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Title: Eine dänische Geschichte
Author: Schopenhauer, Adele
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt.

    Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+.

    Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des
    Buches.



    Eine dänische Geschichte.

    Roman

    von

    Adele Schopenhauer.

    Braunschweig,
    Druck und Verlag von George Westermann.

    1848.



Auf der süd-östlichen Küste der Insel Laaland erhebt sich das alte
Städtchen Nysted, welches sich zu den frühesten Dänemarks zählt, da
es schon im Jahr 1409 durch Erich von Pommern Stadtrechte erhielt.
Wie aus einem dicken Laubkranze schaut es von seinem grünenden Hügel
aus weit hinein in das Land -- über Laaland und Falster hin, ja
dem Meer entlang bis nach Femern und Rostock, und seine berühmten
Lindengänge erzählen sich im Abendwind ganz wundersame Geschichten:
der träumerische Nachthauch streicht über heidnische Grabhügel, über
verfallene Gerichts- und Opferstätten hin, und hilft dem kundigen Greis
die in seinem Kopf zerstreuten, halbverlorenen Klänge der alten Saga
zusammensuchen, die ihm vom Ur-Ahn auf Großvater und Vater vererbt
sind. Denn der Nordländer, besonders aber der Landbewohner hört gar
gern erzählen von lang vergangenen Tagen, wenn der strenge Winter
ihm Thor und Fensterladen schließt und ihn zurückdrängt in die engen
Kammern.

Auf dem höchsten Steine der ehemaligen Schanze, an der Mündung des
Hafens, saß ein junger Mann, nachdenklich beide Arme auf ein Mauerstück
gelehnt und schauete bald zum bewölkten Himmel auf, bald in die frische
Landschaft hinein, sah aber dabei aus, als gedenke er gar anderer
Ruinen, gar anderer Hügel und Meere; ihm war das Herz sichtlich
schwer. Auch er war ein beliebter Erzähler des Städtchens; er hatte
oft und gern seinen staunenden Zuhörern den bunten Schleier seiner
südlichen Anschauungen über dies stille Grau der Nebel hingebreitet,
in denen der Frühling, wie ein Kind in seinen Windeln, tief in's Jahr
hinein schläft, und dann mit einem Male aufspringt, da ist in voller
Schöne und Kraft und wie ein junger Herkules die alte Winterschlange
zerdrückt. Das hat der höhere Norden mit dem Süden gemein, daß dort wie
hier der ganze Lenz, wie seine einzelne Blüthe, in der geschwellten
Knospe steckt; und ihn der heiße Sonnenstrahl plötzlich erweckt zum
üppigsten Leben, während man in Mittel-Deutschland ihn lange kommen
sieht, und heute die Primel, morgen die Kirschenblüthe findet, eine
Woche lang das Maienglöckchen erwartet, und so allmälig Blume um Blume
willkommen heißt und begrüßt.

Drei Monate schon war der Reisende in Nysted; seit drei Wochen liebte
er; seit drei Wochen war ihm, außer dem kleinen Fleck Erde Laaland, die
übrige Welt dunkler geworden als der bewölkte Himmel, den er anstarrte.
-- Darum also war er in Italien gewesen, hatte Rom gesehen, dort und
in Florenz Jahre lang studirt, um hier hoffnungslos einem bleichen
Mädchenantlitz gegenüber festzuwurzeln? -- Wo waren dann seine Wünsche
und Träume geblieben, und all die weitausgreifenden Pläne der Seinen?
-- Wie welke Blätter im Sturm kreisten und wirbelten Erinnerungen und
Vorstellungen durch seine Seele: -- er gedachte seiner Mutter in Plön,
wohin sie von Copenhagen gezogen, um wohlfeil zu leben, einsam mit
einer alten Magd, jeden Pfennig zu sparen und mitten in den Unruhen
des Kriegs ihn zum Künstler zu bilden; er gedachte seines Ohms, des
Rathsverwandten Hagemeister, der als solcher eine kleine Anstellung
in Roeskilde erhalten, und mit unsäglicher Mühe durch des Bischofs
Gnade den Auftrag ihm verschafft hatte, der zuerst ihn nach Nysted
geführt. -- Eben durchbrach die Sonne, mit hellem blassen Strahl
sie durchschneidend, die schwere Wolkenhülle; aufblitzte der goldne
Thurmknopf der das ganze Städtchen hoch überragenden Kirche; die
Arbeitsstunde war gekommen, und die Möglichkeit im alterthümlichen Bau
des Gotteshauses die Farben zu sehen und scharf zu unterscheiden; --
der Maler warf alle Gedanken zur Seite und eilte der Bucht entlang den
Weg zurück in die Stadt, die steile Gasse hinauf zur Kirche; sie war
geschlossen am Werkestag; das Frühgebet war längst vorüber. Thorald
mußte herumgehen bis an des Küsters Haus; er klopfte leise an die
runden Scheiben des kleinen Fensters, es öffnete sich sogleich und ein
feiner Mädchenkopf beugte sich hervor.

»Ei guten Morgen, Herr Eynerssen! Der Vater ist nicht mehr daheim,
er ist auf Schloß Aalholm zum Grafen, und ich soll Euch führen; die
Schlüssel hat er mir gelassen, ich komme gleich hinab!«

Im Augenblicke stand sie, in ein bescheiden Mäntelchen gehüllt, neben
ihm, -- »aber laßt Ihr mich nun auch das Gemälde sehen, lieber Herr?
ich habe mich so lange darauf gefreut, allein der Vater ist so streng;
der hält am gegebenen Wort wie eine Eisenklammer. Ihn kümmert es gar
nicht, daß mich die Christine und Elisabeth und Sophie verspotten, weil
ich, gleichsam ein Kirchenkind, das Bild noch nicht gesehen, da Ihr es
doch schon vor drei Tagen hingebracht.« --

»Wenn es fertig ist, Gianina, sollst Du es zuerst sehen, früher als
alle Anderen; heute aber kann ich Dir den Gefallen nicht thun, ich muß
den Eindruck, den es macht, an Ort und Stelle selbst betrachten, ihn
wohl berechnen, manches ändern und hineinmalen.« --

»Da verwälscht Ihr mir wieder meinen ehrlichen Christennamen und thut
mir dennoch nicht das kleinste zu Liebe! +Johanna+ heiß ich, hundertmal
habe ich's Euch schon gesagt! Würde das klingen ›Gianina Kaalund‹?
hört doch selbst, wie das acht und kracht! Es paßt zusammen wie die
Faust auf's Auge.«

Während dem Sprechen hatte das Mädchen die schweren Schlösser geöffnet;
sie traten durch die Sacristei, welche der Kirche anhing wie ein
unförmliches Schwalbennest, in die dämmernde Stille des Seitenschiffs.
Die weißgetünchten Räume gehörten dem normannisch-romanischen Styl
an, der edle Bau war frei und nicht durch schwerfällige Mittelchöre
verunstaltet; ein frommes, freudiges Dankgefühl schlug an des Malers
Herz -- rasch schritt er vor nach der Mitte des Altars und überflog mit
flammendem Auge die seiner Tafel bestimmte Stelle; hinter derselben
stand das wohl verhangene Bild. Daneben lehnten eine Leiter und eine
staffeleiartige Vorrichtung, um das Gemälde in die ihm bestimmte Höhe
zu bringen und ihm das passende Licht zu geben. Der Maler hatte die
Absicht, an Ort und Stelle das Gemälde zu vollenden, und dann erst dem
Magistrat, welcher es für die Stadtgemeine bestellt, zu überantworten.

Unterdessen war Carlson, ein langer blonder Knabe, welcher dem Maler
aufwartete, mit dem Malergeräth angelangt. Thorald und er gaben sich
sogleich daran die Tafel aufzustellen. Das Mädchen hatte der Künstler
längst vergessen.

Die Kleine war scheinbar hinausgegangen, dann umgekehrt und hinter
einen der großen Pfeiler geschlüpft; sie schaute von dort sachte hervor
auf Beider Treiben, in der Hoffnung, wenigstens von weitem ihre Neugier
befriedigen zu können.

Jetzt war das Bild mit dem leeren Altarraum in gleiche Höhe gebracht,
es stand demselben zur Seite; Carlson ward entlassen. Zögernd blieb der
Meister mit verschränkten Armen vor seinem Werke stehen, als scheue
er die Enthüllung desselben. -- Carlson strich dem Pfeiler vorüber,
welcher Johannen barg; sie glitt geschickt um denselben herum und war
nun dem Gemälde um so näher. Endlich flog der Vorhang zurück. »Mein
Jesus, das Schloßfräulein!« schrie Johanna sich selbst vergessend auf.
Wie von einem elektrischen Schlage getroffen taumelte der Maler zurück.
»Du hier, Johanna? und Sie -- Helene? das Fräulein von Gejern wollte
ich sagen -- aber wo, um Gotteswillen, wo ist sie? sprich doch Mädchen!«

»Was fällt Euch ein! Ihr träumt, lieber Herr. Das Fräulein außer aller
Kirchenzeit hier in dem verschlossenen Gotteshause? ich meine +da+
die heilige Martha neben unserer Herrgottsmutter auf dem Gemälde, sie
ist ihr ja wie aus den Augen geschnitten! Wird sich die wundern, und
der Herr Graf! -- aber der Johannes sieht ihr wahrhaftig auch etwas
ähnlich! -- und davon sagt mir der Vater kein Sterbenswort!«

Heiß erröthete der junge Mann, ob aus Liebesentzücken oder Scham ist
schwer zu sagen, denn die in's Auge fallende Aehnlichkeit war ihm
unbewußt aus der Seele in die Farbe seiner Pinsel gedrungen; dann
versuchte er des Mädchens Ausspruch zu widerlegen, ja, er schalt
ihn sogar eine thörichte Einbildung, der des Fräuleins Ohr ja nicht
berühren dürfe; er bewies ihr den Irrthum in tausend Abweichungen des
Originals vom Bilde. --

»Meinetwegen, lieber Herr Eynerssen, ich gebe Euch gern zu, daß unser
Fräulein weder so betrübt aussieht -- Gott sei Dank! noch so fromm;
aber +das+ sind ihre schönen lichtbraunen Haare, ihre klaren Augen
-- das ist die schmale Unterlippe, mit der sie so drollig trotzen
kann, das ist ihre freie gerade Nase; es ist ja zum Sprechen! Und so
narret mich doch nicht, indem Ihr mir weiß machen wollt, es sei das
Alles ganz von selbst gekommen, habt Ihr doch eben das Conterfei der
drei Fräulein im Schlosse vollendet, da hattet Ihr ja die allerbeste
Gelegenheit, dasselbe Gesicht hier zu wiederholen. Die Lisbeth hat die
Bilder gesehen und kann gar nicht aufhören, die Aehnlichkeit derselben
zu rühmen!«

»Ich bitte, Kind, jetzt laß mich arbeiten,« bat der Maler. »Geh' jetzt
-- thu' mir den Gefallen! Drei Stunden lang habe ich auf den hellen Tag
und auf das Sonnenlicht gewartet.« -- --

»Ja wohl, ich gehe schon, aber ich hätte Euch doch gern noch viel
gefragt; mir ist, als müsse ich Euch danken für Labung und Gottesgabe!
Die heilige Mutter am Kreuz ist gar so schön, und Christus sieht auf
uns mit solcher Barmherzigkeit hernieder, daß man so recht im Gemüthe
fühlt, wie er für uns gestorben ist!«

Als sie draußen war, schob Thorald die Riegel vor und kehrte dann zu
seinem Bild zurück; er wollte die Aehnlichkeit wegbringen durch ein
paar kühne Pinselstriche, wär's auch auf Kosten seines Bildes, aber den
geliebten reinen Zügen gegenüber sanken ihm Hand und Muth. -- »Haben
es doch Rafael und Andrea auch gethan!« flüsterte er vor sich hin --
»vielleicht gewahrt sie es nicht einmal; mir ist's wie eine Todsünde,
die wunderbare Harmonie dieses Antlitzes zu zerstören! Was auch für
Herzeleid und Verdruß mir daraus erwachse, ich vermag es nicht.«


In einem nicht eben uneleganten, nur etwas schwerfälligen Pavillon in
chinesischem Geschmack, der sich neben dem alten gothischen Schloßbau
drollig genug ausnahm, und recht wie zum Spott unserer schwächlichen
Modernität mit dessen vier, fünf Ellen dicken Mauern contrastirte,
saßen am Abend desselben Tages drei junge Mädchen, zwei von ihnen
mit Nähen und Spitzen-Klöppeln emsig beschäftigt; -- Laaland bewahrt
noch seine primitive Fabriken- und Lädenscheu, und Nysteds 800
Einwohner gehen alle, von der Mode unberührt und unbelästigt, im
großväterlichen und großmütterlichen Schnitt einher. Die Damen mußten
also nothgedrungen zu ihrer eigenen Modernisirung Hand anlegen. Den
beiden fleißigen Schwestern gegenüber saß Helene, mit dem Rücken nach
dem Fenster gekehrt, und schaute verstohlen über die Schultern hinweg,
der Lindenallee entlang, welche Schloß und Städtchen verbindet. Sie
beachtete keines der Copenhager Gesellschaftsbilder, welche jene
Beiden mit unerschöpflicher Phantasie ihr entwarfen; wie aus einer
weitentlegenen Welt schaute sie sichtlich, ohne alles Verständniß des
ihr Vorgetragenen, über den kleinen schmalen Theetisch zu den lustigen
Schwätzerinnen hin, die, glücklicherweise viel zu sehr mit sich selbst
beschäftigt, ihre Zerstreutheit nicht bemerkten. --

»Bruder Joachim und Elisabeth kommen auch zum Pferderennen nach
Copenhagen,« sagte Amalie, »Christian will nur ein halb Dutzend
Ackerpferde zum Verkauf hinüberschicken -- wird sie nicht Staat machen,
die Gnädige. Nun, da bekommen wir wenigstens neue Muster.«

»Nach Wallöe? o ja! aber schwerlich bis hieher nach Laaland! Und alles
können wir doch nicht selbst machen, oder gedenkst Du in Nysted eine
Putzmacherin zu suchen? Danke Gott, wenn Du einen Schuster findest!«

»Wie Du nun wieder übertreibst, Annette, Dir ist der Aufenthalt hier
zuwider, und doch ist er so friedlich, so recht gleichförmig und ruhig,
wie ich immer leben möchte; ich habe diese grünen fetten Weiden gern.«

»Gern? ist's etwa angenehm zwischen Ochsen und Kühen, durch Dick und
Dünn in schweren Holzschuhen dem Sonnenuntergange entgegen zu waten, im
Moor stecken zu bleiben und dann allenfalls vom alten Niels gerettet,
wie ein nasser Sack in irgend einem Bauernhofe als »Gräfliches
Eigenthum« abgeliefert zu werden?«

»Uebt man doch kein Morast-Strandrecht an uns aus! Ich bin lieber hier
als in Wallöe; das Stift wird mir nicht zum Vaterhause. Hätte Christian
mein Herz für Aalholm, es sollte bald hier anders werden. Es war auch
anders zu der Mutter Zeit, sogar noch in des Vaters Witwen-Jahren, ehe
all die Modernisirungsversuche den Bauernstand uns fern stellten; es
war etwas patriarchalisches in der Abhängigkeit.«

»Ich meine, der Bauernstand sei unserer Gegenwart etwas näher getreten,
als für unser Aller Glück nothwendig,« erwiederte Annette; das hübsche
Milch- und Rosen-Gesichtchen überflog ein Zug seltsam spöttischer
Bitterkeit.

Am gegenüberliegenden Ende des Gartens erschien jetzt eine bleiche
noch jugendliche Frau; sie trat aus dem Schlosse und schritt mühsam
die hohe Steintreppe hinab in den Gang, der zum Pavillon führte; ihr
etwas trüber Blick überflog die Kieswege und die steifgeschnittenen
Taxuswände, als suche er etwas; ein leises, fast unmerkliches
Kopfschütteln sprach aus, daß sie es nicht gefunden; -- so näherte
sie sich langsam den Schwestern. Helene, ihren wogenden Träumen
hingegeben, bemerkte es nicht; die andern Beiden blieben in plötzlich
veränderter Haltung sitzen, etwas Gliederpuppenartiges und angestrengt
Eckiges legte sich über dieselben und es breitete sich eine feine, doch
keineswegs grelle Affectation über den ganzen Ausdruck ihres eben noch
so ganz natürlichen Wesens aus.

       *       *       *       *       *

Eva, so hieß die Neuhinzugetretene, grüßte freundlich ihre
Schwägerinnen und setzte sich zu ihnen; sie athmete beklommen. In
Laaland geboren, hatten ihr dennoch der feuchte Moorboden und dessen
ungesunde Ausdünstungen geschadet; ihre Gesundheit war zerstört. Sie
hatte mit ihrem Gemahl, dem Grafen Christian, fünfzehn Jahre in Jütland
zugebracht, bis das ihm nach seines Vaters Tode zufallende Majorat sie
veranlaßte, nach Aalholm zu ziehen. Jütland aber ist der romantische
Theil Dänemarks; es hat weder Fühnens überreiche Vegetation, noch
Seelands städtischen Reiz, aber es vereinigt den Wechsel wilder, rauher
und fruchtbarer Gegenden; es hat die höchsten Berge, Waldungen und
Seen, anmuthige Buchten und Flüsse -- und sein kaltes Klima ist nicht
schädlich wie das des kaum sich über den Meeresspiegel erhebenden
Laaland.

Eva legte leise ihre schmale abgemagerte Hand auf Helenens Schulter, um
sie aus ihren wachen Träumen zu erwecken; »es ist schön heute Abend,«
sagte sie, »seit dem Mittag hat sich der Horizont entwölkt, wolltest
Du nicht ausgehen oder ausfahren?« »Meinst Du, daß es schön bleiben
wird, bis Sonntag und wir Alle nach Nysted in die Kirche gehen können?«
fragte, gleich in ihre Gedanken ganz zurücksinkend, das Mädchen. Sie
schüttelte die lichtbraunen Locken aus dem Gesicht und hob das von
Johannen beschriebene Antlitz zu der vor ihr Stehenden empor; man
fühlte die Wärme und Innigkeit des strahlenden Blickes, die vertrauende
Liebe, die sie der Schwägerin verband. »Ich glaube,« fuhr sie leicht
erröthend fort, »das Altarblatt wird fertig sein, es könnte wohl zur
Feier des Johannistages aufgestellt werden.« --

»Freilich haben wir lange genug darauf gehofft, aber Du vergißt, liebes
Kind, daß unsere Herren nach Copenhagen wollten.« --

»Bewahre! Christian schickt nur seine Pferde hin und Joachim und
Friedrich gehen von ihren Gütern aus direct, ohne mit uns zusammen zu
treffen; sie gedenken zum Erntefest hier auf Aalholm uns zu besuchen,«
sagte Annette. Die arme Gräfin wurde noch ein wenig bleicher als sie
gewesen, Christian hatte ihr von all diesen Veränderungen seiner Pläne
nichts gesagt!

       *       *       *       *       *

Helene sah sie sorglich an, »Christian,« sagte sie, »hat erst gestern
Abend die Briefe erhalten, er ist mit dem Inspector nach Engholm; Du
weißt, heute Morgen hat er eine Kiste Bücher bekommen, und vermuthlich
über die Geistesverwandten die Brüder vergessen!« -- Schmeichelnd
streichelte sie die zitternde Hand, welche von der Schulter
herabgeglitten jetzt in der ihren lag. »Oder mich!« -- seufzte Eva,
unhörbar leise.

Ein Männertritt erklang über den Kies der Gartenwege; während des
kurzen Gesprächs war nun, doch von Helene nicht unbemerkt, Thorald am
Pavillon vorbei und durch die kleine Gartenpforte hereingekommen; er
trat, sich entschuldigend, daß er nicht angemeldet, zu den Damen. --

Er mochte Helenen früher auf diese Weise allein angetroffen haben,
denn Beide waren sichtlich verlegen, und die andern Schwestern
flüsterten sich etwas zu: Annette zuckte lächelnd die Achseln. Die
Gräfin blieb verstimmt und wurde mit jedem Augenblicke trauriger.
Das Gespräch drehte sich um die Politik des Auslandes und die damals
noch wie elektrisch auf die Gemüther rückwirkenden Nachrichten aus
Frankreich. Thoralds Aufenthalt als Künstler in Italien, auf dem so
vielfach erschütterten Boden, in der von tausend Freiheitsträumen
und Kriegsereignissen bewegten Zeit, hatte für die Frauen etwas
Fabelhaftes, das ihn wie mit einer Aureola umwob.

Endlich kam auch Graf Christian; eine edle Erscheinung. Er ging ein
wenig vorn übergebogen aus übler Angewöhnung; richtete er in irgend
einer Geistes- oder Gemüthsanregung sich auf, so gewann seine Gestalt
etwas Ritterliches, das an Majestät grenzte. Seine Züge hatten eine
formelle Strenge angenommen, die nicht mit physischer Kraft gepaart,
fast unnatürlich erschien; die schmale kleine Hand und die dünnen
Knöchel derselben verriethen sogar eine körperliche Schwäche, die
jedoch nicht ohne Anmuth hervortrat. Ohne unbeholfen sich zu zeigen,
war der Graf leicht, selbst im engsten Familienkreise verlegen, seine
etwas ungelenke Vornehmigkeit und der seinen Tagen anhangende Mangel
einer vollendeten Erziehung, welche überall Sicherheit gewährt,
trugen Schuld daran. Unendlich schön waren seine dunkelgrauen Augen;
sie hatten einen wunderbaren Reiz, den man sich nicht zu erklären
vermochte, denn sie belebten sich selten; eine Art schwermüthiger
Düsterheit war in ihm allmälig zu der stillen Beschaulichkeit geworden,
die ihn fast zum Gelehrten stempelte. Fünfzehn Jahre hindurch hatte
er in einem jütländischen Dorfe gelebt, und war auch dort ein Träumer
geblieben, den nur momentane Noth zum Handeln zwang, den selbst die
Beschränkung der Armuth nicht zum praktischen Menschen auszubilden
vermochte. Er war zeitgemäß elegant gekleidet, hatte feine Wäsche und
ungepudertes Haar, überhaupt aber eine gewisse Zierlichkeit, welche
gegen die Derbheit seiner Gutsnachbarn abstach.

Im Eintreten fiel sein Blick auf den Maler, seine Stirn umwölkte sich.

Thorald unterhielt die Damen voller Laune und Gewandtheit, kaum
unterbrach des Hausherrn Ankunft das Gespräch, denn die Mädchen
dürsteten in ihrer Abgeschiedenheit nach überseeischen Neuigkeiten;
Besuche waren bei der Unfahrbarkeit der Wege selten.

Als Thorald endlich neben Helenen einen unbemerkten Augenblick gewann,
flüsterte er ihr die Bitte zu, wo möglich sein nun aufgestelltes morgen
zu vollendendes Bild vor dem Sonntagsgottesdienste in der Kirche zu
sehen. Glühend vor innerer Lust und in gegenseitig sie überwältigender
Leidenschaft ganz versunken standen Beide vor einander, ihn steigerte
ein stolzes Selbstgefühl, sie berauschte der Gedanke an seinen
künftigen Ruhm; denn selten nur kamen Künstler auf die stille Insel.
Der nur von Ackerbau lebende Laaländer vermag sie nicht herzulocken!
Seit Menschengedenken hatte man keinen Maler in Nysted gesehen, und
die beiden schönen Gemälde der alten Kirche dankten ihr Entstehen
katholischen Donatoren, und gehörten weit früheren Jahrhunderten an.

»Graf Brahe Trollenburg« meldete ein vierschrötiger Diener, welcher
trotz seiner Livrée einem deutschen Großknecht nicht unähnlich sah
-- Fräulein Annette erröthete zur Rose! -- Der reiche Gutsbesitzer
aus Seeland war ihr nicht fremd! Während ihres Winteraufenthaltes
in der Residenz, so kurz er gewesen, hatte sich in dem jungen Manne
eine dauerndere Empfänglichkeit für des Laaländer Fräuleins Reize
erzeugt, als den Copenhager Damen billig schien. Der Graf war reich
und eine vortreffliche Partie. Er war nach Aalholm gekommen, um das
Herzensterrain seiner Schönen zu sondiren und im Ehestandshafen zu
ankern.

An der Art, mit welcher Graf Christian ihn bewillkommnete, erst seiner
Gemahlin vorstellte und ihn dann seinen Schwestern zuführte, errieth
Thorald sogleich den künftigen Schwager, -- eine unaussprechliche
Beklommenheit bemächtigte sich seiner, die eben noch so fließenden
Erzählungen aus Italien stockten, des Hofmanns Gegenwart drückte ihn
zurück in den Schatten. Es war bei dem sehr abgeglätteten Tone des
Trollenburg nicht leicht zu durchschauen, welcher der drei Damen die
Bewerbung des vor kurzem Majoratsherr Gewordnen gelte -- es drückte
dem Maler fast das Herz ab; in verzweifelnder Stimmung verließ er die
Gesellschaft, man machte keinen Versuch ihn zurück zu halten; trostlos
kehrte er zu dem Städtchen zurück.

Unweit des Thores begegnete ihm Johanna, sie hatte den Leuten auf dem
Felde ihr Vesperbrot gebracht, und trug eine Menge Geräthschaften und
einen großen schweren Wasserkrug heim. Sie näherte sich Thorald, um
ihn zu fragen, ob er in die Kirche verlange, der Vater sei auf der
Feldarbeit mit dem Knecht; sie hätten's eilig, denn morgen sei an ihnen
die Frohnfuhre, der Acker aber erst halb bestellt.

»Frohndienst? Ihr als Bürger? unmöglich!«

»Doch, lieber Herr, wir haben von Alters her Land in Pacht vom Herrn
Grafen; obschon wir eines Theils losgekaufte Bauern sind, stehen wir
ihm noch in Frohn und Zehnten. Der Herr aber ist glimpflich, allein
der Vogt! Erbarme sich Gott! Ehmals, da wir Leibeigne waren, mag es
noch schlimmer hergegangen sein; Großvater hat uns oft geklagt, wie
die Verwalter zu seiner Zeit den Bauern geschunden! Wie er in der
Kornschatzung nicht nur gehäuftes Maß, sondern noch eine Zugabe für's
Schwinden oder Senken habe liefern müssen -- wie nicht nur bloß die
armen Gäule ihm zur Ackerfrohne eingespannt wurden, o nein, wie sie zum
eignen Dienste jedes Knechtes, jeder Magd des Herrnhofes bereit sein
mußten; konnte doch damals nicht einmal der Hundejunge zu Fuße durch
das Moor, stand gleich der Bauer bis zum Knöchel d'rin, und watete
selbst schwerbelastet neben seinem Vieh, um das Getreide zur Mühle zu
fahren, den Sand vom Strande zu holen für den Vogt -- o lieber Herr! es
war eine harte, schwere Zeit! Selbst unsre liebe Gräfin weiß ein Lied
von ihr zu singen; helf' ihr Gott! und sie ist doch uns Allen eine so
gnädige Herrschaft!«

So unbequem Thorald die Anrede der Dirne empfunden, so ganz verloren
ihr frischer Reiz dem Jüngling gegenüber blieb, so blitzstrahlartig
traf ihn dieses Wort. »Was meinst Du, Mädchen?« fragte er harsch ihren
Arm ergreifend, »was soll das heißen?«

»O nichts für ungut, lieber Herr, verzeiht! Ihr wißt ja selber wohl,
daß unsre Gräfin die Tochter des Peter Owens ist, der den großen Hof
zu Engbolle in Pacht hat; es ist freilich nicht gut davon reden, die
gnädige Herrschaft hört's nicht gern; aber Ihr, was geht es Euch an!
da droben zu Aalholm, ja, das ist etwas anders, ein Jeder sagt, es sei
ein Nagel zum Sarg des Hochseeligen gewesen und geblieben!« Sie hob
den Krug, den sie neben sich auf einen Stein gestellt, mühsam auf,
um weiter zu gehen, Thorald stand ihr freundlich bei -- »was hast Du
denn da?« fragte er zerstreut, all seine Gedanken waren noch bei ihrer
Erzählung. --

»Wasser vom Bärenborn für Fräulein Helene.«

»Seit wann thust denn Du Schloßdienste?«

»Ei im Schloß bin ich wohl selten genug! Aber das Fräulein wäscht sich
nur mit dem Bärenborn, und wir Töchter der Frohn- und Festebauern
müssen ihr Reihe herum das Wasser holen. Es ist freilich ein wenig
weit,« setzte sie hinzu, indem sie mit dem Schürzenzipfel die Stirne
trocknete, »es sind wohl anderthalb Stunden Wegs von uns aus dorthin,
darum hat mir's warm gemacht!« --

»Aber wer hat Euch denn befohlen das Wasser zu holen?«

»Wer anders als der Vogt? die Herrschaft weiß wohl kaum davon! Er ist
es noch von Alters her gewohnt, die Bauern zu Paaren zu treiben! Die
Alten sind alle so; macht es doch unserer Gräfin Vater nicht besser!
Der nimmt das Joch aus Gewohnheit selbst über den Nacken! Nun, kommt's
nicht arg, fügt man sich schon.«

Lustig schritt sie mit ihrem Kruge weiter.

Die Gräfin eines Pachters -- Peter Owens Kind? +Das+ also ist die
unsichtbare dunkle Last, an welcher das arme Weib so schwer trägt?
ihr Großvater Leibeigener, der Vater Frohnpflichtiger, wenn auch wohl
längst abgekaufter Bauer -- und sie die Gutsherrschaft -- die +Gräfin+!
Also da sind wir +noch+? seufzte der junge Mann. O wahr, trotz den
Bestrebungen der Edelsten unseres Volks, trotz Moltke, Reventlov und
Colbiornsen +noch+ nicht weiter? Wie unsäglich langsam reift die Saat
des Guten -- bedarf sie denn wirklich des blutgetränkten Bodens? --

In Italien und Frankreich, die er durchreis't, standen damals Bildung
und Volksgesinnung auf einem so andern Höhepunkte. Napoleon hatte eben
Italien unterjocht, indem er es republikanisirte; es war ein Lichtblick
seines gewaltigen Lebens, -- die vorangegangenen Uebertreibungen der
Schreckenszeit hoben die Gegenwart glänzender hervor; Jeder wollte dort
wenigstens einen Theil der ihr entströmenden Freiheit für seine oder
seiner Kinder Existenz, während im Norden die Meisten vor dem Gedanken
an die ihr gefallenen Opfer zurückbebten, und deren Vollgewinn in
seiner damaligen Form kaum angenommen haben würden, hätte er sich ihnen
geboten.

Anders freilich dachte und fühlte die Jugend, ihr war der Blutsaum
des Gewandes der Freiheit Morgenröthe geblieben. Der gestörte Zustand
der aus ihren Angeln gerissenen Maschine, die wir Bürgerlichkeit
nennen, erschien ihr minder grell und qualvoll, als den Alten, welche
der verarmten Familienväter, der kinderlos gewordnen Mütter, der
Gattinnen, die ihr Theuerstes auf der Guillotine verloren, gedachten.
-- Frankreichs glänzende Redner hatten auch in Dänemark den heißen
Durst nach einer nie empfundenen Gleichheit der Stände erweckt,
versprach er doch dem edlern Individuum den unermeßlichen Reichthum
einer vollständigen Entfaltung, den der innerlich Hochbegabte am
schmerzlichsten entbehrt, und heißer ersehnt, als der Bettler das
materielle Gut des Vornehmen.

Dem rohen Rausch vernichtender, zerstörender Bestialität des
französischen Pöbels lag eigentlich das nämliche Gefühl zu Grunde,
das hier und da den Schwärmer verleitete: eine Ueberschätzung seiner
selbst. Umsonst haben tausendjährige Erfahrungen uns die Lehre
wiederholt, daß dem +wirklich+ bedeutenden Menschen, dem Genie, der
vollständigen Geisteskraft weder äußere Verhältnisse, noch irgend eine
andre Zeitgewalt hemmende Fesseln anzulegen vermögen; für die Meisten
sind der obscure Mönch Luther, der Schiffsjunge Peter von Rußland, und
der uns viel näher stehende Napoleon Bonaparte keine Beispiele.

Ist nun dem Menschenherzen so natürlich, im angeborenen Streben nach
Glück den größten Maßstab für die eigenen Forderungen zu wählen,
ohne sie mit den eigenen Leistungen irgend in ein Gleichgewicht zu
bringen, um wie viel edler erscheinen jene seltenen Naturen, die
ohne persönliches Bedürfen, unter günstigen Verhältnissen, nur für
die Menge fordern und, ihre Nation vertretend, sich selbst aufopfern
für ein allgemeines Wohl! Fast alle wahren Wohlthäter der Menschheit
haben jedoch nicht bloß gewaltig, sondern eben so mild als besonnen
gehandelt. Sie sind Sterne gewesen, welche nicht nur das Dunkel
des Augenblicks durchleuchteten, sondern in jeder Nacht von neuem
auftauchten und hinter den sie bergenden Wolken fortschimmerten, bis
ihr Strahl sie zu durchbrechen vermochte.

       *       *       *       *       *

Die Namen der hochherzigen Männer, welche unter Friedrich ~V.~ und
Christian ~VII.~ es unternahmen, Dänemarks Bauern allmälig Freiheit
und Wohlstand zu bereiten, werden nie in seiner Geschichte verklingen,
so langsam auch ihr oft unterbrochenes Werk vorwärts schritt, ihre
Beharrlichkeit brachte sie an das Ziel. --

Wie aber die Natur den festen Eichenwald gern mit Vögeln und
Schmetterlingen durchjauchzt und belebt, so stehen immer zwischen
solchen ernsten, tiefen Charakteren, aus deren Reichthum Tausende ihren
kurzen Lebensfaden spinnen, leichte harmlose Wesen, welche gern überall
das Schönste und Beste fördern möchten, es auch manchmal zu erfassen,
in der Regel aber +nie+ es festzuhalten vermögen.

Dieser höchst nothwendigen Mehrzahl der Menschen, welche das
eigentliche Element gesellschaftlicher Verbindungen ausmachen, werden
allerdings nur die ihnen durch Geburt, Reichthum oder Zufall gegebenen
Verhältnisse zum äußern Halt, daher die vielen Klagen über verfehlte
Existenz und gehemmtes Talent. Ich glaube aber, daß wir kein einziges
Beispiel haben, daß die ganze Gesellschaftswelt, in Bausch und Bogen
genommen, je im Stande gewesen ist, den Außerordentlichen zu hemmen,
das gesunde Genie zu zerstören! --

Thorald fand den Gang der Umstände zu langsam; ihn drängte eine innere
Unruhe zum Handeln; in Napoleon sah er den Retter der Welt. »Der
Schneckenlauf der Bildung meines Vaterlandes,« sagte er, »beut mir nur
Kränkung und Lähmung meines Talents. Die Schwere veralteter Vorurtheile
legt sich auf jede Hoffnung! Auch in Copenhagen schreitet die Kunst
nur unter dem Schutz des Fabrikwesens vorwärts. In Frankreich, in
Italien entfaltet eine kräftigere Hand das Panier der Freiheit! Die
ihr gefallenen Opfer schlummern unter der grünen Rasenhülle, lebt noch
irgend etwas von ihnen weiter in jener unendlichen Himmelsbläue voll
unbekannter Welten, so ist dort das hienieden Unvermeidliche längst
verziehen. Uns bleibt die Sorge, es nicht unnütz erscheinen zu lassen,
den mit Feuer und Schwert bearbeiteten Acker zu besäen! Der Verlust,
den Tausende beweinen, muß zum Glücke Tausender erblühen. Auch ich kann
nur dort mir ein Loos erschaffen, das Helenen anzubieten würdig.«

Wenn sie aber mit Dir entflöhe! so dachte er in andern Momenten; allein
wie sie erhalten, durch welche Mittel, -- ob sie reich ist? -- Ihm war
die Frage nie eingefallen, er war zu sorglos dazu. Auch galten in
Dänemark damals noch die Majorate und fast alle Töchter hochadliger
Familien standen in dieser Hinsicht einander gleich. So schob er gern
den Gedanken zurück, von Helenens Gelde zu leben, alles Andere wollte
er ihr danken. Wenn er aber an Heirath dachte, -- und seit drei Wochen
that er es stündlich, -- so schwebte ihm allemal ein Verhältniß vor,
als Hofmaler, als bevorzugter Künstler in einer königlichen Residenz.
-- Dann durfte sein Ruhm neben der Geliebten Adel sich stellen; auf
die aller natürlichste Weise vergaß Thorald seine republikanischen
Gesinnungen und daß er eben in der Nysteder Kirche sein +erstes+
historisches Gemälde aufstellte!

Seine Arbeit vergaß er indessen doch nicht; kaum war der erste
Sonnenstrahl erwacht, so saß er auf seinem Gerüste vor dem Altarblatte;
was ihm überhaupt zu thun möglich, war bald gethan. Er saß noch oben,
als die angelehnte Thür leise in ihren Angeln sich drehte, und Helene
von ihrer Kammerjungfer begleitet in die Kirche trat; sie hatte
Commissionen im Städtchen gemacht, die offene Thür bemerkt, und so
war ihr plötzlich eingefallen, einen Augenblick einzutreten. -- Der
überglückliche Künstler sprang zu ihr hinab, das Gerüst ward mit
zitternden Händen zur Seite geschoben, -- großer Gott! auf dem Altar
stand ihr Bild! Daß er sie als eine der Frauen dargestellt, welche
die zusammensinkende Mutter unseres Herrn unterstützen, hatte an sich
nichts den ernsten protestantischen Sinn Verletzendes -- und wie ein
Strom stürzte der Jubel ihr in's Herz!

       *       *       *       *       *

Thorald dagegen stand mit gesenktem Blicke bebend ihr zur Seite, eine
tödtliche Blässe hatte seine Züge überdeckt -- er wagte nicht sie
anzusehen. Endlich war der Zustand nicht mehr zu ertragen: er schlug
die Augen auf -- Gott sei Dank, daß es eine Zeit im Menschenleben
giebt, in welcher man keiner Worte bedarf, sich alles Nöthige zu sagen!
»Aber,« fuhr sie fort, nachdem er in ihrem Antlitz gelesen, was er zur
Beseligung des Augenblickes bedurfte, »was wird mein Bruder, was werden
Bürger und Bauern sagen? ich bin es freilich nicht, denn die Maria
Jacoba ist ja viel tausendmal schöner als ich, dennoch --«

»Helene! kann ich für die unbewußte Schuld? Des alten Küsters Tochter
Johanna war die erste, welche mir es aussprach; ich wollte sogar
diese mir aus dem Tiefsten meines Innern entquollene Aehnlichkeit
zerstören, aber mir bebte die Hand, wie bei einer verruchten That, ich
vermochte es nicht.« Heißer erröthete das Mädchen, heftiger schlugen
des Künstlers Pulse: vor dem Altar sprachen sich Beider Herzen aus. Dem
voltairisirenden Jüngling, der eben noch mit den Jacobinern zur »Göttin
der Vernunft« geschworen hätte, trat die Liebe sanft, voll religiöser
Empfindungen, wie ein ihn heiligender Glaube in die unruhige Seele, und
schuf sie um zum Tempel des innigsten, frömmsten Gefühls.

Noch schwelgten die Liebenden im Anschauen ihres gegenseitigen Glücks,
ohne im mindesten der Erde und ihrer conventionellen Bedingungen
zu gedenken, als wiederum die Kirchenthür in ihren schweren Angeln
dröhnte, diesmal aber heftig aufgerissen ward. »Der Herr Graf,« sagte
das im Hintergrund vergessene Kammermädchen, »der Herr Graf.« Zum
Glück war sie eine Copenhagerin!

       *       *       *       *       *

Graf Christian prallte zurück, als er das erglühte, bebende Paar in
traulichem Beisammensein vor dem Altar erblickte; aber sein Gesicht
nahm den Ausdruck des wüthensten Zornes an, als er die Aehnlichkeit mit
seiner Schwester gewahrte, die momentan noch auffallender erschien,
weil Helene zufällig mit aufwärts gewandtem Haupte zu Thorald in die
Höhe sah, wie auf dem Bilde die Maria Jacoba zur Mutter Gottes.

