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Title: L'Adultera
Author: Fontane, Theodor
Language: German
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    Anmerkungen zur Transkription


    Das Original ist in Fraktur gesetzt.

    Im Original gesperrter Text ist +so ausgezeichnet+.

    Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so ausgezeichnet~.

    Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des
    Buches.

[Illustration]



Fischers Bibliothek

zeitgenössischer Romane


Erster Jahrgang

(Oktober 1908--September 1909)

    1. Bd. Theodor Fontane, L'Adultera
    2. Bd. Jakob Schaffner, Die Erlhöferin
    3. Bd. Jonas Lie, Eine Ehe mit einer Einleitung von Herman Bang
    4. Bd. Gabriele Reuter, Liselotte von Reckling
    5. Bd. Gustaf af Geijerstam, Thora
    6. Bd. Th. Mann, Der kleine Herr Friedemann
    7. Bd. Hans Land, Stürme
    8. Bd. H. Bang, Hoffnungslose Geschlechter
    9. Bd. E. v. Keyserling, Beate und Mareile
    10/11. Bd. Gabriele d'Annunzio, Lust (2 Bände)
    12. Bd. Charlotte Knoeckel, Maria Baumann


Jeden Monat erscheint ein Band zum Preise von 1 Mark für das gebundene
Exemplar



    L'Adultera

    Roman von
    Theodor Fontane

    [Illustration]


    S. Fischer, Verlag, Berlin



Alle Rechte vorbehalten



1

Kommerzienrat Van der Straaten


Der Kommerzienrat Van der Straaten, Große Petristraße 4, war einer
der vollgültigsten Finanziers der Hauptstadt, eine Tatsache, die
dadurch wenig alteriert wurde, daß er mehr eines geschäftlichen als
eines persönlichen Ansehens genoß. An der Börse galt er bedingungslos,
in der Gesellschaft nur bedingungsweise. Es hatte dies, wenn man
herumhorchte, seinen Grund zu sehr wesentlichem Teile darin, daß er
zu wenig »draußen« gewesen war und die Gelegenheit versäumt hatte,
sich einen allgemein gültigen Weltschliff oder auch nur die seiner
Lebensstellung entsprechenden Allüren anzueignen. Einige neuerdings
erst unternommene Reisen nach Paris und Italien, die übrigens niemals
über ein paar Wochen hinaus ausgedehnt worden waren, hatten an diesem
Tatbestande nichts Erhebliches ändern können und ihm jedenfalls
ebenso seinen spezifisch lokalen Stempel wie seine Vorliebe für
drastische Sprichwörter und heimische »geflügelte Worte« von der
derberen Observanz gelassen. Er pflegte, um ihn selber mit einer seiner
Lieblingswendungen einzuführen, »aus seinem Herzen keine Mördergrube
zu machen,« und hatte sich, als reicher Leute Kind, von Jugend auf
daran gewöhnt, alles zu tun und zu sagen, was zu tun und zu sagen er
lustig war. Er haßte zweierlei: sich zu genieren und sich zu ändern.
Nicht als ob er sich in der Theorie für besserungsunbedürftig gehalten
hätte, keineswegs, er bestritt nur in der Praxis eine besondere
Benötigung dazu. Die meisten Menschen, so hieß es dann wohl in seinen
jederzeit gern gegebenen Auseinandersetzungen, seien einfach erbärmlich
und so grundschlecht, daß er, verglichen mit ihnen, an einer wahren
Engelgrenze stehe. Er sähe mithin nicht ein, warum er an sich arbeiten
und sich Unbequemlichkeiten machen solle. Zudem könne man jeden Tag an
jedem beliebigen Konventikler oder Predigtamtskandidaten erkennen, daß
es +doch+ zu nichts führe. Es sei eben immer die alte Geschichte, und
um den Teufel auszutreiben, werde Beelzebub zitiert. Er zög' es deshalb
vor, alles beim alten zu belassen. Und wenn er so gesprochen, sah er
sich selbstzufrieden um und schloß behaglich und gebildet: »O rühret,
rühret nicht daran,« denn er liebte das Einstreuen lyrischer Stellen,
ganz besonders solcher, die seinem echt berlinischen Hange zum bequem
Gefühlvollen einen Ausdruck gaben. Daß er eben diesen Hang auch wieder
ironisierte, versteht sich von selbst.

Van der Straaten, wie hiernach zu bemessen, war eine
sentimental-humoristische Natur, deren Berolinismen und Zynismen nichts
weiter waren, als etwas wilde Schößlinge seines Unabhängigkeitsgefühls
und einer immer ungetrübten Laune. Und in der Tat, es gab nichts in
der Welt, zu dem er allezeit so beständig aufgelegt gewesen wäre, wie
zu Bonmots und scherzhaften Repartis, ein Zug seines Wesens, der sich
schon bei Vorstellungen in der Gesellschaft zu zeigen pflegte. Denn
die bei diesen und ähnlichen Gelegenheiten nie ausbleibende Frage
nach seinen näheren oder ferneren Beziehungen zu dem Gutzkowschen
Vanderstraaten ward er nicht müde, prompt und beinahe paragraphenweise
dahin zu beantworten, daß er jede Verwandtschaft mit dem von der Bühne
her so bekannt gewordenen Manasse Vanderstraaten ablehnen müsse, 1.
weil er seinen Namen nicht einwortig, sondern dreiwortig schreibe, 2.
weil er trotz seines Vornamens Ezechiel nicht bloß überhaupt getauft
worden sei, sondern auch das nicht jedem Preußen zuteil werdende Glück
gehabt habe, durch einen evangelischen Bischof, und zwar durch den
alten Bischof Roß, in die christliche Gemeinschaft aufgenommen zu sein,
und 3. und letztens weil er seit längerer Zeit des Vorzugs genieße,
die Honneurs seines Hauses nicht durch eine Judith, sondern durch eine
Melanie machen lassen zu können, durch eine Melanie, die, zu weiterem
Unterschiede, nicht seine Tochter, sondern seine »Gemahlin« sei. Und
dies Wort sprach er dann mit einer gewissen Feierlichkeit, in der
Scherz und Ernst geschickt zusammenklangen.

Aber der Ernst überwog, wenigstens in seinem Herzen. Und es konnte
nicht anders sein, denn die junge Frau war fast noch mehr sein Stolz
als sein Glück. Älteste Tochter Jean de Caparoux', eines Adligen
aus der französischen Schweiz, der als Generalkonsul eine lange
Reihe von Jahren in der norddeutschen Hauptstadt gelebt hatte, war
sie ganz und gar als das verwöhnte Kind eines reichen und vornehmen
Hauses großgezogen und in all ihren Anlagen aufs glücklichste
herangebildet worden. Ihre heitere Grazie war fast noch größer als
ihr Esprit, und ihre Liebenswürdigkeit noch größer als beides.
Alle Vorzüge französischen Wesens erschienen in ihr vereinigt. Ob
auch die Schwächen? Es verlautete nichts darüber. Ihr Vater starb
früh, und statt eines gemutmaßten großen Vermögens fanden sich nur
Debets über Debets. Und um diese Zeit war es denn auch, daß der
zweiundvierzigjährige Van der Straaten um die siebzehnjährige Melanie
warb und ihre Hand erhielt. Einige Freunde beider Häuser ermangelten
selbstverständlich nicht, allerhand Trübes zu prophezeien. Aber sie
schienen im Unrecht bleiben zu sollen. Zehn glückliche Jahre, glücklich
für beide Teile, waren seitdem vergangen, Melanie lebte wie die Prinzeß
im Märchen, und Van der Straaten seinerseits trug mit freudiger
Ergebung seinen Necknamen »Ezel«, in den die junge Frau den langatmigen
und etwas suspekten »Ezechiel« umgewandelt hatte. Nichts fehlte. Auch
Kinder waren da: zwei Töchter, die jüngere des Vaters, die ältere der
Mutter Ebenbild, groß und schlank und mit herabfallendem, dunklem Haar.
Aber während die Augen der Mutter immer lachten, waren die der Tochter
ernst und schwermütig, als sähen sie in die Zukunft.



2

L'Adultera


Die Wintermonate pflegten die Van der Straatens in ihrer Stadtwohnung
zuzubringen, die, trotzdem sie altmodisch war, doch an Komfort nichts
vermissen ließ. Jedenfalls aber bot sie für das gesellschaftliche
Treiben der Saison eine größere Bequemlichkeit, als die spreeabwärts am
Nordwestrande des Tiergartens gelegene Villa.

Der erste Subskriptionsball war gewesen, vor zwei Tagen, und Van
der Straaten und Frau nahmen wie gewöhnlich in dem hochpaneelierten
Wohn- und Arbeitszimmer des ersteren ihr gemeinschaftliches Frühstück
ein. Von dem beinah unmittelbar vor ihrem Fenster aufragenden
Petri-Kirchturme herab schlug es eben neun, und die kleine französische
Stutzuhr sekundierte pünktlich, lief aber in ihrer Hast und Eile den
dumpfen und langsamen Schlägen, die von draußen her laut wurden,
weit voraus. Alles atmete Behagen, am meisten der Hausherr selbst,
der, in einen Schaukelstuhl gelehnt und die Morgenzeitung in der
Hand, abwechselnd seinen Kaffee und den Subskriptionsballbericht
einschlürfte. Nur dann und wann ließ er seine Hand mit der Zeitung
sinken und lachte.

»Was lachst du wieder, Ezel,« sagte Melanie, während sie mit ihrem
linken Morgenschuh kokettisch hin und her klappte. »Was lachst du
wieder? Ich wette die Robe, die du mir heute noch kaufen wirst, gegen
dein häßliches, rotes und mir zum Tort wieder schief umgeknotetes
Halstuch, daß du nichts gefunden hast als ein paar Zweideutigkeiten.«

»Er schreibt +zu+ gut,« antwortete Van der Straaten, ohne den
hingeworfenen Fehdehandschuh aufzunehmen. »Und was mich am meisten
freut, sie nimmt es alles für Ernst.«

»Wer denn?«

»Nun wer! Die Maywald, deine Rivalin. Und nun höre. Oder lies es
selbst.«

»Nein, ich mag nicht. Ich liebe nicht diese Berichte mit
ausgeschnittenen Kleidern und Anfangsbuchstaben.«

»Und warum nicht? Weil du noch nicht an der Reihe warst. Ja, Lanni, er
geht stolz an dir vorüber.«

»Ich würd' es mir auch verbitten.«

»Verbitten! Was heißt verbitten? Ich verstehe dich nicht. Oder
glaubst du vielleicht, daß gewesene Generalkonsulstöchter in
vestalisch-priesterlicher Unnahbarkeit durchs Leben schreiten oder
sakrosankt sind wie Botschafter und Ambassaden! Ich will dir ein
Sprichwort sagen, das ihr in Genf nicht haben werdet ...«

»Und das wäre?«

»Sieht doch die Katz den Kaiser an. Und ich sage dir, Lanni, was man
ansehen darf, das darf man auch beschreiben. Oder verlangst du, daß ich
ihn fordern sollte? Pistolen und zehn Schritt Barriere.«

Melanie lachte. »Nein Ezel, ich stürbe, wenn du mir totgeschossen
würdest.«

»Höre, dies solltest du dir doch überlegen. Das Beste, was einer
jungen Frau wie dir passieren kann, ist doch immer die Witwenschaft,
oder »~le Veuvage~«, wie meine Pariser Wirtin mir einmal über das
andere zu versichern pflegte. Beiläufig, meine beste Reisereminiszenz.
Und dabei hättest du sie sehen sollen, die kleine, korpulente, schwarze
Madame ...«

»Ich sehne mich nicht danach. Ich will lieber wissen, wie alt sie war.«

»Fünfzig. Die Liebe fällt nicht immer auf ein Rosenblatt ...«

»Nun, da mag es dir und ihr verziehen sein.«

Und dabei stand Melanie von ihrem hochlehnigen Stuhl auf, legte den
Kanevas beiseite, an dem sie gestickt hatte, und trat an das große
Mittelfenster.

Unten bewegte sich das bunte Treiben eines Markttages, dem die junge
Frau gern zuzusehen pflegte. Was sie daran am meisten fesselte,
waren die Gegensätze. Dicht an der Kirchentür, an einem kleinen,
niedrigen Tische, saß ein Mütterchen, das ausgelassenen Honig in
großen und kleinen Gläsern verkaufte, die mit ausgezacktem Papier und
einem roten Wollfaden zugebunden waren. Ihr zunächst erhob sich eine
Wildhändlerbude, deren sechs aufgehängte Hasen mit traurigen Gesichtern
zu Melanie hinübersahen, während in Front der Bude (das erfrorene
Gesicht in einer Kapuze) ein kleines Mädchen auf und ab lief und ihre
Schäfchen, wie zur Weihnachtszeit, an die Vorübergehenden feilbot. Über
dem Ganzen aber lag ein grauer Himmel, und ein paar Flocken federten
und tanzten, und wenn sie niederfielen, wurden sie vom Luftzuge neu
gefaßt und wieder in die Höhe gewirbelt.

Etwas wie Sehnsucht überkam Melanie beim Anblick dieses Flockentanzes,
als müsse es schön sein, so zu steigen und zu fallen und dann wieder
zu steigen, und eben wollte sie sich vom Fenster her ins Zimmer
zurückwenden, um in leichtem Scherze, ganz wie sie's liebte, sich
und ihre Sehnsuchtsanwandlung zu persiflieren, als sie, von der
Brüderstraße her, eines jener langen und auf niedrigen Rädern gehenden
Gefährte vorfahren sah, die die hauptstädtischen Bewohner Rollwagen
nennen. Es konnte das Exemplar, das eben hielt, als ein Musterstück
seiner Gattung gelten, denn nichts fehlte. Nach hinten zu war der
zum Abladen dienende Doppelbaum in vorschriftsmäßigem rechten Winkel
aufgerichtet, vorn stand der Kutscher mit Vollbart und Lederschurz,
und in der Mitte lief ein kleiner Bastard von Spitz und Rattenfänger
hin und her, und bellte jeden an, der nur irgendwie Miene machte, sich
auf fünf Schritte dem Wagen zu nähern. Er hatte kaum noch ein Recht zu
diesen Äußerungen übertriebener Wachsamkeit, denn auf dem ganzen langen
Wagenbrette lag nur noch ein einziges Kolli, das der Rollkutscher jetzt
zwischen seine zwei Riesenhände nahm und in den Hausflur hineintrug,
als ob es eine Pappschachtel wäre.

Van der Straaten hatte mittlerweile seine Lektüre beendet und war an
ein unmittelbar neben dem Eckfenster stehendes Pult getreten, an dem er
zu schreiben pflegte.

»Wie schön diese Leute sind,« sagte Melanie. »Und so stark. Und dieser
wundervolle Bart! So denk' ich mir Simson.«

»Ich nicht,« entgegnete Van der Straaten trocken.

»Oder Wieland den Schmied.«

»Schon eher. Und über kurz oder lang denk' ich, wird diese Sache
spruchreif sein. Denn ich wette zehn gegen eins, daß ihn der »Meister«
in irgend etwas Zukünftigem bereits unterm Hammer hat. Oder sagen wir
auf dem Ambos. Es klingt etwas vornehmer.«

»Ich muß dich bitten, Ezel ... du weißt ...«

Aber ehe sie schließen konnte, wurde geklopft, und einer der jungen
Kontoristen erschien in der Tür, um seinem Chef, unter gleichzeitiger
Verbeugung gegen Melanie, einen Frachtbrief einzuhändigen, auf dem
in großen Buchstaben und in italienischer Sprache vermerkt war: »zu
eigenen Händen des Empfängers.«

Van der Straaten las und war sofort wie elektrisiert. »Ah, von
Salviati! ... Das ist hübsch, das ist schön ... Gleich die Kiste
heraufschaffen! ... Und du bleibst, Melanie ... Hat er doch Wort
gehalten ... Freut mich, freut mich wirklich. Und dich wird es auch
freuen. Etwas Venezianisches, Lanni ... Du warst so gern in Venedig.«

Und während er in derartig kurzen Sätzen immer weiter perorierte, hatte
er aus einem Kasten seines Arbeitstisches ein Stemmeisen herausgenommen
und hantierte damit, als die Kiste hereingebracht worden war, so
vertraut und so geschickt, als ob es ein Korkzieher oder irgendein
anderes Werkzeug alltäglicher Benutzung gewesen wäre. Mit Leichtigkeit
hob er den Deckel ab und setzte das daran angeschraubte Bild auf ein
großes staffeleiartiges Gestell, das er schon vorher aus einer der
Zimmerecken ans Fenster geschoben hatte. Der junge Kommis hatte sich
inzwischen wieder entfernt, Van der Straaten aber, während er Melanie
mit einer gewissen Feierlichkeit vor das Bild führte, sagte: »Nun,
Lanni, wie findest du's? ... Ich will dir übrigens zu Hilfe kommen ...
Ein Tintoretto.«

»Kopie?«

»Freilich,« stotterte Van der Straaten etwas verlegen. »Originale
werden nicht hergegeben. Und würden auch meine Mittel übersteigen.
Dennoch dächt' ich ...«

Melanie hatte mittlerweile die Hauptfiguren des Bildes mit ihrem
Lorgnon gemustert und sagte jetzt: »Ah, ~l'Adultera~! ... Jetzt erkenn'
ich's. Aber daß du gerade +das+ wählen mußtest! Es ist eigentlich ein
gefährliches Bild, fast so gefährlich wie der Spruch ... Wie heißt er
doch?«

»Wer unter euch ohne Sünde ist ...«

»Richtig. Und ich kann mir nicht helfen, es liegt so was Ermutigendes
darin. Und dieser Schelm von Tintoretto hat es auch ganz in diesem
Sinne genommen. Sieh nur! ... Geweint hat sie ... Gewiß ... Aber warum?
Weil man ihr immer wieder und wieder gesagt hat, wie schlecht sie sei.
Und nun glaubt sie's auch, oder +will+ es wenigstens glauben. Aber ihr
Herz wehrt sich dagegen und kann es nicht finden ... Und daß ich dir's
gestehe, sie wirkt eigentlich rührend auf mich. Es ist so viel Unschuld
in ihrer Schuld ... Und alles wie vorherbestimmt.«

Melanie, während sie so sprach, war ernster geworden und von dem Bilde
zurückgetreten. Nun aber fragte sie: »Hast du schon einen Platz dafür?«

»Ja, hier.« Und er wies auf eine Wandstelle neben seinem Schreibpult.

»Ich dachte,« fuhr Melanie fort, »du würdest es in die Galerie
schicken. Und offen gestanden, es wird sich an diesem Pfeiler etwas
sonderbar ausnehmen. Es wird ...«

»Unterbrich dich nicht.«

»Es wird den Witz herausfordern und die Bosheit, und ich höre schon
Reiff und Duquede medisieren, vielleicht auf deine Kosten und gewiß auf
meine.«

Van der Straaten hatte seinen Arm auf das Pult gelehnt und lächelte.

»Du lächelst, und sonst lachst du doch, mehr als gut ist und
namentlich lauter als gut ist. Es steckt etwas dahinter. Sage, was
hast du gegen mich? Ich weiß recht gut, du bist nicht so harmlos, wie
du dich stellst. Und ich weiß auch, daß es wunderliche Gemütlichkeiten
gibt. Ich habe mal von einem russischen Fürsten gelesen, ich glaube
Suboff war sein Name. Eigentlich waren es zwei, zwei Brüder. Die
spielten Karten und dann ermordeten sie den Kaiser Paul und dann
spielten sie wieder Karten. Ich glaube beinah, du könntest auch so was!
Und alles mit gutem Gewissen und gutem Schlaf.«

»Also +darum+ König Ezel!« lachte Van der Straaten.

»O nein. Nicht darum. Als ich dich so hieß, war ich noch ein halbes
Kind. Und ich kannte dich damals noch nicht. Jetzt aber kenn' ich dich
und weiß nur nicht, ob es etwas sehr Gutes oder etwas sehr Schlimmes
ist, was in dir steckt ... Aber nun komm. Unser Kaffee ist kalt
geworden.«

Und sie gab ihren Platz am Fenster auf, setzte sich wieder auf ihren
hochlehnigen Stuhl und nahm Nadel und Kanevas und tat ein paar rasche
Stiche. Zugleich aber ließ sie kein Auge von ihm, denn sie wollte
wissen, was in seiner Seele vorging.

Und er wollt' es auch nicht länger verbergen. War er doch ohnehin,
aller Freundschaft unerachtet, ohne Freund und Vertrauten, und so trieb
es ihn denn, angesichts dieses Bildes einmal aus sich herauszugehen.

»Ich habe dich nie mit Eifersucht gequält, Lanni.«

»Und ich habe dir nie Veranlassung dazu gegeben.«

»Nein. Aber heute rot und morgen tot. Das heißt, alles wechselt im
Leben. Und sieh, als wir letzten Sommer in Venedig waren und ich dies
Bild sah, da stand es auf einmal alles deutlich vor mir. Und da war
es denn auch, daß ich Salviati bat, mir das Bild kopieren zu lassen.
Ich will es vor Augen haben, so als ~Memento mori~, wie die Kapuziner,
die sonst nicht mein Geschmack sind. Denn sieh, Lanni, auch in ihrer
Furcht unterscheiden sich die Menschen. Da sind welche, die halten es
mit dem Vogel Strauß und stecken den Kopf in den Sand und wollen nichts
wissen. Aber andere haben eine Neigung, ihr Geschick immer vor sich
zu sehen und sich mit ihm einzuleben. Sie wissen genau, den und den
Tag sterb' ich, und sie lassen sich einen Sarg machen und betrachten
ihn fleißig. Und die beständige Vorstellung des Todes nimmt auch dem
Tode schließlich seine Schrecken. Und sieh, Lanni, so will ich es auch
machen, und das Bild soll mir dazu helfen ... Denn es ist erblich in
unserm Haus ... und so gewiß dieser Zeiger ...«

»Aber Ezel,« unterbrach ihn Melanie, »was hast du nur? Ich bitte dich,
wo soll das hinaus? Wenn du die Dinge +so+ siehst, so weiß ich nicht,
warum du mich nicht heut oder morgen einmauern läßt.«

»An dergleichen hab' ich auch schon gedacht. Und ich bekenne, »Melanie
die Nonne« klänge nicht übel, und es ließe sich eine Ballade darauf
machen. Aber es hilft zu nichts. Denn du glaubst gar nicht, was
Liebende bei gutem Willen alles durchsetzen. Und sie haben immer guten
Willen.«

»O, ich glaub' es schon.«

»Nun siehst du,« lachte Van der Straaten, den diese scherzhafte Wendung
plötzlich wieder zu heiterer Laune stimmte. »So hör' ich dich gern. Und
zur Belohnung: das Bild soll nicht an den Eckpfeiler, sondern wirklich
in die Galerie. Verlaß dich darauf. Und um dir nichts zu verschweigen,
ich hab' auch über all das so meine wechselnden und widerstreitenden
Gedanken, und mitunter denk' ich: ich sterbe vielleicht darüber hin.
Und das wäre das beste. Zeit gewonnen, alles gewonnen. Es ist nichts
Neues. Aber die trivialsten Sätze sind immer die richtigsten.«

»Dann vergiß auch nicht +den+, daß man den Teufel nicht an die Wand
malen soll!«

Er nickte. »Da hast du recht. Und wir +wollen's+ auch nicht, und wollen
diese Stunde vergessen. Ganz und gar. Und wenn ich dich je wieder
daran erinnere, so sei's im Geiste des Friedens und zum Zeichen der
Versöhnung. Lache nicht. Es kommt, was kommen soll. Und wie sagtest du
doch? Es sei so viel Unschuld in ihrer Schuld ...«

»... Und vorherbestimmt, sagt' ich. Prädestiniert! ... Aber
vorherbestimmt ist +heute+, daß wir ausfahren, und das ist die
Hauptsache. Denn ich brauche die Robe viel, viel nötiger, als du
den Tintoretto brauchst. Und ich war eigentlich eine Törin und ein
Kindskopf, daß ich alles so bitter ernsthaft genommen und dir jedes
Wort geglaubt habe! Du hast das Bild haben wollen, ~c'est tout~.
Und nun gehab' dich wohl, mein Dänenprinz, mein Träumer. Sein oder
Nichtsein ... Variationen von Ezechiel Van der Straaten!«

Und sie stand auf und lachte und stieg die kleine durchbrochene Treppe
hinauf, die, von Van der Straatens Zimmer aus, in die Schlafzimmer des
zweiten Stockes führte.



3

Logierbesuch


Van der Straaten, um es zu wiederholen, bewegte sich gern in dem
Gegensatze von derb und gefühlvoll, überhaupt in Gegensätzen, und
so war es wenig verwunderlich, daß das vor dem Tintoretto geführte
Gespräch in seinem Herzen nicht allzulange nachtönte. Freilich auch
nicht in dem seiner Frau. Nur solang es geführt worden war, war Melanie
wirklich überrascht gewesen, nicht um des sentimentalen Tones willen,
den sie kannte, sondern weil alles eine viel persönlichere Richtung
nahm als bei früheren Gelegenheiten. Aber nun war es vorüber. Das Bild
erhielt seinen Platz in der Galerie, man sah es nicht mehr, und Van
der Straaten, wenn er ihm zufällig begegnete, lächelte nur in beinah
heiterer Resignation. Er besaß eben ganz den fatalistischen Zug der
Humoristen, der sich verdoppelt, wenn sie nebenher auch noch Lebemänner
sind.

Es war eine belebte Saison gewesen; aber Ostern, trotzdem es spät fiel,
lag schon wieder zurück, und die Wochen waren wieder da, wo herkömmlich
die Frage verhandelt zu werden pflegte: »Wann ziehen wir hinaus?«

»Bald,« sagte Melanie, die bereits die Tage zählte.

»Aber die ›gestrengen Herren‹ waren noch nicht da.«

»Die regieren nicht lange.«

»Zugestanden,« lachte Van der Straaten. »Und um so lieber, als ich nur
+so+ meine Hausherrschaft garantiert finde. Wenigstens mittelbar. Und
immer noch besser schwach regieren, als gar nicht.«

Diese Worte waren an einem der letzten Apriltage beim Frühstück
gewechselt worden, und es mochte Mittag sein, als der Kommerzienrat
von seinem Kontor aus die Frau Kommerzienrätin bitten ließ, mit ihrer
Ausfahrt eine Viertelstunde warten zu wollen, weil er ihr zuvor eine
Mitteilung zu machen habe. Melanie ließ zurücksagen, »daß sie sich
freuen würde, ihn zu sehen, und rechne danach auf seine Begleitung.«

In Courtoisien dieser Art, denen übrigens auch ein gelegentlicher
Revers nicht fehlte, hatten sich die Van der Straatens seit Jahren
eingelebt, namentlich +er+, der nach seiner eigenen Versicherung »dem
adligen Hause de Caparoux einiges Ritterdienstliche schuldig zu sein
glaubte« und zu diesem Ritterdienstlichen in erster Reihe Pünktlichkeit
und Nichtwartenlassen zählte.

So erschien er denn auch heute, bald nach erfolgter Anmeldung, im
Zimmer seiner Frau.

Dieses Zimmer entsprach in seinen räumlichen Verhältnissen ganz dem
ihres Gatten, war aber um vieles heller und heiterer, einmal weil die
hohe Paneelierung, aber mehr noch weil die vielen nachgedunkelten
Bilder fehlten. Statt dieser vielen war nur ein einziges da: das
Porträt Melanies in ganzer Figur, ein wogendes Kornfeld im Hintergrund
und sie selber eben beschäftigt ein paar Mohnblumen an ihren Hut zu
stecken. Die Wände, wo sie frei waren, zeigten eine weiße Seidentapete,
tief in den Fensternischen erhoben sich Hyazinthenestraden und
vor einer derselben, auf einem zierlichen Marmortische, stand ein
blitzblankes Bauer, drin ein grauer Kakadu, der eigentliche Tyrann des
Hauses, sein von der Dienerschaft gleichmäßig gehaßtes und beneidetes
Dasein führte. Melanie sprach eben mit ihm, als Ezechiel in einer
gewissen humoristischen Aufgeregtheit eintrat und seine Frau, nach
vorgängiger respektvoller Verneigung gegen den Kakadu, bis an ihren
Sofaplatz zurückführte. Dann schob er einen Fauteuil heran und setzte
sich neben sie.

Die Feierlichkeit, mit der all dies geschah, machte Melanie lachen.

»Ist es doch, als ob du dich auf eine ganz besondere Beichte
vorzubereiten hättest. Ich will es dir aber leicht machen. Ist es etwas
Altes? Etwas aus deiner dunklen Vergangenheit ...?«

»Nein, Lanni, es ist etwas Gegenwärtiges.«

»Nun, da will ich doch abwarten und mich zu keinem Generalpardon
hinreißen lassen. Und nun sage, was ist es?«

»Eine Bagatelle.«

»Was deine Verlegenheit bestreitet.«

»Und doch eine Bagatelle. Wir werden einen Besuch empfangen, oder
vielmehr einen Gast, oder wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf,
einen Dauer-Gast. Also kurz und gut, denn was hilft es, es muß heraus:
einen neuen Hausgenossen.«

Melanie, die bis dahin ein Schokoladenbiskuit, das noch auf dem
Teller lag, zerkrümelt hatte, legte jetzt ihren Zeigefinger auf Van
der Straatens Hand und sagte: »Und das nennst du eine Bagatelle? Du
weißt recht gut, daß es etwas sehr Ernsthaftes ist. Ich habe nicht
den Vorzug, ein Kind dieser eurer Stadt zu sein, bin aber doch lange
genug in eurer exquisiten Mitte gewesen, um zu wissen, was es mit einem
»Logierbesuch« auf sich hat. Schon das Wort, das sich sonst nirgends
findet, kann einen ängstlich machen. Und was ist ein Logierbesuch gegen
eine neue Hausgenossenschaft ... Ist es eine Dame?«

»Nein, ein Herr.«

»Ein Herr. Ich bitte dich, Ezel ...«

»Ein Volontär, ältester Sohn eines mir befreundeten Frankfurter Hauses.
War in Paris und London, selbstverständlich, und kommt eben jetzt von
New York, um hier am Ort eine Filiale zu gründen. Vorher aber will
er in unserem Hause die Sitte dieses Landes kennen lernen, oder sag'
ich lieber +wieder+ kennen lernen, weil er sie draußen halb vergessen
hat. Es ist ein besonderer Vertrauensakt. Ich bin überdies dem Vater
verpflichtet und bitte dich herzlich, mir eine Verlegenheit ersparen
zu wollen. Ich denke, wir geben ihm die zwei leer stehenden Zimmer auf
dem linken Korridor.«

»Und zwingen ihn also, einen Sommer lang auf die Fliesen unseres Hofes
und auf Christels Geraniumtöpfe hinunter zu sehen.«

»Es kann nicht die Rede davon sein, mehr zu geben, als man hat. Und
er selbst wird es am wenigsten erwarten. Alle Personen, die viel in
der Welt umher waren, pflegen am gleichgültigsten gegen derlei Dinge
zu sein. Unser Hof bietet freilich nicht viel; aber was hätt' er
Besseres in der Front? Ein Stück Kirchengitter mit Fliederbusch, und an
Markttagen die Hasenbude.«

»~Eh bien~, Ezel. ~Faisons le jeu.~ Ich hoffe, daß nichts Schlimmes
dahinter lauert, keine Konspirationen, keine Pläne, die du mir
verschweigst. Denn du bist eine versteckte Natur. Und wenn es deine
Geheimnisse nicht stört, so möcht' ich schließlich wenigstens den Namen
unseres neuen Hausgenossen hören.«

»Ebenezer Rubehn ...«

»Ebenezer Rubehn,« wiederholte Melanie langsam und jede Silbe betonend.
»Ich bekenne dir offen, daß mir etwas Christlich-Germanisches lieber
gewesen wäre. Viel lieber. Als ob wir an deinem Ezechiel nicht schon
gerade genug hätten! Und nun Ebenezer. Ebenezer Rubehn! Ich bitte dich,
was soll dieser ~Accent grave~, dieser Ton auf der letzten Silbe?
Suspekt, im höchsten Grade suspekt!«

»Du mußt wissen, er schreibt sich mit einem h.«

»Mit einem h! Du wirst doch nicht verlangen, daß ich dies h für
echt und ursprünglich nehmen soll? Einschiebsel, versuchte Leugnung
des Tatsächlichen, absichtliche Verschleierung, hinter der ich
nichtsdestoweniger alle zwölf Söhne Jakobs stehen sehe. Und er selber
als Flügelmann.«

»Und doch irrst du, Lanni. Wie stand es denn mit Rubens? Ich meine mit
dem großen Peter Paul? Nun, der hatte freilich ein s. Aber was dem s
recht ist, ist dem h billig. Und kurz und gut, er ist getauft. Ob durch
einen Bischof, stehe dahin; ich weiß es nicht und wünsch' es nicht,
denn ich möcht' etwas vor ihm voraus haben. Aber allen Ernstes, du tust
ihm unrecht. Er ist nicht bloß christlich, er ist auch protestantisch,
so gut wie du und ich. Und wenn du noch zweifelst, so lasse dich durch
den Augenschein überzeugen.«

Und hierbei versuchte Van der Straaten aus einem kleinen gelben
Kuvert, das er schon bereit hielt, eine Visitenkartenphotographie
herauszunehmen. Aber Melanie litt es nicht und sagte nur in immer
wachsender Heiterkeit: »Sagtest du nicht New York? Sagtest du nicht
London? Ich war auf einen Gentleman gefaßt, auf einen Mann von Welt,
und nun schickt er sein Bildnis, als ob es sich um ein Rendezvous
handelte. Krugs Garten mit einer Verlobung im Hintergrund.«

»Und doch ist er unschuldig. Glaube mir. Ich wollte sichergehen,
um deinetwillen sichergehen, und deshalb schrieb ich an den alten
Goeschen, Firma Goeschen, Goldschmidt und Kompanie; diskreter alter
Herr. Und daher stammt es. Ich bin schuld, nicht er, wahr und
wahrhaftig, und wenn du mir das Wort gestattest, sogar ›auf Ehre‹.«

Melanie nahm das Kuvert und warf einen flüchtigen Blick auf das
eingeschlossene Bild. Ihre Züge veränderten sich plötzlich und sie
sagte: »Ah, der gefällt mir. Er hat etwas Distinguiertes: Offizier
in Zivil oder Gesandtschaftsattaché. Das lieb' ich. Und nun gar ein
Bändchen. Ist es die Ehrenlegion?«

»Nein, du kannst es näher suchen. Er stand bei den fünften Dragonern
und hat für Chartres und Poupry das Kreuz empfangen.«

»Ist das eine Schlacht von deiner Erfindung?«

»Nein. Dergleichen kommt vor, und als freie Schweizerin solltest du
wissen, daß fremde Sprachen nicht immer gebührende Rücksicht auf die
verpönten Klangformen einer anderen nehmen. Ja, Lanni, ich bin mitunter
besser als mein Ruf.«

»Und wann dürfen wir unseren neuen Hausfreund erwarten?«

»Hausgenossen,« verbesserte Van der Straaten. »Es ist nicht nötig,
ihn, mit Rücksicht auf seine militärische Charge, so Hals über Kopf
avancieren zu lassen. Übrigens ist er verlobt, oder so gut wie verlobt.«

»Schade.«

»Schade? Warum?«

»Weil Verlobte meistens langweilig sind. Sind sie beisammen, so sind
sie zärtlich, bedrückend zärtlich für ihre Umgebung, und sind sie
getrennt, so schreiben sie sich Briefe oder bereiten sich in ihrem
Gemüte darauf vor. Und der Bräutigam ist immer der schlimmere von
beiden. Und will man sich gar in ihn verlieben, so heißt das nicht mehr
und nicht weniger, als zwei Lebenskreise stören.«

»Zwei?«

»Ja, Bräutigam und Braut.«

»Ich hätte drei gezählt,« lachte Van der Straaten. »Aber so seid ihr.
Ich wette, du hast den Dritten in Gnaden vergessen. Ehemänner zählen
überhaupt nicht mit. Und wenn sie sich darüber wundern, so machen sie
sich ridikül. Ich werde mich übrigens davor hüten, den Mohren der
Weltgeschichte, das seid ihr, weiß waschen zu wollen. Apropos, kennst
du das Bild, die Mohrenwäsche?«

»Ach, Ezel, du weißt ja, ich kenne keine Bilder. Und am wenigsten
alte.«

»Süße Simplicitas aus dem Hause de Caparoux,« jubelte Van der Straaten,
der nie glücklicher war, wie wenn Melanie sich eine Blöße gab oder auch
klugerweise nur so tat. »Altes Bild! Es ist nicht älter als ich.«

»Nun, dann ist es gerade alt genug.«

»Bravissimo. Sieh, so hab' ich dich gern. Übermütig und boshaft. Und
nun sage, was beginnen wir, wohin gondeln wir?«

»Ich bitte dich, Ezel, nur keine Berolinismen. Du hast mir doch gestern
erst ...«

»Und ich halt' es auch. Aber wenn mir wohl ums Herze wird, da bricht es
wieder durch. Und jetzt komm, wir wollen zu Haas und uns einen Teppich
ansehen ... »Gerade alt genug« ... Vorzüglich, vorzüglich ... Und nun
sage Papachen, wie heißt die schönste Frau im Land?«

»Melanie.«

»Und die liebste, die klügste, die beste Frau?«

»Melanie, Melanie.«

»Gut, gut ... Und nun gehab' dich wohl, du Menschenkenner!«



4

Der engere Zirkel


Die »drei gestrengen Herren« waren ganz ausnahmsweise streng gewesen,
aber nicht zu Verdruß beider Van der Straatens, die vielmehr nun erst
wußten, daß der Winter all seine Pfeile verschossen und unweigerlich
und ohne weitere Widerstandsmöglichkeit seinen Rückzug angetreten
habe. Nun erst konnte man freien Herzens hinaus, hinaus ohne Sorge
vor frostigen Vormittagen, oder gar vor Eingeschneitwerden über
Nacht. Alles freute sich auf den Umzug, auch die Kinder, am meisten
aber Van der Straaten, der, um ihn selber sprechen zu lassen, »unter
allen vorkommenden Geburtsszenen einzig und allein der des Frühlings
beizuwohnen liebte«. Vorher aber sollte noch ein kleines Abschiedsdiner
stattfinden und zwar unter ausschließlicher Heranziehung des dem Hause
zunächst stehenden Kreises.

Es war das, übrigens von mehr verwandtschaftlicher als befreundeter
Seite her, in erster Reihe der in der Alsenstraße wohnende Major
von Gryczinski, ein noch junger Offizier mit abstehendem, englisch
gekräuseltem Backenbart und klugen blauen Augen, der vor etwa drei
Jahren die reizende Jacobine de Caparoux heimgeführt hatte, eine
jüngere Schwester Melanies und nicht voll so schön wie diese, aber
rotblond, was in den Augen einiger das Gleichgewicht zwischen beiden
wiederherstellte. Gryczinski war Generalstäbler und hielt, wie jeder
dieses Standes, an dem Glauben fest, daß es in der ganzen Welt nicht
zwei so grundverschiedene Farben gäbe, wie das allgemeine preußische
Militärrot und das Generalstabsrot. Daß er den Strebern zugehörte, war
eine selbstverständliche Sache, wohl aber verdient es, in Rücksicht
gegen den Ernst der Historie, schon an dieser Stelle hervorgehoben
zu werden, daß er, alles Strebertums unerachtet, in allen nicht zu
verlockenden Fällen ein bescheidenes Maß von Rücksichtnahme gelten
ließ und den Kampf ums Dasein nicht absolut als einen Übergang über
die Beresina betrachtete. Wie sein großer Chef war er ein Schweiger,
unterschied sich aber von ihm durch ein beständiges, jeden Sprecher
ermutigendes Lächeln, das er, alle nutzlose Parteinahme klug
vermeidend, über Gerechte und Ungerechte gleichmäßig scheinen ließ.

Gryczinski, wie schon angedeutet, war mehr Verwandter als Freund des
Hauses. Unter diesen letzteren konnte der Baron Duquede, Legationsrat
a. D., als der angesehenste gelten. Er war über sechzig, hatte bereits
unter Van der Straatens Vater dem damals ausgedehnteren Kreise des
Hauses angehört und durfte sich, wie um anderer Qualitäten so auch
schon um seiner Jahre willen, seinem hervorstechendsten Charakterzuge,
dem des Absprechens, Verkleinerns und Verneinens ungehindert hingeben.
Daß er, infolge davon, den Beinamen »Herr Negationsrat« erhalten
hatte, hatte selbstverständlich seine milzsüchtige Krakehlerei nicht
zu bessern vermocht. Er empörte sich eigentlich über alles, am
meisten über Bismarck, von dem er seit 66, dem Jahre seiner eigenen
Dienstentlassung, unaufhörlich versicherte, »daß er überschätzt werde«.
Von einer beinah gleichen Empörung war er gegen das zum Französieren
geneigte Berlinertum erfüllt, das ihn, um seines »qu« willen, als
einen Koloniefranzosen ansah und seinen altmärkischen Adelsnamen nach
der Analogie von Admiral Duquesne auszusprechen pflegte. »Was er sich
gefallen lassen könne,« hatte Melanie hingeworfen, von welchem Tag an
eine stille Gegnerschaft zwischen beiden herrschte.

Dem Legationsrat an Jahren und Ansehn am nächsten stand Polizeirat
Reiff, ein kleiner behäbiger Herr mit roten und glänzenden
Backenknochen, auch Feinschmecker und Geschichtenerzähler, der, solange
die Damen bei Tische waren, kein Wasser trüben zu können schien, im
Moment ihres Verschwindens aber in Anekdoten exzellierte, wie sie, nach
Zahl und Inhalt, immer nur einem Polizeirat zu Gebote stehn. Selbst
Van der Straaten, dessen Talente doch nach derselben Seite hin lagen,
erging sich dann in lautem und mitunter selbst stürmischem Beifall,
oder zwinkerte seinen Tischnachbarn seine neidlose Bewunderung zu.

