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Title: Die Moral des Hotels - Tischgespräche
Author: Vehling, Paul
Language: German
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DIE MORAL DES HOTELS



[Illustration:

  Nach einem Originalgemälde von J. Vehling.]

[Illustration: Paul Vehling]



  PAUL VEHLING

  DIE MORAL DES HOTELS

  TISCHGESPRÄCHE


  L. DIDION & CO., VERLAG
  BLAKE BUILDING
  723 LEXINGTON AVENUE
  NEW YORK


  Copyright, 1910, by Paul Vehling
  Alle Rechte vorbehalten
  All rights reserved
  The privilege of translation may be obtained from the author only
  Übersetzungsrecht kann nur vom Verfasser erworben werden



DIE MORAL DES HOTELS

GESPRÄCHE MIT MIR ZU TISCH.


Meine Gäste sind in wechselnder Folge:

  ein Kunstkritiker,
  ein Soziologe, Professor der Nationalökonomie,
  ein fortschrittlicher Großindustrieller, Kommerzienrat, Ritter usw.,
  deren liebenswürdige Damen, sowie
  verschiedene internationale Gelegenheitsbekanntschaften u. a.,
  ein Schneider aus London und
  ein amerikanischer Bischof.

Der Ort der Handlung ist ein charakteristischer Nomadenpalast, ein ganz
großes, modernes, internationales Hotel.



VORWORT.


Gespräche mit mir zu Tisch! -- Wie schön läßt sich an der Tafel reden,
wenn die Runde liebenswürdig, wenn das Essen gut und der Appetit
nicht verdorben ist! Wie fröhlich läßt sich nach einer edlen Flasche
philosophieren, wenn man aus feiner Schale heißen Mokka nippt und den
blauen Rauch einer guten Zigarre in die Luft bläst, während der sinnende
Blick den duftigen Wolken nachzieht. Der wachsamste Mensch wird dann
unvorsichtig, dem Trug und der Täuschung zugänglich. Ja, was das
Schlimmste ist: er wird vergeßlich. Und dennoch! Jeder will einmal so
vergeßlich sein, jeder sich einmal als Mensch fühlen. Mehr als alles
andere hat ein gutes Diner eine Wirkung daraufhin. Es verleiht dem Esser
eine schöne, ja olympische Ruhe und Sicherheit, teilt ihm das stille,
wohltuende Gefühl eines gesteigerten Selbstbewußtseins mit, welches kein
anderer Genuß, keine andere Lebenslage in solch ruhiger Fülle zu
bieten vermag. Darin liegt die große Gefahr, die Falle für den modernen
Menschen. Ein derartiger Zustand, dünkt mich, sollte ruhiges, klares,
vernünftiges Denken fördern, erwecken. Weit entfernt! Unsere Zeit hat
kaum jemals ernstlich über diese Frage nachgedacht, hat nur instinktiv
gehandelt. Darum versteht man auch so wenig zu essen. Die meisten verstehen
es überhaupt gar nicht. Man will es nicht verstehen. Die Gefahr ist zu
groß; die Zeit fehlt. Man könnte sich zu sehr als Mensch fühlen.

Da ich jedoch in der glücklichen Lage bin, über genügend Zeit zu
verfügen, da ich die Gefahren eines guten Diners für uns moderne Menschen
erkannt habe, so bemeistere ich dieselben -- mit anderen Worten: ich bin
ein aufrichtiger, meiner völlig bewußter Esser. Das will etwas sagen.
Daher kann ich mir auch kaum etwas Menschlich-Schöneres denken als eine
gesellige Tafelrunde. Das gute Gelingen eines Mahls hängt freilich von
tausend verborgenen, mißgünstigen Kleinigkeiten ab, die nicht jedermann
bekannt sind. Der Gourmet selbst hat seine Last damit. Ärger
über mißlungenes Essen wird besonders stark empfunden. Als
gesundheitsschädliche Gemütserregung tut er an Heftigkeit nur der
wahnsinnigen Eifersucht eines Verliebten gleich. Diese beiden Tornados der
menschlichen Seele haben -- ganz wie die atmosphärischen -- ein Zentrum,
das absolut still und ruhig und unerreichbar ist: die Dummheit im
psychologischen Falle.

So habe ich denn als Gastrosoph die verschiedenen Störungen, Hindernisse
und Gefahren, die unseren Tafelfreuden drohen, eifrig studiert. Die
Mähler, die ich gebe, sind daher berühmt, meine Gastlichkeit ist
gepriesen; mein Bild ist in jedem Winkel der Erde bekannt -- den Gebildeten
wenigstens. Man prahlt mit meiner Bekanntschaft. Und hat keinen Grund dazu.
Wo ich auftauche und erkannt werde -- und ich werde erkannt -- da entsteht
Reportergedränge. Natürlich mischt sich allerhand unliebsames Volk unter.
Gewöhnlich ist dies sogar am stärksten vertreten. Wie immer und überall
und in aller Ewigkeit. Aber ich habe Verpflichtungen. Das Klappern gehört
auch zu meinem Handwerk. Das Schweigen, das feine, lächelnde Schweigen
gleichfalls. Was eine negative, aber nicht minder wirksame Reklame ist. Vor
allem darf ich daher nicht grob werden. Und vor allem einem internationalen
Banausentum gegenüber nicht. Denn dies ist ungefähr das bösartigste,
gefährlichste Gesindel auf Gottes weitem Erdboden. Als Mann der Welt werde
ich schließlich überhaupt nicht grob. Das heißt allerdings Zeitverluste.
Als tüchtiger Geschäftsmann aber -- denn das bin ich auch oder eigentlich
-- habe ich mir ausgerechnet, daß derartig angelegtes Kapital sich
reichlich verzinst. --

So entstanden meine Tischgespräche, oder richtiger ein Teil derselben,
die besonderen, die vorliegenden. Für mich waren sie eine höchst
interessante, wenn auch teilweise verhängnisvolle, kritische Untersuchung
der erwähnten Gefahren; dagegen eine gute Lehre und Strafe zugleich für
meine Quälgeister. Denn hartnäckig ließ ich den teuflisch gesuchten,
einmal gesponnenen Faden nicht mehr fallen. Selbst nicht auf die Gefahr
hin, heimlich verfemt oder gar für langweilig gehalten zu werden.
Weil meine Worte ehrlich und wohlgemeint sein sollten, drum mußten sie
notwendigerweise so hinterlistig sein. Auch mußten sie interessant sein.
Sonst hätten sie meinem Rufe geschadet und ich hätte nichts, absolut gar
nichts damit erreicht. Weil meine Zuhörer an der Tafel Banausen waren,
mußte ich fachsimpeln, mußte ich Griffe in die diversen Hanfbündel des
Lebens tun, um sie -- die Zuhörer, die Spezialisten -- zu ködern, mit
ihrem Fache ihre Aufmerksamkeit fesseln. Darin lag das Interessante. Für
sie, die Zuhörerschaft. Ich erwartete im voraus alle Schrecken einer
Inquisition, alle Qualen einer Selbsterniedrigung, ich sah die gähnenden
Kiefer einer entsetzlichen Langeweile, ihre dunkle Rachenhöhle, ich
empfand das Nagen eines bösen Gewissens, -- aber statt alledem ergriff
mich plötzlich ein fremdes Verlangen -- Neugier -- Schaffensdrang --
Mitleid -- Entdeckermut -- sei es, was es will. Und vorsichtig und geduldig
zog ich den verhängnisvollen Faden ein. Weiter und weiter! Denn, ach,
nun wollte ich wissen, wie er entstand, woher er kam, was an seinem Ende
hing. --

Es ist etwas Eigenartiges um die menschliche Seele. Ich wußte genau: der
Faden wird in meinen Fingern gebildet. Aus dem wirren, losen Bündel Hanf
entsteht das feste Knäuel. Das Bündel wird kleiner, das Knäuel wächst.
Und dazwischen liegt die Wonne der Arbeit, die unwiderstehliche aber
unbefriedigte Neugier, das Wissen und das Nichtwissen, die Furcht vor
meiner Spule für den brausenden Webstuhl der Zeit, meiner Hände Werk
zwar, aber nicht mein Eigentum.

         *         *         *         *         *

Wer den Lauf der Ereignisse in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts
betrachtet, wird es ganz erklärlich finden, daß unsere Generationen (und
vielleicht auch noch die kommenden) trotz aller technischen Fortschritte,
trotz aller redlichen Bemühungen manches unbeachtet lassen, manches vom
Strom der Zeit ins Leben Gerissene und im Aufblühen Begriffene ersticken
lassen, das vielleicht zu scheu, zu unansehnlich, zu bescheiden oder
zu schwach ist oder das gar wissentlich als zu verächtlich beiseite
geschoben, als daß es der Teilnahme der Weisen und gar erst des
gewöhnlichen Sterblichen wert wäre.

Unsere Zeit hat indessen vor allen anderen das Verdienst, daß sie uns
die schöne Erde ganz erschlossen hat. Das Bedürfnis hierfür ist das
ursprünglichste Empfinden im Forschensdrange (oder Neugier), das jede
menschliche Brust bewegt. Wichtige Erfindungen haben es den Völkern
ermöglicht, schnell, bequem und billig reisen zu können. Man macht
ausgiebigen Gebrauch davon, denn man reist gern. Und jeder, der hierzu in
seinem Leben Geld, Zeit und Gelegenheit hatte, kann, wenn er glücklich
und klug genug war, nicht allzuviel Bücherweisheit in sein Reiseränzlein
einzuschnüren, sich stolz in die Brust werfen und sagen, falls ihn
irgendein Naseweis nach seiner Bildung befragt:

»Ich habe die Hoheschule des Lebens besucht; bin Doktor der Rechte des
Daseins.« Und ähnliches mehr.

Wir Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts haben uns den Gesetzen der
Anpassung getreu den heranstürmenden Ereignissen gefügt. Schranke um
Schranke fiel, der Naturalismus kam und ging wie die Romantik vor ihm.
Es wanken schon (so denken wir) die letzten Barrieren vor dem Gesuchten.
Schließlich folgt die letzte Emanzipation, und wir stehen da mit leeren
Händen vor einem Nichts. Wir stehen davor und sehnen uns nach neuen (oder
gar zurück nach ein paar alten »abgelegten«) Idealen, denn ohne Ideale,
mit einem puren Nichts geben sich Menschen nicht zufrieden. Wir sorgen und
sorgen und vergessen, daß die Zeit für uns sorgt. Das ist die Nervosität
des zwanzigsten Jahrhunderts, der Menschen nüchtern, kalt, berechnend,
~businesslike~, aber dennoch mit einer qualvollen Sehnsucht im Herzen, mit
der Genußsucht nach dem gewissen Etwas, das die dunkle Zukunft uns immer
wieder hartnäckig vorenthält. Das ist Neugier. Wir haben die äußersten
Winkelchen der Erde betreten, wir wollen die Tiefen der Lüfte und der
Meere, ja die der eigenen Seele ergründen, den geheimsten Funktionen
des Cerebellums nachspüren. Man muß sich sehr weit von den Menschen
entfernen, um ein gutes Bild von ihnen zu erhalten. Ein Zusammenhang,
eine Einheit ist schwer mehr zu erkennen, obgleich sie besteht. Aber die
hinterlistigen Verhältnisse unserer Zeit haben die früher nach einer
Einheit strebenden Gewebe der Zivilisation getrennt, sie haben neue
Kontraste und Abgründe geschaffen, einzelne Reiche gebildet. Wir können
kein Ende sehen, weil wir am Anfang stehen. Und immer stehen werden.

Daher toben gewaltige Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit, blutige,
verderbliche Aufruhre, mörderische Kriege, politische Umwälzungen. Daher
fängt man sogar schon an, human zu werden. Einsichtsvolle Geister arbeiten
beständig an dem Wohl des Volkes. Die Regierungen und Kapitalisten,
vielleicht nur von gewissen Ängsten dazu angetrieben, geben Mittel mit
vollen Händen her. Kurz, der Dankbare sieht hinter jedem Ereignis ein
Streben zur Läuterung. Mögen nun edle Menschenliebe oder bloß graue
Furcht vor unabsehbaren, unheimlichen, fabelhaften Folgen dies Streben
fördern, wir wissen es nicht. Vielleicht helfen beide. Wir wissen
nur Tatsachen, wie zum Beispiel, daß Menschenliebe und folglich auch
Menschenfurcht Mythen sind, welche in uns lebendig geworden, nun in
Wirklichkeit existieren. Furcht natürlich im erhöhten Maße. Wir wissen
nur Tatsachen, wie zum Beispiel, daß die mehr oder weniger deutlichen
Drohungen des Sozialismus manches aufgerüttelt und manches ins Bockshorn
gejagt, manches in Bewegung gesetzt haben, das sonst in arkadischem Frieden
weiter gewuchert hätte. Und wir wissen, daß die weisen Gesetzgeber sich
immer erst durch verzweifelte Notwendigkeiten veranlaßt sahen, Gesetze zu
ihrer und zu anderer Schutz und Recht herauszutüfteln und herauszugeben.
Das Gesetz, eine Erfindung wie alle anderen, ist das legitime Kind der
Notwendigkeit und des Geistes der Zeit. Nur das erste nicht: »Du sollst
nicht vom Baume der Erkenntnis essen!« Das ist eine rätselhafte Kaprice,
das Kind einer üblen Laune.

Die Bilder, welche unser Leben bedeuten, sind zwar stets andere, aber
immer und immer wieder nur Illustrationen der alten Geschichte von dem
der Menschheit eigentümlichen Wanken zwischen dem »Guten« und dem
»Schlechten« oder dem Vollkommenen und dem Unvollkommenen. Ihr Werdegang
ist eine Springprozession zum Heiligtum des Ganzen, ein wogendes Meer, ein
Suchen, ein Sehnen nach Vollkommenheit und ein Rückfall ins Dunkle.
Und wie im Brausen des Meeres, so ertönt dazwischen ein gellendes
Hohngelächter von abertausend kapriziösen Geistern der Finsternis. Und
Männer mit ganz feinen Ohren, begabt mit reicher Phantasie, hören
dies. Sie haben darauf nichts Eiligeres zu tun, als es den Schwerhörigen
mitzuteilen. Erst dann hält es die Menschheit für nötig, langsam sich
wieder aufzuraffen. Wenn sie den Weisen glauben, heißt das.

Wie ungeschickt sind wir doch! Wie kurz denken wir nicht und fügen uns und
andern dadurch unermeßlichen Schaden zu, den wir bei einiger Einsicht von
Anfang an hätten vermeiden können. Gewöhnlich nennt man dies »Irrtum«.
Der Irrtum, bildlich dargestellt, aber ist, wie wenn ein armes, leidendes
Menschenkind sich in Schmerzen am Boden windet, während ein grinsender,
abscheulicher Teufel hinter ihm steht, ihm eine Narrenmütze aufsetzt
und sich vor Lachen über das komische Bild den Bauch hält. Zu solcher
Demütigung muß es kommen, damit die meisten von uns angetrieben werden,
einen schwachen Versuch von Selbsterkenntnis zu machen. Wie sind sie
alsdann plötzlich so geschickt, den Schaden zu reparieren! Man denke sich
nur einen Tölpel, der eine Schüssel fallen läßt. Was treibt ihn
dazu an, die Scherben möglichst flink wegzuräumen oder gar wieder
zusammenkitten zu wollen? Jemand, der nicht gewöhnt ist, Scherben zu
machen, wird lachen und sie liegen lassen. Aber den Tölpel überzeugt
selbst die Erfahrung nicht. Warum hat unsere Zivilisation, unser nationales
und soziales Leben Situationen, Verhältnisse, Orte geschaffen, wo sie
Laster, Verbrechen, Schwindsucht, Wahnsinn, Nervosität und alle sonstigen
erdenklichen Leiden wie auf einem Mistbeete züchtet? Warum hat sie
Industrien und Fabriken, die alle Beteiligten in die Ketten von Krankheit,
Elend und Sklaverei legen? Nur damit sie, dieselbe Zivilisation,
Hospitäler, Sanatorien, Kirchen, Wohltätigkeits- und Besserungsanstalten
bauen und mit Wundern der menschlichen Erfindungsgabe protzen kann. Denn
all der Jammer, den sie verursacht hat, soll wieder gut gemacht werden. Die
Scherbenmacher des Lebens bedenken nicht, daß die Gefäße des Lebens
aus dem feinsten Material verfertigt sind und daß der Saft des Lebens
unaufhörlich daraus hervorsickert, wenn sie einmal einen richtigen Knacks
bekommen haben. Leider aber steckt die Wurzel und der Same der giftigen
Pflanze und des Unkrauts im Boden. Man sieht sie nicht eher, als bis sie
mit dem Weizen aufgewachsen sind.

Man hat aber trotzdem schon viel eingesehen in unseren Tagen. Man fängt
auch schon an, vorzubeugen statt zu reparieren. Ein erfreuliches Zeichen!
Es gibt fast keine Industrie mehr ohne ihre Literatur. Arbeiterheere tun
sich zusammen, ihre geschäftlichen und menschlichen Rechte zu beschützen
und zu verteidigen. Selbst in den jüngsten, täglich neu entstehenden
Industrien ist dies wahrzunehmen. Es ist jedoch kein Zufall, daß die
Gastwirtschafts-Industrie, obgleich sie streng genommen jung, sehr jung
ist und jetzt gerade gewaltig heranwächst, als solche unbeachtet geblieben
ist. Ich will nicht den Anspruch erheben, die Vernachlässigung entdeckt
zu haben, denn das wäre nicht richtig. Jedermann, der an dieser Industrie
beteiligt ist, empfindet sie mehr oder weniger. Wenn auch schon viel in den
Zeitschriften über das Gastwirtschaftswesen gesagt worden ist, so kann
ich dies aber nur meistens für fragmentarisch und für leere Verwunderung
über die plötzlich aufgeschossenen Riesenprachthotels oder für Reklame
halten. Müßige Plauderer ohne jede tiefere Kenntnis haben sich damit
befaßt, jedenfalls weil alles darin so schön aussieht, weil sie dort sehr
gutes Essen und Trinken bekommen und im großen ganzen sehr gut aufgehoben
sind. Derlei Tändeleien schrumpfen aber elend zusammen, wenn das Leben mit
seinem ernsten Gesichte und seiner wuchtigen Sprache an sie herantritt.

Wir besitzen meines Wissens nach noch keine nennenswerte einheitliche,
sachliche Kritik über das moderne Gastwirtswesen, das nunmehr -- streng
genommen -- ein viertel Jahrhundert alt ist. Selbst wenn ein derartiges
klassisches Werk schon existierte, so würden meine Tischgespräche doch
nur als ein kleines Kapitel in dem großen Bande über die weitverzweigte
Industrie kondensiert sein müssen, ja eigentlich gar keinen gebührenden
Platz finden können. Im Zeitalter der Spezialisierung beschränke ich mich
bei meiner Beschreibung des Hotels daher hauptsächlich auf ein Thema:
das menschliche. Es wird jedoch auch der »Fachmann« an den vorliegenden
Gesprächen verständnisvolles Gefallen oder Mißfallen haben. Aber ich
will nur schildern -- nichts anderes. Darum kann jedermann zuhören. Ich
will dem »Fachmann«, namentlich dem jüngeren, und dann auch den Leuten,
die täglich mit ihm zu tun haben, das Werden, Sein und Vergehen eines
Menschen vor Augen stellen, chaotische Zustände kritisieren und
erörtern und Kulturgewächse und -auswüchse betrachten, die von großem,
allgemeinem Interesse sind. Wenn ich durch diese Darstellungen auch nur
einen einzigen jungen »Fachmann« von der aktuellen Lage seiner Sache zu
überzeugen vermag, wenn ich ihm den rechten Weg andeuten kann, der ihn
an leiblichem und seelischem Niedergang vorbei zum allgemeinen und
persönlichen Nutzen führt, so wird diese Arbeit überreichlich belohnt.
Gerade im Leben des Arbeiters in der modernen Gastwirtsindustrie gibt es
Zustände und Fragen, die schon lange nach Erlösung schreien. Ich bin vor
keiner dieser schreienden und wimmernden Fragen zurückgewichen, noch habe
ich sie schonend behandelt, Fragen, die an Menschlich-Allzumenschlichem so
unendlich reich sind.

Die ganz außerordentliche, sonderbare Stellung, die der moderne Kellner in
der Geschäftswelt einnimmt, hat ihn ungleich anderen Arbeitern weniger
zum Kämpfer als zum Vermittler geschaffen. Das, dünkt mich, ist etwas
Besseres. Jedenfalls erfordert seine Rolle in unserem Zivilisationstheater
oft eine größere Geschicklichkeit als die des Helden oder des Naiven. Ein
hervorragender Zug darin ist der kosmopolitische. Der moderne Kellner
hat keine nationalen Bedenken. Er scheint der Vorläufer einer
Völkerverbrüderung zu sein. Der ins Riesige gewachsene, heute schon
unermeßliche Verkehr zwischen den Völkern der Erde, die stetige, ruhig,
aber unaufhaltsam und triumphierend fortschreitende Kultur, deren Same
von Europa in die entlegensten Eckchen der Erde getragen wurde, hat diese
Verbrüderung aufkeimen lassen. Patrioten, Chauvinisten, wirkliche
und Pannationalisten haben keinen triftigen Grund, diese Legierung von
Völkerelementen zu verdammen. Wo die Eigenschaften verschiedener Erze
vereinigt werden, entsteht zum mindesten ein nützliches Metall. Ob jemals
ein edles Metall aus einer Völkerlegierung entstehen kann, bleibt dem
stillglühenden Läuterungsprozesse künftiger Jahrtausende überlassen.
Aus der Phiole aber sehen wir schon eines: den Weltfrieden leuchten.

So ist der Kellner mit all den Kenntnissen und Fähigkeiten, die er
besitzen muß, dank seiner sozialen Stellung das typischste, kommerzielle
Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts, ein hervorragendes soziologisches,
ja psychologisches »Problem«. Der Beweis dafür ist, wie oft man sich zum
Beispiel auf der Bühne, in der Gesellschaft, in der Presse seiner Gestalt
bemächtigt und sie auf billige, sehr, sehr billige Weise auszubeuten
sucht. Niemals ernstlich behandelt und ernst nimmt, denn das kann man von
den genannten Ausbeutern noch nicht oder nicht mehr verlangen. Gerade aber
darum will ich eine rühmliche Ausnahme erwähnen: Bernard Shaw in
seinem Schauspiel »~You never can tell~«. In dem Dilettantismus und
der Spöttelei aber erblicke ich, wie eine neuentstandene dringende
Notwendigkeit die erste Achtung auf sich zieht und wie sie empfangen wird.
Indes kindisches Stammeln, müßiges Tändeln oder -- in unserem Falle --
selbst der spitzige Stift des Karikaturisten, dem man doch sonst genügend
Vertrauen sollte schenken können, sind impotent und können den Problemen
der Gastwirtsindustrie nicht helfen. Was der Kellner benötigt, sind starke
Worte und starke Taten. Ein fremder Stein, der vielleicht vom Himmel fiel
oder den ein Vulkan oder die See ausspie, wird ja immer zuerst die Runde
durch die betastenden Kinder- und Narrenhände machen müssen, die sich
daran belustigen, bevor der Mann kommt, der ihn liebevoll untersucht und
ihm einen passenden Platz in seiner Sammlung einräumt, froh, eine neue,
vielleicht interessante Spezies gefunden zu haben. Man wird hinter das
Interessante und Kuriose eines vermeintlichen oder wirklichen Fundes kein
Fragezeichen stellen. Die Situation wird jedoch spannender, wenn die Frage
auftritt, ob man dem Funde oder ob er uns nützen kann. -- Darum fand
ich es nach einigem Schwanken der Mühe wert, die Tischgespräche
aufzuzeichnen.



I.


»Die Dinge und ihre Zusammenhänge bestehen«, sagt Paul Garin,
»lange bevor sie gesehen und bevor sie erkannt werden. -- Nach
vieltausendjährigem Bestand von Familie, Gemeinde, Staat und Volk gab uns
doch erst die jüngste Vergangenheit einige feste Vorstellungen über das
Wesen und Wandel dieser Gebilde.« -- -- -- Eine verblüffende Wahrheit
wird uns da ins Gesicht gesagt! Wir könnten es nicht glauben, wenn wir es
nicht täglich neu erlebten. Sie sehen, meine Herrschaften, wir wohnen
nun doch schon so lange in diesem fashionablen Hotel. Haben wir uns jedoch
jemals für das Haus näher interessiert, über seine Entstehung,
seine Entwicklung nachgedacht? -- Ja, dies Leben, dieser Betrieb! Wie
interessant! Gewiß, das sehen wir alle. Aber ist es nichts mehr als
interessant? -- Das wäre wenig. Doch dies genügt uns. Wir schauen an,
was uns gefällt, kritisieren vielleicht, was uns mißfällt; nehmen indes
alles hin mit einer wunderbaren Sorglosigkeit und Selbstverständlichkeit,
bezahlen und gehen wieder. Aber unwissend gehen wir, wie wir kamen.
Außerdem haben wir damit unsere Schuldigkeit nicht getan. Es ist für uns
als denkende Menschen absolut notwendig, daß wir uns ernstlich umschauen,
uns orientieren, unsere Umgebung studieren und daraus profitieren. -- Wie
meinen Sie? Man hat gewöhnlich keine Zeit dazu? Oh, mehr als Sie glauben!
Man nimmt sich gewöhnlich nicht die Zeit. Es kommt darauf an, die
fliehende Minute nicht fortzulassen, bevor sie uns ihre Botschaft
mitgeteilt hat. Und jede hat eine wichtige Botschaft für uns, die auf ewig
verloren geht, wenn wir nicht Gewalt brauchen. Verlangende Bilder drängen
sich uns jeden Moment auf, fremde Gestalten, fremde Welten sehnen sich
nach uns, stumm mahnend, unwillkürlich unsere Teilnahme erflehend, nach
Erlösung schreiend, uns Glück und Erlösung anbietend. Wir dürfen nicht
achtlos daran vorübergehen, wenn wir schließlich selber nicht vereinsamt
-- Brachland -- Wüste sein wollen. Darin liegt das große Geheimnis der
Liebe. -- Sehen Sie nur den stummen Blick eines wildfremden Menschen.
Wieviel Fragen, Verlangen, Wünschen, Begehren oder Kälte, Verachtung,
Abscheu, Haß, Wut, Zorn, Gefahr birgt er nicht in sich? Und das alles für
uns? Für uns, auf denen er ruht? Beobachten, empfänglich sein, wachen ist
daher unsere größte Pflicht im Interesse unserer Selbsterhaltung.

Ergreifen Sie doch nur einmal das erste Beste, das Ihnen in den Weg kommt,
und lassen Sie alles andere einen Moment außer acht. Sie werden eine ganze
Weile lang Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit darauf richten müssen, bis Sie
es erkennen. Der Augenblick hat Ihnen viel Neues zu sagen, Sie werden viel
lernen. -- Hier kommt schon jemand. Ein Kellner. -- Für Sie als Soziologe,
Herr Professor, sollte dieser junge Mann doch besonders interessant sein.
Natürlich, Sie und wir alle wissen, daß dieser Mensch zur Bedienung der
Gäste hier gegenwärtig ist, doch darf ich fragen: haben Sie schon jemals
über seinen Ursprung und folglich über seine Existenz nachgedacht? --
Wer mag wohl der erste Kellner gewesen sein? -- Das dachte ich mir! Sie
lächeln! Ist die Frage so amüsant, weil sie scheinbar so einfach ist?
Läßt sie sich darum mit einem teilnahmslosen Lächeln entlassen?

Ganymedes. Ganz richtig. Aber der zählt eigentlich zu den antiken
himmlischen Heerscharen, während der Kellner eine verzweifelt irdische,
menschliche Gestalt ist. Wer der erste Kellner war, wo er lebte, wie
er hieß und wie er aussah, läßt sich nicht sagen. Es fehlen jegliche
Urkunden oder Traditionen. Obgleich des Gastwirts Gewerbe eigentlich so
uralt ist wie unsere Zivilisation, obgleich die Geschichtschreiber aller
Zeiten, ganz wie alle anderen Bürger, jederzeit und überall dem Gasthause
sehr gewogen waren, die Gestalt des Kellners blieb obskur. Nur hie und da
wird er erwähnt und dann in das ungünstigste Licht gestellt. So in
der schönen Geschichte von dem historischen Gasthause zu Askalon, dem
»Schwarzen Walfisch«. Es wird dort erzählt, wie die Kellner die
Rechnung präsentierten, ein gewichtiges, in Keilschrift auf Ziegelsteinen
geschriebenes Dokument. Nun da Sie, Herr Professor, den Namen des Ganymedes
scherzhaft erwähnt haben, komme ich darauf zurück. Es erzählt allerdings
eine einzige, aber wunderbare Geschichte aus dem grauen Altertum uns von
dem ganz außerordentlichen Kellner, der Ganymedes hieß. Er war schön
an Körper und Geist, dieser Jüngling, der schönste seiner Zeit. Und man
kennt sogar seine Familienverhältnisse. Er war der eheliche Sohn des Tros
und der Kallirrhoe und tummelte sich mit seinen Brüdern Assarakos und
Ilos auf den sonnigen Höhen des Idagebirges herum, das eine gute Reise im
Luxuszug weit gegen Sonnenaufgang sich zum tiefblauen Himmel emporstreckt.
-- Ja, ja, gnädiges Fräulein, ich versichere Ihnen, Ganymedes war so
schön, daß die bösen Nachbarn die Vaterschaft des braven Tros in Frage
stellten und allerhand davon munkelten, daß der Jüngling einen der ewigen
Götter zum Papa haben müsse. -- Sehr richtig, gnädige Frau, stimme Ihnen
vollkommen bei! Obgleich Zeus als oberster der Götter in dieser Hinsicht
tatsächlich manches geleistet hat, was man heutzutage ganz recht
mit gestrengen Blicken betrachtet und ihm sehr übel anrechnet und er
infolgedessen wirklich der heimliche Schrecken manch eines jungen Ehemanns
war, so wollen wir aber derartige Gerüchte bezüglich der Abstammung des
Ganymedes als unbegründet aufs entschiedenste ablehnen. Denn es fehlt
jeder authentische Beleg dafür. Tatsache jedoch ist, daß Zeus unendliches
Wohlgefallen an dem Jüngling hatte, und die Sage geht, daß er seinen
großen Adler aussandte, der den Ganymedes erfaßte und hinauf in den
Himmel trug oder in das Elysium -- wie Sie wollen.

In diesen Gefilden der Götter und der Seligen brauchte Zeus zu den vielen
festlichen Gelegenheiten einen anständigen Kellner, und er ließ sich,
da er viel auf gutes Service hielt, also den schönsten und besten der
erdgeborenen Jünglinge kommen, um sich von diesem den Nektar und Ambrosia,
die damalige Table d'hote der Götter servieren zu lassen. Und Ganymed muß
mit seiner Stellung sehr zufrieden gewesen sein, denn er ist niemals mehr
zur Erde zurückgekehrt. Sehr bedauerlich für die Irdischen. Von dem
schlanken Götterkellner, der später selbst zu dem Rang eines Halbgottes
avancierte, hätte sogar unser moderner Kellner hier ohne Zweifel manches
lernen können. Was Wunder daher, daß die alten Künstler ein solches
Exemplar von Schönheit und Gewandtheit verschiedentlich verherrlicht und
sein Bild in Bronze und Marmor darzustellen versucht haben. Einiges davon
hat sich sogar bis auf unsere Tage erhalten, damit jeder Kellner, der nach
Rom kommt, sich sein Prototyp ansehen kann. -- Sie erinnern sich, Herr
Doktor? -- Ach ja, natürlich! Sie als Kunstkritiker. Das ist ja Ihr Fach.
-- Nicht wahr? Es ist der Mühe wert, sich den Ganymed anzusehen; und es
kostet nichts ... Wie meinen Sie? Ei, richtig! Welches Gedächtnis Sie
haben! Montags, Dienstags, Donnerstags und Freitags wird ein Lire Eintritt
erhoben, der nebst anderem in die Kasse des Heiligen Vaters fließt. Na,
jedenfalls aber bekommt man an den anderen Tagen beim Eingang einen Zettel,
der sagt:

»~Permesso personale per visitare i Musei del Palazzo Apostolico
Vaticano.~«

Und unten drunter steht groß und großmütig:

»Gratis.«

Das weiß ich noch ganz genau, denn ... hm, verzeihen Sie, gnädiges
Fräulein, Sie wollten etwas sagen. -- Ganz recht! In Wien hängt auch
ein Bild. Ein wunderbarer Corregio. -- In Dresden, gnädige Frau? --
Gleichfalls richtig. Ja, in Dresden auch. Rembrandt, wenn ich nicht irre.
So 'n pausbäckiger, kräftiger Bengel, der mächtig schreit, als ihn der
Adler erfaßt. Auch etwas jung nach unseren Begriffen. -- Indes, diese
Bilder sind archäologisch unzureichend. Der Kellner profitiert nicht viel
davon. Er kann höchstens das eine von seinem klassischen Kollegen lernen:
nämlich, daß er ihm an Schönheit des Geistes und auch des Leibes soviel
wie möglich nachstreben soll. Aber es haben sich seit dem klassischen
Altertum die Verhältnisse so sehr verändert, alles hat ein so ganz
anderes Gesicht angenommen, so daß wir den modernen Kellner nicht allzu
sehr schmähen dürfen, wenn er dem Ganymedes wenig oder gar nicht ähnlich
sieht. Außerdem haben wir auch gesellschaftliche Skandale und Mesalliancen
sowieso gerade genug.

Dennoch oder gerade darum, so wie er heute ist, bleibt der Kellner aber ein
ganz interessantes Thema. Und während wir hier auf den unsrigen warten,
wollen wir nicht gleich schimpfen, wenn unsere Geduld etwas auf die Probe
gestellt wird, sondern wir wollen einmal betrachten, was seine Arbeit
ist und warum er uns oft so lange warten läßt. Das ist tatsächlich ein
großes Gebiet. Zuviel für einen Tag. Vor allem müßten wir uns mit
der Gastwirtsindustrie bekannt machen. Zu diesem Zwecke müßten wir, wie
gesagt, sehr weit in die Geschichte zurückgreifen. Denn die Geschichte
unserer Väter und Vorväter steht an den Wänden der Gaststuben
geschrieben. Oft viel besser als in dicken Büchern. Wenn Sie mir folgen
wollen, so werden Sie sehen, wie wenig sich die Menschheit eigentlich seit
ihren frühesten Dokumenten bis auf unsere Tage innerlich verändert hat.
Die äußeren Umstände sind freilich andere geworden. Sie werden sehen,
wie sich aus der schönen, vielgepriesenen alten Gastfreundschaft eine
Industrie großartigsten Stils entwickelte, die notwendige Folge des
wachsenden Verkehrs der Völker untereinander.

Gastfreundschaft. Was ist, oder besser, was war Gastfreundschaft
eigentlich? Einem Wanderer in alter Zeit, der ermattet, bestaubt von
fernher kam und beim Sonnenuntergang an eine fremde Haustür anklopfte,
wurde aufgetan. Man empfing ihn freundlich, nahm ihn ins Haus auf, wusch
ihm die Füße, salbte sie, brachte ihm Salz und Brot, lud ihn zu Tisch,
bereitete das beste Bett für den Müden. Das war Gastfreundschaft. Diese
Sitte ist heutzutage fast nur noch dem Namen nach bekannt, ausgenommen bei
einigen patriarchalisch lebenden Völkern des Orients. Daher wird sie
auch allenthalben als eine große Tugend gepriesen. Wir sind aber immer
zu leicht verführt, etwas schön und freundlich Aussehendes zu hoch zu
schätzen. Wenn die Menschen sich gegenseitig etwas Gutes antun, so treibt
sie gewöhnlich kleines persönliches Profitchen dazu an. Ganz leer will
der Wohltäter nie ausgehen. Welchen Zweck verfolgen die Menschen, wenn sie
sich in den Haaren liegen, sich gegenseitig bekämpfen? -- Nur derjenige,
der sich gar nicht mit den Menschen abgibt, ist der ganz Selbstlose. Sind
wir moderne Menschen, die wir einem armen einlaßbegehrenden Wandersmann
höflich aber kühl die Türe vor die Nase schlagen, etwa weniger
tugendhaft als die Braven vor Jahrtausenden, die sich gegenseitig mit dem
größten Vergnügen bewirteten? Ich hoffe nicht. Die Zeiten haben sich
nur geändert. Wir besitzen statt der Gastfreundschaft eben eine andere
»Tugend«, ein Äquivalent. Die Geschichte beweist dies. Zu früheren
Zeiten wanderte man nicht so viel wie heutzutage. Es war beschwerlich
und gefahrvoll. Die Menschen waren selten. Drum kam auch nur selten ein
Wandersmann an die Haustür und begehrte Unterkunft. Man freute sich
jedesmal von ganzem Herzen, einen Fremdling zu sehen und aufnehmen zu
können. Dies Gefühl hat sich bis auf unsere Tage erhalten. Denn wenn man
mit jemand gut Freund bleiben will, so darf man sich nicht zu häufig bei
ihm blicken lassen. Dies scheint auch das Geheimnis der meisten Ehemiseren
zu sein. Man darf daher die alten Völker ihrer edlen Gastfreundschaft
wegen nicht allzu hoch preisen. Der fremde Gast war wirklich einmal eine
angenehme Abwechslung in der stillen Eintönigkeit ihres Lebens. Besonders
wenn er wohlhabend aussah. Er wurde staunend von oben bis unten betrachtet.
Sein Felleisen war der Gegenstand stiller, aber allgemeiner Bewunderung.
Man war auf die Geschenke gespannt. Selbst dem weniger selbstsüchtigen
Gastgeber hatte der Wandersmann allerhand zu bieten. Er konnte die
spannendsten Geschichten, die schönsten Abenteuer, die letzten Neuigkeiten
aus fernen Landen erzählen. Zu einer Zeit, da es noch keine Zeitungen
gab, war ein solcher Mensch daher jedem willkommen. So baut sich also die
sogenannte Tugend der Gastfreundschaft auf der sogenannten Untugend der
Neugier auf. Die Neugier hieß damals den Wandersmann willkommen. Man
profitierte von ihm, wie man heute von ihm Nutzen zieht. Darum begleitete
der freundliche, stolze Hausvater seinen Fremdling am nächsten Morgen beim
Sonnenaufgang und zeigte ihm seinen Weg. Wenn der Reisende sicher war,
daß er die richtige Fährte gefunden und das Ziel des Tages nicht mehr
verfehlen konnte, so schüttelten beide die Hände, dankten einander
für das Vergnügen und gingen, -- der Hausvater zurück, der Wandersmann
voraus.

Heutzutage, namentlich in den großen Städten, können die reisenden
Fremdlinge keinen Reiz mehr auf die Hausväter ausüben, wenn diese nicht
gerade an den vom Fremdenverkehr abhängigen Unternehmungen beteiligt sind.
Man liest alle Neuigkeiten aus der ganzen Welt in der Zeitung, man hat
Menschen genug um sich herum. Die Haustüren bleiben daher dem Wanderer
verschlossen. Seine Gegenwart, seine Übernachtung würde in einer
gewöhnlichen modernen Haushaltung höchst unerwünscht und peinlich sein.
Sind wir deshalb aber zu schmähen? Oder ist die heutige Welt nicht mehr
neugierig? Was ist das Äquivalent für die alte Gastfreundschaft? -- Die
moderne Gastfreundschaft hat sich auf das seelische Gebiet begeben. So
wenig Menschen es noch vor einigen Jahrtausenden gab, so viel gibt es
heute. Wie damals der Menschenmangel als Einsamkeit, als Wüste empfunden
wurde, so leidet heute das einzelne Individuum unter dem Eindruck
der Menschenfülle. Und je größer, je stärker diese wird, um so
hoffnungsloser erscheint sie dem einzelnen. Der Grund hierfür scheint in
der Verschlossenheit und Unzugänglichkeit des inneren Menschen zu liegen.
Und folglich in seiner Selbstsucht. Trotzdem haben die Menschen ein
Bedürfnis, in Herden zu leben. Gesellschaft nennen sie dies. Ein
wirklicher, normaler Mensch wird, wie gesagt, niemals selbstsüchtig und
folglich niemals sich einsam fühlen. Doch darüber läßt sich viel sagen.
Ich weiß, daß ich nicht ganz mit Ihnen darin übereinstimme. Ich würde
keine Seele finden, die das täte. Das muß man mit sich selber ausmachen.
-- Also, wenn wir uns daher in der großen Menschenwüste sehr einsam
fühlen und nun plötzlich einen Menschen antreffen, der uns gefällt, so
nehmen wir ihn genau so freundlich auf, wie die einsamen alten Völker die
einsamen alten Wanderer empfingen. Wir suchen die Seele des Gefundenen zu
erkennen, denn diese hat uns vielleicht etwas Neues aus fremden Regionen zu
berichten, etwas Neues, das nicht in der Zeitung steht. Wir betrachten den
Fremdling mit ebenso großer Neugier und suchen ihm ebenso aufrichtig alles
Gute anzutun, das in unseren Kräften steht. Es ist aber schwierig, die
verwandte, freundliche, einsam wandernde Seele anzutreffen, die wir suchen.
Nahe sucht man sie oft nicht, in der Ferne findet man sie gewöhnlich
nicht. Es scheint alles Glückssache zu sein. Und bevor man regelrecht
vorgestellt ist, bereitet eine Annäherung große Schwierigkeiten. Die
moderne Seeleneinsamkeit scheint daher oft so groß und so unerträglich zu
sein, daß sich viele praktische Menschen sogar in der Zeitung nach einem
seelisch verwandten Wanderer umsehen, da sie gewissermaßen absolut jemand
haben müssen, an dem sie ihre Gastlichkeit ausüben können.

Durch die uralte Sitte und Tradition wurde die Gastfreundschaft natürlich
im Laufe der Zeit eine Art Gesetz und wurde als solches heilig gehalten.
Damit waren dann ebenso natürlich allerhand Rechte, Gebräuche
und Zeremonien verbunden, die teils den Gast, teils den Gastgeber
verpflichteten. Als der Verkehr zunahm, sah man sich jedoch genötigt,
vielfach vom alten Rechte und den alten Gebräuchen abweichen zu
müssen. An den Hauptstraßen wuchsen kleine Häuser empor, die sich die
Beherbergung der Fremden zum Geschäft machten. Die ersten Gasthäuser! Der
Kommerzialismus erschien. Das Wandern und Reisen wurde bald so unsicher,
die Gastfreundschaft unzuverlässig, daß sich entfernte Familien und
Völker veranlaßt sahen, Verträge miteinander abzuschließen. Einzelne
Staaten sandten Männer in fremde Länder, welche unter dem Schutze des
betreffenden Volkes standen und sich um das Wohl ihrer reisenden Landsleute
bekümmerten. Die alten Griechen nannten diese Männer Proxenoi, und wir
haben sie heute noch und nennen sie Konsuln.

Die Reisenden schienen es allmählich für am bequemsten und besten zu
halten, in den Gasthäusern an der Landstraße abzusteigen. Dieser Brauch
wurde nach und nach allgemein. Die Römer, zur ersten christlichen Zeit
auf dem Höhepunkte ihrer Macht und ihres Glanzes, waren natürlich die
Hautevolee des damaligen Reisepublikums, die antiken Globetrotters. Als
solche machten sie sich das Reisen so angenehm und sicher als möglich.
An allen Landstraßen errichteten sie Stationen zum Pferdewechseln, mit
welchen gleichzeitig ein Nachtquartier verbunden war. An Weinschenken und
Gasthöfen in den Städten und Dörfern des Altertums war wirklich kein
Mangel. Auf Reinlichkeit ihrer Lokale schienen die antiken Wirte jedoch
im allgemeinen wenig Wert gelegt zu haben. Oder Horaz war ein großer
Kostverächter. Denn der alte Dichter drückt sich sehr verächtlich über
die Tavernen und Wirtshäuser seiner Zeit aus. Es ist auch möglich, daß
er als Poet nicht immer bei Kassa war und die damals schon existierenden
erstklassigen Lokale daher nicht frequentieren konnte. Vornehme Reisende,
welche keine Freunde in der fremden Stadt hatten, stiegen gerne in den
besseren Deversorien ab, weil sie dort gut aufgehoben waren. Zur Unterkunft
der Dienerschaft und der Gespanne der Reisenden dienten die gewöhnlich
etwas abseits liegenden Dependancen des vornehmen Gasthofes.

Wie von der ganzen antiken Zivilisation, so gewinnt man auch von den
Hotel- und Restaurantverhältnissen der römischen Blütezeit ein wunderbar
lebendiges Bild bei einem aufmerksamen Spaziergang durch die toten Straßen
Pompejis. Als der Vesuv an dem verhängnisvollen Augusttage des Jahres
79 die schrecklichen Verheerungen in seinem Umkreis anrichtete und das
blühende Leben rings um sich her zerstörte, da dachte niemand der
Unglücklichen daran, welchen Dienst dieser polternde, feuerspeiende
Bergriese den kommenden Geschlechtern erweisen würde. Er gab den
leichtherzigen Bewohnern der Städte gerade noch Zeit genug, ihre kostbaren
Siebensachen und Barschaft zusammenzuraffen und sich dann wörtlich aus dem
Staube zu machen. Die fröhlichen Städte aber wurden samt allem, das nicht
fliehen konnte, mit dicken Schichten von Asche, Bimsstein und Lava bedeckt.
Sie wurden den späteren Zeiten aufbewahrt. War es die Vorsehung, welche
mit prophetischen Augen die wütenden, verheerenden Scharen bärtiger,
struppiger Barbaren aus dem Norden heranziehen sah, um Rom zu vernichten?
-- Wer kann sagen, was die schrecklichen Werkzeuge der Vernichtung des
Schönen in der Faust des dunklen Schicksals der Völker bedeuten? -- Wir,
die Nachkommen, freuen uns, daß Pompeji gerade zu seiner Glanzzeit bedeckt
und uns aufbewahrt wurde. Als man vor etwa hundertundfünfzig Jahren
anfing, die Decke von der toten, vergessenen Stadt zu lüften, war man sehr
erstaunt. Man fand Dinge, worauf man sich als neueste Errungenschaft etwas
einbildete, man fand, daß die toten Bürger der toten Stadt sie besser
verstanden hatten.

Und je weiter man vordrang, vorsichtig, Schritt für Schritt, Zoll für
Zoll, um so herrlicher und wunderbarer und lebendiger rollte sich das
Bild ab. Nun sehen wir sie alle vor uns! Unbewußt, ahnungslos, daß sie
beobachtet werden, schalten und walten sie weiter. Und besser als irgendwo
anders erkennen wir das lustige Völklein von Pompeji in seinen Gasthöfen,
Weinschenken und Speisewirtschaften. Wir sehen sie essen und trinken,
lachen und zürnen, all die würdigen Senatoren, die edlen Frauen, die
Bankiers, die strammen Zenturionen, die flotten Maler und Bildhauer,
die düsteren und fröhlichen und lausigen Dichter, die leichtherzigen
Komödianten, die sanften Flötenspieler, die großsprecherischen
Gladiatoren, die Handwerker, die Krämer, die Wirte, die Soldaten, die
Bauern, die Sklaven, die Priester, die Priesterinnen, die Kellnerinnen, die
Köche, die Sklavinnen, die leichtsinnigen Dämchen.

Natürlich hat das antike Gastwirtsgewerbe mit der Entwicklung des anderen
Lebens Schritt gehalten. Bis heute hat man ein schönes, mäßig großes
antikes Gasthaus in Pompeji bloßgelegt. Dieses befindet sich an
der Gräberstraße. Eigentlich ist es nichts mehr als ein dürftiger
Trümmerhaufen, aber die Fundamente und Säulenstumpfe deuten darauf
hin, daß die Hauptzierde des Gebäudes eine schöne Säulenhalle war. Im
Erdgeschoß unter den Säulen befanden sich allerhand Kaufläden; im ersten
Stock wohnten die Gäste, welche von dort eine prachtvolle Aussicht auf
das blaue mittelländische Meer genossen. Dienerschaft und Pferde wurden in
neben dem Hause liegenden Ställen untergebracht. Man weiß nicht, ob die
Gäste ihre Mahlzeiten in diesem Hotel einnahmen oder die vielen Speise-
und Weinwirtschaften der Stadt aufsuchten. Auch ist es möglich, daß sie
sich die Speisen von einer solchen in ihr Quartier bringen ließen, denn
das Gasthaus selbst weist keine Einrichtungen für die Zubereitung von
Speisen auf. An Speise- und Weinwirtschaften jeden Ranges war zur damaligen
Zeit in Pompeji kein Mangel. Eines der renommiertesten Häuser war das
nahe beim herkulaner Tor gelegene Gasthaus des Albinus, der in würdiger,
stolzer Einfachheit seinem Etablissement gleichfalls die Firma »Albinus«
gab. Das Gasthaus »Fortunata« hatte eine sehr günstige Lage im
Mittelpunkt der Stadt an einer belebten Straßenecke und war gleichfalls
sehr beliebt. Vor seiner Tür steht ein garstiger Brunnen, worauf ein
Raubvogel abgebildet ist, der einen Hasen davonträgt. Wir müssen den
hochentwickelten Geschäftssinn der damaligen Wirte bewundern. Den großen
Wert einer guten Lage kannten sie ganz genau. Fast jedes Eckhaus war daher
als Schenke oder Gastwirtschaft eingerichtet. Andererseits ist mir jedoch
die stumme aber bedeutungsvolle Gegenwart eines Trinkbrunnens an vielen
Straßenkreuzungen, also vor der Tür der meisten Gasthäuser geradezu
rätselhaft. Über das Verhältnis der hohen städtischen Behörde oder
der Polizei von Pompeji zum zeitgenössischen Gastwirtsgewerbe ist leider
nichts bekannt. Ob die antiken Stadtväter mit den Ausbeutereien der
antiken Wirte weniger Erfolg hatten wie ihre modernen Amtsbrüder bei ihren
Zeitgenossen, und ob sie aus solch niedrigen Motiven daher als Maßregelung
der streitbaren Wirte die rätselhaften Trinkwasserbrunnen vor die Türen
der Tavernen pflanzten, ist ein noch unerforschtes Geheimnis. Da ich in den
meisten Fällen sehr realistisch denke, so habe ich die Überzeugung, daß
die Wirte an der Existenz der besagten Brunnen unschuldig sind, und ich
werde in dieser Annahme bestärkt, je mehr ich mir das Leben und Treiben
der pompejanischen Wirte und ihrer Habitués betrachte. Eine große,
höhnische, heimtückische Macht verschanzt sich hinter diesen Brunnen. Ich
glaube wirklich allen Ernstes, daß eine damalige, uns unbekannte große
Temperanzbewegung unter den nüchternen Bürgern und Bürgerinnen der
sonnigen Stadt am Meerbusen von Neapel es zustande gebracht hat, mit Hilfe
öffentlicher Subskription jedes neu entstehende Gasthaus mit einem nassen,
nüchternen Brunnen zu beantworten. Obgleich das Wasser darin heute nicht
mehr fließt, so sprechen die Brunnen selber auch für diese Behauptung.
Sie können ihre Herkunft wirklich nicht verleugnen. Sie sehen ganz nach
einem temperänzlerischen Ursprung aus. Durchweg prosaisch und geschmacklos
wie sie sind, stehen sie in scharfem Kontraste zu dem ästhetischen
Bedürfnis der Alten. Vergleicht man sie mit Brunnen in einem
pompejanischen Atrium oder Peristil, so sehen sie wirklich nur steinernen
Trögen ähnlich, darinnen das liebe Vieh seinen Durst stillt. Da ich aber
kein Historiker bin und auch weder Zeit noch Lust habe, das Wirken
dieser antiken Temperänzler schärfer zu beleuchten, so werden moderne
Mäßigkeitsgesellschaften, die die Früchte ihres Eifers als ein erst in
ihnen gezeitigtes Verdienst beanspruchen, meine Mutmaßung mit ungläubigen
und zweiflerischen Augen betrachten und die Existenz von antiken
seelenverwandten Bruder- und Schwesterschaften leugnen, statt mir für die
wichtige Entdeckung zu danken.

Schenken und Wirtschaften, welche Sklaven, Krämer, kleine Makler,
Gladiatoren und Schauspieler zu ihrer Kundschaft zählten, waren sehr
zahlreich. Diese Lokale hatten verschiedene Namen, wie ~Oenopolium~,
~Taberna vinaria~ oder ~Caupona~. Viele verabreichten nur Getränke, wovon
eines der beliebtesten die »~posca~« war, eine Art Cocktail von
Wein, Eiern und Wasser, welches kräftig zusammen geschlagen wurde. Die
~Popinae~, die Speisewirtschaften für die niederen Klassen, bezogen ihren
Bedarf an Fleisch aus den Tempeln, wo sie die geopferten Rinder, Schafe und
Schweine zu billigen Preisen ankaufen konnten. Sehr häufig stellten diese
spekulativen Wirte die verlockend zubereiteten Leckerbissen im Fenster oder
in der Haustüre aus. Die hungrigen Passanten konnten natürlich solchen
appetitlichen Anblicken nur schwer widerstehen. Doch auch schon damals,
ganz wie heute, bediente man sich gewisser künstlicher Mittel, um die
zäheren Gäste über Quantität und Qualität der Ware hinwegzutäuschen.
Die ~Thermopolia~, Tavernen, welche als Spezialität warme Getränke,
unsere heutigen Grogs und heißen Punsche, verabreichten, wurden schon von
den besseren Klassen besucht. Wenn ich »bessere« Klassen sage, so
meine ich natürlich auch feinfühlende Menschen. Wie schwach müssen
die Pompejaner und wie stark ihr Grog gewesen sein! Wie verrufen die
Thermopolia! Denn viele der braven Zecher vermieden aus allen möglichen
Gründen beim Besuch der Taverne jedes unnötige Aufsehen. Unter dem
Schutze des ~cucullus~, einer Art Haube oder Kapuze am Mantel, die über
das edle Haupt gestreift wurde, schlüpfte manch ein Pompejaner durch die
Gasse und verschwand im Hinterpförtchen der Schenke. -- -- Wie meinen
Sie? Keinerlei historische Berechtigung? Gewiß nicht. Aber es bedarf
doch wirklich keiner kühnen Kombinationsgabe, um diese zartfühlenden,
heimlichen Trinker als Mitglieder der erwähnten antiken
Temperanzgesellschaften zu erkennen, welche dem warmen Thermopolium den
kalten, klaren Brunnen vor die Türe setzten. Ich gebe daher dem Dichter
Plautus vollständig recht, wenn er sich über die bedauernswerten Männer
lustig macht, welche verhüllten Hauptes in die Schenke schleichen mußten,
um sich am warmen, würzigen Glühwein gütlich zu tun. Und dann, hm,
verzeihen Sie, daß ich's erwähne, doch zur Psychologie der Zecher ist es
notwendig -- diese Schenken hatten außer dem Glühwein noch eine andere
Attraktion in der Gestalt der ~Copa~, was die antike Kellnerin oder Barmaid
war. -- Bitte -- -- dies ist vielleicht nicht so verdammenswert, wie wir
annehmen mögen. Nach pompejanischen Gemälden zu urteilen waren diese
~Copae~ genau so resolute und stramme Jungfrauen und Geschäftsgenies wie
ihre Kolleginnen von heute. Ein Bild stellt uns eine solche holde Hebe
dar, wie sie von einem zaudernden Gaste energisch Bezahlung für den warmen
Trunk verlangt. Ohne Zweifel ein antiker Mäßigkeitsbruder.

Schon früh empfanden die Wirte das Bedürfnis, dem Gedächtnis ihrer
Kunden zu Hilfe zu kommen. Daher tauchen schon im grauen Altertum all die
schönen Firmen »Zum Adler«, Hahn, Apfel, Rad, Merkur, Traube, Krug usw.
auf. Daher die prangenden Schilder, die dem durstigen Passanten sagen, wo
etwas Gutes zu haben ist. Daher die verlockenden Inschriften, die
rührige Reklame der Gasthäuser. Die Pompejaner waren groß darin. Weder
Temperanzbewegung noch Trottoir oder Reklame sind Errungenschaften unserer
Zeit; wie vieles andere, worauf wir stolz sind. Die Alten hatten und übten
es schon. Genau wie heute blühte damals die Sitte, die Wände der Häuser
und die Mauern der ganzen Stadt mit Reklamen zu verschönern. Da es noch
keine Zeitungen gab, so war in ganz Pompeji kein freies Plätzchen
mehr, worauf nicht etwas Nützliches, Geschäftliches, Offizielles oder
Wissenswertes angezeigt, gemalt oder gekritzelt gewesen wäre. Wie alle
erdenklichen öffentlichen, politischen, städtischen, Neuigkeiten,
Theater- und Ringkampfanzeigen, persönliche Mitteilungen wie Liebesseufzer
und Beleidigungen, Lob- und Schmähreden an allen Ecken und Enden zur
Einsicht offen standen, so übten auch die Menüs der Restaurants und
Speisehäuser an den Mauern ihre stumme Pflicht. Bei der starken Konkurrenz
kann ein Geschäft nur mit wirksamer Reklame aufrecht erhalten werden.
Diese, eine unserer neuesten Ideen, verwirklicht von pompejanischen Wirten
vor beinahe zwei Jahrtausenden! -- Sarinus, der wackere Sohn des Publius,
begrüßte auf der Wand an einer Straßenecke den müden oskischen Wanderer
und teilt ihm höflichst mit, daß man um die zweite Ecke biegen müsse,
um das vorzügliche Hotel Sarinus zu finden. Ein anderer Wirt, welcher
noch über ein unvermietetes schönes Zimmer mit drei Betten und allen
»Bequemlichkeiten« zu verfügen hat, läßt es der Mitwelt unverzüglich
wissen:

  »~HOSPITIUM HIC LOCATUR TRICLINIUM CUM TRIBUS LECTIS ET
  COMM~«(~odis~)

Ein sehr interessanter Speisewirt, ein Reklamegenie ersten Ranges, ein
köstlicher Humorist, überzeugt von der Güte seiner Küche, preist
dieselbe folgendermaßen:

  »~UBI PERNA COCTA EST SI CONVIVAE APPONITUR NON GUSTAT PERNAM LINGIT
  OLLAM OUT CACCABUM~«

womit er sagen will, daß ein Zeitgenosse, welchem einer von seinen
gekochten Schinken vorgesetzt wird, nicht gleich den Schinken kosten,
sondern zuerst das Geschirr auslecken wird, worin der Schinken gekocht
wurde.

Die antike Weinwirtschaft sah häufig einer modernen American Bar sehr
ähnlich. Noch heute weist eine ehemalige elegante Taverne an der Via
Nolana, der Straße nach Nola, in Pompeji einen stattlichen Schanktisch
aus polychromem Marmor auf. Darunter befanden sich die großen irdenen
Weinkrüge, die amphorae, angenehm durch Wasserleitung gekühlt. Der Wirt
oder die Copa schöpften den Wein mit großen bronzenen Schöpflöffeln
heraus und füllten die »poculae«, die Becher ihrer Gäste je nach
dem Durst und den Mitteln derselben. Der Wirt an der Via Nolana muß
ein kunstsinniger Mann gewesen sein. Sein Lokal war mit Freskogemälden
geschmückt, welche einen Bacchus und einen Silenus darstellten. Andere
Tavernen wiesen weniger künstlerischen Wandschmuck auf, aber überall
schien ein Bedürfnis für Dekoration zu herrschen. Die Gäste selber
schrieben oder malten oft etwas an die Wände der Schenken. Sie machten
Anzeigen irgendwelcher Art, schrieben ihre Namen nieder, kritisierten
das Essen und Trinken oder wurden anzüglich. Verschiedene künstlerische
Versuche antiker Amateure sind auf diese Weise erhalten geblieben. So
zum Beispiel eine verdächtig aussehende Gruppe von Würfelspielern, ein
Jüngling, der mit einem Mädchen schäkert, ein Wirt, welcher ein Paar
Krakehler an die Luft setzt. Nach unseren gegenwärtigen Verhältnissen zu
schließen, müssen dies Studentenkneipen gewesen sein. In manchen Lokalen
läßt auch die Orthographie der Sprache zu wünschen übrig. In Pompeji
wurden auch mehrere Sprachen gesprochen. Das Resultat ist ein oft an den
Wänden der Schenken zu findendes Kauderwelsch von Latein, Griechisch und
Oskisch, dessen man sich im allgemeinen Umgang viel bediente. Wir dürfen
daher die modernen Deutschamerikaner nicht allzusehr schmähen, wenn ihr
Jargon die Reinheit der Muttersprache verloren hat.

So können Sie alle Stätten sehen, wo die Alten aßen und tranken
und fröhlich waren. Vom schönen, erstklassigen Hotel Bellevue an
der Gräberstraße herab bis zu den einfachen Herbergen, vom eleganten
künstlerischen Weinwirt an der Straße nach Nola, in dessen Lokal sich die
Honoratioren und Hautevolee der Stadt einfanden, um an zierlichen Tischchen
und auf künstlerischen Dreifüßen zu sitzen und aus schön verzierten
silbernen Pokalen Wein zu trinken, bis hinab in die Spelunken mit ihren
»~Chambres separées~« und deren passendem Wandschmuck, Lokale, die genau
wie heute sich ihres zweifelhaften Charakters wegen unter der Bürgerschaft
eines großen Renommees und Zuspruchs erfreuten und jedenfalls glänzende
Geschäfte machten.

Ja, leider, gnädige Frau! Zu allen Zeiten scheint die Menschheit
ein gewisses Bedürfnis und eine Hinneigung zu Ausschweifungen,
verschwenderischen Gelagen und Völlerei gehabt zu haben. Aber deshalb
dürfen Sie doch wirklich nicht glauben, daß die alten Römer zum Beispiel
entsetzlichere Schlemmer gewesen seien als wie wir. -- Freilich, freilich,
es herrscht diese allgemeine irrige Ansicht. Die Namen Lukullus, Nero,
Elagabalus und wie sie alle heißen, die antiken Lebemänner, sind heute
noch für jeden Gourmand der Inbegriff höchster Genußfähigkeit und
nachahmenswerte Idole, während der Fromme sie nur mit einem Schauer von
Entsetzen betrachtet und der hungrige Proletarier nur mit einer grimmigen,
unterdrückten Verwünschung dieser Namen gedenken kann. Man hat
jedoch schon verschiedentlich versucht, diese Irrtümer der Geschichte
aufzuklären, und ich schließe mich gerne den einsichtsvollen Männern
an, welche ein derartiges lobenswertes Werk unternehmen. -- Nur durch die
Geschichte der Menschheit kann man wirklich erkennen, was Mäßigkeit oder
Unmäßigkeit ist. Wer dadurch der Menschheit Mäßigkeit in körperlichen
Genüssen predigt, ist ihr Wohltäter. Das Bestiale in ihr nimmt doch immer
wieder sein Teil. Und was die Mäßigkeit in Gedanken anbelangt -- hm, da
braucht man nicht so sehr zu sorgen, die kommt meistens von selber. Unser
Heil liegt also in der Mäßigung in allen Dingen. -- Wie für alles, so
ist es auch für die antike Lebensweise und zu ihrem Verständnis wichtig,
genau zu beachten, in welchem Lichte sie uns gezeigt werden.

In der grellen elektrischen Beleuchtung unserer Zeit nehmen sich die
traditionellen »Schlemmereien« des Altertums doch recht dürftig aus. Ich
will mich bemühen, Ihnen dies möglichst genau zu erklären. -- Mögen wir
auch noch so starke Scheinwerfer moderner Wissenschaft auf das Dunkel in
der Geschichte der alten Kulturvölker richten, wir werden niemals in die
rätselhafte Tiefe der vergangenen Jahrtausende dringen können, wenn wir
nicht unsere Blicke in die eigenen Herzen tauchen und das Land der Alten
mit der Seele umfassen. Dumpf schweigend betrachten wir alsdann das
grauenhafte Ringen zwischen herrlicher, lebensdurstiger Schönheit und
deren unerforschlichen, wilden, gegnerischen Mächten. Es ist der zögernde
Kampf des Werdens, des Seins und des Vergehens, das wundervolle Trauerspiel
des Lebens, das sich schon im Auge des Säuglings ahnen läßt, das Spiel,
dessen klagende Akkorde das Jubilieren des Frühlings schon durchziehen.
Wir sehen die Jugend dieser Nationen, ihren Trotz, ihren Mut, ihre Einfalt,
ihre frische Stärke, ihre Einfachheit, Arbeitslust, Sittenstrenge. Wir
sehen ihre Pläne, die sie als Erbauer von Weltreichen entwerfen; sie
träumen von der Ernte künftiger Kulturen, deren Same in ihren Herzen
wühlt. Sie essen einfach, trinken Wasser, opfern ihre Söhne für das
öffentliche Wohl und die Gerechtigkeit. Wir sehen die gereiften Nationen,
ihre Herrscher, Politiker, ihre Künstler und Denker. Wir beobachten die
Wechsel in der Brust der Nationen. Fremde Einflüsse, welche durch den
Verkehr mit der Außenwelt unvermeidlich sind, arbeiten im Charakter des
Volkes. Wir sehen Wohlstand, Reichtum, Luxus, veränderte Lebensweise,
veränderte Sitten, veränderte Ansichten und Gedanken, nagende Zweifel,
lockende Versuchungen, heiße Kämpfe, überwundene Standpunkte, -- Triumph
des Neuen. So entschieden und bestimmt und scharf abgegrenzt sich die
Konturen der Zeiten von ferne ansehen, so unmerklich ist ihr Übergang von
einer zur andern. Sprossen, Wachsen, Verwelken. Und jedes hat seine Zeit,
jedes seine Rechte.

Wie im Denken, im künstlerischen Empfinden, Weltanschauung und Lebensweise
die Alten zur Blütezeit der Antike einfacher, stärker als wir und
uns daher überlegen waren, so betrachteten sie auch das Gastmahl nicht
lediglich als eine Funktion zur Körperernährung, sondern als eine
geweihte Handlung, aus welcher sie Freude und Stärkung schöpften. Doch es
gibt ein Halt. Und das ist das Rätselhafteste, das Unerforschlichste
des Lebens: mit der größeren Ausdehnung, der steigenden Entwicklung
der Nationen, mit ihrer wachsenden Freude am Dasein, mit ihrer Blüte und
Manneskraft schlichen sich auch schon die grinsenden, verkleideten Dämonen
des Verderbens in die Mitte der daseinsfrohen Menschen. Diese bösen
Widersacher verteilten Reichtum und Macht mit vollen Händen, schmeichelten
der Bestie des Menschen, fachten die wildesten Leidenschaften an.
Sie weckten Myriaden von bisher ungekannten, verborgen schlummernden,
unersättlichen Begierden. Überall, wo der Reichtum sich vermehrt, wo die
berauschende, verführerische Stimme der Großstadt flüstert, da recken
sich diese Gespenster empor und fahnden nach ihren Opfern. Und ihren Spuren
folgen alle Greuel des menschlichen Lebens: Laster, Verbrechen, Krankheit,
Sklaverei, Wucherei, Raub, Totschlag, Krieg, wie die Geier, Hyänen,
Schakale, Raben, Würmer und andere Aastiere dem Geruche der Fäulnis
folgen. Ein verheerendes Feuer schleicht durch das Mark eines Volkes, das
im Banne dieser Mächte liegt, wie eine Seuche verbreitet es sich, vererbt
es sich auf die Kinder der Eltern, bis das ganze Geschlecht wurmstichig,
faul zusammenbricht und sich in den Stürmen der Zeit als Staub auflöst.

So fuhren die herrlichen Geschlechter des Altertums dem rätselhaften
Finale entgegen, das ihrer harrte. Was war es? Lauerte es in dem
blutdürstigen Gebrüll aufgebrachter Barbaren und in ihren Fußtritten?
War es halb heraufbeschworen durch die Wünsche in der eigenen Brust, die
aufreibende Gier nach Freude, nach Reife, nach Vollendung, nach Erlösung?
War es eine schlaffe, süße Ermattung, eine Sehnsucht nach Tod oder der
eigentliche Zweck, der Triumph ihres Erdenwallens? -- Das Trauerspiel ist
aus -- der Winter ist da -- wählen Sie, meine Freunde, sich den Schluß --
ganz nach Ihrem Belieben und Ihrer Auffassung.

Unter solchen Eindrücken einer großen Vergangenheit, die ihre Hand selbst
noch bis in unsere heutige Zeit hinein erstreckt und wunderbar mit der
zauberischen Gewalt, welche von den Gräbern gestorbener Freuden ausgeht,
unsere Herzen erfaßt, verbleicht natürlich unser eigenes Leben. Das ist
das Recht, welches der Tod auf das Leben -- oder die Vergangenheit auf die
Gegenwart hat und ausübt. Wir fühlen uns klein. Es ist, als wollte sich
das Vergangene an uns, den Lebenden, rächen, weil wir es verdrängt haben.
So entstehen auch die Geschichten von dem märchenhaften Luxus, Schönheit
und der schwelgerischen Lebensweise des Altertums. Aber ein einziger
nüchterner Blick auf die technischen Möglichkeiten wird uns von dem
magischen Banne des Vergangenen befreien. Ich will daher, meine Freunde,
nicht Ihre Zeit verschwenden und Ihnen antike Gastmähler in allen meiner
Phantasie zu Gebote stehenden Farben und mit allen Einzelheiten darstellen.
Wir wollen uns auch nicht durch den Eindruck eines vergangenen Glanzes oder
durch schwärmerische Geschichtschreiber beim Entwurf unseres Bildes
vom antiken Gastmahl beirren lassen. Muß man nicht gewöhnlich über
Historienbilder und »historische« Literatur lächeln, wenn man sich nicht
gerade angeekelt fühlt? -- Uns gilt nur, den Geist der damaligen Zeit
mit den Augen unserer Seele zu betrachten und in uns aufzunehmen. Dies
und nichts anderes ist der bleibende Wert, den die große Zeit hat, dessen
Erben wir sind, den wir besitzen sollen. Alles andere ist Schutt und
Trümmer und altes Gerümpel.

Es würde daher ungerecht und unrichtig sein, zu behaupten, daß die Alten
in Raffinesse der Küche und Feinschmeckerei unsere Zeit übertroffen
hätten. Was die _Kunst_ des Essens und Trinkens jedoch anbelangt, so
scheinen sie uns weit überlegen gewesen zu sein, obgleich -- wie gesagt --
die antike Küche bei weitem nicht so vollendet und reichhaltig war, wie es
die der französischen Renaissance, also die unsrige ist. Denn _dies_ ist
gewiß: die Alten nahmen sich mehr Zeit zu ihrem Gastmahl: sie brachten
ein einfaches, stolzes Selbstgefühl mit an ihre Tafel, ein Gemüt, das
ungetrübt von einer vielverzweigten, rastlosen Zivilisation, unberührt
von bedrückender, einengender Konvention steifer Faltenhemden und frei von
jeder geschäftlichen Sorge einzig und allein einem inneren, angeborenen
Bedürfnis für Schönheit folgend, die Freude suchte und sich
rückhaltslos der Freude ergab. Denn die Gemütsbeschaffenheit des Gastes
ist ein ebenso wichtiger Faktor im Wohlgelingen des Gastmahls wie die
Qualität der Speisen. Daher maßen die Alten auch dem Gastmahl viel
mehr Bedeutung bei, wie man es heutzutage tut. Man muß staunen über
die herrliche Fülle von schönen, künstlerischen Tafelgeräten,
Haushaltsgegenständen, Trinkbechern, Wärmebecken für Speisen, Leuchtern,
Tripoden usw., die man noch in den letzten Jahren in Pompeji gefunden hat,
wenn man bedenkt, daß die Pompejaner vieles für sie Wertvolle auf
der Flucht vor dem großen Verhängnis ihrer schönen Stadt eiligst
zusammenrafften und mitnahmen. Viele kehrten zurück, nachdem sich die Wut
der Elemente gelegt hatte, drangen durch die eingestürzten Dächer ihrer
verschütteten Heime ein und gruben aus, was in der Angst und dem Tumult
der Katastrophe liegen geblieben war. Ferner waren in den darauf folgenden
Jahrhunderten diese herrlichen Gräber des Altertums der Gier und Beutelust
einzelner Menschen ausgesetzt, die eine leise Ahnung von den vergrabenen
Schätzen hatten und diesen stets beizukommen suchten. Im siebzehnten und
zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wurde die unglückliche Stadt von
gierigen Horden von Piraten und Kunsthyänen überfallen, die auf der
Suche nach Schätzen und kostbaren Gegenständen alles wüst umwühlten und
nichts verschonten. Erst vor wenigen Jahrzehnten regte sich das menschliche
und archäologische Gewissen der Schatzgräber, und unserer Zeit verdanken
wir alles, was wir über die Alten wissen. Sie erst machte uns auf jeden,
selbst den kleinsten unscheinbarsten Fund aufmerksam und erklärte uns, wie
die Alten aßen, tranken, handelten und wandelten.

Wie wenig war uns das Glück günstig, und wieviel haben wir noch gefunden!
Und aus allen Funden spricht ein unersättliches Begehren nach Schönheit,
ein auserlesener strenger Geschmack, ein gesundes, verlangendes Formen- und
Stilgefühl. Warum sollte man nicht daraus schließen können, daß sich
dieser künstlerische Geschmack auch auf die Auswahl, Zubereitung, auf das
Servieren und Genießen der Speisen erstreckte? Was tut eine barbarisch
zubereitete und barbarisch gegessene Speise in einer künstlerischen, edlen
Schüssel? Was ein schlechtes Getränk in einer ~pocula~, einem mit Rosen
bekränzten Trinkbecher? -- Sehen Sie, warum die Alten die Kunst des Essens
besser verstanden als wir? In den Gastmählern eines Plato oder eines
Plutarch erblicken wir einen schönen Gottesdienst, vor welchem ein
modernes Diner mit allen seinen Raffinessen wie eine sachgemäße
Abfütterung erscheint. Soundsoviel pro Kuvert. Im Essen und Trinken aber
liegt ein tieferer Sinn verborgen. Und wenn wir den überirdischen Inhalt
in etwas Irdischem erkennen, so nennen wir den irdischen Gegenstand oder
Handlung ein Symbol, ein Sinnbild, ein Gefäß, ein greifbares Äquivalent
für einen körperlosen, unsichtbaren Wert. Man bedarf dieser kleinen
Symbole, um große Gedanken, seelische Welten, körperlose Vorgänge
plastisch und verständlich darstellen und ausdrücken zu können. Die
Welt, die Natur, das Leben ist voll davon. Die Menschen, die Religionen
lieben sie. Im Bilde des Gastmahls namentlich ist der Sinn schön und
unverkennbar klar. Ein Freund ladet den anderen gewöhnlich nicht zu sich,
um ihn abzufüttern, sondern um mit dem Mahl eine Wohltat auszudrücken,
die er ihm antun will. Daß eine solche Tat wiederum ihren reziproken Wert
hat, daß sie dem Geber gleichfalls von Nutzen ist, ändert nichts an der
Schönheit der Handlung.

So dürfen wir mit gutem Gewissen behaupten, daß die Alten zu ihren
Blütezeiten den Sinn des Gastmahls ganz erfaßt und beherzigt hatten und
dasselbe als das Symbol einer schöneren Handlung denn die Tätigkeit
des Kauens und Verdauens betrachteten. Die alten Historiker und Dichter,
obgleich sie viel über ihre zeitgenössischen Gastmähler berichtet haben,
tragen freilich wenig zur Unterstützung dieses Gedankens bei. Vor allem
aber hat sich die Weihe der Jahrhunderte über die vergangenen, versunkenen
Zeiten gebreitet, hat geläutert und den Schmutz des Alltags ausgeschieden,
so daß die erlebten und genossenen Freuden der Alten in verklärtem
Glanze vor unseren bewundernden Augen auferstehen und jung sind -- jung und
schön, schöner als zu ihrer Zeit, da sie irdisch waren, wie die unsrigen
zu unserer Zeit irdisch sind.

