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Title: Das Glück ist immer da! - Heitere Geschichten und Plaudereien
Author: Schmidt, Otto Ernst
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das Glück ist immer da! - Heitere Geschichten und Plaudereien" ***


    Anmerkungen zur Transkription


    Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+.

    Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~.

    Das Inhaltsverzeichnis befindet sich am Ende des Buches.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Endes des
    Buches.



        Das  Glück  ist  immer  da!



    Ullstein-Bücher

    Eine Sammlung
    zeitgenössischer Romane


    [Illustration]


    Ullstein & Co / Berlin und Wien



    Das Glück ist immer da!

    Heitere Geschichten und Plaudereien

    von

    Otto Ernst


    [Illustration]


    Ullstein & Co / Berlin und Wien



Die Marienbader Kur


Meine Freunde haben es verschuldet. Sie haben mich so lange gereizt.
»Eduard, du wirst zu stark, Eduard!« sagten sie täglich zu mir; die
Gefühlloseren sagten: »zu dick«, die Gemütsrohen: »zu fett«. Ich
leugnete das energisch; aber sie mußten sich heimlich verschworen
haben; denn sie sagten es alle. »Ein gewisses Embonpoint ist bei
mir hereditär, habituell, gehört sozusagen zu meiner Konstitution,«
bemerkte ich. Dergleichen drückt sich immer am besten in Fremdwörtern
aus. Ein rüdes Gelächter antwortete mir. »Deshalb«, fuhr ich fort,
»verschlagen auch Entfettungskuren bei mir nicht das geringste.« »Ja,
weil du sie nicht konsequent durchführst!« johlte die Masse in vulgärer
Einstimmigkeit. »Ich -- nicht durchführen?« versetzte ich mit meiner
überlegenen Ironie, »nun -- das werde ich euch beweisen!« Und so ging
ich nach Marienbad.

»Sie gehen nach Marienbad?« fragte mich ein wohlbeleibter
Eisenbahngefährte. »Ei, da sind Sie zu beneiden! Marienbad ist
entzückend! Und schlemmen kann man da, schlemmen --!«

Ich bemerkte dem Manne mit einem sittlichen Ernste, der -- ich fühlte
es -- mir gut stehen mußte, daß ich nicht zu schlemmen gedächte,
sondern mich einer sehr ernsten Magerkur zu unterziehen beabsichtigte.

»Ach so, Sie wollen fasten!« rief er überrascht. »Na ja -- kann man da
auch,« fügte er nachlässig hinzu. »Dazu gehört allerdings ein starker
Wille.«

»An dem soll es nicht fehlen,« preßte ich durch die
aufeinandergebissenen Zähne.

Er maß mich von oben bis unten und dann von links nach rechts und sagte
nichts, der unhöfliche Mensch.

Vor dem Diner im Speisewagen sagte ich mir logischerweise, daß es erst
dann einen Sinn habe, mit der Kur zu beginnen, wenn +alle+ Bedingungen
dieser Kur gegeben seien, daß systemlose Halbheiten in solchem Falle
sogar recht gefährlich werden können. Andrerseits war mir wohlbekannt,
daß bei solchen Kuren ein möglichst großer Gegensatz zwischen heut
und morgen nur zu empfehlen ist, weil nämlich der Körper auf solche
schroffen Uebergänge mit einer beträchtlichen Gewichtsabnahme reagiert.
Das Diner setzte sich für dieses Prinzip sehr günstig zusammen; es
bestand aus Bouillon mit Klößen, Lachs mit Mayonnaise, Mastochsenbraten
mit Makkaroni, Plumpudding und Butter und Käse. Um den Choc, den
der Körper morgen erhalten sollte, zu verstärken, nahm ich dazu
eine Flasche Bier, eine halbe Flasche Clicquot und zum Kaffee einen
Benediktiner. Danach legte ich mich in meinem Abteil schlafen.

In Marienbad angelangt, begann ich meine Kur auf dem Bahnhofe. Zwar
meinen Hauptkoffer überwies ich einem Träger; als dieser aber auch den
nicht unbeträchtlichen Nebenkoffer an sich nehmen wollte, sagte ich
triumphierend: »Nein, lieber Freund, jetzt wird selbst getragen,« nahm
meinen Koffer und schritt hinaus. Die Fiaker vor dem Bahnhof machten
mir ihre komfortabelsten Gesichter, nannten mich »Herr Baron« und, als
mir das nicht zu genügen schien, »Herr Graf«; ich aber versetzte ohne
allen Adelsstolz: »Nein, meine Herren, jetzt wird gegangen!«

Wenn ich einmal eine Sache angreife, so tu' ich's mit Energie.

Wenn ich gewußt hätte, daß der Bahnhof so weit vom Orte entfernt
liege und daß meine Wohnung dann auch noch ganz am entgegengesetzten,
nördlichsten Ende der Stadt gelegen sei und daß der Weg dahin nicht
allzu sanft ansteige, so hätte ich vielleicht doch meinen Koffer dem
Träger übergeben und wäre gefahren. Aber während ich schwitzte, erhob
mich doch das Wonnegefühl: »Wenigstens fünf Pfund schaffst du dir durch
diesen Leidensweg vom Leibe. Wenn du das drei- bis viermal gemacht
hast, bist du dein Uebergewicht los. Allerdings« -- dieser Gedanke
erleuchtete mich blitzartig -- »das hättest du auch zu Hause haben
können.«

Meine Wohnung lag im dritten Stock. Für die Zumutung, den Fahrstuhl
zu benutzen, hatte ich nur eine kurze, abweisende Handbewegung. Das
Zimmer kostete wöchentlich fünfzig Kronen einschließlich Tag- und
Nachtgeschirr. Alles andere mußte extra bezahlt werden.

Sobald ich mich einigermaßen eingerichtet und umgekleidet hatte, eilte
ich, mich wägen zu lassen. Ich fühlte mich so leicht nach meiner
Kofferträgerarbeit!

In Marienbad hat jedes zweite Haus eine allein richtige Wage. Man setzt
sich in einen bequemen Stuhl und läßt seine Schwerkraft walten; dann
zeigt die Wage nicht nur das Gewicht an, sie druckt es auch gleich auf
einen kleinen Zettel. Da stand: 94,8 Kilo.

»Sie sind wohl --!« rief ich unwillkürlich aus. Das Wort »verrückt«
verschluckte ich ebenso unwillkürlich wegen der Gerichtskosten.

Der Mann beteuerte, daß sein Apparat vollkommen tadellos funktioniere.
Ich warf meine zwanzig Heller auf den Ladentisch, ließ den Zettel
liegen und ging, Verachtung in den Zügen, hinaus.

Zwanzig Schritte weiter trat ich in ein anderes Haus mit allein
richtiger Wage. Der Zettel erschien und zeigte: 95 Kilo. Diesmal versah
eine Dame das Wägeamt; ich konnte also nicht 'mal »Sie sind wohl --!«
rufen.

Langsam und sinnend schob ich den Zettel in die Westentasche und
verließ das Lokal. Mir war's, als hätte ich Blei in den Gliedern.

Draußen kam mir die Erleuchtung. Ah, dacht' ich, die haben dir den
Neuling angesehen. Das sind Wagen für Ankömmlinge! Jetzt wirst du
schlau sein. Mit elastischen Schritten betrat ich ein drittes Lokal
und rief: »So! Zum Abschied möcht' ich nun noch einmal gewogen sein!«
Diesmal verzeichnete der Zettel: 95,1 Kilo.

    »Noch mehr! Es hängt Gewicht sich an Gewicht,
    Und ihre Masse zieht mich schwer hinab.«

Erdrückt von der Wucht meiner Persönlichkeit, schlich ich zum Arzt. Er
behauptete, ich müsse morgens sechs Uhr aufstehen, zum Kreuzbrunnen
gehen, dort drei Glas Brunnen mit Zusatz eines gewissen Salzes trinken,
dann anderthalb Stunden spazieren gehen, danach dürfe ich frühstücken.
Der Mann hatte eine merkwürdige Ausdrucksweise; unter »frühstücken«
verstand er: eine Tasse Tee, ein Ei und einen Zwieback nehmen. »Ohne
Butter!« rief der Herr Doktor begeistert. Mittags dürfe ich dann eine
Fleischspeise, ein Gemüse, ein Kompott und eine halbe Flasche Biliner
Wasser genießen. Und abends könne ich mir eine Fleischspeise, ein
Gemüse +oder+ ein Kompott und, wenn es sein müsse, ein Krügel Pilsner
gestatten. Für diese Beköstigung müsse ich aber fünf bis sechs Stunden
täglich marschieren. Ich versicherte dem Arzte, diesen Vorschriften
nachzukommen, sei für einen Menschen von Willenskraft ein reines
Kinderspiel, und vollends für mich, der ich von jeher mäßig zu leben
gewohnt sei.

Morgen, gleich morgen, solle ich mit der Kur beginnen, hatte der Arzt
befohlen. Dieser Abend war also noch mein. Ich traf in der Kaiserstraße
einen alten Freund, der mir ein Lokal bezeichnete, in dem er jeden
Abend mit einigen vergnügten Leuten zusammentreffe und wo es ein
vorzügliches Pilsner Bier gebe. »Pilsner Bier hat nämlich eine mild
laxierende Wirkung,« erklärte er mir. Und in der Tat: Pilsner Bier
hatte mir ja sogar mein Arzt gestattet. Außerdem wäre es mir als
unnötige Schroffheit erschienen, die Einladung dieses lieben Menschen
abzulehnen; ich ging also mit und trank einige Krügel. Ich fühlte
wirklich, wie mir immer leichter wurde, und wie auf Flügeln schwebte
ich um Mitternacht nach Hause.

Um sechs Uhr war ich auf den Beinen, um halb sieben am Brunnen. In
langer Prozession wallten die Kurgäste, jeder ein Glas in der Hand, zur
Quelle. Wo eine Lücke war, wollte ich mich anspruchslos und unauffällig
dem Ganzen einfügen; aber sofort bedeutete mir ein Aufseher, daß ich
mich ganz am Ende anschließen müsse. Nach zehn Minuten kam ich zur
Quelle und erblickte dort ein merkwürdiges Naturspiel: einen Mann,
der fortwährend pumpte und dabei untertänig grüßte. Die Leute, die
pumpen, grüßen sonst ganz anders. Ich erhielt mein wohlgefülltes
Glas, schüttete das vorgeschriebene Salz hinein und setzte es an den
Mund. Mit ungeheurer Spannung kostete ich dies Getränk. Es schmeckte
wie Niedertracht mit Gemeinheit. Es ist mir immer Grundsatz gewesen,
widrige Dinge, die geschluckt werden müssen, mit zugedrückten Augen
und mit einem Schluck und Druck hinunterzusetzen. Aber das war hier
verboten. Zehn Minuten lang solle ich an dem Becher trinken, hatte
der Arzt befohlen. In solchen zehn Minuten büßt man vieles ab.
Freilich macht eine recht gute Kurkapelle Musik dazu. Aber es ist
nicht das Richtige, wenn man Mozarts Champagnerlied mit auf die Weste
herabhängenden Mundwinkeln anhört; es ergibt eine falsche Auffassung,
wenn man sich bei dem Seufzer

    »O--o--o De--li--la!«

nach dem Bauche greift. Nach dem ersten Glase trank ich ein zweites und
ein drittes. Sehr sinnig schließt das Konzertprogramm regelmäßig mit
einem Galopp.

Dann kam der anderthalbstündige Spaziergang in die allerdings höchst
anmutige und erfrischende, berg- und waldgeschmückte Umgebung
Marienbads. Der Reiz der unbekannten Landschaft ließ mich die
materiellen Dinge dieser Welt vergessen, bis ich durch ein nahes
Gebüsch das Geklapper von Tassen und Teelöffeln vernahm. Die Umgebung
von Marienbad ist mit verführerischen Cafés geschwängert; »freudig
hingezogen« trat ich ein und bestellte mein Frühstück. Auch hier wurde
Musik gemacht, aber nicht zur Milderung, sondern zur Verschärfung der
Kur. Nach einer äußerst regellosen Carmen-Phantasie wollte ich gerade
mein Ei und meinen Zwieback genießen, als ich inne ward, daß ich sie
schon verzehrt hätte. Mit männlicher Entschiedenheit sprang ich auf und
wanderte meiner Wohnung zu, um ein wenig zu ruhen, ein wenig an meinem
Trauerspiel »Ugolino« zu arbeiten und mich auf das kohlensaure Bad mit
kalter Abwaschung und Massage vorzubereiten.

Beim Mittagessen saß mir gegenüber ein Mann, der jedes Mitgefühls bar
ein Menü von sechs Gängen aß. Um mich zu kasteien, las ich das ganze
Menü durch, einem Athleten gleich, der, mit Kopf und Füßen auf zwei
Stühlen liegend, sich immer neue Zentnergewichte auf die Brust legt.
Ueber dem Menü stand geschrieben:

        »Ohne weitere Auswahl!!!!!!!«

Mit sieben Ausrufungszeichen; ich habe sie gezählt.

»Kann ich für den Kalbsbraten auch was andres haben?« fragte mein
Gegenüber.

»Aber natierlich!« versetzte der Kellner.

Da fragte ich mich: Wieviele Ausrufungszeichen macht man in diesem
Lande hinter einem Gesetz, das wirklich unumstößlich ist?

Den ausfallenden Mittagsschlaf mußte ich nach Anordnung des Arztes
durch eine vierstündige Fußwanderung ersetzen. Sie durfte unterbrochen
werden durch eine Tasse Tee. »Mit einem Zwieback,« hatte der Arzt in
einer Anwandlung von Schwäche hinzugefügt.

Ich wanderte viereinhalb Stunden, trank ein Glas Kreuzbrunnen und genoß
zu Abend eine Fleischspeise, ein Gemüse +oder+ Kompott und ein Krügel
Pilsner. Gehorsam ist des Christen Schmuck.

Ein unvergleichlicher Trost in solchen Zeiten der Depression ist
eine gute Hamburger oder Bremer Zigarre. Leider hatte ich mir nur
einen winzigen Vorrat mitnehmen können, weil Zigarren an der
österreichischen Grenze einen ungeheuren Zoll kosten.

Wie ein artiges Kind schlüpfte ich gegen zehn Uhr ins Bett, und diese
Lebensweise setzte ich fünf Tage lang ohne nennenswerte Schwankungen
fort. Nur hatte ich mir am dritten Tage beim Frühstück gesagt: »Die
paar Tropfen Sahne, die zum Tee serviert werden, könntest du eigentlich
mitnehmen. Zwar: Sahne macht fett. Aber ich erinnere mich vollkommen
deutlich, daß der Arzt nicht gesagt hat: »ohne Sahne«. Der Mann war
sehr genau in seinen Vorschriften; hätte er die Sahne verbieten wollen,
so hätte er es zweifellos getan. Er hat sie also erlaubt, und da ich
mich strengstens nach seinen Vorschriften richten will, so muß ich sie
eigentlich nehmen. Es ist zwar nur ein Fingerhütchen voll; aber es ist
etwas mehr.« Seit diesem Tage nahm ich Sahne zum Tee.

Als fünf Tage herum waren, sollte wieder gewogen werden. Ich habe in
meinem Leben verschiedene Examina durchgemacht; aber mit so feierlicher
Spannung, mit so freudig-banger Erregung bin ich keiner Prüfung
entgegengegangen wie dieser. Ich schwankte lange, welcher Wage ich
mich anvertrauen solle; endlich trat ich in einen Laden, legte Hut,
Ueberzieher, Handschuhe, Gummigaloschen, Portemonnaie, Taschenmesser,
Uhr und Schlüsselbund ab und bestieg den Schicksalsstuhl.

»92 Kilo,« sagte die wägende Themis.

»Den Zettel!« stotterte ich.

Da stand es schwarz auf weiß: »92 Kilo!« Also ein Gewichtsverlust
von 3,1 Kilo, von 6⅕ Pfund, von 3100 Gramm! Die Tugend hatte ihren
Lohn gefunden; Geist und Wille hatten über die Erdenschwere gesiegt!
»Hurra!« flüsterte ich auf der Straße vor mich hin. »Hurra! Darauf kann
ein vergnügter Abend stehen!«

Ich suchte meinen Freund auf und das famose Pilsner-Lokal. Ich konnte
mein Glück nicht für mich behalten; ich mußte mich mitteilen, und noch
eh' ich Hut und Mantel abgelegt hatte, rief ich: »Sechs Pfund! Sechs
Pfund verloren! Der ehrliche Finder soll sie behalten! Wie steh' ich
nun da?«

»Was?« schrie mein Freund. »Sechs Pfund in fünf Tagen? Menschenskind,
sind Sie denn des Deubels? Wissen Sie auch, daß Sie sich dabei den
schönsten Herzklaps holen können?«

Ich erschrak und griff unwillkürlich nach der Speisenkarte. Mein Auge
fiel auf: Filetbraten mit Makkaroni. Und mir ward, als spräche der
Herr: »Es sammle sich alles Wasser unter dem Himmel,« und mein Mund
wäre der Sammelplatz. »Donnerwetter,« stöhnte ich, »Makkaroni ess' ich
so gern; aber sie setzen Fett.«

»Nanu?« machte mein Freund, »Makkaroni? Sie sind doch in Italien
gewesen. Wo sieht man schlankere, sehnigere Gestalten als in Italien?
Und das lebt den ganzen Tag von Polenta und Makkaroni.«

Ich muß gestehen: ich hatte einen Augenblick den Argwohn, daß mein
Freund mich verführen wolle; aber ich schämte mich sofort dieser
häßlichen Regung und bestellte mir Filetbraten mit Makkaroni und
reichlichem Käse.

Als ich schwankte, ob ich mir ein drittes Glas Pilsner bestellen dürfe,
fragte mich mein Freund:

»Wieviel hat Ihnen denn Ihr Arzt erlaubt?«

»Einen Krug,« versetzte ich.

»Macht vier,« sagte er.

»Wieso?«

»Nun, wenn er Ihnen einen gestattet, so nimmt er an, daß Sie zwei
trinken; ein guter Arzt gestattet seinem Patienten aber nur dann zwei
Krüge Bier, wenn er weiß, daß ihm auch viere nicht schaden.«

»Ja, ein guter Arzt ist er,« rief ich, »er hat auf mich den Eindruck
eines sehr intelligenten und gewissenhaften Mannes gemacht.«

»Na also!« rief mein Freund, und ich bestellte zunächst das dritte
Glas. --

Am nächsten Morgen erschien ich erst um halb neun am Brunnen, weil ich
erst um acht Uhr aufgestanden war. Der Morgenspaziergang fiel daher
aus; das Gefühl der Sättigung aber, das mich noch vom Abend vorher
erfüllte, kam dem Fortgang meines »Ugolino« glänzend zustatten. Die
Zeilen flogen nur so aufs Papier.

Das Hochgefühl gelungener Arbeit regt wohl bei allen Menschen den
Appetit an. Mein diesmaliges Gegenüber am Mittagstisch verzehrte
ein Riesenstück von einem Karpfen auf böhmische Art. Ich fragte den
Kellner, ob noch ein so gutes Stück da sei, und als er es bejahte,
bestellte ich es. Im übrigen aber hielt ich mich streng an die
Vorschrift und aß nur noch eine Fleischspeise, ein Gemüse und ein
Kompott nebst Brot. Ebenso blieb ich am Abend streng bei meiner
Diät, und wenn ich mir darüber hinaus eine Portion Palatschinken
bewilligte, so wird nur der etwas darin finden, der diese Speise nicht
kennt. Palatschinken sind ganz dünne Pfannkuchen, die mit Kompott
oder Fruchtgelee bestrichen und dann aufgerollt werden. Wenn ich den
Erfinder dieses Gebäcks kennte, so würde ich ihm ein Denkmal errichten,
und wie man Gelehrte, Dichter und Staatsmänner auf ihren Monumenten
wohl mit einer Pergamentrolle darstellt, so würde ich ihm einen
Palatschinken in die Hand geben. Außerdem muß man wissen, wie solche
Sachen in Oesterreich bereitet werden. Ich lobe die österreichischen
Mehlspeisen (die man dort merkwürdigerweise »Müllspeisen« nennt)
grundsätzlich, weil, wer das unterläßt, beim nächsten Wiederbetreten
des Landes als lästiger Ausländer ausgewiesen wird; aber ich lobe sie
auch aus innerster Ueberzeugung. Sie werden selbst von den Hamburger
Köchen nicht erreicht -- ~sapienti sat~.

So lebte ich abermals fünf Tage in Fasten und Kasteiungen dahin, mir
nur hin und wieder einen kleinen Seitensprung gestattend, um das allzu
schnelle Entfettungstempo wohltätig zu verlangsamen. Der »Herzkollaps«
stand mir als warnendes Gespenst vor Augen. Dabei war ich so intensiv
mit meiner Arbeit beschäftigt, daß ich mir beim Frühstück aus reiner
Zerstreutheit zwei Eier oder Butter oder Schinken, einmal sogar
alles zugleich kommen ließ und in Gedanken verzehrte. Am zehnten Tage
schritt ich fröhlich zur Wage. Nach meinem Spiegelbilde und meinem
Allgemeingefühl schätzte ich meine Gewichtsabnahme auf drei Pfund. Das
Resultat lautete: »94,5 Kilo.«

»Sie müssen sich irren!« rief ich.

»Bitt' schön, schauen der Herr selbst nach,« sagte der Mann und gab mir
den Zettel.

»Dann ist Ihre Wage nicht richtig!«

»Bitt' schön, das ist die genaueste Wage in ganz Marienbad.«

Gewogen und zu schwer befunden, ein umgekehrter Belsazar, verließ ich
wankend das Haus. Ich ging in eine Buchhandlung und kaufte mir das
Heft: »Wie werde ich energisch?« und begann meine Kur von vorn.

Ich trank Brunnen, daß ich zeitweilig an der fixen Idee litt, ich
sei ein Rohr der städtischen Wasserleitung; ich knabberte morgens
meinen einsamen Zwieback und scherzte dazu blutenden Herzens mit
der appetitlichen Kellnerin, »ich kroch durch alle Krümmen des
Gebirgs«, die in der Umgegend Marienbads aufzufinden sind, »den
Durst mir stillend mit der Gletscher Milch, die in den Runsen
schäumend niederquillt,« und schwitzte, oder, wie der Gebildete
sagt: transpirierte, daß man die ~disjecta membra poetae~ in der
ganzen Gemarkung hätte zusammenlesen können. Beim Mittagessen saß
ich mit niedergeschlagenen Augen wie eine züchtige Pastorentochter,
um die andern nicht essen zu sehen; denn, weiß der Teufel, obwohl
ich jeden Tag anderswo saß, immer hatte ich zum Gegenüber einen
Schlemmer und Fresser, der einen Rekord brechen zu wollen schien.
Eine Tochter, die mir in diesen Tagen schrieb, daß man zu Hause eine
»großartige« Aalsuppe mit Schwemmklößen gegessen habe, verstieß ich
auf telegraphischem Wege. Mein »Ugolino« rückte natürlich nicht von
der Stelle. Meinem »Freunde« wich ich, wenn ich ihn von weitem sah,
in größtmöglichem Bogen aus. Ja, dieser »Freund«, er konnte lachen;
er war ein »hagerer Wollüstling« wie Calcagno, »Bildung gefällig und
unternehmend«; er konnte machen, was er wollte, er war und blieb
geschmeidig wie ein Rapier. Man klagt ein langes und breites über
die ungleiche Verteilung des Besitzes, über die ungleiche Verteilung
der Geistesgaben, über die ungleiche Verteilung von Schönheit und
Körperkraft; aber gibt es eine schreiendere Ungerechtigkeit, als daß
Menschen jahraus, jahrein Diners von fünfzehn Gängen mit zugehörigen
Weinen und Likören vertilgen, ohne auch nur um die Dicke eines
Lindenblättchens zuzunehmen? Muß einen nicht ein darmzerfressender
Neid durchwühlen, wenn man das ansieht und um jeden elenden
Kartoffelschmarrn ein Pfund schwerer wird?

Das Traurigste in diesen dunklen Tagen war, daß meine heimischen
Zigarren alle geworden waren. In Oesterreich werden die Zigarren von
der Regierung gedreht. Sie werden aus einem tabakähnlichen Stoffe
verfertigt (ich halte es für eine Art Baumwolle), sind nicht billig,
brennen aber vorzüglich und riechen nicht. Man kann sie Säuglingen
geben, die die Muttermilch nicht vertragen. Der österreichische
Patriot pflegt seine Zigarren zu verteidigen, indem er sagt: »Ja
freilich, unsere Zigarren taugen nichts; aber das ist das Gute am
Monopol: man kriegt sie in der ganzen Monarchie, auch im kleinsten
Dorf, in der nämlichen Qualität!« Uebrigens stimmt das nicht einmal;
denn in den kleinen Spezereigeschäften auf den Dörfern werden sie
gewöhnlich zwischen Petroleum und Chlorkalk aufbewahrt, und dann
riechen sie. Freilich halten sie auch dann keinen Vergleich aus mit
den italienischen Zigarren. Aus einer Zigarre in Venedig roch ich
einmal Seife, Zimt, Gorgonzola, Buchdruckerschwärze, ranziges Oel,
Rhabarbertropfen, Kaffee und muffig gewordene Spaghetti heraus. An der
Schweizer Grenze fragte mich ein Zollbeamter, ob ich auch italienische
Zigarren im Koffer hätte. »Herr!« rief ich außer mir. »Wie kommen Sie
dazu, mir Perversitäten zuzumuten?!«

Warum ich mir keine Zigarren von Deutschland hereingeschmuggelt hatte?
Ich halte mich nicht für berechtigt, einen Staat, mit dem wir einen
Dreibund geschlossen haben, in seinen Finanzen zu schwächen. Offen
gestanden, hatt' ich's auch vergessen.

An einem dieser Tage, von denen schon die Koheleth sehr richtig
bemerkt, daß sie uns nicht gefallen, stand ich gedankenvoll vor dem
Stadt- und Posthause, noch beschäftigt mit einem Brief, in dem mir
Weib und Kinder ihre Verlassenheit klagten. Wie gern wäre ich zu ihnen
geeilt, wenn nicht Pflichten gegen das schnöde Fleisch mich an diesen
Marterort gebannt hätten. Da fiel eine Hand auf meine Schulter, und
neben mir stand mein Freund Calcagno.

»Famos, daß ich Sie treffe!« rief er, »gerade wollt' ich Ihnen
schreiben. Also morgen um drei Uhr kommen ein paar nette Kerle zu mir
zu einem einfachen Mittagessen. Tun Sie mir die Liebe, mit von der
Partie zu sein!«

Ich kannte seine »einfachen Mittagessen«; Lucullus war Kasernenküche
dagegen. Ich lehnte ab unter Hinweis auf meine Kur.

»Aber, Teuerster, Ihre Kur soll nicht das geringste darunter leiden!
Lauter leichte Sachen! Schließlich brauchen Sie ja nur zu essen, was
sich mit Ihrer Kur verträgt! Und wenn Sie nicht wollen, essen Sie gar
nichts! Wenn Sie nur dabei sind!«

Ich bemerkte noch einmal mit vor Entschlossenheit bebender Stimme, daß
ich fest bleiben müsse.

»Aber jeder vernünftige Arzt gestattet doch Ausnahmetage; er schreibt
sie sogar vor. ›Meide die Gewohnheit,‹ sagt Schweninger, ein Mann,
der Bismarck entfettete! Wenn Sie sich an diese Lebensweise gewöhnen,
werden Sie dick statt mager. Es ist eine bekannte Beobachtung, daß
Sträflinge sogar bei der Zuchthausmenage fett werden --«

»Sie haben recht!« rief ich im frohen Gefühl, eine neue Wahrheit
gefunden zu haben. »Ich komme; ich komme bestimmt!«

»Na bravo! Das ist ein Manneswort. Sie werden sehen, es wird nett!«

O, ob es nett wurde! Es gab Kaviar, getrüffelte Gänseleber, Brüsseler
Poularde, Langusten, Zungenragout, Sorbet usw. usw. Dazu 68er
Stefansberg, 93er Hattenheimer Bildstock, 69er Lafitte Schloß-Abzug,
47er Yquem, ganz alten Heidsieck; kurz: Weine von einem unglaublichen
Innenleben und von einem Alter, daß man bei jedem Glase unwillkürlich
nach dem Kopfe griff, um ehrerbietig den Hut abzunehmen. Und zu
jedem Gericht und jedem Wein gab der Wirt nicht ohne Scharfsinn eine
überzeugende Erklärung, warum und inwiefern sie kurgemäß wären. Von dem
alten Heidsieck zu trinken, verbot mir gleichwohl meine Selbstzucht.

»Auf Sekt will ich denn doch lieber verzichten,« erklärte ich und hielt
die Hand übers Glas.

»Warum denn gerade auf Sekt?« rief Calcagno mit grenzenlosem Erstaunen.
»Alle Rennpferde kriegen Sekt! Haben Sie schon einmal ein korpulentes
Rennpferd gesehen?«

Für streng logische Schlüsse habe ich immer eine Schwäche besessen; ich
zog meine Hand zurück. -- --

Andern Mittags, als ich aufgestanden war, schlenderte ich über die
Kreuzbrunnenpromenade und entdeckte dort eine automatische Wage mit der
Ueberschrift: »Wieviel wiegen Sie?« Ich fand diese Frage zwar etwas
dummdreist; aber ich konnte ihr doch nicht widerstehen, stieg auf,
steckte 20 Heller in den Schlitz und konstatierte 94 Kilo.

Also das war nun der ganze Erfolg nach drei Wochen des Darbens,
Kurierens und Kasteiens! Ein ganzes Kilogramm!

Halt -- an dem Automaten befand sich auch eine Tabelle, nach der man
genau feststellen konnte, wieviel man wiegen dürfe. Ich fand, daß
meiner Körperlänge ein Gewicht von 65 Kilo angemessen wäre. Also
hätte ich 30 Kilo zu viel, und sie zu beseitigen, forderte 90 Wochen
Marienbad! Es war doch geradezu lächerlich, solch einen Ort für
Entfettungskuren zu empfehlen!

Ebenso lächerlich war übrigens diese Tabelle. Als ob man so rein
mechanistisch die Leibesstärke eines Menschen vorschreiben könnte,
als ob sie nicht individuelle Bestimmung wäre wie meine Augen, meine
Stimme, meine Hand, mein Temperament! Ich ging die Reihe meiner Ahnen
durch bis ins 15. Jahrhundert -- soweit ich sie kannte, waren sie
meistens oder doch großenteils wohlbeleibt gewesen. Es war also meine
Bestimmung, dick zu sein. Was wußten die Aerzte von meiner Bestimmung!
Gewiß war es vernünftig und geraten, einem Uebermaß vorzubeugen. Das
wollt' ich ja auch, tat ich ja auch! Aber wie weit man gehen darf, das
kann kein Automat und kein Arzt bestimmen; das muß man selbst fühlen.
Ein vernünftiger und leidlich gebildeter Mensch soll sein eigener Arzt
sein.

Danach beschloß ich nun zu handeln, und da gerade mein Geburtstag war,
aß ich ein Gericht Knödel, wie ich sie so sehr liebe. Ich wußte wohl,
daß ich nach diesen Knödeln wieder Gewissensbisse fühlen würde; aber
Gewissensbisse machen mager, und so wurde die gewünschte Wirkung auf
einem Umwege doch erzielt.

Hartnäckig wie ich in der Verfolgung eines einmal gesteckten Zieles
bin, setzte ich bis zum Ende meines Aufenthalts meine Kur ohne
Unterbrechung fort. Daß ich mich für das Diner meines Freundes
revanchierte, ist selbstverständlich. Ich konnte mich unmöglich
einladen lassen, ohne wieder einzuladen. Um Exzessen vorzubeugen, gab
ich indessen kein Diner, sondern nur ein Frühstück; daß meine Gäste
erst nach Mitternacht aufbrachen, ist nicht meine Schuld; ich konnte
sie doch nicht fortschicken.

So hatte sich denn unter den Mitgliedern dieses Kreises ein höchst
erfreuliches Verhältnis herausgebildet, und dieses harmonische
Einvernehmen fand in einem Abschiedsessen, das die Herren mir am Abend
vor meiner Abreise gaben, seinen natürlichen Ausdruck. Die Herren
überhäuften mich mit Aufmerksamkeiten jeglicher Art; sie hatten ein
Menü zusammengestellt, das ausschließlich aus meinen Lieblingsspeisen
bestand, und wollten es sich nicht nehmen lassen, mich von der
Festtafel direkt an den Zug zu begleiten. Ich nahm dies Anerbieten mit
Vergnügen an, ließ mich aber selbstverständlich durch allen Jubel und
Trubel in meinem Pflichtgefühl nicht beirren. Unter dem Vorwande, daß
ich mir noch Handschuhe kaufen müsse, trat ich auf dem Wege zum Bahnhof
in ein Handschuhgeschäft mit allein richtiger Personenwage. Ich legte
alles ab: Hut, Mantel, Taschenmesser usw., nur nicht das Portemonnaie
-- es war von keinem Belang mehr -- setzte mich in den Stuhl und
machte mich so leicht wie möglich.

»95,3 Kilo!«

Das »weitbeschreyte« altberühmte Marienbad hatte mir also nicht
nur nichts geholfen; es hatte mir zu meiner Fülle noch 200--300
Gramm hinzugebürdet. Und auf diesen Schwindel war selbst ein Goethe
hineingefallen!

Daheim schilderte ich meinen Freunden bis ins Einzelne hinein die
Marienbader Kur und ihre Vorschriften.

»Und das hast du vier Wochen lang befolgt?« riefen sie wie aus einem
Munde.

»Im großen und ganzen -- und im wesentlichen ja!« versetzte ich mit
einer großen und runden Armbewegung.

Warum die Kerle sich in die Rippen stießen und mein bester, treuester
Freund sogar laut herausprustete, ist mir noch heute ein Rätsel.



Die Ziege


Die Sache begann sehr harmlos. Als ich vor Jahren einmal mit Roswithen
spazieren ging, fragte sie mich: »Vater, magst du gern Ziegen leiden?«

Ich kann eigentlich nicht behaupten, daß ich die Reize der Ziegen
überwältigend finde; es sind ja auch nicht gerade die schönsten und
liebenswürdigsten Damen, die man als Ziegen bezeichnet. Ich antwortete
also langsam, gedehnt und ohne jeden Schwung:

»Nun jaaa -- hm, -- wie man's nimmt -- warum nicht?«

»Ich schrecklich gern!« seufzte Roswitha. »So kleine junge Ziegen find'
ich reizend!«

Ja, wenn sie noch klein sind, sind sogar die Menschen reizend. Dachte
ich, sagte ich natürlich nicht.

Damit schien dieses Thema erschöpft.

Wir hatten damals nur einen recht kleinen Garten, in dem freilich ein
paar alte mächtige Bäume standen, eben deshalb aber Gras und Kräuter
nur kümmerlich gediehen.

Nach Monaten spazierten wir durch einen wunderschönen, riesengroßen
Park, einen Park, dessen sich der reichste König nicht zu schämen
brauchte, einen Park wie ein kleines Fürstentum, mit Hügeln und Tälern,
Teichen und Tempeln, Rosenlauben und Wiesen.

»Vater,« fragte Roswitha, »wenn der Mann, dem dieser Park zugehört, dir
ihn abverkaufen wollte -- kauftest du ihn denn?«

»Nein,« versetzte ich mit großer Klarheit. Ich wußte wohl, warum.

»Aber wenn er ihn dir schenken wollte -- nähmst du ihn denn?«

»Ja,« versetzte ich mit erhöhter Klarheit. Falsche Scham schien mir
hier nicht am Platze.

»Ich auch!« rief Roswitha triumphierend. »Und weißt, was ich denn täte?«

»Hm?«

»Denn kaufte ich mir 'ne süße kleine Ziege, und die ließ' ich auf der
Wiese grasen. Denn hat sie doch genug zu essen, nicht?«

»Ich denke doch.«

Wir wurden durch den Schrei eines radschlagenden Pfauen abgelenkt,
und ich machte keine Anstrengungen, das verlassene Thema wieder
aufzunehmen. Und Roswitha schien zu fühlen: Für heute ist es genug. Man
soll nichts forcieren.

Die Lektüre seiner Kinder kann man nicht sorgfältig genug überwachen.
Ich hatt' es daran fehlen lassen: Roswitha erwischte eine Geschichte
mit einer Ziege darin. Es war »Heidi« von Johanna Spyri, gewiß eine
nette Geschichte, wenn keine Ziege darin wäre, und wenn die nicht noch
obendrein »Schneehöppli« hieße. Durch Namen fixieren wir die Begriffe,
nageln wir sie in unserm Gedächtnis fest. Nun hatte Roswithens
Sehnsucht einen Namen: »Schneehöppli«; nun saß die Sehnsucht fest.

»Wenn ich verheiratet bin, dann kann ich doch tun, was ich will, nicht?«

Sie nahm mein Schweigen für Bejahung.

»-- und wenn ich denn Ludwig heirate, denn kauf' ich mir 'ne Ziege,
und die soll »Schneehöppli« heißen. Wenn ich Fritz heirate, der will
drei Kinder haben; aber wenn ich Ludwig heirate, der will keine Kinder
haben, denn schaff' ich uns 'ne Ziege an.«

Von Zeit zu Zeit rückte der Termin des Ziegenkaufes ein tüchtiges
Stückchen vor. »Wenn ich groß bin, denn kauf' ich mir --« und so
weiter. --

»Wenn ich nicht mehr zur Schule gehe und 'n ganzen Tag frei habe, denn
kauf' ich mir --« und so weiter.

Roswithens ältere Schwester Herta verdiente seit einiger Zeit Geld.
Das kam so. Meine Frau und ich sind übereinstimmend der Meinung, daß
selbst eine sauber gespielte Sonate von Beethoven und die Fähigkeit,
»~Comment vous portez-vous~« und »~I am very glad to see you~« und
solche gebildeten Dinge zu sagen, für den Lebenskampf eines Weibes
nicht ganz ausreichen. Unsere Töchter lernen deshalb einen richtigen
Beruf, und Herta interessierte sich lebhaft für den Haushalt. Sie
trat bei ihrer Mutter in die Lehre und mußte von der Pike auf dienen,
wenn man das Gerät, mit dem der Fußboden gescheuert wird, eine Pike
nennen kann. Sie bekam den Namen »Minna«, wurde mit »Sie« angeredet und
erhielt fünfzig Taler Lohn ~pro anno~, und abgesehen davon, daß sie
öfters der Herrschaft gegenüber einen etwas vertraulichen Ton anschlug
und gelegentlich den Hausherrn küßte, füllte sie ihre Stelle redlich
aus.

»Wenn ich so groß bin wie Herta,« sagte Roswitha, »denn dien' ich auch
bei euch, und denn verdien' ich auch Geld, und denn kauf' ich mir 'ne
Ziege.« Sie mochte sich vorstellen, daß eine Ziege so einige tausend
Mark koste, und wir hüteten uns schwer, dieses wohltätige Dunkel
aufzuhellen.

Gelegentlich vertauschte Roswitha die direkte Methode mit der
indirekten. Sie redete dann nicht zu den Eltern, sondern zu den
Geschwistern von Ziegen, natürlich nur, solange mindestens eines der
Eltern in Hörweite war. Sie schilderte in lebendigen Farben das Werden
und Wachsen, das Leben und Treiben, das Springen und Meckern -- kurz:
der Ziegen über alles bezaubernde Schönheit und Anmut. Gelegentlich
streifte mich von unten herauf ein forschender Blick, den ich auch dann
sah, wenn ich sie nicht anblickte, den ich mit jenen Augen wahrnahm,
die man im Rücken und an beiden Seiten hat.

Als einmal wieder die Weihnacht nahe war, kam es zu einem kleinen
Vorpostengefecht. Roswitha wurde nach ihren Wünschen gefragt.

»Mein höchster Wunsch ist ja natürlich 'ne Ziege; aber --«

»Aber, Liebling,« rief meine Frau, »wie sollen wir denn hier in der
Stadt eine Ziege halten! Wenn wir so ein Tierchen anschaffen, muß es
doch auch sein Recht haben! Wo sollen wir's denn unterbringen!«

»Hm,« machte Roswitha mit nachdenklichem Gesicht, »in der Küche kann
sie ja nicht sein.«

»Nein,« erklärte meine Frau entschieden, »in der Küche kann sie nicht
sein!« Dieser Versuchsballon war geplatzt.

»Das arme Tierchen würde sich gar nicht wohl fühlen bei uns,«
versicherte meine Frau.

Damit hatte sie die richtige Stelle in Roswithens Herzen getroffen.
Nein, wenn es sich nicht wohl fühlte, dann ging's nicht, das sah
sie ein, sah sie wenigstens für einige Monate ein. Länger dauern
menschliche Einsichten ja selten, weil inzwischen das Zuckerrohr der
Wünsche wieder mächtig herangewachsen ist.

Unglücklicherweise mußte sie über den Robinson geraten. Hatte Heidi
eine Ziege gehabt, so hatte Robinson eine ganze Insel voll wilder
Ziegen, aus denen er sich nur aussuchen konnte. Ich bin überzeugt, der
arme Verschlagene erschien ihr als der beneidenswerteste der Menschen,
weil er in Ziegen förmlich schlampampen konnte.

Und dann kaufte ich ein Haus auf dem Lande, und noch eh' wir's beziehen
konnten, fuhren wir täglich hinaus und erquickten uns an der frischen,
unverbildeten Natur, an den duftenden Hainen und Hecken, an den
saftiggrünen Wiesen, auf denen man endlich einmal wieder unbekleidetes
Rindvieh sah. Und endlich nahmen wir Besitz von dem Hause und dem
stattlichen Garten, der vier mehr oder minder ansehnliche Rasenplätze
aufwies. Wenn Roswitha jetzt mit ihren Geschwistern von Heidi,
Robinson, Polyphem und ähnlichen Glückspilzen sprach, dann hatten ihre
Blicke etwas Bohrendes, Sengendes; sie gingen durch Rock und Hemd bis
auf die Haut, wie die Sonnenstrahlen aus einem Brennglas.

Um ein Ende zu machen, schenkten wir ihr einen Dackel namens Männe.
Einen Hund zu beherbergen, zu pflegen und zu zügeln, dazu reichten
unsere Erfahrungen und tierpädagogischen Talente allenfalls aus. Dieser
Dackel verschaffte uns endlich Ruhe. Das klingt zwar widerspruchsvoll,
ist aber doch richtig; die Seele hatte Ruhe.

Ruhe für ein Jahr und fünf Monate. Dann wurde uns klar und klarer,
daß Hunde nur als eine Abschlagszahlung auf Ziegen anzusehen
sind. Vielmehr: Roswitha betrachtete Männe nur als die Summe der
aufgelaufenen Zinsen; der Wechsel war so unbezahlt wie je.

