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Title: Goethes Weltanschauung
Author: Steiner, Rudolf
Language: German
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                        GOETHES WELTANSCHAUUNG.

                                  Von

                            RUDOLF STEINER.



                                 WEIMAR
                         VERLAG VON EMIL FELBER
                                 1897.



VORREDE.


Die Gedanken, die ich in diesem Buche mitteile, sollen die
Grundstimmung festhalten, die ich in der Weltanschauung Goethes
beobachtet habe. Im Lauf vieler Jahre habe ich immer wieder und wieder
das Bild dieser Weltanschauung betrachtet. Besonderen Reiz hatte es
für mich, nach den Offenbarungen zu sehen, welche die Natur über ihr
Wesen und ihre Gesetze den feinen Sinnes- und Geistesorganen Goethes
gemacht hat. Ich lernte begreifen, warum Goethe diese Offenbarungen
als so hohes Glück empfand, daß er sie zuweilen höher schätzte als
seine Dichtungsgabe. Ich lebte mich in die Empfindungen ein, die
durch Goethes Seele zogen, wenn er sagt, daß "wir durch nichts so
sehr veranlaßt werden über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst
bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene Naturscenen nach
langen Zwischenräumen endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen
Eindruck mit der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden
wir denn im Ganzen bemerken, daß das Object immer mehr hervortritt,
daß, wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und
Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr
bei gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebürende Recht widerfahren
lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre Eigenschaften, sofern
wir sie durchdringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen. Jene
Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet
sich dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht ohne
Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem jener Sinn mich
nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug und Geist desto
kräftiger entwickelte."

Die Eindrücke, welche Goethe von den Erscheinungen der Natur empfangen
hat, muß man kennen, wenn man den vollen Gehalt seiner Dichtungen
verstehen will. Die Geheimnisse, die er dem Wesen und Werden der
Schöpfung abgelauscht hat, leben in seinen künstlerischen Erzeugnissen
und werden nur demjenigen offenbar, der hinhorcht auf die Mitteilungen,
die der Dichter über die Natur macht. Niemand kann in die Tiefen der
Goetheschen Kunst hinuntertauchen, dem Goethes Naturbeobachtungen
unbekannt sind.

Solche Empfindungen drängten mich zu der Beschäftigung mit Goethes
Naturstudien. Sie ließen zunächst die Ideen reifen, die ich vor
mehr als zehn Jahren in Kürschners "Deutscher Nationallitteratur"
mitteilte. Was ich damals in dem ersten anfing, habe ich
ausgebaut in den drei folgenden Bänden der naturwissenschaftlichen
Schriften Goethes, von denen der letzte in diesen Tagen vor die
Oeffentlichkeit tritt. Dieselben Empfindungen leiteten mich, als
ich vor mehreren Jahren die schöne Aufgabe übernahm, einen Teil der
naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für die große Weimarische
Goethe-Ausgabe zu besorgen. Was ich an Gedanken zu dieser Arbeit
mitgebracht und was ich während derselben ersonnen habe, bildet den
Inhalt des vorliegenden Buches. Ich darf diesen Inhalt als erlebt im
vollsten Sinne des Wortes bezeichnen. Von vielen Ausgangspuncten aus
habe ich mich den Ideen Goethes zu nähern gesucht. Allen Widerspruch,
der in mir gegen Goethes Anschauungsweise schlummerte, habe ich
aufgerufen, um gegenüber der Macht dieser einzigen Persönlichkeit
die eigene Individualität zu wahren. Und je mehr ich meine eigene,
selbst erkämpfte Weltanschauung ausbildete, desto mehr glaubte ich
Goethe zu verstehen. Ich versuchte ein Licht zu finden, das auch die
Räume in Goethes Seele durchleuchtet, die ihm selbst dunkel geblieben
sind. Zwischen den Zeilen seiner Werke wollte ich lesen, was mir
ihn ganz verständlich machen sollte. Die Kräfte seines Geistes,
die ihn beherrschten, deren er sich aber nicht selbst bewußt wurde,
suchte ich zu entdecken. Die wesentlichen Charakterzüge seiner Seele
wollte ich durchschauen.

Unsere Zeit liebt es die Ideen da, wo von psychologischer Betrachtung
einer Persönlichkeit die Rede ist, in einem mystischen Halbdunkel zu
lassen. Die gedankliche Klarheit in solchen Dingen wird gegenwärtig
als nüchterne Verstandesweisheit verachtet. Man glaubt tiefer
zu dringen, wenn man von mystischen Abgründen des Seelenlebens,
von dämonischen Gewalten innerhalb der Persönlichkeit spricht. Ich
muß gestehen, daß mir diese Schwärmerei für mystische Psychologie
als Oberflächlichkeit erscheint. Sie ist bei Menschen vorhanden,
in denen der Inhalt der Ideenwelt keine Empfindungen erzeugt. Sie
können in die Tiefen dieses Inhaltes nicht hinabsteigen, sie fühlen
die Wärme nicht, die von ihm ausströmt. Deshalb suchen sie diese Wärme
in der Unklarheit. Wer im stande ist, sich einzuleben in die hellen
Sphären der reinen Gedankenwelt, der empfindet in ihnen das, was er
sonst nirgends empfinden kann. Persönlichkeiten wie die Goethes kann
man nur erkennen, wenn man die Ideen, von denen sie beherrscht sind,
in ihrer lichten Klarheit in sich aufzunehmen vermag. Wer die Mystik
in der Psychologie liebt, wird vielleicht meine Betrachtungsweise kalt
finden. Ob es aber meine Schuld ist, daß ich das Dunkle und Unbestimmte
nicht mit dem Tiefsinnigen für ein und dasselbe halten kann? So rein
und klar, wie mir die Ideen erschienen sind, die in Goethe als wirksame
Kräfte gewaltet haben, versuche ich sie darzustellen. Vielleicht
findet auch mancher die Linien, die ich gezogen habe, die Farben,
die ich aufgetragen habe, zu einfach. Ich meine aber, daß man das
Große am besten charakterisiert, wenn man es in seiner monumentalen
Einfachheit darzustellen versucht. Die kleinen Schnörkel und Anhängsel
verwirren nur die Betrachtung. Nicht auf nebensächliche Gedanken,
zu denen er durch dieses oder jenes Erlebnis von untergeordneter
Bedeutung veranlaßt worden ist, kommt es mir bei Goethe an, sondern auf
die Grundrichtung seines Geistes. Mag dieser Geist auch da und dort
Seitenwege einschlagen: eine Haupttendenz ist immer zu erkennen. Und
sie habe ich verfolgt. Wer da meint, daß die Regionen, durch die ich
gegangen bin, eisig sind, der hat sein Herz zu Hause gelassen.

Will man mir den Vorwurf machen, daß ich nur diejenigen Seiten der
Goetheschen Weltanschauung schildere, auf die mich mein eigenes
Denken und Empfinden weist, so kann ich nichts erwidern, als daß
ich eine fremde Persönlichkeit nur so ansehen will, wie sie mir nach
meiner eigenen Wesenheit erscheinen muß. Die Objectivität derjenigen
Darsteller, die sich selbst verleugnen wollen, wenn sie fremde Ideen
schildern, schätze ich nicht hoch. Ich glaube, sie kann nur matte und
farbenblasse Bilder malen. Ein Kampf liegt jeder wahren Darstellung
einer fremden Weltanschauung zu Grunde. Und der völlig Besiegte
wird nicht der beste Darsteller sein. Die fremde Macht muß Achtung
erzwingen; aber die eigenen Waffen müssen ihren Dienst tun. Ich
habe deshalb rückhaltlos ausgesprochen, daß nach meiner Ansicht die
Goethesche Denkweise Grenzen hat. Daß es Erkenntnisgebiete gibt, die
ihr verschlossen geblieben sind. Ich habe gezeigt, welche Richtung
die Beobachtung der Welterscheinungen nehmen muß, wenn sie in die
Gebiete dringen will, die Goethe nicht betreten hat, oder auf denen
er, wenn er sich in sie begeben hat, unsicher herumgeirrt ist. So
interessant es ist, einem großen Geiste auf seinen Wegen zu folgen;
ich möchte jedem nur so weit folgen, als er mich selbst fördert. Denn
nicht die Betrachtung, die Erkenntnis, sondern das Leben, die eigene
Tätigkeit ist das Wertvolle. Der reine Historiker ist ein schwacher,
ein unkräftiger Mensch. Die historische Erkenntnis raubt die Energie
und Spannkraft des eigenen Wirkens. Wer alles verstehen will, wird
selbst wenig sein. Was fruchtbar ist, allein ist wahr, hat Goethe
gesagt. Soweit Goethe für unsere Zeit fruchtbar ist, soweit soll man
sich in seine Gedanken- und Empfindungswelt einleben. Und ich glaube,
aus der folgenden Darstellung wird hervorgehen, daß unzählige noch
ungehobene Schätze in dieser Gedanken- und Empfindungswelt verborgen
liegen. Ich habe auf die Stellen hingedeutet, an denen die moderne
Wissenschaft hinter Goethe zurückgeblieben ist. Ich habe von der
Armut der gegenwärtigen Ideenwelt gesprochen und ihr den Reichtum
und die Fülle der Goetheschen entgegengehalten. In Goethes Denken
sind Keime, welche die moderne Naturwissenschaft zur Reife bringen
sollte. Für sie könnte dieses Denken vorbildlich sein. Sie hat einen
größeren Beobachtungsstoff als Goethe. Aber sie hat diesen Stoff nur
mit spärlichem und unzureichendem Ideengehalt durchsetzt. Ich hoffe,
daß aus meinen Ausführungen hervorgeht, wie wenig Eignung die moderne
naturwissenschaftliche Denkweise dazu besitzt, Goethe zu kritisieren,
und wie viel sie von ihm lernen könnte.


RUDOLF STEINER.



INHALT.


                                                        Seite
    Vorrede                                               III
    Einleitung                                              1
    Goethes Stellung innerhalb der abendländischen
      Gedankenentwickelung                                  5
        Goethe und Schiller                                 7
        Die platonische Weltanschauung                     10
        Die Folgen der platonischen Weltanschauung         15
        Goethe und die platonische Weltansicht             27
        Persönlichkeit und Weltanschauung                  45
        Die Metamorphose der Welterscheinungen             61
    Die Anschauungen über Natur und Entwicklung der
      Lebewesen                                            85
        Die Metamorphosenlehre                             87
    Die Betrachtung der Farbenwelt                        147
        Die Erscheinungen der Farbenwelt                  149
    Gedanken über Entwicklungsgeschichte der Erde und
      Lufterscheinungen                                   183
        Gedanken über Entwicklungsgeschichte der Erde     185
        Betrachtungen über atmosphärische Erscheinungen   193
    Goethe und Hegel                                      197
    Namen-Register                                        205



EINLEITUNG.


Will man Goethes Weltanschauung verstehen, so darf man sich nicht damit
begnügen, hinzuhorchen, was er selbst in einzelnen Aussprüchen über sie
sagt. In kristallklaren Sätzen den Kern seines Wesens auszusprechen,
lag nicht in seiner Natur. Er hatte eine gewisse Scheu davor,
das Lebendige, die Wirklichkeit in einem durchsichtigen Gedanken
festzuhalten. Sein Innenleben, seine Beziehungen zur Außenwelt,
seine Beobachtungen über die Dinge und Ereignisse waren zu reich,
zu erfüllt von zarten Bestandteilen, von intimen Elementen, um von
ihm selbst in einfache Formeln gebracht zu werden. Er spricht sich
aus, wenn ihn dieses oder jenes Erlebnis dazu drängt. Aber er sagt
immer zu viel oder zu wenig. Die lebhafte Anteilnahme an allem,
was an ihn herankommt, bestimmt ihn oft, schärfere Ausdrücke zu
gebrauchen, als es seine Gesamtnatur verlangt. Sie verführt ihn
ebenso oft, sich unbestimmt zu äußern, wo ihn sein Wesen zu einer
bestimmten Meinung nötigen könnte. Er ist immer ängstlich, wenn es
sich darum handelt, zwischen zwei Ansichten zu entscheiden. Er will
sich die Unbefangenheit nicht dadurch rauben, daß er seinen Gedanken
eine scharfe Richtung giebt. Er beruhigt sich bei dem Gedanken: "Der
Mensch ist nicht geboren, die Probleme der Welt zu lösen, wohl aber
zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in der Grenze des
Begreiflichen zu halten." Ein Problem, das der Mensch gelöst zu haben
glaubt, entzieht ihm die Möglichkeit, tausend Dinge klar zu sehen,
die in den Bereich dieses Problemes fallen. Er achtet auf sie nicht
mehr, weil er über das Gebiet aufgeklärt zu sein glaubt, in das sie
fallen. Goethe möchte lieber zwei Meinungen über eine Sache haben,
die einander entgegengesetzt sind, als eine bestimmte. Denn jedes
Ding scheint ihm eine Unendlichkeit einzuschließen, der man sich
von verschiedenen Seiten nähern muß, um von ihrer ganzen Fülle
etwas wahrzunehmen. "Man sagt, zwischen zwei entgegengesetzten
Meinungen liegt die Wahrheit mitten inne. Keineswegs! Das Problem
liegt dazwischen, das Unschaubare, das ewig thätige Leben, in Ruhe
gedacht." Goethe will seine Gedanken lebendig erhalten, damit er
in jedem Augenblicke sie umwandeln kann, wenn die Wirklichkeit ihn
dazu veranlaßt. Er will nicht recht haben; er will stets nur aufs
"Rechte losgehen". In zwei verschiedenen Zeitpunkten spricht er sich
über dieselbe Sache verschieden aus. Eine feste Theorie, die ein für
allemal die Gesetzmäßigkeit einer Reihe von Erscheinungen zum Ausdruck
bringen will, ist ihm widerlich.

Wenn man dennoch die Einheit seiner Anschauungen überschauen will,
so muß man weniger auf seine Worte hören als auf seine Lebensführung
sehen. Man muß sein Verhältnis zu den Dingen belauschen, wenn er
ihrem Wesen nachforscht und dabei das ergänzen, was er selbst nicht
sagt. Man muß auf das Innerste seiner Persönlichkeit eingehen, das
sich zum größten Teile hinter seinen Äußerungen verbirgt. Was er
sagt, mag sich oft widersprechen; was er lebt, gehört immer einem
widerspruchlosen Ganzen an. Hat er seine Weltanschauung auch nicht
in einem geschlossenen System aufgezeichnet; er hat sie in einer
geschlossenen Persönlichkeit dargelegt. Wenn wir auf sein Leben sehen,
so lösen sich alle Widersprüche in seinem Reden. Er hat über die Natur
dies und jenes gesagt. In einem festgefügten Gedankengebäude hat
er seine Naturanschauung niemals niedergelegt. Aber wenn wir seine
einzelnen Gedanken auf diesem Gebiete überblicken, so schließen
sie sich von selbst zu einem Ganzen zusammen. Man kann sich eine
Vorstellung davon machen, welches Gedankengebäude entstanden wäre,
wenn er seine Ansichten im Zusammenhang vollständig dargestellt
hätte. Ich habe mir vorgesetzt, in dieser Schrift zu schildern,
wie Goethes Persönlichkeit in ihrem innersten Wesen geartet gewesen
sein muß, um über die Erscheinungen der Natur solche Gedanken äußern
zu können, wie er sie in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten
niedergelegt hat. Daß manchem von dem, was ich sagen werde, Goethesche
Sätze entgegengehalten werden können, die ihm widersprechen, weiß
ich. Es handelt sich mir aber in dieser Schrift nicht darum, eine
Entwicklungsgeschichte seiner Aussprüche zu geben, sondern darum, die
Grundlagen seiner Persönlichkeit darzustellen, die ihn zu seinen tiefen
Einsichten in das Schaffen und Wirken der Natur führten. Nicht aus
den zahlreichen Sätzen, in denen er Konzessionen an andere Denkweisen
macht, oder in denen er sich der Formeln bedient, welche der eine
oder der andere Philosoph gebraucht hat, lassen sich diese Grundlagen
erkennen. Aus den Äußerungen zu Eckermann könnte man sich einen Goethe
konstruieren, der nie die Metamorphose der Pflanzen hätte schreiben
können. An Zelter hat Goethe manches Wort gerichtet, das verführen
könnte, auf eine wissenschaftliche Gesinnung zu schließen, die seinen
großen Gedanken über die Bildung der Tiere widerspricht. Ich gebe zu,
daß in Goethes Persönlichkeit auch Kräfte gewirkt haben, die ich
nicht berücksichtigt habe. Aber diese Kräfte treten zurück hinter
den eigentlich bestimmenden, die seiner Weltanschauung das Gepräge
geben. Diese bestimmenden Kräfte so scharf zu charakterisieren,
als mir möglich ist, habe ich mir zur Aufgabe gestellt.



GOETHES STELLUNG INNERHALB DER ABENDLÄNDISCHEN GEDANKENENTWICKELUNG.


GOETHE UND SCHILLER.

Goethe erzählt von einem Gespräch, das sich einstmals zwischen
ihm und Schillern entspann, nachdem beide einer Sitzung der
naturforschenden Gesellschaft in Jena beigewohnt hatten. Schiller
zeigte sich wenig befriedigt von dem, was in der Sitzung vorgebracht
worden war. Eine zerstückelte Art, die Natur zu betrachten, war
ihm entgegengetreten. Und er bemerkte, daß eine solche den Laien
keineswegs anmuten könne. Goethe erwiderte, daß sie "den Eingeweihten
selbst vielleicht unheimlich bliebe, und daß es noch eine andere
Weise geben könne, die Natur nicht gesondert und vereinzelt,
sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile
strebend darzustellen". Und nun entwickelte Goethe die großen Ideen,
die ihm über die Pflanzennatur aufgegangen waren. Er zeichnete
"mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische
Pflanze" vor Schillers Augen. Diese symbolische Pflanze sollte
die Wesenheit ausdrücken, die in jeder einzelnen Pflanze lebt, was
für besondere Formen diese auch annimmt. Sie sollte das successive
Werden der einzelnen Pflanzenteile, ihr Hervorgehen auseinander und
ihre Verwandtschaft untereinander zeigen. Über diese symbolische
Pflanzengestalt schrieb Goethe am 17. April 1787 in Palermo die
Worte nieder: "Eine solche muß es doch geben; woran würde ich sonst
erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn
sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären." Die Vorstellung
einer plastisch-ideellen Form, die dem Geiste sich offenbart, wenn
er die Mannigfaltigkeit der Pflanzengestalten überschaut und ihr
Gemeinsames beachtet, hatte Goethe in sich ausgebildet. Schiller
betrachtete dieses Gebilde, das nicht in einer einzelnen, sondern in
allen Pflanzen leben sollte, und sagte kopfschüttelnd: "Das ist keine
Erfahrung, das ist eine Idee." Wie aus einer fremden Welt kommend,
erschienen Goethe diese Worte. Er war sich bewußt, daß er zu seiner
symbolischen Gestalt durch dieselbe Art naiver Wahrnehmung gelangt
war wie zu der Vorstellung eines Dinges, das man mit Augen sehen
und mit Händen greifen kann. Wie die einzelne Pflanze, so war für
ihn die symbolische oder Urpflanze ein objektives Wesen. Nicht einer
willkürlichen Spekulation, sondern unbefangener Beobachtung glaubte er
sie zu verdanken. Er konnte nichts entgegnen als: "Das kann mir sehr
lieb sein, wenn ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit
Augen sehe." Und er war ganz unglücklich, als Schiller daran die Worte
knüpfte: "Wie kann jemals eine Erfahrung gegeben werden, die einer
Idee angemessen sein sollte. Denn darin besteht das Eigentümliche
der letzteren, daß ihr niemals eine Erfahrung kongruieren könne."

Zwei entgegengesetzte Weltanschauungen stehen in diesem Gespräche
einander gegenüber. Goethe sieht in der Idee eines Dinges ein Element,
das in demselben unmittelbar gegenwärtig ist, in ihm wirkt und
schafft. Ein einzelnes Ding nimmt, nach seiner Ansicht, bestimmte
Formen aus dem Grunde an, weil die Idee sich in dem gegebenen Falle
in einer besonderen Weise ausleben muß. Es hat für Goethe keinen Sinn
zu sagen, ein Ding entspricht der Idee nicht. Denn das Ding kann
nichts anderes sein, als das, wozu es die Idee gemacht hat. Anders
denkt Schiller. Ihm sind Ideenwelt und Erfahrungswelt zwei getrennte
Reiche. Der Erfahrung gehören die mannigfaltigen Dinge und Ereignisse
an, die den Raum und die Zeit erfüllen. Ihr steht das Reich der
Ideen gegenüber, als eine andersgeartete Wirklichkeit, dessen sich
die Vernunft bemächtigt. Von zwei Welten fließen dem Menschen seine
Erkenntnisse zu, von außen durch Beobachtung und von innen durch
das Denken. Für Goethe giebt es nur eine Quelle der Erkenntnis,
die Erfahrungswelt, in welcher die Ideenwelt eingeschlossen ist.

Schillers Anschauung ist hervorgegangen aus der Philosophie seiner
Zeit. Die grundlegenden Vorstellungen, welche dieser Philosophie
ihr Gepräge gegeben haben, und welche treibende Kräfte der ganzen
abendländischen Geistesbildung geworden sind, muß man im griechischen
Altertume suchen. In einem verhängnisvollen Augenblicke bemächtigte
sich eines griechischen Denkers ein Mißtrauen in die menschlichen
Sinnesorgane. Er fing an zu glauben, daß diese Organe dem Menschen
nicht die Wahrheit überliefern sondern daß sie ihn täuschen. Er
verlor das Vertrauen zu dem, was die naive, unbefangene Beobachtung
darbietet. Er fand, daß das Denken über die wahre Wesenheit der Dinge
andere Aussagen mache als die Erfahrung. Es wird schwer sein zu sagen,
in welchem Kopfe sich dieses Mißtrauen zuerst festsetzte. Man begegnet
ihm in der eleatischen Philosophenschule, deren erster Vertreter
der um 570 v. Chr. zu Kolophon geborene Xenophanes ist. Als die
wichtigste Persönlichkeit dieser Schule erscheint Parmenides. Denn
er hat mit einer Schärfe wie niemand vor ihm behauptet, es gäbe
zwei Quellen der menschlichen Erkenntnis. Er hat erklärt, daß die
Eindrücke unserer Sinne Trug und Täuschung seien, und daß der Mensch
zu der Erkenntnis des Wahren nur durch das reine Denken, das auf die
Erfahrung keine Rücksicht nimmt, gelangen könne. Damit hat er den
auf ihn folgenden Philosophen eine Entwicklungskrankheit eingeimpft,
an der die wissenschaftliche Bildung noch heute leidet.



DIE PLATONISCHE WELTANSCHAUUNG.

Mit der ihm eigenen bewunderungswerten Kühnheit spricht Plato dieses
Mißtrauen in die Erfahrung aus. "Die Dinge dieser Welt, welche unsere
Sinne wahrnehmen, haben gar kein wahres Sein: sie werden immer,
sind aber nie. Sie haben nur ein relatives Sein, sind insgesamt nur
in und durch ihr Verhältnis zu einander; man kann daher ihr ganzes
Dasein ebensowohl ein Nichtsein nennen. Sie sind folglich auch nicht
Objekte einer eigentlichen Erkenntnis. Denn nur von dem, was an und
für sich und immer auf gleiche Weise ist, kann es eine solche geben;
sie hingegen sind nur das Objekt eines durch Empfindung veranlaßten
Dafürhaltens. So lange wir nur auf ihre Wahrnehmung beschränkt sind,
gleichen wir Menschen, die in einer finsteren Höhle so fest gebunden
säßen, daß sie auch den Kopf nicht drehen könnten und nichts sähen,
als beim Lichte eines hinter ihnen brennenden Feuers, an der Wand ihnen
gegenüber die Schattenbilder wirklicher Dinge, welche zwischen ihnen
und dem Feuer vorübergeführt würden, und auch sogar von einander,
ja jeder von sich selbst, eben nur die Schatten an jener Wand. Ihre
Weisheit aber wäre, die aus Erfahrung erlernte Reihenfolge jener
Schatten vorherzusagen."

In zwei Teile reißt die platonische Anschauung die Vorstellung des
Weltganzen auseinander, in die Vorstellung einer Scheinwelt und
in eine andere der Ideenwelt, der allein wahre, ewige Wirklichkeit
entsprechen soll. "Was allein wahrhaft seiend genannt werden kann,
weil es immer ist, aber nie wird, noch vergeht: das sind die realen
Urbilder jener Schattenbilder: es sind die ewigen Ideen, die Urformen
aller Dinge. Ihnen kommt keine Vielheit zu; denn jedes ist seinem Wesen
nach nur eines, indem es das Urbild selbst ist, dessen Nachbilder
oder Schatten alle ihm gleichnamige, einzelne, vergängliche Dinge
derselben Art sind. Ihnen kommt auch kein Entstehen und Vergehen zu;
denn sie sind wahrhaft seiend, nie aber werdend, noch untergehend
wie ihre hinschwindenden Nachbilder. Von ihnen allein daher giebt
es eine eigentliche Erkenntnis, da das Objekt einer solchen nur das
sein kann, was immer und in jedem Betracht ist, nicht das, was ist,
aber auch wieder nicht ist, je nachdem man es ansieht."

Die Unterscheidung von Idee und Wahrnehmung hat nur eine Berechtigung,
wenn von der Art gesprochen wird, wie die menschliche Erkenntnis
zustande kommt. Der Mensch muß die Dinge auf zweifache Art zu
sich sprechen lassen. Einen Teil ihrer Wesenheit sagen sie ihm
freiwillig. Er braucht nur hinzuhorchen. Dies ist der ideenfreie Teil
der Wirklichkeit. Den andern aber muß er ihnen entlocken. Er muß sein
Denken in Bewegung setzen, dann erfüllt sich sein Inneres mit den
Ideen der Dinge. Im Innern der Persönlichkeit ist der Schauplatz,
auf dem auch die Dinge ihr ideelles Innere enthüllen. Da sprechen
sie aus, was der äußeren Anschauung ewig verborgen bleibt. Das Wesen
der Natur kommt hier zu Worte. Aber es liegt nur an der menschlichen
Organisation, daß durch den Zusammenklang von zwei Tönen die Dinge
erkannt werden müssen. In der Natur ist ein Erreger da, der beide Töne
hervorbringt. Der unbefangene Mensch horcht auf den Zusammenklang. Er
erkennt in der ideellen Sprache seines Innern die Aussagen, die ihm die
Dinge zukommen lassen. Nur wer die Unbefangenheit verloren hat, der
deutet die Sache anders. Er glaubt, die Sprache seines Inneren komme
aus einem andern Reich als die Sprache der äußeren Anschauung. Plato
ist es zum Bewußtsein gekommen, daß er auf zwei Wegen von den Dingen
Kunde erhält; aber er hat nicht erkannt, daß es dieselben Dinge sind,
die auf den beiden Wegen ihre Mitteilungen senden. Er hat damit
dem abendländischen Denken eine Aufgabe gestellt, die vollkommen
überflüssig war. Durch Jahrhunderte hindurch wurde unendlicher
Scharfsinn auf die Frage verwendet: wie verhalten sich die im Innern
des Menschen offenbar werdenden Ideen zu den Dingen der äußeren
Wahrnehmung? Ein großer Teil des Inhalts aller auf die platonische
folgenden Philosophieen besteht aus Lösungsversuchen dieser gar nicht
vorhandenen Frage. Was das gesunde menschliche Empfinden in jedem
Augenblicke lehrt: wie die Sprache der Anschauung und die des Denkens
sich verbinden, um die volle Wirklichkeit zu offenbaren, das wurde
von den grübelnden Denkern nicht beachtet. Statt hinzusehen, wie die
Natur zu dem Menschen spricht, bildeten sie künstliche Begriffe über
das Verhältnis von Ideenwelt und Erfahrung aus. Um die Sehkraft für
dieses Verhältnis ganz zu lähmen, verband sich mit dem Platonismus das
Christentum. Dieses religiöse Bekenntnis mit seinem Jenseitsglauben und
seiner Verachtung der Sinnenwelt ist nur eine volkstümliche Form des
Platonismus. Es macht eine nach menschlichem Bilde gedachte persönliche
Wesenheit zum Urheber der Welt. Die christlichen Kirchenväter versetzen
einfach die platonische Ideenwelt in den Geist dieses persönlichen
Gottes. In diesem Geiste sind die Urbilder, die Muster aller Dinge
enthalten, und Gott hat die Welt nach diesen Urbildern geschaffen
und regiert sie ihnen gemäß. Die Welt ist nur der unvollkommene
Abglanz der in Gott ruhenden vollkommenen Ideenwelt. Der wahrhaft
Fromme soll sich nicht viel mit diesem Abglanz beschäftigen; er soll
seine Empfindung, sein Gefühl zu Gott erheben. "Ohne jedes Schwanken
wollen wir glauben, daß die denkende Seele nicht wesensgleich sei mit
Gott, denn dieser gestattet keine Gemeinschaft, daß aber die Seele
erleuchtet werden könne durch Teilnahme an der Gottesnatur," sagt
der Kirchenvater Augustinus. Ebensowenig gesteht er der Gesamtnatur
irgendwelche göttliche Wesenheit zu. Aber die Wahrheit sucht er nur
bei Gott. Frechheit ist es, nach seiner Ansicht, zu glauben, daß die
Natur oder die menschliche Seele göttlich sei. Nicht durch Beobachtung
der irdischen Dinge, sondern durch Versenken in die überirdische
göttliche Wesenheit wird die vernünftige Seele vollkommen. In dieser
Lehre der Kirchenväter wird der Sprache des menschlichen Innern ein
allem natürlichen Empfinden fremder Ursprung angedichtet. Nicht aus
den Dingen soll diese Sprache kommen, sondern aus dem Geiste des
jenseitigen Gottes. Die platonische Vorstellungsart hielt sich mehr
im abstrakten Elemente des Denkens auf. Das Ungesunde derselben wäre
leichter überwunden worden, wenn nicht die platonischen Begriffe
durch das Christentum das Empfindungs- und Gemütsleben ergriffen
hätten. Dieses Gemütsleben der abendländischen Menschheit ist auf
diese Weise geradezu nach der falschen Richtung hin umorganisiert
worden. Was Plato nur gedacht hat, das haben die Kirchenväter dem
Gemüte eingepflanzt. Was aber in dem Gemüte wurzelt, das ist viel
schwerer auszurotten, als was bloß im Verstande ruht. Deshalb ist es
bis heute noch nicht gelungen, die christlich-platonische unnatürliche
Ansicht über die Wirklichkeit innerhalb der abendländischen Bildung
zu überwinden.



DIE FOLGEN DER PLATONISCHEN WELTANSCHAUUNG.

Vergeblich hat sich Aristoteles gegen die platonische Spaltung der
Weltvorstellung aufgelehnt. Er sah in der Natur ein einheitliches
Wesen, das die Ideen ebenso enthält, wie die durch die Sinne
wahrnehmbaren Dinge und Erscheinungen. Nur im menschlichen Geiste
können die Ideen ein selbständiges Dasein haben. Aber in dieser
Selbständigkeit kommt ihnen keine Wirklichkeit zu. Bloß die Seele
kann sie abtrennen von den wahrnehmbaren Dingen, mit denen zusammen
sie die Wirklichkeit ausmachen. Hätte die abendländische Philosophie
an die richtig verstandene Anschauung des Aristoteles angeknüpft,
so wäre sie bewahrt geblieben vor den Irr- und Schleichwegen, die
sie gewandelt ist.

Aber dieser richtig verstandene Aristoteles war der christlichen
Denkweise unbequem. Mit einer Naturauffassung, welche das höchste
wirksame Prinzip in die Erfahrungswelt verlegt, weiß das Christentum
nichts anzufangen. Die christlichen Philosophen und Theologen
deuteten deshalb den Aristoteles um. Sie legten seinen Ansichten
einen Sinn unter, der geeignet war, dem christlichen Dogma zur
logischen Stütze zu dienen. Nicht suchen sollte der Geist in den
Dingen die schaffenden Ideen. Die Wahrheit ist ja den Menschen von
Gott in Form der Offenbarung mitgeteilt. Nur bestätigen sollte die
Vernunft, was Gott geoffenbart hat. Die aristotelischen Sätze wurden
von den christlichen Denkern des Mittelalters so gedeutet, daß die
religiöse Heilswahrheit durch sie ihre philosophische Bekräftigung
erhielt. Nach der Auffassung Thomas' von Aquino, des bedeutendsten
christlichen Denkers, enthält die Offenbarung die höchsten Wahrheiten,
die Heilslehre der heiligen Schrift; aber es ist der Vernunft
möglich, in aristotelischer Weise in die Dinge sich zu vertiefen und
deren Ideengehalt aus ihnen herauszuholen. Die Offenbarung steigt
so tief herab und die Vernunft kann sich so weit erheben, daß die
Heilslehre und die menschliche Erkenntnis an einer Grenze in einander
übergehen. Die Art des Aristoteles, in die Dinge einzudringen, dient
also für Thomas dazu, bis zu dem Gebiete der Offenbarung zu kommen.



Als mit Bacon von Verulam und Descartes eine Zeit anhob, in welcher
der Wille sich geltend machte, die Wahrheit durch die eigene Kraft
der menschlichen Persönlichkeit zu suchen, waren die Denkgewohnheiten
so verdorben, daß alles Streben zu nichts anderem führte als zur
Aufstellung von Ansichten, die trotz ihrer scheinbaren Unabhängigkeit
von der platonischen und christlichen Vorstellungswelt, doch nichts
waren als neue Formen derselben. Auch Bacon und Descartes haben den
bösen Blick für das Verhältnis von Erfahrung und Idee als Erbstück
einer entarteten Philosophie mitbekommen. Bacon hatte nur Sinn und
Verständnis für die Einzelheiten der Natur. Durch Sammeln desjenigen,
was durch die räumliche und zeitliche Mannigfaltigkeit als Gleiches
oder Ähnliches sich hindurchzieht, glaubte er zu allgemeinen Regeln
über das Naturgeschehen zu kommen. Goethe spricht über ihn das
treffende Wort: "Denn ob er auch darauf hindeutet, man solle die
Partikularien nur deswegen sammeln, damit man aus ihnen wählen,
sie ordnen und endlich zu Universalien gelangen könne, so behalten
doch bei ihm die einzelnen Fälle zu viele Rechte, und ehe man durch
Induktion, selbst diejenige, die er anpreist, zur Vereinfachung
und zum Abschluß gelangen kann, geht das Leben weg, und die Kräfte
verzehren sich." Für Bacon sind diese allgemeinen Regeln Mittel,
durch welche es der Vernunft möglich ist, das Gebiet der Einzelheiten
bequem zu überschauen. Aber er glaubt nicht, daß diese Regeln in
dem Ideengehalte der Dinge begründet und wirklich schaffende Kräfte
der Natur sind. Deshalb sucht er auch nicht unmittelbar in der
Einzelheit die Idee auf, sondern abstrahiert sie aus einer Vielheit
von Einzelheiten. Wer nicht daran glaubt, daß in dem einzelnen Dinge
die Idee lebt, kann auch keine Neigung haben, sie in demselben zu
suchen. Er nimmt das Ding so hin, wie es sich der bloßen äußeren
Anschauung darbietet. Bacons Bedeutung ist darin zu suchen, daß
er auf die durch Plato und das Christentum herabgewürdigte äußere
Anschauungswelt hinwies. Daß er betonte, in ihr sei eine Quelle
der Wahrheit. Er war aber nicht im Stande der Ideenwelt in gleicher
Weise zu ihrem Rechte gegenüber der Anschauungswelt zu verhelfen. Er
erklärte das Ideelle für ein subjektives Element im menschlichen
Geiste. Seine Denkweise ist umgekehrter Platonismus. Plato sieht
nur in der Ideenwelt, Bacon nur in der ideenlosen Wahrnehmungswelt
die Wirklichkeit. In Bacons Auffassung liegt der Ausgangspunkt jener
Denkergesinnung, von welcher die Naturforscher bis in die Gegenwart
beherrscht sind. Sie leidet an einer falschen Ansicht über das ideelle
Element der Erfahrungswelt.



Von anderen Gesichtspunkten aus, aber nicht minder beeinflußt
durch Platos Denkungsarten, stellte drei Jahrhunderte nach Bacon
Descartes seine Betrachtungen an. Auch er krankt an der Erbsünde des
abendländischen Denkens, an dem Mißtrauen gegenüber der unbefangenen
Beobachtung der Natur. Der Zweifel an der Existenz und Erkennbarkeit
der Dinge ist der Anfang seines Forschens. Nicht auf die Dinge
richtet er den Blick, um Zugang zur Gewißheit zu erlangen, sondern
eine ganz kleine Pforte, einen Schleichweg im vollsten Sinne des
Wortes sucht er auf. In das intimste Gebiet des Denkens zieht er
sich zurück. Alles, was ich bisher als Wahrheit geglaubt habe,
kann falsch sein, sagt er sich. Was ich gedacht habe, kann auf
Täuschung beruhen. Aber die eine Thatsache bleibt doch bestehen,
daß ich über die Dinge denke. Auch wenn ich Lug und Trug denke, so
denke ich doch. Und wenn ich denke, so existiere ich auch. Ich denke,
also bin ich. Damit glaubt Descartes einen festen Ausgangspunkt für
alles weitere Nachdenken gewonnen zu haben. Er fragt sich weiter:
giebt es nicht in dem Inhalte meines Denkens noch anderes, das auf
ein wahrhaftes Sein hindeutet? Und da findet er die Idee Gottes, als
eines allervollkommensten Wesens. Da der Mensch selbst unvollkommen
ist: wie kommt die Idee eines allervollkommensten Wesens in seine
Gedankenwelt? Ein unvollkommenes Wesen kann eine solche Idee unmöglich
aus sich selbst erzeugen. Denn das vollkommenste, das es zu denken
vermag, ist eben ein unvollkommenes. Es muß also diese Idee von
dem vollkommensten Wesen selbst in den Menschen gelegt sein. Also
muß auch Gott existieren. Wie aber soll ein vollkommenes Wesen
uns eine Täuschung vorspiegeln? Die Außenwelt, die sich uns als
wirklich darstellt, muß deshalb auch wirklich sein. Sonst wäre sie
ein Trugbild, das uns die Gottheit vormachte. Auf diese Weise sucht
Descartes das Vertrauen zur Wirklichkeit zu gewinnen, das ihm wegen
ererbter Empfindungen zuerst fehlte. Auf einem äußerst künstlichen
Wege sucht er die Wahrheit. Einseitig vom Denken geht er aus. Nur
dem Denken gesteht er die Kraft zu, Überzeugung hervorzubringen. Über
die Beobachtung kann nur eine Überzeugung gewonnen werden, wenn sie
durch das Denken vermittelt wird. Die Folge dieser Ansicht war, daß
es das Streben der Nachfolger Descartes wurde, den ganzen Umfang der
Wahrheiten, die das Denken aus sich heraus entwickeln und beweisen
kann, festzustellen. Die Summe aller Erkenntnisse aus reiner Vernunft
wollte man finden. Von den einfachsten unmittelbar klaren Einsichten
wollte man ausgehen, und fortschreitend den ganzen Kreis des reinen
Denkens durchwandern. Nach dem Muster der Euclidischen Geometrie
sollte dieses System aufgebaut werden. Denn man war der Ansicht,
auch diese gehe von einfachen, wahren Sätzen aus und entwickle durch
bloße Schlußfolgerung, ohne Zuhilfenahme der Beobachtung, ihren ganzen
Inhalt. Ein solches System reiner Vernunftwahrheiten zu liefern, hat
Spinoza in seiner "Ethik" versucht. Eine Anzahl von Vorstellungen:
Substanz, Attribut, Modus, Denken, Ausdehnung u. s. w. nimmt er vor
und untersucht rein verstandesmäßig die Beziehungen und den Inhalt
dieser Vorstellungen. In dem Gedankengebäude soll das Wesen der
Wirklichkeit sich aussprechen. Spinoza betrachtet nur die Erkenntnis,
die durch diese wirklichkeitsfremde Thätigkeit zu Stande kommt, als
eine solche, die dem wahren Wesen der Welt entspricht; die adäquate
Ideen liefert. Die aus der Sinneswahrnehmung entsprungenen Ideen sind
ihm inadäquat, verworren und verstümmelt. Es ist leicht einzusehen,
daß auch in dieser Vorstellungswelt die platonische Auffassungsweise
von dem Gegensatz der Wahrnehmungen und der Ideen nachwirkt. Die
Gedanken, die unabhängig von der Wahrnehmung gebildet werden, sind
allein das Wertvolle für die Erkenntnis. Spinoza geht noch weiter. Er
dehnt den Gegensatz auch auf das sittliche Empfinden und Handeln der
Menschen aus. Unlustempfindungen können nur aus Ideen entspringen,
die von der Wahrnehmung stammen; solche Ideen erzeugen die Begierden
und Leidenschaften im Menschen, deren Sklave er werden kann, wenn
er sich ihnen hingiebt. Nur was aus der Vernunft entspringt, erzeugt
unbedingte Lustempfindungen. Das höchste Glück des Menschen ist daher,
sein Leben in den Vernunftideen, die Hingabe an die Erkenntnis der
reinen Ideenwelt. Wer überwunden hat, was aus der Wahrnehmungswelt
stammt, und nur noch in der reinen Erkenntnis lebt, empfindet die
höchste Seligkeit.

Nicht ganz ein Jahrhundert nach Spinoza tritt der Schotte David Hume
mit einer Denkweise auf, die wieder aus der Wahrnehmung allein die
Erkenntnis entspringen läßt. Nur einzelne Dinge in Raum und Zeit sind
gegeben. Das Denken verknüpft die einzelnen Wahrnehmungen, aber nicht,
weil in diesen selbst etwas liegt, was dieser Verknüpfung entspricht,
sondern weil sich der Verstand daran gewöhnt hat, die Dinge in
einen Zusammenhang zu bringen. Der Mensch ist gewohnt, zu sehen,
daß ein Ding auf ein anderes der Zeit nach folgt. Er bildet sich die
Vorstellung, daß es folgen müsse. Er macht das erste zur Ursache,
das zweite zur Wirkung. Der Mensch ist ferner gewohnt, zu sehen,
daß auf einen Gedanken seines Geistes eine Bewegung seines Leibes
folgt. Er erklärt sich dies dadurch, daß er sagt, der Geist habe
die Leibesbewegung bewirkt. Denkgewohnheiten, nichts weiter sind die
menschlichen Ideen. Wirklichkeit haben nur die Wahrnehmungen.