Diese Tischnachbarn waren in der Regel zwei Maler: der Landschafter
Arnold Gabler, ebenfalls, wie Reiff und der Legationsrat, ein
Erbstück aus des Vaters Tagen her, und Elimar Schulze, Porträt- und
Genremaler, der sich erst in den letzten Jahren angefunden hatte. Seine
Zugehörigkeit zu der vorgeschilderten Tafelrunde basierte zumeist auf
dem Umstande, daß er nur ein halber Maler, zur andern Hälfte aber
Musiker und enthusiastischer Wagnerianer war, auf welchen »Titul« hin,
wie Van der Straaten sich ausdrückte, Melanie seine Aufnahme betrieben
und durchgesetzt hatte. Die bei dieser Gelegenheit abgegebene Bemerkung
ihres Eheherrn, »daß er gegen den Aufzunehmenden nichts einzuwenden
habe, wenn er einfach übertreten und seine Zugehörigkeit zu der
alleinseligmachenden Musik offen und ehrlich aussprechen wolle«, war
von dem immer gutgelaunten Elimar mit der Bitte beantwortet worden,
»ihm diesen Schritt erlassen zu wollen und zwar einfach deshalb,
weil doch schließlich nur das Gegenteil von dem Gewünschten dabei
herauskommen würde. Denn während er jetzt als Maler allgemein für einen
Musiker gehalten werde, werd' er als Musiker sicherlich für einen Maler
gehalten und dadurch vom Standpunkte des Herrn Kommerzienrats aus in
die relativ höhere Rangstufe wieder hinaufgehoben werden«.

Diesem Verwandten- und Freundeskreise waren die zu heute sieben Uhr
Geladenen entnommen. Denn Van der Straaten liebte die Spätdiners und
erging sich mitunter in nicht üblen Bemerkungen über den gewaltigen
Unterschied zwischen einer um vier Uhr künstlich hergestellten, und
einer um sieben Uhr natürlich erwachsenen Dunkelheit. Eine künstliche
Vieruhrdunkelheit sei nicht besser als ein junger Wein, den man in
einen Rauchfang gehängt und mit Spinnweb umwickelt habe, um ihn alt
und ehrwürdig erscheinen zu lassen. Aber eine feine Zunge schmecke
den jungen Wein und ein feines Nervensystem schmecke die junge
Dunkelheit heraus. Bemerkungen, die namentlich in ihrer »das feine
Nervensystem« betonenden Schlußwendung von Melanie regelmäßig mit einem
allerherzlichsten Lachen begleitet wurden.

Das Van der Straatensche Stadthaus -- wodurch es sich, neben anderem,
von der mit allem Komfort ausgestatteten Tiergarten-Villa unterschied
-- hatte keinen eigentlichen Speisesaal, und die zwei großen und vier
kleinen Diners, die sich über den Winter hin verteilten, mußten in
dem ersten, als Entree dienenden Zimmer der großen Gemäldegalerie
gegeben werden. Es griff dieser Teil der Galerie noch aus dem rechten
Seitenflügel in das Vorderhaus über und lag unmittelbar hinter Melanies
Zimmer, aus dem denn auch, sobald die breiten Flügeltüren sich
öffneten, der Eintritt stattfand.

Und wie gewöhnlich, so auch heute. Van der Straaten nahm den Arm seiner
blonden Schwägerin, Duquede den Melanies, während die vier anderen
Herren paarweise folgten, eine herkömmliche Form des Aufmarsches, bei
der der Major ebenso geschickt zwischen den beiden Malern zu wechseln,
als den Polizeirat zu vermeiden wußte. Denn so bereit und ergeben er
war, die Geschichten Reiffs bei Tag oder Nacht über sich ergehen zu
lassen, so konnt' er sich doch nicht entschließen, ihm ebenbürtig
den Arm zu bieten. Er stand vielmehr ganz in den Anschauungen seines
Standes und bekannte sich, mit einem durch persönliches Fühlen
unterstützten Nachdruck, zu dem alten Gegensatze von Militär und
Polizei.

Jeder der Eintretenden war an dieser Stelle zu Haus und hatte keine
Veranlassung mehr zum Staunen und Bewundern. Wer aber zum ersten Male
hier eintrat, der wurde sicherlich durch eine Schönheit überrascht,
die gerade darin ihren Grund hatte, daß der als Speisesaal dienende
Raum kein eigentlicher Speisesaal war. Ein reichgegliederter
Kronleuchter von französischer Bronze warf seine Lichter auf eine von
guter italienischer Hand herrührende prächtig eingerahmte Kopie der
Veronesischen »Hochzeit zu Kana«, die von Uneingeweihten auch wohl
ohne weiteres für das Original genommen wurde, während daneben zwei
Stilleben in fast noch größeren und reicheren Barockrahmen hingen. Es
waren, von einiger vegetabilischer Zutat abgesehen, Hummer, Lachs und
blaue Makrelen, über deren absolute Naturwahrheit sich Van der Straaten
in der ein für allemal gemünzten Bewunderungsformel ausließ, »es werd'
ihm, als ob er taschentuchlos über den Cöllnischen Fischmarkt gehe.«

Nach hinten zu stand das Büfett, und daneben war die Tür, die mit der
im Erdgeschoß gelegenen Küche bequeme Verbindung hielt.



5

Bei Tisch


»Nehmen wir Platz,« sagte Van der Straaten. »Meine Frau hat mich aller
Plazierungsmühen überhoben und Karten gelegt.«

Und dabei nahm er eine derselben in die Hand und ließ sein von Natur
gutes und durch vieles Sehen kunstgeübtes Auge darüber hingleiten. »Ah,
ah, sehr gut. Das ist Tells Geschoß. Gratuliere, Elimar. Allerliebst,
allerliebst. Natürlich Amor, der schießt. Daß ihr Maler doch über
diesen ewigen Schützen nicht wegkommen könnt.«

»Gegen dessen Abschaffung oder Dienstentlassung wir auch feierlich
protestieren würden,« sagte die rotblonde Schwester.

Alle hatten sich inzwischen plaziert, und es ergab sich, daß Melanie
bei der von ihr getroffenen Anordnung vom Herkömmlichen abgewichen
war. Van der Straaten saß zwischen Schwägerin und Frau, ihm gegenüber
der Major, von Gabler und Elimar flankiert, an den Schmalseiten aber
Polizeirat Reiff und Legationsrat Duquede.

Die Suppe war eben genommen und der im kommerzienrätlichen Hause von
alter Zeit her berühmte Montefiascone gerade herumgereicht, als Van der
Straaten sich über den Tisch hin zu seinem Schwager wandte.

»Gryczinski, Major und Schwager,« hob er leicht und mit überlegener
Vertraulichkeit an, »binnen heut und drei Monaten haben wir Krieg.
Ich bitte dich, sage nicht nein, wolle mir nicht widersprechen.
Ihr, die ihr's schließlich machen müßt, erfahrt es erfahrungsmäßig
immer am spätesten. Im Juni haben wir die Sache wieder fertig oder
wenigstens eingerührt. Es zählt jetzt zu den sogenannten berechtigten
Eigentümlichkeiten preußischer Politik, allen Geheimräten, wozu, in
allem was Karlsbad und Teplitz angeht, auch die Kommerzienräte gehören,
ihre Brunnen- und Badekur zu verderben. Helgoland mit eingeschlossen.
Ich wiederhole dir, in zwei Monaten haben wir die Sache fertig und in
drei haben wir den Krieg. Irgend etwas Benedettihaftes wird sich doch
am Ende finden lassen, und Ems liegt unter Umständen überall in der
Welt.«

Gryczinski zwirbelte mit der Linken an der breitesten Stelle
seines Backenbartes und sagte: »Schwager, du stehst zu sehr
unter Börsengerüchten, um nicht zu sagen unter dem Einfluß der
Börsenspekulation. Ich versichere dich, es ist kein Wölkchen am
Horizont, und wenn wir zurzeit wirklich einen Kriegsplan ausarbeiten,
so betrifft er höchstens die hypothetische Bestimmung der Stelle, wo
Rußland und England zusammenstoßen und ihre große Schlacht schlagen
werden.«

Beide Damen, die von der entschiedensten Friedenspartei waren, die
brünette, weil sie nicht gern das Vermögen, die blonde, weil sie nicht
gern den Mann einbüßen wollte, jubelten dem Sprecher zu, während
der Polizeirat, immer kleiner werdend, bemerkte: »Bitte dem Herrn
Major meine gehorsamste Zustimmung aussprechen zu dürfen und zwar
von ganzem Herzen und von ganzem Gemüte.« Wobei gesagt werden muß,
daß er mit Vorliebe von seinem Gemüte sprach. »Überhaupt,« fuhr er
fort, »nichts falscher und irriger, als sich Seine Durchlaucht den
Fürsten, einen in Wahrheit friedliebenden Mann, als einen Kanonier
mit ewig brennender Lunte vorzustellen, jeden Augenblick bereit das
Kruppsche Monstregeschütz eines europäischen Krieges auf gut Glück hin
abzufeuern. Ich sage, nichts falscher und irriger als das. Hazardieren
ist die Lust derer, die nichts besitzen, weder Vermögen noch Ruhm. Und
der Fürst besitzt beides. Ich wette, daß er nicht Lust hat, seinen
hochaufgespeicherten Doppelschatz immer wieder auf die Kriegskarte
zu setzen. Er gewann 64 (nur eine Kleinigkeit), dublierte 66 und
triplierte 70, aber er wird sich hüten, sich auf ein ~six-le-va~
einzulassen. Er ist ein sehr belesener Mann und kennt ohne Zweifel das
Märchen vom »Fischer un sine Fru ...«

»... Dessen pikante Schlußwendung uns unser polizeirätlicher Freund
hoffentlich nicht vorenthalten will,« bemerkte Van der Straaten, in
dem sich der Übermut der Tafelstimmung bereits zu regen begann.

Aber der Polizeirat, während er sich wie zur Gewährleistung jeder
Sicherheit gegen die Damen hin verneigte, ließ das Märchen und seine
notorische Schlußzeile fallen und sagte nur: »Wer alles gewinnen will,
verliert alles. Und das Glück ist noch launenhafter als die Damen.
Ja, meine Damen, als die Damen. Denn die Launenhaftigkeit, ich lebe
selbst in einer glücklichen Ehe, ist das Vorrecht und der Zauber ihres
Geschlechts. Der Fürst hat Glück gehabt, aber gerade weil er es gehabt
hat ...«

»... Wird er sich hüten, es zu versuchen,« schloß mit ironischer
Emphase der Legationsrat. »Aber wenn er es +dennoch+ täte? He?
Der Fürst hat Glück gehabt, versichert uns unser Freund Reiff mit
polizeirätlich unschuldiger Miene. Glück gehabt! Allerdings. Und
zwar kein einfaches und gewöhnliches, sondern ein stupendes, ein
nie dagewesenes Glück. Eines, das in seiner kolossalen Größe den
Mann selber wegfrißt und verschlingt. Und so wenig ich geneigt
bin, ihm dies Glück zu mißgönnen, ich kenne keine Mißgunst, so
reizt es mich doch, einen Heroenkultus an dieses Glück geknüpft zu
sehen. Er wird überschätzt, sag' ich. Glauben Sie mir, er hat etwas
Plagiatorisches. Es mögen sich Erklärungen finden lassen, meinetwegen
auch Entschuldigungen, eines aber bleibt: er wird überschätzt. Ja,
meine Freunde, den Heroenkultus haben wir und den Götterkultus +werden+
wir haben. Bildsäulen und Denkmäler sind bereits da, und die Tempel
werden kommen. Und in einem dieser Tempel wird sein Bildnis sein, und
Göttin Fortuna ihm zu Füßen. Aber man wird es nicht den Fortunatempel
nennen, sondern den Glückstempel. Ja, den Glückstempel, denn es wird
darin gespielt, und unser vorsichtiger Freund Reiff hat es mit seinem
~six-le-va~, das über kurz oder lang kommen wird, besser getroffen,
als er weiß. Alles Spiel und Glück, sag' ich, und daneben ein
unendlicher Mangel an Erleuchtung, an Gedanken und vor allem an großen
schöpferischen Ideen.«

»Aber lieber Legationsrat,« unterbrach hier Van der Straaten, »es
liegen doch einige Kleinigkeiten vor: Exmittierung Österreichs, Aufbau
des Deutschen Reiches ...«

»... Ekrasierung Frankreichs und Dethronisierung des Papstes! Pah, Van
der Straaten, ich kenne die ganze Litanei. Wem aber haben wir dafür zu
danken, wenn überhaupt dafür zu danken ist? Wem? Einer ihm feindlichen
Partei, feindlich ihm und mir, einer Partei, der er ihren Schlachtruf
genommen hat. Er hat etwas Plagiatorisches, sag' ich, er hat sich die
Gedanken anderer einfach angeeignet, gute und schlechte, und sie mit
Hilfe reichlich vorhandener Mittel in Taten umgesetzt. Das konnte
schließlich jeder, jeder von uns: Gabler, Elimar, du, ich, Reiff ...«

»Ich möchte doch bitten ...«

»In Taten umgesetzt,« wiederholte Duquede.

»Ein Umsatz- und Wechselgeschäft, das ich hasse, solange nicht der
selbsteigne Gedanke dahinter steht. Aber Taten mit gar keiner oder mit
erheuchelter oder mit erborgter Idee haben etwas Rohes und Brutales,
etwas Dschingiskhanartiges. Und ich wiederhole, ich hasse solche Taten.
Am meisten aber hass' ich sie, wenn sie die Begriffe verwirren und die
Gegensätze mengen, und wenn wir es erleben müssen, daß sich hinter den
altehrwürdigen Formen unseres staatserhaltenden Prinzips, hinter der
Maske des Konservatismus, ein revolutionärer Radikalismus birgt. Ich
sage dir, Van der Straaten, er segelt unter falscher Flagge. Und eines
seiner einschlägigsten Mittel ist der beständige Flaggenwechsel. Aber
ich hab' ihn erkannt und weiß, was seine eigentliche Flagge ist ...«

»Nennen ...«

»Die schwarze.«

»Die Piratenflagge?«

»Ja. Und Sie werden dessen über kurz oder lang alle gewahr werden.
Ich sage dir, Van der Straaten, und Ihnen, Elimar und Ihnen, Reiff,
der Sie's morgen in Ihr schwarzes Buch eintragen können, meinetwegen,
denn ich bin ein altmärkischer Edelmann und habe den Dienst dieses
mir widerstrebenden Eigennützlings längst quittiert, ich sag' es
jedem, alt oder jung: sehen Sie sich vor. Ich warne Sie vor Täuschung,
vor allem aber vor Überschätzung dieses falschen Ritters, dieses
Glückstempelherrn, an den die blöde Menge glaubt, weil er die Jesuiten
aus dem Lande geschafft hat. Aber wie steht es damit? Die Bösen sind
wir los, der Böse ist geblieben.«

Gryczinski hatte mit vornehmem Lächeln zugehört, Van der Straaten
indes, der, trotzdem er eigentlich ein Bismarckschwärmer war, in seiner
Eigenschaft als kritiksüchtiger Berliner nichts Reizenderes kannte, als
Größenniedermetzelung und Generalnivellierung, immer vorausgesetzt,
daß er selber als einsam überragender Bergkegel übrig blieb, grüßte
zu Duquede hinüber und rief einem der Diener zu, dem Legationsrat,
der sich geopfert habe, noch einmal von der letzten Schüssel zu
präsentieren.

»Eine spanische Zwiebel, Duquede. Nimm. Das ist etwas für dich. Scharf,
scharf. Ich mache mir nicht viel aus Spanien, aber um zweierlei beneid'
ich es: um seine Zwiebeln und um seinen Murillo.«

»Überrascht mich,« sagte Gabler. »Und am meisten überrascht mich die
dir entschlüpfte Murillo-, will also sagen Madonnenbewundrung.«

»Nicht entschlüpft, Arnold, nicht entschlüpft. Ich unterscheide
nämlich, wie du wissen solltest, kalte und warme Madonnen. Die
kalten sind mir allerdings verhaßt, aber die warmen hab' ich desto
lieber. ~A la bonne heure~, die berauschen mich, und ich fühl' es in
allen Fingerspitzen, als ob es elfer Rheinwein wäre. Und zu diesen
glühenden und sprühenden zähl' ich all diese spanischen Immaculatas
und Concepciones, wo die Mutter Gottes auf einer Mondsichel steht, und
um ihr dunkles Gewand her leuchten goldene Wolken und Engelsköpfe. Ja,
Reiff, dergleichen gibt es. Und so blickt sie brünstig oder sagen wir
lieber inbrünstig gen Himmel, als wolle die Seele flügge werden in
einem Brütofen von Heiligkeit.«

»In einem Brütofen von Heiligkeit,« wiederholte der Polizeirat, in
dessen Augen es heimlich und verstohlen zu zwinkern begann. »In
einem Brütofen! O, das ist ~magnifique~, das ist herrlich, und
eine Andeutung, die jeder von uns nach dem Maße seiner Erkenntnis
interpretieren und weiterspinnen kann.«

Beide junge Frauen, einigermaßen überrascht, ihren sonst so
zurückhaltenden Freund auf dieser Messerschneide balancieren zu sehen,
trafen sich mit ihren Blicken, und Melanie rasch erkennend, daß es sich
jeden Moment um eine jener Katastrophen handeln könne, wie sie bei
den kommerzienrätlichen Diners eben nicht allzu selten waren, suchte
vor allem von dem heiklen Murillothema loszukommen, was, bei Van der
Straatens Eigensinn, allerdings nur durch eine geschickte Diversion
geschehen konnte. Und solche gelang denn auch momentan, indem Melanie
mit anscheinender Unbefangenheit bemerkte: »Van der Straaten wird
mich auslachen, in Bild- und Malerfragen eine Meinung haben zu wollen.
Aber ich muß ihm offen bekennen, daß ich mich, wenn seine gewagte
Madonneneinteilung überhaupt akzeptiert werden soll, ohne weiteres für
eine von ihm ignorierte Mittelgruppe, nämlich für die temperierten
entscheiden würde. Die Tizianischen scheinen mir diese wohltuend
gemäßigte Temperatur zu haben. Ich lieb' ihn überhaupt.«

»Ich auch, Melanie. Brav, brav. Ich hab' es immer gesagt, daß ich
noch einen Kunstprofessor in dir großziehe. Nicht wahr, Arnold, ich
hab' es gesagt? Beschwör es. Eine Schwurbibel ist nicht da, aber
wir haben Reiff, und ein Polizeirat ist immer noch ebensogut wie
ein Evangelium. Du lachst, Schwager; natürlich; ihr merkt es nicht,
aber wir. Übrigens hat Reiff ein leeres Glas. Und Elimar auch.
Friedrich, alter Pomuchelskopf, steh nicht in Liebesgedanken. ~Allons
enfants.~ Wo bleibt der Mouet? Flink, sag' ich. Bei den Gebeinen des
unsterblichen Roller, ich lieb' es nicht, meinen Champagner in den
letzten fünf Minuten in kümmerlicher Renommage schäumen zu sehen.
Und noch dazu in diesen vermaledeiten Spitzgläsern, mit denen ich
nächstens kurzen Prozeß machen werde. Das sind Rechnungsrats-, aber
nicht Kommerzienratsgläser. Übrigens mit dem Tizian hast du doch
unrecht. Das heißt halb. Er versteht sich auf alles mögliche, nur
nicht auf Madonnen. Auf Frau Venus versteht er sich. Das ist seine
Sache. Fleisch, Fleisch. Und immer lauert irgendwo der kleine liebe
Bogenschütze. Pardon, Elimar, ich bin nicht für Massenamors auf
Tischkarten, aber für den Einzelamor bin ich, und ganz besonders
für den des Tizianischen roten Ruhebetts mit zurückgezogener grüner
Damastgardine. Ja, meine Herrschaften, da gehört er hin, und immer ist
er wieder reizend, ob er ihr zu Häupten oder zu Füßen sitzt, ob er
hinter dem Bett oder der Gardine hervorguckt, ob er seinen Bogen eben
gespannt oder eben abgeschossen hat. Und was ist vorzuziehen? Eine
feine Frage, Reiff. Ich denke mir, wenn er ihn spannt ... Und diese
ruhende linke Hand mit dem ewigen Spitzentaschentuch. O, superbe.
Ja, Melanie, +den+ Tag will ich deine Bekehrung feiern, wo du mir
zugestehst: ~Suum cuique~, dem Tizian die Venus und dem Murillo die
Madonna.«

»Ich fürchte, Van der Straaten, da wirst du lange zu warten haben, und
am längsten auf meine Murillobekehrung. Denn diese gelben Dunstwolken,
aus denen etwas inbrünstig Gläubiges in seelisch-sinnlicher Verzückung
aufsteigt, sind mir unheimlich. Es hat die Grenze des Bezaubernden
überschritten und statt des Bezaubernden find' ich etwas Behexendes
darin.«

Gryczinski nickte leise der Schwägerin zu, während jetzt Elimar das
Glas erhob und um Erlaubnis bat, nach dem eben gehörten Wort einer echt
deutschen Frau, (»Französin,« schrie Van der Straaten dazwischen) auf
das Wohl der schönen und liebenswürdigen Dame des Hauses anstoßen zu
dürfen. Und die Gläser klangen zusammen. Aber in ihren Zusammenklang
mischte sich für die schärfer Hörenden schon etwas wie Zittern und
Mißakkord, und ehe noch das allgemeine Lächeln verflogen war (das
des Polizeirats hielt sich am längsten) brach Van der Straaten durch
alle bis dahin mühsam eingehaltenen Gehege durch und debutierte mal
wieder ganz als er selbst. Er sei, so hob er an, leider nicht in der
Lage, der für die »Frau Kommerzienrätin« gewiß höchst wertvollen
Zustimmung seines Freundes Elimar Schulze (wobei er Vor- und Zuname
gleich ironisch betonte) +seinerseits+ zustimmen zu können. Es gebe
freilich einen Gegensatz von Bezauberung und Behexung, aber manches in
der Welt gelte für Behexung, was Bezauberung und noch mehr gelte für
Bezauberung, was Behexung sei. Und er bitte sagen zu dürfen, daß er es
seinerseits mit der Konsequenz halte und mit Farbe bekennen, und nicht
mit heute so und morgen so. Am verdrießlichsten aber sei ihm zweierlei
Maß.

Er hielt hier einen Augenblick inne und war vielleicht überhaupt
gewillt, es bei diesen Allgemeinsätzen bewenden zu lassen. Aber
die junge Gryczinska, die sich, nach Art aller Schwägerinnen etwas
herausnehmen durfte, sah ihn jetzt, in plötzlich wiedererwachtem Mute
keck und zuversichtlich an und bat ihn, aus seinen Orakelsprüchen
heraus und zu bestimmteren Erklärungen übergehn zu wollen.

»O gewiß, meine Gnädigste,« sagte der jetzt immer hitziger werdende
Van der Straaten. »O gewiß, mein geliebtes Rotblond. Ich stehe zu
Befehl und will aus allem Orakulosen und Mirakulosen heraus, und will
in die Trompete blasen, daß ihr aus eurer Dämmerung und meinetwegen
auch aus eurer Götterdämmerung erwachen sollt, als ob die Feuerwehr
vorüberführe.«

»Ah,« sagte Melanie, die jetzt auch ihrerseits alle Ruhe zu verlieren
begann. »Also da hinaus soll es.«

»Ja, süßer Engel, da hinaus. Da. Ihr stellt euch stolz und gemütlich
auf die Höhen aller Kunst und zieht als reine ~Casta diva~ am Himmel
entlang, als ob ihr von Ozon und Keuschheit leben wolltet. Und +wer+
ist euer Abgott? Der Ritter von Bayreuth, ein Behexer, wie es nur
je einen gegeben hat. Und an diesen Tannhäuser und Venusbergmann
setzt ihr, als ob ihr wenigstens die Voggenhuber wäret, eurer Seelen
Seligkeit und singt und spielt ihn morgens, mittags und abends. Oder
dreimal täglich, wie auf euren Pillenschachteln steht. Und euer Elimar
immer mit. Und sein ewiger Samtrock wird ihn auch nicht retten. Nicht
ihn und nicht euch. Oder wollt ihr mir das alles als himmlischen Zauber
kredenzen? Ich sag' euch, fauler Zauber. Und das ist es, was ich
zweierlei Maß genannt habe. Den Murillozauber möchtet ihr zu Hexerei
stempeln und die Wagnerhexerei möchtet ihr in Zauber verwandeln. Ich
aber sag' euch, es liegt umgekehrt, und wenn es +nicht+ umgekehrt
liegt, so sollt ihr mir wenigstens keinen Unterschied machen. Denn
es ist schließlich alles ganz egal und mit Permission zu sagen alles
Jacke ...«

Der aus der vergleichendsten Kleidersprache genommene Berolinismus,
mit dem er seinen Satz abzuschließen gedachte, wurde auch wirklich
gesprochen, aber er verklang in einem Getöse, das der Major durch einen
geschickt kombinierten Angriff von Gläserklopfen und Stuhlrücken in
Szene zu setzen gewußt hatte. Zugleich begann er: »Meine verehrten
Freunde, das Wort Hexenmeister ist gefallen. Ein vorzügliches Wort!
So lassen wir sie denn leben, alle diese Tannhäuser, wobei sich jeder
das Seine denken mag. Ich trinke auf das Wohl der Hexenmeister. Denn
alle Kunst ist Hexerei. Rechten wir nicht mit dem Wort. Was sind Worte?
Schall und Rauch. Stoßen wir an. Hoch, hoch.«

Und mit einer wohlgemeinten Kraftanstrengung, in der jetzt jeder
zitternde Ton fehlte, wurde zugestimmt, namentlich auch von seiten
der beiden Maler, und kaum einer war da, der nicht an eine glücklich
beseitigte Gefahr geglaubt hätte. Aber mit Unrecht. Van der Straaten,
absolut unerzogen, konnte, vielleicht weil er dies Manko fühlte,
nichts so wenig ertragen, als auf Unerzogenheiten aufmerksam gemacht
zu werden: er vergaß sich dann ganz und gar, und der Dünkel des
reichen Mannes, der gewohnt war zu helfen, nach allen Seiten hin zu
helfen, stieg ihm dann zu Kopf und schlug in Wellen über ihm zusammen.
Und so auch jetzt. Er erhob sich und sagte: »Kupierungen sind etwas
Wundervolles. Keine Frage. Ich beispielsweise kupiere Kupons. Ein
inferiores Geschäft, das unter Umständen nichtsdestoweniger einen
Anspruch darauf gibt, gegen Wort- und Redekupierungen gesichert zu
sein, namentlich gegen solche, die reprimandieren und erziehen wollen.
Ich bin erzogen.«

Er hatte mit vor Erregung zitternder Stimme gesprochen, aber mit
zugekniffenem Auge fest zu dem Major hinübergesehen. Dieser, ein
vollkommener Weltmann, lächelte vor sich hin und blinkte nur leise
den beiden Damen zu, daß sie sich beruhigen möchten. Dann ergriff er
sein Glas ein zweites Mal, gab seinen Zügen, ohne sich sonderlich
anzustrengen, einen freundlichen Ausdruck und sagte zu Van der
Straaten: »Es ist so viel von Kupieren gesprochen worden; kupieren wir
auch das. Ich lebe der festen Überzeugung ...«

In eben diesem Augenblicke sprang der Pfropfen von einer der im
Weinkühler stehenden Flaschen und Gryczinski, rasch den Vorteil
erspähend, den er aus diesem Zwischenfalle ziehen konnte, brach
inmitten des Satzes ab und sagte nur, während er, unter leiser
Verbeugung, seines Schwagers Glas füllte: »Friede sei ihr erst Geläute!«

Solchem Appell zu widerstehen, war Van der Straaten der letzte. »Mein
lieber Gryczinski,« hob er in plötzlich erwachter Sentimentalität an,
»wir verstehen uns, wir haben uns immer verstanden. Gib mir deine Hand.
Lacrymae Christi, Friedrich. Rasch. Das Beste daran ist freilich der
Name. Aber er hat ihn nun mal. Jeder hat nun mal das Seine, der eine
dies, der andre das.«

»Allerdings,« lachte Gabler.

»Ach Arnold, du überschätzt das. Glaube mir, der Selige hatte recht.
Gold ist nur Schimäre. Und Elimar würd' es mir bestätigen, wenn es
nicht ein Satz aus einer überwundenen Oper wäre. Ich muß sagen,
leider überwunden. Denn ich liebe Nonnen, die tanzen. Aber da kommt
die Flasche. Laß nur Staub und Spinnweb. Sie muß in ihrer ganzen
unabgeputzten Heiligkeit verbleiben. Lacrymae Christi. Wie das klingt!«

Und die frühere Heiterkeit kehrte wieder oder schien wenigstens
wiederzukehren, und als Van der Straaten fortfuhr, in wahren
Ungeheuerlichkeiten über Christustränen, Erlöserblut und
Versöhnungswein zu sprechen, durfte Melanie schließlich die Bemerkung
wagen: »Du vergißt, Ezel, daß der Polizeirat katholisch ist.«

»Ich bitte recht sehr,« sagte Reiff, als ob er auf etwas Unerlaubtem
ertappt worden wäre.

Van der Straaten aber verschwor sich hoch und teuer, daß ein vierzig
Jahre lang treu geleisteter Sicherheitsdienst über alles konfessionelle
Plus oder Minus hinaus entscheidend sein und vor dem Richterstuhle
der Ewigkeit angerechnet werden müsse. Und als bald darauf die Gläser
abermals gefüllt und geleert worden waren, rückte Melanie den Stuhl,
und man erhob sich, um im Nebenzimmer den Kaffee zu nehmen.



6

Auf dem Heimwege


Die Kaffeestunde verlief ohne Zwischenfall, und es war bereits gegen
zehn, als der Diener meldete, daß der Wagen vorgefahren sei. Diese
Meldung galt dem Gryczinskischen Paare, das, an den Dinertagen, seine
Heimfahrt in der ihm bei dieser Gelegenheit ein für allemal zur
Verfügung gestellten kommerzienrätlichen Equipage zu machen pflegte.
Mäntel und Hüte wurden gebracht, und die schöne Jakobine, Hals und
Kopf in ein weißes Filettuch gehüllt, stand alsbald in der Mitte des
Kreises und wartete lachend und geduldig auf die beiden Maler, denen
Gryczinski noch im letzten Augenblicke die Mitfahrt angeboten hatte.
Das Parlamentieren darüber wollte kein Ende nehmen, und erst als man
unten am Wagenschlage stand, entschied sich's und Gabler placierte
sich nunmehr ohne weiteres auf den Rücksitz, während Elimar mit einem
kräftigen Turnerschwunge seinen Platz auf dem Bocke nahm, angeblich
aus Rücksicht gegen die Wageninsassen, in Wahrheit aus eigener
Bequemlichkeit und Neugier. Er sehnte sich nämlich nach einem Gespräche
mit dem Kutscher.

Dieser, auch noch ein Erbstück aus des alten Van der Straaten Zeiten
her, führte den unkutscherlichen Namen Emil, der jedoch seit lange
seinen Verhältnissen angepaßt und in ein plattdeutsches »Ehm« abgekürzt
worden war. Mit um so größerem Recht, als er wirklich in Fritz
Reuterschen Gegenden das Licht der Welt erblickt und sich bis diesen
Tag, neben seinem Berliner Jargon, einen Rest heimatlicher Sprache
konserviert hatte. Elimar, einer seiner Bevorzugten, nahm gleich im
ersten Momente des Zurechtrückens ein mehrklappiges Lederfutteral
heraus, steckte dem Alten eine der obenaufliegenden Zigarren zu und
sagte vertraulich: »Für'n Rückweg, Ehm.«

Dieser fuhr mit der Rechten dankend an seinen Kutscherhut und damit
waren die Präliminarien geschlossen.

Als sie bald darauf bei der Normaluhr auf dem Spittelmarkte vorüber
kamen und in eine der schlechtgepflasterten Seitenstraßen einbogen,
hielt Elimar den ersehnten Zeitpunkt für gekommen und sagte:

»Ist denn der neue Herr schon da?«

»Der Frankfurtsche? Ne, noch nich, Herr Schulze.«

»Na, dann muß er aber doch bald ...«

»I, woll. Bald muß er. Ich denke, so nächste Woche. Un de Stuben sind
ooch all tapziert. Jott, se duhn ja, wie wenn't en Prinz wär', erst der
Herr un nu ooch de Jnädge. Un Christel meent, he sall man en Jüdscher
sinn.«

»Aber reich. Und Offizier. Das heißt bei der Landwehr oder so.«

»Is et möglich?«

»Und er soll auch singen.«

»Ja, singen wird er woll.«

Elimar war eitel genug, an dieser letzteren Äußerung Anstoß zu nehmen,
und da sich's gerade traf, daß in eben diesem Augenblicke der Wagen aus
dem Wallstraßenportal auf den abendlich-stillen Opernplatz einbog, so
gab er das Gespräch um so lieber auf, als er nicht wollte, daß dasselbe
von den Insassen des Wagens verstanden würde.

Von seiten dieser war bis dahin kein Wort gewechselt worden, nicht
aus Verstimmung, sondern nur aus Rücksicht gegen die junge Frau, die,
herzlich froh über den zur Hälfte freigebliebenen Rücksitz, ihre
kleinen Füße gegen das Polsterkissen gestemmt und sich bequem in den
Fond des Wagens zurückgelehnt hatte. Sie war gleich beim Einsteigen
ersichtlich müde gewesen, hatte, wie zur Entschuldigung, etwas von
Champagner und Kopfweh gesprochen, das Filettuch dabei höher gezogen
und ihre Augen geschlossen. Erst als sie zwischen dem Palais und dem
Friedrichsmonumente hinfuhren, richtete sie sich wieder auf, weil sie
jenen Allerloyalsten zugehörte, die sich schon beglückt fühlen, einen
bloßen Schattenriß an dem herabgelassenen Vorhange des Eckfensters
gesehn zu haben. Und wirklich, sie sah ihn und gab in ihrer reizenden,
halb kindlich, halb koketten Weise, der Freude darüber Ausdruck.

Ihr Geplauder hatte noch nicht geendet, als der Wagen am Brandenburger
Tore hielt. Im Nu waren beide Maler, deren Weg hier abzweigte, von
ihren Plätzen herunter und empfahlen sich dankend dem liebenswürdigen
Paare, das nun seinerseits durch die breite Schrägallee auf das
Siegesdenkmal und die dahinter gelegene Alsenstraße zufuhr.

Als sie mitten auf dem von bunten Lichtern überstrahlten Platze waren,
schmiegte sich die schöne junge Frau zärtlich an ihren Gatten und
sagte: »War das ein Tag, Otto. Ich habe dich bewundert.«

»Es wurde mir leichter, als du denkst. Ich spiele mit ihm. Er ist ein
altes Kind.«

»Und Melanie! ... Glaube mir, sie fühlt es. Und sie tut mir leid. Du
lächelst so. Dir nicht?«

»Ja und nein, ~ma chère~. Man hat eben nichts umsonst in der Welt. Sie
hat eine Villa und eine Bildergalerie ...«

»Aus der sie sich nichts macht. Du weißt ja, wie wenig sie daran
hängt ...«

»Und hat zwei reizende Kinder ...«

»Um die ich sie fast beneide.«

»Nun, siehst du,« lachte der Major. »Ein jeder hat die Kunst zu lernen,
sich zu bescheiden und einzuschränken. Wär' ich mein Schwager, so würd'
ich sagen ...«

Aber sie schloß ihm den Mund mit einem Kuß, und im nächsten Augenblicke
hielt der Wagen.

       *       *       *       *       *

Die beiden Räte, der Legations- und der Polizeirat, waren an der Ecke
des Petriplatzes in eine Droschke gestiegen, um bis an das Potsdamer
Tor zu fahren. Von hier aus wollten sie den Rest des Weges, um der
frischen Abendluft willen, zu Fuß machen. In Wahrheit aber hielten sie
bloß zu dem Satze, »daß man im Kleinen sparen müsse, um sich im Großen
legitimieren zu können,« wobei leider nur zu bedauern blieb, daß ihnen
die »großen Gelegenheiten« entweder nie gekommen, oder regelmäßig von
ihnen versäumt worden waren.

Unterwegs, solange die Fahrt dauerte, war kein Wort gewechselt worden,
und erst beim Aussteigen hatte, bei der nun nötig werdenden Division
von 2 in 6, ein Gespräch begonnen, das alle Parteien zufriedengestellt
zu haben schien. Nur nicht den Kutscher. Beide Räte hüteten sich
deshalb auch, sich nach dem letzteren umzusehen, vor allem Duquede,
der, außerdem noch ein abgeschworener Feind aller Platzübergänge mit
Eisenbahnschienen und Pferdebahngeklingel, überhaupt erst wieder in
Ruhe kam, als er die schon frisch in Knospen stehende Bellevuestraße
glücklich erreicht hatte.

Reiff folgte, schob sich artig und respektvoll an die linke Seite des
Legationsrates und sagte plötzlich und unvermittelt:

»Es war doch wieder eine recht peinliche Geschichte heute. Finden Sie
nicht? Und ehrlich gestanden, ich begreif' ihn nicht. Er ist doch nun
fünfzig und darüber und sollte sich die Hörner abgelaufen haben. Aber
er ist und bleibt ein Durchgänger.«

»Ja,« sagte Duquede, der einen Augenblick still stand, um Atem zu
schöpfen, »etwas Durchgängerisches hat er. Aber, lieber Freund, warum
soll er es nicht haben? Ich taxier' ihn auf eine Million, seine Bilder
ungerechnet, und ich sehe nicht ein, warum einer in seinem eigenen
Haus und an seinem eigenen Tisch nicht sprechen soll, wie ihm der
Schnabel gewachsen ist. Ich bekenn' Ihnen offen, Reiff, ich freue mich
immer, wenn er mal so zwischenfährt. Der Alte war auch so, nur viel
schlimmer, und es hieß schon damals, vor vierzig Jahren: »Es sei doch
ein sonderbares Haus und man könne eigentlich nicht hingehen.« Aber
uneigentlich ging alles hin. Und so war es, und so ist es geblieben.«

»Es fehlt ihm aber doch wirklich an Bildung und Erziehung.«

»Ach, ich bitte Sie, Reiff, gehen Sie mir mit Bildung und Erziehung.
Das sind so zwei ganz moderne Wörter, die der »Große Mann« aufgebracht
haben könnte, so sehr hass' ich sie. Bildung und Erziehung. Erstlich
ist es in der Regel nicht viel damit, und wenn es mal was ist, dann ist
es auch noch nichts. Glauben Sie mir, es wird überschätzt. Und kommt
auch nur bei uns vor. Und warum? Weil wir nichts Besseres haben. Wer
gar nichts hat, der ist gebildet. Wer aber so viel hat, wie Van der
Straaten, der braucht all die Dummheiten nicht. Er hat einen guten
Verstand und einen guten Witz, und was noch mehr sagen will, einen
guten Kredit. Bildung, Bildung. Es ist zum Lachen.«

»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben, Duquede. Ja, wenn es
geblieben wäre, wie früher. Junggesellenwirtschaft. Aber nun hat er die
junge Frau geheiratet, jung und schön und klug ...«

»Nu, nu, Reiff. Nur nicht extravagant. Es ist damit nicht soweit her,
wie Sie glauben; sie ist 'ne Fremde, französische Schweiz, und an allem
Fremden verkucken sich die Berliner. Das ist wie Amen in der Kirche.
Sie hat so ein bißchen Genfer Schick. Aber was will das am Ende sagen.
Alles was die Genfer haben, ist doch auch bloß aus zweiter Hand. Und
nun gar klug. Ich bitte Sie, was heißt klug? Er ist viel klüger. Oder
glauben Sie, daß es auf 'ne französische Vokabel ankommt? oder auf den
Erlkönig? Ich gebe zu, sie hat ein paar niedliche Manierchen und weiß
sich unter Umständen ein Air zu geben. Aber es ist nicht viel dahinter,
alles Firlefanz, und wird kolossal überschätzt.«

»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben,« wiederholte der Polizeirat.
»Und dann ist sie doch schließlich von Familie.«

Duquede lachte. »Nein, Reiff, +das+ ist sie nun schließlich nicht.
Und ich sag' Ihnen, da haben wir den Punkt, auf dem ich keinen Spaß
verstehe. Caparoux. Es klingt nach was. Zugestanden. Aber was heißt es
denn am Ende? Rotkapp oder Rotkäppchen. Das ist ein Märchenname, aber
kein Adelsname. Ich habe mich darum gekümmert und nachgeschlagen. Und
im Vertrauen, Reiff, es gibt gar keine de Caparoux.«

»Aber bedenken Sie doch den Major! Er hat alle Sorten Stolz und wird
sich doch schwerlich eine Mesalliance nachsagen lassen wollen.«

»Ich kenn' ihn besser. Er ist ein Streber. Oder sagen wir einfach,
er ist ein Generalstäbler. Ich hasse die ganze Gesellschaft, und
glauben Sie mir, Reiff, ich weiß warum. Unsere Generalstäbler werden
überschätzt, kolossal überschätzt.«

»Ich weiß doch nicht, ob Sie recht haben,« ließ sich der Polizeirat ein
drittes Mal vernehmen. »Bedenken Sie bloß, was Stoffel gesagt hat. Und
nachher kam es auch so. Aber ich will nur von Gryczinski sprechen. Wie
liebenswürdig benahm er sich heute wieder! Wie liebenswürdig und wie
vornehm.«

»Ah, bah, vornehm. Ich bilde mir auch ein, zu wissen, was vornehm
ist. Und ich sag' Ihnen, Reiff, Vornehmheit ist anders. Vornehm!
Ein Schlaukopf ist er und weiter nichts. Oder glauben Sie, daß er
die kleine Rotblondine mit den ewigen Schmachtaugen geheiratet hat,
weil sie Caparoux hieß, oder meinetwegen auch de Caparoux? Er hat sie
geheiratet, weil sie die Schwester ihrer Schwester ist. Du himmlischer
Vater, daß ich einem Polizeirat solche Lektion halten muß.«

Der Polizeirat, dessen Schwachheiten nach der erotischen Seite hin
lagen, las aus diesen andeutenden Worten ein Liebesverhältnis zwischen
dem Major und Melanie heraus und sah den langen hageren Duquede von der
Seite her betroffen an.