Ein Unglücksbengel aus dem Dorfe mußte ihr eines Tages erzählen, er
könne ihr eine kleine Ziege für eine Mark fünfzig verkaufen.

Aufgelöst kam Roswitha nach Hause.

»Vater! Mutter! 'ne Ziege kostet bloß eine Mark fünfzig! Ich hab' ja
fünf Mark in mei'm Spartopf; darf ich mir eine holen?«

»Liebe Roswitha, es ist nicht wegen der Mark fünfzig; eine Ziege
braucht doch auch einen ordentlichen Stall, und den haben wir nicht,
können wir in unserm Garten auch gar nicht anbringen.«

Damit war auch dieser Angriff abgeschlagen.

Eine Woche später, auf einem Spaziergange, zwang sie mich plötzlich,
meinen Schritt anzuhalten.

»Vater, möchtest du dies Haus haben?«

»Nicht geschenkt!« versetzte ich mit Nachdruck. Es war eine sogenannte
»Villa« im denkbar schauerlichsten Maurermeisterstil.

»Ich möcht' es haben!« hauchte sie sehnsuchtsvoll.

»Nanu?« rief ich. Ich sah mir unwillkürlich den Zementphantasieschrank
noch einmal an. »Warum denn?«

»Dahinter ist 'n Stall,« sprach sie andachtsvoll.

Das Verhängnis ging seinen Gang wie in einem Schicksalsdrama.
Nachbarkinder, mit denen Roswitha gelegentlich spielte, bekamen eine
Ziege zum Geschenk.

Das hatte ein Gutes: wenn Roswitha weder im Hause noch im Garten zu
finden war, wir brauchten uns nicht zu ängstigen, wir brauchten nur zu
der nachbarlichen Ziege zu gehen, da war sie. Sie mußte von der Ziege
weg zum Essen, sie mußte von der Ziege weg ins Bett geschleift werden.

Und eines Morgens beim Frühstück begann sie:

»Vater, ich weiß was. Unten im Keller haben wir doch so 'ne große
Bücherkiste, nicht?«

»Ja!«

»Da machen wir einfach 'ne Tür hinein, und denn ist das 'n Ziegenstall.«

Da riß mir die Geduld.

»Roswitha,« sagte ich ernst, »nun hörst du endlich auf mit deiner
Ziege, nun hab' ich's satt. Du bekommst keine Ziege, und damit basta.
Schrumm!«

»Schrumm« hätte ich vielleicht nicht sagen sollen; es paßt nicht in den
Ernst eines Ultimatums.

Aber die Absage wirkte. Roswitha sprach weder von Stall noch Ziege
mehr, nicht einmal andeutungsweise, nicht einmal zu den Geschwistern.
Sie ging fortan still einher, aber nicht etwa traurig, nicht etwa
gedrückt, nein, nur mit der stolz zusammengerafften Kraft eines
Entsagenden, der das Unvermeidliche trägt, weil es getragen werden
muß, und sich für die verlorenen Freuden der Welt durch gesteigertes
Innenleben entschädigt.

Es war ja vielleicht etwas hart von mir, ihr die Erfüllung ihres
sehnlichsten Wunsches zu versagen. Aber meine Frau sowohl wie ich
haben nach Begabung und Lebensgang so entsetzlich wenig mit Viehzucht
gemein, daß wir uns geradezu davor fürchteten, uns so ein Geschöpf
auf den Hals zu laden. Und schließlich soll man seinen Kindern doch
auch nicht jeden Wunsch erfüllen. Sie werden ja schon ohnedies viel zu
sehr verwöhnt. Es kann ihnen gar nichts schaden, wenn sie einmal mit
ungestümer Nase gegen eine verschlossene Tür rennen. Das Leben wird
ihnen mehr solcher Türen zeigen. Roswitha schien durch ihren Verzicht
gesetzter, ihre Augen, ihr ganzes Gesicht schien seelenvoller geworden
zu sein.

Meine Frau und ich kamen spät in der Nacht aus fröhlicher Gesellschaft
heim und wollten uns eben zur Ruhe begeben, da sahen wir auf dem
Nachttischchen einen Brief liegen. Auf dem Umschlag stand: »An Mammi
und Pappi« von Roswithens Hand. Wir öffneten und lasen gemeinsam:

    »Meine süßen geliebten Wonne-Eltern bitte bitte schenkt mir
    doch eine ganz kleine Ziege, ich will auch gar nichts zu meinem
    Geburztag und zu Weinachten haben und ich will mir auch schrecklich
    Mühe in der Ortografi geben, Du sollst sehen, Mammi, wenn ich groß
    bin, schreib' ich gans richtich, und ich will auch ein guter
    Mensch werden und garnicht mehr heftig und jezornig sein. Ich
    bitte euch so schrecklich, schenkt mir 'ne Ziege, wenn Mutti mich
    unterrichtet denk ich immer blos an die Ziege. Tausend Billionen
    Küsse von eurer

            Roswitha.«

Was soll ich weiter sagen -- am nächsten Morgen bewilligten wir die
Ziege. Die Wirkung war von ungeahnter Art. Roswitha wollte auf uns
zueilen; aber plötzlich warf sie sich auf einen Stuhl und brach in ein
herzbrechendes Schluchzen und Wimmern aus.

Entsetzt liefen wir hinzu: »Was ist denn? Was fehlt dir, Kind?«

»Uuhuhuhuu, ich freu' mich so -- ich freu' mich so, uuhuhuhuuu!«

Solange sie um ihre Ziege gerungen hatte, hatte sie nie -- das mußte
man ihr lassen -- hatte sie nie versucht, durch Tränen auf meine
Stimmung zu drücken. Jetzt brach die aufgestaute Flut mit Allgewalt
hervor.

Sobald sie sich beruhigt hatte, machte sie sich auf den Weg, um den
Jungen mit der Fünfzehn-Groschen-Ziege zu suchen. Sie fand ihn auch,
und er verpflichtete sich hoch und heilig, am folgenden Tage die Ziege
zu liefern. Wenn die folgende Nacht ihr die Wiesen des Traumes zeigte,
so waren sie gewiß alle, alle voll Ziegen.

Der folgende Tag kam, aber mit ihm kein Junge und keine Ziege. Sie
harrte geduldig bis in den sinkenden Abend und sagte dann: »Na, er hat
wohl keine Zeit gehabt: er kommt morgen gewiß; er hat es mir ganz fest
versprochen.«

Allein der meineidige Bube kam auch am folgenden Tage nicht. Roswitha
suchte ihn durchs ganze Dorf, viele Stunden lang, aber vergebens; nach
seiner Wohnung hatte sie im Taumel der Freude nicht gefragt. Sie ging
schweigend zu Bett; aber als meine Frau sie in der Frühe weckte, war
ihr Kopfkissen naß von Tränen.

»Hast du heute nacht geweint, Kind?« fragte die Mutter.

»Ich weiß nicht,« antwortete Roswitha. Sie wußte es wirklich nicht.

Inzwischen war ein provisorischer Stall gezimmert worden, und es
war die Nachricht eingetroffen, ein Bauer im Dorfe habe Ziegen zu
verkaufen. Da zogen Herta, Roswitha und Männe mit einem Blockwagen aus,
um eine Ziege zu suchen, und fanden ein Königreich. Eine gute halbe
Stunde später -- Männe als Läufer mit fliegender Zunge vorauf -- hielt
Höppli (so wurde er der Kürze wegen genannt), von den beiden Mädeln
gezogen, im Triumphblockwagen seinen Einzug. +Seinen+ Einzug; Höppli
war nämlich ein kleiner Bock.

Ich muß gestehen, daß mich bald ein Reuegefühl über meine lange,
hartnäckige Weigerung ergriff. Es war ein schneeweißes und wirklich
allerliebstes Tierchen; Roswitha hängte ihm ein seit Jahren bereit
gehaltenes, gesticktes Halsband mit einem Glöckchen um, und in seinen
Sprüngen war der ganze, entzückend ahnungslose Humor eines jungen
Mannes. Und wenn Roswitha das Tierlein auf den Schoß nahm und ihm die
Saugflasche gab, und Männe die vorbeifließenden Tropfen leckte, dann
versammelte sich nicht nur die ganze Familie zu dieser feierlichen
Handlung, nein, die Leute auf der Straße blieben staunend stehen und
riefen: »Nein, wie ist das reizend!« Dann sprang Roswithas Herz genau
wie das Böcklein.

Wenn aber Höppli durch die Straßen spazieren sprang, dann folgte ihm
ein Ehrengeleite von 23 Nachbarskindern, ganz wie bei einem Kaiser
oder König, und besonders dekorativ wirkte Peter Petersen in Helm
und Panzer der Gardekürassiere und mit dem Daumen im Munde. Höppli
war die Sensation der Straße, war der Clou der Saison, und als das
23er-Kollegium erklärte, Höppli sei noch viel schöner als jene
Nachbarsziege, die inzwischen eine alte Ziege geworden war, da stand
Roswitha auf dem Gipfel ihres Glückes.

Indessen: Roswitha hatte täglich drei oder vier Stunden Unterricht bei
der Mutter, mußte außerdem Klavier spielen, gelegentlich zum Turnen
oder Zeichnen gehen und auch sonst allerlei außer dem Hause besorgen.
Es fiel Höppli nicht im Traume ein, sich das stillschweigend gefallen
zu lassen; er verlangte Gesellschaft. Zwar widmete Männe sich ihm mit
der weisen Nachsicht und Güte eines gereiften Pädagogen; aber Höppli
verlangte Damengesellschaft. Und wenn die nicht da war, so begann er
augenblicklich in Zwischenräumen von vier Sekunden zu meckern. Das
fanden wir während der ersten zehn Minuten furchtbar komisch, während
der zweiten langweilig, während der dritten lästig und während der
vierten zum Rasendwerden. Und Höppli wuchs, und mit ihm wuchs seine
Stimme. An der Hand meines Chronometers stellte ich fest, daß er 15
mal in einer Minute meckerte, das macht in der Stunde 900; wenn man
täglich nur sechs Stunden des Alleinseins rechnete, für den Tag 5400,
für die Woche 37800 mal.

Die Klavierstunden mußten abgebrochen werden; ein Musizieren war
natürlich nicht möglich. Meine Frau mußte mit ihrer Schülerin in den
bombenfesten Vorratskeller flüchten. Ich zog mich, um arbeiten zu
können, ins hintere Turmzimmer zurück, allein vergeblich; wenn ich
auch physisch kein Meckern vernahm, mein inneres Ohr hörte pünktlich
jede vierte Sekunde ein deutlich vernehmbares »Mäh!« Drei lyrische
Produkte dieser Zeit kamen tot zur Welt; ein Roman starb als Embryo,
ein Trauerspiel bereits im Keime. Nicht jeder Bocksgesang wird zur
Tragödie: das hatte ich schon vorher an der erotischen Dramatik unserer
Tage wahrgenommen.

Aber das alles war noch Kinderspiel. Hübsch wurde es erst, als die
Nachbarschaft -- und mit Recht -- sich empörte. Der Nachbar zu unserer
Linken holte sein Grammophon, das er mir zu Gefallen eingewickelt
hatte, wieder hervor, stellte es ans offene Fenster und ließ es
zehnmal stündlich »Das Herz am Rhein« singen. Ein anderer brannte
allabendlich Kanonenschläge ab, die sehr gut gearbeitet sein mußten.
Ein dritter, der ein fabelhaft stimmbegabtes Baby hatte, stellte es
in seinem Kinderwagen hart an den Zaun meines Gartens. Es schrie
etwas abwechslungsvoller als der Ziegenbock, und das erfrischte
vorübergehend; aber auf die Dauer wurde es doch eintönig und so lästig,
daß ich verzweiflungsvoll zu meiner Frau sagte:

»Jetzt haben wir uns gefreut, daß wir kein Babygeschrei mehr um die
Ohren haben; aber wenn's doch den ganzen Tag brüllt, dafür können wir
selbst eins haben!«

»Ja,« sagte meine Frau.

Ich hätte ja das Tier während der Nacht heimlich wegbringen und am
Morgen sagen können, es sei entlaufen; aber vor den Augen eines Kindes
Komödie spielen -- das ist schwer und schlimm. Es war auch nicht nötig:
Roswitha hatte bereits eingesehen, daß Höppli sich durch sein Benehmen
unmöglich mache. Eine ihrer Freundinnen erklärte sich mit Freuden
bereit, das Böcklein zum Geschenk zu nehmen -- kein Augenblick meines
Lebens hat mich freigebiger gefunden. Unverzüglich wurde Höppli zur
Bahn befördert; wer schnell gibt, gibt doppelt.

Als aber durch den Novembernebel von weitem das Weihnachtsfest
herandämmerte, da schrieb Roswitha auf ihren Weihnachtswunschzettel:

           Ein Kaleidoßkob.
           Ein Indianer-Anzug.
    ×××××××Das Versprechen, das ich im Sommer
           wieder auf 14 Tage eine Ziege
           haben darf.

(Die sieben Kreuze sollten diesen Wunsch entsprechend hervorheben.)

Ueber eines bin ich vollkommen beruhigt: Dieses Kind wird in seinem
Leben etwas erreichen, wenn auch vielleicht keine vollkommen tadellose
Orthographie.

Und über noch eines bin ich mir vollkommen klar: Sie ist ein Weib.
Wenn es nicht ohnedies feststünde -- ihr Kampf um die Ziege macht ihre
Weiblichkeit evident. Ich habe erwogen, ob ich diese kleine Geschichte
nicht überschreiben solle:

        »+Die Ziege+« oder »+Das Weib+«.

In Roswithen ist jenes Weibliche der Lady Macbeth, das einen rauhen
Kriegsmann herumkriegt, jenes Weibliche der Gräfin Terzky, das ein Loch
in einen Wallenstein bohrt, jenes Weibliche der Kriemhild, das einen
Attila bezwingt. Gewiß: Roswithens gutes, weiches Herz wird niemals zum
Hochverrat, wird niemals zum Königs- und Burgundenmord aufstacheln;
aber »formal« ist sie eine Lady Macbeth. Natürlich ist ihre Weibnatur
noch unentwickelt. Sie würde noch unumwunden zugeben, daß sie sich
sehnlichst eine Ziege gewünscht habe. Ein vollkommenes Weib wird
sie erst dann sein, wenn sie auf die entsprechende Vorhaltung weit
aufgerissenen, starr blickenden Auges und nach zehn Sekunden staunenden
Verstummens ausrufen wird:

»+Ich+ mir eine Ziege gewünscht? +Ich+? Aber keine Idee, Liebling! Wie
kommst du nur darauf?!«



Die späte Hochzeitsreise


Als sie sieben Jahre verheiratet waren, machten sie ihre
Hochzeitsreise. Es ging nicht eher. Sie hatten nämlich geheiratet,
als er ein Einkommen von fünfzehnhundert Mark jährlich hatte. Das
kann man Frechheit nennen; man kann es aber auch Liebe nennen. Zwar
erhielt er nach etwa einem Jahr ein Schriftstellerhonorar, für das sie
hätten reisen können, wenn nicht ein Kind gekommen wäre und sofort die
Hand auf dieses Geld gelegt hätte. Im nächsten Jahre aber gelang es
ihm, als Vorleser bei einem alten Herrn einen hübschen Nebenverdienst
zu erwerben, der gerade für das zweite Kind reichte. Da fiel ihm im
dritten Jahre ein Preis für eine wissenschaftliche Arbeit zu, für den
sie sicher eine Reise gemacht hätten, wenn das diesjährige Kind das
Geisteskind nicht aufgewogen hätte. Die nächsten zwei Jahre brachten
keinen Nebenverdienst und nur ein Kind.

Als er dann aber zum zweiten Male einen Preis errang und als sein
Gehalt um zweihundert Mark erhöht wurde, und als ihre Ehe schon zwei
Jahre lang unfruchtbar gewesen war, da beschlossen sie, für dreihundert
Mark eine Reise nach Thüringen zu machen.

»Deutschland ist das Herz Europas«, das hatte er als kleiner Junge in
der Schule gehört. Es klang etwas anmaßend; aber ein Deutscher mocht'
es immerhin glauben. Thüringen mußte nach allem, was er davon gehört
und in Bildern gesehen hatte, das deutscheste Land der Deutschen, mußte
das Herz des Herzens sein. Und dort zog es die beiden hin.

Siebenundfünfzig Abende hindurch arbeitete er an den Plänen, und bei
allem mußte er denken: Was wird sie für Augen machen, wenn sie das
sieht! Hätte er alle Genüsse dieser Gedankenreise bezahlen müssen --
ein langes Leben voll Arbeit hätte nicht gereicht, die Zinsen dieser
Schuld zu erzwingen. In den letzten Tagen ging er wirklich daran, die
Kosten zu berechnen. Da fand sich, daß, wenn er sehr sparsam zu Werke
gehe, etwa ein Zehntel seiner Pläne verwirklicht werden könne.

Und in den letzten Tagen wurde sein tapferes Weibchen feige. Der Junge
hatte so heiße Wangen, und das Jüngste habe in der letzten Nacht
einmal gehustet. Ihr Herz konnte sich nicht von den Kindern lösen. Er
stellte ihr vor, wie sehr sie einer Erholung bedürfe -- das verschlug
gar nichts. Da spielte er mit roten Backen und glänzenden Augen den
vollständig Abgespannten, Uebermüdeten, Niedergebrochenen. »Es gibt
für eine Familie keine bessere Kapitalsanlage als die sorgfältigste
Pflege des Ernährers,« machte er ihr klar. Das sah sie ein. Der
Abschied von den Kindern, die unter der Obhut ihrer Schwester blieben,
war nichtsdestoweniger noch eine Katastrophe und erschien ihr wie
bethlehemitischer Kindermord.

Aber in der Eisenbahn wurde sie völlig anderen Sinnes. Es ist etwas
Eigenes um die Eisenbahn. Sie hat etwas Fortreißendes, Unerbittliches,
Unwiderrufliches. Aussteigen während der Fahrt ist bei Schnellzügen
nicht anzuraten, und so findet man sich schnell in das Unabänderliche.
Auch sie erfaßte nun der ganze, springende Jubel des Losgebundenseins,
der den Reisebeginn zu einer so unvergleichlichen Freude macht, und die
beiden benahmen sich wie ausgerissene Schulkinder. Zwei Minuten lang
saßen sie rechts, drei Minuten lang links; fünf Minuten lang fuhren
sie vorwärts, vier Minuten lang rückwärts; bald saß sie auf seinem
Schoß, bald er auf ihrem, bis sie ihn aufstöhnend fortstieß: »Uff, geh'
weg, du dicker Mensch!« -- Dann lachten sie, dann küßten sie sich,
dann tanzten sie, dann küßten sie sich wieder, kurz: es war ein großes
Glück, daß sie das Abteil ganz für sich allein hatten.

Als der Zug zum ersten Male hielt, öffnete ein Mann die Tür und
machte Miene einzusteigen. Das Gesicht der jungen Frau zeigte
grenzenlose Ueberraschung, wie wenn jemand ungerufen bei einer Königin
eingetreten wäre; seine Augen aber schleuderten Blicke, die auch der
eingefleischteste Optimist nicht als Einladung auffassen konnte. Ueber
das Gesicht des Fremden huschte ein lächelndes Verstehen: Aha --
Hochzeitsreisende! Er schloß die Tür und suchte sich einen andern Platz.

»Das ist ein guter Mensch!« sprach sie mit frommer Rührung.

»Ein vornehmer Charakter,« bestätigte er.

Aber als sie weiterfuhren, kamen sie in eine Gegend mit gemeinen
Charakteren, die einstiegen und lange sitzen blieben. Wann werden wir
endlich Kupees für Hochzeitsreisende haben!

Auf dem Bahnhof einer großen Station nahmen sie das Mittagsmahl ein.
Suppe, Fisch, Braten und Pudding für eine Mark fünfundsiebzig. Er
betastete das dicke Portemonnaie in seiner Tasche und bestellte eine
halbe Flasche Mosel.

»Hast +du+ dir das jemals träumen lassen, daß wir noch einmal wie die
Fürsten dinieren würden?« flüsterte er ihr ins Ohr.

»Nein!« sagte sie mit langsamem Kopfschütteln und blickte träumend über
ihr Glas hinweg ins Weite.

Er kam sich vor wie ein Parvenu und gelobte sich, seinen Wohlstand mit
Geschmack zu tragen.

Die Nichtswürdigkeit der Bevölkerung schien mit dem Quadrat der
Entfernung zu wachsen; bald saß das ganze Kupee voll, und draußen
im Schatten waren es dreißig Grad. Zwei dicke Bauernweiber saßen da
in dicken Wollkleidern und die Köpfe in dicke Wolltücher gewickelt;
sie wollten nicht dulden, daß ein Fenster geöffnet werde. Darüber
geriet ein cholerischer Herr in die größte Aufregung; aber unser Paar
vermochte kein Mitgefühl für ihn aufzubringen; denn erstens: warum
war er eingestiegen? und zweitens: wie kann man sich ärgern, wenn man
durch lauter Sonne fährt, wenn man sozusagen geradeswegs in die Sonne
hineinfährt?

So kamen sie nach Eisenach, und bevor sie ein Hotel suchten, suchten
sie mit ihren Blicken die Wartburg. Da ragte sie aus Waldwipfeln empor
ins Abendlicht. Welcher Deutsche sucht nicht schon in Kindertagen mit
den Augen der Seele die Wartburg? Von weitem hörten sie die Stimme
Walthers von der Vogelweide und Wolframs von Eschenbach, sahen sie
das stille Gemach des Bibelübersetzers und sahen sie die flammenden
Feuer der Burschenschaft wie brausenden Aufschwung junger Herzen in
altgewordener, bittertrauriger Zeit.

Und tief enttäuscht waren sie, als sie am folgenden Tage mit vielen
andern durch die Räume der Burg geführt wurden und der »Führer« in
schauderhaftem Deutsch allerlei ungewaschenes, unnützes Zeug schwatzte.
Warum gab man den Besuchern nicht einen Zettel mit dem Nötigsten in
die Hand? Wenn man ihnen schon ein Notwendiges zum Schauen nicht
gewähren kann: Einsamkeit, warum gewährt man ihnen nicht wenigstens
das Notwendigste: Schweigen? Wer spricht denn laut, wenn Wolfram singt
und Dr. Martinus sinnt? Und wenn zwei Liebende das Geschenk solcher
Stunden mit einem einzigen, einem verdoppelten Herzen empfangen, und
wenn eines von ihnen, in der Furcht, es möchte dennoch dem andern ein
Hauch des Glückes entgehen, den Mund auftun muß, wird er nicht flüstern
vor der Gegenwart des Vergangenen? Wie wenig, deutsches Volk, kennst du
deine Schätze, wenn du sie nicht besser zu zeigen verstehst!

So waren sie nicht in der Wartburg, als sie drinnen waren; erst als sie
wieder bergab stiegen und zwischen grünem Laub nach ihr zurückschauten,
da lag sie wieder vor ihnen im Morgenrot der Sage, da wagten sie wieder
einzutreten und ein Jahrtausend lang durch ihre Räume zu wandeln.

Und Gott sei Dank! Vor dem Denkmal Johann Sebastians störte niemand den
Zwiegesang ihrer Herzen, mischte sich niemand ein, als sie entrückten
Ohres singen hörten: »Kommet, ihr Töchter, helft mir klagen« und »Wir
setzen uns mit Tränen nieder«.

Auf dem Markte kauften sie Kirschen, und am Abend saßen sie am offenen
Fenster ihres Hotelzimmers, sahen den Mond aus dem Hörselberge
hervorsteigen und schoben die besten Kirschen, die sie fanden, einander
in den Mund. Oder sie faßte den Stiel einer Kirsche mit den Zähnen, und
er pflückte mit dem Munde die Frucht von ihren Lippen.

»Sind wir nicht viel zu verliebt für so alte Eheleute?« fragte sie
furchtsam.

»Wenn du noch einmal so etwas sagst, benehme ich mich gesetzt,« drohte
er.

»Hast du mich noch so lieb wie vor sieben Jahren?« fragte sie, die
Hände auf seine Schultern legend.

»Siebenmal so toll,« sagte er. »Und so wird es weiter wachsen mit den
Jahren.«

»Allmächtiger!« rief sie erschrocken. Aber dann schmiegte sie sich in
seinen Arm und fragte: »Glaubst du, daß schon jemals ein Paar eine so
schöne Hochzeitsreise gemacht hat?«

»Nie!« versetzte er mit vollkommener Bestimmtheit. Und er mußte wieder
sinnend in die Vergangenheit blicken, die im Mondlicht auf den Bergen
lag. Er machte eine Hochzeitsreise! Mit voller Börse! An der Seite
eines solchen Weibes sah er Thüringen, die Wartburg, sollte er Weimar
sehen, Weimar! Und jetzt, in diesem reizenden Hotelzimmer, saß er mit
ihr allein am Fenster! Bei solchem Mondschein! Und aß die schönsten
Kirschen! Du lieber Gott, wie viele Menschen gab's denn, denen +das+
zuteil wurde!

»Und es ward aus Abend und Morgen ein Tag«; wer immer im Rausch ist,
der bedarf kaum des Schlafes; sie nippten vom Schlaf wie Vögel aus dem
Bach: ein Tröpfchen und husch -- davon! Es war nicht ein Rausch wie
vom Wein, nein: viel leichter und darum viel seliger, ein Luftrausch,
ein Lichtrausch, ein Lebensrausch. Sie entschlummerten spät unter
halbgeträumten Worten, und ihr frühes Erwachen war nur ein anderer
Traum.

Freilich, im Lichtrausch kann man sich übernehmen, wenn es sich um
physisches Licht handelt: das sollten sie erfahren. Sie hatten sich
beim Frühstück verspätet -- es plauschte sich so unendlich gut mit ihr
beim Morgenimbiß -- und machten sich erst um neun auf den Weg. Alles,
wessen sie auf ihrer kurzen Reise bedurften, führten sie mit sich;
eine strotzende Reisetasche hatte er sich umgehängt; ein Köfferchen
trugen sie bald gemeinsam, bald trug er's allein. Sie hätten es wohl
mit der Post vorausschicken können; aber man mußte sparsam sein. Es war
eine seiner Schwächen, daß er sich ein Talent zum Sparen einbildete.
So schritten sie schlank ein munteres Tal hinauf, ein Tal voll
blinkender Wasser unter hängendem Gezweig, voll moosiger Felsen und
blitzender Schwalben, ein Tal voll Sonntag. Die Burschen standen im
Sonntagsputz vor den Türen zusammen und schmauchten mit feiertäglicher
Umständlichkeit; die Mädchen schafften noch an Herd und Brunnen, im
Gang und im Blick schon den kommenden Tanz. Was Wunder, daß unser Paar
alsbald zu singen begann. Und was anders konnten sie singen als:

    »Ich hört' ein Bächlein rauschen
    Wohl aus dem Felsenquell,
    Hinab zum Tale rauschen
    So frisch und wunderhell«

und

    »Eine Mühle seh' ich blinken
    Aus den Erlen heraus,
    Durch Rauschen und Singen
    Bricht Rädergebraus«

und das seltsame Lied mit der wundersamen Stelle:

    »Und da sitz' ich in der großen Runde,
    In der stillen, kühlen Feierstunde,
    Und der Meister spricht zu allen:
    Euer Werk hat mir gefallen«

ein Lied, das aus der Werkstatt kommt und wie aus einer Kirche klingt
und uns mit unbegreiflichem Zauber offenbart, daß Arbeit Schönheit
und daß Ruhe nach der Arbeit ein frommer Gesang ist. Nie begreift,
wer es aus solchen Liedern nicht begreift, daß es ein eigenes Ding
ist um das deutsche Vaterland. Ja, sie waren altmodisch, diese beiden
Hochzeitsreisenden; sie sangen Franz Schubert und Wilhelm Müller, die
man in unseren Konzerten kaum noch hört, weil sie nicht neu genug sind.
Hier waren ihre Lieder jedenfalls neu; hier sprangen sie plätschernd
aus dem Stein hervor; hier wuchsen sie ihnen von jedem Zweig wie
Kirschen in den Mund; hier sang sie jeder Vogel, und jeder Fels hallte
sie wider. Da, vor dem Tor am Brunnen, stand der Lindenbaum, und da --
horch:

    »Von der Straße her das Posthorn klingt!
    Was hat es, daß es so hoch aufspringt,
    Mein Herz?«

Und als der siebenjährige Ehemann im Walde sang:

    »Durch den Hain, durch den Hain
    Schalle heut +ein+ Reim allein:
    Die geliebte Müllerin ist mein, ist mein!«

da klang es so merkwürdig, daß die zwanzig Schritt vor ihm herwandelnde
Geliebte stehen bleiben und sich nach ihm umschauen mußte, obwohl sie
nie in ihrem Leben Müllerin gewesen war. Er aber machte die zwanzig
Schritt in dreien, warf den Koffer ins Moos und gab ihr einen einzigen
Kuß, der aber unter Verliebten seine zwölfe wert war.

    »O Kuß in eines Walds geheimstem Grund!
    Fernoben über Wipfeln rauscht die Welt
    Und weiß es nicht, daß unten, Mund auf Mund,
    Zwei Welt- und Selbstvergessene versinken!
    Der Lippen Duft wie junges Tannengrün,
    Und tief im trunken-stillen Blick ein Licht,
    Das hoch herab von heiliger Wölbung fällt!
    O sternendunkler Abgrund, ende nicht
    Und laß uns ewig deine Dämm'rung trinken --«

Indessen: der Abgrund tat ihnen nicht den Gefallen; sie traten aus dem
Hain auf eine Chaussee. Chausseen können sehr schön sein, wenn sie
wollen; aber gewöhnlich wollen sie nicht. Es war Mittag geworden, und
bis zu dem Orte, wo sie die Eisenbahn erreichen wollten, waren es noch
zwei Stunden. Nach ungefährer Schätzung mußten es jetzt einige Grade
über dreißig im Schatten sein; aber das interessierte hier um deswillen
nicht, weil die Chaussee keinen Schatten hatte. Immerhin konnte man,
wenn man nicht kurzsichtig war, das Ende der Landstraße absehen, und
dann -- überhaupt: konnte man +sie+ mit Sonnenschein schrecken? »Sonne
ist gerade was Feines,« riefen sie und schritten mit höhnischem
Trotz in den Zügen fürbaß. Sie schätzten die in weißglitzerndem
Lichte vor ihnen liegende Straße auf eine gute Viertelstunde; aber
man unterschätzt diese Landstraßen. Nach einer guten halben Stunde
erreichten sie das Ende; aber dieses Ende war ein neuer Anfang.

    »So knüpfen ans fröhliche Ende
    Den fröhlichen Anfang wir an«

sang er, und sie schritten weiter. Vorsichtiger geworden, schätzten
sie das vor ihnen liegende Stück auf eine kleine halbe Stunde; aber
man unterschätzt diese Landstraßen. Nach dreiviertel Stunden kamen sie
endlich ans Ende; aber dieses Ende war ein neuer Anfang. Sie waren
offenbar auf einen weiten Umweg geraten; die Augen eines jungen Weibes
sind eben keine Landkarte. Sie schritten weiter; aber singen tat er
nicht mehr; das Klima war der Stimme nicht günstig. Immerhin war es ein
Trost, daß das Stück vor ihnen höchstens eine halbe Stunde sein konnte;
aber man unterschätzt diese Landstraßen. Selbstverständlich trug der
sparsame Mann schon seit langem das ganze Gepäck; aber das drückte
ihn nicht; ihn drückte das Gefühl: sie überanstrengt sich. Freilich
versicherte sie auf seine Fragen immer wieder lachenden Gesichts, sie
fühle sich vollkommen wohl und frisch; aber das beruhigte ihn nicht;
sie, die Wahrhaftigkeit selbst, konnte, wenn es ihm Beschwerden zu
verbergen galt, lügen wie ein Dichter, das wußte er. Nach dreiviertel
Stunden sahen sie Dächer. Ha, das Ziel! Als sie aber an das Dorf kamen,
da hieß es ganz anders. Sie erfuhren, daß sie bis zu ihrem Ziel »nur«
noch eine halbe Stunde zu gehen hätten. Er wollte sie überreden, in
diesem allerdings wenig versprechenden Dorfe zu rasten; aber sie sagte:
»Wenn ich jetzt sitze, steh' ich nicht wieder auf. Jetzt halten wir
schon aus bis ans Ende.« So war sie. Wenn sie die Ausdrucksweise der
Landbewohner besser gekannt hätten, hätten sie gewußt, daß diese immer
nur halb mit der Sprache herauskommen. Nach einer halben Stunde sahen
sie den ersehnten Ort aus der Ferne. Er vertrieb ihr und sich die Zeit
mit einem anmutigen Spiel. Bei jedem fünften Schritt nickte er mit dem
Kopfe, und dann fiel von seiner Stirn ein Schweißtropfen in den Sand.
Eins, zwei, drei, vier, fünf -- ein Tropfen; eins, zwei, drei, vier,
fünf -- ein Tropfen usw. Sie lachte, und so kamen sie endlich in den
erstrebten Ort, in das erhoffte Wirtshaus, in die ersehnte schattige
Stube und auf die in visionären Wüstenträumen erschaute Bank. So. Der
Rest war Schweigen. Hier wollten sie den Rest ihrer Tage verbringen.
Hier sollte man sie abholen, wenn man sie einmal begraben wollte.

Sie stützten den Kopf in beide Hände und starrten einander an wie
zwei, die sich schon irgendwo einmal gesehen haben müssen. Der Kellner
fragte, ob die Herrschaften etwas zu speisen beliebten.

»Trinken,« gurgelte er.

»Wasser,« sagte sie drei Minuten später.

»Mit Kognak!« fügte er nach zwei Minuten schnell hinzu.

Dann schob er ihr ein Stückchen von dem dreimal wöchentlich
erscheinenden Kreisblatt zu, das auf dem Tische lag und das heute, am
Sonntag, mit zwei Seiten Text und vier Seiten Anzeigen erschienen war.
Er las, daß der Bauer Henneberg ein Paar Ochsen billig verkaufen wolle.
Sie las, daß Dr. Miquel einen Urlaub angetreten habe. Dann las er, daß
Frau Hasenbek feine Herrenwäsche übernehme. Und dann las sie, daß der
Amtsgerichtssekretär Ranke in den Ruhestand getreten sei. Und dann las
er wieder, daß der Bauer Henneberg ein Paar Ochsen billig verkaufen
wolle; denn vordem hatte er es nicht ganz erfaßt. So saßen sie zwei
Stunden lang einander gegenüber. Dann dachten sie ans Essen und erhoben
sich, um sich von dem Staub der Wanderung zu befreien. Als sie zur Tür
schritten, machten sie in ihren Bewegungen jenen rührenden Eindruck,
den wir bei Betrachtung Philemons und seiner Baucis empfangen.

»An diesem Tage gingen sie nicht weiter.« Sie fuhren mit der Eisenbahn,
und als sie in ihr Zimmer geführt wurden, erlebten sie ein Wunder.
Unter ihrem Fenster, unter mächtigen Bäumen rauschte der Bach über ein
breites Wehr. Da standen sie nun und waren ganz befangen von solchem
Zauber. Der Niederdeutsche kennt kein rauschendes Wasser. Er hat
breite, stillfließende Wasser und brüllende, donnernde Meerflut; aber
er kennt nicht den ewigen Gesang rauschender Bäche, kennt nicht diese
unermüdlichen Märchenerzähler des Gebirges, die von den Höhen, aus den
Wäldern kommen mit immer neuer, nie gehörter Sage. Und so konnten sie
sich, so müde sie waren, nicht satt trinken an diesem Gesang, aus dem
sie immer und immer wieder deutliche Worte zu vernehmen glaubten,
und als sie sich schon zur Ruhe gelegt hatten und sie leise vor sich
hinsang:

    »Was sag' ich denn vom Rauschen?«

da fiel er sogleich ein:

    »Das mag kein Rauschen sein!
    Es singen wohl die Nixen
    Tief unten ihren Reih'n --«

und so verflocht sich ihnen der sanfte Zauber des Abends mit dem frohen
Wanderglück der Frühe, und es ward aus Abend und Morgen ein andrer Tag.

Auf der nächsten Station ihrer Reise stürzten sie nach dem Postamt. Es
waren Briefe da von Hause! Auch einer von ihrer Schwester! Sie riß das
Kuvert auf und las. Er stand ein wenig hinter ihr und sah, wie ihr eine
dicke Träne die Wange herunterlief.

»Ist was geschehen?« rief er.

»Nein, nein,« rief sie lächelnd.

Ach so! Die Schwester berichtete natürlich über die Kinder, und da
regten sich Sehnsucht, Heimweh und Gewissen im Herzen dieser neuen
Medea, dieser Doppel-Medea; denn sie hatte vier Kinder! Er sagte sich,
daß er als Reisemarschall diesem Rückfall durch besondere Munterkeit
und ein besonders hinreißendes Tagesprogramm begegnen müsse. Sie
reichte ihm den Brief; er war zur Bestätigung der Angaben der Tante von
sämtlichen Kindern »eigenhändig« unterzeichnet, auch vom zweijährigen.

»Fabelhaft begabtes Geschlecht!« rief er.

Aber die Kindesmörderin aus Vergnügungssucht reagierte nicht auf
seinen Scherz; sie wandte sich ab und befaßte sich eingehend mit ihrem
Schnupftuch. Und -- o weh! -- als sie wieder ins Freie traten, da
weinte auch der Himmel über seine Kinder! Und ganz im Verhältnis ihrer
Anzahl! Flucht ins Hotel -- das war der einzige annehmbare Gedanke.

Da saßen sie nun am offenen Fenster und freuten sich am Regen und
freuten sich, wenn die Bergkuppen aus den Wolken hervordrangen und wenn
sie wieder verschwanden. Es gibt Menschen, die nur klare Bergspitzen
und weite Fernsichten lieben. Und es gibt Menschen, die auch zu
umwölkten Höhen mit ahnender Andacht hinaufschauen, die es lieben, wenn
Berge mit Wolken ringen. Solcher Art waren sie. Stundenlang schauten
sie hinein in das wogende Grau, das ihren Augen nichts weniger war
denn ein Einerlei. Sie hatte leise ihre Hand in die seine gelegt; da
mußte er daran denken, wie sie an jedem Abend seine Hand suchte, bevor
sie entschlummerte. Er erhob sich, ging an den Tisch und begann zu
schreiben. Nach einiger Zeit kam er mit einem Blatt zu ihr und sagte:
»Ich hab' was.«

»Ja?!« rief sie leuchtenden Auges. Sie wußte, was er habe; sie
schmiegte sich in seinen Arm, und er las:


        +Was Ortrun sprach+

    Gib wie immer deine liebe Hand,
    Eh' ich eintret' in des Schlummers Land.
    Sollst im Dunkel mir zur Seite stehen,
    Mit mir durch des Traumes Garten gehen.

    Sieh', das ist das Süßeste vom Tag,
    Daß ich deine Hand noch fassen mag,
    Wenn des Tages Aengste von mir sinken
    Und des Schlummers milde Schatten winken.

    »Meine Zuflucht,« klingt in mir ein Wort,
    »Meine Zuflucht,« klingt es immerfort.
    Alle, die dich lieben, die dich hassen,
    Endlich müssen sie dich +mir+ nun lassen.

    Deine Hand nur fühl' ich noch allein;
    Alles andre mag verloren sein.
    Ach, in mancher Nacht war mir's verliehen,
    Dich im Traum mit mir hinwegzuziehen:

    Aus den Lippen noch ein Wort vom Tag --
    Leise dann des Traumes Flügelschlag --:
    Schon mit dir in schweigendem Umschlingen
    Hört' ich ewig-stumme Sterne singen.

    Und in fernen Himmeln noch empfand
    Ich den leisen Druck der teuren Hand
    Wie ein volles, heiliges Umfassen:
    »Schreite fest, ich will dich nicht verlassen.«

    Soll mir deine Hand erhalten sein,
    Tret' ich gern in jedes Dunkel ein;
    Muß es doch nach allen Schrecken bringen
    Einen Traum, in dem die Sterne singen. --

Er schwieg und fragte dann zärtlich: »Ist es so?«

»So ist es,« sagte sie leise, ihm voll in die Augen blickend. »Woher
wißt ihr's nur, ihr Dichter, ihr Schrecklichen?«

Als er nun sah, daß er ihr Herz getroffen hatte, da ergriff ihn
das Lyriker-Delirium. Der gewöhnliche, friedliche Bürger hat keine
Vorstellung von dem Freudenwahnsinn, der den Menschen ergreift,
wenn er meint, daß ihm ein Lied gelungen sei. Ein Lyriker mag mit
Bühnenwerken die reichsten Lorbeeren errungen, er mag für seine Romane
alles empfangen haben, was die Mitwelt zu geben vermag; er mag als
Staatsmann ein Reich gegründet, als Feldherr ein Dutzend Schlachten
gewonnen und als Erfinder einen vollkommenen Flugapparat erdacht haben
-- kein Triumph und kein Flugapparat wird ihn so hoch erheben wie der
Gedanke: ein Lied, ein Lied ist mir gelungen. Ein Lied ist ihm das
Köstlichste, was er vom Himmel empfangen, und das Köstlichste, was
er an seine Mitmenschen weitergeben kann. Ein großer Lyriker war es,
der eines Tages sagte: »Wenn mir ein Gedicht geglückt ist, kann ich
mich vor Jubel nicht fassen; ich muß etwas haben, das ich umarme, und
wenn ich keinen Menschen habe, so nehme ich einen Stuhl und press' ihn
ans Herz.« Man sagt, daß die Frauen nach der Geburt eines Kindes ein
Gefühl unendlichen Jubels und seligster Ermattung überkomme. Genau so
ist es den Lyrikern nach der Entbindung; nur daß sie durch nichts in
der Welt zu bewegen sein würden, still zu liegen wie die Frauen. Wenn
unser junger Ehemann ein Gedicht vollendet hatte, dann tanzte der hohe
Wöchner von einem Zimmer ins andere, vom untern Stockwerk ins obere
und vom oberen wieder ins untere, küßte sein Weib und seine Kinder ab,
tanzte mit ihnen Ringelreihen, um sie plötzlich loszulassen und wieder
abzuküssen, holte die Flasche Wein aus dem Keller, wenn sie noch da
war, machte an dem Turnreck zwanzigmal die Bauch- und die Rückenwelle,
spielte durch Haus und Garten Haschen mit Weib und Kindern und schrie
dabei wie in seinen blühendsten Flegeljahren, und wenn er ausgegangen
war, kehrte er mit Geschenken für die Seinigen beladen wieder heim. Der
Gedanke: »Ein Denkmal habe ich mir errichtet, dauernder denn Erz,« läßt
keine ökonomischen Bedenken aufkommen; wer ein Gedicht gemacht hat,
ist der reichste Mann des Weltalls, wenn er sich auch achtundvierzig
Stunden später überzeugt, daß es mit dem neuen Gedicht verteufelt wenig
auf sich habe.

