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Title: Eine langweilige Geschichte - Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes Author: Chekhov, Anton Pavlovich Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Eine langweilige Geschichte - Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes" *** HathiTrust Digital Library (http://www.hathitrust.org/digital_library) Note: Images of the original pages are available through HathiTrust Digital Library. See https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc1.a0008509630 Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~. Weitere Anmerkungen zur Transkription finden sich am Ende des Buches. ANTON TSCHECHOW EINE LANGWEILIGE GESCHICHTE Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes [Illustration] Aus dem Russischen übertragen von H. Röhl Im Insel-Verlag zu Leipzig Gedruckt bei Breitkopf & Härtel in Leipzig I Es lebt in Rußland ein hochverdienter Professor, namens Nikolai Stepanowitsch *** (ich unterdrücke den Familiennamen), Geheimrat, Ritter pp.; er besitzt so viele russische und ausländische Orden, daß, wenn er Veranlassung hat sie anzulegen, die Studenten ihn mit der bunten Bilderwand in der Kirche vergleichen. Sein Bekanntenkreis ist ein höchst vornehmer; wenigstens hat es in den letzten fünfundzwanzig bis dreißig Jahren in Rußland keinen berühmten Gelehrten gegeben, mit dem er nicht näher bekannt gewesen wäre. Jetzt mag er sich mit niemand mehr anfreunden; aber wenn von der Vergangenheit die Rede sein soll, so schließen die lange Reihe seiner berühmten Freunde Männer wie Pirogow, Kawelin und der Dichter Nekrasow, die ihm ihre aufrichtige, warme Freundschaft schenkten. Er ist Ehrenmitglied aller russischen und dreier ausländischen Universitäten, usw. usw. Alles dies und vieles, was man noch hinzufügen könnte, bildet das, was man meinen Namen nennt. Dieser mein Name erfreut sich einer großen Popularität. In Rußland ist er jedem gebildeten Menschen bekannt, und im Auslande wird er auf den Kathedern mit den Beiworten »der bekannte« und »der verehrte« erwähnt. Er gehört zu jenen wenigen glücklichen Namen, die zu schmähen oder leichtfertig in den Mund zu nehmen beim Publikum und bei der Presse als schlechter Ton gilt. Und das ist auch nur in der Ordnung. Ist doch mit meinem Namen der Begriff eines berühmten, reich begabten und der Menschheit zweifellos nützlichen Mannes eng verbunden. Ich bin arbeitsam und ausdauernd wie ein Kamel, was von Wichtigkeit ist, und ich besitze Talent, was von noch größerer Wichtigkeit ist. Außerdem bin ich, beiläufig gesagt, ein wohlerzogener, bescheidener, ehrenhafter Mensch. Niemals habe ich meine Nase in Literatur und Politik hineingesteckt, habe nie durch Polemik mit Unwissenden populär zu werden gesucht, nie Reden bei Diners oder am Grabe von Kollegen gehalten. Überhaupt haftet an meinem Gelehrtennamen kein Flecken, und mein Name hat keinen Grund sich zu beklagen. Er ist glücklich. Der Träger dieses Namens, also mein Ich, ist ein Mann von zweiundsechzig Jahren, mit kahlem Kopfe, falschen Zähnen und einem unheilbaren Gesichtsschmerz, einem ~tic~. So glänzend und schön mein Name ist, ebenso trübselig und häßlich bin ich selbst. Kopf und Hände zittern mir vor Schwäche; mein Hals hat, wie bei der Heldin einer Turgenjewschen Erzählung, Ähnlichkeit mit dem Griffe eines Kontrabasses; die Brust ist eingefallen, der Rücken schmal. Wenn ich spreche oder Vorlesung halte, so zieht sich mein Mund schräg nach der Seite hin; wenn ich lächle, so bedeckt sich mein ganzes Gesicht mit greisenhaften, starren Runzeln. An meiner ganzen kläglichen Figur ist nichts, was Interesse erwecken könnte; nur etwa wenn ich an meinem Gesichtsschmerz krank bin, tritt bei mir ein gewisser besonderer Ausdruck hervor, der wohl bei jedem, der mich ansieht, den ernsten, bedeutsamen Gedanken hervorruft: »Wahrscheinlich wird dieser Mensch bald sterben.« Ich trage bei meinen Vorlesungen, wie früher, nicht schlecht vor; wie in früheren Zeiten vermag ich die Aufmerksamkeit der Hörer zwei Stunden lang zu fesseln. Über meiner Wärme für den Gegenstand, der Klarheit der Erörterung und dem guten Humor, den ich dabei entwickele, vergißt man fast die Mängel meiner Stimme, die trocken und scharf ist und etwas Singendes hat, wie man es sonst bei Frömmlern findet. Das Schreiben dagegen gelingt mir schlecht. Jener Teil meines Gehirnes, der die schriftstellerische Fähigkeit dirigieren soll, versagt den Dienst. Mein Gedächtnis ist schwach geworden, meinem Denken fehlt die nötige Folgerichtigkeit, und sobald ich meine Gedanken auf das Papier bringe, habe ich jedesmal die Empfindung, daß ich das Gefühl für ihre organische Verknüpfung verloren habe; die Konstruktion ist eintönig, die Ausgestaltung der Sätze gar zu bescheiden und ärmlich. Oft schreibe ich gar nicht das, was ich eigentlich beabsichtige; wenn ich das Ende schreibe, habe ich den Anfang nicht mehr im Kopfe. Oft kann ich mich auf die gewöhnlichsten Ausdrücke nicht besinnen, und ich muß immer erst große Energie aufwenden, um bei einem Schriftstück überflüssige Redensarten und unnötige Eingangssätze zu vermeiden; beides zeugt deutlich von einem Verfalle der geistigen Fähigkeiten. Und merkwürdig: je einfacher das betreffende Schriftstück ist, um so qualvollere Anstrengung kostet es mich. Bei der Abfassung eines wissenschaftlichen Aufsatzes fühle ich mich weit freier und fähiger als bei einem Gratulationsbriefe oder bei einem amtlichen Berichte. Noch eines: es wird mir leichter, Deutsch oder Englisch zu schreiben als Russisch. Was meine jetzige Lebensweise anlangt, so muß ich vor allem die Schlaflosigkeit erwähnen, an der ich in der letzten Zeit leide. Wenn mich jemand fragen wollte: »Was bildet jetzt den wichtigsten, den fundamentalen Zug deines Daseins?« so müßte ich antworten: die Schlaflosigkeit. Wie früher entkleide ich mich gewohnheitsmäßig pünktlich um Mitternacht und lege mich ins Bett. Ich schlafe schnell ein; aber zwischen eins und zwei wache ich auf, und zwar mit einem Gefühle, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Ich muß aufstehen und die Lampe anzünden. Eine oder zwei Stunden lang gehe ich dann im Zimmer von einer Ecke nach der anderen und betrachte die mir längst bekannten Bilder und Photographien. Wenn ich dieser Wanderung überdrüssig werde, setze ich mich an meinen Schreibtisch. Ich sitze unbeweglich, ohne etwas zu denken und ohne irgendwelchen Wunsch zu empfinden; liegt ein Buch vor mir, so ziehe ich es mechanisch zu mir heran und lese ohne alles Interesse. So habe ich neulich in einer einzigen Nacht mechanisch einen ganzen Roman mit dem sonderbaren Titel: »Was die Schwalbe sang« durchgelesen. Oder aber ich zwinge mich, um meinen Geist zu beschäftigen, bis tausend zu zählen, oder ich vergegenwärtige mir das Gesicht irgendeines meiner Kollegen und suche mich zu besinnen, in welchem Jahre und unter welchen Umständen er ins Amt getreten ist. Gern horche ich auch auf allerlei Geräusche. Bald redet zwei Zimmer von mir entfernt meine Tochter Lisa hastig etwas im Traume vor sich hin; bald geht meine Frau mit einer Kerze durch den Saal und läßt unfehlbar das Streichholzschächtelchen auf den Boden fallen; bald knackt ein zusammentrocknender Schrank, oder der Brenner an meiner Lampe beginnt unerwartet zu summen, -- und alle diese Geräusche haben, ich weiß nicht warum, für mich etwas Aufregendes. Wenn man in der Nacht nicht schläft, so ist man sich dabei jeden Augenblick bewußt, daß man sich nicht in normalem Zustande befindet, und daher warte ich mit Ungeduld auf den Morgen und den Tag, wo ich ein Recht habe nicht zu schlafen. Aber es vergeht viel qualvolle Zeit, bis auf dem Hofe der Hahn zu krähen beginnt. Dies ist mein erster Freudenbote. Sobald er kräht, weiß ich, daß nun in einer Stunde unten der Portier aufwachen und, ärgerlich hustend, zu irgendwelcher Verrichtung die Treppe heraufkommen wird. Und dann wird es draußen vor den Fenstern allmählich heller werden, auf der Straße werden Stimmen laut werden usw. Der Tag beginnt bei mir mit dem Eintreten meiner Frau. Sie kommt zu mir ins Zimmer im Unterrock, unfrisiert, aber bereits gewaschen und nach Eau de Cologne duftend. Sie macht ein Gesicht, als käme sie nur so zufällig herein, und sagt jedesmal ein und dasselbe: »Entschuldige, ich wollte nur einen Augenblick ... Hast du wieder nicht geschlafen?« Dann löscht sie die Lampe aus, setzt sich an den Tisch und beginnt zu reden. Obwohl ich kein Prophet bin, weiß ich im voraus, wovon sie sprechen wird. Es ist jeden Morgen dasselbe. Nachdem sie sich besorgt nach meinem Befinden erkundigt hat, fällt ihr gewöhnlich auf einmal unser Sohn ein, der als Offizier in Warschau steht. Am zwanzigsten jedes Monats schicken wir ihm fünfzig Rubel hin, und das dient nun als hauptsächlichstes Thema unseres Gespräches. »Es fällt uns ja freilich schwer,« sagt meine Frau seufzend, »aber solange er noch nicht auf eigenen Füßen stehen kann, ist es doch unsere Pflicht, ihn zu unterstützen. Der Junge wohnt an einem fremden Orte, und sein Gehalt ist nur klein ... Indessen, wenn du willst, können wir ihm ja im nächsten Monat statt fünfzig nur vierzig Rubel schicken. Was meinst du?« Aus der täglichen Erfahrung könnte meine Frau lernen, daß Ausgaben dadurch nicht kleiner werden, daß man oft von ihnen spricht; aber meine Frau läßt die Erfahrung nicht gelten und unterhält mich pünktlich jeden Morgen von unserem Offizier und davon, daß das Brot Gott sei Dank billiger geworden sei, der Zucker aber leider zwei Kopeken teurer, -- und alles das in einem Tone, als ob sie mir eine Neuigkeit mitteilte. Ich höre zu und äußere mechanisch meine Beistimmung; aber wahrscheinlich infolge der schlaflosen Nacht kommen mir sonderbare, unnütze Gedanken. Ich sehe meine Frau an und wundere mich wie ein Kind. Verständnislos frage ich mich: ist diese alte, sehr korpulente, plumpe Frau mit dem stumpfen Ausdruck kleinlicher Sorge und Angst um das tägliche Brot, mit diesem von steten Gedanken an Schulden und Not verschleierten Blicke, diese Frau, die von weiter nichts zu reden weiß als von Ausgaben, und der nur die Wohlfeilheit der Lebensmittel ein Lächeln entlockt, ist diese Frau wirklich einmal jene schlanke Warja gewesen, in die ich mich leidenschaftlich verliebte wegen ihres guten, klaren Verstandes, wegen ihrer reinen Seele, wegen ihrer Schönheit und, wie Othello in Desdemona, wegen ihres »Mitleides« mit meiner Wissenschaft? Ist diese Frau wirklich jene meine Warja, die mir einst einen Sohn gebar? Ich blicke der fetten, plumpen alten Frau forschend in das Gesicht und suche in ihr meine Warja; aber von ihrem gesamten früheren Wesen ist nur die Angst um meine Gesundheit bestehen geblieben, und dann noch ihre wunderliche Art, mein Gehalt »unser Gehalt« zu nennen und meine Mütze »unsere Mütze«. Es ist mir schmerzlich, sie anzusehen, und um ihr wenigstens eine kleine Liebe anzutun, lasse ich sie sprechen, was sie mag, und schweige sogar still, wenn sie über andere Menschen ungerecht urteilt oder mir Vorwürfe macht, weil ich keine Praxis ausübe und keine Lehrbücher herausgebe. Unser Gespräch endet immer auf die gleiche Weise. Meiner Frau fällt zu ihrem Schrecken plötzlich ein, daß ich noch keinen Tee getrunken habe. »Was sitze ich hier?« sagt sie, sich erhebend. »Der Samowar steht längst auf dem Tische, und ich plaudere hier. Wie gedankenlos ich geworden bin, o Gott!« Sie geht schnell zur Tür, bleibt aber dort stehen, um zu sagen: »Wir sind Jegor noch seinen Lohn für fünf Monate schuldig. Du weißt es doch? Man darf mit der Lohnzahlung an die Dienstboten nicht nachlässig sein, das habe ich dir doch schon wer weiß wie oft gesagt! Zehn Rubel jeden Monat zu bezahlen ist viel leichter als fünfzig mit einem Mal für fünf Monate.« Wenn sie aus der Tür hinaus ist, bleibt sie wieder stehen und sagt: »Niemand tut mir so leid wie unsere arme Lisa. Das Kind besucht doch das Konservatorium und verkehrt stets in guter Gesellschaft; aber dabei ist ihre Toilette so kümmerlich. Ihr Pelz befindet sich in einem solchen Zustande, daß sie sich schämen muß, sich damit auf der Straße zu zeigen. Wäre sie aus anderer Familie, dann käme es ja nicht darauf an; aber so wissen doch alle Leute, daß ihr Vater ein berühmter Professor und Geheimrat ist!« Nachdem sie mir so meinen Ruf und Stand zum Vorwurfe gemacht hat, geht sie endlich fort. Auf diese Weise beginnt mein Tag. Und der weitere Verlauf ist nicht besser. Während ich Tee trinke, kommt meine Tochter Lisa zu mir ins Zimmer, in Pelz und Mützchen, die Notenmappe am Arm, völlig fertig, um ins Konservatorium zu gehen. Sie ist zweiundzwanzig Jahre alt. Nach ihrem Äußeren würde man sie für jünger halten; sie ist recht hübsch und hat einige Ähnlichkeit mit meiner Frau, wie diese in ihrer Jugend aussah. Sie küßt mir zärtlich die Schläfe und die Hand und sagt: »Guten Morgen, Papachen. Fühlst du dich wohl?« Als sie noch ein Kind war, aß sie sehr gern Gefrorenes, und ich mußte sie oft in die Konditorei führen. Eis war ihr der Maßstab für alles Schöne. Wenn sie mich loben wollte, so sagte sie: »Du bist von Sahneneis, Papa.« Von ihren Fingerchen hieß eines das Pistazienfingerchen, das andere das Sahnenfingerchen, das dritte das Himbeerfingerchen usw. Wenn sie morgens zu mir kam, um mir Guten Tag zu sagen, setzte ich sie gewöhnlich auf meinen Schoß, küßte ihre Fingerchen und sagte dabei: »Sahnenfingerchen, Pistazienfingerchen, Zitronenfingerchen ...« Auch jetzt küsse ich aus alter Gewohnheit Lisas Finger und murmele: »Pistazienfingerchen, Sahnenfingerchen, Zitronenfingerchen ...«; aber es hat nicht mehr den richtigen Klang. Ich bin kalt dabei, und darüber schäme ich mich. Wenn meine Tochter zu mir hereinkommt und mit den Lippen meine Schläfe berührt, so zucke ich zusammen, wie wenn mich eine Biene in die Schläfe stäche, lächle gezwungen und wende mein Gesicht ab. Seit ich an Schlaflosigkeit leide, bohrt in meinem Gehirn ein bestimmter Gedanke herum: meine Tochter sieht oft, daß ich, ein alter Mann, ein berühmter Professor, peinlich erröte, weil ich dem Diener Geld schulde; sie sieht, daß die Sorge um kleine Schulden mich oft zwingt, die Arbeit hinzuwerfen, ganze Stunden lang von einer Ecke nach der andern zu gehen und nachzudenken; aber warum ist sie nie hinter dem Rücken ihrer Mutter zu mir gekommen und hat mir zugeflüstert: »Vater, da sind meine Armbänder, meine Uhr, meine Ohrringe, meine Kleider. Trag das alles ins Leihhaus, wenn du Geld brauchst!«? Sie sieht doch, daß wir, ihre Mutter und ich, aus einem falschen Schamgefühle den Leuten unsere Armut zu verbergen suchen; warum verzichtet sie da nicht auf das kostspielige Vergnügen, Musik zu studieren? Annehmen würde ich ja weder die Uhr noch die Armbänder noch sonstige Opfer, Gott behüte; das liegt nicht in meinen Wünschen. Dabei denke ich dann auch an meinen Sohn, den Warschauer Offizier. Er ist ein verständiger, ehrenhafter, nüchterner Mensch. Aber mir genügt das nicht. Ich meine, wenn ich einen alten Vater hätte und wüßte, daß bei ihm Augenblicke vorkommen, wo er sich seiner Armut schämt, dann würde ich meine Offizierstelle jemand anders überlassen und selbst eine Erwerbstätigkeit ergreifen. Solche Gedanken über meine Kinder vergiften mir meine Seele. Was haben solche Gedanken für Zweck? Gegen Menschen gewöhnlichen Schlages nur deshalb ein böses Gefühl hegen, weil sie keine Helden sind, das kann nur ein engherziger oder verbitterter Mensch. Aber genug davon. Um dreiviertel zehn muß ich zu meinen lieben Studenten gehen, um ihnen eine Vorlesung zu halten. Ich kleide mich an und wandere auf dem Wege hin, der mir schon seit dreißig Jahren bekannt ist und für mich seine Geschichte hat. Hier steht ein großes, graues Haus mit einer Apotheke; da stand ehemals ein kleines Häuschen, und darin befand sich ein Bierlokal; in diesem Bierlokale überlegte ich meine Dissertation und schrieb ich meinen ersten Liebesbrief an Warja. Ich schrieb ihn mit Bleistift auf einen Bogen mit dem Kopfdruck: ~Historia morbi~. Da ist ein kleiner Viktualienladen; einstmals gehörte er einem Juden, der mir Zigaretten auf Kredit verkaufte, dann einer dicken Frau, die alle Studenten in ihr Herz geschlossen hatte, weil doch jeder von ihnen eine Mutter habe; jetzt sitzt ein rothaariger Kaufmann darin, ein sehr gleichmütiger Mensch, der aus einer kupfernen Kanne Tee trinkt. Und da ist ja auch schon das seit langer Zeit nicht renovierte Universitätstor und der sich langweilende Hausknecht in seinem Schafpelz und ein paar Besen und große Schneehaufen. Auf einen frischen jungen Menschen, der aus der Provinz kommt und die Vorstellung mitbringt, der Tempel der Wissenschaft werde auch in seiner äußeren Erscheinung ein Tempel sein, kann ein solches Tor keinen guten Eindruck machen. Überhaupt muß man sagen: die Baufälligkeit der Universitätsgebäude, die Dunkelheit der Korridore, die verstaubten, verräucherten Wände, der Mangel an Licht, das klägliche Aussehen der Stufen, der Kleiderhaken und der Bänke, dies alles nimmt in der Geschichte des russischen Pessimismus einen der ersten Plätze unter den prädisponierenden Ursachen ein. Da ist auch unser Universitätsgarten. Seit meiner eigenen Studentenzeit ist er, wie ich glaube, nicht besser und nicht schlechter geworden. Ich kann ihn nicht leiden. Es wäre weit verständiger, wenn statt der schwindsüchtigen Linden, der gelblichgrünen Akazien und des dürftigen, beschnittenen Flieders dort hohe Fichten und kräftige Eichen wüchsen. Der Student, dessen Stimmung meist durch seine Umgebung stark beeinflußt wird, muß da, wo er studiert, auf Schritt und Tritt nur Hohes, Kräftiges und Schönes sehen. Bewahre ihn Gott vor dem Anblick dürrer Bäume, zerbrochener Fensterscheiben, grau gewordener Wände und mit zerrissenem Wachstuch beschlagener Türen! Wenn ich mich derjenigen Tür des Universitätsgebäudes nähere, die zu meinen Räumen führt, so öffnet sie sich, und es begrüßt mich mein langjähriger Dienstgenosse, Altersgenosse und Namensvetter, der Portier Nikolai. Nachdem er mich eingelassen hat, räuspert er sich und sagt: »Es ist kalt heute, Euer Exzellenz!« Oder wenn mein Pelz naß ist, bemerkt er: »Es regnet heute, Euer Exzellenz!