Die Vereinigung der verschiedensten durch die Jahrhunderte hindurch zum
Dasein gelangten Denkrichtungen ist die Kant'sche Weltanschauung. Auch
Kant fehlt die natürliche Empfindung für das Verhältnis von Wahrnehmung
und Idee. Er lebt in philosophischen Vorurteilen, die er durch
Studium seiner Vorgänger in sich aufgenommen hat. Das eine dieser
Urteile ist, daß es notwendige Wahrheiten gebe, die durch reines, von
aller Erfahrung freies Denken erzeugt werden. Der Beweis davon ist,
nach seiner Ansicht, durch die Existenz der Mathematik und der reinen
Physik erbracht, die solche Wahrheiten enthalten. Ein anderes seiner
Vorurteile besteht darin, daß er der Erfahrung die Fähigkeit abspricht,
zu gleich notwendigen Wahrheiten zu gelangen. Das Mißtrauen gegenüber
der Wahrnehmungswelt ist auch in Kant vorhanden. Zu diesen seinen
Denkgewohnheiten tritt bei Kant der Einfluß Humes hinzu. Er giebt Hume
Recht in Bezug auf die Behauptung, daß die Ideen, in die das Denken
die einzelnen Wahrnehmungen zusammenfaßt, nicht aus der Erfahrung
stammen. Sondern daß das Denken sie zur Erfahrung hinzufügt. Diese drei
Vorurteile sind die Wurzeln des Kantschen Gedankengebäudes. Der Mensch
besitzt notwendige Wahrheiten. Sie können nicht aus der Erfahrung
stammen, weil diese keine solchen darbietet. Dennoch wendet sie der
Mensch auf die Erfahrung an. Er verknüpft die einzelnen Wahrnehmungen
diesen Wahrheiten gemäß. Sie stammen aus dem Menschen selbst. Es liegt
in seiner Natur, daß er die Dinge in einen solchen Zusammenhang bringt,
der den durch reines Denken gewonnenen Wahrheiten entspricht. Kant
geht nun noch weiter. Er schreibt auch den Sinnen die Fähigkeit zu,
das was ihnen von Außen gegeben wird, in eine bestimmte Ordnung
zu bringen. Auch diese Ordnung fließt nicht mit den Eindrücken der
Dinge von Außen ein. Die räumliche und die zeitliche Ordnung erhalten
die Eindrücke erst durch die sinnliche Wahrnehmung. Raum und Zeit
gehören nicht den Dingen an. Der Mensch ist so organisiert, daß er,
wenn die Dinge auf seine Sinne Eindrücke machen, diese in räumliche
oder zeitliche Zusammenhänge bringt. Nur Eindrücke, Empfindungen erhält
der Mensch von Außen. Die Anordnung derselben im Raum und in der Zeit,
ihre Zusammenfassung zu Ideen ist sein eigenes Werk. Aber auch die
Empfindungen sind nichts, was aus den Dingen stammt. Nicht die Dinge
nimmt der Mensch wahr, sondern nur die Eindrücke, die sie auf ihn
ausüben. Ich weiß nichts von einem Dinge, wenn ich eine Empfindung
habe. Ich kann nur sagen: ich bemerke das Auftreten einer Empfindung
bei mir. Durch welche Eigenschaften das Ding befähigt ist, in mir die
Empfindungen hervorzurufen, darüber kann ich nichts erfahren. Der
Mensch hat es, nach Kants Meinung, nicht mit den Dingen an sich zu
thun, sondern nur mit den Eindrücken, die sie auf ihn machen und mit
den Zusammenhängen, in die er selbst diese Eindrücke bringt. Nicht
objektiv von Außen aufgenommen, sondern nur auf äußere Veranlassung
hin, subjektiv von innen erzeugt, ist die Erfahrungswelt. Das Gepräge,
das sie trägt, geben ihr nicht die Dinge, sondern die menschliche
Organisation. Sie ist folglich als solche unabhängig von dem Menschen
gar nicht vorhanden. Von diesem Standpunkte aus ist die Annahme
notwendiger, von der Erfahrung unabhängiger Wahrheiten möglich. Denn
diese Wahrheiten beziehen sich bloß auf die Art, wie der Mensch von
sich selbst aus seine Erfahrungswelt bestimmt. Sie enthalten die
Gesetze seiner Organisation. Sie haben keinen Bezug auf die Dinge an
sich selbst. Kant hat also einen Ausweg gefunden, der es ihm gestattet,
bei seinem Vorurteile stehen zu bleiben, daß es notwendige Wahrheiten
gebe, die für den Inhalt der Erfahrungswelt gelten, ohne doch daraus
zu stammen. Allerdings mußte er, um diesen Ausweg zu finden, sich zu
der Ansicht entschließen, daß der menschliche Geist unfähig sei, irgend
etwas über die Dinge an sich zu wissen. Er mußte alles Erkennen auf die
Erscheinungswelt einschränken, welche die menschliche Organisation
aus sich herausspinnt infolge der von den Dingen verursachten
Eindrücke. Aber was kümmerte Kant das Wesen der Dinge an sich, wenn
er nur die ewigen, notwendig-giltigen Wahrheiten in dem Sinne retten
konnte, wie er sich dieselben vorstellte. Der Platonismus hat in Kant
eine böse Frucht hervorgebracht. Plato hat sich von der Wahrnehmung
abgewendet und den Blick auf die ewigen Ideen gerichtet, weil ihm jene
das Wesen der Dinge nicht auszusprechen schien. Kant aber verzichtet
darauf, dass die Ideen eine wirkliche Einsicht in das Wesen der Welt
eröffnen, wenn ihnen nur die Eigenschaft des Ewigen und Notwendigen
verbleibt. Plato hält sich an die Ideenwelt, weil er glaubt, daß das
wahre Wesen der Welt ewig, unzerstörbar, unwandelbar sein muß, und er
diese Eigenschaften nur den Ideen zusprechen kann. Kant ist zufrieden,
wenn er nur diese Eigenschaften von den Ideen behaupten kann. Sie
brauchen dann gar nicht mehr das Wesen der Welt auszusprechen.



Zu den philosophischen Vorurteilen Kants kamen seine religiösen. Das
Christentum kann sich nicht begnügen mit den beiden Elementen der
Wirklichkeit, mit der Wahrnehmung und den Ideen. Es braucht eine
jenseitige Welt, ein göttliches Wesen. In Kant lebten die christlichen
Empfindungen. In ihm lebte der Glaube an Gott. Zugleich aber sah er
ein, daß alle Beweise, die seine Vorgänger vorgebracht hatten, um das
Dasein Gottes zu beweisen, Sophistereien sind. Er erkannte, daß es
keinen Weg giebt, um aus dem reinen Denken heraus zu der Überzeugung
von diesem Dasein zu gelangen. Das Natürliche wäre nun gewesen, auf
den Gottesbegriff bei Erklärung der Welt ganz zu verzichten und zu
untersuchen, was sich aus Wahrnehmung und Denken allein ergibt. Dies
war Kant wegen seiner christlichen Gesinnung nicht möglich. Er wollte
den Gottesbegriff und auch andere christliche Glaubensvorstellungen
den Menschen erhalten, obgleich ihm klar war, daß die Vernunft mit
ihnen nichts zu thun hat. Dies konnte er erreichen, wenn er der
Vernunft die Fähigkeit absprach, über das wahre Wesen des Daseins
Aufklärung zu geben. Die Dinge an sich sind dem menschlichen Erkennen
unzugänglich. Folglich gehören der Gottesbegriff und die anderen
christlichen Vorstellungen nicht in den Bereich dessen, was mit der
Vernunft zu umfassen ist. Die Beweise für die religiösen Wahrheiten
müssen scheitern, nicht weil diese Wahrheiten nicht bestehen, sondern
weil das menschliche Erkennen nicht bis zu ihnen hinanreicht. Kant
wollte diese Wahrheiten vor den Anfechtungen der Vernunft ein für alle
mal bewahren. Nicht um das religiöse Dogma zu zerstören, hat Kant sein
Gedankengebäude aufgestellt, sondern um es fester zu begründen. Die
Kantsche Philosophie ist keine Feindin, sondern die beste Freundin
der christlichen und jeder Religion. In dem Gebiete der Dinge an
sich können sich Wesen aller Arten befinden. Die Erkenntnis kann
nichts darüber ausmachen. Und wenn der Glaube kommt und erklärt,
er habe Gründe das dem Wissen unbekannte Gebiet mit diesen oder
jenen Wesenheiten erfüllt zu denken, so kann keine Vernunft dagegen
etwas einwenden.



Nicht durch Hinwegräumung alter Irrtümer, nicht durch eine freie,
ursprüngliche Vertiefung in die Wirklichkeit ist die Kantsche
Weltanschauung entstanden, sondern durch logische Verschmelzung
anerzogener und ererbter philosophischer und religiöser Vorurteile. Sie
konnte nur aus einem Geiste entspringen, in dem der Sinn für das
lebendige Schaffen innerhalb der Natur unentwickelt geblieben ist. Und
sie konnte nur auf solche Geister wirken, die an dem gleichen Mangel
litten. Aus dem weitgehenden Einflusse, den Kants Denkweise auf seine
Zeitgenossen ausübte, ist zu ersehen, wie stark diese in dem Banne
platonischer Vorstellungen standen.



GOETHE UND DIE PLATONISCHE WELTANSICHT.

Ich habe die Gedankenentwickelung von Platos bis zu Kants Zeit
geschildert, um zeigen zu können, welche Eindrücke Goethe empfangen
mußte, wenn er sich an die Philosophen wandte, um sein so starkes
Erkenntnisbedürfnis zu befriedigen. Auf die unzähligen Fragen, zu
denen ihn seine Natur drängte, fand er in den Philosophien keine
Antworten. Ja, es zeigte sich, so oft er sich in die Weltanschauung
eines Philosophen vertiefte, ein Gegensatz zwischen der Richtung,
die seine Fragen einschlugen und der Gedankenwelt, bei der er
sich Rat holen wollte. Der Grund liegt darin, daß die platonische
Trennung von Idee und Erfahrung seiner Natur zuwider war. Wenn er
die Natur beobachtete, so brachte sie ihm die Ideen entgegen. Er
konnte sie deshalb nur ideenerfüllt denken. Eine Ideenwelt, welche
die Dinge der Natur nicht durchdringt, ihr Entstehen und Vergehen,
ihr Werden und Wachsen nicht hervorbringt, ist ihm ein kraftloses
Gedankengespinnst. Das logische Fortspinnen von Gedankenreihen, ohne
Versenkung in das wirkliche Leben und Schaffen der Natur erscheint ihm
unfruchtbar. Denn er fühlt sich mit der Natur innig verwachsen. Er
betrachtet sich als ein lebendiges Glied der Natur. Was in seinem
Geiste entsteht, das hat, nach seiner Ansicht die Natur in ihm
entstehen lassen. Der Mensch soll sich nicht in eine Ecke stellen
und glauben, daß er da aus sich heraus ein Gedankengewebe spinnen
könne, das über das Wesen der Dinge aufklärt. Er soll den Strom des
Weltgeschehens beständig durch sich durchfließen lassen. Dann wird
er fühlen, daß die Ideenwelt nichts anderes ist, als die schaffende
und thätige Gewalt der Natur. Er wird nicht über den Dingen stehen
wollen, um über sie nachzudenken, sondern er wird sich in ihre Tiefen
eingraben und aus ihnen herausholen, was in ihnen lebt und wirkt.

Zu solcher Denkweise führte Goethe seine Künstlernatur. Mit derselben
Notwendigkeit, mit der eine Blume blüht, fühlte er seine dichterischen
Erzeugnisse aus seiner Persönlichkeit herauswachsen. Die Art, wie der
Geist in ihm das Kunstwerk hervorbrachte, schien ihm nicht verschieden
von der zu sein, wie die Natur ihre Geschöpfe erzeugt. Und wie im
Kunstwerke das geistige Element von der geistlosen Materie nicht
zu trennen ist, so war es ihm auch unmöglich bei einem Dinge der
Natur die Wahrnehmung ohne die Idee vorzustellen. Fremd blickte
ihn daher eine Anschauung an, die in der Wahrnehmung nur etwas
Unklares, Verworrenes erblickte und die Ideenwelt abgesondert,
gereinigt von aller Erfahrung betrachten wollte. Er fühlte in jeder
Weltanschauung, in der platonische Gedankenelemente lebten, etwas
naturwidriges. Deshalb konnte er bei den Philosophen nicht finden,
was er bei ihnen suchte. Er suchte die Ideen, die in den Dingen
leben, und die alle Einzelheiten der Erfahrung als hervorwachsend
aus einem lebendigen Ganzen erscheinen lassen, und die Philosophen
lieferten ihm Gedankenhülsen, die sie nach logischen Grundsätzen zu
Systemen verbunden hatten. Immer wieder fand er sich auf sich selbst
zurückgewiesen, wenn er bei Andern Aufklärung suchte über die Rätsel,
die ihm die Natur aufgab.



Es gehört zu den Dingen, an denen Goethe vor seiner italienischen
Reise gelitten hat, daß sein Erkenntnisbedürfnis keine Befriedigung
finden konnte. In Italien konnte er sich eine Ansicht bilden über die
Triebkräfte, aus denen die Kunstwerke hervorgehen. Er erkannte, daß
in den vollendeten Kunstwerken das enthalten ist, was die Menschen als
Göttliches, als Ewiges verehren. Nach dem Anblicke von künstlerischen
Schöpfungen, die ihn besonders interessieren, schreibt er die Worte
nieder: "Die hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke
von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht
worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen; da ist
Notwendigkeit, da ist Gott." Die Kunst der Griechen entlockt ihm
den Ausspruch: "Ich habe die Vermutung, daß die Griechen nach den
Gesetzen verfuhren, nach welchen die Natur selbst verfährt und denen
ich auf der Spur bin." Was Plato in der Ideenwelt zu finden glaubte,
was die Philosophen Goethe nie nahe bringen konnten, das blickt ihm
aus den Kunstwerken Italiens entgegen. In der Kunst offenbart sich für
Goethe zuerst das in vollkommener Gestalt, was er als die Grundlage der
Erkenntnis ansehen kann. Er erblickt in der künstlerischen Produktion
eine Art und höhere Stufe des Naturwirkens; künstlerisches Schaffen
ist ihm gesteigertes Naturschaffen. Er hat das in seiner Charakteristik
Winkelmanns später ausgesprochen. "Indem der Mensch auf den Gipfel der
Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an,
die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert
er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden
durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich
endlich zur Produktion des Kunstwerkes erhebt." Nicht auf dem Wege
logischer Schlußfolgerung, sondern durch Betrachtung des Wesens der
Kunst gelangt Goethe zu seiner Weltanschauung. Und was er in der
Kunst gefunden hat, das sucht er auch in der Natur.

Die Thätigkeit, durch die sich Goethe in den Besitz
einer Naturerkenntnis setzt, ist nicht wesentlich von der
künstlerischen verschieden. Beide gehen in einander über und
greifen über einander. Der Künstler muß, nach Goethes Ansicht,
größer und entschiedener werden, wenn er zu seinem "Talente noch ein
unterrichteter Botaniker ist, wenn er, von der Wurzel an, den Einfluß
der verschiedenen Teile auf das Gedeihen und den Wachstum der Pflanze,
ihre Bestimmung und wechselseitige Wirkung erkennt, wenn er die
successive Entwicklung der Blumen, Blätter, Befruchtung, Frucht und
des neuen Keimes einsieht und überdenkt. Er wird alsdann nicht bloß
durch die Wahl aus den Erscheinungen seinen Geschmack zeigen, sondern
er wird uns auch durch eine richtige Darstellung der Eigenschaften
zugleich in Verwunderung setzen und belehren." Das Kunstwerk ist
demnach um so vollkommener, je mehr in ihm dieselbe Gesetzmäßigkeit
zum Ausdruck kommt, die in dem Naturwerke enthalten ist, dem es
entspricht. Es giebt nur ein einheitliches Reich der Wahrheit, und
dieses umfaßt Kunst und Natur. Daher kann auch die Fähigkeit des
künstlerischen Schaffens von der des Naturerkennens nicht wesentlich
verschieden sein. Vom Stil des Künstlers sagt Goethe, daß er "auf den
tiefsten Grundfesten der Erkenntnis ruhe, auf dem Wesen der Dinge,
insofern uns erlaubt ist, es in sichtbaren und greifbaren Gestalten
zu erkennen". Die aus platonischen Vorstellungen hervorgegangene
Weltbetrachtung zieht eine scharfe Grenzlinie zwischen Wissenschaft
und Kunst. Die künstlerische Thätigkeit läßt sie auf der Phantasie,
auf dem Gefühle beruhen; die wissenschaftlichen Ergebnisse sollen
das Resultat einer Phantasie-freien Begriffsentwicklung sein. Goethe
stellt sich die Sache anders vor. Für ihn ergiebt sich, wenn er das
Auge auf die Natur richtet, eine Summe von Ideen; aber er findet,
daß in dem einzelnen Erfahrungsgegenstande der ideelle Bestandteil
nicht abgeschlossen ist; die Idee weist über das Einzelne hinaus
auf verwandte Gegenstände, in denen sie auf ähnliche Weise zur
Erscheinung kommt. Der philosophierende Beobachter hält diesen ideellen
Bestandteil fest und bringt ihn in seinen Gedankenwerken unmittelbar
zum Ausdrucke. Auch auf den Künstler wirkt dieses Ideelle. Aber es
treibt ihn, ein Werk zu gestalten, in dem die Idee nicht bloß wie
in einem Naturwerke wirkt, sondern zur gegenwärtigen Erscheinung
wird. Was in dem Naturwerke bloß ideell ist und sich dem geistigen
Auge des Beobachters enthüllt, das wird in dem Kunstwerke real,
wird wahrnehmbare Wirklichkeit. Der Künstler verwirklicht die Ideen
der Natur. Er braucht sich aber diese nicht in Form der Ideen zum
Bewußtsein zu bringen. Wenn er ein Ding oder ein Ereignis betrachtet,
so gestaltet sich in seinem Geiste unmittelbar ein anderes, das
in realer Erscheinung enthält was jene nur als Idee. Der Künstler
liefert Bilder der Naturwerke, welche deren Ideengehalt in einen
Wahrnehmungsgehalt umsetzen. Der Philosoph zeigt, wie sich die Natur
der denkenden Betrachtung darstellt; der Künstler zeigt, wie die
Natur aussehen würde, wenn sie ihre wirkenden Kräfte nicht bloß dem
Denken, sondern auch der Wahrnehmung offen entgegenbrächte. Es ist
eine und dieselbe Wahrheit, die der Philosoph in Form des Gedankens;
der Künstler in Form des Bildes darstellt. Beide unterscheiden sich
nur durch ihre Ausdrucksmittel.



Die Einsicht in das wahre Verhältnis von Idee und Erfahrung, die
sich Goethe in Italien angeeignet hat, ist nur die Frucht aus dem
Samen, der in seiner Naturanlage verborgen war. Die italienische
Reise brachte ihm jene Sonnenwärme, die geeignet war, den Samen
zur Reife zu bringen. In dem Aufsatz "die Natur", der 1782 im
Tiefurter Journal erschienen ist, und der Goethe zum Urheber hat
(vgl. meinen Nachweis von Goethes Urheberschaft im VII. Bande der
Schriften der Goethe-Gesellschaft), finden sich schon die Keime der
späteren Goetheschen Weltanschauung. Was hier dunkle Empfindung ist,
wird später klarer deutlicher Gedanke. "Natur! Wir sind von ihr
umgeben und umschlungen -- unvermögend, aus ihr herauszutreten, und
unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt
nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit
uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen .... Gedacht
hat sie (die Natur) und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch,
sondern als Natur ... Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie
schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht .... Ich
sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und falsch ist, alles hat
sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst! --"
Als Goethe diese Sätze niederschrieb, war ihm noch nicht klar, wie
die Natur durch den Menschen ihre ideelle Wesenheit ausspricht; daß
es aber die Stimme der Natur ist, die im Geiste ertönt, das fühlte er.



In Italien fand Goethe die geistige Atmosphäre, in der sich seine
Erkenntnisorgane ausbilden konnten, wie sie es ihren Anlagen gemäß
mußten, wenn er zur vollen Befriedigung kommen sollte. In Rom hat
er "über Kunst und ihre theoretischen Forderungen mit Moritz viel
verhandelt"; auf der Reise hat sich in ihm bei Beobachtung der
Pflanzenmetamorphose eine naturgemäße Methode ausgebildet, die sich
später für die Erkenntnis der ganzen organischen Natur fruchtbar
erwiesen hat. "Denn als die Vegetation mir Schritt für Schritt
ihr Verfahren vorbildete, konnte ich nicht irren, sondern mußte,
indem ich sie gewähren ließ, die Wege und Mittel anerkennen, wie sie
den eingehülltesten Zustand zur Vollendung nach und nach gewähren
ließ." Wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus Italien gelang es ihm,
auch für die Betrachtung der unorganischen Natur ein aus seinen
geistigen Bedürfnissen geborenes Verfahren zu finden. "Bei physischen
Untersuchungen drängte sich mir die Überzeugung auf, daß bei aller
Betrachtung der Gegenstände die höchste Pflicht sei, jede Bedingung,
unter welcher ein Phänomen erscheint, genau aufzusuchen und nach
möglichster Vollkommenheit der Phänomene zu trachten; weil sie doch
zuletzt sich aneinanderzureihen, oder vielmehr übereinanderzugreifen
genötigt sind, und vor dem Anschauen des Forschers auch eine Art
Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben manifestieren müssen."

Goethe fand nirgends Aufklärung. Er mußte sich selbst aufklären. Er
suchte den Grund dafür und glaubte ihn darin zu finden, daß er
für Philosophie im eigentlichen Sinne kein Organ hätte. Er ist
aber darin zu suchen, daß die platonische Denkweise, die alle ihm
zugänglichen Philosophien beherrschte, seiner gesunden Naturanlage
widersprach. In seiner Jugend hatte er sich wiederholt an Spinoza
gewandt. Er gesteht sogar, daß dieser Philosoph auf ihn immer eine
"friedliche Wirkung" hervorgebracht habe. Diese beruht darauf, daß
Spinoza das Weltall als eine große Einheit ansieht, und alles Einzelne
mit Notwendigkeit aus dem Ganzen hervorgehend sich denkt. Wenn sich
Goethe aber auf den Inhalt der Spinozistischen Philosophie einließ,
so fühlte er doch, daß dieser ihm fremd blieb. "Denke man aber nicht,
daß ich seine Schriften hätte unterschreiben und mich dazu buchstäblich
bekennen mögen. Denn daß niemand den andern versteht, daß keiner bei
denselben Worten dasselbe, was der andere denkt, daß ein Gespräch,
eine Lektüre bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen
aufregt, hatte ich schon allzudeutlich eingesehen, und man wird dem
Verfasser von Werther und Faust wohl zutrauen, daß er von solchen
Mißverständnissen tief durchdrungen, nicht selbst den Dünkel gehegt,
einen Mann vollkommen zu verstehen, der als Schüler von Descartes,
durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des
Denkens hervorgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel
aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint." Nicht der Umstand,
daß Spinoza durch Descartes geschult worden ist, auch nicht der, daß
er durch mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des
Denkens erhoben hat, machte ihn für Goethe unverständlich, sondern
seine wirklichkeitsfremde, rein logische Art, die Erkenntnisse zu
behandeln. Goethe konnte sich dem reinen erfahrungsfreien Denken nicht
hingeben, weil er es nicht zu trennen vermochte von der Gesamtheit des
Wirklichen. Er wollte nicht einen Gedanken bloß logisch an den andern
angliedern. Vielmehr erschien ihm eine solche Gedankenthätigkeit
von der wahren Wirklichkeit abzulenken. Er mußte den Geist in die
Erfahrung versenken, um zu den Ideen zu kommen. Die Wechselwirkung
von Idee und Wahrnehmung war ihm ein geistiges Atemholen. "Durch
die Pendelschläge wird die Zeit, durch die Wechselbewegung von
Idee und Erfahrung die sittliche und wissenschaftliche Welt
regiert." Im Sinne dieses Satzes die Welt und ihre Erscheinungen
zu betrachten, schien Goethe naturgemäß. Denn für ihn gab es keinen
Zweifel darüber, daß die Natur dasselbe Verfahren beobachtet: daß sie
"eine Entwicklung aus einem lebendigen geheimnisvollen Ganzen" zu den
mannigfaltigen besonderen Erscheinungen hin ist, die den Raum und die
Zeit erfüllen. Das geheimnisvolle Ganze ist die Welt der Idee. "Die
Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht
wohlgethan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können,
sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und
insofern ist die Idee selbst ein Begriff." Das Schaffen der Natur
geht aus dem Ganzen, das ideeller Art ist, ins Einzelne, das als
Reelles der Wahrnehmung gegeben ist. Deshalb soll der Beobachter:
"das Ideelle im Reellen anerkennen und sein jeweiliges Mißbehagen mit
dem Endlichen durch Erhebung ins Unendliche beschwichtigen". Goethe
ist überzeugt davon, daß "die Natur nach Ideen verfahre, ingleichen
daß der Mensch in allem, was er beginnt, eine Idee verfolge". Wenn
es dem Menschen wirklich gelingt, sich zu der Idee zu erheben,
und von der Idee aus die Einzelheiten der Wahrnehmung zu begreifen,
so vollbringt er dasselbe, was die Natur vollbringt, indem sie ihre
Geschöpfe aus dem geheimnisvollen Ganzen hervorgehen läßt. Solange
der Mensch das Wirken und Schaffen der Idee nicht fühlt, bleibt sein
Denken von der lebendigen Natur abgesondert. Er muß das Denken als
eine bloß subjektive Thätigkeit ansehen, die ein abstraktes Bild
von der Natur entwerfen kann. Sobald er aber fühlt, wie die Idee in
seinem Innern lebt und thätig ist, betrachtet er sich und die Natur
als Ein Ganzes, und was als Subjektives in seinem Innern erscheint,
das gilt ihm zugleich als objektiv; er weiß, daß er der Natur nicht
mehr als Fremder gegenübersteht, sondern er fühlt sich verwachsen
mit dem Ganzen derselben. Das Subjektive ist objektiv geworden; das
Objektive von dem Geiste ganz durchdrungen. Goethe ist der Meinung,
der Grundirrtum Kants bestehe darin, daß dieser "das subjektive
Erkenntnisvermögen selbst als Objekt betrachtet und den Punkt,
wo subjektiv und objektiv zusammentreffen, zwar scharf aber nicht
ganz richtig sondert." (Weimarische Ausgabe, 2. Abteilung, Band
XI S. 376.) Das Erkenntnisvermögen erscheint dem Menschen nur so
lange als subjektiv, als er nicht beachtet, daß die Natur selbst
es ist, die durch dasselbe spricht. Subjektiv und objektiv treffen
zusammen, wenn die objektive Ideenwelt im Subjekte auflebt, und in dem
Geiste des Menschen dasjenige lebt, was in der Natur selbst thätig
ist. Wenn das der Fall ist, dann hört aller Gegensatz von subjektiv
und objektiv auf. Dieser Gegensatz hat nur eine Bedeutung, solange der
Mensch ihn künstlich aufrecht erhält, solange er die Ideen als seine
Gedanken betrachtet, durch die das Wesen der Natur abgebildet wird,
in denen es nicht aber selbst wirksam ist. Kant und die Kantianer
hatten keine Ahnung davon, daß in den Ideen der Vernunft das Wesen,
das Ansich der Dinge unmittelbar gegenwärtig ist. Für sie ist alles
Ideelle ein bloß Subjektives. Deshalb kamen sie zu der Meinung, das
Ideelle könne nur dann notwendig gültig sein, wenn auch dasjenige,
auf das es sich bezieht, die Erfahrungswelt, nur subjektiv ist. Mit
Goethes Anschauungen steht die Kantsche Denkweise in einem scharfen
Gegensatz. Es giebt zwar einzelne Äußerungen Goethes, in denen er
von Kants Ansichten in einer anerkennenden Art spricht. Er erzählt,
daß er manchem Gespräch über diese Ansichten beigewohnt habe. "Mit
einiger Aufmerksamkeit konnte ich bemerken, daß die alte Hauptfrage
sich erneuere, wieviel unser Selbst und wieviel die Außenwelt zu
unserm geistigen Dasein beitrage. Ich hatte beide niemals gesondert,
und wenn ich nach meiner Weise über Gegenstände philosophierte, so
that ich es mit unbewußter Naivität und glaubte wirklich, ich sähe
meine Meinungen vor Augen. Sobald aber jener Streit zur Sprache kam,
mochte ich mich gern auf diejenige Seite stellen, welche dem Menschen
am meisten Ehre macht, und gab allen Freunden vollkommen Beifall,
die mit Kant behaupteten: wenn gleich alle unsere Erkenntnis mit der
Erfahrung angehe, so entspringe sie darum doch nicht eben alle aus
der Erfahrung." Die Idee stammt auch, nach Goethes Ansicht, nicht
aus dem Teile der Erfahrung, welcher der bloßen Wahrnehmung durch die
Sinne des Menschen sich darbietet. Die Vernunft, die Phantasie müssen
sich bethätigen, müssen in das Innere der Wesen dringen, um sich der
ideellen Elemente des Daseins zu bemächtigen. Insofern hat der Geist
des Menschen Anteil an dem Zustandekommen der Erkenntnis. Goethe
meint, es mache dem Menschen Ehre, daß in seinem Geiste die höhere
Wirklichkeit, die den Sinnen nicht zugänglich ist, zur Erscheinung
komme; Kant dagegen spricht der Erfahrungswelt den Charakter der
höheren Wirklichkeit ab, weil sie Bestandteile enthält, die aus dem
Geiste stammen. Nur wenn er die Kantschen Sätze erst im Sinne seiner
Weltanschauung umdeutete, konnte Goethe sich zustimmend zu ihnen
verhalten. Die Grundlagen der Kantschen Denkweise widersprechen
Goethes Wesen aufs schärfste. Wenn dieser den Widerspruch nicht
scharf genug betonte, so liegt das wohl nur darin, daß er sich auf
diese Grundlagen nicht einließ, weil sie ihm zu fremd waren. "Der
Eingang (der Kritik der reinen Vernunft) war es, der mir gefiel,
ins Labyrinth selbst konnte ich mich nicht wagen: bald hinderte
mich die Dichtungsgabe, bald der Menschenverstand, und ich fühlte
mich nirgends gebessert." Über seine Gespräche mit den Kantianern
mußte sich Goethe eingestehen: "Sie hörten mich wohl, konnten mir
aber nichts erwidern, noch irgend förderlich sein. Mehr als einmal
begegnete es mir, daß einer oder der andere mit lächelnder Bewunderung
zugestand: es sei freilich ein Analogon Kantscher Vorstellungsart,
aber ein seltsames." Es war, wie ich gezeigt, auch kein Analogon,
sondern das entschiedenste Gegenteil der Kantschen Vorstellungsart.



Es ist interessant zu sehen, wie Schiller sich über den Gegensatz
der Goetheschen Denkweise und seiner eigenen aufzuklären
sucht. Er empfindet das Ursprüngliche und Freie der Goetheschen
Weltanschauung. Aber er kann die platonischen Gedankenelemente
aus seinem eigenen Geiste nicht entfernen. Er kann sich nicht zu
der Einsicht erheben, daß Idee und Wahrnehmung in der Wirklichkeit
nicht getrennt vorhanden sind, sondern nur künstlich von dem durch
Plato verführten Verstand getrennt gedacht werden. Deshalb stellt er
der Goetheschen Geistesart, die er als eine intuitive bezeichnet,
die eigene als spekulative gegenüber und behauptet, daß beide,
wenn sie nur kraftvoll genug wirken, zu einem gleichen Ziele führen
müssen. Von dem intuitiven Geiste nimmt Schiller an, daß er sich an
das Empirische, Individuelle halte und von da aus zu dem Gesetze, zu
der Idee aufsteige. Falls ein solcher Geist genialisch ist, wird er
in dem Empirischen das Notwendige, in dem Individuellen die Gattung
erkennen. Der spekulative Geist dagegen soll den umgekehrten Weg
machen. Ihm soll zuerst das Gesetz, die Idee gegeben sein, und von ihr
soll er zum Empirischen und Individuellen herabsteigen. Ist ein solcher
Geist genialisch, so wird er zwar immer nur Gattungen im Auge haben,
aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Beziehung
auf wirkliche Objekte. Die Annahme einer besonderen Geistesart, der
spekulativen gegenüber der intuitiven, beruht auf dem Glauben, daß
der Ideenwelt ein abgesondertes, von der Wahrnehmungswelt getrenntes
Dasein zukomme. Wäre dies der Fall, dann könnte es einen Weg geben,
auf dem der Inhalt der Ideen in den Geist käme, auch wenn ihn dieser
nicht in der Erfahrung aufsuchte. Ist aber die Ideenwelt mit der
Erfahrungswirklichkeit untrennbar verbunden, sind beide nur als Ein
Ganzes vorhanden, so kann es nur eine intuitive Erkenntnis, die in
der Erfahrung die Idee aufsucht und mit dem Individuellen zugleich
die Gattung erfaßt, geben. In Wahrheit giebt es auch keinen rein
spekulativen Geist im Sinne Schillers. Denn die Gattungen existieren
nur innerhalb der Sphäre, der auch die Individuen angehören; und
der Geist kann sie anderswo gar nicht finden. Hat ein sogenannter
spekulativer Geist wirklich Gattungsideen, so stammen diese aus der
Beobachtung der wirklichen Welt. Wenn das lebendige Gefühl für diesen
Ursprung, für den notwendigen Zusammenhang des Gattungsmäßigen mit dem
Individuellen verloren geht, dann entsteht die Meinung, solche Ideen
können in der Vernunft auch ohne Erfahrung entstehen. Die Bekenner
dieser Meinung bezeichnen eine Summe von abstrakten Gattungsideen als
Inhalt der reinen Vernunft, weil sie die Fäden nicht sehen, mit denen
diese Ideen an die Erfahrung gebunden sind. Eine solche Täuschung ist
am leichtesten bei den allgemeinsten, umfassendsten Ideen möglich. Da
solche Ideen weite Gebiete der Wirklichkeit umspannen, so ist in ihnen
manches ausgetilgt oder abgeblaßt, was den zu diesem Gebiete gehörigen
Individualitäten zukommt. Man kann eine Anzahl solcher allgemeiner
Ideen durch Überlieferung in sich aufnehmen und dann glauben, sie seien
dem Menschen angeboren, oder man habe sie aus der reinen Vernunft
herausgesponnen. Ein Geist, der einem solchen Glauben verfällt,
kann sich als spekulativ ansehen. Er wird aus seiner Ideenwelt aber
nie mehr herausholen können, als diejenigen hineingelegt haben, von
denen er sie überliefert erhalten hat. Wenn Schiller meint, daß der
spekulative Geist, wenn er genialisch ist, "zwar immer nur Gattungen,
aber mit der Möglichkeit des Lebens und mit gegründeter Beziehung
auf wirkliche Objekte" erzeugt (vergl. Schillers Brief an Goethe vom
23. August 1794), so ist er im Irrtum. Ein wirklich spekulativer Geist,
der nur in Gattungsbegriffen lebte, könnte in seiner Ideenwelt keine
andere gegründete Beziehung zur Wirklichkeit finden, als diejenige,
die schon in ihr liegt. Ein Geist, der Beziehungen zur Wirklichkeit
hat und sich dennoch als spekulativ bezeichnet, ist in einer Täuschung
über seine eigene Wesenheit befangen. Diese Täuschung kann ihn dazu
verführen, seine Beziehungen zur Wirklichkeit, zum unmittelbaren Leben
zu vernachlässigen. Er wird glauben der unmittelbaren Beobachtung
entraten zu können, weil er andere Quellen der Wahrheit zu haben
meint. Die Folge davon ist immer, daß die Ideenwelt eines solchen
Geistes einen matten abgeblaßten Charakter trägt. Die frischen
Farben des Lebens werden seinen Gedanken fehlen. Wer im Bunde mit
der Wirklichkeit leben will, wird aus einer solchen Gedankenwelt
nicht viel gewinnen können. Nicht als eine Geistesart, die neben der
intuitiven als gleichberechtigt anzusehen ist, kann die spekulative
gelten, sondern als eine verkümmerte, an Leben verarmte Denkart. Der
intuitive Geist hat es nicht bloß mit Individuen zu thun, er sucht
nicht in dem Empirischen den Charakter der Notwendigkeit auf. Sondern
wenn er sich der Natur zuwendet, vereinigen sich bei ihm Wahrnehmung
und Idee unmittelbar zu einer Einheit. Beide werden ineinander geschaut
und als Ganzheit empfunden. Er kann zu den allgemeinsten Wahrheiten, zu
den höchsten Abstraktionen aufsteigen: das unmittelbar wirkliche Leben
wird in seiner Gedankenwelt immer zu erkennen sein. Solcher Art war
Goethes Denken. Heinroth hat in seiner Anthropologie ein treffliches
Wort über dieses Denken gesprochen, das Goethe im höchsten Grade
gefiel, weil es ihn über seine Natur aufklärte. "Herr Dr. Heinroth
spricht von meinem Wesen und Wirken günstig, ja er bezeichnet meine
Verfahrungsart als eine eigentümliche: daß nämlich mein Denkvermögen
gegenständlich thätig sei, womit er aussprechen will, daß mein
Denken sich von den Gegenständen nicht sondere; daß die Elemente der
Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das
innigste durchdrungen werden; daß mein Anschauen selbst ein Denken,
mein Denken ein Anschauen sei." Im Grunde schildert Heinroth nichts
als die Art, wie sich jedes gesunde Denken zu den Gegenständen
verhält. Jede andere Verfahrungsart ist eine Abirrung von dem
naturgemäßen Wege. Wenn in einem Menschen die Anschauung überwiegt,
dann bleibt er an dem Individuellen hängen; er kann nicht in die
tieferen Gründe der Wirklichkeit eindringen; wenn das abstrakte Denken
in ihm überwiegt, dann erscheinen seine Begriffe unzureichend, um die
lebendige Fülle des Wirklichen zu verstehen. Das Extrem der ersten
Abirrung stellt den rohen Empiriker dar, der mit den individuellen
Tatsachen sich begnügt; das Extrem der andern Abirrung ist in dem
Philosophen gegeben, der die reine Vernunft anbetet und der nur denkt,
ohne ein Gefühl davon zu haben, daß Gedanken ihrem Wesen nach an
Anschauungen gebunden sind. In einem schönen Bilde schildert Goethe
das Gefühl des Denkers, der zu den höchsten Wahrheiten aufsteigt,
ohne die Empfindung für die lebendige Erfahrung zu verlieren. Er
schreibt im Anfang des Jahres 1784 einen Aufsatz über den Granit. Er
versetzt sich auf einen aus diesem Gestein bestehenden Gipfel, wo
er sich sagen kann: "Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der
bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht, keine neuere Schicht,
keine aufgehäufte, zusammengeschwemmte Trümmer haben sich zwischen
dich und den festen Boden der Urwelt gelegt; du gehst nicht wie in
jenen fruchtbaren Thälern über ein anhaltendes Grab, diese Gipfel haben
nichts Lebendiges erzeugt und nichts Lebendiges verschlungen; sie sind
vor allem Leben und über alles Leben. In diesem Augenblicke, da die
innern anziehenden und bewegenden Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar
auf mich wirken, da die Einflüsse des Himmels mich näher umschweben,
werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur hinaufgestimmt, und wie
der Menschengeist alles belebt, so wird auch ein Gleichnis in mir rege,
dessen Erhabenheit ich nicht widerstehen kann. So einsam, sage ich zu
mir selber, indem ich diesen ganz nackten Gipfel hinabsehe und kaum
am Fuße ein gering wachsendes Moos erblicke, so einsam, sage ich,
wird es dem Menschen zu Mute, der nur den ältesten, ersten, tiefsten
Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will. Ja, er kann zu sich
sagen: Hier auf dem ältesten, ewigen Altare, der unmittelbar auf die
Tiefe der Schöpfung gebaut ist, bring ich dem Wesen aller Wesen ein
Opfer. Ich fühle die ersten, festesten Anfänge unsers Daseins, ich
überschaue die Welt, ihre schrofferen und gelinderen Thäler und ihre
fernen fruchtbaren Weiden, meine Seele wird über sich selbst und über
alles erhaben und sehnt sich nach dem nähern Himmel. Aber bald ruft
die brennende Sonne Durst und Hunger, seine menschlichen Bedürfnisse,
zurück. Er sieht sich nach jenen Thälern um, über die sich sein Geist
schon hinwegschwang." Solchen Enthusiasmus der Erkenntnis, solche
Empfindungen für die ältesten, festen Wahrheiten kann nur derjenige
in sich entwickeln, der immer und immer wieder aus den Regionen der
Ideenwelt den Weg zurückfindet zu den unmittelbaren Anschauungen.



PERSÖNLICHKEIT UND WELTANSCHAUUNG.