Als die Tischglocke ertönte, sprangen sie Hand in Hand die Treppen
hinunter, und da sie ihn noch immer strahlend anblickte, fragte er
heimlich: »Also hat's dir gefallen?« Und als sie vielsagend eifrig
nickte und ihm unter dem Tische die Hand drückte, daß es weh tat, da
rief er:

»Na, dann, Kellner, eine ganze Flasche Markobrunner!« Am Notwendigsten
sparte er nicht gern.

Der Kellner verneigte sich mit gütigem Lächeln und flüsterte dem Wirt
ins Ohr: »Eine Markobrunner -- für die Hochzeitsreisenden.«

Als der Wein eingeschenkt war, führte er sein Glas mit der Miene
des Kenners an die Nase. Es war Markobrunner für Hochzeitsreisende;
aber unser Freund schien von dem Resultat der Untersuchung äußerst
befriedigt, und er sagte leuchtenden Auges:

»Herz, laß uns darauf trinken, daß es unsern Kindern einmal ebenso
ergehe. Aber« -- fügte er schnell hinzu -- »es soll ihnen nicht in
den Schoß fallen; sie sollen sich's erkämpfen wie wir; das ist das
Köstlichste, was wir ihnen wünschen können.«

Dann brachte er ihr zu Ehren einen Damentoast aus; dann trank sie auf
sein jüngstes Gedicht; dann tranken sie auf die Freunde, die »leider«
nicht dabei sein könnten, und endlich rief er:

    »Von der Quelle bis ans Meer
    Mahlet manche Mühle;
    Und das Wohl der ganzen Welt
    Ist's, worauf ich ziele.«

Und dann sprangen sie anmutig beschwipst -- es war ein kräftiger
Markobrunner gewesen -- wieder hinauf in ihr Zimmer und holten aus
ihrem Gepäck ein Bändchen Goethe hervor.

Der Himmel schien noch heute bis auf den letzten Tropfen bezahlen
zu wollen, was die Hitze der vorhergehenden Tage an Feuchtigkeiten
kontrahiert hatte. Und seltsam: es war unsern Reisenden gar nicht
mehr unlieb. Wenn zwei Liebende sechs Jahre lang von sehr lebendigen
Kindern und sehr lebendigen Pflichten, Sorgen und Mühen umschwirrt
gewesen sind und sich dann plötzlich in der Ferne, eingeregnet, in
einem Hotelzimmer einander gegenüber finden, dann erwacht in ihnen
ein seltsames, ein ungeahntes Gefühl, das Gefühl: Endlich allein!
Eine Empfindung bemächtigt sich ihrer, daß ihre innersten Seelen seit
langem eigentlich nicht miteinander gesprochen haben, daß sie sich
viel und mancherlei zu sagen haben, von dem sie selbst nicht gewußt
haben, daß es in ihnen sei. Während sie einander nahe gegenübersaßen,
sie ihm gelegentlich sanft mit der Hand über die Stirn strich, er ihr
gelegentlich zärtlich die schmale Hand streichelte und einer des andern
Bild mit inniger forschendem Blick zu erfassen suchte, sprachen sie
Ernstes und Fröhliches, Lautes und Leises, das in einsamen Stunden in
ihnen erwacht und ihnen wohl auch auf die Lippen gekommen, dort aber
vom schnellen Strom des täglichen Lebens hinweggeschwemmt worden war.
Und als der Abend herannahte, da fanden sie, daß kein Tag ihrer Reise
schöner gewesen sei als dieser »verlorene«. Und als sie wieder einmal
gemeinsam in den Himmel schauten -- da entfuhr ihnen gleichzeitig ein
halblauter Freudenruf: im Westen blickte durch das Grau ein winzig
Stücklein erhellten Himmels, wie ein verweintes Auge, das, noch
unter Tränenschleiern, zum ersten Male wieder aufmerksam ins Leben
starrt, noch nicht wünschend, noch weniger hoffend, nur erst wieder
betrachtend mit kaum bewußter Teilnahme. Und das himmlische Auge ward
größer und größer, klarer und klarer, heiterer und heiterer, und unser
Paar schritt mit aufjauchzenden Herzen hinaus in eine wiedergeborene
schöpfungsfrohe Natur.

Und diesen Abend machten sie einen Fund, der ihm köstlicher denn Gold
und Perlen war. Sie fanden eine Wiese, an einem sanft abfallenden
Hügelhang, von jungen und alten Bäumen umstanden. Ueber diese Wiese
finden wir in seinem Tagebuche folgende Zeilen:

»Im Thüringer Wald ist eine Wiese, die alles zur Ruhe singt, was in
dir an Sorgen und Bangen ist. Ja, sie singt; denn ihr Grün, ihre
Schatten und ihre Lichter, ihre Bewegung und ihr Schweigen sind ein
ununterbrochener seliger Gesang. In diesem Gesange sah ich goldene
Stunden meiner Vergangenheit wandeln, die ich vergessen hatte, Stunden
und Tage mit ihrem eigensten Gesicht, ihrem eigensten Ton und Gange.
Am Rande, im Schatten der Bäume, sah ich die höchsten und heiligsten
Gedanken meines Lebens ruhen, sah ihre Züge, ihre Augen im Glanze
der Minute, da ich sie empfangen, verstanden und ans Herz gedrückt
hatte. Und über den abendlich glimmenden Wipfeln der Bäume zogen selig
schwebend dahin meine Hoffnungen, meine Ahnungen, die aus dieser
Erdenenge hinaufstreben in eine größere Welt. Auf dieser Wiese grünt
der Glaube; wer sie erschaut, der trinkt sich Glauben an die Heiligkeit
der Welt für ewige Tage. Die Welt, die solche Augen hat, kann im Grunde
ihrer Seele nicht lügen.

Ich sage nicht, wo diese Wiese liegt; denn sogleich würden Tausende
kommen und rufen: »Wo ist das Besondere? Das können wir auch anderswo
sehen!« O ihr Blinden! Nichts kann man auch anderswo sehen. Jedes
Stück der Welt, das zwischen zwei Augenlidern Platz hat, ist ein Wesen
wie ich und wie jedes von euch, mit eigener Seele und eigener Stimme,
mit Zügen und Augen, die niemals wiederkehren. Und die doch, wenn sie
vergangen sind, wie wir vergehen, ewig aufbewahrt bleiben im Weltall.
Alles ist einzig, und alles ist ewig.

    In den morgenfrischen Bäumen
    Hing ein letzter Hauch der Nacht,
    Und die Blumen machten Augen
    Wie ein Kind, wenn es erwacht. --

    Holder Schreck entriß mich plötzlich
    Lächelnder Versunkenheit --:
    Eine Rose hat geduftet
    Wie ein Lied aus Kinderzeit!

    Eilends sucht' ich: Welche war es? --
    Duft und Blüte weit und breit! --
    Doch nicht andren Duft vernahm ich:
    Aufgetan die Seele weit,

    Ging ich atmend, dürstend, sehnend
    Durch des Gartens Herrlichkeit --
    Und ich hab' sie nicht gefunden,
    Die mich rief aus ferner Zeit.

    O, ich seh' es, euer Lachen,
    Schnell und klug zum Spott bereit!
    Seid gewiß, in regen Lüften
    Weiß mein Herz von je Bescheid.

    Aufgehoben bleibt im Ganzen
    Jedes Atems leises Weh'n;
    Einst an einem großen Morgen
    Wirst du's lächelnd wiederseh'n.

    Eine Rose hat geduftet
    Wie ein Klang aus Kinderzeit;
    Duft und Klingen, Heut' und Gestern
    Weben all' an +einem+ Kleid.

Niemals hab' ich Schillers Klage um die Entgötterung der Natur
verstanden.

    »Diese Höhen füllten Oreaden,
    Eine Dryas lebt' in jenem Baum,
    Aus den Urnen lieblicher Najaden
    Sprang der Ströme Silberschaum.«

Ist das nicht heut' wie einst? Seht ihr's nicht wandern auf den Bergen,
hört ihr's nicht lachen und seufzen aus jedem Baum, hört ihr's nicht
singen an jeder Quelle mit überirdischer Stimme? Ihr vernehmt es mit
höheren Sinnen, und mit leiblichen Sinnen vernahmen's auch die Griechen
nicht.

Nein, o nein, keine Philosophie und keine Religion kann die Natur
entgöttern; denn sie ist selber Gott.

Geht hin und suche jeder seine Himmelswiese; denn jedem liegt sie
anderswo. Auch meinem Weibe, auch meinen Kindern, und das ist ein Weh
in allem Glück. Aber meine Geliebte verstand mein Schweigen und ehrte
mein Gebet.«

       *       *       *       *       *

Als sie auf der nächsten Poststation ihre Briefe in Empfang nahmen,
die wieder erfreuliche Nachricht von Hause brachten, da fiel ihm aus
einer eingeschriebenen Sendung eine Banknote in die Hände. Ein Honorar!
Fünfzig Mark, auf die er gar nicht gerechnet hatte. Er hielt ihr das
hübsche Stück Papier vor die Augen und schrie ganz leise »Juhuhuuu!!«
Und als sie ins Hotel zurückgekehrt waren, zog er den Wirt auf die
Seite und redete vertraulich mit ihm. Der Wirt hörte ihm offenbar mit
Vergnügen zu und eilte dienstbereit von dannen.

»Wollen wir nicht aufbrechen?« fragte sie.

Er hob geheimnisvoll den Finger, machte ein hohenpriesterliches Gesicht
und sagte dunkel: »Noch nicht.«

Als sie nach einigen Minuten wieder fragte: »Warum gehen wir denn
nicht, du Schlingel?«, da hob er noch geheimnisvoller den Finger,
machte ein noch hohenpriesterlicheres Gesicht und sagte noch dunkler:
»Noch nicht.«

Und dann fuhr ein schöner Landauer mit zwei tatenfrohen Braunen vor.
Sie sah ihn mit ungläubigem Lächeln an. Er aber rief:

    »Jehann, nu spann de Schimmels an!
    Nu fahrt wi mit de Brut!
    Un hebbt wi nix as brune Per,
    Jehann, so is't ok gut!«

und lud sie mit seiner galantesten Handbewegung zum Einsteigen ein.

Während er noch mit dem Kutscher sprach, konnte sie mit den
strahlenden Augen nicht von ihm lassen. Wer kennt nicht die herrliche
»Hochzeitsreise« von Moritz von Schwind, kennt darin nicht den
anmutigen Zug, wie die junge Frau zur Seite rückt und dem geliebten
Gefährten gar bereitwillig Platz macht in Erwartung gemeinsamer
Freude! So drückte sie sich in die Ecke und konnte kaum erwarten, daß
er einstieg.

Der Wirt, ein Mann von etwas familiärem, aber vortrefflich gemeintem
Benehmen, wünschte ihnen noch, daß der Fortgang ihrer Ehe so fröhlich
sein möge wie der Anfang.

»Also haben Sie gemerkt, daß wir Hochzeitsreisende sind?« fragte unser
Freund.

»Freilich,« versetzte der Alte, »dafür bekommt unsereins einen Blick.«

»Ja ja,« rief der Ehemann lachend, »wir sind allerdings noch in den
ersten Flitterjahren. Hü, Kutscher!« Die Pferde zogen an.

»Du ahnst nicht, wie dankbar ich dir bin,« flüsterte sie an seinem Ohr,
»ich war ein wenig übermüdet -- nun bin ich selig!«

Und freilich -- fußwandern bleibt zwar immer das Schönste -- aber
nächstdem gibt es nichts Leib- und Seelenvergnüglicheres, als zu zweien
im Wagen eng aneinander geschmiegt durch die Lande zu rollen. Sie
fuhren durch stundenlangen Tannenwald; in unabsehbaren Reihen ragten
die streng emporstrebenden Stämme in den Himmel, eine meilenlange
Orgel, auf der der Wind das Morgenlied der Schöpfung spielte. O, ein
geheimnisvolles Ding, mit munteren Rossen durch den tiefen Wald zu
fahren! Dem seitwärts schweifenden Blick erschienen in fernsten, nie
betretenen Waldgründen seltsamgestaltige Wunder, die scheu wieder ins
Dunkel tauchten, wenn das Auge sie fester erfassen wollte; mit großen
Augen lugte es hinter düsteren Stämmen hervor -- ein Reh? -- eine
Dryas? -- das verzauberte Brüderlein der treuen Schwester? -- oder war
es Schmerzenreich, das Kind der armen Pfalzgräfin? Und manchmal schaute
zwischen fernen, fernen Tannen ein Stück des Himmels in die Schauer
der Waldnacht herein, dann war es ihnen, sie sähen einen gotischen
Dom mit riesenhohen, bunten Fenstern und sie wären dem Tempel nah,
der die smaragdne Schale vom Tisch des Heilands birgt und der ewigen
Frieden bringt denen, die ihn finden. Wenn aber der Wagen lautlos über
moosigen Grund fuhr, dann vernahmen sie dumpfes, fernes Stimmengewirr
versammelter Männer. Ihr wißt, daß man in stillen, dichten Wäldern die
Stimmen einer unsichtbaren Versammlung hört. Das ist das Thing derer
aus Niflheim und Jötunheim; sie beraten über den großen Kampf, in
dem sie die Einherier vernichten wollen, die Einherier, die über den
Wipfeln lächelnd dahinziehen.

Als sie aber nun über eine sonnige Hochfläche fuhren und Wiesen und
Aecker in allen Farben vor ihren Blicken lagen, da ergriff ihn ein
lustiger Größenwahn; er sprang von seinem Sitz in die Höhe, beschrieb
mit der Linken einen weiten Bogen und rief:

»Sieh, Herz, alles unser! Alles dein! Ein Teppich für deine Füße! Wer
kann sich das leisten!«

Und sie ergriff seine Rechte, zog sie an die Lippen und flüsterte mit
ihrem schalkhaftesten Lächeln:

»Mein sparsamer Mann! Mein unverbesserlicher Geizhals! Mein Harpagon!«

Und so kamen sie nach Ilmenau. --

    »Anmutig Tal, du immergrüner Hain,
    Mein Herz begrüßt euch wieder auf das beste!«

Schon dieser Anfang hatte ihm immer zu den Wundern der Kunst gehört.
Mit zwei Worten erschließt ein Dichter ein heiteres Gefild, und mit
einem einzigen Griff bringt er die Harfe des Waldes zum Klingen, und
alles horcht auf und flüstert: »Still -- still! Der da beginnt, das muß
ein großer Meister sein!«

Und die Herzen voll dieses Klangs, durchschritten sie das anmutige Tal
und stiegen den immergrünen Hain hinauf zu jener Höhe, wo der herrliche
Wanderer sein Nachtlied an die Wand eines Bretterhäuschens geschrieben
hatte. An Stelle des niedergebrannten Häuschens hat man dort, in
nachgeahmter Dürftigkeit, ein neues »altes« Häuschen errichtet. Sie
gingen nicht hinein; sie wollten es nicht sehen; sie wandten ihm den
Rücken zu und schauten über das abendlich beglänzte Wipfelmeer in die
Ferne. Keines sprach ein Wort; aber im stillen Herzen sprachen's wohl
beide:

    »Ueber allen Gipfeln
    Ist Ruh,
    In allen Wipfeln
    Spürest du
    Kaum einen Hauch;
    Die Vögelein schweigen im Walde.
    Warte nur, balde
    Ruhest du auch.«

Einunddreißig Jahre war er alt gewesen, als sich dies Lied aus
seiner Seele gelöst hatte, ein glückverwöhnter, blühender Mann,
die Schöpfungsgewalt für eine neue Welt hinter der Stirn, die
Flügelspannung eines emporschwebenden Adlers im Hirn und in der Brust.
Groß war die Welt, groß und schön und berauschend süß. Aber vielleicht
das Beste nach allem war die Ruhe.

Sie sprachen auch nur wenige, abgebrochene Worte, während sie zu Tale
stiegen. Das Dunkel brach herein. Da legte er den Arm um ihre Hüfte und
sprach: »Wie wird's uns sein, wenn wir nach Weimar kommen!«

Und sie kamen nach Weimar. Der Weimarer Bahnhof -- darüber kann keine
Meinungsverschiedenheit bestehen -- hat weder etwas Imponierendes noch
Feierliches, noch Stimmungsvolles, oder sonst Angenehmes. Aber als sie
ihren Fuß auf den Bahnsteig setzten, hatten sie das Gefühl: »Ziehe
deine Schuhe aus von deinen Füßen; denn das Land, darauf du stehest,
ist ein heiliges Land.« Sie gingen schon durch die Sophienstraße, aber
sie gingen vollends über den Viadukt und durch die Rollgasse, als das
alte Weimar vor ihnen auftauchte, mit den zitternden Herzen der Kinder
am Weihnachtsabend dahin. Es war auch Abend und schon so spät, daß sie
das Hotel nicht mehr verließen. Viele Stunden lang lag er schlaflos in
seinem Bette: er war nun da, wirklich da, er selbst, an der tausendmal
ersehnten Stätte seines heiligsten Knaben- und Jünglingslebens; er
atmete mit den erhabenen Genien dieses Ortes dieselbe ambrosische Luft.
Denn das war das Seltsame: in diesem neuen Weimar stand unversehrt das
alte und drängte jenes in den Hintergrund; was vor siebzig, vor hundert
Jahren gestorben und untergegangen war, das lebte, stand und wandelte
hier so gegenwärtig wie nur je -- die Häuser, Straßen und Menschen von
heute aber waren Schatten. Es war eine schlaflose, heilige Nacht; erst
gegen Morgen schlief er ein paar Stunden und erhob sich dann mit einem
fröhlichen Kraftgefühl, das ihm die Geister seiner Jugend gebracht
hatten.

Die beiden machten zunächst einen Orientierungsspaziergang durch
die Stadt, und dieser Anfang verlief nicht allzu erhebend. Vor dem
Doppeldenkmal trat nämlich ein überaus freundlicher alter Herr mit
höflichem Gruß auf sie zu und sagte:

»Dies sind nu also die beiden kreeßten Tichter, wo wir ha'm. Links is
Keethe, un rechts is Schiller. Schiller is, wie Se seh'n, ä bißchen
kreeßer als Keethe; aber dafier is der Keethe widder breider in de
Schuldern. Was se da in der Hand halten, das is ä Lorbeergranz. Keethe
will Schillern den Lorbeergranz iberreichen; awer Schiller sagt: »Nee,
behalt du'n.« Der Schiller is immer ä sehr edler Mensch gewäsen. --
Da hinder den beiden säh'n Se das alde Dheader, wo noch de kreeßten
Machwerge von den beiden sin aufgeführt wor'n.«

Unser Freund dankte verbindlich für die Belehrung und lüftete zum
Abschied höflich den Hut.

Als sie an der Ecke des Theaterplatzes vor dem Wittumspalais standen,
stand der gastliche Fremde wieder neben ihnen.

»Das is nu also das sogenannte Widmungsbalais, wo de Herzogin Anna
Amalchje dadrinn kewohnt hat.«

»Soso!« machte unser Freund. »Sagen Sie mal, warum heißt es eigentlich
»Widmungspalais«?«

»Nu, das is ja sehr einfach. Das hat nämlich der tamaliche Kroßherzog,
der hat es also der Anna Amalchje kewidmet, damit daß se drin wohnen
soll.«

»Aha!« machte unser Freund, »aha!«, lüftete abermals den Hut und sagte:
»Adieu!«

Aber der menschenfreundliche Herr nahm keine Notiz davon; er geleitete
sie vor das Schillerhaus und sagte:

»Dies is also nu das Haus, wo der unschterbliche Schiller kewohnt
hat --«

»Jawohl, jawohl!« riefen unsere beiden und schritten eilends weiter.
Sie gelangten zum Fürstenplatz, und als sie vor dem Reiterstandbilde
Carl Augusts standen, hörten sie hinter sich eine Stimme:

»Dies is nu also der Fürscht, der wo die sämtlichen Tichter eichentlich
erst ins Läben gerufen hat.«

»Schick ihn doch weg,« flüsterte sie.

»Ja, aber wie? Ich werd ihm Geld anbieten.«

»Ach nein, das geht doch nicht!« flüsterte sie errötend.

Aber es ging. Der gefällige Bürger steckte die dargebotene Mark
Lösegeld ein und empfahl sich. Der Typus war ihnen ganz neu; denn in
Norddeutschland gab es dergleichen nicht.

»Endlich allein!« jubelte sie, und nun zogen sie in Frieden weiter. Nur
noch einmal kamen sie in Gefahr, »geführt« zu werden. Im Sterbezimmer
Schillers hörten sie einen Erklärer reden, der von der Armut Schillers
in einem so ergreifenden Tremolo sprach, als wenn er selbst darunter
noch heute zu leiden habe und hier daher erhöhte Trinkgelder am Platze
seien. Unser Paar wartete, bis die betreffende »Tour« zu Ende war und
trat dann allein in das Heiligtum.

Die Deutschen haben keinen heiligeren Ort. »Wieviel Marmor,« dachte
unser Freund, »wieviel Gold und Elfenbein, wieviel Seide, Samt und
Edelgestein müßte wohl ein prachtliebender Fürst aufeinanderhäufen, um
einen Raum zu schaffen von solcher Hoheit und von solchem Glanz. Wem
hier nicht Tränen der Sehnsucht, Tränen des Triumphes ins Auge treten,
dem ist der tiefste Quell seiner Seele versiegt. Der wahre Bettler
ist doch einzig und allein der wahre König!« Der dies göttliche Wort
sprach, war auch solch ein Bettler.

Mit umflortem Blick betrachtete unser Paar die Gegenstände, die
der erhabene Mann durch seine Berührung geadelt hatte. Sie hatten
beide keine Begabung für den Fetischdienst, und gegen Götter- und
Götzendienst empörte sich von je sein menschlicher Stolz. Aber die
Geister, die diese Stadt erhellten, waren nicht Götter in Wohlsein und
Müßiggang, waren nicht in Allmacht und ambrosischen Leibes geboren; sie
hatten gelitten und gerungen, gerungen mit ihren eigenen Mängeln und
Gebrechen und waren aus Menschen Götter geworden. Vor solchen Heiligen
ist Verehrung nicht Erniedrigung, ist Verehrung eigener Triumph.

Gerade als sie diese Stätte verlassen wollten, kam der Führer zurück
und begann im Grabestone des fest angestellten Leidtragenden: »In
diesem ärmlichen Gemache --«

Aber unser Freund drückte schnell seine Hand in die des Mannes und
sagte gedämpften Tones: »Ich weiß alles.«

Ja, dieses Schillerhaus, dieses Goethehaus, dieses Wittumspalais,
dieser Park mit seinem Gartenhäuschen, diese unsichtbare Stadt, vor
der man die sichtbare nicht sah: das war Elysium. Ein besseres,
höheres, heiligeres Elysium als das der Alten. Ein Elysium der Arbeit.
Gewiß: das gab diesen kleinen, niedrigen, bescheidenen, selbst in
den Schlössern bescheidenen Räumen, die an Luxus manchmal hinter der
Wohnung eines Handwerksmeisters von heute zurückstehen: das gab ihnen
jene unvergleichliche Vornehmheit, daß der hohe Geist der Tätigkeit
niemals aus ihnen gewichen war; aus der seligen Welt der Gedanken fällt
noch heute ein Strahl in diese Gemächer und Gänge und umspielt die
bestaubten Schokoladentäßchen, die verstummten Lauten und Spinette,
die verlassenen Spieltische und die verwaisten Maskeradenkostüme
mit einem fernher scheinenden Sternenlicht. Das machte auch das
Arbeitszimmer am Frauenplan, dieses andere Allerheiligste der
Deutschen, zu einer Insel der Seligen. Fünfzig Jahre lang hatte er hier
wirken, schaffen und ringen dürfen, fünfzig Jahre lang hatte er hier
verkehren dürfen mit den freundlichsten und besten Geistern, die zu den
Irdischen herniedersteigen. Kein Fleck der Erde hat ein reicheres und
höheres Glück gesehen als dieses Zimmer. O, unsere Liebesleute wußten
sehr wohl, daß Kleinheit und Häßlichkeit, daß Dummheit und Neid an
diese Männer herangekrochen waren wie an andre und mehr als an andre
Menschen; sie waren nicht unerfahren genug, um zu glauben, daß es ein
Leben ohne Alltag gebe; es war ein kleines Nest gewesen, das Weimar von
damals, und die Gewöhnlichkeit macht sich um so breiter, je enger sie
mit der Größe zusammenwohnt. Aber das blieb bestehen: Kein Fleck der
Erde hatte ein höheres und reicheres Glück gesehen als dieses Zimmer.

Und dann standen sie in der Fürstengruft an den Särgen der Dioskuren.
Es gibt ein Gedicht von Nepomuk Vogl, in dem erzählt wird, wie ein
Mann sich vom Totengräber das Grab der Mutter zeigen läßt. Als er
davor steht, spricht er:

    »Ihr irrt, hier wohnt die Tote nicht.
    Wie schlöss' ein Raum so eng und klein
    Die Liebe einer Mutter ein!«

In erweitertem und erhöhtem Maße hatten sie dies Gefühl vor den
Sarkophagen Schillers und Goethes. Das Grauen, das uns vor den Gräbern
vergänglicher Menschen befängt -- hier hat es keine Stätte. Fast hätten
sie gelächelt, als ihnen der alte Mann, der sie in die Gruft begleitet
hatte, allen Ernstes versicherte, in diesen Särgen ruhten Goethe und
Schiller. Sie kamen ja her von den Stätten, wo sie lebten und wirkten
im Licht der Sonne. Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?

Und noch an einem andern Grabe verweilten sie in freundlicher Trauer:
an der Ruhestatt Christianens auf dem alten Jakobskirchhof. »Wenn ich
zu befehlen hätte,« sagte unser Freund, »so ruhte sie neben ihm in der
Fürstengruft.« Und sein junges Weib ergriff seine herabhängende Hand
und drückte sie fest, sehr fest und gar lange. Es war das Weib, das ihm
dankte.

Als sie zum ersten Male den Park besuchten, führte sie ein
halbidiotischer Gärtnerlehrling durch Goethes Gartenhaus. Er
schien nur substantive Begriffe zu haben; denn er sagte nichts als
»Arbeitszimmer!« -- »Schlafzimmer!« -- »Küche!« und stieß diese Worte
mit einer mürrischen Vehemenz hervor. Nur als die junge Frau einmal
fragte: »Wohin geht es denn da?«, da gebrauchte er das Adverbium
»Raus!!«. Sie hatten sonst wohl erlebt, von Halbidioten durch die
+Werke+ Goethes geführt zu werden; aber denen hatte der wohltuende
Lakonismus des Gärtnerburschen gefehlt. Es fragte sich, ob die
Verallgemeinerung dieser Einrichtung nicht zum Segen aller Besucher
geweihter Stätten gereichen würde.

Sie wanderten hinaus nach Belvedere, nach Ettersburg und vor allem
nach Tiefurt. Der Park von Tiefurt -- wenn etwas, so gehörte er zu
diesem Elysium. Es war ein trüber Tag, und doch -- gibt es Wolken
oder Nebel, die den Frohsinn dieser Stätte verhüllen können? Er
strahlt und kichert durch alle Decken hervor. Ja, das war's, was diese
»Lustigen von Weimar«, diese prachtvolle Anna Amalie und ihren Geniehof
kennzeichnete: ihr Wirken war nicht finstere Rastlosigkeit, ihr
Vergnügen nicht fauler Genuß; Arbeit adelte ihren Frohsinn, Frohsinn
adelte ihre Arbeit. So macht man das Leben zum ewigen Fest, und ein
ewiges Fest liegt über den Bäumen und Fluren dieses Parks.

Und doch mußte unser Freund fluchen, grimmig fluchen, als sie vor dem
mächtigen Steine standen, der in Lapidarschrift den Namen

        +HERDER+

trägt. Ein Schuft hatte seinen Namen daneben geschmiert. Die Besudelung
des Steines ließ sich wohl entfernen; aber wer entfernte den Dreck
aus solch einer Seele! Welch ein Abgrund naiver Gemeinheit lag in
diesem Frevel. »Weiß Gott,« rief unser Freund, »ich bin ein Feind der
Prügelstrafe; aber Ausnahmen gibt es doch. In diesem Falle würde ich
mit Freuden der Vollziehende sein, und der Halunke sollte sich über
keine Unterschlagung zu beklagen haben!«

Sie hatte große Mühe, ihn zu beruhigen; aber bald verwischte ein
seltsam freundliches Erlebnis völlig den widrigen Eindruck. Sie hatten
sich dem Schlößchen dieses Parks genähert, und im selben Augenblick,
als sie durch den grünumrankten Torbogen in den Schloßhof traten,
schlug eine Turmuhr drei Schläge, und die Sonne durchbrach siegreich
den Nebel. Glücklich überrascht sahen sie einander ins Gesicht: Hieß
das nicht »Willkommen«?!

Der letzte Abend ihres Weimarer Aufenthalts gehörte natürlich noch
einmal dem Park »am Stern«. Die Bürger von Weimar waren ordnungsmäßig
zum Abendessen gegangen; unsere beiden hatten den Park, hatten die
Welt für sich allein; völlig einsam schritten sie am Gartenhause, an
der Reitbahn vorüber auf dem breiten Wege, der nach Oberweimar führt.
Köstliche Stille ringsum. Da standen auch sie stille -- eine Nachtigall
schlug liebeselig aus nahem Gebüsch. Und im Osten stand ein herrlicher
Stern, so lebendig funkelnd, als ob er zur Erde reden möchte. Da war
die Zeit ausgelöscht -- nicht anders war die Welt gewesen, als der
Bewohner jenes Gartenhauses noch hier wandelte -- er war gegenwärtig --
unser Freund zeigte nach dem Stern und flüsterte: »Sieh, Herz, das ist
Er! Die Nachtigall hat ihn erkannt.« -- -- -- -- --

       *       *       *       *       *

Von Weimar fuhren sie heim. Sie waren sehr still auf dieser Fahrt;
denn die Vorfreude der Heimkehr war noch größer als die Vorfreude der
Ausfahrt. Sie hatten Hirn und Sinne voll zu tun; denn von vier Kindern
und zwei Eltern mußten sie sich ausmalen, was sie heute dachten,
hofften, wünschten und wie sie sich freuen würden.

Als ihr Wagen in die Straße einbog, in der sie wohnten, sahen sie alle
Viere im Sonntagskleide vor der Tür stehen.

»Da sind sie!« rief er aufspringend. »Alle vier! Vier Kinder, Liebling!
Wieviel Hochzeitsreisende gibt's denn, die sich das leisten können!«

Und doch schrie er, als der Wagen vorfuhr, mit furchtbarer Stimme:
»Zurück! Zurück! Wollt ihr zurück, alle Wetter!« Sie wären nämlich
unter die Hufe des Pferdes und unter die Räder gerannt, um nur schnell
in die Arme der Mutter zu fliegen.



Die Hosentaschen des Erasmus


Erasmus ist nämlich mein Sohn. Ich schicke voraus, daß er gesund und
normal gestaltet ist. Aber in bekleidetem Zustande zeigt er von Zeit zu
Zeit an den Oberschenkeln unförmliche, bedrohlich anwachsende Wülste.
Wenn diese eine gewisse Ausdehnung erreicht haben, pflegt meine Frau
sehr vergnügt zu mir hereinzukommen und zu sagen: »Du, wir müssen mal
wieder seine Hosentaschen ausräumen; es hat sich schon wieder ein
ganzes Museum darin angesammelt!«

Ich darf voraussetzen, daß meinen Lesern die Hosentaschenzustände eines
achtjährigen Buben im allgemeinen bekannt sind. Es gibt eigentlich
kaum einen beweglichen Gegenstand, der sich nicht ganz gut in solch
einer Tasche unterbringen ließe, und es gibt auch schwerlich einen
Gegenstand, der nicht das Interesse solch eines verschwiegenen kleinen
Weltbetrachters anregte. Nun muß man sich außerdem den jungen Herrn
Erasmus als einen entschiedenen Sanguiniker vorstellen, der mit Hilfe
seiner Phantasie an das Bruchstück eines Korkziehers die verwegensten
Hoffnungen knüpft.

Da uns bei den bisherigen Untersuchungen manches dunkel blieb und wir
manchen Gegenstand nicht zu bestimmen vermochten, haben wir diesmal
den geehrten Hosenbesitzer selbst zur Besichtigung mit herangezogen.
Meine Frau hat das Kleidungsstück auf dem Schoße; für die Vertreter der
öffentlichen Moral bemerke ich, daß der Knabe währenddessen mit einer
anderen Hose bekleidet ist.

Was meine Frau zunächst aus der Tasche hervorzieht, ist Bindfaden. Ich
darf ebenfalls als bekannt voraussetzen, daß dieser Gegenstand sich
bei der männlichen Jugend einer besonderen Beliebtheit erfreut und
alle übrigen Objekte, die aus solch einer Tasche ans Licht gefördert
werden, in einer mehr oder minder interessanten Verwickelung mit
jenem Gegenstande zu erscheinen pflegen. An der Hand des Bindfadens
-- um mich gewählt auszudrücken -- gelangen wir sodann zu einem stark
verrosteten, ovalen Blechschildchen, das die Inschrift »Patent« trägt.
Das ist schon gleich ein wertvolles Stück. Ich weiß das. Ich habe den
Maßstab für dergleichen noch ziemlich gut im Gedächtnis. Ich kann den
Maßstab natürlich nicht so genau bestimmen; es handelt sich eben um
Liebhaberwerte.

»Was heißt denn das: ›Patent‹?« frage ich.

»Wenn einer sich so fein angezogen hat.«

»Rrrich--tig!!«

Wir verfolgen weiter den Ariadnefaden und fördern aus dem Labyrinth
ein Notizbuch zutage. Das ist nun etwas ganz besonders Hervorragendes.
Notizbücher sind in diesem Alter von ganz besonderem Wert und Nutzen.
Es ist wohl selbstverständlich, daß man sich in erster Linie das
notiert, woran man Tag und Nacht denkt, z. B. daß man für den 9.
Oktober zur Apfelernte bei einem Spielkameraden eingeladen ist, oder
daß am 25. Dezember Weihnacht gefeiert wird. Auch die zehn Pfennige,
die man geschenkt erhielt, werden ordnungsgemäß als Grundstock eines
zu sammelnden Kapitals gebucht, leider aber gewöhnlich nicht wieder
ausgestrichen, wenn sie nach zehn Minuten in Schokolade umgewandelt
wurden. Freilich sind Stift und Papier bei diesem Büchelchen von einer
Güte, die sich in Geldeswert nicht mehr ausdrücken und es immerhin
noch ratsamer erscheinen läßt, mit einer spitzen Stahlfeder auf ein
Flanellhemd zu schreiben; aber Erasmus verfolgt es mit sorglich
behütenden Blicken.

»Woher hast du denn das?«

»Das hat Hein Stieglitz mir geschenkt.«

»Weshalb denn?«

»Och -- wenn ich mit ihm spielen wollte.«

»Warum wollte er denn mit dir spielen?«

»Och -- die andern wollten nicht mit ihm spielen.«

»Warum nicht?«

»Weil er der Erste geworden ist.«

»Aha. -- Aber was bedeutet denn +das+ hier?« Ich habe nämlich das
»Notizbuch« aufgeschlagen und lese auf einer Seite die höchst
rätselhaften Worte »Käs Käse Käse la.«

»Das ist Französisch,« erklärt er mit einem Anflug von Gelehrtenstolz.

»Französisch??« -- -- -- Aaaaaah -- jetzt geht mir ein Licht auf!
Er hat heut seine erste französische Stunde gehabt! Nach der neuen
Methode! Der Lehrer hat gesprochen, aber nicht angeschrieben. Erasmus
aber, seines Notizbuches stolz sich bewußt, hat sich's notiert.
~Qu'est-ce que c'est que cela!~ --

~Voilà ce que c'est!~

Mit Hilfe des Bindfadens fördern wir nunmehr ein kleines Scharnier von
einem Deckelseidel in inniger Verbindung mit einem Stück Schusterpech
zutage.

»Aber Erasmus! Ferkel!« ruft meine Frau und betrachtet nasrümpfend ihre
Finger.

Er aber starrt sie an mit schuldlos-erstauntem Blick, als wollte er
sagen: »Wieso? -- Was ist denn los?«

Denn er lebt und webt ja noch im lautersten, ursprünglichsten
Pantheismus; aus +allem+, was die Erde bietet, atmet ihm -- in der
Wärme des Herzens und der Wangen nur erst ahnungslos gefühlt -- der
unbekannte Schöpfer entgegen, und das gewaschenste Kätzchen wie den
pfützenbewandertsten Straßenköter drückt er mit gleicher Liebe an
sein glückliches Herz und sein reinstes Chemisett. Er steht noch auf
dem naiv-genialen Standpunkt der +Gleichberechtigung aller chemischen
Verbindungen+, und die paradiesische Unschuld, die noch nicht weiß, was
rein und schmutzig ist, ist noch nicht ganz durch unsere ästhetischen
Engherzigkeiten verscheucht.

»Was willst du denn mit diesem Stück von einem Bierglasdeckel machen?«

»Och -- wenn ich den Deckel dazu finde, dann mach' ich das auf mein
Milchseidel.«

»Das 's 'ne Idee! Famos! -- Aber sag' mir Bescheid, wenn du den Deckel
gefunden hast! -- Kannst du denn überhaupt so was machen?«

»Jaaa -- das ist man ganz leicht!«

»Mmmm.«

Das ist richtig. Ich hab' auch als kleiner Junge sämtlichen Handwerkern
ihre sämtlichen Künste abgeguckt. Es ging alles so nett und leicht. Ich
wäre so gern Tischler, Schlosser, Schmied, Schuster, Maurer, Hutmacher,
Maler und alles andere außerdem gewesen. Wenn meine Phantasie ein Werk
entworfen hatte, so war's auch schon fertig, und ich spielte damit.
Ich hobelte ohne Hobel, klebte ohne Leim, malte ohne Pinsel, lötete
ohne Kolben und Flamme und beschlug die wildesten Pferde, alles in
Gedanken. Und die Werke unserer Phantasie spielen anmutiger mit uns
als wir mit den wirklichsten Dingen. Auch mit Ruhm und Macht und Geld
spielt es sich ja hübscher in der Phantasie als in Wirklichkeit. »Alles
wiederholt sich nur im Leben --«

Also freu' dich nur an deinem Deckelglas.

Nachdem wir nun noch aus dieser Tasche eine Mundharmonika, ein kleines
Weingeistthermometer und einen Soldaten von der bleiernen Kavallerie
gehoben haben, bemerken wir an der Lanze dieses Ulanen eine deutsche
Fünfpfennigmarke -- ~pardon~: -- eine norddeutsche Fünfpfennigmarke!

Eine furchtbare Ahnung spannt meine Nerven.

»Was soll die denn?« frage ich.

»Die sammel' ich,« erklärt er ganz unschuldig.

»Mein Sohn,« spreche ich und lege mit ehrwürdig-großer Geste die
Vaterhand auf seine Schulter, »ich will es keineswegs als unmöglich
hinstellen, daß die Sammler von Briefmarken und Trambahnbilletts
irgendeinen Gedanken daneben haben. Der Mensch soll nicht hochmütig
sein: was wissen wir z. B. vom Seelenleben des Meerschweinchens
oder des Laubfrosches! Aber bei einem Erben meines Blutes dulde
ich Briefmarkensammeln nicht. Darin erlaube ich mir nun Despot
zu sein. Willst du +schöne+ Dinge sammeln -- sehr gut! Willst du
lehrreiche Dinge sammeln: Tiere, Pflanzen u. dgl. -- auch gut! Aber
Briefmarkensammeln ist ausgesprochene Antikultur, und darauf steht
bei mir Enterbung.« (Der Junge verfärbt sich.) »Man weiß ja, wie's
geht: Erst kommt das Cricri und das Monokel, dann das Sammeln von
Briefmarken und Pferdebahnzetteln und schließlich der Klerikalismus,
ohne daß man die Uebergänge merkt!«

Meine Frau hat sich inzwischen an die Erschließung der anderen
Tasche gemacht und mit diversen Muscheln und Hosenknöpfen auch eine
zusammengedrückte Kapsel von einer Weinflasche an den Tag gebracht.

»Und was willst du damit?«

»Die will ich verkaufen.«

»Verkaufen?«

»Ja, Willy Steinmann sagt, wenn man 'n Pfund davon hat, dann kann man
sie verkaufen, und das Geld will ich mir dann aufsparen, und dann seh'
ich zu, daß ich immer mehr dazu krieg', bis ich fix reich bin.«

Aah -- daher pfeift der Wind! Er hat offenbar von jenen
»gemeinnützigen« Geschichten gekostet, in denen immer erzählt wird,
wie irgend jemand schon als sechsjähriger Knabe jede Stecknadel
aufhob, jede Gänsedaune für ein künftiges Kopfkissen reservierte und
so schließlich ein ungeheuer großer, reicher und berühmter Kaufherr
wurde. Ich habe nie die Ueberzeugung loswerden können, daß diese
Geschichten von Spekulanten, Bankdirektoren, Testamentsvollstreckern,
Schwankdichtern und ähnlichen Leuten erfunden worden sind, um die
andern Leute von der Fährte abzulenken. Mein Junge -- wenn du der
Sohn deiner Eltern bist, so wirst du diesen »fremden Tropfen in
deinem Blute« bald wieder hinauswerfen, davor ist mir nicht bange.
Stecknadelnsammeln liegt nicht in der Familie.

»Na, und wenn du nun ›fix reich‹ bist -- was dann?«

»Dann kauf ich mir Kühe und Ochsen und 'n Geographiebuch.«

»So.« Bei mir war es immer ein Schloß. Das wollt' ich mir bauen,
wenn ich reich wäre. Ich sehe noch heute die breite, schimmernde
Marmortreppe, auf deren oberster Stufe ich stehe als ein
Grand-Seigneur, um im nächsten Augenblick mit vornehmer Gelassenheit
hinabzusteigen. Oder ich lag auf einem Ruhebett hingestreckt und sah
durch hohe Bogenfenster weiße Wolken durch blaue Himmelsfluren ziehen
-- langsam -- so langsam. Oder ich hielt auf der Zugbrücke hoch zu
Pferd, die Faust auf den Schenkel gestemmt, und sah in +einem+ Blick
Täler und Berge, Wälder und Ströme. Ich möchte fast mit Lessing
glauben, daß es eine Wiedergeburt in +dieser+ Welt gibt, daß wir
mehr als einmal auf dieser Erde erscheinen. Vielleicht daher diese
leisen, fernen, geheimnisvollen Erinnerungen, die wir uns nicht
erklären können. Und ich fürchte, ich fürchte: ich bin -- vielleicht
im dreizehnten Jahrhundert oder so -- ein wenig beschäftigter Junker
gewesen. Ich habe seitdem noch immer eine merkwürdige Neigung, mit dem
Schauen nach schwebenden Wolken und mit dem Reiten durch rauschende
Täler meinen Unterhalt zu verdienen.