Dieser aber lachte und sagte: »Nicht +so+, Reiff, nicht +so+;
Karrieremacher sind immer nur Courmacher. Nichts weiter. Es gibt
heutzutage Personen (und auch +das+ verdanken wir unsrem großen
Reichsbaumeister, der die soliden Werkleute fallen läßt oder beiseite
schiebt), es gibt, sag' ich, heutzutage Personen, denen alles bloß
Mittel zum Zweck ist. Auch die Liebe. Und zu diesen Personen gehört
auch unser Freund, der Major. Ich hätte nicht sagen sollen, er hat die
Kleine geheiratet, weil sie die Schwester ihrer Schwester ist, sondern
weil sie die Schwägerin ihres Schwagers ist. Er +braucht+ diesen
Schwager, und ich sag' Ihnen, Reiff, denn ich kenne den Ton und die
Strömung oben, es gibt weniges, was nach oben hin +so+ empfiehlt, wie
das. Ein Schwager-Kommerzienrat ist nicht viel weniger wert, als ein
Schwiegervater-Kommerzienrat und rangiert wenigstens gleich dahinter.
Unter allen Umständen aber sind Kommerzienräte wie konsolidierte Fonds,
auf die jeden Augenblick gezogen werden kann. Es ist immer Deckung da.«

»Sie wollen also sagen ...«

»Ich will gar nichts sagen, Reiff ... Ich meine nur so.«

Und damit waren sie bis an die Bendlerstraße gekommen, wo beide sich
trennten. Reiff ging auf die Von der Heydt-Brücke zu, während Duquede
seinen Weg in gerader Richtung fortsetzte.

Er wohnte dicht an der Hofjägerallee, sehr hoch, aber in einem sehr
vornehmen Hause.



7

Ebenezer Rubehn


Wenige Tage später hatte Melanie das Stadthaus verlassen und die
Tiergartenvilla bezogen. Van der Straaten selbst machte diesen Umzug
nicht mit und war, so sehr er die Villa liebte, doch immer erst vom
September an andauernd draußen. Und auch das nur, weil er ein noch
leidenschaftlicherer Obstzüchter als Bildersammler war. Bis dahin
erschien er nur jeden dritten Tag als Gast und versicherte dabei
jedem, der es hören wollte, daß dies die stundenweis ihm nachgezahlten
Flitterwochen seiner Ehe seien. Melanie hütete sich wohl, zu
widersprechen, war vielmehr die Liebenswürdigkeit selbst, und genoß in
den zwischenliegenden Tagen das Glück ihrer Freiheit. Und dieses Glück
war um vieles größer, als man, ihrer Stellung nach, die so dominierend
und so frei schien, hätte glauben sollen. Denn sie dominierte nur,
weil sie sich zu zwingen verstand; aber dieses Zwanges los und ledig
zu sein, blieb doch ihr Wunsch, ihr beständiges, stilles Verlangen.
Und das erfüllten ihr die Sommertage. Da hatte sie Ruhe vor seinen
Liebesbeweisen und seinen Ungeniertheiten, nicht immer, aber doch
meist, und das Bewußtsein davon gab ihr ein unendliches Wohlgefühl.

Und dieses Wohlgefühl steigerte sich noch in dem entzückenden und
beinah ungestörten Stilleben, dessen sie draußen genoß. Wohl liebte
sie Stadt und Gesellschaft und den Ton der großen Welt, aber wenn
die Schwalben wieder zwitscherten und der Flieder wieder zu knospen
begann, da zog sie's doch in die Parkeinsamkeit hinaus, die wiederum
kaum eine Einsamkeit war, denn neben der Natur, deren Sprache sie
wohl verstand, hatte sie Bücher und Musik, und -- die Kinder. Die
Kinder, die sie während der Saison oft tagelang nicht sah und an deren
Aufwachsen und Lernen sie draußen in der Villa den regsten Anteil nahm.
Ja, sie half selber nach, in den Sprachen, vor allem im Französischen,
und durchblätterte mit ihnen Atlas und historische Bilderbücher. Und
an alles knüpfte sie Geschichten, die sie dem Gedächtnis der Kinder
einzuprägen wußte. Denn sie war gescheit und hatte die Gabe, von allem,
worüber sie sprach, ein klares und anschauliches Bild zu geben.

Es waren glückliche stille Tage.

Möglich dennoch, daß es zu stille Tage gewesen wären, wenn das tiefste
Bedürfnis der Frauennatur: das Plauderbedürfnis, unbefriedigt geblieben
wäre. Aber dafür war gesorgt. Wie fast alle reichen Häuser, hatten auch
die Van der Straatens einen Anhang ganz alter und halb alter Damen,
die zu Weihnachten beschenkt und im Laufe des Jahres zu Kaffees und
Landpartien eingeladen wurden. Es waren ihrer sieben oder acht, unter
denen jedoch zwei durch eine besonders intime Stellung hervorragten,
und zwar das kleine verwachsene Fräulein Friederike von Sawatzki und
das stattlich hochaufgeschossene Klavier- und Singefräulein: Anastasia
Schmidt. Ihrer apart bevorzugten Stellung entsprach es denn auch, daß
sie jeden zweiten Osterfeiertag durch Van der Straaten in Person
befragt wurden, ob sie sich entschließen könnten, seiner Frau während
der Sommermonate draußen in der Villa Gesellschaft zu leisten, eine
Frage, die jedesmal mit einer Verbeugung und einem freundlichen »ja«
beantwortet wurde. Aber doch nicht +zu+ freundlich, denn man wollte
nicht verraten, daß die Frage erwartet war.

Und beide Damen waren auch in diesem Jahre, wie herkömmlich, als
~Dames d'honneur~ installiert worden, hatten den Umzug mitgemacht, und
erschienen jeden Morgen auf der Veranda, um gegen neun Uhr mit den
Kindern das erste und um zwölf mit Melanie das zweite Frühstück zu
nehmen.

Auch heute wieder.

Es mochte schon gegen eins sein und das Frühstück war beendet. Aber
der Tisch noch nicht abgedeckt. Ein leiser Luftzug, der ging und
sich verstärkte, weil alle Türen und Fenster offen standen, bewegte
das rotgemusterte Tischtuch und von dem am andern Ende des Korridors
gelegenen Musikzimmer her hörte man ein Stück der Cramerschen
Klavierschule, dessen mangelhaften Takt in Ordnung zu bringen Fräulein
Anastasia Schmidt sich anstrengte. »Eins zwei, eins zwei.« Aber niemand
achtete dieser Anstrengungen, am wenigsten Melanie, die neben Fräulein
Riekchen, wie man sie gewöhnlich hieß, in einem Gartenstuhle saß und
dann und wann von ihrer Handarbeit aufsah, um das reizende Parkbild
unmittelbar um sie her, trotzdem sie jeden kleinsten Zug darin kannte,
auf sich wirken zu lassen.

Es war selbstverständlich die schönste Stelle der ganzen Anlage. Denn
von hundert Gästen, die kamen, begnügten sich neunundneunzig damit,
den Park von hier aus zu betrachten und zu beurteilen. Am Ende des
Hauptganges, zwischen den eben ergrünenden Bäumen hin, sah man das
Zittern und Flimmern des vorüberziehenden Stromes, aus der Mitte der
überall eingestreuten Rasenflächen aber erhoben sich Aloen und Bosketts
und Glaskugeln und Bassins. Eines der kleineren plätscherte, während
auf der Einfassung des großen ein Pfauhahn saß und die Mittagsonne mit
seinem Gefieder einzusaugen schien. Tauben und Perlhühner waren bis in
unmittelbare Nähe der Veranda gekommen, von der aus Riekchen ihnen eben
Krumen streute.

»Du gewöhnst sie zu sehr an diesen Platz,« sagte Melanie. »Und wir
werden einen Krieg mit Van der Straaten haben.«

»Ich fecht' ihn schon aus,« entgegnete die Kleine.

»Ja, du darfst es dir wenigstens zutrauen. Und wirklich, Riekchen, ich
könnte ~jaloux~ werden, so sehr bevorzugt er dich. Ich glaube, du bist
der einzige Mensch, der ihm alles sagen darf, und soviel ich weiß,
ist er noch nie heftig gegen dich geworden. Ob ihm dein alter Adel
imponiert? Sage mir deinen vollen Namen und Titel. Ich hör' es so gern
und vergeß' es immer wieder.«

»Aloysia Friederike Sawat von Sawatzki, genannt Sattler von der Hölle,
Stiftsanwärterin auf Kloster Himmelpfort in der Uckermark.«

»Wunderschön,« sagte Melanie. »Wenn ich doch so heißen könnte! Und du
kannst es glauben, Riekchen, das ist es, was einen Eindruck auf ihn
macht.«

Alles das war in herzlicher Heiterkeit gesagt und von Riekchen auch so
beantwortet worden. Jetzt aber rückte diese den Stuhl näher an Melanie
heran, nahm die Hand der jungen Frau und sagte: »Eigentlich sollt' ich
böse sein, daß du deinen Spott mit mir hast. Aber wer könnte dir böse
sein?«

»Ich spotte nicht,« entgegnete Melanie. »Du mußt doch selber finden,
daß er dich artiger und rücksichtsvoller behandelt als jeden andren
Menschen.«

»Ja,« sagte jetzt das arme Fräulein und ihre Stimme zitterte vor
Bewegung. »Er behandelt mich gut, weil er ein gutes Herz hat, ein
viel besseres, als mancher denkt und vielleicht auch als du selber
denkst. Und er ist auch gar nicht so rücksichtslos. Er kann nur nicht
leiden, daß man ihn stört oder herausfordert, ich meine solche, die's
eigentlich nicht sollten oder dürften. Sieh, Kind, dann beherrscht er
sich nicht länger, aber nicht weil er's nicht könnte, nein, weil er
nicht +will+. Und er braucht es auch nicht zu wollen. Und wenn man
gerecht sein will, er kann es auch nicht wollen. Denn er ist reich,
und alle reichen Leute lernen die Menschen von ihrer schlechtesten
Seite kennen. Alles überstürzt sich, erst in Dienstfertigkeit und
hinterher in Undank. Und Undank ernten, ist eine schlechte Schule für
Zartheit und Liebe. Und deshalb glauben die Reichen an nichts Edles und
Aufrichtiges in der Welt. Aber das sag' ich dir und muß ich dir immer
wieder sagen, dein Van der Straaten ist besser, als mancher denkt und
als du selber denkst.«

Es entstand eine kleine Pause, nicht ganz ohne Verlegenheit, dann
nickte Melanie freundlich dem alten Fräulein zu und sagte: »Sprich nur
weiter. Ich höre dich gerne so.«

»Und ich will auch,« sagte diese. »Sieh, ich habe dir schon gesagt, er
behandelt mich gut, weil er ein gutes Herz hat. Aber das ist es noch
nicht alles. Er ist auch so freundlich gegen mich, weil er mitleidig
ist. Und mitleidig sein, ist noch viel mehr als bloß gütig sein und ist
eigentlich das Beste, was die Menschen haben. Er lacht +auch+ immer,
wenn er meinen langen Namen hört, geradeso wie du, aber ich hab' es
gern, ihn so lachen zu hören, denn ich höre wohl heraus, was er dabei
denkt und fühlt.«

»Und was fühlt er denn?«

»Er fühlt den Gegensatz zwischen dem Anspruch meines Namens und dem,
was ich bin: arm und alt und einsam, und ein bloßes Figürchen. Und wenn
ich sage Figürchen, so beschönige ich noch und schmeichle noch mir
selbst.«

Melanie hatte das Battisttuch ans Auge gedrückt und sagte: »Du hast
recht. Du hast immer recht. Aber wo nur Anastasia bleibt, die Stunde
nimmt ja gar kein Ende. Sie quält mir die Liddi viel zu sehr, und das
Ende vom Lied ist, daß sie dem Kind einen Widerwillen beibringt. Und
dann ist es vorbei. Denn ohne Lieb' und ohne Lust ist nichts in der
Welt. Auch nicht einmal in der Musik ... Aber da kommt ja Teichgräber
und will uns einen Besuch anmelden. Ich bin außer mir. Hätte viel
lieber noch mit dir weiter geplaudert.«

In eben diesem Augenblicke war der alte Parkhüter, der sich vergeblich
nach einem von der Hausdienerschaft umgesehen hatte, bis an die Veranda
herangetreten und überreichte eine Karte.

Melanie las: »Ebenezer Rubehn (Firma Jakob Rubehn und Söhne) Leutnant
in der Reserve des 5. Dragoner-Regiments ...«

»Ah, sehr willkommen ... Ich lasse bitten ...« Und während sich der
Alte wieder entfernte, fuhr Melanie gegen das kleine Fräulein in
übermütiger Laune fort: »Auch wieder einer. Und noch dazu aus der
Reserve! Mir widerwärtig, dieser ewige Leutnant. Es gibt gar keine
Menschen mehr.«

Und sehr wahrscheinlich, daß sie diese Betrachtungen fortgesetzt
hätte, wenn nicht auf dem Kiesweg ein Knirschen hörbar geworden wäre,
das über das rasche Näherkommen des Besuchs keinen Zweifel ließ. Und
wirklich, im nächsten Augenblicke stand der Angemeldete vor der Veranda
und verneigte sich gegen beide Damen.

Melanie hatte sich erhoben und war ihm einen Schritt entgegengegangen.
»Ich freue mich, Sie zu sehen. Erlauben Sie mir, Sie zunächst mit
meiner lieben Freundin und Hausgenossin bekannt machen zu dürfen ...
Herr Ebenezer Rubehn, ... Fräulein Friederike von Sawatzki!«

Ein flüchtiges Erstaunen spiegelte sich ersichtlich in Rubehns Zügen,
das, wenn Melanie richtig interpretierte, mehr noch dem kleinen
verwachsenen Fräulein, als ihr selber galt. Ebenezer war indessen
Weltmann genug, um seines Erstaunens rasch wieder Herr zu werden, und
sich ein zweites Mal gegen die Freundin hin verneigend, bat er um
Entschuldigung, seinen Besuch auf der Villa bis heute hinausgeschoben
zu haben.

Melanie ging leicht darüber hin, ihrerseits bittend, die Gemütlichkeit
dieses ländlichen Empfanges und vor allem eines unabgeräumten
Frühstückstisches entschuldigen zu wollen. »~Mais à la guerre, comme à
la guerre~, eine kriegerische Wendung, an die mir's im übrigen ferne
liegt, ernsthafte Kriegsgespräche knüpfen zu wollen.«

»Gegen die Sie sich vielmehr unter allen Umständen gesichert haben
möchten,« lachte Rubehn. »Aber fürchten Sie nichts. Ich weiß, daß sich
Damen für das Kapitel Krieg nur so lange begeistern, als es Verwundete
zu pflegen gibt. Von dem Augenblick an, wo der letzte Kranke das
Lazarett verläßt, ist es mit dem Kriegseifer vorbei. Und wie die Frauen
in allem recht haben, so auch hierin. Es ist das Traurigste von der
Welt, immer wieder eine Durchschnittsheldengeschichte von zweifelhaftem
Wert und noch zweifelhafterer Wahrheit hören zu müssen, aber es ist das
Schönste, was es gibt, zu helfen und zu heilen.«

Melanie hatte, während er sprach, ihre Handarbeit in den Schoß gelegt
und ihn fest und freundlich angesehen. »Ei, das lob' ich und hör' ich
gern. Aber wer mit so warmer Empfindung von dem Hospitaldienst und dem
Helfen und Heilen, das uns so wohl kleidet, zu sprechen versteht, der
hat diese Wohltat wohl an sich selbst erfahren. Und so plaudern Sie
mir denn wider Willen, nach fünf Minuten schon, Ihre Geheimnisse aus.
Versuchen Sie nicht, mich zu widerlegen, Sie würden scheitern damit,
und da Sie die Frauenherzen so gut zu kennen scheinen, so werden Sie
natürlich auch unsere zwei stärksten Seiten kennen: unseren Eigensinn
und unser Rätselraten. Wir erraten alles ...«

»Und immer richtig?«

»Nicht immer, aber meist. Und nun erzählen Sie mir, wie Sie Berlin
finden, unsere gute Stadt, und unser Haus, und ob Sie das Zutrauen zu
sich haben, in Ihrem Hofkerker, dem eigentlich nur noch die Gitterstäbe
fehlen, nicht melancholisch zu werden. Aber wir hatten nichts Besseres.
Und wo nichts ist, hat, wie das Sprichwort sagt ...«

»O, Sie beschämen mich, meine gnädigste Frau. Jetzt erst, nach meinem
Eintreffen, weiß ich, wie groß das Opfer ist, das Sie mir gebracht
haben. Und ich darf füglich sagen, daß ich bei besserer Kenntnis ...«

Aber er sprach nicht aus und horchte plötzlich nach dem Hause hin,
aus dem eben (die Musikstunde hatte schon vorher geschlossen) ein
virtuoses und in jeder feinsten Nüancierung erkennbares Spiel bis auf
die Veranda herausklang. Es war »Wotans Abschied« und Rubehn erschien
so hingerissen, daß es ihm Anstrengung kostete, sich loszumachen und
das Gespräch wieder aufzunehmen. Endlich aber fand er sich zurück und
sagte, während er sich abermals gegen Riekchen verneigte: »Pardon,
meine Gnädigste. Hatt' ich recht gehört? Fräulein von Sawatzki?«

Das Fräulein nickte.

»Mit einem jungen Offizier dieses Namens war ich einen Sommer über
in Wildbad-Gastein zusammen. Unmittelbar nach dem Kriege. Ein
liebenswürdiger, junger Kavalier. Vielleicht ein Anverwandter ...?«

»Ein Vetter,« sagte Fräulein Riekchen. »Es gibt nur wenige meines
Namens und wir sind alle verwandt. Ich freue mich, aus Ihrem Munde von
ihm zu hören. Er wurde noch in dem Nachspiel des Krieges verwundet,
fast am letzten Tage. Bei Pontarlier. Und sehr schwer. Ich habe lange
nicht von ihm gehört. Hat er sich erholt?«

»Ich glaube sagen zu dürfen, vollkommen. Er tut wieder Dienst im
Regiment, wovon ich mich, ganz neuerdings erst, durch einen glücklichen
Zufall überzeugen konnte ... Aber, mein gnädigstes Fräulein, wir werden
unser Thema fallen lassen müssen. Die gnädige Frau lächelt bereits
und bewundert die Geschicklichkeit, mit der ich, unter Heranziehung
Ihres Herrn Vetters, in das Kriegsabenteuer und all seine Konsequenzen
einzumünden trachte. Darf ich also vorschlagen, lieber dem wundervollen
Spiele zuzuhören, das ... O, wie schade; jetzt bricht es ab ...«

Er schwieg, und erst als es drinnen still blieb, fuhr er in einer ihm
sonst fremden, aber in diesem Augenblicke völlig aufrichtigen Emphase
fort: »O, meine gnädigste Frau, welch ein Zaubergarten, in dem Sie
leben. Ein Pfau, der sich sonnt, und Tauben, so zahm und so zahllos,
als wäre diese Veranda der Markusplatz oder die Insel Cypern in Person!
Und dieser plätschernde Strahl, und nun gar dieses Lied ... In der Tat,
wenn nicht auch der aufrichtigste Beifall unstatthaft und zudringlich
sein könnte ...«

Er unterbrach sich, denn vom Korridore her waren eben Schritte hörbar
geworden und Melanie sagte mit einer halben Wendung: »Ah, Anastasia! Du
kommst gerade zu guter Zeit, um den Dank und die Bewunderung unseres
lieben Gastes und neuen Hausgenossen allerpersönlichst in Empfang zu
nehmen. Erlauben Sie mir, daß ich Sie mit einander bekannt mache: Herr
Ebenezer Rubehn, Fräulein Anastasia Schmidt ... Und hier meine Tochter
Lydia,« setzte Melanie hinzu, nach dem schönen Kinde hinzeigend, das,
auf der Türschwelle, neben dem Musikfräulein stehen geblieben war und
den Fremden ernst und beinah feindselig musterte.

Rubehn bemerkte den Blick. Aber es war ein Kind, und so wandt' er sich
ohne weiteres gegen Anastasia, um ihr allerhand Schmeichelhaftes über
ihr Spiel und die Richtung ihres Geschmackes zu sagen.

Diese verbeugte sich, während Melanie, der kein Wort entgangen war,
aufs lebhafteste fortfuhr: »Ei, da dürfen wir Sie, wenn ich recht
verstanden habe, wohl gar zu den Unseren zählen? Anastasia, das träfe
sich gut! Sie müssen nämlich wissen, Herr Rubehn, daß wir hier in
zwei Lagern stehen und daß sich das Van der Straatensche Haus, das
nun auch das Ihrige sein wird, in bilderschwärmende Montecchi und
musikschwärmende Capuletti teilt. Ich, ~tout à fait~ Capulet und Julia.
Doch mit untragischem Ausgang. Und ich füge zum Überfluß hinzu, daß
wir, Anastasia und ich, jener kleinen Gemeinde zugehören, deren Namen
und Mittelpunkt ich Ihnen nicht zu nennen brauche. Nur eines will
ich auf der Stelle wissen. Und ich betrachte das als mein weibliches
Neugiersrecht. Welcher seiner Arbeiten erkennen Sie den höchsten
Preis zu? Worin erscheint er Ihnen am bedeutendsten oder doch am
eigenartigsten?«

»In den Meistersingern.«

»Zugestanden. Und nun sind wir einig, und bei nächster Gelegenheit
können wir Van der Straaten und Gabler, und vor allem den langen und
langweiligen Legationsrat in die Luft sprengen. Den langen Duquede. O,
der steigt wie ein Raketenstock. Nicht wahr, Anastasia?«

Rubehn hatte seinen Hut genommen. Aber Melanie, die durch die ganze
Begegnung ungewöhnlich erfreut und angeregt war, fuhr in wachsendem
Eifer fort: »Alles das sind erst Namen. Eine Woche noch oder zwei und
Sie werden unsere kleine Welt kennen gelernt haben. Ich wünsche, daß
Sie die Gelegenheit dazu nicht hinausschieben. Unsere Veranda hat für
heute die Repräsentation des Hauses übernehmen müssen. Erinnern Sie
sich, daß wir auch einen Flügel haben und versuchen Sie bald und oft,
ob er Ihnen paßt. ~Au revoir.~«

Er küßte der schönen Frau die Hand und unter gemessener Verbeugung
gegen Riekchen und Anastasia verließ er die Damen. Über Lydia sah er
fort.

Aber diese nicht über ihn.

»Du siehst ihm nach,« sagte Melanie. »Hat er dir gefallen?«

»Nein.«

Alle lachten. Aber Lydia ging in das Haus zurück und in ihrem großen
Auge stand eine Träne.



8

Auf der Stralauer Wiese


Nach dem ersten Besuche Rubehns waren Wochen vergangen, und der
günstige Eindruck, den er auf die Damen gemacht hatte, war im Steigen
geblieben, wie das Wetterglas. Jeden zweiten, dritten Tag erschien er
in Gesellschaft Van der Straatens, der seinerseits an der allgemeinen
Vorliebe für den neuen Hausgenossen teilnahm, und nie vergaß, ihm einen
Platz anzubieten, wenn er selber in seinem hochrädrigen Kabriolett
hinausfuhr. Ein wolkenloser Himmel stand in jenen Wochen über der
Villa, drin es mehr Lachen und Plaudern, mehr Medisieren und Musizieren
gab, als seit lange. Mit dem Musizieren vermochte sich Van der Straaten
freilich auch jetzt nicht auszusöhnen, und es fehlte nicht an Wünschen
wie der, »mit von der Schiffsmannschaft des fliegenden Holländers
zu sein,« aber im Grunde genommen war er mit dem »anspruchsvollen
Lärm« um vieles zufriedener, als er einräumen wollte, weil der
von nun an in eine neue, gesteigerte Phase tretende Wagner-Kultus
ihm einen unerschöpflichen Stoff für seine Lieblingsformen der
Unterhaltung bot. Siegfried und Brünhilde, Tristan und Isolde, welche
dankbaren Tummelfelder! Und es konnte, wenn er in Veranlassung dieser
Themata seinem Renner die Zügel schießen ließ, mitunter zweifelhaft
erscheinen, ob die Musizierenden am Flügel oder er und sein Übermut die
Glücklicheren waren.

Und so war Hochsommer gekommen und fast schon vorüber, als an einem
wundervollen Augustnachmittage Van der Straaten den Vorschlag einer
Land- und Wasserpartie machte. »Rubehn ist jetzt ein rundes Vierteljahr
in unserer Stadt und hat nichts gesehen, als was zwischen unserem
Kontor und dieser unserer Villa liegt. Er muß aber endlich unsere
landschaftlichen Schätze, will sagen unsere Wasserflächen und Stromufer
kennen lernen, erhabene Wunder der Natur, neben denen die ganze
heraufgepuffte Main- und Rheinherrlichkeit verschwindet. Also Treptow
und Stralow, und zwar rasch, denn in acht Tagen haben wir den Stralauer
Fischzug, der an und für sich zwar ein liebliches Fest der Maien, im
übrigen aber etwas derb und nicht allzu günstig für Wiesewachs und
frischen Rasen ist. Und so proponier' ich denn eine Fahrt auf morgen
nachmittag. Angenommen?«

Ein wahrer Jubel begleitete den Schluß der Ansprache, Melanie sprang
auf, um ihm einen Kuß zu geben, und Fräulein Riekchen erzählte, daß es
nun gerade dreiunddreißig Jahre sei, seit sie zum letztenmal in Treptow
gewesen, an einem großen Dobremontschen Feuerwerkstage, -- derselbe
Dobremont, der nachher mit seinem ganzen Laboratorium in die Luft
geflogen. »Und in die Luft geflogen warum? Weil die Leute, die mit dem
Feuer spielen, immer zu sicher sind und immer die Gefahr vergessen. Ja,
Melanie, du lachst. Aber, es ist so, immer die Gefahr vergessen.«

Es wurde nun gleich zu den nötigen Verabredungen geschritten, und man
kam überein, am anderen Tage zu Mittag in die Stadt zu fahren, daselbst
ein kleines Gabelfrühstück einzunehmen und gleich danach die Partie
beginnen zu lassen: die drei Damen im Wagen, Van der Straaten und
Rubehn entweder zu Fuß oder zu Schiff. Alles regelte sich rasch und nur
die Frage, wer noch aufzufordern sei, schien auf kleine Schwierigkeiten
stoßen zu sollen.

»Gryczinskis?« fragte Van der Straaten und war zufrieden, als alles
schwieg. Denn so sehr er an der rotblonden Schwägerin hing, in der
er, um ihres anschmiegenden Wesens willen, ein kleines Frauenideal
verehrte, so wenig lag ihm an dem Major, dessen superiore Haltung ihn
bedrückte.

»Nun denn, Duquede?« fuhr Van der Straaten fort und hielt das Krayon an
die Lippe, mit dem er eventuell den Namen des Legationsrates notieren
wollte.

»Nein,« sagte Melanie. »Duquede nicht. Und so verhaßt mir der ewige
Vergleich vom ›Mehltau‹ ist, so gibt es doch für Duquede keinen andern.
Er würde von Stralow aus beweisen, daß Treptow, und von Treptow aus
beweisen, daß Stralow überschätzt werde, und zu Feststellung dieses
Satzes brauchen wir weder einen Legationsrat a. D., noch einen
Altmärkischen von Adel.«

»Gut, ich bin es zufrieden,« erwiderte Van der Straaten. »Aber Reiff?«

»Ja, Reiff,« hieß es erfreut. Alle drei Damen klatschten in die Hände
und Melanie setzte hinzu: »Er ist artig und manierlich und kein
Spielverderber und trägt einem die Sachen. Und dann, weil ihn alle
kennen, ist es immer, als führe man unter Eskorte, und alles grüßt
so verbindlich, und mitunter ist es mir schon gewesen, als ob die
Brandenburger Torwache ›heraus‹ rufen müsse.«

»Ach, das ist ja nicht um des alten Reiff willen,« sagte Anastasia, die
nicht gern eine Gelegenheit vorübergehen ließ, sich durch eine kleine
Schmeichelei zu insinuieren. »Das ist um +deinetwillen+. Sie haben dich
für eine Prinzessin gehalten.«

»Ich bitte nicht abzuschweifen,« unterbrach Van der Straaten, »am
wenigsten im Dienst weiblicher Eitelkeiten, die sich, nach dem Prinzipe
von Zug um Zug, bis ins Ungeheuerliche steigern könnten. Ich habe
Reiff notiert, und Arnold und Elimar verstehen sich von selbst. Eine
Wasserfahrt ohne Gesang ist ein Unding. Dies wird selbst von mir
zugestanden. Und nun frag' ich, wer hat noch weitre Vorschläge zu
machen? Niemand? Gut. So bleibt es bei Reiff und Arnold und Elimar,
und ich werde sie per Rohrpost avertieren. Fünf Uhr. Und daß wir sie
draußen bei Löbbekes erwarten.«

Am andern Tage war alles Erregung und Bewegung auf der Villa, viel,
viel mehr als ob es sich um eine Reise nach Teplitz oder Karlsbad
gehandelt hätte. Natürlich, eine Fahrt nach Stralow war ja das
ungewöhnlichere. Die Kinder sollten mit, es sei Platz genug auf dem
Wagen, aber Lydia war nicht zu bewegen und erklärte bestimmt, sie
+wolle+ nicht. Da mußte denn, wenn man keine Szene haben wollte,
nachgegeben werden, und auch die jüngere Schwester blieb, da sie sich
daran gewöhnt hatte, dem Beispiele der ältern in all und jedem zu
folgen.

In der Stadt wurde, wie verabredet, ein Gabelfrühstück genommen und
zwar in Van der Straatens Zimmer. Er wollt' es so jagd- und reisemäßig
wie möglich haben und war in bester Laune. Diese wurd' auch nicht
gestört, als in demselben Augenblicke, wo man sich gesetzt hatte,
ein Absagebrief Reiffs eintraf. Der Polizeirat schrieb: »Chef eben
konfidentiell mit mir gesprochen. Reise heute noch. Elf Uhr fünfzig.
Eine Sache, die sich der Mitteilung entzieht. Dein Reiff. Pstskr. Ich
bitte der schönen Frau die Hand küssen und ihr sagen zu dürfen, daß ich
untröstlich bin ...«

Van der Straaten fiel in einen heftigen Krampfhusten, weil er,
unter dem Lesen, unklugerweise von seinem Sherry genippt hatte.
Nichtsdestoweniger sprach er unter Husten und Lachen weiter und erging
sich in Vorstellungen Reiffscher Großtaten. »In politischer Mission.
Wundervoll. O lieb Vaterland, kannst ruhig sein. Aber +einen+ kenn'
ich, der noch ruhiger sein darf: er, der Unglückliche, den er sucht.
Oder sag' ich gleich rundweg: der Attentäter, dem er sich an die Fersen
heftet. Denn um etwas Staatsstreichlich-Hochverräterisches muß es sich
doch am Ende handeln, wenn man einen Mann wie Reiff allerpersönlichst
in den Sattel setzt. Nicht wahr, Sattlerchen von der Hölle? Und heut
abend noch! Die reine Ballade. ›Wir satteln nur um Mitternacht.‹ O,
Leonore! O Reiff, Reiff.« Und er lachte konvulsivisch weiter.

Auch Arnold und Elimar, die man nach Verabredung draußen treffen
wollte, wurden nicht geschont, bis endlich die Pendule vier schlug und
zur Eile mahnte. Der Wagen wartete schon und die Damen stiegen ein und
nahmen ihre Plätze: Fräulein Riekchen neben Melanie, Anastasia auf
dem Rücksitz. Und mit ihren Fächern und Sonnenschirmen grüßend, ging
es über Platz und Straßen fort, erst auf die Frankfurter Linden und
zuletzt auf das Stralauer Tor zu.

Van der Straaten und Rubehn folgten eine Viertelstunde später in
einer Droschke zweiter Klasse, die man ›echtheits‹halber gewählt
hatte, stiegen aber unmittelbar vor der Stadt aus, um nunmehr an den
Flußwiesen hin den Rest des Weges zu Fuß zu machen.

       *       *       *       *       *

Es schlug fünf, als unsre Fußgänger das Dorf erreichten und in
Mitte desselben Ehms ansichtig wurden, der mit seinem Wagen, etwas
ausgebogen, zur Linken hielt und den ohnehin wohlgepflegten Trakehnern
einen vollen Futtersack eben auf die Krippe gelegt hatte. Gegenüber
stand ein kleines Haus, wie das Pfefferkuchenhaus im Märchen, bräunlich
und appetitlich, und so niedrig, daß man bequem die Hand auf die
Dachrinne legen konnte. Dieser Niedrigkeit entsprach denn auch die kaum
mannshohe Tür, über der, auf einem wasserblauen Schilde, »Löbbekes
Kaffeehaus« zu lesen war. In Front des Hauses aber standen drei, vier
verschnittene Lindenbäume, die den Bürgersteig von dem Straßendamme
trennten, auf welchem letzteren Hunderte von Sperlingen hüpften und
zwitscherten und die verlorenen Körner aufpickten.

»Dies ist das Ship-Hotel von Stralow,« sagte Van der Straaten im
Ciceroneton und war eben willens in das Kaffeehaus einzutreten, als Ehm
über den Damm kam und ihm halb dienstlich halb vertraulich vermeldete,
»daß die Damens schon vorauf seien, nach der Wiese hin. Und die Herren
Malers auch. Und hätten beide schon vorher gewartet und gleich den
Tritt runter gemacht und alles. Erst Herr Gabler und dann Herr Schulze.
Und an der Würfelbude hätten sie Strippenballons und Gummibälle
gekauft. Und auch Reifen und eine kleine Trommel und allerhand noch.
Und einen Jungen hätten sie mitgenommen, der hätte die Reifen und
Stöcke tragen müssen. Und Herr Elimar immer vorauf. Das heißt mit 'ner
Harmonika.«

»Um Gottes willen,« rief Van der Straaten, »Ziehharmonika?«

»Nein, Herr Kommerzienrat. Wie 'ne Maultrommel.«

»Gott sei Dank! ... Und nun kommen Sie, Rubehn. Und du, Ehm, du wartest
nicht auf uns und läßt dir geben ... Hörst du?«

Ehm hatte dabei seinen Hut abgenommen. In seinen Zügen aber war
deutlich zu lesen: ich werde warten.

Am Ausgange des Dorfes lag ein prächtiger Wiesenplan und dehnte sich
bis an die Kirchhofsmauer hin. In Nähe dieser hatten sich die drei
Damen gelagert und plauderten mit Gabler, während Elimar einen seiner
großen Gummibälle monsieur-herkulesartig über Arm und Schulter laufen
ließ.

Van der Straaten und Rubehn hörten schon von ferne her das
Bravoklatschen und klatschten lebhaft mit. Und nun erst wurde man
ihrer ansichtig, und Melanie sprang auf und warf ihrem Gatten, wie zur
Begrüßung, einen der großen Bälle zu. Aber sie hatte nicht richtig
gezielt, der Ball ging seitwärts und Rubehn fing ihn auf. Im nächsten
Augenblicke begrüßte man sich und die junge Frau sagte: »Sie sind
geschickt. Sie wissen den Ball im Fluge zu fassen.«

»Ich wollt', es wäre das Glück.«

»Vielleicht ist es das Glück.«

Van der Straaten, der es hörte, verbat sich alle derartig intrikaten
Wortspielereien, widrigenfalls er an die Braut telegraphieren oder
vielleicht auch Reiff in konfidentieller Mission abschicken werde.
Worauf Rubehn ihn zum hundertsten Male beschwor, endlich von der
»ewigen Braut« ablassen zu wollen, die wenigstens vorläufig noch im
Bereiche der Träume sei. Van der Straaten aber machte sein kluges
Gesicht und versicherte, »daß er es besser wisse«.

Danach kehrte man an die Lagerstelle zurück, die sich nun rasch in
einen Spielplatz verwandelte. Die Reifen, die Bälle flogen, und da die
Damen ein rasches Wechseln im Spiele liebten, so ging man, innerhalb
anderthalb Stunden, auch noch durch Blindekuh und Gänsedieb und
»Bäumchen, Bäumchen, verwechselt euch.« Das letztere fand am meisten
Gnade, besonders bei Van der Straaten, dem es eine herzliche Freude
war, das scharfgeschnittene Profil Riekchens mit ihren freundlichen und
doch zugleich etwas stechenden Augen um die Baumstämme herumgucken zu
sehen. Denn sie hatte, wie die meisten Verwachsenen, ein Eulengesicht.

Und so ging es weiter, bis die Sonne zum Rückzug mahnte.
Harmonika-Schulze führte wieder und neben ihm marschierte Gabler, der
das Trommelchen ganz nach Art eines Tambourins behandelte. Er schlug es
mit den Knöcheln, warf es hoch und fing es wieder. Danach folgte das
Van der Straatensche Paar, dann Rubehn und Fräulein Riekchen, während
Anastasia träumerisch und Blumen pflückend den Nachtrab bildete. Sie
hing süßen Fragen und Vorstellungen nach, denn Elimar hatte beim
Blindekuh, als er sie haschte, Worte fallen lassen, die nicht mißdeutet
werden konnten. Er hätte denn ein schändlicher und zweizüngiger Lügner
sein müssen. Und das war er nicht ... Wer so rein und kindlich an der
Tete dieses Zuges gehen und die Harmonika blasen konnte, konnte kein
Verräter sein.

Und sie bückte sich wieder, um (zum wievielsten Male!) an einer
Wiesenranunkel die Blätter und die Chancen ihres Glücks zu zählen.



9

Löbbekes Kaffeehaus


Vor Löbbekes Kaffeehaus hatte sich innerhalb der letzten zwei Stunden
nichts verändert, mit alleiniger Ausnahme der Sperlinge, die jetzt,
statt auf dem Straßendamm, in den verschnittenen Linden saßen und
quirilierten. Aber niemand achtete dieser Musik, am wenigsten Van der
Straaten, der eben Melanies Arm in den Elimars gelegt und sich selbst
an die Spitze des Zuges gesetzt hatte. »~Attention!~« rief er und
bückte sich, um sich ohne Fährlichkeit durch das niedrige Türjoch
hindurchzuzwängen.

Und alles folgte seinem Rat und Beispiel.

Drinnen waren ein paar absteigende Stufen, weil der Flur um ein
erhebliches niedriger lag, als die Straße draußen, weshalb denn auch
den Eintretenden eine dumpfe Kellerluft entgegenkam, von der es schwer
zu sagen war, ob sie durch ihren biersäuerlichen Gehalt mehr gewann
oder verlor. In der Mitte des Flurs sah man nach rechts hin eine Nische
mit Herd und Rauchfang, einer kleinen Schiffsküche nicht unähnlich,
während von links her ein Schanktisch um mehrere Fuß vorsprang.
Dahinter ein sogenanntes »Schapp«, in dem oben Teller und Tassen und
unten allerhand ausgebuchtete Likörflaschen standen. Zwischen Tisch
und Schapp aber thronte die Herrin dieser Dominien, eine große, starke
Blondine von Mitte dreißig, die man ohne weiteres als eine Schönheit
hätte hinnehmen müssen, wenn nicht ihre Augen gewesen wären. Und
doch waren es eigentlich schöne Augen, an denen in Wahrheit nichts
auszusetzen war, als daß sie sich daran gewöhnt hatten, alle Männer
in zwei Klassen zu teilen, in solche, denen sie zuzwinkerten: »wir
treffen uns noch« und in solche, denen sie spöttisch nachriefen: »wir
kennen euch besser.« Alles aber, was in diese zwei Klassen +nicht+
hineinpaßte, war nur Gegenstand für Mitleid und Achselzucken.

Es muß leider gesagt werden, daß auch Van der Straaten von diesem
Achselzucken betroffen wurde. Nicht seiner Jahre halber, im Gegenteil,
sie wußte Jahre zu schätzen, nein, einzig und allein weil er von alter
Zeit her die Schwäche hatte, sich ~à tout prix~ populär machen zu
wollen. Und das war der Blondine das verächtlichste von allem.

Am Ausgange des Flurs zeigte sich eine noch niedrigere Hoftür und
dahinter kam ein Garten, drin, um kümmerliche Bäume herum, ein
Dutzend grüngestrichene Tische mit schrägangelehnten Stühlen von
derselben Farbe standen. Rechts lief eine Kegelbahn, deren vorderstes
unsichtbares Stück sehr wahrscheinlich bis an die Straße reichte.
Van der Straaten wies ironischen Tons auf all diese Herrlichkeiten
hin, verbreitete sich über die Vorzüge anspruchslos gebliebener
Nationalitäten und stieg dann eine kleine Schrägung nieder, die, von
dem Sommergarten aus, auf einen großen, am Spreeufer sich hinziehenden
und nach Art eines Treibhauses angelegten Glasbalkon führte. An einer
der offenen Stellen desselben rückte die Gesellschaft zwei, drei Tische
zusammen und hatte nun einen schmalen, zerbrechlichen Wassersteg und
links davon ein festgeankertes, aber schon dem Nachbarhause zugehöriges
Floß vor sich, an das die kleinen Spreedampfer anzulegen pflegten.

Rubehn erhielt ohne weiteres den besten Platz angewiesen, um als
Fremder den Blick auf die Stadt frei zu haben, die flußabwärts, im
rot- und golddurchglühten Dunst eines heißen Sommertages dalag. Elimar
und Gabler aber waren auf den Wassersteg hinausgetreten. Alles freute
sich des Bildes, und Van der Straaten sagte: »Sieh, Melanie. Die
Schloßkuppel. Sieht sie nicht aus wie Santa Maria Saluta?«

»Salutè,« verbesserte Melanie, mit Akzentuierung der letzten Silbe.

