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Title: Kreuzwege
Author: Čapek, Karel
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Kreuzwege" ***


                            KAREL ČAPEK



                              KREUZWEGE


                               LEIPZIG
                          KURT WOLFF VERLAG

                  BÜCHEREI »DER JÜNGSTE TAG« BAND 64

              GEDRUCKT BEI DIETSCH & BRÜCKNER IN WEIMAR

                  EINZIG BERECHTIGTE ÜBERTRAGUNG AUS
                  DEM TSCHECHISCHEN VON _OTTO PICK_



                           STOCKEN DER ZEIT


Warum ist jener, an den ich denke, welcher sich über den Schreibtisch
beugt, warum ist er so unbewegt, warum wartet er und horcht, daß etwas
außer ihm geschehe; als ob ihm irgendein Ding einen Wink im Kummer
geben könnte und einen Abschluß dieser unendlichen Reihe von
Unsicherheiten, die ihn durchwallt. Alle Dinge um ihn herum sind nur
melancholieverhangene Gewohnheiten; nur die gegenüberstehende Wand der
Gasse hat in der formlosen Stille einen ungewöhnlich dummen und so
unangenehmen Ausdruck, daß der Mensch, leidend, sich dankbar an das
Rasseln einer Droschke auf dem Pflaster hält, als einem Ausgangspunkt
von dieser Sekunde zur nächsten.

Klapp-klapp der Hufe im Räderknarren, langes rhythmisches Kettchen und
Poltern hinter der Ecke, rasches Rasseln auf den Steinen; das ist etwas,
was sich aufrollt in die Ferne wie ein Knäuel, jetzt schon von weitem
immer schwächeres Klappern, ein Ticken so lang wie ein dünner gespannter
Faden, so dünn, daß er fast nicht mehr ist, schon nichts mehr ist als
angespannte Entfernung, unmögliche Länge, und Stille.

Die Stille von innen und außen flossen zusammen wie zwei von nichts
gekräuselte und durchaus gleichartige Wasserflächen. Alles ist durchaus
gleichartig wie eine Fläche, unbewegt und gespannt. Der Mensch beim
Tisch hält den Atem an und sein Herz steht wie eine Fläche. Die Stille
ist gespannt wie ein Tuch, und alles ist still, alle Dinge sind Stücke
der Stille, hineingeplättet in die glatte Ebene ohne Regung Tisch und
Wände, alle Dinge zusammen sind wie eine Zeichnung auf geglätteter
Fläche, klar, ohne Verkürzung und Schatten. Sie sind eine gespannte
Oberfläche, die ohne Falten und Rauheit ist; alle sind in dieser
unstofflichen Ebene enthalten wie in Eis festgefrorene Halme. Nicht
einmal der Mensch beim Tisch ist außerhalb ihrer: er ist dort, ohne
Regung, in der unendlichen Ebene der Dinge, und kann sich ihr nicht
entraffen; wenn er sich rührte, fühlt er, würde eine Entgleisung und ein
Zusammensturz aller Teile erfolgen, ein furchtbares Zusammenschrumpfen
der gespannten Oberflächen. Ohne Erstaunen, ohne Inneres, ohne Zeit.
Angst, daß dies vielleicht der Tod sei, ein Abgang, Vernichtung. Nicht
fühlen, das ist das positive Gefühl des Nichtseins und ein starkes
Leiden am Nichtsein; unbewegter Kampf des Unbewußten um den Gedanken und
Beklemmung in den Grenzen der Leere. Überall Ebene mit trauriger toter
Oberfläche. Und dieses, was steht, ist die Zeit; wäre es möglich, sie zu
bewegen, so zerfiele sie sogleich in tausende Sekunden, die, tot, wie
Staub zerflatterten. Doch der Mensch beim Tisch fürchtet sich zu rühren;
mit all seiner Bangheit und Machtlosigkeit ist er in der Stille
festgelegt wie ein Insekt in durchsichtigem Bernstein; er ist einfach
eingestellt.

Und da Schritte auf dem Gehsteig, schöne, laute und ordentliche.
Die Welt in der reglosen Fläche ist in lautloser Explosion
auseinandergefallen; die eckigen und massiven Dinge reckten sich
krachend auf, der Mensch an seinem Tische breitet sich aus in alle
Richtungen des Raums im Gefühl seiner reichen Verzweigung und seiner in
die Welt getauchten Bewegungen. Die Kanten und Winkel aller Dinge
kündeten sich in rauhem Rauschen des Raums: so rasch liefen sie in ihren
Richtungen, mit Selbstgewißheit und Härte. Das Herz des Menschen ergriff
seinen alten Schmerz, mit starken, starken Schlägen; jener, an den ich
denke, erhob sich, um seiner Trauer Gewicht zu ertragen, und das große
Rad des Seins dreht sich in immer weiteren und schnelleren Kreisen.



                         HISTORIE OHNE WORTE


Tief sind die Wälder in der Nacht wie ein grundloser See, und du blickst
schweigend auf einen Stern über Melatín, denkst an das Wild, das in der
Tiefe das Waldes schläft, an den tiefen Schlummer aller und an alles,
was niemals in dir entschlafen wird. Lang, endlos lang sind dämmrige
Tage; wie oft durchschrittest du die Wälder an solchen Tagen, o Schritte
und Erinnerungen ohne Zahl, und nie bist du an das Ende der Schritte und
Erinnerungen gelangt: so lang und tief sind die Wälder über Melatín.

Aber daß heut ein flammender Augustmittag ist — brennende Lücken in den
Baumkronen und des Lichtes Sichel die Forste durchfahrend; daß ein so
klarer Tag ist, wie wenn ihr schütterer würdet, tiefe Wälder, und vor
der Sonne auseinanderträtet. Die Glut hat meine Erinnerungen
ausgetrunken und fast schlief ich ein, ich weiß nicht ob vor Lust oder
Ermattung, eingewiegt von den weißen Dolden, die über meinem Haupte
schwanken. —

An einem solchen Tage ging Ježek durch den Wald, zufrieden, daß er an
nichts dachte und denken konnte. Breit atmete die Wärme zwischen den
Bäumen. Ein Tannenzapfen riß sich los, — er hatte sich festzuhalten
vergessen, weil es so windstill war; die Kronen kräuselten sich und
überall zitterte Licht. Oh, welch schöner, herrlicher Tag! Wie schimmern
silbern die schwanken Ährchen des Windhalms! Eingewiegt von Freude oder
Langweile lauschte Ježek dem warmen Summen des Waldes.

Geblendet stand er am Rande der Lichtung, wo unhörbar die Glut zitterte.
Wer liegt da? Es ist ein Mensch. Er liegt mit dem Gesicht auf der Erde
und ohne Regung. Fliegen weiden auf der ausgestreckten Hand, die sie
nicht verscheucht. Ist er etwa tot?

Andächtig und mit Grauen bückte sich Ježek über die gereckte Hand,
welche noch den alten Schlapphut hielt. Die Fliegen entflohen nicht
einmal. An dem verblaßten Futter waren noch einige Buchstaben leserlich:
..ERTA. EL SOL. Puerta del Sol, erriet Ježek erstaunt und neigte sich
über das Antlitz des Toten. Aber da öffnete dieser die Augen und sagte:
»Möchten Sie mir nicht eine Zigarette geben?«

»Recht gern,« atmete Ježek in nicht geringer Erleichterung eifrig
auf. Der Mensch nahm die Zigarette, knetete sie sorgfältig, wälzte sich
auf die Seite und ließ sich Feuer geben. »Danke,« sagte er und begann
nachzusinnen.

Er war nicht jung, durchgraut, mit breitem und unbestimmtem Gesicht; er
war irgendwie sehr abgemagert in seinen Kleidern, so daß sie in
seltsamen, leblosen Falten an ihm lagen. So war er ausgestreckt auf der
Seite und rauchte, unbewegt irgendwohin zu Boden blickend.

Puerta del Sol, überlegte Ježek, Tor der Sonne; was hat er nur in
Spanien gemacht? Nach einem Touristen sieht er nicht aus. Vielleicht ist
er nicht gesund, daß er so heilige Augen hat. Puerta del Sol in Madrid.

»Sie waren in Madrid?« sprach er unversehens aus.

Der Mensch atmete zustimmend durch die Nase und schwieg.

Er könnte sagen, wer er ist, überlegte Ježek; ein Wort gibt das
andere, und das Übrige errätst du. — Er könnte übrigens sagen: Ja, ich
war in Madrid; aber es ist nicht der entfernteste Ort, wo ich gewesen,
und es gibt noch schönere Orte und ein wunderbareres Leben. Allerlei
könnte er lügen. Siehe, jetzt besinnt er sich.

Der Mensch winkte leicht mit der Hand, unbestimmt und versonnen
nirgendwohin blickend.

Vielleicht sagt er: Ich sehe, daß Sie mich teilnehmend betrachten; Sie
haben mich für tot gehalten und sich mitleidig über mich gebeugt. Ich
will Ihnen also die Historie meines Lebens berichten. Unterbrechen Sie
mich nicht, falls Ihnen etwas unzusammenhängend oder unmotiviert
erscheint. Lesen Sie nur auf meinem Gesicht, ob ich leicht und einfach
gelebt habe. So irgendwie würde er etwa beginnen.

Aber der Mensch rauchte schweigend und langsam, die hellen, blicklosen
Augen ins Unendliche geheftet.

Sicherlich wird er etwas sagen, dachte Ježek; es ist schwer, Worte
für eines Lebens Verlauf zu finden. Es sei, ich warte. Leise legte er
sich auf den Rücken. Die Sonne schlug ihm in die Augen und drang durch
die geschlossenen Lider hindurch; rote und schwarze Kreise haben sich zu
drehen begonnen und tanzen brennend vor den Augen. Die Wärme atmet in
langen, feurigen Wellen, und Ježek fühlt sich so wohl, als würde er
entführt von den schwarzen und roten Kreisen, von der Flut langgezogener
Wellen, von unendlicher und unfortschreitender Bewegung. Wohin fließt
diese starke hinreißende Bewegung? Ach nichts; nur die Bewegung des
Lebens an seinem Ort.