Während diese Erinnerungen schnell wie Schwalbenflug vor meinem inneren
Blick vorüberziehen, stößt meine Frau plötzlich einen heftigen Schrei
aus und springt vom Stuhl empor. Sie muß auf etwas Entsetzliches
gestoßen sein; denn sie ist von Natur sehr mutig. Sie würde ihr Kind
aus dem Rachen des Löwen reißen wie jene berühmte Mutter von Florenz.
Es muß etwas Furchtbareres sein als ein Löwe. Und so ist es. Es ist
ein »Gemeiner Mistkäfer«, ~Geotrupes stercorarius~, den meine Frau von
ihren Fingern fortgeschleudert hat und der jetzt langsam auf den Dielen
dahinkriecht.

»Ooh, mein Käfer!« jammert Erasmus.

Das Krabbeltier ist aus einer Streichholzschachtel entwischt und hat
sich frei in der Hosentasche ergangen. Während meine Frau noch immer
ein bißchen weiß um die Nase ist, hat Erasmus das Tierchen aufgenommen
und läßt es mit geradezu wissenschaftlicher Kaltblütigkeit und
Vorurteilslosigkeit über seine Finger krabbeln.

»Wozu hast du den denn gefangen?«

»Für 'ne Käfersammlung.«

»Na -- weißt du -- das halt' ich eigentlich für unnötig. Du kannst
ihn dir auch so ordentlich ansehen. Und dann kannst du ihn jedes Jahr
in ungezählten Mengen wiederfinden. Wenn's was Seltenes wäre, wollt'
ich nichts sagen. Was selten ist, muß immer dran glauben. Aber das
verstehst du noch nicht. Also: ich denke, du läßt ihn laufen, he?
Andere Mistkäfer wollen +auch+ leben.«

Mit schnell aufblitzendem Blick sieht er mir forschend in die Augen,
dann lächelt er und betrachtet verstohlen seine Hände. Sie sind heute
zum zweitenmal gewaschen und zum drittenmal schmutzig. Er gebraucht
sie ungeniert und fleißig, wenn er in Haus und Garten, Feld und Wald
naturforschend sich ins All versenkt.

An den Gegenständen, die der zweiten Tasche entstammen, zuletzt an der
Streichholzschachtel, sowie an der rechten Hand meiner Frau ist uns
mehr und mehr eine merkwürdig übereinstimmende Röte aufgefallen. Jetzt
kommen wir auch dem Ursprung dieser Farbe nah: ein beträchtliches Stück
Rötel hat offenbar schon ein paar Tage in diesem Raume zugebracht und
dessen Wände mit einem gleichmäßigen Rot bedeckt. Endlich findet sich
noch ein schön abgeschliffenes, eirundes Rollsteinchen vom Meeresufer.

»Was ist denn das?«

»Das ist 'n Glücksstein.«

»Ein Glücksstein?« --

Das kann stimmen. Wer sich an solch einem Steinchen freut, der ist
glücklich.

»Wo hast du denn die hübsche kleine Silbermünze gelassen, die du
neulich hattest?«

»Och, die hab ich Georg Petersen gegeben, der will mir achtzehn Fahnen
und fünfundzwanzig Lanzen dafür geben.«

Seine Augen leuchten.

       *       *       *       *       *

Ja, das sind so Augenblicke, in denen einem das Herz ein wenig groß
und das Auge -- Verzeihung! -- ein wenig warm wird. Denn man denkt an
die vielen Male, daß dieser junge Mann in seinem Leben noch betrogen
werden wird. Was wird +dem+ sein guter Glaube noch kosten! Man fragt
sich, ob man nicht unrecht tut, wenn man einem Kinde sagt: »Sei immer
wahr!« -- ob man es nicht wehrlos macht. Man säh es so gern das Gebot
der Wahrhaftigkeit befolgen, und man sieht dabei alle die Leiden
voraus, die dann seiner warten. Also dem Achtjährigen schon sagen: »Paß
auf, daß du nicht betrogen wirst!?« -- Nein. Nein. Es lieber der Zeit
überlassen, die schließlich doch den Arglosesten warnt. Bei manchem
braucht's freilich viel Zeit. Und dann ist ja auch der Mensch so genial
konstruiert, daß er einen merkwürdig großen Wert darauf legt, nicht
aus fremdem Schaden zu lernen, sondern +selbst+ betrogen zu werden.
Und dann ist es ja auch vorteilhaft, sich mäßig betrügen und belügen
zu lassen. Zu viel ist freilich hier wie überall vom Uebel. Wer gar zu
leicht zu betrügen ist, der verleitet schließlich auch honette Leute.
Die sagen dann: »Na -- wenn er selbst nicht anders +will+ -- --« Man
glaubt nicht, wie verderblich ein +einziger+ Vertrauensseliger für
ein ganzes Rudel von ziemlich anständigen Menschen werden kann. Aber
sonst --: Die Leute vom Adel haben ganz recht: Sich mäßig betrügen
lassen, gehört zum Adel. Wer einen Rock zu vierzig Mark für fünfzig
Mark verkauft, wer im niederen oder höheren Pferdehandel einen
Gentleman hineinlegt oder wer das Drama eines Rivalen aus dem Spielplan
hinausintrigiert, damit er noch ein bißchen mehr Ruhm mit Tantièmen
ergattere -- und wer sich bei alledem steif und fest einredet, Klugheit
und Vorteil seien auf +seiner+ Seite und +nur+ auf seiner Seite -- ja,
wer wollte solch einem armen Teufel das kleine Vergnügen des Betruges
nicht gönnen?! Man zahlt je nach seinen Verhältnissen die zehn Pfennig
oder die zehn Goldstücke oder die zehn braunen Scheine, und wenn man
den Betrug merkt, lacht man sich ins Fäustchen und freut sich, daß man
keine Wanze ist; und was einem leid tut, ist nur der arme Kerl, der nun
womöglich ganz stolz ist auf seinen »Coup«.

Meine Frau und ich haben beschlossen, dem jungen Herrn ein eigenes
Schubfach zur Verfügung zu stellen, damit er darin seine Kinderwelt
baue. Nach meinem eigenen Jungentum zu schließen, wird er allerdings
die Hosentasche vorziehen. Das Verhältnis zu den Dingen ist hier ein
intimeres. Man hat auch alles für den ersten Griff bereit und nett
beisammen: Kreisel, Mistkäfer, Aepfel und Schusterpech. Und dann --
die Hauptsache! -- es liegt nicht offen vor aller Augen da. Obwohl wir
höchst diskret verfahren sind mit dem Geheimschatz des Prinzen Erasmus
und uns das Lachen tapfer verbissen haben -- er schien unser Vorgehen
doch als eine Indiskretion zu empfinden. Es war eine Sache der Scham
für ihn. Und man +soll+ auch nicht einfallen ins Land der Kinderseele,
man soll es behutsam anstellen, daß sie einen selbst hereinziehen. Wenn
ihr Entzücken einmal recht groß ist, tun sie's schon.

Eine zartgebaute Welt, das Kinderparadies! Ein einziger rauher Hauch
aus der kalten Welt der Erwachsenen -- und tausend Blüten fallen auf
einmal von seinen Bäumen. Es gibt ein Wunder, das ist so groß wie
ein Pfennig, rund wie die Sonne und mildglänzend wie der Mond; du
bewegst es ein wenig -- und versteckte Farben leuchten daraus hervor:
das durchsichtige Grün des Nordmeers, die Röte des Abendhimmels
... Laß aber ein paar unrechte und grobe Finger darüber kommen und
es verächtlich auf den Tisch werfen -- so ist es ein armseliger
Perlmutterknopf! -- -- --



Flieh, auf, hinaus ins weite Land!


In den Pfingsttagen ist er wieder aufgestanden. Die Pranken hoch
emporgestreckt zum Ansprung ...

Kusch!!

Und langsam, sehr langsam duckt er sich noch einmal in den Winkel.

Der +Wanderdämon+.

Wer stets daheim geblieben ist, in dem schläft er einen tiefen Schlaf.
Ein solcher Mensch spricht ganz unschuldig solche Lästerungen aus wie:

»Wozu soll ich reisen? Kann ich's irgendwo schöner und behaglicher
haben als in Hamburg?«

Oder: »Gehn Sie mir mit dem Reisen! Der reinste Selbstbetrug! Man
gibt recht viel Geld aus, fühlt sich fortwährend unbehaglich und sagt
immer ›O wie schön!‹ um sich nur zu beschwichtigen. Hab auch mal so'n
Rundreisebillett durch 'n Harz gehabt. Bin gar nicht erst ausgestiegen.
Gleich durchgefahren und wieder nach Hause ...«

Und was dergleichen Ahnungslosigkeiten mehr sind.

Aber wenn jener Dämon nur +einmal+ Blut geleckt hat ...

Nehmen wir an, du machtest deine jährliche Reise im Juli, so meldet er
sich nach der +ersten+ Reise im Juni, nach der zweiten im Mai, nach der
dritten schon im April, und nach wenigen Jahren, wenn du gerade vor dem
Tannenbaum stehst und eine goldene Nuß hineinhängen willst, wachsen
sehnsüchtige Bergriesen in dir empor, und über weltweite Alpengründe
fließt Herdengeläut und millionensternige Blumenpracht.

Du schüttelst schnell den Kopf ... Still!! Kusch dich!! ... Und der
große, machtvolle Weihnachtsfriede deckt das liebe Ungeheuer zu --
günstigenfalls, bis der erste Star unter deinem Fenster schrillt.
Dann regt es sich ohne Gnade, und bald darauf wieder, wenn die »neun
Sommertage des März« kommen -- oder ausbleiben, je nachdem -- und dann
an dem Tage, da der +eine+ große, warme Atemzug der Befreiung durch die
Städte geht und alle Menschen, auch die in den Krankenstuben, sprechen:
»Ja, +jetzt+ ist der Frühling +wirklich+ da!« -- und dann in immer
kürzeren Zwischenräumen.

In den Pfingsttagen richtete er sich gewaltig empor; ich spürte seinen
heißen Atem an der Wange ...

An einem heiligen Pfingstmorgen in früher Kindheit ist er ja auch zum
erstenmal in mir geweckt worden. Damals nahm ein älterer Bruder mich
bei der Hand und führte mich das Ufer des breiten Elbstromes hinunter.
Und sieh: jenseits des breiten, sonnigen Glanzes lagen blaue Berge,
denkt euch nur: +blaue+ Berge! Als mir mein Bruder dann noch sagte,
die Bläue komme von den Heidelbeeren her, mit denen die Berge über und
über bewachsen wären, da wuchs mein Verlangen ins Unendliche. Von jenen
blauen Bergen kam meine Wanderlust.

Nun hatt' ich gesehen, daß es noch eine Welt gab jenseits unseres
Dorfes. Mehr noch +gefühlt+ als gesehen! Mein inneres Leben hatte
ein Jenseits bekommen, eine nebelblaue Weite, in der meine Träume
tanzen konnten. Von jenem Tag an gab es in meiner Seele Heimat und
Fremde. Wir waren weit, weit gegangen, wenigstens für meine kurzen
Kinderbeinchen, und zum erstenmal fühlt' ich den geheimnisvollen
Zauber, den Ueberwindung des Raumes und Wechsel der Umgebung mit sich
bringen. Ich weiß nicht, ob es anderen auch so ist: aber für mich hat
die Ueberwindung großer Entfernungen, wie sie z. B. die Dampfkraft
ermöglicht, etwas Anziehend-Unheimliches. So ein Handlungsreisender
-- ich bitte um Entschuldigung, wenn ich mich irre, und es gibt ja
gewiß auch andere -- spielt heute abend seinen Skat in Leipzig und
morgen abend in Berlin, und wenn er beide Male gleiche Karten hat,
ist es ihm ganz einerlei. Hab ich recht? Nun ja, es kann auch wohl
nicht anders sein. Aber +ich+ sage mir in solchem Falle gedankenvoll:
»Gestern in München -- und heute in Posen!« Und darin liegt dann so
ein übermenschlicher Schicksalsklang wie etwa in den Worten: »Heute
rot -- morgen tot.« Es genügen schon die Bahnhöfe solcher zwei
Endpunkte, um Schauer der Raumüberwindung in mir zu erwecken. Es mag
wohl daher kommen, daß alle Dinge für mich Gesichter haben, seien es
auch nur Steinwände, eiserne Träger oder bestaubte Fensterscheiben,
keine Menschengesichter, sondern solche Gesichter, wie sie Steinwände,
eiserne Träger und bestaubte Fensterscheiben eben haben ...

Und dann kamen alle die Pfingstfeste, da ich in der Nacht vor der
Ausgießung des heiligen Geistes mit meiner Mutter bis zwei Uhr, bis
drei Uhr bei der Lampe saß und seligen Blickes zusah, wie sie aus dem
vergangenen Pfingststaat des Vaters den neuen Pfingststaat des Sohnes
erstehen ließ. Ich sehe noch, wie auf den treuen, nimmermüden Händen
der gelbe Lampenschimmer lag, ein Schimmer, der mir dann vor den
stillen Augen zum gelben Sonnenschein auf Wald und Wiesenpfaden ward.
Das schönste von allem Glück sind die geweihten Stunden der Erwartung,
besonders die schweigend bewegten Nachtstunden, nach denen die Licht-
und Klangfanfaren eines großen Morgens kommen sollen.

In solchen Nächten braucht man keinen Schlaf. Leg dich mit der
Erwartung von Leiden nieder, und aus dem längsten und schwersten Schlaf
erwachst du ohne Erquickung; wiegt sich aber dein Herz auf Flügeln
fröhlicher Hoffnung, so nippst du wie ein Vogel einen einzigen Tropfen
aus dem Wasser der Träume und fliegst gestärkt in den Morgen hinaus.

Ja, mit starken Beinen marschierten wir in allererster Frühe des
Morgens hinaus. Die Tradition verlangte das: erste, keuscheste
Herrgottsfrühe. »Herrgottsfrühe« -- welch ein wunderbares Wort das
ist! Alle Menschen schlafen noch; selbst die Vögel hocken noch im
Nest; nur der Herrgott und du sind schon wach, und du fragst ganz
unbefangen hinauf: »Wie wird's denn heut' werden?« denn er hat noch
Zeit, ein Wort an dich allein zu wenden. Und leichte Sommerkleider
verlangte die Tradition, bei den Mädeln sogar helle Kleider, wenn es
auch sanft und hartnäckig regnete und der Regen nur selten unterbrochen
ward durch ein wenig Schnee. Was Faust vom Ostermorgen sagt, mag ja
im sechzehnten Jahrhundert richtig gewesen sein, heutzutage stimmt es
nicht mehr, wenigstens nicht in Norddeutschland. Am Osterfeste macht
man Schlittenpartien, freut sich aber, wenn man wieder beim Ofen sitzen
und Grog trinken darf. Pfingsten ist das Fest, da die Menschen aus
ihren steinernen Gräbern auferstehen, um Licht zu trinken. Und solch
ein Fest verregnen lassen (womöglich noch mit Schnee dazwischen), das
kann nur der Teufel tun; denn ein Herrgott bringt dergleichen einfach
nicht übers Herz. Pfingsten im strömenden Regen beginnen und verrinnen
sehen, das war so, wie wenn unser bester Freund uns meuchlings einen
Dolchstich versetzt; man stand am Fenster und sprach in sich hinein:

»Das war kein Heldenstück, Oktavio!«

Ich zog meine Eltern so oft ans Fenster und wiederholte so oft die
Behauptung, es beginne jetzt im Westen »aufzuklaren«, daß sie bald ganz
meiner Meinung wurden und die günstigsten Prognosen stellten. Auf das
Wetter hatte das freilich keinen Einfluß. Und es rührt mich noch heute
ganz seltsam, wenn ich Arbeiter mit ihren Frauen und Kindern in dünnen,
weißen Pfingstgewändern, die melancholisch am Leibe herunterhängen,
unter dem Regen fröstelnd dahinschleichen sehe. Wer sich aus jedem
Tage einen Sonntag machen kann, der hat gut mit überlegenem Spotte zu
lächeln: »Warum heben diese Leute sich ihren Staat und ihr Vergnügen
nicht auf für einen späteren Tag? Ein Sonntag ist doch wie der andere!«

Ganz recht: ein Sonntag ist wie der andere; aber keiner ist wie der
Pfingstsonntag. Am Pfingstsonntag ist in diesen Leuten das Maß der
Frühlingssehnsucht voll, und es +muß+ überströmen.

Ja, Sommerkleider mußten es sein und Strohhüte, und in der Flasche
mußte Himbeeressig sein -- für unerfahrene Zungen ein köstlicher Trank
-- und in der »Botanisier«-Dose ein Frühstück mit Schinken, Eiern oder
noch selteneren Dingen. Ich gebe gern zu -- ich seh' nicht ein, warum
ich mich genieren soll --, daß meine Seligkeit ein inniges Gemisch
war von Schönheitsfreude und Schinkenhoffnung; aber ich bestreite auf
das entschiedenste, daß sie nur aus letzterer bestanden habe, wie bei
einigen meiner Kameraden. O nein, ich sah wohl die festliche Schönheit
der breiten Wiesen, auf denen behende Burschen nach schlanken,
tanzenden Mädchen haschten; ich blickte wohl mit heimlichem Entzücken
seitwärts in grüne, heilig-dunkle Säulengänge, wo die Amseln furcht-
und harmlos über den Weg liefen; ich sah wohl die Schönheit auf den
Gesichtern, wenn dem blinden Geiger ein Groschen in den Hut fiel;
ich bemerkte wohl, daß die weißen Segel auf dem Fluß so stillächelnd
dahintändelten, als ergingen sie sich ziel- und wunschlos auf den
Fluten der ewigen Seligkeit, und ich sah wohl, wie die Birke ihr langes
Haar übers Gesicht fallen ließ, daß die Gräser damit spielten, und wie
sie sich immer wieder neigte und sich immer wieder neigte und immer
wieder, mit zärtlicher Geduld, wie eine junge Mutter. Und wenn ich
damals gewußt hätte, daß +das+ das Glück sei, was um die flüsternden
Zweige flimmert und über den wandernden Strömen schimmert -- wenn ich
das geahnt hätte ...!

Kann es euch wundern, daß gerade am Pfingstfest die Wandersehnsucht in
mir aufstand, unbarmherzig, stark, wild, rauh, und dann mit einem Mal
das ganze Innere mit lieblicher Glut erfüllend?

Daß ich mit einem Mal an einen kleinen Steg über einen Arm des grünen
Dürrensees denken mußte, an ein paar Brettlein, von denen aus man
eine andere Welt erblickt? Denn diese ungeheure, schweigende Runde
wildauftrotzender Felsen gehört unmöglich zu der Welt, die wir kennen
und in der wir leben. Dies Tal der ewigen Ruhe ist von der Welt des
Strebens geschieden durch ewige Felsen. Hier trank ich bei lebendigem
Leib die Wollust des Sterbens. Du stehst und starrst -- und fühlst, wie
unter dir das Tägliche versinkt; immer noch tiefer versinkt es, immer
noch tiefer. Und starrend versinkst du selbst in unergründliche Tiefen
der Seeleneinsamkeit. Du hast nicht Freund, nicht Weib, nicht Kind
mehr; dein Leben ist ausgelöscht; du bist der letzte Mensch unter den
furchtbaren Schauern steiniger Oede.

Und wie dein Blick noch starrend hängt am ragenden Geklüft, da steht
mit einem Mal auf schimmerndem Grat eine ferne Erinnerung in rosigem
Gewande und blickt dir gerad' ins Aug'. Habt ihr's gesehen, daß auf
den höchsten Höhen Erinnerungen wohnen? Daß sie auf leuchtenden Zinnen
stehen, über den schneeschimmernden Grat wandeln, an grauen, drohenden
Abgründen hangen?

Ueber einem gebietenden Gipfel leuchtete mir die Erinnerung auf an den
Tag, da ich, ein achtjähriger Bube, durch die blendend illuminierten
Straßen meiner Heimatstadt geführt wurde und von allen Lippen das Wort
klang: Der Friede ist geschlossen.

Jenen sanften Abhang herab kam die Erinnerung, wie ich, ein Jüngling,
fast noch ein Knabe, durch abendlich-goldene Felder ging, des Francis
Bacon scharfes »Organon« in der Tasche, die Leiden des jungen Werther
aber im Herzen und im Kopfe.

Ueber jenen Sattel aber mußte im nächsten Augenblick Hand in Hand
der liebliche Reigen jener Stunden heraufkommen, da ich mit Ortrun
am Strande saß und sie mir ihre Blumen ins Gesicht warf, weil sie zu
schüchtern war, sie mir in die Hand zu geben.

So taust du allmählich wieder auf von Erstarrung und Tod und liesest
in dem Gezack der Höhen und Abgründe die Linien eines Menschenlebens:
Du hebst endlich wieder den Stab zu neuem Wandern, und mit dir wandern
droben auf den Bergen die wilden, grauen Stunden deiner Kämpfe und alle
sanften Tage deiner Liebe. --

Und kann es euch wundern, daß ich Pfingsten auch an Cenzi denken
mußte, an Cenzi von Mayrhofen im Zillertal, deren Licht uns
gastlich entgegenleuchtete, als wir drei Wandergesellen abends nach
zweistündigem Marsch im Regen nach diesem Dorfe gelangten, weich bis
ins Gemüt? An Cenzi, das Mädchen mit der revolutionären Orthographie
und dem reichen Gemüt, das uns mit einer durchaus flüssigen Suppe
und einem sehr reservierten Kalbsbraten erquickte und auf unseren
einstimmigen Liebesschwur erklärte, daß sie unsere Gefühle erwidere,
alles für einen Gulden siebzig? Freilich kann ich noch heute den
nagenden Zweifel nicht los werden, ob Cenzi unsere Gulden nicht +noch+
inniger liebte als uns: denn wenn wir noch dabei waren, das Letzte aus
der Flasche ins Glas zu gießen, so fragte sie schon mit Leidenschaft:
»Mögen S' noch ane?« und wenn wir dann mit Gefühl erwiderten: »Ja,
bringen S' noch eine Viertel«, dann sprach sie: »Mögen S' net a Halbe?«
Eine so naive, quellfrische Guldensehnsucht findet man nur noch bei den
unverfälschten Kindern des Gebirges.

Oder nimmt es euch wunder, daß ich an Monika dachte, an Monika vom
Mahlknechtsjoch, die in jeder Beziehung runde Monika mit den runden
Augen, die über alles lachte? Wenn man sagte: »Monika, bestellen Sie
mir eine Droschke!«, so lachte Monika, das Merkwürdige aber war, wenn
man sagte: »Monika, bringen Sie mir einen Kaiserschmarren!«, so lachte
sie auch. Am meisten aber lachte sie, als einer von uns den Lehrsatz
aufstellte: »'n +bißchen+ dumm ist +jeder+.« Die Sache ist ja auch
komisch. Und dann brachte sie einen niemals ganz zu bewältigenden
Kaiserschmarren und eine Erbsensuppe, die so unendlich war wie ihre
Fröhlichkeit, und alles stellte sie uns hin mit so mütterlicher
Freundlichkeit, als wären wir ihre drei jüngsten Buben, die sie einmal
gründlich durchfüttern müsse.

Oder daß ich an Mali dachte in der Dominikushütten, die mordssaubere,
blitzäugige Mali, die so freundlich und so betulich war und dann
zu dem Buben auf dem Hof, als sie nicht wußte, daß jemand auf dem
Altane stand und sie hörte, die eindringlichen und hochtonigen Worte
sprach: »Willst glei die Ziegen in Ruh lass'n, du sakrischer Lauskerl,
malefizlischer!« Sie sprach das in einer Weise, die den Gedanken an
eine eheliche Verbindung in das Innerste der Brust selbst eines geübten
Ritters St. Georg zurückgescheucht hätte. Oder an den Aufstieg zum
Pfitscher Joch, am Stampflerferner vorbei und an den kleinen dunklen
Seen, die wie schwarze Augen regungslos in den Himmel starren? Oder an
den Abstieg in das menschenarme, melancholische Pfitschtal, wo ich, als
wir nahe vor St. Jakob angekommen waren, immer wieder zurückschauen
mußte nach einer Kirche, über der ein himmlisches Licht entzündet war?
Ihr müßt dem Wort »himmlisch« erst alle die Bedeutungen ausziehen,
die unsere kleinen Mädchen ihm aufhängen, wenn sie von »himmlischen«
Tüllgardinen oder von »himmlischen« Zeichenlehrern sprechen. Nehmt
einmal bitte das Wort »himmlisch« in seiner reinsten Ursprünglichkeit
und denkt euch ein allerreinstes Licht! Ueber dem Kirchlein lag
ein Gletscher im hellsten Mittagssonnenschein, und der Turm wies
mitten in den Glanz. Es war ein alleinseligmachendes Kirchlein; wer
hindurchging, der mußte unmittelbar ins ewige Licht gelangen, und
selbst der schwärzeste Bösewicht, wenn er in den Bannkreis dieses
Leuchtens trat, mußte sogleich erstrahlen wie der weißeste Engel.

Ach, leider ist dieses himmlische Licht ein Trug; in den Köpfen
der Menschen fanden wir nichts davon. Welch ein psychologisches
Raffinement, welche Kunst der Mitteilung gehörte dazu, um wieder auf
den richtigen Pfad zu gelangen, den wir im strömenden Regen verloren
hatten, und endlich einen Wagen zu bekommen, der uns in diesem Regen
nach Sterzing brachte. Die Fahrt dauerte drei Stunden, von denen wir
nach ungefährer Schätzung eine auf unseren Sitzen und nur zwei in
der Luft verbrachten. Wir waren vorurteilslos genug, über jeden Stoß
zu lachen, wenn unser Lachen nur nicht regelmäßig durch den nächsten
Stoß abgebrochen worden wäre. Gleichwohl war unsere Stimmung die
ausgelassenste Heiterkeit, wenn wir auch dazwischen mitunter den
stillen Gedanken hatten, daß unser Wägelchen im nächsten Augenblick in
tausend Splitter zerschmettert werden oder mit Insassen und Pferden
in den Abgrund hinunterkollern würde, wo der durch den langen Regen
übermäßig geschwellte Pfitschbach mit Donnern und Brausen abwärts
stürzte. Der Kutscher stieß ein »Jesus Maria!« über das andere aus.
Es war eine jener Situationen, die man, wenn man einmal darin ist,
mit lächelndem »Mannesmut« hinnimmt, deren Wiederholung man aber
künftig nach Möglichkeit zu vermeiden im stillen beschließt. Der
niedlichste von allen Humoren war aber, daß wir schließlich noch auf
eine lange Strecke aussteigen mußten und nun zu Vieren den an allen
Rädern gebremsten Wagen zurückhielten, damit er den Pferden nicht
auf die Hacken falle und hübsch auf dem Weg bleibe. Es war noch ein
wahres Glück, daß wenigstens der Regen anhielt. Wir hatten für solche
Perioden der Trübsal einen Fundamentalsatz der Berliner Philosophie,
den wir uns dann gegenseitig ins Herz prägten; er hieß: »Det is
+jrade+ wat Scheenes!« Solche Sätze sind viel wert. Es ist damit wie
mit den Salmiak-Pastillen; eigentlich sind sie scheußlich; aber man
hat wenigstens etwas in den Mund zu nehmen und in langen Stunden eine
Unterhaltung.

Und schließlich kamen wir doch nach Sterzing in ein hübsches,
blitzeblankes Hotel, und wer mir jetzt noch +ein Wort+ auf die Kultur
schimpft, der hat's mit mir zu tun.

Für die Natur braucht man nicht einzutreten, die verteidigt sich selbst.

Die redet aller Sprachen Sprache, die aller Menschen Muttersprache ist.
Ihre Sprache klingt in Bergen und Tälern, aus Wäldern und Strömen.
Und was mir das Gebirge Unaussprechliches vertraut hat: in wenigen
Wochen geh' ich und sag' es mit stummen Lippen seiner geheimnisvollen
Schwester, dem Meer, dem tausendstimmigen und millionenäugigen, dem
herrlichen, dem -- o, dem -- dem --

Kusch!!!



Der süße Willy


Es war an einem Sonntag; denn der süße Willy sollte ein Sonntagskind
werden. Der welthistorische Moment seiner Geburt war auf eine Minute
vor zwölf Uhr mittags festgesetzt. Aber schon seit acht Uhr morgens
waren im Schlafraum der Mutter außer der Hebamme, der Wärterin und
der Amme sieben zukünftige Tanten und Cousinen gegenwärtig. Eine
angeregte Unterhaltung und Pralinés sind für Wöchnerinnen im Augenblick
ihrer Niederkunft sehr zuträglich. Von letzterwähntem, nicht genug
zu empfehlendem Konfekt schoben abwechselnd Tante Bella und Tante
Julchen der Leidenden ein Stück nach dem andern tröstend in den Mund.
Tante Minka hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren entzückenden
Molly, einen seidenweich behaarten Choleriker, mitzubringen, der
der Gebärenden beruhigende Laute zubellte oder fein langgezogenes
Klagegeheul mit ihrem Wehgeschrei vereinigte. Tante Elvira dagegen,
ein Fräulein von siebenundfünfzig, welcher nach unerforschlichem
Ratschluß der Kindersegen versagt geblieben war, wiegte auf ihren
Händen ein für den süßen Willy bestimmtes Puppenkerlchen, das, wenn
man ihm nur geneigtest auf den Bauch drücken wollte, zwei Becken
zusammenschlug und in anerkennenswerter Weise quietschte. Diese vier
achtbaren Damen nahmen den Platz am Bette ein, der von Rechts wegen
der Wehmutter und der Wärterin gebührte, den sie aber behaupteten in
der richtigen Erkenntnis, daß die Nähe von Verwandten immer etwas
Beruhigendes habe für »Frauen in solchen Umständen«.

Immer näher rückte der bedeutungsschwere Moment.

Frau Helmerding stieß einen furchtbaren Schrei aus; denn die Mutter des
süßen Willy hieß Frau Helmerding.

-- Bäh -- -- -- bäh -- -- -- bäh -- -- --

Das Unvermeidliche war geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen.
Der süße Willy war mit beiden Füßen in etwas getreten, was man Leben
nennt, und von nun an ein Faktor, mit dem die Welt zu rechnen hatte.

Die zärtlichen Verwandten, die vor der kritischen letzten halben Stunde
doch geflohen waren, kehrten in Prozession zurück.

Damit das Seelenleben des süßen Willy ungetrübt und heiter dahinfließen
könne von Anbeginn, hatte man seit acht Uhr ein Zuckerbeutelchen
bereitgehalten. Der liebe Junge war nicht so bald vorhanden, als ihm
Cousinchen Nelly mit dem Saugobjekt in den Mund fuhr. Willy lutschte
schweigend am süßen Dasein.

Nachdem er gebadet worden war, ging er von Hand zu Hand. »Wie süüüß,
wie rraitzend, wie hiiiimlisch, wie enttt--zückend!« und zum Schluß in
siebenstimmigem Unisono sanft versäuselnd: »Wie süüüüß!«

Endlich kam die süße Last an Jungfer Elvira. Sie nahm mit sachkundiger
Miene das Knäbchen wie ein Wäschebündel unter den linken Arm, ließ mit
der rechten das Puppenkasperle tanzen und sang dazu ohne Schneidezähne
das allerneueste Gassenhauerchen:

    »Mitten in der Elbe
    schwimmt ein Krokodil.«

Dabei hätte sie aber das Bündel Weltbürgertum beinah auf den Boden
fallen lassen, und nur einem schnellen Griff der Wärterin verdankte
der junge Helmerding sein Fortbestehen.

Der junge Helmerding war der Erstgeborene des alten. Dieser war aber
noch gar nicht alt, zählte vielmehr erst behäbige vierzig Jahre. Mit
neununddreißig hatte er sich verheiratet, nachdem er kurz vorher in
einem Bauunternehmen einen kapitalen Zug getan und gleichzeitig in
Erfahrung gebracht hatte, daß Frau Helmerding ihm vierzigtausend
Taler mitbringen würde. Es gibt eine unkeusche Leichtfertigkeit, die
früher heiratet, als solche Bedingungen gegeben sind, und Kinder auf
Kinder in die Welt setzt. Wie konnte bei solchen Existenzen von jener
wahrhaftigen, ruhigen, tief-sittlichen Vaterfreude die Rede sein,
die er empfand, als er von der Fondsbörse zurückgekehrt war, das
stille Glück der gestiegenen Kurse in der Tasche und das schreiende
eines jungen Erben in den Armen! Der Junge sollte aber eine Erziehung
genießen, daß sich der --! In die teuerste Schule, das stand fest. Wir
haben es ja dazu.

Als man der Mutter davon sprach, daß das Kind, damit es sie nicht
störe, in einem andern Zimmer bei der Amme schlafen solle, wäre sie
fast außer sich geraten. So die Gefühle einer Mutter zu verletzen! Ha,
eine Löwin, der man ihr Junges rauben will! Als aber der junge Löwe
schon die erste Nacht unausgesetzt brüllte, weil er nicht schlief,
erteilte sie am Morgen jenem Vorschlag ihre Genehmigung.

Der süße Willy machte jetzt einen nächtlichen Kursus für
Lungengymnastik durch. Vermöge einer Ausdauer, die die beseligendsten
Hoffnungen für seine spätere Entwickelung erwecken mußte, brachte er
es bald dahin, daß beim Schreien sein edel gebildetes Profil hinter
der Mundöffnung verschwand. Ein an poetischen Vergleichen reicher
Mann würde den Mund in solchen Augenblicken einer aufgeklappten
Zigarrenkiste nicht unähnlich gefunden haben. Was dem süßen Willy
noch an Fülle und Rundung des Tones abging, ersetzte er durch
Haarwurzelfeinheit des Timbres und durch warm beseelten Vortrag. Und
in seinem noch unerhellten Bewußtsein lebte unverkennbar ein Nachklang
aus den glücklichen Zeiten der Folter. Wenn nämlich seine Amme in die
süße Wollust des Entschlummerns versank und sich dort befand, wo wir
nach Egmont »aufhören, zu sein«, begann der süße Willy zu schrein,
sicher intonierend, den ersten Ton fest und kräftig aufsetzend, wie
die Gesanglehrer sagen. Wenn dann die Amme, durch dieses eigenartige
Zusammentreffen natürlich auf das angenehmste überrascht und erheitert,
das unschuldige Wurm seinen seidenen Kissen entnahm, beeilte sich
dieses, durch ein souveränes Lächeln auszudrücken, daß es mehr als
Beschränktheit sei, wenn man glaube, ihm fehle irgend etwas. »Im
Gegenteil!« leuchtet' es aus seinen edel-feurigen Augen, »~toujours
fidèle et sans souci~!« Von neuem sorgfältig zum Schlaf gebettet,
war er so rücksichtsvoll, mit dem Beginn der zweiten Konzertnummer
zu warten, bis das Bewußtsein der Amme wieder zu neun Zehnteilen in
bessere Gefilde entschwebt war und nur noch mit dem Rest im schlechten
Diesseits verweilte. Hatte sich dieser Vorgang während der Nacht
fünf- oder sechsmal wiederholt, so war die Amme am Morgen in jener
Stimmung, aus der die Kündigungen und schroffen Abschiede hervorzugehen
pflegen. Befolgte aber eine andere Amme das manchen Orts gelobte
Prinzip: »Schreien lassen, was die Lunge hergeben will«, so blieb eine
derartig rohe und herzlose Person natürlich keine acht Tage im Hause
der liebevollen Helmerdings. Große Männer verbrauchen die Menschen
ihrer Umgebung schnell. Da Willy ein großer Mann werden sollte, so
verbrauchte er schon im ersten halben Jahre seines Lebens vier Ammen.

Es gehört zu den innigsten Ergötzungen eines Menschenfreundes, die
Jugend eines großen Mannes zu durchforschen und in tausend kleinen
Zügen eines von den trefflichsten Eltern herangebildeten kindlichen
Charakters schon das Bild des späteren Menschen vorgebildet, in dem
stillen Weben seiner Entfaltung schon die Kräfte seines zukünftigen
Strebens und Wirkens tätig zu sehen. Seit Vollendung seines ersten
Jahres wurde der süße Willy von seinen Eltern regelmäßig mit zur Tafel
gezogen. Eine umfassende Geschmacksbildung offenbarte sich schon
hier, und seinem strategischen Ueberblick entging kein Braten, kein
Kompott, kein Ragout, kein Salat. Sein Verlangen, von jeder Schüssel
zu erhalten, deutete er der Einfachheit halber durch ein mäßiges, fünf
Sekunden langes Gebrüll an. Wurde sein Wunsch aus irgendeinem Grunde
nicht sofort erfüllt -- an dem guten Willen der Eltern mangelte es
gewiß nicht --, so ergriff er mit ruhiger Entschlossenheit das nächste
Mittel, d. h. die nächste Schüssel, um sie auf den Boden zu befördern.
Mit einem sanften Verweis legte ihm alsdann die Mutter das Gewünschte
reichlich auf den Teller. Wir würden jedoch aus dem Charakterbilde
des süßen Willy den wesentlichen Zug des leicht verletzten Ehrgefühls
fortlassen, wenn wir nicht betonten, daß er auf jenen Verweis wieder
mit einem etwas gesteigerten Gebrüll von fünf Sekunden antwortete und
seiner Mutter mit den zierlichen Stiefelchen gegen die Beine stieß.

Eine vornehme Verachtung der Magenfreuden bekundete Willy, sobald
er satt war. Wenn er mit dem Löffel in die Suppe klatschte, daß die
Spritzelchen umherflogen, oder wenn er den Finger in die Sauce tauchte,
um sinnige Figuren auf das Tischtuch zu malen, so war der Vater in
seiner philiströsen Auffassung der Kindesnatur vielleicht brutal genug,
ihm das ernstlich zu verbieten; aber das weiche Herz der Mutter empfand
richtiger.

»Was du das Kind auch immer kommandieren mußt! Kinder sind doch Kinder!
Das arme Wurm weiß ja noch gar nich, daß er das nich darf. Muß nich
wiedertun, hörs, mein Süßen?«

»Willy +will+ aber malen!« Und Willy malte einen Kreis, der einen Kopf
bedeuten sollte.

»Willy, du solls das nich tun!« mahnte die Mutter.

Willy zeichnete den Rumpf zu dem Kopfe.

»Willy, kanns du nich hörn?« fragte die Mutter.

Jetzt bekam der Rumpf Arme.

»Gott, Willy, nu laß das doch!« seufzte die Mutter.

Und Willy fügte mit zwei genialen Strichen die Beine hinzu.

»Hä, das bist du!« rief er, indem er seinen Papa mit lieblicher
Dreistigkeit anlächelte.

Und die Eltern lachten in seliger Freude.

»Was doch der Junge für Einfälle hat!«

Und in überwallender Freude versetzte die Mutter dem süßen Bengelchen
einige knallende Küsse.

Man hätte nun glauben sollen, daß ein so reichlich genährtes und
mit den kräftigsten Nahrungsmitteln erzogenes Kind von Krankheiten
verschont geblieben wäre. Seltsamerweise war dem nicht so. Der arme
Willy mußte eine lange Reihe von Verdauungsstörungen mit deren Folgen
durchmachen. Aber aus jedem Leiden ging sein Charakter gefestigter
hervor; mit jeder Rekonvaleszenz nahm seine Willensstärke imposantere
Dimensionen an. Konnte man diesem Kinde schon, wenn es gesund
war, nichts versagen, so war es dem genesenden, »noch halbkranken
Zuckerchen« gegenüber das einfachste Gebot der Elternliebe, die
wiedererwachende Lebensfreude zu schüren, indem man die Wünsche des
kleinen Herzens weckte, indem man fragte, ob es vielleicht dies wolle,
oder ob es vielmehr das wünsche, oder ob es nach jenem Verlangen
trage, oder -- ob es nicht etwa vorziehe, gleich alle drei Dinge zu
erhalten. Willy zog in der Regel dieses vor. Eine entzückend geniale
Launenhaftigkeit veranlaßte ihn dabei, das, was er noch eben verlangt
hatte, im nächsten Augenblick nicht mehr zu goutieren und es der
nächsten Bonne oder Wärterin an den Kopf zu werfen. Kindermädchen,
Bonnen und Wärterinnen wechselten in seiner Umgebung immer häufiger.
Es war offenkundig, daß alle Zärtlichkeit und alles Pflichtgefühl aus
diesen Kreaturen geschwunden war. »Entsetzlicher Balg«, »unausstehliche
Range« und ähnliche Blasphemien entblödeten diese Schamlosen sich
nicht, in längeren Charakterschilderungen des kleinen Willy vor der
Mutter anzuwenden, ja, eines der abgehenden Kindermädchen hatte
dem armen Knaben sogar die naturgesetzliche Existenzberechtigung
abgesprochen, indem es der Mutter mit beinahe wissenschaftlicher
Bestimmtheit versicherte, Willy sei »ein wahres Untier«.

Willy Helmerding sollte neben vielen anderen Sterblichen dazu berufen
sein, der ärztlichen Wissenschaft wiederholt ein so glänzendes Fiasko
zu bereiten, daß dem Verfasser der »Kreutzer-Sonate« das Herz im Leibe
gelacht hätte, wenn er es hätte beobachten können. Da zeigte es sich
wieder einmal klar und offenbar, daß diese Herren Doktoren nicht einmal
imstande sind, den einfachsten Darmkatarrh zu heilen. Unleserliche
Rezepte konnten sie schreiben; aber so weit war ihre Wissenschaft
natürlich nicht gediehen, daß sie die Annahme in Betracht zog, Willy
werde vielleicht beim Einnehmen der Mixturen die Zähne zusammenbeißen
und die köstliche Flüssigkeit der Wärterin ins Gesicht prusten! Einem
ohnehin schon geschwächten Magen diätetische Enthaltung zumuten --
einem fiebernden Kinde eiskalte Duschen verordnen: das waren noch die
harmlosesten Einfälle ihrer vivisektorischen Grausamkeit. Ein wahres
Wunder, daß sich nach all den Pfuschern endlich dennoch ein Arzt
fand, der alle Schwierigkeiten auf ebenso überraschende wie leicht
verständliche Weise löste! Dieser Mann bemerkte den Eltern mit seinem
Spott, daß die letzte Ursache von Willys Krankheit in ihrer Affenliebe
zu suchen sei und daß dem Kinde nichts fehle als ein Paar weniger
bornierte Eltern. Da sah man auf den ersten Blick: der Mann hatte
was gelernt! Herr Helmerding und Frau hörten seinem diagnostischen
Vortrage mit offenem Munde und einem höchst intelligenten,
entzückt-verbindlichen Lächeln zu. Uebrigens, hatte der Arzt in seiner
verblümten Weise weiter erklärt, könne es ihm ja einerlei sein, ob
sie ihr Kind zur Futtertonne machen wollten oder nicht; wenn man
aber seine Anordnungen nicht befolgen wolle, so möge man sich nicht
unterstehen, ihn rufen zu lassen; er werde sonst ihrem Boten die Tür
weisen. Seltsamerweise gesundete Willy nach den Rezepten dieses Arztes
auffallend schnell, und damit war wieder einmal bewiesen, wie sehr in
der Medizin der Gebrauch der deutschen Sprache dem der lateinischen
vorzuziehen ist.