»Gut, gut. Also Salutè,« wiederholte Van der Straaten, indem er jetzt
auch seinerseits das e betonte. »Meinetwegen. Ich prätendiere nicht,
der alte Sprachenkardinal zu sein, dessen Namen ich vergessen habe.
~Salus salutis~, vierte Deklination, oder dritte, das genügt mir
vollkommen. Und Salutà oder Salutè macht mir keinen Unterschied.
Freilich muß ich sagen, so wenig zuverlässig die lieben Italiener
in allem sind, so wenig sind sie's auch in ihren Endsilben. Mal a
mal e. Aber lassen wir die Sprachstudien und studieren wir lieber
die Speisekarte. Die Speisekarte, die hier natürlich von Mund zu
Mund vermittelt wird, eine Tatsache, bei der ich mich jeder blonden
Erinnerung entschlage. Nicht wahr, Anastasia? He?«

»Der Herr Kommerzienrat belieben zu scherzen,« antwortete Anastasia
pikiert. »Ich glaube nicht, daß sich eine Speisekarte von Mund zu Mund
vermitteln läßt.«

»Es käm' auf einen Versuch an, und ich für meinen Teil wollte mich zu
Lösung der Aufgabe verpflichten. Aber erst wenn Luna herauf ist und ihr
Antlitz wieder keusch hinter Wolkenschleiern birgt. Bis dahin muß es
bleiben und bis dahin sei Friede zwischen uns. Und nun, Arnold, ernenn'
ich dich, in deiner Eigenschaft als Gabler, zum Erbküchenmeister und
lege vertrauensvoll unser leibliches Wohl in deine Hände.«

»Was ich dankbarst akzeptiere,« bemerkte dieser, »immer vorausgesetzt,
daß du mir, um mit unsrem leider abwesenden Freunde Gryczinski zu
sprechen, einige Direktiven erteilen willst.«

»Gerne, gerne,« sagte Van der Straaten.

»Nun denn, so beginne.«

»Gut. So proponier' ich Aal und Gurkensalat ... Zugestanden?«

»Ja,« stimmte der Chorus ein.

»Und danach Hühnchen und neue Kartoffeln ... Zugestanden?«

»Ja.«

»Bliebe nur noch die Frage des Getränks. Unter Umständen wichtig
genug. Ich hätte der Lösung derselben, mit Unterstützung Ehms
und unsres Wagenkastens, vorgreifen können, aber ich verabscheue
Landpartien mit mitgeschlepptem Weinkeller. Erstens kränkt man die
Leute, bei denen man doch gewissermaßen immer noch zu Gaste geht, und
zweitens bleibt man in dem Kreise des Althergebrachten, aus dem man
ja gerade heraus will. Wozu macht man Partien? Wozu? frag' ich. Nicht
um es besser zu haben, sondern um es anders zu haben, um die Sitten
und Gewohnheiten anderer Menschen und nebenher auch die Lokalspenden
ihrer Dorf- und Gauschaften kennen zu lernen. Und da wir hier nicht im
Lande Kanaan weilen, wo Kaleb die große Traube trug, so stimm' ich für
das landesübliche Produkt dieser Gegenden, für eine kühle Blonde. Kein
Geld kein Schweizer; keine Weiße kein Stralow. Ich wette, daß selbst
Gryczinski nie bessere Richtschnuren gegeben hat. Und nun geh' Arnold.
Und für Anastasia einen Anisette ... Kühle Blonde! Ob wohl unsere
Blondine zwischen Tisch und Schapp in diese Kategorie fällt?«

Elimar hatte mittlerweile dem Schauspiele der untergehenden Sonne
zugesehn und auf dem gebrechlichen Wasserstege, nach Art eines
Turners, der zum Hocksprung ansetzt, seine Knie gebogen und wieder
angestrafft. Alles mechanisch und gedankenlos. Plötzlich aber, während
er noch so hin und her wippte, knackte das Brett und brach, und
nur der Geistesgegenwart, mit der er nach einem der Pfähle griff,
mocht' er es zuschreiben, daß er nicht in das gerad' an dieser
Dampfschiffanlegestelle sehr tiefe Wasser niederstürzte. Die Damen
schrien laut auf, und Anastasia zitterte noch, als der durch sich
selbst Gerettete mit einem gewissen Siegeslächeln erschien, das unter
den sich jagenden Vorwürfen von »Tollkühnheit« und »Gleichgültigkeit
gegen die Gefühle seiner Mitmenschen« eher wuchs als schwand.

Ein Zwischenfall wie dieser konnte sich natürlich nicht ereignen, ohne
von einer Fülle von Kommentaren und Hypothesen begleitet zu werden, in
denen die Wörter »wenn« und »was« die Hauptrolle spielten und endlos
wiederkehrten. +Was+ würde geschehen sein, wenn Elimar den Pfahl nicht
rechtzeitig ergriffen hätte? +Was+, wenn er trotzdem hineingefallen,
endlich +was+, wenn er nicht zufällig ein guter Schwimmer gewesen wäre?

Melanie, die längst ihr Gleichgewicht wieder gewonnen hatte,
behauptete, daß Van der Straaten unter allen Umständen hätte
nachspringen müssen, und zwar erstens als Urheber der Partie, zweitens
als resoluter Mann und drittens als Kommerzienrat, von denen, allen
historischen Aufzeichnungen nach, noch keiner ertrunken wäre. Selbst
bei der Sintflut nicht.

Van der Straaten liebte nichts mehr, als solche Neckereien seiner Frau,
verwahrte sich aber, unter Dank für das ihm zugetraute Heldentum, gegen
alle daraus zu ziehenden Konsequenzen.

Er halte weder zu der alten Firma Leander, noch zu der neuen des
Kapitän Boyton, bekenne sich vielmehr, in allem was Heroismus angehe,
ganz zu der Schule seines Freundes Heine, der, bei jeder Gelegenheit,
seiner äußersten Abneigung gegen tragische Manieren einen ehrlichen und
unumwundenen Ausdruck gegeben habe.

»Aber,« entgegnete Melanie, »tragische Manieren sind doch nun mal
gerade +das+, was wir Frauen von euch verlangen.«

»Ah, bah! Tragische Manieren!« sagte Van der Straaten. »Lustige
Manieren verlangt ihr und einen jungen Fant, der euch beim
Zwirnwickeln die Docke hält und auf ein Fußkissen niederkniet, darauf
sonderbarerweise jedesmal ein kleines Hündchen gestickt ist. Mutmaßlich
als Symbol der Treue. Und dann seufzt er, der Adorante, der betende
Knabe, und macht Augen und versichert euch seiner innigsten Teilnahme.
Denn ihr +müßtet+ unglücklich sein. Und nun wieder Seufzen und Pause.
Freilich, freilich, ihr hättet einen guten Mann (alle Männer seien
gut), aber ~enfin~, ein Mann müsse nicht bloß gut sein, ein Mann müsse
seine Frau +verstehen+. Darauf komm' es an, sonst sei die Ehe niedrig,
so niedrig, mehr als niedrig. Und dann seufzt er zum drittenmal.
Und wenn der Zwirn endlich abgewickelt ist, was natürlich solange
wie möglich dauert, so glaubt ihr es auch. Denn jede von euch ist
wenigstens für einen indischen Prinzen oder für einen Schah von Persien
geboren. Allein schon wegen der Teppiche.«

Melanie hatte während dieser echt Van der Straatenschen Expektoration
ihren Kopf gewiegt und erwiderte schnippisch und mit einem Anfluge von
Hochmut: »Ich weiß nicht, Ezel, warum du beständig von Zwirn sprichst.
Ich wickle Seide.«

Sehr wahrscheinlich, daß es dieser Bemerkung an einer spitzen Replik
nicht gefehlt hätte, wenn nicht eben jetzt eine dralle, kurzärmelige
Magd erschienen und auf Augenblicke hin der Gegenstand allgemeiner
Aufmerksamkeit geworden wäre. Schon um des virtuosen Puffs und Knalls
willen, womit sie, wie zum Debüt, ihr Tischtuch auseinanderschlug.
Und sehr bald nach ihr erschienen denn auch die dampfenden Schüsseln
und die hohen Weißbierstangen, und selbst der Anisette für Anastasia
war nicht vergessen. Aber es waren ihrer mehrere, da sich der lebens-
und gesellschaftskluge Gabler der allgemeinen Damenstellung zur
Anisette-Frage rechtzeitig erinnert hatte. Und in der Tat, er mußte
lächeln (und Van der Straaten mit ihm), als er gleich nach dem
Erscheinen des Tabletts auch Riekchen nippen und ihre Eulenaugen immer
größer und freundlicher werden sah.

Inzwischen war es dämmerig geworden und mit der Dämmerung kam die
Kühle. Gabler und Elimar erhoben sich, um aus dem Wagen eine Welt von
Decken und Tüchern heranzuschleppen, und Melanie, nachdem sie den
schwarz- und weißgestreiften Burnus umgenommen und die Kapuze kokett
in die Höhe geschlagen hatte, sah reizender aus als zuvor. Eine der
Seidenpuscheln hing ihr in die Stirn und bewegte sich hin und her, wenn
sie sprach, oder dem Gespräche der andern lebhaft folgte. Und dieses
Gespräch, das sich bis dahin medisierend um die Gryczinskis und vor
allem auch um den Polizeirat und die neue, katilinarische Verschwörung
gedreht hatte, fing endlich an sich näherliegenden und zugleich auch
harmloseren Thematas zuzuwenden, beispielsweise wie hell der »Wagen« am
Himmel stünde.

»Fast so hell wie der große Bär,« schaltete Riekchen ein, die nicht
fest in der Himmelskunde war. Und nun entsann man sich, daß dies gerade
die Sternschnuppennächte wären, auf welche Mitteilung hin Van der
Straaten nicht nur die fallenden Sterne zu zählen anfing, sondern sich
schließlich auch bis zu dem Satze steigerte, »daß alles in der Welt
eigentlich nur des Fallens wegen da sei: die Sterne, die Engel, und nur
die Frauen nicht.«

Melanie zuckte zusammen, aber niemand sah es, am wenigsten Van der
Straaten, und nachdem noch eine ganze Weile gezählt und gestritten
und der Abend inzwischen immer kälter geworden war, einigte man sich
dahin, daß es zur Bekämpfung dieser Polarzustände nur ein einzig
erdenkbares Mittel gäbe: eine Glühweinbowle. Van der Straaten selbst
machte den Vorschlag und definierte: »Glühwein ist diejenige Form des
Weines, in der der Wein nichts und das Gewürznägelchen alles bedeutet,«
auf welche Definition hin es gewagt und die Bestellung gemacht wurde.
Und siehe da, nach verhältnismäßig kurzer Zeit schon, erschien auch die
blonde Wirtin in Person, um die Bowle vorsorglich inmitten des Tisches
niederzusetzen.

Und nun nahm sie den Deckel ab und freute sich unter Lachen all
der aufrichtig dankbaren »Achs«, womit ihre Gäste den warmen und
erquicklichen Dampf einsogen. Ein reizender blonder Junge war mit ihr
gekommen und hielt sich an der Schürze der Mutter fest.

»Ihre?« fragte Van der Straaten mit verbindlicher Handbewegung.

»Na, wen sonst,« antwortete die Blondine nüchtern und suchte mit Rubehn
über den Tisch hin ein paar Blicke zu wechseln. Als es aber mißlang,
ergriff sie die blonden Locken ihres Jungen, spielte damit und sagte:
»Komm, Pauleken. Die Herrschaften sind lieber alleine.«

Elimar sah ihr betroffen nach und rieb sich die Stirn. Endlich rief er:
»Gott sei Dank, nun hab' ich's. Ich wußte doch, ich hatte sie schon
gesehn. Irgendwo. Triumphzug des Germanikus; Thusnelda, wie sie leibt
und lebt.«

»Ich kann es nicht finden,« erwiderte Van der Straaten, der ein
Piloty-Schwärmer war. »Und es stimmt auch nicht in Verhältnissen
und Leibesumfängen, immer vorausgesetzt, daß man von solchen Dingen
in Gegenwart unserer Damen sprechen darf. Aber Anastasia wird es
verzeihen, und um den Hauptunterschied noch einmal zu betonen, bei
Piloty gibt sich Thumelikus noch als ein Werdender, während wir ihn
hier bereits an der Schürze seiner Mutter hatten. An der weißesten
Schürze, die mir je vorgekommen ist. Aber sei weiß wie Schnee und
weißer noch. Ach, die Verleumdung trifft dich doch.«

Diese zwei Reimzeilen waren in einer absichtlich spöttischen
Singsangmanier von ihm gesprochen worden, und Rubehn, dem es mißfiel,
wandte sich ab und blickte nach links hin auf den von Lichtern
überblitzten Strom. Melanie sah es und das Blut schoß ihr zu Kopf,
wie nie zuvor. Ihres Gatten Art und Redeweise hatte sie, durch all
die Jahre hin, viel Hunderte von Malen in Verlegenheit gebracht, auch
wohl in bittere Verlegenheiten, aber dabei war es geblieben. Heute zum
ersten Male schämte sie sich seiner.

Van der Straaten indes bemerkte nichts von dieser Verstimmung und
klammerte sich nur immer fester an seinen Thusnelda-Stoff, in der
an und für sich ganz richtigen Erkenntnis, etwas Besseres für seine
Spezialansprüche nicht finden zu können.

»Ich frage jeden, ob dies eine Thusnelda ist? Höher hinauf, meine
Freunde. Göttin Aphrodite, die Venus dieser Gegenden, Venus
Spreavensis, frisch aus demselben Wasser gestiegen, das uns eben
erst unsern teuren Elimar zu rauben trachtete. Das Wasser rauscht,
das Wasser schwoll. Aus der Spree gestiegen, sag' ich. Aber so mich
nicht alles täuscht, haben wir hier +mehr+, meine Freunde. Wir
haben hier, wenn ich richtig beobachtet oder sagen wir, wenn ich
richtig geahnt habe, eine Vermählung von Modernem und Antikem: Venus
Spreavensis und Venus Kallipygos. Ein gewagtes Wort, ich räum' es
ein. Aber in Griechisch und Musik darf man alles sagen. Nicht wahr,
Anastasia? Nicht wahr, Elimar? Außerdem entsinn' ich mich, zu meiner
Rechtfertigung, eines wundervollen Kallipygosepigramms ... Nein, nicht
Epigramms ... Wie heißt etwas Zweizeiliges, was sich nicht reimt ...«

»Distichon.«

»Richtig. Also ich entsinne mich eines Distichons ... bah, da hab' ich
es vergessen ... Melanie, wie war es doch? Du sagtest es damals so
gut und lachtest so herzlich. Und nun hast du's auch vergessen. Oder
+willst+ du's bloß vergessen haben? ... Ich bitte dich ... Ich hasse
das ... Besinne dich. Es war etwas von Pfirsichpflaum und ich sagte
noch ›man fühl' ihn ordentlich‹. Und du fandst es auch und stimmtest
mit ein ... Aber die Gläser sind ja leer ...«

»Und ich denke, wir lassen sie leer,« sagte Melanie scharf und
wechselte die Farbe, während sie mechanisch ihren Sonnenschirm auf- und
zumachte. »Ich denke, wir lassen sie leer. Es ist ohnehin Glühwein. Und
wenn wir noch hinüber wollen, so wird es Zeit sein, +hohe+ Zeit,« und
sie betonte das Wort.

»Ich bin es zufrieden,« entgegnete Van der Straaten, aber in einem
Tone, der nur allzu deutlich erkennen ließ, daß seine gute Stimmung in
ihr Gegenteil umzuschlagen begann. »Ich bin es zufrieden und bedauere
nur, allem Anscheine nach, wieder einmal Anstoß gegeben und das adlige
Haus de Caparoux in seinen höheren Aspirationen verschnupft zu haben.
Es ist immer das alte Lied, das ich nicht gerne höre. +Wenn+ ich es
aber hören will, so lad' ich mir meinen Schwager-Major zu Tische, der
ist erster Kammerherr am Throne des Anstands und der Langenweile.
Heute fehlt er hier und ich hätte gern darauf verzichtet, ihn durch
seine Frau Schwägerin ersetzt zu sehen. Ich hasse Prüderien und jene
Prätensionen höherer Sittlichkeit, hinter denen nichts steckt. Im
günstigsten Falle nichts steckt. Ich darf das sagen und jedenfalls
+will+ ich es sagen, und was ich gesagt habe, das habe ich gesagt.«

Es antwortete niemand. Ein schwacher Versuch Gablers, wieder
einzulenken, mißlang, und in ziemlich geschäftsmäßigem, wenn auch
freilich wieder ruhiger gewordenem Tone wurden alle noch nötigen
Verabredungen zur Überfahrt nach Treptow in zwei kleinen Booten
getroffen; Ehm aber sollte, mit Benutzung der nächsten Brücke, die
Herrschaften am andern Ufer erwarten. Alles stimmte zu, mit Ausnahme
von Fräulein Riekchen, die verlegen erklärte, »daß Bootschaukeln,
von klein auf, ihr Tod gewesen sei«. Worauf sich Van der Straaten
in einem Anfalle von Ritterlichkeit erbot, mit ihr in der Glaslaube
zurückbleiben und das Anlegen des nächsten, vom »Eierhäuschen« her
erwarteten Dampfschiffes abpassen zu wollen.



10

Wohin treiben wir?


Es währte nicht lange, so steuerten von einer dunklen, etwas weiter
flußaufwärts gelegenen Uferstelle her, zwei Jollen auf das Floß zu,
jede mit einer Stocklaterne vorn an Bord. In der kleineren saß derselbe
Junge, der schon am Nachmittage die Reifen auf die Kirchhofswiese
hinausgetragen hatte, während die größere Jolle, leer und bloß
angekettet, im Fahrwasser der anderen nachschwamm. Es gab einen
hübschen Anblick, und kaum daß die beiden Fahrzeuge lagen, so stiegen
auch, vom Floß aus, die schon ungeduldig Wartenden ein: Rubehn und
Melanie in das kleinere, die beiden Maler und Anastasia in das größere
Boot, eine Verteilung, die sich wie von selber machte, weil Elimar und
Gabler gute Kahnfahrer waren und jeder anderweitigen Führung entbehren
konnten. Sie nahmen denn auch die Tete und der Junge mit der kleineren
Jolle folgte.

Van der Straaten sah ihnen eine Weile nach und sagte dann zu dem
Fräulein: »Es ist mir ganz lieb, Riekchen, daß wir zurückgeblieben sind
und auf das Dampfschiff warten müssen. Ich habe Sie schon immer fragen
wollen, wie gefällt Ihnen unser neuer Hausgenosse? Sie sprechen nicht
viel, und wer nicht viel spricht, der beobachtet gut.«

»O, er gefällt mir.«

»Und +mir+ gefällt es, Riekchen, daß er Ihnen gefällt. Nur das ›o‹
beklag' ich, denn es hebt ein gut Teil Lob wieder auf, und ›o, er
gefällt mir‹, ist eigentlich nicht viel besser, als ›o, er gefällt mir
+nicht+‹. Sie sehen, ich lasse Sie nicht wieder los. Also nur immer
tapfer mit der Sprache heraus. Warum nur o? Woran liegt es? Wo fehlt
es? Mißtrauen Sie seinen Dragonerreserveleutnants-Allüren? Ist er Ihnen
zu kavaliermäßig oder zu wenig? Ist er Ihnen zu laut oder zu still, zu
bescheiden oder zu stolz, zu warm oder zu kalt?«

»Damit möchten Sie's getroffen haben.«

»Womit?«

»Mit dem zu kalt. Ja, er ist mir zu kalt. Als ich ihn das erstemal
sah, hatt' ich einen guten Eindruck, obgleich nicht voll so gut wie
Anastasia. Natürlich nicht. Anastasia singt und ist exzentrisch und
will einen Mann haben.«

»Will jede.«

»Ich auch?« lachte die Kleine.

»Wer weiß, Riekchen.«

»... Also das erste war: er gefiel mir. Es war in der Veranda, gleich
nach dem zweiten Frühstück, wir hatten eben die blauen Milchsatten
zurückgeschoben, und es ist mir, als wär' es gestern gewesen. Da kam
der alte Teichgräber und brachte seine Karte. Und dann kam er selbst.
Nun, er hat etwas Distinguiertes und man sieht auf den ersten Blick,
daß er die kleine Not des Lebens nicht kennen gelernt hat. Und das
ist immer hübsch und das Hübsche davon soll ihm unbenommen sein. Er
hat aber auch etwas Reserviertes. Und wenn ich sage was Reserviertes,
so hab' ich noch sehr wenig gesagt. Denn Reserviertsein ist gut und
schicklich. Er übertreibt es aber. Anfangs glaubt' ich, es sei die
kleine gesellschaftliche Scheu, die jeden ziert, auch den Mann von
Welt, und er werd' es ablegen. Aber bald konnt' ich sehen, daß es nicht
Scheu war. Nein, ganz im Gegenteil. Es ist Selbstbewußtsein. Er hat
etwas amerikanisch Sicheres. Und so sicher er ist, so kalt ist er auch.«

»Ja, Riekchen, er war zu lange drüben, und drüben ist nicht der Platz,
um Bescheidenheit und warme Gefühle zu lernen.«

»Sie sind auch nicht zu lernen. Aber man kann sie leider +ver+lernen.«

»Verlernen?« lachte Van der Straaten. »Ich bitte Sie, Riekchen, er ist
ja ein Frankfurter!«

       *       *       *       *       *

Während dieses Gespräch in dem Glassalon geführt wurde, steuerten die
beiden Boote der Mitte des Stromes zu. Auf dem größeren war Scherz
und Lachen, aber auf dem kleineren, das folgte, schwieg alles und
Melanie beugte sich über den Rand und ließ das Wasser durch ihre Finger
plätschern.

»Ist es immer nur das Wasser, dem Sie die Hand reichen Freundin?«

»Es kühlt. Und ich hab' es so heiß.«

»So legen Sie den Burnus ab« ... Und er erhob sich, um ihr behilflich
zu sein.

»Nein,« sagte sie heftig und abwehrend. »Mich friert.« Und er sah nun,
daß sie wirklich fröstelnd zusammenzuckte.

Und wieder fuhren sie schweigend dem andern Boote nach und horchten
auf die Lieder, die von dorther herüberklangen. Erst war es »~Long,
long ago~« und immer wenn der Refrain kam, summte Melanie die Zeile
mit. Und nun lachten sie drüben, und neue Lieder wurden intoniert und
ebenso rasch wieder verworfen, bis man sich endlich über eines geeinigt
zu haben schien. »O säh' ich auf der Heide dort.« Und wirklich, sie
hielten aus und sangen alle Strophen durch. Aber Melanie sang nicht
leise mehr mit, um nicht durch ein Zittern ihrer Stimme ihre Bewegung
zu verraten.

Und nun waren sie mitten auf dem Strom, außer Hörweite von den
Vorauffahrenden, und der Junge, der sie beide fuhr, zog mit einem Ruck
die Ruder ein und legte sich bequem ins Boot nieder und ließ es treiben.

»Er sieht auch zu den Sternen auf,« sagte Rubehn.

»Und zählt, wie viele fallen,« lachte Melanie bitter. »Aber Sie dürfen
mich nicht so verwundert ansehen, lieber Freund, als ob ich etwas
Besonderes gesagt hätte. Das ist ja, wie Sie wissen, oder wenigstens
seit +heute+ wissen müssen, der Ton unsres Hauses. Ein bißchen spitz,
ein bißchen zweideutig und immer unpassend. Ich befleißige mich der
Ausdrucksweise meines Mannes. Aber freilich ich bleibe hinter ihm
zurück. Er ist eben unerreichbar und weiß so wundervoll alles zu
treffen, was kränkt und bloßstellt und beschämt.«

»Sie dürfen sich nicht verbittern.«

»Ich verbittere mich nicht. Aber ich bin verbittert. Und weil ich
es bin und es los sein möchte, deshalb sprech' ich so. Van der
Straaten ...«

»Ist anders als andre. Aber er liebt Sie, glaub' ich ... Und er ist
gut.«

»Und er ist gut,« wiederholte Melanie heftig und in beinahe
krampfhafter Heiterkeit. »Alle Männer sind gut! ... Und nun fehlt
nur noch der Zwirnwickel und das Fußkissen mit dem Symbol der Treue
darauf, so haben wir alles wieder beisammen. O Freund, wie konnten Sie
nur +das+ sagen, und um ihn zu rechtfertigen so ganz in seinen Ton
verfallen!«

»Ich würde durch jeden Ton Anstoß gegeben haben.«

»Vielleicht ... Oder sagen wir lieber gewiß. Denn es war zu viel,
dieser ewige Hinweis auf Dinge, die nur unter vier Augen gehören,
und das kaum. Aber er kennt kein Geheimnis, weil ihm nichts des
Geheimnisses wert dünkt. Weil ihm nichts heilig ist. Und wer anders
denkt, ist scheinheilig oder lächerlich. Und das vor Ihnen ...«

Er nahm ihre Hand und fühlte, daß sie fieberte.

Die Sterne aber funkelten und spiegelten sich und tanzten um sie her,
und das Boot schaukelte leis und trieb im Strom und in Melanies Herzen
erklang es immer lauter: wohin treiben wir?

Und sieh, es war, als ob der Bootsjunge von derselben Frage beunruhigt
worden wäre, denn er sprang plötzlich auf und sah sich um, und
wahrnehmend, daß sie weit über die rechte Stelle hinaus waren, griff er
jetzt mit beiden Rudern ein und warf die Jolle nach linksherum, um so
schnell wie möglich aus der Strömung heraus und dem andern Ufer wieder
näher zu kommen. Und sieh, es gelang ihm auch, und ehe fünf Minuten um
waren, erkannte man die von zahllosen Lichtern erhellten Baumgruppen
des Treptower Parks, und Rubehn und Melanie hörten Anastasias Lachen
auf dem vorauffahrenden Boot. Und nun schwieg das Lachen und das Singen
begann wieder. Aber es war ein andres Lied und über das Wasser hin
klang es »Rothtraut, Schön-Rothtraut«, erst laut und jubelnd, bis es
schwermütig in die Worte verklang: »Schweig stille, mein Herze.«

»Schweig stille, mein Herze,« wiederholte Rubehn und sagte leise »soll
es?«

Melanie antwortete nicht. Das Boot aber lief ans Ufer, an dem Elimar
und Arnold schon in aller Dienstbeflissenheit warteten. Und gleich
darauf kam auch das Dampfschiff, und Riekchen und Van der Straaten
stiegen aus. Er heiter und gesprächig.

Und er nahm Melanies Arm und schien die Szene, die den Abend gestört
hatte, vollkommen vergessen zu haben.



11

Zum Minister


»Wohin treiben wir?« hatte es in Melanies Herzen gefragt und die Frage
war ihr unvergessen geblieben. Aber der fieberhaften Erregung jener
Stunde hatte sie sich entschlagen, und in den Tagen, die folgten, war
ihr die Herrschaft über sich selbst zurückgekehrt.

Und diese Herrschaft blieb ihr auch, und sie zuckte nur einen
Augenblick zusammen, als sie, nach Ablauf einer Woche, Rubehn am Gitter
draußen halten und gleich darauf auf die Veranda zukommen sah. Sie ging
ihm wie gewöhnlich einen Schritt entgegen und sagte: »Wie ich mich
freue, Sie wieder zu sehen! Sonst sahen wir Sie jeden dritten Tag, und
Sie haben diesmal eine Woche vergehen lassen, fast eine Woche. Aber die
Strafe folgt Ihnen auf dem Fuße. Sie treffen nur Anastasia und mich.
Unser Riekchen, das Sie ja zu schätzen wissen (wenn auch freilich nicht
genug), hat uns auf einen ganzen Monat verlassen und erzieht sieben
kleine Vettern auf dem Lande. Lauter Jungen und lauter Sawatzkis, und
in ihren übermütigsten Stunden auch mutmaßlich lauter Sattler von der
Hölle.«

»Sagen wir lieber gewiß. Und dazu Riekchen als Präzeptor und Regente.
Muß das eine Zügelführung sein!«

»O, Sie verkennen sie; sie weiß sich in Respekt zu setzen.«

»Und doch möcht' ich die Verzweiflung des Gärtners über zertretene
Rabatten und die des Försters über angerichteten Wildschaden nicht mit
Augen sehn. Denn ein kleiner Junker schießt alles, was kreucht und
fleucht. Und nun gar sieben. Aber ich vergesse, mich meines Auftrages
zu entledigen. Van der Straaten ... Ihr Herr Gemahl ... bittet, ihn zu
Tisch +nicht+ erwarten zu wollen. Er ist zum Minister befohlen und zwar
in Sachen einer Enquete. Freilich erst morgen. Aber heute hat er das
Vorspiel: das Diner. Sie wissen, meine gnädigste Frau, es gibt jetzt
nur noch Enqueten.«

»Es gibt nur noch Enqueten, aber es gibt keine gnädigste Frauen mehr.
Wenigstens nicht hier und am wenigsten zwischen uns. Eine Gnädigste
bin ich überhaupt nur bei Gryczinskis. Ich bin Ihre gute Freundin und
weiter nichts. Nicht wahr?« Und sie gab ihm ihre Hand, die er nahm und
küßte. »Und ich will nicht,« fuhr sie fort, »daß wir diese sechs Tage
nur gelebt haben, um unsre Freundschaft um ebenso viele Wochen zurück
zu datieren. Also nichts mehr von einer ›gnädigsten Frau‹.« Und dabei
zwang sie sich, ihn anzusehen. Aber ihr Herz schlug und ihre Stimme
zitterte bei der Erinnerung an den Abend, der nur zu deutlich vor ihrer
Seele stand.

»Ja, lieber Freund,« nahm sie nach einer kurzen Pause wieder das
Wort, »ich mußte das zwischen uns klar machen. Und da wir einmal
beim Klarmachen sind, so muß auch noch ein andres heraus, auch etwas
Persönliches und Diffiziles. Ich muß Ihnen nämlich endlich einen Namen
geben. Denn Sie haben eigentlich keinen Namen, oder wenigstens keinen,
der zu brauchen wäre.«

»Ich dächte doch ...« sagte Rubehn mit einem leisen Anfluge von
Verlegenheit und Mißstimmung.

»Ich dächte doch,« wiederholte Melanie und lachte. »Daß doch auch die
Klugen und Klügsten auf +diesen+ Punkt hin immer empfindlich sind! Aber
ich bitte Sie, sich aller Empfindlichkeiten entschlagen zu wollen. Sie
sollen selbst entscheiden. Beantworten Sie mir auf Pflicht und Gewissen
die Frage: ob Ebenezer ein Name ist? Ich meine ein Name fürs Haus,
fürs Geplauder, für die Causerie, die doch nun mal unser Bestes ist!
Ebenezer! O Sie dürfen nicht so bös aussehen. Ebenezer ist ein Name für
einen Hohenpriester oder für einen, der's werden will, und ich seh'
ihn ordentlich, wie er das Opfermesser schwingt. Und sehen Sie, davor
schaudert mir. Ebenezer ist ~au fond~ nicht besser als Aaron. Und es
ist auch nichts daraus zu machen. Aus Ezechiel habe ich mir einen Ezel
glücklich kondensiert. Aber Ebenezer!«

Anastasia weidete sich an Rubehns Verlegenheit und sagte dann: »Ich
wüßte schon eine Hilfe.«

»O, die weiß ich auch. Und ich könnte sogar alles in einen allgemeinen
und fast nach Grammatik klingenden Satz bringen. Und dieser Satz würde
sein: Um- und Rückformung des abstrusen Familiennamens Rubehn in den
alten, mir immer lieb gewesenen Vornamen Ruben.«

»Und das wollt' ich auch sagen,« eiferte Anastasia.

»Aber ich +hab'+ es gesagt.«

Und in diesem Prioritätsstreite scherzte sich Melanie mehr und mehr
in den Ton alter Unbefangenheit hinein und fuhr endlich, gegen
Rubehn gewendet, fort: »Und wissen Sie, lieber Freund, daß mir diese
Namensgebung wirklich etwas bedeutet? Ruben, um es zu wiederholen,
war mir von jeher der Sympathischste von den Zwölfen. Er hatte das
Hochherzige, das sich immer bei dem Ältesten findet, einfach weil
er der Älteste ist. Denken Sie nach, ob ich nicht recht habe. Die
natürliche Herrscherstellung des Erstgeborenen sichert ihn vor
Mesquinerie und Intrigue.«

»Jeder Erstgeborene wird Ihnen für diese Verherrlichung dankbar sein
müssen, und jeder Ruben erst recht. Und doch gesteh' ich Ihnen offen,
ich hätt' unter den Zwölfen eine andere Wahl getroffen.«

»Aber gewiß keine bessere. Und ich hoff' es Ihnen beweisen zu können.
Über die sechs Halblegitimen ist weiter kein Wort zu verlieren; Sie
nicken, sind also einverstanden. Und so nehmen wir denn, als erstes
Betrachtungsobjekt, die Nestküken der Familie, die Muttersöhnchen. Es
wird so viel von ihnen gemacht, aber Sie werden mir zustimmen, daß die
spätere ägyptische Exzellenz nicht so ganz ohne Not in die Zisterne
gesteckt worden ist. Er war einfach ein ~enfant terrible~. Und nun gar
der Jüngste! Verwöhnt und verzogen. Ich habe selbst ein Jüngstes und
weiß etwas davon zu sagen ... Und so bleiben uns denn wirklich nur die
vier alten Grognards von der Lea her. Wohl, sie haben alle vier ihre
Meriten. Aber doch ist ein Unterschied. In dem Levi spukt schon der
Levit, und in dem Juda das Königtum, -- ein Stückchen Illoyalität, das
Sie mir als freier Schweizerin zugute halten müssen. Und so sehen wir
uns denn vor den Rest gestellt, vor die beiden letzten, die natürlich
die beiden ersten sind. ~Eh bien~, ich will nicht mäkeln und feilschen
und will dem Simeon lassen, was ihm zukommt. Er war ein Charakter
und als solcher wollt' er dem Jungen ans Leben. Charaktere sind nie
für halbe Maßregeln. Aber da trat Ruben dazwischen, +mein+ Ruben,
und rettete den Jungen, weil er des alten Vaters gedachte. Denn er
war gefühlvoll und mitleidig und hochherzig. Und was Schwäche war,
darüber sag' ich nichts. Er hatte die Fehler seiner Tugenden, wie wir
alle. Das war es und weiter nichts. Und deshalb Ruben und immer wieder
Ruben. Und kein Appell und kein Refus. Anastasia, brich einen Tauf-
und Krönungszweig ab, da von der Esche drüben. Wir können sie dann die
Ruben-Esche nennen.«

Und dieses scherzhafte Geplauder würde sich mutmaßlich noch fortgesetzt
haben, wenn nicht in eben diesem Augenblicke der wohlbekannte,
zweirädrige Gig sichtbar geworden wäre, von dessen turmhohem Sitze
herab Van der Straaten über das Gitter weg mit der Peitsche salutierte.
Und nun hielt das Gefährt, und der Enqueten-Kommerzienrat erschien
in der Veranda, strahlend von Glück und freudiger Erregung. Er küßte
Melanie die Stirn und versicherte einmal über das andere, daß er
sich's nicht habe versagen wollen, die freie halbe Stunde bis zum
ministeriellen Diner ~au sein de sa famille~ zu verbringen.

Und nun nahm er Platz und rief in das Haus hinein: »Liddi, Liddi.
Rasch. Antreten. Immer flink. Und Heth auch; das Stiefkind, die
Kleine, die vernachlässigt wird, weil sie mir ähnlich sieht ...«

»Und von der ich eben erzählt habe, daß sie grenzenlos verwöhnt würde.«

Die Kinder waren inzwischen erschienen, und der glückliche Vater nahm
ein elegantes Tütchen mit papierenem Spitzenbesatz aus der Tasche und
hielt es Lydia hin. Diese nahm's und gab es an die Kleine weiter. »Da
Heth.«

»Magst du nicht?« fragte Van der Straaten. »Sieh doch erst nach. Es
sind ja Pralines. Und noch dazu von Sarotti.«

Aber Lydia sah mit einem Streifblick zu Rubehn hinüber und sagte:
»Tüten sind für Kinder. Ich mag nicht.«

Alles lachte, selbst Rubehn, trotzdem er wohl fühlte, daß er der Grund
dieser Ablehnung war. Van der Straaten indes nahm die kleine Heth
auf den Schoß und sagte: »Du bist deines Vaters Kind. Ohne Faxen und
Haberei. Lydia spielt schon die de Caparoux.«

»Laß sie,« sagte Melanie.

»Ich werde sie lassen +müssen+. Und sonderbar zu sagen, ich hasse die
Vornehmheitsallüren eigentlich nur für mich selbst. In meiner Familie
sind sie mir ganz recht, wenigstens gelegentlich, abgesehen davon,
daß sich auch für meine Person allerhand Wandlungen vorbereiten. Denn
in meiner Eigenschaft als Mitglied einer Enquetenkommission hab'
ich die Verpflichtung höherer gesellschaftlicher Formen übernommen,
und geht das so weiter, Melanie, so hältst du zwischen heut und
sechs Wochen einen halben Oberzeremonienmeister in deinen Händen.
In den Sechswochenschaften hat ja von Uranfang an etwas mysteriös
Bedeutungsvolles geschlummert.«

»Eine Wendung, lieber Van der Straaten, die mir vorläufig nur wieder
zeigt, wie weitab du noch von deiner neuen Charge bist.«

»Allerdings, allerdings,« lachte Van der Straaten. »Gut Ding will Weile
haben, und Rom wurde nicht an einem Tage gebaut. Und nun sage mir, denn
ich habe nur noch zehn Minuten, wie du diesen Nachmittag zu verbringen
und unsern Freund Rubehn zu divertieren gedenkst. Verzeih die Frage.
Aber ich kenne deine mitunter ängstliche Gleichgültigkeit gegen Tisch-
und Tafelfreuden und berechne mir in der Eile, daß deine Bohnen und
Hammelkotelettes, auch wenn die Bohnen ziepsig und die Kotelettes
zähe sind, nicht gut über eine halbe Stunde hinaus ausgedehnt werden
können. Auch nicht unter Heranziehung eines Desserts von Erdbeeren und
Stiltonkäse. Und so sorg' ich mich denn um euch, und zwar um so mehr,
als ihr nicht die geringste Chance habt, mich vor neun Uhr wieder hier
zu sehn.«

»Ängstige dich nicht,« entgegnete Melanie. »Es ist keine Frage, daß
wir dich schmerzlich entbehren werden. Du wirst uns fehlen, du +mußt+
uns fehlen. Denn wer könnt' uns, um nur eines zu nennen, den Hochflug
deiner bilderreichen Einbildungskraft ersetzen. Kaum, daß wir ihr zu
folgen verstehn. Und doch verbürg' ich mich für Unterbringung dieser
armen, verlorenen Stunden, die dir so viel Sorge machen. Und du sollst
sogar das Programm wissen.«

»Da wär' ich neugierig.«

»Erst singen wir.«

»Tristan?«

»Nein. Und Anastasia begleitet. Und dann haben wir unser Diner oder
doch das, was dafür aufkommen muß. Und es wird sich schon machen. Denn
immer, wenn du nicht da bist, suchen wir uns durch einen besseren Tisch
und ein paar eingeschobene süße Speisen zu trösten.«

»Glaub's, glaub's. Und dann?«

»Dann hab' ich vor, unsern lieben Freund, den ich dir übrigens, nach
einem allerjüngsten Übereinkommen, als Rubehn mit dem gestrichenen h,
also schlechtweg als unsern Freund Ruben vorstelle, mit den Schätzen
und Schönheiten unsrer Villa bekannt zu machen. Er ist eine Legion von
Malen, wenn auch immer noch nicht oft genug, unser lieber Gast gewesen
und kennt trotzalledem nichts von dieser ganzen Herrlichkeit, als unser
Eß- und Musikzimmer und hier draußen die Veranda mit dem kreischenden
Pfau, der ihm natürlich ein Greuel ist. Aber er soll heute noch in
seinem halb freireichsstädtischen und halb überseeischen Hochmute
gedemütigt werden. Ich habe vor, mit deinem Obstgarten zu beginnen und
dem Obstgarten das Palmenhaus und dem Palmenhause das Aquarium folgen
zu lassen.«

»Ein gutes Programm, das mich nur hinsichtlich seiner letzten Nummer
etwas erschreckt oder wenigstens zur Vorsicht mahnen läßt. Sie müssen
nämlich wissen, Rubehn, was wir letzten Sommer in dieser erbärmlichen
Glaskastensammlung, die den stolzen Namen Aquarium führt, schaudernd
selbst erlebt haben. Nicht mehr und nicht weniger als einen Ausbruch,
Eruption, und ich höre noch Anastasias Aufschrei und werd' ihn hören
bis ans Ende meiner Tage. Denken Sie sich, eine der großen Glasscheiben
platzt, Ursache unbekannt, wahrscheinlich aber weil Gryczinski seinem
Füsiliersäbel eine falsche Direktive gegeben, und siehe da, ehe
wir drei zählen können, steht unser ganzer Aquariumflur nicht nur
handhoch unter Wasser, sondern auch alle Schrecken der Tiefe zappeln
um uns her, und ein großer Hecht umschnoppert Melanies Fußtaille mit
absichtlichster Vernachlässigung Tante Riekchens. Offenbar also ein
Kenner. Und in einem Anfalle wahnsinniger Eifersucht hab' ich ihn
schlachten lassen und seine Leber höchsteigenhändig verzehrt.«

Anastasia bestätigte die Zutreffendheit der Schilderung, und selbst
Melanie, die seit längerer Zeit ähnlichen Exkursen ihres Gatten mit
nur zu sichtlichem Widerstreben folgte, nahm heute wieder an der
allgemeinen Heiterkeit teil. Sie hatte sich schon vorher in dem
mit Rubehn geführten Gespräche derartig heraufgeschraubt, daß sie
wie geistig trunken und beinahe gleichgültig gegen Erwägungen und
Rücksichten war, die sie noch ganz vor kurzem gequält hatten. Sie sah
wieder alles von der lachenden Seite, selbst das Gewagteste, und faßte,
ohne sich Rechenschaft davon zu geben, den Entschluß, mit der ganzen
nervösen Feinfühligkeit dieser letzten Wochen ein für allemal brechen
und wieder keck und unbefangen in die Welt hinein leben zu wollen.