Plötzlich wandte er sich. Über die Hand lief ihm eine helle Ameise,
nicht wissend wohin auf der allzu großen Fläche. Auch uns, dachte
Ježek, Ameislein, auch uns regt die allzugroße Welt auf: diese
Fernen, Wanderer, diese hartnäckige Panik. Warum läufst du so? Warte,
verweile; ich tu dir nichts, wenn ich auch groß bin. Ach, kleiner
Abenteurer, ist's nur Verwirrung, die dich so jagt? Wilde und
verzweifelte Verwirrung der Einsamkeit? irgendeine Angst? Wo ist denn
ein Tor, durch das du entrönnest?

Nahe, auf Griffweite nah hat sich ein Schmetterling mit weit geöffneten
Flügeln auf eine Blume niedergelassen, wiegt sich auf der weißen Dolde
und bewegt die leichten Flügel, schließt sie und breitet sie aus mit
einer zauberischen und wollüstigen Bewegung, berauschend süß. Ach
bleibe, o Lust! Verzaubere mein Herz nicht mit dieser ewigen Gebärde des
Entfliehens! Bleib und lasse dich schaukeln, liebliches Weilchen,
Sekunde ohne Gleichgewicht, unaussprechlicher Wink! Edle Begegnung nach
solchen Qualen der Reise! Jungfräulich erbebten die Zauberflügel und
jäh, unbegreiflich entschwindet der Falter, Sekunde, Wollust, als
schlösse sich plötzlich ein Tor hinter ihm.

Ježek blickt empor. Wohin ist all das entflogen? Wohin entfliegt ihr,
leuchtende Wolken, in zielloser und unermüdlicher Bewegung? Ach, so
entführt zu werden, wegen nichts, aus gar keinem andern Grunde als wegen
der Größe des Himmels; so entführt zu werden, weil der Raum groß ist und
nicht endet! Weil die Sehnsucht groß ist und nicht endet. Sanfter
Himmel, meine Seele ist friedlich wie meine Augen. Aber warum blickt ihr
bis hinter den Horizont, friedliche Augen? Warum, friedlichste Seele,
findest du immer die dämonische Tugend der Unrast in dir? Wie hoch
segeln die Wolken, schwindlig hoch, — du möchtest sagen, bis am Tore
der Sonne hin.

Puerta del Sol. Ježek sah sich um. Der Mensch, den er gefunden hatte,
war wieder eingeschlafen, und sein Antlitz erschien unklar und zerquält,
friedlich und weit. — Da stand Ježek auf, um ihn nicht zu wecken,
und ging durch den warmen Wald, zerstreut, ohne Frage und wie gesättigt.
Ihm war, als hätte er die Historie eines Lebens vernommen, eine wenig
klare, aber nahe Geschichte, unzusammenhängend, aber nichtsdestoweniger
eine Geschichte. — Ihm war, als hätte er die Historie eines Lebens
vernommen und begönne schon sie zu vergessen.



                            VERLORENER WEG


»Aber wir haben ja den Weg verloren!«

»Augenscheinlich.«

»Wohin sind wir geraten? Sehen Sie etwas? Wo ist die Allee?«

»Ich weiß nicht.«

»Wo sind wir? Sahen Sie jemals, daß hier ein Heidefeld wäre?«

»Nein.«

»Aber wie konnten wir nur die Landstraße verlieren? Wir hätten ja über
den Graben gemußt — — Hören Sie, sind wir nicht vielleicht über den
Graben gegangen?«

»Ich weiß nicht.«

»Das ist absurd. Die Straße kann doch nicht unter den Füßen verloren
gehn. Wo sind Sie?«

»Ich hab' mich gesetzt.«

»Auf dem Weg geht man doch anders als im Gras. Hart und laut. Geradeso
wie ich uns auf der Landstraße gehen gehört.«

»Das waren Sie, der so lärmend ging.«

»Um so eher! Es ist doch geradezu undenkbar … Das ist das
Sonderbarste, was ich je — — Mensch, schlafen Sie nicht!«

»Ich schlafe nicht.«

»Wo sind wir eigentlich?«

Es war eine dunkle und fast sternlose Nacht; nur etwas lichtes Gestein
auf der Erde und kleine, aufrechte Wacholdersträucher, winzigen reglosen
Gestalten gleichend; von fern der Ruf eines Käuzchens nur drehte die
unbekannte Weite in die stockende Finsternis her.

»Lachen Sie mich nicht aus«, sagte der stehende Mann, »aber mir gefällt
das nicht. Wir haben überhaupt die Richtung verloren. Wir müssen auf
irgendeinen Weg gelangen, wohin immer er führe; ein Weg zeigt wenigstens
»vorwärts«, aber das Unwegsame schweigt. Das Unwegsame schmeckt
gleichsam nach Unendlichkeit; sie ist hier um uns herum auf allen
Seiten; hören Sie, das ist eine unmögliche Lage.«

»Setzen Sie sich«, sagte der andere.

»Ich will nicht. Ich setze mich erst irgendwo am Weg, mitten zwischen
die rechte und linke Hand, damit ich weiß, wo ich bin. Wer auf dem Wege
geht, dem ist die Welt rechts und links eine Kulisse ohne Bedeutung und
die Wände eines langen Ganges; aber das Weglose ist wie der Gipfel eines
Berges; zu sehr im All; zu offen nach allen Seiten. Gehn wir von hier!«

»Warten Sie noch, ich kann nicht.«

»Ist Ihnen etwas geschehn?«

»Ich kann nicht. Ja, mir ist etwas geschehn. Ich bin auf etwas gekommen,
gerade als wir irrezugehn begannen. Vielleicht genau in jenem
Augenblick.«

»Wo war das?«

»Ich weiß nicht. Ganz plötzlich tauchte es vor mir auf. Ich hatte schon
seit Jahren nicht mehr daran gedacht, und jetzt kam es von selbst.
Vielleicht gerade deshalb, weil wir auf einmal den Weg verloren.«

»Irgendeine Erinnerung?«

»Erinnerung, nein. Eine Lösung. Eine Antwort. Etwas, was ich das ganze
Leben lang gesucht habe, selbst wenn ich nicht daran dachte. O Gott, ist
das furchtbar kompliziert! Dadurch ändert sich mein ganzes Leben — —
Alles hängt zusammen. Begreifen Sie das?«

»Durchaus nicht.«

»Ich auch nicht. Offenbar mußte ich vom Weg abkommen, um darauf zu
kommen. Von Allem abkommen, was dir bekannt ist! Darum gingen sie in die
Wüste! Aber verlasse dein Haus und deine Familie; deine Logik ist aus
Gewohnheiten gewebt und deine Wege aus tausenderlei vergangenen
Schritten; darum komme ab von Allem und beginne zu irren, um im
Unbekannten zu suchen. Dich selbst findest du dann in dem, was das
Seltsamste und Ungewohnteste ist.«

»Das sagen Sie mir?«

»Das sage ich mir selbst, weil ich es gefunden habe. Dich selbst hast du
gefunden und kannst dich nicht erkennen; und doch ist es das einzige,
was du je gesucht hast. Mein Gott, so viele Jahre! Und plötzlich diese
Lösung: dir kommt das freudige und wortlose Gefühl, daß es da ist; das,
was noch kein Gedanke ist, sondern nur eine blendende Weile und
wunderbare Gewißheit. Hören Sie, mein Leben verändert sich
wahrscheinlich, vielleicht gehen unsere Wege auseinander; aber ich bin
froh, daß ich diesen Augenblick mit Ihnen erlebt habe.«

»Wenn Sie mir wenigstens sagen würden —«

»Ich kann nicht. Jetzt kann ich noch nichts unterscheiden. Die Wahrheit
mußt du genießen wie ein Gefühl, bevor sie dir zum Wort wird. Du mußt in
sie hineingeraten wie in einen Raum, der nirgendwohin führt, sondern
nach allen Seiten sich öffnet; denn dein Nachsinnen ist nur ein Weg in
einer Richtung, wie ein Gang zwischen Mauern. Dein Denken geht nur
vorwärts auf irgendeinem der vielen Wege: aber die einzige Wahrheit geht
nirgendwohin und zielt nirgendwohin, sondern besteht wie die
Ausdehnung.«

Der stehende Mann schwieg und horchte gespannt in die Ferne. In der
tausendfachen Stille der Nacht, schien es ihm, entfaltete sich irgendwo
ein winziger, klangloser Rhythmus. Er schien von der Tiefe der Stille
überschwemmt zu sein, aber er war da und brach sich unaufhaltsam Bahn.
Menschenschritte! ferne Schläge auf hartem Weg. Der stehende Mann atmete
auf.

»Dort also ist die Landstraße,« sagte er und wunderte sich plötzlich
über seine Stimme; um soviel klarer und farbiger klang sie als zuvor.

Der sitzende Mann erwachte gleichsam. »Was? Die Straße? Sie gehen schon
nach Hause?«

»Sie wollen vielleicht hier bleiben?«

»Ja, ich erkläre es Ihnen dann. Es ist maßlos kompliziert. Warten Sie
noch!«

»Erklären Sie es mir lieber unterwegs.«

»Wenn ich mir das notieren könnte! Was mir alles einfällt! O Gott, wie
zahllos!«

»Notieren Sie sich's zu Hause. Ich begleite Sie schon.«

»Ich danke Ihnen. Wo sind wir?«

»Ich weiß nicht, kommen Sie nur. Geben Sie acht, hier ist eine
Schlucht!«

»Ich sehe nichts.«

»Reichen Sie mir die Hand. Christus, wie sind wir eigentlich
hiehergeraten? Achtung!«

»Warten Sie, hier kann ich nicht … Gehn wir zurück!«

»Das geht nicht, der Weg ist vor uns. Wo stecken Sie?«

»Hier oben. Und Sie?«

»Im Wasser. Bleiben Sie dort, ach! Ist Ihnen etwas geschehn?«

»Nein, danke. Wenn ich nur unten bin.«

»Jetzt folgen Sie mir. So!«

Und die beiden Männer stolperten den Hang empor und wieder hinunter; es
war ein mühseliger, zerfurchter Boden, wo sie mit tausendfacher Vorsicht
gehen mußten; es gab Gesträuch da, durch das sie sich hindurcharbeiten
mußten; es waren breite, bebaute Ackerfelder da, über welche sie
rücksichtslos wie Eber dahinfuhren. Endlich ein Graben und die
Landstraße.