Eine der traurigen Folgen von Willys Grundübel war auch ein länger
andauerndes Ohrenleiden, dessen Heilung regelmäßige Einspritzungen
erforderte. Solche Prozeduren pflegen trotz der Versicherungen der
Aerzte niemals sehr angenehm zu sein, wie man denn überhaupt auf das
subjektive Urteil der Aerzte in dieser Hinsicht nicht viel geben und
es z. B. sehr wohl erleben kann, daß einem nach der mit gewinnender
Liebenswürdigkeit gegebenen Versicherung, es handle sich um eine ganz
leichte und schmerzlose Operation, ein Bein abgesägt wird. Immerhin
aber erschien es übertrieben und nicht ausreichend motiviert, wenn
Willy bei jedem Herannahen einer solchen Dusche eine Art Kannibalentanz
ausführte und diverse Gegenstände zerschlug oder zertrat oder zerriß
oder seine Mutter in den Finger biß. Der geschäftskluge Papa sah
sehr bald ein, daß er bei weitem billiger »wegkomme«, wenn er seinem
Einzigen für jede Einspritzung, die er sich hübsch gefallen lasse, eine
Reichsmark verspreche. Und das tat er.

»Erst hinlegen!« bemerkte Willy mit treuherziger Offenheit; denn er
hatte seinen Vater längst als das Muster eines klugen Mannes kennen
gelernt.

Die Blicke der beiden Eltern begegneten sich in einem seligen Lächeln.
Ein Blitzjunge!

»Na da, da liegt es!«

»Das sind ja nur zehn Pfennige!«

Papa wollte sich ausschütten vor Lachen und rückte endlich mit einer
Reichsmark heraus.

Das Geld durfte Willy nach eigenem Belieben verwenden, und da er in
jedem erreichbaren Konditor-, Viktualien-, Spielwaren- und Tabakladen
erprobte, was er mit seiner Kasse erlangen könne, lernte er schon früh
den Wert des Geldes schätzen.

Der scharfsinnige Leser wird sich längst gesagt haben, daß Willy im
Verkehr mit anderen Kindern von bestrickenden Umgangsformen gewesen
sein muß. In den ersten Jahren seines Knospendaseins hatte er immer
einen großen Heiterkeitserfolg damit erzielt, daß er der Amme, seiner
Mutter oder seinem Vater ins Gesicht schlug. Wenn Fremde zum Besuch da
waren, wurde der in Freiheit dressierte Willy vorgeführt.

»Willy, schlag mich mal,« ermunterte die Mutter.

Willy, weit entfernt, sich zu zieren, schlug sie mal.

»Is das nu nich zu süß?« fragte Frau Helmerding.

Kein Gast konnte umhin, zu konstatieren, daß das in der Tat +zu+ süß
sei.

Willy setzte diese Produktionen in seinen späteren Jahren mit
wachsendem Erfolge fort. Es war ihm Bedürfnis, fremde Kinder zu
knuffen, bei den Haaren zu zupfen und zu stoßen, daß sie auf die Nase
fielen. Doch bewahrte er immer die pietätvolle Rücksicht, die er,
wie er wußte, älteren und größeren Kindern schuldig war; nur kleinere
beglückte er mit seinen Gunstbezeigungen. Mit Vorliebe führte er
seine Angriffe hinterrücks aus, einzig aus dem Grunde, weil so die
Ueberraschung größer wurde. Verfolgten ihn dann die Betroffenen, so
wurde er sich seiner ganzen Hilflosigkeit bewußt, und wie rasend
lief er davon, unausgesetzt »Mamaaa« brüllend, bis er seine Haustür
erreicht hatte und wieder im Dunstkreis der mütterlichen Liebe atmete.
Dann plötzlich wurde er sich seiner Würde mannhaft bewußt; er reckte
sich zu seiner ganzen Höhe empor, ließ den Verfolger mit erhabener
Kaltblütigkeit herankommen und spie ihm ins Gesicht. Keine Fischotter
ist jemals behender ins Wasser geschlüpft, als Willy nach solcher
Heldentat ins Haus glitt.

»Sie woll'n mir schon wieder 'was tuuun!« heulte er alsdann seiner Mama
mit dem ganzen Schmerz eines bedrängten Kindes entgegen. Und wehe dem
Vater oder der Mutter, die dann zu Frau Helmerding kamen, um sich über
Willy zu beschweren.

            »Höheres bildet
    Selber die Kunst nicht, die göttlich geborne,
    Als die Mutter mit ihrem Sohn,«

wie sie dastanden: +sie+ »ihr Kind« -- das Wort »Kind« läßt sich mit
so unschuldsvollem, alles verzeihendem Klange sprechen -- ihr »Kind«
verteidigend: »+Das+ Kind? +Das+ Kind? Oh -- -- --« und +er+ hinter dem
Rock der Mutter mit Grimassen hervorschielend.

Mit derselben Leidenschaft, wenn auch natürlich aus gesellschaftlicher
Rücksicht dezenter, kniff und puffte Willy die Kinder, die mit ihren
Eltern bei Helmerdings zum Besuch kamen. Der Lärm, der sich darauf
erhob, wurde regelmäßig dadurch abgeschnitten, daß die besuchenden
Eltern, wie es sich gehört, ihre Kinder wegen ihrer Ungezogenheit
energisch tadelten. Die Höflichkeit ist eine so gefräßige Tugend,
daß sie oft alle andern verschlingt. Die Erwachsenen, die Willy beim
Kommen zunächst fragte, ob sie ihm etwas mitgebracht hätten, beehrte er
damit, daß er an ihnen emporkletterte, an ihren Kleidern seine Stiefel
abwischte, ihnen die Brillen von der Nase riß, sie mit Zigarrenasche
bewarf und durch höchst wißbegierige Fragen nach ihren persönlichsten
und delikatesten Angelegenheiten unterhielt. Freilich muß konstatiert
werden, daß die Besucher ihn in diesen Aufmerksamkeiten ermunterten,
indem sie den zärtlich mahnenden Eltern gegenüber bemerkten, oh, das
schade nichts, das mache nichts aus, der Rock könne leicht wieder
gereinigt werden; sie möchten ihren Willy doch gewähren lassen; er
mache ihnen Spaß ...

So? Ob er das wirklich tue ...

Natürlich tue er das. Sie würden Himmel und Seligkeit verschworen
haben, daß er »ein lebhafter, drolliger Bursche« sei, eine Kritik, die
sie auf dem Heimwege auch insoweit bestätigten, als sie der Meinung
waren, daß »die guten Helmerdings sich da eine allerliebste Kreatur
heranzögen«.

Es versteht sich, daß Willy den ersten Unterricht im Hause empfing,
zu seinem Unglück jedoch von Leuten, die einer wie der andere ihrer
Aufgabe nicht gewachsen waren, und denen Herr Helmerding ihr Gehalt --
er trug seine Goldstücke und Kassenscheine frei in der Westentasche,
und aus der Westentasche bezahlte er -- hinwarf mit der Frage, wie sie
sich erdreisten könnten, sich als Erzieher »ängaschieren« zu lassen,
da sie doch »keine blasse Ahnung« davon hätten, wie man mit Kindern
umgehen müsse.

Den sehr begreiflichen Elternwunsch, das Kind fern vom bösen Beispiel
fremder Kinder zu erziehen, mußten sich also die Helmerdings aus dem
Sinn schlagen.

Zur Ehre des Mutterherzens muß gesagt werden, daß Willy den ersten Tag
seines Schullebens nicht zu bestehen brauchte, ohne mit einem halben
kalten Huhn, einem Fläschchen Rotwein, zwei Apfelsinen und einem halben
Pfund Bonbons ausgerüstet zu sein, und nicht minder muß zur Ehre des
Vaterherzens anerkannt werden, daß dieses Vaterherz anspannen ließ
und seinen Liebling mit zwei Pferden der »Vorschule des Gymnasiums«
zuführte. Die ersten Schulwochen verliefen ohne bemerkenswerten
Zwischenfall; für alle Stunden zeigte der junge Helmerding insofern
ein gleichmäßiges Interesse, als er in allen an die Vertilgung
seines Frühstücks dachte und die Bewältigung dieses Stoffes ihm eine
stets unverminderte Aufmerksamkeit abnötigte. In einem etwas anderen
Sinne als der junge Lessing war er »ein Pferd, das doppeltes Futter
haben muß«. Den Unterrichtsgegenständen gegenüber zeigte Willy jene
Schwäche und Zartheit, welche die Mutter dem Lehrer von vornherein
unter zehnmaliger Anrufung seines schonungsvollen Mitgefühls als
die hervorragendsten Eigenschaften »des Kindes« bezeichnet hatte.
Mit mimosenhafter Empfindlichkeit verschloß sich sein Geist vor der
Berührung jeglicher Erkenntnis, und das »~Noli me tangere~« (zu
deutsch: Nichts tangiert mich) war der unveränderliche Ausdruck seines
Angesichts. Sein Gesicht gehörte freilich zu den in Romanen häufig
erwähnten, die sich »nur in gewissen Augenblicken seltsam zu beleben
scheinen«. Diese Augenblicke waren für Willy gekommen, sobald die
Spielpause begonnen hatte. Auf dem Spielplatz erwarb er sich rasch eine
allseitige Unbeliebtheit, gewann er im Sturme die Abneigung aller.
Er bemerkte mit großem Schmerze, daß die Durchführung des Kneif-
und Puffsystems hier auf fühlbaren Widerstand stieß. Das Verhältnis
zwischen dem Hause Helmerding und der Schule blieb gleichwohl längere
Zeit vorzüglich, bis -- Willy mit nicht guten und endlich gar mit
schlechten Zeugnissen nach Hause kam.

Jetzt hielt Herr Helmerding sen. den Augenblick für gekommen, da
er dem Direktor der Schule in einer energischen Ansprache die
kolossalen Mängel seiner Anstalt und die Grundverkehrtheit der dort
beliebten erzieherischen Maßnahmen explizieren müsse. Er tat dies
unter wiederholter Betonung des Umstandes, daß »sein Kind« doch das
Kind »wohlhabender«, »gebildeter« und »angesehener Eltern« sei. Der
Direktor, der ein so ruhiger Mann war, daß seine Ruhe immer als die
ausgesuchteste Höflichkeit erschien, erlaubte sich die Bemerkung, daß
es immer etwas Mißliches habe, so abschließend über Dinge zu urteilen,
von denen irgend etwas zu verstehen man nicht die Verpflichtung habe.
Er unterbreite Herrn Helmerding hiermit die Protokolle, in denen nur
die gröbsten Untaten und Nachlässigkeiten des Schülers Willy Helmerding
verzeichnet ständen, in der Ueberzeugung, daß die Statistik eine
vorzügliche Wissenschaft sei. Uebrigens könne er Herrn Helmerding Vater
schon jetzt die Eröffnung machen, daß Helmerding Sohn aller Voraussicht
nach das Klassenziel nicht erreichen und deshalb zu Ostern sitzen
bleiben werde. Worauf Herr Helmerding meinte, das werde man -- oho!
-- erst einmal abwarten, es gebe ja noch andere Schulen, in die man
alsdann seinen Sohn bringen werde, und die wohl die »Individualität
der Schüler« (das hatte Herr Helmerding irgendwo gehört) gerechter zu
beurteilen verständen. Der Herr Direktor bemerkte darauf mit einem
unsäglich betrübten Gesicht, daß er untröstlich sei, vor dieser
Drohung nicht in dem Maße erschrecken zu können, wie es vielleicht
wünschenswert wäre, daß seines Wissens keine Schule um träge und
schlecht erzogene »Individualitäten« so dringend verlegen sei, und
deshalb besonders eine staatliche Schule sich nicht in der glücklichen
Lage sähe, den Fortgang eines Willy Helmerding mit versammeltem
Lehrpersonal zu beweinen.

Auf dem Heimwege suchte der knirschende Vater nach einem möglichst
entwürdigenden und verachtungsvollen Ausdruck für den Direktor.
Seine ganze, grenzenlose Geringschätzung dieses Subjekts sollte
sich in diesem Ausdruck erschöpfen. Es währte nicht lange, bis Herr
Helmerding diesen Ausdruck in dem Worte »hungrig« fand. Er konnte
sich keine schimpflichere Charaktereigenschaft denken als den Hunger.
»So'n hungriger Schulmeister!« knirschte er also, »so'n hungriger
Schulmeister!«

Zu Hause angelangt, bemühte er sich redlich und aufrichtig (jeder
Unparteiische mußte das anerkennen), seiner Gattin und seinem Sohne
einen klaren Begriff davon zu geben, »+wie+ er dem Herrn Direktor den
Marsch geblasen habe«, und seine ausführliche Darlegung schloß er
mit der an seinen Sohn gerichteten, innig-warmen, aus der Tiefe des
Vaterherzens kommenden Mahnung, »sich man nix gefallen zu lassen«.

Trotzalledem! Das Unerhörte geschah; man hatte die Stirn, dem Ehepaar
Helmerding um Ostern mitzuteilen, daß der süße Willy sich noch einmal
den Unbequemlichkeiten des elementarsten Unterrichts zu unterziehen
haben werde. Jetzt aber erschien +Frau+ Helmerding im Amtszimmer des
Direktors.

Daß ihr Willy nicht versetzt sei, liege natürlich nur daran, daß
der Lehrer seine Pflicht nicht getan habe. Der wirklich mit einer
niederträchtigen Ruhe begabte Direktor antwortete, ohne auf den
Tenor dieser Bemerkung einzugehen, mit einem sehr instruktiven und
ungemein fesselnden Vortrage über Gerichtswesen im allgemeinen und
Injurienprozesse im besonderen, wobei er besonderes Gewicht auf
die Tatsache legte, daß solche Prozesse bedauerlicherweise nicht
immer mit Geldstrafen, sondern gegebenen Falles auch mit einer sehr
lästigen Unfreiheit der Bewegung für den Verurteilten endigten. Den
herbeigerufenen Lehrer fragte das gekränkte Mutterherz, ob er ihren
Willy wohl nicht leiden möge, daß er ihn nicht versetzt habe. Worauf
dieser weniger ruhige, dafür aber desto derbere Herr sie fragte, ob
sie glaube, daß er jeden verzogenen Faulpelz mit derselben Affenliebe
behandeln könne wie die resp. Mütter? Worauf die beleidigte Mutter
erklärte, daß sie ihren Sohn hiermit »unwiderruflich« abmelde und
ihn nicht einen Tag länger in einer Schule belassen werde, in der er
solchermaßen um den Lohn seines Strebens betrogen werde. Worauf der
ruhige und schweigende Direktor sich deutlich von seinem Sessel erhob
und wiederholt abwechselnd mit je drei Sekunden langem Verweilen auf
Frau Helmerding und auf die Tür blickte.

Willy wurde einer Privatschule übergeben -- selbstverständlich! --
mit hohem Schulgeld -- selbstverständlich! Der Vater betonte dem
Vorsteher gegenüber mit besonderem Nachdruck, daß für Willy Helmerding
ein hohes Schulgeld bezahlt werde. Der Vorsteher klopfte Willy auf
die Backen mit der Versicherung, daß er hier schon etwas lernen
solle; dafür wolle +er+ schon sorgen, der Herr Vorsteher. Dieser Herr
entwickelte dann vor Herrn Helmerding in aussichtsvollen Worten sein
pädagogisches Programm, in dessen Geiste sein Lehrpersonal wohl oder
übel arbeiten müsse -- er dulde nicht, daß auch nur ein Strich anders
gemacht werde, als er es wünsche, das heiße: von den Lehrern; von den
Schülern dergleichen zu fordern, bemerkte der Herr Vorsteher mit einem
sonnigen Blick auf Willy, würde natürlich grausame Pedanterie sein. Aus
welchem allen sich denn auch mit leichter Mühe schließen lasse -- eine
Schlußfolgerung, die er wohl nur bescheiden anzudeuten brauche --, daß
die großen Erfolge seiner Schule im Grunde genommen einzig und allein
auf seine Leitung zurückzuführen seien. Keine Schule könne so sehr die
Individualität der Schüler berücksichtigen wie die seine. Hier könne
Herr Helmerding etwas erleben an Berücksichtigung der Individualität --
oh -- es sei überhaupt gar nicht zu sagen, wie man hier berücksichtige.
Hier geschehe überhaupt nichts anderes als Berücksichtigung der
Individualität. Jeden Buchstaben, jeden Ton im Gesangunterricht,
jeden Lehrsatz der Geometrie erzeuge resp. beweise der Zögling nach
seiner Individualität, selbst wenn diese Individualität dahin ziele,
den Lehrsatz +nicht+ zu beweisen. Wenn sich Herr Helmerding oder sein
kleiner braver Willy (ein wohlgefälliges Kitzeln des vorsteherlichen
Zeigefingers unter dem Kinn des Zweihundertmarkschülers) durch die
Maßnahmen der »Lehrpersonen« belästigt fühlten, so möchten sie nur zu
ihm kommen; Gerechtigkeit sei sein Lebensprinzip.

Diese Schule war in gewissem Sinne das Ideal einer demokratischen
Institution, insofern nämlich, als sie von sämtlichen Eltern geleitet
wurde. Da die Eltern freilich ihre pädagogischen Anregungen von ihren
Kindern erhielten, so waren im letzten Grunde diese die Herren des
Schulorganismus. Der Disziplin, welche in dieser Anstalt herrschte,
glaube ich kein größeres Lob aussprechen zu können, als wenn ich
sage, daß sie eminent gemütlich war. Den Lehrern wurde stets nach
wiederholtem Bitten bereitwillig das Wort erteilt, und es war
keineswegs ausgeschlossen, daß man ihren Ausführungen einige Beachtung
schenkte. Die ernsten Mahnungen und Drohungen der Lehrer wurden stets
mit einem bescheidenen, aber unbefangenen Lächeln aufgenommen.

Leider stand die Beschränktheit der Lehrer oft den besten Absichten
des Herrn Vorstehers im Wege. Er konnt' es nicht begreifen, wie ein
geschulter Pädagoge auch nur einen Augenblick schwanken konnte, den
August Papendieck auf zwei Tage vom Schulbesuche zu dispensieren, wenn
die Schwägerin seines Großonkels Geburtstag feierte.

»Wollen Sie mir denn meine Schüler mit Gewalt vertreiben? Wenn wir den
Knaben nicht auf zwei Tage dispensieren, so fehlt er vier Tage ohne
Erlaubnis, und die Eltern sind beleidigt. Was meinen Sie, wenn die
Papendiecks mir ihre vier Kinder aus der Schule nehmen, he? Dann sind
achthundert Mark jährlich zum Teufel wie gar nichts, die wertvollen
Geschenke nicht einmal gerechnet! +Sie+ geben sie mir nicht wieder.
Die Stapelfeldts waren auch hier und beschwerten sich bitter über die
schlechten Zeugnisse ihres Emil.«

»Er hat die Zeugnisse bekommen, die er verdient.«

»Ach was, Ihre Schüler haben immer schlechte Zeugnisse. Sie beurteilen
alles viel zu streng. Wir sind doch keine staatliche Schule! Das muß
anders werden. Das geht nicht, das geht nicht, das +geht+ nicht so
weiter! Sie haben mir mit Ihrem finsteren Wesen schon mehrere Schüler
vertrieben. Wo soll das hinaus? Wenn +Sie+ mir die Schule verderben,
so bleibt +mir+ andererseits nichts übrig, als mein Lehrpersonal zu
vermindern, seh'n Sie.«

»Ich werde Ihnen die Arbeiten des Jungen zeigen --«

»Ach Gott, das weiß ich ja! Schmierfink erster Klasse -- aber das hilft
uns alles nichts, lieber Herr Müller! Die Zensuren des Jungen +müssen+
sich bessern, sonst -- Sie sollten die Mutter kennen! Salpetersäure ist
Mandelmilch gegen +die+!«

Wer aus unserer Schilderung nur ein annähernd richtiges Bild des Herrn
Vorstehers empfangen hat, wer nur halbwegs nachempfunden hat, wie
lebhaft dieser Mann für seine Zöglinge fühlte, welches Interesse er
an ihnen nahm, der wird es mehr als begreiflich finden, daß der Mann
eine bedenkliche Neigung zur horizontalen Lage zeigte, als man ihm
eröffnete, Willy Helmerding müsse wiederum sitzen bleiben.

»Aber wissen Sie denn nicht, Herr Schulze, daß der Knabe gerade zu
dem Zwecke zu +uns+ gebracht wurde, daß er +nicht+ sitzen bleibt?
Willy Helmerding +wird versetzt, muß+ versetzt werden, +unter allen
Umständen+ muß er versetzt werden; ich habe dem Vater schon längst das
Versprechen gegeben.«

»Der Knabe ist nicht halb reif für die nächste Stufe --«

»Hilft nichts; Sie hören ja, daß ich gebunden bin. Die Helmerdings sind
reiche Leute; bedenken Sie deren Einfluß. Im Handumdrehen ist meine
Schule in Mißkredit gebracht. Wir können den Schlingel später einmal
sitzen lassen; die Oberklassen erreicht er ja natürlich nie; aber jetzt
-- wie gesagt -- jetzt: +auf keinen Fall+.«

Aber, ach, die Versetzung des süßen Willy sollte nur dazu dienen, die
Leiden dieses schwergeprüften Kindes noch zu vermehren. Er geriet jetzt
in die Hände eines Lehrers, der ein pädagogisches Genie war und in der
Schule denjenigen Platz einnahm, den der Verstand des Vorstehers wegen
dauernder Abwesenheit nicht ausfüllen konnte. Dieser unentbehrliche
Mann hatte die üble Gewohnheit, konsequent zu sein und die Nase zu
hoch zu halten, als daß man hätte darauf spielen können. Die an ein
ungemein legeres Betragen gewöhnten Zöglinge, die ihm neu übergeben
wurden, betrachteten ihn mit Furcht und Haß, was sie jedoch nicht
hinderte, ihn bald zu vergöttern und sich am Ende des Schuljahres nicht
von ihm trennen zu wollen. Willy war anerkennenswerterweise der erste,
der eines Tages den rühmlichen Mut fand, die Zunge bis zur Wurzel
herauszustrecken, als ihm der Lehrer eine Unart verwies. Dieser, der
für solche Fälle ein prophetisches Gemüt besaß, hatte Willy nicht aus
den Augen verloren und beobachtete dessen Zunge gerade im günstigsten
Augenblick in ihrer ganzen Ausdehnung, obwohl Willy darauf, daß der
Lehrer sie sehe, offenbar gar keinen Wert gelegt hatte. Und dieser
unangenehme Mensch, anstatt dem unwissenden Kinde in liebevollen Worten
die eigentliche Bestimmung der Zunge klarzumachen, griff zu einer
nichts weniger als philanthropischen Maßregel. Die Maßregel, die er
ergriff, bestand zunächst in einem Lineal, sodann in der Hose Willy
Helmerdings und endlich in einer wiederholten gegenseitigen innigen
Berührung dieser Gegenstände.

Man kann sich denken, daß nachmittags ein Uhr fünfzehn Minuten ein
Schrei aus gebrochenem Mutterherzen das Haus Helmerding durchgellte,
als Willy das Geschehene berichtete. Ganz still habe er gesessen, und
kein Wort habe er gesprochen, und dennoch habe »Er« ihn »so furchtbar«
geschlagen. O Schmach, es auszudenken! Nur das Auge der Mutter, vom
Strahl der Liebe wunderbar erhellt, durch den Instinkt der Zärtlichkeit
geschärft, konnte erkennen, wie dies Bekenntnis des Kindes aus dem
freiesten Gewissen kam. Also um nichts! Nur um seiner bestialischen
Roheit zu frönen --

Bestialische Roheit -- Frau Helmerding fuhr vom Sofa empor -- das sei
das richtige Wort! Frau Helmerding beauftragte ihren Gatten, morgen
früh dieses Wort sofort dem Vorsteher zu übermitteln. Im übrigen
verlangte sie -- das beleidigte Mutterherz hatte ein Recht, alles
zu verlangen --, daß der Lehrer sofort entlassen werde. Entweder
der Lehrer oder Willy Helmerding. Der brutale Folterknecht oder das
gemißhandelte Kind. ~Aut -- aut.~ Fürstenblut für Ochsenblut.

»Brutaler Folterknecht« sei übrigens auch ein gutes Wort und werde
entschieden sehr gut wirken, meinte der Vater.

Nachdem die Gatten sich längere Zeit über die rhetorische und
moralische Kraft dieser Worte unterhalten hatten (»+Das+ sagst du
ihm, +das+ sagst du ihm, sag' ich dir; ich hätte das gesagt, sag' ihm
nur!«), wurde beschlossen, daß beides gesagt werden solle, und daß man
eventuell auch von einer »brutalen Roheit« und einem »bestialischen
Folterknecht« sprechen könne.

Als Herr Helmerding am folgenden Tage vergeblich seine Redefiguren
verschwendete und der Vorsteher sich durchaus, weil die geistige Kraft
Willys ihm doch diejenige des Lehrers nicht ersetzen konnte, nicht
entschließen wollte, sein inniges Verhältnis zu diesem zu lösen,
verlegte sich der gekränkte Vater aufs Handeln. Er wolle sich zufrieden
geben, wenn der »Mensch«, der Lehrer, das Ehepaar Helmerding um
Verzeihung bitte und deren Kinde das Zugeständnis mache, daß er sich
geirrt und in Uebereilung gehandelt habe.

Der Vorsteher ließ den Folterknecht kommen und klärte ihn über die
Beschwerden und die Satisfaktionsbedürfnisse des Vaters auf.

»Ich habe in Uebereilung gehandelt, in der Tat,« begann der Lehrer.

Herrn Helmerdings Gesichtsausdruck wurde um fünfundzwanzig Prozent
gekränkter.

»Ich bedaure das.«

Die Züge des Herrn Helmerding wurden um weitere fünfundzwanzig Prozent
härter.

»Ich habe Ihrem Sohne unrecht getan --«

Herrn Helmerdings Antlitz zeigte den Ausdruck entschlossenster
Impertinenz.

»-- insofern, als ich ihm nicht genug gegeben habe, zumal er, wie
ich sehe, nicht davor zurückscheut, seine Eltern mit hervorragender
Dreistigkeit zu belügen. Wenn Sie indessen Wert darauf legen, kann das
Versäumte noch nachgeholt werden.«

Das Gesicht des Herrn Helmerding schien jetzt plötzlich nur aus einer
Mundöffnung zu bestehen.

Nur dem Umstande, daß der Vorsteher Herrn Helmerding schon vorher
darauf aufmerksam gemacht hatte, jener Herr, der Lehrer Willys, sei
ein sehr empfindlicher Charakter, der Benennungen wie »bestialischer
Folterknecht« nicht gern höre, auch lasse seine Entschlossenheit nichts
zu wünschen übrig, nur diesem Umstande ist es zuzuschreiben, daß Herr
Helmerding, als er zur Tür hinausrannte, sich auf die wiederholte
Versicherung: »Er werde ihnen schon zeigen! Er werde ihnen schon
zeigen!« beschränkte, wobei er die Zurückbleibenden in quälendem
Zweifel darüber zurückließ, +was+ er ihnen zeigen werde.

Kaum hatte Herr Helmerding daheim zu Ende berichtet, als auch schon
seine Gattin wie inspiriert vom Sessel emporfuhr. Anspannen lassen --
mit dem Kinde zum Arzt fahren. Es war nun einmal die Botschaft zu ihr
gedrungen, daß wir im humansten aller Zeitalter leben.

Nach einer halbstündigen Untersuchung erklärte der Arzt (es war nicht
der ironische Herr von damals, dem man in dieser Sache entschieden kein
Vertrauen schenken konnte) mit triumphierender Miene, es sei ihm soeben
gelungen, festzustellen, daß der in Betracht kommende Körperteil Willys
noch Spuren der Züchtigung zeige oder doch noch bis vor kurzem gezeigt
haben müsse. Der Lehrer sei »geliefert«, unrettbar »geliefert«. Das
Recht der Züchtigung stehe ihm ja zu; diese dürfe aber nach der Ansicht
aller ihm bekannten Staatsanwälte, Richter und Disziplinarbehörden nie
so weit gehen, daß mit ihr eine, wenn auch nur momentane, Störung im
Wohlbefinden des Bestraften verbunden wäre.

Damit war nun freilich dem Rachebedürfnis der Frau Helmerding eine
verlockende Perspektive, dem Erziehungsbedürfnis Willys aber noch
keine neue Schule eröffnet. Aber auch dafür sollte Rat werden. Zum
Glück gab es im Orte noch eine Privatschule, die sich den anderwärts
Ausgestoßenen mit Hingebung und Aufopferung widmete, wenn bei den
Eltern auf ein entsprechendes Maß von Hingebung und Opferwilligkeit
gerechnet werden durfte. Diese Schule gehörte zu den idyllischen,
anekdotenumwobenen Instituten, deren sich ehemalige Schüler noch nach
vielen Dezennien in Stunden der höchsten Heiterkeit entsinnen, und die
dem schnöden, prosaischen Verstaatlichungsdrange immer mehr zum Opfer
fallen. Die Klassenzimmer dieses geweihten Bildungstempels waren von
solchen Dimensionen, daß ihnen eine vierte wohl zu gönnen gewesen wäre.
Dagegen konnte der Zeichen-Turn-Sing-Festsaal bescheidenen Ansprüchen
wohl genügen, wenn die Frau Direktorin ihn nicht zum Trocknen von
Kinderwäsche brauchte. Die Zeichenmodelle mußten stets um einige Tische
von dem Schüler entfernt aufgestellt werden; sehr erklärlich deshalb,
daß so durch Versehen oft Zeichnungen zustande kamen, die auf keines
der vorhandenen Modelle mit Sicherheit zu schließen gestatteten.
Uebrigens wurde der Turnunterricht, da an Geräten nur eine Reckstange
ohne Reck vorhanden war, in der Regel nicht hier, sondern auf dem
Stundenplan erteilt. Das Prinzip der Anschauung, auf dem bekanntlich
die ganze neue Unterrichtsweise beruht, wurde hier mit Raffinement
verfolgt. Dem geographischen Unterricht dienten nicht weniger
als zwei Wandkarten. Auf der einen, die Europa darstellen sollte,
erfreute sich Oesterreich noch der Lombardei, obwohl das schnellebige
Jahrhundert schon weit über die Abtretung Elsaß-Lothringens hinaus
war; die andere, ein Bild Afrikas, veranschaulichte durch ihre Farbe
die rätselvolle Dunkelheit dieses Erdteils und zeigte mit Bezug auf
das afrikanische Innere einen Grad der Unerforschtheit, der jeden
Kongoneger mit den wehmütigsten Reminiszenzen erfüllen mußte. Um den
physikalischen Unterricht machte sich eine betagte Luftpumpe verdient,
die aus sämtlichen Ventilen seufzte und nur von einem Lehrer vorgeführt
werden durfte, der eine hochentwickelte Beredsamkeit besaß und die
Schüler auf diesem Wege überzeugen konnte, der Rezipient sitze nach
viertelstündigem Pumpen wirklich fester als vordem. Aeußerte dennoch
ein modern-pietätloser Schüler einen naseweisen Zweifel, so wurde er
mit gebührender Entrüstung zurückgewiesen. Auch lebte in sämtlichen
Lehrern der Anstalt eine durch Jahrzehnte geheiligte Tradition, daß
die Magnetnadel unter der Einwirkung des elektrischen Stromes nur
dann von ihrer gewohnten Richtung abweiche, wenn man zu rechter Zeit
energisch an den Tisch stoße. Der Vollständigkeit wegen müssen wir noch
des Naturhistorischen Museums gedenken, das jahraus, jahrein auf einem
Schrank der Oberklasse stand, zur Rasse der ausgestopften Wildschweine
gehörte und, wenn es nicht gerade seine wissenschaftliche Mission zu
erfüllen hatte, mit Vorliebe eine Primanermütze auf dem linken Ohr trug
und aus einem Kalkstummel rauchte.

Ohne Zweifel würde auch diese Musteranstalt den hohen Ansprüchen Willys
nicht genügt haben, wenn ihm noch eine Wahl geblieben wäre. So mußte er
wohl oder übel seine Studien in diesen Mauern absolvieren. Uebrigens
wurde sein Schulbesuch durch häufige und andauernde Krankheiten
unterbrochen, die alle in dem Symptom übereinstimmten, daß sie sein
Wohlbefinden nicht beeinträchtigten.

Bevor wir jedoch unsern süßen Willy aus der Schule entlassen und in
das feindliche Leben hinausstoßen, haben wir den Bericht über seinen
gesellschaftlichen Bildungsgang nachzuholen. Es ist selbstverständlich,
daß, während er jede wissenschaftliche Ausbildung ablehnte, er seine
weltmännische Erziehung nicht vernachlässigte. Das eine tun und das
andere nicht lassen, sagte er sich mit Recht. Schon mit vierzehn Jahren
konnte er auf drei tadellos angerauchte Meerschaum-Zigarrenspitzen
zurückblicken. Da er bereits mit fünfzehn Jahren eine militärpflichtige
Länge und Breite aufweisen konnte, wurde es ihm nicht schwer, in
jeder Bierkneipe eine seinen Jahren entsprechende Anzahl von Seideln
zu erhalten. Den nicht ganz unnatürlichen Widerwillen, den der
jugendliche Deutsche als Anfänger bei der Vertilgung des fünfzehnten
Seidels empfindet, bekämpfte Willy mit Selbstverleugnung, wenn auch
sein Gesicht eine interessante Blässe zeigte, und mit sechzehn
Jahren belächelte er seiner Genossen Klagen über die Schrecken des
Katzenjammers mit der Ruhe eines Weisen. Als seine Eltern es eines
Abends wagten, ihm wegen späten Nachhausekommens Vorwürfe zu machen,
ergriff er das unter diesen Umständen einzig richtige und jungen Leuten
in seiner Lage nicht dringend genug zu empfehlende Mittel, um solche
Eingriffe in das Recht der Jugend ebenso höflich wie entschieden
abzulehnen: er kam die nächste Nacht überhaupt nicht nach Hause. Wer
will das elterliche Gefühl schelten, wenn es am Morgen eifrig darob
sorgte, daß der Stolz des Hauses nicht im Kleiderschrank zu Bette
ging; wer will die Zärtlichkeit der Eltern verklagen, wenn sie in
Demut schwiegen, während das volle Gefäß ihrer Hoffnungen schnarchte?
Natürlich war ein Elternpaar wie dieses diskret genug, nie wieder ein
Thema zu berühren, das das »feurige Gemüt« des Jünglings verletzen
+mußte+. Zeitigte doch auch seine Entwicklung auf anderen Gebieten die
anmutigsten Blüten! Er hatte eine Art, den Walzer und den Lancier zu
tanzen, die man auf dem feinsten Pariser Kokottenball als ~très-chic~
bezeichnet haben würde. Es war eine Augenweide, ihn Billard spielen
zu sehen! Diese bei keinem Stoß außer acht gelassene graziöse Beugung
des auf der Fußspitze ruhenden linken Beines, dieses nicht minder
graziöse Heben der letzten Finger der rechten Hand, diese stark
akzentuierende Herauskehrung jener ästhetisch geschwellten Muskeln,
die zur Verlängerung des Rückens dienen: das alles erschien in einer
Vollendung, wie sie nur eine täglich fünfstündige Uebung erzielt. Diese
Uebungen pflog Willy gewöhnlich in der Gesellschaft von fünf oder sechs
Altersgenossen unter der künstlerischen Leitung eines Billardkellners,
der einen Ball über die ganze Länge des Billards zurückziehen
konnte und zu dem Willy deshalb herzliche Beziehungen unterhielt.
Dieser vielerfahrene Mann, der seinen jungen Freunden gegen gutes
Trinkgeld mit vielem Humor aus dem Schatze seiner praktisch-galanten
Weltkenntnis mitteilte und ihnen Geschichten für die reifste Jugend
erzählte, war unbegreiflicherweise der einzige im Restaurant, der
auf ihre Unterhaltung Wert legte. Obgleich die sechs jungen Leute
nicht ermüdeten, in jeder Minute zwölf Witze zu machen, und sie mit
einem Stimmaufwande zu Gehör brachten, der auch den Entferntsitzenden
vom Genusse nicht ausschloß, bemerkte man auf den Gesichtern der
Anwesenden, die nach jedem Bonmot sorgfältig studiert wurden, nicht die
leiseste Spur von Beifall. Ja, es kam sogar vor, daß einzelne Gäste
mit unverhohlenem Aerger ihr Bier austranken, das Seidel mit Betonung
auf den Tisch setzten und nachdrücklichst aufbrachen. Daß aber ein
dicker, freundlicher Herr mit einem Fritz-Reuter-Gesicht sie eines
Tages mit einschmeichelnder Vertraulichkeit fragte, ob sie denn nicht
lieber Marmel spielten, und damit ein schallendes Gelächter bei allen
anderen Gästen entfesselte: das war entschieden mehr, als man sich
bieten lassen konnte. Es kam zu einem sehr heftigen Auftritt, bei dem
der schändlich undankbare Billardkellner sich erfrechte, die jungen
Freunde unter Anwendung der unverschämtesten Redensarten, wie »grüne
Jungen« usw., nach der Tür zu drängen, und in welchem unser Willy noch
eben vor Verlassen des Lokals Gelegenheit fand, eine Fensterscheibe zu
demolieren. Diese Heldentat brachte ihm die Bewunderung seiner Genossen
und ein polizeiliches Strafmandat ein. Papa Helmerding bezahlte die
ganze Lumperei mit Stolz und Rührung und einem Kassenschein aus der
Westentasche.

Charakterisierte jene Tat die herbe Männlichkeit des jungen Willy, so
gaben seine frühen Beziehungen zum zarten Geschlechte die köstlichsten
Proben von der Süße seines Wesens. Ob er Glück bei den Frauen hatte?
»Eine nicht aufzuwerfende Frage!« Werden nicht fünfundneunzig
Prozent unserer Mädchen dazu erzogen, daß sie Willy gefallen und
Willy sie entzücke? Hat unsere Gesellschaft nicht für jeden süßen
Willy eine süße Tilly? Stehen diese Damen nicht kunstbegeistert am
Droschkenschlag, wenn der jugendliche Held und Liebhaber einsteigt,
und werfen sie ihm nicht während des Monologs »Sein oder nicht sein«
einen großen Blumenstrauß gegen den Bauch, wofern er hübsch ist?
Mit einer Frühreife, die den Byronschen Don Juan mit giftigem Neide
erfüllt hätte, empfand Willy schon im elften Jahre die leise Regung,
daß man die Frauen nicht in den Rücken puffen, vielmehr ihnen zart
entgegenkommen soll. Zunächst bemühte er sich, Mimi Petersen möglichst
oft und zart entgegenzukommen und vor ihr mit den Manieren eines eben
vollendeten Gentleman in absolut wagerechter Richtung den Hut zu
ziehen. Mimis ebenfalls elfjähriges Herz war empfänglich für solche
Freundlichkeiten und durch ihre Erziehung auf den gleichen Ton gestimmt
wie das Herz unseres Helden. Ein goldener Frauen- und Jungfrauenspiegel
leistete ihr und ihrer Mutter die wesentlichsten Dienste beim
Erziehungsgeschäfte. Eine goldene Damenuhr von koketter Kleinheit
unterrichtete Mimi über den langsamen Gang der Schulstunden, die sie in
bescheidener Zurückgezogenheit auf dem letzten Klassenplatze verlebte.
Ihre beringten Finger staken in den feinsten Seidenhandschuhen, und
ein duftiger Spitzenparasol kreiste über dem modernsten Sommerhütchen.
Sehr bald entdeckte Willy, daß es seinen Eindruck nicht verfehlen
könne, wenn er ihr auf dem Heimwege von der Schule die Büchermappe
abnehme. Schon beim zweiten Male begleitete er diese Galanterie mit
der Ueberreichung einer kostbaren Bonbonniere, die der Westentasche
seines Vaters fünf Mark kostete. Solange sein Vater Geld hatte, hatte
es Willy auch. Jene Präliminarien würden nun zweifellos zu einem
abendlichen Stelldichein geführt haben, wenn nicht ein unfreundliches
Schicksal trennend zwischen Willy und Mimi getreten wäre. Ein von Willy
an Mimi gerichtetes Billetdoux, in dem Grammatik, Orthographie und
Kalligraphie in schöner Vereinigung fehlten, geriet in die Hände des
Ehepaares Petersen, und dieses inhibierte einen weiteren Verkehr, da
es fest entschlossen war, seine Tochter in +dieser+ Beziehung streng
sittlich zu erziehen. Aber schon drei Tage später gaben Buchdrucker
Löhmanns von der »Gerechtigkeit« ein Kinderfest mit Frack, Lack und
Claque und Trüffeln und Pommery und Chartreuse, und Willy tröstete sich
durch eine neue ~entente cordiale~. Natürlich machte er innerhalb der
vorgeschriebenen Frist seine »Verdauungsvisite« -- Kavalier verabsäumt
dergleichen nie. Zu Hause hatte er freilich zu Frau Helmerdings
tiefster Indignation erzählt, bei der Gesellschaft sei einer gewesen,
der habe »den Fisch mit's Messer gegessen«, die guten Löhmanns lüden
sich überhaupt Krethi und Plethi ein, das passe ihm nicht. Durch
einen Ohrenzeugen ist uns aus Willys dreizehntem Lebensjahre ein
von ihm und mehreren Busenfreunden geführtes Gespräch erhalten, das
durch seine kindliche Einfalt und Schlichtheit einen unvergänglichen
Reiz behauptet. Dieses Gespräch fand statt, als Willy eines Abends
wie gewöhnlich in der Nähe seines Hauses, von einer stattlichen
Korona mitfühlender Genossen umgeben, auf einem Gartenzaune saß, die
zierlichen blauen Ringe einer Havanna in die Abendluft blies und die
des Weges kommenden zehn- bis sechzehnjährigen Beautés Revue passieren
ließ.