Wenn ich aber das realistische Bild eines antiken Gastmahls gegen das
moderne Leben halte, so verblassen alle unsere Träume von der großen
Zeit. Wer als Historiker, Wirt, Kellner, Fleisch-, Gemüse- oder
Viktualienhändler oder gar als Gourmet den Irrtum begeht, die Größe der
Antike in ihren Kochtöpfen zu suchen, der verdient gerecht bestraft zu
werden, und er wird es. Seine Enttäuschung wird gräßlich sein. Er wird
die alten Dichter und Historiker, die ihre Mähler besangen und feierten,
für harmlose, schwärmerische Enthusiasten halten; er wird nicht begreifen
können, wie die großen führenden Geister der damaligen Zeit
von Schlemmerei und Völlerei ihrer Zeitgenossen faseln und solche
»Ausschweifungen« bejammern konnten. Er wird sie für kurzsichtige
Moralisten und schüchterne, schamhafte Schwachköpfe halten. -- O ja, die
Alten hätten wirklich gern geschlemmt -- in unserem Sinne geschlemmt --
wenn sie gekonnt hätten. Aber sie konnten beim besten Willen wirklich
nicht. Die antiken Dichter haben tatsächlich viel gesündigt. Durch ihre
Lobreden und glühenden Schilderungen der Tafelfreuden einerseits und deren
absolute Verdammung andererseits haben sie die Nachwelt zu dem Glauben
verführt, daß die antike Genußsucht und Prasserei etwas ganz
Beispielloses in dem Schuldkonto der Menschheit gewesen sei. Aber lächelnd
müssen wir den Dichtern etwas mehr Spielraum geben als den Photographen.
Ein kurzer kritischer Blick über die Möglichkeiten zur Schlemmerei,
die den Vielgeschmähten zu Gebote standen, wird alle Befürchtungen
beschwichtigen und die Röte der Scham vor unserer eigenen Verwerflichkeit
in unsere Wangen treiben. Es ist kein Zweifel, die Alten waren
Feinschmecker. Wir auch. Möglichst gut essen will jeder. Sogar die,
die darüber am meisten schimpfen. Aber die Güte des Menüs hängt
ausschließlich von der Fülle und der Beschaffenheit der Rohmaterialien
ab. Kürzlich fand man ein antikes Kochbuch. Ich weiß aber leider noch
nicht, welchen Gebrauch die Alten von den guten Gaben der Natur machten.
Woraus diese bestanden, können wir jedoch leicht erraten. Im großen
ganzen waren sie wohl gleich denen von heutzutage. Nur nicht in so reicher
Fülle. Der Boden schenkte den alten Völkern reiche Nahrung an Gemüsen
und Pflanzen, wie er es heute noch tut. Der Süden bot ihnen seine
köstlichen Früchte; die nützlichen Haustiere hatten sich schon lange
den Menschen angeschlossen. Die alten Fischerleute wußten den Seetieren
nachzugehen. Alle Muscheln, Mollusken und Krustazeen, die vielen Sorten
delikater Fische des Mittelmeers, welche die ~Bouillabaise~ mit Recht so
berühmt gemacht haben, alle zierten sie schon die Tafel der Alten. Und
was die südliche Heimat nicht aufbot, das holten sich die Alten aus fernen
Ländern. Aber vieles muß doch auf dem langsamen, beschwerlichen Transport
gelitten haben. Wie die Austern, welche sich die Cäsaren von Englands
Küste holen ließen, in Rom noch frisch und genießbar sein konnten,
ist mir rätselhaft. Die meisten Gewürze und Spezereien des Morgenlandes
vertrugen die schwierige Beförderung der damaligen Zeit wahrscheinlich
schon besser. Daß jedoch derartige Importen zur damaligen Zeit mit großen
Kosten verknüpft und folglich etwas ganz Unerhörtes waren, ist sehr
natürlich. Nur die allerreichsten Gourmets konnten sich einen derartigen
Luxus erlauben, während den weniger Bemittelten nichts übrig blieb, als
sich respektvoll fernzuhalten oder über die »Extravaganzen« zu schimpfen
und sie als verderblich zu bezeichnen. Eine besonders schmackhafte Art
von Würstchen und gesalzene Fische, welche vom Pontus nach Rom
gebracht wurden, galten nach den damaligen Begriffen der renommiertesten
Feinschmecker als die größte Delikatesse. In den Augen der minder
begüterten Bürger waren diese harmlosen Nahrungsmittel geradezu
staatsgefährlich, ein Zeichen bedauerlichster Dekadenz. Wollüstige
Gourmets, welche sich nicht mehr mit den heimischen zähen Hahnenbraten
zufrieden erklärten und die korrupte, gottlose, orientalische Methode
des Geflügelmästens in ihren Hühnerhof einführten, wurden entweder
zu Genies oder zu Hochverrätern gestempelt. Zu gewissen Zeiten waren
derartige Verfeinerungen ungefähr gleichbedeutend mit Gotteslästerungen,
und römische Patrizier und Senatoren ergrimmten darüber mehr als
heutzutage ein hungriger Proletarier, der zufällig etwas von indischer
Vogelnestersuppe oder »~Poularde truffée Regence~« hört.

Wie meinen Sie, gnädige Frau? -- Lukullus? -- Nein, ich glaube nicht an
seine märchenhaften Schüsseln, an die Nachtigallenzungen en ragout, an
die lebenden Wachteln in gigantischen Pasteten usw. Lukull hat viel zu
viel Geschmack besessen, um an solchen Dingen Gefallen zu finden. Die
Einzelheiten, die heute noch über die Tafelfreuden des eigenartigen Mannes
im Umlauf sind, halte ich für Ausgeburten einer heißhungrigen Phantasie
späterer Jahre oder lüsterner, zeitgenössischer Poeten, die -- ganz wie
ihre modernen Kollegen -- die Freuden der Tafel aus der Hungerperspektive
preisen und sich durch die Verherrlichung der antiken Leckermäuler Eingang
zu deren reichen Häusern verschaffen wollten. Lukull, der gefeierte
Vielfraß, war ein eigenartiger, vielseitiger Mensch, der vielleicht durch
die zweifelhafte Verherrlichung als Feinschmecker von der Nachwelt nicht
genügend anerkannt wird. Er pflanzte zum Beispiel bekanntlich die ersten
Kirschenbäume in Italien, eine sehr nützliche, für den Obstbau und die
Hortikultur des Landes wichtige, verdienstvolle Handlung. Dieser feine
Diplomat, Feldherr, Sportsmann und Literaturfreund züchtete auch Fische.
Und hier spricht der Naturforscher und Naturfreund, nicht der Feinschmecker
und Schlemmer, selbst wenn Kirschen und frische Fische zu seiner Zeit eine
Delikatesse waren.

Sie sehen, die Alten mußten wirklich vieles Gute entbehren, das heutzutage
ganz gewöhnliche Volksnahrung ist. Unsere schnellen Verbindungen mit allen
Weltteilen haben uns viel neues Material, neue Gewürze, neue Pflanzen und
andere Genuß- und Nahrungsmittel gebracht. Wir könnten uns kein Essen
ohne diese vollständig denken. Die Alten hatten zum Beispiel keinen Kakao,
Kaffee, Tee, keinen Tabak, keine Liköre, wie wir sie zu Tausenden haben.
Sie hatten nicht einmal Kartoffeln, die Armen! Ihre Zähne, Gaumen und
Mägen empfanden nicht die wunderbare Wirkung des süßen Gefrorenen,
der Schokoladenbonbons und dergleichen Lieblichkeiten. Unsere modernen
verbesserten Kücheneinrichtungen, die fortgeschrittene Technik, die
Bratherde, Roste, Eisschränke, Ventilation, Feuerregulierung, Gas und
Elektrizität bedingen eine bessere und ausgiebigere Behandlung und
Verwertung der Rohmaterialien. Nein, Gnädige, die Alten hatten auch keinen
Champagner, diesen prickelnden Urgeist der Tollheit. -- Der wurde erst
-- wie das Schießpulver -- von einem christlichen Mönche zum Heil der
Menschheit eingeführt. -- Können Sie sich überhaupt eine Schlemmerei
ohne Champagner denken!?

Erkennen Sie nun die übertriebene Vorstellung, die wir von den
Tafelfreuden der Alten haben, meine Herrschaften? Selbst mit unserem
modernen Reichtum, mit der ganzen Reichhaltigkeit und Raffinesse unserer
Kochkunst wäre es den Römern zu gewissen Zeiten einfach unmöglich
gewesen, uns an verschwenderischem und lasterhaftem Lebenswandel
gleichzutun. Die moderne Geschichtforschung hat uns dies ausführlich und
klar bewiesen. Die alten Römer haben zu verschiedenen Perioden ein System
zur Überwachung der bürgerlichen Moral gehabt, das die Herzen aller
derjenigen freudig schwellen lassen würde, die sich in unseren Tagen solch
lobenswerten Amtes befleißigen, dürften sie es nur nach antiken
Mustern ausführen. Kaiser Augustus setzte die in einem Gastmahl zu
»verschwendenden« Geldsummen gesetzlich fest. Die Höhe der Taxe belief
sich je nach der Gelegenheit, in allen Fällen bescheidene, -- für unsere
Zeiten lächerlich geringe Summen, selbst wenn wir den praktischen Wert
der damaligen Währung den Verhältnissen entsprechend in Betracht ziehen.
Unglückliche mit einem angeborenen oder erworbenen notorischen Hang nach
Fraß und Völlerei oder Verschwendungssucht wurden streng bewacht und
beschnüffelt. Die Gesetze, die lieben Mitmenschen, die öffentliche
Meinung zwangen solche Wüstlinge, sich einzuschränken. Der allgemeine
Notstand, die geringe Währung, die knappe Barschaft, der Mangel an
edlen Metallen gestattete selbst den Allerreichsten keine wilde,
verschwenderische Lebensweise. Selbst zu den üppigsten Zeiten des
Altertums herrschte diese Einschränkung. Die Orgien eines Nero oder
Elagabalus würden das mitleidige Lächeln eines modernen Bonvivant
hervorgelockt haben. Die eheliche Treue und Moral der Geschlechter wurde
ebenso eifersüchtig gehütet. Gesetze und Moralisten von der strengsten
Sorte ließen nicht die großen geschlechtlichen Ausschweifungen und Laster
zu, in welchen die heutige Welt die vollste Freiheit genießt.

Ich will beileibe nicht behaupten, daß im Altertum das Bedürfnis für
unsere moderne Freiheit gefehlt hätte, aber -- ach, Sie sehen, meine
Freunde, mit uns verglichen erscheinen die berüchtigten Wüstlinge des
Altertums wie Waisenknaben, ihre größten Kurtisanen, Maitressen und
Intrigantinnen sind unschuldige, schüchterne Geschöpfchen neben ihren
Schwestern unserer Zeit. Phantastische Schreiber und gedankenlose,
abschreibende Historiker haben das klassische Altertum in ein zu
unnatürliches Licht gestellt. Bringen Sie, Herr Doktor, einen Bürger
des Forums in ein modernes Riesenvergnügungslokal, in ein Nachtcafé,
in unsere Varietétheater. Seine einfache, unschuldige Seele würde sich
derartiges nicht träumen lassen. Die lebendige, glühende Gier unserer
Zeit, die jedes Dienstmädchen, jeden Hausknecht ergreift, wo jedes
menschliche Wesen vibriert vor Sehnsucht nach Genuß und Vergnügen, dieser
tolle, tobende Lobgesang der Menschheit des zwanzigsten Jahrhunderts auf
das Erdendasein konnte sich im Altertum in unserer Weise, in unserem Grade
nicht kundgeben. -- Warum? Die Gelegenheit fehlte, die Mittel waren nicht
vorhanden. Unsere Dienstmädchen erlauben sich mehr Freiheit, mehr Luxus,
mehr Seide, mehr Schmuck, mehr Vergnügen, als manche vornehme Dame der
vielgeschmähten Zeit des römischen Luxus. Der Sonntagsrock eines modernen
Ladenjünglings ist aus besserem Stoff denn die Toga eines Senators der
alten Weltbeherrscherin. Wir müssen also wirklich erst in das Altertum
zurückgreifen, um die große, beispiellose, nie dagewesene Genußsucht,
Verschwendung unserer Zeit, die Güte und Raffinesse unserer Tafel richtig
zu erkennen. Denn eine materielle Parallele in der Geschichte zu suchen,
ist fruchtlos. Unsere Urgroßväter selbst, die doch auch jung gewesen sind
und zu ihrer Zeit gewiß auch keine Kostverächter waren, würden
staunen, wenn sie ihre Nachkommenschaft bei der Tafel, im Theater, bei den
Vergnügungen sehen könnten. Sogar im geistigen Leben tritt das gleiche
Phänomen vereinzelt zutage. Ich will nur ein augenscheinliches Beispiel
anführen. Der arme Heinrich Heine, das vielgehaßte und -geschmähte
traditionelle »Ferkel im Musengarten«, der »ungezogene Liebling der
Musen« -- neben seinen modernen Kollegen nimmt er sich aus wie ein
bleicher Konfirmand mit einer Lilie und einem Gesangbuche unter einer
Horde verbummelter, schlotternder Nachtcafé-Habitués beim Strahl der
aufgehenden Sonne am Ostermorgen.

Bitte, Sie dürfen mich nicht mißverstehen. Mit diesen Vergleichen will
ich kein Urteil sprechen. Weder über uns, die Lebenden, noch über die
Toten. Denn dann wären wir ja veritable Ungeheuer! -- Dafür danke ich.
-- Nein, jedes hat seine Zeit. Auch wir werden überlebt werden. Was aber
nicht notwendigerweise überboten heißt.

Geht daher ein gesunder Durchschnittsbürger unserer Zeit -- sagen wir ein
Händler in Lebensmitteln oder Luxuswaren en gros, ein fortschrittlicher
Gastwirt oder selbst ein vernünftiger Lehrer der Geschichte zum erstenmal
über das Forum in Rom, so wird er den Kopf schütteln und sich fragen:
»Ist das alles?«

Er muß sich gestehen, daß er mehr erwartet hat. Nach einigem aufmerksamem
Forschen (oder auch belehrenden Erklärungen des Cicerone) wird der
Enttäuschte entdecken, daß ein berüchtigter altrömischer Schlemmer
in einem Hause gewohnt hat, das vielleicht nicht einmal so groß und so
stattlich war wie die Heimstätte des Betrachtenden. Nicht jeder Besucher
der alten geweihten Stätten ist ein Dichter oder ein Philosoph, ein Mann,
der aus dem elenden Trümmerhaufen ein gewaltiges Weltreich neu auferstehen
sieht mit all seinen Kämpfen, Stürmen, glorreichen und traurigen
Tagen, mit all seinen herrlichen Geistern, großen Männern und schönen,
liebreizenden Frauen. -- Nicht jeder vermag sein eigenes Leben aus den
gewaltigen Ruinen hervorleuchten zu sehen, nicht jeden bestricken darin das
jubelnde Lachen des Lebens und seine herzzerreißenden Klagelieder. Nicht
jeder ist ein niedriger, käuflicher Hurraschreier, der auf Kommando das
Maul aufreißt, weil er muß, obgleich er nichts sieht, fühlt oder denkt.
Nicht jeder ist ein wohlerzogener Backfisch, der von einer Bewunderung in
die andere fällt an einem Orte, wo es die Sitte erfordert und zum guten
Ton gehört, weil dort etwas zu sehen sein soll. Nicht jeder hat das
Gedächtnis eines deutschen Gymnasialoberlehrers, der an heiliger Stätte
alle die interessanten, denkwürdigen geschichtlichen Daten von Anfang
bis zu Ende geläufig hersagen kann, was den Besuch an Ort und Stelle so
überaus genußreich macht. Nicht jeder übersieht alle die Mängel und
Schönheiten des Ortes in der Aufregung, weil er ihn andichten muß.
Sondern der weitaus größte Teil der Menschheit besteht aus jenen
zögernden, doch genügend ehrlichen Naturen, die bei einer nicht
augenscheinlichen Verwirklichung von Erwartungen ihrer wenig produktiven
aber dennoch phantasiereichen Köpfe die erlittene Enttäuschung nicht
hinunterwürgen, sondern sich derselben offen und ehrlich entledigen
wollen. --

So bliebe uns denn nichts zur Betrachtung übrig als der Geist der alten
Welt, der so glorreich auch an der antiken Tafel präsidierte. Ich kann
wirklich nicht ausrechnen, wie hoch sich die Kosten eines anständigen
Gastmahls der Alten beliefen. Ich will nicht zu ergründen suchen, ob die
delikaten importierten Würstchen vom Pontus roh oder gebraten verspeist
wurden, und so Vergleiche mit unseren modernen Würstchen ziehen. Ich will
nicht wissen, ob der gesalzene Fisch, der die biederen Senatorengemüter
in Aufregung versetzte, eine Stunde lang oder überhaupt nicht gewässert
wurde. Es interessiert uns wenig, ob er mit heißer Butter oder mit zäher
Mehlsauce und braunen Zwiebeln begossen wurde. Wir können nicht mehr
untersuchen, ob die ~Whistable Natives~ von Britannias weiß-grüner Küste
noch genügend frisch zum heilsamen Genuß in Rom anlangten, oder ob sie
durch ihre und den anderen Meerbewohnern charakteristische Tücke infolge
vorgeschrittenen Alters den römischen Bonvivants bedenkliches Magenzwicken
verursachten. -- Nur, wie schon gesagt, im Spiegel des glänzenden
Altertums vermögen wir unsere Zeit, also auch unsere Mähler und ihren
Geist, richtig zu erkennen, zu verachten oder zu würdigen.



II.


Und was der wirkliche Geist der antiken Gastmähler ist, auf den ich so oft
hinweise? -- Ei, das ist die Freude! -- Welche? -- Nun, die Lebensfreude,
dieser jubilierende Aufruhr, den nur Vollblutgeschöpfe voll und ganz
empfinden und verstehen können. -- Ach, Herr Doktor, wie Sie mich
peinigen. Gewiß besitzen wir auch Lebensfreude, aber, aber ... Hm, worin
der Unterschied besteht? Ja, wer das sagen könnte! Wer das in die Welt
hinaus schreien könnte! Es läßt sich nicht sagen. Ein ganz großer
Dichter vermochte es nicht einmal auszudrücken. Er sagte nur sehnsüchtig,
daß es »so ganz anders« war zur Zeit, wo man die Tempel der Venus
Amathusia noch bekränzte ... Ach, und wenn Sie mich noch so hartnäckig
pressen, ich könnte nichts anderes tun, als Ihnen alle Vorgänge bei einem
Symposium haarscharf und historisch getreu hersagen. Aber würde Sie das
befriedigen? -- Das alles ist doch so wohlbekannt. Jedem Schuljungen wird
es eingepaukt. Im Varieté und bei Wohltätigkeitsgelegenheiten ist's zu
sehen. Symposien und Bacchanalien werden wunderbar getreu nachgeahmt.
Da sieht man ja alles: die Leopardenfelle, die fliegenden Kleider,
das Weinlaub im Haar, die Fackelträger, die Blumenmädchen, die
Flötenspieler, das sanfte Hirtenvolk, das Trankopfer -- die Tänze --
alles, alles ist noch ganz genau zu sehen. -- Aber? -- Aber doch »so ganz
anders«. -- -- --

Gerne, meine Damen, ich will mein Bestes tun. Ich sehe, man läßt
mir keine Ruhe! Hätte ich doch gar nichts von dieser entsetzlichen
Lebensfreude erwähnt! -- Wenn also so ein lebensdurstiger antiker Hausherr
seinen Freunden ein Gastmahl zu geben beabsichtigte, so wurde am Morgen
bei Sonnenaufgang die beste Halle des Hauses zu diesem Zwecke feierlichst
geschmückt. Gar nichts Außergewöhnliches! Ganz wie heute. An der dem
Garten zugewandten offenen Seite des Saales wurde gewöhnlich ein langer
Marmortisch aufgestellt, der nur auf einer Seite zum Essen gedeckt wurde.
Die andere Seite des Tisches blieb zur Bedienung frei. Tischtücher
gebrauchte man nicht, die Tischgeräte wurden auf die blanke Marmorplatte
gestellt. Alles, was das Haus an Silber- und Goldwaren aufbieten konnte,
wurde natürlich benutzt, das Mahl zu verschönern. Der Tisch prangte mit
Blumen; Blüten bedeckten den Fußboden, Rosengirlanden hingen mahnend
über den Sitzen der Gäste, als ein Sinnbild des Schweigens. Man plauderte
nicht aus, was man an der Tafel erfuhr. Die Rosen verboten es. -- An der
anderen Seite des Raumes standen die Amphoren, große zweihenkelige Krüge,
gefüllt mit Wein. Daneben war der Krater, ein großes Mischgefäß, eine
Bowle, worin der Wein mit Wasser vermengt wurde. Dieses Geschäft besorgte
der ~Rex Bibendi~, der Trinkmeister oder Mundschenk. Ihm zur Seite standen
bekränzte Knaben in aufgeschürzten Gewändern, deren Aufgabe es war, die
Becher der Gäste zu füllen. Nicht weit entfernt von der Weinstation, in
der Nähe des Ausganges, stand der Anrichtetisch mit Wärmebecken für
die Speisen, die aus der Küche hereingebracht wurden. Hier waltete ein
Austeiler und Trancheur seines Amtes. Er verteilte die Speisen, zerlegte
die Braten, und seine bekränzten Jünglinge reichten die guten Dinge den
Gästen dar. Während des Mahles saßen die Gäste gewöhnlich auf Schemeln
oder dreifüßigen Stühlen, nach der Mahlzeit ließ man sich auf feinen,
weichen Ruhebetten nieder, reich verzierten Möbelstücken, mit kostbaren
Decken oder Fellen wilder Tiere behangen. Im Vorzimmer hielt man
gewöhnlich für jeden Gast ein Waschbecken aus edlem Metall und kostbare,
wohlriechende Salben bereit. Das Handtuch jedoch mußte jeder Gast sich
selber mitbringen. Die Alten hielten viel auf Hygiene und verzichteten auf
die Gütergemeinschaft von Handtüchern und Servietten.

Wenn alle diese Vorkehrungen getroffen waren, wurden die Lampen
angezündet, die ihr mäßiges Licht im Raume ausstrahlten. Im Kohlenbecken
auf dem Tripod glühte bald der Weihrauch oder andere wohlriechende Dinge,
deren feiner Geruch sich mit dem Duft der Blumen vermengte. Alsdann gingen
die Diener des Hausherrn und holten die Geladenen feierlichst ab. Dann
erschienen sie, die würdigen, fröhlichen Gäste, festlich geschmückt,
Haupthaar und Bart mit wohlriechendem Öl gesalbt, leicht gekleidet in
einfachen weißen oder zartbunten Gewändern, und die Häupter zierten
Blumen-, Weinlaub oder Lorbeerkränze. Herzlich wurden sie von dem
lächelnden ~Symposiarch~ an der Schwelle des Hauses empfangen. Darauf
sprangen Sklaven heran, die den Gästen die Sandalen lösten, die Füße
wuschen und dieselben mit feinen Spezereien salbten. Nun begann die
Tätigkeit des Haushofmeisters. Lachend und scherzend begab man sich zur
Tafel; auf ein Zeichen des Haushofmeisters brachten die bekränzten Kellner
das feine, Appetit erregende Horsd'œuvre und setzten es, über den
Tisch hinüberreichend, vor die Gäste nieder. Inzwischen war auch der
Trinkmeister geschäftig. Mit seinem silbernen Schöpfkrüglein tauchte
er in die Tiefe des Kraters und füllte die bereitstehenden ~Poculae~
mit kühlem Wein, den seine hochgeschürzten Weinkellner darauf lächelnd
kredenzten. Und feierlich erhoben sich nun alle Gäste und stießen auf das
Wohl des obersten Gottes Zeus Soter oder der Göttin der Gesundheit Hygieia
an.

So verlief das Mahl. Man gedachte der abwesenden Freunde und Frauen und
trank auf ihr Wohl. -- Nein, gnädiges Fräulein. -- Die strengen Griechen
gestatteten ihren Damen nicht, an Festmählern teilzunehmen, waren aber
rücksichtsvoll genug, sich ihrer Gattinnen und Töchter zu erinnern. Die
Römer jedoch schienen Damengesellschaft mehr zu schätzen. Man saß nach
unserer heutigen Sitte paarweise zusammen; die Frauen nahmen an allem,
was die Männer taten, teil. Das eigentliche Essen war gewöhnlich bald
vorüber. Unsere unzähligen Gänge kannte man nicht. Man begnügte sich
mit Fisch, Braten, Gemüsen; der Nachtisch, süße Speisen und Früchte,
bildete den Schluß. Nach jedem Gang wurde der Marmortisch gründlich
gereinigt und den Gästen frisches Waschwasser in den Becken gereicht.

Bestand die Tischgesellschaft nur aus Männern, so wurden oft ernste und
philosophische Gespräche geführt. Man besprach Ereignisse, öffentliche
Angelegenheiten, die Reden der großen Männer. Waren solche Koryphäen
selbst anwesend, so suchte man ihre Gesellschaft, lauschte ihren
Worten, vertiefte sich oft in ernste, wissenschaftliche Gespräche. In
Männergesellschaft geht's natürlich oft auch übermütig zu. Da sprühte
Geist und Witz, man uzte sich und zog sich auf, und die Hallen erschollen
vom fröhlichen, gesunden Lachen der lustigen Menschen. Ein beliebter
Scherz war, einem Freunde auf das Wohl einer abwesenden heimlichen Freundin
zuzutrinken. Der Betreffende mußte alsdann so oft seinen Becher leeren,
als ihr oder sein Name Buchstaben enthielt. Oft auch erhob sich ein
fröhlicher Zecher und sang mit dem blumenumwundenen Pokale in der Hand ein
Tischlied, das ~Skolion~, welches, je nach seiner Art heiter oder ernst,
den Beifall der Zuhörer erntete. Zum Schluß des Mahles wurde meistens
die letzte gemeinsame Runde den freundlichen Schutzgeistern des gastlichen
Hauses dargebracht. Alsdann nahm man auf den Ruhebetten Platz, und es
strömte eine Schar von Sängerinnen und Flötenspielern herein, die
Gäste mit ihrer Kunst zu erheitern. An Tänzerinnen, Lustigmachern und
Possenreißern fehlte es auch nicht. Diese Leute wurden alle reichlich
bewirtet, und ganz wie heute, je mehr sie dem Weine zusprachen, um so
leidenschaftlicher und heißer übten sie ihre Kunst aus. Verlockend
klangen dann die Flöten, begeistert die Gesänge, und die Mänade raste
verzückt um das schweigende Marmorbild des Dionysos, während sich von
ihren heißen Lippen der ekstasische Schrei »~Evoe! Evoe!~« rang. --
Oft erhoben sich auch die Gäste und spielten mit. Sie forderten ihre
bekränzten Kellnerjünglinge gleichfalls auf, ihnen in dem bacchantischen
Zuge zu folgen, und alle vereinigten sich zum wilden Tanze, wo sie im
begeisterten Ausbruch von irdischer Freude den Saal, die Gärten, vorbei
an plätschernden Brunnen, die stille Nacht und die Säulengänge des
Peristils durchtobten und sich dem berauschenden, flammenden Feuer ihres
Freudedurstes ergaben. Alle stimmten sie ein in den Lobgesang auf die
Schönheit, und höchstens die alten und besonnenen Philosophen schauten
innig lächelnd dem wilden Treiben zu. -- -- So endete das Fest, und
beladen mit Andenken und wertvollen Geschenken nahmen die glücklichen
Gäste vom ~Symposiarch~ Abschied.

Sie sehen, meine Herrschaften, ich vermochte Ihnen nichts Neues zu sagen.
Was ich erzählt habe, sind altbekannte Tatsachen. Die antike Lebensfreude
bleibt unerklärt und unerklärlich. Und was die geräuschvolle Prozession
durch die Säulenhallen anbelangt, so hält uns unser angeborenes
Anstandsgefühl und die Herrin des Hauses oder die Polizei von derlei
Geschmacklosigkeiten ab.

Mit dem leidigen Verfall der Antike, der wachsenden Macht und Ausdehnung
des Christentums und den Bewegungen der barbarischen Völker artete die
besagte heidnische Freude der Gastmähler langsam aus, nahm immer mehr und
mehr ab und starb schließlich gänzlich. Obgleich die Kirche niemals eine
Feindin des Weines war und ihren Gläubigen nie ausdrücklich den Genuß
des Weines verbot, so ist es doch ihrem direkten Einflüsse zuzuschreiben,
daß die Freude des Altertums wich. Daraus geht ganz deutlich hervor, daß
diese rätselhafte Freude nicht eigentlich im Weine enthalten ist.
Noch lange hielten die ersten Christen an vielen heidnischen Sitten und
Gebräuchen fest, aber allmählich versanken sie in die Dunkelheit
der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung, von denen kein schönes
Streifchen Licht auf unsere Tage gefallen ist. Wie sich die Alten mit der
Lebensfreude befaßten, so befaßten sich die Christen mit der Todesfreude.
Man hatte gelernt zu sterben, aber zu leben verlernt. Und wenn man
verlernt zu leben, so verlernt man auch zu essen. So wissen wir gar nichts
Nennenswertes von den Sitten und Tafelgebräuchen der Völker des vierten
bis achten Jahrhunderts. Wir haben auch nicht viel verloren. Man kann
sich leicht denken, daß die Gelage, wenn es solche gab, nichts als große
Fressereien waren. Eine Miniatur, das einzig existierende Dokument, stellt
anschaulich dar, daß man im neunten und zehnten Jahrhundert in Paris die
Notwendigkeit eines Tisches bei einem Mahl erkannt hatte. Wir sehen auf
dem Bildchen eine Tafelgesellschaft auf klobigen Schemeln an einem runden
Tische sitzen. Die Runde ernährt sich redlich aus einer gemeinsamen
Schüssel in der Mitte. Tücher und Teller gibt es nicht. Man hält den
Braten mit den Fingern auf einem großen Stück Brot und bearbeitet die
Masse mit einem dolchartigen Instrument. Statt der Blumen liegen abgenagte
Knochen allenthalben umher. Hinter den Schmausern stehen Weinkrüge auf dem
Boden, deren Umfang auf einen respektablen Durst schließen läßt.

Erst auf den Bildern aus dem dreizehnten Jahrhundert kann man eine Wendung
zum Bessern entdecken. Das Tischtuch erscheint. Und erst gegen Ende des
vierzehnten Jahrhunderts scheint man sich Etikette und menschenwürdige
Tafelsitten angewöhnt zu haben. Aber selbst auf Bildern aus viel
späteren Perioden, namentlich auf den Werken der frühen deutschen und
niederländischen Meister kann man Gastmahlsszenen betrachten, die, wenn
sie nicht übertrieben sind, wahre Orgien von Fraß und Völlerei gewesen
sein müssen. Die Chronisten und Geschichtschreiber des Mittelalters hatten
anscheinend großen Respekt vor derartigen Funktionen und berichteten viel
in ihrer langweiligen Weise von den Festessen und Mählern ihrer Tage.
Öffentliche Schmäuse wurden viel und bei jeder kleinen Gelegenheit
abgehalten. Die Hallen der Burgen oder der Rathäuser waren meistens die
Stätte eines Banketts. An Ermangelung genügend großer und passender
Lokalitäten nahm man aber auch gerne mit der Wiese und dem freien Himmel
vorlieb. Man pflegte auf Bänken an den Tischen zu sitzen. Daher der
Name »Bankett«. Bei einem ritterlichen Bankett saßen die Herren und
Ehrengäste an einer erhöhten Tafel unter dem Baldachin. Die Tische waren
hölzern, lang und schmal, und wie im Altertum war eine Seite für die
Bedienung frei. Die Germanen gestatteten ihren Frauen zwar, an den Banketts
teilzunehmen; die Frauen mußten sich aber an separaten Tischen abfüttern
lassen. In den romanischen Ländern dagegen saß man paarweise in Eintracht
zusammen.

Mit der Entwicklung der Künste und des Handwerks im Mittelalter nahm auch
das Tafelgerät an Schönheit und Vollkommenheit zu. Die Speisesäle
wurden nun mit kunstvollen Gestellen, prächtig gearbeiteten Schränken und
niedlich geschnitzten Anrichtetischen ausgestattet. Kostbares Silberzeug,
blanke Silber- oder Zinnteller, feine Gläser und irdene Geschirre
zierten die Tafeln der Reichen. Die Festhallen wurden reich mit Fahnen und
Girlanden dekoriert, die Tische sinnvoll mit Blumen geschmückt. Die feinen
linnenen Tischtücher wurden meistens so gefaltet, daß man sie, wenn sie
beschmutzt waren, umschlagen konnte. Bei besonders großen Festessen
traten zwischen den einzelnen Gängen fahrende Sänger und Schauspieler,
Possenreißer, Hanswurste, Akrobaten, Bänkelsänger und andere Klageweiber
der Fröhlichkeit auf, damit die Esserei möglichst lange währe. Oft
wurden ganze Theaterstücke zwischen den einzelnen Gängen gespielt. Da
es meistens viele solcher Gänge gab, dehnten sich diese Prunkschmäuse
entsetzlich aus und kosteten viel Geld.

Bei den großen Staatsbanketts, wo alle Fürstlichkeiten zusammenkamen,
mußten gewöhnlich die Edelleute des Landes eigenhändig »des Kaisers
heilige Macht« bedienen. Oft wurden die schweren Schüsseln von einem
Edlen zu Pferde, begleitet von dem Geräusch der Hörner und Pauken, in
den Saal getragen, und der tapfere Ritter präsentierte sie kniend dem
Landesherrn. Die Ämter eines Mundschenks, Truchsesses usw. waren eine
besondere Ehre, welche die Majestät nur seinen Günstlingen verlieh,
und der Titel war gewöhnlich erblich. -- Nachdem die guten Gaben so
präsentiert waren und das Wohlgefallen des Gewaltigen erregt hatten,
waltete der Vorschneider seines Amtes, zerlegte die Stücke kunstgerecht
und ließ sie auf den Tisch stellen, damit sich jedermann nach Herzenslust
bedienen konnte. Die Getränke waren wohlweislich unter der Oberaufsicht
des fürstlichen Mundschenks. Der Haushofmeister, welcher die Bedienung von
den Seitentischen aus leitete, war die Seele des Ganzen.

Die Schauessen und Banketts des Mittelalters haben mehr oder weniger alle
das Gepräge einer großen Fresserei. Man gab weniger um die Qualität der
Speisen als um die Hauptsache: daß man genug davon hatte. Daß bei
solchen Gelegenheiten Trunkenheit und Roheit oft überhand nahm, ist
selbstverständlich. Namentlich die Deutschen, die Engländer und die
Niederländer haben Großes in der Vertilgung von kolossalen Mengen von
Speisen und Getränken geleistet. Aber selbst die großen Ästhetiker der
italienischen Renaissance scheinen keine hervorragenden Künstler der Tafel
gewesen zu sein. Erst im siebzehnten Jahrhundert begann man in Paris mit
der wachsenden Kultur auch an die Verfeinerung der Küche, des Essens und
der Tafelsitten zu denken. Es war die Renaissance der Kochkunst. Und
aus dieser großen Bewegung entstand die große klassische französische
Küche, deren wir uns heute noch erfreuen, eine Kunst, vom praktischen
Standpunkt aus vielleicht die wichtigste der Menschen, vom ästhetischen
aus, würdig, den neun Musen beigefügt zu werden. --

Zur gleichen Zeit entstanden in Paris als das Zentrum der damaligen Welt
schöne, große Gasthöfe, die »Hotels« genannt wurden. Es ist der
zögernde Anfang der modernen Hotelindustrie, denn die öffentlichen
Gasthäuser im Mittelalter waren durchweg und überall sehr schlecht. Seit
dem grauen Altertum hatte man gar keine Fortschritte darin gemacht, ja,
man war zurückgegangen. Die bedauernswerten Reisenden waren auf die
Gastlichkeit ihrer Freunde in den Städten angewiesen oder hielten in
den Klöstern Einkehr. Die Klosterbrüder waren jahrhundertelang die
beliebtesten Gastwirte. Das Kloster von St. Gallen hatte bereits
im neunten Jahrhundert ein berühmtes öffentliches Gasthaus. Das
französische »Hotel« wurde bald nach seinem Erscheinen in London
erfolgreich nachgeahmt, und einige Gasthöfe dort gelangten zu großer
Berühmtheit. In Deutschland fanden Unterkunftsstätten für Reisende
nach französischem Muster erst viel später Eingang. In der Ära der
Postkutsche ist das Hotel aber noch immer ein sehr mäßiger, bescheidener
Betrieb. Das Dampfroß jedoch brachte einen gewaltigen Umschwung. Trotzdem
hat sich der Kleinbetrieb des Hotels aber bis in unsere Tage hinein
erhalten, und das ganz moderne Riesenhotel ist ein charakteristisches Kind
der jüngsten Jahre, einer entschieden neuen Zeit, und hat das Licht der
Welt in einem neuen Lande, in Amerika, erblickt.

Also auch etwas über die technische Entwicklung der Kochkunst soll
ich sagen! -- Mit größtem Vergnügen, gnädige Frau. -- Warum ich so
»teuflisch« lächle? -- Nun, ich finde es so tragikomisch, daß die
Frauen sich immer für dasjenige, wozu sie am wenigsten Geschick haben, am
meisten interessieren, oder besser, interessieren müssen. -- Nein, meine
verehrten Damen, zum Kochen haben die Frauen nun einmal absolut kein
Talent. -- Wie? Das Allerneueste? -- Bitte, das haben schon größere
Autoritäten lange vor mir gesagt, und ich schließe mich ihnen nur ganz
bescheiden an. Ja, ja, die bitterböse Wahrheit läßt sich nun einmal
nicht ändern. Die meisten Frauen haben dies in ihrem geheimsten Herzen
ganz schrecklich empfunden und wollen es nicht eingestehen. Und wie haben
die armen Ehemänner erst gelitten! In ihren Mägen natürlich. Aber eigene
Magenschmerzen sind grimmiger als fremde Herzensqualen. Daher die kalte
Brutalität des männlichen Geschlechts. Ich will gar nicht versuchen, der
schrecklichen Wahrheit auf den Grund zu gehen oder sie umzustürzen, es ist
aussichtslos. Sie ist ohne Hoffnung wahr. Und so müssen wir sie hinnehmen.
-- An Ungeheuerlichkeit kommt diese Tatsache nur der alten Sphinx gleich.
Und ein Rätsel stellt sie uns auf, eines der härtesten unserer Zeit.
Gesundheit, Eheglück, Kindererziehung, Heim, alles hängt davon ab. Ich
zittere, eine Lösung für das Rätsel auszusprechen. Ich wage es nicht.
Ich kann Ihnen, meine Freunde, nur seine ganze Schrecklichkeit vor Augen
führen.

Die Urmenschen waren anfangs harmlose Vegetarier und ernährten sich von
rohen Wurzeln, Gewächsen, Früchten, Heuschrecken und wildem Honig.
Mit der wachsenden Intelligenz erkannten sie aber allmählich ihre
Überlegenheit über die anderen Tiere der Erde. Und wem die Menschen
überlegen sind, das schlagen sie tot und essen es auf. So auch schon die
Urmenschen, unsere ruppigen Vorväter. Sie lernten Waffen gebrauchen, Tiere
erlegen und das Fleisch derselben essen. Mit dem Gebrauche von Werkzeugen
büßten sie aber viel von ihrer ursprünglichen animalischen Kraft ein,
sie verfeinerten sich, und es wuchs somit das Bedürfnis für zubereitete
Speisen und zuträglichere Nahrung denn die rohen Produkte der Erde. Und
aus dem Höhlenbewohner, der das blutende Fleisch des Jagdtieres auf einen
Stecken spießte und über der Flamme röstete, entwickelte sich langsam,
entsetzlich langsam im Laufe der Jahrtausende der moderne, vollendete
Kochkünstler, ein praktischer Physiker, ein dichterischer, träumender
Chemiker, ein Saucen- und Suppenästhetiker. Eine Vollendung und
Reichhaltigkeit von Genüssen, wie sie dem modernen Gourmet zur Verfügung
stehen, ist nach unseren Begriffen nicht mehr zu überbieten, selbst
nicht, wenn neue Pflanzen, Gewächse, Früchte und sonstige Nahrungsmittel
entstehen, wie Luther Burbank, der kalifornische Zauberer oder
Naturpfuscher -- wie man will und es auffaßt -- deren viele dem Schoße
der Erde entlockt. Es ist ein allgemeiner Gedanke, daß unsere Nachkommen
künftiger Jahrtausende, um dem Entwicklungsprozesse gerecht zu werden,
ausschließlich chemische Präparate und kondensierte Kraftmittel in ganz
geringen Dosen zu sich nehmen werden. Dann müßte freilich eine gänzliche
Veränderung der menschlichen Verdauungsorgane stattfinden, was ja nicht
ausgeschlossen und sogar wahrscheinlich ist. Seit dem Urzustande bis auf
unsere Zeit ist eine solche Veränderung bereits sichtlich eingetreten.
Denn unsere heutigen Mägen würden sich mit der Kost unserer Urvorväter
keine Woche lang einverstanden erklären und sehr bald dagegen rebellieren.
Vorläufig gebe ich mich aber noch gerne mit der althergebrachten,
substanziellen Füllung meines Magens zufrieden.

Die Stellung der Kochkunst zu den schönen Künsten ist, wie ich schon
erwähnte, eine ganz eigenartige. Kein menschliches Können, das auf den
Namen »Kunst« Anspruch erhebt, steht den neun Musen so nahe, wie die
nicht offizielle zehnte, die Beschützerin der brodelnden Töpfe. Der
greifbare Unterschied zwischen den schönen Künsten und der Kochkunst ist
die Materie, der Stoff und die Art und Weise des Genusses. Sie dienen vor
allem der Ernährung des geistigen oder leiblichen Menschen. Und je
mehr diese Nahrungsmittel der Seele und des Körpers verfeinert und
vervollkommnet werden, um so mehr steigert sich auch die Empfänglichkeit
und Genußfähigkeit des Genießenden und sein Verlangen nach Genuß. In
schierer Unersättlichkeit sucht er die gegebenen Mittel und Rohmaterialien
seinen Bedürfnissen gemäß herzurichten, er gräbt und grübelt, neue
Mittel, neue Wege zu entdecken. So entstehen Dionysos-Dithyramben und
~Suprême de volaille truffée~. Ob leere Worte, plumpe Marmorklötze,
giftige Farben, schreiende, brummende, zischende, flötende Töne oder die
jungen, köstlichen Körper der Geschöpfe aus dem Pflanzen- und Tierreich
zu Genußmitteln verarbeitet werden, bleibt sich im Grunde doch gleich.

Sobald der eigentliche Zweck dieser Naturgaben, nämlich der der
Ernährung, von Menschen, die nicht Maß noch Ziel halten können,
mißbraucht wird, so tritt ganz automatisch die Strafe der Natur in der
Form einer Rückwirkung ein. Der unersättliche Kunstschlemmer, wenn er
nicht gerade wahnsinnig wird, wird übersättigt, sein feines Gemüt wird
abgestumpft gegen das süße Walten der schönen Dinge, die ihm früher
Genuß und Glück bereiteten. Sie ekeln ihn an: er schmäht sie in höchst
undankbarer Weise. Er bedenkt nicht, daß sie gar nichts von ihren schönen
Qualitäten verloren haben und daß er der Schuldige ist. Er muß sich
eine Weile lang von ihnen entfernen, er muß hungern, um ihre Güte
wiederzuerkennen und seine frühere Genußfähigkeit zurückzugewinnen.
Den kulinarischen Schlemmer ereilt das gleiche Schicksal in der Gestalt
von Appetitlosigkeit, Dyspepsie oder Indigestion, wenn nicht gar schlimmere
Komplikationen eintreten. -- Für alle Exzesse gibt es eine Vergeltung.
Die Natur beschützt sich mit bewundernswerter Präzision. Nichts ist
schädlicher als eine Reihe von schönen Tagen. Man befrage Goethe. Nichts
ist schädlicher als ein beständiges Genießen von Kunstwerken. Man
sehe sich einen Museumwärter an. Ich könnte mir wirklich nichts
Schrecklicheres vorstellen als eine »ewige Seligkeit«. Das müßten wahre
Höllenqualen sein, es sei denn, daß wir uns nach unserem leiblichen
Tode sehr verändern. Nichts ist schädlicher für den Körper als eine
beständige Ernährung desselben mit den allerfeinsten Mitteln. Man besehe
sich die Tafel unserer Kochkünstler, und man wird staunen, wie
einfach diese weisen Männer leben, die doch eigentlich immer wie im
Schlaraffenlande schwelgen könnten.

Die schönen Künste machen nicht den Frieden und den Wohlstand, sondern
diese lassen jene aufblühen. Genau so ist's mit der Kochkunst. Und um nur
von der Kochkunst zu sprechen, muß man als Nichtfranzose neidlos gestehen,
daß Frankreich seit einigen Jahrhunderten das Licht der Nationen ist. Das
moderne Paris hat die Stellung des antiken Roms geerbt. Natürlich sind
die anderen Nationen als fortschrittliche Menschen dem leuchtenden
französischen Vorbilde alle mehr oder weniger gefolgt. Jedoch sind sie
in bezug auf Essen und Trinken und Zubereitung von Speisen eben doch nur
zivilisierte Barbaren oder, um den Kunstausdruck zu gebrauchen, da von
Kunst fortwährend die Rede ist, -- sie sind Kopisten.

Gewiß, Herr Doktor, ich verstehe Sie sehr wohl. Die Kopie eines Kunstwerks
kann unter Umständen in künstlerischer Hinsicht ebenso gut, ja selbst
noch besser sein als wie das Original. Ein französisches Menü von einem
deutschen Chef ist oft eine sehr achtenswerte Leistung. Aber dennoch! --
Sie, Herr Doktor, als Kunstkritiker wissen ganz genau: es sind doch nur
_die_ Menschen gute Kopisten, die nichts aus sich selber leisten können.
Seit vielen Jahrzehnten hat Deutschland versucht, gewisse französische
Lebensweisen nachzuahmen, und sie sind in mancher Hinsicht ausgezeichnet
gelungen, ja, die Originale übertroffen worden. Ein Kopist aber, der
selber etwas zu sagen hat und etwas in sich fühlt, ist ein schlechter
Kopist. Lenbach kopierte die Lateiner der Renaissance. Was war die Frucht
dieser Arbeit? -- Es entstanden Giorgione plus Lenbach, Titian plus
Lenbach, Velasquez plus Lenbach usw. An Dürers italienischen Studien
ist dasselbe Resultat zu bemerken. Werke, die Goethe aus fremden Sprachen
übersetzte, wurden sein geistiges Eigentum. -- Da Deutschland und die
anderen Nationen jämmerlich wenig Kraft in sich fühlen, eine eigene
Kochkunst zu schaffen, so ahmen sie die französische Schule sehr
erfolgreich nach. Sie sind aber nicht imstande, ihren Produkten auch nur
einen Hauch von beachtenswerter Individualität mitzuteilen. Kochen können
ist ein Talent, meine Damen, wie jede schöne Kunst ein Talent ist. Es ist
etwas in der Kochkunst, das sich nicht erlernen läßt. Es muß im Menschen
stecken. Frankreich, die Nation als ein Individuum, ein Mitglied der
kaukasischen Familie gesehen, besitzt das eigenartige, appetitliche
Talent zum Kochen wie das dunkle Schicksal den Sprößling einer biederen
Bauernfamilie zum gottvollen Musiker macht, während seine ganze Sippe
hoffnungslos und bewundernd zuschauen muß. -- Die Französinnen? Nein, das
ist das Eigenartigste an dem eigenartigen Talent der Kochkunst: es meidet
das gesamte weibliche Geschlecht. Maskulinische Kraft und Phantasieflug
sind erforderlich, um schöpferisch zwischen Kasserollen und Pfannen tätig
zu sein. Nicht etwa, weil es dem weiblichen Geschlecht an physischer Kraft
gebricht, sondern weil einfach das Talent nicht vorhanden ist. Dieser
Umstand drängt die Kochkunst in die vorderste Reihe der Künste.

Ja, ja, ich lache wieder, meine Damen. Aber nicht, weil ich Sie so
entsetzlich erzürnt habe und Gefahr laufe, Ihre reizende Gesellschaft
um meiner Kühnheit willen einzubüßen, sondern ich lache über den
sonderbaren Empfang, der der Wahrheit immer und überall bevorsteht. --
Friedrich Nietzsche hätte sich seine ungalante, geschmacklose Demütigung
der germanischen Hausfrau als eine Überflüssigkeit und Ungerechtigkeit
ersparen können. Aber wer kann's dem armen Magenkranken verdenken, daß er
gegen die Küche wettert, an welche die rüstigen Germanenmägen gewöhnt
sind. -- Die deutsche Frau wird nach einigem Zögern und Erröten
eingestehen, daß sie sich niemals Kopfschmerzen über die richtige
physiologische Zusammenstellung einer Mahlzeit macht, daß der Eiweiß-
oder Fettgehalt einer Ware sie nicht stört, daß Kohlehydrate ihr völlig
fremd sind. Das Wort schon! Ist es nicht geradezu haarsträubend in
Verbindung mit Essenswaren? -- Darum sollten Sie, meine Damen, nicht
zürnen. Es ist nicht besonders schmerzhaft für einen Menschen, zu hören,
daß er kein Talent für einen Beruf hat, den er sich nicht einmal selbst
gewählt, sondern wohinein ihn die Macht der Umstände gezwungen hat. --
Nicht wahr? -- Na also! -- -- Aber? -- Was aber? -- Wer denn in Zukunft
kochen soll? -- Wir werden sehen.

Die Kochkunst, weil sie ein eigenes Talent ist, wird daher -- wie immer --
von dem, der es nicht besitzt, überschätzt. Frankreich wüßte kaum, daß
seine Söhne Künstler am Herde seien, wenn es nicht die anderen Nationen
fortwährend zugestehen und bei ihm in die Lehre gehen müßten. Es ist ein
Irrtum, anzunehmen, daß das Wertvolle in der französischen Kultur
durch das französische Talent zum Kochen bedingt oder auch nur besonders
beeinflußt worden sei. Ein feiner Mensch sorgt selbstverständlich auch
für die Verfeinerung und Pflege des Sinnes, der im Gaumen steckt. Doch
kommt dieses Streben erst an zweiter Stelle. Der verführerische, sich
leicht aufdrängende Gedanke, daß eine primitive Küche notwendigerweise
ein Volk verdummen oder auf einer geistig primitiven Stufe erhalten müsse,
ist grundfalsch. Ebenso der Glaube, daß eine hochentwickelte Kochkunst das
geistige Leben der Nation besonders fördere. Ich glaube überhaupt nicht,
daß die Ernährung des Körpers resp. die Wahl der Speisen viel oder auch
nur etwas mit der Entwicklung der Seele zu tun hat. Das alte Sprichwort von
der gesunden Seele im gesunden Körper ist nicht zutreffend. Denn wäre
das der Fall, so müßten ja alle Reichen, alle Feinschmecker ausnahmslos
große feine Geister sein oder geistig hochbegabte Kinder haben.
Die größten Feinschmecker aber waren nie die feinsten Geister. Hat
Brillat-Savarin außer seiner Physiologie des Geschmacks nicht auch
Dichtwerke geschrieben? -- Als Dichter ist er tot, als Feinschmecker
wird er noch für klassisch gehalten. Die größten Denker, Dichter und
Künstler sind bisher fast ohne Ausnahme aus bürgerlichen, kleinen, oft
sogar sehr armen Verhältnissen hervorgegangen, wo das tägliche Menü
keine prunkende Reihe von auserlesenen Leckerbissen aufwies. Die bitterste
Armut ist ja bekanntlich sogar das Privilegium des Genies. Reichtum und
Genie hassen sich. Auch kann ich mich keines großen Mannes erinnern, der
ein traditioneller »Feinschmecker« war. Der ehemals viel verschriene
Epikuros, der Mann mit der Lehre, aus dem Leben nur das Allerbeste zu
schöpfen, war einer der bescheidensten und anscheinend anspruchslosesten
Menschen, die je gelebt haben. Er gab sich mit seinem Gärtchen, ein paar
Freunden, ein paar Feigen und einem Stück Ziegenkäse gern zufrieden.

Der eigentliche Feinschmecker, der Gourmet »~par excellence~«, ist daher
der andächtige Mensch, dem eine einfache gute Mahlzeit mit gutem Hunger
eine Art Dankgottesdienst für ein schönes Leben, gute Gesundheit und
herrliche Naturgaben ist. Darum kann jeder Arbeitsmann ein Gourmet werden.
Eine bemerkenswerte Ironie des Schicksals ist auch, daß Feldherrn wie
Lukullus, Soubise und andere, die auf dem Felde der Ehre nicht viel Glück
hatten, und Männer wie Colbert, erfolglose Staatsmänner, gefeierte
Tagesgrößen und Generale namentlich aus der Periode Louis XIV. und XV.,
sich zu Lebzeiten viel mit der Küche beschäftigten und Küchenklassiker
wurden. Während diese Menschen und ihre Taten schon lange tot sind, hat
ihr Hang nach gutem Essen sie vor Obskurität gerettet, und ihr Name lebt
mit den von ihnen erfundenen und nach ihnen benannten Gerichten wörtlich
»im Munde« von jedermann weiter.

Die Kochkunst ist, wie gesagt, ein Talent. Und für jedes Talent, das
wir besitzen, müssen wir bekanntlich ein anderes entbehren. Eine gewisse
außerordentliche Fähigkeit fördert selten eine andere. Gutes Essen ist
zunächst Nahrung, feines Essen meistens Luxus. Luxus wirkt vornehmlich
auf das Sinnenleben und dann erst als solches auf das Seelenleben. Hohe
geistige Kultur verlangt natürlicherweise auch gute Küche. Das gewisse
Etwas in der Kunst, in der Literatur, in der geistigen Tätigkeit, ja
im ganzen nationalen Leben des gallischen Volkes, welches man gerne als
typisch französisch bezeichnet und um das diese Nation mit Recht
oder Unrecht beneidet wird, ist nicht im Einfluß der verfeinerten
französischen Küche zu finden. Das wäre ein geringes Verdienst. Nein,
die außerordentlichen kulturellen Verdienste Frankreichs sind nur im
Geiste des Volkes zu suchen, und die französische Art, zu kochen und zu
essen, ist nur ein Teil, eine Folge dieser Verdienste und erhöht sie nur,
bedingt sie aber nicht.

~Anima sana in corpore sano~ ist ein vages Wort. Wie sonderbar es doch ist,
daß körperliche Leiden die Seele meist verfeinern, sie empfindsamer und
duldsamer machen. Ein körperlich und seelisch völlig gesunder Mensch
-- den es tatsächlich nicht gibt -- ist nichts mehr als eine großartige
Bestie in seinen Empfindungen, d. h. nach unsern heutigen, durch das
Christentum bestimmten Ansichten. --

Der Triumph der Pflanze ist die Blüte. Die Blütezeit ist ihr
Sinnenrausch. Dann duftet sie sich aus in Glück und Daseinsfreude. Es gibt
Insekten, deren höchster und schönster Lebensaugenblick der Sinnenrausch
ihrer Liebesszenen ist. Nach diesem Taumel müssen sie zugrunde gehen und
Platz machen für andere Generationen. Wenn Nationen nun ihre Blütezeit,
ihre inspirierte Epoche erreicht haben, müssen sie langsam absterben. Dies
kann im Leben einer Nation natürlich jahrhundertelang währen. Die ganz
feine Kochkunst fördert gewiß den Sinnenrausch der Menschen. Sie tut fast
nichts als dies. Es ist ihr Beruf. Zaghafte Menschen und Moralisten werden
daher in dem auserlesenen Essen und im Luxus überhaupt, ja sogar in der
»Lebensfreude« den zeitigen oder unzeitigen Ruin ihrer Nation erblicken.
Sehr richtig. Nur nicht richtig in ihrer Auffassung. -- Es fragt sich, was
ein Ruin ist. Das Erdgeborene muß wachsen. Je schöner, um so besser.
Wenn es eine gewisse Höhe erreicht hat und nicht mehr weiter kann, muß es
niedergehen. Es kann nicht stille stehen. --

So, sehen Sie, meine Freunde, haben sich die Zeiten verändert. Dem müden
Wanderer öffnet sich keine Haustüre mehr, kein freundlicher Hausvater
begrüßt ihn mehr. Die Pferde der Postkutsche scharren nicht mehr
ungeduldig vor dem Tor des kleinen Gasthofes an der einsamen Landstraße.
Kein Postillion stößt mehr lustig in sein Horn, keine Peitsche knallt
mehr. Kein rundes Wirtlein mit Schürze und Käppchen tritt mehr hastig
an den verstaubten Wagenschlag heran, die hohen Fremden ehrerbietigst zu
empfangen. Endlose Reihen von Equipagen und Lakaien mit roten Gesichtern,
gepudertem Haar und sehr traurigen Augen, Hunderte von rauchenden und
fauchenden Automobilen mit zottigen, protzigen, brutalen Chauffeuren halten
nun an den Portalen der Paläste, welche den müden Wanderer beherbergen.
Groß sind die Paläste, riesengroß. Fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig,
fünfundzwanzig und dreißig Stockwerke hoch. Raum haben sie reichlich für
Tausende von müden Wanderern. Ihr Inneres glänzt von Lichtern, die sich
in Marmor und Golde widerspiegeln. Palmen zieren die hohen Hallen, Teppiche
aus dem Morgenlande dämpfen die Schritte. Blumen und feine Parfüms
versüßen die Luft, schmeichelnde Musik mischt sich dazwischen. Und
ein buntes Gemisch von feinen Menschen schlängelt sich umher, lachend,
scherzend, schwatzend und tänzelnd. Alle Nischen und Bögen hallen wider
vom Geschwirr der feinen Stimmen, vom Schall des fröhlichen Gelächters.
Wie sie schauen, wie sie grüßen! -- Jeder Herr ist ein König, jede Frau
die schönste Prinzessin im ganzen Lande. Perlen und Rosen winden sich
durch die duftigen Haare; kostbare, edle Steine funkeln in wollüstiger
Freude, daß sie an den herrlichen, weißen, warmen Busen ruhen dürfen.
Seidene Gewänder rascheln und knistern, während die göttlichen
Körper, die sie umschlingen, sich im Takte der sanften Töne wiegen. Die
wundervollsten Augen lachen. Sie glänzen und flimmern und kennen nichts
vom Leide der Erde. Wenigstens zeigen sie's nicht. Perlene Zähne schimmern
in opalenem Glanze unter den Purpurlippen hervor, wenn sich der weiche,
süße Mund lächelnd öffnet, ein schelmisches Wort zu flüstern.
Scharfäugige Detektive bewachen die Menge, verfolgen die Bewegungen jedes
einzelnen, der nichts ahnend sich in den großen, bunten Strudel stürzt
und fröhlich oder nervös darin herumschwimmt.

Diener und Lakaien stehen umher, regungslos mit starren Gesichtern, in
glänzenden Uniformen, auf den Herrn oder die Herrin wartend. Boten und
Läufer rennen hin und her, Beamte geben Befehle. Geschäftige Scharen von
jungen Menschen bringen die köstlichsten Speisen, die saftigsten Früchte,
die edelsten Weine. Und tief unter den prunkenden Sälen und Hallen sind
endlose labyrinthische Räume, gefüllt mit einer wimmelnden Menge von
Arbeitstieren, die für die lachenden, glücklichen Menschen über ihren
Häuptern schwitzen und umherrennen. Ein ohrenbetäubender Lärm erfüllt
die endlosen weißen Regionen. Tausend menschliche Stimmen, schreiend,
befehlend, rufend, schrilles Gerassel von silbernen Geschirren und hartes,
abgerissenes Klirren von porzellanen, irdenen und kristallenen Schüsseln,
dumpfes Dröhnen kupferner Kasserollen, Klappern eiserner Pfannen, Zischen
des Dampfes, Knistern und Sprühen und Prasseln der glühenden Herdfeuer,
das laute Kreischen der Braten, das Brodeln der Tiegel, das Surren der
elektrischen Motore, das Knirschen der Schneide- und Quetschmaschinen,
alles mischt sich zusammen zu einem nervenzerreißenden Getöse. Eine
rauschende Fabrik! Hier hantiert ein Regiment weißer Köche herum und
kämpft eine wilde Schlacht mit den kalten und heißen Elementen. Ruhig und
kühl steht inmitten all des Gewühls die schneeige Majestät des obersten
Chefs, ein Träger vieler Ehren und Sorgen. Und um ihn herum scharen sich
treu ergeben die Saucenästhetiker und Zuckerbildhauer. Ihn suchen die
bangen Augen der weißen, kampfbegierigen, schweißwischenden Männer mit
langen Messern und Dolchen ungeduldig der Befehle des Großen harrend. Die
Adjutanten rennen hin und her, brüllen die Kommandos durch das Toben
des Kampfes in die hinteren und niederen Regionen hinein, wo eine
schreckenerregende bewaffnete Schar von niederen Helfershelfern haust,
die die Befehle mit schauerlichem Gebrüll beantwortet und ausführt. Dort
hinten wimmelt es von wildblickenden Kurden, Lemuren und Unterteufeln,
schwarze, südliche, glutäugige, diabolische Gestalten sind es, von
unbestimmbarer Nationalität, feistnackig, schmerbäuchig, fetttriefend,
mit blutbefleckten Tatzen und stählernen Muskeln, erhitzt vom Feuer,
grausam vom Anblick des rohen Fleisches, lüstern vom beständigen
Blutgeruch. Dort hinten sind die großen, starren Regionen des Eises, die
großen Kühlkammern, gefüllt mit Fleisch und köstlichsten Früchten.
Dort können Sie alle Naturwunder Indiens, alle Spezereien Arabiens sehen.
Orangen und Grapefruit aus Florida, Pfirsiche aus Südafrika, Melonen aus
Mexiko, alle delikaten Produkte der westindischen Inseln, alle zarten,
jungen Gemüse von nah und fern, welche die Jahreszeit oder das Treibhaus
bietet. Alles liegt bereit und wartet auf unser Machtwort. Wie herrlich!
Wir sind die Herren der Welt! Welch gottvolle Rechte haben wir nicht!

Denken Sie sich nur, wie interessant, gnädiges Fräulein, da Sie soeben
noch Hummer ~à l'americaine~ gegessen haben! Vor einer halben Stunde kroch
Ihr Hummer noch behäbig zwischen seinen hundert Brüdern in der kühlen
Packung umher, hie und da einen anderen gutmütig mit den schweren Zangen
zwickend. Da kam Ihr Machtwort, gnädiges Fräulein, welches unser Kellner
dem Chef überbracht hatte. Mit kritischen Blicken wählte der Koch
zwischen den hartschaligen, trägen Bewohnern der Tiefsee und suchte ihnen
den lebendigsten aus! Denn unser freundlicher Kellner sagte, daß er für
Sie bestimmt sei. Das Opfer wurde erfaßt -- es sträubte sich energisch
und klapperte wütend mit dem starken Schwanze. Aber da hilft kein
Klappern: das unbarmherzige Schlachtmesser saust ein paarmal nieder, und
die noch lebenden, zuckenden Stücke des gevierteilten Hummers färben sich
langsam in der heißen, kreischenden, gewürzten Butter zu appetitlichem
Rot. Eine halbe Flasche aromatischen Wein dazu, zugedeckt und gar dämpfen
lassen, dann schnell serviert. -- Ihre blaue Forelle, Herr Doktor,
schnellte noch vor kurzer Zeit behende im Fischbassin umher und suchte
hastig und nervös den Maschen des Netzes zu entschlüpfen. Denn sie ahnte
die Absichten des Fischers und das grausige Schicksal, das schon so viele
ihrer flinken Schwestern weggeholt hatte. Aber da half kein Zappeln: sie
wurde erhascht, vorsichtig ausgenommen und behutsam, daß der natürliche
Schleim nicht abgewischt werde, in das dampfende, würzige Wasser gelegt.
-- Holländische Sauce oder einfach frische Butter dazu: Ah -- tip-top!

Morde werden dort begangen in den eisigen Regionen von den eisigen Herren
der Schöpfung, Morde, wobei uns das Wasser im Munde zusammenläuft,
wenn wir daran denken! -- Die liebliche Riesenschildkröte, deren
Liebenswürdigkeit ich meine herrliche Suppe verdanke, fristete noch vor
einigen Tagen ihr stupides, ganz überflüssiges, inhaltsloses Dasein.
Als sie sich einmal plötzlich an den Hinterbeinen erfaßt und aufgehängt
fühlte, entschied sie sich zögernd, den dummen Kopf aus den schützenden
Schalen herauszustrecken, um sich zu erkundigen, was denn eigentlich los
sei. Auf diesen Augenblick hatte der hinterlistige Chef gewartet. Sein
scharfer Säbel sauste, drang in den grauen, runzeligen Nacken des
Ungeheuers und trennte dort die festen Verbindungen, so daß zwischen Kopf
und Rumpf eine unnatürliche Entfernung entstand. Die langsame Schildkröte
hatte nicht einmal mehr Zeit, ihre Verwunderung oder ihr Entsetzen darüber
auszudrücken, denn durch die entstandenen Öffnungen entschlüpfte ihre
Seele schnell ins Unendliche.

Fest halten die lieblichen, weichherzigen Austern die Türe ihrer Gehäuse
zu, wenn sie merken, daß ein Einbrecher mit bösen Absichten und einem
starken Brecheisen draußen sich zu schaffen macht. Aber was hilft das?
Wir sind die Stärkeren. Und die winzig kleinen Krabben, die oft mit den
Austern in friedlicher Gütergemeinschaft zusammenwohnen, müssen dann
einen stummen Abschied von ihren schlüpfrigen Freundinnen nehmen, denn
auch sie sollen verspeist werden. Wehrlos strampeln sie noch einmal mit den
dünnen, schwachen Spinnenbeinchen, -- dann ist's aus. Den Menschen freut
nur ihr Widerstand und ihre Lebendigkeit. Sie erhöht seine Gier. -- Sehen
Sie dort die riesigen, protzigroten Langusten auf dem Büfett? Sie mußten
im siedenden Wasser ihr Leben lassen, entrüstet gegen den plötzlichen
Temperaturwechsel mit dem gewaltigen Schwanze protestierend, da sie nur an
das kühle, grüne, träumende Wasser des tiefen Meeres gewöhnt sind. Und
alle sterben sie uns zuliebe. Ist es nicht eine Wonne, dies anzusehen?!

So liegen tausend Leichen von lieben Feld-, Wald- und Wasserbewohnern
in den festen Eiskammern sorgfältig und säuberlich aufgespeichert und
warten, bis sie in die Krematorien der Bratöfen geworfen werden, wo sie
unter Wimmern, Schmurgeln und Zischen braten müssen. Wenn sie schön
knusprig und gar genug sind, bekleidet sie der sinnige Koch mit einer
lieblichen, raffinierten Sauce und legt zärtliche Gemüse an ihre Seite.
Schwarze Menschen stehen ungeduldig bereit, sie auf silbernen Schüsseln
stolz schnüffelnd in den glänzenden Saal zu tragen. Kritisch betrachtet
der große Oberbefehlshaber noch einmal die armen Tierchen, bevor sie
für immer verschwinden, und wenn sie seine Zufriedenheit erregen, gibt
er seinen Segen zu ihrem pompösen Leichenzug in den Speisesaal.
Se. Exzellenz der Herr Finanzminister selbst würde den Mund aufsperren,
nicht nur um die guten Dinge in Empfang zu nehmen, nein, auch schon,
wenn ihm zu Ohren käme, wieviel man dem großen, ruhigen Chef des
Küchendragonergeneralstabes für seinen Segen bezahlt. -- Dieser Segen
-- wie alle feierlichen Zeremonien -- ist meistens von sehr
charakteristischen, südlichen Gesten begleitet. Eine der beliebtesten ist,
die Spitzen der fünf Finger zusammenzudrücken, an die Lippen zu führen
und wieder zu entfernen, wobei die Finger lebhaft ausgespreizt und wieder
zusammengeführt werden. Bei ganz wichtigen Gelegenheiten treten beide
Hände in Aktion. -- --

Immer tiefer steigen wir, vorbei an den kühlen, imposanten Gewölben,
die viele Tausende von feurigen Flaschen und alte, ehrwürdige, bestaubte
Fässer vor Frevlerhänden beschützen. Und hinab führt unser Weg in die
Herzkammern des Riesenkörpers, in die Maschinenräume. Tobte in der Küche
ein höllischer Lärm, hier herrscht der Friede einer Kathedrale. Lautlos
drehen sich die großen Schwungräder und Riemscheiben um ihre Achsen,
angenehme Luft fächelnd. Unheimliche Riesenbäuche liegen dort, die
Öffnungen fest verschlossen, nur ein unterdrücktes Zischen, ein dumpfes
Zittern tief unten verrät die gewaltige Glut, die ihr Inneres birgt.
Schneckenhäuser von gewaltigem Umfang stehen dort, wovon armdicke Kabel
ausgehen und sich als die Nerven des Riesenkörpers bis in die kleinste
Spitze des Hauses verzweigen. Gleichmäßig, stumm arbeiten die
Ungeheuer, den Befehlen der Menschen gehorchend. Ab und zu sprüht ein
bleichbläulicher Funke knisternd aus dem Innern hervor. Er will sich vom
Zwange der Menschen befreien und Zeugnis geben von der rätselhaften Macht,
aus welcher er stammt. Gedämpftes Keuchen und tiefes, unterirdisches
Stampfen wie schweres Atmen einer Riesenbrust verrät den Unwillen der
gefesselten Mächte, die der Mensch sich hier dienstbar macht. Hie und da
seufzt wohl eine große Maschine auf, wenn ihre Bürde zu schwer wird,
aber dann geht ein kleiner, magerer Mann im blauen Kittel mit eingefallenen
Wangen und rußigem Gesicht hinzu, lauscht aufmerksam, dreht an einem
kleinen Rädchen, und alles ist wieder in Ruhe und Ordnung wie zuvor.
Wir vernehmen gutmütiges Brummen der Riesenventilatoren, der Lungen
des Hauses, die von der Höhe des Daches frische Luft einsaugen und sie
gereinigt in allen Räumen verteilen. -- Mit einiger Angst blicken wir
von ferne in die weiße Glut des großen Krematoriums, das allen Unrat und
Abfall des Hauses aufnimmt und bald zu dürrer Asche verwandelt. Hie und da
begegnen wir einem ruhigen, schmächtigen Maschinisten, der seine Ungetüme
bewacht wie ein Kinderfräulein seine Pflegebefohlenen. Ingenieure und
Elektriker machen sich an großen, marmornen Schaltbrettern zu schaffen,
wo tausend kleine und große Hebel in kupfernen Klammern stecken. Hin
und wieder ertönt ein leises Glockenzeichen, ein rotes oder grünes
Signallicht erscheint wie eine gespensterhafte Warnung oder Botschaft. Der
kleine Mann wird aufmerksam, er berührt seinen Hebel, ein bleicher Blitz
zischt auf, und die Ruhe ist wieder hergestellt. Wir hören das schwere
Keuchen der Pumpen, die ganze Reihen hydraulischer Fahrstühle durch die
hohen Schäfte bis in die obersten Stockwerke drücken müssen. Einzelne
Wassertropfen fallen von den langen Kolben wie Schweißtropfen an den Armen
eines Riesen herab. Wir sehen die großen Eismaschinen und Kühlanlagen,
riesige Behälter, von denen gewaltige Rohre ausgehen, sich durch den Boden
und die Wände bohren und sich wie Adern durch das ganze Haus verteilen.
Tausend andere kleine Motoren und Maschinen arbeiten rastlos Tag und Nacht,
sich automatisch ernährend, sich automatisch regulierend. Jede dient
einem besonderen Zwecke, und alle haben nur einen Zweck: des Dienstes der
Menschheit. Ein Blick auf einen Zeiger des Manometers, auf ein Schaltbrett,
auf eine Uhr genügt dem erfinderischen Menschen, sich von der Kraft und
dem Willen seiner stählernen Sklaven zu vergewissern.

Weiter gehen wir und treten in die Wäschereien. Da zischt es, dampft es
und kocht es in den Zylindern. Von gewaltigen Armen wird das weiße, feine
Linnen erfaßt und durch den kochenden Seifenschaum gezogen. Große, heiße
Walzen drehen sich unaufhörlich, trocknen und glätten die nasse, faltige
Wäsche. Hunderte von weißen, mageren, eingeschrumpften Mädchenhänden
schichten die gereinigten Linnen zu hohen, warmen Bergen auf, die erst vor
einer Stunde noch zerknüllt, schmutzig, fettig und befleckt in die Wäsche
kamen.

Ihr Boudoir, gnädige Frau, liegt fern von dem Lärm, dem Gewühl, dem
Schweiß und dem üblen Geruche der Arbeit. Die Luft, die ihr
Appartement füllt, wird in großen, hohen Kammern filtriert und nach
Gesundheitsvorschriften sorgfältig temperiert, bevor es ihr gestattet ist,
von den Lungen der Gäste eingeatmet zu werden. Das Wasser, welches Sie zum
Trunk an die Lippen führen, gnädiges Fräulein, wird destilliert und ist
reiner und gesunder als das in den silbernen Gebirgsbächen. Die Geschirre,
von denen wir essen, alle Provisionen, die für unseren Genuß bestimmt
sind, werden in staubsicheren Arbeitsräumen aufbewahrt. Das kühle, feine
Linnen der Betten, die Tücher, deren Sie zur Toilette und an der Tafel
bedürfen, die Decken, auf denen Sie ruhen, alle werden vor dem Gebrauche
chemisch sterilisiert. Jedes Staubatom wird täglich aus dem seidenen
Teppich gesogen, den Ihr Fuß betritt. Die komprimierte Luft holt jedes
Körnchen Schmutz aus dem Plüsch des Diwans, der Ihren Körper tragen
darf. Es ist bis ins Kleinste hinein für Ihre kostbare Gesundheit gesorgt:
alles, was sie gefährdet, wird verfolgt und vernichtet. Ihr Zimmer ist
stets behaglich. Sie heizen kein Feuer, dennoch ist der Raum beständig
gleichmäßig temperiert. Es geschieht automatisch. Sie sind geschützt
vor tückischer Feuersgefahr. Wenn Sie sich zur Ruhe begeben haben und es
entsteht auf irgendeine Weise Feuer in Ihrem Zimmer, so wird die Feuerwehr
schon an Ihre Türe klopfen, bevor Sie vielleicht aufwachen und die
Gefahr sehen. Denn wenn die Temperatur in Ihrem Zimmer eine unnatürliche,
unregelmäßige, verdächtige Höhe erreicht, so warnt der wachsame
automatische Feuermelder den Wächter auf Ihrer Etage und die Feuerwehr
im Maschinenraum, und die wohltrainierten Leute stürzen zu Ihrer Hilfe
herbei.

Sie denken daher nicht an das Heer der hastenden, brüllenden Köche, nicht
an die flinken, geduldigen Kellner, nicht an die mageren, rußigen Heizer
und Maschinisten, nicht an die kleinen, bleichen, schweißtriefenden
Wäscherinnen mit den geröteten Augen. Sie sitzen in Ihren gesunden,
sicheren, luxuriösen Gemächern und genießen die schöne Aussicht. Ein
Druck auf den Knopf genügt, um Ihnen alles herbeizuschaffen, was Menschen
produzieren können, was Geld kaufen kann. Sie heben am Schreibtisch oder
im Bette den Hörer an Ihr Ohr und sprechen mit Ihren Freunden, die tausend
Meilen von Ihnen entfernt sind. Ein Wink dem Diener, und das warme Wasser
im marmornen Bade nebenan duftet Ihnen entgegen. Ein gewandter, angenehmer
junger Mann, der in allen Zungen redet, steht jeden Augenblick bereit, sich
nach allen Ihren Wünschen zu erkundigen. Sorgfältig schreibt er sie auf,
steckt den Befehl in eine Kapsel und sendet ihn durch die pneumatische
Rohrpost blitzschnell in den betreffenden Teil des Hauses, wo Ihr Befehl
ausgeführt werden soll. Ein elektrischer Zeitstempel, der unerbittlich die
fliehende Zeit registriert, zeigt genau den Augenblick an, wann der Befehl
gegeben und ausgeführt wurde. Und das Gewünschte wird mit elektrischen
Aufzügen in kürzester Zeit an den Bestimmungsort befördert. Seine Briefe
kann der Gast vom obersten Stockwerke aus bequem und rasch hinunter in den
Postkasten gleiten lassen. Er braucht sich nicht persönlich hinunter zu
bemühen oder die Dienste eines anderen in Anspruch zu nehmen. Mühsame
Treppen braucht der Gast nicht zu steigen. Glänzende Fahrstühle an allen
Enden des Hauses gleiten lautlos hinauf und hinab. Hoch oben über dem
Dache des großen Hauses zittern schwere Drähte im Winde, die unsichtbare,
magische Funken auffangen, von denen die Luft schwirrt. Und vom
Telegraphenbureau im Hotel aus erfährt der König, der Diplomat, der
Industriefürst, der Geschäftsmann, der Privatmann, die Dame im Boudoir
wichtige Nachrichten, frohe oder traurige Botschaften, welche ihnen
Menschen, die weit entfernt sind, mitzuteilen haben. Im Souterrain des
großen Hotels ist der Bahnhof der Untergrundbahn, und auf dem höchsten
Giebel ist die Luftschiffstation.

Wirklich, die Zeiten haben sich verändert! Sie sind anders geworden,
seit der einsame Wanderer an die fremde Türe pochte, als er sah, daß das
Gestirn des Tags sich neigte und die Nacht anbrach. Die Tage sind nicht
mehr, wo der behäbige, lächelnde Albinus stolz an die Wand seines
Häuschens schrieb: »~Hospitium hic locatur ...~«, wo er am herkulaner
Tor mit einem »~Salve amice!~« das bestaubte Pferd des Fremdlings
anhielt, dem Sklaven die Zügel zuwerfend. Die Zeiten sind nicht mehr, wo
die weisen Männer mit Lorbeerkränzen in den grauen Locken ihre frohen
Mähler gaben und mit den Mänaden und den bekränzten Knaben um das
träumerische Marmorbild des Dionysos wirbelten.

~This is the empire of business.~ Wir haben keinen Dionysos mehr. Er ist
kalt gestellt im Museum. Wir haben keine Flötenspieler mehr. Wir haben
Debussys und Sträuße. Wir haben keine hochgeschürzten, lachenden
Knaben mehr, die uns den Wein reichen. Unser ~Ganymed~, der Kellner,
ist gewöhnlich keine bestrickende, inspirierende Erscheinung. Die
Hotelbesitzer sind nicht mehr die runden, schmunzelnden Leutchen von
ehedem. Es sind große Herren, diese Herren Aktionäre. Sie gehören zu
den ersten Familien des Landes. Man sieht sie fast gar nicht. Und dann
höchstens im Gehrock und weißer Weste. Wir haben keine Mänaden mehr.
Wir haben Varietégrößen. Wir haben keine Sängerinnen mehr; wir haben
Chansonetten.

Aber wir wollen den Wandel der Zeiten nicht beklagen. Unsere Zeit hat auch
ihre Rechte und auch ihre Verdienste. Das moderne Gasthaus bietet seinem
Gaste mehr als das von gestern. Sicherheit, Reinlichkeit, Hygiene, alle
Bequemlichkeiten, Auskünfte jeder Art, gutes Essen und unter Umständen
sogar weitgehenden Kredit. Schwere Stahlkammern nehmen den Schmuck und
die Wertsachen des Gastes auf; er braucht nichts zu fürchten. Eine
Schar Barbiere erwartet höflich den struppigen Fremdling, die liebliche
Manikuristin pflegt seine vernachlässigten Hände, ein Spezialist im
Stiefelputzen poliert die Stiefeletten ohne Zeitverlust.