       *       *       *       *       *

»Herr! was soll das?« polterte der kaum seiner selbst Mächtige und
dennoch innerlich Verlegene. Mit jedem Wort steigerte er sich mehr und
mehr, um seiner Stimme Herr zu werden, »Sie haben sich erlaubt, die
Ihnen von mir und meiner Familie aufgetragene Arbeit zu mißbrauchen,
die Züge eines Fräulein von Gejern, wie die eines Modells zu einer
Figur Ihres Gemäldes zu benutzen! Sind Sie von Sinnen, auf diese Weise
einen im ganzen Reich geachteten Namen zu prostituiren? Das Gemälde
muß fort von hier, oder die Züge dieser Martha -- oder wie sie heißt,
müssen verändert werden.«

»Herr Graf, diese Aehnlichkeit ist weder einem der mir aufgetragenen
Familienportraits gestohlen, -- mein Altarblatt ist weit früher gemalt
als jene, -- noch habe ich die Comtesse wie ein Modell zu behandeln
gewagt. Wenngleich eine zufällige Aehnlichkeit die Züge meiner Jacoba
verschönt, so liegt darin nichts Entwürdigendes. Meine Kunst ist
heiligend, nicht befleckend! Rafael, Domenichino, del Sarto haben
alle Großen ihrer Zeit, den Papst, die Fürsten, die edlen Frauen aus
königlichen Geschlechtern auf ihren Gemälden verewigt. Wenn aus ihren
Worten eine gewisse Unkenntniß dieser Umstände hervortritt, so muß ich
dennoch anerkennen, daß Sie in andern gelehrten Fächern so Bedeutendes
leisten, daß Ihnen für die Kunstgeschichte keine Zeit blieb -- gewiß
würden Sie in Frankreich oder Italien --«

»Unsinn! Unsinn! Wir sind Protestanten, Herr Eynerssen, verstehen
Sie das? ganze Protestanten, keine Halbkatholiken, keine Deïsten,
sondern Lutheraner! -- schon +das+ ändert unsere Verhältnisse! Wir
sind Dänen! das ändert unsere Ansichten des Schicklichen; was in
diesem Augenblicke in Frankreich und Italien, als die mit dem Blute
des Adels gedüngte Frucht höherer Bildung gilt, vergeben Sie -- kann
ich als dänischer Graf weder ehren noch anerkennen! Da ich mir aber
erlaube, über meine vaterländischen Zustände und die bei uns längst
festgestellten gesellschaftlichen Formen selbständig zu urtheilen, so
bitte ich Dich,« -- fuhr er gegen das Fräulein gewandt fort -- »um
Deinen Arm, um Dich zur Kutsche zu geleiten. Läßt Du mir da die neuen
Mecklenburger Rappen zwei Stunden an der Sonnengluth stehen, daß sie
die Hufe sich zerschlagen! Ich werde mir das Weitere in Bezug auf Sie,
Herr Eynerssen, und auf die Maria Jacoba vorbehalten. Für jetzt ersuche
ich Sie nur auf das Bestimmteste und Höflichste, es zu machen, wie Ihre
Kunstvorfahren mehr als einmal gethan: durch einige wohlberechnete
Pinselstriche, die, wie sie mich versichern, Comtesse Gejer ganz wider
Ihren Willen zur Jacoba stempelnde Aehnlichkeit zu +vernichten+, und
werde ich ferner stehenden Fußes mir erlauben, den Herrn Magistrat zu
benachrichtigen, daß einige nöthige Retouchen die Enthüllung Ihres
Altarblattes am Johannisfeste unmöglich machen und selbige um ein
paar Tage hinausschieben; es sei denn, daß Sie mit diesen Aenderungen
sogleich --«

»+Ich+ könnte mir vor Allem erlauben Ihnen zu bemerken, Herr Graf, daß
ich vollkommen mündig und erfahren genug bin, dem Magistrat selbst
vorzutragen, was ich für nöthig erachte« -- --

In Todesangst blickte Helene, hinter dem Grafen halb verborgen, zum
Geliebten hinüber, noch ein Wort und der Bruch war unvermeidlich,
unheilbar! --

»Ich erlaube mir aber nur als Künstler zu antworten, daß es zu dieser
Aenderung +zu spät+ ist,« fuhr Thorald fort, »mein Bild ist seit
mehreren Tagen vollendet, ich habe sogar eben einen ersten leichten
Firniß darüber gezogen; Ew. Gnaden Kunstsinn und Geschmack werden Ihnen
die Ueberzeugung davon geben, wenn Sie es einer nähern Betrachtung
würdigen.«

Aber Geschmack und Kunstsinn des Grafen reichten keineswegs an die
strenge Ansicht desselben in Betreff der Frauen-Ehre, deren Zartheit
in seinen Augen jeder Hauch zu trüben vermochte; sie reichten eben so
wenig an das beleidigte Gefühl seines Adelstolzes. Auf's schmerzlichste
erregt, war jetzt Graf Christian jeder Verlegenheit, aber auch jeder
Schonung bloß, -- Wort um Wort flogen in immer verletzenderer Schnelle
hin und wider, Christian vergaß sich endlich so weit, den Maler daran
zu erinnern, daß er, außer der Verwendung des Bischofs zu Roeskilde,
seiner eigenen Vermittlung die Bestellung des Altarblattes zu danken
habe.

An dieser unseligen Mahnung brachen des Jünglings Fassung und alle
Vorsätze seiner Liebe. Seine Künstlereitelkeit war zu peinlich
verletzt. Mit mehr Hochmuth als Stolz erklärte er die ganze Arbeit in
Nysted für eine bloße Probe, die er mit seinem eigenen Talent gemacht,
welche aber von dem kleinen Städtchen einer unbedeutenden dänischen
Insel aus, keineswegs ihm als Kunstwerk großen Ruf zu erwerben
geeignet sei. Von Copenhagen her könne es allein ihm gelingen, sich
in der Welt Bahn zu brechen; nur vom Königshofe stehe zu erwarten,
daß etwas wirklich Förderndes für seine Kunst geschähe. Unglücklicher
Weise setzte er dabei den ganzen langsamen Bildungsgang Dänemarks in
ein höchst ungünstiges Licht, und vergaß der ungeheuren Opfer, welche
gerade jene Zeit dem höhern Adel auferlegte; denn der junge Maler
kannte die blutige Geschichte Frankreichs in ihrer grellen Buntheit
besser, als die des eigenen Vaterlandes.

Graf Christian dagegen war mit dem tiefaufgewühlten Boden vertraut,
dem er Schätze der Erkenntniß entrungen, in welchem er zahllose
Leichen seiner Jugendhoffnungen und manch' schmerzliches Verleugnen
seines Familienstolzes geborgen. Die Wahrheiten, die er auf demselben
angebaut, hatten längst Frucht getragen. Unpraktisch im kleinen
Thun des täglichen Lebens, ungeschickt wie ein Kind in Handhabung
des Zufalls und seiner flüchtigen Gunst, wenn es seine eigne
Persönlichkeit galt, war er in Bezug auf Staatsverhältnisse fest und
klar. Als Theoretiker schloß er sich den bedeutendsten Reformatoren
der Bauernsache an, als Individuum hatte er in Ausübung des einmal
Angenommenen nie das Billige verweigert. Ordnung und Freiheit
waren ihm gleichbedeutend, er selbst hatte auf Laaland die ersten
Schritte zu Lösung des Leibzwangs und des Gemeinbesitzes gethan,
ja, zuerst Erbpacht auf seiner Herrschaft gewährt, aber daß er es
gethan, verlangte er anerkannt zu sehen. +Nie+ war ihm eingefallen,
seinem Range dabei etwas vergeben zu können, oder die gewährten
+Menschenrechte+ als Aufhebung der seines +Adels+ anzusehen. So empfand
er auch Thoralds Nichtbeachten des für ihn Geschehenen als schwarzen
Undank, ja als Gemeinheit und Frechheit.

Sehr trocken fragte er den Maler, ob er von seiner Stelle aus, ohne
Unterstützung des Adels, am Hofe Zutritt zu erlangen erwarte? Ob ihm
das verwandtschaftliche Verhältniß zwischen seiner und des Bischofs
Familie unbekannt sei, daß er auf die ihm in Bezug auf Comtesse Gejer
eben mitgetheilten Bemerkungen so gar nicht achte, als müßten dieselben
nicht in jenem Hause ihr Echo finden?

Es legte sich eine Art Geringschätzung in Ton und Haltung des Grafen,
die für Thorald unerträglich war. Als Christian seine durchaus
verletzende Rede mit dem übermüthigen Rathe schloß, lieber bei dem
macht- und geldlosen Adel der französischen Emigranten, oder bei den
Jacobinern die rasche Erfüllung seiner hochfahrenden Pläne zu suchen,
brach Helene in Thränen aus; alle Rücksicht gegen den Bruder vergessend
stürzte sie auf den Künstler zu, und beschwor ihn auf's zärtlichste,
sogleich die Kirche zu verlassen, diese Unwürdigkeiten nicht länger
anzuhören, das Unstatthafte in Christians Betragen um ihretwillen zu
verzeihen.

Erschreckt starrte der Graf die Schwester an, das Unpassende des ganzen
Auftritts fiel mit Zentnerschwere auf ihn und lähmte ihm die Gedanken;
in peinlicher Verlegenheit riß er den Arm des Mädchens an sich und
führte sie fast gewaltsam zum Wagen. Er war zu tief verletzt, um sich
weiter auszusprechen, -- als das Zöfchen aber Miene machte, zu Fuß zu
gehen, winkte er ihr peremptorisch zu, auf dem Rücksitz Platz zu nehmen.

Zu Haus angelangt, geleitete er Helenen bis in ihr Zimmer, an der Thür
desselben ergriff er heftig des Kammermädchens Arm. »Ein anständiger
Dienstbote mischt sich nicht in seiner Herrschaft Angelegenheiten, und
wo ihm der Zufall etwas offenbart, daß ihn nichts angeht, hält er das
Maul! Verstanden Jungfer?«

Marie küßte schweigend dem Grafen die Hand, verbeugte sich demuthsvoll
und folgte ihrem Fräulein, und so groß war des Gebietenden Gewalt,
daß sie auch draußen bloß durch Seufzer dem sie drückenden Geheimniß
Luft gab. Graf Christian aber zog sich stumm in seine eigenen Gemächer
zurück und erschien erst Mittags, um dem Brahe Trollenburg bei Tische
die Honneurs zu machen.

Aufschreiend in wildem Schmerz, warf sich der allein in der Kirche
zurückgebliebene Thorald auf die Stufen des Altars nieder. Was er
selbst zuerst als nothwendig und schicklich empfunden, erschien ihm
nun maßlose Tyrannei. War ihm früher Helene theuer gewesen, so hatte
jetzt ihr Selbstvergessen um seines, des armen Künstlers willen,
dem hochmüthigen Bruder gegenüber, seine Neigung zur heftigsten
Leidenschaft erhöht. -- Mit anbetender Inbrunst blickte er auf das
Bild, das ihr Antlitz ihm vergegenwärtigte -- etwas an demselben
zu ändern war zum Sacrilegium geworden, aber nun wollte er es gar
nicht mehr der Kirche lassen, er wollte es mit sich fortnehmen, nach
Deutschland oder Frankreich. -- In wüsten, undeutlichen Träumen verging
ihm der Tag. --

Es war gegen Abend; die Sonnenstrahlen durchbohrten mit langen gelben
Streiflichtern die schmalen Bogenfenster, und streiften die mit grauem
Sandstein umränderten Gewölbbogen; an den hohen Pfeilerbündeln, an
den Seitenchören hin, am Metall des Altarkreuzes, an den messingenen
Leuchtern spielten hell aufblitzende Lichtpunkte -- draußen wurde es
allmälig still; die Leute kehrten von der Landarbeit heim. Langsam
verstummend sank die gelbrothe Sonnenscheibe zurück in ihr von Nebeln
umflortes Meeresbett.

Noch immer lag Thorald regungslos, mit sich selber uneins an derselben
Stelle. Eine kleine weiche Hand faßte, ihn aufrüttelnd, seine Schulter.
»Lieber Herr! Ihr seid gewiß erkrankt! Hättet ihr nur laut gerufen,
ich habe vor der Hausthüre mein Garn geweift, ich hätte Euch sicher
vernommen. Es hat sich keiner hieher in die dunkle Kirche getraut. Als
aber der Vater heimkam zum Abendbrot und die offne Thüre gewahrte,
Herr Je! hat er mich gescholten! Ich glaubte Euch nun fort und des
Zuschließens vergessen. -- Kommt, steht auf, ich stütze Euch, kommt
mit nach Hause! dann koche ich Euch Lindenblüthenthee, das wärmt; die
alte Halle ist so eisig kalt! Könnt Ihr Euch aufrichten? O mein Gott!
bald hätt' ich's vergessen: auch einen Brief habe ich an Euch, von
Schloß Aalholm; der Gänsebub' hat ihn gebracht -- aber was ist Euch?
Wo wollt Ihr denn hin? Herr Eynerssen! Herr Thorald! Wartet doch!« --
Johanna hatte gut rufen und schelten: Thorald, der Helenens Handschrift
erkannt, stürzte plötzlich wie von Feuersgluth durchströmt fort,
ohne auf sie zu hören, um in abgeschlossener Stille, fern von jedem
störenden Menschenblick, das verhängnißvolle Blatt zu lesen.


Erst nachdem die Gesellschaft auseinandergegangen und Jeder auf sein
Zimmer sich zurückgezogen, trat Graf Christian bei Helenen ein. --
Finster, mit umwölkter Stirn und zusammengezogenen Brauen, näherte er
sich dem Mädchen und setzte sich in der Mauervertiefung des Fensters
ihr gegenüber, in einen altvätrisch geschnitzten Sessel, den er
vorzüglich gern bei allen Familienmittheilungen einzunehmen pflegte.

Helene war innerlich entschlossen, all sein Thun lächerlich zu finden,
sie hatte sich mit Uebermuth und Unverletzbarkeit gerüstet, und bot ihm
ruhig die heitre Stirn.

Ehe aber noch der etwas Verlegene den Anfang seiner beabsichtigten
Rede gefunden, begann sie selbst: »Erlaube mir, lieber Christian, uns
beiden ein Wort Verschwendung zu sparen. Deine Absicht ist, mir mein
Betragen in der Kirche, Herrn Eynerssen gegenüber vorzuhalten und mich
zu fragen: ob ich um die Dich so scharf verletzende Aehnlichkeit meiner
Züge mit denen einer seiner heiligen Frauen gewußt -- oder gar sie
gebilligt. Beides kann ich verneinen; ich hatte keine Ahnung davon, ehe
ich die Kirche betrat. Das Uebrige aber läßt sich mit einem einzigen
Worte abthun: ich +liebe+ Thorald Eynerssen!«

Christian ward bleich; auch er hatte in seiner Jugend empfunden, wie
jetzt Helene! er fühlte, daß sie festen Willens auf den Ereignissen
seines früheren Lebens fuße; ein schneidendes Weh trat ihm an's Herz,
und riß gespenstisch all die Leichen längst abgestorbener Schmerzen
an's Licht. Seine frühe Heirath mit der Tochter eines Feste-Bauers,
dem sein Vater, Graf Thugge, die Freiheit geschenkt, hatte ihn elend
gemacht; sie hatte ihn fünfzehn Jahre lang dem väterlichen Hause
entfremdet! Der alte Graf hatte den Feste-Bauer zum Pachter eines
seiner Höfe angenommen -- so hatte die unglückselige Neigung der
jungen Leute sich entsponnen. Fünfzehn lange Jahre hatte Christian in
Jütland in tiefster Abgeschlossenheit und drückender Armuth verlebt,
unerbittlich vom Vater verstoßen -- verflucht! -- Und dieser Vaterfluch
war seiner liebebedürfenden Seele zu einer sein ganzes Dasein
überschattenden Wolke geworden, und blieb es, selbst als er endlich des
Vaters Vergebung gewann! --

In der öden Einsamkeit der rauhen Haide, in Mariager, einem elenden,
kleinen Städtchen, das dem tief einschneidenden Fiörd durch einen
kleinen Seehafen seinen Unterhalt abgewinnt, ohne alle gewohnten
Bequemlichkeiten, ohne irgend eine Lebensgier, sah der Arme seine
ganze Jugend verstreichen![1] Mit täglichen Geldverlegenheiten um's
tägliche Brot kämpfend, saß er freund- und freudelos der Gattin allein
gegenüber: unter Standesgenossen ein Bauer, -- unter Bauern ein
Bettelgraf! Von Menschen umgeben, deren ganze Industrie sich auf den
Hausfleiß grober Webereien und Fertigung schwerer Holzschuhe erstreckt,
blieb er allem Umgang fern. Stolz und verschüchtert zugleich, fand
seine ohnedies scheue Natur überall Widersprüche, die ihn schmerzten.
Seine Leidenschaft hatte der Besitz abgekühlt, was an ihr durch äußern
Widerstand zu phantastisch-schöner Uebertreibung aufgeschossen, wie
eine Wunderblüthe -- war fruchtlos abgewelkt: seine Ehe war kinderlos
geblieben. Er liebte seine sanfte treue Gattin, allein in der
immergleichen unpoetischen Stille ihres Zusammenlebens, traten oft
Pausen des Verstehens, schmerzliche Lücken ein; der Tag ward lang,
riesig gedehnt überwuchs ihn der frühbeginnende nordische Abend, das
Bedürfniß die Zeit auszufüllen machte sich geltend.

Der junge Mann fing an zu lesen, aus Holstein, Schleswig und Copenhagen
Bücher sich zu verschreiben, eifrig zu studiren, über mühsam errungener
Kenntniß zu brüten.

Nun vergaß er die Kränkungen der Welt, verschmerzte die Trennung
von den Seinen -- allein er vergaß auch seine Frau; er versank in
tiefsinniges Forschen, vergrub sich in Geschichte und Philosophie. --
Eva erschrak als sie plötzlich entdeckte, daß sie eifersüchtig sei.
Eifersüchtig! und nicht mehr wie ehemals auf eine schöne Dirne, deren
Augen Christian gelobt, deren schlanken Leib er im »Fangtanz« fester
umschlossen -- sondern auf seine von ihr abgewandte Seele, auf seine
Bücher und Plancharten, um seiner nun ganz von der ihren abgelös'ten
Existenz willen. O wie lange Tage weinte die arme Eva -- er merkte es
nicht einmal! wie weinte sie, daß sie nicht klug, nicht unterrichtet
genug sei für ihren Christian!

Endlich begann sie Unterricht zu suchen, sich eifrig mit Stundennehmen
abzuquälen, um ihm nachzustreben, ihn wieder verstehen zu lernen.
Es vergingen viele Monate ehe sie nothdürftig Schreiben und Lesen
sich angeeignet, -- er aber hatte schon wieder andere Interessen
gewonnen, trieb jetzt Physik und Astronomie, machte Experimente -- und
Schulden, um sich vermittelst der Schiffsgelegenheit des kleinen Hafens
ausländische Schriften und astronomische Instrumente kommen zu lassen.
Wieder war er ihr in endloser Weite voran! Sie litt sehr! Endlich
bemerkte er es.

-- Das Alles und weit mehr noch glitt mit grausenhafter Geschwindigkeit
Christians innerem Auge vorüber; als er das leibliche aufschlug, saß
seine Schwester, den einen Fuß hochgestellt und auf das Knie den Arm
gestützt, in dessen Hand das rothgeweinte Antlitz ruhte, mit dem
eigenwillig kecken Ausdruck in den Zügen, den er an sich selber kannte!
An dem nämlichen Fenster hatte er tausend Mal so gesessen und in
der nämlichen Stellung starr auf das mondlichte, hochaufwogende Meer
geschaut, -- wie eben jetzt Helene! --

Denn die kaum minutenlange Pause zwischen ihrer kecken Anrede und des
Bruders zögernder Antwort, hatte auch ihr das Herz wach gerüttelt;
die angenommene Heiterkeit war ausgelöscht, der nackte, bittere Trotz
an deren Stelle getreten. Fest entschlossen für ihr Glück zu kämpfen,
fühlte sie darum nicht minder den Druck lastender Erinnerung. Auch des
ihr drohenden harten Widerstandes war sie mit tiefstem Grauen sich
bewußt -- sah sie doch täglich dem stillen Vergehen ihrer Schwägerin,
der immer zunehmenden Kälte zwischen den Eheleuten zu, sie mußte
es sich eingestehen, daß aus Christians eigenen Erfahrungen der
furchtbarste Feind ihr erwachse.

Auch war der schon bei ihrer Geburt halb Verwais'ten ein entsetzliches
Bild von des Vaters Zorn gegen Christian geblieben, das mit dem
seltsamen Lebenswandel des seit ihrer Mutter Tode ganz Vereinsamten
in Verbindung stand, -- das Urtheil der ganzen Familie betrachtete
damals den verbannten Sohn wie etwa einen Pestkranken; niemand von
den Geschwistern, den Vettern und Basen hatte ihn wiedergesehen,
niemand nannte ohne besondere Nöthigung Christians Namen! die andern
Brüder, jetzt beide an reiche, wenngleich bürgerliche Frauen vermählt,
waren damals noch zu jung zum heirathen. Der bloße Gedanke an eine
Verbindung mit einer kaum dem Leibzwang entrissenen Bauerndirne,
war ihnen empörend und lächerlich zugleich; mit ausgelassenem Hohn
erzählten sie einander von einem Vetter des Mädchens, den der Vogt mit
Peitschenhieben zum zwölfjährigen Soldatendienste gezwungen, eines
leichten Vergehens halber ihn vom Hof gejagt und unter die Miliz
gesteckt -- dem Kinde war die Geschichte immer peinlich gewesen.
Die bösen Buben hatten es dann erst recht geneckt, »wärst +Du+ es,
Püppchen, und nicht unser Aeltester, wir drehten Dir lieber den Hals
um, eh' wir die Schande noch einmal erlebten!« »Ja«, sagte lachend der
Andere, »das wäre auch noch schlimmer, unser Blut adelt das Weib an
unserer Seite und läßt unsern Söhnen den Namen des Vaters, aber so ein
Bürgerlümmel machte +sie+ zu seines Gleichen.« Helenchen hatte nicht
verstanden was sie meinten, aber die Angst hatte ihr Thränen erpreßt.

So saß auch sie sinnend jetzt dem Bruder gegenüber, die dunkle
Gedankenspindel drehend und abwindend, ohn' Ende -- --

»Helene!« sagte sehr trübe, aber auf edle Weise der Graf, »Du hast
Elend genug, zu aufgehäuften Massen an einander gedrängt, unter uns
erlebt; hast Dich groß gesogen daran und stark. Seit ich denken kann,
geschah das Ungehörige in unserm Hause, zerrieben sich die besten
Kräfte unseres Stamms umsonst an ihren eigenen Auswüchsen. Ich frage
Dich also nicht, willst Du den alten, kaum entschlummerten Unfrieden in
seiner dämonischen, Dir wohlbekannten Gestalt von neuem erwecken -- ich
warne Dich auch nicht, das Alles wäre umsonst! Denn Du bist eine Gejer!
Aber sieh in mir Deinen Widersacher. Was +ich+ gegen diesen Zuwachs
unseres Familienelends zu thun vermag, das erwarte von mir. Kannst Du
Dich selbst überwinden, so traue mir Liebe, Ausdauer und jedes Opfer
für Dein Wohl zu. -- Kannst Du es nicht, mußt Du Deinem wilden Sinn
genügen, nun -- vergieb! so beachte wenigstens Deine Frauenehre, wenn
die Ehre Deines Namens Dir nichts gilt; wirf Dich nicht weg, auch nicht
an den Besten! Laufe diesem Abenteurer nicht nach, hänge Dich der
sich frisch entwickelnden Kraft des Jünglings nicht an, wie eine ihn
hemmende, sein Talent zerdrückende Last -- hüte Dich, daß der zu seiner
Qual Vergötterte, Dich nicht mit Füßen trete! Oh! man hat Beispiele
davon.« -- Mit einem tiefen Seufzer, ohne Helenen weiter anzusehen,
stand Graf Christian auf und schritt schweigend zur Thür hinaus.

»Er mich nicht lieben? o nein, nein, dann wäre ja gar nichts mehr
+wahr+ auf der Welt!« Helene barg aufjammernd vor Schmerz das Gesicht
in beide Hände und schluchzte convulsivisch. -- Endlich sprang sie auf,
ihr ganzes Wesen trug wieder den Stempel der kühnen Entschlossenheit,
mit welcher sie vorhin den Bruder empfangen. Sie trat an den Tisch
und schrieb, obwohl mit zitterndem Herzen, dennoch mit fester Hand an
Thorald Eynerssen.

»Sie haben Unwürdiges für mich ertragen, Thorald, aber gerade dies
Ertragen gilt in meinen Augen mehr als eine Heldenthat, denn Sie haben
Kraft sich zu vertheidigen, und nur um meinetwillen haben Sie geduldig
die Last auf sich genommen, die Sie hinwerfen konnten; allein sie
hätte sich zur unübersteiglichen Mauer zwischen uns erhoben, hätten
Sie meinen Bruder behandelt, wie er es verdiente! Ich danke Ihnen,
Thorald, mit jedem Hauch meines Daseins. -- Und doch weil ich nun in
der That, nicht mehr im bloßen Wort den Rückstrahl Ihrer Liebe gesehen,
muß ich eben um dieser mich beglückenden Liebe willen, ein neues,
noch schwereres Opfer von Ihnen verlangen. Vielleicht sollte ich in
mädchenhafter Scheu Sie Schritt vor Schritt errathen lassen, was ich
so offen Ihnen gestehe, allein wir leben in einer so bewegten Zeit,
daß auch eines Mädchens Herz von dem sie durchglühenden Muth erfaßt
und fortgerissen wird aus seinem eigenen heimathlichen Rückhalt! Die
aufgegangene Freiheitssonne ruft +alle+ Lebenskeime an's Licht -- sogar
in unsern kalten Norden dringt ihr Strahl. Drückt im Allgemeinen unser
Volk noch die Kette in der Welt längst als lächerlich abgeschaffter
Vorurtheile, so ist es gewiß um so mehr an jedem einzelnen
Freigesinnten, das Band zu brechen, das ihn hemmt, denn Millionen
einzelner Ringe bilden ja die Fessel, in welcher Dänemark bis zu diesem
Augenblicke schmachtet. --

In +diesem+ Sinne, Thorald, betrachten Sie mein Thun, ich +will+ und
+werde+ frei sein, die Banden abstreifen, die mich an diese Scholle
binden so gut wie den Leibeigenen, dem wir die Freiheit geben, mir
aber wird Ihre Liebe sie gewähren! Aber um dieses Augenblickes willen,
welcher unwiderruflich kommen muß, ist jetzt ruhige Besonnenheit
nöthig, bringen Sie ihr das Opfer des gegenwärtigen Moments: Niemand
darf ahnen, was wir einander sind, ehe wir beide Laaland hinter uns
haben, und in Copenhagen (Kjöbenhavn) uns wieder finden! Vernichten
Sie die mich beseligende Aehnlichkeit auf Ihrem Gemälde, sie verräth
uns. Wie mein Bruder, denken all meine Verwandte, denken alle Männer
im Städtchen, ja auf unserer ganzen Insel. Was in Frankreich Ihnen und
mir zur höchsten Ehre gereichte, erscheint hier als Beleidigung einer
achtbaren Familie, ja als Beleidigung meiner selbst. Vernichten Sie die
allzu sehr in's Auge fallende Aehnlichkeit und ist dies geschehen, dann
bleiben Sie ruhig hier, vollenden Sie die begonnenen Arbeiten, welche
in der Residenz Ihnen leicht die Bahn brechen werden, die Ihr Talent
sucht -- und überlassen Sie Ihrer Helene das Uebrige. Christian soll
nicht in Zweifel bleiben, um wessentwillen Sie das Bild geändert, und
zu seinem Schrecken nur zu bald einsehen, wie wenig Sie seiner elenden
Hülfe bedürfen!«

            +Helene.+

»Für den Augenblick ist es genug,« sagte sie, das Blatt faltend,
»Christians mich erniedrigende Ansicht soll keinen Einfluß ausüben auf
mich. Du hast ganz Recht, Bruder, ich bin eine Gejer, und wir haben
harte Köpfe, mögen sie grau sein oder blond!«

Allein trotz dieser heldenmäßigen Aeußerung wußte Helene doch nicht,
wie das Billet in des Geliebten Hände bringen; ihrer Kammerjungfer
traute sie nicht mehr, des Grafen Worte hatten das Mädchen
verschüchtert. Den Brief verbergend, eilte sie selbst die große Treppe
hinab, um einen Boten sich zu suchen; auf dem Corridor hörte sie
Stimmen, die Thüre des gemeinschaftlichen Wohnzimmers der Schwestern,
an welchem sie vorüberschritt, war nur angelehnt; drinnen unterhielten
sich Beide mit Mademoiselle Nordermule, einer bucklichen, kleinen
Gouvernante, welche alle Drei von der Wiege an auferzogen.

Mademoiselle Nordermule erhob in diesem Augenblick die Stimme, so
hoch es die Schwäche ihrer kleinen, sehr untersetzten Gestalt irgend
gestattete, und fuhr in ernstem Pathos fort: »wenn wir lieben! aber
Kinder, wie +selten+ geräth eine Ehe ohne wahre Zuneigung! wie selten
werden die dissonirenden Lebensmelodien auch nur leidlich tacktfest
zusammen durchgespielt bis zu Ende, ohne zerrissene Herzen und
zerrissene Saiten der armen Weiberseele, die zuletzt ganz dumpf und
klanglos, gar keinen Lebenston mehr wiederhallt! O, Ihr Lieben, wie
viele Frauen verdummen gänzlich in einer sogenannten »guten« häuslichen
Ehe, in der sie eigentlich eben -- bloß keine Prügel bekommen! Darum
kann ich Helenen, deren Charakter nun einmal durchaus in keine solche
sich finden würde, nur bemitleiden, daß sie auf diesen Abweg gerieth,
keineswegs sie verdammen; sie wird, wie es auch sich füge, Thränen
genug zu vergießen haben!« -- »Aha, mein Regenvögelchen!« sagte gerührt
und heimlich lächelnd Helene; »es prophezeit wie immer schlecht
Wetter!« Leise schlich sie hinab in die Küche.

In dem hochgewölbten, weiten Raume, den ein ungeheuer großer, aber
niedriger Herd mit spitz in Dachform sich erhebendem Kamin erwärmte,
saßen alle Knechte und Mägde des Herrnhofes auf Holz-Schemeln und
Stühlen um das Feuer her; eine rothbäckige Dirne stand neben dem
an einer Zackenstange hängenden eisernen Kessel und rührte mit
langgestieltem Holzlöffel »Manna« in die saure, kochende Milch zum
Brei, welcher eine Hauptschüssel der laaländer Kost ausmacht. Von
der Küche führten beiden Hauptwänden entlang eine Menge Thüren zu
den Schlafstätten des Dienstvolks; in den Zwischenräumen, welche sie
freiließen, dem Herd gegenüber, standen an der Mauer hochrückige
Bänke, vor diesen der mit einem weißen Tuch überdeckte lange Tisch,
der broddelnden Abendmahlzeit harrend; Brot, Käse, Butter und gedörrte
Fische waren schon auf demselben bereit gestellt. Blankes Kupfer- und
Zinngeräth schmückte den vorspringenden Rand des Schornsteines, auch
in den schön gemalten Eckschränken glänzten durch die Glasscheiben
eine Menge blinkender Dinge, Glasgeschirr und Porzellan flimmerten im
letzten Abendroth der immer noch am weiten Horizont zögernden Sonne.
Man gewahrte sie durch eine nach dem innern Hof weit offenstehende
Thüre. Die kleinen Bogenfenster der Küche hätten durch ihre
bleigefaßten runden Scheiben, ohne diese Hülfe die Dämmerung längst zur
Nacht werden lassen; vorsorglich waren auch die Messinglampen am Herd
bereits angezündet.

Die Männer, welche er um sich versammelte, strickten Netze oder
schnitzten Quirl und Löffel, andre machten Holzschuh und die langen,
nur im Norden bekannten Schlittschuhschiffchen, auf welchen der Bote
über das Eis hinfliegt; sogar die Livréebedienten halfen; die Weiber
spannen und strickten wollene Strümpfe, ein paar webten auf kleinen
tragbaren Webstühlen grobes Linnenzeug. In der geöffneten Pforte
stand halb drinnen halb draußen der Gänsebub, um Theil an der schönen
Geschichte zu nehmen, die ein alter Jütländer abwechselnd sprechend und
singend vortrug; -- auf den Gänsebuben aber hatte es Helene abgesehen,
er sollte ihr Liebesbote sein, denn er konnte weder lesen noch
schreiben.

Der alte Jütländer, der als Torfbauer im Lande umherzog, trug etwas
aus dem Bauernaufruhr (1441) in Nord-Jütland vor, wie in der Hangarde
auf dem St. Jürgens-Berge, nicht weit von Aagaard, zwischen ihnen und
dem Grundherrn eine blutige Schlacht geliefert, in welcher Eske Brock
von ihnen erschlagen und in Stücken gehauen worden. Da rüstete sich
der erzürnte König selber, und die Sache nahm eine andre Wendung: die
Bauern hatten auf dem hohen Berge eine Wagenburg um sich geschlagen, so
daß die Reiterei ihnen nichts anhaben konnte, -- die Grundherren aber
gewannen etliche unter ihnen mit goldnem Versprechen, und klein und
immer kleiner ward der tapfere Haufe. Der Alte sang:

    »Erstlich gingen die Morsinger fort,
    Sodann die Verräther von Thy;
    Jetzt standen nur die Wendelbo'r noch
    Und diese wollten nicht fliehn!

    Jetzt standen nur die Wendelbo'r noch,
    Und diese wollten nicht fliehn;
    Bauten eine Wagenburg sich,
    Ließen Alle ihr Leben dort!«

Mit glühenden Köpfen lauschte der ganze Kreis dem Erzähler -- als aber
Helene eintrat, flogen alle auf von ihren Sitzen, und der Freiheitssang
stockte. Sie winkte freundlich und schritt sogleich auf den Gänsepeter
zu.

»Du trägst mir das Papier sogleich zur Mamsell Johanna, des Kirchners
Tochter,« sagte sie laut, »und sie soll Alles recht gut versorgen und
bestellen!«

Seufzend ließ der lange gelbhaarige Junge die Wendelbo'r in ihrer
Wagenburg, lüpfte die Pelzkappe und trollte sich von dannen. Helenen
war leicht und froh um's Herz; eine Weile sah sie dem Burschen nach, ob
er nicht umkehre, aber der laaländer Bauer war Dienst gewohnt und bange
dazu!

Als Helene wieder auf der Treppe war, begann der Freiheitssang von
neuem; ach, in diesem Augenblick hätte sie gern der ganzen Welt
Freiheit gegönnt und gegeben! sie war durchaus auf der Seite der
Revolutionairen. -- Das Gespräch der drei Damen war noch nicht beendet
-- »daß eine solche Leidenschaft für ein Fräulein ihres Standes
unstatthaft sei;« schloß die Nordermule. »Solche Heftigkeit verdirbt
den Teint, man kann sogar leicht eine rothe Nase davon tragen, oder
kupfrig werden. Giebt es denn zwischen dieser Excentricität und
gänzlicher Apathie kein drittes? Wie unendlich glücklicher sind Sie,
theure Amalie, daß Sie so ruhigen Gemüths die Abwesenheit des Barons
als eine Ihnen von Gott gesandte Prüfung hinzunehmen vermögen. Zu
Lichtmeß werden es fünf Jahr, daß Sie ihm das Jawort gegeben, und Sie
blühen trotz ihrer herzlichen Liebe zu ihm in ungekränkter Anmuth und
Frische.«

»Wir wollen dennoch hoffen,« erwiederte lachend Amalie, »daß der etwas
farblose Roman meines Lebens sich in Bälde zu einer Feyenschen Idylle
wandeln wird; Baron Arnsöndal hat die Freiherrschaft seines alten
Oheims endlich übernehmen können, und ich darf hoffen, mit Annetten
zugleich meine Hochzeit zu feiern.«

Gerührt schloß die Nordermule ihren ältesten Zögling in die Arme, und
benetzte dessen Locken mit Thränen; Amalie war um fast acht Jahre älter
als Helene, und allerdings war es die höchste Zeit zur Ausführung der
längst skizzirten Idylle zu schreiten! --

Helene war unbemerkt eingetreten, sie stand auf der Schwelle und lehnte
unsäglich gelangweilt das Haupt an den Thürpfosten.

»Nun wird es zwei Ausstattungen zugleich zu bereiten geben,« sagte,
sorgsam Aug' und Wange trocknend, die kleine Alte. »Ach, wenn man dabei
an alle die gegenüber aufgehäuften Schätze denkt.« --

»Um Himmels willen, ~ma bonne~,« rief, hocherfreut diesen Gegenstand
einmal erwähnt zu hören, Annette, »sagen Sie mir endlich, was man
in diesen ewig vor Luft, Sonne und Menschen verschlossenen Zimmern
bewahrt! Hundertmal schon habe ich Sie fragen wollen, welchen Schatz
eigentlich diese Zauberhöhle umschließt?«

»Was denn anders als unserer verstorbenen Tante Ausstattung,« fuhr
Amalie fast zürnend auf, »Du mußt es ja längst wissen! plage doch
unsere arme gute Emerenzia nicht! Die Erinnerung an jene alte
vergessene Geschichte macht sie jedesmal nervös und krank!«

»Ja ja!« sagte starr vor sich hinschauend, aber die hochliegenden,
wasserblauen Augen bewußtlos in's Leere gerichtet, die kleine Bucklige.
»+So+ ist es! es war die glänzende Ausstattung der unvergleichlichen
Ulrike, des Sterns meiner Kindheit und Jugend! ach, ich habe ihn nie
in seiner ganzen Lichteskraft leuchten gesehen! Nur wenige Wochen vor
ihrem Tode kehrte ihr das volle Bewußtsein zurück; sie flammte noch
einmal auf, wie eine verlöschende Kerze. Liebe Kinder, ich bin recht
viele Jahre über die Erde hingewandert, manchen Sommer und Winter
entlang, doch ihres Gleichen an Sanftmuth und eingeborner Sitte ist mir
nimmer zum zweitenmal begegnet! Wer Ulriken sah, hätte auch ohne unsre
heilige Offenbarung an den Himmel und seine ewige Vergeltung geglaubt!«

»Aber liebe Nordermule,« rief plötzlich vortretend Helene, »Du mußt
ja noch ein Kind gewesen sein, als die Tante verschied, ich habe sie
niemals gesehen, bei meiner Geburt war sie vermuthlich schon lange
todt.« Seitdem das Gespräch um diesen Gegenstand sich drehte, war sie
dem Gange desselben aufmerksam gefolgt.

Die Alte schüttelte verneinend das Haupt. »Es sind kaum dreißig Jahre,
daß unser theures Fröken[2] geendet,« erwiederte sie, »ich aber zähle
sechs und funfzig Jahre!«

»So haben Sie Ulriken noch jung gekannt?« fragten wie aus einem Munde
die drei Schwestern.

»Ja und nein. Körperlich hatte der Herr sie lange noch frisch erhalten,
allein die Blüthe der Seele war geknickt. Meine Mutter, welche als
Kammerfrau im Dienst ihrer Hochwürden der Frau Fürstin Abatissin zu
Wallöe im Stift lebte, hat mir das Meiste von ihr erzählt, da jene das
Fröken eigentlich auferzogen und mit zärtlichster Liebe ihm anhing.
Tausendmal hat sie mir von Ulrikens außerordentlicher Schönheit
gesprochen, auch konnte ich selbst deren Spuren noch lange, lange
ihr ansehen. -- Damals, als sie sechzehn Jahre alt war, und meine
Mutter eben ihren Dienst angetreten, sagte man: auch die müdeste Seele
des aller ärmsten Fäestebönders[3] sei fröhlich geworden und frei,
wenn ihn das Fröken begrüßt! Wenn sie leichten Ganges über die Haide
hineilte am frühesten Morgen, wenn der Nachthauch noch scheidend über
die Haide streicht und sie aufwogen macht wie das Wasser im Belt, so
blieben, trotz dem drohenden, scheltenden Vogt, Alle die zur Arbeit
gehen sollten auf der Thürschwelle stehen, und schauten ihr nach wie
dem guten Omen! Aber freilich kannte sie auch jedes Einzelnen Weib
und Kind, scheute vor keiner mit Stroh und Schilf überdeckten Hütte
zurück, saß ungeachtet des dicken Rauchs der schornsteinlosen Küchen
mitten unter ihnen und hörte mitleidig all der Bauern Klagen; oder
sie erzählte den Kindern wunderschöne Mähren von unseren tapfern
Seehelden und ihren gewonnenen Schlachten, von Juels und Tordenskiods
Waffenthaten; sogar die alte Saga wußte das Fröken zu singen! Waren
dann die Männer alle fortgezogen auf den Delphinen- oder Seehundsfang,
und der Vogt trieb deren Weiber an zur Feldarbeit, oder sandte sie gar
hinaus auf Botengängen tief hinein in's Land, dann saß sie Stundenlang
bei den Allerkleinsten, wartete und fütterte sie und lehrte die
Größeren. Ach, ich selbst werde nie vergessen, mit welchem Glockentone
sie die alte schöne Geschichte sang, vom guten König Sueno und seinem
strengen Freunde, dem Bischof Wilhelm in Roeskilde; da blieb kein Auge
trocken im weiten Kreis.« --

»Aber,« unterbrach abermals Annette die Erzählerin, »war denn die
Tante eine Gelehrte? woher wußte sie denn das Alles? In ihrer Jugend
hatten doch die Frauen viel weniger Gelegenheit sich auszubilden als
wir jetzt, sie lernten ja kaum nothdürftig lesen und schreiben! Wie war
denn gerade Ulriken eine so viel bessere Erziehung geworden?«

Die kleine Nordermule schrak zusammen, als habe sie eine Schlange
gestochen, und wurde blaß, blaß wie der Tod; ihre Züge nahmen einen
Ausdruck tiefster Zerknirschung an, der ihnen sonst gar nicht eigen,
sie war sichtlich mit ihrem Gewissen in Streit gerathen, und warf sich
innerlich ein Unrecht vor. »Ich weiß das Nähere nicht,« erwiederte
sie ganz beklommen, »aber es ist spät; über dem Schwatzen haben wir
das Wegräumen des Theezeugs, und ich glaube gar der Schlafenszeit
vergessen.«

Es ward den Mädchen unmöglich, das Gespräch von neuem anzuknüpfen.