»Und nun sagen Sie mir,« rief der, welcher vorausging, »wie konnten wir
überhaupt dort hinauf gelangen?«

»Ich weiß nicht,« sagte der andere etwas bedrückt, »es ist wirklich
seltsam. Ich müßte es mir überlegen … Ich habe jetzt so viel
nachzudenken!«

»Sagen Sie mir nun, worauf Sie gekommen sind?«

»Ja. Es ist sonderbar mit diesem Verirren! Gewiß fand ich es gerade in
dem Augenblick, als wir den Weg verloren. Wär' ich schon zu Hause!«

»Wovon handelt es?«

»Von der Seele …«

Nun schritten beide rasch und schweigend aus; sie kamen durch einen Wald
und durchliefen ein Dorf; einige Fenster leuchteten menschlich in der
tiefen Finsternis; und wieder tat sich eine weite und ferne Heide auf.

»Was wollen Sie also sagen?«

»Wovon?«

»Von dem, worauf Sie dort oben gekommen sind — von der Seele.«

»Ach ja, Sie haben recht. Sagte ich, von der Seele? Eigentlich war es
nicht bloß das …«

»Hören Sie,« sagte nach einer recht langen Weile sein Gefährte, »wie ist
es also mit dieser Seele? Sie sind schrecklich zerstreut.«

»Ich? Im Gegenteil. Ich dachte gerade darüber nach. Ist es nicht
merkwürdig, daß sich der Mensch im Wesen nicht kennt?«

»Und Ihre Lösung?«

»Was für eine Lösung? Das ist auf ewig nur ein Problem.«

»Aber Sie hatten irgendeine Lösung.«

»Das war bestimmt nicht von der Seele. Das waren eher andere Fragen, vom
Leben überhaupt … Ich dachte soeben darüber nach, womit zu beginnen.«

»Mit dem, was Ihnen zuerst aufblitzte.«

»Zuerst? Das war nur eine Ahnung … Es ist höchst schwierig zu
formulieren. — Ich weiß wirklich nicht, was mir zuerst aufblitzte. Es
kam das alles so auf einmal!«

»Also beginnen Sie womit immer.«

»Das geht nicht. Alles war ein Ganzes … Ja, das alles hing zusammen.
Könnte ich es nur umfassen!«

»Sie werden es mir ein andermal sagen?«

»Nein, lieber gleich jetzt. Nur, bis ich es ein wenig geordnet habe.
Aber mich stört es, wie laut wir gehen.«

»Setzen wir uns also.«

»Ja, ich danke Ihnen. Vor allem bedenken Sie … So klar leuchtete es
mir ein … Zunächst folgt daraus, wie elend und sinnlos alles war, was
ich bis jetzt gelebt. Plötzlich durchdrang es mich wie ein Messer; ich
entsetzte mich vor mir selbst und begriff, daß ich so viele Jahre, o
Gott, nur einen unaussprechlichen und ungeahnten Schmerz gelebt habe. So
viele Jahre! Dies also blitzte in mir auf, was ich war und wie ich
unbewußt gelitten; und alles war vergeblich und irrig, und eng wie ein
Kerker; und mir war furchtbar zumute, wenn mein ganzes Leben sich mir
als ein gefundener Fehler erwies. Ach, Vieles erkläre ich Ihnen noch
näher. Aber zweitens, warten Sie, zweitens —«

»Was ist zweitens?« fragte nach einer Weile der Gefährte.

»Warten Sie, es war doch etwas von der Seele darin, aber jetzt weiß ich
nicht. — Ja, es war etwas Unermeßliches von der Seele. Gott, was war es
eigentlich?«

»In welchem Sinne von der Seele?«

»Ich weiß nicht, es waren überhaupt keine Worte, es war nur eine
Gewißheit — — es ist so flüchtig!«

»Besinnen Sie sich doch!«

»Ja, gleich. Etwas von der Seele? Was war es?«

»Denken Sie nur nach, ich warte.«

»Ich danke Ihnen. Gleich werde ich es haben.«

Die Nachtzeit lag unbewegt auf den schwarzen und formlosen Dingen. Und
siehe, da geht der erste morgendliche Mensch über die leere Landstraße.
Ist das nicht der Schrei eines Hahns im Dorfe? Hat sich die Nacht nicht
in ihrem stillen Innern gerührt?

»Haben Sie es gefunden?«

»Ach gleich, nur noch etwas —«

Am Horizonte dämmerte es schwach. Die Erde und ihre Dinge nahmen eine
kühle, schemenhafte Blässe an; ständig ausgebleichter und schärfer hoben
sie sich empor, und es ward Licht.

»Also was haben Sie gefunden?«

»Ich weiß nicht … Es ist mir entglitten. Alles habe ich verloren, und
ich werde es niemals mehr wissen.«

»Und überhaupt nichts, vollkommen nichts ist Ihnen davon geblieben?«

»Vollkommen nichts; nur das, was mir auf ewig klar geworden über mein
Leben.«



                            DIE AUFSCHRIFT


Ein Weilchen verschnaufend stand Kvíčala an der Tür und freute sich:
Matys ist krank, er wird Freude haben, daß ich gekommen bin: ich werde
ihm ein wenig vorplaudern am Bett, um ihn zu zerstreuen.

Die Glocke ertönte so abgerissen, daß es Kvíčala quälend beklemmte;
ihm war, als ob sich der Klang drinnen so aufgescheucht und blind einen
Weg bahne durch die allzuabgestandene Stille, und er lauschte mit der
Hand an der Glocke. Es kam das alte Mütterchen in Hausschuhen öffnen und
bat ihn flüsternd einzutreten. Kvíčala ging auf den Spitzen, er wußte
selbst nicht warum; durch die offene Tür sah er Matys mit dem Gesicht
zur Wand im Bett liegen, wie wenn er schliefe.

»Wer ist das?« fragte der Kranke gleichgültig.

»Der Herr Kvíčala,« flüsterte die alte Frau und entfernte sich.

Matys wandte sich mit aufgeheiterten Augen dem Freunde zu.

»Das ist brav von Ihnen. Oh, es ist nichts; nur eine
Brustfellentzündung, irgendein Exsudat … In vierzehn Tagen werde ich
gehen.«

Kvíčala lächelte gezwungen. Ihm war schwül in dem heißen Zimmer, wo
er den schwachen und faden Geruch von Umschlägen, Urin, Tee und Eiern
spürte. Ihn rührte das unrasierte Kinn des Matys und seine strahlenden
Augen; er bedauerte, daß er vergessen hatte, eine kalte Orange oder ein
nasses Sträußchen mitzubringen, um sie auf das Nachttischchen zwischen
die zerknüllten Taschentücher, Speisereste und ungelesenen Bücher zu
legen. Im ganzen übermannte ihn eine matte Übelkeit.

Er bemühte sich zu plaudern; er erzählte irgendwelche Neuigkeit und
ärgerte sich über seine fremde, gleichsam belegte Stimme; er fühlte die
Augen des Kranken aufmerksam und doch entfernt auf sich geheftet; und da
verschluckte er seine Neuigkeit und sehnte sich zu verschwinden.

Matys erkundigte sich nach Bekannten; aber Kvíčala spürte die
besondere Rücksichtnahme des Kranken auf die Gesunden heraus und
antwortete immer schwerer. Schließlich war alles erschöpft. Wenigstens
das Fenster öffnen! Horchen, was draußen geschieht! Nur einen Teil
seiner selbst dorthin übertragen! Verdrossen wich Kvíčala den starren
und abwesenden Blicken des Freundes aus; seine Augen wichen dem heißen
und zerdrückten Bette aus; er wich der eingetrockneten Häßlichkeit des
Nachttischchens aus; und heftete den Blick auf das Fenster, das blasse
halbundurchsichtige Fenster, das Fenster, welches ins Freie führt.

»Schauen Sie her,« sagte plötzlich der Kranke und wies mit dem Finger
auf die Wand zu Häupten des Bettes.

Kvíčala beugte sich vor; an die Wand war grau und verwischt und
zweimal unterstrichen mit Bleistift das Wort »_zurück_« geschrieben.
»Zurück«, las Kvíčala.

»Was sagen Sie dazu?« fragte Matys still.

»Jemand hat es hingeschrieben. Es steht offenbar schon viele Jahre
dort.«

»Wieviel Jahre denken Sie?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht fünf oder zehn — Wann wurde hier das
letztemal gemalt?«

»Ich habe die Mutter gefragt,« sagte Matys und schaute zu der trüben
Zimmerdecke empor. »Vor mehr als zehn Jahren. Ich wollte es niemals
erlauben.«

Kvíčala ließ seine Blicke hastig zum Fenster zurückkehren.