Wenn Sie ins Theater gehen wollen, gnädiges Fräulein, wartet Ihnen der
freundliche Haarkünstler auf. Der sinnige Blumenhändler bringt Ihnen
seine schönste Spende -- für einen Preis. Der Postbeamte befördert
schnell und sicher Ihre wertvollsten und wichtigsten Briefe; der
Telegraphenbeamte wartet, das schnelle Wort bis in die fernsten Winkel der
Erde zu jagen. Der Makler, der Bankier und Geldwechsler hat seinen Stand
aufgeschlagen und harrt der Befehle des Geldfürsten. Gegen einen Preis
natürlich. Der Doktor, der Pharmaceut im Hotel hat seine Rezepte und
Mittel gegen Nervosität, Migräne und Indigestion zur Hand -- ebenfalls
gegen einen Preis. Man macht großartige Geschäfte. Der Zahnarzt repariert
die verdorbenen Zähne -- gleichfalls nicht allein aus Mitleid mit den
schönen Patientinnen. Die Miete ist hoch. Der Buchhändler hält die
schönsten Romane und die neuesten Zeitungen feil, der Zigarrenhändler die
besten, frischesten Havannas. Der Stenograph und Maschinenschreiber, der
Dolmetsch und Fremdenführer -- alle harren sie unter einem einzigen
Dache auf den einen Mann, der aus der Fremde kommt. Alles steht dem müden
Wanderer zur Verfügung, wenn er dieser Leute und Dinge bedarf. Er braucht
sich nicht zu bemühen, nichts zu besorgen, keinen Schritt zu tun.

In den glänzenden Fest- und Konzertsälen des großen Hotels können
wir den erlesensten Konzerten, den intimsten Theatervorstellungen,
den gelehrtesten wissenschaftlichen Vorträgen beiwohnen, reiche
Kunstausstellungen bewundern. Bälle, Empfänge, Festessen werden dort
veranstaltet, die an Glanz mit denen des königlichen Hofes wetteifern.
Orchideen und Rosen verbreiten ihre Düfte, Palmen und andere exotische
Gewächse, tausend zarte Lichter verwandeln die Säle dann in ein
Märchenland. -- In warmen, sternenklaren Sommernächten ertönt liebliche
Musik auf dem Dache des Riesenhauses. Was mögen die hängenden Gärten der
alten bösen Zauberin im Morgenlande gegen einen solchen Dachgarten gewesen
sein! Bunte Lampions schimmern zu Tausenden, blühende Bäume und Büsche
flüstern, Gläser klingen, glückliche Menschen lachen. Rings umher aus
der Ferne schauen Millionen Lichter der Großstadt wie flimmernde Augen
eines dunklen Ungeheuers auf die Pracht, und von tief unten herauf
schlägt das geschwächte Brausen des Straßenlärmes an die Zinnen des
Riesengebäudes wie ein ohnmächtiges Zürnen gegen uns, die wir ihn
fliehen und alles genießen, was Menschen bereiten können.

Das alles bietet uns das große Hotel. Und noch mehr. Es zeigt uns auch
jene, gesunden Menschen so heilsamen, amüsanten Fälle von modernen
Delirien, die einer unersättlichen Sucht nach sensationellen Neuheiten
und nach gesellschaftlichem Despotismus entsprungen, nur noch durch
die extremsten Mittel gekitzelt und aufgestachelt sein wollen und so
Mißgeburten der menschlichen Phantasie erzeugen. Exzentrische Damen, die
sehr viel Geld und sehr wenig Geschmack besitzen, Leute, die nicht wissen,
was sie mit ihren Geldmitteln anfangen sollen, überbieten sich einander in
stupidester Protzenhaftigkeit und Geschmacklosigkeiten.

So können wir alles haben -- gegen einen Preis. Alles. Selbst eine
Imitation der dionysischen Freude. Mit einigem guten Willen kann der Fremde
in Berlin schon für zweihundert Mark, in Paris für fünfhundert Franken,
in London für zehn Pfund Sterling und in New York für fünfzig Dollars
und aufwärts schon ganz leidlich »dionysieren« -- vorausgesetzt, er hat
die Mittel. ~This is the Empire of Business.~ -- Ja, die Zeiten sind anders
geworden. Wir beklagen sie nicht. Viele Menschen haben es vor uns getan.
Mit Unrecht. Doch ich frage mich ganz leise, ob an dem grauenvollen Tage,
der über die lebensfrohe Stadt hereinbrach, die schöne, reiche Mutter
den Untergang der antiken Freude ahnte, da sie plötzlich mit Staunen und
Schrecken die graue, blitzende Wolke über dem Haupte des Vesuvs schweben
sah und ängstlich dem Sohne zuflüsterte:

»Weh, Plinius, mein Sohn, sieh! Die Sonne verfinstert sich!«

Doch nun steht vor unseren Blicken das große, moderne Riesenhotel, -- eine
kleine konzentrierte Stadt, -- ein herrliches Dokument unserer Zeit, wie es
Pompeji das der antiken ist. Entstanden aus dem geräuschvollen Chaos der
Zeiten, gewachsen und fortgeschritten mit den menschlichen Erfindungen,
ist es uns modernen Menschen eine Selbstverständlichkeit geworden, so
daß wir, wie wir bereits sahen, ihm bisher wenig oder gar keine eingehende
Beachtung geschenkt haben. Allen, die damit in Berührung kommen, teilt
sich dieselbe Farbe modernen Menschentums mit, welche allen anderen
Geschäften und menschlichen Tätigkeiten mehr oder weniger fehlt, ja oft
direkt versagt wird.

In diesem menschlichen Gehalt, Herr Doktor, in diesem Reichtum von
menschlichen Interessen, den die Industrie des Wirtes birgt, schlummert
tief auf dem Grunde ein Geheimnis, das uns den Schlüssel vorenthält
zum Rätsel unserer Sphinx, zu den Pforten jener Märchenreiche, wo statt
unserer heutigen sozialen Mißwirtschaften und Elend eitel Glück und
Sonnenschein walten soll, wo ein junges, frohes Volk, unbekümmert um die
Sorgen des Alltags, frei von der gemeinsten aller Qualen, die sich die
modernen Menschen noch immer auferlegen, der starken, frohen Arbeit seines
Tages nachgeht. Wo ist das Märchenland? wo die Millionen von intelligenten
Termiten, die eifrig in den riesigen Bauten umherwimmeln, frei, ohne
Despotismus, jedes Geschöpf sich seiner Mission bewußt, für sich selber
verantwortlich, an sich arbeitend, um so für das Gemeinwohl zu wirken?
Sollte der Bau menschlicher Ameisen, genannt »Hotel«, dessen Entwicklung
wir nun gesehen haben, vielleicht der Vorläufer zu neuen sozialen
Grundlagen und Ordnungen sein, die eben erst in der Knospe »Hotel« das
Licht der Welt erblickt haben? -- Jahrtausende mögen darüber vergehen,
wie Jahrtausende verflossen, wo der Wanderer an fremder Türe Einlaß und
Schutz begehrte, bis zur Zeit, wo er dem schnaufenden Auto entsteigt und
über Marmorstufen in das Riesenhotel eintritt, wo er Herr ist, wo er
gebietet -- für einen Preis.

Eingeengt von den Stübchen unserer kleinen Vaterhäuser, belastet von den
niedrigen Dächern, verwöhnt und verhätschelt von der liebenden Sorgfalt
der keuchenden Mutter, die wir uns nur zwischen fettigen Geschirren und
schwarzen Pfannen am glühenden Herde als unsere Mutter denken können,
schrecken wir Menschen des Fortschritts vor dem Gedanken noch entsetzt
zurück, in den riesigen Häusern der Zukunft geboren zu werden, dort
leben und sterben zu müssen. Fremd und neu ist uns noch das Surren der
Maschinen, halb zögernd, halb mißtrauisch und verwundert betrachten
wir noch das elektrisch gebratene Beefsteak, mit halbverschlossenen,
vorsichtigen Nasen beschnüffeln wir noch die Konserven, von deren Ursprung
wir nichts wissen. Wir glauben noch nicht an die Wirkung des Diners in der
Nußschale, an die Ration im Fingerhut. Aber unsere Tage schreiten schon
schneller. Darum haben sie auch doppelten Wert. Wir können es uns
nicht erlauben, sie durch Engherzigkeit zu vergeuden. Wir bedürfen der
Konzentration, der Extrakte, der Essenzen in Zeit, Wohnung, Lebensweise, in
geistiger und körperlicher Nahrung. Man ist schon auf dem Wege. -- --

Unter uns, Herr Professor, Sie als Soziologe werden mich verstehen. Daß
aber um Gottes willen Ihre Frau Gemahlin nichts davon erfährt: Apropos
der Tatsache, daß die Frauen so entsetzlich hilflos und deplaziert in der
Küche sind, möchte ich vorschlagen, daß man dem weiblichen Geschlecht
den ungeliebten und unverstandenen Beruf der Köchin und Haushälterin so
bald wie möglich abnehmen sollte. Wie meinen Sie? -- Ha, ha, ganz richtig!
-- Die Frauen sollten dann zum Zeitvertreib die Regierungsgeschäfte
besorgen. Derartige Kleinigkeiten sagen dem weiblichen Gemüte viel besser
zu. Und auf die Diplomatie verstehen sich die Weiber ohnehin bedeutend
besser als wir ehrlichen, maskulinischen Naturen. Herrschsucht und
Firlefanz ist ihr Element. Warum haben denn die Bienen und Ameisen
»Königinnen«? -- Aber rationelle, wissenschaftliche Ernährung des
Körpers, Kochen und Kindererziehung sind wichtige menschliche Funktionen,
die den Händen von vernünftig denkenden, künstlerisch fühlenden
Männern anvertraut sein müssen, von Männern, die sich nicht als
gubernatoriale Possenreißer und Hanswurste produzieren sollten. Dann
würde vieles anders werden in der Welt. -- Wie? -- Ja, leider, leider! Ich
weiß es wohl. Es wird noch lange dauern. Wir erleben den Tag nicht mehr.
Und -- um uns nicht lächerlich zu machen! -- es bleibt einstweilen noch
unser strengstes Geheimnis!



III.


Es mag kommen, was will, Herr Professor! Die größten Ereignisse, die
ungeahntesten Erfindungen, die wichtigsten Entdeckungen, sie führen uns
nicht weiter. -- Die edelste Beschäftigung des Menschen ist der Mensch.
Das hat Lessing behauptet. Und dies große Wort sollte im täglichen Leben
eines jeden Menschen Anwendung finden. Dann würden all die lächerlichen
»Fragen« und »Probleme«, mit denen wir uns heutzutage abschinden,
in nichts zerfallen. Und wir brauchen gar nicht weit zu greifen, um
Bestätigung dafür zu finden. Überall, in jeder kleinen Handlung zwischen
Menschen, in jedem Verkehr, jedem Worte, jedem Blick harrt das ganze
Geheimnis mit all seiner bittern Süßigkeit und wartet auf den Mann, der
es sucht und erkennt.

Drum wollen wir die erste beste Gelegenheit beim Schopfe fassen und die
Probe ziehen. Ich habe Ihnen ganz überflüssigerweise gesagt -- denn Sie
wissen es so gut wie ich --, daß unser gutes Essen oft durch schlechte
Bedienung verdorben wird. Aber warum? -- Natürlich geben wir dem Kellner
schuld. Aber in vielen, ja in den meisten Fällen ist es unsere eigene
Schuld, wenn wir schlecht bedient werden, wenn unser Appetit verdorben
wird, wenn unser Diner einen jammervollen, bedauerlichen Ausgang nimmt. --
Wieso? -- Ich finde Ihre Frage verständlich, doch muß ich sie mit einer
Gegenfrage beantworten. Können Sie mir genau definieren, was der junge
Mann ist, der uns bedient? -- Ich meine, welche Stellung er uns gegenüber
einnimmt? -- Selbstverständlich, er bedient uns. Aber das ist nicht alles.
Ja, ja, sehen Sie, welche vage Ideen wir von dem haben, was wir von anderen
verlangen können und wozu wir berechtigt sind! Und wie weit denkt das
liebe Publikum erst! Natürlich weiß oft auch der Kellner seine Pflicht
nicht. In beiden Fällen ist das Resultat ein ganz schreckliches. Es ist
unglaublich, wie empfindsam, wie ungeduldig wir an der Tafel sind. Und erst
wie gespannt und gereizt die Nerven der Leute sind, die uns bedienen! Die
geringste Kleinigkeit kann die so vorbereiteten Gemüter in einen Sturm von
Aufregung versetzen. Nach einem solchen Renkontre ist's mit unserm Appetit
selbstverständlich aus. Desgleichen mit dem guten Willen dessen, der mit
uns zu tun hat. Wenn wir gut und ungestört essen wollen, ist es daher für
uns absolut notwendig, zu wissen, was ein Kellner ist. Da wir nun einmal
auf die Bedienung angewiesen sind, wollen wir nun doch nicht unser gutes
Geld an schlechten Diners verschwenden. -- Ich sehe, Sie lachen wieder! --
Wie, ich nehme die Sache zu gründlich, zu ernst? -- O nein, ich bin ein
großer Egoist. Ich vermeide nur jede Gelegenheit zum Ärger: ich versuche
nur jeder Dummheit, also jeder Ungerechtigkeit und Unhöflichkeit aus dem
Wege zu gehen. -- Außerdem sollte unser Schamgefühl es nicht zulassen,
daß wir einen Menschen, der mit uns in so nahe Berührung tritt, ganz
außer acht lassen, ihn wirklich ganz und gar ignorieren. Es ist weder
ratsam noch weise. Für eine derartige Unterlassungssünde müssen wir oft
schwer büßen. Daher habe ich den Oberkellner gebeten, mir während meines
Aufenthaltes in diesem Hotel immer den gleichen Kellner zu überlassen, da
ich an ihn gewöhnt bin und ihn ziemlich gut kennen gelernt habe.

Goethe sagte einmal: »In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.«
-- Bei meinem Kellner ist dies sehr zutreffend. Ich halte unsern jungen
Mann zum Beispiel für ein eigenartiges Talent. Die Art und Weise, wie
er uns behandelt, ist bewundernswert. -- Das ist sein Geschäft? --
Natürlich! Aber Sie haben jedenfalls noch nicht die Schwierigkeiten
betrachtet, mit denen er zu kämpfen hat. Wenn Sie sein eigenartiges
Geschick, welches uns so vorteilhaft zustatten kommt, ein »Geschäft«
nennen, so verstehen eigentlich wirklich herzlich wenig Kellner ihr
»Geschäft«. Und wir werden sehen, woran dies liegt. Jede unserer
modernen Industrien hat nämlich ihre Sklaven, ihre Opfer und ihre
Unterdrückten. Mit einer gerechten, wilden Wut wehrt sich die
Arbeiterschaft dagegen, tut sich zusammen, agitiert und streikt. Denn
das menschliche Gefühl sträubt sich gegen Sklaverei, Opfer und
Unterdrückung. So war es zu allen Zeiten. Jedes Tier wehrt sich dagegen.
Aber die Arbeiter finden es schwer, gegen die Hochburgen der Finanz
anzukommen. Es erfordert Zeit, Schulung, Taktik, Organisation, Geldmittel
und Ausdauer, sie zu nehmen. Dies alles fehlt. Das haben die Plebejer im
alten Rom blutig erfahren müssen. An diesen Widerständen rannten sich die
Leibeigenen und Bauern des Mittelalters die ehrlichen, dummen, von Blut,
Freiheitswahn und Plünderlust berauschten Schädel ein. Aber es fielen
dennoch die Festen der römischen Patrizier, und die Trümmer der
mittelalterlichen Raubritterburgen reden heute stumm, aber deutlich. So
werden auch die Kämpfe des modernen Arbeiters nicht fruchtlos sein. Doch
je weiser, taktischer, ruhiger er sie führt, um so besser ist es für
ihn selber. Die festen Mauern der Finanz werden am sichersten durch die
Insassen selber zerstört. Die gerechte Zeit duldet keine Festungen. Sie
rüttelt und schüttelt, korrumpiert und untergräbt sie. Das lehrt die
Geschichte aller Zeiten. Die Belagerer sollten nicht blindlings ihre
Kräfte an Steinen verschwenden, die noch nicht morsch genug sind, zu
fallen. Sie sollten nur wachsam sein und beobachten, die schwächsten
Seiten der Feinde angreifen, vor allem aber das eigne Lager frisch und
stark erhalten.

Ich kann mit Recht behaupten, daß der Kellner in gewissem Sinne der
Sklave oder der Unterdrückte der modernen Hotelindustrie ist. Bei einiger
Beobachtung wird dies selbst dem Uneingeweihten auffallen. Doch ich will
mich bemühen, Ihnen die Lage ruhig und klar zu definieren, damit Sie,
Herr Professor als Soziologe, einen neuen Menschen in einer neuen Industrie
kennen lernen. Ich habe Ihnen bereits die Entwicklung dieser neuen
Industrie flüchtig vor Augen gestellt. Wir haben gesehen, daß dieselbe
wirklich erst ein Vierteljahrhundert alt ist.

Einerseits ist es daher verständlich, daß die Verhältnisse noch
ungeordnet und schlecht organisiert sind. Die Stellung des Kellners in
dieser Industrie sieht nun ganz danach aus, als ob man sie in aller
Eile mit dem so plötzlich ins Ungeheure wachsenden Hotelbetriebe
zusammengenagelt habe. Und so behilft man sich schlecht und unrecht weiter.
Ein solches provisorisches Gebäude aber kann bei einem leichten Windstoße
einfallen. Und ein stabiles, schönes Haus läßt sich über Nacht nicht
errichten. Darum muß der Kellner Geduld haben, und er darf das Lattenhaus
seiner Existenz nicht eher abbrechen, als bis ein besseres Obdach für ihn
dasteht. Aber es ist an der Zeit, daß er den Grundstein dazu legt.

Es ist auch sehr fraglich, ob sich die Hotelbesitzer an diesem wichtigen
Werke beteiligen werden. In der Hast und Eile der schnellen Entwicklung des
Hotelwesens haben die Besitzer natürlicherweise alles für ihren Betrieb,
für ihr Haus und wenig oder gar nichts für die Menschen getan, die es
führen, darin arbeiten und ihr Brot verdienen sollen. Die ebenso schnell
aufspringende Konkurrenz hat wichtigere Fragen an die Unternehmer in der
Hotelindustrie gestellt als die des leiblichen und geistigen Wohls der
Angestellten. Über die Lösung dieser Vorzugsfragen werden bekanntlich in
_allen_ Industrien die Angestellten vergessen. Wer sich aber die Lage der
gesamten Angestellten der Hotelindustrie genau betrachtet, wird nur im
Lose des Kellners einen tief einschneidenden Unterschied von dem der
mitwirkenden Angestellten oder der Arbeiter aller anderen Industrien
überhaupt entdecken. Der kaufmännische Angestellte des Hotels ist nichts
mehr noch weniger als sein Kollege irgendeiner anderen »Branche«. Die
Stellung des Koches als technischer Angestellter im Hotel kann ebensowenig
mit der des Kellners verglichen werden, wie die des männlichen und
weiblichen Hauspersonals. Der Kellner ist weder Kaufmann noch Koch noch
zum Hauspersonal gehörig, und doch muß er die Grundkenntnisse von allen
Zweigen besitzen. Er ist Kellner. Seine Stellung im Hotel als Vermittler
zwischen der Kundschaft und dem produzierenden Teil des Hauses kann
nicht einmal richtig mit der eines Verkäufers in einem anderen großen
Geschäftshaus verglichen werden. Er ist _mehr_ als ein Verkäufer.
Seine Pflichten, seine Kenntnisse, sein Arbeitskreis sind größer, die
Anforderungen, die an ihn gestellt werden, sind weit mehr als die, die ein
gewöhnlicher Verkäufer zu erfüllen geneigt wäre. Der Kellner wird noch
immer vielfach von einfältigen Menschen zur dienenden Klasse gerechnet.
Nichts ist falscher als dies. Ohne ein Diener, ohne ein Faktotum zu sein,
tut er dennoch alles Mögliche, wird alles Mögliche von ihm verlangt,
das, streng genommen, nicht im Bereiche seiner Pflicht liegen sollte. Seine
Stellung ist einzig. Ein ähnliches Beispiel in einer anderen Industrie
könnte ich nicht angeben.

Vor dem Gesetze ist der Wirt ein Kaufmann. Der Kellner ist aber juristisch
kein Handlungsgehilfe, sondern ein Gewerbegehilfe. Gewiß. -- Aber ein
gewiegter Jurist würde dennoch Schwierigkeiten haben, die Stellung des
Kellners genau zu definieren. Natürlich, es ist sehr einfach, ihn in eine
gewisse Kategorie von Angestellten hineinzustecken, aber die für diese
geltenden Gesetze kann man nicht auf den Kellner anwenden, ohne ihn zu
schädigen oder zu bevorzugen. Seit die Luftschiffahrt aufgekommen ist,
streiten die Leute sich über ihre Rechte in den Lüften. Aber keiner hat
recht, denn es gibt noch keine Gesetze der Lüfte, noch keinen Äro-Kodex.
Die Luftschiffahrt ist noch neu. Und da der Kellner ein »ganz neuer
Mensch« ist, so stehen wir auch ratlos vor seinen juristischen Rechten.
-- Ich will mir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Das überlasse ich
anderen. Aber ich will von den menschlichen Rechten des Kellners
sprechen, die Ihnen, Herr Professor, ebenso wie mir und der ganzen
Welt (einschließlich der Wirte) bekannt sind, die aber jämmerlich
vernachlässigt werden. Die Menschen sind entsetzliche, gedankenlose
Pedanten. Warum werden die menschlichen Rechte des Kellners nicht geachtet?
Weil er keine juristischen hat? Weil sie nicht schwarz auf weiß stehen?
Und darum ist der arme Ganymed auch der Stiefsohn des mildtätigen Bonifaz.

Gerade dieser Mensch, an den so viele gerechte und ungerechte Anforderungen
gestellt werden, der allwissend, allriechend, allfühlend sein soll, der
vierundzwanzig Stunden im Tage jung, gesund, frisch, munter, höflich,
gewandt, freundlich, lächelnd, sprungbereit, stets bei der Hand sein soll,
-- gerade dieser Mensch, der die wichtigste Person im Geschäfte ist, er
wird vernachlässigt, verachtet, umhergestoßen, beschimpft, verhöhnt,
gekränkt, in Unwissenheit, im Stich, ohne Recht gelassen, wo und wie
man nur eben kann. Jeder und alle trampeln auf ihm herum. Die Gäste, die
Vorgesetzten, das kaufmännische Personal, die Köche, die Detektive, die
Kontrolleure, die Stewards, ja selbst die Silber- und Schüsselwascher. Vom
ersten Direktor bis zur zänkischen Linnenmamsell unter dem Dache und der
»kalten« Mamsell in den untersten Regionen, alle wollen sie über
den geplagten Kellner »etwas zu sagen« haben. Alle wollen sie ihn
kommandieren. Und er, der aalglatte, gewandte Jüngling, schlüpft und
hüpft, schlängelt und drängelt sich überall hindurch, nimmt alles
Unrecht schweigend in sich auf. --

Die Arbeit des Kellners ist hart. Seine Arbeitsstunden sind lang. Der
Kellner kennt keinen Sonntag, keinen Feiertag. Er arbeitet tief bis in die
Nacht hinein. Und an allen Tagen des Jahres. Wir kennen, Herr Professor,
die nächtlichen Sitzungen, die sich so furchtbar in die Länge ziehen.
Der Kellner wacht. Das Geschäft zwingt ihn, je nach Bedarf seine
Arbeitsstunden bis in den grauen Morgen hinein zu verlängern. Er wird
nicht vom Posten abgelöst. Er bekommt keine Extravergütung für die
Überstunden, kein Äquivalent für den verlorenen Schlaf, für die
untergrabene Gesundheit. Die Ironie des Schicksals will, daß er gerade
dann, wenn andere Menschen sich freuen und lustig sind, an Sonn- und
Feiertagen und festlichen Gelegenheiten, am härtesten und am längsten
arbeiten muß.

Das Geschäft zwingt den Kellner, im Hause zu essen. -- Wie meinen Sie?
Bequem? -- Gewiß, für -- das Geschäft. Es braucht seinem Angestellten
deshalb keine freie Stunde zur Mahlzeit zu gewähren. Drei Mahlzeiten im
Tage, das sind drei Stunden Verlust für das Haus. -- Außerdem hat das
Haus den Angestellten jederzeit in erreichbarer Nähe, er ist nötigenfalls
sofort bei der Hand, er kann immer bei der Mahlzeit gestört werden. Das
ist wirklich sehr bequem -- für das Haus.

Was? -- Diese Mahlzeiten sind frei? -- Sie kosten den Angestellten nichts?
-- Ja, so sieht's beinahe aus. -- Nein, Herr Professor, Sie dürfen nicht
glauben, daß die Mahlzeiten, welche der Kellner im Hause genießt, eine
Art von Geschenk oder Gnadenbrot seien. Er muß schwer dafür bezahlen. Das
werde ich Ihnen sehr bald ausrechnen. Es ist sehr einfach. -- Der Kellner
wird also gezwungen, eine unverlangte Kost zu genießen und dafür zu
bezahlen, eine Kost, die selten, sehr selten gut genannt werden kann,
die in den meisten Fällen schlecht, sehr schlecht, manchmal gar direkt
ungenießbar ist und tief unter dem Niveau des berüchtigten Kasernenmenüs
steht. Es ist ganz natürlich. Die Häupter der Häuser bekümmern
sich nicht um das Essen des Personals, die Summe -- wenn eine
dafür veranschlagt wird -- verschwindet oft ganz oder teilweise in
unergründlichen, mysteriösen Tiefen, und gewissenlose Köche bereiten
von den Speiseresten der Gäste das Mahl für die Angestellten. Den Rest
können Sie sich denken. Für die Angestellten und namentlich für den
geduldigen Kellner ist bekanntlich alles gut genug.

In den meisten Fällen zwingt das Geschäft auch den Kellner, im Hause
zu wohnen. Hier sind natürlich die gleichen Gründe geltend wie die zur
obligatorischen Verpflegung. Und die gleichen Vorteile -- für das Haus.
Man hat den Angestellten immer unter Kontrolle, er ist stets da. Jeden
Augenblick ist er zur Verfügung. Und für diesen liebenswürdigen Dienst,
den der Kellner dem Hause damit tut, indem er stets und immerwährend,
vierundzwanzig Stunden lang im Tag, vorhanden ist, darf er das Haus
gleichfalls gut bezahlen. Daß er bei dieser obligatorischen Einquartierung
nicht auf der Beletage des Hauses untergebracht wird, ist auch
selbstverständlich. Wieviel der Kellner für diese Quartiere bezahlt und
welchen Einfluß sie auf die körperliche und geistige Gesundheit und Moral
der Insassen haben, werden wir auch noch sehen.

Dies ist -- kurz zusammengefaßt -- die Stellung des Kellners in der
Hotelindustrie. Was ist aber die Bezahlung für die Wunderwerke der Geduld
und technischen Könnens, die man von ihm verlangt? -- Wir wissen's alle,
und die ganze Welt weiß es. Der moderne Kellner ist, wie gesagt, für die
Legislaturen der verschiedenen Länder eine neue Erscheinung. Er ist
auch noch nicht offiziell mit ganz entschiedenen Forderungen an die
gesetzgebenden Körper herangetreten. Der moderne Kellner vegetiert in
allen zivilisierten Ländern der Erde. Mit den Herren Legislatoren dieser
Länder ist er unoffiziell sehr gut bekannt und sogar bei ihnen beliebt.
Seine Rechte als Mensch jedoch, das Dasein, welches er fristet, haben
die Herren Abgeordneten, M. P.s, Deputierten, Senatoren und wie sie alle
heißen, bei der guten Flasche vor und nach der Sitzung des Hauses und
über den guten Braten hinweg niemals bemerkt oder immer und immer wieder
vergessen. Nur hie und da erinnerte man sich des Kellners, namentlich in
dem gewissenhaften Deutschland, wo bekanntlich nichts unbeachtet bleibt und
wo nichts und niemand ist, von dem oder worüber noch kein Buch geschrieben
worden wäre.*) Aber auch in Deutschland wurde nicht viel erreicht, und
die Zustände im Berufe des Kellners sind auf der ganzen Welt ungefähr die
gleichen.

  *) Mit Ausnahme des vorliegenden Buches. (Nachträgl. Anm. d. Verf.)

Können Sie mir, Herr Professor, einen Beruf, ein Gewerbe, einen Stand auf
der ganzen weiten Erde nennen, der so sehr an Sklaverei erinnert wie das
Dasein des Kellners?

Nein, Sie können es nicht, sehen Sie! -- Das ist die Stellung des Kellners
in der Hotelindustrie. Das ist die menschenunwürdige Sklaverei; das ist
die Unterdrückung. Das ist der Augiasstall, der gereinigt werden muß und
der nur vom Kellner selbst gereinigt werden kann. Das ist das Bretterhaus
des Kellners. Und dieser jammervolle Notbehelf wirft natürlich seine
dunklen Schatten auf das Leben und auf das junge Gemüt des Kellners selbst
und gestaltet seine Lebensanschauungen, seinen Charakter und folglich sein
ganzes Leben in den allermeisten Fällen zu etwas Fragmentarischem, etwas
Provisorischem. Es ist eben nur ein Lattenhaus. Der Kellner kennt keine
Heimat, kein Heim, keinen Sonntag, keinen Feiertag, keinen Feierabend. In
seinem Lattenhause lebt er von heute auf morgen. Er hofft von heute auf
morgen. Er arbeitet von heute auf morgen. Er verdient von heute auf morgen.
Er ist ganz auf sich selbst angewiesen. Und hat kein Vorbild, keinen Halt.
Für seine Arbeit gibt es keine Regeln. Seine Arbeit ist eine große Kunst.
Sie ist die große Kunst des Lebens und der Anpassung. Als Kind wird er
in dies Chaos gesteckt, versagt er in seiner Kunst, so ist es sein
jämmerlicher Untergang. Bittet er um Unterricht in dieser Kunst, so zuckt
man mit den Achseln und bedauert. Er muß sie »von selber« verstehen. Das
große Leben paukt sie ihm ein. Eine solche Spannung hat ihre Rückwirkung.
Wird der junge Mann für einige Stunden aus seiner Sklaverei befreit
oder läßt die Spannung während einer freiwilligen oder unfreiwilligen
Stellenlosigkeit nach, so bricht in ihm -- jung, wie er ist und immer
sein soll -- das verborgene gefährliche Element hervor, das ihn einem zu
frühen geschäftlichen, körperlichen, gesellschaftlichen und geistigen
Tode entgegenreißt.

Ist es nicht der Mühe wert, Herr Professor, den genauen Ursachen
solchen Elendes gründlich auf die Spur zu gehen? -- Bitte -- ich betone
ausdrücklich: Ich würde keinen Augenblick meiner kostbaren Zeit dazu
verschwenden, wenn ich in dieser dunklen Masse nur alte Trümmer, nur
einen elenden Schutthaufen sähe, aber ich glaube fest, ja, ich weiß es
bestimmt, daß wir auf der Suche nach den Ursachen nichts Totes, nichts
Abgestorbenes, nichts Verfaultes, sondern den großen Wirrwarr eines
hastig, gedankenlos aufeinander gestapelten, unendlich reichen Materials
finden werden, also etwas nach Leben und nach Dasein Ringendes, etwas
Werdendes. -- Wo solches ist, da ist keine Arbeit vergebens, denn da ist
Hoffnung!

Ah, dort kommen auch schon unsere Damen. -- Ein Glück, daß Sie kommen,
gnädige Frau. Ich habe Sie zwar zum Diner eingeladen, habe aber noch gar
nichts bestellt. Ich leide nämlich ganz schrecklich! -- Ja, ja, meine
Damen, Nahrungssorgen. Sie müssen mir beistehen; ich flehe Sie an. -- Ach,
das ist es gerade! Man hat alles in Hülle und Fülle! Man hat zuviel. Es
gibt nämlich zweierlei Nahrungssorgen. Eine, wenn man zu wenig oder gar
keine Nahrung zur Verfügung hat, die zweite, wenn man vor lauter Gerichten
nicht weiß, was man nehmen soll. Die zweite Sorge ist die weitaus
schrecklichere. Sehen Sie sich nur das volle Menü an! Tatsächlich ratlos
stehe ich davor. Und wir müssen doch essen! -- Mein armer Kellner hat sich
schon vergeblich um mich bemüht. Der ~Maître d'Hôtel~ ist in hellster
Verzweiflung. Er hat mir soundso viel vorgeschlagen, alles nichts -- seine
kulinarische Enzyklopädie ist erschöpft. -- Darum bitte, meine Damen,
helfen Sie mir aus der Not. -- Freilich müssen wir dann etwas warten. Wir
müssen den Leuten Zeit geben, sich unserer Bestellung anzunehmen. Aber
das ist gerade schön. Denn wenn wir warten müssen, sind wir sicher,
daß unser Mahl frisch hergestellt wird. -- Ich danke für Speisen, welche
stundenlang vor dem Genuß zubereitet sind. Ich will sie frisch vom Feuer
haben. -- Sonderbar! Die meisten Hotelgäste denken anders darüber. Sie
wollen gewöhnlich die feinsten, schwierigsten Sachen in kürzester Zeit
auf dem Tische sehen. Das ist höchst unvernünftig und ungerecht. Aber
dies kommt nur daher, weil die Leute nicht mit der Herstellung der Sachen,
welche sie bestellen, vertraut sind. Sie haben absolut keine Idee vom
Essen. Ist es nicht merkwürdig, daß die Menschen über die wichtigste
Funktion in ihrem Leben so wenig unterrichtet sind! Und so wenig darüber
nachdenken! Und so vertrauend in dieser Hinsicht sind! Ich glaube,
nicht ein Prozent aller Menschen in diesem Saal haben jemals ernstlich
betrachtet, _was_ sie essen, woher ihre Mahlzeit kommt. Sie wissen nur,
daß der Kellner sie aus der Küche holt. Das ist alles. Von den damit
verbundenen Schwierigkeiten und Arbeit aber hat das große Publikum nicht
die geringste Ahnung. Es sollte sich daher mehr für die Hotelküchen
interessieren, aus denen es seine Speisen bezieht. Allen Ernstes, gnädige
Frau! Jede Küche sollte dem Publikum zugänglich sein. Die Wirte sollten
es eine Spezialität machen, sollten stolz darauf sein, ihre Gäste durch
die Räume führen zu können, woher die guten Dinge stammen. Das Publikum
würde dabei profitieren und desgleichen die Speisen, der Wirt und
seine Angestellten. Die Gäste würden einen Einblick bekommen in die
Schwierigkeiten, die sie dem Wirt durch ihre Mahlzeit auferlegen. Sie
würden dann auch in ihren Anforderungen an die Angestellten gerechter und
vernünftiger werden. -- In Lokalen, wo man nicht allzuviel auf Propretät
hält und dadurch die Gesundheit des Publikums gefährdet, würden häufige
Kücheninspektionen der Gäste geradezu wunderbar wirken.

Die Hauptschwierigkeit der Gastwirtsarbeit besteht darin, daß er höchst
empfindliche, kostbare und leicht verderbliche Waren handhabt, daß jede
einzelne unserer Bestellungen besonders zubereitet und serviert werden
muß, und daß oft wegen der kleinsten Kleinigkeit ein ungeheurer Apparat
von menschlichem und mechanischem Material in Bewegung gesetzt werden muß,
um die Sache kunstgerecht auszuführen. Die zusammengesetzte Gastronomie,
die Arbeit des Wirtes und des Kellners, ist daher eine Kunst, die unendlich
viel Anstrengung, Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit verlangt. Und sie
besitzt auch alle Erkennungszeichen einer wirklichen Kunst. Eins der
ersten und am schmerzlichsten ins Auge der Seele stechenden Zeichen ist die
Undankbarkeit des Genießenden. Je mehr die Menschen genießen, um so mehr
nehmen sie Besitz vom Gegenstand ihres Genusses und vergessen dabei auf die
undankbarste Weise denjenigen, der ihnen den Genuß bereitet. Eine wahre
Kunst hat die Fähigkeit, den Genießenden auf Wolken zu heben und mit sich
fortzureißen, so daß er alles um sich her vergißt und nur sich allein
sieht, fühlt und genießt. So reicht man oft an jene unerkennbare,
gefährliche, schwindelnde Spitze höchster Genußfähigkeit heran, wo der
nicht ganz starke und selbstbewußte Mensch gewöhnlich taumelt und in
den Abgrund verachtenswertester Niedrigkeit zurücksinkt. Physischer und
ästhetischer Fraß und Völlerei sind daher ihrem Wesen nach vollständig
gleich. Und ich kann mir darum auch kaum etwas Roheres, Gemeineres und
Verächtlicheres vorstellen, als eine hastige, gedankenlose Fresserei, wo
die guten Gaben der Erde zwischen zwei plumpen, breiten Kiefern zermalmt
und einen dunklen Schlund hinuntergewürgt werden. Selbst die einfachste
Mahlzeit kann mit Ruhe und feinem Verständnis gegessen werden. So soll es
sein. Die Natur revoltiert, wenn es nicht geschieht. -- Kann man nicht auch
ein einfaches, gutes Buch mit Verstand und Andacht lesen? -- Wer es tut,
wird Nahrung für seine Seele daraus schöpfen. Wer es verschlingt, dem
gehen die Säfte und Kräfte des Kunstwerks verloren. Ich will nicht über
den Nährwert menschlicher Werke disputieren. Das Leben selbst enthält
mehr Nährwert. Denn die menschlichen Kunstwerke entstehen aus dem Leben.
Sie sind kleine, schwache Tropfen aus der Quelle des Lebens. Aber unsere
Zivilisation verlangt nach künstlerisch zubereiteten Produkten der Natur.
Ob das nun Liebesszenen oder Schweinekoteletts sind, bleibt sich gleich.
Der Kochkünstler stutzt sein Kotelett hübsch sauber zurecht, schneidet
alles Überflüssige weg. Desgleichen behandelt ein Künstler das Leben.
Beide machen uns die Rohmaterialien genießbar. Ich möchte wirklich
kein rohes Stück Fleisch genießen noch einer prosaischen Liebesszene
beiwohnen, während geschmackvoll zubereitet, solche Dinge unschätzbar
sind. Wir sind verwöhnt. Wir wünschen auch Saucen, kräftige, warme
Suppen und niedliche Süßspeisen. --

Der feine, moderne Wirt ist ein kulinarischer Impressario. Er ist der
einzige legitime Kollege jener Kunstgrößen, die ihr Material aus
der Quelle des Lebens schöpfen und ihre Kunst daran versuchen, um die
verwöhnten raffinierten Forderungen der modernen Menschen zu befriedigen.
Man soll den Mann, der seine Kunst, sein Geschäft versteht, hochschätzen.
Man soll seine Kunst ehren. Und dies kann man nicht besser, als indem man
sie gründlich _kennt_, gerecht kritisiert und zu beurteilen versteht.
Die meisten unserer Zeitgenossen haben aber leider keine Zeit und kein
Verständnis weder für Essen noch für sonstige Kunst. Daher die vielen
schrecklichen Fälle von geistiger und körperlicher Dyspepsie in unseren
Tagen.

Dyspepsie der Zeitgenossen ist ein großes Kapitel in der Leidensgeschichte
des armen Kellners. Das ästhetische Barbaren- und Protzentum unserer
Zeit, welches die Mittel hat, sich die bestmöglichsten kulinarischen
und künstlerischen Genüsse zu verschaffen (weil solches zum guten Ton
gehört), kennt keine Grenzen. Roh und ohne Verstand verschlingen diese
bedauernswerten Leute alles, was auf dem Markte erscheint. Das Resultat ist
ein entsetzliches. Sie treiben durch ihre Unkenntnis und Verschwendung die
Preise in die Höhe, ihre Sucht nach Außergewöhnlichem, nach Neuheiten,
nach Ausschließlichem beeinflußt die Produktion in ganz sündhafter
Weise: das wirklich Gute, das Bescheidene wird erstickt. Schließlich
werden sie überfüllt und der besten Dinge überdrüssig. Sie schmähen
die armen Wirte, beschimpfen die Kochkünstler, malträtieren die Kellner
auf die schrecklichste Weise. Sie tyrannisieren die armen Künstler und
Literaten, nennen sie hirnverbrannte Idioten, nachdem sie diese
armen Teufel selber gezwungen haben, ihnen allerhand süßliches und
unverdauliches Zeug vorzusetzen. Warum soll man einen Theaterdirektor
schmähen, wenn er seinem Publikum ein unsittliches, albernes, idiotisches
Stück darbietet? -- Es ist doch immer das liebe Volk, das solche Dinge
verlangt. -- Das sind die Blasierten, die Überfüllten, die Magenkranken.
Sie sind die Unglücklichsten auf der Oberfläche der Erde. -- Der geistig
rührige und körperlich gesunde Mensch (d. h. der normale, der leider
so seltene) wird bald durch Übung und Erfahrung und namentlich durch
energisches Training seines Geruchsinnes fähig sein, schlechte Koch- und
sonstige Künste schon von weitem zu schnüffeln. Er wird sich fern halten:
sein Geruchsinn wird ihm riesig viel Zeit, Geld und Enttäuschung ersparen.
Daher empfehle ich jedem, den Markt der Genüsse genau zu studieren und
sich wenig, aber nur das Beste herauszusuchen, damit er für alle Zeiten
rasch und sicher unterscheiden kann und keine Zeit- und Geldverluste an
unwürdigen Produkten erleidet. Im schauerlichen Kuddelmuddel unserer Tage
ist dies wirklich notwendig.

So? Sie meinen also allen Ernstes, daß ein Kellner nicht viel gelernt zu
haben braucht, um seinen Beruf auszuüben?! Diese Ansicht ist leicht zu
entschuldigen, denn sie ist so naheliegend und ganz allgemein verbreitet.
Gewiß, Herr Professor. In den erstklassigen Hotels treffen Sie meistens
nur gutgeschulte Leute an. Aber hie und da treffen Sie doch einen, der
sein Geschäft nicht versteht. Ich wünsche Ihnen wirklich nicht, daß Sie
jemals seine Bekanntschaft machen, wenn Sie einen guten Appetit haben.
-- Für den guten Kellner ist doch vor allen Dingen eine gründliche
Fachkenntnis von unbedingter Notwendigkeit. -- Fachkenntnis in der
Hotelindustrie heißt viel. Dort ist _alles_ »Fach«. Das ganze Leben,
Lebenskunst, Menschenkenntnis, Sprachkenntnisse, Haushaltung, Sparsamkeit,
Freigiebigkeit, Luxus, Kunst, _alles_ ist dort »Fach«. Sie können die
Fähigkeiten, die von unserem Kellner verlangt werden, nur übersehen,
wenn man sie ihrer Mannigfaltigkeit nach einteilt. Die Kenntnis der Speisen
umfaßt die Rohmaterialien und deren Zubereitung in der Küche. -- Wie
kann der Kellner als Verkäufer etwas anbieten und empfehlen, wenn er nicht
weiß, woraus die Ware besteht und wie sie zubereitet ist. Haben Sie
nicht gesehen, Herr Professor, wie entsetzlich ignorant die Mehrzahl der
Kundschaft darin ist? Nur aus diesem Grunde ist es möglich, daß es noch
viele ignorante Kellner gibt und daß sich viele Menschen in sein Feld
hineindrängen können, die keine Berechtigung dazu haben, weil sie den
Beruf nicht von Grund auf erlernt haben. Die Ignoranz des Volkes hält
das geistige Niveau des einzelnen Menschen unten. Wo keine kunstsinnigen
Menschen sind, gibt es keine große Kunst, wo kein Kläger ist, ist
kein Richter. Die anspruchslosen biederen Gemüter der Besucher eines
bürgerlichen Bierrestaurants geben sich mit der bescheidenen Erscheinung
eines Schuhmachers zufrieden, der aus Abenteuerlust oder aus sonstigen
Gründen sich als Kellner produziert. Der feine junge Mann, der uns hier in
diesem großen internationalen Hotel bedient, würde dort sehr deplaciert
sein, er würde trotz all seiner Kenntnisse unmöglich arbeiten können.

In der klassischen, französischen Küche gibt es eine unendliche Menge von
Gerichten, Platten, Saucen, Garnituren usw., deren Namen jedem anständigen
Kellner durchaus geläufig sein müssen. Er muß, genau wie der Koch, die
besonderen Eigenschaften aller Rohmaterialien kennen, die uns die Natur
zur Nahrung in so überaus reichem Maße zur Verfügung stellt, und er muß
fähig sein, ein gutes Urteil darüber abzugeben. Er muß auch ungefähr
oder ganz genau wissen, wieviel Zeit die Herstellung aller dieser Gerichte
in Anspruch nimmt. Jede Minute ist er einer verfänglichen Frage von
Seiten der Gäste ausgesetzt. Der Kellner muß sie beantworten können. Die
gründliche Kenntnis der klassischen Küche erspart ihm daher viel Zeit,
Mühe und Unannehmlichkeiten. Nehmen Sie nur einmal an, Herr Professor, in
welch schreckliches Dilemma der arme Mensch geraten kann, wenn Sie sich
bei der Bestellung eines Diners nach der Beschaffenheit der guten Dinge
erkundigen, wenn der unwissende Kellner Ihnen Erklärungen gibt, die sich
später als falsch herausstellen! Sie verweigern natürlich die nicht
gewünschten Speisen. Zufällig mögen es gerade Sachen sein, die Sie in
Ihrer tiefsten Seele verabscheuen. Ihr schöner Appetit ist verdorben. Der
Herr Direktor wird gerufen. Die Speisen sind zubereitet und nicht mehr zu
gebrauchen. Der Kellner muß den Schaden tragen, wenn ihm gar nicht noch
Schlimmeres zustößt. Das Haus verliert vielleicht Ihre Kundschaft durch
die scheinbare Kleinigkeit. Es ist schier unmöglich für einen jungen
Mann, alle die tausend fremdländischen Ausdrücke und Namen zu wissen,
womit er zu tun hat, und in oft ganz bewundernswerter Weise zieht sich der
gewandte Jüngling aus der Affäre, wenn ein Gast allzuviel wissen will.
-- Ein neugieriger Gast übernimmt oft ein großes Risiko. Es ist nicht
ratsam, zu viel wissen zu wollen. Dem gewandten Kellner gegenüber zieht
der ahnungslose Gast gewöhnlich den kürzeren. Es gibt gewissenlose
Kellnernaturen, die ihre häufig verzeihliche Unkenntnis eines pompösen
Gerichtes hinter einer geschickten Notlüge verbergen. Wenn Sie, Herr
Professor, zum Beispiel sich für ein Filet à la Soundso interessieren und
eine nähere Definition des mysteriösen Namens wünschen, die Ihnen der
Kellner zufällig nicht geben kann, so erfindet er oft statt der Wahrheit
eine wunderbare Kombination von appetitlichen Dingen, die er, falls sie
Ihren Beifall gefunden hat, kaltblütig und rücksichtslos in der Küche
ausführen läßt. Natürlich werden Sie durch den gewissenlosen Menschen
falsch unterrichtet. Sie prägen sich vielleicht den schönen Namen auf
der Karte für das lügerische Produkt des phantasiereichen Jünglings
ein, wollen bei anderen Gelegenheiten mit Ihren kulinarischen Kenntnissen
glänzen, -- was wir alle gerne tun, -- und sind dann plötzlich auf die
schmählichste Weise blamiert, wenn Sie einen auf dem kulinarischen Pegasus
sattelfesteren Gegner vor sich haben. -- Der ganz feine Kellner, Herr
Professor, aber ist eine mephistophelische Natur. Er belügt nötigenfalls
den forschenden, wißbegierigen Gast zwar auch, aber ersinnt in
höhnisch-*versteckter Weise ihm die gewünschte Lösung des Mysteriums auf
Französisch. Andächtig, aufmerksam wird der Gast lauschen, er wird sich
bemühen, zu verstehen, aber er wird nicht verstehen. Beifällig jedoch
wird er nicken, wird ein paarmal »Oui, oui« stottern, und ermattet,
besiegt hat er mit seiner Zustimmung sein Los besiegelt. Er ist
rettungslos verloren. Er hat sich heimlich willenlos, bedingungslos seinem
geschmeidigen Gegner ergeben. Er simuliert, er gibt den Anschein, als ob
er den welschen Redefluß verstanden habe, und sein feiner Betrüger
durchschaut ihn lächelnd. Denn Küchenfranzösisch zu verstehen ist
für den uneingeweihten, harmlosen Amateurphilologen eine Unmöglichkeit.
Zitternd, verwirrt bestellt er, ohne zu ahnen, was da kommen soll. Aber er
bekommt, was er bestellt hat. So ehrlich und gnädig ist sein sieghafter
Gegner. Doch dies alles sind gefährliche Spielchen. Unter den Gästen
können sich leicht Gourmets befinden, die in alle Küchengeheimnisse
eingeweiht sind, und die Episode endet mit dem schmachvollen peinlichen
Zusammenbruch des verführerischen Lügengebäudes, mag es noch so
geschickt und phantasiereich aufgebaut sein.

Wie die Speisen, so kennt der gute Kellner auch genau die tausend
Getränke, die er feilbietet. Er kennt die Eigenschaften der verschiedenen
Weine, die Qualität der Jahrgänge, die richtige Temperatur, er wählt das
passende Glas dazu. Speisenkenner gibt's entsetzlich wenig. Weinkenner sind
dahingegen schon zahlreicher vertreten. Und wehe! mit diesen Herren ist
nicht zu spaßen. Das weiß der Kellner. Darum verwendet er äußerste
Sorgfalt bei einem edlen Burgunder, einem alten Bordeaux, feinen alten
Südweinen und Vintage-Champagner. Er weiß die edlen Tropfen zu behandeln.
Er hütet sich, den gerechten Zorn des englischen Lords durch falsches
Ausschenken des Bieres zu erregen.

Gewiß, ich weiß auch, daß Sie glauben, nur Ihr wissenschaftlicher Beruf
erfordere scharfes Denken. Dem ist aber nicht so. Wenn irgend jemand in
seinem Geschäft denken muß, so ist es der Kellner. Wenn sich irgendwo
das Sprichwort »was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben«
bewahrheitet, so ist es hier. Sie glauben kaum, welches Gedächtnis
unser Kellner besitzt. Erst wenn Sie seine Tätigkeit hinter den
Kulissen betrachten, werden Sie erfahren, welche Kunstfertigkeit, welche
Wissenschaft das feine Service ist, wie unendlich viel Übung, Gewandtheit,
Geschicklichkeit und vor allem Gedächtnis es erfordert. Es ist schwer,
eine feste Regel für die Tätigkeit des Kellners zu geben, da sich das
Service je nach dem Charakter des Hauses richtet. Ich kann Ihnen aber
wirklich nicht raten, in einem Hause lange zu bleiben, wo Sie anhaltend
schlecht bedient werden, mag das Essen oder das Haus in anderer Hinsicht
noch so gut erscheinen. Im Service zeigt sich allein die Meisterschaft des
Wirtes. Durch die große Dehnbarkeit des Begriffes »Service« aber, durch
die vielen Abstufungen in der Gastwirtsindustrie sowie durch die vielen
Individuen, die in allen Nüancen auftauchen und vorgeben, Kellner zu sein
oder es sind, ohne Talent für ihren Beruf zu haben, kann wirklich nur der
erfahrene Gourmet sagen und schätzen, was gutes Service ist. -- Ich halte
zum Beispiel unseren Kellner für eine Perle, für einen äußerst
seltenen Menschen. Sein Beruf ist eine ewige Steeplechase. Nur ein eigenst
trainiertes Tier von feiner Rasse kann da gewinnen. Er scheint all
die tausend Hindernisse spielend zu überwinden. Und er macht gar kein
Aufsehens davon. Hinter unsern Rücken spielt sich ein heroisches
Ringen ab, und wir, wir amüsieren uns und merken nichts. Unser Mann ist
unbezahlbar. -- Trauen Sie daher um Gottes willen keinem Menschen und
namentlich keinem Kellner, der seine Geschicklichkeit allzusehr und zu
auffallend ins gute Licht stellt. Unter den Kellnern gibt's Jünglinge, die
überreinlich sind. Sie wischen sich den perlenden Schweiß der Stirn mit
ihrer sauberen Serviette ab, um dann gleich darauf mit demselben Linnen vor
dem Gaste ganz unnötigerweise über den reinen Teller zu fahren, nur um
ihm zu zeigen, daß alles schön sauber ist. Ich glaube aber nicht, daß
wir hier in dem erstklassigen Hause ein derartiges sauberes Exemplar von
einem Kellner antreffen. Die Leute hier sind alle gut instruiert, keine
unnötige Schaustellung von ihren Tugenden und Vorzügen zu machen und
die feine Reserve zu beobachten, die sich für jeden gebildeten Menschen
schickt. Das Haus gibt solche Regeln weniger aus ästhetischen als
aus praktischen Gründen aus. Allzu feine, auffallende Manieren eines
Angestellten könnten die der Gäste oft in sehr ungünstiges Licht
stellen. Es ist dringend ratsam, derartige Komplikationen zu vermeiden.
-- Ich habe auch erfahren, daß sich viele Neulinge auf gesellschaftlichem
Gebiete, um mit den zahlreichen ungeschriebenen menschlichen
Verkehrsvorschriften vertraut zu werden, sich die geschmeidige Person
des Kellners insgeheim als Vorbild nehmen, und sehr zu seinem Vorteil. Im
Interesse der Menschheit ist es daher erforderlich, daß der Kellner als
wichtiger erzieherischer Faktor von keinerlei unmanierlichen Angewohnheiten
behaftet sei. In den bürgerlichen Gasthäusern und Massenbetrieben zweiten
Ranges läßt die Bedienung, d. h. die Person des Kellners, viel
zu wünschen übrig. Dort sieht man viel von der vorhin erwähnten
Reinlichkeit und wunderbare Vorstellungen von Jongleur- und
Balancierkunststückchen mit Schüsseln und Platten. Der Gast des
bürgerlichen Hauses legt nicht viel Bedeutung der guten Bedienung bei. Er
erhebt keinen Anspruch auf anständiges Service. Sehr mit Unrecht. Gerade
dort sollten die Gäste und die Leitung des Hauses darauf dringen: gerade
dort sollten sich die Kellner der besten Leistungen befleißigen, um
zu zeigen, daß nicht die orchideengeschmückten Säulenhallen mit der
rauschenden Musik alleiniges Anrecht auf menschenwürdige Manieren haben.

Wir müssen die Schwierigkeiten des Kellnerberufes berücksichtigen, wie
wir persönliche ekelhafte Manieren verdammen müssen. Wir dürfen den
Kellner nicht bei einem unglücklichen Zufall schmähen: wir dürfen keine
Dienerei von ihm verlangen. Denn für das Service, wie auch für alles gibt
es schließlich eine Grenze. Manche Menschen würden allerdings sich am
allerliebsten wie Säuglinge füttern lassen, sich ihr Essen von ihrem
Kellner vorkauen lassen, wenn dies halbwegs zum guten Ton gehörte. Selbst
am königlich preußischen Hofe scheint in bezug auf Service manches
mangelhaft zu sein. Was? Sie glauben das nicht? -- Freilich, ich habe noch
nicht die Ehre gehabt, zur königlichen Tafel geladen gewesen zu sein, aber
wenn ich etwas behaupte, so habe ich meistens glaubwürdige Belege dafür.
-- Sie erinnern sich doch, Herr Doktor, des berühmten Bildes von Menzel,
das die Hofballszene oder so etwas Ähnliches darstellt. -- Nun wohl. --
Nicht nur vom künstlerischen Standpunkt aus ist das Bild interessant,
sondern auch vom allgemein menschlichen. Wer sich dieses Ballsouper --
sagen wir -- mit den Augen eines Kellners betrachtet, wird allerhand für
das Service höchst bemerkenswerte Dinge entdecken. In den lichtstrahlenden
Sälen des Schlosses wimmelt es von hohen und höchsten Herrschaften.
Es ist Tanzpause, und jeder holt sich seine Ration von dem Büfett im
Hintergrunde. Dasselbe ist nicht sichtbar, so sehr ist es von Menschen
umlagert. Die hohen Herrschaften müssen sich alle selber bedienen. Man
sieht es an ihren Haltungen und Gesichtern. Jawohl, gnädige Frau,
auch eine ganze Menge hoher Damen in prachtvollen Kleidern, deren
Mannigfaltigkeit und Farbenfeinheit das Herz eines jeden Damenschneiders
entzücken sollte. Denken Sie sich! Und jede hat einen Teller mit Speisen
auf ihrem Schoß! Und nicht einmal eine Serviette bei der Hand! Ist das
nicht shocking!? -- Die herrlichen Toiletten laufen große Gefahr, befleckt
zu werden. -- Was meinen Sie? Vergessen? Nein, ich glaube nicht, daß Adolf
Menzel so leicht etwas vergißt. -- Die Kavaliere selbst müssen Kellner
spielen und sich um ihre Damen bemühen, ihnen Wein und Speisen reichen und
die gebrauchten Teller abnehmen. Im Vordergrunde links, wenn ich mich gut
erinnere, steht eine Gruppe von drei Herren, ein Hofprediger, ein General
und ein Diplomat. Der Diplomat nimmt eine höchst komische Stellung ein. Er
hat seinen Hut zwischen die Knie geklemmt und ißt von einem Teller, den
er höchst umständlich und unbequem in der Luft halten muß. Auf dem Rande
des Tellers balanciert sogar ein Weinglas. Der Herr Prediger befindet sich
in nicht minder unbequemer Lage. Mit der Linken hält er seinen Teller in
der Luft und versucht mit der Rechten, etwas darauf zu zerschneiden. Das
ist ja fast unausführbar. -- Die Seitentische und Kamingesimse sind
mit Bergen von schmutzigem Geschirr beladen. Es herrscht die größte
Unordnung. Auf dem Kamin allein kann man sieben geleerte Champagner-
und Rotweingläser zählen. Ich wette, im Ballsaal unseres Hotels würde
dergleichen nicht geduldet. -- Auf einem herrlichen goldenen Stuhle mit
rotem Plüschsitz liegen gebrauchte Teller, Gläser und Bestecke. Ein
galanter Ulanenoffizier, der sich eben zu einer Dame in Rot niederbeugt,
dreht den Sachen auf dem Stuhl die Kehrseite zu und wird sich im nächsten
Augenblick in Gegenwart seiner Angebeteten in die Sauce hineinsetzen, wenn
er nicht aufpaßt. Aber wer paßt denn in Gegenwart von schönen Damen auf
Sauce auf!? -- Ein wohlbeleibter Admiral hat eben seine Portion gegessen
und versucht, sein Geschirr auf den schon voll geladenen Seitentisch
niederzustellen. Er schneidet dabei ein sehr verdrießliches Gesicht, was
wir ihm bei einem solchen Service auch nicht verdenken können. -- Wie
gesagt, überall in dem bunten Gewühl müht man sich mit Speisen und
Getränken ab. Im Hintergrunde reckt sich verzweifelt ein Arm hoch
über die Häupter der Gäste hinaus. Die Hand hält krampfhaft einen
vollbeladenen Teller fest, der sich sehr verdächtig nach vorne neigt.
Es sieht ganz aus, als ob der Träger den vor ihm stehenden würdigen
Glatzkopf mit der Sauce taufen wollte. -- Sehen Sie, meine Freunde, das
würde ich nicht als gutes »Service« bezeichnen. -- O ja, ich glaube ganz
bestimmt, daß der Maler Menzel das Service am königlichen Hofe sehr gut
gekannt hat. Menzel hatte wunderbar gute Augen. Er interessierte sich für
alles, was um ihn herum vorging. Und er war häufig zur Hoftafel geladen.
Ich habe ihn aber trotzdem oder gerade darum stark im Verdacht, daß er
zugunsten seines köstlichen Humors den Mangel an gutem Service in der
Ballszene ein wenig übertrieben hat. --

Um seiner internationalen Kundschaft entgegenkommen zu können, werden
von unserem Kellner gute Sprachkenntnisse als eine Selbstverständlichkeit
vorausgesetzt. Überall verlangt man, daß er wenigstens der drei
Hauptsprachen mächtig ist. Beherrscht er diese, so gehört die ganze Welt
ihm. Wohin er auch kommen mag, überall wird er Stellung finden. Ein
guter Kellner begnügt sich nicht damit, wenn er in fremden Sprachen etwas
radebrechen oder sich mit einigen Phrasen verständlich machen kann. Die
meisten können sich daher mit ihren Gästen aus fremden Ländern sehr
geläufig unterhalten, einzelne beherrschen verschiedene Sprachen durch
viele Übung in ganz ausgezeichneter Weise. Der junge Kellner, nachdem er
ausgelernt hat, versäumt keine Zeit, ins Ausland zu gehen und sich die
nötigen Sprachkenntnisse zu erwerben. Das ist natürlich meistens die
einzige, aber auch die beste Methode, die ihm zu Gebote steht. Einige
grammatikalische Vorkenntnisse wirken allerdings gewöhnlich Wunder. Aber
man erlernt die Sprache auch ohne Lehrer, wenn man muß. Karl Schurz, der
große Deutsch-Amerikaner, erzählt in seinen Memoiren sehr lehrreich, wie
er, der Flüchtling mit Familie, arm, ohne Freunde, ohne ein Wort Englisch
zu können, in Amerika landete, seinen Lebensunterhalt erwerben mußte und
sich ohne Lehrer seine erstaunliche Meisterschaft der englischen Sprache
aneignete. Er brachte es damit bis zum General und Staatsmann und war einer
der besten und beliebtesten Redner in der englischen Sprache. Das ganze
Geheimnis der Schurzschen Methode war, daß er eifrig Zeitungen las und
kein einziges Wort entwischen ließ, dessen Sinn ihm unbekannt war. Er
schlug beharrlich in seinem Wörterbuch nach, bis er es gefunden und
verstanden hatte.

Wenn wir von dem sprechen, das unser Kellner kennen und wissen muß, so
darf ich Sitten und Gebräuche nicht vergessen. Für einen Menschen,
der mit den Herren aller Länder und deren Untertanen zusammenkommt,
gleichviel, in welcher Stellung oder Lebenslage, ist es wertvoll, ja oft
unbedingt notwendig, daß er die betreffenden Sitten und Gebräuche
dieser Menschen kennt, wenn er mit ihnen erfolgreich geschäftlich oder
gesellschaftlich verkehren will. -- Was ist Heimweh? Nur die Wirkung
einer Veränderung der Sitten. Was ist das Geheimnis des Erfolges oder des
Unterganges so vieler Menschen in der Fremde, im Auslande? Doch nur die
Fähigkeit oder Unfähigkeit, die betreffende Sprache möglichst
geläufig zu handhaben und vor allem sich in das Wesen der neuen Umgebung
hineinzuarbeiten und es zu studieren. Sprache, Ausdrücke, Phrasen,
Manieren, Sitten, die in Berlin vielleicht als Etikette und Eleganz
bewundert werden, sind zum Beispiel in Paris unverstanden, wirkungslos,
ja oft geradezu verhaßt und beleidigend. Was man in London tut, denkt,
spricht, ißt, für ~smart~ hält, gilt vielleicht in Rom nicht. Wenn
ich als Deutscher zum Beispiel eine höfliche Phrase, ein Kompliment in
englisch oder französisch ausdrückte, wie ich es mir in Deutsch denke, so
würde ich Gefahr laufen, mich unsterblich zu blamieren. Daher wundert
sich mancher, daß er im Auslande kein Glück hat und verhaßt ist oder
belächelt wird. In Europa erkundige ich mich höflich beim Herrn Gemahl
nach dem Befinden der gnädigen Frau. Ein vornehmer Orientale, der noch
Europens übertünchte Höflichkeit nicht kannte, wollte mich einmal für
eine derartige Frechheit schinden lassen. In Deutschland esse ich zum
Frühstück gekochte Eier aus der Schale, in Amerika lasse ich mir die
Eier vom Kellner aufbrechen und in einem Wasserglase zubereiten. Sowohl in
Europa wie auch in Amerika halte ich sehr viel darauf, daß die Eier, die
mir vorgesetzt werden, möglichst jung sind. Als ich China bereiste und
Gast eines hohen Würdenträgers war, mußte ich Eier, die schon zwei Jahre
alt waren, zu den größten Delikatessen rechnen, um nicht meinen Gastgeber
zu beleidigen! -- Wenn ich die Ehre habe, gnädiges Fräulein, Sie auf
einer deutschen Großstadtstraße zu begleiten, so lasse ich Sie nicht
gerne zu meiner Linken gehen. Würden wir dagegen zusammen auf der Fünften
Avenue in New York promenieren, so würde ich stets an der Außenseite des
Trottoirs auf dem Rinnstein hin und her balancieren müssen, um Sie mit
meinem Körper gegen den Schmutz und die Gefahren des Verkehrs zu
decken. So gibt es in allen Ländern zahllose ungeschriebene Gesetze der
Lebensweise und des Umgangs mit Menschen. Die Unkenntnis derselben schützt
-- wie bei den geschriebenen -- nicht vor Strafe. Ein kleiner Verstoß
dagegen kann oft viele direkte oder indirekte böse Folgen nach sich
ziehen. Denn es ist unglaublich, wie feinfühlig selbst oder gerade die
dickhäutigsten Menschen in bezug auf ihre Sitten und Gebräuche sind und
wie leicht sie sich darin kränken lassen. Unser Kellner weiß Bescheid. Er
bringt dem Amerikaner einen Teelöffel mit der Orange, ohne aufgefordert
zu werden. Er schenkt ihm das frostige Eiswasser ein, das er mir nicht
anzubieten wagt. -- Er weiß, daß ich Trauben, Äpfel, Ananas, Nüsse und
andere köstliche Früchte gerne genieße, wie sie gewachsen sind. Seinem
Gaste aus dem Yankeelande mischt er stillschweigend diese Dinge mit Essig
und Öl und Pfeffer und Salz an. Er findet nichts komisch, nichts fremd,
nichts lächerlich. Er ist geschmeidig, und nach der einfachen Regel der
Höflichkeit paßt er sich den Dingen an, wie sie sind. -- Unser Kellner
redet seine Gäste mit dem ihnen gebührenden Titel an. Er weiß meistens
sehr genau, die richtige Anrede zu gebrauchen. Von exotischen und
zivilisierten Majestäten und Hoheiten herab bis zu den ganz gewöhnlichen
Baronen und Exzellenzen und Räten. Der Gothaer Almanach und die Rangliste
sind ihm ein Vademekum und Handpostille. -- Natürlich, das ist sein
Geschäft! -- Er tituliert seine Leute, wie ein Stiefelwichser Schuhe
schmiert. Je mehr, je besser.

Unser Kellner ist auch mit allen Tagesereignissen auf dem laufenden. Er
ist ein eifriger Zeitungsleser, er kennt die Schönheiten und
Sehenswürdigkeiten seiner Stadt, die Vergnügungen und Theater usw., und
kann in dieser Hinsicht seinen Gästen jede gewünschte Auskunft erteilen.
Ja, meine Freunde, könnte ich Sie nur davon überzeugen, daß ein guter
Kellner ungefähr alles wissen muß. Seine Gäste verlangen es. Je mehr
Fragen er beantworten kann, um so besser ist's für ihn. Er wird niemals
auf eine Frage sagen »ich weiß es nicht«: er wird niemals eine Bitte
abschlagen, sondern sich vorher erst erkundigen. -- Wie, Sie glauben nicht,
daß unser Kellner auch musikalisch ist? -- Ich möchte wetten, daß er
etwas von Musik versteht, denn das gehört auch zu seinem Geschäft, zu
seiner universellen Ausbildung. Denn wie er alles kennt, was das Geschäft,
also er, der Verkäufer, feilbietet, so ist er auch mit den Dingen
vertraut, die zwar nicht unmittelbar in den Bereich seiner Tätigkeit
fallen, die aber immerhin enge damit verknüpft sind und sich ihm ungerufen
aufdrängen. -- Bitte, sehen Sie sich doch nur unseren Tisch an, meine
Herrschaften. Winkt nicht hier ganz dicht neben dem kulinarischen Programm
auch noch ein anderes zierliches Kärtchen, das musikalische Menü?! --
Ist es nicht zugleich das schönste Dokument für die Genußfähigkeit des
zwanzigsten Jahrhunderts? Ja, diese ist wunderbar stark entwickelt. Ich
als wohlerzogener Sohn meiner Zeit muß offen gestehen, daß ich
das kunstvollste Diner, den besten Wein und Wagner-, Strauß- oder
Debussy-Musik gleichzeitig einnehmen kann, ohne daß -- wie Sie sehen --
unsere geistreichen Gespräche über das Verhältnis der Gastronomie zu den
bildenden Künsten, über ein kompliziertes Kellnerdasein oder irgendein
beliebiges Thema und selbst in Gegenwart unserer Damen nachteilig
beeinträchtigt würden. Das sind Leistungen, wenn man auf frühere Zeiten
zurückblickt. Früher begnügte man sich mit einem oder zwei dieser vielen
guten Dinge. -- Ein gewandter und tüchtiger Börsianer bringt sogar bei
Austern und Vintage-Champagner und unter den Klängen des Pilgermarsches
aus »Tannhäuser« noch obendrein ein äußerst profitables Geschäftchen
ins Geleise. Namentlich, wenn die Musik so rührend ist, daß sie den
Zuhörer aller Weltlichkeiten entrückt, wenn der Wein sehr gut ist und
wenn der Kellner den Auftrag hat, die entstandene Leere im Glase des Gastes
so zartfühlend als beharrlich auszugleichen. Gewöhnlich ist der Vertrag
beim Braten dann schon ziemlich sicher, beim Dessert besiegelt. In der
Tat, das ist eine vielseitige Genußfähigkeit, deren sich ein antiker
Genußmensch nicht hätte rühmen können. --

Sehen Sie, meine Freunde, wenn nun das Orchester auf Wunsch irgendeines
musikverständigen Gastes oder aus irgendeinem anderen Grunde irgend etwas
intoniert, das auf dem zierlichen Kärtchen nicht verzeichnet ist, so
werden vielleicht viele Gäste, die gerade die nächste Nummer als ihr
Leib- und Magenstück sehnsüchtig erwartet hatten, plötzlich bei ihrem
Hummer oder was sie sonst gerade vor sich haben, anhalten, die Ohren
spitzen, enttäuscht aufschauen, sich den Mund mit der Serviette wischen
und sich fragend oder indigniert umschauen. Und wenn sich ein Gast auf
diese Weise umschaut, so wird sein Kellner sofort und mit verbindlichem
Lächeln herantreten und sich nach der Ursache der plötzlichen Störung
erkundigen. -- Denken wir uns nur in eine solche Lage hinein. Die Situation
ist kritisch. Ich hatte Ihnen vielleicht erst kurz zuvor alle Feinheiten
des erwarteten Stückes erläutert, es war vielleicht zufällig das
Bravourstück unseres vorzüglichen Kapellmeisters, wir waren alle gespannt
und auf den Genuß vorbereitet -- da sieht man sich plötzlich durch die
Hinterlist der Umstände im Stich gelassen. -- Noch schlimmer wird es,
wenn zufällig niemand von uns das unerwartete Stück kennt, wenn jeder
in hellster Verzweiflung auf der Suche nach dem Titel beim besten Willen
»gerade nicht darauf kommen« kann. Was ja hin und wieder vorkommt,
obgleich jeder wohlerzogene Mensch so viel Konzerte und Opern besucht haben
muß, daß er nötigenfalls die Hauptarien wenigstens mit den Lippen zu
flöten imstande ist. -- In einem solchen Dilemma, wo mich mein Gedächtnis
hintergeht, würde ich im Interesse der Kunst keinen Augenblick zögern,
die Kenntnisse und Dienste des hilfsbereiten Kellners in Anspruch zu
nehmen. Und der allwissende und allriechende junge Mann wird mir sofort
bescheiden, unauffällig und diskret mitteilen können, was ich wissen
will. -- -- Sie glauben, er müßte sich wohl zuerst beim Kapellmeister
erkundigen? -- O nein! Ich wollte wirklich, ich könnte unseren Kellner
nur einmal auf die Probe stellen. Denn, sehen Sie, er hat nicht immer Zeit,
sich seinen Weg durch das himmlische Gedränge entschuldigend, schlängelnd
zu bahnen und den Kapellmeister oben auf dem Balkon zu konsultieren. Und
wehe, wenn er die gewünschte Auskunft aus Unwissenheit ablehnen müßte!
Der Oberkellner würde sehr bald zu hören bekommen, daß seine Leute
ungebildete, rohe Menschen seien. -- Ich wette, daß unser Kellner sogar
die allerneuesten Schlager kennt. -- Das tut jeder, meinen Sie? -- Ich
glaube dagegen, daß nur die allerwenigsten Menschen diese Produkte kennen.
-- Denn wenn ich sage »kennt«, dann meine ich, daß er sie durch und
durch kennt, daß er aus dem »Schlager« heraus hört, wie die Missa eines
Palestrinas verstümmelt und zerhackt wird, daß er aus dem Geschmetter
und Gezirpe vernimmt, wie das Tempo eines Largos bis zur Unkenntlichkeit
beschleunigt und mit Benzinnervosität durchsetzt wurde, damit daraus
all die bewundernswerten Dinge entstehen, die sich so großer Beliebtheit
erfreuen, die jeder überall summt, pfeift und brummt, wenn er nicht gerade
an Verdauungsstörungen leidet und sich so dank diesen Störungen ein
stillschweigendes Verdienst um die Menschheit erwirbt.

Da große und kleine Oper, alte und moderne Musik, »Schlager« und
»Gebete von Jungfrauen«, »Ave Marien« und »Lustige Witwen« wie ein
buntes Schallragout in tönender Fülle das Arbeitslokal des Kellners
durchwogen, so ist eine Fähigkeit zur Unterscheidung von guten und
schlechten Schallwellen im Interesse seiner Selbsterhaltung und geistiger
Gesundheit erforderlich. Und dafür sorgt der Kellner, wenn er existieren
will. -- -- Ah, das kommt ja wie gerufen! -- Sehen Sie, hier auf dem
Programm ist ein Adagio in F-moll von Schumann angesagt! -- Was spielt aber
das Orchester soeben? -- Ich werde den Kellner fragen -- er weiß es! --

Kellner, können Sie mir sagen, was da eben gespielt wird? -- Aha, ganz
richtig. Aus Peléas und Mélisande. Ich danke Ihnen.

Haben Sie gehört? Was sagte ich?! Der Mensch ist ein wandelndes
Konversationslexikon! ...



IV.


Sie haben also auf Ihrer Amerikareise beobachtet, wie die verschiedensten
Nationen der Erde politisch und sozial verhältnismäßig einträchtig
zusammen leben können. Man braucht aber doch gar nicht so weit zu laufen,
um diese internationale Harmonie zwischen vernünftigen, friedlichen
Menschen betrachten zu können. Sehen Sie sich hier nur um. Welch
ein sonderbares Gemisch von Menschen. Wie solidarisch arbeiten diese
internationalen Kellner nebeneinander! Da gibt es keine Reibereien wegen
der Nationalität oder Politik. Rassenfragen kommen hier nicht in Betracht.
-- Haben Sie schon jemals die Schar der internationalen Jünglinge auf ihre
Nationalität hin geprüft? Nicht? -- Dem ruhigen, aufmerksamen Beobachter
müßten dabei doch allerhand ernste Gedanken aufkommen. -- Ich habe
oft darüber nachgeforscht und gefunden, daß Deutschland bei weitem das
größte Kontingent an Jünglingen stellt, die als Kellner in die Welt
hinauswandern und schließlich ihre Heimat ganz und gar in der lauwarmen,
farblosen, kosmopolitischen Pürée verlieren und vergessen. Dann
folgen vielleicht Österreich, Italien, Frankreich und Skandinavien mit
entsprechender Anzahl. Es ist bemerkenswert, daß man den stolzen Briten
sehr selten als Kellner antrifft. Selbst in seiner Heimat nicht. Sein
Nachbar, der Ire, tritt in der Rolle als Ganymed schon etwas häufiger auf,
aber diesen Inselbewohnern geht jedes besondere Talent für die gewandte
Kunst der Kellnerei ab. Ein geborener Amerikaner, ein waschechter,
vollblütiger, freier Yankee ist als Kellner im großen ganzen einfach
undenkbar. -- Was geht nun daraus hervor? -- Können Sie nicht ganz
charakteristische Züge der einzelnen Nationen daraus erkennen? -- Sie
beliebten einmal zu sagen, daß die Kellner alle servile Naturen wären
oder sein müßten. -- Hm, das wäre für die Germanensöhne, die so
zahlreich im Kellnerfrack auftauchen, und für die ganze deutsche Nation
nicht besonders schmeichelhaft. -- Ich suche jedoch den Grund, wie gesagt,
in anderen Umständen. -- Nein, der Kellner soll und muß keine servile
Natur sein, um seinen Beruf auszuüben. Die weitgehende Toleranz der
Deutschen gegen Ausländer, ihre bekannte Vorliebe für das Fremde, ihre
Wanderlust, das alles bewegt den jungen Deutschen mehr als die Söhne
anderer Nationen, sich dem Kellnerstande zu widmen. Außerdem befähigt
ihn noch ein ethnologisch und politisch genugsam bekannter Umstand
ganz außerordentlich zu diesem Berufe: ich meine die große Dosis von
Gemütlichkeit und himmlischer Geduld, die der deutsche Michel noch immer
besitzt. Gemütlichkeit ist deutsch. Es ist ein deutsches Wort. Es läßt
sich nicht übersetzen; man kann es in einer anderen Sprache nur ganz
umständlich umschreiben. Gemütlichkeit ist aber das große Geheimnis, das
ein Hotel, ein Gasthaus, ein Restaurant oder irgendeinen menschlichen Bau
überhaupt anziehend macht. Außerdem spricht noch ein anderer wichtiger
Faktor im Werdegang des Kellners mit: die Fähigkeit, Sprachen zu erlernen.
Diese Fähigkeit besitzt der Deutsche in etwas größerem Maße als sein
französischer oder englischer Nachbar, obgleich der Deutsche sich immer
wieder durch einen abscheulichen Akzent und seine urdeutsche Denkweise
verrät. Unter den Romanen erlernen die Italiener fremde Sprachen
verhältnismäßig leicht. Das Übergewicht dieser Nationen im
Kellnerstande ist zweifellos in diesen Umständen zu suchen. So hat jede
Nation ihre Eigenheiten. Anglosachsen machen dank ihres Pferdeverstandes
ganz ausgezeichnete Stallknechte, Jockeys, Grooms, Lakaien, Butlers, dank
ihrer Suprematie in Herrenmoden ganz vorzügliche Valets -- Gebiete,
auf denen ihnen der Deutsche und jeder Kontinentale überhaupt sehr weit
nachsteht.