Helene hatte ihren Zweck erreicht; mit schwerem Seufzen und schwererem
Herzen hatte Thorald, den Bitten der Geliebten zufolge, den Haaren
seiner Maria Jacoba eine dunklere Färbung gegeben, das Blau ihrer Augen
in Schwarz verwandelt und so das Frappant-Individuelle der Aehnlichkeit
seines Bildes mit den Zügen des Schloßfräuleins gemildert, -- was
davon noch geblieben, konnte dem unbefangenen Blick für bloßen Zufall
gelten, ja vielleicht ganz ihm entgehen. Am Johannis-Sonntage hatte
die feierliche Enthüllung des Gemäldes stattgefunden; der Magistrat
und ganz Nysted waren auf's höchste befriedigt, die Anerkennung und
Dankbarkeit der Bürger sprach sich allgemein und beinahe rührend aus,
denn der Alt-Lutheraner hängt fast dem Katholiken gleich an würdiger
Ausschmückung seiner Gotteshäuser. Vielleicht waren es eben die
sinnlichen Zeichen, mit denen er gern seine Verehrung des Höchsten
umkleidet, welche jenen Tagen unsre religiösen Spaltungen ersparten.
Das Gemüth bedarf einer Gefühlsumfriedung, wird ihm diese, so hält es
oft den zweifelnden Geist mit in den Schranken einer liebgewordenen
Gewöhnung.

Graf Christian hatte öffentlich in der Kirche dem Künstler seinen Dank
ausgesprochen, im Schloß war derselbe nicht wieder gesehen worden, und
keine Einladung irgend eines Mitgliedes der gräflichen Familie berief
ihn dahin zurück.

Schloß Aalholm hatte indessen festliche Tage erlebt; alle Mitglieder
der Familie waren anwesend, um die feierliche Doppel-Verlobung zu
begehen. Die in Seeland und Fühnen ansässigen Brüder waren mit ihren
Gemahlinnen herübergekommen, die künftigen Schwäger zu begrüßen und
Schnepfen zu schießen; das Alles war prächtig! --

Helene hatte viel von dieser Zusammenkunft erwartet; sie hoffte die
jüngern Brüder zu gewinnen, denn beider Frauen waren bürgerlich
geboren, allein ihre Pläne scheiterten an Christians strengbesonnener
Festigkeit; er vereitelte ihr jede Privatunterredung mit ihnen. Auch
waren allerdings die Verhältnisse in sich selbst sehr verschieden
von denen des Malers. Janfru Abilgaard, welche erst vor kurzem dem
jüngsten Grafen ihre Hand gereicht, war einem in Dänemark hochberühmten
Geschlecht entsprossen. Die ältere Schwägerin, Gräfin Friedrich-Gejer,
die wir aus Amaliens und Annettens Unterredung als Gegenstand ihres
heimlichen Neides kennen gelernt, war eine geadelte, unermeßlich reiche
Banquierstochter aus Hamburg. Sie hatte ihrem Gemahl ein bedeutendes
Vermögen und Güter auf Seeland zugebracht, auf denen sie, wie in ihrem
Winter-Hôtel zu Copenhagen, die glänzenste Existenz ihm bereitete.

Friedrich war der Crösus in der Familie und lebte danach, in grellem
Gegensatz zum Aalholmer Stammhause, dessen Bewohner seit Jahrhunderten
Abgeschiedenheit und Stille vorzogen, ihre Besitzungen unter ihren
Augen bewirthschaften ließen, selten in Staatsangelegenheiten sich
mischten, keine Art Hofdienst bekleideten, und alljährlich auf wenige
Wochen in der Residenz am Hofe zu erscheinen pflegten.

Von dem Allen machte der jetzige Majoratsherr eine Art Ausnahme.
Seit Christian ~VII.~ Regierungsantritt hatte er, wie schon erwähnt,
so lebhaft es seiner Eigenthümlichkeit nach möglich, des Königs
Bestrebungen in der Bauernsache sich angeschlossen. Dieser hatte
schon im ersten Jahre seiner Thronbesteigung, im Amte Copenhagen alle
seine einzeln liegenden Höfe parcellirt als Eigenthum den Bauern
überlassen. Der Graf hatte später, als ihm das Majorat zufiel, diesem
edlen Beispiel zufolge höchst wohlthätig in Laaland gewirkt für die
gute Sache; sein Jütländer Aufenthalt hatte ihn mit den Mißständen
und Bedürfnissen des unglückseligen entwürdigten Landmanns vertraut
gemacht, und seine Handlungsweise und die Opfer, welche er seiner
bessern Erkenntniß gebracht, hatten ihm auch die Gunst Friedrichs ~VI.~
erworben. Er machte keinen Gebrauch dieses Vorzugs. Wie seinem Vater,
dem seligen Grafen Thugge, blieb das persönliche Erscheinen am Hofe
in Copenhagens eleganten Kreisen ihm eine peinigende Pflicht, ja eine
unerträgliche Last, der er auf jede Weise sich zu entziehen suchte. Die
ihm gewordene Auszeichnung, die ausgesprochene Gnade und Theilnahme der
beiden Monarchen verwirrte, ja verscheuchte ihn. Selten sah man ihn
länger als eine Woche hindurch in der Residenz, wohin er um die Zeit
des königlichen Geburtsfestes seine Schwestern geleitete, dann aber so
bald als möglich dem Schutze ihrer anderen Brüder sie überließ.

Zu der drei Mädchen Qual gehörte dagegen ein fast unbeachtetes
Auftreten an der Seite der sie in Allem überflügelnden Hamburger
Tante, deren Luxus sie zerdrückte, deren Manieren ihnen mißfielen,
deren Geld-Aristokratie sie verdroß, und besonders in den beiden
Aeltern fast Abneigung und noch viel größere Oppositionen im
täglichen Verkehr erzeugten, als die, mit welchen sie der kranken und
resignirten Eva sich entgegenstellten, der sie die geringe Herkunft und
leibeigene Geburt nicht zu verzeihen vermochten. -- All diese kleinen
Lebensstörungen und stündlichen Hemmnisse hatten in beiden rückwirkend
einen wirklich verblendeten Adelstolz geweckt, der sich überall
aussprach, und jetzt auch Helenens Wünschen, ihrer Neigung zu Thorald,
jede begütigende Vermittlung versagte.

Noch in den Kinderschuhen hatte Helenens Wesen eine von dem
Bildungsgange der Schwestern ganz abweichende Richtung erhalten. Das
in der Wiege verwais'te Kind, -- die Mutter war in Wochen gestorben
-- fiel abwechselnd bald in diese bald in jene Hand. Ihr lebhafter,
prägnanter Geist, der besonders ältern Männern ungemein anziehend
erschien, gewann ihr frühe schon Freunde aus allen Ständen; besonders
aber in Copenhagen, wohin sie den ältern Schwestern folgen mußte,
waren einige ehemalige Gefährten ihres Vaters, deren Umgang Einfluß
auf ihre Denkart und innere eigene Seelenerziehung hatte, ohne daß
jene es beabsichtigten. Die kleine Nordermule sah voller Schrecken der
plötzlichen Entfaltung der ihren Zögling aufwärts tragenden Flügel zu,
ohne den ihr unerreichbaren Flug derselben verfolgen zu können; im
zehnten Jahre schon war Helene ihrer eigentlichen Leitung entwachsen.
-- Der liebreizenden äußern Erscheinung des Mädchens that keine
Willkür, noch auferlegte Regel Eintrag, sie blieb durchaus natürlich
und einfach; an ihren Putz dachte sie wenig, gerade weil ihr Alles gut
stand, an ihr Benehmen noch weniger, es umwogte sie beständig eine
unbewußte Grazie, ein Sichgehenlassen, das dem Bewegen eines jungen
Rehes gleich. Träumerisch und doch voll stets regsamer Gedanken, saß
sie mitten unter Verwandten und Gespielen allein, immer in sich mit
etwas außer ihrem Kreise und Bereich beschäftigt. So machte sie der
Anfang der französischen Revolution, die wohl unter allen Ländern in
Skandinavien am einflußlosesten blieb, zur Jacobinerin; die Kargheit
der in ihrem Vaterlande und insbesondere in ihrem Vaterhause seltenen
Detailnachrichten entflammten sie immer mehr, und ließen sie einen
heiligenden Nimbus um Alles das breiten, was ihrem eigentlichen
Charakter fern, ihr halbes Verstehen in endlose Widersprüche gestürzt
haben müßte. Bald schwärmte sie für Mirabeau und Charlotte Corday, bald
vertheidigte sie Robespierre und schauderte mit frommen Entsetzen vor
der Schwestern Theilnahmlosigkeit zurück, die in Mußestunden in die
Revolution blickten, wie in einen Guckkasten, und der amerikanischen
Kriegsscenen nur beim Einkauf englischer Waaren gedachten.

So entwickelte sich Helene zur blühenden Jungfrau. Während die älteren
Fräulein, unter tausend kleinen Qualen und Freuden des geselligen
Verkehrs, eine Menge Verhältnisse alljährlich knüpften und lös'ten, nur
von Liebhabern, Courmachen, Pferderennen, Schlittenfahrten und Bällen
träumten, und am Ende doch Jahr aus Jahr ein unvermählt blieben, hatte
das kaum erwachsene Mädchen in seiner anmuthreichen Absonderlichkeit
eine Anzahl ernstlicher Verehrer und sogar einige sich nähernde
Bewerber gefunden. Sie aber wies lachend Alle ab, glaubte ihren
Betheurungen selten oder gar nicht, sprach mitten in deren pathetischen
Erklärungen von etwas Anderem, und versicherte ihrem sie tadelnden
Bruder: »all diese Geschichten wären ihr ganz unsäglich langweilig, der
Langenweile aber meine sie zur Genüge in Aalholm finden zu können.«
Mademoiselle Nordermule war in Verzweiflung. -- Helene war sogar
einmal, während einer etwas langgedehnten Liebes- und Heirathsbewerbung
zum Salon hinausgegangen, aus Zerstreuung. Helenens Schwestern gaben
ihr Recht, »weil sie noch ein Kind sei.« Eine Heirath der viel jüngeren
Schwester hätte ihnen den Anstrich höheren Alters gegeben.

Die kleine Gouvernante ließ sich nicht irre machen! Helene zählte
damals zwanzig Jahr, obschon sie aussah wie ein Mädchen von sechzehn;
sie suchte auf jede Art ihres Lieblings Glück zu fördern, warnte sie
vor späterer Vereinsamung und ermahnte sie, der Tage zu gedenken, von
denen geschrieben steht, »daß sie uns nicht gefallen werden.«

Helene aber lachte. »Ich will weder einen Kohl- und Krautjunker, der
seine Ochsen, Kühe, Hunde und Pferde lieber hat als mich, noch einen
voltairisirenden Salons-Cavalier, der jeder Schürze nachläuft, und
nicht einmal die heilige Jungfrau Maria in Ruhe lassen kann, ohne üble
Nachrede; begegne ich nicht endlich einem wirklichen menschlichen
Menschen, der kein bloßer Repräsentant seiner gesellschaftlichen
Stellung ist, so will ich auf meinem Stift bleiben und dort wie meine
sieben Cousinen Gejer-Mogenstrupp als Chanoinesse alt und grau werden.
Ich bedarf einen Freund, der mich den Reichthum der von mir kaum
geahneten Welt kennen lehre, der mir die Seele mit edlen, heitern
Bildern füllt -- ich kann nicht bloß von Arbeit und Pflichten leben,
ich bedarf auch Genuß! Was hilft mir die Hesperiden-Ferne, in welche
mich Dichter und Künstler schauen lassen, wenn sie mir unerreichbar
bleibt, wenn ich in meiner engen Gegenwart geistigen Hungers sterbe? Es
kann nicht Jeder, wie mein Bruder, ein Gelehrter sein, der sich über
einen Schmerz oder Verdruß wegexperimentirt; es kann auch nicht Jeder
immer nur der Bauern +Rechte+ und seine eigenen während +des Unrechts+
vergessen, das ihm am allernächsten steht! Ich würde meinen Mann ganz
miserabel behandeln, oder mich von ihm mißhandeln lassen, das ist eine
entsetzliche Sclaverei! -- Wenn so ein armer Schelm von Bauernbengel
unser Leibeigener wird, weil er auf unserm Hofe mit dem andern lieben
Hausvieh geboren, und wir ihn verkaufen dürfen an die Miliz, wie einen
jungen Jagdhund, so thut mir das von ganzem Herzen weh! ich gönne es
ihm, wenn er loskommen und uns entwischen kann, aber es langweilt mich
schon daran zu denken, wenn ich ihm nicht helfen kann; ist es dann
also nicht thöricht, mich selbst der Leibeigenschaft, der ich so tief
in's Auge gesehen, bei einem Manne Preis zu geben, dessen Fesseln ich
nun und nimmer zu entrinnen hoffen darf? es gilt da kein Loskauf,
Emerenzia! oder soll ich, wie meine schöne Schwägerin, seine Gebieterin
sein, ihn zu meinem Sclaven machen, und mich innerlich den ganzen Tag
seiner schämen?« Die kleine Nordermule seufzte und -- schwieg.

Jahr um Jahre schlichen auf diese Weise vorüber. Comtesse Amalie war
verlobt, Annette hatte alle Aussicht es zu werden. Helene kehrte
unveränderten Sinnes aus der Hauptstadt zurück, nur begann ihr die
innere Einsamkeit schwerer zu werden; es giebt Mädchen, bei denen das
Herz weit später erblüht, als der Körper. Zum ersten Male schlich sich
ihr die Sehnsucht in den Frühling.

Die Nordermule seufzte noch schwerer -- Helene wies ihre Bewerber bloß
auf etwas höflichere Weise ab. »Ich mache künftig in meinem Stift
meinen alten Verehrern und deren Kindern Confitüren und backe ihnen
Pfefferkuchen, wie meine sieben Cousinen Mogenstrupp,« versicherte sie
komisch-ernst.

»Auf dem Stift ergrauen, wie jene Sieben?« sie waren der Nordermule
entsetzlicher als die Sieben vor Theben.

»Aber Emerenzia! kannst Du Dich nicht erinnern, daß sie uns in
Copenhagen besuchten, wie meine Schwestern auf die ersten Bälle
gingen, und ich noch ein kleines Kind war? Schon damals haben sie
mir einen imposanten, ganz majestätischen Eindruck hinterlassen; sie
gingen alle überein gekleidet und trugen gewaltige Kreuze um den Hals
gehängt an schweren Ketten, und in der Linken ein Schnupftuch und
einen Stockschirm mit Gold- und Perlemutterknöpfen. Ihre Mutter war
bildschön gewesen, hatte sich früh vermählt und war in guter Zeit
Witwe geworden, eine strahlende, reizende Witwe. Wuchsen ihr da mitten
in ihren Successen sieben lange Töchter zur Seite auf, die auch gar
nicht übel waren, blonde, braune und schwarze! Was konnte die arme
Frau Besseres thun, sich der Nebenbuhlerinnen zu erwehren, an deren
Seite sie in den königlichen Soireen erscheinen mußte, als -- die
Töchter zu Caricaturen aufzuputzen, bis die armen, in unglaublicher
Abenteuerlichkeit mit Juwelen, Blumen, Bändern überladenen Mädchen,
durch die Barrière der Lächerlichkeit von aller Jugend abgesondert,
wie eine Gesellschafts-Chimäre dastanden, die nur dazu diente, der
alternden Armida Reize zu erhöhen. Die immer noch hebeartig blühende
Mutter bejammerte »das unglaubliche Ungeschick« ihrer Töchter,
und eines schönen Tags dämmerte diesen eine Ahnung auf, daß sie
lächerliche Figuren geworden! So saßen sie wie Tarock-Karten lang
und bunt an die Salonwände gelehnt, blieben sitzen, wenn die Andern
zu Menuet, Quadrille und Anglaise flogen, blieben sitzen, bis sie
endlich fortzogen in ihre Stifts-Curien, und sitzen dort noch, einsam,
hehr und adelstolz, wie früher in den jungfräulichen Zellen ihres
Familienschlosses.«

»Und die Mutter?« -- die Nordermule sah bei der Erzählung wie ein
Frühlingsungewitter aus: sie lachte und weinte, wie Sonnenschein und
Regenguß, zu gleicher Zeit.

»Ach, ~ma bonne~, das ist eine hochtragische Geschichte! Die Mutter
starb, ~au beau milieu de ses succès~, als es ganz unmöglich war zu
verhehlen: daß die vierzigjährigen Mädchen -- erwachsen wären!«

»Aber Helene! welch ein Gedanke Dich diesen Schwestern zu vergleichen,
sie fanden nie einen Mann und --«

»Sie fanden vielleicht bloß einen, wie ich ihn auch finden werde, einen
Mann -- im Mond? Den man nicht heirathen +kann+, weil er bürgerlich
ist, und sein Kohlkopf und Dornbusch auch, oder weil er uns nicht
mag, oder weil er nichts taugt, einen Mann, der nicht reich, nicht
vornehm, nicht klug, nicht schön genug für die +ganze+ ihn natürlich
+mitheirathende Familie+ ist! Vielleicht dachte Eine oder die Andre
wie ich, und wollte für sich selbst heirathen, vielleicht waren sie
aber auch den Männern gar zu herrlich und majestätisch --«

»Helene!«

»Warte nur, Emerenzia, Du sollst sie selbst sehen! Drei von ihnen leben
jetzt in Wallöe und im Herbst besuchen sie die Andern um Marzipan zu
backen. Und doch! weißt Du, Nordermule, die armen alten Mädchen sind
wahrscheinlich unter sich glücklicher als hier Christians Frau! o die
milde, geduldige Eva --«

Die Gouvernante schwieg; sie fand es nicht anständig, des Grafen, ihres
Brotherrn, Verhältnisse zu besprechen. Lachend drückte ihr Helene die
Hand, die Beiden verstanden sich vollkommen.

Und wenig Wochen nach dieser Unterredung sollte ein junger Maler die
Portraits der drei Fräulein machen -- und die Liebenden sahen einander
zum ersten Mal.

Ich weiß nicht, ob schon von einer Frau ausgesprochen worden, wie ein
Mädchen das nahende Geschick ihres künftigen Daseins vorausempfindet
beim ersten Anblick eines Mannes, den es ernst und leidenschaftlich
zu lieben bestimmt ist. Ich glaube jeder tiefen, das ganze Wesen
durchglühenden Empfindung geht ein Durchzittern des Herzens voran, das
keiner andern Lebensahnung gleicht, ein plötzliches bebendes Verstummen
der Gedanken, die nicht wagen, den Gegenstand zu berühren, der wie
das Geheimniß des nahenden Tages die plötzlich aufwogenden Stimmen
der Natur aufruft aus dem Schlummer -- alle anderen Empfindungen
der Seele schlagen an wie erwachende Vögel in der sich lichtenden,
der Sonne vorangehenden Dämmerung; alle Blüthen der Seele stehen in
Thränen und öffnen dem nahenden Tage ihren Kelch; es legt sich ein
tiefes, heiliges Mysterium über die innere, wie über die Außenwelt:
der nächste Augenblick muß es durchzuckend lösen -- o, wer ewig an
dieser Zauberschwelle weilen könnte, durchbräche +nie+ die Sonne der
Wirklichkeit, so schön sie ist, den Goldsaum der Wolkenbilder, die den
fernen Himmel mit ihrem rosigen, wogenden Leben umhüllen und ihn der
Erde verbinden! --

Und Thorald? Nun Thorald empfand nicht eben die erste Liebe, aber
dennoch die erste festhaltende, ernste Neigung seines Lebens.
Sein einfacheres, alltäglicheres Gefühl glich weniger einem zur
Priesterschaft des Lebens heiligenden Mysterium, allein mit jedem
Tage wurde es tiefer und wahrer. Anfangs sah er in Helenen noch die
vornehme Dame, empfand den Unterschied der Stände als drückende Last;
mit Gewalt hätte er seiner wachsenden Leidenschaft entfliehen mögen, er
gedachte seiner Kunst, seiner Mutter und einer Menge vorübergezogener
Empfindungen, die ihn abwechselnd beherrscht hatten und dann in sich
selbst verflüchtigt worden waren in Rauch und Dunst; er schalt sich,
daß ihm eine ähnliche Behandlung seiner Liebe zu Helenen mißlang;
nach und nach siegten das Herz in ihm und die Natur, die sich nicht
gebieten läßt! er liebte das Mädchen täglich inniger und menschlicher.
Thorald war keineswegs, was die Geliebte in ihm sah, was die Zeit,
die er durchlebt, ihn erscheinen machte, aber er war ein redlicher,
aufrichtiger Mann, mit einem Fond unendlicher Gutmüthigkeit; die
gewaltsamen Ereignisse, die er miterfahren, hatten ihn eine Strecke mit
sich fortgerissen; nun war ihm eigentlich unsäglich wohl, in die ihm
natürliche Beschränkung und Harmonie des Empfindens zurückzukehren. Von
der Mutter und einer alten Magd bis in's siebzehnte Jahr erzogen, lagen
eine Menge weiblich ausgebildeter zarter Gefühle in seiner noch nicht
ganz ausgearbeiteten Seele; er schämte sich ihrer in Männerkreisen, in
Italien waren sie von ihm selbst vergessen und zurückgedrängt worden,
nun erblühten sie alle in zauberischer Frische, -- trotz seines Kummers
war Thorald unbeschreiblich glücklich!

Graf Christian hatte sich gegen seine beiden Brüder ausgesprochen. Man
war darin übereinstimmend, Helenens Neigung wie eine romantische Grille
zu behandeln, der nichts wirkliche Folgen zu geben vermöge, da sie in
keins der bestehenden Verhältnisse passe. Nur im äußersten Nothfall
sollte offenbarer Widerstand ihr entgegentreten. Christian war der
einzige unter den Brüdern, der wider Willen an eine wahre Gefühlstiefe
ihrer Liebe glaubte und den möglichen Ernst derselben scheute;
Friedrich und Johannes lachten ihn aus, beide waren Welt- und Hofleute.
»Helene ist volle vierundzwanzig Jahr, und folglich über Nußschalen-
und Hüttenalter hinaus,« versicherten sie.

Vielleicht wäre man zu kräftigeren Maßregeln geschritten, hätte man
nicht jede öffentlich wiedertönende Erinnerung an des Erbgrafen arge
Mißheirath zu meiden gesucht. Die beiden Brüder boten dem Maler Arbeit
auf ihren Gütern zu Fühnen und Seeland, verschafften ihm auch bei den
arglosen Schwägern und anderen Nachbarn und Freunden Bestellungen.
Thorald ward mit Arbeitsvorschlägen überhäuft, -- die alle ihn von
Laaland zu entfernen bezweckten. Wirklich ging er nach Fühnen, aber
nach vierzehn Tagen war er wieder in Nysted. Dann kehrte er wieder zu
den begonnenen Bildern zurück. Auf diese Weise wechselte er fortdauernd
den Aufenthalt, ohne je sein Mädchen aus den Augen zu verlieren; beim
Küster behielt er ein Absteigequartier, er malte den Alten und eine
Anzahl Bauern als Studium, Johannen aus Dankbarkeit; -- man konnte
ihm nichts anhaben, es blieb unmöglich, ihn ganz von der Insel zu
vertreiben.

Eine fortgesetzte Correspondenz mit der fast mündig gewordenen
Schwester zu hindern, gelang noch weniger; Christian bemerkte Helenens
schadenfrohes Lächeln und beschloß ernstere Mittel zu ergreifen.

Unterdessen schritten die Vorbereitungen zu den im Herbst bestimmten
beiden Hochzeiten täglich weiter. Vieles wurde in Copenhagen
bestellt, anderes zur See aus Schleswig und Hamburg verschrieben;
eine Tüchtigkeit der Pracht waltete überall vor. Zuletzt kamen die
Truhen in den verschlossenen ehemaligen Wohnzimmern der Tante zur
Sprache. Sie hatte diese als achtzehnjähriges Mädchen verlassen, und
nur wenige Monate vor ihrem Tode von neuem auf kurze Zeit bezogen;
seit dreißig Jahren standen sie verödet. Graf Christian erklärte
seinen drei Schwestern ehe man sie öffnete, der Augenblick eines nur
sie allein betreffenden Erbschaftsantritts sei gekommen, er bäte sie,
sich untereinander über die Theilung der von ihrer seligen Tante
zurückgelassenen Ausstattung zu vereinen, deren Inhalt ihm selbst
fremd sei, da kein Anspruch irgend einer Art ihn berechtigt habe,
bis zu diesem Tage die Schlösser dieser Truhen zu öffnen. »Du,«
sagte er scharf betonend zu Helenen, »wirst die Güte haben, den dir
zufallenden Antheil dieser Gegenstände meinen oder meiner Gemahlin
Händen anzuvertrauen, da es meine Pflicht ist, ihn erst bei Deinem
einstigen Einzug in eines würdigen Gatten Haus Dir zu freier Benutzung
zu überliefern, über die Theilung jedoch schon jetzt mit den Schwestern
Dich zu besprechen, wirst Du mir hoffentlich nicht abschlagen.«

Eva war als bloße Zuschauerin bei diesen Verhandlungen gegenwärtig
und sehr bewegt; deutlich blickte aus all ihrem Thun der Kummer über
Helenens und Christians Spannung; Thorald erschien ihr als Störer eines
Hausfriedens, den die Arme mit unerschöpflicher Geduld zu erschaffen
stets von neuem träumte. -- Die kleine Nordermule schwamm in Thränen,
welche selbst der Respect für den Grafen nicht zu stillen vermochte.

Auf ein sehr kleines Vorgemach mit nur einem einzigen Fenster folgte
eine Art Wohnzimmer, das der Einrichtung nach mitunter zum Empfang
seltener Besuche gedient haben mochte. In dessen Mitte stand ein großer
Tisch, auf demselben Tintefaß und Feder, auch einige Lehrbücher
lagen dabei, das Ganze machte den Eindruck, als habe hier ein Kind
Unterricht empfangen, -- etwas weiter zurück, dem Fenster näher, stand
ein niedriger Stuhl, und vor demselben einer jener schon erwähnten
kleinen Webstühle, -- »ach,« rief die Nordermule in heißere Thränen
ausbrechend, »hier saß die Schließerin mit der Arbeit, während der
Stunden, in welcher --«

Ein drohender Blick aus des Grafen aufflammendem Auge schloß ihr den
Mund. -- Das Gemach war durchweg mit weiß überstrichenem Holzgetäfel
bekleidet, die grün- und goldumrandeten Medaillons seiner Wandfelder
zeigten verblaßte Spuren schäferlicher Darstellungen im damaligen
Geschmack; es waren ziemlich plumpe Nachahmungen der französischen
Vorbilder jener Zeit; die ausgeschweiften, geschmacklosen Möbel, auch
weiß mit Gold und Rohrgeflechten statt der Sitzpolster, gehörten
ebenfalls dorthin.

Das hintere anstoßende Schlafzimmer hatte seinen aus einer weit frühern
Periode stammenden ernsten Charakter bewahrt, sogar sein gothisches
Bogenfenster mit den in Blei gefaßten runden Scheiben, in dessen
Mauertiefen ein hochrückiger Nußbaumsessel stand. Etwas weiterhin
gewahrte man einen schön geschnitzten Betschemel, und auf dessen Pult
ein Kruzifix und eine schwere mit Klammern geschlossene Bibel. Die weiß
getünchte, nur mit Eichenholz umrahmte Wand, deren Hälfte das große
geblümte Gardinenbett einnahm, den Fenstern gegenüber der riesige blaue
Porcellan-Kachelofen, -- das Alles paßte weit eher zum Aeußern des
Schloßbaues. Ein Stickrahmen bewahrte die in Seide noch unvollendete
Großmuth Alexanders, -- ein Eckschrank die kleine Hausapotheke,
und über derselben zwei Reihen französischer und dänischer Bücher,
poetischen und geschichtlichen Inhalts; an sie schlossen sich eine
isländische Bibel, eine Sprachlehre und einige zum Studium dieses
nördlichen Idioms nöthige Hülfsschriften. An der dem Bett gegenüber
frei gebliebenen Wand standen vier herrlich in Nußbaum geschnitzte,
mit künstlichen Messingbeschlägen gezierte Truhen, -- sie nehmen
allgemein noch in den ältern dänischen Familien die Stelle unserer
Wasch- und Kleiderschränke ein, und stehen meist in den von einem zum
andern Gemach führenden Gängen. -- Wie es schien, hatte man sie aus
dem Vorzimmer der Sicherheit wegen in diesen Theil der Wohnung der
Verstorbenen gebracht. Alle zeigten die schön in Metall ciselirten
Wappen des Hauses, nur eine trug den Namen der ehemaligen Besitzerin. --

Sei es die drückende Luft des allzulange verschlossenen Zimmers,
oder lag wirklich in dem Allen der Nachklang einer jungfräulichen
Abgeschiedenheit, einer so recht heimlich ertragenen Herbheit des
vernichtenden Geschicks, alle Anwesenden waren ernst, ja fast wehmüthig
gestimmt, als endlich die fast verrosteten Schlüssel in ihren Höhlen
sich drehten, und die Truhen ihre geheimen Schätze zu Tage förderten.
Der Inhalt bot ein individuell-seltsames Gemisch von Kostbarkeiten!
Ueber den reichen, schwer seidenen Damaststücken und den gestickten
Brocaten zu Kleidern, neben den Chagrinétuis mit Bonbonièren,
Zitternadeln, Ketten, Ringen, Armspangen und all dem übrigen prächtigen
Putz einer vornehmen Dame der damaligen Zeit, lagen abgewelkte Sträuße
kleiner Wiesenblumen, -- Schreibbücher eines Kindes, Repetitionen
und Aufsätze, -- Ausarbeitungen für einen gründlichern Unterricht
als er damals gebräuchlich, geschriebene Bruchstücke der nordischen
Saga, endlich ein in Silber gefaßtes kleines Medaillon, fast ärmlich
abstechend gegen all die Herrlichkeiten, mit dem Miniaturbilde eines
jungen Mannes. -- Diese Truhe schien die Einzige zu sein, welche
die Besitzerin geöffnet, die folgenden enthielten Schätze an feiner
Wäsche, eine silberne Toilette, alles was zum persönlichen Gebrauch
einer Fürstin geeignet; die letzte Kiste barg, was der Haushalt einer
jungen Frau in glänzenden Verhältnissen fordern kann. -- Alles war mit
sorgsamster Auswahl bereitet, und zeugte von der mütterlichen Liebe der
fürstlichen Erzieherin Ulrikens.

Während die älteren Schwestern gierig den Inhalt der Kasten musterten,
und über dessen Eintheilung in drei gleiche Loose den Druck der
beklommenen Luft im Gemach vergaßen, athmete Helene schwer und
schwerer! Sie hatte sich des kleinen Medaillons bemächtigt und
betrachtete mit immer traurigerer Miene die bleichen sanften Züge,
die es ihr bot. Die schwarze Kleidung des Jünglings verrieth den
Candidaten, -- »ihr Lehrer oder ihr Liebster?« dachte das Mädchen. --

»Auch hier das nämliche Geschick! den alten Fluch des Hauses,« hauchte
kaum vernehmbar Eva, die ihr über die Schulter blickte. Helene sah
sie an, sie war blaß und zitterte merklich; sie bat die immer noch
auspackenden Schwestern das Medaillon ihr zuzutheilen, und erhielt es
leicht, denn es war altmodisch gefaßt und unschön als Schmuck.

Endlich waren die Loose fertig, die Schwestern theilten nach Zufall, --
am Boden blieben die welken Frühlingsblüthen und die Papiere; die arme
Nordermule sammelte Alles auf; Eva hatte bereits die sie beengenden
Räume verlassen, -- der Anblick war ihr unerträglich.

Sobald der Eifer der besitznehmenden Schwestern es ihr gestatteten,
entzog auch Helene sich dem ihr durchaus peinlichen Eindruck. Die ganze
Scene machte ihr das Herz schwer; es kam ihr Alles, sogar ihre eigne
Theilnahme daran, wie eine Entweihung, wie das gewaltsame Eindrängen
in ein zartes, jungfräulich verhülltes Leben vor, das selbst der Tod
nicht abzuschließen und dem frevelnden Blick des fremden Auges zu
bergen vermöge, während lange qualvolle Jahre daran gesetzt worden,
diesen einzigen armseligen Zweck zu erreichen.

Als sie die Schwelle ihres Zimmers eben überschritt, streifte
sie Christians Arm, und seine Hand ergriff unvermuthet die ihre.
»Helene,« sagte er ernst und strenge, »Du trägst den Schlüssel dieses
bejammernswerthen Geschickes mit Dir fort,« er deutete mit dem Blick
auf das Medaillon, »es hat trübe unser aller Dasein umleuchtet, wie
ein Nordlicht, ohne unsre Wege zu erhellen, ohne unserm Auge die Bahn
deutlicher zu machen, die wir zu durchwandern gezwungen! Gebe Dir Gott
mehr Glück und mehr Besonnenheit als ihr, und ein klareres Verständniß
des Unabwendbaren! Du kennst bisher nur die +Lösung+ dieses traurigen
Räthsels!«

»Ja,« erwiederte Helene gepreßt, »ja, mir ahnet, daß sie für gleichen
Lebenseinsatz einen entsetzlichern Verlust, für gleiche Schuld -- wenn
es eine ist! eine schwerere Buße zu ertragen gehabt, als wir Alle!«

Christian lächelte bitter. »Es kennt keiner das Gewicht der Bürde des
Nächsten!« Er war mit eingetreten und ging in fast leidenschaftlicher
Erregung eine Weile auf und nieder. Endlich blieb er vor ihr stehen;
»es kann nicht schaden,« setzte er mit unbeschreiblich traurigem Tone
hinzu, »daß Du einmal die Dir noch unbekannten Schicksale Deiner
nächsten Verwandten, ja Deines älterlichen Hauses in's Auge fassest --
komm setze Dich zu mir.«

Helenens weiche Stimmung ließ sie dem Bruder schweigend willfahren; sie
hoffte die Erzählung werde die Tante betreffen, hier in ihren eigenen
Räumen scheute sie nicht, mit dem Einzigen, der um das Geheimniß zu
wissen schien, davon zu reden; -- so hängt auch das edelste, zarteste
Gefühl vom Eindruck äußerer Umgebung ab! --

»So weit meine eigne Erfahrung reicht,« begann Christian, »habe
ich stets bemerkt, daß in all den Einzelgruppen der menschlichen
Gesellschaft, die wir »Familien« nennen, ein nämliches Grundprinzip
des Glückes wie des Elends in fast all ihren Mitgliedern in
unzähligen Umgestaltungen sich wiederholt. Es geht damit, wie mit
der Aehnlichkeit der Gesichtszüge, die selbst, wo sie in Einzelfällen
in gerader Linie verschwindet, in verwandtschaftlichen Kreuzungen, im
Großneffen, im Enkelkind, in Tanten und Basen wieder auftaucht und
sich unverändert geltend macht. Davon hat man tausende von Beispielen
überall. Psychologisch erklärt sich aber das erste Phänomen, wenn man
auf diesen Erscheinungen körperlicher Gleichheiten weiter zu fußen
versucht und beachtet, wie sie Jahrhunderte zurück sich erstrecken, und
eben so fortdauern um uns her, bis gewaltsam ihm aufgedrungene fremde
Schößlinge den alten Familienstamm in seiner Wurzeltiefe und Wipfelhöhe
überwuchert haben! -- Es läßt sich gar wohl begreifen, daß auch die dem
Leibe inwohnende +Seele+ ihre eben so bis in den späten Ur-Enkel, durch
Mischung sich analoger Körper- und Geisteskräfte, erzeugten ähnlichen
Gebrechen und Tugenden bewahrt, und daß auf diese Weise der einzelne,
sehr reich begabte Mensch zum Schöpfer einer Scala von herbeigezogenen
Geschicken wird, die zusammenklingen, weil sie auf +einem+ ihnen allen
eigenthümlichen Grundton beruhen! Nennt doch selbst ein Volkswort
Jeden seines eigenen Unglücks Schmied! Und +so+ wird denn Fluch und
Segen des längst schlummernden Ahnherrn immer von neuem erweckt,
bis der letzte seines Namens und Stammes zu Grabe getragen ist.« --
Erstaunt sah Helene den Bruder an; wie kam der sich nur mit abstrackter
Gelehrsamkeit beschäftigende Mann, der Philosoph, zu diesen Ansichten
eines Schwärmers?

»Seit unseres Großvaters Jugend, welche in die erste Hälfte des
vorigen Jahrhunderts zurückreicht, hat jedes unsre Familie befallende
Mißgeschick, das bald auf entwürdigende Weise deren zarteste Hoffnungen
brach, bald den eigenen Herd, das Herz des Hauses zum Schauplatz des
Ungehörigen machte, sein Entstehen einer durch Liebesraserei erzeugten
Verblendung zu verdanken. Jede Neigung ist bei uns durch Widerspruch
zur Leidenschaft ausgeartet, jedes das Dasein erhellende Licht zum
wilden Feuer, das den Aufbau unseres Lebens zerstört, das Dach über
unseren Häuptern verzehrt, uns arm und bloß, als Bettler in der
leergewordenen Existenz zurückläßt!«

»Unser Großvater lebte in äußerlich günstigeren Verhältnissen als wir.
Seine Jünglingszeit fällt in die Glanzperiode Niel Juuls und seiner
Siege über die Schweden. Owen focht unter dem großen Feldherrn und
zeichnete sich aus; das Vaterland nannte mit dem des Helden zugleich
+seinen+ Namen! Die der Krone geleisteten Dienste verschafften ihm die
Hand einer dem königlichen Hause verwandten jungen Dame, der Fürstin
Harald-Friedrichsborg. Bei anscheinend blühender Gesundheit bemächtigte
sich ihrer bald nach der Vermählung ein heimlich schleichendes Uebel,
das in fortgesetztes Kränkeln überging, und die Geburten einer Tochter
(der Tante Ulrike) und zweier Söhne schwächten den zarten Körper der
jungen Frau noch mehr. Auch das in ihren Verhältnissen unvermeidliche,
geräuschvolle Hofleben schadete ihr, es raubte ihr die Möglichkeit
einer allmäligen Erholung; sie starb, nachdem sie einem dritten Sohn,
unserm Vater, das Leben gegeben, gleich nach dessen Geburt.

Grenzenlos war des Gatten Schmerz! In wahnsinniger Verzweiflung starrte
er anfangs den Ueberbringer der Todesbotschaft regungslos an; dann
aber sprang er einem wüthenden Tiger gleich, der seine Beute erfaßt,
auf den Unschuldigen los, warf ihn zu Boden und trat ihn mit Füßen!
Noch in der nämlichen Nacht starb der schwer Verletzte an den Folgen
der erlittenen Mißhandlung. Des Königs Liebling aber, Graf Owen,
entging jeder Anklage und Strafe, sogar der seines eigenen Gewissens;
war es ja doch sein Leibeigener, den er zertreten wie einen Wurm! wer
kümmerte in damaliger Zeit sich um den Gebrauch den Er, der Herr,
von seinem Erb- und Eigenthum gemacht! -- Aber die Verblendung des
unsinnigen Zornes gegen das ihn betreffende Geschick riß ihn weiter
fort auf der entsetzlichen Bahn, auch -- dem eigenen Kinde, das diesem
Unglück die Geburt dankte, dessen Eintritt in die Welt das Dasein der
Mutter gekostet -- dem Neugebornen +fluchte+ er. -- Der unnatürliche
Fluch trug bittre, giftige Frucht! Der Verlust seiner Liebe hat an uns
Allen in der Liebe sich erneut und gerächt, mochte sie gewähren oder
versagen, als gebühre +uns+ die Buße seiner Schuld.