»Sehen Sie nur her,« nötigte der Kranke, »fällt Ihnen nichts auf?«

Kvíčala neigte sich wieder über das Bett. »Es ist von einer
Männerhand geschrieben. Jemand schrieb es in Aufregung und ungeduldig,
so daß hier der Graphit abgebrochen ist. Er hat geradezu in die Wand
geritzt. Und im Dunkeln. Dieses Häkchen ist ein wenig seltsam … Diese
langen Striche auf dem u und ü sehen irgendwie entschlossen aus.«

»Zurück,« wiederholte Matys. »Wissen Sie nicht, was wohl damit gemeint
ist?«

»Gott weiß, vielleicht irgendein Entschluß. Vielleicht, etwas
zurückzugeben.«

»Oder selber zu etwas zurückzukehren?«

»Möglich. Warum fragen Sie?«

»Nur so. Ich überlege, weshalb es hier geschrieben steht.«

»Jemand hatte wohl einen Einfall oder eine Eingebung — Er schrieb es
sich bloß als Leitwort auf, um nicht daran zu vergessen. Weshalb
interessiert es Sie so?«

»Weil es mit meiner Schrift geschrieben ist. Ich habe es offenbar selbst
geschrieben, aber jetzt weiß ich überhaupt nichts mehr und kann mich
nicht entsinnen, wann und warum. Andauernd überdenke ich, was das
bedeuten sollte.«

»Jetzt bedeutet es nichts mehr.«

»Jetzt nicht, aber damals. Ich fand es hier während der Krankheit. Nie
zuvor hatte ich es beachtet, bis jetzt. Und so sinne ich aus Langweile
nach —«

»Worüber?« fuhr Kvíčala nach einer Weile auf.

»Nie habe ich an die vergangenen Jahre gedacht,« sagte Matys mit
geschlossenen Augen. »Wozu auch? Alles Vergangene ist so
selbstverständlich. Der Mensch gewöhnt sich an die vergangenen Dinge.
Alle dünken ihm bekannt. — Aber jetzt weiß ich nicht, zu was ich mich
damals entschlossen habe; ich weiß nicht, zu was ich zurückwollte und
weshalb es mir so unerträglich war, und weiß nicht, wann es überhaupt
war. Niemals wird es mir klar werden … Überrascht und beunruhigt Sie
nicht manchmal etwas Vergangenes?«

»Nein,« sagte Kvíčala aufrichtig.

Der Kranke bewegte ungeduldig die Schultern und schwieg. »Ich weiß
nicht, wann und warum ich es geschrieben habe,« begann er; »aber mir
sind viele Augenblicke eingefallen, in denen mir dies Wort als Erlösung
erscheinen konnte, und ich finde ständig neue Augenblicke, wo ich es
hätte schreiben können. Oder lieber erfüllen.«

»Wie erfüllen?«

»Ich weiß nicht. Schon lange sinne ich darüber nach, wie es sich
erfüllen ließe. Zurück, ja zurück, aber zu was? Ich liege da und
erinnere mich an allerlei: zu was von alledem zurückzukehren? Ich kann
mich vieles Schönen entsinnen. Vieles tut mir leid. Manche Liebe. Hie
und da leuchtet ein alter Gedanke auf. Und viel, unzählig viel habe ich
vergessen, und daran denke ich am meisten. Es gibt furchtbar viele
vergangene Dinge. Die Vergangenheit ist schwindelerregend.«

Kvíčala seufzte; ihm ward immer schwüler. Ach, die Gasse hinter dem
Fenster! Licht, Raum! Schnelligkeit und Bewegung dort draußen!

»Die Vergangenheit ist nicht so selbstverständlich, wie ich's mir
dachte,« sagte Matys wie für sich selbst. »Sie ist unermeßlich unklar.
Zeitweilig geschahen merkwürdige und unmögliche Dinge. Mir ist als
stünde ich am Rande einer halb unbekannten Welt; etwas habe ich schon
entdeckt, aber der Rest geht unendlich weiter und breiter, als ich
geahnt. Ich hatte keine Vorstellung davon … Das ist ein barmherziger
Irrtum, daß uns die eigene Vergangenheit bekannt erscheint; wir kennen
nur etwas, aber alles übrige … Das Meiste sollten wir _erst erleben_!«

Kvíčala horchte: Draußen klingelt der Tramway, die Schritte vermehren
sich, breit schüttet sich Wagenrasseln hin; dünn und klar flog ein
Kinderschrei auf. Aber hierher kommen nur die Schatten der unstofflich
durch das Glas hindurchgegangenen Laute; sie sind alles Nahen und
Wirklichen beraubt; entfremdet den Lauten, die von außen her an das
Fenster sich pressen; mit der Stille vermengt.

»Es ist still hier,« sagte der Kranke, »und die Zeit ist lang. Ich denke
an vergangene Dinge. Sie hätten noch nicht entschwinden sollen. Und
woran ich immer nur denke, nichts hätte noch schwinden sollen. Ich müßte
es erst erleben, aufmerksam verweilend — selbst die schlimmsten
Augenblicke. So als hätte ich sie alle zwischen den Fingern entgleiten
lassen, noch unwissend wie sie sind: und überaus seltene darunter —«

»Sie sind hier zu sehr allein,« sagte Kvíčala.

»Ja. Und in vierzehn Tagen stehe ich wieder auf und erinnere mich
vielleicht nicht mehr, daß ich einmal ›zurück‹ geschrieben habe. Aber
jetzt ist es da als Aufschrift an irgendeiner Wand. Zurück! Alles
Vergangene ist nur ein Stichwort; alles ist unvollendet geblieben,
angedeutet als Anfang und Ahnung … Zurück! Vielleicht fühlt es ein
jeder einmal und möchte zurückkehren, so als wäre es nach Hause —
zurück! Es ist nicht, ach es ist nicht Rückkehr zu seinen Anfängen, —
zu den ersten Schritten; aber zurück zu den Enden, zur Aussprache und
Beendung seiner selbst, zu den letzten Schritten … Unmögliche
Rückkehr! Niemals zurück!«

Kvíčala erhob sich. »In vierzehn Tagen,« lächelte Matys.
»Entschuldigen Sie, eine Woche schon hab' ich mit niemandem geredet.
Grüßen Sie alle.« Seine Hand war heiß und trocken. Oh, hinaus! Lautere
Kühle, Gasse, Menschen, Menschen — und »vorwärts« in diesem allen!



                            DIE VERSUCHUNG


Lange schon ging Růžička wie in Nebel herum. Er wehrte sich
hartnäckig dagegen und ersann ohne Ende Gründe für und gegen, bewies
sich etwas, ärgerte sich. Hart kämpfte er um Sammlung und sehnte sich
zugleich: sich endlich ohne Gedanken und Richtung entführen zu lassen.
— So wie ein schwarzer Pfahl am Teiche im Nebel, dachte er; über dem
Wasser schreit die Möwe und läßt sich herab, um die Fläche in die Klauen
zu ergreifen; das Wasser erbebt, und die Möwe entflieht wie ein
Gassenjunge; erst Gott weiß, wo sie auflachen wird …

Růžička blieb stehen: Reise ich oder bleibe ich? — Alle Gründe
starben ab und er vermochte sich ihrer nicht mehr zu bemächtigen; alle
starben ab und wurden starr und er konnte sich ihrer nicht mehr
entledigen. Gründe, die ihn nicht mehr freuten. Sie waren in diesem
engen Zimmer verwelkt. In dem Zimmer, das ihn nicht mehr freute. Gründe
dafür, daß er blieb und nicht verreiste und nicht diese paar Chancen
überflüssig verwarf. Ruhe, Beruf, Gewohnheiten, Lampe, Bett, Lehnstuhl
— mehr brauche ich ja nicht, sagte er sich; ich bleibe und erfülle dies
alles mit der Wahrheit des Lebens. Mein Platz ist schmal, aber ich kann
ihn vertiefen. Ach, auf immer bleiben!

Oder fortgehn, sagte er sich beklommen; sich von neuem versuchen und in
die Welt schleudern wie ein Stein ins Wasser … Müßte man sich nur
nicht entschließen! Könnte ich mich, ohne zu wissen wie, irgendwo in der
Welt finden und nichts haben als vor mir den Tag, o Gott! was wäre das
für ein Tag! Es geschehe mir als Schicksal oder Zufall, — ich nehme
alles an; aber selbst wollen ist furchtbar.

— Reise ich oder bleibe ich?

Ich gehe aus, entschloß er sich endlich (wenigstens etwas tun! was
immer!), ein bißchen hinaus, zögerte er bei der Türe, den Abend
genießen, nötigte er sich; aber »bleib«, sprechen Lampe, Bett,
Lehnstuhl, Langweile, »wozu gehn? Gehn ist so anstrengend; Bleiben so
einfach; Gehn so verzweifelt; Bleiben so verzweifelt; bleib!« Nein,
heute nicht, entschied er sich mit Gewalt, und ging. »Bleib,« sprechen
die entflammten Gassen, »wir stören dich nicht mehr; du hast uns so oft
durchmessen, daß du uns nicht mehr siehst.« Auch ihr seht mich gar
nicht, wandte er ein, und eure Fenster blinken mir nicht mißtrauisch zu
wie ein Blick, lächelnd wie ein Blick, durchsichtig wie ein Blick des
Zufalls. Ich gehe täglich hier: wir sind einander fremd geworden. »Ja,
nach so vielen Jahren!«

Růžička nahm, sich zerstreut erholend, Zuflucht zu einem
Kaffeehaus, froh, daß er so verloren war in der Zersplitterung von
Lichtern und Stimmen, daß er sich selber entschwand in der Menge, daß
die Spiegel strahlten und die Gläser klirrten; er schrieb mit dem Finger
ein Fragezeichen auf den Tisch und entdeckte in der Marmorplatte
interessante Adergänge, ein Zufallsnetz, zahllose Bahnen ohne Ziel. —
Verreise ich oder bleibe ich? Augen! wer sieht mich da an?

Mädchen, lachte sein Blick, was willst du von mir? Glatte Augen glitten
ab, flüchteten hinter die Lider und blickten süß, dunkel nirgendwohin.
Nichts, blasses Gesichtchen unter schwarzem Hütchen, Spielzeug aus
Elfenbein, die jungen Hände spielen auf dem Schoße mit nichts. Das große
Schwarze ist die Mama und besieht die Modeblätter. Die grauen Augen
fliegen verstohlen herüber, fliehen, bleiben nicht da; anmutig sind die
Lider der Augen, gesenkte Lider, anmutige Trauer, Liebe und Musik,
Abend, Frage und nichts, lieblich der Augen Blick, Freude, Kleider,
Musik und Frage, liebliches Lieben, lieblicher Frühling, Veilchen auf
der Straße, rosige Blüte, rosiges Lächeln, lieblicher Blick, und in die
Augen! gerade in die Augen, stark und direkt, kurz und fragend
lieblicher Blick! Die glatten Wangen sind rosig erglüht. Schön sind
weiße und errötete Wangen; schön und traurig die Haare; traurig und
schlank die Hände im Schoß, auf schwarzem Trauerrock.

