensweges an, auf welchem sie dem Staate die erlittenen
Wohltaten heimbezahlen sollen.

In wenigen Wochen sollte das »Landexamen« wieder stattfinden. So heißt
die jährliche Hekatombe, bei welcher »der Staat« die geistige Blüte des
Landes auswählt und während deren Dauer aus Städtchen und Dörfern
Seufzer, Gebete und Wünsche zahlreicher Familien sich nach der
Hauptstadt richten, in deren Schoß die Prüfung vor sich geht.

Hans Giebenrath war der einzige Kandidat, den das Städtlein zum
peinlichen Wettbewerb zu entsenden dachte. Die Ehre war groß, doch hatte
er sie keineswegs umsonst. An die Schulstunden, die täglich bis vier Uhr
dauerten, schloß sich die griechische Extralektion beim Rektor an, um
sechs war dann der Herr Stadtpfarrer so freundlich, eine
Repetitionsstunde in Latein und Religion zu geben, und zweimal in der
Woche fand nach dem Abendessen noch eine einstündige Unterweisung beim
Mathematiklehrer statt. Im Griechischen wurde nächst den unregelmäßigen
Zeitwörtern hauptsächlich auf die in den Partikeln auszudrückende
Mannigfaltigkeit der Satzverknüpfungen Wert gelegt, im Latein galt es
klar und knapp im Stil zu sein und namentlich die vielen prosodischen
Feinheiten zu kennen, in der Mathematik wurde der Hauptnachdruck auf
komplizierte Schlußrechnungen gelegt. Dieselben seien, wie der Lehrer
häufig betonte, zwar scheinbar ohne Wert fürs spätere Studium und Leben,
jedoch eben nur scheinbar. In Wirklichkeit waren sie sehr wichtig, ja
wichtiger als manche Hauptfächer, denn sie bilden die logischen
Fähigkeiten aus und sind die Grundlage alles klaren, nüchternen und
erfolgreichen Denkens.

Damit jedoch keine geistige Überlastung eintrete und damit nicht etwa
über den Verstandesübungen das Gemüt vergessen werde und verdorre,
durfte Hans jeden Morgen, eine Stunde vor Schulbeginn, den
Konfirmandenunterricht besuchen, wo aus dem Brenzischen Katechismus und
aus dem anregenden Auswendiglernen und Aufsagen der Fragen und Antworten
ein erfrischender Hauch religiösen Lebens in die jugendlichen Seelen
drang. Leider verkümmerte er sich diese erquickenden Stunden selbst und
beraubte sich ihres Segens. Er legte nämlich heimlicherweise
beschriebene Zettel in seinen Katechismus, griechische und lateinische
Vokabeln oder Übungsstücke, und beschäftigte sich fast die ganze Stunde
mit diesen weltlichen Wissenschaften. Doch war immerhin sein Gewissen
nicht so abgestumpft, daß er dabei nicht fortwährend eine peinliche
Unsicherheit und ein leises Angstgefühl empfunden hätte. Wenn der Dekan
in seine Nähe trat oder gar seinen Namen rief, zuckte er jedesmal scheu
zusammen, und wenn er eine Antwort geben mußte, hatte er Schweiß auf der
Stirn und Herzklopfen. Die Antworten aber waren tadellos richtig, auch
in der Aussprache, und darauf gab der Dekan sehr viel.

Die Aufgaben, zum Schreiben oder zum Auswendiglernen, zum Repetieren und
Präparieren, die sich tagsüber von Lektion zu Lektion ansammelten,
konnten dann am spätern Abend bei traulichem Lampenlicht zu Hause
erledigt werden. Dieses stille, vom häuslichen Frieden segensreich
umhegte Arbeiten, dem der Klassenlehrer eine besonders tiefe und
fördernde Wirkung zusprach, dauerte Dienstags und Samstags gewöhnlich
nur etwa bis zehn Uhr, sonst aber bis elf, bis zwölf und gelegentlich
noch darüber. Der Vater grollte ein wenig über den maßlosen Ölverbrauch,
sah dies Studieren aber doch mit wohlgefälligem Stolze an. Für etwaige
Mußestunden und für die Sonntage, die ja den siebenten Teil unseres
Lebens ausmachen, war die Lektüre einiger in der Schule nicht gelesener
Autoren und reichhaltiges Repetieren der Grammatik dringend empfohlen.

»Natürlich mit Maß, mit Maß! Ein, zweimal in der Woche spazierengehen
ist notwendig und tut Wunder. Bei schönem Wetter kann man ja auch ein
Buch mit ins Freie nehmen -- du wirst sehen, wie leicht und fröhlich es
sich in der frischen Luft draußen lernen läßt. Überhaupt Kopf hoch!«

Hans hielt also nach Möglichkeit den Kopf hoch, benützte von nun an auch
die Spaziergänge zum Lernen und lief still und verscheucht mit
übernächtigem Gesicht und blaurandigen, müden Augen herum.

»Was halten Sie von Giebenrath; er wird doch durchkommen?« sagte der
Klassenlehrer einmal zum Rektor.

»Er wird, er wird«, jauchzte der Rektor. »Das ist einer von den ganz
Gescheiten; sehen Sie ihn nur an, er sieht ja direkt vergeistigt aus.«

In den letzten acht Tagen war die Vergeistigung eklatant geworden. In
dem hübschen, zarten Knabengesicht brannten tiefliegende, unruhige Augen
mit trüber Glut, auf der schönen Stirn zuckten feine, Geist verratende
Falten, und die ohnehin dünnen und hageren Arme und Hände hingen mit
einer müden Grazie herab, die an Botticelli erinnerte.

Es war nun soweit. Morgen früh sollte er mit seinem Vater nach Stuttgart
fahren und dort im Landexamen zeigen, ob er würdig sei, durch die
schmale Klosterpforte des Seminars einzugehen. Eben hatte er seinen
Abschiedsbesuch beim Rektor gemacht.

»Heute abend«, sagte zum Schluß der gefürchtete Herrscher mit
ungewöhnlicher Milde, »darfst du nichts mehr arbeiten. Versprich es mir.
Du mußt morgen absolut frisch in Stuttgart antreten. Geh noch eine
Stunde spazieren und nachher beizeiten zu Bett. Junge Leute müssen ihren
Schlaf haben.«

Hans war erstaunt, statt der gefürchteten Menge von Ratschlägen so viel
Wohlwollen zu erleben, und trat aufatmend aus dem Schulhaus. Die großen
Kirchberglinden glänzten matt im heißen Sonnenlicht des Spätnachmittags,
auf dem Marktplatz plätscherten und blinkten beide großen Brunnen, über
die unregelmäßige Linie der Dächerflucht schauten die nahen,
blauschwarzen Tannenberge herein. Dem Buben war so, als hätte er das
alles schon eine lange Zeit nicht mehr gesehen, und es kam ihm alles
ungewöhnlich schön und verlockend vor. Zwar hatte er Kopfweh, aber heute
brauchte er ja nichts mehr zu lernen.

Langsam schlenderte er über den Marktplatz, am alten Rathaus vorüber,
durch die Marktgasse und an der Messerschmiede vorbei zur alten Brücke.
Dort bummelte er eine Weile auf und ab und setzte sich schließlich auf
die breite Brüstung. Wochen- und monatelang war er Tag für Tag seine
viermal hier vorbeigegangen und hatte keinen Blick für die kleine
gotische Brückenkapelle gehabt, noch für den Fluß, noch für die
Stellfalle, Wehr und Mühle, nicht einmal für die Badwiese und für die
weidenbestandenen Ufer, an denen ein Gerberplatz neben dem anderen lag,
wo der Fluß tief, grün und still wie ein See stand und wo die gebogenen,
spitzen Weidenäste bis ins Wasser hinabhingen.

Nun fiel ihm wieder ein, wieviel halbe und ganze Tage er hier verbracht,
wie oft er hier geschwommen und getaucht und gerudert und geangelt
hatte. Ach, das Angeln! Das hatte er nun auch fast verlernt und
vergessen, und im vergangenen Jahr hatte er so bitterlich geheult, als
es ihm verboten worden war, der Examensarbeit wegen. Das Angeln! Das war
doch das Schönste in all den langen Schuljahren gewesen. Das Stehen im
dünnen Weidenschatten, das nahe Rauschen der Mühlenwehre, das tiefe,
ruhige Wasser! Und das Lichterspiel auf dem Fluß, das sanfte Schwanken
der langen Angelrute, die Aufregung beim Anbeißen und Ziehen und die
eigentümliche Freude, wenn man einen kühlen, feisten, schwänzelnden
Fisch in der Hand hielt!

Er hatte doch manchen saftigen Karpfen herausgezogen, und Weißfische und
Barben, auch von den delikaten Schleien und von den kleinen, seltenen,
schönfarbigen Ellritzen. Lange blickte er über das Wasser, und beim
Anblick des ganzen grünen Flußwinkels wurde er nachdenklich und traurig
und fühlte die schönen, freien, verwilderten Knabenfreuden so weit
dahinten liegen. Mechanisch zog er ein Stück Brot aus der Tasche, formte
große und kleine Kugeln daraus, warf sie ins Wasser und beobachtete, wie
sie sanken und von den Fischen erschnappt wurden. Zuerst kamen die
winzigen Goldfallen und Blecken, fraßen die kleineren Stücke begierig
auf und stießen die großen mit hungrigen Schnauzen im Zickzack vor sich
her. Dann näherte sich langsam und vorsichtig ein größerer Weißfisch,
dessen dunkler, breiter Rücken sich schwach vom Grunde abhob, umsegelte
die Brotkugel bedächtig und ließ sie dann im plötzlich geöffneten,
runden Maul verschwinden. Vom trägfließenden Wasser kam ein feuchtwarmer
Duft herauf, ein paar helle Wolken spiegelten sich undeutlich in der
grünen Fläche, in der Mühle ächzte die Kreissäge und beide Wehre
rauschten kühl und tieftönig ineinander. Der Knabe dachte an den
Konfirmationssonntag, der kürzlich gewesen war und an dem er sich dabei
ertappt hatte, daß er mitten in der Feierlichkeit und Rührung innerlich
ein griechisches Verbum memorierte. Auch sonst war es ihm in letzter
Zeit oft so gegangen, daß er seine Gedanken untereinander brachte und
auch in der Schule statt an die vor ihm liegende Arbeit stets an die
vorhergegangene oder an eine spätere dachte. Das Examen konnte ja gut
werden!

Zerstreut erhob er sich von seinem Sitz und war unschlüssig, wohin er
gehen solle. Er erschrak heftig, als eine kräftige Hand ihn an der
Schulter faßte und eine freundliche Männerstimme ihn anredete.

»Grüß Gott, Hans, gehst ein Stück mit mir?«

Das war der Schuhmachermeister Flaig, bei dem er früher zuweilen eine
Abendstunde verbracht hatte, jetzt aber schon lang keine mehr. Hans ging
mit und hörte dem frommen Pietisten ohne rechte Aufmerksamkeit zu. Flaig
sprach vom Examen, wünschte dem Jungen Glück und sprach ihm Mut zu, der
Endzweck seiner Rede war aber, darauf hinzuweisen, daß so ein Examen
doch nur etwas Äußerliches und Zufälliges sei. Durchzufallen sei keine
Schande, das könne dem Besten passieren, und falls es ihm so gehen
sollte, möge er bedenken, daß Gott mit jeder Seele seine besondern
Absichten habe und sie eigene Wege führe.

Hans hatte dem Manne gegenüber kein ganz sauberes Gewissen. Er fühlte
eine Hochachtung für ihn und sein sicheres, imponierendes Wesen, dennoch
hatte er über die Stundenbrüder so viele Witze gehört und darüber
mitgelacht, oft gegen sein besseres Wissen; außerdem hatte er sich
seiner Feigheit zu schämen, denn seit einer gewissen Zeit mied er den
Schuster fast ängstlich, seiner scharfen Fragen wegen. Seit er der Stolz
seiner Lehrer und selber ein wenig hochmütig geworden war, hatte der
Meister Flaig ihn oft so komisch angesehen und zu demütigen versucht.
Darüber war dem wohlmeinenden Führer die Seele des Knaben allmählich
entglitten, denn Hans stand in der Blüte des Knabentrotzes und hatte
feine Fühler für jede unliebsame Berührung seines Selbstbewußtseins. Nun
schritt er neben dem Redenden hin und wußte nicht, wie besorgt und gütig
ihn dieser von oben beschaute.

In der Kronengasse begegneten sie dem Stadtpfarrer. Der Schuster grüßte
gemessen und kühl und hatte es plötzlich eilig, denn der Stadtpfarrer
war ein Neumodischer und stand im Ruf, er glaube nicht einmal an die
Auferstehung. Dieser nahm den Knaben mit sich.

»Wie geht's?« fragte er. »Du wirst froh sein, daß es jetzt so weit ist.«

»Ja, 's ist mir schon recht.«

»Nun, halte dich gut! Du weißt, daß wir alle Hoffnungen auf dich setzen.
Im Latein erwarte ich eine besondere Leistung von dir.«

»Wenn ich aber durchfalle«, meinte Hans schüchtern.

»Durchfallen?!« Der Geistliche blieb ganz erschrocken stehen.
»Durchfallen ist einfach unmöglich. Einfach unmöglich. Sind das
Gedanken!«

»Ich meine nur, es könnte ja doch sein ...«

»Es kann nicht, Hans, es kann nicht; darüber sei ganz beruhigt. Und nun
grüß mir deinen Papa und sei mutig!«

Hans sah ihm nach; dann schaute er sich nach dem Schuhmacher um. Was
hatte der doch gesagt? Aufs Latein käme es nicht so sehr an, wenn man
nur das Herz auf'm rechten Fleck habe und Gott fürchte. Der hatte gut
reden. Und nun noch der Stadtpfarrer. Vor dem konnte er sich überhaupt
nimmer sehen lassen, wenn er durchfiel.

Bedrückt schlich er nach Hause und in den kleinen, abschüssigen Garten.
Hier stand ein morsches, längst nicht mehr benutztes Gartenhäuschen;
darin hatte er seinerzeit einen Bretterstall gezimmert und drei Jahre
lang Kaninchen drin gehabt. Im vorigen Herbst waren sie ihm weggenommen
worden, des Examens wegen. Er hatte keine Zeit mehr für Zerstreuungen
gehabt.

Auch im Garten war er schon lang nimmer gewesen. Der leere Verschlag sah
baufällig aus, die Tropfsteingruppe in der Mauerecke war
zusammengefallen, das kleine, hölzerne Wasserrädchen lag verbogen und
zerbrochen neben der Wasserleitung. Er dachte an die Zeit, da er das
alles gebaut und geschnitzt und seine Freude daran gehabt hatte. Es war
auch schon zwei Jahre her -- eine ganze Ewigkeit. Er hob das Rädchen
auf, bog daran herum, zerbrach es vollends und warf es über den Zaun.
Fort mit dem Zeug, das war ja alles schon lang aus und vorbei. Dabei
fiel ihm sein Schulfreund August ein. Der hatte ihm geholfen das
Wasserrad zu bauen und den Hasenstall zu flicken. Nachmittage lang
hatten sie hier gespielt, mit der Schleuder geschossen, den Katzen
nachgestellt, Zelte gebaut und zum Vesper rohe gelbe Rüben gegessen.
Dann war aber die Streberei losgegangen und August war vor einem Jahr
aus der Schule getreten und Mechanikerlehrling geworden. Er hatte sich
seither nur noch zweimal gezeigt. Freilich, auch der hatte jetzt keine
Zeit mehr.

Wolkenschatten liefen eilig übers Tal, die Sonne stand schon nahe am
Bergrand. Einen Augenblick hatte der Knabe das Gefühl, er müsse sich
hinwerfen und heulen. Statt dessen holte er aus der Remise das Handbeil,
schwang es mit den schmächtigen Ärmlein durch die Luft und hieb den
Kaninchenstall in hundert Stücke. Die Latten flogen auseinander, die
Nägel bogen sich knirschend, ein wenig verfaultes Hasenfutter, noch vom
vorjährigen Sommer, kam zum Vorschein. Er hieb auf das alles los, als
könnte er damit sein Heimweh nach den Hasen und nach August und nach all
den alten Kindereien totschlagen.

»Na na na na na, was sind denn das für Sachen?« rief der Vater vom
Fenster her. »Was machst du da?«

»Brennholz.«

Weiter gab er keine Antwort, sondern warf das Beil weg, lief durch den
Hof auf die Gasse und dann am Ufer flußaufwärts. Draußen in der Nähe der
Brauerei standen zwei Flöße angebunden. Mit solchen war er früher oft
stundenweit flußab gefahren, an warmen Sommernachmittagen, vom Fahren
auf dem zwischen den Stämmen klatschenden Wasser zugleich erregt und
eingeschläfert. Er sprang auf die losen, schwimmenden Stämme hinüber,
legte sich auf einen Weidenhaufen und versuchte sich vorzustellen, das
Floß sei unterwegs, fahre bald rasch, bald zögernd an Wiesen, Äckern,
Dörfern und kühlen Waldrändern vorüber, unter Brücken und aufgezogenen
Stellfallen durch, und er liege darauf und alles wäre wieder wie sonst,
da er noch am Kapfberg Hasenfutter holte, in den Gerbergärten am Ufer
angelte und noch kein Kopfweh und keine Sorge hatte.

Müd und verdrossen kam er zum Nachtessen heim. Der Vater war wegen der
bevorstehenden Examensreise nach Stuttgart heillos aufgeregt und fragte
ein dutzendmal, ob die Bücher eingepackt seien, ob er den schwarzen
Anzug bereit gelegt habe, ob er nicht unterwegs noch in der Grammatik
lesen wolle, ob er sich wohl fühle. Hans gab kurze, bissige Antworten,
aß wenig und sagte bald Gutnacht.

»Gut Nacht, Hans. Schlaf nur gut! Also um sechs Uhr weck ich dich
morgen. Hast du auch den Lexikon nicht vergessen?« »Nein, ich hab >den<
Lexikon nicht vergessen. Gut Nacht!«

Auf seinem Stüblein saß er noch lang ohne Licht wach. Das war bis jetzt
der einzige Segen, den ihm die Examengeschichte gebracht hatte -- das
eigene kleine Zimmer, in dem er Herr war und nicht gestört wurde. Hier
hatte er im Kampf mit Ermüdung, Schlaf und Kopfweh lange Abendstunden
über Cäsar, Xenophon, Grammatiken, Wörterbüchern und mathematischen
Aufgaben verbrütet, zäh, trotzig und ehrgeizig, oft auch der
Verzweiflung nah. Hier hatte er aber auch die paar Stunden gehabt, die
ihm mehr wert waren als alle verlorenen Knabenlustbarkeiten, jene paar
traumhaft seltsamen Stunden voll Stolz und Rausch und Siegesmut, in
denen er sich über Schule, Examen und alles hinweg in einen Kreis
höherer Wesen hinübergeträumt und gesehnt hatte. Da hatte ihn eine
freche, selige Ahnung ergriffen, daß er wirklich etwas anderes und
Besseres sei als die dickbackigen, gutmütigen Kameraden und auf sie
vielleicht einmal aus entrückter Höhe überlegen herabsehen dürfe. Auch
jetzt atmete er auf, als sei in diesem Stüblein eine freiere und kühlere
Luft, setzte sich aufs Bett und verdämmerte ein paar Stunden in Träumen,
Wünschen und Ahnungen. Langsam fielen die hellen Lider ihm über die
großen, überarbeiteten Augen, öffneten sich nochmals, blinzelten und
fielen wieder herab, der blasse Knabenkopf sank auf die hagere Schulter,
die dünnen Arme streckten sich müde aus. Er war in den Kleidern
eingeschlafen, und die leise, mütterliche Hand des Schlummers ebnete die
Wogen in seinem unruhigen Kinderherzen und löschte die kleinen Falten
auf seiner hübschen Stirn.

                   *       *       *       *       *

Es war unerhört. Der Herr Rektor hatte sich, trotz der frühen Stunde,
selber auf den Bahnhof bemüht. Herr Giebenrath stak im schwarzen Gehrock
und konnte vor Aufregung, Freude und Stolz gar nicht stillstehen; er
trippelte nervös um den Rektor und um Hans herum, ließ sich vom
Stationsvorstand und von allen Bahnangestellten gute Reise und viel
Glück zu seines Sohnes Examen wünschen und hatte seinen kleinen, steifen
Koffer bald in der linken, bald in der rechten Hand. Den Regenschirm
hielt er einmal unter den Arm, dann wieder zwischen die Knie geklemmt,
ließ ihn einigemal fallen und stellte dann jedesmal den Koffer ab, um
ihn wieder aufheben zu können. Man hätte meinen sollen, er reise nach
Amerika und nicht mit Retourbillett nach Stuttgart. Der Sohn schien ganz
ruhig, doch würgte ihn die heimliche Angst in der Kehle.

Der Zug kam an und hielt, man stieg ein, der Rektor winkte mit der Hand,
der Vater zündete sich eine Zigarre an, unten verschwand im Tal die
Stadt und der Fluß. Die Reise war für beide eine Qual.

In Stuttgart lebte der Vater plötzlich auf und begann fröhlich,
leutselig und weltmännisch zu werden; ihn beseelte die Wonne des
Kleinstädters, der für ein paar Tage in die Residenz gekommen ist. Hans
aber wurde stiller und ängstlicher, eine tiefe Beklemmung ergriff ihn
beim Anblick der Stadt; die fremden Gesichter, die protzig hohen,
aufgedonnerten Häuser, die langen, ermüdenden Wege, die Pferdebahnen und
der Straßenlärm verschüchterten ihn und taten ihm weh. Man logierte bei
einer Tante und dort drückten die fremden Räume, die Freundlichkeit und
Gesprächigkeit der Tante, das lange zwecklose Herumsitzen und das ewige
aufmunternde Zureden des Vaters den Knaben vollends ganz zu Boden. Fremd
und verloren hockte er im Zimmer herum, und wenn er die ungewohnte
Umgebung, die Tante und ihre städtische Toilette, die großmustrige
Tapete, die Stutzuhr, die Bilder an der Wand oder durchs Fenster die
geräuschvolle Straße ansah, kam er sich ganz verraten vor und es schien
ihm dann, er sei schon eine Ewigkeit von Hause fort und habe alles
mühselig Gelernte einstweilen völlig vergessen.

Nachmittags hatte er nochmals die griechischen Partikeln durchnehmen
wollen, aber die Tante schlug einen Spaziergang vor. Einen Augenblick
tauchte vor Hansens innerem Blick etwas wie Wiesengrün und Waldgebrause
auf und er sagte freudig zu. Bald genug sah er aber, daß auch das
Spazierengehen hier in der großen Stadt eine andere Art von Vergnügen
sei als daheim.

Er ging allein mit der Tante, da der Papa in der Stadt Besuche machte.
Schon auf der Treppe ging das Elend los. Man begegnete im ersten
Stockwerk einer dicken, hoffärtig aussehenden Dame, vor welcher die
Tante einen Knix machte und die sofort mit großer Eloquenz zu plaudern
begann. Der Halt dauerte mehr als eine Viertelstunde. Hans stand
daneben, an das Treppengeländer gepreßt, wurde vom Hündlein der Dame
berochen und angegrollt und begriff undeutlich, daß man auch über ihn
spreche, denn die fremde Dicke blickte ihn wiederholt durch den Zwicker
von oben bis unten an. Kaum war man dann auf der Straße, so trat die
Tante in einen Laden und es dauerte eine gute Weile, bis sie wiederkam.
Inzwischen stand Hans schüchtern auf der Straße, wurde von
Vorübergehenden beiseite geschoben und von Gassenbuben verhöhnt. Als die
Tante aus dem Laden zurückkam, überreichte sie ihm eine Tafel Schokolade
und er bedankte sich höflich, obwohl er Schokolade nicht mochte. An der
nächsten Ecke bestieg man die Pferdebahn und nun ging es unter
beständigem Geklingel im überfüllten Wagen durch Straßen und wieder
Straßen, bis man endlich eine große Allee und Gartenanlage erreichte.
Dort lief ein Springbrunnen, blühten umzäunte Zierbeete und schwammen
Goldfische in einem kleinen künstlichen Weiher. Man wandelte auf und ab,
hin und her und im Kreise, zwischen einem Schwarm von andern
Spaziergängern, und sah eine Menge von Gesichtern, eleganten und anderen
Kleidern, Fahrrädern, Krankenfahrstühlen und Kinderwagen, hörte ein
Gewirre von Stimmen und atmete eine warme, staubige Luft. Zum Schluß
nahm man auf einer Bank neben anderen Leuten Platz. Die Tante hatte fast
die ganze Zeit drauflosgesprochen, nun seufzte sie, lächelte den Knaben
liebevoll an und forderte ihn auf, jetzt seine Schokolade zu essen. Er
wollte nicht.

»Lieber Gott, du wirst dich doch nicht genieren? Nein, iß nur, iß!«

Da zog er sein Täfelchen heraus, zerrte eine Weile am Silberpapier und
biß schließlich ein ganz kleines Stückchen ab. Schokolade mochte er nun
einmal ums Leben nicht, aber er wagte es der Tante nicht zu sagen.
Während er noch an dem Bissen sog und würgte, hatte die Tante einen
Bekannten unter der Menge entdeckt und stürmte davon.

»Bleib nur hier sitzen, ich bin gleich wieder da.«

Hans benützte aufatmend die Gelegenheit und schleuderte seine Schokolade
weit weg in den Rasen. Dann schlenkerte er die Beine im Takt, starrte
die vielen Leute an und kam sich unglücklich vor. Am Ende begann er
wieder einmal die Unregelmäßigen herzusagen, aber zu seinem tödlichen
Schrecken wußte er fast nichts mehr. Alles rein vergessen! Und morgen
war Landexamen.

Die Tante kam zurück und hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, es gebe
dies Jahr einhundertundachtzehn Kandidaten zum Landexamen. Bestehen
konnten aber nur sechsunddreißig. Da fiel dem Knaben das Herz vollends
in die Hosen und er sprach auf dem ganzen Heimweg kein Wort mehr. Zu
Haus bekam er Kopfweh, wollte wieder nichts essen und war so desperat,
daß der Vater ihn tüchtig ausschalt und daß ihn sogar die Tante
unausstehlich fand. In der Nacht schlief er schwer und tief,
von scheußlichen Traumszenen verfolgt. Er sah sich mit den
einhundertundsiebzehn Kameraden im Examen sitzen, der Prüfende sah bald
dem Stadtpfarrer zu Hause, bald der Tante ähnlich und häufte vor ihm
Berge von Schokolade auf, die er essen sollte. Und während er unter
Tränen aß, sah er die übrigen einen um den andern aufstehen und durch
eine kleine Türe verschwinden. Alle hatten ihren Berg gegessen, seiner
aber wurde unter seinen Augen größer und größer, quoll über Tisch und
Bank und schien ihn ersticken zu wollen.

Am folgenden Morgen, während Hans Kaffee trank und die Uhr nicht aus den
Augen ließ, um ja nicht zu spät in die Prüfung zu kommen, wurde seiner
im Heimatstädtchen von vielen gedacht. Zuerst vom Schuhmacher Flaig; der
sprach vor der Morgensuppe sein Gebet, die Familie samt den Gesellen und
beiden Lehrlingen stand im Kreis um den Tisch, und seinem gewöhnlichen
Frühgebet fügte der Meister heute die Worte bei: »O Herr, halte deine
Hand auch über den Schüler Hans Giebenrath, der heute ins Examen tritt,
segne und stärke ihn und laß ihn einmal einen rechten und wackeren
Verkündiger deines göttlichen Namens werden!«

Der Stadtpfarrer betete zwar nicht für ihn, sagte aber beim Frühstück zu
seiner Frau: »Jetzt geht der Giebenrathle ins Examen. Aus dem wird noch
was Besonderes; man wird schon auf ihn aufmerksam werden und dann
schadet es nichts, daß ich ihm mit den Lateinstunden beigesprungen bin.«

Der Klassenlehrer, ehe er die Stunde begann, sagte zu seinen Schülern:
»So, jetzt fängt in Stuttgart das Landexamen an und wir wollen dem
Giebenrath alles Gute wünschen. Nötig hat er's zwar nicht, denn von
solchen Faulpelzen, wie ihr seid, steckt er seine zehn in den Sack.« Und
auch die Schüler dachten nun fast alle an den Abwesenden, namentlich
aber die vielen, die auf sein Durchkommen oder Durchfallen untereinander
Wetten abgeschlossen hatten.

Und da denn herzliche Fürbitte und innige Teilnahme mit Leichtigkeit
über große Strecken hinweg in die Ferne wirken, bekam auch Hans es zu
spüren, daß man zu Hause an ihn dachte. Zwar ging er mit Herzklopfen,
von seinem Vater begleitet, in den Prüfungssaal, folgte scheu und
erschrocken den Anweisungen des Famulus und schaute sich in dem großen,
von blassen Knaben erfüllten Raume um wie ein Verbrecher in der
Folterkammer. Als aber der Professor gekommen war, Ruhe gebot und den
Text zur lateinischen Stilübung diktierte, fand Hans aufatmend dieselbe
lächerlich leicht. Rasch und fast fröhlich machte er sein Konzept,
schrieb es dann bedächtig und sauber ins reine und war einer von den
ersten, die ihre Arbeit ablieferten. Zwar verfehlte er darauf den Weg
zum Haus der Tante und irrte zwei Stunden in den heißen Stadtstraßen
umher, doch störte ihm das sein wiedergefundenes Gleichgewicht nicht
erheblich; er war sogar froh, der Tante und dem Vater noch für eine
Weile zu entrinnen und kam sich, durch die fremden, lärmigen
Residenzstraßen wandernd, wie ein waghalsiger Abenteurer vor. Als er
sich endlich mit Mühe durchgefragt und heimgefunden hatte, wurde er mit
Fragen bestürmt.

»Wie ist's gegangen? Wie ist's gewesen? Hast du dein Sach gekonnt?«

»Leicht ist's gewesen,« sagte er stolz, »das hätt' ich in der fünften
Klasse schon übersetzen können.«

Und er aß mit redlichem Hunger.

Den Nachmittag hatte er frei. Der Papa schleppte ihn bei einigen
Verwandten und Freunden herum. Bei einem derselben fanden sie einen
schwarz gekleideten, schüchternen Buben, der von Göppingen hergekommen
war, ebenfalls um das Landexamen zu machen. Die Knaben blieben sich
selbst überlassen und sahen einander scheu und neugierig an.

»Wie ist dir die lateinische Arbeit vorgekommen? Leicht, nicht wahr?«
fragte Hans.

»Riesig leicht. Aber das ist gerade der Kasus, in leichten Arbeiten
macht man die meisten Schnitzer. Man paßt nicht auf. Und verborgene
Fallen werden schon auch drin gewesen sein.«

»Meinst du?«

»Natürlich. So dumm sind die Herren nicht.«

Hans erschrak ein wenig und wurde nachdenklich. Dann fragte er zaghaft:
»Hast du den Text noch da?«

Der andere brachte sein Heft und nun nahmen sie zusammen die ganze
Arbeit durch, Wort für Wort. Der Göppinger schien ein raffinierter
Lateiner zu sein, wenigstens brauchte er zweimal grammatikalische
Bezeichnungen, die Hans überhaupt noch nie gehört hatte.

»Und was kommt wohl morgen dran?«

»Griechisch und Aufsatz.«

Dann erkundigte sich der Göppinger, wieviel Examinanden aus Hansens
Schule gekommen seien.

»Keiner,« sagte Hans, »bloß ich.«

»Au, wir Göppinger sind zu zwölft! Drei ganz Gescheite sind dabei, von
denen erwartet man, daß sie unter die Ersten kommen. Voriges Jahr war
der Primus auch ein Göppinger. -- Gehst du aufs Gymnasium, falls du
durchfällst?«

Davon war noch gar nie die Rede gewesen.

»Ich weiß nicht ... Nein, ich glaube nicht.«

»So? Ich studiere auf alle Fälle, auch wenn ich jetzt durchfalle. Dann
läßt mich meine Mutter nach Ulm.«

Das imponierte Hans gewaltig. Auch die zwölf Göppinger mit den drei ganz
Gescheiten machten ihm Angst. Da konnte er sich ja nimmer sehen lassen.

Zu Hause setzte er sich hin und nahm die Verba auf ^mi^ noch einmal
durch. Aufs Lateinische hatte er gar keine Angst gehabt, da fühlte er
sich sicher. Aber mit dem Griechischen ging es ihm eigentümlich. Er
hatte es gern, er schwärmte fast dafür, aber nur fürs Lesen. Namentlich
Xenophon war so schön und beweglich und frisch geschrieben, alles klang
heiter, hübsch und kräftig und hatte einen flotten, freien Geist, auch
war alles leicht zu verstehen. Aber sobald es an die Grammatik ging,
oder vom Deutschen ins Griechische übersetzt werden mußte, fühlte er
sich in ein Labyrinth von widerstreitenden Regeln und Formen verirrt und
empfand vor der fremden Sprache fast dieselbe angstvolle Scheu wie
seinerzeit in der ersten Lektion, als er noch nicht einmal das
griechische Alphabet lesen konnte.

Am andern Tage kam richtig Griechisch an die Reihe und nachher deutscher
Aufsatz. Die griechische Arbeit war ziemlich lang und gar nicht leicht,
das Aufsatzthema war heikel und konnte mißverstanden werden. Von zehn
Uhr an wurde es schwül und heiß im Saal. Hans hatte keine gute
Schreibfeder und verdarb zwei Bogen Papier, bis die griechische Arbeit
ins reine geschrieben war. Beim Aufsatz kam er in die größte Not durch
einen dreisten Nebensitzer, der ihm ein Blatt Papier mit einer Frage
zuschob und ihn durch Rippenstöße zum Antworten drängte. Der Verkehr mit
den Banknachbarn war aufs allerstrengste verboten und zog unerbittlich
den Ausschluß vom Examen nach sich. Zitternd vor Furcht schrieb er auf
den Zettel: »Laß mich in Ruhe« und wandte dem Frager den Rücken. Es war
auch so heiß. Sogar der Aufsichtsprofessor, der beharrlich und
gleichmäßig den Saal abschritt und keinen Augenblick ruhte, fuhr sich
mehrmals mit dem Sacktuch übers Gesicht. Hans schwitzte in seinem dicken
Konfirmationsanzug, bekam Kopfweh und gab schließlich seine Bogen ganz
unglücklich ab, mit dem Gefühl, sie stecken voller Fehler und mit dem
Examen sei es nun wohl fertig.

Bei Tisch sagte er kein Wort, sondern zuckte auf alle Fragen nur die
Achseln und machte ein Gesicht wie ein Delinquent. Die Tante tröstete,
aber der Vater regte sich auf und wurde ungemütlich. Nach dem Essen nahm
er den Buben mit ins Nebenzimmer und suchte ihn nochmals auszufragen.

»Schlecht ist's gegangen«, sagte Hans.

»Warum hast du nicht aufgepaßt? Man kann sich doch auch zusammennehmen,
zum Teufel.«

Hans schwieg und als der Vater anfing zu schimpfen, wurde er rot und
sagte: »Du verstehst doch nichts vom Griechischen!«

Das schlimmste war, daß er um zwei Uhr ins Mündliche mußte. Davor graute
ihm am meisten. Unterwegs auf der glühend heißen Stadtstraße wurde ihm
ganz elend und er konnte vor Leid und Angst und Schwindel kaum mehr aus
den Augen sehen.

Zehn Minuten lang saß er vor drei Herren an einem großen grünen Tisch,
übersetzte ein paar lateinische Sätze und gab auf die gestellten Fragen
Antwort. Zehn Minuten saß er dann vor drei anderen Herren, übersetzte
Griechisch und wurde wieder allerlei gefragt. Zum Schluß wollte man
einen unregelmäßig gebildeten Aorist von ihm wissen, aber er gab keine
Antwort.

»Sie können gehen, dort, die Türe rechts.«

Er ging, aber in der Türe fiel ihm nun doch der Aorist noch ein. Er
blieb stehen.

»Gehen Sie,« rief man ihm zu, »gehen Sie! Oder sind Sie etwa unwohl?«

»Nein, aber der Aorist ist mir jetzt eingefallen.«

Er rief ihn ins Zimmer hinein, sah einen der Herren lachen und stürzte
mit brennendem Kopf davon. Dann versuchte er sich auf die Fragen und auf
seine Antworten zu besinnen, aber alles ging ihm durcheinander. Er sah
nur immer wieder die große, grüne Tischfläche, die drei alten, ernsten
Herren in Gehröcken, das aufgeschlagene Buch und seine zitternd
daraufgelegte Hand. Herrgott, was mochte er für Antworten gegeben haben!

Als er durch die Straßen schritt, kam es ihm vor, als sei er schon
wochenlang hier und könne nie mehr wegkommen. Wie etwas sehr weit
Entferntes, vor langer Zeit einmal Gesehenes erschien ihm das Bild des
väterlichen Gartens, die tannenblauen Berge, die Angelplätze am Fluß. O,
wenn er heut noch heimreisen dürfte! Es hatte doch keinen Wert mehr
dazubleiben, das Examen war jedenfalls verpfuscht.

Er kaufte sich einen Milchwecken und trieb sich den ganzen geschlagenen
Nachmittag sträßlings herum, um nur dem Vater nicht Rede stehen zu
müssen. Als er endlich heimkam, war man in Sorge um ihn gewesen, und da
er erschöpft und elend aussah, gab man ihm eine Eiersuppe und schickte
ihn ins Bett. Morgen kam noch Rechnen und Religion daran, dann konnte er
wieder abreisen.

Es ging am folgenden Vormittag ganz gut. Hans empfand es als bittere
Ironie, daß ihm heute alles gelang, nachdem er gestern in den
Hauptfächern so Pech gehabt hatte. Einerlei, jetzt nur fort, nach Hause!

»Das Examen ist aus, jetzt können wir heimreisen«, meldete er bei der
Tante.

Sein Vater wollte heute noch dableiben. Man wollte nach Kannstatt fahren
und dort im Kurgarten Kaffee trinken. Hans bat aber so flehentlich, daß
der Vater ihm erlaubte, schon heute allein abzureisen. Er wurde auf den
Zug gebracht, erhielt sein Billett, bekam von der Tante einen Kuß und
etwas zu essen mit und fuhr nun erschöpft und gedankenlos durch das
grüne Hügelland heimwärts. Erst als die blauschwarzen Tannenberge
auftauchten, kam ein Gefühl von Freude und Erlösung über den Knaben. Er
freute sich auf die alte Magd, auf sein Stübchen, auf den Rektor, auf
das gewohnte niedere Schulzimmer und auf alles.

Zum Glück waren keine neugierigen Bekannten auf dem Bahnhof und er
konnte mit seinem Paketchen unbemerkt nach Hause eilen.

»Ist's schön gewest in Stuttgart?« fragte die alte Anna.

»Schön? Ja meinst du denn, ein Examen sei was Schönes? Ich bin bloß
froh, daß ich wieder da bin. Der Vater kommt erst morgen.«

Er trank einen Napf frische Milch, holte die vorm Fenster hängende
Badehose herein und lief davon, aber nicht zu der Wiese, wo alle anderen
ihren Badeplatz hatten.

Er ging weit vor die Stadt hinaus zur »Waage«, wo das Wasser tief und
langsam zwischen hohem Gebüsch dahinfließt. Dort entkleidete er sich,
steckte die Hand und darauf den Fuß tastend ins kühle Wasser, schauderte
ein wenig und warf sich dann mit schnellem Sturz in den Fluß. Langsam
gegen die schwache Strömung schwimmend, fühlte er Schweiß und Angst
dieser letzten Tage von sich gleiten, und während seinen schmächtigen
Leib der Fluß kühlend umarmte, nahm seine Seele mit neuer Lust von der
schönen Heimat Besitz. Er schwamm rascher, ruhte, schwamm wieder und
fühlte sich von einer wohligen Kühle und Müdigkeit umfangen. Auf dem
Rücken liegend, ließ er sich wieder flußab treiben, horchte auf das
feine Summen der in goldigen Kreisen schwärmenden Abendfliegen, sah den
Späthimmel von kleinen, raschen Schwalben durchschnitten und von der
schon verschwundenen Sonne hinter den Bergen hervor rosig beglänzt. Als
er wieder in den Kleidern war und träumerisch nach Hause schlenderte,
war das Tal schon voll Schatten.

Er kam am Garten des Händlers Sackmann vorbei, in dem er noch als ganz
kleiner Bub einmal mit ein paar andern unreife Pflaumen gestohlen hatte.
Und am Kirchnerschen Zimmerplatz, wo die weißen Tannenbalken herumlagen,
unter denen er früher immer Regenwürmer zum Angeln gefunden hatte. Er
kam auch am Häuschen des Inspektors Geßlers vorüber, dessen Tochter Emma
er vor zwei Jahren auf dem Eis so gern den Hof gemacht hätte. Sie war
das zierlichste und eleganteste Schulmädel der Stadt gewesen, gleich alt
wie er, und er hatte damals eine Zeitlang nichts so sehnlich gewünscht,
als einmal mit ihr zu reden oder ihr die Hand zu geben. Es war nie dazu
gekommen, er hatte sich zu sehr geniert. Seither war sie in eine Pension
geschickt worden und er wußte kaum mehr, wie sie aussah. Doch fielen
diese Bubengeschichten ihm jetzt wieder ein, wie aus weitester Ferne
her, und sie hatten so starke Farben und einen so seltsam ahnungsvollen
Duft, wie nichts von allem seither Erlebten. Das waren noch Zeiten
gewesen, als man abends bei Nascholds Liese im Torweg saß, Kartoffeln
schälte und Geschichten anhörte, als man Sonntags in aller Frühe mit
hochgekrempelten Hosen und schlechtem Gewissen beim untern Wehr ins
Krebsen oder auf den Goldfallenfang gegangen war, um nachher in
durchnäßten Sonntagskleidern vom Vater Prügel zu bekommen! Es hatte
damals so viel rätselhafte und seltsame Dinge und Leute gegeben, an die
er nun schon lange gar nimmer gedacht hatte! Der Schuhmächerle mit dem
krummen Hals, der Strohmeyer, von dem man sicher wußte, daß er sein Weib
vergiftet hatte, und der abenteuerliche »Herr Beck«, der mit Stecken und
Schnappsack das ganze Oberamt durchstrich und zu dem man Herr sagte,
weil er früher ein reicher Mann gewesen war und vier Pferde samt
Equipage besessen hatte. Hans wußte von ihnen nichts mehr als die Namen
und empfand dunkel, daß diese obskure, kleine Gassenwelt ihm verloren
gegangen war, ohne daß etwas Lebendiges und Erlebenswertes statt dessen
gekommen wäre.

Da er für den folgenden Tag noch Urlaub hatte, schlief er morgens in den
Tag hinein und genoß seine Freiheit. Mittags holte er den Vater ab, der
noch von allen den Stuttgarter Genüssen selig erfüllt war.

»Wenn du bestanden hast, darfst du dir etwas wünschen«, sagte er
gutgelaunt. »Überleg' dir's!«

»Nein, nein,« seufzte der Knabe, »ich bin sicher durchgefallen.«

»Dummes Zeug, was wirst du auch! Wünsch' dir lieber was, eh's mich
reut.«

»Angeln möcht' ich in den Ferien wieder. Darf ich?«

»Gut, du darfst, wenn's Examen bestanden ist.«

Am nächsten Tage, einem Sonntag, ging ein Gewitter und Platzregen nieder
und Hans saß stundenlang lesend und nachdenkend in seiner Stube. Er
überdachte seine Stuttgarter Leistungen nochmals genau und kam immer
wieder zu dem Ergebnis, er habe heillos Pech gehabt und hätte viel
bessere Arbeiten machen können. Zum Bestehen würde es nun auf keinen
Fall mehr reichen. Das dumme Kopfweh! Allmählich bedrückte ihn eine
wachsende Bangigkeit und schließlich trieb eine schwere Sorge ihn zu
seinem Vater hinüber.

»Du, Vater!«

»Was willst?«

»Etwas fragen. Wegen dem Wünschen. Ich will lieber das Angeln bleiben
lassen.«

»So, warum denn jetzt das wieder?«

»Weil ich ... Ach, ich wollte fragen, ob ich nicht ...«

»Heraus damit, ist das eine Komödie! Also was?«

»Ob ich aufs Gymnasium darf, wenn ich durchfalle.«

Herr Giebenrath war sprachlos.

»Was? Gymnasium?« brach er dann los. »Du aufs Gymnasium? Wer hat dir das
in den Kopf gesetzt?«

»Niemand. Ich meine nur so.«

Die Todesangst stand ihm im Gesicht zu lesen. Der Vater sah es nicht.

»Geh, geh«, sagte er unwillig lachend. »Das sind Überspanntheiten. Aufs
Gymnasium! Du meinst wohl, ich sei Kommerzienrat.«

Er winkte so heftig ab, daß Hans es aufgab und verzweifelnd hinausging.

»Ist das ein Bub!« grollte er hinter ihm her. »Nein so was! Jetzt will
er gar noch aufs Gymnasium! Ja prosit, da brennst du dich.«

Hans saß eine halbe Stunde lang auf dem Fenstersims, stierte auf den
frisch geputzten Dielenboden und versuchte sich vorzustellen, wie das
sein würde, wenn es nun wirklich mit Seminar und Gymnasium und Studieren
nichts wäre. Man würde ihn als Lehrling in einen Käsladen oder auf ein
Bureau tun und er würde zeitlebens einer von den gewöhnlichen armseligen
Leuten sein, die er verachtete und über die er absolut hinaus wollte.
Sein hübsches, kluges Schülergesicht verzog sich zu einer Grimasse voll
Zorn und Leid, wütend sprang er auf, spuckte aus, ergriff die daliegende
lateinische Chrestomathie und warf das Buch mit aller Wucht an die
nächste Wand. Dann lief er in den Regen hinaus.