« Darauf läuft er vor mir her und öffnet auf meinem Wege alle Türen. In meinem Arbeitszimmer nimmt er mir behutsam den Pelz ab und teilt mir gleichzeitig schleunigst irgendeine Universitätsneuigkeit mit. Dank der nahen Bekanntschaft, die zwischen allen Universitätsportiers und -pedellen besteht, weiß er alles, was in den vier Fakultäten, in der Kanzlei, im Arbeitszimmer des Rektors und in der Bibliothek vorgeht. Was bliebe ihm unbekannt? Zu Zeiten, wo bei uns z. B. der Rücktritt des Rektors oder eines Dekanes die brennende Tagesfrage bildet, höre ich manchmal, wie er im Gespräche mit jüngeren Pedellen die Kandidaten aufzählt und zugleich erläuternd bemerkt, den und den werde der Minister nicht bestätigen, der und der werde selbst verzichten, und wie er sich dann in phantastischen Einzelheiten ergeht über geheimnisvolle Schriftstücke, die in der Kanzlei eingegangen seien, über eine geheime Unterredung zwischen dem Minister und dem Kurator usw. Sieht man von diesen Einzelheiten ab, so erweist sich, daß er im allgemeinen fast immer recht hat. Die Charakteristiken, die er von einem jeden der Kandidaten gibt, sind originell, aber gleichfalls zutreffend. Wer etwa zu erfahren wünscht, in welchem Jahre jemand seine Dissertation verteidigt hat, ins Amt getreten ist, sich hat pensionieren lassen oder gestorben ist, der rufe das gewaltige Gedächtnis dieses ehemaligen Soldaten zu Hilfe; dieser wird nicht nur das Jahr, den Monat und den Tag angeben, sondern auch über die näheren Umstände Mitteilung machen, die das eine oder andere Ereignis begleitet haben. So sich erinnern kann nur, wer mit dem Herzen dabei ist. Er ist der Hüter der Universitätstradition. Von seinen Vorgängern im Portieramt hat er viele Legenden aus dem Universitätsleben geerbt; zu diesem Schatze hat er dann viel eigenes Gut hinzugefügt, das er in seiner Dienstzeit erworben hat, und wenn jemand ein Verlangen danach äußert, so erzählt er ihm eine Menge langer und kurzer Geschichten. Er kann von außerordentlich klugen Männern erzählen, die »alles wußten«, von merkwürdig arbeitsfähigen Professoren, die ganze Wochen lang nicht schliefen, von zahlreichen Märtyrern und Opfern der Wissenschaft; das Gute triumphiert in seinen Erzählungen immer über das Böse, der Schwache besiegt den Starken, der Kluge den Dummen, der Bescheidene den Stolzen, der Junge den Alten. Man braucht ja nicht gerade alle diese Legenden und Erdichtungen für bare Münze zu nehmen; aber man filtriere sie, und es wird als Rückstand etwas Brauchbares auf dem Filter bleiben: unsere guten Traditionen und die Namen wahrer, allgemein anerkannter Geistesheroen. Was man in der sogenannten besseren Gesellschaft unserer Stadt über die Welt der Gelehrten weiß, das sind lediglich Anekdoten über außergewöhnliche Zerstreutheit alter Professoren, sowie zwei oder drei Witze, die bald auf Gruber, bald auf mich, bald auf Babuchin zurückgeführt werden. Für die gebildete Gesellschaft ist das eigentlich etwas wenig. Wenn diese Kreise die Wissenschaft, die Gelehrten und die Studenten so liebten, wie es Nikolai tut, so würde die hiesige Literatur schon längst ganze Heldengedichte, Erzählungen und Biographien aus diesem Gebiete besitzen, deren sie jetzt leider ermangelt. Nachdem Nikolai mir seine Neuigkeit mitgeteilt hat, nimmt sein Gesicht einen sehr ernsten Ausdruck an, und es entspinnt sich zwischen uns ein fachmännisches Gespräch. Wenn ein Fremder dabei mit anhörte, wie flott Nikolai die Terminologie handhabt, so könnte er vielleicht gar denken, das sei ein als Portier maskierter Gelehrter. Aber beiläufig gesagt: die Gerüchte über die Gelehrsamkeit der Universitätsunterbeamten sind stark übertrieben. Allerdings kennt Nikolai über hundert lateinische Benennungen, versteht sich darauf, ein Skelett zusammenzufügen, unter Umständen auch ein Präparat herzustellen, die Studenten durch irgendein langes, gelehrtes Zitat zum Lachen zu bringen; aber z. B. die so einfache Lehre vom Blutumlaufe ist ihm jetzt noch ebenso dunkel wie vor zwanzig Jahren. An einem Tische in meinem Arbeitszimmer sitzt, tief über ein Buch oder ein Präparat gebeugt, mein Prosektor Peter Ignatjewitsch, ein fleißiger, bescheidener, aber talentloser Mensch, etwa fünfunddreißig Jahre alt, aber schon kahlköpfig und dickbäuchig. Arbeiten tut er vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein; er liest eine große Menge und hat für alles Gelesene ein vorzügliches Gedächtnis. In dieser Hinsicht ist er Goldes wert; aber im übrigen ist er ein Lastpferd oder, wie man sich auch auszudrücken pflegt, ein gelehrter Dummkopf. Die charakteristischen Merkmale des Lastpferdes, durch die dieses sich von einem talentvollen Manne unterscheidet, sind folgende: sein Gesichtskreis ist eng und scharf begrenzt, da er eben nur ein Spezialfach umfaßt; außerhalb seines Spezialfaches ist ein solcher Mann naiv wie ein Kind. Ich erinnere mich, daß ich eines Morgens in das Arbeitszimmer hereinkam und sagte: »Denken Sie sich, dieses Unglück! Es heißt, Skobelew sei gestorben.« Nikolai bekreuzte sich, Peter Ignatjewitsch aber sah mich an und fragte: »Was für ein Skobelew?« Ein andermal (es war etwas früher) teilte ich ihm mit, daß Professor Perow gestorben sei. Der gute Peter Ignatjewitsch fragte: »Worüber hat er denn gelesen?« Und wenn dicht vor seinen Ohren die Patti zu singen anfinge, wenn Chinesenhorden über Rußland herfielen, wenn ein Erdbeben stattfände, so würde er vermutlich kein Glied rühren und seelenruhig mit zusammengekniffenem Auge in sein Mikroskop hineinsehen. Mit einem Worte: was kümmert ihn Hekuba? Ich würde viel darum geben, einmal zu sehen, wie dieser trockene Stock bei seiner Frau schläft. Ein zweiter Charakterzug eines solchen Menschen ist: ein fanatischer Glaube an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft und namentlich alles dessen, was die Deutschen schreiben. Er hat ein festes Vertrauen zu sich selbst und zu seinen Präparaten, kennt nach seiner Überzeugung den Zweck des Menschenlebens und weiß absolut nichts von jenen Zweifeln und Enttäuschungen, von denen talentvolle Männer graue Haare bekommen. Er hegt einen sklavischen Respekt vor Autoritäten; das Bedürfnis, selbständig zu denken, kennt er nicht. Ihn zu einer andern Ansicht zu bringen ist schwer, mit ihm zu disputieren unmöglich. Man disputiere einmal mit einem Menschen, der fest überzeugt ist, die beste Wissenschaft sei die Medizin, die besten Menschen die Ärzte, die besten Traditionen die medizinischen. In Wirklichkeit hat sich von der recht üblen Vergangenheit der Medizin nur ein einziger traditioneller Brauch erhalten: die weiße Krawatte, die die Doktoren jetzt tragen, und für einen Gelehrten und überhaupt für einen Gebildeten gibt es nur allgemein akademische Traditionen, ohne jede Scheidung in medizinische, juristische usw.; aber Peter Ignatjewitsch kann sich nicht entschließen, das zuzugeben, und ist bereit, mit einem anders Gesinnten darüber bis zum Jüngsten Tage zu debattieren. Seine Zukunft kann ich mir klar vorstellen. Er wird im Laufe seines ganzen Lebens mehrere hundert außerordentlich saubere Präparate anfertigen, viele trockene, sehr korrekte Referate schreiben, etwa ein Dutzend gewissenhafte Übersetzungen herstellen; aber das Pulver wird er nicht erfinden. Zum Pulvererfinden gehören Phantasie, Erfindungsgabe, Kombinationssinn, und von solchen Dingen besitzt Peter Ignatjewitsch nichts. Kurz, er ist in der Wissenschaft nicht ein Hausherr, sondern ein Arbeitsmann. Wir drei, ich, Peter Ignatjewitsch und Nikolai, sprechen halblaut miteinander. Es ist uns nicht recht behaglich zumute. Es ist doch ein besonderes Gefühl, wenn man auf der anderen Seite der Tür die Zuhörerschar wie ein Meer lärmen hört. In diesen ganzen dreißig Jahren habe ich mich an dieses Gefühl nicht gewöhnt und empfinde es jeden Morgen mit Mißbehagen. Nervös knöpfe ich mir den Rock zu, richte an Nikolai überflüssige Fragen und ärgere mich über mich selbst. Es sieht ganz so aus, als ob ich feige wäre; aber es ist nicht Feigheit, sondern etwas anderes, was ich weder zu benennen noch zu beschreiben imstande bin. Ohne daß es nötig wäre, sehe ich nach der Uhr und sage: »Nun, wie ist's? Wir müssen gehen.« Und wir schreiten in folgender Ordnung einher: voran geht Nikolai mit den Präparaten oder den großen Abbildungen, hinter ihm ich, und hinter mir wandelt, den Kopf bescheiden gebeugt, das Lastpferd; oder aber es wird, wenn es nötig ist, vor uns her auf einer Bahre ein Leichnam getragen, hinter dem Leichnam geht Nikolai usw. Bei meinem Erscheinen stehen die Studenten auf; dann setzen sie sich wieder, und das Getöse des Meeres verstummt plötzlich. Es tritt Windstille ein. Ich weiß, worüber ich zu sprechen habe; aber ich weiß nicht, wie ich sprechen und womit ich anfangen und aufhören werde. In meinem Kopfe ist kein einziger fertiger Satz vorhanden. Aber ich brauche nur meinen Hörsaal anzusehen (er ist amphitheatralisch gebaut) und die herkömmlichen Worte: »In der vorigen Vorlesung sind wir bei ... stehen geblieben«, zu sprechen, so kommen die Sätze in langer Reihe aus meinem Innern herausgeströmt, und nun bin ich im Zuge! Ich rede mit unaufhaltsamer Schnelligkeit und großer Wärme, und man möchte glauben, daß es keine Gewalt gebe, die den Lauf meiner Rede unterbrechen könnte. Um gut vorzutragen, d. h. so, daß das Interesse der Zuhörer geweckt wird und sie Nutzen davon haben, muß man außer dem Talente auch noch eine gewisse Kunstfertigkeit und Erfahrung besitzen; man muß eine klare Vorstellung von der eigenen Kraft, von der Persönlichkeit der Zuhörer und von dem Gegenstande des Vortrages haben. Außerdem muß man ein energischer Mensch sein, muß scharf beobachten und darf keinen Teil des Gesichtsfeldes auch nur für eine Sekunde aus den Augen verlieren. Ein guter Kapellmeister verrichtet, wenn er den Gedanken eines Komponisten zu Gehör bringt, zwanzig verschiedene Dinge zu gleicher Zeit: er liest die Partitur, schwingt den Taktstock, beobachtet den Sänger, macht eine Bewegung zur Seite hin bald nach der Trommel, bald nach dem Waldhorn usw. Ebenso mache auch ich es, wenn ich vortrage. Vor mir habe ich hundertfünfzig Gesichter, von denen keines dem anderen ähnlich ist, und dreihundert Augen, die mir gerade ins Gesicht schauen. Mein Ziel ist, diese vielköpfige Hydra zu besiegen. Wenn ich während meines Vortrages in jedem Augenblicke eine klare Vorstellung von dem Grade der Aufmerksamkeit und des Verständnisses meiner Zuhörer habe, dann sind diese in meiner Gewalt. Ein anderer Gegner steckt in mir selbst. Dies ist die endlose Mannigfaltigkeit der Formen, Erscheinungen und Gesetze und die dadurch bedingte Fülle eigener und fremder Gedanken. In jedem Augenblick muß ich die Geschicklichkeit besitzen, aus diesem gewaltigen Material das Wichtigste und Notwendigste herauszugreifen und ebenso schnell, wie meine Rede dahinfließt, meine Gedanken in eine solche Form zu kleiden, daß sie dem Verständnis der vielköpfigen Zuhörerschaft angemessen ist und deren Interesse erwecken kann, wobei genau darauf zu achten ist, daß die Gedanken nicht so, wie sie sich angehäuft haben, sondern in einer gewissen Ordnung übermittelt werden, die zu einer regelrechten Komposition des Gemäldes, das ich entwerfen will, unerläßlich ist. Ferner gebe ich mir Mühe, dafür zu sorgen, daß mein Vortrag sprachlich korrekt, die Definitionen kurz und bestimmt, der Satzbau möglichst einfach und schön sei. Jeden Augenblick muß ich mich selbst zügeln und mir ins Gedächtnis zurückrufen, daß ich nur eine Stunde und vierzig Minuten zur Verfügung habe. Kurz, es ist genug zu tun. Ich muß mich gleichzeitig als Gelehrter, als Pädagog und als Redner betätigen, und es wäre ein schlimmes Ding, wenn der Redner in mir über den Pädagogen und Gelehrten den Sieg davontrüge, oder umgekehrt. Man trägt eine Viertelstunde, eine halbe Stunde vor, und da bemerkt man, daß die Studenten nach der Zimmerdecke und nach Peter Ignatjewitsch zu blicken anfangen, und daß einer sein Taschentuch hervorholt, ein anderer sich bequemer hinsetzt, ein dritter über seine eigenen Gedanken lächelt. Das sind Anzeichen dafür, daß die Aufmerksamkeit müde und stumpf wird. Dagegen müssen Maßregeln ergriffen werden. Ich benutze die erste geeignete Gelegenheit, um irgendein Späßchen anzubringen. Alle hundertfünfzig Gesichter verziehen sich zu einem breiten Lächeln, die Augen leuchten vergnügt auf, das Brausen des Meeres läßt sich für kurze Zeit wieder vernehmen. Ich lache ebenfalls. Die Aufmerksamkeit ist wieder angefrischt, und ich kann fortfahren. Kein Sport, keine Zerstreuungen und Spiele haben mir jemals einen solchen Genuß gewährt wie das Halten von Vorlesungen. Nur bei den Vorlesungen konnte ich mich ganz meinem Affekte überlassen und verstand, daß die Eingebung nicht eine Erfindung der Dichter ist, sondern tatsächlich existiert. Und ich glaube, Herkules hat nach der großartigsten seiner Heldentaten nicht eine so wonnige Ermattung empfunden, wie ich sie jedesmal nach einer Vorlesung durchmachte. So war das früher. Jetzt dagegen empfinde ich bei den Vorlesungen nur Qual. Es vergeht keine halbe Stunde, so beginne ich in den Beinen und Schultern eine unüberwindliche Schwäche zu fühlen; ich setze mich auf den Stuhl; aber im Sitzen vorzutragen ist mir ungewohnt; eine Minute darauf stehe ich wieder auf und fahre stehend fort; dann setze ich mich von neuem hin. Die Mundhöhle wird mir trocken, die Stimme heiser, der Kopf schwindlig. Um den Zuhörern meinen Zustand zu verbergen, trinke ich öfters Wasser, huste, schneuze mich oft, als ob mir ein Schnupfen lästig wäre, mache an unpassenden Stellen Späße und schließe zuletzt die Vorlesung früher, als es in der Ordnung ist. Aber hauptsächlich schäme ich mich. Gewissen und Verstand sagen mir, daß das Beste, was ich jetzt tun könnte, wäre: den Studenten eine Abschiedsvorlesung zu halten, ihnen Lebewohl zu sagen, ihnen alles Gute für ihren weiteren Lebensweg zu wünschen und meinen Platz jemandem abzutreten, der jünger und kräftiger ist als ich. Aber Gott möge mich richten: es fehlt mir der Mut, so zu handeln, wie mich mein Gewissen handeln heißt. Unglücklicherweise bin ich weder ein Philosoph noch ein Theologe. Ich weiß ganz genau, daß ich nicht mehr länger als ein halbes Jahr leben werde; man sollte nun meinen, jetzt müßten mich vor allem die Fragen nach den Visionen, die meinen Schlaf im Grabe vielleicht heimsuchen werden, und nach dem dunklen Dasein im Jenseits beschäftigen. Aber merkwürdigerweise will meine Seele von diesen Fragen nichts wissen, obwohl der Verstand die hohe Wichtigkeit derselben anerkennt. Wie vor zwanzig bis dreißig Jahren, so interessiert mich auch jetzt vor dem Tode ausschließlich die Wissenschaft. Wenn ich meinen letzten Seufzer ausstoße, so werde ich doch noch an dem Glauben festhalten, daß die Wissenschaft das Wichtigste, Schönste und Notwendigste im Leben ist, daß sie immer die höchste Offenbarung der Liebe gewesen ist und sein wird, und daß nur durch sie der Mensch die Natur und sich selbst besiegen kann. Dieser Glaube ist vielleicht naiv und mangelhaft begründet; aber ich kann nichts dafür, daß ich diesen Glauben habe und keinen andern; und diesen Glauben in mir zu zerstören, dazu bin ich außerstande. Aber darum handelt es sich nicht. Ich bitte nur, man wolle meine Schwäche nachsichtig beurteilen und es sich klar machen, daß, wenn man einen Menschen, den die Veränderungen des Knochenmarkes mehr interessieren als das Endziel des Weltgebäudes, von seinem Katheder und von seinen Schülern wegreißt, dies dasselbe bedeutet, wie wenn man, ohne zu warten, bis er gestorben ist, ihn in einen Sarg legen und diesen zunageln wollte. Infolge der Schlaflosigkeit und des anstrengenden Kampfes mit der zunehmenden Schwäche begegnet mir etwas ganz Seltsames. Mitten in der Vorlesung steigen mir plötzlich die Tränen in die Kehle, die Augen fangen mir an zu jucken, und ich empfinde den leidenschaftlichen, hysterischen Wunsch, die Arme nach vorn zu strecken und laut zu klagen. Ich möchte es laut hinausschreien, daß das Schicksal mich, den berühmten Mann, zum Tode verurteilt hat, daß nach ungefähr einem halben Jahre hier in diesem Auditorium schon ein anderer walten wird. Ich möchte es hinausschreien, daß ich vergiftet bin; neue Gedanken, die ich früher nicht gekannt habe, haben meine letzten Lebenstage vergiftet und stechen fortdauernd mein Gehirn wie Moskitos. Und meine Lage erscheint mir bei solchen Anfällen so furchtbar, daß ich wünsche, alle meine Hörer möchten einen entsetzlichen Schreck bekommen, von ihren Plätzen aufspringen und in panischer Angst mit verzweifeltem Geschrei zum Ausgang hinstürzen. Es ist nicht leicht, solche Augenblicke zu durchleben. II Nach der Vorlesung sitze ich bei mir zu Hause und arbeite. Ich lese Zeitschriften und Dissertationen oder bereite mich auf die folgende Vorlesung vor; manchmal schreibe ich auch etwas. Ich arbeite mit Unterbrechungen, da ich dabei Besucher empfangen muß. Die Klingel ertönt. Ein Kollege ist gekommen, um mit mir etwas Geschäftliches zu besprechen. Er tritt mit Hut und Stock in mein Zimmer, streckt mir in jeder Hand einen dieser Gegenstände entgegen und sagt: »Ich komme nur auf einen Augenblick, nur auf einen Augenblick! Bleiben Sie sitzen, Kollege! Nur zwei Worte!« Zunächst suchen wir einander zu zeigen, daß wir beide außerordentlich höfliche Menschen und beide sehr erfreut sind, einander zu sehen. Ich nötige ihn in einen Lehnsessel, und er sucht mich zum Sitzen zu veranlassen; dabei streicheln wir uns wechselseitig behutsam an der Rocktaille und berühren die Knöpfe des andern; es sieht so aus, als ob wir einander betasteten, uns aber hierbei zu verbrennen fürchteten. Wir lachen beide, obwohl wir nichts Lächerliches sagen. Nachdem wir zum Sitzen gekommen sind, beugen wir uns mit den Köpfen zueinander und beginnen halblaut zu reden. Mögen wir einander auch noch so freundlich gesinnt sein, es ist dennoch unumgänglich nötig, daß wir unsere Reden mit allerlei chinesischen Phrasen vergolden, als da sind: »Sie beliebten sehr richtig zu bemerken«, oder: »Wie ich schon die Ehre hatte Ihnen zu sagen«, und es ist unumgänglich nötig, daß wir lachen, wenn einer von uns einen Witz macht, mag er auch noch so geringwertig sein. Nach Beendigung des geschäftlichen Gespräches steht der Kollege mit einer hastigen Bewegung auf, weist mit seinem Hute nach meiner Arbeit hin und beginnt sich zu empfehlen. Wieder betasten wir uns gegenseitig und lachen dabei. Ich begleite ihn bis ins Vorzimmer; hier bin ich meinem Kollegen beim Anziehen des Pelzes behilflich; aber er wehrt sich in jeder Weise gegen diese hohe Ehre. Wenn dann Jegor die Tür öffnet, versichert mir der Kollege, ich würde mich erkälten; ich aber tue, als hätte ich vor, sogar bis auf die Straße hinter ihm her zu gehen. Und wenn ich dann endlich in mein Arbeitszimmer zurückkehre, so fährt mein Gesicht, wohl infolge des Beharrungsvermögens, immer noch fort zu lächeln. Nach einem Weilchen klingelt es wieder. Es tritt jemand ins Vorzimmer, zieht sich lange aus und hustet. Jegor meldet, es sei ein Student da. Ich sage: »Ich lasse bitten.« Einen Augenblick darauf tritt ein junger Mensch von angenehmem Äußern in mein Zimmer. Schon seit einem Jahre stehen wir beide miteinander auf gespanntem Fuße: er gibt bei mir im Examen abscheulich schlechte Antworten, und ich erteile ihm das Prädikat Nicht genügend. Solcher jungen Leute, die ich, um studentisch zu reden, durchplumpsen oder durchrasseln lasse, sammeln sich bei mir im Laufe eines Jahres ungefähr sieben Stück an. Diejenigen unter ihnen, die das Examen wegen Unfähigkeit oder wegen Krankheit nicht bestehen, tragen ihr Kreuz gewöhnlich mit Geduld und machen nicht den Versuch, mich umzustimmen; dagegen neigen die Sanguiniker dazu, zu mir ins Haus zu kommen und mit mir zu feilschen und zu handeln; das sind leichtlebige Naturen, denen die Nötigung, das Examen noch einmal abzulegen, den Appetit verdirbt und an regelmäßigem Besuche der Oper hinderlich ist. Den ersteren gegenüber übe ich gern Nachsicht; aber die zweite Sorte lasse ich ein ganzes Jahr lang durchfallen. »Nehmen Sie Platz,« sage ich zu dem Besucher. »Was bringen Sie?« »Entschuldigen Sie die Störung, Herr Professor,« beginnt er stotternd und ohne mir ins Gesicht zu sehen. »Ich hätte nicht gewagt, Sie zu belästigen, wenn ich nicht ... Ich habe bei Ihnen schon fünfmal das Examen gemacht und ... und bin durchgefallen. Ich bitte Sie inständig, haben Sie die Güte und geben Sie mir Genügend; denn ...« Die Begründung, die alle Faulpelze zu ihren Gunsten vorbringen, ist immer ein und dieselbe: sie hätten das Examen in allen Fächern sehr gut bestanden, nur in meinem seien sie durchgefallen, und dies sei um so erstaunlicher, da sie gerade in meinem Fache immer sehr fleißig studiert hätten und gut darin Bescheid wüßten; sie seien nur infolge irgendeines unbegreiflichen Mißverständnisses durchgefallen. »Entschuldigen Sie, lieber Freund,« sage ich zu dem Besucher, »genügend kann ich Ihnen nicht geben. Repetieren Sie noch ein bißchen, und kommen Sie dann wieder! Dann wollen wir sehen.« Es tritt in dem Gespräche eine Pause ein. Es reizt mich, den Studenten ein bißchen zu quälen, zur Strafe dafür, daß er das Bier und die Oper mehr liebt als die Wissenschaft, und ich sage mit einem Seufzer: »Meiner Ansicht nach ist das Beste, was Sie jetzt tun können, ganz aus der medizinischen Fakultät auszutreten. Wenn es Ihnen bei Ihren Anlagen schlechterdings nicht gelingen will, das Examen zu bestehen, so haben Sie offenbar weder die Neigung noch den Beruf dazu, Arzt zu werden.