»Genug,« baten die grauen Augen, »soviel Lob, mein Gott, — wohin soll
ich jetzt mit den Augen, mit Lidern und Händen? Sehen Sie mich nicht an,
ich lasse das Glas fallen; um keinen Preis sehe ich Sie mehr an.«

Schlanke Hände, dachte er gerührt, wie einer Geigerin Hände; ach, welch
ein Tremolo, gegenstandsloses Weinen, Lied, welches endet und nicht; ob
ich es jemals vernehme, dies bange und feine Lied? Diese feine, kindlich
rauhe Stimme?

»Gott, das nicht! Was würde ich Ihnen sagen? Ich kann nicht bis fünf
zählen. Wer sind Sie? Warum schauen Sie so? Warum schauen Sie nicht?«

»Wenn ich sehe, denke ich an die Leute ringsum, an Sie, an Ihren Atem,
an die Liebe, an alles, was ich dir sagen möchte, — ich weiß nicht,
woran ich denke, wenn ich schaue; aber wenn ich nicht schaue, denke ich
an Sie, an alles, was ich nicht sehe, an mich selbst, an den glücklichen
Zufall, und hauptsächlich an dich.«

»Hören Sie auf! Hören Sie auf!«

— Drüben haben neue Menschen sich gesetzt, und in ihrer Mitte —

»Ach sehen Sie doch,« riefen die grauen Augen aus, »wie schön sie ist!«

— ja, schön, tatsächlich schön, o Mädchen, wie groß und schön! Warum
ist sie gekommen, wen sucht sie mit den dunklen Augen! Ach, wer ertrüge
der Schönheit vernichtenden Blick? Wie erbebte er nicht in Verwirrung
und Schrecken, wie schlüge er nicht nieder die Augen? Wehe, daß sie ihn
angeblickt!

Langsam, ohne Unsicherheit hefteten sich die großen schwarzen Blicke der
neu angekommenen Frau auf sein Gesicht. Da stockte sein Herz vor
Erstaunen und schwieg.

»Ich bin schön. So viele sind mir untertan. Sieh.«

Ich verreise, entgegnete er finster.

»Bleib. Ich bin schön. Du begegnest mir auf den Straßen, in den Basaren
und auf Festen. Suche mich in den Logen der Theater. Du wirst mir
begegnen, wenn du willst. Wir können einander kennen lernen und — wer
weiß?«

Ich reise, wiederholte er hartnäckig.

»Bleib. Ich habe so wenig Unterhaltung, so wenig. Ich bin so schön. Du
wirst mich oft sehn, täglich, wenn du willst, und so nahe! Bleib!«

Nein, sagte er mit brennender Pein, ich reise; ich verreise und kehre
wieder mit Lippen, bitter von Meer und Fremde; ich kehre mit anderer
Seele zurück. Mit einer Seele ohne Staunen und Beben; mit einer rauhen,
mutigen, wilden und schamlosen Seele; mit einer unruhigen und grausamen
Seele; mit einer Seele für dich. Aber dann! Daß diese herrlichsten Augen
weinen! Daß die Schönheit erbebe! Daß ich schlimmer sei als du! Daß du
mich liebest. Daß sich das Schicksal erfülle. Daß ich Gott nicht
fürchte. Daß ich dir gleichkomme. Nichts ist furchtbarer als Schönheit
und Mut.

Die schwarzen Pupillen wandten sich ab und zauberten weich ins
Unendliche.

Sei es, fühlte er, geschehe mir dies als ein Schicksal. Ich gehe hinweg,
um zu wagen.

»Bleiben Sie,« sprachen verloren die grauen Augen, »ach, bleiben Sie!
Ich käme künftigen Samstag wieder her. Manchmal begegne ich Ihnen. Ich
laufe nicht weg, selbst wenn Sie mich anreden. Warum wollen Sie nicht
bleiben?«

Ach, Mädchen, weinte sein Herz in sinnlicher Zärtlichkeit, ich möchte
bleiben; wie möchte ich nicht bleiben wollen? Aber gerade du hast mich
an einen Tag in der Fremde erinnert, eines unglücklichen Menschen in der
Fremde, ich weiß nicht warum so unglücklich und so verloren; du hast
mich erinnert an glücklichen Zufall, Lächeln, freundliches Wort in
fremder Zunge und lieblichen Blick, der nicht mehr wiederkehrt: die
Freude, wenn du wüßtest, und der herrliche Tag in der Fremde! Nichts ist
schöner als Liebe und glücklicher Zufall, nichts vergleicht sich einer
guten Begegnung, die nicht wiederkehrt. Ich würde bleiben: aber du hast
in mir die ewige Sehnsucht nach dem Zufall erweckt.



                              SPIEGELUNG


»Achtung!« rief Lhota dem unbekannten Fischer zu, »er schnappt!«

»Ach, ich danke Ihnen,« entgegnete der Angeredete freundlich, »wollen
Sie sich ihn nicht herausziehn?«

Lhota glitt rasch den Damm hinunter und ergriff die Rute. Die Angel war
leer; und als Lhota das Haar heranzog, entdeckte er an dem Angelhaken
festgebunden eine rote Schnur.

»Das da geben Sie statt des Wurms?« fragte er mißmutig.

»Ja,« sagte der Fischer mit schüchternem Lächeln.

»Haben Sie schon etwas gefangen?«

»Niemals.«

Lhota blieb auf dem Damme sitzen, unschlüssig ob er lachen oder zürnen
solle. Wie ist das möglich, dachte er, wie ist es überhaupt möglich, so
Fische zu fangen?

»Ich angle nämlich nicht,« äußerte der Fischer, »ich sitze nur mit der
Rute so da, damit die Leute nicht über mich lachen, wenn sie mich hier
sehn.«

»Sie sind ein Hiesiger?«

»Ich wohne in dem Häuschen hinter uns. Schon viele Jahre gehe ich her,
weil es mir hier gefällt. Und angle nicht.«

Lhota blickte in die großen, hellen Augen des Fischers. »Sie sind krank,
nicht?«

»Ich kann nicht gehn. Schon seit Jahren. Viele Jahre bin ich nicht
weiter gewesen als hier. — Aber hier ist es schön.«

»Tatsächlich,« sagte Lhota unsicher. Unabsehbar zogen sich die kahlen
Dämme hin, und zwischen ihnen strömte der breite, graue Fluß.

»Sie sollten bei Sonnenuntergang hier sein,« sagte der Kranke, »oder am
Morgen. Ich sitze seit früh hier, und niemals ist mir langweilig oder
leer zumute; wenn ich dann abends heimkomme, schlafe ich ohne Traum,
Nacht für Nacht schlafe ich herrlich und ohne Traum. Erst im Winter —«

»Was im Winter?«

»Nichts, die Träume. Im Winter kann ich nicht, und ich schlafe bei Tag
und bei Nacht, ohne Rast, bis ich vor Müdigkeit nicht mehr schlafen
kann. Aber im Sommer bin ich täglich da.«

Lhota blickte sinnend in das Wasser: Es strömte breit und unförmig
dahin, rieb sich mit der unendlichen Flanke an dem Gestein; gewellt,
gekräuselt, bewegt, daß ihm die Augen übergingen. Und es war schon kein
fließender Fluß mehr; nur ein Rauschen, das nicht verharrt, sondern ohne
Ende verläuft und entschwindet; ein Vorbei ohne Grenzen, ohn Ende
Vergehen von Allem —

»Auch im Winter träume ich nur vom Wasser,« sagte der Kranke. »Es ist
der einzige Traum, den ich ganze Tage und Nächte und ganze Monate
träume, nur dann unterbrochen, wenn ich aus dem Schlafe auffahre. Erst
im Sommer vergeht er, wenn ich das wirkliche Wasser sehe.«

Lhota schloß in schwachem Schwindel die Augen. »Ich möchte nicht von
strömendem Wasser träumen.«

»Nein, das strömt überhaupt nicht,« sagte der Kranke. »Mir träumt nicht
von wirklichem Wasser. Es ist das ein großer Fluß, der ohne Regung
steht, und auf ihm schwimmen Reflexe. Sie eilen auf ihm dahin wie jene
Blätter, welche von der Strömung mitgerissen werden.«

»Was für Reflexe?«

»Gespiegelte Dinge. Ufer, die sich in der Fläche reflektieren. Sie
gleiten über das Wasser hin, rasch wie diese Wellen und kräuseln es
nicht. Vielleicht kommen sie bis vom Gebirge her. Es sind große Bäume,
die sich still und mit der Krone abwärts zu neigen, als hingen sie in
einen grundlosen Himmel hinein. Auch der Himmel gleitet auf diesem
reglosen Flusse mit Sonne und Wolken und Sternen dahin. Ich sah die
Reflexe von Bergen und Dörfern am Flußufer mitsamt den Menschen
dahinschwimmen. Ein andermal ist es ein weißes einsames Haus oder ein
erleuchtetes Fenster.«

»Das ist ein absurder Traum,« sagte Lhota.

»Ein furchtbarer. Manchmal segelt eine gespiegelte Stadt und Quais mit
flammenden Lichtern. Auf der Fläche bebt das Laub der Bäume, als wehte
der Wind, aber das Wasser kräuselt sich nicht. Ein Mädchen ringt die
weißen Hände und wird weitergetragen. Und ich sehe in der Spiegelung,
als stünde jemand am andern Ufer und wollte auf mich blicken oder mir
ein Zeichen geben; aber das Bild auf dem Wasser entgleitet mitsamt der
an die Augen gelegten Hand.«

Der Kranke schwieg eine Weile. »Und manchmal«, begann er wieder, »ist es
nur die brennende Laterne eines verlassenen Hafens am Ufer des Flusses;
sie schaukelt wie im Novemberwind, und schwimmt davon. Nichts kann
innehalten und nichts verweilt. Nichts runzelt das Wasser und nichts ist
oberhalb oder außerhalb seiner. Die Ewigkeit ist fürchterlich.«

Lhota blickte schweigend in das Wasser; Welle um Welle kehrte endlos zu
dem Gestein unter seinen Füßen zurück und floß wieder ab in hartnäckigem
Spiel, das ihn reizte und beschwichtigte.