Die Außenseite der Natur lernt der Mensch durch die Anschauung
kennen; ihre tiefer liegenden Triebkräfte enthüllen sich
in seinem eigenen Innern als subjektive Erlebnisse. In der
philosophischen Weltbetrachtung und im künstlerischen Empfinden und
Hervorbringen durchdringen die subjektiven Erlebnisse die objektiven
Anschauungen. Das wird wieder ein Ganzes, was sich in zwei Teile
spalten mußte, um in den menschlichen Geist einzudringen. Der Mensch
befriedigt seine höchsten geistigen Bedürfnisse, wenn er der objektiv
angeschauten Welt einverleibt, was sie in seinem Innern ihm als ihre
tieferen Geheimnisse offenbart. Erkenntnisse und Kunsterzeugnisse
sind nichts anderes, als von menschlichen inneren Erlebnissen
erfüllte Anschauungen. In dem einfachsten Urteile über ein Ding
oder Ereignis der Außenwelt können ein menschliches Seelenerlebnis
und eine äußere Anschauung im innigen Bunde miteinander gefunden
werden. Wenn ich sage: ein Körper stoßt den andern, so habe ich
bereits ein inneres Erlebnis auf die Außenwelt übertragen. Ich sehe
einen Körper in Bewegung; er trifft auf einen andern; dieser kommt
infolgedessen auch in Bewegung. Mit diesen Worten ist der Inhalt der
Wahrnehmung erschöpft. Ich bin aber dabei nicht beruhigt. Denn ich
fühle: es ist in der ganzen Erscheinung noch mehr vorhanden, als
was die bloße Wahrnehmung liefert. Ich greife nach einem inneren
Erlebnis, das mich über die Wahrnehmung aufklärt. Ich weiß, daß
ich selbst durch Anwendung von Kraft, durch Stoßen, einen Körper
in Bewegung versetzen kann. Dieses Erlebnis übertrage ich auf die
Erscheinung und sage: der eine Körper stoßt den andern. "Der Mensch
begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist" (Goethe, Sprüche in
Prosa. National-Litt. Goethes Werke, Band 36, 2. S. 353). Es giebt
Menschen, die aus dem Vorhandensein dieses subjektiven Bestandteiles
in jedem Urteile über die Außenwelt die Folgerung ziehen, daß der
objektive Wesenskern der Wirklichkeit dem Menschen unzugänglich
sei. Sie glauben, der Mensch verfälsche den unmittelbaren, objektiven
Thatbestand der Wirklichkeit, wenn er seine subjektiven Erlebnisse
in sie hineinlegt. Sie sagen: weil der Mensch sich die Welt nur durch
die Brille seines subjektiven Lebens vorstellen kann, ist alle seine
Erkenntnis nur eine subjektive, beschränkt-menschliche. Wem es aber zum
Bewußtsein kommt, was im Innern des Menschen sich offenbart, der wird
nichts mit solchen unfruchtbaren Behauptungen zu thun haben wollen. Er
weiß, daß Wahrheit eben dadurch zustande kommt, daß Wahrnehmung und
Idee sich im menschlichen Erkenntnisprozeß durchdringen. Ihm ist
klar, daß in dem Subjektiven das eigentlichste und tiefste Objektive
lebt. "Wenn die gesunde Natur des Menschen als ein Ganzes wirkt, wenn
er sich in der Welt als in einem großen, schönen würdigen Ganzen fühlt,
wenn das harmonische Behagen ihm ein reines, freies Entzücken gewährt,
dann würde das Weltall, wenn es sich selbst empfinden könnte, als
an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eigenen Werdens
und Wesens bewundern." (Goethes Werke, Deutsche Nat.-Litt. Band 27,
S. 42.) Die der bloßen Anschauung zugängliche Wirklichkeit ist nur
die eine Hälfte der ganzen Wirklichkeit; der Inhalt des menschlichen
Geistes ist die andere Hälfte. Träte nie ein Mensch der Welt gegenüber,
so käme diese zweite Hälfte nie zur lebendigen Erscheinung, zum
vollen Dasein. Sie wirkte zwar als verborgene Kräftewelt; aber es
wäre ihr die Möglichkeit entzogen, sich in einer eigenen Gestalt zu
zeigen. Man möchte sagen, ohne den Menschen würde die Welt ein unwahres
Antlitz zeigen. Sie wäre so, wie sie ist, durch ihre tieferen Kräfte,
aber diese tieferen Kräfte blieben selbst verhüllt durch das, was sie
wirken. Im Menschengeiste werden sie aus ihrer Verzauberung erlöst. Der
Mensch ist nicht bloß dazu da, um sich von der fertigen Welt ein Bild
zu machen; nein, er wirkt selbst mit an dem Zustandekommen dieser Welt.



Verschieden gestalten sich die subjektiven Erlebnisse bei verschiedenen
Menschen. Für diejenigen, welche nicht an die objektive Natur der
Innenwelt glauben, ist das ein Grund mehr, dem Menschen das Vermögen
abzusprechen, in das Wesen der Dinge zu dringen. Denn wie kann Wesen
der Dinge sein, was dem einen so, dem andern anders erscheint. Für
denjenigen, der die wahre Natur der Innenwelt durchschaut, folgt
aus der Verschiedenheit der Innenerlebnisse nur, daß die Natur ihren
reichen Inhalt auf verschiedene Weise aussprechen kann. Dem einzelnen
Menschen erscheint die Wahrheit in einem individuellen Kleide. Sie
paßt sich der Eigenart seiner Persönlichkeit an. Besonders für die
höchsten, dem Menschen wichtigsten Wahrheiten gilt dies. Um sie zu
gewinnen, überträgt der Mensch seine geistigsten, intimsten Erlebnisse
auf die angeschaute Welt und mit ihnen zugleich das Eigenartigste
seiner Persönlichkeit. Es giebt auch allgemeingültige Wahrheiten,
die jeder Mensch aufnimmt, ohne ihnen eine individuelle Färbung zu
geben. Dies sind aber die oberflächlichsten, die trivialsten. Sie
entsprechen dem allgemeinen Gattungscharakter der Menschen, der bei
allen der gleiche ist. Gewisse Eigenschaften, die in allen Menschen
gleich sind, erzeugen über die Dinge auch gleiche Urteile. In
der Art, wie die Menschen die Dinge nach Maß und Zahl ansehen,
unterscheiden sie sich nicht. Deshalb gelten für alle die gleichen
mathematischen Wahrheiten. In den Eigenschaften aber, in denen
sich die Einzelpersönlichkeit von dem allgemeinen Gattungscharakter
abhebt, liegt auch der Grund zu den individuellen Ausgestaltungen
der Wahrheit. Nicht darauf kommt es an, daß in dem einen Menschen die
Wahrheit anders erscheint als in dem andern, sondern darauf, daß alle
zum Vorschein kommenden individuellen Gestalten einem einzigen Ganzen
angehören, der einheitlichen ideellen Welt. Die Wahrheit spricht im
Innern der einzelnen Menschen verschiedene Sprachen und Dialekte; in
jedem großen Menschen spricht sie eine eigene Sprache, die nur dieser
Einen Persönlichkeit zukommt. Aber es ist immer die eine Wahrheit,
die da spricht. "Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur
Außenwelt, so heiß ichs Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene
Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige." Dies ist Goethes
Meinung. Nicht ein starres, totes Begriffssystem ist die Wahrheit,
das nur einer einzigen Gestalt fähig ist; sie ist ein lebendiges
Meer, in welchem der Geist des Menschen lebt, und das Wellen der
verschiedensten Gestalt an seiner Oberfläche zeigen kann. "Die
Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an
den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht," sagt Goethe. Er
schätzt keine Theorie, die ein für allemal abgeschlossen sein will,
und in dieser Gestalt eine ewige Wahrheit darstellen soll. Er will
lebendige Begriffe, durch die der Geist des Einzelnen nach seiner
individuellen Eigenart die Anschauungen zusammenfaßt. Die Wahrheit
erkennen heißt ihm, in der Wahrheit leben. Und in der Wahrheit leben
ist nichts anderes, als bei der Betrachtung jedes einzelnen Dinges
hinzusehen, welches innere Erlebnis sich einstellt, wenn man diesem
Dinge gegenübersteht. Eine solche Ansicht von dem menschlichen Erkennen
kann nicht von Grenzen des Wissens, nicht von einer Eingeschränktheit
desselben durch die Natur des Menschen sprechen. Denn die Fragen, die
sich, nach dieser Ansicht, das Erkennen vorlegt, entspringen nicht
aus den Dingen; sie sind dem Menschen auch nicht von irgend einer
andern außerhalb seiner Persönlichkeit gelegenen Macht auferlegt. Sie
entspringen aus der Natur der Persönlichkeit selbst. Wenn der Mensch
den Blick auf ein Ding richtet, dann entsteht in ihm der Drang,
mehr zu sehen, als ihm in der Wahrnehmung entgegentritt. Und soweit
dieser Drang reicht, soweit reicht sein Erkenntnisbedürfnis. Woher
stammt dieser Drang? Doch nur davon, daß ein inneres Erlebnis sich
in der Seele angeregt fühlt, mit der Wahrnehmung, eine Verbindung
einzugehen. Sobald die Verbindung vollzogen ist, ist auch das
Erkenntnisbedürfnis befriedigt. Erkennen wollen ist eine Forderung
der menschlichen Natur und nicht der Dinge. Diese können dem Menschen
nicht mehr über ihr Wesen sagen, als er ihnen abfordert. Wer von
einer Beschränktheit des Erkenntnisvermögens spricht, der weiß
nicht, woher das Erkenntnisbedürfnis stammt. Er glaubt, der Inhalt
der Wahrheit liege irgendwo aufbewahrt, und in dem Menschen lebe
nur der unbestimmte Wunsch, den Zugang zu dem Aufbewahrungsorte
zu finden. Aber es ist das Wesen der Dinge selbst, das sich aus
dem Innern des Menschen herausarbeitet und dahin strebt, wohin es
gehört: zu der Wahrnehmung. Nicht nach einem Verborgenen strebt der
Mensch im Erkenntnisprozeß, sondern nach der Ausgleichung zweier
Kräfte, die von zwei Seiten auf ihn wirken. Man kann wohl sagen,
ohne den Menschen gäbe es keine Erkenntnis des Innern der Dinge,
denn ohne ihn wäre nichts da, wodurch dieses Innere sich aussprechen
könnte. Aber man kann nicht sagen, es gibt im Innern der Dinge etwas,
das dem Menschen unzugänglich ist. Daß an den Dingen noch etwas anderes
vorhanden ist, als was die Wahrnehmung liefert, weiß der Mensch nur,
weil dieses andere in seinem eigenen Innern lebt. Von einem weiteren
unbekannten Etwas der Dinge sprechen, heißt Worte über etwas machen,
was nicht vorhanden ist.



Die Naturen, die nicht zu erkennen vermögen, daß es die Sprache
der Dinge ist, die im Innern des Menschen gesprochen wird,
sind der Ansicht, alle Wahrheit müsse von außen in den Menschen
eindringen. Solche Naturen halten sich entweder an die bloße
Wahrnehmung und glauben, allein durch Sehen, Hören, Tasten, durch
Auflesung der geschichtlichen Vorkommnisse und durch Vergleichen,
Zählen, Rechnen, Wägen des aus der Tatsachenwelt Aufgenommenen
die Wahrheit erkennen zu können; oder sie sind der Ansicht,
daß die Wahrheit nur zu dem Menschen kommen könne, wenn sie ihm
durch ein übermenschliches Wesen offenbart werde, oder endlich, sie
wollen durch Kräfte besonderer Natur, durch Ekstase oder mystisches
Schauen in den Besitz der höchsten Einsichten kommen, die ihnen, nach
ihrer Ansicht, die dem Denken zugängliche Ideenwelt nicht darbieten
kann. Den Offenbarungsgläubigen und den Mystikern reihen sich noch die
Metaphysiker an. Diese suchen zwar durch das Denken sich Begriffe von
der Wahrheit zu bilden. Aber sie suchen den Inhalt für diese Begriffe
nicht in der menschlichen Ideenwelt, sondern in einer hinter den Dingen
liegenden zweiten Wirklichkeit. Sie meinen, durch reine Begriffe über
einen solchen Inhalt entweder etwas Sicheres ausmachen zu können,
oder wenigstens durch Hypothesen sich Vorstellungen von ihm bilden zu
können. Ich spreche hier zunächst von der zuerst angeführten Art von
Menschen, von den Tatsachenfanatikern. Ihnen kommt es zuweilen zum
Bewußtsein, daß in dem Zählen und Rechnen bereits eine Verarbeitung
des Anschauungsinhaltes mit Hilfe des Denkens stattfindet. Dann aber
sagen sie, die Gedankenarbeit sei bloß das Mittel, durch das der
Mensch den Zusammenhang der Tatsachen zu erkennen bestrebt ist. Was
aus dem Denken bei Bearbeitung der Außenwelt fließt, gilt ihnen
als bloß subjektiv; als objektiven Wahrheitsgehalt, als wertvollen
Erkenntnisinhalt sehen sie nur das an, was mit Hilfe des Denkens
von aussen an sie herankommt. Sie fangen zwar die Tatsachen in ihre
Gedankennetze ein, lassen aber nur das Eingefangene als objektiv
gelten. Sie übersehen, daß dieses Eingefangene durch das Denken eine
Auslegung, Zurechtrückung, eine Interpretation erfährt, die es in der
bloßen Anschauung nicht hat. Die Mathematik ist ein Ergebnis reiner
Gedankenprozesse, ihr Inhalt ist ein geistiger, subjektiver. Und der
Mechaniker, der die Naturvorgänge in mathematischen Zusammenhängen
vorstellt, kann dies nur unter der Voraussetzung, daß diese
Zusammenhänge in dem Wesen dieser Vorgänge begründet sind. Das heißt
aber nichts anderes als: in der Anschauung ist eine mathematische
Ordnung verborgen, die nur derjenige sieht, der die mathematischen
Gesetze in seinem Geiste ausbildet. Zwischen den mathematischen Raum-
und Zahlenvorstellungen und den intimsten, geistigsten Erlebnissen
ist aber kein Art-, sondern nur ein Gradunterschied. Und mit
demselben Rechte wie die Ergebnisse der mathematischen Forschung
kann der Mensch andere innere Erlebnisse, andere Gebiete seiner
Ideenwelt auf die Anschauungen übertragen. Nur scheinbar stellt
der Tatsachenfanatiker rein äußere Vorgänge fest. Er denkt zumeist
über die Natur seiner Ideenwelt und ihren Charakter, als subjektives
Erlebnis, nicht nach. Auch sind seine inneren Erlebnisse inhaltsarme,
blutleere Abstraktionen, die von dem kraftvollen Tatsacheninhalt
verdunkelt werden. Die Täuschung, der er sich hingiebt, kann nur so
lange bestehen, als er auf der untersten Stufe der Naturinterpretation
stehen bleibt, solange er bloß zählt, wägt, berechnet. Auf den höheren
Stufen drängt sich die wahre Natur der Erkenntnis bald auf. Man kann
es aber an den Tatsachenfanatikern beobachten, daß sie sich vorzüglich
an die unteren Stufen halten. Sie gleichen dadurch einem Aesthetiker,
der ein Musikstück bloß darnach beurteilen will, was an ihm berechnet
und gezählt werden kann. Sie wollen die Erscheinungen der Natur von
dem Menschen absondern. Nichts Subjektives soll in die Beobachtung
einfließen. Goethe verurteilt dieses Verfahren mit den Worten: "Der
Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient,
ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann,
und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die
Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloß in dem,
was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja, was sie
leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will." Es ist die Angst
vor dem Subjektiven, die zu solcher Verfahrungsweise führt, und die
aus einer Verkennung der wahrhaften Natur desselben herrührt. "Dafür
steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare
in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung
derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja man kann sagen, was sind die
elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der
sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen
assimilieren zu können?" (Goethes Werke. Deutsche Nat.-Litt. Band 36,
2 S. 351.) Nach Goethes Ansicht soll der Naturforscher nicht allein
darauf aufmerksam sein, wie die Dinge erscheinen, sondern wie sie
erscheinen würden, wenn alles, was in ihnen als ideelle Triebkräfte
wirkt, auch wirklich zur äußeren Erscheinung käme. Erst wenn sich
der leibliche und geistige Organismus des Menschen den Erscheinungen
gegenüberstellt, dann enthüllen sie ihr Inneres.



Wer mit freiem, offenem Beobachtungsgeist und mit einem entwickelten
Innenleben, in dem die Ideen der Dinge sich offenbaren, an die
Erscheinungen herantritt, dem enthüllen diese, nach Goethes Meinung,
alles, was an ihnen ist. Goethes Weltanschauung entgegengesetzt
ist daher diejenige, welche das Wesen der Dinge nicht innerhalb der
Erfahrungswirklichkeit, sondern in einer hinter derselben liegenden
zweiten Wirklichkeit sucht. Ein Bekenner einer solchen Weltanschauung
trat Goethe in Fr. H. Jacobi entgegen. Er macht seinem Unwillen
in einer Bemerkung der Tag- und Jahreshefte (zum Jahre 1811) Luft:
"Jacobi von den göttlichen Dingen machte mir nicht wohl; wie konnte
mir das Buch eines so herzlich geliebten Freundes willkommen sein,
worin ich die These durchgeführt sehen sollte: die Natur verberge
Gott! Mußte bei meiner reinen, tiefen, angeborenen und geübten
Anschauungsweise, die mich Gott in der Natur, die Natur in Gott zu
sehen unverbrüchlich gelehrt hatte, so daß diese Vorstellungsart den
Grund meiner ganzen Existenz ausmachte, mußte nicht ein so seltsamer,
einseitig beschränkter Ausspruch mich dem Geiste nach, von dem edelsten
Manne, dessen Herz ich verehrend liebte, für ewig entfernen". Goethes
Anschauungsweise gibt ihm die Sicherheit, daß er in der ideellen
Durchdringung der Natur das ewig Gesetzmäßige in ihr unmittelbar
anschaut. Und dieses ewig Gesetzmäßige ist ihm mit dem Göttlichen
identisch. Wenn das Göttliche hinter den Naturdingen sich verbergen
würde und doch das schöpferische Element in ihnen bildete, könnte
es nicht angeschaut werden; der Mensch müßte an dasselbe glauben. In
einem Briefe an Jacobi nimmt Goethe sein Schauen gegenüber dem Glauben
in Schutz: "Gott hat Dich mit der Metaphysik gestraft und Dir einen
Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich mit der Physik gesegnet. Ich halte
mich an die Gottesverehrung des Atheisten (Spinoza) und überlasse
Euch alles, was ihr Religion heißt und heißen mögt. Du hältst aufs
Glauben an Gott; ich aufs Schauen." Wo dieses Schauen aufhört, da
hat der menschliche Geist nichts zu suchen. In den Sprüchen in Prosa
lesen wir: "Der Mensch ist wirklich in die Mitte einer wirklichen
Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, daß er das Wirkliche und
nebenbei das Mögliche erkennen und hervorbringen kann. Alle gesunden
Menschen haben die Überzeugung ihres Daseins und eines Daseienden
um sich her. Indessen giebt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn,
d. h. eine Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegelt, wie denn auch
im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird der Mensch auf
diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er sich darin, so verfällt
er in eine Geisteskrankheit, ahnet hier Dinge einer andern Welt,
die aber eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begrenzung
haben, sondern als leere Nacht-Räumlichkeiten ängstigen und den,
der sich nicht losreißt, mehr als gespensterhaft verfolgen." (Goethes
Werke, Deutsche Nationallitteratur Band 36, 2, S. 458.) Aus derselben
Gesinnung heraus ist der Ausspruch: "Das Höchste wäre, zu begreifen,
daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart
uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den
Phänomenen; sie selbst sind die Lehre."

Kant spricht dem Menschen die Fähigkeit ab, in das Gebiet der
Natur einzudringen, in dem ihre schöpferischen Kräfte unmittelbar
anschaulich werden. Nach seiner Meinung sind die Begriffe abstrakte
Einheiten, in die der menschliche Verstand die mannigfaltigen
Einzelheiten der Natur zusammenfaßt, die aber nichts zu thun haben
mit der lebendigen Einheit, mit dem schaffenden Ganzen der Natur,
aus der diese Einzelheiten wirklich hervorgehen. Der Mensch erlebt
in dem Zusammenfassen nur eine subjektive Operation. Er kann seine
allgemeinen Begriffe auf die empirische Anschauung beziehen; aber
diese Begriffe sind nicht in sich lebendig, produktiv, so daß
der Mensch das Hervorgehen des Individuellen aus ihnen anschauen
könnte. Eine tote, bloß im Menschen vorhandene Einheit sind für
Kant die Begriffe. "Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe,
d. i. ein diskursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein
muß, welcherlei und wie verschieden das Besondere sein mag, das
ihm in der Natur gegeben werden kann und was unter seine Begriffe
gebracht werden kann." Dies ist Kants Charakteristik des Verstandes
(§ 77 der Kritik der Urteilskraft). Aus ihr ergiebt sich folgendes
mit Notwendigkeit: "Es liegt der Vernunft unendlich viel daran, den
Mechanismus der Natur in ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und
in der Erklärung derselben nicht vorbei zu gehen; weil ohne diesen
keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden kann. Wenn man
uns gleich einräumt: daß ein höchster Architekt die Formen der Natur,
so wie sie von jeher da sind, unmittelbar geschaffen, oder die, so
sich in ihrem Laufe kontinuirlich nach eben demselben Muster bilden,
prädeterminirt habe, so ist doch dadurch unsere Erkenntnis der Natur
nicht im mindesten gefördert; weil wir jenes Wesens Handlungsart
und die Ideen desselben, welche die Prinzipien der Möglichkeit der
Naturwesen enthalten sollen, gar nicht kennen, und von demselben als
von oben herab die Natur nicht erklären können" (§ 78 der Kritik der
Urteilskraft). Goethe ist der Überzeugung, daß der Mensch in seiner
Ideenwelt die Handlungsart des schöpferischen Naturwesens unmittelbar
erlebt. "Wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und
Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen
annähern sollen: so dürft es wohl im Intellektuellen derselbe Fall
sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur,
zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten." Ein
wirkliches Hineinleben in das Schaffen und Walten der Natur ist für
Goethe die Erkenntnis des Menschen. Ihr ist es gegeben: "zu erforschen,
zu erfahren, wie Natur im Schaffen lebt".

Es widerspricht dem Geist der Goetheschen Weltanschauung,
von Wesenheiten zu sprechen, die außerhalb der dem menschlichen
Geiste zugänglichen Erfahrungs- und Ideenwelt liegen und die doch
die Gründe dieser Welt enthalten sollen. Alle Metaphysik wird
von dieser Weltanschauung abgelehnt. Es gibt keine Fragen der
Erkenntnis, die, richtig gestellt, nicht auch beantwortet werden
können. Wenn die Wissenschaft zu irgend einer Zeit über ein gewisses
Erscheinungsgebiet nichts ausmachen kann, so liegt das nicht an der
Natur des menschlichen Geistes, sondern an dem zufälligen Umstande,
daß die Erfahrung über dieses Gebiet zu dieser Zeit noch nicht
vollständig vorliegt. Hypothesen können nicht über Dinge aufgestellt
werden, die außerhalb des Gebietes möglicher Erfahrung liegen,
sondern nur über solche, die einmal in dieses Gebiet eintreten
können. Eine Hypothese kann immer nur besagen: es ist wahrscheinlich,
daß innerhalb eines Erscheinungsgebietes diese oder jene Erfahrung
gemacht werden wird. Über Dinge und Vorgänge, die nicht innerhalb des
Feldes der Beobachtung liegen, kann innerhalb dieser Denkungsart gar
nicht gesprochen werden. Die Annahme eines "Dinges an sich", das die
Wahrnehmungen in dem Menschen bewirkt, aber nie selbst wahrgenommen
werden kann, ist eine unstatthafte Hypothese. "Hypothesen sind Gerüste,
die man vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude
fertig ist; sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste
nicht für das Gebäude ansehen." Einem Erscheinungsgebiete gegenüber,
für das alle Wahrnehmungen vorliegen und das ideell durchdrungen ist,
erklärt sich der menschliche Geist befriedigt. Er hat alles, was er
für eine Erklärung braucht.



Die befriedigende Grundstimmung, die Goethes Weltanschauung für ihn
hat, ist derjenigen ähnlich, die man bei den Mystikern beobachten
kann. Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den
Urgrund der Dinge, die Gottheit, zu finden. Der Mystiker ist gerade
so wie Goethe davon überzeugt, daß ihm in inneren Erlebnissen das
Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt ihm die Versenkung in die
Ideenwelt nicht als das innere Erlebnis, auf das es ankommt. Über
die klaren Ideen der Vernunft hat er ungefähr dieselbe Ansicht wie
Kant. Sie stehen für ihn außerhalb des schaffenden Ganzen der Natur
und gehören nur dem menschlichen Verstande an. Der Mystiker sucht
deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch Erweckung besonderer
Kräfte zu gelangen. Er sucht durch Entwicklung ungewöhnlicher Zustände,
z. B. durch Ekstase, zu einem Schauen höherer Art zu gelangen. Er tötet
die sinnliche Beobachtung und das vernunftgemäße Denken in sich ab,
und sucht sein Gefühlsleben zu steigern. Dann meint er in sich die
wirkende Gottheit unmittelbar zu fühlen. Er glaubt in Augenblicken,
in denen ihm das gelingt, Gott lebe in ihm. Eine ähnliche Empfindung
ruft auch die Goethesche Weltanschauung in dem hervor, der sich zu ihr
bekennt. Nur schöpft sie ihre Erkenntnisse nicht aus Erlebnissen, die
nach Ertötung von Beobachtung und Denken eintreten, sondern eben aus
diesen beiden Thätigkeiten. Sie flüchtet nicht zu abnormen Zuständen
des menschlichen Geisteslebens, sondern sie ist der Ansicht, daß
die gewöhnlichen naiven Verfahrungsarten des Geistes einer solchen
Vervollkommnung fähig sind, daß der Mensch das Schaffen der Natur
in sich erleben kann. "Es sind am Ende doch nur, wie mich dünkt,
die praktischen und sich selbst rektifizierenden Operationen des
gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer höheren Sphäre zu üben
wagt." (Vergl. Goethe Werke in der Weimarischen Ausgabe. 2. Abt., Band
11 S. 41.) In eine Welt unklarer Empfindungen und Gefühle versenkt
sich der Mystiker; in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die
Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese Klarheit
für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche
die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen. Es
friert den Mystiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt. Er sucht einen
Weltinhalt, der Wärme ausströmt. Aber der, welchen er findet, klärt
über die Welt nicht auf. Er besteht nur in subjektiven Erregungen, in
verworrenen Vorstellungen. Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht,
der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben
in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer
Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist. Er fühlt das Feuer
des Weltgeheimnisses in sich auflodern. So hat Goethe empfunden, als
ihm die Anschauung der wirkenden Natur in Italien aufging. Damals
wußte er, wie jene Sehnsucht zu stillen ist, die er in Frankfurt
seinen Faust mit den Worten aussprechen läßt:


           "Wo faß' ich dich, unendliche Natur?
            Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
            An denen Himmel und Erde hängt,
            Dahin die welke Brust sich drängt --".



DIE METAMORPHOSE DER WELTERSCHEINUNGEN.

Den höchsten Grad der Reife erlangte Goethes Weltanschauung,
als ihm die Anschauung der zwei großen Triebräder der Natur:
die Bedeutung der Begriffe von Polarität und von Steigerung
aufgieng. (Vergl. den Aufsatz: Erläuterung zu dem Aufsatz "die
Natur". Deutsche Nationallitteratur. Goethes Werke Band 34 S. 63
f.) Die Polarität ist den Erscheinungen der Natur eigen, insofern wir
sie materiell denken. Sie besteht darin, daß sich alles Materielle
in zwei entgegengesetzten Zuständen äußert, wie der Magnet in einem
Nordpol und einem Südpol. Diese Zustände der Materie liegen entweder
offen vor Augen, oder sie schlummern in dem Materiellen und können
durch geeignete Mittel in demselben erweckt werden. Die Steigerung
kommt den Erscheinungen zu, insofern wir sie geistig denken. Sie
kann beobachtet werden bei den Naturvorgängen, die unter die Idee
der Entwicklung fallen. Auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung
zeigen diese Vorgänge die ihnen zu Grunde liegende Idee mehr oder
weniger deutlich in ihrer äußeren Erscheinung. In der Frucht ist
die Idee der Pflanze, das vegetabilische Gesetz, nur undeutlich
in der Erscheinung ausgeprägt. Die Idee, die der Geist erkennt,
und die Wahrnehmung sind einander unähnlich. "In den Blüten tritt
das vegetabilische Gesetz in seine höchste Erscheinung, und die Rose
wäre nur wieder der Gipfel dieser Erscheinung." In der Herausarbeitung
des Geistigen aus dem Materiellen durch die schaffende Natur besteht
das, was Goethe Steigerung nennt. Die Natur ist "in immerstrebendem
Aufsteigen" begriffen, heißt, sie sucht Gebilde zu schaffen, die,
in aufsteigender Ordnung, die Ideen der Dinge auch in der äußeren
Erscheinung immer mehr zur Darstellung bringen. Goethe ist der
Ansicht, daß "die Natur kein Geheimnis habe, was sie nicht irgendwo
dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Augen stellt". Die Natur
kann Erscheinungen hervorbringen, von denen sich die Ideen für ein
großes Gebiet verwandter Vorgänge unmittelbar ablesen lassen. Es sind
die Erscheinungen, in denen die Steigerung ihr Ziel erreicht hat,
in denen die Idee unmittelbare Wahrnehmung wird. Der schöpferische
Geist der Natur tritt hier an die Oberfläche der Dinge; was an
den grob-materiellen Erscheinungen nur dem Denken erfaßbar ist,
was nur mit geistigen Augen geschaut werden kann: das wird in den
gesteigerten dem leiblichen Auge sichtbar. Alles Sinnliche ist
hier auch geistig und alles Geistige sinnlich. Durchgeistigt denkt
sich Goethe die ganze Natur. Ihre Formen sind dadurch verschieden,
daß der Geist in ihnen mehr oder weniger auch äußerlich sichtbar
wird. Eine tote geistlose Materie kennt Goethe nicht. Als solche
erscheinen diejenigen Dinge, in denen sich der Geist der Natur
eine seinem ideellen Wesen unähnliche äußere Form gibt. Weil
ein Geist in der Natur und im menschlichen Innern wirkt, deshalb
kann der Mensch sich zur Teilnahme an den Produktionen der Natur
erheben. "Vom Ziegelstein, der dem Dache entstürzt, bis zum leuchtenden
Geistesblitz, der dir aufgeht und den du mitteilst" gilt für Goethe
alles im Weltall als Wirkung, als Manifestation Eines schöpferischen
Geistes. "Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der
Erfahrung bemerken, hängen auf die stetigste Weise zusammen, gehen
ineinander über; sie undulieren von der ersten bis zur letzten." "Ein
Ziegelstein löst sich vom Dache los: wir nennen dies im gemeinen
Sinne zufällig; er trifft die Schultern eines Vorübergehenden,
doch wohl mechanisch; allein nicht ganz mechanisch, er folgt den
Gesetzen der Schwere, und so wirkt er physisch. Die zerrissenen
Lebensgefäße geben sogleich ihre Funktion auf; im Augenblicke
wirken die Säfte chemisch, die elementaren Eigenschaften treten
hervor. Allein das gestörte organische Leben widersetzt sich eben
so schnell und sucht sich herzustellen; indessen ist das menschliche
Ganze mehr oder weniger bewußtlos und psychisch zerrüttet. Die sich
wiedererkennende Person fühlt sich ethisch im tiefsten verletzt;
sie beklagt ihre gestörte Thätigkeit, von welcher Art sie auch sei,
aber ungern ergäbe der Mensch sich in Geduld. Religiös hingegen wird
ihm leicht, diesen Fall einer höheren Schickung zuzuschreiben, ihn
als Bewahrung vor größerem Übel, als Einleitung zu höherem Guten
anzusehen. Dies reicht hin für den Leidenden; aber der Genesende
erhebt sich genial, vertraut Gott und sich selbst und fühlt sich
gerettet, ergreift auch wohl das Zufällige, wendets zu seinem
Vorteil, um einen ewig frischen Lebenskreis zu beginnen." Als
Modifikationen des Geistes erscheinen Goethe alle Weltwirkungen,
und der Mensch, der sich in sie vertieft und sie beobachtet von
der Stufe des Zufälligen bis zu der des Genialen, durchlebt die
Metamorphose des Geistes von der Gestalt, in der sich dieser in
einer ihm unähnlichen äußeren Erscheinung darstellt, bis zu der,
wo er in seiner ihm ureigensten Form erscheint. Einheitlich wirkend
sind im Sinne der Goetheschen Weltanschauung alle schöpferischen
Kräfte. Ein Ganzes, das sich in einer Stufenfolge von verwandten
Mannigfaltigkeiten offenbart, sind sie. Goethe war aber nie geneigt,
die Einheit der Welt sich als einförmig vorzustellen. Oft verfallen
die Anhänger des Einheitsgedankens in den Fehler, die Gesetzmäßigkeit,
die sich auf einem Erscheinungsgebiete beobachten läßt, auf die ganze
Natur auszudehnen. In diesem Falle ist z. B. die mechanistische
Weltanschauung. Sie hat ein besonderes Auge und Verständnis für
das, was sich mechanisch erklären läßt. Deshalb erscheint ihr
das Mechanische als das einzig Naturgemäße. Sie sucht auch die
Erscheinungen der organischen Natur auf mechanische Gesetzmäßigkeit
zurückzuführen. Ein Lebendiges ist ihr nur eine complicierte Form
des Zusammenwirkens mechanischer Vorgänge. In besonders abstoßender
Form fand Goethe eine solche Weltanschauung in Holbachs "Système
de la nature" ausgesprochen, das ihm in Straßburg in die Hände
fiel. "Eine Materie sollte sein von Ewigkeit, und von Ewigkeit
her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung rechts und links
und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen Phänomene des
Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir sogar zufrieden gewesen,
wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt vor
unsern Augen aufgebaut hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig
wissen als wir; denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt,
verläßt er sie sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur,
oder was als höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen,
schweren, zwar bewegten, aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu
verwandeln, und glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben" (Dichtung
und Wahrheit 11. Buch). In ähnlicher Weise hätte sich Goethe geäußert,
wenn er den Satz du Bois-Reymonds (Grenzen des Naturerkennens S. 13)
hätte hören können: "Naturerkennen ist Zurückführung der Veränderungen
in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der
Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der
Naturvorgänge in Mechanik der Atome." Goethe dachte sich die Arten
von Naturwirkungen mit einander verwandt und in einander übergehend;
aber er wollte sie nie auf eine einzige Art zurückführen. Er trachtete
nicht nach einem abstrakten Prinzip, auf das alle Naturerscheinungen
zurückgeführt werden sollen, sondern nach Beobachtung der
charakteristischen Art, wie sich die schöpferische Natur in jedem
einzelnen ihrer Erscheinungsgebiete durch besondere Formen ihrer
allgemeinen Gesetzmäßigkeit offenbart. Nicht eine Gedankenform
wollte er sämtlichen Naturerscheinungen aufzwängen, sondern durch
Einleben in verschiedene Gedankenformen wollte er sich den Geist so
lebendig und biegsam erhalten, wie die Natur selbst ist. Wenn die
Empfindung von der großen Einheit alles Naturwirkens in ihm mächtig
war, dann war er Pantheist. "Ich für mich kann bei den mannigfaltigen
Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als
Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist als Naturforscher,
und eines so entschieden als das andere. Bedarf ich eines Gottes
für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch
schon gesorgt." (An Jacobi, 6. Jan. 1813). Als Künstler wandte sich
Goethe an jene Naturerscheinungen, in denen die Idee in unmittelbarer
Anschauung gegenwärtig ist. Das Einzelne erschien hier unmittelbar
göttlich; die Welt als eine Vielheit göttlicher Individualitäten. Als
Naturforscher mußte Goethe auch in den Erscheinungen, deren Idee
nicht in ihrem individuellen Dasein sichtbar wird, die Kräfte der
Natur verfolgen. Als Dichter konnte er sich bei der Vielheit des
Göttlichen beruhigen; als Naturforscher mußte er die einheitlich
wirkenden Naturideen suchen. "Das Gesetz, das in die Erscheinung tritt,
in der größten Freiheit, nach seinen eigensten Bedingungen, bringt das
Objektiv-Schöne hervor, welches freilich würdige Subjekte finden muß,
von denen es aufgefaßt wird." Dieses Objektiv-Schöne im einzelnen
Geschöpf will Goethe als Künstler anschauen; aber als Naturforscher
will er "die Gesetze kennen, nach welchen die allgemeine Natur handeln
will." Polytheismus ist die Denkweise, die in dem Einzelnen ein
Geistiges sieht und verehrt; Pantheismus die andere, die den Geist
des Ganzen erfaßt. Beide Denkweisen können nebeneinander bestehen;
die eine oder die andere macht sich geltend, je nachdem der Blick
auf das Naturganze gerichtet ist, das Leben und Folge ist aus einem
Mittelpunkte, oder auf diejenigen Individuen, in denen die Natur
in einer Form vereinigt, was sie in der Regel über ein ganzes Reich
ausbreitet. Solche Formen entstehen, wenn z. B. die schöpferischen
Naturkräfte nach "tausendfältigen Pflanzen" noch eine machen, worin
"alle übrigen enthalten", oder "nach tausendfältigen Tieren ein Wesen,
das sie alle enthält: den Menschen."



Goethe macht einmal die Bemerkung: "Wer meine Schriften und mein
Wesen überhaupt verstehen gelernt, wird doch bekennen müssen, daß
er eine gewisse innere Freiheit gewonnen." (Unterhaltungen mit dem
Kanzler von Müller, 5. Jan. 1831.) Damit hat er auf die wirkende Kraft
hingedeutet, die sich in allem menschlichen Erkenntnisstreben geltend
macht. Solange der Mensch dabei stehen bleibt, die Gegenstände um sich
her wahrzunehmen und ihre Gesetze als ihnen eingepflanzte Prinzipien
zu betrachten, von denen sie beherrscht werden, hat er das Gefühl,
daß sie ihm als unbekannte Mächte gegenüberstehen, die auf ihn
wirken und ihm die Gedanken ihrer Gesetze aufdrängen. Er fühlt sich
den Dingen gegenüber unfrei; er empfindet die Gesetzmäßigkeit der
Natur als starre Notwendigkeit, der er sich zu fügen hat. Erst wenn
der Mensch gewahr wird, daß die Naturkräfte nichts anderes sind als
Formen des Geistes, der in ihm selbst wirkt, geht ihm die Einsicht
auf, daß er der Freiheit teilhaftig ist. Die Naturgesetzlichkeit
wird nur so lange als Zwang empfunden, so lange man sie als fremde
Gewalt ansieht. Lebt man sich in ihre Wesenheit ein, so empfindet man
sie als Kraft, die man auch selbst in seinem Innern bethätigt; man
empfindet sich als produktiv mitwirkendes Element beim Werden und Wesen
der Dinge. Man ist Du und Du mit aller Werdekraft. Man hat in sein
eigenes Thun das aufgenommen, was man sonst nur als äußeren Antrieb
empfindet. Dies ist der Befreiungsprozeß, den im Sinne der Goetheschen
Weltanschauung der Erkenntnisakt bewirkt. Klar hat Goethe die Ideen des
Naturwirkens angeschaut, als sie ihm aus den italienischen Kunstwerken
entgegenblickten. Eine klare Empfindung hatte er auch von der
befreienden Wirkung, die das Innehaben dieser Ideen auf den Menschen
ausübt. Eine Folge dieser Empfindung ist seine Schilderung derjenigen
Erkenntnisart, die er als die der umfassenden Geister bezeichnet. "Die
Umfassenden, die man in einem stolzern Sinne die Erschaffenden nennen
könnte, verhalten sich im höchsten Sinne produktiv; indem sie nämlich
von Ideen ausgehen, sprechen sie die Einheit des Ganzen schon aus,
und es ist gewissermaßen nachher die Sache der Natur sich in diese
Idee zu fügen." Zu der unmittelbaren Anschauung des Befreiungsaktes
hat es aber Goethe nie gebracht. Diese Anschauung kann nur derjenige
haben, der sich selbst bei seinem Erkennen belauscht. Goethe hat zwar
die höchste Erkenntnisart ausgeübt; aber er hat diese Erkenntnisart
nicht an sich beobachtet. Gesteht er doch selbst:


           "Wie hast du's denn so weit gebracht?
            Sie sagen, du habest es gut vollbracht!"
            Mein Kind! Ich hab' es klug gemacht;
            Ich habe nie über das Denken gedacht.