« Das Gesicht des Sanguinikers zieht sich in die Länge. »Verzeihen Sie, Herr Professor,« erwidert er lächelnd, »aber das würde doch von meiner Seite wenigstens sehr sonderbar sein. Fünf Jahre zu studieren und dann auf einmal abzuspringen!« »Nun ja, gewiß! Aber es ist doch besser, fünf Jahre zu verlieren, als nachher das ganze Leben lang eine Tätigkeit auszuüben, die man nicht liebt.« Aber sogleich fängt er mir auch an leid zu tun, und ich beeile mich hinzuzufügen: »Handeln Sie übrigens, wie es Ihnen gut scheint! Also arbeiten Sie noch ein bißchen, und kommen Sie dann wieder!« »Wann?« fragt der Faulpelz in dumpfem Tone. »Wann Sie wollen. Meinetwegen morgen.« Und in seinen gutmütigen Augen lese ich den Gedanken: »Kommen könnte ich schon; aber du Racker würdest mich ja doch wieder durchfallen lassen!« »Gewiß,« sage ich, »Sie werden nicht gelehrter dadurch werden, wenn Sie sich noch fünfzehnmal von mir examinieren lassen; aber es wird zu Ihrer Charakterbildung beitragen. Und das ist doch auch ein schöner Gewinn.« Es folgt wieder eine Pause. Ich erhebe mich und warte, daß der Besucher fortgeht; aber er bleibt stehen, blickt nach dem Fenster hin, zupft an seinem Bärtchen und überlegt. Die Sache beginnt langweilig zu werden. Die Stimme des Sanguinikers ist angenehm und volltönend, seine Augen verständig und etwas spöttisch, das Gesicht seelengut, vom vielen Biertrinken und dem langen Herumliegen auf dem Sofa ein wenig aufgedunsen; anscheinend könnte er mir viel Interessantes über die Oper, über seine Liebesabenteuer und über die Kommilitonen, die er gern hat, erzählen; aber leider ist es nicht üblich, von dergleichen zu sprechen. Ich würde es ganz gern hören. »Herr Professor, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: wenn Sie mir Genügend geben, so werde ich ...« Sowie das Gespräch beim Ehrenworte angelangt ist, winke ich abwehrend mit den Händen und setze mich an den Tisch. Der Student denkt noch eine Minute lang nach und sagt dann niedergeschlagen: »Dann also adieu ... Entschuldigen Sie!« »Adieu, lieber Freund. Möge es Ihnen gut gehen!« Er geht unentschlossen in das Vorzimmer und zieht sich dort langsam an; nachdem er auf die Straße hinausgetreten ist, denkt er wahrscheinlich nochmals lange nach. Aber da ihm nichts weiter einfällt als mit Bezug auf mich »Alter Satan!« vor sich hinzumurmeln, geht er in ein schlechtes Restaurant, um Bier zu trinken und Mittagbrot zu essen, und dann nach Hause, um zu schlafen. Friede deiner Asche, du ehrlicher Freund der Arbeit! Es klingelt zum dritten Male. In mein Zimmer tritt ein junger Arzt in einem neuen, schwarzen Anzuge, mit einer goldenen Brille und selbstverständlich mit einer weißen Krawatte. Er stellt sich vor. Ich bitte ihn, Platz zu nehmen, und frage, was zu seinen Diensten steht. Nicht ohne eine gewisse Erregung beginnt der junge Priester der Wissenschaft mir zu erzählen, er habe in diesem Jahre sein Doktorexamen bestanden und müsse jetzt nur noch eine Dissertation schreiben. Er möchte gern bei mir, unter meiner Leitung, arbeiten, und ich würde ihn zu großem Dank verpflichten, wenn ich ihm ein Thema für seine Dissertation angeben wollte. »Ich freue mich sehr, Ihnen nützlich sein zu können, Herr Kollege,« sage ich. »Aber lassen Sie uns zunächst darüber einig werden, was denn eigentlich eine Dissertation ist. Unter diesem Worte pflegt man doch eine Abhandlung zu verstehen, die ein Produkt selbständigen Schaffens darstellt. Nicht wahr? Eine Abhandlung aber, die über ein fremdes Thema und unter fremder Leitung geschrieben ist, die nennt man anders ...« Der Doktorand schweigt. Ich werde hitzig und springe von meinem Stuhle auf. »Ich begreife nicht, warum die Herren alle zu mir kommen!« rufe ich ärgerlich. »Bin ich denn ein Händler? Ich habe keine Themata feil! Zum tausendundersten Male bitte ich Sie alle, mich in Ruhe zu lassen! Entschuldigen Sie meine Taktlosigkeit; aber die Sache ist mir wahrhaftig schließlich zum Ekel geworden!« Der Doktorand schweigt, und nur in der Gegend der Backenknochen erscheint auf seinem Gesicht eine leichte Röte. Seine Miene drückt eine hohe Achtung vor meinem berühmten Namen und vor meiner Gelehrsamkeit aus; aber an seinen Augen sehe ich, daß er mich wegen meines erregten Tones und wegen meiner kläglichen Gestalt und wegen meiner nervösen Bewegungen geringschätzt. Ich erscheine ihm in meinem Zorne als ein wunderlicher Geselle. »Ich bin kein Händler!« wiederhole ich ärgerlich. »Es ist doch auch wunderlich: warum wollen Sie denn nicht selbständig sein? Warum ist Ihnen denn die Freiheit so zuwider?« Ich rede viel; er aber schweigt dauernd. Schließlich beruhige ich mich allmählich und gebe natürlich nach. Der Doktorand wird von mir ein Thema erhalten, das keinen Dreier wert ist, wird unter meiner Aufsicht eine Dissertation schreiben, von der niemand etwas hat, wird mit Würde die langweilige Disputation überstehen und einen akademischen Grad erhalten, der ihm nichts nützt. Manchmal wird meine Klingel einmal nach dem andern in Bewegung gesetzt, ohne Ende; aber hier beschränke ich mich darauf, nur noch einen vierten Besuch zu erwähnen. Es klingelt zum viertenmal, und ich höre bekannte Schritte, das Rascheln eines Frauenkleides und eine liebe Stimme ... Vor achtzehn Jahren starb ein Kollege von mir, ein Augenarzt, und hinterließ eine siebenjährige Tochter Katja und etwa sechzigtausend Rubel. In seinem Testamente hatte er mich als Vormund eingesetzt. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahre lebte Katja in meiner Familie; dann gab ich sie in ein Erziehungsinstitut, und sie verlebte bei mir nur die Sommermonate, wo sie Ferien hatte. Mich mit ihrer Erziehung zu beschäftigen, dazu hatte ich keine Zeit; ich beobachtete das Mädchen nur in meinen Mußestunden und kann daher über ihre Kindheit nur sehr wenig sagen. Das Erste, was mir im Gedächtnis haftet und mir eine liebe Erinnerung bildet, ist die außerordentliche Zutraulichkeit, mit der sie in mein Haus eintrat, mit der sie sich in Krankheitsfällen von den Ärzten behandeln ließ, und die überhaupt immer auf ihrem Gesichtchen leuchtete. Manchmal saß sie mit verbundener Backe irgendwo in einem Eckchen, und dann konnte man sicher sein, daß sie irgend etwas mit Aufmerksamkeit betrachtete. Und ob sie nun zu solchen Zeiten zusah, wie ich schrieb und in Büchern blätterte, oder wie meine Frau in der Wirtschaft tätig war, oder wie die Köchin in der Küche die Kartoffeln wusch, oder wie der Hund spielte: immer drückten dabei ihre Augen unabänderlich einen und denselben Gedanken aus: »Alles, was in dieser Welt geschieht, ist schön und vernünftig.« Sie war wißbegierig und sprach sehr gern mit mir. Oft saß sie am Tische mir gegenüber, verfolgte mit den Augen meine Bewegungen und stellte Fragen. Es interessierte sie, zu wissen, was ich läse, und was ich in der Universität täte, und ob ich mich vor den Leichen nicht fürchtete, und was ich mit meinem Gehalt anfinge. »Prügeln sich die Studenten in der Universität?« fragte sie. »Ja, das tun sie, liebes Kind.« »Und lassen Sie sie dafür zur Strafe knien?« »Ja, das tue ich.« Und es kam ihr komisch vor, daß die Studenten sich prügelten und ich sie knien ließe, und sie lachte herzlich darüber. Sie war ein sanftes, geduldiges, seelengutes Kind. Nicht selten bekam ich zu sehen, wie man ihr etwas wegnahm, sie ohne Grund bestrafte oder ihre Wißbegierde nicht befriedigte; dann gesellte sich zu dem ständigen Ausdrucke von Zutraulichkeit auf ihrem Gesichte noch ein Ausdruck von Traurigkeit, aber weiter nichts. Ich verstand nicht, sie gebührend in Schutz zu nehmen, und nur wenn ich ihre Traurigkeit sah, regte sich in mir das Verlangen, sie an mich zu ziehen und im Tone einer alten Kinderfrau bedauernd zu ihr zu sagen: »O du meine liebe Waise!« Ich besinne mich auch, daß sie Freude daran hatte, sich gut zu kleiden und sich mit Parfüm zu bespritzen. In dieser Hinsicht hatte sie mit mir Ähnlichkeit. Auch ich habe schöne Garderobe und gute Parfüms sehr gern. Ich bedaure, daß ich keine Zeit und Lust hatte, den Beginn und die Entwickelung einer Leidenschaft zu verfolgen, in deren Bann Katja schon im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren vollständig hineingeraten war. Ich meine ihre leidenschaftliche Liebe zum Theater. Wenn sie für die Ferienzeit aus dem Institute zu uns kam und bei uns lebte, sprach sie von nichts mit solchem Vergnügen und solcher Wärme wie von Theaterstücken und Schauspielern. Sie ermüdete uns durch ihre beständigen Gespräche über das Theater. Meine Frau und meine Kinder hörten ihr nicht mehr zu. Nur ich hatte nicht den Mut, ihr meine Aufmerksamkeit zu verweigern. Wenn bei ihr der Wunsch rege wurde, ihren Enthusiasmus mit jemandem zu teilen, so kam sie zu mir in mein Arbeitszimmer und sagte in flehendem Tone: »Nikolai Stepanowitsch, erlauben Sie mir, mit Ihnen ein bißchen vom Theater zu reden?« Ich wies auf die Uhr und sagte: »Ich gewähre dir eine halbe Stunde. Fang an!« Später brachte sie ganze Dutzende von Porträts der von ihr angebeteten Schauspieler und Schauspielerinnen mit; darauf versuchte sie einige Male, bei Liebhabervorstellungen mitzuwirken, und schließlich, als sie die Schule durchgemacht hatte, erklärte sie mir, sie sei zur Schauspielerin geboren. Ich habe Katjas Schwärmerei für das Theater nie geteilt. Meine Ansicht ist die: wenn ein Stück gut ist, so braucht man, damit es den richtigen Eindruck macht, nicht erst die Schauspieler zu bemühen; man kann sich mit der Lektüre begnügen; wenn das Stück aber schlecht ist, so ist kein Spiel imstande, ein gutes daraus zu machen. In meiner Jugend habe ich häufig das Theater besucht, und jetzt nimmt meine Familie zweimal im Jahre eine Loge und schleppt mich auch mit hin, »zum Auslüften«. Das reicht ja freilich nicht dazu aus, um mich zu einem Urteil über das Theater zu berechtigen; aber ich will doch ein paar Worte darüber sagen. Meiner Ansicht nach ist das Theater nicht besser geworden, als es vor dreißig bis vierzig Jahren war. Wie früher kann ich weder in den Korridoren des Theaters noch im Foyer ein einfaches Glas Wasser bekommen. Wie früher nehmen mich die Theaterdiener für meinen Pelz in eine Geldstrafe von zwanzig Kopeken, obwohl doch in dem Tragen warmer Kleidung zur Winterszeit nichts Anstößiges liegt. Wie früher spielt in den Zwischenakten ohne jeden Anlaß die Musik und fügt zu dem durch das Stück hervorgerufenen Eindruck einen neuen, unerbetenen hinzu. Wie früher gehen die Männer in den Zwischenakten zum Büfett, um alkoholische Getränke zu genießen. Wenn so in Kleinigkeiten kein Fortschritt sichtbar ist, so würde ich ihn auch in wichtigeren Dingen vergebens suchen. Wenn ein Schauspieler, der sich vom Kopf bis zu den Füßen in die Traditionen und Vorurteile des Theaterwesens verstrickt hat, seine Bemühung darauf richtet, den ganz schlichten, gewöhnlichen Monolog »Sein oder nicht sein« nicht in schlichter Art, sondern aus einem unerfindlichen Grunde mit obligatem Zischen und mit Krämpfen im ganzen Körper vorzutragen, oder wenn er mir um jeden Preis einzureden sucht, daß Tschazki[1], der sich so viel mit Dummköpfen unterhält und eine dumme Frauensperson liebt, ein sehr verständiger Mensch und »Verstand schafft Leiden« ein interessantes Stück sei, dann weht mich von der Bühne ebenderselbe öde Geist an, der mir schon vor vierzig Jahren langweilig war, als man mich mit klassisch sein sollender Heulerei und An-die-Brust-schlagen regalierte. Und jedesmal komme ich aus dem Theater mit konservativerer Gesinnung heraus, als ich hineingegangen bin. Der empfindsamen, leichtgläubigen Menge kann man einreden, daß das Theater in seinem jetzigen Zustande eine Bildungsstätte sei. Aber wer da weiß, was eine Bildungsstätte im wahren Sinne des Wortes ist, den fängt man nicht mit diesem Köder. Wie die Sache nach fünfzig bis hundert Jahren aussehen wird, weiß ich nicht; unter den gegenwärtigen Verhältnissen jedoch kann das Theater nur als Mittel zur Zerstreuung dienen. Aber diese Zerstreuung kommt der menschlichen Gesellschaft auf die Dauer denn doch etwas zu teuer zu stehen. Denn sie entzieht dem Staate Tausende von jungen, gesunden, talentvollen Männern und Frauen, die, wenn sie sich nicht dem Theater gewidmet hätten, gute Ärzte, Landwirte, Lehrerinnen und Offiziere sein könnten; sie entzieht dem Publikum die Abendstunden, die beste Zeit zu geistiger Arbeit und geselliger Unterhaltung. Ich rede gar nicht einmal von den Geldausgaben und von dem sittlichen Schaden, den der Zuschauer erleidet, wenn er sieht, wie auf der Bühne Mord, Ehebruch und Verleumdung in unrichtiger Weise behandelt werden. Katja aber war ganz anderer Meinung. Sie beteuerte mir, das Theater stehe, auch in seinem jetzigen Zustande, hoch über allen Auditorien und Büchern und über allem, was es in der Welt gebe. Das Theater sei eine Macht, die alle Künste in sich vereinige, und die Schauspieler seien Missionare der wahren Bildung. Keine Kunst und keine Wissenschaft sei für sich allein imstande, so stark und so sicher auf die menschliche Seele zu wirken wie die Bühne, und daher erfreue sich mit gutem Grunde selbst ein Schauspieler mittleren Ranges im Lande einer weit größeren Popularität als der trefflichste Gelehrte oder Künstler. Und keine andere gemeinnützige Tätigkeit könne einen solchen Genuß und eine solche Befriedigung gewähren wie die schauspielerische. Und eines schönen Tages trat Katja in eine Schauspielertruppe ein und reiste weg, ich glaube nach Ufa; sie nahm eine bedeutende Geldsumme, eine Unmenge buntschillernder Hoffnungen und eine ideale Auffassung ihres Berufes mit. Ihre ersten Briefe von der Fahrt waren bewundernswürdig. Ich las sie und war geradezu erstaunt, wie diese kleinen Papierbogen so viel Jugendfrische, seelische Reinheit, heilige Naivität und gleichzeitig so viel feine sachliche Urteile, die einem guten Männerverstande Ehre gemacht hätten, enthalten konnten. Die Wolga, die Natur, die Städte, die sie besuchte, die Kollegen, was sie an Erfolgen und Mißerfolgen erlebte, alles das schilderte sie nicht sowohl, sondern sie besang es; jede Zeile atmete die Zutraulichkeit, die ich auf ihrem Gesichte zu sehen gewohnt gewesen war, -- und dabei eine Masse von orthographischen Fehlern, und die Interpunktionszeichen fehlten fast vollständig. Es verging kein halbes Jahr, da empfing ich einen im höchsten Grade poetischen, schwärmerischen Brief, der mit den Worten begann: »Ich habe mich verliebt.« Beigelegt war diesem Briefe eine Photographie, die einen jungen Mann mit glatt rasiertem Gesichte darstellte, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopfe, ein Plaid über die Schulter geworfen. Die darauf folgenden Briefe waren ebenso prächtig wie die früheren; aber es tauchten in ihnen schon zahlreichere Interpunktionszeichen auf, die orthographischen Fehler waren verschwunden, und alles an ihnen deutete auf die Mitarbeiterschaft eines Mannes hin. Katja begann mir solche Dinge zu schreiben: es würde ein guter Gedanke sein, irgendwo an der Wolga ein großes Theater zu erbauen, und zwar jedenfalls auf Aktien, und zu diesem Unternehmen reiche Kaufleute und Dampfschiffsreeder heranzuziehen; Geld werde auf diese Art in Menge zur Verfügung stehen; die Einnahmen würden ganz gewaltige sein; die Schauspieler würden auf Grund eines Gesellschaftsvertrages spielen. Vielleicht war das alles wirklich ein guter Gedanke; aber es schien mir, daß solche Pläne nur aus dem Kopfe eines Mannes hervorgegangen sein könnten. Wie dem auch sein mochte, anderthalb bis zwei Jahre lang schien alles gut und nach Wunsch zu gehen: Katja liebte, sie glaubte an ihren Beruf und war glücklich; aber dann begann ich in ihren Briefen deutliche Anzeichen des Niederganges wahrzunehmen. Dies fing damit an, daß Katja sich bei mir über ihre Kollegen beklagte; das ist immer das erste und mißlichste Symptom; wenn ein junger Gelehrter oder Schriftsteller bei Ausübung seiner Tätigkeit sich über andere Gelehrte oder Schriftsteller bitter beklagt, so bedeutet das, daß er bereits müde geworden ist und zu seiner Berufsarbeit nicht mehr taugt. Katja schrieb mir, ihre Kollegen kämen nicht zu den Proben und könnten ihre Rollen niemals ordentlich; an dem Dringen auf Ausführung abgeschmackter Stücke und an ihrer Art, sich auf der Bühne zu benehmen, merke man bei einem jeden von ihnen eine völlige Mißachtung des Publikums; den einzigen Gegenstand ihres Gespräches bildeten die Einnahmen, und im Interesse der Einnahmen erniedrigten sich die dramatischen Schauspielerinnen zum Singen von Chansons, und die Tragöden sängen Couplets, deren Inhalt Späße über betrogene Ehemänner und über die Schwangerschaft treuloser Gattinnen bildeten. Überhaupt müsse man sich wundern, daß das Bühnenwesen in der Provinz noch nicht vollständig zugrunde gegangen sei und sich auf einer so schwachen, morschen Grundlage halten könne. Als Antwort schickte ich Katja einen langen und, wie ich bekennen muß, sehr langweiligen Brief. Unter anderem schrieb ich ihr: »Ich habe nicht selten Gelegenheit gehabt, mit älteren Schauspielern zu reden, vornehm denkenden Männern, die mir ihr freundliches Wohlwollen zuwandten; aus den Gesprächen mit ihnen konnte ich entnehmen, daß die Art ihrer Tätigkeit nicht sowohl von ihrem eigenen Urteil und ihrem freien Willen als vielmehr von der Mode und der Stimmung des Publikums abhing; selbst die besten unter ihnen mußten ihr Leben lang bald in Tragödien, bald in Operetten, bald in Pariser Schwänken, bald in Feerien spielen, und hatten dabei doch immer gleichmäßig das Gefühl, daß sie auf geradem Wege wanderten und Nutzen stifteten. Somit hat man, wie du siehst, die Ursache des Übels nicht bei den Schauspielern zu suchen, sondern tiefer, in der Kunst selbst und in dem Verhältnisse des ganzen Publikums zur Kunst.« Dieser mein Brief hatte nur den Erfolg, Katja in heftige Erregung zu versetzen. Sie antwortete mir: »Wir beide, Sie und ich, reden von ganz verschiedenen Dingen. Ich schrieb Ihnen nicht von den vornehm denkenden Männern, die Ihnen ihr freundliches Wohlwollen zuwandten, sondern von einer Gaunerbande, die von vornehmer Gesinnung nichts weiß. Es ist eine Horde von Wilden, die nur deswegen auf die Bühne geraten sind, weil man sie an keiner andern Stelle angenommen haben würde, und die sich lediglich aus Unverschämtheit Künstler nennen. Kein einziges Talent ist darunter, wohl aber viele Unbegabte, Trunkenbolde, Intriganten und Zwischenträger. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie es mich schmerzt, daß die Kunst, die ich so sehr liebe, in die Hände dieser mir verhaßten Menschen geraten ist, und wie weh es mir tut, daß die besten Menschen das Übel nur von fern sehen, nicht näher herantreten mögen und, statt sich der Sache anzunehmen, in schwerfälligem Stile Gemeinplätze und Moralpredigten schreiben, die niemandem etwas nützen können ...« und so weiter, immer in demselben Tone. Es verging wieder einige Zeit, da erhielt ich folgenden Brief: »Ich bin in unmenschlicher Weise betrogen worden. Ich kann nicht weiterleben. Verfügen Sie über mein Geld, wie Sie es für angemessen halten! Ich habe Sie geliebt wie einen Vater und als meinen einzigen Freund. Verzeihen Sie mir!« Es hatte sich herausgestellt, daß auch ihr »Er« zu der »Horde von Wilden« gehörte. Später konnte ich aus einigen Andeutungen erraten, daß sie einen Versuch gemacht hatte, sich das Leben zu nehmen. Sie hatte versucht, sich zu vergiften. Ich mußte annehmen, daß sie darauf ernstlich krank geworden war, da ich den nächsten Brief schon aus Jalta erhielt, wohin sie wahrscheinlich von den Ärzten geschickt worden war. Dieser enthielt die Bitte, ihr möglichst schnell tausend Rubel nach Jalta zu schicken, und schloß folgendermaßen: »Entschuldigen Sie, daß dieser Brief so trübe klingt. Ich habe gestern mein Kind begraben.