»Du, Willy, da geht Lina Schütze, deine alte Liebe!«

»Ach, die, -- na -- das +war+ einmal,« warf Willy hin, mit
unaussprechlicher Nonchalance die Asche von seiner Regalia knipsend.

»Sie ist übrigens gar nicht übel, du!«

»Ach was, Schellfischaugen!« urteilte Willy, und lautes Gelächter
folgte seiner Kritik. »Da solltet ihr mal Olga Reimers sehen! Acht
Tänze hab' ich neulich mit ihr getanzt. Donnerwetter, ich sag'
euch, 'n schneidiges Mädel!« Und seine Havanna glühte im Halbdunkel
begeistert auf.

»Die Lina Schütze ist aber auch nicht wenig grimmig auf dich!«

»Pah -- wat ick mir dafür koofe!« trällerte Willy. »Ist mir ja nichts
dran gelegen, sonst -- mit'n Stück Cremeschokolade krieg' ich sie 'rum.«

»Na? Ich weiß nicht so recht --«

»Ach du, lehr' du mich die Weiber kennen, ja? Ich meine, wenn einer sie
kennt, kenn' ich sie.«

Willy blickte im Kreise umher -- allgemeine Zustimmung.

»Für 'ne Tafel Schokolade, sag' ich dir! Wetten?«

»Ja, wetten!«

»Um was?«

»Um zwanzig Zigaretten -- aber ›King‹!«

»Abgemacht! Hau durch, Ehlers!«

In diesem Augenblick rief einer der Herren: »Achtung!« -- Alles machte
Front und riß vor Klara Meißner, einer brünetten Dame von dreizehn
Jahren, mit einstimmigem »Ah!« die Kopfbedeckung herunter. Klara fand
diese Huldigung so schmeichelhaft, daß sie sich umdrehte und noch
einmal zurücklächelte, eine Liebenswürdigkeit, die die Versammelten mit
den elegantesten Kußhändchen von der Welt beantworteten.

»Junge, die kann aber Blicke schmeißen, was? Die hat was Dämonisches!«

»Hm, geht an,« murmelte Willy mit Herablassung. »Wißt ihr, diese
Brünetten haben gewöhnlich diesen gelben Teint ...« -- -- -- --

Leider erstreckte sich Willys wählerischer Geschmack in späteren Jahren
nicht in demselben Maße auf die Reinheit der Seelen wie hier auf die
Reinheit des Teints. Sein achtzehntes Lebensjahr ist in dieser Hinsicht
besonders bedeutungsvoll. Eine Dame, deren allgemeine Beliebtheit sich
leider auf die Herrenwelt beschränkte und die »ihrem süßen Willy« an
Alter und Erfahrung weit überlegen war, vermochte ihn an einem schönen
Tage dieses Jahres, mit ihr den Zug nach Berlin zu besteigen und
seinen Vater mit Ungewißheit über den Verbleib von fünftausend Mark
zu erfüllen. Nachdem Willy drei Tage lang die Vorzüge der Residenz
genossen hatte, erschien in sämtlichen großen Zeitungen Deutschlands
folgendes Inserat:

        Willy!

    Bitte, kehre zurück! Wir ängstigen uns
    furchtbar um dich! Alles ist dir verziehen!

Dieser Beweis elterlicher Zärtlichkeit rührte Willy so tief, daß er
beschloß, sofort zurückzukehren, sobald seine Kasse erschöpft sei.
Nach weiteren zwölf Tagen war dieses Ziel erreicht, und jetzt hielt es
ihn nicht länger in der kalten Fremde. Er erbat sich per Telegramm von
Papa Helmerding das Geld zur Rückreise und kehrte ohne die Wonne seines
Herzens zurück, obschon er sich auf dem Höhepunkte der fünftausend
Mark mit ihr verlobt hatte. Den Empfang wird sich jeder Leser, wofern
er ein Verständnis für Familienfeste hat, selbst ausmalen können. Papa
Helmerding würde seinem verlorenen und wiedergefundenen Sohne ein Kalb
geschlachtet haben, und wenn es sein Leben gekostet hätte.

Seit undenklichen Zeiten ist es als die größte und bewundernswürdigste
Tat kindlicher Pietät gepriesen und in unsterblichen Romanen
verherrlicht worden, daß ein Kind seinen Eltern zuliebe auf ein
ganzes Liebes- und Lebensglück verzichtet. Mit staunenswerter Fassung
und Selbstüberwindung entsagte Willy auf dringendes Bitten seiner
Eltern seiner Verlobten sofort und für immer. Seine Geliebte, die
von den Berliner Vergnügungen mindestens die Mittel zur Rückreise
erübrigt hatte, zeigte bald, daß ihre Seelengröße nicht hinter der
seinigen zurückblieb. Sie fand sich nach mehreren Monaten ein und war
entsagungsvoll genug, ihr Glück für immer zu Grabe zu tragen und sich
mit den Begräbniskosten zu begnügen. Sehr feinfühlig und taktvoll gab
sie dabei zu erkennen, daß ein +kleines+ Opfer das lebhafte Gefühl der
Helmerdings, ihr genug tun zu müssen, nicht +auf die Dauer+ befriedigen
könne. Willy aber gab in einer großen und edlen Wallung seinem
Vater das reuige Versprechen, in Zukunft in allen ähnlichen Affären
vorsichtiger sein zu wollen, zumal der alte Helmerding seinem Sohne in
einer Poloniusszene klargemacht hatte, daß man ganz dieselben Ziele mit
weniger Kosten erreichen könne.

Unter diesen und sehr ähnlichen Vorfällen kam allgemach die Zeit
heran, da Willy seine unschätzbaren Dienste dem Vaterlande weihen
sollte. Leider hatte das dazu in erster Linie nötige Requisit der
Einjährig-Freiwilligen-Berechtigung noch nicht beschafft werden können.
Selbst die »Presse« des Dr. Ritsching, eine Unterrichtsanstalt, die
in einem halben Jahre eine ganze einjährige Intelligenz produzierte,
hatte auf Willy nur einen unter der Schädeldecke fühlbaren dumpfen
Druck ausgeübt, ohne daß der Verstand auf diesen Druck reagiert
hätte. Trotzdem lagen die Verhältnisse für Willy nach Absolvierung
des schriftlichen Examens nicht ungünstig; denn seine stilistischen
und seine Uebersetzungsarbeiten hatten die Prüfungskommission in jene
gehobene, humorvolle Stimmung versetzt, der die nachsichtige Milde so
nahe liegt. Ja, gleich zu Beginn der mündlichen Prüfung, von der man
auf inständige Verwendung des alten Helmerding nicht abgesehen hatte,
betrachteten sich die Herren +diesen+ jungen Mann, wie es schien, mit
einem ganz besonderen, heiteren Wohlwollen. Indessen traten im Verlaufe
der Prüfung die körperlichen Vorzüge Willys so entschieden gegen seine
geistigen in den Vordergrund, daß man ihm am Schlusse nach einstimmiger
Entscheidung die Qualifikation für eine dreijährige Uebung nicht
absprechen konnte.

Zu alledem kam noch, daß der Hausarzt der Helmerdings (es war wieder
der sarkastische Herr von damals) dem jungen Manne nach eingehendster
Untersuchung seines Körpers erklärt hatte, er werde »unbedingt seine
drei Jahre abreißen müssen«, ja, um jede gesundheitliche Befürchtung
abzuschneiden, hatte er hinzugefügt, daß ihm dies gar nicht schaden
könne. Plattfüße entdeckte er, wie wir ausdrücklich hervorheben
müssen, an dem jungen Helmerding nicht, obwohl diese Eigentümlichkeit
gewiß zu seiner Individualität nicht in Widerspruch gestanden hätte.
Um so freudiger war die Ueberraschung, daß die Aushebungskommission,
die ihn und seinen Vater allerdings besser kennen mußte, mit großer
Einhelligkeit von der Plattfüßigkeit Willys durchdrungen war und ihn
deshalb nur für einen leichten Ersatzreservedienst bestimmte. Und
mit Jubel, mit inniger Glückseligkeit, mit erhabener Begeisterung
und Freude beging man daheim, beging besonders die »von frommem Dank
durchdrungene« Mutter das Fest der platten Füße.

Unter solchen vielverheißenden Auspizien trat Willy endlich in
jenes reife Jünglingsalter ein, das sein kühner Geist schon lange
vorweggenommen hatte. Und daß er am Sonntage eine Minute vor Zwölf
geboren worden war, sollte auch für die Folgezeit ein günstiges Omen
sein. Willy kam immer zur rechten Zeit, immer, wenn der Sonntag
auf seinem Höhepunkte stand. Daß er zur militärischen Uebung
gar nicht einberufen wurde, weil er »überzählig« war, und sein
späterer, partout »nationaler«, treu zu Kaiser und Reich trinkender
Diner-Patriotismus ihm so auch nicht das geringste kostete, verdient
kaum der Erwähnung. Aber auf dem Plan der Landeslotterie stand mit
zollgroßen Lettern gedruckt: »Der größte Gewinn ist im glücklichsten
Fall sechshunderttausend Mark!« und für wen konnte die Vorsehung diesen
Fall vorgesehen haben, wenn nicht für Willy? Seit fünfunddreißig Jahren
waren das Große Los und die Prämie nicht zusammengefallen; aber in
der ersten Lotterie, an der sich Willy beteiligte und in der viele,
viele Tausende von armen Schneidern, Schustern und Kesselflickern
durchfielen, vereinigte sie ihre Nullen auf das Kind des Glücks und
der Helmerdings. Und der Zentralbahnhof, der nach zwei Jahren in der
Stadtverordnetensitzung beschlossen und bald darauf von der Regierung
genehmigt wurde, erhöhte den Wert der Willy Helmerdingschen Häuser,
weil sie ganz in der Nähe des zukünftigen Bahnhofs lagen, auf das
Doppelte, ohne daß Willy etwas anderes hätte zu tun brauchen, als
den Wert der Häuser mit zwei zu multiplizieren und sich dann über
das Produkt zu freuen. An der Börse richtete sich Willy mit Vorliebe
so ein, daß er bei Baisse kaufte und bei Hausse verkaufte. Was er
aufgehoben hatte, das war Hausse, und was er hatte fallen lassen, das
war Baisse.

Doch befriedigte ihn der Gang der großen chemischen Fabrik nicht, an
der er seit seinem sechsundzwanzigsten Jahre als einer der ersten
Aktionäre beteiligt war. Das Unternehmen hielt sich -- ja -- aber nur
so so, und an Dividenden war für lange Zeit nicht zu denken. Denn es
bestand noch ein anderes, ebenso großes und viel älteres Unternehmen in
der Stadt, und es mit diesem aufzunehmen, schien nachgerade unmöglich
zu werden. Aber eines schönen Sonntags starb der alleinige Besitzer
dieser anderen Fabrik, Herr Dr. Pfeiffer, an einem Herzschlage. Grund
genug für Willy, in der nächsten Versammlung der Aktionäre eine
Idee zu haben. Die andre Fabrik ankaufen! Sei der Verstorbene ein
vorzüglicher Geschäftsmann gewesen, so verstehe seine kinderlose Witwe
von geschäftlichen Dingen leider oder gottlob so gut wie nichts. Nur
habgierig sei sie, und kosten werde das etwas; aber der Erfolg sei in
seiner Großartigkeit gar nicht abzuschätzen. Und in der Tat, die Witwe
forderte nicht wenig. Zwei Millionen, und keinen Pfennig weniger. Das
war hart; aber Willy war härter und drang bei seinen Konsorten durch.

Schon seit längerer Zeit bemerkten die Helmerdings eine auffallende
Veränderung an ihrem Kinde. Willys Wangen schienen einzufallen;
seine Augen waren oft starr auf einen Punkt gerichtet; eine
düstere Melancholie umschattete sein Antlitz; dann wieder schien
eine plötzliche Verklärung seine Züge zu umglänzen. Sein Gang war
ungleichmäßig, bald schleppend und müde, bald hastig und aufgeregt.
Er floh der Brüder wilden Reih'n und irrte allein, während er sonst
in Gesellschaft geirrt hatte. Selten kam ein Wort über seine Lippen;
nur wenn die besorgte Mutter ihm die Wangen streichelte und warnend
sprach: »Du arbeits zu viel, mein Willy,« antwortete er ihr mit einem
kindlichen »Ach was!«. Essen und Trinken genoß er nicht mehr mit jener
inbrünstigen Konzentration auf Gabel und Glas, wie man sie an ihm
gewohnt war; er betrieb das wie ein gleichgültiges Geschäft, +wenn+ er
es überhaupt als ein Geschäft betrachtete.

Eines Tages aber ging die Sonne Willys wieder strahlend auf im Hause
Helmerding. Wer an diesem Tage vier Uhr zwanzig Minuten nachmittags
zu den Helmerdings ins Zimmer getreten wäre, würde gesehen und gehört
haben, wie der Papa und die Mama ihren Sohn abwechselnd umklammerten
und unter Schnaufen und Weinen (dieses kam auf Rechnung der ewig
weiblichen Frau Helmerding) ihrem Sohne zuriefen:

»Viel Glück, mein Willy! Viel Glück, mein Willy! -- Du bist 'n gutes
Kind, jaa, un has deinen Eltern immer Freude gemacht; jaa, un viel
Glück auch, mein Willy!«

Willy hatte nämlich seinen Eltern soeben die Mitteilung gemacht, daß
er sich mit einer Doppelmillion verlobt habe und die Witwe des Dr.
Pfeiffer als Mitgift erhalte, die, wie er am folgenden Abend einer
superben Balletteuse vom Stadttheater beim Champagner erzählte, »hoch
in den Neununddreißigern« war und noch Spuren früherer Häßlichkeit
zeigte.

Erst jetzt erkannten die Aktionäre +einstimmig+ die Rentabilität des
Ankaufs.

Die alten Helmerdings konnten sich über diesen genialen Streich ihres
Kindes gar nicht beruhigen, und als sie in der Nacht, die diesem Tage
folgte, erst gegen Morgen entschlummerten, sahen beide im Traum die
gleiche Verlobungsanzeige:

        »Zwei Millionen
        Willy Helmerding
        Verlobte.«

Aber im Traumbilde der Mutter umschlang ein lieblich grünender
Myrtenkranz das Ganze.

       *       *       *       *       *

»Meine Herr'n -- entschuldigen Sie -- meine Damen und Herr'n, wollte
ich sagen,« begann auf dem Verlobungsdiner der Stadtrat Kneesen,
»also: meine Damen und Herr'n, erlauben Sie mir, mm, zu dieser
feierlichen Gelegenheit einige schlichte Worte, wie sie aus'm einfachen
Freundesherzen kommen, mm, was ich nu bereits viele Jahre bin, mm, an
Ihnen zu richten, mir erlauben werde. Mein alter Freund Helmerding, mit
dem ich manchen Sturm erlebt habe, das is'n Mann, ich meine: 'n bessern
Kerl -- ich bin immer 'n bischen grade weg, meine Herrschaften -- kann
man gar nich, un wenn man noch so lange mit der Laterne sucht, mm, kann
gar nicht gefunden werden. Er is allgemein geachtet un geliebt un hat
was für die Stadt getan un hat 'n Herz für die Armen -- ja, ja, das
has du, Helmerding, das laß ich mir nich nehmen! Un was die alte Mama
Helmerding is, die hab' ich auch immer lieb gehabt -- ja, das heißt
alles in Ehr'n, meine Herrschaften, alles in Ehr'n -- hähähähähähä --
-- Na, was wollt' ich noch sagen, also: ich will mich kurz fassen,
meine Herrschaften. Unser verehrtes Brautpaar hat uns die Freude
gemacht, die +große+ Freude gemacht -- mm -- sich in den heiligen Stand
der Ehe begeben zu wollen. Un wenn ich mir da nu zuers den Bräutigam
betrachte, da muß ich sagen: er macht seinen Eltern Ehre -- un Freude
-- un -- ja, das tut er, un kann ich nur hinzufügen, was ich so halb
offisiell weiß, daß er wohl nächstens Stadtverorn'ter werden wird,
na, ich meine, meine Stimme hat er, un er kriegt noch viele dazu, das
soll'n Sie mal sehen. Denn solche Männer, ich meine, die brauchen wir,
die durch Fleiß un Intelligenz un was sonst noch -- sich emporgewickelt
-- äh -- wollt' ich sagen: entwickelt haben, +gehören an die Spitze+!!
Un wenn ich nu zu der lieben Braut übergehe -- djä -- was soll ich da
anders sagen, als -- er hat sich 'ne Frau ausgesucht -- die zu ihm
paßt! Praktisch is sie -- un -- un -- wir haben sie alle gern, un hat
uns alle sehr leid getan, das müssen wir aufrichtig sagen, als sie
ihren Herrn Gemahl so schmerzlich verloren hat. Aber -- ich meine --
unser Willy, der wird sie schon trösten, hähähähä, un bitte ich Sie,
mit mir anzustoßen: Unser Brautpaar soll leben hoch -- un noch 'n mal:
hoch! -- un zum dritten Mal: hoch!«

»Komm, mein süßen Willy, du has noch gar nich mit mir angestoßen!« rief
die entzückte Frau Helmerding.

Da trafen sich die feingeschliffenen Gläser in einem vollen Klange, und
im Auge der Mutter schimmerte eine Träne.



Ernsthafte Predigt vom Kommersieren

    Motto: Solche Brüder müssen wir haben,
           Die versaufen, was sie haben.


Liebe Brüder!

Es sind einige unter euch in Briefen wider mich aufgestanden mit
beweglichen Klagen, daß ich in meiner tiefgründigen Abhandlung »Vom
Essen und Trinken« das Essen bevorzugt und das Trinken vernachlässigt
hätte. Das Essen nähme einen viel zu breiten Raum ein im Vergleich zum
Trinken usw. usw. Noch täglich laufen neue Briefe ein; wohl selten hat
eine Frage unser Volk so in seinen Tiefen aufgewühlt wie diese.

Leider haben es sich dabei einige der Briefschreiber nicht versagen zu
müssen geglaubt, über das Essen im allgemeinen verächtlich zu urteilen
und dem Trinken unvergleichlich edlere Eigenschaften zuzusprechen. Ich
habe beim Lesen solcher Briefe im stillen auf ein Stadium geschlossen,
in dem der Appetit auf feste Substanzen bereits für immer geschwunden
zu sein pflegt; aber ich behalte das für mich. Die Sache ist zu ernst,
um nicht alles persönlich Verletzende von ihr fernzuhalten.

Aber beklagenswert bleibt es, daß man dergleichen unduldsame Meinungen
nicht zurückgehalten hat. Schlaraffenland ist ein paritätischer Staat
und soll es, so denke ich, bleiben. Man soll es sich dreimal überlegen,
ehe man an seiner Verfassung rüttelt. In einem gesunden Staatskörper
wird die feste Nahrung immer die geeignetste Grundlage bilden für alle
trunkhaften Bestrebungen.

Es ist richtig, daß Pharao den Mundschenk begnadigte und den Bäcker
hängen ließ. Aber es ist voreilig, daraus nun Schlüsse für das Trinken
und gegen das Essen zu ziehen. Hier handelte es sich eben um einen
Bäcker, also um Brot und Kuchen, und daß diese viel zu viel Mehl
enthalten, hat noch kein anständiger Mensch bestritten. Aber die
Aufknüpfung des Bäckers beweist nicht das geringste gegen Roastbeef,
Rehrücken, Ente, Hummer, Kaviar usw. usw.

Liebe Brüder, man soll das eine tun und das andere nicht lassen.
Zwischen Rehrücken und Rotspon sitzen: das nenn' ich goldene Mitte.
Ich hoffe euch davon zu überzeugen, daß mir die Reize der besseren
Feuchtigkeit nicht fremd sind.

Was den gegen mich erhobenen Vorwurf betrifft, so muß ich doch zunächst
bemerken, daß ich die Freuden des stillen Suffs sehr objektiv gewürdigt
und mich der dampfenden Bowle ~en petit comité~ wie immer wärmstens
angenommen habe. Aber ich gebe zu, daß ich den eigentlichen, geregelten
Kultus der Getränke mit seinem tiefsinnigen und ehrwürdigen Ritual, daß
ich das planvolle, bis zur Bewußtlosigkeit zielbewußte Massentrinken,
den Kommers, leider übergangen habe. Wer beides, Essen und Trinken,
in +einer+ Abhandlung bewältigen will, wird immer eines von beiden
vernachlässigen müssen. Dazu ist der Stoff zu weitschichtig, seine
Anordnung zu schwierig, die Konzeption zu kühn.

Wenn ich übrigens den Kommers soeben als ein Massentrinken bezeichnet
habe, so ist das ganz subjektiv gemeint, d. h. ich betrachte die Masse
als Subjekt des Komments. Versteht man unter der Masse das Objekt, so
wird im Verlaufe des Kommerses das Objekt zum Subjekt und das Subjekt
zum Objekt, wie dann überhaupt so viele Dinge, z. B. die Viehbub und
der Saumagd und der Viehmagd und die Saubub, miteinander vertauscht zu
werden pflegen. Ich weiß nicht, ob das klar ist. Wem es nicht klar
ist, der betrachte es als den philosophischen Teil meiner Ausführungen.

In die gemeine Bierdeutlichkeit übersetzt, soll das aber heißen, daß
der Mensch sich nicht um jeden Preis besaufen soll. Ich bitte wohl
zu bemerken: ich sage +nicht+, daß er sich nicht besaufen soll; ich
möchte hier um alles nicht mißverstanden werden; er soll es nur nicht
+um jeden Preis+ tun! (Ich denke bei »Preis« nicht an Geld; denn
erstens ist das Qualitative immer selbstverständlich, und zweitens
würde ich dann »+für+ jeden Preis« sagen.) Aus den Burschen, die mit
der Vertilgung von zwanzig Seideln protzen und in jedem, der es nur
auf neunzehn gebracht hat, einen fluchwürdigen Jämmerling sehen,
werden nachher nur allzu oft jene Bürschchen, die aus dem Ueberschwang
der Jugend nichts gerettet haben als Tugend und einen Magenkatarrh.
Der Mensch soll trinken, weil es ihm +schmeckt+, darum führt er den
Ehrennamen »der schmeckende Mensch«, ~homo sapiens~. Wem es aber so gut
schmeckt, daß er mit der unschuldsvollen, ahnungslosen Seligkeit des
Säuglings die Grenze der Mäßigkeit überschreitet, für den werde ich
immer ein sehr mildes Urteil bereit haben. Ueberhaupt diese Grenze der
Mäßigkeit -- ich weiß nicht -- es ist etwas so Merkwürdiges um diese
Grenze. Wenn man noch weit von ihr entfernt ist, sieht man sie sehr
scharf; hat man sie aber erreicht, so sieht man sie nicht mehr. Es ist
eine heimtückische, infame, eine ganz famose Grenze!

Ein Institut wie der Kommers mußte im Laufe der Zeiten seine Feinde
finden, das ist klar. Dazu ist die Sache zu gut. Soweit sich diese
Feindschaft gegen rohe Trinksitten richtet, ist sie mir recht. Es
alteriert mich, wenn ein Kneipant keinen Bierjungen trinken kann, ohne
daß es ihm zu beiden Seiten wieder zum Maul herausläuft; denn erstens
ist »Bluten« nach dem Komment strafbar, also unsittlich, zweitens ist
es für ein Herz, das die Gaben der Natur mit dankbarer Liebe verehrt,
eine betrübende Stoffvergeudung, und drittens sieht es scheußlich aus.
Wer einen mäßigen Bierjungen noch nicht mit lässiger Eleganz bewältigen
kann, der soll zu Hause, wo ihn niemand sieht, täglich einige Stunden
daran wenden und es üben. Die kleine Mühe lohnt sich immer.

Anders steht es mit einer anderen Art von Feindschaft. Um von ihr
sprechen zu können, muß ich meinen Lesern leider eine gewisse Sorte
von Menschen ins Gedächtnis zurückrufen. Ich habe einen Freund -- d.
h. er versteift sich merkwürdigerweise darauf, daß ich ihn so nenne
--, wenn ich zu dem sage: »Kerl! Mordbube, du hast ja die ›Maine‹ in
die Luft gesprengt!«, so verneint er mit tiefem Erstaunen und beginnt,
mir ausführlich sein Alibi nachzuweisen. Wenn es draußen gleichzeitig
stürmt, hagelt, regnet und schneit, so daß sämtliche Regenschirme sich
mit emporgeworfenen Armen gegen ihre Bestimmung sträuben und die Luft
von aufgewehten Damenhüten erfüllt ist, und ich dann zu ihm sage:
»Prachtvolles Wetter, was?«, so erklärt er mit erfrischender Energie,
daß er das Wetter durchaus nicht schön finde, im Gegenteil: schlecht.
Der Mann ist nicht etwa in gewöhnlichem Sinne dumm; er hat vieles
gelernt und ist in seinem Berufe tüchtig; seine Dummheit ist eben eine
ganz außergewöhnliche. Soweit ich ihn bis jetzt vorgeführt habe, ist
er ja auch, in ganz kleinen Dosen genommen, ganz amüsant. Aber wenn
man im »Sommernachtstraum« neben ihm sitzt und die Handwerker mit
dem kindlich-souveränen, großäugigen Shakespearehumor ihr Schauspiel
aufführen, so stößt er mit dumpfem Ingrimm das Wort »Blech!« von sich.
Wenn man ihm ein Grimmsches Märchen vorliest und er hört von der Madame
Pabst, die eine goldene Krone aufhatte, »die war drei Ellen hoch«, so
stöhnt er aus gekränktem Herzen das Wort »Unsinn«, und wenn ich mich
mit einem anderen Freunde, einem +ganz+ anderen, an einem köstlichen
Büchlein ergötze, das lauter Verse ~à la~ Friederike Kempner enthält
und die Erhabenheit des Blödsinns mit tausend Zungen predigt, wenn
wir tränenden Blickes schwelgen im deliziösesten Nonsens, so vermag
er »einfach nicht zu begreifen«, wie man am Lesen solcher schlechten
Gedichte Gefallen finden könne. Die schöne Zeit solle man lieber darauf
verwenden, Goethe und andere, +wirkliche+ Dichter zu lesen usw. usw.

Ich denke, daß meine Leser sich jetzt den Typus vorstellen können, den
mein »Freund« repräsentiert. Stellen wir ihn wieder weg.

Wenn Deutschland eine vollständige Autokratie und ich der Autokrat
wäre: +diese+ Leute würde ich auf Staatskosten vergiften lassen. Denn
die Monomanie der Vernünftigkeit, diese traurigste Untergattung der
Halbidiotie, ist mehr, als ein normaler Mensch vertragen kann und sich
gefallen zu lassen braucht. Man schimpft so oft auf die Raubmörder,
und ich gebe zu: mit einem gewissen Recht. Aber ein Raubmörder tut doch
wenigstens mal etwas Unvernünftiges und trägt auf diese Weise sein
redliches Teil zur Bewegung bei, die die +höchste+ Vernunft ist und
ohne die die Welt nicht bestehen könnte. Die »düsteren Bestien« der
unentwegten Vernünftigkeit würden die Erdachse senkrecht zur Ekliptik
stellen, um den rechten Winkel herauszukriegen und der ewigen Zappelei
mit den Jahreszeiten ein Ende zu machen. Gottfried August Bürger, den
ich so sehr liebe, ich weihe dir ein großes, stilles Glas, weil du aus
warmblutendem Herzen aufschriest gegen die »kalten Vernünftler«.

Diese ungesalzenen Heringsseelen, diese frostigen Zeloten der
blöden Ernsthaftigkeit, diese wirklichen Nüchterlinge der korrekten
Richtigkeit und richtigen Korrektlinge der nüchternen Wirklichkeit
sehen im Kommersieren und im Kneipstaat ein schädliches und albernes
Institut; die kindliche Freude der Kneipanten ist ihnen kindisch und
läppisch, und sie finden abgeschmackt die weisheitsvollen Gesetze des
Kneipkomments, die, »was in schwankender Erscheinung lebt, befestigen
mit dauernden Gedanken«. O meine Brüder! Nicht um diese seriösen
Linealschlucker zu überzeugen, was nimmer ein Sterblicher je vermöchte,
nein, um uns selbst zu stärken im Glauben an den alleinseligmachenden
Komment und in allen guten Werken der Saufbrüderlichkeit, wollen wir
betrachtend immer tiefer uns versenken »in den Reichtum, in die Pracht«
der edlen Trinkerweisheit!

Welche Fülle realpolitischen Verstandes liegt schon in der Konstitution
dieses Bierstaates!

    »Wer am besten saufen kann, ist König,
    Bischof, wer die meisten Mädchen küßt.
    Wer da kneipt recht brav,
    Heißt bei uns »Herr Graf«,
    Wer da randaliert, wird Polizist.«

Es ist gleichsam etwas Serbisch-Montenegrinisches in dieser Verfassung
und Gesellschaftsordnung! Und wie klug ist die Strenge jener Gesetze
über Biergericht und Bierskandal, Vor- und Nachtrinken und ~ex
pleno~-Bieten usw. usw.; mit welcher Sicherheit und Schwere trifft sie
den gefährlichsten Feind des Bierstaates, den unheimlichen »Knacker«
und »Glasbeißer«, der sich der allgemeinen Trinkpflicht tückisch
entziehen möchte! Den modernen Rechtsstaat erkennt man bekanntlich
daran, daß in seinen Bezirken möglichst viel und kräftig verdonnert
wird. So auch den Bierstaat. Ein eifriger Bursch oder gar Präside
oder Bierrichter wird immer Gelegenheit finden, einen Kneipanten mit
strengster Gerechtigkeit und Unparteilichkeit zu verknurren, und wenn
der Verknurrte das kostspielige Rechtsmittel der Berufung ergreift,
so ist das im Interesse der Hebung des Konsums natürlich nur mit
wilder Freude zu begrüßen. Wer den Strapazen dieses Rechtsstaates
nicht gewachsen ist, der muß sich eben rechtzeitig weinend aus diesem
Bund stehlen. Nur er, den das allgemeine Vertrauen zum Lenker des
Staatsschiffs berufen hat und den das Gefühl von der Erhabenheit seines
Herrscherberufs und von der Infallibilität seiner Entscheidungen
erheben darf, er, der Präside, muß als der widerstandsfähigste Schiffer
auf seinem Posten ausharren können, muß trotz Nacht und Nebel, trotz
Aus- und Abstoßen und trotz allem Schwanken des Fahrzeugs und aller
Seekrankheit sein Schiff zu den sonnigen Gestaden der Fidulitas lenken,
muß auch das sinkende Schiff als letzter verlassen, und bliebe ihm
schließlich nichts zum Umklammern als eine frischgeteerte Planke. Daß
ein solcher Mann mit weitgehender Macht und Autorität ausgestattet
sein muß, ist klar. Mit einer über alle subversiven, zentrifugalen und
anulkenden Tendenzen erhabenen Schneidigkeit muß er die Zügel straff
halten können und in ernsten Augenblicken den Mut zum skrupellosen
Blödsinn besitzen. Er muß Tempo und Rhythmus des Festes angeben, wie er
Tempo und Rhythmus der Gesänge (eine eminent wichtige Sache!) bei aller
Nachsicht gegen Melodie und Tonart mit wachsamer Strenge bestimmt.

Der Gesang! Er ist die Blüte des Kommerses und offenbart also seine
höchsten Schönheiten. Ich müßte ja ein Werk schreiben von der Dicke des
»Großen Meyer«, wollte ich das Thema »Die Studentenseele im Lied« auch
nur achtelwegs erschöpfen. Welch ein sanguinischer Optimismus in dem
herrlichen Refrain:

    »O Rothschild, Rothschild,
    Rothschild, schick' Geld, schick' Geld!«

Es fällt Rothschild ja gar nicht ein, Geld zu schicken; aber das macht
diese gläubige Bitte ja noch rührender. Welch hinreißende Beweisführung
in den Versen:

    »Bums vallera, die Welt, die Welt ist wunderschön,
    Bums vallera, die Welt ist wunderschön!«

In sechs Worten ist hier eigentlich alles gesagt; das »Bums vallera«
ersetzt den ganzen Leibniz. Gegen Bumsvallera gibt es keine Instanz.
Nur aus einer solchen Weltanschauung kann jene großgeistige
Ueberlegenheit erwachsen, die nirgends erhabener zum Ausdruck gekommen
ist als in den Worten:

    »Was man draußen von uns meint,
    Kann uns Schlacke sein,
    Ist uns auch ganz schnurz!«

Aber weit gefehlt wär' es, zu glauben, daß dem Studentenherzen die
pietätvollen Gefühle fremd wären! Man beachte in dem allbekannten
»Fuchsenliede«, mit welch zärtlichem Interesse sich der ganze Chor
nach des Fuchsen Papa und Mama, nach der Mamsell Soeur und sogar nach
dem Herrn Rektor erkundigt, man beachte, mit welch teilnehmender Sorge
sich die ganze Korona mitten im Taumel der Jugendlust erkundigt, ob
denn der alte Hauschildt noch lebe, und mit welcher innigen Genugtuung
sie die frohe Nachricht, daß der alte Hauschildt immer noch lebe, ins
Ungemessene wiederholt. Ueberhaupt nimmt sich der Student mit der
schönen Weitherzigkeit der Jugend der alten Leute an, besonders da, wo
man diesen das Recht zum Trinken verkürzen will.

    »Olle Winkelmann, olle Winkelmann,
    Was süppst du denn so sehre?«

Und nun die Entgegnung des alten würdigen Mannes:

    »Wat geiht di denn min Supen an,
    Wenn ick et man betahlen kann!«

Das erinnert an die wuchtigen Schlagverse einer antiken Tragödie. Und
hat er denn nicht recht, der alte Mann? Und +wie+ recht hätte er erst,
wenn er's nicht bezahlen könnte! Die Frage, ob mit diesem berühmten
Dialog eine Ehrung des alten Kunsthistorikers Winckelmann beabsichtigt
sei, ist für den dichterischen Wert ganz belanglos. Die Verse gelten
eben für jeden Winckelmann, wenn er auch +ganz anders+ heißt.

    »Ein altes Weib auf der Turmspitze saß
    Und sauren Kohl mit Käse aß« --

ja -- wer, frage ich, würde sich mal um die alte Frau kümmern, wenn
es nicht der kommersierende Student täte?! Und wie ungerecht ist die
Beschuldigung, daß er über dem Kneipen die Studien vernachlässige! In
den allbekannten Versen:

    »Der Herr Professor
    Liest heut' kein Kollegium,
    Drum ist es besser,
    Wir trinken eins rum«

ist es doch für jeden Wohlmeinenden offen ausgesprochen, daß +nur+
deshalb getrunken wird, weil der Herr Professor nicht liest, und wenn
hämische Gesellen behaupten, der Herr Professor lese eben deshalb
nicht, weil alle Studenten trinken gegangen wären, so ist das für den
Effekt ja ganz gleichgültig. Jedenfalls zeigt das gediegene Lied:

    »Gennn--eral Laudon, Laudon rückt an, an, an,
    Gennn--eral Laudon, Laudon rückt an.
    Laudon rückt an, an, an,
    Laudon rückt an, an, an,
    Gennn--eral Laudon, Laudon rückt an«

auf das deutlichste, daß die Studenten sogar bei der Kneipe unermüdlich
Geschichte repetieren, und wer aus eigener Bemühung weiß, welch
unausgesetztes Studium es erfordert, den »Abt von Philippsbronn« mit
»Pst« und Pfiff und Schnalz- und Schnarchgetön (im richtigen Tempo
bitte!) zu singen, und wer beobachtet hat, bis zu welcher idealen
Vollkommenheit es darin selbst schwächer begabte Talente bringen,
der kann den Studiertrieb der kommersierenden Jugend nicht anders
achten als hoch. Ist doch auch die höchste Blüte des Erkennens, die
rechte Selbsterkenntnis, durch Worte von ewiger Geltung zum Ausdruck
gekommen, z. B. in den Worten des biederen Mannes, der als Grobschmied
und Vater inspizierenderweise nach Halle kommt und seinem flotten Sohn
auf dessen Fragen: »Was macht die liebe Frau Mama, was machen die
zarten Schwesterlein?« so schlicht als wahr erwidert:

    »Se sünd noch all recht fett und rund;
    Se seggen, du bist en Swinehund.«

Wer nur sehen +will+, der sieht also klar genug, daß der Studio
sich nicht schont, vielmehr die härtesten Selbstanklagen mit Mut
und Ausdauer verträgt. Wer auch erhebt machtvoller die Stimme der
Menschlichkeit, als er es tut in den tief gemütvollen Worten:

    »Reißt dem Kater den Schwanz aus,
    +Reißt ihn aber nicht ganz aus!+
                (Bravo!)
    Laßt 'n kleinen Stummel dran,
    Daß er wieder wachsen kann!«

Und wer macht sich zum dröhnenden Sprachrohr des verfolgten ~lepus
parvulus~ und trägt seine rührende Klage an das Ohr der Mitwelt?

    ~»Longas aures habeo,
    Brevem caudam teneo.
    Quid feci hominibus,
    Quod me sequuntur canibus?~

    ~Caro mea dulcis est.
    Pellis mea mollis est.
    Quid feci hominibus,
    Quod me sequuntur canibus?~

    ~Quando reges comedunt me,
    Vinum bibunt super me.
    Quid feci hominibus,
    Quod me sequuntur canibus?«~

Mein Freund, der Vernünftige, hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß
die Menschen den Hasen ja +eben deswegen+ verfolgten, +weil+ sein
Fleisch so süß und sein Fell so weich sei. O meine Brüder, soll ich ihm
'mal eine 'runterhauen? Aber nein! Seien wir duldsam gegen die Armen,
denen nicht geworden ist, das Farbenspiel des Lebens zu kosten, und
steigen wir als glückselige Wissende empor zu immer höheren Höhen des
Tiefsinns. ~Sursum corda!~

Da gelangen wir denn zu den orphischen Worten vom Bock, der nicht
milchen will.

    »Mich wundert nichts, als daß, als daß
    Der Bock nicht milchen will,
    Und frißt doch allzeit Gras
    Und frißt doch allzeit Gras.«

Millionen von Menschen, ganze Geschlechter von Erdbewohnern sind
achtlos an diesem Phänomen vorübergegangen, oder wenn sie es auch
beobachtet haben, so fanden sie doch nicht den Mut, nach der Ursache zu
fragen. Erst der trinkende Student fand diesen Mut. Gewiß: beantworten
konnte auch er diese Frage nicht, das mußte er den Professoren
überlassen, die die merkwürdige Erscheinung längst auf die Männlichkeit
des Bockes zurückgeführt haben; aber schon der Mut, eine solche Frage
zu stellen, ist bewunderungswürdig.

Die Behauptung:

    »Häßlichkeit entstellet immer,
    Selbst das schönste Frauenzimmer«

erfordert schon weit weniger Mut. (Denn wenn ein schönes Frauenzimmer
durch Häßlichkeit entstellt wird, was nützt ihm dann seine ganze
Schönheit?! Ja: kann man in einem solchen Falle +überhaupt+ noch von
einem »schönen Frauenzimmer« sprechen? Mein ernsthafter Freund verneint
es rundweg.)

Von kühnstem, bis in die Polarregionen vordringendem Forschergeiste
zeugen die sehr belehrsamen und bildungsvollen Verse vom Eskimo.

    »Der Eskimo -- lebt manchmal wo,
    Doch manchmal, da lebt er wo anders.
    Er trinkt den Tran -- wie Bier der Mann
    Und reibet damit Salamanders.«

Aber das alles, so tief es ist, ist noch seicht und trivial im
Vergleich zu dem Liede vom Frack.

    »O wie bimmel, bammel, bummelt
    O wie bimmel, bammel, bummelt
    O wie bummelt mir mein Frack!
    Ich hab noch nie einen Frack gehabt,
    Der mir so sehr gebimmelbammelt hat.
    O wie bimmel, bammel, bummelt
    O wie bummelt mir mein Frack!«

Dies, ich wage das schämige Geständnis, ist mir das Höchste in der
Dichtkunst. Hier ist nur Empfindung, Beobachtung und Bericht von
Tatsachen; alle Reflexion ist vermieden. Der Dichter verzichtet auf
jegliches intellektuelle Moment, er ist ein Volldichter. Dieses Werk
konnte geschaffen und dann genossen werden bei gänzlich exstirpiertem
Gehirn, ausschließlich mit Hilfe des ~Plexus solaris~, jenes famosen
Gangliengeflechts in der Magengegend. Ueber den Vortrag sei folgendes
bemerkt: die Hände ruhen bis zu den Ellbogen in den Hosentaschen, die
Zigarre hängt genau senkrecht im linken Mundwinkel, der Blick tastet
mit elegischer Zärtlichkeit am Frack hinunter und sucht vergeblich den
vorderen Teil der Schöße. Tempo: das hartnäckigste Largo, nach Mälzel =
1. Aber --:

Jetzt kommt ein wichtiges Aber. Auch in diesem höchsten Moment soll der
Kneipant noch so viel Herrschaft über sich besitzen, daß er mit ernster
Hingabe singt und sich im stillen über seinen Ernst unbändig amüsiert.
Der größte Blödsinn wird ernst genommen: eben das macht den Kommers zu
einem Bild des menschlichen Lebens. Und wen solch ein Ernst von Herzen
heiter stimmt, der ist ein Herr des Lebens. Und das soll der Kneipant
sein. Wir wollen mit dem Stumpfsinn spielen wie Brutus, und nachher
wollen wir allerlei Tyrannen zum Teufel jagen. Sollte einer unter
euch, liebe Brüder, gewähnt haben, daß ich die Entwickelung unseres
Vaterlandes zur Bierarchie befördern helfen wolle, so hat er geirrt.
Und wenn das edelste Münchener Bräu oder das süffigste Gold vom Rhein
in Strömen fließt: obenauf schwimme der Mensch. Ihr sollt, liebe
Brüder, euer geehrtes Innere begießen, auf daß der +Mensch+ in euch zur
Blüte komme.

Nein, das meine ich natürlich +nicht+, daß einer ein steifes Genick
haben soll, daß einer sich nie vergessen soll, nie sich heiser singen
soll, daß er für alles Getriebe um ihn her einen kühlen Polizeiblick
bewahren soll, daß er ein dicker Klotz oder Pfahl sein soll, der von
keinem Freudenstrudel sich fortreißen läßt. Solche Scheusale gehören in
die Wolfsschlucht. Gottlob gibt es aber noch starke Kerle, die mitten
durch Tabak- und Freudenqualm einen freundlich-festen Blick balancieren
können, denen in seligsten Sekunden eherne Entschlüsse reifen und die,
+wenn's nottut+, auf beide Füße springen und Männer sein können.