Ob ich noch mehr von dem Kellner zu erzählen weiß? -- Aber ich habe ja
kaum erst angefangen! -- Das Wichtigste habe ich mit echtem dramatischen
Instinkt noch gar nicht hervortreten lassen. Und das wäre? -- Oh, nur zu
wissen, was für ein Mensch sich aus ihm durch seine eigenartige Tätigkeit
entwickelt. Zu sehen, wie sein Inneres beschaffen ist, wie es darin
aussieht, was wir daraus lernen können oder was interessant für uns ist.
Das Dasein bedenkt unsern jungen Freund mit sehr wenig guten Gaben, aber
dafür schenkt es ihm eine seiner besten: Welt- und Menschenkenntnis. »Es
schenkt« ist etwas optimistisch. Ich sollte sagen: das Dasein prügelt ihm
diese Kenntnis ein. Immer und immer wieder wird das Leben dem Unwissenden
mit schweren Streichen diejenige Weisheit einbleuen, die es von ihm
verlangt. Aber am Ende ist es doch ein wunderbares Geschenk! Ob der Mensch
nun weise dadurch geworden ist, oder ob er sich als ein Vernichteter, als
ein töricht Grollender, als ein Ankläger des Lebens in die Dunkelheit
zurückziehen muß, ist einerlei. Das schöne Geschenk bleibt.

So ist ein guter Kellner schon in jungen Jahren oft ein vollendeter
Menschenkenner. Er ist das Feingefühl und die Diskretion selber. Denn das
große Leben führt ihn unter die Menschen. Er hat sie zu behandeln wie der
Knecht seine Viehherden, wie der Schmied sein Eisen; er hat sich mit den
Menschen abzufinden wie der Bergmann mit giftigen Gasen und schlagenden
Wettern, wie der Soldat mit pfeifenden Kugeln. Die sorgende Natur rüstet
ihre Geschöpfe je nach den Verhältnissen aus. Raubtiere und Raubvögel
haben gelernt, selbst bei Nacht ihre Augen zu gebrauchen. Tiefseetiere in
ewiger Meeresdunkelheit sind mit natürlichen Laternen ausgerüstet.
Das Wild, zum Schutz gegen den Jäger, hat einen wunderbaren Spürsinn
erworben. Früher war das anders. Als die Menschen noch nicht so zahlreich
waren und dem Wilde mit weittragenden Waffen nachstellten, waren die Tiere
dumm, zahm, vertraulich. Die alten Leute im Westen von Amerika können
davon noch manches Stücklein erzählen. Die Tiere der Prärie fürchteten
anfangs die unbekannten Menschen nicht, die in ihre friedliche Heimat
eindrangen, bis sie merkten, daß die bösen Eindringlinge Schießgewehre
hatten. Die Indianer, die den Kolumbus begrüßten, waren freundlich, bis
sie die Herren Spanier kennen lernten. Als die Indianer in der Gegend
von Boston vor drei Jahrhunderten den ersten Besuch aus Europa erhielten,
traten sie bereitwilligst ihr Land an die Eindringlinge ab, da sie
glaubten, daß die Hütten und Felder, die sich die Puritaner bauten,
Eigentum eines jeden Menschen und der ganzen Gemeinde seien. Sie konnten
daher gar nicht begreifen, daß die frommen Bleichgesichter die fraglichen
Häuser und Grundstücke ganz für sich allein in Anspruch nahmen. So
mußten die schlichten, biederen Rothäute mit ihren unvergleichlich
schönen kommunistischen Ideen die Erkenntnis von der Habgier und den
Rechtsbegriffen der bleichen Puritaner erst löffelweise hinunterschlucken
und endlich gar im Namen der Zivilisation langsam, Mann für Mann, vor den
frommen Leuten mit den dicken Bibeln und Flinten zurückweichen, wobei es
natürlich Mordbrennen, Blut und zerschundene Köpfe die Menge gab.

So paßt sich also jedes Ding und Wesen den obwaltenden Verhältnissen an
-- oder es weicht. Es ist sonderbar, zu beobachten, daß Geschöpfe mit
ausgeprägt individuellen Charakteren sich schlecht anpassen und lieber
weichen. Der moderne Mensch aber scheint dies nicht zu tun. Er beugt sich
gern. So entwickelt sich auch das Gemüt des Kellners vom Kinderzustand
auf in das, was ihm zu seiner Verteidigung, zu seinem Vorteil und zur
Selbsterhaltung am geeignetsten erscheint. Dieser Vorgang ist ohne Zweifel
ein großer Kampf. Die Kenntnis der feindlichen Situation, der Stärke und
Schwäche ist bei einem Kampfe die Hauptsache. Und darum kennt der Kellner
seine Menschen. Von dieser Kenntnis hängt seine ganze Existenz ab. Da er
aber früh als Knabe und meistens ohne Anleitung in den großen Wirrwarr
gestoßen wird, wo der Andrang der Ereignisse und Anblicke so stark ist,
daß es des Mutes eines erfahrenen Mannes bedarf, um die Lage zu erkennen,
das Gute daraus zu sondern und zu verwerten, so nimmt der Entwicklungsgang
unseres jungen Freundes selten den richtigen Lauf. Man kann leider sagen,
daß er sich in den meisten Fällen total verirrt, weil es an der Anleitung
und Belehrung fehlt, und die Erkenntnis kommt meistens erst zu spät.

Daher kommt es, daß bei den Schwächeren der Grundzug des Charakters
hündische Furcht und dienerisches Kriechen vor dem Reichtum und dem
äußerlichen Glanze ist, was ihnen gerechterweise die Verachtung ihrer
Mitmenschen einbringt und dem ganzen Stande unberechenbaren Schaden
zufügt. Anderen dienen zur Erreichung ihrer Zwecke, zur Erhaltung ihres
Daseins, listige, kleinliche Unehrlichkeiten, allerhand abgefeimte Schliche
und Wege, die ein gesunder Mensch verabscheuen muß. Zufällig bietet auch
noch ihr Beruf zu derartigem Treiben unendlich viel Gelegenheiten. Bei
wieder anderen, zwar ehrlichen, selbstbewußten, aber beschränkten Naturen
wird ein aufrührerisches Element und heimlicher Haß gegen den Reichtum
geweckt und gefördert, bis sie schließlich total ihres Berufes
überdrüssig werden und ihr Leben als ein verfehltes betrachten. Und so
geht es weiter. In allen Nuancen und Schattierungen. Ein jeder nimmt mehr
oder weniger Untugenden, Irrtümer, Erlebnisse, Erinnerungen, Eindrücke
aus seiner großen, tobenden Umgebung in seinem jungen Herzen auf und wird
sein Lebtag lang daran zu schleppen haben. Nicht jeder besitzt die Kraft,
sich wieder zu erheben, nachdem ihm das Leben die Augen geöffnet und ihm
hohnlachend ins Angesicht geschlagen hat, als es seine Jugendhoffnungen
vernichtete. Er kann sich nicht mehr losreißen, er kann nicht mehr von
vorn beginnen, er ist ein Sklave der Zeit geworden. Und gebrochen schleicht
er sich dahin, siech, zertreten, er schämt sich der Wunden, die ihm
geschlagen wurden, er sucht sie zu verbergen, er gebärdet sich wie ein
feiges Tier. Er ist ein Anblick der Verachtung für alle, die ihn nicht
kennen.

Gewiß, Sie haben recht, es ist seine eigene Schuld, wenn ein Mensch
zugrunde geht. Aber haben wir, seine Umgebung, nichts damit zu tun? Tragen
wir nicht einen Teil der Schuld? -- Sie glauben nicht, daß die Umgebung
hier einen besonderen Einfluß auf das Gemüt eines jungen Menschen hat?
Und hier geht ja alles so gesittet und fein zu! Doch wir wollen
eine Stichprobe machen. Ich greife ganz willkürlich in das volle
Speisesaalleben hinein. Sie müssen verzeihen, wenn ich bei dem
Impromptu-Inventar nicht die richtige Reihenfolge einhalten kann. Sehen
Sie nur! Sie sind, wie sie kommen, ohne Maß, ohne Regel, in unendlicher
Variation, in jeder Schattierung, in allen Bildungs-, Gesellschafts- und
Geschäftsgraden. In allen Charakteren. Sie sind die Deputationen, die
Repräsentanten aller Stufen des Lebens. Und hier gerade, wo wie an
keinem anderen Orte das innige, unzertrennliche Verhältnis der Menschen
zueinander, zu den Geschöpfen der Erde und zum Boden selbst so stark
betont und bejaht wird, hier ist der einzelne ein Namenloser, ein
Machtloser. Und seine Stimme ist nur eine leere Nummer im Rate der
treibenden Lebensmächte. Doch sie wird von ihm verlangt. Er muß sie
werfen. Und so kommen sie: edel, gütig, klug, dumm, weise und töricht,
reichbegabt und einfältig, Lebenskünstler und Idioten, Menschenfreunde
und Menschenhasser.

Sehen Sie dort in der Ecke die speisende Familie. Wehe, wenn die
Lampenschirmchen über den Kerzen mit der Farbe der Blumen nicht
übereinstimmten oder die gleichfarbigen Bändchen am Menü vergessen
wären. Die Leutchen würden unglücklich sein, wenn sie frische Veilchen
auf dem Tische hätten und man brächte ihnen noch kandierte. Der alte
Herr schweigt. Er schläft beinahe. Die eine Dame strahlt. Ich würde daran
erkennen, daß sie die Mutter der beiden andern ist, wenn sie mir nicht
persönlich bekannt wäre. Sie hat eine heiße Leidenschaft für Jan
Toroop, Edvard Grieg und ~toasted Educator Crackers~. Die Neuheit, welche
ohne ihr Wissen der ~Maître d'hôtel~ ihrer Rivalin ersann, kostete
dem Armen beinahe seine Stelle. Heute hat sie Eingeladene. Reizende
Schwiegersöhne ~in spe~, was weiß ich. Ich schließe das aus den Lilien
auf dem Tisch. Und aus dem Umstand, daß sie das Diner selber austeilt. Sie
will heute absolut als liebende Mutter, als sorgende Hausfrau erscheinen.
Oder ob sie dem Kellner grollt und das Trinkgeld sparen will? Der blonde
Herr, der so schüchtern tut, erhält aller Konvention zuwider ein
besonders gutes Stück ~sole au vin blanc~. Und recht viel liebevolle
Sauce dazu. Wie reizend! Alles schon ~en famille~! -- Das geschminkte,
juwelenbeladene Weib als Mutter! Als essenverteilende Hausfrau! Das sieht
genau so aus, wie die Dämchen, die Mätressen, die Intrigantinnen,
die Teufelinnen der Rokokozeit, welche sich mit Vorliebe als sanfte
Schäferinnen kleideten. -- Die Menschen, die sich Gesellschaft nennen,
sind klein im Großen, aber groß im Kleinen, barbarisch im Feingefühl,
ästhetisch im Vandalismus. Sie sind Künstler der Bagatelle, Priesterinnen
des Firlefanz, Anbeter des Trivialen, Koryphäen der Kleinigkeit. -- Sie
schätzen ihre Mitmenschen, sie verachten sie. Sie sind körperlich gesund
oder krank, seelisch frisch oder matt. Sie sind mit allem zufrieden, oder
es ist ihnen nichts gut genug.

Greifen Sie nur hinein, und Sie werden verstehen, was ich sagen will!
Greifen Sie nur! Glänzende Hallen -- sinnverwirrendes Stimmengemisch --
himmlisches Gedränge -- Seide und Gold -- zirpende, girrende Geigen
-- weiche, flötende Stimmen -- hoffärtiges Gelächter -- schluchzende
Klarinetten -- ohrenbetäubendes Gesumme -- süßes, geheimnisvolles
Kichern -- Lorgnetten -- Programme -- offenes, volles Lachen --
Elektrizität -- Tellergeklapper -- dürre und gemästete Körper --
Wagnerakkorde -- Menüs -- brummende Männerstimmen -- hastiges Geflüster
-- flehende, weinende Cellos -- Lackschuhe -- Silberrasseln -- goldene
Zwicker -- Banknoten -- Gläserklang -- Kellnerschweiß -- Monokels --
duftende Haare -- Hummergeruch -- Mähnen -- Neurastheniker -- Rosen --
Kleingeld -- warme, parfümierte Frauenleiber -- Fräcke -- Tabaksdunst
-- raschelnde Seidenröcke -- Weinaroma -- Haare, gewachsen auf Köpfchen
junger Bauerndirnen, zu hohen Preisen erstanden, mit Diamantenkämmen
zusammengehalten -- Küchenatmosphäre -- italienische Melodien -- Palmen
-- zierliche Füßchen -- gemästete Seelen -- Orchideen -- Hochstapler
-- Menschengerüche jeder Art -- Glatzköpfe -- schwammige Busen, mit
Brillanten bedeckt -- junge Männer, stolz mit und ohne Grund -- frech
blitzende Broschen -- wilde Augen -- fettes Wohlbehagen -- bekrönte
Monogramme -- junge, fesche Weiber mit Schlangenleibern -- leere Augen --
Schwindler -- Schmunzeln -- Nelken -- herrliche Waden -- Künstliches und
Echtes -- korpulente alte Damen, schnaufend und pustend -- wollüstige
Augen -- Kauwerkzeuge in Aktion -- Plüschsessel -- Königinnen --
welke, kalte Finger -- aufdringliches, raffiniertes Parfüm -- Perlen
-- Opernmäntel -- kühne, alles dominierende Blicke -- selbstbewußte
Faltenhemden -- blöde Augen -- hungrige Ungeduld -- Tugend, fertig und
nach Maß gemacht -- Schecks -- Künstler -- herrliche, weiße Schultern
-- Fürsten -- sanft schimmernde Perlenschnüre -- Stoiker -- müde,
tote Augen -- Protzen -- echte und unechte Lockenfülle -- zappelnde
Schlottergreise mit pergamentenen Gesichtern -- brennende Augen -- fette,
rote, wollüstige Tatzen -- echte und unechte Adelige -- Spitzen,
vor etlichen Jahrhunderten geklöppelt, früheres Eigentum verarmter
Prinzessinnen -- heiße Augen -- wohlbeleibte Bonvivants mit krebsroten
gedunsenen Gesichtern, feisten Genicken, in die der weiße, enge Kragen
tief einschneidet -- Rechnungen, Additionen -- nur Additionen -- suchende
Augen -- Likörgeruch -- Diebe -- Klarinetten -- Flüche -- schlanke,
weiße, edle Hände -- keinen Gott, nur Nippesgötzen -- Bonbons -- kecke,
feste Brüstchen -- Trinkgeld -- Pracht -- Aufwand -- Armut -- Lüge --
Geiz -- Widerspruch -- Licht -- Verschwendung -- Angst -- Schatten -- Hohn
-- das eherne, unbewegliche Gesicht des Lebens -- starre Augen -- ganz
fernes dämonisches Gelächter -- Kinderstimmen -- Hoffnung -- Frühling --
und durch das Ganze hetzt der Kontrabaß: Schrumm! schrumm! schrumm! -- --
Was ist die Summe? -- -- -- --

Stumm, schwitzend, hastend, besorgt, gehetzt drängt sich unser Mann durch
das Gewühl. Manch nagender Ärger, manche gottlose Verwünschung gegen
sich und andere werden hinuntergewürgt. Und alles bestürmt und beladet
seinen jungen Geist. Es verwirrt, entmannt, vernichtet alle ursprüngliche
Frische. Die Stimme für die Urne des Lebens wird verlangt, aber die Kraft
des Urteils wird gebrochen. Der Stimmzettel flattert blank, wertlos, leer
in die Dunkelheit hinein. -- -- --

In einigen Tagen, Herr Professor, wird ein Bekannter von mir, ein
Kommerzienrat, hier eintreffen. Er hat sich soeben angemeldet. -- Ja, ein
äußerst intelligenter Mensch, ein fortschrittlicher Großindustrieller.
Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie mit dem Herrn bekannt zu machen. --
Wie, Sie gedenken so früh schon abzureisen? Das kommt ja wirklich ganz
unerwartet.

Ich fürchte doch nicht, daß etwas Schlimmes vorgefallen ist. -- So, Sie
haben nur Ihren Plan geändert. Nun, jedenfalls bedauere ich unendlich,
Ihre werte Tischgesellschaft verlieren zu müssen. Unsere unterhaltenden
Gespräche -- hm -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Ja, nicht
wahr, gnädige Frau, Sie hätten gar nicht geglaubt, daß man so viel
von den Kellnern erzählen kann. Und wie interessant das alles ist! --
So erwerben sich diese Menschen im Laufe der Jahre einen ungeheuren
Scharfblick, eine unheimliche, geradezu gefährliche Menschenkenntnis --
von unserem Standpunkt aus gesprochen. Denn es kann uns doch nicht ganz
einerlei sein, was ein anderer über uns denkt, selbst wenn er ein Kellner
ist. Können Sie sich aber in die Gedankenwelt unseres jungen Mannes
wirklich hineinleben? -- Oh, es ist sehr leicht, ihn zu schmähen, wenn
wir mit seinen Diensten wirklich einmal unzufrieden sein dürfen.
Der beständige Anblick des Reichtums und der Verschwendung muß ganz
notwendigerweise einen gerechten Haß und Zorn in dem Herzen des Armen
gegen sein Schicksal aufwühlen und hat einen entschiedenen Einfluß auf
seine Denkungsart. Er, der Proletarier im Frack, hat immerwährend das
qualvolle Bild in Wirklichkeit vor seinen Augen, das den schreierischen,
struppigen Feinden des Reichtums nur als eine Utopie vorschwebt, da ihnen
die parfümgeschwängerte Atmosphäre eines luxuriösen Hauses vollständig
fern liegt und sie dieselbe nicht beurteilen können. Weil sie dieselben
nicht kennen, schreien sie. Anders aber der Kellner. Denn das Leben ist
gerechter gegen ihn. Die unbarmherzigen, grausamen Kontraste seines Daseins
mögen wohl manchmal die Flammen des Neides und des Hasses wecken und
schüren, aber gerade in solchen bösen Augenblicken kommt ihm das Leben
zu Hilfe. Herrliche, mannigfaltige Erfahrungen lassen ihn dann tiefe Blicke
hinter die Szenerie des Glanzes und des Reichtums tun und bringen eine
wunderbare Reaktion in seinem Herzen hervor. Er sieht alsdann, daß Glanz
und Reichtum nicht das Glück der Menschen bedingen, und daß die, die sie
nicht besitzen, ihren Neid daran verschwenden. So wird er ruhig und schreit
nicht. -- Er muß durch diese Kämpfe gehen, um ruhig zu werden. Und die
beständige Wiederholung der Dinge, die unaufhörliche Prozession dieser
scheinbar kleinen Ereignisse festigt seine Lebensanschauung, übt seinen
Blick. Ein Mensch, der sich Mühe gibt, seine Mitmenschen zu beobachten und
zu studieren, wird darüber sehr bald sein eigenes Leid vergessen. Er wird
sein Unglück als ein vermeintliches erkennen, er wird über die Irrtümer
seiner Jugend hinauskommen. Zwar nicht jeder Mensch ist mit der ganzen
wunderbaren Kraft zur Auferstehung erfüllt, aber ein Teil davon schlummert
in jedem menschlichen Herzen, ein großer Wille ist erforderlich, um den
göttlichen Funken zu wecken.

Leider kann ich nicht behaupten, daß die Kellner alle den tieferen Sinn
der Menschenbeobachtung erfassen und Nutzen für ihr geistiges Leben daraus
ziehen. Dieser unschätzbare, wunderbare Wert geht nicht nur den Kellnern,
sondern fast allen Menschen auf ewig verloren. Das Menschenstudium des
Kellners hat daher vorwiegend einen irdischen, praktischen Zweck. Es
wird vor allem sein Gedächtnis üben, dessen er so dringend in seiner
Tätigkeit bedarf. Ein Kellner, der ein Menschenkenner ist, wird es
leicht finden, sich in die kleinen, stupiden Eigenheiten seiner Gäste
hineinzufinden, er wird sie freundlich berücksichtigen, seine Gäste
entzücken und sich selber manches Ungemach ersparen. Für das Haus ist ein
solcher Mensch selbstverständlich geradezu unbezahlbar. Mit der wachsenden
Menschenkenntnis wird er sich die Gesichter und die Namen seiner Gäste
einprägen können, so daß er sie noch nach Jahren auf den ersten Blick
wiedererkennt. In dieser einfachen, praktischen Tatsache liegt das
ganze Geheimnis des großen Erfolges von so unendlich vielen, tüchtigen
Hotelmännern, die vom armen Pikkolo an emporgewachsen sind. Durch seine
Menschenkenntnis zieht der Hotelmann unwiderstehlich alle guten Elemente
unter seinen Gästen an sich und schreckt das lichtscheue Gesindel
gleichzeitig ab. Denn wenn zum Beispiel ein Gast nach Monaten oder Jahren
sich gleich wiedererkannt sieht und freundlich aufgenommen wird, so kann er
sich zum allerwenigsten sehr geschmeichelt fühlen, wenn er nicht gar eine
Art von Glücksgefühl empfindet, Menschen um sich zu haben, die sich in so
großem Maße für seine Person interessieren und dieselbe nicht vergessen,
nachdem sie für ihr Interesse bezahlt wurden. Er wird darin ein
Zeichen aufrichtiger Dankbarkeit erblicken, das seine eigene Dankbarkeit
herausfordert. Sind jedoch die Motive seines Kommens unlautere, so wird
der Gast vor dem ihn erkennenden und durchschauenden scharfen Auge Grauen
empfinden und sich andere Gefilde für sein fragwürdiges Leben und Treiben
suchen.

Ist es nicht unheimlich, so durchschaut zu werden? -- Doch wir, wir guten
Menschen haben nichts zu fürchten. Immerhin aber ist es ein erhebendes
Gefühl, zu wissen, daß unsere Zeitgenossen eine förmliche Jagd auf
uns machen. Daß unsere friedlichen, ahnungslosen Gemüter immerwährend
belauert sind. -- Sie können nicht verstehen, wie und warum die Leute
eine solche infame Wissenschaft betreiben, wer sie dazu nötigt? -- Ei, wir
selber, wir, die Gäste. -- In keinem Geschäfte, an keinem Orte, zu keiner
Gelegenheit lassen die Menschen ihre Charaktere, ihre Gutmütigkeit, ihre
Verhältnisse, ihre Laster, ihren Hochmut, ihre Dummheit, ihre Stupidität,
ihre niederste Gemeinheit, ja alle ihre geheimsten Gedanken, ihr tiefstes
Innere so zutage treten, wie an der Tafel -- wie beim Wein. Die Alten
hingen nicht umsonst bei einem Gastmahl die Rosen über ihre Häupter. --
Ich sagte Ihnen bereits, daß der Genießende im Akte des Genusses eine Art
von selbstsüchtiger Bestie ist, für die keine Umgebung mehr existiert.
Er vergißt alles rings um sich her, sieht, fühlt und genießt nur sich
allein. -- Wenn die Menschen noch den Mut besäßen, sich ihre Schwächen
aus freien Stücken gegenseitig anzuvertrauen. Dann wäre das Verhältnis
zueinander noch ein relativ würdiges und zu entschuldigendes. -- Aber sie
sind nicht vertrauend! Im Gegenteil! -- Und wenn sie sich preisgeben,
wenn sie sich bloßlegen, so ist das eine unverantwortliche, tierische,
erniedrigende Faulheit der Seele. Das ist alles. Es ist eine beleidigende,
unverzeihliche Voraussetzung ihrerseits, gleichartige Wesen vor sich zu
haben, eine unbewußte Nivellierung anderer Gemüter herab zur eigenen
Niedrigkeit. Der Ausbund aller brutalen Roheit ist natürlich dasjenige
Individuum, welches die sklavenhafte Stellung anderer wissentlich benutzt,
um absolute Unterwerfung unter seine eigenen Gewohnheiten zu fordern. Von
diesen Minotauren will ich gar nicht reden.

Jawohl, gnädige Frau! Mit einer rührenden Unvorsichtigkeit -- nein,
ekelhaften Selbstverständlichkeit geben sich die Menschen preis. Mit einer
rücksichtslosen Frechheit erwarten wir von einem wildfremden Menschen,
daß er uns bedient, daß er unsere Eigenheiten kennt, daß er sich unseren
Fehlern und Bequemlichkeiten anschließen, ihnen schmeicheln und sich
damit zufrieden geben soll. Wir sehen in ihm nicht den durch Reibung
mit allerhand Menschen geschliffenen Weltmann, den feinfühlenden
Lebenskünstler; wir erwarten nur gute Bedienung von ihm. Nichts mehr
und nichts weniger. Vollkommen gerecht! -- Nach juristischen Begriffen,
wohlverstanden. Indessen, wir werden -- wie gesagt -- bestraft. Wir können
nicht verhindern, daß der kluge, ruhige Mensch unsere Ahnungslosigkeit
durchschaut, und wir fallen dadurch, daß wir uns ihm so rücksichtslos
preisgeben, ganz unter seine Gewalt. Er ist zwar unser Kellner, wir aber
sind seine Unterworfenen.

Die wirkliche Gefahr lauert immer da am ersten, wo wir sie am wenigsten
vermuten. Denn sonst wäre sie eine schlechte Gefahr. Nur in ganz lichten
Momenten warnt uns ein von Widerspruch gedämpfter Aufschrei aus der
untersten Tiefe der Seele, treibt beschämend das Blut in die Wangen,
und wir ahnen dumpf, daß etwas nicht ganz richtig ist. Gewöhnlich
aber schwimmen wir sorglos, fröhlich und munter im dunklen Meer unseres
Unbewußtseins umher. Es ist doch eigentlich geradezu jämmerlich, von
einem wildfremden Menschen, hinter dem wir gar nichts vermuten, schmählich
durchschaut zu werden. Wenn wir wüßten, was die Leute, die uns bedienen,
unwillkürlich von uns denken -- und mit Recht von uns denken -- so würde
jeder Appetit vergehen, so hätten wir keine freudige Stunde mehr. Lakaien
und Diener sind gewöhnlich verkappte, harmlose Anarchisten, wenn sie nicht
gerade ihren Beruf verfehlt haben, d. h. wenn sie nicht wissen, daß sie
solche sind. Jeder »treue Diener« hat als Mensch seinen Beruf gänzlich
verfehlt. Er kann nichts als ein Idiot sein. Es gibt daher keine »treuen«
Diener. Das Gebiet ist unerforschlich tief. Wir müssen unser Bestes
daraus machen. -- Unsere Ahnungslosigkeit ist einesteils unser Glück. Wie
könnten wir noch fröhlich unser gutes Diner genießen, wenn wir wüßten,
was hinter unserm Rücken vorgeht! --

Wenn zwei astronomische Welten zusammenkommen, so gibt es ein Unglück.
Wenn zwei wirkliche Menschen zusammenkommen, gleichfalls. Wir sind als
Geschöpfe so entsetzlich isoliert, daß eigentlich jeder Versuch zur
innerlichen Annäherung an einen anderen Menschen aus einer grenzenlosen,
weichtierartigen Naivität zu stammen scheint. Nur hie und da -- in den
gottvollen lichten Momentchen -- vernehmen wir etwas von uns selber und
somit zugleich das herzzerreißende Schluchzen einer anderen, fremden,
ebenso einsamen Welt, und beide stehen wir da, sehnsüchtig, hilflos,
ohnmächtig, uns selber überlassen. Doch -- wie gesagt -- das sind Gott
sei Dank nur Momente. Und sehr seltene obendrein. Aber aus diesem und
keinem anderen Grunde müssen wir unsere Mitmenschen achten und ihre
Existenz anerkennen.

Guglielmo Ferrero sagt an einer Stelle ganz großartig:

  »Es ist kein Zufall oder die unerklärliche Kaprice einiger alter
  Schriftsteller, daß wir so viele kleine Angaben über die Entwicklung
  des Luxus und die Veränderung der Lebensweise im alten Rom besitzen,
  daß zum Beispiel zwischen den Beschreibungen der großen Kriege, der
  diplomatischen Errungenschaften, der politischen und ökonomischen
  Katastrophen uns das Datum angegeben wird, wann die Kunst des
  Geflügelmästens in Italien eingeführt wurde. Diese kleinen Tatsachen
  sind der Majestät der römischen Geschichte nicht so unwürdig, wie
  man anfangs annehmen möchte. Alles ist in dem großen Dasein
  einer Nation vereinigt, nichts ist ohne Wichtigkeit. Die kleinste,
  persönlichste Handlung tief verborgen in der
  Abgeschlossenheit des Heims, die niemand sieht, niemand kennt, hat
  einen unmittelbaren oder fernliegenden Einfluß auf das alltägliche
  Leben der Nation. Diese kleinen, bedeutungslosen Geschehnisse sind mit
  den Kriegen, den Revolutionen, den gewaltigen politischen und
  sozialen Ereignissen, über die die Menschen erstaunen, durch ein
  Band verbunden, welches zwar den meisten Leuten unsichtbar, aber
  nichtsdestoweniger unzerreißbar ist. -- -- Wie klarer und tiefer
  würden die Ursachen so vieler anscheinend mysteriöser Ereignisse in
  der Geschichte erkannt werden, von wie vielen Perioden würde man den
  Geist der Zeit besser verstehen, wenn wir nur Aufzeichnungen über
  die Privatverhältnisse der Familien besäßen, welche die regierenden
  Klassen bilden! Jede Tat, die wir in der Stille unseres Heims begehen,
  hat eine Rückwirkung auf unsere Umgebung. Mit jeder unserer
  Handlungen nehmen wir eine Verantwortlichkeit gegen die Nation und
  Nachkommenschaft auf, welche sich früher oder später in Ereignissen
  bestätigt.«

Demnach sollten die Wirte sich ein unsterbliches Verdienst um die
Geschichte erwerben, indem sie akurate, gewissenhafte und schonungslose
Tagebücher von all dem führen, was sie sehen. Aber das ist nicht nötig.
Wenn sie nur _beherzigen_, was sie sehen, so haben sie ihre Pflicht der
Menschheit gegenüber vollauf getan. Denn sie und vor allem ihre Gehilfen,
die Kellner, haben die großartigsten Gelegenheiten, die Menschen und ihre
intimsten Handlungen aus nächster Nähe zu betrachten. Kein Geschäft,
kein Beruf, kein Gewerbe ist so vorzüglich zu solchen Studien geeignet,
als wie die Gastwirtsindustrie. Und daß die Menschen selber gegen
derartige Studien nichts einzuwenden haben, erwähnte ich bereits. Die
große Verachtung, die sie vor dem Wirt im allgemeinen und dem Kellner im
besonderen haben, wird ihnen -- wie ich bewies -- selber zum Verderben. Man
soll daher keinen Menschen für zu gering und zu dumm halten, als daß man
sich ihm rückhaltslos preisgeben könnte.

Sie fragen nun, warum diese unbarmherzigen Menschen fast alle
»Dienerseelen« seien oder Ignoranz und Unterwürfigkeit heuchelten?
-- Wenn das der Fall wäre, so müßte der mildtätige Bonifaz und seine
freundliche Familie das verächtlichste Geschlecht auf Erden sein. Aber dem
ist nicht so. Sie sind auch nur Menschen wie wir. Die außerordentlichen
Schwierigkeiten des Services, die Ansprüche, die wir stellen, die
Geräuschlosigkeit, mit der alles hergehen soll, die Vorsicht, mit der
man zu Werke gehen muß, das alles wirkt sehr auf das Wesen ein, das alles
macht ihn schüchtern, zurückhaltend, das alles gibt seiner Person
den Anschein eines Zauderers, verwandelt ihn in den Mann der
Unentschlossenheit, ein Bild, das jeder verachten muß, der es nicht kennt.
Alle diese vielen kleinen äußeren Umstände machen den Menschen zu einem
feinfühligen Wesen. Nicht nur als solches fürchtet der Kellner einen
Fauxpas oder eine Blamage über alles, sondern ein kleines Unglück kann
ihm auch oft seine Stelle kosten. Es ist wunderbar, zu beobachten, wie die
Wirte oft die Existenz eines Angestellten opfern, um eine kleine, gemeine
Laune eines Gastes zu befriedigen. Sollten Sie nicht ängstlich werden,
wenn Ihr Dasein durch jede kleine Kleinigkeit gefährdet ist? Wer wird wohl
den kürzeren ziehen bei einem jämmerlichen, lächerlichen Disput zwischen
Gast und Kellner? Die meisten Kellner und Wirte haben noch nicht gelernt,
den Forderungen ihrer Kundschaft entgegenzukommen und entgegenzutreten.
Daher ist es Tatsache, daß eine Dienerseele als Kellner ziemlich
erfolgreich sein kann, während ein halbwegs selbstbewußter junger Mann
die größten Qualen auszustehen hat. Eine Dienerseele schnüffelt sich auf
ganz bewundernswerte Weise instinktiv seine verwandten Kreaturen aus der
großen Menge heraus. Sie wittern ein schleimiges Verhältnis und sind
zu haben. Sie sagen mit Freuden ja. Wir sollen von unserem Kellner keine
Dienerei verlangen. Wir erniedrigen uns dadurch selber. Ein wirklicher
Mensch duldet keine Herrschaft, keine Autorität über sich und keine
Dienerei unter sich. -- Hier wird die Lebenskunst unseres jungen Mannes
besonders erprobt. Und wenn der selbstbewußte Kellner -- wie es sich für
jeden Menschen schickt -- sein Rößlein ein wenig im Zaum hält und
den Stolz nicht mit der Vernunft durchgehen läßt, so übertrifft er an
geschäftlichen Leistungen, an Tüchtigkeit und Erfolg jede Dienerseele bei
weitem.

Das meiste Unglück auf der Welt wird bekanntlich durch die Tatsache
angerichtet, daß jeder Mensch seiner eigenen Person viel zu viel
Wichtigkeit zuschreibt, wie bescheiden er selbst sein mag. Bescheidenheit
ist nichts als eine vornehme Art von Wichtigtuerei. Mit etwas
Selbstverachtung aber und Hochachtung vor anderen kommt man erstaunlich
weit. -- Das weiß der gute Kellner besser wie wir alle.

Ja, meine Freunde, Sie glauben nicht, wie mitleidig und feinfühlig ein
guter Kellner ist. Auf den ersten Bück merkt er, wie Sie aufgelegt sind,
und empfiehlt Ihnen je nach Ihrer Gemütserregung die nötigen Speisen, den
erforderlichen Trost in Form eines Getränkes. Er besitzt das Auge eines
Arztes. Ja, noch mehr tut er. Er nimmt Anteil an Ihrem Leide, an Ihrer
Freude, ohne daß dieses Mitgefühl direkt auf seine Trinkgeldabsichten
zurückzuführen ist. Es ist der gute Geist der alten Gastfreundschaft,
der in den Leuten weiterlebt. Es ist des Kellners Natur, sich dem Gaste
anzupassen, wie sich der Dichter dem Volke anpassen muß, wenn er zu ihm
sprechen will. -- Einem Börsenmakler sieht der freundliche, lächelnde
Ganymed die Haussen und Baissen an der Nase ab. Nach einigem Zögern
versucht er dann vorsichtig darauf anzuspielen und nötigenfalls zu
gratulieren oder seinen Schmerz auszudrücken. Ein Kellner vermag den
größten Mutzkopf und Brummbär zu trösten, wenn dieser nicht gerade ein
unheilbarer Hypochonder ist, in dem das letzte Fünkchen Liebe für die
schöne Erde und für Humor erloschen ist. Als Belohnung für eine solche
Wohltat gibt der Börsianer häufig seinem liebenswürdigen Ganymed einen
»Tip«, einen guten Rat in bezug auf die Börsengeheimnisse, woraufhin der
Kellner nicht selten mit einer kleinen Einlage gut abschneidet.

Dem Kellner ist es ein wahres Vergnügen, einem freundlichen, wohlgesinnten
Gaste aufzuwarten, und wer als solcher eine Unterhaltung wünscht oder
sucht, wird im Kellner einen interessanten Causeur finden, wenn es die
Zeit gestattet. Ein guter Kellner wird nie die Unterhaltung aus eigener
Initiative suchen. Sein Taktgefühl und die einfachsten Regeln der
Höflichkeit sagen ihm auch genau, wie weit eine Konversation gehen kann.
Höflichkeit ist gerade das Gegenteil von Dienerei. Wer einem unbekannten
Menschen höflich begegnet, hat demselben gegenüber immer etwas voraus.
Schmierige Vertraulichkeit mit unbekannten oder wenig bekannten Menschen
ist ungefähr das Widerlichste, was sich ein feinfühliger Mensch denken
kann, und sie entstammt nur einer tierischen Borniertheit. Wer solchen
Passionen nachhängt, muß oft sehr erniedrigende Erfahrungen machen. --
Das alles sieht und weiß der Kellner besser wie wir alle, denn er lernt es
unter dem großen Gewühl der Menschen.

In einzelnen Fällen wächst das Verhältnis zwischen Gast und Kellner auch
zu einer schönen Familiarität und Freundschaft heran. Reiche, vornehme
Leute, vielleicht alt und kinderlos, gewinnen oft ein wirkliches Vertrauen
zu einem jungen, frischen Menschen, besonders wenn sich dieser in freier,
schöner Weise ihrer annimmt und im Interesse des Hauses und seinem eigenen
den Aufenthalt der Gäste genußreich zu gestalten versucht. Mag das Leben
und die Lage der Gäste noch so beneidenswert aussehen, es hat immer seine
großen und kleinen Häkchen, die das Dasein versauern. Und gerade solche
Leute empfinden etwas ihnen Zugefügtes, das sie, streng genommen, nicht
fordern können und worauf sie keinen Anspruch haben, als eine angenehme
Überraschung und wissen es zu würdigen. Warum sollte unter solchen
Umständen nicht ein wirklich kordiales Verhältnis zwischen Hoch und
Gering aufkeimen können?

Aber unser modernes Leben, unsere geschäftlichen Ansichten ersticken doch
in den meisten Fällen jede schönere Regung in den Herzen der Menschen.
Und das größte Merkmal im Verkehr der Menschen untereinander ist nicht
das Wohlwollen, die Güte und die Liebe, es ist auch nicht die Gemeinheit,
die Sklaverei, der Haß oder die Sucht, sich gegenseitig zu schädigen,
nein, es ist nur eines: die Gleichgültigkeit, die Indifferenz. Sie ist
wirklich aus dem Trubel unseres modernen Erwerbslebens geboren und ist die
niederste Stufe aller menschlichen Herzensregungen. Jeder wurschtelt für
sich selber und bekümmert sich nicht um den anderen. Einer solch niederen
Gesinnungsart sind nicht einmal die wildesten Völker der Erde fähig.
Der Fremde, der zu ihnen kommt, wird entweder als Gast in den Hütten
aufgenommen, mit allen Mitteln wie ein Heiliger geschützt und gepflegt,
oder er wird totgeschlagen und aufgefressen. Beides sind Zeichen der
Hochachtung. Ein Barbar wird niemals gleichgültig an einem anderen
vorübergehen.

Ein Mann, der so zwischen den Feuern steht wie unser junger Freund, muß
eine himmlische Geduld und Nachsicht mit den Schwächen und Fehlern der
Menschheit haben. Der Gemeinheit gegenüber verhält er sich am besten
ruhig, vornehm, ablehnend und schweigend. In den meisten Fällen wird er
damit seinen rüpelhaften Gegner entwaffnen und zu Tode schweigen. Er
muß bedenken, daß er Grobheit und Gemeinheit niemals besser als mit
unendlicher schweigsamer Verachtung strafen kann. Er schont damit seine
wertvolle Gesundheit und steht im Verhältnis zu seinem Angreifer wie der
Mond zum Hunde, der ihn anheult. Und da die Gemeinheit der Menschen mit dem
Geschäfte des Kellners verbunden ist wie der Geruch mit der Leimsiederei,
so können Sie sich, meine Freunde, leicht vorstellen, was für ein
vornehmer Mensch unser Kellner ist.

Ich erkläre mich aber wirklich nicht damit einverstanden, daß der
Kellner geschäftlich ein vornehmer, schüchterner Märtyrer menschlicher
Gemeinheit sei. Er sollte auftreten, wie es unser Inneres verlangt. Er
sollte nicht jede Gemeinheit, jede Beleidigung, jede Frechheit dankend
einstecken. Nein, bewahre! Er sollte sich wehren, als Mensch, als moderner
Mensch wehren. Wir haben kein Verständnis für Heilige. Wir lachen
darüber. Demgemäß sollte auch der Kellner auftreten. Das würde seiner
Gesundheit sehr förderlich sein, deren er dringend für seine langen
Arbeitsstunden bedarf. Bei unvermeidlichen Konflikten sollte sich der
Kellner sein Gegenüber ansehen und keine Rücksicht auf gemanikürte
Hände oder Monokel nehmen. Er sollte es abschätzen. Hält er es für
genügend zurechnungsfähig, daß eine derbe Lektion nicht ganz wirkungs-
und spurlos an dem leeren Gehirn vorüberstreift, so soll er die notwendige
Lektion gründlich erteilen. Wenige, aber kräftige Worte und nur Wahrheit,
das genügt schon. Bei einem derartigen Renkontre sollte jeder Prinzipal,
der nur ein klein wenig auf sich, sein Haus und seine Leute hält, den
Angestellten unterstützen. Er wird dabei die Meinung eines jeden
rechtlich denkenden Mannes auf seiner Seite haben. Wird dem Angestellten
Unterstützung verweigert, so ist es Pflicht seiner Kollegen, solidarisch
aufzutreten. Universelle Organisation und tatkräftiger Rechtsbeistand
kämen dann sehr zur Geltung. Dies bezieht sich natürlich auf Fälle, wo
die Person oder die Ehre des Kellners beleidigt wird. Bei gewöhnlichen
geschäftlichen Differenzen zwischen Gast und Kellner entledigt sich der
letztere der Sache am einfachsten, indem er sie dem Vorgesetzten übergibt
und nicht eigenmächtig handelt.

Man sollte daher sagen, meine Freunde, daß, wenn ein Kellner oder
irgendein anderer Mensch irgendeines Berufes ein Menschenkenner, ein
tüchtiger Fachmann, ein bescheidener, höflicher Mann der Welt, ein
angenehmer Gesellschafter ist, und wenn er das Gefühl der Pflicht, der
Verantwortlichkeit und Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft in
seiner Brust trägt, so würde er sich damit selbst die Hochachtung der
gemeinsten seiner Mitmenschen erzwingen. Aber unserm Kellner wird dies
schwer, sehr, sehr schwer gemacht. -- Und so sehen Sie ein, daß ein Mann
in einer derartigen Stellung einer wirklich großen Philosophie bedarf,
um stark zu bleiben, sich aufrecht zu erhalten und nicht unterzugehen.
Wem aber ist die Philosophie gegeben? -- In jedem neuen Menschen, der uns
entgegentritt, begegnen wir einer neuen kleinen Welt, auf welche unsere
vorherigen Erfahrungen nur wenig, oft gar keine Anwendung findet. Zur
Erkenntnis solcher Wahrheiten, die uns über alles Unheil der Erde
hinwegzutragen vermögen, gehört ein gutes, geübtes Auge, das frei von
den Kleinlichkeiten der Umgebung weit hinausschaut. Dieses Auge
besitzen nur wenige. Indessen die meisten werden von der Notwendigkeit
hinweggeschwemmt und lassen sich tragen. Doch das Leben versagt ihnen
nie seine Hilfe ganz. So werden sie vorsichtig, feinfühlig, gewitzigt,
forschen, strecken die Fühler aus ins Dunkle und sind auf der Hut. Die
Verirrungen und Verwirrungen unserer Zivilisation verlangen dies. Sie
bilden uns zu Diplomaten und Politikern heran. Diplomaten sind Leute,
die in den schwierigsten Stellungen des Geistes und des Körpers Dinge
verrichten können, die jeder aufrecht stehende Mensch in natürlicher
Lage ebensogut und noch besser ausführen kann. Das Menschengeschlecht hat
wirklich noch nicht die Kunststückchen seiner Vorfahren in den Lianen
des Urwaldes verlernt. Ja, es scheint, daß, je mehr die Zivilisation
fortschreitet, um so mehr wir deren wieder bedürfen, d. h. daß wir
zurückschreiten. Der beste Beweis dafür ist die Entwicklung des modernen
Kellners. Ist es nicht geradezu bewundernswürdig, wie er sich durch
die Schlinggewächse unserer Zivilisation hindurchschlängelt? Als pure
Naturerscheinung genommen, für den Forscher freilich hat es wenig Reiz,
weil verständlich. Wie alles andere, wenn man mit den Gesetzen der
Entwicklung vertraut ist.

Es ist bemerkenswert, daß der Kellner -- ein sehr moderner Arbeiter --
trotz seiner Stellung zum Kapitalismus eher zum ganz achtbaren Philosophen
und sozialen Trapezkünstler als zum Sozialdemokraten heranwächst. Bedenkt
er, daß die glücklichen, fremden Menschen, denen er so nahe tritt, an
seinem Unglück nicht direkt schuld sind? Läßt er es ihnen aus diesem
Grunde nicht fühlen? Nimmt er darum keine drohende Haltung an? Welch
formidablen Feind hätte die Gesellschaft nicht in ihm?! -- Doch sein Wesen
ist stets -- ohne gefährliche Hintergedanken -- gleich freundlich. Seine
Züge versteinern sich so allmählich zu einem stereotypen Lächeln, einem
traurigen Gemisch von Entsagung, geschickter Verstellungskunst, verhohlenem
Leid und obligatorischer Heuchelei -- ein Ausdruck, von der Zeit ins
Antlitz des Großstadtmenschen gegraben, der ihm mit in den Tod folgt. --

Apropos, Herr Doktor, ich glaube auch nicht, daß der Kellner ein großer
Theaterschwärmer ist. -- Wieso? Nun, nach all dem, was er tagtäglich und
nachtnächtlich zu sehen bekommt und anhören muß, dürften die Handlungen
auf den Brettern, die die Welt bedeuten, meistens doch recht fade und
verlogen erscheinen. -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- --

Kellner, ich nehme meinen Kaffee im Palmengarten. -- Nein, nur für mich
allein; meine Gäste haben sich empfohlen. -- Wer ist dort? Ein Herr, der
mich eben begrüßen will! -- Seine Karte! Zeigen Sie her. Wohnt der Herr
auch im Hotel? Ah, heute angekommen. -- Natürlich! Sagen Sie ihm, ich sei
mit dem größten Vergnügen bereit. --

»Marcus Tottenham Wootslebury, 15 Regent Street.« -- Mein Schneider
aus London! Was mag er im Schilde führen! Ich bin ihm doch nichts mehr
schuldig! --

Ah! ~How do you do, Mr. Wootslebury?!~ -- So, Sie haben mich im Speisesaal
gesehen und bis zum Schluß des Diners gewartet, um mir guten Tag zu sagen?
Das ist aber liebenswürdig von Ihnen! -- Stören? Bewahre! Meine Gäste
hatten's eilig. Sie wollten noch ins Theater. Ganz unzeremonielles
Abendessen, wissen Sie. -- Nehmen Sie auch Kaffee? Wie, keine Fine
Champagne? -- Aber doch eine Perfecto? -- Ja, danke, mit der letzten
Garderobe bin ich sehr zufrieden. Alles sitzt wunderbar. -- Und was gibt's
sonst Neues zu sehen auf Regent Street und Bond Street? -- So, einige
revolutionäre Abänderungen am Morning Coat! -- Das ist ja ungeheuer
wichtig! Ja, ja, aber sagen Sie mir! Ist denn das wirklich wahr? Seit
vorvorgestern trägt man die Falten der Beinkleider an der Seite! Ich
konnte es nicht für möglich halten, als ich das Kabeltelegramm erhielt!
-- Hier ist es noch nicht eingeführt. Die Leute sind hinter der Zeit
zurück. -- Welch ein Glück, daß ich Sie treffe, mein lieber Mr.
Wootslebury! Da muß ich doch gleich meinen Valet instruieren. -- Hm, ja,
herrlicher Abend heute. -- Schönes Wetter überhaupt die ganze Zeit. --

Müde? Ja, ich bin etwas müde. Ich habe einen anstrengenden Tag gehabt.
Schon um elf Uhr früh aufgestanden, Bad genommen, anziehen lassen, Lunch
im Klub, zur Rezeption bei der Mrs. Van der Gold Augustus Crackerjack
anziehen lassen, zum Polo anziehen lassen und zum Diner anziehen lassen. --
Nein, für heute ist's genug! -- Ich habe alles abgesagt. --

Und sagen Sie mal, lieber Mr. Wootslebury, finden Sie nicht auch, daß
diese Kellner hier eigentlich verdammt schick in Kluft sind! -- Ja, ich
verstehe wohl, was Sie meinen. Aber das will ich Ihnen erklären. Wenn
diese Kerle genau so aussehen würden wie unsereins, wo sollte denn das
hinaus!? Darum müssen sich die Leute schon etwas einschränken. Das sind
geschäftliche Vorschriften. Aber das Exterieur ist für den Kellner genau
so wichtig wie für uns. Denn es gilt als eine von der Menschheit seit
urdenklichen Zeiten festgesetzte Regel, seinen äußerlichen Menschen in
möglichst gutem Licht zu zeigen. Man mag darüber denken wie man will, es
bleibt Tatsache, daß derjenige, der aus Weltverachtung, Exzentrizität,
Nachlässigkeit oder Dummheit gegen diese erste Regel der Gesellschaft
verstößt, allerhand unangenehme Folgen zu tragen hat. Ja, die Regel vom
schönen Außenmenschen gilt vor allem auch für die Kellner. Die Leute,
die gut essen und trinken und hohe Preise dafür bezahlen können, wollen
sich nicht durch allerhand Jammergestalten den Appetit verderben lassen.
Und sie haben recht! -- Warum sollten sie! -- Nicht wahr, das finden Sie
auch. -- Denken Sie sich, ich hörte einmal einen Gast am Tisch nebenan
sich über das Aussehen des Kellners beschweren. Er ließ den Oberkellner
rufen und sagte ihm in Gegenwart des Kellners:

»Geben Sie mir einen anderen Kellner. Ich kann das Gesicht des Menschen
nicht leiden!«

Und er bekam einen anderen. -- Der erste entfernte sich schweigend. -- Das
nenne ich Geschmack und Energie! -- Die Wirte und ihre Angestellten müssen
sich das täglich bieten lassen, bis sie gelernt haben, wie ein Mensch
ausschauen soll. Ein gutes Diner, wie jeder andere Sinnengenuß, ist
eine Befriedigung, eine Betäubung eines gewissen Bedürfnisses, eine Art
Illusion, ein schönes Selbstbelügen, eine angenehme Narkose, ein süßer
Traum, wobei -- ihn möglichst vollkommen zu gestalten -- alle äußeren
Umstände mitwirken müssen. Das luxuriöse Milieu eines modernen
Speisesaals, die kostbare Ausstattung, Gobelins, orientalische Teppiche,
Blumen, Palmen, Marmor, Musik, Lichter, anständige, feine Kellner, das
alles muß dazu beitragen.

Man braucht aber doch wirklich gar kein sensitiver Sinnenmensch zu sein,
um sich von dem zweifelhaften Äußern eines in unsere Nähe kommenden
Menschen abgestoßen zu fühlen. Ja, nicht wahr! Jedes irgendwie
verdächtig aussehende Individuum erweckt eine gewisse Unruhe und
Unbehaglichkeit in der Brust seiner Mitmenschen. Dies unangenehme Gefühl
kann je nach dem Grade der Empfindlichkeit einerseits und den
Umständen und nach der Beschaffenheit des Äußern andererseits bis
zur Unerträglichkeit gesteigert werden. Einen solchen Fall hatte ich
zweifellos vor mir. Der betreffende Gast konnte sich nicht einmal mit dem
Gesichte seines Kellners abfinden. Gegen seine Kleidung hätte kein Mensch
etwas anhaben können, denn ich verkehre in keinen Häusern, wo etwas
Derartiges stattfinden könnte. Sie sehen, für den Gast war das Aussehen
des Mannes nur eine Augenblicksfrage, für den Kellner eine Lebensfrage.
Aber in einem Speisesaal gehört ein derartig gespanntes Verhältnis
zwischen zwei Menschen in verschiedenen Lebensstellungen tatsächlich nicht
zu den Freuden des Daseins. Daher wurde der Kellner entlassen. Denn gerade
hier, wenn das Verhältnis nicht makellos harmonisch ist, d. h. wenn der
Gast den Kellner nicht gerne sieht, so kann es von verderblicher Wirkung
sein. Der Gast verliert gewöhnlich seinen Hunger, das Haus Einkünfte und
der unangenehme Kellner seine Stellung.

Ja, Mr. Wootslebury, es ist etwas Eigenartiges, daß die Gäste von
möglichst distinguiert aussehenden Leuten aufgewartet sein wollen. Warum?
Ich denke mir die Sache folgendermaßen: Je besser und intelligenter ein
Mensch ist, der uns vollständig zur Verfügung steht, um so besser und
intelligenter müssen wir uns doch wohl selber fühlen. Nicht wahr? --
Hähäh! -- Ganz richtig! -- Man entdeckt auf einmal Werte in sich, die uns
selber bis dato unbekannt waren. Das sind höchst angenehme Gefühle. Und
als Gratiszugaben zu einem guten Essen sind sie höchst willkommen,
der Verdauung äußerst förderlich. -- Nein, das haben wir nicht erst
herausgefunden. Das wußte man schon zu den ältesten Zeiten. Warum mußten
denn bei den großen Essen im Mittelalter die Herren Reichsfürsten
die Majestät höchst eigenhändig servieren? -- Vom Lakai auf dem Bock
schließt man doch erst auf den Herrn in dem Wagen. An der Uniform erkennt
man doch erst den Geschmack der Leute, nicht wahr? -- Und auf dem
geistigen Gebiete ist's genau so. Die meisten Herrscher zogen doch nur ihre
zeitgenössischen Geistes- und andere Größen an ihre Höfe heran, um
sich selber mit den Blüten der Nation zu garnieren, da sie die Leere ihres
eigenen Daseins dumpf empfanden. In ganz vereinzelten Fällen, wo keine
Selbstverherrlichung das Motiv ist, sich mit großen Geistern zu
umgeben, wuchsen die Beziehungen zwischen Fürst und Protegé zu inniger
Freundschaft aus. Sonst aber ist das Verhältnis ein unerquickliches.
Protzentum, Heuchelei, Kriecherei und sonstige Unannehmlichkeiten.
Haben Sie jemals das Leben des Herrn Geheimrats Goethe gelesen, Mr.
Wootslebury? --

Es ist eine schwierige Aufgabe für den Kellner, als eleganter Mensch
aufzutreten, ohne jedoch den Gästen ähnlich zu sehen, zumal er auch noch
aus gewissen anderen praktischen Gründen Juwelen, Uhrketten, Ringe, die
auf allzu deftigen Wohlstand des Eigentümers schließen lassen könnten,
sowie andere Distinktionen des Gentlemans unsichtbar tragen muß. Man soll
die Menschen nicht unnötigerweise aufreizen. -- Gerade aber, weil die
Kellner genötigt sind, in einfacher Eleganz aufzutreten, hat man sie immer
und immer wieder mit Kavalieren verwechselt. Viele praktische Wirte ziehen
sich nun aus dem Dilemma, indem sie ihren Leuten ein paar goldene Knöpfe
an den Frack annähen. Aber glauben Sie nicht, daß dies das Aussehen des
Kellners zu sehr beeinträchtigt? Es erinnert doch zu sehr an die Uniform.
Ja, sehen Sie! Uniform ohne Schnurrbart und Waffen! Was ist das für eine
Kombination! -- Warum man den jungen Leuten nicht gestattet, Schnurrbärte
zu tragen? Ja, das ist auch noch ein Rätsel von den vielen im Leben des
Kellners. Gehört das glatte Gesicht zur Uniform? -- Soll der Mann jünger
erscheinen? Will man durch Verbannung des Zeichens männlicher Würde das
Selbstbewußtsein demütigen oder heben? -- Ich weiß es nicht. Der Kellner
soll keine wohlriechenden Parfüms gebrauchen, noch soll er sein Haupthaar
salben, und wie er dennoch als zivilisierter Mensch erscheinen kann, ist
mir gleichfalls rätselhaft. Sein Frack -- mit oder ohne Goldknöpfe -- ist
das interessanteste Kleidungsstück, das ich kenne. Nur halte ich es etwas
zu malerisch und daher zu unpraktisch, um darin täglich Fußreisen von
dreißig bis vierzig Kilometern zu machen. -- Wieso? -- Nun, wenn wir
bei einem anständigen Diner mit dem Horsd'œuvre anfangen und mit dem
Nachtisch aufhören, so wird unser Mann inzwischen so oft hin und her,
treppauf und treppab in die Küche, Keller und überall hin Laufschritt
gemacht haben, daß sich daraus eine gute Strecke zusammensetzt. Hat er
mehrere Partien zu befriedigen, die sich alle zahlreichen verschiedenen
Genüssen hingeben, so zieht sich sein Weg ziemlich in die Länge. Bei
einem starken Verkehr und zu allen Mahlzeiten des Tages wächst es ins
Unglaubliche. -- Nein, daran läßt sich nichts verbessern. Er wird immer
seine Stiegen und Strecken zu laufen haben, er wird seine Kilometer zu
Fuß machen müssen, denn es ist für ihn notwendig, sich mit dem Koch
persönlich in Verbindung zu setzen, die fertigen Sachen eigenhändig in
Empfang zu nehmen. Wenn seine Küche nun noch etwas weit vom Speisesaal
entfernt liegt, was aus vielen Gründen gewöhnlich der Fall ist, und
wenn sein Gedächtnis etwas unzuverlässig ist, so entwickelt sich aus dem
Kellner ein Dauerläufer, der manchen Marathonrenner beschämen könnte.
Denken Sie sich, Mr. Wootslebury, diese Entweihung des Frackes! Der Frack,
der Inbegriff aller Eleganz, der einfache, schöne, geschmeidige Rock des
Gentleman! Das Symbol der lässigen Ruhe! Was wird aus ihm, wenn der Sturm
des Lebens hindurchsaust, wenn die Schöße ratlos und verzweifelt im Winde
flattern! -- Der Kellnerfrack, nein, das ist nichts! -- Das Malerische,
Derbe, Urkräftige, Trotzige, das dem blauen Kittel des rußigen Arbeiters
anhaftet, fehlt der Kleidung des Kellners -- eines modernen Arbeiters
-- leider gänzlich. Hat der Kellner nicht die Berechtigung, auch zu
denjenigen Menschen gezählt zu werden, die in schwerer Arbeit des
Körpers und zugleich mit großer geistiger Anstrengung das tägliche Brot
erkämpfen müssen und dabei die elende Hülle ihres Körpers mit sauerm
Schweiße durchtränken!? Der Frack! -- Was wird er auf dem Rücken des
arbeitenden, schweißtriefenden Kellners? -- Können Sie mir das nicht
sagen, Mr. Wootslebury? -- Ja, ja, ich versichere Ihnen! -- Eine der vielen
Tragikomödien unseres heutigen Lebens! ...



V.


  »~Business is Business~«

Es liegt etwas sehr Schönes in dem Gedanken, den Menschen Heime und
Unterkunft zu bereiten, ihnen Speise und Trank zu reichen.

Aber dann kommt das Geschäft. Wirklich, ich habe lange auf den Augenblick
gewartet, um mit einem hervorragenden Geschäftsmann ein Wörtchen über
Geschäft zu sprechen und seine Ansichten zu hören. Darum ist unsere
heutige Konversation auch so interessant für mich. -- Natürlich, ich
verstehe Ihren Standpunkt als Großindustrieller vollkommen. Sie müssen
mir aber erlauben, daß ich vom menschlichen Gesichtspunkt aus, auf dem ich
stehe, mancherlei gegen moderne Geschäftsmethoden einzuwenden habe. Das
sind die Widersprüche, aus denen unser Dasein zusammengesetzt ist. Aber
_ein_ Zug tritt schön hervor: wir alle versuchen unser Bestes, und gleich
stark in uns allen wühlt der Drang nach Tätigkeit und Arbeit, gleichviel,
wie oder ob derselbe zum Ausbruch kommt. Er ist da. -- Ob als Künstler,
als Gelehrter, als Kaufmann oder Handwerker, jeder tut, was in seinen
Kräften steht, jeder ist gleich stolz auf seine Arbeit -- von seinem
Standpunkt aus. Und mit Recht. -- Aber jedes Geschäft -- oder Arbeit
-- oder Kunst -- wie man will, ist eine Art Kleinigkeitskrämerei. Ein
Geschäftsmann, ein Künstler, ein Staatsmann, ja schließlich jeder
Mensch, welcher Kleinigkeiten übersieht oder ignoriert, wird dafür
bestraft -- in manchen Fällen ruiniert. Kleinigkeiten scheinen die Welt
und das große Leben auszumachen, so lächerlich es klingt. -- Goethe
mußte sich als Staatsminister um lederne Gendarmeriehosen und allerhand
sonstigen Kram bekümmern. Und er tat es. Oft sogar mit wirklichem
Vergnügen. Er, der Olympier!

Dann ist das Geschäft als solches aber auch etwas mehr, es ist ganz
Unerbittlichkeit. So unerbitterlich wie jede fortlaufende Handlung, wie
ein Drama, wie das Ticktack der Uhr, das ein Endziel, einen Abschluß hat.
Sonst ist es kein Geschäft.

Was sagen Sie aber nun zu einem modernen Riesenhotel, Sie, der Inhaber von
großen Industrien, von ausgedehnten Geschäften? Ich meine von Ihrem, vom
geschäftlichen Standpunkt aus. -- Ist das moderne Riesenhotel nicht
eine ganz großartige Industrie? -- Und sonderbar! So interessant und
weitverzweigt das Hotelwesen als Geschäft ist, so miserabel ist der Wirt
als Geschäftsmann. -- Wieso? -- Ei, seine Tätigkeit, sein Geschäft
bringt dies selber mit sich. Und ein schlechter Geschäftsmann ist
gewöhnlich auch ein schlechter Prinzipal und Arbeitsgeber. Auch dies
bestätigt sich beim Wirt. -- Ja, Sie haben sich vielleicht noch nicht
genügend für die geschäftliche Seite der Hotelindustrie interessiert,
und darum klingt Ihnen meine Behauptung neu und fremd. Aber sie beruht auf
Tatsache. -- Gewiß, ich weiß, im Sinne des bürgerlichen Gesetzbuches
ist der Wirt ein Kaufmann. Aber darauf gebe ich nichts, gar nichts. Ich
bekümmere mich nicht um leere Phrasen und Namen. Nun wohl! Ich habe
Ihnen gesagt, daß etwas mehr Schönes in dem Gedanken liege, den der Wirt
aufgreift und zu seinem Geschäft macht. Nicht jeder Geschäftsmann kann
behaupten, daß er durch seinen Beruf den Mitmenschen Wohltaten und
Freude bereiten kann. Und gewiß hat kein Geschäft einen mehr idealen
Hintergrund, als das des Wirtes.

Ein Wirt, der nichts mehr wäre als ein strikter Geschäftsmann, müßte
eine abschreckende Gestalt für seine Kundschaft sein. Wenigstens für
seine moderne, so anspruchsvolle Kundschaft. Daher ist der Wirt mehr Mensch
als Geschäftsmann. Schlechte Kaufleute sind oft sehr gute Menschen. --
Bitte, ich weiß, was Sie sagen wollen! Ich will gewiß nicht behaupten,
daß alle gewiegten Geschäftsmänner schlechte Menschen und alle
geschäftlichen Stümper gute menschliche Exemplare seien. Es gibt
Mittelwege. Aber trotzdem! Ich glaube nicht an Gefühl, an Edelmut, an
Freigiebigkeit bei einem geschäftlichen Vorgang. Das menschliche Herz
hat keine Stimme in der Geschäftswelt. Edelmut läßt sich mit unserem
kommerziellen Leben noch nicht vereinbaren. Es ist das Privilegium des
Schönen, lächerlich zu werden, wenn der Alltag spricht.

Der Wirt ist sich seiner zwiefachen Stellung sehr wohl und schmerzlich
bewußt. Sagen Sie ihm, daß sein Geschäft genau das gleiche sei, was
jedes andere Geschäft ist, so wird er freudig zustimmen. Wenn man ihm aber
sagt, daß er und seine Angestellten deshalb genau so auftreten sollten,
wie es andere Geschäftsleute tun, so wird die freudige Miene verschwinden
und eine besorgte an ihre Stelle treten. Er wird sagen, daß dies
unmöglich sei. Er wird Ihnen eine ganze Reihe von Gründen hierfür
angeben, und doch keinen einzigen, der stichhaltig und greifbar wäre.
-- Nein, nein, er kann den Gästen gegenüber nicht so auftreten, wie es
andere Geschäftsleute ihren Kunden gegenüber tun. -- Das ist nun einmal
so und nicht anders. Der Wirt wird Ihnen sagen, daß er höflicher,
zuvorkommender, nachsichtiger, freigiebiger, williger, fügsamer sein muß
als irgendein anderer Geschäftsmann, daß er sogar nötigenfalls sich
bücken und Kratzfüße machen muß. Die Gäste verlangen dies nun einmal
so, die Konkurrenz ist nun einmal so groß usw. Der arme Mensch wird
sich vor Qualen winden und drehen, aber keine richtige Lösung seiner
eigenartigen Situation finden können.

Ich kenne kaum einen Betrieb, dem mehr Gefahren von innen und von außen
drohen, wie der Hotelindustrie. Ungünstiges Wetter und Verkehrsstörungen
können großen Schaden anrichten. Eine Epidemie, ja ein einziger Todesfall
oder eine ansteckende Krankheit können den Betrieb vollständig lähmen.
Selbstmorde, Skandale gehören nicht zu Annehmlichkeiten. Dem Hause kann
jederzeit durch verleumderische Untergrabung des guten Rufes und
des Renommees unermeßlichen Schaden beigefügt werden. Schwindler,
Hochstapler, Gauner, Diebe treiben hier unausgesetzt ihr Unwesen. Infolge
der großen Haftpflicht der Wirte droht eine beständige Gefahr in
Prozessen aller Art. Die Sorge um das Eigentum und die Sicherheit
der Gäste ist beileibe keine geringe. Vor allem aber ist die Ungnade
hochgestellter, einflußreicher Leute am meisten zu fürchten.
Einflußreiche Damen der hohen Gesellschaft namentlich sind große Faktoren
in der Prosperität oder dem Ruin eines Hauses. Die verheerende oder
wohltätige Wirkung, welche ein einzelnes weibliches Wesen durch ihre
Zungenfertigkeit im Klub, in der Gesellschaft, bei ihren Freundinnen und
selbst bei den Männern in einem Hotel hervorrufen kann, ist oft ganz
unglaublich groß. -- Von den eigentlichen Betriebsgefahren, den inneren,
wie die Verderblichkeit der Waren, Gewissenlosigkeit und Unredlichkeit
der Angestellten, Feuersgefahr usw. will ich gar nicht reden. Es sind nur
einige von den vielen Sorgen, die das Gemüt des modernen Hoteliers als
Geschäftsmann belasten. Seine Hauptsorge aber ist: er will seinen Gästen
_ein Heim_ bereiten.

Ein wahrhaft heroischer Versuch! Ein herkulisches Unternehmen für einen
Geschäftsmann! Aber was ist das Ende? -- So wird der Hotelier durch seine
Sisyphusarbeit geschäftlich schwach statt stark. Er wird ängstlich,
enttäuscht, entmutigt, er kann seiner Kundschaft nicht als Kaufmann
entgegentreten. -- Er wird stets einem unverschämten Gaste, einem
chronischen Nörgler, der -- weil er die Hoteliers und ihre Schwächen
kennt -- prinzipiell überall wegen hoher Preise, schlechten Essens,
miserabler Bedienung usw. aufmuckt, sofort weitgehende Privilegien
einräumen und einen Rabatt gewähren. Zum Protest gegen derartige, sehr
häufig vorkommende Unverschämtheit erkühnt sich der Wirt höchstens
zur Zeit der Hochsaison, wo drei oder vier andere, weniger unverfrorene
Wanderer mit Bergen von Gepäck der Unterkunft harren und die fraglichen
Preise gerne zahlen wollen, da sie schon an verschiedenen anderen
gastlichen Portalen bedauernd zurückgewiesen wurden. Die übertriebene
Hochachtung und Devotion vor seiner Kundschaft blendet den
Durchschnittshotelier in dem Maße, daß er die größten Grobheiten
übersieht oder schweigend einsteckt, ja daß er sich von einem
internationalen Hochstapler, der nur halbwegs geschickt auftritt, oft ins
Bockshorn jagen und betrügen läßt.

Mich dünkt, es hat sich der muffige Geruch des Interieurs wackeliger
Karossen und Kaleschen selbst bis in die modernsten Hotels verschleppt. Den
Geist, der die Hotelindustrie als Geschäft bedrückt, könnte ich nur --
um ihn ganz genau zu definieren -- »Postkutschengeist« nennen. Und wie
eine vererbte Krankheit oder Angewohnheit schleicht er sich durch die ganze
große Familie des mildtätigen Bonifaz hindurch. So angemessen, gemütlich
und zutraulich dieser liebe alte Postkutschengeist vor fünfzig oder
hundert Jahren noch gewesen sein mag, die heutige Zeit hat keinen Gebrauch
mehr für ihn. Das Dröhnen der stählernen Räder und Schienen, das
gewaltige Fauchen der Lokomotiven, das dumpfe Stampfen der Schiffsmaschinen
haben ihn, den Alten, vertrieben. -- Wir bedauern dies unendlich. Wir
betrauern ihn, wie wir uns über das Ableben eines alten Urgroßvaters oder
Großonkels grämen, dessen Erbe wir, die Jungen, die Lebenden, antreten.
-- Aber dann schnell in die Erde mit ihm! Gott hab' ihn selig! Und zurück
ins Leben! -- Zeit ist Geld! -- Und in unserer Zeit lautet der Kriegsruf:
»~Business is Business!~«

Der moderne Hotelier wird alles, alles aufbieten, seinen reisenden Gästen
Schutz, Obdach, Sicherheit, gutes Essen, gutes Trinken, freundliche
Bedienung zu geben. Er wird sein Haus so bequem, so luxuriös, so behaglich
und vollkommen ausstatten, wie es in seiner Macht steht. -- Ja, wie gesagt
-- er wird das Menschenunmögliche versuchen: er wird den müden Reisenden
so aufnehmen, daß dieser unter dem Dache des Hotels sein eigenes
zurückgelassenes Heim vergißt. Gelingt dies jemals einem Hotelier, so ist
er ein Künstler, ein großer Wohltäter der Menschheit, der stolz auf sein
Lebenswerk sein kann.

Es ist jedoch eine Tatsache, daß das moderne Hotel das Heim der Menschen
langsam verdrängt. -- Beachten Sie nur, wie die Hoteliers dies unbewußt
ahnen. Oder sollten die bösen Menschen es wirklich schon wissen!? --
Jedenfalls aber, um den Übergang möglichst sanft zu gestalten, um die
bittere Pille, die die Menschheit schlucken werden muß, süß zu machen,
preisen sie ihre Häuser instinktiv -- oder mit teuflisch schlauer
Berechnung -- als »Heime« an. Sie machen die verzweifeltsten
Anstrengungen, sie sparen keine Mittel, ihre Lokale einem Heime ähnlich zu
machen.

Aber ich bezweifle, ob es jemals einem Hotelier bisher gelungen ist, dem
Reisenden das ferne Heim zu ersetzen. -- Denn das Hotel ist und bleibt doch
immer ein Geschäftshaus, und es kann doch auch nur als solches betrachtet
und betrieben werden. Nach unseren bisherigen Begriffen war das Heim aber
kein Geschäftshaus, sondern eine Art Heiligtum, eine geweihte Stätte. Der
moderne Hotelier sollte dies bedenken, und wenn er rechnen kann, wird er es
bedenken. Er würde sich dann auch nicht aufreiben auf der Suche nach
etwas Unerreichbarem, nach dem Ersatz des Heims, sondern er würde dann nur
danach trachten, sein Haus zu einem wirklichen Geschäftshaus zu gestalten.

Eine sehr traurige, trostlose Botschaft für das liebe Publikum! Der eine
Hotelier, um sie ihm offen zu verkünden, müßte ein viel größerer Heros
sein als alle seine heimebauenden Kollegen zusammengenommen. Aber da das
liebe Publikum nur immer seine eigenen Interessen im Auge hat, und da die
Hotels zur Selbsterhaltung auch bald anfangen müssen, das gleiche zu tun,
so wird wohl jemand unter ihnen die Botschaft in nächster Zeit öffentlich
verkünden müssen. Aber es braucht keine Kriegserklärung zu sein. Man
kann es zum sanften Appell an die Vernunft des lieben Publikums machen.

Der Hotelier wird heute noch eingestehen müssen, daß er seinen Gästen
kein wirkliches Heim bieten kann, sondern nur ein vorübergehendes Obdach
-- gegen Bezahlung. Was man Geschäft nennt ... Darum soll das Publikum
auch eigentlich nicht mit Millionen unsinniger Forderungen und Erwartungen
kommen und aus dem Ärmsten einen Neurastheniker machen. Wenn dies
geschieht, so ist es nichts als die gerechte Strafe für die eigentlich
geradezu unglaubliche Gemütsroheit, ein Geschäftslokal als heimähnlich
oder heimersetzend anzupreisen. Mögen die Hoteliers durch Konkurrenz zu
solch waghalsigem Tun angetrieben werden, es ist unverzeihlich, roh, --
noch verfrüht. Das moderne Hotel kann in sich selbst eine kleine Stadt
sein, es kann ein Kunst-, Musik-, Theaterpalast sein -- ein Heim nach
unseren Begriffen ist es noch nicht. Für unsere Enkel vielleicht, --
wer weiß? -- Freilich, freilich, es gibt heute schon genügend Menschen,
welche große Hotels zu ihrem beständigen Aufenthaltsort machen und
jahraus und jahrein darinnen vegetieren. Aber es gibt auch Menschen,
denen der Begriff »Heim« fremd ist. Es gibt Menschen, deren Leben so
entsetzlich öde, inhaltslos und leer ist, deren Inneres so verwüstet ist,
daß sie allerhand künstlicher und mechanischer Mittel bedürfen, um sich
über ihre Herzensöde hinwegzutrösten. Doch diese Menschen kommen für
uns nicht in Betracht. -- Frauen allerdings, Herr Kommerzienrat, ach,
die Frauen, sage ich Ihnen, so weit sie angefangen haben, die Krise der
Umwandlung, die Metamorphose des Heims zu erkennen, sie begrüßen die neue
Ära mit einer frenetischen Begeisterung ... pst! -- huh! da kommen unsere
Damen gerade aus dem Garten -- -- sollten wir nicht lieber ein
anderes Thema ...? Nicht? -- Nun, ich werde versuchen, sie bald wieder
fortzubringen. --

-- -- -- -- -- Häh, ich schaue so glücklich drein, gnädige Frau? --
Ja, ich fühle ein großes Dichtwerk in mir reifen. -- Interessant, nicht
wahr? -- Wie meinen Sie ...? Ein titanisches Drama? -- Ah, Sie halten
viel zu wenig von mir! -- Nein, nein! Ich fühle mich berufen, bald einen
Nekrolog auf die Hausfrau zu singen. Vielleicht noch etwas verfrüht, aber
immerhin ... -- Selbstverständlich, gnädige Frau! Die Männer sind daran
schuld. -- Sonst niemand! Bevor ich aber in die Saiten greife und mein
Lamento anstimme, will ich dem schlimmsten Feinde der Hausfrau, dem
siegreich vordringenden Kochkünstler männlichen Geschlechts noch einen
kräftigen Hieb versetzen, ja, ihn gar zurückzuschlagen versuchen,
obgleich ich als Mann -- persönlich -- gegen den liebenswürdigen Menschen
nichts einzuwenden habe. -- Dieser herrliche Achilleus des Herdes hat
nämlich eine sehr verwundbare Ferse: seine souveräne Verachtung für
Hausmannskost. Wenn er nicht weise genug ist, noch einiges von der Hausfrau
zu lernen, bevor er ihr ganz das Handwerk legt, so ist es um ihn geschehen.
-- Der Kochkünstler mag ein Philosoph, ein Träumer sein, was er
hervorbringt und ersinnt, kann hohe Vollendung, Kunst oder Maschinenarbeit
sein, die mit Präzision und Verve der Berufsmäßigkeit entsteht oder
aus dem wunderbaren Reichtum und dem Fleiße eines erfinderischen
Genies geboren wird. Seine Leistungen weisen aber nicht die Spuren jener
liebevollen Hand auf, die den Gerichten einer guten Hausfrau anhaften.
Warum ist diese häusliche Handarbeit mit allen ihren Mängeln und
Ungeschliffenheiten in ihrer Einfachheit und Anspruchslosigkeit uns
Menschen so wertvoll, so teuer? Vollkommenes ist uns noch fremd, denn
wir selber sind noch nicht vollkommen. Die vollendete Arbeit mag unsere
Bewunderung hervorrufen, sie hat aber einen befremdenden Eindruck auf uns:
wir können sie eben nicht von Herzen lieben.