Aber so wie die schöpferischen Naturkräfte "nach tausendfältigen
Pflanzen" noch eine machen, worin "alle übrigen enthalten" sind,
so bringen sie auch nach tausendfältigen Ideen noch eine hervor,
worin die ganze Ideenwelt enthalten ist. Und diese Idee erfaßt
der Mensch, wenn er über sein Denken nachdenkt. Eben weil Goethes
Denken stets mit den Gegenständen der Anschauung erfüllt war, weil
sein Denken ein Anschauen, sein Anschauen ein Denken war: deshalb
konnte er nicht dazu kommen, das Denken selbst zum Gegenstande des
Denkens zu machen. Die Idee der Freiheit gewinnt man aber nur durch
die Anschauung des Denkens. An dem Zustandekommen aller übrigen
Anschauungen ist der Mensch unbeteiligt. In ihm leben die Ideen
dieser Anschauungen auf. Diese Ideen würden aber nicht da sein,
wenn in ihm nicht die produktive Kraft vorhanden wäre, sie zur
Erscheinung zu bringen. Wenn auch die Ideen der Inhalt dessen sind,
was in den Dingen wirkt; zum erscheinenden Dasein kommen sie durch
die menschliche Thätigkeit. Die eigene Natur der Ideenwelt kann
also der Mensch nur erkennen, wenn er seine Thätigkeit anschaut. Bei
jeder anderen Anschauung durchdringt er nur die wirkende Idee; das
Ding, in dem gewirkt wird, bleibt als Wahrnehmung außerhalb seines
Geistes. In der Anschauung der Idee ist Wirkendes und Bewirktes
ganz in seinem Innern enthalten. Er hat den ganzen Prozeß restlos
in seinem Innern gegenwärtig. Die Anschauung erscheint nicht mehr
von der Idee hervorgebracht; denn die Anschauung ist jetzt selbst
Idee. Diese Anschauung des sich selbst Hervorbringenden ist aber die
Anschauung der Freiheit. Bei der Beobachtung des Denkens durchschaut
der Mensch das Weltgeschehen. Er hat hier nicht nach einer Idee dieses
Geschehens zu forschen; denn dieses Geschehen ist die Idee selbst. Der
Mensch, der diese in sich selbst ruhende Thätigkeit anschaut, fühlt
die Freiheit. Goethe hat diese Empfindung zwar erlebt, aber nie in
der höchsten Form. Er übte in seiner Naturbetrachtung eine freie
Thätigkeit; aber sie wurde ihm nie gegenständlich. Er hat nie hinter
die Kulissen des menschlichen Erkennens geschaut, und deshalb die Idee
des Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner höchsten
Metamorphose nie in sein Bewußtsein aufgenommen. Sobald der Mensch
zur Anschauung dieser Metamorphose gelangt, bewegt er sich sicher im
Reich der Dinge. Er hat in dem Mittelpunkte seiner Persönlichkeit den
wahren Ausgangspunkt für alle Weltbetrachtung gewonnen. Er wird nicht
mehr nach unbekannten Gründen, nach göttlichen Ursachen der Dinge
forschen; er weiß, daß das höchste Erlebnis, dessen er fähig ist,
in der Selbstbetrachtung der eigenen Wesenheit besteht. Wer ganz
durchdrungen ist von den Gefühlen, die dieses Erlebnis hervorruft,
der wird die wahrsten Verhältnisse zu den Dingen gewinnen. Bei wem das
nicht der Fall ist, der wird die höchste Form des Daseins anderswo
suchen, und, da er sie in der Erfahrung nicht finden kann, in einem
unbekannten Gebiet der Wirklichkeit vermuten. Seine Betrachtung
der Dinge wird etwas Unsicheres bekommen; er wird sich bei der
Beantwortung der Fragen, die ihm die Natur stellt, fortwährend auf
ein Unerforschliches berufen. Weil Goethe durch sein Leben in der
Ideenwelt ein Gefühl hatte von dem festen Mittelpunkt innerhalb der
Persönlichkeit, ist es ihm gelungen innerhalb bestimmter Grenzen im
Naturbetrachten zu sicheren Begriffen zu kommen. Weil ihm aber die
unmittelbare Anschauung des innersten Erlebnisses abging, tastet er
außerhalb dieser Grenzen unsicher umher. Er redet aus diesem Grunde
davon, daß der Mensch nicht geboren sei, die "Probleme der Welt zu
lösen, wohl aber zu suchen, wo das Problem angeht, und sich sodann in
der Grenze des Begreiflichen zu halten." Er sagt: "Kant hat unstreitig
am meisten genützt, indem er Grenzen zog, wie weit der menschliche
Geist zu dringen fähig sei, und daß er die unauflöslichen Probleme
liegen ließ." Hätte ihm die Anschauung des höchsten Erlebnisses
Sicherheit in der Betrachtung der Dinge gegeben, so hätte er auf
seinem Wege mehr gekonnt als "durch geregelte Erfahrung zu einer
Art von bedingter Zuverlässigkeit gelangen". Statt geradewegs durch
die Erfahrung durchzuschreiten in dem Bewußtsein, daß das Wahre nur
eine Bedeutung hat, insoweit es von der menschlichen Natur gefordert
wird, gelangt er doch zu der Überzeugung, daß "ein höherer Einfluß
die Standhaften, die Thätigen, die Verständigen, die Geregelten und
Regelnden, die Menschlichen, die Frommen" begünstige und daß sich
"die moralische Weltordnung" am schönsten da zeige, wo sie "dem Guten,
dem wacker Leidenden mittelbar zu Hilfe kommt."



Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kannte, war es ihm
unmöglich, zu den Gedanken über die sittliche Weltordnung zu gelangen,
die zu seiner Naturanschauung notwendig gehören. Die Ideen der Dinge
sind der Inhalt des in den Dingen Wirksamen und Schaffenden. Die
sittlichen Ideen erlebt der Mensch unmittelbar in der Ideenform. Wer
zu erleben imstande ist, wie in der Anschauung der Ideenwelt das
Ideelle sich selbst zum Inhalt wird, sich mit sich selbst erfüllt,
der ist auch in der Lage, die Produktion des Sittlichen innerhalb
der menschlichen Natur zu erleben. Wer die Naturideen nur in ihrem
Verhältnis zu der Anschauungswelt kennt, der wird auch die sittlichen
Begriffe auf etwas ihnen Äußeres beziehen wollen. Er wird eine ähnliche
Wirklichkeit für diese Begriffe suchen, wie sie für die aus der
Erfahrung gewonnenen Begriffe vorhanden ist. Wer aber Ideen in ihrer
eigensten Wesenheit anzuschauen vermag, der wird bei den sittlichen
gewahr, daß nichts Äußeres ihnen entspricht, daß sie unmittelbar
als Ideen produziert werden. Ihm ist klar, daß weder ein göttlicher
Wille, noch eine sittliche Weltordnung wirksam sind, um diese Ideen
zu erzeugen. Denn es ist in ihnen nichts von einem Bezug auf solche
Gewalten zu bemerken. Alles was sie aussprechen, ist in ihrer reinen
Ideenform auch eingeschlossen. Nur durch ihren eigenen Inhalt wirken
sie auf den Menschen als sittliche Mächte. Kein kategorischer Imperativ
steht mit der Peitsche hinter ihnen und drängt den Menschen, ihnen zu
folgen. Der Mensch empfindet, daß er sie selbst hervorgebracht hat
und liebt sie, wie man sein Kind liebt. Die Liebe ist das Motiv des
Handelns. Die Lust am eigenen Erzeugnis ist der Quell des Sittlichen.

Es gibt Menschen, die keine sittlichen Ideen zu produzieren
vermögen. Sie nehmen diejenigen anderer Menschen durch Überlieferung
in sich auf. Und wenn sie kein Anschauungsvermögen für Ideen als solche
haben, erkennen sie den menschlichen Ursprung des Sittlichen nicht. Sie
suchen ihn in einem übermenschlichen, göttlichen Willen. Oder sie
glauben, daß eine außerhalb des Menschen bestehende objektive sittliche
Weltordnung bestehe, aus der die moralischen Ideen stammen. In dem
Gewissen des Menschen wird oft das Sprachorgan dieser Weltordnung
gesucht. Wie in seiner übrigen Weltanschauung ist Goethe auch in
seinen Gedanken über den Ursprung des Sittlichen unsicher. Auch
hier treibt sein Gefühl für das Ideengemäße Sätze hervor, die den
Forderungen seiner Natur gemäß sind. "Pflicht: wo man liebt, was
man sich selbst befiehlt." Nur wer die Gründe des Sittlichen rein in
dem Inhalt der sittlichen Ideen sieht, sollte sagen: "Lessing, der
mancherlei Beschränkung unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen
sagen: Niemand muß müssen. Ein geistreicher, frohgesinnter Mann
sagte: Wer will, der muß. Ein dritter, freilich ein Gebildeter,
fügte hinzu: Wer einsieht, der will auch. Und so glaubte man den
ganzen Kreis des Erkennens, Wollens und Müssens abgeschlossen zu
haben. Aber im Durchschnitt bestimmt die Erkenntnis des Menschen,
von welcher Art sie auch sei, sein Thun und Lassen; deswegen auch
nichts schrecklicher ist, als die Unwissenheit handeln zu sehen." Daß
in Goethe ein Gefühl für die echte Natur des Sittlichen herrscht,
welches sich nur nicht zur klaren Anschauung erhebt, zeigt folgender
Ausspruch: "Der Wille muß, um vollkommen zu werden, sich im Sittlichen
dem Gewissen, das nicht irrt, fügen ... Das Gewissen bedarf keines
Ahnherrn, mit ihm ist alles gegeben; es hat nur mit der eigenen innern
Welt zu thun." Das Gewissen bedarf keines Ahnherrn, kann nur heißen:
der Mensch findet in sich keinen sittlichen Inhalt ursprünglich vor;
er gibt sich ihn selbst. Diesen Aussprüchen stehen andere gegenüber,
die den Ursprung des Sittlichen in ein Gebiet außerhalb des Menschen
verlegen: "Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren
tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick sehnend
zum Himmel auf, weil er tief und klar in sich fühlt, daß er ein Bürger
jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen,
noch aufzugeben vermögen." "Was gar nicht aufzulösen ist, überlassen
wir Gott als dem allbedingenden und allbefreienden Wesen."



Für die Betrachtung der innersten Menschennatur, für die
Selbstbeschauung fehlt Goethe das Organ. "Hierbei bekenne ich, daß
mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenne
dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter
Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren
und von der Thätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen
Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst,
insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr
gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues
Organ in uns auf." Davon ist gerade das Umgekehrte wahr: der Mensch
kennt die Welt nur, insofern er sich kennt. Denn in seinem Innern
offenbart sich in ureigenster Gestalt, was in den Außendingen nur im
Abglanz, im Beispiel, Symbol als Anschauung vorhanden ist. Wovon der
Mensch sonst nur als von einem Unergründlichen, Unerforschlichen,
Göttlichen sprechen kann: das tritt ihm in der Selbstanschauung in
wahrer Gestalt vor Augen. Weil er in der Selbstanschauung das Ideelle
in unmittelbarer Gestalt sieht, gewinnt er die Kraft und Fähigkeit,
dieses Ideelle auch in aller äußeren Erscheinung, in der ganzen Natur
aufzusuchen und anzuerkennen. Wer den Augenblick der Selbstanschauung
erlebt hat, denkt nicht mehr daran, hinter den Erscheinungen einen
verborgenen Gott zu suchen; er ergreift das Göttliche in seinen
verschiedenen Metamorphosen in der Natur. Goethe bemerkt in Beziehung
auf Schelling: "Ich würde ihn öfters sehen, wenn ich nicht noch auf
poetische Momente hoffte, und die Philosophie zerstört bei mir die
Poesie, und das wohl deshalb, weil sie mich ins Objekt treibt, indem
ich mich nie rein spekulativ erhalten kann, sondern gleich zu jedem
Satze eine Anschauung suchen muß und deshalb gleich in die Natur hinaus
fliehe." Die höchste Anschauung, die Anschauung der Ideenwelt selbst,
hat er eben nicht finden können. Sie kann die Poesie nicht zerstören,
denn sie befreit den Geist nur von allen Vermutungen, daß in der
Natur ein Unbekanntes, Unergründliches sein könne. Dafür aber macht
sie ihn fähig, sich unbefangen, ganz den Dingen hinzugeben; denn sie
gibt ihm die Überzeugung, daß aus der Natur alles zu entnehmen ist,
was der Geist von ihr nur wünschen kann.

Die höchste Anschauung befreit aber den Menschengeist auch von allem
Abhängigkeitsgefühl. Er fühlt sich durch ihren Besitz souverän im
Reiche der sittlichen Weltordnung. Er weiß, daß die Triebkraft, die
alles hervorbringt, in seinem Innern als sein eigener Wille wirkt,
und daß die höchsten Entscheidungen über Sittliches in ihm selbst
liegen. Denn diese höchsten Entscheidungen fließen aus der Welt der
sittlichen Ideen, die der Mensch selbst produziert. Mag der Mensch
im einzelnen sich beschränkt fühlen, mag er auch von tausend Dingen
abhängig sein; im ganzen gibt er sich sein sittliches Ziel und seine
sittliche Richtung. Das Wirksame aller übrigen Dinge kommt im Menschen
als Idee zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die
er selbst hervorbringt. In jeder einzelnen menschlichen Individualität
vollzieht sich der Prozeß, der im Ganzen der Natur sich abspielt:
die Schöpfung eines Tatsächlichen aus der Idee heraus. Und der Mensch
selbst ist der Schöpfer. Denn auf dem Grunde seiner Persönlichkeit lebt
die Idee, die sich selbst einen Inhalt gibt. Über Goethe hinausgehend,
muß man seinen Satz erweitern, die Natur sei "in dem Reichtum der
Schöpfung so groß, nach tausendfältigen Pflanzen eine zu machen,
worin alle übrigen enthalten sind, und nach tausendfältigen Tieren ein
Wesen, das sie alle enthält, den Menschen". Die Natur ist in ihrer
Schöpfung so groß, daß sie den Prozeß, durch den sie frei aus der
Idee heraus alle Geschöpfe hervorbringt, in jedem Menschenindividuum
wiederholt, indem die sittlichen Handlungen aus dem ideellen Grunde
der Persönlichkeit entspringen. Was der Mensch auch als objektiven
Grund seines Handelns empfindet, es ist alles nur Umschreibung und
zugleich Verkennung seiner eigenen Wesenheit. Sich selbst realisiert
der Mensch in seinem sittlichen Handeln. In lapidaren Sätzen hat
Max Stirner diese Erkenntnis in seiner Schrift "Der Einzige und sein
Eigentum" ausgesprochen. "Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin
es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst
der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er
geboren wird. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei es der
Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor
der Sonne dieses Bewusstseins. Stell' ich auf mich, den Einzigen,
meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen
Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen:
ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt." Aber zugleich darf ich,
wie Faust zu Mephistopheles sagen: "In deinem Nichts hoff' ich das
All zu finden", denn in meinem Innern wohnt in individueller Bildung
die Wirkungskraft, durch welche die Natur das All schafft. So lange
der Mensch in sich diese Wirkungskraft nicht geschaut hat, wird er
sich ihr gegenüber erscheinen wie Faust dem Erdgeist gegenüber. Sie
wird ihm stets die Worte zurufen: "Du gleichst dem Geist, den du
begreifst, nicht mir!" Erst die Anschauung des tiefsten Innenlebens
zaubert diesen Geist hervor, der von sich sagt:


        In Lebensfluten, im Thatensturm
        Wall' ich auf und ab,
        Webe hin und her!
        Geburt und Grab,
        Ein ewiges Meer,
        Ein wechselnd Weben,
        Ein glühend Leben.
        So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit
        Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.


Ich habe in meiner "Philosophie der Freiheit" (Weimar, Emil Felbers
Verlag 1894) darzustellen versucht, wie die Erkenntnis, daß der
Mensch in seinem Tun auf sich selbst gestellt ist, hervorgeht aus dem
innersten Erlebnis, aus der Anschauung der eigenen Wesenheit. Stirner
hat bereits 1844 die Ansicht verteidigt, daß der Mensch, wenn
er sich wahrhaft versteht, nur in sich selbst den Grund für seine
Wirksamkeit sehen könne. Bei ihm geht aber diese Erkenntnis nicht aus
der Anschauung des innersten Erlebnisses, sondern aus dem Gefühle
der Freiheit und Ungebundenheit gegenüber allen, Zwang heischenden
Weltmächten hervor. Stirner bleibt bei der Forderung der Freiheit
stehen; ich versuche das Leben in der Freiheit zu schildern, indem
ich zeige, was der Mensch erblickt, wenn er auf den Grund seiner Seele
sieht. Goethe ist bis zu der Anschauung der Freiheit nicht gekommen,
weil er eine Abneigung gegen die Selbsterkenntnis hatte. Wäre das
nicht der Fall gewesen, so hätte die Erkenntnis des Menschen als
einer freien, auf sich selbst gegründeten Persönlichkeit die Spitze
seiner Weltanschauung bilden müssen. Die Keime zu dieser Erkenntnis
treten uns bei ihm überall entgegen; sie sind zugleich die Keime
seiner Naturansicht.



Innerhalb seiner eigentlichen Naturstudien spricht Goethe nirgends
von unerforschlichen Gründen, von verborgenen Triebkräften der
Erscheinungen. Er begnügt sich damit, die Erscheinungen in ihrer Folge
zu beobachten und sie mit Hilfe derjenigen Elemente zu erklären, die
sich den Sinnen und dem Geiste bei der Beobachtung offenbaren. Am
5. Mai 1786 schreibt er in diesem Sinne an Jacobi, daß er den Mut
habe, sein "ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen, die
er reichen" und von deren Wesenheit er sich "eine adäquate Idee zu
bilden hoffen kann", ohne sich im mindesten zu bekümmern, wie weit er
kommen werde, und was ihm zugeschnitten ist. Wer sich dem Göttlichen
in dem einzelnen Naturdinge zu nähern glaubt, der braucht sich nicht
mehr eine besondere Vorstellung von einem Gotte zu bilden, der außer
und neben den Dingen existiert. Nur wenn Goethe das Gebiet der Natur
verlässt, dann hält auch sein Gefühl für die Wesenheit der Dinge nicht
mehr stand. Dann führt ihn der Mangel an menschlicher Selbsterkenntnis
zu Behauptungen, die weder mit seiner ihm angeborenen Denkweise, noch
mit der Richtung seiner Naturstudien zu vereinigen sind. Wer Neigung
hat, sich auf solche Behauptungen zu berufen, der mag annehmen, daß
Goethe an einen persönlichen Gott und eine individuelle Fortdauer des
Individuums geglaubt habe. Mit seinen Naturstudien steht ein solcher
Glaube im Widerspruch. Sie hätten nie die Richtung nehmen können,
die sie genommen haben, wenn sich Goethe bei ihnen von diesem Glauben
hätte bestimmen lassen. Es wird Aufgabe einer besonderen Schrift sein,
die psychologischen Gründe bloßzulegen, die Goethe trotz der Richtung
seiner Naturstudien zu Aussprüchen führten, die auf einen bei ihm
vorhandenen Glauben an einen persönlichen Gott und an eine individuelle
Fortdauer deuten. Als die Naturstudien in Goethes Lebensführung
zurücktraten, nahm er christliche und selbst mystische Elemente in
sein Vorstellungsleben auf. Und mit zunehmendem Alter nahmen auch
diese Elemente an Bedeutung für seine Weltanschauung zu. Hier habe ich
mir weder die Aufgabe gestellt, die aufsteigende Entwicklung Goethes
zu zeigen, die darin besteht, daß sein eigenes Wesen den Einfluß der
christlich-religiösen und philosophisch-platonischen Vorstellungen,
die in seiner Jugend an ihn herantraten, allmählich überwand und sich
selbst herausarbeitete; noch wollte ich die absteigende Entwicklung
charakterisieren, die ihn wieder zu christlichen und mystischen
Vorstellungen hinführte. Er selbst sah die Änderung der Weltanschauung
als Folge der verschiedenen Lebensalter an. Als Förster die Ansicht
aussprach, die Lösung des Faust-Problems werde sich aus dem Worte
ergeben: "Ein guter Mensch in seinem dunkelen Drange ist sich des
rechten Weges wohl bewußt" entgegnete Goethe: "Das wäre ja Aufklärung;
Faust endet als Greis, und im Greisenalter werden wir Mystiker"
(aus Försters Nachlaß S. 216). Und in den Prosasprüchen lesen wir:
"Jedem Alter des Menschen antwortet eine gewisse Philosophie. Das Kind
erscheint als Realist; denn es findet sich so überzeugt von dem Dasein
der Birnen und Äpfel als von dem seinigen. Der Jüngling, von inneren
Leidenschaften bestürmt, muß auf sich selbst merken, sich vorfühlen,
er wird zum Idealisten umgewandelt. Dagegen ein Sceptiker zu werden,
hat der Mann alle Ursache; er thut wohl zu zweifeln, ob das Mittel,
das er zum Zwecke gewählt hat, auch das rechte sei. Vor dem Handeln,
im Handeln hat er alle Ursache, den Verstand beweglich zu erhalten,
damit er nicht nachher sich über eine falsche Wahl zu betrüben
habe. Der Greis jedoch wird sich immer zum Mysticismus bekennen; er
sieht, daß so vieles vom Zufall abzuhängen scheint; das Unvernünftige
gelingt, das Vernünftige schlägt fehl, Glück und Unglück stellen sich
unerwartet ins gleiche; so ist es, so war es, und das hohe Alter
beruhigt sich in dem: der da ist, der da war und der da sein wird"
(vergl. Goethes Werke in Kürschners Deutscher Nat.-Litt. Band 36, 2).

Ich habe in dieser Schrift die Weltanschauung Goethes im Auge, aus
der seine Einsichten in das Leben der Natur hervorgewachsen sind
und welche die treibende Kraft in ihm war von der Entdeckung des
Zwischenknochens beim Menschen bis zur Vollendung der Farbenlehre. Und
ich glaube gezeigt zu haben, daß diese Weltanschauung vollkommener
der Gesamtpersönlichkeit Goethes entspricht, als die Ansichten seiner
Jugend- und auch die seiner Altersepoche. Ich glaube, Goethe hat
in seinen Naturstudien, wenn auch nicht geleitet von einer klaren,
ideengemäßen Selbsterkenntnis, so doch von einem richtigen Gefühle,
eine freie aus dem wahren Verhältnis der menschlichen Natur zur
Außenwelt fließende Verfahrungsweise beobachtet. Goethe ist sich
selbst darüber klar, daß in seiner Denkweise etwas Unvollendetes
liegt: "Ich war mir edler, großer Zwecke bewußt, konnte aber niemals
die Bedingungen begreifen, unter denen ich wirkte; was mir mangelte,
merkte ich wohl, was an mir zu viel sei, gleichfalls; deshalb unterließ
ich es nicht, mich zu bilden, nach außen und von innen. Und doch
blieb es beim Alten. Ich verfolgte jeden Zweck mit Ernst, Gewalt und
Treue; dabei gelang mir oft, widerspenstige Bedingungen vollkommen zu
überwinden, oft aber auch scheiterte ich daran, weil ich nachgeben und
umgehen nicht lernen konnte. Und so ging mein Leben hin unter Thun
und Genießen, Leiden und Widerstreben, unter Liebe, Zufriedenheit,
Haß und Mißfallen Anderer. Hieran spiegele sich, dem das gleiche
Schicksal geworden!"



DIE ANSCHAUUNGEN ÜBER NATUR UND ENTWICKLUNG DER LEBEWESEN.


DIE METAMORPHOSENLEHRE.

Man kann Goethes Verhältnis zu den Naturwissenschaften nicht verstehen,
wenn man sich bloß an die Einzelentdeckungen hält, die er gemacht
hat. Ich sehe als leitenden Gesichtspunkt für die Betrachtung
dieses Verhältnisses die Worte an, die Goethe am 18. August 1787
von Italien aus an Knebel gerichtet hat: "Nach dem, was ich bei
Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde
ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise
nach Indien zu machen, nicht um Neues zu entdecken, sondern um das
Entdeckte nach meiner Art anzusehen." Auf die Art, wie Goethe die
ihm bekannten Naturerscheinungen in einer seiner Denkungsart gemäßen
Naturansicht zusammengefaßt hat, scheint es mir anzukommen. Wenn alle
die Einzelentdeckungen, die ihm gelungen sind, schon vor ihm gemacht
gewesen wären, und er uns nichts als seine Naturansicht gegeben
hätte, so schmälerte dies die Bedeutung seiner Naturstudien nicht im
geringsten. Ich bin mit du Bois-Reymond einer Meinung darüber, daß
"auch ohne Goethes Beteiligung die Wissenschaft heute so weit wäre,
wie sie ist", daß "die ihm gelungenen Schritte früher oder später
andere gethan hätten." (Goethe und kein Ende S. 31). Ich kann diese
Worte nur nicht, wie es du Bois-Reymond tut, auf den ganzen Umfang
von Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten beziehen. Ich beschränke
sie auf die in ihrem Verlaufe gemachten Einzelentdeckungen. Keine
einzige derselben würde uns wahrscheinlich heute fehlen, wenn
Goethe sich nie mit Botanik, mit Anatomie u. s. w. beschäftigt
hätte. Seine Naturansicht aber ist ein Ausfluß seiner Persönlichkeit;
kein Anderer hätte zu ihr kommen können. Ihn interessierten auch nicht
die Einzelentdeckungen. Sie drängten sich ihm während seiner Studien
von selbst auf, weil über die Tatsachen, die sie betreffen, zu seiner
Zeit Ansichten Geltung hatten, die unvereinbar mit seiner Art, die
Dinge anzusehen, waren. Hätte er mit dem, was die Naturwissenschaft
ihm überlieferte, seine Anschauung aufbauen können: so würde er sich
nie mit Detailstudien beschäftigt haben. Er mußte ins Einzelne gehen,
weil das, was ihm über das Einzelne von den Naturforschern gesagt
wurde, seinen Forderungen nicht entsprach. Und nur wie zufällig
ergaben sich bei diesen Detailstudien die Einzelentdeckungen. Ihn
beschäftigte zunächst nicht die Frage: ob der Mensch wie die übrigen
Tiere einen Zwischenkieferknochen in der oberen Kinnlade habe. Er
wollte den Plan entdecken, nach dem die Natur die Stufenfolge der
Tiere und auf der Höhe dieser Stufenfolge den Menschen bildet. Das
gemeinsame Urbild, das allen Tiergattungen und zuletzt in seiner
höchsten Vollkommenheit auch der Menschengattung zu Grunde liegt,
wollte er finden. Die Naturforscher sagten ihm: es besteht ein
Unterschied im Bau des tierischen und des menschlichen Körpers. Die
Tiere haben in der oberen Kinnlade den Zwischenknochen, der Mensch
hat ihn nicht. Seine Ansicht war, daß sich der menschliche Bau nur
dem Grade der Vollkommenheit nach von dem tierischen unterscheiden
könne, nicht aber in Einzelheiten. Denn, wenn das letztere der
Fall wäre, könnte nicht ein gemeinsames Urbild der tierischen und
der menschlichen Organisation zu Grunde liegen. Er konnte mit der
Behauptung der Naturforscher nichts anfangen. Deshalb suchte er
nach dem Zwischenknochen beim Menschen und fand ihn. Ähnliches ist
bei allen seinen Einzelentdeckungen zu beobachten. Sie sind ihm nie
Selbstzweck. Sie müssen gemacht werden, um seine Vorstellungen über
die Naturerscheinungen als berechtigt erscheinen zu lassen.

Im Gebiete der organischen Naturerscheinungen ist das Bedeutsame
in Goethes Ansicht die Vorstellung, die er vom Wesen des Lebens
ausbildete. Nicht auf die Betonung der Tatsache, daß Blatt, Kelch,
Krone u. s. w. Organe an der Pflanze sind, die mit einander identisch
sind, und sich aus einem gemeinschaftlichen Grundgebilde entwickeln,
kommt es an. Sondern darauf, welche Vorstellung Goethe von dem
Ganzen der Pflanzennatur als einem Lebendigen hatte und wie er sich
das Einzelne aus diesem Ganzen hervorgehend dachte. Seine Idee von
dem Wesen des Organismus ist seine ureigenste zentrale Entdeckung
im Gebiete der Biologie zu nennen. Daß sich in der Pflanze, in dem
Tiere etwas anschauen lasse, was der bloßen Sinnenbeobachtung nicht
zugänglich ist, war Goethes Grundüberzeugung. Was das leibliche Auge
an dem Organismus beobachten kann, scheint Goethe nur die Folge zu
sein des lebendigen Ganzen durcheinander wirkender Bildungsgesetze,
die dem geistigen Auge allein zugänglich sind. Was er mit dem geistigen
Auge an der Pflanze, an dem Tier erschaut, das hat er beschrieben. Nur
wer ebenso wie er zu sehen fähig ist, kann seine Idee von dem Wesen
des Organismus nachdenken. Wer bei dem stehen bleibt, was die Sinne
und das Experiment liefern, der kann Goethe nicht verstehen. Wenn wir
seine beiden Gedichte lesen "die Metamorphose der Pflanzen" und "die
Metamorphose der Tiere", so scheint es zunächst, als ob die Worte uns
nur von einem Glied des Organismus zum andern führten, als ob bloß
äußerlich Tatsächliches verknüpft werden sollte. Wenn wir uns aber
durchdringen mit dem, was Goethe als Idee des Lebewesens vorschwebt,
dann fühlen wir uns in die Sphäre des Lebendig-Organischen versetzt,
und aus einer centralen Vorstellung wachsen die Vorstellungen über
die einzelnen Organe hervor.



Als Goethe anfieng selbständig über die Erscheinungen der Natur
nachzusinnen, nahm vor allem Andern der Begriff des Lebens seine
Aufmerksamkeit in Anspruch. In einem Briefe aus der Straßburger Zeit
vom 14. Juli 1770 schreibt er von einem Schmetterling: "Das arme Tier
zittert im Netz, streift sich die schönsten Farben ab; und wenn man
es ja unversehrt erwischt, so steckt es doch endlich steif und leblos
da; der Leichnam ist nicht das ganze Tier, es gehört noch etwas dazu,
noch ein Hauptstück und bei der Gelegenheit, wie bei jeder andern,
ein hauptsächliches Hauptstück: das Leben." -- Daß ein Organismus
nicht wie ein totes Naturprodukt betrachtet werden kann, daß noch
mehr darin steckt als die Kräfte, die auch in der unorganischen Natur
leben, war Goethe von vornherein klar. Wenn du Bois-Reymond meint, daß
"die rein mechanische Weltkonstruktion, welche heute die Wissenschaft
ausmacht, dem Weimarschen Dichterfürsten nicht minder verhaßt gewesen
wäre, als einst Friederikens Freund das système de la nature", so hat
er unzweifelhaft Recht; und nicht minder hat er Recht mit den andern
Worten: von dieser Weltkonstruktion, die "durch die Urzeugung an die
Kant-Laplacesche Theorie grenzt, von der Entstehung des Menschen aus
dem Chaos durch das von Ewigkeit zu Ewigkeit mathematisch bestimmte
Spiel der Atome, von dem eisigen Weltende -- von diesen Bildern,
welche unser Geschlecht so unfühlend ins Auge faßt, wie es sich an
die Schrecknisse des Eisenbahnfahrens gewöhnte -- hätte Goethe sich
schaudernd abgewandt" (Goethe und kein Ende S. 35 f.). Gewiß hätte er
sich schaudernd abgewandt, weil er einen höhern Begriff des Lebendigen
suchte und ihn auch fand als den eines komplizierten, mathematisch
bestimmten Mechanismus. Nur wer unfähig ist, einen solchen höhern
Begriff zu fassen und das Lebendige mit dem Mechanischen identifiziert,
weil er am Organismus nur das Mechanische zu sehen vermag, der wird
sich für die mechanische Weltkonstruktion und ihr Spiel der Atome
erwärmen und unfühlend die Bilder ins Auge fassen, die du Bois-Reymond
entwirft. Wer aber den Begriff des Organischen im Sinne Goethes in sich
aufnehmen kann, der wird über seine Berechtigung ebensowenig streiten
wie über das Vorhandensein des Mechanischen. Man streitet ja auch
nicht mit dem Farbenblinden über die Farbenwelt. Alle Anschauungen,
welche das Organische sich mechanisch vorstellen, verfallen dem
Richterspruch, den Goethe seinen Faust sagen läßt:


       "Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben
        Sucht erst den Geist herauszutreiben;
        Dann hat er die Teile in der Hand,
        Fehlt, leider! nur das geistige Band."


Die Möglichkeit, sich intimer mit dem Leben der Pflanzen zu
beschäftigen, fand sich für Goethe, als ihm der Herzog Karl August
am 21. April 1776 einen Garten schenkte. Auch durch die Streifzüge
im Thüringerwald, auf denen er die Lebenserscheinungen der niederen
Organismen beobachten konnte, wird Goethe angeregt. Moose und Flechten
nehmen seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Am 31. Oktober bittet er
Frau von Stein um Moose von allen Sorten, womöglich mit den Wurzeln
und feucht, damit er sie benützen könne, um die Fortpflanzung zu
beobachten. Es ist wichtig, im Auge zu behalten, daß Goethe sich im
Anfange seiner botanischen Studien mit den niederen Pflanzenformen
beschäftigte. Denn er hat später bei der Konzeption seiner Idee
der Urpflanze nur die höheren Pflanzen berücksichtigt. Dies kann
also nicht davon herrühren, daß ihm das Gebiet der niederen fremd
war, sondern davon, daß er die Geheimnisse der Pflanzennatur an
den höheren deutlicher ausgeprägt glaubte. Er wollte die Idee der
Natur da aufsuchen, wo sie sich am klarsten offenbart und dann von
dem Vollkommenen zum Unvollkommenen herabsteigen, um dieses aus
jenem zu begreifen. Nicht das Zusammengesetzte wollte er durch das
Einfache erklären; sondern jenes mit einem Blick als wirkendes Ganzes
überschauen und dann das Einfache und Unvollkommene als einseitige
Ausbildung des Zusammengesetzten und Vollkommenen erklären. Wenn die
Natur fähig ist, nach unzähligen Pflanzenformen noch eine zu machen,
die sie alle enthält, so muß auch dem Geiste beim Anschauen dieser
vollkommenen Form das Geheimnis der Pflanzenbildung in unmittelbarer
Anschauung aufgehen, und er wird dann leicht das an dem Vollkommenen
Beobachtete auf das Unvollkommene anwenden können. Umgekehrt machen
es die Naturforscher, die das Vollkommene nur als eine mechanische
Summe der einfachen Vorgänge ansehen. Sie gehen von diesem Einfachen
aus und leiten das Vollkommene von demselben ab.

Als sich Goethe nach einem wissenschaftlichen Führer für seine
botanischen Studien umsah, konnte er keinen andren finden als
Linné. Wir erfahren von seiner Beschäftigung mit Linné zuerst aus
den Briefen an Frau von Stein vom Jahre 1782. Wie ernst es Goethe
mit seinen naturwissenschaftlichen Bestrebungen war, geht aus dem
Interesse hervor, das er an Linnés Schriften genommen hat. Er
gesteht, daß nach Shakespeare und Spinoza auf ihn die größte
Wirkung von Linné ausgegangen ist. Aber wie wenig konnte ihn
Linné befriedigen. Goethe wollte die verschiedenen Pflanzenformen
beobachten, um das Gemeinsame, das in ihnen lebt, zu erkennen. Er
wollte wissen, was alle diese Gebilde zu Pflanzen macht. Und Linné
hatte sich damit begnügt, die mannigfaltigsten Pflanzenformen
in einer bestimmten Ordnung nebeneinander zu stellen und zu
beschreiben. Hier stieß Goethes naive, unbefangene Naturbeobachtung
in einem einzelnen Falle auf die durch den Platonismus beeinflußte
Denkweise der Wissenschaft. Diese Denkweise sieht in den einzelnen
Formen Verwirklichungen ursprünglicher, nebeneinander bestehender
platonischer Ideen oder Schöpfungsgedanken. Goethe sieht in dem
einzelnen Gebilde nur eine besondere Ausgestaltung eines ideellen
Urwesens, das in allen Formen lebt. Jene Denkweise will möglichst
genau die einzelnen Formen unterscheiden, um die Vielgliedrigkeit
der Ideenformen, oder des Schöpfungsplanes zu erkennen; Goethe will
die Vielgliedrigkeit des Besonderen aus der ursprünglichen Einheit
erklären. Daß vieles in mannigfaltigen Formen da ist, ist für jene
Denkungsart ohne weiteres klar, denn schon die idealen Urbilder sind
für sie das Mannigfaltige. Für Goethe ist das nicht klar, denn das
Viele gehört nach seiner Ansicht nur zusammen, wenn sich Eines darin
offenbart. Goethe sagt deshalb, was Linné "mit Gewalt auseinander zu
halten suchte, mußte, nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens, zur
Vereinigung anstreben". Linné nimmt die vorhandenen Formen einfach hin,
ohne darnach zu fragen, wie sie aus einer Grundform geworden sind:
"Spezies zählen wir so viele, als verschiedene Formen im Prinzip
geschaffen worden sind:" dies ist sein Grundsatz. Goethe sucht im
Pflanzenreich das Wirksame, das durch Spezifizierung der Grundform
das Einzelne schafft.

Ein naiveres Verhältnis zur Pflanzenwelt als bei Linné fand Goethe
bei Rousseau. Am 16. Juni 1782 schreibt er an Karl August: "In
Rousseaus Werken finden sich allerliebste Briefe über die Botanik,
worin er diese Wissenschaft auf das faßlichste und zierlichste einer
Dame vorträgt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten soll und
eine Beilage zum Emil. Ich nehme daher Anlaß, das schöne Reich der
Blumen meinen schönen Freundinnen aufs neue zu empfehlen." In seiner
"Geschichte meines botanischen Studiums" legt Goethe dar, was ihn
zu Rousseaus botanischen Ideen hingezogen hat: "Sein Verhältnis zu
Pflanzenfreunden und Kennern, besonders zu der Herzogin von Portland,
mag seinen Scharfblick mehr in die Breite gewiesen haben, und ein Geist
wie der seinige, der den Nationen Ordnung und Gesetz vorzuschreiben
sich berufen fühlt, mußte doch zu der Vermutung gelangen, daß in
dem unermeßlichen Pflanzenreiche keine so große Mannigfaltigkeit
der Formen erscheinen könnte, ohne daß ein Grundgesetz, es sei noch
so verborgen, sie wieder sämtlich zur Einheit zurückbrächte." Ein
solches Grundgesetz, das die Mannigfaltigkeit zur Einheit zurückbringt,
von der sie ursprünglich ausgegangen ist, sucht auch Goethe.

Zwei Schriften vom Freiherrn von Gleichen, genannt Rußwurm, fielen
damals in Goethes geistigen Horizont. Sie behandeln beide das Leben
der Pflanze in einer Weise, die für ihn fruchtbar werden konnte:
"Das Neueste aus dem Reiche der Pflanzen" (Nürnberg 1764) und
"Auserlesene mikroskopische Entdeckungen bei den Pflanzen" (Nürnberg
1777-81). Sie beschäftigen sich mit den Befruchtungsvorgängen
der Pflanzen. Blütenstaub, Staubfäden und Stempel sind in ihnen
sorgfältig beschrieben und in gut ausgeführten Tafeln die Vorgänge
bei der Befruchtung dargestellt. Goethe macht nun selbst Versuche, um
die von Gleichen-Rußwurm beschriebenen Ergebnisse mit eigenen Augen
zu beobachten. Er schreibt am 12. Januar 1785 an Frau von Stein:
"Mein Mikroskop ist aufgestellt, um die Versuche des Gleichen,
genannt Rußwurm, mit Frühlingsantritt nachzubeobachten und zu
kontrollieren." Zur selben Zeit studiert er die Wesenheit des Samens,
wie aus einem Bericht an Knebel vom 2. April 1785 hervorgeht: "Die
Materie vom Samen habe ich durchgedacht, so weit meine Erfahrungen
reichen." Diese Beobachtungen Goethes erscheinen erst im rechten Lichte
wenn man berücksichtigt, daß er schon dazumal nicht bei ihnen stehen
geblieben ist, sondern eine Gesamtanschauung der Naturvorgänge zu
gewinnen suchte, der sie zur Stütze und Bekräftigung dienen sollten. Am
8. April desselben Jahres meldet er Knebel, daß er nicht nur Thatsachen
beobachtet, sondern auch "hübsche Kombinationen" über diese Thatsachen
gemacht habe.



Von wesentlichem Einfluß auf die Ausbildung der Ideen Goethes über
organische Naturwirkungen war der Anteil, den er an Lavaters großem
Werke: "Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis
und Menschenliebe", nahm, das in den Jahren 1775 bis 1778 erschienen
ist. Er hat selbst Beiträge zu diesem Werke geliefert. In der Art, wie
er sich in diesen Beiträgen ausspricht, ist seine spätere Weise, das
Organische anzusehen, schon vorgebildet. Lavater blieb dabei stehen,
die Gestalt des menschlichen Organismus als Ausdruck der Seele zu
behandeln. Er wollte aus den Formen der Körper die Charaktere der
Seelen deuten. Goethe fieng bereits damals an, die äußere Gestalt
um ihrer selbst willen zu betrachten, ihre eigene Gesetzmäßigkeit
und Bildungskraft zu studieren. Er beschäftigt sich zugleich mit
den Schriften des Aristoteles über die Physiognomik und versucht es,
auf Grundlage des Studiums der organischen Gestalt, den Unterschied
des Menschen von den Tieren festzustellen. Er findet diesen in dem
durch das Ganze des menschlichen Baues bedingten Hervortreten des
Kopfes, in der vollkommenen Ausbildung des menschlichen Gehirns,
zu dem alle Teile wie zu einem Organ hindeuten, auf das sie gestimmt
sind. Im Gegenteil ist bei dem Tiere der Kopf an den Rückgrat bloß
angehängt, das Gehirn, das Rückenmark haben nicht mehr Umfang als
zur Auswirkung der untergeordneten Lebensgeister und zur Leitung
der bloß sinnlichen Verrichtungen unbedingt notwendig ist. Goethe
sucht schon damals den Unterschied des Menschen von den Tieren nicht
in irgend einem Einzelnen, sondern in dem verschiedenen Grade der
Vollkommenheit, den das gleiche Grundgebilde in dem einen oder andern
Falle erreicht. Es schwebt ihm bereits das Bild eines Typus vor,
der sowohl bei den Tieren wie beim Menschen sich findet, der bei
den ersteren so ausgebildet ist, daß der ganze Bau den animalischen
Funktionen dient, während bei letzterem der Bau das Grundgerüste für
die Entwicklung des Geistes abgibt.

Aus solchen Betrachtungen heraus erwächst Goethes Spezialstudium der
Anatomie. Am 22. Januar 1776 berichtet er an Lavater: "Der Herzog hat
mir sechs Schädel kommen lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht,
die Euer Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben Sie nicht ohne
mich fanden." Im Tagebuche Goethes lesen wir unter dem 15. Oktober
1781, daß er in Jena mit dem alten Einsiedel Anatomie trieb, und in
demselben Jahre fing er an, sich von Loder in diese Wissenschaft
genauer einführen zu lassen. Er erzählt davon in Briefen an Frau
von Stein vom 29. Oktober 1781 und an den Herzog vom 4. November. Er
hat auch die Absicht, den jungen Leuten an der Zeichenakademie "das
Skelett zu erklären und sie zur Kenntnis des menschlichen Körpers
anzuführen" -- "Ich thue es," sagt er, "um meinet- und ihretwillen;
die Methode, die ich gewählt habe, wird sie diesen Winter über völlig
mit den Grundsäulen des Körpers bekannt machen." Er hat, wie aus dem
Tagebuch zu ersehen, diese Vorlesungen auch gehalten. Auch mit Loder
hat er in dieser Zeit über den Bau des menschlichen Körpers manches
Gespräch geführt. Und wieder ist es seine allgemeine Naturansicht,
die als treibende Kraft und als eigentliches Ziel dieser Studien
erscheint. Er behandelt "die Knochen als einen Text, woran sich
alles Leben und alles Menschliche anhängen läßt" (Briefe an Lavater
und Merck vom 14. November 1781). Vorstellungen über das Wirken des
Organischen, über den Zusammenhang der menschlichen Bildung mit der
tierischen beschäftigen damals seinen Geist. Daß der menschliche Bau
nur die höchste Stufe des tierischen ist, und daß er durch diesen
vollkommeneren Grad des Tierischen die sittliche Welt aus sich
hervorbringt, ist eine Idee, die bereits in der Ode "das Göttliche"
vom Jahre 1782 niedergelegt ist.