Am Montag früh ging er wieder in die Schule.

»Wie geht's?« fragte der Rektor und gab ihm die Hand. »Ich dachte, du
würdest schon gestern zu mir kommen. Wie war's denn im Examen?«

Hans senkte den Kopf.

»Na, was denn? Ist's dir schlecht gegangen?«

»Ich glaube, ja.«

»Nun, Geduld!« tröstete der alte Herr. »Vermutlich kommt noch heute
vormittag der Bericht von Stuttgart.«

Der Vormittag war entsetzlich lang. Es kam kein Bericht und beim
Mittagessen konnte Hans vor innerlichem Schluchzen kaum schlucken.

Nachmittags, als er um zwei Uhr ins Schulzimmer kam, war der
Klassenlehrer schon dort.

»Hans Giebenrath«, rief er laut.

Hans trat vor. Der Lehrer gab ihm die Hand.

»Ich gratuliere dir, Giebenrath. Du hast das Landexamen als Zweiter
bestanden.«

Es entstand eine feierliche Stille. Die Tür ging auf und der Rektor trat
herein.

»Ich gratuliere. Nun, was sagst du jetzt?«

Der Bub war ganz gelähmt vor Überraschung und Freude.

»Na, sagst du gar nichts?«

»Wenn ich das gewußt hätte,« fuhr es ihm heraus, »dann hätt' ich auch
vollends Primus werden können.«

»Nun geh heim«, sagte der Rektor, »und sag' es deinem Papa. In die
Schule brauchst du jetzt nicht mehr zu kommen, in acht Tagen fangen ja
ohnehin die Ferien an.«

Schwindlig kam der Junge auf die Straße hinaus, sah die Linden stehen
und den Marktplatz in der Sonne daliegen, alles wie sonst, aber alles
schöner und bedeutungsvoller und freudiger. Er hatte bestanden! Und er
war Zweiter! Als der erste Freudensturm vorüber war, erfüllte ihn ein
heißes Dankgefühl. Nun brauchte er dem Stadtpfarrer nicht aus dem Wege
zu gehen. Nun konnte er studieren! Nun brauchte er weder den Käsladen
noch das Kontor mehr zu fürchten!

Und jetzt konnte er auch wieder angeln. Der Vater stand gerade in der
Haustür, als er heimkam.

»Was gibt's?« fragte er leichthin.

»Nicht viel. Man hat mich aus der Schule entlassen.«

»Was? Warum denn?«

»Weil ich jetzt Seminarist bin.«

»Ja, Sackerlot, hast du denn bestanden?«

Hans nickte.

»Gut?«

»Ich bin der Zweite geworden.«

Das hatte der Alte doch nicht erwartet. Er wußte gar nichts zu sagen,
klopfte dem Sohn fortwährend auf die Schulter, lachte und schüttelte den
Kopf. Dann öffnete er den Mund, um etwas zu sagen. Doch sagte er nichts,
sondern schüttelte nur wieder den Kopf.

»Donnerwetter!« rief er schließlich. Und noch einmal: »Donnerwetter!«

Hans stürzte ins Haus hinein, die Treppen hinan und auf den Dachboden,
riß einen Wandschrank in der leerstehenden Mansarde auf, kramte darin
herum und zog allerlei Schachteln und Schnurbündel und Korkstücke
heraus. Es war sein Angelzeug. Nun mußte er vor allem eine schöne Rute
dazu schneiden. Er ging zum Vater hinunter.

»Papa, leih mir dein Sackmesser!«

»Zu was?«

»Ich muß eine Gerte schneiden, zum Fischen.«

Der Papa griff in die Tasche.

»Da,« sagte er strahlend und großartig, »da sind zwei Mark, du kannst
dir ein eigenes Messer kaufen. Geh aber nicht zum Hanfried, sondern
drüben in die Messerschmiede.«

Nun ging's im Galopp. Der Messerschmied fragte nach dem Examen, bekam
die frohe Botschaft zu hören und gab ein extraschönes Messer her.
Flußabwärts, unterhalb der Brühelbrücke, standen schöne, schlanke Erlen-
und Haselstauden, dort schnitt er sich nach langem Auswählen eine
fehlerlose, zäh federnde Rute und eilte damit nach Hause zurück.

Mit gerötetem Gesicht und glänzenden Augen ging er an die fröhliche
Arbeit des Angelrüstens, die ihm fast so lieb wie das Fischen selber
war. Den ganzen Nachmittag und Abend saß er darüber. Die weißen, braunen
und grünen Schnüre wurden sortiert, peinlich untersucht, geflickt und
von manchem alten Knoten und Wirrwarr befreit. Korkstücke und Federkiele
in allen Formen und Größen wurden probiert oder neu geschnitzt, kleine
Bleistücke von verschiedenem Gewicht in Kugeln gehämmert und mit
Einschnitten versehen, zum Beschweren der Schnüre. Dann kamen die
Angelhaken, von denen noch ein kleiner Vorrat da war. Sie wurden teils
an vierfachem schwarzen Nähfaden, teils an einem Rest Darmsaite, teils
an zusammengedrehten Roßhaarschnüren befestigt. Gegen Abend war alles
fertig und Hans war nun sicher, in den langen sieben Ferienwochen keine
Langeweile haben zu müssen, denn mit der Angelrute konnte er ganze Tage
allein am Wasser zubringen.



                           Zweites Kapitel


So müssen Sommerferien sein! Über den Bergen ein enzianblauer Himmel,
wochenlang ein strahlend heißer Tag am andern, nur je und je ein
heftiges, kurzes Gewitter. Der Fluß, obwohl er seinen Weg durch so viel
Sandsteinfelsen und Tannenschatten und enge Täler hat, war so erwärmt,
daß man noch spät am Abend baden konnte. Rings um das Städtchen her war
Heu- und Öhmdgeruch, die schmalen Bänder der paar Kornäcker wurden gelb
und goldbraun, an den Bächen geilten mannshoch die weißblühenden,
schierlingartigen Pflanzen, deren Blüten schirmförmig und stets von
winzigen Käfern bedeckt sind und aus deren hohlen Stengeln man Flöten
und Pfeifen schneiden kann. An den Waldrändern prunkten lange Reihen von
wolligen, gelbblühenden, majestätischen Königskerzen, Weiderich und
Weidenröschen wiegten sich auf ihren schlanken, zähen Stielen und
bedeckten ganze Abhänge mit ihrem violetten Rot. Innen unter den Tannen
stand ernst und schön und fremdartig der hohe, steile, rote Fingerhut
mit den silberwolligen breiten Wurzelblättern, dem starken Stengel und
den hochaufgereihten, schönroten Kelchblüten. Daneben die vielerlei
Pilze: der rote, leuchtende Fliegenschwamm, der fette, breite Steinpilz,
der abenteuerliche Bocksbart, der rote, vielästige Korallenpilz und der
sonderbar farblose, kränklich feiste Fichtenspargel. Auf den vielen
heidigen Rainen zwischen Wald und Wiese flammte brandgelb der zähe
Ginster, dann kamen lange, lilarote Bänder von Erika, dann die Wiesen
selber, zumeist schon vor dem zweiten Schnitte stehend, von Schaumkraut,
Lichtnelken, Salbei, Skabiosen farbig überwuchert. Im Laubwald sangen
die Buchfinken ohne Aufhören, im Tannenwald rannten fuchsrote
Eichhörnchen durch die Wipfel, an Rainen, Mauern und trockenen Gräben
atmeten und schimmerten grüne Eidechsen wohlig in der Wärme, und über
die Wiesen hin läuteten endlos die hohen, schmetternden, nie ermüdenden
Zikadenlieder.

Die Stadt machte um diese Zeit einen sehr bäuerlichen Eindruck;
Heuwagen, Heugeruch und Sensendengeln erfüllte die Straßen und Lüfte;
wenn nicht die zwei Fabriken gewesen wären, hätte man geglaubt, in einem
Dorf zu sein.

Früh am Morgen des ersten Ferientages stand Hans schon ungeduldig in der
Küche und wartete auf den Kaffee, als die alte Anna noch kaum
aufgestanden war. Er half Feuer machen, holte Brot vom Becken, stürzte
schnell den mit frischer Milch gekühlten Kaffee hinunter, steckte Brot
in die Tasche und lief davon. Am oberen Bahndamm machte er halt, zog
eine runde Blechschachtel aus der Hosentasche und begann fleißig
Heuschrecken zu fangen. Die Eisenbahn lief vorüber -- nicht im Sturm,
denn die Linie steigt dort gewaltig, sondern schön behaglich, mit lauter
offenen Fenstern und wenig Passagieren, eine lange, fröhliche Fahne von
Rauch und Dampf hinter sich flattern lassend. Er sah ihr nach und sah
zu, wie der weißliche Rauch verwirbelte und sich bald in die sonnigen,
frühklaren Lüfte verlor. Wie lang hatte er das alles nimmer gesehen! Er
tat große Atemzüge, als wolle er die verlorene schöne Zeit nun doppelt
einholen und noch einmal recht ungeniert und sorgenlos ein kleiner Knabe
sein.

Das Herz klopfte ihm vor heimlicher Wonne und Jägerlust, als er mit der
Heuschreckenschachtel und dem neuen Angelstock über die Brücke und
hinten durch die Gärten zum Gaulsgumpen, der tiefsten Stelle des
Flusses, schritt. Dort war ein Platz, wo man, an einen Weidenstamm
gelehnt, bequemer und ungestörter fischen konnte als sonst irgendwo. Er
wickelte die Schnur ab, tat ein kleines Schrotkorn daran, spießte
erbarmungslos eine feiste Heuschrecke auf den Haken und schleuderte die
Angel mit weitem Schwung gegen die Flußmitte. Das alte, wohlbekannte
Spiel begann: die kleinen Blecken schwärmten in ganzen Scharen um den
Köder und versuchten ihn vom Haken zu zerren. Bald war er weggefressen,
eine zweite Heuschrecke kam an die Reihe, und noch eine, und eine vierte
und fünfte. Immer vorsichtiger befestigte er sie am Haken, schließlich
beschwerte er die Schnur mit einem weiteren Schrotkorn, und nun
probierte der erste ordentliche Fisch den Köder. Er zerrte ein wenig
daran, ließ ihn wieder los, probierte nochmals. Nun biß er an -- das
spürt ein guter Angler durch Schnur und Stock hindurch in den Fingern
zucken! Hans tat einen künstlichen Ruck und begann ganz vorsichtig zu
ziehen. Der Fisch saß, und als er sichtbar wurde, erkannte Hans ein
Rotauge. Man kennt sie gleich am breiten, weißgelblich schimmernden
Leib, am dreieckigen Kopf und namentlich an dem schönen, fleischroten
Ansatz der Bauchflossen. Wie schwer mochte er wohl sein? Aber ehe er es
schätzen konnte, tat der Fisch einen verzweifelten Schlag, wirbelte
angstvoll über die Wasserfläche und entkam. Man sah ihn noch, wie er
sich drei-, viermal im Wasser umdrehte und dann wie ein silberner Blitz
in die Tiefe verschwand. Er hatte schlecht gebissen.

In dem Angler war nun die Aufregung und leidenschaftliche Aufmerksamkeit
der Jagd erwacht. Sein Blick hing scharf und unverwandt an der dünnen
braunen Schnur, da wo sie das Wasser berührte, seine Backen waren
gerötet, seine Bewegungen knapp, rasch und sicher. Ein zweites Rotauge
biß an und kam heraus, dann ein kleiner Karpfen, für den es fast schade
war, dann hintereinander drei Kresser. Die Kresser freuten ihn
besonders, da der Vater sie gerne aß. Sie werden höchstens handlang,
haben einen fetten, kleinschuppigen Leib, dicken Kopf mit drolligem
weißen Bart, kleine Augen und einen schlanken Hinterleib. Die Farbe ist
zwischen grün und braun und spielt, wenn der Fisch ans Land kommt, ins
Stahlblaue.

Inzwischen war die Sonne hochgestiegen, der Schaum am obern Wehr
leuchtete schneeweiß, über dem Wasser zitterte die warme Luft und wenn
man aufblickte, sah man über dem Muckberg ein paar handgroße, blendende
Wölkchen stehen. Es wurde heiß. Nichts bringt die Wärme eines reinen
Hochsommertages so zum Ausdruck wie die paar ruhigen kleinen Wölkchen,
die still und weiß in halber Höhe der Bläue stehen und so mit Licht
gefüllt und durchtränkt sind, daß man sie nicht lange ansehen kann. Ohne
sie würde man oft gar nicht merken, wie heiß es ist, nicht am blauen
Himmel noch am Glitzern des Flußspiegels, aber sobald man die paar
schaumweißen, festgeballten Mittagssegler sieht, spürt man plötzlich die
Sonne brennen, sucht den Schatten und fährt sich mit der Hand über die
feuchte Stirn.

Hans achtete allmählich weniger streng auf die Angel. Er war ein wenig
müde und sowieso pflegt man gegen Mittag fast nichts zu fangen. Die
Weißfische, auch die ältesten und größten, kommen um diese Zeit nach
oben, um sich zu sonnen. Sie schwimmen träumerisch in großen dunklen
Zügen flußaufwärts, dicht an der Oberfläche, erschrecken zuweilen
plötzlich ohne sichtbare Ursache und gehen in diesen Stunden an keine
Angel.

Er ließ die Schnur über einen Zweig der Weide hinweg ins Wasser hängen,
setzte sich auf den Boden und schaute auf den grünen Fluß. Langsam kamen
die Fische nach oben, ein dunkler Rücken um den andern erschien auf der
Fläche -- stille, langsam schwimmende, von der Wärme emporgelockte und
bezauberte Züge. Denen konnte im warmen Wasser wohl sein! Hans zog die
Stiefel aus und ließ die Füße ins Wasser hängen, das an der Oberfläche
ganz lau war. Er betrachtete die gefangenen Fische, die regungslos in
einer großen Gießkanne schwammen und nur hin und wieder leise
plätscherten. Wie schön sie waren! Weiß, Braun, Grün, Silber, Mattgold,
Blau und andere Farben glänzten bei jeder Bewegung an den Schuppen und
Flossen.

Es war sehr still. Kaum hörte man das Geräusch der über die Brücke
fahrenden Wagen, auch das Klappern der Mühle war hier nur noch ganz
schwach vernehmbar. Nur das stetige milde Rauschen des weißen Wehrs
klang ruhig, kühl und schläfernd herab und an den Floßpfählen der leise,
quirlende Laut des ziehenden Wassers.

Griechisch und Latein, Grammatik und Stilistik, Rechnen und Memorieren
und der ganze folternde Trubel eines langen, ruhelosen, gehetzten Jahres
sanken still in der schläfernd warmen Stunde unter. Hans hatte ein wenig
Kopfweh, aber lang nicht so stark wie sonst, und nun konnte er ja wieder
am Wasser sitzen, sah den Schaum am Wehr zerstäuben, blinzelte nach der
Angelschnur, und neben ihm schwammen in der Kanne die gefangenen Fische.
Das war so köstlich. Zwischendurch fiel ihm plötzlich ein, daß er das
Landexamen bestanden habe und Zweiter geworden sei, da klatschte er mit
den nackten Füßen ins Wasser, steckte beide Hände in die Hosentaschen
und fing an, eine Melodie zu pfeifen. Richtig und eigentlich pfeifen
konnte er zwar nicht, das war ein alter Kummer und hatte ihm von den
Schulkameraden schon Spott genug eingetragen. Er konnte es nur durch die
Zähne und nur leise, aber für den Hausbrauch genügte das und jetzt
konnte ihn ja keiner hören. Die andern saßen jetzt in der Schule und
hatten Geographie, nur er allein war frei und entlassen. Er hatte sie
überholt, sie standen jetzt unter ihm. Sie hatten ihn genug geplagt,
weil er außer August keine Freundschaften und an ihren Raufereien und
Spielen keine rechte Freude gehabt hatte. So, nun konnten sie ihm
nachsehen, die Dackel, die Dickköpfe. Er verachtete sie so sehr, daß er
einen Augenblick zu pfeifen aufhörte, um den Mund zu verziehen. Dann
rollte er seine Schnur auf und mußte lachen, denn es war auch keine
Faser vom Köder mehr am Haken. Die in der Schachtel übriggebliebenen
Heuschrecken wurden freigelassen und krochen betäubt und unlustig ins
kurze Gras. Nebenan in der Rotgerberei wurde schon Mittag gemacht; es
war Zeit zum Essen zu gehen.

Am Mittagstisch wurde kaum ein Wort gesprochen.

»Hast was gefangen?« fragte der Papa.

»Fünf Stück.«

»Ei so? Na, paß nur auf, daß du den Alten nicht fangst, sonst gibt's
nachher keine Jungen mehr.«

Weiter gedieh keine Unterhaltung. Es war so warm. Und es war so schade,
daß man nicht gleich nach dem Essen ins Bad durfte. Warum eigentlich? Es
sei schädlich! Hat sich was mit schädlich; Hans wußte das besser, er war
trotz des Verbots oft genug gegangen. Aber jetzt nimmer, er war für
Unarten doch schon zu erwachsen. Herr Gott, im Examen hatte man »Sie« zu
ihm gesagt!

Schließlich war es auch gar nicht schlecht, eine Stunde im Garten unter
der Rottanne zu liegen. Schatten gab es genug und man konnte lesen oder
den Schmetterlingen zusehen. So lag er denn dort bis zwei Uhr und wenig
fehlte, so wäre er eingeschlafen. Aber jetzt ins Bad! Nur ein paar
kleine Buben waren auf der Badwiese, die größern saßen alle in der
Schule und Hans gönnte es ihnen von Herzen. Schön langsam zog er die
Kleider ab und stieg ins Wasser. Er verstand es, Wärme und Kühlung
wechselnd zu genießen; bald schwamm er ein Stück und tauchte und
plätscherte, bald lag er bäuchlings am Ufer und fühlte auf der schnell
trocknenden Haut die Sonne glühen. Die kleinen Buben schlichen
respektvoll um ihn her. Ja wohl, er war eine Berühmtheit geworden. Und
er sah auch so anders aus als die übrigen. Auf dem dünnen, gebräunten
Halse saß frei und elegant der feine Kopf mit dem geistigen Gesicht und
den überlegenen Augen. Im übrigen war er sehr mager, schmalgliedrig und
zart, auf Brust und Rücken konnte man ihm die Rippen zählen, und Waden
hatte er fast gar keine.

Fast den ganzen Nachmittag trieb er sich zwischen Sonne und Wasser hin
und her. Nach vier Uhr kamen die meisten von seiner Klasse eilig und
lärmend dahergelaufen.

»Oha, Giebenrath! Du hast's jetzt gut.«

Er streckte sich behaglich. »'s geht an, ja.«

»Wann mußt du ins Seminar?«

»Erst im September. Jetzt ist Vakanz.«

Er ließ sich beneiden. Es berührte ihn nicht einmal, als im Hintergrund
Gespött laut wurde und einer den Vers sang:

   Wenn i's no au so hätt',
   Wie's Schulze Lisabeth!
   Die leit bei Dag im Bett,
   So han' i's net.

Er lachte nur. Inzwischen entkleideten sich die Buben. Der eine sprang
frischweg ins Wasser, andere kühlten sich erst vorsichtig ab, manche
legten sich vorher noch ein wenig ins Gras. Ein guter Taucher wurde
bewundert. Ein Angstpeter wurde hinterrücks ins Wasser gestoßen und
schrie Mordio. Man jagte einander, lief und schwamm, spritzte die
Trockenbader am Lande. Das Geplätscher und Geschrei war groß, und die
ganze Flußbreite glänzte von hellen, nassen, blanken Leibern.

Nach einer Stunde ging Hans fort. Es kamen die warmen Abendstunden, wo
die Fische wieder beißen. Bis zum Abendessen angelte er auf der Brücke
und fing so gut wie gar nichts. Die Fische waren gierig hinter der Angel
her, jeden Augenblick war der Köder weggefressen, aber nichts blieb
hängen. Er hatte Kirschen am Haken, offenbar waren sie zu groß und zu
weich. Er beschloß, später noch einen Versuch zu machen.

Beim Abendessen erfuhr er, es sei eine Menge von Bekannten zum
Gratulieren dagewesen. Und man zeigte ihm das heutige Wochenblatt, da
stand unter dem »Amtlichen« eine Notiz: »An die Aufnahmeprüfung zum
niederen theologischen Seminar hat unsre Stadt diesmal nur einen
Kandidaten, Hans Giebenrath, geschickt. Zu unsrer Freude erfahren wir
soeben, daß derselbe die Prüfung als Zweiter bestanden hat.«

Er faltete das Blatt zusammen, steckte es in die Tasche und sagte
nichts, war aber zum Zerspringen voll von Stolz und Jubel. Nachher ging
er wieder zum Fischen. Als Köder nahm er diesmal ein paar Stückchen Käse
mit; der schmeckt den Fischen und kann in der Dämmerung gut von ihnen
gesehen werden.

Die Rute ließ er stehen und nahm nur eine ganz einfache Handangel mit.
Das war ihm das liebste Fischen: die Schnur ohne Stock und ohne
Schwimmer in der Hand zu halten, so daß die ganze Angel nur aus Leine
und Haken bestand. Es war etwas mühsamer, aber viel lustiger. Man
beherrschte dabei jede geringste Bewegung des Köders, spürte jedes
Probieren und Anbeißen und konnte im Zucken der Leine die Fische
beobachten, wie wenn man sie vor sich sähe. Freilich, diese Art zu
fischen will verstanden sein, man muß geschickte Finger haben und
aufpassen wie ein Spion.

In dem engen, tief eingeschnittenen und gewundenen Flußtal kam die
Dämmerung früh. Das Wasser lag schwarz und still unter der Brücke, in
der untern Mühle war schon Licht. Geplauder und Gesang lief über Brücken
und Gassen, die Luft war ein wenig schwül, und im Flusse sprang alle
Augenblicke ein dunkler Fisch mit kurzem Schlag in die Höhe. An solchen
Abenden sind die Fische merkwürdig erregt, schießen im Zickzack hin und
her, schnellen sich in die Luft, stoßen sich an der Angelschnur und
stürzen sich blindlings auf den Köder. Als das letzte Stückchen Käse
verbraucht war, hatte Hans vier kleinere Karpfen herausgezogen; die
wollte er morgen dem Stadtpfarrer bringen.

Ein warmer Wind lief talabwärts. Es dunkelte stark, aber der Himmel war
noch licht. Aus dem ganzen dunkelnden Städtchen stieg nur der Kirchturm
und das Schloßdach schwarz und scharf in die helle Höhe. Ganz in der
Ferne mußte es irgendwo gewittern, man hörte zuweilen ein sanftes, weit
entferntes Donnern.

Als Hans um zehn Uhr in sein Bett stieg, war er in Kopf und Gliedern so
angenehm müde und schläfrig wie schon lange nicht mehr. Eine lange Reihe
schöner, freier Sommertage lag beruhigend und verlockend vor ihm, Tage
zum Verbummeln, Verbaden, Verangeln, Verträumen. Bloß das eine wurmte
ihn, daß er nicht vollends Erster geworden war.

                   *       *       *       *       *

Schon am frühen Vormittag stand Hans im Öhrn des Stadtpfarrhauses und
lieferte seine Fische ab. Der Stadtpfarrer kam aus seiner Studierstube.

»Ach, Hans Giebenrath! Guten Morgen! Ich gratuliere, ich gratuliere von
Herzen. -- Und was hast du denn da?«

»Bloß ein paar Fische. Ich hab' gestern geangelt.«

»Ei, da schau' her! Danke schön. Nun komm' aber herein.«

Hans trat in die ihm wohlbekannte Studierstube. Wie in einer
Pfarrersstube sah es eigentlich hier nicht aus. Es roch weder nach
Blumenstöcken noch nach Tabak. Die ansehnliche Büchersammlung zeigte
fast lauter neue, sauber lackierte und vergoldete Rücken, nicht die
abgeschossenen, schiefen, wurmstichigen und stockfleckigen Bände, die
man sonst in Pfarrbibliotheken findet. Wer genauer zusah, merkte auch
den Titeln der wohlgeordneten Bücher einen neuen Geist an, einen
anderen, als der in den altmodisch ehrwürdigen Herren der absterbenden
Generation lebte. Die ehrenwerten Prunkstücke einer Pfarrbücherei, die
Bengel, Ötinger, Steinhofer samt frommen Liedersängern, welche Mörike im
»Turmhahn« so schön und herzlich besingt, fehlten hier oder
verschwanden doch in der Menge moderner Werke. Alles in allem, samt
Zeitschriftenmappen, Stehpult und großem, blätterbestreutem Schreibtisch
sah gelehrt und ernst aus. Man bekam den Eindruck, daß hier viel
gearbeitet werde. Und es wurde hier auch viel gearbeitet, freilich
weniger an Predigten, Katechesen und Bibelstunden als an Untersuchungen
und Artikeln für gelehrte Journale und an Vorstudien zu eigenen Büchern.
Die träumerische Mystik und ahnungsvolle Grübelei war von diesem Ort
verbannt, verbannt war auch die naive Herzenstheologie, welche über die
Schlünde der Wissenschaft hinweg sich der dürstenden Volksseele in Liebe
und Mitleid entgegenneigt. Statt dessen wurde hier mit Eifer Bibelkritik
getrieben und nach dem »historischen Christus« gefahndet, der den
modernen Theologen zwar wie Wasser vom Munde, aber auch wie ein Aal
durch die Finger gleitet.

Es ist eben in der Theologie nicht anders als anderwärts. Es gibt eine
Theologie, die ist Kunst, und eine andere, die ist Wissenschaft oder
bestrebt sich wenigstens, es zu sein. Das war vor alters so wie heute,
und immer haben die Wissenschaftlichen über den neuen Schläuchen den
alten Wein versäumt, indes die Künstler, sorglos bei manchem äußerlichen
Irrtum verharrend, Tröster und Freudebringer für viele gewesen sind. Es
ist der alte, ungleiche Kampf zwischen Kritik und Schöpfung,
Wissenschaft und Kunst, wobei jene immer recht hat, ohne daß jemand
damit gedient wäre, diese aber immer wieder den Samen des Glaubens, der
Liebe, des Trostes und der Schönheit und Ewigkeitsahnung hinauswirft und
immer wieder guten Boden findet. Denn das Leben ist stärker als der Tod,
und der Glaube ist mächtiger als der Zweifel.

Zum erstenmal saß Hans auf dem kleinen Ledersofa zwischen Stehpult und
Fenster. Der Stadtpfarrer war überaus freundlich. Ganz kameradschaftlich
erzählte er vom Seminar, und wie man dort lebe und studiere.

»Das wichtigste Neue,« sagte er zum Schluß, »was du dort erleben wirst,
ist die Einführung in das neutestamentliche Griechisch. Es wird dir eine
neue Welt damit aufgehen, reich an Arbeit und Freude. Im Anfang wird die
Sprache dir Mühe machen; das ist kein attisches Griechisch mehr, sondern
ein neues, von einem neuen Geist geschaffenes Idiom.«

Hans hörte aufmerksam zu und fühlte sich mit Stolz der wahren
Wissenschaft genähert.

»Die schulmäßige Einführung in diese neue Welt«, fuhr der Stadtpfarrer
fort, »nimmt ihr natürlich manches von ihrem Zauber. Auch wird dich im
Seminar zunächst das Hebräische vielleicht zu einseitig in Anspruch
nehmen. Wenn du nun Lust hast, so könnten wir in diesen Ferien einen
kleinen Anfang machen. Im Seminar wirst du dann froh sein, Zeit und
Kraft für anderes übrig zu behalten. Wir könnten ein paar Kapitel Lukas
zusammen lesen, und du würdest die Sprache fast spielend nebenher
lernen. Ein Wörterbuch kann ich dir leihen. Du würdest etwa täglich eine
Stunde, höchstens zwei, daran rücken. Mehr natürlich nicht, denn vor
allem mußt du jetzt deine verdiente Erholung haben. Natürlich ist das
nur ein Vorschlag -- ich möchte dir ja nicht das schöne Feriengefühl
damit verderben.«

Hans sagte natürlich zu. Zwar erschien ihm diese Lukasstunde wie eine
leichte Wolke am fröhlich blauen Himmel seiner Freiheit, doch schämte er
sich, abzulehnen. Und eine neue Sprache so in den Ferien nebenher zu
lernen, war gewiß mehr Vergnügen als Arbeit. Vor dem vielen Neuen, das
im Seminar zu lernen wäre, hatte er ohnehin eine leise Furcht, besonders
vor dem Hebräischen.

Nicht unbefriedigt verließ er den Stadtpfarrer und schlug sich durch den
Lärchenweg aufwärts in den Wald. Der kleine Unmut war schon verflogen,
und je mehr er sich die Sache überlegte, desto annehmbarer kam sie ihm
vor. Denn das wußte er wohl, daß er im Seminar noch ehrgeiziger und
zäher arbeiten müsse, wenn er auch dort die Kameraden hinter sich lassen
wollte. Und das wollte er entschieden. Warum eigentlich? Das wußte er
selber nicht. Seit drei Jahren war man auf ihn aufmerksam, hatten die
Lehrer, der Stadtpfarrer, der Vater und namentlich der Rektor ihn
angespornt und gestachelt in Atem gehalten. Die ganze lange Zeit, von
Klasse zu Klasse, war er unbestrittener Primus gewesen. Und nun hatte er
allmählich selber seinen Stolz darein gesetzt, obenan zu sein und keinen
neben sich zu dulden. Und die dumme Examensangst war jetzt vorbei.

Freilich, Ferien haben war doch eigentlich das Schönste. Wie ungewohnt
schön der Wald nun wieder war in diesen Morgenstunden, wo es keinen
Spaziergänger darin gab als ihn! Säule an Säule standen die Rottannen,
eine unendliche Halle blaugrün überwölbend. Unterholz gab es wenig, nur
da und dort ein dickes Himbeergestrüppe, dafür einen stundenbreiten,
weichen, pelzigen Moosboden, von niederen Heidelbeerstöcken und Erika
bestanden. Der Tau war schon getrocknet, und zwischen den bolzgeraden
Stämmen wiegte sich die eigentümliche Waldmorgenschwüle, die, aus
Sonnenwärme, Taudunst, Moosduft und dem Geruch von Harz, Tannennadeln
und Pilzen, gemischt sich einschmeichelnd mit leichter Betäubung an alle
Sinne schmiegt. Hans warf sich ins Moos, weidete die dunklen,
dichtbestandenen Schwarzbeersträucher ab, hörte da und dort den Specht
am Stamme hämmern und den eifersüchtigen Kuckuck rufen. Zwischen den
schwärzlich dunkeln Tannenkronen schaute fleckenlos tiefblau der Himmel
herein, in die Ferne hin drängten sich die tausend und tausend
senkrechten Stämme zu einer ernsten braunen Wand zusammen, hie und da
lag ein gelber Sonnenfleck warm und sattglänzend ins Moos gestreut.

Eigentlich hatte Hans einen großen Spaziergang machen wollen, mindestens
bis zum Lützeler Hof oder zur Krokuswiese. Nun lag er im Moos, aß
Heidelbeeren und staunte träge in die Luft. Es fing ihn selber an zu
wundern, daß er so müde war. Früher war ihm ein Gang von drei, vier
Stunden doch gar nichts gewesen. Er beschloß, sich aufzuraffen und ein
tüchtiges Stück zu marschieren. Und er ging ein paar hundert Schritte.
Da lag er schon wieder, er wußte nicht, wie es kam, im Moos und ruhte.
Er blieb liegen, sein Blick irrte blinzelnd durch Stämme und Wipfel und
am grünen Boden hin. Daß diese Luft so müd machte!

Als er gegen Mittag heimkam, hatte er wieder Kopfweh. Auch die Augen
taten ihm weh, auf der Waldsteig hatte die Sonne so heillos geblendet.
Den halben Nachmittag saß er verdrossen im Haus herum, erst beim Baden
wurde er wieder frisch. Es war jetzt Zeit, zum Stadtpfarrer zu gehen.

Unterwegs sah ihn der Schuster Flaig, der am Fenster seiner Werkstatt
auf dem Dreibein saß, und rief ihn herein.

»Wohin, mein Sohn? Man sieht dich ja gar nimmer?«

»Jetzt muß ich zum Stadtpfarrer.«

»Immer noch? Das Examen ist doch vorbei.«

»Ja, jetzt kommt was andres dran. Neues Testament. Nämlich das Neue
Testament ist ja griechisch geschrieben, aber wieder in einem ganz
andern Griechisch, als was ich gelernt hab'. Das soll ich jetzt lernen.«

Der Schuster schob die Mütze weit ins Genick und zog seine große
Grüblerstirn zu dicken Falten zusammen. Er seufzte schwer.

»Hans,« sagte er leise, »ich will dir was sagen. Bis jetzt hab' ich mich
still gehalten, von wegen dem Examen, aber jetzt muß ich dich mahnen. Du
mußt nämlich wissen, daß der Stadtpfarrer ein Ungläubiger ist. Er wird
dir sagen und vormachen, die heiligen Schriften seien falsch und
verlogen, und wenn du mit ihm das Neue Testament gelesen hast, dann hast
du selber deinen Glauben verloren und weißt nicht wie.«

»Aber, Herr Flaig, es handelt sich ja bloß ums Griechische. Im Seminar
muß ich's ja sowieso lernen.«

»So sagst du. Es ist aber zweierlei, ob du die Bibel bei frommen und
gewissenhaften Lehrern studieren lernst oder bei einem, der nicht mehr
an den lieben Gott glaubt.«

»Ja, das weiß man doch nicht, ob er wirklich nicht an ihn glaubt.«

»Doch, Hans, man weiß es leider.«

»Aber was soll ich machen? Ich hab' nun schon mit ihm ausgemacht, daß
ich komme.«

»Dann mußt du auch kommen, das versteht sich. Aber lieber nimmer oft.
Und wenn er solche Sachen über die Bibel sagt, sie sei Menschenwerk und
sei verlogen und nicht vom heiligen Geist eingegeben, dann kommst du zu
mir, und wir reden darüber. Willst du?«

»Ja, Herr Flaig. Es wird aber sicher nicht so schlimm sein.«

»Du wirst sehen; denk' an mich!«

Der Stadtpfarrer war noch nicht zu Hause, und Hans mußte in der
Studierstube auf ihn warten. Während er die goldenen Büchertitel
betrachtete, gaben ihm die Reden des Schuhmachermeisters zu denken.
Derartige Äußerungen über den Stadtpfarrer und die neumodischen
Geistlichen überhaupt hatte er schon öfters gehört. Doch fühlte er jetzt
zum erstenmal mit Spannung und Neugierde sich selber in diese Dinge
hineingezogen. So wichtig und schrecklich wie dem Schuster waren sie ihm
nicht, vielmehr witterte er hier die Möglichkeit, hinter alte, große
Geheimnisse zu dringen. In den früheren Schülerjahren hatten ihn die
Fragen nach Gottes Allgegenwart, nach dem Verbleib der Seelen, nach
Teufel und Hölle hie und da zu phantastischen Grübeleien erregt, doch
war alles das in den letzten strengen und fleißigen Jahren
eingeschlafen, und sein schulmäßiger Christenglaube war nur in
Gesprächen mit dem Schuhmacher gelegentlich zu einigem persönlichen
Leben aufgewacht. Er mußte lächeln, wenn er jenen mit dem Stadtpfarrer
verglich. Des Schusters herbe, in bitteren Jahren erworbene Festigkeit
konnte der Knabe nicht verstehen und im übrigen war Flaig ein zwar
gescheiter, aber schlichter und einseitiger Mensch, von vielen wegen
seiner Pietisterei verhöhnt. In den Versammlungen der Stundenbrüder trat
er als strenger brüderlicher Richter und als ein gewaltiger Ausleger der
Heiligen Schrift auf, hielt auch in den Dörfern herum seine
Erbauungsstunden, sonst aber war er eben ein kleiner Handwerksmann und
beschränkt wie alle andern. Der Stadtpfarrer hingegen war nicht nur ein
gewandter, wohlredender Mann und Prediger, sondern außerdem ein
fleißiger und strenger Gelehrter. Hans schaute mit Ehrfurcht an den
Bücherschäften hinauf.

Der Stadtpfarrer kam bald, vertauschte den Gehrock mit einer leichten
schwarzen Hausjacke, gab dem Schüler eine griechische Textausgabe des
Lukasevangeliums in die Hand und forderte ihn auf, zu lesen. Das war
ganz anders, als die Lateinstunden gewesen waren. Sie lasen nur wenige
Sätze, die wurden mit peinlicher Wörtlichkeit übersetzt, und dann
entwickelte der Lehrer aus unscheinbaren Beispielen geschickt und beredt
den eigentümlichen Geist dieser Sprache, redete über die Zeit und Weise
der Entstehung des Buches und gab in der einzigen Stunde dem Knaben
einen ganz neuen Begriff von Lernen und Lesen. Hans bekam eine Ahnung
davon, welche Rätsel und Aufgaben in jedem Vers und Wort verborgen
lagen, wie seit alten Zeiten her Tausende von Gelehrten, Grüblern und
Forschern sich um diese Fragen bemüht hatten, und es kam ihm vor, er
selber werde in dieser Stunde in den Kreis der Wahrheitssucher
aufgenommen.

Er bekam ein Lexikon und eine Grammatik geliehen und arbeitete daheim
noch den ganzen Abend weiter. Nun spürte er, über wieviel Berge von
Arbeit und Wissen der Weg zur wahren Forschung führe, und er war bereit,
sich hindurchzuschlagen und nichts am Wege liegen zu lassen. Der
Schuhmacher war einstweilen vergessen.

Einige Tage nahm dies neue Wesen ihn ganz in Anspruch. Jeden Abend ging
er zum Stadtpfarrer, und jeden Tag kam ihm die wahre Gelehrsamkeit
schöner, schwieriger und erstrebenswerter vor. Morgens in den
Frühstunden ging er zum Angeln, nachmittags auf die Badwiese, sonst kam
er wenig aus dem Hause. Der in der Angst und im Triumph des Examens
untergetauchte Ehrgeiz war wieder wach und ließ ihm keine Ruhe. Zugleich
begann wieder das eigentümliche Gefühl im Kopf sich zu regen, das er in
den letzten Monaten so oft gefühlt hatte -- kein Schmerz, sondern ein
hastig triumphierendes Treiben beschleunigter Pulse und heftig
aufgeregter Kräfte, ein eilig ungestümes Vorwärtsbegehren. Nachher kam
freilich das Kopfweh, aber solange jenes feine Fieber dauerte, rückte
Lektüre und Arbeit stürmisch voran, dann las er spielend die schwersten
Sätze im Xenophon, die ihn sonst Viertelstunden kosteten, dann brauchte
er das Wörterbuch fast gar nie, sondern flog mit geschärftem Verständnis
über ganze schwere Seiten rasch und freudig hinweg. Mit diesem
gesteigerten Arbeitsfieber und Erkenntnisdurst traf dann ein stolzes
Selbstgefühl zusammen, als lägen Schule und Lehrer und Lehrjahre schon
längst hinter ihm und als schreite er schon eine eigene Bahn, der Höhe
des Wissens und Könnens entgegen.

Das kam nun wieder über ihn und zugleich der leichte, oft unterbrochene
Schlaf mit sonderbar klaren Träumen. Wenn er nachts mit leichtem Kopfweh
erwachte und nicht wieder einschlafen konnte, befiel ihn eine Ungeduld,
vorwärts zu kommen, und ein überlegener Stolz, wenn er daran dachte, um
wieviel er allen Kameraden voraus war, und wie Lehrer und Rektor ihn mit
einer Art von Achtung und sogar Bewunderung betrachtet hatten.

Dem Rektor war es ein inniges Vergnügen gewesen, diesen von ihm
geweckten, schönen Ehrgeiz zu leiten und wachsen zu sehen. Man sage
nicht, Schulmeister haben kein Herz und seien verknöcherte und entseelte
Pedanten! O nein, wenn ein Lehrer sieht, wie eines Kindes lange
erfolglos gereiztes Talent hervorbricht, wie ein Knabe Holzsäbel und
Schleuder und Bogen und die anderen kindischen Spielereien ablegt, wie
er vorwärts zu streben beginnt, wie der Ernst der Arbeit aus einem
rauhen Pausback einen feinen, ernsten und fast asketischen Knaben macht,
wie sein Gesicht älter und geistiger, sein Blick tiefer und
zielbewußter, seine Hand ruhiger, weißer und stiller wird, dann lacht
ihm die Seele vor Freude und Stolz. Seine Pflicht und sein ihm vom Staat
überantworteter Beruf ist es, in dem jungen Knaben die rohen Kräfte und
Begierden der Natur zu bändigen und auszurotten und an ihre Stelle
stille, mäßige und staatlich anerkannte Ideale zu pflanzen. Wie mancher,
der jetzt ein zufriedener Bürger und strebsamer Beamter ist, wäre ohne
diese Bemühungen der Schule zu einem haltlos stürmenden Neuerer oder
unfruchtbar sinnenden Träumer geworden! Es war etwas in ihm, etwas
Wildes, Regelloses, Kulturloses, das mußte erst zerbrochen werden, eine
gefährliche Flamme, die mußte erst gelöscht und ausgetreten werden. Der
Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares,
Undurchsichtiges, Feindliches. Er ist ein von unbekanntem Berge
herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein
Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muß,
so muß die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen
und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach
obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede
der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren
völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend
beendigt.

Wie schön hatte sich der kleine Giebenrath entwickelt! Das Strolchen und
Spielen hatte er fast von selber abgelegt, das dumme Lachen in den
Lektionen kam bei ihm längst nimmer vor, auch die Gärtnerei, das
Kaninchenhalten und das leidige Angeln hatte er sich abgewöhnen lassen.

Eines Abends erschien der Herr Rektor persönlich im Hause Giebenrath.
Nachdem er den geschmeichelten Vater mit Höflichkeit losgeworden war,
trat er in Hansens Stube und fand den Knaben am Evangelium Lucä sitzen.
Er begrüßte ihn freundlichst.

»Das ist schön, Giebenrath, schon wieder fleißig! Aber warum zeigst du
dich denn gar nicht mehr? Ich erwartete dich jeden Tag.«

»Ich wäre schon gekommen,« entschuldigte sich Hans, »aber ich hätte
Ihnen gern wenigstens einen schönen Fisch mitgebracht.«

»Fisch? Was denn für einen Fisch?«

»Nun, einen Karpfen oder so was.«

»Ah so. Ja, angelst du denn wieder?«

»Ja, nur ein bißchen. Der Vater hat's erlaubt.«

»Hm. So. Macht's dir viel Vergnügen?«

»Ja, schon.«

»Schön, ganz schön, du hast dir ja deine Ferien wacker verdient. Da hast
du wahrscheinlich jetzt wenig Lust, nebenher noch zu lernen?«

»O doch, Herr Rektor, natürlich.«

»Ich möchte dir aber nichts aufzwingen, wozu du nicht selber Lust hast.«

»Freilich hab' ich Lust.«

Der Rektor tat ein paar tiefe Atemzüge, strich sich den dünnen Bart und
setzte sich auf einen Stuhl.

»Sieh, Hans,« sagte er, »die Sache liegt so. Es ist eine alte Erfahrung,
daß gerade auf ein sehr gutes Examen oft ein plötzlicher Rückschlag
folgt. Im Seminar gilt es, sich in mehrere neue Fächer einzuarbeiten. Da
kommt nun immer eine Anzahl von Schülern, die in den Ferien
vorgearbeitet haben -- oft gerade solche, denen es im Examen weniger gut
gegangen war. Die rücken dann plötzlich in die Höhe auf Kosten von
solchen, die während der Vakanz auf ihren Lorbeeren ausgeruht haben.«

Er seufzte wieder.

»Hier in der Schule hast du es ja leicht gehabt, immer der Erste zu
sein. Im Seminar findest du aber andere Kameraden, lauter begabte oder
sehr fleißige Leute, die sich nicht so spielend überholen lassen. Du
begreifst das?«

»O ja.«

»Nun wollte ich dir vorschlagen, in diesen Ferien ein wenig
vorauszuarbeiten. Selbstverständlich mit Maß! Du hast jetzt das Recht
und die Pflicht, dich tüchtig auszuruhen. Ich dachte, so eine Stunde
oder zwei im Tag wären etwa das Richtige. Ohne das kommt man leicht aus
dem Geleise und braucht nachher Wochen, bis man wieder flott im Zug ist.
Was meinst du?«

»Ich bin ganz bereit, Herr Rektor, wenn Sie so gütig sein wollen ....«

»Gut. Nächst dem Hebräischen wird dir im Seminar namentlich Homer eine
neue Welt erschließen. Du würdest ihn mit doppeltem Genuß und
Verständnis lesen, wenn wir schon jetzt einen soliden Grund legten. Die
Sprache Homers, der alte jonische Dialekt samt der homerischen Prosodie
ist etwas ganz Eigentümliches, ganz etwas für sich, und erfordert Fleiß
und Gründlichkeit, wenn man überhaupt zum rechten Genuß dieser
Dichtungen kommen will.«

Natürlich war Hans gerne bereit, auch in diese neue Welt einzudringen,
und versprach, sein Bestes zu tun.