Drei Söhne hatte die Gräfin geboren. Die zwei Aeltesten starben in
den ersten Jahren auf fast unerklärliche Weise, ohne vorhergegangene
Krankheit, vielleicht an von der Mutter ererbter Schwäche, sie welkten
dahin, wie eine Blüthe abfällt vom Zweige. Unser Vater dagegen war
kräftig. Mit furchtbarer Strenge erzogen, auf jede Weise abgehärtet,
wuchs er unter fremder Leitung auf; oft mischten sich Willkür und
Grausamkeit in die Erziehung, die ihm ward. Der Großvater liebte ihn
nicht, nannte ihn fortgesetzt den Mörder seiner Mutter, und sandte ihn
endlich nach Skovkloster in die von Herluff Trolle eingerichtete adlige
Hochschule, um ihn nur Jahre lang fern von sich halten und seinen
Anblick vermeiden zu können. --

Eine scheue Niedergeschlagenheit bemächtigte sich dort des Knaben --
selbst Güte und Wohlwollen Einzelner, denen er Mitleid einflößte,
vermochten nicht mehr ihn aufzurichten. Auch der Schwester durfte er
nur in seltenen Zwischenräumen sich nahen; als sie erwuchs, sah er
sie gar nicht mehr: so ward der einzige Sohn und Erbe ein Fremder im
eigenen Vaterhause. --

Eine immer mehr überhand nehmende Melancholie breitete ihren
düstern, ihm die ganze Welt umhüllenden Flor über des Armen schönste
Jugendzeit. Jedes eigene freie Streben ward ihm untersagt, man zwang
ihn in den Militairdienst, während ihn eine mächtige Neigung zum
damals noch brach liegenden Felde des Naturstudiums, besonders zur
Botanik hinzog; man drängte den Verschüchterten in eine Hofcarrière,
wo er seines verlegenen Betragens, seiner nicht brillanten äußeren
Erscheinung wegen, kein Glück machen konnte -- ja es nicht einmal zu
wollen vermochte, da die tiefste Sehnsucht seines Innern nur Stille
und Abgeschiedenheit erstrebte. -- Als er mündig und durch seines
Vaters Tod Erbe dieser Besitzungen geworden, bewarb er sich um die
Hand unserer Mutter. Er hatte sie in den Hofzirkeln der Königin kennen
gelernt und empfand die heftigste Leidenschaft für sie -- hiermit
beginnt ein neuer Abschnitt unserer unseligen Familiengeschichte.«

»Aber,« sagte Helene, »ihm ward das Jawort der Geliebten, sein Gefühl
ward erwiedert.«

Ohne ihre Bemerkung zu beachten, fuhr Christian fort: »unsere schöne
geistreiche Mutter reichte dem Liebenden liebelos, gezwungen von ihrer
Familie, die Hand! Eine unerwiederte Leidenschaft ist immer ein das
Seelenleben spaltendes Weh; Besitz und stete Gegenwart steigern es
zum unerträglichen! Sie war sein! Willenlos und widerstandlos ward
sie ihm verbunden, aber eiskalt blieben die Lippen, auf welche er die
seinen preßte, theilnahmlos blieb die Seele, der er unablässig die
seine zu erschließen strebte. Ein entsetzlicher Kampf um Ruhe und Glück
begann unter Beiden; je mehr er forderte, je weniger fühlte sie sich
im Stande, das Verlangte zu gewähren. Seine Eifersucht ward erregt;
ob sie gerecht oder nicht, wagt der Sohn nicht zu entscheiden! Auch
auf unseren Kinderhäuptern lastete das Unglück; mich den Erstgeborenen
unter Euch empfing, wenn auch kein Fluch, doch das Gefühl innerer
Verzweiflung, statt des Kusses der Freude! --«

       *       *       *       *       *

Er schwieg. »Aber die Tante?« fragte schüchtern Helene; in dem trüben
Wahn des Bruders lag etwas seltsam Ansteckendes -- »aber die Tante,
wie traf denn eben sie, die Schuldloseste unter Allen, das aller
Entsetzlichste! war sie denn --«

Christian rang sichtlich mit dem Entschluß in seiner Erzählung
fortzufahren -- in dem Augenblick ertönte der langgezogene Schrei einer
Seemöve oder des Wettervogels; es war nicht die Stunde, in welcher das
Thier zu schreien pflegt, aufmerksam horchte Christian hin. Er war
aufgestanden und an's Fenster getreten, und kehrte so Helene den Rücken
zu. Nach wenigen Secunden erklang der Schrei zum zweitenmal -- zufällig
wandte sich der Graf in demselben Augenblick der Schwester zu -- sie
war feuerroth geworden und näherte sich in sichtlicher Verlegenheit der
Thüre eines anstoßenden kleinen Jagdsalons, welcher die erste Etage
eines der Eckthürmchen des Schlosses einnahm -- wie der Blitz stand
Christian neben ihr; ehe er selbst sich seiner Absicht bewußt, hatte er
gewaltsam die Thüre desselben aufgerissen und befand sich bereits in
dem runden, durch mehrere große Fenster erhellten Saal. Aus dem einen
derselben sah man über den Garten weg auf einen lieblichen kleinen
Landsee, welcher die Besitzung Aalholm von dieser Seite begrenzt.
-- Drüben stand Thorald! Nach einer längeren Abwesenheit in Fühnen,
von wo ihn die Sehnsucht, Helene zu sehen, zurückgetrieben, hatte der
Unbesonnene nicht unterlassen können, ihr ein Zeichen seiner Rückkehr
zu geben. --

»Tod und Teufel!« schrie der Graf, »wagt der Bube einem Fräulein
von Gejern zu rufen, wie einer Bauerndirne.« -- Besinnungslos vor
aufwogendem, entsetzlichen Zorn riß er hastig eine von den Jagdflinten
herab, welche an den Wänden hingen, und legte an. Heftig, aber
keineswegs fassungslos ergriff Helene seinen Arm und schleuderte die
Mündung des Gewehrs seitwärts. -- »Unsinniger!« rief sie mit strafender
fester Stimme, »meinst Du einen Leibeigenen vor Dir zu haben, der
willig sich mit Füßen treten läßt?«

Der sich entladende Schuß war durch das Nebenfenster gegangen, das
zufällig offen stand, die Schrotkörner streiften die Zweige der Allee,
ohne irgend Schaden zu verursachen. Helene und Christian standen
wortlos, zornig sich in's Auge blickend, einander gegenüber, als Eva
von dem Knall erschreckt in's Zimmer stürzte, »was ist vorgefallen,
was um Gotteswillen giebt es hier?« -- rief sie in namenloser Angst,
auf Beide zueilend. »Gar nichts,« sagte trocken mit ruhigem Ton Helene,
»Christian hat nach einer Möve am Weiher geschossen und sie verfehlt.«

Des Bruders Auge dankte ihr; er hing die Flinte wieder zu den übrigen
an ihren frühern Platz und reichte Eva die Hand; »es thut mir leid,
Kind, daß meine Unbesonnenheit Dich erschreckt hat.« Ohne weitere
Worte verließ er die Frauen -- Helene rang nach Fassung, ihre Augen
durchbohrten das Wäldchen, in welchem der Liebste entschwunden. Eva
kannte sie viel zu genau, um nicht bei näherer Betrachtung, mit einer
von der Welt abgeschiedenen Kranken oft eigenen Beobachtungsgabe, zu
errathen, was eigentlich vorgefallen. -- »Unvorsichtige!« flüsterte
sie, Helenens Hand zwischen der ihren pressend, »willst Du denn
durchaus ihn und Dich selbst elend machen? Ach, Du kennst nicht die
volle ganze Kraft der Gefahr, welcher Du trotzig entgegen treten zu
können wähnst! -- War Thorald hier im Schloß?«

»Nein, dort am Weiher.«

Eva seufzte tief auf, dann fuhr sie mit sichtlicher Selbstüberwindung
fort, weil sie es für Recht hielt zu reden. »Ich kenne Christian besser
wie Du! glaube mir, er ist unbeugsam, hoffe +nie+ den auf einen Punkt
eigensinnig Verhärteten zu erweichen, nie wird er seine Einwilligung
gewähren.« »Er ist nicht mein Vater, nur mein Bruder,« sagte das
Mädchen ernst und fest, »seine Gewalt über mich muß Grenzen haben,
obschon er mein Vormund ist, jedenfalls ist sie weder unabwendbar noch
lebenslang dauernd. Ich bin in seinem Hause, Eva, und werde nichts
thun, was ihn ernstlich kränken könnte, aber ich bin frei wie er« --
sie erschrack als die letzten Worte über ihre Lippen kamen.

Eva aber schüttelte traurig den Kopf, »das Land, seine Sitten, der
Stamm, dem Du angehörst, bilden eine dreifache Mauer um Dich und Deine
erträumte Freiheit. Es ist nicht bloß Dein Bruder, nicht nur sein
Adelstolz -- warum wirst Du blaß bei dem Worte, das ich millionenfach
durchdacht habe? es ist mehr als Alles der Charakter des ganzen
+Landes+, das Zusammenfallen der allerverschiedensten Vorurtheile und
dabei das Zusammenwirken der so von einander abweichenden Ansichten
auf denselben Punkt, +dies+ hast Du zu scheuen, das ist die Kette mit
den vielen kleinen Ringen, die sie um Dich schlingen --« Helene legte
das müde Haupt auf die Fensterbank und schauete trostlos über den See,
»mein Gott, mein Gott, wo er nur sein mag?«

       *       *       *       *       *

»Und errängest Du es dennoch, des Künstlers Gattin zu werden, glaubst
Du man würde Deine frühere Stellung vergessen, oder wirklich Dich
aufnehmen unter den andern Bürger-Frauen und unter ihren Familien!
-- Ach, sie sind -- und vielleicht mit vielem Recht -- stolzer als
Ihr! Eben weil sie ihre Vortheile, Aemter, ihre Privilegien, ihr Brot
erkämpfen, und das mit sauerem Schweiß Errungene zu wahren nöthig
haben, deshalb stoßen sie Eure Gemeinschaft zurück, Euch +gleich+
gestellt sein wollen sie nicht, herabsteigen sollt Ihr zu ihnen,
+dann+ erst wollen sie mit Euch sich wiederum erheben, auf Euren
ungeschmälerten Platz, erst +dann+ ihn mit Euch theilen. Das, meine
Helene, ist hier die Stimmung des Bürgers -- und in so fern sein Kopf
klar genug, auch des Bauern!«

»Wenn sie einander begegnen im Wäldchen!« seufzte Helene -- das
Nächstliegende verschlang in ihr stets Vergangenheit und Gegenwart.

Träumerisch die schmalen Händchen über die Brust faltend, wehmüthig die
blauen Augen zu Helenen aufgeschlagen, mit dem rührensten Ausdruck der
Innigkeit und Treue in den Zügen, saß indessen die Sprecherin da, immer
noch bemüht der Freundin aufgeregte Geister zu beschwichtigen, vor
allem aber sie abzuhalten, in den Garten zu gehen! -- Eva sprach fast
niemals über sich -- Helene empfand den ganzen Werth des ihr gebrachten
Opfers, auch dessen sanft verschleierte Absicht -- sie war selbst von
der Nothwendigkeit überzeugt, eine persönliche Einmischung in +diesem+
Augenblick meiden zu müssen, aber all ihre Gedanken flatterten dennoch,
wie Vögel dem Frühling, so dem nun wieder Angekommenen, dem Geliebten
zu! Jeder Widerspruch strenger oder liebreicher Art brach an dem
mächtigen Gefühl des Mädchens. --

»Nie werde ich's vergessen,« fuhr Eva in immer weicheren Tönen
fort, »wie nach Graf Owens Tod --« sie vermochte noch nicht »mein
Schwiegervater« zu sagen -- »nachdem ich schon fast ein Jahr hier
auf dem Schlosse wohnte, Christian meinem alten Vater mich als seine
Frau vorzustellen beschloß; es war ihm schwer geworden, ich wußte es
wohl! Du Helene warst ein Kind, und bliebst bei Emerenzia! Amalie und
Annette begleiteten uns; ich glaube,« setzte sie mit leicht bebender
Stimme hinzu, »Christian hatte es den Schwestern befohlen -- es war
darauf abgesehen, mir durch diesen Schritt mit einem Male eine feste
Stellung zwischen den Bauern und +seiner+ Familie, besonders den
Brüdern gegenüber zu geben, denn ich selbst war schüchtern wie ein
Rothkehlchen, das sich im Zimmer verflogen und keinen Ausweg kennt;
ich fürchtete mich in dem großen Schlosse, verlief, verirrte mich
in dessen Gängen, ich hatte nie ein solches Gebäude bewohnt -- so
lange ich auch schon damals Christians Gattin war, denn ich habe im
fünfzehnten Jahre geheirathet, so wußte ich doch hier in der neuen,
von der Jütländischen so ganz verschiedenen Umgebung, mich nicht in
meine Lage zu schicken! Und doch,« fuhr sie fort, -- ihre Absicht
Helenen vom Gegentheil zu überzeugen momentan ganz aus den Augen
verlierend, -- »doch war das eben eine wunderschöne Zeit! Christian war
so himmlisch gütig, die angetretene Majorats-Erbschaft zwang ihn zu
immer regerer Thätigkeit, wie ein Schutzengel stand er mir zur Seite
und lieh mir den Schild seiner männlichen Klugheit und Festigkeit;
-- nun, wir fuhren also nach Engbolle. Wie klopfte mir das Herz,
als ich nach sechzehn Jahren den Hof von weitem sah! aber alles war
stattlich verändert; mein Vater bewohnte nicht mehr eine Kathe, die
man Winters über mit Laub und Schilf überdecken muß, um sich darin
vor der Kälte zu schützen, ein ganz neuer Bau erhob vier stattliche
Mauern an deren Stelle; das ehemalige Wirthschaftshaus, in welchem wir
nur ein paar kleine Zimmer hatten, war nun zu Stallungen und zu einer
großen Milcherei umgewandelt; -- als wir in den viereckigen Hof traten,
blinkten mir die hellen Fenster entgegen, hinter denen mein so schwer
gekränkter lieber Vater wohnte; seitwärts aus den Nebengebäuden klang
das Brüllen des reichlichen Viehstandes -- an einer andern Stelle
sah ich die Scheune, vor deren Thor das bunte Gefieder der Hühner im
Sonnenschein glänzte, o Gott, mir ging das Herz im Jubel auf -- jetzt
öffnete sich die Thüre, mein Vater -- er war ein Greis geworden --
erschien auf der Schwelle! ich ließ Christians Arm los und stürzte
über den Hof ihm entgegen; mir schossen die Thränen in die Augen, kaum
vermochte ich »Vater, lieber Vater« ihm zuzurufen, »ich bin's, kennt
Ihr mich noch?« -- mit abgezogener Kappe kam mein Vater die steinerne
Haustreppe herab; ohne mit einem Blicke meine Anrede zu erwiedern ging
er demüthig seinem Gebieter und den Gräfinnen entgegen, deren Hand er
bewillkommnend küßte -- mir brachen die Kniee, ich fühlte mich dem
Umsinken nahe, aber ich wollte mich fassen, den andern Leuten, den
versammelten Knechten und Mägden kein Aergerniß geben; ich näherte
mich ihm abermals, bezwang mein Herz und redete ihn noch einmal an;
jetzt kamen meine drei Brüder auch hinzu, als ich sie verließ, waren
sie kleine Kinder; wie er, traten sie festen Schrittes zwischen
mich und meines Vaters ehrwürdige Gestalt, dankten dem Grafen, den
Schwestern für die Ehre ihres Besuchs und luden sie ein in's Haus zu
treten; Keiner hatte einen Blick, ein Wort für die Verstoßene! -- Mir
schwanden die Sinne! Amalie und Christian faßten mich unter den Arm und
führten mich die Stufen hinan zu meines Vaters Hause! ich ließ Alles
geschehen, setzte mich nur mechanisch auf den mir bereit gestellten
Sessel -- Beide überhäuften mich mit der zartesten Güte und Sorgfalt.
Mein Vater und meine Brüder standen scheu und ehrfurchtsvoll, Alle in
eine Ecke des Gemachs zusammengedrängt und warteten ohne ein Zeichen
des Mitgefühls, bis Christian zu ihnen trat und den Erstern zu sich
rief; -- beide gingen hinaus in eine anstoßende Kammer. Was sie dort
mit einander verhandelt, habe ich nie genau erfahren; ich weiß nur,
daß Bitte und Befehl als gleich unwirksam sich erwiesen! Mein Vater
und seine Söhne erklärten alle vier respectsvoll und sehr fest: sie
wüßten was sich schicke und gebühre; in ihren Augen bliebe ich eine
Pflichtvergessene, die ihre eigne Familie bitterlich gekränkt, ihre
gnädige Herrschaft aber auf's freventlichste beleidigt, er wünsche,
setzte mein Vater mit schwankender Stimme hinzu, daß mir der selige
Graf Thugge nicht in der letzten Erdenstunde geflucht! -- Christian
versicherte dem mühsam sich aufrecht haltenden Alten, daß jener mir und
ihm verziehen, und mit uns Beiden ausgesöhnt in seinen Armen gestorben
sei. »Das war sehr gnädig und sehr edel, unser Herrgott lohne es ihm
im Paradiese,« sagte mein armer Vater; dann bat er »den gestrengen
Herrn Grafen« ihn zu entlassen, »er fühle sich ein wenig schwach
heute.« -- Als ich mich etwas erholt und äußerlich gefaßt, geleitete
mich Christian zum Wagen, ach! ich glaubte mich aufzulösen in Thränen,
als ich in den Hof zurücktrat, wo noch wie vor einer Stunde Alles im
Sonnenschein so lachend und glänzend vor mir lag! Nochmals nahten Vater
und Brüder dem Wagen -- o mein Gott! ich sah die lieben theuren Züge
so nahe, so ganz nahe vor mir, ich hätte sie mit meinen Händen an mich
ziehen, mit meinen bebenden Lippen sie berühren können! Ebenso demüthig
wie sie dieselben empfangen, empfahlen sich alle Vier der Gnade der
beiden »Fröken und des Herrn Grafen;« ich sah das Zucken in den
Gesichtsmuskeln des armen, alten Mannes, der so unsäglich litt durch
und um mich! ich sah zwei glänzende Thränen in meines jüngsten Bruders
großen, blauen Augen, aber dennoch blieb Aller Haltung so fest und
entschieden, daß mein Muth an ihr brach; ich wagte keinen Laut mehr.
Mein Vater hielt sich bis zu diesem letzten Augenblicke -- ach Gott!
dem letzten, in dem ich jemals ihn sehen sollte, stramm; Christian
zitterte wie ein Espenlaub an meiner Seite -- die Pferde zogen an, wir
rollten fort; -- als ich nach einem mehrwöchentlichen Krankenlager
erwachte, hatten sie meinen Vater schon begraben; die Bauern sagten, es
habe ihm ein schwerer Kummer das Herz abgedrückt.« --

Schluchzend warf Helene ihre beiden Arme um Eva's Hals; jetzt sah und
empfand sie nur deren Schmerz, sogar Thoralds Bild ward dadurch für
einen Moment in den Hintergrund gedrängt.

Draußen war unterdessen, wie vorauszusehen, Thorald und der Graf
zusammengetroffen. Allein der Gang zum Weiher, und vor Allem das tiefe
Schamgefühl des Bewußtseins, auf Thorald geschossen zu haben, hatten
den Grafen abgekühlt, und er zügelte diesmal seine Worte. Das Gespräch
zwischen den Männern war sehr ernst, aber keiner von ihnen hatte bei
der Erinnerung an dasselbe zu erröthen, es blieb gegenseitige Achtung
als Schutzgeist ihm zur Seite. Christian verfehlte nicht, seine allen
Männern seines Standes gemeine Ansicht, daß man gar übel ein Verhältniß
zu dem Mädchen das man +heirathen+ will, mit einer Heimlichkeit des
Verkehrs beginne; sein Urtheil darüber machte Thorald warm, ohne von
Grund aus ihn zu überzeugen, ja es regte seinen innern Stolz auf so
schmerzlich verletzende Weise an, daß er endlich erklärte: zwar werde
er nun und nimmer seinen Anspruch auf Herz und Hand Helenens aufgeben,
die willig beide ihm zugesagt, allein obgleich er sich zu keiner Art
von Entsagung veranlaßt fühle, da er sich und die Geliebte als völlig
frei und unabhängig betrachte, so sei er doch von seiner und ihrer
Treue so fest überzeugt, daß er es darauf wagen könne, und er wolle
sogleich, ehe ihn irgend Jemand gesehen, nach Fühnen zurückkehren,
wenn der Graf durch seine häufige Anwesenheit ihren Ruf für wirklich
gefährdet halte. Nur möchten, bat er, der Herr Graf sich nicht irren
über den Grad des von ihm gewährten Zugeständnisses, er werde Mittel
und Wege finden, Helenen die Erklärung seines jetzigen Schrittes
zukommen zu lassen, denn je mehr er ihrer gewiß sei, je unmöglicher sei
ihm es zu ertragen, auch nur einen Augenblick von ihr mißverstanden zu
sein durch eigene Schuld.

Es lag etwas so ächt Menschlich-Natürliches, ja eine solche Würde
der Wahrheit in Thoralds Benehmen, daß der Graf davon erschüttert
sich fühlte; zum ersten Mal seit seinen Jugendjahren fiel ihm die
Möglichkeit einer wirklich dauernden Empfindung der Liebe ein. Nach
wenigen Secunden jedoch war er, trotz seines angeborenen Hanges
zur Träumerei, schon wieder zum klaren Ueberblick der Verhältnisse
gekommen, er fühlte durch Thoralds augenblickliche Abreise nicht
nur den Ruf der Schwester gesichert, sondern im schlimmsten Falle,
wenn es ihm nicht gelingen sollte, zu einer +andern+ Verbindung
sie zu vermögen, wenigstens in dieser Prüfung des Jünglings eine
Art Bürgschaft, ein ~bonheur allemand~, daß das hereinbrechende
Unglück einer Verbindung mit ihm und einer Trennung von den Ihren
sich tröstlich gestalte. So nahm er wirklich Thoralds Erbieten an;
aber er verlangte das Opfer, wenn es gebracht werde, vollständig, und
augenblickliche Rückreise Thoralds.

»Das macht die Sache schlimmer, man kann mich auf Laaland bereits
gesehen haben,« sagte der Künstler, -- ihn verletzte der Stachel
geheimen Mißtrauens, -- »aber ich bin erbötig, sogleich überzusetzen
nach Falstern, wo ich ein paar Skizzen aufzunehmen habe.«

Dieser Beschluß ward festgehalten. Allein der Graf war, wenn er
einmal seiner gewohnten schweigsamen Contemplation entrissen und zur
Thätigkeit gelangt war, nicht der Mann, auf halbem Wege stehen zu
bleiben. »Wie gedenken Sie denn der Comtesse Gejern diese Nachricht
von Ihrer augenblicklichen Entfernung zukommen zu lassen?« fragte
er scharf. -- Thorald war gefangen; er konnte und wollte den Weg,
den seine Correspondenz mit der Geliebten zu nehmen pflegte, nicht
verrathen, weniger aber noch konnte er von Falstern aus ihn einschlagen
-- er zögerte einige Secunden -- --

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort,« sagte Christian, »daß ich der Comtesse
die Nachricht in der jetzigen Stunde noch zukommen lassen werde,
schreiben Sie ein paar Zeilen.« Erstaunt blickte Thorald auf -- es war
dem Grafen Ernst. »Aus Ihrer Hand soll die Gräfin die Nachricht -- mein
Herr? Nein, ich muß einen Boten --«

Christians Zorn flammte auf; allein wie bei der Schwester überwog
bei ihm der momentane Impuls eines eben jetzt zu Erstrebenden, und
in diesem Augenblick lag ihm vor Allem daran, jede Zusammenkunft der
Liebenden und jeden längern Aufenthalt Thoralds auf der Insel zu
verhindern -- »ich werde ihr das Billet +senden+,« sagte er kurz.
Thorald verbeugte sich stumm, riß ein Blatt aus seinem Taschenbuche und
schrieb.

Es war eine wunderliche, fast komische Situation. Der Eine als
Vertrauter und Bote einer von ihm so hart gefährdeten Liebe des
Andern; im Künstler überwog das Ironische derselben; auch lag im ganzen
seiner Jugend diese etwas barocke, ritterliche Handlungsweise nicht
fern; eine fröhliche Sorglosigkeit gestaltete sich fast in Leichtsinn
indem er schrieb, nur die Anrede hatte ihn ein wenig verlegen gemacht,
denn das Blatt ging ohne Siegel; -- Christian hatte sich in anständiger
Entfernung unter eine Buche gesetzt, aber während der Maler schrieb,
waren seine Gedanken längst abwärts geflogen, ihn beschäftigte eben die
Solution eines naturhistorischen Problems -- fast hatte er die ganze
Sache vergessen, als ihm Thorald das Blatt überreichte. Er faltete
es nochmals und steckte es ein; es waren wenige Worte. Der Liebende
verließ sich darauf, daß Helene +zwischen+ den Zeilen durch zu lesen
verstehen werde, was nur sein Herz, nicht seine Hand dem Blättchen
anvertraut.

Die Männer trennten sich ohne weitere Erklärung. Als Thorald festen
Schritts den Richtpfad nach dem Strande einschlug, um zur Fähre zu
gelangen, sagte Christian ihm nachblickend: »Schade, daß er kein
Edelmann ist, er hat einen edlen Anstand und präsentirt sich gut.« Dann
wandte er sich dem Schlosse zu.

Das Gespräch der beiden Frauen war eben beendet, als ein Diener Helenen
das Billet überbrachte -- sie las es, sagte keine Silbe, drückte Eva
die Hand und zog stumm sich in ihr Zimmer zurück.

Dort brach sie in heftiges Weinen aus. »Dieser Sieg, Christian,« sagte
sie stolz das Haupt zurückwerfend, »soll Dir theuer zu stehen kommen
-- daß Du ihn auf diese Art zum Nichthandeln, zum Rücktreten, zur
Entfernung treibst, lös't mich von jeder Verpflichtung, drängt mir
Entschluß und Handlung auf! -- Was können sie mir denn thun, diese
hochmüthigen Brüder, wie mich zwingen? Etwa wie die Tante -- nein,
nein, +die+ Zeiten sind vorbei!«

Es war schon längst dunkle Nacht. Helene konnte den Gedankenflug
ihrer Seele nicht beherrschen, Schlaf und Ruhe waren nicht zu hoffen.
Sie trat an das noch offene Fenster -- der Wind erhob sich eben, es
war gegen Mitternacht, er strich von der fernen See herüber an den
Ufern hin, schüttelte tiefer in's Land eindringend die alten Buchen
aus dem Schlummer und pfiff und heulte in den Vorsprüngen und Erkern
des Schloßbaues -- es graus'te Helenen. Ob er noch auf dem Meere? Es
ist weit hin bis zur Fähre, dachte sie. Es war eine der wunderlichen
Nächte, in welchen die Windsbräute flaggen, und gleichsam aus dem
tiefen Nebelgrunde der Dünen aufsteigend, ihre langen weißgrauen
Schleier schräg herabhängen lassen bis dicht auf den Erdboden, dann
urplötzlich aufjubelnd wie losgebundene Mänaden, wildaufschreiend mit
dem langen pfeifenden Ton, den nur der Nordländer kennt, über die
See sich stürzen, das fliehende Boot gierig zu erhaschen, das ihnen
zu entgehen gemeint; -- Hui! nun muß es tanzen, Kiel auf und ein,
drüber hin ras't eine Welle, -- wieder eine -- so fort Woge um Woge!
Dem Ruderer schwinden Sterne, Himmel, Kahn und Strand; aber die wilde
tolle Nixe, die ihren Liebsten sucht, zwischen Meer und Erde, ruht
nicht, bis sie Alles, Mann und Maus durchnäßt hat im Boot; -- wie ein
Pfeil schießt das Schifflein über die schaumbedeckte Fluth -- und
mit einem Male, wie auf Zauberspruch, ist Alles vorüber! Da ist der
klare Himmel, die Sterne flimmern wie erschrocken von dem sündhaften
Spiel, es ist aber Alles glatt, still, sogar hell am Ufer und zur
See: die erzürnte Wasser-Liebste hat ausgetobt. Ein langer keuchender
Windzug trocknet rasch Segel und Leute; bis es einer andern ähnlichen
Erscheinung begegnet, hat das Boot Ruhe, oft sogar eine schnelle,
glückliche Fahrt.

       *       *       *       *       *

Helene wickelte sich fester in ihren Mantel und beugte sich aus dem
Fenster vor, in die Nacht hinaus, um den Stimmen derselben zu lauschen.
Es war ruhiger geworden. Nun hatte Thorald gewiß Falstern erreicht.
Aber nun hatte auch die neue Trennung erst recht eigentlich begonnen;
der Unbesonnene hatte ja Christian sein Wort gegeben, vorläufig
sein Kommen ganz einzustellen. -- Sie trat zurück in's Zimmer. Ihr
schauderte vor der Möglichkeit des Traums, der nach so verworrenem
Tage ihrer harren könne. Die Nacht blieb ihr unheimlich, im Spiegel
erschreckte sie das eigene wachsbleiche Gesicht -- im Hause schien
Alles zu schlafen. Sogar ihre eigene Dienerin hatte sie hinweg und zu
Bette geschickt.

Sie hätte viel gegeben für irgend einen befreundeten Laut --
endlich öffnete sie ihre Stubenthür und lauschte gespannt, sie
wußte selbst nicht auf was, in die Dunkelheit hinaus; -- plötzlich
erblickte sie einen hellen Lichtschein unter der Thüre des einen ihr
gegenüberliegenden Zimmers hervordringen, er kam aus dem Cabinet der
Nordermule; sie huschte eilig hin, öffnete leise und trat ein.

Obschon die Mittage noch heiß waren, begannen schon kühlere Nächte an
den fliehenden Sommer zu mahnen, ältliche oder schwächliche Leute,
wie Emerenzia, froren mitunter. Vielleicht hatte sie deshalb Feuer
angemacht, denn aus der weit aufstehenden Ofenthüre leuchtete eine
prasselnde Flamme Helenen entgegen. Die Nordermule saß auf einem
niedrigen Schemel vor derselben, auf ihren Knieen hatte sie die welken
Blumen und Kränze der Tante liegen und die Schreibereien, die sich
in den Truhen vorgefunden; sie war beschäftigt, das Alles mit einem
seidenen Bande aneinander zu binden, und schien die Absicht zu haben,
ein Todtenopfer auf dem vor ihr brennenden Holzstoß zu halten.

Als sie Jemand hinter sich vernahm, sah sie sich nicht um, sondern
kreuzte schnell die Hände über beide Augen und beugte das Haupt tief
herunter, daß es fast die Knie berührte.

»Sie hält mich für eine Erscheinung, vielleicht gar für der armen Tante
Ulrike Seele!« -- hörbaren Schritts trat sie näher und legte die Hand
auf der Geängsteten Schulter. »Ich bin es,« sagte sie mit recht ruhiger
Stimme, »ich kam, weil ich vom Vorplatz aus noch Licht in Deinem Zimmer
gewahrte.«

Es lag immer in allem Thun Helenens, Emerenzia gegenüber, eine
liebenswürdige, schonende Zartheit; auch jetzt schien sie deren Schreck
gar nicht zu gewahren, denn sie kannte ihrer Freundin krankhafte
Scheu, lächerlich zu erscheinen; -- alle von der Natur stiefmütterlich
behandelten Menschen haben sie. -- Die Alte hob die Hände vom Gesicht
und ließ sie auf die welken Blumen in ihren Schooß sinken. -- »Bist Du
unwohl?« fragte sie besorgt.

»Nein, aber bewegt, wie Du selbst, im Geist und Gemüth; ich kann nicht
schlafen. Laß uns Dein begonnenes Todtenopfer zusammen vollenden,
aber während die Flammen seine Heimlichkeiten schützend verzehren,
erzähle mir von dem edlen Wesen, an welchem Dein Herz, wie ich sehe, so
schmerzlich hängt -- sprich mir von dem Leben, dessen letzte Glücksspur
wir vielleicht eben vertilgen!«

In fast andächtiger Stille schichtete Emerenzia die Blüthen und Blätter
auf den kleinen Holzstoß und blickte schweigend darauf hin, bis sie
zu Asche gebrannt in sich zusammensanken: »Gewiß,« sagte sie endlich,
»ich durfte sie in keine andre Hand kommen lassen, obgleich das Alles
eigentlich der Familie --«

»Der Familie gehörte, die sich so wenig daraus machte, daß sie diese
Erinnerungen den Fußtritten der Domestiken überließ, wenn Deine treue
Hand sich nicht derselben angenommen! Ach Emerenzia, die Spuren eines
ewigen Gefühls vergehen wie Spreu vor dem Winde in der Erdenwelt!«

»Ein Engel sammelt sie droben!« sagte fromm die Nordermule.

»So hat er diese wunderbar klagende Nacht und Dich zu Vollstreckern des
Liebestestamentes der Tante gemacht,« erwiederte Helene, und zog einen
zweiten Schemel zum Feuer, auf dem sie Platz nahm. »Erzähle! bitte,
bitte.«

Die Alte nickte und begann; anfangs starrte sie fortgesetzt in die
Flammen, bis sie, wie ein Sänger der Saga, mehr und mehr in sich selbst
versank und der sie umgebenden Welt nicht mehr gewahrte, endlich aber
mit höchster Begeisterung erzählte.

»Ich habe vergessen, in welchem Jahre es geschah, allein unser Graf
Thugge war noch ein kleiner Knabe, als er, um zu der Schule auf
Skovkloster sich vorzubereiten, einen Hofmeister erhalten sollte, bei
welchem er bessern Unterricht und weniger harte Worte und Schläge
bekäme, denn das Kind war tödtlich verschüchtert und des eigenen
Geistes oft nicht mächtig vor Angst. Eine plötzliche Krankheit hatte
seinen Peiniger fortgerafft. Bei dieser Gelegenheit, meinte der
alte Graf, könne auch das um acht oder neun Jahr ältere Fräulein
die nöthigen Repetitionsstunden erhalten, um seine Erziehung ganz
zu vollenden. Es war um das Ende Novembers in einer unruhigen
Sturmesnacht, wo der wilde Jäger Holske Darske durch die Waldung jagt,
wo Alles ächzt und knarrt in Haus und Hof, die Thiere in den Stallungen
vor Unbehagen aufbrüllen und die ganze Natur in hundert Stimmen
aufseufzt und wehklagt, als ob sie auch einsam sich fühlen könnte, wie
der Mensch. Das junge Mädchen saß im Saal dem Vater gegenüber, der über
Landcharten und Briefen brütete und kaum sie bemerkte, der Bruder aber
war in der Küche dem alten Hannes auf den Knieen eingeschlafen -- er
durfte den Saal nicht betreten, wenn der Vater zugegen.

Ulriken war unbeschreiblich betrübt zu Muthe, sie war erst seit wenig
Monaten in des strengen, kalten Vaters Schloß; die liebende Hand der
Fürstin Sophie, die sie erzogen, fehlte ihr überall; ohne besondern
Grund hatte der alte Graf sie berufen; er wollte sie um sich haben, sie
kennen lernen und ihre Geisteskräfte prüfen, ehe er sie einführe in
die große Welt Copenhagens und des Hofs. Ihn selbst aber hielten seit
Monden Podagra und Geschäftsverhältnisse auf dieser Besitzung fest.
Die Morgenröthe der Freiheit des Bauern begann kaum erst zu dämmern,
und ihr Herannahen war dem stolzen Grafen, dessen Hochmuth keine Art
Beschränkung, auch nicht die einer selbst gewährten Gnade ertrug,
qualvoll und fast lächerlich, denn er glaubte an keine Gleichheit der
Menschenrechte, und alle für die große Nationalbefreiung Wirkenden,
kamen ihm wie Kinder vor, die mit dem Feuer spielen. Indessen bereitete
er sich vor, an den Hof zu gehen, denn er empfand den Druck einer
nahenden Explosion, welcher er scharfen Blicks dort entgegenzutreten
entschlossen. Ueber die Parzellirungen und Landesverhältnisse
studirend, saß er dann Abends dem Kinde gegenüber, das kaum eine
gefallene Rolle Seide aufzuheben, kaum zu athmen wagte, um ihn nicht zu
erzürnen.

Jetzt schlugen alle Hunde an, ein Fremder hatte den Hof überschritten;
eine seltene Erscheinung in dieser Jahrszeit; man hörte die Tritte
desselben auf dem knisternden Schnee, gleich darauf ward die Glocke an
der Thüre angezogen und der neue Hofmeister ward dem Grafen angemeldet.
Ulrike wollte, schüchtern wie sie war, sogleich den Saal verlassen,
der Graf befahl ihr zu bleiben, »damit er sie mit ihrem neuen
Informator bekannt machen könne« -- das war das erste Mal, daß er über
eine solche Absicht sich gegen sie aussprach. Du hast das Bild dessen,
der nun eintrat, gesehen; das schmale Gesicht mit den dunkelblauen
Augen und dem festgeschlossenen Munde, von lichtbraunen natürlichen
Locken umwoben, die bis tief in den Nacken sich kräuselten, und nicht
gepudert, nicht gebunden waren, die schwarze Kleidung, welche gegen den
farbigen Hofputz der damaligen Cavaliere so sehr abstach, Alles das
zusammengenommen machte den Jüngling zu einer auffallenden Erscheinung
-- man konnte ihn wahrhaft schön nennen den Bewohnern des Schlosses
gegenüber, die sämmtlich trotzig und verzagt, der unseligen Heftigkeit
des Grafen wegen einen Ausdruck verbissenen Ingrimms oder knechtischer
Unterwerfung zeigten, der, in vielen der alten runzlichen Gesichter
Caricatur geworden, etwas Abschreckendes hatte.

Ulrike ließ die Hände auf den Rahmen sinken, der ihre Tapisserie
umschloß, sah mit weitgeöffneten Augen wie geblendet einige Secunden
ihn an, als aber der Vater mit herablassendem Hochmuth ihr den neuen
Lehrer vorstellte, neigte sie den schönen Oberkörper demüthig, wie die
Madonna sich vor dem Engel der Verkündigung beugt, sie fühlte sich
nicht fest auf den Füßen und hätte um die Welt keine der üblichen, ihr
eingelernten Verneigungen machen können; erst nachdem der Graf den
Angekommenen zum Ausruhen entlassen, vermochte sie die Erlaubniß sich
zu erbitten, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.

Draußen brach sie in helle Thränen aus -- ihr war unsäglich glücklich
zu Muthe, als sei einer der Engel ihrer Träume wachend ihr begegnet.
-- Sie sahen sich von da an täglich, Johannes gab ihr anfangs mit dem
Knaben zugleich Unterricht, dann aber ihr allein, in Gegenwart der
alten Schließerin, oder der alten Kammerfrau Ulrikens, welche ihr die
Fürstin, bei welcher sie ihre Kindheit verbracht, mitgegeben in des
Vaters Haushalt. Sehr bald wußte Ulrike um alle Verhältnisse ihres
Lehrers; den Vater hatte er frühe verloren, die Mutter zog mit ihm und
den andern Geschwistern nach Roeskilde; in der alten Gräberstadt,
in welcher fast alle Könige des Oldenburger Hauses ihre Ruhestätte
gefunden und in dem noch poetischern Leïre, das Skiold, der Sohn
Odins, zum Wohnsitz sich erwählt, im Herthedal, wo überall noch das
Blutgeheimniß jenes wunderbaren Dienstes der nordischen Diana seine
Zauber ausbreitet, sog sich der Knabe groß an poetischen Eindrücken,
und die damals entkeimte Vorliebe zu älteren Sagen ward im Jüngling
zum besonnenen Studium. Später hatte er, mit Hülfe eines Gönners, der
Theologie sich gewidmet und den Doctorhut erworben, doch »könnten noch
Jahre vergehen, -- meinte er selbst, -- ehe ihm eine Pfarre zugetheilt
würde;« der arme Candidat fand das sehr begreiflich, gab es doch gewiß
noch Gelehrtere, Würdigere als er -- und allerdings regte sich damals
noch ein sehr ernstes, edles Streben in der Theologie.

Wie gläubig beseligt lauschte Ulrike seinen den Menschen als Gottes
Ebenbildern so fest vertrauenden Worten! Er ward ihr lieb, wie etwas,
das sie vorher nie weder gedacht noch gewünscht, noch empfunden; es war
der plötzlich von oben herabgesenkte Himmel, der sich auf die Erde
gelagert und sie zum Paradiese umgeschaffen!

Daß seine Neigungen gar bald auch die ihren wurden war nur natürlich,
sie begann mit ihm die Geschichte ihres Vaterlandes zu studiren; der
lange stets mit der Hierarchie sich erneuende Reformationskampf, an
welchem die Herrscher Dänemarks so ernsten Antheil genommen, der
Bürgerkrieg, der sich um Christian ~II.~ willen bis auf diese schon
damals von ihren Vorfahren bewohnten Inseln, ja sogar in seinen
Einzelheiten bis in das Schloß Aalholm gezogen, in welchem sie jetzt
lebte, alles dies wurde dem lebhaften Sinn des schönen Mädchens zum
Element einer stillen, innern Welt, in der sie arglos weiter lebte
-- ohne Vorblick in die Zukunft. Zuweilen fand sie Johannes' Bild
in irgend einem edlen geschichtlichen Charakter, in einer schönen
Selbstaufopferung, weit seltner sich selbst! Als sie einmal mit ihm die
schöne Mähr von Gioès, Tochter Brigitta, las, die einem Bischof verlobt
gewesen, ehe er selbst sich ausschließlich der Kirche weihte, wurde sie
wehmüthig, ohne zu errathen, was an deren Geschick sie rühre.

Von Allen ungeahnt wuchs ihre Seele, entfaltete sich ihr Geist
-- dennoch fand sie Niemand verändert; theils weil alles in ihr
harmonisch und sanft geblieben, theils weil unter diesen stillen, meist
niedergeschlagenen Blicken, die nur zu erwachen schienen wenn der
Geliebte sie weckte, dann aber eine Welt der Poesie und Intelligenz
ausströmten, Keiner eine Bedeutung suchte. Die Tage spannen sich in
äußerlich ziemlich farbloser Einförmigkeit ab, die Liebenden wußten es
nicht einmal. Aber Johannes wollte nach seiner einfachen Weise bald
diese bald jene Erleichterung den Armen, den Geknechteten gewähren,
welche er, der sich selbst mit einem Male so glücklich fühlte, um
sich sah -- ich habe Dir angedeutet, wie er auch hier auf Ulriken
einwirkte! Der alte Graf ahnete von dem Allen nichts, wohl hätten die
ergrimmten Vögte oft das Fröken verklagt, daß es ihnen die Bauern zu
Faullenzern mache, aber die entsetzliche Angst vor der mit dem höhern
Alter unzähmbar gewordnen Wuth des Alten, dessen Zorn oft unerwartete
Richtungen annahm, fesselte die Gemeinheit und Bestialität, daß sie
still lagen zu den Füßen der Jungfrau, wie die alten Legenden von
Raubthieren und Schlangen uns erzählen.

Als nun um die Weihnachtszeit der Graf nach Copenhagen gegangen, blieb
Ulrike, fast sich selbst überlassen, daheim allein mit ihrem Lehrer
zurück; eine ergraute und halb blinde Anverwandte, welche zum Stift
Wallöe gehörte, dessen Abatissin die Fürstin Sophie geworden, war kaum
zurechnungsfähig, und befand sich gern in Johannes' Gesellschaft,
der sie mit gütiger Aufmerksamkeit behandelte, weil sie alt und
gebrechlich. --

Nach einiger Zeit sandte Graf Owen einen Tanzmeister aus Copenhagen;
Ulrike sollte auf dem Gute tanzen lernen, um bei einem spätern Feste
am Hofe auftreten zu können. Der alte Franzose wurde leicht im Schloß
untergebracht, der neue Unterricht begann. -- Um die üblichen Tänze
einüben zu können, mußten mehrere Theilnehmer an demselben gefunden
werden; man zog ein paar Fräulein aus der Nachbarschaft hinzu, auch
deren Brüder und Johannes mußten figuriren. Die Liebenden tanzten
zusammen, die Jugend schlug rosig aus beider Herzen und Wangen; sie
waren unsäglich glücklich. Dennoch blieben Beide unbefangen, sie gaben
ihrem Glück keinen Namen.