»Oft erwache ich,« redete der Kranke, »mit Schweiß bedeckt und zu Tode
entsetzt; und da sage ich mir: Die Ewigkeit ist fürchterlich. Welle um
Welle kommt, um am Stein zu zerbrechen; Stein um Stein wälzt sich hinab
zu den Wellen, die ihn davontragen. Aber ich habe eine Fläche gesehen,
die sich an nichts bricht und nicht zerbricht. Lichter und Schatten von
Allem gleiten über sie hin. Berge wälzen sich fort und Bäume eilen von
dannen; es schwimmen Städte und Felsen, ein Mädchen ringt vergeblich die
Hände und Anfang und Ende der Welt gleitet vorbei wie eine Spiegelung.
Eine Fläche, die niemals sich kräuselt und zu kräuseln vermag. Die
nichts berührt und niemals berühren kann. Und wer hineinblickt, sieht
immer nur bloße Reflexe der Dinge fliehen, der Wirklichkeit entledigt.«

Auf dem Damm gegenüber blieb ein Mann stehen und schaute eine Weile zu.
»Also was,« rief er endlich, »schnappen sie?«

»Sie schnappen nicht,« erwiderte der Kranke lustig. »Ich sitze gern
hier,« sprach er wieder zu Lhota. »Wenn ein Blatt in das Wasser fällt,
dann zittert das Wasser, und auch ich zittere, aber ohne Angst. Manchmal
bei Sonnenuntergang, da denke ich an Gott. Die Ewigkeit ist
fürchterlich.«

Lhota wendete sich fragend.

»Manchmal«, fuhr der Sieche fort, »sah ich ein so merkwürdiges Kräuseln
auf dem Wasser, daß man nicht begreifen kann, woher es kommt. Manchmal
bricht sich eine Welle und erglänzt schöner als die andern; und es sind
auch Erscheinungen am Himmel — das geschieht sehr selten. Und da denke
ich mir: warum könnte das nicht Gott sein? Vielleicht ist er gerade das
Flüchtigste in der Welt; vielleicht ist auch seine Wirklichkeit ein
jähes Brechen der Welle und ein Schimmer; unfaßbar, ausnahmsweise
erscheint er, und vergeht —. Oft habe ich darüber nachgedacht; aber
sehn Sie, ich habe einen so kleinen Horizont, durch Jahre kam ich nicht
weiter als hierher. Es ist möglich, daß auch unter den Menschen ein
solches Sichkräuseln oder Aufblitzen sich ereignet und wieder zerbricht.
Es muß zerbrechen. Die echte Wirklichkeit muß mit dem Untergang bezahlt
werden. Ach, die Sonne versinkt schon.«

Ein barfüßiges Mädchen stand schweigend hinter dem kranken Herrn. »Ja,
gehen wir,« sagte der Sieche. »Gute Nacht, Herr. Schauen Sie, jetzt,
jetzt,« zeigte er auf den Fluß. »Nie ist es zweimal dasselbe. Gute
Nacht.«

Langsam und gleichgültig führte ihn das Mädchen nach Hause. Der Fluß war
perlmutterlicht, wechselnd ohne Ende, und Lhota schaute leise
schwindelnd dem hartnäckigen Spiel der Wellen zu.



                            DER WARTESAAL


Ich verbringe die Nacht in der Restauration, dachte Záruba, als der Zug
schon einfuhr, oder ausgestreckt irgendwo im Wartesaal; ich verschlafe
drei oder vier Stunden, und mit dem ersten Morgenzuge fahre ich weiter.
Gott, nur rasch! Noch verbleibt Hoffnung, und Alles kann gerettet
werden; ach, so viele Stunden.

Aber die Restauration war schon geschlossen und den einzigen Warteraum
erfüllte ein Soldatentransport. Sie schliefen auf Bänken und Tischen,
lagen überall auf der Erde, den Kopf auf Tischleisten, auf Spucknäpfe,
auf zerknülltes Papier gebettet, das Gesicht zu Boden und gehäuft wie
Hügel von Leichen. Záruba rettete sich auf den Gang; es war kalt da, und
zwei Gasflammen zitterten gequält in dem feuchten Halbdunkel, das vom
Teer und Urin der Aborte stank; einige Menschen fröstelten und gähnten
auf den Bänken in der stumpfen Geduld langen Wartens. Aber es war
wenigstens ein bißchen Platz da, ein bißchen Platz für einen Menschen,
wenigstens ein bißchen Platz für den stillen Schlummer eines Müden.

Záruba fand eine Bank und lagerte sich so warm wie möglich, so fest wie
nur möglich; aus sich selbst erbaute er einen Winkel für seinen Schlaf,
Bett, Bettleiste, Viereck, Asyl. — Ach, die Unbequemlichkeit, fuhr er
aus dem Halbschlaf empor; wie nur die Glieder legen? Lange und
angestrengt dachte er darüber nach; schließlich kam ihm der kindliche
Wunsch, zu liegen, und er streckte sich auf der Bank aus. Aber die Bank
war zu kurz. Záruba kämpfte verzweifelt mit seinem Ausmaß, ergrimmt über
einen so rücksichtslosen Widerstand; schließlich lag er gleichsam
gefesselt, regungslos, knabenhaft klein, und sah auf die großen
funkelnden Kreise, die sich im Dunkeln drehen, auf die kreisenden
Scheiben. — Ich schlafe ja schon, durchblitzte es ihn, und in diesem
Augenblicke öffnete er die Augen; da sah er den Winkel zweier Wände
verschwimmen und ward furchtbar verwirrt: Wo bin ich denn? Was ist das
eigentlich? Entsetzt suchte er eine Orientierung, vermochte aber weder
Raum noch Richtung zu erraten; da raffte er alle Kraft zusammen und
erhob sich. Neuerlich sah er den langen und kalten Gang, aber er sah ihn
trauriger als früher, und erkannte, daß er schon durchaus aus dem
Schlafe gerissen sei und er verspürte den bittern Geschmack des Wachens
im Munde.

Auf die Knie gestützt dachte er über seine Angelegenheit nach. Das
Letzte tun, sich für die Rettung einzusetzen, ja, aber noch so viele
Stunden! Zerstreut blickte er auf das schmutzige Pflaster des Ganges; er
entdeckte zertretene Papiere, ekelhaften Auswurf, den Schmutz von
zahllosen Füßen — und das dort ist wie die Form eines Gesichts, Augen
aus Kot und aus Speichel der Mund, abscheulich zu lächeln bemüht …

Angeekelt hob er den Blick empor. Dort liegt ein Soldat auf der Bank,
schläft mit hintenüberhangendem Kopfe und stöhnt wie ein Sterbender.
Irgendeine Frau schläft, eines Mäderls Haupt im Schoße; sie hat ein
böses und armseliges Gesicht, sie schläft; aber das Mäderl blickt mit
blassen Augen und flüstert etwas für sich; es hat ein langes,
vorstehendes Kinn und einen breiten Mund in mageren Bäckchen, eine
kindliche Greisin mit traurigen, weiten, fliegenden Augen. — Sieh da,
der Beleibte, wie er schläft, aufgedunsen vor Schläfrigkeit, haltlos von
der Bank fallend, erstaunt und stumpfsinnig; weiche Masse, die sich auf
den ersten Stützpunkt herabwälzt. — Unter einem grünen Hute blinzeln
die schwarzen muntern Augen eines jungen Mannes. »Komm her,« pfeift er
durch die Lücken der zerfressenen Zähne dem blaßäugigen Mädchen zu;
»komm her,« flüstert er und lacht. Das Mädchen windet sich verlegen und
lächelt ein furchtbares greisenhaftes Lächeln; sie ist zahnlos. »Komm
her,« pfeift der Jüngling und setzt sich selber zu ihr. »Wie heißt du?«
Und streichelt ihr mit der flachen Hand die kleinen Knie. Das Mädchen
lächelt ängstlich und unschön. Der schlafende Soldat röchelt wie in der
Todesstunde. Záruba schüttelte sich vor Kälte und Übelkeit.

Eine Stunde von Mitternacht. Die Zeit schlich quälend langsam dahin, und
Záruba fühlte sich von ihr verschleppt, gedankenlos zerzogen in
wachsender und zielloser Spannung. Gut, sagte er sich, ich schließe die
Augen und halte es so ohne Gedanken, ohne Bewegung so lang wie möglich
aus, ganze Stunden hindurch, bis sich die Zeit umwälzt. — Und so saß er
starr da, zwang sich, möglichst lange auszuhalten; endlos stockte die
Dauer der Minuten, ein Zählen ohne Zahlen, Verzug um Verzug. — Endlich,
nach unüberlebbarer Zeit, öffnete er die Augen. Fünf Minuten nach Eins.
Der Gang, die Papiere, das Kind, das gleiche verlegene, greisenhafte
Lachen … Nichts hatte sich verändert. Alles war zu unfortschreitender,
bleibend naher Gegenwart erstarrt.

Und plötzlich entdeckte Záruba einen Menschen. Er saß regungslos wie er
selbst in einem Winkel und schlief nicht. Der ist wie ich, dachte
Záruba; er kann auch nicht schlafen wegen der Zeit. Woran denkt er? An
das Warten ohne Ende wie ich? Der Mensch erbebte, wie wenn ihm diese
Frage unlieb wäre. Záruba blickte unwillkürlich in sein formloses
Gesicht; er gewahrte darauf eine unruhige Bewegung, wie wenn jemand eine
zudringliche Fliege verjagt. Auf einmal stand dieser Mensch auf,
überschritt auf den Spitzen den Gang und setzte sich geradezu neben ihn.