Das dicke Ende kam aber nach. Der Rektor räusperte sich und fuhr
freundlich fort: »Offen gestanden wäre es mir auch lieb, wenn du der
Mathematik einige Stunden widmen wolltest. Du bist ja kein schlechter
Rechner, doch war die Mathematik bisher immerhin nicht gerade deine
Stärke. Im Seminar wirst du Algebra und Geometrie anfangen müssen, und
da wäre es doch wohl angezeigt, ein paar vorbereitende Lektionen zu
nehmen.«

»Jawohl, Herr Rektor.«

»Bei mir bist du immer willkommen, das weißt du schon. Mir ist es
Ehrensache, etwas Tüchtiges aus dir werden zu sehen. Wegen der
Mathematik aber müßtest du eben deinen Vater bitten, daß er dich beim
Herrn Professor Privatstunden nehmen läßt. Vielleicht drei bis vier in
der Woche.«

»Jawohl, Herr Rektor.«

                   *       *       *       *       *

Die Arbeit stand nun wieder in erfreulichster Blüte, und wenn Hans je
und je doch wieder eine Stunde angelte oder spazierenlief, hatte er ein
schlechtes Gewissen. Die gewohnte Badestunde hatte der aufopfernde
Mathematiklehrer zu seinen Lektionen gewählt.

Diese Algebrastunden konnte Hans bei allem Fleiße nicht vergnüglich
finden. Es war doch bitter, mitten am heißen Nachmittag statt auf die
Badwiese in die warme Stube des Professors zu gehen und in der
staubigen, mückendurchsummten Luft mit müdem Kopf und trockener Stimme
das ^a plus b^ und ^a minus b^ herzusagen. Es lag dann etwas Lähmendes
und überaus Drückendes in der Luft, das an schlechten Tagen sich in
Trostlosigkeit und Verzweiflung verwandeln konnte. Mit der Mathematik
ging es ihm überhaupt merkwürdig. Er gehörte nicht zu den Schülern,
denen sie verschlossen und unmöglich zu begreifen ist, er fand zuweilen
gute, ja elegante Lösungen und hatte dann seine Freude daran. Ihm gefiel
das an der Mathematik, daß es hier keine Irrungen und keinen Schwindel
gab, keine Möglichkeit, vom Thema abzuirren und trügerische Nebengebiete
zu streifen. Aus demselben Grunde hatte er das Latein so gern, denn
diese Sprache ist klar, sicher, eindeutig und kennt fast gar keine
Zweifel. Aber wenn beim Rechnen auch alle Resultate stimmten, es kam
doch eigentlich nichts Rechtes dabei heraus. Die mathematischen Arbeiten
und Lehrstunden kamen ihm vor wie das Wandern auf einer ebenen
Landstraße; man kommt immer vorwärts, man versteht jeden Tag etwas, was
man gestern noch nicht verstand, aber man kam nie auf einen Berg, wo
sich plötzlich weite Aussichten auftaten.

Etwas lebendiger ging es in den Stunden beim Rektor zu. Freilich
verstand der Stadtpfarrer aus dem entarteten Griechisch des Neuen
Testamentes immer noch etwas viel Anziehenderes und Prachtvolleres zu
machen als jener aus der jugendfrischen Homerischen Sprache. Aber es war
schließlich doch Homer, bei dem gleich hinter den ersten Schwierigkeiten
auch schon Überraschungen und Genüsse hervorspringen und unwiderstehlich
weiter verlocken. Oft saß Hans vor einem geheimnisvoll schön klingenden,
schwer verständlichen Vers voll zitternder Ungeduld und Spannung und
konnte nicht eilig genug im Wörterbuch die Schlüssel finden, die ihm den
stillen, heiteren Garten eröffneten.

Hausarbeit hatte er nun wieder genug, und manchen Abend saß er wieder,
in irgendeine Aufgabe festgebissen, bis spät am Tisch. Vater Giebenrath
sah diesen Fleiß mit Stolz. In seinem schwerfälligen Kopf lebte dunkel
das Ideal so vieler beschränkter und unbedeutender Leute, aus seinem
Stamme einen Zweig über sich hinaus in eine Höhe wachsen zu sehen, die
er mit dumpfem Respekt verehrte.

In der letzten Ferienwoche zeigten sich Rektor und Stadtpfarrer
plötzlich wieder auffallend milde und besorgt. Sie schickten den Knaben
spazieren, stellten ihre Lektionen ein und betonten, wie wichtig es sei,
daß er frisch und erquickt die neue Laufbahn betrete.

Ein paarmal kam Hans noch zum Angeln. Er hatte viel Kopfweh und saß ohne
rechte Aufmerksamkeit am Ufer des Flusses, der nun einen lichtblauen
Frühherbsthimmel spiegelte. Es war ihm rätselhaft, weshalb er sich
eigentlich seinerzeit so auf die Sommervakanz gefreut hatte. Jetzt war
er eher froh, daß sie vorüber war und er ins Seminar kam, wo ein ganz
anderes Leben und Lernen beginnen würde. Da ihm nichts daran lag, fing
er auch fast gar keine Fische mehr, und als der Vater einmal einen Witz
darüber machte, angelte er nicht mehr und tat seine Schnüre wieder in
den Mansardenkasten hinauf.

Erst in den letzten Tagen fiel ihm plötzlich ein, daß er wochenlang
nimmer beim Schuhmacher Flaig gewesen war. Auch jetzt mußte er sich dazu
zwingen, ihn aufzusuchen. Es war Abend und der Meister saß am Fenster
seiner Wohnstube, ein kleines Kind auf jedem Knie. Trotz des offen
stehenden Fensters durchdrang der Geruch von Leder und Wichse die ganze
Wohnung. Befangen legte Hans seine Hand in die harte, breite Rechte des
Meisters.

»Nun, wie geht's denn?« fragte dieser. »Bist fleißig beim Stadtpfarrer
gewesen?«

»Ja, ich war jeden Tag dort und hab' viel gelernt.«

»Was denn?«

»Hauptsächlich Griechisch, aber auch allerlei sonst.«

»Und zu mir hast nimmer kommen mögen?«

»Mögen schon, Herr Flaig, aber 's hat nie dazu kommen wollen. Beim
Stadtpfarrer jeden Tag eine Stunde, beim Rektor jeden Tag zwei Stunden,
und viermal in der Woche mußte ich zum Rechenlehrer.«

»Jetzt in den Ferien? Das ist ein Unsinn!«

»Ich weiß nicht. Die Lehrer meinten so. Und das Lernen fällt mir ja
nicht schwer.«

»Mag sein«, sagte Flaig und ergriff des Knaben Arm. »Mit dem Lernen
wär's schon recht, aber was hast du da für ein paar Ärmlein? Und auch's
Gesicht ist so mager. Hast auch noch Kopfweh?«

»Hie und da.«

»'s ist ein Unsinn, Hans, und eine Sünde dazu. In deinem Alter muß man
ordentlich Luft und Bewegung und sein richtiges Ausruhen haben. Zu was
gibt man euch denn Ferien? Doch nicht zum Stubenhocken und Weiterlernen.
Du bist ja lauter Haut und Knochen.«

Hans lachte.

»Na ja, du wirst dich schon durchbeißen. Aber was zuviel ist, ist
zuviel. Und mit den Lektionen beim Stadtpfarrer, wie ist's da gegangen?
Was hat er gesagt?«

»Gesagt hat er vielerlei, aber gar nichts Schlimmes. Er weiß kolossal
viel.«

»Hat er nie despektierlich von der Bibel geredet?«

»Nein, kein einziges Mal.«

»Das ist gut. Denn das sage ich dir: Lieber zehnmal am Leibe verderben
als Schaden nehmen an seiner Seele! Du willst später Pfarrer werden, das
ist ein köstliches und schweres Amt, und es braucht andere Leute dazu,
als die meisten von euch jungen Menschen sind. Vielleicht bist du der
rechte und wirst einmal ein Helfer und Lehrer der Seelen sein. Das
wünsche ich von Herzen und will darum beten.«

Er hatte sich erhoben und legte nun dem Knaben beide Hände fest auf die
Schultern.

»Leb' wohl, Hans, und bleibe im Guten! Der Herr segne dich und behüte
dich, Amen.«

Die Feierlichkeit, das Beten und Hochdeutschreden war dem Knaben
beklemmend und peinlich. Der Stadtpfarrer hatte beim Abschied nichts
derart gemacht.

Mit Vorbereitungen und Abschiednehmen vergingen die paar Tage schnell
und unruhig. Eine Kiste mit Bettzeug, Kleidern, Wäsche und Büchern war
schon abgeschickt, nun wurde noch der Reisesack gepackt, und eines
kühlen Morgens fuhren Vater und Sohn nach Maulbronn ab. Es war doch
seltsam und bedrückend, die Heimat zu verlassen und aus dem Vaterhause
weg in eine fremde Anstalt zu ziehen.



                           Drittes Kapitel


Ganz im Nordwesten des Landes liegt zwischen waldigen Hügeln und kleinen
stillen Seen das große Zisterzienserkloster Maulbronn. Weitläufig, fest
und wohlerhalten stehen die schönen alten Bauten und wären ein
verlockender Wohnsitz, denn sie sind prächtig, von innen und außen, und
sind in den Jahrhunderten mit ihrer ruhig schönen, grünen Umgebung edel
und innig zusammengewachsen. Wer das Kloster besuchen will, tritt durch
ein malerisches, die hohe Mauer öffnendes Tor auf einen weiten und sehr
stillen Platz. Ein Brunnen läuft dort, und es stehen alte ernste Bäume
da und zu beiden Seiten alte steinerne und feste Häuser und im
Hintergrunde die Stirnseite der gewaltigen Hauptkirche mit einer
spätromanischen Vorhalle, Paradies genannt, von einer graziösen,
entzückenden Schönheit ohnegleichen. Auf dem mächtigen Dach der Kirche
reitet ein nadelspitzes, humoristisches Türmchen, von dem man nicht
begreift, wie es eine Glocke tragen soll. Der unversehrte Kreuzgang,
selber ein schönes Werk, enthält als Kleinod eine köstliche
Brunnenkapelle; das Herrenrefektorium mit kräftig edlem Kreuzgewölbe,
ein wundervoller Raum, weiter Oratorium, Parlatorium, Laienrefektorium,
Abtwohnung und zwei Kirchen schließen sich massig aneinander. Malerische
Mauern, Erker, Tore, Gärtchen, eine Mühle, Wohnhäuser umkränzen
behaglich und heiter die wuchtigen alten Bauwerke. Der weite Vorplatz
liegt still und leer und spielt im Schlaf mit den Schatten seiner Bäume;
nur in der Stunde nach Mittag kommt ein flüchtiges Scheinleben über ihn.
Dann tritt eine Schar junger Leute aus dem Kloster, verliert sich über
die weite Fläche, bringt ein wenig Bewegung, Rufen, Gespräch und
Gelächter mit, spielt etwa auch ein Ballspiel und verschwindet nach
Ablauf der Stunde rasch und spurlos hinter den Mauern. Auf diesem Platz
hat schon mancher sich gedacht, hier wäre der Ort für ein tüchtiges
Stück Leben und Freude, hier müßte etwas Lebendiges, Beglückendes
wachsen können, hier müßten reife und gute Menschen ihre freudigen
Gedanken denken und schöne, heitere Werke schaffen.

In liebevoller Fürsorge hat die Regierung dies herrliche, weltfern
gelegene, hinter Hügeln und Wäldern verborgene Kloster den Schülern des
protestantisch-theologischen Seminars eingeräumt, damit Schönheit und
Ruhe die empfänglichen jungen Gemüter umgebe. Zugleich sind dort die
jungen Leute den zerstreuenden Einflüssen der Städte und des
Familienlebens entzogen und bleiben vor dem schädigenden Anblick des
tätigen Lebens bewahrt. Es wird dadurch ermöglicht, den Jünglingen
jahrelang das Studium der hebräischen und griechischen Sprache samt
Nebenfächern allen Ernstes als Lebenziel erscheinen zu lassen, den
ganzen Durst der jungen Seelen reinen und idealen Studien und Genüssen
zuzuwenden. Dazu kommt als wichtiger Faktor das Internatsleben, die
Nötigung zur Selbsterziehung, das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die
Regierung, auf deren Kosten die Seminaristen leben und studieren dürfen,
hat hierdurch dafür gesorgt, daß ihre Zöglinge eines besonderen Geistes
Kinder werden, an welchem sie später jederzeit erkannt werden können --
eine feine und sichere Art der Brandmarkung und ein sinniges Symbol der
freiwilligen Leibeigenschaft. Mit Ausnahme der Wildlinge, die sich je
und je einmal losreißen, kann man denn auch jeden schwäbischen
Seminaristen sein Leben lang als solchen erkennen. Wie verschieden sind
die Menschen und wie verschieden die Umgebungen und Verhältnisse, in
denen sie aufwachsen! Das gleicht die Regierung bei ihren Schützlingen
gerecht und gründlich aus, durch eine Art von geistiger Uniform oder
Livree.

Wer beim Eintritt ins Klosterseminar noch eine Mutter gehabt hat, der
denkt zeitlebens an jene Tage mit Dankbarkeit und lächelnder Rührung.
Hans Giebenrath war nicht in diesem Fall und kam ohne alle Rührung
darüber hinweg, aber er konnte doch eine große Zahl von fremden Müttern
beobachten und hatte einen sonderbaren Eindruck davon.

In den großen, mit Wandschränken eingefaßten Korridoren, den sogenannten
Dormenten, standen Kisten und Körbe umher, und die von ihren Eltern
begleiteten Knaben waren mit dem Auspacken und Einräumen ihrer
Siebensachen beschäftigt. Jeder hatte seinen numerierten Schrank und in
den Arbeitszimmern sein numeriertes Büchergestell angewiesen bekommen.
Söhne und Eltern knieten auspackend am Boden, der Famulus wandelte wie
ein Fürst zwischendurch und gab hie und da wohlmeinenden Rat. Es wurden
ausgepackte Kleider ausgebreitet, Hemden gefaltet, Bücher aufgestapelt,
Stiefel und Pantoffeln in Reihen gestellt. Die Ausrüstung war in den
Hauptstücken bei allen dieselbe, denn die Mindestzahl der
mitzubringenden Wäschestücke und das Wesentliche des übrigen Hausrats
waren vorgeschrieben. Blecherne Waschbecken mit eingekratzten Namen
kamen zum Vorschein und wurden im Waschsaal aufgestellt, Schwamm,
Seifenschale, Kamm und Zahnbürsten daneben. Ferner hatte jeder eine
Lampe, eine Erdölkanne und ein Tischbesteck mitgebracht.

Die Knaben waren sämtlich überaus geschäftig und erregt. Die Väter
lächelten, versuchten mitzuhelfen, sahen oft nach ihren Taschenuhren,
hatten ziemlich Langeweile und machten Versuche, sich zu drücken. Die
Seele der ganzen Tätigkeit waren aber die Mütter. Stück für Stück nahmen
sie die Kleider und Wäsche zuhanden, strichen Falten hinweg, zogen
Bänder zurecht und verteilten die Stücke mit sorgfältigem Ausprobieren
möglichst sauber und praktisch im Schrank. Ermahnungen, Ratschläge und
Zärtlichkeiten flossen mit ein.

»Die neuen Hemden mußt du besonders schonen, sie haben drei Mark fünfzig
gekostet.«

»Die Wäsche schickst du alle vier Wochen per Bahn -- wenn's eilig ist,
per Post. Der schwarze Hut ist nur für Sonntags.«

Eine dicke, behagliche Frau saß auf einer hohen Kiste und lehrte ihren
Sohn die Kunst, Knöpfe anzunähen.

»Wenn du Heimweh hast,« hieß es anderswo, »dann schreib mir nur immer.
's ist ja nicht so schrecklich lang bis Weihnachten.«

Eine hübsche, noch ziemlich junge Frau übersah den gefüllten Schrank
ihres Söhnleins und fuhr mit liebkosender Hand über die Wäschehäufchen
und Röcke und Hosen. Als sie damit fertig war, begann sie ihren Buben,
einen breitschultrigen Pausback, zu streicheln. Er schämte sich und
wehrte verlegen lachend ab und steckte auch noch, um ja nicht zärtlich
auszusehen, beide Hände in die Hosentaschen. Der Abschied schien der
Mutter schwerer zu fallen als ihm.

Bei andern war es umgekehrt. Sie blickten ihre beschäftigten Mütter tat-
und ratlos an und sahen aus, als möchten sie am liebsten wieder mit
heimreisen. Bei allen aber lag die Furcht vor dem Abschied und das
gesteigerte Gefühl der Zärtlichkeit und Anhänglichkeit in schwerem Kampf
mit der Scheu vor Zuschauern und mit dem trotzigen Würdegefühl erster
Männlichkeit. Mancher, der am liebsten geheult hätte, machte nun ein
künstlich sorgloses Gesicht und tat so, als ginge nichts ihm nah. Und
die Mütter lächelten dazu.

Fast alle entnahmen ihren Kisten außer dem Notwendigsten auch noch
einige Luxusstücke, ein Säcklein Äpfel, eine Rauchwurst, ein Körbchen
Backwerk und dergleichen. Viele hatten Schlittschuhe mitgebracht.
Kolossales Aufsehen erregte ein kleiner, pfiffig aussehender Jüngling
durch den Besitz eines ganzen Schinkens, den er auch keineswegs zu
verbergen trachtete.

Man konnte leicht unterscheiden, welche von den Jungen direkt von Hause
kamen und welche schon früher in Instituten und Pensionen gewesen waren.
Aber auch diesen sah man die Aufregung und Spannung an.

Herr Giebenrath half seinem Sohn beim Auspacken und benahm sich dabei
klug und praktisch. Er war früher damit fertig als die meisten andern
und stand eine Weile mit Hans gelangweilt und hilflos im Dorment herum.
Da er auf allen Seiten mahnende und belehrende Väter, tröstende und
ratgebende Mütter und beklommen zuhörende Söhne erblickte, hielt auch er
es für angemessen, seinem Hans einige goldene Worte mit auf den
Lebensweg zu geben. Er überlegte lang und schlich gequält neben dem
stummen Knaben einher, dann legte er plötzlich los und förderte eine
kleine Blütenlese von weihevollen Redensarten zutage, die Hans
verwundert und still entgegennahm, bis er einen danebenstehenden Pfarrer
über die väterliche Rede belustigt lächeln sah; da schämte er sich und
zog den Redner beiseite.

»Also nicht wahr, du wirst deiner Familie Ehre machen? Und deinen
Vorgesetzten folgsam sein?«

»Ja natürlich«, sagte Hans.

Der Vater schwieg und atmete erleichtert auf. Es begann ihm elend
langweilig zu werden. Auch Hans kam sich ziemlich verloren vor, schaute
bald mit beklommener Neugierde durch die Fenster in den stillen
Kreuzgang hinab, dessen altertümlich einsiedlerische Würde und Ruhe
sonderbar im Gegensatz zu dem oben lärmenden jungen Leben stand, bald
beobachtete er schüchtern die beschäftigten Kameraden, deren er noch
keinen kannte. Jener Stuttgarter Examensgenosse schien, trotz seinem
raffinierten Göppinger Latein, nicht bestanden zu haben, wenigstens sah
Hans ihn nirgends. Ohne sich viel dabei zu denken, betrachtete er seine
künftigen Mitschüler. So ähnlich an Art und Zahl die Ausrüstung
sämtlicher Knaben war, konnte man doch leicht die Städter von den
Bauernsöhnen und die Wohlhabenden von den Armen unterscheiden. Söhne
reicher Leute freilich kamen selten ins Seminar, was teils auf den Stolz
oder die tiefere Einsicht der Eltern, teils auf die Begabung der Kinder
schließen läßt; doch sendet immerhin mancher Professor und höhere Beamte
in Erinnerung an die eigenen Klosterjahre seinen Jungen nach Maulbronn.
So sah man denn unter den vierzig Schwarzröckchen mancherlei
Verschiedenheit an Tuch und Schnitt, und noch mehr unterschieden sich
die jungen Leute in Manieren, Dialekt und Haltung. Es gab hagere
Schwarzwälder mit steifen Gliedmaßen, saftige Albsöhne, strohblond und
breitmäulig, bewegliche Unterländer mit freien und heiteren Manieren,
feine Stuttgarter mit spitzen Stiefeln und einem verdorbenen, will sagen
verfeinerten Dialekt. Annähernd der fünfte Teil dieser Jugendblüte trug
Brillen. Einer, ein schmächtiges und fast elegantes Stuttgarter
Muttersöhnchen, war mit einem steifen feinen Filzhut bekleidet, benahm
sich vornehm und ahnte nicht, daß jene ungewohnte Zierde schon jetzt am
ersten Tage die Verwegenern unter den Kameraden auf spätere Hänseleien
und Gewalttaten lüstern machte.

Ein feinerer Zuschauer konnte wohl erkennen, daß das zage Häuflein keine
schlechte Auswahl aus der Jugend des Landes vorstellte. Neben
Durchschnittsköpfen, denen man von weitem den Nürnberger Trichter
anmerkte, fehlte es weder an feinen noch an trotzig festen Burschen,
welchen hinter der glatten Stirne ein höheres Leben noch halb im Traume
liegen mochte. Vielleicht war der eine oder andere von jenen schlauen
und hartnäckigen Schwabenschädeln darunter, welche je und je im Lauf der
Zeiten sich mitten in die große Welt gedrängt und ihre stets etwas
trockenen und eigensinnigen Gedanken zum Mittelpunkt neuer, mächtiger
Systeme gemacht haben. Denn Schwaben versorgt sich und die Welt nicht
allein mit den wohlerzogensten Theologen, sondern verfügt auch mit Stolz
über eine traditionelle Fähigkeit zur philosophischen Spekulation,
welcher schon mehrmals ansehnliche Propheten oder auch Irrlehrer
entstammt sind. Und so übt das fruchtbare Land, dessen politisch große
Traditionen weit dahinten liegen und das sich nun als harmloses Küchlein
an den scharf geschnäbelten nördlichen Adler schmiegt, wenigstens auf
den geistigen Gebieten der Gottesgelehrtheit und Philosophie noch immer
seinen sichern Einfluß auf die Welt. Daneben steckt im Volke auch noch
von alters her eine Freude an schöner Form und träumerischer Poesie,
woraus von Zeit zu Zeit Reimer und Dichter hervorwachsen, die nicht zu
den schlechten gehören. Neuerdings gelten sie freilich wenig mehr, denn
auch in der Poesie haben unsere nördlicher wohnenden Herren Brüder die
Vorherrschaft übernommen, finden die südliche Sprache unfein und geben
mit ihren schärferen Zungen den Ton an, welcher bald auf Erdgeruch, bald
auf Berliner Eleganz gerichtet und unserer altmodischen Leier an
schneidigem Wesen allerdings weit überlegen ist. Leider geht es weder
hier noch anderwärts an, sich dagegen zu bäumen und jenen stolzen
Berlinern den noch sehr jungen Edelrost herunterzutun. Auch gönnen wir
gerne jedem das Seine: uns Schwaben unsern alten Staufen, wo über
stillen Wäldern die paar Reste uralter Herrlichkeit schlummern und
träumen, und den andern ihren Zollern, wo glatte, peinlich saubere
Fahrwege an blanken Kanonen vorüberführen. Es hat ja beides etwas für
sich.

In den Einrichtungen und Sitten des Maulbronner Seminars war, äußerlich
betrachtet, nichts Schwäbisches zu spüren, vielmehr war neben den aus
Klosterzeiten übergebliebenen lateinischen Namen noch manche klassische
Etikette neuerdings aufgeklebt worden. Die Stuben, auf welche die
Zöglinge verteilt waren, hießen: Forum, Hellas, Athen, Sparta,
Akropolis, und daß die kleinste und letzte Germania hieß, schien fast
darauf zu deuten, daß man Gründe habe, aus der germanischen Gegenwart
nach Möglichkeit ein römisch-griechisches Traumbild zu machen. Doch war
auch dies wiederum nur äußerlich und in Wahrheit hätten hebräische Namen
besser gepaßt. So wollte denn auch der fröhliche Zufall, daß die Stube
Athen nicht etwa die weitherzigsten und beredtesten Leute, sondern
gerade ein paar rechtschaffene Langweiler zu Insassen bekam, und daß auf
Sparta nicht Kriegsmänner und Asketen, sondern eine Handvoll fideler und
üppiger Hospitanten wohnten. Hans Giebenrath war der Stube Hellas
zugeteilt, zusammen mit neun Kameraden.

Es war ihm doch eigentümlich ums Herz, als er am Abend zum erstenmal mit
den Neun zusammen den kühlen, kahlen Schlafsaal betrat und sich in seine
schmale Schülerbettstatt legte. Von der Decke hing eine große
Erdöllaterne herab, bei deren rotem Schein man sich entkleidete und die
ein Viertel nach zehn Uhr vom Famulus gelöscht wurde. Da lag nun einer
neben dem andern, zwischen je zwei Betten stand ein Stühlchen mit den
Kleidern darauf, am Pfeiler hing der Strick herab, an dem die
Morgenglocke angezogen wird. Zwei oder drei von den Knaben kannten
einander schon und plauderten ein paar zaghafte Flüsterworte, die bald
verstummten; die andern waren einander fremd und jeder lag ein wenig
bedrückt und totenstill in seinem Bett. Die Eingeschlummerten ließen
tiefe Atemzüge hören, oder regte einer schlafend den Arm, daß die
leinene Decke rauschte; wer noch wachte, hielt sich ganz ruhig. Hans
konnte lange nicht einschlafen. Er horchte auf das Atmen seiner Nachbarn
und vernahm nach einer Weile ein seltsam ängstliches Geräusch vom
übernächsten Bette; dort lag einer und weinte, den Teppich über den Kopf
gezogen, und das leise, wie aus der Ferne hertönende Schluchzen regte
Hans wunderlich auf. Er selber hatte kein Heimweh, doch tat es ihm um
die stille kleine Kammer leid, die er zu Hause gehabt hatte; dazu kam
das zage Grauen vor dem ungewissen Neuen und vor den vielen Kameraden.
Es war noch nicht Mitternacht, da wachte keiner mehr im Saal.
Nebeneinander lagen die jungen Schläfer, die Wange ins gestreifte Kissen
gedrückt, traurige und trotzige, fidele und zaghafte, vom selben süßen,
festen Rasten und Vergessen übermannt. Über die alten spitzen Dächer,
Türme, Erker, Fialen, Mauerzinnen und spitzbogigen Galerien stieg ein
blasser halber Mond herauf; sein Licht lagerte sich an Gesimsen und
Schwellen, floß über gotische Fenster und romanische Tore und zitterte
bleichgolden in der großen, edlen Schale des Kreuzgangbrunnens. Ein paar
gelbliche Streifen und Lichtflecke fielen auch durch die drei Fenster in
den Schlafsaal der Stube Hellas und wohnten neben den Träumen der
schlummernden Knaben so nachbarlich wie ehemals neben denen der
Mönchsgeschlechter.

Am folgenden Tage fand der feierliche Aufnahmeakt im Oratorium statt.
Die Lehrer standen in Gehröcken da, der Ephorus hielt eine Ansprache,
die Schüler saßen gedankenvoll gebückt in den Stühlen und versuchten
zuweilen rückwärts nach ihren weiter hinten sitzenden Eltern zu
schielen. Die Mütter schauten sinnend und lächelnd auf ihre Söhne, die
Väter hielten sich aufrecht, folgten der Rede und sahen ernst und
entschlossen aus. Stolze und löbliche Gefühle und schöne Hoffnungen
schwellten ihre Brust und kein einziger dachte daran, daß er heute sein
Kind gegen einen Geldvorteil an den Staat verkaufe. Zum Schluß wurde ein
Schüler um den andern mit Namen aufgerufen, trat vor die Reihen und ward
vom Ephorus mit einem Handschlag aufgenommen und verpflichtet und war
hiermit, falls er sich wohl verhielt, bis an sein Lebensende staatlich
versorgt und untergebracht. Daß sie das vielleicht nicht ganz umsonst
haben könnten, darüber dachte keiner nach, so wenig als die Väter.

Viel ernster und beweglicher kam ihnen der Augenblick vor, da sie von
Vater und Mutter Abschied nehmen mußten. Teils zu Fuß, teils im
Postwagen, teils in allerlei in der Eile erwischten Fahrzeugen
entschwanden diese dem Blick der zurückgelassenen Söhne, Tüchlein wehten
noch lange durch die milde Septemberluft, schließlich nahm der Wald die
Abreisenden auf, und die Söhne kehrten still und nachdenklich ins
Kloster zurück.

»So, jetzt sind die Herren Eltern abgereist«, sprach der Famulus.

Nun begann man einander anzusehen und kennen zu lernen, zunächst jede
Stube unter sich. Man füllte das Tintenfaß mit Tinte, die Lampe mit Öl,
ordnete Bücher und Hefte und versuchte, im neuen Raume heimisch zu
werden. Dabei schaute man einander neugierig an, begann ein Gespräch,
fragte einander um Heimatort und bisherige Schule und erinnerte sich an
das gemeinsam durchschwitzte Landexamen. Um einzelne Pulte bildeten sich
plaudernde Gruppen, da und dort wagte sich ein helles Knabengelächter
hervor, und am Abend waren die Stubengenossen schon viel besser
miteinander bekannt als Schiffspassagiere am Ende einer Seereise.

Unter den neun Kameraden, die mit Hans in der Stube Hellas wohnten,
waren vier dezidierte Charakterköpfe, der Rest gehörte mehr oder weniger
dem guten Durchschnitt an. Da war zunächst Otto Hartner, ein Stuttgarter
Professorensohn, begabt, ruhig, selbstsicher und im Benehmen tadellos.
Er war breit und stattlich gewachsen und gut gekleidet und imponierte
der Stube durch sein festes, tüchtiges Auftreten.

Dann Karl Hamel, der Sohn eines kleinen Dorfschulzen aus der Alb. Um ihn
kennen zu lernen, brauchte es schon einige Zeit, denn er stak voll von
Widersprüchen und rückte selten aus seinem scheinbaren Phlegma heraus.
Dann war er leidenschaftlich, ausgelassen und gewalttätig, doch dauerte
es nie lange, so kroch er in sich zurück und man wußte dann nicht, war
er ein stiller Beobachter oder nur ein Duckmäuser.

Eine auffallende, obwohl weniger komplizierte Erscheinung war Hermann
Heilner, ein Schwarzwälder aus gutem Hause. Man wußte schon am ersten
Tag, er sei ein Dichter und Schöngeist, und es ging die Sage, er habe
seinen Aufsatz im Landexamen in Hexametern abgefaßt. Er redete viel und
lebhaft, besaß eine schöne Violine und schien sein Wesen an der
Oberfläche zu tragen, das hauptsächlich aus einer jugendlich unreifen
Mischung von Sentimentalität und Leichtsinn bestand. Doch trug er
weniger sichtbar auch Tieferes in sich. Er war an Leib und Seele über
sein Alter entwickelt und begann schon versuchsweise eigene Bahnen zu
wandeln.

Der sonderbarste Hellasbewohner war aber Emil Lucius, ein verstecktes,
blaßblondes Männlein, zäh, fleißig und trocken wie ein greiser Bauer.
Trotz seiner unfertigen Statur und Züge machte er nicht den Eindruck
eines Knaben, sondern hatte überall etwas Erwachsenes an sich, als wäre
an ihm nun einmal nichts mehr zu ändern. Gleich am ersten Tage, während
die anderen sich langweilten, plauderten und sich einzugewöhnen suchten,
saß er still und gelassen über einer Grammatik, hatte die Ohren mit den
Daumen zugestopft und lernte drauf los, als gälte es, verlorene Jahre
einzuholen.

Diesem stillen Kauz kam man erst nach und nach auf seine Schliche und
fand in ihm einen so raffinierten Geizkragen und Egoisten, daß gerade
seine Vollkommenheit in diesen Lastern ihm eine Art von Achtung oder
wenigstens Duldung eintrug. Er hatte ein durchtriebenes Spar- und
Profitsystem, dessen einzelne Finessen nur allmählich zutage traten und
Staunen erregten. Es begann frühmorgens beim Aufstehen damit, daß Lucius
im Waschsaal entweder als Erster oder als Letzter eintrat, um das
Handtuch und womöglich auch die Seife eines anderen zu benützen und
seine eigenen Sachen zu schonen. So brachte er es zustande, daß sein
Handtuch stets für zwei und mehr Wochen vorhielt. Nun mußten aber die
Tücher alle acht Tage erneuert werden, und jeden Montag vormittag hielt
der Oberfamulus hierüber Kontrolle ab. Also hängte auch Lucius jeden
Montag früh ein frisches Tuch an seinen numerierten Nagel, holte es aber
in der Mittagspause wieder weg, faltete es sauber zusammen, tat es in
den Kasten zurück und hängte dafür das geschonte alte wieder auf. Seine
Seife war hart und gab wenig her, dafür hielt sie monatelang aus.
Deshalb war aber Emil Lucius keineswegs von vernachlässigtem Äußeren,
sondern sah stets proper aus, kämmte und scheitelte sein dünnes blondes
Haar mit Sorgfalt und schonte Wäsche und Kleidung aufs beste.

Vom Waschsaal ging es zum Frühstück. Dazu gab es eine Tasse Kaffee, ein
Stück Zucker und einen Wecken. Die meisten fanden das nicht üppig, denn
junge Leute haben nach achtstündigem Schlaf gewöhnlich einen tüchtigen
Morgenhunger. Lucius war zufrieden, sparte sich das tägliche Stück
Zucker am Mund ab und fand stets Abnehmer dafür, zwei Stück für einen
Pfennig oder fünfundzwanzig Stück für ein Schreibheft. Daß er des
Abends, um das teure Öl zu sparen, gern beim Scheine fremder Lampen
arbeitete, versteht sich von selber. Dabei war er nicht etwa ein Kind
armer Eltern, sondern stammte aus ganz behaglichen Verhältnissen, wie
denn überhaupt die Kinder gänzlich armer Leute selten zu wirtschaften
und zu sparen verstehen, vielmehr stets so viel brauchen, als sie haben,
und kein Zurücklegen kennen.

Emil Lucius dehnte sein System aber nicht nur auf Sachbesitz und
greifbare Güter aus, sondern suchte auch im Reich des Geistes, wo er
konnte, seinen Vorteil herauszuschlagen. Hierbei war er so klug, nie zu
vergessen, daß aller geistige Besitz nur von relativem Werte ist, darum
wandte er wirklichen Fleiß nur an die Fächer, deren Bebauung in einem
spätern Examen Früchte tragen konnte, und begnügte sich in den übrigen
bescheiden mit einem mäßigen Durchschnittszeugnis. Was er lernte und
leistete, maß er stets nur an den Leistungen der Mitschüler und er wäre
lieber mit halben Kenntnissen Erster als mit doppelten Zweiter gewesen.
Darum sah man ihn abends, wenn die Kameraden sich allerlei Zeitvertreib,
Spiel und Lektüre hingaben, still an der Arbeit sitzen. Das Lärmen der
andern störte ihn durchaus nicht, er warf sogar gelegentlich einen
neidlos vergnügten Blick darauf. Denn wenn alle andern auch gearbeitet
hätten, wäre seine Mühe ja nicht rentabel gewesen.

Alle diese Schlauheiten und Kniffe nahm dem fleißigen Streber niemand
übel. Aber wie alle Übertreiber und Allzuprofitlichen tat auch er bald
einen Schritt ins Törichte. Da aller Unterricht im Kloster unentgeltlich
war, kam er auf die Idee, dies zu benützen und sich Violinstunden geben
zu lassen. Nicht daß er etwa einige Vorbildung, etwas Gehör und Talent
oder auch nur irgendwelche Freude an der Musik gehabt hätte! Aber er
dachte, man könne schließlich geigen lernen so gut wie Latein oder
Rechnen. Die Musik war, wie er hatte sagen hören, im späteren Leben von
Nutzen und machte ihren Mann beliebt und angenehm und jedenfalls kostete
die Sache nichts, denn auch eine Schulgeige stellte das Seminar zur
Verfügung.

Dem Musiklehrer Haas standen die Haare zu Berg, als Lucius zu ihm kam
und Violinstunden haben wollte, denn er kannte ihn von den Singstunden
her, in welchen die Luciusschen Leistungen zwar alle Mitschüler hoch
erfreuten, ihn aber, den Lehrer, zum Verzweifeln brachten. Er versuchte,
dem Jungen die Sache auszureden; doch damit kam er hier an den
Unrechten. Lucius lächelte fein und bescheiden, berief sich auf sein
gutes Recht und erklärte seine Lust zur Musik für unbezwinglich. So
bekam er denn die schlechteste der Übungsgeigen eingehändigt, erhielt
wöchentlich zwei Lektionen und übte jeden Tag seine halbe Stunde. Nach
der ersten Übestunde erklärten aber die Stubengenossen, dies sei das
erste- und letztemal gewesen und sie verbäten sich das heillose Gestöhn.
Von da an strich Lucius mit seiner Geige ruhelos durchs Kloster, stille
Winkel zum Üben suchend, von wo dann kratzend, quietschend und winselnd
sonderbare Töne hervordrangen und die Nachbarschaft beängstigten. Es
war, sagte der Dichter Heilner, als flehe die gequälte alte Geige aus
allen ihren Wurmstichen verzweifelt um Schonung. Da keine Fortschritte
erfolgten, wurde der gepeinigte Lehrer nervös und grob, Lucius übte
immer verzweifelter und sein bisher selbstzufriedenes Krämergesicht
setzte bittere Sorgenfalten an. Es war die reine Tragödie, denn als am
Ende der Lehrer ihn für völlig unfähig erklärte und sich weigerte, die
Stunden fortzusetzen, wählte der betörte Lernlustige das Klavier und
quälte sich auch damit lange, fruchtlose Monate hindurch, bis er mürb
war und still verzichtete. In späteren Jahren dann aber, wenn von Musik
die Rede war, ließ er etwa durchblicken, auch er habe ehedem sowohl
Klavier wie Geige gelernt und sei nur durch die Verhältnisse diesen
schönen Künsten leider allmählich entfremdet worden.

So war die Stube Hellas häufig in der Lage, sich über ihre komischen
Insassen zu amüsieren, denn auch der Schöngeist Heilner führte manche
lächerliche Szene auf. Karl Hamel spielte den Ironiker und witzigen
Beobachter. Er war um ein Jahr älter als die andern, das verlieh ihm
eine gewisse Überlegenheit, doch brachte er es zu keiner geachteten
Rolle; er war launisch und fühlte etwa alle acht Tage das Bedürfnis,
seine Körperkraft in einer Rauferei zu erproben, wobei er dann wild und
fast grausam war.

Hans Giebenrath sah dem mit Erstaunen zu und ging seine stillen Wege vor
sich hin als ein guter, aber ruhiger Kamerad. Er war fleißig, fast so
fleißig wie Lucius, und genoß die Achtung seiner Stubenkumpane mit
Ausnahme Heilners, der den genialen Leichtsinn auf seine Fahne
geschrieben hatte und ihn gelegentlich als einen Streber verspottete. Im
ganzen fanden sich alle die vielen, in der raschen Entwicklung ihrer
Jahre stehenden Knaben wohl ineinander, wenn auch abendliche Raufhändel
auf den Dormenten nichts Seltenes waren. Denn man war zwar mit Eifer
bestrebt, sich erwachsen zu fühlen und das noch ungewohnte »Sie«-Sagen
der Lehrer durch wissenschaftlichen Ernst und gutes Benehmen zu
rechtfertigen, und man sah auf die eben verlassene Lateinschule
mindestens so hochmütig und mitleidig zurück wie ein angehender Student
aufs Gymnasium. Aber je und je brach durch die künstliche Würde doch
eine unverfälschte Bubenhaftigkeit hervor und wollte ihr Recht haben.
Dann widerklang das Dorment von saftigen Lufthieben und kräftig
gesalzenen Knabenschimpfworten.

                   *       *       *       *       *

Für den Leiter oder Lehrer einer solchen Anstalt müßte es lehrreich und
köstlich sein zu beobachten, wie nach den ersten Wochen des
Zusammenlebens die Knabenschar einer sich setzenden chemischen Mischung
gleicht, worin schwankende Wolken und Flocken sich ballen, wieder lösen
und anders formen, bis eine Zahl von festen Gebilden da ist. Nach
Überwindung der ersten Scheu und nachdem alle einander genügend kennen
gelernt hatten, begann ein Wogen und Durcheinandersuchen, Gruppen traten
zusammen, Freundschaften und Antipathien traten zutage. Selten schlossen
sich Landsleute und frühere Schulkameraden zusammen, die meisten wandten
sich neuen Bekannten zu, Städter zu Bauernsöhnen, Älbler zu
Unterländern, nach einem geheimen Trieb zum Mannigfaltigen und zur
Ergänzung. Die jungen Wesen tasteten unschlüssig nacheinander, neben das
Bewußtsein der Gleichheit trat das Verlangen nach Absonderung, und in
manchem von den Knaben erwachte hierbei zum erstenmal die keimende
Bildung einer Persönlichkeit aus dem Kindesschlummer. Unbeschreibliche
kleine Szenen der Zuneigung und der Eifersucht spielten sich ab,
gediehen zu Freundschaftsbündnissen und zu erklärten, trotzigen
Feindschaften und endeten, je nachdem, mit zärtlichen Verhältnissen und
Freundesspaziergängen oder mit scharfen Ring- und Faustkämpfen.

Hans hatte an diesem Treiben äußerlich keinen Anteil. Karl Hamel hatte
ihm deutlich und stürmisch seine Freundschaft angetragen, da war er
erschrocken zurückgewichen. Gleich darauf hatte sich Hamel mit einem
Bewohner Spartas befreundet; Hans war allein geblieben. Ein starkes
Gefühl ließ ihm das Land der Freundschaft selig in sehnsüchtigen Farben
am Horizont erscheinen und zog ihn mit stillem Trieb hinüber. Aber eine
Schüchternheit hielt ihn zurück. Ihm war in seinen strengen, mutterlosen
Knabenjahren die Gabe des Anschmiegens verkümmert, und vor allem
äußerlich Enthusiastischen hatte er ein Grauen. Dazu kam der Knabenstolz
und schließlich der leidige Ehrgeiz. Er war nicht wie Lucius, ihm war es
wirklich um Erkenntnis zu tun, aber gleich jenem suchte er sich alles
fernzuhalten, was ihn der Arbeit entziehen konnte. So blieb er fleißig
am Pult verharren, litt aber Neid und Sehnsucht, wenn er andere sich
ihrer Freundschaft freuen sah. Karl Hamel war der Unrechte gewesen, aber
wenn irgendein anderer gekommen wäre und ihn kräftig an sich zu ziehen
versucht hätte, wäre er gerne gefolgt. Wie ein schüchternes Mädchen
blieb er sitzen und wartete, ob einer käme, ihn zu holen, ein Stärkerer
und Mutigerer als er, der ihn mitrisse und zum Glücklichsein zwänge.

Da neben diesen Angelegenheiten der Unterricht, namentlich im
Hebräischen, viel zu tun gab, verging die erste Zeit den Jünglingen sehr
rasch. Die zahlreichen kleinen Seen und Teiche, von denen Maulbronn
umgeben ist, spiegelten blasse Spätherbsthimmel, welkende Eschen, Birken
und Eichen und lange Dämmerungen wider, durch die schönen Forste tobte
stöhnend und frohlockend der vorwinterliche Kehraus, und schon mehrmals
war ein leichter Reif gefallen.

Der lyrische Hermann Heilner hatte vergebens einen kongenialen Freund zu
erwerben gesucht, nun strich er täglich in der Ausgangsstunde einsam
durch die Wälder und bevorzugte namentlich den Waldsee, einen
melancholischen braunen Weiher, von Röhricht umfaßt und von alten,
welkenden Laubkronen überhangen. Der traurigschöne Waldwinkel zog den
Schwärmer mächtig an. Hier konnte er mit träumerischer Gerte im stillen
Wasser Kreise ziehen, die Schilflieder Lenaus lesen und, in den niederen
Strandbinsen liegend, über das herbstliche Thema vom Sterben und
Vergehen sinnen, während Blätterfall und das Rauschen kahler Wipfel
schwermütige Akkorde dazu gaben. Dann zog er häufig ein kleines
schwarzes Schreibheftlein aus der Tasche, um mit Bleistift einen Vers
oder zwei darein zu schreiben.

Dies tat er auch in einer halbhellen Mittagstunde spät im Oktober, als
Hans Giebenrath, allein spazieren gehend, denselben Ort betrat. Er sah
den Dichterjüngling auf dem Brettersteg der kleinen Stellfalle sitzen,
sein Heftlein im Schoß und den gespitzten Bleistift nachdenklich in den
Mund gesteckt. Ein Buch lag aufgeschlagen daneben. Langsam trat er ihm
näher.

»Grüß Gott, Heilner. Was treibst du?«

»Homerlesen. Und du, Giebenräthchen?«

»Glaub' ich nicht. Ich weiß schon, was du machst.«

»So?«

»Natürlich. Gedichtet hast du.«

»Meinst du?«

»Freilich.«

»Sitz' daher!«

Giebenrath setzte sich neben Heilner auf das Brett, ließ die Beine überm
Wasser baumeln und sah zu, wie da und dort ein braunes Blatt und wieder
eines durch die stille kühle Luft sich herabdrehte und ungehört auf den
bräunlichen Wasserspiegel sank.

»Hier ist's trist«, sagte Hans.

»Ja, ja.«

Beide hatten sich der Länge nach auf den Rücken gelegt, so daß ihnen von
der herbstlichen Umgebung kaum noch ein paar überhängende Wipfel
sichtbar blieben und statt dessen der lichtblaue Himmel mit ruhig
schwimmenden Wolkeninseln hervortrat.

»Was für schöne Wolken!« sagte Hans, behaglich schauend.