So ging der Winter vorüber, der Graf kehrte zurück. Der Vater ließ
das Töchterchen ihm vortanzen und war zufrieden; er hielt ein kleines
Examen mit der an allen Gliedern Zitternden; auch hier schien er mit
überraschter Freude ihre wissenschaftlichen Fortschritte zu gewahren.
Abends war die letzte große Tanzstunde, er sah den Hofmeister Ulriken
gegenüber die Touren einer Anglaise tanzen -- er runzelte die Stirn und
schwieg.

       *       *       *       *       *

Die Unterrichtsstunden mit Johannes nahmen ungehindert ihren Fortgang,
-- zuweilen erschien der alte Herr unvermuthet während derselben im
Zimmer seiner Tochter; er sagte kein Wort. -- Einmal begegnete er
Ulriken in der Allee, sie war von einem Diener begleitet, der ihr einen
großen Korb mit Lebensmitteln und Arzeneien zu einer Kranken trug --
Graf Owen fragte nach keinen Details, er schwieg, allein er ward noch
finsterer und redete stets streng und in fast barschem Ton, sowohl mit
dem Candidaten als mit seiner Tochter. Die Schloßbewohner überkam ein
geheimes Grauen.

Eines Morgens ließ er Ulrike zu sich rufen. Es waren eine Menge Kisten
und Schachteln aus der Residenz angekommen, mit Kleiderstoffen,
Stickereien, feiner Wäsche und Mustern dazu; er befahl ihr für ihre
Ausstattung nach Copenhagen zu sorgen, wohin sie ihn zum Johannisfeste
auf eine Woche begleiten solle, um der königlichen Familie vorgestellt
zu werden; er hoffe, setzte er hinzu, sie als +Braut+ wieder
heimzuführen.

Ulrike stand regungslos vor ihm wie ein Marmorbild, alle Farbe war
von dem schneeweißen Gesicht gewichen, sie verstand nicht mehr, was
er diesen letzten Worten noch hinzufügte, mechanisch verneigte sie
sich, nach damaliger streng respectvoller Sitte, als er geendet, und
ging in ihr Zimmer. Erst dort besann sie sich, erst dort wurde ihr der
ungeheure Schmerz einer möglichen Trennung deutlich.

Ulrike fiel nicht in Ohnmacht, streckte sich nicht tödlich ermattet auf
ein Canapee oder in eine ~Chaise longue~, -- sie saß ganz still und
ehrbar auf ihrem gewöhnlichen Platz und strickte Filet, als Johannes
eintrat um ihr eine Unterrichtsstunde zu geben. Er kam noch heiter
herein, wie ein sonnenheller Morgen, allein ein einziger Blick auf
sie gab ihm das Gefühl eines unermeßlichen Unglücks, das ihn und sie
betroffen. Neben ihr, etwas mehr zurück, saß die alte Cousine halb im
Schlummer; er vermochte nicht es zu beachten, sein Herz kannte keine
Nebenwege zum ihren, er fragte kurz und gerade heraus -- sie antwortete
eben so und sagte in dieser Antwort Alles. -- Die Cousine war fest
eingeschlafen.

Die nächste Viertelstunde fand zwei selige Menschen, die mitten
in dem sie dicht umwachsenden Elend desselben vergaßen, über dem
unbegrenzbaren Glück ihrer gegenseitigen Liebe. Zum ersten Mal hatten
sie sich ausgesprochen über ihr Gefühl; die Alte hatte schlafend dabei
gesessen; es ist wunderschön, daß man der Jugend das Glück nie ganz
verkümmern kann!

Der folgende und noch gar mancher Tag nach ihm vergingen, und es hatte
sich nichts geändert im Lauf derselben; nur flogen der Liebenden Pulse
in heftigeren Schlägen, nur wechselten die Stunden der hoffnungslosen
Verzweiflung und der seligsten Zuversicht in Beiden -- und seltsam,
und doch nur menschlich-natürlich: die letztern überwogten, ja
vernichteten allmälig die Verzweiflung, mit welcher sie anfangs der
Zukunft gedacht; es konnte ja noch lange, lange so bleiben wie jetzt!
Ulrike war fest entschlossen, keinem Andern ihre Hand zu reichen,
den ihr vorzuschlagenden Bräutigam nicht anzunehmen, was auch daraus
entstehe. Immer wollte sie so fort leben, nie sich vermählen, Johannes
aber sollte einst eine Pfarre auf einem der benachbarten Güter oder in
Nysted, oder auf Falstern erhalten; so schwatzte sie in liebenswerther
Kindlichkeit ihm leise flüsternd den Kummer fort aus der Seele, -- wenn
er ihr zuhörte, beseligte ihn der Klang ihrer Stimme; konnte er ihren
Glauben an die günstige Gestaltung ihres Geschicks nicht unbedingt
theilen, so endete doch momentan alles Leiden in ihm, denn er dachte
nicht weiter. --

In der Nacht, wenn er allein auf seinem Zimmer war, fiel ihm die große
Sünde auf's Herz, die er an ihr begehe! -- trostlos warf er sich auf
die Knie und flehte Gott um Erbarmen an, -- etwas Bestimmtes zu
erbitten vermochte er nicht, denn er konnte nicht anders, als sie
lieben! Manchmal dachte er, in Copenhagen werde sie ihn vergessen, er
rief sich all die schönen reichen und edlen Männer in's Gedächtniß, die
er dem Namen nach kannte, denen sie aber wirklich begegnen werde; er
zwang wohl auch seine Lippen zum Gebet: daß ihr der Allmächtige dort
Vergessenheit gewähre und höchstes Glück in den Armen eines Würdigern
als er selbst -- und -- in heiße Thränen brach er aus, denn klar wie
die Wahrheit des heiligen Evangeliums stand es ihm fest und licht in
der Seele: Ulrike werde doch nie einen Andern lieben als ihn, und nie
einem Andern angehören! --

Der Mai neigte dem Ende sich zu. Als Johannes eines Tages von Ulriken
ging, der er ihre gewöhnliche Unterrichtsstunde gegeben, berief ihn
der Leibdiener des Grafen in dessen Cabinet. Owen hatte einen, wie es
schien, eben erhaltenen Brief in der Hand, welchen er ihm überreichte.
»Herr Candidat,« redete er ihn ganz freundlich an, »Sie sind wie Sie
aus beikommendem Schreiben ersehen, zum Pfarrer ordinirt; hier ist Ihre
Bestallung und ein Handschreiben des Probstes. Sie gehen nach Island;
Ihr Kirchspiel liegt in Rangewallsyssel. Ich wünsche Ihnen Glück!
Sie werden aber in vierundzwanzig Stunden Laaland verlassen müssen,
um erst in Copenhagen einige nöthige Instructionen sich zu holen,
vielleicht werden Sie auch wünschen, die Ihrigen noch in Roeskilde zu
sehen und Abschied von Ihrer Mutter zu nehmen. Das Schiff, mit welchem
Sie reisen, lichtet den zweiten Juni die Anker, geniren Sie sich ja
nicht wegen uns!« Graf Owen stand auf, verbeugte sich und verließ das
Zimmer. --

Island! vielleicht hat die Natur keinem Lande der Welt ein
abschreckenderes Aeußeres gegeben, als dieser vulkanischen Felseninsel,
deren Inneres ein Geheimniß des Schöpfers geblieben ist bis zum
heutigen Tage; in phantastisch-wilder Erscheinung hat er sie als
Räthsel dem hohen Norden hingestellt; Niemand hat es zu lösen gewagt!
-- Unermessen, unbetreten dehnen sich Islands innere Eisklüfte, heben
sich seine Hochgebirge, kein Wandrer wagt sie zu durchdringen, keine
Gewinnsucht lockt je den Jägersmann in ihre gänzlich unbewohnte
Bergesöde, nicht einmal ein Vogel durchschneidet sie im vorübereilenden
Flug! Eismassen, Rauch- und Feuersäulen drängen sich dort aus dem
geologisch reichen Grunde, treiben von Innen heraus unaufhörlich
Lava, Asche und rollende Steine herab auf die karge Vegetation des
bewohnten Strandes, der, ein schmaler Landstrich, die Felsmassen
umgürtet, welche hinter ihm sich erheben. Acht lange Monate ist auch
dies Ufergestade mit seiner spitz ausgezackten Granitkrone, welche von
zahllos eindringenden Fiörden durchschnitten wird, von Eisschollen
überdeckt, -- den kurzen Sommer hindurch umbraus't es ein immer wild
aufschäumendes Meer, das nur des Winters Strenge mit den starken
Eisesbanden zur Ruhe zwingt. Wildströme reißen sich aufgischtend vom
Hochgebirge los und stürmen jauchzend diesem Meere zu, dessen heftige
Brandung ihren tollen Schaumgruß erwiedernd ihnen entgegen sich drängt;
im Osten sprudelt der Torfa in bacchantischem Uebermuth seine glühenden
Quellen mitten aus dem Eismeer hervor, während im Gaukakal-Thale
die Geiser aus weitem, tiefen Becken ihre geisterartigen Strahlen
fast unabsehbar hoch miteinander wetteifernd in die Lüfte senden, --
vielleicht ist ihre wunderbare Schönheit eine Botschaft aus der Tiefe
in die Himmelsferne, die das Farbenspiel ihrer Regenbogen weiter
trägt! --

Ganz oben aber, hinter allen diesen beschneieten Gipfeln, im weiten
Kreise der vulkanischen Riesen, die sechs bis sieben Tausend Fuß
hoch hinausragen über die Meeresfläche, liegen ganz oben, wie ein
schauerliches Gnomenmährchen, die unermeßlichen weiß und blauen
Eisfelder in ewigem Verstummen; sie bilden den Zauberring, der, in
strengem Gegensatz zu ihrer unstörbaren Todtenstille, einen in ihrer
innersten Tiefe kochenden Feuerheerd umfaßt, in dessen Abgründen und
Kratern die Elemente unaufhörlich gegeneinander kämpfen.

Und dennoch waren es alle diese Schrecknisse nicht, welche den wie von
plötzlicher Todesbotschaft Betroffenen im Cabinet des Grafen gefesselt
auf den schwankenden Füßen an dieselbe Stelle bannten, an welcher er
die ihn vernichtende Nachricht empfangen; der eine Gedanke, den seine
Seele anstarrte, wie die verglas'ten Augen das Blatt in seiner Hand,
war nur der einer unabsehbar trennenden Weite, in welcher er von der
Geliebten leben sollte, -- abgeschieden, losgerissen von ihr, ohne
Gruß, ohne erreichbare Nachricht, ohne einen einzigen Ton ihrer Lippen,
ihres Gemüths! Eine lange Reihe von Jahren, vielleicht das ganze Dasein
lang -- immer, immer so fort, bis in's Grab! --

Was kümmerte ihn, ob Islands rauhes Clima keine Frucht am Baum,
keinen Halm auf dem Felde reifen läßt, kein grüner Laubast dem müden
Wandrer sein Dach beut, und kaum die Birke mit ihrem Schattentraum ihn
umspielt, was kümmerte ihn die Kargheit aller Existenz auf der Insel,
die künftig ihn umfangen sollte; ach ihre Moose, ihre Beeren, ihre
Zwerggewächse hätten ja zum Paradiese sich umgestaltet, wäre er nur
einmal am Ende der langen Winternacht dem Frühlingsbilde Ulrikens dort
begegnet! hätte nur +eine+ Hoffnung ihm folgen dürfen in die Verbannung!

Und doch kam dem frommen Manne, der Gott immer willig zu gehorsamen
gewohnt war, auch jetzt in die so tief zerrissene Seele keinen Moment
der Gedanke, sich diesem ihm aufgebürdeten Geschick zu widersetzen,
+dem+, was in seinem Berufe lag, gewaltsam sich zu entziehen; er bot
die todeswunde Brust zuckend, mit thränendem Blick, aber entschlossen
dem Schmerz und der Erfüllung seiner Pflicht! Wie der Missionair aus
dem Kreise seiner Lieben, wie der Märtyrer zum Tode, schritt auch
er gläubig-ergeben in Unabwendbares, für sein und Ihr Herz um Kraft
flehend, dem Ziele zu; ihm fiel nicht ein, an seinem Schicksale zu
mäkeln!« -- »Aber sie, aber Ulrike?« rief mit Thränen überströmtem
Blick Helene, »wie überlebte die Unglückselige den Schlag?«

       *       *       *       *       *

»Ich kann Dir nichts vom Scheiden der Liebenden sagen, -- denn kein
Auge hat es gesehen, keine Lippe je ein Laut übertreten, der jenen
heiligen Schmerz berührt hätte! -- Als er fort war, erschien Ulrike
wie gewöhnlich am Mittagstisch ihres Herrn Vaters; sie war sehr blaß
und fast bewegungslos; mit erloschenen Augen saß sie da, legte ihm die
Speisen vor, vermochte aber selbst nicht zu essen, -- er hielt sie für
krank und nannte das Uebel eine Erkältung.

Wie dem Jüngling, den er hinweggesandt in das Schneegrab seiner
Erdenhoffnungen, war auch dem Alten an Island bloß die möglichst weite
Entfernung von Ulriken wichtig gewesen; an eine Steigerung der Jenem
auferlegten Qual durch kleinere oder größere Entsagungen hatte er
dabei so wenig als Johannes selbst gedacht; gänzliche, unabsehbare
Trennung war das Ziel seiner Bestrebungen, als er seinen ganzen Einfluß
in Copenhagen aufbot, dem jungen Candidaten eine Predigerstelle zu
verschaffen, die ihn von Seeland in eine Pönitenzpfarre trieb.

Als Ulrikens Zustand den nächsten und mehrere ihm folgende Tage
unverändert der nämliche blieb, fiel dennoch dem Grafen kein einziges
Mal bei, daß sie, die hochgeborne Comtesse, um einen elenden kleinen
Landpfarrer sich ernstlich gräme; er glaubte die ganze Sache durch
dessen Entfernung im Keime erstickt, und betrachtete die von ihm
gemachten Bemerkungen als Beweise der thörichten Zudringlichkeit und
Anmaßung des jungen Mannes. --

Am zweiten Juni lichtete in Copenhagen das Schiff, welches den
Prediger in seine neue Heimath führte, die Anker, -- am zweiten Juni
legte sich Ulrike an einer bedeutenden hitzigen Fieberkrankheit,
von welcher sie erst nach vielen Monden genas. -- Genas? ja, sie
stand auf, sie ging im Zimmer umher, antwortete freundlich auf jede
Frage, allein sie blieb wie ein schlaftrunkenes todtmüdes Kind, meist
unbeschäftigt, mit niedergeschlagenem Blick, still auf den Boden
starrend, in ihren Zimmern sitzen, -- von einer Präsentation am Hofe,
von gesellschaftlichem Auftreten konnte gar keine Rede sein.

Die Fürstin Abatissin zu Wallöe erbat von der Königin den nie in ihrer
Stellung geforderten Urlaub, scheute die Winterreise nicht, kam mit
Lebensgefahr über den Belt und nach Laaland auf unsere Insel.

Die Kranke schauete sie mit verwundertem glasigen Blicke an -- und
erkannte sie nicht! Jetzt stieg der Schatten seiner unbedachten That
wie ein drohendes Gespenst vor dem erschreckten Vater auf, -- ihn
durchzuckte eine entsetzliche Ahnung, aber er schwieg! Niemand wußte
um den Zusammenhang des Geschehenen, Niemand verstand den Zustand des
unglückseligen Herzens, das die Sehnsucht geistzerstörend, langsam
überwuchs!«

»Um Gottes willen,« schrie Helene auf, mit gewaltiger Kraft den Arm der
begeisterten Erzählerin erfassend, »sie war, -- sie wurde --«

»+Wahnsinnig!+« erwiederte Emerenzia. »Tiefsinnig nannten die Aerzte
ihren Zustand, er ward allmälig zu einem stillen, tiefen Wahn, der
ihr bald die Wirklichkeit überdeckte! Nach einigen auf dem Schloß
verlebten Wochen nahm die Fürstin das arme himmelschöne Kind, mit dem
stets gesenkten Haupt, mit sich in das Stift. Nachdem sie abgereis't,
trafen die früher zu ihrer Ausstattung mit großer Freigebigkeit von der
Abatissin in Paris, Stockholm, Hamburg und Copenhagen bestellten Gaben
hier ein; Stoffe, Edelsteine, Putz und Spitzen; -- ihr nicht mit in
das Stift angenommenes kleines Privatvermögen hatte Ulrikens Pflegerin
großentheils zu diesen Ankäufen verwandt.

Die mütterliche Freundin errieth den stummen Schmerz ihres Lieblings;
in Wallöe versuchte sie die geistige Zerrüttung ihrer theuren
Pflegetochter, wenn auch nicht zu heilen, doch deren Fortschritt
zu hemmen und ihren Zustand zu lindern. Sie schuf Ulriken einen
künstlichen Zusammenhang mit dem Leben des Geliebten, sie brachte
ihr Bücher über das Land, das ihn umfing, andere, welche die Sprache
desselben behandelten, sie umgab sie mit Bildern und Nachrichten von
dort, erzählte ihr von den Natur-Wundern desselben, von den Landseen,
Gletschern, Nordlichtern und Leuchtkugeln; unermüdlich suchte sie nur
einen Wechsel der Gedanken hervorzulocken in ihr -- ach, nur selten
gelang es. Es war die Vergangenheit, welche das kranke Hirn, das wunde
Herz in ihren Banden hielt. Seit sie den Vater nicht mehr um sich sah,
war allerdings Ulrike ruhiger; wenn sie allein zu sein glaubte, sang
sie die Lieder, die sie von Johannes gelernt, spielte auf dem Spinett
die Tänze, die sie mit ihm getanzt -- oder bewegte sich im Rhythmus
derselben anmuthig hin und her, wie vor dem Tanzmeister -- andere Male
hielt sie allein Stunde mit sich selber -- es lag eine so seelenvolle
Milde in Allem was sie that, daß man sie nicht für wahnsinnig halten
konnte, wenn man sie länger sah, sondern ihren Zustand der stillen
Versunkenheit in einen sie stets absorbirenden Gedanken zuschreiben
mußte. -- Qualvoll waren ihr die »langen Tage;« an solchen mußten die
Fenster verhangen werden, sie weinte dann unablässig. Meine Mutter
war bei ihr, auch ich trat mit in ihren Dienst, wenn ich schon keinen
bestimmten Posten im Hause bekleidete. -- Ach, nur zu bald gestattete
ihr die Hoffnungslosigkeit ihres Uebels den längeren Aufenthalt im
Stifte nicht mehr. Nach dem plötzlichen Tode ihrer Pflegemutter brachte
man sie in das nahe gelegene Wohnhaus des Gutes Steinburg; dort sah sie
plötzlich von allen äußern Erinnerungszeichen ihrer früheren Jahre sich
abgeschnitten, sie ward stummer, scheuer denn je und sprach gar nicht
mehr.«

»Und der Großvater?« fragte Helene.

»Das mit den Jahren zunehmende Gefühl seines Elendes machte ihn nicht
weicher. Aetzender nur grub sich ihm das Gift der Vergangenheit in
die Gedanken; es ward sehr schwer mit ihm auszukommen, besonders
nachdem die Comtesse von den Aerzten als unheilbar erklärt. Er ging
zurück nach Copenhagen; man sagt, er habe am Spieltisch Zerstreuung und
Vergessenheit gesucht. Seine Tochter nannte er +nie+, man glaubte dort,
sie sei frühe gestorben. Er widersprach nicht. Graf Thugge war nun
erwachsen, hatte eine Carrière gemacht, und verlobte sich mit unserer
seligen Gräfin; Graf Owen übergab ihm das Majorats-Gut und kehrte
+nie+ dahin zurück. Ein paar Jahre später stand sein Catafalk hier im
Schloß-Saal. Niemand wagte Ulriken herzubringen, sie blieb von uns
umgeben in ihrer Abgeschiedenheit, trug immer die nämliche Kleidung,
wie sie in Aalholm in ihrer Jugendzeit sie getragen, sang immer noch
mit leiser Stimme die alten Lieder, blätterte in den Büchern und
Schreibheften, dachte immer, immer nur an Ihn! Wenn sie vor den großen
Schloßspiegeln mit ihm zu tanzen wähnte, hat mich oft gegraus't, --
daß sie älter ward, schien sie nicht zu bemerken, auch blieb sie lange
Jahre hindurch schön --«

»Ich bitte Dich um Gotteswillen höre auf, Emerenzia, mich schaudert
vor diesem endlosen Elend, das Du einer Parze gleich vor mir abwindest,
ohne zum Abschluß zu kommen,« unterbrach sie Helene. Die kleine
Nordermule schien ihr im Feuerflackerschein ganz groß geworden und
anders, ihre Züge hatten einen ungewohnten Ernst, ihr Auge brannte und
ihre Rede floß in vorher ihr nie eigenem Wohlklang und Rhythmus. -- Die
Begeisterte flößte dem Mädchen eine fast unbezwingliche Furcht ein. Es
schlug drei Uhr an der Thurmglocke und der erste Hahnschrei tönte über
die Haide. »Gehen wir zu Bett, Emerenzia,« sagte leise mit abgewandtem
Haupt Helene, »die Geister meiner Familie umdrängen mir die Brust, ich
kann nicht mehr -- -- Gott helfe uns Allen zur Ruhe!« -- Die Nordermule
hatte den Kopf wieder in die Hand gestützt, mit welcher sie die Augen
sich verhüllte; sie blieb bei ihren Erinnerungen am Feuer sitzen, bis
der graue Herbsttag sie mit fahlem Lichte umfloß und ihre müden Augen
schmerzlich berührte!


Nicht wenig überrascht war Graf Christian, als am nächsten Morgen
sein bestimmt ausgesprochener Wunsch, in wenig Tagen schon mit
der ganzen Familie nach Seeland zu übersiedeln, um dort möglichst
bald die projectirten Vermählungen zu vollziehen, von keiner Seite
Widerspruch fand. Die Bräute brannten darauf, die in den Truhen der
Tante enthaltenen Schätze würdigen Kleiderkünstlern, Modistinnen,
Nähterinnen und Juwelieren zu gehöriger Verwendung zu übergeben, und
durch sie ihren Ausstattungen einen ganz ungewöhnlichen Glanz zu
verleihen; Eva wünschte durch Entfernung von Aalholm Wiederholungen
einer Scene wie die gestrige zu meiden; und Helene? Sie hatte den
nächtlichen Graus zwar verschlafen, allein seine Nachwirkung blieb
immer noch unbesiegt in ihrer Seele zurück. Sie fühlte sich wie aus
anderm Geschlechte entsprossen mitten unter den Ihrigen, ihr schauderte
vor der heimtückischen dunklen Gewalt, welche Owen Ulriken gegenüber
angewandt; denn sie war sich's sehr wohl bewußt, daß auf die eine oder
andere Art Christian etwas Aehnliches an ihr versuchen könne, oder wenn
auch nicht direct an ihr, doch um so leichter an Thorald, den er schon
auf so unbegreifliche Weise von ihr getrennt und auf die uninteressante
Insel Falstern zu gehen gezwungen! Sein Einfluß kam ihr wahrhaft
dämonisch vor; »es läßt sich nicht absehen,« sagte sie sich selbst,
»auf welchen Abweg der Imagination er ihn drängen, welche bösen Geister
er in Thoralds einfachem, reinen Sinne zu erwecken vermag, auf welche
Weise er durch die Macht der Idee ihn zu leiten verstehen wird, um
vielleicht mit teuflischer Spitzfindigkeit meinen armen arglosen Freund
nach Frankreich zurückzudrängen und ihn von mir zu entfernen!«

Scheu wich sie Christians sie durchbohrendem Blicke aus, als sie statt
aller Antwort auf seine Anfrage: ob ihr die beschleunigte Reise genehm?
ihrer Kammerfrau befahl, sogleich zum Einpacken die nöthigen Anstalten
zu beginnen.

Sie machte ihn nicht irre! In der Leichtigkeit ihres Nachgebens hörte
er das Zusammenklingen der Waffen, mit welchen sie wahrscheinlich in
Copenhagen ihm entgegen zu treten beschlossen. Die Geschwister maßen
einander mit heimlich drohenden Blicken, aber kein Wort, kein Hauch
verrieth den Schmerz der inneren Wunden, die sie sich schlugen.

Die Liebe ist erfinderisch; Thorald und Helene fanden, allen
Bestrebungen des Grafen zum Trotz, Mittel, sich gegenseitig von der
Abreise und der Möglichkeit, einander in Copenhagen zu treffen, zu
benachrichtigen. Christian sah bloß an des Mädchens ruhigerer Fassung,
daß sie dieselbe erhalten.


Copenhagens oder, wie eigentlich der Däne sagt, Kjöbenhavns
großstädtischem Reiz ist trotz aller ihm aufgedrungenen
Sittenverderbniß der eleganten Welt, eine Art nordischer Häuslichkeit,
fast sagte ich »eine nordische Sentimentalität und Bürgerlichkeit«
eigen, welche andern Residenzen gleichen Ranges fehlt. Diesen
vorherrschenden Charakterzug, welchen ihm die Sinnesart eines sehr
großen Theils seiner Einwohner giebt, theilt es weder mit London,
Paris oder Neapel, noch mit Berlin und Wien! Sei es wirkliche,
ursprüngliche Sittenreinheit, sei es angenommene Form, ein stiller
Geist spricht noch aus allen Schilderungen, welche uns Skandinaviens
neuere Literatur bietet; alle Beschreibungen der dortigen Zustände
zeugen von einem hohen Grade eigentlichen bequemen Familienlebens, wie
von einer neben dem blasirten Sinn des hochadligen Cavaliers erhaltenen
Sitten-Einfachheit der höhern Stände.

Vielleicht sind die Dänen trotz der bei ihnen vorherrschenden
literarischen Bildung ein wenig altmodisch, allein sie wagen ein
freieres Wort, sie zeigen in der Gesellschaft mehr Herz, sogar mehr
Gemüths-Eigenthümlichkeit als wir, und während oft Modenübertreibung
und carikirte Annahme ausländischer Manier beim Einzelnen nicht
abzuleugnen, tritt dagegen auch eben so häufig bei andern eine rein
bewahrte, edle Individualität zu Tage; besonders bei den Frauen.

In den neunziger Jahren, in denen die Begebenheiten sich zutrugen,
welche diese Blätter uns bewahrt haben, waren nun diese Sitten noch bei
weitem einfacher als heut zu Tage; die Strenge religiöser Moralität
war vorherrschender, und das bürgerliche Behaben bei den vornehmen
Familien allgemein. Grell stach die mit den Emigrirten aus Frankreich
überkommene voltairisirende Bildung gegen die streng lutherische
Orthodoxie ab, welche großentheils vom Königshause ausgehend auch auf
das Hofleben einwirkte.

Der Luxus, welchen der Reichthum des Adels in der Hauptstadt
hervorrief, war ebenfalls tüchtiger und reeller als in unserer Zeit,
und die Ausstattung der beiden Bräute ein ganz bedeutendes Stück
Arbeit, bei welcher Amalie und Annette die Hülfe ihrer Freunde
ernstlich in Anspruch zu nehmen gedachten. Hierbei kam ihnen nun ein
besonderer Umstand zu statten.

Die Familie des Grafen Gejer besaß seit Jahrhunderten schon
gemeinschaftlich ein Haus, welches bald dieser bald jener Bruder bei
seiner zufälligen Anwesenheit in Copenhagen bezog; nur Graf Friedrich
machte seit seiner Vermählung eine Ausnahme; da er mit seiner Gemahlin
die Winterzeit regelmäßig in der Residenz zubrachte, hatten sie sich
in der Breitengasse angekauft. Bedeutende Familien wohnten weder in
den Hanse-Städten noch in Dänemark zur Miethe. -- Während der häufig
drei Viertel des Jahres dauernden Abwesenheit der Grafen Gejern blieb
die Wohnung derselben bis auf einen Theil des Erdgeschosses leer
stehen; diesen hatte einer der älteren Freunde Helenens, den sie,
wie schon erwähnt, vom Vater ererbt, seit mehr denn dreißig Jahren
inne und bewohnte ihn mit Frau und Kindern. Die ganze gräfliche
Familie war dem Obergerichts-Advokaten Alslev eng befreundet; alle
ihre Angelegenheiten waren demselben bekannt und gingen, wenn sie mit
dem Gericht in Beziehung standen, durch seine Hände; die gütige Frau
Obergerichts-Advokatin aber pflegte die Aufsicht und die Schlüssel
des Hauses zu übernehmen, wenn die Damen in das Stift Wallöe oder in
Christians Schloß zurückkehrten, und war das Factotum des weiblichen
Personals.

Der Obergerichts-Advokat war ein etwas untersetzter, immer noch
sehr kräftiger Siebenziger, dessen breite Stirn einen hohen Grad
Intelligenz zeigte. Die mit seiner Stellung stets Hand in Hand gehende
Menschenkenntniß hatte der Güte seines Herzens keinen Eintrag gethan,
und mit den Jahren war nur eine gewisse breite Redseligkeit in ihm
entwickelt worden, welche den Zweck zu haben schien, den Nächsten von
seinem Durchblick aller ihn umgebenden Verhältnisse zu überzeugen.
Griffen diese in das Staatsleben ein, so ward freilich eine Art
Resignation des Zuhörers nothwendig, welchen er freundlich durch ein
»Geben Sie wohl Acht!« in gleich regem Interesse zu erhalten suchte.

Es wagte auch nicht leicht Einer sich seinen stets sachkundigen und
sehr genauen Erörterungen zu entziehen, denn der wackere Herr verstand
durchaus keinen Spaß, wenn es Gemeinwohl galt! Er pflegte sogar, wenn
man nicht achtsam blieb, seine Rede durch ein plötzliches »na! sehen
Sie, Männchen, daß Sie keine wahre Theilnahme für die Sache haben!«
abzubrechen und dem jungen Bewerber um Amt und Anstellung selten die
Zerstreutheit und Fahrlässigkeit zu vergessen! Ueberhaupt war ein
unermüdlich edler Ernst in all seinem Thun vorherrschend, der sehr wohl
in den Drang der Gegenwart Dänemarks paßte und ihm einen bedeutenden
Einfluß in den Gestaltungen des öffentlichen Lebens erworben hatte.
Dasselbe warme Herz aber, das für's Allgemeine so theilnehmend sich
aussprach, schlug auch dem Wohl und Wehe des Einzelnen eben so
unveränderlich treu entgegen, und die seltne Geduld, mit welcher er des
Kleinbürgers und Bauern Klage anhörte, hatte ihm eine ungewöhnliche
Popularität in Seeland erworben.

       *       *       *       *       *

Die Aussicht, dem eben beschriebenen Ehrenmanne und seiner
trefflichen, in ihrem Fach gleich tüchtigen Gattin sich zu nähern
und auf langgewohnte Weise die Interessen, Leiden und Freuden des
Augenblicks mit ihnen zu besprechen, belebte die Brust jedes Mitgliedes
der Gejerschen Familie, als die schweren Wagen derselben durch das
Osterthor der Stadt fuhren. Christian und Helene hofften jedes am
Obergerichts-Advokaten einen Verbündeten gegen des Andern Starrsinn zu
gewinnen, die zwei Bräute aber waren im Voraus der thätigsten Hülfe der
Frau Alslev gewiß, die seit den Kinderjahren wie eine Mutter ihnen zur
Seite gestanden.

Beim Aussteigen sprang Helene dem sie am Wagenschlage bewillkommnenden
Freund in den Arm, und flüsterte ihm zu, sie bedürfe seiner Hülfe
und einer baldigen Unterredung; leider nahm Christian denselben
sogleich mit lauten einfachen Worten in Beschlag, indem er ihn um ein
Detail der Staatsschuld fragte, das den guten arglosen Mann in eine
ziemlich breite Auseinandersetzung und durch diese bis in des Grafen
Arbeitszimmer zog; -- auch Graf Friedrich war unterdessen angelangt,
also an eine Privatunterredung mit Helenen für den Augenblick nicht zu
denken!

Helene sah ihren Bruder scharf an, blieb aber heiter -- »sie muß einen
wunderlichen Rückhalt haben,« dachte er.

Als die drei Männer allein waren, (der jüngere Graf war noch nicht in
Copenhagen angelangt,) legte Christian dem alten Freunde die ganze
Sachlage vor, indem er ihm zugleich die Scene mittheilte, welche ihrer
Aller Ankunft beschleunigt hatte.

»Sie würde als des Malers Gattin unglücklich sein und sich elend
machen,« setzte Graf Friedrich hinzu, »ihre Apanage reicht nicht zur
Hälfte für die Ausgaben eines Haushalts, der junge Mann aber hat nichts
als einen sehr neu und wohlerhaltenen Pinsel.«

»Herr Graf,« sagte Alslev, nachdem er Beiden aufmerksam zugehört; »die
Frage ist, hat er Talent und Fleiß? Arbeit möchte der noch so lang zu
hoffende Friede in unseren Kirchen und Schlössern zur Genüge bringen!
Allein die Comtesse ist verwöhnt, und Er hat allerdings keinen Rang ihr
zu bieten.«

»Lieber Freund,« erwiederte etwas ungeduldig Graf Friedrich, »sie kann
doch nicht mit dem Burschen von Stadt zu Stadt auf's Handwerk ziehen?«

»Der Herr Graf haben in Hinsicht auf Rang und Verwöhnung vollkommen
Recht,« versicherte der Alte; »doch ist die zweite eigentliche Frage,
hat der Mensch eine Gesinnung, einen Charakter, ein gewisses Bleibendes
in sich? denn nur im Gegenfall dürfen wir hoffen, Comtesse Helene
anderes Sinnes zu machen!«

Beide Brüder sahen den Advokaten verwundert an. »Ich kenne Herz und
Kopf der Comtesse,« fuhr der Alte fort, »sind beide übereinstimmend
dem Jüngling günstig, ohne innern Widerspruch, so bleibt den
Herren Grafen nur die Wahl zwischen dem Veralten im Stift, oder der
mißfälligen Vermählung für sie.« -- Alslev war traurig geworden, im
Herzen dauerte ihn Helene, er theilte die Vorurtheile seiner Tage und
betrachtete, abgesehen von möglicher pecuniärer Sorge, +jede+ nicht
standesgleiche Heirath als ein Unglück. Die Ehen aller drei Brüder,
welche so heftig gegen einen ähnlichen Schritt der Schwester sich
aussprachen, fesselten ihm die Zunge; hatten doch Alle bürgerliche
Frauen, und hatten, was dem alten Rechtsgelehrten nicht unwichtig war,
keine Familienstatuten sich ihrem Entschlusse zu seiner Zeit entgegen
gestellt!

Seinen ernsten Worten zum Trotz baten ihn beide Brüder dringend
um Vermittlung und Beistand, und er versprach Helenen abzurathen;
natürlich führten alle Gründe des an die reiche deutsche Frau
vermählten Friedrich auf die Unmöglichkeit des Auskommens zurück,
während Christians edlere Sinnesart ihn auf Verschiedenheit aller
äußeren Verhältnisse der Familien aufmerksam zu machen versuchte. Der
unbestechliche Alte sah Beide mit durchdringendem Blicke an, und ein
fast unmerkliches Lächeln zog über seine Lippen. »Geben Sie recht
Acht!« sagte er endlich, »Comtesse Helene ist ihrer +Mutter+ Kind; an
Reichthum ist ihr ganz und gar +nichts+ gelegen, obschon sie dessen
bedarf, und auch ihres Großvaters Geist spukt ihr im Köpfchen; sie
versteht zu +wollen+! Wenn Er nur kein Revolutionsnarr ist,« brummte
der Alte im Herausgehen, »und die ganze Welt mit dem Schwerte pflügen
und mit Blut düngen will, anstatt dem Felde anzusehen, welcher Saat es
angemessen!«

Als der Obergerichts-Advokat in sein Schreibzimmer trat, saß Helene
schon darin; rasch sprang sie auf, lief auf ihn zu und bot ihm beide
Hände zugleich; »erst jetzt lieb Väterchen begrüße ich Sie recht aus
Herzensgrund, ich habe sehr viel zu fragen und zu sagen, aber vor allem
dies: daß ich unverändert und unveränderlich Ihre alte Helene bin!«

»Seh' es schon, lieb Fröken,« sagte lächelnd der Advokat, indem er
der »Alten« Hände an sein Herz drückte, »sehe es an der kleinen
Fingerspitze da in meiner Hand!«

»Nun denn, lieb Väterchen, quälen Sie mich nicht mit dem, was meine
Brüder Ihnen gesagt und -- folgen Sie den »bösen Buben« nicht!«

»Die Brüder haben recht, Helene!«

»Weil die Männer immer »recht haben« uns gegenüber! Als mein Bruder
Christian wie toll und blind in des Fäestebönders Tochter verliebt
war, hatte er recht, und heirathete sie frischweg; als mein zweiter
Bruder Friedrich ohne alle Liebe Geld und Gut über unsern alten Adel
erhob, billigte ganz Copenhagen die »Partie,« (im Goldkäfig sitzen ist
indessen Geschmackssache) -- als nun vor kurzem mein dritter Bruder
eine schöne und edle Frau nahm, die 25 Jahre jünger ist als er -- o
da fandet Ihr +Alle+, daß er +recht+ hatte; denn eine junge Frau ist
liebenswerther als eine alte! Nun aber Väterchen, soll ich denn nicht
beispielsweise von dem außerordentlich vielen Recht meiner Brüder
profitiren und das »Rechte« ihnen nachthun? -- Ich habe doch wahrhaftig
+den+ Fall einer nicht ebenbürtigen Vermählung in unserer Familie
nicht erfunden! Daß die Männer immer Recht haben, ist übrigens eine
sehr alte Geschichte, schon Adam hat bei Gott Vater der Eva Unrecht
gegeben, weil sie ihm den Apfel -- --«

»Helene! damit kommen wir nicht weiter! Sie können Thorald nicht
heirathen --«

»Und warum?«

»Weil er unter vier bis fünf Jahren nicht im Stande sein wird eine Frau
zu ernähren! Und bis dahin --«

Stumm kehrte Helene zu ihrem bei des Advokaten Eintritt verlassenen
Platz zurück und nahm einen großen Folioband in die Hand, den sie
vorhin durchblättert. »Sie vergessen, lieber Alslev,« sagte sie fest
und ernst, »daß ich die jüngste von meinen Schwestern und von unserem
Hause bin. Lesen Sie einmal hier --«

»Helene!«

Sie warf sich schluchzend in seine Arme. »Helfe mir Gott, Vater, ich
kann und darf nicht anders! Haben Sie denn wirklich den Muth mir zu
befehlen, gar nicht -- auch nicht vier, fünf Jahre glücklich zu sein?«

Sie herzte und küßte den guten alten Herrn, bis ihm die Perrücke ganz
schief stand; verlegen rückte er sie zurecht und rief halb ärgerlich
und halb gerührt, indem er schnell seinen bestaubten Pergamentband in
die Registratur einrangirte, »meine Bücher zu nehmen, meine Notizen!
Helene! Helene!«

Als er aber umsah, war sie längst verschwunden.


Wenn es Abend wurde und die Damen nicht ausgebeten waren, pflegten sie
ungemein gern im netten spiegelblank-reinlichen Wohnzimmer der alten
Frau Alslev ihren Thee zu nehmen.

Sieben Kinder, darunter fünf Söhne, hatte die würdige Alte aufgezogen
und erzogen, mit sorglichem Blick die ersten Schritte auf den
erwählten Lebensbahnen eines jeden von ihnen geleitet, mit kräftiger
Hand und noch kräftigerem Geist die Schwachen unterstützt, Glück und
Gelingen, Krankheit und Noth all der ihr vom Gatten ganz überlassenen
Kinder redlich getheilt. »Es schlägt in ihr Departement,« sagte der
Gerichts-Advokat, »das Haus und was darin ziemt der Weiberhand zu
regieren, +meine+ Kinder laufen draußen barfuß umher, der Staat ist
mein Haushalt und Gott sei's geklagt, er ist voller Stiefkinder, die
ich nur ungern anerkennen mag, so fremd stehen sie zum Ganzen.«

       *       *       *       *       *

Mit unsäglicher Liebe hingen Töchter und Söhne der Mutter Alslev an,
von letzteren waren mehrere außerhalb verheirathet und wiederum zog
die Matrone nun die Enkel groß; zwei Knaben waren von ihren Eltern der
Schule wegen nach Copenhagen gethan in's großväterliche Haus. Fast
jeden Abend kamen auch die in der Stadt ebenfalls längst vermählten
Töchter mit ihren Kindern, und ein großer Familienkreis ordnete sich
um den wohlbereiteten Theetisch. Ein Fest wie das der Ankunft der
gräflichen Geschwister, mit denen Alle von Jugend auf in Verbindung
standen, mußte natürlich den ersten Abend besonders anziehend machen.
Jedes Mitglied der Familie suchte seine Freude an den Tag zu legen,
und die Stunden eilten mit geflügelten Schritten der Nacht entgegen,
als ein lautes Klopfen an der Hausthüre Allen vernehmlich, noch einen
verspäteten Gast verkündete.

Erstaunt durchflog der Hausfrau klares Auge den weiten Ring, den die
Liebe um sie zog, es fehlte Niemand an der gewohnten Stelle.