Denn bei einem rechten Kommers singt man ja auch solche Lieder wie
»Freiheit, die ich meine« mit den selig-schönen Versen.

    »Auch bei grünen Bäumen in dem lust'gen Wald,
    Unter Blütenträumen ist dein Aufenthalt.
    Das ist rechtes Leben, wenn es weht und klingt,
    Wenn dein stilles Weben wonnig uns durchdringt.

    Wo sich Männer finden, die für Ehr' und Recht
    Mutig sich verbinden, weilt ein frei Geschlecht.
    Das ist rechtes Glühen, frisch und rosenrot;
    Heldenwangen blühen schöner auf im Tod«

und solche Lieder wie »An der Saale hellem Strande« mit den Versen:

    »Drüben winken schöne Sterne,
    Freundlich lacht manch' roter Mund,«

und mit fern versinkendem Blick sieht dann der Sänger alle Schönheit
deutschen Landes: er hört den heiligen Gesang seiner Wälder und blickt
mit sinnenden Gedanken hinauf in ihre grünen Dämmerungen und hinab in
den bilderreichen Spiegel heimatlicher Ströme. Und wie vom Söller her
ihm schöne Augensterne winken, steht in seinem Herzen der junge, süße
Wirbelsturm der Liebe auf. Und schön ist in jungbrausender Seele der
ernste Gedanke an den Tod für ein heiliges Gut.

Jugend sei das vornehmste Getränk an eurem Tisch. Daß ihr aber auch im
grauen Haar noch jubilieren möget, bewahrt in eurem Keller von diesem
edelsten Getränke ein ungeheures Faß, das bis ans Lebensende vorhält.
Eines der herrlichsten Gebete, die je gesprochen worden, ein Gebet
Heinrich Heines, sprecht es täglich nach; es heißt: »Ihr Götter, ich
bitte euch nicht, mir die Jugend zu lassen; aber laßt mir die Tugenden
der Jugend, den uneigennützigen Groll, die uneigennützige Träne!«

Und nicht so soll es sein wie in jenem spöttischen
»Rückerinnerungslied«, wo es heißt:

    »Heute Kriegsgeschrei und Fehde allem, was die Lust vergällt,
    Morgen salbungsvolle Rede über diese Sündenwelt.
    Heute Feindschaft dem Philister, der gehorsamst denkt und schweigt,
    Morgen vor dem Herrn Minister demutsvoll das Haupt geneigt.«

So soll es +nicht+ sein, liebe Brüder, +so nicht+! Auch sollen die
Jungen unter euch nicht meinen, daß sie nachher mit der schneidigen
Wurschtigkeit der Bierlogik und Bierjustiz auf den Köpfen ihrer
Mitmenschen herumpräsidieren können. Wer vom großherzigen und
großäugigen Jugendtrutz nichts hinüberrettet in sein Manneswerk, den
soll, was er gekneipt hat, wiederkneipen, dem soll jeder Tropfen
zu Gicht werden, und die soll ihm in den Hinterfüßen nur so lange
rumoren, bis er ernstlich anderen Sinnes wird.

Und wenn er dann wieder einmal mit alten und ältesten Herren
zusammenkommt zu fröhlicher Runde und er vom Angesicht der andern
den Wandel der Dinge liest, wenn er in eines Augenblicks Erleuchtung
überschaut, was alles anders gekommen, wie er es einst gehofft, und
von den Wänden ein ernstes Wort hallt: +Vergänglichkeit+ -- wenn dann
das herrlichste und wehmutvollste aller fröhlichen Lieder steigt, das
Lied von der dahingeschwundenen Burschenherrlichkeit, und wenn zuletzt
der feierliche Augenblick kommt, da alles sich erhebt und einstmals
oft verflochtene Hände sich wiederfinden: dann mag er's mit ehrlich
bejahendem Herzen mitsingen, das schöne Bekenntnis:

    »Klingt an und hebt die Gläser hoch,
    Die alten Burschen leben noch,
    Es lebt die alte Treue!
    Es lebt die alte Treue!«

Und nun, liebe Brüder, wollen wir trinken auf alle, die vom breiten
Stein nicht wanken und nicht weichen. Aber auf die, die verlernt haben,
daß es Tage gibt »von besonderem Schlag«, Tage, so schön, daß man zu
ihnen gar nichts andres sagen kann als »~Ergo bibamus!~« -- auf die
-- auf die wollen wir auch trinken. Schon um unsertwillen. Das wäre
ja auch noch schöner, wenn wir um deretwillen dürsten sollten! Wir
wollen auf sie trinken in der Hoffnung, daß sie sich bessern. Aus jeden
einzeln! Das schmeichelt ihnen; das greift ihnen an die Ehre. Dann
gehen sie in sich.

Nachher trinken wir dann noch auf die Temperenzler; das sind sie uns
schuldig. Prost!



Der große Irrgarten


Kommt mit in meinen Blumen-, Irr- und Wundergarten! Er ist nicht größer
als meine Handfläche; aber ihr werdet euch wundern. Ein Leben könnt ihr
damit verbringen, durch seine Gänge, Lauben, Grotten und Gebüsche zu
wandeln. Tretet ein!

       *       *       *       *       *

Als unsere Aelteste eben zu sprechen begonnen hatte und meine Frau
sie eines Tages fragte: »Wo ist Papa?«, da antwortete sie mit
unvergleichlicher Gemütsruhe: »Papa puttrissen,« d. h. Papa ist
kaputtgerissen.

Meiner Frau und mir selbst war von diesem jähen Ende nichts bekannt;
wir fragten uns also: Was kann das heißen sollen? Ich war verreist
gewesen; das Kind hatte gehört, Papa ist verreist; reisen war ihm
dasselbe wie reißen, verreisen soviel wie zerreißen; in seinem Kopfe
hatte der Satz also geklungen wie »Papa ist zerreißt«, und wie die
papiernen Bilder und Puppen, mit denen sie gelegentlich spielte, immer
sehr bald »puttrissen« waren, so war es jetzt ihr Vater. Sie nahm sein
grauses Schicksal mit der denkbar größten »Wurschtigkeit« hin.

Als ihr Brüderchen noch am Boden kroch und spielte, hörten wir ihn
wiederholt den Ruf »Hammelschitte!« ausstoßen. Lange suchten wir
vergeblich nach der Uebersetzung dieses seltsamen Wortes.

Endlich beobachteten wir, daß der Junge diesen Ruf jedesmal dann
ausstieß, wenn eines seiner Stein- oder Holzgebäude zusammenstürzte
oder wenn sich sonst eine Katastrophe ähnlicher Art ereignete. Und
mit einem Male ging uns ein Licht auf. Wenn wir mit ihm gespielt
hatten, so hatten wir wohl bei gleichem Anlaß gerufen: »Da ha'm wir
die Geschichte!« Dieser Satz war ihm zu einem Wort und einem Begriff
zusammengeschmolzen und bedeutete soviel wie Zusammenbruch, Einsturz,
Umsturz, und da ein möglichst geräuschvoller Einsturz für die Kinder
ein Hauptvergnügen beim Bauen, ja, sozusagen der Sinn des Bauens
ist, so stieß er das Wort »Hammelschitte« jedesmal mit sichtlicher
Befriedigung hervor.

Ebenfalls nicht ohne weiteres, wenn auch immerhin leichter verständlich
war mir die Nachricht unserer Jüngsten, sie habe bei den Nachbarn ein
Bild gesehen, auf dem wäre »Jesus mit zwölf Posteljungens« gewesen.
Sie hatte offenbar von »Aposteln« und von »Postillons« gehört und die
beiden Berufsklassen zusammengeworfen. Vielleicht hatte auch noch das
Wort »Jünger« hineingespielt.

Als dasselbe Kind uns versicherte, es habe »solche Notbremse im Hals«,
schenkten wir ihm keinen Glauben. Erst als wir erkannten, daß es sich
um ein »Sodbrennen« handle, fanden wir seine Beschwerden verständlich.
Auch als es uns erzählte, unser Wirt in der Sommerfrische füttere seine
Schweine »mit Schleie«, fanden wir dieses kostspielige Verfahren nicht
wahrscheinlich; mit »Kleie«: das war zu glauben.

In einer Warteschule hörte ich die Kinder singen »Es regnet ohne
Untersatz« statt »Unterlaß«. Sie wußten, daß man Gefäßen, die eine
Flüssigkeit enthalten, wie Biergläsern, Blumentöpfen und dergleichen,
einen Untersatz gibt, und machten wahrscheinlich mit Befremden die
Beobachtung, daß die Natur beim Regnen diese Reinlichkeitsmaßregel
versäume.

Ihr werdet jetzt schon wissen, was ich mit meinem Irrgarten meine;
wenn ich von seinen Schönheiten, Wunderlichkeiten und Wundern nicht
immer die letzte Erklärung gebe, so gebt sie euch selbst; es ist das
anmutigste und fruchtbarste Rätselraten, das ich kenne.

Ein krauses und reiches Gärtlein für sich bilden allein schon die
lautlichen Irrwege der suchenden, tastenden Kinderzunge, die doch nach
verborgenen Gesetzen tastet und sucht. Das Kind erfindet sich ein
geniales Erleichterungsverfahren; es assimiliert Zahn- und Lippenlaut
und macht zwei Lippenlaute daraus; es hat »epwas« gefunden und möchte
noch »epwas« von der Torte, die ihm schmeckt; es löst einen schwierigen
Hiatus auf, indem es einen leichten Konsonanten einschiebt, auf den die
Zunge schon eingestellt war, ersetzt eine schwierige Konsonantenhäufung
durch eine leichte Konsonantenfolge, und zwar durch eine, die es
soeben erst geübt hat; darum wollte eins unserer Kinder nichts von der
»Servisette« wissen; darum sprach es, als es schon stark herangewachsen
war, noch immer ahnungslos von einer »Klopdopstraße« statt von einer
Klopstockstraße.

Das Kind verkehrt die Reihenfolge der Anlaute in schwierigen Wörtern
und erzählt uns strahlenden Auges von der »Muckerlative«, die so
laut geschrien und geschnauft, und von dem »Wufflabomm«, den es am
Himmel gesehen habe. Mit entschlossener Abkürzung macht es aus einem
Delikatessenhändler einen »Delitessenhändler«; ein völlig fremdes
Wort modelt es um nach einem, das es schon gehört hat: so verbreitete
eines unserer Kinder die sensationelle Nachricht, daß seine Eltern in
»Salzkamerun« wären, während wir nur bis zum Salzkammergut gekommen
waren.

Ebenso erquicklich ungeniert behandelt es die Etymologie; wo ihm
die Vergangenheitsformen fehlen, gebraucht es den Infinitiv oder
wenigstens seinen Vokal; es hat ein heillos verknotetes Stiefelband
»einfach durchgeschneiden« und fragt die Mutter, ob sie die Ernte vom
Stachelbeerbusch schon »gewiegt« habe. Die unregelmäßigen Verben und
ihre Ablautung sind ja bekanntlich überall und überhaupt ein lustiges
Kapitel; die rote Grütze, die in der Küche bereitet wurde, »raach« so
wunderschön, als Roswitha im Garten »ging, nein: gang, nein: gung«; sie
möchte sich »epwas« davon »nimmen«. Und wenn es eine »Faulheit« gibt,
warum soll es keine »Fleißheit« geben; wenn man von Emsigkeit spricht,
warum soll sich Irene nicht über die »Faulkeit« ihrer Puppe entrüsten?
Ist man nicht souverän und kann man nicht einfach Plurale und Wörter
schaffen, die es bis dahin nicht gegeben? Wenn Rosenkohl auf den Tisch
kam, verzichtete Erasmus; er mochte »die kleinen Köhler« nicht; die
Peitsche war ihm ein »Knallstock«, und die Kiemendeckel der Fische
waren »Fischklappen«. Die Frauen, die im Kloster leben, heißen Nonnen,
die Männer, die im Kloster leben, demgemäß natürlich »Nonnenmänner«,
und wenn man die Lampe angezündet hat, so muß man sie beim Zubettgehen
wieder »auszünden«.

Muß sich der Deutsche Sprachverein nicht freuen, wenn aus dem welschen
»Vestibül« ein deutsches »Westerbül« wird? Wenn es nach Süden liegt,
sagt man natürlich »Süderbül«.

Wurzelecht ist dieser Purismus Roswithens freilich nicht; als ich
verschiedentlich scherzenderweise das Wort »naturellement« gebraucht
hatte, sagte sie statt »natürlich« nur noch »natürlichrallemang«.

Dagegen verfuhr sie wiederum höchst selbständig, ja tyrannisch bei
der Transition des Tätigkeitsbegriffes auf Subjekt oder Objekt. Sie
dichtete eines Tages bei einem ihrer Spiele, daß es regne, und spannte
ihr Schirmchen auf. »Warum spannst du denn den Schirm auf?« fragte
ich. »Ich beschütz den Regen,« versetzte sie.

Aber dieser Irrgarten der Wörter und Laute ist nur ein kleines
Vorgärtchen zum großen Labyrinth der Begriffe. Denkt euch, ihr
blicktet von erhabenem Standort auf ein riesiges Manöverfeld, in
dem eine Armee nach allen Richtungen zerstreut durcheinandergewirrt
wäre. Da ertönt das Signal zum Sammeln, und plötzlich entsteht ein
so heilloses Ameisengewimmel, daß ihr glaubt, es könne sich nie und
nimmer entwirren. Aber mehr und mehr kommt Ordnung in den Haufen; immer
deutlicher formen sich die Gruppen, und endlich steht jede Division und
jede Kompagnie an ihrem Platze und jeder Mann in seinem Zuge an rechter
Stelle.

Daran muß ich immer denken, wenn ich das Gekribbel und Gewibbel und
Gewusel der Vorstellungen und Begriffe in einem Kinderkopf beobachte,
und kein Schauspiel dünkt mich wunderbarer und entzückender, als
wie diese Begriffe und Vorstellungen sich nach und nach von selbst
zurechtlaufen.

Interessant ist schon die Chronologie der kleinen Köpfe. »Einmal«,
so erzählte unsere Roswitha ihrer Mutter und mir, »einmal hab ich
in Eppendorferweg 'n ganz großen Löwe gesehen!« und als wir an der
Wahrheit dieser Erzählung zweifelten, fügte sie hinzu: »Ganz gewiß, da
wart ihr noch gar nicht geboren.«

Als sie eines Tages hörte, daß Männe, ihr geliebter Dackel, auch einmal
sterben werde, da meinte sie nach längerem Nachsinnen: »Na ja, wenn
er denn stirbt un wenn Kurti denn mein Mann is, denn lassen wir ihn
ausstopfen un denn stellen wir ihn aufs Büfett.« Männe wird eben nicht
eher sterben, als bis sie verheiratet ist und ein Büfett hat. Kinder
sind Götter und arrangieren den Weltlauf höchstselbst. Und der Gedanke,
daß etwas Geliebtes ganz aus ihrer Nähe verschwinden könnte, besteht
für sie nicht.

Die Kinder, die Roswitha einmal haben wird, haben sofort ein gewisses
vorgeschritteneres Alter; die früheren Kinderjahre überspringen sie.
Ihre Mutter wünscht das so, weil sich dann interessanter mit ihnen
spielen läßt als mit Säuglingen und Babies.

Roswithens ältere Schwester Herta kennt keinen Unterschied der Zeiten
nach Sitten und Gebräuchen; ihre Geschichtsbilder sind ein einziger
Anachronismus. »Mutter,« fragte sie, »wie hieß noch der Herr, der über
die Volsker siegte?« Coriolan ist eben ein »Herr« wie der Nachbar
Müller mit der karierten Hose und dem Zylinder. Geschichtslehrer
sollten das bedenken.

Und alle sollten wir bedenken, daß Kinder von dem, was wir ihnen sagen,
viel weniger verstehen, als wir ahnen, wenigstens von dem, was sie
verstehen +sollen+. Was sie erleben, verstehen sie weit besser, als
was wir ihnen sagen. Dieselbe Herta kam mit der Theseussage nach Haus
und erzählte frisch und munter: »Theseus hatte aus Versehen auf Kreta
getreten.« Was mag sie sich unter Kreta vorgestellt haben! Nie haben
wir's herausgebracht.

Was mag sich unsere Jüngste jahrelang unter dem Wort »Dienstag«
vorgestellt haben! Eines Tages sagte sie nämlich mit größter
Entschiedenheit: »In mein ganzes Leben is noch nie Dienstag gewesen!«
Und ein anderes Mal fragte sie: »Nich, Pappi, Eis is doch kälter als
Winter, nich?« Wie sah der Winter aus in diesem Köpfchen? Nicht wahr,
das ist ein Helldunkel, so geheimnisvoll, wie es keinem Rembrandt
je gelungen ist, nicht wahr, da tun sich zauberdunkle Höhlen voll
flimmernder Nächte auf?

Zuweilen gemahnt das kindliche Tasten an den blinden Glücksgriff des
Genies. »Was ist denn ein ›Paradies‹?« fragte ich einst ein kleines
Mädchen. »Ein Friedhof«, antwortete es ohne Besinnen. Der Friede
mochte das ~tertium comparationis~ sein, das die beiden Gärten in der
Seele des Kindes zu einem gemacht hatte. Und auf der Straße hörte ich
einst, wie hinter mir ein Büblein zum andern sagte: »Gestern ist meine
Großmutter eingepflanzt worden.« Das ist eigentlich noch schöner als
Schillers Verse:

    Noch köstlicheren Samen bergen
    Wir trauernd in der Erde Schoß ...

Wir verbinden die Vorstellungen zu Begriffen, wenn sie in den
wesentlichen Merkmalen übereinstimmen; das Kind stellt solche
Verbindungen nach einzelnen, oft nach einem einzigen und dazu noch
zufälligen Merkmal her. Das ergibt dann Aussprüche von merkwürdigem
Tiefsinn und von überraschender Komik. Ein Sechsjähriger kam an seinem
ersten Schultage mit der verwunderten Bemerkung heim: »Sie sagen in
der Schule gar nicht ›Sie‹ zu mir.« Daß seine Verwandten und seine
Spielkameraden und die Freunde des Hauses ihn duzten, war begreiflich;
sie waren ja Bekannte; aber fremde Leute sagen doch »Sie« zueinander.

Ein anderer Abc-Schütze berichtete mit gleicher Verwunderung: »Die
Schulbänke sind gar nicht gepolstert.« Man sollte glauben, es sei ein
verwöhntes Seidenpüppchen gewesen; aber das Gegenteil war der Fall; es
war ein einfach gewöhnter, derber Junge; aber mit dem Begriff eines
Sitzgeräts war ihm das Merkmal der Polsterung verbunden.

Einer meiner Freunde ging mit seinem neunjährigen Neffen in einen
Juwelierladen, dessen Inhaber ihm u. a. auch einen hübschen Ring für
den Buben anstellte. Er steckte dem Knaben den Ring an den Finger und
meinte, ob er solch einen Ring nicht haben möchte; der Junge aber
lehnte entschieden ab. Wieder auf der Straße, sprach er mit einer
gewissen Entrüstung zu seinem Onkel: »Ich weiß gar nicht, was der Mann
mit seinem Ring wollte! Ich +denke+ gar nicht ans Heiraten.«

Natürlich sind es vor allem die sinnlichen Merkmale der Dinge, die
in den Kindern haften und nach denen sie diese Dinge erkennen und
bestimmen. Roswitha hatte mit großen, vor Teilnahme ganz dunklen Augen
das Lied von den zwei Königskindern gehört, für die das Wasser viel zu
tief war.

»Warum schwamm denn der Königssohn hinüber?« fragte ich sie. »Er konnte
doch nicht so weit hinüberlieben,« war ihre Antwort. Lieben heißt die
Arme um den Hals des andern schlingen, ihn drücken und küssen.

Selbst die Geister denkt sich Roswitha in einer nicht zu überbietenden
Konkretheit. Sie hatte sich im Dunkel ihres Schlafzimmers vor
»Geistern« gefürchtet (wie sie darauf verfallen war, weiß ich nicht);
in einer dunklen Zimmerecke argwöhnte sie solch einen Störenfried. Wir
hatten ihr versichert, daß es Geister von der Art, die die Leute bei
Nacht belästigen, nicht gebe (in solchem Alter gibt's die ja wirklich
nicht), und hatten sie genau in alle Winkel schauen lassen, um sie
von der Gespensterreinheit des Zimmers zu überzeugen. Das hatte sie
denn auch beruhigt. Aber einige Wochen später mußten ihr doch wieder
Zweifel aufgestiegen sein; sie rief noch spät ihre Mutter ans Bett und
vertraute ihr ihre Befürchtungen an:

»Ich weiß ja, daß es keine Geister gibt; du hast es mir ja gesagt;
aber ich muß immer daran denken: vielleicht is doch noch einer
nachgeblieben, un der hat sich vielleicht vermehrt.«

Kann man sich Geister sinnlicher vorstellen?

Und wie sie allem Geistigen einen Körper geben, so -- das ist bekannt
-- beseelen sie alles Körperliche. Weil ihnen Körper und Geist
überhaupt noch ungetrennt sind, weil ihnen die Welt überhaupt noch
als ein einheitliches Ganzes, nicht als eine Vielheit erscheint!
Sie besitzen durch die Gnade der Natur noch die Synthese, die der
Philosoph, wenn er die Welt analytisch zerbröckelt hat, vergeblich
wieder zu erringen sucht; sie sehen die Welt noch in größeren Komplexen
als wir. Das zeigt sich höchst charakteristisch in ihrer Orthographie;
sie hören nicht Wörter, sondern ganze Wortkomplexe, ganze Sätze als
eines. Als Roswitha Briefe zu schreiben begann, da schrieb sie an ihre
Freundin nicht nur: »Dann kristu (kriegst Du) meine Puppe«, sie lud sie
auch »aufngansentag«, d. i. auf einen ganzen Tag zu sich und berichtete
ihr, daß Männe »gansausersich«, d. h. ganz außer sich vor Freude
gewesen sei.

Und so wenig sie die Worte und Dinge voneinander trennen, so wenig
trennen sie sich selbst von den Dingen des Alls. »Seid umschlungen,
Millionen,« dieses Wort im grenzenlosesten Sinne ist ihre
Weltanschauung. Da kann es nicht wundernehmen, daß Herta fürchtete,
ihre Puppe werde Heimweh bekommen, und daß Roswitha von ihrem Kaninchen
»Swatti« erzählte:

»Als ich Swatti fragte: ›Hast du dir wehgetan?‹, da sagte es: ›Was geht
dich das an!‹«

»Wie«, fragte ein ungeschickter Mann, »hat Swatti denn gesprochen?«

Ueberrascht sah ihn Roswitha an. »Es hat +so+ gemacht,« sagte sie und
verzog blitzschnell das Schnäuzchen, wie es die Kaninchen tun und
wie es die Kinder machen, wenn sie maulen und trotzen. War das nicht
Sprache genug?

Alles Leben ist eins, und in einem einzigen Strome durchzieht es alle.
Darum sprang Roswitha heftig auf, als in einer häuslichen Aufführung
die Königin über den Tod Schneewittchens triumphierte, und rief mit
Tränen in den Augen:

»Du freche Deern, du sollts man tüchtig Haue haben!«

Und darum erlebt' ich eines Tages, als ich zum hundertsten Male den
»Tell« sah, etwas ganz Neues. Als die Rütlimänner auseinandergingen und
die Urner wieder die Felsen hinanstiegen, da winkten sie ihren Genossen
zum Abschied, und diese winkten zurück. Und wer winkte mit? Mein
Töchterchen Herta, das an meiner Seite saß. Sie lebte zu Beginn des 14.
Jahrhunderts in der Schweiz; sie hatte mitgeschworen und kehrte nun
heim »zu ihrer Freundschaft und Genoßsame«.

Und wie sie alles +sind+, was sie erblicken, so +können+ sie alles,
was sie sehen. Daß Rudi »Seemann oder Dichter« wird, steht fest, daß
er dabei auf Schwierigkeiten stoßen könnte, ist ausgeschlossen; daß er
als Seemann den Nordpol finden wird, leidet keinen Zweifel. Aber das
alles ist mit menschlicher Kraft zu erreichen. Kinder haben überdies
noch Wunderkräfte. Wenn Roswitha mit fanatischer Gebärde ausruft: »Ich
verzauber dich als Tier!« dann ist Rudi ein Tier, da gibt es keine
Berufung.

Und wie die Kraft, so der Glaube. Als ich einst mit Herta spazieren
ging und wir an einem Wagen mit einem Schimmel vorbeikamen, sagte sie:
»Das ist der siebenunddreißigste Schimmel, den ich seh.«

»Zählst du denn die Schimmel?« fragte ich höchlichst überrascht.

»Ja, ich zähl alle Schimmel, die ich seh, und wenn man neunundneunzig
gesehen hat, dann kann man sich was wünschen.« Sie machte dabei
dieselben Augen wie damals, als sie den Urnern zum Abschied winkte.

Die größten Magier und Wundertäter aber sind Vater und Mutter. Ich
erinnere mich aus meiner Kindheit einer Zeit, da ich glaubte, daß
meine Eltern alle meine Gedanken wüßten, wie der liebe Gott. So
haben meine Frau und ich bei Roswithen unbegrenzten Kredit. Als sie
ihre erste, rührend einfache Weihnachtshandarbeit machte, beriet
sie eifrigst und eingehendst mit ihrer Mutter darüber, wie sie dies
Geschenk am besten vor ihr verbergen könne. Vieles wurde erwogen,
vieles wieder verworfen. Endlich rief sie: »Ach was, ich leg es einfach
in meine Puppenkommode; ich weiß ja, daß du nich darangehst!«

Und ein andermal sagte sie: »Ja, ich steck ja noch immer den Daum'n in
Mund, wenn ich einschlaf; aber du wirst mir das wohl schon abgewöhnen.«
Dies felsenfeste Vertrauen zur Mutter beruhigte ihr Gewissen vollkommen.

Wenn ich aber Roswithens Meinung von mir darstelle, so muß ich mich
eigentlich schamroter Tinte bedienen. Als ein Bildhauer eine Büste von
mir angefertigt hatte, da fragte ihr Bruder sie, auf die Inschrift im
Sockel zeigend: »Was steht denn wohl drunter?«

»Pappi!« versetzte sie wie etwas Selbstverständliches. Die Welt hatte
doch nur einen Pappi, und das war ich. Dumme Frage.

Als aber später einmal von Frankfurt a. M. die Rede war und ihre
lehrfreudige Schwester Irene sagte: »Da ist der größte deutsche
Dichter geboren. Wer ist das?«, da rief Roswitha mit derselben
Selbstverständlichkeit: »Vater!«

Sie soll einmal meine Biographie schreiben.

Die nächsten im Range nach Vater und Mutter sind die Könige und
Prinzen. Daher Roswithens tiefes Erstaunen, als sie in der biblischen
Geschichte vernahm, daß die jüdischen Könige mit einer gewissen
Regelmäßigkeit und Gründlichkeit sündigten.

»Merkwürdig,« sprach sie eines Tages sinnend zu meiner Frau, »jeder
König tut eine große Sünde; +aber auch jeder+!«

Von den Prinzen hatte sie dagegen infolge von Schokolade eine andauernd
gute Meinung. Ein Prinz nämlich hatte uns gelegentlich eines Besuches
Schokolade für die Kinder gegeben, und als Roswitha ihr Teil empfing,
fragte sie strahlenden Blicks: »Handelt der Prinz mit Schokolade?«

Man muß nämlich nicht glauben, daß sie wie ein Kriegsminister denkt
und in solchem Handel etwas Deklassierendes erblickt; im Gegenteil:
ein Prinz, mit Degen, Barett und spanischem Mantel in einem Laden voll
Schokolade stehend, wäre ihr ein besonders herrlicher Prinz gewesen.
Hatte sie doch eines Tages, als ihre Geschwister ins Theater kamen und
sie dafür durch Schokolade entschädigt wurde, triumphierend ausgerufen:

»Schokolade ist besser als Theater!« Eine Wertung, der ich in manchen
Fällen entschieden zustimme.

Unmittelbar auf Könige und Prinzen folgt, was Hoheit und Macht anlangt
-- hier zeigt sich Roswithens deutsche Natur -- der Schutzmann oder
Konstabler.

»Wo ist denn Rudi?« fragte ich sie einmal, als sie etwa vier Jahre alt
sein mochte. Rudi war der nachbarliche Spielgefährte.

»Och,« versetzte sie, »wir ha'm uns doch 'n Herd gebaut, aus Sand,
nich? Un nu woll'n wir Suppe mit Reis zu Mittag kochen, nich? Un nu
fragt Rudi den Konstabler, ob wir das auch dürfen.«

So weit muß es kommen mit der Loyalität. Nur sollten dergleichen
Gesuche schriftlich abgefaßt und auf einem längeren Instanzenwege
erledigt werden.

Eine unbegrenzte Macht ist auch das Fünfpfennigstück. Ein köstliches
Kerlchen von drei Jahren hatte solch ein Fünfpfennigstück bekommen und
wollte damit stracks Laufs auf den Markt, um sich »ßwei Simmels« (zwei
Schimmel) zu kaufen.

Gelegentlich sind wir bereits aus dem intellektuellen in den
moralischen Irrgarten getreten. Hier besteht die Verwirrung oft in der
verblüffenden Einfachheit. So überwindet Roswitha die Illoyalitäten des
ersten Napoleon auf eine höchst summarische Art. Als man ihr erzählte,
daß dieser Mann Aegypten, Italien, Spanien, Deutschland, Oesterreich
usw. erobert und mit Krieg überzogen hatte und nun auch noch Rußland
erobern wollte, da rief sie empört: »Der is woll wahnsinnig! Der muß
mal tüchtig was auf die Jacke haben!«

So ist es denn ja auch am letzten Ende gekommen, wenn sich die Sache
auch nicht so einfach gemacht hat, wie es Roswitha meinte.

Kinder glauben an die unbedingte Wirksamkeit von Strafe und Ermahnung;
sie beseitigen die moralischen Uebel wie der Bader einen Leichdorn. Wie
Roswitha fest davon überzeugt war, daß ihre Mutter ihr das Lutschen
auf dem Daumen »schon abgewöhnen« werde, so ist sie tief davon
durchdrungen, daß ihre Kaninchen die Unart des Erdwühlens ablegen
werden, wenn sie ihnen ermahnend zuruft: »Ihr dürft aber nicht wühlen!«

Daß Roswitha bei aller Einfachheit ihrer sittlichen Begriffe in
gehobenen Stunden gemeinsam mit Rudi das Räuberhandwerk betreibt
und alles, was durch den Garten kommt, »überfällt«, »fesselt« und
»beraubt«, mit besonderer Vorliebe mich, weil ich so viel in den
Taschen trage, das kann in einem Irrgarten nicht wundernehmen.
Verwunderlicher ist schon, daß an der Innenwand der Räuberhütte,
in der ich schon viele Jahre als Gefangener geschmachtet habe, ein
Abreißkalender, ein Thermometer und ein Telephonbuch hangen.

Daß der Garten der Liebe für Roswitha noch im tiefsten Dunkel liegt,
ist selbstverständlich; aber selbst dieser kimmerischen Finsternis
entwachsen anmutige Blumen. Sie hatte öfters ein Kind in Begleitung
einer Bonne durch unsere Straße spazieren sehen. »Das Kind gehört Dr.
Melchers,« sagte Herta bei Gelegenheit.

»Nein, das Kind gehört dem Fräulein!« rief Roswitha energisch.

»Unsinn, Melchers gehört es,« wiederholte Herta, »ich weiß es doch!«

»Ach, was du schnackst!« rief Roswitha. »Dem +Fräulein+ gehört es! Das
Fräulein spielt doch immer mit ihm, nich? Un Melchers spielen nie mit
ihm.«

So verteidigte sie fanatisch das Mutterrecht des Fräuleins, worauf
dieses wahrscheinlich gar kein Gewicht legte.

So viel immerhin scheint Roswitha von der Liebe schon zu ahnen: daß
es nicht gut sei, wenn der Mensch allein ist. Man hatte ihr erzählt,
daß die Nonnen niemals einen Mann nehmen dürften. Das versetzte sie
in tiefes trauerndes Nachsinnen. Dann aber fuhr sie plötzlich auf und
rief: »Dürfen sie denn nicht +wenigstens+ die Mönche heiraten?«

Was die Mönche zu diesem »wenigstens« sagen werden, bleibt abzuwarten.

Nicht wesentlich anders stand es mit der zwölfjährigen Irene, als sie
uns erzählte: »Georg hat mir gesagt, er sieht kein andres Mädchen an
als mich.«

Das war von Georg deutlich genug; aber da Irene uns die Angelegenheit
ohne Umschweife und freiwillig mitteilte, so waren wir beruhigt.

Als sie einmal unversehens in die Küche geraten war und eines der
Dienstmädchen bei dieser Gelegenheit mit viel Empfindung Liebesbriefe
von seinem Sergeanten vorgelesen hatte, da waren wir beunruhigt. Aber
als sie uns dann erzählte: »Anna hat Liebesbriefe vorgelesen, das war
+sooo langweilig+!«, da waren wir wieder beruhigt.

Georg wurde übrigens zum Kaffee eingeladen, erschien ohne jegliche
Befangenheit, aß mit derselben Unbefangenheit unglaublich viel Kuchen
und spielte dann mit Erasmus und den Mädchen Indianer in einem sehr
komischen Kostüm. Er dachte offenbar noch nicht ans Heiraten, sonst
hätte er kein komisches Kostüm angelegt. Er war in dem Alter, da
man raucht, spielt und liebt, weil es die Erwachsenen tun; er war
Toggenburg aus Nachahmung. Nachahmung ist fast alles kindliche Tun und
Treiben; aber von einem gewissen Alter ab ahmt man nur nach oben nach.
Bei Erasmus und seinen Genossen ging das so weit, daß sie nicht nur
Theater spielten (den »Faust« natürlich), sondern sich auch in einer
handschriftlichen Zeitung gegenseitig rezensierten. Da hieß es denn:
»Der junge Künstler erschöpfte seine Aufgabe leider nicht restlos«
oder »Der fleißige Darsteller möge sich nur nicht durch den wohlfeilen
Beifall der Galerie zu Unnatürlichkeiten verleiten lassen« usw.

Wir lasen diese Blätter mit ernster Anteilnahme und lachten nicht;
denn es ist etwas Heiliges an solcher Kindheit, daß sie keine Ahnung
von ihrer Komik hat. Und doch waren diese »Künstler« so komisch wie
Roswitha, als sie Maurer spielte und sich dazu eine Kelle geben ließ
und eine Blechflasche, über die Schulter zu hängen, und eine Dose mit
Kautabak, und fleißig in Lehm und Schlamm arbeitete und dabei doch ein
rosa Kleidchen mit +Spitzenmanschetten+ trug.

Ja, sie wollen es gar zu gern den Erwachsenen gleichtun, freilich
weniger in dem, was unangenehm und schwierig, als in dem, was angenehm
und lieblich ist. Ein kleines Mädel aus befreundeter Familie fragte
seine Mutter: »Mama, wann kann ich eigentlich tun, was ich will?«

»Ja,« lachte die Mutter, »damit hat's noch gute Weile. Warum willst
du's denn wissen?«

»Ach, dann will ich mir die Haare brennen,« versetzte das kleine Weib.

Aber sie +wollen+ nicht nur erwachsen sein, sie +werden+ es allmählich
auch. Sie werden klüger, sie erwachen; Strahl um Strahl dringt Licht
in den großen Irrgarten, und das zu beobachten ist ein fürstliches
Gaudium, wenn auch oft ein wehmütiges. Der erwachende Intellekt zeigt
sich gewöhnlich zuerst als Schlauheit, und wenn er sich bei jenem
kleinen Mädel auf die Haare warf, so wirft er sich bei andern Kindern
-- und öfter -- auf den Gaumen.

»Mama, +zählt+ ihr eigentlich das Konfekt, wenn ihr es in den
Tannenbaum hängt?« fragte ein kleines Mädchen seine Mutter. Das war ja
nun noch eine ziemlich ungenügende Leistung in der Schlauheit; aber sie
bringen es mit der Zeit schon weiter.

Bei Roswitha -- das muß ich ihr nachsagen -- beleuchtet das
eindringende Licht gewöhnlich größere Flächen und verbreitert sich zur
Philosophie.

»Leibweh is eignlich sehr schön,« meinte sie schon mit sechs Jahren,
»denn bespart man sich seine Schokolade auf, un denn hat man nachher
noch welche.« Das sind die Anfänge einer optimistischen Weltanschauung,
die doch eigentlich darauf hinausläuft, daß man auch an Leib-, Kopf-
und Zahnweh das »Schöne« herausfindet. (Bei Zahnweh hält es schwer;
aber es geht auch.)

»Teufel, komm un hol sie!« rief sie einmal, als sie über eine
streitsüchtige Spielgefährtin heftig erbost war, und dann setzte sie
resignierten Tones hinzu: »Schade, daß es keinen Teufel gibt.«

Ihre Philosophie ist also freilich noch die Tochter der Wünsche; aber
immerhin philosophiert sie schon wie Voltaire, der behauptete, wenn
es keinen Gott gäbe, so müßte man ihn erfinden, und, wenn man's genau
nimmt, auch wie Kant, der den lieben Gott absetzte, um ihn wieder
einzusetzen.

Ja, sie hatte schon verhältnismäßig früh sozusagen ethische Anfälle. An
einem schönen Ostermorgen hatte sie mit bemerkenswerter Findigkeit die
meisten Ostereier, selbst in raffinierten Verstecken, gefunden; aber
statt sich nun wild in den Genuß zu stürzen, sagte sie: »Bitte, Mammi,
bitte, Pappi, versteckt sie noch einmal; ich mag sie so gern suchen.«
Hier überwog also schon die Lust des Erringens das Gelüste des Gaumens.
Natürlich nicht für den ganzen Tag.

Ihr Gehirn war damals überhaupt schon mächtig an der Arbeit. »Ich
möcht', daß ich mal recht viel Zeit hätte!« seufzte sie eines Tages.

»Nanu?« rief ich verwundert. Mehr als vierundzwanzig Stunden am Tage
kann man doch nicht gut Zeit haben. »Wozu denn?« fragte ich.

»Denn möcht' ich mal so recht über +alles nachdenken+!« Sie sagte es
langsam, nachdrücklich und sehnsuchtsvoll. Die Welt, das Leben drang
in allzu reicher Fülle auf sie ein; sie konnte nicht alles bewältigen;
da war so viel, das sie nicht begriff. Es schien eine richtige Sorge
in ihr zu sein. O ja, Kinder haben auch manchmal Sorgen, und sie nagen
genau so scharf an ihnen wie an uns. Roswitha drängte einmal ihre
Mutter, sie möchte ihr doch Unterricht geben.

»Oh, das hat noch Zeit,« meinte die Mutter.

»Aber wie soll ich denn durch die Welt kommen!« rief die Kleine
bekümmert.

Sie tanzen sorglos über Abgründe dahin und machen sich Sorgen um den
Schatten eines Halmes. Aber es sind Sorgen. Kindereien sind für sie
nicht Kindereien. Ich überraschte einmal einen vortrefflichen Mann und
berühmten Gelehrten dabei, wie er den Tannenbaum für die Seinen putzte
und dabei fortwährend hockend und kniend um den Baum herumrutschte.

»Warum machen Sie denn das?« rief ich erstaunt.

»Ja,« sagte er, »man muß bedenken, daß die Kleinen den Tannenbaum von
unten sehen; man muß ihn aus der Perspektive der Kinder schmücken.«

So müssen wir Sorgen und Freuden, Tränen und Lachen der Kleinen aus der
Kinderperspektive betrachten.

Wenn man das tut, wird man freilich zu Zeiten heftig überrascht von
einem wahrhaft hellseherischen Blick der Kinder in das Leben der
Erwachsenen. Roswitha will später einen gewissen »Kurt« heiraten, das
steht fest. Sie werden dann in unserm Hause wohnen, und zwar hat die
junge Frau die besseren, unteren Zimmer -- das muß man ihr lassen --
ihren Eltern, die oberen, geringeren sich und ihrem Manne zugedacht.

»Aber weißt du denn schon, ob dein Mann seine Schwiegereltern bei sich
haben will?« fragte meine Frau.

»Hach!« rief Roswitha mit unbekümmertem Lachen, »das werd' ich ihm
schon so lange vorpredigen, bis er ja sagt.«

Ist diese Kenntnis von der Macht der weiblichen Rede nicht verblüffend?
Oder ist das nichts als weiblicher Instinkt?

Und voll, gepfropft voll von rührenden und komischen Wundern ist dann
die Zeit, da die Klarheit so weit vorgeschritten ist, daß Bewußtheit
und Unbewußtheit das Gleichgewicht suchen und das Zünglein an der Wage
unaufhörlich schwankt, die Zeit, da Leib und Seele die Stimme wechseln.
Dann wollen sie beides sein, Kind und Weib, Junge und Mann. Dann sind
zwei Seelen, ach, in ihrer Brust:

    »Die eine hält mit derber Liebeslust
    Sich noch ans Spiel mit klammernden Organen;
    Die andre hebt +gewaltsam+ sich vom Duft
    Zu den Gefilden hoher --«

ach, so zweifelhaft »hoher« -- »Ahnen.« Dann will die vierzehnjährige
Roswitha noch in einem höchst primitiven Indianerkostüm als
Chingachgook im Garten umherspringen (»Das kann ich doch noch ruhig
spielen, nicht, Mutter?«), um zwei Minuten später mit Entrüstung
zu rufen: »Ich bin doch kein Kind mehr!« Dann benimmt sich der
Faust-Darsteller und Hamburger Dramaturg Erasmus noch wie ein rechter
Tertianer. Nicht im Wachen, o nein, da hält er die Ohren steif als
Grand-Seigneur, aber im Schlaf. Er redet nämlich aus dem Traum und
führt den Dialog weiter, wenn man ihm antwortet. Die Tür zu seinem
Schlafzimmer stand offen, als ich vorüberging, und ich hörte ihn laut
rufen. »Nanu!« rief er.

»Was ist denn?« fragte ich.

+Er+ (noch lauter und schwer entrüstet): »Nanu!!«

+Ich+: »Was gibt's denn?«

+Er+: »Es läutet ja gar nicht!!«

+Ich+: »Warum soll es denn läuten?«

+Er+: »Ist doch schon Elf!!!«

Aha! Jetzt begriff ich. Er saß in der Schule, und die Lateinstunde
wollte nicht rechtzeitig schließen. Daß so eine Lateinstunde anfängt,
ist schon eine Gemeinheit von ihr; aber nicht rechtzeitig zu schließen
-- da kocht die Jünglingsseele. Im Schlafe war Lessing-Faust eben noch
Pennäler.