»Ja, Giebenräthchen,« seufzte Heilner, »wenn man doch so eine Wolke
wäre!«

»Was dann?«

»Dann würden wir da droben segelfahren, über Wälder und Dörfer und
Oberämter und Länder weg, wie schöne Schiffe. Hast du nie ein Schiff
gesehen?«

»Nein, Heilner. Aber du?«

»O ja. Aber lieber Gott, du verstehst ja nichts von solchen Sachen. Wenn
du nur lernen und streben und büffeln kannst!«

»Du hältst mich also für ein Kamel?«

»Hab' ich nicht gesagt.«

»So dumm, wie du glaubst, bin ich noch lang nicht. Aber erzähl' weiter
von den Schiffen.«

Heilner drehte sich um, wobei er ums Haar ins Wasser gestürzt wäre. Er
lag nun bäuchlings, das Kinn in beide Hände gebohrt, mit aufgestützten
Ellenbogen.

»Auf dem Rhein«, fuhr er fort, »hab' ich solche Schiffe gesehen, in den
Ferien. Einmal Sonntags, da war Musik auf dem Schiff, bei Nacht, und
farbige Laternen. Die Lichter spiegelten sich im Wasser und wir fuhren
mit Musik stromabwärts. Man trank Rheinwein, und die Mädchen hatten
weiße Kleider an.«

Hans hörte zu und erwiderte nichts, aber er hatte die Augen geschlossen
und sah das Schiff durch die Sommernacht fahren, mit Musik und roten
Lichtern und Mädchen in weißen Kleidern. Der andere fuhr fort: »Ja, das
war anders als jetzt. Wer weiß hier was von solchen Sachen? Lauter
Langweiler, lauter Duckmäuser! Das schafft sich ab und schindet sich und
weiß nichts Höheres als das hebräische Alphabet. Du bist ja auch nicht
anders.«

Hans schwieg. Dieser Heilner war doch ein sonderbarer Mensch. Ein
Schwärmer, ein Dichter. Schon oft hatte er sich über ihn gewundert.
Heilner arbeitete, wie jeder wußte, herzlich wenig, und trotzdem wußte
er viel, verstand, gute Antworten zu geben, und verachtete doch auch
wieder diese Kenntnisse.

»Da lesen wir Homer,« höhnte er weiter, »wie wenn die Odyssee ein
Kochbuch wäre. Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort
wiedergekäut und untersucht, bis es einem zum Ekel wird. Aber am Schluß
der Stunde heißt es da jedesmal: Sie sehen, wie fein der Dichter das
gewendet hat, Sie haben hier einen Blick in das Geheimnis des
dichterischen Schaffens getan! Bloß so als Sauce um die Partikeln und
Aoriste herum, damit man nicht ganz dran erstickt. Auf die Art kann mir
der ganze Homer gestohlen werden. Überhaupt was geht uns eigentlich das
alte griechische Zeug an? Wenn einer von uns einmal probieren wollte,
ein bißchen griechisch zu leben, so würde er rausgeschmissen. Dabei
heißt unsere Stube Hellas! Der reine Hohn! Warum heißt sie nicht
»Papierkorb« oder »Sklavenkäfig« oder »Angströhre«? Das ganze klassische
Zeug ist ja Schwindel.«

Er spuckte in die Luft.

»Du, hast du vorher Verse gemacht?« fragte nun Hans.

»Ja.«

»Über was?«

»Hier, über den See und über den Herbst.«

»Zeig' mir's!«

»Nein, es ist noch nicht fertig.«

»Aber wenn's fertig ist?«

»Ja, meinetwegen.«

Die zwei erhoben sich und gingen langsam ins Kloster zurück.

»Da, hast du eigentlich schon gesehen, wie schön das ist?« sagte
Heilner, als sie am »Paradies« vorüberkamen, »Hallen, Bogenfenster,
Kreuzgänge, Refektorien, gotisch und romanisch, alles reich und
kunstvoll und Künstlerarbeit. Und für was der Zauber? Für drei Dutzend
arme Buben, die Pfarrer werden wollen. Der Staat hat's übrig.«

Hans mußte den ganzen Nachmittag über Heilner nachdenken. Was war das
für ein Mensch? Was Hans an Sorgen und Wünschen kannte, existierte für
jenen gar nicht. Er hatte eigene Gedanken und Worte, er lebte wärmer und
freier, litt seltsame Leiden und schien seine ganze Umgebung zu
verachten. Er verstand die Schönheit der alten Säulen und Mauern. Und er
trieb die geheimnisvolle, sonderbare Kunst, seine Seele in Versen zu
spiegeln und sich ein eigenes, scheinlebendiges Leben aus der Phantasie
zu erbauen. Er war beweglich und unbändig und machte täglich mehr Witze
als Hans in einem Jahr. Er war schwermütig und schien seine eigene
Traurigkeit wie eine fremde, ungewöhnliche und köstliche Sache zu
genießen.

Noch am Abend dieses Tages gab Heilner der ganzen Stube eine Probe
seines scheckigen und auffallenden Wesens. Einer der Kameraden, ein
Maulheld und kleiner Geist namens Otto Wenger, fing Streit mit ihm an.
Eine Weile blieb Heilner ruhig, witzig und überlegen, dann ließ er sich
zum Austeilen einer Ohrfeige hinreißen, und alsbald waren beide Gegner
leidenschaftlich und unlöslich ineinander verknäuelt und verbissen und
trieben wie ein steuerloses Schiff in Stößen und Halbkreisen und
Zuckungen durch Hellas, an den Wänden hin, über Stühle weg, auf dem
Boden, beide wortlos, keuchend, sprudelnd und schäumend. Die Kameraden
standen mit kritischen Gesichtern beobachtend dabei, wichen dem Knäuel
aus, retteten ihre Beine, Pulte und Lampen und warteten in froher
Spannung den Ausgang ab. Nach einigen Minuten erhob sich Heilner mühsam,
machte sich los und blieb atmend stehen. Er sah zerschunden aus, hatte
rote Augen, einen zerrissenen Hemdkragen und ein Loch im Hosenknie. Sein
Gegner wollte ihn aufs neue anfallen, er stand aber mit verschränkten
Armen da und sagte hochmütig: »Ich mache nicht weiter -- wenn du willst,
so schlag' zu.« Otto Wenger ging schimpfend weg. Heilner lehnte sich an
sein Pult, drehte an der Stehlampe, steckte die Hände in die
Hosentaschen und schien sich auf irgend etwas besinnen zu wollen.
Plötzlich brachen ihm Tränen aus den Augen, eine um die andere und immer
mehr. Das war unerhört, denn Weinen galt ohne Zweifel für das
Allerschimpflichste, was ein Seminarist tun konnte. Und er tat gar
nichts, es zu verbergen. Er verließ die Stube nicht, er blieb ruhig
stehen, das blaß gewordene Gesicht der Lampe zugewendet; er wischte die
Tränen nicht ab und nahm nicht einmal die Hände aus den Taschen. Die
andern standen um ihn herum, neugierig und boshaft zuschauend, bis
Hartner sich vor ihn hinstellte und ihm sagte: »Du, Heilner, schämst du
dich denn nicht?«

Der Weinende blickte langsam um sich, wie einer, der eben aus einem
tiefen Schlaf erwacht.

»Mich schämen -- vor euch?« sagte er dann laut und verächtlich. »Nein,
mein Bester.«

Er wischte sich das Gesicht ab, lächelte ärgerlich, blies seine Lampe
aus und ging aus der Stube.

Hans Giebenrath war während der ganzen Szene an seinem Platz geblieben
und hatte nur erstaunt und erschrocken zu Heilner hinübergeschielt. Eine
Viertelstunde später wagte er es, dem Verschwundenen nachzugehen. Er sah
ihn im dunkeln, frostigen Dorment auf einem der tiefen Fenstersimse
sitzen, regungslos, und in den Kreuzgang hinunterschauen. Von hinten
sahen seine Schultern und der schmale, scharfe Kopf eigentümlich ernst
und unknabenhaft aus. Er rührte sich nicht, als Hans zu ihm trat und am
Fenster stehenblieb, und erst nach einer Weile fragte er, ohne sein
Gesicht herüberzuwenden, mit heiserer Stimme: »Was gibt's?«

»Ich bin's«, sagte Hans schüchtern.

»Was willst du?«

»Nichts.«

»So? Dann kannst du ja wieder gehen.«

Hans war verletzt und wollte wirklich fortgehen. Da hielt Heilner ihn
zurück.

»Halt doch,« sagte er in einem künstlich scherzhaften Ton, »so war's
nicht gemeint.«

Beide sahen nun einander ins Gesicht, und wahrscheinlich sah jeder in
diesem Augenblick des andern Gesicht zum ersten Male ernstlich an und
versuchte sich vorzustellen, daß hinter diesen jünglinghaft glatten
Zügen ein besonderes Menschenleben mit seinen Eigenarten und eine
besondere, in ihrer Weise gezeichnete Seele wohne.

Langsam streckte Hermann Heilner seinen Arm aus, faßte Hans an der
Schulter und zog ihn zu sich her, bis ihre Gesichter einander ganz nahe
waren. Dann fühlte Hans plötzlich mit wunderlichem Schreck des andern
Lippen seinen Mund berühren.

Ihm schlug das Herz in einer ganz ungewohnten Beklemmung. Dies
Beisammensein im dunkeln Dorment und dieser plötzliche Kuß war etwas
Abenteuerliches, Neues, vielleicht Gefährliches; es fiel ihm ein, wie
entsetzlich es gewesen wäre, dabei ertappt zu werden, denn ein sicheres
Gefühl ließ ihn wissen, daß dies Küssen den andern noch viel
lächerlicher und schandbarer vorkommen würde als vorher das Weinen.
Sagen konnte er nichts, aber das Blut stieg ihm mächtig zu Kopf, und er
wäre am liebsten davongelaufen.

Ein Erwachsener, welcher die kleine Szene gesehen hätte, hätte
vielleicht seine stille Freude an ihr gehabt, an der unbeholfen scheuen
Zärtlichkeit einer schamhaften Freundschaftserklärung und an den beiden
ernsthaften, schmalen Knabengesichtern, welche beide hübsch und
verheißungsvoll waren, halb noch der Kindesanmut teilhaftig und halb
schon vom scheuen, schönen Trotz der Jünglingszeit überflogen.

Allmählich hatte das junge Volk sich ins Zusammenleben gefunden. Man
kannte einander, jeder hatte von jedem eine gewisse Kenntnis und
Vorstellung, und eine Menge Freundschaften waren geschlossen. Es gab
Freundespaare, welche miteinander hebräische Vokabeln lernten,
Freundespaare, die zusammen zeichneten oder spazierengingen oder
Schiller lasen. Es gab gute Lateiner und schlechte Rechner, die sich mit
schlechten Lateinern und guten Rechnern zusammengetan hatten, um die
Früchte genossenschaftlicher Arbeit zu genießen. Es gab auch
Freundschaften, deren Fundament eine andere Art von Vertrag und
Gütergemeinschaft bildete. So hatte der vielbeneidete Schinkenbesitzer
seine ergänzende Hälfte an einem Gärtnerssohn aus Stammheim gefunden,
der seinen Kastenboden voll schöner Äpfel liegen hatte. Er bat einst
beim Schinkenessen, da er Durst bekam, jenen um einen Apfel und bot ihm
dafür vom Schinken an. Sie setzten sich zusammen, ein vorsichtiges
Gespräch brachte zutage, daß der Schinken, wenn er zu Ende wäre,
sogleich ersetzt werden würde, und daß auch der Äpfelbesitzer bis weit
ins Frühjahr hinein von den väterlichen Vorräten werde zehren können,
und so kam ein solides Verhältnis zustande, das manches idealere und
stürmischer geschlossene Bündnis lang überdauerte.

Nur wenige waren Einspänner geblieben, unter ihnen Lucius, dessen
habsüchtige Liebe zur Kunst damals noch in voller Blüte stand.

Es gab auch ungleiche Paare. Für das ungleichste galten Hermann Heilner
und Hans Giebenrath, der Leichtsinnige und der Gewissenhafte, der
Dichter und der Streber. Man zählte zwar beide zu den Gescheiten und
Begabtesten, aber Heilner genoß den halb spöttisch gemeinten Ruf eines
Genies, während der andere im Geruch des Musterknaben stand. Doch ließ
man sie ziemlich ungeschoren, da jeder von seiner eigenen Freundschaft
in Anspruch genommen war und gern für sich blieb.

Über diesen persönlichen Interessen und Erlebnissen kam aber die Schule
doch nicht zu kurz. Sie war vielmehr der große Satz und Rhythmus, neben
welchem Luciussens Musik, Heilners Dichterei samt allen Bündnissen,
Händeln und gelegentlichen Raufereien nur tändelnd als unwesentliche
Variationen und kleine Separatbelustigungen dahinliefen. Vor allem gab
das Hebräische zu tun. Die seltsame, uralte Sprache Jehovas, ein
spröder, verdorrter und doch noch geheimnisvoll lebendiger Baum, wuchs
fremdartig, knorrig und rätselhaft vor den Augen der Jünglinge auf,
durch wunderliche Verästungen auffallend und durch merkwürdig gefärbte
und duftende Blüten überraschend. In seinen Zweigen, Höhlungen und
Wurzeln hausten, schauerlich oder freundlich, tausendjährige Geister:
phantastisch schreckhafte Drachen, naive liebliche Märchen, faltig
ernste, trockene Greisenköpfe neben schönen Knaben und stilläugigen
Mädchen oder streitbaren Frauen. Was in der behaglichen Lutherbibel fern
und traumhaft geklungen hatte, von alttestamentlichen Nebeln mild
umflort, das gewann nun in der rauhen, echten Sprache Blut und Stimme
und ein veraltet schwerfälliges, aber zähes und unheimliches Leben. So
erschien es wenigstens Heilner, der den ganzen Pentateuch täglich und
stündlich verfluchte und doch mehr Leben und Seele in ihm fand und aus
ihm sog als mancher geduldige Lerner, der alle Vokabeln wußte und keine
Lesefehler mehr machte.

Daneben das Neue Testament, wo es zarter, lichter und innerlicher zuging
und dessen Sprache zwar weniger alt und tief und reich, aber feiner und
von einem jungen, eifrigen und auch träumerischen Geist erfüllt war.

Und die Odyssee, aus deren kräftig wohllautenden, stark und ebenmäßig
dahinströmenden Versen gleich einem weißen runden Nixenarm die Kunde und
Ahnung eines untergegangenen, formklaren und glücklichen Lebens
emporstieg, bald fest und greifbar in irgendeinem kräftig umrissenen
derben Zuge, bald nur als Traum und schöne Ahnung aus einigen Worten und
Versen herausschimmernd.

Hieneben verschwanden die Historiker Xenophon und Livius oder standen
doch, als mindere Lichter, bescheiden und fast glanzlos beiseite.

Hans bemerkte mit Erstaunen, wie für seinen Freund alle Dinge anders
aussahen als für ihn. Für Heilner gab es nichts Abstraktes, nichts, was
er sich nicht hätte vorstellen und mit Phantasiefarben bemalen können.
Wo das nicht anging, ließ er alles mit Unlust liegen. Die Mathematik war
ihm eine mit hinterlistigen Rätseln beladene Sphinx, deren kühler, böser
Blick ihre Opfer bannte, und er wich dem Ungeheuer in großem Bogen aus.

Die Freundschaft der beiden war ein sonderbares Verhältnis. Sie war für
Heilner ein Vergnügen und Luxus, eine Bequemlichkeit oder auch eine
Laune, für Hans aber war sie bald ein mit Stolz gehüteter Schatz, bald
auch eine große, schwer zu tragende Last. Bisher hatte Hans die
Abendstunden stets zur Arbeit benützt. Jetzt kam es fast alle Tage vor,
daß Hermann, wenn er das Büffeln satt hatte, zu ihm herüberkam, ihm das
Buch wegzog und ihn in Anspruch nahm. Schließlich zitterte Hans, so lieb
der Freund ihm war, jeden Abend vor seinem Kommen und arbeitete in den
obligatorischen Arbeitsstunden doppelt eifrig und eilig, um nichts zu
versäumen. Noch peinlicher war es ihm, als Heilner auch theoretisch
seinen Fleiß zu bekämpfen anfing.

»Das ist Taglöhnerei,« hieß es, »du tust all die Arbeit ja doch nicht
gern und freiwillig, sondern lediglich aus Angst vor den Lehrern oder
vor deinem Alten. Was hast du davon, wenn du Erster oder Zweiter wirst?
Ich bin Zwanzigster und darum doch nicht dümmer als ihr Streber.«

Entsetzt war Hans auch, als er zum erstenmal sah, wie Heilner mit seinen
Schulbüchern umging. Er hatte einmal seine Bücher im Hörsaal liegen
lassen und entlehnte, da er sich auf die nächste Geographiestunde
vorbereiten wollte, Heilners Atlas. Da sah er mit Grausen, daß jener
ganze Blätter mit dem Bleistift verschmiert hatte. Die Westküste der
Pyrenäischen Halbinsel war zu einem grotesken Profil ausgezogen, worin
die Nase von Porto bis Lissabon reichte und die Gegend am Kap Finisterre
zu einem gekräuselten Lockenschmuck stilisiert war, während das Kap St.
Vincent die schön ausgedrehte Spitze eines Vollbartes bildete. So ging
es von Blatt zu Blatt, auf die weißen Rückseiten der Karten waren
Karikaturen gezeichnet und freche Ulkverse geschrieben, und an
Tintenflecken fehlte es auch nicht. Hans war gewohnt, seine Bücher als
Heiligtümer und Kleinodien zu behandeln und er empfand diese Kühnheiten
halb als Tempelschändungen, halb als zwar verbrecherische, aber doch
heroische Heldentaten.

Es konnte scheinen, als wäre der gute Giebenrath für seinen Freund
lediglich ein angenehmes Spielzeug, sagen wir, eine Art Hauskatze, und
Hans selber fand das zuweilen. Aber Heilner hing doch an ihm, weil er
ihn brauchte. Er mußte jemand haben, dem er sich anvertrauen konnte, der
ihm zuhörte, der ihn bewunderte. Er brauchte einen, der still und
lüstern zuhörte, wenn er seine revolutionären Reden über Schule und
Leben hielt. Und er brauchte auch einen, der ihn tröstete und dem er den
Kopf in den Schoß legen durfte, wenn er melancholische Stunden hatte.
Wie alle solchen Naturen litt der junge Dichter an Anfällen einer
grundlosen, ein wenig koketten Schwermut, deren Ursachen teils das leise
Abschiednehmen der Kindesseele, teils der noch ziellose Überfluß der
Kräfte, Ahnungen und Begierden, teils das unverstandene dunkle Drängen
des Mannbarwerdens sind. Dann hatte er ein krankhaftes Bedürfnis,
bemitleidet und gehätschelt zu werden. Früher war er ein Mutterliebling
gewesen, und jetzt, solange er noch nicht zur Frauenliebe reif war,
diente ihm der gefügige Freund als Tröster.

Oft kam er abends todunglücklich zu Hans, entführte ihn seiner Arbeit
und forderte ihn auf, mit ihm ins Dorment hinauszugehen. Dort in der
kalten Halle oder im hohen, dämmernden Oratorium gingen sie
nebeneinander auf und ab oder setzten sich fröstelnd in ein Fenster.
Heilner gab dann allerlei jammervolle Klagen von sich, nach Art von
lyrischen und Heinelesenden Jünglingen, und war in die Wolken einer
etwas kindischen Traurigkeit gehüllt, welche Hans zwar nicht recht
verstehen konnte, die ihm aber doch Eindruck machte und ihn sogar
zuweilen ansteckte. Der empfindliche Schöngeist war namentlich bei
trübem Wetter seinen Anfällen ausgesetzt und meistens erreichte der
Jammer und das Gestöhne seinen Höhepunkt an Abenden, wo spätherbstliche
Regenwolken den Himmel verdüsterten und hinter ihnen, durch trübe Flöre
und Ritzen schauend, der sentimentale Mond seine Bahn beschrieb. Dann
schwelgte er in Ossianischen Stimmungen und zerfloß in nebelhafter
Wehmut, die sich in Seufzern, Reden und Versen über den unschuldigen
Hans ergoß.

Von diesen kläglichen Leidensszenen bedrückt und gepeinigt, stürzte sich
dieser in den ihm übrigbleibenden Stunden mit hastigem Eifer in die
Arbeit, die ihm doch immer schwerer fiel. Daß das alte Kopfweh
wiederkam, wunderte ihn nicht weiter; aber daß er immer häufiger
tatlose, müde Stunden hatte und sich stacheln mußte, um nur das
Notwendige zu leisten, das machte ihm schwere Sorge. Zwar fühlte er
dunkel, daß die Freundschaft mit dem Sonderling ihn erschöpfte und
irgendeinen bisher unberührten Teil seines Wesens krank machte, aber je
düsterer und weinerlicher jener war, desto mehr tat er ihm leid und
desto zärtlicher und stolzer machte ihn das Bewußtsein, dem Freunde
unentbehrlich zu sein.

Zudem spürte er wohl, daß dieses kränkliche Wehmutwesen nur ein
Ausstoßen überflüssiger und ungesunder Triebe war und eigentlich nicht
in Heilners Wesen gehörte, den er treu und aufrichtig bewunderte. Wenn
der Freund seine Verse vorlas oder von seinen Dichteridealen redete oder
Monologe aus Schiller und Shakespeare mit Leidenschaft und großem
Gebärdenspiel vortrug, war es für Hans, als wandle jener kraft einer ihm
selber mangelnden Zaubergabe in den Lüften, bewege sich in einer
göttlichen Freiheit und feurigen Leidenschaft und entschwebe ihm und
seinesgleichen auf geflügelten Sohlen wie ein Homerischer Himmelsbote.
Bis dahin war ihm die Welt der Dichter wenig bekannt und unwichtig
gewesen, nun spürte er zum erstenmal widerstandslos die trügerische
Gewalt schönfließender Worte, täuschender Bilder und schmeichlerischer
Reime, und seine Verehrung für diese ihm neuerschlossene Welt war mit
der Bewunderung des Freundes zu einem ungetrennten Gefühl
ineinandergewachsen.

                   *       *       *       *       *

Unterdessen kamen stürmische, dunkle Novembertage, an denen man nur
wenige Stunden ohne Lampe arbeiten konnte, und schwarze Nächte, in denen
der Sturm große rollende Wolkenberge durch die finstern Höhen trieb und
stöhnend oder zankend um die alten festen Klostergebäude stieß. Die
Bäume waren nun völlig entlaubt; nur die mächtigen, knorrig verästeten
Eichen, die Könige jener baumreichen Landschaft, rauschten noch mit
welken Laubkronen lauter und mürrischer als alle anderen Bäume. Heilner
war ganz trübsinnig und liebte es neuerdings, statt bei Hans zu sitzen,
allein in einem entlegenen Übungszimmer auf der Geige zu stürmen oder
mit den Kameraden Händel anzufangen.

Eines Abends, da er jenes Zimmer aufsuchte, fand er den strebsamen
Lucius dort vor einem Notenpult mit Üben beschäftigt. Ärgerlich ging er
weg und kam nach einer halben Stunde wieder. Jener übte noch immer.

»Du könntest jetzt aufhören«, schimpfte Heilner. »Es gibt auch noch
andere Leute, die üben wollen. Deine Kratzerei ist ohnehin eine
Landplage.«

Lucius wollte nicht weichen, Heilner wurde grob, und als der andere sein
Kratzen ruhig wiederaufnahm, stieß er ihm das Notengestell mit einem
Fußtritt um, daß die Blätter ins Zimmer stoben und das Pult dem Geiger
ins Gesicht schlug. Lucius bückte sich nach den Noten.

»Das sag' ich dem Herrn Ephorus«, sagte er entschieden.

»Gut,« schrie Heilner wütend, »so sag' ihm auch gleich, ich hätte dir
einen Hundstritt gratis dreingegeben.« Und er wollte sogleich zur Tat
schreiten.

Lucius sprang fliehend beiseite und gewann die Tür. Sein Verfolger
setzte ihm nach und es entstand ein hitziges und geräuschvolles Jagen
durch Gänge und Säle, über Treppen und Flure bis in den fernsten Flügel
des Klosters, wo in stiller Vornehmheit die Ephoruswohnung lag. Heilner
erreichte den Flüchtling erst knapp vor der Studierzimmertüre des
Ephorus und als jener schon angeklopft hatte und in der offenen Türe
stand, erhielt er im letzten Augenblick noch den versprochenen Fußtritt
und fuhr, ohne mehr die Tür hinter sich schließen zu können, wie eine
Bombe ins Allerheiligste des Herrschers.

Das war ein unerhörter Fall. Am nächsten Morgen hielt der Ephorus eine
glänzende Rede über die Entartung der Jugend, Lucius hörte tiefsinnig
und beifällig zu und Heilner bekam eine schwere Karzerstrafe diktiert.

»Seit mehreren Jahren«, donnerte der Ephorus ihn an, »ist eine solche
Strafe hier nicht mehr vorgekommen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie noch
in zehn Jahren daran denken sollen. Euch andern stelle ich diesen
Heilner als abschreckendes Beispiel auf.«

Die ganze Promotion schielte scheu zu ihm hinüber, der blaß und trotzig
dastand und dem Blick des Ephorus nicht auswich. Im stillen bewunderten
ihn viele, trotzdem blieb er am Ende der Lektion, als alles lärmend die
Gänge erfüllte, allein und gemieden wie ein Aussätziger. Es gehörte Mut
dazu, jetzt zu ihm zu stehen.

Auch Hans Giebenrath tat es nicht. Es wäre seine Pflicht gewesen, das
fühlte er wohl, und er litt am Gefühl seiner Feigheit. Unglücklich und
schamhaft drückte er sich in ein Fenster und wagte nicht aufzublicken.
Es trieb ihn, den Freund aufzusuchen und er hätte viel darum gegeben, es
unbemerkt tun zu können. Aber ein mit schwerem Karzer Bestrafter ist im
Kloster für längere Zeit so gut wie gebrandmarkt. Man weiß, daß er von
nun an besonders beobachtet wird und daß es gefährlich ist und einen
schlechten Ruf einträgt, mit ihm Verkehr zu haben. Den Wohltaten, welche
der Staat seinen Zöglingen erweist, muß eine scharfe, strenge Zucht
entsprechen, das war schon in der großen Rede beim Eintrittsfeste
vorgekommen. Auch Hans wußte das. Und er unterlag im Kampf zwischen
Freundespflicht und Ehrgeiz. Sein Ideal war nun einmal, vorwärts zu
kommen, berühmte Examina zu machen und eine Rolle zu spielen, aber keine
romantische und gefährliche. So verharrte er ängstlich in seinem Winkel.
Noch konnte er hervortreten und tapfer sein, aber von Augenblick zu
Augenblick wurde es schwerer und eh' er sich's versah, war sein Verrat
zur Tat geworden. Heilner bemerkte es wohl. Der leidenschaftliche Knabe
fühlte, wie man ihm auswich, und begriff es, aber auf Hans hatte er sich
verlassen. Neben dem Weh und der Empörung, die er jetzt empfand, kamen
ihm selber seine bisherigen, inhaltlosen Jammergefühle leer und
lächerlich vor. Einen Augenblick blieb er neben Giebenrath stehen. Er
sah blaß und hochmütig aus und sagte leise: »Du bist ein gemeiner
Feigling, Giebenrath -- pfui Teufel!« Und damit ging er weg, halblaut
pfeifend und die Hände in den Hosensäcken.

Es war gut, daß andere Gedanken und Beschäftigungen die jungen Leute in
Anspruch nahmen. Wenige Tage nach jenem Ereignis trat plötzlich
Schneefall, dann frostklares Winterwetter ein, man konnte schneeballen
und Schlittschuh laufen, und alle merkten nun auch plötzlich und
sprachen davon, daß Weihnachten und Ferien vor der Tür standen. Heilner
wurde weniger beachtet. Er ging still und trotzig mit aufrechtem Kopf
und hochmütigem Gesicht umher, sprach mit niemand und schrieb häufig
Verse in ein Schreibheft, das einen Umschlag von schwarzem Wachstuch
hatte und die Aufschrift »Lieder eines Mönches« trug.

An den Eichen, Erlen, Buchen und Weiden hing Reif und gefrorener Schnee
in zarten, phantastischen Gebilden. Auf den Weihern knisterte im Frost
das klare Eis. Der Kreuzganghof sah wie ein stiller Marmorgarten aus.
Eine frohe, festliche Erregung ging durch die Stuben und die
weihnachtliche Vorfreude gab sogar den beiden tadellosen, gemessenen
Professoren einen kleinen Glanz von Milde und heiterer Aufregung ab.
Unter Lehrern und Schülern war keiner, den Weihnachten gleichgültig
ließ, auch Heilner begann weniger verbissen und elend auszusehen und
Lucius überlegte, welche Bücher und welches Paar Schuhe er in die Ferien
mitnehmen solle. In den von Hause kommenden Briefen standen schöne,
ahnungsvolle Dinge: Fragen nach Lieblingswünschen, Berichte von
Backtagen, Andeutung bevorstehender Überraschungen und Freude aufs
Wiedersehen.

Vor der Ferienreise erlebte die Promotion und insbesondere die Stube
Hellas noch eine kleine heitere Geschichte. Es war beschlossen worden,
die Lehrerschaft zu einer abendlichen Weihnachtsfeier einzuladen, welche
in Hellas, als der größten Stube, stattfinden sollte. Eine Festrede,
zwei Deklamationen, ein Flötensolo und ein Geigenduo waren vorbereitet.
Nun sollte aber durchaus auch noch eine humoristische Nummer aufs
Programm. Man beriet und verhandelte, machte und verwarf Vorschläge,
ohne einig zu werden. Da sagte Karl Hamel so nebenher, das Heiterste
wäre eigentlich ein Violinsolo von Emil Lucius. Das zog. Durch Bitten,
Versprechungen und Drohungen brachte man den unglücklichen Musikanten
dazu, daß er sich hergab. Und nun stand auf dem Programm, das mit einer
höflichen Einladung den Lehrern zugeschickt wurde, als besondere Nummer:
»Stille Nacht, Lied für Violine, vorgetragen von Emil Lucius,
Kammervirtuos«. Letzteren Titel verdankte er seinem fleißigen Üben in
jener abgelegenen Musikstube.

Ephorus, Professoren, Repetenten, Musiklehrer und Oberfamulus waren
eingeladen und erschienen zur Feier. Dem Musiklehrer trat der Schweiß
auf die Stirne, als Lucius in einem von Hartner geborgten schwarzen Rock
mit Schößen auftrat, frisiert und gebügelt, mit seinem sanft
bescheidenen Lächeln. Schon seine Verbeugung wirkte wie eine
Aufforderung zur Heiterkeit. Aus dem Lied »Stille Nacht« wurde unter
seinen Fingern eine ergreifende Klage, ein stöhnendes, schmerzvolles
Lied des Leides; er begann zweimal, zerriß und zerhackte die Melodie,
trat den Takt mit dem Fuß und arbeitete wie ein Waldarbeiter bei
Frostwetter.

Fröhlich nickte der Herr Ephorus dem Musiklehrer zu, der vor Entrüstung
blaß geworden war.

Als Lucius das Lied zum drittenmal begonnen hatte und auch diesmal
steckenblieb, ließ er die Geige sinken, wandte sich gegen die Zuhörer
und entschuldigte sich: »Es geht nicht. Aber ich tu' auch erst seit
letzten Herbst geigen.«

»Es ist gut, Lucius,« rief der Ephorus, »wir danken Ihnen für Ihre
Anstrengungen. Lernen Sie nur so weiter. ^Per aspera ad astra!^«

Am 24. Dezember war von morgens drei Uhr an Leben und Getöse in allen
Schlafsälen. An den Fenstern blühten dicke Lagen von feingeblätterten
Eisblumen, das Waschwasser war eingefroren und über den Klosterhof
strich ein schneidend dünner Frostwind, doch kehrte sich niemand daran.
Im Speisesaal dampften die großen Kaffeekübel und in dunklen Gruppen
wanderten bald darauf die in Mäntel und Tücher verpackten Schüler über
das weiße, schwach leuchtende Feld und durch die schweigende Waldung der
weit entfernten Bahnstation entgegen. Alle plauderten, machten Witze und
lachten laut und waren doch nebenher jeder voll seiner verschwiegenen
Wünsche, Freuden und Erwartungen. Weit im ganzen Lande, in Städten und
Dörfern und auf einsamen Höfen wußten sie in warmen, festgeschmückten
Stuben Eltern und Brüder und Schwestern auf sich warten. Es war für die
meisten von ihnen die erste Weihnacht, zu der sie aus der Ferne
heimreisten und die meisten wußten, daß man sie mit Liebe und mit Stolz
erwartete.

Auf der kleinen Bahnstation, mitten im verschneiten Walde, wartete man
in bitterer Kälte auf den Zug, und man war nie so einmütig, verträglich
und lustig beisammen gewesen. Nur Heilner blieb allein und schweigend
und als der Zug da war, wartete er das Einsteigen der Kameraden ab und
ging dann allein in einen andern Wagen. Beim Umsteigen am nächsten
Bahnhof sah Hans ihn noch einmal, doch ging das flüchtige Gefühl der
Beschämung und Reue schnell wieder in der Aufregung und Freude der
Heimreise unter.

Zu Hause fand er den Papa schmunzelnd und zufrieden, und ein
wohlbesetzter Gabentisch erwartete ihn. Ein richtiges Christfest gab es
im Hause Giebenrath allerdings nicht. Es fehlte Gesang und
Festbegeisterung, es fehlte eine Mutter, es fehlte ein Tannenbaum. Herr
Giebenrath verstand die Kunst, Feste zu feiern, nicht. Aber er war stolz
auf seinen Buben und hatte an den Geschenken diesmal nicht gespart. Und
Hans war es nicht anders gewöhnt, er vermißte nichts.

Man fand ihn schlecht aussehend, zu mager und zu blaß, und fragte ihn,
ob denn im Kloster die Kost so schmal sei. Er verneinte eifrig und
versicherte, es gehe ihm gut, nur habe er so oft Kopfweh. Hierüber
tröstete ihn der Stadtpfarrer, der in jüngern Jahren selber daran
gelitten hatte und somit war alles gut.

Der Fluß war blank gefroren und an den Feiertagen voll von
Schlittschuhläufern. Hans war fast den ganzen Tag draußen, in einem
neuen Anzug, die grüne Seminaristenmütze auf dem Kopf, seinen ehemaligen
Mitschülern weit in eine beneidete höhere Welt hinein entwachsen.



                           Viertes Kapitel


Erfahrungsgemäß pflegen sich aus jeder Seminaristenpromotion einer oder
mehrere Kameraden im Laufe der vier Klosterjahre zu verlieren. Zuweilen
stirbt einer weg und wird mit Gesang beerdigt oder mit Freundesgeleite
in seine Heimat überführt. Zuweilen macht sich einer gewaltsam los oder
wird besonderer Sünden wegen entfernt. Gelegentlich, doch selten und nur
in der älteren Klasse, kommt es etwa auch einmal vor, daß irgendein
ratloser Junge aus seinen Jugendnöten einen kurzen, dunkeln Ausweg durch
einen Schuß oder durch den Sprung in ein Wasser findet.

Auch der Promotion Hans Giebenraths sollten einige Kameraden verloren
gehen und durch einen sonderbaren Zufall geschah es, daß diese alle der
Stube Hellas angehörten.

Unter ihren Bewohnern war ein bescheidenes blondes Männlein, namens
Hindinger, mit Spitznamen Hindu genannt, Sohn eines Schneidermeisters
irgendwo in der Allgäuer Diaspora. Er war ein ruhiger Bürger und machte
erst durch seinen Weggang ein wenig von sich reden, doch auch da nicht
zu viel. Als Pultnachbar des sparsamen Kammervirtuosen Lucius hatte er
mit diesem freundlich und bescheidentlich ein wenig mehr als mit den
andern Verkehr gehabt, sonst aber keine Freunde besessen. Erst als er
fehlte, merkte man in Hellas, daß man ihn gern gehabt hatte als einen
anspruchslosen, guten Nachbarn und als einen Ruhepunkt im oft erregten
Leben der Stube.

Er schloß sich eines Tages im Januar den Schlittschuhläufern an, die
nach dem Roßweiher hinauszogen. Schlittschuhe besaß er nicht, sondern
wollte nur einmal zusehen. Doch fror ihn bald und er stampfte ums Ufer
herum, um sich zu erwärmen. Darüber kam er ins Laufen, verlor sich ein
Stück weit über Feld und geriet an einen anderen kleinen See, der seiner
wärmeren und stärkeren Quellen wegen nur schwach überfroren war. Er trat
durchs Schilf hinüber. Dort brach er, so klein und leicht er war, nahe
beim Ufer ein, wehrte sich und schrie noch eine kleine Weile und sank
dann unbemerkt in die dunkle Kühle hinunter.

Erst als um zwei Uhr die erste Nachmittagslektion begann, wurde sein
Fehlen bemerkt.

»Wo ist Hindinger?« rief der Repetent.

Niemand gab Antwort.

»Sehen Sie in Hellas nach!«

Aber dort war keine Spur von ihm.

»Er wird sich verspätet haben, lassen Sie uns ohne ihn beginnen. Wir
stehen Seite 74, Vers sieben. Ich bitte mir aber aus, daß so etwas nicht
wieder vorkommt. Sie haben pünktlich zu sein.«

Als es drei Uhr schlug und Hindinger noch immer fehlte, bekam der Lehrer
Angst und schickte zum Ephorus. Dieser erschien sogleich höchstselber im
Lehrsaal, stellte ein großes Fragen an und schickte alsdann zehn Schüler
unter Begleitung des Famulus und eines Repetenten auf die Suche. Den
Zurückbleibenden wurde eine schriftliche Übung diktiert.

Um vier Uhr trat der Repetent ohne anzuklopfen in den Hörsaal und
erstattete dem Ephorus im Flüsterton Bericht.

»Stille!« gebot der Ephorus, und die Schüler saßen regungslos in den
Bänken und sahen ihn erwartungsvoll an.

»Ihr Kamerad Hindinger«, fuhr er leise fort, »scheint in einem Weiher
ertrunken zu sein. Sie müssen nun helfen, ihn zu suchen. Herr Professor
Meyer wird Sie führen, Sie haben ihm pünktlich und wörtlich zu folgen
und keinerlei eigenmächtige Schritte dabei zu tun.«

Erschrocken und flüsternd brach man auf, den Professor an der Spitze.
Vom Städtchen stießen ein paar Männer mit Seilen, Latten und Stangen zu
dem eiligen Zuge. Es war bitter kalt und die Sonne stand schon am Rande
der Wälder.

Und als endlich der kleine steife Körper des Knaben gefunden war und in
den verschneiten Binsen auf eine Trage gelegt wurde, war schon tiefe
Dämmerung. Die Seminaristen standen wie scheue Vögel ängstlich umher,
starrten auf die Leiche und rieben sich ihre blauen, steif gewordenen
Finger. Und erst als der ertrunkene Kamerad vor ihnen hergetragen ward
und sie ihm schweigend über die Schneefelder nachfolgten, wurden
plötzlich ihre beklommenen Seelen von einem Schauder berührt und
witterten den grimmen Tod wie Rehe den Feind.

In dem kläglichen, frierenden Häuflein schritt Hans Giebenrath zufällig
neben seinem gewesenen Freunde Heilner. Beide bemerkten die
Nachbarschaft im gleichen Augenblick, da sie über dieselbe Unebenheit
des Feldes gestolpert waren. Es mochte sein, daß der Anblick des Todes
ihn überwältigt und für Augenblicke von der Nichtigkeit aller
Selbstsucht überzeugt hatte, jedenfalls fühlte Hans, als er unvermutet
des Freundes bleiches Gesicht so nahe erblickte, einen unerklärten
tiefen Schmerz und griff in plötzlicher Regung nach des andern Hand.
Heilner entzog sie ihm unwillig und blickte beleidigt beiseite, suchte
auch sogleich einen andern Platz und verschwand in die hintersten Reihen
des Zuges.

Da schlug dem Musterknaben Hans das Herz in Weh und Scham und er konnte
nicht hindern, daß ihm, während er auf dem gefrornen Felde stolpernd
weiter marschierte, Träne um Träne über die frostblauen Backen lief. Er
begriff, daß es Sünden und Versäumnisse gibt, die man nicht vergessen
kann und die keine Reue gut macht, und es kam ihm vor, als liege nicht
der kleine Schneiderssohn, sondern sein Freund Heilner vorn auf der
erhöhten Bahre und nehme den Schmerz und Zorn über seine Untreue weit in
eine andere Welt mit sich hinüber, wo man nicht nach Zeugnissen und
Examen und Erfolgen rechnet, sondern allein nach der Reinheit oder
Befleckung des Gewissens.

Inzwischen war man auf die Landstraße gelangt und kam rasch vollends ins
Kloster, wo alle Lehrer, den Ephorus an der Spitze, den toten Hindinger
empfingen, der im Leben vor dem bloßen Gedanken an eine solche Ehre
davongelaufen wäre. Einen toten Schüler blicken die Lehrer stets mit
ganz andern Augen an, als einen lebenden, sie werden dann für einen
Augenblick vom Wert und von der Unwiederbringlichkeit jedes Lebens und
jeder Jugend überzeugt, an denen sie sich sonst so häufig sorglos
versündigen.

Auch am Abend und am ganzen folgenden Tage wirkte die Anwesenheit der
unscheinbaren Leiche wie ein Zauber, milderte, dämpfte und umflorte
alles Tun und Reden, so daß für diese kurze Zeit Hader, Zorn, Lärm und
Lachen sich verbargen wie Nixen, die für Augenblicke von der Oberfläche
eines Gewässers verschwinden und es regungslos und scheinbar unbelebt
liegen lassen. Wenn zwei miteinander von dem Ertrunkenen sprachen, so
nannten sie stets seinen vollen Namen, denn dem Toten gegenüber kam
ihnen der Spitzname Hindu unwürdig vor. Und der stille Hindu, der sonst
unbemerkt und unberufen in der Schar verschwunden war, erfüllte nun das
ganze große Kloster mit seinem Namen und seinem Gestorbensein.

Am zweiten Tage kam der Vater Hindinger an, blieb ein paar Stunden
allein in dem Stüblein, wo sein Knabe lag, wurde dann vom Ephorus zum
Tee eingeladen und übernachtete im Hirschen.

Dann war das Begräbnis. Der Sarg stand im Dorment aufgestellt und der
Allgäuer Schneider stand dabei und sah allem zu. Er war eine rechte
Schneidersfigur, entsetzlich mager und spitzig, und trug einen grünlich
spielenden schwarzen Bratenrock und enge dürftige Hosen, in der Hand
einen veralteten Festhut aus der Zeit der Kübelschützen. Sein kleines,
dünnes Gesicht sah bekümmert, traurig und schwächlich aus, wie ein
Kreuzerlichtlein im Wind, und er war in einer fortwährenden Verlegenheit
und Hochachtung vor dem Ephorus und den Herren Professoren.

Im letzten Augenblick, ehe die Träger den Sarg aufnahmen, trat das
traurige Männlein noch einmal vor und berührte den Sargdeckel mit einer
verlegenen und schüchternen Gebärde der Zärtlichkeit. Dann blieb er
hilflos stehen, mit den Tränen kämpfend, und stand mitten in dem großen,
stillen Raum wie ein dürres Bäumlein im Winter, so verlassen und
hoffnungslos und preisgegeben, daß es ein Jammer zu sehen war. Der
Pfarrer nahm ihn an der Hand und blieb bei ihm, da setzte er seinen
phantastisch geschweiften Zylinder auf und lief als Vorderster dem Sarge
nach, die Treppe hinunter, über den Klosterhof, durchs alte Tor und
übers weiße Land der niedern Kirchhofmauer entgegen. Während am Grabe
die Seminaristen einen Choral sangen, blickten zum Verdruß des
dirigierenden Musiklehrers die meisten nicht auf seine taktierende Hand,
sondern auf die einsame, windige Gestalt des kleinen Schneidermeisters,
welcher traurig und verfroren im Schnee stand und mit gesenktem Kopf die
Reden des Geistlichen und des Ephorus und des Primus mit anhörte, den
singenden Schülern gedankenlos zunickte und zuweilen mit der Linken nach
dem im Rockschoß verborgenen Taschentuch angelte, ohne es aber
herauszuziehen.

»Ich hab' mir vorstellen müssen wie das wäre, wenn an seiner Stelle mein
eigener Papa so dagestanden wäre«, sagte Otto Hartner nachher. Da
stimmten alle ein: »Ja, ganz das gleiche hab' ich auch gedacht.«

Später kam der Ephorus mit Hindingers Vater auf die Stube Hellas. »Ist
einer von Ihnen mit dem Verstorbenen besonders befreundet gewesen?«
fragte der Ephorus in die Stube hinein. Zuerst meldete sich niemand und
Hindus Vater blickte ängstlich und elend in die jungen Gesichter. Dann
kam aber Lucius hervor und Hindinger nahm seine Hand, hielt sie eine
kleine Weile fest, wußte aber nichts zu sagen und ging bald mit einem
demütigen Kopfnicken wieder hinaus. Darauf reiste er ab und hatte einen
ganzen langen Tag durchs helle Winterland zu fahren, ehe er heimkam und
seiner Frau erzählen konnte, an was für einem Örtlein ihr Karl nun
liege.

                   *       *       *       *       *

Im Kloster war der Bann bald wieder gebrochen. Die Lehrer schalten
wieder, die Türen wurden wieder zugeschlagen und dem verschwundenen
Hellenen wurde wenig nachgedacht. Einige hatten sich beim langen Stehen
an jenem traurigen Weiher erkältet und lagen auf der Krankenstube oder
liefen mit Filzpantoffeln und verbundenen Hälsen herum. Hans Giebenrath
war an Hals und Füßen unbeschädigt geblieben, sah aber seit dem
Unglückstage ernster und älter aus. Es war irgend etwas in ihm anders
geworden, ein Jüngling aus einem Knaben, und seine Seele war gleichsam
in ein anderes Land versetzt, wo sie ängstlich und unheimisch
umherflatterte und noch keine Rastplätze kannte. Daran war weder der
Todesschrecken noch die Trauer um den guten Hindu schuld, sondern
lediglich das plötzlich erwachte Bewußtsein seiner Schuld gegen Heilner.