Jetzt kam ein alter, mit der Herrschaft ergrauter Diener ein wenig
verlegen lächelnd auf die Hausmutter zu, und flüsterte eine, wie es
schien, ihr gar befremdliche Meldung! »Ich komme selbst, Peter, bittet
nur den Fremden, wenige Augenblicke unten zu verziehen.«

»-- Draußen steht ein sonderbarer Mann, halb wie ein Bauer, halb wie
ein Geistlicher gekleidet,« erzählte mittlerweile der junge Heinrich,
Alslevs Enkelkind, den aufhorchenden Mädchen, »hat einen langen weißen
Bart und ein ganz runzliches, liebes Gesicht; er muß lange nicht bei
uns gewesen sein, denn obschon er nach Großmama fragte, sah er mich
für meinen Vater an! seine kleinen Hände zittern vor Altersfrost und
er hat ein kleines Büchlein mit, das sollte Peter herauftragen, und
uns Alle darin lesen lassen, so würden wir ihn schon kennen und ihm
erlauben einzutreten. Ich wollte ihn gleich mit mir nehmen und ihn
heraufführen, ihn aber schien die schöne Einrichtung, welche der Herr
Graf beim Einzug der Fröken machen ließ, fast zu erschrecken, er fragte
immer wieder: ob er auch gewiß nicht irre? Den neuen Teppich auf der
Treppe getraute er sich kaum zu betreten und war höchst besorgt, etwas
zu beschmutzen oder zu verderben; es war drollig anzusehen.«

»Und doch kannte er unser Haus?« fragte Amalie. »Ja wohl!« -- In diesem
Augenblicke trat mit freudeverklärtem Angesichte die Hausmutter ein,
den wunderlichen Fremden an der Hand. »Ich bringe Euch einen alten
Freund,« rief sie fröhlich den Kindern entgegen, »Kund Jürgenssen,
der vor fünf und zwanzig Jahren viel hundertmal auf seinen Knien Euch
gehalten und Euch wunderschöne Elfenmährchen und Saga's aus unserer
Vorzeit erzählt, dem guten Pfarrherrn von Saurbar am Hualfiorden in
Island. Ich denke Ihr kennt ihn Alle noch! Damals waren Vater und ich
ein gut Theil jünger, gingen mitunter wohl zu Mummereien, Theatern und
Concert; dann saß der gute Jürgenssen bei Euch und vertrat, wie's
eigentlich wohl der Geistliche überall sollte, Vater und Mutter Euch
zugleich! Ja, ja, das thatet Ihr, und wenn wir heimkehrten zu Nacht,
lagen die Kleinen in ihren Bettchen mit gefaltenen Händchen und waren
über den Abendsegen sanft eingeschlafen, den Ihr sie sprechen gelehrt!«

»O liebes, gütiges Väterchen!« riefen nun zugleich die Söhne und
Töchter des Hauses, stürzten auf den Alten los, ergriffen und drückten
seine Hände, er aber bebte vor Freude und Rührung. »Und seid Ihr es
denn wirklich, wirklich wieder herübergekommen zu uns, aus Eurem
Schnee- und Eiseilande? Und Ihr bringt nun den Winter bei uns zu,
in Kjöbenhavn, nicht wahr? Tausend und aber tausend Mal willkommen!
Da seht,« rief ein herrlich blühendes junges Weib, Alslevs jüngstes
Töchterchen, »da sind schon meine Kinder, die auf Eure schönen
Sagageschichten warten, nun könnt Ihr denen so herrliches Spielwerk
schnitzen, wie Ihr uns es gethan, es wird sie ergötzen, wie vor fünf
und zwanzig Jahren uns!«

»Ja! ich besinne mich,« sagte einer der jüngeren Söhne, »Ihr kommt aus
Island, eines schweren Prozesses wegen; eine herbe Klage war's, die Ihr
dem Vater übergabt!« --

»Käme er nur selbst, der liebe theure Herr!« meinte der Pfarrer, den
die Freude jung und lebendig machte, »daß ich ihm danken könnte und ihn
begrüßen aus Herzensgrund.«

Die Mutter führte nun Kinder und Enkel auf, eins nach dem andern; immer
entzückter wurde der Alte, verwechselte aber doch noch oft die Enkel
mit jenen, weil sie »so gar prächtig herangewachsen!« Die älteren
Fröken waren auch hinzugetreten, der gute Mann kannte sie gleich; außer
sich war die kleine Nordermule, die er fast vergessen, nur besann er
sich noch, zum höchsten Glück! »Ich war ja damals mit dem Fröken Amalie
hier, wie konntet Ihr nicht gleich meiner Euch erinnern,« klagte sie;
»doch erzählt uns nur, woher Ihr nach so langen Jahren endlich kommt,
fast seht Ihr aus wie damals, als wir von Euch Abschied nahmen -- --«

»Es war am Abend vor dem Johannisfeste,« sagte der Pfarrer, »o ich weiß
+Alles+ noch!« er nahm sein altes Büchlein wieder aus der Brusttasche;
ein Stammbuch war es, wohl an fünfzig Jahr alt! »Da, da steht Ihr
Alle!« jubelte er auf, »Frau Alslev und Janfru Sophie, Janfru Fredrika.«

»Bitte zu sagen: Frau Amtmännin Solwig,« lachte die kleine Frau --

»Schön, schön,« erwiederte der Alte, »damals aber durfte ich mir die
Janfru nur unter diesem Namen mit fortnehmen, in meinen Erinnerungen;
sie war eben zwei Jahre alt, und ich führte ihr die Hand, ja, ja, bis
auf das kleinste Kind hat jedes hier mir sein Kreuzlein hingemalt,
wenn es noch nicht zu schreiben verstand, in das Gedenkblatt der
Familie des edelsten Menschen, den ich je gekannt!« -- »Ach, auch ich
weiß jetzt wieder Alles,« versicherte Sophie, »es war Frühling, den
Abend hattet Ihr uns von den Pilgerwallfahrten zu den Quellen und
ihren guten Geistern erzählt, wie sie in der Johannisnacht unternommen
werden müssen, und von den kleinen Engeln, welche sie bewachen;
dann schrieben wir uns ein, Ihr hattet das Büchlein noch aus Euren
Studentenjahren; das sind schon fünf und zwanzig Jahr?«

Und Kopf an Köpfchen drängte sich zum vollen Kranz um die hohe Lehne
des Sessels, zu welchem die Mutter den vor Freude an allen Gliedern
Zitternden geführt, »ja, ja!« rief er aus, »+das+ ist das Büchlein,«
und Schwarz- und Blauäugelein schaute ihm über die Schulter auf die
beschriebenen Blätter, »+das+ ist Großvaters Hand,« -- »dies Mutters
Schrift!« »Hier bin ich!« rief ein Drittes, »hier Fröken Amalie,
Annette!« »Nur ich bin nirgends,« sagte fast traurig Helene! --

»Kind,« erwiederte lachend die Nordermule, »Du warst noch nicht einmal
geboren!« »Die Gräfin Gejern wie sie leibte und lebte!« schaltete der
Pfarrherr ein, und schaute wohlgefällig das schöne Mädchen an, -- dann
fuhr er fort, »es gab mir selbigen Abends, ehe ich von dannen zog, der
hochverehrte Herr Alslev noch ein gar schönes, werthvolles Geschenk.« --

»Ja, ich entsinne mich,« sagte die Mutter, »wir brachten Euch als
Mitgabe in Euer kaltes Land einen warmen Festrock, den wir Euch baten
uns zu lieb zu tragen.« --

»Und ob ich's thue!« rief der Pfarrer, »da, da ist das gute, gar wohl
erhaltne Kleid, kennt Ihr es noch?« Und im freudigen Eifer erhob er
die Taschenklappen und die Schöße des schwarzen Rockes, zeigte sie
jubelnd und jauchzend den Kindern -- dichter und dichter umdrängten ihn
diese. --

»Ach,« sagte leise die Nordermule zu Helenen, »das gute treue und
dankbare Herz! So ein armer Pfarrer in Island hat kaum einige dreißig
Thaler Einnahme von seinem Kirchspiel, das weit ausgebreitet viele,
viele Meilen umfaßt!«

Der Pfarrer hatte das leise Wort gehört. »Schon wahr,« sagte er,
»allein, was braucht man auch des Geldes viel? Immer trägt man doch
nicht so gute Kleider wie dieses ist, und habe ich doch mein sauber
Stückchen Kirchenland! Freilich reift mir kein Korn darauf, aber ich
ziehe doch Kartoffeln, Kohl und herrliches Futter für meine zwei Kühe!
Ja, ja Janfru Nordermule, der Kund hat die schönsten Thiere weit und
breit, -- wäre mir nicht die Hausfrau gestorben, wie gar leicht wäre
mir das Leben! -- Bücher fehlen mir sehr! +die+ sind theuer, denn zu
Lairar druckt man nur Katechismen und Andachtsschriften -- und das ist
die einzige Druckerei, die wir in Island haben!«

»Aber wovon lebt Ihr denn?« fragten die Kinder. -- »Ei nun, seit dem
die Stadt Reikiawik erbaut, fehlt es nicht einmal mehr an Brot und
Fleisch; wir haben ja aber immer Vögel und Fische! Den Sandhafer, den
herrlichen Melia giebt uns Gott, wie einst den Israeliten das Manna,
ohne Säen und Pflanzen!«

Mit tiefer Bewegung lauschte Helene dem zufriedenen Manne, der den
Kindern vom Tauschhandel auf der Insel selbst und von den »Gnaden
Gottes,« wie er den Robbenfang und die Eidergans nannte, immer eifriger
und glückseliger erzählte, da schloß er plötzlich, »ach, was die
+Natur+ an Island thut, ist schön und ein gar werthvolles Geschenk des
Herrn, allein die Menschen gönnen es einander nicht und verderben sich
gegenseitig das Leben. Als ich im Jahre siebzig zuerst meine Klage vor
der geheimen Conferenz-Commission des Ministers Struensee eingereicht
hatte, glaubte ich freilich mich gesichert für immer!«

»Der Vater! der Vater!« riefen die Kinder; jedes eilte auf den
Advokaten zu, ihm zuerst die erfreuliche Kunde zu bringen; obschon er
vor all den zugleich auf ihn eindringenden Stimmen kein Wort verstand,
hatte sein scharfes Auge alsbald den isländer Pfarrer erkannt. Alslev
vergaß nicht leicht, wen er einmal gesehen. »Herzlich willkommen,
Ehrwürden!« rief er und bot ihm gastfreundlich die Hand. »Ihr habt
lange uns nicht besucht und findet in und außer dem Hause eine neue
Welt, aber immer das nämliche herzliche Willkommen!«

Die Männer saßen nun nieder und das Gespräch nahm eine ernstere Wendung
und ging bald über auf's Allgemeine. --

Trotz der anerkannten Hinneigung der Isländer zu jedem
wissenschaftlichen und literarischen Streben, liegt die Insel doch
zu sehr außer allem eigentlichen europäischen Lebensinteresse, als
daß Nachrichten entfernter Länder leicht sie erreichen sollten. Die
Nachrichten der Gegenwart, eben war in Frankreich das Directorium
an die Stelle des Convents getreten, Napoleons phänomenartiges
Auftauchen aus dem Chaos der sich wieder gebärenden Zeit, Alles dies
war dem erstaunten Hörer, wie eine zweite Weltschöpfung, unfaßlich
überwältigend. Er stand +noch+ mit trauernder Seele am Grabe der jungen
schönen Königin seines Heimathlandes, die er gesehen, verehrt, und
die während seiner Abwesenheit von Kjöbenhavn so schmachvoll in Zelle
geendet.

Und grell erhob sich neben diesem ungeheuren Wechsel der riesigen
Begebenheiten einer Gegenwart, welche selbst Gott in seinen Himmeln
und den blutenden Heiland an seinem Erdenkreuz zu bezweifeln
und anzugreifen gewagt, sein eignes sich immer gleichbleibendes
individuelles Dasein. Was er am Gerichtshofe Christian ~VII.~ durch
Struensee's Hülfe erlangt, und als Beute in seine ferne Heimath mit
sich fort genommen, kam er jetzt zum zweiten Male zu fordern nach
Kjöbenhavn; Struensee, der jungen Königin Partei, alle Minister
damaliger Tage, waren längst untergegangen im Kampf eigener und
fremder Gewalt, er fand zwar wieder einen Grafen Bernstorff am
Staatsruder, statt des damals eben seiner Stelle entsetzten trefflichen
Mannes, allein es war ein Andrer, den er daheim nicht einmal nennen
gehört! Es übernahm das Alles fast den gealterten Mann, der zuletzt,
beide Hände vor das Gesicht geschlagen, zusammenzubrechen schien unter
der ungeheuren sich ihm entgegenwälzenden Last der Eindrücke des
Augenblicks.

Leise nahte sich Helene und legte ihre weiße kleine Hand auf
seine zitternden, in den ergrauten Haaren wühlenden Finger, »die
Zeit schreitet schnell, Ehrwürden,« sagte sie, »ist es nun nicht
wunderschön, daß die Natur und des Einzelnen Herz sich dennoch in
ihr gleich zu bleiben vermögen, trotz ihres Riesengangs? Höchstens
reißt er das irdische Leben mit sich fort, wenn wir uns nur in uns
selbst recht fest auf den Füßen zu stellen vermögen. Seht, Alles um
Euch ist ganz anders geworden; wenn Ihr morgen am Tage ausgeht, und
durch die verödeten Straßen Kjöbenhavns, werdet Ihr noch weit mehr
erschrecken! Ihr werdet Christianborgs ungeheuren Schutthaufen finden
und die Brandstätte des Gammel-Holms, -- seit drei Monaten liegt ein
Viertel unsrer Vaterstadt in Asche, -- nun Ehrwürden, ist's nicht
wunderschön, daß Menschenwerk und Menschenleben so zusammenfallen
zu einer grauenhaft erhabenen Ruine, und der winzig kleine Punkt im
Universum, der feste Charakter eines Menschen durchwächst sie dennoch
mit seiner unbesiegbaren Liebeskraft? Ihr steht mit dem alten Rock,
den Ihr vor fünf und zwanzig Jahren hier im Hause empfingt, über dem
alten unverändert sich gleichschlagenden Herzen, voller Treue wieder
hier unter uns, und Eure kleine schwache Brust zeugt von der Ewigkeit,
während Alles was Euch und uns umgiebt nur von der Vergänglichkeit zu
uns redet!«

Dankbar blickte der Pfarrer sie an, keines Wortes mächtig, zog er ihre
Hände an seine Lippen. --

Bleich wie ein Todter starrte der unlängst in's Zimmer getretene
Christian auf sie, -- er fühlte den durch ihre Neigung zu Thorald
plötzlich erwachsenden mächtigen Charakter des Mädchens. Der alte
Alslev blickte zärtlich zu ihr hinüber, ihn freute das Aufkeimen und
Erblühen der von ihm gepflegten Saat. »Sie wird Festigkeit haben wie
ihre Mutter, und wie sich auch ihre Verhältnisse gestalten mögen,
+sie+ wird glücklicher sein!« -- Die kleine Nordermule aber warf sich
innerlich alles vor, was sie ihr erzählt, von der Tante Lieben und
Leiden, -- »eine Unbesonnenheit wird sie begehen!« sagte sie leise,
vorsichtig die gutmüthigen blauen Augen niederschlagend, daß ja keiner
in ihnen lese! der kleinen Bucklichen Seele war stets in siebenfache
Schleier gehüllt!

Einer wunderbaren Klage halber war der alte Kund Jürgenssen von Island
im späten, schon gefahrdrohenden Herbst nach Copenhagen gekommen. Sein
im Borgefiords-Syssel, am Huatfiorden gelegenes Kirchspiel erstreckte
sich an beiden Meerbusen nach Leirar hin, und dann tief landeinwärts
über viele einzeln liegende Pachthöfe und Häuerlingshäuser weiter.
Nun aber gab es bis zum Jahre 1782 auf ganz Island weder Städte, noch
Marktflecken, noch Dörfer; die Einwohner lebten zerstreut in den vor
Stürmen am meisten geschützten Orten und lehnten gern ihre Gehöfte, die
alle aus Lava und Treibholz erbaut, einander glichen wie ein Tropfen
Meerwasser dem andern, bald da, bald dort an einen sie deckenden,
vielleicht gar überhangenden Felsrücken, um gegen arge Wetterunbill
möglichst sicher zu sein.

Fromm und ohne Klage zogen sie Sonntags oft meilenweit zum entlegenen
Gotteshause, ihren Seelsorger predigen zu hören; er war meistens
zugleich dabei ihr Arzt, jedenfalls ihr vertrauter, väterlicher
Freund, der in aller Noth und Freude, beim Ein- und Austritt in ihr
mühevolles Sein ihnen treu zur Seite blieb und des Lebens Drangsal
ihnen tragen half, wenn ihre eigene Kraft ermattete. Denn wie sein
schwer herniederhängender Himmel, ist der Isländer trübe, schwermüthig,
ihn drückt das Leben, seine Freude besteht meist in ernsten Dingen,
er singt auf vaterländische Weisen seine Sagen, hört gern Snorro
Sturlesons Dichtungen und die Edda, und spielt das ernste Königsspiel:
Schach! --

Die später allmälig angelegten sechs Handelsstädte, welche +noch+ die
einzigen der Eisinsel, bestehen außer Reikiawik, das wohl über sechzig
Häuser zählt, auch nur aus wenigen größern Kaufmannswohnungen und
um diese herliegende Packhäuser und Magazine; alle sind einstöckig,
niedrig, roth angestrichen, der Wärme wegen oft mit grünem Rasen
belegt. Die Pachthöfe entbehren meist den Luxus eines Schornsteins,
eines Ofens oder gar gläserner Fensterscheiben, denn die wilden Orcane
gestatten ihn nicht. Unsäglich beschwerlich und dennoch durch seine
tief eingreifende Wirksamkeit heilig-schön, ist hier der Beruf des
Pfarrers! Der von ihm viele, viele Stunden weit durch die menschenöden
und dennoch stets bewohnten Districte getragene Kelch des Herrn wirkt
dort noch beseligend auf den Todeskranken; und Taufe und Trauung
werden, wenn sie Wochen hindurch bis zum Erstlings-Sonnenstrahl des
Frühlings verschoben worden, in vielen Herzen um so frommer ersehnt, so
daß dem Priester der schwere Gang gelohnt wird und sein eigener Beruf
verklärt vor seinem geistigen Auge sich erhebt.

       *       *       *       *       *

Wie zart wiederhallte dieses Gefühl in des bescheidenen, orthodoxen
Kunds Seele! und dennoch war er angeklagt, hart angeschuldet von dem
Probst seines Districts, und wie einst vor 25 Jahren jetzt abermals
vor das Consistorialgericht des Bisthums Reikiawik gestellt, weil
er »aus Trägheit« die Leichen der in seinem Sprengel Verstorbenen
unbeerdigt lasse, ja, auf Monatelang bloß in den Schnee sie einsenke,
ehe er dem müden Leibe einer den Trauerort vielleicht rastlos
umkreisenden Seele, die letzte Gott geweihte Ruhestätte auf dem
Kirchhof gönne und durch das Wort des Herrn dieselbe ihr bereite! --
O wie lange, bittre Nächte hatte der Arme verweint, bei der rauhen
Grausamkeit dieser Anklage! -- Das Bewahren der Körper im Schnee war
eine harte Nothwendigkeit, welche indessen nur die entferntesten
Mitglieder seines Kirchspiels traf, denen das Erreichen des sehr
entlegenen Gottesackers mit der Leiche fast unmöglich war. Oft war
das Leben der Träger beim Transport des Sarges in Gefahr gerathen,
sie versanken in Schnee und Eisspalten; der ihn selbst treffenden
Beschwerde hätte der fromme Mann nicht geachtet, kaum sie erwähnt,
obschon er mehrmals durch dieselbe erkrankt; allein eine größere Anzahl
seiner stündlich Bedürfender litt darunter!

Der Probst war ihm nicht gewogen, seine Rechtfertigung ward verworfen,
schwere Klage gegen ihn im Consistorio erhoben! -- Im Gefühl seines
guten Rechts war Jürgenssen vor fünf und zwanzig Jahren nach Copenhagen
gesegelt. Seiner einfachen Seele war die damalige Aufhebung aller
Ministerien und die Gewalt, mit welcher Struensee eine Menge wirklicher
Verbesserungen einführte, nur eine Vereinfachung des Geschäftsgangs
gewesen, er hatte für den Günstling des Königs geschwärmt und an
die wirkliche Thätigkeit des Letztern lange nach Ausbruch seiner
Geistesschwäche geglaubt. Mit der leicht erworbenen Rechtfertigung und
günstigen Entscheidung seines Prozesses war er damals heimgekehrt; die
gänzliche Umgestaltung der dänischen, und mithin der provinziellen
Verhältnisse hatte auch diese längst entschlafene Anklage erweckt, von
neuem war ihm aus Reikiawik der Befehl augenblicklicher und wirklicher
Bestattung der in seinem Kirchspiel Verstorbenen zugekommen. -- Allein
zu dem Schnee seiner Gebirge hatte sich nun dem armen Pfarrer der
Schnee des Alters gesellt, der sich auf seinem müden Haupte gesammelt,
und man altert schnell, bei so schwerem Beruf, in solchem Clima! Dem
Prediger blieb nur die Wahl zwischen freiwilligem Aufgeben seines
bisherigen Berufs, oder des Versuchs, eine erneute Vergünstigung von
Copenhagen aus zu erhalten, seine Leichen in das weiße Schleiertuch der
Erde zu hüllen, bis der Frühling das Herz der alten Mutter erwärme, und
sie das entschlafene Kind in ihre treuen Arme aufzunehmen im Stande.

Von seiner Kirche den Kund bannen, hieß ihn tödten! sie war seine
Liebste, seine Welt! Von Katharina, seiner verstorbenen Ehefrau,
hatte er ein holdseliges Töchterchen; Mathilde (so hieß sie nach
der unglücklichen Königin) -- war die einzige, welche außer der dem
öffentlichen Gottesdienst geweihten Stunde den geheiligten Raum mit
ihm betreten und Küsters-Dienst, in Reinigung und Ausschmückung der
Kirche, mit ihm theilen durfte. Was sie Kostbares besaßen, ward zur
Zier des Altars, der Kanzel, ja des kleinen Chors verwandt. An einem
Pfeiler hing ein Kupferstich, das Bildniß des Vaters Alslev, des
»edelsten Menschen, den er je gekannt!« Dieser Ehre hielt er nur ihn
für würdig; während seines ersten, dreimonatlichen Aufenthalts hatte
er in der Residenz all seine ihm für das ganze Leben ausreichende
Menschenkenntniß gesammelt; Alslevs klares, festes Wollen und
bestimmtes Handeln hatte ihn zur verehrenden Begeisterung fortgerissen,
sein treuer Sinn bewahrte sie in immer gleichbleibender Erinnerung.

Alle diese kleinen und doch ihrem bisherigen Erfahren fremden Züge
aus einem beschränkten, fast von jeder Bequemlichkeit entblößten,
rein-menschlichen Dasein rührten Helenen unsäglich, allein sie baueten
sich auf zur trennenden Mauer zwischen ihr und den einzig mit den
Vermählungsfeierlichkeiten und den Ausstattungen beschäftigten und
erfüllten Geschwistern.

Außer Christian waren Alle, selbst die Brüder durch ihre Frauen in
den Taumel der Hoffeste und Zerstreuungen hineingerissen, mit welchen
man Christian ~VII.~ fortwährend umgab. Die Grafen Schimmelmann und
Bernstorff waren nur theilweis im Volk geliebt, im Innern des Staats
gab es viel Unzufriedene. Die dänische Politik ging darauf aus, mit
allen auf Dänemark einwirkenden Mächten Frieden zu halten, aber trotz
der dabei zu Tage gelegten Würde und äußerlichen Größe, ließ sich eine
gewisse Unsicherheit der Ansichten wie der Verhältnisse kaum bergen.
Alle Geschäfte, welche die verschiedenen, nach Struensee's Sturz wieder
eingeführten Canzeleien dem Staatsrath vorlegten, mußten in doppelten
Sitzungen vorgetragen werden; in der Versammlung beim Erbprinzen
Friedrich wurden die Resolutionen gefaßt, alsdann in einer zweiten
dem Könige zum Schein vorgelegt, der sie halb bewußtlos unterschrieb.
Das war eine unsäglich betrübte Comödie, und ihre Rückwirkung auf das
Volk war es nicht minder! Der arme Prediger litt unbeschreiblich, sein
beschränkter Geist sah überall böse Dämonen sich drohend gegen sein
ihm so theures Vaterland erheben; so lange seine Sache bei Gericht
anhängig blieb, war Helene sein einziger Trost, und die ganz einfachen
und zugleich so tief poetischen Lebens-Anschauungen desselben, ließen
dagegen dem aufgeregten Sinn des Mädchens alles Treiben der Vornehmen
und des Adels im widerwärtigsten Lichte erscheinen, ja sie steigerten
ihren Entschluß, mit Thorald ein von diesen hemmenden Einschränkungen
freies Leben zu führen zur entsetzlichsten Pein.

Thoralds leichteres Blut ließ ihn einfacher seine Bahn weiter ziehen;
er war in Copenhagen, arbeitete in der noch neuen und unvollständigen
Academie, gefiel durch heitere wohlwollende Theilnahme, umarmte den
alten Kund, der ihn auf Helenens Bitte besuchte, machte das Portrait
des kleinen, leider kränklichen Kronprinzen, und war bei jeder
einzelnen Nachricht von Frankreich aus überzeugt: auch im Norden
müsse jede kleine Meuterei, jede Unzufriedenheit des durch Monopole
gedrückten Handelstandes nächstens große Umwälzungen herbeiführen,
welche dem Charakter und einer der Nation inwohnenden Gleichmüthigkeit
und sehr ernsten Besonnenheit widersprachen. Er selbst war kaum noch
ein Däne; der lange Aufenthalt in Italien und Frankreich hatte alle
vorspringenden National-Eigenschaften in ihm verwischt.

Graf Christian vermied Erörterungen, welche zu nichts Glücklichem
führen konnten, Alslev und er waren verstimmt, weil sie sich nicht zu
gleicher Ansicht zu vereinen vermochten; in sich selbst streng und
scharf concentrirt beobachtete der Advocat den Maler genau; er hätte
so gern etwas Bedeutendes aus ihm gemacht, ihn durch einen glücklichen
Wurf Geld und ein den Rang übertragendes Wirken verschafft -- Thorald
aber war und blieb eine hoffende, dem Leben vertrauende, sorglose
Künstlerseele; er war überzeugt, einmal ein unsäglich schönes Bild zu
malen, das ihm Ruf, Ruhm, Brot, und den Besitz der Geliebten zusichere.
Unterdessen aber malte er eine Menge gleichgültiger Portraits, wurde
Mode beim höchsten Adel und bei den Prinzessinnen, und begriff Helenens
leise Klage nicht; sie sah weiter hinaus als er!

Die Hochzeittage mit ihren prächtigen Toiletten, alle den
Gnadenbezeugungen der alten Königin, welche sich der »endlich wieder
standesmäßigen Heirathen in der Familie Gejer« erfreute, das große
Festmahl, und die lästigen, das Zartgefühl der Neuvermählten nicht
sonderlich schonenden Gratulations-Visiten am Morgen nach dem Beilager
-- Alles das war vorüber! Nach den erwiederten Besuchen bei der über
halb Copenhagen reichenden Vettern- und Cousinenschaar, wollten die
neuen Ehepaare auf ihre Güter. Am Morgen vor dem Abschiedstage fuhren
zwei schwere Caleschen in den Hof -- die Neuvermählten waren schon auf
ihren Berufswegen, und die Meldung des Besuchs erging an die »Gräfin
Gejer!« Es waren die sieben Gejer-Mogenstrupp, Hochwürden! Sie wurden
zu Eva geführt; welch ein Elend einen Bedienten vom Lande zu haben!
der redliche Nysteder kannte die Weltverhältnisse nicht! Da standen
sie, grau und Ehrfurcht erregend, in stummer Erhabenheit, wie sieben
Wartthürme des Mittelalters die anmuthige Eva umgebend, und vermochten
kaum das schwere Haupt ein klein wenig zu neigen, zum Gruß! Tödtlicher
Schreck lähmte ihre riesigen Glieder: sie, die Hochadeligsten
aller Chanoinessen, hatten der »wegen Kränklichkeit« nicht an den
Hof gehenden Fästebönders Tochter, der nie zum Gesellschaftskreis
mitzählenden Pseudo-Gräfin, die +erste Visite+ gemacht --

       *       *       *       *       *

Mit eben so viel Anmuth als Würde empfing sie die liebenswürdige,
sanfte Eva; sie errieth leicht, daß der hohe Besuch ihrer Schwägerin
Helene gälte, deren Rückkehr in das Stift Wallöe bereits festgesetzt
war, und ließ diese sogleich zu sich bitten. Wie ein Frühlingsvöglein
schwebte die kleine Comtesse herein und auf die sieben Wartthürme
zu, welche sie sogleich im Flug der zierlichsten Worte umkreis'te,
und ihnen zu dem Zufall Glück wünschte, ihre leider fast nonnenhaft
zurückgezogene Schwägerin auf diese Weise kennen gelernt zu haben!
So leichten Kampfes waren jedoch die empörten Stifts-Damen nicht
zu beschwichtigen! Es entspann sich eine jener gesellschaftlichen
Fehden, welche nur Frauen führen und kennen; mit hinreißender Anmuth
verstand es Helene, jedem Worte, das Eva sprach, volle Geltung zu
verschaffen, und deren Charakter, Stellung, Güte und Glück fortwährend
hervorzuheben, indem sie selbst sich ihr gänzlich unterordnete und
sogar den Rang der regierenden Gräfin und verheiratheten Frau in
volles Licht setzte. Die sieben Mogenstrupps rissen unermeßliche
Augen auf -- sie fühlten sich angegriffen bis in's eigentliche
Mark ihres Lebens -- und schritten zur Rache! Alle Sieben begannen
mit unendlicher Volubilität von lauter kleinen Hofgeschichten und
Familienangelegenheiten der höchsten Kreise, als von bekannten Dingen
zu sprechen, indem sie sorgsam alle darin vorkommenden Personen nur
bei Vornamen oder den Spitz-Namen nannten, die man ihnen in jenem
Cirkel gab; Eva konnte um alle diese Einzelnheiten nicht wissen, und
die siegreichen Sieben stellten sich auf solche Weise zu Helenen in
intimen Rapport, während sie die Gräfin aus dem Interesse des Gesprächs
gewaltsam herausdrängten, um sie fühlen zu machen, daß sie jenem
Cirkel der königlichen Familie und des sie eng umgebenden Adels nicht
angehöre, obschon sie Christians Titel führe.

       *       *       *       *       *

Helene gab nicht nach! Geschickt deckte sie sogleich ihre Schwägerin
mit dem Schilde des Ausländisch-Modischen, warf nebenbei mit der
persönlichen Gunst der verwitweten Königin um sich, als habe sie
dieselbe in der Tasche, und überwältigte endlich in fortgesetztem
Gespräch den Feind durch eine Menge Anekdoten vom englischen,
russischen und schwedischen Hofe, mit denen sie die der ganzen
civilisirten Außenwelt entfremdeten Mogenstrupps dermaßen betäubte,
daß ihnen nichts übrig blieb, als die herkömmlichen Stiftsgeschenke an
Elixiren, Rosenwasser und Confitüren zur Reise der »theuren Cousinen«
in ihre Hände niederzulegen und den formellen Rückzug anzutreten.

Als sie fort waren, warf sich die ermüdete Siegerin auf das Sopha,
ein Paar großer Thränen perlten in ihren Augen. Es ist sehr schwer zu
sagen, warum sie weinte, ob aus Nichtachtung oder Ueberschätzung der so
eben hart von ihr angegriffenen Vorurtheile!

Eva blieb still und gelassen, wie immer; ihr fehlte nie etwas anderes,
als ihres Christians volle Liebe, wie sie einst sie gekannt und
besessen.

Allein am nämlichen Vormittage schrieb Helene zwei Briefe; den ersten
an Thorald. Sie bot ihm an, mit ihm zu fliehen nach Frankreich
oder Italien. »All diese Einwirkungen und Rückspiegelungen
angenommener, langjähriger Vorurtheile werden aus Pygmäen zu uns
überwältigenden Riesen, wenn wir den hiesigen gewohnten Familien- und
Gesellschaftsformen ausgesetzt bleiben! An jedem andern Orte, um wie
mehr in einem anderen Lande, verlieren sie alle Geltung.

So wenig als unsere monopolisirende, auf Fabrikwesen und Gewerbefleiß
angelegte Academie Ihrem Kunststreben wirklich fördernd genügen kann,
eben so wenig würde Ihnen ein Lebenskreis genügen, in welchem wir
stets defensiv aufzutreten hätten! -- Den ganzen Morgen hindurch habe
ich für meine Schwägerin mit den scharfen Waffen der Ironie gegen die
Thorheit meiner sogenannten Standesgenossen gekämpft, gegen die armen
Mogenstrupps, die am Ende glücklicher sind als Jene, denn sie haben
sich mit dem Leben außer ihrem Stift und mit den persönlichen Wünschen
abgefunden; dennoch habe ich sie und mich mit den spielend geführten
Waffen verletzt -- verletzen +müssen+!

O Thorald, lassen Sie uns den Muth fassen, unser Vaterland auf
vielleicht zehn, zwölf Jahre zu verlassen, in Frankreich, England,
Deutschland -- wo Sie wollen, zu leben, menschlich frei zu sein! uns
bleibt keine Wahl, wenn nicht unsere edelsten Seelenkräfte einer
fortgesetzten, sie verkrüppelnden Entwürdigung ausgesetzt bleiben
sollen!«

Den Rest des Briefes nahm der Ausdruck der tiefsten, weiblichsten
Zärtlichkeit ein, und die Bitte, sie bei einer gemeinschaftlichen
Bekannten zu erwarten, bei welcher sie zuweilen sich getroffen.

Das zweite Schreiben war an den Grafen Christian; es ward abgesandt,
als Helene zu jener Freundin gefahren, bei welcher sie Thorald zu
finden hoffte. Sie schrieb:

»Du hast Wort gehalten, Christian, Du sagtest mir, als meinen
Widersacher Dich anzusehen, und hast offenbar und insgeheim als
solchen Dich mir bewährt. Kämpfe mit gleichen Waffen ehren die
muthig Streitenden, die unsern sind nicht einmal gleich, sondern
die Deinen stärker -- dennoch hast Du mir alle mögliche Ehre durch
Deine hartnäckigen, unablässigen Angriffe erzeigt. -- Vergieb den
trüben Scherz, ich gehe wahrlich nicht darauf aus, Dir wehe zu
thun; ehemals kanntest Du mich; Du bist aber in den letzten Jahren
immer unglücklicher geworden, und Thränen, sagt man, machen blind;
darum wähnst Du auch durch Gewalt mich zu besiegen und vermöchtest
doch höchstens mich zu tödten aus Scherz, nicht aber mich bis zur
Regungslosigkeit zu zerdrücken, wie jene Unglückselige, die wir nicht
nennen wollen!

Mir scheint, Du hast in unserer Familienstellung eine unbedeutende
Kleinigkeit übersehen, nämlich: daß ich das jüngste Fräulein unseres
Hauses bin, und mir bei einer keineswegs durch Adelsforderung
verklausulirten Verheirathung als solchem die zehntausend Thaler
Mitgift zufallen, welche die Schwester des Grafen Owen, unsere
Großtante, uns ausgesetzt hat. Ich wußte seit Jahren um diese Sache,
und der Instinct der Schwachen ließ mich in Alslevs Studirzimmer unser
Familienbuch, und in diesem die Notiz darüber finden, während Du bei
unserer Ankunft Dich seiner sogleich bemächtigtest, ihn in Dein Zimmer,
und mir und meinem Vertrauen zu entführen für gut fandest. -- Ich
werde auf diese Summe Anspruch machen, Du hast kein Recht, mir sie zu
verweigern, mich aber wird dies Geld vor jedem Mangel schützen, bis es
meinem theuren Thorald gelungen sein wird, uns Beiden eine nur auf
sein Talent und seine eigene Kraft begründete Existenz zu sichern.«


Trostlos kehrte Helene heim vom Besuch der arglosen Freundin, bei
welcher sie Thorald gesehen! Sie hatte Gelegenheit gefunden ihn zu
sprechen, sogar allein eine lange Unterredung mit ihm gehabt -- aber
ach! -- Thorald hatte mit dem vollen Ausdruck der zärtlichsten Liebe
in Blick und Wort dennoch auf das Allerbestimmteste sich geweigert mit
ihr zu fliehen! -- Sein dem Grafen Christian im Wäldchen auf Laaland
gegebenes Wort, »nichts zu thun, was Helenens Ruf der Welt oder dem
bösen Leumund des Kreises, welchem sie angehöre, preisgäbe,« -- war er
entschlossen zu halten.

»Laß mich als fester Mann ihm gegenüberstehen bleiben, wie ich dort
am See mich vor ihm als solcher empfand,« bat er sie, »damit er einst
Deinem Gemahl seine Achtung nicht zu versagen im Stande! Sobald mir
möglich sein wird Dir meine Hand zu bieten, wird das Vermögen, welches
Du mir zuzubringen gedenkst, mir den Trost gewähren, Dich wenigstens
nicht harter Entbehrungen durch unsere Liebe ausgesetzt zu sehen,
allein nur in unserm Vaterlande, nur öffentlich, vor Deiner Familie und
Aller Augen, darf ich als mein eigen Dich an mein Herz schließen, als
meine Frau Dich heimführen, wäre es auch gegen den Willen der Deinen!«

Was sie ihm auch einwandte, glitt an der einmal empfangenen
Gedanken- und Gefühlsrichtung seines einfachen Charakters ab; sobald
Thorald nicht durch äußere Uebermacht gesteigert aus sich selbst
herausgetrieben zu enthusiastischer Heftigkeit hingerissen handelte,
war er gerade und redlich in allem Thun; er vermochte sein Glück nicht
um den verlangten Preis zu erkaufen.

»Kein Flecken darf durch meine Liebe zu Dir auf den Schnee Deiner
Seele fallen! Nicht Deiner stolzen Familie, nicht Christians Versagen
schreckt mich, auch ohne alle Einwilligung der Dich mir Mißgönnenden
werde ich Dich einst mein nennen, aber öffentlich, nicht insgeheim. --
Sind wir aber einmal verbunden, dann Liebste, dann laß uns fortziehen,
daß sich der allerschönste Erdenhimmel, das blaue Zelt Italiens über
unser Glück hinwölbe, seine klare Sonne freudig uns in's Herz scheine,
und wir all den grauen Jammer ihrer Pergamente und Diplome vergessen.«

       *       *       *       *       *

Ach, Helene wußte nur zu genau, daß kein Priester sie trauen werde in
Dänemark, ohne Einwilligung des Bruders, welcher nach Landessitte und
Brauch Vaterstelle an ihr vertreten, fast seit ihrer Geburt.

       *       *       *       *       *

Im höchsten Grade verstimmt schritten Graf Christian und Alslev in
dessen Studirzimmer auf und nieder; das sorgsam geführte Register aller
im Archiv der Familie Gejer enthaltenen Documente lag im uns wohl
bekannten Pergamentbande auf dem Pulte des Advokaten. »Und so,« schloß
dieser seinen Bericht, »fand sie schon am ersten Tage ihrer Ankunft
Gelegenheit, eine Schrift zu sehen, deren Inhalt ich ihr absichtlich
verborgen.«

»Und schwieg darüber bis heute!« setzte der Graf hinzu, »auch dahinter
muß eine Absicht versteckt sein --«

»Nein,« erwiederte Alslev, »die Comtesse läßt sich ungern vom
Augenblick zu Gewaltschritten drängen, und concentrirt auf diese Weise
für den Nothfall all ihre Kraft. Ich glaubte behaupten zu dürfen, daß
wenn der Herr Graf Dero Abreise, und mithin Gräfin Helenens Rückkehr
in's Stift etwas weniger hastig betrieben, dieselbe ruhig hier verweilt
haben würde; hätte die Academie dem wirklich talentvollen jungen Manne
die Professur gewährt -- sie wäre sogar ruhig nach Wallöe gezogen; ihre
Pläne sind noch nicht reif!«

»Am Ende hätten wir doch nur einen Aufschub erlangt! Ich kenne Helene
besser! Hier hilft +nur+ die stärkere Gewalt. Zum Glück kann ich auf
das Bestimmteste ihr meine Einwilligung versagen; sie mag meinen Tod
abwarten und --«

Des Advokaten Züge überflog ein leiser Spott, -- »und in zwei Monaten
ist sie mündig,« fügte er der abgebrochenen Phrase an. »Ich bekenne,
daß ich nicht ganz begreife, weshalb gerade der jüngsten Comtesse
Heirath dem gräflichen Hause so ganz besonders wichtig. --«

»Haben Sie nie bedacht, daß von den Töchtern unseres Hauses, deren
eine unseren Namen dem ihres Gemahls beifügen kann, die Erhaltung
des Geschlechts der Gejer oder wenigstens der Hauptlinie der Familie
abhängt, oder abhängen wird, denn --«

»Allerdings scheint wenig Aussicht zu einer Descendenz des Grafen
Friedrich geblieben; aber Graf Joachim --«

»Ist schwächlich wie ich! Ich kann und werde diese Verbindung mit
dem jungen Roturier von einer zu ganz unbekannten Größen gehörenden
Abstammung +nie+ zugeben! Ich bin uns Allen schuldig, unter keiner
Bedingung es zu thun. -- Morgen soll mir Helene auf ihr Stift nach
Wallöe!«

»Darf ich Ihnen rathen, so überreizen Sie das heftige Mädchen nicht!
Treiben Sie sie nicht auf's Aeußerste --«

»Was kann sie in solcher Geschwindigkeit, binnen vierundzwanzig Stunden
unternehmen, Alslev? Auch Sie übertreiben!«

»Sie könnte zum Beispiel den Geliebten dahin vermögen, mit ihr nach
Frankreich oder England zu fliehen.«

»Tod und Teufel! Alslev! eine Gräfin Gejern!«

»Ist vor Allem ein Weib, und hier ein leidenschaftlich liebendes --«

»Sie haben Recht. Man muß ihr jede Möglichkeit zur Flucht abschneiden,
sie bewachen, ihr Gesellschaft leisten, wollte ich sagen --«

Und unterdessen schwamm Helene in Thränen, weil Thorald unerbittlich
blieb!