»Ihnen war es unangenehm, daß ich Sie ausschaue,« sagte Záruba gedämpft.

»Ja.« Beide schwiegen lang. »Schauen Sie,« flüsterte endlich der Mensch
und wies mit dem Finger auf die Erde, »das da sieht aus wie ein
menschliches Gesicht.«

»Ich habe schon vorhin geschaut.«

»Sie haben schon geschaut,« wiederholte der Mensch schwermütig, »Ihnen
war also auch so —«

»Wie?«

»Nichts ist schwerer als Warten,« erwiderte der Mensch.

»Wie war mir?«

»Schwer. Es ist schwer zu warten. Was immer auch komme, es ist Erlösung.
Warten ist schwer.«

»Weshalb reden Sie davon?«

»Weil es schwer ist, zu warten. Auch Sie haben Gesichter gelesen,
geschrieben in Speichel und Staub. Auch Sie haben sich gequält. Nichts
ist qualvoller als die Gegenwart.«

»Warum?«

»Weil Warten schwer ist.« Der Mensch verstummte und blickte zu Boden.

»Wohin fahren Sie?« fragte Záruba nach einer Weile.

»Ich fahre nur so,« antwortete der Gefragte zerstreut, »zum Vergnügen.
Oft findet man nämlich schöne Städte. Sie fahren so weit, daß Sie
bereits an nichts mehr denken, und auf einmal sind Sie an einer solchen
Stelle; es ist ein Bach oder Brunnen im Hain, oder Kinder, etwas
Unerwartetes und Schönes — und da begreifen Sie überrascht, was Glück
ist.«

»Was ist Glück?«

»Nichts. Sie begegnen ihm einfach. Es ist, kurz gesagt, zum Verwundern.
Haben Sie je an die heidnischen Götter gedacht?«

»Nein.«

»Das war so: Niemand erwartete sie, und unverhofft erblickte er sie.
Irgendwo im Wasser oder im Gebüsch oder in den Flammen. Deshalb waren
sie so schön. Oh, wenn ich das ausdrücken könnte! Wenn ich es nur
ausdrücken könnte!«

»Warum denken Sie an Götter?«

»Nur so. Dem Glück muß man rasch und unverhofft begegnen. Es ist solch
ein besonderer Zufall! Solch ein jähes Ereignis, daß man sagen möchte:
ach, welch ein Abenteuer! Ist es Ihnen jemals begegnet?«

»Es ist mir begegnet.«

»Und da war Ihnen wie im Traum. Das Herrlichste ist nur ein Abenteuer.
Dort, wo die Liebe aufhört, ein Abenteuer zu sein, wird sie eine Qual.«

»Warum, warum ist das so!«

»Ich weiß nicht. Sie könnte nicht dauern, wenn sie keine Qual wäre.
Schauen Sie, die Alten hatten einen einzigen Namen für Glück und Zufall.
Aber es war ein Göttername.«

Fortuna, dachte Záruba beklommen. Wenn sie mir begegnete auf dieser
Reise! Aber es ist schwer, auf den Zufall zu warten!

»Warten ist schwer,« begann der Mensch wieder, »so schwer und quälend,
daß, was immer Sie erwarten, Sie nur eines abwarten: des Wartens Ende,
Erlösung vom Warten. So schwer, daß das, was Sie als Erfüllung erleben
werden, weder schön noch glücklich mehr sein kann; sondern an sich
sonderbar und gleichsam traurig, schmerzlich durch all dies Warten —
ich weiß es gar nicht zu sagen. Jede Erlösung ist so: niemals ist es das
rechte Glück.«

Warum sagt er das? dachte Záruba; wie, wäre ich nicht glücklich, wenn
ich die Erfüllung erlebte?

»Sie haben Gott selber erwartet,« fuhr der Mensch fort; »ach, was für
ein Mensch ist da gekommen, um Sie vom Warten zu erlösen? Weder Ansehen
noch Schönheit waren an ihm, der letzte der Männer, ein Mann des
Schmerzes; unsere Gebrechen hat er getragen und unsere Schmerzen
ertragen, so als wäre er gar kein Gott.«

»Warum reden Sie davon?«

»Warten, sehen Sie, ist schwer; selbst einen Gott zerbricht und demütigt
es. Erwarten Sie jahrelang irgendein Glück, ein großes und schönes
Ereignis; endlich kommt es, irgendwie klein und trübselig wie irgendein
Schmerz; aber Sie sagen: ja, Gott, das ist es, worauf ich so viele Jahre
gewartet habe, auf daß es mich erlöse!«

»Was meinen Sie damit?«

»Damit meine ich: Der einzige Lohn für das Warten ist das Ende des
Wartens; und nur darum steht das Warten dafür. Darum, darum ist es
notwendig zu warten. Das ist der Sinn unseres Glaubens.«

»Welchen Glaubens?«

»Welchen immer,« sagte der Mensch und schwieg.

Die Leute auf dem Gange erwachten und begannen herumzugehn. Das zahnlose
Mäderl war jetzt in den Armen der Mutter eingeschlafen, verloren unter
dem Shawl. Etwas Leben strömte durch den Gang; es war ziellos und
unordentlich, aber es regte sich und vermochte sich zu erhalten.

»Was haben Sie mit diesen Göttern gemeint?« fragte Záruba plötzlich
laut.

»Sie waren schön,« sagte der Mensch; »es genügte bloß Glück oder Zufall,
um sie zu erblicken und dadurch selbst ein wenig ein Gott zu werden. Ich
denke mir also: wunderlich ist das Glück, so überaus seltsam ist
Schönheit und Glück, daß es nur durch Wunder und Zufall geschehen kann.
Aber wer wartet, der wartet auf etwas, das geschehen muß; etwas muß
kommen, das sein Warten beendet. Sehen Sie, jeder wartet …, auch Sie;
wir sind vom Wege der Freude abgekommen, um große Dinge zu erwarten.
Ach, warten ist eine große Spannung des Lebens, fast wie der Glaube.
Aber je mehr wir warten — — _was immer auch komme, wir werden, wir
werden erlöst werden_. Schauen Sie, es ist schon Tag.«

In den Bahnhof wälzte sich ein Menschenstrom herein mit Lachen, Husten
und Geschrei. Wie ein großer Besen fuhr der Lärm durch den Gang, fegte
die angesetzte Stille fort und blies die verstaubten Stimmen an. Die
Passagiere erhoben sich von den Bänken, schüttelten die Spinnweben des
Schlummers ab und blickten einander ohne Mißbehagen an, verbündet durch
die gemeinsame Nacht. Aber draußen, hinter den Fenstern, dämmerte der
Tag.

Der Mensch, der gesprochen hatte, verlor sich Záruba zwischen den
Leuten. Eine neue Schar, Fahrkarten, Geschrei und Glockenzeichen — der
schwarze und lärmende Zug fuhr in den Bahnhof ein, verschlang die Schar,
zischte, fauchte und fuhr dem Ziele zu. Gott, nur schnell, dachte
Záruba, noch ist nicht alles verloren: noch bleibt Hoffnung.



                                HILFE!


Er wurde gewahr, daß er sich an einem weiten, mit schönen Bäumen
bewachsenen Hange befand. Das ist ja Frankreich, erriet er plötzlich,
ich bin wohl in einen falschen Zug eingestiegen. Es ist wirklich ein
seltsamer Zug, — lauter fremde Gesichter, die über ihn lachen, als wäre
er schlecht gekleidet; und der Zug fährt wild, daß die Fenster klirren.

Brož fuhr aus dem Traum empor. Jemand klopfte ans Fenster.

»Was ist?« schrie Brož mit verklebter Zunge.

»Ich bitte Sie,« sagte draußen eine zitternde Frauenstimme, »wenn Sie
uns rasch zu Hilfe kämen!«

»Gehn Sie zum Teufel!« erwiderte Brož wütend und wühlte den Kopf in
die Kissen hinein. Nur den zerrissenen Faden des Traums einzufangen! den
Schlummer eben dort wieder anzuknüpfen, wo er unterbrochen worden! Ein
Zug, etwas von einem Zug, zwang sich Brož; und plötzlich fiel ihm
peinlich klar ein: Ich hätte fragen sollen, was ihnen geschehn ist!

Er sprang aus dem Bett und lief das Fenster öffnen. Kühl, schwarz wehte
die öde Nacht herein. »Wer ist da?« rief er, aber nichts antwortete. Da
schüttelte ihn die Kälte, und er ging sich legen; in den Federbetten
fand er seine eigene trockene Wärme wieder und genoß sie gierig und
unbegrenzt; wieder sanken ihm die Lider und die Glieder lockerten sich
zu einem Komma. Ach, schlafen!

Mit weit geöffneten Augen schaute Brož in die Finsternis. Wer das
wohl gewesen war? Niemand in diesem Dorf hier kümmert sich um mich. Wer
hat bei mir Hilfe gesucht? Es war eine Frauenstimme. Es war eine
unsäglich schmerzliche Stimme. Vielleicht ging es ums Leben. Übrigens,
ich bin kein Arzt. Aber vielleicht ging es ums Leben.

Zerquält wandte sich Brož dem Fenster zu. Es zeichnete sich wie ein
kaltblaues Rechteck in der schwarzen, raumlosen Dunkelheit ab. Nirgends
brennt es. Es ist still, nur die Uhr zu Häupten tickt spitzig. Was ist
nur geschehn? Was für ein Unglück? Vielleicht ist es in der
Nachbarschaft; jemand stirbt; irgendwo wird ratlos mit dem schweren
Augenblick gekämpft. Ich bin schließlich kein Arzt.