Van der Straaten aber, überglücklich, mit seinem Aquariumshecht einen
guten Abgang gefunden zu haben, griff nach Hut und Handschuh und
versprach, auf Eile dringen zu wollen, soweit sich, einem Minister
gegenüber, überhaupt auf irgend etwas dringen lasse.

Das waren seine letzten Worte. Gleich darauf hörte man das Knirschen
der Räder und empfing von außen her, über das Parkgitter hin, einen
absichtlich übertriebenen Feierlichkeitsgruß, in dem sich die ganze
Bedeutung eines Mannes ausdrücken sollte, der zum Minister fährt. Noch
dazu zum Finanzminister, der eigentlich immer ein Doppelminister ist.



12

Unter Palmen


Die Nachmittagsstunden vergingen, wie's Melanie geplant und Van der
Straaten gebilligt hatte. Dem anderthalbstündigen Musizieren folgte das
kleine Diner, opulenter als gedacht, und die Sonne stand eben noch über
den Bosketts, als man sich erhob, um draußen im »Orchard« ein zweites
Dessert von den Bäumen zu pflücken.

Dieser für allerhand Obstkulturen bestimmte Teil des Parkes lief,
an sonnigster Stelle, neben dem Fluß entlang und bestand aus einem
anscheinend endlosen Kieswege, der nach der Spree hin offen, nach
der Parkseite hin aber von Spalierwänden eingefaßt war. An diesen
Spalieren, in kunstvollster Weise behandelt und jeder einzelne Zweig
gehegt und gepflegt, reiften die feinsten Obstarten, während kaum
minder feine Sorten an nebenherlaufenden niederen Brettergestellen,
etwa nach Art großer Ananas-Erdbeeren, gezogen wurden.

Melanie hatte Rubehns Arm genommen, Anastasia folgte langsam und
in wachsenden Abständen; Heth aber auf ihrem Veloziped begleitete
die Mama, bald weit vorauf, bald dicht neben ihr, und wandte sich
dann wieder, ohne die geringste Ahnung davon, daß ihre rückseitige
Drapierung in ein immer komischeres und ungenierteres Fliegen
und Flattern kam. Melanie, wenn Heth die Wendung machte, suchte
jedesmal durch ein lebhafteres Sprechen über die kleine Verlegenheit
hinwegzukommen, bis Rubehn endlich ihre Hand nahm und sagte: »Lassen
wir doch das Kind. Es ist ja glücklich, beneidenswert glücklich. Und
Sie sehen, Freundin, ich lache nicht einmal.«

»Sie haben recht,« entgegnete Melanie. »Torheit und nichts weiter.
Unsere Scham ist unsere Schuld. Und eigentlich ist es rührend und
entzückend zugleich.« Und als der kleine Wildfang in eben diesem
Augenblicke wieder heranrollte, kommandierte sie selbst: »Rechtsum.
Und nicht zu nah an die Spree! Sehen Sie nur, wie sie hinfliegt.
Solange die Welt steht, hat keine Reiterei mit so fliegenden Fahnen
angegriffen.«

Unter solchem Gespräch waren sie bis an die Stelle gekommen, wo, von
der Parkseite her, ein breiter avenueartiger Weg in den langen und
schmalen Spaliergang einmündete. Hier, im Zentrum der ganzen Anlage,
erhoben sich denn auch, nach dem Vorbilde der berühmten englischen
Gärten in Kew, ein paar hohe, glasgekuppelte Palmenhäuser, an deren
eines sich ein altmodisches Treibhaus anlehnte, das, früher der
Herrschaft zugehörig, inzwischen mit all seinen Blattpflanzen und
Topfgewächsen in die Hände des alten Gärtners übergegangen und die
Grundlage zum Betrieb eines sehr einträglichen Privatgeschäftes
geworden war. Unmittelbar neben dem Treibhause hatte der Gärtner
seine Wohnung, ein nur zweifenstriges und ganz von Efeu überwachsenes
Häuschen, über das ein alter, schrägstehender Akazienbaum seine
Zweige breitete. Zwei, drei Steinstufen führten bis in den Flur und
neben diesen Stufen stand eine Bank, deren Rücklehne von dem Efeu mit
überwachsen war.

»Setzen wir uns,« sagte Melanie. »Immer vorausgesetzt, daß wir dürfen.
Denn unser alter Freund hier ist nicht immer guter Laune. Nicht wahr,
Kagelmann?«

Diese Worte hatten sich an einen kleinen und ziemlich häßlichen Mann
gerichtet, der, wiewohl kahlköpfig (was übrigens die Sommermütze
verdeckte) nichtsdestoweniger an beiden Schläfen ein paar lange glatte
Haarsträhnen hatte, die bis tief auf die Schulter niederhingen. Alles
an ihm war außer Verhältnis, und so kam es, daß, seiner Kleinheit
unerachtet, oder vielleicht auch um dieser willen, alles zu groß an
ihm erschien: die Nase, die Ohren, die Hände. Und eigentlich auch
die Augen. Aber diese sah man nur, wenn er, was öfters geschah, die
ganz verblakte Hornbrille abnahm. Er war eine typische Gärtnerfigur:
unfreundlich, grob und habsüchtig, vor allem auch seinem Wohltäter, dem
Kommerzienrat gegenüber, und nur wenn er die »Frau Rätin« sah, erwies
er sich auffallend verbindlich und guter Laune.

So nahm er denn auch heute das scherzhaft hingeworfene »wenn wir
dürfen« in bester Stimmung auf und sagte, während er mit der Rechten
(in der er einen kleinen Aurikeltopf hielt) seine großschirmige Mütze
nach hinten schob: »Jott, Frau Rätin, ob +Sie+ dürfen! Solche Frau!
Solche Frau wie Sie darf allens. Un warum? Weil Ihnen allens kleid't.
Un wen alles kleid't, der darf ooch alles. Ufs kleiden kommt's an. 'S
gibt welche, die sagen, die Blumen machen dumm und simplig. Aber daß es
ufs Kleiden ankommt, so viel lernt man bei de Blumens.«

»Immer mein galanter Kagelmann,« lachte Melanie. »Man merkt doch den
Unverheirateten, den Junggesellen. Und doch ist es unrecht, Kagelmann,
daß Sie so geblieben sind. Ich meine, so ledig. Ein Mann wie Sie, so
frisch und gesund, und ein so gutes Geschäft. Und reich dazu. Die Leute
sagen ja, Sie hätten ein Rittergut. Aber ich will es nicht wissen,
Kagelmann. Ich respektiere Geheimnisse. Nur das ist wahr, Ihr Efeuhaus
ist zu klein, immer vorausgesetzt, daß Sie sich noch mal anders
besinnen.«

»Ja, kleen is es man. Aber vor mir is es jroß genug, das heißt vor mir
alleine. Sonst ... Aber ich bin ja nu all sechzig.«

»Sechzig. Mein Gott, sechzig. Sechzig ist ja gar kein Alter.«

»Ne,« sagte Kagelmann. »En Alter is es eijentlich noch nich. Un es
jeht ooch allens noch. Un janz jut. Un es schmeckt ooch noch, un die
Gebrüder Benekens dragen einen ooch noch. Aber viel mehr is es ooch
nich. Un wen soll man denn am Ende nehmen? Sehen Se, Frau Rätin, die so
vor mir passen, die gefallen mir nich, un die mir gefallen, die passen
wieder nich. -- Ich wäre so vor dreißig oder so drum rum. Dreißig ist
jut, un dreißig zu dreißig, das stimmt ooch. Aber sechzig in dreißig
jeht nich. Un da sagt denn die Frau: borg' ich mir einen.«

Melanie lachte.

Kagelmann aber fuhr fort: »Ach, Frau Kommerzienrätin, Sie hören
so was nich, un glauben jar nich, wie die Welt is un was allens
passiert. Da war hier einer drüben bei Flatows, Cohn und Flatow,
großes Ledergeschäft (un sie sollen's ja von Amerika kriegen; na, mir
is es jleich), un war ooch en Gärtner, un war woll so sechsundfufzig.
Oder vielleicht ooch erst fünfundfufzig. Un der nahm sich ja nu so'n
Madamchen, so von'n Jahrer dreißig, un war ne Wittib, un immer janz
schwarz, un ne hübsche Person, un saß immer ins mittelste Zelt, Nummer
4, wo Kaiser Wilhelm steht, un wo immer die Musik is mit Klavier un
Flöte. Ja, du mein Jott, was hat er gehabt? Jar nichts hat er gehabt.
Und da sitzt er nu mit seine drei Würmer, und Madamchen is weg. Un mit
wen is se weg? Mit'n Gelbschnabel, un hatte noch keene zwanzig uff'n
Rücken, un Teichgräber sagt, er wär' erst achtzehn gewesen. Un möglich
is es. Aber ein fixer, kleiner Kerl war es, so was Italien'sches, un
war doch bloß aus Rathnow. Aber een Paar Oogen! Ich sag' Ihnen, Frau
Kommerzienrätin, wie'n Feuerwerk, un es war orntlich, als ob's man so
prasselte.«

»Ja, das ist traurig für den Mann,« lachte Melanie. »Aber doch am
traurigsten für die Frau. Denn wenn einer +solche+ Augen hat ...«

»Un so was is jetzt alle Tage,« schloß der Alte, der auf die
Zwischenbemerkung nicht geachtet hatte und wieder bei seinen Töpfen zu
stellen und zu kramen anfing.

Aber Melanie ließ ihm keine Ruhe. »Alle Tage,« sagte sie. »Natürlich,
alle Tage. Natürlich, alles kommt vor. Aber das darf einen doch nicht
abhalten. Sonst könnte ja keiner mehr heiraten und es gäbe gar kein
Leben und keine Menschen mehr. Denn ein kleiner fixer Gärtnerbursche,
nu, mein Gott, der find't sich zuletzt überall.«

»Ja, Frau Kommerzienrätin, das is schon richtig. Aber mitunter find't
er sich immer und mitunter find't er sich bloß manchmal. Heiraten! Nu
ja, hübsch muß es ja sind, sonst dhäten es nich so viele. Aber besser
is besser. Un ich denke, lieber bewahrt als beklagt.«

In diesem Augenblicke wurde, von der Hauptallee her ein Einspänner
sichtbar und hielt, indem er eine Biegung machte, vor der Bank, auf
der Rubehn und Melanie Platz genommen hatten. Es war ein auf niedrigen
Rädern gehendes Fuhrwerk, das den Geschäftsverkehr des kleinen
Privattreibhauses mit der Stadt vermittelte.

Kagelmann tat ein paar Fragen an den vorn auf dem Deichselbrette
sitzenden Kutscher, und nachdem er noch einen andern Arbeiter
herbeigerufen hatte, fingen alle drei an, die Palmenkübel abzuladen,
die, trotzdem sie nur von mäßiger Größe waren, den Rand des
Wagenkastens weit überragten und mit ihren dunklen Kronen, schon von
fern her, den Eindruck prächtig wehender Federbüsche gemacht hatten.

Alle drei waren ein paar Minuten lang emsig bei der Arbeit, als aber
schließlich alles abgeladen war, wandte sich Kagelmann wieder an seine
gnädige Frau und sagte, während er die zwei größten und schönsten
Palmen mit seinen Händen patschelte: »Ja, Frau Rätin, das sind nu
so meine Stammhalter, so meine zwei Säulen vons Geschäft. Un immer
unterwegs, wie'n Landbriefträger. Man bloß noch unterwegser. Denn der
hat doch'n Sonntag oder Kirchenzeit. Aber meine Palmen nich. Un ich
freue mir immer orntlich, wenn mal 'n Stillstand is und ich allens mal
wieder so zu sehen kriege. So wie heute. Denn mitunter seh ich meine
Palmen die janze Woche nich.«

»Aber warum nicht?«

»Jott, Frau Rätin, Palme paßt immer. Un is kein Unterschied ob Trauung
oder Begräbnis. Und manche taufen auch schon mit Palme. Und wenn ich
sage Palme, na so kann ich auch sagen Lorbeer oder Lebensbaum oder was
wir ~Thuja~ nennen. Aber Palme, versteht sich, is immer das Feinste. Un
is bloß man ein Metier, das is jrade so, janz akkurat ebenso bei Leben
und Sterben. Und is ooch immer dasselbe.«

»Ah, ich versteh,« sagte Melanie. »Der Tischler.«

»Nein, Frau Rätin, der Tischler nich. Er is woll auch immer mit dabei,
das is schon richtig, aber's is doch nich immer dasselbe. Denn ein
Sarg is keine Wiege nich und eine Wiege is kein Sarg nich. Un was en
richtiges Himmelbett is, nu davon will ich jar nich erst reden ...«

»Aber Kagelmann, wenn es nicht der Tischler ist, wer denn?«

»Der Domchor, Frau Rätin. Der is auch immer mit dabei un is immer
dasselbe. Jradeso wie bei mir. Un er hat auch so seine zwei
Stammhalter, seine zwei Säulen vons Geschäft: »'s is bestimmt in Gottes
Rat« oder »Wie sie so sanft ruhn.« Un es paßt immer un macht keinen
Unterschied, ob einer abreist oder ob einer begraben wird. Un grün is
grün, un is jradeso wie Lebensbaum und Palme.«

»Und doch, Kagelmann, wenn Sie nun mal heiraten und selber Hochzeit
machen (aber nicht hier in Ihrem Efeuhause; das ist zu klein), dann
sollen Sie doch beides haben: Gesang und Palme. Und was für Palmen! Das
versprech ich Ihnen! Denn ohne Palmen und Gesang ist es nicht feierlich
genug. Und aufs Feierliche kommt es an. Und dann gehen wir in das große
Treibhaus, bis dicht an die Kuppel, und machen einen wundervollen Altar
unter der allerschönsten Palme. Und da sollen Sie getraut werden. Und
oben in der Kuppel wollen wir stehn und ein schönes Lied singen, einen
Choral, ich und Fräulein Anastasia, und Herr Rubehn hier und Herr
Elimar Schulze, den Sie ja auch kennen. Und dabei soll Ihnen zumute
sein, als ob Sie schon im Himmel wären und hörten die Engel singen.«

»Glaub ich, Frau Rätin. Glaub ich.«

»Und zu vorläufigem Dank für all diese kommenden Herrlichkeiten sollen
Sie, liebster Kagelmann, uns jetzt in das Palmenhaus führen. Denn ich
weiß nicht Bescheid und kenne die Namen nicht, und der fremde Herr
hier, der ein paarmal um die Welt herumgefahren ist und die Palmen
sozusagen an der Quelle studiert hat, will einmal sehen, was wir haben
und nicht haben.«

Eigentlich kam alles dieses dem Alten so wenig gelegen wie möglich,
weil er seine Kübel und Blumentöpfe noch vor Dunkelwerden in das kleine
Treibhaus hineinschaffen wollte. Er bezwang sich aber, schob seine
Mütze, wie zum Zeichen der Zustimmung, wieder nach hinten und sagte:
»Frau Rätin haben bloß zu befehlen.«

Und nun gingen sie zwischen langen und niedrigen Backsteinöfen hin,
den bloß mannsbreiten Mittelgang hinauf, bis an die Stelle, wo dieser
Mittelgang in das große Palmenhaus einmündete. Wenige Schritte noch und
sie befanden sich wie am Eingang eines Tropenwaldes und der mächtige
Glasbau wölbte sich über ihnen. Hier standen die Prachtexemplare der
Van der Straatenschen Sammlung: Palmen, Drakäen, Riesenfarren, und eine
Wendeltreppe schlängelte sich hinauf, erst bis in die Kuppel und dann
um diese selbst herum und in einer der hohen Emporen des Langschiffes
weiter.

Unterwegs war nicht gesprochen worden.

Als sie jetzt unter der hohen Wölbung hielten, entsann sich Kagelmann,
etwas Wichtiges vergessen zu haben. Eigentlich aber wollt' er nur
zurück und sagte: »Frau Rätin wissen ja nu Bescheid un kennen die
Galerie. Da wo der kleine Tisch is un die kleinen Stühle, das ist
der beste Platz, un is wie ne Laube, un janz dicht. Un da sitzt ooch
immer der Herr Kommerzienrat. Un keiner sieht ihn. Un das hat er am
liebsten.« Und danach verabschiedete sich der Alte, wandte sich aber
noch einmal um, um zu fragen, »ob er das Fräulein schicken solle?«

»Gewiß, Kagelmann. Wir warten.«

Und als sie nun allein waren, nahm Rubehn den Vortritt und stieg
hinauf und eilte sich, als er oben war, der noch auf der Wendeltreppe
stehenden Melanie die Hand zu reichen. Und nun gingen sie weiter
über die kleinen klirrenden Eisenbrettchen hin, die hier als Dielen
lagen, bis sie zu der von Kagelmann beschriebenen Stelle kamen,
besser beschrieben, als er selber wissen mochte. Wirklich, es war
eine phantastisch aus Blattkronen gebildete Laube, fest geschlossen,
und überall an den Gurten und Ribben der Wölbung hin rankten sich
Orchideen, die die ganze Kuppel mit ihrem Duft erfüllten. Es atmete
sich wonnig aber schwer in dieser dichten Laube; dabei war es, als
ob hundert Geheimnisse sprächen, und Melanie fühlte, wie dieser
berauschende Duft ihre Nerven hinschwinden machte. Sie zählte jenen von
äußeren Eindrücken, von Luft und Licht abhängigen Naturen zu, die der
Frische bedürfen, um selber frisch zu sein. Über ein Schneefeld hin,
bei rascher Fahrt und scharfem Ost, -- da wär' ihr der heitere Sinn,
der tapfere Mut ihrer Seele wiedergekommen, aber diese weiche, schlaffe
Luft machte sie selber weich und schlaff, und die Rüstung ihres Geistes
lockerte sich und löste sich und fiel.

»Anastasia wird uns nicht finden.«

»Ich vermisse sie nicht.«

»Und doch will ich nach ihr rufen.«

»Ich vermisse sie nicht,« wiederholte Rubehn und seine Stimme zitterte.
»Ich vermisse nur das Lied, das sie damals sang, als wir im Boot über
den Strom fuhren. Und nun rate.«

»~Long, long ago ...~«

Er schüttelte den Kopf.

»O säh ich auf der Heide dort ...«

»Auch +das+ nicht, Melanie.«

»Rothtraut,« sagte sie leis.

Und nun wollte sie sich erheben. Aber er litt es nicht und kniete
nieder und hielt sie fest, und sie flüsterten Worte, so heiß und so
süß, wie die Luft, die sie atmeten.

Endlich aber war die Dämmerung gekommen, und breite Schatten fielen
in die Kuppel. Und als alles immer noch still blieb, stiegen sie die
Treppe hinab und tappten sich durch ein Gewirr von Palmen, erst bis in
den Mittelgang und dann ins Freie zurück.

Draußen fanden sie Anastasia.

»Wo du nur bliebst!« fragte Melanie befangen. »Ich habe mich geängstigt
um dich und mich. Ja, es ist so. Frage nur. Und nun hab' ich Kopfweh.«

Anastasia nahm unter Lachen den Arm der Freundin und sagte nur: »Und du
wunderst dich über Kopfweh! Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen.«

Melanie wurde rot bis an die Schläfe. Aber die Dunkelheit half es ihr
verbergen. Und so schritten sie der Villa zu, darin schon die Lichter
brannten.

Alle Türen und Fenster standen auf, und von den frisch gemähten Wiesen
her kam eine balsamische Luft. Anastasia setzte sich an den Flügel
und sang und neckte sich mit Rubehn, der bemüht war, auf ihren Ton
einzugehen. Aber Melanie sah vor sich hin und schwieg und war weit
fort. Auf hoher See. Und in ihrem Herzen klang es wieder: Wohin treiben
wir?!

Eine Stunde später erschien Van der Straaten und rief ihnen schon
vom Korridor her in Spott und guter Laune zu: »Ah, die Gemeinde der
Heiligen! Ich würde fürchten zu stören. Aber ich bringe gute Zeitung!«

Und als alles sich erhob und entweder wirklich neugierig war oder
sich wenigstens das Ansehen davon gab, fuhr er in seinem Berichte
fort: »Exzellenz sehr gnädig. Alles sondiert und abgemacht. Was noch
aussteht, ist Form und Bagatelle. Oder Sitzung und Schreiberei.
Melanie, wir haben heut einen guten Schritt vorwärts getan. Ich verrate
weiter nichts. Aber das glaub' ich sagen zu dürfen: von diesem Tag an
datiert sich eine neue Ära des Hauses Van der Straaten.«



13

Weihnachten


Die nächsten Tage, die viel Besuch brachten, stellten den unbefangenen
Ton früherer Wochen anscheinend wieder her, und was von Befangenheit
blieb, wurde, die Freundin abgerechnet, von niemandem bemerkt, am
wenigsten von Van der Straaten, der mehr denn je seinen kleinen und
großen Eitelkeiten nachhing.

Und so näherte sich der Herbst und der Park wurde schöner, je mehr sich
seine Blätter färbten, bis gegen Ende September der Zeitpunkt wieder da
war, der, nach altem Herkommen, dem Aufenthalt in der Villa draußen ein
Ende machte.

Schon in den unmittelbar voraufgehenden Tagen war Rubehn nicht
mehr erschienen, weil allernächstliegende Pflichten ihn an die
Stadt gefesselt hatten. Ein jüngerer Bruder von ihm, von einem
alten Prokuristen des Hauses begleitet, war zu rascher Etablierung
des Zweiggeschäfts herübergekommen, und ihren gemeinschaftlichen
Anstrengungen gelang es denn auch wirklich, in den ersten Oktobertagen
eine Filiale des großen Frankfurter Bankhauses ins Leben zu rufen.

Van der Straaten nahm an all diesen Hergängen den größten Anteil und
sah es als ein gutes Zeichen und eine Gewähr geschäftskundiger Leitung
an, daß Rubehns Besuche seltener wurden und in den Novemberwochen
beinahe ganz aufhörten. In der Tat erschien unser neuer »Filialchef«,
wie der Kommerzienrat ihn zu nennen beliebte, nur noch an den kleinen
und kleinsten Gesellschaftstagen, und hätte wohl auch an diesen am
liebsten gefehlt. Denn es konnt' ihm nicht entgehen, und entging ihm
auch wirklich nicht, daß ihm von Reiff und Duquede, ganz besonders
aber von Gryczinski, mit einer vornehm ablehnenden Kühle begegnet
wurde. Die schöne Jacobine suchte freilich durch halbverstohlene
Freundlichkeiten alles wieder ins gleiche zu bringen und beschwor ihn,
ihres Schwagers Haus doch nicht ganz zu vernachlässigen, um ihretwillen
nicht und um Melanies willen nicht, aber jedesmal, wenn sie den Namen
nannte, schlug sie doch verlegen die Augen nieder und brach rasch und
ängstlich ab, weil ihr Gryczinski sehr bestimmte Weisungen gegeben
hatte, jedwedes Gespräch mit Rubehn entweder ganz zu vermeiden oder
doch auf wenige Worte zu beschränken.

Um vieles heiterer gestalteten sich die kleinen Reunions, wenn
die Gryczinskis fehlten und statt ihrer bloß die beiden Maler und
Fräulein Anastasia zugegen waren. Dann wurde wieder gescherzt und
gelacht, wie damals in dem Stralauer Kaffeehaus, und Van der Straaten,
der mittlerweile von Besuchen, sogar von häufigen Besuchen gehört
hatte, die Rubehn in Anastasias Wohnung gemacht haben solle, hing in
Ausnutzung dieser ihm hinterbrachten Tatsache seiner alten Neigung
nach, alle dabei Beteiligten ins Komische zu ziehen und zum Gegenstande
seiner Schraubereien zu machen. Er sähe nicht ein, wenigstens für
seine Person nicht, warum er sich eines reinen und auf musikalischer
Glaubenseinigkeit aufgebauten Verhältnisses nicht aufrichtig freuen
solle, ja die Freude darüber würd' ihm einfach als Pflicht erscheinen,
wenn er nicht andererseits den alten Satz wieder bewahrheitet fände,
daß jedes neue Recht immer nur unter Kränkung alter Rechte geboren
werden könne. Das neue Recht (wie der Fall hier läge) sei durch
seinen Freund Rubehn, das alte Recht durch seinen Freund Elimar
vertreten, und wenn er diesem letzteren auch gerne zugestehe, daß er
in vielen Stücken er selbst geblieben, ja bei Tische sogar als eine
Potenzierung seiner selbst zu erachten sei, so läge doch gerade hierin
die nicht wegzuleugnende Gefahr. Denn er wisse wohl, daß dieses Plus
an Verzehrung einen furchtbaren Gleichschritt mit Elimars innerem
verzehrenden Feuer halte. Wes Namens aber dieses Feuer sei, ob Liebe,
Haß oder Eifersucht, das wisse nur +der+, der in den Abgrund sieht.

In dieser Weise zischten und platzten die reichlich umhergeworfenen Van
der Straatenschen Schwärmer, von deren Sprühfunken sonderbarerweise
diejenigen am wenigsten berührt wurden, auf die sie berechnet waren.
Es lag eben alles anders, als der kommerzienrätliche Feuerwerker
annahm. Elimar, der sich auf der Stralauer Partie weit über Wunsch
und Willen hinaus engagiert hatte, hatte durch Rubehns anscheinende
Rivalität eine Freiheit wiedergewonnen, an der ihm viel, viel mehr als
an Anastasias Liebe gelegen war, und diese selbst wiederum vergaß ihr
eigenes, offenbar im Niedergange begriffenes Glück in dem Wonnegefühl,
ein anderes hochinteressantes Verhältnis unter ihren Augen und ihrem
Schutze heranwachsen zu sehen. Sie schwelgte mit jedem Tage mehr in
der Rolle der Konfidenten und, weit über das gewöhnliche Maß hinaus
mit dem alten Evahange nach dem Heimlichen und Verbotenen ausgerüstet,
zählte sie diese Winterwochen nicht nur zu den angeregtesten ihres an
Anregungen so reichen Lebens, sondern erfreute sich nebenher auch noch
des unbeschreiblichen Vergnügens, den ihr ~au fond~ unbequemen und
widerstrebenden Van der Straaten gerade +dann+ am herzlichsten belachen
zu können, wenn dieser sich in seiner Sultanslaune gemüßigt fühlte,
+sie+ zum Gegenstand allgemeiner und natürlich auch seiner eigenen
Lachlust zu machen.

In der Tat, unser kommerzienrätlicher Freund hätte bei mehr
Aufmerksamkeit und weniger Eigenliebe stutzig werden und über das
Lächeln und den Gleichmut Anastasias den eigenen Gleichmut verlieren
müssen; er gab sich aber umgekehrt einer Vertrauensseligkeit hin, für
die, bei seinem sonst soupçonnösen und pessimistischen Charakter, jeder
Schlüssel gefehlt haben würde, wenn er nicht unter Umständen, und auch
jetzt wieder, der Mann völlig entgegengesetzter Voreingenommenheiten
gewesen wäre. In seiner Scharfsicht oft übersichtig und Dinge sehend,
die gar nicht da waren, übersah er ebensooft andere, die klar zutage
lagen. Er stand in der abergläubischen Furcht, in seinem Glücke von
einem vernichtenden Schlage bedroht zu sein, aber nicht heut und nicht
morgen, und je bestimmter und unausbleiblicher er diesen Schlag von
der Zukunft erwartete, desto sicherer und sorgloser erschien ihm die
Gegenwart. Und am wenigsten sah er sich von +der+ Seite her gefährdet,
von der aus die Gefahr so nahe lag und von jedem andern erkannt worden
wäre. Doch auch hier wiederum stand er im Bann einer vorgefaßten
Meinung und zwar eines künstlich konstruierten Rubehn, der mit dem
wirklichen eine ganz oberflächliche Verwandtschaft, aber in der Tat
auch nur +diese+ hatte. Was sah er in ihm? Nichts als ein Frankfurter
Patrizierkind, eine ganz und gar auf Anstand und Hausehre gestellte
Natur, die zwar in jugendliche Torheiten verfallen, aber einen
Vertrauens- und Hausfriedensbruch nie und nimmer begehen könne. Zum
Überflusse war er verlobt und um so verlobter, je mehr er es bestritt.
Und abends beim Tee, wenn Anastasia zugegen und das Verlobungsthema
mal wieder an der Reihe war, hieß es vertraulich und gut gelaunt:
»Ihr Weiber hört ja das Gras wachsen und nun gar erst +das+ Gras!
Ich wäre doch neugierig zu hören, an wen er sich vertan hat. Eine
Vermutung hab' ich und wette zehn gegen eins, an eine Freiin vom
deutschen Uradel, etwa Schreck von Schreckenstein oder Sattler von der
Hölle.« Und dann widersprachen beide Damen, aber doch so klug und so
vorsichtig, daß ihr Widerspruch, anstatt irgend etwas zu beweisen, eben
nur dazu diente, Van der Straaten in seiner vorgefaßten Meinung immer
fester zu machen.

Und so kam Heiligabend und im ersten Saale der Bildergalerie waren
all unsre Freunde, mit Ausnahme Rubehns, um den brennenden Baum her
versammelt. Elimar und Gabler hatten es sich nicht nehmen lassen,
auch ihrerseits zu der reichen Bescherung beizusteuern: ein riesiges
Puppenhaus, drei Stock hoch, und im Souterrain eine Waschküche mit Herd
und Kessel und Rolle. Und zwar eine altmodische Rolle mit Steinkasten
und Mangelholz. Und sie rollte wirklich. Und es unterlag alsbald keinem
Zweifel, daß das Puppenhaus den Triumph des Abends bildete, und beide
Kinder waren selig. Sogar Lydia tat ihre Vornehmheitsallüren beiseit
und ließ sich von Elimar in die Luft werfen und wieder fangen. Denn er
war auch Turner und Akrobat. Und selbst Melanie lachte mit und schien
sich des Glücks der andern zu freuen oder es gar zu teilen. Wer aber
schärfer zugesehen hätte, der hätte wohl wahrgenommen, daß sie sich
bezwang, und mitunter war es, als habe sie geweint. Etwas unendlich
Weiches und Wehmütiges lag in dem Ausdruck ihrer Augen, und der
Polizeirat sagte zu Duquede: »Sehen Sie, Freund, ist sie nicht schöner
denn je?«

»Blaß und angegriffen,« sagte dieser. »Es gibt Leute, die blaß
und angegriffen immer schön finden. Ich nicht. Sie wird überhaupt
überschätzt, in allem, und am meisten in ihrer Schönheit.«

An den Aufbau schloß sich wie gewöhnlich ein Souper und man endete mit
einem schwedischen Punsch. Alles war heiter und guter Dinge. Melanie
belebte sich wieder, gewann auch wieder frischere Farben, und als sie
Riekchen und Anastasia, die bis zuletzt geblieben waren, bis an die
Treppe geleitete, rief sie dem kleinen Fräulein mit ihrer freundlichen
und herzgewinnenden Stimme nach: »Und sieh dich vor, Riekchen. Christel
sagt mir eben, es glatteist.« Und dabei bückte sie sich über das
Geländer und grüßte mit der Hand.

»O, ich falle nicht,« rief die Kleine zurück. »Kleine Leute fallen
überhaupt nicht. Und am wenigsten, wenn sie vorn und hinten gut
balancieren.«

Aber Melanie hörte nichts mehr von dem, was Riekchen sagte. Der
Blick über das Geländer hatte sie schwindlig gemacht, und sie wäre
gefallen, wenn sie nicht Van der Straaten aufgefangen und in ihr Zimmer
zurückgetragen hätte. Er wollte klingeln und nach dem Arzte schicken.
Aber sie bat ihn, es zu lassen. Es sei nichts, oder doch nichts
Ernstes, oder doch nichts, wobei der Arzt ihr helfen könne.

Und dann sagte sie, was es sei.



14

Entschluß


Erst den dritten Tag danach hatte sich Melanie hinreichend erholt, um
in der Alsenstraße, wo sie seit Wochen nicht gewesen war, einen Besuch
machen zu können. Vorher aber wollte sie bei der Madame Guichard, einer
vor kurzem erst etablierten Französin, vorsprechen, deren Konfektions
und künstliche Blumen ihr durch Anastasia gerühmt worden waren. Van der
Straaten riet ihr, weil sie noch angegriffen sei, lieber den Wagen zu
nehmen, aber Melanie bestand darauf, alles zu Fuß abmachen zu wollen.
Und so kleidete sie sich in ihr diesjähriges Weihnachtsgeschenk, einen
Nerzpelz und ein Kastorhütchen mit Straußenfeder, und war eben auf dem
letzten Treppenabsatz, als ihr Rubehn begegnete, der inzwischen von
ihrem Unwohlsein gehört hatte und nun kam, um nach ihrem Befinden zu
fragen.

»Ah, wie gut, daß Sie kommen,« sagte Melanie. »Nun hab' ich Begleitung
auf meinem Gange. Van der Straaten wollte mir seinen Wagen aufzwingen,
aber ich sehne mich nach Luft und Bewegung. Ach, unbeschreiblich ...
Mir ist so bang und schwer ...«

Und dann unterbrach sie sich und setzte rasch hinzu: »Geben Sie
mir Ihren Arm. Ich will zu meiner Schwester. Aber vorher will ich
Ballblumen kaufen und dahin sollen Sie mich begleiten. Eine halbe
Stunde nur. Und dann geb' ich Sie frei, ganz frei.«

»Das dürfen Sie nicht, Melanie. Das werden Sie nicht.«

»Doch.«

»Ich +will+ aber nicht freigegeben sein.«

Melanie lachte. »So seid ihr. Tyrannisch und eigenmächtig auch noch in
eurer Huld, auch +dann+ noch, wenn ihr uns dienen wollt. Aber kommen
Sie. Sie sollen mir die Blumen aussuchen helfen. Ich vertraue ganz
Ihrem Geschmack. Granatblüten, nicht wahr?«

Und so gingen sie die große Petristraße hinunter und vom Platz aus
durch ein Gewirr kleiner Gassen, bis sie, hart an der Jägerstraße, das
Geschäft der Madame Guichard entdeckten, einen kleinen Laden, in dessen
Schaufenster ein Teil ihrer französischen Blumen ausgebreitet lag.

Und nun traten sie ein. Einige Kartons wurden ihnen gezeigt und ehe
noch viele Worte gewechselt waren, war auch schon die Wahl getroffen.
In der Tat, Rubehn hatte sich für eine Granatblütengarnitur entschieden
und eine Direktrice, die mit zugegen war, versprach alles zu schicken.
Melanie selbst aber gab der Französin ihre Karte. Diese versuchte den
langen Titel und Namen zu bewältigen, und ein Lächeln flog erst über
ihr Gesicht, als sie das »~née de Caparoux~« las. Ihre nicht hübschen
Züge verklärten sich plötzlich, und es war mit einem unbeschreiblichen
Ausdruck von Glück und Wehmut, daß sie sagte: »~Madame est Française!
... Ah, notre belle France.~«

Dieser kleine Zwischenfall war an Melanie nicht gleichgültig
vorübergegangen, und als sie draußen ihres Freundes Arm nahm, sagte
sie: »Hörten Sie's wohl? ~Ah, notre belle France!~ Wie das so
sehnsüchtig klang. Ja, sie hat ein Heimweh. Und alle haben wir's. Aber
wohin? wonach? ... Nach unsrem Glück ... Nach unsrem Glück! Das niemand
kennt und niemand sieht. Wie heißt es doch in dem Schubertschen Liede?«

»Da, wo du +nicht+ bist, ist das Glück.«

»Da, wo du +nicht+ bist,« wiederholte Melanie.

Rubehn war bewegt und sah ihr unwillkürlich nach den Augen. Aber er
wandte sich wieder, weil er die Träne nicht sehen wollte, die darin
glänzte.

Vor dem großen Platz, in den die Straße mündet, trennten sie sich.
Er, für sein Teil, hätte sie gern weiter begleitet, aber sie wollt'
es nicht und sagte leise: »Nein Rubehn, es war der Begleitung schon
zuviel. Wir wollen die bösen Zungen nicht vor der Zeit herausfordern.
Die bösen Zungen, von denen ich eigentlich kein Recht habe zu sprechen.
Adieu.« Und sie wandte sich noch einmal und grüßte mit leichter
Bewegung ihrer Hand.

Er sah ihr nach, und ein Gefühl von Schreck und ungeheurer
Verantwortlichkeit über ein durch ihn gestörtes Glück überkam ihn und
erfüllte plötzlich sein ganzes Herz. Was soll werden? fragte er sich.
Aber dann wurde der Ausdruck seiner Züge wieder milder und heitrer, und
er sagte vor sich hin: »Ich bin nicht der Narr, der von Engeln spricht.
Sie war keiner und ist keiner. Gewiß nicht. Aber ein freundlich
Menschenbild ist sie, so freundlich, wie nur je eines über diese arme
Erde gegangen ist ... Und ich liebe sie, viel, viel mehr, als ich
geglaubt habe, viel, viel mehr, als ich je geglaubt hätte, daß ich
lieben könnte. Mut, Melanie, nur Mut. Es werden schwere Tage kommen,
und ich sehe sie schon zu deinen Häupten stehen. Aber mir ist auch, als
klär' es sich dahinter. O, nur Mut, Mut!«

       *       *       *       *       *

Eine halbe Woche danach war Silvester und auf dem kleinen Balle, den
Gryczinskis gaben, war Melanie die Schönste. Jakobine trat zurück und
gönnte der älteren Schwester ihre Triumphe. »Superbes Weib. Ägyptische
Königstochter,« schnarrte Rittmeister von Schnabel, der wegen seiner
eminenten Ulanenfigur aus der Provinz in die Residenz versetzt
worden war und von dem Gryczinski zu sagen pflegte: »Der geborene
Prinzessinnentänzer. Nur schade, daß es keine Prinzessinnen mehr gibt.«

Aber Schnabel war nicht der einzige Melanie-Bewunderer. In der
letzten Fensternische stand eine ganze Gruppe von jungen Offizieren.
Wensky von den Ohlauer kaffeebraunen Husaren, enragierter Sportsman
und Steeple-Chase-Reiter (Oberschenkel dreimal an derselben Stelle
gebrochen), neben ihm Ingenieur-Hauptmann Stiffelius, berühmter
Rechner, mager und trocken wie seine Gleichungen, und zwischen beiden
Leutnant Tigris, kleiner, kräpscher Füsilieroffizier vom Regiment
Zauche-Belzig, der aus Gründen, die niemand kannte, mehrere Jahre lang
der Pariser Gesandtschaft attachiert gewesen war und sich seitdem für
einen Halbfranzosen, Libertin und Frauenmarder hielt. Junge Mädchen
waren ihm »ridikül«. Er schob eben, trotzdem er wahre Luchsaugen hatte,
sein an einem kurzen Seidenbande hängendes Pincenez zurecht und sagte:
»Wensky, Sie sind ja so gut wie zu Haus hier, und eigentlich Hahn im
Korbe. Wer ist denn dieser Prachtkopf mit den Granatblüten? Ich könnte
schwören, sie schon gesehen zu haben. Aber wo? Halb die Herzogin von
Mouchy und halb die Beauffremont. ~Un teint de lys et de rose, et tout
à fait distinguée.~«

»Sie treffen es gut genug, ~mon cher Tigris~,« lachte Wensky, »'s ist
die Schwester unsrer Gryczinska, eine geborne de Caparoux.«

»Drum, drum auch. Jeder Zoll eine Französin. Ich konnte mich nicht
irren. Und wie sie lacht.«

Ja, Melanie lachte wirklich. Aber wer sie die folgenden Tage gesehen
hätte, der hätte die Beauté jenes Ballabends in ihr nicht wieder
erkannt, am wenigsten wär' er ihrem Lachen begegnet. Sie lag leidend
und abgehärmt, uneins mit sich und der Welt, auf dem Sofa und las ein
Buch, und wenn sie's gelesen hatte, so durchblätterte sie's wieder,
um sich einigermaßen zurückzurufen was sie gelesen. Ihre Gedanken
schweiften ab. Rubehn kam, um nach ihr zu fragen, aber sie nahm ihn
nicht an und grollte mit ihm wie mit jedem. Und ihr wurde nur leichter
ums Herz, wenn sie weinen konnte.

So vergingen ein paar Wochen, und als sie wieder aufstand und sprach,
und wieder nach den Kindern und dem Haushalte sah, schärfer und
eindringlicher als sonst, war ihr der energische Mut ihrer früheren
Tage zurückgekehrt, aber nicht die Stimmung. Sie war reizbar, heftig,
bitter. Und was schlimmer, auch kapriziös. Van der Straaten unternahm
einen Feldzug gegen diesen vielköpfigen Feind und im einzelnen nicht
ohne Glück, aber in der Hauptsache griff er fehl, und während er ihrer
Reizbarkeit klugerweise mit Nachgiebigkeit begegnete, war er, ihrer
Kaprice gegenüber, unklugerweise darauf aus, sie durch Zärtlichkeit
besiegen zu wollen. Und das entschied über ihn und sie. Jeder Tag wurd'
ihr qualvoller, und die sonst so stolze und siegessichere Frau, die
mit dem Manne, dessen Spielzeug sie zu sein schien und zu sein vorgab,
durch viele Jahre hin immer nur ihrerseits gespielt hatte, sie schrak
jetzt zusammen und geriet in ein nervöses Zittern, wenn sie von fern
her seinen Schritt auf dem Korridore hörte. Was wollte er? Um was kam
er? Und dann war es ihr, als müsse sie fliehen und aus dem Fenster
springen. Und kam er dann wirklich und nahm ihre Hand, um sie zu
küssen, so sagte sie: »Geh. Ich bitte dich. Ich bin am liebsten allein.«

Und wenn sie dann allein war, so stürzte sie fort, oft ohne Ziel, öfter
noch in Anastasiens stille, zurückgelegene Wohnung, und wenn dann der
Erwartete kam, dann brach alle Not ihres Herzens in bittre Tränen aus
und sie schluchzte und jammerte, daß sie dieses Lügenspiel nicht mehr
ertragen könne. »Steh mir bei, hilf mir, Ruben, oder du siehst mich
nicht lange mehr. Ich muß fort, fort, wenn ich nicht sterben soll vor
Scham und Gram.«

Und er war mit erschüttert und sagte: »Sprich nicht so, Melanie.
Sprich nicht, als ob ich nicht alles wollte, was du willst. Ich habe
dein Glück gestört (+wenn+ es ein Glück war) und ich will es wieder
aufbauen. Überall in der Welt, +wie+ du willst und +wo+ du willst. Jede
Stunde, jeden Tag.«

Und dann bauten sie Luftschlösser und träumten und hatten eine lachende
Zukunft um sich her. Aber auch wirkliche Pläne wurden laut und sie
trennten sich unter glücklichen Tränen.