Hausmannskost, so nahrhaft, so einfach sie ist, in diesem Hotel ist sie
noch nicht zu finden! Was die liebe, einfache Hausfrau, die biedere,
ungebildete Köchin oft zu leisten vermag, den berühmtesten kulinarischen
Größen ist's ein Rätsel. -- Ich würde mit einer einzigen Bestellung
auf einen kräftigen, deftigen Pfannekuchen mit Speck oder einen
wunderlieblichen »Armen Ritter« unten das ganze Regiment von
Kochkünstlern in Aufregung und Verzweiflung versetzen können. Vor einem
Heringssalat aus Pellkartoffeln stehen die weisen Schüler des Lukullus und
Brillat-Savarins, die schöpferischen Genies einer klassischen Küche, die
Chemie, Physik und Anatomie studiert haben, genau so verblüfft da, wie ein
Kollegium von Professoren der Psychologie, die vielleicht die verzwickten
Liebesgefühle der Prinzessin Salome und des Propheten Jokanaan haarscharf
erklären können, aber einen Fall von unglücklicher Liebe zwischen einem
Hausknecht und einem Kammerkätzchen staunend angaffen und ratlos -- aber
ganz absolut hilf-, wort-, rat-, taten- und hoffnungslos davorstehen.
Höchstens lächeln können sie und die Achseln zucken. Die Kochkünstler
sowohl wie die Professoren. Das ist aber auch alles. Jedoch lächeln und
achselzucken kann jedermann und besonders, wenn er sich sonst nicht zu
helfen weiß.

Sind es wohl besondere Geheimnisse, Zaubersprüche und
Beschwörungsformeln, die die Hausfrau bei der Zubereitung ihrer Gerichte
anwendet, deren magische Gewalt dem Sohne in der Fremde grausames
Heimweh bereitet, deren Duft allein schon den flatterhaften Ehemann mit
unsichtbaren Fäden ans Haus fesselt? -- Nein, gnädige Frau, so viel
Wunderglauben besitze ich leider nicht. -- Ich kann mir nicht einreden,
daß die traute Liebe der Gattin und Mutter genug physische Kraft
besitzt, um fürsorglich und beeinflussend über den dampfenden
Kochtöpfen zu schweben und das Gedeihen des Inhalts zum Heile der
Familienverdauungsorgane zu beschützen und zu segnen. -- Wie so vieles
Transzendentale von ruchlosen atheistischen Menschen wissenschaftlich
ausgelegt werden kann, und da ich zur Beseitigung jedes Wunderglaubens
nach Kräften beitragen will, so bin ich daher roh genug, die Wunder der
häuslichen Küche physiologisch zu erklären. -- Die Hausfrau bereitet vor
allem die Speisen nicht zu lange vor. Sie kommen direkt vom Feuer auf
den Tisch. Sie sind daher frei von dem metallischen Geschmack vieler
Hotelspeisen, die stundenlang zubereitet warten müssen, bis sie serviert
werden können. Während dieser Wartezeit zersetzen sich auf chemischem
Wege kleine Metallteilchen, die, ohne schädlich zu sein, gewissen Speisen
einen unangenehmen Geschmack mitteilen. -- Nichtsdestoweniger gibt es
Sachen, die aufgewärmt geradezu gottvoll sind. Durch den wiederholten
Prozeß des Kochens wird oft ein gewisser, erster, halbroher Zustand
beseitigt, die Speisen werden garer, zuträglicher und verdaulicher, wenn
ihre ursprüngliche Kraft sorgfältigerweise erspart wird. Die Hausfrau,
die oft aus Sparsamkeitsrücksichten gezwungen ist, Reste aufzuwärmen,
hat dies entdeckt und weiß es wohl zu benutzen. Der Kochkünstler
dagegen schaudert meistens vor aufgewärmten Speisen zurück. Durch weise
Haushaltung an Sparsamkeit gewöhnt, verwendet die Hausfrau allerhand Reste
und Überbleibsel von Suppen, Saucen, Knochen und dergleichen, kocht alles
wieder auf und erzielt dadurch in ihren Gerichten jenen unbestimmbaren
Grad von Kraft und Nahrhaftigkeit, welche jede sparsame, haushälterische
Wirtschaft in allen Lebenslagen erreicht -- das große, dem Verschwender
ewig verborgen bleibende Geheimnis des Wohlstandes und der Gesittung.
-- Der Kochkünstler ist gewöhnlich ein Verschwender, wie alle Genies
Verschwender sind. In der Enge muß das Genie zugrunde gehen. Aber
die ganze Ausbeutung seiner Kräfte und Mittel kennzeichnet den weisen
Künstler, den tüchtigen Handwerker. So viel kann der Koch von der
Hausfrau lernen. -- -- Ja, meine Damen, ich schaudere bei dem Gedanken,
daß das Heim der Menschen auf dem Aussterbeetat stehen soll! -- Das
moderne Heim ist nur noch ein Schatten von dem früheren. Und was wird die
Zukunft uns als Ersatz bieten? -- Nun, etwas Ähnliches wie ein Hotel muß
es doch wohl werden, wenn die Frauen keinen anderen Rat wissen. --
Wie meinen Sie, ich sei ein Weiberfeind? -- Oh, welche ungerechte
Anschuldigung! Welche Verleumdung! -- -- -- -- --

Da fließen sie hin, die Holden! -- Zornig, entrüstet, schmollend, weil
ich ihnen schmeichelte! -- Wer kennt das Gemüt der Frauen!? -- Wäre ich
grob gegen sie gewesen, so lägen sie mir jetzt am Halse. Doch dem Himmel
Dank! Nun können wir vom Geschäft weiter sprechen.

Vernünftige Männer wie wir, Herr Kommerzienrat, welche so hohe Preise
zahlen, daß ein patriarchalisches Verhältnis zwischen ihnen und dem
Hotelier schwerlich aufkeimen kann, werden daher vorläufig noch nicht die
Torheit begehen und ein Hotel mit einem Heim vergleichen oder erwarten,
daß es ihnen ein solches biete. Aber ein Geschäftshaus sehen wir im
Hotel, ah, und was für ein Geschäftshaus! Welch ein Leben und Treiben!
Interessant, nutzbringend sowohl für den Besucher wie auch für den
Unternehmer und den Angestellten. Vielseitig, anregend wie kaum ein
anderes. Und aus diesem Grunde verlangen wir vom Hotelier und seinen
Angestellten nur striktes geschäftliches Auftreten und nichts mehr. --
Würden Sie als Kaufmann bei einem Auftrage etwas mehr leisten, als
Ihr Kontrakt Sie verpflichtet!? -- Nein, sehen Sie. Jede überflüssige
Leistung ist verdächtig. Nicht nur im geschäftlichen, sondern auch im
privaten Leben. Als kleiner Junge besorgte ich oft gerne Einkäufe
für meine Mutter. Ich tat's viel lieber als zur Schule gehen, denn ich
vibrierte damals schon vor Verlangen, mich ins große Leben stürzen zu
können. Aber ich habe niemals unserm Metzger getraut, wenn er zu gut
gewogen hatte und mir gar noch ein Stück Wurst obendrein gab. Es schien
mir nie ganz geheuer. Und unser Metzgermeister war doch so ein ehrenwerter
Geschäftsmann! -- Zu viel geben ist meiner Ansicht nach nicht gut. Ein
Mann, der von sich selber und der Güte seiner Ware überzeugt ist, wird
dies nie tun. Er wird nie zu wenig, aber auch nie zu viel geben. Freilich,
zur Zeit der Postkutsche pflegten unsere Großväter einer Ruhe, die leider
gänzlich aus unserem heutigen Geschäftsleben verschwunden ist. Sie
hatten geschäftliche Ansichten, Prinzipien, Methoden, die heute nicht mehr
gelten. Die Angestellten sind nicht mehr die aus der »guten, alten
Zeit«. Ich kann daher auch nicht einsehen, warum sich im Hotel -- ein ganz
modernes Geschäft -- der Geist der Postkutschenära erhalten sollte.
Ich kann nicht einsehen, warum der moderne Hotelier von seinem Kellner
verlangt, daß er sich total für das Wohl seiner Gäste aufreiben soll.
Ein Gast, der im Hotel einen Kellner vielleicht von der Höhe eines
Grandseigneurs herab als seinen Leibeigenen ansieht, wird es nicht wagen,
in einem Laden den geringsten Verkäufer durch die aristokratische Brille
zu betrachten. Nein, er wird geduldig warten, bis die Reihe an ihn kommt.
-- Anders hier! -- Wehe, wenn hier jemand auf die geringste Kleinigkeit
warten muß! -- Sie dürfen sich in solchem Falle den Generaldirektor des
Hotels kommen lassen. Sie können das ganze Haus in Aufregung versetzen.
Unter einer Flut von devotesten Entschuldigungen werden Sie getröstet und
besänftigt werden. Es gibt menschliche Wesen, die nichts zu tun haben,
vornehme Tagediebe und Müßiggänger, die derartigen Unfug als eine
Spezialität betreiben. Solche Leute machen es sich zum Prinzip, möglichst
viel Aufsehen mit ihrer Person zu erregen und die armen Angestellten durch
ihren Anblick allein schon in allertiefste Ehrfurcht zu versetzen. Dies hat
einen doppelten Wert. Es ist ein wunderbarer Nervenkitzel, und zugleich ist
der finanzielle Vorteil unverkennbar. Durch ihre Frechheit glauben sie
den Kellner dermaßen einschüchtern zu können, daß dieser schon
pränumerando auf das Trinkgeld verzichtet und sich mit der hohen Ehre
begnügt, einem feinen Gaste aufwarten zu dürfen. Solche Spezimina des
~Homo sapien~ sind nicht glücklich, wenn bei ihrem Erscheinen auf dem
Plane nicht zwei oder drei Assistenzdirektoren, sechs Oberkellner und eine
Schar von niedereren Kreaturen sie umtänzeln. -- Oh, ich sage Ihnen, Herr
Kommerzienrat, die Damen! -- Damen gibt es, die oft ganz Hervorragendes,
wahrhaft Großes in solchen Theaterszenen leisten. Besonders wenn sie
Gesellschaft haben und wenn sich unter den Eingeladenen ihre Feindinnen und
Rivalinnen befinden. -- Hierin sind Damen unerreichbar. Leutnants, Dichter,
Korpsstudenten, Sänger, Musiker männlichen Geschlechts, die sich auch
zuweilen auf diesem Gebiete versuchen, fallen neben den Damen kläglich
ab. Nichtsdestoweniger kann durch ein arrogantes Monokel, eine pompöse
Uniform, Säbelgerassel, Sporengeklirr und sonstiger Maskerade und
Requisiten für Komische Oper und Possen, durch klingende Titel und
fliegende Mähnen eine gelinde künstliche Panik zwischen den Angestellten
heraufbeschworen werden.

Leute gibt es, Hypochonder, chronische Nörgler, halbe und ganze Idioten,
denen der Hotelier und seine Angestellten nichts recht machen kann, denen
nichts zu gut und nichts gut genug ist, denen entweder alles zu teuer oder
alles zu billig ist. Der arme Kellner hat seine Last mit solchen Menschen.
Er darf nichts auf ihre Exzentrizität erwidern, er darf nicht einmal
darüber lächeln, er darf sie nicht einmal sich selber bedienen lassen.
-- Feine Leute, die eigenen Willen, Gewohnheiten und Eigenheiten besitzen,
haben auch ihre Butlers und Kammerdiener, die auf die Kinkerlitzchen
trainiert sind. Für den Durchschnittshotelgast -- und schließlich auch
für jeden Sterblichen -- gibt es keine größeren Kontagien als hochnoble,
exotische Passionen, deren Bazillen sich beim ersten Anblick in das
Nervensystem des empfänglichen Opfers einarbeiten und dort verheerend
wirken. Die Krankheiten sind natürlich harmlos, wenn genügend Mittel
vorhanden sind, um das beständige Jucken, welches sie verursachen, zu
befriedigen und zu stillen. Gewöhnlich werden aber nur verhältnismäßig
Mittellose oder Geizhälse angefallen, die nicht imstande sind, sich
genügend Dienerschaft anzulegen, die für ihre exzentrischen Gelüste
Sorge tragen. Auch werden solche armen Leute oft durch die damit
verbundenen Kosten so gemein und niederträchtig, daß selbst der
simpelste, friedlichste Diener es bei ihnen nicht aushalten kann. Diesen
Menschen kommt der Hotelangestellte ganz wie gerufen. Was dem Ärmsten in
solchen Fällen blüht, kann ich gar nicht sagen. Ein alter, aber immer
noch wirksamer Trick der Menschen, die für ihre kleinen und großen
Gelüstchen, denen sie frönen, nicht bezahlen wollen, ist, die
Angestellten mit einer leicht verschleierten Andeutung auf ein opulentes
Trinkgeld von Anfang an zu ködern und sie schließlich hinters Licht zu
führen. Erkennen sie aber mit dem ihnen eigenen Schnüffelsinn, daß
der Angestellte sie vorher durchschaut oder alle Hoffnungen auf den
versprochenen Obolus aufgegeben hat und nun anfängt, sie als ~quantité
négligeable~ zu behandeln, dann bricht die ganze Wut und Gemeinheit in den
armen Gemütern los. Nicht selten bewirken sie dann unter Drohungen, das
Haus zu boykottieren, die Entlassung des Angestellten und heimsen so durch
die Befriedigung des niederen Rachegefühls in ihren schwarzen Herzen
kostenlos eine neue Freude ein. -- Es ist erschreckend und entmutigend,
wie häufig man diesen Typus, diese Blüten der Menschheit in den großen
Hotels beobachten kann und wie sie von den Hoteliers auf Kosten der
Angestellten gefördert, ja geradezu gezüchtet und gemästet werden.

Eine schöne, entzückende Frau darf nicht glauben, ein Hotel sei ihre
exklusive Domäne, wo sie ihre Augen und Brillanten spazieren führen
kann. Salonlöwen, Literaturtiger, Kunsthyänen, die Wochen-, Tages- und
Stundengrößen dürften das Parkett des Saales nicht für sich allein
in Anspruch nehmen, wenn sie siegesbewußt einherschreiten, nachdem sie
vielleicht für fünfzig Pfennig oder eine Mark »diniert« haben. -- Ja,
ich versichere Ihnen, Herr Kommerzienrat, man kann riesig billig essen,
wenn es sein muß, und das furchtbare Gesicht des Lebens schimmert auch
durch die glänzende Sphäre des Saales und den feinen Duft der Zigaretten.
-- Und lauschen Sie nur einmal aufmerksam, Sie können alsdann ganz
bestimmt einen feinen, höhnischen Ton aus der brausenden Musik
heraushören, der wie von einem lachenden Teufel stammt. Schauen Sie nur
einmal hinter die Kulissen!

Man könnte daher namentlich dem jüngeren Kellner nicht eindringlich genug
eine geradezu atheistische Respektlosigkeit vor der vagen, götzenhaften
Größe der Durchschnittszelebrität predigen und anempfehlen. Die alten
Kellner lernen sie zwar mit der Zeit, aber erst nach vielen Qualen und
Enttäuschungen. Es gibt Kellner, die sich diesen ruhigen Blick bald
aneignen, und sie werden nie enttäuscht, wohl aber hie und da einmal
angenehm überrascht, und sie haben eine um so größere Verehrung
für wirkliche Menschenwürde und erkennen dieselbe. -- Was ein kleines
Kunststückchen ist, da sie so vereinzelt und unauffällig auftritt.

Die einfachsten, im Verkehr der Menschen untereinander geltenden Regeln der
Höflichkeit sollten doch auch einer strikt geschäftlichen Hotelführung
genügen. -- Warum müssen dieselben aber hier übertrieben werden? --
Selbstverständlich, derjenige, welcher etwas feilzubieten hat, muß sich
möglichst den Forderungen seiner Kundschaft anpassen. Da er Konkurrenz
hat, muß er auch mit in den Wettbewerb eintreten. Der Wettbewerb
aber ist's gerade, der dem Geschäfte zugleich eine interessante und
gefährliche Seite verleiht. -- Für den Käufer, der die reiche Auswahl
hat, bietet sich darin auch eine Gefahr. In je reicherem Maße eine Ware
vorhanden ist, um so geringer wird sie im Wert und um so mehr muß
sie angepriesen werden. Der Käufer, der Vielumworbene, der überall
Willkommene, ist in einem solchen Falle zu leicht verführt, die Stellung
eines Despoten anzunehmen. Und je mehr und unwürdiger sich die Verkäufer
um die Gunst des Gewaltigen bewerben, um so mehr muß er in seiner
absolutistischen Stellung bestärkt werden. Da das Menschenmaterial
heutzutage im allgemeinen sehr billig ist, so ist es auch notwendigerweise
verächtlich. Im Mittelalter wurde dies noch oft und unverhohlen
ausgedrückt. Doch man hat es in der modernen Geschäftswelt zur Regel
gemacht, derartige fromme, alte Gesinnungen hübsch für sich zu behalten
und sie keinem Menschen, sei er noch so gering und billig, direkt
fühlen zu lassen. Nur im Hotelgeschäfte, scheint es, darf sie sich noch
ungestraft zeigen. Ich habe nicht Fälle im Auge, wo jemand unter dem
Einflusse von geistigen Getränken Handlungen begeht, für die er
nicht verantwortlich gemacht werden kann, sondern ich meine das
gewohnheitsmäßige Auftreten der Kundschaft gegenüber den Angestellten im
Hotelgewerbe im allgemeinen und den Kellnern gegenüber im besonderen. Und
läßt ein Angestellter bei einer passenden Gelegenheit einem gerechten
Zorne Lauf, so erwartet ihn ein unbarmherziges, von Vorurteilen
eingenommenes Gericht.

Betrachten Sie nur die grenzenlose Freigiebigkeit der Wirte. Ihre
glänzenden Räume stehen jedem anständig gekleideten Menschen offen. Sei
er, wer er will. Und mit einer ungenierten Selbstverständlichkeit nehmen
wir von allem Besitz, was uns das Hotel bietet. Komfort, Luxus, Musik,
Umgebung. Die Aktien eines Fremden, der in einem vornehmen Hotel lebt,
steigen ums Hundertfache, sobald es den Leuten bekannt wird, mit denen
er geschäftlich oder gesellschaftlich in Verkehr tritt. Für ein paar
Groschen kann ein Gast die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Heeres von
Angestellten in Anspruch nehmen. Und er tut es. -- In welchem anderen
Geschäfte finden Sie eine Parallele hierfür? Nirgendwo, in keinem anderen
Geschäftshause, bei keiner anderen Gelegenheit glaubt der liebe Käufer
seine Dummheit, seine Leidenschaften, ja oft tierische Gemeinheit so
ungestraft zur Schau tragen zu können wie im Gastwirtsgewerbe.
Nirgendwo im Leben wird er sich soviel anmaßen, geiziger, herrischer und
protzenhafter sein als gerade hier. -- Warum? -- Das ist eine Frage,
die sich schwer beantworten läßt. Es scheint, als ob die luxuriöse
Atmosphäre, das Bewußtsein des zu Gebote stehenden großen Betriebes
in vielen schwachen Köpfen eine gelinde Form von Cäsarenwahnsinn weckt.
Manch ein armseliges Herrchen glaubt sich hier zu den größten Anmaßungen
berechtigt, weil er fünf Mark für ein Zimmer bezahlt oder oft auch
schuldig bleibt. Für die Vorteile, die ihm durch das Prestige und den
Nimbus, mit welchem seine Wenigkeit umgeben wird, erwachsen, weiß er
meistens keinen Dank. Er bedenkt nicht, daß ein Kellner häufig durch
seine Reisen und Tätigkeit mehr Kenntnisse und Bildung besitzt als er, der
Gast. Aber er hat eben das Recht, den Angestellten anzufahren, wenn er sich
dazu veranlaßt glaubt. Spießbürger im Sonntagsröckchen, schnodderiges
Fatzkentum, alle kommen sie, wenn sie ein gutes Geschäftchen gemacht
haben, und »leisten sich« etwas. Solche Leute können gewöhnlich weder
essen, noch verstehen sie, sich unter Menschen zu benehmen. Sie wissen
nicht, wie ein Essen bestellt wird, noch wissen sie, was sie bestellen. Der
arme Kellner hat viel unter solchem Dilettantismus zu leiden. Er aber,
der geduldige, freundliche, gewandte, trinkgeldheischende Jüngling, alles
läßt er lächelnd oder schweigend über sich ergehen. Ihm steht nicht
das Recht einer Erklärung oder Verteidigung zu. -- Würden Sie nicht
den geringsten Ihrer Angestellten gegen Flegeleien und Ungerechtigkeit
verteidigen? -- Nun wohl! -- Der Wirt tut es nicht. -- Nennen Sie dies
geschäftliche Führung? -- Ich auch nicht.

Die beispiellose Zuvorkommenheit, Freundlichkeit, Devotion des Wirtes im
allgemeinen hat einen sehr schlechten Einfluß auf das Publikum selber.
Jeder Gast, mehr oder weniger, sucht diese Eigenschaften des Wirtes zu
seinem Vorteil auszubeuten. Viele beanspruchen besondere Aufmerksamkeiten
und Privilegien, Dienste, Besorgungen, die zu verlangen sie ohne Bezahlung
nicht berechtigt sind. Es ist unglaublich, welche Forderungen oft den Wirt
bestürmen. Eine Gefälligkeit, die nicht erwiesen wird oder aus gewissen
Gründen abgelehnt werden muß, kommt dem Wirt oft teuer zu stehen.
Viele Gäste versuchen den Wirt zu prellen, wo sie auch nur können. Die
außerordentlichen Schwierigkeiten, die mit der Zusammenstellung vieler
Hotelrechnungen verknüpft sind, das komplizierte Buchhaltungssystem, das
für die verschiedenen Zweige des Hauses nötig ist, sind Quellen manchen
Übels. Man spricht so viel davon, daß die Gäste in den meisten Hotels
übervorteilt werden, ich glaube indessen bestimmt, daß das Gegenteil die
Wahrheit ist. Fast auf jeder Hotelrechnung wird in der Eile, mit der sie
oft zusammengestellt werden muß, etwas vergessen, woraus dem Hause oder
dem betreffenden Angestellten ein direkter Schaden erwächst. Bei dem
weitgehenden Kredit, den der Wirt oft wochenlang geben muß, bei der
unendlichen Menge von Kleinigkeiten, die er zu berechnen hat, ist selbst
das gewissenhafteste System nicht unfehlbar, und Irrtümer, die vorkommen,
fallen gewöhnlich zum Schaden des Wirtes aus. Die meisten Gäste wissen
wunderbar genau, was sie verzehrt haben, und entdecken gewöhnlich beim
Studium der Rechnung die fehlenden Posten sofort. Aber ich wette, nur ganz
wenige sind ehrlich genug, den Irrtum zu berichtigen, denn die Versuchung
ist zu groß. Sie stehen reisefertig, und sobald sie im Coupé sitzen, sind
sie vor jeder weiteren Forderung geborgen und können sich ins Fäustchen
lachen. Wehe aber, sollten sie bei Durchsicht ihrer Rechnung wirklich
etwas finden, das sie zu einer Entrüstung berechtigt. -- Ich glaube, jeder
halbwegs vernünftige Buchhalter hütet sich peinlichst zwecks Vermeidung
solcher Szenen, das Konto des Gastes irrtümlich oder wissentlich
überflüssigerweise zu belasten. Zweifellos gibt es auch eine Menge
Gäste, die durch irgendeine geschickte künstliche Aufregung das Gehirn
des vielgeplagten, anämischen Zahlenmenschen am Schalter zu verwirren
suchen, damit er sich zu ihrem Vorteile verrechne. Hochstapler ziehen von
Haus zu Haus und wissen genau, wie sie die unendliche, himmlische Geduld
des Wirtes und seiner Angestellten ausbeuten können. Es ist ein allgemein
beliebter Sport, der Hotelkasse schlechte Schecks und faule »Wertpapiere«
statt Bezahlung aufzunötigen. Ein durchaus guter Scheck verursacht schon
eine Menge Arbeit und Unannehmlichkeiten, wenn der Gast, der damit
bezahlen will, dem Wirt nicht bekannt ist. -- Geduldig muß der unbekannte
Scheckinhaber die kritischen Blicke des Bankbeamten an sich auf und ab
spazieren lassen, doch würde er es nie gestatten, daß ein Wirt ihn in
gleicher Weise beäugle. Der brave Bonifaz zögert keinen Augenblick: er
beanstandet keinen Scheck in Gegenwart seines Gastes, lächelnd reicht er
die Feder zum Indossement. Aristokraten, Studenten, Offiziere vom General
bis zum Kadetten abwärts haben wunderbar zarte Gemüter. Den kleinsten
Zweifel an ihrer Person pflegen sie furchtbar übel zu nehmen. Welch ein
Glück, daß sie die Kellner und Wirte nicht für satisfaktionsfähig
halten! Der Duelle gäbe es kein Ende. Ein Glück, daß die Hotelmenschen
so geschmeidig sind! Viel Blutvergießen wird dadurch verhütet. Ein
Glück, daß sie so wunderbar geduldig sind! Viele hungrige, hochgestellte
Persönlichkeiten haben daher etwas Gutes zu essen und zu trinken.

Ein Geschäft, sei es, was es sei, kann, um auf die Dauer erfolgreich
und nutzbringend zu sein, nur auf einer streng geschäftlichen Grundlage
geführt werden. Wie der Hotelier anmaßende Forderungen sanft aber
entschieden ablehnen muß, so muß er den berechtigten unbedingt
nachkommen. Unter dem gegenwärtigen Trinkgeldsystem jedoch ist es für den
Hotelier und in noch größerem Maße für den Kellner schwierig, strikt
geschäftlich vorzugehen. -- Einen recht frappanten Fall, der dies gut
illustriert, erlebte ich vor einigen Tagen. -- Ich wurde eines Morgens von
einem widerlichen Küchengeruch in meinem Appartement angeekelt, und als
ich den Zimmerkellner nach der Ursache der Düfte fragte, beichtete er mir
folgendes. Neben mir hatte sich eine knickerige Familie eingenistet,
die den Kellner veranlaßte, sie mit allerhand Kleinigkeiten wie heißes
Wasser, Zucker, Essig, Öl, Spiritus usw. zu versorgen. Diese Dinge konnte
der Mann sich leicht, ohne von der Kontrolle belästigt zu werden, aus der
Küche verschaffen. Ferner verlangten seine Gäste von ihm Tassen, Gläser,
Bestecke, Teller, Servietten -- gleichfalls kostenlos. Das alles sah und
hörte sich recht harmlos an. In Wirklichkeit aber gebrauchten die Gäste
diese Dinge, um sich von einigen mitgebrachten Würstchen und was es sonst
noch gewesen sein mag, auf ihrem Zimmer ein frugales Mahl zu bereiten.
-- Was sagen Sie dazu, Herr Kommerzienrat? Kann so etwas in einem
erstklassigen Hotel vorkommen? -- Dem Kellner gegenüber schützten die
Gäste Appetitlosigkeit vor, es sei so umständlich, sich hinunter in den
Speisesaal begeben zu müssen usw. usw., und dem Wirt brachten sie mit
ihrem Spirituslämpchen das ganze Haus in Gefahr. Sie verdarben die Möbel,
Tischdecken, Teppiche und Wäsche, und mit dem geradezu unerträglichen
Gestank ihrer Kochereien verpesteten sie mir die Luft. Erst als ich mich
darüber beschwerte, wurde der Unfug eingestellt, und die sparsamen Leute
entrüsteten sich höchlichst, als ihnen die Benutzung der Utensilien in
Rechnung gebracht wurde.

Durch diesen Fall aufmerksam geworden, interessierte ich mich mehr für
derartige Streiflichter des Glanzes. Mein freundlicher Zimmerkellner
erzählte bereitwilligst. Ihm schien das alles nichts Neues. So erfuhr ich
denn auch, wie in den feinsten Hotels manche sparsame Dame der höchsten
Gesellschaft im Badezimmer ihres Appartements eigenhändig ihre Leibwäsche
besorgt und die zarten Röckchen und Höschen und was es sonst noch sein
mag mit einem elektrischen Plätteisen bügelt. Aus alledem entnahm ich die
mir hauptsächlich wertvolle Lehre, daß, sofern das Eigentum des
Nächsten -- hier das des Hoteliers -- in Betracht kommt, die Mehrzahl
der Zeitgenossen von einer unglaublichen Pietätlosigkeit beseelt zu sein
scheint.

Sie als Geschäftsmann werden hieraus aber die große Gefahr erkennen, die
den Arbeitgeber als Vergeltung für schlechte Bezahlung der Angestellten
verfolgt. Nur mit besonderer Erlaubnis hätte der Kellner die erwähnten
Kleinigkeiten verabreichen dürfen, selbst wenn er gesehen hätte, daß
durch die Verweigerung derselben sein Trinkgeld in Gefahr geraten wäre. --
Denken Sie sich zum Beispiel einen Fall, wo der gute Ruf des Hauses auf
dem Spiele steht. Der gewissenhafte, achtbare Angestellte, der sich und das
Haus respektiert, wird stets sofort das Interesse desselben im Auge haben,
sollte diese Haltung selbst mit eigenen finanziellen Verlusten verbunden
sein. -- Aber wieviel Angestellte tun dies wirklich, wenn das Haus sie
schlecht bezahlt!? Der Glanz des Geldes lockt mächtig. Das Geld ist
schwer. Es zieht -- zieht -- hinab. Geld hat noch keinen Menschen
emporgehoben. -- Ich glaube, daß ein Kellner, wenn er seinen Gast kennt
und seines Trinkgeldes sicher ist, eher die Interessen des Gastes als die
seines Arbeitgebers wahren wird. In einem solchen Falle wird er mir
zum Beispiel niemals etwas anempfehlen, was für das Haus besonders
gewinnbringend ist und das die Küche gerne absetzen möchte. Er wird, wenn
ich ihm das Arrangement für eine Mahlzeit überlasse, nie die Rechnung
unnötigerweise in die Höhe schrauben, selbst wenn er vollständige
Freiheit darüber hat. Er wird nicht zuviel bestellen, sondern das richtige
Quantum ausrechnen. Er wird _mein_ Geld sparen. Er wird mir dringend raten,
daß ich dies oder jenes nicht zum Diner nötig haben werde, wenn ich das
und das bestelle, obgleich ich vielleicht beide Dinge wünsche. Ein anderer
Verkäufer freut sich nur zu sehr, wenn er dem Kunden möglichst viel
aufhängen kann, ob dieser nun der Sachen bedarf oder nicht. Wenn der
Kellner weiß, daß der Gast die Rechnung begleichen wird, ohne sie
anzuschauen -- was ja vielfach üblich ist und zum guten Ton gehört -- so
wird er dieselbe aufs gewissenhafteste für den Gast prüfen, ob sich nicht
vielleicht ein Irrtum zum Nachteil seines Gastes eingeschlichen hat. In
gewissen Fällen, wo das Recht und der Anspruch des Gastes auf gewisse
Vorteile in Frage kommt, wird der Kellner immer im Interesse des Gastes
handeln, selbst wenn das Haus darunter Schaden leiden sollte. Sie sehen
hieraus, wie zwiefach die Stellung des Kellners im Hotelgeschäfte, wie
ungeschäftlich sein Verhältnis zum Arbeitgeber ist und wie gefahrvoll
für ihn seine Handlungen sind, die von zwei Seiten gleich streng
abgeurteilt werden.

Es gibt Kellner, die die Gäste, und Gäste, die die Kellner betrügen.
Der Wirt steht ziemlich teilnahmslos in der Mitte. Warum? -- Weil er kein
Geschäftsmann ist! -- Wer von den beiden Betrügern am meisten auf Raub
ausgeht, ist von uns schwer genau zu bestimmen. Der Mann jedoch, der sein
Leben lang in der Gasthofsindustrie gestanden hat, wird, wenn Sie ihn
darüber befragen, sofort sagen, daß berufsmäßige Schwindler weitaus
mehr unter seinen Gästen als unter den Kellnern vorkommen. Wenn dennoch
augenscheinlich das Gegenteil der Fall ist, so muß man in Betracht ziehen,
daß die Evidenz unter den obwaltenden Verhältnissen täuscht und gegen
den Kellner spricht. Nur statistische Ziffern könnten darüber Aufschluß
geben. Diese zu erhalten ist aber ganz unmöglich. Wenn ich behaupte, daß
der Wirt solchen Fällen ziemlich teilnahmslos gegenübersteht, so
meine ich natürlich damit, daß er sich gegen die berufsmäßigen und
Gelegenheitsschwindler unter seinen Gästen so viel wie möglich schützt,
indem er den Angestellten für die unsauberen Handlungen solcher
Leute verantwortlich macht. Das ist Politik, aber kein ehrliches
Geschäftsverfahren. Wenn ein vornehmer Gast spurlos verschwindet und eine
unbezahlte Rechnung hinterläßt, so fühlt sich gewöhnlich nicht der Wirt
geprellt, sondern er hält seinen Angestellten für den Geschädigten. Er
hat nicht den Mut oder den Willen, derartige geschäftliche Verluste zu
tragen, eben weil er kein Geschäftsmann ist. -- Er befindet sich oft auch
tatsächlich in einem Dilemma. Wer kann zum Beispiel wissen, ob der Gast
nicht seine Rechnung irrtümlicherweise einem anderen Kellner bezahlt
hat?! -- Die Variation solcher Fälle ist ebenso groß, wie die Gäste
verschieden sind. Darum muß der arme Kellner beständig auf der Lauer
sein. Wer aber kann verhüten, daß ein Gast den Augenblick, wo der Kellner
abwesend, in der Küche oder sonst wo beschäftigt ist, benützt, um
stillschweigenden Abschied zu nehmen, oder daß er unter irgendeinem
anderen Vorwand, auf irgendeine Weise verschwindet, ohne die Rechnung zu
begleichen. -- Wie der Kellner für die Unredlichkeit der Gäste des Hauses
büßen muß, so wird er selbstverständlich auch für den Schaden, den er
selber dem Hause durch Unglück, Unachtsamkeit und Vergeßlichkeit zufügt,
verantwortlich gehalten. Bei den verderblichen Waren, dem feinen, leicht
zerbrechlichen Material, das der Kellner in seinem Geschäfte handhabt, ist
der Schadenersatz, den er leisten muß, oft sehr beträchtlich.

Was Wunder nun, wenn ein auf solche Weise bedrückter Angestellter zu
allerhand unredlichen Mitteln greift, um sich an dem Hause und den Leuten
zu rächen, die ein solches Defizit in seiner an für sich mageren
Kasse verursacht haben! So wird manch ehrlicher Arbeiter durch die
ungeschäftliche Führung des Hauses zur Unredlichkeit verführt oder
doch wenigstens dazu aufgestachelt. Aber gegen die Unredlichkeit ihrer
Angestellten haben sich die meisten Wirte -- die großen wenigstens
-- gleichfalls wohlweislich geschützt. Es ist daher schwer für einen
Kellner, selbst wenn er kaufmännisch gebildet ist, eines der modernen
Hotelbuchführungs- und Kontrollsysteme zu hintergehen. Ja, man kann mit
Gewißheit behaupten, daß dies völlig ausgeschlossen ist, wenn er sich
nicht direkt mit noch mehreren anderen Kollegen und einigen Kontrolleuren
selber in Verbindung setzt. Aber auch dies ist sehr gefährlich. Solche
Schwindelcliquen leben nicht lange. Sehr bald zersplittert sie die
Uneinigkeit über die Verteilung der Beute, oder die Detektive des Hotels
nehmen schnell Interesse an den Schlichen und Wegen des Syndikats. Aus
diesen Gründen kommen sehr wenig Unredlichkeiten unter den Angestellten
des großen modernen Hotels vor. Das Dorado des schwindlerischen
Kellners scheinen daher die Häuser zweiten und dritten Ranges zu sein,
Geschäftchen, die gewöhnlich kaufmännisch noch schlecht organisiert
sind, oder die modernen Massenbetriebe der großen Konzertsäle,
Vergnügungslokale, Bierhallen, Volksgärten usw., wo das Schwatzen,
Johlen, Lachen der anspruchslosen biederen Kundschaft und das entsetzliche
Schmettern gigantischer Blasinstrumente die Ohren des bedauernswerten
Wirtes erfüllen, so daß er gewöhnlich keine Zeit und kein Verständnis
für den Wert einer genauen Kontrolle und Buchführung hat und sich schon
zufrieden die Hände reibt, wenn seine Lokalitäten von summenden Mengen
gefüllt sind. Die dort bedienenden Leute nennen sich freilich alle
Kellner. -- Aber was floriert nicht alles unter dem Namen »Literatur«?
Was segelt heutzutage nicht alles unter dem stolzen Banner der Kunst? --
Also von Begriffen und Namen wollen wir schweigen. -- Doch, wie gesagt,
in solchen Lokalen blüht das Geschäft des unsauberen Kellners, der nur
darauf ausgeht, den Arbeitgeber sowohl wie die Gäste zu beschwindeln.
Dieses Individuum wird sich niemals an größere Zahlen heranwagen. Er
weiß zu gut, wie gefährlich es selbst hier in den schlecht geführten
Häusern ist. Für ihn gelten daher nur Pfennige und Groschen. Aber diese
fließen oft in so zahlreicher Menge auf schuftige Weise in seinen Sack,
daß sie am Abend ein beträchtliches Sümmchen ausmachen. Kommt ein
Schwindelfall zufällig ans Licht, so ist der Gegenstand gewöhnlich so
winzig und unscheinbar und so geschickt maskiert, daß die meisten Gäste
der Sache keine Beachtung schenken, und die ganze Affäre wird mit der
Entschuldigung des »Kellners« wegen des »Irrtums« schnell vergeben
und vergessen. Und es wird weitergeschlafen und weitergeschwindelt. Sollte
einem Gaste in einem solchen Lokale irgend etwas, auch das Kleinste, an
seiner Rechnung verdächtig erscheinen, so kann man ihm dringend raten,
sein Bedenken auf diskrete Weise dem Inhaber allein und sonst niemandem
anzuvertrauen. Sich an den »Oberkellner« oder an sonst irgendein
Individuum, das da herumwimmelt und vielleicht etwas zu sagen hat, zu
wenden, ist gewöhnlich zwecklos, wenn es nicht gar den ganzen Plan
verdirbt, denn diese Angestellten sind oft mit ihren alten, vertrauten
Untergebenen verwandt und verschwägert, stecken oft mit ihnen unter einer
Decke und beziehen von dem illegitimen Erwerb einen »legitimen« Anteil.

Worin diese Schwindelmethoden oft bestehen? -- Hm, das kann ich wirklich
nicht sagen. Ich habe mich auch nie bemüht, die laffen, alten, aber immer
noch bewährten Tricks näher ins Auge zu nehmen. -- Wer nur ein wenig
die Augen aufhält, bleibt vor ihnen immun. -- Wenn nun aber tatsächlich
einmal ein grober Verstoß gegen die allgemeine Ehrlichkeit oder ein
Probestückchen der allgemeinen Unehrlichkeit an den Tag kommt, so ist es
in den geschäftlich so miserabel geführten Häusern ganz natürlich
und charakteristisch, daß sehr wenig oder gar nichts getan wird, um die
Schuldigen zu verfolgen und unschädlich zu machen. -- Wie könnte es
anders sein! -- Diese charakteristische Bummelei vieler Wirte ist einer der
vielen Krebsschäden der ganzen Industrie. Diese Schlotterei duldet nicht
nur das unehrliche Element bei sich, nein, sie fördert, sie unterstützt,
sie mästet es sogar. Sie schädigt dadurch gleichzeitig auf ganz
unberechenbare Weise das Ansehen der gut organisierten Häuser. Denn das
große Publikum denkt nicht sehr weit und schert alles über einen Kamm.
Wenn dem Durchschnittsgaste heute ein Halunke in der Maskerade eines
Kellners entgegentritt, so hält er morgen und noch für lange Zeit hinaus
alle ihm im Kellnerfracke entgegentretenden jungen Leute ausnahmslos für
Halunken. Und er wird in diesem freundlichen Glauben vielleicht noch mehr
und für alle Zeiten bestärkt werden, wenn ihm das erste Halunkengesicht
immer und immer wieder entgegengrinst. Er muß ihm immer und immer wieder
irgendwo begegnen, denn die famosen Geschäftsleute von Wirten haben den
Halunken der Bequemlichkeit halber einfach an die Luft gesetzt, oder er
ging aus freien Stücken, als der Boden zu heiß wurde, und taucht nun
unbehindert wieder irgendwo an einem anderen Platze auf, wo er auf Kosten
des denkfaulen Wirtes, der bequemen, ahnungslosen Gäste und des guten
Rufes des ganzen Standes und unter dem Deckmantel des Kellnerfracks sein
Unwesen wohlgemut weitertreiben kann, bis man ihn vielleicht dort entdeckt.
So geht es fort mit Grazie bis ins Unendliche oder so lange, bis der
betreffende »Kellner« von seinen Renten leben kann oder deftiger
Hausbesitzer geworden ist.

Eine vollständige Statistik über die offizielle Bekanntschaft, die
betrügerische Kellner mit den Richtern gemacht haben, wäre wirklich
interessant. Diesen Ziffern aber müßte, damit sie gerecht seien,
beigefügt werden, _wo_ die ertappten »Kellner« beschäftigt waren. Das
Sprichwort von dem Hängen der kleinen Diebe trifft auf die diebischen
Kellner nicht zu. Ein stellenloser Vater dagegen, der um Weihnachten herum
für seine verhungernde Familie einen warmen Laib Brot stiehlt, wird prompt
eingebuchtet, damit die Familie total verhungern kann.

Sie sind etwas verwundert über das Interesse, welches ich am Kellnerleben
nehme! Es erscheint Ihnen jedoch vielleicht größer, als es in
Wirklichkeit ist. Was mich aber darin anzieht, ist hauptsächlich das
menschliche Interesse, und für Sie, Herr Kommerzienrat, dürfte doch
wohl das Geschäftliche in seinem Leben etwas anregend sein. Ich habe zwar
einmal versucht, eine vollständige, sachliche, reine Statistik über
die gerichtlich bestraften Kellner zu erlangen, aber ich erkannte es
rechtzeitig als eine ungeheuere, vielleicht unmögliche Arbeit, deren ich
mich nicht unterziehen kann. Man muß nämlich bedenken, daß die Gerichte
wenig oder gar keinen Unterschied zwischen der Profession des Kellners
machen können. Wenn es zum Beispiel zwischen Aufwärtern und Gästen
gefährlicher Spelunken zu einer Keilerei kommt, so werden die Kombattanten
jedenfalls als »Kellner« bezeichnet. Das sind natürlich keine
Anhaltspunkte für den Charakter unseres freundlichen Ganymeds.

In einem Hause, wo ein gutes Geschäftssystem die Interessen desselben
automatisch wahrt und Unregelmäßigkeiten stumm von sich fern hält, wäre
somit das zweifelhafte Element unter den Kellnern auf die Ausbeutung
des Publikums angewiesen, was aber gleichfalls aus vielen Gründen
ausgeschlossen ist. Aber gerade in solchen erstklassigen Häusern,
wo seitens der Angestellten keine Unehrlichkeiten vorkommen, weil der
Charakter der Leute im allgemeinen zu gut ist und weil die Systeme alles
unehrliche Element ersticken, dort gerade wird der Kellner oftmals das
Opfer betrügerischer oder auch nur achtloser, vergeßlicher Gäste. Es
ist daher ungerecht, in solchen Häusern den Kellner für derartige
Unglücksfälle verantwortlich zu machen. Ein gutes Geschäftshaus sollte
kulant und nachsichtig gegen seine guten Angestellten sein. Wo dies nicht
geschieht, sollten die Organisationen der Angestellten gegen derartige
Ungerechtigkeiten auf Rechtswegen vorgehen. Aber auch hier wird noch lange
das alte, abgeleierte Lied vom Leide des Angestellten weitertönen.
Das Haus aber verdirbt sich durch Kurzsichtigkeit seine besten Kräfte,
nämlich den guten Willen und die Zufriedenheit der Angestellten. Lassen
wir die menschliche Seite ganz außer acht, vom geschäftlichen Standpunkt
allein schon ist dies absolut verwerflich und unklug. -- Ah, Pardon, Herr
Kommerzienrat, sagen Sie das nicht! Ein Angestellter weiß gute Behandlung
zu würdigen! Wenn ihm diese zuteil wird, wird er dem Hause anhängen
und mit Freude arbeiten. -- Undankbare Elemente sind bald entdeckt
und entfernt. Diese einfache Wahrheit scheinen die meisten unserer
Industriellen nicht mehr zu kennen, weil sie hie und da schlechte
Erfahrungen gemacht haben. --

Wir haben nun gesehen, daß der Wirt und der Kellner im allgemeinen
schlechte Geschäftsleute sind, wenigstens in _dem_ Sinne, nach _den_
Prinzipien, die in der modernen Geschäftswelt gelten und Ausschlag geben.
Wir wissen jedoch noch nicht recht, wo der Grund hierfür zu suchen ist.
-- Sind es die verschiedenen Schwierigkeiten, die der Beruf bietet?
Gewöhnlich kann ein Kaufmann oder Fabrikant seine Waren oder Produkte
jahrelang lagern, und wenn dieselben im guten Zustand abgeliefert werden,
so kann man versichert sein, daß keine Reklamationen oder Scherereien
nachfolgen. -- Wie anders ist es hier im Hotel! Der Gastwirt und seine
Angestellten -- wenn sie ihren Beruf nur ein wenig lieben und uns nicht
ganz gleichgültig gegenüberstehen -- schweben tatsächlich beständig in
der größten Angst um die Güte ihrer Waren, die vielleicht im tadellosen
Zustande die Arbeitsräume verließen, um im nächsten Augenblick aus
irgendeinem Grunde unbrauchbar zu werden, bevor sie den Gast, den Käufer
erreichten. Eine Speise, die zum Beispiel nicht mehr ganz heiß ist, kann
völlig wertlos werden, und der Käufer braucht sie nicht anzunehmen. --
Ferner können auf alle mögliche Weisen Meinungsverschiedenheiten über
die Güte der gelieferten Waren zwischen Käufer und Wirt entstehen, daß
es geradezu unmöglich ist, festzustellen, wer bei einer solchen Frage im
Recht ist. Die kompetenteste, gerechteste Kommission von Sachverständigen
ist hier oft machtlos. Nehmen Sie nur einen Fall an, wo ein Gast eine
Speise genossen hat und nachher behauptet, sie sei aus diesem oder jenem
Grunde nicht zufriedenstellend gewesen -- was sich tatsächlich auch oft
erst nach dem Genuß kundgeben kann. Steht nicht der Wirt absolut hilflos
da!? -- In den meisten von solchen Fällen, die fast täglich vorkommen,
muß dem Wirte das Wort des Käufers genügen, und er muß den Schaden
tragen -- ein Vorgehen, das jedem Geschäftssinn und Rechtlichkeitsgefühl
direkt widerspricht. Viele Gäste wissen sehr die hilflose Lage des Wirtes
auszunutzen. Böswillig bestellen sie eine Speise, verzehren die Hälfte
und senden, nachdem sie ihren Hunger gestillt haben, die andere Hälfte als
ungenießbar zurück. Launenhafte Menschen verlieren während der Wartezeit
den Appetit und senden die ganze Bestellung, ohne sie anzurühren, zurück.
Sie denken nicht an die direkten Verluste, die dem Wirte daraus erwachsen.
Oft wissen die Gäste nicht, was sie bestellen, und die Enttäuschung
ist groß, wenn der Kellner kommt. Und in den meisten Fällen nimmt der
gefällige Wirt seine verderblichen Waren zurück. Es gibt noch tausend
andere Gelegenheiten, wo der Wirt geschädigt wird. Immer und überall hat
er das Nachsehen und trägt Ungerechtigkeiten, Grobheiten und Verluste mit
möglichst liebenswürdiger Miene. Das ist vom geschäftlichen Standpunkt
aus betrachtet einfach haarsträubend! -- Jeder andere Kaufmann würde
sich in solchen Fällen beim Gerichte Recht suchen. Ich zweifle sehr, ob
wirklich ein Wirt jemals daran gedacht hat, sein Recht zu wahren. Es ist
einfach unmöglich. Er kann nur solchen unerquicklichen Fällen vorbeugen,
indem er die größtmögliche Sachkenntnis anwendet und das beste,
gewissenhafteste Personal zur Seite hat.

Ich glaube jedoch nicht, daß die geschäftlichen Schwierigkeiten einen
besonders nachteiligen Einfluß auf den Geschäftssinn des Wirtes und
seiner Angestellten haben, ich meine, daß sie aus ihnen schlechte
Geschäftsleute machen. Geschäftliche Schwierigkeiten machen gewöhnlich
gute Geschäftsleute. Im Leben des Wirtes aber spricht ein viel ernsterer,
schönerer Faktor mit. Da ist etwas Gutmütiges, Wohlwollendes mit dem
Gewerbe des Gastwirtes verbunden, das keinem anderen Handel oder Gewerbe
anhaftet. Mag der Wirt auch Bezahlung, oft gute Bezahlung für seine
Tätigkeit verlangen, -- das ist sein Geschäft, und er muß rechnen, um
zu leben. -- Der Grundzug seines Handelns und Wandelns aber bleibt
Gutmütigkeit, und dieser drückt sich seinem Charakter in ganz prägnanter
Weise auf. Es ist wirklich noch ein kleines Überbleibsel von dem schönen
Geiste der alten Gastfreundschaft, das alle an der Gastwirtsindustrie
beteiligten Menschen beseelt. Die Gäste verlangen, lieben dies nun einmal.
Mithin gehört dieser Rest einer schönen, längst verschollenen Sitte
wie ein altes Erbstück zur Familie der Wirte, oder richtiger zu ihrem
Geschäfte. Und welch ein wunderbares Erbstück ist's! Freilich ist es
geschäftsfeindlich! Leider! -- Und wie sonderbar, wie paradox es klingt,
daß derjenige Wirt, auf den dies so entsetzlich anti-kommerzielle
Betriebskapital sich im reichsten Maße vererbte, in seinem Fache der beste
Geschäftsmann ist! --

Wie aber kommen die dadurch entstehenden tausend und abertausenden kleinen
Verluste wieder ein? -- Das ganze Geheimnis liegt in dem wunderlichen
Gerechtigkeitssinn des lieben Publikums. Der arme, biegsame Mann, der
Engelsgeduld und Nachsicht mit den Unarten, Frechheiten und Egoismus des
Publikums hat, ist sein Liebling, sein Herrgott. Alles strömt zu ihm hin,
um an diesem Wunder von Milde und Geduld seine Schlechtigkeit zu probieren.

Der Wirt ist daher kein Menschenerzieher. Seine eigentliche Tätigkeit hat
zwar hohen, erzieherischen Wert, ja, den besten, den die Menschheit noch
kennt, in der geschäftlichen Ausübung derselben aber ist der Wirt nichts
weniger als ein gigantischer Menschenverderber. -- Jede Mildtätigkeit,
jede Nachsicht, jede barmherzige Handlung verdirbt im Grunde den Menschen,
der sie empfängt. Und doch weckt sie andererseits ein schönes Gefühl
in seiner Brust: die Liebe und das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur
menschlichen Gesellschaft und die Dankbarkeit. Welch ein wunderliches Chaos
von Schönem und Häßlichem! Man steht ratlos davor.

Sehen Sie, damit der Beruf des Wirtes wirklich seinen Zweck erfülle, muß
das Verhältnis zwischen ihm, dem Kaufmann und dem Gaste als Käufer ein
durchaus kordiales und harmonisches sein. Ich könnte wirklich nicht in
einem Hause ruhig schlafen und gemütlich essen, wo der Inhaber ein mir
unsympathischer Mensch wäre. -- Mein Wirt weiß dies nur zu gut. Und aus
diesem Grunde, unter dem Einfluß seiner Tagesarbeit, entwickelt er und
sein Gehilfe, der Kellner, sich zu den eigenartigsten Gestalten in der
modernen Geschäftswelt, zu Geschäftsleuten, die durch ihre Gutmütigkeit
und durch ihre geschäftlichen Verluste erst zu Geschäftsleuten werden.
Eines solchen Werdegangs kann sich wohl niemand außer ihnen rühmen. Nur
eins zwar, wenn der Vergleich gemacht werden kann: das menschliche Herz
selber. Erst durch seine Güte, aus seinen Verlusten und Qualen wird es zu
dem, was es werden soll: nämlich ein Menschenherz.

Aber dennoch! Im Geschäft läuft das Edle im Menschen große Gefahr,
lächerlich zu werden. Es wird sowieso lächerlich, je offener es
sich zeigt. Also weg mit der edlen Gesinnung in unserem modernen
Geschäftsleben! Es sind unvereinbare Begriffe. ~Business~ ist so
entsetzlich grausam, kalt und berechnend, daß jede bessere Regung davor
zurückschreckt. Und dem ist gut so! Es muß so sein. Denn sonst wäre
Geschäft eine Wohltätigkeit, ein Geschenk. Wir Käufer wollen keine
Geschenke, wir sind nicht unterstützungsbedürftig. Wir bezahlen für das,
was wir verlangen. Wir wollen aber auch erhalten, wofür wir bezahlen und
was wir verlangen. Das ist Geschäft!

Der typische Wirt daher, der durch seine Gutmütigkeit und Nachsicht mit
seinem Publikum möglichst viel Kundschaft an sich fesseln will, ist
seinen Kollegen und Konkurrenten gegenüber grausamer und gefährlicher
als irgendein streng gerechter, unerbittlicher Kaufmann gegenüber seinem
schwächeren Bruder. Diese zweifelhafte Gutmütigkeit in Geschäftssachen
ist eigentlich nichts als unlauterer Wettbewerb. Und sie sollte als solcher
gebrandmarkt werden. Denn sie macht wirklich die Existenz jedes rechtlich
denkenden Konkurrenten, jeden gerechten, erlaubten Wettbewerb unmöglich.
Im Geschäftsleben hebt die Konkurrenz gewöhnlich die Industrien und
die Gewerbe. Sie vervollkommnet. In der Gasthofsindustrie scheint die
Konkurrenz eine andere, eine erniedrigende Wirkung zu haben. Denn wenn
die Wirte sich einander in der Dienerei und Kriecherei vor ihren Gästen
überbieten und sowohl kostspielige wie entwürdigende Nachsicht mit
allerhand grobem Unfug haben, so ist ein solches Dasein wirklich kein
erhebendes, sondern -- namentlich für viele Tausende von Angestellten --
eine unerträgliche Qual.

Es ekelt mich oft an, in ein besseres Restaurant zu gehen. Erscheint man
an der Tür, so stürzt eine Schar von schwarz-weißen Menschen heran und
bemächtigt sich meiner Person. Ich komme gar nicht mehr zu Atem! Jeder
will mir seinen Stuhl anbieten. Alle wollen sie mich bedienen. Ich soll
mich zehnteilen. Dabei vergeht der Appetit. -- Ich weiß, die Kellner sind
nicht die Leute, die mir einen solchen Empfang von Herzen gern bereiten. Es
ist die Notwendigkeit, die sie zwingt, sich so aufdringlich zu benehmen. --
Wie oft wallt es in der gequälten Brust des Jünglings vor Schmerz über,
da er solche ekelhaften Schauspiele ansehen und mitspielen muß! --
Ich habe mir häufig und liebevoll forschend meinen Jüngling durch die
Augenwimpern betrachtet und eine wilde, gebändigte Wut deutlich gesehen,
die er gegen mich und alle Gäste hegte. Die unausstehlichen Qualen
drückten sich deutlich seinen Zügen auf, verkümmerten und bleichten
sie. Aber welche Schuld tragen wir, wir frohen Gäste, an den Höllenqualen
unseres jungen Mannes! -- Was hat _er_ verschuldet, daß er sie tragen
muß? -- Es ist doch nur der Geist der Dienerei, der erheuchelten
Unterwürfigkeit, des Trinkgeldes, vor allem aber das kolossale,
dickhäutige Gespenst der menschlichen Stupidität, der Eitelkeit und
Genußsucht, die uns das gute Mahl verdirbt und die jungen Leben so vieler
tausend Menschen vergiftet!

Die verderbliche Wirkung derartiger Zustände ist ganz unberechenbar. Den
Menschen, der in früher Jugend dort hineingedrängt wird, verkrüppeln
sie für alle Zeiten. Eine derartige Tätigkeit nimmt ihm von Kindheit an
geradezu jeden Mut für sein späteres Leben weg. Der junge Pikkolo wird in
der Luft, in der Atmosphäre des eleganten Speisesaals systematisch geistig
entmannt, damit aus ihm ein Eunuch zum Dienst des Reichtums werde. Der
frühe Anblick desselben, die gezwungene Unterwürfigkeit lähmt das junge,
erwachende Leben in seiner Brust; das keimende Selbstbewußtsein, die
Grundlage für sein späteres seelisches Leben, alles wird unbarmherzig,
grausam in seinem Frühling erstickt. Es erfordert ein ganz
außerordentlich starkes Gemüt, den Gefahren einer Geschäftsführung zu
entgehen, die auf solchen verderblichen Grundlagen beruht. Aber mit einem
starken Gemüt ist nicht jeder Erdgeborene beschenkt. -- Ja, es ist
wahr! In der Gastwirtsindustrie werden daher Hunderttausende von jungen,
hoffnungsvollen Leuten fürs Leben vergiftet, und es ist ihnen später
unmöglich, sich von dem entsetzlichen Fluche der Unterwürfigkeit, der
ihnen durch die verschiedenen Pflichten und Umstände in jungen Jahren
eingeimpft wurde, zu befreien. -- Der Furcht- und Unterwürfigkeitsinstinkt
in der menschlichen Brust ist schon von Hause aus stark genug. Er sollte
nicht noch systematisch geweckt und gefördert werden. Man sollte ihn
ersticken! --

Wir wollen dem Hotelier in die Konzessionen und Vorteile, die er diesem
oder jenem Kunden einräumt, nicht dreinreden. Seine Geschäftsmethoden
muß er mit seinem Debet- und Kreditkonto vereinbaren. Sofern aber
diese die Wohlfahrt und das menschenwürdige Dasein der Angestellten
beeinträchtigen, sollte man sich dagegen wehren. Jede Geschäftsführung,
jeder Zustand, jede Notwendigkeit, die den Angestellten leiblich oder
seelisch gefährdet, die sein Leben, auf das er Berechtigung hat, zu
einem Schattendasein, einem Jammer gestalten, muß man in Grund und Boden
verdammen. Ungezähltes und unaussprechliches Elend seufzt in den dunkeln,
stinkenden Ecken der Großstädte und reckt unter gräßlich gestotterten
Flüchen und Verwünschungen die mageren Fäuste gegen die blendenden
Lichter der Hauptstraßen. Der verwundete Mensch wie das verwundete Tier
zieht sich in Höhlen zurück, um dort in Dunkelheit einsam zu verenden. Er
schämt sich seiner Wunden, die das Leben ihm schlug. Denn sie zeugen von
seinen Schwächen. -- Darum fordern wir im Interesse der Menschheit,
daß auch der Hotelier und seine Angestellten, vor allem aber die Gäste
mitarbeiten, der großen Krankheit unserer Zeit zu wehren, daß jeder sein
Steinchen in den Weg der Menschheit füge, um ihn zu glätten, und daß
jeder ihn rein halte. -- Die aber, die ihn mit Trümmern und Leichen
besäen, sind nicht wert, verachtet zu werden.

Aber die Wirte und Kellner müssen endlich einmal aufwachen! -- Bücklinge
geziemen sich für trockene Hofschranzen, aber nicht für einen gesunden
Geschäftsmann. Wir leben im Reiche des Geschäftes. Der Aristokrat darin
ist der Kaufmann, der Bürger. Die Welt von heute hat eine grenzenlose
Verachtung für alle Menschen, die keine persönlichen Werte aufzuweisen
haben, sei er nun König oder Bettler. Man läßt sie links liegen. --
Also keine Bücklinge mehr vor der sogenannten Gesellschaft, vor dem
ausgetrockneten Tagedieb, vor dem runzeligen, welken Faulenzer, mag er nun
der deutsche Freiherr von und zu Immern-Pumpp, der österreichische Graf
Woswosyi, der englische Lord of Down and Out oder Lady Buttertoast,
der russische Fürst Knutischeff, ein italienischer Conte oder ein
französischer Marquis sein. Die Bevorzugung solcher Menschen ist eine
Beleidigung für uns, die bürgerlichen Reisenden und Kaufleute, die den
weitaus größten Teil der internationalen Hotelkundschaft bilden.

Faulenzer und Tagediebe sowie Müßiggänger, gleichviel, welchen Rang
und Lebensstellung sie einnehmen, wissen nicht, was Arbeit ist; sie
wissen nicht, was es heißt, sich mit den Händen zu ernähren, wie es
die Angestellten in den großen Hotels tun müssen. Sie können einen
arbeitenden Menschen mit ihrem Firlefanz und ihrer Stupidität bis aufs
Blut peinigen. Und die Wirte, statt zu helfen, diese Sorte von Menschen
auszurotten, züchten sie, ernähren und mästen sie durch ihre elende
Angst vor dem leeren Glanze und durch ihre sklavische Dienerei. Und je mehr
die Clique gemästet wird, um so mehr schindet sie diejenigen, die dieses
Mästgeschäft besorgen, und macht ihnen das Leben zu einer inhaltsleeren,
unerträglichen, endlosen Komödie.

Ich kann wirklich nicht verstehen, warum die Oberkellner und Wirte geradezu
gezwungen werden, weitgehendsten Kredit zu gewähren. Das ist doch in
keinem anderen Geschäfte der Fall. Und zu Nahrungsmitteln und Unterkunft
müssen sie manchem edlen Haupte sogar noch Barmittel in Mengen geben. --
Bitte, fragen Sie nur einmal den bleichen Buchhalter, der nächtelang über
den dickleibigen Geschäftsbüchern sitzt und endlose Kolonnen von Ziffern
addiert, die von der Saumseligkeit und dem Leichtsinn so vieler Hoch- und
Hochwohlgeborenen ein schreckliches Zeugnis ablegen. Er kann sie hinter
die Kulissen des Glanzes führen. Und je mehr man den Menschen borgt, um
so schlimmer und extravaganter werden sie in ihrem Lebenswandel und um so
saumseliger in der Begleichung ihrer Schulden. -- Manche Wirte scheinen
sich wirklich mit der großen Ehre zu begnügen, diese hohen und höchsten
Herrschaften im Hause zu haben, damit der Name der Firma schön mit diesen
zweifelhaften Aristokraten garniert werde. Die Wirte bezahlen aber schwer
für solche Reklamen. Und die Hotelindustrie ist kein Paradies für den
Kapitalisten. Sie ist weit davon entfernt, wirklich profitabel zu sein,
wenn sie nicht von einem ökonomischen Genie geleitet wird. Man hört von
den schwindelnden Summen, die da eingehen, wer aber die Bilanzen vieler
großer Hotels sieht, wird sich enttäuscht hinterm Ohr kratzen. Wer Geld
in solchen Unternehmen hat, wird auch seine Sorgen darum haben. -- Und
warum? Nur weil die meisten Wirte und ihre Angestellten es noch nicht
verstanden haben, geschäftlich aufzutreten. Alle Hochachtung vor ihrer
Liebenswürdigkeit und ihrer Zuvorkommenheit! -- Aber es gibt Grenzen, wo
es heißt:

  »~Business is Business.~«

Man sehe sich nur die großen Dampferlinien mit ihren schwimmenden
Hotelpalästen an! Da wird doch nicht gepumpt! Da macht der Wirt auch keine
besonderen Komplimente. Da darf ein Gast sich nicht einmal mucksen und in
unvernünftiger Weise den Mund aufmachen! Und keiner wird es von selber
wagen. -- Wer es versucht, gratis zu leben, wird per Schub zurückexpediert
und muß seine Fahrt abarbeiten. -- Das ist ~Business~! So sollte es auch
in den Hotels auf dem Lande sein! -- Die Wirte sollten ein Gesetz haben,
welches ihnen das Recht gibt, jeden saumseligen Genußmenschen, ob
Aristokrat oder Bürger, in seinem Hotel beschäftigen zu können, bis die
Schuld abgetragen ist. -- Wo? -- Na, da kommt doch nur die Aufwaschküche
in Betracht, wo der Schuldner Teller waschen und Kasserollen scheuern
müßte. Denn zu höheren Leistungen besitzen solche Epikureer gewöhnlich
nicht die Fähigkeiten. Ein hochgeborenes Aufwaschküchenpersonal wäre
in der Tat viel mehr Reklame und Nutzen für ein Hotel, als die Gegenwart
solcher zweifelhaften Gäste. Leute mit einer brennenden Genußsucht im
Herzen und minus den nötigen Mitteln im Beutel würden sich dann in andere
Gefilde begeben als in das Schlaraffenland des Wirtes, welches, wie sie
glauben, keine großartige, gigantische Wohltätigkeitsanstalt, sondern in
Wirklichkeit ein Geschäftshaus ist.



VI.


  Die Sklaven verlieren in ihren Ketten alles,
  selbst endlich den Wunsch, ihrer los zu sein.

    _Rousseau._

Sie haben sicher schon einmal in Ihrem Garten zur schönen Frühsommerzeit
einen blühenden Rosenstock betrachtet -- ich meine natürlich nicht mit
den Augen eines Schwärmers oder eines Verliebten, sondern als ein Gärtner
oder vielleicht gar als Naturforscher. Ihnen wird dann auch gewiß mitunter
eine geschäftige Schar von Ameisen aufgefallen sein, die behende an dem
Stamm und den Stielchen auf und ab liefen. -- Alsdann wurden Sie noch
aufmerksamer, schauten noch schärfer zu, und Sie entdeckten an den
zarten Knospen und unter den saftigen Blättern versteckt ganze Herden
von Blattläusen, die in ungestörter Ruhe sich am Safte des Bäumchens
gütlich taten. Und mit großem Interesse sahen Sie weiter, wie die
fleißigen, schlauen Ameisen eine nach der anderen zu den Blattlauskolonien
pilgerten und sich dortselbst allerhand zu schaffen machten. -- Aha!
Sie wissen, was ich meine! -- Ganz richtig! -- Die Ameisen statten den
Blattläusen einen Besuch ab. Sie tänzeln und scharwenzeln und krabbeln da
herum, bis sie ganz dicht an die faulen Kreaturen herankommen. Dann machen
sie ihr Kompliment und beginnen mit ihren Fühlern die feisten Rücken
ihrer Freunde zu streicheln und zu kitzeln. Diese fühlen sich natürlich
sehr geschmeichelt und geben als Dank einen »süßen, blinkenden Stoff«
von sich, den die Ameisen sehr hoch schätzen. Denn darum kommen sie ja
doch, die Schlauberger! Nur um die Blattläuse zu melken. Und haben sie
genug, so verschwinden sie in ihrem Bau. -- Man wird natürlich einige
Zeitlang mit großer Freude den flinken Tierchen zuschauen. Das Leben und
Treiben der Ameisen ist doch so interessant und lehrreich -- man kann
gar nicht genug davon sehen. -- Aber man haßt die Blattläuse, das faule
Gesindel, denn sie verderben auf die Dauer den schönen Rosenstock. Darum
nimmt man die Spritze zur Hand und schüttelt das Stämmchen, damit die
Ameisen abfallen. Die gewandten Geschöpfchen landen irgendwo sicher auf
ihren Füßen, aber die Blattläuse sind zähe und bleiben hängen. Darum
müssen sie mit dem scharfen Zeug abgespritzt und getötet werden. Denn
sonst kann der Rosenstock nicht weiterleben --

Wie ich auf einmal auf die Naturgeschichte zu sprechen komme? -- Oh,
ich dachte nur eben daran, daß die Ameisen die Kellner und Wirte ~par
excellence~ im Reiche der Insekten seien. Beherbergen sie nicht auch viele
Gäste in ihren Bauen! Werden diese nicht gut gefüttert und gestreichelt!
-- Natürlich des »blinkenden Stoffes« wegen. -- Der einzige Unterschied
ist, daß nicht die Gäste, sondern die Wirte dabei betrunken werden.
Auch sind die Ameisen ~businesslike~ genug, den Gast, der für die gute
Behandlung nicht bezahlen will, einfach aufzufressen. -- So können wir uns
auch die geschäftigen Armeen von Kellnern vorstellen, die der sogenannten
»Gesellschaft« -- diesen Nichtstuern, diesen Blattläusen am Rosenbaume
des Lebens -- den süßen Mammon abstreicheln und abschmeicheln müssen.
Diese Blattläuse saugen sich an den Knospen des grünen Lebensbaumes so
fest, daß es bis jetzt noch keinem Gärtner gelungen, sie abzuspritzen.
Schon viele Tausende tapferer Männer haben Millionen und Millionen
Flaschen giftiger Tinte verspritzt. Es hat nichts genutzt! Noch immer
sitzen die faulen Geschöpfe da und saugen dem Leben den Saft aus.

Die Ameisen sind ganz schlau! -- Sie wissen, welche Arbeit sie haben
würden, das Gesindel auszurotten. Darum nehmen sie nur so viel, wie sie
auf einigermaßen angenehmem Wege erlangen können. -- Gewiß, gewiß!
Viele brave Menschen, besonders diejenigen, die aus Mangel an Gelegenheit
und Fähigkeit dem Ameisenbeispiel nicht folgen können, halten solche
diplomatische Lebensweise für ganz und gar verwerflich und verächtlich.
Die Ameisen denken anders darüber. -- Weise, gelehrte Männer bemühen
sich unausgesetzt um die Ameisen und suchen die Lebensweise und die
Einrichtungen dieser Geschöpfe zu erforschen. Ja, manche versteigen sich
sogar zu der Behauptung, die Menschheit könne noch riesig viel von den
fleißigen Insekten lernen. Namentlich in bezug auf Liebes- und Eheleben,
Kindererziehung, Arbeitsweise, innere und auswärtige Politik. Dem mag
sein, wie es will. Wir wollen das den gelehrten Leuten überlassen. Da aber
die Kellner keine anderen Lebewesen sind als wie wir, so wollen wir uns der
Kritik anschließen, welche die Art und Weise, wie die Ameisen die fetten
Blattläuse behandeln und von ihnen leben, als eine für menschliche Tiere
ungebührliche und verächtliche verdammt. Dies braucht unsere Achtung vor
dem Fleiß und der Schlauheit der Ameisen nicht zu beeinträchtigen. Man
sollte aber doch sagen, daß solch intelligente Wesen sich auch auf andere
Art ihr täglich Brot erwerben könnten! -- Und sie können es! --

Hierin liegt die Lösung der Trinkgeldfrage, -- ein Kobold, der heutzutage
die ganze zivilisierte Welt vexiert. -- Im Hotel hat sich dieser
Quälgeist ganz natürlicherweise eingenistet. Und so fest, daß ihm schwer
beizukommen ist. Er begibt sich aber auch auf andere Gebiete.

Es ist unmöglich, in einigen Worten zu sagen, wieviel Für und Wider das
Trinkgeld in sich birgt. Seine Daseinsberechtigung im Hotelwesen jedoch ist
in wenigen Sätzen auszudrücken. Warum bekommt der Kellner Trinkgeld? --
Weil er darauf angewiesen ist. -- Warum ist er darauf angewiesen? -- Weil
er zu schlecht bezahlt ist, um ohne Trinkgeld leben zu können. -- Warum
ist der Kellner schlecht bezahlt? -- Weil er Trinkgeld bekommt! -- Das ist
die ganze Situation. Aber so einfach sie erscheint, so schwierig ist sie.
Um überhaupt nur an sie herantreten zu können, müßten wir uns zunächst
klar machen, was ein Trinkgeld ist. Ich glaube, Sie, Herr Kommerzienrat,
als Finanzier sind eher imstande, diese Frage zu beantworten als ich.
-- Soll es das sein, was der Name sagt -- ein Geld zum Vertrinken? --
Schwerlich! -- Doch ich bin auch ein wenig Philologe, und durch die
Etymologie können wir vielleicht etwas Aufklärung erhalten. -- Sehen
Sie, der Franzose zum Beispiel nennt das Trinkgeld »~Pourboire~« -- im
Schwedischen heißt es »~Drickspengar~« -- beides gleichbedeutend mit dem
»Geld zum Vertrinken«. -- Der Italiener dagegen gebraucht die Ausdrücke
»~Buona mano~« und »~Mancia~«. Hier hat das Geld etwas mit »Hand« zu
tun. -- Der Spanier wendet das Wort »~Propina~« auf »Trinkgeld« an, und
es hat sonst keine andere Bedeutung. Im Englischen sagt man »~fee~« oder
meistens »~tip~«. »~Fee~« ist ganz einfach »Bezahlung«, »~Tip~«
dagegen hat eine mannigfaltige Bedeutung. Das Wort hängt mit dem deutschen
»Tüpfchen« und »Zipfel« zusammen und heißt eigentlich »Spitze«.
Dann gebraucht man es aber auch in der Bedeutung »Wink«. -- Ja, nicht
wahr, Herr Kommerzienrat! -- An der Börse! -- Richtig, auf dem Rennplatz
auch! Ein guter »~Tip~«. Schließlich in dem Sinne auch in bezug auf
die Polizei. Aber das hilft uns nicht weiter. -- Die einzige Erklärung in
unserem Falle kann man erhalten, wenn man »~tip~« etymologisch von dem
mundartlichen »~dibs~« -- süßer Sirup -- herleitet, was im Volksmunde
aber auch mitunter für »Geld« angewandt wird. Ich habe mich ziemlich
eingehend dafür interessiert, aber die dickleibigsten englischen
Wörterbücher schweigen sich über den Ursprung des Wortes »~tip~« in
der Bedeutung »Trinkgeld« hinweg. Das Trinkgeld scheint ihnen eine sehr
verächtliche Sache zu sein. -- Unsere philologische Weisheit bringt uns
also doch nicht viel weiter. -- Zwar gebraucht man im Umgang auch noch
Worte wie »Obolus« oder »Diobolus«, was sich schrecklich anhört, aber
doch nur eine harmlose griechische Bezeichnung für eine gewisse kleine
Münze ist. Auch das französische »~douceur~« wird mitunter für
»Trinkgeld« angewandt. Doch man kann es höchstens als »Freundlichkeit«
oder »Süßigkeit« verstehen. Das persische »~Bakschisch~« und noch
verschiedene andere Worte, die das Trinkgeld charakterisieren sollen,
sind aber auch alle nur gleichbedeutend mit »Geld«, »Geschenk«,
»freiwillige Gabe« usw. Gewöhnlich aber ist das Trinkgeld eine sehr
unfreiwillige Gabe, eine dringende Notwendigkeit, zu der man sich in
gewissen Lagen verpflichtet fühlt und wodurch gewöhnlich höchst
peinliche Situationen entstehen. Doch nirgendwo auf der Welt scheint
man ihr aus dem Wege gehen zu wollen, oder besser: überall wird man
hineingedrängt. In der Türkei, in China, wo wenig alkoholische Getränke
genossen werden, gibt es eben »Kaffeegelder«, »Teegelder« und allerhand
sonstige »Gelder«.

Ich halte des Trinkgeldgeben und -nehmen für eine echt orientalische
Krankheit mit allen für den Orient charakteristischen Ansteckungsgefahren,
Symptomen und Folgen. Man kann wirklich die Länder und Völker am
Trinkgeld erkennen; man kann den ganzen Wert und die soziale Stellung der
Nation danach bemessen ... Wo diese Form von Bezahlung für geleistete
Dienste vorherrscht, da ist es faul im Staate. -- Der Orient -- klassisch
für Korruption -- mit seiner teilweise noch bestehenden Sklaverei, ist
auch klassisch für das Trinkgeld. Es ist nur noch mit Beulenpest oder
asiatischer Cholera zu vergleichen. -- Solche unhygienische Finanzen
grassieren natürlich auch in Europa sehr stark. -- Rußland steht
bekanntlich wie in politischer und sozialer Malpropretät so auch in
finanzieller Unreinlichkeit an der Spitze der europäischen Nationen.
Dort besitzt man sogar die charakteristische Roheit, das Trinkgeld
»Schnapsgeld« zu bezeichnen. -- Doch die anderen Staaten Europas sind
nicht minder von der orientalischen Krankheit verseucht. In den Vereinigten
Staaten von Amerika wird noch am wenigsten Trinkgeld gegeben, weil im
großen ganzen die Arbeitslöhne gut und geregelt sind. Allein in den
letzten Jahrzehnten hat mit der zunehmenden europäischen Kultur und Sitten
auch das Trinkgeldwesen sehr zugenommen. Die Trusts sorgen eifrig dafür,
daß es den Lohnarbeitern und kleinen Leutchen nicht allzu gut gehe, und
sie schrauben demgemäß die Preise für Lebensbedürfnisse in die Höhe
in einem Tempo, worin die Lohnsätze nicht folgen können. -- So ist dem
freien Durchschnittsamerikaner auch schon eine gewaltige Hochachtung vor
dem Trinkgelde beigebracht worden.