« Nachdem sie in der Krim etwa ein Jahr lang gelebt hatte, kehrte sie nach Hause zurück. Ihr Umherreisen von Ort zu Ort hatte ungefähr vier Jahre gedauert, und während dieser ganzen vier Jahre hatte ich, wie ich eingestehen muß, ihr gegenüber eine sonderbare, ziemlich klägliche Rolle gespielt. Als sie mir zuerst erklärt hatte, sie wolle Schauspielerin werden, und mir dann von ihrer Liebe geschrieben hatte, und als sie periodisch von Verschwendungssucht ergriffen worden war und ich ihr häufig auf ihr Verlangen bald tausend, bald zweitausend Rubel hatte schicken müssen, und als sie mir von ihrer Absicht zu sterben und dann von dem Tode ihres Kindes geschrieben hatte, da hatte ich jedesmal nicht recht gewußt, was ich tun sollte, und meine ganze Anteilnahme an ihrem Geschick hatte sich nur darin geäußert, daß ich viel nachdachte und ihr umfängliche, langweilige Briefe schrieb, die ich gut und gern hätte ungeschrieben lassen können. Und dabei sollte ich ihr doch eigentlich den leiblichen Vater ersetzen und liebte sie auch wirklich wie eine Tochter! Jetzt wohnt Katja nur eine halbe Werst von mir entfernt. Sie hat sich eine Wohnung von fünf Zimmern gemietet und sich darin ziemlich komfortabel und nach ihrem persönlichen Geschmack eingerichtet. Wenn jemand ihre Einrichtung charakterisieren wollte, so müßte er als das bedeutsamste Moment die Trägheit bezeichnen. Da sind für den trägen Körper weiche Chaiselongues und weiche Sessel, für die trägen Füße weiche Teppiche, für das träge Auge blasse, trübe, matte Farben, für den trägen Geist an den Wänden eine Unmasse billiger, buntbemalter Fächer und kleiner Bilder, bei denen der dargestellte Gegenstand hinter der Originalität der Ausführung zurücktritt, eine Menge von Tischchen und Regalen, die mit unnützen, wertlosen Dingen ganz vollgestellt sind, formlose Lappen statt der Vorhänge usw. Diese ganze Einrichtung mit der sich darin bekundenden Scheu vor hellen Farben, vor Symmetrie und vor freiem Raum zeugt nicht nur von seelischer Trägheit, sondern auch von einer Verbildung des natürlichen Geschmacks. Ganze Tage lang liegt Katja auf einer Chaiselongue und liest Bücher, vorzugsweise Romane und Novellen. Das Haus verläßt sie nur einmal am Tage, nachmittags, um mich zu besuchen. Ich arbeite; Katja aber sitzt nicht weit von mir auf dem Sofa, schweigt und wickelt sich in ihren Schal, als ob sie fröre. Sei es, weil sie mir sympathisch ist, oder weil ich an ihre Besuche noch von der Zeit her gewöhnt bin, wo sie als Mädchen so oft in meinem Zimmer war: ihre Anwesenheit hindert mich nicht, meine Aufmerksamkeit auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ab und zu richte ich mechanisch irgendeine Frage an sie, und sie gibt mir eine sehr kurze Antwort; oder ich wende mich, um mich einen Augenblick zu erholen, zu ihr und sehe, wie sie, in Gedanken versunken, in irgendein medizinisches Journal oder in eine Zeitung blickt. Und dabei bemerke ich, daß der frühere Ausdruck von Zutraulichkeit auf ihrem Gesichte nicht mehr vorhanden ist. Ihr Gesicht sieht jetzt kalt, gleichgültig und zerstreut aus, wie bei Reisenden, die lange auf den Zug warten müssen. Gekleidet ist sie wie früher schön und einfach, aber nachlässig; man sieht, daß ihrer Toilette und ihrer Frisur die Chaiselongues und Schaukelstühle, auf denen sie tagelang umherliegt, nicht gut bekommen. Auch ist sie nicht mehr wißbegierig, wie sie es doch früher war. Sie richtet an mich keine Fragen mehr; es ist, als hätte sie im Leben schon alles durchgemacht und erwartete nicht mehr etwas Neues zu hören. Kurz vor vier Uhr macht sich im Saale und im Salon eine Bewegung bemerklich. Es ist Lisa, die aus dem Konservatorium gekommen ist und ein paar Freundinnen mitgebracht hat. Man hört, wie sie Klavier spielen, ihre Stimmen versuchen und lachen. Im Eßzimmer deckt Jegor den Tisch und klappert mit dem Geschirr. »Leben Sie wohl,« sagt Katja. »Zu Ihren Damen gehe ich heute nicht mehr hinein; sie müssen mich schon entschuldigen; ich habe keine Zeit. Besuchen Sie mich!« Während ich sie bis ins Vorzimmer begleite, blickt sie mich unzufrieden vom Kopfe bis zu den Füßen an und sagt ärgerlich: »Aber Sie werden immer magerer! Warum gebrauchen Sie keine Kur? Ich werde mich an Sergei Fedorowitsch wenden und ihn herschicken. Der soll Sie gründlich untersuchen.« »Das ist nicht nötig, Katja.« »Ich begreife nicht, wie Ihre Angehörigen das mitansehen können! Es ist geradezu eine Sünde!« Sie zieht mit heftigen Bewegungen ihren Pelz an, wobei aus ihrer nachlässig hergestellten Frisur mit Sicherheit zwei oder drei Haarnadeln auf den Fußboden fallen. Die Frisur wieder zurechtzumachen, ist sie zu träge, hat auch keine Zeit dazu; sie schiebt die heruntergefallenen Locken unordentlich unter ihr Mützchen und geht. Wenn ich in das Eßzimmer trete, fragt mich meine Frau: »Katja ist eben bei dir gewesen? Warum ist sie denn nicht zu uns hereingekommen? Das ist doch geradezu sonderbar ...« »Aber Mama!« sagt Lisa in vorwurfsvollem Tone. »Wenn sie nicht will, dann läßt sie es bleiben. Wir werden sie doch nicht auf den Knien darum bitten!« »Jedenfalls ist es eine arge Nichtachtung. Sitzt da drei Stunden lang in Papas Arbeitszimmer und denkt nicht an uns. Na, aber wie es ihr beliebt!« Warja und Lisa hassen Katja. Dieser Haß ist mir unverständlich, und wahrscheinlich muß man, um ihn zu verstehen, ein Weib sein. Ich möchte mich mit meinem Kopfe dafür verbürgen, daß unter den hundertfünfzig jungen Männern, die ich fast täglich in meinem Auditorium sehe, und den hundert älteren, mit denen ich jede Woche zusammenkomme, sich kaum einer findet, der für diesen Haß und Abscheu gegen Katjas Vergangenheit (weil sie nämlich ein uneheliches Kind gehabt hat) ein Verständnis besäße; und gleichzeitig kann ich mich auf kein weibliches Wesen unter den Frauen und jungen Mädchen meiner Bekanntschaft besinnen, das nicht, sei es bewußt, sei es instinktiv, gegen eine solche Geschlechtsgenossin von jenen Gefühlen des Hasses und Abscheus erfüllt wäre. Und das kommt nicht etwa daher, daß die Frau keuscher und reiner ist als der Mann; denn wenn Keuschheit und Reinheit mit solchen boshaften Gefühlen verbunden sind, so sind sie nur wenig besser als das Laster. Sondern ich erkläre mir das einfach aus der Rückständigkeit der Frau. Wenn der heutige Mann beim Anblick eines solchen Unglücks ein wehmütiges Gefühl des Mitleids empfindet und sein Gewissen ihn peinigt, so lassen mich diese Empfindungen eher auf eine hohe Stufe der Kultur und Sittlichkeit schließen als jener Haß und Abscheu. Das heutige Weib besitzt noch dieselbe Neigung zum Weinen und dieselbe Härte des Herzens wie das Weib des Mittelalters. Und meines Erachtens handeln diejenigen ganz richtig, die den Frauen raten, ihrer Bildung dieselbe Richtung zu geben wie die Männer. Meine Frau kann Katja auch deswegen nicht leiden, weil sie Schauspielerin gewesen ist, ferner wegen ihrer Undankbarkeit und wegen ihres Stolzes und wegen ihres exzentrischen Benehmens und wegen all der zahlreichen Laster, die eine Frau immer an einer andern herauszufinden versteht. Außer mir und meiner Familie pflegen bei uns noch zwei oder drei Freundinnen meiner Tochter zu Mittag zu speisen, sowie ein Herr Alexander Adolfowitsch Gnecker, ein Verehrer Lisas, der sich um ihre Hand bewirbt. Er ist ein junger Mann, kaum dreißig Jahre alt, blond, von mittlerer Statur, sehr wohlgenährt, breitschultrig, mit einem rötlichen Backenbart an den Ohren und einem dunkelgefärbten Schnurrbärtchen, das seinem vollen, glatten Gesichte das Aussehen einer Spielzeugfigur verleiht. Er trägt ein sehr kurzes Jackett, eine bunte Weste, großkarierte Beinkleider, die oben sehr weit und unten sehr eng sind, und gelbe Halbstiefel ohne Absätze. Seine Augen stehen hervor wie bei einem Krebse; die Krawatte hat mit einem Krebsschwanze Ähnlichkeit, und es will mir sogar so vorkommen, als ob dieser ganze junge Mensch nach Krebssuppe röche. Er ist bei uns täglich zu Besuch; aber niemand in meiner Familie weiß, von welcher Herkunft er ist, wo er seine Bildung genossen hat, und wo er die Mittel zum Leben herbekommt. Er spielt kein Instrument und singt nicht, hat aber doch eine gewisse Beziehung sowohl zur Instrumentalmusik als auch zum Gesange; er verkauft irgendwo für irgend jemand Klaviere, hält sich oft im Konservatorium auf, ist mit allen Berühmtheiten bekannt und hat bei Konzerten allerlei zu arrangieren. Er urteilt über Musik mit großer Bestimmtheit, und wie ich bemerkt habe, schließen sich alle seinem Urteile willig an. Wie reiche Leute immer ein paar Parasiten um sich haben, so ist es auch mit der Wissenschaft und mit der Kunst. Es gibt wohl auf der Welt keine Kunst oder Wissenschaft, die von Fremdkörpern, in der Art dieses Herrn Gnecker, frei wäre. Ich bin kein Musiker und irre mich vielleicht hinsichtlich dieses Herrn, den ich zudem nur wenig kenne; aber die autoritative Würde, mit der er am Flügel steht und zuhört, wenn jemand singt oder spielt, kommt mir gar zu verdächtig vor. Man mag hundertmal ein Gentleman und Geheimrat sein, aber wenn man eine Tochter hat, so kann man sich durch nichts vor dem Spießbürgertum sichern, das einem durch die Courmacherei, den Heiratsantrag und die Hochzeit ins Haus hineingetragen wird und einem die Stimmung verdirbt. So kann ich mich z. B. schlechterdings nicht mit der feierlichen Miene abfinden, die meine Frau jedesmal annimmt, wenn Herr Gnecker bei uns sitzt, auch nicht mit den Flaschen Lafitte, Portwein und Sherry, die nur seinetwegen auf den Tisch kommen, um ihn durch den Augenschein zu überzeugen, wie behaglich und luxuriös wir leben. Ich kann auch Lisas abgebrochenes Lachen nicht vertragen, das sie sich im Konservatorium angewöhnt hat, und ihre Manier, die Augen zusammenzukneifen, wenn Herren bei uns zu Besuch sind. Und vor allen Dingen kann ich absolut nicht begreifen, warum da tagtäglich ein Mensch in mein Haus kommt und mit mir zu Mittag speist, der zu meinen Gewohnheiten, zu meiner Wissenschaft, zu meiner ganzen Lebensweise nicht im geringsten paßt und mit denjenigen Menschen, die ich gern habe, nicht die geringste Ähnlichkeit besitzt. Meine Frau und die Dienerschaft flüstern heimlich, das sei »ein Freiersmann«; aber ich habe trotzdem kein Verständnis für seine Anwesenheit; sie erregt bei mir eine solche Verwunderung, als hätte sich ein Zulukaffer zu mir an den Tisch gesetzt. Und ebenso seltsam kommt es mir vor, daß meine Tochter, die ich für ein Kind anzusehen gewohnt bin, diese Krawatte und diese Augen und diese weichen Backen liebt ... Früher machte das Mittagessen mir Freude oder ließ mich gleichgültig; aber jetzt erregt es mir nur Langeweile und macht mich nervös. Seit ich Exzellenz geworden und eine Zeitlang Dekan der Fakultät gewesen bin, hat meine Familie es aus einem mir unverständlichen Grunde für nötig befunden, das Menü und die gesamte Ordnung unseres Mittagessens vollständig umzuändern. Statt der einfachen Gerichte, an die ich mich gewöhnt hatte, als ich noch Student und praktischer Arzt war, bekomme ich jetzt eine Püree-Suppe, in der irgendwelche weiße Klütern schwimmen, und Nieren in Madeira zu essen. Mein Generalsrang und meine Berühmtheit haben mich auf immer der Kohlsuppe beraubt und der schmackhaften Piroggen und des Gänsebratens mit Äpfeln und des Brassens mit Grütze. Sie haben mich auch des Stubenmädchens Agascha beraubt, einer geschwätzigen, lachlustigen alten Person, statt deren jetzt beim Mittagessen Jegor serviert, ein dummer, hochmütiger Bursche, mit einem weißen Handschuh auf der rechten Hand. Die Pausen zwischen den Gerichten sind nur kurz, erscheinen aber außerordentlich lang, weil wir nichts haben, womit wir sie ausfüllen könnten. Es fehlt die frühere Heiterkeit, die ungezwungenen Gespräche, die Scherze, das Gelächter, die gegenseitigen Zärtlichkeiten und jene Freude, die ehemals die Kinder und meine Frau und ich schon darüber zu empfinden pflegten, daß wir uns im Eßzimmer zusammenfanden; für mich, einen vielbeschäftigten Mann, war das Mittagessen eine Zeit der Erholung, des Wiedersehens mit den Meinen, und für meine Frau und die Kinder war es eine wenn auch kurze, so doch vergnügte und fröhliche Feierzeit, wo sie wußten, daß ich für eine halbe Stunde nicht der Wissenschaft und nicht den Studenten, sondern einzig und allein ihnen und sonst niemandem gehörte. Jetzt kann ich nicht mehr das Kunststück ausführen, mich an einem einzigen Gläschen zu betrinken, und Agascha ist nicht mehr da, und der Brassen mit Grütze ist nicht mehr da, und auch der Lärm fehlt, der immer die kleinen aufregenden Ereignisse beim Mittagessen begleitete, wenn z. B. der Hund und die Katze sich unter dem Tische bissen oder das Tuch, das sich Katja um die Backe gebunden hatte, ihr in den Suppenteller fiel. Die jetzige Mittagsmahlzeit zu schildern ist ebenso unerfreulich wie sie wirklich durchzumachen. Auf dem Gesichte meiner Frau liegt eine gewisse Feierlichkeit, eine gekünstelte Würde und der gewöhnliche sorgenvolle Ausdruck. Unruhig blickt sie auf unsere Teller und sagt: »Ich sehe, der Braten schmeckt euch nicht. Sagt doch die Wahrheit: er schmeckt euch wirklich nicht?« Und ich bin dann genötigt zu antworten: »Du machst dir unnütze Sorge, liebe Frau; der Braten schmeckt sehr gut.« Und dann sie wieder: »Du willst mich immer verteidigen, Nikolai Stepanowitsch, und sagst nie, was Du wirklich denkst. Warum hat denn Alexander Adolfowitsch so wenig gegessen?« Und in dieser Art geht es während des ganzen Mittagessens weiter. Lisa lacht in ihrer abgebrochenen Manier und kneift die Augen zusammen. Ich sehe meine Frau und meine Tochter an und werde mir gerade jetzt beim Mittagessen vollständig klar darüber, daß das innere Leben der beiden schon längst meiner Beobachtung entschlüpft ist. Ich habe ein Gefühl, als hätte ich früher einmal mit meiner richtigen Familie zu Hause gelebt, wäre aber jetzt bei einer fremden Dame, nicht bei meiner richtigen Frau, zum Mittagessen und sähe da ein fremdes junges Mädchen, nicht meine richtige Lisa, vor mir. Mit beiden ist eine starke Veränderung vorgegangen, und ich habe diesen langen Veränderungsprozeß gewissermaßen verschlafen, und so ist es denn kein Wunder, daß ich jetzt nichts begreife. Wie ist es zu dieser Veränderung gekommen? Ich weiß es nicht. Möglicherweise rührt das ganze Unglück daher, daß Gott meiner Frau und meiner Tochter nicht so viel Kraft verliehen hat wie mir. Ich war von meiner Kindheit an gewöhnt, äußeren Einflüssen Widerstand zu leisten, und habe mich hinlänglich abgehärtet; solche Katastrophen im Leben wie das Berühmtwerden, die Erlangung des Generalsranges, der Übergang von einem auskömmlichen Leben zu einem Leben, das die Mittel übersteigt, der Eintritt in den Verkehr mit vornehmen Leuten, und mehr dergleichen, all das hat mich daher kaum berührt, und ich bin heil und unversehrt geblieben; aber auf meine Frau und Lisa, die schwach und nicht abgehärtet waren, ist dies alles zusammengestürzt wie eine große Schneewand und hat sie erdrückt. Die jungen Damen und Herr Gnecker reden über Fugen, über Kontrapunkt, über Sänger und Pianisten, über Bach und Brahms; meine Frau aber, welche in den Verdacht der Unwissenheit auf musikalischem Gebiete zu kommen fürchtet, lächelt interessiert und murmelt: »Ganz reizend ... Wirklich? Gewiß, gewiß ...« Herr Gnecker ißt tüchtig, macht wohlanständige Scherze und hört nachsichtig die Bemerkungen der jungen Damen an. Mitunter bekundet er das Bestreben, ein schlechtes Französisch zu sprechen, und dann hält er (ich weiß nicht warum) für nötig, mich ~votre excellence~ zu titulieren. Ich aber bin ärgerlich. Augenscheinlich geniere ich sie alle, und sie genieren mich. Nie habe ich früher etwas von Feindschaft gegen einen andern Stand gewußt; jetzt aber quält mich tatsächlich etwas von dieser Art. Ich bemühe mich, an Herrn Gnecker nur schlechte Eigenschaften herauszufinden, finde solche auch wirklich bald und bin mißgestimmt darüber, daß da als Bewerber um die Hand meiner Tochter ein Mensch sitzt, der einem ganz andern Kreise angehört als ich. Seine Anwesenheit hat auch noch in einer andern Hinsicht einen schlechten Einfluß auf mich. Gewöhnlich, wenn ich allein bin oder mich in Gesellschaft von Leuten befinde, die mir sympathisch sind, denke ich gar nicht an meine Verdienste, oder wenn mir doch der Gedanke an sie kommt, so erscheinen sie mir so geringfügig, als wäre ich erst gestern ein Gelehrter geworden; aber in Gegenwart solcher Leute, wie Herr Gnecker, kommen mir meine Verdienste wie ein sehr hoher Berg vor, dessen Gipfel in den Wolken verschwindet, und an dessen Fuße, für das Auge kaum sichtbar, die Menschen von der Art des Herrn Gnecker sich herumbewegen. Nach Tische gehe ich in mein Arbeitszimmer und rauche dort ein Pfeifchen, das einzige während des ganzen Tages; mehr ist von meiner früheren schlechten Gewohnheit, vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein zu paffen, nicht übriggeblieben. Während ich rauche, kommt meine Frau zu mir herein und setzt sich hin, um mit mir zu reden. Gerade so wie am Vormittage weiß ich auch jetzt, wovon unser Gespräch handeln wird. »Ich habe mit dir etwas Ernstes zu besprechen, Nikolai Stepanowitsch,« beginnt sie. »Ich wollte von Lisa reden. Warum wendest du darauf keine Aufmerksamkeit?« »Was meinst du damit?« »Du tust, als ob du nichts merktest; aber das ist doch ein falsches Benehmen. Man darf die Sache nicht so gehen lassen, ohne sich darum zu kümmern. Gnecker hat ernste Absichten auf Lisa. Was sagst du dazu?« »Daß er ein schlechter Mensch ist, kann ich nicht sagen, da ich ihn nicht kenne; aber daß er mir nicht gefällt, habe ich dir schon tausendmal gesagt.« »Aber es ist unrecht ... es ist unrecht ...« Sie steht auf und geht in großer Erregung auf und ab. »Es ist unrecht, einer ernsten Sache gegenüber einen solchen Standpunkt einzunehmen,« sagt sie. »Wenn es sich um das Lebensglück der Tochter handelt, dann muß man alles Persönliche ausschalten. Ich weiß, daß er dir nicht gefällt ... Das kann ja sein ... Aber wenn wir ihn jetzt abweisen und die Sache verhindern, dann ist zu befürchten, daß Lisa uns ihr ganzes Leben lang Vorwürfe machen wird. Es wimmelt heutzutage nicht von Freiern, und es kann leicht kommen, daß sich ihr keine andere Partie mehr bietet. Er liebt Lisa sehr, und anscheinend findet auch sie an ihm Gefallen. Er hat ja allerdings keine gesicherte Stellung; aber was ist da zu machen? So Gott will, wird er schon mit der Zeit irgendwo ankommen. Er ist aus guter Familie und reich.« »Woher weißt du das?« »Er hat es gesagt. Sein Vater besitzt in Charkow ein großes Haus und in der Nähe von Charkow ein Gut. Kurz gesagt, Nikolai Stepanowitsch, du mußt unbedingt nach Charkow reisen.« »Warum?« »Du mußt da Erkundigungen anstellen. Du bist ja dort mit einigen Professoren bekannt; die werden dir behilflich sein. Ich würde selbst hinfahren; aber ich bin ein Weib. Ich kann es nicht.« »Ich reise nicht nach Charkow,« erwidere ich mürrisch. Meine Frau bekommt einen Schreck, und auf ihrem Gesichte erscheint ein Ausdruck qualvollen Schmerzes. »Um Gottes willen, Nikolai Stepanowitsch!« fleht sie mich schluchzend an. »Um Gottes willen, nimm mir diese schwere Sorge von der Seele! Ich leide darunter entsetzlich!« Wie ich sie so ansehe, tut sie mir leid. »Nun gut, Warja,« sage ich freundlich. »Wenn du es wünschest, will ich meinetwegen nach Charkow fahren und alles tun, was du möchtest.