15

Die Vernezobres


Und was geplant worden war, das war Flucht. Den letzten Tag im Januar
wollten sie sich an einem der Bahnhöfe treffen, in früher Morgenstunde,
und dann fahren weit, weit in die Welt hinein, nach Süden zu, über
die Alpen. »Ja, über die Alpen,« hatte Melanie gesagt und aufgeatmet,
und es war ihr dabei gewesen, als wär' erst ein neues Leben für sie
gewonnen, wenn der große Wall der Berge trennend und schützend hinter
ihr läge. Und auch darüber war gesprochen worden, was zu geschehen
habe, wenn Van der Straaten ihr Vorhaben etwa hindern wolle. »Das wird
er nicht,« hatte Melanie gesagt. »Und warum nicht? Er ist nicht immer
der Mann der zarten Rücksichtnahmen und liebt es mitunter, die Welt und
ihr Gerede zu brüskieren.« »Und doch wird er sich's ersparen, sich und
uns. Und wenn du wieder fragst, warum? Weil er mich liebt. Ich hab'
es ihm freilich schlecht gedankt. Ach, Ruben, Freund, was sind wir in
unserem Tun und Wollen! Undank, Untreue ... mir so verhaßt! Und doch
... ich tät' es wieder, alles, alles. Und ich will es nicht anders, als
es ist.«

So vergingen die Januarwochen. Und nun war es die Nacht vor dem
festgesetzten Tage. Melanie hatte sich zu früher Stunde niedergelegt
und ihrer alten Dienerin befohlen, sie Punkt drei zu wecken. Auf
diese konnte sie sich unbedingt verlassen, trotzdem Christel ihren
Dienstjahren, aber freilich auch nur diesen nach, zu jenen Erbstücken
des Hauses gehörte, die sich unter Duquedes Führung in einer stillen
Opposition gegen Melanie gefielen.

Und kaum daß es drei geschlagen, so war Christel da, fand aber
ihre Herrin schon auf und konnte derselben nur noch beim Ankleiden
behilflich sein. Und auch das war nicht viel, denn es zitterten ihr die
Hände, und sie hatte, wie sie sich ausdrückte, »einen Flimmer vor den
Augen.« Endlich aber war doch alles fertig, der feste Lederstiefel saß,
und Melanie sagte: »So ist's gut, Christel. Und nun gib die Handtasche
her, daß wir packen können.«

Christel holte die Tasche, die dicht am Fenster auf einer
Spiegelkonsole stand, und öffnete das Schloß. »Hier, das tu hinein. Ich
hab' alles aufgeschrieben.« Und Melanie riß, als sie dies sagte, ein
Blatt aus ihrem Notizbuch und gab es der Alten. Diese hielt den Zettel
neben das Licht und las und schüttelte den Kopf.

»Ach meine gute, liebe Frau, das ist ja gar nichts ... Ach meine liebe,
gute Frau, Sie sind ja ...«

»So verwöhnt, willst du sagen. Ja, Christel, das bin ich. Aber
Verwöhnung ist kein Glück. Ihr habt hier ein Sprichwort: »Wenig mit
Liebe.« Und die Leute lachen darüber. Aber über das Wahrste wird immer
gelacht. Und dann, wir gehen ja nicht aus der Welt. Wir reisen bloß.
Und auf Reisen heißt es: Leicht Gepäck. Und sage selbst, Christel, ich
kann doch nicht mit einem Riesenkoffer aus dem Hause gehen. Da fehlte
bloß noch der Schmuck und die Kassette.«

Melanie hatte, während sie so sprach, ihre Hände dicht über das halb
niedergebrannte Feuer gehalten. Denn es war kalt und sie fröstelte.
Jetzt setzte sie sich in einen nebenstehenden Fauteuil und sah
abwechselnd in die glühenden Kohlen und dann wieder auf Christel,
die das Wenige, was aufgeschrieben war, in die Tasche tat und immer
leise vor sich hinsprach und weinte. Und nun war alles hinein, und sie
drückte den Bügel ins Schloß und stellte die Tasche vor Melanie nieder.

So verging eine Weile. Keiner sprach. Endlich aber trat Christel von
hinten her an ihre junge Herrin heran und sagte: »Jott, liebe, jnädige
Frau, muß es denn ... Bleiben Sie doch. Ich bin ja bloß solche alte,
dumme Person. Aber die Dummen sind oft gar nicht so dumm. Und ich sag'
Ihnen, meine liebe Jnädigste, Sie jlauben jar nich, woran sich der
Mensch alles jewöhnen kann. Jott, der Mensch jewöhnt sich an alles. Und
wenn man reich ist und hat so viel, da kann man auch viel aushalten.
Un vor mir wollt' ich woll einstehn. Un wie jeht es denn? Un wie leben
denn die Menschen? In jedes Haus is'n Gespenst, sagen sie jetzt, un
das is so'ne neumodsche Redensart! Aber wahr is es. Und in manches
Haus sind zweie, un rumoren, daß man's bei hellen, lichten Dage hören
kann. Un so war es auch bei Vernezobres. Ich bin ja nu fufzig, und
dreiundzwanzig hier. Un sieben vorher bei Vernezobres. Un war auch
Kommerzienrat un alles ebenso. Das heißt beinah.«

»Und wie war es denn?« lächelte Melanie.

»Jott, wie war es? Wie's immer is. Sie war dreißig un er war fufzig.
Und sie war sehr hübsch. Drall und blond, sagten die Leute. Na, un er?
Ich will jar nich sagen, was die Leute von ihm alles gesagt haben.
Aber viel Jutes war es nich ... Un natürlich, da war ja denn auch ein
Baumeister, das heißt eigentlich kein richtiger Baumeister, bloß
einer, der immer Brücken baut vor Eisenbahnen un so, un immer mit'n
Gitter un schräge Löcher, wo man durchkucken kann. Un der war ja nu
da un wie'n Wiesel, un immer mit ins Konzert un nach Saatwinkel oder
Pichelsberg, un immers Jackett über'n Arm, un Fächer un Sonnenschirm,
un immer Erdbeeren gesucht un immer verirrt un nie da, wenn die
Herrschaften wieder nach Hause wollten. Un unser Herr, der ängstigte
sich un dacht' immer, es wäre was passiert. Un was die andern waren,
na, die tuschelten.«

»Und trennten sie sich? Oder blieben sie zusammen? Ich meine die
Vernezobres,« fragte Melanie, die mit halber Aufmerksamkeit zugehört
hatte.

»Natürlich blieben sie. Mal hört' ich, weil ich nebenan war, daß er
sagte: ›Hulda, das geht nicht.‹ Denn sie hieß wirklich Hulda. Und er
wollt' ihr Vorwürfe machen. Aber da kam er ihr jrade recht. Und sie
drehte den Spieß um un sagte: was er nur wolle? Sie wolle fort. Un
sie liebe ihn, das heißt den andern, un ihn liebe sie +nicht+. Un sie
dächte gar nicht dran, ihn zu lieben. Und es wär eijentlich bloß zum
Lachen. Und +so+ ging es weiter und sie lachte wirklich. Und ich sag'
Ihnen, da wurd' er wie'n Ohrwurm und sagte bloß: ›sie sollte sich's
doch überlegen.‹ Un so kam es denn auch, un als Ende Mai war, da kam
ja der Vernezobresche Doktor, so'n richtiger, der alles janz genau
wußte, der sagte, ›sie müßte nachs Bad,‹ wovon ich aber den Namen
immer vergesse, weil da der Wellenschlag am stärksten ist. Un das
war ja nu damals, als sie jrade die große Hängebrücke bauten, un die
Leute sagten, er könnt' es alles am besten ausrechnen. Un was unser
Kommerzienrat war, der kam immer bloß Sonnabends. Un die Woche hatten
sie frei. Un als Ende August war, oder so, da kam sie wieder und war
ganz frisch un munter un hatte orntlich rote Backen, und kajolierte
ihn. Und von +ihm+ war gar keine Rede mehr.«

Melanie hatte, während Christel sprach, ein paar Holzscheite auf die
Kohlen geworfen, so daß es wieder prasselte, und sagte: »Du meinst es
gut. Aber so geht es nicht. Ich bin doch anders. Und wenn ich's nicht
bin, so bild' ich es mir wenigstens ein.«

»Jott,« sagte Christel, »en bißchen anders is es immer. Un sie war auch
bloß von Neu-Cölln ans Wasser, un die Singuhr immer jrade gegenüber.
Aber die war nich schuld mit ›Üb' immer Treu und Redlichkeit.‹«

»Ach, meine gute Christel, Treu und Redlichkeit! Danach drängt es
jeden, jeden, der nicht ganz schlecht ist. Aber weißt du, man kann auch
treu sein, wenn man untreu ist. Treuer als in der Treue.«

»Jott, liebe Jnädigste, sagen Se doch so was nich. Ich versteh es
eijentlich nich. Un das muß ich Ihnen sagen, wenn einer so was sagt un
ich versteh es nicht, denn is es immer schlimm. Und Sie sagen, Sie sind
anders. Ja, das is schon richtig, un wenn es auch nich janz richtig is,
so is es doch halb richtig. Un was die Hauptsache is, das is, meine
liebe Jnädigste, die hat eijentlich das liebe kleine Herz auf'n rechten
Fleck, un is immer für helfen und geben, un immer für die armen Leute.
Un was die Vernezobern war, na, die putzte sich bloß, un war immer
vor'n Stehspiegel, der alles noch hübscher machte, und sah aus wie's
Modejournal und war eijentlich dumm. Wie'n Haubenstock, sagten die
Leute. Un war auch nich so was Vornehmes, wie meine liebe Jnädigste,
un bloß aus ne' Färberei, türkischrot. Aber das muß ich Ihnen sagen,
Ihrer is doch auch anders als der Vernezobern ihrer war, und hat sich
gar nich, un red't immer frei weg, un kann keinen was abschlagen. Un zu
Weihnachten immer alles doppelt.«

Melanie nickte.

»Nu, sehen Sie, meine liebe Jnädigste, das is hübsch, daß Sie mir
zunicken, un wenn Sie mir immer wieder zunicken, dann kann es auch
alles noch wieder werden un wir packen alles wieder aus, un Sie legen
sich ins Bett un schlafen bis an'n hellen lichten Tag. Un Klocker
zwölfe bring ich Ihnen Ihren Kaffee un Ihre Schokolade, alles gleich
auf +ein+ Brett, un wenn ich Ihnen dann erzähle, daß wir hier gesessen
und was wir alles gesprochen haben, dann is es Ihnen wie'n Traum. Denn
dabei bleib ich, er is eijentlich auch ein juter Mann, ein sehr juter,
un bloß ein bißchen sonderbar. Und sonderbar is nichts Schlimmes. Und
ein reicher Mann wird es doch wohl am Ende dürfen! Un wenn ich reich
wäre, ich wäre noch viel sonderbarer. Un daß er immer so spricht un
solche Redensarten macht, als hätt' er keine Bildung nich un wäre von'n
Wedding oder so, ja, du himmlische Güte, warum soll er nich? warum soll
er nich so reden, wenn es ihm Spaß macht? er is nu mal fürs Berlinsche.
Aber is er denn nich einer? Und am Ende ...«



16

Abschied


Christel unterbrach sich und zog sich erschrocken in die Nebenstube
zurück, denn Van der Straaten war eingetreten. Er war noch in demselben
Gesellschaftsanzug, in dem er, eine Stunde nach Mitternacht, nach
Hause gekommen war und seine überwachten Züge zeigten Aufregung und
Ermattung. Von welcher Seite her er Mitteilung über Melanies Vorhaben
erhalten hatte, blieb unaufgeklärt. Aus allem war nur ersichtlich,
daß er sich gelobt hatte, die Dinge ruhig gehen zu lassen. Und wenn
er dennoch kam, so geschah es nicht, um gewaltsam zu hindern, sondern
nur um Vorstellungen zu machen, um zu bitten. Es kam nicht der empörte
Mann, sondern der liebende.

Er schob einen Fauteuil an das Feuer, ließ sich nieder, so daß er jetzt
Melanie gegenübersaß, und sagte leicht und geschäftsmäßig: »Du willst
fort, Melanie?«

»Ja, Ezel.«

»Warum?«

»Weil ich einen andern liebe.«

»Das ist kein Grund.«

»Doch.«

»Und ich sage dir, es geht vorüber, Lanni. Glaube mir, ich kenne die
Frauen. Ihr könnt das Einerlei nicht ertragen, auch nicht das Einerlei
des Glücks. Und am verhaßtesten ist euch das eigentliche, das höchste
Glück, das Ruhe bedeutet. Ihr seid auf die Unruhe gestellt. Ein bißchen
schlechtes Gewissen habt ihr lieber, als ein gutes, das nicht prickelt,
und unter allen Sprichwörtern ist euch das vom ›besten Ruhekissen‹ am
langweiligsten und am lächerlichsten. Ihr wollt gar nicht ruhen. Es
soll euch immer was kribbeln und zwicken, und ihr habt den überspannt
sinnlichen oder meinetwegen auch den heroischen Zug, daß ihr dem
Schmerz die süße Seite abzugewinnen wißt.«

»Es ist möglich, daß du recht hast, Ezel. Aber je mehr du recht hast,
je mehr rechtfertigst du mich und mein Vorhaben. Ist es wirklich, wie
du sagst, so wären wir geborene Hazardeurs, und ~Va banque~ spielen so
recht eigentlich unsere Natur. Und natürlich auch die meinige.«

Er hörte sie gern in dieser Weise sprechen, es klang ihm wie aus guter,
alter Zeit her, und er sagte, während er den Fauteuil vertraulich
näher rückte: »Laß uns nicht spießbürgerlich sein, Lanni. Sie sagen,
ich wär ein Bourgeois, und es mag sein. Aber ein Spießbürger bin ich
+nicht+. Und wenn ich die Dinge des Lebens nicht sehr groß und nicht
sehr ideal nehme, so nehm' ich sie doch auch nicht klein und eng. Ich
bitte dich, übereile nichts. Meine Kurse stehen jetzt niedrig, aber sie
werden wieder steigen. Ich bin nicht Geck genug, mir einzubilden, daß
du schönes und liebenswürdiges Geschöpf, verwöhnt und ausgezeichnet
von den Klügsten und Besten, daß du mich aus purer Neigung oder gar
aus Liebesschwärmerei genommen hättest. Du hast mich genommen, weil
du noch jung warst und noch keinen liebtest, und in deinem witzigen
und gesunden Sinn einsehen mochtest, daß die jungen Attachés auch
keine Helden und Halbgötter wären. Und weil die Firma Van der Straaten
einen guten Klang hatte. Also nichts von Liebe. Aber du hast auch
nichts +gegen+ mich gehabt und hast mich nicht ganz alltäglich
gefunden und hast mit mir geplaudert und gelacht und gescherzt. Und
dann hatten wir die Kinder, die doch schließlich reizende Kinder
sind, zugestanden +dein+ Verdienst, und du hast ~enfin~ an die zehn
Jahr in der Vorstellung und Erfahrung gelebt, daß es nicht zu den
schlimmsten Dingen zählt, eine junge, bequem gebettete Frau zu sein
und der Augapfel ihres Mannes, eine junge, verwöhnte Frau, die tun
und lassen kann, was sie will, und als Gegenleistung nichts andres
einzusetzen braucht, als ein freundliches Gesicht, wenn es ihr gerade
paßt. Und sieh, Melanie, weiter will ich auch jetzt nichts, oder sag'
ich lieber, will ich auch in Zukunft nichts. Denn in diesem Augenblick
erscheint dir auch das Wenige, was ich fordere, noch als zu viel. Aber
es wird wieder anders, muß wieder anders werden. Und ich wiederhole
dir, ein Minimum ist mir genug. Ich will keine Leidenschaft. Ich will
nicht, daß du mich ansehen sollst, als ob ich Leone Leoni wär' oder
irgend ein anderer großer Romanheld, dem zuliebe die Weiber Giftbecher
trinken wie Mandelmilch und lächelnd sterben, bloß um +ihn+ noch einmal
lächeln zu sehen. Ich bin nicht Leone Leoni, bin bloß deutsch und von
holländischer Abstraktion, wodurch das Deutsche nicht besser wird, und
habe die mir abstammlich zukommenden hohen Backenknochen. Ich bewege
mich nicht in Illusionen, am wenigsten über meinen äußeren Menschen,
und ich verlange keine Liebesgroßtaten von dir. Auch nicht einmal
Entsagungen. Entsagungen machen sich zuletzt von selbst, und das sind
die besten. Die besten, weil es die freiwilligen und eben deshalb auch
die dauerhaften und zuverlässigen sind. Übereile nichts. Es wird sich
alles wieder zurechtrücken.«

Er war aufgestanden und hatte die Lehne des Fauteuils genommen, auf
der er sich jetzt hin und her wiegte. »Und nun noch eins, Lanni,« fuhr
er fort, »ich bin nicht der Mann der Rücksichtsnahmen und hasse diese
langweiligen »Regards« auf nichts und wieder nichts. Aber dennoch sag'
ich dir, nimm Rücksicht auf dich +selbst+. Es ist nicht gut, immer nur
an das zu denken, was die Leute sagen, aber es ist noch weniger gut,
gar nicht daran zu denken. Ich hab' es an mir selbst erfahren. Und nun
überlege. Wenn du +jetzt+ gehst ... Du weißt, was ich meine. Du kannst
jetzt nicht gehen; nicht +jetzt+.«

»Eben deshalb geh' ich, Ezel,« antwortete sie leise. »Es soll klar
zwischen uns werden. Ich habe diese schnöde Lüge satt.«

Er hatte jedes Wort begierig eingesogen, wie man in entscheidenden
Momenten auch das hören will, was einem den Tod gibt. Und nun war es
gesprochen. Er ließ den Stuhl wieder nieder und warf sich hinein,
und einen Augenblick war es ihm, als schwänden ihm die Sinne. Aber
er erholte sich rasch wieder, rieb sich Stirn und Schläfe und sagte:
»Gut. Auch das. Ich will es verwinden. Laß uns miteinander reden. Auch
darüber reden. Du siehst, ich leide; mehr als all mein Lebtag. Aber ich
weiß auch, es ist so Lauf der Welt und ich habe kein Recht, dir Moral
zu predigen. Was liegt nicht alles hinter mir! ... Es mußte so kommen,
+mußte+ nach dem Van der Straatenschen Hausgesetz (warum sollen wir
nicht auch ein Hausgesetz haben) und ich glaube fast, ich wußt' es von
Jugend auf.« Und nach einer Weile fuhr er fort: »Es gibt ein Sprichwort
›Gottes Mühlen mahlen langsam‹ und sieh, als ich noch ein kleiner Junge
war, hört' ich's oft von unserer alten Kindermuhme und mir wurd' immer
so bange dabei. Es war wohl eine Vorahnung. Nun bin ich zwischen den
zwei Steinen und mir ist, als würd' ich zermahlen und zermalmt ...«

»Zermahlen?« Er schlug mit der rechten in die linke Hand und
wiederholte noch einmal und in plötzlich verändertem Tone: »Zermahlen!
Es hat eigentlich etwas Komisches. Und wahrhaftig, hol' die Pest
alle feigen Memmen. Ich will mich nicht länger damit quälen. Und ich
ärgere mich über mich selbst und meine Haberei und Tuerei. Bah, die
Nachmittagsprediger der Weltgeschichte machen zu viel davon, und wir
sind dumm genug und plappern es ihnen nach. Und immer mit Vergessen
allereigenster Herrlichkeit, und immer mit Vergessen, wie's war
und ist und sein wird. Oder war es besser in den Tagen meines Paten
Ezechiel? Oder als Adam grub und Eva spann? Ist nicht das ganze Alte
Testament ein Sensationsroman? Dreidoppelte Geheimnisse von Paris! Und
ich sage dir, Lanni, gemessen an +dem+, sind wir die reinen Lämmchen,
weiß wie Schnee. Waisenkinder. Und so höre mich denn. Es soll niemand
davon wissen, und ich will es halten, als ob es mein eigen wäre. Deine
ist es ja, und das ist die Hauptsache. Denn so du's nicht übel nimmst,
ich liebe dich und will dich behalten. Bleib. Es soll nichts sein.
+Soll+ nicht. Aber bleibe.«

Melanie war, als er zu sprechen begann, tief erschüttert gewesen, aber
er selbst hatte, je weiter er kam, dieses Gefühl wieder weggesprochen.
Es war eben immer dasselbe Lied. Alles, was er sagte, kam aus einem
Herzen voll Gütigkeit und Nachsicht, aber die Form, in die sich
diese Nachsicht kleidete, verletzte wieder. Er behandelte das, was
vorgefallen, aller Erschütterung unerachtet, doch bagatellmäßig obenhin
und mit einem starken Anfluge von zynischem Humor. Es war wohlgemeint,
und die von ihm geliebte Frau sollte, seinem Wunsche nach, den Vorteil
davon ziehn. Aber ihre vornehmere Natur sträubte sich innerlichst gegen
eine solche Behandlungsweise. Das Geschehene, das wußte sie, war ihre
Verurteilung vor der Welt, war ihre Demütigung, aber es war doch auch
zugleich ihr Stolz, dies Einsetzen ihrer Existenz, dies rückhaltlose
Bekenntnis ihrer Neigung. Und nun plötzlich sollt' es +nichts+ sein,
oder doch nicht viel mehr als nichts, etwas ganz Alltägliches, über
das sich hinwegsehn und hinweggehen lasse. Das widerstand ihr. Und
sie fühlte deutlich, daß das Geschehene verzeihlicher war als seine
Stellung zu dem Geschehenen. Er hatte keinen Gott und keinen Glauben,
und es blieb nur das eine zu seiner Entschuldigung übrig: daß sein
Wunsch, ihr goldne Brücken zu bauen, sein Verlangen nach Ausgleich
um +jeden+ Preis, ihn anders hatte sprechen lassen, als er in seinem
Herzen dachte. Ja, so war es. Aber wenn es so war, so konnte sie dies
Gnadengeschenk nicht annehmen. Jedenfalls wollte sie's nicht.

»Du meinst es gut, Ezel,« sagte sie. »Aber es kann nicht sein. Es
hat eben alles seine natürliche Konsequenz, und +die+, die hier
spricht, die scheidet uns. Ich weiß wohl, daß auch anderes geschieht,
jeden Tag, und es ist noch keine halbe Stunde, daß mir Christel
davon vorgeplaudert hat. Aber einem jeden ist das Gesetz ins Herz
geschrieben, und danach fühl' ich, ich muß fort. Du liebst mich, und
deshalb willst du darüber hinsehen. Aber du darfst es nicht und du
+kannst+ es auch nicht. Denn du bist nicht jede Stunde derselbe, keiner
von uns. Und keiner kann vergessen. Erinnerungen aber sind mächtig, und
Fleck ist Fleck, und Schuld ist Schuld.«

Sie schwieg einen Augenblick und bog sich rechts nach dem Kamin hin, um
ein paar Kohlenstückchen in die jetzt hellbrennende Flamme zu werfen.
Aber plötzlich, als ob ihr ein ganz neuer Gedanke gekommen, sagte sie
mit der ganzen Lebhaftigkeit ihres früheren Wesens: »Ach, Ezel, ich
spreche von Schuld und wieder Schuld, und es muß beinah klingen, als
sehnt' ich mich danach, eine büßende Magdalena zu sein. Ich schäme mich
ordentlich der großen Worte. Aber freilich, es gibt keine Lebenslagen,
in denen man aus der Selbsttäuschung und dem Komödienspiele herauskäme.
Wie steht es denn eigentlich? Ich will fort, nicht aus Schuld, sondern
aus Stolz, und will fort, um mich vor mir selber wieder herzustellen.
Ich kann das kleine Gefühl nicht länger ertragen, das an aller Lüge
haftet; ich will wieder klare Verhältnisse sehen und will wieder die
Augen aufschlagen können. Und das kann ich nur, wenn ich gehe, wenn
ich mich von dir trenne und mich offen und vor aller Welt zu meinem
Tun bekenne. Das wird ein groß Gerede geben, und die Tugendhaften und
Selbstgerechten werden es mir nicht verzeihn. Aber die Welt besteht
nicht aus lauter Tugendhaften und Selbstgerechten, sie besteht auch
aus Menschen, die Menschliches menschlich ansehen. Und auf +die+ hoff'
ich, +die+ brauch' ich. Und vor allem brauch' ich mich selbst. Ich will
wieder in Frieden mit mir selber leben und wenn nicht in Frieden, so
doch wenigstens ohne Zwiespalt und zweierlei Gesicht.«

Es schien, daß Van der Straaten antworten wollte, aber sie litt es
nicht und sagte: »Sage nicht nein. Es ist so und nicht anders. Ich
will den Kopf wieder hochhalten und mich wieder fühlen lernen. Alles
ist eitel Selbstgerechtigkeit. Und ich weiß auch, es wäre besser
und selbstsuchtsloser, ich bezwänge mich und bliebe, freilich immer
vorausgesetzt, ich könnte mit einer Einkehr bei mir selbst beginnen.
Mit Einkehr und mit Reue. Aber das kann ich nicht. Ich habe nur ein
ganz äußerliches Schuldbewußtsein, und wo mein Kopf sich unterwirft,
da protestiert mein Herz. Ich nenn' es selber ein störrisches Herz und
ich versuche keine Rechtfertigung. Aber es wird nicht anders durch
mein Schelten und Schmähen. Und sieh, so hilft mir denn eines nur und
reißt mich eines nur aus mir heraus: ein ganz neues Leben und in ihm
+das+, was das erste vermissen ließ: Treue. Laß mich gehen. Ich will
nichts beschönigen, aber das laß mich sagen: es trifft sich gut, daß
das Gesetz, das uns scheidet, und mein eignes selbstisches Verlangen
zusammenfallen.«

Er hatte sich erhoben, um ihre Hand zu nehmen, und sie ließ es
geschehen. Als er sich aber niederbeugen und ihr die Stirn küssen
wollte, wehrte sie's und schüttelte den Kopf. »Nein, Ezel, nicht
so. Nichts mehr zwischen uns, was stört und verwirrt und quält und
ängstigt, und immer nur erschweren und nichts mehr ändern kann ...
Ich werd' erwartet. Und ich will mein neues Leben nicht mit einer
Unpünktlichkeit beginnen. Unpünktlich sein, ist unordentlich sein. Und
davor hab' ich mich zu hüten. Es soll Ordnung in mein Leben kommen,
Ordnung und Einheit. Und nun leb' wohl und vergiß.«

Er hatte sie gewähren lassen, und sie nahm die kleine Reisetasche, die
neben ihr stand, und ging. Als sie bis an die Tapetentür gekommen war,
die zu der Kinderschlafstube führte, blieb sie stehen und sah sich noch
einmal um. Er nahm es als ein gutes Zeichen und sagte: »Du willst die
Kinder sehen!«

Es war das Wort, das sie gefürchtet hatte, das Wort, das in ihr selber
sprach. Und ihre Augen wurden groß, und es flog um ihren Mund, und sie
hatte nicht die Kraft ein »Nein« zu sagen. Aber sie bezwang sich und
schüttelte nur den Kopf und ging auf Tür und Flur zu.

Draußen stand Christel, ein Licht in der Hand, um ihrer Herrin das
Täschchen abzunehmen und sie die beiden Treppen hinabzubegleiten. Aber
Melanie wies es zurück und sagte: »Laß, Christel, ich muß nun meinen
Weg allein finden.« Und auf der zweiten Treppe, die dunkel war, begann
sie wirklich zu suchen und zu tappen.

»Es beginnt früh,« sagte sie.

Das Haus war schon auf, und draußen blies ein kalter Wind von der
Brüderstraße her über den Platz weg, und der Schnee federte leicht in
der Luft. Sie mußte dabei des Tages denken, nun beinah jährig, wo der
Rollwagen vor ihrem Hause hielt, und wo die Flocken auch wirbelten
wie heut, und die kindische Sehnsucht über sie kam, zu steigen und zu
fallen wie sie.

Und nun hielt sie sich auf die Brücke zu, die nach dem Spittelmarkt
führt, und sah nichts als den Laternenanstecker ihres Reviers, der mit
seiner langen schmalen Leiter immer vor ihr her lief und wenn er oben
stand, halb neugierig und halb pfiffig auf sie niedersah und nicht
recht wußte, was er aus ihr machen sollte.

Jenseits der Brücke kam eine Droschke langsam auf sie zu. Der Kutscher
schlief, und das Pferd eigentlich auch, und da nichts Besseres in Sicht
war, so zupfte sie den immer noch Verschlafenen an seinem Mantel und
stieg endlich ein und nannt' ihm den Bahnhof. Und es war auch, als
ob er sie verstanden und zugestimmt habe. Kaum aber, daß sie saß, so
wandt' er sich auf dem Bock um und brummelte durch das kleine Guckloch:
»er sei Nachtdroschke, un janz klamm, un von Klock elwe nichts in'n
Leib. Un er wolle jetzt nach Hause.« Da mußte sie sich aufs Bitten
legen, bis er endlich nachgab. Und nun schlug er auf das arme Tier los
und holprig ging es die lange Straße hinunter.

Sie warf sich zurück und stemmte die Füße gegen den Rücksitz, aber
die Kissen waren feucht und kalt, und das eben erlöschende Lämpchen
füllte die Droschke mit einem trüben Qualm. Ihre Schläfen fühlten
mehr und mehr einen Druck und ihr wurde weh und widrig in der elenden
Armeleute-Luft. Endlich ließ sie die Fenster nieder und freute sich des
frischen Windes, der durchzog. Und freute sich auch des erwachenden
Lebens der Stadt, und jeden Bäckerjungen, der trällernd und pfeifend
und seinen Korb mit Backwaren hoch auf dem Kopf an ihr vorüberzog,
hätte sie grüßen mögen. Es war doch ein heiterer Ton, an dem sich ihre
Niedergedrücktheit aufrichten konnte.

Sie waren jetzt bis an die letzte Querstraße gekommen, und in
fortgesetztem und immer nervöser werdendem Hinaussehen erschien es ihr,
als ob alle Fuhrwerke, die denselben Weg hatten, ihr eignes elendes
Gefährt in wachsender Eil' überholten. Erst einige, dann viele. Sie
klopfte, rief. Aber alles umsonst. Und zuletzt war es ihr, als läg'
es an ihr, und als versagten +ihr+ die Kräfte, und als sollte sie die
letzte sein und käme nicht mehr mit, heute nicht und morgen nicht und
nie mehr. Und ein Gefühl unendlichen Elends überkam sie. »Mut, Mut,«
rief sie sich zu und raffte sich zusammen und zog ihre Füße von dem
Rücksitzkissen und richtete sich auf. Und sieh, ihr wurde besser. Mit
ihrer äußeren Haltung kam ihr auch die innere zurück.

Und nun endlich hielt die Droschke und weil weder oben noch auch vorne
bei dem Kutscher etwas von Gepäckstücken sichtbar war, war auch niemand
da, der sich dienstbar gezeigt und den Droschkenschlag geöffnet hätte.
Sie mußt' es von innen her selber tun und sah sich um und suchte.
»Wenn er nicht da wäre!« Doch sie hatte nicht Zeit, es auszudenken.
Im nächsten Augenblicke schon trat von einem der Auffahrtspfeiler
her Rubehn an sie heran und bot ihr die Hand, um ihr beim Aussteigen
behilflich zu sein. Ihr Fuß stand eben auf dem mit Stroh umwickelten
Tritt und sie lehnte den Kopf an seine Schulter und flüsterte: »Gott
sei Dank! Ach, war +das+ eine Stunde! Sei gut, einzig Geliebter, und
lehre sie mich vergessen.«

Und er hob die geliebte Last und setzte sie nieder, und nahm ihren Arm
und das Täschchen, und so schritten sie die Treppe hinauf, die zu dem
Perron und dem schon haltenden Zuge führte.



17

Della Salute


»Nach Süden!« Und in kurzen, oft mehrtägig unterbrochenen Fahrten, wie
sie Melanies erschütterte Gesundheit unerläßlich machte, ging es über
den Brenner, bis sie gegen Ende Februar in Rom eintrafen, um daselbst
das Osterfest abzuwarten und »Nachrichten aus der Heimat«. Es war ein
absichtlich indifferentes Wort, das sie wählten, während es sich doch
in Wahrheit um Mitteilungen handelte, die für ihr Leben entscheidend
waren und die länger ausblieben als erwünscht. Aber endlich waren sie
da, diese »Nachrichten aus der Heimat«, und der nächste Morgen bereits
sah beide vor dem Eingang einer kleinen englischen Kapelle, deren alten
Reverend sie schon vorher kennen gelernt und durch seine Milde dazu
bestimmt, ins Vertrauen gezogen hatten. Auch ein paar Freunde waren
zugegen, und unmittelbar nach der kirchlichen Handlung brach man auf,
um, nach monatelangem Eingeschlossensein in der Stadt, einmal außerhalb
ihrer Mauern aufatmen und sich der Krokus- und Veilchenpracht in Villa
d'Este freuen zu können. Und alles freute sich wirklich, am meisten
aber Melanie. Sie war glücklich, unendlich glücklich. Alles, was ihr
das Herz bedrückt hatte, war wie mit einem Schlage von ihr genommen
und sie lachte wieder, wie sie seit lange nicht mehr gelacht hatte,
kindlich und harmlos. Ach, wem +dies+ Lachen wurde, dem bleibt es, und
wenn es schwand, so kehrt es wieder. Und es überdauert alle Schuld und
baut uns die Brücken vorwärts und rückwärts in eine bessere Zeit.

Wohl, es war ihr so frei geworden an diesem Tag, aber sie wollt' es
noch freier haben, und als sie, bei Dunkelwerden, in ihre Wohnung
zurückkehrte, drin die treffliche römische Wirtin außer dem hohen
Kaminfeuer auch schon die dreidochtige Lampe angezündet hatte, beschloß
sie, denselben Abend noch an ihre Schwester Jakobine zu schreiben,
allerlei Fragen zu tun und nebenher von ihrem Glück und ihrer Reise zu
plaudern.

Und sie tat es und schrieb.

»Meine liebe Jakobine. Heute war ein rechter Festestag und was mehr
ist, auch ein glücklicher Tag, und ich möchte meinem Danke so gern
einen Ausdruck geben. Und da schreib' ich denn. Und an wen lieber, als
an Dich, Du mein geliebtes Schwesterherz. Oder willst Du das Wort nicht
mehr hören? Oder darfst Du nicht?

Ich schreibe Dir diese Zeilen in der Via Catena, einer kleinen
Querstraße, die nach dem Tiber hinführt, und wenn ich die Straße
hinuntersehe, so blinken mir, vom andern Ufer her, ein paar Lichter
entgegen. Und diese Lichter kommen von der Farnesina, der berühmten
Villa, drin Amor und Psyche sozusagen aus allen Fensterkappen sehen.
Aber ich sollte nicht so scherzhaft über derlei Dinge sprechen, und
ich könnt' es auch nicht, wenn wir heute nicht in der Kapelle gewesen
wären. Endlich, endlich! Und weißt Du, wer mit unter den Zeugen war?
Unser Hauptmann von Brausewetter, Dein alter Tänzer von Dachrödens
her. Und lieb und gut und ohne Hoffart. Und wenn man in der Acht ist,
die noch schlimmer ist als das Unglück, so hat man ein Auge dafür,
und das Bild, Du weißt schon, über das ich damals so viel gespottet
und gescherzt habe, es will mir nicht aus dem Sinn. Immer dasselbe
›Steinige, steinige‹. Und die Stimme schweigt, die vor den Pharisäern
das himmlische Wort sprach.

Aber nichts mehr davon, ich plaudre lieber.

Wir reisten in kleinen Tagereisen und ich war anfänglich abgespannt
und freudlos, und wenn ich eine Freude zeigte, so war es nur um
Rubens willen. Denn er tat mir so leid. Eine weinerliche Frau! Ach,
das ist das Schlimmste, was es gibt. Und gar erst auf Reisen. Und so
ging es eine ganze Woche lang, bis wir in die Berge kamen. Da wurd'
es besser, und als wir neben dem schäumenden Inn hinfuhren und an
demselben Nachmittage noch in Innsbruck ein wundervolles Quartier
fanden, da fiel es von mir ab und ich konnte wieder aufatmen. Und als
Ruben sah, daß mir alles so wohltat und mich erquickte, da blieb er
noch den folgenden Tag und besuchte mit mir alle Kirchen und Schlösser
und zuletzt auch die Kirche, wo Kaiser Max begraben liegt. Es ist
derselbe von der Martinswand her, und derselbe auch, der zu Luthers
Zeiten lebte. Freilich schon als ein sehr alter Herr. Und es ist auch
der, den Anastasius Grün als ›Letzten Ritter‹ gefeiert hat, worin er
vielleicht etwas zu weit gegangen ist. Ich glaube nämlich nicht, daß
er der letzte Ritter war. Er war überhaupt zu stark und zu korpulent
für einen Ritter, und ohne Dir schmeicheln zu wollen, find' ich, daß
Gryczinski ritterlicher ist. Sonderbarerweise fühl' ich mich überhaupt
eingepreußter, als ich dachte, so daß mir auch das Bildnis Andreas
Hofers wenig gefallen hat. Er trägt einen Tiroler Spruchgürtel um
den Leib und wurde zu Mantua, wie Du vielleicht gehört haben wirst,
erschossen. Manche tadeln es, daß er sich geängstigt haben soll. Ich
für mein Teil habe nie begreifen können, wie man es tadeln will, nicht
gern erschossen zu werden.

Und dann gingen wir über den Brenner, der ganz in Schnee lag, und
es sah wundervoll aus, wie wir an derselben Bergwand, an der unser
Zug emporkletterte, zwei, drei andre Züge tief unter uns sahen, so
winzig und unscheinbar wie die Futterkästchen an einem Zeisigbauer.
Und denselben Abend noch waren wir in Verona. Das vorige Mal, als ich
dort war, hatt' ich es nur passiert, jetzt aber blieben wir einen Tag,
weil mir Ruben das altrömische Theater zeigen wollte, das sich hier
befindet. Es war ein kalter Tag und mich fror in dem eisigen Winde, der
ging, aber ich freue mich doch, es gesehen zu haben. Wie beschreib'
ich es Dir nur? Du mußt Dir das Opernhaus denken, aber nicht an einem
gewöhnlichen Tage, sondern an einem Subskriptionsballabend, und an der
Stelle, wo die Musik ist, rundet es sich auch noch. Es ist nämlich ganz
eiförmig und amphitheatralisch, und der Himmel als Dach darüber, und
ich würd' es alles sehr viel mehr noch genossen haben, wenn ich mich
nicht hätte verleiten lassen, in einem benachbarten Restaurant ein
Salamifrühstück zu nehmen, das mir um ein Erhebliches zu national war.

Die Woche darauf kamen wir nach Florenz, und wenn ich Duquede wäre,
so würd' ich sagen: es wird überschätzt. Es ist voller Engländer und
Bilder, und mit den Bildern wird man nicht fertig. Und dann haben sie
die ›Cascinen‹, etwas wie unsre Tiergarten- oder Hofjägerallee, worauf
sie sehr stolz sind, und man sieht auch wirklich Fuhrwerke mit sechs
und zwölf und sogar mit vierundzwanzig Pferden. Aber ich habe sie nicht
gesehen und will Dich durch Zahlenangaben nicht beirren. Über den Arno
führt eine Budenbrücke, nach Art des Rialto, und wenn Du von den vielen
Kirchen und Klöstern absehen willst, so gilt der alte Herzogspalast
als die Hauptsehenswürdigkeit der Stadt. Und am schönsten finden sie
den kleinen Turm, der aus der Mitte des Palastes aufwächst, nicht viel
anders als ein Schornstein mit einem Kranz und einer Galerie darum. Es
soll aber sehr originell gedacht sein. Und zuletzt findet man es auch.
Und in der Nähe befindet sich eine lange schmale Gasse, die neben der
Hauptstraße herläuft und in der beständig Wachteln am Spieß gebraten
werden. Und alles riecht nach Fett, und dazwischen Lärm und Blumen und
aufgetürmter Käse, so daß man nicht weiß, wo man bleiben und ob man
sich mehr entsetzen oder freuen soll. Aber zuletzt freut man sich,
und es ist eigentlich das Hübscheste, was ich auf meiner ganzen Reise
gesehen habe. Natürlich Rom ausgenommen. Und nun bin ich in Rom.

Aber Herzens-Jakobine, davon kann ich Dir heute nicht schreiben, denn
ich bin schon auf dem vierten Blatt und Ruben wird ungeduldig und wirft
aus seiner dunklen Ecke Konfetti nach mir, trotzdem wir den Karneval
längst hinter uns haben. Und so brech' ich denn ab und tue nur noch ein
paar Fragen.

Freilich, jetzt wo ich die Fragen stellen will, wollen sie mir nicht
recht aus der Feder und Du mußt sie erraten. Rätsel sind es nicht.
In Deiner Antwort sei schonend, aber verschweige nichts. Ich muß das
Unangenehme, das Schmerzliche tragen lernen. Es ist nicht anders.
Über all das geb' ich mich keinen Illusionen hin. Wer in die Mühle
geht, wird weiß. Und die Welt wird schlimmere Vergleiche wählen. Ich
möchte nur, daß bei meiner Verurteilung über die ›mildernden Umstände‹
nicht ganz hinweggegangen würde. Denn sieh, ich konnte nicht anders.
Und ich habe nur noch den +einen+ Wunsch, daß es mir vergönnt sein
möchte, +dies+ zu beweisen. Aber dieser Wunsch wird mir versagt bleiben
und ich werd' allen Trost in meinem Glück und alles Glück in meiner
Zurückgezogenheit suchen und finden müssen. Und das werd' ich. Ich
habe genug von dem Geräusch des Lebens gehabt und ich sehne mich nach
Einkehr und Stille. Die hab' ich +hier+. Ach, wie schön ist diese
Stadt, und mitunter ist es mir, als wär' es wahr und als käm' uns
jedes Heil und jeder Trost aus Rom und nur aus Rom. Es ist ein seliges
Wandeln an diesem Ort, ein Sehen und Hören als wie im Traum.