Wie lange die Menschheit schon von der Trinkgeldkrankheit behaftet
ist, läßt sich gar nicht sagen. Jedenfalls ist sie so alt wie die
Gastwirtschaftsindustrie, in der sie sich noch am stärksten erhalten hat.
Ganz hitzige Köpfe in unseren Tagen beheben häufig, das Trinkgeld als
eine gelinde Form von Bestechung zu bezeichnen. Trifft diese Bezeichnung
zu, so ist das Trinkgeld sehr, sehr alt; denn die Bestechung in jeder Form
ist eine erbliche Angewohnheit der Menschen. Schon im grauen Altertum gab
es keine Festung, die nicht ein mit Gold beladener Esel hätte einnehmen
können. Das Mittelalter mit seinen schlechten sozialen Verhältnissen
und sonstigen unhygienischen Zuständen war natürlich die Blütezeit des
Trinkgeldes. Vom Hofmarschall herab bis zum geringsten Kanzleischreiber,
vom Meister bis zum Lehrling, hoch und gering, -- alle waren sie die Ritter
von der hohlen Hand. -- Die trotzigen Meister der Zünfte schämten sich
nicht, für sich und ihre Gehilfen ein Trinkgeld zu verlangen, wenn der
Patron, der sie mit einem Auftrage betraut hatte, befriedigt vor dem
fertigen Meisterwerke stand. Albrecht Dürer, ein wackerer deutscher Mann,
ein unerreichter Meister des Pinsels und des Stichels, heute noch und
für alle Zeiten der Stolz der ganzen deutschen Nation, war auch von der
unheilvollen Krankheit behaftet, Trinkgelder zu verlangen. Er hat dies
sogar schriftlich gegeben, damit es niemand später abstreiten könne. --
Aber selbst schon damals gab es Männer, die die Verderblichkeit dieser
niederen Angewohnheit erkannt hatten. Die ehrlichen, braven, gestrengen
Räte und Landesväter, die die bayrische Landesordnung vom Jahre 1553
verfaßten, haben sich gegen solche Übelstände gesträubt.

Ich kann mich wirklich nicht mit dem Worte »Trinkgeld« zurechtfinden.
Da es aber der gebräuchlichste Ausdruck für freiwillige Belohnung
geleisteter Dienste ist, von Diensten, die der Empfänger nach eigenem
Gutdünken selber abschätzt und ein dementsprechendes, xbeliebiges Stück
Geld dafür hinwirft, und wo derjenige, der den Dienst geleistet hat,
geduldig und demütig harrend dastehen muß, bis ihm das xbeliebige
Geldstück hingeworfen wird und dabei gar nichts über das Gewicht und die
Dicke des Geldstückes zu sagen hat, ja nicht einmal mucksen darf, wenn er
überhaupt nichts bekommt, so will ich ihn -- den Ausdruck »Trinkgeld«
-- seiner Gebräuchlichkeit wegen beibehalten und anwenden, wo ich seiner
bedarf. -- Unter die Kategorie der Trinkgelder fallen demnach auch die
milden Gaben, die eine dankbare Nation ihren großen Leuten gibt, wenn
diese alt geworden sind und zufällig nicht genug zu essen haben. Das sind
die Gaben, die zum Beispiel alte Dichter bekommen, weißhaarige Sänger,
die in ihrem Leben so lange gehungert haben, bis das Volk auf einmal
einsieht, daß es dem alten Herrn etwas schuldig ist. Ein jeder Bürger
-- diese Behauptung ist zwar etwas optimistisch -- greift dann in seinen
Säckel und rechnet an den Fingern ab, wie groß die Dienste des alten
Herrn Dichters sind und wieviel Trinkgeld er, der Herr Bürger und
Empfänger der besagten Dienste, geben kann. Ein dritter Herr im schwarzen
Gehrock und Zylinderhut sammelt das Geld ein, schreibt es gewissenhaft auf,
und der Herr Bürger kann am nächsten Morgen seinen Namen in der Zeitung
sehen. Wenn es darauf nichts mehr zu sammeln gibt, schenkt der Herr im
Zylinder das Sümmchen Trinkgeld dem lieben alten, verdienstvollen Sänger.
-- Es gehen viele solcher schwarzen Herren herum und sammeln Trinkgeld
für geleistete Dienste. Trotzdem die pekuniäre Störung im Momente der
Inspiration ganz besonders empfunden wird, wie Busch sagt, so wandert
dennoch der Klingelbeutel mit Trinkgeldabsichten umher und stört die
braven Gläubigen in der Andacht. Wenn der Herr Pfarrer besonders schön
und erbaulich gepredigt hat, gibt man gewöhnlich gern ein besonders fettes
Trinkgeld. Ja, hartgesottene Sünder lassen sich oft erweichen, statt des
billigen, bequemen blanken Hosenknopfes zwei Pfennig für eine erbauliche
Andacht zu geben.

So schätzte das deutsche Volk die Dienste seines Eisernen Kanzlers ab und
überreichte ihm auf Friedrichsruh in einem Eichenkranz mit Schleifen und
der Aufschrift: »Für treue Dienste« das wohlverdiente Trinkgeld. So
würdigt die gesamte gläubige Welt die Dienste des Heiligen Vaters, und so
bekommt der Nachfolger Petri sein Trinkgeld oder seinen Peterspfennig, wie
man es bescheiden nennt.

Wenn das Volk nun einmal mit den Diensten solcher hochgestellten
Trinkgeldempfänger wenig zufrieden ist und wenn infolgedessen das
Ehrengehalt, Opfergabe, Spende, Peterspfennig oder wie man sonst noch das
Trinkgeld taufen mag, etwas mager ausfällt, so können die betreffenden
Herren Empfänger auch nichts anderes machen als das, was irgendein
ganz plebejischer Bakschischheischer in einem Falle von wenig generöser
Abschätzung seiner Dienste machen kann, d. i. heimlich schimpfen. Laut
und hörbar zu schimpfen spricht von einer überaus großen Gemütsroheit
und Undankbarkeit. Indessen tritt diese leider sehr häufig auf. Oft wird
sie ganz unverblümt von der Kanzel heruntergedonnert.

Bei einem ansehnlichen Trinkgelde, oder wenn es sich gar um fette
Ziffern handelt, erfindet gewöhnlich der respektvolle Mensch allerhand
wohlklingende Namen. Mit dem Namen und der Summe, die das Trinkgeld
repräsentiert, steigt dann auch natürlicherweise die Achtbarkeit
desselben, so daß jeder dann ungeniert seine Hochachtung vor dem
Trinkgelde ausdrücken darf. -- Ganz wie beim Menschen selber. Daher ist es
auch erklärlich, daß selbst die höchsten Persönlichkeiten Trinkgelder
annehmen können und sie dankend quittieren.

Ein sehr düsteres Bild von der Notwendigkeit und der Wirksamkeit des
Trinkgeldes entfaltete sich anfangs 1909 in New York, wo sich zu
den bevorstehenden Wahlen des Bürgermeisters und der städtischen
Verwaltungsbeamten eine neue Partei gebildet hatte, die beantragte, daß
der neue Bürgermeister außer seinem Gehalt, welches höher ist als das
des Präsidenten der Vereinigten Staaten, nach Ablauf seiner Amtstätigkeit
einen »~Bonus~« von fünfhunderttausend Dollars erhalten solle. Dieser
»~Bonus~«, Gratifikation, Geschenk, Trinkgeld -- was es nun gerade ist
-- sollte durch Subskription unter Privatleuten beschafft werden, damit die
politische Unabhängigkeit, die Unparteilichkeit des neuen Würdenträgers
und zugleich die Wohlfahrt der Stadt gesichert sei. Die Urheber dieses
Gedankens behaupteten, daß es auf eine andere Weise unmöglich sei, einen
Mann für den Posten zu erhalten, der seine Pflicht auf ehrliche Weise
ausführen würde. -- Die Partei klagte weiter, daß diese radikalen
Maßnahmen -- nämlich der »~Bonus~« -- durch die bisherige Verwaltung
der Stadt, -- die schlechteste in irgendeiner Großstadt -- notwendig
geworden seien. Entblößt, beraubt, betrogen, so gut wie bankerott stehe
die herrliche Stadt nun da und bedürfe eines »ehrlichen und kompetenten«
Verwalters. Selbst die dümmste und ungebildetste Bevölkerung der
Stadt habe nun einen dämmerigen Begriff bekommen, was eine derartige
Mißwirtschaft der öffentlichen Angelegenheiten -- das Wort sei nur ein
beschönigender Ausdruck für Diebstahl und Schwelgerei auf Kosten der
Stadt -- bedeute. -- -- Man will also durch eine Trinkgeldversprechung die
neue Stadtverwaltung bewegen, ehrlich und haushälterisch, unbestechlich
und unparteiisch zu arbeiten. -- Welche Abgründe werden da vor unseren
Augen geöffnet! --

Über die Gefühle, die der Mensch bei der Entgegennahme eines Trinkgeldes
hegt, läßt sich vieles sagen. Indes muß ich gleich hinzufügen, daß
dergleichen Gefühle zu sehr durch äußere Umstände bestimmt werden, als
daß man eine einheitliche Regel auf sie anwenden könnte. Die äußeren
Umstände sind nämlich, wie wir bereits gesehen haben, die verschiedenen
Bemäntelungen, worin das Trinkgeld auftritt. Jedoch auch diese
Verkleidungen sind noch nicht der letzte, der bestimmende Faktor für die
Gemütserregung des Empfängers. Nein, die Entscheidung hängt einzig und
allein von dem Moment ab, wo das empfängliche Gemüt den ersten Eindruck
von der materiellen Bedeutung des Trinkgeldes in sich aufnimmt und über
das Verhältnis der Wirklichkeit zu seinen vielleicht idealen
Erwartungen unterrichtet wird. Die Möglichkeiten für alle Arten von
Gefühlsausbrüchen sind daher uneingeschränkt. Und ihr Feld wird
sonderbarerweise noch bedeutend durch das bemerkenswerte individuelle
Verhalten des Trinkgeldes erweitert. Seinerseits erhebt nämlich das
ganz winzige Trinkgeld gewöhnlich die größten Ansprüche auf
eine regelrechte, öffentliche, möglichst feierliche Kundgebung von
überwallenden Dankbarkeitsgefühlen. Höchst ungerecht und arrogant, aber
charakteristisch wie für jede Kleinigkeit. Der gewöhnliche Kellner wird
besonders davon getroffen und hat sehr unter der Tyrannei zu leiden.
Das Trinkgeld von mittelmäßiger Bedeutung gibt sich meistens mit einer
angemessenen Verbeugung des lächelnden Empfängers zufrieden. Das große
Trinkgeld -- generös wie es ist -- beansprucht nichts. Höchstens eine
Empfangsbestätigung auf Papier. Der Ordnung halber. Auch der Empfänger
verhält sich hier äußerlich sehr ruhig. Wir können uns aber nur in
wenigen Fällen auf äußerliches Verhalten verlassen. Es ist für die
inneren Gefühle des Kulturmenschen meistens nicht maßgebend.

Es hängt also ganz allein von dem Trinkgelde ab, ob es für uns an- oder
unannehmbar, achtbar, ehrfurchterregend oder das Gegenteil davon ist. Und
der Empfänger empfindet dieser Beschaffenheit entsprechend. Es ist ihm
aber im Interesse seiner Gesundheit und seines Seelenfriedens dringend
anzuraten, keine allzu hohe Überzeugung von der Güte seiner Leistungen zu
besitzen. Für den Trinkgeldempfänger kann eine solche Selbstüberhebung
verderblich werden. Überhaupt in allen Lebenslagen ist sie schädlich,
denn sie ist zum allerwenigsten lächerlich und provoziert die Mitmenschen.

Wenn der Kaufmann Nr. 1 dem anderen Nr. 2 aus purer Freundschaft einen
guten Wink gibt -- ja ganz richtig: einen »~Tip~« -- oder ihm ein
Geschäftchen vermittelt, das _er_ aus den verschiedensten Gründen nicht
selber machen kann oder will, so darf er dafür nicht zuviel Trinkgeld
verlangen. Es ist nicht schön von ihm. Der Kaufmann Nr. 2 wäre auf
die besagte Geschäftsgelegenheit vielleicht _ohne_ die Güte des Nr. 1
aufmerksam geworden. Aber selbst in der nüchternen Geschäftswelt, wo nur
Ziffern und keine Gefühle reden, hat man so viel Anstand besessen und
das häßliche Trinkgeld in ein schönes Kleid gesteckt. -- Ja, in diesem
Kleide heißt es »Kommission«. -- Sie meinen, man könnte die Kommission
nicht zu den Trinkgeldern rechnen!? -- Oh, man hat sogar die Illegitimität
derselben erkannt und versucht, sie legitim zu machen, indem man sie
im voraus vereinbart und sich über die Materie klar ist, bevor
das Geschäftchen zustande kommt. Dieses Verfahren verhindert viel
Unannehmlichkeiten. Ein Trinkgeld im Kommissionskleid oder ein Wolf im
Schafspelz ist ungefähr das gleiche.

Ich will Ihnen aber zeigen, welch feiner Mensch der Kellner ist, wieviel
Anstand und Zartgefühl er besitzt. Er hat nicht die Frechheit und
Unverfrorenheit, das ihm zustehende Trinkgeld im voraus zu vereinbaren.
Er wartet geduldig, bis er es erhält oder auch nicht erhält. Wie der
schwindlerische Kellner niemals mit großen Zahlen manipuliert, so hat der
ehrliche Kellner auch niemals mit Trinkgeldern von respektablem Umfang zu
tun, wie die Menschen in höheren Lebensstellungen. Und wie der Wert und
die Achtbarkeit des Trinkgeldes mit seinen Ziffern steigt oder sinkt, so
finde ich es denn auch ganz verständlich, daß das Trinkgeld des Kellners
eine entsetzlich lächerliche und verächtliche Bagatelle ist. Und der
Mensch, der sich mit solchen Dingen abgibt, ist eben auch nur ein ganz
niedrig stehendes Individuum. Nur derjenige, der die großen Summen
handhabt, kommt in Betracht. Darum sollten sich die Kellner eben auch nur
mit ganz enormen Trinkgeldern abgeben oder mit gar keinen. Da die ersteren
aber sehr rar sind und der Kellner auf die Bagatelle angewiesen ist, so
können wir hieraus leicht das Dilemma, in dem er sich befindet, erkennen.

Ja, sehen Sie! Da haben wir's! -- Auf der ganzen Welt herrscht dieser
freundliche Glaube! Die Hotelangestellten, denken die Gäste und überhaupt
jedermann, nehmen so viel an Trinkgeldern ein, daß die Glücklichen sich
nach Verlauf von -- sagen wir -- zehn Jahren selber ein Hotel oder doch
mindestens ein kleines Rittergut genehmigen können. Und aus diesem
freundlichen Glauben suchen dreierlei Parteien Vorteile zu schöpfen.
Erstens der junge Angestellte, der sich in zehn Jahren das kleine Rittergut
oder das große Hotel kaufen will, zweitens der Hotelbesitzer, der mit der
allzu großen Vermehrung von Hotels nicht einverstanden ist, und drittens
das liebe Publikum. Die Vorteile, die der Angestellte sucht, gelten
natürlich der eigenen Tasche, die Absichten des Hoteliers und des
Publikums sind nicht minder auf dasselbe Ziel gerichtet.

Der Prinzipal, der von den fabelhaften Trinkgeldern hört und sieht, hält
es mit Recht für unnötig, die beneidenswerte Lage der Angestellten noch
durch hohe Gehälter zu verschönern. Manche Prinzipale gewähren aus
diesem Grunde gewissen Angestellten überhaupt keine Gehälter. Die Leute
dürfen glücklich sein, daß sie bei ihm überhaupt geduldet werden.
Wieder andere Prinzipale, von einer heillosen Angst vor der zukünftigen
Konkurrenz ihrer Angestellten angetrieben, suchen die nahende Flut solcher
Gefahren einzudämmen, indem sie im Namen des heiligen Rechtes, das ihnen
zusteht, einen Teil der Trinkgelder ihrer Angestellten im eigenen Sack
verschwinden lassen. -- Sie verkaufen also eine fette Stelle an den
Meistbietenden. Eine juristisch durchaus ehrliche, achtbare und zulässige
Geschäftstransaktion. Selbst in Amerika kommt dies vor. Der ~Cloak
Room-»Boy«~ -- der Garderobe-»Junge« eines Riesenhotels -- ein ganz
beträchtlicher Finanzier -- muß oft zehntausend Dollars jährlich für
das Privilegium zahlen, sein Dasein führen zu können, und außerdem muß
er noch eine Herde von anderen »Jungen« und Parlormaids zu seiner Hilfe
aus eigenen Mitteln anstellen. Selbst in kleineren Betrieben lassen wieder
andere Prinzipale die Angestellten an aufreibenden Posten, wo so ungeheuer
viel Trinkgeld eingeheimst wird, vollständig ohne Hilfe stehen und drohen
mit Entlassung, wenn nicht »alles klappt«. Der Angestellte in seiner
Angst, die Stelle zu verlieren und seine Gesundheit zu schonen, engagiert
sich die notwendige Hilfe auf eigene Rechnung. So hat ein großer
Oberkellner oder ein Portier sehr häufig seinen Privatsekretär, der mit
dem Hause, in welchem er arbeitet, direkt nichts zu tun hat und nur für
den Mann lebt, der ihn engagiert hat und ihn entlohnt. -- Es ist eine
alte Geschichte, daß ein Hausknecht häufig ein halbes Dutzend anderer
Hausknechte beschäftigt und bezahlt. So kommt er dadurch in die
rätselhafte Situation, daß seine Kollegen zu gleicher Zeit Hausknechte
bei ihm sind. -- Sie lachen, mein lieber Freund! -- Das sind Lagen,
verzwickte Produkte des zwanzigsten Jahrhunderts, Blüten, die überall zu
finden sind. In manchen komplizierten Ehe- und Verwandtschaftsverhältnissen
kann es vorkommen, daß man eines Morgens als sein eigener Stiefgroßonkel
aufwacht.

Wir wollen uns daher nicht über die Hausknechte bei einem Hausknecht
amüsieren. In den großen Hotels, wo die Oberkellner ihren eigenen
Speisesaal haben, gibt's sogar einen Oberkellner für die Oberkellner. Na
also! --

Die Vorteile, die das liebe Publikum aus den Märchen von den
Trinkgeldschätzen zu ziehen sucht, liegen natürlich klar auf der Hand.
Manchem Gaste, der mit seinem Gelde rechnet oder zu rechnen hat, treten
bei der Abschätzung der vom Kellner geleisteten Dienste die horrenden
Einkünfte des Menschen vor Augen. »Na,« denkt er, »der Mann verdient ja
ohnehin so viel, und ich bin gerade knapp bei Kasse.« -- In einem solchen
Falle wird das Trinkgeld sehr mager sein, oft selbst so unscheinbar, daß
es nur ein illusorischer Begriff ist, der sich mit dem Sehnerv oder dem
Sinne, der in den Fingerspitzen steckt, nicht wahrnehmen läßt. -- Wenn
solcher Fälle viele auftreten -- und sie kommen -- so wird das Budget des
Kellners dadurch sehr beeinträchtigt. Wenn nun alle Gäste eine nebelhafte
Vorstellung von den Einkünften eines Kellners haben -- und die haben
die meisten -- und wenn diese Vorstellungen optimistisch sind -- was
gewöhnlich der Fall ist -- dann schrumpft das Trinkgeld zu einem
hoffnungslosen, vagen Begriff zusammen, mit dem der Kellner sich auf die
Dauer nicht zufrieden erklären kann.

So sind die Aussichten des Kellners auf eigene Hotels und Rittergüter
verhältnismäßig gering. Dank dem optimistischen Publikum, dank
eigensüchtigen Prinzipalen. Und selbst von den freigiebigen Gästen, die
in dem großen Gewühle von Geizhälsen und Optimisten des Kellners einzige
Hoffnung und eisernen Bestand bilden, geht dem Armen viel verloren. Die
freigiebigen Leute sind gewöhnlich gutmütig und vertrauend, aber auch
leider ignorant in vieler Hinsicht. Sie verteilen den Lohn für das gute
Service, das sie erhalten haben, oft so ungeschickt wie möglich. Das
Trinkgeld gerät dann meistens an die unrichtige Adresse, und er, der am
meisten zum Wohlbefinden der Gäste beigetragen hat, der Kellner, wird
entweder vergessen oder geflissentlich von denen, die das Trinkgeld
einheimsen, übersehen. Daß dies ein Mistbeet für allerhand Auswüchse
häßlichster Leidenschaften ist, braucht man wohl gar nicht zu bemerken.

In vielen Hotels hat sich die geradezu satanische Methode eingebürgert,
daß alles Trinkgeld in eine gemeinsame Kasse fließen muß, die von dem
Argusauge des Herrn Oberkellners bewacht und deren Inhalt am Schlusse der
Woche »gerecht« verteilt wird. Viele Menschen haben sehr individuelle
Rechtsbegriffe. So auch manche Hoteliers und Oberkellner. Manchmal sollte
man sagen, die Leute hätten zehn Semester Jura studiert. -- Ein Drittel --
wenn nicht gar mehr -- dieser Kasse fließt gewöhnlich dem Herrn Ober zu,
fünfzig Prozent vom Rest wird unter den Assistenz-Oberkellnern verteilt,
der Rest vom Rest, also höchstens fünfundzwanzig bis dreißig Prozent
vom Ganzen, geht unter die vielen Kellner, die davon gewöhnlich noch etwas
ihren treuen Pikkolos abgeben müssen, ohne deren Hilfe sie vielleicht
nicht fertig geworden wären. -- Hier gebiert das Böse wiederum Böses.
Die ungerechte Verteilung verleitet die Kellner natürlich oft, nur einen
Teil des sauer verdienten Trinkgeldes in die Kasse fließen zu lassen,
und sie machen sich so der Unterschlagung schuldig. Selbst das ehrlichste
Gemüt wird Grund genug für einen solchen Akt finden und wird die Stimme
des Gewissens mit erfundenen Theorien zu beschwichtigen suchen. Dies ist
gewöhnlich der erste Schritt zur wirklichen Unterschlagung, wenn die
Feinheit des Gewissens durch das Praktizieren solcher Tricks abgestumpft
ist und sich einen Grund für eine verbrecherische Tat ausheckt. Derartige
Systeme sind also geradezu Vorschulen für den werdenden Verbrecher.
Sie kitzeln und animieren die verbrecherischen Instinkte, die in jeder
menschlichen Brust schlummern. Ein Kellner ist gewöhnlich in den Jahren
der Jugend, wo sein Gemüt am dunkelsten, am chaotischsten und zugleich am
empfänglichsten ist. Die äußern Einflüsse bestürmen ihn so gewaltig,
daß er sich oft der unheimlichen Mächte nicht mehr entziehen kann und
sinkt, rettungslos sinkt.

Das Rittergut des Kellners liegt also nicht so nahe, wie man glauben
sollte. -- Was bleibt ihm sonst noch übrig? -- Sein Gehalt. Dies Gehalt
ist, wie wir sahen, infolge des freundlichen Glaubens an das Trinkgeld
überall gering -- meistens sehr gering -- manchmal sogar Null, in allen
Fällen aber für das, was der Kellner zu leisten hat, für die Kenntnisse,
die Geistes- und Körperkräfte, die man von ihm verlangt, für die
überaus unangenehme, oft gesundheitsschädliche und vielfach geradezu
unerträgliche Tätigkeit des Kellners, für die Atmosphäre, in der
er sich bewegt, für die langen Überstunden und oft grausam lange,
regelmäßige Arbeitszeit, für den Verlust eines Sonn- oder Ruhetages --
für das alles ist das Gehalt des Kellners überall auf der ganzen Welt
bettlerhaft, nein, sklavisch.

Dies Gehalt richtet sich, wie gesagt, nach dem Charakter des Hauses.
Das Durchschnittsgehalt in Deutschland beträgt vielleicht kaum
fünfunddreißig Mark monatlich, im übrigen Europa, in Asien und Afrika
dreißig bis vierzig Franken, in Amerika ungefähr fünfundzwanzig Dollars.
In Australien dagegen hat man in jüngster Zeit die Löhne versuchsweise
gesetzlich geregelt, so daß diese ziemlich annehmbar erscheinen. Ich habe
leider keine Statistiken darüber und nenne diese Ziffern, wie ich sie auf
meinen Reisen erfahren habe. Nebst seinem Gehalt empfängt der Kellner von
seinem Arbeitgeber in Europa und Amerika fast ausnahmslos Kost im Hause. In
Europa tritt in fast allen Fällen noch ein obligatorisches Logis im
Hause dazu. Man hat jedoch in Amerika bereits die Verwerflichkeit solcher
Sklaverei eingesehen und sie aus praktischen und moralischen Gründen
abgeschafft. Höchstens in einzelnen Sommerhotels wird es den Kellnern
anheimgestellt, ihre Quartiere nach Belieben im Hause oder außerhalb
desselben aufzuschlagen.

Ja, diese aufgezwungene Verpflegung sieht wunderbar schön und mildtätig
aus. In Wirklichkeit aber ist es anders. Denn der Angestellte muß dafür
-- schlecht, wie sie in den meisten Fällen ist -- natürlicherweise
indirekt schwer bezahlen. Sie wird ihm als einen Teil seines Gehaltes
vorgerechnet. In Deutschland berechnet ein Hotelier seinem Kellner -- sagen
wir -- dreißig Mark für monatliche Kost und vielleicht zwanzig Mark für
das monatliche Logis. Summa fünfzig Mark. -- Schön. Da der Prinzipal nun
aber die Rohmaterialien für die Kost im Großen einkauft und in vielen
Fällen sogar bezahlte Speisenreste seiner Gäste zur Abfütterung seiner
Angestellten verwertet, so macht er dabei ein sehr lukratives Geschäft.
Bei einer großen Anzahl von Angestellten läuft dies natürlich kolossal
zusammen und bildet eine beträchtliche Einnahmequelle des Prinzipals.
-- In seinem großen Hause findet der Hotelier natürlich auch genügend
Speicher- und Kellerräume, viele Winkel und Stuben, um seine Schar von
Angestellten zu beherbergen. Für die Gäste können derartige Löcher
nicht in Betracht kommen, als sonstige Betriebsräume sind sie vielleicht
nicht geeignet oder überflüssig. Folglich stehen sie leer und sind
unbenutzt. Aber jeder Quadratzoll, den ein Hotel bedeckt, kostet Geld,
oft sehr viel Geld, und somit ist jeder unbenutzte Raum in dem Gebäude
verlorenes Geld. Die obligatorische Einquartierung der Angestellten ist
daher aus diesem Grunde höchst erwünscht. Die Angestellten, die im Hause
schlafen müssen, sind wertvollere Gäste als die Gäste selber. Sie lassen
sich irgendwo, in irgendeinen Stall hineinpferchen und bezahlen schweres
Geld dafür. Denn für zwanzig Mark im Monat bekommt man überall ein
halbwegs menschenwürdiges möbliertes Zimmer -- wenigstens nach unseren
heutigen Begriffen -- und vielleicht noch liebenswürdige Wirtsleute
obendrein. Der Kellner und die anderen Angestellten des Hotels werden aber
nicht selten zu fünf oder zehn Personen in einem Raume kaserniert, der
kaum mehr als den gesetzlichen Kubikinhalt hat. Oft hat er diesen nicht
einmal. Und für solches Quartier bezahlt der Kellner seine hohe Miete.
-- Von den Unannehmlichkeiten, Unzuträglichkeiten, von der zweifelhaften
Gütergemeinschaft, die durch das Zusammenleben in solchen Quartieren
entstehen, will ich schweigen. Ich will schweigen von der Schmucklosigkeit,
die solchen Räumen anhaftet. Sie sehen allem ähnlich, nur keinem Heim,
dessen ein hart arbeitender Mensch zur Ruhe und Erholung dringendst bedarf.
Ich will schweigen von den unhygienischen, schmutzigen Zuständen, die
sich dabei notwendigerweise entwickeln müssen. Ich will schweigen von der
deprimierenden, erdrückenden Wirkung, welche derartige Quartiere auf das
Gemüt des jungen Menschen haben, der soeben seinen Arbeitsplatz -- eine
Stätte des Überflusses, des Reichtums und der Üppigkeit -- verließ.
Hier hat er Gelegenheit, erst recht sein eigenes Elend einzusehen und
darüber nachzugrübeln. -- Ich will schweigen von den verderblichen
Folgen, welche Massenquartiere von jungen Leuten beiderlei Geschlechts
mit sich führen. Wir brauchen keine Moralisten zu sein, um uns über die
bestehenden Versuchungen und den Verfall der Moral der Angestellten zu
entrüsten. -- Nein, wir wollen keine Moralisten sein. Wir wollen uns nicht
darüber entrüsten. Wer schlecht sein will, kann es irgendwo und überall
sein. Ein reiner Mensch kann in einem Pfuhl von Laster und Elend stecken,
ohne daß er davon berührt wird. Aber der Ekel, die Krankheiten an Leib
und Seele, die solche Umgebungen auf die Dauer selbst dem stärksten
Gemüte aufdrücken, sind unbeschreiblich.

Und für solche Umgebungen und Einflüsse bezahlt der Kellner schweres
Geld. Um solcher Quartiere willen, die nur der Bereicherung seines
Arbeitsgebers dienen, der schon ohnehin zu viel Nutzen aus seinen
Angestellten zieht, muß der Kellner den Gedanken an ein gesittetes
Familienleben von vornherein als etwas ganz Unmögliches von sich abweisen.
Um solcher Quartiere willen kann er kein menschenwürdiges Dasein führen,
darum geht ihm die so notwendige Ruhe und Erholung ab. -- Freilich hat
die obligatorische Einquartierung ihren doppelten Vorteil -- für den
Prinzipal. Er kann seine Leute möglichst lange im Geschäft halten und sie
je nach Bedarf -- immer -- bei Tag und Nacht -- zitieren, sie möglichst
früh wieder heraustrommeln. Sie sind ihm immer zur Hand -- immer! --
Natürlich veranlassen solche ekelhaften Zustände die jungen Leute, statt
nach der Arbeit sich zur Ruhe zu begeben, noch spät in der Nacht oder
vielmehr früh am Morgen zu fliehen und im Nachtleben der Großstädte
Zerstreuung zu suchen.

Ich war sehr generös im Kostenanschlag für das Logis und die Nahrung,
die dem Kellner als ein Entgelt für seine Dienste aufgenötigt werden. Ich
kann mit ruhigem Gewissen behaupten, daß die Kost einer Volksküche oft
besser, nahrhafter, appetitlicher zubereitet ist, als das Futter, das man
gewöhnlich dem Kellner vorwirft. Auch hier hat er wieder schmerzliche
Gelegenheit, Vergleiche zu ziehen zwischen seinem Menü und dem der
glücklicheren Menschen, die er abfüttert. -- Eine monatliche Pension
in einer Volksküche wird nicht die Summe von dreißig Mark, die ich für
Kellnerkost veranschlagt habe, verschlingen. Dafür kann man sich schon
ganz leidlich in einem Privatkosthause oder bei einer anständigen
Bürgerfamilie durchbringen, wo es gute Hausmannskost und gelegentlich
einen saftigen Braten oder ein Hühnchen am Sonntag gibt. -- Die
veranschlagten zwanzig Mark als monatliche Miete für einen Stall --
denn mehr kann man die sumpfigen Quartiere meistens nicht nennen, sind
gleichfalls reichlich. Addieren wir nun diese zwei Zahlen zu dem schon oben
erwähnten Gehalt von rund fünfunddreißig Mark, so ergibt dies eine Summe
von fünfundachtzig Mark, die der Kellner von seinem Arbeitsgeber für
die geleisteten Dienste monatlich erhält. Und nehmen wir an, daß er nur
vierzehn Stunden durchschnittlich im Tage arbeitet, so erhält er für
eine monatliche Arbeitszeit von dreißig mal vierzehn -- also
vierhundertundzwanzig Arbeitsstunden einen Lohn von zirka zwanzig Pfennig
pro Stunde. Dies ist ein Lohnsatz, mit dem sich nicht der geringste
Tagelöhner zufriedengibt.

Die illusorische Summe von fünfzig Mark, veranschlagt für die
Verpflegung, zieht nicht viel direkte finanzielle Auslagen für den
Prinzipal nach sich. -- Das Personal, welches für die Verpflegung des
Personals engagiert ist, ist nicht zahlreich. -- Gewöhnlich probieren die
angehenden Kochkünstler, die Lehrlinge in der Küche ihrer Künste an
dem Essen des Personals. Das Menü des Personals ist oft sozusagen ein
Versuchskaninchen. Auch hierin liegt ein Profit des Prinzipals. In den
meisten Fällen braucht er den Lehrlingen kein Gehalt zu geben -- im
Gegenteil, diese bezahlen oft das Haus noch, damit sie das Essen der
Angestellten versalzen und anbrennen lassen dürfen; zweitens erstreckt
sich die verheerende und zerstörende Tätigkeit dieser jungen Schüler des
Lukulls nicht auf die delikaten Rohmaterialien, die hübsch zubereitet die
Tafel der Gäste zieren sollen, sondern auf den minderwertigen Fraß der
Angestellten, welche nichts zu sagen haben. Die jungen Köche lernen auf
Kosten des Personals die Grundelemente ihres Handwerks; sie ersparen dem
Prinzipal erfahrene Personalköche und zugleich Rohmaterialien, die in
ungeschickten Fäusten entheiligt und zerstört würden. Drei Fliegen mit
einer Klappe. --

Für die Reinigung und Instandhaltung der Personalquartiere genügen
einige alte Weiber. Gewöhnlich sind dies Frauen mit einem langweiligen
Lebensroman und traurigen Augen. Still und langsam verrichten sie ihre
Arbeit; das junge Volk hat Nachsicht, wenn nicht alles so ist, wie es sein
sollte, denn die Alten leben ja nur noch aus Gnade und Barmherzigkeit und
kriegen ihre zehn Mark im Monat. --

Wenn wir nun die direkten monatlichen Gesamtauslagen eines Prinzipals,
die ihm durch die Verpflegung eines Angestellten verursacht werden,
hochgegriffen, auf zehn bis fünfzehn Mark beziffern, so hat er gemäß
unserer Kalkulation einen Reingewinn von fünfunddreißig Mark ~pro
capita~, denn die fünfzig Mark, die er dem Kellner für Verpflegung in
Rechnung stellt minus fünfzehn Mark, die ihn die Verpflegung tatsächlich
kostet, ergeben diesen Reingewinn. So hätte also, streng genommen, der
Durchschnittshotelier die Dienste eines Kellners gewöhnlich ganz umsonst.
Ja, unter Umständen verdient er noch obendrein an seinem Angestellten.
Denn wenn er auch fünfunddreißig Mark in bar an Gehalt zahlt, so wird
dies doch durch den Gewinn von fünfunddreißig Mark an der Verpflegung des
Angestellten aufgehoben. Und wenn die Auslagen für die Verpflegung noch
weniger betragen als die veranschlagten fünfzehn Mark, so ist jeder
Pfennig darunter eine Gratiszugabe zu den Gratisdiensten, die der Kellner
dem Hause verrichtet. Und was erst, wo der Angestellte gar kein Gehalt in
bar erhält und sogar noch einen Teil seiner Trinkgelder an den Prinzipal
abliefern muß?! --

Mit dem Lohnsatze des Kellners aber gibt sich kein Handlanger zufrieden.
Mit dem Gehalt von fünfunddreißig Mark pro Monat plus den illusorischen
fünfzig Mark in Naturalverpflegung kann auch kein Kellner zufrieden sein.
Es ist kein Äquivalent für seine Leistungen. Nein, es deckt nicht einmal
die monatlichen Auslagen des Kellners. Der Prinzipal verlangt von seinen
Leuten, daß sie nicht nur reinlich und anständig erscheinen, denn dies
darf jeder Prinzipal verlangen -- nein, sie sollen womöglich nobel,
hochnobel auftreten. -- Dies ist zwar ein sehr dehnbarer Begriff, aber um
ihm nur halbwegs gerecht zu werden, braucht man schon einen ansehnlichen
Posten Geld. Die Wäsche verschlingt einen großen Teil davon. Kragen,
Manschetten, Hemden sind wegen der anstrengenden Tätigkeit des Kellners
nach einmaligem Gebrauche gewöhnlich zu erneuern. In den Sommermonaten
wächst es ins Ungeheure. Die absurde Mode, den Vielgeplagten selbst in der
größten Hitze mit steifem Kragen, weißem Panzerhemd und engem, schwarzem
Frack zu quälen, verschlingt eine Menge Geld. Die gute Kleidung des
Kellners wird durch den häufigen Kontakt mit fettigen Schüsseln und
Gegenständen in der Küche gleichfalls sehr bald ruiniert. Ein neuer
Frack in jedem Quartal ist die Regel des anständigen Kellners. Mit dem
Schuhzeuge geht es gleichfalls nicht besser. Gute, leichte Schuhe, die für
den Kellner nur in Betracht kommen, halten einen täglichen Sturmschritt
von zehn, zwanzig, oft dreißig Kilometern treppauf und treppab über
Teppiche, Marmor- und Steinfliesen nicht lange aus. Nach einem Monat
ist das Leben eines Paares Schuhe, das zwanzig Mark gekostet hat, im
Hoteldienste erloschen.

So kommen wir zu dem erschreckenden Resultat, daß die Einkünfte, die der
Kellner vom Hause bezieht, nicht einmal seine notwendigsten geschäftlichen
Auslagen decken. Wie muß er sich nun mit den anderen geschäftlichen
Verlusten abfinden, die ihm aus seiner Tätigkeit erwachsen? -- Wie
bezahlt er das Bruchgeld, die Verluste durch die Gäste oder seine
Unaufmerksamkeit, die Abgaben an seinen Pikkolo, die Strafen, die ihm von
den Vorgesetzten auferlegt werden, das Schürzengeld und wie sonst noch
alle die Anzapfereien heißen? -- Wie bestreitet er alle diese Kosten?
Wie verschafft er sich die Mittel für seine fortwährenden ausgedehnten,
kostspieligen Reisen? -- Wie lebt er zur Zeit seiner oft entsetzlich langen
Stellenlosigkeit? -- Was verbleibt ihm für sein Alter, welches mit
seinem fünfunddreißigsten bis vierzigsten Lebensjahre beginnt und
ihn unbarmherzig z. D. oder a. D. stellt? -- Selbstverständlich! Das
Trinkgeld muß es machen! --

Ich habe Ihnen aber klargemacht, was das Trinkgeld ist. Es ist kein
Einkommen, es ist nur ein Auskommen. -- Würde der Kellner nicht lieber
ein _sicheres_ Einkommen seinem unsicheren Auskommen vorziehen? Ich kann es
nicht sagen! Der Kellner -- wie ein Jongleur -- liebt das Waghalsige.

Wie ihm ein sicheres Einkommen verschafft werden könnte? Nichts einfacher
als dies! Und vielleicht nichts schwieriger. -- Selbstverständlich gibt
es unter dem Publikum viele Gegner des Trinkgeldes. Und mit Recht. Manche
darunter sind aber doch recht sonderbare Käuze. Sie agitieren gegen
das Trinkgeld an der unrichtigen Stelle. -- Wieso? -- Nun, indem sie dem
Kellner _kein_ Trinkgeld geben und in ihrer heiligen Entrüstung nicht
bedenken, daß, solange dieser Mensch schlecht bezahlt ist, er quasi ein
Anrecht auf das Trinkgeld hat, und daß der Gast moralisch verpflichtet
ist, eine angemessene Belohnung für die erhaltenen Dienste zu geben.
Denn wenn die Löhne der Angestellten erhöht werden, so müssen auch
folgerichtig die Preise der Waren erhöht werden, sonst kann der Wirt
unmöglich auf seine Kosten kommen. Der Gast hat also auf jeden Fall die
bittere Pille des Zahlens zu schlucken.

Unter den gegenwärtigen Verhältnissen profitiert natürlich ein »Gegner
des Trinkgeldes« ganz erheblich auf Kosten des armen Kellners. Der Gast,
welcher kein Trinkgeld gibt, schindet es dem Kellner ab. Er bereichert sich
auf Kosten eines armen, arbeitenden Menschen. Der Kellner steht machtlos
da, aber er merkt sich gewöhnlich seine Kunden. Bei seinem häufigeren
Erscheinen wird einem solchen Gaste nicht das Interesse entgegengebracht,
welches er sich wohl wünschen möchte. Auf die Dauer entstehen Spannungen
zwischen ihm und dem Kellner, die wirklich unerträglich, oft gar
gesundheitsschädlich für beide Parteien werden können. Dennoch ist
der bedauernswerte Nichttrinkgeldgeber aus Prinzip eigentlich noch der
achtbarste unter denen, deren Hand verschlossen bleibt. Geldverlegenheit
ist zu entschuldigen, aber der Geizige im Speisesaal ist die
verächtlichste Kreatur, die ich mir denken kann. Sie machen auch
gewöhnlich immer die größten Ansprüche, und ihr Erscheinen ist das
Zeichen eines hereinbrechenden Strafgerichtes Gottes für den Hotelier
und seine Angestellten. Aber scharenweise treten sie auf. Sie wollen
gewöhnlich nie »etwas Extras« haben, sondern nur das, wozu sie
»berechtigt sind«. Sie sind gräßlich, wenn wütend gemacht durch die
indifferente Ruhe, mit welcher ihnen gewöhnlich der Kellner begegnet,
sobald er sie erkannt hat. In derartigen Gemütserregungen verringert sich
meistens der Wortschatz dieser Leute auf die primitivsten Formen, und
in willkürlichen, ungewählten Ausdrücken ergießen sich die schönen
Seelen. Ich kann nicht verstehen, warum die Hoteliers nicht in eine
Versicherung gegen solche Gäste gehen und überall, wo sie diesem
Typus begegnen, sich seiner ohne viel Zeremonien entledigen. Die einzige
Erklärung für die Unterlassung der Maßregeln ist der Umstand, daß
meistens nicht _sie_, sondern die Angestellten unter der Pest zu leiden
haben.

Andere prinzipielle Feinde des Trinkgeldes sind die Herden von
Reisegesellschaften, die unter der Führung eines Leithammels mit
Sprachrohr und Baedeker ganz Europa überschwemmen. Man kann sie sehen, die
großen Fuhren der Reiseviehtransporte. Zusammengepfercht rasseln sie im
Galopp durch die Straßen und recken die Gummihälse. Ihnen ist jedoch zu
verdanken, daß unsere Museen noch einigermaßen bevölkert sind. Diese
Leute und auch die vereinzelt und doch nicht minder zahlreich auftretenden
nomadisierenden, ästhetischen Jungfern, die ein gemischtes Parfüm
von Museumsluft und welken Rosen mit sich bringen, sind durch
gewohnheitsmäßige, kompulsorische Arithmetik ausgesprochene
Gegnerinnen des Trinkgeldgebens. Sänger, Schauspieler, Theaterdichter,
Konzertkünstler verbinden oft mit dem Trinkgeld einen guten Zweck. Sie
geben dasselbe reichlich, jedoch in der weniger liquidierbaren Form von
Billetten zu ihren respektiven Vorstellungen. Sie haben dabei oft wenig
Ahnung, welch kritisches Füllsel sie sich für gähnende Leeren im Parkett
des Hauses auserwählt haben.

Ich kann wirklich nicht einsehen, warum die Wirte von ihren Gästen den
wohlverdienten Lohn ihres Personals nicht selber einkassieren! Es ist
mir rätselhaft, warum sie dies Geschäft -- ihre Pflicht -- auf eine so
umständliche, unangenehme, ungerechte, erniedrigende, ja oft gemeine
Weise von den an und für sich schon mit Arbeit überladenen Angestellten
besorgen lassen, ohne ihnen jedoch die Vollmacht zu geben, dies so dringend
notwendige Geschäft nötigenfalls energisch zu betreiben und durchsetzen
zu können. -- Es ist eine ganz verdammenswerte Zauderpolitik, die kaum
ihresgleichen kennt.

Leute, die möglichst gut und möglichst billig leben wollen, veranlassen
oft ihren Kellner, ihnen allerhand Privilegien zu verschaffen, zu denen sie
nicht berechtigt sind. Der Arme, auf sein Trinkgeld angewiesen, wird sein
Möglichstes tun, den Wünschen seiner Leute selbst auf Kosten des
Hauses nachzukommen. Schließlich erheben sich die Gäste, bedanken und
verabschieden sich freundlichst und lassen das lange Gesicht des Kellners
hinter sich zurück und suchen es zu vergessen. Der Arme befindet sich in
einer bedauerlichen Lage. Er, der zu kleinlichen Unterschleifen verführt
wurde, ist selber der Betrogene. Und warum? Weil er seine Augen auf das
verheißene Trinkgeld gerichtet hatte. Ein Mann, der dies nicht zu tun
braucht, kann die häufig vorkommenden, oft unverschämten und unredlichen
Anforderungen solcher Leute höflich aber kühl abwimmeln und dazu
lächeln.

So wundert sich daher das liebe Publikum, regt sich auf, ist entrüstet,
beleidigt, schmäht und schimpft, wenn es bei seiner Abreise aus einem
Hotel verschiedene lauernde, bleiche Gesichter ängstlich und unruhig
umherspuken sieht ... Ja, diese bleichen, unheimlichen Gesichter haben
es auf den Herrn Gast abgesehen. Sie wollen ihn abfangen. Er darf nicht
entwischen. Denn seine Rechnung ist noch nicht ganz beglichen. Ob es
entsetzlich erniedrigend ist, so auf der Lauer liegen zu müssen, das geht
den lieben Herrn Gast gar nichts an. Er darf sich deshalb nicht entrüsten.
Er braucht nur zu zahlen und dann zu gehen. Das ist alles. Jeder Arbeiter
ist seines Lohnes wert. Es ist aber sicher entsetzlich erniedrigend für
einen reichen Gast, einen armen Angestellten prellen zu wollen. Und darum
wird der Kellner geschmäht und verachtet, weil sich seine Gäste so
entsetzlich erniedrigend, so hündisch benehmen?! Es ist sonderbar, wie
die Rechte verdreht werden! -- Wir können es doch wohl kaum einem Menschen
verdenken, daß er zu allen möglichen erlaubten, ja verzweifelten Mitteln
greift, seinen verdienten Lohn einzukassieren. Was tun die Menschen nicht
alles, um unverdientes Geld zu erwerben!? --

Es rentiert sich wirklich, dem Kellner das verdiente Trinkgeld zu
geben. Ein schwerer Druck lastet auf dem Gemüte der Gäste, die ihm den
schuldigen Lohn verweigern. Sie wissen wohl, welches Unrecht sie begehen,
und beschämt suchen sie sich so schnell wie möglich zu entfernen. Ja,
ihr Auszug gleicht dem eines Diebes bei der Nacht. Und ihnen folgen keine
Segenswünsche. Ihnen folgt die Wut und der gerechte Zorn des Betrogenen.
Wer von diesen moralischen Beweggründen unberührt bleibt, mag vielleicht
den materiellen Schaden, der seiner Ungerechtigkeit nicht selten folgt,
um so mehr empfinden. Wir wollen uns nicht die Augen verbinden, um von
dem Anblick verschont zu sein, den unser Gepäck in den Fäusten eines
rachsüchtigen Hausknechts darbietet, wenn dieser weiß, daß er leer
ausgehen wird. Mit Handschuhen wird er es nicht behandeln. Er wird seinen
Racheakt so geschickt ausführen, daß man ihm nicht einmal etwas anhaben
kann. Es ist zwar eine Dummheit, aber immerhin die typische Kundgebung der
kochenden Volksseele. Die gebildeten, vielgereisten Gäste sollten
damit vertraut sein. Die Kenntnis derartiger Kleinigkeiten ist nicht zu
unterschätzen. Dem Geizhalse im Saal ergeht es kaum besser. Sein Diner
wird gewiß nicht zum Genuß. Er muß geduldig, wenn auch innerlich
kochend, zusehen, wie sein freigiebiger Mitgast den ganzen Balsam einer
guten, erstklassigen Behandlung und Hochachtung erhält. Dies allein kann
einem Knicker unter Umständen schon genügend Gelbsucht einbringen, daß
die Doktorrechnungen sich weit höher belaufen als das Kellnertrinkgeld.
Denn er darf als Gast des Hauses doch auch die größtmögliche
Aufmerksamkeit beanspruchen. Diese läßt sich jedoch nicht energisch
beitreiben. Sie will gelockt sein. Energie im Speisesaal wird begrinst; sie
ist absolut machtlos.

Es folgt nun noch ein anderer Typus von Trinkgeldgebern. Das ist der
verschwenderische, der protzenhafte. -- Es ist leicht, sich in die Seele
des Geizhalses hineinzudenken. Der Protz aber und der Verschwender sind
ganz andere, viel schwierigere Fälle. Der Grundzug im Charakter des
Geizhalses ist List und Egoismus, beim Protzen hochmütige Dummheit und
beim Verschwender Leichtsinn. Nichts entblößt sich mehr als List und
Egoismus. Ein ehrlicher Mensch kann sie lächelnd durchschauen, wenn er
seine Augen aufhält. Die Dummheit aber zu durchschauen hat noch niemand
vermocht. Sie ist hoffnungslos dunkel. Und der Leichtsinn ist wie ein
Sumpf, unergründlich tief. Der wirkliche Leichtsinn hat keinen Boden. Er
ist bodenlos. So schön und so edel die milde, diskrete Freigiebigkeit ist,
so ekelhaft ist die Art des Protzen, zu geben, und so verwerflich die des
leichtsinnigen Verschwenders. Und doch! Warum können wir der Dummheit und
dem Leichtsinn nie wirklich ganz von Herzen gram sein wie dem Geize? --
Weil wir die beiden ersteren und ihre Schrecken nicht völlig erkennen
können? Eine verschwenderische und protzenhafte Handhabung des Geldes
verleitet naturgemäß auch den Empfänger zu solchem Tun. Was man
fortwirft, kann nicht viel Wert haben. So wird der Wert des Geldes
durch den Protzen und den Verschwender entehrt. Und so wird die keimende
Lebensanschauung des jungen Kellners vergiftet. Wenn sein Gemüt nicht ganz
stark ist, so wird er das auf solche Weise erhaltene Geld auch wieder auf
solche Weise verlieren.

Hier will ich Sie auch gleichzeitig auf die eine, vielleicht die größte
Gefahr des Trinkgeldes aufmerksam machen, der sein Empfänger ausgesetzt
ist und der er schwer widerstehen kann. Der Kellner arbeitet nicht wie die
meisten anderen Lohn- oder Gehaltarbeiter von Woche zu Woche oder von Monat
zu Monat. Nein, als Trinkgeldempfänger arbeitet er von Tag zu Tag oder
noch richtiger von Minute zu Minute. -- Diese Art und Weise, den Lohn
zu beziehen, hat einen ganz verderblichen Einfluß auf das Leben und den
Charakter des Mannes. Derjenige, der ein monatliches Gehalt bezieht, ist
gezwungen, mit den Früchten seiner Arbeit haushälterisch umzugehen, damit
dieselben bis zum nächsten Zahltage ausreichen. Er lernt also rechnen.
Ohne diese Kunst wird er an den letzten Tagen vor dem Empfang des neuen
Gehaltes hungern müssen. Anders der Kellner. Er kann heute abend seine
ganze Barschaft verjubeln, morgen früh fließt das Geld wieder herein. Er
kann seinen morgigen Tagelohn am Abend des Tags verjubeln, -- übermorgen
zu Frühstück hat er wieder ein wenig im Sack. Und so weiter. Er kommt
niemals in Geldverlegenheit, der glückliche Mensch! Darum ist er auch
scheinbar so sorglos und lebt von heute auf morgen. Darum kommt er nie in
Not, denn er hat immer Geld, und er hat niemals Geld, weil es immer geht,
wie es kommt. Folglich tötet das Trinkgeld auch im Innern des Empfängers
die Stimme ab, welche ihn warnt, daß er nicht immer jung sein wird, daß
er aufspeichern muß für magere Jahre. Es bestärkt ihn im Leichtsinn, den
er durch die verderblichen Beispiele aus seiner Umgebung gelernt hat.

Der legitime Anspruch, den der Kellner in seiner gegenwärtigen Lage auf
Trinkgeld hat, artet oft in vielen Fällen in eine Sucht nach Trinkgeld
aus, die namentlich besonders auftritt, wenn der eben erwähnte Leichtsinn
Oberhand gewonnen hat. Die Trinkgeldfrage ist wirklich eine moderne Hydra.
Schneidet man einen Kopf des Ungeheuers ab, so wachsen drei andere sofort
nach. Unerbittlich fordert und verschlingt sie ihre Opfer. Auf die eine
oder die andere Weise. Nur die wenigsten können ihr entgehen. Setzt der
Kellner seinen Anspruch auf Trinkgeld energisch durch, so zieht er sich die
Verachtung der Menschen zu, gefährdet seine Stellung und macht sich Feinde
unter seinen Kollegen. Verzichtet er generös und resigniert, so arbeitet
er umsonst und reibt seine Gesundheit auf für nichts.

Auch ein Zankapfel unter den Kollegen selbst ist das böse Trinkgeld. Es
ist eine unerschöpfliche Quelle von großen und kleinen Streitereien,
Ungerechtigkeiten, ja selbst Unredlichkeiten. Zu den vielen Sorgen des
Oberkellners tritt noch die eine große hinzu: wie muß er einen »guten«
Gast »verteilen«, damit keine Aufruhre in seinem Bezirk entstehen? Sie
haben keine Ahnung, mein Freund, welche Spekulationsobjekte wir sind, mit
welchen Hoffnungen wir abgemessen werden, mit welchen Möglichkeiten in uns
man rechnet. -- Wenn manche wohlwollende Gäste wüßten, welchen Vulkan
von Schmutz und Schlamm menschlicher Niedrigkeit ihre Freigiebigkeit
hinter der Szene oftmals in Aktivität setzt, so würde ihnen der
Appetit vergehen, und sie würden den schönen Ort mit Schrecken fliehen.
Selbstverständlich gibt es auch Leute unter den Kellnern, die in sehr
primitiver Rechtsanschauung ein Trinkgeld, worauf sie kein Anrecht haben,
oft einfach für sich behalten. Daß dies Unterschlagung ist, wird in
den meisten Fällen nicht bedacht. Eine derartige Handlung braucht nicht
unbedingt aus unehrlichen Motiven zu entspringen, sondern in Fällen, wo
sich der Mann dazu berechtigt glaubt, wenn er seinem vielleicht bedrängten
Kollegen bei der Arbeit geholfen hat, kann dies eine Streitfrage werden.

Ich könnte Ihnen noch gar vieles vom Trinkgeld erzählen. Aber das würde
langweilig werden. Um es ganz genau zu bezeichnen, kann man es nur mit
einer ekelhaften orientalischen Krankheit oder mit einem Meisterwerk Satans
vergleichen, das, mit allen Raffinessen satanischen Esprits ausgestattet,
alle Schwächen der menschlichen Seele durch und durch kennt und darin
herumwühlt. -- Wir fassen daher unsere Anklage gegen das Trinkgeldsystem
noch einmal in kurzen Worten zusammen und schleifen es vor das Tribunal
vernünftig denkender Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts und des
Fortschrittes: Das Trinkgeldsystem ist ein aus urdenklichen Zeiten
hergebrachter Brauch, eine Dienstleistung nach eigenem Ermessen zu
belohnen, ohne daß dabei derjenige, der die Dienste geleistet hat, etwas
zu seinem Vorteil sagen darf. Es ist eine schäbige Reliquie aus der
Sklavenzeit, der Zeit der tiefsten Erniedrigung der Menschheit, und hat
sich mit großer Zähigkeit bis auf unsere Tage erhalten. Es steht im
schroffen Widerspruch zu unseren modernen Ansichten von der Unabhängigkeit
selbst des geringsten Arbeiters und verletzt die Würde einer modernen
Geschäftsführung. Kein Mittel ist ihm zu gemein und zu niedrig, seine
fluchwürdige Existenz zu erhalten, und es hat sich folgender Verbrechen
gegen die Menschheit schuldig gemacht, die wir durch unumstößliche
Dokumente und die Zeugnisse von Hunderttausenden ruinierter Leben,
zertrümmerter Jugendhoffnungen beweisen und bei einem Meer von Tränen
eidlich bekräftigen können:

1. Degradation unschuldiger Menschen. 2. Demoralisation unschuldiger
Seelen. 3. Verführung zum Leichtsinn und Förderung desselben.
4. Vernichtung des Selbstbewußtseins des Empfängers. 5. Verleitung zur
Verschwendung. 6. Verleitung zur Unehrlichkeit. 7. Stiften von Unfrieden
zwischen Kollegen. 8. Schüren der Leidenschaften des Neides und der
Gemeinheit. 9. Untergrabung des Ansehens bei den Mitmenschen. 10. Foltern
des guten Gebers. 11. Schädigung des Nichtgebers in moralischer und
materieller Hinsicht. 12. Verleiten der Wirte zur Bequemlichkeit und
Faulheit. 13. Tausende von indirekten schädlichen Folgen besagter
Verbrechen und verdächtig vieler ihm nicht direkt nachweisbarer
Verbrechen.

Ist das nicht ein stattliches Schuldkonto!? Könnten Sie mir etwas angeben,
das zur Entlastung des Angeklagten beiträgt?! -- Das seine Existenz
irgendwie berechtigt? -- Nein, nichts, gar nichts! Unser Urteil ist daher
fertig. Es heißt, »Schuldig«. Schuldig, unwürdig der Zugehörigkeit zur
menschlichen Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. -- Nach dem Kodex
des Lebens steht darauf Ausstoßung aus dem Verbande der Menschheit,
lebenslängliche Verbannung und Verlust sämtlicher bürgerlichen
Ehrenrechte und Existenzrechte. --

Aber durch diese Aburteilung wird die Hydra noch lange nicht getötet. Der
erste Kopf ist nur abgeschlagen. Es wachsen sogleich drei andere nach, wenn
die Wunde nicht ausgebrannt wird. Das offene Geschwür muß behandelt
und verbunden werden, die Wunde muß sich schließen und heilen. Es soll
womöglich keine Narbe bleiben. Anfangs mag sie den Körper noch sehr
peinigen, doch der Schmerz wird sich bei richtiger Behandlung bald legen.
Die Zeit wird heilen.

Wer, meinen Sie wohl, würde am schlimmsten durch eine derartige Operation
an unserem Geschäftskörper betroffen werden? -- Nun, jedenfalls doch
diejenigen Leute, die aus dem Trinkgelde Nutzen für sich selber zu ziehen
suchen. Und diese sind, wie wir sahen: die Kellner, die Prinzipale und
die Gäste. Eine Flut von erzürnten, erstaunten, wütenden, ängstlichen,
feigen, dummen Fragen würde plötzlich mit einem Male brausend
aufspringen. Das Wort Rousseaus wird sich wieder bewahrheiten:

»Die Sklaven verlieren in ihren Ketten alles, selbst endlich den Wunsch,
ihrer los zu sein.«

Die Kellner würden fragen: ›Was wollen wir ohne Trinkgeld anfangen!?‹
-- Sie würden besorgt auf den Prinzipal schauen und ungeduldig dessen
Bewegungen abwarten. Der Prinzipal würde genau dieselbe Frage stellen,
besorgt auf seine Angestellten schauen und ungeduldig abwarten, was diese
machen. Die armen Gäste sind dann sogar in drei Lager geteilt. Die beiden
ersteren Lager werden sich genau dieselbe bange Frage stellen, jedoch
mit verschiedenen Hintergedanken. Lager Nr. 1 denkt mit Schrecken an die
Preiserhöhung der guten Dinge; Nr. 2 ist in Verzweiflung, denn es weiß
nicht, was es machen soll, wenn es kein Trinkgeld mehr geben kann. Das
dritte Lager aber wird sich gar nichts fragen und auch nicht besorgt den
Kopf hängen lassen, sondern es wird sich freuen, daß alles endlich ein
Ende nahm. Und dieses Lager ist das weitaus größte.

Ah, Sie glauben also wirklich an die Unbesiegbarkeit des Trinkgeldes, an
seinen endgültigen Triumph?! -- Ich bewundere die Schärfe und Feinheit
Ihres Gedankens, vor Ihrer Menschenkenntnis graut mir beinahe! -- Ja, ich
muß mein Haupt im Schmerz beugen und zugestehen: das Trinkgeld ist das
Zauberwort, der große, wunderwirkende Sesam, vor dem die stärksten
Tore in Staub zerfallen. Ein Trinkgeld verwirklicht das Unwirkliche, es
ermöglicht das Unmögliche, es buchstabiert das Unaussprechliche. -- --
Wie ich mich selber zu betrügen versuche! Ich weiß ja genau, daß unser
Almosen doch gerade das Gegenteil von dem ist, was es sein soll. Es wird
doch niemand die Frechheit besitzen, zu behaupten, daß er mit der elenden
Münze, die er dem schlotternden Bettel hinwirft, denselben aus seinem
Jammer helfen will. Man gibt sie doch nur, um seines unliebsamen Anblicks
oder seines Gedudels los zu werden. -- Außerdem ist Geben seliger denn
Nehmen. --

Ein Trinkgeld mag oft mehr sein, viel, viel mehr sein als eine vom Arbeiter
verlangte Bezahlung für seine Leistung, aber es wird sich doch immer
erhalten, denn die schmierige Vertraulichkeit im Verkehr untereinander,
zu der es Berechtigung gibt, -- welche es sanktioniert, scheint vielen
Menschen zu behagen. Es ist die fette, lauwarme, schmierige Vertraulichkeit
zwischen dem Gebieter und dem Sklaven und dem Sklaven mit dem Gebieter. Das
moderne Trinkgeldsystem weist tatsächlich alle Symptome einer regelrechten
Sklaverei auf. Durch die Aufhebung des Trinkgeldes würde jedenfalls
der gleiche heillose Wirrwarr entstehen, der durch die Emanzipation der
Negersklaven über Nordamerika hereinbrach. -- Materialistisch genommen
ist die Negerfrage und die Lage der Neger in Amerika selbst heute noch
schlimmer, als sie vor dem Bürgerkriege, also vor der Aufhebung der
Sklaverei war. Die wirtschaftliche Lage der Befreiten hat sich bisher
in keiner Weise gebessert. Von vielen einzelnen Ausnahmefällen freilich
abgesehen. Diese bergen allerdings schon die schöne, große Hoffnung auf
_allgemeine_ Besserung des Schicksals der befreiten Sklaven in sich. Das
Verhältnis zwischen dem Sklavenhälter und dem Sklaven ist -- oder besser
war -- in vielen Fällen ein durchaus kordiales, oft sogar sehr intimes.
Das hing natürlich vom Charakter des Sklaven ab. Der Hälter war im
völligen Besitz des Leibes und der Seele des mit Geld gekauften oder in
seinem Besitze geborenen Menschen. Ungefähr so wie man ein wertvolles
Stück Vieh besitzt. Und man behandelt sein Besitztum gewöhnlich gut,
namentlich, wenn es sich um leicht verderbliches und sterbliches Menschen-
oder Tiermaterial handelt.

Wie wahr das Wort Rousseaus ist und immer sein wird, geht aus der
amerikanischen Geschichte deutlich hervor, wo die Negersklaven zuerst kaum
die Freiheit annehmen wollten, die ihnen von den Nordstaaten geschenkt
wurde. Niemand unter den bedrückten Schwarzen war sehr über das so teuer
erkaufte Geschenk der Freiheit entzückt. Ja, die alten Neger behaupten
heute noch, daß es ihnen zur Zeit der Knechtschaft besser ergangen
wäre wie zur Zeit der Freiheit. Dies ist auch das beliebte Gejammer der
ehemaligen Sklavenhälter der Südstaaten, die durch das Machtwort Lincolns
Beträchtliches eingebüßt hatten. Die große Macht der Gewohnheit hat
auch hier wieder gesprochen. Die Menschheit, die jahrtausendelang in Irrtum
und Lüge gelebt hat, kann sich nicht so schnell an die Wahrheit gewöhnen.
Ein Mensch, der aus der Dunkelheit tritt, wird durch das Licht geblendet.

Die ehemaligen Sklavenhälter, denen im Bürgerkriege die Freiheit ihrer
Unterdrückten blutig abgenommen werden mußte, hegen statt der alten
eigennützigen Liebe für die ehemaligen Sklaven nun einen wilden Haß
gegen die Befreiten und suchen selbst heute noch, nach beinahe einem
halben Jahrhundert, die Lebenswege derselben auf alle erdenkliche Weise zu
erschweren. Im günstigsten Falle besteht zwischen dem ehemaligen Hälter
und dem befreiten Sklaven ein frostiges, unerquickliches Verhältnis,
eine arktische Indifferenz, eine starre Kälte, die kein grünes
Hoffnungshälmchen aufsprießen läßt. Die ehemaligen Sklaven sind
sich und ihrem Schicksal überlassen, und in ihrer Not, in ihrer elenden
Freiheit wünschen sie sich die fetten Tage der Unterdrückung zurück.

Ähnlich würde es dem Kellner nach der Aufhebung des Trinkgeldsystems von
seiten derjenigen Menschen ergehen, die heute das Trinkgeldsystem zu ihrem
eigenen Vorteile ausnützen, nämlich viele Gäste und Prinzipale, die
ihren Zorn über das Verschwinden der guten alten Zeiten an dem Kellner
auslassen wollen. Andererseits werden selbst auch viele Kellner sich das
alte Trinkgeldsystem wieder zurückwünschen. Ja, sie werden gegen die
Aufhebung desselben auftreten, wie viele Neger sich teils direkt, teils
indirekt gegen die Aufhebung der Sklaverei gewehrt haben. Die meisten
bestellten und hüteten die Häuser ihrer Hälter treu, als diese, Vater
und Söhne, alle im Pulverrauch standen, um die Schwarzen in der Sklaverei
zu erhalten. Es waren meistens nur entflohene Sklaven, die ihren Befreiern
ernstlich beigestanden haben, teils aus Rachsucht, teils aus Furcht vor
einer Niederlage ihrer Beschützer. Ein solches Ereignis wäre auch für
sie, die Entflohenen, verhängnisvoll geworden. Wieder andere Kellner
werden sich durch die Aufhebung des Trinkgeldes aller besonderen Pflichten
dem Gaste und dem Hause gegenüber enthoben fühlen, zu deren Ausführung
das Trinkgeld heute ein wahrer Sporn ist, -- Pflichten, die nur die
Wunderkraft eines fetten Trinkgeldes auszuführen vermag. Beobachten Sie
nur, wie die befreiten Sklaven von einem Extrem ins andere fielen! Manche
glaubten nach der erhaltenen Freiheit so fest an ihre Persönlichkeit, daß
sie es für ihrer unwürdig hielten, die Pflicht als Angestellte zu tun,
ja überhaupt irgendeine körperliche Arbeit zu verrichten. Sie hatten also
nicht ihre frühere schmachvolle Lage erkannt, sondern hielten die _Arbeit_
an sich für schmachvoll. Dadurch entstand vielfach der heutige Jammer der
Befreiten. Sie dachten sich vom Gesetze vor der _Arbeit_ geschützt und
zum Dolcefarniente geboren. -- Ähnliche oder die gleichen Schwierigkeiten
würden auch nach der Entfernung des Trinkgeldes auftreten.

Wird unsere Theorie und Moral aber sklavische Verhältnisse dulden, die
im praktischen Leben ganz annehmbar und unter Umständen sogar sehr
nutzbringend sind und deren Aufhebung voraussichtlich großen Tumult und
Schaden für alle Beteiligten anrichten würde? -- Es hieße sich doch
nur vor den Schmerzen einer Operation fürchten, welche aber durch ein
verhärtetes Geschwür an unserem gesellschaftlichen Körper notwendig
gemacht wird. So sollten wir auch dem Trinkgeldungeheuer furchtlos zu Leibe
rücken, denn wir haben die ganze Verwerflichkeit desselben eingesehen.
Die Operation ist unumgänglich notwendig geworden, wenn der Körper gesund
bleiben soll.

Vom moralischen und theoretischen Standpunkt aus kann das Trinkgeldsystem
unter keinen Umständen mehr in unserer Mitte geduldet werden, selbst
nicht, wenn die Hotelangestellten, die Prinzipale und gar eine gewisse
Sorte von Gästen durch die Aufhebung des Trinkgeldes finanziell
benachteiligt werden, was aber in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Die
Operation wird sich am Ende als heilsam und wohltuend erweisen. -- Die
amerikanischen Nordstaaten kämpften eigentlich nicht direkt für die
Besserung der materiellen Lage der Negersklaven, sondern sie verfochten ein
hohes Prinzip, welches sie sich gebildet hatten. -- Dieses Prinzip --
oder Erkenntnis war, daß die Sklaverei eine für zivilisierte Völker
unwürdige Einrichtung sei. Ob und wann durch die Durchsetzung des Prinzips
eine materielle Besserung oder gar Verschlechterung eintreten wird,
sind andere Fragen, die uns nicht beschäftigen sollten, wenn wir eine
Glaubenssache, ein Ideal im Auge haben.

Ganz genau derselbe Statusquo herrscht auch bei der Bekämpfung des
Trinkgeldes. Dadurch, daß wir im Trinkgeld einen formidablen Gegner haben,
erkennen wir erst, was es ist. Aber die Opposition wird immer den Kämpfer
reizen. Denn sonst wäre seine Handlung ja kein Kampf, sondern nur eine
Arbeit. Ein träger, widerstandsloser Misthaufen läßt sich mit einiger
Überwindung entfernen. Das lebendige Böse aber läßt, wenn es einen
festen Fuß gefaßt hat, nicht ohne Widerstand los von den beherrschten
Gebieten. Und seine Hartnäckigkeit bietet die Garantie zu einem
regelrechten heißen Ringen. Erst diese Aussichten sticheln den Kämpfer
zum Angriff an.

Der Feldzugsplan gegen das Trinkgeld? -- Ich kann nur die allereinfachsten,
natürlichsten Vorschläge machen, die jedermann weiß, die jedermann
fühlt, die notwendig sind, um den Kampf erfolgreich durchzuführen. Diese
sind, indem die Kellner ein ihren Fähigkeiten, Kenntnissen, Arbeit und
Arbeitsstunden angemessenes Gehalt bekommen, das ihnen die Achtung der
Kundschaft und ihrer Mitarbeiter erzwingt. Demzufolge würde er an die
Seite eines jeden anderen Angestellten auf der ganzen Welt treten. -- Die
Prinzipale können sehr gut ohne das Trinkgeld existieren, indem sie die
durch die Gehaltserhöhungen in ihrer Kasse entstandenen Lücken durch
entsprechende Preiserhöhungen ihrer Waren ausgleichen. Eine ganz geringe
Erhöhung von vielleicht zehn Pfennig pro Platte würde schon das Gehalt
des Kellners bestreiten können. Man soll nicht zur Entschuldigung des
Trinkgelds sagen, daß der Kellner nur mit Aussichten auf ein fettes
Geldstück seine Pflicht tun wird. Ein gut bezahlter Mann wird sich immer
anstrengen, seine Pflicht zu tun und seinen Posten zu halten. Man könnte
das Interesse der Angestellten am Geschäfte noch steigern, indem man
den Kellner mit einem gewissen Prozentsatz an seinem täglichen Verkaufe
teilnehmen läßt. Ohne sehr hohe Gehälter zahlen zu müssen, würde
dann der Wirt den Umsatz seiner Ware fördern und den Verkäufer seinen
Fähigkeiten angemessen entlohnen. Es wäre auch nicht richtig, allen
Kellnern ein gleich hohes Gehalt zu zahlen, denn die Dienste des einen
mögen für ein Haus unschätzbar sein, während der andere weniger Talent
zu diesem eigenartigen Berufe hat. Man müßte jedoch einen gewissen
Lohnsatz festsetzen, den die Prinzipale in den einzelnen Fällen nach
Belieben und Gutdünken steigern könnten, um sich Ausnahmekräfte für ihr
Geschäft zu sichern.

Der freigiebige Gast, der nicht mit seinem Trinkgeld kargt, wird nichts
gegen die Preiserhöhung der Waren zugunsten seines Kellners einzuwenden
haben. Im Gegenteil, er wird erleichtert aufatmen, ja in den meisten
Fällen noch dabei profitieren. Denn sein Trinkgeld ist gewöhnlich
größer als die Preiserhöhung ausmachen würde. Denjenigen Gästen aber,
die mit Schrecken an die Erhöhung der Preise denken, weil sie gerne auf
Kosten der armen Angestellten bedient sein wollen, können wir raten, sich
dorthin zu begeben, wo sie etwas für nichts bekommen. Aber sie sollen mit
solchen Hoffnungen ein Geschäftshaus verschonen. Und den Blattläusen am
Rosenstock des Lebens raten wir, sich durch keinerlei Streicheleien
mehr bewegen zu lassen, irgendwelchen »süßen, blinkenden Stoff«
auszuschwitzen.

Sie sehen also, mit einigen »antiseptischen« Mitteln wäre das grausame
Ungeheuer des Trinkgeldes, die orientalische Pest, auf immer ausgerottet.
Damit wird auch die große Wendung zum Bessern im Leben von vielen
Tausenden eintreten. Das betrügerische und bakschischheischende Element
unter ihnen wird sich alsdann andere Gefilde für sein Dasein suchen.
Das ist der Tag der großen Reinigung. Der Augiasstall ist vollständig
ausgemistet. Die Prinzipale, die Angestellten und die Kunden
können einander freundlich die Hände reichen und sich gegenseitig
beglückwünschen.

Sollte diese Wendung zum Besseren nicht eintreten, dann haben die drei
beteiligten Parteien das Urteil über sich selber ausgesprochen. Selbst
wenn sie dazu schweigen, sprechen sie es aus. Die Trinkgeldnehmer wollen
dann heute und für alle Zeiten alles verlieren, selbst endlich den Wunsch,
von ihren Ketten befreit zu sein. Dann sind die Prinzipale heute und für
alle Zeiten einverstanden mit den menschenunwürdigen Zuständen, die unter
ihren Dächern herrschen, dann wollen sie sich heute und für alle Zeiten
auf unsaubere Weise bereichern, und dann wollen die Blattläuse heute
und für alle Zeiten Blattläuse bleiben, bis der große Gärtner mit der
großen Spritze kommt. --

Aber das hoffen wir nicht! Wir haben noch etwas Glauben an die
Menschheit ...



VII.


Ach, gnädige Frau, das ist doch wirklich eine traurige Geschichte! --
Ja, ein Stiefkind in der Familie sollte man besonders schonend behandeln.
Stiefkinder sind äußerst zartfühlend und mißtrauisch. Die
Unsicherheit ihrer Stellung, ihr Verhältnis zur Familie, das Gefühl der
Nichtzugehörigkeit bestimmen ihren Charakter. Die geringste Kleinigkeit
kann sie bitter kränken. Gewöhnlich aber ist immer jemand in der Familie,
der dem Stiefkind gram ist. Vielleicht ist's ein hartherziger Stiefvater
oder eine keifende, zänkische Stiefmutter; die Geschwister sind auch
nicht immer liebevoll. Das Stiefkind muß es eben leiden; es ist nicht
vollwertig.

Sprechen Sie daher niemals zum Kellner wegen des Trinkgeldes. Sie können
ihn tödlich verletzen, denn der Kellner ist das Stiefkind unserer
Zivilisation. Sehen Sie nur, wie schwierig es ihm gemacht wird, auf
ehrliche, menschenwürdige Weise ein Stück Brot zu verdienen. Warum
müssen ihm denn noch andere Schwierigkeiten und Nachteile in den Lebensweg
gelegt werden, die ihm sein Dasein vollends versauern!?

Die geschäftlichen Nachteile, woran der Kellner sein Leben lang zu
schleppen hat, stehen natürlich im Vordergrunde. Es ist kaum möglich,
einen anderen Beruf anzugeben, der mehr geschäftliche Unannehmlichkeiten
aufzuweisen hat. Die obligatorische Einquartierung und Verpflegung im
Hause, die langen Geschäftsstunden, die vielen Reisen, das alles schließt
ein gesittetes Familienleben aus und verdammt den Kellner zum Zölibat,
während ein Heim und geliebtes Weib den jungen Menschen vor Verschwendung,
Unstetigkeit, ja Verderben retten und die Beschwerden des Berufes ihm
erleichtern könnte. Wir alle kennen die langen Sitzungen, die sich bis
in den frühen Morgen hinein ausdehnen. Wir kennen die Festlichkeiten,
Banketts und Bälle. Für uns heißen sie Vergnügen, für den Kellner
Verlängerung seiner Arbeitszeit und Verlust seiner Ruhe. Zur grauen
Morgenstunde, wenn die letzten Nachzügler über die verlassenen Straßen
wanken und sich über die Heimatlosen lallend lustig machen, die auf den
Rosten über warm dünstenden Kellerlöchern zusammengekauert dem neuen
Tag entgegendämmern, dann kramt auch verschlafen der Kellner seine
Siebensachen zusammen, zählt sein Trinkgeld, flucht ein wenig und
schleicht sich in sein Lager.

Ich habe einmal gesagt, daß der Kellner keinen Sonn- und Feiertag
kenne. Das ist unrichtig. Er kennt die Tage sehr genau. Denn dann hat er
gewöhnlich doppelte Arbeit. Der Anblick der schön geputzten, fest- und
sonntäglich gestimmten Menge macht keinen erhebenden, freudigen Eindruck
auf sein schwarzes Gemüt. Die Sonntagsmenschen sehen ihn nicht. Sie leben
in einem schönen Traum und schwatzen, schwatzen, lachen, lachen, schauen,
schauen. Der Sonntag ist das Ereignis. Der gute Rock tritt in seine Rechte.
Die Barschaft erlaubt, daß man wenigstens einmal in der Woche über
die Stränge schlagen darf, daß man seinen Neigungen zur Verschwendung
wenigstens einmal Raum läßt. Die Sonntagsmenschen sind sehr gemischt. Sie
wissen es aber nicht. Sie lachen und schwatzen. Nur der Kellner weiß es
und fühlt es.