                Edel sei der Mensch
                Hilfreich und gut!
                Denn das allein
                Unterscheidet ihn
                Von allen Wesen,
                Die wir kennen.
                -- -- -- -- --
                Nach ewigen, ehrnen,
                Großen Gesetzen
                Müssen wir alle
                Unsers Daseins
                Kreise vollenden.


Die "ewigen, ehrnen Gesetze" wirken im Menschen gerade so wie in der
übrigen Organismenwelt; sie erreichen in ihm nur eine Vollkommenheit,
durch die es ihm möglich ist "edel, hilfreich und gut" zu sein.

Während in Goethe sich solche Ideen immer mehr festsetzten,
arbeitete Herder an seinen "Ideen zu einer Philosophie der
Geschichte der Menschheit". Alle Gedanken dieses Buches wurden
von den beiden durchgesprochen. Goethe war von Herders Auffassung
der Natur befriedigt. Sie fiel mit seinen eigenen Vorstellungen
zusammen. "Herders Schrift macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen
und Tiere waren ... Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen
Dingen und jedes, was erst durch seine Vorstellung gegangen ist,
wird äußerst interessant," schreibt am 1. Mai 1784 Frau von Stein
an Knebel. Wie sehr man berechtigt ist, von Herders Ideen auf die
Goethes zu schließen, zeigen die Worte, die Goethe am 8. Dezember 1783
an Knebel richtet: "Herder schreibt eine Philosophie der Geschichte,
wie Du Dir denken kannst, von Grund aus neu. Die ersten Kapitel haben
wir vorgestern zusammen gelesen, sie sind köstlich." Sätze wie die
folgenden liegen ganz in Goethes Denkrichtung. "Das Menschengeschlecht
ist der große Zusammenfluß niederer organischer Kräfte." "Und so
können wir annehmen, daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den
Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Züge aller
Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln."

Mit solchen Vorstellungen war allerdings die Ansicht der damaligen
Anatomen nicht zu vereinigen, daß der kleine Knochen, den die Tiere
in der oberen Kinnlade haben, der Zwischenkiefer, der die oberen
Schneidezähne enthält, dem Menschen fehle. Sömmering, einer der
bedeutendsten Anatomen der damaligen Zeit, schrieb am 8. Oktober 1782
an Merck: "Ich wünschte, dass Sie Blumenbach nachsähen, wegen des
ossis intermaxillaris, der ceteris paribus der einzige Knochen ist,
den alle Tiere vom Affen an, selbst der Orang-Utang eingeschlossen,
haben, der sich hingegen nie beim Menschen findet; wenn Sie diesen
Knochen abrechnen, so fehlt Ihnen nichts, um nicht alles vom Menschen
auf die Tiere transferieren zu können. Ich lege deshalb einen Kopf von
einer Hirschkuh bei, um Sie zu überzeugen, daß dieses os intermaxillare
(wie es Blumenbach) oder os incisivum (wie es Camper nennt) selbst
bei Tieren vorhanden ist, die keine Schneidezähne haben." Das war die
allgemeine Meinung der Zeit. Auch der berühmte Camper, für den Merck
und Goethe die innigste Verehrung hatten, bekannte sich zu ihr. Der
Umstand, daß der Zwischenknochen beim Menschen links und rechts mit den
Oberkieferknochen verwachsen ist, ohne daß bei einem normal gebildeten
Individuum eine deutliche Grenze zu sehen ist, hat zu dieser Ansicht
geführt. Hätten die Gelehrten Recht gehabt mit derselben, dann wäre
es unmöglich, ein gemeinsames Urbild für den Bau des tierischen
und menschlichen Organismus aufzustellen; eine Grenze zwischen den
beiden Formen müßte angenommen werden. Der Mensch wäre nicht nach
dem Urbilde geschaffen, das auch den Tieren zu Grunde liegt. Dieses
Hindernis seiner Weltanschauung mußte Goethe hinwegräumen. Es
gelang ihm im Frühling 1784 in Gemeinschaft mit Loder. Nach seinem
allgemeinen Grundsatze, daß die Natur kein Geheimnis habe, was "sie
nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor Augen stellt",
gieng Goethe vor. Er fand bei einzelnen abnorm gebildeten Schädeln die
Grenze zwischen Ober- und Zwischenkiefer wirklich vorhanden. Freudig
berichtet er von dem Fund am 27. März an Herder und Frau von Stein. An
Herder schreibt er: "Es soll Dich auch herzlich freuen; denn es ist
wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber
wie!" "Ich habe mirs auch in Verbindung gedacht mit Deinem Ganzen,
wie schön es da wird." Und als Goethe die Abhandlung, die er über die
Sache geschrieben hat, im November 1784 an Knebel schickt, deutet er
die Bedeutung, die er der Entdeckung für seine ganze Vorstellungswelt
beilegt, mit den Worten an: "Ich habe mich enthalten, das Resultat,
worauf schon Herder in seinen Ideen deutet, schon jetzt merken zu
lassen, daß man nämlich den Unterschied des Menschen vom Tier in
nichts Einzelnem finden könne." Goethe konnte erst Vertrauen zu seiner
Naturansicht gewinnen, als die irrtümliche Ansicht über das fatale
Knöchelchen beseitigt war. Er gewann allmählich den Mut, seine Ideen
über die Art, wie die Natur, mit einer Hauptform gleichsam spielend,
das mannigfaltige Leben hervorbringt, "auf alle Reiche der Natur,
auf ihr ganzes Reich" auszudehnen. In diesem Sinne schreibt er im
Jahre 1786 an Frau von Stein.



Immer lesbarer wird Goethe das Buch der Natur, nachdem er den einen
Buchstaben richtig entziffert hat. "Mein langes Buchstabieren hat
mir geholfen, jetzt wirkts auf einmal und meine stille Freude ist
unaussprechlich," schreibt er der Frau von Stein am 15. Mai 1785. Er
hält sich jetzt auch bereits für fähig, eine kleine botanische
Abhandlung für Knebel zu schreiben. Die Reise, die er 1785 nach
Karlsbad mit diesem zusammen unternimmt, wird zu einer förmlichen
botanischen Studienreise. Nach der Rückkehr werden mit Hilfe Linnés
die Reiche der Pilze, Moose, Flechten und Algen durchgegangen. Er
teilt am 9. November der Frau von Stein mit: "Ich lese Linné fort,
ich muß wohl, ich habe kein anderes Buch bei mir; es ist die beste
Art, ein Buch gewissenhaft zu lesen, die ich öfter praktizieren muß,
da ich nicht leicht ein Buch auslese. Das ist nicht zum Lesen, sondern
zur Rekapitulation gemacht und that mir die trefflichsten Dienste,
da ich über die meisten Punkte selbst gedacht hatte." Während
dieser Studien bekommt auch die Grundform, aus welcher die Natur
alle mannigfaltigen Pflanzengebilde herausarbeitet, einzelne, wenn
auch noch nicht deutliche Umrisse in seinem Geiste. In einem Briefe
an die Frau von Stein vom 9. Juli 1786 sind die Worte enthalten:
"Es ist ein Gewahrwerden der Form, mit der die Natur gleichsam nur
immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt."



Im April und Mai 1786 beobachtete Goethe durch das Mikroskop
die niederen Organismen, die sich in Aufgüssen verschiedener
Substanzen (Pisangmark, Kaktus, Trüffeln, Pfefferkörnern, Thee,
Bier u. s. w.) entwickeln. Er notiert sorgfältig die Vorgänge, die
er an diesen Lebewesen beobachtet und verfertigt Zeichnungen dieser
organischen Formen (vergl. Goethes naturwissenschaftliche Schriften in
der Weimarer Goethe-Ausgabe, 2. Abteilung, Band 7 S. 289-309). Man kann
auch aus diesen Notizen ersehen, daß Goethe der Erkenntnis des Lebens
nicht durch solche Beobachtung niederer und einfacher Organismen näher
zu kommen sucht. Es ist ganz offenbar, daß er die wesentlichen Züge der
Lebensvorgänge an den höheren Organismen ebenso zu erfassen glaubt wie
an den niederen. Er ist der Ansicht, daß sich an dem Infusionstierchen
dieselbe Art von Gesetzmäßigkeit wiederholt, die das Auge des Geistes
an dem Hund wahrnimmt. Die Beobachtung durch das Mikroskop lehrt
nur Vorgänge kennen, die im Kleinen das sind, was das unbewaffnete
Auge im Großen sieht. Sie bietet eine Bereicherung der sinnlichen
Erfahrung. Einer höheren Art des Anschauens, nicht einer Verfolgung der
den Sinnen zugänglichen Vorgänge bis in ihre kleinsten Bestandteile,
offenbart sich das Wesen des Lebens. Goethe sucht dieses Wesen durch
die Betrachtung der höheren Pflanzen und Tiere zu erkennen. Er würde
diese Erkenntnis ohne Zweifel in derselben Weise gesucht haben, auch
wenn zu seiner Zeit die Pflanzen- und Tieranatomie schon ebenso weit
vorgeschritten gewesen wäre, wie sie gegenwärtig ist. Wenn Goethe
die Zellen, aus denen sich der Pflanzen- und Tierkörper aufbaut,
hätte beobachten können, so würde er erklärt haben, daß sich an
diesen elementaren organischen Formen dieselbe Gesetzmäßigkeit zeigt,
die auch am Zusammengesetzten wahrzunehmen ist. Er hätte sich durch
dieselben Ideen, durch die er sich die Lebensvorgänge der höheren
Organismen erklärte, auch die Erscheinungen an diesen kleinen Wesen
begreiflich gemacht.



Den lösenden Gedanken des Rätsels, das ihm die organische Bildung
und Umbildung aufgegeben hat, findet Goethe erst in Italien. Am
3. September verläßt er Karlsbad. In wenigen, aber bedeutsamen Sätzen
schildert er in seiner "Geschichte meines botanischen Studiums"
(Goethes Werke in Kürschners Nat.-Litt. Band 33 S. 61 ff.) die
Gedanken, welche die Beobachtung der Pflanzenwelt in ihm aufregt
bis zu dem Augenblicke, da ihm in Sizilien eine klare Vorstellung
darüber sich offenbart, wie es möglich ist, daß den Pflanzenformen
"bei einer eigensinnigen, generischen und spezifischen Hartnäckigkeit
eine glückliche Mobilität und Biegsamkeit verliehen ist, um in so
viele Bedingungen, die über den Erdkreis auf sie einwirken, sich
zu fügen und darnach bilden und umbilden zu können". Beim Übergang
über die Alpen, im botanischen Garten von Padua und an andern Orten
zeigte sich ihm das "Wechselhafte der Pflanzengestalten". "Wenn in
der tiefern Gegend Zweige und Stengel stärker und massiger waren,
die Augen näher aneinander standen und die Blätter breit waren,
so wurden höher ins Gebirg hinauf Zweige und Stengel zarter,
die Augen rückten auseinander, sodaß von Knoten zu Knoten ein
größerer Zwischenraum stattfand und die Blätter sich lanzenförmiger
bildeten. Ich bemerkte dies bei einer Weide und einer Gentiana und
überzeugte mich, daß es nicht etwa verschiedene Arten wären. Auch
am Walchensee bemerkte ich längere und schlankere Binsen als im
Unterlande" (ital. Reise 8. Sept.). Am 8. Oktober findet er in Venedig
am Meere verschiedene Pflanzen, an denen ihm die Wechselbeziehung des
Organischen zu seiner Umgebung besonders anschaulich wird. "Sie sind
alle zugleich mastig und streng, saftig und zäh, und es ist offenbar,
daß das alte Salz des Sandbodens, mehr aber die salzige Luft ihnen
diese Eigenschaft gibt; sie strotzen von Säften wie Wasserpflanzen,
sie sind fett und zäh wie Bergpflanzen; wenn ihre Blätterenden eine
Neigung zu Stacheln haben, wie Disteln tun, sind sie gewaltig spitz
und stark. Ich fand einen solchen Busch Blätter; er erschien mir
wie unser unschuldiger Huflattig, hier aber mit scharfen Waffen
bewaffnet, und das Blatt wie Leder, so auch die Samenkapseln, die
Stiele, alles mastig und fett" (ital. Reise). Im botanischen Garten zu
Padua bekommt der Gedanke in Goethes Geiste eine bestimmtere Gestalt,
wie man sich alle Pflanzengestalten vielleicht aus einer entwickeln
könne (ital. Reise, 27. Sept.); im November teilt er Knebel mit:
"So freut mich doch mein bischen Botanik erst recht in diesem Lande,
wo eine frohere, weniger unterbrochene Vegetation zu Hause ist. Ich
habe schon recht artige, ins allgemeine gehende Bemerkungen gemacht,
die auch Dir in der Folge angenehm sein werden." Am 25. März 1787
kommt ihm "eine gute Erleuchtung über botanische Gegenstände". Er
bittet "Herdern zu sagen, daß er mit der Urpflanze bald zu stande
sei". Nur fürchtet er, daß "niemand die übrige Pflanzenwelt darin wird
erkennen wollen" (ital. Reise). Am 17. April geht er mit dem "festen,
ruhigen Vorsatz, seine dichterischen Träume fortzusetzen, nach dem
öffentlichen Garten". Allein ehe er sichs versieht, erhascht ihn das
Pflanzenwesen wie ein Gespenst. "Die vielen Pflanzen, die ich sonst
nur in Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des Jahres nur hinter
Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter
freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung erfüllen, werden sie uns
deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes,
fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar
die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muß es denn doch geben:
woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine
Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären?" Er
bemüht sich die abweichenden Gestalten zu unterscheiden, aber immer
wieder werden seine Gedanken zu dem einen Urbild, das ihnen allen
zu Grunde liegt, hingelenkt (ital. Reise, 17. April 1787). Goethe
legt sich ein botanisches Tagebuch an, in dem er alle während der
Reise über das Pflanzenreich gemachten Erfahrungen und Reflexionen
einzeichnet (vergl. Goethes Werke in der Weimarischen Ausgabe, 2. Abt.,
Band 7 S. 273 ff.). Diese Tagebuchblätter zeigen, wie unermüdlich er
damit beschäftigt ist, Pflanzenexemplare ausfindig zu machen, die
geeignet sind, auf die Gesetze des Wachstums und der Fortpflanzung
hinzuleiten. Glaubt er irgend einem Gesetze auf der Spur zu sein,
so stellt er es zunächst in hypothetischer Form auf, um es sich dann
im Verlauf seiner weiteren Erfahrungen bestätigen zu lassen. Die
Vorgänge der Keimung, der Befruchtung, des Wachstums notiert er
sorgfältig. Daß das Blatt das Grundorgan der Pflanze ist, und daß
die Formen aller übrigen Pflanzenorgane am besten zu verstehen sind,
wenn man sie als umgewandelte Blätter betrachtet, leuchtet ihm immer
mehr ein. Er schreibt in das Tagebuch: "Hypothese: Alles ist Blatt und
durch diese Einfachheit wird die größte Mannigfaltigkeit möglich." Und
am 17. Mai teilt er Herder mit: "Ferner muß ich Dir vertrauen, daß ich
dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und
daß es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann. Unter diesem
Himmel kann man die schönsten Beobachtungen machen. Den Hauptpunkt,
wo der Keim steckt, habe ich ganz klar und zweifellos gefunden, alles
übrige sehe ich auch schon im ganzen, und nur noch einige Punkte müssen
bestimmter werden. Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf
von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit
diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen
ins unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die,
wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht
etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern
eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird
sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen." .... "Vorwärts und
rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime
so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken
darf. Einen solchen Begriff zu fassen, zu ertragen, ihn in der Natur
aufzufinden, ist eine Aufgabe, die uns in einen peinlich süßen Zustand
versetzt" (ital. Reise).



Goethe nimmt zur Erklärung der Lebenserscheinungen einen Weg,
der gänzlich verschieden ist von denen, welche die Naturforscher
gewöhnlich gehen. Diese scheiden sich in zwei Parteien. Es gibt
Verteidiger einer in den organischen Wesen wirkenden Lebenskraft,
die gegenüber anderen Naturursachen eine besondere, höhere Kräfteform
darstellt. Wie es Schwerkraft, chemische Anziehung und Abstoßung,
Magnetismus u. s. w. gibt, so soll es auch eine Lebenskraft geben,
welche die Stoffe des Organismus in eine solche Wechselwirkung
bringt, daß dieser sich erhalten, wachsen, ernähren und fortpflanzen
kann. Die Naturforscher, welche dieser Meinung sind, sagen: in dem
Organismus wirken dieselben Kräfte wie in der übrigen Natur; aber
sie wirken nicht wie in einer leblosen Maschine. Sie werden von der
Lebenskraft gleichsam eingefangen und auf eine höhere Stufe des Wirkens
gehoben. Den Bekennern dieser Meinung stehen andere Naturforscher
gegenüber, welche glauben, daß in den Organismen keine besondere
Kraft wirke. Sie halten die Lebenserscheinungen für komplizierte
chemische und physikalische Vorgänge und geben sich der Hoffnung hin,
daß es einst vielleicht gelingen werde, einen Organismus ebenso durch
Zurückführung auf unorganische Kraftwirkungen zu erklären wie eine
Maschine. Die erstere Ansicht wird als Vitalismus, die andere als
Mechanismus bezeichnet. Von beiden ist die Goethesche Auffassungsweise
durchaus verschieden. Daß in dem Organismus noch etwas anderes
wirksam ist als die Kräfte der unorganischen Natur, erscheint ihm
selbstverständlich. Zur mechanischen Auffassung der Lebenserscheinungen
kann er sich nicht bekennen. Ebensowenig sucht er, um die Wirkungen
im Organismus zu erklären, nach einer besonderen Lebenskraft. Er ist
überzeugt, daß zur Erfassung der Lebensvorgänge eine Anschauung gehört,
die anderer Art ist als diejenige, durch welche die Erscheinungen
der unorganischen Natur wahrgenommen werden. Wer zur Annahme einer
Lebenskraft sich entschließt, der sieht zwar ein, daß die organischen
Wirkungen nicht mechanistisch sind, aber es fehlt ihm zugleich
die Fähigkeit, jene andere Art der Anschauung in sich auszubilden,
durch die ihm das Organische erkennbar werden könnte. Die Vorstellung
der Lebenskraft bleibt dunkel und unbestimmt. Ein neuerer Anhänger
des Vitalismus, Gustav Bunge, meint: "In der kleinsten Zelle -- da
stecken schon alle Rätsel des Lebens drin, und bei der Erforschung der
kleinsten Zelle -- da sind wir mit den bisherigen Hilfsmitteln bereits
an der Grenze angelangt" (Vitalismus und Mechanismus, Leipzig 1886,
S. 17). Es ist durchaus im Sinne der Goetheschen Denkweise, darauf zu
antworten: Dasjenige Anschauungsvermögen, welches nur das Wesen der
unorganischen Erscheinungen erkennt, ist mit seinen Hilfsmitteln an
der Grenze angelangt. Dieses wird aber nie innerhalb seines Bereiches
Mittel finden, die zur Erklärung des Lebens der kleinsten Zelle
geeignet sein können. Wie zur Wahrnehmung der Farbenerscheinungen
das Auge gehört, so gehört zur Auffassung des Lebens die Fähigkeit,
in dem Sinnlichen ein Übersinnliches unmittelbar anzuschauen. Dieses
Übersinnliche wird demjenigen immer entschlüpfen, der nur die Sinne
auf die organischen Formen richtet. Goethe sucht die sinnliche
Anschauung der Pflanzengestalten auf eine höhere Art zu beleben und
sich die sinnliche Form einer übersinnlichen Urpflanze vorzustellen
(vergl. Geschichte meines botanischen Studiums in Kürschners
Nat. Litt., Goethes Werke, Band 33 S. 80). Der Vitalist nimmt seine
Zuflucht zu dem inhaltleeren Begriff der Lebenskraft, weil er das,
was seine Sinne im Organismus nicht wahrnehmen können, überhaupt
nicht sieht. Goethe sieht das Sinnliche von einem Übersinnlichen so
durchdrungen, wie eine gefärbte Fläche von der Farbe.

Die Anhänger des Mechanismus sind der Ansicht, daß es einmal gelingen
könne, lebende Substanzen auf künstlichem Wege aus unorganischen
Stoffen herzustellen. Sie sagen, vor noch nicht vielen Jahren
wurde behauptet, daß es im Organismus Substanzen gebe, die nicht
auf künstlichem Wege, sondern nur durch die Wirkung der Lebenskraft
entstehen können. Gegenwärtig ist man bereits im stande, einige dieser
Substanzen künstlich im Laboratorium zu erzeugen. Ebenso könne es
dereinst möglich sein, aus Kohlensäure, Ammoniak, Wasser und Salzen
ein lebendiges Eiweiß herzustellen, welches die Grundsubstanz der
einfachsten Organismen ist. Dann, meinen die Mechanisten, werde
unbestreitbar erwiesen sein, daß Leben nichts weiter ist als eine
Kombination unorganischer Vorgänge, der Organismus nichts weiter als
eine auf natürlichem Wege entstandene Maschine.

Vom Standpunkte der Goetheschen Weltanschauung ist darauf zu
erwidern: die Mechanisten sprechen in einer Weise von Stoffen
und Kräften, die durch keine Erfahrung gerechtfertigt ist. Und
man hat sich an diese Weise, zu sprechen, so gewöhnt, daß es sehr
schwer wird, diesen Begriffen gegenüber die reinen Aussprüche der
Erfahrung geltend zu machen. Man betrachte aber doch einen Vorgang
der Außenwelt unbefangen. Man nehme ein Quantum Wasser von einer
bestimmten Temperatur. Wodurch weiß man etwas von diesem Wasser? Man
sieht es an und bemerkt, daß es einen Raum einnimmt und zwischen
bestimmten Grenzen eingeschlossen ist. Man steckt den Finger oder
ein Thermometer hinein, und findet es mit einem bestimmten Grade von
Wärme behaftet. Man drückt gegen seine Oberfläche und erfährt, daß es
flüssig ist. Das sind Aussprüche, welche die Sinne über den Zustand des
Wassers machen. Nun erhitze man das Wasser. Es wird sieden und zuletzt
sich in Dampf verwandeln. Wieder kann man sich durch die Wahrnehmung
der Sinne von den Beschaffenheiten des Körpers, des Dampfes, in
den sich das Wasser verwandelt hat, Kenntnis verschaffen. Statt das
Wasser zu erhitzen, kann man es dem elektrischen Strom unter gewissen
Bedingungen aussetzen. Es verwandelt sich in zwei Körper, Wasserstoff
und Sauerstoff. Auch über die Beschaffenheit dieser beiden Körper
kann man sich durch die Aussagen der Sinne belehren. Man nimmt also
in der Körperwelt Zustände wahr und beobachtet zugleich, daß diese
Zustände unter gewissen Bedingungen in andere übergehen. Über die
Zustände unterrichten die Sinne. Wenn man noch von etwas anderem als
von Zuständen, die sich verwandeln, spricht, so beschränkt man sich
nicht mehr auf den reinen Tatbestand, sondern man fügt zu demselben
Begriffe hinzu. Sagt man, der Sauerstoff und der Wasserstoff, die
sich durch den elektrischen Strom aus dem Wasser entwickelt haben
seien schon im Wasser enthalten gewesen, nur so innig mit einander
verbunden, daß sie in ihrer Selbständigkeit nicht wahrzunehmen waren,
so hat man zu der Wahrnehmung einen Begriff hinzugefügt, durch den
man sich das Hervorgehen der beiden Körper aus dem einen erklärt. Und
wenn man weitergeht und behauptet, Sauerstoff und Wasserstoff seien
Stoffe, was man schon durch die Namen tut, die man ihnen beilegt, so
hat man ebenfalls zu dem Wahrgenommenen einen Begriff hinzugefügt. Denn
tatsächlich ist in dem Raume, der vom Sauerstoff eingenommen wird, nur
eine Summe von Zuständen wahrzunehmen. Zu diesen Zuständen denkt man
den Stoff hinzu, an dem sie haften sollen. Was man von dem Sauerstoff
und dem Wasserstoff im Wasser schon vorhanden denkt, das Stoffliche,
ist ein Gedachtes, das zu dem Wahrnehmungsinhalt hinzugefügt ist. Wenn
man Wasserstoff und Sauerstoff durch einen chemischen Prozeß zu Wasser
vereinigt, so kann man beobachten, daß eine Summe von Zuständen in eine
andere übergeht. Wenn man sagt: es haben sich zwei einfache Stoffe
zu einem zusammengesetzten vereinigt, so hat man eine begriffliche
Auslegung des Beobachtungsinhaltes versucht. Die Vorstellung "Stoff"
erhält ihren Inhalt nicht aus der Wahrnehmung, sondern aus dem
Denken. Ein ähnliches wie vom "Stoffe" gilt von der "Kraft". Man sieht
einen Stein zur Erde fallen. Was ist der Inhalt der Wahrnehmung. Eine
Summe von Sinneseindrücken, Zuständen, die an aufeinanderfolgenden
Orten auftreten. Man sucht sich diese Veränderung in der Sinneswelt
zu erklären, und sagt: die Erde ziehe den Stein an. Sie habe eine
"Kraft", durch die sie ihn zu sich hinzwingt. Wieder hat unser Geist
eine Vorstellung zu dem Tatbestande hinzugefügt und derselben einen
Inhalt gegeben, der nicht aus der Wahrnehmung stammt. Nicht Stoffe
und Kräfte nimmt man wahr, sondern Zustände und deren Übergänge in
einander. Man erklärt sich diese Zustandsänderungen durch Hinzufügung
von Begriffen zu den Wahrnehmungen.

Man nehme einmal an, es gebe ein Wesen, das Sauerstoff und Wasserstoff
wahrnehmen könnte, nicht aber Wasser. Wenn wir vor den Augen eines
solchen Wesens den Sauerstoff und Wasserstoff zu Wasser vereinigten,
so verschwänden vor ihm die Zustände, die es an den beiden Stoffen
wahrgenommen hat, in Nichts. Wenn wir ihm nun die Zustände auch
beschrieben, die wir am Wasser wahrnehmen: es könnte sich von ihnen
keine Vorstellung machen. Das beweist, daß in den Wahrnehmungsinhalten
des Sauerstoffs und des Wasserstoffs nichts liegt, aus dem der
Wahrnehmungsinhalt Wasser abzuleiten ist. Ein Ding entsteht aus
zwei oder mehreren andern heißt: es haben sich zwei oder mehrere
Wahrnehmungsinhalte in einen zusammenhängenden, aber den ersteren
gegenüber durchaus neuen, verwandelt.

Was wäre also erreicht, wenn es gelänge, Kohlensäure, Ammoniak, Wasser
und Salze künstlich zu einer lebenden Eiweißsubstanz im Laboratorium
zu vereinigen? Man wüßte, daß die Wahrnehmungsinhalte der vielerlei
Stoffe sich zu einem Wahrnehmungsinhalt vereinigen können. Aber
dieser Wahrnehmungsinhalt ist aus jenen durchaus nicht abzuleiten. Der
Zustand des lebenden Eiweißes kann nur an diesem selbst beobachtet,
nicht aus den Zuständen der Kohlensäure, des Ammoniaks, des Wassers und
der Salze herausentwickelt werden. Im Organismus hat man etwas von den
unorganischen Bestandteilen, aus denen er aufgebaut werden kann, völlig
verschiedenes vor sich. Die sinnlichen Wahrnehmungsinhalte verwandeln
sich bei der Entstehung des Lebewesens in sinnlich-übersinnliche. Und
wer nicht die Fähigkeit hat, sich sinnlich-übersinnliche Vorstellungen
zu machen, der kann von dem Wesen eines Organismus ebensowenig etwas
wissen, wie jemand vom Wasser etwas erfahren könnte, wenn ihm die
sinnliche Wahrnehmung desselben unzugänglich wäre.



Die Keimung, das Wachstum, die Umwandlung der Organe, die Ernährung
und Fortpflanzung des Organismus sich als sinnlich-übersinnlichen
Vorgang vorzustellen, war Goethes Bestreben bei seinen Studien
über die Pflanzen- und die Tierwelt. Er bemerkte, daß dieser
sinnlich-übersinnliche Vorgang in der Idee bei allen Pflanzen derselbe
ist, und daß er nur in der äußeren Erscheinung verschiedene Formen
annimmt. Dasselbe konnte Goethe für die Tierwelt feststellen. Hat man
die Idee der sinnlich-übersinnlichen Urpflanze in sich ausgebildet,
so wird man sie in allen einzelnen Pflanzenformen wiederfinden. Die
Mannigfaltigkeit entsteht dadurch, daß das der Idee nach Gleiche in
der Wahrnehmungswelt in verschiedenen Gestalten existieren kann. Der
einzelne Organismus besteht aus Organen, die auf ein Grundorgan
zurückzuführen sind. Das Grundorgan der Pflanze ist das Blatt mit
dem Knoten, an dem es sich entwickelt. Dieses Organ nimmt in der
äußeren Erscheinung verschiedene Gestalten an: Keimblatt, Laubblatt,
Kelchblatt, Kronenblatt u. s. w. "Es mag die Pflanze sprossen, blühen
oder Früchte tragen, so sind es doch immer nur dieselbigen Organe,
welche in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten
die Vorschrift der Natur erfüllen."



Um ein vollständiges Bild der Urpflanze zu erhalten, mußte Goethe die
Formen im allgemeinen verfolgen, welche das Grundorgan im Fortgang
des Wachstums einer Pflanze von der Keimung bis zur Samenreife
durchmacht. Im Anfang ihrer Entwicklung ruht die ganze Pflanzengestalt
in dem Samen. In diesem hat die Urpflanze eine Gestalt angenommen,
durch die sie ihren ideellen Inhalt gleichsam in der äußeren
Erscheinung verbirgt.


   "Einfach schlief in dem Samen die Kraft; ein beginnendes Vorbild
    Lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,
    Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;
    Trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,
    Quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,
    Und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht."

               (Goethes Werke in Kürschners Nat.-Litt. Band 33 S. 105).


Aus dem Samen entwickelt die Pflanze die ersten Organe, die
Kotyledonen, nachdem sie "ihre Hüllen mehr oder weniger in der Erde"
zurückgelassen und "die Wurzel in den Boden" befestigt hat. Und
nun folgt im weiteren Verlauf des Wachstums Trieb auf Trieb; Knoten
auf Knoten türmt sich übereinander, und an jedem Knoten findet sich
ein Blatt. Die Blätter erscheinen in verschiedenen Gestalten. Die
unteren noch einfach, die oberen mannigfach gekerbt, eingeschnitten,
aus mehreren Blättchen zusammengesetzt. Die Urpflanze breitet auf
dieser Stufe der Entwicklung ihren sinnlich-übersinnlichen Inhalt im
Raume als äußere sinnliche Erscheinung aus. Goethe stellt sich vor,
daß die Blätter ihre fortschreitende Ausbildung und Verfeinerung dem
Lichte und der Luft schuldig sind. "Wenn wir jene in der verschlossenen
Samenhülle erzeugten Kotyledonen, mit einem rohen Safte nur gleichsam
ausgestopft, fast gar nicht oder nur grob organisiert und ungebildet
finden, so zeigen sich uns die Blätter der Pflanzen, welche unter
dem Wasser wachsen, gröber organisiert als andere, der freien Luft
ausgesetzte; ja, sogar entwickelt dieselbige Pflanzenart glättere
und weniger verfeinerte Blätter, wenn sie in tiefen, feuchten
Orten wächst, da sie hingegen, in höhere Gegenden versetzt, rauhe,
mit Haaren versehene, feiner ausgebildete Blätter hervorbringt"
(Goethes Werke, Nat.-Litt. Band 33 S. 25 f.). In der zweiten Epoche
des Wachstums zieht die Pflanze wieder in einen engeren Raum zusammen,
was sie vorher ausgebreitet hat.


   "Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße,
    Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.
    Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke,
    Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.
    Blattlos aber und schnell hebt sich der zärtere Stengel,
    Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.
    Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne
    Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.
    Um die Achse gedrängt, entscheidet der bergende Kelch sich,
    Der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entläßt."


Im Kelch zieht sich die Pflanzengestalt zusammen; in der Blumenkrone
breitet sie sich wieder aus. Nun folgt die nächste Zusammenziehung in
den Staubgefäßen und dem Stempel, den Organen der Fortpflanzung. Die
Bildungskraft der Pflanze entwickelte in den vorhergehenden
Wachstumsperioden in einerlei Organen als Trieb, das Grundgebilde
zu wiederholen. Dieselbe Kraft verteilt sich auf dieser Stufe der
Zusammenziehung auf zwei Organe. Das Getrennte sucht sich wieder
zusammenzufinden. Dies geschieht im Befruchtungsvorgang. Der in dem
Staubgefäß vorhandene männliche Blütenstaub vereinigt sich mit der
weiblichen Substanz, die im Stempel enthalten ist; und damit ist der
Keim zu einer neuen Pflanze gegeben. Goethe nennt die Befruchtung eine
geistige Anastomose und sieht in ihr nur eine andere Form des Vorgangs,
der in der Entwicklung von einem Knoten zum andern stattfindet. "An
allen Körpern, die wir lebendig nennen, bemerken wir die Kraft,
ihresgleichen hervorzubringen. Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr
werden, bezeichnen wir sie unter dem Namen der beiden Geschlechter"
(Weimarische Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band 6 S. 361). Von Knoten
zu Knoten bringt die Pflanze ihresgleichen hervor. Denn Knoten und
Blatt sind die einfache Form der Urpflanze. In dieser Form heißt
die Hervorbringung Wachstum. Ist die Fortpflanzungskraft auf zwei
Organe verteilt, so spricht man von zwei Geschlechtern. Auf diese
Weise glaubt Goethe die Begriffe von Wachstum und Zeugung einander
näher gerückt zu haben. In dem Stadium der Fruchtbildung erlangt die
Pflanze ihre letzte Ausdehnung; in dem Samen erscheint sie wieder
zusammengezogen. In diesen sechs Schritten vollendet die Natur
einen Kreis von Pflanzenentwicklung, und sie beginnt den ganzen
Vorgang wieder von vorne. In dem Samen sieht Goethe nur eine andere
Form des Auges, das sich an den Laubblättern entwickelt. Die aus
den Augen sich entfaltenden Seitenzweige sind ganze Pflanzen, die,
statt in der Erde, auf einer Mutterpflanze stehen. Die Vorstellung
von dem sich stufenweise, wie auf einer "geistigen Leiter" vom
Samen bis zur Frucht sich umbildenden Grundorgan ist die Idee der
Urpflanze. Gleichsam um die Verwandlungsfähigkeit des Grundorgans für
die sinnliche Anschauung zu beweisen, läßt die Natur unter gewissen
Bedingungen auf einer Stufe statt des Organs, das nach dem regelmäßigen
Wachstumsverlaufe entstehen sollte, ein anderes sich entwickeln. Bei
den gefüllten Mohnen z. B. treten an der Stelle, wo die Staubgefäße
entstehen sollten, Blumenblätter auf. Das Organ, das der Idee nach zum
Staubgefäß bestimmt war, ist ein Blumenblatt geworden. In dem Organ,
das im regelmäßigen Fortgang der Pflanzenentwicklung eine bestimmte
Form hat, ist die Möglichkeit enthalten, auch eine andere anzunehmen.

Als Illustration seiner Idee von der Urpflanze betrachtet Goethe das
Bryophyllum calycinum, die gemeine Keim-Zumpe, eine Pflanzenart, die
von den Molukkeninseln nach Kalkutta und von da nach Europa gekommen
ist. Aus den Kerben der fetten Blätter dieser Pflanzen entwickeln sich
frische Pflänzchen, die, nach ihrer Ablösung, zu vollständigen Pflanzen
auswachsen. Goethe sieht in diesem Vorgang sinnlich-anschaulich
dargestellt, daß in dem Blatte eine ganze Pflanze der Idee nach ruht
(vergl. Goethes Bemerkungen über das Bryophyllum calycinum in der
Weimarischen Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band VII S. 137 ff.).

Wer die Vorstellung der Urpflanze in sich ausbildet und so beweglich
erhält, daß er sie in allen möglichen Formen denken kann, die ihr
Inhalt zuläßt, der kann mit ihrer Hilfe sich alle Gestaltungen im
Pflanzenreiche erklären. Er wird die Entwicklung der einzelnen Pflanze
begreifen; aber er wird auch finden, daß alle Geschlechter, Arten und
Varietäten nach diesem Urbilde geformt sind. Diese Anschauungen hat
Goethe in Italien ausgebildet und in seiner 1790 erschienenen Schrift:
"Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären" niedergelegt.



Auch in der Entwicklung seiner Ideen über den menschlichen Organismus
schreitet Goethe in Italien vor. Am 20. Januar schreibt er an Knebel:
"Auf Anatomie bin ich so ziemlich vorbereitet, und ich habe mir
die Kenntnis des menschlichen Körpers, bis auf einen gewissen Grad,
nicht ohne Mühe erworben. Hier wird man durch die ewige Betrachtung
der Statuen immerfort, aber auf eine höhere Weise hingewiesen. Bei
unserer medizinisch-chirurgischen Akademie kommt es bloß darauf an,
den Teil zu kennen, und hierzu dient auch wohl ein kümmerlicher
Muskel. In Rom aber wollen die Teile nichts heißen, wenn sie nicht
zugleich eine edle schöne Form darbieten. -- In dem großen Lazarett San
Spirito hat man den Künstlern zulieb einen sehr schönen Muskelkörper
dergestalt bereitet, daß die Schönheit desselben in Verwunderung
setzt. Er könnte wirklich für einen geschundenen Halbgott, für einen
Marsyas gelten. -- So pflegt man auch nach Anleitung der Alten das
Skelett nicht als eine künstlich zusammengereihte Knochenmaske zu
studieren, vielmehr zugleich mit den Bändern, wodurch es schon Leben
und Bewegung erhält." Auch nach seiner Rückkehr aus Italien treibt
Goethe fleißig anatomische Studien. Es drängt ihn, die Bildungsgesetze
der tierischen Gestalt ebenso zu erkennen, wie ihm dies für diejenigen
der Pflanze gelungen war. Er ist überzeugt, daß auch die Einheit des
Tier-Organismus auf einem Grundorgan beruht, welches in der äußeren
Erscheinung verschiedene Formen annehmen kann. Verbirgt sich die
Idee des Grundorgans, so erscheint dieses ungeformt. Es stellt dann
die einfacheren Organe des Tieres dar; bemächtigt sich die Idee des
Stoffes so, daß sie ihn sich völlig ähnlich macht, dann entstehen
die höheren, die edleren Organe. Was in den einfacheren Organen der
Idee nach vorhanden ist, das schließt sich in den höheren nach außen
auf. Es ist Goethe nicht geglückt, die Gesetzmäßigkeit der ganzen
tierischen Gestalt in eine einzige Vorstellung zu fassen, wie er es
für die Pflanzenform erreicht hat. Nur für einen Teil dieser Gestalt
hat er das Bildungsgesetz gefunden, für das Rückenmark und Gehirn
mit den diese Organe einschließenden Knochen. In dem Gehirn sieht
er eine höhere Ausbildung des Rückenmarks. Jedes Nervenzentrum der
Ganglien gilt ihm als ein auf niederer Stufe stehengebliebenes Gehirn
(vergl. Weimarische Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band 8 S. 360). Und die
das Gehirn einschließenden Schädelknochen deutet er als Umformungen
der Wirbelknochen, die das Rückenmark umhüllen. Daß er die hintern
Schädelknochen (Hinterhauptbein, hinteres und vorderes Keilbein)
als drei umgebildete Wirbel anzusehen hat, ist ihm schon früher
aufgegangen; für die vorderen Schädelknochen behauptet er dasselbe,
als er im Jahre 1790 auf den Dünen des Lido einen Schafschädel
findet, der so glücklich geborsten ist, daß in dem Gaumbein, der
oberen Kinnlade und dem Zwischenknochen drei Wirbel in verwandelter
Gestalt unmittelbar sinnlich sich darzustellen scheinen.

Die Anatomie der Tiere war zu Goethes Zeit noch nicht so weit
vorgeschritten, daß er ein Lebewesen hätte anführen können, welches
wirklich an Stelle von entwickelten Schädelknochen Wirbel hat, und
das also im sinnlichen Bilde das zeigt, was bei den vollkommenen
Tieren nur der Idee nach vorhanden ist. Durch die Untersuchungen Carl
Gegenbauers, die im Jahre 1872 veröffentlicht worden sind, ist es
gelungen, eine solche Tierform anzugeben. Die Urfische oder Selachier
haben Schädelknochen und ein Gehirn, die sich deutlich als Endglieder
der Wirbelsäule und des Rückenmarkes erweisen. Nach dem Befund an
diesen Tieren scheint allerdings eine größere Zahl von Wirbeln in
die Kopfbildung eingegangen zu sein (mindestens neun), als Goethe
angenommen hat. Dieser Irrtum über die Zahl der Wirbel und auch noch
die Tatsache, daß im Embryonalzustand der Schädel der höheren Tiere
keine Spur einer Zusammensetzung aus wirbelartigen Teilen zeigt,
sondern sich aus einer einfachen knorpeligen Blase entwickelt,
ist gegen den Wert der Goetheschen Idee von der Umwandlung des
Rückenmarks und der Wirbelsäule angeführt worden. Man giebt zwar zu,
daß der Schädel aus Wirbeln entstanden ist. Aber man leugnet, daß die
Kopfknochen in der Form, in der sie sich bei den höheren Tieren zeigen,
umgebildete Wirbel seien. Man sagt, daß eine vollkommene Verschmelzung
der Wirbel zu einer knorpeligen Blase stattgefunden habe, in der die
ursprüngliche Wirbelstruktur vollständig verschwunden sei. Aus dieser
Knorpelkapsel haben sich dann die Knochenformen herausgebildet, die an
höheren Tieren wahrzunehmen sind. Diese Formen haben sich nicht nach
dem Urbilde des Wirbels gebildet, sondern entsprechend den Aufgaben,
die sie am entwickelten Kopfe zu erfüllen haben. Man hätte also,
wenn man nach einem Erklärungsgrund für irgend eine Schädelknochenform
sucht, nicht zu fragen: wie hat sich ein Wirbel umgebildet, um zu dem
Kopfknochen zu werden; sondern welche Bedingungen haben dazu geführt,
daß sich diese oder jene Knochengestalt aus der einfachen Knorpelkapsel
herausgetrennt hat? Man glaubt an die Bildung neuer Gestalten, nach
neuen Bildungsgesetzen, nachdem die ursprüngliche Wirbelform in
eine strukturlose Kapsel aufgegangen ist. Ein Widerspruch zwischen
dieser Auffassung und der Goetheschen kann nur vom Standpunkte des
Tatsachenfanatismus aus gefunden werden. Was in der Knorpelkapsel des
Schädels nicht mehr sinnlich-wahrnehmbar ist, die Wirbelstruktur,
ist in ihr gleichwohl der Idee nach vorhanden und tritt wieder in
die Erscheinung, sobald die Bedingungen dazu vorhanden sind. In der
knorpeligen Schädelkapsel verbirgt sich die Idee des wirbelförmigen
Grundorgans innerhalb der sinnlichen Materie; in den ausgebildeten
Schädelknochen tritt sie wieder in die äußere Erscheinung.