« Sie drückt das Taschentuch gegen die Augen und geht auf ihr Zimmer, um zu weinen. Ich bleibe allein. Nach einiger Zeit bringt man mir Licht. Von den Sesseln und dem Lampenschirm lagern sich auf den Wänden und auf dem Fußboden die mir längst bekannten, längst zuwider gewordenen Schatten, und wenn ich sie ansehe, so will es mir scheinen, daß es schon Nacht sei, und daß meine nichtswürdige Schlaflosigkeit schon beginne. Ich lege mich ins Bett; dann stehe ich wieder auf und wandere im Zimmer auf und ab; dann lege ich mich wieder hin ... Gewöhnlich erreicht nach dem Mittagessen, vor dem Abend, meine nervöse Erregung ihren höchsten Grad. Ich fange ohne Veranlassung zu weinen an und stecke den Kopf unter das Kopfkissen. In solchen Augenblicken fürchte ich mich davor, daß jemand eintreten könnte; ich fürchte, plötzlich zu sterben, schäme mich meiner Tränen, und meine ganze Seele ist von einem allgemeinen, unerträglichen Schmerz erfüllt. Ich fühle, daß ich nicht länger imstande bin, meine Lampe, meine Bücher, die Schatten auf dem Fußboden anzusehen und die aus dem Salon herübertönenden Stimmen anzuhören. Eine unsichtbare, unbegreifliche Macht zieht mich gewaltsam aus meiner Wohnung hinaus. Ich springe auf, kleide mich hastig an und gehe vorsichtig, damit meine Hausgenossen es nicht gewahr werden, auf die Straße. Wo soll ich hingehen? Die Antwort auf diese Frage steckt schon längst fertig in meinem Gehirn: zu Katja. III Sie liegt wie gewöhnlich auf dem türkischen Sofa oder einer Chaiselongue und liest ein Buch. Sobald sie mich erblickt, hebt sie träge den Kopf in die Höhe, setzt sich aufrecht und streckt mir die Hand entgegen. »Immer liegst du,« sage ich, nachdem ich ein Weilchen geschwiegen und mich erholt habe. »Das ist ungesund. Du solltest dir irgendeine Tätigkeit zurechtmachen.« »Was sagen Sie?« »Ich sage, du solltest dir irgendeine Tätigkeit zurechtmachen.« »Was für eine Tätigkeit? Eine Frau kann weiter nichts sein als entweder einfache Arbeiterin oder Schauspielerin.« »Nun gut: wenn du also nicht Arbeiterin sein kannst, so werde wieder Schauspielerin.« Sie schweigt. »Du solltest heiraten,« sage ich halb im Scherz. »Ich wüßte nicht, wen. Und es liegt mir auch nichts daran.« »So, wie du lebst, das ist kein Leben.« »Ohne Mann? Große Sache! Männer könnte ich haben, soviel ich wollte, wenn ich nur Lust hätte.« »Das ist häßlich, Katja.« »Was ist häßlich?« »Was du da eben gesagt hast.« Da sie merkt, daß ich mich verletzt fühle, möchte sie den üblen Eindruck wieder gutmachen und sagt: »Kommen Sie! Wir wollen anderswohin gehen. Dorthin.« Sie führt mich in ein kleines, sehr behagliches Zimmerchen und sagt, indem sie auf einen Schreibtisch hinweist: »Da! Ich habe ihn für Sie angeschafft. Hier können Sie arbeiten. Kommen Sie alle Tage her und bringen Sie Ihre Arbeit mit! Dort bei Ihnen zu Hause stört man Sie doch nur. Wollen Sie hier arbeiten? Ja? Wollen Sie?« Um sie nicht durch eine abschlägige Antwort zu kränken, erwidere ich ihr, ich würde bei ihr arbeiten, und das Zimmer gefalle mir außerordentlich. Darauf lassen wir uns beide in dem gemütlichen Zimmerchen nieder und fangen an, uns zu unterhalten. Die Wärme, die anheimelnde Umgebung und die Anwesenheit eines mir sympathischen Menschen erwecken in mir jetzt nicht wie in früheren Zeiten ein Gefühl des Vergnügens, sondern einen starken Drang zu klagen und zu murren. Ich habe die Vorstellung, wenn ich murre und klage, wird mir leichter ums Herz werden. »Es ist ein übles Ding, mein liebes Kind!« beginne ich mit einem Seufzer. »Ein sehr übles Ding ...« »Was denn?« »Ich will dir sagen, um was es sich handelt, meine Liebe. Das schönste und heiligste Recht der Könige ist das Recht der Begnadigung. Und ich bin mir immer wie ein König vorgekommen, da ich dieses Recht in unbegrenztem Maße ausübte. Ich habe nie über jemand den Stab gebrochen, bin nachsichtig gewesen und habe gern allen Menschen rings um mich herum verziehen. Wo andere protestierten und empört waren, da habe ich nur durch Ratschläge und Überredung zu wirken gesucht. Mein ganzes Leben hindurch ist mein Bestreben nur darauf gerichtet gewesen, meiner Familie, den Studenten, den Kollegen, den Dienstboten den Verkehr mit mir erträglich zu machen. Und dieses mein Betragen den Menschen gegenüber hat, das weiß ich, auf alle, die mit mir zu tun hatten, erzieherisch gewirkt. Aber jetzt bin ich kein König mehr. In meiner Seele bildet sich eine Gesinnung heraus, die nur für Sklavenseelen paßt; in meinem Kopfe wimmelt es Tag und Nacht von bösen Gedanken, und in meinem Herzen hat sich ein ganzer Schwarm von Empfindungen eingenistet, wie ich sie früher nie gekannt habe. Ich hasse, verachte, bin mißvergnügt und empört und fürchte mich. Ich bin über die Maßen streng, anspruchsvoll, reizbar, unliebenswürdig und argwöhnisch geworden. Selbst Dinge, die mir früher lediglich Anlaß gaben, einen munteren Scherz zu machen und gutmütig zu lachen, rufen jetzt bei mir ein drückendes, beängstigendes Gefühl hervor. Auch meine Logik hat sich geändert: früher richtete sich meine Verachtung nur gegen das Geld; jetzt aber hege ich ein feindseliges Gefühl gegen die Reichen, als ob diese irgendwelche Schuld träfe; früher haßte ich Gewalttätigkeit und Willkür; aber jetzt hasse ich die Menschen, die gewalttätig verfahren, als ob sie allein schuld wären und nicht vielmehr wir alle, die wir einander nicht zu erziehen verstehen. Woher kommt das? Wenn diese neuen Gedanken und neuen Empfindungen in einer Veränderung meiner Überzeugungen ihren Ursprung haben, welchen Grund mag dann diese Veränderung haben? Ist die Welt schlechter geworden und ich besser, oder war ich früher blind und achtlos? Wenn aber diese Veränderung von einem allgemeinen Verfall meiner körperlichen und geistigen Kräfte herrührt (ich bin ja tatsächlich krank und verliere täglich an Gewicht), dann ist meine Lage eine ganz klägliche, dann sind meine neuen Gedanken nicht normal, sondern krankhaft, und ich muß mich ihrer schämen und sie für völlig wertlos erachten ...« »Ihre Krankheit hat damit nichts zu tun,« unterbricht mich Katja; »es sind Ihnen einfach die Augen aufgegangen; das ist das Ganze. So haben Sie erblickt, was Sie früher aus irgendwelchem Grunde nicht wahrnehmen wollten. Meiner Ansicht nach ist vor allen Dingen notwendig, daß Sie sich von Ihrer Familie trennen und von ihr fortgehen.« »Du redest Torheiten.« »Sie lieben sie nicht mehr; wozu da noch heucheln? Und ist denn das eine Familie für Sie? Ganz wertlose Geschöpfe! Wenn sie heute stürben, so würde sie schon morgen kein Mensch mehr vermissen.« Katja verachtet meine Frau und meine Tochter ebenso stark, wie diese beiden sie hassen. Man darf in unserer Zeit ja kaum von einem Rechte der Menschen reden, einander zu verachten. Aber wenn man sich auf Katjas Standpunkt stellt und das Vorhandensein eines solchen Rechtes behauptet, dann muß man allerdings sagen, daß sie mit demselben Rechte meine Frau und Lisa verachtet, mit welchem diese sie hassen. »Ganz wertlose Geschöpfe!« sagt sie noch einmal. »Haben Sie heute zu Mittag gegessen? Mich wundert nur, daß Ihre Angehörigen nicht vergessen haben, Sie zu Tisch zu rufen, daß sie überhaupt noch an Ihre Existenz denken.« »Katja,« sage ich in strengem Tone, »ich bitte dich zu schweigen.« »Meinen Sie denn, daß es mir Vergnügen macht, von ihnen zu reden? Ich wäre froh, wenn ich sie überhaupt nicht kennte. Hören Sie auf mich, teurer Freund: lassen Sie alles im Stich, und reisen Sie weg! Reisen Sie ins Ausland! Je eher, um so besser.« »Was für Unsinn! Und die Universität?« »Lassen Sie auch die Universität im Stich! Was haben Sie von der? Etwas Gescheites kommt ja doch nicht dabei heraus. Da halten Sie nun schon dreißig Jahre lang Vorlesungen, und was ist aus Ihren Schülern geworden? Haben Sie etwa viele berühmte Gelehrte herangebildet? Zählen Sie sie doch einmal zusammen! Und um die Zahl dieser Ärzte zu vermehren, die die Unwissenheit der Patienten ausbeuten und Hunderttausende von Rubeln zusammenscharren, dazu bedarf es keines talentvollen, herzensguten Menschen. Sie sind hier völlig entbehrlich.« »Mein Gott, was hast du für eine scharfe Zunge!« sage ich erschrocken. »Was für eine scharfe Zunge! Schweig still, sonst gehe ich fort. Ich verstehe mich nicht darauf, auf deine bissigen Reden zu antworten.« Das Stubenmädchen tritt ein und ruft uns zum Tee. Beim Samowar wendet sich unser Gespräch glücklicherweise anderen Gegenständen zu. Nachdem ich bereits zur Genüge geklagt habe, bekomme ich Lust, der andern Schwäche, die mein Alter mit sich gebracht hat, freien Lauf zu lassen, dem Umherkramen in Erinnerungen. Ich erzähle Katja aus meiner Vergangenheit und teile ihr zu meinem eigenen größten Erstaunen allerlei Einzelheiten mit, von denen ich gar nicht geahnt habe, daß sie sich noch in meinem Gedächtnis erhalten haben. Sie aber hört mir gerührt, stolz, mit angehaltenem Atem zu. Besondere Freude macht es mir, ihr davon zu erzählen, wie ich ehemals Seminarschüler war, und wie es das Ziel meiner Sehnsucht war, die Universität zu beziehen. »Manchmal ging ich in unserem Seminargarten spazieren,« erzähle ich. »Da trug der Wind aus irgendeiner fernen Schenke die Töne einer quiekenden Harmonika und eines Liedes herüber, oder es jagte an dem Zaune des Seminargartens eine Troika mit Schellengeklingel vorbei, und dies genügte vollständig, um plötzlich ein Gefühl des Glückes nicht nur in meiner Brust, sondern auch in meinem Bauche, in den Beinen, in den Händen hervorzurufen. Ich horchte nach der Harmonika oder dem verklingenden Schellengeläute hin und stellte mir vor, ich sei Arzt, und malte mir Bilder aus, eines immer schöner als das andere. Und nun sind, wie du siehst, meine Träume in Erfüllung gegangen. Ich habe mehr erreicht, als ich zu hoffen wagte. Dreißig Jahre lang bin ich ein beliebter Professor gewesen, habe vortreffliche Kollegen gehabt und mich eines ehrenvollen Renommees erfreut. Ich habe geliebt, habe aus leidenschaftlicher Liebe geheiratet; es sind mir Kinder geboren. Kurz, wenn ich zurückblicke, so erscheint mir mein ganzes Leben wie eine hübsche, talentvolle Komposition. Jetzt bleibt mir nur noch eines zu tun: dafür zu sorgen, daß ich das Finale nicht verderbe. Zu diesem Zwecke muß ich in einer menschenwürdigen Weise sterben. Wenn der Tod wirklich eine Gefahr ist, so muß ich ihm so entgegentreten, wie es sich für einen Lehrer, für einen Gelehrten und für den Bürger eines christlichen Staates ziemt: mutig und ruhigen Herzens. Aber ich werde das Finale verderben. Ich bin nahe daran, zu ertrinken, komme zu dir hergelaufen und bitte um Hilfe; du aber sagst zu mir: ›Ertrinken Sie nur; das muß so sein!‹« Aber in diesem Augenblick ertönt im Vorzimmer die Klingel. Wir beide, Katja und ich, erkennen diese Art zu klingeln und sagen: »Das ist gewiß Michail Fedorowitsch.« Und wirklich tritt einen Augenblick darauf mein Kollege, der Philologe Michail Fedorowitsch, ins Zimmer, ein hochgewachsener, wohlgebildeter Mann von etwa fünfzig Jahren, mit dichtem, grauem Haar, schwarzen Brauen und glatt rasiertem Gesicht. Er ist ein guter Mensch und ein vorzüglicher Kollege. Er stammt aus einer alten Adelsfamilie, die eine recht glückliche Vergangenheit hat, viele talentvolle Männer zu ihren Mitgliedern zählt und in der Geschichte unserer Literatur und Bildung eine bedeutende Rolle spielt. Auch er selbst ist klug, talentvoll und hochgebildet, aber nicht frei von Sonderbarkeiten. Bis zu einem gewissen Grade sind wir ja alle seltsame, wunderliche Käuze; aber seine Sonderbarkeiten zeigen sich ausschließlich seinen Bekannten gegenüber und sind für diese nicht ungefährlich. Unter seinen Bekannten kenne ich nicht wenige, die über seinen Sonderbarkeiten gar kein Auge für seine zahlreichen guten Eigenschaften haben. Als er zu uns ins Zimmer tritt, zieht er langsam die Handschuhe aus und sagt mit seiner weichen, tiefen Stimme: »Guten Abend. Sie sind beim Tee? Das kommt mir sehr zupaß. Es ist nichtswürdig kalt draußen.« Dann setzt er sich an den Tisch, nimmt sich ein Glas und beginnt sogleich zu reden. Das Charakteristischste an seiner Art zu reden ist sein beständig scherzhafter Ton, eine Art Mischung von Philosophie und Possenreißerei, wie bei den Shakespearischen Totengräbern. Er redet immer über ernste Dinge, aber niemals in ernster Art. Seine Urteile sind immer scharf und spöttisch; aber infolge des weichen, gleichmäßigen, scherzhaften Tones verletzen die Schärfe und der Spott nicht das Ohr des Hörers, und man gewöhnt sich bald daran. Jeden Abend bringt er fünf bis sechs Anekdoten aus dem Universitätsleben mit und fängt sie meist zu erzählen an, sobald er sich an den Tisch setzt. »Mein Gott!« seufzt er und bewegt dabei spöttisch seine schwarzen Augenbrauen. »Was gibt es doch für komische Gesellen auf der Welt!« »Wieso?« fragt Katja. »Ich komme heute aus meiner Vorlesung und treffe auf der Treppe diesen alten Idioten, unsern N. N. Er steigt die Treppe hinauf, hält wie gewöhnlich sein Pferdekinn nach vorn gestreckt und sucht jemand, dem er über seine Migräne, über seine Frau und über die Studenten, die seine Vorlesungen nicht besuchen wollen, etwas vorklagen kann. ›Na,‹ denke ich, ›gesehen hat er mich nun einmal; jetzt bin ich geliefert, es wird mir schlimm ergehen ...‹« Und so fort, immer in derselben Art. Oder er beginnt so: »Gestern war ich in der öffentlichen Vorlesung unseres Kollegen Z. Ich wundere mich, wie unsere ~alma mater~ es übers Herz bringen kann, dem Publikum (mit Verlaub gesagt) solche Tölpel und patentierten Holzköpfe zu präsentieren wie diesen Z. Er ist ja doch ein Dummrian erster Klasse! Ich bitte Sie, in ganz Europa findet man bei Tage mit der Laterne kein zweites derartiges Exemplar! Stellen Sie sich das nur einmal vor: er liest, als wenn er Kandiszucker lutschte! Zju, zju, zju ... Er bekam es mit der Angst, konnte sein Manuskript schlecht lesen, und die dürftigen Gedanken krochen nur ganz langsam dahin, mit der Geschwindigkeit eines radfahrenden Archimandriten; und, was die Hauptsache war, man konnte absolut nicht verstehen, was er eigentlich sagen wollte. Es herrschte eine furchtbare Langeweile, so daß die Fliegen davon starben. Diese Langeweile läßt sich nur mit derjenigen vergleichen, die in unserer Aula bei dem jährlichen Aktus herrscht, wenn die herkömmliche Rede gehalten wird. Hol sie der Teufel!« Und dann fährt er mit einem scharfen Übergange fort: »Vor drei Jahren (hier unser Nikolai Stepanowitsch wird sich noch daran erinnern) hatte ich diese Rede zu halten. Es war heiß und schwül, die Uniform kniff mich unter den Armen, -- es war zum Krepieren! Ich las eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalb Stunden, zwei Stunden. ›Na,‹ dachte ich, ›Gott sei Dank, jetzt sind es nur noch zehn Seiten.‹ Und ganz am Schluß hatte ich vier Seiten, die ich gut und gern ungelesen lassen konnte, und ich nahm mir vor, sie wegzulassen. ›Also dann bleiben nur noch sechs,‹ dachte ich. Aber denken Sie sich: ich warf einen flüchtigen Blick nach den Zuhörern und sah, daß da in der ersten Reihe nebeneinander ein General mit einem Ordensbande und ein Bischof saßen. Die armen Kerle waren ganz starr vor Langerweile und rissen krampfhaft die Augen auf, um nicht einzuschlafen; aber sie bemühten sich trotzdem, ihren Gesichtern den Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit zu geben, und taten, als ob sie meine Vorlesung verständen und Genuß davon hätten. ›Na,‹ dachte ich, ›wenn es euch so viel Vergnügen macht, dann will ich es euch gründlich geben! Euch zum Possen!‹ Und ich las auch noch die ganzen vier letzten Seiten mit.« Wenn er spricht, so lächeln bei ihm, wie überhaupt bei spottlustigen Leuten, nur die Augen und die Brauen. In seinen Augen liegt zu solcher Zeit nichts von Haß oder Bosheit, wohl aber viel Witz und jene besondere fuchsartige Schlauheit, die man nur bei Menschen mit sehr gut entwickelter Beobachtungsgabe bemerken kann. Von seinen Augen möchte ich ferner erwähnen, daß ich an ihnen noch eine besondere Eigentümlichkeit wahrgenommen habe. Jedesmal wenn er von Katja ein gefülltes Glas hinnimmt oder eine von ihr gemachte Bemerkung anhört oder ihr mit dem Blicke folgt, wenn sie einmal für kurze Zeit das Zimmer verläßt, bemerke ich in seinem Blicke etwas Sanftes, Flehendes, Reines ... Das Stubenmädchen nimmt den Samowar fort und stellt ein großes Stück Käse, allerlei Obst und eine Flasche Krim-Schaumwein auf den Tisch, einen ziemlich schlechten Wein, an dem aber Katja, als sie in der Krim wohnte, Geschmack gewonnen hat. Michail Fedorowitsch nimmt von einer Etagère zwei Spiele Karten und legt Patience. Nach seiner Versicherung erfordern einige Arten von Patience viel Kombinationssinn und Aufmerksamkeit; aber trotzdem redet er während des Legens munter weiter. Katja verfolgt aufmerksam seine Manipulationen mit den Karten und ist ihm mehr durch Mimik als durch Worte behilflich. Von dem Weine trinkt sie den ganzen Abend über nicht mehr als zwei Gläser, und ich trinke ein Viertel Glas; der übrige Teil der Flasche entfällt auf Michail Fedorowitsch, der viel trinken kann, ohne daß es ihm in den Kopf steigt. Während des Patiencelegens disputieren wir über allerlei Fragen, namentlich höherer Art, wobei das, was wir beide am meisten lieben, am schlimmsten wegkommt, nämlich die Wissenschaft. »Die Wissenschaft ist, Gott sei Dank, am Ende ihres Daseins angelangt,« sagt Michail Fedorowitsch; er spricht in einzelnen Absätzen. »Mit der geht es auf die Neige. Ja, ja. Die Menschheit verspürt bereits das Bedürfnis, etwas anderes an die Stelle der Wissenschaft zu setzen. Die Wissenschaft ist auf einem Boden von falschen Vorstellungen entsprossen, hat sich von falschen Vorstellungen genährt und bildet jetzt eine ebensolche Quintessenz von falschen Vorstellungen, wie ihre abgelebten Großmütter: Alchimie, Metaphysik und Philosophie. Und wirklich, was hat sie der Menschheit gegeben? Zwischen den gelehrten Europäern und den aller Wissenschaft entbehrenden Chinesen ist doch der Unterschied nur ein minimaler, rein äußerlicher. Die Chinesen haben keine Wissenschaft gekannt; aber was haben sie dadurch verloren?« »Auch die Fliegen kennen keine Wissenschaft,« entgegne ich, »aber was folgt daraus?« »Sie ärgern sich ganz unnötigerweise, Nikolai Stepanowitsch. Ich rede ja so nur hier, wo wir unter uns sind. Ich bin vorsichtiger, als Sie meinen, und werde das nicht öffentlich aussprechen, Gott behüte. Die große Menge ist in der falschen Vorstellung befangen, die Wissenschaften und Künste ständen höher als Ackerbau, Handel und Gewerbe. Unsere Sekte lebt von dieser falschen Vorstellung, und es ist nicht meine und Ihre Sache, diese Vorstellung zu zerstören. Gott behüte!« Während des Patiencelegens bekommt auch die Jugend gehörig etwas ab. »Unsere Hörerschaft ist heutzutage einer argen Verflachung anheim gefallen,« bemerkt Michail Fedorowitsch seufzend. »Ich will gar nicht einmal von Idealen und solchen Dingen reden; wenn sie nur wenigstens zu arbeiten und vernünftig zu denken verständen! Da trifft das Wort zu: ›Ich schaue nur mit Schmerz das heutige Geschlecht.‹« »Ja, die jetzige Generation ist entsetzlich verflacht,« stimmt ihm Katja bei. »Sagen Sie, haben Sie in den letzten fünf, zehn Jahren unter Ihren Hörern auch nur einen einzigen hervorragenden Menschen gehabt?« »Ich weiß nicht, wie es damit bei andern Professoren steht; aber unter meinen eigenen Hörern kann ich mich auf keinen solchen besinnen.« »Ich habe in meinem Leben viele Studenten, viele junge Gelehrte, viele Schauspieler kennen gelernt; aber nie habe ich das Glück gehabt, ich will gar nicht einmal sagen einem Geistesheros oder einem Talente, sondern nur ganz einfach einem interessanten Menschen darunter zu begegnen. Alles grau, talentlos, voll Dünkel und Anmaßung ...