Dieser lag mit zwei andern auf der Krankenstube, mußte heißen Tee
schlucken und hatte Zeit, seine beim Tode Hindingers empfangenen
Eindrücke zu ordnen und etwa zum spätern dichterischen Gebrauch zurecht
zu legen. Doch schien ihm daran wenig gelegen, er sah vielmehr elend und
leidend aus und wechselte mit seinen Krankheitsgenossen kaum ein Wort.
Die seit seiner Karzerstrafe ihm aufgezwungene Vereinsamung hatte sein
empfindliches und häufiger Mitteilung bedürftiges Gemüt verwundet und
bitter gemacht. Die Lehrer beaufsichtigten ihn als einen unzufriedenen
und revolutionären Kopf mit Strenge, die Schüler mieden ihn, der Famulus
behandelte ihn mit spöttischer Gutmütigkeit und seine Freunde
Shakespeare, Schiller und Lenau zeigten ihm eine andere, mächtigere und
großartigere Welt als die war, die ihn drückend und demütigend umgab.
Aus seinen »Mönchsliedern«, welche anfangs nur auf einen einsiedlerisch
schwermütigen Ton gestimmt gewesen waren, wurde allmählich eine Sammlung
bitterer und gehässiger Verse auf Kloster, Lehrer und Mitschüler. Er
fand in seiner Vereinsamung einen sauren Märtyrergenuß, fühlte sich mit
Genugtuung unverstanden und kam sich in seinen schonungslos
despektierlichen Mönchsversen vor wie ein kleiner Juvenal.

Acht Tage nach dem Begräbnis, als die beiden Kameraden genesen waren und
Heilner allein noch im Krankenzimmer lag, besuchte ihn Hans. Er grüßte
schüchtern, trug einen Stuhl ans Bett, setzte sich und griff nach der
Hand des Kranken, der sich unwillig gegen die Wand kehrte und ganz
unzugänglich schien. Aber Hans ließ sich nicht abweisen. Er hielt die
ergriffene Hand fest und zwang seinen ehemaligen Freund, ihn anzusehen.
Dieser verzog ärgerlich die Lippen.

»Was willst du eigentlich?«

Hans ließ seine Hand nicht los.

»Du mußt mich anhören«, sagte er. »Ich bin damals feig gewesen und ließ
dich im Stich. Aber du weißt, wie ich bin: es war mein fester Vorsatz,
im Seminar obenan zu bleiben und womöglich vollends Erster zu werden. Du
hast das Streberei genannt, meinetwegen mit Recht; aber es war nun eben
meine Art von Ideal, ich wußte nichts Besseres.«

Heilner hatte die Augen geschlossen und Hans fuhr ganz leise fort:
»Sieh' du, es tut mir leid. Ich weiß nicht, ob du noch einmal mein
Freund sein willst, aber verzeihen mußt du mir.«

Heilner schwieg und tat die Augen nicht auf. Alles Gute und Freudige in
ihm lachte dem Freund entgegen, doch hatte er sich nun an die Rolle des
Herben und Einsamen gewöhnt und behielt wenigstens die Maske davon
einstweilen vor dem Gesicht. Hans ließ nicht nach.

»Du mußt, Heilner! Ich will lieber Letzter werden, als noch länger so um
dich herumlaufen. Wenn du willst, so sind wir wieder Freunde und zeigen
den anderen, daß wir sie nicht brauchen.«

Da erwiderte Heilner den Druck seiner Hand und schlug die Augen auf.

Nach einigen Tagen verließ auch er das Bett und die Krankenstube und es
entstand im Kloster keine geringe Aufregung über die neugebackene
Freundschaft. Für die beiden aber kamen nun wunderliche Wochen, ohne
eigentliche Erlebnisse, aber voll eines seltsam beglückenden Gefühls der
Zusammengehörigkeit und eines wortelosen, heimlichen Einverständnisses.
Es war etwas anderes als früher. Die wochenlange Trennung hatte beide
verändert. Hans war zärtlicher, wärmer, schwärmerischer geworden;
Heilner hatte ein kraftvolleres, männlicheres Wesen angenommen, und
beide hatten einander in der letzten Zeit so sehr vermißt, daß ihnen
ihre Wiedervereinigung wie ein großes Erlebnis und köstliches Geschenk
vorkam.

Beide frühreife Knaben kosteten in ihrer Freundschaft mit ahnungsvoller
Scheu etwas von den zarten Geheimnissen einer ersten Liebe unwissend
voraus. Dazu hatte ihr Bündnis den herben Reiz der reifenden
Männlichkeit und als ebenso herbe Würze das Trotzgefühl gegen die
Gesamtheit der Kameraden, denen Heilner unliebsam und Hans
unverständlich blieb und deren zahlreiche Freundschaften damals alle
noch harmlose Knabenspielereien waren.

Je inniger und glücklicher Hans an seiner Freundschaft hing, desto
fremder wurde ihm die Schule. Das neue Glücksgefühl ging brausend wie
ein junger Wein durch sein Blut und durch seine Gedanken, daneben verlor
Livius so gut wie Homer seine Wichtigkeit und seinen Glanz. Die Lehrer
aber sahen mit Schrecken den bisherigen tadellosen Schüler Giebenrath in
ein problematisches Wesen verwandelt und dem schlimmen Einfluß des
verdächtigen Heilner unterlegen. Vor nichts graut Lehrern so sehr wie
vor den seltsamen Erscheinungen, die am Wesen früh entwickelter Knaben
in dem ohnehin gefährlichen Alter der beginnenden Jünglingsgärung
hervortreten. An Heilner war ihnen ohnehin von jeher ein gewisses
Geniewesen unheimlich -- zwischen Genie und Lehrerzunft ist eben von
alters eine tiefe Kluft befestigt und was von solchen Leuten sich auf
Schulen zeigt, ist den Professoren von vornherein ein Greuel. Für sie
sind Genies jene Schlimmen, die keinen Respekt vor ihnen haben, die mit
vierzehn Jahren zu rauchen beginnen, mit fünfzehn sich verlieben, mit
sechzehn in die Kneipen gehen, welche verbotene Bücher lesen, freche
Aufsätze schreiben, den Lehrer gelegentlich höhnisch fixieren und im
Diarium als Aufrührer und Karzerkandidaten fungieren. Ein Schulmeister
hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse, und
genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht,
extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und
Biedermänner. Wer aber mehr und Schwereres von andern leidet, der Lehrer
vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist
ist und wer von beiden es ist, der dem anderen Teile seiner Seele und
seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen,
ohne bitter zu werden und mit Zorn und Scham an die eigene Jugend zu
denken. Doch ist das nicht unsere Sache und wir haben den Trost, daß bei
den wirklich Genialen fast immer die Wunden gut vernarben und daß aus
ihnen Leute werden, die der Schule zu Trotz ihre guten Werke schaffen
und welche später, wenn sie tot und vom angenehmen Nimbus der Ferne
umflossen sind, anderen Generationen von ihren Schulmeistern als
Prachtstücke und edle Beispiele vorgeführt werden. Und so wiederholt
sich von Schule zu Schule das Schauspiel des Kampfes zwischen Gesetz und
Geist und immer wieder sehen wir Staat und Schule atemlos bemüht, die
alljährlich auftauchenden paar tieferen und wertvolleren Geister
totzuschlagen und an der Wurzel zu knicken. Und immer wieder sind es vor
allem die von den Schulmeistern Gehaßten, die Oftbestraften,
Entlaufenen, Davongejagten, die nachher den Schatz unseres Volkes
bereichern. Manche aber -- und wer weiß wie viele? -- verzehren sich in
stillem Trotz und gehen unter.

Nach gutem, altem Schulgrundsatz wurde auch gegen die beiden jungen
Seltsamen, sobald man Unrat witterte, nicht die Liebe, sondern die Härte
verdoppelt. Nur der Ephorus, der auf Hans als fleißigsten Hebräer stolz
war, machte einen ungeschickten Rettungsversuch. Er ließ ihn auf sein
Amtszimmer rufen, die schöne malerische Erkerstube der alten
Abtswohnung, wo der Sage nach der im nahen Knittlingen heimische Doktor
Faust manchen Becher Elfinger genossen hat. Der Ephorus war kein
unebener Mann, es fehlte ihm nicht an Einsicht und praktischer Klugheit,
er hatte sogar ein gewisses gutmütiges Wohlwollen gegen seine Zöglinge,
die er mit Vorliebe duzte. Sein Hauptfehler war eine starke Eitelkeit,
die ihn auf dem Katheder oft zu prahlerischen Kunststückchen verleitete
und welche ihn nicht dulden ließ, seine Macht und Autorität nur im
geringsten bezweifelt zu sehen. Er konnte keinen Einwurf vertragen,
keinen Irrtum eingestehen. So kamen willenlose oder auch unredliche
Schüler prächtig mit ihm aus, aber gerade die Kräftigen und Ehrlichen
hatten es schwer, da schon ein nur angedeuteter Widerspruch ihn wild und
ungerecht machte. Die Rolle des väterlichen Freundes mit aufmunterndem
Blick und gerührtem Ton beherrschte er als Virtuos, und er spielte sie
auch jetzt.

»Nehmen Sie Platz, Giebenrath«, sprach er freundschaftlich, nachdem er
dem schüchtern eingetretenen Jungen kräftig die Hand gedrückt hatte.

»Ich möchte ein wenig mit Ihnen reden. Aber darf ich du sagen?«

»Bitte, Herr Ephorus.«

»Du wirst wohl selber gefühlt haben, lieber Giebenrath, daß deine
Leistungen in letzter Zeit etwas nachgelassen haben, wenigstens im
Hebräischen. Du warst bisher vielleicht unser bester Hebräer, darum tut
es mir leid, eine plötzliche Abnahme zu bemerken. Vielleicht hast du am
Hebräischen keine rechte Freude mehr?«

»O doch, Herr Ephorus.«

Ȇberlege dir's nur! So etwas kommt vor. Du hast dich vielleicht einem
anderen Fach besonders zugewendet?«

»Nein, Herr Ephorus.«

»Wirklich nicht? Ja, dann müssen wir nach andern Ursachen suchen. Kannst
du mir auf die Spur helfen?«

»Ich weiß nicht ... ich habe meine Aufgaben immer gemacht ...«

»Gewiß, mein Lieber, gewiß. Aber ^differendum est inter et inter^. Deine
Aufgaben hast du natürlich gemacht, das war ja wohl auch deine Pflicht.
Aber du hast früher mehr geleistet. Du warst vielleicht fleißiger, du
warst jedenfalls mit mehr Interesse bei der Sache. Ich frage mich nun,
woher dies plötzliche Nachlassen deines Eifers kommt. Du bist doch nicht
krank?«

»Nein.«

»Oder hast du Kopfweh? Du siehst freilich nicht übermäßig blühend aus.«

»Ja, Kopfweh habe ich manchmal.«

»Ist dir die tägliche Arbeit zu viel?«

»O nein, gar nicht.«

»Oder treibst du viel Privatlektüre? Sei nur ehrlich!«

»Nein, ich lese fast nichts, Herr Ephorus.«

»Dann begreife ich das nicht recht, lieber junger Freund. Irgendwo muß
es doch fehlen. Willst du mir versprechen, dir ordentlich Mühe zu
geben?«

Hans legte seine Hand in die ausgestreckte Rechte des Gewaltigen, der
ihn mit ernster Milde anblickte.

»So ist's gut, so ist's recht, mein Lieber. Nur nicht matt werden, sonst
kommt man unters Rad.«

Er drückte Hans die Hand und dieser ging aufatmend zur Türe. Da wurde er
zurückgerufen.

»Noch etwas, Giebenrath. Du hast viel Verkehr mit Heilner, nicht wahr?«

»Ja, ziemlich viel.«

»Mehr als mit andern, glaube ich. Oder nicht?«

»Doch, ja. Er ist mein Freund.«

»Wie kam denn das? Ihr seid doch eigentlich recht verschiedene Naturen.«

»Ich weiß nicht, er ist nun eben mein Freund.«

»Du weißt, daß ich deinen Freund nicht besonders liebe. Er ist ein
unzufriedener, unruhiger Geist; begabt mag er sein, aber er leistet
nichts und übt keinen guten Einfluß auf dich. Ich würde es sehr gerne
sehen, wenn du dich ihm mehr fernhalten würdest. -- Nun?«

»Das kann ich nicht, Herr Ephorus.«

»Du kannst nicht? Ja warum denn?«

»Weil er doch mein Freund ist. Ich kann ihn doch nicht einfach im Stich
lassen.«

»Hm. Aber du könntest dich doch etwas mehr an andere anschließen? Du
bist der einzige, der sich dem schlechten Einfluß dieses Heilner so
hingibt, und die Folgen sehen wir ja schon. Was fesselt dich denn gerade
an ihn besonders?«

»Ich weiß selber nicht. Aber wir haben einander gern und es wäre feig
von mir, ihn zu verlassen.«

»So so. Na, ich zwinge dich nicht. Aber ich hoffe, du kommst allmählich
von ihm los. Es wäre mir lieb. Es wäre mir sehr lieb.«

Die letzten Worte hatten nichts mehr von der vorigen Milde. Hans konnte
nun gehen.

Von da an plagte er sich aufs neue mit der Arbeit. Es war allerdings
nicht mehr das frühere flotte Vorwärtskommen, sondern mehr ein
mühseliges Mitlaufen, um wenigstens nicht zu weit zurückzubleiben. Auch
er wußte, daß das zum Teil von seiner Freundschaft herrührte, doch sah
er in dieser nicht einen Verlust und ein Hemmnis, vielmehr einen Schatz,
der alles Versäumte aufwog -- ein erhöhtes wärmeres Leben, mit dem das
frühere nüchterne Pflichtdasein sich nicht vergleichen ließ. Es ging ihm
wie jungen Verliebten: er fühlte sich großer Heldentaten fähig, nicht
aber der täglichen langweiligen und kleinlichen Arbeit. Und so spannte
er sich immer wieder mit verzweifeltem Seufzer ins Joch. Es zu machen
wie Heilner, der obenhin arbeitete und das Nötigste sich rasch und fast
gewaltsam hastig aneignete, verstand er nicht. Da sein Freund ihn
ziemlich jeden Abend in den Mußestunden in Anspruch nahm, zwang er sich
morgens eine Stunde früher aufzustehen und rang namentlich mit der
hebräischen Grammatik wie mit einem Feinde. Freude hatte er eigentlich
nur noch am Homer und an der Geschichtsstunde. Mit dunkel tastendem
Gefühle näherte er sich dem Verständnis der homerischen Welt, und in der
Geschichte hörten allmählich die Helden auf, Namen und Zahlen zu sein,
und blickten aus nahen, glühenden Augen und hatten lebendige, rote
Lippen und jeder sein Gesicht und seine Hände -- einer rote, dicke, rohe
Hände, einer stille, kühle, steinerne, und ein anderer schmale, heiße,
feingeäderte.

Auch beim Lesen der Evangelien im griechischen Texte fand er sich
zuweilen von der Deutlichkeit und Nähe der Gestalten überrascht, ja
überwältigt. Namentlich einmal, beim sechsten Kapitel des Markus, wo
Jesus mit den Jüngern das Schiff verläßt und es heißt: [Griechisch:
euthus epignontes auton periedramon], »sie erkannten ihn sogleich und
liefen herzu.« Da sah auch er den Menschensohn das Schiff verlassen und
erkannte ihn sogleich, weder an Gestalt noch Gesicht, sondern an der
großen, glanzvollen Tiefe seiner Liebesaugen und an einer leise
winkenden oder vielmehr einladenden, willkommen heißenden Gebärde seiner
schlanken, schönen, bräunlichen Hand, die von einer feinen und doch
starken Seele geformt und bewohnt erschien. Der Rand eines erregten
Gewässers und der Schnabel einer schweren Barke tauchte für einen
Augenblick mit auf, dann war das ganze Bild wie ein rauchender Atemzug
im Winter vergangen.

Je und je kam etwas Derartiges wieder, daß aus den Büchern heraus
irgendeine Gestalt oder ein Stück Geschichte gleichsam gierig
hervorbrach, sich sehnend, noch einmal zu leben und seinen Blick in
einem lebendigen Auge zu spiegeln. Hans nahm es hin, wunderte sich
darüber und fühlte bei diesen raschen, stets schon wieder auf der Flucht
begriffenen Erscheinungen sich tief und seltsam verwandelt, als habe er
die schwarze Erde wie ein Glas durchblickt oder als habe Gott ihn
angeschaut. Diese köstlichen Augenblicke kamen ungerufen und
verschwanden unbeklagt als Pilger und freundliche Gäste, die man nicht
anzureden und zum Bleiben zu nötigen wagt, weil sie um sich her etwas
Fremdes und Göttliches haben.

Er behielt diese Erlebnisse für sich und sagte auch Heilner nichts
davon. Bei diesem hatte sich die frühere Schwermut in einen unruhigen,
scharfen Geist verwandelt, der am Kloster, an Lehrern und Kameraden, am
Wetter, am Menschenleben und an der Existenz Gottes Kritik übte,
gelegentlich auch zu Streitlust oder plötzlichen dummen Streichen
führte. Da er doch einmal abgesondert und in einem Gegensatze zu den
übrigen stand, suchte er in unüberlegtem Stolz diesen Gegensatz vollends
zu einem trotzigen und feindseligen Verhältnisse zuzuspitzen, in welches
Giebenrath, ohne es hindern zu wollen, mit hineingeriet, so daß die
beiden Freunde als eine auffallende und mit Mißgunst betrachtete Insel
von der Menge abgetrennt lagen. Hans fühlte sich hierbei nach und nach
weniger unwohl. Wenn nur der Ephorus nicht gewesen wäre, vor dem er eine
dunkle Angst empfand. Früher sein Lieblingsschüler, wurde er jetzt von
ihm kühl behandelt und mit deutlicher Absicht vernachlässigt. Und gerade
am Hebräischen, dem Spezialfach des Ephorus, hatte er allmählich alle
Lust verloren.

Es war ergötzlich, zu sehen, wie schon in ein paar Monaten die vierzig
Seminaristen an Leib und Seele sich verändert hatten, wenige
Stillständer ausgenommen. Viele waren mächtig in die Länge geschossen,
sehr auf Unkosten der Breite, und streckten an Armen und Beinen
hoffnungsvoll die Knöchel aus den nicht mitgewachsenen Kleidern. Die
Gesichter wiesen alle Schattierungen zwischen absterbender Kindlichkeit
und einer zaghaft sich zu brüsten beginnenden Mannheit auf, und wessen
Körper noch von den eckigen Formen der Entwicklungszeit frei war, dem
hatte das Studium der Bücher Mosis wenigstens einen provisorischen
Mannesernst auf die glatte Stirn verliehen. Pausbacken waren geradezu
Raritäten geworden.

Auch Hans hatte sich verändert. An Größe und Magerkeit kam er Heilner
nun gleich, ja er sah jetzt fast älter als jener aus. Die früher zart
durchscheinenden Kanten der Stirn hatten sich herausgearbeitet und die
Augen lagen tiefer, das Gesicht war von ungesunder Farbe, Glieder und
Schultern waren knochig und hager.

Je weniger er mit seinen Leistungen in der Schule selber zufrieden war,
desto herber schloß er sich, unter Heilners Einfluß, von den Kameraden
ab. Da er keinen Grund mehr hatte, als Musterschüler und künftiger
Primus auf sie herabzuschauen, kleidete ihn der Hochmut herzlich
schlecht. Aber daß man ihn das merken ließ und daß er es selber
schmerzlich in sich spürte, verzieh er ihnen nicht. Namentlich mit dem
tadellosen Hartner und jenem vorlauten Otto Wenger gab es mehrmal
Händel. Als der letztere ihn eines Tages wieder höhnte und ärgerte,
vergaß sich Hans und antwortete mit einem Faustschlag. Es gab ein böses
Hauen. Wenger war ein Feigling, aber mit dem schwächlichen Gegner war es
leicht fertig zu werden, und er schlug rücksichtslos zu. Heilner war
nicht zugegen, die andern schauten müßig zu und gönnten Hans die
Züchtigung. Er wurde regelrecht durchgebläut, blutete aus der Nase und
alle Rippen taten ihm weh. Die ganze Nacht hielten Scham, Schmerz und
Zorn ihn wach. Seinem Freunde verschwieg er das Erlebnis, schloß sich
aber von jetzt an streng ab und wechselte kaum mehr ein Wort mit den
Stubenkameraden.

Gegen das Frühjahr hin, unter dem Einfluß der Regenmittage,
Regensonntage und langen Dämmerungen zeigten sich neue Bildungen und
Bewegungen im Klosterleben. Die Stube Akropolis, zu deren Bewohnern ein
guter Klavierspieler und zwei Flötenbläser gehörten, gründete zwei
regelmäßige Musikabende, auf der Stube Germania eröffnete man einen
dramatischen Leseverein, und einige junge Pietisten etablierten einen
Bibelkranz, der allabendlich ein Bibelkapitel samt den Noten der
Calwerbibel las.

Zum Leseverein der Stube Germania meldete sich Heilner als Mitglied und
wurde nicht angenommen. Er kochte vor Wut. Zur Rache ging er nun in den
Bibelkranz. Man wollte ihn auch dort nicht haben, doch drängte er sich
auf und brachte in die frommen Gespräche der bescheidenen kleinen
Brüderschaft Zank und Hader durch seine kühnen Reden und gottlosen
Anspielungen. Bald wurde er auch dieses Spaßes müde, behielt aber einen
ironisch-biblischen Ton im Reden noch länger bei. Indessen wurde er
diesmal kaum beachtet, da die Promotion jetzt völlig von einem Geist des
Unternehmens und Gründens besessen war.

Am meisten machte ein begabter und witziger Spartaner von sich reden.
Ihm war es, nächst dem persönlichen Ruhm, lediglich darum zu tun, etwas
Leben in die Bude zu bringen und sich durch allerlei witzige Allotria
eine öftere Erholung von dem einförmigen Arbeitsleben zu verschaffen. Er
hieß mit Spitznamen Dunstan und fand einen originellen Weg, Sensation zu
machen und sich zu einem gewissen Ruhm emporzuschwingen.

Eines Morgens, als die Schüler aus den Schlafsälen kamen, fanden sie an
die Waschsaaltüre ein Papier geklebt, auf welchem unter dem Titel »Sechs
Epigramme aus Sparta« eine ausgewählte Zahl von auffallenderen
Kameraden, ihre Narrheiten, Streiche, Freundschaften in Distichen witzig
verhöhnt waren. Auch das Paar Giebenrath und Heilner hatte seinen Hieb
bekommen. Eine ungeheure Aufregung entstand in dem kleinen Staatswesen,
man drängte sich vor jener Tür wie am Eingang eines Theaters und die
ganze Schar surrte, stieß und säuselte durcheinander wie ein Bienenvolk,
dessen Königin sich zum Fluge anschickt.

Am folgenden Morgen war die ganze Türe mit Epigrammen und Xenien
gespickt, mit Erwiderungen, Zustimmungen, neuen Angriffen, ohne daß
jedoch der Urheber des Skandals so unklug gewesen wäre, sich wieder
daran zu beteiligen. Seinen Zweck, den Zunder in die Scheuer zu werfen,
hatte er erreicht und rieb sich die Hände. Fast alle Schüler beteiligten
sich nun einige Tage lang am Xenienkampf, nachdenklich schritt jeder
umher, auf ein Distichon bedacht, und vielleicht war Lucius der einzige,
der unbekümmert wie sonst seiner Arbeit nachging. Am Ende nahm ein
Lehrer davon Notiz und verbot die Fortsetzung des aufregenden Spiels.

Der schlaue Dunstan ruhte nicht auf seinen Lorbeeren aus, sondern hatte
inzwischen seinen Hauptschlag vorbereitet. Er gab nun die erste Nummer
einer Zeitung heraus, die in winzigem Format auf Konzeptpapier
hektographiert war und zu der er seit Wochen Stoff gesammelt hatte. Sie
führte den Titel »Stachelschwein« und war vorwiegend ein Witzblatt. Ein
fideles Gespräch zwischen dem Verfasser des Buches Josua und einem
Maulbronner Seminaristen war das Glanzstück der ersten Nummer. Das Blatt
wurde gratis an jede Stube in zwei Exemplaren abgegeben und sollte
künftig wöchentlich zweimal erscheinen und fünf Pfennig kosten. Der
Erlös war zu einer Vergnügungskasse bestimmt.

Der Erfolg war durchschlagend, und Dunstan, der nun Miene und Benehmen
eines stark beschäftigten Redakteurs und Verlegers annahm, genoß im
Kloster ungefähr denselben heiklen Ruf, wie seinerzeit der famose
Aretiner in der Republik Venedig.

Es erregte allgemeines Erstaunen, als Hermann Heilner sich mit
Leidenschaft an der Redaktion beteiligte und nun mit Dunstan zusammen
ein scharfes satirisches Zensorat ausübte, wozu es ihm weder an Witz
noch an Gift gebrach. Etwa vier Wochen lang hielt die kleine Zeitung das
ganze Kloster in Atem.

Giebenrath ließ seinen Freund gewähren, er selber hatte weder die Lust
noch die Gabe, mitzumachen. Er merkte es anfangs sogar kaum, daß Heilner
neuerdings so häufig seine Abende in Sparta zubrachte, denn seit kurzem
beschäftigten ihn andere Dinge. Tagsüber ging er träg und unaufmerksam
umher, arbeitete langsam und ohne Lust, und einmal passierte ihm in der
Liviusstunde etwas Seltsames.

Der Professor rief ihn zum Übersetzen auf. Er blieb sitzen.

»Was soll das heißen? Warum stehen Sie nicht auf?« rief der Professor
ärgerlich.

Hans rührte sich nicht. Er saß aufrecht in der Bank, hatte den Kopf ein
wenig gesenkt und die Augen halb geschlossen. Der Aufruf hatte ihn aus
einem Träumen halb erweckt, doch hörte er die Stimme des Lehrers nur wie
aus einer großen Entfernung. Er spürte auch, daß sein Banknachbar ihn
heftig anstieß. Es ging ihn nichts an. Er war von anderen Menschen
umgeben, andere Hände berührten ihn und andere Stimmen redeten zu ihm,
nahe, leise, tiefe Stimmen, welche keine Worte sprachen, sondern nur
tief und mild wie Brunnentöne rauschten. Und viele Augen sahen ihn an --
fremde, ahnungsvolle, große, glanzvolle Augen. Vielleicht die Augen
einer römischen Volksmenge, von welcher er eben noch im Livius gelesen
hatte, vielleicht die Augen unbekannter Menschen, von denen er geträumt
oder die er irgend einmal auf Bildern gesehen hatte.

»Giebenrath!« schrie der Professor. »Schlafen Sie denn?«

Der Schüler schlug langsam die Augen auf, heftete sie erstaunt auf den
Lehrer und schüttelte den Kopf.

»Sie haben geschlafen! Oder können Sie mir sagen, an welchem Satz wir
stehen? Nun?«

Hans deutete mit dem Finger ins Buch, er wußte gut, wo man stand.

»Wollen Sie jetzt vielleicht auch aufstehen?« fragte der Professor
höhnisch. Und Hans stand auf.

»Was treiben Sie denn? Sehen Sie mich an!«

Er sah den Professor an. Diesem gefiel der Blick aber nicht, denn er
schüttelte verwundert den Kopf.

»Sind Sie unwohl, Giebenrath?«

»Nein, Herr Professor.«

»Setzen Sie sich wieder und kommen Sie nach Schluß der Lektion auf mein
Zimmer.«

Hans setzte sich und bückte sich über seinen Livius. Er war ganz wach
und verstand alles, zugleich folgte aber sein inneres Auge den vielen
fremden Gestalten, die sich langsam in große Weiten entfernten und immer
ihre glänzenden Augen auf ihn gerichtet hielten, bis sie ganz in der
Weite in einem Nebel untersanken. Zugleich kam die Stimme des Lehrers
und die des übersetzenden Schülers und alles kleine Geräusch des
Lehrsaals immer näher und war schließlich wieder so wirklich und
gegenwärtig wie sonst. Bänke, Katheder und Tafel standen da wie immer,
an der Wand hing der große hölzerne Zirkel und der Reißwinkel, ringsum
saßen alle Kameraden und viele von ihnen schielten neugierig und frech
zu ihm herüber. Da erschrak Hans heftig.

»Kommen Sie nach Schluß der Lektion auf mein Zimmer«, hatte er sagen
hören. Herrgott, was war denn passiert?

Am Ende der Stunde winkte ihn der Professor zu sich und nahm ihn mit
durch die glotzenden Kameraden hindurch.

»Nun sagen Sie, was denn eigentlich mit Ihnen war? Geschlafen haben Sie
also nicht?«

»Nein.«

»Warum sind Sie nicht aufgestanden, als ich Sie anrief?«

»Ich weiß nicht.«

»Oder haben Sie mich nicht gehört? Sind Sie schwerhörig?«

»Nein. Ich habe Sie gehört.«

»Und sind nicht aufgestanden? Sie hatten nachher auch so sonderbare
Augen. An was dachten Sie denn?«

»An nichts. Ich wollte schon aufstehen.«

»Warum taten Sie es nicht? Waren Sie also doch unwohl?«

»Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, was es war.«

»Hatten Sie Kopfweh?«

»Nein.«

»Es ist gut. Gehen Sie.«

Vor Tisch wurde er wieder abgerufen und in den Schlafsaal gebracht. Dort
wartete der Ephorus mit dem Oberamtsarzt auf ihn. Er wurde untersucht
und ausgefragt, doch kam nichts Klares zum Vorschein. Der Arzt lachte
gutmütig und nahm die Sache leicht.

»Das sind kleine Nervengeschichten, Herr Ephorus«, kicherte er sanft.
»Ein vorübergehender Zustand von Schwäche -- eine Art leichter
Schwindel. Man muß sehen, daß der junge Mann täglich an die Luft kommt.
Fürs Kopfweh kann ich ihm ein paar Tropfen verschreiben.«

Von da an mußte Hans täglich nach Tisch eine Stunde ins Freie. Er hatte
nichts dagegen. Schlimmer war es, daß der Ephorus ihm Heilners
Begleitung auf diesen Spaziergängen ausdrücklich verbot. Dieser wütete
und schimpfte, mußte jedoch nachgeben. So ging Hans stets allein und
fand eine gewisse Freude daran. Es war Frühlingsbeginn. Über die runden,
schöngewölbten Hügel lief wie eine dünne, lichte Welle das keimende
Grün, die Bäume legten ihre Wintergestalt, das braune Netzwerk mit den
scharfen Umrissen, ab und verloren sich mit jungem Blätterspiel
ineinander und in die Farben der Landschaft, als eine unbegrenzte,
fließende Woge von lebendigem Grün.

Früher, in den Lateinschuljahren, hatte Hans den Frühling anders als
diesmal betrachtet, lebhafter und neugieriger und mehr im einzelnen. Er
hatte die zurückkehrenden Vögel beobachtet, eine Gattung um die andere,
und die Reihenfolge der Baumblüte, und dann, sobald es Mai war, hatte er
zu angeln begonnen. Jetzt gab er sich keine Mühe, die Vogelarten zu
unterscheiden oder die Sträucher an ihren Knospen zu erkennen. Er sah
nur das allgemeine Treiben, die überall sprossenden Farben, atmete den
Geruch des jungen Laubes, spürte die weichere und gärende Luft und ging
verwundert durch die Felder. Er ermüdete bald, hatte immer eine Neigung
zu liegen und einzuschlafen und sah fast fortwährend allerlei andere
Dinge, als die ihn wirklich umgaben. Was es eigentlich für Dinge waren,
wußte er selbst nicht, und er besann sich nicht darüber. Es waren helle,
zarte, ungewöhnliche Träume, die ihn wie Bildnisse oder wie Alleen
fremdartiger Bäume umstanden, ohne daß etwas in ihnen geschah. Reine
Bilder, nur zum Anschauen, aber das Anschauen derselben war doch auch
ein Erleben. Es war ein Weggenommensein in andere Gegenden und zu
anderen Menschen. Es war ein Wandeln auf fremder Erde, auf einem
weichen, angenehm zu betretenden Boden, und es war ein Atmen fremder
Luft, einer Luft voll Leichtigkeit und feiner, träumerischer Würze. An
Stelle dieser Bilder kam zuweilen auch ein Gefühl, dunkel, warm und
erregend, als glitte ihm eine leichte Hand mit weicher Berührung über
den Körper.

Beim Lesen und Arbeiten hatte Hans große Mühe, aufmerksam zu sein. Was
ihn nicht interessierte, glitt ihm schattenhaft unter den Händen weg und
die hebräischen Vokabeln mußte er, wenn er sie in der Lektion noch
wissen wollte, erst in der letzten halben Stunde lernen. Häufig aber
kamen jene Momente körperhafter Anschauung, daß er beim Lesen alles
Geschilderte plötzlich dastehen, leben und sich bewegen sah, viel
leibhaftiger und wirklicher als die nächste Umgebung. Und während er mit
Verzweiflung bemerkte, daß sein Gedächtnis nichts mehr aufnehmen wollte
und fast täglich lahmer und unsicherer wurde, überfielen ihn zuweilen
ältere Erinnerungen mit einer unheimlichen Deutlichkeit, die ihm
wunderlich und beängstigend erschien. Mitten in einer Lektion oder bei
einer Lektüre fiel ihm manchmal sein Vater oder die alte Anna oder einer
seiner früheren Lehrer oder Mitschüler ein, stand sichtbar vor ihm und
nahm für eine Weile seine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Auch Szenen aus
dem Stuttgarter Aufenthalt, aus dem Landexamen und aus den Ferien
erlebte er wieder und wieder, oder er sah sich mit der Angelrute am
Flusse sitzen, roch den Dunst des sonnigen Wassers, und zugleich kam es
ihm vor, als liege die Zeit, von der er träumte, um ganze lange Jahre
zurück.

An einem laulich feuchten, finsteren Abend schlenderte er mit Heilner im
Dorment hin und her und erzählte von daheim, vom Papa, vom Angeln und
von der Schule. Sein Freund war auffallend still; er ließ ihn reden,
nickte hie und da oder tat mit seinem kleinen Lineal, mit dem er den
lieben langen Tag spielen mußte, ein paar nachdenkliche Hiebe in die
Luft. Allmählich verstummte auch Hans; es war Nacht geworden und sie
setzten sich auf den Sims eines Fensters.

»Du, Hans?« fing Heilner schließlich an. Seine Stimme war unsicher und
aufgeregt.

»Was?«

»Ach nichts.«

»Nein, red' nur!«

»Ich dachte bloß -- weil du so allerlei erzählt hast --«

»Was denn?«

»Sag, Hans, bist du eigentlich nie einem Mädchen nachgelaufen?«

Es entstand eine Stille. Davon hatten sie noch nie gesprochen. Hans
fürchtete sich davor und doch zog dieses rätselhafte Gebiet ihn wie ein
Märchengarten an. Er fühlte, wie er rot wurde, und seine Finger
zitterten.

»Nur einmal«, sagte er flüsternd. »Ich war noch ein dummer Bub.«

Wieder Stille.

»-- und du, Heilner?«

Heilner seufzte.

»Ach laß! -- Weißt du, man sollte gar nicht davon reden, es hat ja
keinen Wert.«

»Doch, doch.«

»-- Ich hab' einen Schatz.«

»Du? Ist's wahr?«

»Daheim. Vom Nachbar. Und diesen Winter hab' ich ihr einen Kuß gegeben.«

»Einen Kuß --?«

»Ja. -- Weißt du, es war schon dunkel. Abends, auf dem Eis, und ich
durfte ihr helfen, die Schlittschuhe ausziehen. Da hab' ich ihr einen
Kuß gegeben.«

»Hat sie nichts gesagt?«

»Gesagt nicht. Sie ist bloß fortgelaufen.«

»Und dann?«

»Und dann! -- Nichts.«

Er seufzte wieder und Hans sah ihn an wie einen Helden, der aus
verbotenen Gärten kommt.

Da läutete die Glocke, man mußte zu Bett gehen. Dort lag Hans, als die
Laterne gelöscht und alles still geworden war, noch länger als eine
Stunde wach und dachte an den Kuß, den Heilner seinem Schatz gegeben
hatte.

Am andern Tag wollte er weiter fragen, schämte sich aber, und der
andere, da Hans ihn nicht fragte, scheute sich, von selber wieder davon
anzufangen.

In der Schule ging es Hans immer schlechter. Die Lehrer fingen an böse
Gesichter zu schneiden und sonderbare Blicke zu schießen, der Ephorus
war finster und ärgerlich und auch die Mitschüler hatten längst gemerkt,
daß Giebenrath von seiner Höhe herabsank und aufgehört hatte, auf den
Primus zu zielen. Nur Heilner merkte nichts, da ihm selber die Schule
nicht sonderlich wichtig war, und Hans selber sah alles geschehen und
sich verändern, ohne darauf zu achten.

Heilner hatte unterdessen das Zeitungsredigieren satt bekommen und
kehrte ganz zu seinem Freunde zurück. Dem Verbote zum Trotz begleitete
er Hans mehrmals auf seinem täglichen Spaziergang, lag mit ihm in der
Sonne und träumte, las Gedichte vor oder machte Witze über den Ephorus.
Hans hoffte von Tag zu Tag, er würde mit den Enthüllungen seiner
Liebesabenteuer fortfahren, doch brachte er es je länger je weniger über
sich, danach zu fragen. Bei den Kameraden waren sie beide so unbeliebt
wie je, denn Heilner hatte durch seine boshaften Witze im
»Stachelschwein« niemandes Vertrauen erworben.

Die Zeitung ging um diese Zeit ohnehin ein; sie hatte sich überlebt und
war auch nur auf die langweiligen Wochen zwischen Winter und Frühjahr
berechnet gewesen. Jetzt bot die beginnende schöne Jahreszeit
Unterhaltung genug durch Botanisieren, Spaziergänge und Spiele im
Freien. Jeden Mittag erfüllten Turner, Ringkämpfer, Wettläufer und
Ballschläger den Klostervorhof mit Geschrei und Leben.

Dazu kam nun eine neue große Sensation, deren Urheber und Mittelpunkt
wieder der allgemeine Stein des Anstoßes, Hermann Heilner, war.

Der Ephorus hatte durch liebevolle Mitschüler erfahren, daß Heilner sich
über sein Verbot lustig mache und fast alle Tage den spazieren gehenden
Giebenrath begleite. Diesmal ließ er Hans in Ruhe und zitierte nur den
Hauptsünder, seinen alten Feind, auf sein Amtszimmer. Er duzte ihn, was
Heilner sich sogleich verbat. Er hielt ihm seinen Ungehorsam vor.
Heilner erklärte, er sei Giebenraths Freund und niemand habe das Recht,
ihnen den Verkehr miteinander zu verbieten. Es setzte eine böse Szene,
deren Resultat war, daß Heilner ein paar Stunden Arrest erhielt samt dem
strengen Verbot, in nächster Zeit mit Giebenrath zusammen auszugehen.

Am nächsten Tage machte also Hans seinen offiziellen Spaziergang wieder
allein. Er kam um zwei Uhr zurück und fand sich mit den andern im
Lehrsaal ein. Beim Beginn der Lektion stellte sich heraus, daß Heilner
fehlte. Es war alles genau so wie damals beim Verschwinden des Hindu,
nur dachte diesmal niemand an ein Verspäten. Um drei Uhr ging die ganze
Promotion samt drei Lehrern auf die Streife nach dem Vermißten. Man
verteilte sich, lief und schrie durch die Wälder, und manche, auch zwei
von den Lehrern, hielten es nicht für unmöglich, daß er sich ein Leid
angetan habe.

Um fünf Uhr wurde an alle Polizeistellen der Gegend telegraphiert und
abends ein Eilbrief an Heilners Vater abgeschickt. Am späten Abend hatte
man noch keinerlei Spur gefunden und bis in die Nacht hinein wurde in
allen Schlafsälen geflüstert und gewispert. Unter den Schülern fand die
Annahme, er sei ins Wasser gesprungen, den meisten Glauben. Andere
meinten, er sei einfach nach Hause gereist. Aber man hatte festgestellt,
daß der Durchgänger fast gar kein Geld bei sich haben konnte.

Hans wurde angesehen, als müsse er um die Sache wissen. Dem war aber
nicht so, vielmehr war er der Erschrockenste und Bekümmertste von allen,
und nachts im Schlafsaal, als er die andern fragen, vermuten, fabeln und
witzeln hörte, verkroch er sich tief in seine Decke und lag lange böse
Stunden in Leid und Angst um seinen Freund. Ein Vorgefühl, daß dieser
nicht wiederkommen würde, ergriff sein banges Herz und erfüllte ihn mit
einem furchtsamen Wehgefühl, bis er matt und bekümmert entschlief.

Um dieselben Stunden lag Heilner ein paar Meilen entfernt in einem
Gehölz. Er fror und konnte nicht schlafen, doch atmete er in einem
tiefen Freiheitsgefühl mächtig auf und streckte die Glieder, als wäre er
aus einem engen Käfig entronnen. Er war seit Mittag gelaufen, hatte in
Knittlingen Brot gekauft und nahm nun zuweilen einen Bissen davon,
während er durch das noch frühlinghaft lichte Gezweige Nachtschwärze,
Sterne und schnellsegelnde Wolken beschaute. Wohin er schließlich käme,
war ihm einerlei; wenigstens war er nun dem verhaßten Kloster
entsprungen und hatte dem Ephorus gezeigt, daß sein Wille stärker war
als Befehle und Verbote.

Den ganzen folgenden Tag suchte man ihn vergeblich. Er brachte die
zweite Nacht in der Nähe eines Dorfes zwischen Strohbündeln auf dem
Felde zu; morgens schlug er sich wieder in den Wald und fiel erst gegen
Abend, da er wieder ein Dorf besuchen wollte, einem Landjäger in die
Hände. Der empfing ihn mit freundlichem Spott und brachte ihn aufs
Rathaus, wo er durch Witz und Schmeichelei das Herz des Schulzen gewann,
der ihn zum Übernachten mit nach Hause nahm und vor dem Bettgehen
reichlich mit Schinken und Eiern fütterte. Andern Tags holte ihn sein
inzwischen herzugereister Vater ab.

Die Aufregung im Kloster war groß, als der Ausreißer eingebracht wurde.
Er trug aber den Kopf hoch und schien seine kleine Geniereise gar nicht
zu bereuen. Man verlangte, er solle Abbitte tun, doch weigerte er sich
und trat dem Femgericht des Lehrerkonvents durchaus nicht zaghaft oder
ehrerbietig gegenüber. Man hatte ihn halten wollen, nun war aber das Maß
voll. Er wurde in Schanden entlassen und reiste abends mit seinem Vater
auf Nichtwiederkommen ab. Von seinem Freund Giebenrath hatte er nur
durch einen Händedruck Abschied nehmen können.

Schön und schwungvoll war die große Rede, die der Herr Ephorus auf
diesen außerordentlichen Fall von Widersetzlichkeit und Entartung hielt.
Viel zahmer, sachlicher und schwächlicher lautete sein Bericht an die
Oberbehörde nach Stuttgart. Den Seminaristen wurde der Briefwechsel mit
dem abgegangenen Ungeheuer verboten, wozu Hans Giebenrath freilich nur
lächelte. Wochenlang wurde von nichts so viel geredet, wie von Heilner
und seiner Flucht. Die Entfernung und die entschwindende Zeit
veränderten das allgemeine Urteil und manche sahen dem seinerzeit
ängstlich gemiedenen Flüchtling später nach wie einem entflogenen Adler.

Die Stube Hellas wies nun zwei leerstehende Pulte auf und der zuletzt
Verlorene ward nicht so rasch wie der vorige vergessen. Nur dem Ephorus
wäre es lieber gewesen, auch den zweiten still und versorgt zu wissen.
Doch tat Heilner nichts, um den Klosterfrieden zu stören. Sein Freund
wartete und wartete, aber es kam nie ein Brief von ihm. Er war fort und
verschollen, seine Gestalt und seine Flucht wurde allmählich zu
Geschichte und schließlich zu Sage. Den leidenschaftlichen Knaben nahm
später, nach mancherlei weiteren Geniestreichen und Verirrungen, das
Leid des Lebens in eine strenge Zucht und es ist, wenn nicht ein Held,
so doch ein aufrechter und stattlicher Mann aus ihm geworden.

Auf dem zurückgebliebenen Hans ruhte der Verdacht, um Heilners Flucht
gewußt zu haben, und raubte ihm vollends das Wohlwollen der Lehrer.
Einer derselben sagte ihm, als er in der Lektion auf mehrere Fragen die
Antwort schuldig blieb: »Warum sind Sie denn nicht mit Ihrem schönen
Freund Heilner gegangen?«

Der Ephorus ließ ihn sitzen und sah ihn von der Seite mit
verachtungsvollem Mitleid an wie der Pharisäer den Zöllner. Dieser
Giebenrath zählte nicht mehr mit, er gehörte zu den Aussätzigen.