Wenn der erste leichte Morgenreif gefallen ist und das dürre, bunte
Laub an den Bäumen zittert, wenn die frische, klare Luft vom Schrei der
südwärts ziehenden Zugvögel durchbebt wird, dann schnürt auch der
Kellner sein Bündel und rüstet sich wieder einmal zur Wanderschaft. Der
Wirt hat sein Etablissement geschlossen oder die Zahl der Angestellten
vermindert, denn die bunten, wimmelnden Sommermenschen, die schönen Frauen
mit den dünnen Blusen, lachenden Augen und fliegenden Haaren, die smarten
Herren mit den Negligéhemden, weißen Flanellhosen, seidenen Strümpfen
und farbigen Schuhen, mit dem malerischen Panamahut, der feinen
Stummelpfeife und dem Tennisracket, alle die geschmückten, glücklichen
Kinder des Sommers, alle sind sie verschwunden. Wohin? -- Das weiß
man nicht. Sie sind fort. Das ist alles. Aber darum gähnen auch die
Hotelzimmer in öder Langweiligkeit, und man erklärt die Saison wieder
einmal für tot. In den schwarzen Bahnhofshallen der Großstädte aber
stehen Berge von Koffern und Gepäck. Die frohen Sommermenschen schauen
schon wieder winterlich aus. Hin und wieder hat ein ankommender Kellner
auch das Vergnügen, für einen Sommermenschen gehalten zu werden, und der
Dienstmann berechnet ihm etwas mehr als Taxe für das Kofferschleppen.
Der Kellner zahlt es gern: er gibt noch ein Trinkgeld obendrein. Dann aber
wird's bald anders. Es heißt nun Stelle suchen. Manchmal glückt's gleich,
manchmal nicht. Schnee fällt, und die Barschaft auch. Der Kellner macht
Offerten, geht von Geschäft zu Geschäft. Immer begegnet ihm das gleiche
indifferente Achselzucken. Alles besetzt! Die Trottoirs, die Eingänge vor
den schmutzigen, verrauchten Kneipen der Plazierungsbureaus sind bereits in
aller Frühe von bleichen, fröstelnden jungen Männern belagert. Endlich
gegen zehn, elf Uhr kommt ein dicker Herr im Pelz. Man macht ehrfurchtsvoll
Platz. Schnaufend setzt sich der Gewaltige an seinen Schreibtisch in der
elenden, stinkenden Bude. Er öffnet die Lade, und die fetten Finger, mit
Brillanten geschmückt, nehmen die lange Liste heraus. Der erste, blasse
Jüngling, der am längsten gewartet hat, tritt heran. Die listigen
Schweinsaugen des dicken Herrn gleiten halb an ihm auf und ab, prüfen das
Bleichgesicht auf eine Möglichkeit hin, die nicht möglich ist, während
eine große, dicke Havanna mit feinem Bändchen zwischen den saftigen
Mundwinkeln hin und her wandert. Ein Augenblick Totenstille, dann stummes
Verneinen, Kopfschütteln, ein zager Einwand seitens des Bleichen, eine
gebieterische Handbewegung, die Brillanten blitzen: adieu! -- Der Nächste.
-- Diese Pantomime wiederholt sich hundertmal mit tödlicher Präzision,
bis die Sonne von dem grauen Bilde sich langsam abwendet. --

Der hungrige Kellner pumpt nun schon bei seinen arbeitenden Kollegen.
Die jungen Leute sind untereinander von einem wunderbaren Gefühl von
Zugehörigkeit und Freundschaft beseelt. Ein Kellner gibt für den anderen
das letzte Hemd her, teilt mit ihm den letzten Groschen. Aus Mitleid wird
er für den stellenlosen Kameraden gern ein halbes Dutzend Hühnerbeinchen
oder Hammelkoteletts »abservieren« und die Beute des Abends aus dem
Geschäft herausschmuggeln, um den Hungrigen damit zu füttern. Vielleicht
hat der stellenlose Kellner während des Winters einige Banketts mitgemacht
und sich ... Wie? -- Nein, nicht als Gast, sondern als Aushilfskellner
selbstverständlich. Ein Bankett in der Woche kann ihn über Wasser halten.
Er kann sich dort von den Überresten jedesmal so anfressen, daß er für
die nächstfolgenden Tage nicht zu sorgen braucht. Der Hungrige hat auch
verschiedentlich Gelegenheit, zu sehen, wie die reichen Leute tanzen
und Hochzeit machen und wie alle die Wohltätigkeitsbasare zugunsten der
Stellenlosen abgehalten werden. Er sieht, wie die mildtätigen Herren den
reizenden, dekolletierten Damen Goldstücke für Küßchen geben und wie
diese Goldstückchen überall hingesteckt werden, nur dort nicht, wohin sie
gehören. Was Wunder daher, wenn das Gold oft so versteckt ist, daß man es
nicht wiederfinden kann und die Stellenlosen infolgedessen noch immer den
ganzen Winter hungrig umherlaufen, bis der Frühling wiederkommt.

Das alles, geschäftliche Unannehmlichkeiten, Sonntagsarbeit, Nachtarbeit,
Stellenlosigkeit, Zölibat, Plazierungsunwesen, Ausbeutungen, die Gefahren,
die dem Stande durch »Überläufer« drohen, das alles drückt die soziale
Stellung des Kellners in unseren Augen sehr herunter; die Unkenntnis
der Menschen von seiner Lage, seine Popularität in der Karikatur,
die Gedankenlosigkeit und Ungerechtigkeit des Publikums machen ihn zum
Stiefkind der Zivilisation, lassen seinen Stand, sein Leben, sein Los
mit dem anderer Berufe und Geschäfte als minderwertig, verächtlich
erscheinen. Der Kellner darf es nicht wagen, sich mit dem geringsten
Arbeiter auf gleiche Höhe zu stellen. Warum? Hat er nicht genug
geschäftliche Schwierigkeiten zu überwinden? Muß man ihn auch noch bei
seiner Ehre als Arbeiter angreifen und ihn als die minderwertigste aller
Kreaturen hinstellen?

Früher, als die Zeiten einfacher waren, hatte jeder seine Werkzeuge,
arbeitete bei sich und für sich in seiner Werkstatt und verkaufte seine
Produkte. Dieser kleine, fleißige Mann von damals ist heute fast ganz
ausgerottet worden. Nur in kleinen, abgelegenen Städtchen taucht er noch
vereinzelt auf und fristet ein kümmerliches Dasein. -- Die zahllosen
Massen verkaufen heutzutage ihre Körper- und Geisteskräfte an die
Fabriken, die die Produkte im großen hervorbringen und auf den Markt
tragen. Die Fabriken stellen dem Handwerker die Aufgaben und zur
Ausführung derselben Werkstatt, Werkzeuge und Maschinen. Gleichzeitig
beanspruchen sie natürlicherweise die besten Stunden des Tages und die
besten Lebensjahre des Arbeiters. Eine Arbeiterfamilie braucht weder dem
lieben Herrgott noch dem lieben Fabrikherrn zu danken, wenn ihr Ernährer
Arbeit und Verdienst hat. Der Arbeiter glaubt auch nicht, daß seine
Arbeitgeber ihn anstellen und bezahlen, damit er und seine Familie etwas
zu essen und eine Schlafstätte habe. Er kennt seine Lage genau. Der
Arbeitgeber stellt seine Leute an, weil er in den Kräften derselben
einen Nutzen für sich selber erblickt. Er kann dem Arbeiter nicht so
viel zahlen, als wie dessen Körper- und Geisteskräfte für ihn, den
Arbeitgeber, wert sind. Und wenn der Arbeiter noch so guten Lohn erhält,
-- seine Kräfte sind dem Fabrikherrn mehr wert.

Diese Wahrheit muß natürlich auch der Kellner in seiner Arbeit erfahren.
Denn auch er gehört zu den großen, unermeßlichen Kolonnen, die mit
Sonnenaufgang zur Fabrik pilgern und sie mit Sonnenuntergang verlassen. Ja,
er tut noch mehr. Er arbeitet noch lange nach Sonnenuntergang weiter, er
arbeitet fast ununterbrochen.

Für den alten, trotzigen, stolzen Handwerksmeister der vergangenen
Jahrhunderte muß die Arbeit eine unendliche Freude gewesen sein, eine
Quelle der Wonne und der Stärke. Ich kann nicht glauben, daß die strammen
Gesellen, die flinken Lehrlinge, die bärtigen, ernsten Meister jemals
müde geworden sind. Aus ihrer Werkstatt heraus drang schmetternder Gesang
lebensfroher Menschen, und die Bürger draußen hielten am Fenster an, die
werdenden Meisterwerke zu bewundern. --

Anders ist es heute. Die Maschinen surren, die Motoren heulen: wilde,
gebändigte, unterirdische Geister seufzen darin vor Wut und wollen sich
von dem Joche der Menschen befreien, die es vermochten, die geheimen
Mächte des Erdinnern zu bändigen und ihrem Willen untertänig zu machen,
ohne sie auch nur im entferntesten zu kennen. Doch die Geister sind wild
und bleiben es. Und sie haben sich an der Menschheit gerächt, haben ihr
Hammer und Säge aus der Hand genommen und schmieden nun Maschinenwerke
mit der Schärfe und Genauigkeit, die der Schöpfer sie aus dem Wandel der
Sterne gelehrt hat. -- Die Werke der Maschinen sind nicht mehr die Werke
der Menschen. Ihnen fehlt die schöne Spur der menschlichen Hand,
das Tasten und Suchen des Meisters, der die Vorbilder der Schöpfung
nachzuahmen versucht. Die gefesselten Elemente haben sich gerächt, das
Leben der Maschinen hat die Menschen, welche sie bedienen, selber zu
Maschinenmenschen gemacht.

Das ist die Rache der furchtbaren Elemente. Die Maschinenmenschen des
zwanzigsten Jahrhunderts haben das Herz des Schöpfers nicht mehr in sich.
Aber dafür sind sie ganz mit der dämonischen Kraft gefesselter Elemente
erfüllt. Sie wühlen und arbeiten mit heißer, fiebernder Wut, fauchen
und keuchen wie die Maschinen, fluchen und stoßen unheilige Worte aus.
Der Gesang der Werkstatt tönt nicht mehr. Er ist auf immer verstummt. Die
unersättlichen, selbsttätigen Maschinenmenschen aber hasten stumpfsinnig,
betäubt und rasten nicht, bis sie eines Tages die innere Kraft verläßt.
Die Feder bricht, sie fallen zusammen, werden auf den Schutthaufen geworfen
und später umgeschmolzen. Schauderhaft groß ist dieser menschliche
Schutthaufen unseres Jahrhunderts. Und stumm ziehen daran vorüber die
Armeen des Morgens und die Armeen des Abends, stumm, gefühllos, apathisch,
ohne einen Gott im Herzen. Was nützt es, daß der eine oder der andere
frivol und zynisch auflacht, wenn er einsieht, daß auch er bald zum
Schutthaufen gehört? Wer gedenkt derer, die schweigend den Kampf aufgeben
und in der stummen Finsternis verschwinden? -- Wer steht jenen bei, die
sich wild gegen die unterdrückenden Kräfte aufbäumen und am Rande des
Weges ihr Blut verröcheln? -- Die großen Armeen marschieren weiter,
schnell werden die Lücken der unterbrochenen Linien von hinten
ausgefüllt.

Wir leben im Zeitalter des industriellen Faustrechts. Ungestraft darf
der starke Maschinenmensch über die Trümmerhaufen, über die Leichen
hinweghasten. Wenn er mit größerer Kraft erfüllt ist als seine
schwächeren Brüder, so preist man ihn, man jubelt ihm zu, wenn er
niedertritt, was schwächer und zarter ist. Da sich aber die menschliche
Natur nicht mit dem Faustrechte verständigt, da sie ihm flucht, so nennt
man die rohe Kraft, welche Tausende und Abertausende verdrängen und
niedermetzeln darf, »Energie«. Wiederum nur einer der vielen schönen
Namen, die sich die Menschheit erfindet, um ihre größten Laster und
Sünden zu verdecken. Ich habe Ihnen bereits gesagt, welch schöne Namen
man dem Trinkgelde gegeben hat. Ich habe Ihnen auch gesagt, daß das meiste
Unglück auf der Welt durch die Tatsache hervorgerufen wird, daß der
einzelne Mensch seiner eigenen Persönlichkeit viel zu viel Wichtigkeit
zuschreibt. Dies war zu allen Zeiten der Fall. Napoleon zum Beispiel war
so von der Wichtigkeit seiner eigenen Person überzeugt, daß er sich gar
nicht lange bedachte, seine Pläne durchzusetzen, selbst wenn es galt,
Gewalt zu gebrauchen und wenn sie Hunderttausende von Menschenleben
kosteten, wenn Hunderttausende von friedlichen Menschenhäusern dabei
in Flammen und Asche aufgehen mußten. Aber er wurde gepriesen. Er war
»energisch«. Man ahmt ihm nach. Indes, was ist aus ihm und seinem Reiche
geworden? -- Was ist aus den Reichen aller großen Menschenschlachter
geworden? -- Das Reich eines Christus wird weiterbestehen. Zum bleichen,
dornengekrönten Haupte auf Golgatha wird die Welt immer die Blicke in
Ehrfurcht erheben müssen.

Der Napoleone großen und kleinen Stils gab es und gibt es viele und zu
allen Zeiten. Der öffentlichen Sicherheit und des Friedens wegen sollten
sie eingesperrt werden. Geistig sind sie gewöhnlich nur mittelmäßig
begabt, Feinheiten gehen ihnen ganz ab. Aber man preist sie! Man weicht mit
Schrecken und Ehrfurcht vor ihnen zurück, denn die Maschinenmenschen sind
feige in ihren Herzen. Sie haben nicht mehr den Geist des Schöpfers in
sich, sie haben ihren Gott verloren. Es ist nicht ihre Schuld! -- Wir
wollen sie nicht schmähen. Die Sklavenarbeit der Maschine hat ihnen alles
geraubt, was einst heilig war.

Und doch steht die Arbeit, so schwer sie auch heute auf den Gemütern
und Körpern der Menschen lasten mag, als solche der Arbeit vergangener
Jahrhunderte nicht nach. Ihr Geist ist innerlich der gleiche geblieben. Der
Geist der ehrlichen Arbeit erfüllt unsere Herzen heute genau mit derselben
Freude, die er vor Jahrhunderten verteilte. Man muß sich weit von den
Menschen entfernen, um sie zu erkennen. Und wer dann von ferne die Arbeit
unserer heutigen Tage betrachtet, wird nicht die Irrtümer und Schwächen
der Menschen sehen, er wird nicht sehen, wie sie sich einander morden und
verdrängen, wie die entfesselten Geister der Elemente Tausende schlachten,
er hört nur einen gewaltigen, brausenden Gesang aus dem Getöse der Zeit
heraus, wie einst der Gesang der frischen Gesellen aus der Werkstatt drang.
Und aus dem Gewühl vernimmt er schon, wie sich allmählich eine wunderbare
Harmonie bildet, wie der Gesang der arbeitenden Völker einträchtlicher,
harmonischer wird, wenn sich alle Stimmen verständigt haben. Und in diesem
göttlich schönen Gebrause ahmt die arbeitende Menschheit die Harmonien
der Schöpfung, den donnernden Gang der Gestirne nach, wie der einzelne
menschliche Schöpfer dem einzelnen Vorbilde der Natur zustrebt.

Wie nun der moderne Durchschnittsmensch selber nichts mehr produziert,
sondern wie sich die Menschen zusammentun, um als ein einziger, großer,
machtvoller Körper etwas zu produzieren, und wie jeder einzelne Mensch
seine Kräfte dem großen Körper, dem er angehört, verkaufen muß, so
folgt auch der Kellner dem Beispiel seiner Mitmenschen. So entsteht aus der
Zusammensetzung von den verschiedensten Kräften und Begabungen einzelner
das große moderne Hotel, welches oft die Kräfte von tausend bis
zweitausend Menschen beansprucht. Und dieser große Hotelkörper
produziert. Er produziert Essen und Trinken und Unterkommen für Menschen,
wie eine Schuhfabrik Schuhe und eine Kleiderfabrik Kleider für Menschen
produziert. Somit nimmt der Kellner eine Stellung als Arbeiter in der
Hotelfabrik ein.

In unserer menschlichen Gemeinschaft hat man meistens die Gewohnheit,
den einzelnen Menschen nach seiner Arbeit oder seiner Stellung in dieser
Gemeinschaft zu schätzen und zu bemessen. Diese Art und Weise, einen
Menschen zu berechnen, ist die einfachste, denn man braucht nicht viel
dabei zu denken. Man macht sich gewöhnlich nicht gern viel Gedanken, und
demnach hält man einen Schuster gewöhnlich für einen Schuster. Und einen
Priester oder einen Premierminister gewöhnlich für einen Geistlichen
oder einen Staatsmann. Aber natürlicherweise ist nichts falscher als dies.
Indessen wie man den Menschen gewöhnlich nach seiner Arbeit bemißt, so
bemißt man seine Arbeit auch nach dem Lohne, den er dafür erhält. Das
ist natürlich ebenso falsch. Es ist sonderbar, wie falsch die Menschheit
denkt und urteilt und immer wieder die gleichen Irrtümer begeht. Wer der
Wahrheit auf den Grund kommen will, der stelle eine von der Menschheit
als wahr akzeptierte Sache einfach auf den Kopf, und in neunundneunzig von
hundert Fällen wird er die Wahrheit erkennen.

Sie glauben dies nicht? -- Sie werden mir doch wohl nicht sagen wollen,
daß die beste, edelste Arbeit stets am besten bezahlt oder gar nur als
solche anerkannt wird!? Und daß die schlechteste Arbeit am schlechtesten
belohnt wird! Nein, so verkommen kann ich mir keinen Menschen denken, daß
er solches zu behaupten wagt.

Da man nun aber einmal die Arbeit nach ihrem Lohne abschätzt, so finden
wir auch erklärlich, warum der Kellner allgemein mißachtet wird. Wir
haben die Lösung des Rätsels, warum der junge Arbeiter in unseren Tagen
der großen Industrie- und Arbeiterbewegungen abseits dastehen muß, wie
wenn er ein Nichthinzugehöriger wäre. Aus diesem Grunde erkennt man ihn
im Rate der großen Arbeiterschaften nicht an. Da er sehr geringen Lohn
für seine Arbeit empfängt, so ist diese auch in den Augen des Volkes
gering. Wo er gar keinen Lohn erhält, ist seine Mühe und sein
Schweiß gleich Null. Ich sehe hier natürlich vom Trinkgelde ab, dessen
Verwerflichkeit und Illegitimität ich erwiesen habe. Weil die Arbeit
des Kellners nun so schlecht bezahlt wird, weil sie von der Gnade und der
Barmherzigkeit und der unrichtigen Wertschätzung derer abhängig ist,
denen er sie liefert, so fühlt sich auch selbst der geringste Taglöhner
mehr als der intelligenteste Kellner und läßt dem letzteren diese
seine liebevolle Meinung bei jeder Gelegenheit fühlen. Nicht einmal
der niedrigste Arbeiter hält den Kellner aus diesem Grunde für einen
vollwertigen Genossen. Er hat eine unbestimmte Vorstellung von ihm, er
hält ihn für etwas, aber nicht für seinesgleichen, für einen Arbeiter.

Ja selbst die Gesetze der verschiedenen Länder scheinen tatsächlich noch
nicht zu wissen, was sie mit dem Kellner anfangen sollen, wohin sie ihn
stecken sollen, in welche Kategorie er gehört. Und doch ist er da! Er
ist doch etwas, er will doch auch ein Mensch sein, zur menschlichen
Gesellschaft gehören und nicht mit schelen, zweiflerischen Blicken
betrachtet werden. Das ist der größte Schmerz, den unser Ganymed, der
Kellner, hat. Das ist die größte von allen Ungerechtigkeiten, die wir
gedankenlosen Menschen ihm antun. Traurig, gekränkt wendet er sich von uns
ab, mit aller Charakteristik eines verfemten und verhaßten Volkes hält er
zu seiner Art und sucht sich unter seinesgleichen zu trösten. Er hat keine
Freunde außer den Seinigen, er will keine. Diese internationalen Menschen,
ohne Heimat, ohne Vaterland und doch überall zu Hause, die überall
Bekannten und doch Fremden, die Namenlosen, sie nennen sich bescheiden
»Zugvögel«.

Wir haben aber gesehen, daß sie Arbeiter sind! Daß sie schwere,
intelligente Arbeiter sind, die mit den Körperkräften eines Bullen hohes
geschäftliches Wissen und die Finessen eines Diplomaten verbinden müssen,
wenn sie nicht vor Hunger sterben wollen. Wir haben erkannt, welche
wichtige Rolle der Kellner in dem großen Verbande der Gastwirtsindustrie
spielt. Warum soll er nicht gleichberechtigt sein mit den Arbeitern,
die die Maschinen beaufsichtigen und bedienen? Bedient der Kellner keine
Maschinen? Ja, und was für gefährliche! Soll er noch länger von fern
stehen und uns fremd sein müssen!? -- Ein Arbeiter sein müssen und nicht
einstimmen dürfen in das Summen der Maschinen, in das Singen der Motoren,
in das Dröhnen der Hämmer, in das brausende Hohelied der Arbeit!! -- Das
ist schrecklich! Das ist die schlimmste Beleidigung, die man einem Arbeiter
ins Gesicht schleudern kann. -- Ein Krieger opfert uns alles auf, Gut, Blut
und Leben. Aber wir dürfen ihm nicht wehren, in den Gesang der Schlacht
miteinzustimmen.

Das ist der Kern in der Handlung der Tragödie vom Kellnerfrack.
-- -- -- -- --

Zu all diesem tritt aber noch mehr hinzu, um das Dasein des anständigen
Kellners unerträglich zu machen, um seine geschäftliche Existenz zu
bedrohen und sein Ansehen in unseren Augen herabzudrücken. Ich will
Sie, meine Freunde, nur noch auf eins aufmerksam machen, das ich soeben
bemerkte. Zu diesem Zwecke muß ich unseren Kellner mit ins Gespräch
ziehen. --

Sagen Sie mal, Kellner, was ist denn das für ein entsetzlich ungeschickter
Mensch da drüben? -- Ich habe ihn seit einiger Zeit beobachtet; er scheint
sich nicht ein noch aus zu kennen. -- Wie? noch nicht lange im Geschäft?
Er ist doch schon verhältnismäßig alt! -- -- Aha! Er war früher
»etwas anderes«! Was denn? Doktor? Oder ist er ein Adeliger? -- So, man
weiß nicht recht. -- Der arme Teufel! Sieht sonst ganz anständig aus! --
Aus diesem Grunde hat man ihn wahrscheinlich auch nur engagiert. Kommt
es häufiger vor, daß sich diese mysteriösen Gestalten in die Kellnerei
hineinflüchten? -- So! Ja, leider, sehen Sie, Kellner, das scheint auch
noch ein Krebsschaden an Ihrem Stande zu sein. Es sieht aus, als ob er die
letzte Zuflucht aller verkrachten Existenzen sei. Nicht wahr? So eine Art
Abladeplatz für die Scherben der Gesellschaft, für die verschimmelte
~Jeunesse dorée~. Was sagen denn die Prinzipale dazu? Sind die denn damit
einverstanden? -- Ja, aber können Sie denn als Fachmann nichts dagegen
tun? -- Aha, also da steckt's! Keine Organisation! -- Gewiß, ganz richtig!
Viele werden durch die Gerüchte von dem großartigen Verdienst angelockt,
nicht wahr? -- Schließlich ist es ja auch ganz natürlich, wenn sich ein
heruntergekommener Jüngling der »Gesellschaft« oder ein verkrachter
Lebemann den schönen Stätten seines früheren Genusses und Glücks wieder
zuwendet. Solche Tage sind unvergeßlich. Verbrecher kehren ja auch immer
wieder an der Ort der Tat zurück. Und dann scheinen verkrachte
Edelleute, Leutnants a. D. usw. sich durch ihre früheren Erfahrungen
auf kulinarischem Gebiete genügend Vorkenntnisse erworben zu haben,
um, gestützt auf ihre feinen Manieren und angeborene Gewandtheit, ganz
passable Kandidaten für den Kellnerstand zu werden, wenn sie noch kein
allzu hohes Alter erreicht haben und ihre Beine noch nicht zu schlotterig
geworden sind. -- Sie kennen doch die Geschichte aus New York? -- Nicht?
Sie ist doch der beste Beweis für diese Behauptung. Erst kürzlich bot
ein hervorragender Restaurateur in New York einem Grafen in Paris per Kabel
eine Stellung als ~Maître d'Hôtel~ mit unglaublich hohem Gehalt an, da
die empörte Frau Gräfin -- eine amerikanische Millionenerbin -- ihrer
Ehekomödie müde, den Seigneur aus ihrem üppigen Nestchen am Bois de
Boulogne an die frische, rauhe Luft setzen ließ, so daß der Ärmste,
plötzlich aller Mittel entblößt, nicht nur keine Champagnerbäder mit
anderen Freundinnen mehr nehmen konnte, sondern über Nacht seinen ganzen
Kredit verlor, was bekanntlich das Schlimmste ist, das einem Sterblichen
zustoßen kann. Selbst ein Aristokrat weiß den plebejischen Kredit
zu würdigen. Kurz, die Geschichte ist weltberühmt. Der Gedanke des
Restaurateurs wurde seinerzeit als famoser Witz applaudiert, und nicht nur
er, sondern die ganze Stadt hat die ablehnende Haltung des Edlen in Paris
unendlich bedauert. Eigentlich war es ein sehr billiger, schäbiger Witz.
Aber es ist eine gute Illustration für das, was wir soeben besprachen.
Daß derartige Fälle selbst bei Wirten vorkommen können, die von
Sensationshascherei dazu angetrieben werden, ist nicht nur bedauerlich
für den Kellner und seinen Stand, nein, es ist geradezu entmutigend. Der
betreffende Restaurateur aber hat sich aufs Glatteis begeben. Denn
wenn sein Etablissement von verrotteten, verschuldeten, ausgemergelten,
moralisch und intellektuell auf der niedrigsten Stufe stehenden
Aristokraten geleitet werden kann, so stellt der Inhaber des Geschäftes
sich damit selber ein Zeugnis aus, das einem bürgerlichen Totenschein
verzweifelt ähnlich sieht. -- Wiederum ein schrecklicher und zugleich
interessanter Beweis, wie gedankenlos die meisten Menschen vorgehen und
dadurch sich immer und immer wieder verraten und sich kompromittieren.

Was wird aber aus den anständigen Arbeitern, unter welche sich solch
zweifelhafte Elemente ungestört mischen dürfen? Kann man gar unter
diesen Umständen verhindern, daß uneingeweihte nachteilig über den Stand
urteilen? -- Gewiß nicht! -- Ich will Ihnen nur ein einziges, aber
ein klassisches Beispiel erzählen, wie und was man in der »höheren«
Gesellschaft unter den Einflüssen genannter Art von dem freundlichen,
hart arbeitenden jungen Mann denkt, der uns am Tische aufwartet. Er ist
der bekannte Ausspruch, den der damalige Direktor der Königlichen
Kunstakademie in Berlin, Herrn Anton von Werner, gelegentlich einer Kritik
über das Gemälde von Max Klinger, »Christus im Olymp«, sich erlaubte.
Das genannte Bild erregte bei seinem Erscheinen vor etlichen Jahren als
das Werk eines »Modernen« großes Aufsehen. Herr von Werner, der auch
ein ganz tüchtiger Maler ist, sich aber bekanntlich zur »alten« Schule
bekennt, ließ sich zu heftigen Worten gegen den »Modernen« hinreißen.
Das Bild, welches sich jetzt in Wien befindet, stellt den Erlöser dar, wie
er in Begleitung von christlichen Büßerinnen die Götter des heidnischen
Altertums von ihren Höhen verdrängt. In den Augen des Herrn von Werner
stellte das klingersche Gemälde jedoch Christus in Gesellschaft von
pariser Kellnern und Freudenmädchen dar. So drückte er sich wenigstens
aus. Man hat ihm natürlich dies vorübel genommen, und er mußte
öffentlich bedauern, daß er sich getäuscht hätte. Die Geschichte ist ja
genugsam bekannt.

Ich habe mich aber oft gefragt, warum der brave Herr von Werner gerade den
Kellner zur Zielscheibe seines geistarmen Spottes machte. Haben pariser
Kellner etwa mehr mit pariser Freudenmädchen zu tun als -- na! -- sagen
wir -- pariser Maler? -- Oder berliner Kellner und berliner Mädchen und
berliner Maler? -- Oder die Kellner, Mädchen und Maler irgendeiner Stadt
auf der Welt? -- Man braucht wirklich nicht in Paris gewesen zu sein, um zu
wissen, was ein Quartier Latin, Monmartre oder Porte St. Martin ist,
oder wie sonst die Stadtviertel heißen mögen, wo Pseudokünstler mit
Pseudojungfrauen ein Pseudodasein, ein Dämmerleben und -treiben führen,
das nichts ist als ein tatenloses, selbstverherrlichendes, langsames
Verglimmen. In jeder Großstadt sind solche »Quartiers« zu finden. Doch
das Thema ist bis zum Überdruß verherrlicht, behandelt, abgeleiert und
abgedroschen worden; es wirkt nachgerade uninteressant.

Der gute Herr von Werner war sehr erregt, als er die Wörter »Kellner«
und »Freudenmädchen« in einem Atem aussprach. Er muß sehr erregt,
fieberhaft erregt gewesen sein. Der Arme! Darum hätten die Kellner sich
damals nicht aufzuregen brauchen. Darum hätten sie ihm stillschweigend
verzeihen müssen und ohne seine öffentliche Erklärung zu
verlangen. -- --

Sie haben einesteils recht, gnädige Frau, wenn Sie sagen, daß die ganze
Geschichte für uns Mitglieder der Gesellschaft von sehr geringer Bedeutung
sei. Aber gestatten Sie, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, welche
Bedeutung sie für die Kunstgeschichte hat. Uns Kunstkennern liefert sie
nämlich ein Freibillett zu einer Arena, wo ästhetische Gladiatoren sich
auf Tod und Leben ans Fell gingen. Die bösen Worte, die Herr von Werner
in der Hitze des Gefechtes ausstieß, bilden für uns den höchst
interessanten, für ihn aber verhängnisvollen Kulminationspunkt in einem
erschütternden Drama vom Kampfe des Alten gegen den Ansturm des Jungen.
Dieser Schauspiele in mannigfaltiger Gewandung erleben wir viele gerade in
unserer Zeit. Ja, jeder von uns wird eins auskämpfen müssen. Das Drama
mag verschieden sein, aber der Kern der Handlung ist meistens der gleiche.

Der alte Maler, der seit Jahr und Tag in Berlin Militärstiefel gemalt
hatte und sich im Strahle allerhöchster mediceischer Gunst sonnte und
so der deutschen Kunst, welche ohnehin in den damaligen Jahren ein
schwächliches Blümchen war, vollständig die Sonne wegnahm, er mußte in
dem Kampfe weichen, denn er hatte sich zu sehr entblößt. Er hat das Gift
eines alten Geiferers gegen die frische Jugend ausschleudern wollen, statt
sie lächelnd und freudig zu begrüßen, statt sich an ihrem übermütigen
Streben als Philosoph zu ergötzen und, wenn er auch selbst kein großer
Maler sein kann, so doch zu versuchen, ein großer Mann an Herz und Gemüt
zu sein, was noch etwas mehr ist als pur geniales Pinseln.

Aber Herr Anton von Werner war kein großer Mann an Herz und Gemüt, und
darum hat die Zeit ihn auch schon vor seinem leiblichen Tode gerichtet. --
Hu, mit einer ganz unheimlichen Sicherheit richtet die Zeit! Und namentlich
den Eiferer und Geiferer. Wie schmerzlich muß es für einen Menschen sein,
der sich sein Lebtag lang auf den Höhen des Lebens wähnte, wenn er eines
Tages erwacht und sieht, daß er Ruck für Ruck hinabgezerrt wird. So
arbeitet die Zeit. Ruck für Ruck. Niemals heftig und plötzlich, sondern
wie das knappe, abgerissene Zucken des Pendels.

Es klopft die Jugend an unsere Tür und ruft: »Platz, Platz!« Dann muß
man zuschauen, wie die Zeit einem das Lebenswerk in die Rumpelkammern
unserer Kultur steckt, in die dumpfen Kellerräume, wo an den feuchten
Gewölben ein muffiger Grabgeruch wie von verfaultem Sonnenlicht und welkem
Lorbeer klebt. -- --

Aber wie alles Böse, so birgt auch das gehässige Wort des Herrn von
Werners etwas Gutes in sich. Es läßt einen herrlichen Gedanken in sich
aufdämmern, an dem freilich der Urheber unschuldig ist, nämlich _den_
Gedanken, daß in Wirklichkeit einmal ein Christus unter Kellnern und
auch wieder unter Freudenmädchen segnend und tröstend einherwandeln
möge ....

Indes, ein solches Bild könnte kein Künstler malen, der sein Lebtag lang
nur Stiefel und Sporen und Schlachtenbilder mit mangelhafter Perspektive
malt, der Bilder malt, worauf die großen Generale an den gefährlichsten
Stellen stehen, wo rings um die kühn und unerschrocken dreinblickenden
Fürstlichkeiten Schrapnells, Pferde, Gemeine und Unteroffiziere vom
Feldwebel abwärts in Mengen krepieren und wo brechende Blicke dankbar
verklärt an der hehren Gestalt des Landesvaters auf und ab wandern. --
Nein, ich glaube nicht, daß die Kellner sich für Bilder interessieren,
die allerhöchsten Geschmack irreleiten und einer braven patriotischen
Partei der eiserne Bestand an Rührseligkeit sind. Die Kellner
interessieren sich für solche Schlachtenbilder nicht. Gegen Romantik sind
sie stumpf. Gegen Militärtrompeten sind sie taub. Auch danken sie für
Orden. Sie kriegen sowieso keine. Die Kellner steckt man ja doch nur
immer ins Offizierskasino. Für die Front sind sie der Plattfüße wegen
untauglich. -- Thackeray meint an einer Stelle einmal, daß die Menschheit
die militärische Tüchtigkeit so fürchterlich hochschätze, weil sie --
die Menschheit -- im Herzen feige sei. Ich weiß nicht, wie Schlachtenmaler
darüber denken. Ich weiß nur, die Kellner wollen nicht feige sein. Sie
haben Mut, ihr Leben zu ertragen. Also keine Schlachtenbilder, bitte,
und mögen sie noch so schön und glatt und glänzend sein. -- Aber wenn
wirklich einmal ein Christus unter Kellnern erscheinen sollte, so bin ich
gewiß, daß sie sich bei einem Uhde ein Bild bestellen werden. -- --

Diese Geschichte ist also ein typisches Beispiel, wie man über den Kellner
denkt. Aber wie dunkel muß es in den Köpfen sein, die so denken! Denn sie
denken nicht, sie machen sich nur Vorstellungen -- nach ihnen selber. Sie
sehen nicht, sie haben nur Ansichten. Darum hat der Kellner keinen Platz
unter uns: er hat nur eine Stellung. Darum bekommt er keine Anerkennung
für seine Arbeit, nur Wohlwollen. Er hat darum keine Ziele, nur
Aussichten. Keine Ideale, nur Idole. Keinen Gott, nur Götzen. Kein
Einkommen, nur ein Auskommen. Kein Heim, nur ein Unterkommen, ein Obdach.
Keine Heimat, nur einen Geburtsort. -- Solange er jung ist, läßt sich
dies leicht ertragen; aber was wird aus ihm, wenn er in Jahren vorrückt?
Als junger Mensch hat er Gelegenheit, viel Geld zu verdienen, mehr wie
manch ein anderer seiner Gesellschaftsschichte. Aber seine Unkosten sind
auch groß. Und nach dem dreißigsten bis fünfunddreißigsten Jahre lassen
seine physischen Kräfte schon nach. Sein Aussehen hat schon nicht mehr
die nötige Frische der Jugend, welche verlangt wird. Was wird nun aus
ihm, nachdem er seine Jugend weggegeben hat? Nicht jeder kann im Geschäfte
fortkommen und höher steigen. Von einem Tausend erreichen nur wenige einen
höheren Posten. Aus hundert _dieser_ Glücklichen wird vielleicht nur
einer Geschäftsinhaber. Und es tritt noch der merkwürdige Umstand hinzu,
daß ein Kellner außerhalb seines gelernten Geschäftes in einer anderen
Beschäftigung oder Beruf trotz oder wegen seiner Welterfahrung und
Weltgewandtheit selten oder fast nie erfolgreich ist. Vielleicht kann er
sich nicht einschränken. Er fühlt sich nicht wohl in der Enge, in welche
so viele Berufe die Menschen zwängen. Er kann kaum das zustande bringen,
was ein bescheidener, ungebildeter, beschränkter Mann vermag. Er ist
zu sehr an großartiges Leben, gutes Essen, Luxus, Geldverschwendung,
Frivolität gewöhnt; er kann nicht haushälterisch mit seinen Mitteln
umgehen, er kann schlecht rechnen.

Nach einer eingehenden Betrachtung des Werdens, Seins und Vergehens des
Kellners kommt man zögernd aber sicher zu dem hoffnungslosen Fazit,
daß sein Los eines der undankbarsten, unangenehmsten ist, die unsere
Zivilisation zu verteilen hat. Höchstens pekuniär scheint sein Beruf den
gewöhnlichen Gewerben gegenüber einige Vorzüge aufzuweisen, aber auf
die Dauer hält er seine Versprechungen nicht und hintergeht den, der mit
vielen Freuden und Hoffnungen begonnen hat, meistens so schnöde, daß
sein Opfer jeder weiteren Hoffnung beraubt wird und sein Leben in noch
verhältnismäßig jungen Jahren schon als ein verfehltes verflucht. --

Ein ganz Schnodderiger wird daher nur die Achsel zucken und sagen, daß
überhaupt kein anständiger, sich selber respektierender junger Mann die
Hotellaufbahn als Lebensweg erwählen wird. -- Aber der erfahrene Kellner
lächelt bitter darüber. Er weiß, wie wenig gewöhnlich die Kinder sagen
und zu sagen haben, wenn sie am Scheidewege stehen, wo alle vier Straßen
in das große Leben, in die weite Welt hinausführen. Hier sind die Eltern
genau so hilflos wie ihre Kinder. Man wählt den großen, breiten Weg am
liebsten. Eltern haben meistens nur vage Begriffe von den Berufen, die sie
für ihre Sprößlinge in engere Wahl ziehen; und wie immer sehen sie nur
die glänzende Seite derselben.

Der Kellner, der von Jugend an in seinem Berufe tätig war und ihn
allmählich mehr hassen statt lieben gelernt hat, muß oft schmerzlich
einsehen, wie schwer es ihm gemacht wird, denselben gegen eine andere,
seiner Natur und seinen Kenntnissen passendere Beschäftigung umzutauschen.
Immer und immer wieder wird er abgewiesen werden, obgleich er noch
jung sein mag. Und wer in den zwanziger Jahren steht und ein Geschäft
gründlich kennt, will auch in einem fremden nicht gerne mehr Lehrling
sein. So verbleibt die größte Anzahl der Kellner in ihrem Berufe, oder
man kehrt nach einigen fruchtlosen Versuchen auf anderen Feldern dorthin
zurück, obgleich derselbe durch seine vielen Nachteile und Mängel
verleidet worden ist und auf die Dauer sogar unerträglich werden muß.

Das Hauptproblem unseres jungen Mannes besteht also in der einen Frage,
wie ein intelligenter, vielgereister junger Weltmensch sich aus den
verschiedenen Dilemmen und Hindernissen seines Berufes herauszieht und
das Beste aus dem Leben machen kann. Diese schwierige Aufgabe lösen nur
einzelne, allerdings dann oft in ganz bewunderungswürdiger Weise. Und aus
ihnen entstehen die vielen erfolgreichen Hoteliers, welche durch andauernde
strenge Selbstzucht sich vom Kellnerstande emporgerafft haben und -- um den
gebräuchlichen Ausdruck anzuwenden -- »zu etwas gekommen« sind.

Wie zu jedem Leben, so gehört eine gewisse, nicht zu unterschätzende
Philosophie zum Leben des Kellners, die natürlich nicht jedem gegeben
ist, die sich aber mit einigem Willen, Fleiß und Studium mehr oder weniger
aneignen und bemeistern läßt. Wenn Sie mir aufmerksam zugehört haben,
so werden Sie auch gesehen haben, wie ich mich bemühte, die notwendige
Philosophie an den einzelnen kritischen Punkten zur Geltung kommen zu
lassen. Ein feiner Zug von Selbstironie ist auch oft in dem Leben dieser
Leute zu finden und bildet einen beträchtlichen Lehrsatz in ihrer
Lebensweisheit, deren Basis natürlich auf den großen Grundregeln des
Umgangs mit Menschen beruht. Ohne vielleicht jemals mit den Weisheiten
der großen Klassiker des Altertums bekannt geworden zu sein, lebt der
wirkliche gute Kellner doch ganz nach diesen herrlichen Vorbildern.
In seinem Leben bestätigt sich auf die wundervollste Weise die reine,
einfache Wahrheit der alten Lehren, was um so erstaunlicher ist, je mehr
die in einer ganz einfachen, von Dampfkraft und Elektrizität ungestörten
Zeit entstandene Wahrheit in unserer komplizierten Zivilisation Anwendung
findet und sich mit ihrer süßen, mahnenden, sanft drängenden Gewalt
immer und immer wieder Recht verschafft.

Ja, meine Freunde, welche Leidensgeschichte habe ich Ihnen da erzählt!
Nichts Großes, nichts Blutiges, nichts Erhaben-Schreckliches, aber
immerhin Leiden. Und nur Leiden! -- Glauben Sie jedoch, das Leben sei so
grausam, daß es einen Menschen nur peinigt und ihm nichts, gar nichts als
Entgelt für seine Leiden bietet? Niemals! -- Es ist gerecht, es tröstet
die Schmerzensreichen. Es gewährt ihnen hohe Freuden, die den unwissenden
Glücklichen nicht bekannt sind. Das Leben stärkt auch seinen Kämpfer. Es
stellt keinen Schwachen an die gefährliche Stelle, ohne ihm die Mittel
in die Hand zu geben, mit denen er sich decken kann. Es hängt ganz vom
Menschen ab, ob er sie weise benutzt oder übersieht.

Wie sich dies überall und auch hier bewahrheitet, will ich Ihnen noch kurz
beweisen. Ein altes Volkslied beginnt mit den Worten: »Wem Gott will
eine rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt ...« Alte
Volkslieder sind oft nicht nur schön, sie sind auch wahr, ja berauschend
wie alter Wein. Und je älter sie werden, um so würziger, wahrer werden
sie. -- Freilich, in unserer alles umwälzenden und umwertenden Zeit, wo
auch ein gottverlassenes Benzinfatzkentum mit neugierigen Nüstern an
alten Wahrheiten herumschnüffelt und sie als wunderliche Kuriositäten
bemäckert, da verblaßt vieles -- da werden oft die zarten Geister
einstiger Freude verscheucht, und sie schleichen sich mit herzbrechendem
Schluchzen von dannen, verkriechen sich wimmernd in das dunkle Innere der
Vergangenheit. Sie prostituieren sich nicht. Sie lassen sich auch nicht
begaffen. Sie hassen aber dennoch die Gegenwart nicht, denn sie sind
unsterblich. Und wer sie aus ihrem Versteck hervorlocken will, der muß mit
gutem Willen und reinem Herzen kommen und darf nicht nach Benzin stinken.
Dann wagen sie sich heraus und umarmen ihren Liebling. Scherzend verbinden
sie ihm die Augen und führen ihn kichernd und wichtig tuend bei der Hand
durch weite, unendliche Irrgänge, wo die Luft mit süßer, jugendlicher
Ungeduld angefüllt ist, bis vor die zarten Schleier, mit denen ihre
Geheimnisse behangen sind. Endlich reißen sie ihm jubelnd die Binde von
den Augen, der Vorhang fällt, -- das erstaunte Menschenkind findet
sich lächelnd in einer fremden, niegeschauten blühenden Märchenflur.
Wuchtige, silberweiße Wolken hängen an dem klaren Azur, farbenreiche
Gebirge mit würdigen Schneehäuptern wälzen sich am Horizont entlang
hinab bis in das ewige, purpurblaue Meer. Und alles schenken die guten,
freigiebigen Geister ihrem Liebling, alles. Sie lachen dabei, krönen ihn
mit Blumen und tanzen Reigen um ihn.

Die Jünglinge, die als Kellner in die Welt hinausziehen, stinken noch
nicht nach Benzin. Sie kommen mit dem reinen, unverdorbenen, durstigen
Herzen der Jugend. Ihnen gilt daher noch der ganze Wert des alten Liedes;
ihnen schenkt Gott daher noch seine ganze Gunst, legt vor ihren großen
Augen seine Wunderwelten dar. Sie sind zwar arm an Gütern, die Jünglinge,
aber ihr Beruf führt sie überall hin. Er gibt ihnen einen freien
Passepartout zu allen Wundern der Erde, den andere teuer erkaufen müssen,
ja, der den meisten unerschwinglich teuer ist. Was andere unbemittelte
Menschen in einsamen Nächten sehnsüchtig aus mangelhaften,
unvollständigen, von Menschen verfertigten Büchern und Bildern
schlürfen, das legt die Gunst Gottes dem jungen Kellner in Natur, in
Wirklichkeit, in königlicher, erhabener Größe vor seine jugendfrischen
Augen. Was ist ein Abdruck gegen das Originalbild! Was ein Bild erst gegen
den Glanz der Wirklichkeit! -- Wie viele Menschen würden unseren Ganymed
als den Glücklichsten der Sterblichen beneiden, wenn sie wüßten, welche
Genüsse das große Leben ihm, seinem Günstling, lächelnd reicht.

Fragen Sie, meine Freunde, nur unseren jungen Mann hier. Vielleicht kann er
es Ihnen sagen. Heute ist er hier, aber mit den Zugvögeln zieht er schon
wieder im Spätherbst nach dem Süden, nach Italien, der Riviera, nach
Ägypten, nach Algier. Wir finden ihn im Winter vielleicht in Indien oder
auf den Kanarischen Inseln, in Florida oder auf Honolulu, in Athen oder
Konstantinopel oder Monte Carlo. Den Frühling begrüßt er in den
Bergen, den Alpen, Karpathen, in den Pyrenäen oder im Taunus am Rhein,
im schottischen Hochland oder im amerikanischen Felsengebirge. Im heißen
Hochsommer promeniert er vielleicht am Strand in Ostende, Scheveningen,
Boulogne, Biarritz, Atlantic City oder Santa Cruz. -- Überall ist er.
Gefällt ihm heute Berlin nicht mehr, so sitzt er morgen im Expreß
nach Paris. Wenn er will, vertauscht er London mit Rom, New York mit San
Francisco, Buenos Aires mit Sydney, Yokohama mit Calcutta. Überall findet
er Arbeit, überall ist er willkommen, überall zu Hause. Verordnet sein
Arzt ihm Karlsbad, so zögert er nicht lange und packt seinen Koffer. Ist
Aachen oder Nauheim seiner Gesundheit zuträglicher, so besinnt er sich
nicht lange, sondern studiert den Fahrplan für diese Richtung. Zur Kur
wählt er Wiesbaden oder Saratoga, Baden-Baden oder Aix-les-Bains, Virginia
Hot Springs oder Marienbad -- je nach Bedarf. Entfernungen spielen keine
Rolle, Finanzen sind Nebensache, Nationalitäten gibt's keine -- er ist der
Weltbürger ~par excellence~.

Mit einem wehmütigen Stolze blickt dieser Wanderer auf sein unstetes Leben
zurück. Alle Himmelsrichtungen kennt er. Fällt ihm ein Buch in die Hand,
das Beschreibungen von fernen Ländern oder Orten bringt, so greift er es
auf und freut sich herzlich, wie wenn er einen lieben alten Bekannten sehe.

Wenn doch auch nur die anderen Menschen die gleiche Gelegenheit zum Wandern
hätten, oder wenn sie nicht zu faul wären und nicht in ihren muffigen
Nestern hocken blieben, so würde viel Engherzigkeit verschwinden, die
Nationen würden dichter und inniger aneinander kommen und sich besser
kennen lernen. Denn sie wissen trotz aller unendlicher Schreiberei, trotz
aller Eisenbahnen und Dampfschiffe, trotz aller Kabel und drahtlosen
Telegraphie, trotz aller Luftschiffe noch herzlich wenig oder so viel wie
gar nichts voneinander. Wenigstens keine Wahrheiten. Und das Resultat
ist, daß sie sich gegenseitig beständig scheel belauern, anknurren und
womöglich sich die Köpfe blutig schlagen, wo sie sich nur begegnen. --

In seinen Reisen liegt die eine einzige, aber große Freude, die das Leben
dem Kellner bietet. Hier liegt auch das Geheimnis seiner Friedfertigkeit,
seiner Geschmeidigkeit und Duldsamkeit verborgen, welche sein Beruf
erfordert. Und wie nur wenige andere Erdbewohner hat er Gelegenheit, in die
Tiefen der Menschheit zu schauen. Er kann die edelste Beschäftigung, das
interessanteste Studium betreiben: Menschen studieren. Er sieht sie. Alle
Nationen, alle Rassen, alle Klassen kommen zu ihm. Könige, Fürsten, Edle,
Geistes- und Geldgrößen und deren Frauen kommen als Gäste; die mittleren
und armen Schichten arbeiten mit ihm als Kollegen und Helfer. Er sieht
sie alle. Er sieht sie besser, als andere sie sehen können. Mitten in das
glänzendste, summende Gewimmel, das unaufhörliche Getriebe und Gewühl
der verschiedensten Charaktere, in das unendliche, willkürliche,
unverantwortliche, rücksichtslose Treiben einer verwirrten Zivilisation
wird er gedrängt. Und er sieht noch mehr, viel Wertvolleres: er sieht die
verwundbarsten Stellen der Menschen -- ihre Schwächen.

Manch ernstes Bild, manche unerwartete Überraschung, manchen grauenvollen
Schrecken stellt das Leben vor seine Augen, indem es ihm offen sein
tiefstes Geheimnis, den Menschen zeigt. Tagtäglich predigt es dem Kellner
seine erhabenen, stumm mahnenden Predigten auf die mannigfaltigste Weise.
Es führt ihn ernst lächelnd hinter den leeren Glanz des Reichtums, mit
unerbittlicher Miene an die abscheulichen Tiefen der Armut heran. So kann
das rätselhafte Gesicht des Lebens nur flüstern, stumm, aber es gibt
keine eindringlichere Sprache. So spricht es zum Kellner. So legt es ihm
einen immensen Reichtum an Gesehenem und Geschehenem zum Gebrauch fürs
eigene Dasein vor die Füße. Und unerbittlich verlangt es Verwaltung und
weise Verwertung dieser Schätze.

Doch wer verwertet sie wirklich? -- Wer läuft nicht unachtsam, gedankenlos
daran vorüber? -- Ach, sie schauen nur, aber sie sehen nicht! Sie denken
nur, aber sie wägen nicht! -- Man kann zwar nicht erwarten, daß jeder
Mensch ein großer Philosoph sei, aber man darf von jedem erwarten, daß
er Schlüsse aus _dem_ Leben ziehe, das ihn umgibt. Doch es braucht Gewalt,
dies zu tun; und die Gewalt kann nur durch Übung erlangt werden.

Das Leben aber verzeiht weder dem Unwissenden noch dem Schwachen. Es
versagt ihm seinen höchsten Genuß, sein schönstes Glück; und die Stimme
des Gewissens, das Bedauern, die Reue über ein verschuldetes, verfehltes
Dasein wird ihn bis zum Tode verfolgen.

Erst aus dem Kern der hehren Gewalt, aus der großen Selbstzucht entspringt
das süße, überwältigende Bewußtsein der Kraft, und die einzige,
die wahre dionysische Freude am Erdendasein loht daraus auf, sich zum
Gottesdienste erhabensten Stils entfaltend.

         *         *         *         *         *

Ei, gnädige Frau, auf diese Frage habe ich lange gewartet! -- Woher ich
mit dem Schicksal der Kellner so vertraut bin? -- Hm -- ich habe so viel
-- ja, natürlich als Gast in den großen internationalen Hotelpalästen
-- aber ich habe noch mehr getan: nämlich selber einmal als Kellner
gearbeitet. Und nicht nur gearbeitet, sondern noch mehr: ich habe mich
für das Leben dieser Menschen _interessiert_! Es gibt Tausende, die hier
arbeiten, ohne aber zu wissen, was sie tun, ohne Anteil an dem eigenen
oder an fremdem Leben zu nehmen. -- Aber Sie sind ja ganz sprachlos,
meine Gnädige! -- Hat mein Bekenntnis Sie so entsetzt? -- Wie? -- Ob das
Schreckliche wahr ist? -- Ei, selbstverständlich! -- Woher sollten wohl
sonst alle meine fabelhaften Kenntnisse über dieses Leben stammen!?
-- -- Nur Studien halber? -- Hm, meistenteils ja! -- Ich will aufrichtig
sein ... Wie ungläubig Sie lachen, meine Freunde! -- Warum? -- Weil ich
solch eine verzweifelt ehrliche Natur bin? -- Oh, das sind alle normale
Menschen. Und ich halte mich für einen solchen. Aber es gibt doch
sehr wenig normale Menschen auf der Welt. Und meine Ehrlichkeit besteht
hauptsächlich darin, daß ich nichts Überflüssiges sage. Es sei denn,
ich werde danach gefragt, wie in diesem Falle.

Da so vieles, das ich Ihnen erzählte, auf eigener Erfahrung und Anschauung
beruht, so kann ich Ihnen auch ohne Bedenken verraten, wie ich Kellner
wurde und gleichzeitig ein Anekdötchen zur Illustration beigeben, wie man
in meiner früheren Gesellschaft darüber -- also folglich auch über den
Wirt und seine Angestellten -- denkt. Es ist eine ganz harmlose Geschichte,
sie mag langweilig sein, aber sie ist wahr.

Nichts ist amüsanter als Maskerade. Sie wird aber auch zu hinterlistigen
Zwecken benutzt. Der Wilde versucht in allerhand Verkleidung als Strauß,
als Hirsch usw. seinem Jagdopfer beizukommen. Auch für den wirklichen,
zivilisierten Jäger, den Sportsmann, für den Naturforscher gibt es kein
größeres Vergnügen, als unter irgendeinem Schutze die Tiere des Feldes
und des Waldes zu belauschen, wenn diese sich unbeobachtet glauben und
den Menschen nicht wittern. Aber das ist gar nichts! Ich habe die perfide
Angewohnheit, den _Menschen_ auf alle möglichen Arten beizukommen und
ihnen in die Karten zu gucken. Ich muß gestehen, kein Mittel ist mir zu
schlecht, keine Maskerade zu verächtlich, um meinen Zweck zu erreichen.
Ich kann wirklich nicht umhin und muß bekennen, daß mir das Beobachten
der Menschen trotz aller ihrer Schlechtigkeit hundertmal mehr Genuß
bereitet hat, wie meine schönsten Jagderfahrungen in den Bergen, auf
den weiten Prärien oder in den Urwäldern. Und die Menschen, denen ich
begegnet bin, waren so offenherzig gegen mich, daß ich viele Masken
lächelnd beiseite legen konnte und ohne dieselben hinter ihre Schliche
kam. -- Ja, Gnädige, das sieht beinahe wie Vertrauensbruch aus. Aber es
ist nicht so. Danke! -- Ich habe auch nie durch Schlüssellöcher geguckt
oder sonstige Dienstbotenmethoden angewandt. -- Wie gesagt, es war
unnötig. -- Die Offenherzigkeit war nicht die schöne Tugend, das edle
Vertrauen, welches jeder dem anderen entgegenbringen sollte, nein, es war
gerade das Gegenteil davon. Es war eine unverzeihliche Bequemlichkeit, eine
Gemütsfaulheit, eine Dummheit, beleidigend, wie nur sie sein kann; es war
eine verletzende verallgemeinernde Stupidität, die die Menschen an anderen
voraussetzten, weil sie selber damit behaftet waren. Darum soll man nie
jemand mit dem eigenen Maßstabe messen, ebensowenig, wie man eine fremde
Sprache sprechen soll, während man in der Muttersprache denkt.

Mit einer geradezu ekelhaften, widerwärtigen Frechheit und Voraussetzung,
einen ihresgleichen oder weniger vor sich zu haben, sind die Menschen
mir begegnet und haben mich demgemäß behandelt. Solche rücksichtslose,
beleidigende Behandlung verdiente so grausam bestraft zu werden, wie ich es
tat. -- Worin die Strafe bestand? -- Nun, die größte ist doch, wenn man
alles lächelnd über sich ergehen läßt und mit scharfem Auge unter den
Wimpern hervor den Ahnungslosen beobachtet. Solche Blicke sind wie die
Pfeile des wilden Jägers. Sie durchdringen das tiefste Innere des Opfers
und erkennen es. -- Was ich erkannt habe, besitze ich, gehört mir. Es ist
mir untertan wie der Körper des erlegten Wildes.

Ich bin überall. Ich speise in erstklassigen Hotels, ich frequentiere die
gefährlichsten Spelunken. Künstler- und Dienstmädchenbälle besuche ich
gleich gern. Hintertreppen-, Kammerdiener- und Staatsgeheimnissen schenke
ich das gleiche willige Ohr. Ich produziere mich in den verschiedensten
Berufen und Stellungen mit größtem Geschick und größtem Vergnügen. Als
Automobilist in den Garagen und auf den Landstraßen. Als Cowboy auf weiten
Prärien unter ruppigen Desperados. Als Privatsekretär in den Familien der
Multimillionäre, als Maler in Kunstreichen, in Minen unter Goldsuchern,
als Literat auf journalistischen und literarischen Gefilden, als
Handlungsreisender, Maschinenschmierer, Zeichner, Koch, und in noch
verschiedenen anderen Stellungen habe ich konditioniert.

Die Welt ist klein. Und wer in so vielen Kapazitäten und überall
auftritt, hat das Vergnügen, häufig alte Bekannte anzutreffen. Dann
entstehen meistens köstliche Situationen, namentlich wenn man -- wie ich
-- ehrlich genug ist, immer unter dem eignen Namen aufzutreten. So kam
ich auch einmal auf den kühnen Gedanken, als Kellner Material für einen
monumentalen Roman der höchsten internationalen Hautevolée zu sammeln.
Ich hatte damals einen genußreichen Sommer im amerikanischen Felsengebirge
verbracht, mein Freund ging nach Europa zurück, ich aber blieb in New
York, um meinen Plan auszuführen. Durch Empfehlung gelang es mir, bald
eine Stellung als Kellner in einem großen Hotel zu erlangen, und ich
stürzte mich mit Wonne in das Getriebe. Ja, ich avancierte sehr bald.

In dieser Stellung sahen mich eines Tages ein paar Herrschaften schalten
und walten, mit denen ich auf einer Mittelmeerreise, von Ägypten
kommend, flüchtig bekannt geworden war und die ich zufällig während
des vergangenen Sommers in Colorado wiedergetroffen hatte, wo sie die
Ehre gehabt hatten, einige angenehme Tage mit mir zu verbringen. -- Nein,
gnädige Frau, ich habe mich nicht im geringsten geniert, denn im Eifer
meiner Tätigkeit bemerkte ich die Herrschaften nicht gleich. -- Mit
Staunen und Schrecken aber erkundigte sich die liebenswürdige, junge Dame
bei ihrem Kellner nach meinem Namen. Allmächtiger! -- Ihr entsetzlicher
Verdacht bestätigte sich! -- Ich war wahrhaftig der geniale, reizende
Mensch, den sie unter dem Azur des Mittelmeers kennen gelernt und in
Colorado wiedergetroffen hatten! -- Ganz verwirrt und erstaunt konnten sie
eine ganze Weile lang nichts sagen. Dann zogen sie den Kellner wieder zu
Rate und vertrauten dem Milden, Vielgeplagten ihre Kalamität an. »Aber
wie ist denn das möglich, Kellner,« flüsterte die Mutter, »in Luxor hat
er doch archäologische Studien betrieben, sagte er!« -- »Diesen Sommer
erst noch haben wir mit ihm in seinem Automobil gefahren und bei ihm zu
Abend gespeist!« seufzte der Sohn. »Und mit ihm Golf gespielt!« jammerte
das reizende Töchterchen. »Weißt du noch, Mama, hinter dem Hotel auf
dem prachtvollen Rasen!« -- Mama wußte noch. -- »Traf er nicht auch alle
Vorbereitungen zu einer Jagd auf Grizzlybären in den kanadischen Bergen?«
erinnerte sich der Sohn. Und das Töchterchen antwortete: »Was ist denn
aus seinem reizenden Freund geworden? Ist der _auch_ Kellner?« -- Die arme
Mutter war am schwersten getroffen: »Ach, konnten wir denn ahnen, daß
er so was ist! -- -- Wir haben ihn doch als anständigen Menschen kennen
gelernt! -- Und hier ...!? -- Uh!«

Das war zu viel für den braven Kellner, und er antwortete ruhig: »Madame,
ich habe noch nicht gesehen, daß er sich hier unanständig benommen hat!«
Und er wandte sich ab, um mich heimlich aufmerksam zu machen und mir die
ganze Geschichte hastig zu erzählen. -- Meine Freunde aber fühlten sich
plötzlich so unbehaglich, daß sie den Saal verlassen mußten. Sie gingen,
ohne mit mir zu sprechen. -- Nein, ich sprach auch nicht mit ihnen. Zum
Dank für die schönen Erinnerungen an kühle Autofahrten, an herrliche
Kunstgenüsse und an schöne, unschuldige Spiele auf grünem Rasen
versuchten sie, mich aus der Sklaverei des flatternden Kellnerfrackes zu
befreien, indem sie meine Entlassung bewirken wollten. Was ihnen aber nicht
gelang, da ich ein zu guter Kellner bin, um ohne Grund an die Luft gesetzt
zu werden ...

Wie? -- Sie wollen sich schon so früh zurückziehen, gnädige Frau!? --
Wir gedachten doch noch ein wenig der Musik zu lauschen. -- Hm -- Fatige --
Ich springe schnell zum Apotheker im Hause -- -- -- die Kapseln -- zwei
Stück auf ein Glas Wasser -- ... hm ... nicht ...« -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Wer ist denn das!? -- Kellner, sehen Sie dort unter der Palme im Fauteuil
den jungen, eleganten Herrn? -- Ja, den schwarzgekleideten, mit dem Buche;
er dreht uns den Rücken zu -- ich glaube -- -- Was? Ein Geistlicher!
Unmöglich! -- Wahrhaftig! -- Aber er ist's! -- Er ist's! -- Sagen Sie ihm,
bitte, ich wünsche ihn einen Moment zu stören. -- Er wird sich freuen,
wenn Sie ihm meinen Namen nennen. -- --

Mein geliebter amerikanischer Freund George Washington Abraham Lincoln
Shoultse! Welch eine Überraschung! Das wird aber lustig werden! --
Besonders nach diesem Schluß. ... Aber wie kommt er hierher? -- Was tut
er im Rock eines Priesters? --

Well, well, altes Haus! Das ist doch einfach großartig! Freue mich
ganz barbarisch, dich wiederzusehen. -- Ich staune -- hätte dich kaum
wiedererkannt -- -- so verändert. ... Wie lange ist's her, seit wir uns
als Studenten zum letztenmal umarmten?! -- Vierzehn, fünfzehn Jahre. --
Ja, wie die Zeit vergeht! -- Und, ach, die herrlichen Heidelberger Tage!
Wo sind sie hin? -- An dich habe ich aber immer gedacht! Das kannst du mir
glauben! -- Denn du warst doch der fidelste Kerl, der mir jemals ... hm
-- -- Na, aber wie geht's denn? -- Was treibst du jetzt? -- Ich dachte
immer, du wolltest dich ganz auf die Philologie verlegen. -- Was? -- der
Teufel! -- hm -- Pardon! -- Bischof bist du -- hm Pardon! -- Sind Sie
-- --? Seit wann denn? -- Ich bin starr! -- Pardon! Donnerwetter, da
gratulier' ich! -- -- -- So, so! In Kalamazoo City im Staate
Oklahoma! Wirklich! Da gratulier' ich nochmals! -- -- -- Wer
hätte das gedacht! Bischof der konsolidierten, reformierten
episkopal-lutherisch-methodistisch-unitarisch-baptistischen Kirche! -- Ja,
aber zum ... Pardon, sag mal -- -- verzeihen Sie -- -- ist denn da --
hm -- so viel -- hm -- Geld -- äh, ich meine, Genugtuung und Inspiration
drin, daß du alle deine großen Pläne ... hm -- na, jedenfalls gratulier'
ich! -- Ja, drüben in Amerika avanciert man schnell! Junge, tüchtige
Leute werden dort gesucht. -- Aber da müssen wir doch eins drauf trinken.
-- Wie? -- Ein solch unerwartetes Wiedersehen, das muß begossen werden --
was? -- Na, wenn Sie jetzt auch Bischof und Right Reverend und alles das
sind, so können Sie doch ein Gläschen Wein mit mir ... wie? ... nicht ein
wenig die alten Erinnerungen auffrischen!? -- Waaas? -- keinen Wein ...?
-- -- Hör 'mal, du bist wohl verrückt geworden ... oh, oh, Pardon!
-- Ich kann es gar nicht fassen -- ich staune -- Sie trinken keinen Wein
mehr!? -- -- Sie waren doch früher -- hm -- -- -- Oh, oh! -- Wie
sich die Zeiten ändern! -- Sie haben sich aber großartig gemacht, Mr.
Shoultse! Sie sehen vorzüglich aus! -- Wie meinen Sie? Ob ich noch immer
trinke? Ja, leider, ich hab's mir noch nicht abgewöhnen können. Es ist
schrecklich! -- Oh, oh -- --!

Ob ich weiß, was die amerikanische Prohibition ist? -- O ja, ich hab mal
was davon gehört. Wissen Sie's auch, Herr Bischof? -- Was? Sie sind einer
der Hauptkämpfer für die Prohibition geworden?! Das ist ja interessant!
Und sagen Sie mal, wie bezahlt sich die Sache denn? -- So, Sie verfolgen
nur den idealen Zweck der guten Sache? Das ist löblich. -- Aber ist
denn das wahr, was ich in den Zeitungen gelesen habe, daß bereits an die
vierzig Millionen Menschen in den freien Vereinigten Staaten von Amerika
keine geistigen Getränke mehr zu sich nehmen dürfen? So, so, das ist also
Tatsache! Unglaublich, wie Sie gekämpft haben müssen, Mr. Shoultse.
Na, dafür können Sie sich jetzt auch ein wenig ausruhen! Das ist recht!
Vierzig Millionen Menschen müssen Durst leiden! Das ist ja einfach
fabelhaft! Ja, in Amerika wird alles im großen Stil betrieben. -- Aber was
fangen denn die armen Durstigen an? Wird denn jeder eingesperrt, wenn er
ein Glas Bier oder Wein trinkt? Vergeht er sich gegen das Gesetz, wenn er
dies tut? -- Nicht? -- Aber wie hängt denn das zusammen? -- Das _Trinken_
ist gestattet und wird nicht bestraft! Man verbietet nur den Verkauf,
den Transport und das Fabrizieren von geistigen Getränken! Das sind ja
geradezu diabolische Gesetze! -- -- Tantalusqualen! Man darf trinken, aber
das edle Naß wird einem vorenthalten! Einfach ungeheuerlich! --

So, Sie glauben also, mein lieber Mr. Shoultse, daß Amerika die erste
Nation ist, die versucht hat, den Alkohol auszurotten und sich so
unsterbliche Verdienste um die ganze Menschheit zu erwerben!? -- Da sind
Sie im Irrtum. Bei den ältesten Völkern der Erde hat man schon Temperanz-
und Abstinenzbewegungen entdeckt. Die Chinesen brüsten sich heute noch
damit, den Krieg gegen den »Dämon« des Weins eröffnet zu haben. Und
ich glaube ganz bestimmt daran. China sieht gerade danach aus. Im elften
Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung soll ein Kaiser in China alle
Weinstöcke in seinem Reiche haben ausreißen lassen. Die Priester in
Persien und Indien haben schon lange vor Christi Geburt den Genuß des
Weines verboten. Die Karthager hatten auch ein Weinverbot. -- Ich selber
habe die Spuren einer Temperanzbewegung in Pompeji entdeckt und werde
vielleicht ein Traktätchen darüber schreiben. -- Wie? -- Verschiedene
Sekten der Juden durften nichts trinken, ohne ihr Seelenheil zu gefährden.
Noch heute erwarten die Mohammedaner und Buddhisten im Jenseits
kolossale Schwierigkeiten, wenn sie zeitlebens einen edlen Tropfen nicht
verabscheuen.

Die Prohibitionsepidemie in Amerika ist nichts als eine Wiederholung der
orientalischen Sitte. Wirkliche Epidemien tauchen immer periodenweise auf.
Das ist eine alte Geschichte. Es ist aber geradezu phänomenal, wie die
Bewegung in den letzten fünf bis sechs Jahren um sich gegriffen hat. Vor
dem amerikanischen Bürgerkriege 1861-64 dachten nur wenige Menschen daran,
daß jedes geistige Getränk ohne Gnade und Barmherzigkeit vom Erdboden
vertilgt werden müsse. Aber es entstanden allmählich die großen
amerikanischen Brauereien und zugleich eine der häßlichsten Ausgeburten
der anglo-amerikanischen Zivilisation, die »American Bar« oder
»Saloon«, wie das Ausschanklokal für geistige Getränke gewöhnlich
genannt wird. -- Die »Bar« ist ein typisches Produkt des amerikanischen
Alltaglebens. Mit der zunehmenden Rastlosigkeit in europäischen Ländern
wird sie sich dort auch sehr bald einbürgern. Die Großstädte Europas
erfreuen sich der »American Bar« bereits. Indessen wird in Europa die
Bar wie auch alles andere Amerikanische falsch aufgefaßt und falsch
dargestellt. Entweder aus Absicht oder aus Ignoranz. Meistens ist das
letztere der Fall. Die europäische »American« Bar ist gewöhnlich nur
eine Animierkneipe, was die amerikanische Bar gewöhnlich nicht ist. Das
muß man dem Amerikaner lassen: in seiner Bar findet man keine Mädchen zur
Bedienung, was in England und am Kontinent fast ausnahmslos der Fall ist.
-- Dennoch ist die amerikanische Bar ein entsetzlich abschreckender Ort.
Nüchtern, inhaltslos, kalt. Ich glaube, einer schmutzigen, altrömischen
~Taberna vinaria~ haftete mehr Begeisterung und Liebenswürdigkeit an, wie
dem feinsten amerikanischen »Saloon« mit allen seinen Spiegeln, Bildern,
Lichtern und seiner Reinlichkeit. Die geschäftsmäßige Verabreichung des
Trunkes, die Vorherrschaft scharfer geistiger Getränke, das unbedachtsame,
hastige Hinuntergießen des starken Stoffes, die ganze Inhaltlosigkeit des
Ortes, der nur daraufhin eingerichtet ist, möglichst große Quantitäten
in möglichst kurzer Zeit umzusetzen, die Menge herumstehender, den
Schanktisch belagernder Menschen, welche keine Zeit haben, ihren Trunk
in Ruhe zu genießen und sich dazu niederzulassen, das alles macht die
amerikanische Bar zu einem sehr wenig einladenden Ort. Der biedere Deutsche
würde seine ganze Abneigung dagegen in dem einen urdeutschen Worte
»ungemütlich« zusammenfassen. Ich stimme vollständig mit Ihnen, Herr
Bischof, überein, wenn Sie den »Saloon« nicht sehen können. Auch finde
ich es gerechtfertigt, daß die Bundesregierung infolge des zunehmenden
Umsatzes von geistigen Getränken den Verkauf von Alkohol in irgendwelcher
Form an die Indianer verbot. Es ist viel in dieser Hinsicht gesündigt
worden.

Warum aber dies drakonische Gesetz auf die vernünftige weiße Bevölkerung
der Vereinigten Staaten erstreckt werden soll oder schon wurde, ist mir
nicht verständlich. In den Neu-Englandstaaten, wo das puritanische Element
besonders stark ist, wurde schon früh in einzelnen Gemeinden unter dem
Druck der strengen Kirche der Ausschank von berauschenden Getränken
magistratlich verboten. Aber dann kam der Staat Maine als erster, der für
absolutes Verbot von Spirituosen innerhalb seiner Grenzen stimmte. Der
starke Rum, der von Westindien nach Maine exportiert wurde und dort viel
Unheil anrichtete, hat im Jahre 1846 Anlaß zu einem bittern Wahlkampf
gegeben, der mit dem scheinbaren Sieg der Alkoholgegner endigte. Im
Jahre 1851 trat darauf das Gesetz in Kraft, welches das Spirituosenverbot
innerhalb des Staates Maine proklamierte. Das war der Anfang der
Prohibition. Dem Beispiele folgten ein Jahr später die Nachbaarstaaten
Massachusetts, Rhode Island und Vermont. Die beiden ersteren Staaten sahen
jedoch sehr bald ein, wie wenig ratsam es für die Regierung sei, sich
mit derartigen Gesetzen abzugeben, und sie überließen das Verbot des
Ausschanks den örtlichen Behörden oder den Verwaltungen der Kreise, falls
diese es wünschen sollten, den Alkohol aus ihrer Mitte zu verbannen. So
entstanden die »~Local option~«- und »~County option~«-Gesetze. Jeder
Gemeinde oder jedem »~County~« war es somit anheimgestellt, den Verbrauch
von geistigen Getränken nach eigenem Gutdünken und Bedürfnis zu dulden,
zu regeln oder zu unterdrücken. Die feigen Landesväter dachten sich
dadurch aus der Verlegenheit zu helfen, gerieten aber nun in die Lage
eines zärtlichen Familienvaters, der eine Prügelei zwischen seinen
Sprößlingen nicht dämpfen kann, weil er nicht weiß, wer im Rechte ist,
und aus Angst, er könnte den Unschuldigen züchtigen, die Buben den
Streit unter sich entscheiden läßt und ein Auge dazu zudrückt. -- Nicht
wahr? --

So nahm die Geschichte ihren Anfang. Bald erging vom Lager der
Temperänzler aus ein Ruf an die ganze amerikanische Nation zwecks
Gründung und Organisation einer politischen Partei, deren Hauptbestreben
die Unterdrückung der Fabrikation und des Verkaufs von geistigen
Getränken in den gesamten Vereinigten Staaten bilden sollte. Man hatte
nämlich eingesehen, daß die großen führenden politischen Parteien
sich niemals für die Alkoholfrage interessieren würden. So wurden am
1. September 1869 in Chicago die Anti-Alkohol-Partei unter dem Namen
»~National Prohibition Party~« von den Gesinnungsgenossen auf eigene
Faust gegründet. Wenn aber in einem zivilisierten und politisch
organisierten Lande eine neue Partei ihren neuen Ansichten und Zielen
Raum und Anerkennung verschaffen will, so muß sie Stimmen haben. Die
Prohibitionisten wußten aber auch, ganz genau, daß sie bei vernünftig
denkenden Männern mit ihren Ideen nicht durchdringen würden. -- Bitte,
Herr Bischof, lassen Sie mich weitererzählen. -- Darum verschanzten sie
sich hinter die Röcke der Weiber. In der ersten Nationalversammlung
der neuen Partei am 22. Februar 1872 zu Columbus, Ohio, wurde von den
Prohibitionisten der Entschluß gefaßt, für Frauenwahlrecht in den
Vereinigten Staaten aufzutreten, da man dringend der weiblichen Stimmen in
der Alkoholfrage bedurfte. Das ganze weibliche Element sollte hysterisch
gemacht werden. Man begann die schrecklichen Verheerungen, die der »Teufel
Alkohol« in den Familien anrichten soll, in den glühendsten Farben zu
schildern.

In den darauffolgenden Jahren waren die Stimmresultate der neuen Partei
alle noch sehr bescheiden. Sie wuchs nur mäßig. Den Prohibitionisten
schien aber kein Gedanke zu schlecht zu sein, um sich neue Anhänger
für ihre Partei zu verschaffen. Sie kitzelten die brennenden Fragen im
amerikanischen Leben, wie die der Einwanderung, und suchten durch eine
schäbige Politik der Beschränkung und Erschwerung der europäischen
Einwanderung die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und
dadurch mehr Anhänger anzuwerben. Gleichfalls wurde die Forderung für das
Frauenwahlrecht aufrecht erhalten.

Mit wechselndem Glück wuchs die neue Partei. In den letzten fünf Jahren
jedoch hat sich eine wahre Panik des Prohibitionistenlagers bemächtigt.
Seit dieser Zeit hat sich eine nervöse Tätigkeit entfaltet, so
fieberhaft, daß man glauben sollte, der jüngste Tag sei nahe, um die
Menschen für ihren Hang zum Alkohol zur Rechenschaft zu ziehen. Die
verschiedenen großen Temperanzgesellschaften, fünf oder sechs an
der Zahl, sowie eine unübersehbare Menge verschiedenster Sekten und
Kirchengemeinden wurden plötzlich von Reue und Zerknirschung ergriffen und
vereinigten sich zum Feldzug gegen ihre Sünden und die ihrer Mitmenschen.
Dieses plötzliche, ruckartige Erwachen des nationalen Gewissens ist
anscheinend ein ganz unerklärliches Phänomen. Aber alles hat seinen
Grund. --

Die Gegner der Spirituosen hatten es nämlich vor zehn bis fünfzehn Jahren
zustande gebracht, sich der Schulbücher zu bemächtigen. Im Laufe der
Jahre wurden nun systematisch den Schulkindern Lügen und Verdrehungen der
Wahrheit eingeimpft, indem man die Schulbücher mit prohibitionistischer
Propaganda, mit Flüchen gegen den Alkohol anfüllte. Die Schulkinder
sind nun inzwischen zum Teil oder ganz erwachsen und haben den Keim der
engherzigen Lehren in sich aufgenommen, von deren Wirkungen sie sich
nicht mehr befreien können. Sie sind in der Jugend geistig entmannt oder
verstümmelt worden. Und bei jeder neuen Wahl tritt nun am Ballotagekasten
die geistige Impotenz drastisch zutage. -- Bitte, bitte. -- Der Same, der
gesät wurde, trägt nun reiche Früchte.