« Alle diese Gespräche über Verflachung wirken auf mich jedesmal ebenso, wie wenn ich unversehens häßliche Bemerkungen über meine Tochter erlauschte. Es ist mir verdrießlich, daß die Anklagen sich so allgemein gegen die ganze Jugend richten und sich auf solche längst abgenutzten Schlagwörter gründen, wie es die Redensarten von Verflachung und von einem Mangel an Idealen und der Hinweis auf die schöne Vergangenheit sind. Jede Anklage, auch wenn sie in Damengesellschaft vorgebracht wird, muß möglichst präzise formuliert sein; sonst ist es eben keine Anklage, sondern eine leere, anständiger Menschen unwürdige Verleumdung. Ich bin ein alter Mann und stehe schon dreißig Jahre in meinem Amte; aber ich bemerke weder eine Verflachung noch einen Mangel an Idealen und kann nicht finden, daß es jetzt in dieser Hinsicht übler bestellt wäre als früher. Mein Portier Nikolai, dessen Erfahrung auf diesem Gebiet nicht ohne Wert ist, sagt, die heutigen Studenten seien nicht besser und nicht schlechter als die früheren. Wenn mich jemand fragte, was mir an meinen jetzigen Hörern mißfalle, so würde ich keine zusammenfassende Antwort geben, sondern einige Punkte mit hinlänglicher Präzision aufzählen. Die Mängel meiner Studenten kenne ich genau und brauche daher nicht zu nebelhaften, allgemeinen Schlagworten meine Zuflucht zu nehmen. Mir mißfällt, daß sie Tabak rauchen, alkoholische Getränke genießen und spät heiraten; ferner daß sie gedankenlos in den Tag hineinleben und oft eine solche Gleichgültigkeit zeigen, daß sie unter sich Hungernde dulden und an den Verein zur Unterstützung bedürftiger Studenten ihre fälligen Beiträge nicht bezahlen. Sie verstehen die neueren Sprachen nicht und können sich auf russisch nicht korrekt ausdrücken; erst gestern klagte mir mein Kollege, der Hygieniker, er müsse die Zeitdauer seiner Vorlesung verdoppeln, weil sie so wenig Physik verständen und mit der Meteorologie gar nicht Bescheid wüßten. Sie lassen sich in ihren Ansichten gern von den Schriftstellern der neuesten Zeit leiten, aber keineswegs von den besten; dagegen stehen sie Klassikern wie Shakespeare, Marc Aurel, Epiktet, Pascal völlig kühl gegenüber. In dieser Unfähigkeit, das Große vom Kleinen zu unterscheiden, zeigt sich am allermeisten das Unpraktische ihres Wesens. Alle schwierigen Fragen, die mehr oder weniger eine soziale Bedeutung haben, wie z. B. die Frage der Freizügigkeit, entscheiden sie durch Abstimmungslisten statt auf dem Wege wissenschaftlicher Forschung und Erfahrung, wiewohl dieser Weg ihnen durchaus zugänglich ist und ihrem Berufe am meisten entsprechen würde. Gern werden sie Präparatoren, Assistenten, Laboranten, Repetenten, und es kommt ihnen nicht darauf an, in solchen Stellungen bis zu ihrem vierzigsten Lebensjahre zu verbleiben, obwohl Selbständigkeit, Freiheitssinn und persönliche Initiative in der Wissenschaft nicht minder notwendig sind als beispielsweise in der Kunst oder im Handel. Ich habe Schüler und Hörer, aber keine Gehilfen und Nachfolger, und daher mag ich sie zwar gern leiden und habe für sie alle Teilnahme, aber ich bin nicht stolz auf sie. Usw. usw. ... Solche Mängel, wieviel ihrer auch sein mögen, können eine pessimistische oder zornige Stimmung nur bei kleinmütigen, ängstlichen Menschen erzeugen. Alle diese Mängel sind ihrem ganzen Wesen nach nur zufällig und vorübergehend und hängen durchaus von den gesamten Lebensverhältnissen ab; ein paar Jahrzehnte genügen, damit sie verschwinden oder, da es nun einmal ohne Mängel nicht geht, ihren Platz andern neuen Mängeln abtreten, die dann ihrerseits wieder den Kleinmütigen einen Schreck einjagen werden. Die Studentensünden ärgern mich oft; aber dieser Ärger will nichts besagen im Vergleiche mit der Freude, die ich nun schon dreißig Jahre lang empfinde, wenn ich mit meinen Schülern ein Gespräch führe, ihnen Vorlesungen halte, ihr Verhalten untereinander beobachte und sie mit Angehörigen anderer Kreise vergleiche. Michail Fedorowitsch führt Lästerreden, Katja hört ihm zu, und beide merken nicht, in was für einen tiefen Abgrund ein anscheinend so unschuldiges Vergnügen wie das Aburteilen über den Nächsten sie allmählich hineinzieht. Sie fühlen nicht, wie ein harmloses Gespräch Schritt für Schritt in Verspottung und Verhöhnung übergeht, und wie sie beide sogar die Kunstgriffe der Verleumdung zu gebrauchen anfangen. »Es gibt doch gar zu komische Kunden,« sagt Michail Fedorowitsch. »Gestern komme ich zu unserem Jegor Petrowitsch und treffe dort einen Studiosus, einen von Ihren Medizinern, ich glaube aus dem dritten Kursus. Ein Gesicht hatte er so im Stile des Kritikers Dobroljubow, auf der Stirn den Stempel tiefen Denkens. Wir kamen miteinander ins Gespräch. ›Ja, junger Mann,‹ sage ich, ›es passieren die wunderbarsten Dinge. Da habe ich gelesen, daß ein Deutscher (seinen Namen habe ich vergessen) aus dem menschlichen Gehirn ein neues Alkaloid, Idiotin, gewonnen hat.‹ Was meinen Sie? Er glaubte es, und es malte sich sogar auf seinem Gesicht eine Art von Respekt: ›Ja, das ist eine Leistung unserer Berufsgenossen!‹ Und neulich komme ich ins Theater und setze mich auf meinen Platz. Gerade vor mir in der nächsten Reihe sitzen zwei junge Männer, der eine ›einer von unsere Lait‹ und anscheinend Jurist, der andere mit strubbligem Kopf ein Mediziner. Der Mediziner war betrunken wie ein Schuster und achtete gar nicht auf das, was auf der Bühne vorging. Er schlief, und der Kopf fiel ihm fortwährend nach vorn. Aber sowie ein Schauspieler laut einen Monolog sprach oder überhaupt die Stimme erhob, fuhr mein Mediziner zusammen, stieß seinen Nachbar in die Seite und fragte: ›Was hat er gesagt? Etwas Moralisches?‹ ›Ja, etwas Moralisches,‹ antwortete der Jude. ›Bravo!‹ brüllte der Mediziner. ›Sehr gut! Bravo!‹ Sehen Sie, dieser betrunkene Tölpel war nicht um der Kunst willen, sondern um der moralischen Gedanken willen ins Theater gekommen. Moralische Gedanken, das war ihm ein Bedürfnis.« Katja hört zu und lacht. Sie hat eine ganz sonderbare Art zu lachen: Einatmen und Ausatmen wechseln schnell und mit rhythmischer Regelmäßigkeit miteinander ab, ähnlich wie wenn sie Harmonika spielte, und dabei lachen auf ihrem Gesichte nur die Nasenflügel. Mir wird ganz schwach zumute, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ganz außer mir, werde ich blutrot, springe von meinem Platze auf und schreie: »So schweigt doch endlich! Was sitzt ihr da wie zwei Kröten und vergiftet die Luft mit eurem Atem? Laßt's genug sein!« Und ohne abzuwarten, bis sie mit ihren Lästerreden aufhören, schicke ich mich an, nach Hause zu gehen. Auch ist es schon Zeit: zehn Uhr durch. »Ich bleibe noch ein Weilchen hier,« sagt Michail Fedorowitsch; »gestatten Sie, Jekaterina Wladimirowna?« »Gewiß,« antwortet Katja. »~Bene.~ Dann lassen Sie also, bitte, noch ein Fläschchen bringen!« Beide begleiten mich mit Licht in das Vorzimmer, und während ich mir den Pelz anziehe, sagt Michail Fedorowitsch: »Sie sind in der letzten Zeit furchtbar abgemagert und gealtert, Nikolai Stepanowitsch. Was fehlt Ihnen? Sind Sie krank?« »Ja, ein wenig.« »Und dabei unternimmt er keine Kur ...« fügt Katja unwillig hinzu. »Aber warum denn nicht? Das ist ja unverantwortlich. Den Vorsichtigen behütet Gott, lieber Freund. Empfehlen Sie mich Ihren Angehörigen, und entschuldigen Sie mich bei ihnen, daß ich nicht hinkomme. In diesen Tagen, vor meiner Abreise ins Ausland, werde ich vorsprechen, um Lebewohl zu sagen. Ganz bestimmt! Ich reise in der nächsten Woche.« Ich gehe von Katja in gereizter Stimmung weg, erschreckt durch das Gespräch über meine Krankheit und unzufrieden mit mir selbst. Ich lege mir die Frage vor: Soll ich mich wirklich von einem meiner Kollegen behandeln lassen? Und sogleich male ich mir auch aus, wie der Kollege, nachdem er mich untersucht hat, schweigend von mir weg zum Fenster geht, eine Weile nachdenkt, sich dann zu mir umwendet und, indem er sich Mühe gibt, mich nicht auf seinem Gesichte die Wahrheit lesen zu lassen, in gleichgültigem Tone sagt: »Vorläufig sehe ich nichts Besonderes; aber doch möchte ich Ihnen raten, Herr Kollege, Ihre Tätigkeit zu unterbrechen.« Und das wird mich dann der letzten Hoffnung berauben. Wo gäbe es jemand, der nicht hoffte? Seht, wo ich mir selbst die Diagnose stelle und mich selbst behandle, hoffe ich zeitweilig, daß mich meine Unwissenheit täuscht und ich mich hinsichtlich des Eiweißes und des Zuckers irre, die ich bei mir finde, und hinsichtlich des Herzens und hinsichtlich der Anschwellungen, die ich schon zweimal bei mir morgens entdeckt habe; jetzt, wo ich mit dem Eifer eines Hypochonders die Lehrbücher der Therapie durchblättere und täglich mit der Arznei wechsle, jetzt meine ich immer, ich würde noch auf irgend etwas Tröstliches stoßen. Dieses ganze Benehmen ist kleinlich. Mag der Himmel mit Wolken bedeckt sein oder mögen Mond und Sterne an ihm glänzen, jedesmal, wenn ich nach Hause zurückkehre, blicke ich zu ihm hinauf und denke daran, daß mir bald der Tod kommen wird. Man könnte meinen, meine Gedanken müßten zu dieser Zeit tief sein wie der Himmel und klar und großartig; aber nein! Ich denke an mich selbst, an meine Frau, an Lisa, an Herrn Gnecker, an die Studenten, an die Menschen überhaupt; ich denke häßlich und kleinlich, mache vor mir selbst Winkelzüge, und meine Weltanschauung in solchen Augenblicken läßt sich mit den Worten ausdrücken, die der berühmte Araktschejew in einem seiner intimen Briefe schrieb: »Alles Gute in der Welt kann nicht ohne Schlechtes sein, und gibt es immer mehr Schlechtes als Gutes.« Das heißt: alles ist garstig, und das Leben ist zwecklos, und die zweiundsechzig Jahre, die ich bereits gelebt habe, muß ich als verloren betrachten. Ich ertappe mich auf diesen Gedanken und suche mir einzureden, sie seien nur zufällig und vorübergehend in meinem Kopfe vorhanden und säßen da nicht tief; aber sogleich denke ich wieder: »Wenn es so ist, warum zieht es mich denn jeden Abend zu diesen beiden Kröten hin?« Und ich schwöre es mir zu, nie wieder zu Katja hinzugehen, obwohl ich weiß, daß ich morgen doch wieder zu ihr gehen werde. Nachdem ich an meiner Haustüre die Klingel gezogen habe, und während ich dann die Treppe hinaufsteige, fühle ich, daß ich keine Familie mehr habe und nicht einmal den Wunsch hege, sie wiederzugewinnen. Es ist offenbar, daß die neuen Araktschejewschen Gedanken sich nicht nur so zufällig und nur für kurze Zeit bei mir eingefunden, sondern mein ganzes Wesen in Besitz genommen haben. Mit krankem Gewissen, niedergeschlagen, träge, kaum die Glieder bewegend, als ob ich viele Zentner an Gewicht zugenommen hätte, lege ich mich ins Bett und schlafe bald ein. Aber dann folgt die Schlaflosigkeit. IV Der Sommer kommt heran, und das Leben ändert sich. Eines schönen Morgens kommt Lisa zu mir in mein Zimmer und sagt in scherzendem Tone: »Wollen Euer Exzellenz kommen! Es ist alles bereit.« Man führt meine Exzellenz auf die Straße, läßt sie in eine Droschke steigen und fährt mit ihr davon. Beim Fahren lese ich aus Langerweile die Schilder von rechts nach links. Aus dem Worte ~traktir~[2] wird dann Ritkart. Das wäre ein passender Name für eine freiherrliche Familie: Baronesse Ritkart. Weiter geht die Fahrt zwischen Feldern hin an einem Kirchhof vorbei, der aber auf mich gar keinen Eindruck macht, obwohl ich bald auf ihm liegen werde; dann fahre ich durch einen Wald und wieder zwischen Feldern. Alles sehr uninteressant. Nach einer zweistündigen Fahrt wird meine Exzellenz in die untere Etage eines Landhauses geführt und in einem kleinen, sehr freundlichen Zimmerchen mit himmelblauen Tapeten einquartiert. In der Nacht leide ich wie früher an Schlaflosigkeit; am Morgen aber kann ich lange Zeit nicht recht wach werden, höre auch meine Frau nicht aufstehen, sondern mache, im Bette liegend, ohne zu schlafen, eine Art Dämmerzustand durch, bei dem man nur ein halbes Bewußtsein hat und zwar weiß, daß man nicht schläft, aber doch träumt. Um Mittag stehe ich auf und setze mich gewohnheitsmäßig an meinen Schreibtisch; aber ich arbeite nicht, sondern zerstreue mich durch die Lektüre französischer Bücher in gelben Umschlägen, die mir Katja schickt. Es wäre ja freilich patriotischer, russische Autoren zu lesen; aber offen gestanden, ich verspüre zu diesen keine besondere Neigung. Von zwei bis drei etwas älteren Schriftstellern abgesehen, kommt mir die ganze moderne russische Literatur nicht wie eine wirkliche Literatur, sondern wie ein Zweig einer Hausindustrie vor, die nur dazu da ist, daß man sie fördert, deren Erzeugnisse man aber nur ungern benutzt. Selbst das beste von den materiellen Erzeugnissen der Hausindustrie kann man nicht »gut« nennen und kann es nicht aufrichtig loben, ohne ein »aber« hinzuzufügen; und dasselbe muß ich auch von allen jenen literarischen Neuheiten sagen, die ich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren gelesen habe: nicht eine darunter ist »gut«, und bei keiner geht es ohne ein »aber«. Manche sind verständig und moralisch, aber nicht talentvoll; andere talentvoll und moralisch, aber nicht verständig; wieder andere endlich talentvoll und verständig, aber nicht moralisch. Ich will nicht sagen, daß die französischen Bücher zugleich talentvoll und verständig und moralisch wären. Auch sie befriedigen mich nicht. Aber sie sind nicht so langweilig wie die russischen, und man findet in ihnen nicht selten das wichtigste Moment schöpferischer Tätigkeit: ein Gefühl der persönlichen Freiheit, das bei den russischen Schriftstellern fehlt. Ich besinne mich auf keine einzige russische Novität, bei der der Verfasser sich nicht gleich von der ersten Seite an bemüht zeigte, sich durch alle möglichen mit seinem Gewissen abgeschlossenen Abmachungen und Verträge zu binden. Der eine scheut sich, von einem nackten Körper zu reden; ein anderer hat sich durch den selbstauferlegten Zwang zu psychologischen Erörterungen an Händen und Füßen gebunden; ein dritter bedarf »eines warmen Verhältnisses zur Menschheit«; ein vierter schmiert absichtlich ganze Seiten mit Naturschilderungen voll, um nicht in den Verdacht der Tendenzschriftstellerei zu kommen. Der eine möchte in seinen Schriften um jeden Preis eine bürgerliche, der andere um jeden Preis eine aristokratische Gesinnung an den Tag legen usw. Absichtlichkeit, Behutsamkeit, Querköpfigkeit, aber keine Freiheit, kein Mut, so zu schreiben, wie man möchte, und infolgedessen auch keine schöpferische Kraft. Alles dies bezieht sich auf die sogenannte schöne Literatur. Was nun russische Abhandlungen ernsten Inhalts anlangt, z. B. über Nationalökonomie, über Kunst u. dgl., so ist der Grund, weshalb ich sie nicht lese, einfach meine Zaghaftigkeit. Als kleines Kind und als Knabe empfand ich eine eigentümliche Furcht vor Portiers und Theaterdienern, und diese Furcht ist mir bis auf den heutigen Tag geblieben; ich fürchte mich auch jetzt noch vor ihnen. Man sagt, furchtbar erscheine nur das, was man nicht verstehe. Und es ist auch wirklich sehr schwer zu verstehen, warum die Portiers und Theaterdiener eine solche Grandezza, Aufgeblasenheit und majestätische Unhöflichkeit an den Tag legen. Wenn ich ernste russische Abhandlungen lese, empfinde ich eine ganz ähnliche unbestimmte Furcht. Die gewaltige Wichtigtuerei, der scherzhafte Ton der Überlegenheit, die familiäre Manier, in der auswärtige Autoren behandelt werden, die Geschicklichkeit, mit Würde leeres Stroh zu dreschen: alles dies ist mir unverständlich und beängstigend und gleicht so gar nicht der Bescheidenheit und dem vornehm-ruhigen Tone, an den ich bei der Lektüre der Schriften unserer älteren Ärzte und Naturforscher gewöhnt bin. Und nicht nur solche ernsten Abhandlungen, die ursprünglich russisch geschrieben sind, sondern auch solche, die ins Russische übersetzt sind, zu lesen fällt mir schwer. Der hoffärtige, herablassende Ton der Vorworte, die Unmenge von Anmerkungen des Übersetzers, die mich hindern, meine Aufmerksamkeit auf die Sache zu konzentrieren, die Fragezeichen und eingeklammerten ~sic~, die der Übersetzer mit freigebiger Hand über die ganze Abhandlung oder über das ganze Buch ausstreut, erscheinen mir wie ein Attentat auf die Person des Verfassers und auf meine, des Lesers, Selbständigkeit. Ich war einmal zu einer Verhandlung des Bezirksgerichtes als Sachverständiger zugezogen; in einer Pause machte mich ein anderer Sachverständiger, ein Kollege von mir, auf das grobe Benehmen des Staatsanwaltes gegen die Angeklagten aufmerksam, unter denen sich zwei gebildete Frauen befanden. Ich glaube, ich machte mich keiner Übertreibung schuldig, als ich meinem Kollegen antwortete, dieses Benehmen sei nicht gröber als das, welches die Verfasser ernster Abhandlungen wechselseitig zur Anwendung brächten. Und tatsächlich ist dieses Benehmen so grob, daß man davon nur mit einer peinlichen Empfindung reden kann. Sie benehmen sich untereinander und gegen die Schriftsteller, deren Werke sie kritisieren, entweder so übermäßig respektvoll, daß sie dabei ihre eigene Würde nicht wahren, oder sie behandeln sie umgekehrt weit dreister, als ich in meinen Gedanken und in diesen Aufzeichnungen meinen künftigen Schwiegersohn Herrn Gnecker behandle. Beschuldigungen der Unzurechnungsfähigkeit, unlauterer Absichten, ja sogar aller möglichen Kriminalverbrechen bilden den gewöhnlichen Schmuck ernster Abhandlungen. Und nun gar die Art, in der sich unsere jungen Ärzte in ihren kleinen Aufsätzen mit Vorliebe ausdrücken, das ist das Nonplusultra! Ein solches Benehmen muß unvermeidlich in der Darstellungsweise der jungen Generationen unserer belletristischen Schriftsteller seinen Reflex finden, und daher wundere ich mich gar nicht darüber, daß in den Novitäten, die unsere belletristische Literatur in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren hervorgebracht hat, die Helden viel Branntwein trinken und die Keuschheit der Heldinnen zu wünschen übrig läßt. Ich lese französische Bücher und blicke ab und zu nach dem offenstehenden Fenster hin; dort sehe ich die Zacken meines Gartenzaunes, zwei oder drei kümmerliche Bäume und weiterhin hinter dem Zaune einen Weg, ein Feld und dann einen breiten Streifen Nadelwald. Oft beobachte ich mit Vergnügen, wie zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, beide blondhaarig und in zerrissenen Kleidern, an dem Zaune in die Höhe klettern und sich über meine Glatze lustig machen. In ihren glänzenden Äuglein lese ich deutlich die Worte: »Guck mal, ein Kahlkopf!« Das sind hier fast die einzigen Menschen, die sich weder um meine Berühmtheit noch um meinen Rang kümmern. Besucher stellen sich jetzt nicht alle Tage ein. Ich erwähne nur die Besuche Nikolais und Peter Ignatjewitschs. Nikolai kommt gewöhnlich an Sonn- und Festtagen zu mir, angeblich in geschäftlichen Angelegenheiten, hauptsächlich aber um mich wiederzusehen. Er kommt stark angeheitert, was bei ihm im Winter nie vorkommt. »Nun, was bringst du?« frage ich ihn, wenn ich zu ihm auf den Flur hinaustrete. »Euer Exzellenz!« sagt er, indem er die Hand aufs Herz drückt und mich entzückt wie ein Verliebter anblickt. »Euer Exzellenz! Gott straf mich! Der Donner soll mich gleich auf dem Fleck rühren! ~Gaudeamus igitur juvenestus!~« Und er küßt mich eifrig auf die Schulter, auf die Rockärmel, auf die Knöpfe. »Ist in der Stadt alles bei uns in Ordnung« frage ich ihn. »Euer Exzellenz! Beim heiligen Gott ...