Goethe hofft, daß sich ihm die Bildungsgesetze der übrigen Teile des
tierischen Organismus in derselben Weise offenbaren werden, wie es
diejenigen des Gehirns, Rückenmarks und ihrer Umhüllungsorgane getan
haben. Über die am Lido gemachte Entdeckung läßt er am 30. April
Herdern durch Frau von Kalb sagen, daß er "der Tiergestalt und ihren
mancherlei Umbildungen um eine ganze Formel näher gerückt ist und zwar
durch den sonderbarsten Zufall" (Goethe an Frau von Kalb). Er glaubt,
seinem Ziele so nahe zu sein, daß er noch in demselben Jahre, das
ihm den Fund gebracht hat, eine Schrift über die tierische Bildung
vollenden will, die sich der "Metamorphose der Pflanzen" an die
Seite stellen läßt. (Briefwechsel mit Knebel S. 98.) In Schlesien,
wohin er im Juli 1790 reist, treibt er Studien zur vergleichenden
Anatomie und beginnt an einem Aufsatz "Über die Gestalt der Tiere"
zu schreiben. (Weimarische Goethe-Ausgabe, 2. Abt. Band 8 S. 261
ff.). Es ist Goethe nicht gelungen, von dem glücklich gewonnenen
Ausgangspunkte aus zu den Bildungsgesetzen der ganzen Tiergestalt
fortzuschreiten. So viel Ansätze er auch dazu macht, den Typus der
tierischen Gestalt zu finden: etwas der Idee der Urpflanze Analoges
ist nicht zu stande gekommen. Er vergleicht die Tiere untereinander
und mit dem Menschen und sucht ein allgemeines Bild des tierischen
Baues zu gewinnen, nach welchem, als einem Muster, die Natur die
einzelnen Gestalten formt. Eine lebendige Vorstellung, die sich nach
den Grundgesetzen der tierischen Bildung mit einem Gehalt erfüllt und
so das Urtier der Natur gleichsam nachschafft, ist dieses allgemeine
Bild des tierischen Typus nicht. Ein allgemeiner Begriff ist es nur,
der von den besonderen Erscheinungen abgezogen ist. Er stellt das
Gemeinsame in den mannigfaltigen Tierformen fest; aber er enthält
nicht die Gesetzmäßigkeit der Tierheit.


   "Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,
    Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild."

                            (Gedicht, Die Metamorphose der Tiere).


Wie dieses Urbild durch gesetzmäßige Umformung eines Grundgliedes
sich als die vielgliedrige Urform des tierischen Organismus
entwickelt, davon konnte Goethe eine einheitliche Vorstellung nicht
entwickeln. Sowohl der Versuch über "die Gestalt der Tiere" als auch
der 1795 in Jena entstandene "Entwurf einer vergleichenden Anatomie,
ausgehend von der Osteologie" und seine spätere ausführlichere Gestalt
"Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs einer allgemeinen
Einleitung in die vergleichende Anatomie" (1796) enthalten nur
Anleitungen darüber, wie die Tiere zweckmäßig zu vergleichen sind,
um ein allgemeines Schema zu gewinnen, nach dem die schaffende
Gewalt die "organischen Naturen erzeugt und entwickelt", eine Norm,
nach welcher die "Beschreibungen auszuarbeiten" und auf welche, indem
"solche von der Gestalt der verschiedenen Tiere abgezogen wäre, die
verschiedensten Gestalten wieder" zurückzuführen sind (vergl. die
genannten "Vorträge"). Bei der Pflanze hingegen hat Goethe gezeigt,
wie ein Urgebilde durch aufeinanderfolgende Modifikationen sich
gesetzmäßig zu der vollkommenen organischen Gestalt ausbildet.



Wenn er auch nicht die schaffende Naturgewalt in ihrer Bildungs-
und Umbildungskraft durch die verschiedenen Glieder des tierischen
Organismus hindurch verfolgen konnte, so ist es Goethe doch gelungen,
einzelne Gesetze zu finden, an die sich die Natur bei der Bildung der
tierischen Formen hält, welche die allgemeine Norm zwar festhalten,
doch aber in der Erscheinung verschieden sind. Er stellt sich
vor, daß die Natur nicht die Fähigkeit habe, das allgemeine Bild
beliebig zu verändern. Wenn sie in einer Form ein Glied in besonders
vollkommener Form ausbildet, so kann dies nur auf Kosten eines andern
geschehen. Im Urorganismus sind alle Glieder enthalten, die bei irgend
einem Tiere vorkommen können. Bei der einzelnen Tierform ist das eine
ausgebildet, das andere nur angedeutet; das eine besonders vollkommen
entwickelt, das andere vielleicht für die sinnliche Beobachtung gar
nicht wahrzunehmen. Für den letztern Fall ist Goethe überzeugt, daß in
jedem Tiere das, was von dem allgemeinen Typus an ihm nicht sichtbar,
doch in der Idee vorhanden ist.


   "Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug
    Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa
    Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste.
    Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel.
    Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern
    Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirn getragen,
    Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter
    Ganz unmöglich zu bilden und böte sie alle Gewalt auf;
    Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne
    Völlig zu pflanzen und auch ein Geweih und Hörner zu treiben."

                                            (Metamorphose der Tiere).


Im Urorganismus sind alle Glieder ausgebildet und halten sich das
Gleichgewicht; die Mannigfaltigkeit des Einzelnen entsteht dadurch,
daß die Kraft der Bildung sich auf das eine Glied wirft und dafür ein
anderes in der äußern Erscheinung gar nicht oder nur andeutungsweise
entwickelt. Dieses Gesetz des tierischen Organismus nennt man heute
das von der Korrelation oder Kompensation der Organe.



Goethe denkt sich in der Urpflanze die ganze Pflanzenwelt, in dem
Urtiere die ganze Tierwelt der Idee nach enthalten. Aus diesem
Gedanken entsteht die Frage: wie kommt es, daß in dem einen Falle
diese bestimmten Pflanzen- oder Tierformen, in dem andern Falle
jene entstehen? Unter welchen Bedingungen wird aus dem Urtiere ein
Fisch? Unter welchen ein Vogel? Goethe findet zur Erklärung des Baues
der Organismen in der Wissenschaft eine Vorstellungsart vor, die ihm
zuwider ist. Die Anhänger dieser Vorstellungsart fragen bei jedem
Organ: wozu dient es dem Lebewesen, an dem es vorkommt? Einer solchen
Frage liegt der allgemeine Gedanke zu Grunde, daß ein göttlicher
Schöpfer oder die Natur jedem Wesen einen bestimmten Lebenszweck
vorgesetzt und ihm dann einen solchen Bau gegeben habe, daß es diesen
Zweck erfüllen kann. Goethe findet eine solche Frage ebenso ungereimt,
wie etwa die: zu welchem Zwecke bewegt sich eine elastische Kugel, wenn
sie von einer andern gestoßen wird? Eine Erklärung der Bewegung kann
nur gegeben werden durch Auffinden des Gesetzes, nach welchem die Kugel
durch einen Stoß oder eine andere Ursache in Bewegung versetzt worden
ist. Man fragt nicht: wozu dient die Bewegung der Kugel, sondern: woher
entspringt sie? Ebenso soll man, nach Goethes Meinung, nicht fragen:
wozu hat der Stier Hörner, sondern: wie kann er Hörner haben. Durch
welche Gesetze tritt in dem Stiere das Urtier als hörnertragende Form
auf? Goethe hat die Idee der Urpflanze und des Urtieres gesucht, um in
ihnen die Erklärungsgründe für die Mannigfaltigkeit der organischen
Formen zu finden. Die Urpflanze ist das schaffende Element in der
Pflanzenwelt. Will man eine einzelne Pflanzenart erklären, so muß
man zeigen, wie dieses schaffende Element in dem besonderen Falle
wirkt. Die Vorstellung, ein organisches Wesen verdanke seine Gestalt
nicht den in ihm wirkenden und bildenden Kräften, sondern sie sei
ihm zu gewissen Zwecken von außen aufgedrängt, wirkt auf Goethe
geradezu abstoßend. Er schreibt: "Neulich fand ich in einer leidig
apostolisch kapuzinermäßigen Deklamation des Züricher Propheten die
unsinnigen Worte: Alles, was Leben hat, lebt durch etwas außer sich
-- oder so ungefähr klang's. Das kann nun so ein Heidenbekehrer
hinschreiben, und bei der Revision zupft ihn der Genius nicht
beim Ärmel" (ital. Reise, 5. Oktober 1787). Goethe denkt sich das
organische Wesen als eine kleine Welt, die durch sich selbst da ist
und sich nach ihren Gesetzen gestaltet. "Die Vorstellungsart, daß ein
lebendiges Wesen zu gewissen Zwecken nach außen hervorgebracht sei
und seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft dazu determiniert
werde, hat uns in der philosophischen Betrachtung der natürlichen
Dinge schon mehrere Jahrhunderte aufgehalten, und hält uns noch auf,
obgleich einzelne Männer diese Vorstellungsart eifrig bestritten, die
Hindernisse, welche sie in den Weg legt, gezeigt haben ... Es ist,
wenn man sich so ausdrücken darf, eine triviale Vorstellungsart,
die eben deswegen, wie alle trivialen Dinge, trivial ist, weil
sie der menschlichen Natur im ganzen bequem und zureichend ist"
(vergl. Weimarische Goethe-Ausgabe, 2. Abteil., Band 7 S. 217 f.). Es
ist allerdings bequem zu sagen: ein Schöpfer hat bei Erschaffung
einer organischen Art einen gewissen Zweckgedanken zu Grunde gelegt,
und ihr deswegen eine bestimmte Gestalt gegeben. Goethe will aber
die Natur nicht aus den Absichten irgend eines göttlichen Wesens,
sondern aus den in ihr selbst liegenden Bildungsgesetzen erklären. Eine
einzelne organische Form entsteht dadurch, daß Urpflanze oder Urtier
in einem besonderen Falle sich eine bestimmte Gestalt geben. Diese
Gestalt muß eine solche sein, daß die Form innerhalb der Bedingungen,
in denen sie lebt, auch leben kann. "Die Existenz eines Geschöpfes,
das wir Fisch nennen, ist nur unter der Bedingung eines Elementes,
das wir Wasser nennen, möglich" (Weimarische Ausgabe, 2. Abteil.,
Band 7 S. 221). Will Goethe begreifen, welche Bildungsgesetze eine
bestimmte organische Form hervorbringen, so hält er sich an seinen
Urorganismus. In ihm liegt die Kraft, sich in den mannigfaltigsten
äußeren Gestalten zu verwirklichen. Um einen Fisch zu erklären,
würde Goethe untersuchen, welche Bildungskräfte das Urtier anwendet,
um von allen Gestalten, die der Idee nach in ihm liegen, gerade die
Fischgestalt hervorzubringen. Würde das Urtier innerhalb gewisser
Verhältnisse sich in einer Gestalt verwirklichen, in der es nicht
leben kann, so ginge es zu Grunde. Erhalten kann sich eine organische
Form innerhalb gewisser Lebensbedingungen nur, wenn es denselben
angepaßt ist.


   "Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,
    Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten
    Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung,
    Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen."

                                            (Metamorphose der Tiere.)


Die in einem gewissen Lebenselemente dauernden organischen Formen
sind durch die Natur dieses Elementes bedingt. Wenn eine organische
Form aus einem Lebenselemente in ein anderes käme, so müßte sie sich
entsprechend verändern. Das wird in bestimmten Fällen eintreten können,
denn der ihr zu Grunde liegende Urorganismus hat die Fähigkeit,
sich in unzähligen Gestalten zu verwirklichen. Die Umwandlung der
einen Form in die andere ist aber, nach Goethes Ansicht, nicht so zu
denken, daß die äußeren Verhältnisse die Form unmittelbar nach sich
umbilden, sondern so, daß sie die Veranlassung werden, durch die
sich die innere Wesenheit verwandelt. Veränderte Lebensbedingungen
reizen die organische Form, sich nach inneren Gesetzen in einer
gewissen Weise umzubilden. Die äußeren Einflüsse wirken mittelbar,
nicht unmittelbar auf die Lebewesen. Unzählige Lebensformen sind in
Urpflanze und Urtier der Idee nach enthalten; diejenigen kommen zur
thatsächlichen Existenz, auf welche äußere Einflüsse als Reize wirken.



Die Vorstellung, daß eine Pflanzen- oder Tierart sich im Laufe
der Zeiten durch gewisse Bedingungen in eine andere verwandelt,
hat innerhalb der Goetheschen Naturanschauung ihre volle
Berechtigung. Goethe stellt sich vor, daß die Kraft, welche im
Fortpflanzungsvorgang ein neues Individuum hervorbringt, nur eine
Umwandlung derjenigen Kraftform ist, die auch die fortschreitende
Umbildung der Organe im Verlaufe des Wachstums bewirkt. Die
Fortpflanzung ist ein Wachstum über das Individuum hinaus. Wie
das Grundorgan während des Wachstums eine Folge von Veränderungen
durchläuft, die der Idee nach gleich sind, so kann auch bei der
Fortpflanzung eine Umwandlung der äußeren Gestalt unter Festhaltung des
ideellen Urbildes stattfinden. Wenn eine ursprüngliche Organismenform
vorhanden war, so konnten die Nachkommen derselben im Laufe großer
Zeiträume durch allmähliche Umwandlung in die gegenwärtig die Erde
bevölkernden mannigfaltigen Formen übergehen. Der Gedanke einer
tatsächlichen Blutsverwandtschaft aller organischen Formen fließt
aus den Grundanschauungen Goethes. Er hätte ihn sogleich nach der
Konzeption seiner Ideen von Urtier und Urpflanze in vollkommener Form
aussprechen können. Aber er drückt sich, wo er diesen Gedanken berührt,
zurückhaltend, ja unbestimmt aus. In dem Aufsatz: "Versuch einer
allgemeinen Vergleichungslehre", der nicht lange nach der "Metamorphose
der Pflanzen" entstanden sein dürfte, ist zu lesen: "Und wie würdig
ist es der Natur, daß sie sich immer derselben Mittel bedienen muß, um
ein Geschöpf hervorzubringen und es zu ernähren! So wird man auf eben
diesen Wegen fortschreiten und, wie man nur erst die unorganisierten,
undeterminierten Elemente als Vehikel der organisierten Wesen
angesehen, so wird man sich nunmehr in der Betrachtung erheben und
wird die organisierte Welt wieder als einen Zusammenhang von vielen
Elementen ansehen. Das ganze Pflanzenreich z. B. wird uns wieder
als ein ungeheures Meer erscheinen, welches ebensogut zur bedingten
Existenz der Insekten nötig ist als das Weltmeer und die Flüsse zur
bedingten Existenz der Fische, und wir werden sehen, daß eine ungeheure
Anzahl lebender Geschöpfe in diesem Pflanzenozean geboren und ernährt
werde, ja wir werden zuletzt die ganze tierische Welt wieder nur als
ein großes Element ansehen, wo ein Geschlecht auf dem andern und durch
das andere, wo nicht entsteht, doch sich erhält." Rückhaltloser ist
folgender Satz der "Vorträge über die drei ersten Kapitel des Entwurfs
einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie" (1796):
"Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu können,
daß alle vollkommenern organischen Naturen, worunter wir Fische,
Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letztern den
Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in
seinen beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und herneigt und sich
noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet." Goethes Vorsicht
dem Umwandlungsgedanken gegenüber ist begreiflich. Der Zeit, in welcher
er seine Ideen ausbildete, war dieser Gedanke nicht fremd. Aber sie
hatte ihn in der wüstesten Weise ausgebildet. "Die damalige Zeit
(schreibt Goethe 1807, vergl. Kürschners Nat.-Litt., Goethes Werke
Band 33 S. 12) jedoch war dunkler, als man es sich jetzt vorstellen
kann. Man behauptete zum Beispiel, es hänge nur vom Menschen ab, bequem
auf allen vieren zu gehen, und Bären, wenn sie sich eine Zeit lang
aufrecht hielten, könnten zu Menschen werden. Der verwegene Diderot
wagte gewisse Vorschläge, wie man ziegenfüßige Faune hervorbringen
könne, um solche in Livrée, zu besonderem Staat und Auszeichnung, den
Großen und Reichen auf die Kutsche zu stiften." Mit solchen unklaren
Vorstellungen wollte Goethe nichts zu thun haben. Ihm lag daran,
eine Idee von den Grundgesetzen des Lebendigen zu gewinnen. Dabei
wurde ihm klar, daß die Gestalten des Lebendigen nichts Starres,
Unveränderliches, sondern daß sie in einer fortwährenden Umbildung
begriffen sind. Wie diese Umbildung sich im einzelnen vollzieht,
festzustellen, dazu fehlten ihm die Beobachtungen. Erst Darwins
Forschungen und Häckels geistvolle Reflexionen haben einiges Licht auf
die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse einzelner organischer
Formen geworfen. Vom Standpunkt der Goetheschen Weltanschauung
kann man sich den Behauptungen des Darwinismus gegenüber, soweit
sie das tatsächliche Hervorgehen einer organischen Art aus der
andren betreffen, nur zustimmend verhalten. Goethes Ideen dringen
aber tiefer in das Wesen des Organischen ein als der Darwinismus
der Gegenwart. Dieser glaubt die im Organischen gelegenen inneren
Triebkräfte, die sich Goethe unter dem sinnlich-übersinnlichen
Bilde vorstellt, entbehren zu können. Ja er spricht Goethe sogar die
Berechtigung ab, von seinen Voraussetzungen aus von einer wirklichen
Umwandlung der Organe und Organismen zu sprechen. Jul. Sachs weist
Goethes Gedanken mit den Worten zurück, er übertrage "die vom
Verstand vollzogene Abstraktion auf das Objekt selbst, indem er
diesem eine Metamorphose zuschreibt, die sich im Grunde genommen
nur in unserem Begriffe vollzogen hat." Goethe soll, nach dieser
Ansicht, nichts weiter gethan haben als Laubblätter, Kelchblätter,
Blumenblätter u. s. w. unter einen allgemeinen Begriff gebracht und
mit dem Namen Blatt bezeichnet haben. "Ganz anders freilich wäre
die Sache, wenn ... wir annehmen dürften, daß bei den Vorfahren der
uns vorliegenden Pflanzenform die Staubfäden gewöhnliche Blätter
waren u. s. w." (Sachs, Geschichte der Botanik 1875 S. 169). Diese
Ansicht entspringt dem Tatsachenfanatismus, der nicht einsehen kann,
daß die Ideen ebenso objektiv zu den Dingen gehören, wie das, was
man mit den Sinnen wahrnehmen kann. Goethe ist der Ansicht, daß von
Verwandlung eines Organes in das andere nur gesprochen werden kann,
wenn beide außer ihrer äußeren Erscheinung noch etwas enthalten, das
ihnen gemeinsam ist. Dies ist die sinnlich-übersinnliche Form. Das
Staubgefäß einer uns vorliegenden Pflanzenform kann nur dann als das
umgewandelte Blatt der Vorfahren bezeichnet werden, wenn in beiden
die gleiche sinnlich-übersinnliche Form lebt. Ist das nicht der
Fall, entwickelt sich an der uns vorliegenden Pflanzenform einfach
an derselben Stelle ein Staubgefäß, an der sich bei den Vorfahren
ein Blatt entwickelt hat, dann hat sich nichts verwandelt, sondern
es ist an die Stelle des einen Organs ein anderes getreten. Der
Zoologe Oskar Schmidt fragt: "Was sollte denn auch nach Goethes
Anschauungen umgebildet werden? Das Urbild doch nicht" (War Goethe
Darwinianer? Graz 1871 S. 22). Gewiß wandelt sich nicht das Urbild
um, denn dieses ist ja in allen Formen das gleiche. Aber eben weil
dieses gleich bleibt, können die äußeren Gestalten verschieden sein
und doch ein einheitliches Ganzes darstellen. Könnte man nicht in zwei
auseinander entwickelten Formen das gleiche ideelle Urbild erkennen,
so könnte keine Beziehung zwischen ihnen angenommen werden. Erst
durch die Vorstellung der ideellen Urform kann man mit der Behauptung,
die organischen Formen entstehen durch Umbildung auseinander, einen
wirklichen Sinn verbinden. Wer nicht zu dieser Vorstellung sich
erhebt, der bleibt innerhalb der bloßen Tatsachen stecken. In ihr
liegen die Gesetze der organischen Entwicklung. Wie durch Kepplers
drei Grundgesetze die Vorgänge im Sonnensystem begreiflich sind,
so durch Goethes ideelle Urbilder die Gestalten der organischen Natur.



Kant, der dem menschlichen Geiste die Fähigkeit abspricht, ein
Ganzes ideell zu durchdringen, durch welches ein Mannigfaltiges in
der Erscheinung bestimmt wird, nennt es ein "gewagtes Abenteuer der
Vernunft", wenn jemand die einzelnen Formen der organischen Welt aus
einem Urorganismus erklären wollte. Für ihn ist der Mensch nur im
stande, die mannigfaltigen Einzelerscheinungen in einen allgemeinen
Begriff zusammenzufassen, durch den sich der Verstand ein Bild macht
von der Einheit. Dieses Bild ist aber nur im menschlichen Geiste
vorhanden und hat nichts zu thun mit der schaffenden Gewalt, durch
welche die Einheit wirklich die Mannigfaltigkeit aus sich hervorgehen
läßt. Das "gewagte Abenteuer der Vernunft" bestände darin, daß jemand
annähme, die Erde ließe aus ihrem Mutterschoß erst einfache Organismen
von minder zweckmäßiger Bildung hervorgehen, die aus sich zweckmäßigere
Formen gebären. Daß ferner aus diesen noch höhere sich entwickeln bis
hinauf zu den vollkommensten Lebewesen. Wenn auch jemand eine solche
Annahme machte, meint Kant, so könne er doch nur eine absichtsvolle
Schöpferkraft zu Grunde legen, welche der Entwicklung einen solchen
Anstoß gegeben hat, daß sich alle ihre einzelnen Glieder zweckmäßig
entwickeln. Der Mensch nimmt eben eine Vielheit mannigfaltiger
Organismen wahr; und da er nicht in sie hineindringen kann, um zu
sehen, wie sie sich selbst eine Form geben, die dem Lebenselement
angepaßt ist, in dem sie sich entwickeln, so muß er sich vorstellen,
sie seien von außen her so eingerichtet, daß sie innerhalb ihrer
Bedingungen leben können. Goethe legt sich die Fähigkeit bei, zu
erkennen, wie die Natur aus dem Ganzen das Einzelne, aus dem Innern
das Äußere schafft. Was Kant "Abenteuer der Vernunft" nennt, will er
deshalb mutig bestehen (vergl. den Aufsatz "Anschauende Urteilskraft",
Goethes Werke in Kürschners Nat.-Litt. Bd. 34). Wenn wir keinen anderen
Beweis dafür hätten, daß Goethe den Gedanken einer Blutsverwandtschaft
aller organischen Formen als berechtigt anerkennt, wir müßten es aus
diesem Urteil über Kants "Abenteuer der Vernunft" folgern.



Ein noch vorhandener skizzenhafter "Entwurf einer Morphologie" läßt
erraten, daß Goethe den Plan hatte, die besonderen Gestalten in ihrer
Stufenfolge darzustellen, die seine Urpflanze und sein Urtier in
den Hauptformen der Lebewesen annehmen (vergl. Weimar. Ausgabe,
2. Abteil., Band 6 S. 321). Er wollte zuerst das Wesen des
Organischen schildern, wie es ihm bei seinem Nachdenken über
Tiere und Pflanzen aufgegangen. Dann "aus einem Punkte ausgehend"
zeigen, wie das organische Urwesen sich nach der einen Seite zu
der mannigfaltigen Pflanzenwelt, nach der andern zu der Vielheit der
Tierformen entwickelt, wie besonderen Formen der Würmer, Insekten, der
höheren Tiere und die Form des Menschen aus dem allgemeinen Urbilde
abgeleitet werden können. Auch auf die Physiognomik und Schädellehre
sollte ein Licht fallen. Die äußere Gestalt im Zusammenhange mit den
inneren geistigen Fähigkeiten darzustellen, machte sich Goethe zur
Aufgabe. Es drängte ihn, den organischen Bildungstrieb, der sich
in den niederen Organismen in einer einfachen äußeren Erscheinung
darbietet, zu verfolgen in seinem Streben, sich stufenweise in immer
vollkommeneren Gestalten zu verwirklichen, bis er sich in dem Menschen
eine Form giebt, die diesen zum Schöpfer der geistigsten Erzeugnisse
geeignet macht.

Dieser Plan Goethes ist ebensowenig zur Ausführung gekommen wie ein
anderer, zu dem das Fragment "Vorarbeiten zu einer Physiologie der
Pflanzen" ein Anlauf ist (vergl. Weimar. Goethe-Ausgabe, 2. Abteil.,
Band 6 S. 286 ff.). Goethe wollte zeigen, wie alle einzelnen Zweige
des Naturerkennens: Naturgeschichte, Naturlehre, Anatomie, Chemie,
Zoonomie und Physiologie zusammenwirken müssen, um von einer höheren
Anschauungsweise dazu verwendet zu werden, Gestalten und Vorgänge
der Lebewesen zu erklären. Er wollte eine neue Wissenschaft, eine
allgemeine Morphologie der Organismen aufstellen, zwar "nicht dem
Gegenstande nach, denn derselbe ist bekannt, sondern der Ansicht
und der Methode nach, welche sowohl der Lehre selbst eine eigene
Gestalt geben muß, als ihr auch gegen andere Wissenschaften ihren
Platz anzuweisen hat." Was die Anatomie, Naturgeschichte, Naturlehre,
Chemie, Zoonomie, Physiologie an einzelnen Naturgesetzen darbieten,
soll von der lebendigen Vorstellung des Organischen ebenso aufgenommen
und auf eine höhere Stufe gestellt werden, wie das Lebewesen selbst
die einzelnen Naturvorgänge in den Kreis seiner Bildung aufnimmt und
auf eine höhere Stufe des Wirkens stellt.



Goethe ist zu den Ideen, die ihm durch das Labyrinth der lebendigen
Gestalten durchhalfen, auf eigenen Wegen gelangt. Die herrschenden
Anschauungen über wichtige Gebiete des Naturwirkens widersprachen
seiner allgemeinen Weltanschauung. Deshalb mußte er sich selbst
über solche Gebiete Vorstellungen ausbilden, die seinem Wesen gemäß
waren. Er war aber überzeugt, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe,
und daß man "gar wohl in Überlieferungen schon angedeutet finden könne,
was man selbst gewahr wird". Er teilt gelehrten Freunden aus diesem
Grunde seine Schrift über die "Metamorphose der Pflanzen" mit und
bittet sie, ihm darüber Auskunft zu geben, ob über den behandelten
Gegenstand schon etwas geschrieben oder überliefert ist. Er hat
die Freude, daß ihn Friedrich August Wolf, auf einen "trefflichen
Vorarbeiter", Kaspar Friedrich Wolf aufmerksam macht. Goethe macht sich
mit dessen 1759 erschienenen Theoria generationis bekannt. Gerade an
diesem Vorarbeiter aber ist zu beobachten, wie jemand eine richtige
Ansicht über die Tatsachen haben und doch nicht zur vollendeten
Idee der organischen Bildung kommen kann, wenn er nicht fähig ist,
sich durch ein höheres als das sinnliche Anschauungsvermögen in den
Besitz der sinnlich-übersinnlichen Form des Lebens zu setzen. Wolf
ist ein ausgezeichneter Beobachter. Er sucht durch mikroskopische
Untersuchungen sich über die Anfänge des Lebens aufzuklären. Er
erkennt in dem Kelch, der Blumenkrone, den Staubgefäßen, dem Stempel,
dem Samen umgewandelte Blätter. Aber er schreibt die Umwandlung
einer allmählichen Abnahme der Lebenskraft zu, die in dem Maße
sich vermindern soll, als die Vegetation länger fortgesetzt wird,
um endlich ganz zu verschwinden. Kelch, Krone u. s. w. sind ihm daher
eine unvollkommene Ausbildung der Blätter. Wolf ist als Gegner Hallers
aufgetreten, der die Präformations- oder Einschachtelungslehre
vertrat. Nach dieser sollten alle Glieder eines ausgewachsenen
Organismus im Keim schon im Kleinen vorgebildet sein, und zwar in
derselben Gestalt und gegenseitigen Anordnung wie im vollendeten
Lebewesen. Die Entwicklung eines Organismus ist demzufolge nur eine
Auswicklung des schon Vorhandenen. Wolf ließ nur das gelten, was er
mit Augen sah. Und da der eingeschachtelte Zustand eines Lebewesens
auch durch die sorgfältigsten Beobachtungen nicht zu entdecken war,
betrachtete er die Entwicklung als eine wirkliche Neubildung. Die
Gestalt eines organischen Wesens ist, nach seiner Ansicht, im Keime
noch nicht vorhanden. Goethe ist derselben Meinung in Bezug auf die
äußere Erscheinung. Auch er lehnt die Einschachtelungslehre Hallers
ab. Für Goethe ist der Organismus im Keime zwar vorgebildet, aber
nicht der äußeren Erscheinung, sondern der Idee nach. Die äußere
Erscheinung betrachtet auch er als eine Neubildung. Aber er wirft
Wolf vor, daß dieser da, wo er nichts mit den Augen des Leibes sieht,
auch mit Geistes-Augen nichts wahrnimmt. Wolf hatte keine Vorstellung
davon, daß etwas der Idee nach doch vorhanden sein kann, auch wenn es
nicht in die äußere Erscheinung tritt. "Deshalb ist er immer bemüht,
auf die Anfänge der Lebensbildung durch mikroskopische Untersuchungen
zu dringen, und so die organischen Embryonen von ihrer frühesten
Erscheinung bis zur Ausbildung zu verfolgen. Wie vortrefflich diese
Methode auch sei, durch die er soviel geleistet hat; so dachte der
treffliche Mann doch nicht, daß es ein Unterschied sei zwischen Sehen
und Sehen, daß die Geistes-Augen mit den Augen des Leibes in stetem
lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät zu
sehen und doch vorbeizusehen. -- Bei der Pflanzenverwandlung sah er
dasselbige Organ sich immerfort zusammenziehen, sich verkleinern;
daß aber dieses Zusammenziehen mit einer Ausdehnung abwechsele, sah
er nicht. Er sah, daß es sich an Volum verringere, und bemerkte nicht,
daß es sich zugleich veredle, und schrieb daher den Weg zur Vollendung,
widersinnig, einer Verkümmerung zu" (33. Band der Goethe-Ausgaben in
Kürschners Nat.-Litt.).



Bis zu seinem Lebensende stand Goethe mit zahlreichen Naturforschern
in persönlichem und schriftlichem Verkehre. Er beobachtete die
Fortschritte der Wissenschaft von den Lebewesen mit dem regsten
Interesse; er sah mit Freuden, wie in diesem Erkenntnisgebiete
Vorstellungsarten Eingang fanden, die sich der seinigen näherten und
wie auch seine Metamorphosenlehre von einzelnen Forschern anerkannt
und fruchtbar gemacht wurde. Im Jahre 1817 begann er seine Arbeiten
zu sammeln und in einer Zeitschrift, die er unter dem Titel "Zur
Morphologie" begründete, herauszugeben. Zu einer Weiterbildung seiner
Ideen über organische Bildung durch eigene Beobachtung oder Reflexion
kam er trotz alledem nicht mehr. Zu einer eingehenderen Beschäftigung
mit solchen Ideen fand er sich nur noch zweimal angeregt. In beiden
Fällen fesselten ihn wissenschaftliche Erscheinungen, in denen er eine
Bestätigung seiner Gedanken fand. Die eine waren die Vorträge, die
K. F. Ph. Martius über die "Vertikal- und Spiraltendenz der Vegetation"
auf den Naturforscherversammlungen in den Jahren 1828 und 29 hielt
und von denen die Zeitschrift "Isis" Auszüge brachte; die andere ein
naturwissenschaftlicher Streit in der französischen Akademie, der im
Jahre 1830 zwischen Geoffroy de Saint-Hilaire und Cuvier ausbrach.

Martius dachte sich das Wachstum der Pflanze von zwei Tendenzen
beherrscht, von einem Streben in der senkrechten Richtung, wovon Wurzel
und Stengel beherrscht werden; und von einem anderen, wodurch Blätter-,
Blütenorgane u. s. w. veranlaßt werden, sich gemäß der Form einer
Spirallinie an die senkrechten Organe anzugliedern. Goethe griff diese
Ideen auf und brachte sie mit seiner Vorstellung von der Metamorphose
in Verbindung. Er schrieb einen längeren Aufsatz (Goethe-Ausgabe in
Kürschners Nat.-Litt. Band 33), in dem er alle seine Erfahrungen über
die Pflanzenwelt zusammenstellte, die ihm auf das Vorhandensein der
zwei Tendenzen hinzudeuten schienen. Er glaubt, daß er diese Tendenzen
in seine Idee der Metamorphose aufnehmen müsse. "Wir mußten annehmen:
es walte in der Vegetation eine allgemeine Spiraltendenz, wodurch in
Verbindung mit dem vertikalen Streben aller Bau, jede Bildung der
Pflanzen nach dem Gesetze der Metamorphose vollbracht wird." Das
Vorhandensein der Spiralgefäße in einzelnen Pflanzenorganen faßt
Goethe als Beweis auf, daß die Spiraltendenz das Leben der Pflanze
durchgreifend beherrscht. "Nichts ist der Natur gemäßer, als daß
sie das, was sie im ganzen intentioniert, durch das Einzelnste
in Wirksamkeit versetzt." "Man trete zur Sommerszeit vor eine im
Gartenboden eingesteckte Stange, an welcher eine Winde (Konvolvel)
von unten an sich fortschlängelnd in die Höhe steigt, sich fest
anschließend ihren lebendigen Wachstum verfolgt. Man denke sich Winde
und Stange, beide gleich lebendig, aus einer Wurzel aufsteigend, sich
wechselweise hervorbringend und so unaufhaltsam fortschreitend. Wer
sich diesen Anblick in ein inneres Anschauen verwandeln kann,
der wird sich den Begriff sehr erleichtert haben. Die rankende
Pflanze sucht das außer sich, was sie sich selbst geben sollte und
nicht vermag." Dasselbe Gleichnis wendet Goethe am 15. März 1832 in
einem Briefe an den Grafen Sternberg an und setzt die Worte hinzu:
"Freilich paßt dies Gleichnis nicht ganz, denn im Anfang mußte die
Schlingpflanze sich um den sich erhebenden Stamm in kaum merklichen
Kreisen herumwinden. Je mehr sie sich aber der oberen Spitze näherte,
desto schneller mußte die Schraubenlinie sich drehen, um endlich
(bei der Blüte) in einem Kreise auf einen Discus sich zu versammeln,
dem Tanze ähnlich, wo man sich in der Jugend gar oft Brust an Brust,
Herz an Herz mit den liebenswürdigsten Kindern selbst wider Willen
gedrückt sah. Verzeih diese Anthropomorphismen." Ferdinand Cohn bemerkt
zu dieser Stelle: "Hätte Goethe nur noch Darwin erlebt! ... wie
würde er sich des Mannes erfreut haben, der durch streng induktive
Methode klare und überzeugende Beweise für seine Ideen zu finden
wußte." Darwin hat von fast allen Pflanzenorganen gezeigt, daß sie in
der Zeit ihres Wachstums die Tendenz zu schraubenförmigen Bewegungen
haben, die er circummutation nennt.

Im September 1830 spricht sich Goethe in einem Aufsatz über den Streit
der beiden Naturforscher Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire aus; im
März 1832 setzt er diesen Aufsatz fort. Der Tatsachenfanatiker Cuvier
trat im Februar und März 1830 in der französischen Akademie gegen die
Ausführungen Geoffroy St. Hilaires auf, der, nach Goethes Meinung, zu
"einer hohen der Idee gemäßen Denkweise gelangt" war. Cuvier ist ein
Meister im Unterscheiden der einzelnen organischen Formen. Geoffroy
bemüht sich, die Analogien in diesen Formen aufzusuchen und den
Nachweis zu führen, die Organisation der Tiere sei "einem allgemeinen,
nur hier und da modifizierten Plan, woher die Unterscheidung derselben
abzuleiten sei, unterworfen". Er strebt die Verwandtschaft der
Geschöpfe zu erkennen und ist der Überzeugung, das Einzelne könne aus
dem Ganzen nach und nach entwickelt werden. Goethe betrachtet Geoffroy
als Gesinnungsgenossen; er spricht das am 2. August 1830 zu Eckermann
mit den Worten aus: "Jetzt ist Geoffroy de Saint-Hilaire entschieden
auf unserer Seite und mit ihm alle bedeutenden Schüler und Anhänger
Frankreichs. Dieses Ereignis ist für mich von ganz unglaublichem
Wert und ich juble mit Recht über den endlichen Sieg einer Sache,
der ich mein Leben gewidmet habe und die vorzüglich auch die meinige
ist." Geoffroy übt eine Denkweise, die auch die Goethes ist, er sucht
in der Erfahrung mit dem sinnlich Mannigfaltigen zugleich auch die Idee
der Einheit zu ergreifen; Cuvier hält sich an das Mannigfaltige, an
das Einzelne, weil ihm bei dessen Betrachtung die Idee nicht zugleich
aufgeht. Geoffroy hat eine richtige Empfindung von dem Verhältnisse
des Sinnlichen zur Idee; Cuvier hat sie nicht. Deshalb bezeichnet er
Geoffroys einziges Prinzip als anmaßlich, ja erklärt es sogar für
untergeordnet. Man kann besonders an Naturforschern die Erfahrung
machen, daß sie absprechend über ein "bloß" Ideelles, Gedachtes
sprechen. Sie haben kein Organ für das Ideelle und kennen daher dessen
Wirkungsweise nicht. Goethe wurde dadurch, daß er dieses Organ in
besonders vollkommener Ausbildung besaß, von seiner allgemeinen
Weltanschauung aus zu seinen tiefen Einsichten in das Wesen des
Lebendigen geführt. Seine Fähigkeit, die Geistes-Augen mit den Augen
des Leibes in stetem lebendigen Bunde wirken zu lassen, machte es ihm
möglich, die einheitliche sinnlich-übersinnliche Wesenheit anzuschauen,
die sich durch die organische Entwicklung hindurchzieht, und diese
Wesenheit auch da anzuerkennen, wo ein Organ sich aus dem andern
herausbildet, durch Umbildung seine Verwandtschaft, seine Gleichheit
mit dem vorhergehenden verbirgt, verleugnet, und sich in Bestimmung
wie in Bildung in dem Grade verändert, daß keine Vergleichung nach
äußeren Kennzeichen mehr mit dem vorhergehenden stattfinden könne
(vergl. den Aufsatz über Joachim Jungius in Goethes Werken, Band
33, Kürschners Nat.-Litt.). Das Sehen mit den Augen des Leibes
vermittelt die Erkenntnis des Sinnlichen und Materiellen; das Sehen
mit Geistes-Augen führt zur Anschauung der Vorgänge im menschlichen
Bewußtsein, zur Beobachtung der Gedanken-, Gefühls- und Willenswelt;
der lebendige Bund zwischen geistigem und leiblichem Auge befähigt zur
Erkenntnis des Organischen, das als sinnlich-übersinnliches Element
zwischen dem rein Sinnlichen und rein Geistigen in der Mitte liegt.



DIE BETRACHTUNG DER FARBENWELT.


DIE ERSCHEINUNGEN DER FARBENWELT.

Goethe wird durch die Empfindung, daß "die hohen Kunstwerke von
Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht"
sind, fortwährend angeregt, diese wahren und natürlichen Gesetze
des künstlerischen Schaffens aufzusuchen. Er ist überzeugt, die
Wirkung eines Kunstwerkes müsse darauf beruhen, daß aus demselben
eine natürliche Gesetzmäßigkeit herausleuchtet. Er will diese
Gesetzmäßigkeit erkennen. Er will wissen, aus welchem Grunde die
höchsten Kunstwerke zugleich die höchsten Naturwerke sind. Es wird ihm
klar, daß die Griechen nach eben den Gesetzen verfuhren, nach denen
die Natur verfährt, als sie "aus der menschlichen Gestalt den Kreis
göttlicher Bildung" entwickelten. (Ital. Reise 28. Jan. 1787). Er
will sehen, wie die Natur diese Bildung zu stande bringt. Um sie
in den Kunstwerken verstehen zu können. Goethe schildert, wie es
ihm in Italien allmählich gelungen ist, zu einer Einsicht in die
natürliche Gesetzmäßigkeit des künstlerischen Schaffens zu kommen
(vergl. Confession des Verfassers, Goethes Werke, Band 36 in Kürschners
Nat.-Litt.). "Zum Glück konnte ich mich an einigen von der Poesie
herübergebrachten, mir durch inneres Gefühl und langen Gebrauch
bewährten Maximen festhalten, so daß es mir zwar schwer, aber nicht
unmöglich ward, durch ununterbrochenes Anschauen der Natur und Kunst,
durch lebendiges wirksames Gespräch mit mehr oder weniger einsichtigen
Kennern, durch stetes Leben mit mehr oder weniger praktischen oder
denkenden Künstlern, nach und nach mir die Kunst überhaupt einzuteilen,
ohne sie zu zerstückeln, und ihre verschiedenen ineinander greifenden
Elemente gewahr zu werden." Nur ein einziges Element will ihm nicht
die natürlichen Gesetze offenbaren, nach denen es im Kunstwerke wirkt:
das Kolorit. Mehrere Gemälde werden "in seiner Gegenwart erfunden
und komponiert, die Teile, der Stellung und der Form nach, sorgfältig
durchstudiert". Die Künstler können ihm Rechenschaft geben, wie sie bei
der Komposition verfahren. Sobald aber die Rede aufs Kolorit kommt,
da scheint alles von der Willkür abzuhängen. Niemand weiß, welcher
Bezug zwischen Farbe und Helldunkel, und zwischen den einzelnen Farben
herrscht. Worauf es beruht, daß Gelb einen warmen und behaglichen
Eindruck macht, Blau die Empfindung der Kälte hervorruft, daß Gelb
und Rotblau nebeneinander eine harmonische Wirkung hervorbringen,
darüber kann Goethe keinen Aufschluß gewinnen. Er sieht ein, daß er
sich mit der Gesetzmäßigkeit der Farbenwelt in der Natur erst bekannt
machen muß, um von da aus in die Geheimnisse des Kolorits einzudringen.