Aber das Bett knarrt und brennt ermüdend. Brož setzte sich im Bette
auf und nahm gewohnheitsmäßig die Brille. Wodurch vermöchte ich
überhaupt, überlegte er, zu helfen? Wie nur zu nützen? Verstehe ich mich
denn auf etwas Hilfreiches? Gott, nicht einmal raten, nicht einmal
trösten; nicht einmal mit Worten vermöchte ich einen Teil der Last von
irgend jemandem zu nehmen; nicht einmal durch Anteilnahme jemand zu
stützen. Ich will ja selber nichts, als Ruhe haben; als mich der andern
zu entledigen. Was mag da geschehen sein?

Indem fiel es ihm ein, die Lampe zu entzünden. Vielleicht bemerken sie,
daß ich leuchte, sagte er sich, und kommen abermals. Ich werde leuchten
wie ein Leuchtturm. Kommen sie, so frage ich, was geschehn ist;
wenigstens erkenne ich, daß ich wirklich nicht habe helfen können. — Im
voraus getröstet bettete sich Brož die Polster hinter den Rücken;
gespannt lauerte er, daß das Pförtchen knarren und dieselbe Frauenstimme
hinterm Fenster bitten werde. Aber der tickende Gang der Uhr quälte ihn.
Vergeblich bemühte er sich, sie zum Stehen zu bringen. Es war drei Uhr.
Auf einmal schnürte ihm ein häßliches Gewicht von Unruhe und Erregung
die Brust zusammen. Niemand kam.

Zögernd und hastig begann sich Brož anzukleiden. Sicherlich, sagte er
sich, werden sie dort leuchten, wo etwas geschehen ist, und ich werde
ans Fenster pochen. Sowieso würde ich nicht mehr schlafen. Ich werde
dort nichts nützen, aber — vielleicht sind sie so ratlos — Brož
verwirrte sich in der Hast und verfluchte leise die Schuhbänder;
schließlich gelang ihm ein ungewöhnlicher Knoten, und er lief vor das
Haus hinaus.

Es war schwarz, durchaus schwarz. Brož begab sich die Gasse hinab und
suchte ein erleuchtetes Fenster; nie zuvor hatte er ein so bis ins
Bewußtlose entschlummertes Dorf gesehen, so fremd allem Wachenden, so
fremd — nirgends waren klagende Nachtlampen, nirgends ein Lichtstreifen
hinter den Fensterscheiben. Entsetzt hielt er inne vor der Kapelle: in
den Fenstern zitterte und irrte das matte Licht einer Flamme. Die ewige
Lampe, begriff er nach einer Weile und ging weiter; aber nirgends war
beleuchtet; überall dunkel, nur etwas Blässe, von den Wänden
ausgeschwitzt —.

Leise kehrte Brož zurück und lauschte vor den stummen Häuschen. Wird
drinnen kein Jammern ertönen, wird nicht stille Ohnmacht erbeben? Wird
keine Frauenstimme weinen? Bebend sondierte Brož die verschlossenen
Räume des Schweigens; nichts, kein dichter Atem, nichts — fliegt nicht
aus der Weite der Nacht, aus irgendeiner Ferne, von irgendeiner Seite
der Welt ein herzzerreißender Schrei um Hilfe heran?

Wie fremd ist diese schlafende Welt, die nicht spricht! Die nicht vor
Schmerz aufschreit! Die nicht nach Erlösung ruft! Wenn jetzt der
leiseste Klageruf sich erhübe, würde er nicht feurig nach ihm langen,
würde er sich nicht an ihn lehnen wie an eine Säule, würde er ihn nicht
erfassen wie ein im Dunkel entzündetes Licht …

Andern willst du helfen, ertönte es spöttisch und klar in ihm, und
kannst dir selber nicht helfen! Aber was, dachte Brož in
schmerzlichem Erstaunen, ist dem wirklich so? Doch eher darum, ach,
_gerade darum_, weil du dir selber nicht helfen kannst — wer sich zu
helfen vermag, wird sich selber helfen; aber du, der du dir nicht helfen
kannst, hier bist es nicht eben du …

Brož blieb wie geschlagen stehen. Dir selber kannst du nicht helfen?
Aber ist es denn wirklich so? Brauch ich überhaupt Hilfe … von mir
selbst oder von irgendwem? Ist mir so schlimm? Gott, das nicht! Ich lebe
ja nach meinem Sinn und mehr will ich nicht. Nur meine Tage für mich
allein zu verleben. Ich habe keine unerfüllten Wünsche. Vielleicht habe
ich überhaupt keine Wünsche. Mir selbst kann ich nicht helfen … Worin
auch. Nie ist es mir in den Sinn gekommen. Bleibe alles, wie es ist: Tag
um Tag, bis ins Unabsehbare.

Tag um Tag? Brož setzte sich auf einen Eckstein und blickte unbewegt
in die Finsternis, als träumte er heimlich den unterbrochenen Traum zu
Ende; oder als träumte er ihn Tag um Tag, Monat und Jahr, bis ins
Unabsehbare. — Nichts mehr verändert sich; was sollte sich auch ändern?
Die Ereignisse fliehen und die Jahre vergehen; aber Tag um Tag kehrt
zurück, so als geschähe überhaupt nichts. Ein Tag ist vergangen: was
liegt daran? Es wird ja derselbe Tag, derselbe Tag mir morgen kommen.
Nur wenn die Zeit vergeht!

Und täglich kann ich mir sagen: Ich habe nichts verloren als einen Tag.
Nichts mehr als einen Tag! Warum also diese Angst? Brož rieb sich
hart die Stirn. Ich sollte mich fassen. Ich bin unausgeschlafen. Ich bin
stehengeblieben, und die Tage sind um mich gewachsen wie Mauern; Tag um
Tag haben sich glatt und schwer geschichtet wie Wände. Schon erwache ich
allmählich: aber wird es ein neuer und niegewesener Tag sein, den ich
ringsum finde? Oder ein Tag, zusammengesetzt aus tausend vergangenen —
wie Mauern? Und sage ich mir wieder: das ist also wieder ein weiterer
Tag unter tausend aufgerichteten — wie Mauern? Warum ist er geworden?
gestern war doch nur um einen weniger! Stand es dafür, wegen dieses
einen Tages zu erwachen?

Alle Schläfrigkeit fiel plötzlich von ihm ab. Das ist ja ein Kerker,
begriff er entsetzt; so viele Jahre habe ich wie im Kerker gelebt! Weit
tat er die Augen auf; ihm war, als erhellten sich traurig all diese
Jahre: seltsam fremd, seltsamer bekannt; alles, nichts, Tage ohne Zahl
… Ach, ein Kerker, riß sich Brož los. Werde ich denn niemals
erwachen in niegewesenem Tag? Warte ich denn nicht täglich darauf (—
ach, Kerker!) und _habe ich nicht vielleicht immer gewartet_, begriff er
plötzlich (— vergangene Jahre klärten sich auf), ach, bin ich
eigentlich nur deshalb stehen geblieben, um den ungeahnten Tag zu
erwarten?

Vergangene Jahre klärten sich auf. Sieh, Gott, flüsterte Brož, zum
Himmel emporblickend, ich verschweige es dir nicht länger; ich habe auf
deine Hilfe gewartet, auf eine wunderbare Erlösung; daß ein großes
Ereignis geschähe, ein jähes Licht in den Ritzen, und nach heftigen
Schlägen in die Tür eine starke Stimme geböte: Lazarus, steh auf! So
viele Jahre habe ich die Stimme des Siegers erwartet; du kamst nicht,
und ich verlasse mich nicht mehr darauf.

Aber wenn ich noch harre, so ist es auf Hilfe und Erlösung. Auf eine
Stimme, die mich aus meinem Gefängnisse ruft. Vielleicht ist sie nicht
so stark, sondern so schwach, daß ich sie mit der eigenen Stimme
unterstützen muß. Vielleicht ist es keine gebietende, sondern eine
flehende Stimme: Lazarus, steh auf, uns zu helfen!

— Dir selbst kannst du nicht helfen: wer wird dir helfen? Wer kommt
dich befreien, der du es selbst nicht vermagst? Alles schläft in
unbewußtem Frieden; kindlich piept der Schmerz auf des Schlafenden
Lippen; ein knabenhafter Traum, etwas von einem Zug, ein flüchtiger
Traum zeichnet sich an den Wänden des Gefängnisses ab. Aber unversehens
kommt er — pocht an dein Fenster und ruft dich aus dem Traume der
niegewesene Tag. Ob du ihn erkennst und unverschlafen aufspringst?

Vielleicht hast du ein Weltbeben erwartet: höre ein stilles, flehendes
Rufen. Vielleicht kommt der Tag, den du erwartest, gar nicht wie ein
Feiertag; nur ein Wochentag, Montag des Lebens, neuer Tag.

Über den Wäldern wird es licht.



                                INHALT


                        Seite
   Stocken der Zeit         5
   Historie ohne Worte      7
   Verlorener Weg          10
   Die Aufschrift          15
   Die Versuchung          19
   Spiegelung              23
   Der Wartesaal           27
   Hilfe!                  32



Anmerkungen zur Transkription


Hervorhebungen, die im Original g e s p e r r t sind, wurden mit
Unterstrichen wie _hier_ gekennzeichnet.

Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   [S. 6]:
   … durchsichtigen Bernstein; er ist einfach eingestellt. …
   … durchsichtigem Bernstein; er ist einfach eingestellt. …

   [S. 8]:
   … Puerta de Sol, überlegte Ježek, Tor der Sonne; was hat er
       nur …
   … Puerta del Sol, überlegte Ježek, Tor der Sonne; was hat er
       nur …

   [S. 8]:
   … Sicherlich wird er etwa sagen, dachte Ježek; es ist
       schwer, …
   … Sicherlich wird er etwas sagen, dachte Ježek; es ist
       schwer, …

   [S. 11]:
   … Jahre! Und plötzlich diese Lösung: dir kommt das freudige und
       und …
   … Jahre! Und plötzlich diese Lösung: dir kommt das freudige und …

   [S. 33]:
   … Er war schwarz, durchaus schwarz. Brož begab sich die
       Gasse …
   … Es war schwarz, durchaus schwarz. Brož begab sich die
       Gasse …





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