« Er schwört unaufhörlich ohne jeden Anlaß; ich werde seiner bald überdrüssig und schicke ihn in die Küche, wo er Mittagessen erhält. Peter Ignatjewitsch kommt gleichfalls an Sonn- und Festtagen zu mir, speziell um mich zu besuchen, und zum Zwecke des Gedankenaustausches. Er sitzt gewöhnlich bei mir in meinem Zimmer am Tische, bescheiden, sauber, vernünftig, und erlaubt sich nicht, ein Bein über das andere zu schlagen oder die Ellbogen auf den Tisch zu bringen; und die ganze Zeit über erzählt er mir mit seiner leisen, gleichmäßigen Stimme geläufig und buchmäßig allerlei nach seiner Meinung sehr interessante und amüsante Neuigkeiten, die er in Journalen und Büchern gelesen hat. Alle diese Neuigkeiten haben untereinander eine große Ähnlichkeit und lassen sich auf folgenden Typus zurückführen: ein Franzose hat behauptet, eine Entdeckung gemacht zu haben; ein anderer, ein Deutscher, hat ihn der Unredlichkeit überführt durch den Nachweis, daß diese Entdeckung schon im Jahre 1870 von einem Amerikaner gemacht worden ist; und ein dritter, ebenfalls ein Deutscher, ist klüger gewesen als sie beide, indem er gezeigt hat, daß sie sich arg blamiert und unter dem Mikroskop Luftbläschen für dunkles Pigment gehalten haben. Peter Ignatjewitsch erzählt sogar dann, wenn er es darauf anlegt, mich zum Lachen zu bringen, langsam und umständlich, als ob er eine Dissertation verteidigte, mit detaillierter Aufzählung der literarischen Quellen, die er benutzt hat, und bemüht sich, in den Zahlen, in den Nummern der Journale und in den Namen jeden Irrtum zu vermeiden, wobei er nicht einfach Petit sagt, sondern stets Jean Jacques Petit. Manchmal bleibt er bei uns zum Mittagessen, und dann erzählt er während der ganzen Mahlzeit jene selben amüsanten Geschichten, die auf alle Tischgenossen niederdrückend wirken. Wenn Herr Gnecker und Lisa in seiner Gegenwart das Gespräch auf Fugen und Kontrapunkt, auf Brahms und Bach bringen, so schlägt er bescheiden die Augen nieder und wird verlegen; er schämt sich, daß in Anwesenheit so ernsthafter Leute, wie ich und er, von so unwürdigen Dingen gesprochen wird. Bei meiner jetzigen Gemütsverfassung genügen mir fünf Minuten, um seiner so überdrüssig zu werden, als hätte ich ihn schon eine ganze Ewigkeit gesehen und angehört. Ich hasse den armen Kerl. Von seiner leisen, gleichmäßigen Stimme und buchmäßigen Ausdrucksweise wird mir ganz schwach, seine Erzählungen machen mich stumpfsinnig. Er hegt gegen mich die treueste Gesinnung und redet mit mir lediglich, um mir Vergnügen zu bereiten, und ich lohne es ihm damit, daß ich ihm hartnäckig ins Gesicht sehe, als ob ich ihn hypnotisieren wollte, und dabei denke: »Scher dich weg, scher dich weg, scher dich weg!« Aber er reagiert nicht auf meine schweigende Aufforderung, sondern sitzt und sitzt und sitzt ... Solange er bei mir sitzt, kann ich schlechterdings nicht von dem Gedanken loskommen: »Sehr möglich, daß, wenn ich sterbe, er meine Stelle bekommt«, und mein armes Auditorium erscheint mir dann wie eine Oase, in der der Bach vertrocknet ist, und ich bin gegen Peter Ignatjewitsch unliebenswürdig, schweigsam, mürrisch, als wäre er an diesen meinen Gedanken schuld und nicht vielmehr ich selbst. Wenn er anfängt, nach seiner Gewohnheit die deutschen Gelehrten zu preisen, so mache ich nicht mehr wie früher gutmütige Scherze, sondern ich brumme verdrießlich: »Ihre Deutschen sind Esel.« Mein Benehmen hat Ähnlichkeit mit dem des verstorbenen Professors Nikita Krylow, der sich einmal in Reval mit Pirogow zusammen badete, sich über das sehr kalte Wasser ärgerte und nun schimpfte: »Diese Schufte, die Deutschen!« Ich benehme mich gegen Peter Ignatjewitsch häßlich, und erst wenn er fortgeht und ich durch das Fenster sehe, wie sein grauer Hut hinter dem Gartenzaun vorbeistreift, möchte ich ihn anrufen und zu ihm sagen: »Verzeihen Sie mir, lieber Freund!« Das Mittagessen verläuft jetzt bei uns langweiliger als im Winter. Eben jener Herr Gnecker, den ich jetzt hasse und verachte, ißt bei uns fast täglich mit. Früher duldete ich schweigend seine Anwesenheit; aber jetzt richte ich an seine Adresse Stichelreden, über die meine Frau und Lisa rot werden. Von meinem Ingrimm hingerissen, rede ich oft geradezu Dummheiten und weiß nicht einmal recht, warum ich sie rede. So kam es einmal vor, daß ich Herrn Gnecker lange verächtlich ansah und ohne jede Veranlassung plötzlich herausstieß: »Der Aar schwebt wohl einmal hinab zum Hühnervolke, Doch schwingt sich nie das Huhn zu jenem in die Wolke.« Und das Ärgerlichste ist, daß bei solchen Gelegenheiten das Huhn Gnecker sich weit verständiger benimmt als der Aar Professor. Da er weiß, daß meine Frau und meine Tochter auf seiner Seite stehen, so beobachtet er folgende Taktik: er beantwortet meine Stichelreden mit herablassendem Schweigen, welches besagt: »Der Alte ist verrückt geworden; wozu da lange mit ihm reden?« oder er macht sich in gutmütiger Weise über mich lustig. Es ist wirklich erstaunlich, bis zu welchem Grade der Mensch verflachen kann: ich bin imstande, während des ganzen Mittagessens mich in Gedanken darüber zu ergehen, wie Herr Gnecker sich als Abenteurer entpuppen wird, wie Lisa und meine Frau ihren Irrtum einsehen werden, und wie ich sie dann damit aufziehen werde. Solchen und ähnlichen törichten Gedanken überlasse ich mich zu einer Zeit, wo ich doch schon mit einem Fuße im Grabe stehe! Jetzt kommen auch Mißhelligkeiten vor, von denen ich früher nur durch Hörensagen einen Begriff hatte. Wie beschämend es auch für mich ist, so will ich doch einen derartigen Vorfall erzählen, der sich neulich nach dem Mittagessen zutrug. Ich saß in meinem Zimmer und rauchte eine Pfeife. Da kam wie gewöhnlich meine Frau herein, setzte sich hin und fing an davon zu reden, daß es doch gut wäre, wenn ich jetzt, solange es noch warm sei und ich freie Zeit hätte, nach Charkow reisen und mich dort erkundigen wollte, was unser Herr Gnecker für ein Mensch sei. »Schön, ich werde hinreisen,« erwiderte ich. Meine Frau war mit mir zufrieden, stand auf und ging zur Tür, kehrte aber sogleich wieder zurück und sagte: »Bei der Gelegenheit möchte ich dir noch eine Bitte aussprechen. Ich weiß, du wirst ärgerlich werden; aber es ist meine Pflicht, dich zu warnen. Nimm es nicht übel, Nikolai Stepanowitsch, aber alle unsere Bekannten und Nachbarn fangen schon an darüber zu reden, daß du so viel bei Katja verkehrst. Sie ist ja klug und gebildet, das stelle ich nicht in Abrede, und man verbringt in ihrer Gesellschaft die Zeit sehr angenehm; aber du mußt selbst zugeben, es ist einigermaßen sonderbar, wenn ein Mann in deinen Jahren und in deiner gesellschaftlichen Stellung an ihrer Gesellschaft Vergnügen findet. Und außerdem ist ihr Renommee von der Art, daß ...« Alles Blut strömte plötzlich von meinem Gehirn fort, Funken sprühten mir aus den Augen; ich sprang auf, griff mir an den Kopf, stampfte mit den Füßen und schrie mit entstellter Stimme: »Laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe!« Mein Gesicht mußte wohl schrecklich aussehen und meine Stimme seltsam klingen; denn meine Frau wurde auf einmal ganz blaß und schrie mit gleichfalls fremdartig klingender, verzweifelter Stimme laut auf. Auf unser Geschrei kamen Lisa, Herr Gnecker und dann auch Jegor herbeigelaufen. »Laßt mich in Ruhe!« schrie ich. »Geht hinaus! Laßt mich in Ruhe!« Die Füße wurden mir taub, als ob sie gar nicht da wären; ich fühlte, wie ich jemandem in die Arme sank; dann hörte ich eine kurze Zeit Weinen und fiel in eine Ohnmacht, die zwei bis drei Stunden dauerte. Jetzt von Katja. Sie besucht mich täglich gegen Abend, und das muß natürlich den Bekannten und Nachbarn auffallen. Sie kommt angefahren, tritt nur auf einen Augenblick bei mir ein und nimmt mich dann mit auf ihre Spazierfahrt. Sie hat ein eigenes Pferd und einen neuen ~char à banc~, den sie sich in diesem Sommer gekauft hat. Überhaupt lebt sie auf großem Fuße: sie hat sich ein teures Landhaus mit großem Garten für sich allein gemietet und ihr ganzes Mobiliar aus der Stadt dorthin schaffen lassen, hält sich zwei Stubenmädchen und einen Kutscher ... Oft frage ich sie: »Katja, wovon wirst du leben, wenn du das väterliche Geld vergeudet haben wirst?« »Das wollen wir später sehen,« antwortet sie. »Dieses Geld, liebes Kind, würde wohl eine etwas rücksichtsvollere Behandlung verdienen. Es ist von einem braven Manne durch ehrliche Arbeit erworben.« »Das haben Sie mir schon früher gesagt. Ich weiß es.« Zuerst fahren wir zwischen Feldern hin, dann durch den Nadelwald, den ich von meinem Fenster aus sehen kann. Die Natur erscheint mir ebenso schön wie früher, obwohl mir der Böse zuflüstert, daß alle diese Tannen und Fichten, diese Vögel und weißen Wolken am Himmel, wenn ich nach drei bis vier Monaten tot sein werde, von meinem Fehlen nichts merken werden. Katja findet Vergnügen daran, das Pferd selbst zu lenken, und sie freut sich, daß es schönes Wetter ist und ich neben ihr sitze. Sie ist guter Laune und führt keine bissigen Reden. »Sie sind ein sehr guter Mensch, Nikolai Stepanowitsch,« sagt sie. »Sie sind ein seltenes Exemplar, und es gibt keinen Schauspieler, der Sie spielen könnte. Mich oder z. B. Michail Fedorowitsch kann selbst ein schlechter Schauspieler kopieren, Sie aber niemand. Und ich beneide Sie, gewaltig beneide ich Sie! Denn ich, was bin ich? Was bin ich?« Sie denkt einen Augenblick nach und fragt mich dann: »Nikolai Stepanowitsch, ich bin ja doch wohl eine negative Erscheinung, nicht wahr?« »Ja«, antworte ich. »Hm ... Was soll ich denn aber nun tun?« Was soll ich ihr erwidern? Es ist leicht zu sagen: »Arbeite!« oder: »Gib deine Habe den Armen!« oder: »Erkenne dich selbst!«, und weil das eben so leicht zu sagen ist, so weiß ich nicht, was ich ihr erwidern soll. Meine Kollegen, die Therapeuten, geben in der Lehre von der Behandlung der Kranken den Rat, man solle jeden einzelnen Fall individuell behandeln. Wer diesen Rat befolgt, wird sich überzeugen, daß die Mittel, die in den Lehrbüchern schablonenmäßig als die besten und als durchaus brauchbar empfohlen werden, sich in den Einzelfällen als völlig unbrauchbar erweisen. Dasselbe gilt auch von seelischen Leiden. Aber irgend etwas muß ich ihr doch antworten, und so sage ich denn: »Du hast zuviel freie Zeit, meine Liebe. Du mußt dich mit etwas beschäftigen. Wirklich, warum willst du nicht wieder Schauspielerin werden, wenn du doch einen inneren Beruf dazu hast?« »Ich kann es nicht.« »Dein Ton und deine Art machen den Eindruck, als ob du dir wie ein Opfer vorkommst. Das gefällt mir nicht, meine Liebe. Du trägst selbst die Schuld. Erinnere dich nur: du begannst damit, dich über die Schauspieler und ihre Art zu ärgern, hast aber nichts getan, um diese und andere Menschen zu bessern. Du hast mit dem Schlechten nicht gerungen, sondern bist vorzeitig müde geworden und bist nicht ein Opfer des Ringens, sondern deiner Kraftlosigkeit. Nun freilich, du warst damals noch jung und unerfahren; aber jetzt kann alles einen anderen Verlauf nehmen. Wirklich, geh zur Bühne! Da wirst du arbeiten, der heiligen Kunst dienen ...« »Reden Sie nicht, was Sie selbst nicht meinen, Nikolai Stepanowitsch!« unterbricht mich Katja. »Lassen Sie uns ein für allemal die Verabredung treffen: wir wollen über Schauspieler reden, über Schauspielerinnen, über Schriftsteller; die Kunst aber wollen wir aus dem Spiele lassen. Sie sind ein prächtiger Mensch, ein seltener Mensch; aber Sie besitzen nicht so viel Verständnis für die Kunst, daß Sie sie mit gutem Gewissen ›die heilige Kunst‹ nennen dürften. Sie haben für die Kunst keinen Sinn und kein Gefühl. Ihr ganzes Leben lang sind Sie mit Ihrer Arbeit beschäftigt gewesen und haben keine Zeit gehabt, sich dieses Gefühl zu erwerben. Überhaupt ... ich kann diese Gespräche über Kunst nicht leiden!« fuhr sie nervös fort; »ich kann sie nicht leiden! Die Kunst ist so schon hinlänglich profaniert worden. Ich mag nichts weiter hören!« »Wer hat die Kunst profaniert?« »Die Schauspieler haben die Kunst profaniert durch ihre Trunksucht, die Zeitungen durch eine gar zu familiäre Stellungnahme ihr gegenüber, die verständigen Leute durch ihre Philosophie.« »Die Philosophie hat damit nichts zu schaffen.« »O doch. Wenn jemand über einen Gegenstand philosophiert, so bedeutet das, daß er kein Verständnis für ihn hat.« Damit das Gespräch nicht zu scharf wird, beeile ich mich, das Thema zu wechseln, und schweige dann längere Zeit. Erst in dem Augenblicke, wo wir aus dem Walde herausfahren und die Richtung nach Katjas Landhause einschlagen, kehre ich wieder zu dem früheren Gegenstande zurück und frage: »Du hast mir immer noch nicht geantwortet: Warum willst du nicht wieder Schauspielerin werden?« »Nikolai Stepanowitsch, das ist aber doch gar zu grausam von Ihnen!« ruft sie aus und wird plötzlich dunkelrot. »Wollen Sie wirklich, daß ich Ihnen laut die Wahrheit sage? Nun, wenn Sie es wünschen, meinetwegen: ich besitze kein Talent. Ich besitze kein Talent, wohl aber einen großen Ehrgeiz! Das ist der Grund!« Nachdem sie mir dieses Geständnis gemacht hat, wendet sie das Gesicht von mir weg und zieht, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen, stark an den Zügeln. Als wir uns ihrem Landhause nähern, sehen wir schon von weitem Michail Fedorowitsch, der am Tore auf und ab geht und ungeduldig auf uns wartet. »Wieder dieser Michail Fedorowitsch!« sagt Katja ärgerlich. »Bitte, schaffen Sie ihn mir vom Halse! Ich bin seiner überdrüssig; er ist schal geworden ... Ich mag ihn nicht!« Michail Fedorowitsch sollte schon längst im Auslande sein; aber er schiebt seine Abreise von einer Woche zur andern auf. In der letzten Zeit sind mit ihm einige Veränderungen vorgegangen: er ist magerer geworden, wird vom Weine berauscht, was früher bei ihm nie der Fall war, und seine schwarzen Augenbrauen beginnen grau zu werden. Wenn unser ~char à banc~ am Tore hält, macht er aus seiner Freude und seiner Ungeduld kein Hehl. Mit großer Beflissenheit ist er Katja und mir beim Aussteigen behilflich, stellt eilig allerlei Fragen, lacht und reibt sich die Hände; und jener sanfte, flehende, reine Ausdruck, den ich früher nur in seinem Blicke wahrnahm, hat sich jetzt über sein ganzes Gesicht ausgebreitet. Er freut sich, und gleichzeitig schämt er sich seiner Freude, schämt sich dieser Gewohnheit, Katja jeden Abend zu besuchen, und hält es für nötig, sein Kommen durch irgendeine handgreifliche Abgeschmacktheit zu motivieren, von dieser Art: »Ich kam gerade vorbei, als ich mir etwas besorgen wollte, und da dachte ich: ich will doch auf einen Augenblick herangehen.« Wir gehen alle drei in die Wohnung; zuerst trinken wir Tee; dann erscheinen auf dem Tische die mir längst bekannten zwei Spiele Karten, ein großes Stück Käse, Obst und eine Flasche Krim-Schaumwein. Die Themata unserer Gespräche sind keine neuen, sondern immer noch dieselben wie im Winter. Die Universität und die Studenten und die Literatur und das Theater müssen tüchtig herhalten; die Luft wird von den Lästerreden dichter und schwüler, und es vergiften sie jetzt nicht mehr zwei Kröten mit ihrem Atem wie im Winter, sondern drei. Außer dem samtweichen Lachen eines Baritons und einem andern Lachen, das wie eine Harmonika klingt, hört das Stubenmädchen, das uns bedient, noch ein drittes, unangenehm knarrendes Lachen, so wie in den Vaudevilles die Generale lachen: »He-he-he!« V Es kommen manchmal schreckliche Nächte vor, mit Blitz und Donner, Regen und Wind, die das Volk Sperlingsnächte nennt, weil die Sperlinge dabei vor Angst aus den Nestern herauskommen. Eine solche Sperlingsnacht habe ich in meinem eigenen Leben durchgemacht ... Ich wache nach Mitternacht auf und springe plötzlich vom Bette in die Höhe. Aus einem unverständlichen Grunde glaube ich, daß ich im nächsten Augenblick sterben werde. Warum glaube ich das? Im Körper habe ich keine derartige Empfindung, die auf ein schnelles Ende hinwiese; aber auf meiner Seele lastet eine solche Angst, als ob ich auf einmal den riesigen roten Schein einer entsetzlichen Feuersbrunst erblicke. Ich zünde schnell Licht an, trinke Wasser unmittelbar aus der Karaffe und eile dann zum offenen Fenster. Draußen ist herrliches Wetter. Es duftet nach Heu und sonst noch nach etwas Schönem. Ich sehe die Zacken des Gartenzaunes, die verschlafenen, kümmerlichen Bäume am Fenster, den Weg, den dunklen Waldstreifen; an dem wolkenlosen Himmel steht ruhig der sehr helle Mond. Tiefe Stille; kein Blatt regt sich. Mir scheint, daß alles mich anschaut und lauscht, wie ich sterben werde ... Mir ist bange zumute. Ich schließe das Fenster und laufe wieder zum Bette hin. Ich fühle mir den Puls, und da ich ihn an der Hand nicht finde, suche ich ihn an den Schläfen, dann am Kinn und wieder an der Hand; alles ist an mir kalt und schlüpfrig von Schweiß. Mein Atem wird schneller und schneller; der ganze Körper zittert; alle inneren Teile sind in Bewegung; auf dem Gesicht und auf der Glatze habe ich ein Gefühl, als ob sich ein Spinngewebe darauf lege. Was soll ich tun? Soll ich die Meinigen rufen? Nein, das hat keinen Zweck. Ich wüßte gar nicht, was meine Frau und Lisa tun sollten, wenn sie zu mir herein kämen. Ich stecke den Kopf unter das Kissen, schließe die Augen und warte, warte ... Mich friert am Rücken; es ist mir, als zöge er sich nach innen hinein, und ich habe ein Gefühl, als werde der Tod sich mir jedenfalls von hinten nahen, ganz leise ... »Kwi, kwi!« ertönt auf einmal ein Kreischen in der nächtlichen Stille, und ich weiß nicht, wo es ist, ob in meiner Brust oder auf der Straße. »Kwi, kwi!« Mein Gott, wie entsetzlich! Ich möchte gern noch mehr Wasser trinken; aber ich fürchte mich, auch nur die Augen aufzumachen und den Kopf in die Höhe zu heben. Ich habe eine sinnlose, animalische Angst und kann gar nicht begreifen, warum ich mich eigentlich fürchte: weil ich weiterleben möchte, oder weil mir ein neuer Schmerz bevorsteht, den ich noch nicht kenne? Oben, in dem Zimmer über mir, klingt es halb wie Stöhnen, halb wie Lachen. Ich lausche. Nach einer kleinen Weile sind auf der Treppe Schritte zu hören. Es kommt jemand eilig herunter, steigt aber dann wieder hinauf. Eine Minute später werden die Schritte wieder unten vernehmbar; es bleibt jemand an meiner Tür stehen und horcht. »Wer ist da?« rufe ich. Die Tür öffnet sich; mit einem kühnen Entschlusse mache ich die Augen auf und sehe meine Frau vor mir. Ihr Gesicht ist blaß, ihre Augen verweint. »Du schläfst nicht, Nikolai Stepanowitsch?« fragte sie. »Was willst du?« »Um Gottes willen, komm doch mit zu Lisa und sieh sie dir einmal an. Es muß ihr etwas zugestoßen sein ...« »Gut ... gern ...« murmele ich, sehr zufrieden damit, daß ich nicht mehr allein bin. »Gut ... den Augenblick.« Ich gehe hinter meiner Frau her, höre an, was sie mir mitteilt, und verstehe vor Aufregung nichts davon. Das Licht, das sie trägt, läßt auf den Treppenstufen helle Flecke umherhüpfen und unsere langen Schatten sich zitternd bewegen; meine Füße verwickeln sich in den Schößen meines Schlafrockes; ich kann kaum atmen, und es ist mir, als ob mich jemand verfolgte und mich am Rücken packen wollte. »Jetzt werde ich gleich hier auf dieser Treppe sterben,« denke ich. »Gleich diesen Augenblick ...« Aber da sind wir schon die Treppe hinaufgestiegen, haben bereits den dunklen Korridor mit dem italienischen Fenster passiert und treten in Lisas Zimmer. Sie sitzt im bloßen Hemde auf dem Bette, läßt die nackten Beine herunterhängen und stöhnt. »Ach mein Gott ... ach mein Gott!« murmelt sie und kneift, von unserem Lichte geblendet, die Augen zusammen. »Ich kann nicht, ich kann nicht ...« »Lisa, mein Kind,« sage ich, »was fehlt dir?« Sobald sie mich erblickt, schreit sie auf und fällt mir um den Hals. »Mein guter Papa ...« schluchzt sie. »Mein lieber Papa ... Mein süßer, bester Papa! ... Ich weiß nicht, was mit mir ist ... Mir ist so schwer ums Herz!« Sie umarmt mich, küßt mich und stammelt zärtliche Koseworte, wie ich sie von ihr gehört habe, als sie noch ein kleines Kind war. »Beruhige dich, mein Kind! Gott möge dir beistehen!« sage ich. »Du mußt nicht weinen. Mir ist selbst traurig zumute.« Ich gebe mir Mühe, sie zuzudecken, meine Frau reicht ihr zu trinken, und wir beide bewegen uns ungeschickt an ihrem Bette umher, so daß wir einander stoßen: mit meiner Schulter stoße ich an die Schulter meiner Frau, und in diesem Augenblicke schießt mir die Erinnerung durch den Kopf, wie wir früher einmal unsere Kinder zusammen gebadet haben. »Hilf ihr doch, hilf ihr doch!« fleht mich meine Frau an. »Gib ihr doch etwas zum Einnehmen!« Aber was kann ich tun? Gar nichts. Dem Mädchen lastet etwas Schweres auf der Seele; aber ich begreife nichts davon, weiß nichts und kann nur murmeln: »Es ist nichts Schlimmes, nichts Schlimmes ... Das wird vorübergehen ... Schlaf nur, schlaf! ...« Gerade in diesem Augenblick ertönt auf einmal auf unserem Hofe Hundegeheul, anfangs leise und unentschlossen, dann laut, zweistimmig. Ich habe solchen Vorzeichen wie Hundegeheul und Eulenruf nie irgendwelche Bedeutung beigemessen; aber jetzt krampft sich mein Herz schmerzlich zusammen, und ich beeile mich, mir über dieses Geheul klar zu werden. »Dummes Zeug ...