Weder die Begriffe über die physische Natur der Farbenerscheinungen,
die Goethe von seiner Studienzeit her noch im Gedächtnis hatte, noch
die physikalischen Kompendien, die er um Rat fragte, erwiesen sich
für seinen Zweck als fruchtbar. "Wie alle Welt, war ich überzeugt,
daß die sämtlichen Farben im Licht enthalten seien; nie war es mir
anders gesagt worden, und niemals hatte ich die geringste Ursache
gefunden, daran zu zweifeln, weil ich bei der Sache nicht weiter
interessiert war" (Konfession des Verfassers, Goethes Werke in
Kürschners Nat.-Litt. Band 36, 2). Als er aber anfing, interessiert
zu sein, da fand er, daß er aus dieser Ansicht "nichts für seinen
Zweck entwickeln konnte". Der Begründer dieser Ansicht, die Goethe
bei den Naturforschern herrschend fand, und die heute noch dieselbe
Stellung einnimmt, ist Newton. Sie behauptet, das weiße Licht, wie es
von der Sonne ausgeht, ist aus farbigen Lichtern zusammengesetzt. Die
Farben entstehen dadurch, daß die einzelnen Bestandteile aus dem weißen
Lichte ausgesondert werden. Läßt man durch eine kleine runde Öffnung
Sonnenlicht in ein dunkles Zimmer treten, und fängt es auf einem weißen
Schirme, der senkrecht gegen die Richtung des einfallenden Lichtes
gestellt wird, auf, so erhält man ein weißes Sonnenbild. Stellt man
zwischen die Öffnung und den Schirm ein Glasprisma, durch welches das
Licht durchstrahlt, so verändert sich das weiße runde Sonnenbild. Es
erscheint verschoben, in die Länge gezogen und farbig. Man nennt
dieses Bild Sonnenspektrum. Bringt man das Prisma so an, daß die
oberen Partien des Lichtes einen kürzeren Weg innerhalb der Glasmasse
zurückzulegen haben als die unteren, so ist das farbige Bild nach unten
verschoben. Der obere Rand des Bildes ist rot, der untere violett;
das Rote geht nach unten in Gelb, das Violette nach oben in Blau
über; die mittlere Partie des Bildes ist im allgemeinen weiß. Nur
bei einer gewissen Entfernung des Schirmes vom Prisma verschwindet
das Weiße in der Mitte vollständig; das ganze Bild erscheint farbig,
und zwar von oben nach unten in der Folge: rot, orange, gelb, grün,
hellblau, indigo, violett. Aus diesem Versuche schließen Newton und
seine Anhänger, daß die Farben ursprünglich in dem weißen Lichte
enthalten seien, aber miteinander vermischt. Durch das Prisma werden
sie voneinander gesondert. Sie haben die Eigenschaft, beim Durchgange
durch einen durchsichtigen Körper verschieden stark von ihrer Richtung
abgelenkt, das heißt gebrochen zu werden. Das rote Licht wird am
wenigsten, das violette am meisten gebrochen. Nach der Stufenfolge
ihrer Brechbarkeit erscheinen sie im Spektrum. Betrachtet man einen
schmalen Papierstreifen auf schwarzem Grunde durch ein Prisma, so
erscheint derselbe ebenfalls abgelenkt. Er ist zugleich breiter
und an seinen Rändern farbig. Der obere Rand erscheint violett,
der untere rot; das Violette geht auch hier ins Blaue, das Rote
ins Gelbe über; die Mitte ist im allgemeinen weiß. Nur bei einer
gewissen Entfernung des Prismas von dem Streifen erscheint dieser
ganz farbig. In der Mitte erscheint wieder das Grün. Auch hier soll
das Weiße des Papierstreifens in seine farbigen Bestandteile zerlegt
sein. Daß nur bei einer gewissen Entfernung des Schirmes oder Streifens
vom Prisma alle Farben erscheinen, während sonst die Mitte weiß ist,
erklären die Newtonianer einfach. Sie sagen: In der Mitte fallen
die stärker abgelenkten Lichter vom oberen Teil des Bildes mit den
schwächer abgelenkten vom unteren zusammen und vermischen sich zu
Weiß. Nur an den Rändern erscheinen die Farben, weil hier in die am
schwächsten abgelenkten Lichtteile keine stärker abgelenkten von oben
und in die am stärksten abgelenkten keine schwächer abgelenkten von
unten hineinfallen können.

Dies ist die Ansicht, aus der Goethe für seinen Zweck nichts entwickeln
kann. Er will deshalb die Erscheinungen selbst beobachten. Er wendet
sich an Hofrat Büttner in Jena, der ihm die Apparate leihweise
überläßt, mit denen er die nötigen Versuche anstellen kann. Er ist
zunächst mit andern Arbeiten beschäftigt und will, auf Büttners
Drängen, die Apparate wieder zurückgeben. Vorher nimmt er doch noch
ein Prisma zur Hand, um durch dasselbe auf eine völlig geweißte
Wand zu sehen. Er erwartet, daß sie in verschiedenen Stufen gefärbt
erscheine. Aber sie bleibt weiß. Nur an den Stellen, wo das Weiße an
Dunkles stößt, treten Farben auf. Die Fensterstäbe erscheinen in den
allerlebhaftesten Farben. Aus diesen Beobachtungen glaubt Goethe zu
erkennen, daß die Newtonsche Anschauung falsch sei, daß die Farben
nicht im weißen Lichte enthalten seien. Die Grenze, das Dunkle,
müsse mit der Entstehung der Farben etwas zu tun haben. Er setzt
die Versuche fort. Weiße Flächen auf schwarzem und schwarze Flächen
auf weißem Grunde werden betrachtet. Allmählich bildet er sich eine
eigene Ansicht. Eine weiße Scheibe auf schwarzem Grunde erscheint
beim Durchblicken durch das Prisma verschoben. Die oberen Partien der
Scheibe, meint Goethe, schieben sich über das angrenzende Schwarz des
Untergrundes; während sich dieser Untergrund über die unteren Partien
der Scheibe hinzieht. Sieht man nun durch das Prisma, so erblickt man
durch den oberen Scheibenteil den schwarzen Grund wie durch einen
weißen Schleier. Besieht man sich den unteren Teil der Scheibe, so
scheint dieser durch das übergelagerte Dunkle hindurch. Oben wird
ein Helles über ein Dunkles geführt; unten ein Dunkles über ein
Helles. Der obere Rand erscheint blau, der untere gelb. Das Blau
geht gegen das Schwarze zu in Violett; das Gelbe nach unten in ein
Rot über. Wird das Prisma von der beobachteten Scheibe entfernt,
so verbreitern sich die farbigen Ränder; das Blau nach unten; das
Gelb nach oben. Bei hinreichender Entfernung greift das Gelb von
unten über das Blau von oben; durch das Übereinandergreifen entsteht
in der Mitte Grün. Zur Bestätigung dieser Ansicht betrachtet Goethe
eine schwarze Scheibe auf weißem Grunde durch das Prisma. Nun wird
oben ein Dunkles über ein Helles, unten ein Helles über ein Dunkles
geführt. Oben erscheint Gelb, unten Blau. Bei Verbreiterung der Ränder
durch Entfernung des Prismas von der Scheibe wird das untere Blau,
das allmählich gegen die Mitte zu in Violett übergeht, über das obere
Gelb, das in seiner Verbreiterung nach und nach einen roten Ton erhält,
geführt. Es entsteht in der Mitte Pfirsichblüt. Goethe sagte sich:
was für die weiße Scheibe richtig ist, muß auch für die schwarze
gelten. "Wenn sich dort das Licht in so vielerlei Farben auflöst, so
müßte ja hier auch die Finsternis als in Farben aufgelöst angesehen
werden" (Konfession des Verfassers, Goethes Werke in Kürschners
Nat.-Litt. Band 36, 2). Goethe teilt nun seine Beobachtungen und die
Bedenken, die ihm daraus gegen die Newtonsche Anschauung erwachsen
sind, einem ihm bekannten Physiker mit. Dieser erklärt die Bedenken
für unbegründet. Er leitete die farbigen Ränder und das Weiße in der
Mitte, sowie dessen Übergang in Grün, bei gehöriger Entfernung des
Prismas von dem beobachteten Objekt, im Sinne der Newtonschen Ansicht
ab. Ähnlich verhalten sich andere Naturforscher, denen Goethe die
Sache vorlegt. Er setzt die Beobachtungen, für die er gerne Beihilfe
von kundigen Fachleuten gehabt hätte, allein fort. Er läßt ein großes
Prisma aus Spiegelscheiben zusammensetzen, das er mit reinem Wasser
anfüllt. Weil er bemerkt, daß die gläsernen Prismen, deren Querschnitt
ein gleichseitiges Dreieck ist, wegen der starken Verbreiterung der
Farbenerscheinung dem Beobachter oft hinderlich sind: läßt er seinem
großen Prisma den Querschnitt eines gleichschenkeligen Dreieckes
geben, dessen kleinster Winkel nur fünfzehn bis zwanzig Grade groß
ist. Die Versuche, welche in der Weise angestellt werden, daß das
Auge durch das Prisma auf einen Gegenstand blickt, nennt Goethe
subjektiv. Sie stellen sich dem Auge dar, sind aber nicht in der
Außenwelt fixiert. Er will zu diesen auch objektive hinzufügen. Dazu
bedient er sich des Wasserprismas. Das Licht scheint durch ein Prisma
durch, und hinter dem Prisma wird das Farbenbild auf einem Schirme
aufgefangen. Goethe läßt nun das Sonnenlicht durch die Öffnungen
ausgeschnittener Pappen hindurchgehen. Er erhält dadurch einen
erleuchteten Raum, der ringsherum von Dunkelheit begrenzt ist. Diese
begrenzte Lichtmasse geht durch das Prisma und wird durch dasselbe
von ihrer Richtung abgelenkt. Hält man der aus dem Prisma kommenden
Lichtmasse einen Schirm entgegen, so entsteht auf demselben ein Bild,
das im allgemeinen an den Rändern oben und unten gefärbt ist. Ist
das Prisma so gestellt, daß sein Querschnitt von oben nach unten
schmäler wird, so ist der obere Rand des Bildes blau, der untere gelb
gefärbt. Das Blau geht gegen den dunklen Raum in Violett, gegen die
helle Mitte zu in Hellblau über; das Gelbe gegen die Dunkelheit zu in
Rot. Auch bei dieser Erscheinung leitet Goethe die Farbenerscheinung
von der Grenze her. Oben strahlt die helle Lichtmasse in den dunklen
Raum hinein; sie erhellt ein Dunkles, das dadurch blau erscheint. Unten
strahlt der dunkle Raum in die Lichtmasse hinein; er verdunkelt ein
Helles und läßt es gelb erscheinen. Durch Entfernung des Schirmes
von dem Prisma werden die Farbenränder breiter, das Gelbe nähert sich
dem Blauen. Durch Einstrahlung des Blauen in das Gelbe erscheint bei
hinlänglicher Entfernung des Schirmes vom Prisma in der Mitte des
Bildes Grün. Goethe macht sich das Hineinstrahlen des Hellen in das
Dunkle und des Dunklen in das Helle dadurch anschaulich, daß er in
der Linie, in welcher die Lichtmasse durch den dunkeln Raum geht,
eine weiße feine Staubwolke erregt, die er durch feinen, trockenen
Haarpuder hervorbringt. "Die mehr oder weniger farbige Erscheinung
wird nun durch die weißen Atome aufgefangen und dem Auge in ihrer
ganzen Breite und Länge dargestellt" (Farbenlehre, Didaktischer
Teil § 326). Goethe findet seine Ansicht, die er an den subjektiven
Erscheinungen gewonnen, durch die objektiven bestätigt. Die Farben
werden durch das Zusammenwirken von Hell und Dunkel hervorgebracht. Das
Prisma dient nur dazu, Hell und Dunkel übereinander zu schieben.



Goethe kann, nachdem er diese Versuche gemacht hat, die Newtonsche
Ansicht nicht zu der seinigen machen. Es geht ihm mit ihr ähnlich wie
mit der Hallerschen Einschachtelungslehre. Wie diese den ausgebildeten
Organismus bereits mit allen seinen Teilen im Keime enthalten denkt,
so glauben die Newtonianer, daß die Farben, die unter gewissen
Bedingungen am Lichte erscheinen, in diesem schon eingeschlossen
seien. Er könnte gegen diesen Glauben dieselben Worte gebrauchen,
die er der Einschachtelungslehre entgegengehalten hat, sie "beruhe
auf einer bloßen außersinnlichen Einbildung, auf einer Annahme, die
man zu denken glaubt, aber in der Sinnenwelt niemals darstellen kann"
(vgl. den Aufsatz über L. Fr. Wolf im 33. Bande von Goethes Werken,
Kürschners Nat.-Litt.). Ihm sind die Farben Neubildungen, die an
dem Lichte entwickelt werden, nicht Wesenheiten, die aus dem Lichte
bloß ausgewickelt werden. Wegen seiner "der Idee gemäßen Denkweise"
muß er die Newtonsche Ansicht ablehnen. Diese kennt das Wesen des
Ideellen nicht. Nur was tatsächlich vorhanden ist, erkennt sie an. Was
in derselben Weise vorhanden ist wie das Sinnlich-Wahrnehmbare. Und
wo sie die Tatsächlichkeit nicht durch die Sinne nachweisen kann;
da nimmt sie dieselbe hypothetisch an. Weil am Lichte die Farben
sich entwickeln; also der Idee nach schon in demselben enthalten sein
müssen, glaubt sie, sie seien auch tatsächlich, materiell in demselben
enthalten und werden durch das Prisma und die dunkle Umgrenzung nur
hervorgeholt. Goethe weiß, daß die Idee in der Sinnenwelt wirksam ist;
deshalb versetzt er etwas, was als Idee vorhanden ist, nicht in den
Bereich des Tatsächlichen. In der unorganischen Natur wirkt das Ideelle
ebenso wie in der organischen, nur nicht als sinnlich-übersinnliche
Form. Ihre äußere Erscheinung ist ganz materiell, bloß sinnlich. Sie
dringt nicht ein in das Sinnliche; sie durchgeistigt es nicht. Die
Vorgänge der unorganischen Natur verlaufen gesetzmäßig, und diese
Gesetzmäßigkeit stellt sich dem Beobachter als Idee dar. Wenn man
an einer Stelle des Raumes weißes Licht und an einer andern Farben
wahrnimmt, die an demselben entstehen, so besteht zwischen den beiden
Wahrnehmungen ein gesetzmäßiger Zusammenhang, der als Idee vorgestellt
werden kann. Wenn aber jemand diese Idee verkörperlicht und als
Tatsächliches in den Raum hinaus versetzt, das von dem Gegenstande der
einen Wahrnehmung in den der andern hinüberzieht, so entspringt das
aus einer grobsinnlichen Vorstellungsweise. Dieses Grobsinnliche ist
es, was Goethe von der Newtonschen Anschauung zurückstößt. Die Idee
ist es, die einen unorganischen Vorgang in den andern hinüberleitet,
nicht ein Tatsächliches, das von dem einen zu dem andern wandert.



Die Goethesche Weltanschauung kann nur zwei Quellen für alle Erkenntnis
der unorganischen Naturvorgänge anerkennen: dasjenige, was an diesen
Vorgängen sinnlich wahrnehmbar ist, und die ideellen Zusammenhänge
des Sinnlich-Wahrnehmbaren, die sich dem Denken offenbaren. Die
ideellen Zusammenhänge innerhalb der Sinneswelt sind nicht gleicher
Art. Es gibt solche, die unmittelbar einleuchtend sind, wenn sinnliche
Wahrnehmungen nebeneinander oder nacheinander auftreten, und andere,
die man erst durchschauen kann, wenn man sie auf solche der ersten Art
zurückführt. In der Erscheinung, die sich dem Auge darbietet, wenn
es ein Dunkles durch ein Helles ansieht und Blau wahrnimmt, glaubt
Goethe einen Zusammenhang der ersten Art zwischen Licht, Finsternis
und Farbe zu erkennen. Ebenso ist es, wenn Helles durch ein Dunkles
angeschaut gelb ergibt. Die Randerscheinungen des Spektrums lassen
einen Zusammenhang erkennen, der durch unmittelbares Beobachten klar
wird. Das Spektrum, das in einer Stufenfolge sieben Farben vom Rot bis
zum Violett zeigt, kann nur verstanden werden, wenn man sieht, wie zu
den Bedingungen, durch welche die Randerscheinungen entstehen, andere
hinzugefügt werden. Die einfachen Randerscheinungen haben sich in dem
Spektrum zu einem komplizierten Phänomen verbunden, das nur verstanden
werden kann, wenn man es aus den Grunderscheinungen ableitet. Was in
dem Grundphänomen in seiner Reinheit vor dem Beobachter steht, das
erscheint in dem komplizierten, durch die hinzugefügten Bedingungen,
unrein, modifiziert. Die einfachen Tatbestände sind nicht mehr
unmittelbar zu erkennen. Goethe sucht daher die komplizierten
Phänomene überall auf die einfachen, reinen zurückzuführen. In dieser
Zurückführung sieht er die Erklärung der unorganischen Natur. Vom
reinen Phänomen geht er nicht mehr weiter. In demselben offenbart sich
ein ideeller Zusammenhang sinnlicher Wahrnehmungen, der sich durch
sich selbst erklärt. Das reine Phänomen nennt Goethe Urphänomen. Er
sieht es als müßige Spekulation an, über das Urphänomen weiter
nachzudenken. "Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur aussprechen
darf, um es erklärt zu haben." (Sprüche in Prosa, 36. Band von Goethes
Werken in Kürschners Nat.-Litt.) Ein zusammengesetztes Phänomen wird
erklärt, wenn man zeigt, wie es sich aus Urphänomenen aufbaut.



Die moderne Naturwissenschaft verfährt anders als Goethe. Sie will
die Vorgänge in der Sinnenwelt auf Bewegungen kleinster Körperteile
zurückführen und bedient sich zur Erklärung dieser Bewegungen derselben
Gesetze, durch die sie die Bewegungen begreift, die sichtbar im Raume
vor sich gehen. Diese sichtbaren Bewegungen zu erklären ist Aufgabe
der Mechanik. Wird die Bewegung eines Körpers beobachtet, so fragt
die Mechanik: durch welche Kraft ist er in Bewegung versetzt worden;
welchen Weg legt er in einer bestimmten Zeit zurück; welche Form hat
die Linie, in der er sich bewegt u. s. w. Die Beziehungen der Kraft,
des zurückgelegten Weges, der Form der Bahn sucht sie mathematisch
darzustellen. Nun sagt der Naturforscher: das rote Licht kann auf
eine schwingende Bewegung kleinster Körperteile zurückgeführt werden,
die sich im Raume fortpflanzt. Begriffen wird diese Bewegung dadurch,
daß man die in der Mechanik gewonnenen Gesetze auf sie anwendet. Die
Wissenschaft der unorganischen Natur betrachtet es als ihr Ziel,
allmählich vollständig in angewandte Mechanik überzugehen.



Die moderne Physik fragt nach der Anzahl der Schwingungen
in der Zeiteinheit, welche einer bestimmten Farbenqualität
entsprechen. Aus der Anzahl der Schwingungen, die dem Rot entsprechen
und aus derjenigen, welche dem Violett entsprechen, sucht sie den
physikalischen Zusammenhang der beiden Farben zu bestimmen. Vor ihren
Blicken verschwindet das Qualitative; sie betrachtet das Räumliche
und Zeitliche der Vorgänge. Goethe fragt: welcher Zusammenhang
besteht zwischen Rot und Violett, wenn man vom Räumlichen und
Zeitlichen absieht und bloß das Qualitative der Farben betrachtet. Die
Goethesche Betrachtungsweise hat zur Voraussetzung, daß das Qualitative
wirklich auch in der Außenwelt vorhanden ist und mit dem Zeitlichen
und Räumlichen ein untrennbares Ganzes ist. Die moderne Physik muß
dagegen von der Grundanschauung ausgehen, daß in der Außenwelt nur
Quantitatives, licht- und farblose Bewegungsvorgänge vorhanden seien,
und daß alles Qualitative erst als Wirkung des Quantitativen auf
den sinn- und geistbegabten Organismus entstehe. Wäre diese Annahme
richtig, dann könnten die gesetzmäßigen Zusammenhänge des Qualitativen
auch nicht in der Außenwelt gesucht, sie müssten aus dem Wesen der
Sinneswerkzeuge, des Nervenapparates und des Vorstellungsorganes
abgeleitet werden. Die qualitativen Elemente der Vorgänge wären
dann nicht Gegenstand der physikalischen Untersuchung, sondern der
physiologischen und psychologischen. Dieser Voraussetzung gemäß
verfährt die moderne Naturwissenschaft. Der Organismus übersetzt,
nach ihrer Ansicht, entsprechend der Einrichtung seiner Augen, seines
Sehnervs und seines Gehirns einen Bewegungsvorgang in die Empfindung
des Rot, einen andern in die des Violett. Daher ist alles Äußere der
Farbenwelt erklärt, wenn man den Zusammenhang der Bewegungsvorgänge
durchschaut hat, von denen diese Welt bestimmt wird.

Ein Beweis für diese Ansicht wird in folgender Beobachtung gesucht. Der
Sehnerv empfindet jeden äußeren Eindruck als Lichtempfindung. Nicht nur
Licht, sondern auch ein Stoß oder Druck auf das Auge, eine Zerrung
der Netzhaut bei schneller Bewegung des Auges, ein elektrischer
Strom, der durch den Kopf geleitet wird: das alles bewirkt
Lichtempfindung. Dieselben Dinge empfindet ein anderer Sinn in anderer
Weise. Stoß, Druck, Zerrung, elektrischer Strom bewirken, wenn sie
die Haut erregen, Tastempfindungen. Elektrizität erregt im Ohr eine
Gehör-, auf der Zunge eine Geschmackempfindung. Daraus schließt man,
daß der Empfindungsinhalt, der im Organismus durch eine Einwirkung von
außen auftritt, verschieden ist von dem äußeren Vorgange, durch den er
veranlaßt wird. Die rote Farbe wird von dem Organismus nicht empfunden,
weil sie an einen entsprechenden Bewegungsvorgang draußen im Raume
gebunden ist, sondern weil Auge, Sehnerv und Gehirn des Organismus
so eingerichtet sind, daß sie einen farblosen Bewegungsvorgang in
eine Farbe übersetzen. Das hiermit ausgesprochene Gesetz wurde von
dem Physiologen Johannes Müller, der es zuerst aufgestellt hat,
das Gesetz der spezifischen Sinnesenergieen genannt.

Die angeführte Beobachtung beweist nur, daß der sinn- und geistbegabte
Organismus die verschiedenartigsten Eindrücke in die Sprache der
Sinne übersetzen kann, auf die sie ausgeübt werden. Nicht aber,
daß der Inhalt jeder Sinnesempfindung auch nur im Innern des
Organismus vorhanden ist. Bei einer Zerrung des Sehnervs entsteht
eine unbestimmte, ganz allgemeine Erregung, die nichts enthält,
was veranlaßt, ihren Inhalt in den Raum hinaus zu versetzen. Eine
Empfindung, die durch einen wirklichen Lichteindruck entsteht, ist
inhaltlich unzertrennlich verbunden mit dem Räumlich-Zeitlichen,
das ihr entspricht. Die Bewegung eines Körpers und seine Farbe sind
auf ganz gleiche Weise Wahrnehmungsinhalt. Wenn man die Bewegung
für sich vorstellt, so abstrahiert man von dem, was man noch sonst
an dem Körper wahrnimmt. Wie die Bewegung, so sind alle übrigen
mechanischen und mathematischen Vorstellungen der Wahrnehmungswelt
entnommen. Mathematik und Mechanik entstehen dadurch, daß von dem
Inhalte der Wahrnehmungswelt ein Teil ausgesondert und für sich
betrachtet wird. In der Wirklichkeit gibt es keine Gegenstände
oder Vorgänge, deren Inhalt erschöpft ist, wenn man das an ihnen
begriffen hat, was durch Mathematik und Mechanik auszudrücken
ist. Alles Mathematische und Mechanische ist an Farbe, Wärme und andere
Qualitäten gebunden. Wenn die Physik genötigt ist, anzunehmen, daß der
Wahrnehmung einer Farbe Schwingungen im Raume entsprechen, denen eine
sehr kleine Ausdehnung und eine sehr große Geschwindigkeit eigen ist,
so können diese Bewegungen nur analog den Bewegungen gedacht werden,
die sichtbar im Raume vorgehen. Das heißt, wenn die Körperwelt bis
in ihre kleinsten Elemente bewegt gedacht wird, so muß sie auch
bis in ihre kleinsten Elemente hinein mit Farbe, Wärme und andern
Eigenschaften ausgestattet vorgestellt werden. Wer Farben, Wärme,
Töne u. s. w. als Qualitäten auffaßt, die als Wirkungen äußerer
Vorgänge durch den vorstellenden Organismus nur im Innern desselben
existieren, der muß auch alles Mathematische und Mechanische, das
mit diesen Qualitäten zusammenhängt, in dieses Innere verlegen. Dann
aber bleibt ihm für seine Außenwelt nichts mehr übrig. Das Rot, das
ich sehe, und die Lichtschwingungen, die der Physiker als diesem Rot
entsprechend nachweist, sind in Wirklichkeit eine Einheit, die nur der
abstrahierende Verstand von einander trennen kann. Die Schwingungen
im Raume, die der Qualität "Rot" entsprechen, würde ich als Bewegung
sehen, wenn mein Auge dazu organisiert wäre. Aber ich würde verbunden
mit der Bewegung den Eindruck der roten Farbe haben.

Die moderne Naturwissenschaft versetzt ein unwirkliches Abstraktum,
ein aller Empfindungsqualitäten entkleidetes, schwingendes Substrat
in den Raum und wundert sich, daß nicht begriffen werden kann,
was den vorstellenden mit Nervenapparaten und Gehirn ausgestatteten
Organismus veranlassen kann, diese gleichgiltigen Bewegungsvorgänge
in die bunte, von Wärmegraden und Tönen durchsetzte Sinnenwelt
zu übersetzen. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an, daß der Mensch
wegen einer unüberschreitbaren Grenze seines Erkennens nie verstehen
werde, wie die Tatsache: "ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre
Orgelton, sehe Rot" zusammenhängt mit bestimmten Bewegungen kleinster
Körperteile im Gehirn, welche Bewegungen wieder veranlaßt werden durch
die Schwingungen der geschmack-, geruch-, ton- und farbenlosen Elemente
der äußeren Körperwelt. "Es ist durchaus und für immer unbegreiflich,
daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-,
Sauerstoff- u. s. w. Atomen nicht sollte gleichgiltig sein, wie sie
liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie
liegen und sich bewegen werden" (Grenzen des Naturerkennens, Leipzig
1882 S. 35 f.). Es liegt aber hier durchaus keine Erkenntnisgrenze
vor. Wo im Raume eine Anzahl von Atomen in einer bestimmten Bewegung
ist, da ist notwendig auch eine bestimmte Qualität (z. B. Rot)
vorhanden. Und umgekehrt, wo Rot auftritt, da muß die Bewegung
vorhanden sein. Nur das abstrahierende Denken kann das eine von dem
andern trennen. Wer die Bewegung von dem übrigen Inhalte des Vorganges,
zu dem die Bewegung gehört, in der Wirklichkeit abgetrennt denkt,
der kann den Übergang von dem einen zu dem andern nicht wieder finden.

Nur was an einem Vorgang Bewegung ist, kann wieder von Bewegung
abgeleitet werden; was dem Qualitativen der Farben- und Lichtwelt
angehört, kann auch nur auf ein ebensolches Qualitatives
innerhalb desselben Gebietes zurückgeführt werden. Die Mechanik
führt zusammengesetzte Bewegungen auf einfache zurück, die
unmittelbar begreiflich sind. Die Farbentheorie muß komplizierte
Farbenerscheinungen auf einfache zurückführen, die in gleicher Weise
durchschaut werden können. Ein einfacher Bewegungsvorgang ist ebenso
ein Urphänomen, wie das Entstehen des Gelben aus dem Zusammenwirken
von Hell und Dunkel. Goethe weiß, was die mechanischen Urphänomene für
die Erklärung der unorganischen Natur leisten können. Was innerhalb der
Körperwelt nicht mechanisch ist, das führt er auf Urphänomene zurück,
die nicht mechanischer Art sind. Man hat Goethe den Vorwurf gemacht,
er habe die mechanische Betrachtung der Natur verworfen und sich nur
auf die Beobachtung und Aneinanderreihung des Sinnlich-Anschaulichen
beschränkt (vergl. z. B. Harnack in seinem Buche "Goethe in der
Epoche seiner Vollendung" S. 12). Du Bois-Reymond findet (Goethe und
kein Ende, Leipzig 1883 S. 29): Goethes "Theoretisieren beschränkt
sich darauf, aus einem Urphänomen, wie er es nennt, andere Phänomene
hervorgehen zu lassen, etwa wie ein Nebelbild dem andern folgt, ohne
einleuchtenden ursächlichen Zusammenhang. Der Begriff der mechanischen
Kausalität war es, der Goethe gänzlich abging". Was tut aber die
Mechanik anderes, als verwickelte Vorgänge aus einfachen Urphänomenen
hervorgehen lassen? Goethe hat auf dem Gebiete der Farbenwelt genau
dasselbe gemacht, was der Mechaniker im Gebiete der Bewegungsvorgänge
leistet. Weil Goethe nicht der Ansicht ist, alle Vorgänge in der
unorganischen Natur seien rein mechanische, deshalb hat man ihm
den Begriff der mechanischen Kausalität aberkannt. Wer das thut,
der zeigt nur, daß er selbst im Irrtum darüber ist, was mechanische
Kausalität innerhalb der Körperwelt bedeutet. Goethe bleibt innerhalb
des Qualitativen der Licht- und Farbenwelt stehen; das Quantitative,
Mechanische, das mathematisch auszudrücken ist, überläßt er andern. Er
"hat die Farbenlehre durchaus von der Mathematik entfernt zu halten
gesucht, ob sich gleich gewisse Punkte deutlich genug ergeben,
wo die Beihilfe der Meßkunst wünschenswert sein würde. Aber so
mag auch dieser Mangel zum Vorteil gereichen, indem es nunmehr des
geistreichen Mathematikers Geschäft werden kann, selbst aufzusuchen,
wo denn die Farbenlehre seiner Hilfe bedarf, und wie er zur Vollendung
dieses Teils der Naturlehre das Seinige beitragen kann" (§ 727 des
didaktischen Teiles der Farbenlehre). Die qualitativen Elemente des
Gesichtssinnes: Licht, Finsternis, Farben müssen erst aus ihren eigenen
Zusammenhängen begriffen, auf Urphänomene zurückgeführt werden; dann
kann auf einer höheren Stufe des Denkens untersucht werden, welcher
Bezug besteht zwischen diesen Zusammenhängen und dem Quantitativen,
dem Mechanisch-Mathematischen in der Licht- und Farbenwelt.

Die Zusammenhänge innerhalb des Qualitativen der Farbenwelt will Goethe
in ebenso strengem Sinne auf die einfachsten Elemente zurückführen,
wie das der Mathematiker oder Mechaniker auf seinem Gebiete tut. Die
"Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen, vielmehr das
Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern
zu lernen und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen,
müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten
Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären. Denn eigentlich ist
es die mathematische Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und
Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion offenbart, und ihre
Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, dass dasjenige,
was in Verbindung gebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen
und seiner ganzen Folge da gewesen, in seinem Umfange übersehen und
unter allen Bedingungen richtig und unumstößlich erfunden worden"
(Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt, Goethes Werke in
Kürschners Nat.-Litt. Band 34).



Goethe entnimmt die Erklärungsprinzipien für die Erscheinungen
unmittelbar aus dem Bereich der Beobachtung. Er zeigt, wie innerhalb
der erfahrbaren Welt die Erscheinungen zusammenhängen. Vorstellungen,
welche über das Gebiet der Beobachtung hinausweisen, lehnt er ab. Alle
Erklärungsarten, die das Feld der Erfahrung dadurch überschreiten, daß
sie Faktoren herbeiziehen, die ihrer Wesenheit nach nicht beobachtbar
sind, widersprechen der Goetheschen Weltanschauung. Eine solche
Erklärungsart ist diejenige, welche das Wesen des Lichtes in einem
Lichtstoff sucht, der als solcher nicht selbst wahrgenommen, sondern
nur in seiner Wirkungsweise als Licht beobachtet werden kann. Auch
gehört zu diesen Erklärungsarten die in der modernen Naturwissenschaft
herrschende, nach welcher die Bewegungsvorgänge der Lichtwelt nicht
von den wahrnehmbaren Qualitäten des Gesichtssinnes, sondern von den
kleinsten Teilen des nicht wahrnehmbaren Stoffes ausgeführt werden. Es
widerspricht der Goetheschen Weltanschauung nicht, sich vorzustellen,
daß eine bestimmte Farbe mit einem bestimmten Bewegungsvorgang im
Raume verknüpft sei. Aber es widerspricht ihr durchaus, wenn behauptet
wird, dieser Bewegungsvorgang gehöre einem außerhalb der Erfahrung
gelegenen Wirklichkeitsgebiete an, der Welt des Stoffes, die zwar in
ihren Wirkungen, nicht aber ihrer eigenen Wesenheit nach beobachtet
werden kann. Für einen Anhänger der Goetheschen Weltanschauung sind
die Lichtschwingungen im Raume Vorgänge, denen keine andere Art
von Wirklichkeit zukommt als dem übrigen Wahrnehmungsinhalt. Sie
entziehen sich der unmittelbaren Beobachtung nicht deshalb, weil
sie jenseits des Gebietes der Erfahrung liegen, sondern weil die
menschlichen Sinnesorgane nicht so fein organisiert sind, daß sie
Bewegungen von solcher Kleinheit noch unmittelbar wahrnehmen. Wäre ein
Auge so organisiert, daß es das Hin- und Herschwingen eines Dinges,
das in einer Sekunde sich vierhundert Billionen-Mal wiederholt, noch
in allen Einzelheiten beobachten könnte, so würde sich ein solcher
Vorgang genau so darstellen wie einer der grob-sinnlichen Welt. Das
heißt, das schwingende Ding würde dieselben Eigenschaften zeigen wie
andere Wahrnehmungsdinge.

Jede Erklärungsart, welche die Dinge und Vorgänge der Erfahrung
aus anderen nicht innerhalb des Erfahrungsfeldes gelegenen ableitet,
kann zu inhaltvollen Vorstellungen von diesem jenseits der Beobachtung
befindlichen Wirklichkeitsgebiete nur dadurch gelangen, daß sie gewisse
Eigenschaften aus der Erfahrungswelt entlehnt und auf das Unerfahrbare
überträgt. So überträgt der Physiker Härte, Undurchdringlichkeit auf
die kleinsten Körperelemente, denen er außerdem noch die Fähigkeit
zuschreibt, ihresgleichen anzuziehen und abzustoßen; dagegen erkennt
er diesen Elementen Farbe, Wärme und andere Eigenschaften nicht zu. Er
glaubt einen erfahrbaren Vorgang der Natur dadurch zu erklären, daß
er ihn auf einen nicht erfahrbaren zurückführt. Nach Du Bois-Reymonds
Ansicht ist Naturerkennen Zurückführen der Vorgänge in der Körperwelt
auf Bewegungen von Atomen, die durch deren anziehende und abstoßende
Kräfte bewirkt werden (Grenzen des Naturerkennens, Leipzig 1882,
S. 10). Als das Bewegliche wird dabei die Materie, der den Raum
erfüllende Stoff, angenommen. Dieser Stoff soll von Ewigkeit her
dagewesen sein und wird in alle Ewigkeit hinein da sein. Dem Gebiete
der Beobachtung soll aber die Materie nicht angehören, sondern
jenseits desselben vorhanden sein. Du Bois-Reymond nimmt deshalb an,
daß der Mensch unfähig sei, das Wesen der Materie selbst zu erkennen,
daß er also die Vorgänge der Körperwelt auf etwas zurückführe,
dessen Natur ihm immer unbekannt bleiben wird. "Nie werden wir
besser als heute wissen, was hier im Raume, wo Materie ist, spukt"
(Grenzen des Naturerkennens S. 22). Vor einer genauen Überlegung löst
sich dieser Begriff der Materie in Nichts auf. Der wirkliche Inhalt,
den man diesem Begriffe gibt, ist aus der Erfahrungswelt entlehnt. Man
nimmt Bewegungen innerhalb der Erfahrungswelt wahr. Man fühlt einen
Zug, wenn man ein Gewicht in der Hand hält, und einen Druck, wenn man
auf die horizontal hingehaltene Handfläche ein Gewicht legt. Um diese
Wahrnehmung zu erklären, bildet man den Begriff der Kraft. Man stellt
sich vor, daß die Erde das Gewicht anzieht. Die Kraft selbst kann
nicht wahrgenommen werden. Sie ist ideell. Sie gehört aber doch dem
Beobachtungsgebiete an. Der Geist beobachtet sie, weil er die ideellen
Bezüge der Wahrnehmungen untereinander anschaut. Zu dem Begriffe
einer Abstoßungskraft wird man geführt, wenn man ein Stück Kautschuk
zusammendrückt, und es sich dann selbst überläßt. Es stellt sich in
seiner früheren Gestalt und Größe wieder her. Man stellt sich vor, die
zusammengedrängten Teile des Kautschuks stoßen sich ab und nehmen den
früheren Rauminhalt wieder ein. Solche aus der Beobachtung geschöpfte
Vorstellungen überträgt die angedeutete Denkart auf das unerfahrbare
Wirklichkeitsgebiet. Sie tut in Wirklichkeit also nichts, als ein
Erfahrbares aus einem andern Erfahrbaren herleiten. Nur versetzt
sie willkürlich das letztere in das Gebiet des Unerfahrbaren. Jeder
Vorstellungsart, die von einem Unerfahrbaren spricht, ist nachzuweisen,
daß sie einige Lappen aus dem Gebiete der Erfahrung aufnimmt und in ein
jenseits der Beobachtung gelegenes Wirklichkeitsgebiet verweist. Nimmt
man die Erfahrungslappen aus der Vorstellung des Unerfahrbaren heraus,
so bleibt ein inhaltloser Begriff, ein Unbegriff, zurück. Die Erklärung
eines Erfahrbaren kann nur darin bestehen, daß man es auf ein anderes
Erfahrbares zurückführt. Zuletzt gelangt man zu Elementen innerhalb der
Erfahrung, die nicht mehr auf andere zurückgeführt werden können. Diese
sind nicht weiter zu erklären, weil sie keiner Erklärung bedürftig
sind. Sie enthalten ihre Erklärung in sich selbst. Ihr unmittelbares
Wesen besteht in dem, was sie der Beobachtung darbieten. Ein solches
Element ist für Goethe das Licht. Nach seiner Ansicht hat das Licht
erkannt, wer es unbefangen in der Erscheinung wahrnimmt. Die Farben
entstehen am Lichte und ihre Entstehung wird begriffen, wenn man zeigt,
wie sie an demselben entstehen. Das Licht selbst ist in unmittelbarer
Wahrnehmung gegeben. Was in ihm ideell veranlagt ist, erkennt man,
wenn man beobachtet, welcher Zusammenhang zwischen ihm und den Farben
ist. Nach dem Wesen des Lichtes zu fragen, nach einem Unerfahrbaren,
das der Erscheinung "Licht" entspricht, ist vom Standpunkte der
Goetheschen Weltanschauung aus unmöglich. "Denn eigentlich unternehmen
wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden
wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte
wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges." Das heißt eine vollständige
Darstellung der Wirkungen eines Erfahrbaren umfaßt alle Erscheinungen,
die in ihm ideell veranlagt sind. "Vergebens bemühen wir uns den
Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine
Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird
uns entgegentreten. -- Die Farben sind Taten des Lichtes, Taten und
Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben Aufklärung über das
Licht erwarten." (Didaktischer Teil der Farbenlehre. Vorwort.)



Das Licht stellt sich der Beobachtung dar als "das einfachste,
homogenste, unzerlegteste Wesen, das wir kennen" (Briefwechsel mit
Jacobi S. 167). Ihm entgegengesetzt ist die Finsternis. Für Goethe
ist die Finsternis nicht die vollkommen kraftlose Abwesenheit des
Lichtes. Sie ist ein Wirksames. Sie stellt sich dem Licht entgegen und
tritt mit ihm in Wechselwirkung. Die moderne Naturwissenschaft sieht
die Finsternis an als ein vollkommenes Nichts. Das Licht, das in einen
finstern Raum einströmt, hat, nach dieser Ansicht, keinen Widerstand
der Finsternis zu überwinden. Goethe stellt sich vor, daß Licht und
Finsternis sich zu einander ähnlich verhalten wie der Nord- und Südpol
eines Magneten. Die Finsternis kann das Licht in seiner Wirkungskraft
schwächen. Umgekehrt kann das Licht die Energie der Finsternis
beschränken. In beiden Fällen entsteht die Farbe. Eine physikalische
Anschauung, die sich die Finsternis als das vollkommen Unwirksame
denkt, kann von einer solchen Wechselwirkung nicht sprechen. Sie muß
daher die Farben allein aus dem Lichte herleiten. Die Finsternis tritt
für die Beobachtung ebenso als Erscheinung auf wie das Licht. Das
Dunkel ist in demselben Sinne Wahrnehmungsinhalt wie die Helle. Das
eine ist nur der Gegensatz des andern. Das Auge, das in die Nacht
hinausblickt, vermittelt die reale Wahrnehmung der Finsternis. Wäre
die Finsternis das absolute Nichts, so entstände gar keine Wahrnehmung,
wenn der Mensch in das Dunkel hinaussieht.