Und nun meine süße Jakobine, lebe wohl und schreibe recht viel und
recht ausführlich. Es interessiert mich alles, und ich sehne mich nach
Nachricht, vor allem nach Nachricht ... Aber Du weißt es ja. Nichts
mehr davon. Immer die Deine.

            Melanie R.«

Der Brief wurde noch denselben Abend zur Post gegeben, in dem dunklen
Gefühl, daß eine rasche Beförderung auch eine rasche Antwort erzwingen
könne. Aber diese Antwort blieb aus, und die darin liegende Kränkung
würde sehr schmerzlich empfunden worden sein, wenn nicht Melanie
wenige Tage nach Absendung des Briefes, in ihre frühere Melancholie
zurückverfallen wäre. Sie glaubte bestimmt, daß sie sterben werde,
versuchte zu lächeln und brach doch plötzlich in einen Strom von Tränen
aus. Denn sie hing am Leben und genoß inmitten ihres Schmerzes +ein+
unendliches Glück: die Nähe des geliebten Mannes.

Und sie hatte wohl recht, sich dieses Glückes zu freuen. Denn alle
Tugenden Rubehns zeigten sich um so heller, je trüber die Tage waren.
Er kannte nur Rücksicht; keine Mißstimmung, keine Klage wurde laut, und
über das Vornehme seiner Natur wurde die Zurückhaltung darin vergessen.

Und so vergingen trübe Wochen.

Ein deutscher Arzt endlich, den man zu Rate zog, erklärte, daß vor
allem das Stillsitzen vermieden, dagegen umgekehrt für beständig
neue Eindrücke gesorgt werden müsse. Mit anderen Worten, das was er
vorschlug, war ein beständiger Orts- und Luftwechsel. Ein solch
tagtägliches Hin und Her sei freilich selber ein Übel, aber ein
kleineres, und jedenfalls das einzige Mittel, der inneren Ruhelosigkeit
abzuhelfen.

Und so wurden denn neue Reisepläne geschmiedet und von der Kranken
apathisch angenommen.

In kurzen Etappen, unter geflissentlicher Vermeidung von Eisenbahn
und großen Straßen, ging es, durch Umbrien, immer höher hinauf an der
Ostküste hin, bis sich plötzlich herausstellte, daß man nur noch zehn
Meilen von Venedig entfernt sei. Und siehe, da kam ihr ein tiefes und
sehnsüchtiges Verlangen, ihrer Stunde dort warten zu wollen. Und sie
war plötzlich wie verändert und lachte wieder und sagte: »Della Salute!
Weißt du noch? ... Es heimelt mich an, es erquickt mich: das Wohl, das
Heil! O, komm. Dahin wollen wir.«

Und sie gingen, und dort war es, wo die bange Stunde kam. Und einen
Tag lang wußte der Zeiger nicht, wohin er sich zu stellen habe, ob
auf Leben oder Tod. Als aber am Abend, von über dem Wasser her, ein
wunderbares Läuten begann, und die todmatte Frau auf ihre Frage »von
wo« die Antwort empfing »von Della Salute«, da richtete sie sich auf
und sagte: »Nun weiß ich, daß ich leben werde.«



18

Wieder daheim


Und ihre Hoffnung hatte sie nicht betrogen. Sie genas und erst als
die Herbsttage kamen, und das Gedeihen des Kindes und vor allem auch
ihr eigenes Wohlbefinden einen Aufbruch gestattete, verließen sie die
Stadt, an die sie sich durch ernste und heitere Stunden aufs innigste
gekettet fühlten, und gingen in die Schweiz, um in dem lieblichsten
der Täler, in dem Tale »zwischen den Seen« eine neue vorläufige Rast zu
suchen.

Und sie lebten hier glücklich-stille Wochen, und erst als ein scharfer
Nordwest vom Thuner See nach dem Brienzer hinüber fuhr und den Tag
darauf der Schnee so dicht fiel, daß nicht nur die »Jungfrau«, sondern
auch jede kleinste Kuppe verschneit und vereist ins Tal hernieder sah,
sagte Melanie: »Nun ist es Zeit. Es kleidet nicht jeden Menschen das
Alter und nicht jede Landschaft der Schnee. Der Winter ist in diesem
Tale nicht zu Haus oder paßt wenigstens nicht recht hierher. Und ich
möchte nun wieder +da+ hin, wo man sich mit ihm eingelebt hat und ihn
versteht.«

»Ich glaube gar,« lachte Rubehn, »du sehnst dich nach der
Rousseau-Insel!«

»Ja,« sagte sie. »Und nach viel anderem noch. Sieh, in drei Stunden
könnte ich von hier aus in Genf sein und das Haus wiedersehen, darin
ich geboren wurde. Aber ich habe keine Sehnsucht danach. Es zieht mich
nach dem +Norden+ hin und ich empfind' ihn mehr und mehr als meine
Herzensheimat. Und was auch dazwischen liegt, er muß es bleiben.«

       *       *       *       *       *

Und an einem milden Dezembertage waren Rubehn und Melanie wieder in
der Hauptstadt eingetroffen und mit ihnen die Vreni oder »das Vrenel«,
eine derbe schweizerische Magd, die sie, während ihres Aufenthaltes
in Interlaken, zur Abwartung des Kindes angenommen hatten. Eine
vorzügliche Wahl. Am Bahnhof aber waren sie von Rubehns jüngerem Bruder
empfangen und in ihre Wohnung eingeführt worden: eine reizende Mansarde
dicht am Westende des Tiergartens, ebenso reich wie geschmackvoll
eingerichtet, und beinah Wand an Wand mit Duquede. »Sollen wir gute
Nachbarschaft mit ihm halten?« hatten sie sich im Augenblick ihres
Eintretens unter gegenseitiger Heiterkeit gefragt.

Melanie war sehr glücklich über Wohnung und Einrichtung, überhaupt
über alles, und gleich am andern Vormittage setzte sie sich, als sie
allein war, in eine der tiefen Fensternischen und sah auf die bereiften
Bäume des Parks und auf ein paar Eichkätzchen, die sich haschten und
von Ast zu Ast sprangen. Wie oft hatte sie dem zugesehen, wenn sie mit
Liddi und Heth durch den Tiergarten gefahren war! Es stand plötzlich
alles wieder vor ihr, und sie fühlte, daß ein Schatten auf die heiteren
Bilder ihrer Seele fiel.

Endlich aber zog es auch +sie+ hinaus, und sie wollte die Stadt wieder
sehen, die Stadt und bekannte Menschen. Aber wen? Sie konnte nur bei
der Freundin, bei dem Musikfräulein vorsprechen. Und sie tat es auch,
ohne daß sie schließlich eine Freude davon gehabt hätte. Anastasia kam
ihr vertraulich und beinah überheblich entgegen, und in begreiflicher
Verstimmung darüber kehrte Melanie nach Hause zurück. Auch hier war
nicht alles, wie es sein sollte, das Vrenel in schlechter Laune, die
Zimmer überheizt, und ihre Heiterkeit kam erst wieder, als sie Rubehns
Stimme draußen auf dem Vorflur hörte.

Und nun trat er ein.

Es war um die Teestunde, das Wasser brodelte schon, und sie nahm des
geliebten Mannes Arm und schritt plaudernd mit ihm über den dicken,
türkischen Teppich hin. Aber er litt von der Hitze, die sie mit ihrem
Taschentuche vergeblich fortzufächeln bemüht war. »Und nun sind wir im
Norden!« lachte er. »Und nun sage, haben wir im Süden je so was von
Glut und Samum auszuhalten gehabt?«

»O doch, Ruben. Entsinnst du dich noch, als wir das erstemal nach dem
Lido hinausfuhren? Ich wenigstens vergeß' es nicht. All mein Lebtag
hab' ich mich nicht so geängstigt, wie damals auf dem Schiff: erst
die Schwüle und dann der Sturm. Und dazwischen das Blitzen. Und wenn
es noch ein Blitzen gewesen wäre! Aber wie feurige Laken fiel es vom
Himmel. Und du warst so ruhig.«

»Das bin ich immer, Herz, oder such' es wenigstens zu sein. Mit unserer
Unruhe wird nichts geändert und noch weniger gebessert.«

»Ich weiß doch nicht, ob du recht hast. In unserer Angst und Sorge
beten wir, auch wir, die wir's in unseren guten Tagen an uns kommen
lassen. Und das versöhnt die Götter. Denn sie wollen, daß wir uns in
unserer Kleinheit und Hilfsbedürftigkeit fühlen lernen. Und haben sie
nicht recht?«

»Ich weiß nur, daß +du+ recht hast. Immer. Und dir zu Liebe sollen auch
die Götter recht haben. Bist du zufrieden damit?«

»Ja und nein. Was Liebe darin ist, ist gut, oder ich hör' es wenigstens
gern. Aber ...«

»Lassen wir das ›aber‹ und nehmen wir lieber unseren Tee, der uns
ohnehin schon erwartet. Und er hilft auch immer und gegen alles, und
wird uns auch aus dieser afrikanischen Hitze helfen. Um aber sicher zu
gehen, will ich doch lieber noch das Fenster öffnen.« Und er tat's, und
unter dem halb aufgezogenen Rouleau hin zog eine milde Nachtluft ein.

»Wie mild und weich,« sagte Melanie.

»Zu weich,« entgegnete Rubehn. »Und wir werden uns auf kältere
Luftströme gefaßt machen müssen.«



19

Inkognito


Melanie war froh, wieder daheim zu sein.

Was sich ihr notwendig entgegenstellen mußte, das übersah sie nicht,
und die Furcht, der Rubehn Ausdruck gegeben hatte, war auch ihre
Furcht. Aber sie war doch andrerseits sanguinischen Gemüts genug, um
der Hoffnung zu leben, sie werd' es überwinden. Und warum sollte sie's
nicht? Was geschehen erschien ihr, der Gesellschaft gegenüber, so gut
wie ausgeglichen; allem Schicklichen war genügt, alle Formen waren
erfüllt, und so gewärtigte sie nicht einer Strenge zu begegnen, zu
der die Welt in der Regel nur greift, wenn sie's zu +müssen+ glaubt,
vielleicht einfach in dem Bewußtsein davon, daß, wer in einem Glashause
wohnt, nicht mit Steinen werfen soll.

Melanie gewärtigte keines Rigorismus. Nichtsdestoweniger stimmte sie
dem Vorschlage bei, wenigstens während der nächsten Wochen noch ein
Inkognito bewahren und erst von Neujahr an die nötigsten Besuche machen
zu wollen.

So war es denn natürlich, daß man den Weihnachtsabend im engsten Zirkel
verbrachte. Nur Anastasia, Rubehns Bruder und der alte Frankfurter
Prokurist, ein versteifter und schweigsamer Junggeselle, dem sich erst
beim dritten Schoppen die Zunge zu lösen pflegte, waren erschienen,
um die Lichter am Christbaum brennen zu sehen. Und als sie brannten,
wurd' auch das Aninettchen herbeigeholt, und Melanie nahm das Kind auf
den Arm und spielte mit ihm und hielt es hoch. Und das Kind schien
glücklich und lachte und griff nach den Lichtern.

Und glücklich waren alle, besonders auch Rubehn, und wer ihn an diesem
Abende gesehen hätte, der hätte nichts von Behagen und Gemütlichkeit
an ihm vermißt. Alles Amerikanische war abgestreift.

In dem Nebenzimmer war inzwischen ein kleines Mahl serviert worden, und
als einleitend erst durch Anastasia und danach auch durch den jüngeren
Rubehn ein paar scherzhafte Gesundheiten ausgebracht worden waren,
erhob sich zuletzt auch der alte Prokurist, um »aus vollem Glas und
vollem Herzen« einen Schlußtoast zu proponieren. Das Beste des Lebens,
das wiss' er aus eigner Erfahrung, sei das Inkognito. Alles was sich
auf den Markt oder auf die Straße stelle, das tauge nichts, oder habe
doch nur Alltagswert; das, was wirklich Wert habe, das ziehe sich
zurück, das berge sich in Stille, das verstecke sich. Die lieblichste
Blume, darüber könne kein Zweifel sein, sei das Veilchen, und die
poetischste Frucht, darüber könne wiederum kein Zweifel sein, sei die
Walderdbeere. Beide versteckten sich aber, beide ließen sich suchen,
beide lebten sozusagen inkognito. Und somit lasse er das Inkognito
leben, oder die Inkognitos, denn Singular oder Plural sei ihm durchaus
gleichgültig:

    Das oder die,
    Ein volles Glas für Melanie;
    Die oder das,
    Für Ebenezer ein volles Glas.

Und danach fing er an zu singen.

Erst zu später Stunde trennte man sich und Anastasia versprach, am
andern Tage zu Tisch wieder zu kommen; abermals einen Tag später aber
(Rubehn war eben in die Stadt gegangen), erschien das Vrenel, um in
ihrem Schweizer Deutsch und zugleich in sichtlicher Erregung den
Polizeirat Reiff zu melden. Und sie beruhigte sich erst wieder, als
ihre junge Herrin antwortete: »Ah, sehr willkommen. Ich lasse bitten,
einzutreten.«

Melanie ging dem Angemeldeten entgegen. Er war ganz unverändert:
derselbe Glanz im Gesicht, derselbe schwarze Frack, dieselbe weiße
Weste.

»Welche Freude, Sie wiederzusehen, lieber Reiff,« sagte Melanie und
wies mit der Rechten auf einen neben ihr stehenden Fauteuil. »Sie waren
immer mein guter Freund, und ich denke, Sie bleiben es.«

Reiff versicherte etwas von unveränderter Devotion und tat Fragen über
Fragen. Endlich aber ließ er durch Zufall oder Absicht auch den Namen
Van der Straatens fallen.

Melanie blieb unbefangen und sagte nur: »Den Namen dürfen Sie nicht
nennen, lieber Reiff, wenigstens jetzt nicht. Nicht als ob er mir
unfreundliche Bilder weckte. Nein, o nein. Wäre das, so dürften Sie's.
Aber gerade weil mir der Name nichts Unfreundliches zurückruft, weil
ich nur weiß, ihm, der ihn trägt, wehe getan zu haben, so quält und
peinigt er mich. Er mahnt mich an ein Unrecht, das dadurch nicht
kleiner wird, daß ich es in meinem Herzen nicht recht als Unrecht
empfinde. Also nichts von ihm. Und auch nichts ...« Und sie schwieg
und fuhr erst nach einer Weile fort: »Ich habe nun mein Glück, ein
wirkliches Glück; ~mais il faut payer pour tout et deux fois pour notre
bonheur~.«

Der Polizeirat stotterte eine verlegene Zustimmung, weil er nicht recht
verstanden hatte.

»Wir aber, lieber Reiff,« nahm Melanie wieder das Wort, »wir müssen
einen neutralen Boden finden. Und das werden wir. Das zählt ja zu den
Vorzügen der großen Stadt. Es gibt immer hundert Dinge, worüber sich
plaudern läßt. Und nicht bloß um Worte zu machen, nein, auch mit dem
Herzen. Nicht wahr? Und ich rechne darauf, Sie wiederzusehen.«

Und bald danach empfahl sich Reiff, um die Droschke, darin er gekommen
war, nicht allzulange warten zu lassen. Melanie aber sah ihm nach
und freute sich, als er wenige Häuser entfernt dem aus der Stadt
zurückkommenden Rubehn begegnete. Beide grüßten einander.

»Reiff war hier,« sagte Rubehn, als er einen Augenblick später eintrat.
»Wie fandest du ihn?«

»Unverändert. Aber verlegener, als ein Polizeirat sein sollte.«

»Schlechtes Gewissen. Er hat dich aushorchen wollen.«

»Glaubst du?«

»Zweifellos. Einer ist wie der andre. Nur ihre Manieren sind
verschieden. Und Reiff hat die Harmlosigkeitsallüren. Aber vor dieser
Spezies muß man doppelt auf der Hut sein. Und so lächerlich es ist, ich
kann den Gedanken nicht unterdrücken, daß wir morgen ins schwarze Buch
kommen.«

»Du tust ihm unrecht. Er hat ein Attachement für mich. Oder ist es
meinerseits bloß Eitelkeit und Einbildung?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber diese guten Herren, ... ihr
bester Freund, ihr leiblicher Bruder, ist nie sicher vor ihnen. Und
wenn man sich darüber erstaunt oder beklagt, so heißt es ironisch und
achselzuckend: ~c'est mon métier~.«

       *       *       *       *       *

Eine Woche später hatte das neue Jahr begonnen und der Zeitpunkt
war da, wo das junge Paar aus seinem Inkognito heraustreten wollte.
Wenigstens Melanie. Sie war noch immer nicht bei Jakobine gewesen, und
wiewohl sie sich, in Erinnerung an den unbeantwortet gebliebenen Brief,
nicht viel gutes von diesem Besuche versprechen konnte, so mußt' er
doch auf jede Gefahr hin gemacht werden. Sie mußte Gewißheit haben,
wie sich die Gryczinskis stellen wollten.

Und so fuhr sie denn nach der Alsenstraße.

Schwereren Herzens als sonst stieg sie die mit Teppich belegte Treppe
hinauf und klingelte. Und bald konnte sie hinter der Korridor-Glaswand
ein Hin- und Herhuschen erkennen. Endlich aber wurde geöffnet.

»Ah, Emmy. Ist meine Schwester zu Haus?«

»Nein, Frau Kommerzien... Ach, wie die gnädige Frau bedauern wird! Aber
Frau von Heysing waren hier und haben die gnädige Frau zu dem großen
Bilde abgeholt. Ich glaube ›die Fackeln des Nero‹.«

»Und der Herr Major?«

»Ich weiß es nicht,« sagte das Mädchen verlegen. »Er wollte fort. Aber
ich will doch lieber erst ...«

»O nein, Emmy, lassen Sie's. Es ist gut so. Sagen Sie meiner Schwester,
oder der gnädigen Frau, daß ich da war. Oder besser, nehmen Sie meine
Karte ...«

Danach grüßte Melanie kurz und ging.

Auf der Treppe sagte sie leise vor sich hin: »Das ist +er+. Sie ist ein
gutes Kind und liebt mich.« Und dann legte sie die Hand aufs Herz und
lächelte: »Schweig stille, mein Herze.«

Rubehn, als er von dem Ausfall des Besuches hörte, war wenig
überrascht, und noch weniger, als am andern Morgen ein Brief eintraf,
dessen zierlich verschlungenes J. v. G. über die Absenderin keinen
Zweifel lassen konnte. Wirklich, es waren Zeilen von Jakobine. Sie
schrieb:

»Meine liebe Melanie. Wie hab' ich es bedauert, daß wir uns verfehlen
mußten. Und nach so langer Zeit! Und nachdem ich Deinen lieben, langen
Brief unbeantwortet gelassen habe! Er war so reizend, und selbst
Gryczinski, der doch so kritisch ist und alles immer auf Disposition
hin ansieht, war eigentlich entzückt. Und nur an der einen Stelle
nahm er Anstoß, daß alles Heil und aller Trost nach wie vor aus Rom
kommen solle. Das verdroß ihn, und er meinte, daß man dergleichen auch
nicht im Scherze sagen dürfe. Und meine Verteidigung ließ er nicht
gelten. Die meisten Gryczinskis sind nämlich noch katholisch und ich
denke mir, daß er so streng und empfindlich ist, weil er es persönlich
los sein und von sich abwälzen möchte. Denn sie sind immer noch sehr
diffizil oben, und Gryczinski, wie Du weißt, ist zu klug, als daß er
etwas wollen sollte, was man oben +nicht+ will. Aber es ändert sich
vielleicht wieder. Und ich bekenne Dir offen, +mir+ wär' es recht,
und ich für mein Teil hätte nichts dagegen, sie sprächen erst wieder
von etwas anderm. Ist es denn am Ende wirklich so wichtig und eine
so brennende Frage? Und wär' es nicht wegen der vielen Toten und
Verwundeten, so wünscht' ich mir einen neuen Krieg. (Es heißt übrigens,
sie rechneten schon wieder an einem.) Und +hätten+ wir den Krieg, so
wären wir die ganze Frage los und Gryczinski wäre Oberstleutnant.
Denn er ist der dritte. Und ein paar von den alten Generälen, oder
wenigstens von den ganz alten, werden doch wohl endlich abgehen müssen.

Aber ich schwatze von Krieg und Frieden und von Gryczinski und von mir,
und vergesse ganz nach Dir und nach Deinem Befinden zu fragen. Ich bin
überzeugt, daß es Dir gut geht und daß Du mit dem Wechsel in allen
wesentlichen Stücken zufrieden bist. Er ist reich und jung, und bei
Deinen Lebensanschauungen, mein' ich, kann es Dich nicht unglücklich
machen, daß er unbetitelt ist. Und am Ende, wer jung ist, hofft auch
noch. Und Frankfurt ist ja jetzt preußisch. Und da findet es sich wohl
noch.

Ach, meine liebe Melanie, wie gerne wär' ich selbst gekommen, und hätte
nach allem Großen und Kleinen gesehen, ja, auch nach allem Kleinen,
und wem es eigentlich ähnlich ist. Aber er hat es mir verboten und hat
auch dem Diener gesagt, ›daß wir nie zu Hause sind‹. Und Du weißt, daß
ich nicht den Mut habe, ihm zu widersprechen. Ich meine, wirklich zu
widersprechen. Denn etwas widersprochen hab' ich ihm. Aber da fuhr er
mich an und sagte: ›Das unterbleibt. Ich habe nicht Lust um solcher
Allotria willen beiseite geschoben zu werden. Und sieh dich vor,
Jakobine. Du bist ein entzückendes kleines Weib (er sagte wirklich
so), aber ihr seid wie die Zwillinge, wie die Druväpfel und es spukt
dir auch so was im Blut. Ich bin aber nicht Van der Straaten und führe
keine Generositätskomödien auf. Am wenigsten auf meine Kosten‹. Und
dabei warf er mir ~de haut en bas~ eine Kußhand zu und ging aus dem
Zimmer.

Und was tat ich? Ach, meine liebe Melanie, nichts. Ich habe nicht
einmal geweint. Und nur erschrocken war ich. Denn ich fühle, daß er
recht hat und daß eine sonderbare Neugier in mir steckt. Und darin
treffen es die Bibelleute, wenn sie so vieles auf unsere Neugier
schieben ... Elimar, der freilich nicht mit zu den Bibelleuten gehört,
sagte mal zu mir: ›Das Hübscheste sei doch das Vergleichenkönnen.‹
Er meinte, glaub' ich, in der Kunst. Aber die Frage beschäftigt mich
seitdem, und ich glaube kaum, daß es sich auf die Kunst beschränkt.
Übrigens hat Gryczinski noch in diesem Winter oder doch im Frühjahr
eine kleine Generalstabsreise vor. Und dann sehe ich Dich. Und wenn er
wiederkommt, so beicht' ich ihm alles. Ich kann es dann. Er ist dann
immer so zärtlich. Und ein Blaubart ist er überhaupt nicht. Und bis
dahin Deine

            Jakobine.«

Melanie ließ das Blatt fallen und Rubehn nahm es auf. Er las nun auch
und sagte: »Ja, Herz, das sind die Tage, von denen es heißt, sie
gefallen uns nicht. Ach, und sie +beginnen+ erst. Aber laß, laß. Es
rennt sich alles tot und am ehesten +das+.«

Und er ging an den Flügel und spielte laut und mit einem Anfluge
heiterer Übertreibung: »Mit meinem Mantel vor dem Sturm beschützt' ich
dich, beschützt' ich dich.«

Und dann erhob er sich wieder und küßte sie, und sagte: »~Cheer up,
dear!~«



20

Liddi


»~Cheer up, dear~,« hatte Rubehn Melanie zugerufen und sie wollte
dem Zurufe folgen. Aber es glückte nicht, konnte nicht glücken, denn
jeder neue Tag brachte neue Kränkungen. Niemand war für sie zu Haus,
ihr Gruß wurde nicht erwidert, und ehe der Winter um war, wußte sie,
daß man sie, nach einem stillschweigenden Übereinkommen, in den
Bann getan habe. Sie war tot für die Gesellschaft, und die tiefe
Niedergedrücktheit ihres Gemüts hätte sie zur Verzweiflung geführt,
wenn ihr nicht Rubehn in dieser Bedrängnis zur Seite gestanden hätte.
Nicht nur in herzlicher Liebe, nein vor allem auch in jener heitren
Ruhe, die sich der Umgebung entweder mitzuteilen oder wenigstens
nicht ohne stillen Einfluß auf sie zu bleiben pflegt. »Ich kenne das,
Melanie. Wenn es in London etwas ganz Apartes gibt, so heißt es »~it is
a nine days wonder~,« und mit diesen neun Tagen ist das höchste Maß von
Erregungsandauer ausgedrückt. Das ist in London. Hier dauert es etwas
länger, weil wir etwas kleiner sind. Aber das Gesetz bleibt dasselbe.
Jedes Wetter tobt sich aus. Eines Tages haben wir wieder den Regenbogen
und das Fest der Versöhnung.«

»Die Gesellschaft ist unversöhnlich.«

»Im Gegenteil. Zu Gerichte sitzen, ist ihr eigentlich unbequem. Sie
weiß schon warum. Und so wartet sie nur auf das Zeichen, um das große
Hinrichtungsschwert wieder in die Scheide zu stecken.«

»Aber dazu muß etwas geschehen.«

»Und das wird. Es bleibt selten aus und in den milderen Fällen
eigentlich nie. Wir haben einen Eindruck gemacht und müssen ehrlich
bemüht sein, einen andern zu machen. Einen entgegengesetzten. Aber auf
demselben Gebiete ... Du verstehst?«

Sie nickte, nahm seine Hand und sagte: »Und ich schwöre dir's, ich
will. Und wo die Schuld lag, soll auch die Sühne liegen. Oder sag' ich
lieber, der Ausgleich. Auch +das+ ist ein Gesetz, so hoff' ich. Und das
schönste von allen. Es braucht nicht alles Tragödie zu sein.«

In diesem Augenblicke wurde durch den Diener eine Karte hereingegeben:
»Friederike Sawat v. Sawatzki, genannt Sattler v. d. Hölle,
Stiftsanwärterin auf Kloster Himmelpfort in der Uckermark.«

»O, laß uns allein, Ruben,« bat Melanie, während sie sich erhob und
der alten Dame bis auf den Vorflur entgegenging. »Ach, mein liebes
Riekchen! Wie mich das freut, daß du kommst, daß du da bist. Und wie
schwer es dir geworden sein muß ... Ich meine nicht bloß die drei
Treppen ... Ein halbes Stiftsfräulein und jeden Sonntag in Sankt
Matthäi! Aber die Frommen, wenn sie's wirklich sind, sind immer noch
die Besten. Und sind gar nicht so schlimm. Und nun setze dich, mein
einziges, liebes Riekchen, meine liebe, alte Freundin!«

Und während sie so sprach, war sie bemüht, ihr beim Ablegen behilflich
zu sein und das Seidenmäntelchen an einen Haken zu hängen, an den die
Kleine nicht heranreichen konnte.

»Meine liebe, alte Freundin,« wiederholte Melanie. »Ja, das warst du,
Riekchen, das bist du gewesen. Eine rechte Freundin, die mir immer
zum Guten geraten und nie zum Munde gesprochen hat. Aber es hat nicht
geholfen, und ich habe nie begriffen, wie man Grundsätze haben kann
oder Prinzipien, was eigentlich dasselbe meint, aber mir immer noch
schwerer und unnötiger vorgekommen ist. Ich hab' immer nur getan,
was ich wollte, was mir gefiel, wie mir gerade zumute war. Und ich
kann es auch so schrecklich nicht finden. Auch jetzt noch nicht. Aber
gefährlich ist es, so viel räum' ich ein, und ich will es anders zu
machen suchen. Will es lernen. Ganz bestimmt. Und nun erzähle. Mir
brennen hundert Fragen auf der Seele.«

Riekchen war verlegen eingetreten und auch verlegen geblieben, jetzt
aber sagte sie, während sie die Augen niederschlug und dann wieder
freundlich und fest auf Melanie richtete: »Habe doch mal sehen wollen
... Und ich bin auch nicht hinter seinem Rücken hier. Er weiß es und
hat mir zugeredet.«

Melanie flogen die Lippen. »Ist er erbittert? Sag', ich will es hören.
Aus +deinem+ Munde kann ich alles hören. In den Weihnachtstagen war
Reiff hier. Da mocht' ich es nicht. Es ist doch ein Unterschied, +wer+
spricht. Ob die Neugier oder das Herz. Sag', ist er erbittert?«

Die Kleine bewegte den Kopf hin und her und sagte: »Wie denn!
Erbittert! Wär' er erbittert, so wär' ich nicht hier. Er war
unglücklich und ist es noch. Und es zehrt und nagt an ihm. Aber seine
Ruhe hat er wieder. Das heißt, so vor den Menschen. Und dabei bleibt
es, denn er war dir sehr gut, Melanie, so gut er nur einem Menschen
sein konnte. Und du warst sein Stolz, und er freute sich, wenn er dich
sah.«

Melanie nickte.

»Sieh, Herzenskind, du hast nicht anders gekonnt, weil du das andre
nicht gelernt hattest, das andre, worauf es ankommt, und weil du nicht
wußtest, was der Ernst des Lebens ist. Und Anastasia sang wohl immer:
›Wer nie sein Brot mit Tränen aß‹ und Elimar drehte dann das Blatt um.
Aber singen und erleben ist ein Unterschied. Und du hast das Tränenbrot
nicht gegessen und Anastasia hat es nicht gegessen, und Elimar auch
nicht. Und so kam es, daß du nur getan hast, was dir gefiel oder wie
dir zumute war. Und dann bist du von den Kindern fortgegangen, von den
lieben Kindern, die so hübsch und so fein sind, und hast sie nicht
einmal sehen wollen. Hast dein eigen Fleisch und Blut verleugnet. Ach,
mein armes, liebes Herz, das kannst du vor Gott und Menschen nicht
verantworten.«

Es war, als ob die Kleine noch weiter sprechen wollte. Aber Melanie
war aufgesprungen und sagte: »Nein, Riekchen, an dieser Stelle hört es
auf. Hier tust du mir unrecht. Sieh, du kennst mich so gut und so lange
schon, und fast war ich selber noch ein Kind, als ich ins Haus kam.
Aber das eine mußt du mir lassen: ich habe nie gelogen und geheuchelt,
und hab' umgekehrt einen wahren Haß gehabt, mich besser zu machen als
ich bin. Und diesen Haß hab' ich noch. Und so sag' ich dir denn, das
mit den Kindern, mit meiner süßen kleinen Heth, die wie der Vater
aussieht und doch gerade so lacht und so fahrig ist wie die Frau Mama,
nein, Riekchen, das mit den Kindern, +das+ trifft mich nicht.«

»Und bist doch ohne Blick und Abschied gegangen.«

»Ja, das bin ich, und ich weiß es wohl, manch andre hätt' es +nicht+
getan. Aber wenn man auf etwas an und für sich Trauriges stolz sein
darf, so bin ich stolz darauf. Ich wollte gehn, das stand fest. Und
wenn ich die Kinder sah, so konnt' ich nicht gehn. Und so hatt' ich
denn meine Wahl zu treffen. Ich mag eine falsche Wahl getroffen haben,
in den Augen der Welt hab' ich es gewiß, aber es war wenigstens ein
klares Spiel und offen und ehrlich. Wer aus der Ehe fortläuft und aus
keinem andern Grund als aus Liebe zu einem andern Manne, der begibt
sich des Rechts, nebenher auch noch die zärtliche Mutter zu spielen.
Und das ist die Wahrheit. Ich bin ohne Blick und ohne Abschied
gegangen, weil es mir widerstand, Unheiliges und Heiliges durcheinander
zu werfen. Ich wollte keine sentimentale Verwirrung. Es steht mir nicht
zu, mich meiner Tugend zu berühmen. Aber eins hab' ich wenigstens,
Riekchen: ich habe feine Nerven für das, was paßt und nicht paßt.«

»Und möchtest du jetzt sie sehen?«

»Heute lieber als morgen. Jeden Augenblick. Bringst du sie?«

»Nein, nein, Melanie, du bist zu rasch. Aber ich habe mir einen Plan
ausgedacht. Und wenn er glückt, so laß' ich wieder von mir hören. Und
ich komm' entweder oder ich schreibe oder Jakobine schreibt. Denn
Jakobine muß uns dabei helfen. Und nun Gott befohlen, meine liebe,
liebe Melanie. Laß nur die Leute. Du bist doch ein liebes Kind. Leicht,
leicht, aber das Herz sitzt an der richtigen Stelle. Und nun Gott
befohlen, mein Schatz.«

Und sie ging und weigerte sich das Mäntelchen anzuziehn, weil sie gerne
rasch abbrechen wollte. Aber eine Treppe tiefer blieb sie stehn und
half sich mit einiger Mühe selbst in die kleinen Ärmel hinein.

       *       *       *       *       *

Melanie war überaus glücklich über diesen Besuch, zugleich sehnsüchtig
erwartungsvoll, und mitunter war es ihr, als träte das Kleine, das
nebenan in der Wiege lag, neben dieser Sehnsucht zurück. Gehörte sie
doch ganz zu jenen Naturen, in deren Herzen eines immer den Vorrang
behauptet.

Und so vergingen Wochen, und Ostern war schon nahe heran, als endlich
ein Billett abgegeben wurde, dem sie's ansah, daß es ihr gute Botschaft
bringe. Es war von der Schwester, und Jakobine schrieb:

»Meine liebe Melanie! Wir sind allein, und gesegnet seien die
Landesvermessungen! Es sind das, wie Du vielleicht weißt, die hohen,
dreibeinigen Gestelle, die man, wenn man mit der Eisenbahn fährt,
überall deutlich erkennen kann und wo die Mitfahrenden im Coupé
jedesmal fragen: ›Mein Gott, was ist das?‹ Und es ist auch nicht zu
verwundern, denn es sieht eigentlich aus wie ein Malerstuhl, nur daß
der Maler sehr groß sein müßte. Noch größer und langbeiniger als
Gabler. Und erst in vierzehn Tagen kommt er zurück, worauf ich mich
sehr, sehr freue und eigentlich schon Sehnsucht habe. Denn er hat doch
entschieden +das+, was uns Frauen gefällt. Und früher hat er Dir auch
gefallen, ja Herz, das kannst Du nicht leugnen, und ich war mitunter
eifersüchtig, weil Du klüger bist als ich, und das haben sie gern.
Aber weshalb ich eigentlich schreibe! Riekchen war hier und hat es mir
ans Herz gelegt, und so denk' ich, wir säumen keinen Augenblick länger
und Du kommst morgen um die Mittagsstunde. Da werden sie hier sein und
Riekchen auch. Aber wir haben nichts gesagt und sie sollen überrascht
werden. Und ich bin glücklich, meine Hand zu so was Rührendem bieten
zu können. Denn ich denke mir, Mutterliebe bleibt doch das Schönste
... Ach, meine liebe Melanie! ... Aber ich schweige, Gryczinskis
drittes Wort ist ja, daß es im Leben darauf ankomme, seine Gefühle zu
beherrschen ... Ich weiß doch nicht, ob er recht hat. Und nun lebe
wohl. Immer Deine

            J. v. G.«

Melanie war nach Empfang dieser Zeilen in einer Aufregung, die sie
weder verbergen konnte noch wollte. So fand sie Rubehn und geriet in
wirkliche Sorge, weil er aus Erfahrung wußte, daß solchen Überreizungen
immer ein Rückschlag und solchen hochgespannten Erwartungen immer
eine Enttäuschung zu folgen pflegt. Er suchte sie zu zerstreuen und
abzuziehen, und war endlich froh, als der andere Morgen da war.

Es war ein klarer Tag und eine milde Luft, und nur ein paar weiße
Wölkchen schwammen oben im Blau. Melanie verließ das Haus noch vor der
verabredeten Stunde, um ihren Weg nach der Alsenstraße hin anzutreten.
Ach, wie wohl ihr diese Luft tat! Und sie blieb öfters stehen, um
sie begierig einzusaugen und sich an den stillen Bildern erwachenden
Lebens und einer hier und da schon knospenden Natur zu freuen. Alle
Hecken zeigten einen grünen Saum und an den geharkten Stellen, wo man
das abgefallene Laub an die Seite gekehrt hatte, keimten bereits die
grünen Blättchen des Gundermann und einmal war es ihr, als schöss'
eine Schwalbe mit schrillem aber heiterem Ton an ihr vorüber. Und so
passierte sie den Tiergarten in seiner ganzen Breite, bis sie zuletzt
den kleinen, der Alsenstraße unmittelbar vorgelegenen Platz erreicht
hatte, den sie den »kleinen Königsplatz« nennen. Hier setzte sie sich
auf eine Bank und fächelte sich mit ihrem Tuch und hörte deutlich, wie
ihr das Herz schlug.

»In welche Wirrnis geraten wir, sowie wir die Straße des Hergebrachten
verlassen und abweichen von Regel und Gesetz. Es nutzt uns nichts,
daß wir uns selber freisprechen. Die Welt ist doch stärker als wir und
besiegt uns schließlich in unserem eigenen Herzen. Ich glaubte recht
zu tun, als ich ohne Blick und Abschied von meinen Kindern ging, ich
wollte kein Rührspiel; entweder oder dacht' ich. Und ich glaub' auch
noch, daß ich recht gedacht habe. Aber was hilft es mir? Was ist das
Ende? Eine Mutter, die sich vor ihren Kindern fürchtet.«

Dies Wort richtete sie wieder auf. Ein trotziger Stolz, der neben aller
Weichheit in ihrer Natur lag, regte sich wieder und sie ging rasch auf
das Gryczinskische Haus zu.

Die Portiersleute, Mann und Frau, und zwei halberwachsene Töchter,
mußten schon auf dem Hintertreppenwege von dem bevorstehenden
Ereignisse gehört haben, denn sie hatten sich in die halbgeöffnete
Souterraintür postiert und guckten einander über die Köpfe fort.
Melanie sah es und sagte vor sich hin: »~A nine days wonder!~ Ich bin
eine Sehenswürdigkeit geworden. Es war mir immer das schrecklichste.«

Und nun stieg sie hinauf und klingelte. Riekchen war schon da, die
Schwestern küßten sich und sagten sich Freundlichkeiten über ihr
gegenseitiges Aussehen. Und alles verriet Aufregung und Freude.

Das Wohn- und Empfangszimmer, in das man jetzt eintrat, war ein
großer und luftiger, aber im Verhältnis zu seiner Tiefe nur schmaler
Raum, dessen zwei große Fenster (ohne Pfeiler dazwischen) einen
nischenartigen Ausbau bildeten. Etwas Feierliches herrschte vor, und
die roten, von beiden Seiten her halb zugezogenen Gardinen gaben
ein gedämpftes, wundervolles Licht, das auf den weißen Tapeten
reflektierte. Nach hinten zu, der Fensternische gegenüber, bemerkte man
eine hohe Tür, die nach dem dahinter gelegenen Eßzimmer führte.

Melanie nahm auf einem kleinen Sofa neben dem Fenster Platz, die beiden
anderen Damen mit ihr, und Jakobine versuchte nach ihrer Art eine
Plauderei. Denn sie war ohne jede tiefere Bewegung und betrachtete
das Ganze vom Standpunkt einer dramatischen Matinee. Riekchen aber,
die wohl wahrnahm, daß die Blicke Melanies immer nur nach der +einen+
Stelle hin gerichtet waren, unterbrach endlich das Gespräch und sagte:
»Laß Binchen. Ich werde sie nun holen.«

Eine peinliche Stille trat ein, Jakobine wußte nichts mehr zu sagen
und war herzlich froh, als eben jetzt vom Platze her die Musik eines
vorüberziehenden Garderegiments hörbar wurde. Sie stand auf, stellte
sich zwischen die Gardinen, und sah nach rechts hinaus ... »es sind die
Ulanen,« sagte sie. »Willst du nicht auch ...« Aber ehe sie noch ihren
Satz beenden konnte, ging die große Flügeltür auf und Riekchen, mit den
beiden Kindern an der Hand, trat ein.

Die Musik draußen verklang.

Melanie hatte sich rasch erhoben und war den verwundert und beinah
erschrocken dastehenden Kindern entgegengegangen. Als sie aber sah,
daß Lydia einen Schritt zurück trat, blieb auch +sie+ stehen und ein
Gefühl ungeheurer Angst überkam sie. Nur mit Mühe brachte sie die Worte
heraus: »Heth, mein süßer, kleiner Liebling ... Komm ... Kennst du
deine Mutter nicht mehr?«

Und ihre ganze Kraft zusammen nehmend, hatte sie sich bis dicht an die
Türe vorbewegt und bückte sich, um Heth mit beiden Händen in die Höhe
zu heben. Aber Lydia warf ihr einen Blick bitteren Hasses zu, riß das
Kind am Achselbande zurück und sagte: »Wir haben keine Mutter mehr.«

Und dabei zog und zwang sie die halb widerstrebende Kleine mit sich
fort und zu der halb offen gebliebenen Tür hinaus.

Melanie war ohnmächtig zusammengesunken.

Eine halbe Stunde später hatte sie sich so weit wieder erholt, daß sie
zurückfahren konnte. Jede Begleitung war von ihr abgelehnt worden.
Riekchens Weisheiten und Jakobinens Albernheiten mußten ihr in ihrer
Stimmung gleich unerträglich erscheinen.

Als sie fort war, sagte Jakobine zu Riekchen: »Es hat doch einen
rechten Eindruck auf mich gemacht. Und Gryczinski darf gar nichts davon
erfahren. Er ist ohnehin gegen Kinder. Und er würde mir doch nur sagen:
›Da siehst du, was dabei heraus kommt. Undank und Unnatur.‹«



21

In der Nikolaikirche


Es schlug zwei von dem kleinen Hoftürmchen des Nachbarhauses,
als Melanie wieder in ihre Wohnung eintrat. Das Herz war ihr zum
Zerspringen, und sie sehnte sich nach Aussprache. Dann, das wußte sie,
kamen ihr die Tränen und in den Tränen Trost.