Unendliche Massen von Papier wurden verschwendet, die der lesewütigen
Frauenwelt alle Schrecken des Alkohols gratis und franko vor Augen
führten. Schade um die Tannenwälder, welche zur Herstellung dieser
Gebirge von Makulatur ihr unschuldiges Leben lassen mußten. Immer und
immer wieder wurden dieselben bombastischen Reden, die alten abgedroschenen
Phrasen und Kanzelweisheiten in echt melodramatischer Weise wiederholt
und von hinten aus unsichtbaren Quellen gespeist und verstärkt. Jeder
erdenkliche Tamtam, alle Heilsarmeemethoden, für die das Gemüt des
Durchschnittsamerikaners so wunderbar empfänglich ist, wurden angewandt,
die Gewohnheitssäufer zu Reue und Leid zu veranlassen und die simplen
Herzen der Jugend von der Verwerflichkeit des Trinkens zu überzeugen.
-- Wie, ich sei ungerecht! -- Ich kann der Prohibitionspartei leider kein
einziges vernünftiges Argument nachrühmen, so gern ich es täte.
Die ganze Kampagne besteht aus einer endlosen, hysterischen Rezitation
absurdester Geschmacklosigkeiten, von einer hartnäckigen, teuflisch
ausgerechneten Appelation an die Stupidität der biederen Landbevölkerung,
die das größte Kontingent der amerikanischen Nation stellt. Kein Mittel
schien der Partei zu stupide, zu lächerlich, zu lügnerisch zu sein, um
die Stimme des ungebildeten Farmers zu erbetteln, zu erschmeicheln oder
zu erdrohen, der nota bene noch durch die Abgabe seiner Stimme an die
Prohibition seine Existenz untergräbt.

Der beliebte Gedanke und Ausgangspunkt der Prohibition nämlich, daß der
Alkohol so viele traute Heime ruiniere, ist unvernünftig und grundfalsch.
Aber dieser Gedanke wird gehegt und gepflegt und gemästet. Bis zur
Überdrüssigkeit wird er dem Volke immer wieder aufgetischt. --
Gewöhnlich ist es nicht der Mann, der als Trinker sein Heim zerstört,
sondern es ist das Heim, welches den Mann zerstört und in die Wirtschaft
jagt. -- Die Anschuldigung, daß der Alkohol Armut schaffe, ist falsch.
Es ist nachgewiesen, daß das jährliche Einkommen des amerikanischen
Arbeiters durchschnittlich 768 Dollars und 54 Cents beträgt. Davon gibt
er jährlich durchschnittlich 12 Dollars und 44 Cents für Spirituosen aus.
Für Tabak bezahlt er fast genau so viel. Wenn die Nation verarmt, so ist
es also nicht die Schuld des Alkohols. Da muß die Ursache in einem anderen
Übel gesucht werden. Wenn die Heime der Menschen ruiniert werden, so
geschieht dies einzig und allein durch die Menschen selber. Wenn ein Mensch
herunter kommt, so ist es sein Naturell. Welchen Anteil hat der Alkohol an
einem Menschen, der durch übermäßiges Trinken zugrunde geht!? Alkohol
schafft nicht Wahnsinn -- Wahnsinn sucht Alkohol.

Nach den Grundsätzen der Prohibition müßte man das Weib für nahezu alle
Übel und Unglücke aller Zeiten und auf der ganzen Welt verantwortlich
machen. Wir müßten das weibliche Geschlecht prinzipiell aus der Welt
schaffen. Und die Frauen müßten das männliche Geschlecht auszurotten
suchen.

Die Menschen müssen immer eine Art Sündenbock für ihre Leidenschaften
und Sünden haben. Und wenn es auch nur eine dumme Ausrede ist. Sie richten
andere auch meistens nur nach ihren _eigenen_ Beschaffenheiten. Wenn ein
Schwachkopf zum Beispiel unter dem Banne der Trunksucht oder irgendeines
anderen Lasters steht, so setzt er von der ganzen übrigen Menschheit
das gleiche voraus. Wenigstens glaubt er, die anderen _müßten_ unter
demselben Drucke stehen, die Leidenschaften _müßten_ die gleiche Wirkung
auf sie haben, die sie auf ihn ausüben. Es ist aber nur seine Unvernunft,
die ihm solches einredet. Ein Säufer klagt nicht sich, sondern den Trunk
an, ein Dieb nicht sich, sondern das verführerische Geld, das er nicht
liegen lassen kann, ein Liebeskranker nicht sich, sondern die Leidenschaft,
der er nicht widerstehen kann. Das alles ist Unvernunft. -- Wenn ein
Säufer sich gesteht: »Ja, ich bin schuldig, ich habe zu viel getrunken,
ich will mich aber der Mäßigung befleißigen, weil ich nicht viel
vertragen kann, und will denen, über die der Trunk keine Macht hat, den
Genuß desselben nicht wegnehmen,« so erinnert diese Sprache an das, was
wir in der menschlichen Gesellschaft gewöhnlich als Vernunft bezeichnen.
Einem solchen Säufer ist vielleicht noch zu helfen. Er hat sich und die
dämonische Gewalt seiner Leidenschaft erkannt. Wer aber weder sich noch
die Gewalt seiner Leidenschaft kennt, der ist unrettbar verloren.

Warum hat die Prohibition fanatische und hysterische Frauenzimmer
hervorgebracht, welche mit Äxten und gefährlichen Wurfgeschossen
bewaffnet, unbehindert umherziehen und das Eigentum der Wirte, an deren
Lokalen sie gerade vorbeikommen, willkürlich auf scheußliche Weise
zerstören können? -- Diese Megären werden von der Prohibition
aufrechterhalten und als Heilige oder Heroinen dargestellt. Solche
Glorifizierung steigt den armen, bedauerlichen Wesen natürlich derartig
zu Kopfe, daß es des unsinnigen Scherbenmachens kein Ende gibt. Ein
religiöser, orientalischer Fanatiker ist ein Amateur im Vergleich mit
einem solchen Weibchen. Die Polizei sieht wunderbar gleichgültig zu, wenn
die Axt, von einem frommen Stoßgebet oder einem heiligen Fluche begleitet,
zwischen den zerbrechlichen Gläser- und Flaschenbestand der Wirte saust
oder von wohlgedeckter Stellung auf der Straße aus in die ahnungslosen
Spiegelscheiben des Lokals prasselt. Das liebe Publikum hat sein Vergnügen
an solchen Freivorstellungen. Die Zeitungen bringen ihre verherrlichenden
Bilder dazu. Überall, wo es Scherben gibt, reibt sich der Nachbar die
Hände, wenn nur sein Eigentum unbeschädigt bleibt. -- Und was sagen die
Wirte zu ihren Feinden? -- Haben sie bisher nicht stets einen wunderbaren
Takt besessen, sich nicht an einer solchen Megäre zu vergreifen? Haben
Sie nicht meistens stillschweigend den oft in die Hunderte gehenden Schaden
getragen? --

Die irdische Rentabilität der Agitation gegen die wohlhabende
Spirituosenindustrie ist unverkennbar. -- -- Bitte, bitte -- ich bin noch
nicht zu Ende ... -- Jede Agitation ist profitabel und erfolgreich, wenn
sie auf die Beschränktheit der Massen gemünzt ist. Hier ist sie doppelt
erfolgreich. Die ganze Prohibitionsbewegung scheint im Grunde nichts
anderes zu sein als eine unter dem Deckmantel der christlichen Liebe
versteckte perpetuelle Schröpfung der wohlhabenden Brauereien und
verwandten Interessenten. Weil eine derartige Operation im kolossalen Stil
betrieben wird, ist sie zulässig. Große Räubereien werden staatlich
und gesellschaftlich sanktioniert, denn man ist ihnen machtlos gegenüber.
Außerdem sind sie rentabler wie die kleinen.

Die Spirituosen-Interessenten haben durch ihre anfängliche Untätigkeit
und Sorglosigkeit bei der Abwehr ihrer Angreifer viel versäumt. Die
leidige Brüderschaft, die viele Saloonwirte während der Wahlen mit den
Tausenden und aber Tausenden von korrupten Politikern schließen,
verleitet durch Aussichten auf gute Geschäfte von Seiten der betreffenden
politischen Parteien und gutes Einvernehmen in bezug auf die Gesetzgebung,
hat der Sache der Spirituosen-Interessenten auch viel bei dem gerecht
denkenden Publikum geschadet. Denn die Saloons sind oft die Wiegen
von korrupten, politischen Strohkönigen, stellen sich dadurch in sehr
schlechtes Licht und haben manchen gegen sich erbittert, der sonst
vielleicht nichts gegen ihr Dasein einzuwenden hätte. Diese Tatsache ist
von den Prohibitionisten gleichfalls mehr als reichlich breitgetreten
und ausgebeutet worden, denn eine solche Unvorsichtigkeit kommt ihnen gut
zustatten.

Wie wackelig aber im Grunde das Gebäude der Prohibition steht, beweist die
fieberhafte, hysterische Note, die aus allen Stimmen der Antialkoholiker
herausschrillt. Die skrupellosen Übertreibungen und Verdrehungen von
Tatsachen, der nervöse, neurasthenische Ton ihrer Sprache erinnert
wirklich an einen Bösewicht, der seine Schliche und Absichten um jeden
Preis durchsetzen will, oder an einen eigensinnigen, hartnäckigen
Dummkopf, der einen im Eifer begangenen Unsinn eingesehen hat, denselben
aber mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu verfechten und
aufrechtzuerhalten sucht. Die Prohibitionisten haben nicht den geringsten
Respekt vor der Gerechtigkeit, der sie geradezu ins Gesicht schlagen. Der
unberechenbare Materialschaden, den sie der Nation zufügen, gilt ihnen
nichts. Die Frage, wie es um die hochgepriesene und nur noch künstlich
erhaltene Freiheit im Lande stehe, sobald ihre Ansichten durchgesetzt
werden, beantworten sie nicht.

Die Sprache der Spirituosen-Interessenten ist meistens eine durchaus ruhige
und vernünftige. Sie steht wenigstens in wohltuendem Kontrast zu den
leidenschaftlichen Ausbrüchen ihrer Gegner. Sie widerlegt ruhig und
sachlich die vielen Übertreibungen, entmäntelt und beweist klar
und deutlich mit Hilfe von statistischen Ziffern die Unwahrheiten der
Anschuldigungen und wehrt die Angriffe sachgemäß ab. Ein solches
Verhalten sollte zum mindesten die rapide Verbreitung der Prohibition doch
etwas aufhalten und die vernünftigeren Bürger zum Nachdenken veranlassen.

Aber sonderbarerweise gewinnt die Prohibition immer mehr Grund. Auf mehr
als zwei Drittel des Gebietes der ganzen Nation ist das Haus, wo es etwas
zu trinken gibt, dem Erdboden gleich gemacht worden; auf dem letzten Rest
des Landes ist es von gierigen Feinden belagert, die auf seinen Sturz
warten. Acht oder neun Staaten der Union sind jetzt schon vollständig
»trocken« gelegt, mit anderen Worten: der Verkauf, die Fabrikation, der
Versand von geistigen Getränken in diesen großen, weiten Gebieten ist
zu einer verbrecherischen Handlung gestempelt worden und wird gerichtlich
verfolgt. Trinken darf man in diesen trockenen Staaten, denn das _Trinken_
ist nicht als verbrecherische und strafwürdige Handlung im Kodex erwähnt
worden. O ihr bösen Prohibitionisten! -- Wenn ein Hausmütterchen sich aus
Heidelbeeren, Johannisbeeren oder Trauben einen Saft bereitet, denselben
auf Flaschen zieht und gären läßt, so macht es sich damit zur
Verbrecherin! Der Prohibitionist, der sich auf irgendeine Weise seinen
Whisky verschafft und ihn heimlich genießt, ist unschuldig wie ein
neugeborenes Lamm!!

Die Musterstaaten, welche ihren Millionen von Einwohnern den Genuß von
geistigen Getränken irgendwelcher Art vollständig entzogen haben, welche
die einschlägigen Industrien und Interessenten als Verbrecher gebrandmarkt
und mit Gewalt ihre Existenz und Lebensunterhalt zerstört und die
Unglücklichen ihres Heimatbodens verwiesen haben, ohne ihnen ein
Äquivalent für den zugefügten Schaden zu bieten, sind in chronologischer
Ordnung: Maine, Kansas, North Dakota, Georgia, Oklahoma, Alabama,
Mississippi, North Carolina, Alaska, und nun reiht sich auch noch der
Staat Tennessee der würdigen Galerie an. Rund fünfzehn Millionen Menschen
wohnen in diesen Staaten. Zu dieser Zahl von Tranklosen treten noch
die Eingeborenen und Passanten der einzelnen Landbezirke, Städte
und Ortschaften der anderen Staaten hinzu, denen durch die »~Local
option~«-Gesetze der stärkende Trunk entzogen worden ist. Die Zahl
dieser unglücklichen vertrockneten Länderstriche betrug Ende 1908
fünfhunderteinunddreißig und die Zahl der bedauernswerten Städte
und Ortschaften im ganzen Lande (außerhalb der Prohibitionsstaaten,
wohlverstanden) war zur gleichen Zeit zehntausendeinhundertzweiundfünfzig.
Darunter befinden sich dreihundert Städte mit je fünftausend Seelen
und neunzig Städte mit je zehntausend Seelen und mehr. Worchester in
Massachusetts, eine Stadt von zirka einhundertfünfzigtausend Einwohnern,
ist total »trocken«. Die ganz genaue Summe der Einwohner der von der
Prohibition gedeckten Bezirke im ganzen Verbände der Nation läßt sich
schwer feststellen. Man beziffert diese Summe auf zirka fünfundzwanzig
Millionen Menschen. Demnach wären zusammen mit den Einwohnern der
Prohibitionsstaaten ungefähr vierzig Millionen Menschen, also fast die
Hälfte der Einwohner der Vereinigten Staaten auf zwei Drittel der Fläche
des Landes unter dem Zwange der Prohibition.

Die Agitation wird wütend weiterbetrieben. In neun weiteren Staaten
tobt der Kampf für die gänzliche Vertilgung der geistigen Getränke,
selbstverständlich auch Vernichtung jeder Möglichkeit und Mittel zum
Ersatz derselben. Und es sieht ganz danach aus, als ob die Gegner des
Alkohols in den nächsten Jahren siegreich daraus hervorgehen würden. Ist
es nicht sonderbar, daß die Prohibition erst wirklich Fuß faßte, als die
Spirituosen-Interessenten im Jahre 1904 anfingen, ihre Sache ernstlich zu
verteidigen? Seit diesen fünf Jahren gewann die Prohibition fünf resp.
sechs Staaten mit zwölf Millionen Einwohnern. Außerdem gewann sie in
anderen Staaten durch ~Local option~-Gesetze einhundertundfünfzig neue
Städte, Hunderte von ~Counties~ und Tausende von neuen Ortschaften und
Dörfern. Im ganzen rund zwanzig Millionen Menschen, also in fünf Jahren
genau so viel, wie in dem vergangenen halben Jahrhundert ihres
früheren Bestehens zusammen. Erst durch die Verteidigung der
Spirituosen-Interessenten hat der Kampf begonnen und die Aufmerksamkeit der
Presse auf sich gelenkt, welche mit bemerkenswertem Instinkt die wachsende
Zahl der Prohibitionisten erkannte und natürlich in deren Lager überging,
in das Schlachtgeheul mit einstimmte und die bahnbrechenden Siege
verherrlichte. Denn man hält sich gern mit der Übermacht. -- Die
Zeitungen sind Blätter. Die Blätter drehen sich je nachdem, wie der Wind
geht. Geht der populäre Wind nach Norden, so zeigen sie mit ihren Spitzen
nach Norden. -- Die Zeitungen sind die Wetterfahnen der Zeit. Sonst gar
nichts. Nichts mehr und nichts weniger. Die Nützlichkeit einer Wetterfahne
stellen wir dabei nicht in Frage. Es scheint aber doch, als ob die
größten Gedanken zu einer Zeit geboren wurden, da es noch keine
Zeitungen gab. -- Da nun der populäre Wind durch die Aktivität der
Spirituosenhändler entfacht, nach Prohibition blies, so wandten sich
die Zeitungen mit. Tritt eine Reaktion ein, welche, nebenbei gesagt,
unausbleiblich ist, so werden die Zeitungen _diese_ unterstützen.

Die wirtschaftlich und moralisch verderblichen Spuren der Prohibition
machen sich schon allenthalben bemerkbar. Nicht nur im Staate Maine, wo
durch mehr als fünfzigjähriges Bestehen der Prohibition die Gesetze des
Landes zu einer elenden, lächerlichen Farce geworden sind und von keinem
Menschen heilig gehalten, sondern auf alle erdenkliche Weise heimlich und
öffentlich umgangen und übertreten werden, sondern auch in den jüngeren
Prohibitionsstaaten wird das Ansehen des Gesetzes und des gesetzgebenden
Körpers in den Schmutz gezogen. Wie kommt es, daß die Trunkenheit in den
Prohibitionsstaaten zugenommen hat, seit man den Einwohnern die Gelegenheit
zum Trinken nahm? -- Die Bürger wissen sich schon ihren Trunk zu
verschaffen. Daß sie dies aber wie die Diebe bei Nacht tun müssen, ist
eine Schande. Es ist unglaublich, wie erfindungsreich die bedauernswerten
Bürger der trockenen Staaten werden, wenn es gilt, ihren Durst zu
löschen. -- Die Apotheken, welche jetzt Spirituosen als »Medizin«
verkaufen, machen Bombengeschäfte, denn die »Medizin« darf in solchen
Fällen nur in Literflaschen verkauft werden. Überall werden Gesöffe
ausgeschänkt, die man für »alkoholfrei« erklärt, und wenn man sie
näher untersucht, sind sie nichts als purer Whisky oder Bier, manchmal
eine geradezu gesundheitsschädliche Mischung von allerhand scharfen
Flüssigkeiten. -- Freunde und Bekannte handeln frei ohne Lizenz mit
Spirituosen untereinander. Die Gesetzgebung und der Staat ist machtlos.
Sie kennen doch die genialen Methoden, die vor kurzem im Staate Georgia
entdeckt wurden. Wer sich eine Flasche Whisky verschaffen wollte, ging in
ein Hotel und verlangte ein Zimmer. Je nach dem Preise, den er bezahlte,
fand der Gast auf dem Tische in seinem Zimmer eine Flasche, welche den
ersehnten Trunk -- Whisky, Wein, Bier, oder was es gerade war, enthielt.
Diese Flasche steckte der Gast in sein Köfferchen, »reiste« sofort
wieder ab, und das Zimmer wurde gleich darauf neu »besetzt«. So kam
es vor, daß ein und dasselbe Zimmer oft hunderte Male an einem Tage
»besetzt« wurde. Die Trunkenheit nahm überhand, das Gesetz wurde
öffentlich verhöhnt. -- Ein eifriger, leitender Prohibitionist war hinter
diese Schliche gekommen und »mietete« sich auch einmal ein Zimmer in
einem Hause, wo er nicht bekannt war, zwecks Überführung des Wirtes. In
der gewohnten Weise eignete sich der Fromme die verhängnisvolle Flasche
an, um sie bei der Anklage als Korpusdelikti zu benutzen. Der Wirt aber
strengte ganz kaltblütig eine Gegenklage wegen Diebstahls gegen den
eifrigen Spirituosenfeind an, der nicht das Recht habe, Gegenstände,
welche sich in Hotelzimmern befinden, daraus zu entwenden. Und unter
allgemeinem Gaudium und Gegröle aus tausend feuchten Kehlen wurde der
Ärmste als ein gemeiner Dieb verdonnert. -- Dem Wirte konnte nicht
nachgewiesen werden, daß er Spirituosen verkaufte. Er ging frei aus.

Solche Komödien in verschiedenster Art und Weise kommen täglich vor. Es
ist schon nicht mehr amüsant, es ist lächerlich. -- Man denke sich einen
Soldaten ohne Bier oder Wein! -- In Amerika, wo bekanntlich alles möglich
ist, ist auch solch ein undenkbarer Vaterlandsverteidiger möglich. Seit
einigen Jahren hat man sämtliche Kantinen in der amerikanischen Armee
abgeschafft. Das Resultat ist, daß im Februar 1909 ein Armeebefehl
erlassen wurde, wonach alle Flaschen, Behälter und Gefäße in der Armee,
welche denaturierten Spiritus enthalten, mit der abschreckenden Aufschrift
»Gift« versehen werden müssen, da die Soldaten in vielen Fällen, um
ihren Durst zu stillen, zur Spiritusflasche gegriffen hatten, in dem guten
Glauben, Spiritus habe nur die wünschenswerten Eigenschaften eines starken
Whiskys. Natürlich kamen viele Erkrankungen und auch Todesfälle vor.

Die Prohibitionisten haben sich auch eine unpassende Zeit zur Purifikation
des Menschengeschlechtes gewählt, welche auf Kosten vieler Tausender von
ehrlichen Arbeitern stattfinden soll. Gerade zu unserer heutigen Zeit, wo
Arbeitsmangel und Stellenlosigkeit in allen Industrien überhand genommen
hat, gilt es, alte Industrien, die seit Jahrtausenden existieren, nicht
mehr zu zerstören, als bisher schon durch die unabwendbare Ebbe und Flut
der Zeit geschehen ist, sondern es gilt, _neue_ Industrien ins Leben zu
rufen, die den Millionen von hungernden Familien in allen zivilisierten
Ländern Brot geben.

Ich glaube nicht, daß das amerikanische Volk der Arbeiter sich mit der
mutwilligen Vergrößerung seines an sich schon bedenklichen Notstandes
einverstanden erklären wird. Die direkten und indirekten ökonomischen
Verluste, die die Prohibition mit sich bringt, sind ganz unberechenbar. Das
ganze immense Kapital der Brauerei-, Destillations- und Weinbauindustrien
in Amerika steht auf dem Spiel; zahllose, davon abhängige Industrien
und Gewerbe sind bedroht. Was würde die Landwirtschaft allein an Hopfen,
Gerste usw. jährlich verlieren! Im Staate Kentucky allein, wo man
gegenwärtig auf absolute Abschaffung der Spirituosen drängt, steht ein
Kapital von 192 Millionen Dollars auf dem Spiel, welches durch den Sieg der
Prohibition rettungslos verloren gehen würde.

So hat die Prohibition seit mehr als einem halben Jahrhundert ihres
Bestehens genau das Gegenteil von dem bewirkt, was sie versprach. Sie hat
weder die Verbrechen vermindert, noch die korrupten Politiker vertrieben.
Sie hat auch nicht die Trunkenheit abgeschafft, sondern dieselbe indirekt
gefördert. Sie hat die Bürger aber zu Sklaven erniedrigt und auf die
gemeinste Stufe gestellt, welche ein zivilisiertes Volk einnehmen kann. Sie
hat sie zur Menschenfurcht und Heuchelei gezwungen. Sie hat den ehrlichen
Bürger, der eines Glases Bier oder Wein zu seiner Erholung bedarf oder
dessen nicht entbehren will, zur Überschreitung und Mißachtung der
Gesetze des Landes veranlaßt.

Jawohl, Herr Bischof, die Kirchen des Landes haben viel zur Förderung
der Sünden beigetragen. Aber darum will ich gerade die Stellungnahme der
römisch-katholischen Kirche zum Trinkverbot lobend hervorheben. Seit ihren
ersten Zeiten hat diese Kirche (von einigen einzelnen Fällen abgesehen)
einen versöhnlichen Standpunkt gegen die uralte Frage eingenommen und nur
Mäßigung anempfohlen. Das wirklich großzügige und weitsichtige Urteil,
welches der würdige Repräsentant der katholischen Kirche in Amerika, der
Kardinal Gibbons, über die wachsende Prohibition vor einigen Jahren
abgab, verdient verewigt zu werden. Es hat seinerzeit dem Kardinal volle
Anerkennung und Beifall der vernünftigen Welt zu beiden Seiten des
Atlantiks eingebracht. -- Was aber war die Folge? -- Sieg der Dummheit der
Prohibition selbst in der Diözese des Kardinals.

Die Aussichten der Anhänger des Bacchus in Amerika sind also vor der Hand
sehr trübe. Blinde, Enttäuschte, Glücksritter, Neugierige, Ignoranten
von europäischer Herkunft haben in unermeßlichen Schwärmen die Küsten
Amerikas bestiegen und sich bald wieder abgewandt, als sie das Gold nicht
auf der Straße liegen sahen. Diese Leute haben es auf dem Gewissen, daß
Amerika bei uns als ein entsetzlich nüchternes Land, ohne Inspiration,
ohne geistiges Leben und ohne Ideale, weil nur auf Gelderwerb bedacht,
verschrien ist. -- Aber Amerika hat Ideale. Der Beweis für das
Vorhandensein von Idealen in kruder Form ist die Prohibition selber. Die
junge Riesennation muß ihre Kämpfe, muß ihre Zweifel und Torheiten der
Jugend durchmachen. Sie hat alle Zeichen des jungen Idealisten an sich. Sie
torkelt von einer Maxime in die andere. Der junge Idealist wird alles über
den Haufen werfen, wenn es gilt, seine Ideale zu verfechten. Am nächsten
Tage wird er die teuer erworbenen Ideale ablegen, wie man einen Rock
ablegt, der zu eng geworden ist ... Der Rock mag noch schön und neu
sein, aber der Jüngling freut sich über sein Wachstum und holt sich einen
passenden Rock. Diese Häutungen muß jeder Mensch und folglich auch jede
Nation in ihrer Jugend durchmachen.

Eine der amüsantesten amerikanischen Jugendtorheiten ist der Superlativ.
Freilich, für uns Europäer etwas unangenehm, ja widerlich. Manch alter
Griesgram mag im Superlativ eine gefährliche Krankheit sehen, aber wir,
die wir jung bleiben wollen, wollen uns darüber köstlich freuen! Die
amerikanischen Superlative sind bekannt: das reichste, das größte, das
höchste, das schnellste, das längste in der Welt. So heißt es, wenn
von irgend etwas die Rede ist. Der Amerikaner spricht im Superlativ, lebt,
schläft, träumt darin: er besitzt ihn, sucht ihn, verlangt ihn, betet ihn
an. -- Sein Land hat ihn in Ausdehnung, in Naturschönheit, in natürlichem
Reichtum, ja selbst im Wetter und im Klima. So schafft sich das Volk
seinen Superlativ im Verkehrswesen, im Geschäftsleben, in der Arbeit,
in Gebäuden, im Reichtum und in Armut, in Religionen und Lastern, in
Bigotterien und Gemütsroheiten, in Verbrechen und in öffentlichen
Wohltaten.

So wenden auch die Prohibitionisten den Superlativ in der Anklage gegen
Bacchus und seine Freuden an. -- Aber Bacchus, der Milde, wird dem jungen
Amerika verzeihen. An der Hand der Geschichte wird er Amerika leiten und
ihm zeigen, was er aus seinem Feinde gemacht hat.

Tausend Jahre vor Christi Geburt tobte ein kaiserlicher Sohn des
Himmlischen Reiches der Mitte gegen die Macht des Weines. Er ließ alle
Weinstöcke entwurzeln. Wo ist der Kaiser jetzt? Tot, sehr, sehr lange
tot. Die Reben blühen noch immer. So sehr tot ist die armselige, bezopfte
Majestät, daß man schon gar nicht mehr weiß, welcher Dynastie sie
angehörte. Die Reben blühen weiter. Tausend persische Fakire und Pfaffen
grölten in der Mitte des elften Jahrhunderts die verderbliche Macht des
Weines an. Als Gegengabe schenkte uns Persien zur selbigen Zeit einen
einzigen Omar -- Omar Chajjam. -- Das Lachen eines einzigen Omars war
tausendmal wuchtiger als das Gezeter und Geheul von tausend Derwischen und
Priestern zusammen. Alle tausend Schreihälse sind tot. Sehr, sehr lange
tot. Man kennt ihre Namen gar nicht. Man hat sie nie gekannt. Und nie
kennen wollen. -- Omar lebt weiter. Seine Rubaiyat, sein Lachen macht heute
noch alles Gezeter stumm. --

Was ist aus Indien, dem uralten Lande der Wunder, der tiefsten Denker, der
jungfräulich herrlichen Poesie geworden? Was ist Arabien und die anderen
Länder, denen Buddha und Mohammed den Wein verbot? Unzählige Beispiele
wird Bacchus bringen, wo er seine Gegner in die Lächerlichkeit zog, sie
dem Spott der Welt preisgab. Er wird die Dichter und Denker aller Zeiten
und aller Völker kommen lassen, um Zeugnis für ihn abzulegen. Sollte ihm
dann noch die Tür gewiesen werden, so wird er sich nicht darob grämen.
Dann wird er ruhig das Land verlassen und es meiden. Und wo er auszieht,
da zieht orientalische Apathie, Trägheit und Lasterhaftigkeit ein und
legt sich wie ein böser Traum auf das Gemüt des Volkes. -- Dann wird die
Statue der Freiheit die größte Lüge und Karikatur, die jemals von den
Menschen errichtet wurde. Sie wird dann zum verlockenden Aushängeschild
an der Tür zum Despotismus des Pöbels, der Plutokratie, der
Pfaffenwirtschaft und Heuchelei.

Ich weiß, der wirkliche Amerikaner ist mit solchen Zuständen nicht
einverstanden. Was kann aber die vernünftige Minderheit gegen die blinde
Mehrheit machen? Die Heiligkeit des Gesetzes darf nicht verletzt, nicht in
Frage gestellt werden. Die Heiligkeit des Gesetzes hat nichts zu tun mit
dem Blödsinn, den das Gesetz oft vertritt, fördert und beschützt. Wenn
ein Unwürdiger die Priesterweihe erhält, so ist nicht die Weihe
entehrt, sondern der Unwürdige selber. Wenn das Gesetz einen Blödsinn
sanktioniert, so ist nicht das Gesetz anzugreifen, sondern der Blödsinn.
Ein Untertan, geschmückt mit dem Purpur und den Regalien des Königs, darf
sich höchstens in einer komischen Oper sehen lassen. Wenn er sich aber
ernst nimmt, so kann man ihn mit gutem Gewissen für geistesgestört halten
und ihn einsperren.

So kann man auch den Blödsinn in das würdige Gewand des Gesetzes kleiden,
aber er wird immer ein Blödsinn bleiben. Daß er so in monumentalster
Weise angebetet wird, daß Millionen und Abermillionen vor ihm auf die Knie
sinken, ändert gleichfalls nichts an der Tatsache, daß er ein Blödsinn
ist.

Mit der Autorität der Stimmenmehrheit war es von jeher, überall und zu
allen Zeiten eine eigenartige Sache. In einem Schwarm von Spatzen hat
eine Nachtigall nichts zu sagen. Wer unter den Wölfen ist, muß mit
ihnen heulen. In Rom tut man, was die Römer tun. Und in Amerika bei der
Übermacht der Prohibitionisten muß man tun, was diese Leute tun: nämlich
im geheimen trinken oder Kokain nehmen und fromm drein schauen. Aber die
Heiligkeit des Gesetzes ist unantastbar. -- Bevor ich mich aber hiermit
einverstanden erklärte, würde ich mich betrübt von Amerika abwenden und
das schöne große Land betrauern, das dem Schicksale Indiens und Arabiens
entgegengehen soll. Ich würde mich nicht wohl fühlen in einem Lande, wo
man sich an einem toten Sonntage Inspiration aus Gefrorenem und Limonaden
mit Strohhalmen in die öden, müden Schädel einsaugt und sich einen
Sodawasserenthusiasmus antrinkt, damit man wieder mutig den Stürmen des
mühevollen Lebens am Montag entgegentreten kann. Nein, wenn ich an der
Tafel und beim Wein sitze, dann fühle ich Erdgeborener mich den ewigen
Göttern gleich und will nichts, aber auch absolut gar nichts verachten
und entbehren, das die schöne Erde mir bietet, wenn ich es haben und
in schöner Freude genießen kann. -- Und mein Kellner ist dann mein
Ganymedes, und mag er noch so verzweifelt irdisch drein- und ausschauen.
Dann will ich seine und die eigene Weltlichkeit vergessen. -- Aber
vierzig Millionen Menschen ohne einen Tropfen Wein! -- Ein schallendes,
anakreontisches Gelächter dafür! -- -- Nun, Herr Bischof? -- --

So!? -- Hm ... Warum ich nicht lache, warum ich plötzlich so ernst
dreinschaue? -- Eingesehen? -- Nein, gar nichts habe ich eingesehen! Aber
hör' mich an, alter Freund! -- Ich habe dir noch etwas zu sagen. -- Du
zitterst! -- --! -- Ja -- du tust mir leid! -- -- Bitte, laß mich reden!
Nur noch ein paar vernünftige Worte will ich zu dir sprechen: -- --
Bitte, laß mich reden, sag' ich! Nimm doch noch einmal deine frühere
Vernunft zusammen. Und dann will ich dich hören, was du zu sagen hast.
-- Also du behauptest, das Ausschänken von Spirituosen hat einen
verderblichen Einfluß auf das Seelenleben des Kellners! -- Mein Kellner
macht sich zum Mitschuldigen an meinen Sünden, am Untergang der Säufer
und der Schlemmer! -- Das sagst du mir!? Nun höre, was ich dir zu sagen
habe:

Mögen fromme Menschen, die sich um das Seelenheil anderer bemühen, ihrem
lieben Herrgott danken, daß sie nicht so sind wie der Kellner, der seine
Kräfte in die Dienste des entsetzlichen Dämons Alkohol stellt; mögen
die frommen Leute ihm sein Brot abnehmen; mögen sie ihn in Grund und Boden
verdammen, über diesen Fluch, über sein Unglück hilft die Philosophie
den freundlichen Ganymed hinweg. Muß der Soldat nicht, durch die Umstände
gezwungen, Menschen töten, die er niemals zuvor gesehen hat, Menschen, die
ihm nicht das geringste Leid zugefügt haben? -- Und je mehr er von diesen
unschuldigen Menschen abmordet, um so ein besserer Soldat ist er! -- Man
wird mir doch nicht sagen wollen, daß ein Soldat mit Freude, Mut und
Tapferkeit zur Schlacht auszieht! Ein solcher Soldat wäre doch eine wahre
Bestie. -- Nein, es ist die Furcht und der Fluch der Notwendigkeit,
welche die Kugeln aus den Läufen heraustreibt. Es ist die selbstgemachte
Notwendigkeit, welche die Menschheit zu solcher Sklaverei erniedrigt, die
Notwendigkeit, welche dich und mich und auch den Kellner macht. Darum, je
mehr Alkohol der Kellner verkauft, um so ein besserer Kellner ist er und
folglich ein um so besseres Mitglied der menschlichen Gesellschaft. --
Welch eine Jammergestalt von einem Soldaten, der in die Luft schießt aus
Furcht, er könnte dem unschuldigen Menschen, den er abmurksen soll, ein
Leid zufügen. Welch ein miserabler Kellner, der nicht einschenkt aus
Furcht um das Seelenheil des Gastes!

Darum drauf los, ihr Jünglinge, die ihr Soldaten und Kellner spielen
müßt! Laßt die Gewehre und die Pfropfen knallen, was das Zeug halten
kann! Macht so viele Feindes- und Bierleichen, wie ihr könnt! Dann
habt ihr eure Pflicht getan! -- Darum drauf los, ihr Schriftsteller und
Theologen, ihr Künstler und Juristen, drauf los alle ihr, die ihr im
Namen unserer Zivilisation lügen, betrügen, heucheln, schön tun, rauben,
morden, stehlen, plündern, faulenzen, euch wegwerfen müßt! Und wer
müßte es nicht unter euch zivilisierten Menschen!? -- Selbst der
Unschuldigste unter euch, der Rentier, sündigt. Er faulenzt auf Kosten
des Gemeinwohls. Wer unter euch frei von Schuld ist, der mag einen Stein
aufheben und die Flasche in des Kellners Hand zertrümmern!

Die Sauferei und Schlemmerei verabscheuen die guten Kellner und Wirte
ebensosehr wie ihre Antipoden, die Prohibitionisten. Vielleicht noch etwas
mehr als diese. -- Denn sie sind es, die den Schmutz wegräumen müssen;
sie sind es, die die Schlemmer in ihrer tiefsten Erniedrigung sehen. Diese
sehen sich nicht selber. Sie schlafen den tiefen, traumlosen Schlaf, den
die Erinnyen bewachen. -- Niemand weiß besser, was Trunkenheit ist, als
der Kellner, niemand weiß besser, was der Tod ist, als die Totengräber.
Wer es nicht glaubt, befrage Shakespeare.

Wenn die Menschen aus allem, was sie sehen, Lehren für sich und ihr Leben
zögen, so stünde vieles besser um sie. Wenn die Kellner dies täten, so
würde aus ihnen ein gewaltiges Geschlecht entstehen, wie die Welt noch
keines gekannt hat, dagegen sich die größten Satyriker als armselige
Kläffer verkriechen müßten. Sie würden stärker und machtvoller werden
als die biblischen Propheten, die beim Anblick eines versumpften Volkes
nichts als weinen oder schlechtes Wetter prophezeien konnten. Jerusalem,
Babylon, Ninive, wieviel Gutes müßt ihr noch in euch geborgen haben, da
man noch Lamentationen und Tränen an euch verschwendete! -- Es werden aber
diejenigen kommen, die nicht predigen, nicht weinen und nicht prophezeien,
sondern nur schauen, mit kalten, ruhigen Augen schauen, darinnen alles
Mitleid erstarrt ist, starke Geister, die das Gift den Schwächlingen
reichen und den Trunkenen zuflüstern: »Trinkt, trinkt und lebt euch tot!
-- Wir wollen allein sein! Uns gehört die Erde und das Leben, uns, den
Gesunden und Starken!« -- Und allmählich wird die Macht der Erde in die
Hände dieser kalten, starken Menschen übergehen, sie werden die Herrscher
und die Selbstbeherrscher sein. Ich nenne das soziale Chirurgie und
Okulation des Baumes des Lebens.

Die Menschen haben aber noch immer nicht sehen gelernt. Und da die Kellner
eben auch nicht mehr als Menschen von heute sind, so tun sie eben auch
nicht mehr als andere Menschen tun und ziehen keine Lehren für sich aus
dem Leben der anderen. So geht der ganze Wert des Bösen an ihnen verloren.
Und er verwandelt sich, wie immer, zur bösen Macht, die sich auf alle
ausnahmslos erstreckt.

Darum schmähe nicht, mein Freund! Fürchte dich, ekle dich aber auch nicht
vor dem Laster. Schau ihm kalt und ruhig in das triefende Auge, wie
ein Arzt die eiternde Wunde betrachtet. Und es wird scheu vor dir
zurückweichen. Denn selbst das Laster hat seine Scham, wenn es sich
durchschaut fühlt. Dann wird es zusammenschrumpfen wie eine leere, elende
Bagatelle, der du einen Fußtritt versetzest. Das schleimige Lächeln in
seinem Gesichte wird zu hoffnungsloser Traurigkeit erstarren, erfrieren; es
wird nicht wagen, um Vergebung zu winseln oder dich berühren. Es wird
von dir lassen, denn es hält dich für einen Gott oder einen Teufel, und
keinen von beiden liebt es. Nur unter den erdgeborenen Menschen sucht es
seine Opfer. Ein wildes Tier ist's, das du im Auge behalten mußt, greifst
du es an, fürchtest du dich oder kehrst du ihm den Rücken, so springt
es auf dich. Bedenke: Jeder Angriff, jede Abwehr ist ein Zeichen von
Hochachtung.

Nicht Furcht soll dich stark machen! Keine Gottesfurcht soll dich
verhärten, keine Menschenfurcht soll dich zum Feigling erniedrigen, soll
dich vom Laster fernhalten. Du sollst in das Laster hineingehen, um aus ihm
wieder hervorzugehen. Die Furcht vor dir selber allein soll dich reinigen
und auferstehen lassen, Phönix! -- Und laß nie deine Wangen um das Heil
anderer bleichen. Wo es sein muß, da schau ruhig der Vernichtung zu. Laß
zugrunde gehen, was dazu bestimmt ist. Denn du verschwendest dich, wenn du
einen Finger rührst, zu helfen. Es gibt große, übermenschliche Mächte,
die nichts zugrunde gehen lassen. Du hast nicht das Recht, einzugreifen
in fremde Seelenwelten. Laß jede Welt ihrem Frühling und ihrem Winter
entgegengehen. --

Darum verdamme nicht zu schnell; es möchte dich vielleicht später
reuen. Nicht nur der Kellner wird verführt und berauscht von dem wogenden
Getriebe des Lebens. Es liegt in der menschlichen Natur, von der Menge und
dem Geiste der Zeit mitgerissen zu werden. Niemand von uns kann sich ganz
von diesen Fesseln befreien. Das einzelne Individuum ist machtlos. Nur der
ganz Starke, der Seher, der die Schalheit, das Hohle des vorübergehenden
Treibens erkennt und der ruhig verachtet, was sich ihm aufdrängt, weil
er genug mit sich selber zu schaffen hat, wird bleiben. Alle anderen
verschwinden halt- und rettungslos im großen Strudel des Daseins. Hier
treiben sie hin und her, bis sie untergehen. Hier erstickt das moderne
Fatzkentum, hinter dessen hohlem Lachen und Überlegenheit sich eine
erschütternde Tragik verbirgt, welche die Schwester der Nacht, der
Dummheit ist. Hier wanken die Trunkenbolde, nicht voll vom Weine des
Lebens, sondern trunken vom billigen Fusel der Gemeinheit, grausige Flüche
lallend. Hier sammeln sich die müden Veteranen, zerlumpt, krüppelig, die
Geschlagenen, die Entlaufenen, die Betrogenen; krank, gebrochen, elend,
dämmern sie in der Sonne dahin. Die Schlottergestalten, Skelette,
Galgenvögel, faule Schwämme, Zerrbilder Gottes, Tuberkulösen, die
aschigen Kinder des Rinnsteins, grauenhaften Nachtschatten der Großstadt,
stotternd, zitternd, vagen Zielen zustrebend, die Bacchanten der Gosse,
grauhaarige Vagranten, vibrierend nach Schmutz, sich ins eigene Elend
wühlend, im Genuß der eigenen Gerüche zitternd, die grimmen Masken
herzzerreißender Komödien, die nächtigen Kloakengeschöpfe einer
lächerlichen Tragödie, die Halbgebildeten, die Halbwissenden, welche die
Wonnen des Lebens kennen, ohne Gewalt darüber zu haben, die Ohnmächtigen,
die Verzweifelten. Müde, schläfrig brechen sie zusammen, bis der
Fußtritt des Polizisten sie weckt. -- Und draußen, freudig, daß es
Platz gibt, schieben sich die jungen Kolonnen mit Jubelgeschrei vor in
die Gefechtslinie. Immer neu werden die Lücken von den nie endenwollenden
Reserven gefüllt; immer neu schlürft sie der unersättliche Rachen
hinunter, immer neu speit er sie wieder aus, und geschlagen, verwundet,
gebrochen, befleckt kriechen die Gestalten aus dem Feuer in die Dunkelheit.
Die Parkbankgarnitur! Die Leierkastenkomödianten! Die Zierden der Stadt!
Die Trophäen der Zivilisation! Preise des Lebens! Überproduzierte --
Unterentwickelte -- Lemuren -- Halbmenschen -- quoi! --

Und die Tragikomödie des Kellnerlebens besteht in diesem einen Gedanken:
Es ist nichts Großes, Gewaltiges, das den Kellner bedroht und oft
zermalmt. Kein Grubenunglück, keine Dampfkesselexplosionen, keine tobende
See, kein brüllendes Feuer. Das Lächerliche, Oberflächliche, die
Bagatelle, die Halbeleganz, die Halbbildung, das alles bemächtigt sich
seiner Gestalt, sucht sich darin zu verkörpern, darin zu leben. Die Mühle
der Kleinigkeit reibt ihn langsam auf, die Mühle unseres modernen Lebens.
Sie zerkleinert die hehren Schmerzen der Menschenbrust langsam, damit das,
was wir anfangs für einen heiligen Funken göttlicher Gewalt hielten,
morgen zu einem lächerlichen Quark wird. Dies, dünkt mich, ist schlimmer
und gefährlicher, als in Kohlenbergwerken sich die Lungen mit Staub
anzufüllen oder in Bleifabriken giftige Gase einzuatmen. Was bedeutet es,
wenn die Arbeiter der Bergwerke, der Bahnen, Schiffe, der Stahlwerke und
Hochöfen zu Tausenden verunglücken?! -- Diese Männer sterben auf ihrem
Posten einen Heldentod. Harte Arbeit und beständige Lebensgefahr mögen
ihre Körper bedrohen und beugen, ihre Seelen aber werden stark dabei,
bleiben aufrecht und trotzig. -- Mag der Lungendurchschnitt eines
Bergarbeiters schwarz sein, sein Geistesdurchschnitt ist rein und gesund.
Und bricht ein Unglück über sie herein, so scheiden sie aus dieser
Welt als Männer, als Kämpfer, als gefallene Soldaten auf den großen
Schlachtfeldern unserer Industrien. -- Ein schöner Tod! Wie anders ist
aber das Leben unseres Kellners! Und wieviel schrecklicher ist sein Los!
Welche Kräfte muß er aufbieten, um aus dem Wuste unserer Zivilisation
einen rechten Lebensweg zu finden! Fehlen diese Kräfte, so wird sein
junges Gemüt langsam, sehr langsam zermahlen und vergiftet, angesteckt von
unheilbaren Leiden.

Wenn der Kellner nicht solch wundervolle Gelegenheit hätte, das große
Leben, die herrliche Natur, die Wunder der Schöpfung zu sehen, dann
müßte er wirklich verzweifeln. Aber die kaleidoskopische Abwechslung von
göttlichen Bildern erhält ihn unbewußt aufrecht. Unwillkürlich
läßt er alles auf sich einwirken. Willenlos läßt er sich tragen. Denn
Kokotten, Kurtisanen, geschminkte Weiber sein Lebtag lang sehen müssen,
immer und ewig dieselben, abgestandenen Phrasen anhören müssen, immer
wieder dasselbe, freche, müde, stinkende Lächeln, die schnüffelnde
Lüsternheit, die sogenannte Lebensfreude ansehen zu müssen, das muß in
seiner Art auf die Dauer noch langweiliger werden als eine Anstellung
bei der Regierung. Man muß ein eingefleischter Satan oder eine stupide
Zuhälternatur sein, um ein solches Los ertragen zu können. -- --

Aber das Leben hat den Kellner geschützt. Es liebt ihn. Es lächelt ihm,
lockt ihn hinaus, wenn Gefahr droht. Darum wandert er auch so viel. Darum
treibt's ihn von Ort zu Ort, von Land zu Land. Eine Hoffnung ersetzt die
andere. Keine erfüllt sich vielleicht. Aber sein Herz bleibt wunderbar
jung. Heute sieht er Laster, wird verführt, stürzt sich hinein, um Ekel
vor sich selber und seinem Leben daraus zu schöpfen, morgen hält ihn
wieder eine blühende Landschaft, eine neue Hoffnung, die Freude an einer
neuen Reise, vor der Selbstverachtung und Selbstvernichtung zurück.
Er kann nicht verzweifeln; er bleibt jung. Mögen auch die Musik, die
parfümierte Atmosphäre, der Glanz, der Geruch und die Hitze der Küche,
das Strahlen der Lichter, die körperlichen Anstrengungen, der Ärger, der
Haß gegen den Reichtum, die Dienerei, die Verachtung seiner Person, das
Trinkgeld, mag alles auf ihn einstürmen und sich wild in seinem Herzen
festkrallen und es aussaugen, -- der Kellner bleibt jung.

So entwickelt sich aus ihm der heimatlose, unstete Wanderer, der gott- und
freundlose, gut- und blutarme Mensch, der er heute ist. -- Die schönsten
Kräfte seiner Jugend gibt er dahin, ohne an sich zu denken. Wem gibt
er sie? Sich selber? -- Nein! Den anderen Menschen? Nein! -- Sie werden
zersplittert, entkräftigt, zermalmt in der großen unmenschlichen Mühle
unserer Zivilisation. Es gibt das berühmte Düngermehl für künftige
Kulturen.

Bei einem solchen Anblick sollte selbst das Gesicht eines Gottes zu Marmor
erstarren. Aber das Gesicht des Lebens mit seiner ganzen Inkonsequenz
lacht, lacht, während seine Tatzen die Herzen zerreißen. Die großen,
entsetzlichen Kontraste, das grausam, willkürlich zusammengewürfelte
Gemisch von Schwarz und Weiß, Gelb und Rot, ungeordnet, verwahrlost,
verwitternd, reizt nur den Künstler, den Fleißigen. Der Mensch aber, der
darin nicht umkommt, ist ein Künstler. Er fühlt sich glücklich in dem
großen Haufen von Sand und Mörtel, bunten Steinchen, Gläsern, Scherben
und Splittern, die in allen Farben leuchten vom reinsten Golde bis zum
giftigsten Grün. Wo aber ist der Meister, der diese Stückchen, die
Fragmente zu einem herrlichen Mosaik, zu einem gewaltigen Gedichte
zusammensetzt? -- Er ist noch nicht geboren. -- Aber darf man sich nicht
schon glücklich schätzen, wenn man aus der Ferne, mit den Augen eines
Schöpfers verschwommene Konturen einer erhabenen Komposition
erkennen kann, die aus dem Material entstehen könnte und entstehen
muß? -- -- -- --

Aber die Lasterhaftigkeit bleibt doch so ziemlich das Zuverlässigste in
der menschlichen Natur. In den allerschlimmsten Fällen kann man fast immer
mit ihr rechnen. Ja, leider! So ist's! Was nützen die schönen Exkursionen
ins Blaue! -- Und ich habe mir auch sagen lassen, daß Bibelgesellschaften
in Amerika sogar versuchen, Freiexemplare der Heiligen Schrift in den
Hotelzimmern aufzulegen, um damit auf das Seelenheil der Gäste einen
wohltätigen Einfluß auszuüben. Schön! Indessen glaube ich nicht, mein
Freund, daß sich trugsinnende Makler dadurch von ihrem bösen Vorhaben
abhalten oder in ihren Kalkulationen beirren lassen. -- Nein, das
Selbstbewußtsein unseres inneren Menschen ist unsere einzige Rettung.
-- -- Ich bezweifle auch sehr, daß etwaige entlaufene, legitim vielleicht
nicht zusammengehörige Pärchen, die, nachdem sie es auf oft ganz
wunderbare Weise zustande gebracht haben, den spähenden Augen des
gestrengen Detektivkorps eines großen Hotels zu entschlüpfen, unter
der schützenden Flagge des heiligen Ehestandes den sicheren Hafen
eines molligen Appartements erreicht haben, sich durch den plötzlichen
unerwarteten Anblick der ernsten Bibel zu einer schleunigen Umkehr und
Buße mit Reue und Leid veranlaßt fühlen oder sich gar nur zu einem
flüchtigen Stoßgebet ermahnen lassen, bevor sie sich in die Versuchung
begeben, wirklich Mann und Frau zu sein. -- Mein Freund, ich bezweifle es.
Aber du wirst jedenfalls auch hier wieder den Wirt verantwortlich machen
wollen für anderer Leute Sünden, wie du eine Eisenbahn oder eine
Schiffahrtsgesellschaft verdammen wirst, weil sie den Halunken und
Verbrechern Mittel bieten, sich der Gerechtigkeit zu entziehen. -- Oh, all
der bittere Hohn, mit dem uns das böse Leben überschüttet! -- Wenn
wir doch nur das Geld sparen könnten, das wir durch unsere Dummheiten
verschwenden! -- Die Qualen der blutenden Herzen, ja selbst die
Lächerlichkeiten, denen wir uns aussetzen, ließen sich dann leicht
ertragen. --

Wenn ihn also eine feine Dame beauftragt, Whisky oder Cocktail in einem
zierlichen Teetöpfchen und dünnen, unschuldigen, goldumränderten
Porzellanschälchen zu servieren, so mag ein unbeholfener Kellner
wohl heimlich grinsen und sich darüber lustig machen, ein wirklicher,
tüchtiger Kellner aber wird den Auftrag ausführen, ohne mit einer Wimper
zu zucken. Es wird nur eine grenzenlose, stille, tiefe Verachtung in seinem
Herzen aufkeimen für die Feigheit und die Heuchelei der Menschen, welche
Furcht vor sich und ihresgleichen haben, die Menschenfurcht, die gemeinste,
die hündischste aller Furchtgefühle. Und es wird eine ganz stille, tiefe,
heilige Verachtung sein, die es gar nicht mehr liebt, sich zu zeigen. Sie
wird nicht mehr versuchen wollen zu spotten, denn der Spötter verdirbt
doch viel, statt zu bessern, und sein ohnmächtiges Gelächter kehrt
unverrichteter Sache an sein eigenes Ohr zurück. Und das tut weh. --
Selbst das Gelächter der Götter über die Torheiten der Sterblichen ist
nicht das Höchste. Die Ewigen können auch Blitze schleudern oder tief,
ganz tief wie das spiegelglatte, unergründliche Meer schweigen.

Ein Mensch, der dies empfindet, steht hoch über allem Schmutze, mit dem
ihn das Leben umgibt, und er selber wird keiner schmutzigen Tat fähig
sein. Ja, der Schmutz, den seine Hand berührt, wird verklärt. -- Gelehrte
und gewissenhafte Menschen mögen ihm vorwerfen, daß man unter keinen
Umständen eine Tat begehen darf, die er mit seinem Gewissen nicht
vereinbaren könnte. Aber was ist denn das Gewissen? -- Wachse ich nicht?
Wechsele ich mich nicht wie das Licht des Tages? -- Wer sagt mir, daß mir
morgen noch gelten wird, was ich heute denke? -- Und eine Notwendigkeit,
die bis zur Neige auszutrinken uns das Leben zwingt, ist ein mächtigerer
Befehl als das heutige Gewissen. Nein, Freund, nur das Bewußtsein
unseres inneren Menschen ist unsere einzige Rettung! Das robuste, gesunde
Selbstbewußtsein mit der Verantwortlichkeit für sich selbst. Ein solches
Gewissen wünsche ich jedem meiner Zeitgenossen, den unser heutiges Leben
in einen wilden Kampf um ein Stück Butterbrot oder noch weniger stößt,
den es zwingt, nach seiner Flöte den Totentanz zu tanzen, bis die Kräfte
versagen. -- Den Zeitgenossen wünsche ich dies. Denen, die da kommen
werden, brauchen wir es nicht zu wünschen, denn dann werden Männer mit
starken Seelen Reiche des Friedens geschaffen haben, darüber der junge Tag
jedesmal mit einem Jauchzeschrei aufgehen wird. Totenfeier und Glockenklang
wird uns dann gelten, reine Tränen werden für uns, die toten, schuldigen
Kämpfer fließen. Denn wir waren es, die ihnen die Pfade mit mühsamen
Schritten geglättet haben. --

Nun, Freund, rede! -- Ich will dir gerne lauschen. -- Freund meiner Jugend!
-- ich flehe dich an, rede! -- -- Nun? -- Hm -- hast du -- -- haben Sie
nichts mehr zu sagen?! -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
-- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --

Gute Nacht, Herr Bischof -- -- angenehme Ruhe ...



VIII.


Kellner, meine Gäste lassen heute aber lange auf sich warten. -- So, Sie
sahen den Herrn Doktor ausgehen? -- Hm, dachte mir schon, daß er nicht
kommen würde. Und die anderen Herrschaften? -- Abgereist? -- Wer? -- Der
Herr Bischof? Davon hat er mir doch gar nichts gesagt! -- Na, und der
Herr Professor läßt sich entschuldigen! -- Der Herr Kommerzienrat hat
plötzlich wichtige Geschäfte zu erledigen! -- Die Damen sind unwohl!
Hurra! Die Musik spielt heute auch nicht hier. Der Saal ist schwach
besetzt! -- Großartig! -- Ein wahrer Glückstag. --

Na, Kellner, dann bringen Sie mir aber mal was Gutes zum Essen. Heute werde
ich meine Mahlzeit mit Andacht einnehmen können; heute werde ich doch
verstehen können, was ich esse. -- Was? -- Canapé de Caviar à la
Romanoff?! -- Nein, danke, heute nicht. -- Als Horsd'œuvre einen
eingemachten Hering. Ich habe 'nen Katzenjammer. Darauf einen Teller gute
Fleischbrühe, einen saftigen Rostbraten mit hausgemachten Nudeln. Die
Nudeln mit ein klein wenig Muskatblüte und recht viel geriebenen Käse.
Und eine Flasche Bier. Ah, das wird munden! -- --

Übrigens muß ich Ihnen mein Kompliment machen, junger Mann. Sie verstehen
Ihr Geschäft. Und das ist keine Kleinigkeit! Sie haben mich und meine
Gäste während meines Aufenthalts ausgezeichnet gut bedient. Meine Diners
waren fehlerlos, ein Gegenstand des Neides für meine Rivalen. Ich habe
nicht zu warten, mich kein einziges Mal umzusehen brauchen. Alles kam von
selber. Alles war einfach perfekt. -- Hier, darf ich Ihnen daher diese
Kleinigkeit für Ihre Mühen und ...? -- Wie? Sie nehmen kein Trinkgeld!?
-- Oder wollen Sie mich gar beleidigen? -- Sind zwanzig Mark für acht
Diners nicht genug? -- Wie? Überreichlich, und doch wollen Sie es nicht
annehmen! Dann halten Sie mich also für einen Kollegen? -- Auch nicht? --
Sonderbar! Von _mir_ nehmen Sie kein Trinkgeld --?! -- Warum gerade von
_mir_ nicht und doch von den anderen Gästen? -- Mein Geld ist doch genau
so gut wie das der anderen und vielleicht weniger »befleckt« ... nun, was
ist es denn! So sprechen Sie sich doch aus! -- -- -- Ja, ja, gewiß, ich
nehme Anteil an Ihrem Lose, ich nehme Anteil an jedem menschlichen Lose.
-- Aber woher wissen Sie denn das? -- Aha! Sie haben auf meine Reden mit
meinen Gästen gehorcht! -- Welch ein Wunder! Der Mensch horcht und bedient
gut zur gleichen Zeit! -- Aber ein Kellner soll nicht horchen. -- Ein
guter Kellner tut das überhaupt nicht! Das wissen Sie so genau wie ich.
-- Wirklich, ich habe mich in Ihnen getäuscht! Ich hätte Sie für einen
besseren Mann gehalten! -- Was? Sie konnten beim besten Willen nicht
widerstehen? -- Na, diesmal soll Ihnen noch verziehen werden! -- -- Aber
das ist interessant! Ich soll etwas für Sie tun?! -- Ja, mein lieber,
junger Freund, Trinkgeld nehmen Sie nicht von mir an! -- Was soll ich denn
sonst noch für Sie tun? -- Ich habe Ihnen doch bereits ein gutes Zeugnis
ausgestellt. -- Wollen Sie Ihr Lob noch einmal vor dem Prinzipal ausposaunt
hören? -- Nicht? -- Dann könnte ich Sie höchstens noch als meinen
Haushofmeister engagieren; aber mein Château ist erst im Bau begriffen,
und es wird noch lange, sehr lange dauern, bis es fertig ... Na,
jedenfalls geben Sie mir Ihre Adresse ... ich will sehen, was ... Wie?
-- Nicht für Sie persönlich, sagen Sie! Aber für wen denn sonst? -- Den
Stand? -- Ich soll etwas für den Kellnerstand im allgemeinen tun! -- Sie
meinen, seine soziale Lage verbessern, das Ansehen heben ...? Aber wie
kommen Sie denn auf eine solche Idee? Wie soll ich denn das anfangen!? --
Bücher darüber schreiben! -- Bah, welchen Zweck sollten solche Bücher
haben!? -- Bei der heutigen Flut von Büchern ... haben Sie eine Ahnung? --
Niemand würde Bücher über die Kellner lesen. Die Kellner selber würden
sie nicht einmal beachten! -- Wenn die freie Zeit haben, liegen sie auf dem
Turf. Wenn ohne Stellung, treiben sie sich in den dumpfen Schnapslokalen
der Stellenvermittler herum. Sie haben keine Zeit, Bücher zu lesen und
sich um ihr Los zu kümmern. -- Nein, mein junger Freund. Die Kellner
allein haben ihr Schicksal in der Hand! Sie und niemand anders auf der
Welt kann es bessern, kann ihnen helfen! -- Sehen Sie denn nicht, niemand
bekümmert sich um Ihr Los! -- Der Bischof, gegen den ich gestern Ihren
Stand verteidigt habe, reist heute ab. Der Soziologe, dem ich die Ohren
voll gepredigt habe, läßt sich entschuldigen. Der Herr Doktor strahlt
durch Abwesenheit. Der Großindustrielle ist jedenfalls so von der
Verwerflichkeit des Trinkgeldes überzeugt worden, daß er in Zukunft keins
mehr geben wird. -- Die Damen, oh -- Ihre schlimmsten Plagegeister -- --
Sie sehen ja selber, wie es mir ergeht! Ich bin in argen Mißkredit
geraten! -- -- Nein, mein Freund, Ihr Schicksal müssen Sie selber
ausfechten. Die Zeit wird kommen, wo die Kellner gut organisiert und
menschenwürdig für ihre Arbeit bezahlt sind. Dann wird Ihr Stand von
selber angesehen sein. Wenn alle Vorurteile beseitigt, alle Übelstände
und Schäden Ihres Standes im Laufe der Zeit kuriert sein werden, wenn
die Zustände, die heute noch als primitiv und engherzig Ihr Leben
unerträglich machen, verbessert worden sind, dann fallen die meisten
Möglichkeiten zu Konflikten in Ihrem Geschäfte wie im geistigen Leben
in sich selber zusammen. Das Dasein des Kellners wird sich dann als ein
menschenwürdiges und glückliches erweisen, wie es deren trotz allen
Elends in den modernen Industrien noch zu Millionen unter den Menschen
gibt. Es wird dann eine Freude sein, in Ihrer Stellung arbeiten zu können.
Dann werden Sie auch die Freude der Arbeit empfinden -- ihr eigentlicher
Lohn, der Ihnen bis jetzt noch versagt ist.

Ob ich wirklich einmal als Kellner gearbeitet habe? -- Selbstverständlich,
mein Freund! Und als solcher habe ich einen unvergeßlichen Augenblick
erlebt. Dies war, als ich einen jungen Koch am Herdfeuer stehen sah, einen
sauberen, kleinen, lebhaften Franzosen mit schwarzen, funkelnden Augen.
Meine stumme Bewunderung schien ihn mit Stolz zu erfüllen; meine Wenigkeit
machte ihn keck. Er klapperte ungeduldig mit seiner Pfanne und stieß
plötzlich aus:

»~Mon Dieu, que j'ai envie de travailler!~«

Dabei schwenkte er die Pfanne mit einer flinken Bewegung und warf eine
»Crêpe« in die Luft, wo sie dreimal Saltomortale schlug und geschickt
wieder aufgefangen wurde. -- Dazu dann die berühmte, unnachahmliche
südliche Geste ... -- gottvoll! Das Bild dieses jungen Arbeiters, ganz
mit dem Stolz auf seine Kunst erfüllt und mit der großen Liebe für seine
Arbeit -- es ist eine meiner liebsten Erinnerungen!

Auch Sie, mein Freund, sind auf die Freude der Arbeit berechtigt und nicht
auf ihren klingenden Lohn allein. Und darum raffen Sie sich auf! Nichts ist
herrlicher als »~struggle for life~«, als der Kampf ums Leben. Er ist das
Leben selber. Denn während wir kämpfen, hoffen wir. Die Entscheidung des
Kampfes ist erschütternd, wenn nicht noch mehr: langweilig. Der Sieger
ruht gern auf seinen Lorbeeren aus, wird fett, behäbig, unwachsam. Der
Besiegte wird zermalmt, vernichtet. Der Kämpfer allein steigt und bewegt
sich. Darum ist das Leben ein beständiges Ringen und dies die Freude der
Lebenden, der Gesunden ... Und der Mann, der einmal aus einem seelischen
oder körperlichen Ringen als Sieger hervorging, darf auch nicht glauben,
daß er nun gegen die Angriffe geheimer Mächte oder gegen die Tücke
des Nachbarn auf immer gefeit sei. Nein, neu und immer neu stürmen die
Widersacher und die Versuchungen auf ihn ein. Neu und immer neu bedrängen
sie ihn. Er muß wachen, muß bereit sein. Die Versuchungen sind das Leben
der Seele. Je heftiger und häufiger diese Angriffe sind, um so schöner
wird sich die Seele des Kämpfenden gestalten. Und wie jeder einzelne
Mensch sich seine Existenz erkämpfen muß, so müssen es auch die
Familien, die Stämme, die Völker, die Nationen, die Welten. So entstehen
Ackerbau, Künste, Industrien, Wissenschaften, Kulturen, Gewerbe,
Kriege, Revolutionen, Aufruhre. Wer kann sagen, daß Erdbeben, Fluten,
Feuersbrünste, alle Aufruhre der Elemente Unglück sei? Verschlingt
nicht eine Woge die andere? Bleibt nicht alles zusammen in der großen
Gemeinschaft des Meeres?

Wir Menschen können einander wenig oder gar nicht helfen. Aber einer
unserer größten Denker, Kant, sagt, daß der Mensch so viel tun soll, als
in seinen Kräften steht, um ein besserer Mensch zu werden. Unter dieser
Voraussetzung -- aber dann auch gewiß -- könne er hoffen, was nicht
in seinem Vermögen stehe, werde ihm durch höhere Veranstaltung zuteil
werden ...



NACHWORT.


Ich hatte also meinen Zweck erreicht! Ich stand allein mit meinem Kellner.
Meine internationalen Freunde hatten sich entschuldigt, sich zerstreut --
mich gemieden. Sie hatten genug. Ganz sanft hatte ich sie tot gelangweilt,
respektvoll und auf praktische, ehrliche Weise hinweggeekelt. Der Kellner
ist gut zur Bedienung. Sehr gut sogar mitunter. Unzureichend aber ist er
als Gegenstand amüsanter Betrachtung am Tische, den er bedient. -- Darum
schließt man die Augen lieber. -- Die Spannung bleibt allerdings.

Ich hatte also meinen Zweck erreicht. Aber wie! Mit welchen Mitteln!
Mit welchen Opfern! -- Nicht, daß ich den Verlust der Freunde beklage!
Beileibe nicht. -- Aber durch die hartnäckige Verfolgung des Fadens wurde
ich in Tiefen geleitet, die ich anfangs selber nicht ahnte. Ich hatte einen
neuen Menschen kennen gelernt. Ich fühle aber nun, daß die schöne Zeit
der sorglosen, fröhlichen Mähler auf immer dahin ist. Denn seit ich
unseren Ganymed, den Kellner, ganz kennen gelernt habe, seit ich die
Leiden, das Schicksal dieses Menschen weiß, seit diesem Tag kann ich keine
Mahlzeit, kein Glas Wein mehr so froh wie ehedem genießen, und mag's mir
noch so freundlich gereicht werden -- oder gerade dann noch viel weniger.
Ich fühle mich nicht mehr als Gott. Alles rings um mich ist menschlich.
Sehr menschlich.

Meine Freunde ahnten dies Unheil dumpf. Sie hatten zwar keine bestimmte
Vorstellung davon, aber darum gerade blieben sie weg. Sie entfernten sich.
Sie fühlten etwas wie ein kalter Hauch einer unsichtbaren, neidischen
Geisterhand über ihren Freuden schweben, sie hörten einen Tropfen Wermut
in ihren Becher sickern. Sie sahen bleiche Gesichter, Tränen -- sie sahen
Gespenster -- was weiß ich! -- Kurz, sie schlossen die Augen, sie wollten
nichts sehen, sie dankten, zitterten, flohen ...

Halb erleichtert, halb bedrückt atmete ich auf. Dann ging ich hinaus in
die frische Luft. Doch noch lange lag die brütende Schwüle des werdenden
Menschenschicksals drückend auf meiner Stirn.

Wir atmen nicht nur ein, wir atmen auch aus. Und der keimende Gedanke wirkt
in uns, bis er zum Ereignis wird. Das Ereignis ist die stumme Nacht -- die
Frucht -- das Letzte ...

Und das Wesentliche an dem Vergangenen ist nicht, daß es ging, sondern
daß es nicht mehr wiederkehrt.


Ende



[Illustration]



L. DIDION & CO., VERLAG

BLAKE BUILDING, 723 LEXINGTON AVENUE, NEW YORK


WICHTIGE ANZEIGE!

Mit dem vorliegenden Werke »Die Moral des Hotels« von Paul Vehling
glauben wir den Grundstein zu einer Sammlung von Büchern gelegt zu haben,
die für die Entwicklung und den Fortgang der Hotelindustrie von
großer Wichtigkeit werden soll. Mit dem Weltverkehr, der in den
letzten Jahrzehnten einen so ungeahnten Aufschwung genommen hat, und die
Unterschiede zwischen den Völkern der Erde immer mehr und mehr ausgleicht,
hat sich auch die Hotelindustrie zu einer großartigen menschlichen Arbeit
entwickelt, die viele andere moderne Kulturarbeiten an Wichtigkeit bei
weitem übertrifft. Das moderne Gasthaus, welches dem Reisenden Luxus,
Komfort und Sicherheit bietet, hat neben der Dampfkraft zum großen Teil
dazu beigetragen, daß der Werdegang der Menschheit _den_ Lauf genommen
hat, den er nehmen _muß_, nämlich zu einer Vereinigung der Völker, zum
Weltfrieden.

Während die Technik mit ihren gigantischen Maschinen, die unentwegt auf
dies hohe Ziel hinarbeiten, mit einer wahren Flut von Literatur sowie mit
der größten Pflege und Studium bedacht wird, steht die Hotelindustrie
ziemlich vernachlässigt da. Jeder daran beteiligte Arbeiter und
Arbeitgeber weiß, welch große Anforderungen an die Kenntnisse und Kräfte
der in den großen Hotels arbeitenden Menschen gestellt werden, damit
ihr Werk der Erfolg kröne. Die Hotelindustrie mit ihrer unendlichen
Reichhaltigkeit und Vielseitigkeit ist zu einer Wissenschaft
herangewachsen, welche sich nicht mehr durch einfache praktische Arbeit
erwerben oder beherrschen läßt. Diese Tatsache ist oft und bitter
empfunden worden, und man hat bereits Versuche gemacht, durch Errichtung
von Fachschulen, Lehrkursen usw. dem Übelstande Abhilfe zu schaffen.
Man hat das Bedürfnis für eine theoretisch-praktische Erziehung des
Hotelarbeiters also erkannt. Es scheint aber noch immer an den nötigen
Lehrkräften gefehlt zu haben. Am meisten aber hat man die Notwendigkeit
einer gediegenen Fachliteratur empfunden, die vor allem den menschlichen
Gehalt, der in der Hotelindustrie der wesentlichste von allen ist,
behandelt. Hier helfen keine Anstandsbücher und Umgangsphrasen mit
Menschen. Hier muß die Psychologie, das tiefinnerste Ergreifen der
menschlichen Natur, die Kunst, die Dinge in ihrer Art zu sehen, zu erkennen
und zu nehmen, einschreiten und muß erzieherisch wirken.

Wie weit Mr. Vehling in dem vorliegenden Werke dies Problem zu erfassen
verstanden hat, überlassen wir dem Urteil des geneigten Lesers. Zweifellos
aber ist der junge Autor der _erste_, der sich so intensiv dieses
undankbaren Themas bemächtigt hat, um mit kraftvoller Hand Licht und Luft
zu schaffen. Und wir, der Verlag, haben es uns zur Aufgabe gemacht, das
begonnene Werk auszubauen mit allen Kräften, die uns zu Gebote stehen.
Wir beabsichtigen, eine Reihe von sachlichen, aber doch interessant
geschriebenen Werken über die einzelnen Gebiete des modernen Verkehrs und
insbesondere Monographien über die Hotelindustrie herauszugeben, die nicht
nur zur Belehrung und Erziehung des modernen Hotelarbeiters dienen
sollen, sondern namentlich auch dem reisenden Publikum Unterhaltung und
Anhaltspunkte und Fachleuten wie Architekten, Ingenieuren und allen an der
Lebensmittelbranche beteiligten Geschäftsleuten Anregung bieten und neue
Wege eröffnen sollen, um zur fortwährenden Verbesserung der gesamten
Industrie beizutragen.

Unser nächstes Werk in dieser Richtung wird ebenfalls aus der gewandten
und fachkundigen Feder Mr. Vehlings stammen und wird einen kompakten
Überblick über

  DAS MODERNE RIESENHOTEL

bilden, wobei namentlich die Vorzüge und Nachteile berühmter Häuser der
ganzen Welt als Vorwurf dienen werden. Das Werk wird viele Illustrationen
nach Originalaufnahmen von Betriebsräumen, Maschinerien usw., sowie
verschiedene Originalbaupläne der größten New Yorker Hotels enthalten
und eine ganz ausführliche, ins Detail gehende Beschreibung der
Einrichtung und letzten Neuheiten dieser Häuser haben, -- Material, das
jedem Interessenten von großem Wert sein dürfte. Zur Ausführung unserer
Pläne werden wir bemüht sein, nur die ersten Autoritäten auf den
betreffenden Gebieten als Mitarbeiter heranzuziehen. Ernste, möglichst
spezialisierte Arbeiten von Fachleuten über Einrichtungen, Arbeiterfragen,
Geschichte usw. sind daher willkommen und werden stets Berücksichtigung
finden.


Bestellungen auf »Das moderne Riesenhotel« werden bereits jetzt
angenommen.


L. DIDION & CO., VERLAG

BLAKE BUILDING, 723 LEXINGTON AVENUE, NEW YORK


Gedruckt bei F. E. Haag in Melle (Hannover).



[ Hinweise zur Transkription


Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden
Ausnahmen,

  Seite 12:
  "dargestllt" geändert in "dargestellt"
  (Der Irrtum, bildlich dargestellt, aber ist)

  Seite 14:
  "choatische" geändert in "chaotische"
  (chaotische Zustände kritisieren und erörtern)

  Seite 35:
  "ihrer" geändert in "Ihrer"
  (ganz nach Ihrem Belieben und Ihrer Auffassung)

  Seite 42:
  "," eingefügt
  (in ein modernes Riesenvergnügungslokal, in ein Nachtcafé)

  Seite 47:
  "," eingefügt
  (besorgte der ~Rex Bibendi~, der Trinkmeister)

  Seite 50:
  "Mal" geändert in "Mahl"
  (Notwendigkeit eines Tisches bei einem Mahl)

  Seite 68:
  "sterelisiert" geändert in "sterilisiert"
  (werden vor dem Gebrauche chemisch sterilisiert)

  Seite 76:
  "prodizieren" geändert in "produzieren"
  (Possenreißer und Hanswurste produzieren sollten)

  Seite 79:
  "die" geändert in "wie"
  (wie die des männlichen und weiblichen)

  Seite 85:
  "Sie" geändert in "sie"
  (Herstellung der Sachen, welche sie bestellen)

  Seite 89:
  "kunstsinnige" geändert in "kunstsinnigen"
  (Wo keine kunstsinnigen Menschen sind)

  Seite 96:
  "radebrechern" geändert in "radebrechen"
  (in fremden Sprachen etwas radebrechen oder sich)

  Seite 101:
  "Verdauunsstörungen" geändert in "Verdauungsstörungen"
  (wenn er nicht gerade an Verdauungsstörungen leidet)

  Seite 103:
  "drammatischen" geändert in "dramatischen"
  (habe ich mit echtem dramatischen Instinkt)

  Seite 104:
  "Es" geändert in "Er"
  (Er ist das Feingefühl und die Diskretion selber)

  Seite 115:
  "den" geändert in "dem"
  (Wirt im allgemeinen und dem Kellner im besonderen)

  Seite 119:
  "gemanikurte" geändert in "gemanikürte"
  (keine Rücksicht auf gemanikürte Hände)

  Seite 130:
  "besorgt" geändert in "besorgte"
  (und eine besorgte an ihre Stelle treten)

  Seite 133:
  "Und" geändert in "und"
  (ein Geschäftshaus, und es kann doch auch nur)

  Seite 139:
  "ihnen" geändert in "Ihnen"
  (ich sage Ihnen, Herr Kommerzienrat)

  Seite 155:
  "probiern" geändert in "probieren"
  (seine Schlechtigkeit zu probieren)

  Seite 155:
  "," eingefügt
  (dem Einfluß seiner Tagesarbeit, entwickelt er)

  Seite 159:
  "internationelen" geändert in "internationalen"
  (größten Teil der internationalen Hotelkundschaft)

  Seite 164:
  "." eingefügt
  (»~Buona mano~« und »~Mancia~«.)

  Seite 180:
  "ihn" geändert in "ihm"
  (aber um ihm nur halbwegs gerecht zu werden)

  Seite 182:
  "Trinkgld" geändert in "Trinkgeld"
  (verbinden oft mit dem Trinkgeld einen guten Zweck)

  Seite 190:
  "Symtome" geändert in "Symptome"
  (tatsächlich alle Symptome einer regelrechten)

  Seite 194:
  "ein-einzelnen" geändert in "einzelnen"
  (den die Prinzipale in den einzelnen Fällen)

  Seite 195:
  "Gauben" geändert in "Glauben"
  (noch etwas Glauben an die Menschheit)

  Seite 200:
  "Sie" geändert in "sie"
  (Gleichzeitig beanspruchen sie natürlicherweise)

  Seite 200:
  "Der" eingefügt
  (Der Arbeitgeber stellt seine Leute an)

  Seite 203:
  "Ihre "ihre"
  (Es ist nicht ihre Schuld!)

  Seite 204:
  "ein" geändert in "eine"
  (der stelle eine von der Menschheit als wahr)

  Seite 216:
  "Sie" geändert in "sie"
  (wenn sie wüßten, welche Genüsse)

  Seite 219:
  "Anektödchen" geändert in "Anekdötchen"
  (ein Anekdötchen zur Illustration beigeben)]





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