In solcher Dämmerung der Seele, in solch ambrosischer Nacht war's, daß
Irene, die Selektanerin, die Fast-schon-Seminaristin, mit seltsamen
Augen auf das Wunderknäul starrte, das ihre jüngste Schwester zum
Geburtstage erhielt. Meine Frau sah diesen Blick, und als sie Irenen
bald darauf ebenfalls ein Wunderknäul schenkte, da lag Irenen nichts
ferner als Würde und Entrüstung und nichts näher als Freude und Lachen.

Solch ein Wunderknäul ist ein Garnknäul, das einen ganzen
Nibelungenhort von Ringen, Ketten, Seidenbändern, Schokolade usw. usw.
in sich birgt. Wenn die Mädel nun bei fortschreitender Arbeit das Garn
abwickeln, so kommen nacheinander alle diese Kostbarkeiten zutage. Da
gibt es viele Ahs! und Ohs!, viel Staunen und Lachen.

Die Kindheit ist solch ein Wunderknäul. Eigentlich ist das ganze Leben
solch ein Wunderknäul; aber dann sind auch andere Sachen darin. Und ein
Glück ist es, der Abwickelung solch eines kindlichen Wunderknäuls mit
offenen Augen zuzuschauen.

Das unsere ist diesmal zu Ende; an seinem Faden sind wir an einen
Ausgang des großen flimmerdunklen Irrgartens gelangt --

-- und treten nun wieder hinaus ins helle Licht, ins grelle Licht des
Tages.



Im Seebade


Fragt eine Hausfrau, was es heißt: eine fünfwöchige Badereise für
sieben Menschen vorzubereiten! Eine Art Moltke muß sie sein, der bis
auf den letzten Knopf und Kragen einen Feldzug organisiert.

Aber alle Sorgen, Berechnungen und Aufregungen solch einer Hausfrau um
Koffer und Kasten sind nichts gegen Hertas Aufregungen um ihren neuen
Puppenkoffer. Ihr müßt bedenken, es ist kein gewöhnlicher Puppenkoffer.
Er hat Abteilungen für Hüte, Leibwäsche, Kleider, Toilettengegenstände
usw. usw. und ist beinah so groß wie ein kleiner Menschenkoffer.
Dieser Koffer ist ihr die Badereise; ohne ihn wäre die Badereise ein
Garten ohne Pflanzen, eine Armee ohne Soldaten, ein Beefsteak ohne
Fleisch. Es ist der Sinn der Badereise, daß man einen Koffer mitnehmen
kann. Ich machte mir einen Scherz und sagte mit ernstem Gesicht:
»Dein Puppenkoffer muß zu Hause bleiben; wir haben schon viel zu viel
Gepäck.«

Da schaute aus Hertas braunen Augen ein vernichtetes Lebensglück. Das
konnte ich keine drei Sekunden mit ansehen, und schnell sagt' ich: »Ja,
ja, du darfst ihn mitnehmen.«

Da war das Lebensglück wieder wie neu.

Alle fünf großen Koffer machen meiner Frau nicht so viel Kopfzerbrechen
wie Hertas Puppenkoffer. Sie mag im Erdgeschoß oder im ersten Stock,
im Keller oder auf dem Boden sein -- überall wird Herta wie aus der
Versenkung neben ihr auftauchen und sie über die Dispositionen in
ihrem Puppenkoffer um Rat fragen. Und dabei stellt sich leider ein
empfindlicher Mangel heraus. Auf Sylt ist die Witterung zuweilen rauh,
auch im Sommer, und Herta hat für ihre Puppen keine Winterkleider!
Da erklärt sich Irene bereit, ihr das Nötige zu leihen. Und da
schlägt Herta ihrer Schwester die Arme um den Hals und küßt sie,
und dann schaut sie sie an und sagt mit den Augen: Ich schwöre dir
unauslöschliche Dankbarkeit und ewige Liebe über das Grab hinaus.

Drei Tage darauf war's, daß Herta bei Tisch ein allgemeines Schweigen
durch den Ausruf unterbrach: »O Gott! Ich muß jeden Tag einmal sagen,
daß ich glücklich bin!«

In ihrer Mutter Hände legt Herta überhaupt alles, was sie betrifft,
ihr ganzes gegenwärtiges und künftiges Schicksal, auch die Wahl ihres
dereinstigen Gatten.

»Du suchst mir einen Mann aus, und dann sag' ich zu ihm: Du sollst mein
Verliebter sein.«

So denkt sie sich den Hergang. Ob er sich so einfach abspielen wird,
bleibt abzuwarten.

Was mich betrifft, so sind mir an der Badereise die Koffer nicht das
Liebste; das Meer z. B. ist mir wesentlich lieber. Denn am Meere werd'
ich faulenzen können! Sonst hab' ich zu dieser edlen Kunst kein Talent;
ein verlorener Tag -- wohlverstanden: nicht ein dem Vergnügen geweihter
Tag, nein: ein vertrödelter, zwecklos verbummelter Tag hinterläßt mir
einen schlimmeren Katzenjammer als sieben Glas Grog von schlechtem Rum
-- wenn ich sie trinken würde, meine ich --, aber am Meere kann ich
faulenzen. Das Meer wiegt alle Gedanken ein, auch die Gedanken, die
nicht schlafen wollen und nicht schlafen können, alle, alle; am Meere
glaub' ich an die Vorstellung der Wilden, daß die Seele den Körper
verlassen und sich auf eigene Hand ergehen könne.

Und ich reise diesmal mit um so größerem Behagen, als meine Tochter
Appelschnut mich über die Kosten vollständig beruhigt hat. Als wir
schon in der Eisenbahn saßen, sagte ich: »Ich glaube, ich habe mein
Portemonnaie vergessen.«

»Pappi, ich hab' Geld mitgenommen!« rief Appelschnut.

»Wie viel?«

»Fünfßehn Fennige!«

»Na also!« Zu allem Ueberfluß fand ich dann auch noch mein Portemonnaie.

Aber nicht nur ein Portemonnaie habe ich mitgenommen, sondern auch
Bücher. Ich beschränke mich darin und nehme selten mehr als ein
Dutzend Bücher mit, da ich schon zehnmal erfahren habe, daß ich nur
in vereinzelten Fällen eins davon zu Ende lese. Nachdem im Sand des
Ufers eine tiefe »Kuhle« ausgegraben -- so tief, wie es das Grundwasser
erlaubt -- und ringsherum ein hoher Burgwall mit Ausblick auf das Meer
aufgeworfen worden, bette ich mich so weich und warm wie möglich in die
Kuhle und nehme mein Buch zur Hand. Diesmal ist es ein dickleibiges
biologisches Werk über die Pflanzen und Tiere des Meeres. Ich befinde
mich auf der dritten Seite der Einleitung, als ich aus weiter Ferne
»Nuuu!« rufen höre. Ich lese weiter und höre gleich darauf lauter
und dringlicher »Nuuu!« Da fällt mir ein, daß ich ja eigentlich mit
meiner jüngsten Tochter Versteck spiele. In dieser Seeluft ist ein
berauschender, benebelnder Tau, der alle Vorsätze, Versprechungen,
Abmachungen, Hoffnungen und Befürchtungen in Traum und Dunst auflöst.
Ich grabe mich also aus und mache mich auf, meine Tochter zu suchen.
Ich sehe sofort ihren mächtigen roten Strandhut über einen Sandwall
schimmern; aber ich suche sie natürlich lange und unter verzweifelten
Ausrufen überall, wo sie nicht ist. Endlich »finde« ich sie: »Ach, da
bist du!« Sie kreischt vor Vergnügen wie ein Seeadler und fliegt mir an
den Hals. Auch von ihrem Munde kommt der Atem des Meeres.

Nun muß ich mich verstecken. Sie drückt beide Hände vor die Augen und
steckt den Kopf in den Sand, um nichts zu sehen. Ich nehme mein dickes
Buch und setze mich hinter einen Strandkorb. -- --

Ich befinde mich auf der vierten Seite oben, als sich zwischen mich und
das Buch ein roter Hut schiebt.

»Vater, du mußt doch ›Nu!‹ rufen!«

»Ach ja, wahrhaftig, entschuldige!«

In dieser Luft wird ein Cato zum Windhund, ein Regulus zum
Wortbrecher, und ein Picus von Mirandola verliert das Gedächtnis. Ich
sammle mich wieder auf, verstecke mich mit meinem Buch hinter der
Dünentreppe und rufe: »Nu!«

Ich bin auf der vierten Seite unten, als mir ein ganzer Mensch aufs
Buch fällt und schreit: »Haaaa! Nu hab' ich dich!«

»Nu muß du mich wieder suchen!« ruft sie und ist verschwunden wie ein
Hauch.

Man wird zugeben, daß dies nicht die Art ist, ein Dutzend Bücher zu
bewältigen, zumal wenn man nach siebenmaligem Rufen und Verstecken
mit Herta, der glücklichen Besitzerin des Puppenkoffers, »dritschern«
muß. »Dritschern« heißt: einen flachen Stein so auf den Wasserspiegel
werfen, daß er wiederholt abprallt, bevor er versinkt. Auch
»dritschern« fördert die Lektüre nicht; aber als Vater kann man sich
ihm nicht entziehen. Wie gut es ist, wenn man in der Jugend fleißig
gewesen, das sehe ich jetzt: ich »dritschere« noch ziemlich schön.
Aber Herta will es wie gewöhnlich im Anfang nicht gelingen, und daran
ist weniger ein Mangel an Geschicklichkeit als die Ueberfülle von
Kraft schuld, die sie an alles wendet. Wie Brunhilde im Wettkampf den
Felsblock schleudert, so wirft sie ihr Steinchen. Aber auch die stille,
die innere Kraft hat sie, und da gelingt es ihr schließlich doch, und
als es ihr gelungen, da lacht sie hell mit dem Mund und heller mit
den Augen, wirft mir die Arme um den Hals -- ich weiß nicht, ob es
Liebkosungen oder Schläge sind -- und küßt mich.

Herta, du siehst aus wie ein Symbol der Natur: Du küssest und
zermalmst, und alles mit lachenden, unschuldsvollen Augen!

Die ersten drei Jahre ihres Lebens war sie ununterbrochen krank, ein
trauriges Würmchen, die nagende Sorge der Mutter. Da gingen wir alle
eines Sommers in ein jütisches Fischerdorf an der Nordsee, und in
diesem Dorf waren drei Wochen lang heulender Sturm, peitschender Regen
und unentrinnbarer Dorschgeruch. Wir verwünschten das Dorf und reisten
nach Hause, und von Stund' an war Herta gesund und ward fröhlich
und stark. Wie oft verwünschen wir Toren das Glück, das wie Unglück
aussieht!

Schließlich entläßt mich Herta freilich in Gnaden zu meiner Lektüre;
aber inzwischen hat Roswitha-Appelschnut neue Kräfte gesammelt. Als
ich auf der fünften Seite oben bin (noch immer Einleitung!), da tritt
sie an mich mit dem Ersuchen heran, die gewohnten Zirkuskünste mit
ihr zu exekutieren. Ich muß mich platt in den Sand legen; sie springt
mit zehn Schritt Anlauf auf mich zu, und ich muß sie auffangen. Nach
diesem »Todessprung« kniet sie in meine flachen Hände, und ich muß sie
langsam und lotrecht emporheben. Dann folgt »Appelschnut, die Königin
der Luft«. Ich strecke einen Arm hoch; sie legt sich mit dem Bauch auf
meine flache Hand, streckt alle Viere nach den vier Himmelsrichtungen,
und ich muß sie drehen. Lauter Sachen, mit denen ich im Wintergarten in
Berlin ein Heidengeld machen könnte, wenn ich wollte.

Aber plötzlich ist Appelschnut verschwunden. Wie ein Traum ist sie
entflohen. Die Kinder gehen mit der Mutter zum Baden. Darum! Sie ist
schon ganz ferne, hinter zwanzig Sandhügeln.

Vor zwei Jahren war es noch anders. Da sah sie die weiß und grünen
Wogen auf den Strand klatschen und in die Höhe spritzen, klatschte
in die Hände, lachte, als ob das Herz zum Halse herausfliegen wolle,
und dachte: Ei, was ist das Meer für ein Spaßmacher! Und gar nicht
schnell genug ging ihr das Auskleiden, gar nicht früh genug konnte
sie dem Spaßmacher an den Hals springen! Mit offenen Armen sprang sie
ihm jauchzend entgegen -- und im nächsten Augenblick lag sie sieben
Meter weiter zurück mit der Nase im Sand; sie hob den Kopf, sah sich
mit grenzenloser Verblüffung um, schnappte nach Luft, und als sie sie
endlich hatte, brüllte sie mit der Brandung um die Wette. Es war eine
Art Nachbildung der berühmten Arie: »Ozean, du Ungeheuer!« O dieser
abscheuliche Grobian von einem Spaßmacher! Sie wollte ihn umarmen und
mit ihm tanzen, und er schmiß sie auf den Strand wie einen gemeinen
Sandfloh! Kurz, sie war dem Meer auf ewig böse.

Heute aber, da sie »schon groß ist«, hat sie Poseidon verziehen;
sie weiß ihm um den Bart zu gehen und seinen täppischen Späßen zu
entschlüpfen, und am liebsten ginge sie im Wasser zu Bett. Wenn sie
nicht baden darf, so streift sie Rock und Höschen auf und watet durch
sämtliche Lagunen und Lachen, die das ebbende Wasser zurückgelassen.
Noch gestern abend rief sie, als meine Frau sie zu Bett bringen wollte:
»Ach Mammi, bitte, bitte, noch einen Augenblick, hier ist noch so'ne
himmlische Pfütze!«

Appelschnut, Appelschnut, was wird der »Verein zur öffentlichen Hebung
der Moralität bei den Mitmenschen« dazu sagen, daß du von himmlischen
Pfützen sprichst!

Ja, sie ist schon so sehr mariniert, daß sie jetzt auch einen Matrosen
zum Mann haben will.

»Erst will ich Barmherzige Schwester werden, und dann werd' ich
wohl 'n Bauern nehmen, damit ich recht viele Tiere krieg', und dann
heirat' ich 'n Matrosen.« Es ist dabei zu bedenken, daß sie schon vier
Spielkameraden Hoffnung auf ihre Hand gemacht hat und außerdem nach
einer früheren Aeußerung an dem Gatten ihrer Schwester Herta teilhaben
will. Sie wird das System Blaubart akzeptieren müssen.

Und dabei sagt diese Dame, die sieben Männer haben will, noch statt
»Badekabine«: »Kabadebine!« Jawohl, meine Frau und ich haben es
wiederholt gehört: sie, die schon in richtigen Konjunktiven spricht und
sogar Konzessivsätze riskiert, sagt noch »Kabadebine«. Und wir haben
uns fein gehütet, sie zu korrigieren; das Wort war uns ein wundersam
rührendes Ueberbleibsel aus jener Zeit, da sie noch durch die Sprache
wie durch einen Urwald tappte und die wunderlichsten Blumen und Wege
fand. --

Also ich darf mich jetzt einer Ruhepause erfreuen. Ich habe mir in
einem großen Eimer allerlei Seegetier gesammelt und will jetzt so lange
hineinsehen, bis ein kleiner Seestern mit seinen Saugfüßchen vom Grunde
des Eimers bis oben an den Rand hinaufspaziert ist. Damit kann man sehr
gut ein paar Stunden ausfüllen. Wenn ich dies Stück Arbeit erledigt
habe und nicht allzu müde bin, will ich einer meiner Entenmuscheln
so lange zuschauen, bis sie fünftausendmal ihre feinen Rankenfüße
vorgestreckt und wieder eingezogen hat. Ja, wenn nicht mein Freund und
Duzbruder Nazi wäre!

Nazi ist ein Dreijähriger; aber er ist groß und dick wie ein
Sechsjähriger. Er hat einmal gehört, daß er zu dick sei, um schnell
zu laufen; seitdem erklärt er, wenn er sich tummeln soll: »Kann nich,
schu dick!« Er fiel uns schon auf der Herreise in der Eisenbahn durch
die energische Erklärung auf, daß er nicht in der »heißen Tütbahn«
fahren wolle, sondern in der »kalten«. Die »Tütbahn« war natürlich die
Eisenbahn, weil sie »Tüt« macht, und »heiß« war sie, weil er das Feuer
unter dem Kessel der Lokomotive gesehen hatte. Das war ihm unheimlich
gewesen, und darum verlangte er, kalt zu fahren.

Als ich mich kaum in die tiefsinnige Betrachtung meines Seesterns
versenkt habe, höre ich den Ausruf: »Ich krieg' doch wasch schu eschen!«

Aha, also Nazi. Als er mich einmal mit Sand beworfen hatte, rief ich:
»Wart', du Schlingel, du kriegst heute nichts zu essen!«

»Ich krieg' doch wasch schu eschen!« rief er.

Ich tat, als wenn ich aufspringen wolle.

Er kreischte, halb aus Furcht, halb vor Vergnügen, sprang drei Schritte
zurück und schrie: »Ich krieg' doch wasch schu eschen!«

Ich griff zähnefletschend nach einer Sandschaufel und schwang sie
drohend.

Er kreischte wieder, sprang wieder drei Schritt zurück und schrie
abermals: »Ich krieg' doch wasch schu eschen!«

Jetzt sprang ich zornbebend und wutschnaubend auf die Füße und lief
drei Schritt auf ihn zu.

Er lief sieben Schritt, blieb stehen und schrie dasselbe, und bei dem
»doch« klappte seine Stimme jedesmal über. Auch mit diesem Spiel könnte
ich eventuell meinen Kuraufenthalt ausfüllen; Nazi würde nichts dagegen
haben; aber ich mach' es nur einmal vormittags und einmal nachmittags;
dabei werde ich immer noch, da Nazi fünf Wochen zu bleiben gedenkt,
etwa siebzigmal alle Stadien der sittlichen Entrüstung darüber, daß
Nazi etwas zu essen kriegt, durchlaufen müssen.

Nachdem ich auch diesmal mein Pensum Wut geschäumt habe, wird Nazi auf
den Eimer aufmerksam. Er guckt hinein und fragt: »Wasch isch dasch?«

Ich nenne ihm die einzelnen Tiere.

»Worum tut die immer scho?« Er macht die Bewegungen der Entenmuschel
nach.

»Sie holt sich was zu essen aus dem Wasser!«

»Da isch ja gar nix schu eschen.«

»Doch; da ist sehr viel zu essen; das kannst du nur nicht sehen.«

»Worum nich?«

»Weil es zu klein ist.«

»Worum isch esch schu klein?«

»Junge, das weiß ich nicht.«

»Och, weisch doch mal!«

Dja, wenn's an meinem Willen läge, dann wüßt' ich noch ganz was anderes.

»O kuck mal!« ruft er plötzlich, »der Hund wackelt mit'n Henkel!«

Ich bin natürlich sehr begierig, einen Hund mit einem Henkel zu sehen.
Richtig, da steht ein Hund mit einem aufwärts gekrümmten Schwanz,
und mit diesem Schwanze wackelt er. Man kann den Schwanz gar nicht
treffender bezeichnen, als ihn der Dichter Nazi bezeichnet hat.

Endlich vermißt er meine Töchter, für die Nazi natürlich nächst
Schlagsahne das Himmlischste auf der Welt ist.

»Wo isch dein Mädschen?« fragt er.

»Wen meinst du? Gertrud?«

»Nein, Fräulein andere Gertrud!«

»Irene?«

»Nein, Fräulein andere Irene!«

»Herta?«

»Ja.«

»Die sind alle zum Baden. Willst du nicht auch baden?«

»Nein, kann nich, schu dick,« ruft er und stapft mit den Säulen des
Herkules durch den Sand von dannen.

Ich lese nun die fünfte Seite der Einleitung zu Ende; da ich aber zum
Umblättern zu erschöpft bin -- ich werde hier allmählich zur Molluske
--, so streck' ich mich zunächst einmal lang in den Sand.

Aaaaaaaaah -- hahaaaaaa -- -- --

Und ich brate in der Sonne.

Und ich sehe fern, fern am Horizont ein kleines, weißes Segel, das will
ich betrachten, bis es verschwindet. In jenem Schifflein sitzt meine
Seele -- ich weiß es! Und ich will meiner Seele nachschauen, bis sie in
den veilchenblauen Himmel entschwindet.

Indessen brät mein Leib in der Hölle, in dieser unsagbar molligen
Hölle, die meinetwegen ewig sein kann. Man kann die Genüsse von Himmel
und Hölle nicht bequemer vereinigen.

Meinem Leibe ist wohl wie einem angespülten toten Seehund.

Zuweilen ist es mir auch umgekehrt: dann liegt meine Seele hier am
Strande und hat sich in Sonnenschein verwandelt, und mein Leib schwebt
unsichtbar in den Lüften, aufgesogen von den Wolken, von der trinkenden
und trinkbaren Luft.

Meine Lungen sind vollständig betrunken von dieser Luft, und mein
Leib schmort, und wenn ich noch ein wenig warte, wird er zu brutzeln
anfangen.

Wie es scheint, bestreut mich schon jemand mit Salz und Pfeffer;
aber es ist nur Appelschnut, die mich mit Sand bestreut. Von unten
anfangend, bedeckt sie mich nach und nach vollständig mit Sand. Sollte
ich wirklich nur noch ein toter Seehund sein? Ich opponiere nicht
einmal, als mir der Sand zwischen Hals und Kragen rieselt, obwohl dies
kein eigentlich angenehmes Gefühl verursacht. Ein toter Seehund faßt
keine Entschlüsse mehr.

»O Pappi, laß uns mal Pferd spielen!« ruft Appelschnut plötzlich.

Aber ich bin von meinen Forschungen über dem Wassereimer so
angegriffen, daß ich ihr vorschlage, lieber Kuchen und Häuser zu
backen, ein Geschäft, das man ohne große Veränderung der Körperlage
etablieren kann. Sie ist sofort einverstanden, und wir backen in
zehn Minuten eine amerikanische Großstadt mit Häusern, Kirchen
und Kuchenläden. Allerdings bauen wir mit stetig wachsendem
Arbeitspersonal. Nach fünf Minuten ist nahezu die ganze unmündige
Strandbevölkerung auf der Arbeitsstätte versammelt. Und als ich nach
abermals fünf Minuten emsig damit beschäftigt bin, in einem Garten
sämtliche Blumen und Gemüse anzubauen, die sich aus Strandhafer
herstellen lassen, empfinde ich um mich her eine abgrundtiefe Stille.
Ich hebe den Blick: meine Arbeitsgenossen sind schon in weiter, weiter
Ferne; sie haben längst ein anderes Spiel begonnen, und Appelschnut
hüpft über die fernsten Hügel wie eine wandernde Mohnblume.

Verwaist, vergessen und öde liegt die Stadt. Schon beginnt der Wind,
sie zu verwehen, die Flut, sie zu benagen. Nie wieder wird die eben
noch Lebendige ein Hauch des Lebens erwecken; in einer Stunde wird
sie verschwunden sein. Wunderbare Welt des Meergestades! Selbst
Kinderträume verwehen in dieser Luft noch schneller als drinnen im
Land, und tiefer noch als anderswo senkt sich ins Herz das Gefühl: Auch
deine Wünsche sind wandernder Staub. Du brauchst nicht nach Aegypten zu
gehen: diese verlassene Stadt der Kinder ist Memphis.

Aber auch die beschauliche Ruhe ist hier vergänglich; schon kommt
Roswitha wieder herbeigesprungen.

»Mutti!« ruft sie erregt.

Ich wundere mich, daß sie mich als Mutter anredet, und sehe mich um --
ach so: meine Frau liegt neben mir im Sand.

»Mutti, Erna is immer so eisch; wenn wir spielen, dann macht sie immer
Streit und wirft uns Sand ins Gesicht. Sei man gar nich mehr so nett
mit ihr; wir sind alle von ihr weggegangen!«

In diesem Augenblick geht Erna, eine von den weniger erfreulichen
Badebekanntschaften, weinend vorüber.

»Mutter, sie weint,« sagt Appelschnut, »soll ich sie mal fragen, ob sie
wieder gut mit uns sein will?«

»Ja, frag' sie nur.«

Nach einer kleinen Minute wandern Erna und Appelschnut wieder Arm in
Arm. Auch Roswithens Zorn verrinnt und verweht wie Wind und Welle.

»Was spielt ihr denn?« fragt meine Frau.

»Ach, wir spielen so fein! Krankenhaus! Mit unsern Puppen! Einer is
heute schon dreimal operiert worden, un denn hat er noch Scharlach un
Cholera!«

Allmächtiger! Je verzweifelter die Fälle sind, desto vergnügter
sind diese Barmherzigen Schwestern. Patienten mit weniger als drei
Krankheiten scheinen gar nicht aufgenommen zu werden.

»Eben is auch 'n kleines Baby geboren worden, noch kein Jahr alt und
hat schon 'n Keuchhusten!«

»Na, da habt ihr ja alle Hände voll zu tun,« ruft meine Frau lachend.

»Ja!« rufen stolz die beiden wie aus einem Munde, und schon sind sie
wieder über den Bergen bei den sieben Zwergen. --

»Ich krieg' doch wasch schu eschen!« schreit es nah bei meinem Ohr.

Nee, is nich, Nazi. Mein Morgenpensum ist erledigt.

»Ach, da ist ja mein Nazi!« ruft meine Frau. »Komm, sag' mir mal Guten
Tag.«

»Kann nich -- schu dick!« versichert er mit Ueberzeugung.

»Ja, wenn du zu dick bist, darfst du ja auch keine Schokolade essen.«

Nein, nein, das ist eine mißverständliche Auffassung; für Schokolade
ist er nicht »schu dick«.

Die magnetischen Kräfte der Schokolade sind von der Wissenschaft, wie
mir scheint, noch entfernt nicht in ihrer Gewalt erkannt. Wie aus dem
Boden gestiegen, umstehen meine Frau im nächsten Augenblick mehrere
eigene Kinder, zwei Schwestern des Herrn Nazi und einige weitere
Strandbevölkerung.

Als Nazi auf dem Schoß meiner Frau sitzt, guckt er ihr minutenlang in
die Augen. Irgend etwas tieferes Philosophisches scheint sich in ihm zu
entwickeln. »Kannsch du mit deinen Augen schehen?« fragt er schließlich.

»Ja gewiß, Nazi! Warum soll ich mit meinen Augen nicht sehen können?«

»Deine Augen schind ja scho dunkel!« meint er.

Dieser Ausspruch Nazis ruft in der Korona seiner weiblichen Verehrer
einen Sturm des Entzückens hervor.

»Ist er nicht zu süß?« jubelt Herta. »Gott! Solch einen kleinen Bruder
möcht' ich auch noch haben!«

Aber Nazis sechsjähriges Schwesterchen spricht ein ernstes und
passendes Wort:

»Tu das lieber nich, Herta,« sagt sie, »da is viel Arbeit bei.«

Meine Frau ist durchaus der gleichen Meinung und drückt ihrer
verstehenden Mitschwester dankbar die Hand.

Es ist auch zu bedenken, daß ich nicht nur schon fünf eigene Kinder
habe, sondern daß ein allerliebstes kleines blondlockiges Mädel, ein
Püppchen aus lauter Grazie und Spitzen, sich mir vollständig attachiert
und mich ohne alles Verdienst mit Standhaftigkeit »Vater« nennt. Auch
sie ist schuld, daß ich die Einleitung meines biologischen Wälzers
nicht zu Ende lesen kann. Wenn sie ihrer Puppe das Bett macht, packt
sie mir mit den Worten »Vater, halt' mal, bitte!« erst die Paradedecke
aufs Buch, darauf das Deckbett, dann das Kopfkissen, hierauf das
Bettlaken und endlich Matratze und Pfühl, und ich kann nicht eher
weiterlesen, als bis alles in der umgekehrten Reihenfolge, gehörig
geklopft und gelüftet, wieder in den Puppenwagen gelegt worden ist.
Und ferner ist zu bedenken, daß ich ja schon einen Nazi habe, einen
viel längern als diesen, nämlich den Obertertianer Erasmus. Wenn ihr
einmal ein Füllen auf einer großen Weide beobachtet habt, dann habt
ihr eine Vorstellung von Erasmus im Seebade. Solch ein Füllen, wie ihr
wißt, steht in diesem Augenblicke still und nachdenklich da, um ganz
plötzlich und unvermittelt den Kopf in den Nacken zu werfen, die Mähne
zu schütteln und mit geblähten Nüstern, wiehernd, den Rasen stampfend
und die Hufe gegen den Himmel werfend, zwanzigmal die weite Wiese zu
umrasen, und in seinem Gewieher ruft es: »Ihr lächerlichen Menschen,
wie lächerlich klein ist eure Erde!« So auch Erasmus. Wenn vom Gefäß
seiner Jugendkraft plötzlich der Pfropfen sich löst und knallend in die
Luft fliegt, dann wird er zum jugendlichen Steppenroß, das fliegenden
Laufes die Dünen und Sandwüsten der Insel durchstampft, und wenn
ihn der Hafer sticht, wiehert er mit ungemeiner Naturtreue. Es ist
sehr wahrscheinlich, daß die Zentauren der griechischen Mythologie
ursprünglich wildlebende Obertertianer waren.

Dabei zeigt dieses Natur- und Fabelwesen zu andern Zeiten Momente
einer überlegenen Ironie. Als er eines Morgens aus seinem Bette
stieg, bemerkte meine Frau, daß er aus dem einen Zipfel seines langen
Nachthemdes einen riesigen Knoten gemacht hatte.

»Was soll denn das?« rief meine Frau.

»Das soll mich daran erinnern, daß ich noch Cäsar präparieren muß.«

Das war freilich schon stark gegen Ausgang der Ferien.

Jeden Mittag um zwölf Uhr kommt Erasmus an meine Sandfeste, um mich
zum Baden abzuholen. Bei Obertertianern muß man die Badestunde immer
unmittelbar vor das Diner legen, weil nur eins die Kraft hat, sie
wieder aus dem Meere hervorzulocken: die Tischglocke.

Wenn wir dann zum Essen gehen, müssen wir auch an Nazis Tisch vorbei.
Sein Vater erlaubt ihm nicht, die Versicherung, daß er doch was zu
essen kriege, laut durch den Saal zu schreien; aber er blinzelt mir
heimlich mit boshaftem Frohlocken zu, und ebenso heimlich schüttle ich
grollend die Faust.

Wir entwickeln alle einen ziemlich gleichmäßigen Appetit, den bekannten
nördlichen Luft- und Meerhunger; aber Appelschnut wollte ihre Milch
nicht trinken. Da habe ich sie dazu überredet, ihre Mutter regelmäßig
bei Tische »anzuführen«. Ich gab ihr den teuflischen Gedanken ein, ihre
Milch heimlich auszutrinken, dann zur Mutter zu sagen: »Ich mag keine
Milch!«, und wenn die Mutter sie dann tadelte, ihr triumphierend das
leere Glas zu zeigen. Das wiederholen wir nun bei jeder Mahlzeit und
-- merkwürdig! -- jedesmal fällt meine Frau wieder darauf hinein, und
jedesmal tauschen Appelschnut und ich danach einen Blick der freudigen
Genugtuung: »Sie ist richtig wieder auf den Leim gegangen!«

Bei Tische muß ich, einem stillschweigenden Uebereinkommen gemäß, ein
gewisses Quantum Witze für den Hausgebrauch machen, zum Beispiel wenn
der Roquefort, der Maden hat, durch einen Camembert abgelöst wird,
muß ich sagen: »~Le Roquefort est mort, vive le Camembert!«~ oder so
etwas Aehnliches; der Nachmittag aber gehört dann allerdings vorwiegend
der Ruhe. Zwar nehme ich, in der Sandgrube liegend, die Biologie der
Meerorganismen vors Gesicht, aber doch nur in dem vollen Bewußtsein,
daß dieses Bewußtsein schon nach Beendigung des ersten Vordersatzes
schwinden werde.

Natürlich: wenn ich von Ruhe gesprochen habe, so hat das keinen Bezug
auf die Kinder. Kinder haben ein so ruhiges Herz, daß Haupt und Glieder
der Ruhe nicht bedürfen. Ich habe denn auch kaum das Quantum Schlaf
genossen, dessen man nach einem solchen Vormittage dringend bedarf, als
mir aus Traumeshimmeln etwas ziemlich Schweres, Warm-Lebendiges auf den
Magen fällt. Selbstverständlich Appelschnut.

»O Pappi, wir spielen zu fein! Karl is der Wolf, un ich bin das Pferd,
un denn kämpfen wir uns immer mit'nander!«

Ich habe also ein Pferd auf dem Schoß. Auch in diesem Augenblick, da
sie auf meinem Schoße sitzt, fühlt sie sich vollkommen als Pferd. Aber
das Pferd hat einen sehr kräftigen Schmutzfleck im Kleid.

»Roswitha, wie hast du das schöne neue Kleid beschmutzt!«

»Ach, das war so naß geworden, und da wollt' ich es mit Sand wieder
reinmachen, un da war es mit ein'mal so schmutzig.«

Der Sand muß starke Beimengungen von rötlichem Ton gehabt haben.

»Sag' es man nicht erst Mutter,« meint sie, »sie ärgert sich bloß.«

Diese Besorgnis um die Mutter finde ich ergreifend.

»Ich weiß ja, mein süßes Väterchen sagt nichts,« dabei wirft sie mir
die Arme um den Hals, küßt mich und trabt mit dem Wolfe davon.

Nicht einen Augenblick ist ihr der Gedanke gekommen, daß es für ein
Pferd absurd ist, sich auf den Schoß seines Vaters zu setzen und ihn zu
küssen.

Nach einer Viertelstunde kommen Pferd und Wolf wieder auf mich
zugerannt, und das Pferd ruft in großer Erregung: »Vater, Karl will
nich glauben, daß die Erde sich immer so rumdreht!«

Als Anhänger des Kopernikanischen Systems bestätige ich, daß die Erde
sich immer so rumdreht.

Karl wird nachdenklich.

»Er meint, dann fallen wir ja alle um!« ruft Appelschnut.

»Nein, die Erde hält uns fest und nimmt uns alle mit.«

»Wir drehn uns auch alle!« erklärt Appelschnut.

»Die Schaufel auch?« fragt Karl, auf eine im Sand steckende Schaufel
zeigend.

»Die Schaufel auch,« bestätige ich.

»Der Strandkorb auch?« -- »Der Strandkorb auch.« -- »Du auch?« -- »Ich
auch. -- Und du auch.«

»Ich?« -- »Ja.«

»Hähäää -- das ist nicht wahr!« ruft Karl mit überlegenem Lachen, und
vor dieser Ueberlegenheit muß ich wie schon so oft in meinem Leben
verstummen. Karl dreht sich nicht mit.

Und so verfließt der Nachmittag, so verfließt der Tag, und gleich auf
den ersten Tag folgt der letzte Tag. Ganz anders ist es als in den
Tagen der Schöpfung. Da heißt es: »Es ward aus Abend und Morgen ein
Tag.« Hier müßte es heißen: »Aus Abend und Morgen werden vierzig Tage,
hundert Tage, tausend Tage.« Was zwischen dem ersten und dem letzten
Tage liegt, ist ein stilles, ewiges Fließen von Wasser und Wind, von
Atem und Traum, und so wenig du die Tropfen im Meere zählst, so wenig
dir daran liegt, sie zu zählen, so wenig achtest du hier der Tage im
Meere der Zeit.

Wehmütig raffen die Kinder am letzten Tage den kleinen Hausrat unserer
flüchtigen Wohnstatt zusammen; wehmütig steh ich dabei, das Werk über
die Pflanzen und Tiere des Meeres mit seiner unausgelesenen Einleitung
in der Hand haltend. Da höre ich aus weiter Ferne ein Krähen. Ich
suche lange nach dem Ursprung dieses Schalles und finde endlich oben
am Rand einer hohen Dünenklippe zwei Menschen, die wie eine Dame und
ein Kind aussehen. Da der Wind herübersteht, so höre ich endlich mit
angespanntestem Gehör: »Ich krieg' doch wasch schu essen!«

Da reiß' ich von unserer verfallenen Strandburg einen mächtigen Pfeiler
los, pack' ihn mit beiden Händen und schüttle ihn mit furchtbarer
Drohung.

Und der Wind trägt mir ein letztes, jauchzendes Kinderlachen zu.

Und ganz zuletzt erlebe ich noch etwas Wundersam-Schönes.

Mein Töchterlein hat hier eine Freundin gefunden, die heißt Else.
Totweinen würde sie sich, wenn sie Else niemals wiedersehen solle, so
hat Irene erklärt. Nun umwandern sie, um Hals und Hüfte innig Arm und
Arm geschlungen, die Reste unserer Strandburg und singen.

Irene singt: »Nun ade, du mein lieb Elseland, lieb Elseland, ade!«

Das Land, wo sie Else kennen gelernt, ist ihr ein Elseland geworden.

Else singt: »Nun ade, du mein Irenenland, Irenenland, ade!«

Das Land, wo sie Irene fand, ist ihr ein Irenenland geworden.

»Irene« ist »der Friede« -- das weiß Else vielleicht nicht einmal.

Kinder, ihr singt ein tiefsinniges Lied.

Nun ade, du mein Irenenland -- -- --!



Inhalt


    Die Marienbader Kur                        5

    Die Ziege                                 33

    Die späte Hochzeitsreise                  53

    Die Hosentaschen des Erasmus             101

    Flieh, auf, hinaus ins weite Land!       119

    Der süße Willy                           137

    Ernsthafte Predigt vom Kommersieren      195

    Der große Irrgarten                      221

    Im Seebade                               253



        Von Otto Ernst erschienen ferner
        im Verlage Ullstein & Co, Berlin:


    In der Sammlung der Ullstein-Bücher

    Laßt Sonne herein!

    Eine Sammlung heiterer Geschichten und Plaudereien des bekanntesten
    und beliebtesten Humoristen unserer Zeit, ein lachender
    Sorgenbrecher, der überall willkommen ist.


    In der Sammlung der Jugendbücher

    Gulliver in Liliput

    Der Hamburger Dichter erzählt hier der Jugend die lustigen
    und zugleich lehrreichen Abenteuer des Seemannes Gulliver im
    sagenhaften Zwergenlande der Liliputaner.


        Preis 1 Mark



        Von Otto Ernst erschienen ferner:


Im Verlag +L. Staackmann+, Leipzig:

    Semper der Mann, Roman. 30. Tausend.
    Semper der Jüngling, Roman. 65. Tausend.
    Asmus Sempers Jugendland, Roman. 100. Tausend.
    Appelschnut, humoristische Plaudereien, reich illustriert.
        35. Tausend.
    Ein frohes Farbenspiel, humoristische Plaudereien. 30. Tausend.
    Vom geruhigen Leben, humoristische Plaudereien. 35. Tausend.
    Vom grüngoldnen Baum, humoristische Plaudereien. 28. Tausend.
    Aus meinem Sommergarten, humoristische Plaudereien. 21. Tausend.
    Sankt Yoricks Glockenspiel, Satiren, Schwänke, Schnurren,
        Aphorismen usw. 10. Tausend.
    Der süße Willy, Humoreske. 22. Tausend.
    Besiegte Sieger, Novellen. 6. Tausend.
    Kartäusergeschichten, Novellen. 7. Tausend.
    Gedichte. 4. Tausend.
    Glimmen des Mittags, Gedichte. 4. Tausend.
    Siebzig Gedichte. 30. Tausend.
    Bannermann, Schauspiel. 3. Tausend.
    Flachsmann als Erzieher, Lustspiel. 34. Tausend.
    Die Gerechtigkeit (Revolverjournalisten), Lustspiel. 6. Tausend.
    Die größte Sünde, Trauerspiel. 8. Tausend.
    Die Liebe höret nimmer auf, Tragikomödie. 5. Tausend.
    Jugend von heute, Lustspiel. 14. Tausend.
    Ortrun und Ilsebill, Märchenkomödie. 3. Tausend.
    Tartüff der Patriot, Lustspiel. 3. Tausend.
    Blühender Lorbeer, Aufsätze. 10. Tausend.
    Laßt uns unsern Kindern leben! Aufsätze. 10. Tausend.
    Nietzsche, der falsche Prophet. 5. Tausend.
    Gewittersegen, ein Kriegsbuch. 11. Tausend.


Im Verlag +M. Glogau jr.+, Hamburg:

    Hamborger Schippergeschichten, Plattdeutsch nach Drachmann. 8. Taus.


Jugendschriften

Im Verlag +Jos. Scholz+, Mainz:

    Der Kinder Schlaraffenland, illustriert. 10. Tausend.

Im Verlag +G. W. Dietrich+, München:

    Hinaus ins Freie! Illustriert. 5. Tausend.

Im Verlag +Union+ Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart:

    Robinson Crusoe, neu erzählt und reich illustriert. 10. Tausend.



        Ullstein-Bücher

        Neue Bände:


Besser Herr als Knecht

von Fedor von Zobeltitz

Ein deutscher Balkanfürst, eine ritterliche Phantasiefigur, ist der
Träger der Eisernen Krone, ist der Held des Romans. Er hat die Züge
Alexanders von Bulgarien, des Battenbergers. Sein Schicksal erhält
durch Zobeltitz das Kolorit, die szenischen Wirkungen eines großen,
spannenden Theaterstücks. Vom Berliner Hof des alten Kaisers, von einer
märkischen Garnison, von der Burg eines reichsunmittelbaren deutschen
Hauses geht es hinüber in den abenteuerlichen Halborient.


In der Kommandantenkajüte

von Hans Wilhelm Hollm

Marinegeschichten, an Bord erzählt, im vertrauten Beisammensein der
Kameraden: Erinnerungen an den Zauber der Südsee, vom Heimweh nach
der Ferne, nach dem frohen Leichtsinn der Jugend heraufbeschworen,
Geschichten vom Finden und Auseinandergehn, von Abschied und
Wiederbegegnung, heitere und ernste Lebensepisoden. Ein deutscher
Seeoffizier ist der Verfasser des prachtvoll frischen und prachtvoll
ehrlichen Buches, das überall die Herzen höher schlagen lassen wird.


Der belagerte Tempel

von Thea von Harbou

Das Werk Theas von Harbou, das mit starkem Griff hineingreift ins
Leben, ist ein Roman der deutschen Bühne zur Kriegszeit. Alle Typen
des Schauspielertums treten auf, inmitten ernster und froher,
leidenschaftlicher und stiller, rauher und weihevoller Szenen. Ein
letzter, südlicher Sommertraum unter den Zypressen Capris geht der
wuchtig geführten Handlung voran.


        Jeder Band 1 Mark



[Illustration:

    Berlin SW 68
    Ullstein & Co
]



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtlich fehlerhafte Zeichensetzung wurde stillschweigend
    korrigiert.

    Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.

    Korrekturen (das korrigierte Wort ist in {} eingeschlossen):

    S. 233: vel → viel
      für die das Wasser {viel} zu tief war





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