Aber Ruben blieb heute länger aus als gewöhnlich und zu den anderen
Ängsten ihres Herzens gesellte sich auch noch das Bangen und Sorgen um
den geliebten Mann. Endlich kam er; es war schon Spätnachmittag und
die drüben hinter dem kahlen Gezweig niedersteigende Sonne warf eine
Fülle greller Lichter durch die kleinen Mansardenfenster. Aber es war
kalt und unheimlich, und Melanie sagte, während sie dem Eintretenden
entgegenging: »Du bringst so viel Kälte mit, Ruben. Ach, und ich sehne
mich nach Licht und Wärme.«

»Wie du nur bist,« entgegnete Rubehn in sichtlicher Zerstreutheit,
während er doch seine gewöhnliche Heiterkeit zu zeigen trachtete.
»Wie du nur bist! Ich sehe nichts als Licht, ein wahrer ~embarras de
richesse~, auf jedem Sofakissen und jeder Stuhllehne, und das Ofenblech
flimmert und schimmert, als ob es Goldblech wäre. Und du sehnst dich
nach Licht! Ich bitte dich, mich blendet's, und ich wollt', es wäre
weniger oder wäre fort.«

»Du wirst nicht lange darauf zu warten haben.«

Er war im Zimmer auf und ab gegangen. Jetzt blieb er stehen und sagte
teilnehmend: »Ich vergesse nach der Hauptsache zu fragen. Verzeihe. Du
warst bei Jakobine. Wie lief es ab? Ich fürchte, nicht gut. Ich lese
so was aus deinen Augen. Und ich hatt' auch eine Ahnung davon, gleich
heute früh, als ich in die Stadt fuhr. Es war kein glücklicher Tag.«

»Auch für dich nicht?«

»Nicht der Rede wert. ~A shadow of a shadow.~«

Er hatte sich in den zunächststehenden Fauteuil niedergelassen und
griff mechanisch nach einem Album, das auf dem Sofatische lag. Seiner
oft ausgesprochenen Ansicht nach war dies die niedrigste Form aller
geistigen Beschäftigung, und so durft' es nicht überraschen, daß er
während des Blätterns über das Buch fortsah und wiederholentlich
fragte: »Wie war es? Ich bin begierig zu hören.«

Aber sie konnte nur zu gut erkennen, daß er +nicht+ begierig war zu
hören, und so sehr es sie nach Aussprache verlangt hatte, so schwer
wurd' es ihr jetzt, ein Wort zu sagen, und sie verwirrte sich mehr
als einmal, als sie, um ihm zu willfahren, von der tiefen Demütigung
erzählte, die sie von ihrem eigenen Kinde hatte hinnehmen müssen.

Rubehn war aufgestanden und versuchte sie durch ein paar hingeworfene
Worte zu beruhigen, aber es war nicht anders, wie wenn einer einen
Spruch herbetet.

»Und das ist alles, was du mir zu sagen hast?« fragte sie. »Ruben, mein
Einziger, soll ich auch +dich+ verlieren?!« Und sie stellte sich vor ihn
hin und sah ihn starr an.

»O, sprich nicht so. Verlieren! Wir können uns nicht verlieren. Nicht
wahr, Melanie, wir können uns nicht verlieren?« Und hierbei wurde seine
Stimme momentan inniger und weicher. »Und was die Kinder angeht,« fuhr
er nach einer Weile fort, »nun, die Kinder sind eben Kinder. Und eh'
sie groß sind, ist viel Wasser den Rhein hinuntergelaufen. Und dann
darfst du nicht vergessen, es waren nicht gerade die glänzendsten
~metteurs en scène~, die es in die Hand nahmen. Unser Riekchen ist
lieb und gut, und du hast sie gern, zu gern vielleicht; aber auch du
wirst nicht behaupten wollen, daß die Stiftsanwärterin auf Kloster
Himmelpfort an die Pforten ewiger Weisheit geklopft habe. Jedenfalls
ist ihr nicht aufgemacht worden. Und Jakobine! ~Pardon~, sie hat etwas
von einer Prinzessin, aber von einer, die die Lämmer hütet.«

»Ach, Ruben,« sagte Melanie, »du sagst so vieles durcheinander. Aber
das rechte Wort sagst du nicht. Du sagst nichts, was mich aufrichten,
mich vor mir selbst wieder herstellen könnte. Mein eigen Kind hat mir
den Rücken gekehrt. Und daß es noch ein Kind ist, das gerade ist das
Vernichtende. Das richtet mich.«

Er schüttelte den Kopf und sagte: »Du nimmst es zu schwer. Und glaubst
du denn, daß Mütter und Väter außerhalb aller Kritik stehen?«

»Wenigstens außerhalb +der+ ihrer Kinder.«

»Auch +der+ nicht. Im Gegenteil, die Kinder sitzen überall zu Gericht,
still und unerbittlich. Und Lydia war immer ein kleiner Großinquisitor,
wenigstens genferischen Schlages, und an ihr läßt sich die
Rückschlagstheorie studieren. Ihr Urahne muß mitgestimmt haben, als man
Servet verbrannte. Mich hätte sie gern mit auf dem Holzstoß gesehen, so
viel steht fest. Und nun, laß uns schweigen davon. Ich muß noch in die
Stadt.«

»Ich bitte dich, was ist? Was gibts?«

»Eine Konferenz. Und es wird sich nicht vermeiden lassen, daß wir nach
ihrem Abschluß zusammen bleiben. Ängstige dich nicht und vor allem
erwarte mich nicht. Ich hasse junge Frauen, die beständig am Fenster
passen, ›ob er noch nicht kommt‹ und mit dem Wächter unten auf du und
du stehen, nur, um immer eine Heil-Ablieferungsgarantie zu haben. Ich
perhorresziere das. Und das beste wird sein, du gehst früh zu Bett
und schläfst es aus. Und wenn wir uns morgen früh wiedersehen, wirst
du mir vielleicht zustimmen, daß Lydia Bescheidenheit lernen muß und
daß zehnjährige dumme Dinger, Fräulein Liddi mit eingeschlossen, nicht
dazu da sind, sich zu Sittenrichterinnen ihrer eigenen Frau Mama
aufzuwerfen.«

»Ach, Ruben, das sagst du nur so. Du fühlst es anders und bist zu klug
und zu gerecht, als daß du nicht wissen solltest, das Kind hat recht.«

»Es mag recht haben. Aber ich auch. Und jedenfalls gibt es Ernsteres
als das. Und nun Gott befohlen.«

Und er nahm seinen Hut und ging.

Melanie wachte noch, als Rubehn wieder nach Hause kam. Aber erst am
andern Morgen fragte sie nach der Konferenz und bemühte sich darüber
zu scherzen. Er seinerseits antwortete in gleichem Ton und war wie
gestern ersichtlich bemüht, mit Hilfe lebhaften Sprechens einen Schirm
aufzurichten, hinter dem er, was eigentlich in ihm vorging, verbergen
konnte.

So vergingen Tage. Seine Lebhaftigkeit wuchs, aber mit ihr auch seine
Zerstreutheit, und es kam vor, daß er mehrere Male dasselbe fragte.
Melanie schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bitte dich, Ruben, wo bist
du? sprich.« Aber er versicherte nur, »es sei nichts, und sie forsche,
wo nichts zu forschen sei. Zerstreutheit wäre ein Erbstück in der
Familie, kein gutes, aber es sei einmal da, und sie müsse sich damit
einleben und daran gewöhnen«. Und dann ging er, und sie fühlte sich
freier, wenn er ging. Denn das rechte Wort wurde nicht gesprochen und
+er+, der die Last ihrer Einsamkeit verringern sollte, verdoppelte sie
nur durch seine Gegenwart.

Und nun war Ostern. Anastasia sprach am Ostersonntag auf eine halbe
Stunde vor, aber Melanie war froh, als das Gespräch ein Ende nahm und
die mehr und mehr unbequem werdende Freundin wieder ging. Und so kam
auch der zweite Festtag, unfestlich und unfreundlich wie der erste,
und als Rubehn über Mittag erklärte, »daß er abermals eine Verabredung
habe«, konnte sie's in ihrer Herzensangst nicht länger ertragen und
sie beschloß in die Kirche zu gehen und eine Predigt zu hören. Aber
wohin? Sie kannte Prediger nur von Taufen und Hochzeiten her, wo sie,
neben Frommen und Nichtfrommen, manch liebes Mal bei Tisch gesessen
und beim Nachhausekommen immer versichert hatte: »Geht mir doch mit
eurem Pfaffenhaß. Ich habe mich mein Lebtag nicht so gut unterhalten,
wie heute mit Pastor Käpsel. Ist das ein reizender alter Herr! Und
so humoristisch und beinahe witzig. Und schenkt einem immer ein und
stößt an und trinkt selber mit, und sagt einem verbindliche Sachen.
Ich begreif' euch nicht. Er ist doch interessanter als Reiff oder gar
Duquede.«

Aber nun eine Predigt! Es war seit ihrem Einsegnungstage, daß sie keine
mehr gehört hatte.

Endlich entsann sie sich, daß ihr Christel von Abendgottesdiensten
erzählt hatte. Wo doch? In der Nikolaikirche. Richtig. Es war weit,
aber desto besser. Sie hatte so viel Zeit übrig und die Bewegung in der
frischen Luft war seit Wochen ihr einziges Labsal. So machte sie sich
auf den Weg und als sie die große Petristraße passierte, sah sie zu den
erleuchteten Fenstern des ersten Stockes auf. Aber +ihre+ Fenster waren
dunkel und auch keine Blumen davor. Und sie ging rascher und sah sich
um, als verfolge sie wer, und bog endlich in den Nikolaikirchhof ein.

Und nun in die Kirche selbst.

Ein paar Lichter brannten im Mittelschiff, aber Melanie ging an der
Schattenseite der Pfeiler hin, bis sie der alten reichgeschmückten
Kanzel gerad' gegenüber war. Hier waren Bänke gestellt, nur drei oder
vier, und auf den Bänken saßen Waisenhauskinder, lauter Mädchen in
blauen Kleidern und weißen Brusttüchern, und dazwischen alte Frauen,
das graue Haar unter einer schwarzen Kopfbinde versteckt, und die
meisten einen Stock in Händen oder eine Krücke neben sich.

Melanie setzte sich auf die letzte Bank und sah, wie die kleinen
Mädchen kicherten und sich anstießen und immer nach ihr hinsahen
und nicht begreifen konnten, daß eine so feine Dame zu solchem
Gottesdienste käme. Denn es war ein Armen-Gottesdienst und deshalb
brannten auch die Lichter so spärlich. Und nun schwieg Lied und Orgel,
und ein kleiner Mann erschien auf der Kanzel, dessen sie sich von
ein paar großen und überschwänglichen Bourgeoisbegräbnissen her sehr
wohl entsann, und von dem sie mehr als einmal in ihrer übermütigen
Laune versichert hatte, »er spräche schon vorweg im Grabsteinstil. Nur
nicht so kurz.« Aber heute sprach er kurz und pries auch keinen, am
wenigsten überschwänglich, und war nur müd und angegriffen, denn es
war der zweite Feiertag abend. Und so kam es, daß sie nichts Rechtes
für ihr Herz finden konnte, bis es zuletzt hieß: »Und nun, andächtige
Gemeinde, wollen wir den vorletzten Vers unsres Osterliedes singen.«
Und in demselben Augenblicke summte wieder die Orgel und zitterte, wie
wenn sie sich erst ein Herz fassen oder einen Anlauf nehmen müsse, und
als es endlich voll und mächtig an dem hohen Gewölbe hinklang und die
Spittelfrauen mit ihren zittrigen Stimmen einfielen, rückten zwei von
den kleinen Mädchen halb schüchtern an Melanie heran und gaben ihr ihr
Gesangbuch und zeigten auf die Stelle. Und sie sang mit:

    Du lebst, du bist in Nacht mein Licht,
    Mein Trost in Not und Plagen,
    Du weißt, was alles mir gebricht,
    Du wirst mir's nicht versagen.

Und bei der letzten Zeile reichte sie den Kindern das Buch zurück und
dankte freundlich und wandte sich ab, um ihre Bewegung zu verbergen.
Dann aber murmelte sie Worte, die ein Gebet vorstellen sollten, und es
vor dem Ohr dessen, der die Regungen unseres Herzens hört, auch wohl
waren, und verließ die Kirche so still und seitab, wie sie gekommen war.

In ihre Wohnung zurückgekehrt, fand sie Rubehn an seinem Arbeitstische
vor. Er las einen Brief, den er, als sie eintrat, beiseite schob. Und
er ging ihr entgegen und nahm ihre Hand und führte sie nach ihrem
Sofaplatz.

»Du warst fort?« sagte er, während er sich wieder setzte.

»Ja, Freund. In der Stadt ... In der Kirche.«

»In der Kirche! Was hast du da gesucht?«

»Trost.«

Er schwieg und seufzte schwer. Und sie sah nun, daß der Augenblick da
war, wo sich's entscheiden müsse. Und sie sprang auf und lief auf ihn
zu und warf sich vor ihm nieder und legte beide Arme auf seine Knie:
»Sage mir, was ist es? Habe Mitleid mit mir, mit meinem armen Herzen.
Sieh, die Menschen haben mich aufgegeben und meine Kinder haben sich
von mir abgewandt. Ach, so schwer es war, ich hätt' es tragen können.
Aber daß du, +du+ dich abwendest von mir, das trag' ich nicht.«

»Ich wende mich nicht ab von dir.«

»Nicht mit deinem Auge, wiewohl es mich nicht mehr sieht, aber mit
deinem Herzen. Sprich, mein Einziger, was ist es? Es ist nicht
Eifersucht, was mich quält. Ich könnte keine Stunde leben mehr, wär' es
+das+. Aber ein anderes ist es, was mich ängstigt, nicht viel Besseres:
ich habe deine Liebe nicht mehr. Das ist mir klar, und unklar ist mir
nur das eine, wodurch ich sie verscherzt. Ist es der Bann, unter dem
ich lebe und den du mit zu tragen hast? Oder ist es, daß ich so wenig
Licht und Sonnenschein in dein Leben gebracht und unsere Einsamkeit
auch noch in Betrübsamkeit verwandelt habe? Oder ist es, daß du mir
mißtraust? Ist es der Gedanke an das alte »heute dir und morgen mir«. O
sprich. Ich will dich nicht leiden sehen. Ich werde weniger unglücklich
sein, wenn ich dich glücklich weiß. Auch getrennt von dir. Ich will
gehen, jede Stunde. Verlang' es und ich tu es. Aber reiße mich aus
dieser Ungewißheit. Sage mir, was es ist, was dich drückt, was dir das
Leben vergällt und verbittert. Sage mir's. Sprich.«

Er fuhr sich über Stirn und Auge, dann nahm er den beiseite geschobenen
Brief und sagte: »Lies.«

Melanie faltete das Blatt auseinander. Es waren Zeilen vom alten
Rubehn, dessen Handschrift sie sehr wohl kannte. Und nun las sie:
»Frankfurt, Ostersonntag. Ausgleich gescheitert. Arrangiere was
sich arrangieren läßt. In spätestens acht Tagen muß ich unsere
Zahlungseinstellung aussprechen. M. R. ...«

In Rubehns Mienen ließ sich, als sie las, erkennen, daß er einer neuen
Erschütterung gewärtig war. Aber wie sehr hatte er sie verkannt,
sie, die viel, viel mehr war, als ein bloß verwöhnter Liebling
der Gesellschaft, und eh' ihm noch Zeit blieb über seinen Irrtum
nachzudenken, hatte sie sich schon in einem wahren Freudenjubel erhoben
und ihn umarmt und geküßt und wieder umarmt.

»O, nur das! ... O, nun wird alles wieder gut ... Und was eurem Hause
Unglück bedeutet, mir bedeutet es Glück, und nun weiß ich es, es
kommt alles wieder in Schick und Richtung, weit über all mein Hoffen
und Erwarten hinaus ... Als ich damals ging, und das letzte Gespräch
mit ihm hatte, sieh, da sprach ich von den Menschlichen unter den
Menschen. Und es ist mir, als wär' es gestern gewesen. Und auf diese
Menschlichen baut' ich meine Zukunft und rechnete darauf, daß sie's
versöhnen würde: ich liebte dich! Aber es war ein Fehler, und auch die
Menschlichen haben mich im Stich gelassen. Und jetzt muß ich sagen,
sie hatten recht. Denn die Liebe tut es nicht und die Treue tut es
auch nicht. Ich meine die Werkeltagstreue, die nichts Besseres kann,
als sich vor Untreue bewahren. Es ist eben nicht viel, treu zu sein,
wo man liebt und wo die Sonne scheint und das Leben bequem geht und
kein Opfer fordert. Nein, nein, die bloße Treue tut es nicht. Aber die
bewährte Treue, +die+ tut es. Und nun kann ich mich bewähren und will
es und werd' es, und nun kommt +meine+ Zeit. Ich will nun zeigen, was
ich kann, und will zeigen, daß alles Geschehene nur geschah, weil es
geschehen mußte, weil ich dich liebte, nicht aber weil ich leicht und
übermütig in den Tag hineinlebte und nur darauf aus war, ein bequemes
Leben in einem noch bequemeren fortzusetzen.«

Er sah sie glücklich an und der Ausdruck des Selbstsuchtslosen in
Wort und Miene riß ihn aus der tiefen Niedergedrücktheit seiner Seele
heraus. Er hoffte nun selber wieder, aber Bangen und Zweifel liefen
nebenher, und er sagte bewegt: »Ach, meine liebe Melanie, du warst
immer ein Kind und du bist es auch in diesem Augenblicke noch. Ein
verwöhntes und ein gutes, aber doch ein Kind. Sieh, von deinem ersten
Atemzuge an hast du keine Not gekannt, ach, was sprech' ich von Not,
nie, solange du lebst, ist dir ein Wunsch unerfüllt geblieben. Und
du hast gelebt wie im Märchen von ›Tischlein decke dich‹ und das
Tischlein +hat+ sich dir gedeckt, mit allem, was du wolltest, mit
allem, was das Leben hat, auch mit Schmeicheleien und Liebkosungen.
Und du bist geliebkost worden wie ein King-Charles-Hündchen mit einem
blauen Band und einem Glöckchen daran. Und alles, was du getan hast,
das hast du spielend getan. Ja, Melanie, spielend. Und nun willst du
auch spielend entbehren lernen und denkst: es findet sich. Oder denkst
auch wohl, es sei hübsch und apart und schwärmst für die Poetenhütte,
die Raum hat für ein glücklich liebend Paar, oder wenigstens haben
+soll+. Ach, es liest sich erbaulich von dem blankgescheuerten Eßtisch
und dem Maienbusch in jeder Ecke und von dem Zeisig, der sich das
Futternäpfchen selber heranzieht. Und es ist schon richtig: die gemalte
Dürftigkeit sieht geradeso gut aus, wie der gemalte Reichtum. Aber
wenn es aufhört Bild und Vorstellung zu sein und wenn es Wirklichkeit
und Regel wird, dann ist Armut ein bitteres Brot, und Muß eine harte
Nuß.«

Es war umsonst. Sie schüttelte nur den Kopf immer wieder, und sagte
dann in jener einschmeichelnden Weise, der so schwer zu widerstehen
war: »Nein, nein, du hast unrecht. Und es liegt alles anders, ganz
anders. Ich hab' einmal in einem Buche gelesen, und nicht in einem
schlechten Buche, die Kinder, die Narren und die Poeten, die hätten
immer recht. Vielleicht überhaupt, aber von ihrem Standpunkt aus
ganz gewiß. Und ich bin eigentlich alles drei's, und daraus magst
du schließen, wie +sehr+ ich recht habe. Dreifach recht. ›Ich will
spielend entbehren lernen,‹ sagst du. Ja, Lieber, das will ich, das ist
es, um was es sich handelt. Und du glaubst einfach, ich könn' es nicht.
Ich kann es aber, ich kann es ganz gewiß, so gewiß ich diesen Finger
aufhebe, und ich will dir auch sagen, warum ich es kann. Den einen
Grund hast du schon erraten: weil ich es mir so romantisch denke, so
hübsch und apart. Gut, gut. Aber du hättest auch sagen können, weil ich
andere Vorstellungen von Glück habe. Mir ist das Glück etwas anderes
als ein Titel oder eine Kleiderpuppe. +Hier+ ist es, oder nirgends. Und
so dacht' ich und fühlt' ich immer, und so war ich immer und so bin
ich noch. Aber wenn es auch anders mit mir stünde, wenn ich auch an
dem Flitter des Daseins hinge, so würd' ich doch die Kraft haben, ihm
zu entsagen. +Ein+ Gefühl ist immer das herrschende, und seiner Liebe
zuliebe kann man alles, alles. Wir Frauen wenigstens. Und +ich+ gewiß.
Ich habe so vieles freudig hingeopfert und ich sollte nicht einen
Teppich opfern können! Oder einen Vertiko! Ach, einen Vertiko!« und
sie lachte herzlich. »Entsinnst du dich noch, als du sagtest: »Alles
sei jetzt Enquete.« Das war damals. Aber die Welt ist inzwischen
fortgeschritten und jetzt ist alles Vertiko!«

Er war nicht überzeugt, seine praktisch-patrizische Natur glaubte nicht
an die Dauer solcher Erregungen, aber er sagte doch: »Es sei. Versuchen
wir's. Also ein neues Leben, Melanie!«

»Ein neues Leben! Und das erste ist, wir geben diese Wohnung auf
und suchen uns eine bescheidenere Stelle. Mansarde klingt freilich
anspruchslos genug, aber dieser Trumeau und diese Bronzen sind um so
anspruchsvoller. Ich habe nichts gelernt und das ist gut, denn wie die
meisten, die nichts gelernt haben, weiß ich allerlei. Und mit Toussaint
L'Ouverture fangen wir an, nein, nein, mit Toussaint-Langenscheidt, und
in acht Tagen oder doch spätestens in vier Wochen geb' ich meine erste
Stunde. Wozu bin ich eine Genferin! Und nun sage: Willst du? Glaubst
du?«

»Ja.«

»Topp.«

Und sie schlug in seine Hand und zog ihn unter Lachen und Scherzen in
das Nebenzimmer, wo das Vrenel in Abwesenheit des Dieners eben den
Teetisch arrangiert hatte.

Und sie hatten an diesem Unglückstage wieder einen ersten glücklichen
Tag.



22

Versöhnt


Und Melanie nahm es ernst mit jedem Worte, das sie gesagt hatte. Sie
hatte dabei ganz ihre Frische wieder und eh ein Monat um war, war
die modern und elegant eingerichtete Wohnung gegen eine schlichtere
vertauscht und das Stundengeben hatte begonnen. Ihre Kenntnis des
Französischen und beinahe mehr noch ihr glänzendes musikalisches, auch
nach der technischen Seite hin vollkommen ausgebildetes Talent hatten
es ihr leicht gemacht, eine Stellung zu gewinnen, und zwar in ein paar
großen, schlesischen Häusern, die gerade vornehm genug waren, den
Tagesklatsch ignorieren zu können.

Und bald sollte es sich herausstellen, wie nötig diese raschen und
resoluten Schritte gewesen waren, denn der Zusammensturz erfolgte
jäher als erwartet und jede Form der Einschränkung erwies sich als
geboten, wenn nicht mit der finanziellen Reputation des großen Hauses
auch die bürgerliche verloren gehen sollte. Jede neue Nachricht, von
Frankfurt her, bestätigte dies und Rubehn, der anfangs nur allzu
geneigt gewesen war, den Eifer Melanies für eine bloße Opferkaprice
zu nehmen, sah sich alsbald gezwungen, ihrem Beispiele zu folgen. Er
trat als amerikanischer Korrespondent in ein Bankhaus ein, zunächst mit
nur geringem Gehalt, und war überrascht und glücklich zugleich, die
berühmte Poetenweisheit von der »kleinsten Hütte« schließlich an sich
selber in Erfüllung gehn zu sehn.

Und nun folgten idyllische Wochen, und jeden neuen Morgen, wenn sie
von der Wilmersdorfer Feldmark her am Rande des Tiergartens hin
ihren Weg nahmen und an ihrer alten Wohnung vorüberkamen, sahen sie
zu der eleganten Mansarde hinauf und atmeten freier, wenn sie der
zurückliegenden schweren und sorgenreichen Tage gedachten. Und dann
bogen sie plaudernd in die schmalen, schattigen Gänge des Parkes
ein, bis sie zuletzt unter der schrägliegenden Hängeweide fort, die
zwischen dem Königsdenkmal und der Luiseninsel steht und hier beinahe
den Weg sperrt, in die breite Tiergartenstraße wieder einmündeten.
Den schrägliegenden Baum aber nannten sie scherzhaft ihren Zoll- und
Schlagbaum, weil sich dicht hinter demselben ein Leiermann postiert
hatte, dem sie Tag um Tag ihren Wegezoll entrichten mußten. Er
kannte sie schon, und während er die große Mehrheit, als wären es
Steuerdefraudanten, mit einem zornig-verächtlichen Blicke verfolgte,
zog er vor unserem jungen Paare regelmäßig seine Militärmütze. Ganz
aber konnt' er sich auch ihnen gegenüber nicht zwingen und verleugnen,
und als sie den schon Pflicht gewordenen Zoll eines Tages vergessen
oder vielleicht auch absichtlich nicht entrichtet hatten, hörten sie,
daß er die Kurbel in Wut und Heftigkeit noch dreimal drehte und dann so
jäh und plötzlich abbrach, daß ihnen ein paar unfertige Töne wie Knurr-
und Scheltworte nachklangen. Melanie sagte: »Wir dürfen es mit niemand
verderben, Ruben; Freundschaft ist heuer rar.« Und sie wandte sich
wieder um und ging auf den Alten zu und gab ihm. Aber er dankte nicht,
weil er noch immer in halber Empörung war.

Und so verging der Sommer und der Herbst kam, und als das Laub sich
zu färben und an den Ahorn- und Platanenbäumen auch schon abzufallen
begann, da hatte sich bei denen, die Tag um Tag unter diesen Bäumen
hinschritten, manches geändert und zwar zum Guten geändert. Wohl hieß
es auch jetzt noch, wenn sie den alten Invaliden unter ihrerseits
devotem Gruße passierten, »daß sie der neuen Freundschaften noch nicht
sicher genug seien, um die bewährten alten aufgeben zu können,« aber
diese neuen Freundschaften waren doch wenigstens in ihren Anfängen
da. Man kümmerte sich wieder um sie, ließ sie gesellschaftlich
wieder aufleben, und selbst solche, die bei dem Zusammenbrechen der
Rubehnschen Finanzherrlichkeit nur Schadenfreude gehabt und je
nach ihrer klassischen oder christlichen Bildung und Beanlagung von
»Nemesis« oder »Finger Gottes« gesprochen hatten, bequemten sich jetzt,
sich mit dem hübschen Paare zu versöhnen, »das so glücklich und so
gescheit sei, und nie klage und sich so liebe.« Ja, sich so liebe.
+Das+ war es, was doch schließlich den Ausschlag gab, und wenn vorher
ihre Neigung nur Neid und Zweifel geweckt hatte, so schlug jetzt die
Stimmung in ihr Gegenteil um. Und nicht zu verwundern! War es doch ein
und dasselbe Gefühl, was bei Verurteilung und Begnadigung zu Gerichte
saß, und wenn es anfangs eine sensationelle Befriedigung gewährt
hatte, sich in Indignation zu stürzen, so war es jetzt eine kaum
geringere Freude, von den »Inséparables« sprechen und über ihre »treue
Liebe« sentimentalisieren zu können. Eine kleine Zahl Esoterischer
aber führte den ganzen Fall auf die Wahlverwandtschaften zurück und
stellte wissenschaftlich fest, daß einfach seitens des stärkeren
und deshalb berechtigteren Elements das schwächere verdrängt worden
sei. Das Naturgesetzliche habe wieder mal gesiegt. Und hiermit sah
sich denn auch der einen Winter lang auf den Schild gehobene Van der
Straaten abgefunden und teilte das Schicksal aller Saisonlieblinge,
noch schneller vergessen als erhoben zu werden. Ja, der Spott und die
Bosheit begannen jetzt ihre Pfeile gegen ihn zu richten, und wenn des
Falles ausnahmsweise noch gedacht wurde, so hieß es: »Er hat es nicht
anders gewollt. Wie kam er nur dazu? Sie war siebzehn! Allerdings, er
soll einmal ein ~lion~ gewesen sein. Nun gut. Aber wenn dem ›Löwen‹
zu wohl wird ...« Und dann lachten sie und freuten sich, daß es so
gekommen, wie es gekommen.

Ob Van der Straaten von diesen und ähnlichen Äußerungen hörte?
Vielleicht. Aber es bedeutete ihm nichts. Er hatte sich selbst zu
skeptisch und unerbittlich durchforscht, als daß er über die Wandlungen
in dem Geschmacke der Gesellschaft, über ihr Götzenschaffen und
Götzenstürzen auch nur einen Augenblick erstaunt gewesen wäre. Und so
durfte denn von ihm gesagt werden, »er hörte, was man sprach, auch wenn
er es +nicht+ hörte.« Weg über das Urteil der Menschen, galt ihm nur
eines ebensowenig oder noch weniger: ihr Mitleid. Er war immer eine
selbständige Natur gewesen, frei und fest, und so war er geblieben. Und
auch derselbe geblieben in seiner Nachsicht und Milde.

Und der Tag kam, wo sich's zeigen und auch Melanie davon erfahren
sollte.

Es war schon ausgangs Oktober und nur wenig gelbes und rotes Laub hing
noch an den halb kahl gewordenen Bäumen. Das meiste lag abgeweht in den
Gängen und wurde, wo's trocken war, zusammengeharkt, denn seit gestern
hatte sich das Wetter wieder geändert und nach langen Sturm- und
Regentagen schien eine wundervolle Herbstessonne. Vielleicht die letzte
dieses Jahres.

Und auch Aninettchen wurde hinausgeschickt und blieb heute länger fort
als erwartet, bis endlich um die vierte Stunde die Magd in großer
Aufregung heimkam und in ihrem schweren Schweizer-Deutsch über ein eben
gehabtes Erlebnis berichtete. Sie hab' auf der Bank g'sesse, wo die
vier Löwe das Brückle halte, und hätt' ebe g'sagt: »Sieh, Aninettle,
des isch der alt Weibersommer, der will di einspinne, aber der hat
di no lang nit,« un das Aninettl hab' grad g'juchzt un lacht un n'am
Ohrring g'langt, do wäre zwei Herre über die Brück komme, so gute
funfzig, aber schon auf der Wipp, und einer hätt' g'sagt, e langer
Spindelbein: »Schau des Silberkettle; des isch e Schweizerin; un i
wett, des isch e Kind vom Schweizer G'sandte.« Aber do hat der andre
g'sagt: »Nei, des kann nit sein; den Schweizer G'sandte, den kenn i,
un der hat kein Kind un kein Kegel ...« Un do hat er z'mir g'sagt: »Ah
nu, wem g'hört das Kind?« Und da hab' i g'sagt: »Dem Herr Rubehn, un's
isch e Mädle, un heißt Aninettl.« Un do hab' i g'sehn, daß er sich
verfärbt hat und hat wegg'schaut. Aber nit lang, da hat er sich wieder
umg'wandt und hat g'sagt: »'s isch d' Mutter, und lacht auch so, un hat
dieselbe schwarze Haar'. Es isch e schön's Kindle. Findscht nit au?«
Aber er hat's nit finde wolle und hat nur g'sagt: Ȇbertax es nit. Es
gibt mehr so. Un's ischt e Kind aus 'm Dutzend.« Jo, so hat er g'sagt,
der garstige Spindelbein: »'s gibt mehr so, un's ischt e Kind aus 'm
Dutzend.« Aber der gute Herre, der hat's Pätschle g'nomme un hat's
g'streichelt. Un hat mi g'lobt, deß i so brav un g'scheit sei. Jo, so
hat er g'sagt. Und dann sind sie gange.«

All das hatte seines Eindrucks nicht verfehlt und Melanie war während
der Tage, die folgten, immer wieder auf diese Begegnung zurückgekommen.
Immer wieder und wieder hatte die Vreni jedes Kleinste nennen und
beschreiben müssen, und so war es durch Wochen hin geblieben, bis
endlich in den großen und kleinen Vorbereitungen zum Feste der ganze
Vorfall vergessen worden war.

Und nun war das Fest selber da, der heilige Abend, zu dem auch diesmal
Rubehns jüngerer Bruder und der alte Prokurist, die sich zur Rückkehr
nach Frankfurt nicht hatten entschließen können, geladen waren. Auch
Anastasia.

Melanie, die noch vor Eintreffen ihres Besuchs allerlei
Wirtschaftliches anzuordnen hatte, war ganz Aufregung und erschrak
ordentlich, als sie gleich nach Dunkelwerden und lange vor der
festgesetzten Stunde die Klingel gehen hörte. Wenn das schon die Gäste
wären! Oder auch nur einer von ihnen. Aber ihre Besorgnis währte nicht
lange, denn sie hörte draußen ein Fragen und Parlamentieren und gleich
darauf erschien das Vrenel und trug eine mittelgroße Kiste herein, auf
der, ohne weitere Adresse, bloß das eine Wort »Julklapp« zu lesen war.

»Ist es denn für uns, Vreni?« fragte Melanie.

»I denk schon. I hab' ihm g'sagt: ›'s isch der Herr Rubehn, der hier
wohnt. Und die Frau Rubehn.‹ Un do hat er g'sagt: ›'s isch schon recht;
des isch der Nam'‹. Un do hab' i's g'nomme.«

Melanie schüttelte den Kopf und ging in Rubehns Stube, wo man sich nun
gemeinschaftlich an das Öffnen der Kiste machte. Nichts fehlte von den
gewöhnlichen Julklapps-Zutaten und erst als man unten am Boden eines
großen Gravensteiner Apfels gewahr wurde, sagte Melanie: »Gib acht.
Hierin steckt es.« Aber es ließ sich nichts erkennen, und schon wollte
sie den Gravensteiner, wie alles andere, beiseite legen, als sich durch
eine zufällige Bewegung ihrer Hand die geschickt zusammengepaßten
Hälften des Apfels auseinanderschoben. »~Ah, voilà.~« Und wirklich,
an Stelle des Kernhauses, das herausgeschnitten war, lag ein in
Seidenpapier gewickeltes Päckchen. Sie nahm es, entfernte langsam und
erwartungsvoll eine Hülle nach der andern und hielt zuletzt ein kleines
Medaillon in Händen, einfach ohne Prunk und Zierrat. Und nun drückte
sie's an der Feder auf und sah ein Bildchen und erkannt' es und es
entfiel ihrer Hand. Es war, ~en miniature~, der Tintoretto, den sie
damals so lachend und übermütig betrachtet und für dessen Hauptfigur
sie nur die Worte gehabt hatte: »Sieh, Ezel, sie hat geweint. Aber ist
es nicht, als begriffe sie kaum ihre Schuld?«

Ach, sie fühlte jetzt, daß das alles auch für sie selbst gesprochen
war, und sie nahm das ihrer Hand entfallene Bildchen wieder auf und gab
es an Ruben und errötete.

Dieser spielte damit hin und her und sagte dann, während er die Feder
wieder zuknipste: »~King Ezel in all his glories!~ Immer derselbe.
Wohlwollend und ungeschickt. Ich werd' es tragen. Als Uhrgehäng, als
Berlocke.«

»Nein, +ich+. Ach, du weißt nicht, wie viel es mir bedeutet. Und es
soll mich erinnern und mahnen ... jede Stunde ...«

»Meinetwegen. Aber nimm es nicht tragischer als nötig und grüble nicht
zuviel über das alte leidige Thema von Schuld und Sühne.«

»Du bist hochmütig, Ruben.«

»Nein.«

»Nun gut. Dann bist du stolz.«

»Ja, das bin ich, meine süße Melanie. Das bin ich. Aber auf was? Auf
+wen+?«

Und sie umarmten sich und küßten sich, und eine Stunde später brannten
ihnen die Weihnachtslichter in einem ungetrübten Glanz.


            Ende



Werke von Theodor Fontane:


    +Irrungen Wirrungen.+ Roman.

    +Graf Petöfy.+ Roman.

    +Schach von Wuthenow.+ Erzählung aus der Zeit des Regiments
      Gensdarmes.

    +Stine.+ Berliner Sittenroman.

    +Kriegsgefangen.+ Erlebtes 1870.

    +Aus den Tagen der Occupation.+ Eine Osterreise.

    +Frau Jenny Treibel.+ Roman.

    +Meine Kinderjahre.+ Autobiographischer Roman.

    +Von vor und nach der Reise.+ Plaudereien und kleine Geschichten.

    +Effi Briest.+ Roman.

    +Die Poggenpuhls.+ Erzählung.

    +Von Zwanzig bis Dreißig.+ Autobiographisches.

    +Der Stechlin.+ Roman.

    +Aus England und Schottland.+ Reisebilder.

    +Causerien über Theater.+

    +Briefe an seine Familie.+ 2 Bände.

    +Cecile.+ Roman.

    +Unterm Birnbaum.+ Roman.

    +Gedichte.+

    +Vor dem Sturm.+ Roman aus dem Winter 1812 auf 1813.

    +Quitt.+ Roman.

    +Grete Minde.+ Nach einer altmärkischen Chronik.

    +Unwiederbringlich.+ Roman.

    +Ellernklipp.+ Nach einem Harzer Kirchenbuch.

    +Wanderungen durch die Mark Brandenburg.+ 5 Bde.



S. Fischer, Verlag, Berlin


Werke von E. v. Keyserling:


Schwüle Tage

Novellen. Vierte Auflage. Geh. 2 Mark, geb. 3 Mark.

In diesem neuen Buch Graf Keyserlings stehen zwei wunderbare
Novellen vom aristokratischen Leben. Das Wesen alten Adels ist darin
aufgefangen, nur von ganz köstlichen, erlesenen Dingen vibrieren hier
die Seelen ...

            (Die Zeit, Wien)

Die Erzählungen sind umsponnen von dem intimen Reiz einer hohen
Geisteskultur, unter der des Autors Schöpfungen zu Kabinettstückchen
werden von jener Besonderheit, wie etwa eine echte Brabanter Spitze
oder ein alter Goldbrokat.

            (Münchner Post)

»Dorf- und Schloßgeschichten« könnte man diese Sammlung von drei
Novellen überschreiben, die zum künstlerisch Vollendetsten zählen, was
die neuere Literatur hervorgebracht hat. Es ist nicht nur der Titel
eines Buches der Ebner-Eschenbach, den wir ihnen geben möchten -- in
dieser echten Dichternatur, in ihrer vornehmen Abgeschlossenheit und
dem vollendeten Ebenmaße der Darstellung, in dem fast weiblichen Takte
des Empfindens liegt etwas vom Wesen unserer österreichischen Dichterin.

            (Neue Freie Presse, Wien)

Das, was an den Novellen des Grafen Keyserling so wundervoll
verführerisch am Werk ist, möchte ich nicht so sehr die mit slawischer
Träumerei hinhauchende Melancholie dieser erlesenen Erzählungskunst
nennen, als vielmehr die ganz reife, süße Kultur ihres Autors. Als
Schriftsteller ist Keyserling ein brillanter Techniker, Impressionist,
von einer Sicherheit, wie wir sie an deutschen Epikern überhaupt noch
nicht gewohnt waren.

            (Der Tag, Berlin)


Dumala

Roman. Dritte Auflage. Geh. 2 Mark, geb. 3 Mark.

Graf Keyserling, der jetzt in München lebende Kurländer, ist einer
unserer kultiviertesten Prosaschriftsteller. Subtiler, feiner,
innerlicher als er zeichnet heute kaum einer Gestalten, fängt kaum
einer die landschaftliche Atmosphäre auf, die um den Menschen webt und
sein Wesen bilden hilft. Seiner wundervollen Schloßgeschichte »Beate
und Mareile«, seinem köstlichen Novellenband »Schwüle Tage« läßt er
jetzt einen neuen Roman folgen: Dumala. So heißen Schloß und Ort, wo
die Geschichte spielt, irgendwo in Kurland oder in Ostpreußen. Eine
simple Geschichte von verbotener, sündiger Liebe, kaum eigenartig
durch das Was des Erzählten, aber ganz einzig durch das persönliche
Fluidum, das über dem Ganzen liegt und die intensive Stimmungskraft,
die alle Einzelheiten tränkt und zu einem geschlossenen künstlerischen
Organismus zusammenfaßt. Prachtvoll sind die Gestalten geschaut
und in leibhafte Anschaulichkeit umgesetzt: der alte Baron, der
rückenmarksleidend zu Dumala im Lehnstuhl sitzt und sich von seiner
jungen Frau die erstarrten Glieder streichen läßt, der kraftvolle
Pfarrer, der über seine hausbackene Ehe hinaus nach der frönen Baronin
begehrt; der rücksichts- und skrupellose Nachbar, der die Einsame,
nach Liebe Begehrende als willkommene Beute einfängt, ohne sie halten
zu können, und dann diese Frau selbst, die den ganzen Kreis beherrscht
und alle Männer unwiderstehlich in ihren Bannkreis zieht. Das »Zwischen
den Menschen«, die unendlich feinen seelischen Fäden, die von einem zum
anderen hinüberweben, sind hier mit erlesener Kunst fühlbar gemacht;
und die Luft, in der sie atmen, wird uns vertraut. Das gibt dem Buch
neben dem weltmännischen Ton und der Grazie des Stils seine Eigenart
und seinen Wert.

            (Königsberger Allgemeine Zeitung)



            Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig



    Weitere Anmerkungen zur Transkription


    Offensichtliche Satzfehler wurden stillschweigend korrigiert. Die
    Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht.
    Die unterschiedlichen Schreibweisen Rubehn und Ruben wurden wie im
    Original beibehalten.





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