                           Fünftes Kapitel


Wie ein Hamster mit aufgespeicherten Vorräten, so erhielt sich Hans mit
seiner früher erworbenen Gelehrsamkeit noch einige Frist am Leben. Dann
begann ein peinliches Darben, durch kurze und kraftlose neue Anläufe
unterbrochen, deren Hoffnungslosigkeit ihn schier selber lächerte. Er
unterließ es nun, sich nutzlos zu plagen, warf den Homer dem Pentateuch
und die Algebra dem Xenophon nach und sah ohne Aufregung zu, wie bei den
Lehrern sein guter Ruf stufenweise herabsank, von gut auf ziemlich, von
ziemlich auf mittelmäßig und endlich auf Null. Wenn er nicht Kopfweh
hatte, was jetzt wieder die Regel war, so dachte er an Hermann Heilner,
träumte seine leichten, großäugigen Träume und dämmerte stundenlang in
Halbgedanken hin. Auf die sich mehrenden Vorwürfe aller Lehrer
antwortete er neuerdings durch ein gutmütiges, demütiges Lächeln.
Repetent Wiedrich, ein freundlicher junger Lehrer, war der einzige, dem
dies hilflose Lächeln weh tat und der den aus der Bahn gekommenen Knaben
mit einer mitleidigen Schonung behandelte. Die übrigen Lehrer waren über
ihn entrüstet, straften ihn durch verächtliches Sitzenlassen oder
versuchten gelegentlich, seinen eingeschlafenen Ehrgeiz durch ironisches
Kitzeln aufzuwecken.

»Falls Sie gerade nicht schlafen sollten, darf ich Sie vielleicht
ersuchen, diesen Satz zu lesen?«

Vornehm indigniert war der Ephorus. Der eitle Mann bildete sich viel auf
die Macht seines Blickes ein und war außer sich, wenn Giebenrath seinem
majestätisch drohenden Augenrollen immer wieder sein demütig ergebenes
Lächeln entgegenhielt, das ihn allmählich nervös machte.

»Lächeln Sie nicht so bodenlos stupid, Sie hätten eher Grund zu heulen.«

Mehr Eindruck machte ein väterlicher Brief, der ihn voll Entsetzens
beschwor, sich zu bessern. Der Ephorus hatte an Vater Giebenrath
geschrieben und dieser war heillos erschrocken. Sein Brief an Hans war
eine Sammlung aller aufmunternden und sittlich entrüsteten Redensarten,
über die der wackere Mann verfügte, und ließ doch, ohne es zu wollen,
eine weinerliche Kläglichkeit durchscheinen, welche dem Sohn wehe tat.

Alle diese ihrer Pflicht beflissenen Lenker der Jugend, vom Ephorus bis
auf den Papa Giebenrath, Professoren und Repetenten, sahen in Hans ein
böses Element, ein Hindernis ihrer Wünsche, etwas Verstocktes und
Träges, das man zwingen und mit Gewalt auf gute Wege zurückbringen
müsse. Keiner, außer vielleicht jenem mitleidigen Repetenten, sah hinter
dem hilflosen Lächeln des schmalen Knabengesichts eine untergehende
Seele leiden und im Ertrinken angstvoll und verzweifelnd um sich
blicken. Und keiner dachte etwa daran, daß die Schule und der
barbarische Ehrgeiz eines Vaters und einiger Lehrer dieses gebrechliche,
feine Wesen so weit gebracht hatten, indem sie in der unschuldig vor
ihnen ausgebreiteten Seele des zarten Kindes ohne Rücksicht wüteten.
Warum hatte er in den empfindlichsten und gefährlichsten Knabenjahren
täglich bis in die Nacht hinein arbeiten müssen? Warum hatte man ihm
seine Kaninchen weggenommen, ihn den Kameraden in der Lateinschule mit
Absicht entfremdet, ihm Angeln und Bummeln verboten und ihm das hohle,
gemeine Ideal eines schäbigen, aufreibenden Ehrgeizes eingeimpft? Warum
hatte man ihm selbst nach dem Examen die wohlverdienten Ferien nicht
gegönnt?

Nun lag das überhetzte Rößlein am Weg und war nimmer zu brauchen.

Gegen Sommersanfang erklärte der Oberamtsarzt nochmals, es handle sich
lediglich um einen nervösen Schwächezustand, der hauptsächlich vom
Wachsen herkomme. Hans solle sich in den Ferien tüchtig herauspflegen
lassen, genug essen und viel in den Wald laufen, so werde es schon
bessern.

Leider kam es gar nicht so weit. Es war noch drei Wochen vor den Ferien,
als Hans in einer Nachmittagslektion vom Professor heftig gescholten
wurde. Während der Lehrer noch weiterschimpfte, sank Hans in die Bank
zurück, begann ängstlich zu zittern und brach in einen langdauernden
Weinkrampf aus, der die ganze Lektion unterbrach. Darauf lag er einen
halben Tag im Bett.

                   *       *       *       *       *

Tags darauf wurde er in der Mathematikstunde aufgefordert, an der
Wandtafel eine geometrische Figur zu zeichnen und den Beweis dazu zu
führen. Er trat heraus, aber vor der Tafel wurde ihm schwindlig; er fuhr
mit Kreide und Lineal sinnlos in der Fläche herum, ließ beides fallen
und als er sich darnach bückte, blieb er selber am Boden knien und
konnte nicht wieder aufstehen.

Der Oberamtsarzt war ziemlich ärgerlich, daß sein Patient sich solche
Streiche leistete. Er drückte sich vorsichtig aus, gebot sofortigen
Erholungsurlaub und empfahl die Zuziehung eines Nervenarztes.

»Der kriegt noch den Veitstanz«, flüsterte er dem Ephorus zu, der mit
dem Kopf nickte und es angezeigt fand, den ungnädig ärgerlichen Ausdruck
seines Gesichts in einen väterlich bedauernden abzuändern, was ihm
leicht fiel und gut stand.

Er und der Arzt schrieben je einen Brief an Hansens Vater, steckten ihn
dem Jungen in die Tasche und schickten ihn nach Hause. Der Ärger des
Ephorus hatte sich in schwere Besorgnis verwandelt -- was sollte die
eben erst durch den Fall Heilner beunruhigte Schulbehörde von diesem
neuen Unglück denken? Er verzichtete sogar zum allgemeinen Erstaunen
darauf, eine dem Vorfall entsprechende Rede zu halten, und war in den
letzten Stunden gegen Hans von einer unheimlichen Leutseligkeit. Daß
dieser aus dem Erholungsurlaub nicht zurückkehren würde, war ihm klar --
auch im Fall der Genesung hätte der jetzt schon weit hintangebliebene
Schüler die versäumten Monate oder auch nur Wochen unmöglich einholen
können. Zwar verabschiedete er ihn mit einem ermunternd herzlichen »auf
Wiedersehen«, so oft er aber in der nächsten Zeit die Stube Hellas
betrat und die drei leeren Pulte sah, ward ihm peinlich zumut und hatte
er Mühe, den Gedanken in sich niederzukämpfen, daß ihn am Verschwinden
zweier begabter Zöglinge vielleicht doch ein Teil der Schuld treffen
möge. Als einem tapferen und sittlich starken Manne gelang es ihm
jedoch, diese unnützen und finstern Zweifel aus seiner Seele zu bannen.

Hinter dem mit seinem kleinen Reisesack abfahrenden Seminaristen versank
das Kloster mit Kirchen, Tor, Giebeln und Türmen, versanken Wald und
Hügelfluchten, an ihrer Stelle tauchten die fruchtbaren Obstwiesen des
badischen Grenzlandes auf, dann kam Pforzheim und gleich dahinter fingen
die bläulich schwarzen Tannenberge des Schwarzwaldes an, von zahlreichen
Bachtälern durchschnitten und in der heißen Sommerglut noch blauer,
kühler und schattenverheißender als sonst. Der Junge betrachtete die
wechselnde und sich immer heimatlicher gestaltende Landschaft nicht ohne
Vergnügen, bis ihm, schon nahe der Heimatstadt, sein Vater in den Sinn
kam und eine peinliche Angst vor dem Empfang ihm die kleine Reisefreude
gründlich verdarb. Die Fahrt zum Stuttgarter Examen und die Reise zum
Eintritt nach Maulbronn fielen ihm wieder ein mit ihrer Spannung und
ängstlichen Freude. Wozu war nun das alles gewesen? Er wußte so gut wie
der Ephorus, daß er nicht wiederkommen würde und daß es nun mit Seminar
und Studium und allen ehrgeizigen Hoffnungen ein Ende hatte. Doch machte
ihn das jetzt nicht traurig, nur die Angst vor seinem enttäuschten
Vater, dessen Hoffnungen er betrogen hatte, beschwerte ihm das Herz. Er
hatte jetzt kein anderes Verlangen, als zu rasten, sich auszuschlafen,
auszuweinen, auszuträumen und nach all der Quälerei einmal in Ruhe
gelassen zu werden. Und er fürchtete, daß er das beim Vater zu Haus
nicht finden werde. Am Ende der Eisenbahnfahrt bekam er heftiges Kopfweh
und sah nimmer zum Fenster hinaus, obwohl es jetzt durch seine
Lieblingsgegend ging, deren Höhen und Forste er früher mit Leidenschaft
durchstreift hatte; und trotz der Angst hätte er beinah das Aussteigen
am wohlbekannten heimischen Bahnhof versäumt.

Nun stand er da, mit Schirm und Reisesack, und wurde vom Papa
betrachtet. Der letzte Bericht des Ephorus hatte dessen Enttäuschung und
Entrüstung über den mißratenden Sohn in einen fassungslosen Schrecken
verwandelt. Er hatte sich Hans verfallen und schrecklich aussehend
vorgestellt und fand ihn nun zwar gemagert und schwächlich, aber doch
noch heil und auf eigenen Beinen wandelnd. Ein wenig tröstete ihn das;
das Schlimmste aber war seine verborgene Angst, sein Grauen vor der
Nervenkrankheit, von welcher Arzt und Ephorus geschrieben hatten. In
seiner Familie hatte bis jetzt nie jemand Nervenleiden gehabt, man hatte
von solchen Kranken immer mit verständnislosem Spott oder mit einem
verächtlichen Mitleiden wie von Irrenhäuslern gesprochen, und nun kam
ihm sein Hans mit solchen Geschichten heim.

Am ersten Tag war der Junge froh, nicht mit Vorwürfen empfangen zu
werden. Dann fiel ihm die scheue, ängstliche Schonung auf, mit der ihn
sein Vater behandelte und zu der er sich sichtlich gewaltsam zwingen
mußte. Gelegentlich bemerkte er nun auch, daß er ihn mit sonderbar
prüfenden Blicken, mit einer unheimlichen Neugierde anschaute, in einem
gedämpften und verlogenen Ton mit ihm redete und ihn, ohne daß er es
merken sollte, beobachtete. Er wurde nur noch scheuer und eine
unbestimmte Angst vor seinem eigenen Zustand begann ihn zu quälen.

Bei gutem Wetter lag er stundenlang im Walde draußen und es tat ihm gut.
Ein schwacher Abglanz der ehemaligen Knabenseligkeit überflog dort
manchmal seine beschädigte Seele: die Freude an Blumen oder Käfern, am
Belauschen der Vögel oder am Verfolgen einer Wildspur. Doch waren das
immer nur Augenblicke. Meistens lag er träge im Moos, hatte einen
schweren Kopf und versuchte vergeblich an irgend etwas zu denken, bis
die Träume wieder zu ihm traten und ihn weit in andere Räume mitnahmen.
Kopfweh hatte er fast beständig und wenn er ans Kloster oder an die
Lateinschule zurückdachte, stürzte sich die Vorstellung der vielen
Bücher und Lehrgegenstände und Pflichten wie ein grimmiger Alp auf ihn
und in seinem schmerzenden Schädel führten Livius und Cäsar, Xenophon
und Rechenaufgaben wirre, peinliche Tänze auf.

Einmal hatte er folgenden Traum. Er sah seinen Freund Hermann Heilner
tot auf einer Tragbahre liegen und wollte zu ihm hingehen, aber der
Ephorus und die Lehrer drängten ihn zurück und versetzten ihm bei jedem
neuen Vordringen schmerzhafte Püffe. Nicht nur die Seminarprofessoren
und Repetenten waren dabei, sondern auch der Rektor und die Stuttgarter
Examinatoren, alle mit erbitterten Gesichtern. Plötzlich war alles
anders, auf der Bahre lag der ertrunkene Hindu und sein komischer Vater
mit dem hohen Zylinder stand krummbeinig und wehmütig daneben.

Und wieder ein Traum: Er lief im Walde auf der Suche nach dem
entlaufenen Heilner, und er sah ihn immer wieder ferne zwischen den
Stämmen gehen und sah ihn immer und immer wieder, gerade wenn er ihm
rufen wollte, verschwinden. Endlich blieb Heilner stehen, ließ ihn
herankommen und sagte: Du, ich hab' einen Schatz. Dann lachte er
übermäßig laut und verschwand im Gebüsche.

Er sah einen schönen, mageren Mann aus einem Schiffe steigen, mit
stillen, göttlichen Augen und schönen, friedevollen Händen, und er lief
auf ihn zu. Alles verrann wieder und er besann sich, was es sei, bis ihm
die Stelle des Evangeliums wieder einfiel, wo es hieß: [Griechisch:
euthus epignontes auton periedramon] Und nun mußte er sich besinnen, was
für eine Konjugationsform [Griechisch: periedramon] sei und wie Präsens,
Infinitiv, Perfektum und Futurum des Verbums lauteten, er mußte es im
Singularis, Dual und Plural durchkonjugieren und geriet in Angst und
Schweiß, sobald es haperte. Wenn er alsdann zu sich kam, hatte er ein
Gefühl, als sei sein Kopf innen überall wund, und wenn sich sein Gesicht
unwillkürlich zu jenem schläfrigen Lächeln der Resignation und des
Schuldbewußtseins verzog, hörte er sogleich den Ephorus: »Was soll das
dumme Lächeln heißen? Sie haben es gerade nötig, auch noch zu lächeln!«

Im ganzen wollte, trotz einzelnen besseren Tagen, sich kein Fortschritt
in Hansens Zustand zeigen, es schien eher rückwärts zu gehen. Der
Hausarzt, der seinerzeit die Mutter behandelt und tot erklärt hatte und
den manchmal ein wenig gichtleidenden Vater besuchte, machte ein langes
Gesicht und zögerte von Tag zu Tag, seine Ansicht zu äußern.

Erst in jenen Wochen merkte Hans, daß er in den zwei letzten
Lateinschuljahren keine Freunde mehr gehabt habe. Die Kameraden von
damals waren teils fort, teils sah er sie als Lehrlinge herumlaufen, und
mit keinem von ihnen verband ihn etwas, bei keinem hatte er etwas zu
suchen und keiner kümmerte sich um ihn. Zweimal sprach der alte Rektor
ein paar freundliche Worte mit ihm, auch der Lateinlehrer und der
Stadtpfarrer nickten ihm auf der Straße wohlwollend zu, aber eigentlich
ging Hans sie nichts mehr an. Er war kein Gefäß mehr, in das man
allerlei hineinstopfen konnte, kein Acker für vielerlei Samen mehr; es
lohnte sich nimmer, Zeit und Sorgfalt an ihn zu wenden.

Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn der Stadtpfarrer sich seiner ein
wenig angenommen hätte. Aber was sollte er tun? Was er geben konnte, die
Wissenschaft oder wenigstens das Suchen nach ihr, hatte er dem Jungen
seinerzeit nicht vorenthalten, und mehr hatte er eben nicht. Er war
keiner von den Pfarrern, in deren Latein man begründete Zweifel setzt
und deren Predigten aus wohlbekannten Quellen geschöpft sind, zu denen
man aber in bösen Zeiten gerne geht, weil sie gute Augen und freundliche
Worte für alles Leiden haben. Auch Vater Giebenrath war kein Freund oder
Tröster, wenn er sich auch alle Mühe gab, den Ärger seiner Enttäuschung
über Hans zu verbergen.

So fühlte dieser sich verlassen und ungeliebt, saß im kleinen Garten an
der Sonne oder lag im Wald und hing seinen Träumereien oder quälerischen
Gedanken nach. Mit Lesen konnte er sich nicht helfen, da ihm dabei immer
bald Kopf und Augen schmerzten und weil aus jedem seiner Bücher ihm
sogleich beim Aufschlagen das Gespenst der Klosterzeit und des dortigen
Angstgefühls auferstand, ihn in luftlose bange Traumwinkel trieb und
dort mit glühendem Blicke festbannte.

                   *       *       *       *       *

In dieser Not und Verlassenheit trat dem kranken Knaben ein anderes
Gespenst als trügerischer Tröster nahe und wurde ihm allmählich vertraut
und notwendig. Das war der Gedanke an den Tod. Es war ja leicht, sich
etwa eine Schießwaffe zu verschaffen oder irgendwo im Walde eine
Seilschlinge anzubringen. Fast jeden Tag begleiteten ihn diese
Vorstellungen auf seinen Gängen, er betrachtete sich einzelne, still
gelegene Örtlein und fand schließlich einen Platz, wo es sich schön
sterben ließ und den er endgültig zu seiner Sterbestätte bestimmte. Er
suchte ihn immer wieder auf, saß da und fand eine seltsame Freude daran,
sich vorzustellen, daß man ihn dort nächstens einmal tot finden würde.
Der Ast für den Strick war bestimmt und auf seine Stärke geprüft, keine
Schwierigkeiten standen mehr im Wege; allmählich wurde auch, mit
längeren Pausen, ein kurzer Brief an den Vater und ein sehr langer an
Hermann Heilner geschrieben, die man bei der Leiche finden sollte.

Die Vorbereitungen und das Gefühl der Sicherheit übten einen wohltätigen
Einfluß auf sein Gemüt. Unter dem verhängnisvollen Aste sitzend, hatte
er manche Stunden, in denen der Druck von ihm wich und fast ein
freudiges Wohlgefühl über ihn kam. Auch der Vater merkte die Besserung
seines Zustandes und Hans sah mit ironischem Vergnügen zu, wie jener
sich einer Stimmung freute, deren Ursache doch nur die Gewißheit seines
baldigen Endes war.

Warum er nicht schon längst an jenem schönen Aste hing, wußte er selbst
nicht recht. Der Gedanke war gefaßt, sein Tod war eine beschlossene
Sache, dabei war ihm einstweilen wohl und er verschmähte nicht, in
diesen letzten Tagen den schönen Sonnenschein und das einsame Träumen
noch auszukosten, wie man es gern vor weiten Reisen tut. Abreisen konnte
er ja jeden Tag, es war alles in Ordnung. Auch war es ihm eine besondere
bittere Wonne, sich freiwillig noch ein wenig in der alten Umgebung
aufzuhalten und den Leuten ins Gesicht zu sehen, die von seinen
gefährlichen Entschlüssen keine Ahnung hatten. So oft er dem Arzt
begegnete, mußte er denken: »Na du wirst schauen!«

Das Schicksal ließ ihn sich seiner finsteren Absichten erfreuen und
schaute zu, wie er aus dem Kelch des Todes täglich ein paar Tropfen der
Lust und Lebenskraft genoß. Es mochte ja wenig an diesem verstümmelten
jungen Wesen gelegen sein, aber seinen Kreis sollte doch erst es
vollenden und nicht vom Plan verschwinden, ehe es noch ein wenig von der
bitteren Süße des Lebens geschmeckt hätte.

Die unentrinnbaren quälenden Vorstellungen wurden seltener und wichen
einem müden Sichgehenlassen, einer schmerzlos trägen Stimmung, in
welcher Hans die Stunden und Tage gedankenlos vorübertreiben sah,
gleichmütig ins Blaue schaute und zuweilen schlafwandelnd oder kindisch
zu sein schien. In träger Dämmerstimmung saß er einmal im Gärtchen unter
der Tanne und summte, ohne es recht zu wissen, immer wieder einen alten
Vers vor sich hin, der ihm, von der Lateinschule her, gerade eingefallen
war:

   Ach ich bin so müde,
   Ach ich bin so matt,
   Hab kein Geld im Portemonnaie
   Und auch keins im Sack.

Er summte ihn nach alter Melodie und dachte nichts dabei, als er ihn zum
zwanzigstenmal anstimmte. Sein Vater aber stand nahe am Fenster, hörte
zu und hatte einen großen Schrecken. Seiner trockenen Natur war dieser
gedankenlose, wohlig stumpfsinnige Singsang völlig unverständlich und er
deutete ihn seufzend als ein Zeichen hoffnungsloser Geistesschwäche. Von
da an beobachtete er den Jungen noch ängstlicher, der merkte es
natürlich und litt darunter; doch kam er noch immer nicht dazu, den
Strick mitzunehmen und von jenem starken Aste Gebrauch zu machen.

Inzwischen war die heiße Jahreszeit gekommen und seit dem Landexamen und
den damaligen Sommerferien schon ein Jahr vergangen. Hans dachte
gelegentlich daran, doch ohne sonderliche Bewegung; er war ziemlich
stumpf geworden. Gerne hätte er wieder angefangen zu angeln, doch wagte
er nicht den Vater darum zu bitten. Es plagte ihn, sooft er am Wasser
stand, und manchmal verweilte er lang am Ufer, wo niemand ihn sah, und
folgte mit heißen Augen den Bewegungen der dunkeln, lautlos schwimmenden
Fische. Gegen Abend ging er täglich eine Strecke flußaufwärts zum Baden
und da er dabei stets an dem kleinen Haus des Inspektors Geßler vorüber
mußte, entdeckte er zufällig, daß die Emma Geßler, für die er vor drei
Jahren geschwärmt hatte, wieder zu Hause sei. Neugierig sah er ihr ein
paarmal nach, aber sie gefiel ihm nimmer so gut wie früher. Damals war
sie ein zartgliedriges, sehr feines Mädelchen gewesen, jetzt war sie
gewachsen, hatte eckige Bewegungen und trug eine unkindliche, moderne
Frisur, die sie vollends ganz entstellte. Auch die langen Kleider
standen ihr nicht und ihre Versuche, damenhaft auszusehen, waren
entschieden unglücklich. Hans fand sie lächerlich, zugleich aber tat es
ihm leid, wenn er daran dachte, wie sonderbar süß und dunkel und warm
ihm damals, sooft er sie sah, zumut gewesen war. Überhaupt -- damals war
doch alles anders gewesen, so viel schöner, so viel heiterer, so viel
lebendiger! Seit langer Zeit wußte er von nichts als von Latein,
Geschichte, Griechisch, Examen, Seminar und Kopfweh. Damals aber hatte
es Bücher mit Märchen und Bücher mit Räubergeschichten gegeben, da hatte
er im Gärtchen eine selberverfertigte Hammermühle laufen gehabt und
abends die abenteuerlichen Geschichten der Liese im Nascholdischen
Torweg mit angehört, da hatte er eine Zeitlang den alten Nachbar
Großjohann, genannt Garibaldi, für einen Raubmörder angesehen und von
ihm geträumt und hatte das ganze Jahr hindurch sich jeden Monat auf
irgend etwas gefreut, bald auf das Heuen, bald auf den Kleeschnitt, dann
wieder auf das erste Angeln oder Krebsen, auf Hopfenernte,
Pflaumenschütteln, Kartoffelfeuer, auf den Beginn des Dreschens, und
zwischenein noch extra auf jeden lieben Sonn- und Feiertag. Da hatte es
noch eine Menge von Dingen gegeben, die ihn mit geheimnisvollem Zauber
anzogen: Häuser, Gassen, Treppen, Scheunenböden, Brunnen, Zäune,
Menschen und Tiere aller Art waren ihm lieb und bekannt oder rätselhaft
verlockend gewesen. Beim Hopfenpflücken hatte er mitgeholfen und
zugehört wie die großen Mädchen sangen, und hatte sich Verse aus ihren
Liedern gemerkt, die meisten zum Lachen drollig und einige aber auch
merkwürdig klagend, daß es einen beim Zuhören im Halse würgte.

Das alles war untergesunken und zu Ende gewesen, ohne daß er es damals
gleich merkte. Zuerst hatten die Abende bei der Liese aufgehört, dann
das Goldfallenfangen am Sonntag vormittag, dann das Märchenlesen, und so
eins ums andere bis aufs Hopfenpflücken und die Hammermühle im Garten. O
wo war das alles hingekommen?

Und es geschah, daß der frühreife Jüngling nun in seinen kranken Tagen
eine unwirkliche zweite Kinderzeit erlebte. Sein von den Schulmännern um
die Kindheit bestohlenes Gemüt floh jetzt mit plötzlich ausbrechender
Sehnsucht in jene schönen dämmernden Jahre zurück und irrte verzaubert
in einem Walde von Erinnerungen umher, deren Stärke und Deutlichkeit
vielleicht krankhaft war. Er erlebte sie alle mit nicht weniger Wärme
und Leidenschaft, als er sie früher in Wirklichkeit erlebt hatte, die
betrogene und vergewaltigte Kindheit brach wie eine lang gehemmte Quelle
in ihm auf.

Wenn ein Baum entgipfelt wird, treibt er gern in Wurzelnähe neue
Sprossen hervor, und so kehrt oft auch eine Seele, die in der Blüte
krank wurde und verdarb, in die frühlinghafte Zeit der Anfänge und
ahnungsvollen Kindheit zurück, als könnte sie dort neue Hoffnungen
entdecken und den abgebrochenen Lebensfaden aufs neue anknüpfen. Die
Wurzelsprossen geilen saftig und eilig auf, aber es ist lediglich ein
Scheinleben und es wird nie wieder ein Baum daraus.

Auch Hans Giebenrath erging es so und darum ist es notwendig, ihm auf
seinen Traumwegen im Kinderlande ein wenig zu folgen.

Das Giebenrathsche Haus stand nahe bei der alten steinernen Brücke und
bildete die Ecke zwischen zwei sehr verschiedenartigen Gassen. Die eine,
zu welcher das Haus gerechnet wurde und gehörte, war die längste,
breiteste und vornehmste der Stadt und hieß Gerbergasse. Die zweite
führte jäh bergan, war kurz, schmal und elend und hieß »zum Falken«,
nach einem uralten, längst eingegangenen Wirtshaus, dessen Schild ein
Falke gewesen war.

In der Gerbergasse wohnten Haus an Haus lauter gute, solide Altbürger,
Leute mit eigenen Häusern, eigenen Kirchplätzen und eigenen Gärten, die
sich hinterwärts in Terrassen steil bergan zogen und deren Zäune an den
Anno siebzig errichteten, mit gelbem Ginster bewachsenen Bahndamm
stießen. An Vornehmheit konnte mit der Gerbergasse nur noch der
Marktplatz wetteifern, wo Kirche, Oberamt, Gericht, Rathaus und Dekanat
standen und in ihrer reinlichen Würde durchaus einen städtisch noblen
Eindruck machten. Amtshäuser hatte nun zwar die Gerbergasse keine, aber
alte und neue Bürgerwohnungen mit stattlichen Haustüren, hübsche
altmodische Fachwerkhäuschen, nette helle Giebel; und es verlieh ihr
eine Fülle von Freundlichkeit, Behagen und Licht, daß sie nur eine
Häuserreihe besaß, denn jenseits der Straße lief am Fuße einer mit
Balkenbrüstungen versehenen Mauer der Fluß dahin.

War die Gerbergasse lang, breit, licht, geräumig und vornehm, so war der
»Falken« das Gegenteil davon. Hier standen schiefe finstere Häuser mit
fleckigem und bröckelndem Verputz, vorhängenden Giebeln, die an
eingetriebene Hüte erinnerten, vielfach geborstenen und geflickten Türen
und Fenstern, mit krummen Kaminen und schadhaften Dachrinnen. Die Häuser
raubten einander Raum und Licht und die Gasse war schmal, wunderlich
gebogen und in eine ewige Dämmerung gehüllt, die bei Regenwetter oder
nach Sonnenuntergang sich in eine feuchte, bösartige Finsternis
verwandelte. Vor allen Fenstern war an Stangen und Schnüren stets eine
Menge Wäsche aufgehängt; denn so klein und elend die Gasse war, so viele
Familien hausten darin, von all den Aftermietern und Schlafgängern gar
nicht zu reden. Alle Winkel der schiefen, alternden Häuser waren dicht
bewohnt und Armut, Laster und Krankheit waren dort ansässig. Polizei und
Spital hatte mit der ganzen übrigen Stadt nicht so viel zu tun wie mit
den paar Falkenhäusern. Wenn der Typhus ausbrach, so war es dort, wenn
einmal ein Totschlag geschah, so war es auch dort und wenn in der Stadt
ein Diebstahl vorkam, suchte man zuerst im Falken. Umherziehende
Hausierer hatten dort ihre Absteigequartiere, unter ihnen der drollige
Putzpulverhändler Hottehotte und der Scherenschleifer Adam Hittel, dem
man alle Verbrechen und Laster nachsagte.

                   *       *       *       *       *

In seinen ersten Schuljahren war Hans im Falken ein häufiger Gast
gewesen. Zusammen mit einer zweifelhaften Rotte von strohblonden,
abgerissenen Buben hatte er die Mordgeschichten der berüchtigten Lotte
Frohmüller angehört. Diese war das geschiedene Weib eines kleinen
Gastwirts und hatte fünf Jahre Zuchthaus hinter sich; sie war seinerzeit
eine bekannte Schönheit gewesen, hatte unter den Fabriklern eine große
Zahl von Schätzen gehabt und zu öfteren Skandalen und Messerstechereien
Anlaß gegeben. Nun lebte sie einsam und brachte ihre Abende nach
Fabrikschluß mit Kaffeekochen und Geschichtenerzählen zu; dabei stand
ihre Türe weit offen, und außer den Weibern und jungen Arbeitern hörte
von der Schwelle aus stets auch eine Schar von Nachbarskindern ihr mit
Entzücken und Grausen zu. Auf dem schwarzen Steinherdchen kochte das
Wasser im Kessel, eine Unschlittkerze brannte daneben und beleuchtete
zusammen mit dem blauen Kohlenfeuerchen den überfüllten, finsteren Raum
mit abenteuerlichem Flackern, die Schatten der Zuhörer in ungeheuren
Maßen an die Wand und Decke werfend und mit gespenstiger Bewegung
erfüllend.

Dort machte der achtjährige Knabe die Bekanntschaft der beiden Brüder
Finkenbein und unterhielt etwa ein Jahr lang, einem strengen väterlichen
Verbot zum Trotz, eine Freundschaft mit ihnen. Sie hießen Dolf und Emil
und waren die gerissensten Gassenbuben der Stadt, durch Obstdiebstähle
und kleine Waldfrevel berühmt und vollendete Meister in unzähligen
Geschicklichkeiten und Streichen. Sie handelten nebenher mit Vogeleiern,
Bleikugeln, jungen Raben, Staren und Hasen, legten verbotenerweise
Nachtangeln und fühlten sich in allen Gärten der Stadt wie zu Hause,
denn kein Zaun war so spitzig und keine Mauer so dicht mit Glasscherben
besteckt, daß sie nicht leicht hinübergekommen wären.

Vor allem aber war es Hermann Rechtenheil, der im »Falken« wohnte und an
welchen Hans sich anschloß. Er war eine Waise und ein krankes,
frühreifes, ungewöhnliches Kind. Weil sein eines Bein viel zu kurz war,
mußte er beständig am Stock gehen und konnte nicht an den Gassenspielen
teilnehmen. Er war schmal und hatte ein farbloses Leidensgesicht mit
vorzeitig herbem Munde und allzu spitzem Kinn. In allerlei
Handfertigkeiten war er ungemein geschickt, und namentlich hatte er eine
gewaltige Leidenschaft für das Angeln, die er auf Hans übertrug. Dieser
besaß damals noch keine Fischkarte, sie angelten aber trotzdem heimlich
an versteckten Orten, und wenn Jagen eine Freude ist, so ist bekanntlich
Wildern ein Hochgenuß. Der krumme Rechtenheil lehrte Hans die richtigen
Ruten schneiden, Roßhaar flechten, Schnüre färben, Fadenschlingen
drehen, Angelhaken schärfen. Er lehrte ihn auch aufs Wetter schauen, das
Wasser beobachten und mit Kleie trüben, die rechten Köder wählen und sie
richtig befestigen, er lehrte ihn die Fischarten unterscheiden, die
Fische beim Angeln belauschen, die Schnur in richtiger Tiefe halten. Er
teilte ihm ohne Worte und nur durch sein Beispiel und Dabeisein die
Handgriffe und das feine Gefühl für den Augenblick des Anziehens oder
Nachlassens mit und jene seltsame Empfindlichkeit der Hand, ohne welche
kein feines Angeln möglich ist. Die schönen, in Läden käuflichen Ruten,
Korke und Glasschnüre und all das künstliche Angelzeug verachtete und
verhöhnte er mit Eifer und überzeugte Hans davon, daß man unmöglich mit
einer Angel fischen könne, die man nicht in allen Teilen selber gemacht
und zusammengesetzt habe.

Mit den Gebrüdern Finkenbein kam Hans in Zorn auseinander; der stille,
lahme Rechtenheil verließ ihn ohne Hader. Er streckte sich eines
Februartages in sein ärmliches Bettlein, legte seinen Krückstock über
die Kleider auf den Stuhl, fing an zu fiebern und starb schnell und
still hinweg; die Falkengasse vergaß ihn sogleich und nur Hans behielt
ihn noch lange in gutem Andenken.

Mit ihm war aber die Zahl der merkwürdigen Falkenbewohner noch lange
nicht erschöpft. Wer kannte nicht den wegen Trunksucht entlassenen
Briefträger Rötteler, der alle vierzehn Tage besoffen auf der Straße lag
oder nächtliche Skandale verführte, sonst aber gut wie ein Kind war und
beständig voll Wohlwollen lächelte? Er ließ Hans aus seiner ovalen Dose
schnupfen, ließ sich gelegentlich Fische von ihm schenken, briet sie in
Butter und lud Hans zum Mitessen ein. Er besaß einen ausgestopften
Bussard mit Glasaugen und eine alte Spieluhr, die mit dünnen, feinen
Tönchen veraltete Tanzweisen aufspielte. Und wer kannte nicht den
uralten Mechaniker Porsch, der immer Manschetten trug, auch wenn er
barfuß ging? Als der Sohn eines strengen Landschullehrers alter Schule
konnte er die halbe Bibel und ein paar Ohren voll Sprichwörter und
moralische Sentenzen auswendig; aber weder dies noch sein schneeweißes
Haar hinderte ihn, vor allen Weibern den Schwerenöter zu spielen und
sich häufig zu betrinken. Wenn er ein bißchen geladen hatte, saß er gern
auf dem Prellstein an der Ecke des Giebenrathschen Hauses, rief alle
Vorübergehenden mit Namen an und bediente sie reichlich mit Sprüchen.

»Hans Giebenrath junior, mein teurer Sohn, höre was ich dir sage! Wie
spricht Sirach? Wohl dem, der nicht bösen Rat gibt und davon nicht ein
böses Gewissen hat! Gleichwie die grünen Blätter auf einem schönen Baum,
etliche abfallen, etliche wieder wachsen, also geht es mit den Leuten
auch: etliche sterben, etliche werden geboren. So, nun kannst du
heimgehen, du Seehund.«

Dieser alte Porsch stak, seiner frommen Sprüche unbeschadet, voll von
dunklen und sagenhaften Berichten über Gespenster und dergleichen. Er
kannte die Orte, wo solche umgingen und schwankte immer zwischen Glauben
und Unglauben an seine eigenen Geschichten. Meistens begann er sie in
zweiflerischem, prahlerisch wegwerfendem Ton, als mache er sich über die
Geschichte und über die Zuhörer lustig, aber allmählich, während des
Erzählens, duckte er sich ängstlich, senkte seine Stimme mehr und mehr
und endete in einem leisen, eindringlichen, gruseligen Flüsterton.

Wie viel Unheimliches, Undurchschauliches, dunkel Anreizendes enthielt
die arme kleine Gasse! In ihr hatte auch, nachdem sein Geschäft
eingegangen und seine verwahrloste Werkstatt vollends verlottert war,
der Schlosser Brendle gewohnt. Er war halbe Tage lang an seinem
Fensterchen gesessen und hatte finster in die lebhafte Gasse geblickt
und zuweilen, wenn eins der abgerissenen, ungewaschenen Kinder aus den
Nachbarhäusern ihm in die Hände fiel, hatte er es mit wüster
Schadenfreude gequält, an den Ohren und Haaren gerissen und ihm den
ganzen Leib blau gekniffen. Eines Tages aber hing er an seiner Treppe,
an einem Stück Zinkdraht erhängt, und sah so scheußlich aus, daß niemand
sich zu ihm getraute, bis der alte Mechaniker Porsch von hinten her den
Draht mit einer Blechschere abschnitt, worauf die Leiche mit
heraushängender Zunge vornüber fiel und die Treppe hinunterpolterte,
mitten in die entsetzten Zuschauer hinein.

So oft Hans aus der hellen, breiten Gerbergasse in den finstern,
feuchten Falken trat, überkam ihn mit der seltsamen stickigen Luft eine
wonnevoll grausige Beklemmung, eine Mischung von Neugierde, Furcht,
schlechtem Gewissen und seliger Abenteuerahnung. Der Falken war der
einzige Ort, an welchem etwa noch ein Märchen, ein Wunder, ein
unerhörtes Schrecknis passieren konnte, wo Zauberei und Gespensterwesen
glaubhaft und wahrscheinlich war und wo man dieselben schmerzhaft
köstlichen Schauder empfinden konnte wie beim Lesen der Sagen und der
skandalösen Reutlinger Volksbücher, welche von den Lehrern konfisziert
wurden und die Schandtaten und Bestrafungen des Sonnenwirtle, des
Schinderhannes, des Messerkarle, des Postmichels und ähnlicher dunkler
Helden, Schwerverbrecher und Abenteurer berichteten.

Außer dem Falken gab es aber noch einen Ort, wo es anders war als
überall, wo man etwas erleben und hören und sich auf dunklen Böden und
in ungewöhnlichen Räumen verlieren konnte. Das war die nahe, große
Gerberei, das alte riesige Haus, wo auf halbdunklen Böden die großen
Häute hingen, wo es im Keller verdeckte Gruben und verbotene Gänge gab
und wo abends die Liese allen Kindern ihre schönen Märchen erzählte. Es
ging dort stiller, freundlicher und menschlicher zu als im Falken
drüben, aber nicht minder rätselhaft. Das Walten der Gerbergesellen in
den Gruben, im Keller, im Lohgarten und auf den Estrichen war seltsam
und eigentümlich, die großen gähnenden Räume waren still und ebenso
anziehend wie unheimlich, der gewaltige und mürrische Hausherr ward wie
ein Menschenfresser gefürchtet und gescheut und die Liese ging in dem
merkwürdigen Hause umher wie eine Fee, allen Kindern, Vögeln, Katzen und
Hündlein eine Schützerin und Mutter, voll von Güte und voll von
wunderseltsamen Märchen und Liederversen.

In dieser ihm längst entfremdeten Welt bewegten sich jetzt die Gedanken
und Träume des Knaben. Aus seiner großen Enttäuschung und
Hoffnungslosigkeit floh er in die vergangene gute Zeit zurück, da er
noch voll von Hoffnungen gewesen war und die Welt vor sich hatte stehen
sehen wie einen riesengroßen Zauberwald, welcher grausige Gefahren,
verwunschene Schätze und smaragdene Schlösser in seiner
undurchdringlichen Tiefe verbarg. Ein kleines Stück war er in diese
Wildnis vorgedrungen, aber er war müde geworden, ehe die Wunder kamen,
und stand nun wieder am rätselvoll dämmernden Eingang, diesmal als ein
Ausgeschlossener, in müßiger Neugier.

Ein paarmal suchte Hans den »Falken« wieder auf. Er fand daselbst die
alte Dämmerung und den alten üblen Geruch, die alten Winkel und
lichtlosen Treppenhäuser; es saßen wieder greise Männer und Weiber vor
den Türen und ungewaschene, strohblonde Kinder trieben sich mit Geschrei
herum. Der Mechaniker Porsch war noch älter geworden und kannte Hans
nicht mehr und antwortete auf seinen schüchternen Gruß nur mit einem
höhnischen Meckern. Der Großjohann, genannt Garibaldi, war gestorben und
ebenso die Lotte Frohmüller. Der Briefträger Rötteler war noch da. Er
klagte, die Buben hätten ihm seine Spieluhr kaputt gemacht, er bot ihm
zu schnupfen an und versuchte dann ihn anzubetteln; schließlich erzählte
er von den Brüdern Finkenbein, der eine sei jetzt in der Zigarrenfabrik
und saufe bereits wie ein Alter, der andere sei nach einer
Kirchweihstecherei auf und davon und fehle schon seit einem Jahr. Alles
machte einen kläglichen und kümmerlichen Eindruck.

Und einmal ging er am Abend in die Gerberei hinüber. Es zog ihn durch
den Torweg und über den feuchten Hof, als läge in dem großen alten Hause
seine Kindheit verborgen, mit allen ihren verloren gegangenen Freuden.

Über die krumme Treppe und den gepflasterten Öhrn kam er an die finstere
Treppe, tastete sich zum Estrich durch, wo die Häute aufgespannt hingen,
und sog dort mit dem scharfen Ledergeruch eine ganze Wolke plötzlich
hervorstürmender Erinnerungen ein. Er stieg wieder herab und suchte den
hinteren Hof auf, wo die Lohgruben und die schmal überdachten, hohen
Gerüste zum Trocknen der Lohkäse waren. Richtig saß auf der Mauerbank
die Liese, hatte einen Korb Erdäpfel zum Schälen vor und ein paar
horchende Kinder um sich herum.

Hans blieb in der dunklen Türe stehen und lauschte hinüber. Ein großer
Friede erfüllte den eindämmernden Gerbergarten und außer dem schwachen
Rauschen des Flusses, der hinter der Hofmauer vorüberzog, hörte man nur
das Messer der Liese beim Kartoffelschälen knirschen und ihre Stimme,
die erzählte. Die Kinder saßen ganz ruhig kauernd und regten sich kaum.
Sie erzählte die Geschichte vom Sankt Christoffel, wie in der Nacht ihn
eine Kindesstimme über den Strom ruft.

Hans hörte eine Weile zu, dann ging er leise durch den schwarzen Öhrn
zurück und nach Hause. Er spürte, daß er doch nicht wieder ein Kind
werden und abends im Gerbergarten bei der Liese sitzen konnte, und er
mied nun wieder das Gerberhaus so gut wie den Falken.



                           Sechstes Kapitel


Es ging schon stark in den Herbst hinein. Aus den schwarzen
Tannenwäldern leuchteten die vereinzelten Laubbäume gelb und rot wie
Fackeln, die Schluchten hatten schon starke Nebel und der Fluß dampfte
morgens in der Kühle.

Noch immer streifte der blasse Exseminarist tagtäglich im Freien umher,
war unlustig und müde und floh das bißchen Umgang, das er hätte haben
können. Der Arzt verschrieb Tropfen, Lebertran, Eier und kalte
Waschungen.

Es war kein Wunder, daß alles nicht recht helfen wollte. Jedes gesunde
Leben muß einen Inhalt und ein Ziel haben und das war dem jungen
Giebenrath verloren gegangen. Nun war sein Vater entschlossen, ihn
entweder Schreiber werden oder ein Handwerk lernen zu lassen. Der Junge
war zwar noch schwächlich und sollte erst noch ein wenig mehr zu Kräften
kommen, doch konnte man jetzt nächstens daran denken, Ernst mit ihm zu
machen.

Seit die ersten verwirrenden Eindrücke sich gemildert hatten und seit er
auch an den Selbstmord selber nicht mehr glaubte, war Hans aus den
erregten und wechselreichen Angstzuständen in eine gleichmäßige
Melancholie hinübergeraten, in die er langsam und wehrlos wie in einen
weichen Schlammboden versank.

Nun lief er in den Herbstfeldern umher und erlag dem Einfluß der
Jahreszeit. Die Neige des Herbstes, der stille Blätterfall, das
Braunwerden der Wiesen, der dichte Frühnebel, das reife, müde
Sterbenwollen der Vegetation trieb ihn, wie alle Kranken, in schwere,
hoffnungslose Stimmungen und traurige Gedanken. Er fühlte den Wunsch,
mit zu vergehen, mit einzuschlafen, mit zu sterben, und litt darunter,
daß seine Jugend dem widersprach und mit stiller Zähigkeit am Leben
hing.

Er schaute den Bäumen zu, wie sie gelb wurden, braun wurden, kahl
wurden, und dem milchweißen Nebel, der aus den Wäldern rauchte, und den
Gärten, in welchen nach der letzten Obstlese das Leben erlosch und
niemand mehr nach den farbig verblühenden Astern sah, und dem Flusse, in
welchem Bad und Fischerei ein Ende hatte, der mit dürren Blättern
bedeckt war und an dessen frostigen Ufern nur noch die zähen Gerber
aushielten. Seit einigen Tagen führte er Massen von Mosttrebern mit
sich, denn auf den Kelterplätzen und in allen Mühlen war man jetzt
fleißig am Mosten und in der Stadt zog der Geruch von Obstsaft leise
gärend durch alle Gassen.

In der untern Mühle hatte auch der Schuhmacher Flaig eine kleine Presse
gemietet und lud Hans zum Mosten ein.