« denke ich. »Der Einfluß eines Organismus auf einen andern. Meine starke nervöse Spannung hat sich auf meine Frau und auf Lisa und auf den Hund übertragen, weiter nichts ... Durch eine derartige Übertragung lassen sich alle Vorahnungen und alles Vorhersehen erklären ...« Als ich bald darauf in mein Zimmer zurückkehre, um für Lisa ein Rezept zu schreiben, denke ich nicht mehr an meinen nahe bevorstehenden Tod, sondern empfinde nur ein drückendes, widerwärtiges Gefühl am Herzen, so daß es mir sogar leid tut, daß ich nicht plötzlich gestorben bin. Lange stehe ich regungslos mitten im Zimmer und überlege, was ich wohl meiner Tochter verschreiben könnte; aber das Stöhnen in dem über mir gelegenen Zimmer verstummt, und so entscheide ich mich denn dafür, nichts zu verschreiben; aber ich bleibe trotzdem stehen ... Es herrscht eine Totenstille, eine solche Stille, daß, wie sich einmal ein Schriftsteller ausgedrückt hat, sie einem sogar in den Ohren klingt. Die Zeit vergeht nur ganz langsam; die Streifen des Mondlichtes auf dem Fensterbrette ändern ihre Lage nicht, gerade wie wenn sie erstarrt wären ... Bis zur Morgendämmerung ist es noch lange hin. Aber da knarrt das Pförtchen im Gartenzaun; es schleicht jemand herein, bricht von einem der dürftigen Bäume einen Zweig ab und klopft damit vorsichtig ans Fenster. »Nikolai Stepanowitsch!« höre ich eine Stimme flüstern; »Nikolai Stepanowitsch!« Ich öffne das Fenster und glaube zu träumen: unter dem Fenster, sich gegen die Wand drückend, steht eine Frau in schwarzem Kleide, hell vom Monde beleuchtet, und blickt mich mit großen Augen an. Ihr im Mondlicht blaß, streng und seltsam erscheinendes Gesicht sieht wie von Marmor aus; ihr Kinn zittert. »Ich bin es,« sagt sie. »Ich ... Katja!« Bei Mondlicht erscheinen alle Frauenaugen groß und schwarz, und die Menschen größer und blasser; dies ist wohl der Grund, weshalb ich sie im ersten Augenblicke nicht erkannt hatte. »Was willst du?« »Verzeihen Sie,« sagt sie. »Mir wurde plötzlich, ich weiß nicht warum, so unerträglich schwer ums Herz ... Ich konnte es nicht aushalten und fuhr hierher ... Ich sah Licht hinter Ihrem Fenster ... und da entschloß ich mich, anzuklopfen ... Entschuldigen Sie ... Ach, wenn Sie wüßten, wie schrecklich mir zumute war! Was tun Sie denn jetzt?« »Nichts ... Ich kann nicht schlafen.« »Ich hatte eine Art Ahnung. Aber das ist ja dummes Zeug.« Ihre Brauen ziehen sich in die Höhe, ihre Augen glänzen von Tränen, und auf ihrem ganzen Gesichte strahlt wie ein helles Licht jener Ausdruck von Zutraulichkeit auf, der mir so wohl bekannt ist, den ich aber so lange nicht mehr gesehen habe. »Nikolai Stepanowitsch!« sagt sie in flehendem Tone und streckt beide Hände nach mir hin. »Teurer Freund, ich bitte Sie ... ich flehe Sie an ... Wenn Sie meine Freundschaft und Verehrung für Sie nicht verachten, so erfüllen Sie mir eine Bitte!« »Was für eine Bitte?« »Nehmen Sie das Geld, das ich noch besitze, von mir an!« »Aber was sind das für Einfälle! Was soll ich mit deinem Gelde?« »Fahren Sie irgendwohin, um eine Kur zu gebrauchen! ... Sie haben eine Kur durchaus nötig. Wollen Sie es annehmen? Ja? Lieber, Guter, ja?« Sie sieht mir in gespannter Erwartung ins Gesicht und wiederholt: »Ja? Wollen Sie es annehmen?« »Nein, meine Liebe, das nehme ich nicht an ...«, antworte ich; »ich danke dir.« Sie wendet mir den Rücken zu und läßt den Kopf herunterhängen. Wahrscheinlich habe ich bei der abschlägigen Antwort mich eines Tones bedient, durch den ein weiteres Gespräch über die Geldangelegenheit unmöglich gemacht wurde. »Fahre wieder nach Hause,« sage ich, »und lege dich schlafen! Morgen sehen wir uns wieder.« »Also Sie halten mich nicht für Ihre Freundin?« fragt sie niedergeschlagen. »Das habe ich nicht gesagt. Aber von deinem Gelde kann ich jetzt keinen Gebrauch machen.« »Verzeihen Sie!« erwidert sie und läßt dabei die Stimme um eine ganze Oktave sinken. »Ich verstehe Sie. Einer Frau, wie ich, verpflichtet zu sein, einer ehemaligen Schauspielerin, das ist ... Nun, dann leben Sie wohl! ...« Sie geht so schnell fort, daß ich nicht einmal Zeit habe, ihr Lebewohl zu sagen. VI Ich bin in Charkow. Da ich doch keinen Nutzen davon hätte, gegen meine jetzige Gemütsverfassung anzukämpfen, und auch gar nicht dazu imstande bin, so habe ich beschlossen, daß meine letzten Lebenstage wenigstens nach der formellen Seite hin vorwurfsfrei sein sollen; wenn ich meiner Familie gegenüber im Unrecht bin (und ich bin mir recht wohl bewußt, daß dem so ist), so will ich wenigstens bemüht sein, so zu handeln, wie sie es wünscht. Ich sollte nach Charkow reisen; nun, so bin ich denn jetzt in Charkow. Zudem bin ich in der letzten Zeit gegen alles dermaßen gleichgültig geworden, daß es mir wirklich ganz einerlei ist, wohin ich reise, ob nach Charkow oder nach Paris oder nach Berditschew. Ich bin um zwölf Uhr mittags hier angekommen und in einem Hotel nicht weit vom Dom eingekehrt. Im Waggon bin ich arg durchgerüttelt worden, auch zog es empfindlich; jetzt sitze ich auf dem Bette, halte mir den Kopf und warte auf meinen ~tic douloureux~. Ich sollte eigentlich heute zu den Professoren fahren, mit denen ich bekannt bin; aber ich habe keine Lust und keine Kraft dazu. Der Kellner, ein älterer Mann, tritt herein und fragt, ob ich Bettwäsche bei mir führe. Ich halte ihn etwa fünf Minuten lang zurück und lege ihm einige Fragen über Herrn Gnecker vor, um dessentwillen ich hierher gekommen bin. Es stellt sich heraus, daß der Kellner, obwohl er ein geborener Charkower ist und in dieser Stadt wie in seiner eigenen Westentasche Bescheid weiß, kein Haus kennt, das sich im Besitz einer Familie Gnecker befände. Ich erkundige mich nach einem Gute einer solchen Familie, aber mit demselben Resultate. Auf dem Korridor schlägt die Uhr eins, dann zwei, dann drei. Die letzten Monate meines Lebens, in denen ich auf den Tod warte, kommen mir weit länger vor als mein ganzes Leben. Auch habe ich es früher nie verstanden, mit der Langsamkeit der Zeit so zufrieden zu sein, wie jetzt. Wenn ich früher manchmal auf dem Bahnhofe auf einen Zug wartete oder als Mitglied der Prüfungskommission beim Examen saß, erschien mir eine Viertelstunde wie eine Ewigkeit; jetzt dagegen kann ich die ganze Nacht hindurch, ohne mich zu rühren, auf dem Bette sitzen und ganz gleichmütig daran denken, daß morgen eine ebensolche lange, farblose Nacht kommen wird, und übermorgen wieder eine ... Im Korridor schlägt es fünf Uhr, sechs, sieben. Es wird dunkel. In der Backe fühle ich ein dumpfes Ziehen: damit fängt der Gesichtsschmerz, der ~tic~, an. Um mich mit Gedanken zu beschäftigen, versetze ich mich auf meinen früheren Standpunkt, als ich noch nicht so teilnahmlos war, und frage mich: warum sitze ich, ein berühmter Mann, ein Geheimrat, in diesem kleinen Hotelzimmer, auf diesem Bette mit der fremden, grauen Bettdecke? Warum sehe ich diese billige, blecherne Waschschüssel an und höre, wie auf dem Korridor eine elende Uhr tickt? Entspricht denn etwa alles dies meiner Berühmtheit und der hohen Stellung, die ich in der Welt einnehme? Und auf diese Frage besteht meine Antwort in einem Lächeln. Ich lächle über die Naivität, mit der ich einst in meiner Jugend die Bedeutung der Berühmtheit und der exklusiven Stellung, welche berühmte Männer anscheinend genießen, weit überschätzte. Ich bin berühmt, mein Name wird mit Ehrerbietung genannt, mein Bild hat in der Niwa[3] und in der Allgemeinen Illustrierten Zeitung gestanden, meine Biographie habe ich sogar in einer deutschen Zeitschrift gelesen: und was habe ich nun von alledem? Ich sitze mutterseelenallein in einer fremden Stadt, auf einem fremden Bette und reibe mit der Hand meine kranke Backe. Familiengezänk, Hartherzigkeit von Gläubigern, Grobheit der Eisenbahnbeamten, die Unbequemlichkeiten des Paßwesens, die teure und ungesunde Kost in den Bahnhofsrestaurationen, die allgemeine Unhöflichkeit und Grobheit im Verkehr, alles dies und vieles andere, dessen Aufzählung zu lang werden würde, berührt mich nicht weniger als jeden beliebigen Kleinbürger, den niemand kennt als die Bewohner seiner Gasse. Worin kommt denn die Exklusivität meiner Stellung zum Ausdruck? Und wenn ich tausendmal ein berühmter Mann bin, ein hervorragender Geist, auf den das Vaterland stolz ist, -- nun ja, man druckt in allen Zeitungen Bulletins über meine Krankheit ab, und es gehen mir durch die Post teilnehmende Zuschriften von Kollegen, von Schülern und aus dem Publikum zu; aber alles dies hindert mich nicht, auf einem fremden Bette, in Gram und Kummer, in völliger Vereinsamung zu sterben. Gewiß, es trifft niemanden dabei eine Schuld; aber obwohl es fast wie eine Sünde klingt: ich habe an der Popularität meines Namens keine Freude. Es kommt mir vor, als hätte mich diese Popularität betrogen. Um zehn Uhr schlafe ich ein; trotz meines Gesichtsschmerzes schlafe ich fest und würde lange geschlafen haben, wenn ich nicht aufgeweckt worden wäre. Bald nach ein Uhr wird plötzlich an meine Tür geklopft. »Wer ist da?« »Eine Depesche.« »Das hätte auch bis morgen Zeit gehabt,« sage ich ärgerlich, als ich die Depesche von dem Kellner in Empfang nehme. »Nun werde ich nicht zum zweitenmal einschlafen.« »Verzeihen Sie! Ich sah, daß bei Ihnen Licht brannte, und glaubte, Sie schliefen noch nicht.« Ich öffne die Depesche und sehe vor allem nach der Unterschrift: von meiner Frau. Was will sie? »Gestern hat sich Gnecker mit Lisa heimlich trauen lassen. Komm zurück!« Ich lese diese Depesche und bekomme einen Schreck, der allerdings nicht lange dauert. Worüber ich erschrecke, das ist nicht der Schritt, den Lisa und Gnecker unternommen haben, sondern der Gleichmut, mit dem ich die Nachricht von ihrer Verheiratung aufnehme. Man sagt, die Philosophen und die wahren Weisen seien gleichmütig. Das ist nicht wahr; der Gleichmut ist eine Paralyse der Seele, ein vorzeitiger Tod. Ich lege mich wieder ins Bett und überlege, mit was für Gedanken ich mich wohl beschäftigen könnte. Worüber soll ich nachdenken? Mir scheint, es sei schon alles von mir durchdacht worden, und es gebe nichts, was jetzt imstande wäre, meine Denktätigkeit anzuregen. Als es hell wird, sitze ich auf dem Bette, umfasse die Knie mit den Händen und versuche aus Langerweile mich selbst zu erkennen. »Erkenne dich selbst!« das ist ein schöner, nützlicher Rat; schade nur, daß die Alten nicht daran gedacht haben, die Mittel anzugeben, wie man sich dieses Rates bedienen könne. Wenn mich früher die Lust ankam, das Wesen irgend jemandes oder mein eigenes zu erkennen, so richtete ich mein Augenmerk nicht auf die Handlungen, bei denen ja alles von den äußeren Umständen abhängt, sondern auf die Wünsche. Sage mir, was du wünschest, und ich werde dir sagen, wer du bist. Auch jetzt prüfe ich mich selbst: was möchte ich? Ich möchte, daß unsere Frauen, unsere Kinder, unsere Freunde und unsere Schüler an uns nicht den Namen, das Aushängeschild und das Etikett liebten, sondern die Menschen, die gewöhnlichen Menschen. Was noch? Ich möchte Gehilfen und Nachfolger haben. Was noch? Ich möchte nach etwa hundert Jahren erwachen und wenigstens einen kurzen Blick auf den Stand der Wissenschaft werfen. Ich möchte noch zehn Jahre leben ... Was noch weiter? Weiter nichts. Ich überlege, überlege lange und kann nichts mehr ersinnen. Und wie lange ich auch überlege, und wohin ich auch meine Gedanken richten würde, das ist mir klar, daß meinen Wünschen etwas sehr Wesentliches, gerade das Wichtigste fehlen würde. Meinem leidenschaftlichen Interesse für die Wissenschaft, meinem Wunsche weiterzuleben, diesem Sitzen auf dem fremden Bette und dem Versuche, mich selbst zu erkennen, allen Gedanken, Gefühlen und Begriffen, die ich mir über alle Dinge bilde, alledem fehlt das gemeinsame Band, durch das alles erst zu einem einheitlichen Ganzen verknüpft werden würde. Jedes Gefühl und jeder Gedanke führt in mir sein Sonderdasein, und in allen meinen Urteilen über die Wissenschaft, über das Theater, über die Literatur, über meine Schüler und in all den Bildern, die meine Einbildungskraft entwirft, würde selbst der geschickteste Psychologe nicht das finden, was man die Gesamtidee oder den »Gott im lebendigen Menschen« nennt. Wenn aber das fehlt, so ist alles andere nichtig und wertlos. Bei solcher Armut haben ein ernstes körperliches Leiden, die Furcht vor dem Tode, die Einwirkung äußerer Umstände und anderer Menschen ausgereicht, um alles das, was ich früher für meine Weltanschauung hielt, und worin ich den Inhalt und die Freude meines Lebens erblickte, völlig umzustürzen und in Trümmer zu legen. Daher ist es kein Wunder, daß ich mir die letzten Monate meines Lebens durch Gedanken und Gefühle verdunkelt habe, die nur eines Sklaven und Barbaren würdig sind, und daß ich jetzt teilnahmlos hier sitze und auf den Tagesanbruch nicht achte. Wenn im Menschen nicht das vorhanden ist, was höher und stärker ist als alle äußeren Einwirkungen, dann genügt wahrhaftig schon ein tüchtiger Schnupfen, um ihn das Gleichgewicht verlieren und in jedem Vogel eine Eule sehen, in jedem Ton ein Hundegeheul hören zu lassen. Und sein ganzer Pessimismus oder Optimismus mit seinen großen und kleinen Gedanken hat in solchen Zeiten lediglich die Bedeutung eines Symptoms, aber keine reelle Wirkung. Ich bin besiegt. Wenn es so steht, dann hat es weiter keinen Zweck, nachzudenken und zu reden. Ich werde so sitzen bleiben und schweigend abwarten, was da kommen wird. Am Morgen bringt mir der Kellner Tee und die soeben erschienene Nummer des Lokalblattes. Mechanisch überfliege ich die Annoncen auf der ersten Seite, den Leitartikel, die Auszüge aus anderen Zeitungen und Journalen, die Tageschronik. Und in dieser letzteren finde ich unter anderm folgende Notiz: »Gestern ist unser berühmter Gelehrter, der hochverdiente Professor Nikolai Stepanowitsch ***, mit dem Kurierzuge in Charkow eingetroffen und im Hotel *** abgestiegen.« Offenbar sind berühmte Namen dazu geschaffen, ein Sonderleben neben ihren Trägern zu führen. Jetzt wandert mein Name ungestört in Charkow umher; nach drei Monaten wird er in goldenen Buchstaben auf meinem Grabdenkmal blitzen wie die Sonne, während ich selbst bereits unter einer Moosdecke liegen werde. Ein leichtes Klopfen an der Tür; es will jemand zu mir. »Wer ist da? Herein!« Die Tür öffnet sich; erstaunt trete ich einen Schritt zurück und schlage eiligst die Schöße meines Schlafrocks übereinander. Vor mir steht Katja. »Guten Morgen!« sagt sie, noch ganz außer Atem vom Treppensteigen. »Das haben Sie wohl nicht erwartet? Ich bin auch ... bin auch hergekommen.« Sie setzt sich und fährt stockend und ohne mich anzusehen fort: »Warum sagen Sie mir nicht Guten Tag? Ich bin auch hergekommen ... heute ... Ich erfuhr, daß Sie in diesem Hotel abgestiegen seien, und da bin ich zu Ihnen hergekommen.« »Ich freue mich sehr, dich zu sehen,« sage ich achselzuckend. »Aber ich bin erstaunt ... Du erscheinst hier so plötzlich wie vom Himmel gefallen. Warum bist du denn eigentlich hier?« »Ich? Nun, ohne besonderen Anlaß ... Ich habe mich einfach aufgesetzt und bin hergefahren.« Stillschweigen. Auf einmal steht sie mit einer raschen, heftigen Bewegung auf und tritt auf mich zu. »Nikolai Stepanowitsch!« sagt sie; sie ist ganz blaß geworden und drückt die Hände gegen die Brust. »Nikolai Stepanowitsch! Ich kann so nicht mehr weiterleben! Ich kann es nicht! Um Gottes willen, sagen Sie mir schnell, augenblicklich: was soll ich tun? Sagen Sie mir: was soll ich tun?« »Was kann ich dir sagen?« erwidere ich verwundert. »Ich kann dir nichts sagen.« »Sagen Sie es mir doch, ich flehe Sie an!« fährt sie, schwer atmend und am ganzen Leibe zitternd, fort. »Ich schwöre Ihnen, daß ich so nicht weiterleben kann! Meine Kraft ist zu Ende!« Sie fällt auf einen Stuhl nieder und beginnt zu schluchzen. Sie hat den Kopf zurückgeworfen, ringt die Hände und stampft mit den Füßen; der Hut ist ihr vom Kopfe gefallen und schaukelt am Gummibande; das Haar ist ihr in Unordnung geraten. »Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!« fleht sie. »Ich kann nicht mehr!« Sie holt das Taschentuch aus ihrem Reisetäschchen hervor und zieht damit zugleich ein paar Briefe heraus, die dann von ihren Knien auf den Fußboden fallen. Ich hebe sie auf, erkenne bei einem derselben die Handschrift Michail Fedorowitschs und lese zufällig ein Stück von einem Worte: »leidenschaft...« »Ich kann dir nichts sagen, Katja,« wiederhole ich. »Helfen Sie mir!« schluchzt sie, ergreift meine Hand und küßt sie. »Sie sind ja doch mein Vater, mein einziger Freund! Sie sind ja klug und gebildet und haben lange gelebt! Sie sind Lehrer gewesen! Sagen Sie mir doch: was soll ich tun?« »Auf Ehre und Gewissen, Katja: ich weiß nicht ...« Ich bin fassungslos, verlegen, von ihrem Schluchzen gerührt und kann mich kaum auf den Beinen halten. »Komm, Katja, wir wollen frühstücken,« sage ich mit einem gezwungenen Lächeln. »Hör doch auf zu weinen!« Und unmittelbar darauf füge ich mit leiserer Stimme hinzu: »Ich werde bald nicht mehr sein, Katja ...« »Nur ein Wort, nur ein einziges Wort!« ruft sie weinend und streckt die Hände nach mir aus. »Was soll ich tun?« »Eine wunderliche Person bist du, wahrhaftig,« murmle ich. »Es ist mir unbegreiflich! Sonst so verständig ... und nun zerfließt du auf einmal in Tränen ...« Es tritt ein Stillschweigen ein. Katja bringt ihr Haar in Ordnung und setzt den Hut auf; dann knittert sie die Briefe achtlos zusammen und schiebt sie in die Reisetasche; alles das tut sie schweigend und ohne Hast. Ihr Gesicht, ihre Brust und ihre Handschuhe sind noch feucht von Tränen; aber der Ausdruck ihres Gesichtes ist bereits streng und fest ... Ich sehe sie an und schäme mich, daß ich glücklicher bin als sie. Der Mangel dessen, was meine Kollegen, die Philosophen, die Gesamtidee nennen, ist mir erst kurz vor meinem Tode, beim Niedergange meiner Tage, zum Bewußtsein gekommen; die Seele der armen Katja aber hat bisher nie das Gefühl des Geborgenseins kennen gelernt und wird es ihr ganzes Leben lang nicht kennen lernen! »Komm, Katja, wir wollen frühstücken,« sage ich. »Nein, danke,« antwortet sie kühl. Es vergeht noch eine Minute unter beiderseitigem Stillschweigen. »Charkow gefällt mir nicht,« beginne ich dann. »Es macht alles so einen grauen Eindruck. Eine graue Stadt.« »Ja, das ist wohl richtig ... Eine häßliche Stadt ... Ich bin nur auf kurze Zeit hier ... Auf der Durchreise. Ich fahre heute noch weiter.« »Wohin?« »Nach der Krim ... ich wollte sagen: nach dem Kaukasus.« »So. Auf lange?« »Ich weiß nicht.« Katja steht auf und reicht mir mit einem kalten Lächeln und ohne mich anzusehen die Hand. Ich möchte sie fragen: »Dann bist du also zu meinem Begräbnisse nicht da?« Aber sie sieht mich nicht an, und ihre Hand liegt so kühl in der meinen, als ob sie mir eine Fremde wäre. Ich begleite sie schweigend bis an die Tür ... Nun hat sie mein Zimmer verlassen und geht den langen Korridor entlang, ohne sich umzusehen. Sie weiß, daß ich ihr nachschaue, und wird sich wohl an der Ecke noch einmal umblicken. Nein, sie hat sich nicht umgeblickt. Das letzte Stück ihres schwarzen Kleides ist verschwunden, ihre Schritte sind verhallt ... Lebewohl, du mein Teuerstes auf der Welt! Fußnoten [1] In Gribojedows Lustspiel: »Verstand schafft Leiden«. Anm. des Übers. [2] = Restaurant. Anmerkung des Übersetzers. [3] Eine sehr verbreitete illustrierte Wochenschrift, einigermaßen ähnlich der Gartenlaube. Anm. des Übers. * * * * * * Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Satzfehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. *** End of this LibraryBlog Digital Book "Eine langweilige Geschichte - Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.