Das Gelb ist ein durch die Finsternis gedämpftes Licht; das Blau eine
durch das Licht abgeschwächte Finsternis.



Das Auge ist dazu eingerichtet, dem vorstellenden Organismus die
Erscheinungen der Licht- und Farbenwelt und die Bezüge dieser
Erscheinungen zu vermitteln. Es verhält sich dabei nicht bloß
aufnehmend, sondern tritt in lebendige Wechselwirkung mit den
Erscheinungen. Goethe ist bestrebt, die Art dieser Wechselwirkung
zu erkennen. Er betrachtet das Auge als ein durchaus Lebendiges und
will seine Lebensäußerungen durchschauen. Wie verhält sich das Auge
zu der einzelnen Erscheinung? Wie verhält es sich zu den Bezügen
der Erscheinungen? Das sind Fragen, die er sich vorlegt. Licht und
Finsternis, Gelb und Blau sind Gegensätze. Wie empfindet das Auge
diese Gegensätze? Es muß in der Natur des Auges begründet sein, daß
es die Wechselbeziehungen, die zwischen den einzelnen Wahrnehmungen
bestehen, auch empfinde. Denn "das Auge hat sein Dasein dem Lichte zu
danken. Aus gleichgiltigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht
ein Organ hervor, das seinesgleichen werde; und so bildet sich das Auge
am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußern entgegentrete"
(Didaktischer Teil der Farbenlehre. Einleitung).

So wie Licht und Finsternis sich in der äußeren Natur gegensätzlich
verhalten, so stehen die beiden Zustände einander entgegen, in die
das Auge durch die beiden Erscheinungen versetzt wird. Wenn man
das Auge innerhalb eines finstern Raumes offen hält, so wird ein
gewisser Mangel empfindbar. Wird es dagegen einer stark beleuchteten
weißen Fläche zugewendet, so wird es für eine gewisse Zeit unfähig,
mäßig beleuchtete Gegenstände zu unterscheiden. Das Sehen ins Dunkle
steigert die Empfänglichkeit; dasjenige in das Helle schwächt sie ab.

Jeder Eindruck aufs Auge bleibt eine Zeitlang in demselben. Wer
ein schwarzes Fenster-Kreuz auf einem hellen Hintergrunde ansieht,
wird, wenn er die Augen schließt, die Erscheinung noch eine Weile
vor sich haben. Blickt man, während der Eindruck noch dauert auf
eine hellgraue Fläche, so erscheint das Kreuz hell, der Scheibenraum
dagegen dunkel. Es findet eine Umkehrung der Erscheinung statt. Daraus
folgt, daß das Auge durch den einen Eindruck disponiert wird, den
entgegengesetzten aus sich selbst zu erzeugen. Wie in der Außenwelt
Licht und Finsternis in Beziehung zu einander stehen, so auch die
entsprechenden Zustände im Auge. Goethe stellt sich vor, daß der Ort
im Auge, auf den das dunkle Kreuz fiel, ausgeruht und empfänglich
für einen neuen Eindruck ist. Deshalb wirkt auf ihn die graue Fläche
lebhafter als auf die übrigen Orte im Auge, die vorher das stärkere
Licht von den Fensterscheiben empfangen haben. Hell erzeugt im Auge die
Hinneigung zum Dunkel; Dunkel die zum Hellen. Wenn man ein dunkles Bild
vor eine hellgraue Fläche hält und unverwandt, indem es weggenommen
wird, auf denselben Fleck sieht, so erscheint der Raum, den das dunkle
Bild eingenommen hat, um vieles heller als die übrige Fläche. Ein
graues Bild auf dunklem Grunde erscheint heller als dasselbe Bild auf
hellem. Das Auge wird durch den dunklen Grund disponiert, das Bild
heller, durch den hellen es dunkler zu sehen. Goethe wird durch diese
Erscheinungen auf die große Regsamkeit des Auges verwiesen "und den
stillen Widerspruch, den jedes Lebendige zu äußern gedrungen ist,
wenn ihm irgend ein bestimmter Zustand dargeboten wird. So setzt
das Einatmen schon das Ausatmen voraus und umgekehrt. Es ist die
ewige Formel des Lebens, die sich auch hier äußert. Wie dem Auge das
Dunkle geboten wird, so fordert es das Helle; es fordert Dunkel,
wenn man ihm Hell entgegenbringt und zeigt eben dadurch seine
Lebendigkeit, sein Recht, das Objekt zu fassen, indem es etwas,
das dem Objekt entgegengesetzt ist, aus sich selbst hervorbringt"
(§ 38 des didaktischen Teiles der Farbenlehre).

In ähnlicher Weise wie Licht und Finsternis rufen auch
Farbenwahrnehmungen eine Gegenwirkung im Auge hervor. Man halte ein
kleines Stück gelbgefärbten Papiers vor eine mäßig erleuchtete weiße
Tafel, und schaue unverwandt auf die kleine gelbe Fläche. Nach
einiger Zeit hebe man das Papier hinweg. Man wird die Stelle,
die das Papier ausgefüllt hat, violett sehen. Das Auge wird durch
den Eindruck des Gelb disponiert, das Violett aus sich selbst zu
erzeugen. Ebenso wird das Blaue das Orange, das Rote das Grün als
Gegenwirkung hervorbringen. Jede Farbenempfindung hat also im Auge
einen lebendigen Bezug zu einer andern. Die Zustände, in die das
Auge durch Wahrnehmungen versetzt wird, stehen in einem ähnlichen
Zusammenhange wie die Inhalte dieser Wahrnehmungen in der Außenwelt.



Wenn Licht und Finsternis, Hell und Dunkel aufs Auge wirken, so
tritt ihnen dieses lebendige Organ mit seinen Forderungen entgegen;
wirken sie auf die Dinge draußen im Raume, so treten diese mit
ihnen in Wechselwirkung. Der leere Raum hat die Eigenschaft der
Durchsichtigkeit. Er wirkt auf Licht und Finsternis gar nicht. Diese
scheinen durch ihn in ihrer eigenen Lebhaftigkeit durch. Anders ist es,
wenn der Raum mit Dingen gefüllt ist. Diese Füllung kann eine solche
sein, daß das Auge sie nicht gewahr wird, weil Licht und Finsternis
in ihrer ursprünglichen Gestalt durch sie hindurch scheinen. Dann
spricht man von durchsichtigen Dingen. Scheinen Licht und Finsternis
nicht ungeschwächt durch ein Ding hindurch, so wird es als trüb
bezeichnet. Die trübe Raumausfüllung bietet die Möglichkeit, Licht
und Finsternis, Hell und Dunkel in ihrem gegenseitigen Verhältnis
zu beobachten. Ein Helles durch ein Trübes gesehen erscheint gelb,
ein Dunkles blau. Das Trübe ist ein Materielles, das vom Lichte
durchhellt wird. Gegenüber einem hinter ihm befindlichen helleren,
lebhafteren Licht ist das Trübe dunkel; gegen eine durchscheinende
Finsternis verhält es sich als Helles. Es wirken also, wenn ein
Trübes sich dem Licht oder der Finsternis entgegenstellt, wirklich
ein vorhandenes Helles und ein ebensolches Dunkles ineinander.

Nimmt die Trübe, durch welche das Licht scheint, allmählich zu, so
geht das Gelb in Gelbrot und dann in Rubinrot über. Vermindert sich
die Trübe, durch die das Dunkel dringt, so geht das Blau in Indigo
und zuletzt in Violett über. Gelb und Blau sind Grundfarben. Sie
entstehen durch Zusammenwirken des Hellen oder Dunklen mit der
Trübe. Beide können einen rötlichen Ton annehmen, jenes durch
Vermehrung, dieses durch Verminderung der Trübe. Das Rot ist somit
keine Grundfarbe. Es erscheint als Farbenton an dem Gelben oder
Blauen. Gelb mit seinen rötlichen Nuancen, die sich bis zum reinen
Rot steigern, steht dem Licht nahe, Blau mit seinen Abtönungen ist
der Finsternis verwandt. Wenn sich Blau und Gelb vermischen entsteht
Grün; mischt sich das bis zum Violetten gesteigerte Blau mit dem zum
Roten verfinsterten Gelb, so entsteht die Purpurfarbe.

Diese Grunderscheinungen verfolgt Goethe innerhalb der Natur. Die helle
Sonnenscheibe durch einen Flor von trüben Dünsten gesehen, erscheint
gelb. Der dunkle Weltraum durch die vom Tageslicht erleuchteten
Dünste der Atmosphäre angeschaut, stellt sich als das Blau des Himmels
dar. "Ebenso erscheinen uns auch die Berge blau: denn indem wir sie
in einer solchen Ferne erblicken, daß wir die Lokalfarben nicht mehr
sehen, und kein Licht von ihrer Oberfläche mehr auf unser Auge wirkt,
so gelten sie als ein reiner finsterer Gegenstand, der nun durch die
dazwischen tretenden Dünste blau erscheint" (§ 156 des didaktischen
Teiles der Farbenlehre).



Aus der Vertiefung in die Kunstwerke der Maler ist Goethe das Bedürfnis
erwachsen, in die Gesetze einzudringen, denen die Erscheinungen des
Gesichtssinnes unterworfen sind. Jedes Gemälde gab ihm Rätsel auf. Wie
verhält sich das Hell-Dunkel zu den Farben? In welchen Beziehungen
stehen die einzelnen Farben zu einander? Warum bewirkt Gelb eine
heitere, Blau eine ernste Stimmung? Aus der Newtonschen Farbenlehre
war kein Gesichtspunkt zu gewinnen, von dem aus diese Geheimnisse
zu lüften gewesen wären. Sie leitet alle Farben aus dem Lichte ab,
stellt sie stufenweise nebeneinander und sagt nichts über ihre
Beziehungen zum Dunklen und auch nichts über ihre lebendigen Bezüge
zu einander. Aus den auf eigenem Wege gewonnenen Einsichten konnte
Goethe die Rätsel lösen, die ihm die Kunst aufgegeben hatte. Das Gelb
muß eine heitere, muntere, sanft reizende Eigenschaft besitzen, denn
es ist die nächste Farbe am Licht. Es entsteht durch die gelindeste
Mäßigung desselben. Das Blau weist auf das Dunkle hin, das in ihm
wirkt. Deshalb gibt es ein Gefühl von Kälte, so wie "es auch an
Schatten erinnert". Das rötliche Gelb entsteht durch Steigerung des
Gelben nach der Seite des Dunklen. Durch diese Steigerung wächst seine
Energie. Das Heitere, Muntere geht in das Wonnige über. Sobald die
Steigerung noch weitergeht, vom Rotgelben ins Gelbrote, verwandelt
sich das heitere, wonnige Gefühl in den Eindruck des Gewaltsamen. Das
Violett ist das zum Hellen strebende Blau. Die Ruhe und Kälte des
Blauen wird dadurch zur Unruhe. Eine weitere Zunahme erfährt diese
Unruhe im Blauroten. Das reine Rot steht in der Mitte zwischen
Gelbrot und Blaurot. Das Stürmische des Gelben erscheint gemildert;
die lässige Ruhe des Blauen belebt sich. Das Rote macht den Eindruck
der idealen Befriedigung, der Ausgleichung der Gegensätze. Ein Gefühl
der Befriedigung entsteht auch durch das Grün, das eine Mischung
von Gelb und Blau ist. Weil aber hier das Heitere des Gelben nicht
gesteigert, die Ruhe des Blauen nicht gestört durch den rötlichen
Ton ist, so wird die Befriedigung eine reinere sein als die, welche
das Rot hervorbringt.



Das Auge fordert, wenn ihm eine Farbe entgegengebracht wird, sogleich
eine andere. Erblickt es Gelb, so entsteht in ihm die Sehnsucht nach
dem Violetten; nimmt es Blau wahr, so verlangt es Orange; sieht es Rot,
so begehrt es Grün. Es ist begreiflich, daß das Gefühl der Befriedigung
entsteht, wenn neben eine Farbe, die dem Auge dargeboten wird, eine
andere gesetzt wird, die es seiner Natur nach erstrebt. Aus dem Wesen
des Auges ergibt sich das Gesetz der Farbenharmonie. Farben, die das
Auge nebeneinander fordert, wirken harmonisch. Treten zwei Farben
nebeneinander auf, von denen die eine nicht die andere fordert,
so wird das Auge zur Gegenwirkung aufgeregt. Die Zusammenstellung
von Gelb und Purpur hat etwas Einseitiges, aber Heiteres und
Prächtiges. Das Auge will Violett neben Gelb, um sich naturgemäß
ausleben zu können. Tritt Purpur an die Stelle des Violetten, so macht
der Gegenstand seine Ansprüche gegenüber denen des Auges geltend. Er
fügt sich den Forderungen des Organs nicht. Zusammenstellungen dieser
Art dienen dazu, auf das Bedeutende der Dinge hinzuweisen. Sie wollen
nicht unbedingt befriedigen, sondern charakterisieren. Zu solchen
charakteristischen Verbindungen eignen sich Farben, die nicht in vollem
Gegensatz zu einander stehen, die aber doch auch nicht unmittelbar
ineinander übergehen. Zusammenstellungen der letzteren Art geben den
Dingen, an denen sie vorkommen, etwas Charakterloses.



Das Werden und Wesen der Licht- und Farbenerscheinungen hat sich Goethe
in der Natur offenbart. Er hat es auch wiedererkannt in den Schöpfungen
der Maler, in denen es auf eine höhere Stufe gehoben, ins Geistige
übersetzt ist. Einen tiefen Einblick in das Verhältnis von Natur und
Kunst hat Goethe durch seine Beobachtungen der Gesichtswahrnehmungen
gewonnen. Daran mag er wohl gedacht haben, als er nach Vollendung der
"Farbenlehre" über diese Beobachtungen an Frau von Stein schrieb:
"Es reut mich nicht, ihnen soviel Zeit aufgeopfert zu haben. Ich bin
dadurch zu einer Kultur gelangt, die ich mir von einer andern Seite
schwerlich verschafft hätte."



GEDANKEN ÜBER ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER ERDE UND LUFTERSCHEINUNGEN.


GEDANKEN ÜBER ENTWICKLUNGSGESCHICHTE DER ERDE.

Durch seine Beschäftigung mit dem Ilmenauer Bergbau wurde Goethe
angeregt, das Reich der Mineralien, Gesteine und Felsarten, sowie
die übereinander geschichteten Massen der Erdrinde zu betrachten. Im
Juli 1776 begleitete er den Herzog Karl August nach Ilmenau. Sie
wollten sehen, ob das alte Bergwerk wieder in Bewegung gesetzt werden
könne. Goethe widmete dieser Bergwerksangelegenheit auch weiter seine
Fürsorge. Dabei wuchs in ihm immer mehr der Trieb, zu erkennen, wie
die Natur bei der Bildung der Stein- und Gebirgsmassen verfährt. Er
bestieg die hohen Gipfel und kroch in die Tiefen der Erde, um "der
großen formenden Hand nächste Spuren zu entdecken". Seine Freude, die
schaffende Natur auch von dieser Seite kennen zu lernen, teilte er am
8. September 1780 von Ilmenau aus der Frau von Stein mit. "Jetzt leb'
ich mit Leib und Seel in Stein und Bergen und bin sehr vergnügt über
die weiten Aussichten, die sich mir auftun. Diese zwei letzten Tage
haben mir ein groß Fleck erobert und können auf Vieles schließen. Die
Welt kriegt mir nun ein neu ungeheuer Ansehen." Immer mehr befestigt
sich bei ihm die Hoffnung, daß es ihm gelingen werde, einen Faden zu
spinnen, der durch die unterirdischen Labyrinthe durchführen und eine
Übersicht in der Verwirrung geben könne (Brief an Frau von Stein vom
12. Juni 1784). Allmählich dehnt er seine Beobachtungen über weitere
Gebiete der Erdoberfläche aus. Auf seinen Harzreisen glaubt er zu
erkennen, wie sich große anorganische Massen gestalten. Er schreibt
ihnen die Tendenz zu, sich "in mannigfachen Richtungen zu trennen,
so daß Parallelepipeden entstehen, welche wieder in der Diagonale
sich zu durchschneiden die Geneigtheit haben" (vergl. den Aufsatz
"Gestaltung großer anorganischer Massen" im 34. Bande von Goethes
Werken, Kürschners Nat.-Litt.). Er denkt sich die Steinmassen von einem
ideellen Gitterwerk durchzogen, und zwar sechsseitig. Dadurch werden
kubische, parallelepipedische, rhombische, rhomboidische, säulen-
und plattenförmige Körper aus einer Grundmasse herausgeschnitten. Er
stellt sich innerhalb dieser Grundmasse Kräftewirkungen vor, die sie in
dem Sinne trennen, wie das ideelle Gitterwerk es veranschaulicht. Wie
in der organischen Natur, so sucht Goethe auch in dem Steinreiche
das wirksame Ideelle. Auch hier forscht er mit Geistes-Augen. Wo
die Trennung in regelmäßige Formen nicht in die Erscheinung tritt,
da nimmt er an, daß sie ideell in den Massen vorhanden ist. Auf einer
Harzreise, die er 1784 unternimmt, läßt er von dem ihn begleitenden
Rat Kraus Kreidezeichnungen ausführen, in denen das Unsichtbare,
Ideelle durch das Sichtbare verdeutlicht und zur Anschauung gebracht
ist. Er ist der Ansicht, daß das Tatsächliche vom Zeichner nur dann
wahrhaft dargestellt werden kann, wenn dieser auf die Intentionen
der Natur achtet, die in der äußeren Erscheinung oft nicht deutlich
genug hervortreten.

"Im Übergang aus dem Weichen in das Starre ergibt sich die Scheidung,
sie sei nun dem Ganzen angehörig oder sie ereigne sich im Innersten der
Massen" (Band 34 von Goethes Werken in Kürschners Nat.-Litt. Aufsatz:
"Gebirgs-Gestaltung im ganzen und einzelnen"). In den organischen
Formen ist, nach Goethes Ansicht, ein sinnlich-übersinnliches Urbild
lebendig gegenwärtig; ein Ideelles tritt in die sinnliche Wahrnehmung
ein und durchsetzt sie. In der regelmäßigen Gestaltung anorganischer
Massen wirkt ein Ideelles, das als solches nicht in die sinnliche
Form eingeht, aber doch eine sinnliche Form schafft. Die unorganische
Form ist in der Erscheinung nicht sinnlich-übersinnlich, sondern nur
sinnlich; sie muß aber als Wirkung einer übersinnlichen Kraft aufgefaßt
werden. Sie ist ein Zwischending zwischen dem unorganischen Vorgang,
dessen Verlauf noch von einem Ideellen beherrscht wird, der aber
von demselben keine geschlossene Form erhält, und dem Organischen,
in dem das Ideelle selbst zur sinnlichen Form wird.

Die Bildung zusammengesetzter Gesteine denkt sich Goethe dadurch
bewirkt, daß die ursprünglich nur ideell in einer Masse vorhandenen
Substanzen tatsächlich auseinander getrennt werden. In einem Briefe
an Leonhard, vom 25. November 1807, schreibt er: "So gestehe ich
gern, daß ich da noch oft simultane Wirkungen erblicke, wo Andere
schon eine successive sehen; daß ich in manchem Gestein, das andere
für ein Konglomerat, für ein aus Trümmern Zusammengeführtes und
Zusammengebackenes halten, ein aus einer heterogenen Masse in sich
selbst Geschiedenes und Getrenntes und sodann durch Konsolidation
Festgehaltenes zu schauen glaube."

Goethe ist nicht dazu gekommen, diese Gedanken für eine größere Zahl
unorganischer Formenbildungen fruchtbar zu machen. Es ist seiner
Denkweise gemäß, auch die Anordnung der geologischen Schichten
aus ideellen Bildungsprinzipien zu erklären, die dem Stoff, seinem
Wesen nach, innewohnen. Den damals weit verbreiteten geologischen
Ansichten Werners konnte er sich aus dem Grunde nicht anschließen,
weil dieser solche Bildungsprinzipien nicht kannte, sondern alles
auf die rein mechanischen Wirkungen des Wassers zurückführte. Noch
unsympathischer war ihm der von Hutton aufgestellte und von Alexander
von Humboldt, Leopold von Buch und Anderen verteidigte Vulkanismus,
der die Entwicklung der einzelnen Erdperioden durch gewaltsame
Revolutionen erklärte. Durch vulkanische Kräfte läßt diese Anschauung
große Gebirgssysteme plötzlich aus der Erde emporschießen. Solche
unermeßliche Kraftleistungen schienen Goethe dem Wesen der Natur
zu widersprechen. Er sah keinen Grund, warum die Gesetze der
Erdentwicklung sich zu gewissen Zeiten plötzlich ändern und nach
langandauernder allmählicher Wirksamkeit sich in einem gewissen
Zeitpunkte durch "Heben und Drängen, Aufwälzen und Quetschen,
Schleudern und Schmeißen" äußern sollen. Die Natur erschien ihm in
allen ihren Teilen konsequent, so daß selbst eine Gottheit an den ihr
eingeborenen Gesetzen nichts ändern könnte. Ihre Gesetze hält er für
unwandelbar. Die Kräfte, die heute an der Bildung der Erdoberfläche
wirken, müssen zu allen Zeiten gewirkt haben.

Von diesem Gesichtspunkte aus kommt er auch zu einer naturgemäßen
Ansicht darüber, auf welche Weise die Gesteinsblöcke an ihre
Plätze gelangt sind, die in der Nähe des Genfer Sees zerstreut sich
vorfinden und die, ihrer Beschaffenheit nach, von weit entfernten
Gebirgen abgetrennt sind. Es trat ihm die Meinung entgegen, daß diese
Gesteinsmassen bei dem tumultuarischen Aufstand der weit rückwärts
im Lande gelegenen Gebirge an ihren jetzigen Ort geschleudert worden
seien. Goethe suchte nach Kräften, die gegenwärtig beobachtet werden
können, und die geeignet sind, diese Erscheinung zu erklären. Er
fand solche bei der Bildung der Gletscher tätig. Nun brauchte er
nur anzunehmen, daß die Gletscher, die heute noch das Gestein vom
Gebirge in die Ebenen befördern, einstmals eine ungeheuer viel größere
Ausdehnung gehabt haben als gegenwärtig. Sie haben dann die Steinmassen
viel weiter von den Gebirgen weggetragen als sie es in der Gegenwart
tun. Als die Gletscher wieder an Ausdehnung verloren, sind diese
Gesteine liegen geblieben. In analoger Weise, dachte Goethe, müssen
auch die in der norddeutschen Tiefebene umherliegenden Granitblöcke an
ihre jetzigen Fundorte gelangt sein. Um sich vorstellen zu können,
daß die von erratischen Blöcken bedeckten Landesteile einst von
Gletschereis bedeckt waren, bedarf es der Annahme einer Epoche großer
Kälte. Gemeingut der Wissenschaft wurde diese Annahme durch Agassiz,
der selbständig auf sie kam und sie 1837 in der Schweizerischen
Gesellschaft für Naturforschung darlegte. In neuerer Zeit ist
diese Kälteepoche, die über die Kontinente der Erde hereinbrach,
als bereits ein reiches Tier- und Pflanzenleben entwickelt war, zum
Lieblingsstudium bedeutender Geologen geworden. Was Goethe im Einzelnen
über die Erscheinungen dieser "Eiszeit" vorbringt, ist gegenüber den
Beobachtungen, die spätere Forscher gemacht haben, belanglos.

Ebenso wie zur Annahme einer Epoche großer Kälte wird Goethe durch
seine allgemeine Naturanschauung zu einer richtigen Ansicht über das
Wesen der Versteinerungen geführt. Zwar haben schon frühere Denker
in diesen Gebilden Überreste vorweltlicher Organismen erkannt. Diese
richtige Ansicht ist aber so langsam allgemein herrschend geworden,
daß noch Voltaire die versteinerten Muscheln als Naturspiele
ansehen konnte. Goethe erkannte bald, nachdem er einige Erfahrung
auf diesem Gebiete gewonnen hatte, daß die Versteinerungen als Reste
der Organismen in einem naturgemäßen Zusammenhange mit denjenigen
Erdschichten stehen, in denen sie gefunden werden. Das heißt, daß
diese Organismen in den Epochen der Erde gelebt haben, in denen sich
die entsprechenden Schichten gebildet haben. In dieser Weise spricht
er sich über Versteinerungen in einem Briefe an Merck vom 27. Oktober
1782 aus: "Alle die Knochentrümmer, von denen Du sprichst und die
in dem oberen Sande des Erdreichs überall gefunden werden, sind,
wie ich völlig überzeugt bin, aus der neuesten Epoche, welche aber
doch gegen unsere gewöhnliche Zeitrechnung ungeheuer alt ist. In
dieser war das Meer schon zurückgetreten; hingegen flossen Ströme
noch in großer Breite, doch verhältnismäßig zum Niveau des Meeres,
nicht schneller und vielleicht nicht einmal so schnell als jetzt. Zu
derselbigen Zeit setzte sich der Sand, mit Leimen gemischt, in allen
breiten Thälern nieder, die nach und nach, als das Meer sank, von dem
Wasser verlassen wurden und die Flüsse sich in ihrer Mitte nur geringe
Beete gruben. Zu jener Zeit waren die Elephanten und Rhinocerosse auf
den entblößten Bergen bei uns zu Hause, und ihre Reste konnten gar
leicht durch die Waldströme in jene großen Stromtäler oder Seeflächen
heruntergespült werden, wo sie mehr oder weniger mit dem Steinsaft
durchdrungen sich erhielten und wo wir sie nun mit dem Pfluge oder
durch andere Zufälle ausgraben. In diesem Sinne sagte ich vorher,
man finde sie in dem oberen Sande, nämlich in dem, der durch die
andern Flüsse zusammengespült worden, da schon die Hauptrinde des
Erdbodens völlig gebildet war. Es wird nun bald die Zeit kommen,
wo man Versteinerungen nicht mehr durcheinander werfen, sondern
verhältnismäßig zu den Epochen der Welt rangieren wird."

Goethe ist wiederholt ein Vorläufer der durch Lyell begründeten
Geologie genannt worden. Auch diese nimmt nicht mehr gewaltsame
Revolutionen oder Katastrophen an, um die Entstehung einer Erdperiode
aus der andern zu erklären. Sie führt die früheren Veränderungen der
Erdoberfläche auf dieselben Vorgänge zurück, die sich auch jetzt noch
abspielen. Es darf aber nicht außer acht gelassen werden, daß die
moderne Geologie bloß physikalische und chemische Kräfte heranzieht,
um die Erdbildung zu erklären. Daß dagegen Goethe gestaltende Kräfte
annimmt, die innerhalb der Massen wirksam sind und die eine höhere
Art von Bildungsprinzipien darstellen, als die Physik und Chemie
sie kennen.



BETRACHTUNGEN ÜBER ATMOSPHÄRISCHE ERSCHEINUNGEN.

Im Jahre 1815 lernt Goethe Luke Howards "Versuch einer Naturgeschichte
und Physik der Wolken" kennen. Er wird dadurch zu schärferem Nachdenken
über Wolkenbildungen und Witterungsverhältnisse angeregt. Zwar hat
er schon früher mancherlei Beobachtungen über diese Erscheinungen
gemacht und aufgezeichnet. Das Erfahrene jedoch zusammenzustellen
fehlten ihm "Umsicht und wissenschaftliche Verknüpfungszweige". In
dem Howardschen Aufsatze sind die mannigfaltigen Wolkenbildungen auf
gewisse Grundformen zurückgeführt. Goethe findet nun einen Eingang
in die Witterungskunde, die ihm bisher fremd geblieben ist, weil es
seiner Natur unmöglich war, aus der Art, wie dieser Wissenszweig zu
seiner Zeit behandelt wurde, etwas zu gewinnen. "Den ganzen Komplex
der Witterungskunde, wie er tabellarisch durch Zeichen und Zahlen
aufgestellt wird, zu erfassen, war meiner Natur unmöglich; ich
freute mich, einen integrierenden Teil derselben meiner Neigung und
Lebensweise angemessen zu finden, und weil in diesem unendlichen All
alles in ewiger, sicherer Beziehung steht, eins das andere hervorbringt
oder wechselsweise hervorgebracht wird, so schärfte ich meinen Blick
auf das dem Sinne der Augen Erfaßliche, und gewöhnte mich, die Bezüge
der atmosphärischen und irdischen Erscheinungen mit Barometer und
Thermometer in Einklang zu bringen."

Da der Stand des Barometers in genauem Bezug zu allen
Witterungsverhältnissen steht, so tritt er auch bald für Goethe in den
Mittelpunkt seiner Beobachtungen über atmosphärische Verhältnisse. Je
länger er diese Beobachtungen fortsetzt, um so mehr glaubt er zu
erkennen, daß das Steigen und Fallen des Quecksilbers im Barometer
an verschiedenen "näher und ferner, nicht weniger an unterschiedenen
Längen, Breiten und Höhen gelegenen Beobachtungsorten" so geschieht,
daß einem Steigen oder Fallen an einem Orte ein fast gleich großes
Steigen oder Fallen an allen andern Orten zu gleichen Zeiten
entspricht. Aus dieser Regelmäßigkeit der Barometerveränderungen
zieht Goethe die Folgerung, daß auf dieselben keine außerirdischen
Einflüsse wirken können. Wenn man dem Monde, den Planeten, den
Jahreszeiten einen solchen Einfluß zuschreibt, wenn man von Ebbe
und Flut in der Atmosphäre spricht, so wird die Regelmäßigkeit nicht
erklärt. Alle diese Einflüsse müßten sich zu gleichen Zeiten in der
verschiedensten Weise an verschiedenen Orten geltend machen. Nur wenn
innerhalb der Erde selbst die Ursache für diese Veränderungen liegt,
sind sie erklärbar, meint Goethe. Da nun der Stand des Quecksilbers
von dem Druck der Luft abhängt, so stellt sich Goethe vor, daß
die Erde abwechselnd die ganze Atmosphäre zusammenpreßt und wieder
ausdehnt. Wird die Luft zusammengepreßt, so erhöht sich ihr Druck
und das Quecksilber fällt; das Umgekehrte findet bei der Ausdehnung
statt. Goethe schreibt diese abwechselnde Zusammenziehung und
Ausdehnung der ganzen Luftmasse einer Veränderlichkeit zu, welcher die
Anziehungskraft der Erde unterworfen ist. Das Vermehren und Vermindern
dieser Kraft sieht er in einem gewissen Eigenleben der Erde begründet
und vergleicht es mit dem Ein- und Ausatmen eines Organismus.

Demnach denkt sich Goethe auch die Erde nicht in bloß mechanischer
Weise wirksam. So wenig er die geologischen Vorgänge rein
mechanisch und physikalisch erklärt, ebensowenig thut er dies bei
den Barometerschwankungen. Seine Naturansicht steht in scharfem
Gegensatz zu der modernen. Diese sucht, ihren allgemeinen Grundsätzen
gemäß, die atmosphärischen Vorgänge physikalisch zu begreifen. Die
Temperaturunterschiede in der Atmosphäre bewirken eine Verschiedenheit
des Luftdrucks an verschiedenen Orten, erzeugen Luftströmungen
von wärmeren nach kälteren Gebieten, vermehren oder vermindern
den Feuchtigkeitsgehalt, bringen Wolkenbildungen und Niederschläge
hervor. Aus solchen und ähnlichen Faktoren werden die Schwankungen
des Luftdrucks und damit das Steigen und Fallen des Barometers
erklärt. Auch widerspricht Goethes Vorstellung von einer Vermehrung
und Verminderung der Anziehungskraft den modernen mechanischen
Begriffen. Nach diesen ist die Stärke der Anziehungskraft an einem
Orte stets dieselbe.

Goethe wendet mechanische Vorstellungen nur so weit an, als es ihm
durch die Beobachtung geboten erscheint.



GOETHE UND HEGEL.


GOETHE UND HEGEL.

Goethes Weltbetrachtung geht nur bis zu einer gewissen Grenze. Er
beobachtet die Licht- und Farbenerscheinungen und dringt bis zum
Urphänomen vor; er sucht sich innerhalb der Mannigfaltigkeit
des Pflanzenwesens zurechtzufinden und gelangt zu seiner
sinnlich-übersinnlichen Urpflanze. Von dem Urphänomen oder der
Urpflanze steigt er nicht zu höheren Erklärungsprinzipien auf. Das
überläßt er den Philosophen. Er ist befriedigt, wenn "er sich auf der
empirischen Höhe befindet, wo er rückwärts die Erfahrung in allen ihren
Stufen überschauen, und vorwärts in das Reich der Theorie, wo nicht
eintreten, doch einblicken kann". Goethe geht in der Betrachtung des
Wirklichen so weit, bis ihm die Ideen entgegenblicken. In welchem
Zusammenhange die Ideen untereinander stehen; wie innerhalb des
Ideellen das eine aus dem andern hervorgeht: das sind Aufgaben,
die auf der empirischen Höhe erst beginnen, auf der Goethe stehen
bleibt. Die Idee ist ewig und einzig, meint er. "Daß wir auch den
Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und
wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee." Da aber
doch in der Erscheinung die Idee als eine Vielheit von Einzelideen
auftritt, z. B. Idee der Pflanze, Idee des Tieres, so müssen diese
sich auf eine Grundform zurückführen lassen, wie die Pflanze sich
auf das Blatt zurückführen läßt. Auch die einzelnen Ideen sind nur
in ihrer Erscheinung verschieden; in ihrem wahren Wesen sind sie
identisch. Es ist also ebenso im Sinne der Goetheschen Weltanschauung,
von einer Metamorphose der Ideen wie von einer Metamorphose der
Pflanzen zu reden. Der Philosoph, der diese Metamorphose der Ideen
darzustellen versucht hat, ist Hegel. Er ist dadurch der Philosoph
der Goetheschen Weltanschauung. Von der einfachsten Idee, dem reinen
"Sein", geht er aus. In diesem verbirgt sich die wahrhafte Gestalt
vollständig. Ihr reicher Inhalt wird zum blutarmen Abstractum. Man hat
Hegel vorgeworfen, daß er aus dem reinen "Sein" die ganze inhaltvolle
Welt der Ideen ableitet. Aber das reine Sein enthält "der Idee
nach" die ganze Ideenwelt, wie das Blatt der Idee nach die ganze
Pflanze enthält. Hegel verfolgt die Metamorphosen der Idee von dem
reinen abstrakten Sein bis zu der Stufe, in der die Idee unmittelbar
wirkliche Erscheinung wird. Er betrachtet als diese höchste Stufe die
Erscheinung der Philosophie selbst. Denn in der Philosophie werden die
in der Welt wirksamen Ideen in ihrer ureigenen Gestalt angeschaut. In
Goethes Weise gesprochen könnte man etwa sagen: die Philosophie ist
die Idee in ihrer größten Ausbreitung; das reine Sein ist die Idee
in ihrer äußersten Zusammenziehung. Daß Hegel in der Philosophie die
vollkommenste Metamorphose der Idee sieht, beweist, daß ihm die wahre
Selbstbeobachtung ebenso verschlossen ist wie Goethe. Ein Ding hat
seine höchste Metamorphose erreicht, wenn es in der Wahrnehmung,
im unmittelbaren Leben seinen vollen Inhalt herausarbeitet. Die
Philosophie aber enthält den Ideengehalt der Welt nicht in Form
des Lebens, sondern in Form von Gedanken. Die lebendige Idee, die
Idee als Wahrnehmung, ist allein der menschlichen Selbstbeobachtung
gegeben. Hegels Philosophie ist keine Weltanschauung der Freiheit,
weil sie den Weltinhalt in seiner höchsten Form nicht auf dem Grunde
der menschlichen Persönlichkeit sucht. Auf diesem Grunde wird aller
Inhalt ganz individuell. Nicht dieses Individuelle sucht Hegel,
sondern das Allgemeine, die Gattung. Er verlegt den Ursprung des
Sittlichen daher auch nicht in das menschliche Individuum, sondern
in die objektive Weltordnung, welche die sittlichen Ideen enthalten
soll. Der Mensch gibt sich nicht selbst sein sittliches Ziel,
sondern er hat sich der sittlichen Weltordnung einzugliedern. Das
Einzelne, Individuelle gilt Hegel geradezu als das Schlechte, wenn
es in seiner Einzelheit verharrt. Erst innerhalb des Ganzen erhält
es seinen Wert. Dies ist die Gesinnung der Bourgeoisie, bemerkt Max
Stirner "und ihr Dichter Goethe, wie ihr Philosoph Hegel haben die
Abhängigkeit des Subjekts vom Objekte, den Gehorsam gegen die objektive
Welt u. s. w. zu verherrlichen gewußt". Hegel wie Goethe fehlt die
Anschauung der Freiheit, weil beiden die Anschauung des innersten
Wesens der menschlichen Natur abgeht. Hegel fühlt sich durchaus als
Philosoph der Goetheschen Weltanschauung. Er schreibt am 20. Februar
1821 an Goethe: "Das Einfache und Abstrakte, das Sie sehr treffend
das Urphänomen nennen, stellen sie an die Spitze, zeigen dann die
konkreteren Erscheinungen auf, als entstehend durch das Hinzukommen
weiterer Einwirkungsweisen und Umstände und regieren den ganzen
Verlauf so, daß die Reihenfolge von den einfachen Bedingungen zu den
zusammengesetztern fortschreitet, und so rangiert, das Verwickelte nun,
durch diese Dekomposition, in seiner Klarheit erscheint. Das Urphänomen
auszuspüren, es von den andern ihm selbst zufälligen Umgebungen
zu befreien, -- es abstrakt, wie wir dies heißen, aufzufassen,
dies halte ich für eine Sache des großen geistigen Natursinns,
sowie jenen Gang überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche
der Erkenntnis in diesem Felde." ... "Darf ich Ew. u. s. w. aber
nun auch noch von dem besondern Interesse sprechen, welches ein so
herausgehobenes Urphänomen für uns Philosophen hat, daß wir nämlich
ein solches Präparat geradezu in den philosophischen Nutzen verwenden
können! Haben wir nämlich unser zunächst austernhaftes, graues, oder
ganz schwarzes Absolutes, doch gegen Luft und Licht hingearbeitet,
daß es derselben begehrlich geworden, so brauchen wir Fensterstellen,
um es vollends an das Licht des Tages herauszuführen; unsere Schemen
würden zu Dunst verschweben, wenn wir sie so geradezu in die bunte,
verworrene Gesellschaft der widerwärtigen Welt versetzen wollten. Hier
kommen uns nun Ew. Wohlgeboren Urphänomene vortrefflich zu statten;
in diesem Zwielichte, geistig und begreiflich durch seine Einfachheit,
sichtlich und greiflich durch seine Sinnlichkeit -- begrüßen sich die
beiden Welten, unser Abstruses, und das erscheinende Dasein, einander."

Wenn auch Goethes Weltanschauung und Hegels Philosophie einander
vollkommen entsprechen, so würde man sich doch sehr irren, wenn man
den Gedanken-Leistungen Goethes und denen Hegels den gleichen Wert
zuerkennen wollte. In beiden lebt dieselbe Vorstellungsweise. Beiden
fehlt die Selbstwahrnehmung. Doch hat Goethe seine Reflexionen auf
Gebieten angestellt, in denen der Mangel der Selbstwahrnehmung nicht
schädlich wirkt. Hat er auch nie die Ideenwelt als Wahrnehmung gesehen;
er hat doch in der Ideenwelt gelebt und seine Beobachtungen von ihr
durchdringen lassen. Hegel hat die Ideenwelt ebensowenig wie Goethe
als Wahrnehmung, als individuelles Dasein geschaut. Er hat aber gerade
über die Ideenwelt seine Reflexionen angestellt. Diese sind daher nach
vielen Richtungen hin schief und unwahr. Hätte Hegel Beobachtungen über
die Natur angestellt, so wären sie wohl ebenso wertvoll geworden wie
diejenigen Goethes; hätte Goethe ein philosophisches Gedankengebäude
aufgestellt, so wäre es kaum gesünder geworden als dasjenige Hegels.



NAMEN-REGISTER.


Agassiz 189.
Aristoteles 15; 97.
Augustinus 14.

Bacon von Verulam 16 ff.
Blumenbach 100.
Büttner 153 f.
Bunge, Gustav 110.

Camper 101.
Cohn, Ferdinand 144.
Cuvier 143; 144 ff.

Darwin 134.
Descartes 16; 18 ff.; 35.
Diderot 134.
Du Bois-Reymond 65; 87; 92.

Förster 81.

Gegenbauer, Carl 122.
Geoffroy de St. Hilaire 143; 144 ff.
Gleichen-Rußwurm 95 ff.

Haeckel 134.
Haller 140 f.
Heinroth 42 f.
Herder 99; 106; 108; 124.
Holbach 65.
Hume 21; 24.

Jacobi, Fr. H. 55; 56; 57; 60; 66; 79.

Kalb, Frau von 124.
Kant 21 ff.; 27; 37; 91; 136 ff.
Karl, August 92; 95; 185.
Keppler 136.
Knebel 87; 96; 99; 100; 102; 106; 120.
Kraus 186 f.

Laplace 91.
Lavater 97 ff.; 129.
Leonhard 187 f.
Lessing 74.
Linné 93 ff.; 103.
Loder 98; 101.
Lyell 191 f.

Martius, K. Ph. 142 ff.
Merck 99; 100; 101; 191.
Müller, Kanzler von 68.

Newton 151 ff.

Parmenides 10.
Plato 10; 15; 24; 26; 27; 29; 34.

Rousseau 95.

Sachs, Julius 134 f.
Schelling 76.
Schiller 7 ff.; 39.
Schmidt, Oscar 135 f.
Spinoza 20 f.; 34; 35; 55.
Stein, Frau von 92; 96; 98; 99; 100; 101; 102; 103; 182; 185; 186.
Sternberg, Graf Caspar 144.
Stirner, Max 77 ff.

Thomas von Aquino 16.

Werner 188.
Wolf, Friedrich August 140.
Wolf, Kaspar Friedrich 140 ff.

Xenophanes 10.





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