Auf dem Vorplatz der Mühle standen große und kleine Mostkeltern, Wagen,
Körbe und Säcke voll Obst, Zuber, Bütten, Kübel und Fässer, ganze Berge
von braunen Trebern, hölzerne Hebel, Schubkarren, leere Gefährte. Die
Keltern arbeiteten, knirschten, quietschten, stöhnten, meckerten. Die
meisten waren grün lackiert und dies Grün mit dem Braungelb der Treber,
den Farben der Apfelkörbe, dem hellgrünen Fluß, den barfüßigen Kindern
und der klaren Herbstsonne zusammen gab jedem, der es sah, einen
verlockenden Eindruck von Freude, Lebenslust und Überfluß. Das Knirschen
der zermalmten Äpfel klang herb und appetitreizend; wer herzukam und es
hörte, mußte schnell einen Apfel in die Faust nehmen und anbeißen. Aus
den Röhren floß in dickem Strahl der süße junge Most, rotgelb und in der
Sonne lachend; wer herzukam und es ansah, mußte um ein Glas bitten und
schnell eine Probe kosten, dann blieb er stehen, bekam feuchte Augen und
fühlte einen Strom von Süßigkeit und Wohlbehagen durch sich
hindurchgehen. Und dieser süße Most erfüllte die Luft weitherum mit
seinem frohen, starken, köstlichen Geruch. Dieser Duft ist eigentlich
das Feinste vom ganzen Jahr, der Inbegriff von Reife und Ernte, und es
ist gut, ihn so vor dem nahen Winter einzusaugen, denn dabei erinnert
man sich mit Dankbarkeit an eine Menge von guten, wunderbaren Dingen: an
sanfte Maienregen, rauschende Sommerregen, kühlen Herbstmorgentau, an
zärtlichen Frühlingssonnenschein und glastend heißen Sommerbrand, an die
weiß und rosenrot leuchtende Blust und an den reifen, rotbraunen Glanz
der Obstbäume vor der Ernte und zwischenein an alles Schöne und
Freudige, was so ein Jahreslauf mitgebracht hat.

Das waren Glanztage für jedermann. Die Reichen und Protzen, so weit sie
sich herabließen, persönlich zu erscheinen, wogen ihren feinen, feisten
Apfel in der Hand, zählten ihr Dutzend Säcke oder mehr, probierten mit
einem silbernen Taschenbecher und ließen jeden hören, in ihren Most käme
kein Tropfen Wasser. Die Armen hatten nur einen einzigen Obstsack,
probierten mit Gläsern oder irdenen Schüsseln, taten Wasser dazu und
waren darum nicht minder stolz und fröhlich. Wer aus irgendwelchen
Gründen gar nicht mosten konnte, der lief bei seinen Bekannten und
Nachbarn von Presse zu Presse, bekam überall ein Glas eingeschenkt und
einen Apfel eingesteckt und bewies durch Kennersprüche, daß er auch sein
Teil von der Sache verstehe. Die vielen Kinder aber, arm oder reich,
liefen mit kleinen Bechern herum, hatten jedes einen angebissenen Apfel
und jedes ein Stück Brot in der Hand, denn es ging seit alten Zeiten die
unbegründete Sage, wenn man beim Mosten ordentlich Brot esse, bekomme
man nachher kein Bauchweh.

Hundert Stimmen schrien durcheinander, vom Kinderspektakel gar nicht zu
reden, und alle diese Stimmen waren geschäftig, aufgeregt und fröhlich.

»Komm, Hannes, daher! Zu mir! Bloß a Glas!«

»Dank recht scheen, i hab' schon 's Grimmen.«

»Was hast für'n Zentner 'zahlt?«

»Vier Mark. Aber prima. Da probier'!«

Zuweilen passierte ein kleines Malheur. Ein Sack Äpfel ging zu früh auf
und alles rollte auf den Boden.

»Sternsakrament, meine Äpfel! Helfet auch, Leute!«

Alles half auflesen und nur ein paar Lausbuben versuchten dabei sich zu
bereichern.

»Nix einstecken, ihr Luder! Fressen könnet ihr soviel 'neingeht, aber
nix einstecken. Wart, Gutedel du, dalketer!«

»He, Herr Nachbar, no net so stolz! Da probieren Se emol!«

»Wie Honig! Akrat wie Honig. Wieviel machet Se denn?«

»Zwei Fäßle, meh net, aber kein' schlechten.«

»'s isch no guet, daß mer net im Hochsommer mostet, sonscht tät mer
älles grad saufa.«

Auch heuer sind die paar grämlichen alten Leute da, die nicht fehlen
dürfen. Sie mosten selber schon lang nicht mehr, aber sie verstehen
alles besser und erzählen von Anno Duback, wo man das Obst so gut wie
geschenkt bekam. Alles war so viel billiger und besser, von
Zuckerdazutun wußte man noch gar nix, und überhaupt haben die Bäume
damals ganz anders getragen.

»Do hat mer no von ere Ernt' rede könne. I han a Epfelbeimle g'het, das
hot allei seine feif Zentner g'schmissa.«

Aber so schlecht auch die Zeiten geworden sind, die grämlichen Alten
helfen doch auch heuer ausgiebig probieren und die noch Zähne haben, von
denen kaut jeder an seinem Apfel herum. Einer hat sogar ein paar große
Wadelbirnen gezwungen und elend das Grimmen bekommen.

»I sags ja«, räsonniert er, »früher han i von dene meine zehn Stück
g'essa.« Und er gedenkt unter ungeheuchelten Seufzern an die Zeiten, da
er noch zehn Wadelbirnen fressen konnte, ehe er 's Grimmen bekam.

                   *       *       *       *       *

Mitten in dem Gewühl hatte Herr Flaig seine Presse stehen und ließ sich
vom älteren Lehrbuben helfen. Er bezog seine Äpfel aus dem Badischen und
sein Most war immer vom besten. Er war stillvergnügt und verwehrte
niemand, ein »Versucherle« zu nehmen. Noch vergnügter waren seine
Kinder, die sich rundum trieben und selig im Schwarme mitschwammen. Aber
am vergnügtesten, wenn auch stillerweise, war sein Lehrbub. Dem tat es
in allen Knochen wohl, daß er sich wieder einmal im Freien kräftig regen
und ausschaffen konnte, denn er stammte vom Wald oben herunter aus einem
armen Bauernhaus, und auch der gute Süße ging ihm köstlich ein. Sein
gesundes Bauernbubengesicht grinste wie eine Satyrmaske und seine
Schustershände waren sauberer als je am Sonntag.

Als Hans Giebenrath auf den Platz kam, war er still und ängstlich; er
war nicht gern gekommen. Aber gleich an der ersten Presse wurde ihm ein
Becher entgegengestreckt und zwar von Nascholds Liese. Er probierte, und
beim Schlucken kam mit dem süßen, kraftvollen Mostgeschmack eine Menge
von lachenden Erinnerungen an frühere Herbste über ihn und zugleich ein
zaghaftes Verlangen, wieder einmal ein bißchen mitzumachen und lustig zu
sein. Bekannte sprachen ihn an, Gläser wurden ihm angeboten, und als er
bei der Flaigschen Presse angekommen war, hatte die allgemeine
Fröhlichkeit und das Getränk ihn schon gepackt und verwandelt. Ganz
fidel begrüßte er den Schuster und machte ein paar von den üblichen
Mostwitzen. Der Meister verbarg sein Erstaunen und hieß ihn fröhlich
willkommen.

Eine halbe Stunde war vergangen, da kam ein Mädchen in einem blauen Rock
daher, lachte den Flaig und seinen Lehrbuben an und fing an mitzuhelfen.

»Ja so,« sagte der Schuhmacher, »das ist meine Nichte aus Heilbronn. Die
ist freilich an ein anderes Herbsten gewöhnt, wo's bei ihr daheim den
vielen Wein gibt.«

Sie war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, beweglich und
lustig wie die Unterländer sind, nicht groß, aber wohlgebaut und von
vollen Formen. Lustig und gescheit waren im runden Gesicht die dunklen,
warm blickenden Augen und der hübsche, küssige Mund, und alles in allem
sah sie zwar wie eine gesunde und heitere Heilbronnerin, aber gar nicht
wie eine Verwandte des frommen Schustermeisters aus. Sie war durchaus
von dieser Welt und ihre Augen sahen nicht aus wie solche, die am Abend
und in der Nacht in der Bibel und in Goßners Schatzkästlein zu lesen
pflegen.

Hans sah plötzlich wieder bekümmert aus und wünschte inbrünstig, die
Emma möchte bald wieder gehen. Sie blieb aber da und lachte und
schwatzte und wußte auf jeden Witz eine flotte Antwort, und Hans schämte
sich und wurde ganz still. Mit jungen Mädchen umzugehen, zu denen er Sie
sagen mußte, war ihm ohnehin entsetzlich, und diese war so lebendig und
so gesprächig und machte sich aus seiner Gegenwart und aus seiner
Schüchternheit so wenig, daß er unbehilflich und ein wenig beleidigt die
Fühler einzog und sich verkroch, wie eine vom Wagenrad gestreifte
Wegschnecke. Er hielt sich still und versuchte auszusehen wie einer, der
sich langweilt; doch gelang es ihm nicht und er machte statt dessen ein
Gesicht, als wäre ihm soeben jemand gestorben.

Niemand hatte Zeit darauf zu achten, die Emma selber am wenigsten. Sie
war, wie Hans zu hören bekam, seit vierzehn Tagen bei Flaigs zu Besuch,
aber sie kannte schon die ganze Stadt. Bei hoch und nieder lief sie
herum, probierte den Neuen, witzelte und lachte ein wenig, kam wieder
zurück und tat so, als schaffe sie eifrig mit, nahm die Kinder auf den
Arm, verschenkte Äpfel und verbreitete lauter Gelächter und Lust um sich
her. Sie rief jeden Gassenbuben an: »Willst en Epfel?« Dann nahm sie
einen schönen, rotbackigen, streckte die Hände hinter den Rücken und
ließ raten: »rechts oder links?«; aber der Apfel war nie in der
richtigen Hand und erst wenn die Buben zu schimpfen anfingen, gab sie
einen Apfel her, aber einen kleineren und grünen. Sie schien auch über
Hans unterrichtet, fragte ihn, ob er der sei, der immer Kopfweh habe und
war aber, ehe er antworten konnte, schon in ein anderes Gespräch mit
Nachbarsleuten verwickelt.

Schon hatte Hans im Sinn, sich zu drücken und heimzugehen, da gab ihm
Flaig den Hebel in die Hand.

»So, jetzt kannst du ein wenig weitermachen; die Emma hilft dir. Ich muß
in die Werkstatt.«

Der Meister ging, der Lehrling war beauftragt, mit der Meisterin den
Most wegzutragen, und Hans war mit der Emma allein an der Presse. Er biß
auf die Zähne und schaffte wie ein Feind.

Da wollte ihn wundern, warum der Hebel so schwer ginge, und als er
aufschaute, brach das Mädchen in ein helles Gelächter aus. Sie hatte
sich zum Spaß dagegen gestemmt und als Hans jetzt wütend wieder anzog,
tat sie es noch einmal.

Er sagte kein Wort. Aber während er den Hebel schob, welchem jenseits
der Leib des Mädchens widerstand, wurde ihm plötzlich schamhaft
beklommen zumut und allmählich hörte er ganz auf, weiterzudrehen. Eine
süße Angst überkam ihn und als ihm das junge Ding keck ins Gesicht
lachte, erschien sie ihm auf einmal verändert, befreundeter und doch
fremder, und nun lachte auch er ein wenig, ungeschickt vertraulich.

Und dann ruhte der Hebel vollends ganz.

Und die Emma sagte: »Wir wollen uns nicht so abrackern«, und gab ihm das
halbvolle Glas herüber, aus dem sie gerade selber getrunken hatte.

Dieser Schluck Most schien ihm sehr stark und süßer als der vorige, und
als er ihn getrunken hatte, sah er verlangend ins leere Glas und
wunderte sich, wie heftig sein Herz schlug und wie schwer ihm das Atmen
wurde.

Darauf arbeiteten sie wieder ein bißchen und Hans wußte nicht was er
tat, als er versuchte, sich so aufzustellen, daß der Rock des Mädchens
ihn streifen mußte und ihre Hand die seinige berührte. So oft dies aber
geschah, stockte ihm das Herz in angstvoller Wonne und kam eine wohlig
süße Schwäche über ihn, daß seine Knie ein wenig zitterten und in seinem
Kopf ein schwindliges Sausen erklang.

Was er sagte, wußte er nicht, aber er stand ihr Red' und Antwort,
lachte, wenn sie lachte, drohte ihr ein paarmal mit dem Finger, wenn sie
dummes Zeug trieb, und trank noch zweimal aus ihrer Hand ein Glas leer.
Zugleich jagte ein ganzes Heer von Erinnerungen an ihm vorüber:
Dienstmägde, die er abends mit Männern in den Haustüren hatte stehen
sehen, ein paar Sätze aus Geschichtenbüchern, der Kuß, den ihm Hermann
Heilner seinerzeit gegeben hatte, und eine Menge von Worten, Erzählungen
und dunkeln Schülergesprächen über »die Mädle« und »wie's ist, wenn man
a Schätzle hat«. Und er atmete so schwer wie ein Gaul beim
Bergaufziehen.

Alles war verwandelt. Die Leute und das Treiben rundherum war zu einem
farbig lachenden Wolkenwesen aufgelöst. Die einzelnen Stimmen, Flüche
und Gelächter gingen in einem allgemeinen trüben Brausen unter, der Fluß
und die alte Brücke sahen ferne und wie gemalt aus.

Auch Emma hatte ein anderes Aussehen. Er sah ihr Gesicht nicht mehr --
nur noch die dunklen frohen Augen und einen roten Mund, weiße spitze
Zähne dahinter; ihre Gestalt zerfloß und er sah nur noch einzelnes davon
-- bald einen Halbschuh mit schwarzem Strumpf darüber, bald ein
verirrtes Lockengehängsel im Nacken, bald einen ins blaue Tuch hinein
verschwindenden, gebräunten, runden Hals, bald die straffen Achseln und
darunter das atmende Wogen, bald ein rötlich durchscheinendes Ohr.

Und nach wieder einer Weile ließ sie das Trinkglas in den Zuber fallen
und bückte sich danach, und dabei drückte am Rand des Zubers ihr Knie
gegen sein Handgelenk. Und er bückte sich auch, aber langsamer, und
berührte fast mit seinem Gesicht ihr Haar. Das Haar hatte einen
schwachen Duft und darunter, im Schatten loser, krauser Löckchen,
glänzte warm und braun ein schöner Nacken und verlief in die blaue
Taille, deren stark angespannte Haften ihn noch ein Stück weit im Ritz
durchscheinen ließen.

Als sie sich wieder aufrichtete, und als dabei ihr Knie seinen Arm
entlang gleitete, und ihr Haar ihm die Backen streifte, und sie vom
Bücken ganz rot geworden war, lief ein heftiger Schauder Hans durch alle
Glieder. Er wurde blaß und hatte einen Augenblick das Gefühl einer
tiefen, tiefen Müdigkeit, so daß er sich an der Preßschraube festhalten
mußte. Sein Herz ging zuckend auf und ab und die Arme wurden schwach und
taten ihm in den Achseln weh.

Von da an sprach er fast kein Wort mehr und vermied den Blick des
Mädchens. Dafür sah er sie, sobald sie wegschaute, starr und mit einer
Mischung von ungekannter Lust und bösem Gewissen an. In dieser Stunde
zerriß etwas in ihm und tat ein neues, fremdartig verlockendes Land mit
fernen blauen Küsten sich vor seiner Seele auf. Er wußte noch nicht oder
ahnte nur, was die Bangnis und süße Qual in ihm bedeute, und wußte auch
nicht, was größer in ihm war, Pein oder Lust.

Die Lust aber bedeutete den Sieg seiner jungen Liebeskraft und das erste
Ahnen vom gewaltigen Leben, und die Pein bedeutete, daß der Morgenfriede
gebrochen war und daß seine Seele das Land der Kindheit verlassen hatte,
das man nicht wiederfindet. Sein leichtes Schifflein, knapp dem ersten
Schiffbruch entronnen, war nun in die Gewalt neuer Stürme und in die
Nähe wartender Untiefen und halsbrechender Klippen geraten, durch welche
auch die bestgeleitete Jugend keinen Führer hat, sondern aus eigenen
Kräften Weg und Rettung finden muß.

Es war gut, daß nun der Lehrbub wiederkam und ihn an der Presse ablöste.
Hans blieb noch eine Weile da. Er hoffte noch auf eine Berührung oder
ein freundliches Wort von Emma. Diese plauderte wieder an fremden
Keltern herum. Und da Hans sich vor dem Lehrling genierte, drückte er
sich nach einer Viertelstunde nach Hause, ohne Adieu zu sagen.

Alles war sonderbar anders geworden, schön und erregend. Die von den
Trebern feist gewordenen Sperlinge schossen lärmend durch den Himmel,
der noch nie so hoch und schön und so sehnsüchtig blau gewesen war.
Niemals hatte der Fluß einen so reinen, grünblauen, lachenden Spiegel
gehabt, noch ein so blendend weißes, brausendes Wehr. Alles schien
gleich zieren Bildern neu bemalt hinter klaren, frischen Glasscheiben zu
stehen. Alles schien auf den Beginn eines großen Festes zu warten. Auch
in der eigenen Brust empfand er ein beengend starkes, banges und süßes
Wogen seltsam verwegener Gefühle und ungewöhnlicher, greller Hoffnungen,
zusammen mit einer schüchtern zweifelnden Angst, es sei nur ein Traum
und könne niemals wahr werden. Anschwellend wurden diese zwiespältigen
Empfindungen zu einem dunkel auftreibenden Quell, zu einem Gefühl, als
wolle etwas allzu Starkes sich in ihm losmachen und Luft gewinnen --
vielleicht ein Schluchzen, vielleicht ein Singen, Schreien oder lautes
Lachen. Erst zu Hause beruhigte sich diese Erregung ein wenig. Dort war
freilich alles wie immer.

»Wo kommst denn her?« fragte Herr Giebenrath.

»Vom Flaig an der Mühle.«

»Wie viel hat der gemostet?«

»Zwei Faß, glaub ich.«

Er bat, die Flaigschen Kinder einladen zu dürfen, wenn der Vater ans
Mosten käme.

»Versteht sich«, brummte der Papa. »Ich mach's nächste Woche. Hol sie
dann nur!«

Es war noch eine Stunde bis zum Abendessen. Hans ging in den Garten
hinaus. Außer den beiden Tannen war wenig Grünes mehr da. Er riß eine
Haselgerte ab, ließ sie durch die Luft sausen und störte mit ihr im
welken Laub herum. Die Sonne war schon hinterm Berg, dessen schwarzer
Umriß mit haarfein gezeichneten Tannenspitzen den grünlich blauen,
feuchtklaren Späthimmel durchschnitt. Eine graue, langgestreckte Wolke,
gelb und bräunlich angeglüht, schwamm langsam und wohlig wie ein
heimkehrendes Schiff durch die dünne, goldige Luft talaufwärts.

Von der reifen, farbig satten Schönheit des Abends in einer seltsamen,
ihm fremden Weise ergriffen, schlenderte Hans durch den Garten. Zuweilen
blieb er stehen, schloß die Augen und versuchte sich die Emma
vorzustellen, wie sie ihm an der Presse gegenüber gestanden war, wie sie
ihn aus ihrem Becher hatte trinken lassen, wie sie sich über die Kufe
gebückt und errötend wieder erhoben hatte. Er sah ihre Haare, ihre Figur
im engen blauen Kleid, ihren Hals und von dunklen Härchen braun
verschatteten Nacken, und alles erfüllte ihn mit Lust und Zittern, nur
ihr Gesicht konnte er sich durchaus nicht mehr vorstellen.

Als die Sonne drunten war, spürte er die Kühle nicht und empfand die
vorschreitende Dämmerung wie einen Schleier voll von Heimlichkeiten, für
die er keine Namen wußte. Denn er begriff zwar, daß er sich in die
Heilbronnerin verliebt habe, aber das Arbeiten der erwachenden
Männlichkeit in seinem Blute begriff er nur dunkel als einen
ungewohnten, gereizten und müdemachenden Zustand.

Beim Abendessen war es ihm sonderbar, mit seinem verwandelten Wesen
mitten in der altgewohnten Umgebung zu sitzen. Der Vater, die alte Magd,
Tisch und Geräte und das ganze Zimmer kam ihm plötzlich altgeworden vor
und er sah alles mit einem Gefühl von Erstaunen, Fremdheit und
Zärtlichkeit an, als sei er soeben von einer langen Reise heimgekehrt.
Damals, als er mit seinem mörderlichen Aste liebäugelte, hatte er
dieselben Menschen und Sachen mit der wehmütig überlegenen Empfindung
eines Abschiednehmenden betrachtet, jetzt war's ein Zurückkehren,
Erstaunen, Lächeln, Wiederbesitzen.

Man hatte gegessen und Hans wollte schon aufstehen, da sagte sein Vater
in seiner kurzen Art: »Magst du gern Mechaniker werden, Hans, oder
lieber ein Schreiber?«

»Wieso?« fragte Hans erstaunt zurück.

»Du könntest Ende nächster Woche beim Mechaniker Schuler eintreten, oder
übernächste Woche auf dem Rathaus als Lehrling. Überleg' dir's
ordentlich! Wir reden dann morgen darüber.«

Hans stand auf und ging hinaus. Die plötzliche Frage hatte ihn verwirrt
und geblendet. Unerwartet stellte sich das tägliche, tätige, frische
Leben vor ihn hin, dem er seit Monaten fremd geworden war, hatte ein
lockendes Gesicht und ein drohendes Gesicht, versprach und forderte.
Eine rechte Lust hatte er weder zum Mechaniker noch zum Schreiber. Die
strenge körperliche Arbeit beim Handwerk schreckte ihn ein wenig. Da
fiel ihm sein Schulfreund August ein, der ja Mechaniker geworden war und
den er fragen konnte.

Während er der Sache nachdachte, wurden seine Vorstellungen trüber und
blasser, die Angelegenheit schien ihm doch nicht so gar eilig und
wichtig. Etwas anderes trieb und beschäftigte ihn, er schritt unruhig
die Hausflur auf und ab und plötzlich nahm er seinen Hut, verließ das
Haus und ging langsam auf die Gasse hinaus. Es war ihm eingefallen, er
müsse heute die Emma noch einmal sehen.

Es dunkelte schon. Aus einem nahen Wirtshaus tönte Geschrei und heiseres
Singen herüber. Manche Fenster waren beleuchtet, da und dort entzündete
sich eins und wieder eins und legte einen schwachen roten Schein in die
dunkle Luft. Eine lange Reihe junger Mädchen, Arm in Arm, flanierte
unter lautem Gelächter und Gerede fröhlich gaßab, schwankte im
unsicheren Licht und lief wie eine warme Woge von Jugend und Lust durch
die entschlummernden Gassen. Hans sah ihnen lange nach, das Herz schlug
ihm bis in den Hals. Hinter einem mit Gardinen verhängten Fenster hörte
man Geige spielen. Am Brunnen wusch ein Weib Salat. Auf der Brücke
spazierten zwei Burschen mit ihren Schätzen. Der eine hielt sein Mädchen
lose an der Hand, schlenkerte ihren Arm und rauchte seine Zigarre. Das
zweite Paar ging langsam und engverschlungen weiter, der Bursch umfaßte
die Hüfte des Mädchens und sie drückte Schulter und Kopf fest gegen
seine Brust. Hans hatte das hundertmal gesehen und nicht beachtet. Jetzt
hatte es einen heimlichen Sinn, eine unklare, aber lüstern süße
Bedeutung; sein Blick blieb auf der Gruppe ruhen und seine Phantasie
drängte ahnend einem nahen Verständnis entgegen. Beklommen und im
Innersten aufgerüttelt fühlte er sich einem großen Geheimnis nahe, von
dem er nicht wußte, ob es köstlich oder schrecklich wäre, aber von
beidem empfand er bebend etwas voraus.

Vor dem Flaigschen Häuschen machte er Halt und fand nicht den Mut
einzutreten. Was sollte er drinnen tun und sagen? Er mußte daran denken,
wie er als ein Bub von elf und zwölf Jahren oft hierher gekommen war;
dann hatte Flaig ihm biblische Geschichten erzählt und seinen stürmisch
neugierigen Fragen über die Hölle, den Teufel und die Geister
standgehalten. Diese Erinnerungen waren unbequem und gaben ihm ein
schlechtes Gewissen. Er wußte nicht, was er tun wollte, er wußte nicht
einmal, was er eigentlich wünschte, doch wollte ihm scheinen, er stehe
vor etwas Heimlichem und Verbotenem. Es schien ihm unrecht gegen den
Schuhmacher zu sein, daß er im Finstern vor seiner Türe stand, ohne
einzutreten. Und wenn jener ihn dastehen sähe oder jetzt aus der Türe
träte, würde er ihn wahrscheinlich nicht einmal schelten, sondern
auslachen, und davor graute ihm am meisten.

Er schlich sich hinter das Haus und konnte nun vom Gartenzaun aus in die
erleuchtete Wohnstube hineinsehen. Den Meister sah er nicht. Die Frau
schien etwas zu nähen oder zu stricken, der älteste Knabe war noch auf
und saß lesend am Tisch. Die Emma ging hin und her, offenbar mit
Aufräumen beschäftigt, so daß er sie immer nur für Augenblicke zu sehen
bekam. Es war so still, daß man jeden fernsten Schritt in der Gasse und
jenseits des Gartens das leise Strömen des Flusses deutlich hören
konnte. Die Dunkelheit und Nachtkühle nahm eilig zu.

Neben den Wohnzimmerfenstern lag ein kleineres Flurfenster dunkel. Nach
einer langen Weile erschien an diesem Fensterchen eine undeutliche
Gestalt, lehnte sich heraus und blickte in die Dunkelheit. Hans erkannte
an der Figur, daß es Emma war, und vor banger Erwartung stand ihm das
Herz still. Sie blieb im Fenster stehen, lang und ruhig herüberblickend,
doch wußte er nicht, ob sie ihn sehe und erkenne. Er regte kein Glied
und schaute starr zu ihr hinüber, mit ungewissem Zagen zugleich hoffend
und fürchtend, sie möchte ihn erkennen.

Und die undeutliche Gestalt verschwand wieder aus dem Fenster, gleich
darauf klinkte die kleine Gartentüre und Emma kam aus dem Hause. Hans
wollte im ersten Schrecken auf und davon, blieb aber willenlos am Zaun
lehnen und sah das Mädchen langsam ihm entgegen durch den dunklen Garten
schreiten, und bei jedem ihrer Schritte trieb es ihn, davonzulaufen, und
hielt etwas Stärkeres ihn zurück.

Nun stand Emma gerade vor ihm, keinen halben Schritt entfernt, nur der
niedrige Zaun dazwischen, und sie sah ihn aufmerksam und sonderbar an.
Eine ganze Zeitlang sagte keines ein Wort. Dann fragte sie leise:

»Was willst du?«

»Nichts«, sagte er, und es fuhr ihm wie ein Streicheln über die Haut,
daß sie ihm Du gesagt hatte.

Sie streckte ihm ihre Hand über den Zaun weg hin. Er nahm sie schüchtern
und zärtlich und drückte sie ein wenig, da merkte er, daß sie nicht
zurückgezogen wurde, faßte Mut und streichelte die warme Mädchenhand
fein und vorsichtig. Und als sie ihm noch immer willig überlassen blieb,
legte er sie an seine Wange. Eine Flut von durchdringender Lust, von
seltsamer Wärme und seliger Müdigkeit überlief sein Wesen, die Luft um
ihn her schien ihm lau und föhnfeucht, er sah nicht Gasse noch Garten
mehr, nur ein nahes helles Gesicht und ein Gewirre dunkler Haare.

Und es schien ihm aus einer großen Nachtferne her zu tönen, als das
Mädchen ganz leise fragte:

»Willst du mir einen Kuß geben?«

Das helle Gesicht kam näher, die Last eines Körpers bog die Latten ein
wenig nach außen, lose, leicht duftende Haare streiften Hans die Stirn,
und geschlossene Augen, von weißen, breiten Lidern und dunkeln Wimpern
zugedeckt, standen dicht vor den seinen. Ein heftiger Schauder lief ihm
über den Leib, als er mit scheuen Lippen den Mund des Mädchens berührte.
Er zitterte augenblicklich wieder zurück, aber sie hatte seinen Kopf mit
den Händen umfaßt, drückte ihr Gesicht in seines und ließ seine Lippen
nicht los. Er fühlte ihren Mund brennen, er fühlte ihn sich anpressen
und gierig festsaugen, als wolle er ihm das Leben austrinken. Eine tiefe
Schwäche überkam ihn; noch ehe die fremden Lippen von ihm ließen,
verwandelte die zitternde Lust sich in Todesmüdigkeit und Pein, und als
Emma ihn freigab, schwankte er und hielt sich mit krampfhaft klammernden
Fingern am Zaun fest.

»Du, sei morgen abend wieder da«, sagte Emma und ging rasch ins Haus
zurück. Sie war keine fünf Minuten fort gewesen, Hans aber schienen
lange Zeiten vergangen. Er schaute ihr mit leeren Blicken nach, hielt
sich noch immer an den Planken und fühlte sich zu müde, um einen Schritt
zu tun. Träumend hörte er seinem Blute zu, das ihm im Kopfe hämmerte, in
ungleichen, schmerzhaften Wogen vom Herzen und zurückflutete und ihm den
Atem verhielt.

                   *       *       *       *       *

Nun sah er drinnen im Zimmer die Türe gehen und den Meister
hereintreten, der wohl noch in der Werkstatt gewesen war. Eine Furcht,
man möchte ihn bemerken, überfiel ihn und trieb ihn davon. Er ging
langsam, widerwillig und unsicher wie ein leicht Betrunkener und hatte
bei jedem Schritt das Gefühl, in die Knie sinken zu müssen. Die dunkeln
Gassen mit schläfrigen Giebeln und trüben roten Fensteraugen flossen wie
bleiche Kulissen an ihm vorüber, und Brücke, Fluß, Höfe und Gärten. Der
Gerbergaßbrunnen plätscherte sonderbar laut und tönend. Traumbefangen
öffnete Hans ein Tor, kam durch einen pechfinsteren Gang, stieg Treppen
empor, öffnete und schloß eine Türe und noch eine, setzte sich auf einen
dastehenden Tisch und erwachte erst nach einer längeren Zeit zu der
Empfindung, zu Hause in seiner Stube zu sein. Es dauerte wieder eine
Weile, ehe er zum Entschluß kam, sich auszukleiden. Er tat es zerstreut
und blieb entkleidet am Fenster sitzen, bis ihn plötzlich die
Herbstnacht durchfröstelte und in die Kissen trieb.

Er glaubte augenblicklich einschlafen zu müssen. Aber kaum lag er und
war ein wenig warm geworden, so kam das Herzklopfen wieder und das
ungleiche, gewaltsame Wallen des Blutes. Sobald er die Augen zutat,
war's ihm als hinge der Mund des Mädchens noch an seinem, söge ihm die
Seele aus und erfülle ihn mit peinigender Hitze.

Spät schlief er ein und stürzte in gehetzter Flucht von Traum zu Traum.
Er stand in einer ängstlich tiefen Finsternis, um sich tastend griff er
Emmas Arm, sie umfaßte ihn und sie sanken zusammen in langsamem Fall in
eine warme, tiefe Flut. Der Schuhmacher stand plötzlich da und fragte,
warum er ihn nimmer besuchen wolle, da mußte Hans lachen und merkte, daß
es nicht Flaig, sondern Hermann Heilner war, der neben ihm im
Maulbronner Oratorium in einem Fenster saß und Witze machte. Aber
sogleich verflog auch das und er stand an der Mostpresse, die Emma
stemmte sich gegen den Hebel und er kämpfte mit aller Kraft dagegen an.
Sie bog sich herüber und suchte seinen Mund, es wurde still und
stockfinster und nun sank er wieder in eine warme, schwarze Tiefe und
verging vor Schwindel und Todesangst. Zugleich hörte er den Ephorus eine
Rede halten, von der er nicht wußte, ob sie ihm gelte.

Dann schlief er bis tief in den Morgen hinein. Es war ein heiter
goldiger Tag. Er ging lange im Garten auf und ab, bemühte sich
aufzuwachen und klar zu werden, war aber von einem zähen, schläfrigen
Nebel umgeben. Er sah violette Astern, die allerletzten Blumen des
Gartens, schön und lachend in der Sonne stehen, als wäre es noch im
August, und sah das warme, liebe Licht um die verdorrten Reiser und
Zweige und kahlen Ranken zärtlich und einschmeichelnd fluten, als wäre
es Vorfrühlingszeit. Aber er sah es nur, er erlebte es nicht, es ging
ihn nichts an. Plötzlich ergriff ihn eine klare, starke Erinnerung aus
der Zeit, da hier im Garten noch seine Hasen herumsprangen und sein
Wasserrad und Hammerwerkchen lief. Er mußte an einen Septembertag denken
vor drei Jahren. Es war der Vorabend vor dem Sedansfest; August war zu
ihm gekommen und hatte Efeu mitgebracht, nun wuschen sie ihre
Fahnenstangen blank und befestigten das Efeu an den goldenen Spitzen,
von morgen redend und sich auf morgen freuend. Sonst war nichts und
geschah nichts, aber sie waren beide so voll von Festahnung und großer
Freude gewesen, die Fahnen hatten in der Sonne geglänzt, die Anna hatte
Zwetschgenkuchen gebacken, und zu Nacht sollte auf dem hohen Felsen das
Sedansfeuer angezündet werden.

Hans wußte nicht, warum er gerade heute an jenen Abend denken mußte,
nicht warum diese Erinnerung so schön und mächtig war, noch warum sie
ihn so elend und traurig machte. Er wußte nicht, daß im Kleide dieser
Erinnerung seine Kindheit und sein Knabentum noch einmal fröhlich und
lachend vor ihm aufstand, um Abschied zu nehmen und den Stachel eines
gewesenen und nie wiederkehrenden großen Glückes zurückzulassen. Er
empfand nur, daß diese Erinnerung mit dem Denken an Emma und an gestern
abend sich nicht vertrug und daß etwas in ihm aufgestanden sei, das mit
dem damaligen Glücklichsein nicht vereinbar war. Er glaubte wieder die
goldenen Fahnenspitzen blinken zu sehen, seinen Freund August lachen zu
hören und den Duft der frischen Kuchen zu riechen, und das war alles so
heiter und glückselig und ihm so ferngerückt und fremd geworden, daß er
sich an den rauhen Stamm der großen Rottanne lehnte und in ein
hoffnungsloses Schluchzen ausbrach, das ihm für den Augenblick Trost
brachte und Erlösung gewährte.

Um Mittag lief er zu August, der jetzt erster Lehrling geworden und
mächtig auseinandergegangen und gewachsen war. Er erzählte ihm sein
Anliegen wegen dem Mechaniker werden.

»Das ist so 'ne Sache«, machte jener und schnitt ein welterfahrenes
Gesicht dazu. »Das ist so 'ne Sache. Weil du nämlich so ein
Schwachmatikus bist. Im ersten Jahr hast du immer beim Schmieden das
verdammte Draufschlagen und so'n Vorhammer ist kein Suppenlöffel. Und
mußt die Eisen herumtragen und abends aufräumen, und zum Feilen gehört
auch eine Kraft, und im Anfang, bis du was los hast, kriegst du nix als
alte Feilen, die hauen nix und sind glatt wie ein Affenarsch.«

Hans wurde sogleich kleinlaut.

»Ja, dann soll ich's lieber bleiben lassen?« fragte er zaghaft.

»Jerum, das hab' ich doch nicht gesagt! Sei doch kein Lamech! Bloß daß
es im Anfang kein Tanzboden ist. Aber sonst, ja -- so ein Mechaniker ist
was Feines, weißt du, und 'n guten Kopf muß einer auch haben, sonst kann
er Grobschmied werden. Da guck' mal her!«

Er brachte ein paar kleine, feingearbeitete Maschinenteile herbei, aus
blankem Stahl, und zeigte sie Hans.

»Ja, da darf kein halber Millimeter dran fehlen. Alles von Hand
geschafft, bis auf die Schrauben. Da heißt's Augen auf! Die werden jetzt
noch poliert und gehärtet, dann hat sich's.«

»Ja, das ist schön. Wenn ich nur wüßte --«

August lachte.

»Hast Angst? Ja, ein Lehrbub wird halt kuranzt, da hilft alles nix. Aber
ich bin auch noch da, und ich helf' dir dann schon. Und wenn du am
nächsten Freitag anfängst, dann hab' ich gerade mein zweites Lehrjahr
fertig und kriege am Samstag den ersten Wochenlohn. Und am Sonntag wird
gefeiert, und Bier, und Kuchen, und alle dabei, du auch, dann siehst du
mal, wie's bei uns hergeht. Ja, da schaust du! Und überhaupt sind wir ja
früher auch schon so gute Freunde gewest.«

Beim Essen sagte Hans seinem Vater, er habe Lust zum Mechaniker und ob
er in acht Tagen anfangen dürfe.

»Also gut«, sagte der Papa, und ging nachmittags mit Hans in die
Schulersche Werkstatt und meldete ihn an.

Als es aber anfing dämmerig zu werden, hatte Hans das alles schon wieder
so gut wie vergessen und dachte nur noch daran, daß er am Abend von der
Emma erwartet werde. Es verschlug ihm schon jetzt den Atem, die Stunden
waren ihm bald zu lang und bald zu kurz und er trieb der Begegnung
entgegen wie ein Schiffer einer Stromschnelle. Von Essen war diesen
Abend keine Rede, kaum brachte er eine Tasse Milch herunter. Dann ging
er.

Es war alles wie gestern -- dunkle, schläfernde Gassen, rote Fenster,
Laternenzwielicht und langsam wandelnde Liebespaare.

Am Zaun des Schustergartens überfiel ihn eine große Bangigkeit, er
zuckte bei jedem Geräusch zusammen und kam sich mit seinem Stehen und
Lauschen im Finstern vor wie ein Dieb. Er hatte noch keine Minute
gewartet, da stand die Emma vor ihm, fuhr ihm mit den Händen übers Haar
und öffnete ihm die Gartenpforte. Er trat vorsichtig ein und sie zog ihn
mit sich, leise durch den von Gebüsche eingefaßten Weg, durchs Hintertor
in den finsteren Hausgang.

Dort setzten sie sich nebeneinander auf die oberste Kellerstaffel und es
dauerte eine ganze Weile, bis sie einander in der Schwärze notdürftig
sehen konnten. Das Mädchen war guter Dinge und plauderte flüsternd drauf
los. Sie hatte schon manchen Kuß geschmeckt und wußte in Liebessachen
Bescheid; der schüchtern zärtliche Knabe war ihr eben recht. Sie nahm
sein schmales Gesicht zwischen ihre Hände und küßte Stirne, Augen und
Backen, und als der Mund an die Reihe kam und sie ihn wieder so lang und
saugend küßte, ergriff den Knaben ein Schwindel und er lag schlaff und
willenlos an sie gelehnt. Sie lachte leise und zupfte ihn am Ohr.

Sie plauderte fort und fort und er hörte zu und wußte nicht, was er
hörte. Sie strich mit der Hand über seinen Arm, über sein Haar, über
seinen Hals und seine Hände, sie lehnte ihre Wange an seine und ihren
Kopf auf seine Achsel. Er schwieg still und ließ alles geschehen, von
einem süßen Grauen und einer tiefen, glücklichen Bangigkeit erfüllt,
zuweilen kurz und leise wie ein Fiebernder zusammenzuckend.

»Was bist denn du für ein Schatz!« lachte sie. »Du traust dich ja gar
nix.«

Und sie nahm seine Hand, fuhr mit ihr über ihren Nacken und durch ihr
Haar und legte sie auf ihre Brust und drückte sich dagegen. Er spürte
die weiche Form und das süße fremde Wogen, schloß die Augen und fühlte
sich in endlose Tiefen untersinken.

»Nicht! Nicht mehr!« sagte er abwehrend, als sie ihn wieder küssen
wollte. Sie lachte.

Und sie zog ihn nahe zu sich und preßte seine Seite an ihre Seite, ihn
mit dem Arm umschlingend, daß er im Spüren ihres Leibes ganz den Kopf
verlor und gar nichts mehr sagen konnte.

»Hast mich denn auch lieb?« fragte sie.

Er wollte Ja sagen, aber er konnte nur nicken, und nickte eine ganze
Weile fort.

Sie nahm noch einmal seine Hand und schob sie scherzend unter ihr
Mieder. Da er so Puls und Atem des fremden Lebens heiß und nah erfühlte,
stockte ihm der Herzschlag und er glaubte sterben zu müssen, so schwer
ging sein Atem. Er zog die Hand zurück und stöhnte: »Jetzt muß ich
heimgehen.«

Als er aufstehen wollte, begann er zu schwanken und wäre ums Haar die
Kellertreppe hinuntergestürzt.

»Was hast du?« fragte Emma erstaunt.

»Ich weiß nicht. Ich bin so müd.«

Er fühlte nicht, daß sie auf dem Weg zum Gartenzaun ihn stützte und sich
an ihn preßte, und hörte nicht, daß sie Gutnacht sagte und hinter ihm
das Türlein schloß. Er kam durch die Gassen nach Hause, er wußte nicht
wie, als risse ein großer Sturm ihn mit oder als trüge ihn schaukelnd
eine mächtige Flut.

Er sah blasse Häuser links und rechts, in der Höhe darüber Bergrücken,
Tannenspitzen, Nachtschwärze und große, ruhende Sterne. Er fühlte den
Wind wehen, hörte den Fluß an den Brückenpfeilern hinströmen und sah im
Wasser Gärten, blasse Häuser, Nachtschwärze, Laternen und Sterne
gespiegelt.

Auf der Brücke mußte er sich setzen; er war so müde und glaubte, nicht
mehr nach Hause zu kommen. Er setzte sich auf die Brüstung, er horchte
auf das Wasser, das an den Pfeilern rieb und am Wehr brauste und am
Mühlrechen orgelte. Seine Hände waren kalt, in Brust und Kehle arbeitete
stockend und sich überstürzend das Blut, verfinsterte ihm die Augen und
rann wieder in plötzlicher Welle zum Herzen, den Kopf voll Schwindel
lassend.

Er kam nach Hause, fand seine Stube, legte sich und schlief sogleich
ein, im Traume von Tiefe zu Tiefe durch ungeheure Räume stürzend. Um
Mitternacht erwachte er gepeinigt und erschöpft und lag bis an den
Morgen zwischen Schlaf und Wachen, von einer verdürstenden Sehnsucht
erfüllt, von unbeherrschten Kräften hin und her geworfen, bis in der
ersten Frühe seine ganze Qual und Bedrängnis in ein langes Weinen
ausbrach und er auf tränennassen Kissen nochmals einschlief.



                          Siebentes Kapitel


Herr Giebenrath hantierte mit Würde und Geräusch an der Mostpresse und
Hans half mit. Von den Schusterskindern waren zwei der Einladung
gefolgt, machten sich am Obst zu schaffen, führten gemeinsam ein kleines
Probiergläschen und trugen ungeheure Stücke Schwarzbrot in der Faust.
Aber Emma war nicht mitgekommen.

Erst als der Vater mit dem Küfer für eine halbe Stunde weggegangen war,
wagte Hans nach ihr zu fragen.

»Wo ist denn die Emma? Hat sie nicht kommen mögen?«

Es dauerte eine Zeit, bis die Kleinen leere Mäuler hatten und reden
konnten.

»Sie ist ja fort«, sagten sie und nickten.

»Fort, wohin fort?«

»Heim.«

»Abgereist? Mit der Eisenbahn?«

Die Kinder nickten eifrig.

»Wann denn?«

»Heute morgen.«

Die Kleinen langten wieder nach ihren Äpfeln. Hans drückte an der Presse
herum, starrte in den Mostkübel und begann langsam zu begreifen.

Der Vater kam wieder, man arbeitete und lachte, die Kinder bedankten
sich und liefen fort, es wurde Abend und man ging nach Hause.

Nach dem Nachtessen saß Hans in seiner Stube allein. Es wurde zehn Uhr
und elf Uhr, er machte kein Licht. Dann schlief er tief und lang.

Als er später als sonst erwachte, hatte er nur das undeutliche Gefühl
eines Unglücks und Verlustes, bis ihm Emma wieder einfiel. Sie war fort,
ohne Gruß, ohne Abschied; sie hatte ohne Zweifel schon gewußt, wann sie
reisen würde, als er den letzten Abend bei ihr war. Er erinnerte sich an
ihr Lachen und an ihr Küssen und an ihr überlegenes Sichgeben. Sie hatte
ihn gar nicht ernst genommen.

Mit dem zornigen Schmerz darüber floß die Unruhe seiner erregten und
ungestillten Liebeskräfte zu einer trüben Qual zusammen, die ihn vom
Haus in den Garten, auf die Straße, in den Wald und wieder heim trieb.

So erfuhr er, vielleicht viel zu früh, seinen Teil vom Geheimnis der
Liebe, und es enthielt für ihn wenig Süßes und viel Bitteres. Tage voll
fruchtloser Klagen, sehnlicher Erinnerungen, trostloser Grübeleien;
Nächte, in denen Herzklopfen und Beklemmung ihn nicht schlafen ließ oder
in drückend schreckliche Träume stürzte. Träume, in welchen die
unverstandenen Wallungen seines Blutes zu ungeheuerlichen, ängstigenden
Fabelbildern wurden, zu tödlich umschlingenden Armen, zu heißäugigen
Phantasieen, zu schwindelnden Abgründen, zu riesigen lodernden Augen.
Aufwachend fand er sich allein, von der Einsamkeit der kühlen
Herbstnächte umfangen, litt Sehnsucht nach seinem Mädchen und preßte
sich stöhnend in verweinte Kissen.

Der Freitag, an dem er in die Mechanikerwerkstatt eintreten sollte, kam
näher. Der Vater kaufte ihm einen blauen Leinenanzug und eine blaue,
halbwollene Mütze, er probierte das Zeug an und kam sich in der
Schlosseruniform verändert und ziemlich lächerlich vor. Wenn er am
Schulhaus, an der Wohnung des Rektors oder des Rechenlehrers, an der
Flaigschen Werkstatt oder am Stadtpfarrhaus vorüberkam, wurde ihm elend
zumute. So viel Plage, Fleiß und Schweiß, so viel hingegebene kleine
Freuden, so viel Stolz und Ehrgeiz und hoffnungsfrohes Träumen, alles
umsonst, alles nur, damit er jetzt, später als alle Kameraden und von
allen ausgelacht, als kleinster Lehrbub in eine Werkstatt gehen konnte!