Es giebt eine Menge weiblicher Wesen, welche von der Natur zu
Vertrauten-Rollen im großen Lebens-Drama bezeichnet scheinen, sie
kommen niemals dahin, eigene reelle Verhältnisse, reinpersönliche
Erfahrungen zu haben, ihr Leben wird von Andern gelebt, sie verfließen
ganz in Anderer Individualität, in Anderer Leid und Lust. Zu diesen
Naturen gehörte die Nordermule, sie ging auf in der drei Gräfinnen
Persönlichkeit. Seitdem die zwei Aelteren vermählt und von Copenhagen
fortgezogen, hatte eine unbeschreiblich tiefe Melancholie das gute
alte Mädchen erfaßt, alle ihre Stunden waren ihr übrig geblieben!
-- Daß Helene ihrer nicht bedürfe, war ihr längst deutlich geworden,
nun fürchtete sie, daß ein rascher Schritt derselben sie sogar um den
Anblick des letzten ihr gebliebenen Zöglings bringen und dann ihr
armes Leben zu einer ganz zwecklosen Leere sich ausdehnen werde. Schon
die alljährig sich erneuende Rückkehr in's Stift war ihr qualvoll,
sie gehörte auf keine Weise zu demselben; von Alters her war ihr das
ehemalige Stübchen ihrer Mutter geblieben, welche, wie schon erwähnt,
in der verstorbenen Fürstin Abatissin Diensten gestanden. Wie ein
Stück Möbel oder sonstiges Geräth, hatte man sie dem Haushalt der
wahnsinnigen Ulrike zugestellt, bei welcher sie lange Jahre geblieben
-- später hatte Graf Thugge sie zur Pflege und Erziehung seiner drei
Töchter nach Aalholm berufen.

Starr vor sich hinblickend, überdachte die kleine Buckliche ihre lange
ereignißlose Existenz; ein Lichtpunkt derselben blieb Ulrikens erster
Anblick; Emerenzia hatte sie zum ersten Mal in einer künstlichen
Dämmerung, bei zugezogenen rothen Vorhängen gesehen und zwar jener
unbewußt; denn nur nach und nach hatte man die Leidende an die Nähe der
Fremden gewöhnen können. Wie heiß und jugendfrisch hatte sie von jenem
Moment an für die schöne Trauergestalt gefühlt und geschwärmt, die kaum
halberschaut ein Ideal aller Schönheit und weiblichen Vollkommenheit
ihr geblieben. Ach, die stets nur mit dem Bilde des ihr entrissenen
Liebsten sich beschäftigte, in dem einzigen Gedanken absorbirte Ulrike,
hatte die leidenschaftliche Hingebung des armen Mädchens nicht einmal
bemerkt. Dennoch hatte diese den schönsten Theil ihrer Jugendjahre
ihrer Pflege geopfert, und aus den Erinnerungen an jene Zeit den
Nimbus all ihrer Träume gewoben -- für noch blüthenlosere Tage, voll
noch herberer Realität. Der verschwiegenen Treue der allmälig mit dem
Hause Gejer so eng Verwachsenden, deren Gegenwart man bedurfte ohne
sie zu beachten, deren Lebenskraft man verbrauchte ohne je darüber
nachzudenken, war die ganze Qual des Mitgefühls der unseligen Ehe des
Grafen Thugge aufgebürdet worden.

Alle Phasen des überhand nehmenden riesigen Elends, das verschmähte
Liebe, Haß, Argwohn und Flatterhaftigkeit einem Ehebande zu bereiten
vermögen, hatte sie mit durchlebt; die ganze dem kleinsten Samenkorn
des Unrechts entwachsende Wucht gegenseitiger Versündigung mitgetragen,
all den Seelenverrath sich täglich erneuender Verzweiflung an allem
Guten, an Gott, Menschen und dem eigenen unbarmherzigen Selbst hatte
die arme Nordermule mit durchfühlt in endloser Gewissenspein. Es hatte
Niemand je daran gedacht es ihr anzurechnen, oder gar es ihr zu danken.

Später hatte Emerenzia dem Leben der Kinder eben so rücksichtslos
Körper und Seele geweiht. Jene schwersten Ereignisse waren
vorübergezogen, Graf und Gräfin ruhten endlich im Grabe. Nun nahmen
Glück und Leid der Uebriggebliebenen ihre von dem Dasein Emerenzia's
weit abführende Richtung. Neue Fäden knüpften sich zum Gewebe besserer
Tage -- die Nordermule blieb verlassen allein zurück; die sie mit ihrem
Herzblut genährt, zogen fort; weder Licht noch Schatten der ihr nun
entfremdeten Existenzen der Geliebten fiel mehr auf sie zurück. -- Sie
hatte die Erlaubniß nach Belieben im Schlosse oder auf dem Stifte zu
weilen. --

Große schwere Thränen rollten über die bleichen gefurchten Wangen der
Alten; es sah es ja Niemand, sie durfte schon weinen. Da öffnete sich
leise die Thüre ihres Stübchens -- es war Graf Christian, der eintrat.

»Liebe Emerenzia,« sagte er kurz aufathmend, eilig, in gepreßtem Tone,
»Sie wissen, wie ich voraussetzen muß, Alles was hier im Hause, was
in Helenens Seele sich zuträgt -- ich brauche mich nicht deutlicher
zu erklären. Es soll eine große Unbesonnenheit, ein Unrecht begangen
werden -- Sie müssen das hindern, oder vielmehr mir helfen es zu
hintertreiben. Meines seligen Vaters Zimmer grenzt an das meiner
Schwester; -- ich bitte Sie dort insgeheim diese Nacht zuzubringen --
die Fenster gehen nach dem Garten wie Sie wissen -- auch diesen Abend
ersuche ich Sie, sich dort oder bei der Comtesse aufzuhalten. Sie
verstehen mich doch genau? Helene darf nicht sich selbst überlassen
bleiben, nicht unbeachtet -- und man kann sie doch nicht bewachen
lassen.«

Der Graf trocknete sich heftig mit dem Schnupftuch die Stirn, sie war
mit Schweiß überdeckt, trotz der Kälte im Zimmer.

»O weh! also hatte mein banges Herz richtig geahnt, was uns bedroht!«
sagte die Nordermule zu sich selbst. Sie war schon aufgestanden, um dem
erhaltenen Befehl augenblicklich Folge zu leisten; »aber,« bemerkte sie
zaghaft zögernd, »wird der Comtesse mein ungewohnter Aufenthalt in den
Gemächern des seligen Herrn Grafen nicht sehr auffallend sein? oder
wird sie vielleicht auf meine Gegenwart gar keine Rücksicht nehmen?
ich wäre ja nicht einmal im Stande sie zurückzuhalten.« -- Glühendroth
wurde Christian, er biß sich in die Lippen, »im Nothfall rufen --
schreien Sie! ich -- begreifen Sie denn nicht? -- ich werde angezogen
in meinem Zimmer wachen. Muß man,« setzte er ungeduldig mit dem Fuß
stampfend hinzu, »einer Person, welche ein Viertel Säculum im Hause,
mit schlagender Derbheit auch das Zarteste breit treten, damit sie es
erfasse und ihr wie einem Neuling, wie einem unserer ausländischen
Diener +befehlen+? -- Sie werden das sich im Augenblick als passend und
nothwendig Herausstellende thun, Jungfrau Nordermule,« setzte er stolz
den Kopf zurückwerfend, mit dunkel aufblitzendem Auge sie durchbohrend
hinzu, »oder -- hätte ich mich geirrt? wüßte Die, welcher wir, mein
Vater und ich, ehemals die Ehre unseres Hauses unbedingt anvertrauen
durften, jetzt keinen Rath mehr zu finden, das Rechte zu thun? Hat
Helenens Wahnsinn auch Sie so verblendet, daß Sie wie ein kleines
Pensionsmädchen ihr beizustehen wähnen, indem Sie die bereits Taumelnde
dem Abgrunde zustoßen, an dessen Rande sie steht? -- Ist es möglich!«
rief er plötzlich, auf's Leidenschaftlichste erregt zum Himmel
aufblickend und die gefaltenen Hände schmerzhaft gegen die auffliegende
Brust gedrückt, »auch hier habe ich geirrt!«

»O nein, nein, niemals!« rief in die Knie sinkend und seinen Rock
ergreifend die Nordermule, »um Gotteswillen kein Mißtrauen! es würde
mir das Leben kosten! Alles, Alles, was Sie wünschen, soll geschehen,
wüßte ich nur genau, wie das Rechte erreichen; ach, Graf Christian, ich
bin nicht mehr stark und jung wie in jenen Tagen, der Körper altert,
bleibt auch das Herz jung!«

Lebhaft riß Christian die Bebende auf, alle Muskeln seines edlen
Gesichtes vibrirten, tief beschämt führte er sie sorgsam zu einem
Sessel; er sprach kein Wort. Sie sah zu ihm auf, wie ein sterbender
Katholik zu seinem Schutzpatron, der sie vertreten soll vor dem ewigen
Richter. Endlich, als sie nicht mehr so convulsivisch schluchzte, nahm
er, in den gewohnten etwas unsichern Ton zurückfallend, ihre Hand,
»vergeben Sie,« sagte er, »ich habe Sie durch meine Heftigkeit sehr
erschreckt! Ich war nicht darauf vorbereitet einer unserer Familie so
ergebene Person« -- das Wort Freundin brachte er nicht über die Lippen
-- »Erörterungen so schmerzhafter Art geben zu müssen.« Leise drückte
er die ergriffene Hand, und Emerenzia blieb allein. Eine wunderbare
Verklärung überzog die unschönen Züge des armen alten Mädchens; also
hatte er doch wirklich einmal gewußt, was sie mit seiner Mutter
ertragen, um seinetwillen! Seine Jugendgestalt schwebte ihrem innern
Blicke vorüber. Dann sah sie die Stelle noch einmal an, wo er vor ihr
gestanden, und die Stuhllehne, auf welcher seine Hand geruht, während
sie da saß und weinte -- und begab sich, fest entschlossen, Alles zu
Erhaltung der Ehre und Wohlfahrt der Familie zu thun, in das Zimmer des
verstorbenen Grafen Thugge.

Vor Helenen stand in der nämlichen Stunde der gute isländische
Pfarrherr, hielt begütigend, wie ein mildrichtender Vater, ihre kleine
Hand in seinen beiden großen und endete eine lange tröstende Rede mit
diesen Worten:

»Glauben Sie mir, theure Comtesse, jede willkürliche Abweichung von
den uns vorgezeichneten Lebenswegen, obschon sie in der Zulassung des
Höchsten liegt, denn sonst könnte sie ja nicht geschehen, bringt neues
Leid, statt des gehofften Erdenglücks. Der gewaltsam Handelnde erzeugt
neue Gewaltsamkeit. Ist es Ihnen möglich, so greifen Sie nicht jetzt,
nicht in einem Augenblicke in Ihr Geschick, in welchem alle Tiefen
Ihrer Seele vom Schmerz aufgewühlt sind!«

»Ach, würdiger Herr,« erwiederte Helene, »Sie sind über all diesen
täglich sich erneuenden Quälereien hinaus, Sie leben Ihr einfaches,
gottergebenes Dasein so still für sich hin, wie können Sie die Pein
all der civilisirten Nadelstiche mir nachempfinden, wie ich unter den
Meinen, wie in der Gesellschaft ich sie erdulde.«

»Und doch lehrt mich nicht nur die Religion, welche für alles
Menschenweh dem aufrichtig das Gute Wollenden die Gefühlsfäden
verleiht, das fremde Leid zu erkennen; auch die Geschichte meiner Väter
mahnt mich zum Verständniß des meiner Stütze Bedürfenden. -- Zwar
haben wir Geistlichen auf Island keine blutige Fehden mehr, wie im 16.
Jahrhundert, aber wie um die Mitte desselben Bischof Arensen mit seinen
beiden Söhnen den Tod auf dem Schaffot dem Versprechen vorzog, das man
ihm abverlangte: sich nicht an seinen Feinden zu rächen, wie er in
starrer Unbeugsamkeit, ohne ein Wort der Selbstvertheidigung lieber als
Majestäts-Verbrecher das Todesurtheil über sich aussprechen ließ, um
nur das stolze Herz nicht demüthigen zu müssen, im Zugeständniß seiner
Unbill, so denkt noch jeder einzelne Bewohner unserer Insel. Je rauher
das Clima, je schneidend schärfer der Wille, je karger die Gaben des
erkaltenden Bodens, je eigensinniger der Mensch in jedem ihn und die
Seinen betreffenden Entschluß! Wäre ich sonst wohl hier? -- Ach der
Isländer härtet seine Seele im Frost, wie das Eisen im Feuer. So kenne
ich denn gar wohl die Tiefen der übermüthigen Menschenbrust, die weder
in Haß noch in Liebe das richtige Maß zu halten im Stande. Mein Heiland
und Herr! Seit mehr denn zweihundert Jahren schon liest der isländische
Bauer die Bibel in seiner eigenen Muttersprache, und immer noch
erweicht ihm Gottes mildes Wort nicht das verstockte Herz, -- sehen
Sie, lieb Fröken, so weiß ich denn auch um die Gewalt der Leidenschaft,
hab' auch ich selber sie nie empfunden -- sie spiegelt sich auf gleiche
Art in der Nation, wie im Individuum: von Leidenschaft seid Ihr +Alle+
bewegt! --«

»So soll ich den Mann, der mir unbedingt vertraut, einer Grille
meiner Brüder wegen verlassen? -- Ihn aufgeben in einem Augenblick,
wo der Adel überall wie ein veraltetes, menschliches Institut in sich
zusammenbricht, und zurücksinkt in die eigene Unbedeutenheit -- wo er
allmälig nur zum Hofgewand sich gestaltet, das man ab- und anlegt nach
Belieben, eben da soll ich Thorald aufgeben? Ihn den Liebenden? Ihn der
mich beglückt? Habe ich denn zur Aufrechthaltung des alten adeligen
Stammes, wenn sie denn wirklich als etwas Wünschenswerthes gelten soll,
nicht Brüder und Schwestern --«

»Aufgeben? nein! aber warten! die Gestaltung dieser gährenden
Volksmassen in ihren immer schnelleren Bewegungen abwarten, die Zeit
arbeitet an einer Krisis, --«

»Abwarten! -- Jürgenssen! Sie haben wohl niemals von dem Geschick
gehört, das die Liebe den Unglückseligen unseres Hauses zu bereiten
pflegt. O es ist grauenhaft, mit welcher vornehmlächelnden Heiterkeit
wir ganz unmerklich Herzen zu brechen, keimende Hoffnungen zu knicken
verstehen! Sie haben wohl niemals von meiner verstorbenen Tante Ulrike
gehört?«

»O wohl und oft!«

»Und -- auch von meinem Vater?«

»Fast mehr als Sie, liebe Comtesse, von ihm wissen mögen!«

»Und Sie muthen dennoch mir zu, einem Ausspruch mich zu unterwerfen,
der solche Opfer seinem lächerlichen Götzen bringt, oder eine äußere
Hülfe zu hoffen?« --

»O, liebes Fröken,« sagte der schon bei den ersten Worten, welche
das Leben ihrer Vorgänger im Leide berührten, in sich und seine
Erinnerungen versunkene Kind, »welch ein edles Herz hatte Ihr Vater!
Als er auf unsere Insel kam, war ich eben erst von Norwegen herüber
gekommen, wo ich zu Drontheim auf der Schule gewesen. Ich war fast noch
ein Knabe. Aber immer wieder und wieder erzählten sich die Männer auf
der Insel von dem traurigen und liebreichen Manne, der einer Rose wegen
nach Island gereis't und --«

»Mein Vater auf Island? Sie träumen lieber Kund!« -- Der gute Pfarrer
schüttelte sanft das Haupt: »sollte man Sie, theures Fröken, um das
Erkennen der Trefflichkeit Ihres Herrn Vaters gebracht haben? Das ist
ja kaum möglich! es ist ja so herrlich dieses Bild seines dortigen
Aufenthaltes, es ist ja so recht wie ein von der Gnade des Herrn uns
hingestelltes leuchtendes Sternbild, das den Erdenweg uns erleichtert,
indem es an den Himmel uns erinnert!«

Helene sah ihn mit bittenden Blicken an.

Der gute Alte setzte sich, wie immer etwas ängstlich ungeschickt »in
den prächtigen Zimmern« mit dem Rücken gegen die Thür, welche Helenens
Stube mit der des verstorbenen Grafen verband.

»Es war im Frühling des Jahrs 1763« -- ein leiser Seufzer drang aus
dem Nebenzimmer an Helenens Ohr -- ein Schauer überflog ihre Glieder,
sie wickelte sich fester in ihrem Shawl, »als ein ältlicher Herr,«
fuhr der Pfarrer fort, »der sich insbesondere mit Naturwissenschaften
befaßte, zu uns herüber kam -- hier im Lande mag es wohl schon Sommer
gewesen sein, denn er war kurze Zeit vor dem Johannisfeste; -- über
die Eilande Engey und Vidöe, wo sonst das große Mönchskloster lag
-- das jetzt ein königlicher Hof geworden, des Eiderdaunenverkaufs
wegen -- war der fremde Herr nach Reikiawik gekommen, das damals nur
ein elendes Dorf von wenig Häusern war. Nach dem Kloster auf Vidöe
war er gegangen, um eine Blume zu suchen, eine Rankenrose, sagte
man, welche in anderen Ländern eine große Seltenheit sein soll, bei
uns aber dem Hochgebirge wild entsprießt, wie den Gletschern in der
Schweiz die Alpenrose. Ehemals hatte die Rose im Mönchskloster fast
das ganze dem Brüderhause anhangende Kirchlein umwoben, nun seitdem
ihre Pfleger vertrieben und ausgestorben, war sie verkommen, wie das
ganze Gärtlein; keine Spur war dort mehr von ihr zu finden. An der so
eifrig gesuchten Rose aber hing des Wandrers ganzes Herz, ihretwegen,
sagte er, habe er die Heimath verlassen, er bedürfe sie, um sie in ein
großes Buch zu legen, und die Beschreibung derselben einem botanischen
Werke einzuverleiben, an welchem er arbeitete. Es müßten, meinten
die isländer Häuerlinge, dem guten blassen Herrn, der immer so ernst
und trübe vor sich hinsähe, daheim viel traurige Prüfungen auferlegt
worden sein, die ihn so recht gerade zu in das Herz getroffen, daß er
an so kleinen Dingen Trost zu suchen in die Fremde ziehe! Er wollte von
uns aus nach Rangavallesyssel, wo er im Hochlande die Rose zu finden
sicher war« -- der Seufzer in der Nebenstube wiederholte sich, ein
beklommenes, schweres Athmen ward in der Stille, welche nur Kunds milde
Stimme belebte, deutlich hörbar. Rasch sprang Helene auf und öffnete
die Thüre hinter dem durchaus arglosen Kund: die Nordermule saß in des
Grafen Zimmer an der Wand in der nächsten Nähe desselben, jedes seiner
Worte mußte dort ihr vernehmlich gewesen sein.

Einen Augenblick maß des Mädchens glühender Blick Beide -- »ich bin
wohl hier in meinen Zimmern bewacht?« fragte sie sehr ernst, dann
setzte sie scherzend hinzu: »Du kannst ruhig zu Bette gehen Emerenzia,
wenn Du es nicht vorziehst unseres lieben Pfarrers Erzählung mit
anzuhören, ich entfliehe Euch nicht! denn -- Thorald hat nicht
+gewollt+! das kannst Du denen sagen, welche Dich hierher postirt,«
setzte sie mit leicht bebender Lippe hinzu, indem sie fortgesetzt
schärfer und richtender der armen Nordermule in das erbleichende
Antlitz schaute; »aber nun, lieb Väterchen, fahrt fort in Eurer
seltsamen Geschichte der Wunderrose, die nur auf Schnee und Eis
erblüht!«

»Ach,« sagte die Nordermule, »Alles, was der hochwürdige Herr erzählt
hat, so fabel- oder mährchenhaft es klingt, ist buchstäblich wahr! Ja,
Graf Thugge's Herz war zum Brechen voll und schwer, als er fortzog in
die nordischen Lande. Lange Jahre schon hatte er in der Botanik und
im Besitz irgend einer seltnen Pflanze, von welcher in ganz Dänemark
kein zweites Exemplar sich fand, die einzige Erheiterung seiner trüben
Tage gesucht. Die Frau Gräfin brachte immer längere Zeit, ja drei
Viertel des Jahrs bei ihren Freunden in Copenhagen zu, der arme Herr
blieb ganz allein mit uns auf dem Schlosse; Graf Christian war in
Bauerntracht entflohen und lebte in Jütland, die beiden anderen Junker
in entfernten Schulen; ich war abwechselnd hier bei den Kindern, oder
bei der Comtesse Ulrike. Wenn er nun die übergroße Einsamkeit seines
Lebens, (denn allen Umgang mit den Gutsnachbarn mied er), nicht länger
zu tragen vermochte, machte der Graf Reisen, nach Versailles, nach
England, und öfterer noch nach Holland, um seltne Gewächse zu sehen
und für sein Herbarium zu kaufen. In der Pflanzenwelt, sagte er, ist
Stille und Frieden, sie verblühen und verwelken sanft! So schritt er
leisen Schrittes zwischen den Wiesen-Blumen und unter den Riesenbäumen
des Parks hin, er liebte sie und betrachtete sie wie Verwandte; keinen
Stamm durfte man fällen, keinen Zweig knicken, keine Blüthe stören
durch Berührung! Mit den Sträuchern und Bäumen sprach er auch immer,
weit seltner mit uns! Im Winter trug er sich die Scherben voll Blüthen
in's Zimmer, war auch viel im Gewächshaus und spielte oft halbe Nächte
hindurch auf der Geige; dann mochten ihn wohl frohe Erinnerungen
umschweben, man sah ihn zuweilen mit der Violine in der Hand vor den
großen Saalspiegeln sich rhythmisch bewegen, fast wie auf Schloß
Steinburg die Comtesse, aber nur mit fest geschlossenen Augen. --

Weil das Alles Jahre lang immer sich erneuete, waren wir an sein
stilles Walten gewöhnt und suchten in solchen Augenblicken nur die
kleinen Kinder ihm fern zu halten, daß keines ihn störe. -- Immer
größer aber wurden seine Reisen, und führten ihn immer weiter hinweg.
Nun war es um die Zeit, daß wir zuerst an einen Versuch dachten, die
Comtesse hierher zu bringen, um dem Arzt näher zu sein, als der Graf
gerade einen Theil seiner Fels-Flora ordnete, deren Herbarium in
Steinburg lag. Da fehlte denn in der Reihe der wildwachsenden Rosen
eine hochnordische Alpenpflanze, welche alle Kälte überdauert und auf
das Gletschermeer ihre Blüthen wirft; Tag und Nacht dachte unser Graf
nur an sie, und beschloß endlich mit einem der Frühlingsschiffe nach
Island zu gehen, um sie zu holen.

Ich weiß nicht wie es zuging, daß wir gerade über diese Reise so
ungewöhnlich viel redeten, die weite Entfernung, das rauhe Clima
machten uns besorgt -- es hat wohl so kommen sollen, nach des
Allmächtigen Willen! -- Kurz, wir vergaßen uns so weit, sogar in der
stets tief in ihren eigenen Gedanken versunkenen Ulrike Gegenwart von
des Grafen Absicht zu sprechen -- plötzlich horcht sie auf! ihr Auge
wird blau und strahlend, die Sehkraft desselben concentrirt sich in
der Pupille, jeder Bewegung mächtig, wendet sich ihr Antlitz uns zu.
»Nach +Island+?« fragt sie, »wer will nach Island?« -- Wir erzählen
ihr, glauben aber, daß sie nicht auf unsere Rede achten wird --
aufmerksam, ohne einen Laut zu verlieren, lauscht sie unserer Antwort,
dann richtet sie plötzlich sich auf und steht vor uns. »Meinen Bruder!
ich will meinen Bruder sprechen,« sagt sie, fest und vollkommen ihrer
selbst bewußt. Welch ein Anblick! Diese tief verhüllte Herzensjugend,
die so plötzlich ihre Decke durchbrach, und vergeistigend die längst
verschrumpften Züge der Greisin durchleuchtete! Ihre gekrümmte, vom
Alter schon klein gewordene Gestalt streckte sich, uns Alle ergriff
eine unsägliche Ehrfurcht, denn es war, als ob Gott zu uns spräche aus
dieser mit einem Mal sich erfrischenden Vergänglichkeit -- sie wurde
beinahe schön wie in ihrer Jugend, durch das Erwachen eines himmlischen
Ausdruckes ihres Gesichts -- »Ich will meinen Bruder sprechen, meinen
Bruder!« wiederholte sie immer von neuem.

Ein Reitknecht warf sich auf's Pferd und eilte zum Herrn Grafen, dem
er unterwegs schon begegnete, (des Herbariums halber hatte dieser nach
Steinburg gewollt), und Hans gab ihm die Nachricht, daß die Comtesse
ganz zusammenhängend gesprochen, und dringend nach ihm verlangt habe.

»Das ist der nahende Tod!« rief der Erschrockene, »sie stirbt!« Rasch
sprang er aus dem Wagen, warf sich auf des Reitknechts Pferd, und
sprengte in rasendem Galopp zu uns herüber.

Allein es war nicht die Hand des Todes, nur die der Liebe, welche das
Herz der Kranken berührt! -- Sie erkannte ihn sogleich; »Bruder,« sagte
sie, »die Frauen sagen mir, daß Du nach Island reisen willst« -- »ja,«
erwiederte der Staunende, sie wie ein Wunder anstarrend -- »ja Ulrike,
ich habe dort ein Geschäft, und will morgen schon hin.«

»In der Sundlendinga Fiordung,« fuhr sie mit immer gleicher
Besonnenheit fort, »mußt Du nach dem Rangavallesyssel fragen, zwischen
den Apa- und Huitaae-Seen geht der Weg -- da liegt Skalholt, und etwas
höher hinauf das Pfarrhaus; drinnen wohnt ein sehr alter Mann, der
Prediger einer weit an den Bergen hin zerstreuten Gemeine, sie zieht
sich bis zu dem Markarfiorden hin, da mußt Du nach Johannes Thorson
fragen, und in seine Wohnung gehen. Frage nur recht genau, sie werden
Dich gern berichten; da findest Du einen alten Mann, alt und grau wie
ich, mit hellen blauen Augen, ach, du wirst ihn gleich erkennen, wenn
du ihn von Ulrike Gejer gegrüßt! Sage ihm, sie habe nie seiner Liebe
vergessen, und nie einem Andern die Hand gereicht, nie sei sie wieder
fröhlich geworden, nie habe sie wieder gelacht; Tag und Nacht, Wochen,
Monate, Jahre um Jahre, das ganze lange Leben hindurch habe sie nur
seiner gedacht -- immer -- nie weiter gedacht -- immer nur sein, sein
bis zum Tode!«

Als sie diese Worte gesagt, vermochte sie nichts mehr hinzuzufügen,
ihre Kraft war gebrochen; sie sank zusammen und wir trugen sie hinaus
auf ihr Lager. Sie blieb still wie schlafend liegen, noch viele
folgende Tage hindurch; dann stand sie auf, fiel aber bald wieder in
ihre alte träumerische Geistesabwesenheit zurück, und sprach nicht
mehr. -- Der Graf reis'te am nächsten Morgen ab nach Island.«

Mit sanfter Aufmerksamkeit hatte Kund der Nordermule unerwarteten
Eingriff in seine Erzählung hingenommen, mit wachsender Theilnahme, und
immer gespannter war er ihren Worten gefolgt.

»Ja! so war es!« sagte er endlich, »gerade so erfuhren wir nach und
nach aus des Grafen Munde alle Einzelnheiten, die wir gar nicht
ahneten. Kaum hatte er unter unserer Leitung dem Rangavallesyssel sich
genähert, so fiel ihm auf, wie alle Pfade und Stege auf dem Gebirge
rein gehalten, und mit Wahrzeichen versehen, daß der Bergsteigende
die Richtung nicht verliere und nicht versinke in um das Frühjahr
von der Felswand sich lösenden weichen Schnee, oder begraben werde
in den leicht überdeckten Eisspalten. Die Bewohner des Syssels wären
reinlicher und besser gekleidet, meinte er, und ihn freute, wie
die Kinder, denen wir begegneten, alle gern Bericht gaben von der
Bergesrose, und sich erboten, sie zu suchen, falls sie schon erblüht,
sonst aber den Strauch mit den Wurzeln dem fremden Herrn zu bringen.

Unter uns dachte Keiner an diesen großen Unterschied, welchen die
Gemeine der seltnen Sanftmuth und Geisteskraft ihres Predigers zu
danken hatte, welcher seit fast einem Menschenalter, ohne Weib und
eignes Kind, nur seinem Kirchspiel und dem Wohl seiner Pfarrkinder
lebte. Nun es der dänische Herr bemerkte, fiel es plötzlich uns Allen
auf.

       *       *       *       *       *

Des guten Johannes Wohnung war ganz aus grau und rother Lava
erbaut; um dieselbe her lagen, da sie sehr klein war, noch mehrere
ebenfalls einstöckige Wirthschaftsgebäude zur Stallung des Viehs, zu
Schlafkammern des Gesindes und zu Aufbewahrung der Wintervorräthe
bestimmt; alle waren, wie das Sitte bei uns, roth angestrichen und mit
grünendem Rasen belegt. Dem Grafen schauderte vor der anscheinenden
Aermlichkeit und Oede dieses Aufenthalts, doch war alles, was er sah,
auffallend gut gehalten und glänzend rein: kein Fensterladen gebrochen,
kein Mist oder Unrath in Winkeln aufgehäuft, kein vernachlässigtes,
umherliegendes Ackergeräth zu sehen, Alles war sauber und geordnet.

Als wir nun einsprachen, herrschte drinnen in der kleinen Stube
die nämliche stille Reinlichkeit; es war, als sei es immer Sonntag
drinnen: das Zimmerchen war weiß getüncht, auf saubern Regalen standen
lange Reihen dänischer Bücher, unter Glas und Rahmen hingen an der
Wand sorgfältig getrocknete Blumensträuße aus Dänemark, wie hier die
Wiese sie beut. Neben dem wohleingerichteten Schreibtisch, dem Feuer
zunächst, stand ein Körbchen, drinnen lag ein krankes Lamm, das der
Alte pflegte. Der Pfarrherr war nicht im Augenblicke daheim, die Magd
brachte uns einen Morgenimbiß, trockne Fische, gekochte Eier, Käse
und Blanda -- und die Burschen, die aus Reikiawik uns hergeleitet,
erzählten, wie der Pfarrer sie alle gelehrt, die Kartoffeln besser zu
bauen, wie er eigenhändig ihre Gärtchen angelegt habe, ihre Arbeiter
geleitet, ihre Häuser gerichtet unter dem Felsendach; immer war es der
Pfarrer, von welchem alles Gute kam, was sie thaten oder hatten, -- mit
thränendem Blick gedachten die alte Magd und der Knecht seines hohen
Alters, und der wenigen Ruhe, die er sich gönne! Was sollte wohl aus
ihnen werden, wenn sie ihn nun verlören? Und er war beinahe an die
Achtzig! Auch dem Grafen wurden die Augen feucht; da hörte man Schritte
und Jubelgrüße der Kinder draußen; es war der gute Prediger Johannes,
der heimkam aus dem Gebirg, wo er Kranke besucht.

Ein durch die Jahre, wie Janfru Emerenzia von dem Fröken Ulrike es
bemerkte, tiefgekrümmter und durch die Grabesnähe schmächtig gewordener
Greis erschien an der Schwelle, mit einem Haupt voll schneeweißer
Locken, die zu beiden Seiten des ganz schmalen Gesichtchens auf die
Schultern herabfielen; sein Auge war noch hell und scharf, und der
Schnitt der Züge, wenn man sie nur erst recht angesehen, und über
alle Narben und Zeichen, welche Wetter-Unbill, Alter und Gram ihnen
aufgeprägt, hinaus war, immer noch auffallend edel und schön. Wie eine
Glocke tief und fromm klang seine milde Stimme; es war, als läge schon
im Ton derselben eine Beschwichtigung für den Leidenden, ihm seine
Noth Klagenden. Ueber dem geistlichen Gewande trug er einen schwarzen
Mantel, der um den Leib mit einem Strick von Ziegenhaar gegürtet war,
daß der Orcan ihn nicht an demselben zu erfassen und vom Felsrand
hinab in die Tiefe zu schleudern vermöge; auf dem Kopf hatte er eine
Pelzkappe, die er beim Eintritt nebst seinem Alpenstock der alten Magd
übergab.

Freundlich und würdig begrüßte er den Fremden, als er ihn genauer
in's Auge faßte, überflog ein leichtes Zittern die ganze Erscheinung;
er fuhr mit der bebenden Hand über die Stirn -- als müßte er einen
Gedanken verscheuchen, doch setzte er sich schnell gefaßt zu uns
und entschuldigte, ihn herzlich bewillkommnend, bei seinem Gast
sein spätes Erscheinen. Graf Thugge erzählte dagegen ihm nun von
seinem botanischen Reisezweck und seiner Absicht, die Geiser und das
Hochgebirg aufzusuchen, und der Alte gab mit umsichtiger Ortskenntniß
ihm Bescheid. Wir anderen ihn Geleitenden hatten uns in einen
entfernten Winkel des Gemachs zurückgezogen, die Unterredung der beiden
Männer nicht zu stören; von dem, was sie betreffen werde, hatten wir
keine Ahnung; der Graf aber schien unsrer Gegenwart ganz zu vergessen.
Nachdem er dem Pfarrer für die ihm gegebene Auskunft gedankt, sagte
er ihm, daß er noch einen Auftrag, einen Gruß ihm zu überbringen
versprochen, und nannte des Frökens Namen. Als der Schall dieses Wortes
sein Ohr traf, schrak der Pfarrer zusammen, als habe ein elektrischer
Schlag ihn berührt -- dann aber vergeistigte sich die ganze zitternde
Greisesgestalt, einen Augenblick ward sie strahlend schön, durch
einen fast überirdischen Ausdruck; Johannes stand mit himmelaufwärts
gerichtetem Antlitz wie ein Prophet vor uns, der zu seinem Gotte
spricht, aller Erdengram war von ihm abgefallen; es war der heiße Dank
der Seele, der im preisenden Gebet zum Ewigen sich erhob für den ihm
endlich gewordenen, ein Leben lang ersehnten Augenblick.

Graf Thugge vollendete seinen Bericht; ach, es blieb unmöglich, dem
Alten die Trauerkunde von Ulrikens Geisteszustande zu bergen! Demüthig
mit vor den zitternden Lippen gefaltenen Händen nahm er schweigend
sie hin; es lag etwas Unantastbares in der höchsten Freude, die ihm
geworden, nichts vermochte sie ganz zu zerstören; in frommer Ergebung
hörte er dem Grafen zu. -- »Sie sind Thugge! mein einstiger Schüler,«
sagte er endlich, »der hoffnungsvolle und doch so traurige Knabe, den
ich nur kurze Zeit unterrichtete und dann verlor! -- wie dachten wir
Beide so oft auch Ihrer! Auch diese Freude, Sie wiederzusehen, hat
mir der Herr geschenkt, o was sind alle Leiden, die uns Menschenhand
auferlegt, gegen seine allerbarmende Gnade! --«

Er stand auf und näherte sich den mit Papier verklebten Fenstern, um
in hellerem Licht den Grafen besser zu sehen; es war als tränke er
Ausdruck und Form seiner Züge, als zöge er sie mit aller Seelenkraft
in sein Gemüth, um nur ja nie sie zu vergessen! -- Endlich richtete
er gefaßter den klaren Blick auf ihn: »Sagen Sie ihr,« sprach er
mit fester, sonorer Stimme, »daß auch ich keine Andre geliebt -- ja
nicht einmal ein andres Weib bemerkt auf der ganzen Welt! Daß auch
ich täglich immer und immer ihrer gedacht: daß Schmerz und Seligkeit
meiner Liebe zu ihr niemals geendet! meine Pfarre hat mich gerettet!«
-- Unfähig weiter zu reden, drückte er dem Grafen die Hand, wandte sich
ab und trat in eine kleine Kammer, in welcher er schlief; die Thüre
zog er leise hinter sich zu. --

Uns aber winkte der Graf und wir gingen ernst, wortlos, wie aus der
Kirche, hinaus, schwangen uns auf unsere vor der Thüre angebundenen
Pferde und ritten schweigend dem Hecla zu. Draußen schien es
Frühling geworden, eine warme belebende Sonne vergoldete den fernen
Gebirgsschnee, und ließ die Gletscherspalten im reinsten Saphirblau
erscheinen, die Schneeammer sang, und die Kinder liefen uns mit
Alpenblüthen entgegen, die sie während unseres Aufenthaltes in der
Pfarre gesucht.

Der Graf kehrte nicht nach Rangavallesyssel zurück; allein er
weilte noch mehrere Tage in der Sundlendinga Fiordung, und sprach
den Stiftsamtmann zu Reikiawik, bei welchem er eine große Geldsumme
niederlegte für die Gemeine von Skalholt, um jedem Wunsch des würdigen
Pfarrers für dieselbe, welcher bisher durch Unzulänglichkeit der Mittel
unerfüllt geblieben, zu willfahren.

Johannes errichtete im nächsten Jahr sein kleines Hospital und verband
mit demselben, wie er Jahre lang gewünscht, eine Apotheke. -- Wenn Ihr
einmal nach Island kommt, lieb Fröken, will ich Euch das Granit- und
Krystall-Denkmal zeigen, das die Gemeine dem guten dänischen Grafen
erbauet; -- die Leute wissen seinen Namen nicht, auch der Stiftsamtmann
weiß ihn nicht, allein wenn der Johannistag kommt und die Schneeammer
singt, eilen alle Einwohner von Skalholt, dasselbe zu bekränzen, und
finden es oft schon von tausend blühenden Rankenrosen dicht umwoben.«


Am späten Abende versuchte Alslev noch einmal in einer langen
Unterredung seiner jungen Freundin tief erregtes Gemüth zu
beschwichtigen. Er fand sie sehr schmerzlich bewegt: -- das Bild eines
zu lebenslanger Einsamkeit verdammten Herzens stand unaufhörlich ihrem
inneren Blicke gegenüber; ein unsägliches Grauen vor dem Scheiden aus
Thoralds unmittelbarer Nähe, und vor der durch eigenes Leid nie zu
erweichenden Hartnäckigkeit des Stammes, dem sie angehörte, hatte sich
ihrer bemächtigt; ach, nur zu deutlich empfand sie im eigenen Busen
dessen unbeugsamen Eigensinn!

Alslev bewies ihr, daß jeder Versuch vergeblich sein würde, die von
ihrer Großtante testamentarisch dem jüngsten Fräulein des älteren
Familienzweiges hinterlassene Dot, anders, als im Augenblick ihrer
öffentlichen Verlobung in Anspruch zu nehmen, und daß diese +nie+
zuzugeben Graf Christian jetzt fest entschlossen. Auf dem Rechtswege
einer gerichtlichen Klage aber könne nur dann etwas erreicht werden,
wenn Thorald eine Frau zu ernähren im Stande, der Unannehmlichkeit des
öffentlichen Verfahrens und des Verstoßes gegen altes Herkommen und
gewohnte Sitte gar nicht zu gedenken! -- Er vertröstete sie auf den
Zeitpunkt, in welchem Thorald durch die zu hoffende Professor-Stelle
an der neu errichteten Akademie, um ihre Hand beim Bruder anzuhalten
befähigt sein werde, weil irgend ein unberechenbarer äußerer Umstand
sich ihr günstig gestalten, oder auf Christians störrischen Sinn
Einfluß gewinnen könne! Kjöbenhavn, meinte er, sei groß genug, ihr,
welche kaum ein paar Wochen alljährlich in seinen höheren Kreisen
zugebracht, den Unterschied zwischen diesen und der erwählten
bürgerlichen Lebensstellung nicht allzu schmerzlich fühlbar zu machen,
wenn es ihr nur glücke, die Zustimmung des nach Landesweise Vaterstelle
an ihr Vertretenden zu gewinnen.

»Und,« fragte erbebend das Mädchen, »wie lange Zeit, theurer Alslev,
kann es erfordern, bis Thorald jenen Punkt erreicht?«

»Wenn ihm jetzt gelingt, die Portraits der Königin Juliane Maria und
des Prinzen Friedrich zu deren Zufriedenheit zu vollenden und diesem
Auftrag noch einige andre bedeutende Bestellungen folgen, so zweifle
ich kaum, daß er die offne Professur nicht bald erhalte, doch können
allerdings noch zwei, drei Jahre vergehen, ehe er ein kleines Vermögen
erworben.«

»Zwei, -- drei Jahre! Alslev!«

»Helene! Sie sagen mir ja, Ihre Liebe sei ewig, werde das Leben
überdauern!«

»Aber wir werden nicht immer jung bleiben, Alslev, und die Zeit ist
eine so furchtbare Macht, sie kann eben so gut Tod und Verzweiflung
uns bringen,« -- wieder flog ihrem Geiste das Geschick der wahnsinnig
gewordenen Tante vorüber! Alslev schüttelte das ernste Haupt; ihm
erschien Alles gering neben der Kraft des eignen unbeugsamen Willens.
»Wer etwas erreichen will, muß warten können,« sagte er stolz.