Was würde Heilner dazu sagen?

Erst allmählich begann er sich mit dem blauen Schlosseranzug zu
versöhnen und sich auf den Freitag, an dem er ihn einweihen sollte, ein
wenig zu freuen. Da war doch wenigstens wieder etwas zu erleben!

Doch waren diese Gedanken nicht viel mehr als rasche Blitze aus einem
dunkeln Gewölk. Die Abreise des Mädchens vergaß er nicht, noch weniger
vergaß oder überwand sein Blut die Aufreizungen dieser Tage. Es drängte
und schrie nach mehr, nach einer Erlösung seiner erwachten Sehnsucht
oder nach einem Führer durch die Rätsel, deren Lösung ihm allein zu
schwer war. So verging dumpf und qualvoll langsam die Zeit.

Der Herbst war schöner als je, voll sanfter Sonne, mit silbernen
Morgenfrühen, farbig lachenden Mittagen und klaren Abenden. Die ferneren
Berge nahmen ein tiefes Sammetblau an, die Kastanienbäume leuchteten
goldgelb und über Mauern und Zäune hing purpurn das wilde Weinlaub
herab.

Hans war ruhelos vor sich selber auf der Flucht. Tagsüber lief er in der
Stadt und in den Feldern umher und wich den Leuten aus, da er meinte,
man müsse ihm seine Liebesnöte anmerken. Abends aber ging er auf die
Gasse, blickte auf jede Dienstmagd und schlich jedem Liebespaar mit
erbärmlich schlechtem Gewissen nach. Mit Emma schien ihm alles
Begehrenswerte und aller Zauber des Lebens nahe gewesen und tückisch
wieder entglitten zu sein. Er dachte nicht mehr an die Qual und
Beklemmung, die er bei ihr empfunden hatte. Wenn er sie jetzt wieder
hätte, glaubte er, würde er nimmer schüchtern sein, sondern ihr alle
Geheimnisse entreißen und ganz in den verwunschenen Liebesgarten
eindringen, dessen Tor ihm jetzt vor der Nase zugeschlagen war. Seine
ganze Phantasie hatte sich in diesem schwülen, gefährlichen Dickicht
verstrickt, irrte verzagend darin umher und wollte in hartnäckiger
Selbstpeinigung nichts davon wissen, daß außerhalb des engen
Zauberkreises schöne weite Räume licht und freundlich lagen.

Schließlich war er froh, als der anfangs mit Bangen erwartete Freitag da
war. Zeitig am Morgen legte er das neue blaue Arbeitskleid an, setzte
die Mütze auf und ging ein wenig zaghaft die Gerbergasse hinunter nach
dem Schulerschen Hause. Ein paar Bekannte sahen ihm neugierig nach, und
einer fragte auch: »Was ist, bist du Schlosser worden?«

In der Werkstatt wurde schon flott gearbeitet. Der Meister war gerade am
Schmieden. Er hatte ein Stück rotwarmes Eisen auf dem Ambos, ein Geselle
führte den schweren Vorhammer, der Meister tat die feinern, formenden
Schläge, regierte die Zange und schlug zwischenein mit dem handlichen
Schmiedehammer auf dem Ambos den Takt, daß es hell und heiter durch die
weit offenstehende Türe in den Morgen hinausklang.

An der langen, von Öl und Feilspänen geschwärzten Werkbank stand der
ältere Geselle und neben ihm August, jeder an seinem Schraubstock
beschäftigt. An der Decke surrten rasche Riemen, welche die Drehbänke,
den Schleifstein, den Blasebalg und die Bohrmaschine trieben, denn man
arbeitete mit Wasserkraft. August nickte seinem eintretenden Kameraden
zu und bedeutete ihm, er solle an der Türe warten, bis der Meister Zeit
für ihn habe.

Hans blickte die Esse, die stillstehenden Drehbänke, die sausenden
Riemen und Leerlaufscheiben schüchtern an. Als der Meister sein Stück
fertig geschmiedet hatte, kam er herüber und streckte ihm eine große,
harte und warme Hand entgegen.

»Da hängst du deine Kappe auf«, sagte er und deutete auf einen leeren
Nagel an der Wand.

»So, komm. Und da ist dein Platz und dein Schraubstock.«

Damit führte er ihn vor den hintersten Schraubstock und zeigte ihm vor
allem, wie er mit dem Schraubstock umgehen und die Werkbank samt den
Werkzeugen in Ordnung halten müsse.

»Dein Vater hat mir schon gesagt, daß du kein Herkules bist, und man
sieht's auch. Na, fürs erste kannst du noch vom Schmieden wegbleiben,
bis du ein bißchen stärker bist.«

Er griff unter die Werkbank und zog ein gußeisernes Zahnrädchen hervor.

»So, damit kannst du anfangen. Das Rad ist noch roh aus der Gießerei und
hat überall kleine Buckel und Grate, die muß man abkratzen, sonst gehen
nachher die feinen Werkzeuge dran zuschanden.«

Er spannte das Rad in den Schraubstock, nahm eine alte Feile her und
zeigte, wie es zu machen sei.

»So, nun mach' weiter. Aber daß du mir keine andere Feile nimmst! Bis
Mittag hast du genug daran zu schaffen, dann zeigst du mir's. Und bei
der Arbeit kümmerst du dich um gar nichts, als was dir gesagt wird.
Gedanken braucht ein Lehrling nicht zu haben.«

Hans begann zu feilen.

»Halt!« rief der Meister. »Nicht so. Die linke Hand wird so auf die
Feile gelegt. Oder bist du ein Linkser?«

»Nein.«

»Also gut. 's wird schon gehen.«

Er ging weg an seinen Schraubstock, den ersten bei der Türe, und Hans
sah zu, wie er zurecht kam.

Bei den ersten Strichen wunderte er sich, daß das Zeug so weich war und
so leicht abging. Dann sah er, daß das nur die oberste spröde Gußrinde
war, die lose abblätterte, und daß darunter erst das körnige Eisen saß,
das er glätten sollte. Er nahm sich zusammen und arbeitete eifrig fort.
Seit seinen spielerischen Knabenbasteleien hatte er nie das Vergnügen
gekostet, unter seinen Händen etwas Sichtbares und Brauchbares entstehen
zu sehen.

»Langsamer!« rief der Meister herüber. »Beim Feilen muß man Takt halten
-- eins zwei, eins zwei. Und draufdrücken, sonst geht die Feile kaputt.«

Da hatte der älteste Geselle etwas an der Drehbank zu tun und Hans
konnte sich nicht enthalten, hinüberzuschielen. Ein Stahlzapfen wurde in
die Scheibe gespannt, der Riemen übersetzt, und blinkend surrte der
Zapfen, sich hastig drehend, indessen der Geselle einen haardünnen,
glänzenden Span davon abnahm.

Und überall lagen Werkzeuge, Stücke von Eisen, Stahl und Messing,
halbfertige Arbeiten, blanke Rädchen, Meißel und Bohrer, Drehstähle und
Ahlen von jeder Form, neben der Esse hingen Hämmer und Setzhämmer,
Ambosaufsätze, Zangen und Lötkolben, die Wand entlang Reihen von Feilen
und Fräsen, auf den Borden lagen Öllappen, kleine Besen,
Schmirgelfeilen, Eisensägen, und standen Ölkannen, Säureflaschen, Nägel-
und Schraubenkistchen herum. Jeden Augenblick wurde der Schleifstein
benützt.

Mit Genugtuung nahm Hans wahr, daß seine Hände schon ganz schwarz waren,
und hoffte, es möchte auch sein Anzug bald gebrauchter aussehen, der
sich jetzt noch neben den schwarzen und geflickten Monturen der anderen
lächerlich neu und blau ausnahm.

Wie der Vormittag vorschritt, kam auch von außen noch Leben in die
Werkstatt. Es kamen Arbeiter aus der benachbarten Maschinenstrickerei,
um kleine Maschinenteile schleifen oder reparieren zu lassen. Es kam ein
Bauersmann, fragte nach seiner Waschmange, die zum Flicken da war, und
fluchte lästerlich, als er hörte, sie sei noch nicht fertig. Dann kam
ein eleganter Fabrikbesitzer, mit dem der Meister in einem Nebenraum
verhandelte.

Daneben und dazwischen arbeiteten Menschen, Räder und Riemen gleichmäßig
fort und so vernahm und verstand Hans zum erstenmal in seinem Leben den
Hymnus der Arbeit, der wenigstens für den Anfänger etwas Ergreifendes
und angenehm Berauschendes hat, und sah seine kleine Person und sein
kleines Leben einem großen Rhythmus eingefügt.

Um neun Uhr war eine Viertelstunde Pause und jeder erhielt ein Stück
Brot und ein Glas Most. Erst jetzt begrüßte August den neuen Lehrbuben.
Er redete ihm aufmunternd zu und fing wieder an vom nächsten Sonntag zu
schwärmen, wo er seinen ersten Wochenlohn mit den Kollegen verjubeln
wolle. Hans fragte, was das für ein Rad sei, das er abzufeilen habe, und
er erfuhr, es gehöre zu einer Turmuhr. August wollte ihm noch zeigen,
wie es später zu laufen und zu arbeiten habe, aber da fing der erste
Geselle wieder zu feilen an und alle gingen schnell an ihre Plätze.

Als es zwischen zehn und elf Uhr war, begann Hans müde zu werden; die
Knie und der rechte Arm taten ihm ein wenig weh. Er trat von einem Fuß
auf den andern und streckte heimlich seine Glieder, aber es half nicht
viel. Da ließ er die Feile für einen Augenblick los und stützte sich auf
den Schraubstock. Es achtete niemand auf ihn. Wie er so stand und ruhte
und über sich die Riemen singen hörte, kam eine leichte Betäubung über
ihn, daß er eine Minute lang die Augen schloß. Da stand gerade der
Meister hinter ihm.

»Na, was gibt's? Bist schon müd?«

»Ja, ein bißchen«, gestand Hans.

Die Gesellen lachten.

»Das gibt sich schon«, sagte der Meister ruhig. »Jetzt kannst du einmal
sehen, wie man lötet. Komm!«

Hans schaute neugierig zu, wie gelötet wurde. Erst wurde der Kolben warm
gemacht, dann die Lötstelle mit Lötwasser bestrichen und dann tropfte
vom heißen Kolben das weiße Metall und zischte gelind.

»Nimm einen Lappen und reibe das Ding gut ab. Lötwasser beizt, das darf
man auf keinem Metall sitzen lassen.«

Darauf stand Hans wieder vor seinem Schraubstock und kratzte mit der
Feile an dem Rädlein herum. Der Arm tat ihm weh und die linke Hand, die
auf die Feile drücken mußte, war rot geworden und begann zu schmerzen.

Um Mittag, als der Obergeselle seine Feile weglegte und zum Händewaschen
ging, brachte er seine Arbeit dem Meister. Der sah sie flüchtig an.

»'s ist schon recht, man kann's so lassen. Unter deinem Platz in der
Kiste liegt noch ein gleiches Rad, das nimmst du heut nachmittag vor.«

Nun wusch auch Hans sich die Hände und ging weg. Eine Stunde hatte er
zum Essen frei.

Zwei Kaufmannsstifte, frühere Schulkameraden von ihm, gingen auf der
Straße hinter ihm her und lachten ihn aus.

»Landesexamenschlosser!« rief einer.

Er ging schneller. Er wußte nicht recht, ob er eigentlich zufrieden sei
oder nicht; es hatte ihm in der Werkstatt gut gefallen, nur war er so
müd geworden, so heillos müd.

Und unter der Haustüre, während er sich schon aufs Sitzen und Essen
freute, mußte er plötzlich an Emma denken. Er hatte sie den ganzen
Vormittag vergessen gehabt. Jetzt saß plötzlich das Leid von gestern und
vorgestern ihm wieder im Nacken, so schwer wie je. Er ging leise in sein
Stüblein hinauf, warf sich aufs Bett und stöhnte vor tiefer Qual. Er
wollte weinen, aber seine Augen blieben trocken. Hoffnungslos sah er
sich wieder der verzehrenden Sehnsucht hingegeben, deren Ziel ihm dunkel
war und die wie eine grausame Krankheit an ihm fraß. Der Kopf stürmte
und schmerzte ihm und die Kehle tat ihm weh vor ersticktem Schluchzen.

Das Mittagessen war eine Qual. Er mußte dem Vater Rede stehen und
erzählen und sich allerlei kleine Witze gefallen lassen, denn der Papa
war guter Laune. Kaum hatte man gegessen, lief er in den Garten hinaus
und brachte dort in der Sonne eine Viertelstunde halbträumend zu, dann
war es Zeit, wieder in die Werkstatt zu gehen.

Schon vormittags hatte er rote Schwielen an den Händen bekommen, jetzt
begannen sie ernstlich weh zu tun und waren am Abend so geschwollen, daß
er nichts anfassen konnte, ohne Schmerzen zu haben. Und vor Feierabend
mußte er noch unter Augusts Anleitung die ganze Werkstatt aufräumen.

Der Samstag war noch schlimmer. Die Hände brannten ihn, die Schwielen
hatten sich zu Blasen vergrößert. Der Meister war schlechter Laune und
fluchte beim kleinsten Anlaß. August tröstete zwar, das mit den
Schwielen daure nur ein paar Tage, dann habe man harte Hände und spüre
nichts mehr, aber Hans fühlte sich todunglücklich, schielte den ganzen
Tag nach der Uhr und kratzte hoffnungslos an seinem Rädchen herum.

                   *       *       *       *       *

Abends beim Aufräumen teilte August ihm flüsternd mit, er gehe morgen
mit ein paar Kameraden nach Bielach hinaus, es müsse flott und lustig
hergehen und Hans dürfe auf keinen Fall fehlen. Er solle ihn um zwei Uhr
abholen. Hans sagte zu, obwohl er am liebsten den ganzen Sonntag daheim
liegen geblieben wäre, so elend und müde war er. Zu Hause gab ihm die
alte Anna eine Salbe für die wunden Hände, er ging schon um acht Uhr ins
Bett und schlief bis in den Vormittag hinein, so daß er sich sputen
mußte, um noch mit dem Vater in die Kirche zu kommen.

Beim Mittagessen fing er von August zu reden an und daß er heute mit ihm
über Feld wolle. Der Vater hatte nichts dagegen, schenkte ihm sogar
fünfzig Pfennig und verlangte nur, er müsse zum Nachtessen wieder da
sein.

Als Hans bei dem schönen Sonnenschein durch die Gassen schlenderte,
hatte er seit Monaten zum erstenmal wieder eine Freude am Sonntag. Die
Straße war feierlicher, die Sonne heiterer und alles festlicher und
schöner, wenn man Arbeitstage mit schwarzen Händen und müden Gliedern
hinter sich hatte. Er begriff jetzt die Metzger und Gerber, Bäcker und
Schmiede, die vor ihren Häusern auf den sonnigen Bänken saßen und so
königlich heiter aussahen, und er betrachtete sie nimmer als elende
Banausen. Er schaute Arbeitern, Gesellen und Lehrlingen nach, die in
Reihen spazieren oder ins Wirtshaus gingen, den Hut ein wenig schief auf
dem Kopf, mit weißen Hemdkragen und in ausgebürsteten Sonntagskleidern.
Meistens, wenn auch nicht immer, blieben die Handwerker unter sich,
Schreiner bei Schreinern, Maurer bei Maurern, hielten zusammen und
wahrten die Ehre ihres Standes, und unter ihnen waren die Schlosser die
vornehmste Zunft, obenan die Mechaniker. Das alles hatte etwas
Anheimelndes und wenn auch manches daran ein wenig naiv und lächerlich
war, lag doch dahinter die Schönheit und der Stolz des Handwerks
verborgen, die auch heute noch immer etwas Freudiges und Tüchtiges
vorstellen und von denen der armseligste Schneiderlehrling noch einen
kleinen Schimmer erhält, den kein Fabrikarbeiter und auch kein Kaufmann
hat.

Wie vor dem Schulerschen Hause die jungen Mechaniker standen, ruhig und
stolz, Vorübergehenden zunickend und untereinander plaudernd, da konnte
man wohl sehen, daß sie eine zuverlässige Gemeinschaft bildeten und
keines Fremden bedurften, auch am Sonntag beim Vergnügen nicht.

Hans fühlte das auch und freute sich, zu diesen zu gehören. Doch empfand
er eine kleine Angst vor dem geplanten Sonntagsvergnügen, denn er wußte
schon, daß es bei den Mechanikern im Lebensgenusse massiv und reichlich
zuging. Vielleicht würden sie sogar tanzen. Das konnte Hans nicht, im
übrigen aber gedachte er so gut als möglich seinen Mann zu stellen und
nötigenfalls einen kleinen Katzenjammer zu riskieren. Er war nicht
gewohnt, viel Bier zu trinken, und im Rauchen hatte er es mit Mühe dahin
gebracht, daß er etwa eine Zigarre mit Vorsicht zu Ende bringen konnte,
ohne Elend und Schande davon zu haben.

August begrüßte ihn mit festlicher Freudigkeit. Er erzählte, daß zwar
der ältere Geselle nicht mitkommen wolle, dafür aber ein Kollege aus
einer andern Werkstatt, so seien sie wenigstens vier Leute und das
genüge schon, um ein ganzes Dorf umzudrehen. Bier könne heute jeder
trinken so viel er möge, denn das bezahle er für alle. Er bot Hans eine
Zigarre an, dann setzten sich die Vier langsam in Bewegung, bummelten
langsam und stolz durch die Stadt und fingen erst unten am Lindenplatz
an schneller zu marschieren, um beizeiten nach Bielach zu kommen.

Der Spiegel des Flusses flimmerte blau, gold und weiß, durch die fast
ganz entblätterten Ahorne und Akazien der Straßenalleen wärmte eine
milde Oktobersonne herab, der hohe Himmel war wolkenlos hellblau. Es war
einer von den stillen, reinen und freundlichen Herbsttagen, an denen
alles Schöne des vergangenen Sommers wie eine leidlose, lächelnde
Erinnerung die milde Luft erfüllt, an denen die Kinder die Jahreszeit
vergessen und meinen, sie müssen Blumen suchen, und an denen die alten
Männlein und Weiberlein mit sinnenden Augen vom Fenster oder von der
Bank vorm Hause in die Lüfte schauen, weil es ihnen scheint, die
freundlichen Erinnerungen nicht nur des Jahres, sondern ihres ganzen
abgelaufenen Lebens flögen sichtbar durch die klare Bläue. Die Jungen
aber sind guter Dinge und preisen den schönen Tag, je nach Gaben und
Gemütsart, durch Trankopfer oder Schlachtopfer, durch Gesang oder Tanz,
durch Trinkgelage oder durch großartige Raufhändel, denn überall sind
frische Obstkuchen gebacken worden, liegt junger Apfelmost oder Wein
gärend im Keller und feiert Geige oder Harmonika vor den Wirtshäusern
und auf den Lindenplätzen die letzten schönen Tage des Jahres und ladet
zu Tanz und Liedersingen und Liebesspielen ein.

Die jungen Burschen wanderten rasch voran. Hans rauchte seine Zigarre
mit dem Anschein der Sorglosigkeit und wunderte sich selber darüber, daß
sie ihm ganz wohl bekam. Der Gesell erzählte von seiner Wanderschaft und
niemand nahm daran Anstoß, daß er das Maul so voll nahm; das gehörte zur
Sache. Auch der bescheidenste Handwerksgeselle, wenn er im Brot sitzt
und vor Augenzeugen sicher ist, erzählt von seinen Wanderzeiten in einem
großartigen und flotten, ja sagenhaften Ton. Denn die wundervolle Poesie
des Handwerksburschenlebens ist Gemeingut des Volkes und dichtet aus
jedem einzelnen heraus die traditionellen alten Abenteuer neu mit neuen
Arabesken, und jeder Kennkunde und Fechtbruder hat, wenn er ins Erzählen
gerät, ein Stück vom unsterblichen Eulenspiegel und ein Stück vom
unsterblichen Straubinger in sich.

»Also in Frankfurt, wo ich damals gewesen bin, Sackerlot, da war noch
ein Leben! Hab' ich denn das noch nie erzählt, wie ein reicher Kaufmann,
so ein geschleckter Aff, meines Meisters Tochter hat heiraten wollen;
aber sie hat ihn heimgeschickt, weil ich ihr um eine Nummer lieber war
und ist mein Schatz gewesen vier Monat lang und wenn ich nicht Händel
mit dem Alten bekommen hätt', säß ich jetzt dort und wär' sein
Schwiegersohn.«

Und weiter erzählte er, wie ihn der Meister, das Luder, hat kuranzen
wollen, der elende Seelenverkäufer, und hat's einmal gewagt und die Hand
nach ihm ausgestreckt, da hat er aber kein Wort gesagt, sondern bloß den
Schmiedehammer geschwungen und den Alten 'mal so angesehen, und der ist
aber ganz still weggegangen, weil ihm sein Schädel lieb war, und hat ihm
dann nachher schriftlich gekündigt, der feige Tropf. Und er erzählte von
einer großen Schlacht in Offenburg, wo drei Schlosser, er dabei, sieben
Fabrikler halb tot geschlagen haben, -- wer nach Offenburg kommt,
braucht bloß den langen Schorsch zu fragen, der ist noch dort und ist
damals mitgewesen.

Das alles wurde mit einem kühl-brutalen Ton, aber mit großem innerem
Eifer und Wohlgefallen mitgeteilt und jeder hörte mit tiefem Vergnügen
zu und beschloß im stillen, diese Geschichte später auch einmal zu
erzählen, anderswo bei andern Kameraden. Denn jeder Schlosser hat einmal
seines Meisters Tochter zum Schatz gehabt und ist einmal mit dem Hammer
auf einen bösen Meister losgegangen und hat einmal sieben Fabrikler
elend durchgehauen. Bald spielt die Geschichte im Badischen, bald in
Hessen oder in der Schweiz, bald war es statt des Hammers die Feile oder
ein glühendes Eisen, bald waren es statt Fabriklern Bäcker oder
Schneider, aber es sind immer die alten Geschichten und man hört sie
immer wieder gern, denn sie sind alt und gut und machen der Zunft Ehre.
Womit nicht gesagt sein soll, daß es nicht immer wieder und auch heute
noch unter den Wanderburschen solche gibt, die Genies im Erleben oder
Genies im Erfinden sind, was beides ja im Grunde dasselbe ist.

Namentlich August war hingerissen und vergnügt. Er lachte fortwährend
und stimmte zu, fühlte sich schon als halber Geselle und blies mit
verächtlicher Genießermiene den Tabakrauch in die goldige Luft. Und der
Erzähler spielte seine Rolle weiter, denn es kam ihm darauf an, sein
Mitdabeisein als eine gutmütige Herablassung hinzustellen, da er als
Gesell eigentlich am Sonntag nicht zu den Lehrlingen gehörte und sich
hätte schämen sollen, dem Buben seine Batzen vertrinken zu helfen.

Man war eine gute Strecke die Landstraße flußabwärts gegangen; jetzt
hatte man die Wahl zwischen einem langsam steigenden, im Bogen bergan
führenden Fahrsträßchen und einem steilen Fußweg, der nur halb so weit
war. Man wählte die Fahrstraße, wenn sie auch weit und staubig war.
Fußwege sind für den Werktag und für spazierengehende Herren; das Volk
aber liebt, namentlich an Sonntagen, die Landstraße, deren Poesie ihm
noch nicht verloren gegangen ist. Steile Fußwege ersteigen, das ist für
Bauersleute oder für Naturfreunde aus der Stadt, das ist eine Arbeit
oder ein Sport, aber kein Vergnügen fürs Volk. Dagegen eine Landstraße,
wo man behaglich vorwärts kommt und dabei plaudern kann, wo man Stiefel
und Sonntagskleider schont, wo man Wagen und Pferde sieht, andere
Bummler antrifft und einholt, geputzten Mädchen und singenden
Burschengruppen begegnet, wo einem Witze nachgerufen werden, die man
lachend heimgibt, wo man stehen und schwatzen und ledigenfalls den
Mädchenreihen nachlaufen und nachlachen oder des abends persönliche
Differenzen mit guten Kameraden durch Taten zum Ausdruck und Ausgleich
bringen kann! So wenig ein Handwerksbursche je so dumm ist, die lustige,
bequeme und ergiebige Straße mit Fußwegen zu vertauschen, so wenig tut
es der städtische Kleinbürger.

Man ging also den Fahrweg, der sich in großem Bogen ruhig und freundlich
berghinan zog wie einer, der Zeit hat und kein Schweißvergießen liebt.
Der Geselle zog den Rock aus und trug ihn am Stock auf der Achsel, statt
des Erzählens hatte er nun zu pfeifen begonnen, auf eine überaus
verwegene und lebenslustige Art, und pfiff, bis man nach einer Stunde in
Bielach ankam. Über Hans waren einige Sticheleien ergangen, die ihn
nicht stark anfochten und von August eifriger als von ihm selber pariert
wurden. Und nun stand man vor Bielach.

                   *       *       *       *       *

Das Dorf lag mit roten Ziegeldächern und silbergrauen Strohdächern
zwischen herbstfarbige Obstbäume gebettet, rückwärts vom dunklen
Bergwalde überragt.

Die jungen Leute wollten über das Wirtshaus, in das man einkehren
wollte, nicht einig werden. Der »Anker« hatte das beste Bier, aber der
»Schwan« die besten Kuchen, und im »Scharfen Eck« war eine schöne
Wirtstochter. Endlich setzte August durch, daß man in den »Anker« gehe,
und deutete augenzwinkernd an, das »Scharfe Eck« werde wohl während der
paar Schoppen nicht davonlaufen und auch nachher noch zu finden sein.
Das war allen recht, und so ging man ins Dorf, an den Ställen und an den
mit Geranienstöcken besetzten niederen Bauernfenstern vorbei auf den
»Anker« los, dessen goldenes Schild über zwei junge, runde Kastanien
hinweg in der Sonne gleißend lockte. Zum Leidwesen des Gesellen, der
durchaus innen sitzen wollte, war die Schankstube überfüllt und man
mußte im Garten Platz nehmen.

Der »Anker« war nach den Begriffen seiner Gäste ein feines Lokal, also
kein altes Bauernwirtshaus, sondern ein moderner Backsteinwürfel mit zu
vielen Fenstern, mit Stühlen statt der Bänke und mit einer Menge von
farbigen Reklameschildern aus Blech, ferner mit einer städtisch
angezogenen Kellnerin und einem Wirte, den man niemals in Hemdärmeln,
sondern stets in einem vollständigen braunen Anzug nach der Mode zu
sehen bekam. Er war eigentlich bankrott, hatte aber sein eigenes Haus
von seinem Hauptgläubiger, einem großen Bierbrauer, in Pacht genommen
und war seither noch vornehmer geworden. Der Garten bestand aus einem
Akazienbaum und aus einem großen Drahtgitter, das von wildem Wein
einstweilen zur Hälfte überwachsen war.

»Zum Wohl, ihr Leute!« schrie der Geselle und stieß mit allen dreien an.
Und um sich zu zeigen, trank er das ganze Glas auf einen Zug leer.

»Sie, schönes Fräulein, da war ja gar nix drin; bringen Sie gleich noch
eins!« rief er der Kellnerin zu und streckte ihr über den Tisch weg das
Schoppenglas entgegen.

Das Bier war vorzüglich, kühl und nicht zu bitter, und Hans ließ sich
sein Glas fröhlich schmecken. August trank mit Kennermiene, schnalzte
mit der Zunge und rauchte nebenher wie ein schlechter Ofen, was Hans
still bewunderte.

Es war doch nicht so übel, so seinen fidelen Sonntag zu haben und am
Wirtstisch zu sitzen wie einer, der es darf und verdient hat, und mit
Leuten, die das Leben und das Lustigsein loshatten. Es war schön,
mitzulachen und bisweilen selber einen Witz zu riskieren, es war schön
und männlich, nach dem Austrinken sein Glas mit Nachdruck auf den Tisch
zu knallen und sorglos zu rufen: »Noch eins, Fräulein!« Es war schön,
einem Bekannten am andern Tische zuzutrinken, den kalten Zigarrenstumpen
in der Linken hängen zu lassen und den Hut ins Genick zu schieben wie
die andern.

Der mitgekommene fremde Geselle begann nun auch warm zu werden und zu
erzählen. Er wußte von einem Schlosser in Ulm, der konnte zwanzig Glas
Bier trinken, von dem guten Ulmer Bier, und wenn er damit fertig war,
wischte er sich das Maul und sagte: So, jetzt noch ein gutes Fläschle
Wein! Und er hatte in Cannstatt einen Heizer gekannt, der zwölf
Knackwürste hintereinander essen konnte und eine Wette damit gewonnen
hatte. Aber eine zweite solche Wette hatte er verloren. Er hatte sich
vermessen, die Speisekarte einer kleinen Wirtschaft durchzuspeisen und
er hatte auch fast alles verzehrt, aber am Schluß der Speisekarte kamen
viererlei Arten Käse, und wie er bei der dritten war, schob er den
Teller weg und sagte: Jetzt lieber sterben als noch einen Bissen!

Auch diese Geschichten fanden reichen Beifall und es zeigte sich, daß es
da und dort auf Erden ausdauernde Trinker und Esser gebe, denn jeder
wußte von einem solchen Helden und seinen Leistungen zu erzählen. Beim
einen war es »ein Mann in Stuttgart«, beim andern »ein Dragoner, ich
glaub in Ludwigsburg«, beim einen waren es siebzehn Kartoffeln gewesen,
beim andern elf Pfannenkuchen mit Salat. Man brachte diese Begebenheiten
mit sachlichem Ernste vor und gab sich mit Behagen der Erkenntnis hin,
daß es doch vielerlei schöne Gaben und merkwürdige Menschen gibt und
auch tolle Käuze darunter. Dies Behagen und diese Sachlichkeit sind alte
ehrwürdige Erbstücke jedes Stammtischphilisteriums und werden von den
jungen Leuten nachgeahmt so gut wie Trinken, Politisieren, Rauchen,
Heiraten und Sterben.

Beim dritten Glas fragte Hans, ob es denn keine Kuchen gebe. Man rief
der Kellnerin und erfuhr, nein es gebe keine Kuchen, worüber alle sich
schrecklich aufregten. August stand auf und sagte, wenn's nicht einmal
Kuchen gebe, dann könne man ja ein Haus weiter gehen. Der fremde Geselle
schimpfte über die miserable Wirtschaft, nur der Frankfurter war fürs
Bleiben, denn er hatte sich ein wenig mit der Kellnerin eingelassen und
sie schon mehrmals intensiv gestreichelt. Hans hatte zugesehen und
dieser Anblick samt dem Bier hatte ihn seltsam aufgeregt. Er war froh,
daß man jetzt fortging.

Als die Zeche bezahlt war und alle auf die Straße traten, begann Hans
seine drei Schoppen ein wenig zu spüren. Es war ein angenehmes Gefühl,
halb Müdigkeit, halb Unternehmungslust, auch war etwas wie ein dünner
Schleier vor seinen Augen, durch welchen alles entfernter und fast
unwirklich aussah, ähnlich wie man im Traum sieht. Er mußte beständig
lachen, hatte den Hut noch etwas kühner schief gesetzt und kam sich wie
ein ausbündig fideler Kerl vor. Der Frankfurter pfiff wieder auf seine
kriegerische Art und Hans versuchte im Takt dazu zu gehen.

Im »Scharfen Eck« war's ziemlich still. Ein paar Bauern tranken neuen
Wein. Es gab kein offenes Bier, nur Flaschen, und sogleich bekam jeder
eine vorgesetzt. Der fremde Geselle wollte sich nobel zeigen und
bestellte für alle zusammen einen großen Apfelkuchen. Hans fühlte
plötzlich einen gewaltigen Hunger und aß hintereinander ein paar Stücke
davon. Es saß sich dämmerig und bequem in der alten braunen Wirtsstube
auf den festen, breiten Wandbänken. Die altmodische Kredenz und der
riesige Ofen verschwanden im Halbdunkel, in einem großen Käfig mit
Holzstäben flatterten zwei Meisen, denen ein voller Zweig roter
Vogelbeeren als Futter durchs Gestäbe gesteckt war.

Der Wirt trat für einen Augenblick an den Tisch und hieß die Gäste
willkommen. Darauf dauerte es eine Weile, bis ein Gespräch zurecht kam.
Hans nahm einige Schlückchen von dem scharfen Flaschenbier und war
neugierig, ob er wohl noch mit der ganzen Flasche fertig werden würde.

Der Frankfurter schwadronierte wieder grausam von rheinländischen
Weinbergfesten, von Wanderschaft und Pennenleben; man hörte ihm fröhlich
zu und auch Hans kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.

Auf einmal merkte er, daß es mit ihm nicht mehr ganz richtig sei. Alle
Augenblicke flossen ihm Zimmer, Tisch, Flaschen, Gläser und Kameraden zu
einem sanften braunen Gewölk zusammen und nahmen nur, wenn er sich
kräftig aufraffte, wieder Gestalt an. Von Zeit zu Zeit, wenn Gespräch
und Gelächter heftiger anschwoll, lachte er laut mit oder sagte etwas,
was er sogleich wieder vergaß. Wenn angestoßen wurde, tat er mit, und
nach einer Stunde sah er mit Erstaunen, daß seine Flasche leer war.

»Du hast einen guten Zug«, sagte August. »Willst noch eine?«

Hans nickte lachend. Er hatte sich so eine Trinkerei viel gefährlicher
vorgestellt. Und als jetzt der Frankfurter ein Lied anstimmte und alle
einfielen, da sang auch er aus voller Kehle mit.

Mittlerweile hatte sich die Stube gefüllt und es kam die Wirtstochter,
um der Kellnerin im Bedienen zu helfen. Sie war eine große, schön
gewachsene Person mit einem gesunden, kräftigen Gesicht und ruhigen,
braunen Augen.

Als sie die neue Flasche vor Hans hinstellte, bombardierte sie sogleich
der daneben sitzende Geselle mit seinen zierlichsten Galanterien, denen
sie aber kein Gehör gab. Vielleicht, um jenem ihre Nichtachtung zu
zeigen, oder vielleicht, weil sie an dem feinen Bubenköpfchen Gefallen
fand, wandte sie sich zu Hans und fuhr ihm schnell mit der Hand übers
Haar; dann ging sie in die Kredenz zurück.

Der Geselle, der schon an der dritten Flasche war, folgte ihr und gab
sich alle Mühe, ein Gespräch mit ihr in Gang zu bringen, aber ohne
Erfolg. Das große Mädchen sah ihn gleichmütig an, gab keine Antwort und
kehrte ihm bald den Rücken zu. Da kam er an den Tisch zurück, trommelte
mit der leeren Flasche und rief mit plötzlicher Begeisterung: »Wir
wollen fidel sein, Kinder; stoßet an!«

Und nun erzählte er eine saftige Weibergeschichte.

Hans hörte nur noch ein trübes Stimmengemisch und als er mit seiner
zweiten Flasche nahezu fertig war, begann ihm das Sprechen und sogar das
Lachen schwer zu fallen. Er wollte zu dem Meisenkäfig hinübergehen und
die Vögel ein wenig necken; aber nach zwei Schritten wurde ihm
schwindlig, er wäre ums Haar gestürzt und kehrte vorsichtig um.

Von da an ließ seine ausgelassene Fröhlichkeit mehr und mehr nach. Er
wußte, daß er einen Rausch habe, und die ganze Trinkerei kam ihm nimmer
lustig vor. Und wie in einer weiten Ferne sah er allerlei Unheil ihn
erwarten: Den Heimweg, einen bösen Auftritt mit dem Vater und morgen
früh wieder die Werkstatt. Allmählich schmerzte ihm auch der Kopf.

Auch die andern hatten des Guten genug geleistet. In einem klaren
Augenblick begehrte August zu zahlen und bekam auf seinen Taler wenig
heraus. Schwatzend und lachend ging man auf die Straße, vom hellen
Abendlicht geblendet. Hans konnte sich kaum mehr aufrecht halten, er
lehnte sich schwankend an August und ließ sich von ihm mitziehen.

Der fremde Schlosser war sentimental geworden. Er sang »Morgen muß ich
fort von hier« und hatte Tränen in den Augen.

Eigentlich wollte man heimgehen, aber als man am »Schwanen« vorüberkam,
bestand der Geselle drauf, noch hineinzugehen. Unter der Türe machte
Hans sich los.

»Ich muß heim.«

»Du kannst ja nimmer allein laufen«, lachte der Geselle.

»Doch, doch. Ich -- muß -- heim.«

»So nimm wenigstens noch einen Schnaps, Kleiner! Der hilft dir auf die
Beine und bringt den Magen in Ordnung. Jawohl, du wirst sehen.«

Hans spürte ein kleines Glas in seiner Hand. Er verschüttete viel davon,
den Rest schluckte er und fühlte ihn wie Feuer im Schlunde brennen. Ein
heftiger Ekel schüttelte ihn. Allein taumelte er die Vortreppe hinab und
kam, er wußte nicht wie, zum Dorf hinaus. Häuser, Zäune und Gärten
drehten sich schief und wirr an ihm vorüber.

Unter einem Apfelbaum legte er sich in die feuchte Wiese. Eine Menge von
widerlichen Gefühlen, quälenden Befürchtungen und halbfertigen Gedanken
hinderte ihn am Einschlafen. Er kam sich beschmutzt und geschändet vor.
Wie sollte er nach Haus kommen? Was sollte er dem Vater sagen? Und was
sollte morgen aus ihm werden? Er kam sich so gebrochen und elend vor,
als müsse er nun eine Ewigkeit ruhen, schlafen, sich schämen. Kopf und
Augen taten ihm weh und er fühlte nicht einmal soviel Kraft in sich, um
aufzustehen und weiterzugehen.

Plötzlich kam wie eine verspätete, flüchtige Welle ein Anflug der
vorigen Lustigkeit zurück; er schnitt eine Grimasse und sang vor sich
hin:

   O du lieber Augustin,
   Augustin, Augustin,
   O du lieber Augustin,
   Alles ist hin.

Und kaum hatte er ausgesungen, so tat ihm etwas im Innersten weh und
stürmte eine trübe Flut von unklaren Vorstellungen und Erinnerungen, von
Scham und Selbstvorwürfen auf ihn ein. Er stöhnte laut und sank
schluchzend ins Gras.

Nach einer Stunde, es dunkelte schon, erhob er sich und schritt unsicher
und mühsam bergabwärts.

Herr Giebenrath hatte ausgiebig geschimpft, als sein Bub zum Nachtessen
ausgeblieben war. Als es neun Uhr wurde und Hans noch immer nicht da
war, legte er ein lang nicht mehr gebrauchtes, starkes Meerrohr bereit.
Der Kerl meinte wohl, er sei der väterlichen Rute bereits entwachsen?
Der konnte sich gratulieren, wenn er heimkam!

Um zehn Uhr verschloß er die Haustüre. Wenn der Herr Sohn nachtschwärmen
wollte, konnte er ja sehen, wo er bliebe.

Trotzdem schlief er nicht, sondern wartete mit wachsendem Grimm von
Stunde zu Stunde darauf, daß eine Hand die Klinke probiere und
schüchtern an der Glocke ziehe. Er stellte sich die Szene vor -- der
Herumtreiber konnte ja was erleben! Wahrscheinlich würde der Lausbub
besoffen sein, aber er würde dann schon nüchtern werden, der Bengel, der
Heimtücker, der elendige! Und wenn er ihm alle Knochen abeinander hauen
mußte.

Endlich bezwang ihn und seine Wut der Schlaf.

Zu derselben Zeit trieb der so bedrohte Hans schon kühl und still und
langsam im dunklen Flusse talabwärts. Ekel, Scham und Leid waren von ihm
genommen, auf seinen dunkel dahintreibenden, schmächtigen Körper schaute
die kalte, bläuliche Herbstnacht herab, mit seinen Händen und Haaren und
erblaßten Lippen spielte das schwarze Wasser. Niemand sah ihn, wenn
nicht etwa der vor Tagesanbruch auf Jagd ziehende scheue Fischotter, der
ihn listig beäugte und lautlos an ihm vorüberglitt. Niemand wußte auch,
wie er ins Wasser geraten sei. Er war vielleicht verirrt und an einer
abschüssigen Stelle ausgeglitten; er hatte vielleicht trinken wollen und
das Gleichgewicht verloren. Vielleicht hatte der Anblick des schönen
Wassers ihn gelockt, daß er sich darüber beugte und da ihm Nacht und
Mondblässe so voll Frieden und tiefer Rast entgegenblickten, trieb ihn
Müdigkeit und Angst mit stillem Zwang in die Schatten des Todes.

Am Tage fand man ihn und trug ihn heim. Der erschrockene Vater mußte
seinen Stock beiseite tun und seinen angesammelten Grimm fahren lassen.
Zwar weinte er nicht und ließ sich wenig merken, aber in der folgenden
Nacht blieb er wieder wach und blickte zuweilen durch den Türspalt zu
seinem stillgewordenen Kinde hinüber, das auf einem reinen Bette lag und
noch immer mit der feinen Stirn und dem bleichen, klugen Gesicht so
aussah, als wäre es etwas Besonderes und habe das eingeborne Recht, ein
anderes Schicksal als andere zu haben. An Stirn und Händen war die Haut
ein wenig bläulichrot abgeschürft, die hübschen Züge schlummerten, über
den Augen lagen die weißen Lider und der nicht ganz geschlossene Mund
sah zufrieden und beinahe heiter aus. Es hatte das Ansehen, der Junge
sei plötzlich in der Blüte gebrochen und aus einer freudigen Bahn
gerissen, und auch der Vater erlag in seiner Müdigkeit und einsamen
Trauer dieser lächelnden Täuschung.

Die Beerdigung zog eine große Zahl von Mitgängern und Neugierigen an.
Wieder war Hans Giebenrath eine Berühmtheit geworden, für die sich jeder
interessierte, und wieder nahmen die Lehrer, der Rektor und der
Stadtpfarrer an seinem Schicksal teil. Sie erschienen sämtlich in
Gehröcken und feierlichen Zylindern, begleiteten den Leichenzug und
blieben am Grabe einen Augenblick stehen, untereinander flüsternd. Der
Lateinlehrer sah besonders melancholisch aus und der Rektor sagte leise
zu ihm: »Ja, Herr Professor, aus dem hätte etwas werden können. Ist es
nicht ein Elend, daß man gerade mit den Besten fast immer Pech hat?«

Beim Vater und der alten Anna, die ununterbrochen heulte, blieb der
Meister Flaig am Grabe zurück.

»Ja, so was ist herb, Herr Giebenrath«, sagte er teilnehmend. »Ich habe
den Buben auch lieb gehabt.«

»Man begreift's nicht«, seufzte Giebenrath. »Er ist so begabt gewesen,
und alles ist ja auch gut gegangen, Schule, Examen -- und dann auf
einmal ein Unglück übers andere!«

Der Schuhmacher deutete den durchs Kirchhoftor abziehenden Gehröcken
nach.

»Dort laufen ein paar Herren,« sagte er leise, »die haben auch
mitgeholfen, ihn so weit zu bringen.«

»Was?« fuhr der andere auf und starrte den Schuster zweifelnd und
erschrocken an. »Ja, Sackerlot, wieso denn?«

»Seien Sie ruhig, Herr Nachbar. Ich hab' bloß die Schulmeister gemeint.«

»Wieso? Wie denn?«

»Ach, nichts weiter. Und Sie und ich, wir haben vielleicht auch
mancherlei an dem Buben versäumt, meinen Sie nicht?«

Über dem Städtchen war ein fröhlich blauer Himmel ausgespannt, im Tale
glitzerte der Fluß, die Tannenberge blauten weich und sehnlich in die
Weite. Der Schuhmacher lächelte fein und traurig und nahm des Mannes
Arm, der aus der Stille und seltsam schmerzlichen Gedankenfülle dieser
Stunde zögernd und verlegen den Niederungen seines gewohnten Daseins
entgegenschritt.

                                 Ende



Anmerkungen zur Transkription


Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Textstellen, die im Original in
Antiqua gesetzt waren, wurden ^so^ markiert.

Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt wie hier aufgeführt,
teilweise unter Verwendung späterer Ausgaben (vorher/nachher):

   [S. 15]:
   ... sich vorzustellen, der Floß sei unterwegs, fahre bald ...
   ... sich vorzustellen, das Floß sei unterwegs, fahre bald ...

   [S. 40]:
   ... Schon am frühen Vormittag stand Hans im Ohrn des ...
   ... Schon am frühen Vormittag stand Hans im Öhrn des ...

   [S. 58]:
   ... »Wenn du Heimweh hast,« hieß es anderwo, »dann schreib ...
   ... »Wenn du Heimweh hast,« hieß es anderswo, »dann schreib ...

   [S. 70]:
   ... hiebei zum erstenmal die keimende Bildung einer
       Persönlichkeit ...
   ... hierbei zum erstenmal die keimende Bildung einer
       Persönlichkeit ...

   [S. 119]:
   ... bedauernden abzuändern, was ihm leicht viel und gut stand. ...
   ... bedauernden abzuändern, was ihm leicht fiel und gut stand. ...

   [S. 146]:
   ... Presse gegenüber gestanden war, wie sie ihn aus ihren Becher ...
   ... Presse gegenüber gestanden war, wie sie ihn aus ihrem Becher ...

   [S. 163]:
   ... August den neuen Lehrbuben. Er redete ihn aufmunternd zu ...
   ... August den neuen Lehrbuben. Er redete ihm aufmunternd zu ...





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