Bitterlich weinte Helene. Ach, noch vor wenig Stunden hatte ihr das
Loos der Liebenden so sanfte, süße Thränen entlockt! damals hatte nur
die Poesie eines alle Qual und Lust, Jugend, Alter, jeden Wechsel des
Lebens überdauernden Gefühls sie erfaßt; jetzt sah sie nicht mehr die
im Geist einander begegnenden bejahrten Liebenden, denen die eigne
Treue zum Bürgen einer die schwere Erdenlast durchwachsenden Hoffnung
geworden, sie sah nur die furchtbare, nackte Realität des Leids! Das
einsame Todtenbett der gewaltsam Getrennten, zwischen denen sich das
weite Meer des ganzen wogenden Daseins ausgedehnt, und welche nicht
einmal die letzte Stunde desselben wiedervereinte! --

Thoralds schriftliche Versicherung, daß er ihr nach Kiögge folgen
und ganz gewiß von dort Mittel finden werde, sie im Stift zu sehen,
vermochte nicht die tiefe, fast krankhafte Niedergeschlagenheit ihres
Gemüthes zu heben. -- Trostlos warf sie sich in den Wagen, trostlos
empfing sie im Vorüberrollen ihres harrenden Freundes Abschiedsgruß. --
Trostlos erreichte sie bei einbrechendem Abend das Ziel ihrer Reise.

Eine Meile abwärts von der ehemaligen kleinen Festung Kiögge, welche
längst im Lauf der Zeiten ihre mittelalterlichen Ringmauern, ihre
Gräben und Wälle eingebüßt, liegt in lieblichster Umgebung, von den
herrlichsten Buchenhainen umgürtet, das große adlige Schloß und
Damenstift Wallöe. Weiter zurück, nach der Seeseite zu, zieht sich das
Dörfchen hin mit seiner schönen Kirche; ungemein fruchtbar und anmuthig
ist die Gegend.

Das Schloß selbst, im Geschmack der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
erbauet, scheint eine Art deutsch-gothische Uebertragung zum Zopfstyl,
vielleicht ist es ein wenig zu überladen im architektonischen Schmuck;
die zwei breiten Wassergräben mit Zugbrücken, die beiden hohen
Thürme an seinen Flanken, der eine rund, der andre viereckig, deren
Kupferdächer in der Sonne glitzern und glänzen, geben der schönen
Façade ein ehrenfestes, burgartiges Ansehen. Die sehr solide Unterlage
des Baues besteht aus großen grauen Sandsteinquadern; der obere
Theil prangte in den Tagen, von welchen wir erzählen, noch in seiner
ursprünglichen rothen Backsteinfarbe; unter jeder Fensterflucht ziehen
sich breite, ebenfalls graue, Sandsteingurten hin, vom selben Material
ist die reiche Steinmetzenarbeit der Fenstergiebel; zwischen diesen
und wo es irgend sonst noch ausführbar, sind graue rosettenartige
Verzierungen angebracht; höchst charakteristische Hautreliefsköpfe,
die sonderbar dämonisch auf den Eintretenden herabschauen! Ueber dem
Haupteingange prangt das ebenfalls in Stein gehauene riesige Wappen der
Gründerin des Stiftes; es steht unter unmittelbarem Schutze der Königin.

Das Ganze macht, trotz des zwischen dem Ehrwürdigen und Barocken
schwankenden Styls, einen ernsten Eindruck, durch Größe und
Uebereinstimmung edler Proportionen.

Als der Wagen über die Brücke fuhr, schreckte Helene auf aus ihren
Träumen; aber der Ausdruck stiller Abgeschlossenheit der Umgebung,
die etwas feierliche Ehrbarkeit des alten Stiftsbedienten, der sie
am Thor empfing, wie die in ihren Zimmern herrschende peinliche
Ordnung berührte sie schmerzlich. Alles erinnerte sie an Begräbniß und
Gefängniß, und die draußen in buntem Herbstschmuck wogende Waldnatur,
mit all ihrem Drossel- und Finkenschlag, mit dem unsäglich lieblichen,
allmäligen Stillwerden der eintretenden Dämmerung, reizten sie durch
den Widerspruch mit ihrem Innern zu immer verzweifelnderer Stimmung.

Sie bewohnte das letzte Zimmer zur linken Hand eines ziemlich
langen Ganges; um es zu erreichen, mußte sie an den jetzt noch leer
stehenden Stuben ihrer Schwestern vorüber, das Vorzimmer, das ihnen
gemeinschaftlich war, schloß eine Glasthüre; ließ Helene die ihres
eigenen Gemachs offen, so blickte sie durch dieselbe auf den matt
erhellten Corridor.

Nach einer etwas späteren Präsentation bei der alten sehr kränklichen
Abatissin, entschuldigte sich Helene mit Kopfschmerz, entzog sich dem
gemeinschaftlichen Abendmahl und eilte zurück in ihre Wohnung. Die
neugierigen Fragen nach allen gesellschaftlichen Verhältnissen und den
Hochzeitsfeierlichkeiten reizten ihre Nerven bis zum Unerträglichen.

Als sie den langen Gang durchschritt, gewahrte sie durch die Glasthüre
im matten, nicht eigentlich klaren Mondenlicht in ihrem Vorzimmer eine
Art Bewegung, -- wie ein wehender Vorhang wogte etwas durchsichtig
Weißes in demselben. Des Mädchens Charakter neigte weder zur Furcht
noch eigentlicher Exaltation, -- die momentane Ueberspannung all ihrer
Kräfte war ihr selbst fühlbar; so blieb sie besonnen auf dem Gange
stehen, ungefähr in der Mitte desselben, und schloß beide Augen mit der
vorgelegten Hand. -- Erst als sie ihr Herz ruhiger schlagen fühlte,
öffnete sie dieselben, es war Alles still. -- Wunderliche Einbildung!
sagte sich Helene und setzte ihren Weg fort, -- in demselben Augenblick
erhob sich's wieder, die Bewegung mehrte sich, allein das nebelartige
Wesen hatte zur Gestalt sich verdichtet, welche mit langem weißen Arm
rückwärts zu deuten, ja zu drohen schien! Jetzt stürzte Helene in
fliegendem Lauf auf dieselbe zu, »es hat sich Jemand eingeschlichen,«
war ihr einziger Gedanke, Thoralds Briefe auf dem Schreibtisch
ihre einzige Sorge. -- -- Die Figur wurde compact, -- sie stand
mit gläsernem, wasserblauen Blick und todtenbleichem Antlitz dicht
hinter der Glasscheibe, -- es war eine steinalte Frau in wunderlichem
jugendlichen Aufputz, in weißem Kleid, eine blaßrosa Schleife in dem
schneeweißen Haar, und die dünne weiße Hand winkte zurück! zurück! mit
immer steigender, ängstlicher Hast: zurück!

Jesus! es sind der Tante Zimmer, die ich bewohne! durchblitzte es
Helenens Gehirn, aufschreiend sank sie bewußtlos zu Boden.

Als sie zu sich kam, standen der alte Diener und die Kammerfrau, welche
im Stift sie bediente, vor ihr, man hatte sie ohnmächtig im Corridor
gefunden, aufgenommen, in ihre Stube getragen und in einen Fauteuil
gesetzt, man sprach von lauter Hausmitteln, vom Arzt, der Apotheke und
einem heftigen Blutandrang, -- nach wenigen Secunden war ihr die volle
Geisteskraft zurückgekehrt.

Sie bat Niemand weiter zu rufen, die Damen nicht an der Tafel zu
stören, nahm geduldig den ihr gebotenen Thee, ließ gelassen sich zu
Bette bringen. Die dienstgewohnte alte Margareth bestand darauf, im
Vorzimmer zu wachen; auch das ließ die Comtesse ruhig geschehen.

Ein tiefes Besinnen hatte ihre ganze Seele erfaßt, »es war die
Tante!« sagte sie sich selbst, »sie warnte; ich soll nicht elend
sein wie sie. Abwärts, zurück winkte der lange schneeweiße Arm, der
Finger deutete den Gang entlang. -- Wohin? hinaus? der Treppe zu?« --
Alles Grausen war dem Mädchen untergegangen im seltsam angestrengten
Bemühen, die Absicht der ihr wohlwollenden Erscheinung zu verstehen,
-- die grübelnden Gedanken begannen einander zu drängen, sie wurden
zu Bildern, die sich mischten und theilten, -- zusammen- und wieder
auseinander flossen, -- wie eine anschlagende Glocke tönte es ihr im
Ohr, leiser, endlos dazwischen fort, die Töne wurden Musik, -- Gesang,
-- Schlaf.

-- In das weit offene Schloßthor wallte ein Festzug in fremder,
altmodiger Kleidung in den Saal, in welchem alle großen Feierlichkeiten
des Hauses Statt zu finden pflegten, Helene kannte Niemanden von all
den Versammelten; unter dem rothsammetnen Baldachin stand eine schöne
Frau, vor ihr, den Rücken Helenen zugekehrt, kniete eine Dame in der
Galatracht der Priorinnen des Stifts, -- die Königin nahm die Insignien
des Ordens und eine Pergamentrolle von einem Sammetkissen, das ein
Cavalier hielt, -- auf dem Kissen, auf den Sammetbehängen immer das
Wappen der fürstlichen Gründerin und Beschirmerin des Stifts zahllos
wiederholt; -- »überall das Wappen der +Königin+!« dachte Helene, --
»ja, an den Wänden, -- über der Thüre des Refectoriums, die nach dem
Gange führt, überall +das Wappen+,« -- sie erwachte? -- Hell und klar
drang die Sonne durch den halbgeschlossenen Vorhang, -- sie warf ihn
zurück und sog mit langem genesenen Blick die Pracht der herbstlichen,
rings ihr entgegen quellenden, bunten Fülle ein! »Der Mensch +kann+
glücklich sein,« sagte sie, »auch ich +will+ glücklich sein.«

Den ganzen Morgen blieb Helene in ihrem Zimmer eingeschlossen und
schrieb. Die Nacht, der wirre, nur den unmittelbaren Schutz der
Königin andeutende Traum, mochte er dem Zufall oder der ungeheuren
geistigen Arbeit des gewaltsamen Nachsinnens sein Entstehen danken,
hatte einen klaren, festen Entschluß in ihr gereift. Eine Ordensdame
des königlichen Stifts Wallöe hatte den Rang einer hochadligen
Erbtochter; -- zu einer Vermählung nach freier Willkür bedurfte sie
+nur+ der Zustimmung ihrer Majestät! Helene war die erste Dame des
Stifts Wallöe, welche in diesem Augenblick von jenem höchsten Anrecht
Gebrauch zu machen beschloß und sie führte den Entschluß durch!


In der verwitweten Königin Juliane Marie Privatgemache, stand
ihres Eintritts gewärtig und ihrer harrend ein junger, schöner
Mann; die hochgerötheten Wangen und die fliegende Brust, deren
convulsivisch-heftigen Herzschlag das Spitzen-Jabeau verrieth,
bezeugten, daß die ehrfurchtsvoll-ruhige, fast hofmännische Haltung
desselben, eine mühsam erzwungene! Er hielt ein paar Chagrinleder-Etuis
in der Hand, welche kleine Wiederholungen zweier, auf der Staffelei am
Fenster bereit gestellter Portraits der Königin und ihres erhabenen
Sohnes Friedrich umschlossen. In einzelnen Pausen der sein Haupt
durchjagenden Gedanken, blickte er mit Wohlgefallen auf die in
herrlichen Goldrahmen prangenden Staffeleibilder, besonders auf das der
Königin, -- es war wirklich ein sehr gelungenes Portrait; französische
Erinnerungen der damaligen Behandlungsweise schienen des Künstlers Hand
geleitet zu haben, und gerade diesen Zügen war sie ungemein günstig;
der Hang zur Intrigue, der in denselben fast kleinlich hervorstechend
sich zeigte, war in anmuthige Schlauheit und feine Ironie übersetzt,
der fast hinterlistig-scharfe Blick gewandt mit einer königlichen,
stolzen Haltung gepaart, so daß er ohne hochmüthig zu erscheinen,
durchdringende Klugheit aussprach, die sich der eigenen Kraft bewußt
ist.

Kurz, es war dem Maler gelungen, durch eine sehr geistreiche
Schmeichelei auf dennoch nicht unwahre Weise, die Eigenschaften der
Seele hier so zu idealisiren, wie wohl andere Künstler bei äußeren
Eigenschaften der Gestalt es zu thun pflegen.

Juliane trat, noch im Gespräch mit ihnen, von den Grafen Reventlow
und Schimmelmann begleitet aus ihrem Cabinet. Des Letzteren Züge und
ein kaum merkliches Zucken der linken Achsel verriethen, daß er dem
Gegenstand der eben gehabten Unterredung keinen sonderlichen Werth
beimesse; der Königin Gesicht dagegen sprach Aerger und Empfindlichkeit
aus, die sie vergebens zu bemeistern strebte -- keinen günstigern
Augenblick hätte der Maler finden können, die Trefflichkeit seiner
Auffassung zu beurkunden, als die, welche eben jetzt die Vergleichung
des Originals und der Copie dem unbefangenen Beobachter bot.

       *       *       *       *       *

»Aha, mein lieber Meister,« redete ihn sogleich die Königin an, »er
bringt mir pünktlich das Gemälde und die kleinen Copien. Schelm!« fügte
sie im Nähertreten hinzu, »hat Er in Frankreich so artig schmeicheln
gelernt? Er hat uns da eine Physiognomie gegeben, die Er um zehn Jahr
rückwärts errathen haben muß. Schon recht, man muß ~in effigie~ der
Zeit das wieder abzugewinnen versuchen, wozu in der Realität ihr
unerbittliches Gericht uns verdammt. Sehr brav! Schöner Atlas! ja,
ja, das Portraitiren verstehen die Franzosen. Er ist auch in Italien
gewesen?«

»Zwei Jahre, Majestät, in Rom und Florenz.«

»Hat Er mir nicht gesagt, seine Mutter sei arm, die Witwe eines
Officianten -- wo hat sie denn das Geld hergenommen, Ihn so lange im
Auslande lernen zu lassen?«

»Sie hat entbehrt, Hoheit, vieles sich versagt, um mich reisen und
studiren --«

»So? ich hoffe Er wird dankbar sein, ihr das vergelten, nicht zu den
technischen Fortschritten in Seiner Kunst, Herzens-Demoralisation des
Auslandes uns mitgebracht haben!«

»Ach, wollte der Himmel ich könnte ihr den so tief, so warm empfundenen
Dank anders als in Worten zeigen -- --«

»Was ist Ihm denn? Das wird Er ja nun können, wenn Er die
Ihm versprochene Professur erhält -- nun? Er kommt ja ganz in
Agitation -- --«

Ein Blick auf die Minister, welche das Gemälde betrachteten, wandte
plötzlich die Aufmerksamkeit der Majestät von ihm ab, jenen zu. »Sie
sind verdrießlich, Graf Schimmelmann, und sagen mir kein Wort, weder
über mein Portrait noch meinen Protégé?«

»Leider haben wir dem anerkannt tüchtgen Maler desselben wehe thun
müssen und gerade im Augenblicke, da Ew. Majestät ihm ein so gnädiges
Wohlwollen geschenkt,« erwiederte etwas verlegen der Minister, »der
Anblick der so gelungenen Aehnlichkeit --«

»~Qu'est-ce donc, Comte?~« fragte etwas zurücktretend Juliane Marie,
»wir haben unsre Freude daran, heimischen Künstlern die Aufrechthaltung
der neuen Akademie anvertrauen zu können und haben dem Manne die
erledigte Professur zugesagt --«

Auch Thorald wich einige Schritte zurück; die Königin trat mit den
beiden Grafen in eine Fenstervertiefung, das Gespräch ward mit halber
Stimme fortgesetzt.

So ungemein vaterländisch nach Struensee's Tode alle Hofgesinnungen
geworden, denn unter der Königin und Prinz Friedrichs Regentschaft war
dem Ausländischen offene Fehde erklärt, so konnte dennoch Juliane Marie
die französischen gewohnten Brocken in ihrer Wortstellung nicht wohl
entbehren, und im Affect verfiel sie leicht in den damals fast in allen
fürstlichen Häusern üblichen Ton -- »~c'est fort~,« fuhr sie fort,
»wenn nicht die +Meine+, welche Art Fürsprache soll denn hier wohl
entscheiden? Giebts einmal wieder irgend einen lumpigen Deutschen oder
Franzosen zu versorgen?«

»Bernstorff trägt die Schuld,« flüsterte ehrerbietig der Minister,
»einem früheren Versprechen nach und auf ganz besondere Bitte eines
Mannes, dem man verpflichtet, hat der alte Informator Henning Klint die
Professur erhalten --«

»Der Prinz kennt meinen Wunsch, ~c'éstoit une chose arangée, Messieurs~
-- Eynerssen hat mein Wort --«

»Der König hat diesen Morgen das Decret unterschrieben.«

Die Königin ward bis an die Stirne roth und stampfte mit dem Fuße:
»wer hat mir das gethan? ~il me le payera!~« setzte sie zwischen den
Zähnen murmelnd hinzu. Die beiden Grafen schwiegen. »Nun, meine Herren?
Graf Schak-Reventlow? Darf ich um die besonderen Verdienste des alten
Informators oder seines Fürsprechers bitten? Sie werden doch dessen
Licht nicht unter den Scheffel stellen wollen?«

»~Ma foi, Madame~,« sagte der Graf, »es ist mir bloß klar, daß Graf
Christian Gejern Alles +gegen+ den jungen Eynerssen und +für+ den Klint
gethan; Ew. Majestät werden geruhen sich zu erinnern, daß der Graf
alle Offerten der königlichen Huld stets abgelehnt -- diese Besetzung
der Akademiestelle war eine von ihm erbetene Gnade -- die aller Erste!
Es war unmöglich ihm nicht zu willfahren und Se. Majestät der König,
welcher ihm von der Bauernsache her noch immer gewogen, unterschrieb
sogleich -- --«

»Allerdings sind des Grafen Gejer Verdienste bedeutend,« erwiederte
gewaltsam gefaßt die Königin; ihr Auge flammte und in den Mundwinkeln
zeigte sich das Lächeln höhnischer Verbitterung, »ich werde morgen
mit dem Könige sprechen.« Mit einer anmuthigen Bewegung des Hauptes
und der linken Hand entließ sie die beiden Herren -- Eynerssen stand
noch ihres Befehles gewärtig nahe am Ausgang. Juliane wandte sich nach
der inneren, zu ihrem Cabinet führenden Thüre, »bleibe Er und erwarte
Er mich hier, mein Sohn,« sprach sie mit gnädigem Kopfnicken, »es wird
sich wohl in meiner Armuth irgend ein Mittel finden, ihn zu lohnen.«

Rasch schritt sie durch ihr Schreibe-Cabinet in das Zimmer, in welchem
sie schlief, eine ihrer vertrauten Kammerfrauen arbeitete dort mit
einem Hoffräulein, Sophie Harrested. »Kennt eine von Euch,« fragte
Juliane, »die Verhältnisse der Gräflich Gejerschen Familie?« Beide
hatten bei Eintritt und Anrede der Königin sich ehrfurchtsvoll erhoben.
Das Fröken erzählte von den Hochzeiten, den Ausstattungen der beiden
Neuvermählten. »Schon gut, das haben wir selbst erlebt.« -- »Die
Gräfin?« Niemand kannte sie. »Kinder?« -- Keine. »Die dritte Comtesse
ist also die junge Stiftsdame von Wallöe, von welcher dies Schreiben,«
sagte die Königin vor sich hin, »und der Graf will die glücklich genug
fruchtlos gebliebene Mißheirath durch einen glänzenden Stammerben
auslöschen; der eine Bruder kinderlos, wie er -- der jüngste kränklich
-- keine Kinder zu hoffen. Da rechnet man auf Uebertragung des Namens.
-- Weiß Jemand von der jüngsten Comtesse?« Die Kammerfrau kannte die
Familie Alslev und floß über vom Lobe Helenens. »Keine Aussicht zur
Heirath, nicht verlobt?« Beide Erzählerinnen stockten -- endlich fuhr
die Harrested fort -- »man hat von einer großen Leidenschaft der
Comtesse für einen jungen Bürgerlichen gesprochen, allein das Betragen
derselben ist so in den strengsten Regeln des Schicklichen geblieben,
daß Niemand den Gegenstand dieser Neigung kennt.« -- »Schon gut,« sagte
die Königin, »Ihr könnt gehen;« sie stand auf und rief, indem sie
selbst die Thüre öffnete, den jungen Mann in ihr Cabinet.

»Mit der Professur ist's wirklich nichts, junger Freund,« redete sie
ihn an; »danke Er Gott dafür! Er ist also in die Comtesse Gejern
verliebt?« -- Wie vom Blitz getroffen schwankte der Künstler auf den
Füßen, die ihn nicht zu tragen vermochten, er taumelte rückwärts gegen
die Wand, keines Wortes fähig -- »nun, nun!« lächelte die Königin, »die
Liebe an und für sich, wenn sie in den Grenzen der Zucht und Ehrbarkeit
bleibt, ist eben kein Todesverbrechen. Fasse Er sich -- und antworte
mir klar und vernehmlich.«

»Ich liebe die Gräfin mehr als mein Leben,« erwiederte stolz und
fest der junge Mann, »wenn aber mein Gefühl das Elend der Comtesse
herbeiführen könnte, würde ich den Muth haben, Kjöbenhavn sogleich zu
verlassen.«

»Ja? was ist denn seine Absicht? daß die Comtesse auch Ihn sehr
schätzt, weiß ich; wollte er deshalb Professor werden?«

»Ja, Ew. Majestät; ich betrachtete diese Anstellung als den ersten
Schritt, um der Gräfin würdiger gegenüber zu stehen, wenn ich auch kein
anderes Ziel an diese Aussicht zu knüpfen wagte.«

»Und der Graf Christian weiß um diese Neigung?«

»Leider! da er sie verdammt!«

»So, so,« sagte die Königin für sich, »ich will ihn lehren eigenmächtig
handeln!« Sie ging an den Schreibtisch und unterschrieb Helenens
Petition, durch welche sie ihr gestattete, ohne Einwilligung ihres
Bruders sich zu vermählen. »Lese er das.«

Der Glückliche lag, ihr Gewand an seine Lippen drückend, zu ihren
Füßen. »Aber höre Er, meine Bedingung! ich will keine Auswanderung
unserer Landeskinder; daß wir in der Fremde etwas Tüchtiges zu lernen
suchen, ist schon recht, allein man soll Dänemark nicht die Früchte des
Erworbenen entziehen. Man wird sich Eurer annehmen! Ich bin Ihm das
Honorar für die Bilder schuldig -- und -- Ihr könnt im Cavalier-Hause
wohnen, fällt mir ein! Sagen Sie dies Alles der Comtesse und vergessen
Sie nicht, daß wir in Gnade Ihnen Beiden gewogen bleiben!« setzte
sie plötzlich französisch hinzu; trotz der innern Heftigkeit, welche
ihre rasche Handlung herbeigeführt, machten deren Folgen sie bereits
verlegen.

Ein reitender Bote brachte den Befehl der Königin nach Wallöe, das
sogenannte Cavalier-Haus der Gräfin Gejer zur Verfügung zu stellen
und mit diesem zugleich Helenen die Erlaubniß zu ihrer Vermählung.
-- Thorald erhielt noch am selben Abende eine für die Privatkasse
Julianens sehr bedeutende Summe als Bezahlung der Gemälde.

Christian war wie vernichtet! Helene nahm sogleich die ihr zufallenden
10,000 Thaler in Beschlag und ihren Antheil an der Tante Mitgift.
Ohne weiter ein Wort zu verlieren, sandte der Graf Alslev alle
nöthigen Papiere, sowohl zu Auszahlung der seiner Schwester aus ihrem
gemeinsamen Vermögen zufallenden Dot, als zu jener der Gräfin Owen; als
er das Paket siegelte überfiel ihn eine an Ohnmacht grenzende Schwäche
-- mit gewaltsamer Anstrengung drückte er sein Wappen auf dasselbe. --
»Man wird es zerbrechen!« sagte er leise vor sich hin, dann zog er sich
in seine Zimmer zurück und begrub sich in seinen Studien.


Gar anders sah es in Wallöe aus. Von allen Seiten zog die Freude ein.
Der Königin so bestimmte Bestimmung schloß alle böswilligen Bemerkungen
aus -- selbst die sieben Mogenstrupps wagten nur orcanische Seufzer.
Im Cavalier-Hause regte sich ein gewaltiges Leben, es wimmelte von
Arbeitern; da wurde tapeziert und gezimmert, angestrichen, gemalt,
geschmückt, und die Liebe half überall der Liebe! denn Thorald war
selbst von Kjöbenhavn herüber gekommen, Helenen beizustehen.

Das Cavalier-Haus, ein freundliches, kleines Gebäude aus der nämlichen
Zeit als das Stift; rings von einem Blumengarten umfaßt, lehnt es an
einem mit Buchen schön bewaldeten Hügel; diese herrschaftliche Wohnung
wurde von Alters her bei Regulirung der Gesammt-Einkünfte desselben von
den dabei beschäftigten Herren eingenommen, wenn sie zu einem längern
Aufenthalt in Wallöe veranlaßt wurden. Auch die Königin bediente sich
ihrer früher gern, wenn sie um die Osterzeit einige Tage in der von
ihr bevorzugten Stiftung zubrachte, um die sie begleitenden Cavaliere
unterzubringen, wodurch das freundliche Schlößchen den ihm anhangenden
Namen erhielt. Seit Jahren war Juliane Marie nur auf einzelne Stunden
in ihr Ordenshaus eingekehrt; der hübsche Bau hatte verödet dagestanden.

Wer hat nicht irgend einmal mit Vergnügen zugesehen, wenn Kinder
Wirthschaft spielen? Wenn sie auf Blumenblättern statt auf Tellern
serviren? Des Vaters goldne Dose und der Mutter Schmuck zu Küchengeräth
machen, und lauter Bisquit und Bonbons kochen? Nicht sehr viel anders
war der Brautleute Einrichtung, weil Jedes das Andere mit noch einer
ganz einzigen Herrlichkeit und Bequemlichkeit überraschen wollte. Es
wurde Alles phantastisch-schön und nebenbei sehr kostbar; aber es war
dem Geschmack Beider vollkommen analog, und wurde dadurch wieder ein
Beider Leben enger verflechtendes Band.

Man hatte dergleichen nie in der Gegend gesehen, halb Kiögge ritt
und fuhr herbei, das Wunder zu schauen. An einem wunderschönen
Spät-Herbstmorgen ward die stille Trauung vollzogen; keiner der
drei Brüder war zugegen, die Schwestern schrieben freundlich und
sandten Geschenke. Alslev kam mit seiner Familie -- er hatte Helenen
zur Oeconomie ermahnen wollen; als er aber in dieser Mischung von
englischem Cottage-Comfort und italienischer Villa und französischer
Eleganz das glückstrahlende Gesichtchen Helenens sah, verschob er es
auf ein andermal. Der isländische Pfarrer hatte eine rührende Botschaft
gesandt und die Versicherung: er werde bei seiner Rückreise bei dem
neuen Paare einkehren; ihn hielt die bereits geschlossene Schifffahrt
noch in Dänemark zurück.

Auch die arme Nordermule hatte geschrieben. Helene las das Blatt
wohl zwanzigmal, ohne daß ihr dessen Inhalt verständlich geworden
wäre. Es war ein wild-schmerzlicher Abschied, einem Schmerzensschrei
vergleichbar, der in der jungen Frau Seele einschnitt -- unklar und
verworren. »Sie traut sich wegen Christian nicht zu mir,« sagte sie
sich, »die arme Gute! sie mag wohl recht haben, er würde es ihr kaum
verzeihen, und besser ist ihr das sichere Dach meines Bruders, als die
Decke unsres Wanderzelts! -- Wer weiß, wo wir einst es aufschlagen.
Christians Haus beut ihr eine stets gleiche Zuflucht, während wir
vielleicht nur einer des andern Brust behalten, unser müdes Haupt
darauf zu legen.« Aber so vernünftig das Alles war, streifte es nur
leicht ihre Gedanken; das Glück war zu übermächtig in ihr.

Der Winter flog auf seinen Silberfittigen dahin, er war mild und schön;
schon nahte der Lenz; die Liebenden waren glücklich und fleißig. Helene
hatte Zeichnen gelernt und begann zu malen.

Sie rechneten nicht, ihr Capital nahm ab! ihre Wirthschaftskasse war
eine offene Schieblade -- aber die Seeländer sind ehrlich; weder sie
noch das sorglose Paar dachten an Diebstahl.

Die Schifffahrt war eröffnet, als unvermuthet spät Abends ein Gast
erschien; Helene hatte zum ersten Mal den Versuch gemacht, nach Gyps
zu zeichnen, und die Lection hatte wie gewöhnlich mit einem Kußhonorar
geschlossen, als Kund Jürgenssen eintrat. »Dieser Anblick ihres
Wohlergehens erleichtere ihm das Abschiednehmen,« meinte er, »und er
hoffe, daß ihn die Kunde ihres ferneren Glücks noch oft erreichen
werde.« Dem Alten war Alles zu reich und köstlich in ihrer Umgebung --
er konnte sich aus all der Seide und den Spiegeln und dem Mahagoni
gar nicht herausfinden; Helene sperrte ihn lachend mit dem Tisch in
einen Saffian-Fauteuil, damit er nicht gar vor lauter Achtsamkeit, ihre
Schätze nicht zu beschmutzen oder zu zerbrechen, ganz verstumme; und
nun begann er zu erzählen, »wie er auch einmal beim Grafen zu Aalholm
gewesen,« -- ein leichtes Wölkchen überflorte Helenens glänzende Stirn,
sie reichte rasch Thorald die Hand. -- Es wären schon ein paar Monate
her, fuhr er fort, und wiederum sei ihm dort eine besondere Gnade des
Herrn geworden! »Es war Abend,« erzählte er weiter, »eine silbergraue,
noch klare Dämmerung lag auf Aalholm, und ich ging durch die schönen
buntgefärbten Buchengänge, die ich nun bald wieder entbehren sollte;
auf den Wiesen wogte eine bläuliche Feuchte, und am Teich kräuselte und
webte es so neblig hin, und ballte und rollte sich auf -- das Schilf
schwankte träumerisch mit seinen schweren Dolden, die Vögel hörte man
nur fliegend und flatternd im Laube ihr Nachtlager suchen, sie sangen
schon längst nicht mehr -- auch die Insectenwelt war abgestorben. Den
dunkelnden Wald durchleuchteten die fernen Schloßfenster mit röthlich
schimmerndem Lichtschein; zwischen den Mauern dort mochte es wohl schon
finster sein.

Ich gedachte der immer trauriger werdenden Jahreszeit in meinem
Vaterlande, und der hübschen Mährchen und Balladen, mit welchen wir sie
Abends daheim zu erheitern suchen, da sah ich plötzlich mir gegenüber
am jenseitigen Ufer des Weihers eine fliegende Gestalt, um sie her
flatterten weiße Gewänder, kaum berührte, so schien mir's, dann und
wann ihr Fuß den Boden. Sie eilte auf den mir nicht allzu fern im
Schilf liegenden und ganz von Weiden und Wasserpflanzen umgebenen
Kahn -- ich war schon wieder besonnen und wußte gar wohl, daß die
Erscheinung nur eine menschliche sein könne! Sie kniete nieder in den
Nachen und begann eine Menge Steine in ein Tuch zu binden, welche
vermuthlich dort schon bereit lagen; endlich wand sie dasselbe um ihre
Füße, indem sie zugleich damit ihre Kleider festschnürte; -- als sie
damit fertig, richtete sie nochmals das Antlitz betend gen Himmel auf
-- jetzt kniete sie schon am Schnabelende des Boots, und so rutschte
sie mit den gebundenen Füßen vorwärts dem Rande näher --«

»Um Gotteswillen, Emerenzia!« schrie Helene auf.

»Ja,« sagte der Pfarrer, »ja sie war's! aber Gott leitete meine
Schritte und meine Hand, daß ich im rechten Augenblicke sie erfaßte
und gewaltsam sie zurückhielt! ich nahm sie wortlos in meine Arme und
trug sie zurück; ihr selbst schwanden die Sinne, und sie kam erst dem
prasselnden Feuer gegenüber in ihrem Stübchen, wohin ich sie getragen,
zu völligem Bewußtsein.« »Unglückselige!« sagte Thorald, »was hatte zu
solchem Schritte sie vermocht?«

»Ach, lieber Herr,« erwiederte Jürgenssen, »sie verstand es nicht, so
allein zu leben! Die drei nun zu Frauen gewordenen Fröken waren so
glücklich ohne sie, es hatte, so meinte sie in böswilligem Trotz --«

»Ach, Trotz! meine arme Nordermule, das demüthige Herz!«

»Frau Eynerssen wissen nicht, daß sich Demuth und Trotz im Leben
manchmal gar nicht unterscheiden lassen?«

»Also Janfru Nordermule sah den langen Tag und die lange Nacht immer
wieder vorüberziehen, ohne daß irgend Eines ihrer bedurft hätte --
da wurde sie trauriger mit jeder Stunde! Sie kam sich mit einem Male
vor, wie ein abgelaufenes Uhrwerk, zu welchem der Schlüssel verloren
gegangen; und als der Kummer allmälig mehr und mehr all ihre Gedanken
überschattete, konnte sie zuletzt der Sehnsucht nach dem stillen Weiher
nicht länger widerstehen, in dem sie Schlaf und Ruhe zu finden meinte,«
-- »und nun? und nun?« fragte in ängstlicher Spannung das junge Paar,
»wo ist sie jetzt?«

»Nun steht sie draußen vor der Thüre und hat mich beauftragt, das Alles
My Frau Eynerssen zu erzählen; sie will Abschied nehmen -- denn sie
geht mit mir nach Island!«

Die jungen Leute waren schon draußen bei ihr, als er die letzten Worte
vollendete.

Ja, so war's! Die kleine graue Nordermule stand, tief in Pelze
verhüllt, im nordischen Reiseanzuge auf der Flur; mit tausend
Liebkosungen ward sie in die lieblich phantastischen Räume eingeführt,
gehätschelt, gescholten -- das ganze Herz ward ihr bewegt; aber ganz
unerschütterlich entschlossen reichte sie ihrem alten greisen Führer
die Hand -- »er hat mich überzeugt, daß ich dort noch nützen kann,« --
versicherte sie freundlich.

»Ob sie das kann!« sagte der alte Kund, »für's erste muß sie gleich
den Sommer hindurch uns beistehen, Thorsons mit Ihres Herrn Vaters
Gelde gestiftetes Hospital aufrecht zu erhalten, dann mag sie meiner
Mathilde helfen, die Kranken meines eigenen Sprengels zu pflegen; ach
und Abends, wenn der Winter draußen um unsre Hütten ras't, dann wird
Emerenzia uns Allen +erzählen+! Unsre Weiber wird sie lehren, bessere,
feinere Handarbeit machen, unsre Kinder mit unterrichten helfen und vor
Allem meine Kirche mit den fleißigen, geschickten Händen schmücken, o
wir werden Alle so dankbar und glücklich sein, Janfru Emerenzia um uns
zu haben, -- so glücklich!« er drückte ihre Hand.

»Aber Jürgenssen, es kann ja nicht Ihr Ernst sein -- sie wird mit ihrer
geschwächten Kraft die Reise nicht überstehen -- sie bringen sie nicht
lebend hinüber!« sagte leise Thorald --

»Sie irren,« erwiederte ernst und mild der alte Pfarrer, »sie ist
eine Nordländerin und wird die Fahrt überdauern -- und gönnen Sie ihr
denn nicht, umringt von den poetischen Erinnerungen ihrer Jugend,
als Pflegerin der Pfarrkinder unsres Johannes und der Rosen des ihr
so theuern Grafen Thugge zu sterben? +Dort+ sind all die ihr +hier+
abgewelkten Interessen noch frisch erhalten -- hier verdrängt sie eine
laut und lauter sich erhebende Gegenwart!«

»Er hat Recht!« sagte wehmüthig Helene, und am andern Morgen zogen
sie von dannen! Das Ehepaar sah vom Kiögger Hafen aus lange dem
buntbewimpelten Schiffe nach und kehrte in seine Künstler-Einsamkeit
zurück. Wie ein Thautropfen hing die Abschiedsthräne an der vollen Rose
ihres Glücks, und der nächste Sonnenstrahl küßte sie auf!


Und Graf Christian, und Eva? und wie wurde es denn weiter? dauerte
denn das Glück im Cavalierhause bei dieser tollen, wunderlichen
Wirthschaftsweise?

Soll ich meinen Lesern weitläuftig von der Ebbe und Fluth alles
menschlichen Erfahrens berichten? Das Gold ward alle -- manchmal
klopften böse Verlegenheit und Noth an die Thüren und Fenster, manchmal
schlich die Sorge ein und zog ihre grauen Schleier über das fröhliche
Auge Helenens, und zuweilen faßte auch wohl eine fast wilde Sehnsucht
ihr Innres nach ihren beiden Schwestern und nach Christian, ihrem
nun ganz vereinsamten Bruder, der seine arme Eva mit dem fallenden
Laube zu Grabe getragen, und nun, wie einst ihr Vater Thugge, allein
das große Aalholm bewohnte; aber der Gejersche Trotz wollte dennoch
sich nicht bändigen lassen in dem stolz aufschlagenden Herzen und der
freundlichere Gedanke wurde noch lange Jahre hindurch in Beiden nicht
zum einander verzeihenden Wort.

       *       *       *       *       *

Da starb auch Joachim. Seine Ehe war kinderlos geblieben. Der
Trauerfall und die ihm entstehenden Angelegenheiten zogen alle
Geschwister in die Residenz. Die Schwestern sahen sich, und das gute
Vernehmen zwischen ihnen stellte sich her. Christian und Helene
aber blieben sich fern; auch Thorald, der zum tüchtigen, vielfach
beschäftigten, vom Hofe vergötterten Künstler sich herangebildet, mied
seine Schwäger. Der gute Alslev und seine würdige Gattin hörten mit
unveränderter Theilnahme jedes Einzelnen Klage an, aber beide scheuten
den ihnen wohlbekannten finstern Geist des Geschlechts, den alten
Starrsinn der Gejers zu sehr, um eine Aussöhnung auch nur zu versuchen.

       *       *       *       *       *

Da öffnete eines Tages Christian unvermuthet die Thüre des
Studirstübchens seines alten Freundes; Alslev saß schlummernd in seinem
hochrückigen Großvaterstuhl, er war über einer langen Actenrevision
eingenickt, auf der Lehne des Sessels aber hing oder ritt ein
wunderbar schöner Knabe von etwa sechs Jahren; er hatte dem Alten ein
buntseidenes Band über den Kopf geworfen, daß er ihm durch die vom
Schlaf halb erschlossenen Lippen zu ziehen eifrig bemüht war, indem
er sich zugleich auf dessen Schulter zu schwingen suchte, um ihn zum
Roß zu machen und einen kühnen Ritt in's Fabelland seiner Phantasie
zu thun. »Willst Du mitspielen,« fragte das kecke Bübchen, »mußt aber
jetzt auch Pferd sein und Dich von mir führen lassen, nachher darfst Du
aber auch reiten!«

Helenens Sohn! durchblitzte es Christians Starrsinn, und die
Wunderkraft der Kindheit trat plötzlich in ihr volles Licht. Denn
der Graf vermochte kein Auge von dem kleinen Tyrannen zu wenden,
der ihm mit schmeichelnder Gewalt den Zügel bot -- als Alslev von
dem Jubel-Geschrei erwachte, war die Bekanntschaft schon weit
vorgeschritten.

Wer in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in Wallöe war, wird wohl
den neuen herrlichen Aufbau des ehemaligen Cavalier-Hauses und seine
prächtige Umgebung und Einrichtung bemerkt haben; sie ist solider aber
noch kostbarer als sie vor etwa fünfzig Jahren es war. Ein neues,
kräftiges Geschlecht der Gejer bringt dort die schönen Sommertage zu;
die bösen Geister des erloschenen Stammes beunruhigen es nicht, sie
sind dem heitern Glück gewichen!

Der jetzige Graf ist ein schöner, alternder Mann und unermeßlich reich,
weil ihm das Vermögen aller Nebenzweige der großen Familie zugefallen;
seine Mutter war eine geborene Comtesse Gejer und hieß Helene; er
hat schon als Knabe den Namen derselben auf seiner Oheime Wunsch
angenommen, weil ihnen selbst kein Stamm-Erbe erblüht war.



Fußnoten


  [1] Zur Zeit der für Aufhebung des Gemeinbesitzes constituirten
      Commission 1759.

  [2] Fröken, +adliges Fräulein+.

  [3] Feste-Bauers, ohne alles Eigenthum.



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Satzfehler wurden stillschweigend korrigiert.

    Korrekturen (das korrigierte Wort ist in {} eingeschlossen):

    S. 47: ancharten → Plancharten
      auf seine Bücher und {Plancharten}

    S. 65: Halde → Haide
      leichten Ganges über die {Haide} hineilte

    S. 140 aufgischend → aufgischtend
      Wildströme reißen sich {aufgischtend}

    S. 235: Gräber → Gräben
      Ringmauern, ihre {Gräben} und Wälle eingebüßt





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